Erle Stanley Gardner
Perry Mason Der Schatz im Schuhkarton
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Erle Stanley Gardner
Perry Mason Der Schatz im Schuhkarton
scanned by AnyBody corrected byYfffi Perry Mason löschte das Licht und lauschte. Von der Straße drang gelegentlich Motorenlärm herüber. Hoch oben glitzerten die Sterne. »Wie herrlich«, sagte Della Street. »Wäre das nicht ideal für...« Sie stockte. Und dann schrie sie. Am Rand der Lichtung lag ein Mann, auf dem Rücken, die Glieder verrenkt in der schrecklichen Pose des Todes. Und er stank. Das Gras, die Leiche und die Akten neben ihr stanken nach Benzin. Der Mörder hatte alles mit Benzin getränkt und war gestört worden, als er eben Feuer legen wollte. Nun stand er in den Büschen und zielte. ISBN 3 548 01131 4 Original: The Case of the Spurious Spinster Übersetzt von Ursula Leippe 1967 Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien
Über das ganze Land verteilt, besitzen wir eine relativ geringe Zahl hochqualifizierter Männer, die sich einer Vervollkommnung der Rechtsprechung verschrieben haben. Es ist eine Tragödie für die Gesellschaft, daß diese Gruppe so klein ist, da ihre Mitglieder unterbezahlt sind. In der Hoffnung, daß die Öffentlichkeit eines Tages erkennt, wie wichtig es für sie ist, über erstklassige, besonders ausgebildete Gerichtsmediziner in so großer Zahl zu verfügen, daß sie ihrer Aufgabe voll gerecht werden können, widme ich dieses Buch einem von ihnen, meinem Freund RICHARD O. MYERS, M. D., Los Angeles. ERLE STANLEY GARDNER (Aus dem Vorwort der Originalausgabe)
1 Sue Fisher mußte sich in die Liste der Liftbenutzer eintragen, weil es Sonnabend morgen war, an dem alle Büros geschlossen blieben. Sie hatte sich so auf ein ruhiges Wochenende gefreut, aber dann war das Telegramm gekommen, das Amelia Cornings Ankunft aus Südamerika für Montag morgen ankündigte. Damit war eine solche Menge zusätzlicher Berichte und Zusammenstellungen angefallen, daß sie es nicht mehr bis Büroschluß am Freitag geschafft hatte. Sie hatte also Endicott Campbell, dem Geschäftsführer der Corning Company, versprochen, daß sie Sonnabend früh kommen, die Berichte fertig abschreiben und auf seinen Tisch legen wollte, so daß die Auszüge Montag morgen bereitliegen würden. Die Situation wurde noch komplizierter dadurch, daß Amelia Corning außer einer arthritischen Erkrankung, die sie vom Rollstuhl abhängig machte, m i Begriff war, ihr Augenlicht zu verlieren, und zwar sehr rasch. Tatsächlich war gerüchtweise aus Südamerika verlautet, daß sie nur noch hell und dunkel unterscheiden könne und daß Menschen für sie nur verschwommene Schemen mit unerkennbaren Gesichtszügen seien. Susan Fisher war seit einem guten Jahr in der Firma und kannte von Amelia Corning nur die steife und verkrampfte Unterschrift, die von Zeit zu Zeit unter wütenden Schreiben stand. Um zehn Uhr dreißig wurde Sue Fisher aus ihrer eifrigen Arbeit durch eilige Schritte aufgestört; dann pochten zarte Finger an die Tür, und eine hohe Kinderstimme rief: »Oh, Miss Sue, Miss Sue!« Sues Gesicht wurde weich, aber dann zog sie verärgert die Brauen zusammen. Carleton Campbell, der siebenjährige Sohn ihres Chefs, verehrte noch den Staub unter ihren Füßen, und -3 -
auch sie fühlte sich merkwürdig zu dem Kind hingezogen. Aber Elizabeth Dow, seine Erzieherin, schien mehr und mehr von ihrer Verantwortung und ihren Erziehungsproblemen auf Sues Schultern abwälzen zu wollen. Sue schaltete den Motor ihrer elektrischen Schreibmaschine aus, ging durch das Sekretariat in den Empfangsraum und öffnete die Tür. Carleton Campbell hielt ihr mit vor Eifer glänzenden Augen einen Schuhkarton entgegen. »Tag, Miss Sue«, sagte er. Elizabeth Dow kam mit festem, gleichmäßigem Schritt in ihren flachen Laufschuhen den Korridor entlang. Sue legte den Arm um das Kind, hob es hoch, küßte es und blieb stehen, um auf Elizabeth Dow zu warten, die ihre Schritte natürlich nicht im geringsten beschleunigte. Es war ebenfalls unter ihrer Würde, schon von weitem zu grüßen; sie wartete damit, bis sie auch nicht einen Grad lauter als gewöhnlich sprechen mußte. »Guten Morgen, Susan«, sagte sie steif. »Guten Morgen, Elizabeth.« »Ich komme vorbei, weil man mir gesagt hat, daß Sie heute hier arbeiten.« »Ja«, antwortete Sue, »ich hab’ allerhand zu tun.« Sie fügte nach einer Pause vielsagend hinzu: »Eine sehr wichtige Arbeit. Wir stehen unter Zeitdruck.« »Ich verstehe«, sagte Elizabeth Dow und deutete schon durch den Tonfall an, wie grenzenlos gleichgültig ihr diese dringende Angelegenheit war. Elizabeth Dow war nur ansprechbar für Probleme, die Elizabeth Dow wichtig waren. Anderer Leute Sorgen interessierten sie nicht im geringsten. »Sue, würden Sie wohl so nett sein, Carleton eine halbe Stunde lang zu hüten? Ich habe eine sehr wichtige private Verabredung und kann ihn einfach nicht mitnehmen. Sie sind der einzige Mensch, bei dem er gern bleibt.« Sue sah auf ihre Armbanduhr. Sie wußte genau, daß aus der halben Stunde mindestens 45 Minuten werden würden. -4 -
»Also...« Sie zögerte und sah wieder auf die Uhr. »Wissen Sie, ich würde ja nicht fragen, wenn es nur meinetwegen wäre«, erklärte Elizabeth Dow. »Aber Carleton möchte Ihnen gern etwas erzählen. Er war schon so aufgeregt heute morgen. Ich weiß, wenn ich ihn in diesem nervösen Zustand bei der Haushälterin gelassen hätte, wäre er ein Wrack, wenn ich wiederkomme - und sie natürlich auch.« »Ach bitte, Miss Sue«, bettelte Carleton. »Lassen Sie mich doch bei Ihnen bleiben. Ich möchte Ihnen so gern was erzählen.« »Na schön«, sagte Sue. »Aber du mußt ein lieber Junge sein, Carleton. Du mußt ruhig auf dem Stuhl sitzen und zugucken, wie Sue arbeitet. Ich muß ganz wichtige Zusammenstellungen machen.« »Ich bin ganz artig«, versprach Carleton, kletterte auf einen Stuhl und faltete die Hände brav über dem Schuhkarton. Elizabeth Dow fürchtete offenbar, daß irgend etwas dazwischenkommen und sie es sich anders überlegen könnte, denn sie ging schnell zur Tür. »Bestimmt nur für ein paar Minuten«, sagte sie und war auch schon fort. Sue lächelte Carleton an. »Was ist denn in dem Karton?« »Ein Schatz«, erklärte er. Sue betrachtete den Karton mit plötzlich erwachtem Argwohn. »Hör mal, Carleton, du hast doch wohl keine Kröten oder sonst was Lebendiges da drin?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist ja nicht meine Schatzkiste«, sagte er. »Es ist Daddy seine.« »Was sagst du da?« »Daddy hebt seine Schatzkisten oben auf. Gestern abend durfte ich meine in seinen Schrank legen. Er sagte, daß er mit mir Schätze tauscht, wann ich will. Immer. Und deshalb hab’ ich heute morgen seinen Schatz genommen.« Die Worte kamen so rasch herausgesprudelt, daß sie einander buchstäblich auf die Hacken zu treten schienen. -5 -
Susan wurde nachdenklich. »Wie war das, Carleton: Es ist Daddys Schatz?« »Jetzt ist es mein Schatz«, erklärte der Junge. »Daddy hat gesagt, daß wir jederzeit Schätze tauschen können, bloß will er seinen später zurückhaben; mir gibt er meinen dann auch wieder.« »Und deine Schatzkiste? Was für ein Karton war das denn?« »Genauso einer«, sagte Carleton. »Daddy kauft seine Schuhe nicht im Laden, er kriegt sie mit der Post. Wenn sie ankommen, nimmt mein Daddy die Schuhe aus dem Karton und stellt sie in den Schrank.« »Ja, ich weiß«, sagte Susan lächelnd. »Ich bestelle sie immer. Er mag eine ganz bestimmte Sorte Schuhe, und er hat eine ausgefallene Größe. Weiß dein Daddy, daß du seine Schatzkiste hast?« »Er hat gesagt, wir können tauschen«, beharrte das Kind. »Wann?« »Och. vor einiger Zeit.« »Ich dachte, dein Vater ist heute morgen zum Golfspielen gefahren?« »Er hat gesagt, wir können tauschen«, wiederholte Carleton. Aber Susan meinte: »Ich glaube, ich sollte lieber mal in die Schatzkiste reingucken, Carleton, nur mal so.« Er packte den Karton, preßte ihn gegen den Magen und beugte sich darüber. »Nein!« schrie er. »Das war ja schon der Ärger mit Miss Dow!« »Wieso Ärger, Carleton?« »Sie wollte ihn mir wegnehmen.« »Warum?« »Weiß nicht.« »Ich denk’ ja gar nicht daran, dir den Karton wegzunehmen«, begann Susan wieder. »Ich glaube nur, wir sollten doch mal hineinschauen. Meinst du nicht auch?«
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Er antwortete nicht, sondern umklammerte den Karton nur noch fester. »Weißt du eigentlich, was darin ist?« »Ein Schatz.« »Und was war in deiner Schatzkiste, Carleton?« »Ganze Menge.« »Ich möchte mal wissen, ob dein Daddy so viele Schätze hat wie du, was meinst du?« »Weiß ich doch nicht.« »Wäre es nicht prima, das rauszufinden?« fragte sie ihn, als ob sie ihn zu einem Abenteuer verlocken wollte. »Ist ja verschnürt«, antwortete Carleton. Susan lächelte ihn an. »Ich kann ganz fabelhaft Knoten knüpfen und aufmachen«, sagte sie, zog dann aber ein nachdenkliches Gesicht. »Diese Knoten wären vielleicht doch zu schwierig für uns. Laß uns mal probieren.« Carleton gestattete, daß sie die Schnur untersuchte. Sobald sie den festen Seemannsknoten bemerkte, wußte sie auch, daß er nicht von Kinderfingern geschlungen worden war. Ob nun seine Geschichte vom Schatztausch stimmte oder nicht, eines war sicher: Es handelte sich hier um den Besitz eines Erwachsenen. »Laß mal sehen, wie schwer sie ist«, schlug sie vor. Er zögerte einen Augenblick, ließ sie dann aber den Karton nehmen. Sie wog ihn in beiden Händen, schätzte das Gewicht und reichte ihn zurück. »Mann«, sagte sie, »ist das aber schwer!« Er nickte. Die Tatsache, daß sie ihm den Karton zurückgegeben und nicht versucht hatte, ihn zu öffnen, beruhigte ihn. »Warum er wohl so schwer ist?« wunderte sich Susan und fügte hinzu: »Wenn dein Vater Geschäftspapiere darin aufbewahrt, müssen wir achtgeben, daß sie nicht verlorengehen.« -7 -
Er nickte gewichtig und umklammerte den Karton. »Ich verlier’ ihn bestimmt nicht.« »Kennst du den Unterschied zwischen einem Seemannsknoten und einem Großmutterknoten, Carleton?« fragte Susan. »Meine Großmutter ist tot«, antwortete er. »Nein, nein, ich meine den Knoten, den man so nennt. Sieh mal, das ist ein Seemannsknoten. Kannst du’s sehen? Komm, ich zeig’ ihn dir.« Endlich war er abgelenkt und schaute auf ihre Finger. Er hatte den Karton noch auf dem Schoß, und Susan nestelte an dem Knoten herum, bis sie ihn aufgeknüpft hatte. »Siehst du, wie leicht man solchen Knoten aufmachen kann? Großmutterknoten nennt man eine andere Art. Den könntest du auch machen, selbst wenn du nichts von Knoten verstehst.« Während sie so tat, als wollte sie dem Jungen das Knoten beibringen, gelang es Susan, die Angelleine abzuwickeln. Sie ließ den Karton auf Carletons Knien, konnte aber blitzschnell eine Ecke des Deckels heben, als sie vor dem Jungen kniete und ihm vormachte, wie man die Schnur wieder knüpfen mußte. Was sie sah, benahm ihr den Atem. Der Karton schien mit gültigen Geldscheinen bis oben hin gefüllt zu sein, und die Scheine, die sie bei ihrem flüchtigen Hineinsehen erkannte, waren ausschließlich Hundertdollarnoten. »Weiß Miss Dow, was in deines Vaters Schatzkiste ist?« »Natürlich. Sie wollte mir den Karton doch wegnehmen. Sie will meinen Schatz haben. Ich mag sie nicht leiden. Sie ist bös.« »Sie will dir doch nur helfen«, begütigte Susan. »Vielleicht glaubt sie, daß es deinem Vater nicht paßt, wenn du seinen Schatz nimmst.« »Daddy hat gesagt, wir können tauschen.« »Ich möchte bloß wissen, ob dein Schatz bei deinem Vater wirklich sicher ist. Du glaubst doch nicht, daß er ihn verliert?« Das Kindergesicht verzog sich bei dieser Vorstellung. -8 -
»Ich halte es für das Beste«, schlug Susan vor, »daß wir deinen Vater suchen und ihm sagen, er soll sehr gut aufpassen, wenn er deinen Schatz nimmt. Vielleicht können wir ihm seinen zurückgeben und deinen holen, dann geht deiner nicht verloren. Ein Golfplatz ist ja sehr groß.« »Ich weiß aber nicht, wo mein Daddy ist. Er ist im Auto weggefahren.« »Ich glaube, daß er heute morgen Golf spielen wollte«, sagte Susan. »Du möchtest doch auf keinen Fall deinen Schatz verlieren, nicht?« »Ich will Daddys Schatzkiste behalten.« Carletons Hände krampften sich fest um den Karton. Susans Gesicht erhellte sich wie in einer plötzlichen Erleuchtung: »Wäre es nicht fein, wenn wir den Safe, den richtigen großen Safe, öffnen und die Schatzkiste hineinstellen?« Carleton war sich nicht darüber klar. »Dann schließen wir den Safe wieder ab«, fuhr Susan in geheimnisvollem Verschwörerton fort, »und Miss Dow kann die Schatzkiste einfach nicht mehr kriegen. Niemand kann sie kriegen. Wir schließen den Safe ab, und der Schatz ist ganz sicher. Wir können ihn herausnehmen, wann wir wollen.« Carletons Augen leuchteten auf. »Prima«, flüsterte er eifrig. »Los, wir machen den Safe auf.« Sue ging zum großen Panzerschrank, drehte die Nummern der beiden Kombinationen und ließ die Türen aufschwingen. Sie schloß die innere Stahltür auf und kramte in den Papieren, als wollte sie Platz für den Karton schaffen. »So«, flüsterte sie, »mach schnell! Wir wollen sie hier rein tun, ehe Miss Dow zurückkommt.« Carleton tanzte vor Entzücken. »Wir machen zu und sagen ihr nicht, wo der Schatz ist!« »Ach, wir können es ihr ruhig verraten«, meinte Sue. »Sie darf wissen, wo er ist, davon hat sie ja nichts. Sie kann nämlich
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den Panzerschrank nicht öffnen. Das können überhaupt nur dein Vater und ich.« »Mensch, ist das prima«, sagte Carleton. Sue griff nach dem Karton. Einen Augenblick lang zögerte der Junge noch, aber dann schob er ihn ihr hin. »Nun wollen wir ihn hier in dieses Fach stellen.« Während sie sich umdrehte und dem Jungen den Rücken zuwandte, gelang es ihr, den Deckel noch einmal zu heben. Es lagen buchstäblich Tausende von Dollar in dem Karton Hundertdollarnoten, die sorgsam zusammengelegt und von einem Gummiband gehalten waren. Offenbar enthielt jedes Päckchen, soweit Sue es in der Eile schätzen konnte, fünftausend Dollar. Sue hantierte, bis der Deckel wieder auf dem Karton saß, sagte: »Wir müssen die Schnur wieder festbinden«, legte die Angelleine sorgfältig um den Karton, knotete sie wie vorher mit einem Seemannsknoten und stieß den Karton ins Fach. Sie schloß eilig die innere Tür, drehte den Schlüssel um, schloß die schweren äußeren Türen, zog die vernickelten Hebel, damit die Riegel einschnappten, und stellte die Kombinationen wieder ein. »Siehst du«, sagte sie triumphierend, »nun haben wir ihn da, wo kein Mensch ihn dir wegnehmen kann.« Carleton war begeistert. »Wir wollen ihr überhaupt nicht sagen, wo der Schatz ist.« »Ach, weißt du, wenn sie fragt, sagen wir es ihr lieber«, meinte Sue. »Du weißt, wir müssen bei Miss Dow immer sehr brav und artig sein, Carleton. Sie versucht doch, dir zu helfen.« »Sie ist gemein«, antwortete das Kind und zog eine Schnute. »Sie mag mich nicht leiden.« »Aber natürlich mag sie dich leiden. Sie mag dich sogar sehr gern. Aber weißt du, sie hat doch viel zu tun, und sie muß auch manches mit dir machen, was dir nicht gefällt. Aber es sind lauter Dinge, die gut für dich sind.«
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Sue setzte unvermittelt eine nachdenkliche Miene auf. »Weißt du, wir müssen doch versuchen, deinen Daddy zu finden, damit wir rauskriegen, ob er deinen Schatz genom men hat.« »Ich weiß aber nicht, wo Daddy hingegangen ist.« »Paß mal auf, was wir tun: Wir rufen im Country Club an, da finden wir ihn sicher. Er hat nämlich gesagt, daß er heute Golf spielen will.« »Können wir dann auch meinen Schatz in den Safe tun?« wollte Carleton wissen. »Ich glaub’ schon. Dein Vater erlaubt es uns bestimmt. Komm, wir wollen ihn suchen.« »Heute abend kommt er sowieso nach Hause.« »Ja, natürlich«, antwortete Sue. »Aber er spielt jetzt doch Golf, und du weißt, er kann beim Spielen keine Schatzkiste bei sich haben. Wenn ihr eure Schätze getauscht habt, dann hat er am Ende deinen im Auto gelassen oder sonstwo, und du möchtest doch nicht, daß mit deinem Schatz was passiert, oder?« »Nein.« »Also komm, wir suchen deinen Vater.« Sue griff zum Telefon und rief den Country Club an. »Ist Mr. Endicott auf dem Golfplatz?« »Da muß ich Sie mit dem Büro vom Golfplatz verbinden, Madam. Augenblick bitte.« Nach einigen Sekunden meldete sich eine mürrische Männerstimme: »Golfbüro.« »Ist Mr. Endicott auf dem Platz?« fragte Sue. »Ich möchte ihn gern sprechen, es ist sehr wichtig. Hier ist sein Büro, und wenn Sie...« »Er ist aber nicht hier«, wurde sie unterbrochen. »Nicht?« sagte Susan enttäuscht.
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»Ganz recht, Madam, er ist überhaupt nicht hier gewesen. Er war gemeldet für ein Spiel zu viert, aber die Sache ist abgesagt worden. Tut mir leid.« »Danke«, sagte Sue und legte auf. Sie blieb einen Augenblick nachdenklich sitzen, während Carleton sie mit großen Augen anstarrte. Plötzlich schrillte das Telefon, und auf dem Schaltbrett der Zentrale flackerte das rote Licht auf. Sue zögerte, stöpselte dann aber fast automatisch ihr Telefon ein. »Corning Company«, meldete sie sich. Eine scharfe, schrille Frauenstimme sagte: »Warum holt mich denn keiner ab?« »Bedaure«, gab Susan so sanft wie möglich zurück. »Können Sie mir vielleicht sagen, wer Sie sind, wo Sie sind und wieso...« »Hier spricht Amelia Corning. Ich bin am Flughafen.« »Wie?« »Haben Sie nicht verstanden?« »Ich... doch. Aber wieso... Wir haben Sie erst Montag erwartet, Miss Corning.« »Montag! Du meine Güte!« fuhr die Stimme sie an. »Ich habe doch telegrafiert. Sie hätten mich abholen sollen. Das ist ja unerhört. Ich mußte mir jemanden suchen, der meinen Rollstuhl zu einer Telefonzelle fuhr und die Nummer für mich wählte. Jetzt kommen Sie sofort hierher. Wer sind Sie? Mit wem spreche ich?« »Ich bin Susan Fisher, die Privatsekretärin von Mr. Endicott Campbell«, antwortete Sue. »Wo ist Mr. Campbell?« »Heute morgen ist er nicht hier. Wir haben ja Sonnabend.« »Ich weiß, welchen Tag wir haben, Sie brauchen mich nicht zu belehren«, keifte die Stimme wieder. »Kommen Sie also jetzt her. Es gibt eine Menge mit dem Gepäck und so zu erledigen, und ich bin müde.« -1 2 -
Sie legte auf. Susan ließ verwirrt den Hörer sinken und wandte sich an Carleton. »Carleton, weißt du, wohin Miss Dow gegangen ist?« »Ich glaube, zur Bank.« »Am Sonnabendmorgen? Die Banken sind sonnabends nicht geöffnet... ach, wart mal. Doch, eine Bank ist offen.« Sie begann im Telefonbuch zu suchen, als sie die wohlbekannten festen Schritte auf dem Gang hörte; die Tür zum Vorzimmer öffnete sich, Elizabeth Dow stand auf der Schwelle. »Hat er Ihnen viel Mühe gemacht?« fragte sie. »Er ist süß«, antwortete Susan, »wirklich ganz süß. Aber ich hab’ es jetzt eilig, ich muß einfach Mr. Campbell finden. Wissen Sie, wo er ist?« »Beim Golfspielen. Rufen Sie doch beim Country Club an, das heißt, wenn es wirklich so wichtig ist. Er will bestimmt nicht gestört werden und...« »Das überlassen Sie besser mir«, entgegnete Susan schroff. »Ich hab’ es schon beim Country Club versucht, dort kann ich ihn nicht finden. Aber ich muß einfach wissen, wo er ist.« Die Erzieherin schüttelte den Kopf. »Kennen Sie vielleicht die Namen der Leute, mit denen er heute spielen wollte?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Na, dann kann ich mich jetzt nicht länger damit aufhalten. Kommen Sie, ich muß hier abschließen. Wir gehen.« »Wohin wollen Sie denn?« fragte Miss Dow. »Ich habe geschäftlich etwas zu erledigen. Wenn Sie Mr. Campbell sehen, sagen Sie ihm, daß er versuchen soll, sich sofort mit mir in Verbindung zu setzen. Sofort, verstehen Sie? Es handelt sich um eine sehr wichtige Sache.« Elizabeth Dow sah sie neugierig an. »Da müßte ich schon Näheres wissen, wenn ich ihm etwas ausrichten soll, worauf er sich einen Vers machen kann.«
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»Sagen Sie ihm, er soll sich wegen einer höchst wichtigen Angelegenheit so rasch wie möglich mit mir in Verbindung setzen. Sagen Sie ihm, es ist etwas Unvorhergesehenes von allergrößter Bedeutung eingetreten. So, und nun kommen Sie bitte, wir müssen hier fort.« Elizabeth Dow wünschte nicht gehetzt zu werden. In aller Ruhe nahm sie den Jungen an die Hand und fragte: »Wo ist dein Karton, Carleton?« Das Kind setzte zum Sprechen an, schloß aber den Mund und sah sich nach Susan Fisher um. »W ir haben ihn versteckt«, antwortete es. Miss Dow erklärte: »Solche Sachen dürfen aber nicht versteckt werden. Wir müssen deinen Schatz mitnehmen.« »Der ist jetzt wirklich sicher aufbewahrt«, mischte sich Susan ein. »Ich hole ihn später.« Sie schob die Erzieherin fast aus dem Büro, zog die Tür zu, gab Carleton einen Kuß und flog dann förmlich über den Gang zum Fahrstuhl. »Der Karton!« rief Miss Dow hinter ihr her. »Er wird ihn haben wollen, und dann...« Der Aufzug glitt sanft vor die Tür, der Fahrstuhlführer öffnete und lächelte Susan an: »Alles fertig, Miss Fisher?« Sue konnte schon Miss Dows Schritte hinter der Biegung des Korridors hören und hoffte inständig, daß der Mann sie nicht ebenfalls bemerkte. »Ja, ja«, antwortete sie, »aber jetzt muß ich so rasch wie möglich ein Taxi haben.« »Also los!« sagte der Mann. Die Fahrstuhltür schloß sich in dem Augenblick, als Elizabeth Dow mit dem Kind an der Hand um die Ecke bog. Einen Herzschlag lang begegnete Susans Blick den Augen der Erzieherin, in denen Ärger und Wut aufblitzten. Dann sah sie nur nock die vorbeigleitenden Lämpchen der einzelnen Stockwerke. Sie rannte durch die Eingangshalle und fand gleich an der Ecke ein Taxi, sprang hinein und sagte atemlos: »Zum Flugplatz. Bitte so rasch wie möglich.« -1 4 -
Als sich der Wagen in Bewegung setzte, kam Susan der Gedanke, zunächst ihr Bargeld zu zählen. Sie stellte fest, daß es nur eben so reichen würde. Susan lehnte sich zurück, schloß die Augen und versuchte, die Situation zu durchschauen. Miss Corning war eine jähzornige, aber außergewöhnlich kluge Geschäftsfrau. Wenn sie Susan so lange beanspruchte, bis Endicott Campbell eintraf, hatte sie vermutlich viele Fragen zu stellen, die nur der Geschäftsleiter beantworten konnte. Aber Sue hatte das unangenehme Vorgefühl, daß Miss Corning von ihr selbst allerhand zu erfahren wünschte, und zwar über Fragen, die sehr schwer zu beantworten waren. Tatsächlich hatte sich Sue in den letzten Tagen schon selbst diese Fragen gestellt, als sie die Akten für Miss Cornings Besuch zusammenstellte. Da war zum Beispiel die Sache mit der Mine bei Mojave, die als »Mojave-Monarch« bekannt war. Die Bücher der Gesellschaft wiesen nur aus, daß die Mine 24 Stunden am Tag arbeitete, und zwar in drei Achtstundenschichten. Aber am Sonntag vor einer Woche, als Susan einen Ausflug nach Mojave unternommen hatte, war ihr nichts weiter zu Gesicht gekommen als ein altes verwittertes Schild an der staubigen Straße: MOJAVE MONARCH. Sue hatte die Richtung eingeschlagen und war zu einer Stelle gekommen, an der sich neben einem Berghang ein paar zerstreute unverputzte Gebäude sonnten. Nicht nur, daß die Gebäude unbenutzt zu sein schienen - sie waren auch von einer unübersehbaren Atmosphäre der Verlassenheit umgeben: Von der Atmosphäre, die Gebäude in der Wüste hatten, wenn sie lange nicht von Menschen bewohnt waren. Nur die Hütte des Direktors schien bewohnt, aber niemand reagierte auf ihr Klopfen. Sue war verwirrt nach Mojave zurückgefahren und hatte sich an einer Tankstelle nach der Mine erkundigt. Der Mann wußte selbst nichts darüber, hatte die Frage aber an einen grauhaarigen Bergarbeiter weitergegeben, der gerade -1 5 -
vorgefahren kam, und der hatte Susan berichtet, daß es weit und breit keine andere Mine als die Mojave-Monarch gäbe und daß diese seit mehr als zwei Jahren stillgelegt sei. Damals schien es Susan sicher, daß es sich um ein Mißverständnis handeln und daß es eine andere Mojave-Mine geben mußte, die dem alten Bergarbeiter nicht bekannt war; die Mine, die sie entdeckt hatte, trug wahrscheinlich nur denselben Namen. Schließlich war Monarch eine gängige Bezeichnung. In der letzten Woche hatte Susan die Gelegenheit benutzt, die Geschäftsberichte aus Mojave anzusehen. Im Ort Mojave war ein Büro, das die ganzen Angelegenheiten der Mine abwickelte. Die Firma Corning bezahlte nur die anfallenden Kosten durch regelmäßige Schecks. In der Ablage gab es Berichte aus der Mine. Sie meldeten, daß die Ingenieure glaubten, sie würden demnächst eine reiche Ader von hochwertigem Erz anbrechen. Die technischen Daten hatten Sue beim hastigen Durchblättern so gut wie gar nichts gesagt; sie kannte kaum den Unterschied zwischen Hangendem und Liegendem. Sie wußte nicht, daß es eine Verwerfung gegeben hatte, und zwar zu einer Zeit, als die wesentlichste Erzader geradezu fabelhaft reich gewesen war und sich noch verbreitert hätte. Sue wußte nur, daß die Mojave-Mine in der Korrespondenz mit Amelia Corning eine Rolle gespielt hatte; geologische Gutachten waren ihr nach Südamerika gesandt worden. Aber es war natürlich auch eine ganze Reihe anderer Dinge, die Amelia Corning veranlaßt hatten, nach fünfjähriger Abwesenheit zurückzukehren und sich selbst um den Stand der Geschäfte zu kümmern. Sue fürchtete sich schon vor dem Sturzbach von Fragen, der auf sie niederprasseln würde. Sie beschloß, in allem auf Mr. Campbell zu verweisen und sich so dumm zu stellen, wie es ihr nur möglich war.
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Am Flugplatz bezahlte Susan die Taxe. Ihr Geld reichte gerade für den Fahrpreis und ein Trinkgeld von fünfunddreißig Cent. »Tut mir leid wegen des Trinkgeldes«, entschuldigte sie sich. »Ich war auf die Fahrt nicht vorbereitet und... ich habe nicht einen Cent mehr bei mir.« »Lassen Sie nur, Lady«, sagte der Fahrer lächelnd und reichte ihr die fünfunddreißig Cent zurück. »Nehmen Sie die wieder, bitte. Sie müssen vielleicht telefonieren... na, nun nehmen Sie schon.« Sie sah in das faltige Gesicht, in die lächelnden Augen und reichte ihm impulsiv die Hand. »Danke. Ich fühle mich... ich komme mir so jämmerlich vor. Ich kriege das Geld ja wieder, aber...« »Vergessen Sie’s«, antwortete der Chauffeur. »Es macht mir Spaß, eine Dame wie Sie zu fahren.« Dann fuhr er ab, und Sue lief zum Warteraum, voller Unruhe, daß sie Amelia Corning am Ende verfehlen könnte. Aber Susan sah sie sofort, als sie den Warteraum betrat, und es wäre auch wohl unmöglich gewesen, die alte Dame zu übersehen. Sie saß in einem gebrechlichen Rollstuhl gegenüber der Tür, zwei Koffer und eine Tasche neben sich. Das Gepäck war dicht bepflastert mit den Schildern verschiedener amerikanischer Hotels und Kurorte. Miss Cormings Gesicht war alles andere als gewinnend, fast häßlich mit dem langen knochigen Kinn, der festen geraden Nase, den hohen Backenknochen und der Brille mit riesigen dunkelblauen Gläsern. Susan näherte sich der Gestalt. Die Frau saß völlig bewegungslos da. Falls sie Susan Fisher kommen sah, zeigte sie es jedenfalls nicht. »Miss Corning?« fragte Susan und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
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Das knochige Gesicht hob sich langsam. Susan hatte das Gefühl, daß hinter den schweren dunklen Gläsern schwache Augen versuchten, sie wahrzunehmen. »Ja.« »Ich bin Susan Fisher, Mr. Campbells Sekretärin. Sie haben vorhin mit mir telefoniert.« Sie erwartete eine kritische Bemerkung, hörte aber erstaunt die Stimme ganz ohne die vorherige Schroffheit sagen: »Wie nett von Ihnen, Susan, daß Sie so schnell gekommen sind.« »Ich habe mich beeilt, so gut es ging.« »Das weiß ich. Natürlich ist mir die Wartezeit sehr lang vorgekommen, aber ich kann mir denken, daß Sie eine weite Strecke fahren mußten und sich sofort auf den Weg gemacht haben. Vielen Dank.« Susan sagte: »Sie sind... herzlich willkommen. Nun möchten Sie gewiß eine Taxe haben. Ich werde Ihr Gepäck nehmen und...« »Rufen Sie einen Gepäckträger.« »Ach, Miss Corning, ich... es tut mir leid, ich...« »Was ist los?« fuhr die Frau sie an, plötzlich wieder unfreundlich. »Ich kann Leute nicht ausstehen, die herumstottern und unangenehme Neuigkeiten verzuckern möchten. Also?« »Ich habe keinen Cent«, antwortete Sue. »Ich hatte nicht viel Geld bei mir und habe alles für die Fahrt gebraucht.« »Gibt es denn im Büro keine Kasse für unvorhergesehene Fälle? Warum steht bewährten Mitarbeitern kein solcher Betrag zur Verfügung?« »Das... das gibt es bei uns nicht.« »Ist ein Safe da?« »Ja, natürlich.« »Und Sie können ihn öffnen?« »Ja.« »Wer außer Ihnen kennt die Kombination?« -1 8 -
»Mr. Campbell und der Buchhalter.« »Es sollte ein Betrag von einigen hundert Dollar für unvorhergesehene Ausgaben bereitliegen. Wie können Sie wissen, ob ich nicht anordne, daß Sie sich sofort ins nächste Flugzeug nach Südamerika setzen sollen?« Sue Fisher zuckte verlegen mit den Schultern und wußte kaum, was sie antworten sollte. »Wenn Sie Mr. Campbell das nächstemal sehen, sagen Sie ihm, daß er eine solche Notkasse anlegen soll. Es könnte wirklich sein, daß ich Sie in Südamerika haben möchte. Sie sind ein liebes Ding, Susan. Augenblicklich sind Sie zwar zu Tode erschrocken, aber wenn Sie mich erst besser kennen, werden Sie nicht so entsetzt sein, sondern lernen, meinem Urteil zu vertrauen. Und dann werden Sie meine Anordnungen ohne Zögern ausführen. Verstehen Sie? Ohne Zögern!« »Jawohl, Miss Corning.« »Sehr schön.« Miss Corning holte eine Brieftasche aus ihrer Handtasche und nahm fünf Banknoten heraus. »Meine Augen taugen nichts. Bei diesem Licht sehe ich nicht sehr gut. Ich weiß nie, wieviel Geld ich bei mir habe, aber ich sorge immer dafür, daß es auf jeden Fall reicht. Hier sind Zehndollarscheine, meine Liebe. Suchen Sie sich fünfzig Dollar für Ihre Auslagen heraus.« Susan Fisher sagte gepreßt: »Miss Corning, es sind nicht Zehndollarscheine, es sind Hundertdollarnoten.« »Danke. Ich versuche immer, die Hunderter in das eine Fach und die Zehner in das andere zu stecken. Wahrscheinlich habe ich meine Brieftasche umgedreht.« Die knochigen Finger faßten in den anderen dicken Packen von Geldscheinen und zählten fünf Noten ab. »Sind das Zehner, Sue?« »Jawohl, Madam.« »Also gut, hier sind fünfzig Dollar. Ziehen Sie ab, was Sie für die Taxe bezahlt haben, und suchen Sie einen Gepäckträger und -1 9 -
ein Auto, und dann fahren wir. Sie haben mir doch Zimmer bestellt?« »Erst für Montag, aber... vielleicht klappt es auch schon heute.« »Ist denn mein Telegramm nicht angekommen?« »Nein, Madam.« »Das hätte es aber eigentlich müssen.« »Vielleicht ist es unterwegs irgendwo liegengeblieben.« »Unterwegs ist gut! Ich habe mich ganz plötzlich entschlossen, früher als geplant aufzubrechen. Dieser Taugenichts von Kellner auf dem Flugplatz, den ich bezahlte, damit er das Telegramm aufgeben konnte, hat es natürlich zerrissen und das Geld in die eigene Tasche gesteckt. So geht es heute zu auf der Welt. Kein Verantwortungsgefühl, keine sittliche Widerstandskraft, keine echte, gerade Ehrlichkeit. Nun los, Susan, wir wollen ins Hotel fahren.« Susan besorgte Träger und Taxe und fand sich im Handumdrehen eindringliche Fragen über das Geschäftsgebaren der Corning-gesellschaft beantworten, während sie ins Hotel fuhren. Irgendwann einmal gelang es ihr zu sagen: »Mir wäre es lieber, wenn Sie diese Fragen für Mr. Campbell aufsparten, Miss Corning.« »Sie sind meine Angestellte, nicht wahr?« »Ja. Aber direkt bin ich Mr. Campbell unterstellt.« »Es ist mir ganz gleich, wem Sie direkt unterstellt sind, Sie sind meine Angestellte. Sie arbeiten für mich. Sie beziehen ein Gehalt, das aus meiner Tasche fließt. Ich verlange Loyalität, ich verlange Tüchtigkeit und Kooperation. Sie werden auf meine Fragen antworten, mein Kind, und nichts mehr von diesem Fragen-Sie-Mr.-Campbell-Gerede. Ich will mich im Hotel nur eintragen und mein Gepäck ins Zimmer bringen lassen, dann fahren wir ins Büro, und Sie werden den Rest des Tages damit verbringen, meine Fragen zu beantworten.« »Muß ich das?« Aus Susans Tonfall war ihre Verzweiflung herauszuhören. -2 0 -
»Jawohl, mein Kind, Sie müssen. Und Sie werden sie richtig beantworten. Hier soll nicht der Versuch gemacht werden, irgend jemanden zu decken - haben Sie verstanden? Weder sich selbst noch irgendwen sonst.« »Jawohl, Miss Corning.« »Und nun zu Ihrer Information: Ich bin absichtlich schon heute morgen und nicht erst am Montag erschienen, weil ich genau weiß, daß Endicott Campbell jetzt Golf spielt oder etwas Ähnliches treibt. Ich möchte mir im Büro verschiedene Akten ansehen, ehe er mich erwartet. Ich habe einen Kellner mit dem Telegrafieren betraut, war aber ganz sicher, daß er es ›vergessen‹ würde. Sie sagen, daß Sie die Kombination des Safes kennen. Wir werden ihn öffnen und einen Blick hineinwerfen. Es wird meine Augen sehr anstrengen, aber ich möchte einige Zahlen kontrollieren, und Sie werden mir dabei die Informationen geben, die ich brauche. So, und jetzt stelle ich Ihnen eine ganz klare Frage: Haben Sie Grund zu der Annahme, daß Endicott Campbell unehrlich ist?« »Ich? Wieso? Nein.« »Reden Sie nicht so mit mir.« »Oh - wie rede ich denn?« »Sie zögerten, ehe Sie ansetzten, meine Frage zu beantworten. Ich wünsche kein Zögern, ich wünsche aufrichtige Antworten. Haben Sie Grund zu der Annahme, daß Endicott Campbell unehrlich ist?« »Das weiß ich nicht.« »Natürlich wissen Sie nicht, ob er unehrlich ist, aber haben Sie einen Grund zur Annahme, daß er unehrlich sein könnte? Ja oder nein.« »Doch, es gibt da so eine Sache, die mich beschäftigt - die Mojave-Monarch. « »Und eben das beschäftigt mich auch. Ich denke, wir beide werden gut miteinander auskommen, Susan, sobald Sie gelernt haben, Fragen schnell, offen und ehrlich zu beantworten.« -2 1 -
Auf Miss Cormings Wunsch fuhr Susan nicht nur mit ihr ins Hotel, sondern trug auch ihren Namen ins Gästebuch ein und ging dann mit ihr in die Suite, die eigentlich erst für Montag, den Fünften, bestellt worden, aber schon frei war und nun vom Portier für Miss Corning belegt wurde. Anschließend brachte Sue Miss Corning zum Büro. »Nun denn, mein Kind«, begann Miss Corning, »ich möchte die Akten über die Mojave-Mine sehen. Sie wissen vielleicht, daß ich Mr. Campbell anwies, sie für mich bereitzulegen.« Sue sagte: »Die Bücher liegen im Safe, aber alle Detailangaben scheinen in Mojave zu sein.« »Die Bücher weisen die Aufwendungen für die Mine aus. Was ist denn nun aber an Einnahmen hereingekommen?« »Die entsprechenden Aufstellungen kann ich nicht finden, sie sind wahrscheinlich in Mojave. Es gibt Berichte, nach denen die Hauptader durch Verwerfungen unbrauchbar geworden ist, aber mündlich hat mir Mr. Campbell berichtet, daß eine ganze Menge Erz geschürft worden sei.« »Und was hat man damit angefangen?« »Das weiß ich nicht.« »öffnen Sie den Safe. Wir wollen sehen, was die Bücher ausweisen.« Susan öffnete den Safe, schloß die stählerne Innentür auf und nahm die Bücher heraus. Miss Corning wirbelte ihren Rollstuhl bis auf wenige Zentimeter vor den Safe, lehnte sich vor und spähte durch ihre dunklen Brillengläser. »Was ist das da?« fragte sie und deutete mit einem knochigen Finger auf den Schuhkarton, den Susan dem kleinen Carleton Campbell abgenommen hatte. Einen Augenblick lang war Susan verwirrt. »Wieso... das... das ist privat, etwas, das mir gehört, und das ich vor ein paar Stunden in den Safe gestellt hab’, weil ich es nicht mit zum Flugplatz nehmen wollte und...« »Ich will wissen, was das ist«, unterbrach sie Miss Corning. -2 2 -
»Etwas ganz Privates.« »Liebesbriefe?« »Nicht eigentlich.« »Also los, was ist es? Es steht im Safe der Firma. Sie sollten hier keine privaten Dinge aufbewahren.« »Das hätte ich bestimmt auch nicht getan, Miss Corning, wenn Sie nicht gerade angerufen hätten. Ihr Anruf hat meinen ganzen Fahrplan durcheinander gebracht. Sie müssen wissen, daß ich am Sonnabend eigentlich nicht arbeite. Das hier ist etwas ganz und gar Privates.« Miss Corning wandte den Kopf, so daß die dicken dunklen Brillengläser auf Sue gerichtet waren. Dann machte sie: »Hm!«, wirbelte den Stuhl herum und sauste quer durch das Büro an den Tisch, auf dem Susan Bücher und Aufstellungen ausgebreitet hatte. Allmählich empfand Sue Respekt für diese Frau. Miss Corning besaß die erschreckende Fähigkeit, Sues Gedanken zu erraten und die geringste Schwankung in ihrer Stimme zu deuten. Ihre langen Finger mit den dicken Gelenken konnten die Räder des Rollstuhls in überraschendem Tempo bewegen. »Nun, meine Liebe, meine Augen sind nicht so, wie sie sein sollten. Ich kann nur mit dieser Lupe lesen, und es ermüdet mich. Ich muß mich auf Sie verlassen. Auf welchem Blatt ist die Gesamtsumme der Aufwendungen verzeichnet?« Susan reichte es ihr. »Lesen Sie mir die Zahlen vor«, befahl Miss Corning. Langsam und nachdrücklich las Sue die Zahlen. Die Frau runzelte die Brauen und schüttelte den Kopf. »Trödeln Sie nicht so, lesen Sie flott vor. Ich behalte die Zahlen schon. Einfach nur hintereinander lesen.« Sue las schneller. Als sie fertig war, nannte Miss Corning zur Kontrolle Zahl für Zahl bis zum letzten Penny, als ob sie den Aufrechnungsbogen vor sich liegen hätte. -2 3 -
Dann ging sie plötzlich auf ein anderes Thema über. »Was ist mit der Oklahoma-Royal?« Sue holte die Papiere aus dem Safe und las auf Miss Cormings Bitte auch hier die Zahlen vor. Unvermittelt erklärte Miss Corning: »Ich glaube, Endicott Campbell ist ein Betrüger.« Sue saß wie versteinert. »Besorgen Sie mir einen Handkoffer«, kommandierte Miss Corning. »Ich nehme all diese Papiere mit. Ich will sie von einem Graphologen begutachten lassen. Ich glaube, die meisten Schecks sind falsch. Endicott Campbell hat sie wohl Stück für Stück selbst kassiert.« »Aber, Miss Corning, das wäre ja - das wäre doch...« »Genau das«, fuhr Miss Corning sie an. »Es wäre Fälschung oder Unterschlagung oder beides. Ich möchte einen Behälter, in dem diese Akten zu transportieren sind. Ich brauche einen Koffer - zwei Koffer. Hier.« Miss Corning öffnete wieder ihre Handtasche, entnahm ihr die Brieftasche, zog zwei Hundertdollarscheine heraus und wies Sue an: »Sie werden hier irgendwo in der Nähe ein Geschäft suchen, das Koffer verkauft und heute offen hat. Vielleicht nicht gerade ein besonders gutes, aber das ist mir gleich. Solche Geschäfte haben zu den ausgefallensten Zeiten geöffnet. Gehen Sie hin, besorgen Sie mir zwei starke Koffer. Ich will keine eleganten Dinger, ich will kräftige haben. Und kommen Sie so rasch wie möglich zurück.« »Jawohl, Madam«, antwortete Sue. »Los, schnell. Ich kenne hier in der Stadt einen Graphologen, der die Sachen für mich durchsehen wird. Ich bin nicht zufrieden mit der Art, wie die Dinge hier laufen, und Sie auch nicht.« »Wieso, was meinen Sie?« »Das wissen Sie ganz genau. Sie sitzen hier am Sonnabend, um die Dinge halbwegs in Ordnung zu bringen. Sie haben sich überlegt, was Sie mir sagen sollten, als ich so unvermutet -2 4 -
eintraf. Und Sie hofften, daß nicht Sie, sondern nur Endicott Campbell auf gewisse Fragen zu antworten hätte.« »Ich... ich glaube, ich sollte eigentlich nicht über Mr. Campbell mit Ihnen sprechen, Miss Corning, denn schließlich arbeite ich...« »Schluß mit diesem Geschwätz«, fuhr die Frau sie an. »Gehen Sie und holen Sie mir die Koffer. Ich möchte Montag morgen all diese Sachen hier bis zum I-Tüpfelchen übersehen, und ich will bis dahin wissen, wie ich Endicott Campbell beikommen kann. Ich habe nämlich keine Lust, mich in einem Prozeß zu blamieren, indem ich ihm irgend etwas vorwerfe, das ich nicht beweisen kann. So wie die Dinge im Augenblick aussehen, werde ich ihn anzeigen müssen, und ich möchte, daß die Tatsachen für sich sprechen. Also los, gehen Sie schon.« »Jawohl, Madam«, sagte Sue kleinlaut. Sie fühlte sich gleichzeitig sehr unbedeutend und sehr verstört. Sie fuhr mit dem Aufzug hinunter und nahm nach einigen vergeblichen Versuchen, ein Lederwarengeschäft zu finden, die Hilfe eines Taxifahrers in Anspruch, der sie zu einem kleinen, aber guten Laden brachte, auf sie wartete, während sie in aller Eile zwei starke Koffer aussuchte, und sie dann wieder zum Büro fuhr. Als Sue mit den leeren Koffern eintrat, saß Miss Corning am Fenster, hielt einige Schecks in die helle Nachmittagssonne und betrachtete sie durch ihre Lupe. Sie sah auf, als Sue eintrat, und sagte sofort: »Genau, wie ich mir’s dachte. Die ganze Angelegenheit ist nichts als Fälschung. Haben Sie die Koffer, mein Kind?« »Ja.« »Stellen Sie sie auf den Tisch und packen Sie diese Schecks hier ein. Auch das Buch dort und alle Aufstellungen. Ich will sie heute noch im Hotel durchsehen. Und nun sagen Sie, wo ist denn Campbell heute - ich meine, wo wollte er denn eigentlich hin?« -2 5 -
»Ich weiß es nicht. Ich habe schon heute morgen im Golfklub angerufen. Er war ursprünglich für eine Viererpartie angemeldet, die aber wieder gestrichen wurde...« »Ich will ihn sprechen«, erklärte Miss Corning, »und zwar heute abend noch, in meinem Hotel. Bestellen Sie ihn nicht hierher, ich will ihn nicht jetzt sprechen und auch nicht dann, wenn es ihm paßt - sondern wann es mir paßt. Gehen Sie ans Telefon, suchen Sie ihn. Was ist denn mit seiner Wohnung könnte er nicht zu Hause sein?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht, wo er ist, Miss Corning.« »Ist er verwitwet?« »Seine Frau hat ihn verlassen. Seine Tochter Eve lebt bei der Mutter. Der jüngste Sohn, Carleton, ist bei Mr. Endicott. Er hat eine Erzieherin.« »Wer ist diese Erzieherin?« »Eine Engländerin.« »Wie heißt sie?« »Elizabeth Dow.« »Also sprechen Sie mit ihr. Rufen Sie bei ihr an. Holen Sie sich Auskunft. Ich will Endicott Campbell heute abend Punkt acht Uhr fünfundvierzig bei mir im Hotel sehen. Auf die Minute pünktlich, hören Sie! Sagen Sie ihm, daß ich Leute nicht schätze, die sich bei Verabredungen verspäten. Wenn ich sage, acht Uhr fünfundvierzig, meine ich acht Uhr fünfundvierzig, und zwar auf die Sekunde. So, und nun machen Sie sich mit Ihrem Telefon zu schaffen. Ich werde die Sachen, die ich haben will, selbst in die Koffer packen.« Nach fünfzehn Minuten am Telefon wußte Sue nicht ein bißchen mehr als vorher. Die Viererpartie im Klub war gestrichen worden. Zwei der Teilnehmer hatten sich mit anderen zu einer neuen Partie zusammengefunden. Endicott Campbell hatte sie frühmorgens benachrichtigt, daß er nicht zum Spielen kommen könne. Der vierte Mann war der Rechtsanwalt Harvey Benedict, den Sue nicht erreichen konnte. -2 6 -
Im Telefonbuch war seine Privatwohnung nicht angegeben, und die Auskunft teilte mit, daß er auch keine registrierte Privatnummer hätte. Ein Anruf in Campbells Wohnung trug ihr nur die Information von Miss Dow ein, daß die Haushälterin den ganzen Tag nichts von Endicott Campbell gehört hätte, daß man ihn um sechs Uhr dreißig zurückerwarte und daß er das Abendessen für Punkt sieben Uhr angesetzt hätte. Als Sue Fisher diese mageren Auskünfte an Miss Corning weitergab, saß die Frau fast eine halbe Minute bewegungslos im Rollstuhl. Das knochige Gesicht mit den hohen Jochbögen, den eingefallenen Wangen und der langen Nase wirkte in dieser regungslosen Konzentration schon fast grotesk. Schließlich sagte sie: »Na gut. Die Koffer sind zu schwer für Sie. Gehen Sie zum Fahrstuhlführer, geben Sie ihm ein paar Dollar und bitten Sie ihn, die Koffer auf die Straße zu bringen. Wir nehmen ein Taxi und fahren ins Hotel.« Sue befolgte die Anweisungen, der Mann kam sofort und nahm die Koffer mit. Sue schloß das Büro ab, rollte Miss Corning zum Fahrstuhl, dann auf die Straße und winkte einem Wagen. »Wo wohnen Sie, mein Kind?« fragte Miss Corning. Sue nannte ihre Anschrift. Miss Corning erklärte dem Taxifahrer: »Wir werden erst die junge Dame in ihrer Wohnung abliefern, und danach können Sie mich ins Hotel Arthenium bringen. Helfen Sie mir, den Rollstuhl zusammenzulegen.« In Miss Cormings Art lag etwas, was Chauffeure veranlaßte, automatisch zur Mütze zu greifen. »Jawohl, Madam«, sagte er. Mit verblüffendem Geschick rollte sich Miss Corning neben die offene Wagentür. Sie konnte, wie Sue beobachtete, genügend Gebrauch von ihren Beinen machen, um dem Fahrer zu helfen, als er sie ins Auto setzte, aber einen Augenblick lang stützte sie sich so schwer auf das Mädchen, daß Susan einen Eindruck von der fast unwahrscheinlichen Kraft der langen Finger erhielt, die sich in ihre Schulter gruben. Schließlich saß -2 7 -
Miss Corning im Wagen, der Rollstuhl wurde zusammengelegt und mit den beiden Handkoffern vorn verstaut. Sue stieg an der anderen Seite ein. »Ach übrigens«, sagte sie, »ich habe Ihnen noch nicht den Rest der zweihundert Dollar zurückgegeben. Die Koffer haben mit der Taxifahrt 76 Dollar und 30 Cent gekostet. Hier ist auch das Geld, das Sie mir am Flugplatz für Spesen gegeben haben.« Sue gab ihr den Kassenschein, öffnete ihr Portemonnaie und wollte auch den Rest des Geldes herausholen. »Nicht nötig, mein Kind, lassen wir’s dabei«, sagte Miss Corning. »Sie haben heute einen strammen Tag gehabt. Ich muß anerkennen, daß Sie sich sehr eingesetzt haben. Es ist eine Freude, anständige Mitarbeiter zu finden, wirklich, eine große Freude. Man trifft sie gar nicht so oft. Sie sind ehrlich. Glauben Sie wirklich, daß ich die ersten fünf Geldscheine für Zehndollarnoten gehalten habe? Ich wollte Sie nur prüfen. Hätten Sie mir gesagt, es wären Zehner, hätte ich Sie auf der Stelle entlassen. Sie sind ehrlich; Sie sind loyal; Sie sind ein nettes Ding.« »Wieso... ich... vielen Dank«, sagte Sue ganz überwältigt. ›Keine Ursache.« »Ich verstehe nicht, wie Sie das alles durchhalten«, begann Sue. »Sie müssen doch eine scheußliche Reise gehabt haben, bei dem langen Flug von Südamerika hierher und all dem Packen, dem Aufbruch und der Arbeit, die Sie im Büro...« »Ach, Unsinn!« unterbrach Miss Corning barsch. »Das war gar nichts. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Ich hab’ in Miami Zwischenstation gemacht und ein heißes Bad genommen. Ich bin taufrisch.« »Sie möchten doch gewiß lieber, daß ich mit Ihnen ins Hotel komme und...« »Wozu denn?« fuhr Miss Corning sie an. »Ich bin hier ganz zu Hause. Ich mag nicht betreut werden wie ein Krüppel, junge Dame. Ich kann allein zurechtkommen, und wenn Sie mich erst -2 8 -
besser kennen, werden Sie merken, daß ich sehr selbständig bin. So, lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich. Ich möchte nachdenken und nicht schwatzen. Wenn ich etwas von Ihnen hören will, werde ich Sie fragen. Solange ich nicht frage, verhalten Sie sich still.« »Jawohl, Miss Corning«, sagte Sue. Sie fuhren schweigend bis vor Susans Wohnung. »Es war schrecklich weit«, sagte sie entschuldigend. »Überhaupt nicht«, antwortete Miss Corning. »Wenn ich direkt ins Hotel gefahren wäre, hätten Sie sich bestimmt keine Taxe genommen. Sie wären ausgestiegen und mit einem Bus völlig erschöpft heimgekommen. Nun können Sie ein heißes Bad nehmen und sich ausruhen. Ich überlasse es Ihnen, Mr. Campbell ausfindig zu machen und ihm zu sagen, daß ich ihn heute abend um acht Uhr fünfundvierzig sehen möchte.« »Was soll ich antworten, wenn er wissen will, was heute vor sich gegangen ist?« »Sagen Sie ihm die Wahrheit. Lügen Sie niemals jemand an. Ich verlange keine Lügen von meinen Angestellten, und ich lüge selbst nicht. Wenn er fragt, antworten Sie.« »Aber... wenn er mich nun fragt, ob Sie zufrieden sind?« »Dann sagen Sie ihm, daß ich ihn für einen Betrüger halte. Das habe ich gesagt, und das ist mein Ernst. Er wird mir schon noch ein paar Erklärungen geben müssen. Auf Wiedersehen, Sue.« »Auf Wiedersehen, Miss Corning.« Sue stieg aus und blieb am Randstein stehen, während der Wagen mit Miss Corning davonfuhr, die steif wie ein Pfahl saß, mit völlig ausdruckslosem Gesicht und starr geradeaus gerichteten dunklen Brillengläsern. Sue seufzte tief auf und holte ihren Schlüssel heraus.
