Band 28
DIE EISIGE SPHÄRE von Rainer Castor
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Band 28
DIE EISIGE SPHÄRE von Rainer Castor
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabcl-Moewig Verlag KG, Rastatt www.moewig.de Bearbeitung: Rainer Castor Redaktion: Sabine Kropp/Klaus N. Frick Titelillustration: Arndt Drechsler Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany 2006 www.perry-rhodan.net www.atlan.de ISBN10:3-8118-1527-X ISBN 13: 9-783-8118-1527-8
1. Aus: Die privaten Gedanken des Forschers Vruumys während seiner Reise durch den bekannten Leerraum, Sternenschiff-Logbuch … sind mit dem Planeten Somor viele Rätsel und Geheimnisse verbunden, die deutlich über das direkt Offensichtliche hinausgehen. Einst eine blühende Welt, ein Treffpunkt für viele Völker des bekannten Leerraums, sind bereits die Umstände der Katastrophe, von der sie heimgesucht wurde, mit vielen Fragen verbunden. Es heißt, sie sei von einem »kosmischen Sturm« eingehüllt worden, dessen Ausläufer Somor bis in die Gegenwart im Griff halten und einen Teil der Nordhemisphäre vom Sonnen- und Sternenlicht abschneiden. Dass es diese Strahlungswolken gibt, ist eine Tatsache – sogar für mich ist es gefährlich, sie zu durchdringen, um auf dem Planeten zu landen; völlig unklar ist dagegen, um was genau es sich handelt, warum sich dieses Phänomen so lange hält und – vielleicht noch wichtiger! – ob es eine natürliche oder künstliche Ursache hatte. Vielen Bewohnern der Welt gelang vor der Katastrophe die Flucht, andere blieben zurück und degenerierten in einem zum Teil erschreckenden Maß. Auf diese Weise geriet nicht nur die Legende von den Unsterblichen in Vergessenheit, sondern auch die Städte, die tejonthischen Forschungsstationen und was es damals sonst alles auf Somor gab. Dass es überhaupt eine Flucht gab, zeigt wiederum, dass es vorab Warnzeichen gegeben haben muss, eine auf einen Höhepunkt zusteuernde Entwicklung. Doch genau dazu gibt es nur vage Berichte. Nicht einmal der exakte Zeitpunkt ließ sich rekonstruieren, sondern nur auf den Zeitraum vor »etwa zehn Generationen« eingrenzen – wobei ein Somorjahr im Sinne eines »wiederkehrenden Zyklus« 450 planetare Tage beansprucht, während 35 solcher Zyklen oder Jahre als »eine Generation« angesehen werden. Auffällig hierbei ist allerdings, dass diese rund 350 Somorjahre mit der Zeit des letzten Kreuzzugs nach Yarden korrelieren, einem ebenfalls zyklischen Ereignis, dessen regelmäßige
Wiederkehr bis in die kaum noch bekannte Vorzeit zurückreicht und bei dem jeweils mindestens zehntausend tejonthische Großraumer teilnehmen. Damit nicht genug: Es gibt für mich keinen Zweifel daran, dass Somor einst zu dem Netzwerk der rätselhaften Gefühlsbasen gehört haben muss, errichtet in fernster Vergangenheit von den geheimnisvollen Leerraumkontrolleuren. Mir ist bewusst, dass ich damit ein heikles Thema anschneide: Gefühlsbasen wie auch die Tropoyther betreffen Dinge, denen man sich nicht mit zu viel Neugier zuwenden darf; jeder Versuch, daran zu rühren, hat schreckliche Folgen. Möglicherweise sogar solche wie die Katastrophe, die Somor heimgesucht hat. Letzteres ist zwar nur meine persönliche Vermutung, doch ich glaube inzwischen ausreichend Indizien entdeckt zu haben, um sie als gesichert ansehen zu können. Im Normalfall ist von den Gefühlsbasen nichts zu bemerken; häufig ist nicht einmal bekannt, ob ein Planet, Mond oder Planetoid der Standort einer solchen ist oder nicht. Nur in wenigen Ausnahmefällen sowie im Verlauf des Kreuzzugs nach Yarden offenbart sich ihre Existenz, dann zeigt sich auch die Macht der Leerraumkontrolleure. Eine dieser Ausnahmen war Somor – und irgendwann hatten Raumfahrer verschiedener Völker beim Gefühlsbasen-Standort am östlichen Fuß der Blauen Berge damit begonnen, sie freizulegen. Noch heute zeugt der riesige Krater von den Bemühungen, zu ihr vor- und in sie einzudringen. Ich weiß nicht, ob es deshalb eine Abwehrreaktion gab, eine Fehlfunktion odereinen Unfall, abergenau in jener Zeit kam es zur Katastrophe, die das alte Somor auslöschte. Es bleibt leider unklar, was Ursache und was Wirkung war – es ist durchaus möglich, dass der schon erwähnte »kosmische Sturm« die Gefühlsbasis »beeinträchtigte«, sie könnte diesen allerdings auch erzeugt haben und wäre demnach für die Katastrophe verantwortlich. Wie auch immer – seither ist dieser Planet einer derjenigen, die gemieden werden. Und das, obwohl oder gerade weil
sich hier ohne jeden Zweifel der Schlüssel zum ewigen Leben befindet …
Somor: Im Jahr des Kreuzzugs nach Yarden Huitz-Karamant senkte den leuchtenden Stab. Der Fetisch glühte kurz auf, das Gerippe eines Geopferten zerfiel zu Staub. Aus der Tiefe des nahen Kraters stiegen schweflige Dämpfe. Ein dumpfes Grollen erschütterte die Hänge in unregelmäßigen Abständen. Es klang wie das Klopfen einer Schar Berggeister, die ein gefangenes Bergriolett zur Arbeit antrieben. Ein Blitz tauchte den Krater kurz in gleißendes Licht, das zu einem goldenen Schimmern abdunkelte. Die Schar der andächtig versammelten Bergbewohner brach in einen Entsetzensschrei aus. Einige Aramacs warfen sich auf den Boden, trommelten mit den Fäusten auf die Felsen, um so das Klopfen aus der Tiefe zu übertönen. Sie hatten erbärmliche Angst. Einige gerieten in Ekstase. Die schwefligen Dämpfe trieben zwischen ihnen und wirkten betäubend auf diejenigen, die sie einatmeten. Es sah erschreckend aus, wie sich die blauhäutigen Männer am Boden wälzten. In wenigen Augenblicken waren sie über und über mit Staub bedeckt. »Wir verehren dich, mächtiger Huitz-Karamant. Du bist unser Schutzherr. Du bewahrst uns vor den Dämonen der Tiefe und bescherst uns ein Leben in Freiheit und Gesundheit.« Über den spitzgiebeligen Türmen des Tempels stand die Sonne, deren Strahlen wie Flammenspeere durch die Schwefelwolken drangen. Ab und zu kreischte ein schwarzer Vogel. Von den Dämpfen betäubt, stürzte eine flatternde Vogelschar in den Krater. Huitz-Karamant hob seinen strahlenden Fetisch erneut und streckte ihn weit von sich. Seine eindrucksvolle Gestalt war mit bunten Vogelfedern
geschmückt. Auf dem Kopf trug er eine goldene Krone, die aus dem Schädel eines Geopferten gefertigt war; glitzernde Bergkristalle verzierten das Würdezeichen des Hohepriesters. »Die Auserwählte soll die Wut der Dämonen besänftigen. Wir opfern sie im Glauben an die Allmacht des Blutes. Nur so werden unsere Hütten verschont bleiben. Blut für Blut und Leben für Leben!« Andächtig murmelnd wiederholte die Menge die Worte des Priesters. Zwei stämmige Krieger führten eine nackte Frau heran. Nur eine Kette aus Tierzähnen bedeckte ihre Brust, ein Tuchstreifen ihre Scham. Die Unglückliche hielt den Kopf gesenkt. Die Gehilfen des Priesters hatten ihr die Augenlider, die Nasenflügel und die Wangenknochen mit weißer Farbe eingerieben. Obgleich sie vor Angst schwitzte, war die Farbe auf der Haut geblieben. Die junge Frau wusste genau, dass sie sterben würde. Während der kultische Singsang lauter wurde, wiegten sich lange Reihen von Bergbewohnern im Takt der Trommeln. »Bringt sie zum Altar der Dämonen.« Die Krieger schoben die teilnahmslos wirkende Frau weiter, auf die zehn Altäre mit Opfermulden zu, die aus dem gleichen Material wie die Tempeltürme bestanden. Auf ihren Seitenflächen befanden sich Bildreliefs, der Stein war dunkelblau, fast schwarz. Aus der Ferne betrachtet, wirkte er wie moosüberzogener Basalt. »Legt sie in die Höhlung des Todes.« Die Krieger packten die junge Frau grob an den Armen, wollten sie in die knietiefe Mulde legen, doch als sie die Blutrinne erblickte, deren Abfluss dunkelrot verkrustet war, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Die Krieger verharrten unschlüssig. In die Reihen der andächtig niederknienden Bergbewohner kam Unruhe. Ein Opfer durfte sich nicht wehren, das verstieß gegen die heiligen Regeln von HuitzKaramant. Der Zorn der Dämonen durfte nicht unnötig
herausgefordert werden. Ein junger Bursche sprang auf und zitterte vor Erregung, als er einen spitzen Dolch aus seinem Lederschurz zog. »Papan«, kam es aus dem Mund des Opfers. »Du darfst nicht sterben, Ilistrik!« Der Priester verließ die breite Stufe vor dem Opferaltar, seine Augen flammten zornig auf. Er deutete mit dem strahlenden Fetisch auf den jungen Mann. »Unseliger! Wie kannst du es wagen, den heiligen Ritus zu stören. Knie nieder, sonst trifft dich mein Barmstrahl.« Papan zitterte am ganzen Leib. Noch vor wenigen Augenblicken wäre ihm jeglicher Widerstand gegen das heilige Reglement des Opferzeremoniells absurd erschienen. Aber er liebte Ilistrik, wollte sie nicht verlieren. »Ihr … ihr dürft sie nicht opfern. Ich flehe euch an.« Die beiden Krieger hielten Ilistrik im eisernen Griff ihrer Fäuste. Ihre blauen Brustkörbe hoben und senkten sich wie Blasebälge. Huitz-Karamant machte eine eindeutige Bewegung. »Ich will ihr Blut in die Tiefen der Dämonenzitadelle rinnen sehen. Opfert sie!« Der Priester hielt den Jungen anscheinend für so verängstigt, dass er ihm keine weitere Beachtung schenkte. Das war sein Fehler. Papan sprang zwischen den Andächtigen durch, stieß alle beiseite, die ihn festhalten wollten. Ein ekstatisch Tanzender versperrte Papan den Weg, der mit dem Dolch zustieß. Der Mann brach zusammen, zwischen seinen verkrampften Händen quoll ein dunkler Blutstrom hervor. Papan war über sich selbst entsetzt, hätte es nie für möglich gehalten, dass er gegen ein Mitglied seines Volkes die Waffe erheben würde. Er wusste, dass ihn die Dämonen dafür schwer bestrafen würden, aber er konnte nicht mehr zurück. »Opfert sie!« Der Schrei des Priesters ging in der Raserei der Menge unter. Die Arme der Aramacs reckten sich in die Luft.
Es war ein einziges Chaos, die Gesänge und Schreie der Dämonenanhänger wurden vom Pochen aus der Tiefe des Kraters überlagert. »Opfert sie!« Jetzt hatte Papan die Krieger erreicht, einer ließ Ilistrik los. Seine Rechte zuckte zum Schwert, das er im Gürtel seines Lederschurzes trug. Die beiden Kontrahenten umschlichen sich wie Raubkatzen. »Schaff sie auf den Opferblock!« Huitz-Karamants Stimme schrillte. Der Priester war außer sich vor Zorn. Das Mädchen musste sterben. Papan war nicht kampferprobt, hatte sich bisher noch nie im Ringen Mann gegen Mann bewähren müssen. Trotzdem hatte er so manche Nacht damit verbracht, die schlanken Fleischziegen in der Ebene zu jagen. Das war ziemlich gefährlich, denn die Tiere hatten lange, gekrümmte Hörner, mit denen sie einen Aramac ohne weiteres aufspießen konnten. Papan versuchte sich vorzustellen, dass der vor ihm stehende Krieger nichts weiter als eine Fleischziege war, die ihn bedrohte. Bevor der Mann mit dem Schwert zuschlagen konnte, hatte Papan ihn unterlaufen und mit dem Dolch zu Boden gestreckt. »Ilistrik!« Papan riss den anderen Krieger an der Schulter herum, wollte wieder zustechen, doch dieser Gegner war gewarnt. Papan taumelte stöhnend zurück, als ihn ein Tritt in den Unterleib traf, und fiel. Ilistrik hatte dem Kampf bis jetzt zitternd zugesehen. Als sie merkte, dass der Hohepriester den leuchtenden Fetisch auf sie richtete, stürzte sie entsetzt davon. »Papan … er will uns töten.« Papan rollte sich am Boden ab. Der Schwerthieb des Kriegers ging fehl. Ilistrik stand jetzt neben ihrem Geliebten. »Wir werden zusammen sterben.« »Nein … niemals.« Papan sprang mit der Schnelligkeit eines Bergrioletts auf und versetzte dem Krieger einen gewaltigen Fausthieb. Den Dolch hatte er längst verloren. Bevor der
Gegner den Schlag kontern konnte, war Papan über ihm, drückte den schwertführenden Arm weit zurück und ruckte mit dem Knie hoch. Er traf den Krieger so kräftig in den Unterleib, dass er sich selbst dabei wehtat, während der Krieger haltlos zurücktaumelte. »Die Dämonen werden euch grausam zu Tode quälen!«, schrie der Hohepriester, konnte aber nicht verhindern, dass der halb betäubte Krieger genau in den flammenden Fetisch taumelte. Plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch. Der Krieger blieb ruckhaft stehen und sank langsam zu Boden. Noch bevor er aufprallte, verwandelte sich seine blaue Haut in eine pulverige Masse. Durch die erregte Menge ging ein Aufstöhnen. Das Pochen tief im Boden wurde heftiger, schweflige Dämpfe reizten viele zum Husten, Goldlicht brach aus dem Krater. »Haltet sie!« Der Schrei des Hohepriesters wurde von einem Heulen beantwortet. Es kam aus der Tiefe des Kraters und brach sich an den düsteren Wänden. Papan hatte Ilistriks rechte Hand ergriffen, nebeneinander liefen sie auf die Tempeltürme zu. In der Ebene hätten sie sich nirgendwo verbergen können, nur in den Höhlen gab es unzählige Verstecke, die nicht einmal der Priester kannte.
Von den Wänden tropfte schleimiges Wasser. In der Dunkelheit leuchteten Ilistriks Opferfarben in einem phosphoreszierenden Gelb. »Wann kommen wir wieder ans Tageslicht?« »Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Ich dachte, wir würden in einer Kuppel im Krater herauskommen. Aber ich fürchte, wir haben uns verirrt.« Sie weinte, war schwach. Die Ereignisse waren zu viel für sie gewesen. Sie hatte sich fast schon damit abgefunden, sterben
zu müssen, doch dann war ihr Lebenswille noch einmal erwacht. Sie liebte Papan, aber ihre Liebe war von Anfang an verdammt gewesen, dessen war sie sich jetzt ganz sicher. »Gib mir deine Hand.« Er half ihr über einen morschen Holzsteg. Vor ihnen teilte sich der Gang. Die Wände gehörten zum Fundament des Tempels. Immer wieder tauchten Reliefs mit Fabelwesen oder Bergrioletts auf. Plötzlich blieb Ilistrik stehen und deutete auf ein leuchtendes Bild an der Gangkrümmung. »Das Bild des Dämons.« Papan war ebenfalls stehen geblieben, ihre Angst übertrug sich auch auf ihn. Die Dämonenfurcht war in beiden gleichermaßen tief verwurzelt. Dass er während des Opferzeremoniells darüber hinweggegangen war, erklärte sich nur aus seiner tiefen Zuneigung zu Ilistrik. Aus mehreren Deckenöffnungen drang schwachgoldener Lichtschimmer in den Gang. Aus den Nischen und Wandrissen kam das Klopfen, lauter als das Klopfen ihrer Herzen. »Wir schließen die Augen, dann kann uns der Dämon nicht bannen.« Ilistrik schüttelte den Kopf. »Nein, Papan. Ich gehe nicht an dem Bild vorbei. Du weißt, dass schon mancher Aramac in Stein verwandelt wurde. Die Dämonen in der Tiefe gebieten über gewaltige Kräfte.« Sie war nicht dazu zu bewegen, an dem Bild des Dämons vorbeizugehen – eine rechteckige Glanzschicht, die das Brustbild eines kahl geschorenen Wesens zeigte. Der Dämon hatte drei Augen, die wie glühende Kohlen glommen. Statt einer Nase waren nur zwei Schlitze zu erkennen, die über einem halbmondförmigen Maul saßen. Papan wandte sich ab und wollte sich gerade umdrehen, als er auf den Fackelschein aufmerksam wurde. »Die Krieger!« »Dann sind wir verloren. Es ist gleichgültig, ob wir in ihre Hände fallen oder vom Dämon in Stein verwandelt werden.« Er wollte sich den Kriegern des Hohepriesters nicht ergeben.
»Nein! Solange wir noch fliehen können, lass uns davonlaufen. Es wäre töricht, würden wir jetzt aufgeben. Ich habe dich nicht umsonst aus der Gewalt des großen Huitz-Karamant befreit.« Sie sahen sich gehetzt um. Hinter ihnen kamen die Krieger, waren noch weit genug entfernt. Vor ihnen glühte das Bild des Dämons. »Vielleicht können wir zu den Lichtöffnungen hinaufklettern.« Papan sprang über ein schleimiges Rinnsal und kletterte geschickt an den vorstehenden Reliefs hoch, nutzte jede Öffnung und jedes vorstehende Felsstück aus, um an der feuchten Wand hochzukommen. Wenig später drehte er sich um. »Komm. Hier oben ist eine Öffnung, durch die wir kriechen können.« Dumpfe Stimmen wurden lauter. »Sie werden uns sehen, wenn du dich nicht beeilst.« Ilistrik rutschte immer wieder von den feuchten Reliefausbuchtungen ab. »Ich … ich schaffe es nicht.« Ein Schrei ließ sie erstarren. Die Krieger hatten sie entdeckt; das Licht der Fackeln kam rasch näher, Schwerter klirrten. Ein Mann rutschte auf dem glitschigen Boden aus, ein anderer stolperte über ihn. Flüche wurden laut. Papan umklammerte Ilistriks rechtes Handgelenk, mit der Linken hielt er sich an einem Wandriss fest. Seine Finger stießen in die scharfkantige Höhlung vor und krümmten sich. »Du musst mir helfen. Du darfst nicht aufgeben.« Keuchend zog er sie hoch, dann mussten sie für ein paar Atemzüge verschnaufen. Inzwischen waren die Krieger herangekommen, einer schleuderte sein Schwert. Papan duckte sich, so dass die Waffe über ihn hinweggeschleudert wurde und durch die Deckenöffnung fiel. »Weiter, Ilistrik.« Er schob seine Begleiterin durch die Öffnung. »Lass dich auf der anderen Seite runterfallen. Es geht nur eine Mannslänge abwärts.« Zwei Krieger kletterten jetzt ebenfalls an der Wand hoch, einer hatte sein Schwert zwischen die Zähne geklemmt. Er war
fast oben, als Papan nach ihm trat. Der Krieger wich aus und klammerte sich an dem Fuß fest. »Im Namen des großen Huitz-Karamant, gib auf! Wir erwischen dich doch, elender Frevler!« Papan verlagerte kurz das Gewicht von seinem freien Fuß auf die Hand des Kriegers. Dann zog er das andere Bein kraftvoll hoch, winkelte das Knie an und trat schwungvoll zu. Der Krieger ließ ihn sofort los, als er den Halt verlor. Bevor der andere mit dem Schwert zuschlagen konnte, war Papan in der Deckenöffnung verschwunden, sprang einfach hinein und landete neben Ilistrik. Die Krieger stießen Verwünschungen aus, in ihren harten Gesichtern stand grenzenlose Wut. Sie wollten an der Wand hochklettern, um die Flüchtenden zu verfolgen, als die Stimme des Hohepriesters ertönte. Im Schein der Fackeln tauchte die hochgewachsene Gestalt von Huitz-Karamant auf, hielt wie üblich den leuchtenden Fetisch. »Sie werden ihrem gerechten Schicksal nicht entgehen, rennen in ihr Verderben. Hinter dieser Wand beginnt das Reich der Seelenlosen.« Das Fluchen der Krieger verstummte, in den Augen der harten Männer machte sich blankes Entsetzen breit. Die Seelenlosen waren fast genauso schlimm wie die Dämonen, die sie in jenen bedauernswerten Zustand versetzt hatten. Mindestens einmal in jedem Aramac-Alter suchten die Seelenlosen das Bergdorf heim. Solange sich die Krieger erinnern konnten, war das aber noch nicht geschehen. Vielleicht würde ihre Generation davon verschont bleiben, wenn Papan und Ilistrik in die Arme der Seelenlosen liefen.
Ein wuchtiges Eisentor, auf dessen Oberfläche kunstvolle Bilder eingeätzt waren, versperrte den Flüchtenden den Weg. Eine Seite war mit einem Riegel verschlossen, die andere
vergrößerte sich zu einem schenkeldicken Drehscharnier, das vom Boden bis zur Decke reichte. »Die Bilder stellen den Tod dar«, flüsterte Papan. »Es sind die Seelenlosen, von denen die Tempeldiener und Priester berichten. Siehst du die verkrüppelten Gestalten? Genau so hat der große Huitz-Karamant die Unheimlichen beschrieben.« Er rief sich die Berichte über die Seelenlosen ins Gedächtnis. Als kleiner Junge hatte er ihnen fasziniert gelauscht, eine ihrer Attacken jedoch nie persönlich erlebt. Soweit er informiert war, lag die letzte Heimsuchung hundert Jahre zurück. Die Tempeldiener schockierten die Aramacs dennoch weiterhin mit den Schilderungen über das Grauen aus der Tiefe und sicherten die Macht der Priester. In den Geschichten war stets die Rede von schrecklichen Grausamkeiten gewesen, von Beben, Gesteinslawinen und Feuerzungen, welche die Hütten der Aramacs vernichteten, von Entführungen durch die Seelenlosen und entsetzlichen Marterungen. Papan erinnerte sich auch an verstümmelte Körper, die am Kraterrand gefunden worden waren. Existierten die Seelenlosen tatsächlich? Oder war das alles nur Gerede? Papan schauderte, als er daran dachte, dass sie in wenigen Augenblicken diesen Wesen gegenüberstehen konnten. Er war aber auch realistisch genug, um sich ihre Chancen ausrechnen zu können, wenn sie stattdessen zurückliefen. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als durch das Tor zu fliehen.« »Willst du das wirklich wagen?«, fragte Ilistrik schüchtern. Er nickte langsam. »Hilf mir, den Riegel zu lösen.« Ilistrik stemmte sich dagegen. Gemeinsam wuchteten sie das schwere Ding hoch, klappten es aus der Halterung und ließen es einfach fallen. Das Tor ächzte in den Angeln, ließ sich nur mit großer Mühe öffnen. Schließlich hatten sie es so weit
aufgestoßen, dass sie in den dahinter liegenden Raum eindringen konnten. Die Luft war stickig und abgestanden, es roch nach Verwesung und Schimmel. Irgendwo tropfte Wasser von der Decke. Ringsum herrschte düsteres Halbdunkel, das unter der Decke durch eine indirekte Lichtquelle erzeugt wurde. »Eine Treppe.« Papan deutete auf die breiten Stufen, die in den Fels geschlagen worden waren. Der Boden war mit einer glitschigen Pilzschicht überzogen. Sogar die breiten Stufen, die in eine düstere Höhlung hinabführten, trugen diesen Teppich aus Fäulnis und Vergänglichkeit. Vereinzelt gab es an den Wänden halbkugelige Leuchtkörper, die matten Dämmer erzeugten. »Ich habe Angst. Lass uns das Tor wieder schließen. Ich will dort nicht hinuntergehen. Bitte, hör auf mich.« »Ich gönne dem Priester nicht die Genugtuung, dass wir uns freiwillig in die Hände seiner Schergen begeben.« Für Augenblicke unterbrach das Pochen aus der Tiefe ihr Gespräch. »Hörst du die Dämonen? Sie sind böse. Sie verlangen, dass ich mich opfern lasse.« »Unsinn! Wir gehen jetzt die Stufen hinunter; du wirst sehen, dass uns nichts geschieht.« Sie ließ sich wie ein störrisches Kind zu den pilzüberwucherten Stufen zerren, ihr Atem ging hektisch. »Du läufst den Seelenlosen in die Arme.« Er antwortete nicht, sondern zog sie von Stufe zu Stufe tiefer, hatte es längst aufgegeben, sie zu zählen, als er eine Plattform erreichte. Hier unten war es düsterer als in den oberen Räumen. Der abscheuliche Verwesungsgestank war atemberaubend, schlimmer als die Dämpfe am Kraterrand. Schwarze Nischen und Wandvorsprünge begrenzten die Plattform. Ilistrik würgte unterdrückt. »Du glaubst doch selbst nicht, dass hier irgendetwas
Lebendiges anzutreffen ist«, versuchte Papan die zitternde Geliebte zu beruhigen. »Bei den Dämonen im Krater ist das etwas ganz anderes. Dort glüht das goldene Licht und lockt die toten Seelen an wie das Feuer die Insekten. Nein, in der Dunkelheit ist niemand.« »Aber … aber woher stammt dieser schreckliche Gestank?« Er zog die Stirn kraus. »Woher soll ich das wissen? Verfaulende Pilze, schlechtes Wasser und altes Holz. Vielleicht auch ein paar tote Aramacs, die sich hier unten verirrt haben.« Sein Blick glitt über die schwarzen Nischen, die in regelmäßigen Abständen in der Wand gähnten. Einige waren völlig mit Pilzen überwuchert, andere wie gierige Mäuler aufgerissen. Plötzlich blieb Papan wie angewurzelt stehen. In einer Wandhöhlung waren zwei glühende, dicht nebeneinander stehende Punkte aufgetaucht. Sie erloschen wie unter einem Lidschlag und tauchten erneut auf. Diesmal etwas weiter vorn. Ilistrik kreischte panikerfüllt auf: »Die Seelenlosen!«
Das Wesen ließ sich aus der Höhlung fallen, landete auf allen vieren und richtete sich ruckhaft auf. Seine Haut war blassblau, fast weiß, darunter zeichneten sich schwarze Adern ab. Die Gliedmaßen schlotterten wie fleischlose Knochen um den hageren Leib, der mehr aus Knochen und Sehnen als aus Muskeln bestand. Das Schlimmste waren die leuchtenden Augen. Papan hatte das Gefühl, eine eisige Hand würde nach seinem Herzen greifen, spürte lähmende Angst, die sich plötzlich in seinen Gliedern festsetzte. Er wollte sich dagegen wehren, doch das lähmende Gefühl wurde eher noch stärker, er kam sich völlig schutzlos vor. Das Schlimme daran war, dass er Ilistrik nicht mehr beschützen konnte. »Der Opfertod … wäre gnädiger gewesen«, stammelte sie.
Die Unheimlichen kamen lautlos auf sie zu. Die leuchtenden Augen, die tief in den Höhlen der glatten, haarlosen Schädel saßen, starrten sie unablässig an. Papan hatte Ilistrik ganz fest an sich gepresst. Ohne dass es ihnen bewusst geworden wäre, wichen sie Schritt für Schritt zurück. Eben kroch ein Weißhäutiger aus einer Wandnische zu ihrer Linken. Sein Hals war ein riesengroßer Kropf, dessen runzelige Haut dunkel geädert war; in den Händen hielt er einen Stein, dessen goldenes Leuchten und Glimmen den gesamten Raum erfüllte. »Das flammenlose Feuer aus dem Dämonenloch! Der Seelenlose hat dieselbe Kraft wie Huitz-Karamant.« Papan dachte an den strahlenden Fetisch, mit dem Huitz-Karamant jeden Aramac auf der Stelle töten konnte. Über den Ursprung des Fetischs wurde nur getuschelt: Die einen behaupteten, er sei dem Hohepriester von den Göttern verliehen worden, die anderen hielten ihn für eine Gabe der Dämonen. Fest stand, dass tief unten im Kraterschlund eine ähnlich golden leuchtende Masse pulsierte. Es hieß zwar, dass das fast immerwährende Pochen und Krachen von den Dämonen stammte, aber vielleicht ging es auch von der Leuchtmasse aus. Jetzt rissen die Seelenlosen ihre hässlichen Münder auf. Es klang wie das Zischen unzähliger Schlangen. Die Klauen reckten sich vor, als wollten sie den Lebendigen schon vorher durch Zeichen verdeutlichen, was sie erwartete. »Ich halte das nicht mehr aus, Papan.« »Wir versuchen, wieder nach draußen zu kommen!«, schrie der junge Mann und versetzte seiner Begleiterin einen heftigen Stoß. Sie erkannte die Chance augenblicklich, rannte blitzschnell an dem zupackenden Gegner vorbei. Die Klauen stießen ins Leere. »Lauf weiter! Wir treffen uns am Tor!« Das Rascheln trockener Haut, das Zischen der Seelenlosen und das Plätschern von Wasser begleiteten den Kampf. Als der Unheimliche seinen leuchtenden Stein auf Papan
schleuderte, ging ein Raunen durch die Menge. Papan duckte sich. Der strahlende Schemen schnellte über ihn hinweg und krachte in eine düstere Höhlung. Im gleichen Augenblick dröhnte ein grässlicher Schrei durch das Gewölbe. Papan presste die Hände gegen die Ohren, doch der Schrei drang ihm durch Mark und Bein. Im gleichen Augenblick wusste er, dass sie noch eine Chance hatten. Der Stein war genau in das Knäuel mehrerer Höhlenschlangcn gefallen. Die goldene Glut verbrannte ein paar Tiere, die anderen kamen jedoch rechtzeitig ins Freie. Die Seelenlosen unterbrachen ihren schweigenden Marsch, verhielten sich unschlüssig. »Die Schlangen werden euch besser schmecken«, stieß Papan zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und sah noch, wie die etwa mannslangen Schlangen über die Unheimlichen herfielen. Kein Wehlaut verließ die Lippen der Weißhäutigen – als seien sie längst gestorben und würden jetzt nur ihre Scheinexistenz verlieren. Papan drehte sich um und rannte zum Eingang zurück, hetzte über die modrigen Stufen. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Er wollte aus der Höhle dieser schrecklichen Kreaturen entkommen. Ilistrik hockte zusammengekauert an der schweren Eisentür. »Komm jetzt, wir suchen uns in den Gängen weiter oben ein Versteck.« Sie waren so mit sich und ihren Ängsten beschäftigt, dass sie es versäumten, das Eisentor zum Gewölbe der Seelenlosen wieder zu verriegeln …
Ein paarmal hatten sie das Tageslicht gesehen. In welchem Teil der Tempelanlagen und Höhlen sie umherirrten, wussten sie nicht; sie waren müde und abgekämpft, waren mehr als einmal nahe daran gewesen, sich den umherstreifenden Kriegergruppen zu ergeben. »Ich muss uns unbedingt etwas Essbares besorgen«, sagte Papan. »Wir sterben sonst an
Erschöpfung. Die Flucht hat unsere letzte Kraft gekostet.« »Wir können uns sicher noch eine Zeit lang in den Tempelgängen verbergen. Aber das ist nichts weiter als ein Aufschieben unseres Schicksals, das längst beschlossen ist.« Er senkte den Blick, hätte sie gerne getröstet, aber in diesem Augenblick brauchte er selbst Trost, um die Strapazen der Flucht weiter ertragen zu können. »Wir versuchen, zur Ebene zu gelangen.« »Und wie willst du an den Männern des Hohepriesters vorbeikommen?« »Wir warten die Dunkelheit ab. Im Zwielicht der Dämmerung laufen wir den Kraterhang hinunter. Es dauert immer eine Weile, bis sie die Lagerfeuer angezündet haben. Wenn wir den richtigen Moment abpassen, sieht uns keiner.« Ilistrik schmiegte sich an ihren Begleiter. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die bemalten Lider glänzten wie taunasse Kieselsteine. »Und was wird aus uns, wenn wir den Kriegern tatsächlich entkommen sollten?« »Woher soll ich wissen, was uns die Götter vorausbestimmt haben? Wir werden leben.« Er hatte absichtlich schroff gesprochen, beruhigte sich selbst. Er hatte es bitter nötig, endlich wieder ein Ziel vor Augen zu haben, weil er genau wusste, dass er auf sich allein gestellt war. Kein Einziger seines Stammes würde ihm helfen, weil alle zu viel Angst vor dem großen HuitzKaramant hatten. »Bisher hat sich noch kein einziger Aramac in der Ebene angesiedelt«, begann Ilistrik. »Wir sind Kinder der Blauen Berge. Hier kennen wir jedes Tier. Die Natur ist uns vertraut. Hier sind wir näher am Heim unserer Götter.« Er verzog spöttisch die Lippen. »Und näher bei den Dämonen! Hast du die Seelenlosen etwa schon vergessen? Nein, Ilistrik, ich bin fest entschlossen, es in der Ebene zu
wagen.« Papan wusste, dass über der Ebene bis zum Blauen Meer furchtbare Stürme tosten. Mehrmals im Jahr traten die reißenden Ströme über die Ufer und überschwemmten riesige Gebiete. Von den Bergen hatte er oft die glänzenden Wasserflächen gesehen, über denen Nebelbänke standen. Es war ein raues und wildes Land, das er für sich und Ilistrik erobern wollte. Kein Aramac hätte das gewagt – aber er war ja auch längst kein Aramac mehr. Obwohl seine Haut blau war, hatte er mit seinen Brüdern nichts mehr gemein. Plötzlich richtete er sich lauschend auf. Aus dem Felsengang drang das Scheppern von Waffen. »Die Krieger!« Papan drückte seine Begleiterin in eine schmale Felsennische und atmete erleichtert auf, als sich der Durchbruch mehr als tief genug erwies, um zwei Aramacs Schutz zu bieten. »Hier können wir uns verstecken, bis die Horde vorbei ist. Wenn wir uns still genug verhalten, merken sie nichts.« Ilistrik presste sich an den feuchten Felsen, wollte etwas erwidern, doch Papan verschloss ihr mit der flachen Hand den Mund und starrte aufgeregt in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich war dort flackernder Lichtschein. Die Männer gingen in Dreierreihen durch den Gang. Einer hielt jeweils die Fackel, die anderen entweder Schwert oder stoßbereite Lanzen in den Händen, während sie systematisch das Gewölbe durchkämmten. »Vielleicht stecken sie in den Felsennischen«, hörte Papan den ersten Krieger rufen. Weiter hinten antwortete einer: »Hast du Angst, dass der große Huitz-Karamant dich für den Misserfolg unserer Suche verantwortlich machen wird?« Der Anführer der Kriegerschar stieß den Lanzenschaft auf den Boden und blieb stehen. »Wir werden den Frevler und das Opfer finden. Sollten die Götter uns keinen Erfolg bescheren,
wird jeder Zehnte von uns sterben.« Papan schauderte, als die Worte an seine Ohren drangen. Diese Entscheidung war typisch für den Hohepriester. Die Krieger mussten die Jagd auf ihn und Ilistrik fortsetzen, wenn sie nicht selbst getötet werden wollten. Er drückte sich tiefer in den Bodenschlamm. Über ihm warfen die unregelmäßigen Felsenausbuchtungen lange Schatten, Ilistrik wollte sich panikerfüllt aufrichten, doch er konnte sie noch einmal beruhigen, sah sie kurz an. Das genügte. Vor der Wandhöhlung tauchte eine Fackel auf. Ein Krieger schaute durch die Öffnung ins Innere. Papan und Ilistrik wagten nicht zu atmen. Das flackernde Licht tanzte über die Felswand, wanderte über den Boden, hielt kurz an und verschwand wieder. Der Krieger hatte die Flüchtlinge übersehen. »Hier sind sie nicht. Wie sieht’s bei euch aus?« »Auch nichts.« Die Stimmen verloren sich im Gang. Das Rasseln der Waffen wurde leiser und verstummte schließlich ganz. Papan wischte sich den zähflüssigen Schlamm aus dem Gesicht, grinste zuversichtlich. »Was sagst du jetzt? Ich glaube, die Kerle sind wir für eine Weile los.« »Hoffentlich hast du Recht.« Sie wollte noch etwas sagen, sank jedoch seufzend zu Boden, hatte keine Kraft mehr. Papan wusste, dass er dringend Wasser und etwas Essbares beschaffen musste. Ilistrik hatte sich bis jetzt tapfer gehalten, aber nun war der kritische Punkt gekommen. Hunger, Durst und die extreme Anspannung hatten ihre Kräfte aufgezehrt. »Warte hier auf mich. Ich laufe den Gang hinunter. Vielleicht kann ich den Kriegern etwas Verpflegung abnehmen …« Sie umklammerte zitternd seinen Arm. »Du darfst mich jetzt nicht allein lassen. Ich weiß, dass wir uns niemals wieder sehen werden, wenn du jetzt gehst.« Er drückte sie sachte zu Boden. »Bleib nur ganz still in der
Höhle, dann wird dir nichts geschehen. Die Krieger kommen bestimmt nicht wieder hier vorbei. Zweimal nehmen sie nie dieselbe Strecke. Du musst versuchen, ein bisschen zu schlafen. Vergiss die Krieger. Ich komme ja gleich zurück.« Sie sahen sich an, dann war Papan im Gang verschwunden. Ilistrik hockte in der finsteren Höhle und weinte. Vorsichtig löste Papan die Lederriemen vom Bündel der Marschverpflegung. Der Wachtposten wandte ihm den Rücken zu, saß zusammengesunken vor dem flackernden Feuer. Der Qualm wurde von einer Deckenöffnung angesaugt. Sie befanden sich unterhalb des oberen Tempelbezirks. Hier war das Pochen aus dem Untergrund wieder ganz deutlich zu hören. Papan hatte es fast schon vergessen – vielleicht war es aber auch stärker geworden, vielleicht forderten die Dämonen nur noch ungeduldiger ihr Opfer. Papan kroch auf dem Bauch vorwärts, lag dann ganz dicht hinter dem Verpflegungsbündel des Suchtrupps, so dass ihm der Geruch des salzigen Trockenfleischs in die Nase stieg. Er musste sich gewaltsam beherrschen, jetzt nicht einfach alles in sich hineinzuschlingen. Er war sehr hungrig, in seinem Magen war ein flaues Gefühl. Plötzlich räusperte sich der Wachtposten. Weiter hinten geisterte Fackelschein über die bemalte Höhlenwand. Papan erstarrte. In seinen Händen lag die Lederschnur, mit der das Lebensmittelbündel zusammengeschnürt wurde. Das war seine einzige Waffe. In den Augen des Kriegers stand nacktes Entsetzen, als er Papan erblickte. Der Mann hatte sich unverhofft umgedreht, wollte gerade nach einem Trockenfleischpaket greifen. Papan war über und über verdreckt -Höhlenschlamm und die modernden Pilze hatten seine Haut mit einem Schmutzfilm überzogen, er konnte durchaus für einen Seelenlosen gehalten werden. Der Krieger schrie entsetzt auf, griff aber sofort nach seinem Schwert. Papan zögerte keinen Augenblick, sprang hoch und
schleuderte dem Krieger einen Lebensmittelballen in den Unterleib. Der Mann ging augenblicklich zu Boden und landete mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Felswand. Irgendwo im Hintergrund des Ganges wurden Stimmen laut. Auch das noch, durchzuckte es Papan. Gleich wimmelt es hier von Bewaffneten. Sie müssen den Schrei des Wächters gehört haben. Dass die Stimmen einen ganz anderen Grund haben konnten, kam ihm nicht in den Sinn. »Du wirst vor mir bei den Göttern landen«, stieß Papan gepresst hervor. Der Krieger stand breitbeinig vor ihm. Das Schwert beschrieb einen blitzenden Halbkreis. Papan sprang zu dem überraschten Gegner, umfasste mit den Händen dessen waffenführendes Handgelenk und ließ nicht mehr los, ignorierte sogar einen Tritt des anderen, der ihn nach Luft schnappen ließ. Mit aller Kraft riss er den Arm des Mannes herunter und stemmte wuchtig sein Knie dagegen. Der Wachtposten schrie von Schmerz gepeinigt auf, das Schwert rutschte klirrend über den Boden. »Schon besser.« Bevor Papan den Krieger zu Boden drücken konnte, hatte sich der Mann frei gemacht, stolperte ein paar Schritte weit weg und tastete nach dem Schwert. Papan sprang seinen Gegner von hinten an. Beide fielen zu Boden und rutschten über den glitschigen Moosbelag, kamen erst wieder unmittelbar vor der Gangwand auf die Füße. Plötzlich gellte ein Schrei durch den Gang. Papan hielt irritiert inne. Das nutzte der Krieger sofort aus. Obwohl Papan dem mörderischen Schwerthieb auszuweichen versuchte, konnte er nicht verhindern, dass er am linken Oberarm getroffen wurde. Blut tropfte auf den Boden. Es war weniger der Schmerz, der Papan bis zur Weißglut reizte, als vielmehr die Wut über sich selbst. Bevor der Wachtposten zum tödlichen Schlag ausholen konnte, sprang Papan hinter ihn; ein Ruck, er schlang den
Lederriemen um den Hals seines Gegners – der Schrei des Unterlegenen ging in ein Gurgeln über. »Du hast dich zu früh gefreut, Kerl!« Papan spannte die Muskeln an, seine Lippen bildeten zwei scharfe Striche. Grelle Schemen tanzten vor seinen Augen, in diesem Augenblick spürte er die Schwäche besonders deutlich. Aber er war weit davon entfernt, sich zu ergeben. Papan wusste nicht, wie lange er den Mann im Würgegriff gehalten hatte. Plötzlich wurde der Körper schlaff. Papan ließ ihn zu Boden gleiten und löste die Lederriemen, war schweißgebadet. Er brauchte den Reglosen nur kurz anzusehen, um zu wissen, dass er von ihm nie wieder etwas zu befürchten hatte. Die Seele des Kämpfers war in das Reich der Götter eingegangen. Papan riss einen Lebensmittelballen ganz auf und stopfte sich hastig einen Streifen Trockenfleisch zwischen die Zähne. Es schmeckte köstlich, kurze Zeit vergaß er die Gefahr, in der er schwebte, kam erst wieder zur Besinnung, als das Grölen mehrerer Krieger aus dem Gang drang. Er stopfte den Fleischstreifen in das Bündel zurück und befestigte es an seinem Schurzgürtel, hob das Schwert des Wachtpostens auf und war wieder kampfbereit. Das Feuer war niedergebrannt. Nur die Asche glühte noch ein bisschen. Das Lärmen der Krieger verlor sich in der Ferne, es klang triumphierend und höhnisch zugleich. Irgendwie glaubte Papan, zwischen dem Lärmen die Stimme einer jungen Frau hören zu können. Ilistriks Stimme? Plötzlich glaubte Papan, den Boden unter den Füßen zu verlieren – ihm wurde schwarz vor Augen. Sie haben sie aufgespürt, schoss es Papan durch den Kopf, er nahm keine Rücksicht mehr auf sich. Das Schwert in der Rechten war zum tödlichen Schlag ausgestreckt. Sollen diese elenden Schufte nur kommen, ging es ihm durch den Kopf. Ich werde den Tod meiner geliebten Ilistrik bitter rächen. Auf dem Gangboden lag ein Tuchfetzen. Papan bückte sich,
wusste sofort, dass dieser erbärmliche Kleidungsfetzen einmal Ilistriks Scham bedeckt hatte. Papan schluchzte wie ein Wahnsinniger auf, aber es war niemand mehr da, der seine Verzweiflung hätte hören oder verstehen können. Er war ganz allein. Die Entbehrungen der verzweifelten Flucht waren unvermittelt sinnlos geworden. Sie hatten Ilistrik wieder eingefangen, sie stand womöglich schon vor Huitz-Karamant, der sie jeden Augenblick opfern konnte. Der Hohepriester würde nicht zögern, dessen war sich Papan absolut sicher. Er ging wie ein Schlafwandler durch den Gang, ihm war egal, was die Krieger mit ihm anstellten, wenn sie ihn jetzt erwischten. Ein zweites Mal würde er Ilistrik nicht wieder aus den Klauen des Hohepriesters befreien können. So viel Glück durfte er sich von den Göttern nicht erhoffen. Es war später Nachmittag, als Papan das Labyrinth durch eine Pforte verließ. Nach längerem Umherirren hatte er eine Treppe erreicht und war über die korkenzieherartig nach oben gewundenen Stufen ins Freie gekommen. Jetzt stand er zwischen den Götzenbildern am Fuß der großen Treppe, die die gefährlichen Dämonen des Kraters vom Tempelbezirk fern halten sollten. Die Opferstätte befand sich unmittelbar vor ihm. Das Pochen und Klopfen aus dem Krater schallte geisterhaft durch die Stille. Der Wind wehte schweflige Dämpfe herüber. Die letzten Sonnenstrahlen hüllten die Türme in einen goldenen Schimmer – ein Anblick des Friedens. Aber Papan wusste, dass er niemals sicher sein konnte, ob nicht doch Gefahr drohte. Abgesehen von den schrecklichen Dämonen, die jeder Aramac fürchtete, gab es unverhoffte Giftwolkenausbrüche. Wer von den gelben Wolken überrascht wurde, verschwand meistens auf Nimmerwiedersehen im Krater. Es traten auch kurze Bodenstöße auf, die schon manch einen in eine plötzlich aufklaffende Spalte gerissen hatten – wollte man dem
Unglücklichen helfen, schlossen sich die Spalten meist vor den Augen der entsetzten Aramacs. Nach jeder Opferzeremonie verkrochen sich die Bergbewohner in ihren Hütten; dort lagen sie auf den Fellen und beteten zu den Göttern. Der Sage nach holten sich die Schrecklichen aus der Tiefe bei Einbruch der Dunkelheit die Blutopfer von den Altären. Papan wunderte sich nicht über den verwaisten Tempelplatz. Nicht weit entfernt ragte der Kraterwall wie eine mächtige Mauer auf, der obere Rand verschmolz nahezu völlig mit dem senffarbenen Himmel. Die Dämpfe krochen schwerfällig über den Boden; sie wirkten schnell genug, um einen Aramac ins Verderben zu reißen. Doch diesmal verhinderte der Wind eine zu starke Konzentration der Giftwolken, es gab nirgendwo größere Wolkenballungen. Früher hätte Papan einen anderen Weg gewählt, diesmal war ihm jede Abkürzung recht. Er musste an die Bezeichnung denken, die seine Brüder den Ausdünstungen des Kraters gegeben hatten: Dämonenschweiß! Eine treffende Namensgebung, führte er sich die gefährliche Wirkung der Dämpfe vor Augen. Papan wischte sich über das Gesicht, das Schwächegefühl hielt nur kurz an. Dafür empfand er abrupt eine heitere Gelöstheit, begann sich einzureden, dass Ilistrik noch lebte. Der Wunsch, sie wieder in seine Arme zu schließen, wurde übermächtig. »Ilistrik! Sie haben dich verschont. Ich weiß es«, kam es von den Lippen des Weitertaumelnden. Die Altäre des Opferplatzes ragten blauschwarz und Unheil verkündend auf; Monolithen, die in regelmäßigen Abständen eine Seite des Opferplatzes begrenzten. Unvermittelt glaubte Papan, seine Geliebte durch die Dampfschwaden auf sich zukommen zu sehen. Im Wabern der warmen Luft, die von den gelben Dämpfen durchsetzt war, irrlichterten goldene Strahlen, durchstießen immer wieder die betäubenden Nebel.
Für Papan verwandelten sich diese Licht- und Schattenspiele zu Lebewesen. Ilistrik nahm konkrete Formen an, er streckte die Hände nach dem Traumbild aus, doch seine Finger spürten nur den Seidenhauch der warmen Dämpfe. »Ilistrik, warum hast du nicht auf mich gewartet?« Es gab keine Antwort. Die Altäre ragten stumm und finster auf. In der Opfermulde des ersten lagen die sonnengebleichten Gebeine eines Kriegers. Der Mann war schon vor langer Zeit geopfert worden, aber die Dämonen hatten ihn verschmäht. Deshalb lagen seine sterblichen Überreste noch hier. »Ilistrik, ich habe Lebensmittel. Genug, um bis ans andere Ende der großen Ebene zu kommen.« Sie antwortete nicht, würde ihm niemals wieder antworten können. Sie lag in genau der Mulde, die Huitz-Karamant vor ihrer Befreiung ausgesucht hatte. Das Blut in der Abflussöffnung glänzte frisch. Papan stieß einen grauenhaften Schrei aus, als er die starren, weit geöffneten Augen seiner Geliebten erblickte. Er schrie immer wieder. Das Echo seiner Schreie brach sich an den spitzgiebeligen Tempeltürmen und wurde verzerrt zurückgeworfen. In den Hütten kauerten sich die Bergbewohner ängstlich zusammen, sie glaubten, dass sich die Dämonen jetzt ihr Blutopfer holten.