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2 Um achtzehn Uhr zwanzig läutete das Telefon bei Susan Fisher, und Endicott Campbells ungeduldige und verärgerte Stimme kam krächzend über den Draht. »Was, zum Teufel, fällt Ihnen denn ein, daß Sie im Golfklub anrufen? Sie wissen doch schließlich, daß ich am Wochenende nicht gestört werden will und daß ich Frauen verabscheue, die herumtelefonieren und schnüffeln, wo ich bin und was ich tue. Also, was ist los?« Ärgerlich gab Susan zurück: »Ich möchte auch lieber mein Wochenende für mich haben. Den ganzen Tag habe ich gearbeitet und...« »Es dürfte ein kleiner Unterschied in unserer Stellung sein«, unterbrach sie Campbell, »und in unserer Bedeutung für die Firma ebenfalls«, fügte er nachdrücklich hinzu. »Ich schmeichle mir, daß ich unersetzlich bin. Sie sind es nicht. Nun reden Sie.« »Zunächst: Ihr Sohn kam ins Büro mit einem Schuhkarton, der eine Menge Hundertdollarscheine enthielt, und sagte, es sei seines Vaters Schatz, und er und sein Vater hätten Schätze getauscht.« »Mit einem was?« fragte Campbell verständnislos. »Einem Schuhkarton mit einer ganzen Menge Hundertdollarnoten darin. Er sah ganz nett gefüllt aus.« »Haben Sie das Geld nicht gezählt?« »Nein.« »Und Sie haben keine Idee, wieviel drin war?« »Es müssen Tausende gewesen sein.« »Sie sagen, Carleton hatte den Karton?« »Ja.« »Sie sind ja verrückt.« »Na gut«, sagte Susan. »Ich bin also verrückt. Aber Ihr Sohn hatte den Karton und sagte, er gehört Ihnen. Das ist alles, was ich darüber weiß.« »Wo ist der Karton jetzt?« -3 0 -
»Ich habe ihn in den Safe gestellt.« »Susan, das alles verstehe ich nicht. Ich kann doch nicht... nein, ich habe keinen Schatz... ich weiß nichts von einem Schuhkarton, der mit Hundertdollarscheinen gefüllt ist. Was steckt dahinter? Was wollen Sie eigentlich damit bezwecken? Mein Sohn hat Ihnen niemals einen mit Geld gefüllten Karton gegeben. Das ist unmöglich! Absurd!« »Na gut - dann bin ich eben auch eine Lügnerin.« »So deutlich wollte ich es gar nicht sagen, aber Sie sind offensichtlich völlig außer sich. Irgend etwas stimmt nicht. Sie sagen, daß Sie den Karton mit dem Geld in den Safe gestellt haben?« »Ja.« »Gut, dann muß er ja noch da sein, und wir wollen versuchen, die Angelegenheit zu klären. Ich habe meinen Sohn mit einem Karton spielen lassen, der ein Paar Abendschuhe enthält. Der Gedanke ist einfach absurd, daß Geld darin gewesen sein könnte. War das der ganze Grund, weshalb Sie mich anrufen? Diese irre Geschichte von meinem Sohn und einem Schuhkarton voller...« »Und Amelia Corning ist heute morgen mit dem Flugzeug angekommen und hat mich den ganzen Tag im Büro festgehalten und verlangt, daß Sie heute abend pünktlich um 8.45 Uhr bei ihr vorsprechen, und ich soll Ihnen ausrichten, wenn sie sagt, 8.45 Uhr, meint sie...« »Was?« Endicott Campbell brüllte ins Telefon. »Amelia Corning ist hier«, sagte Susan. »Sie kann nicht hier sein!« »Schön, ich lüge also wieder. Und wenn ich denn schon so ein Lügenbold bin, kann ich vermutlich nichts weiter tun als guten Abend zu sagen.« Entrüstet warf sie den Hörer auf die Gabel. Sie überlegte kurz, holte sich dann das Telefonbuch und suchte die Nummer von Rechtsanwalt Perry Mason heraus. -3 1 -
Neben der Büroadresse und der Telefonnummer stand vermerkt: Nachts über Drake-Detektei. Susan rief bei der Drake-Detektei an. Als sich die Telefonzentrale meldete, war Susan so aufgeregt, daß sie ihr Anliegen heraussprudelte, ohne dem Mädchen am anderen Ende Zeit für eine Antwort zu lassen. »Ich muß Mr. Mason sprechen«, sagte sie. »Ich muß ihn unbedingt noch heute abend sprechen. Es ist äußerst wichtig. Hier spricht Susan Fisher, und ich habe Ihre Nummer aus dem Telefonbuch. Sie steht da als Mr. Masons Nummer für Nachtanrufe...« »Einen Augenblick«, unterbrach die Telefonistin endlich, »ich kann Sie mit Mr. Drake selbst verbinden. Er ist gerade im Büro.« Einen Augenblick später sagte eine ruhige, konzentrierte Männerstimme: »Hier spricht Paul Drake. Wo brennt’s denn?« Susan Fisher redete wieder. Drake begann allerhand zu fragen, und bevor sie es merkte, hatte die ruhige Klarheit seiner Stimme ihre Nerven schon beruhigt; sie gab ihm einen zusammenhängenden Bericht der Ereignisse. »Wo sind Sie jetzt?« fragte Drake. Sie erklärte es ihm. »Ich will versuchen«, sagte Drake, »mit Mr. Mason Verbindung aufzunehmen und Sie dann wieder anrufen. Warten Sie, bis Sie wieder von mir hören.« Susan Fisher legte auf, lief ins Badezimmer, legte frisches Rouge auf, puderte sich und wollte gerade beginnen, ihre Lippen nachzuziehen, als das Telefon läutete. Sie lief an den Apparat, hob ab und fragte erwartungsvoll: »Ja?« Endicott Campbell meldete sich.
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»Susan«, sagte er, »was, zum Teufel, soll das heißen? Ich versuche, Sie anzurufen, und Ihre Nummer ist ständig besetzt. Ich will die Sache jetzt geklärt haben. Wo ist Miss Corning?« »In ihrer Suite im Hotel Arthenium.« »Die Suite war erst für Montag bestellt.« »Ich weiß, aber da sie nicht belegt war, konnte sie schon heute einziehen.« »Sie sagen, sie hat die Geschäftsbücher durchgesehen?« »Sie hat mich den ganzen Tag damit in Atem gehalten.« »So etwas schätze ich gar nicht.« »Meinen Sie, mir macht es Spaß? Sie will Sie heute abend Punkt 8.45 Uhr im Hotel sprechen.« »Gut, gut. Und ich will Sie Punkt acht Uhr im Büro sprechen«, sagte Campbell. »Ich glaube nicht, daß ich das einrichten kann.« »Warum nicht?« »Weil ich den ganzen Tag gearbeitet habe und jetzt zu...zu einer Verabredung will.« »Rückgängig machen.« »Ich kann nicht um acht Uhr im Büro sein.« »Also gut. Ich erwarte Sie um 8.30 Uhr in der Halle des Hotel Arthenium. Bis dahin werden Sie Ihre Verabredung rückgängig machen und Ihr Privatleben so weit klären, daß Sie für mich Zeit haben. Wenn Sie nicht kommen, sind Sie entlassen.« Er legte grußlos auf. Nach einigen Minuten läutete das Telefon wieder, und jetzt war es die beruhigende Männerstimme. »Hier Paul Drake«, sagte der Detektiv. »Mr. Mason und seine Privatsekretärin, Miss Street, essen im Café Candelabra. Sie sind etwa um acht Uhr damit fertig, und Mr. Mason sagt, wenn es eine sehr wichtige Sache sei, will er es so einrichten, daß er Sie um acht Uhr sprechen kann.« »Aber das ist ja direkt neben dem Hotel Arthenium!« rief Susan Fisher. -3 3 -
»Stimmt.« »O ja, ich gehe hin. Ich bin Ihnen ja so dankbar. Ich... o bitte, sagen Sie Mr. Mason, daß ich ihm sehr dankbar bin.«
3 Della Street blickte über den Rand ihrer Tasse hinweg und sagte leise: »Wenn mich nicht meine Fähigkeit, einen Gesichtsausdruck zu deuten, im Stich läßt, handelt es sich bei der jungen Frau, die gerade ohne Begleitung eingetreten ist und jetzt beim Eingang steht, um das Mädchen, das mit Paul Drake telefoniert hat und das so unglücklich über den unehrlichen Geschäftsleiter ihrer Firma ist.« Mason, der mit dem Rücken zum Eingang saß, sagte: »Geben Sie mir einen Steckbrief, Della. Machen Sie mir den Spaß, sie mit den Augen einer Frau zu schildern.« »Vom Männerstandpunkt aus nicht schlecht«, begann Della Street. »Gute Figur und Kurven, wo sie hingehören. Recht zurückhaltend, ernst...« : »Verschonen Sie mich mit dem Männerstandpunkt«, warf Mason ein. »Was Männer an Frauen beobachten, ist bekanntlich ungenau. Ich möchte wissen, welchen Eindruck sie auf Frauen macht.« »Ich weiß nicht, was sie verdient«, begann Della wieder. »Aber Sekretärinnengehalt vorausgesetzt, läßt ihre Garderobe darauf schließen, daß sie allein in der Welt steht. Sie unterstützt keine Mutter, keinen Vater oder jüngeren Bruder. Sie weiß außerdem, wie man seine Sachen trägt. Sie ist akkurat das, was Sie elegant nennen würden.« »Haarfarbe?« »Dunkel, ein dunkles Kastanienbraun.« »Von Natur?« fragte Mason.
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»Das weiß der Himmel«, antwortete Della. »Aus dieser Entfernung! Aber vielleicht kann man es auch aus der Nähe nicht genau sagen.« »Augen?« »Ziemlich dunkel. Von hier aus nicht zu erkennen. Entweder schwarz oder dunkelbraun. Sie ist eine kleine Dame, aber nervös; versucht energisch, sich zusammenzunehmen... oh, jetzt hat sie den Oberkellner erwischt. Und da kommt sie schon.« Der Ober bat um Entschuldigung. »Die junge Dame sagt, daß sie mit Mr, Mason verabredet ist.« Mason stand auf. Della Street fragte: »Sind Sie Susan Fisher?« und reichte ihr, als Sue nickte, die Hand. »Ich bin Della Street, Mr. Masons Sekretärin, und das ist Mr. Mason.« »Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Mason. »Ich... es tut mir schrecklich leid, Mr. Mason. Ich hätte Sie nicht beim Essen stören sollen, aber die Sache ist so schrecklich wichtig.« »Na, dann wollen wir hören, um was es sich handelt«, sagte Mason. »Möchten Sie ein Dessert, einen Likör oder Kaffee? Ich nehme an, daß Sie bereits gegessen haben?« »Ja, eine Kleinigkeit. Ich muß in genau dreißig Minuten in der Halle des Arthenium sein.« »Dann sollten wir vielleicht keine Zeit mit Kaffeetrinken vergeuden. Nehmen Sie Platz, und erzählen Sie mir alles.« Susan Fisher brauchte zehn Minuten zu einer raschen Schilderung der Ereignisse. Als sie schwieg, zogen sich Masons Augen zusammen. Er blickte auf die Uhr. »Wir haben keine Zeit mehr, die Sache richtig anzupacken.« »Warum nicht? Es sind doch noch zwanzig Minuten.« »Nein, ich meine, Zeugen zu beschaffen, die Ihnen den Inhalt des Schuhkartons bestätigen können.« -3 5 -
»Meinen Sie, das ist nötig?« Mason nickte. »Sie hätten sich sofort einen Zeugen besorgen sollen, sobald Sie entdeckten, was der Karton enthielt.« »Aber warum?« »Sie wissen nicht, wieviel er enthielt, und niemand sonst weiß es.« »Ja, gewiß. Aber der Karton steht doch unangetastet im Safe.« »Wer weiß denn, daß er unangetastet ist?« »Na, ich doch! Ich...« Sie verstummte erschrocken. »Eben«, sagte Mason. »Sie behaupten, daß der Inhalt des Kartons nicht angerührt worden ist, aber stellen Sie sich vor, jemand erklärt, es fehlen zweitausend oder fünftausend Dollar.« »Ja«, sagte sie. »Jetzt sehe ich es ein. Aber warum sollte irgend jemand das tun?« Mason sagte: »Weil Sie offenbar Unregelmäßigkeiten in der Firma festgestellt haben. Unter diesen Umständen könnte ein Schuldiger auf den Gedanken kommen, zunächst einmal Sie selbst in die Sache zu verwickeln.« Unvermittelt winkte Mason den Kellner heran. »Ich glaube, wir gehen am besten so früh wie möglich ins Arthenium«, sagte er zu Susan. »Selbst wenn Campbell fünf Minuten zu früh auftaucht, hätten wir dann immerhin noch fünf Minuten für uns, und die können wir vielleicht notwendig brauchen.« »Dann wollen Sie... Sie wollen mich also vertreten?« Mason nickte. »Wenigstens bis wir die Situation durchschauen.« Dankbar legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Ach, Mr. Mason, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es für mich bedeutet. Allmählich merke ich nämlich... Wirklich, das Ganze könnte doch eine Falle sein und dann... Wirklich, ich bin in einer prekären Situation, was dieses Geld betrifft.«
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»Carleton ist wohl noch zu klein, als daß er das Geld gezählt haben könnte?« »Ja, wahrhaftig.« »Was meinen Sie denn, wieviel es war?« »Ich kann es wirklich nicht sagen. Der Schuhkarton war bis obenhin mit Hundertdollarscheinen vollgestopft. Es mußte schon eine sehr große Summe gewesen sein.« Mason nickte. Der Kellner brachte die Rechnung, Mason zeichnete sie ab und nickte Della Street zu. »Es ist nur einen Block weiter«, erklärte er. »Sinnlos, den Wagen zu holen und dann beim Arthenium nach einem Parkplatz zu suchen. Wir gehen zu Fuß.« Unterwegs sagte Mason: »Wenn wir jetzt in die Halle kommen, stellen Sie mich Campbell, falls er schon da ist, als Ihren Anwalt vor. Ist er noch nicht da, stellen Sie mich vor, sobald er auftaucht, und dann lassen Sie mich reden.« »Das wird er übelnehmen«, warnte Susan Fisher. »Ich weiß. Aber er wird mir noch vieles mehr übelnehmen. Ich glaube, Sie brauchen jemanden, der Sie vom ersten Augenblick an in der richtigen Weise vertritt.« »Aber schließlich ist doch Miss Corning der eigentliche Chef. Sie steht über Mr. Campbell. Das müßte ich ihm erklären, und dann sollten wir vielleicht abwarten, ob er mir dann noch den Vorwurf macht, daß ich...« »Ich bin ganz und gar nicht Ihrer Meinung«, sagte Mason. »Aber nur deshalb wollte ich Sie gern dabeihaben - um ihm zu sagen, daß ich gesetzlich nicht nur berechtigt war, so zu handeln, sondern sogar dazu verpflichtet.« Mason sagte: »Ich denke an den mit Geld gefüllten Schuhkarton.« »Na ja, der steht im Safe und...« »Und«, fiel ihr Mason ins Wort, »wenn sich nun Endicott Campbell einfach entschlossen hat, ins Büro zu gehen, den Safe zu öffnen, den Karton herauszunehmen und irgendwohin -3 7 -
zu bringen, wo er nie wieder gefunden wird - dann gibt es für Sie keine Möglichkeit auf Erden zu beweisen, daß der Schuhkarton jemals vorhanden war.« »Halten Sie es für möglich, daß er das tut?« fragte Sue. »Ich weiß es nicht«, sagte Mason, »aber wenn ein Mann einen mit Hundertdollarnoten randvoll gefüllten Schuhkarton in seinem Schrank stehen hat, halte ich nicht überaus viel von seiner Ehrlichkeit. Und die Steuerbehörde teilt vermutlich meine Zweifel. - Nun, da sind wir. Gehen wir hinein.« Susan Fisher ging endlich ein Licht auf. Stumm vor Schreck trat sie durch die Tür, die Mason ihr offenhielt. Della Street nahm Susans Arm. »Ist schon gut, Miss Fisher«, sagte sie. »Verlassen Sie sich nur auf Mr. Mason. Er wollte Ihnen ja nur erklären, warum er die Unterhaltung selbst führen will.« »Aber, es kann doch nicht...«, begann Susan Fisher. »Wirklich, Mr. Campbell würde so etwas bestimmt nicht tun. Aber wenn...« »Nun eben«, sagte Della Street, »wenn er es tut, was dann?« »Das weiß ich auch nicht«, gab Susan zu. »Sehen Sie ihn?« fragte Mason, als sie die Halle betraten. Sie schüttelte den Kopf. Mason sah stirnrunzelnd auf die Uhr. »In dieser Situation geht es um jede Minute. Wie pünktlich ist er denn sonst?« »Sehr pünktlich.« »Na, dann wollen wir hoffen, daß er heute ein bißchen zu früh kommt.« Mason ging mit großen Schritten auf und ab. »Eins steht fest«, sagte Susan, »er muß genau um 8.45 Uhr hier sein. Diesen Zeitpunkt hat Miss Corning festgesetzt und hinzugefügt, daß sie sich auch nicht eine Minute Verspätung gefallen läßt.« Sie warteten bis 8.45 Uhr.
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Mason wurde ungeduldig. »Ich möchte ihn sprechen, bevor er zu ihr hinaufgeht. Ich muß wissen, was...« »Da kommt er.« Susan deutete mit einer Kopfbewegung auf die Eingangstür. Mason besah sich den Mann, der mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zuging: eine breitschultrige Figur mit recht schmaler Taille und dickem Nacken. Im Gesicht des Mannes, der Ende Dreißig sein mochte, fielen das schwere Kinn und der nervöse Blick auf. Er kam direkt auf sie zu, anscheinend so in Gedanken, daß er Susan Fisher erst wahrnahm, als er unmittelbar vor ihr stand. »Susan«, sagte er, »was, in aller Welt, soll das bedeuten?« »Ich möchte Sie mit Mr. Perry Mason, dem Anwalt, bekanntmachen und mit seiner Sekretärin, Miss Della Street. Mr. Mason vertritt mich.« Hätte sie eine Pistole gezogen und einen Schuß auf Endicott Campbell abgegeben, hätte er nicht erschrockener zurückprallen können. »Ein Rechtsanwalt!« rief er. »Genau das«, mischte sich nun Mason ein und reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Mr. Campbell. Ich vertrete Susan Fisher.« »Aber wozu, in aller Welt, braucht sie denn einen Anwalt?« »Das wird sich herausstellen«, antwortete Mason. »Möchten Sie jetzt mit ihr reden?« »Ich habe sie hierherbestellt, weil ich bestimmte private Angelegenheiten und Dinge, die nur die Firma betreffen, mit ihr durchsprechen wollte. Einiges davon ist vertraulich. Ich möchte keine Zuhörer dabeihaben.« Mason zog seinen Vorteil aus Campbells Überraschung und ergriff nun die Initiative. »Da war doch die Sache mit dem Schuhkarton, der mehrere Hundertdollarnoten enthielt, Mr. Campbell. Sie schienen die Angaben meiner Klientin darüber in Zweifel zu ziehen, und das möchte ich jetzt geklärt haben.« -3 9 -
»Das gehört mit zu den Dingen, die ich geklärt haben möchte«, gab Campbell zurück und wandte sich wütend zu Susan Fisher um. »Also, Susan, was, zum Teufel, haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, sich hinter einem siebenjährigen Jungen zu verstecken und ihn in Ihre Unterschlagungen zu verwickeln?« »Wovon reden Sie überhaupt?« fragte Susan zurück. »Das wissen Sie ganz genau. Dieses Märchen, daß Carleton einen Karton voll Geld gehabt haben soll.« »Aber er hatte ihn doch.« »Quatsch!« sagte Campbell. »Er hatte keinen.« »Haben Sie ihn danach gefragt?« wollte Mason wissen. Campbell schnellte herum. »Ich brauche ihn nicht zu fragen. Und was mich betrifft, so haben Sie keine offizielle Funktion bei unserer Party hier.« Mason sagte: »Sie haben meiner Klientin gerade Unterschlagung vorgeworfen. Die Anschuldigung wurde in Gegenwart von Zeugen erhoben. Also, was meinen Sie mit Unterschlagungen?« »Sie weiß genau, was ich meine«, gab Campbell zurück. »Und ich glaube nicht, daß ich mich näher auslassen muß, bloß weil Sie hier herumlungern in der Hoffnung, daß Sie Anlaß für eine Beleidigungsklage finden... Aber schön, Mr. Mason, ich will Ihnen jetzt was sagen: Sie werden noch eine ganze Menge Wichtigeres zu tun kriegen, wenn Sie dieses Mädchen hier vertreten.« Er wandte sich wieder an Susan Fisher. »Sie hatten offenbar vor, mich in eine Falle zu locken, wenn ich Ihnen hier Vorwürfe mache. Deshalb begnüge ich mich jetzt damit, Ihnen Fragen zu stellen. Was ist los mit diesem Karton voll Geld, von dem Sie mir am Telefon erzählt haben?« »Was wollen Sie darüber wissen?« »Wohin haben Sie das Ding gestellt?« »In den Safe.« »Und was haben Sie damit gemacht?« -4 0 -
»Nichts. Ich habe den Karton im Safe gelassen.« »Aber da ist er nicht«, sagte Endicott Campbell. »Was?« rief sie aus. »Und vor allem: Sie wissen das ganz genau. Aber ich will keine Anschuldigungen erheben, da Sie ja von einem so tüchtigen Anwalt begleitet sind. Doch das will ich in aller Form feststellen, Susan Fisher: Sie haben mir von einem Karton mit Hundertdollarscheinen berichtet, den Sie im Büro in Ihrem Besitz hatten. Nun fordere ich Sie auf, diesen Karton mit Hundertdollarscheinen herauszugeben.« »Ich schließe daraus«, sagte Mason trocken, »daß Sie schon im Büro gewesen sind.« Campbell drehte sich zu ihm um und funkelte ihn feindselig an. »Ich habe keinen Anlaß, diese Frage zu beantworten. Andererseits habe ich keinen Anlaß, sie nicht zu beantworten. Also, ich war im Büro und habe den Safe geöffnet. Ich habe nach dem Karton gesucht, aber der Karton war nicht da.« »Und was beweist das?« fragte Mason. »Es beweist, daß sie lügt.« »Wieso?« »Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Campbell. »Machen wir es so: Sie soll beweisen, daß sie nicht lügt. Sie hat keine Zeugen für die Höhe des Betrages, den der Karton enthielt. Sie hat nicht einmal Zeugen dafür, daß dieser Karton überhaupt existiert.« »Und Sie meinen, sie müßte Zeugen haben?« fragte Mason. »Es wäre eine empfehlenswerte Vorsichtsmaßnahme gewesen, mit der sie ihre Glaubwürdigkeit erhärten könnte.« »Sie gingen also ins Büro, und im Safe stand kein Karton?« »Stimmt.« »Kein Geld, kein Karton?« »Kein Geld, kein Karton.« »Und wer waren Ihre Zeugen?« »Meine Zeugen? Was wollen Sie damit sagen?« -4 1 -
»Es wäre eine empfehlenswerte Vorsichtsmaßnahme gewesen«, wiederholte der Anwalt. »Wieso, Sie... Sie...!« Campbell schäumte. »In irgendeinem Stadium des Verhörs könnten Sie doch gefragt werden, ob irgend jemand bestätigen kann, daß Sie den Karton nicht gefunden haben.« »Ich habe ihn nicht gefunden, und mein Wort ist gut genug, um vor Gericht zu bestehen.« »Das wird von mehreren Umständen abhängen«, meinte Mason. »Zum Beispiel?« grinste Campbell. »Von der Art, wie Sie ins Kreuzverhör genommen werden«, antwortete Mason, »und wie Sie selbst sich beim Kreuzverhör benehmen. So, und jetzt haben Sie wohl eine Verabredung mit Amelia Corning?« »Stimmt.« »Ich möchte Amelia Corning sprechen«, erklärte Mason. Er wandte sich an Sue Fisher. »Welche Suite hat sie, Miss Fisher?« »Die Präsidentensuite im einundzwanzigsten Stock.« »Dann wollen wir hinauffahren«, sagte Mason. »Ich möchte Miss Corning ein paar Fragen stellen, und ich möchte außerdem sichergehen, daß Mr. Campbell keine Andeutungen macht oder Miss Corning gegen Sie aufbringt, ehe wir nicht die Möglichkeit haben, die Sache zu klären.« »Sie können nicht hinauf«, wandte Campbell ein. »Es handelt sich um eine private Verabredung. Das Ganze ist eine geschäftliche Angelegenheit, und Sie haben kein Recht, Ihre Nase hineinzustecken.« »Und wer«, fragte Mason, »sollte mich denn aufhalten?« Campbell straffte sich und warf dann einen Blick auf das gefurchte Gesicht und die breiten Schultern des Anwalts. »Bevor Sie sich allzuweit vorwagen«, sagte er, »sollten Sie vielleicht doch zur Kenntnis nehmen, daß man mich allgemein für einen sehr guten Boxer hält.« -4 2 -
»Und bevor Sie sich weiter vorwagen«, gab Mason zurück, »sollten Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß man mich für einen verteufelt guten Judokämpfer hält.« Damit drehte er Campbell den Rücken und ging auf die Fahrstühle zu. Della Street ergriff Susans Arm und folgte dem Anwalt. Campbell schien ihnen nachlaufen zu wollen, machte dann aber kehrt und sagte: »Gut, ich werde mir auf alle Fälle den Hausdetektiv holen.« Mason blieb einen Augenblick nachdenklich stehen und beobachtete Campbell. »Wird er jetzt den Hausdetektiv holen?« fragte Della Street. »Das weiß ich nicht. Aber zunächst wird er zum Telefon gehen, Miss Corning anrufen und sie bitten, uns nicht zu empfangen.« »Ich glaube sicher, daß sie mich empfangen wird«, meinte Susan Fisher. »Sie ist nett, und sie mag mich. Ihm mißtraut sie sowieso.« »Na, wir werden gleich Näheres wissen. Gehen wir«, schlug Mason vor. Sie fuhren mit dem Aufzug in den einundzwanzigsten Stock, und Susan führte sie zur Präsidentensuite. Mason drückte auf den Klingelknopf. Sie hörten die Glocke anschlagen, hörten aber auch drinnen im Raum ein Telefon anhaltend läuten. Mason klingelte noch einmal und klopfte dann. Stirnrunzelnd sagte er: »Sie wollte doch Campbell um 8.45 Uhr sprechen, Miss Fisher?« »Ja, und zwar auf die Minute.« Mason sah auf die Uhr. »Wir haben jetzt schon zwölf vor neun.« »Es sieht ihr ähnlich, genau dreißig Sekunden mit der Uhr in der Hand zu warten und dann fortzugehen«, meinte Susan Fisher. -4 3 -
»Aber sie braucht doch einen Rollstuhl?« »Ja. Sie kann zwar ein paar Schritte machen, muß sich dabei aber fest auf jemanden stützen. Sie erledigt so gut wie alles vom Rollstuhl aus.« Mason sah sich im Korridor um, als Campbell mit einem unauffällig gekleideten ernsthaften Mann aus einem Aufzug trat und auf sie zukam. »Der sieht mir sehr nach Hausdetektiv aus«, sagte Mason. »Hausdetektive habe ich mir anders vorgestellt«, bemerkte Susan. Mason lächelte. »So sehen sie alle aus.« »Wie sehen sie alle aus, Mr. Mason?« »So, wie die Leute sie sich nicht vorstellen«, antwortete Mason, trat dann auf den Hausdetektiv zu und sagte: »Hier in der Suite scheint niemand zu antworten.« »Sollte denn jemand antworten?« fragte der Mann. »Das möchten wir doch annehmen.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Der Gast dieser Suite ist kurz nach fünf Uhr heute nachmittag wieder ausgezogen.« »Wie?« rief Susan. »Ich bin gerade im Begriff, diese Angaben nachzuprüfen«, sagte der Hausdetektiv. »Nach unserer Liste ist die Suite nicht belegt. Die Rechnung wurde bar bezahlt, und die Dame, die hier eingezogen war, ließ sich wieder streichen.« Der Hausdetektiv nahm einen Schlüssel heraus und erklärte: »Ich möchte, daß die Anwesenden hier zur Kenntnis nehmen, daß ich nicht etwa eine Suite betrete, die in unseren Büchern als belegt geführt wird. Es handelt sich um eine nicht besetzte Suite. Ich gehe nur hinein, um mich davon zu überzeugen, daß die Zimmermädchen saubergemacht und frische Seife, Handtücher und Bettwäsche bereitgelegt haben.« Der Hausdetektiv schloß auf, öffnete die Tür weit und machte Della Street eine Verbeugung: »Damen haben den Vortritt.«
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Della und Susan Fisher traten ein, ihnen folgte Endicott Campbell, und den Schluß bildeten Mason und der Hausdetektiv. Es war eine geräumige Suite mit Fernsehapparat, Kühlschrank und einer kleinen Bar. Zwei Schlafzimmer, zwei Bäder und ein geräumiger Wohnraum gehörten ebenfalls dazu. Das Ganze war nicht nur leer, sondern in jenem Zustand von Sauberkeit und Ordnung, der unbenutzte Hotelzimmer charakterisiert. »Das habe ich mir gedacht«, bemerkte der Hausdetektiv. Campbell war mit dieser Feststellung nicht zufrieden. Er spähte überall herum, sah in die Badezimmer, inspizierte sämtliche Ecken, untersuchte die ungebrauchten Handtücher und warf sogar einen Blick unters Bett. Plötzlich wandte er sich an Susan Fisher. »Woher sollen wir jetzt wissen, daß Miss Corning überhaupt hiergewesen ist?« Mason fing ihren Blick auf und gab ihr ein Zeichen zu schweigen. »Wir könnten uns die Hotelliste ansehen«, schlug er vor. »Genau das werden wir jetzt tun«, erwiderte Endicott Campbell. »Da wir ja nun so etwas wie eine gemeinsame Untersuchung begonnen haben, machen wir am besten so weiter«, schlug Mason vor. »Bitte nicht«, protestierte der Hausdetektiv. »Wir wollen alles vermeiden, was das Hotel in die Presse bringen könnte.« »Natürlich«, sagte Mason. »Wir wollen aber auch die notwendigen Tatsachen feststellen, damit Sie nicht in die Öffentlichkeit geraten.« Der Hausdetektiv sah ihn aus schmalen Augen an. »Woher wollen Sie wissen, ob uns schon die Tatsachen allein nicht in die Presse bringen?« »Ich weiß es natürlich nicht«, sagte Mason munter, »aber ich setze voraus, daß Sie nichts zu verbergen haben, und ich weiß, -4 5 -
daß wir ebenfalls nichts zu verbergen haben. Ich bin ganz sicher, daß auch Endicott Campbell nichts zu verbergen hat.« »Das paßt mir nicht. Ich protestiere gegen die Unterstellung«, sagte Campbell. »Welche Unterstellung?« fragte Mason. »Daß ich etwas zu verbergen hätte.« »Ich habe doch ausdrücklich gesagt, Sie hätten nichts zu verbergen.« »Ach was, ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Also los, wir sehen uns die Liste an.« Im Empfangsraum erklärte der Hausdetektiv dem Portier die Lage. Der Mann war auf der Hut und drückte sich vorsichtig aus. »Ich hatte heute morgen keinen Dienst. Aber ich weiß, daß der Gast in einem Rollstuhl angekommen ist, begleitet von einer jungen Dame, die auf Verlangen von Miss Corning die Eintragung ins Gästebuch vornahm. Die Suite wurde ihr überlassen, obwohl sie erst für Montag reserviert war. Ich habe mit dem Angestellten gesprochen, der heute morgen Dienst hatte, und weiß von ihm, daß die Dame auf seine Frage, wie lange sie bleiben wollte, von zwei bis drei Wochen gesprochen hat. Die junge Dame in ihrer Begleitung hat das Register ausgefüllt.« »Das war ich«, ergänzte Susan Fisher. »Sie bat mich, für sie zu schreiben, weil sie ja in ihrem Rollstuhl saß.« »War das nicht völlig unkorrekt?« fragte Campbell den Angestellten. »Es war ungewöhnlich«, gab der Mann zu. »Aber nicht unkorrekt, weil Miss Corning ja sehr prominent ist und weil sie angegeben hatte, daß sie länger bleiben wollte. Soviel ich gehört habe, war ziemlicher Betrieb in der Halle, es wurde gerade Gepäck gebracht, und eine Frau im Rollstuhl erregt immerhin einiges Aufsehen.« »Das scheint sie wirklich geschafft zu haben«, bemerkte Campbell trocken.
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»Was uns interessiert«, sagte Mason, »ist das, was später passierte. Was wissen Sie darüber?« »Da muß ich Sie an den Kassierer verweisen. Ich hatte Dienst, als sie sich abmeldete. Ich sah sie fortgehen und überlegte, ob sie wohl ganz ausziehen wollte, aber dann las ich im Gästebuch, daß sie eine Weile hierzubleiben gedachte.« »Hatte sie denn ihre Koffer dabei?« fragte Mason. »Ja, ihr Gepäck hatte sie bei sich.« Der Portier wandte sich an den stellvertretenden Geschäftsführer, der sich seinerseits mit dem Kassierer in Verbindung setzte, worauf man erfuhr, Miss Corning sei nachmittags kurz nach fünf ausgezogen. Mason ging zum Türsteher, der den zusammengefalteten Geldschein in seiner Hand mit respektvollem Interesse betrachtete. »Eine Frau im Rollstuhl mit dunkler Brille«, begann Mason, »hat das Hotel ungefähr um fünf Uhr verlassen und...« »Gewiß, ich erinnere mich. Ich erinnere mich sehr gut an sie.« »Ist sie in einem Privatwagen oder in einer Taxe abgefahren?« »In einer Taxe.« »Kennen Sie den Chauffeur?« »Nein, leider nicht. Halt, einen Augenblick! Doch - ich erinnere mich an sein Gesicht. Er ist sehr oft hier, und... Augenblick, er kam vor kurzem zurück und stand hier mit seinem Wagen am Stand. Er ist... wir können uns die wartenden Wagen ansehen. Er müßte der vierte oder fünfte sein.« Die ganze Gruppe ging rasch den Gehsteig entlang, bis der Portier auf einen Wagen deutete. »Hier, der ist es.« Der Fahrer sah sie mißtrauisch an. »Was ist los?« fragte er und kurbelte das Fenster herunter.
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Mason erklärte: »Wir suchen eine alte Dame, die etwa um fünf Uhr das Hotel in einem Rollstuhl verließ. Sie rief Ihren Wagen, und wir...« »Stimmt«, sagte der Mann. »Ich hab’ sie zum Bahnhof gebracht.« »Und dann?« »Mehr weiß ich nicht. Sie hat mich bezahlt und sich einen Gepäckträger genommen.« »Sie ist vermutlich mit dem Zug abgefahren?« »Das nehme ich an.« »Das wäre wohl alles, was wir hier erfahren können«, meinte Mason. Er dankte dem Fahrer und ging wieder zum Hoteleingang zurück. Endicott Campbell wartete eine Sekunde, dann beschleunigte er seinen Schritt und stellte sich dem Anwalt in den Weg. »Passen Sie mal auf, Mason«, sagte er, »ist es Ihnen inzwischen aufgegangen, daß diese Frau die Geschäftsberichte der Firma mit sich genommen hat, vertrauliche und äußerst wichtige Papiere? Papiere, die in der Firma nicht entbehrt werden können? Berichte, die niemals hätten entfernt werden dürfen?« »Welcher Anteil vom Kapital der Gesellschaft gehört Miss Corning?« wollte Mason wissen. »Ungefähr neunzig Prozent«, antwortete Campbell. Mason sah ihn lächelnd an. »Das ist die Antwort auf Ihre Frage.« »Einen Augenblick.« Campbell pflanzte sich kriegerisch vor ihm auf. »Das ist sie nicht! Sie können eine solche Angelegenheit nicht mit einem Witz abtun.« »Warum nicht?« »Weil ich für die Geschäftspapiere verantwortlich bin.« »Dann will ich es anders formulieren: Wem sind Sie verantwortlich?« »Den Aktionären.« -4 8 -
»Na also. Ich frage Sie noch einmal: Wie viele Aktien hat Miss Corning?« »Zum Teufel!« rief Campbell, drehte sich auf dem Absatz um und ging rasch davon. Mason grinste den Hausdetektiv an, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Wenn wir die Sache richtig anpacken, wird es kein Aufsehen geben.« »Tun Sie, was Sie können«, bat der Mann. »Sie wissen ja, solche Sachen machen sich nicht gut in der Presse. Unser Hotel ist sehr konservativ und...« »Verstehe«, sagte Mason. »Wir tun alles, was wir können, um mit Ihnen zusammenzuarbeiten, und Sie...« Mason brach unvermittelt ab. Der Hausdetektiv grinste. »Na klar. Wir werden auch mit Ihnen zusammenarbeiten, Mr. Mason. Stehe immer zu Ihrer Verfügung. Mein Name ist Bailey. Colton Bailey. Fragen Sie nach mir, und ich will tun, was ich kann.« Mason dankte ihm und schlug dann den beiden jungen Frauen vor, die unterbrochene Mahlzeit zu beenden. Sie gingen zurück zum Candelabra. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte Susan Fisher. »Aber ich dachte, Sie wären schon mit dem Essen fertig gewesen.« »Waren wir auch«, antwortete Mason, »aber es war nicht gerade nötig, daß der Hausdetektiv merkte, wohin wir gehen.« »Und wohin gehen wir?« »In mein Büro«, sagte Mason. »Wir wollen Paul Drake auf die Spur von Amelia Corning setzen und versuchen, sie zu erreichen, ehe Endicott Campbell das gelingt. Als er uns nämlich verließ, hatte ich den lebhaften Eindruck, daß er ein bißchen den Amateurdetektiv spielen möchte. Wenn ich mich nicht irre, ist er auf dem Weg zum Bahnhof und wird dort versuchen, den betreffenden Gepäckträger ausfindig zu machen.«
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»Fürchten Sie denn nicht, daß er Sie überrunden wird?« fragte Susan. »Überhaupt nicht. Man kann solche Nachforschungen ja auf verschiedene Weise anstellen. Im Büro haben wir einen Fahrplan, können also feststellen, welche Züge um diese Zeit abgefahren sind. Paul Drake soll ein paar Fachleute ansetzen, und dann wissen wir bald, welche Fahrkarten verkauft worden sind. Campbell kann vielleicht vor uns herausbringen, was sie im Bahnhof tat, aber ich gehe jede Wette ein, daß wir vor ihm wissen, wo sie jetzt steckt. Falls er nicht so gerissen ist, Berufsdetektive zu engagieren.« »Was tun wir danach?« »Dann warten wir in meinem Büro, bis wir Bescheid erhalten. Eine Frau, die fast blind und an den Rollstuhl gefesselt ist, kann sich ja nicht einfach in Luft auflösen.« Der Anwalt ließ sich vom Parkwächter des Restaurants seinen Wagen bringen und fuhr zu seinem Büro. Della Street rief Paul Drake an und bat ihn, zu ihnen zu kommen. Nach wenigen Augenblicken klopfte denn auch der Detektiv mit seinem verabredeten Signal an, und Della öffnete ihm. Mason sagte: »Das ist Susan Fisher von der Firma Corning. Die Gesellschaft besteht mehr oder weniger aus einer einzigen Person, der vermögenden Amelia Corning, die in Südamerika lebt. Miss Corning ist etwa fünfundfünfzig Jahre alt, fast blind, trägt starke blaue Gläser und muß, wahrscheinlich wegen einer Arthritis, die meiste Zeit im Rollstuhl sitzen. Sie war im Arthenium abgestiegen, hat sich dort aber heute um fünf wieder abgemeldet und ist mit einer Taxe zum Unionbahnhof gefahren.« Drake wirkte träge wie ein Bär nach dem Winterschlaf. Er hörte mit einem sanften Gesicht zu, das aber nur sein berufliches Interesse an Susan Fisher tarnen sollte, während er sie von oben bis unten abschätzte. »Was soll nun unternommen werden?« fragte er Mason. »Du sollst sie finden.« -5 0 -
Drake wandelte geruhsam zum äußeren Büro. »Ich werde das Telefon in deinem Empfangsraum benutzen, wenn es dir recht ist. Dann stört es weniger.« Er warf Susan Fisher einen aufmunternden Blick zu und verschwand. »Ist er tüchtig?« fragte Susan. »Der Beste«, antwortete Mason. Drake kehrte nach etwa zehn Minuten zurück. »Der Draht glüht, Perry«, sagte er. »Ich habe allerhand Leute angesetzt. Sie sollen bei den Taxi-Unternehmen nachfragen und versuchen, über Funk etwas zu erfahren. In zehn Minuten, wenn nicht früher, sind drei Leute von mir am Bahnhof. Sie werden sich beim Taxistand erkundigen, alle Gepäckträger vornehmen und an den Fahrkartenschaltern nachfragen.« »Gut gemacht, Paul«, sagte Mason. Della Street überreichte Paul Drake einen Bogen Papier. »Hier sind die Abfahrtszeiten aller Züge der Southern Pacific und der Santa-Fé-Bahn, die nach vier Uhr abgehen.« Paul Drake faltete den Bogen zusammen, steckte ihn in die Tasche, sagte: »Danke, Della«, und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Große Geister finden den gleichen Ausweg.« »Soll das heißen, daß du selbst schon den Fahrplan studiert hast, Paul?« fragte Mason. »Es soll heißen, daß meine Leute als allererstes, wenn sie zum Bahnhof kommen und mit einem raschen Blick in den Wartesaal festgestellt haben, daß sie nicht noch dasitzt, die Abfahrtszeiten notieren. Wenn sie in einem Zug sitzt, Perry, nehme ich an, daß du es wissen möchtest, noch bevor sie das Ziel ihrer Reise erreicht.« »Klar.« »Hast du irgendwelche Vermutungen?« Mason sagte: »Ein Zug geht nach Sacramento, über Mojave. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Person, die wir suchen, nach Mojave fährt.« -5 1 -
»Himmel!« rief Susan Fisher aus. »Ich wette, daß ist genau das, was sie tut.« »Wenn sie auf diesen Zug gewartet hat«, mischte sich Della Street ein, »muß sie sich eine ganze Weile im Warteraum aufgehalten haben.« Mason nickte. »Warum sollte sie dann aber das Hotel so früh verlassen und zum Bahnhof gefahren sein? Hätte sie sich nicht in ihrem Luxusapartment die Zeit besser vertreiben können?« »Langsam, langsam«, sagte Paul Drake. »Du zäumst das Pferd von hinten auf. Du gehst von einer Vermutung aus und versuchst, ihr die Tatsachen anzupassen. Wir wollen lieber zunächst Tatsachen schaffen und dann daraus unsere Schlüsse ziehen. Einverstanden?« »Einverstanden«, grinste Mason. »Dann gehe ich jetzt in mein Büro und telefoniere von dort aus.« Als er das Büro verlassen hatte, wandte sich Susan Fisher besorgt an Mason. »Sie haben noch gar nicht von Geld gesprochen, Mr. Mason.« »Stimmt, das habe ich nicht.« Mason lächelte ihr zu. »Ich bekomme Gehalt, Mr. Mason, und... also, ich wollte in Gegenwart von Mr. Drake nicht davon anfangen, aber das kann ich einfach nicht bezahlen, all diese Detektive und diese ganze kostspielige Aktion.« »Gewiß, aber im Augenblick ist es ja noch meine Sache«, antwortete Mason. »Trotzdem, Mr. Mason, ich besitze nicht so viel, daß...« Mason sagte: »Miss Corning hat genug Geld.« Sie zog die Augenbrauen hoch. Mason lächelte nur. Nach einem Augenblick fing Susan wieder an. »Aber Miss Corning wird bestimmt nicht für meinen Rechtsbeistand aufkommen, Mr. Mason.« -5 2 -
»Das nicht, aber ich nehme an, daß wir Miss Corning bei einer Sache helfen können, an der ihr außerordentlich viel liegt. Das macht die Situation so interessant.« Della Street lächelte Susan Fisher an. »Holen Sie sich eine Illustrierte aus dem Zimmer draußen, und machen Sie es sich bequem. Wir haben einiges zu tun, und wir werden noch jede Minute brauchen.« Della Street ging in ihr Zimmer, und gleich ratterte ihre Schreibmaschine. Mason nahm ein Exemplar der »Neuen Gerichtsentscheidungen« zur Hand und erklärte Sue Fisher: »Ich habe so viel zu tun, daß es mir kaum möglich ist, auf dem laufenden zu bleiben. Gäbe es nicht solche Augenblicke wie diesen, käme ich überhaupt nicht dazu.« Susan nickte, holte sich aus dem Wartezimmer ein paar Zeitschriften und kam auf Zehenspitzen zurück. Sie versuchte eine Weile zu lesen, merkte dann aber, daß sie viel zu aufgeregt war. Sie ließ die Zeitschriften sinken und beobachtete nur schweigend Masons Gesicht; sie stellte fest, daß er in seiner Konzentration ihre Gegenwart offenbar völlig vergessen hatte. Eine halbe Stunde, nachdem Paul Drake Masons Büro verlassen hatte, rief er an. Della hob ab. »Ja, Paul, was ist?« Sie hörte ihm zu, runzelte die Brauen und schlug dann vor: »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie herkommen... Ja, sie ist noch hier.« Della Street legte auf und sagte: »Paul kommt. Sie haben eine sonderbare Situation vorgefunden.« Mason ließ seine Zeitschrift sinken. »Ich habe es mir beinahe gedacht.« Della Street stand an der Tür bereit. »Hat er sein Büro auch in diesem Stockwerk?« fragte Susan Fisher. Mason nickte.
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Drake war mit seinem Klopfzeichen noch nicht fertig, als Della Street auch schon die Tür vor ihm aufriß. »Na?« machte Mason. Drake schüttelte den Kopf. »Idiotisch.« »Was denn?« »Hör dir das an: Sie hat auf dem Bahnhof keinen Versuch gemacht, sich zu verbergen, sondern sogar beträchtliches Aufsehen erregt. Sie hatte vier Handkoffer, von denen zwei so schwer waren, als enthielten sie Bücher.« »Oder Flaschen«, warf Mason lachend ein. »Oder Flaschen. Aber die Gepäckträger meinen, es wären Bücher gewesen. Sie wollte die Koffer in ein Schließfach gestellt haben.« Mason nickte. »Auf diese Weise wurde sie ihr Gepäck los, gab dem Träger ein gutes Trinkgeld und setzte sich mit ihrem Rollstuhl in Bewegung - Richtung Damentoilette. Danach verschwand sie spurlos.« »Ist sie nicht in die Damentoilette hineingegangen?« fragte Mason. »Keiner kann es sagen. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst.« »Hast du die Züge kontrolliert?« »Wir haben uns erkundigt bei Aufsichtsbeamten, Gepäckträgern, Fahrkartenverkäufern - bei jedermann. Wir haben den Träger, der ihre Koffer in die Fächer gestellt hat, dazu überredet, uns diese Fächer zu zeigen. Wir haben sogar einen Beamten von der Gepäckaufbewahrung dazu gebracht, die Fächer für uns zu öffnen.« »Leer?« fragte Mason. »Leer«, sagte Drake. »Eben das habe ich befürchtet«, erklärte Mason. »Wieso?« fragte Susan Fisher. Masons Gesicht wurde hart. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß eine Frau von fünfundfünfzig Jahren, mit dunkelblauer Brille, -5 4 -
eine fast blinde und auf einen Rollstuhl angewiesene Frau, sich nicht an einen öffentlichen Ort wie einen Bahnhof begeben und sich dann in Luft auflösen kann.« »Ja, ich weiß, das haben Sie gesagt, aber...« Mason lächelte, als sie sich unterbrach. Susan Fisher fuhr fort: »Aber sie hat es offenbar doch getan.« Mason wandte sich an Paul Drake. »Paul, ich möchte, daß ihr sämtliche Straßen rund um den Bahnhof absucht. Deine Leute sollen an die Arbeit gehen und alles kontrollieren - alles, verstehst du? Ich will jeden Weg kennen, auf dem eine Person den Bahnhof verlassen könnte, und ich wünsche, daß jeder dieser Wege genau überprüft wird. Es ist mir ganz gleich, ob die ganze Nacht draufgeht.« »Mach ich«, sagte Drake und ging. Sue Fisher bat: »Können Sie mir nicht sagen, was Sie befürchten, Mr. Mason?« »Eine Frau von so auffallender Erscheinung kann nicht vom Erdboden verschwinden. Wenn sie doch vom Erdboden verschwunden ist, müssen wir davon ausgehen, daß unsere Voraussetzung falsch war.« »Wollen Sie damit sagen, daß...« »Stellen Sie sich vor, daß diese Frau eine Schwindlerin wäre. Sie kennen Amelia Corning ja nicht. Sie sind aber die einzige, die sie gesehen hat. Sie hat Sie angerufen und Ihnen erklärt, sie sei Amelia Corning. Sie sah auch so aus wie die Amelia Corning, von der man Ihnen berichtet hatte. Sie fuhren zum Flugplatz. Da saß sie, umgeben von Gepäck mit südamerikanischen Aufklebern - und schon das kann ein bedeutsames Indiz sein.« »Warum glauben Sie das?« Mason begann zu erklären: »Normalerweise bleibt das Gepäck im Gewahrsam der Fluggesellschaft, aber diese Frau saß in der Halle, inmitten ihrer Sachen. Wie sind die denn dahin gelangt? Sie kann sie ja wohl nicht selbst abgeholt und per -5 5 -
Rollstuhl in die Halle verfrachtet haben. Damit muß sie doch einen Gepäckträger beauftragt haben. Und wozu die ganze Prozedur? Hätte es nicht nahegelegen, das Gepäck zu lassen, wo es war, bis sie mit einem Wagen abgeholt wurde? Aber diese Szene - eine Frau sitzt mitten in der Halle in einem Rollstuhl und hat um sich her ihr Gepäck stehen, das außerdem mit Aufklebern aus Südamerika bepflastert ist -, diese ganze Szene zeigt doch, daß der Frau außerordentlich viel daran lag, von Ihnen sofort beim Betreten der Halle erkannt zu werden. Sehen Sie, das hat mich gleich gestört, als Sie mir die Sache erzählten. Nachher allerdings, als Sie mir ihr Wesen beschrieben, kam ich zu dem Schluß, daß sie vermutlich zu den Menschen gehört, die ihre Siebensachen beständig vor Augen haben müssen. Deshalb habe ich meine anfänglichen Zweifel wieder fallenlassen. Aber ganz geheuer war mir die Geschichte nicht.« »Dann glauben Sie also, daß diese Frau eine Schwindlerin war?« »Ich weiß es natürlich nicht. Aber ich habe es immerhin als Möglichkeit in Betracht gezogen. Und wenn sie eine Schwindlerin ist, hat sie, wie Sie zugeben müssen, einen ganz hübschen Fang gemacht. Sie ist auf und davon mit einer Menge Material, das Endi-cott Campbell belastet und womit sich wunderbar eine Erpressung aufziehen läßt. Und wahrscheinlich hat sie auch einen Schuhkarton mit weiß der Himmel wieviel Geld davongetragen und...« Mason wurde von Susan Fishers Entsetzensschrei unterbrochen. Mit geweiteten Augen und totenblaß saß sie da, die Hand vor den Mund gepreßt. »Sie sehen also«, sagte Mason, »ich habe einstweilen noch keine Lust, über Honorar zu sprechen. Ich wollte zunächst einmal herausfinden, was da alles auf uns zukommt. Und ich möchte nicht, daß Sie so tief in die Patsche geraten, daß es keinen Ausweg mehr gibt.« Es gelang Susan hervorzustoßen: »Was meinen Sie damit, daß Ihre Voraussetzung falsch war?« -5 6 -
»Nehmen wir einmal an, daß diese Frau, die sich als Amelia Corning ausgab, eine Schwindlerin war. Nehmen wir ferner an, daß sie in die Damentoilette fuhr, dort aus dem Rollstuhl stieg, die dunkle Brille abnahm und zum Ausgang zurückging - nicht mehr als hilfloser Krüppel, sondern als kräftige Frau.« »Und irgend jemand hätte sie erwartet?« fragte Susan Fisher. »Irgendwer muß sie erwartet haben«, gab Mason zu. »Irgend jemand, der die Schließfächer öffnete, die Koffer herausnahm und in einen Wagen stellte, der den Rollstuhl zusammenlegte und in den Wagen packte, der die Frau, die Miss Cormings Rolle gespielt hatte, in die Stadt fuhr, wo sich eine Frau mittleren Alters nicht von einer Million anderer unterscheidet.« »Sie muß auch den Karton mitgenommen haben«, flüsterte Sue verzweifelt. »Sie könnte es jedenfalls getan haben«, sagte Mason. »Aber nun, Miss Fisher, möchte ich, daß Sie heimgehen und wenigstens versuchen, nicht so unglücklich zu sein. Falls sich irgend etwas Neues ergibt, rufen Sie die Drake-Agentur an und sagen dort Bescheid.« Mason erhob sich, faßte sie freundschaftlich am Arm und brachte sie zur Tür. »Sie kommen doch allein nach Hause?« Sie sagte: »Natürlich. Ich muß nur den Bus nehmen und dann drei Häuserblocks laufen, dann bin ich schon zu Hause.« Mason fragte: »Drei Blocks?« Sie nickte. »Wieviel Geld haben Sie bei sich?« »Ach, es ist noch einiges von dem übrig, was mir Miss Corning gab. Möchten Sie einen Vorschuß?« »Nein«, antwortete Mason. »Ich möchte, daß Sie sich ein Taxi leisten. Lassen Sie sich unmittelbar an Ihrer Haustür absetzen. Und verlassen Sie die Wohnung heute abend unter gar keinen Umständen, bevor Sie nicht Paul Drake angerufen und mit ihm alles geklärt haben.« -5 7 -
Der Anwalt begleitete sie zum Fahrstuhl und ging, als sie außer Sicht war, in Paul Drakes Büro. Das zuversichtliche Lächeln war völlig aus seinem Gesicht verschwunden, als er Paul Drake gegenüberstand. »Laß deine Leute weiter auf dem Bahnhof, Paul«, sagte er, »aber schick auch ein paar zum Flugplatz.« Drake zog die Brauen zusammen. »Du rechnest damit, daß Miss Corning dort auftaucht?« Mason nickte. »Du glaubst, daß sie mit einer Taxe zum Bahnhof fuhr, dann zum Flugplatz und daß sie jetzt abfliegt?« »Nein, gewiß nicht«, sagte Mason, »sondern daß sie ankommt.« Es dauerte eine Sekunde, bis Drake begriff, was Mason damit andeutete. Dann rief er aus: »O je, o je, was für ein Durcheinander gibt das!« Mason begann: »Offenbar wird sie über Miami fliegen. Jedenfalls behauptet die andere Frau, auf dieser Route gekommen zu sein, und deshalb ist es durchaus möglich, daß die richtige Miss Corning ebenso fliegt. Du setzt ein paar Leute auf den Flugplatz an und gibst mir sofort Bescheid, wenn sie ankommt - ich meine wirklich sofort, ob bei Tag oder Nacht. Ich möchte ihr keine Gelegenheit lassen zu telefonieren oder sonst etwas zu tun, bevor ich mit ihr gesprochen habe. Einer deiner Leute soll ihr sagen, daß er sie abholen will. Er braucht nicht zu erwähnen, daß er von ihrer Firma geschickt worden ist, er erklärt nur, daß er sie abholen und ins Hotel bringen soll. Und dann muß er mich sofort anrufen.« »Willst du zum Flugplatz hinaus?« »Dazu wird die Zeit nicht reichen«, meinte Mason. »Ich werde schon im Arthenium warten, wenn sie ankommt.« »Und was ist mit Endicott Campbell?« ›Endicott Campbell macht eine Art Duell des Sc harfsinns aus der Sache. Wenn er ahnt, was vor sich geht, kann er uns mit
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gleichen Waffen begegnen. Sonst aber werde ich als erster mit ihr sprechen.« »Und Susan Fisher?« »Höchstens zwei Stunden nach Miss Cormings Ankunft wird Susan Fisher wegen Unterschlagung von vielleicht hundertfünfzigtausend Dollar verhaftet werden. Man wird sie beschuldigen, die Geschäftsbücher und Akten der Firma beseitigt zu haben, so daß man keine Bücherrevision ansetzen kann - und sie wird bis zum Hals in der Tinte stecken.« Drake überlegte. Dann schüttelte er düster gelaunt den Kopf. »Und selbst du kannst dir keine Verteidigung ausdenken, die sie aus einer solchen Falle wieder herausholt.« »Da sei nur nicht so sicher, Paul«, meinte Mason. »Du spielst mir den Ball zu, und ich schieße. Aber ich verlange ein verdammt gutes Zusammenspiel. Und nun an die Arbeit.«
4 Am Sonntagmorgen um elf Uhr dreißig läutete Masons Telefon mit der Geheimnummer. Paul Drake meldete: »Okay, Perry, du hast gewonnen.« »Ist sie da?« »Auf dem Flugplatz. Mein Mann erledigt alle Formalitäten für sie und wird sie in seinem Wagen zum Arthenium bringen.« »Gut, Paul, danke. Bin schon unterwegs.« »Brauchst du mich auch?« »Nein, ruf Della in ihrer Wohnung an, sag, sie soll so rasch wie möglich kommen. Bitte sie, ihr Notizbuch und ihren weiblichen Charme mitzubringen. Irgend etwas sagt mir, daß diese Frau gegen Männer mißtrauisch ist, aber Della sollte es gelingen, sie für sich einzunehmen. Jedenfalls kann sie es versuchen.« »Okay, viel Glück, Perry.« »Hab’ ich auch nötig.« -5 9 -
Mason rief bei Susan Fisher an. »Ich will Sie nur auf Trab bringen.« »Warum?« »Sie müssen startbereit sein.« »Wozu?« »Es kann sein, daß ich Sie brauche.« »Gut«, sagte sie. »Ich mache mich fertig, ich tue alles, was Sie sagen, Mr. Mason.« »Bleiben Sie in der Nähe Ihres Telefons, und ziehen Sie sich schon zum Ausgehen an«, sagte Mason. Er holte seinen Wagen aus der Garage, fuhr zum Arthenium und wartete dort etwa fünfzehn Minuten, bis Drakes Detektiv auftauchte, der eine hagere Frau im Rollstuhl umsichtig betreute. Sie trug starke dunkelblaue Brillengläser, hatte hohe Backenknochen, ein vorstehendes Kinn und einen festen Mund. Mason trat an die Frau heran. »Miss Corning?« fragte er. Sie hob den Kopf und bewegte ihn hin und her, um hinter den dunklen Gläsern hervor einen Eindruck von dem Mann zu erhäschen, dessen Stimme sie vernommen hatte. Nach einem Augenblick antwortete sie kurz: »Ja. Was wünschen Sie?« »Ich bin Perry Mason«, sagte der Anwalt, »Rechtsanwalt, und möchte Sie in einer dringenden Sache sprechen, in einer Angelegenheit Ihres hiesigen Unternehmens. Ich halte es für äußerst wichtig, daß Sie zunächst mit mir sprechen, ehe Sie mit irgendeinem anderen Menschen in Verbindung treten.« Sie zögerte kurz, sagte dann: »Also schön, ich bin bereit anzuhören, was Sie mir zu sagen haben, Mr. Mason. Ich glaube, man hat hier eine Suite für mich reserviert. Jedenfalls hat man mir entsprechend telegrafiert.« »Ich nehme an, daß Ihre Firma Sie erwartet.« »Ja, sie haben sich vernünftiger angestellt, als ich von ihnen vermutete. Trotzdem weiß ich nicht, wie sie herausgefunden haben, daß ich schon heute gekommen bin, denn ich habe mich erst für morgen angemeldet. Aber es ist eine lange und -6 0 -
anstrengende Reise, und ich wollte lieber einen Tag früher kommen, um meine müden Knochen noch ein bißchen auszustrecken.« Drakes Mitarbeiter kam mit dem Anmeldeformular und dem Empfangschef zum Rollstuhl. Der Detektiv warf Mason einen raschen Blick zu und sagte: »Das Hotel wünscht, daß sich Miss Corning persönlich einträgt.« »Natürlich«, antwortete Mason. Miss Corning streckte eine knochige Hand nach dem Formular aus, das ihr der Angestellte reichte, aber ihre Finger befanden sich zehn bis zwanzig Zentimeter über dem Papier. Der Mann zog die Karte taktvoll zurück und schob sie ihr zwischen die Finger. »Bitte hier unterschreiben«, bat er. »Wo?« fragte Miss Corning mit dem Füllhalter in der Hand. »Hier bitte.« Der Angestellte hielt seine Hand über ihrer und führte die Feder an das Papier, worauf die Frau sofort »Amelia Corning« in eckigen, verkrampften, aber lesbaren Zügen schrieb. Ein Hotelpage sagte: »Bitte hier entlang, Miss Corning.« »Haben Sie nur die beiden Handkoffer und die Tasche?« fragte Mason. »Himmel, was haben Sie denn gedacht? Wissen Sie, welche Unsummen das Gepäck verschlingt bei diesen Flügen aus Südamerika? Es ist wahrhaftig Straßenraub... So, und nun wollen wir nach oben gehen und hören, was Sie zu erzählen haben, Mr.... eh...« »Mason.« »Ach ja. Mason. Ich kann Namen schlecht behalten, aber ich werde mir alle Mühe geben. Sie haben eine angenehme Stimme. Ich glaube, ich werde Sie sympathisch finden.« Der Anwalt ging neben dem Rollstuhl zum Fahrstuhl.
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Colton C. Bailey, offenbar durch den Portier verständigt, tauchte auf, gab Mason die Hand und sagte ruhig: »Stellen Sie mich vor.« Mason tat es. »Miss Corning, darf ich Ihnen Mr. Colton Bailey vorstellen? Er nimmt hier im Hotel eine führende Stellung ein, und falls Sie irgend etwas wünschen, wird er nur zu froh sein, für Ihre Bequemlichkeit sorgen zu dürfen.« »Das ist mir sehr angenehm«, antwortete Miss Corning. »Ich will jetzt einen Blick in diese Suite tun. Wahrscheinlich werde ich verlangen, bescheidener untergebracht zu werden. Es ist sinnlos, daß ich in einem Haufen Zimmer herumkutschiere, die ich nicht brauche, und diese Suiten kosten ihr Geld.« »Wir wollen es uns ansehen«, schlug Bailey vor. »Wir möchten auf jeden Fall, daß Sie zufrieden sind.« Die kleine Prozession zog vor die Präsidentensuite, der Page öffnete, und Bailey, Mason und Drakes Detektiv schoben den Rollstuhl mit Miss Corning in den Salon. Sie sah sich um und schnaubte. »Ich wette, das kostet seine hundert Dollar am Tag«, sagte sie. »Hundertfünfunddreißig«, antwortete Bailey vorsichtig. »Also gut, ich will ausziehen und ein kleineres Apartment haben.« »Die Miete ist bereits erledigt, glaube ich«, gab Bailey zurück. »Das sieht Endicott Campbell ähnlich. Verschwendet das Geld der Firma für einen Luxus, den ich nicht brauche, bloß, um mir zu imponieren. Übrigens, wo steckt er eigentlich?« Bailey sah Mason fragend an. Mason warf einen Blick auf die Uhr. »Wahrscheinlich können Sie ihn bald erwarten.« Bailey begann: »Miss Corning, es gibt noch eine kleine Formalität zu erledigen, die wir aus Sicherheitsgründen beachten müssen. Sie werden doch sicherlich im Hotel Schecks einlösen wollen, und wir würden Ihnen gern ein Konto einräumen. Natürlich ist die finanzielle Seite der Sache ganz einfach zu erledigen. Alles, was wir brauchen, ist nur ein -6 2 -
Nachweis Ihrer Identität. Ich möchte wohl wissen, Miss Corning, ob Sie uns einen Blick auf Ihren Paß gestatten würden.« »Ich habe bis jetzt weiter nichts verlangt als eine einfachere Unterkunft«, schnauzte sie. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir wirklich gern Ihren Paß sehen, Miss Corning.« »Also so was!« sagte sie. »Ich habe diesen verdammten Paß schon so oft vorgezeigt... Ich dachte doch, daß ich es in meinem eigenen Land nicht nötig hätte, mich jedem Tom, Dick oder Harry auszuweisen.« Plötzlich fiel ihr auf, wie unfreundlich ihre Bemerkung klang, und sie setzte ein frostiges Lächeln auf. »Nicht, daß Sie Tom oder Dick oder Harry sind - oder doch?« »Nein, Miss Corning«, sagte Bailey. »Ich bin Colton. Colton Bailey.« »Nichts für ungut. Bin froh, daß Sie es so aufgenommen haben. Wahrscheinlich bin ich mit den Nerven ziemlich herunter.« Sie öffnete ihre Handtasche und holte den Paß heraus. Bailey betrachtete ihn sorgfältig und nickte Mason zu, als er ihn Miss Corning zurückgab. »Danke«, sagte er, und seine Stimme verriet deutlich seine Erleichterung, »mehr kann ich wohl nicht für Sie tun, jedenfalls im Augenblick nicht. Ich ziehe mich also zurück und überlasse Sie Mr. Mason.« Drakes Mitarbeiter erklärte: »Und meine Aufgabe ist wohl auch getan, Miss Corning. Ich glaube, daß Sie mich jetzt nicht mehr brauchen.« Als er die Tür öffnete, trat tadellos angezogen, gelassene Tüchtigkeit ausstrahlend, Della Street ins Zimmer. Sie erfaßte die Situation, trat auf den Rollstuhl zu und sagte: »Guten Tag, Miss Corning. Ich bin Della Street, Mr. Masons Sekretärin, und Mr. Mason hat mich gebeten, hierherzukommen für den Fall, daß man mich braucht. Wenn Sie also irgendwelche Wünsche
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haben, die ins weibliche Ressort fallen, werde ich mich bemühen, Ihnen alles so angenehm wie möglich zu machen.« Miss Corning drehte den Kopf in einer charakteristischen, an Vögel erinnernden Art hin und her, als ob sie hoffte, damit einen besseren Blick durch die dunkle Brille werfen zu können. »Ja, meine Liebe, ich erkenne Sie zwar nicht ganz klar, aber ich sehe, daß Sie eine sehr gute Figur haben, und Ihre Stimme ist wundervoll. Je schlechter meine Augen werden, um so mehr bin ich auf meine Ohren angewiesen. Ich verlasse mich sehr auf die Stimme. Und Ihre gefällt mir wirklich.« »Danke, sehr freundlich von Ihnen«, sagte Della Street. »Keine Ursache. Mr. Mason, Sie sind also Anwalt. Wenn Ihre Zeit nicht kostbar ist, sind Sie kein guter Anwalt - und wenn Sie ein guter Anwalt sind, ist Ihre Zeit eine Menge Geld wert. Darum also zur Sache.« »Möchten Sie sich denn nicht erst ein wenig erfrischen?« fragte Mason. »Nun schießen Sie endlich los, junger Mann«, fuhr sie ihn an. »Sie werden schon merken, daß ich frisch genug bin. Was wollen Sie?« »Sitzen Sie denn gut im Rollstuhl?« fragte Della Street. »Möchten Sie nicht einen bequemeren Sessel?« »Ich sitze hier gut.« Mason begann: »Ich will keine Zeit mit diplomatischen Manövern verlieren, Miss Corning. Bei einer Sache wie dieser kann man nur die Karten auf den Tisch legen.« »Bildseite nach oben«, ergänzte Miss Corning. »Bildseite nach oben«, bestätigte er lächelnd. »Also, das erste, was ich Ihnen zu berichten habe und was Ihnen vielleicht einen Schock versetzen wird, ist die Tatsache, daß gestern eine Frau, die vorgab, Miss Corning zu sein, auf dem Flugplatz auftauchte und mit Ihrer Gesellschaft telefonierte.« »Was?« rief Miss Corning aus. Mason nickte nur. -6 4 -
»Weiter«, sagte sie, »was geschah dann?« »Ja, nun sind wir auf Spekulationen angewiesen. Ich kann Ihnen nicht ganz genau sagen, was vor sich gegangen ist, aber einiges weiß ich immerhin. Diese Frau telefonierte also mit dem Büro der Firma. Ein junges Mädchen namens Susan Fisher, die als Sekretärin des Geschäftsführers Endicott Campbell tätig ist und von ihm angewiesen worden war, verschiedene Dinge vor Ihrer Ankunft aufzuarbeiten, erledigte das außerhalb der Bürozeit und nahm den Anruf auf. Auf die Mitteilung hin, daß Miss Corning sich auf dem Flugplatz befände und daß ein Telegramm mit der Ankündigung ihrer vorzeitigen Ankunft abgesandt worden sei, fuhr Susan Fisher, der es nicht gelang, Mr. Campbell zu finden, zum Flugplatz. Dort traf sie eine Frau an, die offenbar sehr große Ähnlichkeit mit Ihnen hatte und in einem Rollstuhl saß. Ihr Gepäck stand neben ihr und trug Aufkleber von südamerikanischen Hotels und Fluglinien. Sie brachte die Frau in eben diese Suite hier, und die Fremde bestand darauf, sofort ins Büro zu fahren, um verschiedenes gleich zu überprüfen.« »Und dann?« fragte Miss Corning. »Diese Frau war verblüffend genau im Bild über die Geschäfte der Firma. Sie fragte nach einer Reihe von Einzelheiten und schickte dann Susan Fisher mit dem Auftrag fort, ihr zwei Koffer zu kaufen und mehrere Ordner mit Belegen und einige Rechnungsbücher hineinzulegen. Mit diesen Koffern ist sie verschwunden. Es besteht außerdem die Möglichkeit, daß sie einen sehr hohen Geldbetrag aus dem Safe mitgenommen hat.« »Wieso wissen Sie das nicht bestimmt?« »Weil die Herkunft dieses Geldes etwas mysteriös ist,« »Und wo kommen denn nun Sie ins Spiel?« »Ich vertrete Susan Fisher.« »Braucht sie einen Anwalt?« »Das wäre denkbar.« »Warum?« -6 5 -
»Weil sie vermutlich eine Schwindlerin in das Büro der Firma eingelassen hat.« »Wieso denn diese übereifrige Tätigkeit am Sonnabend?« wollte Miss Corning wissen. »Offen gesprochen, weil es Anhaltspunkte dafür gibt, daß in der Geschäftsleitung des Unternehmens bestimmte Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind. Denken Sie etwa an die Mine in der Mojave-Wüste, die Mojave-Monarch, die...« »Diese Mine«, unterbrach Miss Corning energisch, »wird jetzt überprüft. Sie brauchen mir darüber nichts zu sagen, Mr. Mason, denn sie ist einer der Gründe, weshalb ich gekommen bin. Wo steckt denn nun Endicott Campbell?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Mason. »Ich muß zugeben, daß ich Ihre Ankunft auf dem Flugplatz vorausgesehen habe; der Mann, der Sie dort erwartete, handelte eigentlich eher in meinem Auftrag als in dem Ihrer Firma.« »Und Sie erwarten nun, daß irgend jemand Ihrer Klientin Schwierigkeiten machen wird?« »Mr. Campbell hat es bereits angedeutet.« »Also werden wir erstmal Mr. Campbell kommen lassen und dann diese junge Dame. Wo ist Ihre so tüchtige Sekretärin? Ist sie noch hier?« »Hier bin ich«, meldete sich Della Street. »Gut«, sagte Miss Corning. »Sie kennen ja vermutlich die Telefonnummer Ihrer Klientin. Hier sind einige Nummern, die mir Mr. Campbell für den Fall übermittelt hat, daß er nicht in seiner Wohnung zu erreichen ist. Also, jetzt her mit den beiden.« Della Street begann zu telefonieren. Mason sagte: »Natürlich ist es so, Miss Corning, daß Susan Fishers Existenz weitgehend in Ihren Händen liegt, in Anbetracht Ihrer Aktienmajorität und ganz unabhängig von dem, was Mr. Campbell für richtig hält.« »Das stimmt«, sagte Miss Corning. »Sie brauchen Ihre Zeit nicht damit zu verschwenden, mir Selbstverständlichkeiten -6 6 -
vorzubeten, Mr. Mason. Ich bin ja hier, um alles zu klären. Meine Augen taugen zwar nicht viel, aber ich kann Menschen sehr gut nach ihrer Stimme beurteilen. Mein Urteil ist nicht unfehlbar, aber es nützt mir viel. Und ich werde Ihnen noch etwas sagen: Der Grund meines Kommens liegt darin, daß ich mit Endicott Campbell ein Ferngespräch geführt habe und daß mir seine Stimme nicht gefiel. Er hatte so eine gewisse Vieldeutigkeit im Ton, die mir absolut nicht paßte. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Ich weiß nicht, ob er sich selbst oder jemand anders decken will, aber... na ja, wir werden es klären.« Della Street berichtete: »Endicott Campbell ist nicht zu Hause. Die Haushälterin weiß nicht, wo er sich aufhält. Die Erzieherin Elizabeth Dow, der kleine Sohn Carleton und Endicott Campbell - alle sind ausgegangen.« »Miteinander?« fragte Mason. »Das weiß die Haushälterin nicht«, antwortete Della. »Und was ist mit Susan Fisher, Della?« »Ich habe mit ihr telefoniert und ihr gesagt, daß sie sofort herkommen soll. Sie wird gleich eintreffen.« »Gut«, sagte Miss Corning. »Und jetzt will ich mich erfrischen, wie Sie vorhin vorgeschlagen haben. Wenn es Ihrer Sekretärin nichts ausmacht, einer hilflosen alten Frau zu helfen, würde ich sie bitten, mit mir in eines der Schlafzimmer zu kommen. Sie können hier in diesem Zimmer bleiben, aber sonst möchte ich niemanden sehen. Warten Sie bitte, Mr. Mason, ich bin gleich wieder da. Wenn Ihre Klientin inzwischen kommt, sagen Sie ihr, sie soll sich setzen.« »Und nun«, wandte sie sich an Della, »Ihr Name ist doch Della?« »Ganz recht.« »Kommen Sie mit in mein Schlafzimmer, und helfen Sie mir beim Auspacken. Meine Augen sind nicht so gut, und es wird immer schlimmer. Ich muß mich mehr und mehr auf den Tastsinn verlassen.« -6 7 -
»Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagte Della Street. Die Frauen zogen sich ins Schlafzimmer zurück. Mason lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen, brachte es aber nicht fertig, sondern erhob sich wieder und begann, gedankenvoll hin und her zu gehen. Er wanderte immer noch durchs Zimmer, als leise an die Außentür geklopft wurde. Mason öffnete, und eine erschrockene Susan Fisher stand vor ihm. »Kommen Sie herein.« Sie betrat das Zimmer und sah sich mißtrauisch um. »Sie sind beim Auspacken im Schlafzimmer, und Miss Corning macht sich frisch«, berichtete Mason. »Wie schlimm steht es?« fragte Susan. »Nicht so schlimm - jedenfalls bis jetzt nicht. Miss Corning ist eine ausgeglichene, nüchterne Frau, die einen sehr vernünftigen Eindruck macht.« »Hat Mr. Campbell schon mit ihr gesprochen?« »Nein«, sagte Mason, »soweit ich unterrichtet bin, hat Campbell keine Ahnung, daß sie in der Stadt ist. Er erwartet sie morgen.« »Woher wußten Sie dann, daß sie hier ist?« Mason lachte. »Ich habe es geahnt.« »Inwiefern?« »Ich wußte, daß sie morgen erwartet wurde, und dachte mir, daß sie vielleicht einen Tag früher kommen würde. Deshalb hatte Paul Drake seine Leute am Flughafen. Als sie auftauchte, ging Drakes Mann auf sie zu, behauptete, er sei gekommen, um ihr beim Gepäck zu helfen - und rief dann sofort Drake an, der wiederum mir Bescheid sagte. So weit sind wir nun.« »Und Sie haben sich das alles im voraus überlegt?« »Da war nicht viel zu überlegen«, meinte Mason. »Wir wußten, daß Miss Corning irgendwann auf dem Flugplatz ankommen würde, und ich wollte ihr die Geschichte von Ihrem -6 8 -
Standpunkt aus erzählen, ehe Endicott Campbell seine Version zum besten gibt.« Susan Fisher nahm plötzlich Masons Hand in ihre beiden. »Wissen Sie, ich finde Sie einfach großartig. Warum haben Sie mir aber nicht gesagt, was Sie vorhatten?« »Ich fürchtete, Sie würden sich zu viele Sorgen machen«, sagte Mason. »Sie sollten gut schlafen - haben Sie das?« »Nicht sehr gut. Sehe ich mitgenommen aus?« »Sie sehen reizend aus«, beruhigte sie Mason. »Aber Miss Corning verläßt sich nicht so sehr auf ihre Augen wie auf ihre Ohren. Sie achtet auf die Stimmen der Leute, mit denen sie spricht, und macht sich danach ein Bild. Sie...« Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich, und Della Street schob den Rollstuhl heraus. »Hallo, Susan«, sagte Della Street. »Miss Corning, Susan Fisher ist hier - Susan, das ist Miss Corning.« »Wo sind Sie, Kind?« fragte Miss Corning. »Hier bin ich.« Susan stellte sich neben den Rollstuhl. »Ach, Miss Corning, ich bin ja so unglücklich wegen der Geschichte von gestern. Mr. Mason sagt, er hätte Ihnen schon alles erzählt.« »Setzen Sie sich hier zu mir«, sagte Miss Corning. »Und nun erzählen Sie mir, was geschehen ist.« Della Street schlug vor: »Ich werde Miss Cormings Stuhl hierherschieben, und Sie, Susan, setzen sich an ihre eine Seite, dann kann Mr. Mason an der anderen sitzen.« Miss Corning sagte: »Wahrscheinlich ist es nicht sehr anständig von mir, Mr. Mason, aber ich möchte Ihnen gern Ihre Sekretärin entführen. Ich weiß nicht, was Mr. Mason Ihnen zahlt, Miss Street, aber ich gebe Ihnen das Doppelte.« »Augenblick!« Mason schaltete sich ein. »Was hier vor sich geht, ist Verschwörung, Diebstahl und Untreue.« »Bewahre«, entgegnete Miss Corning, »es ist ein geschäftliches Angebot, und Untreue ist schon gar nicht im Spiel, weil ich Ihnen keine Treue schulde. Miss Street allein -6 9 -
schuldet Ihnen Loyalität, und sie würde wiederum meinen Vorschlag überhaupt nicht in Erwägung ziehen. Hab’ ich recht, Della?« »Ich fürchte, ja«, lachte Della. »Also, nun zur Sache. Wie war doch noch Ihr Name Fisher?« »Ja. Susan Fisher.« »Wie alt sind Sie, Susan?« »Vierundzwanzig.« »Gute Figur?« Susan lachte verlegen, und Della Street antwortete an ihrer Stelle: »Sehr gute Figur, Miss Corning.« »Verliebt?« wollte Miss Corning wissen. »Zur Zeit nicht.« »Wie lang sind Sie schon im Büro?« »Reichlich ein Jahr.« »Sind Sie gleich Mr. Campbells Sekretärin geworden?« »Nein, ich wurde als Stenotypistin eingestellt.« »Er hat sie dann zu seiner Sekretärin gemacht?« »Ja.« »Sind Sie eine gute Schreibmaschinenkraft?« »Recht gut.« »Stenographie?« »Ich glaube, auch recht gut.« »Hat Mr. Campbell Sie wegen Ihrer Fähigkeiten oder wegen Ihrer Figur ausgesucht?« Susan Fisher lachte verwirrt. »Vorwärts, beantworten Sie meine Frage.« »Ehrlich gesagt, glaube ich, daß er mich wegen meiner Figur ausgesucht hat. Aber als er meine Stenographie- und Schreibmaschinenkenntnisse geprüft hatte, hat er mich wohl deshalb behalten.« -7 0 -
»Hat er Ihnen jemals den Hof gemacht?« Susan Fisher zögerte, antwortete dann aber: »Ja.« »Sind Sie darauf eingegangen?« »Nein.« »Wie hat er es denn versucht?« , »Na, auf die übliche Tour, so ab und zu ein Versuchsballon.« »Kann ich ihm nicht mal übelnehmen«, sagte Miss Corning. »Jeder normale Mann wird es bei einem gutaussehenden Mädchen versuchen, das bei ihm arbeitet. Und nun: Ist Mr. Campbell ein Betrüger oder nicht?« »Das kann ich Ihnen nicht bestimmt sagen.« »Was glauben Sie denn?« »Ich weiß es wirklich nicht, Miss Corning; ich wollte, ich wüßte es. Es gibt einige Dinge, die mich wirklich beschäftigten. Ich bin aber nicht in der Buchhaltung, ich schreibe einfach Zusammenstellungen ab und...« »Sie bedienen eine Addiermaschine?« »Ja.« »Gut, weiter. Sie tippen Aufrechnungen und Zusammenstellungen - und nun?« »Ich bekomme die Aufstellungen zuerst von der Buchhaltung, oder Mr. Campbell gibt sie mir. Ic h will damit sagen, das Geschäft ist so aufgeteilt, daß ich glaube, außer Mr. Campbell hat niemand einen Überblick über das, was vor sich geht. Und dann hat mich diese Mojave-Mine beschäftigt.« »Warum?« »Ich fuhr einmal nach Mojave. Dabei hatte ich gar nicht vor, mich um das Bergwerk zu kümmern, ich hatte sogar ganz vergessen, daß es in der Gegend liegt. Ich fuhr eben nur ein bißchen herum und sah dabei einen Wegweiser, ein ziemlich verwittertes Stück Holz, das an einen Pfahl genagelt war. Und weil ich darauf ›Mojave-Monarch‹ las, fuhr ich aus Neugier mal hin.« »Und was fanden Sie?« -7 1 -
»Ich fand ein Bergwerk, aber keine Arbeiter. Bei einer Tankstelle fragte ich dann, ob es noch eine andere MojaveMonarch gäbe, aber der Tankwart sagte, er hätte nie etwas davon gehört, und die einzige Mojave-Monarch, die er kenne, sei seit zwei Jahren stillgelegt.« »Die Monatsberichte besagen, daß die Grube arbeitet, allerdings mit hohem Verlust«, sagte Miss Corning. »Die Monatsberichte kenne ich gut, ich schreibe sie nämlich.« »Und Sie meinen, daß dort nicht gearbeitet wird?« »Ich weiß es nicht.« »Wenn die Berichte also falsch sind, ist Mr. Campbell dann ein Betrüger?« »Das würde ich nicht unbedingt sagen. Die Berichte kommen ja von einem Geschäftsführer in Mojave, und...« »Ist Endicott Campbell nie selbst in Mojave gewesen?« »Das weiß ich nicht.« »Wenn er meine Geschäfte richtig wahrnehmen soll, müßte er ja wohl wissen, was in meiner Mine vor sich geht, die fast in seinem Hinterhof liegt.« Susan Fisher sagte nichts. »Los«, fuhr Miss Corning sie an, »sagen Sie was!« Susan holte Atem. »Mr. Campbell ist sehr, sehr fleißig in der Firma. Er macht Berichte und koordiniert die verschiedenen Geschäfte und hat ziemlich viel Ärger mit dem Finanzamt. Offen gestanden glaube ich nicht, daß er jemals in Mojave war. Wahrscheinlich meint er, daß die Mine etwas außerhalb seiner Kompetenz liegt. Ich weiß nicht, wo er...« Die Tür öffnete sich, und Endicott Campbell sagte: »Wer behauptet, daß ich niemals in Mojave gewesen bin? Was geht hier überhaupt vor sich? Wollen Sie hinter meinem Rücken meinen geschäftlichen Ruf in Fetzen reißen?« »Ich vermute«, sagte Miss Corning, »daß diese zornige heisere Stimme meinem Geschäftsführer gehört. Kommen Sie -7 2 -
herein, Mr. Campbell, nehmen Sie Platz. Es ist üblich anzuklopfen, ehe man eintritt.« »Es ist mir völlig egal, was üblich ist und was nicht«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, und wenn ich für Sie arbeite, Miss Corning, nehme ich es übel, daß Sie meine Angestellten auflesen und mit ihnen meine Arbeit erörtern, ehe Sie mit mir gesprochen haben oder mich auch nur wissen lassen, daß Sie hier sind.« »Nun mal langsam, Campbell«, sagte Mason. »Wir haben telefonisch versucht, Sie zu erreichen.« »Woher wußten Sie eigentlich, daß Miss Corning hier ist?« »Ich habe es geahnt.« »Sie wurde erst morgen erwartet.« »Ich weiß«, antwortete Mason, »aber falls Sie es wissen wollen: Ich hatte Leute zum Flughafen geschickt, so daß wir sie gleich nach ihrer Ankunft in Empfang nehmen konnten. Und das alles hätten Sie auch tun können, wenn Sie daran gedacht hätten.« »Ich fürchte, ich denke nicht in diesen etwas zweifelhaften Bahnen«, gab Campbell zurück. Er wandte sich an Miss Corning: »Es tut mir leid, Miss Corning, daß ich mich hier auf diese Weise einführe, aber offen gestanden bin ich wütend.« »Recht so«, sagte Miss Corning, »seien Sie wütend. Ich hab’ es gern, wenn Männer sich streiten.« »Na, ich schätze die Art Mr. Masons gar nicht, seine Nase hier hineinzustecken und mir in den Rücken zu fallen.« »Nun mal halblang«, mischte sich Mason ein. »Zunächst einmal ist mir verdammt egal, was Sie schätzen oder nicht. Zweitens: Niemand fällt Ihnen in den Rücken. Wir stehen vor Ihnen und nehmen den Ball auf, den Sie getreten haben. Vergessen Sie das eine nicht: Ich vertrete Susan Fisher. Ich habe den Eindruck, daß Sie aus ihr eine Art Fußball machen, den Sie herumtreten können, um Ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu tarnen. Ich habe nicht die Absicht, das zu gestatten. Ich wollte, daß Miss Corning die Tatsachen erfuhr, wie sie waren, bevor Sie eine Chance hatten, sie zu verdrehen.« -7 3 -