2. Aus: Biographie Atlans – Anhang: Fragmente, Anmerkungen, Marginalien (in vielen Bereichen noch lückenhaft), hier: Ischtar spricht; Professor Dr. hist. Dr. phil. Cyr Abaelard Aescunnar; Gäa, Provcon-Faust, 3565 Du bist jung, neugierig, tatendurstig, ungeduldig. Hab Geduld mit mir, es ist nicht leicht für mich. Zu lange war ich allein, war nur
mir selbst gegenüberverantwortlich. Jetzt gibt es Chapat – und dich, Kristallprinz. Ich weiß, dass dich viele Fragen plagen, und es wird die Zeit kommen, da ich sie beantworten werde. Aber im Gegensatz zu dir habe ich kein fotografisch exaktes Gedächtnis. Die Anfänge und was seither geschehen ist … Das alles ist so lange her, Jahrtausende! Viele davon habe ich im Tiefschlaf überbrückt. Dennoch sind es Jahrtausende, die ich bewusst erlebt habe. Längst sind viele Erinnerungen verblasst, andere habe ich verdrängt. Hab also Geduld, Liebster. Nein, ich bin kein Geist, den Bewusstseinstransfer beherrschen nur jene aus der Eisigen Sphäre. Und mein Körper ist kein künstliches Konstrukt – du darfst dich gern davon überzeugen … Es ist mehr als 675.000 Jahre deiner Zeitrechnung her! Damals kamen wir aus … hm, einem anderen Universum, wie du es vermutlich umschreiben würdest. Niemand, der bei diesem Übergang dabei war, alterte fortan noch. Wir waren potenziell unsterblich geworden, alle! Nicht jeder verkraftete diese Erkenntnis, viele nahmen sich das Leben – etliche der konservierten Körper finden sich noch heute in den Stationen der Versunkenen Welten. Unser Reich zerfiel, die meisten gingen eigene Wege, wurden zu rastlosen Nomaden zwischen den Sternen. Irgendwann kam es zu einer Zusammenkunft, die meisten Überlebenden waren entschlossen, dieses Universum wieder zu verlassen, um heimzukehren. Ich gehörte zu jenen, die hier blieben – unter anderem, weil ich Spuren entdeckt hatte, die scheinbar varganischer Natur waren, aber nicht von uns stammten. Ich nannte die Unbekannten deshalb die verschollenen Varganen, wollte unbedingt die Zusammenhänge herausfinden. Ein Bindeglied scheinen die Silberkugeln zu sein, doch auch nach Jahrzehntausenden der Suche habe ich leider nicht viel in Erfahrung gebracht. Eine halbe Ewigkeit verging, nie hatte ich mehr von den Heimkehrwilligen gehört, wusste nicht einmal, ob ihnen der Übergang gelungen war. Einige der Zurückgebliebenen
unternahmen später vergleichbare Experimente, konnten mit geeigneten Mitteln hin und her wechseln, begegneten dabei aber keinem anderen Varganen. Von der Eisigen Sphäre erfuhr ich erst, als Magantilliken vor mehr als dreißigtausend Jahren deiner Zeitrechnung seine Jagd begann – einige seiner Opfer entkamen ihm, konnten den anderen berichten, was sie von dem Henker erfahren hatten. Viel war es nicht, aber wir waren gewarnt, verstreuten uns noch mehr, wechselten häufig den Aufenthaltsort, zogen uns in vermeintlich sicheren Verstecken in den Tief schlaf zurück …
Erwachen in Vruumys’ Sternenschiff: 11. Prago des Tartor 10.498 da Ark Nach einer Phase grenzenloser Verwirrung kam ich endlich zu mir, öffnete schwerfällig die Augen und ignorierte die durch meinen Körper pulsierenden Schmerzen. Mattrötliche Dämmerung erfüllte den Raum, auf dessen hartem Boden ich lag. Die Schleuse! Aufpeitschende Impulse meines Extrasinns halfen mir, die Orientierungslosigkeit und die damit verbundenen Angstwellen abzuschütteln – ich wusste plötzlich wieder, dass ich nach einer Reihe von überaus merkwürdigen Erlebnissen mit Prinzessin Crysalgira da Quertamagin Vruumys’ Sternenschiff erreicht hatte, dass ich mich nach wie vor im »Mikrokosmos« befand, auf einer Welt, die den Namen Somor trug. Crysalgira! Nach dem Maahk Grek 3, der in der tejonthischen Forschungsstation gestorben war, hatte ich unter verwirrenden Umständen endlich auch die Prinzessin »gefunden« – beide waren vor mir vom »Zwergenmacher« der Methans verkleinert worden. Was genau geschehen war, konnte ich später vielleicht analysieren, momentan war es wichtiger, dass ich endlich auf die Beine kam. Auf die
Ellbogen gestemmt, sah ich zur Seite und entdeckte den zusammengerollten Körper der Prinzessin; nach wie vor war sie splitternackt, atmete aber – soweit ich es erkennen konnte – ruhig und gleichmäßig, während ich den hellblauen, glänzenden Anzug mit den eingearbeiteten Stiefeln trug, der aus Vruumys’ Hinterlassenschaft stammte und aus zahllosen winzigen, gegeneinander beweglichen Metallsegmenten bestand. Meine Kehle war ausgedörrt, nur langsam verebbten die Schmerzwellen. Mühsam stand ich auf, kämpfte kurz gegen Schwindel an und musste mich an der Wand abstützen. Neben meinem Fuß entdeckte ich die Zackenkugel, eine weitere Hinterlassenschaft des Tejonthers, deren Pulsieren den Weg zum Sternenschiff gewiesen hatte – eine silbrig glänzende Kugel von drei Zentimetern Durchmesser, aus der sternförmig drei dünne fingerlange Zacken entsprangen. Der Anblick ließ mich frösteln, für Augenblicke stiegen die irritierenden Impressionen auf, die mit Crysalgiras »Erscheinen« verbunden gewesen waren. Ich musste mich zwingen, die Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung zu richten, gleichzeitig bemüht, Durst, Hunger und bleierne Erschöpfung abzuschütteln. Der rötliche Boden der Schleuse hatte eine geriffelte Oberfläche; ihr Grundriss entsprach einem Viertelkreis mit rechtwinklig angeordneten Seitenwänden von knapp drei Metern Länge, während die Krümmung des Kreisbogenabschnitts etwas mehr als vier Meter maß. Dort befand sich das geschlossene Außenschott, während zu beiden Seiten ebenfalls geschlossene Tore zu angrenzenden Räumen führten. Statt der zu erwartenden rechtwinkligen Ecke sah ich die Viertelkreiskrümmung einer in die Schleuse ragenden »Halbsäule«, deren Position vermutlich das Bodenstück eines vertikalen Zugangsschachts markierte, der bis zum Bug hinaufreichte. Antigrav-Zentralachslift, bestätigte der
Logiksektor und lieferte meinem inneren Auge eine erste Aufriss-Skizze des Raumschiffs. Er hat einen Durchmesser von knapp eineinhalb Metern. Da sich die Schleuse im Heck des stromlinienförmigen Raketenkörpers befand, der aufrecht stehend eine Höhe von rund dreißig Metern erreichte und auf vier großen Seitenleitwerken stand, an deren Außenkanten wuchtige Zylinder angeflanscht waren, erschloss sich mir mit Hilfe des Extrasinns die Konstruktion: Das unterste Deck von etwa fünfeinhalb Metern Durchmesser war tortenähnlich geviertelt – unterteilt in zwei gegenüberliegende Schleusen sowie die beiden sie trennenden »Vorräume«, über die der eigentliche Zugang zum zentralen Antigravschacht erfolgte und die vermutlich als Ausrüstkammern dienten. Ich hob die Zackenkugel auf, wog nachdenklich das schwere Ding in der Hand und tappte zum Außenschott. Ein kräftiger Handdruck auf die Schaltplatte genügte, um die Schotthälften seitwärts fortgleiten zu lassen. Ein Summen erklang, während die Einstiegsrampe ausfuhr. Helles Sonnenlicht, eine warme Brise sowie der salzige Meeresduft waren die ersten Eindrücke, begleitet von einem vielfältigen Tierstimmenkonzert und dem Rauschen der auf den Strand gischtenden Wellen. Die Erinnerung an den letzten Blick nach draußen wurde vom fotografischen Gedächtnis heraufbeschworen: Er hatte mir für Augenblicke ein tobendes Energiegewitter gezeigt, dessen verästelte Entladungen abrupt erloschen waren – und übergangslos dem warmen, fast idyllischen Strand am Blauen Meer Platz gemacht hatten, wo keine einzige Pflanze erfroren war und nichts von Eissturmschäden, Schneegestöber oder Nebelschwaden zu sehen war. Ich hatte bei diesem Anblick allerdings nicht gewusst, ob ich irre lachen oder vor Freude weinen sollte. Die weiteren Erinnerungen an die zuvor erlebten Dinge
verdrängte ich vorerst – vom rätselhaften Erscheinen der Prinzessin über das der Sandraupen, die roten »Lebenssamen«, die meine Verletzung ebenso geheilt wie Crysalgira »zum Leben erweckt« hatten, bis zum Eissturm und dem Flug mit dem Riesenschmetterling. Mit alldem konnte ich mich später beschäftigen, sobald ich mir über meine – unsere! – Lage klar geworden war. Ich verschloss das Außenschott vorsichtshalber wieder und kniete neben Crysalgira nieder. Ihr Puls war zwar schwach, aber gleichmäßig; die Bewusstlosigkeit würde wohl noch eine Weile andauern. Ich wusste, dass die Prinzessin zu einem Khasurn gehörte, der neben den Familien derer von Gonozal, Zoltral, Ragnaari und Orbanaschol einer der reichsten und einflussreichsten des Tai Ark’Tussan war: Sie entstammte dem Thi-Khasurn der Quertamagin und war als Erstgeborene die designierte Nachfolgerin von Regir da Quertamagin, dessen beide Söhne im Krieg gegen die Methans gefallen waren. Als KhasurnOberhaupt mit dem Titel eines »Ta-Fürsten Erster Klasse« trug er den traditionellen Vornamen Regir – eigentlich hieß Crysalgiras Vater Ertonn. Von Fartuloon wusste ich, dass es enge Verbindungen zu meinem ermordeten Vater gegeben hatte, Regir da Quertamagin es aber nach der Machtübernahme von Orbanaschol III. verstanden hatte, sich geschickt aus der Schusslinie zu bringen. Er stand nur nach außen hin loyal zum Imperator, angesichts der Angriffe der Maahks überwogen die Gesamtinteressen des Großen Imperiums und die Staatsräson, so dass es keine offene Opposition zum Brudermörder gab, obwohl der Ta-Fürst womöglich die wahren Hintergründe genau kannte. Ganz sicher war sich mein Lehrmeister in dieser Hinsicht aber nicht gewesen; eine Reihe von Andeutungen hatten mir allerdings gezeigt, dass es etliche mir noch unbekannte Verquickungen,
Beziehungen und Zusammenhänge unserer Khasurn geben musste. Ich seufzte. Bei meinem letzten Kontakt mit Fartuloon – hergestellt zwischen Ischtars MONDSCHATTEN und den leistungsfähigen Hyperfunkgeräten der auf Kraumon verbliebenen varganischen Beiboote – hatte er im Zusammenhang mit den Ereignissen rings um den Flottenstützpunkt Trantagossa auf den dortigen neu eingesetzten Kommandeur hingewiesen; dass der junge Sonnenträger Chergost dorn Ortizal wegen Crysalgira von Orbanaschol persönlich dorthin abkommandiert worden war, »brüllen die ›alles hörendem Wände des Kristallpalastes«, wie es mein Lehrmeister ironisch formuliert hatte, »mit höchster Lautstärke«. Dass das Interesse für Crysalgira den Unwillen des Imperators erregen könnte, ja dass der Höchstedle selbst »Interesse bekunden« würde, hatten wohl weder der Sonnenträger noch die Prinzessin erwartet. Den Wünschen und Trieben des Herrschers des Tai Ark’Tussan widersetzte sich niemand – und so war Chergost schneller nach Trantagossa versetzt worden, als er die Brisanz der Situation erfassen konnte. Ausgerechnet in jenes System, von dem ein Drittel der Arkonflotte befehligt wurde und in dem das Große Imperium durch den Überraschungsangriff der Maahks am 2. Prago der Prikur 10.498 da Ark eine nahezu vernichtende Niederlage erlitten hatte. Fartuloon damals weiter: »Der Dicke scheint allerdings die Eigenwilligkeit der jungen Frau unterschätzt zu haben, die offenbar alles in Bewegung setzte, um zu ihrem Geliebten zu gelangen. Leider hat die CERVAX bis heute nicht das Trantagossa-System erreicht, so dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Raumer von Methans aufgebracht wurde.« Inzwischen wusste ich, dass dem tatsächlich so gewesen war. Seit Anfang der Prikur war die Prinzessin spurlos
verschwunden gewesen; auf Skrantasquor hatte ich den halb wracken Ultraleichtkreuzer untersucht und aus abgerufenen Speicherdaten erfahren, dass der eigenmächtige Aufbruch die Prinzessin in die Gefangenschaft der Maahks getrieben hatte, gefolgt von der Verkleinerung durch den maahkschen Molekularverdichter. Während aber zuvor Grek Drei und später auch ich auf diese Weise direkt hierher nach Somor gelangt sind, dachte ich, muss die Angelegenheit bei ihr deutlich komplizierter verlaufen sein … Später, mahnte der Extrasinn. Konzentrier dich zuerst auf die Umgebung, hilf der Prinzessin. Ich nickte zustimmend und richtete mich wieder auf. Vruumys’ Sternenschiff! Der Tejonther hatte es desaktiviert am Ufer des Blauen Meers geparkt, während er mit seinem Gleiterboot weiter östlich im Delta des Jonquatz-Dreiflusses nach den »Urnen« gesucht hatte, die ihm aber statt der Unsterblichkeit den Tod gebracht hatten. Die schnittige »Jacht« aus rötlichem Metall war ein rund zehn Meter langer, modifizierter Prallfeldgleiter gewesen – zu groß, um in die Bodenschleuse oder das kleine Sternenschiff selbst zu passen. Sie stammte demnach mit großer Wahrscheinlichkeit aus der tejonthischen Forschungsstation, die inzwischen wohl komplett von den Kristallen des Todes zerstört worden war. Das rötliche Licht in der Schleuse war nur die Notbeleuchtung, gehörte genau wie die Außenschottfunktion zum verbliebenen Drosselmodus. Die Frage ist: Kann ich den Raumer gefahrlos reaktivieren? Gibt es Sicherheitsschaltungen? Vielleicht sogar Abwehrmechanismen, die ein unbefugtes Vordringen verhindern? Nachdenklich untersuchte ich die beiden Seitenschotten, deren Schaltplatten jedoch nicht die geringste Reaktion hervorriefen. Neben dem linken Schott entdeckte ich eine Vertiefung, deren Umriss genau der Zackenkugel entsprach. Ich musterte das sachte vibrierende Instrument, das mir den Weg zu dem
Raumer gewiesen hatte. War es vielleicht mehr? Ein »Schlüssel« in Form eines Impulsgebers? Ausprobieren, flüsterte der Extrasinn. Ich presste die Zackenkugel in die Vertiefung; sie rastete hörbar ein und ließ sich um hundertzwanzig Grad nach links drehen. Dann folgte genau die Reaktion, auf die ich gehofft hatte: Die rötliche Dämmerung wurde durch helles Licht ersetzt, Vibrationen durcheilten das Sternenschiff, Maschinen fuhren hörbar hoch. Nun ließen sich durch Schaltplattendruck auch die beiden Innenschotten öffnen, die den Blick in die von mir bereits vermuteten Ausrüstungskammern freigaben. Die Zackenkugel konnte ich problemlos der Vertiefung entnehmen, während eine probeweise Drehung nach rechts das Schiff wieder stilllegte und die Schotten zugleiten ließ. Ob die Zackenkugel die einzige Sicherung war, musste sich noch erweisen – vorläufig jedenfalls stand mir der Zugang zum eigentlichen Schiff offen, da sich auch die Türen zum Antigravschacht problemlos öffnen ließen. Ich konnte mit der Untersuchung beginnen. Da Vruumys allein gereist war, befand sich niemand an Bord – dennoch war weiterhin Vorsicht angebracht. Getreu Fartuloons Ausbildung hielten sich in mir ein gesundes Maß Angst und Neugier die Waage. Ich atmete tief durch. Ein Blick nach oben in die sich perspektivisch verengende Röhre zeigte, dass sie bis zum Bug reichte. Irgendwo dort musste sich die Zentrale befinden. Einige Abschnitte der Schachtwände waren transparent, Umrisslinien markierten die Ausstiegsmöglichkeiten der Einzeldecks; regelmäßig angeordnete, umlaufende Doppellinien kennzeichneten Bereiche, wo waagrecht ausfahrbare Schotten den Schacht bei Bedarf oder in Notsituationen abriegeln und in Sicherheitszellen unterteilen konnten. Neben Leuchtbändern entdeckte ich an den Wänden Handlaufstangen sowie eine
Notleiter. Die eingesetzte Technik mochte sich in den Details vom mir Bekannten unterscheiden, in ihrer schlichten Funktionalität gab sie ansonsten aber keine Rätsel auf. Ein erstes Durchstöbern der Wandschränke und Regale der beiden Ausrüstungskammern lieferte neben einem der blaumetallischen Anzüge auch eine Decke sowie eine Schreibfolie samt Laserstift. Ich bettete Crysalgira bequemer und deckte sie zu, entfaltete neben ihr den Anzug mit den eingearbeiteten Stiefeln und ließ ihr – sollte sie in der Zwischenzeit erwachen – vorsichtshalber einer kurze Nachricht zurück, bevor ich im gravoneutralisierenden Kraftfeld zum nächsthöheren Deck hinaufschwebte. Deck 2 und 3 bargen Aggregate, die beiden nächsten Decks Unterkünfte, Aufenthalts- und Vorratsräume. Durst und Hunger wurden stärker, ich sehnte mich nach einem ausgedehnten Bad und einem weichen Bett; doch zuerst musste ich sicher sein, dass hier keine Gefahr drohte. Erst mit Deck 6 war die Zentrale erreicht – die Schachtröhre war hier transparent gehalten, so dass sie keine Sichtbehinderung darstellte. In dem viereinhalb Meter durchmessenden Raum gab es vier Hufeisenpulte und eine fensterartig umlaufende Panoramagalerie, deren hervorragende Darstellung das Bild der Umgebung zeigte. Einer der Pulte stand auf einem Sockel, zweifellos der Platz des Kommandanten. Bestärkt wurde diese Vermutung durch eine Pultvertiefung für die Zackenkugel; intuitiv ging ich davon aus, dass sich das Sternenschiff erst nach einer »zweiten Aktivierung« starten ließ. Dennoch zögerte ich, den Impulsgeber schon jetzt einzusetzen. Sobald der Hauptrechner mit seiner Peripherie hochfuhr, war ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – immerhin war ich nicht Vruumys. An seiner Stelle hätte ich jedenfalls Absicherungen vorgesehen, um den Zugriff auf das Schiff durch Unbefugte zu verhindern.
Die Bewohner Somors mochten zwar eher primitiv sein, aber der Raumer war schließlich die einzige Möglichkeit des Tejonthers gewesen, diese Welt zu verlassen. Andererseits blieb mir letztlich nichts anderes übrig, als es auf den Versuch ankommen zu lassen, so dass ich das in meinem Magen grummelnde Unbehagen ignorierte. Ich ließ die Stachelkugel einrasten, drehte sie und wartete gespannt, während die Pulte zum Leben erwachten. Kleine Bildschirme und Anzeigeflächen füllten sich mit tejonthischen Schriftzeichen, Diagrammen und Skizzen. Nacheinander wurden Aggregate geprüft, aktiviert und Klarmeldungen geliefert. Das meiste musste ich mir mit Hilfe des Logiksektors zusammenreimen. Vruumys hatte mich zwar einen halben Tag lang im Umgang mit dem fremdartigen Tauchanzug, tejonthischen Begriffen, Maßeinheiten und Symbolen unterwiesen, gesprochen hatten wir in dem Dialekt, den ich bei Dophor von Krothenbeet gelernt hatte; es war zwar nicht die tejonthische Sprache gewesen, aber eine Ähnlichkeit bestand jedoch schon. Ob diese wenigen Kenntnisse aber nun ausreichten, musste sich noch herausstellen. Vielleicht gelang es mir, den Hauptrechner als Translator zu verwenden. Sofern ich mich nicht täuschte, war Vruumys’ Sternenschiff weitgehend automatisiert und in vielen Bereichen zu selbständiger Arbeit fähig, denn nur so war die Steuerung durch nur eine Person möglich. Vermutlich war das Schiff auch so konstruiert worden, dass es normale Fehlerquellen von selbst beseitigte – durch robotische Servomechanismen unterschiedlicher Größe, die eine Reparatur jederzeit durchführen konnten. Anders verhielt es sich natürlich bei Schäden, die durch äußere Gewalteinwirkung verursacht wurden. Ein Strahlschussleck konnte vermutlich auch dieses Schiff nicht aus eigenen Mitteln ausbessern. Was für Vruumys und die Tejonther sinnvoll war, bereitete mir Unbehagen – zu
viele automatische Spielereien waren mir verdächtig, da sie sich meiner Kontrolle entzogen. Während auf den Pulten mehr und mehr blaue Anzeigen erschienen, die ich als »Positivsignale« interpretierte, setzte ich mich am Hauptpult in den Kontursessel und versuchte, mich mit den Kontrollen vertraut zu machen. Vieles blieb hierbei reine Intuition – rein logischen Gesichtspunkten folgend, auf dem Wissen meiner Ausbildung basierend und vom bei der ARK SUMMIA aktivierten Extrasinn unterstützt –, dennoch war ich mir nach einer Weile sicher, einen Zugang zur tejonthischen Technik gefunden zu haben. Während ich noch überlegte, ob ich das Schiff vorsichtshalber wieder stilllegen sollte, drangen aus dem Antigravschacht Geräusche herauf, die mich unwillkürlich lächeln ließen.
»Gos’athor!« »Ich grüße dich, Prinzessin«, antwortete ich, während sich Crysalgira aus dem Schacht schwang und sich misstrauisch umsah. Der flexible Anzug aus Metallsegmenten, den sie angezogen hatte, betonte die Figur der Neunzehnjährigen überaus reizvoll; sie war schlank und hochgewachsen und hatte das silbrige Haar hochgesteckt. Ihre Bewegungen wirkten zwar betont selbstsicher, doch in den mandelförmigen Augen entdeckte ich Angst und Verunsicherung. »Ich habe deine Notiz gefunden, weiß, dass du mich gerettet hast – aber kannst du mir auch sagen, wo wir uns hier befinden?« Ihr irritierter Blick fiel auf die Panoramaprojektion mit der Darstellung der Umgebung, in der nichts von Eissturmschäden zu entdecken war. »Wie kommst du, der im ganzen Imperium verfolgte Kristallprinz, ausgerechnet hierher – wo immer das auch sein mag? Ich erinnere mich nur daran, dass …«
Sie brach ab, unterdrückte ein Schluchzen, biss sich auf die Unterlippe. Zögernd ergriff sie meine ausgestreckte Hand, ließ sich heranziehen und presste den Kopf an meine Schulter, ehe sie hemmungslos zu weinen begann. »Ich verstehe das alles nicht. Was ist passiert? Was haben diese verfluchten Methans …?« »Bis zu welchem Punkt der Verkleinerung reicht deine Erinnerung?« Sie rückte ab, wischte sich Tränen vom Gesicht und runzelte die Stirn. Ich sah ihr deutlich an, dass es in ihr arbeitete. »Woher weißt du …?« »Ich wurde ebenfalls von den Maahks verkleinert, habe dich und Grek Drei gesucht. Der Maahk ist tot – im Gegensatz zu ihm und mir scheinst du jedoch irgendwie zwischen den Dimensionen hängen geblieben zu sein und bist erst deutlich später materialisiert. Wir haben inzwischen den elften Prago des Tartor.« »Ich wurde kleiner und kleiner, stimmt.« Sie nickte, schloss die Augen. »Dann gab es so etwas wie einen Entzerrungsschmerz, vergleichbar dem einer Transition. Die nächste Erinnerung ist die an diese fürchterliche Kälte – und an dein Gesicht, das ich sofort erkannt habe. Ich weiß, dass dein Thronanspruch völlig berechtigt ist, Gos’athor.« »Verstehe«, murmelte ich unwillkürlich, obwohl ich noch ganz und gar nicht verstand, was genau passiert war. Crysalgira sah mich eindringlich an. »Du weißt, wo wir hier sind?« »Mehr oder weniger. Aber das wird eine längere Geschichte. Zunächst das Wichtigste: Dieses Raumschiff gehörte einem Tejonther namens Vruumys, der mir vor kurzem begegnet ist; noch weiß ich nicht, ob wir damit starten können, ja nicht einmal, ob es überhaupt angeraten ist, einen solchen Versuch zu unternehmen. Vruumys ist tot, er kann uns nicht mehr
helfen. Wir befinden uns auf der Welt Somor, doch diese gehört nicht zum uns bekannten Standarduniversum, sondern zu einem anderen Kontinuum oder … Universum.« »Die Verkleinerung … bis in den – Mikrokosmos?« Inzwischen deutlich gefasster, gewann ihre Intelligenz die Oberhand über die Emotionen. Zumindest in dieser Hinsicht war sie alles andere als eine verwöhnte Prinzessin, wie sie im Kristallpalast zu Hunderten anzutreffen waren. »Vielleicht. Dass der Verkleinerungsprozess die Assoziation zu einem ›Mikrokosmos‹ hervorruft, ist unter Umständen ein grundsätzlicher Denkfehler. Sobald ein eigenständiges Universum durch seine Abgeschlossenheit definiert wird, ist die Größe von allem in ihm Befindlichen nur eine Frage des Bezugs untereinander – während der Vergleich zu Objekten eines anderen Universums nicht mehr möglich ist, weil das die direkte Verbindung zwischen beiden Kontinua voraussetzt. Und selbst dann muss die subjektive Wahrnehmung nicht mit ›objektiven‹ Kriterien korrelieren.« Crysalgira lächelte schief. »Hyperthorik war noch nie meine Stärke.« Ich nickte anerkennend – immerhin gab es genügend Arkoniden, die von diesem als »spekulative Grenzwissenschaft« angesehenen altarkonidischen Forschungszweig der Hyperphysik noch nie etwas gehört hatten. Einige Mathematiker aus der Frühzeit des Großen Imperiums hatten, wie ich von Fartuloon wusste, Algorithmen, Formalismen und Beschreibungsmöglichkeiten entwickelt, die angeblich zur Darstellung von diversen hyperphysikalischen Phänomenen und sogar von Paralleluniversen herangezogen werden konnten. »Meine auch nicht – ich habe dafür inzwischen einige praktische Erfahrungen sammeln können.« »Ah – die längere Geschichte?«
»Genau.« »Meine ist in den Grundzügen schnell erzählt: Dieser Fette, der als Höchstedler anstelle deiner Person zu Unrecht Imperator des Tai Ark’Tussan ist – nebenbei, Kristallprinz, mit aller gebotenen Höflichkeit: Du stinkst! –, hat seine gierigen Blicke auf mich geworfen. Mein Geliebter Chergost war ihm folglich im Weg und …« Mit wenigen Sätzen umriss sie die Ereignisse, die zu ihrem Aufbruch geführt hatten. Die Machenschaften von Versorgungsmeister Grothmyn hatten dann dazu geführt, dass sie in die Hände von Verbrechern fiel und nur durch die Hilfe eines anderen Gefangenen namens Bei Etir Baj aus dem Asteroidenstützpunkt Krassig entkommen konnte. Im letzten Augenblick war es gelungen, die CERVAX in eine Nottransition zu zwingen, aber mindestens vier Strahlschüsse hatten die Schirmfelder durchgeschlagen. Die Vertrauten der Prinzessin waren tot, das Raumschiff ein halbes Wrack; das Notsignal war dann zwar gehört und angepeilt worden, aber es waren Walzenraumer der Methans gewesen, die die CERVAX nach kurzem Gefecht per Traktorstrahl eingefangen und nach Skrantasquor gebracht hatten. » … und dort begannen diese Ungeheuer mit meiner Verkleinerung.« »Ich machte erstmals bei der Schlacht um Trantagossa Bekanntschaft mit ihrem ›Zwergenmacher‹«, sagte ich. »Mein Vorstoß nach Skrantasquor verlief dann leider nicht ganz so wie geplant. Weil es mir schon einmal gelungen war, dem oder einem ›Mikrokosmos‹ zu entrinnen, ging ich von falschen Voraussetzungen aus und ließ mich freiwillig verkleinern: Die Vereinbarung mit dem Grek Eins von Skrantasquor besagte, dass wir unsere Freiheit erhalten, wenn es mir gelingt, ihren Grek Drei und dich zu finden und zurückzukehren.« »Freiwillig? Finden und zurückkehren? Vereinbarung mit diesen Ungeheuern?« Ihre Fragen zeigten mehr als deutlich,
dass sie an meinem Verstand zweifelte. Nun ja, rückwirkend betrachtet, durchfuhr es mich, war es ganz bestimmt nicht die beste Idee meines Lebens. Die Erinnerung gewann mit bedrückender Intensität Gestalt.
»Sie wissen sehr viel, eigentlich zu viel«, hatte Grek 1 gesagt. »Wir erprobten den Molekularverdichter an Prinzessin Crysalgira und versuchten, mit diesem Experiment herauszufinden, wohin unser Wissenschaftler Grek Drei verschwunden ist, der sich parallel zum Angriff auf Trantagossa einem Selbstversuch unterzogen hat. Leider erfüllten sich unsere Erwartungen nicht. Die Gefangene konnte zunächst zwar von Massedetektoren angemessen werden, doch dann verschwand ihre Masse so spurlos wie die von Grek Drei.« »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können, wenn Sie mich gefragt hätten«, sagte ich mit dem stillen Triumph des Wissenden dem Unwissenden gegenüber, während gleichzeitig meine Gedanken förmlich zu rasen begannen. Wissenschaftler verkleinert und verschwunden? Ich erinnerte mich an die Ankunft in Su-Ra, der Festung des unvergleichlichen Vorschwebers Brägatz Ovrosi. 24. Prago der Prikur 10.498 da Ark im »Mikrokosmos«: Neben einem Dreiecktor hatte sich auf einem Steinblock ein kleinerer erhoben, der in Form eines Sessels gehauen war. Und in diesem wuchtigen Sessel hockte ein Maahk. Während der ersten Millitonta hatte ich einfach dagestanden und eine umfassende Lähmung gespürt. Ich starrte auf den nackten Maahk und keuchte auf, griff ihn sogar mit einer Lanze der blaukegligen Dnofftries an, bis mir bewusst geworden war, dass er bereits seit längerer Zeit tot sein musste. Laut Ovrosi war er zu einen Zeitpunkt, der sich in etwa mit jenem deckte,
als ich erstmals bewusst das Kontinuum des »Mikrokosmos« wahrgenommen hatte, in einem Gravowirbel nahe der Grenze seines Reiches entdeckt worden. Während der Vorschweber dann in Su-Ra zurückblieb, war ich an Bord der TOP-TANKAU aufgebrochen, um zum Ende der Ebene vorzudringen. Die Welt der Dnofftries war eine »Ebene«, ohne dass ich zu sagen gewusst hätte, ob es nur ein abgegrenzter Raum innerhalb unzähliger anderer Räume des »Mikrokosmos« oder etwas anderes war. Dass es sich nicht um einen Planeten im mir vertrauten Sinn handelte, stand allerdings fest, denn die »Ebene« erstreckte sich flach und überwiegend leer nach allen Seiten, während sich darüber die Gravoströme und Hyperfelder erstreckten. Das Ende der Ebene hatte sich dann als sinnverwirrende Zone zwischen zwei Kontinua herausgestellt; ich hatte mit angesehen, dass durch die Einbruchstelle Körper aus dem Standarduniversum in dieses Kontinuum fielen. Körper von Arkoniden. Mit unbekannter Richtung und ebenso unbekanntem Schicksal trieben sie in jener Energieströmung an mir vorbei, die ihr Einbruch hervorgerufen hatte, nachdem sie wie ich vom Wirkungsfeld eines maahkschen Molekularverdichters erfasst worden waren. Ich haderte mit meiner Unfähigkeit, ihnen helfen zu können. Aber ich hatte mich nicht von der Stelle rühren können. Schnell waren die Gestalten in der Ferne verschwunden, während ich gemerkt hatte, dass mich eine unwiderstehliche Kraft packte und auf jene Stelle zutrieb, wo ich das Leck in der Grenze zwischen den Kontinua erkennen konnte … War der tote Maahk in Su-Ra Grek Drei?, fragte ich mich, während in mir Hitze und Kälte wechselten. Oder nur ein anderer Wasserstoffatmer des Projektorschiffs? Der Zeitpunkt würde im einen wie im anderen Fall stimmen. Wie sieht es dagegen mit meiner Rückkehr aus? Haben die Maahks am zweiundzwanzigsten
Prago der Coroma mit dem Molekularverdichter experimentiert, so dass Arkoniden in den Mikrokosmos stürzten und mir im Gegenzug das Verlassen ermöglichten? »Warum?«, schnarrte Grek 1. »Aus welchem Grund glauben Sie, Bescheid zu wissen, was mit Personen geschieht, die mit dem Molekularverdichter bestrahlt werden?« Ich lächelte kalt. Wahrscheinlich wurde ich vom Wilden Gork geritten, aber ich hatte den Drang, den Maahks mein Wissen in die ausdruckslosen Gesichter zu schleudern. »Weil ich im Trantagossa-System in den Einfluss Ihres Molekularverdichters geraten bin«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich kenne die Wirkung also aus eigener Erfahrung. Weder die Masse Ihres Grek Drei noch die von Prinzessin Crysalgira blieb im Messbereich der Massetaster, weil die Körper ab einem bestimmten Stadium der Verkleinerung in einen Mikrokosmos übertreten, der nicht zum vertrauten Kontinuum des Standarduniversums gehört.« Die Haltung der Maahks versteifte sich. Es war mir völlig klar, dass sie mir meine Geschichte nicht abnahmen. Ich hätte sie ebenfalls niemandem geglaubt, hätte ich sie nicht selbst erlebt. »Es gibt Lügen, die sich selbst entlarven. Ihre Lüge ist eine solche. Sie würden nicht hier stehen, wären Sie wirklich durch den Einfluss eines Molekularverdichters in ein anderes Kontinuum geraten.« »Sie glauben mir also nicht?«, fragte ich lauernd. »Wenn Sie logisch denken können – und ich weiß, Sie können es –, wissen Sie selbst, dass ich Ihnen nicht glauben kann. Die Tatsache, dass Sie völlig normal hier stehen, beweist allein schon, dass Sie hinsichtlich Ihres Verschwindens in ein anderes Kontinuum gelogen haben. Ich gestehe Ihnen zu, dass diese Lüge nicht eines gewissen intellektuellen Reizes entbehrt, aber sie kann natürlich nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Diskussion sein.«
»Haben Sie vor kurzem – das Datum lautet nach ArkonZeitmaß zweiundzwanzigster Prago der Coroma – mit dem Molekularverdichter experimentiert und dabei Arkoniden verkleinert, die ebenfalls spurlos verschwunden sind?« »Woher wissen …?« Er sprach nicht weiter, während Unruhe die anderen Maahks erfasste. Es passt zusammen!, durchfuhr es mich; laut sagte ich: »Soll ich den Beweis für meine Behauptung antreten?« Bist du wahnsinnig geworden?, kreischte der Logiksektor, während in meinem Kopf in Bruchteilen eines Wimpernschlags Tausende Aspekte durcheinander quirlten. Du gehst von Voraussetzungen aus, für die es keinen Beweis gibt. »Das können Sie nicht, Atlan.« »Und ob ich das kann – denn mir gelang die Rückkehr! Versprechen Sic, mir und Prinzessin Crysalgira die Freiheit zu geben, wenn es mir gelingt, sie und Grek Drei aus dem Mikrokosmos zurückzuholen? Eine Garantie, dass Ihr Artgenosse noch lebt, übernehme ich allerdings nicht.« Grek 1 überlegte nicht lange. Seiner Meinung nach konnte ich meine Ankündigung niemals wahr machen, also gab es für ihn keinen Grund, nicht auf mein Spiel einzugehen. »Ich verspreche es. Sind Sie bereit, sich mit dem Molekularverdichter bestrahlen zu lassen? Aber bevor Sie zustimmen, bedenken Sie, dass es von ›dort‹ kein Zurück gibt!« »Ich bin schon einmal zurückgekehrt«, widersprach ich selbstsicher. »Es ist zwar nicht leicht, aber es ist möglich. Sorgen Sie dafür, dass in regelmäßigen Abständen Versuche mit dem Molekularverdichter unternommen werden, vergleichbar jenen vom zweiundzwanzigsten Prago der Coroma. Dann ist ein Rücktausch möglich.« Diesmal schien Grek 1 in seiner Überzeugung, ich hätte ihn angelogen, schwankend zu werden. Wieder beriet er sich mit
seinen Artgenossen, bevor er sich erneut an mich wandte. »Der Handel gilt. Gelingt es Ihnen, die Prinzessin Crysalgira und Grek Drei zurückzuholen, wo immer sie sich befinden, erhalten Sie und die Prinzessin die Freiheit. Sie erhalten sie sogar, sollten Sie allein zurückkehren.«
» … leider verlief es nicht so, wie ich es mir zurechtgelegt hatte«, murmelte ich, mir erst jetzt bewusst werdend, dass ich unter dem Zwang des fotografischen Gedächtnisses laut gesprochen hatte. »Die Verkleinerung endete nicht in jenem ›Mikrokosmos‹, den ich eigentlich erwartet hatte.« Crysalgiras Gesichtsausdruck schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Bewunderung; als Mitglied eines hochadligen Khasurns kannte sie die Symptome der vom fotografischen Gedächtnis heraufbeschworenen Erinnerungsschübe ebenso genau wie die der Extrasinn-Kommunikation. »Die ganze Vorgeschichte erzähle ich dir später, einverstanden? Ich schlug mich hier auf Somor durch, suchte euch. Den Maahk fand ich schließlich. Und dann bist auch du unter merkwürdigen Begleiteffekten erschienen.« Welchen Unterschied gab es zwischen ihrem »Transport«, meinem und dem des maahkschen Wissenschaftlers?, dachte ich. In allen drei Fällen war eine maximale Strahldosis zum Einsatz gekommen. Von Grek 1 wusste ich, dass es dem Wissenschaftler bei seinem Selbstversuch gelungen war, seine Ausrüstung und den Schutzanzug ebenfalls zu verkleinern, dass er sogar einen Generator mit sich geführt hatte, von dem er überzeugt gewesen war, er könne die Schrumpfung rückgängig machen. Das war ihm allerdings nicht gelungen. Ich wiederum war bereits zum zweiten Mal dem Einfluss des »Zwergenmachers« ausgesetzt gewesen. Reicht das aus, um die Unterschiede zu erklären?, fragte ich mich unbehaglich, denn
davon hing unter Umständen ja ab, ob es ähnlich wie bei der Ebene der Dnofftries vielleicht doch eine »einfache« Rückkehr gab oder nicht. Laut sagte ich: »Mit Grek Eins habe ich vereinbart, dass durch weiteren Einsatz des Molekularverdichters einmal täglich ›RücktauschVoraussetzungen‹ geschaffen werden sollen, weil ich fälschlicherweise davon ausgegangen bin, wiederum in den ›Mikrokosmos‹ der Dnofftries versetzt zu werden.« Das wirkte aber weder bei Grek Drei noch bei mir. Seit meiner Verkleinerung am 26. Prago der Coroma hatte ich nirgends Effekte vergleichbar jenen beim Ende der Ebene erlebt. Vom Erscheinen der Prinzessin einmal abgesehen. »Begonnen hatten die Phänomene«, fuhr ich fort, »als ich, von Trugbildern und Fieberfantasien heimgesucht, im lichten Unterholz des Urwalds mehrere metallische Behälter entdeckte, die teilweise von Wurzeln und Moos überwuchert waren …« Crysalgira lauschte aufmerksam meinem Bericht.
Die zylindrische Form und die geschätzte Länge von fast zwei Metern hatten die Erinnerungen an die Urnen geweckt, die Vruumys gesucht hatte. Angestrengt über diese Entdeckung grübelnd, ohne jedoch wirklich einen klaren Gedanken fassen zu können, bemerkte ich die Veränderungen nur mit Verzögerung: Zunächst fußhoch krochen von allen Seiten grauweiße Schwaden heran und verdichteten sich zum undurchdringlichen Schleier eines merkwürdigen Bodennebels. Ein kühler Hauch strich über mein schweißnasses Gesicht und ließ mich frösteln. Ohne dass ich die Ursache erkennen konnte, verwandelten sich die festen Metallbehälter abrupt in aufstäubende Partikelwolken, aus deren Mitte grelle Helligkeit hervorbrach und sich explosionsgleich ausdehnte. Für Augenblicke war alles in kalkiges Licht getaucht, während hinter allen beleuchteten Körper
scharfkantig pechschwarze Schatten entstanden. Aus weiter Ferne glaubte ich Ischtar Stimme flüstern zu hören, vergleichbar jenem Moment, als ich dem Blinden Sofgart gegenüberstand und das von ihr auf mich übertragene posthypnotisch verankerte Schutzfeld in der akuten Lebensgefahr meine Geistesenergie zu einem psionischen Schockstrahl bündelte und Sofgarts Körper durchbohrte. Ich zwinkerte verunsichert, weil ich kurzfristig glaubte, in der gleißenden Helligkeit einen oktaedischen Körper materialisieren zu sehen, der jedoch nicht mehr als ein Schattenriss war und augenblicklich wieder verschwand, als die Lichtflut bis auf ein zartes Schimmern und Leuchten abebbte … … und die gesamte Umgebung veränderte. Unvermittelt war bleigraues Wogen und Wabern zu sehen, zwischen dem die düsteren Schemen hochwachsender Pflanzen aufragten. Ihre dürren Äste waren gespreizt, viele hatten ihre Fruchtlast verloren, andere die Blätter. Ein orgelndes Geräusch war zu hören. Es schwoll an, ebbte aber ebenso rasch wieder ab. Fast wirkte es, als würde ein Riese eine mächtige Harfe schlagen. Weiterer Nebel waberte heran, kalt, nass, grau und undurchdringlich. Die Feuchtigkeit legte sich schwer auf meine Lungen. Der plötzlich sandig gewordene Boden knirschte unter meinen Füßen, weitere breitflächige Blätter zerfielen knisternd. Abermals orgelte ein anschwellender Ton durch die Nebelwand. Die Schwaden kamen in Bewegung und wurden zu blassgrauen Schlieren, aus denen flatternde Goldfäden entsprangen, die sich mehr und mehr verknoteten, zu einem Knäuel heranwucherten, weiter wuchsen und eine ovale Goldblase formten. Später wurde die von Reflexen übersäte Oberfläche unvermittelt transparent und enthüllte den waagrecht ausgestreckten Körper einer nackten Frau, deren silbriges Haar ein schwerelos aufgeplustertes Büschel formte. Und während ich abermals Ischtars flüsternde Stimme zu hören glaubte, hatte sich die Umgebung auf eine Weise verändert, die mich zutiefst verwirrte. Das war nicht mehr der normale Dschungel gewesen; irgendetwas war mit ihm oder der Welt
insgesamt geschehen, alles hatte sich durch das Zusammentreffen mir unbekannter Faktoren verwandelt. Die vibrierende Stachelkugel, Vruumys’ MetAtlanzug, der auf mir unbekannte Weise eine »Aura« gegen die Kristalle des Todes generierte, die sonderbar detonierenden Urnen – vielleicht intakte Behälter mit dem Trank des ewigen Lebens? –, ein kurzfristig sichtbar werdendes Oktaeder, Ischtars Stimme, vielleicht noch viele weitere Einflüsse, die sich meinen Sinnen entzogen – all das hatte offenbar auf eine Weise zusammengewirkt, die die Grenzen der Dimensionen wie auch von Raum und Zeit sprengte. Möglich, dass sogar das verzerrende Hyperfeld, dem die Prinzessin bei der Verkleinerung ausgesetzt war, als weitere Komponente hineinwirkte und so letztlich die Voraussetzungen geschaffen wurden, dass sie Gestalt gewann. Vielleicht weil die Maahks wie vereinbart ihren Molekularverdichter eingesetzt und ihr dadurch gewissermaßen den letzten Schubs gegeben hatten, während sie vorher zwischen den Dimensionen gefangen gewesen war? Ein Schubs, der unter Umständen sogar nur deshalb wirksam werden konnte, weil ich quasi als »anziehender Gegenpol« ebenfalls vor Ort gewesen war? Leider verbanden sich mit dieser Überlegung mehr Fragen als Antworten, zumal sie schwerlich die nachfolgenden Effekte wie den Eissturm und sein abruptes Verschwinden ohne bleibende Folgen, die Sandraupen oder die Lebenskügelchen und ihre Wirkung erklären konnte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es verstehe, Kristallprinz«, flüsterte Crysalgira und riss mich aus den Gedanken. »Geht mir nicht viel anders.« Sie lächelte matt. »Das meinte ich weniger …« »Nun, die übrige Vorgeschichte …«
» … ist – etwas länger. Ja, das sagtest du bereits.« Wir grinsten. »Ich habe Hunger und Durst.« Ich gab mir einen Ruck, stand auf und zeigte auf den Antigravschacht. »Dann sollten wir nachsehen, ob sich an Bord etwas Brauchbares findet.« »Einverstanden.« Gemeinsam durchstöberten wir in den nächsten Tontas das Raumschiff von oben bis unten und vermieden es vorläufig, weiter auf die unbeantworteten Fragen einzugehen. Während sich mein Interesse eher auf die technischen Funktionen und Möglichkeiten richtete, war das von Crysalgira ganz praktischer Natur – sie untersuchte die Unterkünfte, Hygieneeinrichtungen, Vorräte und sonstige Ausrüstung. Dem Hinweis ihrer gerümpften Nase folgend, gönnte ich mir ein ausgedehntes Bad, schlief darüber fast ein, schrak irgendwann hoch, säuberte auch den MetAtlanzug und schwebte wieder zur Zentrale hinauf. Ich hörte Crysalgira auf den mittleren Decks rumoren, als ich abermals die Kontrollen der Pulte in Augenschein nahm und es nach einer Weile sogar schaffte, auf der Basis von Dophors Krothenbeet-Dialekt mit dem Hauptrechner eine akustische Kommunikation zu beginnen. Das Thema Vruumys blieb hierbei unerwähnt – vorläufig akzeptierte mich das Schiffsgehirn als weisungsbefugt. Ob das auch der Fall war, wenn ich starten wollte, musste sich noch herausstellen. Ich war durchaus ein Freund schneller Entschlüsse. Am liebsten wäre ich sofort ins All gestartet, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Doch Vruumys’ Hinweis auf die Somor teilweise einhüllenden Restausläufer des kosmischen Sturms und ihre Gefährlichkeit hielten mich von einem voreiligen Versuch ab. Abgesehen davon – wohin sollte ich mich wenden? Ich hatte überhaupt keine kosmischen Bezugspunkte. Ich wusste nur, dass ich im »Mikrokosmos«
gelandet war, und musste unwillkürlich an die Geschichten von der Eroberung des Sternenraums durch meine Vorfahren denken. Fern vom Kugelsternhaufen Thantur-Lok waren immer wieder Raumfahrer auf unerforschten Welten havariert. Nur selten hatte man wieder etwas von ihnen gehört. Die Unglücklichen waren dazu verdammt gewesen, auf einer unter Umständen lebensfeindlichen Welt auszuharren, gaben jedoch die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages ein arkonidisches Raumschiff am Himmel erschien, um sie abzuholen. Mitunter nutzten sie ihre Zeit, um die eisbedeckten Gipfel eines fernen Gebirges zu erreichen. Von dort aus konnten sie die gleißenden Sterne noch besser sehen, waren ihrer Heimat um eine kaum messbare Strecke näher gekommen. Wie aber sollte ich dem Standarduniversum näher kommen? Ich stöhnte unterdrückt auf, durfte mich nicht mit solchen Gedanken quälen. Das führte zu nichts. Das Ziel ist die Rückkehr ins Standarduniversum! Hierbei war selbst der kleinste Hinweis entscheidend, ich wollte keine Spur außer Acht lassen; erster und bislang einziger Ansatzpunkt war der Planet Somor. »Gibt es Aufzeichnungen über Vruumys’ Arbeit?« »Ja«, antwortete der Schiffsrechner. Die Bildschirmeinstellung änderte sich. Ein schwarz bepelztes Wesen wurde in die Panoramadarstellung eingeblendet. Die gelben Augen leuchteten so naturgetreu, dass es den Eindruck erweckte, der Raumfahrer würde noch leben und mir leibhaftig gegenübersitzen. »Vruumys.« In einem Lautsprecher knackte es leise. Dann vernahm ich die automatisch übersetzte Stimme, die ich noch in bester Erinnerung hatte: »Ich beginne mit meinen persönlichen Aufzeichnungen, denen ich folgenden Titel gegeben habe: Die privaten Gedanken des Forschers Vruumys während seiner Reise durch den bekannten Leerraum …«
Vruumys schilderte seine Beweggründe, die ihn zum Aufbruch ins Unbekannte veranlasst hatten. Sein Erzählstil war mitunter blumenreich und selbstgefällig. Aber das war wohl eine Eigenart der Tejonther. Wiederholt gab es Hinweise, die sich auf ihre Gesellschaftsstruktur und Lebensgewohnheiten bezogen. Zum Beispiel erfuhr ich erst jetzt, dass die Tejonther eine dreigeschlechtliche Lebensform waren. Namen wie »Vruumys« bezeichneten das männliche Geschlecht. War dem Namen die Silbe »Cel« angehängt, handelte es sich um eine Frau. Die Silbe »Dol« kennzeichnete einen geschlechtslosen Vertreter der Tejonther, die offenbar ab einem bestimmten Alter aus Frauen und Männern hervorgingen. Vruumys war von dem Gedanken besessen gewesen, den Schlüssel zum ewigen Leben zu finden. Dafür hatte er alle Strapazen eines abenteuerlichen Fluges durch den, wie er es nannte, »bekannten Leerraum« in Kauf genommen. Indem er seinem Wunschtraum nachjagte, verzichtete Vruumys sogar auf die Teilnahme am Kreuzzug nach Yarden. Ich erfuhr, dass sich alle rund 350 Somorjahre zehntausend tejonthische Raumschiffe zu diesem »Kreuzzug« trafen. Zu welchem Zweck diese Flotte in die Weiten des Alls aufbrach, ging aus dem Bericht jedoch nicht hervor. Der Tejonther erging sich in geheimnisvollen Andeutungen, die das Rätsel nur vergrößerten. Ich ahnte, dass ich hier an Dingen rührte, deren Tragweite mir bislang nur in Umrissen bekannt war. Ein faszinierender Gedanke zog sich durch Vruumys’ Bericht. Der Tejonther hatte an vielen Beispielen eine kosmologische Theorie entworfen. Bei seinen Flügen durch den Leerraum hatte er sorgfältig alle Phänomene registriert und analysiert. Seine Messungen waren exakt und mit besonderer Akribie in die Positronik eingegeben worden. » … entdeckte ich immer wieder dieselben Phänomene. Ob
es sich um solche bei veränderlichen Sonnen, Kometen, Planeten, Strahlungsfeldern oder Interferenzerscheinungen zwischen den Sternen handelt, die physikalischen und hyperphysikalischen Bedingungen gleichen sich aufs Haar: Verbunden mit starken hyperenergetischen Eruptionen, die bis in höchstfrequente Abschnitte reichen, sind anormale Kälteeinbrüche von unterschiedlicher Dauer und Ausdehnung. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es eine Überwelt oder einen Überraum gibt, in die oder den der bekannte Leerraum eingebettet ist. In der Extrapolation meiner Theorie müssten alle noch zu entdeckenden unbekannten Leerräume ebenfalls in diese überdimensionale Existenzebene eingebettet sein. Eines Tages werden wir vielleicht auch in diese unbekannten Leerräume vorstoßen. Ich weiß, dass die Leerraumkontrolleure über exakte Detailinformationen zu diesem Komplex verfügen …« Anormale Kälteeinbrüche? Vruumys stützte seine Theorie auf bestimmte physikalische und hyperphysikalische Beobachtungen sowie auf die Kenntnis von den Tropoythern; kannten die Leerraumkontrolleure einen Weg »nach oben«? Ein raumfahrendes Volk, das mir den Weg ins Standarduniversum verraten kann? Angesichts der mit Crysalgiras Auftauchen verbundenen Effekte ließ mir Vruumys’ Hinweis auf die Kälteeinbrüche keine Ruhe. Ist das vielleicht der maßgebliche Hinweis?, fragte ich mich und dachte an die Eisige Sphäre. Deutlich erinnerte ich mich an Ischtars Aussage, dass ihr Volk ursprünglich aus einem »anderen Kontinuum« stammte. Gehörte dieses vielleicht ebenso wie die Eisige Sphäre zu einem anderen Universum, das auch mit dem Begriff »Mikrokosmos« umschrieben werden konnte? Mir fiel ihr Interesse ein, das deutlich über rein wissenschaftliche Neugier hinausgegangen war, als ich von meinen Erlebnissen bei den Dnofftries
berichtet hatte. Konnte es sein, dass mehr hinter dem Prinzip der »Molekularverdichtung« steckte? Waren hier Dinge betroffen, die mit den Varganen zusammenhingen? Was immer sich auch hinter dem Begriff Eisige Sphäre verbergen mochte, diese Erinnerung vermengte sich – ähnlich wie schon einmal nach meiner Materialisation hier auf Somor inmitten von Schnee und Eis, diesmal jedoch noch intensiver – mit der an den plötzlich auftauchenden und wieder verschwindenden Eissturm zu einer mehr als fantastischen Idee. Ich dachte an die Ereignisse auf Sogantvort, an die riesige Halle, die derart von Licht durchflutet gewesen war, dass ich im ersten Augenblick nichts hatte erkennen können. Gleichzeitig verspürte ich eine eisige Kälte, die wie Nadelspitzen in meine Haut eindrang. Auf Margon war es eine Energiekugel gewesen, mit der Magantilliken eine rätselhafte Verbindung zur Eisigen Sphäre der letzten Varganen herstellte. Auf Sogantvort waren die Wände dick mit Eis überzogen. Auf dem Boden lagen weißer Puder wie frisch gefallener Schnee. Aus dem Licht heraus materialisierten plötzlich Gestalten – aber sie materialisierten nicht vollständig, sondern verharrten in einem halb verstofflichten Zustand. Ihre Füße berührten den Boden nicht, sonst hätte ich Spuren sehen müssen. Die Gestalten wirkten wie ätherische Wesen, durchaus arkonoid und fast fraulich zart. Durchsichtige Schleier umwehten sie wie eine Aura … Mein ungeborener Sohn Chapat im Überlebensbehälter hatte sie die zwölf Erinnyen genannt. Seine mentalen Impulse hatten Erregung, aber auch Verwirrung und Unentschlossenheit beinhaltet, gefolgt von der Aussage: Seit undenkbaren Zeiten wurde kein Vargane mehr geboren … Ich überlegte, was das mit dem Erscheinen der »Erinnyen« zu tun hatte. Stellten sie die Verbindung zur Eisigen Sphäre her, in der angeblich die letzten Varganen lebten? Gleichzeitig erinnerte ich mich der seltsamen Betonung, mit der Magantilliken von Ischtars Sohn
gesprochen hatte. Ich bin wertvoll und unersetzbar! Und weitere Bilder: Die zwölf Gestalten schwebten heran, langsam und unaufhaltsam. Sie streckten ihre Arme aus, als wollten sie mich in ihr Reich der ewigen Kälte mitnehmen. Jetzt waren sie vor mir und kamen nicht mehr näher. Aber sie streckten ihre halb durchsichtigen Arme aus – und nahmen mir den Behälter mit Chapat aus den gefühllosen Händen. Während sie langsam zurückschwebten, von wirbelnden Flocken und Kristallen eingehüllt, erreichten mich wieder die Gedankenimpulse des Embryos. Diesmal verrieten sie Entsetzen und Todesangst. Atlan! Informiere Mutter! Nur sie kann mich aus der Eisigen Sphäre befreien, in die man mich bringen will. Sie muss mich retten! Fliehe! Dann wurden die zwölf Gestalten undeutlicher. Auch der Behälter mit Chapat verlor an Substanz und wurde allmählich durchsichtig. Die Wolken der Eiskristalle waren nicht mehr so dicht, spürbar ließ die furchtbare Kälte nach, die mich an meinen Platz bannte und bewegungsunfähig machte. Als der seltsame Gesang schließlich verstummte, waren die zwölf Gestalten verschwunden – und mit ihnen auch der Behälter mit Chapat. Abermals fragte ich mich, ob es zwischen dem »Mikrokosmos« und der Eisigen Sphäre der Varganen einen Zusammenhang gab. Hatte Ischtar deshalb so merkwürdig auf den Molekularverdichter der Maahks reagiert? Weil sie wusste, dass das »fremde Kontinuum«, aus dem die Varganen seinerzeit in das Standarduniversum vorgestoßen waren, mit »dem Mikrokosmos« identisch war? Ischtar hatte versichert, selbst nie die Eisige Sphäre betreten zu haben, aber ich war mehr denn je davon überzeugt, dass es irgendwelche Verbindungen gab – nicht zuletzt, weil hier auf Somor mit den Urnen und den Lebenskügelchen zwei Faktoren hinzugekommen waren, die durchaus zu den unsterblichen Varganen passen würden.
Von Vruumys hatte ich erfahren, dass lange vor dem Ende des alten Somor angeblich Wesen, deren Ursprung und Geschichte unbekannt waren, im Mündungsgebiet des Jongquatz eine Anzahl von Urnen versenkt hatten. Sie waren in Kämpfe verwickelt worden, einige Angehörige ihres Volkes hatten den gewaltsamen Tod gefunden. Die Wesen selbst aber seien – behauptete laut Vruumys die Legende – unsterblich gewesen. Die Legende sagte nicht, wer sie waren, aber seine persönliche Vermutung war gewesen, dass sie zu den geheimnisvollen Leerraumkontrolleuren gehörten. Vruumys’ Stimme klang durch meine Erinnerung: »Lange vor der Katastrophe hatte ein Forscher meines Volks von einem Mann namens Motros von der Legende gehört und kam zu der Überzeugung, dass die Geschichte einen wahren Hintergrund haben musste. Mit Motros suchte er nach den Urnen, fand sogar einen stählernen Behälter und öffnete ihn. Zu seinem Erstaunen enthielt das Ding lediglich eine klare Flüssigkeit, aber keine Asche, Leiche oder sonstige Überreste. Er entnahm eine Probe und brachte sie zur Untersuchung in sein Labor. Als er zurückkehrte, sah er, dass Motros einen Becher aus der Urne zog und daraus trank. Motros entwickelte plötzlich ungeahnte Kräfte und überwältigte den Raumfahrer, obwohl der ihm waffenmäßig weit überlegen war, sprang über Bord und schwamm mit ungeheurer Geschwindigkeit davon. Der Raumfahrer probierte den Trank ebenfalls aus, bekam zwar keine ungewöhnlichen Kräfte, vermochte jedoch klarer zu denken. Erst viel später, lange nach der Katastrophe, stellte er fest, dass er nicht mehr alterte. Das bescherte ihm mit der Zeit allerdings Schwierigkeiten mit anderen Tejonthern, denen das aus verständlichen Gründen merkwürdig vorkam. Seitdem irrt er ruhelos durch den Leerraum, nur wenige kennen seinen Namen. Ich traf ihn zufällig, als er sich in einer
ähnlich scheußlichen Lage befand wie du. Ich half ihm – zum Dank verriet er mir sein Geheimnis.« Ergänzt wurden diese Informationen später durch das, was ich vom Wahnsinnigen Motros in der tejonthischen Forschungsstation erfahren hatte: »Ich lebe immer noch! Es ist lange her, aber ich erinnere mich genau. Stark und kräftig wurde ich vom Trank im Metallbehälter. Ich wusste, dass in ihm Lebenssamen aufgelöst waren, die schon viele suchten, aber nur wenige fanden. Ich lebte noch, als andere alt und greis wurden und starben … Und irgendwann kamst du, Vruumys. Hast mich gefangen genommen, gebunden mit unsichtbaren Fesseln, mich sogar hierher verschleppt, wolltest mein Geheimnis ergründen, ohne mir dein Gesicht zu zeigen. Hah! Du Narr! Nach dem Großen Licht und der langen Zeit ist der Trank in den Behältern verdorben; niemand außer mir kennt noch den Ursprung. Oh nein, ich habe dir nichts von den Lebenssamen verraten. Warum sollte ich?« Sechzehn Urnen hatte Vruumys bei seiner Suche im Dreiflussdelta gefunden, nicht eine davon war brauchbar gewesen; das Meerwasser hatte die Hüllen teilweise zerstört, der Inhalt war natürlich verschwunden. Als wir dann eine intakte gefunden hatten, war die Flüssigkeit darin so klar und farblos wie Wasser gewesen, hatte jedoch einen unangenehm stechenden Geruch ausgeströmt – und dem Tejonther statt Unsterblichkeit den Tod gebracht. Sicher hatte er sich nicht träumen lassen, dass die roten Samenkügelchen von Gewächsen direkt beim Landeplatz seines Sternenschiffs etwas damit zu tun haben könnten. Es war die Ironie des Schicksals, dass man die erträumten Dinge immer ganz woanders suchte. Dass es die von Mottos erwähnten Lebenssamen tatsächlich gab, hatte sich erst nach Crysalgiras Materialisation herausgestellt.
Ich öffnete das Gürteletui und nahm eins der roten Kügelchen heraus, von dem intensiv süßlicher Geruch ausging; es war von sehr elastischer Konsistenz, so dass es sich warm und weich anfühlte, fast wie durchblutetes Fleisch. Diese Lebenssamen hatten unter anderem die Sandraupen trotz des Eissturms vorzeitig belebt und Crysalgiras Leben gerettet. Unwillkürlich fragte ich mich, während ich das Kügelchen ins Etui zurückrollen ließ, ob die Wahrheit vielleicht in einer »dritten Version« der »Legende« zu finden war, weil weder Vruumys noch Motros die vollständige Geschichte gekannt hatten, während ich meine Kenntnis über Unsterbliche nicht auf irgendwelche Unbekannte zu schieben brauchte, sondern in den Varganen leibhaftig erlebt hatte. Angenommen, dachte ich, die gewaltsam umgekommenen Unsterblichen wurden von überlebenden Artgenossen ganz schlicht begraben. Als Individuen hatten sie zwar den Tod gefunden, ihre besondere … hm, Lebenskraft war jedoch nicht ganz aus den Körpern gewichen, sondern ging auf in der Umgebung wachsende Pflanzen über, wo sie sich in den roten Samen konzentrierte. Irgendwann fiel jemandem deren besondere Heilkraft auf so dass er daraufhin unter anderem die Metallbehälter herstellte und mit den in Flüssigkeit aufgelösten Lebenssamen füllte, die auf diese Weise ein hochwirksames »Lebenskraftkonzentrat« ergab – und Motros seine Kraft und Langlebigkeit verlieh. Und diese unbekannten Unsterblichen sollen Varganen gewesen sein?, fragte mein Logiksektor skeptisch. Warum nicht? Die Varganen sind nun einmal unsterbliche und extrem robuste Wesen, die ihre toten Körper konservieren und im Fall von Magantilliken sogar durch Bewusstseinsversetzung wieder beleben können; Wesen, die ursprünglich nicht aus dem Standarduniversum stammten, sondern aus einem »anderen Kontinuum« – und überdies mit der Eisigen Sphäre über einen Ort
verfügen, dessen Kältephänomen mit den von Vruumys erwähnten Effekten und dem von mir und Crysalgira beobachteten Eissturm zumindest starke Ähnlichkeit hat. Ich denke, dass das zu viele Übereinstimmungen sind, um noch als Zufall durchzugehen. Der letzte vom varganischen Henker belebte Körper war zwar von Ischtar auf Cherkaton getötet worden, aber sein Bewusstsein hatte die Fähigkeit, den Tod des Körpers zu überdauern. Bislang jedenfalls hatte der eigentliche Magantilliken, das Wesen, der Charakter der Person, stets die Vernichtung des Körpers überlebt. Allerdings hatte es diesmal für Magantilliken nach eigener Aussage keine Möglichkeit der Rückkehr in die Eisige Sphäre gegeben. Den Zugang »versperrt« vorzufinden bedeutete unter Umständen für ihn, dass der Vernichtung seines Körpers die seines Bewusstseins folgte, dass es verwehte oder wie immer man dieses Ende auch umschreiben mochte. Unabhängig davon war es eine erschreckende Fähigkeit, die mich fröstelnd an jene Insektoiden denken ließ, die als die »Erzfeinde« meines Volks galten. Individualverformer oder IV war die Bezeichnung dieses Fremdvolks, das von uns in Ergänzung ihrer vokallosen Sprache VeCoRat XaKuZeFToNaCiZ, kurz Vecorat, genannt wurde. Auch sie konnten rein geistig den eigenen Individualkörper verlassen und auf einen anderen überspringen; hierbei kam es zum Austausch mit dem Bewusstsein des Opfers, das bis zum abermaligen Tausch im Vecorat-Körper zur Handlungsunfähigkeit verurteilt war. Insbesondere in der Regierungszeit von Imperator Barkam I. waren sie massiv in Erscheinung getreten, und es war nur dem Eingreifen der Großen Feuermutter – unterstützt vom »Dyhanensinn« der Gorianer – zu verdanken gewesen, dass der Invasionsversuch aufgedeckt und abgewehrt werden konnte. Die Ausbildung der allerersten Tai Zhy Farn als weibliches Gegengewicht zum
männlichen Imperator war ein künstlich stabilisierter Bewusstseinsverbund aus 158 Feuerfrauen von Iprasa gewesen. Erst rund 2500 Arkonjahre später hatten die Vecorat einen erneuten Vorstoß gewagt. Die Fähigkeit zumindest einiger Varganen war mit der Gabe dieser Wesen durchaus vergleichbar. Unwillkürlich dachte ich auch an die Reliefs in der Ruinenstadt. An einer Stelle hatte ich ein Oktaeder gesehen, wie es die Varganen als Raumschiffsform verwendeten, war mir aber nicht sicher gewesen, ob es sich um eine falsche Perspektive handelte. Zwar gehörte diese Form zu den fünf universellen Grundkörpern – Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder –, die neben der Kugel von vielen Völkern wegen ihrer idealen Regelmäßigkeit, Symmetrie und Ganzzahligkeit als Urbilder rationaler kosmischer Verhältnisse angesehen wurden, und zweifellos gab es ungezählte Zivilisationen in den Abermilliarden Galaxien, die Oktaederraumer schufen. Dennoch hatte mich beim Anblick der Wandzeichnung ein eigenartiges Gefühl beschlichen, gefolgt von dem fantastischen Gedanken: Muss ich »nur« nach Varganen suchen, um diese Welt wieder zu verlassen? Ist hier gar irgendwo die Eisige Sphäre, in die Ischtars und mein Sohn entführt wurde? Jener Ort, an dem sich auch Magantillikens Originalleib befindet, den sein Bewusstsein unter Umständen inzwischen wieder beseelt hat? Ich erinnerte mich an die Suche nach dem Stein der Weisen und daran, dass mit ihm das ewige Leben verknüpft sein sollte, dachte an die unglaubliche Langlebigkeit der Varganen und fragte mich: Hat nur deshalb niemand den Stein der Weisen gefunden, weil er sich im »Mikrokosmos« befindet statt auf irgendeiner Welt des Standarduniversums? Ich fragte den Hauptrechner: »Wer sind die Tropoyther? Wo sind sie zu finden?« »Keine Information vorhanden.«
Ich brannte vor Ungeduld, als ich weitere Passagen von Vruumys’ Bericht abfragen wollte, wurde aber von Crysalgira abgelenkt, die in die Zentrale kam und ein zylindrisches Glas in der Hand hielt, das mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt war. »Trink mal. Das Zeug schmeckt sehr gut, anscheinend mit Nährstoffen angereichert. Es vertreibt den Hunger besser als jedes Schlemmermahl.« Sie drehte sich um und lächelte. »Das ist ein wunderbares Schiff. Es arbeitet völlig selbständig. Offenbar braucht man nur seine Wünsche zu äußern, es richtet sich danach.« Bis auf weiteres, dachte ich und erntete einen zustimmenden Impuls des Extrasinns. Wollen wir mal hoffen, dass es so bleibt.
3. Atlan: Nachts litt ich unter grausamen Albträumen. Meine Umgebung war so real, wie ich sie seit meiner Geburt wahrzunehmen gelernt hatte. Ich atmete die gewohnte Sauerstoffatmosphäre, Nahrungskonzentrate standen in ausreichendem Maß zur Verfügung. Wollte ich frische Nahrung zu mir nehmen, brauchte ich das kleine Raumschiff nur zu verlassen. Draußen gab es eine dicht wachsende Flora, die Gewächse trugen verschiedenfarbige und verträgliche Früchte; ich hatte sogar kleine Tiere entdeckt, die ich hätte jagen können. Trotzdem haderte ich mit meinem Schicksal. Oft genug hatte ich schon dem Tod ins Auge gesehen, hatte Dinge gewagt, die einem anderen Arkoniden niemals in den Sinn gekommen wären. Aber diesmal quälte mich der Gedanke, dass ich in einer aussichtslosen Lage gefangen sein könnte. Seit drei Somortagen befänden wir uns an Bord von Vruumys’ Sternenschiffchen, dessen schwache Bewaffnung bestenfalls für die Meteoritenabwehr ausreichte. Unter Vruumys’ persönlicher Ausrüstung hatten wir einige Kombihandwaffen, flugfähige
Schutzanzüge und all die Kleinigkeiten entdeckt, die an Bord eines Raumers gebraucht wurden, uns in unserer Situation jedoch nicht weiterhalfen. Zwar war es uns inzwischen gelungen, die Translatorfunktion des positronischen Rechners auf Satron zu programmieren, so dass sogar die Anzeigen mit vertrauten Symbolen erfolgten, aber eine gewisse Ratlosigkeit drohte sich breit zu machen. Ich hatte der Prinzessin von meinen Erlebnissen berichtet, sie kannte nun die Zusammenhänge und half mit ihrem wachen Verstand bei den ausgedehnten Diskussionen, etwas Ordnung in die wüsten Überlegungen zu bringen. Meine Vermutungen hinsichtlich der Varganen mochten zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, doch sie blieben nun einmal ohne weitere Hinweise rein spekulativ. Und selbst wenn sie zutrafen, eröffnete sich dadurch noch lange keine Rückkehrmöglichkeit ins Standarduniversum. Das durch Crysalgiras Ankunft kurzfristig geöffnete »Tor« blieb jedenfalls verschlossen, mehr noch – es war komplett verschwunden: Mit der ausgedruckten Ortungskarte des Sternenschiffs als Orientierung in der Hand waren wir gestern in den Urwald eingedrungen und bis zum schwarzen Pilzberg vorgestoßen, der die Baumkronen überragte. Aber weder von den Sandraupen noch den Gewächsen mit den Lebenssamen war irgendeine Spur zu entdecken. Fast schien es, ab hätten sich unter den hyperphysikalischen Kräften mehrere verschiedene Welten, Kontinua oder Universen kurzfristig überlagert oder vermischt und dann wieder unwiderruflich getrennt. Die Ortungs- und Tastungsgeräte des Raumers konnten keine anormalen Werte ermitteln, doch das entsprach dem, was Vruumys in sein Logbuch eingetragen hatte. Wäre es anders gewesen, hätte er zweifellos nicht nur einen anderen Landeplatz ausgesucht, sondern auch seine Suche nach dem ewigen Leben ausgedehnt. Eine halben Tag hatten wir uns dann mit den weiteren Ortungsergebnissen beschäftigt. Die Strahlenwolken, die die Nordhemisphäre Somors einhüllten, lieferten in der Tat bedenkliche Werte, so dass sie uns – neben der Unsicherheit hinsichtlich der Reaktionen des Schiffes selbst – noch von einem Start abhielten. Die
gemeinsam abgehörten Abschnitte aus Vruumys’ Logbuch halfen nur bedingt weiter; es hätte Votanii beansprucht, sich in die in vielen Jahren angesammelten Berichte einzuarbeiten. Die Grobsichtung lieferte zwar durchaus interessante Dinge – so gab es neben der Heimatwelt Tejonth und dem Planeten Belkathyr weitere fünf Standorte, an denen Großraumer für den Kreuzzug nach Yarden gebaut wurden –, aber von einem Durchbruch konnte keine Rede sein. Einziger Ansatzpunkt war der Hinweis auf die Gefühlsbasis am Fuß der Blauen Berge, exakt südlich unseres Landeplatzes in rund 4400 Kilometern Entfernung knapp nördlich des Äquators. Die Frage, ob wir uns vor Ort umsehen sollten, hatten wir schließlich mit einem eindeutigen Ja beantwortet. Selbst wenn wir dort keine brauchbaren Hinweise auf die Leerraumkontrolleure oder die Natur der Gefühlsbasis fanden, würde der Atmosphärenflug eine Generalprobe sein, bei der sich herausstellte, wie das Schiff reagierte. Von einem Besuch der tejonthischen Forschungsstation sahen wir wohlweislich ab; sie war nicht nur inzwischen komplett zerstört, sondern der Schiffsrechner lieferte eine eindringliche Warnung vor den weiterhin vorhandenen Kristallen des Todes – einer tejonthischen Abwehreinrichtung, gegen die offenbar nur die schwache hyperenergetische Aura der MetAtlanzüge wirkungsvollen Schutz bot –, die der Wahnsinnige Motros bei seinen Versuchen, die Herrschaft über den Stützpunkt zu übernehmen, unbeabsichtigt aktiviert hatte. Mit höchster Spannung beobachteten Crysalgira und ich schließlich den Start, doch das Schiff befolgte anstandslos alle Befehle. Von Antigravfeldern getragen, stieg es in die Höhe, bis die in den Seitenleitwerkflanschen integrierten Impulstriebwerke mit sanften Stößen einsetzten und wir auf Südkurs gingen. Noch hatten wir keine klare Vorstellung davon, was sich hinter dem Begriff Gefühlsbasis verbarg, aber die Ortungsergebnisse mahnten zur Vorsicht: Hyperemissionen, die jenen der Strahlenwolken über Somor ähnelten, wurden in einer Intensität angemessen, die zwar nicht besorgniserregend war, aber auch nicht auf die leichte Schulter
genommen werden durfte. Der Flug beanspruchte rund vier Tontas, schon nach knapp der Hälfte tauchten am Horizont die von Nordwest nach Südost verlaufenden Blauen Berge mit Gipfeln von bis zu 8000 Metern Höhe auf. Die dunkelblauen Bergrücken bildeten eine langgestreckte, gezackte Linie. Über vielen Bergen erhoben sich mächtige Rauchfahnen – aktive Vulkane. Das Land weiter östlich war eine von Strömen durchquerte Ebene.
Somor: 13. Prago des Tartor 10.498 da Ark Ehe ich das Schiff in ausreichender Distanz landen ließ, umkreisten wir mehrfach das riesige Areal des rund zweieinhalb Kilometer durchmessenden und bis zu fünfhundert Meter tiefen Kraters. Von den spitzgiebeligen Türmen zwischen dem Fuß des Gebirges und dem Krater ging eine unheimliche Drohung aus, ohne dass ich diese bedrohliche Aura genauer hätte beschreiben können. Vor lang gestreckten Mauern erhoben sich Dutzende Standbilder, die entweder Gestalten aus der Mythologie der Planetarier darstellten oder Abbildungen der Persönlichkeiten waren, die hier den Ton angaben. Der Anblick der Türme, zwischen denen gelbliche Dunstschleier wogten, ließ all jene Schrecken in mir wach werden, die normalerweise nur in Albträumen auftraten. Weitere Schwaden stiegen aus dem mächtigen Krater auf; dahinter waren andere Bauwerke zu erkennen, von denen einige kuppelförmig waren und uralt sein mussten. Auch an den steilen Kraterwänden entdeckte ich große Kuppelgebäude. Viele waren völlig durchlöchert, andere wiederum schienen noch einigermaßen intakt zu sein. Geschwungene Metallstege und in die Flanken gefräste Serpentinen führten in den Krater; Dutzende Tunnels mit unterschiedlichen Querschnitten zweigten von ihnen ab. An einigen Stellen standen kleine Boden- und Kletterfahrzeuge.
Zwischen Dunst und Nebel erschien vereinzelt die pechschwarze und völlig glatte Fläche des mindestens tausend Meter durchmessenden Kratersees. Du hast bis jetzt noch keinen einzigen Planetarier zu Gesicht bekommen, wisperte mein Extrasinn. Das kann kein Zufall sein. Man beobachtet euch. Welche Lebewesen bevölkerten die Ebene und das Gebirge? Vielleicht verrieten die Standbilder mehr, die die lange Mauer zierten. Obwohl sie etwa zweitausend Meter entfernt waren, konnte ich bereits mit Sicherheit sagen, dass die Fremden arkonidenähnlich aussahen – genau wie die Tejonther. Inzwischen setzte das kleine Sternenschiff auf und drosselte die Aggregatleistung. Die Größe des Kraters bewies, dass hier ein unglaublicher Einsatz stattgefunden hatte; genau wie in Vruumys’ Logbuch geschildert, war mit riesigem Aufwand versucht worden, zu diesem Etwas namens Gefühlsbasis vorzudringen. Östlich des Kraters erhoben sich etliche deformierte Hügel, die nur mit Phantasie als Raumschiffswracks zu erkennen waren – in sich zusammengesunken, zum Teil von wuchernden Pflanzen bedeckt, halb unter angewehtem Sand und abgelagertem Schutt begraben, ließ sich nicht einmal sagen, ob irgendeine Gewalteinwirkung oder sonstige Kräfte der seinerzeitigen Katastrophe ihren Start verhindert hatten. Nach Süden hin erstreckten sich über viele Kilometer längst bewachsene Hügel von einigen hundert Metern Höhe, in denen ich Aushubmassen des Kraters vermutete. »Was hältst du davon, Crys?« Crysalgira zuckte die Achseln. »Der See scheint eine ölige Konsistenz zu haben. Das Ganze sieht in der Tat wie eine gigantische Baustelle aus.« »Oder wie eine archäologische Ausgrabungsstätte. Ich habe mal einen ausgeplünderten Planeten gesehen; das sah ganz
ähnlich aus. Die Plünderer hatten mitbekommen, dass auf Mizota Vier intelligente Wesen gelebt hatten. Um sich an ihrem Erbe zu bereichern, waren viele Schiffe gelandet; die Besatzungen legten versunkene Städte frei. Die Fundorte glichen diesem Krater.« Crysalgira deutete meine Unruhe richtig. »Du meinst, dass wir hier auf ein Geheimnis gestoßen sind, nicht wahr? Und du willst es unbedingt enträtseln?« »Ja. Allem Anschein nach haben die fremden Raumfahrer wenig Erfolg bei ihrer Suche gehabt. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als hätten sie ihr Ziel erreicht. Die Kuppeln sind beschädigt, technische Gerätschaften sind überall verstreut. Nichts deutet auf eine Abreise hin, einige Schiffe sind nicht wieder gestartet, verrotten ohne Wartung …« »Was könnte die Raumfahrer daran gehindert haben, von hier zu verschwinden? Nur diese sonderbare Katastrophe?« »Hm. Vielleicht sind sie geblieben, weil sie hofften, doch noch an das Gesuchte heranzukommen. Oder aber sie wurden festgehalten.« Crysalgira hob die Augenbrauen. »Was meinst du damit?« »Vielleicht hat sie eine geheimnisvolle Kraft, die mit der Gefühlsbasis zusammenhängt, an der weiteren Arbeit und am Start gehindert. Die Bezeichnung könnte hier ein Hinweis sein, die Wirkung einer Totalamnesie gleichen: Irgendwann wussten sie nicht mehr, dass sie mit Raumschiffen hergekommen waren.« »Aber welche geheimnisvolle Kraft‹ sollte das sein, die eine solche Veränderung bewirkt?« Ich zuckte die Achseln und machte ein ratloses Gesicht. »Keine Ahnung – vielleicht die intensive Hyperstrahlung, ein paranormaler Einfluss, chemische oder biologische Ausdünstungen.« Ich wies auf die Dunstschleier und das Leuchten. »Aber wir werden es herausfinden.«
Während hinter uns das verschlossene Sternenschiff zurückblieb, fragte ich mich, ob es richtig war, ohne Schutz und Deckung auf die Türme zuzugehen. Ein unverständlicher Impuls des Logiksektors stieg aus der Tiefe empor, überschritt aber nicht die Wahrnehmungsschwelle. Je näher wir herankamen, desto lauter wurde ein sonderbares Pochen und Klopfen aus der Tiefe. Zunächst war nur dumpfes Grollen in meine Ohren gedrungen, fast so wie bei einem Beben. Dann ertönte ein regelmäßiges Klopfen. Ich versuchte die Richtung zu bestimmen; wenn mich nicht alles täuschte, lag die Geräuschquelle am Fuß des Gebirges. Eine innere Stimme mahnte mich zur Vorsicht, drang jedoch nicht richtig zu mir durch. Der Wind trug einen schwefligen Geruch heran, der wohl von den vulkanischen Aktivitäten des Gebirges herrührte. Eine mächtige Wolke schob sich zwischen die Türme und die etwas weiter entfernten Ruinen der Kuppelbauten. Eine breite Treppe ragte vor uns auf. Es waren wenigstens hundert Stufen, die zu einem Platz führten. Zwei mächtige Skulpturen flankierten den Zugang, stellten Fabelwesen dar – eine Mischung aus Raubtier und aufrecht gehenden Wesen, deren Klauen mit langen Krallen bewehrt waren. Crysalgira ging ohne Scheu an den Statuen vorbei. Ich war gespannt, ob wir dort oben auf die Erbauer stoßen würden. Die Stille zerrte an meinen Nerven. Es musste doch ein Kontakt mit den Fremden möglich sein. Sie konnten sich doch nicht ewig vor uns verstecken. Was wurde hier gespielt? Abermals bemerkte ich am Rande, dass mich der Extrasinn zu erreichen versuchte, dachte mir aber nichts weiter dabei … Langsam stiegen wir über die letzten Stufen. Bis auf das merkwürdige Pochen tief unter der Oberfläche war es
totenstill. Unsere Schritte klangen hohl auf den quadratischen Platten. Plötzlich bemerkte ich in den Augenwinkeln eine Bewegung, drehte mich blitzschnell um. Crysalgira ging weiter geradeaus, als sei nichts geschehen. Ich konnte nichts erkennen, was die Anwesenheit fremder Wesen verraten hätte. Wir waren die Einzigen, die über den großen Platz gingen. Täuschte ich mich, oder hatte die Prinzessin ihre Schritte beschleunigt? Sie lief genau auf mehrere monolithische Quader zu, die den Platz begrenzten und aus dunklen Steinen bestanden; sie erinnerten mich sofort an Altäre, deren Oberfläche mit mythologischen Symbolen verziert war. Jetzt hatte Crysalgira einen der mittleren erreicht, stand dicht davor, sah genau in diesem Augenblick in die Oberflächenmulde. Ich schaute gebannt zu ihr hinüber. Plötzlich erfüllte ihr markerschütternder Schrei die Luft, sie drehte sich um und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht.
Die junge Frau mit der blassblauen Haut war tot. Auf den ersten Blick wirkte sie völlig arkonidisch, hatte eine hohe Stirn. Kultische Malereien bedeckten ihr Gesicht und den Brustansatz. Selbst nach arkonidischen Maßstäben war sie eine Schönheit, konnte kaum älter als achtzehn Jahre gewesen sein, als sie getötet wurde: Ein Dolchstoß hatte ihr das Herz durchbohrt. Das Gesicht drückte noch im Tod den Schmerz und die Angst aus, die sie während der abscheulichen Prozedur empfunden haben musste. Ich wandte mich von diesem grausigen Anblick ab. Crysalgira stand schluchzend vor dem Altar und bedeckte mit den Händen das Gesicht. »Du kannst nichts mehr daran ändern«, versuchte ich sie zu beruhigen. Crysalgira legte ihren Kopf an meine Schulter und weinte. Ich hatte erkannt, dass sie jeden Augenblick die Nerven verlieren konnte, drückte ihr sanft die Schulter. Sie
blickte mich aus tränennassen Augen an, wollte etwas sagen, doch der Schreck verschloss ihr die Lippen. Ihre Augen verengten sich in panischer Angst. »Was hast du?« Statt mir zu antworten, gab sie mir einen heftigen Stoß vor die Brust. Ich taumelte und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Crysalgira hatte mir das Leben gerettet, denn im gleichen Augenblick schrammte genau dort eine Lanze über den Stein, wo ich eben noch gestanden hatte. Die Fremden, durchzuckte es mich. Sie haben uns umzingelt. Sie kamen aus allen Richtungen. Das sind ernstzunehmende Gegner, warnte mich der Extrasinn. Sie sind bewaffnet – und du hast nur deine Hände, du Narr! Entsetzt musste ich feststellen, dass weder ich noch Crysalgira eine der an Bord des Sternenschiffes gefundenen Handwaffen mitgenommen hatte; ich hatte zwar die »bedrohliche Aura« als solche wahrgenommen, nicht jedoch die damit verbundene unterschwellige Beeinflussung, gegen die nicht einmal mein Monoschirm Schutz geboten hatte. Und dabei habe ich doch mit einer Beeinflussung durch die Gefühlsbasis gerechnet!, durchfuhr es mich. Die Gefahr ist größer als gedacht. Schlanke, hochgewachsene Krieger, deren Haut in einem hellen Blauton schimmerte, während die Haare bronze- oder goldfarben waren, beobachteten uns vom Rand des großen Platzes. Eben machte einer die Bewegung des Kopfabschneidens, andere lachten hämisch auf. Crysalgira war bis an die Altarblöcke zurückgewichen, bedeckte mit einer Hand den Mund, um nicht schreien zu müssen. Plötzlich traten zwei Krieger vor. Ihre Haut wölbte sich über mächtigen Muskelpaketen. Der eine hielt einen Speer in der Rechten, der andere ein Schwert. Ihre makellos weißen Zähne blitzten, als sie etwas riefen. Ich konnte sie nicht verstehen, aber ihre Worte erinnerten an das Varganische. Ischtar und Magantilliken hatten so oder zumindest ähnlich gesprochen.
Ein weiterer Hinweis?, fragte ich mich. Wäre ihre Haut bronzefarben statt blau, würden sie wie Varganen aussehen. Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht, nur für einen Augenblick bemerkte ich den skeptischen Impuls des Logiksektors. Die Männer stürmten schreiend auf mich zu. Ein stechender Geruch ging von ihnen aus; Ausdünstungen, die von einer Mischung aus Schweiß und Schwefel beherrscht wurden. Die federgeschmückte Lanze des einen war auf mein Herz gerichtet. Bevor der Krieger zustoßen konnte, war ich auf ihn zugesprungen und hatte den Lanzenschaft mit beiden Händen gepackt. Ein Ruck, der Mann lag am Boden – und ich hielt den Speer in der Hand. Eine nicht zu verachtende Waffe, wenn man berücksichtigte, dass mein zweiter Gegner ein Schwert hob. »Schnell, Crys, lauf weg!« Doch sie reagierte nicht, verfolgte meinen Kampf voller Entsetzen – und zweifellos ebenfalls von der Gefühlsbasis beeinflusst. Ich parierte das Schwert mit dem Speerschaft. Der Krieger holte wutschnaubend zum zweiten Mal aus. Jetzt hatte sich der andere wieder aufgerappelt, attackierte mich mit bloßen Fäusten. Diesmal schmetterte ich ihm die flache Speerklinge vor den Körper. Er stieß geräuschvoll die Luft aus und hielt sich den Leib. Die beiden drängten mich bis an die Altäre. Ich hätte einen oder vielleicht sogar beide töten können. Aber es widerstrebte mir, zum Äußersten zu gehen, bevor ich es nicht mit anderen Mitteln versucht hatte. Warum äußerten sie sich nicht? Warum griffen sie sofort an? Ich machte die Geste des Friedens, streckte meine leere Hand aus. »Ich bin nicht euer Feind!« Einer funkelte mich zornig an, zeigte keinerlei positive Reaktion auf meinen Vermittlungsversuch. Dabei war ich mir ganz sicher, dass er mich verstanden hatte. Bevor ich den Speer heben konnte, pressten mich die beiden gegen den
Altar. Ich verlor den Boden unter den Füßen, lag mit dem gekrümmten Rücken über der Opferhöhlung. Panik ergriff mich, als ich die Tote unter mir sah. Ein Triumphschrei ertönte. Weiter hinten fielen mehrere Krieger in den Schrei ein. Einer meiner Gegner traf mich mit einem heimtückischen Tritt in die Seite. Ich nahm durch einen Schleier wahr, das ein Gürteltäschchen aufriss; viele der kostbaren Lebenskügelchen rollten in die Altarmulde. Dann sah ich die blitzende Schwertklinge, erwartete den tödlichen Hieb und schloss die Augen. Wehr dich, pulste mein Extrasinn. Gib dich nicht geschlagen! Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen den Rand des makabren Altars. Einen Krieger konnte ich noch abschütteln, doch dann traf mich die Faust des anderen in der Herzgrube. Mir wurde sofort schwarz vor Augen. Das Letzte, was ich noch hören konnte, war Crysalgiras Aufschrei.
Ich kam in einer schmutzigen Hütte wieder zur Besinnung. Ohrenbetäubender Lärm drang von allen Seiten ins Innere. Ich konnte nicht nach draußen sehen. Aber ich wusste, dass es Nacht war. »Sie haben dich verschont«, hörte ich Crysalgira neben mir sagen. Ich wollte sie etwas fragen, doch ein tierischer Schrei ganz in der Nähe ließ mich zusammenzucken. Hastige Schritte wurden laut. Irgendwo in der Ferne rollten Felsblöcke einen Abhang hinunter. Der Schrei einer Frau erstarb in einem Röcheln. Ich sah Crysalgira irritiert an. »Was ist dort draußen los?« »Ich weiß es nicht. Sie haben uns in ihre Bergsiedlung gebracht. Alles armselige Hütten. Sie gaben mir etwas zu trinken und sperrten uns dann in dieses Loch. Ich habe sie
gefragt, versuchte mich zumindest verständlich machen, aber sie ließen nicht mit sich reden.« »Vielleicht eine Stammesfehde?«, überlegte ich. »Ein benachbarter Stamm könnte dieses Dorf angegriffen haben.« Ich hörte das Prasseln von Flammen. Der Widerschein eines Feuers drang durch die Bodenritze der schmalen Tür. Es roch verbrannt, etwas krachte und schepperte, als würden mehrere Tonkrüge zersplittern. Befehle wurden gegeben, Schwerter klirrten. Ich hörte sogar das Weinen von Kindern, wollte die Tür aufbrechen, doch Crysalgira hielt mich zurück. »Sie werden dich töten. Du hast mehr Glück als Verstand gehabt, dass sie es nicht schon beim ersten Mal getan haben.« »Soll ich hier warten, bis sie uns das Dach über dem Kopf anzünden? Wer weiß, was dort draußen vor sich geht?« Vor unserem Gefängnis schrie ein Mann laut auf, verstummte aber sofort wieder. Ich hörte den dumpfen Fall eines Körpers. Dann wurde mehrmals etwas geflüstert. Plötzlich knirschte ein Riegel. Ich zog Crysalgira an mich, wir starrten angespannt atmend auf die Tür. Langsam öffnete sie sich, Qualm wurde hereingeweht. Nicht weit entfernt brannten mehrere Hütten. Im flackernden Schein der Flammen erkannte ich Krieger, die schreiend vorbeiliefen, ohne sich um uns zu kümmern. Ein junger Mann sprang zu uns in die Hütte, blieb leicht vornübergebeugt stehen. Meine Anspannung ließ sofort nach. Ich wusste, dass wir von dem Fremden nichts zu befürchten hatten. Er sagte etwas und hob seine rechte Hand. Ich folgte seinem Beispiel. Jetzt drehte er sich um und machte einen Wink. Eine junge Frau kam aus dem Schatten der Hütte zu ihm. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, dazu war es zu dunkel. Der junge Mann war von Kopf bis Fuß verdreckt, seine Augen glänzten fiebrig. Er war abgemagert, mehrere verkrustete Wunden auf seinen Armen zeugten davon, dass er noch vor kurzer Zeit gekämpft hatte.
Jetzt deutete er auf sich und sagte: »Papan.« »Atlan«, sagte ich und deutete auf mich. Dann zeigte ich auf Crysalgira und sprach langsam ihren Namen aus. Der junge Mann nickte erfreut und wies auf seine Begleiterin: »Ilistrik.« Sie war einmal sehr schön gewesen. Doch jetzt war sie nur ein unglückliches Abbild ihrer einstigen Schönheit. Ihre Haut hatte sich mehlig weiß verfärbt. Tiefe Ringe zogen sich um ihre Augen. Sie atmete flach und hektisch wie eine Kranke. Als ich die schreckliche Wunde über ihrem Herzen sah, wusste ich plötzlich, wen der junge Mann mitgebracht hatte. Auch Crysalgira ließ einen unterdrückten Schrei hören und umklammerte ängstlich meine Schulter. »Die Tote vom Altar!« Ich nickte. »Sie ist es. Und ich ahne, wie das Unglaubliche geschehen konnte. Als mich die beiden Krieger an den Altar drängten, verlor ich etliche der Lebenskügelchen. Sie rollten über den Körper der Toten. Später hat sich die Wirkung der roten Körner voll entfaltet. Ilistrik ist von den Toten auferstanden …« »Wahnsinn«, murmelte Crysalgira. Papan lächelte, deutete immer wieder auf Ilistrik und dann auf mich, wiederholte dabei fortwährend dieselben Worte. Anscheinend wollte er sich bei mir bedanken. Ilistrik stand, ohne ein Wort zu sagen, da, wirkte wie eine Puppe, die ein Zauberer beseelt hatte. Ihr Blick war leblos und kalt. Die Samenkörner haben ihren Körper zwar zum Leben erweckt, flüsterte der Extrasinn, aber sie konnten ihren Geist nicht regenerieren. Sie war vermutlich schon zu lange tot. Und ehe du es andeutest: Ja, es gibt durchaus eine Ähnlichkeit mit den konservierten Toten der Varganen. Schemen huschten an den brennenden Hütten vorüber. Die Körper wirkten gedrungen und irgendwie verkrüppelt. Ich merkte, wie Papan nervös zu ihnen hinüberschaute, die
Angreifer zu fürchten schien. Einer der Fremden blieb mitten im Lauf wie angewurzelt stehen, griff sich schreiend an die Brust – ein Speerschaft ragte wippend aus dem Körper. »Wir müssen schleunigst verschwinden«, keuchte ich. Papan verstand mich, obwohl wir eine andere Sprache redeten. Er zog Ilistrik zu sich, sie folgte ihm widerspruchslos. Jetzt wies er in den finsteren Hintergrund. Weit hinter den brennenden Hütten ragten mächtige Felsen auf, standen wie die Zinnen einer unwirklichen Festung in der Nacht. Sollten wir dort einen Unterschlupf finden? Ich musste diesem Papan vertrauen, ob ich wollte oder nicht. Mein Extrasinn riet: Vertraue ihm. Das Chaos im Dorf hält nicht ewig an. Später gibt es für dich und Crysalgira keine Gelegenheit mehr zur Flucht. Überall lagen verbrannte Kleiderfetzen auf dem Boden, Teile von den brennenden Hütten säumten den Weg. Träge wälzten sich die Qualmwolken über die Körper der getöteten Angreifer. Fällt dir denn an den Fremden nichts auf? Der Extrasinn wollte mich auf etwas ganz Bestimmtes hinweisen. Ich sah mir einen der Fremden genauer an, der ganz anders als die blauhäutigen Krieger aussah. Sein Körper war mager und von schrecklichen Geschwüren entstellt. Unter seiner mehlig weißen Haut zeichneten sich schwarze Adern ab. Das Gesicht sah furchtbar aus. Erschreckend war vor allem, dass seine Haut der mehlig weiß verfärbten von Ilistrik glich – obwohl er ganz bestimmt nicht mit meinen Lebenssamen in Kontakt gekommen war. Vielleicht aber mit anderen? Oder der Urnenflüssigkeit als Konzentrat? Denk an deine Vermutung über ihren Ursprung, Kristallprinz. Papan zerrte mich gewaltsam von dem Toten weg; sein Gesicht drückte Angst und Abscheu aus, während er abwehrende Gesten machte. Sind das Kranke? Seuchenträger, gegen die sich die Blauhäutigen zur Wehr setzen? Oder …
wiedererweckte Tote wie Ilistrik? Wie auch immer – wir befanden uns in Lebensgefahr. Die verunstalteten Kreaturen kamen aus allen Richtungen, liefen zwischen den brennenden Hütten hindurch und krochen selbst unter den Absperrgittern zwischen den Laufgängen hindurch. Wir kamen an einem Zaun vorbei, der diesen Teil des Dorfes von einem Steilhang abgrenzte – so tief, dass ich den Boden der Schlucht nicht sehen konnte. Weiter hinten wurde weitergekämpft. Mehrere Fackeln flammten auf. Aber Genaueres konnte ich nicht erkennen. Wir rückten enger zusammen. Links fiel der Abhang steil in die Tiefe. Vor uns bildeten zwei Hütten einen schmalen Durchgang, eine stand direkt neben dem Abgrund. Rechts brannten die Hütten lichterloh. Dorthin konnten wir nicht ausweichen. Plötzlich stieß Papan einen schrillen Entsetzensschrei aus. Drei grausige Gestalten versperrten uns den Weg, streckten ihre langen, knochigen Arme nach uns aus. Ihre Fingerspitzen endeten in messerscharfen Krallen. Damit konnten sie tödliche Schläge austeilen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Als sie ihre dünnlippigen Münder öffneten, klang es, als würden Schlangen zischen. Kurz entschlossen hob ich ein brennendes Holzscheit vom Boden auf. Rechts von mir krachte das Dach einer brennenden Hütte zusammen. Funken sprühten herüber und versengten mir die Haare. »Hinter mir bleiben, Crys. Wenn unser Freund nichts gegen diese Schreckensgestalten unternimmt, kämpfe ich uns den Weg frei.« Ich schlug ohne Warnung zu. Der erste Missgestaltete brach ohne einen Laut zusammen, die beiden anderen wichen zurück. »Das hat sie beeindruckt.« Papan schien seine Furcht überwunden zu haben, griff nach seinem Schwert und attackierte tapfer die Unheimlichen. Als er einen von ihnen mit einem wuchtigen Hieb zu Boden streckte, floh der dritte, verschwand im Funkenregen einer
Hütte und wurde vom einstürzenden Dach begraben. »Weiter!« rief ich. Wir ließen die brennenden Hütten hinter uns. Das Geschrei der kämpfenden Parteien verhallte in der Nacht. Ich konnte jetzt wieder deutlich das Hämmern und Klopfen in der Tiefe hören, hielt Papan am Arm fest und deutete auf den Boden. Er blickte mich fragend an. Ich machte ein paar langsame Klopfbewegungen. Er deutete auf die mächtigen Felsen, die jetzt dicht vor uns lagen. »Dort kann ich mehr über den Ursprung dieser geheimnisvollen Geräusche erfahren?«, fragte ich zweifelnd. Ein steiler Pfad führte zwischen den Felsen weiter nach oben; wir mussten hintereinander gehen, so schmal war er. Wären wir jetzt von oben angegriffen worden, hätten wir kaum eine Chance gehabt. Schließlich standen wir auf dem Gipfel der Felsaufwölbung. Tagsüber hatte man hier bestimmt einen phantastischen Blick über die Ebene, jetzt sah ich nur düstere Schemen. Aber auch den kreisrunden Krater, dessen Umrisse wie von Scheinwerfern angestrahlt aus der Finsternis stachen. Ich sah genauer hin: Dort unten hatte sich etwas bewegt. Dampfschwaden wehten über dem Krater. Im gelblich fluoreszierenden Qualm, aus dem wiederholt goldfarbene Lichtfinger hervorstachen, erkannte ich etwa zehn Gestalten – Missgestaltete, die an den Kraterwänden hochkletterten. Hausen diese Kreaturen dort unten?, fragte ich mich. Das Rätsel ist nicht kleiner, sondern eher noch größer geworden. Die ganze Szene wurde von einem grellen, goldfarbenen Licht ausgeleuchtet, dessen genaue Quelle nicht zu entdecken war. In den Bodenspalten rumorte es – das Klopfen und Hämmern kam direkt aus dem Krater, war aber ganz anders, als ich es von vulkanischen Landschaften her gewohnt war. Hier vermisste ich das dumpfe Grollen der unruhigen Bodenschichten. Das Klopfen ließ eher auf zielgerichtete
Aktivitäten schließen. Ein phantastischer Gedanke schoss mir durch den Kopf: Leben die Besatzungen der Wracks oder ihre Nachkommen im Krater und versuchen weiterhin die Gefühlsbasis freizulegen – was immer das auch sein mag? Laut sagte ich: »Nachkommen jener Raumfahrer, die den Krater ausgehoben haben?« »Das Erbe der Vergangenheit lebt bei ihnen höchstens noch in den mündlich überlieferten Geschichten fort«, murmelte Crysalgira. »Die Wahrheit haben sie längst vergessen. Aus Raumfahrern ist ein Stamm primitiver Jäger geworden. Wenn ich an die Opferaltäre denke, haben wir den Beweis, dass sie auf eine sehr tiefe Stufe gesunken sind – sie opfern die eigenen Artgenossen den Göttern. Und wenn ich an die unheimlichen Kreaturen denke, würde mich nicht einmal wundern, wenn sie wiedererweckte Opfer wären.« Papan war unserer Unterhaltung neugierig gefolgt. Er konnte uns zwar nicht verstehen, ahnte aber, dass wir uns die Köpfe über den Krater zerbrachen. Ich fasste einen Entschluss. »Du bleibst bei den beiden, während ich mich im Krater umsehe. Sollte es gefährlich werden, können sie dir am besten weiterhelfen. Sie wissen hier Bescheid; gemeinsam schafft ihr es sicher, zum Schiff vorzudringen.« Anfänglich sträubte sich Crysalgira gegen mein Vorhaben, sah aber ein, dass ich mich nicht davon abbringen lassen würde. Ich versuchte Papan klar zu machen, dass ich in den Krater steigen wollte. Als er mich endlich verstanden hatte, machte er heftige Abwehrbewegungen. Ich lächelte den Blauhäutigen zuversichtlich an. Er verzog das Gesicht und deutete zuerst auf sein Schwert, dann auf Crysalgira. Das hieß so viel wie: Du brauchst dir keine Sorgen um die Frau zu machen. Ich werde sie beschützen. »Pass auf dich auf!«, rief Crysalgira. »Ich komme schnell wieder zurück.«
Hinter den Felsen ging die Sonne auf. Ihre Strahlen überschütteten die Ebene hinter dem Krater mit Lichtschauern, die Qualmwolken der Nacht wurden vertrieben. Auch das Geschrei der Kämpfenden verebbte, Stille breitete sich aus. Sogar das Hämmern und Klopfen in der Tiefe war plötzlich verstummt.
Bei meinem Abstieg begegnete mir kein einziges lebendiges Wesen. An mehreren Stellen lagen allerdings missgestaltete Kreaturen – sie waren entweder beim Ausstieg aus dem Krater umgekommen oder im Kampf mit Blauhäutigen gestorben. Sie gehören zum gleichen Volk, stellte mein Extrasinn fest. Sie leben nur in verschiedenen Regionen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Missgestalteten ihre Behausungen tief unter der Oberfläche haben. Sie sehen wie Lebewesen aus, die das Sonnenlicht meiden – sofern sie überhaupt noch leben. Vielleicht hatten die Unheimlichen tief unten im Krater ihre Unterkünfte – oder gar in der Gefühlsbasis? Ich würde sehr vorsichtig sein müssen, je tiefer ich kam. Unvermittelt war das Hämmern und Klopfen wieder da, ließ manchmal die Kraterwände erbeben und kam wummernd aus den tiefen Einbrüchen. Heller Goldschein drang geisterhaft herauf. Dampfschwaden begleiteten das merkwürdige Leuchten. Nicht weit entfernt ragte eine riesige Kuppel auf, deren Seitenfläche wie von einer Gigantenfaust zerschmettert war. Die Stützverstrebungen ragten aus den Löchern der Kuppeldecke in den gelblichen Himmel. Breite Risse zogen sich quer über die gesamte Wölbung. Ich zwängte mich durch einen solchen ins Innere. Hier stapelten sich Maschinenblöcke, Lastenkräne und Ersatzteile für Bohrmaschinen. Alles war von einem dicken Staubmantel bedeckt, seit vielen hundert Jahren nichts mehr angerührt worden. Meine Schritte klangen hohl,
Staub wirbelte auf. Ich räusperte mich, der Ton wurde mehrfach als Echo zurückgeworfen. Irgendwo raschelte etwas. Ich drehte mich um, aber niemand war zu sehen. Meine Befürchtung, missgestaltete Wesen anzutreffen, bestätigte sich nicht. Sie schienen sich bei Tagesanbruch in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen zu haben. Eine unheimliche Stimmung ergriff von mir Besitz – als müsse ich mit dem Erscheinen eines schrecklichen Dämons rechnen. Aber außer mir hielt sich kein lebendiges Wesen in der Kuppel auf. Es waren auch nirgendwo Spuren im Staub zu erkennen. Das beruhigte mich ein wenig, machte mir aber klar, dass ich weiterhin – oder fortan sogar noch intensiver? – dem Einfluss der Gefühlsbasis ausgesetzt war. Mühsam konzentrierte ich mich und verstärkte den Monoschirm. Vorsichtig wischte ich den Staub von einem kantigen Metallblock. Verglasungen über Kontrollen kamen zum Vorschein, fremdartige Schriftzeichen bedeckten die Tafel. Dann spürte ich unter den Fingerspitzen die Vertiefungen von Schalttasten. Hastig beseitigte ich den restlichen Staub von der Konsole. Die Programmierungseinheit für positronische Messsonden, sagte mein Extrasinn. Von hier aus wurden die Ausgrabungsarbeiten überwacht und gesteuert. Die Maschinen waren größtenteils so verrottet, dass ich ihre Funktion nicht mehr feststellen konnte. In der anderen Kuppelhälfte erregte eine breite Piste meine Neugier, die sich als Rampe bis zu einem geöffneten Tor erstreckte. An ihren Seiten standen kleinere Maschinen, die mit Plastikplanen abgedeckt waren. Das Plastik knisterte, als ich es berührte. Mit einem Ruck riss ich die Plane herunter. Der Anblick des zum Vorschein kommenden Geräts ließ mich grinsen: Es handelte sich um ein Kettenfahrzeug – anderthalb Meter breit, vier Meter lang, knapp mannshoch und offensichtlich für nur einen Fahrgast konzipiert. Unter einer durchsichtigen Abdeckhaube
waren die Bedienungselemente übersichtlich angeordnet – ein Steuerknüppel und am Boden drei Pedale. Die Anzeigeinstrumente ließen darauf schließen, dass das Fahrzeug auch auf automatische Steuerung umzuschalten war. Ich schwang mich auf den Fahrersitz und ergriff den Steuerknüppel. Die Maße stimmen, wisperte mein Extrasinn. Die fremden Raumfahrer hatten arkonidische Körperformen. Ein weiteres Indiz, dass die blauhäutigen Bergbewohner in direkter Linie von den Raumfahrern abstammten. Das Kettenfahrzeug rührte sich nicht von der Stelle. Ich drückte ein paar kleine Knöpfe, rüttelte am Steuerknüppel, trat die Pedale nieder. Es passierte überhaupt nichts. Beim nächsten Fahrzeug verhielt es sich nicht anders. Erst beim fünften hatte ich mehr Glück. Kaum saß ich auf dem Schalensessel, ging ein Vibrieren durch die Maschine. Irgendwo rasselte ein Aggregat. Ich drückte langsam das erste Pedal. Die Wirkung war umwerfend. Ich wurde völlig durchgeschüttelt, das Fahrzeug bockte wie ein Reittier. Ich stieß mehrmals unsanft mit der Stirn gegen die Sichtscheibe, bis sich das Motorengeräusch zu einem gleichmäßigen Summen einpendelte. Die Kettenbänder drehten sich langsam. Je stärker ich auf das erste Pedal trat, desto schneller bewegten sie sich. Plötzlich drehte sich mein Fahrzeug blitzschnell im Kreis. Mir wurde schwindlig, bevor ich herausfand, wie ich mit dem Ding umzugehen hatte. Die Richtung wurde durch ein Auf- und Niederdrücken des Steuerhebels gewählt. Kurven, Steigungen und Abfahrten ließen sich damit bewältigen. Ich fand sehr schnell heraus, dass die Funktionen äußerst einfach gehalten waren, und raste aus der Kuppel hinaus. Draußen wirbelte ich eine riesige Staubwolke auf. Trümmerstücke wurden von den Kettenbändern erfasst und fortgeschleudert. Der Motor heulte jedes Mal laut auf. Als es plötzlich steil in die Tiefe ging,
konnte ich ausprobieren, zu welchen akrobatischen Leistungen das Fahrzeug fähig war. Die Kettenbänder passten sich dem Untergrund an, selbst Bodenunebenheiten ließen sich risikolos überwinden – egal, ob ich Spalten oder eine Geröllhalde voller Gesteinsbrocken überfahren wollte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass mich das Kettenfahrzeug sogar sicher an der steilen Kraterwand hochbringen würde. Wenn die Batterie- oder Reaktorleistung so lange anhält, sagte mein Extrasinn. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich ratterte genau auf ein metallisch schimmerndes Band zu, das in ein Loch führte. Gelbe Dämpfe stiegen aus der Öffnung ins Freie. Das Hämmern und Pochen aus der Tiefe klang jetzt deutlicher als jemals zuvor an meine Ohren. Wenig später hatte mich das Fahrzeug in die Unterwelt des geheimnisvollen Kraters transportiert. Die schräg in die Tiefe führende Bohrung war etwa zehn Meter breit, der Boden von einem Metallgitter bedeckt. Mein Fahrzeug ließ sich kinderleicht steuern; die Kettenbänder folgten jeder Bewegung meiner Hand, wurden vom Steuerknüppel auf die Maschinen übertragen. Ich war inzwischen mindestens hundert Meter tief unter dem Kraterboden, als der erste Dampfausbruch erfolgte. Er kam so plötzlich, dass ich davon völlig überrascht wurde. Aus unzähligen Ritzen und Löchern schossen Dampfsäulen. Das gelbliche und goldene Wirbeln umgab das Metallgitter, auf dem ich in die Tiefe vordrang, wälzte sich träge weiter und stieg in mächtigen Schwaden aus dem Bohrloch nach oben. Ich begann zu husten. Da ich den Steuerknüppel festhielt, übertrug sich mein Keuchen auf den Antrieb; jedes Mal wurde ich hochgeschleudert. Meine Augen tränten. Das gelbe Zeug setzte sich in meinen Bronchien fest, schmeckte schweflig. Plötzlich verschwamm alles vor den Augen. Ich sah die
Schachtwände auf mich zukommen und nahm geistesgegenwärtig den Fuß vom Pedal. Das Fahrzeug blieb ruckhaft stehen, rutschte dann aber ganz langsam weiter in die Tiefe. Die Dämpfe betäuben dich, warnte mich der Extrasinn. Ich sah die merkwürdigsten Gestalten auftauchen und wieder verschwinden. Es war ein surrealer Reigen, der mich gefangen nahm. Ich vergaß sogar, wer ich war und was ich hier wollte. Benommen tastete ich über mehrere kleine Drucktasten, die unter dem Steuerknüppel aus dem Schaltpult ragten. Plötzlich machte das Kettenfahrzeug einen Riesensatz. Der Antrieb heulte auf, die Kettenbänder rasselten. Ich wurde tief in den Schalensitz gepresst und bekam kaum noch Luft. Die Schachtwand kam rasend schnell auf mich zu. Ich riss den Arm hoch, um mein Gesicht vor dem unweigerlich folgenden Aufprall zu schützen. Doch es geschah nichts dergleichen. Das Kettenfahrzeug ruckte vorher herum und schoss mit Höchstgeschwindigkeit über das Metallgitter in die Tiefe. Ich hatte wohl gegen einen Schalter getippt, der die Selbststeuerung des Fahrzeugs aktivierte – vermutlich das Beste, was mir in meiner Lage passieren konnte, war ich doch inzwischen von den schwefligen Dämpfen so benebelt, dass ich zu keiner logischen Handlung mehr fähig war. Ich hatte überhaupt kein Gefühl mehr in Armen und Beinen, zitterte unkontrolliert, das Blut rauschte in den Ohren. Immer wieder quollen Dampfschwaden in das Innere des Fahrzeugs. Die Sichtkuppel war nicht völlig dicht. Die stinkenden Schwaden setzten sich in meinen Lungen fest. Jedes Mal, wenn ein neuer Dampfstoß fauchte, dröhnte es dumpf durch die Felsen. Ich wusste nicht, wie lange die Fahrt dauerte – ein paar Zentitontas oder eine Tonta. Plötzlich endete das Metallgitter in einer ovalen Kaverne. Die Decke bestand aus wabenförmigem Metallblech – aus kleinen Öffnungen drang
betäubender Dampf. Es war ziemlich heiß hier unten. Ich hatte kaum noch einen trockenen Fetzen am Leib, während die Fahrt durch eine Querröhre tief in den Felsen weiterging. Das Hämmern erreichte eine ohrenbetäubende Stärke. Bei jedem Schlag zitterte der Untergrund. Ich hatte das Gefühl, dass diese Schläge einen mächtigen Deckel anhoben, unter dem das betäubende Zeug kochte. Und mit jedem Schlag entwichen die gefährlichen Dämpfe. Eine Metallkonstruktion stoppte das Fahrzeug abrupt. Ich wurde nach vorn gerissen und stieß schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Scheibe. Blut lief mir in die Augenwinkel. Aber seltsamerweise verspürte ich überhaupt keine Schmerzen. Mein Extrasinn meldete sich nicht.
Als ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, hatten sich die Dämpfe verzogen. Es war zwar immer noch stickig heiß, aber ich konnte meine Umgebung wieder klar wahrnehmen. Ein Bohrgerüst war zwischen den Gangwänden verkeilt. Die Leitungen waren vor sehr langer Zeit in einem Kurzschluss zusammengeschmolzen. An eine Beseitigung des Hindernisses war nicht zu denken, dazu fehlten mir die Geräte. Und um das stählerne Gestänge zu durchbrechen, reichten die Kräfte des Kettenfahrzeuges nicht aus. Ich schaltete den summenden Antrieb aus und verließ die Steuerkanzel. Unter meinen Füßen knirschte es. Unzählige glasähnliche Splitter bedeckten den Gang, zäher Nebel kroch knöchelhoch über den Boden. Vorsichtig kroch ich durch das Gestänge. Der mächtige Bohrer schimmerte und war unversehrt. Aber er würde sich niemals wieder bewegen, weil sämtliche Energiezuleitungen unterbrochen waren. Weiter vorn war es noch schwieriger, sich den Weg durch den Gang zu bahnen. Zahlreiche Einbrüche und Klüfte bewiesen mir, dass der Untergrund
stark arbeitete. Immer wieder rieselten Sand und Staub von der Decke. Plötzlich zuckte ich zusammen: Der Schatten eines aufrecht gehenden Wesens! Ich presste mich an die Gangwand. Nachdem ich in die Hocke gegangen war, konnte ich den Fremden deutlich erkennen. Er war hochgewachsen und schlank, seine blaue Haut war mit wertvollem Zierrat bedeckt. Das Eindrucksvollste war eine goldene Krone, die aus dem Schädel eines der Blauhäutigen angefertigt worden war. Glitzernde Bergkristalle bildeten einen Gürtel. In der Hand hielt der Fremde einen Fetisch. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich langsam um. Seine leuchtenden Augen waren genau auf die Stelle gerichtet, an der ich in Deckung gegangen war.