»So, und ich wollte, daß Miss Corning die Tatsachen erfuhr, bevor Sie alles verdrehen.« »Wir reden von Tatsachen«, sagte Mason. »Sie sprachen von den vertraulichen Angelegenheiten der Gesellschaft.« »Wir haben Miss Cormings Fragen über die Mojave-Monarch beantwortet, und ich glaube, daß Miss Corning auch Sie darüber hören wird. Wenn Sie meinen, daß wir die Tatsachen verdreht haben, dann interessiert mich wirklich, wie Sie die Dinge darstellen.« »Mich auch«, sagte Miss Corning. Aus Campbeils Auftreten verschwand das allzu Kriegerische. »Was die Mojave-Grube angeht, so kann ich Miss Corning nur sagen, daß ich offenbar das Opfer eines Mannes geworden bin, der damit beauftragt ist, den Besitz in Mojave zu verwalten. Der Mann hat anscheinend falsche Berichte geliefert, mündlich, in Briefen und telefonisch.« »Sind Sie jemals da draußen gewesen?« wollte Miss Corning wissen. »Jawohl. Ich komme gerade daher. Ich bin kein Fachmann für Bergwerke, Miss Corning, sondern ein Kaufmann. Meine Spezialität ist die Überwachung von Kapitalsanlagen auf dem Grundstücksmarkt. Die Angelegenheiten der Mine lagen ganz außerhalb meines Gebiets. Das habe ich Ihnen gesagt, als Sie mich einstellten. Was die Liegenschaftsanlagen angeht, werden Sie finden, daß Sie unter meiner Geschäftsleitung einen guten Profit gemacht haben, Miss Corning. Bei der Mojave-Monarch bin ich hinters Licht geführt worden, und das hat Ihnen einen beträchtlichen Verlust eingetragen. Ich bedaure das, war aber so von den Grundstücksgeschäften in Anspruch genommen, daß ich die Angelegenheiten der Grube dem Manager Ken Lowry überlassen mußte. Der Überschuß, den ich Ihnen bei den Grundstücksgeschäften herausgewirtschaftet habe, ist so beträchtlich, daß er die Verluste der Mojave-Monarch bei weitem aufwiegt. All diese Dinge möchte ich aber wirklich gern ausführlich mit Ihnen und nicht vor einem Publikum erörtern. -7 4 -
Und was nun diese junge Dame hier angeht - diese junge Dame, die so eifrig darauf bedacht war, Ihnen in den Ohren zu liegen, bevor ich die Gelegenheit hatte, den Mund aufzutun -, so fürchte ich sehr, daß die Geschäftsbücher eine Unterschlagung von einhunderteinundsechzigtausend Dollar Bargeld ausweisen. Ich habe die Buchhaltung die Nacht durcharbeiten lassen, und ein sehr beträchtlicher Fehlbetrag hat sich jetzt schon gezeigt. Er verrät teuflisches Geschick und eine erstaunliche Vertrautheit mit allen Geschäften der Gesellschaft.« »Na endlich«, sagte Mason. »Nun kommt es an den Tag. Sie beschuldigen also Susan Fisher, Gelder der Firma unterschlagen zu haben?« »Im Augenblick mache ich keinerlei Anschuldigungen. Ich erstatte nur meinem Arbeitgeber einen vertraulichen Bericht über das Ergebnis, zu dem die Buchhaltung durch die Arbeit einer ganzen Nacht gelangt ist.« »Und Sie halten sich selbst für völlig unbelastet?« wollte Mason wissen. »Aber sicher.« »Sie sind der Geschäftsführer der Gesellschaft. Sie glauben, vorbildlich gearbeitet zu haben, und trotzdem haben Sie erst in den letzten vierundzwanzig Stunden einen Fehlbetrag von einhunderteinundsechzigtausend Dollar festgestellt, außerdem, daß die Mojave-Monarch so schlecht geleitet worden ist?« »Ich brauche diese Fragen nicht zu beantworten. Ich schätze die Art nicht, wie sie von Ihnen pointiert werden, und ich habe es nicht nötig, mich einem Kreuzverhör auszusetzen. Zu Ihrer Information: Meine Geschäftsführung hat für Miss Corning etwas mehr als eine dreiviertel Million Dollar herausgewirtschaftet. Ein Mann kann keinen solchen Gewinn herausholen, wenn er sich verzettelt.« Mason sagte: »Sie bezichtigen meine Klientin der Unterschlagung, und Sie werden sich meinen Fragen stellen müssen, entweder hier oder vor Gericht.« -7 5 -
»Bis wir vor Gericht stehen«, gab Campbell zurück, »habe ich die Tatsachen und Zahlen so genau beisammen, daß selbst Sie nicht imstande sein werden, Ihre Klientin rauszupauken.« »Zu Ihrer Information, Miss Corning«, begann Mason, »Mr. Campbell hatte offenbar einen Schuhkarton in seinem Schrank aufbewahrt. Der Karton war bis obenhin mit Einhundertdollarscheinen vollgestopft. Sein siebenjähriger Sohn nahm versehentlich den Schuhkarton an sich und...« »Und ebenfalls zu Ihrer Information, Miss Corning«, schrie Campbell dazwischen, »das ist eine verdammte Lüge!« »Wir können beweisen, was wir sagen«, antwortete Mason. »Nur durch eine unglaubwürdige Behauptung Ihrer Klientin«, gab Campbell zurück. »Dieser Schuhkarton wurde nie von jemand anderem gesehen als von Susan Fisher.« Susan sagte: »Ihr Sohn brachte den Karton ins Büro. Wo ist Carleton jetzt?« Endicott Campbell erklärte: »Ein für allemal und für alle, die es angeht: Mein Sohn wird nicht in diese Sache hineingezogen. Ich werde nicht zulassen, daß sein Gefühl für seinen Vater verwirrt und in Abscheu verwandelt wird.« »Ich schließe daraus«, sagte Mason, »daß Sie bereits Schritte unternommen haben, ihn zu verstecken.« »Ich handle ganz und gar, wie es mir das Gewissen eines verantwortungsbewußten Vaters befiehlt.« »Mit anderen Worten: Wenn wir von Ihrer schönen Rede die ganzen hochtrabenden Ausführungen über Ihre Vaterpflichten abziehen, bleibt noch, daß Susan Fisher behauptet, Ihr Sohn habe ihr einen Schuhkarton übergeben, und dieser Karton sei mit Hundertdollarnoten gefüllt gewesen. Sie sagen, das wäre vollständig erlogen, niemand außer Susan Fisher hätte den Karton gesehen, und um Ihren Standpunkt zu erhärten, haben Sie Ihren Sohn irgendwo versteckt, wo er nicht verhört werden kann.« »Sie sind Rechtsanwalt«, sagte Campbell. »Sie können die Dinge so verdrehen, daß sie in Ihren Kram passen. Ich habe -7 6 -
nur eine Feststellung gemacht, die Miss Corning als wahrscheinlich akzeptieren wird.« »Ich habe allmählich genug gehört«, antwortete Amelia Corning, »um mir ein Bild machen zu können. Ich habe Ihnen und Ihrer Klientin Gelegenheit gegeben, Ihre Sache vorzubringen, Mr. Mason. Nun will ich Mr. Campbell die gleiche Chance einräumen.« »Und ich werde Ihnen folgendes erzählen«, begann Endicott Campbell. »Gestern morgen habe ich versucht, die Laune meines Sohnes ein bißchen zu heben. Er hatte einen Schuhkarton, in dem ein paar seiner Schätze steckten. Und ich hatte einen Schuhkarton mit einem Paar Abendschuhe. Im Spaß habe ich ihm vorgeschlagen, daß wir tauschen könnten, und offenbar hat er dann auch den Karton mit den Schuhen an sich genommen. Wie er sagt, hat er ihn Susan Fisher gegeben, die ihn in den Safe gestellt hat. Mein Sohn bekam ihn jedenfalls nicht zurück. Das ist die ganze Geschichte. Ich weiß, was im Karton war, nämlich meine Abendschuhe. Ich kann Ihnen auch noch die Quittung der Firma zeigen, von der ich sie bezogen habe. Und wenn nun Miss Fisher so freundlich sein will, den Karton herzuholen, von dem sie behauptet, daß er mit Bargeld gefüllt ist - na, dann werden wir ja sehen, was er nun wirklich enthält.« Amelia Corning ließ sich vernehmen: »Die Situation ist ganz klar: Einer lügt. Wenn Sie drei sich nun freundlichst zurückziehen wollen, kann ich die Sache mit Mr. Campbell besprechen. Ich nehme an, Mr. Campbell, daß Sie sich imstande fühlen, Ihre Vorwürfe auch zu belegen?« »Leider hat Susan Fisher«, erklärte Campbell, »eine Menge Unterlagen rechtzeitig beiseitegeschafft. Sie behauptet, sie einer Frau ausgehändigt zu haben, die angab, Miss Corning zu sein. Es wäre wohl besser gewesen, Miss Fisher hätte ihre ganze eifrige Tätigkeit verschoben, bis ich ihr die entsprechenden Anweisungen gegeben hätte. Ich hätte wahrscheinlich...«
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»Ich habe immer wieder versucht, Sie zu erreichen«, fiel ihm Susan Fisher ins Wort. »Entweder haben Sie das nicht gründlich genug oder am falschen Ort getan«, erwiderte Campbell. »Zu Ihrer Information: Ich habe ein Golfspiel abgesagt, um rasch nach Mojave zu fahren und festzustellen, wie es da eigentlich aussieht. Sie haben inzwischen auf eigene Verantwortung unsere vertraulichen Akten einer völlig fremden Person ausgehändigt. Das paßt ja auch sehr fein in Ihre Pläne, Miss Fisher. Meiner Meinung nach war diese Schwindlerin eine Frau, die Sie in letzter Minute aufgabelten, um die Fäden so gründlich zu verwirren, daß man Ihnen die Unterschlagungen nicht nachweisen kann.« »Na schön«, sagte Mason, »nun haben Sie Ihre Anschuldigung vom Stapel gelassen. Und nun möchte ich Sie eines fragen, Mr. Campbell: Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt dafür, daß nicht jede Person, die für die Unterschlagungen verantwortlich sein könnte - ob Susan Fisher oder Ali Baba oder Endicott Campbell -, dieses ganze Schwindelmanöver genauso hätte inszenieren können, damit die Unterlagen mit dem Geld zugleich verschwanden?« Campbell lächelte eisig. »Das also wird der Kern Ihrer Verteidigung - eine Gegenoffensive, was? Na, die Herausforderung nehme ich an, Mr. Perry Mason, zu gegebener Zeit und am richtigen Ort. Und jetzt werde ich meinem Arbeitgeber einen vertraulichen Bericht erstatten, und Sie dürfen mir glauben, er wird vertraulich sein! Sie können Miss Corning in einer Stunde anrufen, und dann werden Sie schon merken, daß Ihre Klientin nicht so gerissen war, wie sie glaubte. Ich habe für genügend Unterlagen gesorgt, um ihr Lügengebäude zum Einsturz zu bringen.« Miss Corning sagte: »Sie haben jetzt genügend Gelegenheit gehabt, Dampf abzulassen. Susan Fishers Darstellung kenne ich nun, und jetzt will ich Ihre hören, Mr. Campbell. Ab mit den anderen!«
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5 Mason, Della Street und Susan Fisher gingen langsam zum Fahrstuhl. Susan Fisher fragte: »Mr. Mason, ob wir nicht Carleton finden können? Mr. Campbell hat diese englische Erzieherin mit dem Jungen irgendwohin geschickt.« Mason sprach erst, als sie am Fahrstuhl standen und er auf den Knopf gedrückt hatte. »Der Junge wußte doch nicht, was im Karton war, oder?« »Nein, er meinte nur, daß es Daddys Schatz sei.« »Und sein Daddy«, fuhr Mason fort, »besteht darauf, daß der Schatz Abendschuhe waren. Das kann uns also nicht viel weiterhelfen... Sogar wenn wir den Karton finden und er bis obenhin voll Geld steckt, wird Endicott Campbell schwören, daß er ein Paar Abendschuhe enthielt, als der Junge den Karton nehmen durfte. Er könne doch nichts dafür, wenn Sie die Schuhe auf den Müll geworfen und den Karton mit Hundertdollarscheinen gefüllt hätten, dem Ertrag Ihrer Unterschlagungen.« Sue Fisher sah ihn verzweifelt an, denn jetzt endlich dämmerte ihr die volle Bedeutung der Situation. »Was können wir denn tun?« »Das wird weitgehend von gewissen Entwicklungen und davon abhängen, was für eine Art Mensch Miss Corning ist.« »Ich habe den Eindruck, daß sie sich bestimmt kein X für ein U vormachen läßt«, meinte Sue. »Dann hätte Endicott Campbell bereits jetzt eine Handvoll Probleme«, erwiderte Mason. »Warten wir denn nun einfach ab?« Mason schenkte ihr sein warmes Lächeln. »Das tun Sie, Sue. Wir aber werden einiges ins Rollen bringen. Unter Presseleuten sagt man, daß ein guter Reporter sein Glück selbst erfindet und wir gehen nun, ein bißchen Glück zu erfinden.« -7 9 -
»Wo?« »Ach, an verschiedenen Orten.« »Mojave?« fragte sie. »Das würde mich nicht allzusehr überraschen«, gab Mason zu. »Oh, Mr. Mason, kann ich nicht mit Ihnen kommen, bitte? Kann ich nicht?« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Wir möchten nicht, daß Sie irgend etwas unternehmen, das wie Flucht aussehen könnte oder auch nur als Versuch, einem Verhör zeitweilig auszuweichen. Sie gehen jetzt sofort in Ihre Wohnung, und da bleiben Sie. Achten Sie aufs Telefon. Wenn irgend etwas Ungewöhnliches passiert, wenden Sie sich sofort an Paul Drake.« Der Fahrstuhlkäfig kam zum Stillstand, und die Tür ging auf. Mason klopfte Sue auf die Schulter. »Denken Sie daran, daß wir unsere Karten richtig ausspielen müssen, genau, präzise und richtig.«
6 Der Sonntagsverkehr verursachte zu Beginn der Fahrt allerhand Verzögerungen. Mason fuhr mit steinerner Miene und sprach kaum ein Wort. Allmählich wurde der Verkehr dünner, und Mason gab Gas. Della kannte Masons Auffassung von Verkehrssicherheit und seine Überzeugung, daß ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit ein tödliches Geschoß war, das nur von jemand gemeistert werden durfte, der in vollem Besitz seiner Fähigkeiten und ganz auf das Fahren konzentriert war. Deshalb machte Della keinen Versuch, über den Fall zu sprechen, bis sie über den kleinen Hügel gefahren waren, die Bahn überquert hatten und nun die Stadt Mojave links und rechts von der Hauptstraße ausgebreitet liegen sahen. -8 0 -
Die Luft über der Wüste war kristallklar. Die Gebäude schienen im Licht des Nachmittags wie auf den Himmel geätzt. Mason bog in eine Tankstelle ein, sagte: »Voll, bitte«, und erwähnte, sobald der Schlauch im Tank lag, wie beiläufig: »Kennen Sie zufällig einen Mann namens Lowry? Ken Lowry?« »Klar«, sagte der Tankwart. »Da - da ist er gerade, drüben, an der anderen Straßenseite, er steigt in seine alte Karre.« Masons Blick fiel auf einen klapprigen Lieferwagen mit der Aufschrift »Mojave-Monarch«. Er lief über die Straße, aber Lowry fuhr an, ehe der Anwalt noch heran war. Der Tankwart stieß einen gellenden Pfiff aus, Lowry wandte den Kopf, sah Mason winken und stoppte. Mason trat an den Wagen. »Sind Sie Ken Lowry von der Mojave-Monarch?« »Bin ich.« »Ich bin Perry Mason, Anwalt aus Los Angeles. Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten.« »Worüber?« »Über die Angelegenheiten der Mine.« Lowry schüttelte lächelnd den Kopf. »Mit Fremden rede ich nicht übers Geschäft, wenigstens nicht über die Mine.« »Na schön, wenn Sie schon nicht reden wollen, hören Sie mir dann wenigstens zu?« Della Street kam eilig über die Straße auf die beiden zu. Mason stellte vor: »Das ist Mr. Lowry - und das meine Sekretärin Miss Street.« Lowry, ein angegrauter, grauäugiger, etwa vierzigjähriger Mann mit einem Gesicht wie aus Leder, musterte Della Street anerkennend. Der leichte Wüstenwind spielte mit ihrem Rock, und Lowry senkte sofort den Blick, um nichts zu verpassen. »Guten Tag, Madam. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. Della Street schenkte ihm ihr reizendstes Lächeln und reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Mr. Lowry.« -8 1 -
»Ich sehe, Sie haben zu tun«, sagte Mason. »Aber wir sind extra Ihretwegen hergefahren. Könnten Sie uns da nicht ein paar Minuten einräumen?« »Ich kann nicht reden.« ›Haben Sie ein paar Minuten für uns Zeit?« »Ich werde Ihnen ein paar Minuten zuhören.« »Wo können wir reden?« fragte Mason. »Genauso hier wie anderswo.« Della fing einen Blick des Anwalts auf und sagte: »Warum können wir uns nicht zu Mr. Lowry in den Wagen setzen?« Lowry war zögernd einverstanden, und Mason sagte: »Gute Idee, Della.« Der Anwalt ging um den Wagen herum und hielt Della Street die Tür auf. Della kletterte mit großzügig dargebotenen Nylons hinein, die einen Augenblick lang Lowry völlig fesselten. Dann setzte sich Mason neben sie und schloß die Tür. »Ich höre«, sagte Lowry. Er drehte sich um, damit er Mason ansehen konnte, und als er dabei ins volle Feuer von Dellas bezaubernden Augen geriet, lehnte er sich behaglich zurück, legte den Arm über die Rücklehne und zeigte, daß er trotz allem keineswegs vorhatte, das Interview schnell zu beenden. »Ich nehme an, daß Endicott Campbell hier war und Sie vor irgend jemanden gewarnt hat«, begann Mason. Lowry grinste nur. »Und vielleicht hat er auch meinen Namen erwähnt«, fuhr Mason fort. Lowry sagte: »Ich höre.« »Und ich rede. Ich möchte gern verschiedene Dinge über die Mojave-Monarch wissen, und zwar, wie sie aufgezogen ist, wie sie gearbeitet hat und wie lange die Mine schon stillgelegt ist.« Lowry schwieg. -8 2 -
»Na?« ermunterte ihn Mason. »Kein Kommentar«, sagte Lowry. Della Street mischte sich ein. »Mr. Lowry, würden Sie mich bitte anhören?« »Gemacht.« Della Street begann: »Ein junges Mädchen, ein außerordentlich attraktives junges Mädchen, wird beschuldigt, ein Verbrechen begangen zu haben. Mr. Mason versucht, ihr zu helfen. Er tut es nicht des Geldes wegen. Sie hat ihm noch keinen Pfennig gezahlt, und sie kann auch nicht einen Bruchteil dessen aufbringen, was seine Dienste wert sind. Sie ist Sekretärin, und ihr ganzes Leben liegt noch vor ihr. Dieses Leben wird vielleicht völlig zerstört, wenn jetzt Tatsachen verdreht werden. Wir möchten die Wahrheit ans Licht bringen, das ist alles. Es gibt doch keinen Grund, weshalb irgend jemand Angst vor der Wahrheit haben sollte, nicht wahr, Mr. Lowry? Oder doch?« »Nicht, was mich betrifft.« »Aber warum wollen Sie dann nicht ein paar einfache Fragen beantworten? Haben Sie eine Vorstellung davon, was es für eine junge Frau bedeutet, ins Gefängnis zu kommen? Eine Frau, die doch nur ein paar schöne Jahre im Leben hat? Was es für ein junges attraktives Mädchen heißt, wenn sich die Gefängnistore hinter ihr schließen und es ihr klar wird, daß ihr in dieser jahrelangen Tretmühle ihre Schönheit durch die Finger rinnt?« Lowry sagte: »Ihnen ist aber keine Schönheit durch die Finger geronnen, Madam, wenn ich das sagen darf.« Della Street schenkte ihm ihr verwirrendstes Lächeln. »Natürlich dürfen Sie das sagen, Mr. Lowry. Ich halte Sie für einen fairen Mann, für einen ehrlichen Kerl, und Sie sind bestimmt die Sorte Mann, die Umwege und Täuschungsmanöver verachtet. Wenn ich mich nicht sehr irre, müssen Sie aber Dinge tun, die Ihnen nicht behagen, und das macht Ihnen Kummer. Mr. Mason ist ein sehr kluger Anwalt. Vielleicht kann er Ihnen doch helfen.« -8 3 -
»Brauch keine Hilfe«, sagte Lowry. »Vielleicht glauben Sie, daß Sie keine Hilfe brauchen, aber in Angelegenheiten wie dieser liegen ja so viele Fußangeln versteckt. Sie dürfen auch nicht vergessen, daß Endicott Campbell sehr daran interessiert ist, seine eigene Haut zu retten.« Lowry sah zu Mason hinüber. »Da haben Sie ja wohl eine verdammt tüchtige Kraft.« »Hat sie Sie überzeugt?« fragte Mason lächelnd. »Noch nicht.« »Aber Sie sollten eigentlich überzeugt sein, Mr. Lowry, denn sie sagt die Wahrheit.« »Jedenfalls klingt es bei ihr danach«, gab Lowry zu. »Wahrheit überzeugt immer«, sagte Della Street, »an der Wahrheit ist nichts zu mißdeuten. Und nun will ich riskieren, daß Sie mich raussetzen, denn nun erzähle ich Ihnen etwas, über das Sie auch schon nachgedacht haben. Sie sind ein Mensch der freien Natur, das sehe ich beim ersten Blick. Sie sind an die weiten Räume gewöhnt, an den Wind auf Ihrem Gesicht, an Sonne, an viel frische Luft. Ich habe Ihnen gesagt, was das Gefängnis für eine junge Frau bedeutet, aber haben Sie sich schon vorgestellt, was Gefängnis für einen an die freie Natur gewöhnten Menschen heißt? Eingeschlossen zu sein zwischen Steinmauern? Wissen Sie eigentlich, wie viele Leute im Gefängnis Tuberkulose bekommen?« Lowry lief rot an. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Wollen Sie mir drohen?« fragte er wütend. Della Street blickte ihm gerade in die Augen. »Ich drohe Ihnen nicht, Mr. Lowry, ich will Sie nur warnen. Sie gehören zu einem besonderen Männerschlag. Ich möchte Sie wirklich nicht für zehn Jahre hinter Mauern verschwinden sehen. Mein Chef, Mr. Mason, ist ein Mann mit großer Erfahrung. Wenn Sie ihm alles berichten, kann er Ihnen vielleicht helfen.« Lowry schüttelte eigensinnig den Kopf.
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Della Street drehte sich blitzschnell zu Mason um, gab ihm einen kleinen Wink und sagte: »Na gut, Chef, gehen wir.« »Nun warten Sie doch mal«, lenkte Lowry ein. »Ich muß die Dinge ein bißchen überdenken.« »Dann täten Sie gut daran, ein bißchen schneller zu denken«, sagte Mason und nahm damit Dellas Taktik auf. Ein paar Sekunden blieb alles still, dann schüttelte Lowry wieder den Kopf. »Nichts da, ich rede nicht.« »Also, Della, nehmen Sie Ihr Notizbuch«, sagte Mason. Della holte es aus ihrer Tasche. »Schreiben Sie Datum und Tageszeit auf. Und dann folgende Feststellung: Diktiert in Gegenwart von Ken Lowry, dem Geschäftsführer der Mojave-Monarch. Wir suchten Mr. Lowry auf und baten ihn, uns einiges über die Arbeit in der Grube zu berichten. Wir erklärten ihm, daß ein junges Mädchen beschuldigt wird, ein Verbrechen begangen zu haben, daß sie aber unschuldig ist, daß sich die Umstände gegen sie verschworen haben und daß sie möglicherweise das Opfer eines großangelegten Schwindels wird. Mr. Lowry wollte durchaus keine Aufklärung geben. Er wollte uns weder über die Arbeitsweise der Mine etwas sagen noch über ihre Lage, er wollte uns auch nicht mitteilen, wie lange sie bereits stillgelegt ist. Er weigerte sich, überhaupt etwas mit uns zu besprechen, und machte damit deutlich, daß er selbst in die Sache verwickelt und bestrebt ist, die Wahrheit zu verbergen.« »Nun warten Sie bloß«, fiel Lowry ein. »Da Sie nun mal beim Schreiben sind, setzen Sie auch dazu, daß ich nichts verberge, sondern daß ich ganz einfach die Anweisung erhalten habe, die Sache mit niemandem zu besprechen und vor allem nicht mit Perry Mason.« »Wer hat Ihnen diese Anweisung gegeben?« »Endicott Campbell, wenn Sie es wissen wollen.« »Gut«, sagte Mason finster. »Wenn ich mit Endicott Campbell fertig bin, wird er vielleicht niemandem mehr Anweisungen erteilen. Und wenn Sie die Absicht haben, mit ihm unter einer -8 5 -
Decke zu bleiben, dann nur weiter so. Aber bevor Sie aus blinder Anhänglichkeit an Campbell reinrasseln, sollten Sie sich erst mal orientieren über das, was Campbell getan hat. Möglich, daß ich Sie im Gericht ins Kreuzverhör nehme, Mr. Lowry. Sagen Sie dann aber nicht, daß ich Ihnen keine Chance gegeben hätte.« Mason öffnete die Wagentür. Lowry sagte wütend: »Stimmt, Sie haben mir alle Chancen gegeben. Ich darf aber nicht mit Ihnen reden, und ich werde es auch nicht.« Della Street legte ihm impulsiv die Hand auf den Arm. »Bitte, Mr. Lowry, wir wollen uns doch nicht falsch verstehen.« »Ich verstehe niemanden falsch.« »Aber vielleicht haben wir Sie falsch verstanden. Ich will es mal so ausdrücken: Sie hatten Gelegenheit, Endicott Campbell zu sprechen. Sie kennen ihn schon längere Zeit, und...« »Gestern ist er mir zum erstenmal unter die Augen gekommen«, unterbrach Lowry. Della Street warf Mason einen Blick zu. »Sie haben doch wahrscheinlich eine gute Menschenkenntnis. Wie beurteilen Sie ihn denn? Würden Sie mit ihm auf Goldsuche gehen? Möchten Sie ihn als Partner haben?« »Ich suche mir meine Partner selbst aus«, sagte Lowry. »Und dabei bin ich vorsichtig.« »Das sind Sie jetzt aber nicht«, behauptete Della Street. »Denn Endicott Campbell hat Sie zu seinem Partner gemacht, ohne daß Sie es gemerkt haben.« »Er ist nicht mein Partner«, beharrte Lowry. »Das glauben Sie«, sagte Mason. »Campbell ist zu Ihnen herausgekommen. Er hat Ihnen allerlei vorgeredet und Ihnen verboten, den Mund aufzumachen, und nun weigern Sie sich auch, einschlägige Informationen zu geben - Informationen, auf die wir ein Recht haben, Informationen, die Sie erteilen sollten, schon, um sich selbst zu schützen, gar nicht zu reden von dem jungen Mädchen.« -8 6 -
»Augenblick, Augenblick«, sagte Lowry. »Wenn Sie es so ausdrücken, leuchtet es mir ein. Ich will Ihnen was sagen, dieser Kerl ist nicht mein Partner.« »Und ich sage Ihnen, er ist es«, erwiderte Mason. »Er hat Sie sozusagen in eine Partnerschaft hineinhypnotisiert. Sie tun ja schon genau das, was er will. Sie halten sich streng an seine Anweisungen. Sie sind natürlich nicht sein Partner bei der Grube, aber bei irgendwas, das sich am Ende als Verbrechen herausstellt. Diese Partnerschaft kann Ihnen noch viel Ärger bereiten.« Zum erstenmal drehte sich Lowry um und blickte zum Fenster hinaus auf die endlose Straße. »Warum sollte ich es Ihnen denn erzählen?« »Und warum nicht?« fragte Mason zurück. »Wenn Sie doch nichts zu verbergen haben... Ich will es anders ausdrücken. Warum sollten Sie mit Campbell gemeinsame Sache machen, nur weil er hier herauskommt und Ihnen sagt, was Sie zu tun haben?« »Weil ich schließlich für Campbell arbeite.« »Indem Sie Campbeils Anweisungen befolgen?« »Anweisungen der Hauptinhaber.« »Und Sie meinen, Endicott Campbell repräsentiert den Hauptinhaber?« »Hat er gesagt.« Mason lächelte hintergründig. Lowry zog die Brauen zusammen und atmete tief ein. »Na gut, ich möchte meinen Standpunkt erklären. Aber ich habe Campbell versprochen, Ihnen nichts mitzuteilen.« »Und damit haben Sie Campbell zu Ihrem Partner gemacht«, sagte Della Street. »Um Himmels willen, nun reiten Sie nicht immer darauf herum.« Lowry wurde ärgerlich. »Ich hab’ Ihnen ja gesagt, daß der Mann nicht mein Partner ist.«
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Mason sah Della Street an, lächelte und schüttelte geduldig den Kopf. Della Street sagte: »Es tut mir so leid, daß Sie es nicht einsehen wollen, Mr. Lowry.« Lowry überlegte eine Weile, dann begann er: »Also gut, so viel kann ich Ihnen sagen: Ich habe einige ungewöhnliche Sachen gemacht, aber alles auf Anweisungen hin, die ich direkt von Miss Corning selbst erhielt.« »Persönlich?« fragte Mason. »Telefonisch.« »Wie viele Telefongespräche?« »Zwei.« »Aus Südamerika?« »Nein, aus Miami. Sie hat zwei Geschäftsreisen in die Staaten gemacht und mich dann angerufen. Mich persönlich.« »Kennen Sie sie persönlich?« fragte Mason. »Ich habe sie nie gesehen.« »Mit anderen Worten«, begann Mason. »Sie haben einer Stimme m i Hörer zugehört. Diese Stimme verlangte, daß Sie gewisse Sachen unternehmen sollten. Diese Sachen waren in höchstem Grade ungewöhnlich. Dann kommt ein Mann, den Sie nie im Leben gesehen haben, und verlangt, daß Sie über diese Dinge den Mund halten sollen... Sie sind aber wirklich ziemlich leichtgläubig, Mr. Lowry.« »Meinen Sie, daß es vielleicht gar nicht Amelia Corning war, mit der ich am Telefon gesprochen habe?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Mason. »Aber Sie selbst wissen es auch nicht. Nun stelle ich Ihnen eine Frage: Hat Ihnen Endicott Campbell mitgeteilt, daß gestern eine Frau aufgetaucht ist, die sich als Amelia Corning ausgab?« »Himmel, nein!« rief Lowry aus. »Aber es stimmt. Wenn jemand so kühn ist, in ganzer Person als angebliche Amelia Corning aufzutreten, dürfte es erst recht nicht bei einem Ferngespräch schwierig sein.« -8 8 -
Lowry dachte nach. »Na gut, ich will den Campbell nicht als Partner. Kann den Kerl nicht ausstehen. Er ist mir ein bißchen zu glatt und ein bißchen zu schlau. Ich glaube, Sie haben mir dafür die Augen geöffnet, Miss Street, als Sie mich fragten, ob ich mit ihm draußen in der Wüste kampieren möchte. Würde nicht um die Burg mit dem Burschen das Zelt teilen. Dem ist nicht zu trauen.« Mason ermunterte ihn. »So, und nun können wir die Situation klären.« »Ich will Ihnen das eine sagen: Ich bin von Amelia Corning brieflich hier eingestellt worden. Sie hatte die Mojave-Monarch übernommen und alles gekauft - mit Haut und Haaren. Sie hat mich angewiesen, mich an die Arbeit zu machen und die Sache nach ihren Instruktionen zu verwalten.« »Und in welchem Verhältnis steht dazu die Firma Corning?« »Wir sind ein angeschlossenes Unternehmen. Aber ich arbeitete direkt unter Miss Corning und bekam meine Anweisungen unmittelbar von ihr selbst. Ich habe auch die Berichte an sie geschickt... Na, und dann ging’s eben schief. Wir kamen nicht mehr ran an die Ader und wußten nicht, was wir machen sollten. Ich hab’ ihr geschrieben, und sie hat geantwortet, daß mir die Gesellschaft in Los Angeles weitere Anweisungen geben sollte. Aber am nächsten Tag rief sie an und teilte mir mit, sie hätte es sich anders überlegt. Sie fragte, was ich davon hielte, die Mine stillzulegen, und ich sagte, daß wäre meiner Meinung nach das einzig richtige. Und ich sagte auch, wir müßten ein Vermögen aufwenden, wenn wir die Ader wiederfinden wollten. Na ja, sie wollte mir Bescheid geben. Etwas später rief sie wieder an und sagte, aus Steuergründen könnte sie es sich nicht leisten, die Grube zu schließen. Sie sagte, sie würde die ganze Sache der Corning-Gesellschaft in Los Angeles übergeben, und ich sollte jeden Monat die Summen aufschreiben, die wir für Löhne ausgegeben hätten, wenn die Mine noch gearbeitet hätte. Für die Bücher sollte ich drei Schichten mit je zwölf Mann anführen, also im ganzen sechsunddreißig Leute. Ich sollte dem Büro in Los Angeles melden, wieviel Geld ich für die Löhne brauchte, sie würden mir -8 9 -
dann einen Scheck schicken, den ich in Hundertdollarscheinen einlösen sollte. Davon sollte ich mein Gehalt abziehen und dann diese Hundertdollarscheine mit der Post nach Los Angeles schicken. Auf diese Weise, sagte sie, handelte es sich nur um eine Transaktion von Bargeld, und sie brauchte nur die Haftpflichtversicherung und gelegentliche Ausgaben zu bezahlen, während es dem Finanzamt gegenüber so aussähe, als ob die Mine noch voll arbeitete... War das nun Betrug?« »Tja, was meinen Sie?« fragte Mason zurück. »Sehen Sie, das stört mich nämlich«, gab Lowry zu. »Ich hab’ getan, was sie wollte, aber ich hab’ es nicht gern getan.« »Und Sie haben das Geld immer an die Gesellschaft in Los Angeles geschickt?« »Das nicht. Ich hab’ es auf den Namen der Firma geschickt, aber auf ein Postfach.« »Als Bargeld?« »Ich hab’ den Scheck immer an der hiesigen Bank in Hundertdollarnoten eingewechselt. Dann hab’ ich mein Gehalt abgezogen und den Rest in ein flaches Paket gepackt. Und nun kommt das, was mir am wenigsten gefiel. Ich sollte die Sendung nicht einschreiben lassen, sagte sie, damit man nicht merkt, daß das Päckchen irgendwelche Werte enthielt.« »Kam man in der Bank denn nicht auf den Gedanken, daß da etwas nicht stimmte?« wollte Mason wissen. »Was meinen Sie damit?« »Na, man sollte annehmen, daß die Bank die Sache für etwas ungewöhnlich hielt.« »Klar, in der Bank wunderten sie sich, aber die Bank hat nicht Alarm geschlagen. Ich hab’ ihnen gesagt, daß die Hauptinhaberin die Sache so haben will - na, und die Bank kennt mich ja.« »Sie wohnen hier schon länger?« »Stimmt.« »Und ich nehme an, daß Sie einen sehr guten Ruf haben, daß man Ihre Ehrlichkeit kennt?« -9 0 -
»Hab’ allen Anlaß, das anzunehmen.« »Wieviel Geld haben Sie insgesamt nach Los Angeles geschickt?« »Etwa 181000 Dollar.« »Haben Sie jemals eine Empfangsbestätigung oder etwas Entsprechendes erhalten?« »Ich hab’ auch nicht einen Federstrich bekommen, aber dafür nach jedem Versand einen Anruf, daß die Sendung gut angelangt wäre.« »Wer rief an?« »Das weiß ich nicht. Irgendeine Frau. Sie meldete sich einfach als Büro der Firma Corning und sagte, sie wolle mir mitteilen, daß die Sache okay sei und daß ich so weitermachen sollte.« »Sie haben also per Telefon mit zwei Stimmen zu tun gehabt?« fragte Mason. »Die eine Stimme meldete, daß die Sendung angekommen sei, und die andere Stimme behauptete, sie sei Amelia Corning?« »So wird’s wohl gewesen sein«, antwortete Lowry. »Die Stimme von der Corning hab’ ich nicht mehr so richtig im Ohr.« »Könnte es dieselbe Stimme gewesen sein?« »Ich... ach, ich weiß nicht. Allmählich bin ich völlig durcheinander, Mr. Mason.« »Wie ist es denn mit der Stimme, die sich als Büro meldete? Würden Sie imstande sein, sie wiederzuerkennen?« »Glaub’ schon. Jedenfalls könnte ich es versuchen.« »Wo erhielten Sie diese Anrufe?« »In meinem Haus bei der Mine.« »In den Dienststunden?« »Nein. Jeder Anruf kam abends.« »Und Endicott Campbell hat Ihnen gesagt, daß Sie nicht davon sprechen dürften?«
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»Er hat gesagt, Ihnen dürfte ich nichts mitteilen. Aber je länger ich darüber nachdenke, um so mehr wird mir klar, daß ich in einer komischen Lage bin. Ich will mir diesen Endicott Campbell nicht als Partner einhandeln.« »Das kann man verstehen. Sie haben richtig gehandelt, als Sie mir die ganze Sache anvertrauten. Haben Sie übrigens in letzter Zeit etwas von Amelia Corning gehört?« »Kein Wort.« »Haben Sie irgendwelche Berichte geliefert?« »Nein, das sollte ich ja nicht. Ich sollte nur die Schecks einlösen und das Bargeld nach Los Angeles schicken.« »Kam Ihnen das denn nicht sonderbar vor?« »Natürlich. Aber ich hab’ mir gedacht,, daß es irgendwie mit der Steuer zusammenhängt, und kein Mensch will gern eine Grube schließen. Das macht sich immer schlecht. Natürlich wissen die Leute hier in der Gegend, daß sie stillgelegt worden ist, aber was die Geschäftsbücher angeht, so waren sie ja in Ordnung, mit einer umfangreichen Lohnliste jeden Monat und einer großen Summe, die monatlich einging - wahrscheinlich haben sie behauptet, sie stammte aus dem Verkauf von Erz. Sehen Sie, Bargeld konnte ja doch nicht nachgewiesen werden.« »Das meinen Sie«, sagte Mason. »Sagen Sie, was soll das denn?« fragte Lowry. Mason öffnete die Wagentür und sagte nur: »Seien Sie vorsichtig, Lowry, wenn Sie wieder jemand als Partner annehmen. Vielleicht ist die Wahrheit der beste Partner, den Sie je kriegen können.« Unvermittelt streckte ihm Lowry die Hand entgegen. »Wirklich, ich bin sehr froh, daß ich Sie und Ihre Sekretärin kennengelernt habe. Ich glaube, Sie haben mir einen verdammt guten Rat gegeben. Ich fühle mich viel wohler als seit langem.« Della Street reichte ihm lächelnd die Hand. »Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr. Lowry. Ich habe doch gleich gemerkt, daß Sie sich unbehaglich fühlen mit all den Bedenken, die Sie -9 2 -
immer nur runtergeschluckt haben. Sie sind einfach nicht der Mann, der es verträgt, in solch dunkle Machenschaften verwickelt zu werden.« »Und vielen Dank«, sagte Mason. »Es war ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Lowry beobachtete Della Street und Mason, bis sie die Tankstelle erreicht hatten. »Vielen Dank, Della«, sagte Mason. »Die Sache haben Sie wirklich ausgezeichnet gedeichselt. Es war psychologisch sehr geschickt, ihm zu erklären, daß er sich Endicott Campbell als Partner eingehandelt hätte. Wie kamen Sie nur darauf?« »Ich weiß es wirklich nicht, Chef«, antwortete Della. »Es kam mir nur so in den Sinn, daß er der typische Wind-und-WetterMann ist.« »Ich glaube, ohne Ihr Köpfchen käme ich nicht mehr zurecht«, gab Mason zu. »Na fein«, sagte Della, »Sie können es haben. Und was tun wir jetzt?« »Nun fahren wir zurück nach Los Angeles. Aber zuerst wollen wir Paul Drake anrufen. Wir müssen uns auf Endicott Campbell konzentrieren, aber auch alles, was irgend möglich ist, über diese Firma Corning in Erfahrung bringen. Ich fürchte aber, es wird nicht allzuviel sein.«
7 Von einer Telefonzelle in Lancaster aus rief Mason Paul Drake an. »Heftet euch mal Campbell an die Fersen«, sagte er. »Die Geschichte ist noch fauler, als ich dachte, Paul, und irgendwie hab’ ich das Gefühl, daß sie absolut gefährlich ist. Also beschatte Campbell und versuch herauszubringen, wo sein Sohn steckt.«
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Drake antwortete: »Das wird eine schwierige Angelegenheit werden. Er hat geahnt, daß du ihn suchen wirst, und hat von vornherein alle Spuren verwischt. Wenn ein intelligenter Mann so etwas unternimmt, ist es für einen Privatdetektiv fast unmöglich, ihm auf die Schliche zu kommen. Die Polizei könnte es vielleicht, aber bei uns wird es eine langwierige und kostspielige Sache.« »Sieh zu, was du tun kannst. Ich fahre jetzt in die Stadt zurück, warte im Büro auf mich. Ich möchte dich sprechen.« »Und was hast du erfahren - etwas Brauchbares?« »Ich glaube schon.« »Wollen wir’s hoffen«, sagte Drake, »denn deine Rechnung von der Detektei wird nicht gerade niedrig werden, Perry.« »Hab’ ich noch Kredit?« »Bis zu einer Million.« »Das reicht ja wohl. Bleib am Mann, Paul.« Mason rief dann im Arthenium an und ließ sich mit Amelia Corning verbinden, die nicht wissen konnte, daß es sich um ein Ferngespräch handelte. Als sie sich meldete, sagte Mason: »Miss Corning, hier spricht Perry Mason. Ich würde Sie gern heute irgendwann am frühen Abend sprechen.« »Ach, das paßt wundervoll, Mr. Mason. Ich habe mich so gern mit Ihnen unterhalten, und ich glaube, Sie und Ihre Klientin können mir sehr nützlich sein. Zu Ihrer Information: Das Gespräch mit Endicott Campbell war für mich alles andere als zufriedenstellend.« »Verstehe«, sagte Mason kurz. Sie fuhr fort: »Nun habe ich ein Telegramm bekommen, daß meine Schwester und mein brasilianischer Agent aus Miami abgeflogen sind und hier um zehn Uhr fünfundzwanzig ankommen. Vorher möchte ich aber noch mit Ihnen sprechen. Können Sie jetzt gleich kommen? Wo sind Sie?«
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»Im Augenblick ist es mir nicht möglich«, gab Mason zurück und vermied es, seinen Aufenthaltsort zu nennen. »Wie wäre es um sieben Uhr dreißig?« »Früher wäre mir lieber, aber ich darf ja nicht vergessen, daß Sie ein vielbeschäftigter Anwalt sind. Ich will dieser Susan Fisher eine Freude machen. Ich bin nämlich zu dem Ergebnis gekommen, daß... na ja, das kann ich Ihnen besser nachher mündlich berichten. Bringen Sie Ihre Sekretärin wieder mit?« »Ja, freilich«, antwortete Mason. »Also kommen Sie gleich nach oben. Anmeldung ist nicht nötig. Ich erwarte Sie um sieben Uhr dreißig.« »Sieben Uhr dreißig«, bestätigte Mason. »Eines sollte ich Ihnen vielleicht doch noch sagen, Mr. Mason. Ich bin versessen auf Pünktlichkeit. Wenn Sie den Eindruck haben, daß Sie es vielleicht nicht schaffen, sagen wir lieber gleich sieben Uhr fünfundvierzig.« »Sieben Uhr dreißig ist schon recht«, antwortete Mason. »Ich bin pünktlich.« »Vielen Dank, Mr. Mason. Auf Wiedersehen.« Mason kehrte zum Wagen zurück und berichtete Della Street. Della fragte: »Wie ist Endicott Campbell bloß mit Amelia Corning fertig geworden? Hat sie Anhaltspunkte für uns?« »Mehr als das«, antwortete Mason. »Amelia Corning macht kein Hehl draus, daß die Besprechung höchst unbefriedigend war.« Della Street lachte. »Ich hatte gleich das Gefühl, daß der Bursche sich übernommen hat.« »Aber er kann uns noch viel Ärger bereiten. Wir müssen uns beeilen, Della, Miss Corning hat betont, daß sie Pünktlichkeit erwartet. Übrigens sind ihre Schwester und ihr Agent aus Südamerika unterwegs. Sie haben ihr aus Miami telegrafiert und kommen hier um zehn Uhr fünfundzwanzig an.« »Dann zieht sich das Netz um Endicott Campbell zu«, meinte Della Street. -9 5 -
»Möglich. Aber man soll einen Mann seiner Art nicht unterschätzen. Er ist intelligent, um Einfalle nicht verlegen, er wagt etwas, und sehr wahrscheinlich hat er eine Situation wie diese schon seit einiger Zeit vorausgesehen und entsprechend vorgesorgt.« »Aber was nützen ihm seine Pläne?« gab Della zu bedenken. »Natürlich - er hatte sein ganzes Extrageld hübsch beiseite gebracht und in einem Schuhkarton verstaut. Aber dann kam sein Sohn und gab es Susan Fisher.« »Und was ist damit geschehen?« fragte Mason. »Na ja - entweder hat die Person, die Amelia Corning spielte, das Geld, oder...« »Weiter, weiter«, drängte Mason, als sie innehielt. »Oder Endicott Campbell ging zum Safe und nahm den Karton heraus - natürlich war es so, Chef.« »Jedenfalls hatte er die Möglichkeit dazu«, antwortete Mason. »Und zweifellos ging er ins Büro und öffnete den Safe. Aber bedenken Sie: Falls die Frau, die vorgab, Amelia Corning zu sein, den Karton schon an sich genommen hatte, war er ja nicht mehr da, als Endicott Campbell ins Büro kam.« »Aber Chef, ich sehe den Unterschied nicht. Er hat doch diese ganze Schwindelgeschichte ausgearbeitet und so eingefädelt, daß Susan Fisher darauf hereinfallen mußte. Sie hat dann dieser Frau alle Unterlagen ausgeliefert, und...« »Und das war natürlich für ihn der Grund«, unterbrach Mason, »diese Frau überhaupt ins Spiel zu bringen. Aber der Schuhkarton mit Hundertdollarnoten ist eine andere Sache.« »Sie meinen, daß diese Frau ihrerseits Campbell betrogen hat?« Mason sagte: »Campbell benimmt sich doch recht eigentümlich. Sehen Sie, es besteht immerhin die Möglichkeit, daß er selbst betrogen worden ist. Nun weiß er nicht, ob es Susan Fisher war, die das Geld in die Finger bekommen, beiseite geschafft und ihm ein Märchen vom Schuhkarton im Safe aufgebunden hat - oder ob seine Komplizin, die Amelia -9 6 -
Corning spielte, beschlossen hat, die Kastanien aus dem Feuer selbst zu essen.« »Mit anderen Worten: Nach Ihrer Meinung benimmt er sich so, als ob er das Geld nicht hätte.« »Es kommt mir so vor«, antwortete Mason. »Wir müssen es immerhin in Betracht ziehen.« Mason erhöhte das Tempo bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit und konzentrierte sich aufs Fahren. Als sie sich Los Angeles näherten, blickte Della Street immer öfter auf ihre Uhr. »Wollen Sie vorher noch mit Paul Drake sprechen?« fragte sie. »Dazu reicht die Zeit nicht. Es ging nicht so schnell, wie ich dachte, und wir müssen sofort ins Arthenium fahren, wenn wir pünktlich sein wollen.« »Soll ich Sie dann dort verlassen, mich mit Paul in Verbindung setzen und ihn bitten, Sie anzurufen?« »Nein«, sagte Mason. »Ich möchte, daß Sie mit mir kommen. Miss Corning hat übrigens ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Offenbar haben Sie ihr großen Eindruck gemacht... wirklich, Della, Sie waren heute nicht mit Geld aufzuwiegen.« »Ich merke schon, wie ich rot werde.« »Sie haben unseren Ausflug zu Lowry wirklich zu einem vollen Erfolg gemacht. Jetzt haben wir Informationen, die Amelia Cormings größtes Interesse finden müssen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie einen Haftbefehl gegen Campbell erwirken würde. Aber es gibt noch eine Sache, die mich beunruhigt.« »Was denn?« »Ich nehme an, daß Endicott Campbell von unserem Ausflug zur Mojave-Monarch Wind bekommen hat.« »Ja, und?« »In dem Fall wird er sich fragen, was wir dort erfahren haben.« »Ist das so wichtig?« -9 7 -
»Ziemlich. Denn wenn er wissen will, was wir erfahren haben - was wird er dann tun?« »Ich glaube, er wird Lowry anrufen.« »Genau das«, sagte Mason. »Und wenn Lowry nun mit ihm telefoniert, wird er nicht mehr derselbe gutwillige Mitarbeiter sein wie vorher. Dann wird Campbell ihn direkt fragen, ob er uns alles berichtet hat, und Lowry kann schlecht lügen.« »Er wird es nicht einmal versuchen«, meinte Della Street. »Er wird Campbell die Wahrheit sagen. Mason nickte. »Und bedenken Sie, was ein verzweifelter Campbell alles unternehmen kann, bevor wir zu Lowry zurückfahren können.« Della wurde besorgt. »Das ist nicht gerade ein beruhigender Gedanke«, gab sie zu. Mason nickte wortlos, schenkte von nun an dem Sonntagabend-Verkehr seine volle Aufmerksamkeit und erreichte das Arthenium um sieben Uhr siebenundzwanzig. Er steckte dem Portier ein paar Dollar zu. »Sie müssen sich um meinen Wagen kümmern, ich habe keine Zeit, ihn zu parken.« »Geht okay. Da, wo er steht, kann er eine Weile bleiben. Kommen Sie bald zurück?« »Wahrscheinlich. Wenn es länger als zehn oder fünfzehn Minuten dauert, gebe ich Ihnen Bescheid«, sagte Mason. Sie gingen eilig durch die Halle zu den Fahrstühlen, fuhren hinauf und begaben sich zur Präsidentensuite. Della Street stellte schon aus einiger Entfernung fest: »Sieht aus, als ob die Tür offensteht.« Masons Blick fiel auf den Lichtschimmer, der aus der Tür auf den Korridor fiel. Er beschleunigte den Schritt. Die Tür zur Suite stand wirklich weit offen. Alle Lampen brannten. Nichts war zu sehen - keine Spur vom Rollstuhl, keine Spur von Amelia Corning. »Und was jetzt?« fragte Della Street. -9 8 -