Ich fühlte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug, wusste ja nicht, ob der Blauhäutige allein war. Er konnte eine ganze Kriegerschar in den Krater geführt haben. Entdeckte er mich, würden sie über mich herfallen. Aber es passierte überhaupt nichts. Der Mann machte eine schroffe Bewegung mit dem Fetisch, dessen Spitze golden glühte. Anscheinend wollte er damit böse Geister verscheuchen, die seinem Glauben nach den Untergrund bevölkerten. Er ging langsam tiefer in den Schacht, vermied es aber, in die kleinen Nischen und Ritzen zu sehen, sondern ging zielstrebig weiter – als würde er sich hier unten bestens auskennen. Ich folgte ihm, blieb aber immer in sicherem Abstand. Selbst wenn er sich umdrehte, konnte er mich nicht sehen; ich hielt mich in der Deckung der Felsen. Als der Gang einen scharfen Knick nach rechts machte, ahnte ich, dass der Blauhäutige am Ziel war. Das Hämmern war jetzt so laut geworden, dass ich keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Geräusche zu nehmen brauchte. Das Pochen übertönte sogar das Poltern eines
Steinbrockens, der sich neben mir aus der Wand löste und durch den Gang rollte. Ein goldfarbenes, sonderbar pulsierendes Licht erfüllte die Höhlung – so hell wie draußen der Mittagssonnenschein. Ein Teil der Wände schimmerte wie glutflüssiges Erz, jede Spalte wurde ausgeleuchtet. Je länger ich in das Leuchten und Gleißen starrte, desto mehr schmerzten mir die Augen. Fasziniert verfolgte ich das Treiben des Fremden. Am Ende des Ganges strahlte eine völlig ebenmäßige Substanz in den Felslöchern. Rechts führte der Gang weiter. Auch dort strahlte es goldfarben aus Wandöffnungen. Plötzlich wusste ich, dass alle Bemühungen der fremden Raumfahrer diesem Material gegolten hatten. Die Bohrlöcher endeten stets an den schimmernden Flächen. Die Wand der Gefühlsbasis?, fragte ich mich. Sie bewegt sich leicht im Puls des Lichts; von ihr muss das Hämmern und Pochen ausgehen. Beinahe hätte ich den Fremden vergessen, der vor der leuchtenden Wand kniete und andächtig die Arme hob. Jetzt verneigte er sich. Der Fetisch lag neben ihm auf dem Boden. Gesang wurde laut, stammte unzweifelhaft aus der Kehle des Blauhäutigen. Die leuchtende Substanz warf ihn als vielstimmigen Chor durch den Gang zurück. Das Hämmern und Pochen war leiser geworden und jetzt nur noch ganz schwach hörbar. Auch die Dampfentwicklung hielt sich in Grenzen. Dafür hatte ich das Gefühl, als würde die Hitze ständig ansteigen – wie bei einem Dampfkessel, der unter Druck stand. Irgendwann würde sich die Kraft entladen. Ich hoffte, dass ich dann weit von hier entfernt war. Plötzlich lösten sich einige Brocken aus der schimmernden Substanz, rollten über den Boden. Im gleichen Augenblick war das Hämmern und Pochen wieder da – und eine schwarze Flüssigkeit quoll aus dem Fels neben der goldenen Substanz. Das war keineswegs
Grundwasser, sondern etwas anderes, Zähflüssigeres – dem Kratersee vergleichbar. Am Boden bildete sich eine Lache, deren Schwarz das goldene Licht förmlich »zu fressen« schien. Winzige Bläschen platzten geräuschlos, die Masse wurde von einem Brodeln durchzogen; fast drängte sich mir der Eindruck auf, dass diese Brühe auf absonderliche Weise lebte. An ihrem Rand bildeten sich deutlich flüssigere und glasklar werdende Rinnsale – ein stechender Geruch breitete sich aus, der mich an die Flüssigkeit der Urne erinnerte, die Vruumys und ich gefunden hatten. Gibt es einen Zusammenhang? Hat hier die Legende ihren Ursprung?, dachte ich erschüttert, erinnerte mich an das weißhäutige Aussehen der von den Lebenskügelchen »reanimierten« Ilistrik und das der Kreaturen aus dem Krater. Was ist diese Gefühlsbasis genau? Der Mann beendete den Gesang und stand auf. Er griff nach dem Fetisch, löste den schimmernden »Stein« und stieß die Haltevorrichtung gegen einen der herausgebrochenen Brocken, der sich nahtlos mit dem Fetisch verband. Zufrieden grinsend richtete sich der Mann auf, blickte ein letztes Mal auf die schimmernde Substanz, dann auf die schwarze Brühe und drehte sich um. Er beschleunigte seine Schritte, kam rasch näher, so dass ich nicht mehr in die gegenüberliegende Wandnische springen konnte. Ich duckte mich tief hinter einen Felsbrocken. Der Blauhäutige ging an mir vorüber, ohne mich gesehen zu haben, schien viel zu sehr mit seinem leuchtenden Fetisch beschäftigt zu sein, den er mehrmals vorstreckte. Knallende Entladungen lösten sich von dem Material.
Unter mir hatte es neue Dampfausbrüche gegeben. Anscheinend wusste der Blauhäutige ganz genau, wie man den betäubenden Schwaden entkommen konnte. Er kletterte durch schmale Schächte, überquerte Felsbrücken und schwang
sich über Felseinbrüche. Schließlich war kaum noch etwas von den gefährlichen Dämpfen zu spüren. Dafür wurde es immer finsterer, ich konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Plötzlich flammte unweit ein Licht auf. Er hat eine Fackel entzündet, meldete sich mein Extrasinn nach längerem Schweigen wieder. Ich stolperte weiter durch den finsteren, schräg nach oben führenden Gang. Das flackernde Licht entfernte sich langsam. Der Mann war schneller als ich, kannte sich hier aus. Das war sein Vorteil. Von oben her erklangen laute Stimmen. Er hat sich mit anderen getroffen, dachte ich bestürzt. Das bedeutete, dass ich jetzt noch vorsichtiger sein musste und nicht nur auf den Boden achten durfte. Ich muss damit rechnen, jederzeit in eine Falle der Krieger zu laufen. Er hat keine Freunde getroffen, signalisierte mir der Extrasinn. Erkämpft! Ich lief gebückt weiter. Plötzlich stieß ich gegen einen Körper. Vor Schreck wich ich ein paar Schritte zurück, versuchte die Finsternis zu durchdringen. Aber ich sah nichts. Ein ekelhafter Gestank erfüllte den Gang – es roch nach Verwesung. Womöglich lag der Tote schon lange hier unten. Ich drückte mich an die Wand. Schließlich war ich an dem Toten vorbei, stieg weiter hoch. Wenig später spürte ich, dass der Untergrund bearbeitet worden war – der Felsen war geglättet, Stufen eingearbeitet; Wandleuchten verbreiteten eine matte Dämmerung. Irgendwo tropfte Wasser von der Decke, der Boden war glitschig. Ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrutschte. Die Luft war feucht und abgestanden. Unmittelbar vor mir schrie der Blauhäutige laut auf. Irgendetwas polterte schwer auf den Boden, gefolgt von einem Zischen. Ich ging trotzdem weiter; der Gang stieg nicht weiter an, sondern verlief waagrecht und verbreiterte sich auf etwa fünf Meter. An der Decke gab es mehrere Durchbrüche, durch
die schwacher Lichtschein drang. Wieder ließ mich ein Schrei des Fremden zusamrnenzucken. Ich schaute hoch. Zwei Meter über mir gähnte eine Öffnung in der Gangwand, Lichtschein flackerte über die Decke. Er ist auf der anderen Seite, ging es mir durch den Kopf. Er hat einen anderen Weg genommen. Und dort muss er jemandem in die Quere gekommen sein. Ich überlegte nicht lange, sondern kletterte an der rissigen Wand hoch und schob mich mit dem Ellbogen in die Öffnung. Ich atmete überrascht aus, als ich die Szene sah, die sich unter mir abspielte. Der Mann wurde von etwa zehn furchterregenden Kreaturen umringt – jenen missgestalteten Geschöpfen, die das Dorf der Bergbewohner heimgesucht hatten. Sie umringten den Mann und kamen immer näher, die Klauen gierig vorgestreckt. Zischen drang aus ihren Mündern. Der Blauhäutige rief etwas, es klang wie eine Warnung. Aber die Unheimlichen kümmerten sich überhaupt nicht darum, sondern schlossen ihren Ring enger um den einsamen Kämpfer, der in der Linken eine Fackel und in der Rechten den leuchtenden Fetisch hielt. Sie werden ihn gleich zu Boden reißen. Für einen Moment war ich fest entschlossen, dem Mann zu helfen. Wenig später war ich froh, dass ich meine Deckung nicht verlassen hatte. Er stieß schrille Schreie aus, seine Linke ruckte blitzschnell vor und stieß einem Missgestalteten die Fackel vor die Brust. In das Zischen der anderen mischte sich das Gurgeln des Zusammenbrechenden. Die Lücke wurde von einem nachrückenden Gegner sofort wieder geschlossen. Atemlos verfolgte ich von meinem Guckloch aus das weitere Geschehen. Plötzlich wurde der Höhlenraum von einem grellen Leuchten erhellt, Schreie des Entsetzens schrillten durch das Gewölbe. Es roch nach verbranntem Fleisch. Der Anblick trieb mich tiefer in Deckung: Der Blauhäutige war durchaus in der Lage, sich allein gegen die Missgestalteten zur
Wehr zu setzen, berührte mit der Spitze des aufblitzenden Fetischs Missgestaltete. Im gleichen Augenblick zuckte es grell auf, eine unheimliche Glut fraß sich durch die Körper der Angreifer. Nach wenigen Augenblicken lagen die Ersten am Boden und wanden sich in verzweifelten Zuckungen. Kurze Zeit später erstarben ihre Bewegungen; sie sahen jetzt wie vertrocknete Mumien aus. Ich schauderte, als der Blauhäutige die letzten Missgestalteten niederstreckte. Eine gefährliche Waffe, dachte ich. Der Mann ist nur aus diesem Grund in die Tiefe gestiegen; er hat sich einen neuen Brocken der schimmernden Substanz geholt. Es musste eine hoch gestellte Persönlichkeit aus dem Stamm der Bergbewohner sein. Seine Macht bezog der Priester aus der Wirkung des Fetischs. Ich sah, dass er die Toten keines Blickes würdigte, sondern zahlreiche Stufen einer Treppe hinabstieg. Der Fackelschein huschte über die feuchten Wände. Ich konnte alles Weitere bestens erkennen. Noch ein paar Mal attackierten die Missgestalteten den hochgewachsenen Mann, erlitten aber allesamt das gleiche Ende wie ihre Artgenossen. Weiter unten knarrte ein schweres Eisentor in den Angeln. Es krachte dumpf, als es geschlossen wurde. Dann schlug ein Riegel in die Halterung. Für Augenblicke war es totenstill, dann gellte das Lachen des Blauhäutigen durch das Gewölbe. Er kam langsam wieder zurück, lachte noch, als er unter mir vorbeiging. Wenig später verschwand der Lichtschein seiner Fackel in der Ferne. Ich ließ mich auf den Boden gleiten, brauchte ihm nur zu folgen, um an die Oberfläche zurückzukehren, da er mir den Weg wies. Ich war jetzt sicher, dass die Missgestalteten tatsächlich zu einer Gruppe von Planetariern gehörten, die tief unter der Oberfläche ein kümmerliches Dasein fristeten. Ob es Seuchenopfer, Mutanten oder Wiederbelebte waren, wusste ich nicht. Vermutlich würde ich den Schleier des Geheimnisses
niemals lüften, der über ihrem Schicksal lag. Nach einer knappen Tonta hatte ich den Ausgang erreicht – ich atmete frische Luft ein. Eine Wohltat nach dem langen Umherirren in der Tiefe. Das machte mich unvorsichtig. Als ich weiterging, blendete mich grelles Sonnenlicht. Das Erste, was ich sehen konnte, war die hochgewachsene Gestalt. Seine Krone blitzte im Licht. Er sah mich verächtlich grinsend an und hob den gefährlichen Fetisch. Das Ding deutete genau auf mein Gesicht. Ich wollte nicht sterben. Aber was sollte ich unternehmen? Plötzlich war ein Fauchen zu hören, gefolgt von einem Schwall heißer Luft. Das Lachen des Mannes endete abrupt – er hatte aufgehört zu existieren, verschwand von einem Wimpernschlag zum anderen. Das Einzige, was von ihm übrig blieb, war der geheimnisvolle Fetisch – er lag in einem verwehenden Aschehäufchen.
»Atlan!« Crysalgira lief mir entgegen, strahlte übers ganze Gesicht; in ihrer Hand sah ich einen der Handstrahler aus Vruumys’ Sternenschiff. Sie lachte laut auf, als sie mein verdutztes Gesicht erblickte. »Ich danke dir, Prinzessin.« Crysalgira schloss die Augen, als ich sie in die Arme nahm. Die blauhäutigen Bergbewohner hielten sich in sicherem Abstand, beobachteten uns aufmerksam, machten aber keine Anstalten, näher zu kommen. Papan und Ilistrik standen am Rand des großen Platzes. Die junge Frau hatte den Kopf gesenkt und stand leblos wie eine aus Stein gemeißelte Statue da. »Verschwinden wir, schnell«, flüsterte die Prinzessin und griff nach meiner Hand. Ich nickte müde und ließ mich von ihr mitzerren. Ehe ich die erste Stufe der Freitreppe betrat, sah ich
noch einmal über die Schulter – Papan winkte, in seiner Linken entdeckte ich den Fetisch. In Gedanken wünschte ich dem Mann Glück, vielleicht war er ein besserer Hohepriester. Als Crysalgira und ich das Sternenschiff erreichten, fühlte ich mich ausgelaugt und in einem Maß erschöpft, das deutlich über die mit dem Ausflug in den Krater verbundene Anstrengung hinausging. Nur mühsam setzte ich Fuß vor Fuß, Übelkeit begann in meinem Gedärm zu wühlen. Hatten mich die Dämpfe vergiftet? Oder die Substanz der Gefühlbasis verstrahlt? »Was ist mit dir?« »Schwach, übel«, murmelte ich, während mich Crysalgira in die Schleuse schleppte und das Außenschott schloss. Ich schaffte es nur noch bis hinauf zum Deck mit den Unterkünften, fiel schwer auf ein Bett und versank in Dunkelheit.
4. Atlan: Crysalgira hatte das einzig Richtige getan – während ich ohnmächtig dalag, war sie so schnell wie möglich mit dem Sternenschiff ins All gestartet. Es muss uns tüchtig durchgerüttelt haben, die Strahlenwolken von Somor beeinträchtigten eine Weile die Funktionen des Raumers, konnten aber nicht verhindern, dass er sich rasch entfernte und schließlich dem Einfluss entkam; und damit auch dem der Gefühlsbasis. Der Planet Somor – den ich in Gedanken manchmal auch »Vruumys’ Welt« nannte – blieb zurück. Entgegen meinen Befürchtungen bereitete das Raumschiff keine Probleme. Ab ich nach einer Tonta zu mir kam, saß Crysalgira mit sorgenvoll gefurchtem Gesicht an meinem Bett und lächelte erleichtert, während ich mich aufrichtete. Schwäche und Übelkeit waren verschwunden, weitere Nachwirkungen schien es nicht zu geben, obwohl ich
aufmerksam ins Innere lauschte und genau die Reaktionen meines Körpers beobachtete. Genau wie die Prinzessin war ich der Auffassung, dass vorläufig an eine Rückkehr nicht zu denken war – sosehr mich das Geheimnis der Gefühlsbasis auch reizte, wir hatten nicht die Mittel, die Rätsel zu lösen, immerhin waren vor uns bereits die Raumfahrer gescheitert, die den Krater geschaffen hatten. Einzige Möglichkeit, uns weitere Informationen zu beschaffen, waren wohl die Tejonthei; die momentan ihren Kreuzzug nach Yarden vorbereiteten – was immer das sein oder bedeuten mochte. Für einen Prago vertieften wir uns in Vruumys’ Logbuch, studierten die gespeicherten Sternkarten, die nur den Teilausschnitt einer Galaxis beinhalteten, und entschlossen uns dann, mit Belkathyr einen der insgesamt sieben tejonthischen Planeten anzufliegen, von denen Kreuzzugsschiffe starten sollten. Bezogen auf die Relationen des übrigen Weltraums, war dieser fünfte von insgesamt zwölf Planeten der weißen Sonne Bei mehr als zehntausend Lichtjahre von Somor entfernt. Der Hauptrechner des Schiffs übernahm die Kursberechnung und alle übrigen mit dem Flug verbundenen Aufgaben, mit Spannung erwarteten wir den Beginn der ersten Etappe. Statt einer mir vertrauten Transition kam ein Überlichtantrieb zum Einsatz, der eine Art »Direktflug« gestattete und mich an die Möglichkeiten von Ischtars MONDSCHATTEN erinnerte: Ungefähr eine Dezitonta hatte sich nichts verändert, obwohl ich an den Maschinengeräuschen hörte, dass das Schiff mit hohen Werten beschleunigte. Nach Ablauf dieser Zeitspanne verschwand das Abbild des Weltraums schlagartig aus der Panoramagalerie und machte undefinierbaren Lichtmustern und Schleiern Platz. Wir bewegten uns durch ein anderes Kontinuum, es gab keine Ent- und Rematerialisationen, sondern das Schiff bewegte sich mit Überlichtgeschwindigkeit linear durch ein rätselhaftes Medium, das mir wie ein Zwischending von Normal- und Hyperraum vorkam. Die erste Überlichtetappe dauerte etwa drei Tontas, in denen wir ohne Zwischenfälle einige hundert Lichtjahre zurücklegten. Nach
einer Pause folgten die zweite Etappe und abermals eine Orientierungspause, in der die Schiffsortung den Kursverlauf und die Umgebung prüfte. Die Wartezeit bei den weiteren Etappen überbrückten wir mit der Programmierung von tragbaren Translatoren – kleinen Kästchen, die auf der Brust getragen wurden und mit einem kaum sichtbaren Hinterohrstecker in drahtloser Verbindung standen –, dem Austausch von Erinnerungen und Erlebnissen, Spekulationen über die Rückkehr ins Standarduniversum und dem, was wir dann unternehmen konnten, um die Herrschaft Orbanaschols zu beenden. Ich dachte wehmütig an Ischtar, Chapat und meine freunde auf Kraumon, führte lange Diskussionen mit dem Extrasinn, ohne meine Vermutungen hinsichtlich Varganen, Tropoythem und all der anderen rätselhaften Dinge konkretisieren zu können, weil viel zu wenig Informationen zur Verfügung standen, und fragte mich genau wie Crysalgira, was uns auf Belkathyr erwartete. Erhielten wir dort Antworten auf unsere Fragen? Konnten uns die Tejonther weiterhelfen? Wie würden sie auf die Nachricht von Vruumys’ Tod reagieren? Die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Sternenschiff behalten und weiter benutzen konnten, erschien mir eher gering – möglicherweise ein Schwachpunkt unseres Vorhabens. Andererseits hatten wir kaum eine andere Wahl, kannten viel zu wenig von den Macht- und sonstigen Verhältnissen dieser »mikrokosmischen« Sterneninsel. Das Abhören der Hyperfunkkanäle endete mit einem überaus enttäuschenden Ergebnis: Es wurde kein einziger Funkspruch empfangen. Über unsere Zielwelt waren im Hauptrechner nur die Basisdaten gespeichert – ein Sauerstoffplanet mit beachtlichen 16.824 Kilometern Durchmesser und einer um rund ein Zehntel über dem Standard liegenden Schwerkraft; die Eigenrotation entsprach 17,5 Tontas, ein Belkathyrjahr 1709,25 planetaren Tagen. Das tejonthische Normzeitmaß orientierte sich allerdings an Umlauf und Rotation der Heimatwelt Tejonth, nämlich 400 Tagen zu 15,4 Tontas oder 308 Pragos nach Arkonzeitrechnung. Aus dem Datenmaterial ging hervor, dass der Kreuzzug nach
Yarden alle 360 Tejonthjahre stattfand – umgerechnet also alle rund 304 Arkonjahre. Spannung erfasste uns, als wir schließlich die letzte Etappe am Rand des Bel-Systems beendeten, Funkkontakt herstellten, die obligatorischen Fragen des »Woher und Wohin« nach bestem Wissen und Gewissen beantworteten – selbstverständlich ohne zu viel zu verraten, obwohl der Tod Vruumys’ zur Sprache kam –, trotz unserer Fremdheit bemerkenswert höflich und freundlich als »Gäste des tejonthischen Volkes« empfangen wurden und nach zwei Tontas Landeerlaubnis auf Belkathyr bei der gleichnamigen Hauptstadt nahe dem Äquator erhielten. Während ein Wachschiff als Begleitung mitflog und weitere Ortungsergebnisse angezeigt wurden, flel mir auf dass die Tejonther offenbar nur zwei Schiffstypen hatten. Die Bauart war identisch, nur die Größe verschieden – dreißig und hundertzwanzig Meter Länge. Dass es noch einen dritten Typ gab, erkannten wir erst beim Einschwenken in den Belkathyr-Orbit – den Kreuzzug-Großraumer mit 450 Metern Länge. Crysalgira wirkte nicht mehr ganz so zuversichtlich wie vorher, als das Schiff am Rand des mehr als fünfzig Kilometer großen Raumhafens niederging und der Antrieb ausgeschaltet wurde. Mir fiel auf, dass die raketenförmigen Großraumer in Formationen aufgereiht standen, als wollten sie bald starten. Den Ortungsergebnissen nach handelte es sich um »Blöcke« von je fünfzig Einheiten; insgesamt mochten es rund 1500 Raumer sein. Sofern auf den übrigen sechs Welten eine vergleichbare Anzahl bereitstand, ergab das die zehntausend Schiffe des Kreuzzugs. Bei einem Erstellungszyklus von rund 300 Arkonjahren ergab sich somit eine benötigte Werftkapazität von etwa fünf Schiffen pro Jahr und Welt. Das war wenig im Vergleich zum Ausstoß allein von Arkon III, dem Kriegsplaneten des Großen Imperiums – allerdings kannte ich die Ausdehnung des tejonthischen Herrschaftsgebiets nicht, um mir ein abschließendes Urteil erlauben zu können. Wartungsmaschinen glitten durch die frei gebliebenen Sektoren und überprüften die Außenhüllen der Schiffe. Überall waren Tejonther zu
sehen, die ihrer Arbeit nachgingen.
Belkathyr: 18. Prago des Tartor 10.498 da Ark »Sieht aus wie eine diplomatische Delegation«, sagte Crysalgira, während wir die Schleusenrampe hinabschlenderten. Vom Rand des Landefelds her näherte sich eine Gruppe von mehreren Tejonthern. »Wir werden es bald erfahren.« Der Sprecher der Delegation schaltete seinen Translator ein; die Übersetzung ins Satron funktionierte einwandfrei. Noch im Anflug hatten wir die Basisdaten unserer Translatoren übermittelt, so dass die Verständigung kein Problem war. »Wir heißen euch auf Belkathyr willkommen und hoffen, dass es euch bei uns gefällt. Ich werde für eure Sicherheit und euer Wohlbefinden verantwortlich sein. Mein Name ist Klahngruit. Betrachtet mich als euren Freund und Verbindungsmann. Solltet ihr Fragen haben, werde ich sie beantworten – soweit mir das möglich oder erlaubt ist. Leider steht der Kreuzzug nach Yarden kurz bevor, der unsere gesamte Aufmerksamkeit erfordert. Ihr werdet euch leider etwas gedulden müssen, ehe wir uns euch mit der gebotenen Aufmerksamkeit widmen können – wozu auch die endgültige Klärung von Vruumys’ Schicksal und das seines Schiffes gehören wird. Folgt mir, eure Unterkunft steht bereit.« Im Augenblick war es ziemlich sinnlos, meinerseits Fragen zu stellen. Es war besser, zuerst einmal abzuwarten, wohin uns dieser Klahngruit brachte, statt mit einem Naat in den Khasurn einzufallen. Ein flach gebautes Gefährt schwebte mit dem Tejonther und uns durch mehrere Sperrgürtel vom Raumhafengelände, das ziemlich abgesichert war. Ich sah riesige Flachbauten, die von Uniformierten bewacht wurden. Transportgleiter verrieten, dass es sich um Waren- und
Ausrüstungslager handelte. In der Hauptstadt erhoben sich bis zu vierhundert Meter hohe Turmbauten stets im Zentrum eines quadratisch angelegten Wohnbezirks von mehreren Kilometern Kantenlänge, der von breiten Alleen begrenzt wurde. Die ringsum angeordneten Häuser dagegen waren klein und niedrig. Wahrscheinlich beherbergten die Hochhäuser die jeweiligen Einkaufs- und Verwaltungszentren für das zu ihnen gehörende Wohnquadrat. Wir flogen durch belebte Straßen. Ich sah Dutzende von Angehörigen anderer Sternenvölker, die sich frei und ungezwungen auf den Bürgersteigen bewegten und sich offensichtlich gut mit den Tejonthern zu verständigen wussten. Sie trugen nur selten Translatoren. »Wohin geht die Fahrt?«, fragte ich, als mir das Schweigen allmählich auf die Nerven ging. Unser Begleiter warf einen kurzen Blick auf die automatischen Fahrtkontrollen. »Wie Sie feststellen können, leben auch andere Fremde in unserer Stadt. Sie sind unsere Gäste – so wie Sie. Ich bringe Sie in eins der Hotels. Auf Ihrem Zimmer finden Sie ein Kommunikationsgerät; Sie können mich also jederzeit erreichen. Aber ich glaube, Sie werden meine Hilfe kaum benötigen. Auf Belkathyr gibt es für unsere Gäste keine Gefahren. Niemand wird Sie belästigen, wenn Sie Ihr Hotel verlassen und sich umsehen. Aber bleiben Sie dem Raumhafen fern.« »Warum?«, fragte Crysalgira. »Es gibt sehr viele Gründe, die ich Ihnen nicht aufzählen kann und will. Ich habe Sie gewarnt, das muss Ihnen genügen.« »Und was ist mit Essen und Trinken?«, wollte ich wissen. »Zahlungsmittel brauchen Sie nicht. Sie können sich überall das holen, was Sie benötigen. Niemand kann mehr verzehren, als produziert wird. Und genau diese Menge kann durch die
unentgeltliche Arbeit der Tejonther insgesamt erzeugt werden – eingeschlossen Reserven für den Notfall und für unsere Gäste.« Ein Gesellschaftssystem, das ich auch von anderen Zivilisationen im Standarduniversum durchaus kannte. Es garantierte den einfachen Bürgern ein Leben ohne Sorgen und Probleme, aber auch eines ohne große persönliche Freiheit. Mir gefiel es nicht sonderlich. »Wie lange gedenken Sie, uns als Gäste zu bewirten?«, erkundigte ich mich ein wenig spöttisch, weil ich davon ausging, dass Vruumys’ Schiff konfisziert war. »Das hängt nicht von mir ab«, wich er einer direkten Antwort aus. »Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich gestehen, dass mir Ihre Anwesenheit derzeit keine große Freude bereitet. Der Kreuzzug, Sie verstehen? Aber Ihre Betreuung gehört nun mal zu meinen Aufgaben. Machen Sie mir keine Schwierigkeiten – es gibt verschiedene Kategorien von Gästen.« Ich verstand, was er damit sagen wollte. »Können wir uns frei bewegen?«, vergewisserte ich mich. »Vom Raumhafen abgesehen, meine ich.« »Selbstverständlich. Sehen Sie sich unsere Welt an.« Er deutete auf eins der Hochhäuser. »Wir sind gleich am Ziel.« Das Fahrzeug bog in die Allee ein, folgte dann einer schmalen Straße, die durch lange Reihen kleiner und offenbar genormter Häuser führte, bis es den Turm erreichte. Wie ich schon vermutet hatte, befanden sich unten die Versorgungszentren, in denen man alles ohne Geld erhalten konnte. Darüber lag der eigentliche Hotelbereich. Klahngruit, der froh zu sein schien, uns endlich loszuwerden, ging voran. Wir folgten ihm mit gemischten Gefühlen. Eine Liftkabine brachte uns bis ins oberste Stockwerk. Klahngruit übergab uns zwei kleine Schüsselchips von rechteckiger Kartenform und
deutete auf eine der zahllosen Türen. »Ein Appartement mit allem Luxus, eins der besten in diesem Hotel. Ich nehme an, Sie werden sich wohl fühlen.« Ich öffnete die Tür, betrat einen großen Raum mit gläserner Wand, durch die man eine grandiose Aussicht auf die Stadt hatte. Der Tejonther war mitgekommen. »Auf dem Tisch steht das Visifon, mit dem Sie jederzeit Verbindung zu mir aufnehmen können. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Belkathyr.« Er ging, hinter ihm schloss sich die Tür automatisch. »Ein schmieriger Kerl«, sagte Crysalgira abfällig. »Freundlich – aber falsch!« Ich legte meine Schlüsselkarte auf den Tisch und sah mich um. Vorsorglich ging ich davon aus, dass es akustische und optische Sensoren gab. Aber sosehr ich auch danach suchte, ich entdeckte keine. Crysalgira hatte ganz andere Sorgen; sie inspizierte unsere gemeinsame Wohnung. »Zwei Schlafzimmer, zwei Toilettenräume, Wohnraum und kleine Küche«, teilte sie mir erfreut mit. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich jetzt zurückziehe und frisch mache?« »Absolut nicht, ich sehe mich inzwischen ebenfalls um.« Ich ging in das zweite Schlafzimmer und fand einen Schrank mit Wäsche und Bekleidung. Auch im Baderaum befand sich alles, was benötigt wurde. Das Hotel gefiel mir. Ich kehrte in den Wohnraum zurück und setzte mich an das riesige Wandfenster. Unter mir lag die Stadt. Aus dieser Höhe war unübersehbar, welche Fläche sie bedeckte. Links sah ich die Spitzen der Raumschiffe am Horizont, mindestens zwanzig Kilometer entfernt – so weit dehnte sich auch die Stadt in diese Richtung aus. In die andere, wie mir schien, sogar noch weiter. Und immer stand ein Hochhaus inmitten einer Siedlung kleinerer Bauten. Aber ich entdeckte auch Grünflächen und
Parks, sogar einige Seen. Es dauerte eine halbe Tonta, dann erschien Crysalgira wieder. Sie trug ein fast durchsichtiges Gewand, das ihre Figur noch mehr zur Geltung brachte, bemerkte meinen bewundernden Blick und sagte: »Du wirst doch Chergost nicht vergessen?« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, obwohl es mir bei deinem entzückenden Anblick schwer fällt, wofür du hoffentlich Verständnis hast. Du bist sehr schön, Prinzessin.« Sie nickte ein wenig schelmisch. »Was für ein Programm schlägst du also vor?« Ich sah aus dem Fenster. »Meiner Schätzung nach wird es bald dunkel. Ich denke, wir sollten heute hier bleiben. Ich versuche, irgendwo etwas zu essen und zu trinken aufzutreiben, und komme dann zurück.« »Keine Zimmerbedienung?«, schmollte sie. Ich lächelte. »Ich gehe selbst und sehe mich bei der Gelegenheit gleich ein wenig im Hotel um. Verlass bitte das Zimmer nicht, ich bin bald zurück.« »Du kannst beruhigt sein, mir ist nicht nach Exkursionen.« Ich nahm meine Schlüsselkarte und schob sie in eine Tasche des Anzugs. Die Tür ließ sich von innen leicht öffnen und schloss sich automatisch. Ich stand auf dem Korridor. Niemand war zu sehen. Mit Leichtigkeit fand ich den Lift und fuhr nach unten. Hier herrschte reger Betrieb, aber niemand kümmerte sich um mich. Ungehindert konnte ich mich bewegen und betrat eins der Warenlager. Eine Weile sah ich zu, wie es die Tejonther machten, dann nahm ich einen kleineren Korb und ließ mich von der drängenden Menge mitschieben. Aus Vruumys’ Sternenschiffchen kannte ich einige Nahrungsmittel der Schwarzbepelzten. Jetzt wurde es schwieriger. Zum Glück jedoch war auf den meisten Packungen der Inhalt abgebildet, oder die Verpackung selbst
war transparent. Nach und nach füllte ich meinen Korb und vergaß auch einige Flaschen nicht, von denen ich annahm, dass sie eine trinkbare Flüssigkeit enthielten. Ohne angehalten zu werden, verließ ich das »Geschäft« und stand in der Vorhalle, deren Decke von runden Säulen getragen wurde. Viele der Tejonther, die ich gesehen hatte, betraten einen der Lifts, wohnten also im Hochhaus. Andere gingen auf die Straße und strebten ihren kleinen Einheitsnormhäusern zu. Es war ein friedliches Bild. Die Tejonther waren im Grunde zu beneiden; eine mörderische Auseinandersetzung wie den Krieg gegen die Methans kannten sie nicht. Mit dem Lift kehrte ich in das oberste Stockwerk zurück. Eine breite Treppe führte noch weiter nach oben. Neugierig stieg ich sie hinauf. Meine Vermutung bestätigte sich. Ich stand auf einer riesigen Terrasse, von der aus man einen noch besseren Überblick als vom Zimmer aus hatte. Nach allen Seiten dehnte sich die Stadt bis zum Horizont, der durch Berge begrenzt wurde. Die Luft war angenehm kühl, aber die Sonne sank weiter, bald würde es kalt werden. Schnell verließ ich die Terrasse und öffnete die Tür zu unserem Appartement. Crysalgira nahm mir den Korb ab und packte aus, während ich mir die Hände wusch. In der kleinen Küche fanden wir Geschirr, wenig später standen die Köstlichkeiten von Belkathyr auf dem Tisch am Fenster. »Nicht übel«, sagte die Prinzessin nach dem ersten Versuch. »Früchte, nehme ich an.« Auch ich verspürte Hunger und Durst. In den Flaschen war ein angenehm schmeckendes Getränk, das mich ein wenig an die Weine der Kolonialplaneten erinnerte. Nach zwei Gläsern fühlte ich mich bereits leicht beschwingt und vergaß alle Sorgen. Eine Weile verfolgten wir das Programm auf dem Videoschirm. Wir wählten ein Musikprogramm und ließen uns von den merkwürdig anmutenden Melodien berieseln. Ich merkte, dass sie fast hypnotisch wirkten und uns regelrecht
einzulullen begannen. Vielleicht dienten sie den Tejonthern als Schlafmittel. Crysalgira jedenfalls gähnte bald und sagte: »Du kannst machen, was du willst, aber ich gehe jetzt schlafen. Wer weiß, was morgen passiert.« »Nichts passiert, wenn wir das nicht wollen. Aber du hast Recht: Ich bin auch müde. Gehen wir schlafen.« Sie verschwand in ihrem Zimmer, nachdem sie mir noch einen seltsamen Blick zugeworfen hatte. Ich blieb noch eine Weile sitzen und sah auf das Lichtermeer der Stadt. Am Himmel standen fremde Sterne, deren Konstellationen ich noch nie zuvor gesehen hatte. Aber welche Rolle spielte das schon? Der ganze »Mikrokosmos« war uns fremd.
Als ich nach der Morgentoilette den Wohnraum betrat, trug Crysalgira wieder ihre blaue Metallkleidung und kämmte sich die Haare. Die Tür zu ihrem Zimmer war geöffnet. »Wir sollten später einen Spaziergang machen«, sagte ich. »Nicht weit von hier ist ein Park. Wäre doch seltsam, wenn wir keine Gesprächspartner finden würden.« »Einverstanden. Ich brauche aber noch ein wenig Zeit, bis ich die Haare wieder in Ordnung habe.« Ich lächelte. »Gut, dann sehe ich mich noch mal unten im Versorgungszentrum um.« Ich fuhr mit dem Lift hinab und justierte den Translator auf erhöhte Empfindlichkeit, während ich die Auslagen begutachtete und mich, vom fotografischen Gedächtnis unterstützt, mit Symbolen und den tejonthischen Schriftvarianten vertraut machte. Ringsum wurde nur über belanglose Dinge gesprochen, von mir nahm niemand Notiz. Nur einmal meinte ein noch kleiner Tejonther zu einem größeren, der wohl seine Mutter oder sein Vater war: »Sieh nur, der hat nur auf dem Kopf Haare, viel hellere als wir. Ist
das ein Fremder?« »Halt den Mund«, wurde er angewiesen. »Siehst du denn nicht, dass er einen Translator hat? Komm jetzt!« Ob es Höflichkeit einem Fremden gegenüber war oder nur Vorsicht, wusste ich nicht. Ich sammelte etwas Proviant zusammen, ging zum Lift und fuhr nach oben. Crysalgira war fertig zum Ausgang. Nach dem Frühstück verließen wir gemeinsam das Appartement und standen bald auf der nur mäßig belebten Straße. Die Richtung zum Park kannte ich. Auf dem Weg dorthin begegneten uns nur wenige Tejonther und ein Fremder – er war etwas kleiner als wir und stelzte auf dreien seiner acht Beine des Krakenkörpers vorüber. Zuerst wollte ich ihn ansprechen, gab aber meine Absicht auf, als ein Wagen mit uniformierten Beamten an uns vorbeifuhr. Später würde sich vielleicht eine bessere Gelegenheit zu einer solchen Unterhaltung ergeben. Wir überquerten die breite Allee und erreichten das Viertel, in dem sich der Park befand. Rechts und links reihten sich die niedrigen Häuser mit den kleinen Vorgärten aneinander. Dann, nach mehreren Straßen, lag der Park vor uns. Fremdartige Bäume und Sträucher säumten die schmalen Fußwege, die sich durch das Stück Natur schlängelten. Überall standen Bänke an sonnigen Plätzen; es gab genug Tejonthcr, die auf ihnen saßen und den Frieden und die Ruhe genossen. Wir fanden eine freie Bank unmittelbar an dem kleinen See und setzten uns. Crysalgira streckte die Beine weit von sich. »Fast wie ein Urlaub. Meinst du nicht auch?« »Hat jedenfalls Ähnlichkeit damit. Ich schlage vor, wir warten ein paar Tage mit genaueren Nachforschungen, bis wir uns eingelebt haben. Sobald wir die Verhältnisse besser kennen, wird es leichter sein, die richtigen Fragen zu stellen. Bis dahin sollten wir den Aufenthalt hier wirklich als Urlaub betrachten.«
»Einverstanden«, murmelte sie. Die Sonne schien warm auf uns herab. Der kaum spürbare Wind war lau und angenehm. Ich konnte mir recht gut vorstellen, dass »Gäste« der Tejonther ihren Aufenthalt auf Belkathyr in vollen Zügen genossen. Diese Regel aber galt nicht für die Prinzessin und mich – unser Ziel war die Rückkehr ins Standarduniversum. »Worüber denkst du nach?« »Oh – eigentlich über gar nichts«, log ich. »Ich genieße die Ferien, das ist alles.« »Soso …« Sie glaubte mir kein Wort. Wir blieben sitzen, bis wir Hunger verspürten. Gemächlich spazierten wir dann zurück ins Hotel, nachdem wir der Lebensmittelabteilung einen kurzen Besuch abgestattet und uns versorgt hatten. Der Nachmittag verging in friedlicher Ruhe; als es dunkelte, summte das Visifon. Es war Klahngruit. »Verzeihen Sie die Störung, aber ich wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt?« »Sehr aufmerksam von Ihnen, danke«, erwiderte ich und lächelte in die winzige Kamera über dem Bildschirm. »Wie verlaufen die Vorbereitungen des Kreuzzugs nach Yarden?« Der Ausdruck seines Gesichtes blieb unverbindlich. »Die Schiffe sind bald startbereit. Aber das ist eine Angelegenheit der Tejonther, nicht Ihre. Sobald die Schiffe abgeflogen sind, kann ich Ihre Fragen besser beantworten, bis dahin müssen Sie sich gedulden. Ich wünsche Ihnen weiterhin einen angenehmen Aufenthalt.« »Könnten Sie nicht …?«, begann ich, aber Klahngruit hatte die Verbindung schon unterbrochen. Wütend wollte ich sie wiederherstellen, aber Crysalgira hielt meine Hand fest. »Es hat keinen Sinn. Ich habe das Gefühl, er hat schon mehr gesagt, als er eigentlich wollte. Der Kreuzzug nach Yarden – was bedeutet das wirklich? Sogar Vruumys’ Aufzeichnungen
blieben diesbezüglich mehr als vage?« Ich lehnte mich im Sessel zurück und sah zu der sinkenden Sonne. »Da fragst du mich zu viel, Prinzessin. Dieser Kreuzzug muss ein nationales Anliegen sein, eine Angelegenheit aller Tejonther. Es ist, als würden sie alle nur für diesen Kreuzzug leben und arbeiten. Wir sollten versuchen, mehr darüber herauszufinden, vielleicht hilft uns das weiter.« »Klahngruit will uns mehr darüber erzählen, wenn die Flotte gestartet ist.« »Dann kann es zu spät sein«, vermutete ich düster. »Wir müssen morgen schon mit unseren Nachforschungen beginnen. Die Sonne geht bald unter. Ich schlage vor, wir gehen früh schlafen, damit wir morgen besonders munter sind.«
Der Tejonther auf der Bank war mir schon gestern bei unserem ersten Spaziergang aufgefallen. Er saß in der Nähe des Teiches, abseits vom Weg vor einer Strauchgruppe, die ihn fast einschloss und ihm eine gute Deckung bot. Wie gestern blickte er auch heute mehrmals zu uns herüber, ohne jedoch allzu deutlich zu zeigen, dass er mit uns sprechen wolle. Ich sagte zu Crysalgira: »Der will etwas von uns, wenn ich mich nicht sehr täusche, aber er ist vorsichtig. Wahrscheinlich legt er aus gewissen Gründen besonderen Wert darauf, dass wir den Kontakt herstellen. Das wiederum lässt bestimmte Schlüsse zu.« »Welche?« »Hm, vielleicht handelt er illegal, wenn er mit uns spricht.« »Der Kontakt mit der Bevölkerung wurde uns nicht verboten.« »Richtig, Prinzessin. Eben darum bin ich auch davon
überzeugt, dass er uns etwas mitteilen will, was Klahngruit vielleicht unangenehm wäre. Was wissen wir von den Verhältnissen hier? So gut wie nichts. Außerdem könnten wir ihn nach der Bedeutung des Kreuzzugs fragen. Mal sehen, wie er reagiert.« »Und wie willst du den Kontakt herstellen? Willst du einfach zu ihm gehen und ihn ansprechen?« Ich nickte. »Genau das werde ich tun, wenn er nach einer Tonta noch dort sitzt und uns beobachtet. Für einen Spitzel Klahngruits halte ich ihn nicht, werde ihm gegenüber aber so tun, als hielte ich ihn dafür.« Langsam nur wanderte die Sonne weiter, es wurde wärmer. Immer mehr Spaziergänger tauchten auf, darunter auch Fremde, von denen viele einen Translator trugen. Keiner aber sprach uns an oder setzte sich gar zu uns auf die Bank. Ich ließ den Tejonther bei den Büschen nicht aus den Augen. Oft genug begegneten sich unsere Blicke, und einmal glaubte ich einen Wink mit den Augen von ihm bemerkt zu haben. Ein Blinzeln war es, sehr dezent und unauffällig. Es konnte kein Zufall sein. Beim nächsten Mal blinzelte ich zurück – und erhielt Antwort. Es war so weit. »Ich gehe jetzt zu ihm«, flüsterte ich. »Warte, bis ich dir ein Zeichen gebe, dann folgst du mir. Einverstanden?« »Geh nur, ich komme dann«, gab sie ebenso leise zurück. Ich schaltete den Translator ein, stand auf und schlenderte zu den Büschen, vor denen die Bank stand. Höflich fragte ich: »Gestatten Sie, dass sich ein Fremder zu Ihnen setzt, um Ihnen einige Fragen zu stellen?« Er sah mich mit durchdringenden Blicken an. »Ich habe nichts dagegen, aber ich glaube kaum, dass ich Ihre Fragen beantworten darf. Eine Unterhaltung hingegen ist nicht verboten.« Ich setzte mich. »Wer sollte eine Unterhaltung verbieten?
Leben Sie denn in einem Gefängnis? Ich will offen zu Ihnen sein: Schon gestern habe ich Sie gesehen, Ihr Interesse an mir und meiner Begleiterin fiel mir auf. Ein gewisser Klahngruit brachte uns vom Raumhafen ins Hotel. Sind Sie ein Beauftragter dieses Klahngruit?« »Niemals!« Sein Protest kam so schnell und vehement, dass ich sofort das Gefühl hatte, er müsse Klahngruit hassen – oder fürchten. Jedenfalls klang das Wort trotz der Zwischenschaltung des Translators ehrlich und überzeugend. »Gut«, sagte ich. »Bevor wir weiter sprechen, gestatten Sie, dass meine Begleiterin zu uns kommt?« »Ich habe nichts dagegen einzuwenden.« Ich winkte Crysalgira, die nur darauf gewartet hatte, sich erhob und zu uns kam. Nach kurzer Begrüßung setzte sie sich. Ohne Umschweife stellte ich meine erste Frage: »Was bedeutet dieser Kreuzzug nach Yarden? Welche Rolle spielt er im Leben der Tejonther?« Er wirkte verwundert. »Was können Sie mir sagen?« »Nicht viel – noch nicht. Sobald Sie bereit sind, Ihre Bequemlichkeit als Gast Klahngruits aufzugeben, erfahren Sie mehr. Aber vorher muss ich davon überzeugt werden, dass Sie mich nicht in seinem Auftrag aushorchen wollen. Er hat uns schon mehr als einmal Spione geschickt.« Ich musste lachen. »Wir nahmen an, es sei umgekehrt. Sie können beruhigt sein, mein Freund, wir sind alles andere als Spione. Nur – wie sollen wir Ihnen das beweisen?« »Früher oder später finden wir das heraus. Ich werde Sie morgen zu einer Persönlichkeit bringen, die darüber entscheidet, ob wir Ihnen vertrauen können oder nicht. So viel darf ich heute schon sagen. Die offiziellen Stellen wissen, dass es uns gibt.« »Wer ist uns?«
»Auch das erfahren Sie früh genug. Stellen Sie jetzt bitte nur noch Fragen allgemeiner Natur. Sic wissen schon genug.« Zwar war ich gegenteiliger Meinung, aber wir durften es nicht auf die Spitze treiben. So entwickelte sich eine unverfängliche Unterhaltung. Schließlich sagte unser neuer Bekannter: »Es wird Zeit, dass ich aufbreche. Verhalten Sie sich völlig normal und kommen Sie morgen hierher. Bis dahin haben Sie Zeit, sich zu überlegen, ob Sie den Kontakt aufrechterhalten wollen oder nicht. Ich sage Ihnen gleich, dass Sie unter Umständen Schwierigkeiten bekommen können. Klahngruit ist nicht zimperlich.« Er spazierte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Crysalgira seufzte. »Nun haben wir die Wahl zwischen Urlaub und Ärger. Aber ich glaube, ohne diesen Ärger sitzen wir für den Rest unseres Lebens hier fest. Klare Entscheidung?« »Natürlich! Wir haben bereits gewählt, Prinzessin.« Wir blieben noch eine halbe Tonta auf der Bank sitzen, dann kehrten wir ins Hotel zurück. Den Nachmittag verbrachten wir auf der Dachterrasse. Abends erwartete ich einen erneuten Anruf Klahngruits, aber nichts geschah. Das Visifon blieb stumm, der Bildschirm dunkel. Kurz vor Mittag verließen wir das Hotel und fanden die Bank zwischen den Büschen leer. Trotzdem setzten wir uns und warteten, mehr oder weniger ungeduldig. Unser Freund erschien eine Tonta später und blieb vor uns stehen. »Wie haben Sie sich entschieden?« »Führen Sie uns zu den anderen«, erwiderte ich. »Vielleicht haben Sie inzwischen erfahren können, dass wir vertrauenswürdig sind.« »Unsere diesbezüglichen Informationen sind positiv – Sie sind Vruumys begegnet. Allerdings hätten Sie sein Schiff wohl besser für eigene Zwecke benutzt, statt hierher zu kommen.
Folgen Sie mir, aber halten Sie Abstand. Niemand soll sehen, dass wir zusammengehören. Sobald Sie bemerken, dass wir beschattet werden, kehren Sie einfach zum Hotel zurück. Wir treffen uns dann morgen um die gleiche Zeit hier wieder.« Er ging davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Wir blieben sitzen, bis er außer Hörweite war, dann standen wir auf und spazierten ihm nach. Sosehr ich mich auch bemühte, einen Verfolger zu entdecken, es gelang mir nicht. Entweder waren Klahngruits Spione sehr geschickt, oder es gab überhaupt keine. Insgesamt durchquerten wir nach Verlassen des Parks drei Wohnquadrate, das entsprach einem Fußmarsch von etwa einer halben Tonta. Dann strebte unser namenloser Freund auf ein Hochhaus zu, das unserem identisch war. Im Lift wartete er auf uns. »Wir sind am Ziel, niemand ist uns gefolgt. Finden Sie von hier aus allein zu Ihrem Hotel zurück?« »Kein Problem.« Wir fuhren einige Stockwerke hoch, dann hielt der Lift an. Wir verließen ihn und gingen den Korridor entlang, bis unser Führer vor einer Tür anhielt, deren Nummer ich mir schnell einprägte. Er zog eine Schlüsselkarte aus der Tasche und öffnete. Wir betraten den Raum, dann schloss sich die Tür. Um einen runden Tisch vor dem Fenster saßen etwa ein Dutzend Tejonther, die uns neugierig entgegenblickten. Mit kurzen Worten berichtete unser Begleiter, dann setzte auch er sich. Wir blieben stehen und wurden weiter gemustert, bis sich endlich einer aus der Runde erhob und zu uns sagte: »Seid willkommen, Fremde. Mein Name ist Keniath-Cel, ich führe diese Gruppe. Eure Namen sind uns inzwischen bekannt, wir wissen, dass wir euch vertrauen dürfen. Es ist euer Bestreben, unsere Welt verlassen zu können, um in die eure zurückzukehren … Das aber wird niemals geschehen, wenn die Regierung und ihr Beauftragter Klahngruit ihre Absichten
verwirklichen. Damit berühren sich eure und unsere Interessen. Wir sind Verbündete. Nehmt Platz, bitte.« Keniath-Cel war ein weiblicher Tejonther. Der Unterschied war auf den ersten Blick nicht festzustellen, obwohl ihre Figur schmächtiger war als jene der anderen Anwesenden. Sie machte auf mich einen energischen und zielbewussten Eindruck. Die übrigen Tejonther wurden vorgestellt. Diese erste nun folgende Unterhaltung dauerte fast drei Tontas. Der Kreuzzug nach Yarden fand tatsächlich alle dreihundertsechzig Belkathyrjahre statt und hatte etwas mit den Gefühlsbasen und den Leerraumkontrolleuren zu tun – aber was, das konnten uns die neuen Verbündeten auch nicht verraten. Sie wussten es nicht, aber sie waren Gegner des Kreuzzugs, da er ihnen als Verschwendung erschien. Die Begründung klang einleuchtend: Das Volk der Tejonther benötigte jedes Mal fast dreihundert Jahre dazu, die geforderten zehntausend Schiffe zu bauen und auszurüsten, die Mannschaften auszubilden und das Unternehmen vorzubereiten. Und dann kam das Hauptargument, das uns allerdings in großes Erstaunen versetzte: Von einem Kreuzzug nach Yarden war noch niemals ein Schiff oder ein Mitglied der Besatzung zurückgekehrt. Die gesamte Flotte blieb für alle Zeiten verschollen! Ich konnte mir vorstellen, welche Belastung der regelmäßig wiederkehrende Verlust einer ganzen Flotte für die Tejonther bedeutete. Sie leben und arbeiten nur für das eine Ziel, zehntausend Schiffe nutz- und sinnlos zu verlieren. Oder gibt es Tejonther, die mehr darüber wissen? Ich fragte: »Diese Gefühlsbasen? Welche Rolle spielen sie beim Kreuzzug?« »Wir vermuten, dass sie als kosmische Leuchtfeuer oder gar zur mentalen Beeinflussung dienen, denen die Flotte folgen muss. Wer sie eingerichtet hat, ist unbekannt. Mit hoher
Wahrscheinlichkeit aber die Tropoyther. Und nein, wir wissen auch nicht, was sich hinter dem Begriff Yarden verbirgt.« Vielleicht das, was bei den Dnofftries das Ende der Ebene war? Ein Übergang zum Standarduniversum? Sehr spekulativ, zischte der Logiksektor. Nur weil die Schiffe nicht zurückkehren, müssen sie noch lange nicht dieses Universum verlassen. Zum Abschied sagte Keniath-Cel: »Kehrt in euer Hotel zurück und verhaltet euch wie bisher. Die Bank im Park bleibt der Treffpunkt, bis weitere Entscheidungen gefallen sind. Es ist möglich, dass wir unser Quartier wechseln müssen. Dann trefft ihr uns hier nicht mehr an, aber wir werden versuchen, den Kontakt so schnell wie möglich wiederherzustellen. Groya-Dol wird bald entscheiden, was zu geschehen hat. Er ist das Oberhaupt der Gegner der Kreuzzüge nach Yarden.« »Wie stellt ihr euch überhaupt die Verhinderung des Kreuzzugs vor?«, fragte ich. »Wollt ihr die Regierung stürzen und das Volk aufwiegeln? Wird das nicht auf die Vertreter eurer Religionen alarmierend wirken?« »Der Kreuzzug hat absolut nichts mit Religion zu tun, obwohl das den Anschein erwecken mag. Es ist auch kein bloßer Naturtrieb, wie er bei Tieren zu beobachten ist. Aber wir wissen, dass er den Fortschritt hemmt und uns alle dreihundertsechzig Belkathyrjahre zurückwirft. Immer wieder sind wir gezwungen, von vorn zu beginnen, statt auf dem einmal Erreichten weiter aufbauen zu können. Das soll, das muss ein Ende haben.« Ich verstand diesen Standpunkt durchaus, nur war mir nicht klar, wie die Rebellen ihr Ziel erreichen wollten. In meinen Augen waren sie hoffnungslose Idealisten, die wahrscheinlich scheitern würden. Trotzdem – oder vielleicht gerade auch deshalb – fühlte ich mich mit ihnen verbunden. »Betrachtet uns als Mitstreiter«, sagte ich, als wir zur Tür geleitet wurden. »Ihr könnt euch auf uns verlassen, Keniath-Cel.«
»Vielleicht habt ihr schon bald die Probe zu bestehen. Ihr wisst, wie ihr Kontakt zu uns aufnehmen könnt. Lebt wohl. Hütet euch vor Klahngruit. Er ist uns auf der Spur, aber immer dann, wenn er zuschlagen wollte, kam er zu spät.« Nachdenklich traten wir den Rückweg an. Als wir den Park erreichten, dämmerte es bereits. Ich hatte Hunger, deshalb beeilten wir uns, die Lebensmittelabteilung rechtzeitig zu erreichen. Eine instinktive Ahnung verleitete mich dazu, mehr Lebensmittel als direkt notwendig mitzunehmen. Ich untersuchte unser Appartement, konnte aber keine Veränderung feststellen. Beruhigt aßen wir und gingen das heute Erfahrene noch einmal durch. Es war eine ganze Menge, wenn man die Informationen Klahngruits damit verglich. Trotzdem ließ sich noch nicht viel damit anfangen. Mir war unklar, inwiefern es Crysalgira und mir half, wenn wir die Rebellen unterstützten. Wenn sie siegten, konnten wir ein Schiff von ihnen erhalten, aber wohin sollten wir damit fliegen? In diesem Universum gab es kein Ziel für uns. Auf der anderen Seite stellte sich die Frage, was es mit diesem so genannten Kreuzzug auf sich hatte. Warum opferten die Tejonther ihre mühsam zusammengestellte Flotte? Der Kreuzzug blieb unsere Hoffnung, mehr über die mysteriösen Leerraumkontrolleure zu erfahren. Sie schienen mir die Einzigen zu sein, die uns helfen konnten. So betrachtet saßen Crysalgira und ich in der Zwickmühle. In dieser Nacht gingen wir mit gemischten Gefühlen schlafen, aber wir waren fest entschlossen, Keniath-Cel und ihre Freunde nicht zu verraten, was immer auch geschehen mochte. Am nächsten Tag saßen wir mehrere Tontas im Park, aber unser Verbindungsmann ließ sich nicht sehen. Spät am Abend kehrten wir in unser Hotel zurück – als ich die Tür öffnete und eintrat, saß Klahngruit im Sessel am Fenster und sah uns
ziemlich unfreundlich entgegen. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, empfing er uns und deutete auf die anderen Sessel. »Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich.«
Wir warteten schweigend ab, was Klahngruit zu sagen hatte. Denken konnten wir es uns schon. Er betrachtete uns eine Weile, dann sagte er: »Ich weiß, dass Sie Kontakt mit den Feinden des Volkes aufgenommen haben und die Absicht hegen, sich mit ihnen zu verbünden. Ich schließe aus Ihrer Haltung, dass Sie keinen Wert mehr darauf legen, noch weiterhin unsere Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Diese Nacht können Sie noch hier im Hotel verbringen, aber morgen wird die Schlosskombination verändert. Ebenfalls erhalten Sie ab morgen keine Lebensmittel oder anderen Güter mehr. Die Versorgungszentren wurden informiert, versuchen Sie es also erst gar nicht. Sie dürfen sich auch weiterhin frei auf Belkathyr bewegen, jedoch ohne die Privilegien eines Gastes. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe.« Ehe er aufstehen konnte, erwiderte ich: »Es stimmt, dass wir Bekanntschaften geschlossen haben, aber das war uns nicht verboten worden. Wie sollten wir wissen, dass sie bei Ihnen als Feinde des Volkes eingestuft sind?« »Das haben Sie sehr genau gewusst. Streiten Sie es nicht ab, Sie verschlechtern damit nur Ihre Lage.« »Ich streite es aber ab«, sagte ich wütend. »Die Leute mögen nicht mit dem mysteriösen Kreuzzug nach Yarden einverstanden sein, aber das ist noch lange kein Grund, sie als Todfeinde zu behandeln – und uns dazu.« »Sie sprechen von Dingen, die Sie nicht verstehen …« »Dann klären Sie uns gefälligst auf«, forderte ich ihn energisch auf. »Sagen Sie uns, was hier los ist, was der
Kreuzzug bedeutet. Und erklären Sie mir, was wir beide damit zu tun haben sollen, nur weil wir den Leuten begegnet sind.« Klahngruit sah auf die Lichter der Stadt, seine bepelzte Miene drückte Unbehagen aus. Schließlich bequemte er sich zu einer Antwort: »Vielleicht wäre es mir unter anderen Umständen möglich gewesen, Ihrer Bitte nachzukommen, jetzt leider nicht mehr. Immerhin könnten Sie Ihre Lage dadurch verbessern, indem Sie mir einige Namen nennen. Oder sollten Sie die etwa vergessen haben?« Ich nickte. »In der Tat, die haben wir vergessen. Den ganzen Tag heute haben wir versucht, uns an sie zu erinnern, aber vergeblich. Ihre Namen sind für uns sehr kompliziert und schwer zu behalten.« Er nickte gelassen. »Natürlich, verstehe – aber wenn Sie einige Tage ohne Nahrung sind, werden sie Ihnen sicher wieder einfallen.« »Sie wollen uns verhungern lassen?« »Das ist nicht unsere Absicht. Sie haben schließlich Freunde, oder nicht? Die werden Ihnen schon helfen.« »Es ist Ihnen also möglich, uns Quartier und Essen zu sperren, aber die Rebellen können wohnen und essen, wo sie wollen? Ist das nicht ein wenig merkwürdig?« »Es sind Tejonther. Sie sind Fremde.« Ich sah ein, dass es wenig Sinn hatte, ihn noch mehr herauszufordern. Keniath-Cel würde uns nicht im Stich lassen, denn wenn ihr Nachrichtendienst gut funktionierte, wusste sie schon jetzt, was geschehen war. »Da Sie uns nicht länger als Gäste ansehen«, sagte ich ruhig, »werden Sie wohl verstehen, dass wir uns bemühen werden, eine Passage in einem Schiff zu erhalten, das Belkathyr verlässt.« »Wenn Sie in der Nähe des Raumhafens aufgegriffen werden, kann ich Sie nicht vor einer strengen Bestrafung
schützen. Das gilt, bis die Kreuzzugsflotte aufgebrochen ist.« Er stand auf, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Ich wünsche Ihnen eine letzte angenehme Nacht. Die folgenden werden sicherlich nicht so bequem werden.« Die Tür schloss sich hinter ihm. Wir waren wieder allein. Crysalgira seufzte. »Ich weiß nicht … vielleicht hätten wir ihn besänftigen können. Du hast ihm ziemlich offen deine Meinung gesagt.« »War es nicht auch deine?« »Natürlich. Aber bist du davon überzeugt, dass uns die Rebellen helfen werden? Wir sind doch jetzt nur noch Ballast für sie. Unnütze Esser, wenn du so willst.« »Dann ist es gut, dass wir genügend Vorräte mitgenommen haben – die helfen uns über die nächsten Tage hinweg, falls deine Befürchtung eintritt. Und wenn dann noch immer nichts geschieht, werden wir uns neue besorgen. Das dürfte nicht so schwer sein.« »Wir sind die einzigen Arkoniden hier, man erkennt uns überall auf den ersten Blick. Und du weißt ja nun, wie gut der Überwachungsapparat dieses Klahngruit funktioniert.« »Er kannte nicht einmal die Namen der Gruppe.« »Das kann ein Bluff gewesen sein.« Ich gähnte. »Meinetwegen. Aber ich schlage vor, wir schlafen uns erst einmal aus. Wer weiß, wo wir morgen unser müdes Haupt zur Ruhe niederlegen können.« Damit war sie einverstanden.
Wir standen spät auf, kleideten uns an und packten die Vorräte zusammen. Vorsichtshalber nahm ich meinen Schlüssel mit, als wir das Appartement verließen. Vielleicht erwies er sich später mal als nützlich. Ohne Aufenthalt gingen wir zum Park und setzten uns auf »unsere« Bank. Die anderen
Müßiggänger kümmerten sich nicht um uns. Alles war so, als sei nichts geschehen. Vergeblich warteten wir auf den Verbindungsmann zur Gruppe der Rebellen. Den ganzen Tag saßen wir im Park, sahen den Spaziergängern zu und hofften auf eine Kontaktaufnahme, aber nichts dergleichen geschah. Als es schon zu dämmern begann, sagte ich: »Es hat wenig Sinn, noch länger zu warten. Wir gehen zu ihnen.« »Und wenn wir beobachtet werden?« »Das müssen wir riskieren. Ich glaube ohnehin, dass Klahngruit den Aufenthaltsort von Kcniath-Cel schon kennt. Wie hätte er sonst wissen können, dass wir Kontakt mit ihr haben?« Trotzdem achteten wir darauf, nicht verfolgt zu werden. Da es allmählich dunkel wurde, fühlten wir uns sicherer; nach einer halben Tonta erreichten wir das Hochhaus, in dem wir Keniath-Cel begegnet waren. Niemand hinderte uns daran, den Lift zu nehmen. Die Nummer des Apartments hatte ich mir gemerkt. Als wir vor der Tür standen, suchte ich vergeblich nach einer Anmeldevorrichtung. Nichts. Ich klopfte vorsichtig gegen die Tür, dann kräftiger. Sie öffnete sich, ein unbekannter Tejonther sah mich an. »Verzeihen Sie«, sagte ich gefasst. »Ich wollte zu KeniathCel. Sie wohnt doch hier?« »Hier wohnt niemand, der so heißt. Dieses Apartment gehört schon seit vielen Jahren mir.« Er schloss die Tür, ehe ich noch etwas sagen konnte. Verwirrt las ich noch einmal die Nummer, aber sie stimmte. Ich hatte mich keineswegs geirrt. Natürlich war es möglich, dass die Gruppe permanent ihren Wohnsitz wechseln musste, um den Verfolgungen ihrer Gegner zu entgehen – Keniath-Cel hatte so etwas angedeutet. Unschlüssig fuhren wir mit dem Lift nach unten und verließen das Gebäude; hinter uns schlossen sich die Portale. Als wir wieder unser Hotelhochhaus erreichten, waren auch
dort die Portale verschlossen. Ich probierte meine Schlüsselkarte aus. Wie erwartet – vergeblich. »Was nun?«, fragte Crysalgira. »Keine Ahnung. Ich fürchte, wir werden diese Nacht auf einer Parkbank verbringen müssen.« »Werden wir ihre Spur wieder finden?« »Wichtig ist, dass sie unsere nicht verlieren. Komm, ehe wir Aufsehen erregen.« Der Park war leer, wir trafen niemanden. Aus reiner Gewohnheit suchten wir »unsere« Bank auf, immer in der Hoffnung, dass sich Keniath-Cel bemerkbar machen würde. Um uns gegenseitig warm zu halten, schliefen wir auf einer Bank. Es war ein wenig unbequem, aber wenigstens froren wir nicht.
Als der Morgen graute, wuschen wir uns im Wasser des Sees, frühstückten auf der Bank – und warteten. Der Tag verging, nichts geschah. Wieder schliefen wir im Park. Am nächsten Morgen verzehrten wir den Rest unserer Vorräte. Nun wurde es ernst. Ziellos wanderten wir an diesem Tag durch die Stadt. Als wir Hunger verspürten, wollten wir eins der Vorratszentren betreten. Ich konnte keine Sperre oder Wache entdecken, aber als ich nach dem ersten Paket mit Lebensmitteln griff, wurde ich ziemlich unsanft daran gehindert: Ein kräftig wirkender Tejonther packte meinen Arm und riss mich zurück, dann blickte ich in die Mündung einer Energiewaffe, die er auf mich gerichtet hatte. Crysalgira stand dahinter und wusste nicht, wie sie mir helfen konnte. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, denn wir waren von Tejonthcrn regelrecht eingeschlossen. »Versucht das nicht noch einmal«, warnte der Tejonther eindringlich. »Hier in der Stadt findet ihr niemanden, der euch
helfen würde. Geht in die Wildnis, wenn ihr überleben wollt – oder geht zu Klahngruit und redet mit ihm. Ihr habt die Wahl. Und nun verlasst das Versorgungszentrum und kehrt nicht zurück.« Ais wir draußen standen, kam mir der Ernst unserer Lage erst richtig zum Bewusstsein. Wir standen vor gefüllten Auslagen – und bekamen nichts. Der Tejonther hatte gut reden, wenn er meinte, wir sollten die Stadt verlassen und in die Wildnis gehen. Da konnten wir genauso gut auf einem unbewohnten Planeten sitzen und daraufwarten, dass uns jemand abholte – aber vielleicht war es eine Übergangslösung. Wir durchquerten ein Wohnviertel nach dem anderen, immer in der verzweifelten Hoffnung, dass uns jemand ansprechen und sich als Verbündeter von Keniath-Cel oder Groya-Dol ausgeben würde. Aber es kam keiner. Als es wieder dunkelte, befanden wir uns in einem fremden Park. Übermüdet schliefen wir auf einer Bank ein. Furchtbare Träume plagten mich: Ich stand in überfüllten Läden und war von den besten Delikatessen des Großen Imperiums umgeben, aber Wände aus Panzerglas trennten mich von diesen ersehnten Köstlichkeiten. Selbst im Schlaf verfolgte mich der nagende Hunger, ich konnte nichts dagegen tun.
Am Nachmittag erreichten die Randgebiete der Stadt. Die Hochhäuser fehlten nun ganz, aber es gab weiterhin kleine Siedlungen mit Vorgärten. Wir hatten darauf verzichtet, abermals ein Versorgungszentrum aufzusuchen. Nahe dem Horizont erkannte ich flache Hügel mit Vegetation. Crysalgira sagte nichts, aber ich sah ihr an, dass sie litt. Einmal sprach ich einen Tejonther an, der mit seiner Einkaufstasche seinem Häuschen zustrebte. Ich bat ihn um eines der Pakete, ich bettelte ihn regelrecht an, aber er ging weiter, ohne mir eine
Antwort zu geben. Als ich hinter ihm her wollte, um ihn zu berauben, hielt Crysalgira mich am Ärmel fest. »Das ist sinnlos, es würde unsere Lage nur noch verschlimmern. Raub ist unbekannt auf Belkathyr, weil jeder alles bekommt, was er haben will. Wir würden eine deutliche Spur hinterlassen; sobald man uns fasst, kennt Klahngruit kein Erbarmen mehr.« »Sollen wir vielleicht verhungern?«, gab ich zornig zurück. »Der Tejonther riet uns, es in der Wildnis zu versuchen.« »Das hat er nicht ohne Grund gesagt. Wenn wir morgen nichts finden, kannst du mich nicht davon abhalten, es mit Gewalt zu versuchen.« Wir wanderten weiter und ließen die letzten Häuser hinter uns. Die Straßen endeten im Nichts, vor uns lagen die flachen Hügel des unbebauten Geländes. Da es bereits dunkel wurde, wollte ich wenigstens noch den Schutz der Wälder erreichen, die ich aus der Ferne gesehen hatte. In einer Mulde hielten wir an. Crysalgira schlief sofort ein, kaum dass sie sich in das weiche Gras gelegt hatte. Ich selbst tastete mich durch die nähere Umgebung, konnte aber in der Dunkelheit nichts entdecken, was unsere Lage verbessert hätte. Also kehrte ich zurück und legte mich neben die fest schlafende Prinzessin. Morgen muss eine Entscheidung fallen! Mit diesem Gedanken schlief auch ich ein.
Wir fanden Beeren und Früchte, noch bevor es richtig hell wurde, aber beides war ungenießbar. Es schien lange nicht geregnet zu haben, denn das Zeug war total vertrocknet und schmeckte bitter. Crysalgira wurde sofort schlecht und musste sich übergeben. Auch Wasser entdeckten wir, aber es stank wie eine Kloake. Mein Entschluss stand fest. Klahngruit hin, Klahngruit her – der erste Tejonther, der mit einem
Lebensmittelpaket durch die Gegend spaziert, wird es überraschend schnell los sein. Ich bat Crysalgira, in der Mulde zurückzubleiben und auf mich zu warten. Aber sie schien sich in der einen ruhigen Nacht wieder erholt zu haben, denn sie protestierte heftig: »Ich gehe mit dir. Wenn man dich fasst, bin ich allein in der Wildnis. Was soll ich ohne dich tun?« Ich nickte. Als wir den Stadtrand sahen, blieben wir stehen. Ich beobachtete die Straßen, auf denen nur wenige Passanten zu sehen waren. Einige trugen Behälter oder Körbe. Weiter links gab es ein großes, flaches Gebäude, das nicht an eins der üblichen Wohnhäuser erinnerte. Fahrzeuge wurden beladen, die dann in Richtung Stadtzentrum verschwanden. Ein Hauptlager, vielleicht ein Lebensmitteldepot? Wenn ja, würde sich ein Überfall sicherlich lohnen. Mit dem Notwendigsten versehen, konnten wir es einige Tage in der unbewohnten Wildnis aushalten. Ich teilte Crysalgira meinen Plan mit, sie stimmte zu – und begleitete mich. Waffen hatten wir keine; wir hätten ein paar Steine und einen handlichen Ast mitnehmen können, doch ich verzichtete darauf. Tauchten wir ohne jeden Gegenstand in den Händen auf, konnte niemand unsere Absichten so schnell erraten. Das Gebäude war nicht eingezäunt, auch Wachtposten konnten wir nicht entdecken, lediglich einige Arbeiter, die Fahrzeuge beluden, und herumlungernde Fahrer, die in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten. Wir nahmen uns zusammen, um nicht von vornherein den Eindruck halb verhungerter Vagabunden zu erwecken. Gemächlich schlenderten wir quer über die Straße; da uns jeder sofort als Fremde erkannte, war unsere Neugier sicherlich verständlich. Die Hauptsache war, dass die Leute hier nicht über unseren Status unterrichtet waren. So erreichten wir den Hof mit der Rampe und den Fahrzeugen.
Die Fahrer warfen uns gelangweilte Blicke zu und kümmerten sich nicht weiter um uns, also schien unsere Vermutung zu stimmen. Am Ende der Rampe war eine Tür, weit geöffnet und einladend. Es wäre sinnlos gewesen, einem der Arbeiter ein Paket zu entreißen und damit zu flüchten, ohne zu wissen, was wir erbeutet hatten. Ich wollte in Ruhe aussuchen und auch das richtige Zeug finden. Also gingen wir durch die Tür, die meiner Vermutung nach ins eigentliche Depot führte, erreichten aber eine Art Büro. Mehrere Tejonther saßen an Tischen vor Computern. Sie blickten auf, als wir eintraten, ihre Mienen erstarrten förmlich. Offensichtlich hatten sie eine Beschreibung von uns erhalten und entsprechende Anweisungen dazu. Ich ergriff blitzschnell den erstbesten massiv aussehenden Gegenstand, der auf einem der Tische lag, und hob ihn mit drohender Gebärde hoch, so als wollte ich damit werfen. Mein Translator war eingeschaltet. »Ganz ruhig sitzen bleiben, Herrschaften. Einer darf aufstehen und führt mich ins Lebensmitteldepot.« Ich wandte mich an die Prinzessin: »Crys, schließ die Tür. Den hier nehmen wir als Geisel mit.« Sie gehorchte sofort. Auch die Tejonther hatten verstanden. Sie rührten sich nicht vom Fleck, bis auf den einen, der uns als Führer und Geisel dienen sollte. Es war mir klar, dass wir uns beeilen mussten, denn die Tejonther im Büro würden sofort die Polizei informieren. In kurzer Zeit konnten die ersten Gleiter eintreffen, bis dahin mussten wir im Wald verschwunden sein. Ich trieb den Burschen vor mir an. Er ging willig voran; Augenblicke später standen wir vor dem eigentlichen Lager. »Essen und Trinken!«, befahl ich kurz. Crysalgira fand einen größeren Korb, der hastig gefüllt wurde. Ich musste mich dabei auf die unfreiwillige Hilfe meiner Geisel verlassen, denn Zeit zur Kontrolle blieb uns nicht. Es dauerte nicht lange, bis
wir uns versorgt hatten. Mehr konnten wir beim besten Willen nicht tragen, ohne noch mehr behindert zu sein als ohnehin schon. »Gibt es einen anderen Ausgang?« Der Mann zögerte. »Nur die Verladerampe, sonst keinen.« »Gut, gehen Sie voran. Und keine Dummheiten!« Wir eilten durch die langen Reihen der aufgestapelten Kisten und Pakete, bis wir die Türen zur Rampe erreichten. Hier war natürlich Betrieb, denn es wurde noch immer aufgeladen. Auf der anderen Seite war das beruhigend, denn die Arbeiter schienen von unserem Überfall noch nichts bemerkt zu haben. Ich trug den Korb und hatte Crysalgira die »Waffe« gegeben, um unsere Geisel in Schach zu halten. Schon überlegte ich, ob es ratsam sei, den Gefangenen als Sicherheit mitzunehmen, als ich jeder weiteren Überlegung enthoben wurde. Rechts und links von den Arbeitern tauchten urplötzlich bewaffnete und uniformierte Tejonther auf, die die Mündungen ihrer Strahler auf uns richteten. Einer sagte mit Befehlsstimme: »Stehen bleiben und nicht rühren! Wir haben Befehl, Sie bei geringstem Widerstand zu erschießen.« Vielleicht hätte ich anders gehandelt, wäre ich allein gewesen, aber die Prinzessin war bei mir. Ich behielt den Korb in der Hand, blieb aber stehen. Unsere Geisel ging ruhig weiter, nickte den Polizisten zu und verschwand. Wie ich die Tejonther inzwischen kannte, würde er ungerührt ins Büro zurückkehren, sich an seinen Platz setzen und weiterarbeiten. Crysalgira ließ den Gegenstand fallen, der uns als Einschüchterungswaffe gedient hatte. Die Polizisten kamen herbei und durchsuchten uns. Zu meinem Erstaunen kümmerten sie sich nicht um den Korb mit Paketen und Flaschen, den ich noch immer in der Hand hielt. »Los, mitkommen!« Ihr Anführer ging voran. Wir folgten ihm zu einem offenen Fluggleiter, um den mehrere Bewaffnete standen und aufpassten, dass wir nicht im letzten Augenblick
einen Fluchtversuch unternahmen. Kaum saßen wir, nahmen einige rechts und links von uns Platz, dann stiegen wir geräuschlos in die Höhe und nahmen Kurs auf die Stadt. Der Korb mit der Beute stand zwischen meinen Füßen.
Klahngruit betrachtete uns mit undefinierbaren Blicken und deutete auf den Korb. »Den dürft ihr behalten, denn es ist das letzte Mal gewesen, dass ihr Rationen geholt habt. Es wird vielleicht für zwei oder drei Tage reichen, aber dann …« Den Rest ließ er unausgesprochen; dass er uns nun duzte, verdeutlichte den Abstieg unseres Status. Noch machte ich mir keine Sorgen, denn was uns einmal gelungen war, konnte auch ein zweites Mal gelingen. Außerdem hatten wir nur wenig Zeit gehabt, uns im Wald umzusehen. Ich war überzeugt, dass wir auch dort noch etwas fanden, was unseren Hunger und Durst stillte. Und schließlich existierte auch noch Keniath-Cel. Wenigstens hoffte ich das. Klahngruit fuhr fort: »Nach dem ersten Verbrechen entzog ich euch die Gastfreundschaft. Nach dem zweiten wird nun der Entzug der Freiheit folgen. Das Urteil wurde bereits gefällt und von der Regierung bestätigt: Ihr werdet eingesperrt; niemand wird sich mehr um euch kümmern, ihr erhaltet weder Essen noch Trinken. Ihr werdet sterben – es sei denn, ihr berichtet von der Rebellengruppe.« Ich starrte ihn an. »Das können Sie doch nicht machen. Wir sind unfreiwillige Gäste Ihres Volkes und haben Ihnen nichts getan. Was geht uns Ihr Kreuzzug an? Den Rebellen, wie Sie sie nennen, begegneten wir aus reinem Zufall. Ist das unsere Schuld?« »Das Urteil ist gefällt. Und sollte es zu einem dritten Verbrechen kommen, kann ich euch schon jetzt die Strafe mitteilen: der sofortige Tod! Aber ihr werdet keine
Gelegenheit zu einem dritten Verbrechen mehr haben. Der Weg ist zu Ende.« Er wartete noch einige Augenblicke, aber als wir beide schwiegen, drückte er auf einen Knopf an seinem Tisch. Zwei bewaffnete Polizisten kamen in den Raum, packten uns und führten uns auf den Korridor. Geistesgegenwärtig gelang es mir noch, den Korb zu ergreifen. Sie führten uns durch Gänge und lange Korridore, mit einem Lift fuhren wir tief unter die Oberfläche von Belkathyr, bis wir endlich im richtigen Stockwerk angelangt zu sein schienen. Die Luft war hier nicht besonders gut, obwohl eine Ventilation vorhanden war. Ich spürte den leichten Windhauch, der durch den dämmerigen Gang wehte. Es roch nach Schmutz – und nach etwas anderem, was mich schaudern ließ. Die Polizisten öffneten eine Tür und traten zur Seite. Ich ging voran, den Korb krampfhaft festhaltend. Crysalgira folgte mir. Sie stützte sich auf meinen Arm, wankte und sank auf eins der beiden Lager in der halbdunklen Zelle. »Bleib liegen und ruh dich aus«, riet ich. »Ich sehe mich um, solange noch Licht ist.« »Durst!«, hauchte sie. »Gleich nehmen wir ein fürstliches Mahl zu uns, bis dahin gedulde dich bitte. Es hängt vielleicht viel davon ab.« Mikrofone oder Kameras gab es keine, dessen war ich mir bereits nach einer ersten Inspektion sicher. Aber es gab auch keinen Fluchtweg – und auch keine Toilette. Ein Fenster war nicht vorhanden, nur ein vergitterter Ventilationsschacht. Selbst wenn er nicht vergittert gewesen wäre, hätte er uns wenig genützt – er war viel zu klein. Die Mauern machten einen massiven Eindruck. Es ist Irrsinn, auch nur an eine Flucht zu denken, behauptete der Logiksektor. Dieses Gefängnis werdet ihr ohne fremde Hilfe niemals verlassen können. Mir kam der Gedanke, dass Klahngruit uns nur
einschüchtern wollte, ich verwarf ihn aber wieder. Warum sollte er das tun? Wollte er aus uns Informationen herauspressen, hatte er sicherlich effektivere Methoden und Mittel. Ich kehrte zu Crysalgira zurück und setzte mich zu ihr. Ohne ein Wort zu sagen, packte ich den Korb aus und sortierte den Inhalt. »Wenn wir vernünftig einteilen, reicht es einige Tage. Heute essen wir uns richtig satt, ab morgen wird streng rationiert. Gut, dass wir auch einige Flaschen mitgenommen haben, sonst würden wir hier verdursten. Also, Prinzessin, das Festmahl wartet.« Als wir satt waren, war der Korb noch immer fast bis zum Rand gefüllt. Zum ersten Mal seit zwei Tagen fühlten wir uns wieder durchaus wohl und zufrieden, obwohl die äußeren Umstände nicht dafür sprachen. Wir wollten nur schlafen und unbehelligt bleiben, morgen würden wir weitersehen. Es musste bald Abend sein, aber das würde im Kerker keine Rolle spielen. Entweder gab es hier ständig das Dämmerlicht, oder es würde völlig dunkel werden, und das für immer. »Gute Nacht.« Crysalgira richtete sich ein wenig auf und drückte ihre vollen Lippen sanft gegen meine Wange. »Versuch zu schlafen; vergiss nicht, dass Keniath-Cel noch existiert. Sie wird uns hier herausholen.« »Gute Nacht, Prinzessin.« Ich legte mich auf die zweite Pritsche und versuchte, einen völlig nutzlosen Fluchtplan zu entwickeln …
Zum Glück hinderte mich der angenehm volle Magen daran, noch tontalang wach zu bleiben und zu grübeln. Ich schlief sehr schnell ein und erwachte nach traumlosem Schlummer am nächsten Morgen, wie der innere Zeitgeber meines Logiksektor ermittelte. Crysalgira war schon wach, lag auf der Seite und sah zu mir herüber. »Und was nun, Kristallprinz?«
»Abwarten.« Ich setzte mich auf. »Klahngruit wird sich wohl bald melden. Er hat die Spur Keniath-Cels verloren und hofft, dass wir ihm einen Hinweis geben könnten.« Ihr Gesicht verriet Unmut. »Willst du mich trösten? Gib dir keine Mühe. Klahngruit wird sich nicht mehr um uns kümmern. Für ihn sind wir gestorben. Wir sehen ihn nie mehr wieder.« »Gestern hätte ich auch noch keinen Wert darauf gelegt, aber ab heute hoffe ich es doch.« Sie setzte sich ebenfalls. »Teile die Frühstücksration ein. Ein Bad wird heute ja ausfallen müssen …« Das störte mich weniger, weniger jedenfalls als die absolute Stille, die uns umgab. Kein Laut war zu hören. Die massive Tür musste völlig schalldicht sein; sie hatte kein Guckloch, von elektronischen Überwachungseinrichtungen konnte ich nichts bemerken. Die Zeit, die wir noch zu leben hatten, ließ sich abschätzen. War diese Frist verstrichen, würde man nach uns sehen. Dazu musste die Tür geöffnet werden. Rationierten wir unsere Lebensmittel, war es möglich, den wahrscheinlichen Eintritt unseres Todes um etliche Tage hinauszuschieben. Und wenn sie dann kommen, um unsere Leichen fortzuschaffen … »Was ist mit dir? Du träumst ja mit offenen Augen …« Ich schrak hoch und entsann mich der Aufgabe, die sie mir aufgetragen hatte. Ich teilte das Frühstück ein. Crysalgira maulte: »Du bist aber sehr sparsam. Wer soll denn davon satt werden?« »Niemand. Aber wir wollen schließlich so lange wie möglich am Leben bleiben.« Sie gab keine Antwort und aß schweigend. Ich spendierte eine halbe Flasche »Wein«, um den ärgsten Durst zu stillen. Von meiner neuen Idee sagte ich ihr nichts, um keine Hoffnungen zu wecken, die sich vielleicht nie erfüllen würden. Nach dem Essen legte sie sich wieder hin. Ich blieb
hingegen auf und wanderte an den Wänden unseres Gefängnisses entlang, immer zwölf Schritte, dann eine Linkswendung, wieder zwölf Schritte, abermals eine Wendung, weiter. Sie stöhnte: »Muss das sein, Atlan?« Ich blieb stehen. »Allerdings, Crys. Und ich rate dir, dich ebenfalls zu bewegen.« »Bewegung macht noch hungriger.« »Aber sie hält dich auch fit«, erinnerte ich sie und setzte meinen Marsch durch den Kerker fort. Später legte ich mich hin, während Crysalgira ihre Runden drehte. Ich wusste natürlich, dass wir es so nicht lange aushielten, selbst wenn wir für ein ganzes Jahr Lebensmittel zur Verfügung gehabt hätten. Später regte ich ein Frage-undAntwort-Spiel an, um unsere Gedanken nicht ins Uferlose treiben zu lassen. Wir mussten uns konzentrieren. So hoffte ich, Körper und Geist aktiv zu halten, bis der Augenblick der Entscheidung nahte, den ich nur abschätzen konnte.
5. Keniath-Cel: Die Tejontherin wurde alarmiert, als ihr Verbindungsmann von Klahngruits Leuten festgenommen wurde. Im ersten Moment nahm sie an, dass zwischen der Verhaftung und den Fremden ein Zusammenhang bestand, und veranlasste die Räumung des Verstecks. Sie hatten mehr als nur das eine und waren so in der Lage, alle Spuren zu verwischen. Zurück blieb ein unverdächtiger Bürger der Stadt, der offiziell bereits seit Jahren in der Wohnung gemeldet war, womit jede Spur an seiner Tür endete. Die Spione der Gruppe überbrachten Keniath-Cel am nächsten Tag die Nachricht, dass Klahngruit die Arkoniden aus dem Hotel gejagt hatte. Damit stand für sie fest, dass sie nichts mit der Festnahme des
Verbindungsmanns zu tun hatten. Der Versuch einer Kontaktaufnahme missglückte; sie waren in der riesigen Stadt untergetaucht und spurlos verschwunden. Nun wurde Keniath-Cel erst richtig aktiv. Der Zeitpunkt des bevorstehenden Starts der Flotte rückte immer näher. Um ihn zu verhindern, musste schnell und beherzt gehandelt werden. Inzwischen hatte Keniath-Cel in Erfahrung gebracht, dass die Arkoniden bei dem Verhör durch Klahngruit das Versteck nicht verraten hatten. Das bestärkte sie in ihrer Absicht, ihnen zu helfen und für ihre Pläne zu gewinnen. Doch wo steckten sie? Einen ersten Hinweis erhielt die Tejontherin, als sie von dem missglückten Überfall auf ein Lebensmitteldepot hörte. Sie wusste sofort, wer die Täter gewesen waren, und schickte ihre Agenten los, um mehr darüber zu erfahren. Das erwies sich als relativ einfach, denn es war niemandem verborgen geblieben, dass die Verbrecher in den »Kerker ohne Rückkehr« geworfen worden waren. Jeder wusste, dass diese Maßnahme ein indirektes Todesurteil war. Nun war höchste Eile geboten. Keniath-Cel konnte nicht wissen, wie lange es die beiden ohne Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme aushielten. Sie leitete die Rettungsaktion ein, deren Vorbereitungen jedoch drei volle Tage in Anspruch nahmen. Dann, endlich, war es so weit. Die Gruppe sammelte sich am Abend des dritten Tages nach der Verhaftung unweit des Kerkers, der äußerlich einem normalen Verwaltungsgebäude glich. In einem sicheren Versteck warteten die Widerstandskämpfer die Nacht ab. »Der Pförtner ist auf unserer Seite?«, fragte Keniath-Cel. »Er ist zuverlässig«, versicherte jemand. »Er ist gegen den Kreuzzug, wie viele andere auch. Die Gefangenen interessieren ihn nicht. Er wird keinen Alarm schlagen, wenn wir eindringen, aber er besteht darauf, dass wir ihn betäuben. Er will seinen Posten nicht verlieren.« »Verständlich.« Keniath-Cel wandte sich an einen anderen ihrer Leute: »Und die übrigen Wärter und Beamten?«
»Sie müssen von uns überwältigt werden, ehe sie etwas unternehmen können. Jedenfalls haben sie keine Ahnung, es dürfte also nicht schwer fallen, sie zu überraschen.« »Narkosestrahlen«, entschied sie. »Wir dürfen niemanden töten oder verletzen, denn das würde Klahngruit nur neue Verbündete zuführen. Rohe Gewalt schadet uns nur. In Notwehr allerdings …« Den Rest ließ sie offen. Sie besprachen weitere Einzelheiten des geplanten Vorgehens, bis jeder alles auswendig wusste. Jemand hatte den Grundriss des Gebäudes besorgt, in dessen Kellerräumen das Gefängnis lag. Es war das erste Mal, dass sie eine Befreiungsaktion aus dem »Kerker ohne Rückkehr« unternahmen. Die beiden Fremden waren ihnen das Risiko wert. Missglückte die Aktion, würde wahrscheinlich auch das nächste Unternehmen gefährdet sein. Die Befreiung wurde somit zu einer Art Generalprobe. Gegen Mitternacht war es dann so weit. Die Straße war leer und fast unbeleuchtet. Das Gebäude wirkte unbewacht und harmlos, aber die Rebellen wussten es besser. Keniath-Cel übernahm die Führung. An ihrer Seite war der Tejonther, der den Pförtner überredet hatte. Ohne Zwischenfall erreichten sie das Portal, von den Übrigen mit Abstand begleitet. Sie warteten; es dauerte nicht lange, bis sich die breite Tür vorsichtig einen Spalt öffnete. Ein paar kurze Worte wurden gewechselt, dann gab Keniath-Cel den anderen das verabredete Zeichen. Sie selbst war es, die dem Pförtner dankbar die Hand drückte und ihn dann mit der schwach eingestellten Strahlwaffe paralysierte. Er wurde gefesselt und beiseite geschoben. Wenn man ihn später fand, hatte er ein einwandfreies Alibi. Auf dem oberen Gang begegnete ihnen niemand, sie erreichten den Lift, drängten sich in der Kabine zusammen, um nicht getrennt zu werden. Der Kerker lag tief unter der Oberfläche in der untersten Etage. Als die Kabine anhielt, hoben sie die schussbereiten Waffen. Die Tür glitt zur Seite, zwei völlig verdutzte Wärter blickten in die Mündungen der Waffen. Ehe sie einen Laut von sich geben konnten, sanken sie betäubt zu Boden und rührten sich nicht mehr. »Gib mir den Plan«, forderte Keniath-Cel einen ihrer Freunde auf. Sie
studierte ihn flüchtig. »Hier sind die Zellen des Todessektors. Kommt!« Sie begegneten zwei weiteren Tejonthern, die ebenfalls betäubt werden konnten. Ihnen wurden die Schlüssel der elektronisch gesteuerten Schlösser abgenommen. Die Rebellen beeilten sich, zu den Zellen zu gelangen. Hier erwartete sie eine echte Enttäuschung: Das Schloss reagierte nicht auf den Schlüssel. Keniath-Cel versuchte es bei anderen Türen, mit dem gleichen Misserfolg. Schließlich sagte sie: »Die Schlösser werden von einer Zentrale aus kontrolliert, der die Kodebezeichnung bekannt ist. Wahrscheinlich eine täglich wechselnde Programmierung. Die Wachstube! Sie befindet sich laut Plan eine Etage höher. Rengot-Dol und zwei andere erledigen das, wir warten hier.« Die drei Tejonther benutzten vorsichtshalber die Treppe und fanden schnell die Wachstube. Die Tür war nicht verschlossen, sondern stand halb offen. Einfacher konnten es die nachlässigen und sich zu sicher fühlenden Wärter den Rebellen nicht machen. Bis auf einen wurden sie paralysiert. Rengot-Dol befragte den Verschonten und holte Informationen aus ihm heraus. Die Kodeprogrammierung wurde aufgehoben, so dass sich die Kerkertüren nun ohne Mühe mit dem Schlüssel öffnen ließen. Rengot-Dolparalysierte den Wärter und kehrte mit seinen beiden Begleitern zu den anderen zurück. Keniath-Cel blickte in die erste Todeszelle und wich schnell wieder zurück, als sie die beiden halb verwesten Leichen auf den Betten liegen sah. In der zweiten Zelle hielten sich zwei Gefangene auf, die sich nach einem kurzen Wortwechsel den Gegnern des Kreuzzugs anschlossen und ewige Treue schworen. Sie saßen bereits seit sieben Tagen hier. In der dritten Zelle wartete der verhaftete Verbindungsmann auf seine Befreiung und fiel seinen Rettern vor Freude um den Hals. Keniath-Cel schob den Schlüssel in das Schloss der vierten Zelle …
Belkathyr: 28. Prago des Tartor 10.498 da Ark Der zweite und dritte Tag im Kerker waren im gewohnten Rhythmus vergangen: Frühstück, Zellenspaziergang, Fragespiel, Zwischenmahlzeit, Ruhepause, dann alles wieder von vorn. Ringsum blieb es still, niemand kümmerte sich um uns. Ich begann zu begreifen, warum uns Klahngruit den Korb mit den Lebensmitteln gelassen hatte. Das war nicht aus Gutmütigkeit oder einer Anwandlung von Mitleid geschehen, sondern allein deshalb, um unsere Qualen zu verlängern. Hätte er Wert auf unsere Aussage gelegt, wäre er schon längst einmal bei uns erschienen und hätte Fragen gestellt. Aber nichts geschah. Als wir uns an diesem dritten Tag zum Schlafen niederlegten, war mir klar geworden, dass ich etwas unternehmen musste. Lange würde Crysalgira diesen Zustand der Ungewissheit nicht mehr aushalten – einer Ungewissheit, die in der Gewissheit des Todes gipfelte. Trotz ihrer scheinbaren Ruhe und Gelassenheit waren ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Früher oder später musste der unvermeidliche Zusammenbruch erfolgen. Ich schätzte, dass es noch etliche Tage dauern würde, bis man kam, um unsere Leichen abzuholen. Bis dahin mussten wir durchhalten. Crysalgiras bedenklicher Zustand bewog mich, ihr meine Vermutung und meinen darauf aufgebauten Plan mitzuteilen. Erleichtert stellte ich fest, dass sie neue Hoffnung schöpfte. »Und wenn sie länger warten?«, schränkte sie dennoch ein, wahrscheinlich nur deshalb, um noch mehr tröstende Einzelheiten von mir zu hören. Ich tat ihr den Gefallen und steigerte mich dadurch selbst in eine Art Euphorie hinein, die ansteckend auf sie wirkte. Zum Schluss stand für uns beide fest, dass wir in wenigen Tagen die in den Kerker kommenden Wärter überwältigen und ihre Stelle einnehmen würden. Was danach geschehen sollte, hing von den Umständen ab. Wichtig war nur, dass wir dieses Loch verlassen konnten.
Sie schlief endlich ein. Ich selbst fand trotz der relativ guten Stimmung, in die mich das Gespräch hineingetrieben hatte, keine Ruhe. Im Gegenteil: Erst jetzt wurde mir klar, dass wir einen Plan ausarbeiten mussten, um nicht von den erhofften Ereignissen überrascht zu werden. Einer von uns würde zu gegebener Zeit ständig wach bleiben müssen, um den anderen wecken zu können, sobald es so weit war. Und dieser Augenblick würde sich durch ein Geräusch ankündigen – durch irgendein Geräusch, denn bisher gab es keine. Nur Crysalgiras Atem war zu hören, sonst nichts. Umso mehr erschrak ich, als ich plötzlich an der Tür ein Geräusch vernahm. Für einen Augenblick blieb ich wie gelähmt liegen. Der Gedanke, die Leichenträger könnten schon jetzt erscheinen, schoss mir durch den Kopf, aber dann sagte ich mir, dass Klahngruit auch rechnen konnte. Immerhin – es kam jemand. Mit einem Satz war ich von der Pritsche, jedoch blieb mir keine Zeit mehr, Crysalgira aufzuwecken. Ich hätte zu viel Zeit verloren. Jetzt kam es nur noch darauf an, möglichst schnell zu handeln und einem der Wärter die Waffe zu entreißen. Ich drückte mich gegen das Mauerwerk neben der Tür, sah, dass sie sich öffnete und ein bewaffneter Tejonther zu uns hereinblickte. Er sagte nichts, winkte aber nach hinten, wo noch andere sein mussten. Er musste die schlafende Prinzessin gesehen zu haben. Nun zögerte ich nicht länger. Mit zwei Schritten war ich bei dem vermeintlichen Wärter und schlang einen Arm um ihn. Mit der freien Hand nahm ich ihm die Waffe ab und drückte die Mündung gegen seinen Kopf. Mein Translator war eingeschaltet, aber er lag neben meinem Bett auf dem Boden. Meine Stimme kam von dort: »Keine Bewegung!« Zu meiner Überraschung erschlafften die im Überraschungsmoment gespannten Muskeln meines
Gefangenen. Er versuchte keine Gegenwehr, sagte aber: »Gut gemacht, Atlan, aber überflüssig. Ich bin’s, Keniath-Cel. Wir sind gekommen, um euch zu befreien.« Ich zögerte, aber inzwischen war Crysalgira erwacht und sah in unsere Richtung. »Es ist Keniath-Cel, ich erkenne sie wieder.« Ich trat zwei Meter zurück, die Waffe noch immer auf den Tejonther gerichtet. Doch dann sah ich die schlanke und geschmeidige Gestalt, die ich schon einmal in dem Apartment der Rebellen bewundert hatte. Ich senkte die Waffe und reichte sie ihr, mit dem Griff voran. Sie nahm sie. »Ein Glück, dass du nicht noch schneller warst«, sagte sie und nickte Crysalgira zu. »Aber nun beeilt euch, wir müssen verschwinden …« Ich schnappte mir den Translator, folgte Keniath-Cel und der Prinzessin. Auf dem Gang begrüßten uns die anderen Mitglieder der Gruppe. Die Tür wurde wieder geschlossen, dann eilten wir zum Lift, um nach oben zu fahren. Der Pförtner lag bewusstlos an der Stelle, an der er betäubt worden war. Unbehindert gelangten wir auf die leere Straße. Die Gruppe teilte sich auf. Mit Keniath-Cel erreichten Crysalgira und ich nach einem kurzen Spaziergang ein kleines, unscheinbares Haus. Sie führte uns in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit Polstern ausgestattet war. »Wir bleiben hier. Morgen Nacht bringe ich euch in unser Hauptquartier. Dort werdet ihr Groya-Dol vorgestellt, der endgültig über euer Schicksal entscheidet. Bis dahin sind wir hier sicher. Legt euch schlafen.« »Aber Klahngruit wird alle Hebel in Bewegung setzen, nach dem, was geschehen ist«, sagte ich. »Haben wir nicht dich und deine Leute in Gefahr gebracht?« »Wir leben mit der Gefahr. Seid beruhigt, dieses Haus gehört offiziell einem hohen Regierungsbeamten. Niemand käme auf
den Gedanken, es zu durchsuchen.« Wir legten uns auf die Polster. Keniath-Cel suchte ein anderes Zimmer auf, um noch ein paar Tontas zu schlafen. »Dieser Wechsel der Situation – und das innerhalb Zentitontas«, flüsterte Crysalgira. »Wir sind gerettet. Aber ich habe ja immer gesagt, dass uns Keniath-Cel nicht im Stich lassen wird.« »Aber wie wird es nun weitergehen? Nun gehören wir zu den Rebellen, ob wir wollen oder nicht.« »Das ist selbstverständlich, wir helfen ihnen, wie sie uns geholfen haben. Haben wir eine andere Wahl?« »Natürlich nicht. Und nun versuch zu schlafen. Morgen haben wir einen anstrengenden Tag vor uns – oder vielmehr: eine anstrengende Nacht. Denn am Tag werden wir kaum etwas unternehmen können.« Sie kuschelte sich an mich und schlief ein. Keniath-Cel weckte uns erst spät auf. Es gab ein reichhaltiges Frühstück. Noch während wir aßen, kamen nach und nach die Mitglieder der Gruppe, um Bericht zu erstatten. Unsere Befreiung war natürlich längst bemerkt worden und hatte eine Großfahndung ausgelöst. In der Stadt wimmelte es von Streifen. Die Rebellen zeigten sich, soweit ich das beurteilen konnte, von dem behördlichen Aufruhr nicht sonderlich beeindruckt. In ihrem augenblicklichen Versteck schienen sie sich absolut sicher zu fühlen. Hin und wieder ertönte ein verabredetes Summsignal an der Tür. Dann kam einer der Verbindungsleute, um über den Stand der Dinge zu berichten. Funkgeräte konnten wegen der Anpeilgefahr nicht eingesetzt werden. Crysalgira und ich hielten uns meist in dem großen Wohnzimmer auf, in dem wir auch die Nacht verbracht hatten. Keniath-Cel sah öfters nach uns und informierte uns über die Lage. Die Polizei hatte bisher keinen einzigen Hinweis gefunden, wenn sie auch wusste, wer die
Täter gewesen waren. Der Tag verging in quälender Langsamkeit. Wir bekamen reichlich zu essen und zu trinken, über Abwechslung konnten wir uns auch nicht gerade beklagen – trotzdem … Allmählich begann es dunkel zu werden. Wieder erschien einer der Verbindungsleute. Die Aktivität der Polizei hatte nachgelassen, berichtete er und fügte die Vermutung hinzu, es könne sich wohl auch um ein Täuschungsmanöver handeln, um uns in Sicherheit zu wiegen. Keniath-Cel stimmte ihm zu. »Wir werden noch warten müssen. Steht der Gleiter zum Abtransport unserer Gäste bereit?« »Alles wie geplant.« »Gut. Rengot-Dol wird uns begleiten, weil er der beste Pilot ist.« »Wir überwachen den Weg bis zum Gleiter. In dieser Gegend hat sich bisher noch kein Polizist sehen lassen. Sie haben sich in erster Linie auf den Stadtkern konzentriert. Auch die Wachen um den Raumhafen wurden verdoppelt.« »Das kann uns jetzt nicht stören, denn die Vorbereitungen zum Start der Flotte sind noch nicht abgeschlossen. In ein paar Tagen wird es wieder ruhiger werden. Sie wissen nun, dass wir die beiden Fremden befreit haben, und werden sich damit abfinden müssen, dass sie uns helfen. Das Gesicht von Klahngruit möchte ich jetzt sehen.« Wenn ich ehrlich sein sollte – ich hegte diesen Wunsch nicht. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die Geduld des Tejonthers nun erschöpft war. Bereits bei unserer letzten Begegnung war er nicht zimperlich gewesen und hatte uns praktisch zum Tode verurteilt. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was passieren würde, wenn er uns noch einmal erwischte. Draußen war es völlig dunkel geworden. Keniath-Cel kam zu uns und setzte sich. »Bald brechen wir auf. Vorher werden wir uns noch einmal stärken, denn der
Flug kann lange dauern, wenn wir zu Umwegen gezwungen werden. Rengot-Dol kennt die Strecke zwar sehr gut, aber wir dürfen trotz der Dunkelheit keine elektronischen Orientierungsgeräte einsetzen, da sie zu leicht geortet werden können. Wir überfliegen die Ebene und das Gebirge. Unser Versteck liegt zwischen hohen Bergen in einem Talkessel.« »Unternehmen Klahngruit und seine Leute keine Erkundungsflüge?«, erkundigte ich mich skeptisch. »Es müsste doch leicht für sie sein, euch zu finden.« »Wir haben das Tal gut abgeschirmt, Klahngruit vermutet uns nicht so weit von der Stadt entfernt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die selbst bietet mehr Verstecke als die einsame Landschaft. Wenn man unlogisch handelt, ist man vor logisch denkenden Verfolgern ziemlich sicher.« Das mochte stimmen, konnte mich aber nicht völlig überzeugen. Meiner Ansicht nach überließen die Rebellen zu viele Dinge dem Zufall. Und gerade ein solcher Zufall konnte es sein, der zur Entdeckung und damit zu ihrer Vernichtung führte. Aber ich war nicht hier, um ihnen Lehren zu erteilen. Sie kannten diese Welt und die Mentalität ihres eigenen Volkes schließlich besser als ich. Ein Tejonther betrat den Raum und blieb bei der Tür stehen. »Es ist so weit.« Keniath-Cel nickte uns zu. »Das ist Rengot-Dol, unser Pilot. Wir machen uns jetzt auf den Weg. Seid ihr bereit?« »Schon seit Tontas«, erwiderte ich und half Crysalgira, eine wärmende Pelzjacke anzuziehen, die man ihr gegeben hatte. »Haben wir keine Waffen?« »Sie sind überflüssig und würden nur Verdacht erregen, wenn uns jemand sieht. Euch wird man in der Dunkelheit nicht erkennen; es ist unwahrscheinlich, dass wir einer Polizeistreife begegnen. Kommt jetzt.« Wir verließen das Haus, in dem die anderen Rebellen zurückblieben. Die Straße war leer. Keniath-Cel führte uns
durch Seitenstraßen und einen Park, bis wir den eigentlichen Stadtrand erreichten. Der Weg endete im Gestrüpp, aber Rengot-Dol übernahm nun die Führung. Er schien das Gelände bestens zu kennen. Es dauerte nicht lange, bis wir ein kleines Felsplateau erreichten, auf dem ich gegen den Himmel die Umrisse eines Gleiters erkannte. Ohne Umstände kletterten wir hinein, Rengot-Dol startete und stieg sofort in größere Höhe auf. Weit hinter uns war das Lichtermeer der Stadt, das schnell zu einer leuchtenden Glocke ohne Einzelheiten wurde. Vor uns war nur Dunkelheit. »Wir müssen hochsteigen, um ohne Gefahr das Gebirge überqueren zu können«, sagte Keniath-Cel. Es ist immer ein unangenehmes Gefühl, einer Gefahr ins Auge sehen zu müssen, ohne etwas tun zu können. In diesem Fall mussten wir uns voll und ganz auf Rengot-Dol verlassen, der diesen Flug sicherlich nicht zum ersten Mal unternahm. »Keine Sorge, Keniath-Cel, wir fürchten uns nicht.« Im Schein der Sterne konnte ich die Gipfel der Berge ahnen. Einmal blinkte sogar die schimmernde Fläche eines Sees zu uns herauf. Dann sah ich weiter vorn ein Licht. Keniath-Cel deutete in Flugrichtung. »Wir sind am Ziel, Freunde. Heute Nacht noch werdet ihr Groya-Dol gegenüberstehen.« Ich gab keine Antwort und ließ das Licht nicht aus den Augen, auf das Rengot-Dol zusteuerte und dabei tiefer ging. Bald sah ich, dass es ein Scheinwerfer sein musste, doch bereits etwas später musste ich erkennen, dass es mehrere waren, die man in einer ganz bestimmten Anordnung angebracht hatte. Sie erinnerte mich an das Leuchtfeuer eines Raumhafens auf einer imperialen Randwelt. Der Gleiter landete genau zwischen den Scheinwerfern, die sofort erloschen, kaum dass wir den Boden berührten. Aus der Dunkelheit schälten sich ein paar Gestalten; da sich meine Augen inzwischen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten,
sah ich, dass sie Waffen trugen. Keniath-Cel rief ihnen einige Worte zu, deren Sinn selbst mein Translator nicht erfasste. Ebenfalls in Kode kam die Antwort zurück, wir wurden von den Tejonthern umringt, die Keniath-Cel und Rengot-Dol herzlich begrüßten. Wir wurden als die befreiten Fremden vorgestellt, die vor Groya-Dol gebracht werden sollten. »Er erwartet sie bereits«, lautete die Antwort. Ringsum bemerkte ich steil aufragende Felsen, deren Gipfel sich zwischen den Sternen verloren. Im Tal selbst war es dunkel. Jemand nahm meine Hand, um mich zu führen, ich selbst hielt Crysalgiras Handgelenk. Plötzlich standen wir vor einer Felswand. Etwas schob sich zur Seite, Licht leuchtete auf. Schnell gingen wir weiter, hinter uns schloss sich das Tor wieder. Wir standen in einer gewaltigen Höhle. Sie setzte sich nach hinten weiter fort, wie ich sofort feststellte. Mehrere Gänge führten in verschiedene Richtungen, immer tiefer in den Fels hinein. Ein besseres Versteck hätten sich die Rebellen wirklich nicht aussuchen können. Im Gegensatz zu der Dunkelheit der Nacht draußen herrschte hier eine wahre Festbeleuchtung. Energieprobleme jedenfalls schienen die Rebellen nicht zu kennen. Keniath-Cel schien meine Frage erahnt zu haben, denn sie sagte: »Wir haben genügend Energie, Atlan, aber wir können sie nicht immer voll einsetzen – wegen der verräterischen Abstrahlung bei bestimmten Geräten. Licht ist ungefährlich. Wenn wir schon sonst stets in der Dunkelheit und im Untergrund leben müssen, soll es wenigstens hier hell sein.« Damit mochte sie Recht haben. Ein psychologischer Effekt. Der Gang verbreiterte sich noch mehr und mündete in einer Halle, die keinen zweiten Ausgang hatte. Die Wände waren mit Fellen behangen, die den Raum warm und behaglich machten. An Möbeln sah ich breite Liegestätten, einen Tisch und aus Holz gefertigte Sessel. Auch der Steinboden war mit
Fellen bedeckt. In einer Ecke glühte ein elektrischer Ofen. Der Tejonther, der auf einem Stapel von Fellen saß und uns entgegenblickte, konnte nur Groya-Dol sein. Ich sah sofort, dass er sehr alt sein musste, denn sein kurzer Pelz war an vielen Stellen ergraut und licht geworden. In seinen Augen las ich Neugierde und ein wenig Erstaunen. Keniath-Cel übernahm die Vorstellung, während sich die anderen Tejonther, die uns hierher gebracht hatten, zurückzogen. »Groya-Dol, dies sind Atlan und Crysalgira, die beide von einer fremden Welt stammen. Wir befreiten sie, nachdem unsere Feinde sie in den Kerker ohne Rückkehr geworfen hatten. Sie sind für unsere Sache und waren bereit, dir ins Auge zu sehen. Ich verbürge mich für sie.« Der Alte deutete wortlos auf die übrigen Sitzgelegenheiten und musterte uns ungeniert, wirkte erfahren und abgeklärt. Ich wusste, dass ich einen alten Kämpen vor mir hatte, der die Untergrundbewegung leitete. Keniath-Cel war nur sein ausführendes Organ. Schließlich deutete er auf mich. »Du bist Atlan, das männliche Wesen deines Volkes? Und Crysalgira ist weiblich? Darum der umständliche Name?« »Nein, Groya-Dol, der Name hat bei uns nichts mit dem Geschlecht zu tun. Aber du hast Recht: Sie ist eine Frau. Wir sind bereit, deine Fragen zu beantworten, soweit wir dazu in der Lage sind.« »Nun gut, berichtet, woher ihr kommt – und warum.« Es wäre sinnlos gewesen, ihm die volle Wahrheit zu erzählen, er hätte sie vermutlich niemals begreifen können. So blieb ich in dem ihm bekannten Universum und sagte nur, dass wir von einer anderen Welt kämen. Ich ging nur knapp auf Somor ein, erwähnte Vruumys’ Tod und endete mit dem Flug nach Belkathyr, wo sich Klahngruit unserer angenommen hatte. Der Rest sei ihm bekannt. »Warum habt ihr ein Interesse daran, den Kreuzzug nach
Yarden zu verhindern? Gibt es einen plausiblen Grund dafür, den ich als logisch betrachten könnte?« Das war eine gute Frage, sie erforderte eine ebenso gute Antwort. »Eigentlich nicht, Groya-Dol. Unser Bestreben ist es, diese Welt so bald wie möglich wieder zu verlassen, um in unsere Heimat zurückzukehren. Wenn ich es richtig verstanden habe, werden aber alle tejonthischen Schiffe für den Kreuzzug benötigt. Die Rechnung für uns ist einfach: kein Kreuzzug – dann gibt es ein Schiff für uns. Darum sind wir auf eurer Seite.« »Das klingt sehr einleuchtend. Sollten wir siegen, werdet ihr ein Schiff erhalten. Damit könnt ihr fliegen, wohin ihr wollt. Aber so weit ist es leider noch nicht. Ihr wollt uns also helfen?« »Wir wollen es«, bestätigte ich; auch Crysalgira bekräftigte meine Versicherung. Er betrachtete uns eine ganze Weile mit forschenden Blicken, als wolle er unsere geheimsten Gedanken ergründen, dann nickte er Keniath-Cel zu. »Ich bin mit deiner Wahl und deinem Vorschlag einverstanden, aber bei einem Einsatz musst du vorsichtig mit ihnen sein. Sie werden auf den ersten Blick erkannt. Aber du sagtest, sie seien mutig. Das ist entscheidend. Doch zuvor brauchen sie Ruhe, um sich vom Kerker zu erholen.« »Ihre Unterkunft ist vorbereitet.« »Gut. Führe sie hin und sorge dafür, dass sie ausschlafen und sich satt essen können. Morgen dürfen sie sich das Tal ansehen, damit sie es kennen lernen. Erkläre ihnen auch seine Lage, damit sie es wieder finden, falls ihr einmal getrennt werden solltet.« Damit waren wir entlassen. Keniath-Cel sprach nicht, während wir den Gang bis zum Höhleneingang zurückgingen und in einen anderen einbogen, bis wir vor einer in den Felsen
eingelassenen Holztür standen. Keniath-Cel öffnete sie und bat uns, ihr zu folgen. Es war ein kleiner Höhlenraum, der mit entsprechenden Werkzeugen in den Berg hineingearbeitet worden war. Auch seine Wände waren mit Fellen bedeckt, ebenso der Fußboden. An Möbeln gab es nur einen Tisch und zwei Stühle. »Die Felle sind weich und warm«, sagte die Tejontherin. »Schlaft in Ruhe und Frieden. Neben der Tür ist ein Knopf. Drückt ihn ein, wenn ihr Wünsche habt. Jemand meldet sich dann.« Sie ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Hinter ihr schloss sich die Tür. Ich inspizierte den Raum und entdeckte zu meiner Erleichterung eine Wasch- und Toiletteneinrichtung hinter einem Fellvorhang. Jetzt machten wir allerdings nicht viel Umstände, dazu waren wir viel zu müde. Aus reiner Gewohnheit legten wir uns wieder nebeneinander in eine Ecke und deckten uns mit den Fellen zu. Wir wechselten an diesem Abend nur noch ein paar Sätze, dann schliefen wir ein.