Mason, der noch im Türrahmen stand, antwortete: »Ich nehme an, Della, daß sie die Tür offenließ, damit wir gleich hineingehen und uns setzen können.« Sie betraten also das Zimmer. Mason deutete auf die halb geöffnete Tür zum Schlafzimmer. »Ich glaube, Sie sehen dort mal nach, Della.« Della Streets Blick zeigte, daß sie ihn verstanden hatte. Sie öffnete den Mund zu einer Bemerkung, ließ es dann aber bleiben, ging zur Tür, klopfte an und rief: »Hallo, Miss Corning. Wir sind da.« Keine Antwort. Della Street stieß die Tür weit auf und trat ins Schlafzimmer. »Niemand da?« rief sie. Sie hörte rasche Schritte. Mason stand neben ihr. Man sah dem Zimmer die weibliche Bewohnerin an; ein Schrank stand offen, Kleider hingen auf den Bügeln, Hautcreme stand auf dem Toilettentisch. Mason zog sich eilig zurück. »Sehen Sie sich um, Della. Vergewissern Sie sich, daß niemand da ist. Sehen Sie auch in den Schränken nach - und unter dem Bett.« »Chef«, rief Della Street erschrocken aus, »Sie glauben doch nicht etwa...?« Dann riß sie sich zusammen und ging auf den Schrank zu. Mason setzte sich im Salon in einen Sessel. Nach zwei Minuten tauchte Della kopfschüttelnd wieder auf. »Überall nachgesehen?« »Überall.« »Badezimmer?« »Auch.« Mason zeigte auf eine andere Tür. »Da ist das andere Schlafzimmer, suchen Sie bitte auch dort.« Della hielt sich nicht mit Anklopfen auf, öffnete die Tür, inspizierte den Raum und kam zurück. »Niemand da.« »Kein Rollstuhl?« -9 9 -
Sie schüttelte den Kopf. »Wie viele Koffer?« fragte Mason. »Ich weiß es nicht genau. Ich glaube... warten Sie, es waren zwei Handkoffer und eine Tasche.« Mason schlug vor: »Ich denke, wir warten.« Della Street setzte sich. »Wir könnten den Fahrstuhlführer fragen.« »Wir könnten«, gab Mason zu, »aber wir wollen nicht. Noch nicht.« »Man sollte doch annehmen, daß sie uns einen Zettel hinterlassen hätte«, meinte Della Street. »Na ja, sie hat die Tür offengelassen und...« Er brach ab, als sich Stimmen näherten. Eine recht stattliche Dame von Mitte Vierzig erschien in der Tür, hinter ihr ein geschmeidiges Individuum mit dunklem Haar, dunklen Augen und kleinem Schnurrbart. Zwei Pagen mit Gepäck folgten. Mason erhob sich. »Verzeihung«, begann die Frau. »Ich dachte, das sei Am elia Cormings Suite.« »Ist es auch. Wir warten auf sie.« »Ist sie denn nicht hier?« »Im Augenblick nicht«, antwortete Mason. »Wir waren mit ihr verabredet, fanden die Tür offen und hielten das für eine Aufforderung zum Eintreten. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin Perry Mason, Rechtsanwalt, und das ist Miss Street, meine Sekretärin. Und Sie?« »Ich bin Sophia Elliott, Amelias Schwester. Und das ist Alfredo Gomez, ihr Agent.« Mason sagte liebenswürdig: »Ich weiß, sie hat Sie erwartet. Sie sagte mir am Telefon, daß Sie unterwegs wären, aber ich dachte, Sie kämen erst später an.«
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»Wir merkten, daß wir ein früheres Flugzeug erreichen konnten«, sagte Sophia Elliott und wandte sich an den Pagen. »Bring die Koffer da hinein.« Der schlanke flinke Alfredo Gomez mit den katzenhaften Bewegungen trat ein, verbeugte sich tief vor Della Street, behielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen und ging dann auf Mason zu, dem er ebenfalls die Hand reichte. »Sehr erfreut«, sagte er. Della Street warf Mason einen Blick zu. »Ich nehme an, daß Sie von Miami aus Miss Corning angerufen haben?« fragte Mason. »Wir haben telegrafiert«, antwortete sie. »Verzeihung - Mrs. oder Miss Elliott?« wollte Mason wissen. »Mrs. Elliott!« fuhr sie ihn an. »Und falls es Sie etwas angeht, ich bin verwitwet. Aber es geht Sie nichts an.« Mason sagte: »Ich vertrete eine Klientin, die einiges mit Miss Corning zu regeln hat, und Miss Corning hat mich gebeten, hierherzukommen.« Er sah auf die Uhr. »Und zwar schon vor zehn Minuten.« »Na, wenn sie nicht hier ist, dann hat sie auch nicht mehr die Absicht, mit Ihnen zu reden«, erklärte Sophia Elliott. »Ihre Uhr geht auf die Sekunde genau, und wenn sie einen Zeitpunkt festsetzt, hält sie sich auch daran. So, und wohin sollen unsere Sachen?« Mit dieser Frage wandte sie sich an die Hotelpagen. »Es gibt hier zwei Schlafzimmer«, antwortete einer von ihnen. Die Frau ging mit großen Schritten zur rechten Schlafzimmertür, stieß sie auf, sah hinein, kam zurück in den Salon, ging wortlos auf die andere Schlafzimmertür zu, stieß sie auf, blickte hinein, kam zurück und sagte endlich: »Alfredo, Sie nehmen das Schlafzimmer dort. Der Junge soll Ihnen die Sachen hineinbringen. Im anderen Schlafzimmer ist ein Doppelbett, da kann ich mit Amelia bleiben.« Alfredo verbeugte sich zustimmend und wies auf einen Handkoffer und eine Tasche. »Das ist mein Gepäck«, sagte er
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zum Pagen in einem etwas gespreizten Englisch, das er aber scharf und akzentfrei artikulierte. Die Jungen trugen das Gepäck in die Schlafzimmer. Sophia Elliott beaufsichtigte das Manöver, doch Alfredo Gomez stand wartend, schweigend und aufmerksam da. Sophia Elliott wies Gomez schließlich an: »Geben Sie den Boys Trinkgeld.« Gomez holte ein Bündel Scheine aus der Rocktasche. »Brasilianisches Geld gilt hier nicht«, sagte Sophia Elliott. Gomez lächelte die Jungen mit bliztenden Zähnen an, als er das Bündel zurücksteckte, langte in die andere Tasche, zog eine Brieftasche heraus, entnahm ihr feierlich einen Dollarschein und reichte ihn dem einen Pagen. »Das ist nicht genug«, belehrte ihn Sophia Elliott. Er zog drei weitere Dollar heraus. »Das ist zuviel«, sagte sie jetzt. »Geben Sie jedem einen Dollar.« Gomez führte den Befehl ernsthaft aus. Mit undurchdringlichen Mienen bedankten sich die Boys und verschwanden. »Soviel ich verstanden habe«, begann Mason, »kam Ihr Telegramm für Miss Corning überraschend.« Sie drehte sich langsam um und sah Mason mit einem Blick an, dem es entschieden an Liebenswürdigkeit mangelte. »Sie sind Rechtsanwalt, sagen Sie?« »Ja.« »Vertreten Sie meine Schwester?« »Nein, ich vertrete jemanden, der geschäftlich mit ihr zu tun hat.« »Waren Sie aufgefordert, hier einzutreten?« »Ich sollte um 7.30 Uhr hier sein.«
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»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Sind Sie ausdrücklich gebeten worden, hier hereinzukommen? Ich meine, hier in dieses Zimmer?« »Wir fanden die Tür weit offen«, antwortete Mason. »Und das habe ich als stumme Einladung angesehen.« »Wie spät ist es jetzt?« »7.45 Uhr.« »Also dann - sie ist nicht hier, und sie hat nichts für Sie hinterlassen. Ich werde ihr sagen, daß Sie hier waren. Wenn sie Sie sprechen will, wird sie nach Ihnen schicken.« »Verzeihung«, sagte Mason, »nach mir schickt man nicht.« Alfredo Gomez glitt heran. Er stellte sich dicht neben Sophia Elliott. »Sie hat doch wohl diesmal nach Ihnen geschickt?« »Sie hat mich gebeten, hier vorzusprechen, und ich war damit einverstanden. « »Na gut«, sagte Sophia Elliott, »wenn Sie so empfindlich sind: Wenn meine Schwester wünscht, Sie zu sprechen, wird sie um Ihren Besuch bitten. Das ist für heute alles.« Sie ging zur Korridortür und hielt sie offen. Mason verbeugte sich. »Es war mir ein besonderes Vergnügen, Sie beide kennenzulernen«, sagte er und ließ Della Street den Vortritt. »Hm!« machte Sophia Elliott. »Und Miss Corning richten Sie vielleicht aus, daß ich morgen früh um halb zehn in meinem Büro bin. Sie kann mich anrufen, wenn sie mich sprechen möchte.« Sophia Elliott schlug die Tür hinter ihnen zu. Della Street hob die Augenbrauen. Der Anwalt lächelte, nahm ihren Arm und ging mit ihr zum Fahrstuhl. »So etwas nennt man wohl eine dominierende Persönlichkeit«, sagte er. -1 0 3 -
»Das dürfte eine Untertreibung sein«, meinte Della Street. »Jetzt möchte ich nur wissen, wie Amelia Corning darauf reagiert.« »Das möchte ich auch. Sie hat ihre Schwester und diesen berückenden Alfredo sicher nicht hergebeten; die beiden sind bestimmt auf eigenen Wunsch hergekommen und wollen vermutlich ihr Schäfchen ins trockene bringen.« »Diese Sophia läßt sich nicht die Butter vom Brot nehmen«, stellte Della Street fest. Mason drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Man sollte annehmen, daß Miss Cormings Schwester das Kommando hat. Haben Sie bemerkt, daß sie mit dem Einräumen ihrer Sachen nicht auf die Rückkehr ihrer Schwester wartete? Sie zog einfach ein.« »Und nahm das Heft in die Hand«, ergänzte Della Street. Der Fahrstuhl brachte sie hinunter. »Wohin jetzt?« fragte Della Street. »Zu unserer Klientin Susan Fisher«, sagte Mason.
8 Mason klingelte an Susan Fishers Wohnungstür, aber nichts rührte sich. Er runzelte die Stirn und rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Sie hat doch versprochen, am Telefon zu bleiben.« »Was kann denn nur geschehen sein?« fragte Della Street. »Was es auch war, es muß wichtig sein, weil sie ihr Versprechen gebrochen hat. Oder es ist irgendein Zwischenfall eingetreten. Dann sollte sie aber Paul Drake benachrichtigen. Wir wollen feststellen, ob sie ihm Bescheid gegeben hat.« Sie gingen ins Erdgeschoß, suchten eine Telefonzelle und riefen Paul Drake an. -1 0 4 -
»Hier ist Perry Mason. Hast du von Susan Fisher gehört, Paul?« »Sie hat um sechs Uhr angerufen«, gab Drake Auskunft, »und hat gesagt, es sei etwas so hundertprozentig Vertrauliches zu erledigen, daß sie nicht wagte, mir auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten. Sie müßte aber kurz von zu Hause fort, und das sollte ich dir bestellen.« »Hast du denn nicht versucht, aus ihr herauszubringen, um was es sich dabei handelte?« »Natürlich, aber ich bin nicht weit damit gekommen. Sie war offenbar in großer Eile. Ich sollte dir nur bestellen, daß alles in Ordnung ginge und du dir keine Sorgen zu machen brauchst.« »Na ja. Ich rufe dich wieder an, Paul. Sie wird dir ja Bescheid geben, wenn sie zurück ist.« Der Anwalt hängte ein, trat aus der Zelle und schüttelte den Kopf als Antwort auf Dellas unausgesprochene Frage. »Sie ist ausgegangen«, sagte er. »Bei Paul Drake hat sie eine ziemlich geheimnisvolle Nachricht hinterlassen, und er sagt, sie sei in großer Eile gewesen. Unter diesen Umständen, Della, gehen wir am besten essen. Heute abend scheint jeder etwas gegen uns zu haben.« »Diese Worte«, sagte Della; »klingen mir wie Musik in den Ohren. Wir gehen essen!« »Ja, aber sozusagen ratenweise, Della. Ich kenne eine kleine Cocktailbar ein paar Häuserblocks weiter. Da gehen wir hin, nehmen einen Cocktail, kommen nach zwanzig Minuten wieder hierher und sehen uns nach unserer Klientin um. Erst wenn sie dann immer noch nicht da ist, wollen wir uns ein gutes Essen gönnen.« Della Street fragte: »Darf ich einen Zusatz anmelden?« »Was denn?« »Langer Umgang mit Ihnen hat mir beigebracht, daß der Spatz in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dach. Statt jetzt einen Cocktail zu trinken und später etwas zu essen, wollen wir lieber die Cocktails streichen und im Restaurant um -1 0 5 -
die Ecke gleich etwas essen. Meinem Magen wäre es entschieden lieber, wenn er jetzt eine Frikadelle bekäme, als wenn er bis Mitternacht auf ein versprochenes Filet mignon warten müßte. Fleisch nährt besser als Worte.« Mason lachte. »Also schön - ich möchte aber spätestens in einer halben Stunde wieder hier sein. Es ist irgendwas im Busch, das mich beunruhigt.« Sie gingen um die Ecke in ein kleines Restaurant, wo sie schnell bedient wurden. Della Street hatte richtig vorausgesehen - es gab Frikadellen und heiße Suppe für eilige Gäste. Nach dreißig Minuten standen sie wieder vor Susan Fishers Apartmenthaus. Mason parkte und ging mit Della Street zur Tür, als eine schmale Gestalt in langem Regenmantel, mit tief in die Stirn gezogenem Hut gerade öffnen wollte, aber plötzlich erstarrte. »Mr. Mason!« rief Susan Fisher aus. Mason besah sich ihren Aufzug - Männerhut, Pullover, Slacks, Regenmantel, flache Schuhe - und sagte dann: »Na, was machen Sie denn? Warum haben Sie sich denn als Mann kostümiert?« »Ich... das weiß ich nicht«, sagte Susan Fisher. »Ach, wie bin ich froh, daß Sie da sind! Ich habe ja so gehofft, daß ich Sie erreichen kann.« »Das hätten Sie bequemer haben können, wenn Sie meine Anweisung befolgt hätten und brav zu Hause am Telefon geblieben wären.« »Ich weiß, ich weiß, aber es ging nicht.« »Warum nicht?« »Weil sie mich anrief.« »Wer?« »Amelia Corning.« »Was wollte sie denn?« »Ich sollte etwas tun, wovon niemand erfahren durfte.« -1 0 6 -
Masons Augen wurden schmal. »Was ist passiert?« »Kann man denn... ich weiß nicht, ob ich hier davon reden darf.« »Vielleicht lieber nicht«, antwortete Mason. »Gehen wir also in Ihre Wohnung... aber Kind, Sie zittern ja.« »Ja, ich weiß. Ich bin so nervös, ich hab’ das Gefühl, daß ich auf der Treppe einfach umfalle.« Der Anwalt brachte sie zum Fahrstuhl und führte sie durch den Korridor. Della Street sagte: »Kommen Sie, Liebes, geben Sie mir Ihren Schlüssel, ich schließe auf.« In ihrer Wohnung sagte Mason: »Und nun los, Susan, berichten Sie.« Susan setzte sich und begann, so nervös an ihren Handschuhen zu fingern, als ob sie Wasser herauswringen wollte. »Los, erzählen Sie«, sagte Mason ermutigend und fügte hinzu: »Wer weiß, ob wir uns viel Zeit lassen dürfen.« »Sie hat mich angerufen und mir genau gesagt, was ich zu tun hatte. Ich sollte einen Bleistift nehmen und alles in Steno aufschreiben.« »Wo haben Sie die Notizen?« »Sie stehen in meinem Notizbuch. Ich sollte zum Büro der Selbstfahrerzentrale gehen, die nur vier Blocks entfernt ist. Da sollte ich einen Wagen mieten und dann auf der Mulholland Street bis zu einer bestimmten Kreuzung fahren, von da aus zwei Kilometer zu einer Tankstelle. Von der Tankstelle aus sollte ich noch etwa 350 Meter fahren. Dann würde ich an einen großen Platz kommen, wo ich den Wagen stehenlassen sollte. Ich sollte zur Tankstelle zurück gehen und dort einen Kanister Benzin kaufen. Sie sagte, ich sollte den Kanister nehmen, ihn bezahlen, mitnehmen und in den Wagen stellen - damit jemand, der den Wagen abends benutzen würde, auf jeden Fall genug hätte.« »Und warum das alles?« -1 0 7 -
»Ich sollte sie nach Mojave fahren, aber niemand durfte etwas davon merken. Sie sagte, sie müßte auf jeden Fall einen Mann in Mojave sprechen, bevor die Banken morgen aufmachen.« »Sagte sie auch, warum?« »Nein.« »Oder nannte sie den Namen des Mannes?« »Nein.« »Und warum Ihr sonderbarer Aufzug?« »Sie sagte, ich sollte mir einen Männerhut mit breitem Rand besorgen, dazu Slacks, einen Pullover und einen Regenmantel anziehen und flache Schuhe, damit ich notfalls ein tüchtiges Stück laufen könnte. Und sie war so nett zu mir, Mr. Mason. Sie sagte, sie hätte alles ganz genau überprüft und wüßte meine Offenheit und Ehrlichkeit und auch meinen Eifer für die Firma zu schätzen. Sie sagte, daß sie Endicott Campbell rauswerfen wolle und daß ich eine leitende Stellung haben sollte, und sie sagte...« »Egal, was sie sagte«, fiel ihr Mason ins Wort. »Erzählen Sie mir genau, was geschehen ist. Welche Anweisungen hat sie Ihnen sonst noch gegeben, und was haben Sie unternommen?« »Ich habe alles genauso gemacht, wie sie es wollte. Ich wußte, daß der Hauswart hier in einer Besenkammer alte Sachen aufbewahrt, auch einen Hut mit breiter Krempe, und den hab’ ich mir ausgeborgt. Ich habe einen schweren Regenmantel. Ich kam so rechtzeitig fort, daß ich zwanzig Minuten zu früh auf dem angegebenen Platz an der Mulholland Street war. Ich ließ den Wagen stehen, ging zur Tankstelle, kaufte einen Kanister Benzin, ging wieder zu der Stelle zurück und wartete und wartete und wartete.« »Der Tankwart hat Ihnen nicht angeboten, Sie zu Ihrem Wagen zu fahren?« »Nein. Miss Corning hatte mir gesagt, wenn er es wollte, dann sollte ich es nicht annehmen. Sie meinte aber, er würde -1 0 8 -
es mir schon nicht anbieten, weil die Tankstelle mit nur einem Mann besetzt sei.« »Und er hat es Ihnen also nicht vorgeschlagen?« »Er hätte es gern getan, wirklich, aber er sagte, er sei allein. Wenn sie zu zweit gewesen wären, hätte er mich gern gefahren. Er überlegte sogar, ob er die Tankstelle solange schließen sollte, aber ich hab’ ihm nicht zugeredet.« »Was war mit dem gemieteten Wagen?« fragte Mason. »Ich wartete und wartete, und als sie nicht kam, hab’ ich den Wagen zurückgebracht und die Miete bezahlt. Sie sagte mir, daß daß ich es so machen sollte, falls sie nicht bis spätestens 7.50 Uhr bei mir wäre. Dann sollte ich sofort umkehren, in meine Wohnung gehen und den Wagen vorher abliefern. Ich hab’ sie noch gefragt, was ich mit dem Kanister Benzin anfangen sollte, und sie hat mir ausdrücklich gesagt, ich sollte ihn nicht zurückgeben, sondern einfach ins Gebüsch neben der Landstraße werfen.« »Woher bekamen Sie denn das Geld für das Auto?« »Die falsche Miss Corning hat mir ja Geld für Spesen gegeben, als ich gestern morgen im Büro arbeitete. Miss Corning sagte, ich sollte das Geld nehmen, sie würde es mir ersetzen.« »Wann wollte sie da sein - ich meine, beim Rendezvous an der Mulholland Street?« »Das hat sie nicht gesagt. Sie hat mir nur befohlen, spätestens um Viertel nach sieben dort zu sein und bis genau zehn Minuten vor acht zu warten. Sie wollte sich in dieser Zeit mit mir treffen, wenn es ihr möglich war.« »Um welche Zeit hat sie Ihnen das alles aufgetragen?« »Ja, das war... so um dreiviertel sechs muß es gewesen sein.« Mason warf Della Street einen Blick zu. »Das kann nicht sehr lange nach unserem Telefongespräch mit ihr gewesen sein.« »Sie hat mir auch gesagt, Mr. Mason, daß sie mit Ihnen telefoniert hätte. Ich wollte wissen, wo ich Sie erreichen könnte, -1 0 9 -
aber sie sagte, Sie wären nicht zu erreichen; Sie wären nicht in der Stadt, aber Sie hätten bei ihr angerufen.« »Wissen Sie ganz sicher, daß es ihre Stimme war?« »O ja, ganz bestimmt. Sie hat so kleine Eigenarten beim Sprechen, und ich habe ein gutes Ohr für Stimmen. Ich bin ganz sicher, daß sie es war.« »Sie haben den Wagen abgeliefert und sind zu Fuß hierhergekommen?« Sie zögerte. »Sind Sie das?« »Nein. Ach, Mr. Mason, ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber ich war so aufgeregt... Ich bin noch in die Cocktailbar gegangen und habe ein Glas getrunken. Ich hatte es wirklich nötig.« »Kennt man Sie dort?« »Ja. Der Barmann ist sehr nett. Ab und zu schaue ich dort mal hinein.« »Wie lange sind Sie dort gewesen?« »Gar nicht lange, zehn bis fünfzehn Minuten.« »Und dann kamen Sie gleich hierher?« »Ja.« Mason runzelte die Stirn. »Die ganze Geschichte klingt einfach sinnlos. Wie man es dreht und wendet, es kommt nichts dabei heraus. Hat Miss Corning ihre Schwester und ihren Manager aus Südamerika erwähnt?« »Mit keiner Silbe.« »Nun passen Sie mal auf, Susan«, sagte Mason. »Diese Frau kommt aus Südamerika. Sie ist seit Jahren nicht mehr hiergewesen. Sie konnte Ihnen doch gar nicht diese detaillierten Anweisungen geben, sie kennt doch die Entfernungen nicht. Wie sollte sie wissen, ob der Tankwart allein oder mit einem Kollegen Dienst machte, oder...« »Aber das wußte sie alles sehr genau«, unterbrach Susan. »Sie sagte, sie hätte eine Detektei engagiert, und all diese -1 1 0 -
Dinge seien nur Teile von einem Puzzlespiel. Sie sagte, die Leute, die unsere Firma hintergingen, planten ein Treffen, bei dem wir uns auch einfinden müßten. Sie sagte, bis Sie wieder in der Stadt wären, hätten wir alle Beweise beisammen, die Sie brauchten... und es war bestimmt Miss Corning! Ich kenne doch ihre Stimme. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.« Mason sagte: »Ich fürchte, daß Sie entweder ein leichtgläubiges kleines Schaf gewesen sind oder daß sich Miss Corning in Gefahr begeben hat. Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen. Und in diesem Fall stecken Sie wirklich in der Patsche.« »Aber Mr. Mason, was hätte ich denn tun sollen? Für mich hängt doch alles davon ab, daß ich Miss Cormings Vertrauen habe. Ich konnte einfach nichts anderes tun als das, was sie wollte.« Mason begann hin und her zu gehen, die Augen in angestrengtem Nachdenken halb geschlossen. »Was ist?« fragte Susan Fisher. »Fürchten Sie, daß...« Della Street, die Masons konzentriertes Nachdenken kannte, legte einen Finger an die Lippen. Fast zwei Minuten lang wanderte Mason hin und her. Plötzlich wirbelte er herum. »Sue, können Sie mir eine genaue Zeichnung des Platzes machen, auf dem Sie den Wagen stehenließen?« »Natürlich. Sie hat mir ja die genauen Angaben mit allen Streckenkilometern gegeben, und ich hab’ sie in Steno mitgeschrieben.« »Wo ist das Stenogramm?« »Hier.« »Haben Sie es übertragen?« »Nein.« »Besitzen Sie eine Schreibmaschine?« »Ja.«
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»Dann schreiben Sie uns die Angaben auf, so schnell, wie Sie nur können. Bleiben Sie dann hier sitzen. Verlassen Sie Ihre Wohnung auf gar keinen Fall, ehe ich Ihnen Bescheid gebe.« Von seiner drängenden Eile angesteckt, spannte Susan Fisher einen Bogen in die Maschine und schrieb die Wegbeschreibung ab. Mason sah sich den Zettel kurz an, faltete ihn, schob ihn in die Tasche, sagte zu Della Street: »Los, Della«, und ging. Susan Fisher fragte noch einmal: »Soll ich hier warten?« »Sie rühren sich nicht vom Platz. Wenn Miss Corning anruft, suchen Sie herauszufinden, wo sie sich jetzt aufhält. Dann rufen Sie Paul Drake an und berichten es ihm. Ich werde ihn beauftragen, Ihnen eine Leibwache herzuschicken.« »Aber wenn sie nun anruft und sagt, daß ich mich irgendwo mit ihr treffen soll?« »Dann lassen Sie sich sagen, wo sie ist, rufen erst Paul Drakes Büro und tun dann das, was Miss Corning von Ihnen verlangt. Falls Sie einen Mann bemerken, der Ihnen folgt, brauchen Sie keine Angst zu haben. Es ist Drakes Mitarbeiter.« Mason fuhr mit Della Street ins Erdgeschoß, rief von einer Zelle aus Paul Drake an und lief dann zu seinem Wagen. »Wollen wir dort hinausfahren?« fragte Della Street. Mason nickte nur. »Warum? Was erwarten Sie dort?« »Wir können vielleicht noch rechtzeitig kommen, um einen Mord zu verhindern.« »Chef!« rief Della aus. »Wollen Sie damit sagen...« »Eben«, sagte Mason. Mason, sonst ein so besonnener und korrekter Fahrer, raste diesmal. »Wir werden von der Polizei angehalten werden«, warnte Della Street, als Mason bei Gelb schon lospreschte.
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»Um so besser«, gab Mason zurück. »Wir können einen Beamten brauchen.« Aber keine Polizisten ließen sich blicken. Der Anwalt bog in die Mulholland Street ein und überprüfte die angegebenen Entfernungen. »Das muß die Tankstelle sein«, sagte Della Street. Mason nickte mit zusammengepreßten Lippen und verlangsamte die Fahrt. »Augenblick, Augenblick!« rief Della Street. »Hier hat Susan den Wagen abgestellt.« »Ich weiß, aber ich möchte unseren Wagen nicht hier abstellen«, antwortete Mason. Er fuhr ungefähr hundert Meter weiter und fand einen Platz, auf dem er parken konnte. Er nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. »Kommen Sie, Della«, sagte er. Die langen Beine des Anwalts schlugen ein solches Tempo ein, daß Della nur im Laufschritt mithalten konnte. Sie kamen zu der Lichtung neben der Straße zurück. Im weichen Boden waren Abdrücke von Reifen zu erkennen. Mason suchte mit der Taschenlampe die Büsche ringsum ab. »Was suchen Sie?« wollte Della Street wissen. Die Antwort gab ihr das Licht der Taschenlampe, als es einen roten Benzinkanister erfaßte, der ins Gebüsch geworfen worden war. »Der Kanister«, sagte Della. »Er muß leer sein.« Mason nickte. »Sollen wir ihn mitnehmen?« »Wir rühren nichts an«, sagte Mason. »Hier lang, Della.« Autos, die von der Straße weg in Richtung auf den steilen Abhang gefahren waren, hatten eine Art Schneise in das niedrige Buschwerk gezogen. Mason fuhr bis zu einer Lichtung unmittelbar am Rande des Steilhangs. Hier hatten Pärchen wohl geparkt, dann gewendet und den Weg zur Straße zurück eingeschlagen. Dadurch war -1 1 3 -
ein freier Platz entstanden, auf dem nichts mehr wuchs. Mason löschte das Licht und lauschte. Von der Straße drang gelegentlich Motorenlärm herüber. Von fern her hörte man die Geräusche der großen Stadt. Ein Meer glitzernder Lichter erstreckte sich, so weit das Auge reichte, bis zum Rand des Ozeans. Hoch oben glitzerten die Sterne. »Wie herrlich«, sagte Della Street. »Wäre das nicht ideal für...« Sie stockte. Und dann schrie sie. Das Licht von Masons Taschenlampe, die er wieder angeknipst hatte, wanderte suchend über den Rand der Lichtung und verharrte plötzlich auf einer Gestalt, die in der schrecklich grotesken Pose des Todes auf dem Rücken lag. Mason trat näher. Benzingeruch drang ihnen in die Nase. Das Licht blieb auf dem Gesicht der Gestalt liegen. »Chef«, rief Della Street in halber Hysterie, »es ist Lowry, Ken Lowry von der Mine.« Mason nickte. Der Strahl der Taschenlampe bewegte sich weiter. »Und hier liegen Rechnungsbücher«, sagte Della Street. »Alle mit Benzin getränkt.« Mason nickte wieder, trat an den Toten heran, beugte sich über ihn und fühlte nach dem Puls. »Ja, Della«, sagte er nur. »Kommen Sie, wir gehen.« »Chef, was bedeutet das? Was ist passiert?« »Wir sind zu spät gekommen, um einen Mord zu verhindern«, erklärte Mason, »aber vielleicht noch rechtzeitig, um die Beseitigung der Beweise zu verhindern.« »Sie meinen, es soll verbrannt werden?« Mason nickte. »Wir müssen vorsichtig sein, Della. Vielleicht beobachtet uns irgendwo in den Büschen ein kaltblütiger Mörder.« Er ging so, wie er gekommen war, zurück zur Landstraße, ergriff Dellas Hand und rannte mit ihr zum Wagen, sprang hinein und fuhr zur Tankstelle. -1 1 4 -
»Haben Sie Telefon?« fragte er den Tankwart. Der Mann nickte und zeigte nach drinnen. Mason lief hinein, rief die Polizei an und verlangte die Mordkommission. Als die Verbindung hergestellt war, fragte er: »Ist Leutnant Tragg zufällig da?« »Er ist vor einer Minute reingekommen und schon wieder unterwegs. Vielleicht kann ich ihn aber noch im Korridor erwischen.« Mason hörte eine Stimme rufen: »He, haltet Tragg an!« Nach ein paar Sekunden hörte Mason im Telefon, daß sich Schritte näherten, und schon meldete sich Tragg: »Hallo, hier Tragg.« Mason sagte: »Ich muß Ihnen etwas berichten, was Ihnen sowenig gefällt wie mir. Ich habe eine Leiche gefunden.« »So, haben Sie das«, antwortete Tragg trocken. »Und Sie haben ganz recht.« »Womit?« »Damit, daß es mir ebensowenig gefällt wie Ihnen, vielleicht noch weniger. Wo stecken Sie, und was ist überhaupt los?« »Die Leiche ist mit Benzin übergössen«, begann Mason. »Ich nehme an, daß der Mörder nicht nur sein Opfer verbrennen wollte, sondern auch beweiskräftige Dokumente, die danebenliegen. Ich gehe zurück und versuche es zu verhindern. Schicken Sie so schnell wie möglich ein paar Beamte auf die Mulholland Street hinaus. Ich will versuchen, den Platz zu überwachen. Della Street kommt jetzt ans Telefon und erklärt Ihnen alles Weitere.« Mason übergab Della Street den Hörer. »Sie geben ihm die genauen Anweisungen«, sagte er. »Ich fahre zurück.« »Nein, nein«, rief sie, »das ist zu gefährlich. Sie können nicht... Sie haben doch keine Waffe...« »Wenn das Beweismaterial vernichtet wird, wandert unsere Klientin in die Gaskammer. Ich glaube nicht, daß der Mörder -1 1 5 -
das Benzin anzünden wird, wenn er einen Zeugen in der Nähe weiß.« »Nein, er wird den Zeugen umbringen«, rief Della Street. »Sie sagen Tragg, wie er hierherkommt. Das ist das Beste, was Sie tun können.« Der Anwalt gab Della Street keine Zeit zu weiteren Einwänden, sondern rannte an dem erschrockenen Tankwart vorbei zum Wagen, sprang hinein, fuhr wieder zu der Lichtung neben der Straße und wendete den Wagen so, daß die Scheinwerfer in die Schneise leuchteten. Er stellte den Motor ab, kurbelte die Fenster herunter, beobachtete die Straße und horchte angestrengt. Er hatte ungefähr zehn Minuten gewartet, als er von fern die Sirene eines Polizeiwagens hörte. Aus dem Jaulen wurde rasch ein durchdringendes Geheul, und die Strahlen eines blutroten Scheinwerfers tauchten das Gebüsch in düstere Glut. Dann geriet auch Masons Wagen in das helle Licht. Röchelnd erstarb der Sirenenton. Ein Polizist sprang aus dem Auto und lief, Hand am Revolver, auf Mason zu. »Wo brennt’s denn?« Mason sagte: »Ich bin Rechtsanwalt Perry Mason. Ich habe die Mordkommission angerufen. Dort drüben, etwa hundert Meter von der Straße entfernt, liegt eine mit Benzin übergossene Leiche. Wahrscheinlich wollte der Mörder sie anzünden, ist aber von mir gestört worden.« »Und Sie? Wo kommen Sie ins Bild?« »Ich habe eine Spur verfolgt«, antwortete Mason. »Eine Spur - wovon?« »Das ist eine andere Sache, wenn sie auch mit dem Mord in Zusammenhang stehen mag.« »Und wer ist das Opfer, wissen Sie das auch?« »Wenn ich mich nicht sehr irre, handelt es sich um Ken Lowry, der als Leiter einer Mine der Mojave-BergbauGesellschaft angestellt war.« -1 1 6 -
Der Beamte überlegte. Dann sagte er: »Sie warten hier. Rühren Sie sich nicht vom Fleck, und steigen Sie nicht aus dem Wagen.« Er ging zum Funkwagen zurück, besprach sich mit seinem Kollegen und suchte dann mit einer sehr starken Stablampe den Weg ab, wobei er sich sorgfältig im Buschwerk hielt, um keine Spuren zu verwischen. Mason wartete. Nach etwa zwölf Minuten heulte von fern wieder eine Sirene auf, und kurze Zeit darauf hielt ein zweiter Wagen neben dem ersten. Leutnant Tragg kam zum Vorschein. Er trat an Perry Masons Wagen. »Was soll das Ganze, Mason?« »Ich habe den Fund einer Leiche gemeldet, das ist alles.« »Mord?« »Anzunehmen.« »Waffe?« »Ich habe keine entdeckt.« »Wer ist es?« »Ich glaube, Ken Lowry, Leiter der Mojave-Mine.« »Sie kennen ihn?« »Ja.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Heute am späten Nachmittag. Und zwar zum ersten- und zum letztenmal.« »Wo?« »In Mojave.« »Dann muß er Ihnen hierher gefolgt sein.« »Er könnte auch vor mir angekommen sein.« »Gut. Und welches Interesse haben Sie an der MojaveMine?« »Ich untersuche einige finanzielle Transaktionen.« -1 1 7 -
»Für wen?« »Einen Klienten.« »Wer ist das?« »Im Augenblick«, sagte Mason, »bin ich nicht autorisiert, Ihnen den Klienten zu nennen. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Leutnant.« »Ja?« »Bis vor kurzem hat Amelia Corning im Hotel Arthenium gewohnt. Sie scheint aber das Hotel auf einigermaßen geheimnisvolle Weise verlassen zu haben. Um 7.30 Uhr war ich mit ihr verabredet, aber sie war nicht in ihrer Suite. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß schnelles Eingreifen ihre Ermordung verhindern könnte.« Tragg fragte: »Wo ist die Leiche?« »Gehen Sie hier den kleinen Weg hinunter«, sagte Mason. »Ich leuchte Ihnen mit meinen Scheinwerfern. Ein Beamter vom Funkwagen ist schon da und steht vermutlich neben dem Toten.« Tragg trat an den Funkwagen heran, beriet sich mit dem Fahrer und gab ihm leise ein paar Anordnungen. Dann kehrte er zu Mason zurück. »Kommen Sie«, sagte er zu Mason. »Wir gehen. Lassen Sie Ihre Scheinwerfer brennen, damit wir unterwegs Licht haben. Falls die Batterie leer wird, können Sie an der Tankstelle eine neue bekommen.« Tragg ging noch einmal zu seinem Wagen zurück und brachte einen Fotografen und einen Mann von der Spurensicherung mit. Er bat Mason vorauszugehen. »Passen Sie auf, Perry, daß Sie keine Spuren verwischen.« Mason sagte: »Spuren habe ich sicherlich schon verwischt, als ich zum erstenmal hier entlangging und nicht wußte, daß dahinten eine Leiche liegt. Auf dem Weg zurück bin ich dann durchs Buschwerk gegangen.« »Okay, hier sind ja auch Ihre Spuren. Aber nun wollen wir nicht noch mehr hinterlassen«, antwortete Tragg. -1 1 8 -
Mason führte sie durch das halbhohe Buschwerk bis zur Lichtung, von wo der Polizist mit seiner Taschenlampe schon Zeichen gab. Sie traten zu ihm. Tragg sagte: »Ich bin Leutnant Tragg. Was haben wir da?« »Sieht nach Mord aus«, antwortete der Beamte. »Die Leiche ist mit Benzin übergossen, ebenfalls einige Bücher, die danebenliegen und ganz durchtränkt sind. Hier - dieser Brieföffner, den ich gefunden habe, könnte die Mordwaffe sein. Wahrscheinlich lauert hier noch irgend jemand nur darauf, ein Streichholz anzuzünden und die ganze Sache in Brand zu setzen, deshalb bin ich stehengeblieben.« »Richtig«, sagte Tragg. Er wandte sich an Mason: »So, Mason, einer wird Sie zu Ihrem Wagen zurückbringen. Dort bleiben Sie, bis ich Sie vernehmen kann.« »Ich fahre zur Tankstelle«, erwiderte Mason. »Warum zur Tankstelle?« »Della Street ist dort.« »Na gut, fahren Sie hin, aber nicht weiter.« Tragg befahl dem Polizisten: »Sie gehen mit ihm zurück zu seinem Auto.« Einer der Männer beugte sich über die Leiche. »Leutnant, der Mann ist noch nicht lange tot.« »Aber tot ist er?« wollte Tragg wissen. »Stimmt.« »Dann beginnen Sie mit den Aufnahmen. So, Mason, Ihr Stichwort heißt abhauen.« Der Polizist nahm Mason am Arm und führte ihn durch das Buschwerk zur Straße zurück. Als Mason in seinen Wagen eingestiegen war, fragte ihn der Beamte: »Sie fahren jetzt zur Tankstelle?« »Ja.« »Ich folge Ihnen.« »Meinetwegen.«
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Der Anwalt bog wieder in die Mulholland Street ein und fuhr zurück, dicht hinter ihm hielt sich der Funkwagen; er kehrte um, sobald Mason in die Tankstelle eingefahren war. Della Street lächelte Mason entgegen, öffnete ihre Tasche und zog einen Fetzen heraus. »Was ist denn das?« wollte Mason wissen. »Sehr hübsche nagelneue Strümpfe, durch Buschwerk völlig zerrissen. Ist das ein im Dienst entstandener Schaden?« »Es ist ein Schaden, der ersetzt werden muß. Man kann ihn auf die Spesenrechnung setzen.« »Wird hübsch aussehen auf der Spesenrechnung: ein Paar Nylons für die Sekretärin.« Mason lachte. »Es wird nicht gerade in diesen Worten dastehen, Della. Und jetzt rufen wir Paul Drake an.« Der Tankwart schob sich neugierig heran. »Sagen Sie mal, was bedeutet das Ganze?« »Ein Mord ist passiert, da hinten an der Straße.« »Na so was! Wie denn?« »Ja«, sagte Mason, »wer das wüßte. Daneben liegt ein Benzinkanister. Sie haben wohl nicht zufällig vor kurzem einen Kanister Benzin verkauft?« »Doch, hab’ ich«, antwortete der Mann, »so vor anderthalb Stunden etwa. Hab’ mich schon gewundert, was das zu bedeuten hatte.« »Wem haben Sie ihn denn verkauft?« »Einer jungen Frau in Regenmantel und Männerhut. Sie hatte ihren Hut bis fast über die Augen gezogen.« »War sie blond?« fragte Mason und warf Della einen warnenden Blick zu. »Das weiß ich nicht.« »Blondes Mädchen mit blauen Augen, etwa einssechzig groß, ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt?« »Ich hätte sie für jünger gehalten.« -1 2 0 -
»Wieviel jünger denn?« »Na ja, genau weiß ich’s nicht. Kann auch sein, daß sie siebenundzwanzig war.« »Blaue Augen«, sagte Mason nachdrücklich. Der Tankwart verzog das Gesicht. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Sie haben sie also nicht sehr genau gesehen?« »Nein, nicht besonders genau. Sie kam hier rein und wollte einen Kanister Benzin haben. Ich kann mich erinnern, daß ich mich über den Männerhut wunderte, und - Na ja, ich überlegte, was sie wohl hier draußen zu suchen hatte. Ein Mädchen hier allein, und dann nicht genug Benzin... Ich hätte sie ja gern zu ihrem Wagen zurückgefahren, aber ich war allein in der Tankstelle.« »Es war wohl eine etwas verdächtige Figur? Eins von den Mädchen, die sich nachts in Männerkleidung herumtreiben?« »Ich bin gar nicht sicher, daß sie Männerkleidung trug«, sagte der Tankwart. »Nur diesen langen Regenmantel und den Hut.« »Es war ein Männerhut?« »Stimmt, ein Männerhut.« »Mit breitem Rand?« »Breiter Rand, ja, und sie hatte ihn nach unten geklappt, so weit es ging.« »Aber daß ihre Augen blau waren, das haben Sie doch erkennen können?« »Nun warten Sie mal. Ich bin da nicht so ganz sicher.« »Sie können also nicht mit Bestimmtheit behaupten, daß die Augen blau waren?« Der Tankwart überlegte und sagte zögernd: »Nein, ich könnte nicht schwören, daß sie blau waren.« »Können Sie denn auf eine andere Farbe schwören?« »Ich... nein, ich glaube, das könnte ich nicht.« -1 2 1 -
»Okay«, sagte Mason. »Della, Sie unterhalten sich noch mit ihm und notieren sich, was er sagt. Versuchen Sie doch, eine Beschreibung der jungen Frau zu bekommen.« Er warf ihr wieder einen raschen Blick zu. »Ich muß telefonieren«, sagte er dann. Der Tankwart ging sehr bereitwillig auf ein Gespräch mit Della Street ein. Mason rief Paul Drake an. »Weißt du was Neues über Endicott Campbell, Paul?« »Ich habe den Eindruck, daß wir den Stall verriegeln, nachdem das Pferd entlaufen ist«, gab Drake zurück. »Wir haben ihn nicht finden können. Er ist nicht zu Hause, und wir haben keine Ahnung, wo er steckt.« »Versucht es weiter«, bat Mason. »Und wenn ihr ihn geortet habt, laßt ihn nicht aus den Augen, das ist wichtig. Jetzt etwas Neues, Paul.« »Was?« »Wir müssen unbedingt Carleton Campbell finden - den siebenjährigen Jungen, den die englische Erzieherin, diese Elizabeth Dow, bei sich hat.« »Erbarmen«, sagte Paul Drake. »Wir tun doch schon alles, was wir können, Perry.« »Tut mehr, als ihr könnt«, antwortete Mason. »Wir haben einen Mord. Ken Lowry, der Leiter der Mojave-Mine, ist umgebracht worden. Ich habe noch heute nachmittag mit ihm gesprochen. Er hat sich wahrscheinlich die Sache nachher noch einmal durch den Kopf gehenlassen und ist dabei wohl auf den Gedanken gekommen, daß er mir zuviel erzählt hat, oder er hat endlich auch eingesehen, daß zwei und zwei vier ist - nachdem ich ihm nämlich ein Licht aufgesteckt hatte. Vielleicht ist er deshalb nach Los Angeles aufgebrochen, um mit Endicott Campbell zu sprechen, oder auch, um Amelia Corning im Hotel aufzusuchen. Ich glaube eher, daß er zu Miss Corning wollte; er kann ja ihre Adresse irgendwie erfahren haben; vielleicht hat sie ihn auch angerufen. Miss Corning ist -1 2 2 -
verschwunden. Sie hatte sich mit mir für 7.30 Uhr verabredet, war aber nicht im Hotel. Dabei ist sie überpünktlich mit ihren Verabredungen.« »Hast Du denn einen Verdacht?« »Ich habe einen Verdacht«, bestätigte Mason, »Aber mir fehlen die Beweise. Amelia Cormings Schwester und ihr Agent sind im Arthenium aufgetaucht. Offensichtlich hat die Schwester, eine Sophia Elliott, die Hosen an - oder möchte es wenigstens. Ich kann mir nicht denken, daß es sehr friedlich zugeht in dieser Familie. Nun beschäftigt mich folgendes, Paul: Ich glaube nicht, daß Amelia Corning so übergroße Sehnsucht nach ihrer Schwester und dem Agenten Gomez hatte. Ich nehme an, daß die beiden auf eigene Faust kamen und daß da irgendwelche Spannungen, irgendwelche gegensätzlichen Interessen im Spiel sind. Es ist allerdings nur so eine Ahnung. Ich habe der Polizei den Tip gegeben, Amelia Corning zu suchen, und dabei angedeutet, daß auch sie noch ermordet werden könnte; das wird sie schon auf Trab bringen.« »Glaubst du, daß sie wirklich in Gefahr ist?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Mason. »Mir gefällt nur nicht die Art, wie diese beiden plötzlich aufgetaucht sind, und ich habe den Eindruck, daß es Amelia Corning ebensowenig gefällt. Als ich nämlich mit ihr telefonierte und sie mir mitteilte, daß sie durch ein Telegramm von der Ankunft der Schwester und des Agenten benachrichtigt worden sei, wirkte sie nicht gerade besonders glücklich.« »Wenn du jetzt die Polizei eingeschaltet hast, kann ich nicht mehr viel für dich tun. Die Polizisten werden mich schon nicht an den Ball herankommen lassen.« »Stimmt. Aber trotzdem könnte es dir glücken, daß du mal über ihn stolperst. Ich will dir sagen, was du tun kannst: Suche so auffallend nach ihr, daß du möglichst alle Beteiligten in Verdacht bringst.« »Alle Beteiligten - ist das dein Ernst?« »Jawohl, alle Beteiligten.« -1 2 3 -
»Das artet in Arbeit aus«, bemerkte Drake. »Das hat es schon lange«, gab Mason zu. »Fang an, Paul.« Als Mason auflegte, sah er, daß Della Street mit ihren großen und unbestreitbar schönen Augen den Tankwart so hypnotisiert hatte, daß er Masons Telefongespräch kaum zur Kenntnis genommen und bestimmt kein Wort davon gehört hatte. Mason bestellte ein Taxi zur Tankstelle und gesellte sich zu Della Street, die er kurz unbeobachtet sprechen konnte. »Della«, sagte er. »Die Polizei hat mir zur Auflage gemacht, mich nicht von hier zu entfernen. Aber Sie haben keinen entsprechenden Befehl erhalten. Ich habe mir eine Taxe bestellt und werde hier warten. Sie nehmen meinen Wagen, und zwar rasch.« »Wohin soll ich fahren?« »Della«, sagte Mason, »die Sache ist sehr schwierig und sehr wichtig. Ich möchte nicht, daß die Polizei Susan Fisher auf die Spur kommt, solange es zu vermeiden ist. Andererseits kann ich ihr nicht raten, die Stadt zu verlassen, weil man darin einen Schuldbeweis sehen würde. Nun passen Sie auf: Wenn ich Ihnen den Auftrag gäbe, Miss Corning zu suchen, wo würden Sie damit beginnen?« »Das weiß ich wirklich nicht.« »Es ist schwierig«, gab Mason zu, »aber denken wir daran, daß sie ein großes Interesse an der Mojave-Mine hat. Und wir dürfen nicht vergessen, daß der Mord an Ken Lowry vielleicht aus einem wichtigen Hintergrund gesehen werden muß. Wenn Sie nun bei Susan Fisher vorfahren und sie mit sich nach Hause nehmen, damit sie Ihnen alle Einzelheiten berichten kann, die nur sie weiß, und wenn Sie dann nach Mojave führen... aber Sie sind natürlich sehr müde, und ich dürfte Sie nicht Tag und Nacht beschäftigen. Der heutige Tag war besonders anstrengend. Ihr beiden Mädchen solltet irgendwo unterwegs an einem Motel halten und dort übernachten. Natürlich müssen Sie Ihre Namen angeben. Und morgen früh könnten Sie beide dann anfangen, sich in Mojave umzusehen. -1 2 4 -
Es gibt vielleicht eine ganz winzige Möglichkeit, daß Sie etwas finden.« »Sie möchten Aufschub, ist es das, Chef?« fragte Della Street. »Pst«, machte Mason. »Sie sollen keine voreiligen Schlüsse ziehen, Della. Ich habe Sie nur beauftragt, Indizien zu beschaffen. Meiner Meinung nach wäre es gut, wenn Sie nach Mojave führen und sich dort umsähen.« »Und soll ich Ihnen zwischendurch Bericht erstatten?« »Von Zeit zu Zeit; heute nacht ist es nicht nötig. Haben Sie genug Geld bei sich?« »Es geht.« Mason entnahm seiner Brieftasche zwei Hundertdollarscheine. »Das wird für eine Weile reichen«, meinte er. »Und wie kommen Sie ohne Ihren Wagen aus?« »Keine Sorge, ich weiß mir zu helfen. Ich miete ein Auto. Nun nehmen Sie meines, und beeilen Sie sich bitte, Della. Rufen Sie mich von Zeit zu Zeit an.« »Und wenn uns die Polizei schnappt?« »Wenn die Polizei Sie mitnimmt, erklären Sie Susan Fisher, daß ein Anwalt es im allgemeinen nicht schätzt, wenn seine Klienten eine Aussage machen, solange er nicht anwesend ist, und daß er mit seinem Klienten sprechen und die Tatsachen erfahren möchte, ehe der Klient Aussagen vor der Polizei macht.« »Ich verstehe. Halten Sie mir die Daumen«, sagte Della. »Hals- und Beinbruch«, antwortete Mason. Della Street ging zu Masons Wagen und sprang mit wirbelndem Rock und langen Beinen hinein. Der Tankwart sah ihr nach. »Die ist doch vom Film, nicht?« fragte er Mason. Mason schüttelte den Kopf.