Ein reichliches Frühstück entschädigte uns abermals für die Hungertage im Kerker, dann verließen wir unsere Unterkunft und suchten den Höhlenausgang. Wir begegneten nur wenigen Tejonthern, die unseren Gruß freundlich zurückgaben. Meine Einstellung zu diesem merkwürdigen Volk veränderte sich zum Positiven. Draußen schien die Sonne, die dicht über den Rändern der hohen Berge stand, die das fast runde Tal einschlossen. Ich konnte keinen Zugang entdecken. Aber vielleicht gab es doch einen, wurde aber von den Wäldern verdeckt, die am Rand des Talkessels wuchsen. Ein kleiner See ließ darauf schließen, dass es genügend Trinkwasser gab. Vergeblich suchte ich nach technischen Anlagen. Sie waren gut getarnt. Das schien mir auch notwendig zu sein, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass
die Behörden auf Inspektionsflüge verzichteten. Crysalgira und ich wanderten unbehelligt durch das Tal und genossen die Wärme genauso wie die Freiheit. Hier fühlten wir uns wohler als in der überfüllten Stadt, obwohl wir der Rückkehr in unser Universum keinen Schritt näher gekommen waren. Lange saßen wir so da und ließen den Frieden der Umgebung auf uns einwirken. Mich überkam eine Ruhe, wie ich sie bisher selten erlebt hatte. Mein ganzes Leben und mein Kampf um Gerechtigkeit, mein Streben nach Rache für den Mord an meinem Vater – das alles erschien mir plötzlich wie ein Traum, aus dem ich jeden Augenblick erwachen konnte. Oder war ich schon erwacht, und dies war die Realität? Doch Crysalgiras nächste Worte brachten mich abrupt in die Wirklichkeit zurück: »Wie ergeht es Chergost?« Sie seufzte. »Lebt er noch?« »Natürlich lebt er noch – und er wartet auf dich.« Ich glaubte selbst nicht daran. Vielleicht wollte ich auch nicht daran glauben – ich wusste es selbst nicht. »Sei gewiss, dass auch ich meine Sorgen habe, die unser Universum betreffen.« Es war schon später Nachmittag, als wir zu der Höhle zurückkehrten. Keniath-Cel erwartete uns vor dem Eingang, saß auf einem mit Fellen bespannten Sessel und sah der sinkenden Sonne nach. »Ihr habt euch umgesehen? Wie fühlt ihr euch?« Wir blieben vor ihr stehen. »Gut«, erwiderte ich. »Wir brauchen Bewegung, das wirst du verstehen; das Tal ist ein Ort des Friedens. Trotzdem möchte ich dich fragen: Wann ist es so weit?« »Ungeduldig, Atlan?« Sie lächelte, wie ein Tejonther lächelte – ein wenig verzerrt und undefinierbar. »Unsere Kundschafter haben berichtet, dass die Vorbereitungen zum Start der Flotte nicht unterbrochen wurden. Es liegt an uns, die Vorbereitungen zu verzögern, um Zeit zu gewinnen. Mehr
können wir jetzt nicht tun.« Ich hatte das Gefühl, dass sie überhaupt nicht mehr tun konnten, behielt aber meine Meinung für mich. Warum sollte ich sie entmutigen? Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, gegen die Machthaber eines Imperiums zu kämpfen. »Wie wollt ihr das anstellen?« »Indem wir den Raumhafen angreifen und Verwirrung stiften. Vielleicht gelingt es uns auch, einige Schiffe zu vernichten. Es dürfen nicht weniger als zehntausend Großraumer sein, die zum Kreuzzug nach Yarden starten. Der Neubau würde Zeit beanspruchen.« »Habt ihr Waffen?« »Ja. Doch geht nun, das Essen wartet. Heute Abend will Groya-Dol noch einmal mit euch reden. Ich hole euch ab.« Ich nahm Crysalgiras Hand und zog sie mit, denn ich sah ihr an, dass sie noch mit Keniath-Cel sprechen wollte. Sie folgte mir ohne Widerstand. Als wir unseren Raum erreichten, war der Tisch bereits gedeckt. Wir aßen und tranken, dann fragte die Prinzessin: »Warum hast du verhindert, dass ich mit ihr sprach?« »Ganz einfach: Ich wollte verhindern, dass du ihr Fragen stellst, die nur Groya-Dol beantworten kann.« Sie sah mich forschend an und nickte. »Vielleicht hast du Recht. Ich lege mich jetzt schlafen, denn ich verspüre heute keine Lust mehr zu einem Spaziergang.« Sie verschwand unter den Fellen, bald darauf war sie eingeschlafen. Ich selbst war nicht müde und blieb wach. Ich roch förmlich, dass etwas in der Luft lag. Es war etwas geschehen, was Eile erforderte.
Als Keniath-Cel uns zu Groya-Dol brachte, wandte der Alte mit dem graumelierten Pelz uns den Rücken zu. Er
beschäftigte sich mit irgendwelchen Schriftstücken und schien unser Eintreten nicht bemerkt zu haben. Sofort entdeckte ich die schreckliche Narbe, die seinen Nacken und den halben Hinterkopf bedeckte. Der Pelz war dort nicht nachgewachsen. Keniath-Cel machte sich bemerkbar. Groya-Dol drehte sich langsam um und musterte uns, als hätte er uns noch nie zuvor gesehen, dann lächelte er breit. »Nehmt Platz, Freunde. Ich weiß nicht, ob Keniath-Cel es euch schon gesagt hat – aber wir müssen schneller handeln, als vorgesehen war. Wie wir in Erfahrung brachten, steht der Start der Teilflotte von Belkathyr kurz bevor. Wenn sie sich mit dem Rest der Gesamtflotte vereinigt, ist es für uns zu spät, denn dann können wir nichts mehr erreichen. Der Kreuzzug nach Yarden ist ein Betrug, nichts anderes. Ich weiß es. Alle dreihundertsechzig Belkathyrjahre verlieren wir zehntausend Schiffe – für nichts und wieder nichts. Das muss endlich aufhören.« »Wo ist der Treffpunkt der Flotten?«, fragte ich. »Die Schiffe von Belkathyr fliegen zu einer Gefühlsbasis, die im Raum stationiert ist, dort treffen sie die anderen sechs Flottenteile. Jeder zerstörte Großraumer bedeutet Zeitgewinn, denn die Zahl der gebauten Reserveschiffe ist diesmal verschwindend gering. Ich habe Nachrichten von den anderen Welten – es könnte sein, dass es der erste Kreuzzug wird, für den nicht die erforderlichen zehntausend Großraumer zusammenkommen. Deshalb auch die große Nervosität; die Verantwortlichen haben Angst vor den Konsequenzen. Noch günstiger wäre es natürlich, wenn es uns gelänge, das Raumhafen-Kontrollzentrum so zu beschädigen, dass ein geordneter Start überhaupt unmöglich ist.« »Wurde ein Plan ausgearbeitet?« Groya-Dol deutete auf Keniath-Cel. »Sie führt die Angriffsgruppe; sie hat auch einen Plan. Ihr könnt ihr vertrauen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie für unsere Sache
kämpft. Außerdem werde ich selbst an dieser wichtigen Operation teilnehmen, wenn auch nicht als Kommandant.« »Du solltest hier bleiben«, sagte Keniath-Cel besorgt. »Hast du nicht schon genug gekämpft? Hast du nicht die Eisnarbe?« Unwillkürlich fuhr sich der Alte mit der Hand über den Nacken. »Ja, die Eisnarbe … Das ist schon lange genug her und gibt mir keine Berechtigung, euch allein in den Kampf ziehen zu lassen. Später, wenn es darum geht, die Gefühlsbasis im Raum anzugreifen und zu vernichten, werde ich nicht dabei sein.« Eisnarbe? Unwillkürlich dachte ich an die Eisige Sphäre und fragte mich zum wiederholten Mal, ob die rätselhaften Tropoyther in Wirklichkeit Varganen waren. »Doch dieser zweite Plan hat noch Zeit. Wichtig ist zuerst, die Flotte am Start zu hindern. Ich weiß, das ist ein schweres und gefährliches Vorhaben, vielleicht überleben wir es nicht. Aber nach uns werden andere kommen, denn es gibt viele, die mit dem Kreuzzug nicht mehr einverstanden sind.« Das war ein schwacher Trost für Crysalgira und mich, die das alles im Grunde genommen nichts anging. Wir waren durch puren Zufall mitten in diese Auseinandersetzung geraten und vom Strudel der Ereignisse mitgerissen worden. Vielleicht hätten wir uns an dem Unternehmen der Rebellen nicht beteiligt, hätte Klahngruit uns gegenüber anders gehandelt. »Wir brechen in der Nacht auf«, sagte Keniath-Cel entschlossen. »Es ist alles bereit, wie du es angeordnet hast. Die beiden Fremden sind bei meiner Gruppe. Insgesamt greifen wir mit dreihundert Tejonthern an.« »Sind alle unterrichtet?«, wollte der Alte wissen. »Sie sind unterrichtet und bereits in der Stadt in den Verstecken. Die Polizei scheint arglos zu sein, es gibt keine Streifen mehr. Man hat sich also mit der gelungenen Befreiung
aus dem Kerker abgefunden – oder es gibt andere und wichtigere Dinge zu erledigen.«
Auf dem Weg in unser Quartier sagte Keniath-Cel: »Wir werden uns mit zweihundert Leuten an das Kontrollgebäude heranschleichen, während hundert einen Überfall auf ein Großdepot vortäuschen, um die Wachen abzulenken und zu beschäftigen. Während sich alles auf die Verteidigung des Depots konzentriert, greifen wir die Kontrollzentrale an. Wenn wir Glück haben, legen wir die Anlage in kurzer Zeit lahm. Zur Flucht stehen uns Gleiter zur Verfügung, die in gut getarnten Verstecken auf uns warten. Notfalls kennt ihr ja selbst den Weg zurück in dieses Tal. Zwei Tagesmärsche sind es, mehr nicht.« Vor der Tür verabschiedete sie sich von uns und gab uns noch den guten Rat, zu schlafen. Sie würde uns wecken, sobald es so weit war. Crysalgira legte sich sofort hin. Ich selbst fand keine Ruhe. Der Plan der Rebellen gefiel mir nicht, vielleicht aber auch nur deshalb, weil ich zu wenig von ihm kannte. Ich redete mir ein, dass sie mit den Verhältnissen besser vertraut waren als ich und sich eher ein Urteil über die Erfolgschancen erlauben konnten. Auch sie würden nicht blindlings in ihr Verderben rennen. Schließlich sagte ich mir, dass meine Überlegungen sinnlos waren, denn ich konnte nichts mehr an den bevorstehenden Ereignissen ändern. Crysalgira und ich waren auf die Rebellen angewiesen, ob der Angriff auf den Raumhafen nun gelang oder nicht. Ihr Gegner war auch der unsere. Ich legte mich nun ebenfalls auf die Felle und versuchte ein wenig zu schlafen. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, kam Keniath-Cel auch schon, um uns abzuholen.
Rengot-Dol flog den Gleiter, in dem Keniath-Cel, Groya-Dol, Crysalgira und ich Platz genommen hatten. Wir überquerten das Gebirge und näherten uns in einem Bogen der Stadt. Das Raumhafengelände hob sich deutlich von ihr ab, war von Scheinwerfern hell angestrahlt. Wir landeten außerhalb des Stadtgebiets auf einer Waldlichtung. Meine Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten die Umrisse anderer Gleiter. Groya-Dol war beweglicher, als ich vermutet hatte. Behände kletterte er aus der Kabine und war dann schnell von den wartenden Rebellen umringt. Es waren nur noch wenige, denn die anderen hatten bereits ihre Posten in der Nähe des Raumhafens bezogen. In zwei Tontas war Mitternacht. In kleine Gruppen aufgeteilt, wanderten wir durch die Stadt; stets so, dass die eine die andere im Auge behalten konnte. Sollte eine Polizeistreife Schwierigkeiten machen, konnte eingegriffen und eine Entdeckung verhindert werden. In dieser Nacht würde es keine Rücksichten mehr geben. Ich merkte mir den Weg und war überzeugt, ihn auch allein und ohne fremde Hilfe zu finden. Mit einem Gleiter konnte ich notfalls auch umgehen, so dass ich mir den Fußmarsch ins Tal ersparen konnte, falls das Unternehmen, das vor uns lag, misslang. Auf jeden Fall nahm ich mir vor, Crysalgira keinen Augenblick aus den Augen zu lassen. Einige Polizeigleiter schwebten an uns vorbei, aber sie hielten nicht an. Ich wunderte mich ein wenig darüber, denn um diese Zeit war nicht mehr viel Verkehr auf den Straßen. Keniath-Cel versicherte, dass einzelne Spaziergänger gegen Mitternacht kaum auffielen, da etliche Vergnügungsstätten dann schlossen und viele Besucher es vorzögen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Inzwischen hatte meine seelische Verfassung ein Stadium erreicht, in dem mir so ziemlich alles egal war. Es gab keinen anderen Ausweg, als auf der Seite der Rebellen zu
marschieren, obwohl es mir innerlich völlig gleichgültig war, ob der verfluchte Rreuzzug nun stattfand oder nicht. Im Notfall hätte ich auch ohne die Widerstandskämpfer versucht, ein Schiff für mich und die Prinzessin zu kapern. Einige Tejonther kamen uns entgegen. Groya-Dol begrüßte sie durch Handzeichen, einer berichtete: »Wir haben außerplanmäßig einen kleinen Überfall auf ein Warenhaus im Zentrum der Stadt inszeniert, um die Streifenpolizei abzulenken. Der Weg zum Raumhafen ist frei, aber nur für kurze Zeit. Dann wird man den Bluff bemerken und Schlüsse ziehen.« Groya-Dol sprach zwar seine Anerkennung für das selbständige Handeln seiner Leute aus, aber ich spürte, dass er nicht ganz zufrieden war. Was nützt der frei gewordene Weg, wenn die Polizei vielleicht Verdacht schöpft?, zischte der Extrasinn. Wir gingen nun schneller und sahen wenig später die Abgrenzung des Raumhafengeländes vor uns. Grell stachen die Scheinwerfer in das Dunkel der Nacht und leuchteten fast jeden Winkel aus – aber eben nur fast. KeniathCel, die das Gelände besser kannte, übernahm nun wieder die Führung. Groya-Dol ging hinter ihr, Rengot-Dol, Crysalgira und ich folgten ihnen. Nach und nach stießen auch die anderen Gruppen zu uns. Es wurde kaum gesprochen; der Plan war von langer Hand vorbereitet, jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Ich bemerkte, dass viele der Tejonther schwere Pakete trugen, die wohl Sprengstoff enthielten. Alle waren mit Energiestrahlern bewaffnet, die Prinzessin und ich ebenfalls. Die letzte Gruppe der Rebellen erwartete uns unmittelbar an dem elektrisch geladenen Zaun, der das eigentliche Raumhafengelände absicherte. Triumphierend berichtete ihr Anführer, dass sämtliche Wachtposten abgezogen worden seien, da man in der Nähe des Warendepots verdächtige Gestalten wahrgenommen habe.
Auch das gehörte zum Plan. »Und was ist mit dem Zaun?«, fragte Keniath-Cel. »Wir haben den Strom unterbrochen, bis jetzt erfolgte kein Alarm. Eine Überbrückung verhindert, dass die Kontrollinstrumente die Unterbrechung anzeigen.« Gut gemacht, dachte ich, ohne dass sich meine Zweifel an dem Gelingen des Unternehmens verringert hätten. Ich befand mich in einer merkwürdigen Situation: Ich glaubte nicht an den Sieg der Rebellen, aber ich wünschte ihn sehnlichst herbei. Ich würde alles tun, ihnen zu helfen, obwohl ich fast von einer Niederlage überzeugt war. Einer nach dem anderen passierten wir die Lücke im Zaun, die von der letzten Gruppe geschaffen worden war. Crysalgira hatte nun ihre Hand von der meinen gelöst, hielt ihren Energiestrahler schussbereit. Ich blieb dicht bei ihr. Auf keinen Fall wollte ich sie in dem bevorstehenden Durcheinander, das unweigerlich eintreten würde, verlieren. Groya-Dol und Keniath-Cel übernahmen gemeinsam die Führung der zweihundert Rebellen. Das Kontrollgebäude lag etwa hundert Meter vor uns, hell von den Scheinwerfern angestrahlt. Sie hatten nicht außer Betrieb gesetzt werden können. Wir mussten eine Fläche von etwa dreißig Metern überqueren, die hell angestrahlt wurde. Groya-Dol hielt an. »Ein Risiko, das uns alle das Leben kosten kann«, sagte er, nachdem er die Lage sondiert hatte. »Wir können nur darauf hoffen, dass sämtliche Wachen zum Warendepot geeilt sind, um es gegen die Angreifer zu verteidigen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass einige zum Schutz der Kontrollanlage zurückblieben. Wenn wir mit ihnen fertig werden können …« »Wir schaffen es«, sagte Keniath-Cel energisch. Ihr Hass gegen die Regierung macht sie fast blind, erkannte ich in diesem Augenblick. Ihre Ansichten mochten gut und
gerecht sein, aber ihr Kampf blieb deshalb trotzdem aussichtslos. Selbst wenn es uns gelang, die Kontrollzentrale zu vernichten, würde es nur ein halber Sieg sein. Die Rebellen gewannen nur Zeit, nicht mehr. Am Ende des Weges würde dennoch der Kreuzzug nach Yarden stehen. Und der Tod für die Rebellen, wenn man sie fasst. Und wir gehören nun ebenfalls zu den Rebellen … Immer noch standen wir an der verschwommenen Grenze zwischen Dunkelheit und Licht. Ganz weit links sah ich Leuchtraketen in den Himmel steigen, dazwischen waren die Lichtblitze und das Geräusch von Detonationen. In dieser Richtung, wusste ich nun, lag das Warendepot, das angegriffen wurde. Spätestens jetzt wusste die Polizei, dass die Gegner des Kreuzzugs aktiv geworden waren. »Wir greifen an«, sagte Keniath-Cel. »Einzeln und auf Deckung bedacht.« Insgeheim hatte ich schon befürchtet, sie würde darauf bestehen, dass wir in Marschordnung in unser Verderben rennen sollten, und atmete erleichtert auf. Nun war jeder auf sich selbst angewiesen, was meinen Pessimismus allerdings auch nicht verminderte. Ich nahm Crysalgira wieder bei der Hand. »Komm, dort drüben ist der Lichtstreifen am schmälsten.« Ich lief mit ihr ein wenig nach links und kam so dem Kontrollgebäude näher, ohne mich dem Schein der Lampen auszusetzen, dann hielt ich an. Es waren jetzt ungefähr noch hundert Meter bis zum Ziel, aber dazwischen lagen fast dreißig Meter Licht. »Wir warten«, flüsterte ich. Weiter rechts sah ich die Rebellen. Obwohl auch sie noch in der Dunkelzone blieben, hoben sich – von uns aus gesehen – ihre Gestalten doch scharf gegen die Scheinwerfer ab. Wir konnten nicht mehr länger warten, ohne hoffnungslos an Boden zu verlieren. Ich nahm Crysalgiras Hand noch fester als
vorher und rannte los, hinein in den grellen Lichtschein. Wir schafften die dreißig Meter in wenigen Augenblicken und erreichten den toten Winkel vor dem Gebäude. Keuchend hielten wir an. Neben uns tauchten die Rebellen auf, GroyaDol kam als Letzter, von Rengot-Dol und Keniath-Cel gestützt. Und einen Wimpernschlag später mussten wir erkennen, dass wir in eine Falle getappt waren, denn zusätzliche Scheinwerfer flammten auf, die nicht nur die bisherige Dunkelzone grell beleuchteten, sondern auch den toten Winkel in grelle Helligkeit tauchten. Schutzlos und ohne Deckung standen wir da, während auf dem Dach des Kontrollzentrums die ersten Energieschüsse aufblitzten und mitten zwischen uns fuhren. »Stürmen und angreifen!«, rief Keniath-Cel und erwiderte das Feuer. »Verteilt euch und sucht Deckung!« Neben mir schrie Groya-Dol plötzlich schmerzerfüllt auf. Ich hatte den Blitz gesehen, der seine Brust durchbohrt hatte und ihn zu Boden streckte. Die anderen waren schon zu weit entfernt, um ihm helfen zu können. Der Alte mit der Eisnarbe war mir jetzt wichtiger als der ganze Kreuzzug – er wusste mehr, als er bislang gesagt hatte. Vielleicht würde er jetzt sprechen. Schnell sprang ich hinzu, nachdem ich Crysalgira meine Waffe in die freie Hand gedrückt hatte. »Dort drüben, in den Schatten!«, drängte ich. »Da sind wir vorerst sicher. Lauf schon vor!« Es war ein flacher Schuppen, dessen Hinterseite in der Dunkelheit lag. Zwanzig Meter weit schleppte ich den stöhnenden Groya-Dol mit, ehe ich ihn endlich auf den Boden legen konnte. Noch bevor ich ihn untersuchte, war mir klar, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte. Die Wunde war tödlich. Crysalgira beobachtete das weitere Geschehen beim Kontrollgebäude, während ich mich neben den Alten kniete und sagte: »Ganz ruhig, Groya-Dol. Wir bringen Sie hier fort, sobald die Polizei etwas anderes zu tun hat, als auf uns zu
achten.« Mühsam flüsterte er: »Der Angriff … die anderen … lasst mich liegen …« Ich drückte ihn sanft zurück, als er sich auf richten wollte. »Sie siegen auch ohne uns«, log ich, um ihm das Sterben zu erleichtern. »Wichtig ist, dass du deinen Freunden erhalten bleibst.« Aber er wusste, dass es mit ihm zu Ende ging. »Nein, Atlan – Fremder von jenseits der Gefühlsbasen und jenseits von Yarden … Ich fühle, dass ich sterben muss.« Jenseits von Yarden, hatte er mit besonderer Betonung gesagt. Ist das Ziel der Kreuzzugsflotte die Grenze zwischen den Dimensionen? Weiß Groya-Dol, dass ich aus einem anderen Universum komme? »Groya-Dol, hilf uns. Wie können wir je in unsere Welt zurückkehren? Gibt es dieses Yarden überhaupt?« Crysalgira flüsterte: »Die Rebellen haben das Gebäude erreicht, aber das Abwehrfeuer ist stärker geworden. Die Polizei muss auf sie gewartet haben. Ich sehe einige zurücklaufen. Ich fürchte, der Angriff ist fehlgeschlagen.« Groya-Dol hatte die schlechte Nachricht ebenfalls mitbekommen. Er bäumte sich mit letzter Kraft auf und keuchte: »Meine Eisnarbe … Atlan … sie ist der Beweis. Ich war in Yarden – und ich bin zurückgekehrt! Nicht wie die Krcuzzugsflotten … Meine Augen sahen Yarden …« Ich hatte meinen Arm unter seinen Nacken geschoben, damit er nicht mit dem Kopf auf dem harten Boden lag. Sein Atem ging heftiger, aber er hielt nun die Augen geschlossen, mit denen er mich eben noch angesehen hatte. Weiter rechts hörte ich die Schritte der fliehenden Rebellen – und vereinzelte Todesschreie. Wir mussten hier weg, ehe die Polizei die Verfolgung begann. »Groya-Dol, wir nehmen dich mit …« Er bäumte sich ein letztes Mal auf. »Geht und lasst mich
allein sterben. Keniath-Cel wird das Werk in meinem Sinne fortsetzen.« Er wurde plötzlich schlaff in meinen Armen. Seine letzten nur noch gehauchten Worte waren: »Ihr müsst nach Yarden … Übergang … Tropoyther …« Dann war er tot. Behutsam zog ich meinen Arm unter ihm fort. Nach Yarden mussten wir – und es gab nur einen einzigen Weg nach dort: den Kreuzzug. Wir stecken noch mehr in der Klemme als zuvor. So betrachtet kämpfen wir sogar auf der falschen Seite. Es war zu spät, sie noch zu wechseln, außerdem hätte ich es niemals fertig gebracht, Keniath-Cel und ihre Rebellen an Klahngruit zu verraten. »Wir müssen fliehen«, drängte Crysalgira. »Ich glaube, wir sind die Letzten. Die Überlebenden haben die Lichtzone überquert. Nicht mehr als fünfzig.« Ich warf einen letzten Blick auf den Toten, nahm meine Energiewaffe und richtete mich auf. Die Richtung, in der die Lücke im Zaun war, kannte ich ungefähr. Bis dahin war das Landefeld hell erleuchtet, aber das Feuer der Polizei hatte nachgelassen. Wahrscheinlich bereitete man sich auf die Verfolgung vor. Diese Pause mussten wir nutzen. »Komm, so schnell, wie du rennen kannst!« Ich blieb dicht hinter ihr, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Nur vereinzelte Energieschüsse folgten uns, aber die Polizisten waren schlechte Schützen. Wir fanden die Lücke im Zaun sofort und schlüpften hindurch. Um die toten Tejonther, die überall lagen, konnten wir uns nicht kümmern. Jetzt ging es um unser eigenes Leben. Auf keinen Fall durfte Klahngruit erfahren, dass wir an diesem Überfall teilgenommen hatten. Das würde das Ende bedeuten. An den Häusern vorbei erreichten wir den ersten Park und legten eine Verschnaufpause ein. Zwischen den Büschen fühlten wir uns sicher, wenigstens für eine Weile. Auf dem Gelände des Raumhafens war es noch heller geworden. Immer noch
blitzten Energieschüsse auf. Sie galten wohl einigen Nachzüglern der fliehenden Rebellen, die sich nicht schnell genug abgesetzt hatten. In der Richtung, in der das Warendepot lag, war es hingegen ruhiger geworden. Entweder waren alle Angreifer tot, oder sie hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. »Wir müssen weiter«, sagte ich. »Wenn wir zu spät in den Wald kommen, sind die Gleiter weg.« Wir liefen durch den Park und stellten erleichtert fest, dass die Straßen leer und verlassen waren. Immer an den Hauswänden entlang eilten wir weiter, durch den nächsten Park in ein anderes Viertel. Wichtig war, dass wir dem Gemetzel entkommen waren. Die Hochhäuser blieben zurück, wir näherten uns dem Rand der Stadt. Schon atmete ich auf, als plötzlich aus dem Dunkel einer Seitenstraße mehrere Gestalten auftauchten und auf uns zu schießen begannen. Ich packte Crysalgira und warf sie zu Boden. Dann schoss ich zurück, die Energieblitze erhellten die Umgebung. Mein Translator war eingeschaltet. »Aufhören!«, rief ich in der Hoffnung, es mit versprengten Rebellen zu tun zu haben. »Wir sind Freunde!« Einen Augenblick war Stille, dann ertönte es zurück: »Die beiden Fremden! Auf ihren Kopf steht eine Belohnung! Los, erledigt sie …« Ich schob Crysalgira durch ein Gartentor, das ein kleines Haus von der Straße trennte. Dann erhob ich mich halb und feuerte in die Gruppe der vier Tejonther, die den Vorgarten stürmen wollten. Im Hintergrund flackerte eine defekte Straßenbeleuchtung, deren schwacher Schein genügte, meine Angreifer gut erkennen zu lassen. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es sich um Leute Klahngruits handelte, der auf unseren Kopf eine Belohnung ausgesetzt hatte. Crysalgira richtete sich dicht neben mir halb auf und
begann ebenfalls zu schießen. Das Gegenfeuer der Polizisten zerfetzte den Zaun und ließ die Büsche in Flammen aufgehen. Im Haus hörte ich Stimmen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Polizisten Verstärkung erhielten. Mit verbissener Wut zielte ich sorgfältiger und sah zwei der Angreifer stürzen. Den dritten erwischte Crysalgira. Der vierte machte kehrt und floh. Ich sprang durch die noch glühenden Überreste des Zauns und nahm die Verfolgung auf, Crysalgira dicht hinter mir. Der Heulton einer Sirene erklang. Wir konnten den Flüchtling stellen; als er das Feuer auf uns eröffnete, töteten wir ihn. Noch zwei Stadtviertel und drei Parks, dann hatten wir es so weit geschafft. Die Frage war nur, ob wir das Versteck im Wald und damit die Gleiter fanden. Es beunruhigte mich, dass wir keinem einzigen der überlebenden Rebellen begegnet waren. Die Häuser lagen hinter uns, in der Dunkelheit sah ein Strauch oder ein Baum wie der andere aus. Trotzdem war ich sicher, dass sich die Gleiter ganz in der Nähe befanden. Wir blieben stehen und lauschten, aber kein Geräusch war zu hören. Nur in der Stadt heulten Sirenen. Die Fahrzeuge der Polizei waren unterwegs. »Sie können sich doch nicht einfach in Luft aufgelost haben«, sagte Crysalgira beunruhigt. »Ich habe gesehen, dass es Überlebende gab.« »Vielleicht nahmen sie eine Abkürzung, jedenfalls einen anderen Weg als wir. Darum sahen wir keinen von ihnen.« Allmählich verblassten die Sterne. Im Osten begann es zu dämmern. Es wurde Zeit, dass wir in der Wildnis untertauchten. Als die ersten Strahlen der Sonne die im Westen liegenden Bergspitzen trafen, fand ich die Richtung wieder; eine halbe Tonta später entdeckten wir die Lichtung. Aber die Gleiter waren verschwunden. Die überlebenden Rebellen hatten sich in Sicherheit gebracht und hielten uns wahrscheinlich für tot. Ich zog Crysalgira in die Büsche, wo
wir uns erst einmal setzten und von der Anstrengung erholten. Ich sagte nach einigem Überlegen: »Es hat keinen Sinn, wenn wir hier bleiben. Der Angriff ist vereitelt worden, vielleicht sogar durch einen Rebellen verraten. Klahngruit hilft uns nicht. Aber Keniath-Cel kann es. Wir müssen nach Yarden, was immer das auch sein mag. Die Rebellen wollen ein Schiff zu einer der Gefühlsbasen schicken, um sie zu vernichten. Wir müssen dabei sein, denn nur die Basen helfen uns weiter. Die Berge weisen uns die Richtung, in der wir gehen müssen. Wir müssen das Gebirge überqueren. Wir brechen sofort auf, um keine Zeit zu verlieren.« »Aber die Polizei wird das Gelände überwachen.« »Natürlich wird sie das, aber Bäume und Büsche geben uns genügend Deckung. Einer muss jedoch ständig den Himmel beobachten, am besten du. Ich kümmere mich um den Weg und die Richtung.« Wir brachen auf. Obwohl wir zu gelegentlichen Umwegen gezwungen wurden, achtete ich stets darauf, dass wir die schützende Vegetation in der Nähe hatten. Das Gelände stieg allmählich an. Einmal entdeckte Crysalgira einen Gleiter, der weite Kreise zog und uns immer näher kam. Wir krochen unter ein dichtes Gebüsch und ließen ihn nicht aus den Augen. Er zog dicht über uns hinweg, verschwand in Richtung der Berge. Wir wanderten weiter, bis es zu dämmern begann. Sorgfältig studierte ich die Gipfel, bis ich fand, was ich suchte. Ich zeigte es Crysalgira: »Siehst du dort die beiden Gipfel? Der rechte erinnert an einen Kegel.« Als sie nickte, fuhr ich fort: »Dazwischen liegt ein Pass. Ich konnte ihn vom Gleiter aus erkennen, als Rengot-Dol mich darauf aufmerksam machte – immerhin war es dunkel. Von dort ist es nicht mehr weit bis zum Talkessel.« »Wir werden nachts marschieren?« »Sobald wir ausgeschlafen sind«, tröstete ich sie.
Wir fanden schließlich eine mit dichtem Gras bewachsene Mulde, die ein wenig Schutz versprach. Aneinander gepresst gelang es uns, ein paar Tontas zu schlafen; wir froren nicht einmal. Als wir aufwachten, war es Mitternacht.
Das Gelände wurde schon nach einer halben Tonta steiler. Vor uns hoben sich die Berge gegen den Himmel ab. Wir folgten einem wenig ausgetretenen Pfad, der wahrscheinlich auch von den Rebellen benutzt wurde. Nicht von der Polizei, wie ich hoffte. Die Sterne gaben genügend Licht, so dass wir den Weg auch in der Nacht nicht verloren. Die Gipfel kamen allmählich näher. Als der neue Tag zu dämmern begann, hatten wir die Passhöhe erreicht. Vor uns lag eine Hochebene mit spärlicher Vegetation, Schluchten, steil aufragenden Gipfeln und gefährlichen Geröllhängen. Zum Glück entdeckten wir auch Wasser. Crysalgira achtete wieder auf den Himmel, denn wir mussten uns beim Auftauchen eines Gleiters rechtzeitig um Deckung kümmern. Bergab kamen wir schneller voran. Bis gegen Mittag legten wir eine beachtliche Strecke zurück. Meiner Schätzung nach konnte der Talkessel nicht mehr weiter als zwei oder drei Marschtontas entfernt sein. Zweimal brachten wir uns vor Gleitern in Sicherheit, aber da sie keine Kreise zogen, sondern zielstrebig Richtung Talkessel flogen, nahm ich an, dass es sich um Rebellen handelte. Aber wir wagten es nicht, uns bemerkbar zu machen. Es hatte wenig Sinn, im letzten Augenblick durch Leichtsinn unser Leben zu gefährden. Wir machten eine Rast von einer Tonta, dann brachen wir erneut auf. Ich hoffte, das Tal noch vor Anbruch der Nacht zu erreichen. Der Pfad, den wir bisher benutzt hatten, endete auf einem Plateau. Nun waren wir nur noch auf unseren Instinkt
und das Erinnerungsvermögen angewiesen, aber aus großer Höhe sah hier unten alles ganz anders aus. Trotzdem gab es Kennzeichen, die ich mir gemerkt hatte. Ich würde die Richtung nicht verlieren. Genau vor uns ragte ein breiter Gipfel steil in den Himmel. Er lag jenseits des Talkessels. Unser Ziel war nahe. Und dann, als es zu dämmern begann, standen wir vor einem senkrechten Abhang. Unter uns lag der Talkessel. Wir hatten es geschafft. Die Frage blieb nur, wie wir hinuntergelangten. Das Beste würde sein, wir gaben uns rechtzeitig zu erkennen, aber das würde nicht einfach sein, denn es wurde bald dunkel. Leuchtzeichen konnten wir auch nicht geben, und ein Schuss aus der Energiewaffe konnte zu Missverständnissen führen. »Wir bleiben bis morgen«, entschied ich schließlich. »Es ist jetzt zu gefährlich, wir werden niemals den Abstieg finden. Dort drüben ist eine breite Felsspalte. Bis du müde?« »Müde schon, aber unsere Höhlenkammer wäre mir lieber.« »Mir auch, aber nun kommt es auf ein paar Tontas auch nicht mehr an. Morgen klettern wir hinab.« Wir schliefen gut in dieser Nacht, obwohl es recht kalt wurde. Aber dann graute endlich der Morgen, und erneut brachen wir auf, diesmal das Ziel direkt vor Augen. Ich fand den Abstieg nach einigem Suchen. Der schmale Pfad war an manchen Stellen aus dem Fels gehauen worden. Wir folgten ihm und kamen gut voran. Als wir ein kleines Plateau erreichten, hatten wir bereits die Hälfte der Gesamtstrecke hinter uns. Wir sahen hinab ins Tal. Einige Gestalten waren zu erkennen. Die Gleiter entdeckte ich nicht. Sie waren gut getarnt worden. Plötzlich hörte ich eine Stimme seitlich aus den Felsen. Ich drehte mich um und sah einen Tejonther, der seine Waffe in der Hand hielt, sie aber nicht auf uns gerichtet hatte. Schnell schaltete ich den Translator ein und konnte ihn verstehen: » …
erwartet euch, denn wir erfuhren, dass ihr noch lebt. Geht weiter, ich gebe den anderen ein Zeichen.« »Lebt Keniath-Cel?«, fragte ich erleichtert darüber, dass wir erkannt worden waren. »Sie ist es, die euch erwartet.« Eine halbe Tonta später standen wir auf der Talsohle. Keniath-Cel kam uns von den Höhlen her entgegen. »Ihr lebt, ich wusste es. Wo seid ihr geblieben, als wir angriffen?« Ich berichtete ihr von Groya-Dols Tod und dass wir versucht hatten, ihm zu helfen. In wenigen Worten schilderte ich ihr dann unsere Flucht durch die Stadt und die Wildnis. Sie erwiderte: »Ihr werdet müde sein und Hunger haben. Geht in eure Kammer, ihr werdet vor morgen nicht gestört werden. Das Essen wird man euch bringen.« »Wie ging der Angriff aus? Sind viele ums Leben gekommen?« »Mehr als die Hälfte, aber wir werden weiterkämpfen. Nur das ist im Sinne Groya-Dols. Er wird immer bei uns sein.« Sie wandte sich ab und ging davon. Schweigend betraten wir das Labyrinth und erreichten unsere Höhlenkammer. Das Essen stand bereits auf dem Tisch.
6. Atlan: Zweifel und Fragen, mangelnde Informationen, die zu Fehlentscheidungen führen – ich hadere mit dem Schicksal, fühle mich ohnmächtig Kräften und Mächten ausgesetzt, die mir die Kontrolle des Handelns entzogen haben. Gestartet, um mehr über den Molekularverdichter der Maahks herauszufinden oder diese Waffe zu zerstören, treibt es mich seit mehr als einer Arkon-Periode von einem Ort zum nächsten. Ich sehne mich nach planvollem, gezieltem Handeln, will endlich das Umherirren und
Getriebenwerden überwinden. Doch wie es aussieht, wird dieser Wunsch so schnell nicht in Erfüllung gehen. Leider.
Rebellental: 32. Prago des Tartor 10.498 da Ark Ich war mir sicher, dass wir sehr lange geschlafen hatten. Draußen war es hell, als wir das Höhlensystem verließen und uns umsahen. Einige Tejonther waren damit beschäftigt, ihre Waffen zu reinigen. Andere trugen Pakete und Kisten aus den Gleitern in das Labyrinth, wahrscheinlich erbeutete Lebensmittel und Geräte oder Werkzeuge. Keniath-Cel kam auf uns zu und begrüßte uns. Ich kannte sie nun schon an ihrem Gang, weniger am Gesicht. »Wir wollten euch nicht stören, Freunde, aber das Leben geht weiter – und unser Kampf auch. Wir geben niemals auf.« Das hatte ich mir gedacht. Aber wenn Groya-Dol die Wahrheit gesprochen hatte, war sie im Recht. Der Alte hatte Yarden gesehen – und er war zurückgekehrt, wenn auch mit einer fürchterlichen Narbe, die er Eisnarbe genannt hatte. »Wir sind auf euer Seite, was immer auch geschieht.« »Berichtet mir von Groya-Dols Tod.« Ich tat ihr den Gefallen und schilderte den tragischen Vorfall in allen Einzelheiten. Als ich erwähnte, dass der Alte Yarden gesehen hatte und zurückgekehrt war, stimmte sie zu. »Ich habe es geahnt. Er hat niemals darüber gesprochen, auch mit uns nicht, die wir seine besten Freunde waren. Er muss sehr viel Vertrauen zu euch gehabt haben.« »Wir sind stolz darauf«, bekräftigte ich. »Aber – was ist Yarden?« Sie warf mir einen undefinierbaren Blick zu. »Was Yarden ist? Ich glaube, ihr wisst nun mehr darüber als ich oder ein anderer Tejonther.« »Groya-Dol hat weiter nichts verraten.« »Vielleicht starb er zu schnell«, vermutete sie und fügte
dann hinzu, indem sie das Thema wechselte: »Wir werden in zwei Tagen ein weiteres Unternehmen starten; diesmal müssen wir erfolgreich sein. Den Plan hat Groya-Dol selbst ausgearbeitet. Er muss gelingen, denn wir haben nur ein einziges Raumschiff.« Ich horchte auf und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Ihr habt nur ein Schiff?« »Nur dieses eine. Es wird uns zum Treffpunkt der Flotte bringen, zur Gefühlsbasis der Tropoyther. Wir werden sie zerstören.« Ich ahnte, wie schwer das war, wenn nicht gar unmöglich. Aber welchen Sinn würde es haben, Keniath-Cel von ihrem Vorhaben abbringen zu wollen, zumal es sich um Groya-Dols letzten Plan handelte? Hätten die Rebellen wenigstens mehrere Raumschiffe zur Verfügung gehabt, wäre es vielleicht möglich gewesen, Keniath-Cel zu bewegen, uns eins davon zur Verfügung zu stellen. Aber sie besaßen nur ein einziges, wahrscheinlich nur ein kleines. »Ihr kennt die Koordinaten der Gefühlsbasis?«, vergewisserte ich mich. »Wir haben Vertrauensleute beim Flottenpersonal, die uns ständig berichten. So erfuhren wir die genaue Position; damit kennen wir unser Ziel. Es gibt nur eine einzige Schwierigkeit.« »Und die wäre?« »Die Raumsicherung. Kein Schiff darf derzeit Belkathyr verlassen. Sämtliche Abwehrforts sind in Kampfbereitschaft versetzt worden und würden sofort das Feuer auf uns eröffnen, wüssten wir nicht eine Lücke in dem System. Wenn wir den richtigen Zeitpunkt wählen und dazu noch ein wenig Glück haben, wird unser Start nicht einmal registriert. Draußen im Raum sind wir dann sicher.« Ich hegte meine Zweifel, sprach sie aber nicht aus. Auf keinen Fall durfte ich Keniath-Cel verärgern, denn nun blieb
sie unsere einzige Hoffnung, Belkathyr verlassen zu können. Wie sie allerdings ein relativ lückenloses Sicherheitsnetz unbemerkt durchbrechen wollte, war mir ein Rätsel.
Am Nachmittag landete ein Gleiter im Tal. Zwei Tejonther entstiegen ihm und wurden zu Keniath-Cel gebracht, die sie allem Anschein nach schon erwartet hatte. Sie blieben zwei Tontas bei ihr im Höhlenlabyrinth, von dem wir nur einen winzigen Teil kennen gelernt hatten, dann kamen sie wieder zum Vorschein, kletterten in den Gleiter, der bald darauf im Dämmerhimmel verschwand. Wenn ich insgeheim gehofft hatte, bald etwas über die geheimnisvolle Begegnung zu erfahren, sah ich mich getäuscht. Zwar trafen wir Keniath-Cel noch einmal, bevor wir uns in die Wohnkammer zurückzogen, aber sie erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Ich war davon überzeugt, dass sie neue Informationen aus der Stadt erhalten hatte, sich aber darüber ausschwieg. Vielleicht waren es keine guten Nachrichten gewesen, die man ihr überbracht hatte, und sie wollte uns nicht beunruhigen. Während des Tages hatte ich beobachten können, dass auf der anderen Seite des Tales ein zweites Höhlensystem vorhanden sein musste, denn ganze Trupps von Tejonthern waren durch einen schmalen Spalt im Fels verschwunden und nicht mehr zum Vorschein gekommen. Erst gegen Abend, als es schon dunkel wurde, kehrten sie zurück. Hielten sie dort ihr Schiff verborgen? Für einen Augenblick überkam mich der Gedanke, den Versuch zu unternehmen, das Schiff zu stehlen, aber ich verwarf ihn sofort wieder. Abgesehen davon, dass weder Crysalgira noch ich die Abwehrkräfte der Tejonther kannten, wäre ein solcher Versuch ein glatter Verrat an Keniath-Cel gewesen. Immerhin
– zumindest vergewissern konnte ich mich ja.
Als Crysalgira endlich eingeschlafen war, verließ ich die Felskammer und schlich mich vor bis zum Ausgang. Es war niemand zu sehen. Wahrscheinlich gab es nur rings um das Tal Wachtposten, nicht aber im Tal selbst. Den Weg hatte ich mir gemerkt, so dass ich keine Schwierigkeiten hatte, zur anderen Seite des Kessels zu gelangen. Dann allerdings stand ich vor der Felswand und suchte vergeblich nach dem Spalt. Doch so schnell gab ich nicht auf. Vorsichtig tastete ich mich an dem Gestein entlang und stellte fest, dass ich mich um gut hundert Meter verschätzt hatte. Die Sterne lieferten nur wenig Licht, aber meine Hände entdeckten den engen Gang, der in den Berg hineinführte. Ich lauschte, aber kein Laut war zu vernehmen. Im Tal herrschte Stille, nur das ferne Rauschen des Baches war zu hören. Schritt für Schritt drang ich in den Gang ein, der sich bald verbreiterte. Als ich zwei Biegungen hinter mir hatte und es völlig finster geworden war, flammte Licht auf. Ich war sicher, keinen Schalter oder etwas Ähnliches berührt zu haben. Reglos blieb ich stehen und überlegte, ob meine Ausrede überzeugend genug klingen würde. Neugier war verzeihlich, meine Loyalität hatte ich bereits genügend unter Beweis gestellt. Aber es kam niemand, um mir Fragen zu stellen, alles blieb ruhig. Zögernd ging ich weiter und erkannte, dass die Felswände mit einem geräuschdämpfenden Kunststoff verkleidet waren. Der Gang mündete in einer runden und sehr hohen Halle, in deren Mitte das Schiff stand. Es gehörte zum kleinen Typ und war dreißig Meter hoch. Startbereit ruhte es auf den an die Heckflossen geflanschten Sublichttriebwerken, die Bugnase zur gewölbten Decke gerichtet, in der ich erst jetzt den Ausflugschacht erkannte. Das Raumschiff startete direkt
aus den Felsen heraus. Langsam umrundete ich es, um es von allen Seiten zu studieren. Die Heckschleuse stand offen, eine rötliche Notbeleuchtung verbreitete schwache Helligkeit. Über eine Leiter im desaktivierten zentralen Antigrav-Achsschacht erreichte ich den Kontrollraum im Bug, setzte mich in einen der Kontursessel und betrachtete die Kontrollen, die sich in nichts von jenen von Vruumys’ Sternenschiff unterschieden. Ich war davon überzeugt, mit ihnen umgehen zu können. Der Start würde keine Schwierigkeiten bereiten. Ich blieb vielleicht eine halbe Tonta, dann trat ich den Rückweg an. Kurz vor dem Spalt, hinter dem das Tal lag, erlosch automatisch das Licht. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten; als das endlich geschah, flammte erneut Licht auf. Es war grell und blendete mich, aber es kam diesmal nicht aus den Wänden. Jemand hatte eine starke Lampe auf mich gerichtet. Und dann sagte Keniath-Cel: »Was wolltest du bei unserem Schiff? Natürlich haben wir eine Alarmanlage, wir haben dich beobachtet.« So ganz vermochte ich meine Verlegenheit nicht zu verbergen. »Es tut mir Leid, aber ich wollte das Schiff persönlich sehen, mit dem wir ein so waghalsiges Unternehmen durchzuführen beabsichtigen. Trotzdem entschuldige ich mich dafür, dich nicht vorher gefragt zu haben.« Der Tejonther, der sie begleitete, richtete die Lampe nach unten, damit ich nicht mehr geblendet wurde. »Dein Verhalten hat bewiesen, dass du keine bösen Absichten hattest. Aber tue das nicht noch einmal. Komm jetzt, Schlaf ist wichtig.« Als wir zur anderen Seite des Tals zurückgingen, fragte sie: »Warst du mit der Inspektion zufrieden?« Ich nickte. »Ein gutes Schiff. Wie steht es mit der Bewaffnung?«
»Sie ist ausreichend. Der Schutzschirm ist stark genug, um erste Angriffe abzuwehren.« »Das werden wir vermutlich nötig haben.« Crysalgira erwachte, als ich den Raum betrat. Sie schaltete das Licht ein. »Wo warst du? Gehst du nachts heimlich spazieren – oder hast du unter den Tejonthern eine Freundin gefunden?« Ich streckte mich auf dem Bett aus und berichtete ihr, was geschehen war. Sie schüttelte den Kopf. »Das hättest du nicht tun sollen. Was wäre, wenn Keniath-Cel vermutet hätte, dass du den Start verhindern wolltest?« »Sie weiß, dass ich nur das Schiff sehen wollte.« »Trotzdem war es nicht richtig. Du hast ihr damit gezeigt, dass du kein Vertrauen zu ihr und ihren Freunden hast. Sie wird in Zukunft vorsichtiger sein.« Ich verspürte wenig Lust, mit ihr noch länger darüber zu diskutieren, außerdem war ich müde. »Es kommt nicht wieder vor«, versprach ich ihr und kroch unter die Felle.
Am nächsten Tag hinderte uns niemand daran, im Tal umherzuwandern. Ich sprach mit einigen Tejonthern über das bevorstehende Unternehmen und fand heraus, dass nicht alle begeistert davon waren, ihr Leben erneut aufs Spiel zu setzen. Sie scheuten sogar nicht davor zurück, den Plan ihrer Anführerin für undurchführbar zu halten. Das alles trug keineswegs dazu bei, mich zu aufzumuntern. Nur die Tatsache, dass ich nicht den Rest meines Lebens als Geächteter in diesem Tal verbringen wollte, hielt mich davon ab, die Leute in ihrem Pessimismus zu bestärken, im Gegenteil, im Sinne von Keniath-Cel sprach ich ihnen noch Mut zu. Später saßen wir wieder auf unserem Platz am Bach, und
Crysalgira fragte: »Du glaubst, dass wir es nicht schaffen?« »Ich bin fast davon überzeugt.« »Warum sagst du es Keniath-Cel nicht? Sie hat nicht deine Erfahrungen und wird vielleicht auf dich hören.« »Nein, das wird sie nicht. Sie ist ehrgeizig und von dem Gedanken besessen, den Kreuzzug zu verhindern und GroyaDols Vermächtnis zu erfüllen. Nichts wird sie davon abhalten. Aber das allein ist es nicht, was mich dazu bewegt, ihr kein Hindernis in den Weg zu legen. Der Flug mit dem Schiff ist unsere einzige Chance, Belkathyr zu verlassen und vielleicht einen Weg zurück in unser Universum zu finden. Yarden, Prinzessin – das ist vielleicht unser Universum! Zumindest könnte sich dort ein Durchgang befinden. Ich kann nur spekulieren, aber die Gefühlsbasen der Leerraumkontrolleure weisen den Weg dorthin.« »Und was ist, wenn das Unternehmen misslingt?« »Und was ist, wenn wir im Tal bleiben und warten, bis ein Wunder geschieht? Früher oder später wird man das Versteck der Rebellen entdecken. Und wenn nicht – hier sind Plätze genug, um schöne Gräber zu schaufeln. Gräber für uns, wenn wir an Altersschwäche gestorben sind, Prinzessin.« Sie sah an mir vorbei und gab keine Antwort. Schweigsam wanderten wir nach einer Weile zur Höhle zurück. Noch bevor wir sie erreichten, kam uns Keniath-Cel entgegen. Ihr Gesicht war nicht unfreundlich, wenn auch ein wenig besorgt – soweit ich das feststellen konnte. »Wir starten morgen Mittag«, sagte sie und deutete auf einen Baumstamm. »Setzen wir uns.« Wir nahmen Platz. »Ich weiß, dass ihr an einem Erfolg des Unternehmens zweifelt. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich tue es auch. Solltet ihr einen besseren Vorschlag haben, den Kreuzzug nach Yarden zu verhindern oder wenigstens zu verzögern, teilt ihn mir mit. Ich werde zuhören. Wir ändern den Plan, wenn ihr mich überzeugen könnt. Aber bedenkt,
dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Die Flotte wird in wenigen Tagen starten, um sich mit den anderen sechs Verbänden zu treffen. Ist das einmal geschehen, wird es zu spät sein. Unser Volk muss dann abermals dreihundertsechzig Jahre warten …« Ich erwiderte ohne Bedenkpause: »Wir haben nur eine sehr geringe Chance, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Das Schiff ist gut, davon konnte ich mich überzeugen, aber gegen eine Übermacht ist es verloren. Du allein weißt, ob und wie wir eine Lücke in dem Sicherheitssystem nutzen können. Ich kann mich nur darauf verlassen, dass deine Verbindungsleute nicht getäuscht wurden. Und da ich keinen besseren Vorschlag habe, muss ich mich deinen Plänen fügen. Das gilt auch für Crysalgira.« Sie starrte auf die Grasbüschel zu ihren Füßen. »Ich weiß, dass ihr mutig und entschlossen seid. Ich habe noch viel zu tun. Verbringt eine ruhige Nacht.« Sie ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Crysalgira sah Keniath-Cel nach, bis sie zwischen anderen Tejonthern verschwand. »Sie glaubt selbst nicht an einen Erfolg. Als wir den Raumhafen angriffen, war sie optimistischer – und es ging schief.« Ich wollte sie nicht noch mehr entmutigen. »Die Erfolgschancen sind sehr gering, aber wir müssen es versuchen, genauso wie Keniath-Cel. Von der Regierungsseite her haben wir nur den Tod zu erwarten. Die Wahl fällt also nicht schwer, nicht wahr?« Sie nickte stumm. Eine Weile noch saßen wir in der Sonne, dann gingen wir essen; später unternahmen wir noch einmal eine kleine Wanderung, um in der Nacht besser schlafen zu können.
Zwanzig Tejonther erwarteten Crysalgira, Keniath-Cel und mich am nächsten Vormittag in dem Hangar. Zum letzten Mal wurde das Schiff inspiziert, diesmal in unserem Beisein. Ich beteiligte mich an der Kontrolle, war restlos davon überzeugt, das Schiff im Notfall allein manövrieren zu können. Kurz vor dem Start landete ein Gleiter. Ein Tejonther in Polizeiuniform wurde in den Hangar geführt und erstattete Bericht. Er gehörte zu den Rebellen. Der Bericht war günstig. Die automatisch arbeitenden Überwachungsstationen waren tagsüber nur halb besetzt, was die Gefahr der Entdeckung zwar keineswegs verringerte, uns aber im Fall des Alarms etwas mehr Zeit zur Flucht gab. Wenigstens drückte KeniathCel eine solche Hoffnung aus. Dann kam der Zeitpunkt des Starts. Die Schachtöffnung war von ihrer Tarnung befreit worden. Nur ein leichtes Vibrieren verriet den anlaufenden Antrieb. Auf dem Bildschirm war der Schacht zu erkennen, eine runde Öffnung im Fels und ein Stück Himmel. Die Heckflossen lösten sich vom Boden, das Schiff stieg langsam in die Höhe. Exakt eingepasste Gleitschienen verhinderten, dass es mit dem Gestein kollidierte. Keniath-Cel saß neben Rengot-Dol, dem Piloten. Auf meine Bitte hin hatte sie auch mir einen Posten zugewiesen; ich übernahm die Kontrolle über den halbautomatischen Energieschirm, der uns vor Beschuss bewahren sollte. Das Schiff beschleunigte stark, kaum dass wir den Schacht verließen. Ich sah das Tal rasend schnell zurückfallen und kleiner werden, bis es in der wilden und unübersichtlichen Landschaft versank. Der Pilot richtete sich nach den Angaben, die er von den Verbindungsleuten erhalten hatte. Um die Sperre möglichst unbemerkt zu durchbrechen, musste er senkrecht nach oben steigen und versuchen, schnell an Höhe zu gewinnen. Je später die Tastsensoren das Schiff erfassten, desto größer war
die Möglichkeit, dass sie es wieder verloren; der Kurs sollte später mehrmals geändert werden, um eine direkte Verfolgung zu erschweren. Für meine Begriffe dauerte es ungewöhnlich lange, bis sich die Oberfläche des riesigen Planeten zu runden begann. Über die Vergrößerung in der Panoramagalerie konnten wir die Stadt und den Raumhafen erkennen, aber das Bild blieb merkwürdig undeutlich und verschwommen. Die Ortung registrierte keinen Verfolger. In der Zentrale machte sich erste Erleichterung bemerkbar. Es sah ganz so aus, als hätten wir das Schwierigste überstanden. Rengot-Dol nahm eine leichte Kurskorrektur vor, die Stadt verschwand unter dem nun merklich gebogenen Horizont. Keniath-Cel ließ ihren Sessel herumschwenken. »Es sieht so aus, als würden wir es schaffen. Für eine Verfolgung wird es bald zu spät sein.« Ich gab keine Antwort. Neben mir saß der Tejonther, der für die Ortung verantwortlich war. Einer der Schirme begann plötzlich zu flackern, dann erschienen auf ihm einige undeutliche Objekte, die schnell näher kamen. Vor mir leuchtete eine Lampe auf. Der Schutzschirm hatte sich automatisch eingeschaltet. Keniath-Cel hatte es auch gesehen, sprang auf und kam zu uns. Der Orter sagte: »Schiffe!« »Verfolger!« Keniath-Cel blieb erstaunlich ruhig, während ich meine Nervosität nur mühsam unterdrücken konnte. »Feuerleitstand klar zum Gefecht! Warten, bis sie nahe genug sind.« Ich hatte mich jetzt nur noch um den Schutzschirm zu kümmern. Trafen die Energiebündel des Gegners, brach er bei Überladung zusammen und musste unbedingt wieder errichtet werden, möglicherweise sogar allen Sicherheitsschaltungen zum Trotz – diese Überbrückung konnte nur manuell vorgenommen werden. Crysalgira saß steif in ihrem Kontursessel. Ihr Blick war auf den Ausschnitt
gerichtet, der die Projektion des kleineren Orterschirms vergrößert wiedergab. Ihre Hände lagen verkrampft auf ihrem Schoß. Ich konnte mir vorstellen, was jetzt in ihr vorging, und bedauerte, ihr diese seelische Belastung nicht ersparen zu können. Dabei erging es mir selbst auch nicht besser. Die Verfolger holten auf, daran konnte kein Zweifel bestehen. Es waren sieben Schiffe, alle vom Dreißigmetertyp, aber mit Sicherheit schwer bewaffnet. Belkathyr war stark geschrumpft und war mehr als zweihunderttausend Kilometer entfernt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir die Höchstgeschwindigkeit erreichten und die Überlichtetappe beginnen konnten. Die Kontrolllampe erlosch, als die Heckgeschütze feuerten. Dann leuchtete sie wieder auf, während sich der Schutzschirm stabilisierte. Gleichzeitig jedoch traf ihn eine Salve aus den Kanonen der Verfolger, fing die Energien auf und leitete sie ab, ohne dass ich eine Überladung registrierte. Der Schirm hielt. Ich wusste, dass sich das ändern würde, sobald man uns aus geringerer Entfernung unter Feuer nahm. Keniath-Cel war zu Rengot-Dol zurückgekehrt und beschwor ihn, die Antriebsaggregate noch mehr als bisher zu belasten, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Er tat es, ohne Widerspruch zu erheben. Aber der Abstand zu den Verfolgern verringerte sich trotzdem. »Warum sind sie schneller als wir?«, fragte ich, während mich mein Extrasinn an das verschwommene Bild beim Start erinnerte. Keniath-Cel gab keine Antwort. Eine zweite Salve hüllte uns in wabernde Energiebündel. Diesmal brach der Schutzschirm zusammen, aber ich konnte ihn wieder aktivieren, ehe die Verfolger uns erneut unter Beschuss nahmen. Und dann geschah etwas äußerst Seltsames. RengotDol wurde plötzlich sichtlich nervös, drückte auf Knöpfe und betätigte Schalter, ohne dass etwas geschah. Die Beschleunigung blieb konstant, auch der Kurs veränderte sich
nicht. »Was ist los?«, fragte Keniath-Cel besorgt. »Ich weiß nicht, das Schiff hat seine Manövrierfähigkeit verloren. Es gehorcht mir nicht mehr. Ich fürchte, es kehrt ferngesteuert in einem großen Bogen nach Belkathyr zurück.« »Ferngesteuert? Du meinst, man hat es unter Fernkontrolle gebracht?« »Ich fürchte – ja. Das würde auch erklären, warum sie das Feuer eingestellt haben, obwohl wir uns in günstiger Schussposition befinden.« Die Verfolger schossen in der Tat nicht mehr auf uns, blieben aber in gebührendem Abstand, so dass unsere eigenen Energiesalven nutzlos auf ihren Schutzschirmen verpufften. »Wo befindet sich die Kontrollzentrale der Fernsteuerung?«, fragte ich. Keniath-Cel sagte: »Wir haben es niemals herausgefunden. Ich hätte nicht gedacht, dass ihre Reichweite so groß ist. Sie holen uns zurück.« Ihre Stimme verriet Hoffnungslosigkeit. Das Unternehmen war fehlgeschlagen; auf die Rebellen wartete das Gefängnis oder gar der Tod. Und auf uns, Crysalgira und mich? Wir hatten uns den Rebellen angeschlossen … Ich wagte nicht, an die Konsequenzen zu denken. Immerhin hatte Klahngruit uns schon einmal zum Tode verurteilt, als er uns in den »Kerker ohne Rückkehr« werfen ließ. Es gab keinen logischen Grund, uns diesmal besser zu behandeln. Im Gegenteil. In der Panoramagalerie war nun wieder Belkathyr zu sehen, dem wir uns mit verminderter Geschwindigkeit näherten. Die sieben Verfolger hielten den Sicherheitsabstand ein. Wir hatten das sinnlose Feuer eingestellt und den Energieschirm ausgeschaltet. Keniath-Cel kam zu Crysalgira und mir. »Ich werde alles tun, um euch zu retten«, sagte sie. »Sogar Klahngruit muss verstehen, dass ihr alles versuchen wolltet,
um zu eurer Welt zurückzukehren. Die Gesetze der Tejonther sind nicht eure Gesetze. Warum also solltet ihr sie befolgen?« Ich schüttelte den Kopf. »Riskiere nicht zu viel; versuch lieber, deinen Kopf zu retten.« »Das Urteil wurde bereits gesprochen. Mir ist der Tod gewiss, daran besteht kein Zweifel. Wir sind in eine Falle gegangen; es muss Verräter unter uns geben.« »Aber wer?« »Das werde ich nicht mehr herausfinden können, fürchte ich.« »Deine Leute werden dich befreien.« Ich versuchte, ihr Mut zu machen. »Sie lassen dich nicht im Stich.« »Befreien?« Sie sah mich an und lächelte bitter. »Klahngruit wird dafür sorgen, dass keine Zeit für eine Befreiung bleibt. Sein Lebensziel ist, diesen Kreuzzug mit zu organisieren. Ich war dagegen und bin damit seine Todfeindin.« »Wenn dem so wäre, warum lässt er dann dieses Schiff nicht vernichten, sondern nach Belkathyr zurückbringen?« »Der Sieg über mich muss allen Tejonthern demonstriert werden. Die einfache Meldung, man habe unser Schiff vernichtet, genügt ihm nicht. Er will mich sterben sehen. Nicht nur er, alle sollen es sehen. Mein Tod wird ein Schauspiel sein!« Ich hätte ihr gern widersprochen, aber ich wusste, dass sie Recht hatte. Doch was konnten wir tun? Auf dem Bildschirm war bereits die Stadt zu erkennen. Unser Abenteuer hatte nicht lange gedauert. Keniath-Cel stand auf und verließ die Zentrale. Ich nahm an, dass sie Kontakt mit ihren Freunden herstellten und mit ihnen sprechen wollte. Ich nickte Crysalgira zu. »Du musst ganz ruhig bleiben, wenn wir gelandet sind. Keine Unbesonnenheiten Klahngruit gegenüber. Vielleicht haben wir noch eine Chance.« Ich stand auf und ging zu Rengot-Dol. »Wir können nicht
ausbrechen?« »Unmöglich. Bald landen wir …« »Wir werden gelandet«, korrigierte ich düster. Die Geschwindigkeit verringerte sich. Auf dem Bildschirm waren bereits Einzelheiten zu erkennen. Ein Teil des Landefelds war abgesperrt worden. Leichte Energiegeschütze waren aufgefahren, es wimmelte von bewaffneten Polizeitruppen, die unsere Ankunft erwarteten. Die eigentliche Bevölkerung der Stadt hatte mit den Vorgängen auf dem Raumhafen nichts zu tun. Ich vermutete sogar, dass die Tejonther über die Vorgänge bisher nicht informiert worden waren und erst etwas erfuhren, sobald die Aktion abgeschlossen war. Niemand würde ihnen über die Beweggründe der Rebellen etwas sagen. Wir setzten zu der erzwungenen Landung an. Sanft setzte das Schiff auf, während sich die Mündungen der Energiegeschütze auf uns richteten. Keniath-Cel war in die Kommandozentrale zurückgekehrt, bewahrte die Fassung, um ihre Gefährten nicht noch mutloser zu machen. In diesen Augenblicken konnte ich nicht umhin, sie zu bewundern. Auch Crysalgira war tapfer, ging zu Keniath-Cel und versuchte, ihr Mut zuzusprechen. Jemand öffnete die Bodenschleuse. Einer nach dem anderen wurden die Tejonther von den Polizisten in Empfang genommen. Dass sie nicht gleich erschossen wurden, weckte Hoffnungen in mir. Dann erlosch die Panoramagalerie. Rengot-Dol hatte sie ausgeschaltet, blieb aber sitzen, bis ihm Keniath-Cel aufmunternd auf die Schulter klopfte. »Geh, Rengot-Dol. Ich verlasse das Schiff als Letzte.« Wir begleiteten ihn und standen kurz darauf vor dem Raumer. Nicht weit entfernt sah ich einen Gleiter. In ihm saßen mehrere Tejonther, einer war Klahngruit. Rengot-Dol wurde festgenommen, dann kamen Crysalgira und ich an die Reihe; Metallfesseln schlossen sich um unsere Handgelenke.
Unsanft wurden wir zu den anderen gestoßen, die keinen Blick für uns übrig hatten und nur auf die Schleuse starrten, in der jetzt Keniath-Cel erschien. Sie sah sich nach allen Seiten um, ihre Haltung war stolz und gefasst. Klahngruit stieg aus dem Wagen, wurde von zwei Tejonthern in Uniform begleitet, die Energiestrahler trugen. Zehn Meter vor dem Schiff blieb er stehen. »Keniath-Cel, habe ich dich endlich!« Sie gab seinen Blick ungerührt zurück und verscheuchte die beiden Polizisten, die sie fesseln wollten, mit einer heftigen Handbewegung. »Ja, Klahngruit. Aber glaube nicht, dass der Kampf nun zu Ende ist. Der Kreuzzug ist der Selbstmord unseres Volks, das weißt du so gut wie ich. Aber du unterstützt ihn, weil du glaubst, dein Prestige stärken zu müssen. Tief in deinem Herzen kennst du die Wahrheit, doch das darf niemand erfahren. In dreihundertsechzig Jahren wird es andere geben, die tapferer sind als du. Sie werden den Bestand unserer Völker nicht dem sinnlosen Kreuzzug opfern, der uns seit einer halben Ewigkeit jedes Mal aufs Neue schwächt und den Fortschritt hemmt. Und nun vollstrecke dein Urteil!« Ich musste sie bewundern, ob ich wollte oder nicht. Welch eine Bundesgenossin wäre sie mir in meinem Universum gewesen. Klahngruit trat auf sie zu und fragte spöttisch: »Warum hast du deine Waffe vergessen?« Sie erwiderte verächtlich: »Waffe? Wozu? Um dich zu töten? Ich weiß, dass ich sterben muss, aber ich will niemandem einen Anlass dazu geben, mich eine Mörderin zu nennen. Du kannst weiterleben, um die Schande zu genießen, die deine Strafe sein soll. Das Urteil, das den Tod für mich bedeutet, wurde längst gesprochen. Warum vollstreckst du es nicht endlich?« Sie forderte ihn heraus, das spürte ich. Sie wollte es kurz
machen. Aber Klahngruit ließ sich Zeit. »Dein Urteil wurde bereits gefällt, das stimmt.« Er streifte uns nur mit einem kurzen Blick. »Die Vollstreckung wird auf allen Informationskanälen gesendet werden und allen eine Warnung sein, die das Erbe unserer Vorfahren gefährden. Doch bevor du stirbst, wirst du mir sagen, wo sich eure Verstecke befinden und wer die Anführer sind. Du bist nur ihr Werkzeug, mehr nicht, denn wärst du mehr, würden sie dir helfen. Ich sehe niemanden, der bereit wäre, sein Leben für dich zu opfern.« Rengot-Dol stand neben mir, hilflos und gefesselt. Ich spürte den Ruck, der durch seinen Körper ging, als er Klahngruits Worte hörte. Noch bevor ich seine Absicht erkannte, sprang er vor und durchbrach die Kette der Polizisten. Er rannte auf die Gruppe zu und trat mit aller Wucht nach Klahngruit. Ehe er jedoch ein zweites Mal zutreten konnte, hüllten ihn die Energiebündel der Polizeiwaffen ein. Er starb tapfer und lautlos. Klahngruit war gestolpert, erhob sich mühsam wieder. »Das wirst du büßen«, fauchte er Keniath-Cel an und gab seinen beiden Begleitern einen Wink. »Vollstreckt das Urteil!« Keniath-Cel sah in meine Richtung, um nicht in die Mündungen der Energiewaffen blicken zu müssen, die sich auf sie richteten. Sie starb; es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Ich hasste Klahngruit mehr denn je zuvor; hätte ich meine Hände frei gehabt, wäre er von mir erwürgt worden, selbst wenn es mich das Leben gekostet hätte. Aber ich war nicht frei. Als von Keniath-Cel nur davonschwebende Asche übrig war, kam Klahngruit auf uns zu, blieb wenige Meter entfernt stehen und betrachtete uns genüsslich, wollte seinen Triumph auskosten. Sein Blick blieb auf mich gerichtet, als er sagte: »Ihr hättet alle den Tod verdient – so wie die Verräterin, die vor euren Augen starb. Aber ich will euch eine Chance geben. Ihr
sollt Zeit haben, euch zu besinnen und auf den rechten Pfad zurückzukehren. Nicht der ›Kerker ohne Rückkehr wartet auf euch, sondern ein reguläres Gefängnis. Ihr erhaltet Bedenkzeit; wer zur Vernunft kommt, ist frei.« Er sah mich an. »Ihr aber habt euer Leben verwirkt. Doch ihr werdet nicht sterben wie Keniath-Cel. Ihr sollt auf den Tod warten. Wer im Kerker schmachtet, dem erscheint das Ende wie eine Erlösung. Wer aber im Überfluss lebt, für den ist der Tod ein Schrecken. Führt sie fort!« Wir wurden von rohen Fäusten vorangestoßen und von den anderen getrennt. Es war mir klar, dass ich die Rebellen zum letzten Mal sah. Kein Weg führte zurück in das Tal, in dem wir ein paar ruhige und erholsame Tage verbracht hatten. Aber vielleicht gelang uns doch die Flucht? Ich hielt Crysalgiras Hand, während ich den Wachen folgte, die uns zu einem Gleiter führten, in den wir einstiegen.
»Wer im Überfluss lebt, für den ist der Tod ein Schrecken«, sagte Klahngruit. Und keine Erlösung, hätte er noch hinzufügen sollen. Wir hielten vor einem älteren Haus, das von einer hohen Mauer umgeben war. Die Wachen führten uns durch einen blühenden Garten und nahmen uns vor dem Eingang zu dem Haus die Fesseln ab, ließen uns aber die Translatoren. »Dies ist euer Gefängnis«, sagte einer der Tejonther. »Ihr werdet alles vorfinden, was ihr benötigt. Ihr dürft das Haus auch verlassen, aber kommt der Mauer nicht zu nahe. Die Zone des Todes reicht zehn Meter weit. Stellt keine Fragen, sondern genießt die Zeit, die euch noch bleibt. Irgendwann, ganz unerwartet, wird ein Kommando erscheinen und euch holen …« Sie drehten sich um und gingen. Das große Tor fiel hinter
ihnen ins Schloss; Augenblicke später sah ich an allen Stellen über der Mauer ein bläuliches Flimmern. Die tödliche Sperre war eingeschaltet worden. Crysalgira sah mich unsicher an. Ich nahm ihre Hand und ging mit ihr ins Haus. Dicke Teppiche bedeckten den Boden der geräumigen Vorhalle, von der aus Türen abzweigten. Eine breite Treppe führte nach oben. Wir inspizierten die Räume hinter den Türen und mussten feststellen, dass man uns in einer Luxusvilla untergebracht hatte. Zwei Wohnzimmer waren mit allem Komfort ausgestattet, die vollautomatische Küche bot alle kulinarischen Genüsse, die man sich wünschen konnte. Im Keller fanden wir ein geheiztes Schwimmbad mit allen Raffinessen. Im oberen Stockwerk lagen die Schlafräume mit Bädern. Wie auf der Kristallwelt hätten wir hier leben können, wäre nicht die Drohung der Hinrichtung gewesen. Doch wie ich Klahngruit kannte, würde er sich damit noch Zeit lassen. Je mehr wir uns an den Luxus hier gewöhnten, desto grausamer würde der Tod sein. Doch nicht allein die bevorstehende Hinrichtung beunruhigte mich. Es war vielmehr die Ungewissheit darüber, was inzwischen im Standarduniversum geschah. Obwohl ich nichts an den Vorkommnissen dort ändern konnte, musste ich immer wieder daran denken. Draußen wurde es dunkel. Morgen wollte ich die Mauer untersuchen. Vielleicht fiel mir etwas ein. »Ich bin erschöpft.« Crysalgira versuchte zu lächeln. »Ruh dich aus. Ich sehe mich noch ein wenig um.« Sie ging nach oben. Ich verließ das Haus und ging in den Garten. Oben sah ich Licht, dann auch Crysalgiras Schatten hinter den Vorhängen. Die Mauerkrone rings um den Park flimmerte intensiver als bei Tageslicht. Ich näherte mich ihr, soweit es möglich war, um sie besser betrachten zu können, hielt jedoch an, als der bläuliche Schein knapp einen Meter vor
mir den Boden berührte. Mit den Füßen suchte ich nach einem Gegenstand, bis ein trockener Zweig knackte. Ich hob ihn auf und warf ihn in die Todeszone. Mitten in der Luft flammte er auf und begann zu brennen. Wenige Zentimeter bevor er den Boden berührte, erlosch er und blieb ausglimmend liegen. Entmutigt kehrte ich ins Haus zurück und schloss die Tür. Noch einmal inspizierte ich die Mauer bei Tageslicht – mit dem gleichen Ergebnis wie in der Nacht. Es gab kein Durchkommen, jeder Fluchtversuch war sinnlos. Erst jetzt wurde uns so richtig klar, wie grausam Klahngruits Folter war. Das Warten musste zu einer fürchterlichen Qual werden. Aber, so tröstete ich mich, dann würde der Tod vielleicht doch als eine Art Erlösung kommen. Am dritten Tag erschien Klahngruit. Wir hielten uns gerade im Garten auf, als er mit seinen Leibwächtern erschien, die ihre Waffen ständig auf uns gerichtet hielten. Auch Klahngruit blieb in sicherer Entfernung, so dass ich meinen Plan, ihn als Geisel gefangen zu nehmen, fallen ließ. »Wie ich sehe, haben sich die Herrschaften eingewöhnt.« Er deutete auf das Haus. »Wollen Sie wissen, wie lange Sie hier leben können?« »Sie behalten Ihr Wissen besser für sich«, erwiderte ich kalt. »Wir haben uns mit unserem Schicksal abgefunden. Sie können uns nicht mehr erschrecken.« »Oh, das glaube ich doch. Die Kameras, die eure Hinrichtung übertragen, werden bereits aufgebaut. Es kann also nicht mehr lange dauern. Vielleicht diese Nacht schon …« Eigentlich, dachte ich, haben wir nicht mehr viel zu verlieren. Vielleicht bin ich schnell genug, um bei ihm zu sein, ehe die beiden Wächter schießen können. Die Entfernung zu Klahngruit betrug gut zehn Meter. »Warum wollen Sie uns töten?«, fragte Crysalgira. »Wir
haben Ihnen und Ihrem Volk nichts getan. Fürchten Sie vielleicht, dass wir reden könnten? Soll niemand erfahren, wie sinnlos der Kreuzzug ist?« Klahngruit sah sie hasserfüllt an. »Was ist in Yarden oder jenseits von Yarden? Was geschieht mit unseren Schiffen? Sagen Sie es mir! Sofort!« »Zu welchem Preis?« Ich wusste nicht, worauf Crysalgira hinauswollte, konnte es mir aber denken. Sie wollte Zeit gewinnen. »Nicht ich bin es, der über eure Zukunft entscheidet, aber ich kann einen Aufschub der Hinrichtung erwirken. Was ist Yarden?« Crysalgira warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. Ich begriff, dass sie sich in eine Sackgasse geredet hatte. Sie wusste genauso wenig wie ich, was Yarden war. »Nun?« Ich sagte an ihrer Stelle: »Was immer Yarden auch sein mag, Klahngruit, es ist mächtiger als das Reich der Tejonther. Yarden wird unseren Tod schrecklich rächen, ob der Kreuzzug nun stattfindet oder nicht. Die Tropoyther werden euch vernichten!« Ich sagte es, ohne zu wissen, wovon ich sprach. Ich wollte Klahngruit schockieren und bluffen, mehr nicht. Wahrscheinlich war es mir auch gelungen, denn er wich einige Schritte zurück. Seine Stimme klang verzerrt, als er rief: »Ihr lügt beide. Ihr wisst nichts von Yarden, deshalb könnt ihr auch nichts sagen. Die Hinrichtung findet noch vor morgen Abend statt. Wir fürchten uns nicht vor den Leerraumkontrolleuren. Ihr werdet sterben, vor den Augen aller Tejonther!« Er ging. Als ich ihm folgen wollte, hielt mich Crysalgira am Arm fest. »Nicht, Atlan. Sie würden dich sofort töten. Wir haben noch eine Nacht Zeit …« Das Tor schloss sich, das blaue Licht über der Mauer
flammte wieder auf. Langsam kehrten wir ins Haus zurück. Obwohl wir keinen Appetit verspürten, aßen wir und tranken einen ganzen Krug des wohlschmeckenden Weines. Klahngruit hatte also selbst keine Ahnung, warum die zehntausend Schiffe vom Kreuzzug nie zurückkehrten, aber er hätte es gern gewusst. War das eine letzte Chance? Wir gingen an diesem Abend erst spät schlafen, denn die innere Unruhe stieg. Es war unsere letzte Nacht, wie wir nun wussten. In uns beiden stieg echte Angst vor dem Tod auf – und sie verstärkte sich, je später es wurde. Erst kurz vor dem Morgengrauen schlief ich ein, aber wirre Träume ließen mir keine Ruhe. Sollte nun wirklich alles zu Ende sein?
Es dämmerte, als sie kamen, um uns zu holen. Vor dem Haus nahm uns ein Trupp von zwei Dutzend bewaffneten Tejonthern in Empfang. Jeder Gedanke an Flucht wurde sofort im Keim erstickt, als sie Crysalgira und mich trennten. Sie musste im zweiten Wagen einsteigen. Die Kolonne setzte sich ohne Verzug in Bewegung und schwebte durch die Straßen der Stadt. Stumm standen dort die Bewohner und sahen uns nach. Ich glaubte hier und da eine verstohlene Geste zu sehen, aber das konnte auch nur Einbildung sein. Diesmal gab es niemanden, der uns rettete. Das Raumhafengelände kam in Sicht. Bis zum Horizont standen die startbereiten Großraumer, die für den Kreuzzug nach Yarden bestimmt waren. Die Kolonne schwebte durch ein Spalier von Soldaten und Polizisten, die den Raumhafen absperrten. Weiter vorn sah ich eine provisorisch errichtete Plattform, die von Energiegeschützen umgeben war. Die Richtstätte! Die Gleiter hielten. Crysalgira und ich wurden herausgezerrt und zu der Plattform geführt. Kameras waren auf uns gerichtet, aber auch die Waffen der Tejonther. Seitlich
bemerkte ich plötzlich eine Bewegung in der Menge, als versuche jemand, sie zu durchbrechen. Aber dann blieb mir keine Zeit mehr, darauf zu achten. Die Wachen schoben uns die Stufen zur Plattform hinauf. Die beiden Henker hielten schwere Energiestrahler in ihren Händen, waren sich ihrer Wichtigkeit bewusst und posierten wie Schauspieler vor den Kameras. Mich selbst hatte eine nie gekannte Ruhe und Gleichgültigkeit befallen; ich hoffte, dass bald alles vorüber war. Ich hielt Crysalgiras Hand und drückte sie – ein schwacher Trost in diesen furchtbaren Augenblicken. Eine Gleiter durchbrach die Mauer der Tejonther und kam in rasender Fahrt näher, um direkt neben der Plattform anzuhalten. Klahngruit stürzte heraus und winkte aufgeregt mit den Händen zu uns herauf. Ein neuer Trick, um noch einmal Hoffnung in uns zu wecken? Er schob die Wachtposten beiseite, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Jedenfalls sprach er mit den Polizisten und deutete mehrmals auf Crysalgira und mich. Die Kameras ignorierte er. Dann winkte er uns abermals zu, zweifellos wollte er, dass wir ihn begleiteten. Ich ließ Crysalgiras Hand nicht los, während ich mit ihr die Treppe wieder hinabstieg. Die Henker blieben ratlos auf der Plattform zurück. Klahngruit brachte uns zum Gleiter, der sofort die Richtung auf die Raumschiffe einschlug. In rasendem Flug legten wir die kurze Strecke zurück. Ich ahnte, dass etwas Unvorhergesehenes passiert sein musste. Es erschien mir unmöglich, dass Klahngruit seine Meinung so radikal und schnell allein von sich aus geändert hatte. Jemand musste ihn dazu bewogen haben, eine höhere Instanz vielleicht. Oder kam der Befehl, uns nicht zu töten, von noch höherer Stelle? Und was sollte nun mit uns geschehen? Der Gleiter hielt vor einem der Raumschiffe. Klahngruit rief etwas dem Tejonther zu, der neben der Luke Wache hielt. Wenige Augenblicke später erhielt ich einen Translator. »Stellt
keine Fragen«, schnarrte Klahngruit. »Geht in das Schiff. Eine Kabine ist vorbereitet. Ihr werdet Belkathyr für immer verlassen. Kehrt nie mehr zurück. Das nächste Mal wird die Hinrichtung wirklich stattfinden.« »Haben wir Ihnen unser Leben zu verdanken?«, fragte ich sarkastisch. Er sah mich merkwürdig an. »Nein«, sagte er kalt. »Mir nicht.« »Wem dann?« Er wurde ungeduldig. »Keine Fragen. Geht und vergesst Belkathyr. Das ist alles.« Er drehte sich um, stieg in den Gleiter, der sofort wendete. Wenig später verschwand er in der aufgeregten Menge, der ein Schauspiel entgangen war. Der Tejonther brachte uns ins Schiff und öffnete eine der Türen. Dahinter sah ich eine kleine Doppelkabine. »Wann starten wir?«, fragte ich, während Crysalgira schon vorging. Ihr war jetzt alles egal, sie wollte nur ihre Ruhe haben. Ich sah, dass sie sich auf das Bett legte. Der Tejonther machte eine verneinende Kopfbewegung. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Sie uns begleiten werden. Sollten Sie Wünsche haben, drücken Sie auf den Knopf dort neben der Tür. Es wird dann sofort jemand kommen.« Ich wollte ihn nicht zu sehr drängen. Vielleicht wurde er später gesprächiger. »Gut, können wir etwas zu essen haben? Sie werden verstehen, dass wir jetzt …« Er ging, ohne die Tür zu verschließen. Ich legte mich neben Crysalgira auf das Bett. »Was hat das alles zu bedeuten?« Ihre Stimme klang nicht mehr so belegt wie heute früh. »Warum hat Klahngruit seine Meinung geändert?« Ich zuckte die Achseln. »Der Kreuzzug nach Yarden ist die einzige Alternative zur Hinrichtung. Sie werden uns los, ohne uns töten zu müssen. Es ist noch nie jemand von Yarden
zurückgekommen – außer Groya-Dol, aber das weiß niemand außer uns.« Auch Klahngruit ist nur ein Befehlsempfänger, raunte der Extrasinn. »Jemand wollte nicht, dass wir sterben. Vielleicht will man uns auf eine andere Welt bringen. Das muss bald geschehen, denn der Kreuzzug steht unmittelbar bevor.« Mehr wollte ich nicht sagen, denn meine Vermutung hätte sie nur beunruhigt – und an Aufregungen hatte es in letzter Zeit wahrhaftig keinen Mangel gegeben. Der Tejonther kam und brachte ein Tablett, das er auf den Kabinentisch stellte. Ich fragte ihn: »Sie brauchen nur zu nicken, mehr nicht. Sagen Sie nichts. Startet dieses Schiff mit den anderen? Fliegen wir zum gemeinsamen Treffpunkt der Flotte, zur Gefühlsbasis der Leerraumkontrolleure?« Er nickte nach einigem Zögern und verschwand dann, ohne ein Wort gesagt zu haben. Aber ich wusste auch so genug. Noch bevor es dunkelte, hörten wir draußen im Korridor das Geräusch vieler Schritte. Die Mannschaft kam an Bord. Der Start stand kurz bevor. Niemand kümmerte sich um mich und Crysalgira. An einer Wand aktivierte sich eine Bildfläche. Da standen sie, die Schiffe des Kreuzzugs, bei einigen schlossen sich die Schleusen. Immer noch hielten Fahrzeuge und brachten Tejonther, die eine Reise ohne Rückkehr antraten. Als der Boden zitterte und wenig später Belkathyr zu einer Kugel im All wurde, fragte Crysalgira: »Sie nehmen uns also mit auf den Kreuzzug?« Ich nickte. »Wir werden zunächst die Gefühlsbasis anfliegen, wo sich die Flottenteile sammeln. Und dann …« »Und dann?«, fragte sie etwas ängstlich. »Was immer dann geschieht, es wird keine Hinrichtung sein, sondern wir werden endlich erfahren, was Yarden ist.« Sie schloss die Augen, während ich daran dachte, dass wir
im Standarduniversum den 36. Prago des Tartor schrieben. Morgen begannen mit den letzten fünf Pragos des Jahres 10.498 da Ark die Kutanen des Capits – Feiertage, die auf uralte Riten zurückgingen; früher wurden damit die Fruchtbarkeitsgötter unter den She’Huhan geehrt …
7. Atlan: Die Kabinentür öffnete sich, und ein bewaffneter Tejonther blickte zu uns herein. Seine gelben Augen richteten sich mit einem Blick auf Crysalgira, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob ein Tejonther fähig war, die hinreißende Schönheit der Prinzessin zu erkennen. »Wir sind gelandet. Sie werden das Schiff verlassen.« Er trat zur Seite, um uns Platz zu machen. Jede seiner Bewegungen wurde von erhöhter Wachsamkeit diktiert; zu glauben, diesen Mann überrumpeln zu können, wäre ein gefährlicher Trugschluss gewesen. Er führte uns zu einer Schleuse des Schiffes. Ein Bildschirm zeigte die Landschaft eines kleinen Asteroiden, auf dem der Raumer gelandet sein musste. Der Flug von Belkathyr hierher hatte zwei Pragos gedauert. »Das ist die Gefühlsbasis«, sagte der Tejonther teilnahmslos. Ich fragte mich, warum ich weder Furcht noch Unbehagen empfand. Ein weiterer Tejonther kam herbei und übergab Crysalgira und mir Raumanzüge. Die Männer machten einen sehr ungeduldigen Eindruck, schienen kaum erwarten zu können, uns endlich loszuwerden. Als wir die uns zur Verfügung gestellte Ausrüstung angelegt hatten, geleiteten uns zwei bewaffnete, ebenfalls mit Schutzanzügen bekleidete Raumfahrer zur Schleuse des Schiffes. Die Rampe war bereits ausgefahren. Meine Blicke suchten die zerklüftete Oberfläche des Asteroiden nach Anzeichen von Eingriffen einer raumfahrenden Macht ab, aber in der nur schwach erhellten Umgebung war nichts zu erkennen. Wahrscheinlich lag die
eigentliche Gefühlsbasis unter der Oberfläche. Einer unserer Wächter ging voraus und wies uns den Weg, der andere bewegte sich mit schussbereiter Waffe hinter uns. Dieser Aufwand erschien mir übertrieben, nur ein Selbstmörder hätte hier einen Fluchtversuch unternommen. Zielsicher bewegte sich der Tejonther an der Spitze in eine enge Schlucht. Die beiden Wächter schalteten tragbare Scheinwerfer ein und leuchteten den Boden ab, damit wir Unebenheiten und Spalten besser erkennen konnten. Sie werden euch an jene Macht übergeben, die eure Hinrichtung auf Belkathyr verhindert hat, meldete sich mein Extrasinn. Ich überlegte, was uns für die Unbekannten so interessant machte. Meine Gedanken wurden unterbrochen, als unser Führer stehen blieb und den Lichtkegel des Scheinwerfers auf eine glatte Metallfläche zwischen den Felsen richtete. »Eine Schleuse?« Die Tejonther traten zur Seite. Einer richtete ein kleines Instrument auf das goldfarbene Metall. Das Tor glitt zur Seite, so dass ich in eine beleuchtete Druckkammer blicken konnte. Die Einrichtung des Raumes war nicht besonders aufschlussreich. Der rechts von mir stehende Wächter machte eine unmissverständliche Geste mit seiner Waffe: Wir sollten die Druckkammer betreten. Crysalgira sah mich an. Wir hatten keine andere Wahl, als den Befehl zu befolgen. Ich trat in die Schleuse, Crysalgira folgte mir, das Außenschott glitt zu. Bevor es sich endgültig schloss, sah ich, dass sich die Tejonther bereits abgewandt hatten. Für sie war die Angelegenheit offenbar abgeschlossen. Crysalgira wollte den Klarsichthelm öffnen, doch ich zog ihre Hände zurück. Noch wussten wir nicht, welche Umweltbedingungen uns hier erwarteten. Eine Zeit lang blieb alles still, dann glitt das innere Tor auf. Ein breiter Flur lag vor uns. Das von der Decke ausgehende Licht war so hell, dass ich das Ende des Konidors nicht sehen konnte – nur wenige Schritte entfernt verschwanden alle Einzelheiten in einer Lichtflut, die den Augen wehtat. Die Höhe der selbstleuchtenden Decke war nicht leicht zu schätzen, aber als ich die
Hand ausstreckte, konnte ich das warme und weiche Material berühren. Der Boden war mit einem netzartigen Gewirr von Linien bedeckt, die ich zunächst für Kratzspuren hielt. Als wir jedoch ein paar Schritte in den Korridor gegangen waren, stellte ich fest, dass sie feine Zeichnungen von unbekannten Geräten darstellten. Die Wände waren glatt und von hellgelber Farbe. Ich riskierte es, den Helm zu öffnen. Angenehm frische Luft schlug mir ins Gesicht, während der Klarsichthelm als schlaffe Kapuze auf meinen Rücken zurücksank. Ich nickte Crysalgira zu. »Es gibt atembare Luft, Prinzessin. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir schon die eigentliche Gefühlsbasis betreten haben.« Sie schob den Helm in den Nacken. » Warum sind wir hier?« »Das wüsste ich ebenfalls gern. Jemand ist an uns interessiert. Ich bin sicher, dass wir bald eine Nachricht von den Unbekannten erhalten werden.« Sie begann ihre Haare zu ordnen, unbewusste Bewegungen einer auf Schönheit bedachten Frau. Trotz der Strapazen hatte sich Crysalgiras Äußeres kaum verändert. Ich ertappte mich dabei, dass ich sie unbewusst mit Farnathia und Ischtar verglich. Auf ihre Art wirkte sie nicht weniger anziehend als die beiden anderen Frauen, obwohl sie natürlich nicht die Ausstrahlungskraft der »Goldenen Göttin« hatte. Plötzlich entstand vor uns eine Bewegung. Wir blieben stehen. Eine Gestalt kam aus der Helligkeit, wirkte zerbrechlich und durchsichtig. Je näher sie kam, desto stärker wurde der Eindruck, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte. Ich wurde bei ihrem Anblick von innerer Unruhe ergriffen. Die Gestalt schien zu schweben, ein kalter Hauch wehte von ihr zu Crysalgira und mir. Ein Gazeschleier umgab das seltsame Wesen, leuchtende Kristalle wirbelten um seinen Kopf. Die Erkenntnis, wer – besser: was – diese Gestalt war, traf mich wie ein körperlicher Schlag. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Mein Gesicht musste ungläubiges Staunen ausdrücken, denn Crysalgira kam besorgt auf mich zu. Das Wesen war zweifellos eine der zwölf Erinnyen, denen ich in der
alten varganischen Station auf Sogantvort begegnet war. Ich erinnerte mich genau, wie sie den Behälter mit dem Embryo meines Sohnes Chapat an sich genommen hatten, um ihn in die Eisige Sphäre zu entführen. Ich schüttelte benommen den Kopf doch das Bild blieb. Crysalgira berührte mich am Arm. »Atlant«, rief sie drängend. »Kennst du dieses Wesen?« Ich nickte. Unglaubliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, ich stellte die wildesten Spekulationen an, obwohl ich mir darüber im Klaren war, dass die Wahrheit vermutlich noch viel phantastischer sein musste als meine Überlegungen. »Eine Erinnye – ich habe dir von ihnen erzählt.« Sie atmete scharfein. »Folgt mir!«, forderte uns das Wesen in varganischer Sprache auf und löschte damit die letzten Zweifel an seiner Herkunft. Aber bedeutete das, dass die Tropoyther im »Mikrokosmos« mit Varganen identisch waren? »Sie sagt, dass wir folgen sollen.« Sie schwebte voraus, geräuschlos, einen Kranz wirbelnder Eiskristalle um den nebelförmigen Kopf. Plötzlich standen wir am Ende des Korridors. Vor uns lag ein Saal mit rundem Grundriss und einer kuppelförmigen Decke. Vier mächtige Streben ragten von vier Punkten des Bodens zum Zentrum der Wölbung auf, wo ein kugelförmiges Gebilde aus glasähnlichem Material hing. In der mehrere Meter großen Kugel, die langsam rotierte, bewegte sich etwas. Überall im Boden gab es muldenförmige Vertiefungen, die von spiralförmigen Auswüchsen unterschiedlicher Größe und Dicke umrahmt wurden. Die Erinnye bewegte sich in die Mitte des Raumes. »Legt euch in diese Mulden!« Ich übersetzte Crysalgira, was die Erinnye gesagt hatte. »Warum sollen wir das tun? Atlan, was soll mit uns geschehen?« » Wir haben keine andere Wahl, als alle Anordnungen zu befolgen. Ich bin überzeugt davon, dass uns kein Schaden zugefügt wird. Man hat uns eine bestimmte Rolle zugedacht, über die wir sicher bald
mehr erfahren werden. Im Augenblick ist alles so rätselhaft, dass ich nicht einmal ahne, was geschehen wird.« Sie drängte sich gegen mich. In dieser fremdartigen Umgebung verlor sie ihre gewohnte Selbstbeherrschung immer mehr. Ich wählte zwei Mulden aus, die unmittelbar nebeneinander lagen. Die Erinnye erhob keine Einwände. Kaum, dass Crysalgira und ich uns in den Vertiefungen niedergelassen hatten, kippten die spiralförmigen Auswüchse vom Rand der Mulde über unsere Körper und stellten Kontakt her. Ich war augenblicklich gelähmt und lag starr da. Meine Haut prickelte. Die Kugel hoch über mir schien schneller zu rotieren. Ich glaubte Gestalten in ihr zu sehen und fühlte mich plötzlich zu ihnen hingezogen. Aus weiter Ferne hörte ich die Stimme der Erinnye: »Du sollst die Wahrheit erfahren, weil wir dich brauchen. Dein Bewusstsein wird in die Vergangenheit reisen und erleben, was sich ereignet hat.« Ich wollte aufschreien, denn ich fühlte instinktiv, dass ungeheuerliche Dinge auf mich warteten. Ich sollte eine Wahrheit erfahren, von der ich nicht wusste, ob ich sie ertragen konnte oder wollte. Die Kugel sank herab, dehnte sich aus wie ein Ballon. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich unter sich begrub. Ringsum entstand eine unwirkliche Umgebung. Die bisher nur verschwommen sichtbar werdenden Gestalten bekamen feste Konturen. Ich stand mitten unter den Fremden. Aber ich war nicht länger Atlan. Ich war … Vargo Der Überfall erfolgte im Mondschattenfeld der Tempelpyramide, zu einem Zeitpunkt, da Vargo nicht mit Aktionen der Projektgegner gerechnet hatte. Vielleicht war dieser verzweifelte Anschlag Ausdruck ohnmächtigen Zorns, denn schließlich war Brenzko Karahn bereits vor drei Tagen durch den Umsetzer gegangen und heute Morgen wohlbehalten zurückgekehrt. In dem Augenblick, da Vargo
das Mondschattenfeld betrat, konnte er von den wachhabenden Mondschattenpriestern auf dem Gipfelplateau der Pyramide nicht gesehen werden. Die Angreifer hatten damit gerechnet, dass Vargo zur Andacht kommen würde, um für den Erfolg seines Projekts ein Dankgebet zu sprechen, aber sie hatten nicht wissen können, dass er allein kommen würde. Dieses Risiko waren sie eingegangen – und hatten gewonnen. Sie waren zu sechst, hochgewachsene schlanke Männer, deren Gesichter durch Gazebrei unkenntlich gemacht waren. Wie aus dem Boden gewachsen standen sie plötzlich vor dem Wissenschaftler und warfen ein Lähmfeld über seinen Kopf. Vargo konnte nicht schreien, seine Beine wurden schlaff. Er taumelte nach vorn und versuchte noch im Fallen, die Angreifer durch Tritte zu verletzen. Sie hielten ihn fest, einer von ihnen streifte ihm mit geschickten Bewegungen einen schwarzen Mantel über, wie ihn die Tempeldiener trugen. Vargo begriff, auf welch einfache und freche Weise die Entführung ablaufen sollte. Er wurde in die Mitte genommen und gestützt. So trieben sie ihn zur Seite, wo die Buschkette die Grenze zwischen Innen- und Außenhof der Pyramide bildete. Als sie aus dem Mondschattenfeld traten, musste für die Priester oben auf dem Gebäude der Eindruck entstehen, dass ein Tempeldiener eine Gruppe von Gläubigen zum Außenhof begleitete. Vargo war von den Hüften aufwärts an gelähmt, seine Arme hingen schlaff an den Seiten, so dass er sich kaum wehren konnte. Alles geschah mit unglaublicher Schnelligkeit und ließ ihn vermuten, dass seine Gegner nicht zum ersten Mal solche Methoden anwandten. Vargos Freunde hatten oft davor gewarnt, dass die Projektgegner mit kriminellen Vereinigungen zusammenarbeiteten, aber der Wissenschaftler hatte diese Warnungen nie so richtig ernst genommen. Das stellte sich jetzt als schwerwiegender Fehler heraus. Er
überlegte, was sie mit ihm vorhatten. Die Umsetzer-Technologie war fertig gestellt und arbeitete einwandfrei, die Regierung hatte der weiteren Erforschung des Makrokosmos bereits zugestimmt. Diese würde stattfinden, gleichgültig, ob Vargo sie leitete oder nicht. Die anderen an diesem Projekt beteiligten Wissenschaftler hatten die Unterlagen und ausreichende Kenntnisse, um alle nötigen Schritte in die Wege zu leiten. Im Außenhof wartete ein Fahrzeug, in das Vargo geschoben wurde. Im Innern wartete ein Mann, der ein zufriedenes Brummen hören ließ und Vargos Beine fesselte. Vargo lag auf dem Boden, er hörte ein paar Männer leise miteinander sprechen. Er vermutete, dass die Großfahndung rasch beginnen würde, aber auf Tropoyth gab es zahlreiche Verstecke, wohin man ihn bringen und lange festhalten konnte. Die Regierungstruppen würden sich durch keine Drohung von der Suche abhalten lassen, dessen war er sicher. Er rechnete aber nicht damit, dass man ihn töten würde – so weit würden die Entführer nicht gehen. Je länger er nachdachte, desto sicherer wurde er, dass er nicht nur aus einem spontanen Entschluss heraus verschleppt worden war. Das professionelle Vorgehen zeugte von einem Plan. Vargo hatte keine Furcht. Er war ein alter Tropoyther, der alle Lebensziele erreicht hatte, die er sich gesteckt hatte. Er hatte das Geheimnis der Absoluten Bewegung entdeckt, die Möglichkeit eines kontrollierten Materieaustauschs zwischen zwei völlig unterschiedlichen Existenzebenen. Das von Vargo konstruierte Gerät konnte theoretisch jede beliebige Materiemenge versetzen und zurückholen. Viele wissenschaftliche Mitarbeiter hatten Vargo vor den Gefahren dieser Arbeit gewarnt, weil sie befürchteten, dass die Grenzen zwischen beiden Existenzebenen zusammenbrechen und dieser Sektor ihres Universums zerstört werden könnte. Nach Vargos Berechnungen gab es jedoch keine Anzeichen dafür,
dass die Experimente das physikalische Gleichgewicht störten. Vargo spürte, dass das Fahrzeug anruckte. Er wusste nicht, wie viele Entführer mit eingestiegen waren. Jemand warf ihm ein stinkendes Tuch über den Kopf, wahrscheinlich um zu verhindern, dass er auf dem Flug Hinweise über den Kurs entdecken konnte. Die Wirkung des Lähmfelds ließ nach, aber Vargo hielt es für richtig, ruhig am Boden liegen zu bleiben. Solange die Maschine in der Luft war, gab es sowieso keine Fluchtchance. Der Flug dauerte nicht so lange, wie er ursprünglich angenommen hatte; er war davon überzeugt, dass sie sich noch immer auf Yakonth, dem Hauptkontinent von Tropoyth befanden. Vielleicht lag das Versteck irgendwo in den Vralkh-Bergen. Vargo beschloss, auf die atmosphärischen Bedingungen zu achten, die ihn nun erwarteten, denn daraus konnte er auf die ungefähre Höhe des Verstecks schließen und den Behörden später Hinweise geben. Jemand beugte sich über ihn und löste die Beinfesseln. »Aufstehen!«, befahl eine raue Stimme. »Hände auf dem Rücken verschränken!« Vargo gehorchte. Das Tuch nahm ihm weiterhin die Sicht. Er atmete tief ein, zu seiner Überraschung stieg warme, würzig riechende Luft in seine Nase. Wald, dachte er. Wir befinden uns in einem Wald in der Nähe der Südküste. Er wusste, dass es in diesem Landstrich große Sumpflandschaften und Regenwälder gab. Er wurde aus dem Fahrzeug geschoben und über weichen Boden weggeführt. Wenig später hörte er Geräusche von Maschinen, dann schlugen Türen. Er merkte, dass er nicht mehr im Freien war, erhielt einen Stoß, eine Tür fiel ins Schloss. Es war still. Vargo wartete einen Augenblick, dann nahm er das Tuch vom Kopf. Wie er erwartet hatte, befand er sich allein in einem kleinen, einfach eingerichteten Raum. Es gab kein Fenster, über der Tür war eine Klimaanlage installiert. Vargo massierte seine prickelnden Hände und ließ
sich auf dem schmalen Bett nieder. Es war nicht ausgeschlossen, dass seine Entführer sich nicht darüber im Klaren waren, wie sie vorgehen sollten. Vielleicht wandten sie auch lediglich den psychologischen Effekt des Wartenlassens an, um ihren Gefangenen gefügiger zu machen. Vargo lächelte müde. Die Maschinerie war längst in Gang gesetzt, sein Fehlen im Projektbereich konnte nichts mehr ändern. Er erinnerte sich an den Augenblick, da Brenzko Karahn an diesem Morgen aus dem Umsetzer getreten war, blass, aber mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen, und auf telepathischer Übermittlungsbasis signalisiert hatte: Es hat funktioniert, Vargo. Erst die Rückkehr Karahns hatte Vargos Theorien endgültig bestätigt; einen Mann nur verschwinden zu lassen bewies nicht die Möglichkeit der Absoluten Bewegung. Schritte wurden hörbar und unterbrachen den alten Wissenschaftler in seinen Gedanken. Die Tür öffnete sich, ein großer Mann stand im Eingang. Vargo blinzelte. »Mamrohn«, stieß er ungläubig hervor. »Wollen Sie behaupten, dass der Wissenschaftliche Erste Rat, der für die Finanzierung meines Projekts sorgte, heimlich mit meinen Gegnern zusammenarbeitet?« Der Ankömmling grinste breit. »Ich bin für Ihre Entführung verantwortlich.« Vargo sah ihn abwartend an, noch verstand er nicht, was Mamrohn zu seiner Handlung bewogen haben mochte. Der Wissenschaftliche Erste Rat von Tropoyth durchquerte den Raum mit langen Schritten und ließ sich neben Vargo auf dem Bett nieder. Die Tür stand offen, draußen schien kein Wächter zu stehen. »Tatsächlich bin ich der größte Anhänger des Projekts. In letzter Zeit jedoch waren Sie so in Ihre Arbeit vertieft, dass Sie die Veränderung der politischen Szene nicht mehr wahrnahmen.« »Was heißt das?« »Ihre Gegner gewannen mehr und mehr an Einfluss. Es fiel
mir immer schwerer, das Projekt im Rat zu verteidigen. Besonders schwerwiegend war, dass einige Ihrer Mitarbeiter sich weigerten, das Projekt weiter zu unterstützen.« »Was hat das mit meiner Entführung zu tun? Haben Sie etwa vor, die Opposition auf diese Weise zu diskreditieren?« Vargo war entrüstet und wechselte zu lautloser Kommunikation. Sie können doch nicht glauben, dass ich Sie dabei unterstützen werde? Mamrohn blieb unbeeindruckt. Diese Aktion sichert uns den Vorsprung, den wir benötigen. Man wird sich wegen Ihres Verschwindens die Köpfe heiß reden und sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Darüber werden die meisten Verantwortlichen das eigentliche Problem für einige Zeit vergessen. Das gibt uns die Zeit, die wir benötigen. Vargo stand auf. Zeit wozu? Mamrohn streckte die Beine aus, in seinem fleischigen Gesicht zuckte ein Muskel. Vargo hatte plötzlich den Eindruck, diesen Mann zum ersten Mal richtig zu sehen und einzuschätzen. Es gab wenig Männer im Rat von Tropoyth, die so zielstrebig und selbstbewusst auf ein Ziel hinarbeiten konnten wie Mamrohn. Ohne ihn hätte es niemals einen Umsetzer gegeben. Vargo dachte ein bisschen traurig, dass er selbst eigentlich nur die Idee geliefert hatte, Mamrohn dagegen als Vollstrecker aufgetreten war. Die ganze Zeit aber hatte der Wissenschaftliche Erste Rat Pläne geschmiedet, von denen Vargo noch nichts wusste. »Ich habe das alles nicht getan, um eine Art Reiseunternehmen aufzubauen«, drang Mamrohns Stimme in seine Gedanken. »Sie haben viel zu klein gedacht, alter Freund. Ich wollte Sie jedoch nicht irritieren, deshalb habe ich Sie in aller Ruhe arbeiten lassen.« »Was haben Sie vor?« »Wir werden Stützpunkte im Makrokosmos errichten. Jetzt haben wir die Chance, neue Räume zu erschließen, können sie
erobern. Denken Sie doch nach, Vargo. Vom Makrokosmos aus kontrollieren wir den Mikrokosmos: Von dort ›oben‹ können wir ganze Sternhaufen oder mehr im Mikrokosmos mit einem Fingerdruck erledigen.« Vargo schauderte. Wusste der Erste Rat überhaupt, was er da von sich gab? Mamrohn schien die Anwesenheit des Wissenschaftlers vergessen zu haben. »Eine Flotte und Arsenalstationen stehen bereit – und das wird erst der Anfang sein.« »Dazu habe ich den Umsetzer nicht konstruiert. Sie dürfen die Absolute Bewegung nicht in dieser Form missbrauchen.« »Schweigen Sie!«, herrschte Mamrohn ihn an. »Sie sind trotz Ihres genialen Könnens kurzsichtig. Sehen Sie nicht die Bedrohung für uns, die sich allein aus der Tatsache ergibt, dass wir uns im Mikrokosmos befinden? Im Makrokosmos weiß man nichts von unserer Existenz, vielleicht ist man gerade dabei, völlig gedankenlos jenen Teil unseres Universums zu zerstören, den wir bewohnen. Was gehört schon dazu? Doch nicht mehr, als dass jemand auf ein Staubkorn tritt.« Vargo stöhnte auf. »Sie sehen das falsch, erkennen die Zusammenhänge nicht. Die verschiedenen Existenzebenen sind eins, ein ineinander verwobenes System von Universen – Mikro- und Makrokosmos sind nur Hilfsbegriffe, die die wahre Natur nicht richtig beschreiben können.« Ich weiß genau, was ich will, signalisierte das Regierungsmitglied mit düsterer Entschlossenheit. Während Sie Ihre Experimente erfolgreich abschlossen, habe ich auch meine langjährigen Vorbereitungen beendet. Die erste Flotte steht bereit. Es gibt nur einen Mann, der sie führen kann. Sie! Mamrohn sah ihn zum ersten Mal wieder an, hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Ich? Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich es sein könnte? Das ist doch absurd, mein Platz ist hier auf Tropoyth im Rat.