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»Sie müßte aber zum Film«, sagte der Mann verträumt. »Das schönste Mädchen, das ich im Leben gesehen habe. Was für Augen! Und diese Figur!« Mason lächelte verständnisvoll. »Und diese Tüchtigkeit.« »Wo arbeitet sie denn?« wollte der Tankwart wissen. »Sie ist eine sehr, sehr tüchtige Sekretärin«, antwortete Mason. Der Tankwart sah noch eine Weile auf die Straße hinaus und ging dann mit einem Seufzer ins Hinterzimmer.
9 Die Taxiuhr zeigte neun Dollar achtzig Cent, als Tragg Perry Mason endlich zögernd gestattete, zu seinen Geschäften zurückzukehren. »Ich bin nicht sehr glücklich bei dieser Geschichte, Mason«, sagte Tragg. »Man soll über einen Mord niemals glücklich sein«, erwiderte Mason. »Das meine ich nicht. Ich bin nicht glücklich über die Rolle, die Sie bei diesem Mord spielen.« »Ich habe mit dem Mord nichts zu tun«, gab Mason zurück. Tragg wies mit dem Daumen nach draußen. »Los, fahren Sie schon. Aber früher oder später werden die Tatsachen aus dieser Geschichte ans Licht kommen. Und dann werden wir wissen, wieso Sie hier waren und nach einer Leiche suchten.« »Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich nicht nach einer Leiche gesucht habe.« »Ach, fangen wir nicht noch einmal von vorn an. Gehen Sie schon.« Mason kletterte in die Taxe und nickte dem Fahrer zu. »Zurück nach Hollywood«, sagte er. In Hollywood nannte er dem Fahrer Susan Fishers Anschrift und fragte: »In der Nähe dieser Wohnung ist eine -1 2 6 -
Selbstfahrerzentrale, etwa drei oder vier Blocks entfernt. Wissen Sie, wo?« Der Fahrer dachte kurz nach und nickte dann. »Eine Zweigstelle der M-Autos.« »Fahren wir hin«, sagte Mason. Die Taxe hielt vor der Selbstfahrerzentrale, Mason stieg aus und ging ins Büro. »Kann ich einen Wagen haben?« fragte er. »Kommt darauf an, für wie lange«, antwortete der Angestellte. »Wir wollen gerade schließen. Es war allerhand los heute. Als Zweigstelle haben wir nicht viele Autos zur Verfügung, aber es ist gerade eines zurückgekommen, allerdings noch nicht durch den Wartungsdienst gelaufen. Ich will den Tank füllen, dann können Sie ihn haben. Falls Sie ihn vor morgen früh neun Uhr zurückgeben, müssen Sie ihn zu einer unserer anderen Filialen bringen, die Adressen gebe ich Ihnen.« »Meinetwegen«, sagte Mason. »Ich brauche schnell einen Wagen.« »Ihren Führerschein haben Sie bei sich?« Mason legte ihn vor, benutzte eine Dauerflugkarte als Kaution und bezahlte die Taxe. Der Angestellte der Mietwagenfirma sagte: »Ich wollte gerade für heute dichtmachen. Es war ein ziemlich anstrengender Tag, und ich bin schon zwanzig Minuten über die Zeit hier.« »Dann haben Sie heute wohl viele Wagen vermietet?« »War nicht wenig.« »Sie haben aber doch nicht viele Autos hier?« »Nein, weil wir nur eine Zweigstelle sind. Wir versuchen, immer einen Wagen hierzubehalten, und telefonieren im Notfall mit unseren anderen Zweigstellen, damit sie uns ein Auto schicken. Wenn ich anrufe, kann ich in zehn Minuten, manchmal auch noch schneller, eins vor der Tür haben.« »Verstehe«, sagte Mason. »Ich habe schon immer überlegt, wie man ein Geschäft wie dieses am besten aufzieht.« -1 2 7 -
»Es ist tatsächlich eine ganz neue Methode. Wir haben unsere Büros über die ganze Stadt verstreut, und Sie können das Auto bei jedem abliefern.« »Gute Idee«, sagte Mason. »Läuft auch prima für mich«, erzählte der Mann weiter. »Natürlich habe ich auch eine Tankstelle. Aber nun will ich Ihnen den Tank füllen, und Sie können loszischen.« Während der Mann Benzin einfüllte, ging Mason zum Telefon und rief Paul Drake an. »Paul, ich habe einen Wagen, der außerordentlich sorgfältig überprüft werden muß, und zwar durch einen Experten. Ich brauche jemanden, der ihn Zentimeter für Zentimeter mit einem Vergrößerungsglas absucht.« »Wonach absucht?« »Nach Blutflecken, Fingerabdrücken - nach allem.« »Weißt du«, Paul Drakes Stimme klang jetzt ziemlich müde, »ich kenne einen Techniker aus dem Polizeilabor, der gelegentlich für mich arbeitet. Aber zu dieser Stunde wird er wahrscheinlich im Bett liegen. Ich muß ihn rausholen.« »Kann er den Mund halten?« »Er kann.« »Er wird dir zuliebe aufstehen?« »Nicht mir zuliebe. Für fünfzig Dollar.« »Und er arbeitet dafür die halbe Nacht hindurch?« »Er arbeitet dafür die halbe Nacht.« »Gut«, sagte Mason. »Ruf ihn an, und dann warte unten vorm Haus auf mich. Ich nehme dich mit, und wir fahren zu deinem Mann.« »Wann?« »In fünfzehn Minuten.« »Ich will sehen, was ich tun kann. Gibt’s eigentlich jemanden, der heute nacht schläft?«
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»Nicht daß ich wüßte«, antwortete Mason. »Hast du was über Amelia Corning?« »Ja, eine Spur. Einer von den Hausdienern hat fünfundzwanzig Dollar dafür bekommen, daß er Miss Corning im Lastenaufzug mit ihrem Rollstuhl nach unten befördert hat. Sie wollte das Haus verlassen, ohne daß es jemand merkte, sagte er.« »Wann war das, Paul?« »Sechs Uhr dreißig.« »Das paßt.« »Wieso?« »Sie hatte sich auf sieben Uhr dreißig mit mir verabredet, und sie ist sehr pünktlich. Sie könnte angenommen haben, daß sie rechtzeitig zurück wäre.« »Du hast recht, sie hat es offenbar erwartet, denn sie verabredete mit diesem Burschen, der den Lastenaufzug bedient, daß er Punkt sieben Uhr zwanzig in der Nähe des Lastenaufzugs auf sie warten und sie dann nach oben befördern sollte.« »Und war er da?« »Er war da, aber sie kam nicht. Er hat zehn Minuten gewartet.« »Hat er auch der Polizei seine Geschichte erzählt?« »Die hat ihn noch nicht gefragt. Sie scheinen sich mit der Sache nicht zu befassen - einstweilen. Miss Cormings Schwester scheint die Festung zu halten; sie läßt keinen rankommen, der Interesse für Amelias Kommen und Gehen verrät.« »Das ist gut«, stellte Mason fest. »Wir sind der Polizei offenbar ein paar Schritte voraus. Tu, was du kannst, um die Taxen zu überprüfen, die gewöhnlich am Arthenium parken und...« »Schon erledigt«, fiel ihm Drake ins Wort. »Alle Taxen dort parken in der Reihenfolge, in der sie ankommen. Der vorderste Wagen fährt zum Hoteleingang, wenn der Portier ein Zeichen -1 2 9 -
gibt. Wenn der Portier nicht da ist, hält der vorderste Wagen möglichst vorm Eingang.« »Und wenn eine Taxe zum hinteren Ausgang bestellt wird?« »Dann müßte das schon über Telefon geschehen«, sagte Drake. »Deswegen habe ich bereits bei allen Taxizentralen nachgefragt - aber um die Zeit ist kein Wagen an den hinteren Ausgang bestellt worden. Deshalb muß es sich um ein Privatauto gehandelt haben.« »Es kann kaum ein Privatwagen gewesen sein«, warf Mason ein. »Anders ist es nicht denkbar.« »Na schön«, sagte Mason, »ich komme zu dir. Ich möchte, daß dieser Wagen nach Fingerabdrücken abgesucht wird, aber auch nach allem anderen, was von Bedeutung sein könnte: eine Untersuchung, wie sie auch die Polizei vornimmt.« »Das dauert seine Zeit.« »Zeit haben wir.« »Siehst du, das habe ich befürchtet«, antwortete Drake und gähnte ins Telefon. »Nun hol deinen Mann schon aus dem Bett. Ich komme. Und vergiß nicht, Handschuhe zu tragen, wenn du in den Wagen steigst.« Perry Mason fuhr mit dem gemieteten Wagen zu seinem Büro, wo Paul Drake schon am Bordstein stand, und ließ ihn einsteigen. Drake übernahm die Führung. Sie verließen die City, kamen schließlich zu einer Auffahrt und rollten in eine offene Garage. Drake sagte: »Das ist Myrton Abert, Perry. Angestellt im Polizeilabor.« »Ich möchte, daß dieser Wagen genau untersucht wird«, sagte Mason. »Und ich wünsche ferner, daß niemand davon erfährt.« »Daran kann Ihnen nicht mehr als mir liegen«, erwiderte Abert. »Die Sache ist doch nicht faul, wie?« -1 3 0 -
»Nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen. Es ist ein Mietwagen, und ich möchte nur wissen, wer ihn vorher gefahren hat.« »Und falls nun die Polizei dasselbe wünscht?« fragte Abert. »Dann informieren Sie die Polizei.« »Wenn ich das tun will, muß ich entsprechend vorgehen und die Fingerabdrücke abheben.« »Tun Sie das. Es darf aber nachher nichts darauf hindeuten, daß Fingerabdrücke abgehoben worden sind.« »Ich weiß nicht, was das für einen Sinn haben soll«, sagte Abert. »Mitunter gibt die Polizei ihre Informationen nicht an mich weiter. Wenn ich ihr die meinen mitteile, will ich wenigstens eine Nasenlänge Vorsprung haben.« Abert überlegte und sagte dann grinsend: »Na gut. Ich habe einem Kollegen Bescheid gesagt, daß er mir helfen soll. Er muß jede Minute hier sein.« Abert schloß die Garagentür, drehte eine helle Lampe auf und machte sich an die Arbeit. Der Tag graute, als Abert feststellte: »Also, Mr. Mason, Blutflecken sind nicht am Wagen. Verwischte Fingerabdrücke gibt es reichlich. Dreiundzwanzig lesbare befinden sich auf Türen, Rückspiegel und Seitenspiegel. Die habe ich mit Spezialpapier abgehoben. So, und was nun?« »Haben Sie Routine im Vergleichen?« »So ziemlich.« »Ich hätte gern Abzüge von den Abdrücken.« »Dann muß ich die abgehobenen Abdrücke fotografieren.« »Wie lange dauert das?« »Das Fotografieren ist schnell getan, aber Entwickeln und Abziehen braucht seine Zeit.« Mason sagte: »Sie wollen sich gegen alle Eventualitäten schützen. Gut, machen Sie Ihre Aufnahmen, geben Sie mir dann die originalen abgehobenen Fingerabdrücke. Danach -1 3 1 -
können Sie Ihre Abzüge machen, wann es Ihnen paßt, und sind auf alles vorbereitet.« Abert überlegte. »Dann müßte ich aber ein bißchen mehr Honorar haben, Mr. Mason. Mit so viel Arbeit habe ich nicht gerechnet.« Mason übergab ihm eine Zwanzigdollarnote. »Würde das Ihre zusätzlichen Kosten decken?« »Ja, das langt.« »Dann machen wir es so.« Abert holte eine Spezialkamera, legte die Fingerabdriicke auf dunklen Untergrund, befestigte die Kamera darüber und machte seine Aufnahmen in wenigen Minuten. »Das wäre alles?« fragte Mason. »Das ist alles.« »Schön, dann gehe ich jetzt.« »Sagen Sie - es handelt sich wirklich um einen Mietwagen?« »Stimmt.« »Sie verstehen doch«, sagte Abert, »daß ich mich in dieser Sache absichern muß. Ich möchte nicht Schwierigkeiten mit der Polizei haben, und...« Mason beruhigte ihn. »Ich will auf keinen Fall, daß Sie Schwierigkeiten bekommen. Aber Sie haben doch die Erlaubnis, in Ihrer Freizeit Privataufträge auszuführen?« »Danke. Dann ist alles klar«, antwortete Abert. Er sah auf die Uhr. »Jetzt kann ich gerade noch zwei Stunden schlafen, ehe ich zum Dienst muß.« »Was Sie für Glück haben«, sagte Drake. »Glück? Wieso?« »Daß Sie zwei Stunden schlafen dürfen.« Mason grinste, stieg in den Wagen und sagte: »Komm, Paul, jetzt machen wir eine Tour.« »Wohin?« »Ins Bett.« -1 3 2 -
»Das sind willkommene Worte«, meinte Drake. »Wir fahren aber bei deinem Büro vor und fragen nach, ob irgend etwas Neues vorliegt.« »Wir können doch anrufen.« »Na gut, rufen wir an.« Sie hielten an einer Telefonzelle, Drake stieg aus, telefonierte und kam kopfschüttelnd zurück. »Nichts Neues. Sie haben Endicott Campbell nicht gefunden, es gibt keinen Hinweis auf den Verbleib seines Sohnes Carleton, die Polizei kehrt in Mojave das Unterste zuoberst, um möglichst viel über Ken Lowry zu erfahren, die Polizei ist an Amelia Corning nicht interessiert - wir haben also einen Vorsprung.« »Na fein«, sagte Mason, »dann können wir zweieinhalb Stunden schlafen. Wir brauchen wirklich nicht so früh aus den Federn wie unser Experte.«
10 Perry Mason stand um Viertel vor acht auf, rasierte sich, duschte, zog sich an und fuhr ohne Frühstück fort. Er hielt an einem Kaufhaus, erstand zwei Dutzend prächtiger Äpfel, fuhr den Mietwagen vor eine Schule, parkte am Straßenrand, ließ die Luft aus dem linken Vorderreifen, bis er platt war, und stand hilflos daneben, als eine Schar lachender und schwatzender Schüler auftauchte, völlig absorbiert von ihrer eigenen Welt und ihren Problemen. »He!« rief Mason. »Wollt ihr euch zwanzig Dollar verdienen?« Die Gruppe stand still, die Jungen sahen ihn mißtrauisch an. »Hier sind die Wagenschlüssel«, sagte Mason. »Ich habe eine Verabredung und möchte nicht alle Termine durcheinanderbringen, indem ich mich mit Reifenwechsel aufhalte. Ehrlich gestanden, kann ich nicht einmal damit umgehen. Ich weiß nicht, wo das Werkzeug ist. Hier sind die Schlüssel und zwanzig Dollar.« -1 3 3 -
»Was sagst du nun?« fragte einer der Jungen. »Manna vom Himmel«, antwortete sein Freund. »Ich setze mich da drüben in die Snackbar und trinke eine Tasse Kaffee. Nun tut mal euer Bestes.« Mason legte einen Zwanzigdollarschein auf den Sitz und ging über die Straße in die Snackbar. »Ihr könnt euch auch Äpfel nehmen, wenn ihr wollt.« Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie die Jungen den Wagen förmlich überschwemmten. Als der Anwalt seinen Kaffee getrunken hatte und zum Wagen zurückging, war der Reifen gewechselt. Einer der Jungen stand neben dem Auto und sagte: »Hier, Mister, vielen Dank. Wir wollen Ihnen nicht so viel Geld abnehmen. Sonst fühlen Sie sich noch übers Ohr gehauen.« »Aber gar nicht«, antwortete Mason. »Ich komme schon nicht zu kurz dabei.« Inzwischen hatten sich fünfz ehn oder zwanzig Jungen um den Wagen versammelt, und diejenigen, die beim Reifenwechsel nicht beteiligt gewesen waren, sahen mit Neid auf die anderen. Einer sagte plötzlich: »Sagen Sie mal, ich habe Sie doch schon gesehen. Ihr Bild jedenfalls. Sind Sie nicht... liebe Zeit, sind Sie nicht Perry Mason, der Anwalt?« »Ganz recht«, grinste Mason, setzte sich hinter das Steuer und ließ die linke Wagentür weit offen, während er sich noch vier oder fünf Minuten mit den Jungen unterhielt. Dann schloß er die Tür und fuhr in sein Büro. Er brachte den Wagen auf den Parkplatz, auf dem er und Della Street meistens parkten. Zum Parkwächter sagte er: »Ich bin in Eile. Würden Sie meinen Wagen bitte parken, wenn Sie irgendwo einen Platz entdecken? Vielen Dank.« Er ging eilig zum Fahrstuhl und schaute zuerst in Paul Drakes Büro vorbei. »Ist Paul schon hier?«
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»Noch nicht«, antwortete die Telefonistin. »Er hat Bescheid hinterlassen, daß er bis fünf Uhr früh gearbeitet hat und versuchen will, noch ein bißchen zu schlafen.« »Wollen Sie ihm bitte sagen, daß er zu mir kommen soll, sobald er auftaucht?« bat Mason und ging in sein Büro. Dem jungen Mädchen in seinem Empfangszimmer sagte er: »Della kommt vielleicht heute nicht, Gertie. Ich werde zunächst mal im Büro bleiben, aber vielleicht müssen Sie nachher alle Termine für mich absagen.« Gertie, romantisch wie immer, fragte atemlos: »Oh, Mr. Mason, haben wir einen neuen Mordfall?« »Das fürchte ich«, antwortete er. Er ging in sein Privatbüro, nahm den Hörer auf und sagte: »Gertie, ich möchte mit der Präsidentensuite im Hotel Arthenium verbunden werden, und zwar will ich das Gespräch mit jeder Person aufnehmen, die sich meldet. Ich fürchte, es wird ein heißer Tag heute, und wir müssen sehen, wie wir ohne Della auskommen.« »O nein, das müssen wir nicht«, rief Gertie, »sie kommt gerade zur Tür herein.« »Was!« Mason sprang auf. »Sie kommt gerade herein.« Mason legte den Hörer auf, ging mit großen Schritten zur Tür und riß sie auf, als Della Street sie gerade von der anderen Seite öffnen wollte. Einen Augenblick sah es so aus, als wollten sie einander in die Arme fallen, dann sagte Mason: »Della, bin ich froh, Sie zu sehen. Obwohl Sie sicher schlechte Nachrichten bringen.« »Da haben Sie recht«, antwortete Della Street. »Kommen Sie herein, berichten Sie. Wo waren Sie?« »Ich bin heute morgen im Büro der Staatsanwaltschaft gewesen. Wir wurden zu sehr früher Stunde vom stellvertretenden Sheriff von Kern Country aus dem Bett geholt; unser Freund Leutnant Tragg von der Mordkommission tauchte auch auf und begann, mich in allen Einzelheiten zu verhören.« -1 3 5 -
»Was haben Sie ihm erzählt?« »Die Wahrheit«, sagte Della Street. »Die ganze?« »Na ja, es gibt einige Phasen der Entwicklung, die ich nicht zur Sprache gebracht habe, aber ich habe Leutnant Tragg noch nie so hartnäckig erlebt, und es war ein stellvertretender Bezirksstaatsanwalt dabei, der sich geradezu beleidigend benahm.« »Man hatte kein Recht, Sie festzuhalten«, sagte Mason. »Das habe ich ihnen auch erklärt. Aber sie wußten auf alles eine Antwort. Sie sagten, es könnte ja sein, daß ich ein Augenzeuge wäre, daß ich ein Kapitalverbrechen zu decken versuchte, daß ich vielleicht Indizien vernichten wollte - ach, und noch viel mehr.« »Wurden sie unangenehm?« »Sie waren sehr hartnäckig«, antwortete Della Street, legte ihren Hut in den Schrank und ließ sich müde in einen Sessel fallen. »Ich glaube, der Staatsanwalt und einer der Sheriffs wären ziemlich unverschämt geworden, wenn nicht Leutnant Tragg dabeigewesen wäre. Er war hartnäckig und gründlich, aber immer noch ein Gentleman.« »Und was wollten sie von Susan Fisher?« »Das weiß ich nicht. Sie wurde in einem anderen Raum verhört, und man ließ uns auch nicht ein Wort miteinander reden, seit sie uns festgenommen hatten.« »Mir scheint, das Öl ist ins Feuer gelaufen, und der Wind bläst hinein«, sagte Mason. Gertie gab über Telefon eine Serie kurzer, scharfer Signale, und im gleichen Augenblick öffnete sich auch schon die Tür zum anderen Büro; Leutnant Tragg stand lächelnd auf der Schwelle. »Guten Morgen, Perry«, sagte er, und mit einer Verbeugung zu Della: »Wir haben uns ja schon gesehen, Della.« »Das kann man nicht leugnen«, antwortete sie. -1 3 6 -
Tragg begann: »Entschuldigen Sie, Perry, daß ich hier unangemeldet eindringe, aber die Steuerzahler lieben es nicht, wenn wir ihr Geld verschwenden, indem wir in Vorzimmern herumsitzen; und es kommt ja auch vor, daß jemand das, was wir suchen, beiseite schafft, während wir warten!« »Und was suchen Sie heute morgen?« fragte Mason. »Ach, ich soll Ihnen nur ausrichten, Sie möchten doch mal einen Blick auf gewisse Paragraphen des Strafgesetzbuchs werfen.« »In der Tat?« sagte Mason. »Es sind die Paragraphen über das Zurückhalten von Beweisen, über Mitwisserschaft und ähnliche Sachen. Aber ich will Ihnen ja gar nichts darüber erzählen.« »Warum nicht?« fragte Mason. Immer noch lächelnd sagte Tragg: »Weil ich der Meinung bin, daß Sie darüber bestens informiert sind, Herr Strafverteidiger, und vielleicht längst dafür gesorgt haben, daß man die Paragraphen auf Sie nicht anwenden kann.« »Was is t also nun wirklich der Zweck Ihres Besuchs?« »Für den Augenblick will ich Ihnen nur mitteilen, daß wir einen Wagen beschlagnahmt haben, den Sie bei den M-Autos gemietet hatten, und Sie fragen, warum Sie es für richtig hielten, diesen Wagen zu mieten.« Nun lächelte Mason. »Der Grund war, daß Della Street meinen brauchte und Sie mir befohlen hatten, in der Tankstelle zu warten. Deshalb war ich gezwungen, mir eine Taxe kommen zu lassen. Natürlich hat kein Mensch Lust, dauernd mit einer Taxe herumzufahren. Sogar ganz wohlhabende Anwälte belasten dabei ihr Ausgabenkonto etwas reichlich stark.« »Ich wage zu behaupten«, erklärte Tragg, »Sie wußten genau, daß der von Ihnen gemietete Wagen eben der war, den Susan Fisher am selben Tag einige Zeit vorher gemietet hatte und mit dem sie zu dem Platz fuhr, auf dem Ken Lowrys Leiche gefunden wurde.« »Wirklich?« sagte Mason erstaunt. -1 3 7 -
»Haben Sie das etwa nicht gewußt?« »Wie hätte ich das denn wissen sollen?« »Sie haben ein Auto von derselben Firma gemietet.« »Gewiß. Es war die Firma, die der Tankstelle am nächsten lag.« »So, so«, machte Tragg. »Also einer dieser erstaunlichen Zufälle.« »Wenn Sie es so nennen wollen«, gab Mason zurück. »Wenn ich will - aber ich will nicht. Und ich fürchte, der Bezirksstaatsanwalt hat auch eine andere Bezeichnung dafür.« »Egal«, sagte Mason. »Sie möchten den Wagen jetzt haben, und ich hätte gern eine Empfangsbestätigung. Dann wollen wir den Kilometerstand festhalten, ich rufe bei dem MietwagenUnternehmen an, und Sie können den Leuten erklären, daß die Polizei den Wagen braucht und wo der Kilometeranzeiger steht. Ich verabscheue es ernstlich, zehn Cent pro Kilometer zu bezahlen für all die Strecken, die von der Mordkommission damit zurückgelegt werden.« »Oh, bitte, bitte«, sagte Tragg. »Wir freuen uns ja so, wenn wir mit Ihnen zusammenarbeiten können, Perry.« »Vielen Dank.« »Wenn wir nun den Wagen nach Fingerabdrücken untersuchen«, fuhr Tragg fort, »und feststellen, daß alle weggewischt worden sind, wird das ein sehr belastender Umstand sein, Herr Strafverteidiger. Ich nehme an, daß Sie sich das vorstellen können.« »Ich würde nicht sagen, daß es ein verdächtiger Umstand wäre«, meinte Mason, »aber ich bin sicher, wenn er erst vor Gericht auftaucht, wird man einen sehr verdächtigen Umstand daraus gemacht haben.« »Und Sie vielleicht in eine sehr schwierige Lage bringen«, warnte Tragg. »Vielleicht«, gab Mason zu. »Sie glauben nicht daran?« -1 3 8 -
»Ich hoffe doch sehr, daß ich keine Schwierigkeiten bekomme, weil Sie bald merken werden, daß die Fingerabdrücke nicht entfernt worden sind.« »Der Wagen steht unten auf dem Parkplatz, und ein paar Experten suchen ihn bereits ab. Wenn es Ihnen recht ist, kommen Sie jetzt mit, damit wir den Kilometerstand feststellen und Ihnen eine Empfangsbestätigung geben können.« Mason resignierte. »Na gut, es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Wie lange sind Sie schon mit dem Auto beschäftigt?« Tragg lachte. »Seit Sie ihn auf den Parkplatz gebracht haben. Wissen Sie, Mason, ich hätte Lust, mit Ihnen zu wetten.« »Worum wollen Sie wetten?« »Daß unsere Experten auf dem ganzen Wagen nur ein oder zwei Fingerabdrücke von Ihnen an der Tür finden. Und wissen Sie auch, was dann passiert? Dann nehme ich Sie mit zum Verhör. Ich wollte es Ihnen nur jetzt schon ankündigen, damit Ihre enorm tüchtige Sekretärin vorsorglich Ihre Termine absagt.« Seufzend langte Mason nach seinem Hut. »Diese massiven Methoden der Polizei sind mir schon immer ein Dorn im Auge«, sagte er. »Ich weiß, ich weiß, aber der Staatsanwalt hält sehr wenig von Anwälten, die sich mit der Vernichtung von Beweisen beschäftigen.« »Beweise welcher Art?« fragte Mason. »Na, zum Beispiel«, begann Tragg, »wäre ich gar nicht so überrascht, wenn Ken Lowry irgendwann einmal in diesem Wagen gesessen hätte. Zu Ihrer Information, Herr Strafverteidiger, diese Experten sind tüchtig, und wenn Fingerabdrücke entfernt worden sind, stellen sie auch das fest. Und da Sie im Besitz des Wagens sind und da Sie außerdem ein Interesse daran haben, Ihre Klientin zu schützen, können Sie sich die Schlußfolgerung ja ausmalen.«
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»Mehr oder weniger«, gab Mason zu. »Und nun gehen wir endlich hinunter, damit wir einen Blick auf das Auto werfen können. Vielleicht sollten Sie lieber als Zeuge mitkommen, Della, dann können Sie den Kilometerstand festhalten.« »Immer ran«, sagte Tragg. Tragg ging voran und führte die beiden durch den Seiteneingang zum Parkplatz. Zwei Männer arbeiteten fieberhaft an dem Wagen. Ein dritter war eifrig mit einer Kamera beschäftigt. »Na«, fragte Tragg, »haben Sie festgestellt, daß der Wagen saubergewischt worden ist?« Einer der Männer drehte sich zu Tragg um, totale Erschöpfung im Gesicht. »In meinem ganzen Leben, Leutnant, habe ich kein Auto mit mehr Fingerabdrücken als dieses hier gefunden. Das Ding ist geradezu damit gepflastert. Sie sind einfach überall, vorn, hinten, auf Windschutzscheiben, Fenster, Steuerrad, Rückspiegel - der ganze Wagen ist mit Fingerabdrücken übersät.« Das Lächeln Traggs verblaßte. Dann tat er einen tiefen Atemzug und verbeugte sich vor Perry Mason. »Man hat keine Achtung vor einem Gegner, der nicht ebenbürtig ist«, sagte er. »Es macht mir Vergnügen, zum Untersuchungsrichter zurückzukehren und ihm zu erklären, daß es keinerlei Grund gibt, Sie wegen Fingerabdrücken zu verhören.« »Sie hatten Fingerabdrücke auf dem Auto erwartet?« fragte Mason. »Nein, ich hatte angenommen, daß alles abgewischt wurde, nicht daß der Wagen mit Fingerabdrücken übersät sein würde. Macht es Ihnen etwas aus, mir zu erzählen, woher das kommt?« Mason zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich haben viele Leute den Wagen angefaßt«, sagte er. »Vielleicht hat sich auch die Polizei schon damit beschäftigt, ehe ich ihn hierherbrachte.« »Halten Sie mich doch nicht für dumm«, gab Tragg zurück. Er verbeugte sich nochmals und hob die Hand in einer Geste, -1 4 0 -
die man ebensogut als Abschied von Della Street wie als Ehrenbezeigung für Perry Mason auffassen konnte. »Unter diesen Umständen besteht kein Grund, Sie von Ihren Geschäften abzuhalten, Mason. Guten Morgen.« »Guten Morgen«, sagte auch Mason, nahm Dellas Arm und führte sie an den Kilometerzähler. »7948 2/10 - stimmt’s, Leutnant?« »Es stimmt.« »Notieren Sie es bitte, Della.« Sie schrieb es in ihr Notizbuch. »Auf Wiedersehen, Leutnant.« »Au revoir«, erwiderte Tragg. »Ich werde Sie beide im Laufe des Tages sicher noch sehen.« »Sicher«, gab Mason zurück und ging mit Della Street davon. Als sie im Fahrstuhl standen, stürmte Paul Drake durch den Eingang, bat den Fahrstuhlführer zu warten, und sprang mit einem Satz hinein, als sich die Tür gerade schließen wollte. »Morgen, Paul«, sagte Mason. Drake wirbelte herum und sah verblüfft Mason und Della Street an. »Bin ich froh, daß ich euch finde!« »Ist etwas?« »Etwas? Eine ganze Menge. Ich erzähle es euch im Korridor.« Er warf einen Blick auf die Mitfahrenden. Mit der Neugier von Personen, die aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen etwas Aufregung in ihr Allerweltsdasein saugen, hörten sie zu. Mason nickte. Die drei verließen den Aufzug. »Deine Klientin ist verhaftet«, begann Drake. »Weiß ich. Sie haben sogar Della eine Weile festgehalten.« »Ich sage dir, Perry, die haben irgendeinen bombensicheren Beweis gefunden, der mir noch nicht bekannt ist - aber soviel weiß ich: Diese Frau ist schuldig.« »Weißt du das bestimmt?«
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»Ich nicht, aber mein Informant. Ich habe dir einen Wink vom Polizeibüro weiterzugeben: Du sollst dich aus dieser Sache heraushalten.« »Ich kann mich nicht heraushalten, Paul. Ich stecke schon viel zu tief drin. Was war denn sonst noch los?« »Ich habe Endicott Campbell gefunden. Er kam heute morgen ungefähr um fünf Uhr nach Hause. Niemand weiß, wo er war. Er kam im Wagen, fuhr in die Garage, ging ins Haus und da ist er seitdem geblieben.« »Weiter.« »Die Polizei fahndet nun nach Amelia Corning. Sie hat sich gestern abend mit ihrem Rollstuhl im Lastenaufzug nach unten befördern lassen, und das ist das letzte, was man von ihr gesehen hat.« »Dieser Mann, der den Lastenaufzug bedient - weiß die Polizei, daß er am hinteren Eingang auf sie gewartet hat?« »Natürlich. Gleich, als sie mit der Fahndung begannen, haben sie sämtliche Fahrstuhlführer vernommen, und der Mann, der für den Lastenaufzug verantwortlich ist, hat ihnen seine Geschichte erzählt.« »Aber sie haben keine Spur von ihr?« »Keine«. »Merkwürdig«, sagte Mason. »Eine fast erblindete Frau im Rollstuhl kann sich doch nicht in Luft auflösen.« »Sie hat es aber getan«, gab Drake zu bedenken. »Und das zum zweitenmal innerhalb von achtundvierzig Stunden.« »Die erste Frau hat Amelia Corning nur gespielt - für die war es ganz einfach, von der Bildfläche zu verschwinden. Sie brauchte nur aus dem Rollstuhl zu steigen, die blaue Brille abzunehmen und davonzugehen. Aber die Sache mit der richtigen Amelia Corning ist ein anderer Fall.« Mason schloß die Tür zu seinem Büro auf, ließ Della Street und Paul Drake eintreten und sagte: »So, Paul, nun haben wir einiges zu tun. Wir müssen die Fingerabdrücke überprüfen.« »Wir haben verwünscht wenig Zeit dazu«, antwortete Drake. -1 4 2 -
»Wieso?« »Die Polizei ist uns bei weitem überlegen«, erklärte Paul Drake. »Die Beamten können zu der Mietwagenfirma gehen und die Fingerabdrücke des Mannes zu sehen verlangen, der die Autos ausliefert; dann können sie Endicott Campbell aufsuchen und fragen, ob er etwas dagegen hat, sich Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. Und darauf werden sie beide mit den Abdrücken im Wagen vergleichen. Wir befinden uns aber in ganz anderer Lage. Wir haben eine ganze Reihe von Fingerabdrücken vom Wagen abgehoben und können nur einen nach dem anderen untersuchen. Wir haben längst nicht solche Möglichkeiten wie die Polizei.« »Was ist mit dem Mann, der die Abdrücke untersucht hat? Wird er die Aufnahmen an die Polizei ausliefern?« »Bestimmt, wenn er weiß, daß die Polizei daran interessiert ist.« »Wann kann er das wissen?« »Vielleicht in ein, zwei Tagen«, antwortete Drake. »Es kommt darauf an, was die Presse aus unserem Fall macht. Irgendwas an dieser ganzen Sache ist oberfaul, Perry. Außerdem dürfen wir Endicott Campbell nicht unterschätzen. Wir haben es mit einem aalglatten Mann zu tun.« Mason sagte: »Ich habe einen Fehler gemacht, Paul. Ich hätte ihn beschatten lassen sollen. Natürlich, eines konnten wir nicht voraussehen: daß Amelia Corning verschwinden würde.« »Natürlich nicht.« »Paul, tu dein möglichstes, bring uns so viele Tatsachen, wie du nur kannst. Nimm auch die kleinste Information mit. Inzwischen versuch, diese Fingerabdrücke hier zu identifizieren. Die Polizei hat jetzt Susan Fishers Fingerabdrücke, der Untersuchungsrichter wird auch die von Ken Lowry festhalten. Ob wir Fingerabdrücke von Amelia Corning bekommen, ist eine andere Frage. Ich könnte mir denken, daß man sie ihr im Zusammenhang mit ihrem Visum oder irgendeiner Einwanderungsakte abgenommen hat. Vielleicht sind sie irgendwo zu haben.« -1 4 3 -
»Aber nun stell dir vor, daß entweder Amelia Corning oder Ken Lowry in dem Mietwagen gesessen haben. Und stell dir vor, ihre Fingerabdrücke wären bereits identifiziert.« Mason überlegte, schüttelte dann aber den Kopf: »Wenn einer von beiden im Wagen war, sind wir geschlagen.« Drake sagte: »Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl bei dieser Sache, Perry. Ich glaube, sie werden dich hereinlegen.« »Paul«, bat Mason, »du kannst ohne Schwierigkeiten die Fingerabdrücke von Ken Lowry erhalten. Er liegt im Leichenschauhaus. Schick jemand hin.« »Längst erledigt«, versicherte Drake. »Laß mich die Fingerabdrücke, die Abert vom Wagen genommen hat, in mein Büro mitnehmen. Meine Leute haben den Auftrag, Fingerabdrücke von Lowry zu beschaffen, sobald sie der Untersuchungsrichter gemacht hat.« »Meinst du, daß der sie herausgibt?« »Klar«, sagte Drake, »das ist Routinesache. Sie nehmen ja Fingerabdrücke von jeder Leiche, die zur Autopsie gebracht wird.« »Wie ist der Mord vor sich gegangen, weißt du das?« »Ein Stich ins Herz; eine einzige Stichwunde, offenbar von einer Art Stilett verursacht.« »Wurde der Stich von vorn oder von hinten geführt?« »Von der Seite. Er hat Ken Lowry anscheinend völlig überrascht. Er war mit jemandem zusammen, gegen den er nicht das geringste Mißtrauen hatte.« »Danke«, sagte Mason. »Beginn bitte mit den Fingerabdrücken.« Drake rief sein Büro an. »Ich bin bei Mason. Haben Sie Ken Lowrys Fingerabdrücke vom Coroner bekommen?... Schön... Ich möchte sie haben.« Nach einer halben Minute war Drakes Telefonistin mit allen Fingerabdrücken da, und Drake setzte sich an den Tisch. Mason entnahm seiner Brieftasche die von Abert abgehobenen und legte sie vor Drake hin. -1 4 4 -
Drake betrachtete das ganze Material Stück für Stück durch ein Vergrößerungsglas und verglich die Linien miteinander. Plötzlich blickte er bestürzt auf. »Setz dich lieber hin, Perry«, warnte er. »Was ist denn los?« »Erst noch mal nachprüfen«, sagte Drake. Er hielt einen der vom Wagen abgehobenen Fingerabdrücke über einen, den er vom Coroner erhalten hatte, schob dann langsam das Vergrößerungsglas zusammen, legte es auf den Tisch, sah Perry an und sagte: »Diesmal kannst du nichts machen. Ken Lowrys Fingerabdrücke sind in dem Mietwagen. Wenn du das Leutnant Tragg mitteilst, hast du damit eine Fahrkarte in die Gaskammer für deine Klientin, und wenn du es sein läßt, unterschlägst du Beweismaterial in einem Mordfall.« Mason überdachte die Situation, dann sagte er: »Weder das eine noch das andere werden wir tun, Paul. Ruf Abert an, sag ihm, daß der Wagen in einem Mordfall eine Rolle spielt. Er soll die Aufnahmen entwickeln und die Abzüge sofort der Polizei bringen.« »Und er soll niemandem sagen, daß der Vorschlag von dir kommt?« »Nein, niemandem.« »Damit setzt du alles aufs Spiel, Perry«, warnte Drake. »Die Polizei erhält den Tip - und du hast nicht einmal den Pluspunkt, die Information selbst geliefert zu haben.« Mason nickte. »Wir müssen es darauf ankommen lassen. Wenn die Polizei beginnt, sich mit mir zu beschäftigen, hat sie weniger Zeit für Susan Fisher. Ich wirke als Blitzableiter.« Drake seufzte. »Mach dir nur nichts vor. Sie haben Zeit genug, uns alle vorzunehmen, einschließlich mich.«
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11 Als Richter Burton Eimer seinen Platz eingenommen und der Gerichtsdiener den Beginn der Sitzung verkündet hatte, stellten interessierte Zuschauer fest, daß sich Bezirksstaatsanwalt Hamilton Burger neben seinen Stellvertreter Harrison Flanders gesetzt hatte. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht verbreitet, daß jetzt endlich ein Fall vorläge, in dem Perry Masons Klient schuldig befunden werden müßte. Die Verurteilung wurde mit mathematischer Sicherheit vorausgesagt. Und noch viel schlimmer: Das Gerücht besagte, daß Perry Mason sich selbst wegen Unterschlagung von Beweismaterial verantworten müßte. Einer der prominenten Gerichtsberichterstatter hatte sich sogar in der Morgenzeitung zu der Prophezeiung verstiegen, daß Richter Eimer die Vorverhandlung in zwei Stunden erledigen und daß der Verteidiger sich bei Anbrach der Nacht in fast ebenso übler Lage wie seine Klientin befinden würde. Hamilton Burgers Benehmen hatte die Feierlichkeit eines Mannes, der eine tragende Rolle in einem Drama mit tödlichem Ausgang zu spielen hat. »Das Volk gegen Susan Fisher«, sagte Richter Eimer. »Die Anklagebehörde ist bereit«, erklärte Harrison Flanders. »Die Verteidigung ist bereit«, sagte Perry Mason. Flanders legte den Fall mit der glatten Gewandtheit eines routinierten Anklägers dar. Er brachte die Beweise für das Verbrechen vor; sprach von der Entdeckung des toten Ken Lowrys kurz nach Eintreten des Todes; wies mit Landkarten und Diagrammen nach, wo die Leiche gefunden worden war; erwähnte die Identifizierung durch einen Familienangehörigen; seine Tätigkeit bei der Mojave-Monarch; die Tatsache, daß dies Unternehmen eine Tochtergesellschaft der Firma Corning war. Als Flanders seinen letzten Zeugen für diese Präliminarien vorgestellt hatte, machte er einen kühnen Schachzug. -1 4 6 -
»Rufen Sie Endicott Campbell in den Zeugenstand.« Endicott Campbell trat vor, leistete den Eid und machte die nötigen Angaben zur Person. »Kannten Sie Ken Lowry, den Verstorbenen?« fragte Flanders. »Ich habe ihn flüchtig gesprochen, kurz vor seinem Tode.« »Waren Sie im Bilde über die Firma, die wir von jetzt ab der Kürze wegen als Mojave-Monarch bezeichnen wollen?« »Allgemein, ja.« »Was meinen Sie damit?« »Die Gesellschaft, deren Geschäftsführer ich bin, sandte der Mojave-Monarch Schecks, die zur Deckung von Unkosten bestimmt waren.« »Wissen Sie, wieviel Geld auf diese Weise im letzten Jahr an die Tochtergesellschaft gesandt worden ist?« »Ja, Sir.« »Wieviel war das?« »207536 Dollar und 85 Cent.« »Das ist in den Geschäftsbüchern des Unternehmens festgehalten, die ich der Kürze halber jetzt als Firma Corning bezeichnen will?« »Ja.« »Gab es irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse in Verbindung mit dieser Firma Corning?« »Ja.« »Und welche?« »Die Hauptaktionärin Amelia Corning, die mehrere Jahre in Südamerika gelebt hatte, kam zu einer persönlichen Inspektion des Unternehmens und der Tochtergesellschaften.« »Sie kennen die Beschuldigte?« »Ja.« »Sie war bei Ihnen angestellt?« »Ja.« -1 4 7 -
»Wie lange?« »Seit reichlich anderthalb Jahren.« »Welche Aufgaben hatte sie?« »Sie war meine Assistentin, keineswegs nur meine Sekretärin. Sie hat nur in der Leitung der Geschäfte geholfen.« »Ich beziehe mich auf Sonnabend, den Dritten dieses Monats. Haben Sie an diesem Tag eine Unterredung mit der Beschuldigten gehabt?« »Gewiß.« »Wo fand diese Unterredung statt?« »Es handelte sich um ein Telefongespräch.« »Kennen Sie die Stimme der Beschuldigten genau genug, um mit Bestimmtheit sagen zu können, daß es die Beschuldigte war, die mit Ihnen sprach?« »Ja, Sir.« »Welcher Art war das Gespräch? Was sagte sie?« »Sie berichtete mir, daß Miss Corning, die erst am Montag, dem Fünften, kommen sollte, unerwartet schon am Sonnabend eingetroffen sei. Sie hätte versucht, mich zu erreichen, und...« »Einen Augenblick, bitte. Sie sagen: Sie hätte versucht. Meinen Sie damit Miss Corning oder die Beschuldigte?« »Die Beschuldigte sagte, daß sie, die Beschuldigte, versucht hätte, mich zu erreichen, aber daß es ihr nicht gelungen wäre.« »Was sagte sie weiter?« »Sie sagte, daß mein Sohn Carleton, der sieben Jahre alt ist, mit seiner Erzieherin Elizabeth Dow im Büro gewesen wäre und ihr einen Schuhkarton gezeigt hätte. Er hätte gesagt, daß der Schuhkarton mir gehörte. Sie hätte dann festgestellt, daß der Schuhkarton mit Hundertdollarnoten gefüllt gewesen wäre, jedenfalls mit einer großen Summe. Und sie hätte den Karton, ohne das Geld zu zählen, in den Safe gestellt.« »Was weiter?« »Sie erzählte mir weiterhin, daß Miss Corning am Flugplatz angekommen wäre und daß sie, die Beschuldigte, Miss Corning ins Hotel gebracht hätte. Dann wäre sie mit Miss Corning ins -1 4 8 -
Büro gefahren, wo Miss Corning ziemlich viel Zeit damit verbracht hätte, die Bücher durchzusehen. Die Bücher hätte Miss Corning dann mitgenommen.« »Haben Sie anschließend festzustellen versucht, ob die Angaben der Beschuldigten auf Wahrheit beruhten?« »Ich habe festgestellt, daß sie zumindest teilweise nicht auf Wahrheit beruhten.« »Was beruhte nicht auf Wahrheit?« »Mein Sohn hat ihr weder einen Schuhkarton noch sonst einen Behälter mit Geld gegeben, und Miss Corning war nicht im Büro. Eine Frau, die behauptete, Miss Corning zu sein, hat sich im Hotel eintragen lassen, und die Beschuldigte hat sich mit dieser Person verabredet, um...« »Einen Augenblick!« unterbrach Mason. »Ich protestiere gegen den Ausdruck ›verabredet‹, der eine Folgerung des Zeugen darstellt. Ich beantrage, daß der Satz gestrichen wird.« »Er wird gestrichen«, bestätigte Richter Eimer. »Bitte, berichten Sie nur über die Unterhaltung und über das, was sonst geschah, soweit Sie davon unterrichtet sind.« Campbell begann wieder: »Ich habe natürlich sofort versucht, mich mit der Beschuldigten und mit Miss Corning zu treffen. Die Person, die sich Amelia Corning nannte, verschwand prompt, die Beschuldigte dagegen tauchte mit Mr. Mason als ihrem Anwalt auf.« »Hatten Sie kurz vor diesem Zeitpunkt Kontakt mit dem verstorbenen Ken Lowry?« »Ja, ich habe mich unmittelbar nach diesem Telefongespräch wieder mit ihm in Verbindung gesetzt.« »Was taten Sie?« »Ich fuhr nach Mojave.« »Und besprachen sich mit Mr. Lowry?« »Ja.« »Das war also das zweitemal, daß Sie ihn persönlich sprachen?« -1 4 9 -
»Ja. Zum erstenmal sprach ich ihn am Sonnabend, dem Dritten, mittags. Das zweite Gespräch fand am Vierten, ungefähr vier Uhr morgens, statt. Diese zweite Unterredung dauerte etwa eine Stunde.« »Und weshalb haben Sie ihn vor dem Dritten nicht gesprochen?« »Ich war beauftragt, mich in erster Linie um das Grundstücksgeschäft der Firma Corning zu kümmern und mich nicht mit der Mojave-Mine aufzuhalten. Man hat mich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in Mojave alles in Händen von Mr. Lowry läge.« »Wer hat Ihnen diese Anweisungen erteilt?« »Miss Corning.« »Wie?« »In einem Ferngespräch.« »Sie haben also, wie Sie sagen, im letzten Jahr der MojaveMonarch von der Firma Corning rund 207000 Dollar geschickt. Ging dafür auch wieder etwas ein?« »Nicht unmittelbar an die Firma Corning, sondern an ein Tochterunternehmen. Miss Corning hatte mir mitgeteilt, daß die Abrechnung zu gegebener Zeit erfolgen würde.« »Als Sie nun Mr..Lowry aufsuchten, unterhielten Sie sich da mit ihm über diese Dinge?« »Ja.« »Und was sagte er Ihnen im Hinblick auf Geld, das von ihm weitergegeben worden war - oder was hat er nach seinen Angaben mit dem Geld angefangen, daß er von der Firma Corning erhielt?« »Einspruch«, sagte Mason. »Die Frage ist unsachlich und unerheblich; sie zielt auf Hörensagen und auf eine Unterhaltung ab, bei der die Beschuldigte nicht anwesend war.« »Mit Erlaubnis«, erwiderte Flanders, »dies ist ein Teil der Res gestae. Es enthüllt das Motiv für den Mord an Lowry. Es handelt sich um die offizielle Unterredung zwischen einem Angestellten der Firma und dem Geschäftsführer.« -1 5 0 -
»Es ist mir gleichgültig, wie offiziell das Gespräch gewesen sein mag«, sagte Mason. »Für die Beschuldigte war es nicht verpflichtend. Überdies ist es nun ganz deutlich geworden, daß Lowry keineswegs Angestellter der Firma Corning war. Er empfing Geld von ihr und hat nach Aussage der Zeugen ganz offensichtlich etwas anderes damit gemacht, als es der Firma Corning zu schicken.« »Eben diesen Punkt möchte ich beweisen«, gab Flanders zurück. »Dann bitte auf zulässige Weise«, antwortete Mason. »Die Sache kann nicht so kompliziert sein«, meinte Richter Eimers. »Es handelt sich hier doch wohl um eine Angelegenheit der Buchführung?« »Eben nicht«, sagte Flanders. »Die Situation ist ungewöhnlich und schuf das Motiv für den Mord an Lowry. Wir können durch mehrere Personen nachweisen, was Lowry mit dem Geld machte.« »Sie können nachweisen, was er damit zu tun behauptete«, betonte Mason, »aber was er behauptete, ist ohne Belang für die Beschuldigte.« »Ich glaube, ich werde dem Einspruch stattgeben«, entschied Richter Eimer. »Sehr wohl«, sagte Harrison Flanders, und seine Miene drückte deutlich Enttäuschung aus. Doch aus Burgers Reaktion ging hervor, daß er diese Entscheidung vorausgesehen hatte. »Hatten Sie noch eine weitere Unterredung mit Mr. Lowry, eine Unterredung, nachdem Sie Mojave verlassen hatten?« »Ja.« »Wann war das?« »Etwa um fünf Uhr nachmittags.« »Eine mündliche oder eine telefonische Unterhaltung?« »Eine telefonische.« »Was sagte Mr. Lowry?« »Er teilte mir mit, daß Mr. Mason und seine Sekretärin...« -1 5 1 -
»Einen Augenblick!« sagte Mason. »Ich lehne die Aussage über dieses Gespräch als Hörensagen, als unerheblich, unwesentlich und nicht hinreichend begründet ab. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Beschuldigte dabei anwesend war oder daß diese Unterredung, ganz oder teilweise, jemals der Beschuldigten mitgeteilt wurde.« »Ich beziehe mich auf ein Gespräch, das zwischen dem Opfer und dem Zeugen stattfand«, beharrte Flanders, »und auf Feststellungen, die Mr. Mason als Anwalt der Beschuldigten gemacht hat.« Richter Eimer schüttelte den Kopf. »Falls Sie nicht nachweisen können, daß diese Unterhaltung der Beschuldigten mitgeteilt worden ist oder daß sie die Unterredung gehört hat, wird dem Einspruch stattgegeben.« Flanders begann wieder: »Haben Sie sich mit der Beschuldigten persönlich über diesen mit Geld gefüllten Schuhkarton unterhalten?« »Aber ganz gewiß habe ich das.« »Wer war bei dem Gespräch dabei?« »Die Beschuldigte, Perry Mason und Della Street, seine Sekretärin.« »Was wurde gesprochen?« »Ich habe ihr gesagt, daß kein geldgefüllter Schuhkarton im Safe stand, wie sie es behauptet hatte.« »Und was äußerte sie darauf?« »Nichts - außer der Behauptung, daß mein Sohn ihr den Karton gegeben hätte.« »Ihr Sohn ist wie alt?« »Sieben Jahre.« »Er heißt?« »Carleton.« »Was hat Ihnen die Beschuldigte über den Zeitpunkt mitgeteilt, an dem sie den Schuhkarton erhalten haben will?«
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»Sie sagte, daß Carleton, der von seiner Erzieherin Elizabeth Dow begleitet wurde, ihr im Büro am Morgen des Dritten den Schuhkarton übergeben hätte; sie hätte hineingesehen und entdeckt, daß er mit Hundertdollarscheinen gefüllt war.« »Kreuzverhör«, sagte Flanders. »Sie waren vor der Unterredung mit uns im Büro, um den Schuhkarton zu suchen?« »Ja.« »Warum?« »Sie hatte mir doch gesagt, daß mein Sohn ihr den Karton übergeben hätte. Natürlich mußte ich der Sache nachgehen, als Vater und als Vertreter der Firma.« »Aber Sie waren nicht imstande, im Safe einen solchen Karton zu finden?« »Nein.« »Sie haben den Safe geöffnet?« »Ja.« »War jemand bei Ihnen?« »Nein.« »Dann steht Ihr Wort gegen das der Beschuldigten.« Endicott Campbell erlaubte sich ein triumphierendes Grinsen. »Bis jetzt, Mr. Mason«, sagte er sarkastisch, »steht mein Wort gegen das ihre, und bis jetzt, Mr. Mason, bin ich es nicht, der beschuldigt wird, einen Mord begangen zu haben, um Unterschlagungen zu kaschieren.« Mason verbeugte sich. »Bis jetzt«, wiederholte er. »Danke. Das ist im Augenblick alles.« »Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen«, sagte der Richter. Flanders ließ Elizabeth Dow kommen. Sie ging mit langen Schritten plattfüßig durch den Saal, eine magere, eckige Frau, die keinerlei Versuch machte, ihre Figur zu verbessern. Nachdem sie ihre Personalien angegeben hatte, wartete sie unbewegt auf die Fragen. -1 5 3 -
»Sie kennen Carleton Campbell, den siebenjährigen Sohn des Zeugen Endicott Campbell?« »Ja.« »Haben Sie eine berufliche Beziehung zu ihm?« »Ich bin seine Erzieherin.« »Waren Sie das auch am Sonnabend, dem Dritten dieses Monats?« »Ja.« »Haben Sie ihn ins Büro der Firma Corning mitgenommen?« »Ja.« »Wer war dort?« »Susan Fisher, die Beschuldigte.« »Kam es zu einer Unterhaltung zwischen Susan und Carleton?« »Ja.« »Sie haben das Gespräch angehört?« »Einen Teil davon.« »Hatte Carleton etwas bei sich, als er ins Büro kam?« »Ja.« »Was war es?« »Ein Schuhkarton.« »Wissen Sie aus eigener Anschauung, was der Karton enthielt?« »Ja.« »Was war das?« »Ein Paar schwarze Abendschuhe, die Endicott Campbell gehören.« »Woher wissen Sie das?« »Bevor wir das Haus verließen, hatte Carleton mit seinem Vater über eine Schatzkiste gesprochen, und Carleton hatte seinen Vater gefragt, ob sie ihre Schätze tauschen wollten.
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Carleton glaubte, daß sein Vater ihm erlaubt hatte, den Schuhkarton zu nehmen.« »War nur dieser eine Karton vorhanden?« »Ja, nur der Karton, den Carleton dann mitnahm.« »Wie können Sie uns nachweisen, daß Sie wirklich wissen, was der Karton enthielt?« »Im Auto habe ich, als Carleton es nicht bemerkte, die Verschnürung abgenommen. Ich wollte natürlich wissen, was der Karton enthielt, weil ich mich dafür verantwortlich fühlte.« »Was war darin?« »Wie ich bereits gesagt habe: ein Paar schwarze Schuhe.« »Das ist alles. Sie können fragen«, sagte Harrison Flanders mit einer kleinen Verbeugung zu Mason hin. »Sie fuhren den Wagen, als Sie den Karton untersuchten?« fragte Mason. »Nein, ich fuhr nicht. Ich saß hinter dem Steuer und startete. Dann fragte ich Carleton, wo sein Mantel sei. Er hatte ihn vergessen und im Haus gelassen. Während er ihn holte, nahm ich die Gelegenheit wahr, den Karton zu öffnen.« »Der Karton war verschnürt?« »Ja.« »Womit?« »Mit Schnur. Ich glaube, es war ein Stück Angelleine.« »Sie haben in den Karton hineingesehen?« »Ja.« »Und wohin fuhren Sie dann?« »Direkt ins Büro.« »Warum?« »Ich wußte, daß die Beschuldigte da sein mußte, und ich wollte, daß sie ein Auge auf Carleton haben sollte, während ich ein paar private Besorgungen machte. Ich bat sie, mir den Gefallen zu tun.« »Sie war einverstanden?« -1 5 5 -
»Ja.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, daß der Schuhkarton inzwischen durch einen anderen ersetzt worden sein könnte?« »Nicht, bevor wir ins Büro kamen, Sir. Carleton hatte den Karton immer bei sich und nahm ihn mit ins Büro. Irgendein Tausch könnte ausschließlich von der Beschuldigten vorgenommen worden sein.« »Das ist alles«, sagte Mason. Flanders ließ Frank Golden holen. Golden sprach den Eid und gab seinen Beruf als Leiter der M-Wagen-Filiale an. »Ich beziehe mich auf Sonntag, den Vierten des Monats. Haben Sie an diesem Tag die Beschuldigte gesehen?« »Ja.« »Haben Sie ein Gespräch mit ihr geführt?« »Ja.« »Und haben Sie irgend etwas mit ihr ausgehandelt?« »Ja.« »Was?« »Ich habe ihr eines unserer Autos vermietet und zwar den Wagen, der bei uns die Nummer 19 führt.« »Um welche Tageszeit?« »Um sechs Uhr dreißig.« »Sie hat ihn zurückgebracht?« »Ja.« »Wann?« »Nach unserem Eingangsbuch war es acht Uhr fünfzehn.« »Und dieser Wagen wird bei Ihnen unter Nummer 19 geführt.« »Ja.« »Steht die Nummer auf dem Wagen?« »Ja. Zwar nicht sehr sichtbar, aber sie steht darauf.« -1 5 6 -
»Am späteren Abend hatten Sie Gelegenheit, das Auto noch einmal zu vermieten?« »Ja.« »An wen?« »An Mr. Perry Mason, den Verteidiger der Beschuldigten.« »Um welche Tageszeit war das?« »Als ich gerade schließen wollte. Es muß - ja es wird ungefähr elf Uhr gewesen sein. In meine Liste habe ich zehn Uhr dreißig eingetragen, weil wir dann offiziell Schluß machen.« »Als Sie die Beschuldigte sahen, wie war sie da gekleidet?« »Sie trug einen Regenmantel, einen Pullover, Slacks und einen Männerhut. Der Hut hatte eine breite Krempe, die sie heruntergeschlagen hatte; sie reichte bis über die Augen. Als sie kam, hielt ich sie zunächst für einen Mann, aber als sie mit mir sprach, merkte ich natürlich, daß es sich um eine Frau handelte. Und dann hat sie mir ja auch ihren Führerschein vorgelegt.« »Und in Ihrer Liste steht der Name der Beschuldigten?« »Ja, Sir. Der Name Susan Fisher.« »Wann haben Sie den Wagen endgültig wiederbekommen?« »Am Nachmittag des Fünften. Die Polizei brachte ihn zurück. Man hat mir vorher Bescheid gesagt, daß die Polizei den Wagen beschlagnahmt hätte.« »Das ist alles. Sie können fragen«, sagte Flanders. »Keine Fragen.« »Rufen Sie Myrton Abert«, sagte der Anklagevertreter. Myrton Abert nannte Adresse und Beruf und sagte aus, daß er Sonntag zwischen zwölf Uhr dreißig und ein Uhr am Montag morgen von Perry Mason und Paul Drake gebeten worden sei, Fingerabdrücke in einem Auto zu untersuchen. Er hatte sich auch die Nummer des Wagens und die unauffällig angebrachte 19 notiert. Die Fingerabdrücke hatte er mit Spezialpapier abgehoben und Mason abgeliefert. Er hatte aber verlangt, Fotoaufnahmen der Abdrücke machen zu können, damit er sie -1 5 7 -
für den Fall, daß der Wagen in ein Verbrechen verwickelt wäre, der Polizei übergeben konnte. Diese Aufnahmen hatte er der Polizei übergeben. Aber noch vorher war die Polizei mit einem Satz Fingerabdrücke bei ihm erschienen, die, wie man ihm sagte, von Ken Lowry stammten. Er hatte entdeckt, daß einer und zwar der Abdruck des rechten Mittelfingers - identisch war mit einem Abdruck, den er von der Rückseite des Rückspiegels abgehoben hatte. Es gab für ihn keinen Zweifel, daß dieser Fingerabdruck auf dem Rückspiegel vom rechten Mittelfinger des verstorbenen Ken Lowry stammte. »Kreuzverhör«, sagte Flanders. »Keine Fragen«, erklärte Mason. »Rufen Sie Leutnant Tragg.« Leutnant Tragg betrat den Zeugenstand. Er sagte aus, daß er einen Telefonanruf von Perry Mason erhalten hatte, mit dem er einen Leichenfund gemeldet hatte. Die Leiche lag auf dem bereits näher bezeichneten Platz an der Mulholland Chaussee. Er hatte einen Funkwagen vorausgeschickt, dann war er selbst mit dem stellvertretenden Coroner, einem Fotografen und einem Techniker hinausgefahren. Sie hatten dort die Leiche des Kenneth Lowry gefunden. Tragg legte mehrere Aufnahmen vor. »Wie lange hat die Leiche dort gelegen, seit der Tod eingetreten war?« »Nur sehr kurze Zeit«, sagte Leutnant Tragg. »Ich überlasse es dem Mediziner, der die Obduktion vorgenommen hat, den genauen Zeitpunkt festzustellen; aber soviel kann ich sagen, daß der Tod erst vor kurzem eingetreten war.« »Haben Sie Autospuren am Fundort der Leiche gesucht?« »Ja.« »Was fanden Sie?« »Ich stellte fest, daß ein Auto über eine Art Schneise von der Chaussee bis zu dem Fundort der Leiche gefahren war. Ich habe diese Spuren sorgfältig untersucht und sie ausgegossen,
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um sie vorzeigen zu können. Ich habe gute Abgüsse aller vier Reifen erhalten.« »Handelt es sich um vier gleiche Reifen?« »Nein, Sir. Es waren zwei verschiedene Modelle mit verschiedenen Profilen, und zwar gehörten die Vorderreifen zu der einen, die Hinterreifen zu der anderen Art. Der rechte Vorderreifen hatte außerdem eine Kerbe, die einen charakteristischen Abdruck hinterließ.« »Haben Sie später einen Wagen gefunden, zu dessen Reifen die Abgüsse paßten?« »Ja, Sir.« »Um welchen Wagen handelt es sich?« »Um das Auto Nummer 19 der Firma M-Wagen. Ich fand diesen Wagen auf dem Parkplatz des Hauses, in dem Mr. Mason sein Büro hat. Mr. Mason gab zu, daß er das Auto dort abgestellt und es am Abend vorher von der Selbstfahrerzentrale gemietet hätte.« »Kreuzverhör«, sagte Flanders. Masons Augen wurden schmal. »Leutnant Tragg, wann haben Sie diese Reifenspuren gefunden?« »Am Abend, an dem die Leiche entdeckt wurde.« »Wie lange danach?« »Nur ein paar Minuten danach; während Sie, wie ich annehme, in der Tankstelle warteten.« »Sie haben mir nicht mitgeteilt, daß Sie diese Reifenspuren entdeckt hatten.« »Nein, Sir.« »Warum nicht?« »Ich wüßte nicht, daß es meine Pflicht ist, Ihnen mitzuteilen, was die Polizei gefunden hat, Mr. Mason.« »Das genügt.« Flanders rief Sophia Elliott in den Zeugenstand. Sie sagte aus, daß sie die Schwester Amelia Cormings und aus Südamerika gekommen wäre. Mrs. Elliott hatte sich im Hotel -1 5 9 -
Arthenium die Suite ihrer Schwester zeigen lassen, hatte dort die Tür offen und im Zimmer Perry Mason und seine Sekretärin vorgefunden. Nach kurzem Gespräch hatte sie Mr. Mason vorgeschlagen, sich mit seiner Sekretärin zu entfernen, sie hatte ihm noch erklärt, daß er Bescheid bekäme, falls Amelia Corning ihn zu sprechen wünsche. Als nächster sagte der Mann, der den Lastenaufzug bediente, aus, er hätte fünfundzwanzig Dollar dafür bekommen, daß er Miss Corning aus dem Hause schmuggelte. Und nun kam Harrison Flanders Überraschung. »Ich rufe Carlotta Ames Jackson.« Mrs. Jackson entpuppte sich als farbloses, spitznasiges, nervöses Individuum, das es offensichtlich genoß, so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Wo waren Sie am Abend des Fünften?« »Ich stand in der Durchfahrt hinter dem Lieferanteneingang des Hotel Arthenium.« »Wie kam es, daß Sie dort standen?« »Ich arbeite im Hotel, ich bin Zimmermädchen. Ich gehe immer durch den Hintereingang und die Durchfahrt. »Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Ja.« »Schildern Sie es bitte.« »Ich sah in der Durchfahrt eine Frau in einem Rollstuhl. Dort gibt es keinen Gehsteig, der Rollstuhl stand dicht an der Mauer. Das ist doch komisch bei einem Rollstuhl, und ich wollte hin zu der Frau und mit ihr reden.« »Sprachen Sie mit ihr?« »Nein.« »Schildern Sie also, was geschah.« »Ein Auto kam in die Durchfahrt, fuhr hinter mir vorbei und hielt neben der Frau. Die Fahrerin stieg aus und half ihr in den Wagen. Dann wurde der Rollstuhl zusammengeklappt und verstaut, und das Auto fuhr weg.« -1 6 0 -
»Das Auto wurde von einer Frau gefahren?« »Ja.« »Können Sie die Frau beschreiben?« »Sie trug einen Regenmantel, einen Pullover, Slacks und einen Männerhut. Die Krempe war über die Augen heruntergeklappt.« »Sahen Sie auch das Gesicht der Frau?« »Ja.« »Wie nahe standen Sie bei der Frau, als Sie ihr Gesicht sahen?« »Vielleicht sieben Meter weg.« »Kannten Sie die Frau?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Haben Sie die Frau wiedergesehen?« »Ja.« »Wo?« »Im Polizeirevier.« »Wer hat sie Ihnen gezeigt?« »Da standen fünf Frauen, und ich habe sie herausgesucht.« »Und wer war es?« »Die Beschuldigte hier, diese Susan Fisher.« Susan Fisher rang nach Luft vor Entsetzen. »Hatten Sie eine Möglichkeit, das Auto näher zu betrachten?« »Ja.« »Haben Sie es später wiedergesehen?« »Ja. Ich habe es nachher bei der Selbstfahrer-Zentrale identifiziert. Da stand die Nummer 19 drauf, damit man es erkennen konnte.« »Sie können Ihre Fragen stellen«, sagte Flanders mit übertriebener Höflichkeit zu Mason.
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Mason stand auf, um der Zeugin ins Gesicht zu blicken. »Haben Sie sich die Zulassungsnummer des Wagens gemerkt, als sie ihn zum erstenmal sahen?« »Ja, das glaube ich.« »Sie glauben es?« »Ich meine, ich bin ziemlich sicher, daß ich es tat.« »Haben Sie die Nummer irgendwo notiert?« »Nein.« »Sie haben sich auf Ihr Gedächtnis verlassen?« »Ja, und ich habe sie auch vergessen. Aber als sie mir dann gesagt haben, daß die Nummer so wichtig ist in einem Mordfall, da ist sie mir doch wieder eingefallen.« »Sahen Sie die Zahl 19 auf dem Auto, als es in der Durchfahrt stand?« »Nein.« »Es war dunkel?« »Ja.« »Standen Sie neben dem Wagen?« »So vielleicht sieben Meter davon entfernt.« »Sie gingen weiter?« »Nein, ich stand still.« »Sie sagen, daß Sie die Beschuldigte später aus einer Gruppe herausfanden?« »Ja.« »Hatten Sie die Beschuldigte davor schon gesehen?« »Ja, in der Durchfahrt doch!« »Und dann nicht mehr?« »Na ja, ich hab’ so eine Art Schimmer von ihr gesehen, als sie in dieses Vorführzimmer gebracht wurde.« »Haben Sie auch ihr Bild vorher gesehen?« »Ja. Die Polizei zeigte mir doch das Foto und fragte, ob das die junge Frau wäre, die ich gesehen hatte.« -1 6 2 -
»Und Sie sagten, das wäre sie?« »Ich sagte... ich sagte, ich glaubte, sie wäre es.« »Sagten Sie zuerst, Sie wüßten es nicht hundertprozentig genau?« »Na klar. Man kann nicht einfach einen Blick auf ein Foto werfen und sofort...« »Ich frage nur, ob Sie der Polizei gesagt haben, daß Sie nicht glaubten, es wäre das richtige Mädchen?« »Das hab’ ich wohl gesagt.« »Aber als Sie dann die fünf Frauen vor sich hatten - und nachdem Ihnen die Polizei das gezeigt hatte, was Sie eine Art Schimmer nennen - da waren Sie Ihrer Sache sicher?« »Ja.« »Haben Sie die Nummer 19 auf dem Auto erkannt, als es in der Durchfahrt stand?« »Nein, erst später.« »Und woran haben Sie das Auto wiedererkannt?« »So ganz allgemein, so nach dem ganzen Aussehen.« »War es ein Wagen von einem bekannten Fabrikat?« »Ja.« »Sieht man Tausende und Abertausende von solchen Wagen auf jeder Straße in Los Angeles?« »Das weiß ich doch nicht, wie viele es sind... Tausende und aber Tausende... egal, ich bin zufrieden, daß ich diesen wiedererkannt habe.« »Sie sind zufrieden«, betonte Mason. »Ja.« »Wie viele Unterredungen mit der Polizei haben Sie gehabt?« »Ach, mehrere.« »Etwa zehn?« »Das kann hinkommen.« -1 6 3 -
»Und auch zehn mit den Beamten der Staatsanwaltschaft?« »Nein, da waren es nur fünf Unterredungen.« »Nun fassen wir mal zusammen: Wenn ich Sie recht verstehe, waren Sie Ihrer Sache nicht ganz sicher, als die Polizei Sie zuerst vernahm, aber je mehr Zeit verging, um so sicherer wurden Sie. Trifft das zu?« »Ja.« »Sie waren Ihrer Sache nicht sicher, als Sie zum erstenmal vernommen wurden?« »Ach... nein, ich glaube nicht. Ich hab’ ihnen auch gesagt, daß ich es nicht ganz bestimmt weiß. Ich mußte aber immer daran denken, und jedesmal, wenn ich darüber nachdachte, wurde es mir ein bißchen deutlicher.« »Aber Sie haben sich zehnmal mit ihnen unterhalten.« »Ja.« »Und bei jedem Gespräch wurden Sie Ihrer Sache sicherer?« »Ja.« »Also beim neunten Gespräch wußten Sie es noch nicht so bestimmt wie beim zehnten oder gar wie heute?« Hamilton Burger erhob sich. »Euer Gnaden«, sagte er, »das heißt doch, die Aussagen zu verdrehen. Das ist Spiegelfechterei. So führt man kein Kreuzverhör. Das alles hat sie ja gar nicht gesagt.« »Das hat sie ganz genau gesagt«, gab Mason zurück. »Sie sagte, daß sie von einer Unterredung zur anderen ihrer Sache immer sicherer wurde. Daraus geht hervor, daß sie nach dem neunten Gespräch noch nicht so bestimmt urteilen konnte wie nach dem zehnten.« »Ich denke, ich weise den Einspruch ab«, entschied Richter Eimer. Hamilton Burger setzte sich langsam wieder hin. »Da Ihnen nun der Einspruch des Staatsanwalts die Falle gezeigt hat - können Sie die Frage jetzt beantworten?« fragte
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Mason weiter. »Waren Sie im Verlauf der neunten Unterhaltung Ihrer Sache weniger sicher als heute?« »Also - so hab’ ich es nicht gemeint.« »Egal, wie Sie’s gemeint haben. Ich stelle Ihnen eine Frage, antworten Sie mit Ja oder Nein.« »Nein. Ich wußte es schon ganz bestimmt bei der neunten Unterhaltung.« »Warum wurde dann noch ein zehntes Gespräch geführt?« »Das weiß ich auch nicht.« »Und warum haben Sie dann gesagt, daß Sie nach jedem Gespräch Ihrer Sache sicherer waren?« »Ich hab’ doch nicht gerade an die Zeit zwischen der neunten und der zehnten Unterredung gedacht.« »Na schön, dann zurück zu Ihrer achten Unterhaltung. Waren Sie nach der zehnten sicherer als nach der achten?« »Ja.« Die Zeugin war verärgert. »Und sicherer nach der siebten Unterhaltung als nach der sechsten?« »Ja.« »Danke«, sagte Mason. »Das ist alles.« Richter Eimer blickte auf die Uhr. »Es ist fünf Minuten über die Zeit. Hat die Anklagebehörde noch viele Zeugen zu hören?« »Nein, Euer Gnaden«, sagte Hamilton Burger. »Das Gericht vertagt sich auf zwei Uhr heute nachmittag«, erklärte Richter Eimer. »Ich habe um ein Uhr dreißig eine Sitzung, die nur kurze Zeit dauert. Wir können diese Sitzung um zwei Uhr fortsetzen. Das Gericht vertagt sich, die Beschuldigte bleibt in Haft.«
12 Perry Mason, Della Street und Paul Drake setzten sich ins Séparée des kleinen französischen Restaurants in der Nähe -1 6 5 -
des Gerichtsgebäudes, wie so oft, wenn Mason eine Verhandlung hatte. Mason sah sich um. »Hier haben wir schon so manches Mal gesessen, wenn unsere Sache fast verloren schien, und meistens ist es uns beim Essen gelungen, unseren Verstand zu mobilisieren und einen Ausweg zu finden.« »Aber diesmal wirst du nichts herausfinden«, prophezeite Drake düster. »Deine Klientin ist schuldig, Perry, und ich fürchte, daß sie auch noch Amelia Corning irgendwohin gelockt und dann beiseite geschafft hat. Ich wette, daß man binnen vierundzwanzig Stunden ihre Leiche finden wird, und dann hat deine Klientin einen weiteren Mord am Hals.« »Mag sein - aber deshalb ist sie noch nicht schuldig«, gab Mason zurück. »Perry, wie kannst du nur so etwas sagen. Die Beweise sprechen eine so klare und unmißverständliche Sprache, daß auch nichts mehr übrig bleibt, was für ihre Unschuld spricht.« »Du siehst die Indizien nur vom Standpunkt der Anklage aus, Paul«, begann Mason. »Nun wollen wir ein bißchen Detektivarbeit leisten. Was hast du über Ken Lowrys Telefongespräche herausbringen können?« »Er hat keine Gespräche angemeldet, und Anrufe, die er bekommen hat, haben wir noch nicht vollständig erfassen können.« »Er hat mindestens einen Anruf bekommen, nämlich von Endicott Campbell. Campbell hat es ja ausgesagt. Entweder hat Campbell dabei etwas geäußert, was Lowry veranlaßte, nach Los Angeles zu fahren, oder kurz nach Campbell hat ihn noch jemand angerufen. Als Della Street und ich ihn verließen, hatte er noch nicht die Absicht, in die Stadt zu fahren. Wir haben unterwegs angehalten, um mit dir zu telefonieren und eine Tasse Kaffee zu trinken; dann waren wir genau um sieben Uhr fünfundzwanzig beim Arthenium. Lowry kann die Stadt unmöglich lange vorher erreicht haben. Selbst wenn er sofort nach unserer Abfahrt telefonisch herbei beordert worden wäre, hätte er kaum vor sieben Uhr fünfundvierzig eintreffen können.« -1 6 6 -
»Alles ganz klar«, sagte Drake. »Deine Klientin nahm ihn gleich in Empfang, als er ankam, fuhr mit ihm aus der Stadt heraus, ermordete ihn und war um acht Uhr fünfzehn wieder zurück.« »Dazu hätte die Zeit nicht gereicht - oder sie hätte Lowry schon dorthin bestellen müssen, wo nachher seine Leiche lag.« »Und warum sollte es nicht so gewesen sein?« fragte Drake. »Lowry ist nach der Begegnung mit euch zu seiner Unterkunft bei der Mine zurückgekehrt. Ein Anruf war schon angemeldet. Die Stimme von Susan Fisher, eine ihm wohlbekannte Stimme, erklärte ihm, daß er einen großen Fehler begangen hätte, als er mit euch sprach, und verlangte dann, daß er sofort nach Hollywood und dann zu diesem näher bezeichneten Platz fahren sollte. Deine Klientin hatte ja die Ortsbeschreibung, die sie ihm durchgab, vorher in Steno aufgeschrieben. Du fuhrst mit Della nach Los Angeles, von dort nach Hollywood. Lowry könnte die Abkürzung über Burbank genommen und damit mindestens eine halbe Stunde gespart haben.« Mason sagte: »Wir brauchen diesen Anruf. Laß uns versuchen, ob wir ihn nicht feststellen können.« »Wenn wir das tun, werden wir nur entdecken, daß es ein Anruf unserer Klientin war - und was dann? Weißt du auch, was du damit tust, Perry? Willst du diese neuen Indizien dann unterschlagen?« »Das ist ein weites Feld. Ein Anwalt sollte kein Beweismaterial zurückhalten. Andererseits sollte er auch nicht durch die Gegend laufen und Beweise gegen seinen Klienten aufstöbern. Aber die Indizien brauchen ja nicht gegen meine Klientin zu sprechen. Wie wäre es, wenn du mal dein Büro anrufst und dich erkundigst, ob etwas Neues vorliegt?« Drake ließ sich einen Telefonapparat an den Tisch bringen, nannte der Zentrale die Nummer und meldete sich: »Hallo, hier Drake. Was haben Sie herausgefunden?... Okay, schießen Sie los.«
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Drakes Augen verengten sich. Er machte Notizen, sagte: »Schön, ich bin hier in unserem Stamm-Restaurant. Rufen Sie an, wenn irgendwas auftaucht«, und legte den Hörer auf. Dann wandte er sich zu Mason: »Also, das Telefongespräch haben wir, aber es ist eine merkwürdige Sache.« »Los«, drängte Mason, »wieso denn?« »Am Sonntagnachmittag wurde ein Ferngespräch für Kenneth Lowry angemeldet, wahrscheinlich zur selben Zeit, als du mit ihm in Mojave gesprochen hast. Da Lowry den Anruf nicht entgegennahm, hieß es, daß er sich später bei der Zentrale 67 in Los Angeles melden sollte. Die Mexikanerin, die bei ihm saubermacht, erinnert sich, daß sie die 67 auf die Schreibunterlage am Telefon geschrieben hatte. Wir haben uns mit Zentrale 67 in Verbindung gesetzt und den Anruf kontrolliert. Er kam aus einer Telefonzelle. Es war eine Frauenstimme, und sie sagte, sie wollte warten, bis sich Lowry meldete. Offenbar hat sich die Frau in der Nähe der Telefonzelle aufgehalten, bis das Gespräch nach etwa zwanzig Minuten zustandekam. Und diese Telefonzelle, Perry, liegt etwa zwei Häuserblocks von der Wohnung deiner Klientin entfernt. Sie hat offenbar nicht von ihrem eigenen Apparat aus anrufen wollen, sondern ist zur Zelle gegangen.« »Welcher Name wurde angegeben?« fragte Mason. »Sie nannte der Zentrale den Namen Smith.« »Ich möchte wohl wissen, ob die Polizei das auch schon hat«, sagte Perry Mason. »Ich glaube kaum, Perry.« »Nun wissen wir, warum Ken Lowry in die Stadt fuhr - er war mit jemandem verabredet. Und es muß sich um eine wichtige Sache gehandelt haben. Er muß fast hinter uns gefahren sein.« »Und Susan Fisher lud Amelia Corning in der Durchfahrt in ihren Wagen und fuhr mit ihr davon. Später hat Ken Lowry in ihrem Wagen gesessen, und was ihm passiert ist, wissen wir. Um Himmels willen, Perry, diese Frau muß ja ein Teufel sein!
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Um die Unterschlagung zu vertuschen, begeht sie zwei Morde und...« »Nun mal langsam«, unterbrach ihn Mason. »Wir wollen ihr hier doch nicht gleich zwei Morde anhängen, ehe wir Beweise haben. Sie hat mir gesagt, daß sie Ken Lowry keineswegs in ihrem Wagen gehabt hat, daß sie ihn nie gesehen hat, daß sie nicht weiß, wie er aussah und daß sie Amelia Corning nicht in der Durchfahrt abgeholt hat.« »Aber, Perry«, sagte Drake, »es spricht doch alles gegen sie. Du bist wirklich optimistisch. Ich kenne niemanden, der nicht heute morgen im Gericht seine Sachen gepackt hätte, als ein unwiderlegbarer Beweis nach dem anderen vorgebracht wurde... Du hättest nur mal sehen sollen, wie Hamilton Burger strahlte. Er hat nun endlich den einen Fall, an dem es nichts zu rütteln gibt, und ist persönlich zur Sitzung erschienen, damit sein Foto in der Morgenzeitung steht, wenn Perry Mason einen Prozeß verliert.« »Aber wir werden keinen Prozeß verlieren«, antwortete Mason. »Es ist eine Vorverhandlung, deren einziger Zweck in dem Nachweis liegt, daß genügend Anhaltspunkte für ein Verbrechen vorhanden sind und daß das Beweismaterial den Beschuldigten in Verbindung mit dem Verbrechen bringt.« »Das weiß ich auch«, wandte Drake ein. »Aber du kannst es mit juristischen Feinheiten drehen, wie du willst - für die öffentliche Meinung handelt es sich doch um einen Prozeß, und den hast du verloren.« »Er hat ihn noch nicht verloren«, sagte Della Street unerwartet scharf und blickte auf die Uhr. »Er hat noch anderthalb Stunden zur Verfügung, bevor er irgend etwas verliert.« Mason sagte: »Einige Dinge an diesem Fall sind mir unerklärlich.« »Zum Beispiel?« fragte Drake. »Die Art etwa, in der sich die Frau benahm, die am Sonnabendmorgen auf dem Flugplatz auftauchte. Natürlich, es war eine auffallende Stellung, die sie da in der Halle einnahm, -1 6 9 -
mit Rollstuhl und allem Gepäck. Ich wollte, ich wüßte etwas mehr über sie.« »Eine Betrügerin«, warf Paul Drake ein. »Aber eine geschickte Betrügerin«, entgegnete Mason. »Sie war zum Beispiel sehr geschickt in der Handhabung ihres Rollstuhls. Sie konnte mit ihm durch den ganzen Raum sausen...« »Und woher weißt du das?« fragte Drake. »Susan Fisher hat es mir in allen Einzelheiten beschrieben«, antwortete Mason. Drake lächelte skeptisch. »Ich würde keinerlei Hoffnung auf das setzen, was Susan Fisher sagt. Persönlich glaube ich, das Mädchen ist irgendwie nicht normal. Vielleicht ist sie von Haus aus ein Psychopath.« »Welche weiteren Beweisstücke hat die Anklagevertretung nun noch?« wollte Della Street wissen. »Nur noch die Mordwaffe«, sagte Mason. »Sie werden sie vorlegen, sie werden sie mit Susan Fisher in Verbindung bringen, und dann werden sie auf ihren Lorbeeren ausruhen.« »Wollen Sie auch irgendwelches Beweismaterial vorlegen?« »Ich glaube nicht«, sagte Mason. »Es hat keinen Zweck. Alles, was dabei herauskommen kann, ist doch nur, daß Susan Fisher ihre Unschuld beteuert.« »Du willst sie in den Zeugenstand bringen, und dann wird Hamilton Burger sie beim Kreuzverhör in der Luft zerreißen«, warnte Paul Drake. »Deshalb sitzt er ja so behäbig da.« »Normalerweise«, überlegte Mason, »liegt wenig Sinn darin, einen Beschuldigten in der Vorverhandlung in den Zeugenstand zu bringen, aber... Ich möchte etwas mehr über diese Betrügerin wissen, die als Amelia Corning auftrat.« »Sie fuhr zum Bahnhof und verschwand«, sagte Drake. »Sie nahm keine Taxe, also muß sie in einem Privatwagen gefahren sein. Irgendwer hat sie erwartet, und vielleicht hat sie nur die blaue Brille abgenommen, ist aus dem Rollstuhl gestiegen, hat -1 7 0 -
ihn zusammengelegt und ist wie jedes normale Menschenkind davongegangen.« Plötzlich schnippte Mason mit den Fingern. »Nanu?« sagte Drake. »Eines hast du noch nicht überprüft«, sagte Mason. »Was?« »Die Leihwagen mit Fahrer.« »Worauf willst du hinaus?« »Für eine kurze Fahrt nimmt man sich eine Taxe, für eine lange mietet man sich manchmal einen Wagen mit Fahrer. Ruf dein Büro an, Paul. Sag, sie sollen bei den Unternehmen nachfragen, die Wagen mit Fahrern vermieten. Laß nachfragen, ob sie Sonnabendnachmittag nach fünf Uhr den Auftrag erhalten haben, einen Wagen mit Chauffeur für eine Fahrt nach Mojave zu stellen.« »Nach Mojave?« Mason nickte. »Wieso denn Mojave?« fragte Paul Drake. Mason, plötzlich wie elektrisiert, stand auf und begann hin und her zu wandern. »Ich habe eine Idee, Paul, eine furchtbare Idee.« »Du meinst, daß es überhaupt keine andere Frau gegeben hat? Daß sich deine Klientin Susan Fisher als Amelia Corning kostümiert hat, und daß sie nachher...« »Ruf dein Büro an, Paul«, unterbrach ihn Mason ungeduldig. Drake ließ sich verbinden, erklärte, um was es sich handelte, und legte den Hörer auf. »Ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben«, sagte Della Street, »aber ich weiß, daß ich jetzt essen werde.« Drake seufzte. »Ich sollte mir wohl auch ein paar Kalorien zu Gemüte führen, da die Gelegenheit so günstig ist. Trübe Erfahrungen haben mich gelehrt, daß diese Art Fälle die Angewohnheit haben, in Brötchen mit Frikadellen auszuarten. Diesmal aber werde ich alle reinlegen: Ich esse auch.« -1 7 1 -
Sie gaben dem Kellner ihre Bestellung auf und aßen in düsterem Schweigen. Zwanzig Minuten nach ein Uhr klingelte das Telefon. Paul Drake wurde verlangt. Er hörte zu, machte sich Notizen, sagte: »Danke, das war’s«, und legte auf. Er wandte sich an Mason: »Perry, du bist ein Hellseher.« »Los, los«, drängte Mason in unterdrückter Aufregung. »Am Sonnabendnachmittag um fünf Uhr fünfzehn erhielt die A bis Z-Autovermietung einen Anruf, sie sollten einen Wagen zum Eingang des Union-Bahnhofs schicken. Der Auftrag lautete, mit gefülltem Tank für eine längere Fahrt bereit zu sein. Der Fahrer fuhr hin und nahm eine Frau im Rollstuhl auf, die eine dunkelblaue Brille trug. Sie gab ihm die Schlüssel für mehrere Schließfächer, aus denen er ihr Gepäck holte. Er packte alles in den Wagen und fuhr die Frau nach Mojave.« Mason sah mit gerunzelter Stirn auf die Uhr. »Wir müssen zurück ins Gericht. Ich muß ein kleines Kreuzverhör veranstalten, dann werden wir mehr wissen als jetzt.« »Ach, tu mir den Gefallen, Perry«, sagte Drake müde, »hör auf, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. In dieser Sache kannst du überhaupt nur eines tun: Sobald die Sitzung eröffnet wird, gehst du zum Richter und machst folgenden Vorschlag: Da du glaubst, eine gute Verteidigungsmöglichkeit für deine Klientin zu haben und da das Beweismaterial auf jeden Fall eine Anklage nach sich ziehen wird, soll das Gericht sofort darüber entscheiden und die Beschuldigte anklagen. Auf diese Weise stiehlst du Hamilton Burger wenigstens etwas von seiner Schau, und er hat keine Gelegenheit mehr zu einer großartigen Rede, die in voller Länge in allen Zeitungen erscheinen würde. Denn dieses Ding - diese Sache mit Mietauto und Fahrer bedeutet überhaupt nichts. Wir alle wissen, daß eine Betrügerin auftauchte, um die Rolle Amelia Cormings zu spielen, und was wäre natürlicher, als sie von Mojave herzuholen? Ich will ja zugeben, daß ich mich ein bißchen schäme, weil ich an diese -1 7 2 -
Wagen mit Fahrer überhaupt nicht gedacht habe; aber schließlich ist die Polizei auch nicht darauf gekommen.« Mason nahm sich nicht die Zeit zu einer Antwort. Er rief den Kellner, unterzeichnete die Rechnung und sagte: »Kommt, wir müssen ins Gericht. Wir haben noch viel zu tun.«
13 Im Gerichtssaal, als sie auf das Erscheinen Richter Eimers warteten, sagte Mason plötzlich zu Drake: »Paul, ich möchte gern wissen, wer Endicott Campbells Freundinnen sind.« »Er hat keine«, antwortete Drake. »Sag das nicht«, gab Mason zurück. »Natürlich hat der Bursche Freundinnen. Seine Frau hat ihn vor zwei Jahren verlassen und...« »Er hatte eine, vorübergehend, bevor Susan Fisher ins Büro kam. Es war seine Sekretärin, eine verheiratete Frau. Er war ziemlich versessen auf sie, und offenbar ist das auch erwidert worden. Wenigstens glaubte das ihr Ehemann. Er machte einen ganz netten Wirbel, drohte Endicott Campbell zu erschießen, und nahm seine Frau aus dem Büro.« »Eine andere ist nicht im Spiel?« »Nein.« »Hat er denn gar keine Frauen besucht?« »Nicht, seit wir ihn beschatten, Perry.« »Dann bedeutet es, daß er sich vorsieht, weil er weiß, daß er beschattet wird. Keine Telefonanrufe? Keine Besuche von Frauen?« »Nur eine Frau hat in Campbeils Wohnung angerufen, und das war eine Freundin der Erzieherin.« »Die Tatsache, daß sie eine Freundin der Erzieherin ist, hindert sie ja schließlich nicht daran, auch die Freundin von Endicott Campbell zu sein«, wandte Mason ein. -1 7 3 -
»Die kommt dafür bestimmt nicht in Frage«, sagte Drake. »Hör dir ihre Beschreibung an.« Er zog ein Notizbuch heraus und las vor: »Cindy Hastings, Rentner Road 1536. Das ist die Adresse des Tulane-Apartmenthauses. Sie hat die Wohnung Nr. 348. Kinderpflegerin von Beruf. Sieht aus wie Elizabeth Dow, nur beträchtlich älter: Eckig; englisch; plattfüßig; Pferdegesicht...« »Danke, das genügt«, sagte Mason. »Streich sie. Was für Freundinnen hat die Erzieherin sonst noch? Leute in ihrem Alter?« »Scheint nicht so«, antwortete Drake. »Jedenfalls haben wir keine gefunden. Ich habe so den Eindruck, daß sich die Campbells in acht nehmen, weil sie merken, daß wir sie beschatten. Sie haben sich zwar nie anmerken lassen, daß sie es wissen, aber ich glaube, daß sie es wenigstens ahnen und...« Eine Polizeibeamtin brachte Susan Fisher in den Saal. Als sie sich auf ihren Platz hinter Mason gesetzt hatte, beugte sie sich zu ihm vor und sagte: »Glauben Sie, daß ich Sie belogen habe, Mr. Mason?« »Offen gestanden«, antwortete er, »bin ich mir nicht darüber klar.« »Ich kann Ihnen nur eines sagen, Mr. Mason: All diese Zeugenaussagen sind erlogen. Ich kenne Ken Lowry nicht, er hat nie mit mir im Auto gesessen, ich habe Ihnen ganz bestimmt die Wahrheit gesagt, Mr. Mason, ich...« Der Richter erschien, der Gerichtsdiener sorgte für Ruhe. Hamilton Burger setzte sich an den Tisch der Anklagevertretung, warf Mason einen triumphierenden Blick zu und sah dann auf die vor ihm liegenden Schriftstücke nieder. Harrison Flanders begann: »Unsere nächste Zeugin ist Norma Owens.« Norma Owens erklärte, daß sie die Chefsekretärin der Firma Corning sei. Flanders sagte: »Ich zeige Ihnen einen Brieföffner und frage Sie, ob Sie ihn identifizieren können.« -1 7 4 -
»Dieser Brieföffner hat seinen Platz auf dem Arbeitstisch der Beschuldigten, Susan Fisher.« »Woran können Sie ihn identifizieren?« »An seinem Aussehen, aber auch an einer kleinen Scharte am Ende des Griffs. Ich weiß, daß die Scharte entstand, als Miss Fisher versuchte, mit dem Brieföffner den Deckel einer Dose mit Farbe abzuheben.« »Keine weiteren Fragen an die Zeugin. Sie können sie ins Kreuzverhör nehmen.« »Kein Kreuzverhör«, sagte Mason. »Ich rufe Leutnant Tragg zum zweitenmal in den Zeugenstand«, verkündete Flanders. »Geschworen haben Sie bereits, Leutnant Tragg. Bitte, treten Sie vor.« Mason, der mit weitgeöffneten Augen aus dem Fenster blickte, schien kaum auf das zu achten, was im Gerichtssaal vor sich ging. »Sie haben die Wohnung der Beschuldigten durchsucht, Leutnant Tragg?« »Ja.« »Unter anderem suchten Sie nach einer Empfangsbescheinigung für den Mietwagen Nummer 19 von der Firma M-Wagen?« »Das tat ich.« »Haben Sie die Quittung gefunden?« »Ja.« »Trägt sie die Unterschrift der Beschuldigten?« »Ja.« »Wollen Sie das Dokument bitte vorlegen. « Tragg zog es aus seiner Mappe. »Ich beantrage, daß diese Quittung als Beweisstück der Anklage registriert wird«, sagte Flanders. Dann wandte er sich an Mason. »Kreuzverhör.«
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Mason hatte offenbar nichts von dem gehört, was Flanders sagte. In schärfster Anspannung konzentrierte er sich deutlich auf etwas, das mit seiner nächsten Umgebung nicht zusammenhing. »Sie können Ihr Verhör beginnen, Mr. Mason«, sagte Richter Eimer. Mason gab sich einen Ruck: »Jawohl, Euer Gnaden, danke.« Er stand auf, ging zu Leutnant Tragg, der ihm erwartungsvoll entgegenblickte, sah ihn an und sagte unvermittelt: »Keine Fragen.« Er kehrte zu seinem Platz zurück. »Dann sind wir fertig, Leutnant Tragg«, verkündete Flanders. »Die Reihe ist an Ihnen, Sir.« Hamilton Burger erhob sich. »Mit Erlaubnis des Gerichts«, begann er, »möchte ich mich nur auf Dinge beziehen, die hier als Beweismaterial vorgelegt worden sind und aus denen bereits hervorgeht, daß wir es mit einem Mord zu tun haben einem kaltblütigen, geplanten Mord. Hinzu kommt das Verschwinden von Amelia Corning. Es ist eine sehr schwerwiegende Angelegenheit, an der nur noch eine Frage offen ist: nämlich, wie der Mord und das Verschwinden miteinander zusammenhängen.« »Einen Augenblick«, unterbrach Mason, »wollen Sie jetzt das Beweismaterial kommentieren?« »Gewiß doch«, sagte Hamilton Burger. »Ich bezweifle, daß das nötig ist«, meinte der Richter. »Wäre es nicht angebracht, der Verteidigung Gelegenheit zu geben, ihrerseits Beweise vorzulegen?« erinnerte Mason. Überrascht sah ihn Burger an. »Es gibt keine Beweise, die Sie vorzulegen wagen - überhaupt keine.« Mason sagte: »Mit Erlaubnis des Gerichts und bevor ich meinerseits Indizienmaterial vorlege, möchte ich noch einmal Endicott Campbell ins Kreuzverhör nehmen.« »Wir erheben Einspruch«, fuhr Hamilton Burger auf. »Hier haben wir wieder den Lieblingstrick des Herrn Verteidigers: Er wartet, bis sämtliche Vernehmungen erfolgt sind, bis er die -1 7 6 -
Taktik der Anklage genau kennt - und dann ruft er irgendeinen Hauptbelastungszeugen zu weiterem Kreuzverhör.« »Trotzdem möchte ich es zulassen«, entschied Richter Eimer. »Wenn wir hier auch nur eine Vorverhandlung halten, so handelt es sich immerhin doch um eine Gerichtssitzung. Die Verteidigung kann nicht im voraus alle Punkte der Anklage kennen. Das Gesetz will, daß die Verteidigung jede Möglichkeit erhält, ihrerseits die Fakten zu deuten.« »Mit Erlaubnis des Gerichts«, rief Hamilton Burger, »die Fakten lassen überhaupt nur eine Erklärung zu, und ich habe den Eindruck, daß hinter Mr. Masons Wunsch nur die Absicht steht, irgendeine Unklarheit des Beweismaterials auszunutzen. Wir haben hier dargelegt, daß die rechtliche Situation eine Anklageerhebung verlangt. Wenn Mr. Mason Endicott Campbell als seinen eigenen Zeugen verhören will, kann er das gerne tun.« Richter Eimer schüttelte den Kopf. »Ich gestatte dem Herrn Verteidiger, Mr. Campbell zur Fortsetzung des Kreuzverhörs zurückzurufen. Gehen Sie in den Zeugenstand, Mr. Campbell. Sie haben den Eid bereits geleistet.« Mason begann: »Ich möchte Ihnen nur wenige Fragen stellen, Mr. Campbell. Sie erfuhren doch von der Beschuldigten, daß Ihr Sohn Carleton ihr einen Schuhkarton mit Hundertdollarscheinen übergeben hat. Das brachte sie Ihnen am Samstagabend zur Kenntnis. Trifft das zu?« »Sie brachte mir nichts zur Kenntnis«, sagte Campbell entrüstet. »Sie sagte zwar, daß mein Sohn das getan hätte, aber es war eine Lüge. Ich habe mich davon überzeugt. Ich habe die Angelegenheit untersucht und festgestellt, daß mein Sohn nichts Derartiges getan hat, sondern daß er einen Karton mit einem Paar Schuhe hatte. Ich weiß, daß mein Sohn Spielzeug oder Schätze, wie er es nennt, in einem Schuhkarton aufbewahrt, und ich erinnere mich, daß ich ihm lachend erlaubte, mit mir zu tauschen. Aber in meinem Besitz befand sich zu keiner Zeit ein Schuhkarton mit Geld.«
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»Immerhin fürchteten Sie, daß der Junge befragt werden könnte, denn Sie haben ihn verschwinden lassen, so daß die Polizei keine Möglichkeit hatte, ihn zu verhören, stimmt das?« »Ich habe nichts Derartiges getan!« brüllte Campbell. »Ich habe nur nicht zugelassen, daß Sie meinen Sohn hypnotisieren und eine Gehirnwäsche mit ihm anstellen, damit...« »Augenblick, Augenblick«, unterbrach Hamilton Burger. »Mr. Campbell hat es nicht nötig, irgendwelche Informationen zu geben, aber ich kann seine Entrüstung voll verstehen. Mit Erlaubnis des Gerichts stelle ich fest, daß dieses Kreuzverhör unzulässig und falsch geführt wird und auf Tatsachen abzielt, die unerheblich, unsachlich und nicht einschlägig sind.« »Ich würde sagen, die Fragen zielen auf den Grad von Glaubwürdigkeit ab, die dem Zeugen zugebilligt werden kann. Ich möchte gern wissen, was geschehen ist«, sagte Richter Eimers. »Es besteht kein Grund, weshalb der Zeuge die Frage nicht beantworten sollte. Und er scheint durchaus selbst seine Interessen vertreten zu können.« Hamilton Buger setzte sich. Campbell schnaubte: »Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich habe wahrhaftig keine Lust dazu, daß irgendein gerissener Anwalt aus meinem Sohn ein nervöses Wrack macht. Ich gebe gern zu, daß ich seine Erzieherin Elizabeth Dow angewiesen habe, mit ihm an einen Ort zu fahren, wo er nicht erreicht werden kann. Ich habe sie ferner angewiesen, dort so lange zu bleiben, bis ich ihre Rückkehr anordne.« »Aber wie können Sie ihr denn den Zeitpunkt für die Rückkehr angeben, wenn Sie selbst nicht genau wissen, wo sich die beiden aufhalten?« »Ich habe ihr gesagt, daß sie von Zeit zu Zeit anrufen soll.« »Keine weiteren Fragen«, sagte Mason. »Damit ist der Fall für uns geschlossen«, erklärte Hamilton Burger. »Ich möchte Elizabeth Dow noch einmal ins Kreuzverhör nehmen«, sagte Mason. -1 7 8 -
»Einspruch, Euer Gnaden. Der Verteidiger scheint jetzt nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen.« »Das scheint mir auc h so«, antwortete Richter Eimer. »Wenn Sie, Mr. Mason, allerdings darlegen können, was Sie mit dem Kreuzverhör bezwecken, wäre es vielleicht möglich, eine andere Entscheidung zu treffen.« »Ich möchte wissen, wo Endicott Campbells siebenjähriger Sohn seit Samstagabend versteckt gehalten wird.« »Ich sehe keinen Anlaß zu dieser Frage«, sagte Richter Eimer. »Sie könnte eine entscheidende Wendung in die ganze Sache bringen«, gab Mason zur Auskunft. Der Richter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Die Erlaubnis, Elizabeth Dow nochmals in den Zeugenstand zu rufen, wird nicht erteilt. Haben Sie von Seiten der Verteidigung etwas vorzulegen, Mr. Mason?« »Mit Erlaubnis des Gerichts«, sagte Mason, »bitte ich um eine Vertagung bis vier Uhr heute nachmittag. Zu diesem Zeitpunkt werde ich entweder entlastendes Material vorlegen oder auf eine Verteidigung in der Vorverhandlung verzichten und mit der Erhebung der Anklage einverstanden sein.« »Wozu wollen Sie diesen Aufschub, Mr. Mason?« fragte der Richter. »Als erfahrener Strafverteidiger sehen Sie zweifellos doch selbst die Bedeutung des Beweismaterials gegen die Beschuldigte und wissen, daß die Verteidigung überhaupt nichts Entlastendes vorbringen könnte. Die Voraussetzungen für die Erhebung einer Anklage sind mehr als reichlich vorhanden.« Hamilton Burger, der nicht gern eine Gelegenheit ausließ, erhob sich wieder. »Außerdem, mit Erlaubnis des Gerichts, habe ich den Verdacht, daß sogar zwei Morde begangen worden sind. Ich glaube, dieser Beschuldigten sollte man keine Nachsicht erweisen. Wir haben es mit der unerhörten Situation zu tun, daß ein junges Mädchen eine Vertrauensstellung mißbraucht, um ihre Firma zu schädigen. Überdies besaß sie die Stirn, sich bei der Hauptaktionärin einzuschmeicheln, um -1 7 9 -
ihre Unterschlagung zu vertuschen. Und als ihr das nicht gelang, schritt sie zu Mord. Von einem Mord, den sie begangen hat, wissen wir bereits, und das Gericht wird mir zugestehen, daß die Wahrscheinlichkeit für einen zweiten Mord spricht.« »Die Beschuldigte ist in Haft«, entgegnete Mason. »Sie kann keine weiteren Morde begehen, so lange sie im Gefängnis sitzt. Ich glaube, daß ich das Recht auf einen Aufschub von anderthalb Stunden habe, um eine Theorie zu bestätigen, die ich mir inzwischen gebildet habe. Ich behaupte, daß meine Theorie verschiedene Punkte klären wird, die noch geklärt werden müssen. Ferner gebe ich dem Gericht die Versicherung ab, daß ich Grund zu der Annahme habe, Beweismaterial von allergrößter Wichtigkeit in den nächsten anderthalb Stunden beschaffen zu können.« »Unter diesen Umständen und im Hinblick auf das berufliche Ansehen des Verteidigers ist das Gericht geneigt, diese Versicherung entgegenzunehmen«, entschied Richter Eimer. »Ich kenne das berufliche Ansehen des Verteidigers auch«, rief Hamilton Burger, »er hat den Ruf, mit Tricks zu arbeiten.« »Mit Scharfsinn«, korrigierte der Richter. »Scharfsinn, verbunden mit Redlichkeit. Es mag Zeiten geben, in denen sein Scharfsinn der Anklagebehörde lästig fällt, aber soweit dem Gericht bekannt ist, hat man noch nie die Redlichkeit des Herrn Verteidigers angezweifelt. Das Gericht wird dem Antrag stattgeben. Das Gericht vertagt sich auf vier Uhr. Die Beschuldigte bleibt in Haft.« Mason gab Della und Paul Drake ein Zeichen und ging mit schnellen Schritten auf Leutnant Tragg zu. »Leutnant Tragg, kann ich Sie in einer sehr dringenden Angelegenheit sprechen?« »Warum nicht?« sagte Tragg nach kurzem Zögern. »Hier entlang«, bat Mason und lief mit seiner Begleitung zum Fahrstuhl, den sie noch vor den ersten Zuschauern erreichten. »Bitte gleich ins Erdgeschoß«, sagte Mason zum Fahrstuhlführer. -1 8 0 -
»Aber Mason, nun warten Sie mal«, protestierte Tragg. »Ich stehe nicht auf seiten der Verteidigung, sondern...« »Wollen Sie oder wollen Sie nicht dem Recht zum Sieg verhelfen und die Bürger schützen?« fragte Mason. Tragg grinste. »Halten Sie bloß keine Reden. Ich bin auch für Mutterschaft und gegen die Sünde. Ich mache mit, Perry, aber ich warne Sie: Ich schaue Ihnen auf die Finger.« »Schauen Sie, wohin Sie wollen.« Auf dem Weg zum Parkplatz hetzte der langbeinige Mason so, daß Paul Drake Mühe hatte, sich neben ihm zu halten, und der kurzbeinige Leutnant Tragg und Della Street fast rennen mußten. »Haben Sie einen Streifenwagen hier?« Tragg nickte. »Lassen Sie uns den nehmen. Und fahren Sie mit Rotlicht und Sirene.« »Das darf ich nur im Notfall«, sagte Leutnant Tragg. »Und darum handelt es sich«, erwiderte Mason. »Sie können jetzt noch Beweismaterial retten, das aber bestimmt vernichtet ist, wenn wir zu spät kommen.« »Sie meinen Beweismaterial, das Ihre Klientin reinwäscht?« In Traggs Stimme klangen Zweifel mit. »Beweismaterial, das den Mörder ganz klar überführt, wer er auch sein mag«, gab Mason zurück. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Tragg. Ich habe Sie noch nie belogen.« Tragg sagte: »Okay, steigen Sie ein. Es ist unkorrekt, aber ich will’s tun.« Er ließ den Motor an und schaltete, sobald sie auf die Straße bogen, Rotlicht und Sirene ein. »Rentner Road Nummer 1536«, sagte Mason. »Wir müssen zum Apartment 348.« »Und was ist dort?« fragte Tragg. »Der Beweis«, antwortete Mason kurz
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Tragg sagte warnend: »Na ja, ich habe Ihnen den kleinen Finger gegeben, also nehmen Sie die ganze Hand. Aber ich sage Ihnen, die Sache muß in Ordnung gehen.« »Das wird sie.« Traggs Sirene sicherte ihnen freie Fahrt an den Kreuzungen. Da sich der Leutnant nun einmal entschieden hatte, bahnte er sich ebenso entschlossen wie geschickt den Weg. Als der Wagen einige Häuserblocks von den Tulane-Apartments entfernt war, bat Mason, die Sirene abzustellen. »Wir wollen niemand warnen.« Tragg fuhr lautlos vor dem Gebäude vor. Mason wartete kaum ab, bis der Wagen stand, sprang hinaus und lief ins Haus. Sie fuhren in den dritten Stock, für Masons Ungeduld viel zu langsam. Dann hetzten sie über den Gang bis zur Tür des Apartments 348. Mason klopfte. Nach einem Augenblick öffnete sich die Tür so weit, wie eine Sicherheitskette es zuließ. Eine Frauenstimme fragte: »Wer ist da?« Mason sagte: »Polizei. Leutnant Tragg von der Mordkommission. Wir möchten Sie verhören.« »Sie können nicht herein.« »Die Polizei verlangt es aber«, sagte Mason. »Haben Sie einen Haussuchungsbefehl?« fragte die Frau. »Nein«, antwortete Tragg, »und außerdem...« Mason trat ein paar Schritte zurück und warf sich plötzlich gegen die Tür. Die Sicherheitskette wurde aus dem Holz gerissen, die Tür flog auf. Mason schoß an der verdutzten Frau vorbei, lief durch das Wohnzimmer und riß die Tür zu einem Schlafzimmer auf. Auf dem Bett saß eine Frau, die sich schwankend und schläfrig am Messingpfosten festhielt. Als Mason mit Tragg das Zimmer betrat, sagte sie mühsam: »Sie sollen nicht... sie sollen nicht... sie sollen mir nichts mehr spritzen.« -1 8 2 -
»Wer ist das?« fragte Tragg. Mason sagte: »Das ist Amelia Corning, und wenn Sie sich beeilen, können Sie die andere Frau noch erwischen, ehe sie im Fahrstuhl ist. Wenn nicht, dann...« Tragg warf einen Blick auf die Frau auf dem Bett und schnellte herum. Er kam zu spät. Die Frau war schon durch den Korridor und hastete die Treppen hinunter - Tragg ihr nach. Mason setzte sich neben die Frau auf das Bett und fragte: »Können Sie sprechen, Miss Corning?« »Geben Sie mir Kaffee. Bin betäubt worden...« Della Street sagte: »Ich mache Kaffee. Es wird sich hier ja etwas finden. Kommen Sie, Paul.« Die Frau auf dem Bett schwankte, suchte nach Halt, rutschte schwer gegen Masons Schulter und fiel sofort in tiefen, unnatürlichen Schlaf. Nach zehn Minuten tauchte Leutnant Tragg wieder auf. Mason und Della Street stützten die Frau, während ihr Paul Drake eine Tasse Kaffee an den Mund hielt. »Ist sie entwischt?« fragte Mason. Traggs Mund war hart. »Sie ist nicht entwischt.« »Auf der Straße ist sie Ihnen aber entkommen?« »Auf der Straße ist sie mir entkommen - aber nicht der modernen Polizeitechnik. Ich bin in den Wagen gestiegen, habe über Funk Verstärkung angefordert und das ganze Viertel durchkämmt. Ich habe sie beschrieben, ihr Alter, Gewicht, Aussehen, ihre Größe, Kleidung...« »Und das alles wußten Sie nach dem einen kurzen Blick?« fragte Mason. »Natürlich. Für was halten Sie mich? Ich bin Polizist, aber nicht dumm. Die Frau hatten wir nach drei Minuten, und sie ist schon unterwegs zum Revier. Aber nun will ich von Ihnen wissen, was los ist und wonach ich sie fragen soll.«
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»Diese Frau ist die Kinderpflegerin Cindy Hastings. Sie hat sich als Miss Corning ausgegeben, mit Rollstuhl und blauer Brille. Sie war es, die Susan Fisher anrief und ihr auftrug, Regenmantel, Slacks und einen Männerhut mit heruntergebogener Krempe zu tragen, zu einem bestimmten Platz an der Mulholland Street zu fahren und einen Kanister Benzin von der Tankstelle zu holen.« »Und dann holte Susan Fisher sie am Hintereingang des Hotels ab?« fragte Leutnant Tragg. »Kein Gedanke«, antwortete Mason. »Cindy Hastings saß im Rollstuhl am hinteren Eingang. Elizabeth Dow, ganz genauso angezogen, wie die Hastings es Susan Fisher aufgetragen hatte, kam und nahm sie in den Wagen. Zufällig wurde das von einer Augenzeugin beobachtet - und Sie wissen selbst, wie unsicher die Beobachtungen von Augenzeugen sind, vor allem, wenn eine unbekannte Person identifiziert werden soll. Die Zeugin sah eine Frau in Regenmantel und mit Männerhut Einbildung und geschickte Suggestion durch die Polizei taten das übrige. Die beiden Frauen sind dann zum Treffen mit Lowry gefahren. Er fuhr ein Stück mit ihnen; dann waren sie soweit, den Mord auszuführen, den sie sorgfältig so geplant hatten, daß Susan Fisher keinen von ihrer Unschuld überzeugen konnte. Ich muß wenige Minuten nach der Tat gekommen sein.« »Dann war die richtige Miss Corning«, sagte Tragg, »die Frau, die...« »Die Frau, die schon am Sonnabend kam«, ergänzte Mason. »Wir hätten es wissen müssen, wenn wir besser überlegt hätten. Die Frau war sehr geschickt mit dem Rollstuhl. Sie tat all das, was die richtige Miss Corning getan hätte, und nichts, was eine Schwindlerin an ihrer Stelle getan hätte. Die beiden Frauen entführten sie, als sie nach Mojave fuhr, um die Mine zu inspizieren. Sie überfielen sie in Mojave, betäubten sie, brachten sie nach Los Angeles zurück, wo sie sie hier versteckten. Da sie wußten, daß Ken Lowry die Stimme der Frau identifizieren würde, die ihn telefonisch angewiesen hatte, Bargeld zu schicken, beschlossen sie, daß Ken Lowry -1 8 4 -
verschwinden mußte. Und wie hätten sie es besser einrichten können als so, daß Susan Fisher der Mord in die Schuhe geschoben werden mußte?« Die Frau auf dem Bett lächelte schläfrig. »Kann nicht gut sehen... aber...« Sie gähnte, ihr Kopf fiel vornüber, dann richtete sie sich auf und sagte: »Hab’ ein gutes Ohr für Stimmen... wer sind Sie... Sie sind tüchtig.« Mason sagte: »Jetzt kommt alles in Ordnung, Miss Corning. Ich bin Perry Mason und werde Ihnen helfen. Ich bin Anwalt.« Dann wandte er sich an Tragg. »Sie hatten vor, die angebliche Miss Corning so einzusetzen, daß die wirkliche als Schwindlerin erscheinen mußte. Aber dann telegrafierten die Schwester und der Agent Miss Cormings aus Südamerika, daß sie nach Los Angeles kämen, und das warf ihre Pläne um.« Die Frau auf dem Bett kämpfte gegen die Schläfrigkeit. »Ach, ist Sophia gekommen, ja?... Schmerzen im Nacken... ist so schrecklich besorgt, ich könnte einen Mitgiftjäger heiraten...« Sie gähnte wieder. »Wenn Sie mir nun noch die Sache mit dem Geld erklären, kann ich selber zwei und zwei zusammenzählen«, sagte Tragg. »Die Sache mit dem Geld ist mir selbst nicht ganz klar«, antwortete Mason. »Wahrscheinlich hatte Campbell einen Karton mit einem Paar Schuhe. Elizabeth Dow wird ihr Geld in einem Schuhkarton aufbewahrt haben. Campbell erlaubte seinem Sohn, mit ihm zu tauschen, und der Junge nahm versehentlich den Schuhkarton an sich, in dem Elizabeth Dow das Geld aufbewahrte, das sie von der Firma Corning ergaunert hatte. Davon wußte sie aber nichts, bis sie Campbell mit Susan Fisher telefonieren hörte - da begriff sie, daß Carleton ihren Karton erwischt hatte, statt seines Vaters ›Schatz‹.« »Und was geschah mit dem Geldkarton?« fragte Tragg. Amelia Corning gähnte wieder, versuchte etwas zu sagen, lächelte und sagte endlich: »Den hab’ ich... den finden sie nicht... bis ich wieder in Ordnung bin. Noch ein bißchen Kaffee?« -1 8 5 -
»Nun haben wir alles beisammen«, meinte Mason. »Elizabeth Dow hatte als Carletons Erzieherin so reichlich Gelegenheit, sich ein Bild von Campbells Arbeit zu machen, daß sie erkannte, welche Möglichkeiten sich für sie selbst ergaben. Sie rief also Ken Lowry an, erklärte, sie sei Miss Corning und spreche aus Südamerika; sie veranlaßte ihn zu einer Reihe von Dingen, die ein vernünftiger Geschäftsmann nie unternommen hätte. Aber Lowry, ein tüchtiger Ingenieur, aber sonst ein Naturbursche, war an Leute gewöhnt, bei denen das Wort noch etwas gilt; da er glaubte, es handelte sich nur um irgendeine Schwindelei beim Finanzamt, befolgte er die Anweisungen genau. Elizabeth Dow mietete sich ein Postschließfach unter dem Firmennamen Corning. Lowry war so loyal, daß er...« Hier unterbrach sich Mason nach einem Blick auf die Uhr. »Wir müssen der Dame mehr Kaffee besorgen, Leutnant. Danach wird sie einen Arzt brauchen, und wir brauchen Ihren Polizeiwagen, damit wir rechtzeitig im Gericht sind.«
14 Punkt vier Uhr, als Richter Eimer gerade ungeduldig werden wollte, hastete Mason auf seinen Platz. »Möchten Sie jetzt Ihr Beweismaterial vorbringen, Mr. Mason?« fragte der Richter. »Ja«, antwortete Mason. »Ich möchte noch einmal Frank Golden, dem Filialleiter der M-Autos, ein paar Fragen im Kreuzverhör stellen.« »Einspruch!« rief Hamilton Burger. »Nun fängt alles von vorn an. Wir...« »Dem Einspruch wird stattgegeben«, unterbrach Richter Eimer. »Wenn Sie von sich aus Beweismaterial vorlegen können, Mr. Mason, dann tun Sie es.« »Nun gut, dann werde ich Frank Golden als meinen Zeugen aufrufen, und wenn ich mich mit Erlaubnis des Gerichts davon überzeugt habe, daß sich mein anderer Zeuge von seiner -1 8 6 -
Betäubung erholt hat, will ich als zweiten Zeugen Amelia Corning aufrufen.« »Wen?« schrie Hamilton Burger. »Amelia Corning.« Mason lächelte. »Frank Golden, wollen Sie bitte in den Zeugenstand kommen? Den Eid haben Sie bereits gesprochen.« Golden nahm seinen Platz ein. »Sie haben der Beschuldigten am Samstagabend den Wagen vermietet. Sie brachte ihn zurück. Später habe ich ihn gemietet. Ist das Auto noch einmal gefahren worden, nachdem ihn die Beschuldigte zurückbrachte und bevor ich ihn mietete?« »Ich fürchte, ja«, antwortete Golden. »Ich war gerade beschäftigt, als die Beschuldigte ihn zurückbrachte. Ich habe nur den Kilometerstand notiert, den Wagen aber stehenlassen. Später, als ich mich nach dem Auto umsehen wollte, war es fort. Ich nahm an, daß es mein Mitarbeiter auf seinen Platz gebracht hätte, merkte aber später, daß dem nicht so war.« »Wie lange war das Auto fort?« »Etwa eine Stunde. Kurz, bevor Sie den Wagen nahmen, war er wiedergekommen, und der Kilometerstand zeigte, daß er ungefähr dreißig Meilen gefahren worden war.« »Und davon haben Sie nichts gesagt?«, fragte Mason. Der Zeuge platzte heraus: »Mich hat ja niemand danach gefragt! Und da ich keine Lust habe, wegen dieser Sache entlassen zu werden, habe ich bis jetzt den Mund gehalten.« »Danke«, sagte Mason. Della Street betrat den Gerichtssaal und übergab ihm einen Zettel. »Mit Erlaubnis des Gerichts«, sagte Mason, »der Arzt erklärt, daß Miss Corning nicht imstande ist auszusagen. Deshalb möchte ich Leutnant Tragg als meinen nächsten Zeugen verhören.« Tragg, der mit Hamilton Burger geflüstert hatte, machte Anstalten, in den Zeugenstand zu gehen, aber der Bezirksstaatsanwalt stand auf, tat einen tiefen Atemzug und begann: »Euer Gnaden, das ist nicht nötig. Ich möchte in -1 8 7 -
diesem Stadium die Einstellung des Verfahrens gegen Susan Fisher und ihre Haftentlassung beantragen.« Hamilton Burger setzte sich. Nach einem Augenblick verblüfften Schweigens begriffen die Journalisten, die nach der letzten Wendung der Dinge auf sensationelle Eröffnungen gefaßt waren, und starteten in wirrem Haufen aus dem Saal zu den Telefonen. Richter Eimer wartete ab, bis sich der Tumult gelegt hatte, lächelte zu Susan Fisher hinunter und sagte: »Der Antrag ist genehmigt. Die Beschuldigte ist außer Verfolgung gesetzt. Ich danke dem Vertreter der Anklagebehörde für seine Haltung.« Mason stand auf, ergriff seine Mappe, drehte sich um und war auch schon eingekreist von einem Ansturm weiblicher Begeisterung: Susan Fisher umarmte ihn und stammelte lachend und weinend: »Oh, Sie... Sie wunderbarer Mann!« Della Street, die ihr Platz gemacht hatte, lächelte: »Sie sprechen für uns alle.« »Aber ich kann Sie nie, niemals bezahlen«, sagte Susan Fisher unter Tränen. »Weiß der Himmel, wieviel Sie für mich ausgegeben haben.« »Nun machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, beruhigte sie Della Street. »Er hat so eine Ahnung. Er sagte doch, daß Miss Corning die Rechnung schon bezahlen würde.« Leutnant Tragg trat zu Mason. »Schön, Perry, Ihre Klientin ist reingewaschen. Jetzt gibt es keinen Anlaß mehr, mit irgend etwas zurückzuhalten. Woher wußten Sie Bescheid?« »Wenn ein erfahrener Anwalt einen Zeugen verhört, Leutnant, hat er einen ziemlich klaren Eindruck, ob er die Wahrheit spricht oder nicht. Als ich Endicott Campbell nach dem Geld im Schuhkarton und nach seinem Sohn fragte, merkte ich plötzlich, daß seine Antworten aufrichtig klangen. Ich hatte ihn zunächst als den Bösewicht in unserem Drama angesehen, weil er ein gerissener, anmaßender kleiner Mann ist, der ein großer Mann zu sein glaubt, wenn er seine Untergebenen einschüchtern kann. Aber er hat die Wahrheit gesagt, als es um diesen Schuhkarton mit Geld ging. Wenn er -1 8 8 -
aber die Wahrheit sprach, mußte Elizabeth Dow lügen. Und als mir das erst in den Sinn kam, sah ich die Tatsachen plötzlich in ganz anderem Zusammenhang. Es ist wie bei diesen optischen Täuschungen, bei denen man meint, daß man auf eine aufwärtsführende Treppe aus dunklen Stufen sieht, und plötzlich gibt es einen Ruck im Gehirn, und man sieht eine abwärtsführende Treppe mit weißen Stufen. Eine der beiden alten Frauen mußte eine Schwindlerin sein. Wir hatten immer angenommen, es wäre die erste - aber sie war gar so geschickt im Gebrauch des Rollstuhls. Sofort als ich erfuhr, sie hätte das Hotel verlassen, um eine Fahrt nach Mojave zu unternehmen, wußte ich, daß sie die richtige Miss Corning war. Die falsche Miss Corning hätte niemals nach Mojave fahren wollen. Als es mir dämmerte, daß Elizabeth Dow log und daß die richtige Amelia Corning verschwunden war, fiel mir plötzlich ein, daß wir auf die Spuren einer Freundin Elizabeths gestoßen waren, einer Kinderpflegerin, deren äußere Erscheinung sich ziemlich mit der von Amelia Corning deckte. Sobald mir diese Dinge klar waren, wußte ich alle Antworten. Lowry hatte mir gesagt, daß er die Frauenstimme wiedererkennen würde, die ihm über Telefon Anweisungen gegeben und auch den Empfang der Gelder bestätigt hatte. Dieser Frau war Lowry natürlich im Weg. Campbell sprach am Telefon mit Lowry, der ihm berichtete, daß er mir alles erzählt hatte. Das hörte Elizabeth Dow - jedenfalls hörte sie, was Campbell dazu sagte. Damit war ihr klar, daß sie Lowry sofort umbringen mußte. Und ebenso klar war ihr, daß sie Susan Fisher mit dem Mord belasten konnte. Jedermann sah Sue schon als Betrügerin, und der Mordverdacht konnte leicht auf sie gelenkt werden. Deshalb rief Elizabeth Dow sofort von einer Telefonzelle aus Lowry an und verlangte, daß er unverzüglich nach Los Angeles und von dort aus nach Hollywood kommen müßte, wo er sich mit ihr an einem genau bezeichneten Platz treffen sollte. Wenn sie noch nicht da wäre, sollte er auf sie warten. Dann heckten die beiden Frauen einen geradezu teuflischen Plan aus. Sie veranlaßten Susan, in auffallender Kleidung einen Wagen zu mieten, sich an der Tankstelle so zu benehmen, daß man sie dort später identifizieren würde, und dann den Wagen zurückzubringen. -1 8 9 -
Elizabeth Dow zog sich danach die gleiche auffallende Kleidung an und nahm ihre Freundin, die sich als Amelia Corning ausgegeben hatte, in den Wagen auf. Die falsche Amelia Corning mußte ja verschwinden, weil die Schwester der echten eintreffen wollte. Ihr Verschwinden durfte aber nicht wie eine Flucht aussehen, sondern mußte von vornherein so angelegt werden, daß man nachher, wenn man die Leiche der wirklichen Amelia Corning entdeckte, wiederum Susan Fisher für die Schuldige hielt. Sobald Sue den gemieteten Wagen zurückgebracht hatte, holten die Frauen ihn, trafen sich mit Lowry am verabredeten Platz und fuhren ihn dorthin, wo seine Leiche gefunden werden sollte. Bedenken Sie, daß Lowry ein gutwilliger Angestellter war. Er kannte von Elizabeth Dow nur die Stimme, die er für die Stimme seiner Arbeitgeberin hielt. Er tat also wie immer genau das, was die Stimme von ihm verlangte.« »Und wissen Sie, was sie verlangte?« wollte Tragg wissen. »Ich kann es nur raten - aber ich glaube, es stimmt.« »Und was war das?« »Nun, Lowry kannte nur die Stimme Elizabeth Dows, die er für die von Amelia Corning hielt. Er hat also auch die Frau, die er im Wagen traf, für seine Arbeitgeberin gehalten, die andere vermutlich für eine Freundin oder Mitarbeiterin, je nachdem, wie Elizabeth Dow sie vorgestellt hat. Sie hat wahrscheinlich behauptet, sie hätte sich entschlossen, ein paar Geschäftsbücher der. Firma zu verbrennen, wobei er als Zeuge anwesend sein sollte. Vielleicht hat sie erklärt, daß das Überweisungsmanöver ungesetzlich wäre und daß sie deshalb die entsprechenden Bücher vernichten müßte. Sie kann ihm auch gesagt haben, daß sie das Geld jetzt als Einkommen anmelden und versteuern wollte.« »Das ist nur eine Vermutung?« fragte Tragg. »Eine Vermutung«, bestätigte Mason. »Suchen Sie eine andere, wenn Ihnen diese nicht behagt. Versetzen Sie sich in Lowrys Lage. Er saß in einem Wagen mit der Frau, die er für die allmächtige Aktieninhaberin seiner Firma hielt und deren -1 9 0 -
Instruktionen er seit Monaten getreulich befolgte. Er hätte alles getan, was sie von ihm wollte.« »Welche von beiden hat ihn umgebracht?« erkundigte sich Tragg. Mason hob die Schultern. »Sie waren beide beteiligt, also macht es kaum Unterschied. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Elizabeth Dow, die den tödlichen Stich mit dem Brieföffner führte - - obwohl ich vermute, daß sie sich gegenseitig beschuldigen werden. Jede wird behaupten, sie selbst sei durch den Mord überrascht worden. Immerhin hatte Elizabeth Dow am meisten zu verlieren, weil er sie an der Stimme erkannte. Sie ist außerdem stärker.« Tragg zog die Augen zusammen. »Wenn das alles stimmt und Sie die Mörderinnen bei ihrem Werk gestört haben weshalb haben die beiden dann nicht einfach ein brennendes Zündholz ins Benzin geworfen und das Beweismaterial verbrannt?« »Sie wollten es ja nicht verbrennen«, antwortete Mason. »Es sollte nur so aussehen, als ob jemand belastende Dinge verbrennen wollte; sie wollten, daß der Kanister Benzin, den Sue von der Tankstelle geholt hatte, mit dem Benzin in Verbindung gebracht wurde, das die Leiche und die Geschäftsbücher durchtränkte. Die ganze Sache konnte überhaupt nur von jemand geplant werden, der wußte, daß man bei diesem Autoverleih zwar den Kilometerstand festhielt, aber den Wagen am Parkplatz mit Zündschlüssel stehenließ. Und den Plan konnte nur jemand ausdenken, der mit Elizabeth Dow eng befreundet war. Es ist wie immer bei den optischen Täuschungen - wenn man sie erst in ihren richtigen Proportionen erkennt, kann man...« Della Street kam rasch heran und suchte Masons Blick. Der Anwalt unterbrach sich mitten im Satz, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Amelia Corning geht es viel, viel besser«, berichtete Della Street. »Der Arzt hat ihr ein Anregungsmittel gegeben, das sie wieder ganz zu sich gebracht hat. Ihr Kopf ist klar, ihr Geist
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arbeitet messerscharf. Sie fragt nach Ihnen und ist Ihnen sehr, sehr dankbar.« Tragg gönnte Mason ein halbes Lächeln, dann fragte er: »Und nun, Herr Verteidiger, erzählen Sie mir eines: Wie ist es Ihnen gelungen, dieses Auto mit Fingerabdrücken zu übersäen?« »Das«, lachte Mason, »ist ein Berufsgeheimnis. Wenn Lowrys Fingerabdruck nicht im Wagen gewesen wäre, hätte ich Ihnen eine Menge zum Nachdenken gegeben. Und nun entschuldigen Sie uns, wir wollen Amelia Corning besuchen. Ich habe so den Eindruck, daß ich den Boden für ein sehr beachtliches Honorar vorbereitet habe.«
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