Da begriff Vargo, dass er gehen sollte. Mamrohn hatte ihn dazu ausersehen, die Expedition in den Makrokosmos zu führen. Das war der Grund, warum er entführt worden war. Mamrohn würde ihn zwingen – und er las im Gesicht des Gefangenen, dass dieser die Wahrheit erkannt hatte. »Wie gefällt Ihnen das?« »Es ist Wahnsinn.« »Sie werden fasziniert sein, wenn Sie erst einmal am Ziel angekommen sind«, prophezeite Mamrohn. »Ich veranlasse, dass Sie für Ihre große Tat belohnt werden. Die mutigen Tropoyther, die Sie begleiten, werden vom Augenblick des Aufbruchs an Ihren Namen tragen. Wir werden sie Varganen nennen.«
Die nächsten Tage verstrichen für Vargo ohne besondere Ereignisse. Er durfte sein Gefängnis nicht verlassen. Ab und zu kam ein Unbekannter und brachte ihm Nahrung. Vargo verlangte nach den neuesten Nachrichten, aber diese Bitte wurde ihm versagt. Er rechnete damit, dass Mamrohn eintreten und sagen würde, dass alles ein Irrtum war, ein Spaß, der nun endlich vorbei sei. Er klammerte sich so an diesen Gedanken, dass er immer, wenn draußen Schritte laut wurden, aufsprang und erwartungsvoll zur Tür ging. Aber es war immer nur der schweigsame Fremde, der ihm zu essen brachte. Nur allmählich machte der Wissenschaftler sich mit der Tatsache vertraut, dass er keinen Albtraum erlebte. Fünf Tage nach Vargos Entführung erschien Mamrohn wieder im Gefängnis. Er war schlampig gekleidet und machte einen überreizten und müden Eindruck. Vargo hoffte, dass irgendetwas schief gegangen war, aber diese Hoffnung wurde durch Mamrohns Begrüßung bereits gegenstandslos. »Es ist so weit. Wir haben den Hauptumsetzer in den Weltraum bringen
lassen, damit die bereitstehende Flotte ohne Schwierigkeiten in den Prozess der Absoluten Bewegung gebracht werden kann. Das Verschwinden des Aggregats hat einigen Wirbel verursacht, erstaunlicherweise mehr als das seines Erschaffers.« Sarkastisch fügte er hinzu: »Das ist sicher nicht erstaunlich.« Vargo überlegte, dass zahlreiche seiner Vertrauten für Mamrohn arbeiten mussten, anders war dieses Vorgehen nicht zu erklären. Der alte Mann fühlte sich überrumpelt und verraten, er wünschte, er hätte das alles nicht mehr zu erleben brauchen. »Nun sind Sie an der Reihe. Vargo und seine Varganen, wie gefällt Ihnen das?« »Es ist makaber.« Niedergeschlagen versuchte er, Mamrohn zu hassen, aber das gelang ihm nicht. Im Grunde genommen hatte er sich bereits damit abgefunden, dass er die Invasionsflotte – denn das war sie – führen würde. Er gestand sich ein, dass diese Aufgabe reizvolle Aspekte hatte. Mamrohn ergriff ihn am Arm und führte ihn hinaus. Zum ersten Mal sah Vargo etwas von der Umgebung, in der er sich in den vergangenen Tagen aufgehalten hatte. Ringsum duckten sich unter den Baumkronen des Regenwalds ein paar flache Gebäude. Männer und Frauen, die Vargo niemals zuvor gesehen hatte, arbeiteten in der Nähe. Über einen Trampelpfad führte Mamrohn den Wissenschaftler zu einer Lichtung. Dort standen ein paar bewaffnete Männer zwischen den Bäumen. Mamrohns Maschine wartete auf der Lichtung – ein kombinierter Weltraum-Atmosphäre-Gleiter. Mamrohn fing Vargos Blick auf. »Wir fliegen direkt in den Weltraum und gehen an Bord der GENDROT. Alles, was Sie brauchen, befindet sich bereits an Bord.« Vargo hatte nicht gehofft, sich noch von seinen Freunden verabschieden zu können, aber dieser überstürzte Aufbruch bewies ihm, dass
Mamrohn in Schwierigkeiten war. »Sie werden einige Ihrer Freunde an Bord der GENDROT wieder sehen.« Mamrohn kletterte in den Gleiter und ließ sich ächzend in einen Sitz fallen. Der Pilot wartete, dass auch Vargo einstieg, dann startete er. Vargo blickte zur Seite und sah, dass Mamrohn der Kopf auf die Brust fiel. Der Wissenschaftliche Erste Rat von Tropoyth war unmittelbar nach dem Start vor Erschöpfung eingeschlafen. Vargo wandte sich lautlos an den Piloten: Sind die Schiffe einsatzbereit? »Ich kümmere mich um nichts. Ich fliege diesen Gleiter, das ist alles.« Vargo wappnete sich mit Geduld. Sie wurden weder aufgehalten noch angefunkt. Mamrohn musste den gesamten Sicherheitsapparat der Regierung kontrollieren. Vielleicht handelte er sogar im Auftrag der Regierung. Tropoyth blieb hinter ihnen zurück, eine blaugrün leuchtende Scheibe mit weißen Wolkenfetzen. Es war nun achtzehn Jahre her, dass sich Vargo zum letzten Mal im Weltraum aufgehalten hatte, aber er hatte den Eindruck, dass es erst vor ein paar Tagen gewesen war. Der Pilot kannte den Kurs genau. Mamrohn, der eine innere Uhr zu besitzen schien, erwachte, als der Gleiter die Flotte erreicht hatte. Das Einschleusungsmanöver in die GENDROT vollzog sich schnell und reibungslos. Ich dachte, Sie wollten nicht mitkommen, wandte sich Vargo an den Wissenschaftlichen Ersten Rat. Das war ein Irrtum. Auf Tropoyth hat sich in den letzten Tagen zu vieles verändert. Ich begleite Sie. Eines Tages jedoch werden wir zurückkehren, das versichere ich Ihnen. Vargo hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass alles anders verlaufen würde, als sich Mamrohn das vorstellte, wurde von schlimmen Ahnungen geplagt. Sein Volk hatte eine gefährliche Grenze überschritten. Mamrohns Andeutungen wiesen auf unerwartete Schwierigkeiten hin, vielleicht sogar
auf einen bevorstehenden Umsturz? Es gab nicht viele Gruppen der tropoythischen Gesellschaft, die dazu die Macht und den nötigen Einfluss hatten. Die Mondschattenpriesterschaft war ein davon – und das ließ Vargo frösteln.
Die Ereignisse der nächsten Tage schienen Vargos Bedenken zu widerlegen. Alle zweitausend Oktaederschiffe – darunter fünfhundert Großraumer von fast zweitausend Metern Höhe – und die fünfzig riesigen Arsenalstationen mit ihrem Durchmesser von fünfzehn Kilometern traten in den Prozess der Absoluten Bewegung und vollzogen die Umsetzung. Wie Vargo vorhergesagt hatte, passten sich Schiffe und Besatzungen den Verhältnissen der anderen Existenzebene an. Bei der Rückkehr wurde der Materieaustausch in umgekehrter Form stattfinden. Doch mit einer Rückkehr rechnete Vargo vorläufig nicht. An Bord der GENDROT hielten sich sieben seiner ehemaligen engen Mitarbeiter auf. Wie müssen davon ausgehen, dass es hier raumfahrende Völker gibt, die uns unter Umständen gefährlich werden können, signalisierte Mamrohn während der ersten Besprechung nach ihrer Ankunft. Deshalb werden wir die Flotte teilen und unsere Stationen in verschiedenen Sektoren dieser Galaxis errichten. Erst nach einer ausgedehnten Erkundungsphase können wir mit der Umsetzung unserer Pläne beginnen. Er ließ durchblicken, dass ihm nicht an einer schnellen Rückkehr gelegen war; der ehemalige Wissenschaftliche Erste Rat dachte an eine Kolonisation, wollte ein zweites tropoythisches Imperium errichten. Ein varganisches Imperium, korrigierte sich Vargo in Gedanken. Die GENDROT gehörte zu einem Verband von
siebenundzwanzig Schiffen, die ein paar Tage später ein kleines Sonnensystem erreichten und auf dem zweiten von insgesamt sechs Planeten landeten, der den Namen Dopmorg erhielt. Mamrohn hatte eine Sauerstoffwelt ausgewählt, die alle Voraussetzungen für den Ausbau einer Basis bot. Vargo und die anderen Wissenschaftler erhoben Bedenken, denn auf der von Mamrohn ausgewählten Welt gab es bereits eine primitive Zivilisation. Mamrohn ließ diese Einwände nicht gelten. »Wir kümmern uns nicht um sie. Sollten sie uns in die Quere kommen, verjagen wir sie.« Vargo erkannte, dass Mamrohn ein rücksichtsloser Eroberer war – und die nachfolgenden Jahrtausende bestätigten das …
Von seinem Platz auf dem Dach des Hauptgebäudes aus konnte Vargo das Plateau mit dem Raumhafen sehen. Dort standen einundzwanzig Doppelpyramidenschiffe. Seit mindestens zweitausend Dopmorgjahren kam Vargo jeden Morgen hier herauf, um den Sonnenaufgang zu erleben. Trotz seiner Unsterblichkeit fühlte er sich müde und spielte mit dem Gedanken, seinem Leben ein gewaltsames Ende zu setzen – schon seit langer Zeit hielt er die Ampulle mit der Kyrachtyl genannten Droge bereit, der Droge, die den »sanften Tod« gewährleistete, die gezielte Lösung des Bewusstseins von der Hülle – umschrieben als »Freisetzung ins Kyriliane«. Kyriliane – »das Ganze«, »alles« – war jener umfassende Zustand aller einander durchdringenden Existenzebenen, dessen Teilbereiche sich durch die Absolute Bewegung auch körperlich erreichen ließen. Schon in den fernen Epochen lange vor dem letztlich verhängnisvollen Verlassen der Heimat und dem Übergang zur anderen Existenzebene hatten die Tropoyther ihre Toten konserviert. Anfänglich aus rein religiösen Gründen, indem sie Mythen und Überlieferungen
aus fernster Vergangenheit folgten, deren Ursprünge im Dunkel der Äonen verborgen waren. Aber auch in der Spätzeit, als längst Hochtechnologie die Zivilisation prägte, war der Einfluss der Mondschattenpriesterschaft und ihrer Lehren beträchtlich gewesen. Und weiterhin wurden die Körper für die Ewigkeit präpariert, nun allerdings mit perfektionierten Verfahren, deren Einzelheiten nur die Mondschattenpriester kannten. Gleiches galt für das Kyrachtyl. Denn was in den primitiven Epochen nur Glaube gewesen war, fand mit der Entwicklung und Kontrolle diverser Parafähigkeiten eine Bestätigung: Die rein körperliche Existenz war keineswegs alles! Was sich für uns jedoch in einem erschreckenden Maß ganz anders bestätigt hat. Vargo war ein einsamer Mann, die anderen Varganen mieden ihn. Sie verdankten ihm indirekt die Unsterblichkeit, aber sie brachten nur ihre Zeugungsunfähigkeit mit ihm in Verbindung. Vargo hatte keinen dieser Effekte vorhersehen können und bedauerte, dass es dazu gekommen war. Seit ihrer Ankunft auf Dopmorg hatte Vargo den Planeten kaum verlassen, er ahnte, dass ihm auf allen anderen besetzten Planeten die gleiche Feindseligkeit entgegenschlagen würde. Zwei ungeheuerliche Entdeckungen mussten nach dem erfolgreichen Einsatz der Absoluten Bewegung verkraftet werden: Die Varganen, wie sie sich seit Mamrohns Anordnung nannten, hatten die Fähigkeit verloren, sich miteinander fortzupflanzen – im Gegenzug gab es jedoch auch keine körperliche Alterung mehr; durch den Einfluss der Absoluten Bewegung hatten sie Unsterblichkeit erlangt. In den ersten Jahrhunderten überwog die Freude – die Aussicht auf Macht und Einfluss ohne zeitliche Begrenzung; sie waren die unumschränkten Herrscher des in dieser Sterneninsel geschaffenen Reiches. Völker wurden unterworfen, andere mit Hilfe von Aktivierungskapseln der
Arsenalstationen sogar neu geschaffen. Aktivierungskapseln waren aus varganischer Sicht unantastbar und heilig, durften nicht vor ihrer endgültigen Bestimmung berührt werden; sie enthielten Konzentrate des Lebendigen, entweder in biochemisch reiner Form oder aber in der Gestalt von konservierten Embryonen – wobei Letztere sich leider jedoch als ebenso unfruchtbar wie die Varganen selbst erwiesen hatten. In der Glanzzeit varganischer Expansion waren auf diese Weise ganze Sonnensysteme »befruchtet« worden. Auf Welten, die erst am Anfang ihrer Entwicklung standen, entwickelten sich Untertanenvölker nach dem Willen der Varganen. In anderen Fällen wurden Androiden produziert, denen ebenfalls der absolute Gehorsam quasi einprogrammiert war, obwohl sie häufig ein varganisches Aussehen hatten. Anfangs waren diese Kunstgeschöpfe, deren Körper zwar biologisch lebten, aber nicht über ein Bewusstsein im varganischen Sinne verfügten, grundsätzlich unfruchtbar; kein Vargane ertrug es, dass ihm auf diesem Gebiet primitive Kreaturen überlegen sein sollten. Später wurden jedoch auch Versuche begonnen, die Androiden zur Zeugung varganischer Nachkommen zu benutzen – ein Fehlschlag. Der Vargane Lothurne und seine Anhänger gingen einen anderen Weg. Die Frauen und Männer dieser Gruppe teilten sich nach einem von Lothurne ausgearbeiteten Plan in kleine Kommandos auf, die jeweils die heimliche Herrschaft über bewohnte Planeten errichteten. Vor hier aus arbeiteten sie im Verborgenen und lenkten das riesige Sternenreich. Um zu herrschen, das varganische Imperium zu kontrollieren, bedurfte es keiner eigenen Nachkommen. Die Kehrseite der Unfruchtbarkeit wurde aber mit jedem verstreichenden Jahrtausend deutlicher, denn ohne Nachkommen gab es auch keinen Ausgleich für die Verluste, die die Unsterblichen zwangsläufig zu verkraften hatten – denn durch Kämpfe,
Naturkatastrophen, Unfälle, ja selbst durch Mord und den Freitod verringerte sich die Zahl der Varganen zwar langsam, aber unerbittlich. Mochte es auch Jahrhunderttausende und mehr beanspruchen, irgendwann würde ihre Gesamtzahl derart zusammengeschrumpft sein, dass die Herrschaft nicht mehr länger gesichert war – ja, es war nicht einmal ausgeschlossen, dass sie irgendwann ganz ausstarben, selbst wenn dieser Zeitpunkt noch eine Million Jahre oder mehr entfernt sein sollte. Vor diesem Hintergrund relativierte sich sogar das Gefühl, als Unsterblicher unbegrenzt Zeit zur Verfügung zu haben. Vargo fröstelte. Die überall in dieser Galaxis verteilten Stationen glichen inzwischen Inseln. Zwar flogen die Oktaederschiffe ständig hin und her, aber diese Kontakte ließen mehr und mehr nach. Daran änderte nicht einmal der wiederholte Einsatz von Ezellikators Kardenmogher etwas – Allzweckgeräten, die als ultimative Waffe angewendet, mit denen ganze Planeten entvölkert werden konnten. Aber die Möglichkeiten dieser Geräte erschöpften sich nicht in vernichtenden Anwendungsbereichen. Ein Kardenmogher funktionierte durchaus auch konstruktiv, seine Aggregate waren geeignet, in kürzester Zeit ganze Städte schlüsselfertig aus dem Boden zu stampfen, er ersetzte Kriegsflotten, Fransportsysteme oder Verwaltungsapparaturen. Vargo dachte an Mamrohn, den er bereits seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. In Gedanken sah er den ehemaligen Wissenschaftlichen Ersten Rat von Station zu Station eilen, verzweifelt darum bemüht, Verbindungen zwischen den einzelnen Welten zu schaffen, weil der Zenitpunkt des Reiches zweifellos überschritten war, selbst wenn es die einzelnen Varganenherrscher nicht wahrhaben wollten. Vereinzelt hatte Vargo von immer absonderlicheren Experimenten gehört, von Selbstversuchen ebenso wie von Projekten, deren Ausmaß
ungehemmten Größenwahn widerspiegelte. Als die Sonne über den Bergen stand, verließ Vargo seinen Beobachtungsplatz auf dem Dach und kehrte in seine Räume zurück. Zu seiner Überraschung wurde er erwartet. Kreton, einer der führenden varganischen Wissenschaftler, kam ihm entgegen. Die Erinnerung an die frühere gemeinsame Arbeit wurde in Vargo wach, selten zuvor hatte er das Ende seiner Kontakte zu anderen Männern und Frauen so bedrückend empfunden wie in diesem Augenblick. Er verhielt sich jedoch zurückhaltend, denn Kreton war bestimmt nicht gekommen, um alte Beziehungen aufzufrischen. Er ging im Zimmer auf und ab, blieb vor dem Teller mit den Blüten stehen und starrte nachdenklich auf ihn herab. Die Blüten wurden jeden Tag erneuert, es war eine Marotte Vargos, von der er nun befürchtete, sie könnte seinen inneren Zustand verraten. Er war zu stolz, um das Mitgefühl anderer zu ersehnen. Kreton beugte sich zum Teller hinab, nahm eine Blüte heraus und signalisierte lautlos: Wundern Sie sich über meine Anwesenheit? Eigentlich ja. Ich werde nicht sehr häufig besucht. Sie haben sich zurückgezogen. Ich verstehe das, es ist Ausdruck eines unterschwelligen Schuldbewusstseins. Vargo runzelte die Stirn, er hatte nicht damit gerechnet, dass die anderen die Situation so sahen. Immerhin war es interessant, diesen Standpunkt zu erfahren. »Ich bin aus eigenem Antrieb hier«, fuhr Kreton fort. »Wir hatten eine Besprechung. Ich bin der Meinung, dass wir Ihre Ansichten hören sollten. Immerhin haben Sie dieses Projekt ermöglicht und ihm Ihren Namen gegeben.« »Das war Mamrohns Idee.« Kreton winkte ab. Während Vargo ihn beobachtete, überlegte er, was geschehen sein konnte. Kreton machte den Eindruck eines Überbringers wichtiger Entschlüsse. »Was halten Sie von unserer Lage?«
»Wir leben.« Kreton unterdrückte ein Lachen. »Früher waren Sie in der Beurteilung einer Situation nicht so vorsichtig, mein Lieber. Aber vielleicht wissen Sie nicht, worauf ich hinaus will. Wir kamen hierher, um ein Reich aufzubauen. Wir wollten Sonnensystem um Sonnensystem erobern – und wir haben sie erobert.« »Hm.« Kreton zupfte die Blütenblätter ab und warf die Knospe in den Teller zurück. »Aber unsere Anzahl hat sich nicht vergrößert, sondern wir verlieren immer mehr Frauen und Männer durch gewaltsamen Tod. Da wir uns nicht mehr fortpflanzen können, ist der ursprüngliche Sinn dieses Unternehmens in Frage gestellt.« Was Kreton aussprach, hatte Vargo hundertmal überdacht, ohne zu einer Lösung zu gelangen. »Uns fehlt die Motivation. Wir haben alles erreicht, was zu erreichen war – gemessen an den Umständen. Da wir keine Kinder haben, brauchen wir eigentlich keine weiteren neuen Welten. Es ist inzwischen schon schwer genug, die vielen zehntausend in Besitz genommenen Systeme zu halten.« Vargo gab sich einen Ruck. »Was wollen Sie eigentlich?« »Wissen Sie das nicht?« Kreton blickte ihm direkt in die Augen. »Viele von uns sind der Meinung, dass wir aufgeben und zurückkehren sollten.« Vargo fühlte einen Schauer über den Rücken laufen, begann zu zittern und begriff, wonach er sich die ganze Zeit über in Wirklichkeit gesehnt hatte. Zurück!, dachte er inbrünstig. Zurück nach Tropoyth!
Zwei Jahre später kam Mamrohn nach Dopmorg. Seine Ankunft fiel zusammen mit dem Ausbruch heftiger
Kontroversen zwischen den Befürwortern einer Rückkehr und ihren Gegnern als Folge einer empfindlichen Niederlage in der benachbarten Sterneninsel, die Hunderte das Leben gekostet hatte. Viele Gegner einer Rückkehr hatten auf weitere Expansion gesetzt – und waren gescheitert. Mamrohns Gesicht war verbrannt, sein rechter Unterarm amputiert, und seine Stimme klang entstellt. Er hatte den Tod gesucht und nicht gefunden. In seinen Augen leuchtete ein verzehrendes Feuer. Seine Fähigkeit, Einfluss auf andere Varganen auszuüben, hatte sich noch verstärkt. Mamrohns Anwesenheit schien die Streitigkeiten zu beenden, aber die unterschiedlichen Ansichten schwelten unter der Oberfläche weiter. Die Varganen, die nach Tropoyth zurückkehren wollten, befanden sich inzwischen in der Überzahl. Eine offizielle Befragung hätte wahrscheinlich ergeben, dass nur eine sehr kleine Gruppe im Makrokosmos bleiben wollte. Allein die Tatsache, dass Mamrohn zu dieser Gruppe gehörte, verlieh ihr Gewicht. Mamrohn war in Begleitung einer Varganin nach Dopmorg gekommen, einer der schönsten Frauen, die Vargo jemals gesehen hatte. Ihr Name war Ischtar. Trotz seines äußeren Zustands hatte Mamrohn nichts von seiner inneren Energie verloren und sprach davon, einen Großteil der eroberten Planeten aufzugeben und die Varganen auf auserwählten Stützpunkten zusammenzuziehen. Von dort aus wollte Mamrohn die Galaxis beherrschen. Ein paar Tage nach seiner Ankunft lud Mamrohn die führenden Wissenschaftler und Mondschattenpriester zu einer Besprechung ein. Vargo war gespannt, wie sich der Mann, der sich nach wie vor für den Anführer aller Varganen hielt, verhalten würde. In den letzten Tagen hatte sich Kreton als Sprecher der Mehrheit profiliert; zwar hatte er nicht die Willensstärke Mamrohns, aber er wusste, wie er zu taktieren hatte. Als Vargo im Besprechungsraum eintraf, ahnte er nicht,
dass es im Verlauf der Debatte zu einem schweren Zusammenstoß kommen würde. Sein fehlender Kontakt zu anderen Varganen verleitete ihn auch diesmal zu einer Fehleinschätzung der Lage. Mamrohn erschien und nahm am oberen Ende des Tisches Platz. Sein Gesicht war verbissen, er sah wie ein Fremder aus und machte den Eindruck eines unwillkommenen Besuchers. Die Begrüßung durch die Diskussionsteilnehmer fiel so distanziert aus, dass Vargo Mitleid mit Mamrohn empfand, obwohl er bezweifelte, dass der ehemalige Erste Rat die allgemeine Zurückhaltung überhaupt registrierte. Ischtar saß neben Mamrohn, ihr goldenes Haar berührte die Schultern. Ein komisches Paar, dachte Vargo unwillkürlich und seltsam berührt. Kreton trat in Begleitung aller wichtigen Wissenschaftler ein. Auch diese Demonstration schien an Mamrohn abzuprallen, er sah nicht einmal auf. Als alle Diskussionsteilnehmer Platz genommen hätten, warf Mamrohn ein paar Papiere auf den Tisch und sortierte sie mit der linken Hand. Bei jedem anderen Mann hätte sich die Frage gestellt, warum er den verlorenen rechten Unterarm nicht durch eine Prothese ersetzte – nicht aber bei Mamrohn. Es war unvorstellbar, dass er seinen Körper durch irgendetwas Künstliches ergänzen wurde. »Ich war lange unterwegs«, eröffnete Mamrohn die Debatte ohne lange Vorrede. »Dabei habe ich alle Stationen und Stützpunkte in den verschiedensten Teilen dieser Galaxis besucht, einige sogar mehrmals. Es ist erschreckend, was auf vielen von uns eroberten Planeten geschieht.« Er blickte zum ersten Mal auf, in seinem Gesicht spiegelten sich Zorn und Trotz und eine gewisse Ratlosigkeit. »Es gibt Welten, auf denen Varganen geschlossen den Freitod wählen. Ihre Körper wurden nach den traditionellen Regeln konserviert und präpariert, doch der eigentliche Beweggrund ist, dass sie an
eine spätere körperliche Wiedererweckung glauben. Diese soll erst stattfinden, wenn wir eine Möglichkeit gefunden haben, die Zeugungsunfähigkeit zu besiegen. Auf andere Welten zieht man sich in Tiefschlafkonservierung zurück, um auf diese Weise die Jahrtausende zu überdauern. Die Wahrheit ist, dass sie sich alle aufgeben! Ihnen fehlt jeder Antrieb für ein weiteres Leben.« »Nein«, sagte jemand entschieden. »Das ist nicht die Wahrheit.« Vargo drehte sich auf seinem Sitz herum. Er sah zu Kreton hinüber, der laut gesprochen hatte. Der Wissenschaftler war blass, seine Lippen bebten, aber er saß nach vorn gebeugt da, entschlossen und unnachgiebig. »Sie haben uns in den Makrokosmos geführt, um hier ein zweites Reich der Tropoyther aufzubauen. Von Anfang an wollten Sie alle Brücken zu unserer Heimat abbrechen, deshalb mussten wir uns Varganen nennen. Sie wollten keine Verbindung mehr zum Mikrokosmos, Sie wollten vergessen, dass wir in Wirklichkeit unendlich winzig sind. Dafür mussten wir einen hohen Preis bezahlen.« Narr!, dachte Vargo, entsetzt darüber, wie sehr Kreton die wissenschaftlichen Erkenntnisse entstellte, vereinfachte und falsch interpretierte. »Niemand konnte das vorhersehen«, verteidigte sich Mamrohn bemerkenswert schwach. »Das ist richtig. Aber wir hätten uns auf die veränderte Situation einstellen und zurückkehren sollen. Mit dem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit verlor das Unternehmen seinen Sinn. Man braucht keine Sonnensysteme zu erobern, wenn man keine Kinder zeugen kann, mit denen man die Planeten bevölkern kann.« Auch das ist Schwachsinn!, durchfuhr es Vargo. Obwohl er sich nie für die Einzelheiten der varganischen Eroberungen
interessiert hatte, kannte er doch die erreichten Ergebnisse der vergangenen Jahrtausende. Um über ein Reich zu herrschen, um Macht ausüben, bedarf es keiner Nachkommen. »Aber Sie haben das nicht einsehen wollen, Mamrohn. Sie hörten nicht auf, Ihren Traum des neuen Imperiums zu träumen. Sie träumen ihn immer noch.« So, wie Mamrohn dasaß, konnte man Angst vor ihm bekommen. Vargo hatte den Eindruck, dass dieser Mann allein kraft seiner Gefühle irgendetwas zerstören konnte. Er bewunderte Kreton, der den Mut hatte, dagegen anzugehen. »Ich weiß, was auf Dopmorg und anderswo vorgeht.« Mamrohn schien Mühe zu haben, die einzelnen Worte auszusprechen. »Hier wird nur noch von einer Rückkehr geredet. Sie und Ihre Anhänger wollen alles, was wir aufgebaut haben, wieder aufgeben und zurückkehren. Als würde sich dadurch etwas ändern.« Seine Blicke richteten sich auf Vargo, der unwillkürlich zusammenzuckte. »Sagen Sie ihnen, ob sich durch die Rückkehr irgendetwas ändert. Werden Sie sterblich werden oder ihre Zeugungsfähigkeit zurückerlangen?« Vargo verneinte. »Nichts würde sich ändern!« Mamrohn schrie es heraus. »Wir wären Ausgestoßene vom Augenblick unserer Rückkehr an. Und dort hätten wir nicht einmal mehr unsere Macht, hätten auch kein Reich mehr.« Einen Moment sah es so aus, als würde Kreton unter dem Druck von Mamrohns Persönlichkeit aufgeben. Vargo sah, wie sich in ihm ein innerer Kampf abspielte. »Sie verstehen nicht«, sagte der Wissenschaftler mühsam. »Wir werden zurückgehen, um jeden Preis.« Er stand auf. »Alle, die meiner Meinung sind, sollen sich erheben.« Vargo sah die Männer und Frauen nacheinander aufstehen, der beinahe lautlose Vorgang erinnerte ihn an eine
Hinrichtung. Zum Schluss saßen nur noch Mamrohn, Ischtar und Vargo auf ihren Plätzen. Mamrohn sah Vargo an. »Sie?«, fragte er erstaunt. »Ausgerechnet Sie?« Vargo schluckte und schob sich aus seinem Sitz hoch, als müsse er dabei eine Last anheben. »Es tut mir Leid«, sagte er tonlos. »Es ist nun einmal so. Ich kann nicht anders.«
Kreton, der nach dieser denkwürdigen Sitzung das Kommando übernahm und im früheren Flottenoberbefehlshaber Naikondro einen kompetenten militärischen Unterstützer fand, schickte Kurierschiffe zu allen von Varganen besetzten Welten und befahl den Raumfahrern, mit den verschiedenen Gruppen einen Treffpunkt zur Rückkehr auszuhandeln. Mamrohn und seine wenigen Anhänger wurden fortan als Rebellen bezeichnet; seine Begleiterin spöttisch Letzte Königin der Varganen genannt. Ein paar von ihnen wurden gefangen genommen und sollten den Rückflug unter Zwang mitmachen. Vergeblich versuchte Vargo in Erfahrung zu bringen, ob auch Mamrohn zu den Gefangenen gehörte. Unmittelbar nach der Besprechung hatte Mamrohn zusammen mit Ischtar Dopmorg verlassen. Über ihr weiteres Schicksal war nichts bekannt. Kreton verweigerte auf alle Fragen eine Antwort. Zu Vargos Erstaunen lehnte Kreton einen Vorschlag der Wissenschaftler ab, alle Stationen der Varganen zu vernichten. Wir wollen unsere Spuren hier hinterlassen, signalisierte Kreton. Vielleicht werden eines Tages andere raumfahrende Völker auf unsere Bauwerke stoßen und überlegen, wer sie errichtet haben mag. Auf die Idee, dass es Besucher aus dem Mikrokosmos waren, kommen sie sicher niemals. Später erfuhr Vargo, dass viele der so genannten Rebellen spurlos verschwunden waren, sich über die Galaxis verstreut
hatten oder gar zu den ungezählten anderen Sterneninseln dieses Universums aufgebrochen waren. Sie würden die Rückkehr nicht mitmachen. Vargo nahm an, dass Kreton nicht so unbarmherzig war, wie er sich nach außen hin gab, und deshalb den Rebellen die Stationen, Stützpunkte und in den Jahrtausenden geschaffenen Einrichtungen zurückließ. Dass hierbei ein durchaus praktischer Grund ebenfalls eine Rolle spielte, war ein anderes Thema – eine systematische Vernichtung hätte zu viel Zeit beansprucht, zumal es keinen Varganen gab, der sämtliche Stützpunkte kannte oder noch einen Überblick darüber hatte, wo im Verlauf der Jahrtausende überall geheime Einrichtungen geschaffen worden waren. Nach Jahren der Vorbereitung und Sammlung rückte der Termin für eine Rückkehr immer näher, auch auf Dopmorg deuteten alle Anzeichen auf einen baldigen Aufbruch hin. Ein Treffpunkt war vereinbart worden. Knapp achtzehnhundert der ursprünglich zweitausend Einheiten starken Flotte würden sich im Wirkungsbereich der Absoluten Bewegung des Umsetzers befinden. Vargo, der den Zeitpunkt der Rückkehr immer herbeigesehnt hatte, wurde mit zunehmender Dauer immer unruhiger. Bestand nicht die Gefahr, dass während des zweiten Durchgangs noch viel schlimmere Effekte auftraten als beim ersten Mal? Die vom Umsetzer zu befördernde Masse war beträchtlich, aber deutlich geringer als bei der Ankunft, weil keine einzige der riesigen Arsenalstationen mitgenommen werden würde. Wie würde sich die Massendifferenz auswirken? Vargo hatte Gerüchte vernommen, dass in den vergangenen Jahrtausenden an vielen Orten Experimente mit der Umsetzer-Technologie stattgefunden hatten; Haitaschar, eine von Vargos früheren Assistentinnen, hatte sogar den Beinamen »Wächterin der Absoluten Bewegung« erhalten; sie gehörte zu den Rebellen.
Angeblich war es im kleinen Rahmen sogar zu Besuchen der alten – aber auch anderen! – Existenzebene gekommen. Von negativen Wirkungen war nichts bekannt. Deshalb hoffte er, dass es keine Komplikationen gab. Ein anderes Gerücht betraf jenen »kleinen Stamm« von Varganen, der bei der Mehrzahl der anderen alles andere als beliebt war, obwohl – oder gerade weil? – viele zu den Mondschattenpriestern gehörten. Zu stark waren die paranormalen Fähigkeiten der Mitglieder dieses Clans, stärker als die der anderen Varganen. Und einige verfügten sogar über ganz besondere Fähigkeiten – wie der Kyriliane-Seher Vrentizianex, dessen besondere Augen »dort waren, wo er sie haben wollte«: Sie sahen alles, angeblich entging ihnen nichts. Was immer er sehen wollte, er sah es; weder die Entfernung von Stern zu Stern noch höhergeordnete Schutzfelder hinderten ihn. Vrentizianex musste schließlich, wie gemunkelt wurde, sogar Dinge gesehen haben, die er niemals hätte sehen dürfen – angeblich waren ihm deshalb seine Augen genommen und stattdessen Kristalle eingesetzt worden. Unsterblich wie alle Varganen, soll er eine Ewigkeit leiden und tausend Tode sterben, ohne wirklich versehen zu können – so lautete das Urteil …
Drei Tage vor dem Aufbruch der dopmorgischen Gruppe landete ein Großoktaeder auf dem Planeten. Gerüchte, die auch Vargo erreichten, waren im Umlauf. Es hieß, Mamrohn befände sich als Gefangener an Bord des Schiffes. Vargo fühlte sich durch diese Nachrichten weiter verunsichert. Ais sich die Gerüchte verdichteten, begab Vargo sich zu Kreton. Er fand den neuen Anführer der Varganen in einer Besprechung mit den führenden Wissenschaftlern im Hauptgebäude der dopmorgischen Station. Vargo kam sofort auf sein Anliegen zu sprechen: »Es geht um einen Passagier des gestern gelandeten
Schiffes.« Kreton hob die Augenbrauen. »Sie meinen Mamrohn?« »Er ist also tatsächlich an Bord?« »Als Gefangener. Er hat uns in letzter Zeit viele Schwierigkeiten bereitet.« Vargo vermochte sich Mamrohn nicht als Gefangenen vorzustellen, es erschien ihm unmöglich, ja geradezu verwerflich, diesem Mann einen fremden Willen aufzuzwingen. »Lassen Sie ihn frei!« »Ich wundere mich, dass gerade Sie diesen Vorschlag machen. Schließlich hat Mamrohn Sie von Anfang an betrogen und ausgenutzt. Ich werde ihn auf keinen Fall freilassen. Er wird mit nach Tropoyth zurückkehren und dort vor ein Gericht gestellt.« Vargo hatte den vagen Verdacht, dass Kreton beabsichtigte, ihn ebenfalls verurteilen zu lassen, aber er war zu müde und gleichgültig, um dieser Vermutung nachzugehen. Er verabschiedete sich von Kreton und kehrte in seine Unterkunft zurück. Als es dunkel war, steckte Vargo einen Lähmfeldstrahler in die Tasche und verließ seine Wohnung. Er hatte keinen festen Plan, aber er wollte zumindest den Versuch machen, Mamrohn zu befreien. Außerhalb der Gebäude war es still, zwischen der Station und dem Landeplateau leuchteten einige Scheinwerfer. Vargo wusste, dass die meisten Varganen in ihren Wohnungen waren, um ihre Habseligkeiten einzupacken. Morgen sollte der Aufbruch von Dopmorg erfolgen. Auf dem Weg zum Landeplateau stieß Vargo zweimal auf eine Gruppe von Technikern, die Startvorbereitungen trafen. Er ging ihnen aus dem Weg und erreichte unangefochten das Landefeld. Vargo kannte das Schiff, in dem Mamrohn gefangen gehalten wurde. Die Schleuse stand offen und war unbewacht. An Bord eines Oktaederschiffs gab es viele Möglichkeiten, einen Mann
gefangen zu halten. Vargo war sich darüber im Klaren, dass er Glück benötigte, wollte er Mamrohn im Verlauf der Nacht finden und ungesehen aus dem Schiff bringen. Vargo hörte beim Vordringen Stimmen und blickte in die Seitenkorridore. Rechts arbeiteten zwei Männer, die linke Seite war frei, konnte aber von den Arbeitern eingesehen werden. Vargo entschloss sich, den Hauptkorridor zu wählen, obwohl dort die Gefahr einer Entdeckung am größten war. Mit zwei Schritten durchquerte er den Vorraum, ohne dabei gesehen zu werden. Er atmete schwer, sein Körper war nicht mehr an solche schnellen Bewegungen gewöhnt. Am Ende des Hauptkorridors lag die Zentrale, dort hielten sich mit Sicherheit zahlreiche Raumfahrer auf. Vargo erreichte einen Seitengang und verließ den Hauptkorridor. Jedes Mal, wenn er eine Tür öffnete, musste er damit rechnen, von Raumfahrern angesprochen zu werden. Als er die Lagerräume erreichte, legte er eine Pause ein. Erst jetzt wurde er sich der Verrücktheit seines Vorgehens bewusst. Mamrohn zu befreien war ein großes Risiko, denn Kreton würde alle Verdächtigen verhören lassen. Vielleicht versperrte Vargo sich auf diese Weise die Möglichkeit zu einer Rückkehr nach Tropoyth. Vor dem Eingang eines Materiallagers entdeckte Vargo einen bewaffneten Varganen. Vargo hatte nicht damit gerechnet, dass Kreton Mamrohn von einem Raumfahrer bewachen lassen würde, denn es gab schließlich technische Möglichkeiten, die die Fähigkeiten eines Varganen in dieser Beziehung übertrafen. Wahrscheinlich hatte sich Kreton von psychologischen Überlegungen leiten lassen. Mamrohn war immer noch der Inbegriff persönlicher Macht, durch die Anwesenheit eines Wächters wurde diese Vorstellung getrübt. Was immer der wahre Grund sein mochte – der Mann stand da und war Vargo im Weg. Abermals fragte sich der alte Wissenschaftler, ob er nicht besser umkehren sollte. Zögernd
wartete er einige Zeit in einer Nische. Der Wächter, den er von seinem Versteck aus beobachten konnte, machte einen gelangweilten Eindruck. Wahrscheinlich überlegte der Mann, warum er hier stehen musste. Vargo verließ die Nische. Eng an die Wand gepresst, schlich er an den Raumfahrer heran. Das Lähmfeldgerät hielt er abschussbereit. Plötzlich drehte der Wächter den Kopf und sah Vargo an. Sie waren beide so überrascht, dass sie wie erstarrt dastanden und nichts taten, als sich anzusehen. Vargo erholte sich zuerst von seinem Schock und warf dem Mann das Lähmfeld über den Kopf. Der Raumfahrer ächzte und ließ seine Waffe fallen. Das polternde Geräusch erschien Vargo unglaublich laut, er erwartete unwillkürlich, dass alle im Schiff anwesenden Raumfahrer nun angestürmt kamen. Es blieb jedoch still. Der Wächter rutschte langsam an der Wand herab, wobei er Vargo unverwandt ansah. Vargo musste sich zwingen, an ihm vorbeizugehen. Er öffnete die Lür zum Materiallager. Mamrohn hockte am Boden neben einem Speicher. Er war ein Wrack. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, der Körper war fast bis zum Skelett abgemagert. Vargo gab ein Geräusch des Entsetzens von sich, er konnte nicht glauben, was er da sah. »Was hat man Ihnen angetan?« Die leeren Augen richteten sich auf ihn, aber kein Anzeichen des Erkennens regte sich in ihnen. Vargo trat in den Raum und näherte sich Mamrohn. Ich bin Vargo, signalisierte er sanft. Sie müssen sich erinnern. »Ja«, erwiderte Mamrohn mit kraftloser Stimme. »Was wollen Sie von mir?« Vargo fragte sich entsetzt, was mit diesem Mann geschehen sein mochte. Der ehemalige Wissenschaftliche Erste Rat von Tropoyth musste schreckliche Erlebnisse durchgemacht haben. War Kreton für den Zustand des Gefangenen verantwortlich?
»Ich will versuchen, Ihnen zu helfen«, brachte Vargo nach einer Weile des Schweigens hervor. »Sie gehören zu den Rebellen, die hier bleiben wollen. Dieser Wunsch sollte unter allen Umständen respektiert werden.« Er unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe. Seine Worte kamen ihm sinnlos vor. Er beugte sich zu Mamrohn hinab und ergriff ihn am Arm. Als er ihn hochziehen wollte, machte Mamrohn sich frei und richtete sich ohne Hilfe auf; er war kräftiger, als Vargo vermutet hatte. Sie ermöglichen mir die Flucht. Vargo deutete zum Eingang. Wir müssen uns beeilen. Sie verließen das Lager. Als Mamrohn den bewegungslosen Wächter neben der Tür liegen sah, bückte er sich und ergriff die Waffe des Mannes. Vargo, der geglaubt hatte, Mamrohn wollte den Strahler lediglich an sich nehmen, musste entsetzt zusehen, wie der Befreite die Waffe auf den Wächter richtete und abdrückte. »Sie sind wahnsinnig«, stieß Vargo hervor. Mamrohn drehte die Waffe herum und schmetterte ihm den Kolben ins Gesicht. Vargo fühlte Blut aus seiner Nase schießen und taumelte rückwärts, sank zu Boden. Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er Mamrohn davonstürmen.
Vargo kam langsam zu sich. Ringsum bewegten sich verschwommene Gestalten. Sein Gesicht schmerzte, die Kinnpartie schien zerschmettert zu sein. Als sich seine Blicke klärten, stellte er fest, dass er sich nicht mehr im Raumschiff, sondern in der Krankenabteilung der dopmorgischen Station befand. Zwei Ärzte bemühten sich um ihn, während Kreton neben dem Bett stand und voller Abscheu auf ihn herabblickte. Als Kreton sah, dass Vargo sein Bewusstsein zurückerlangt hatte, signalisierte er: Sie werden statt seiner vor
Gericht stehen, Vargo. Vargo wollte sprechen, aber es gelang ihm nicht, den Mund zu öffnen. Die Schmerzen waren zu stark. »Er hat drei Männer getötet und ist verschwunden«, berichtete Kreton in ohnmächtiger Wut. »Ich werde seinetwegen den Aufbruch nicht verschieben, sonst würden wir ihn jagen. Eines Tages jedoch wird er bestraft werden.« Vargo schloss die Augen. Er hatte seit der Konstruktion des Umsetzers eine Reihe schwerer Fehler begangen, die sich nicht korrigieren ließen. Das Verhängnis war jedoch mit der Entdeckung der Absoluten Bewegung ausgelöst worden. Vargo bedauerte jetzt seinen Entschluss, dieses Geheimnis den Tropoythern zugänglich gemacht zu haben. Bisher hatte es nur Unglück über einen Teil seines Volkes gebracht – und ein Ende der Katastrophen war noch nicht abzusehen. Der Wissenschaftler fürchtete die Bestrafung durch ein tropoythisches Gericht nicht. Er war inzwischen zu alt und abgeklärt, um sich über sein eigenes Schicksal noch große Gedanken zu machen. Die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, war, was die Rückkehrer in ihrer Heimat erwartete. Vargo spürte, dass ihn die Erschöpfung übermannte. Er entspannte seinen Körper und ließ sich beinahe dankbar in eine neue Ohnmacht fallen.
8. Atlan: Die transparente Kugel war unter die Decke zurückgeschwebt und hatte meinen Körper freigegeben. Ich lag starr in der Mulde und versuchte, mir über das soeben Erlebte klar zu werden. Was ich durch den Bericht der Erinnye erfahren hatte, war phantastisch. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, nur
mühsam gelang es mir, sie zu ordnen. Zweifellos entsprach der Bericht der Wahrheit. Vargo und etliche andere Namen des Berichts hatte ich bereits von Ischtar gehört, dem Kyriliane-Seher Vrentizianex war ich persönlich begegnet. Ich wusste längst noch nicht alles, aber ich hatte vom Beginn eines gewaltigen kosmischen Dramas erfahren, in das Crysalgira und ich immer tiefer verstrickt wurden. Bei meinen traumähnlichen Erlebnissen hatte ich Ischtar wieder gesehen, die Erinnerung an ihren Anblick schmerzte. Aber was bedeutete schon mein Schmerz über die Trennung von der »Goldenen Göttin« im Vergleich zu dem Schicksal jener Tropoyther, die als Varganen in ein anderes Universum vorgestoßen waren? »Atlan!« Crysalgiras Ruf brachte mich in die Wirklichkeit zurück. »Was bedeutet das alles?« » Wir werden sicher noch mehr erfahren.« Sie hatte längst nicht so viele Informationen wie ich – obwohl ich ihr von meinen Erlebnisse berichtet hatte –, deshalb musste das Gesehene für sie rätselhaft sein. »Später werde ich dir alles erklären.« Die Erinnye schwebte heran. »Der Bericht wird später fortgesetzt. Nun stehe ich für Fragen bereit.« Ich erinnerte mich, dass Ischtar zunächst dem Barbaren Ra und auch mir die Unsterblichkeit versprochen hatte. Hieß das, dass sie die Möglichkeiten eines eigenen Umsetzers nutzen konnte, um mit anderen Personen das Universum nach Belieben zu wechseln – und dass sich auf diese Weise die Unsterblichkeit der Varganen reproduzieren ließ? Ich dachte an die Jagd nach dem Stein der Weisen. Verbarg sich hinter dem Stein der Weisen das Geheimnis der Absoluten Bewegung? Ich wandte mich an die Erinnye: »Wo befindet sich die Eisige Sphäre?« »Hier im Mikrokosmos; sie wird Yarden genannt.« Die Bestätigung! Fast hatte ich es erwartet. Ich dachte an GroyaDol. Vor seinem Tod hatte er behauptet, schon in Yarden gewesen zu sein. Als Beweis hatte er auf seine Eisnarbe verwiesen. Was war das für ein schrecklicher Platz, wo die letzten Varganen lebten? Und was war mit den Tropoythern geschehen, die die Invasion des
Makrokosmos nicht mitgemacht hatten? Gab es diese mächtige Zivilisation nicht mehr? Magantilliken und sein Auftrag fielen mir ein. »Es ist sinnlos, wenn ich jetzt Fragen stelle. Deshalb schlage ich vor, dass du den Bericht fortsetzt.« »Ich bin einverstanden.« Ich blickte zur Decke und sah die Kugel wieder niedersinken. Gestalten wirbelten über ihre Oberfläche. Ich schloss die Augen und fühlte, dass meine Gedanken sich verwirrten. Ich hörte auf, Atlan zu sein. Ich war … Vargo Unmittelbar nach dem Übergang sanken die Temperaturen an Bord der achtzehnhundert Doppelpyramiden weit unter den Gefrierpunkt. Techniker und Ingenieure hatten Mühe, die Funktionsfähigkeit der Schiffe in vollem Umfang aufrechtzuerhalten. Selbst im riesigen Universum, das sie nun wieder verlassen hatten, hatte sich die varganische Technologie der der meisten dort angetroffenen Völker als überlegen erwiesen – doch nun drohte sie zu versagen. Seltsamerweise machte die plötzlich hereinbrechende Kälte den Besatzungsmitgliedern selbst nichts aus, sie schienen durch den zweiten Übergang zwischen den Existenzebenen eine Immunität gegen Kälte entwickelt zu haben. Das traf auch für Vargo zu, der in einer Kabine gefangen gehalten wurde. Das neue Phänomen veranlasste Kreton, den alten Wissenschaftler in die Zentrale zu rufen. »Ich möchte, dass Sie sich die Instrumente ansehen. Es sieht so aus, als hätte unsere Rückkehr Phänomene ausgelöst, für die wir noch keine Erklärungen gefunden haben.« »Die Kälte deutet auf einen Energieverlust hin.« Vargo hatte geahnt, dass es zu neuen Schwierigkeiten kommen würde. »Die Durchbruchstelle, die wir mit Hilfe der Absoluten
Bewegung geschaffen haben, ist instabil geworden, es gibt hier keine feste Grenze mehr zwischen den Existenzebenen.« »Was schlagen Sie vor?« Vargo fühlte angesichts der Hilflosigkeit seines Gegners keinen Triumph, schließlich waren sie alle von diesen Veränderungen betroffen. Es war noch nicht absehbar, welche Konsequenzen sich aus der Entwicklung ergaben. Vargo spürte, dass ihn die in der Zentrale anwesenden Besatzungsmitglieder erwartungsvoll ansahen. Trotz seiner Ächtung war er noch immer der anerkannte Fachmann im Umgang mit der Absoluten Bewegung. Der alte Wissenschaftler musterte die Kontrollen. In jenem Bereich, wo die Flotte auf ihre ursprüngliche Größe und Masse reduziert worden war, hatte sich ein nebelartiges Gebilde ausgebreitet. Die Schiffe befanden sich nun zwar im »Mikrokosmos«, aber auch innerhalb einer aus einer übergeordneten Existenzebene hervorbrechenden Blase. Der Materieaustausch hatte nicht einwandfrei funktioniert. Vargo befürchtete, dass sich diese »Kälteblase« allmählich vergrößern würde. Die Rückkehr verlief also wesentlich schwieriger, als sie zunächst angenommen hatten. »Wir haben etwas von der anderen Existenzebene mitgebracht. Das hat zu einer Aufweichung der hyperphysikalischen Grenze geführt.« Kretons Augen weiteten sich. »Dieser Bereich des Mikrokosmos ist in Gefahr.« »Ja. Die Gefahr ist nicht akut, aber sie wird sich ausweiten, wenn nichts dagegen unternommen wird.« »Was können wir tun?«, fragte einer der anderen Wissenschaftler. »Die Durchbruchstelle muss geschlossen werden. Zumindest müssen wir alles tun, damit sie sich nicht vergrößert. Vielleicht, indem wir in einer noch zu findenden Form Materie überführen.«
»Glauben Sie, dass wir mit unseren Schiffen diese Kälteblase verlassen können?«, fragte eine Frau. Vargo hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht, er wusste keine Antwort. Sie mussten es versuchen, nur so konnten sie es herausfinden. Angesichts der anstehenden Probleme rechnete Vargo nicht damit, dass er in sein Gefängnis zurückkehren musste. Die anderen brauchten ihn. Die Umstände seiner Freilassung waren alles andere als erfreulich, aber Vargo war entschlossen, seine Zusammenarbeit anzubieten. »Wir machen zunächst einen Versuch, ein Schiff herauszubringen«, schlug Kreton vor. »Es kommt darauf an, Tropoyth zu erreichen und unser Volk von unserer Rückkehr zu unterrichten.« »Auf Tropoyth lebt längst eine neue Generation«, wandte einer der Wissenschaftler ein. »Wie werden sie auf unsere Ankunft reagieren? Wir sind nicht gealtert, unsere Brüder und Schwestern leben nicht mehr. Es wird zu Konflikten kommen.« »Vielleicht weigern sie sich, uns aufzunehmen«, befürchtete jemand. Vargo trat von den Kontrollen zurück. »Wir sind unsterblich, steril und eiskalt. Ich befürchte, dass das noch nicht alles ist.«
Das kleine, robotisch gesteuerte Beiboot näherte sich der Grenze der Kälteblase. An Bord der TERROTH hielten sich Kreton, Vargo und alle anderen führenden varganischen Wissenschaftler auf, von hier konnte der Flug des unbemannten Schiffes ortungstechnisch einwandfrei beobachtet werden. In wenigen Augenblicken würde sich entscheiden, ob ein Verlassen der Kälteblase möglich war. In
der Zentrale der TERROTH herrschte gespannte Erwartung. Vargo wusste, dass es an Bord der übrigen Schiffe nicht anders aussah. Was sollten sie tun, wenn dieses Experiment scheiterte? Vargo wagte nicht, an eine solche Möglichkeit zu denken. »Es ist so weit.« Kretons Stimme klang krächzend. Seit ihrer Rückkehr in den Mikrokosmos hatte Vargo gelernt, diesen Mann richtig einzuschätzen. Kreton war keineswegs der Ignorant, für den er ihn gehalten hatte. Der Nachfolger Mamrohns war selbstloser, als er den Eindruck erweckte. Auf dem Bildschirm der Raumortung blitzte es auf. Einen Augenblick lang war eine kleine leuchtende Wolke zu erkennen, die sich jedoch rasch wieder auflöste. Vargos Blicke blieben auf den Bildschirm gerichtet, er wagte nicht, irgendjemand in der Zentrale anzusehen, denn er befürchtete, dass er den Ausdruck maßlosen Entsetzens in den Gesichtern der anderen nicht ertragen konnte. Jemand machte seiner Enttäuschung mit einem Aufstöhnen Luft. Kreton sagte ungläubig: »Es ist explodiert!« »Wir sind gefangen!«, schrie eine der Frauen. »Gefangen in dieser … eisigen Sphäre.« »Das war nur der erste Versuch.« Vargo raffte sich zu einer Stellungnahme auf. »Wir dürfen nicht aufgeben. Es wird einen Weg hinaus geben.« Er sollte Recht behalten.
Nachdem zwei weitere Beiboote explodiert waren, gab Kreton den Befehl, die Versuche vorläufig einzustellen. Es galt, die Eisige Sphäre, wie sie ihren neuen Aufenthaltsort nannten, zunächst einmal gründlich zu erforschen. Eine unmittelbare Lebensgefahr für die zurückgekehrten Varganen bestand nicht, denn die Schiffe konnten für lange Zeit als Lebensraum
dienen. Die Hoffnung, dass die Eisige Sphäre von tropoythischen Raumfahrern angepeilt und aufgesucht werden könnte, erfüllte sich zu Vargos Erstaunen nicht. Das Ausbleiben einer Hilfe von außen beunruhigte ihn mehr, als er den anderen gegenüber eingestand. Er entschloss sich, mit Kreton darüber zu sprechen. »Wir sind noch nicht lange genug hier«, antwortete Kreton. »Unser Volk hatte wahrscheinlich noch keine Gelegenheit, diesen Raumsektor anzufliegen.« Vargo rieb sich das Gesicht. »Ich weiß nicht. Die Sphäre hat eine große Ausdehnung und ist außerdem ein starker Hyperstrahler. Man hätte inzwischen auf sie aufmerksam werden müssen.« »Was könnte der Grund sein, warum wir noch keinen Kontakt haben?« »Es gibt mehrere Erklärungen. Ich habe schon überlegt, ob so große Verschiebungen zwischen den Existenzebenen stattgefunden haben, dass wir an einer völlig anderen Stelle des Mikrokosmos herausgekommen sind. Dieser Verdacht wurde inzwischen durch astronomische Untersuchungen widerlegt. Wir befinden uns in unserem Universum, in unserer mikrokosmischen Galaxis.« »Und weiter?« »Wir waren sehr lange fort. Inzwischen kann viel geschehen sein.« Kreton war intelligent genug, um die Hintergründigkeit der Antwort zu verstehen. »Unsinn. Was sollte geschehen sein?« »Nachdem wir den Makrokosmos erlebt haben, wissen wir, von welchen Zufälligkeiten unsere Existenz hier ›unten‹ abhängig sein kann. Vielleicht gibt es keine tropoythische Raumfahrt mehr, vielleicht gibt es nicht einmal mehr eine Zivilisation dieses Namens.« Vargo wunderte sich, dass ihm diese Worte so leicht über die Lippen kamen. Immerhin
deutete er die Möglichkeit an, dass das Volk, dem sie alle entstammten, nicht mehr existierte. Unbewusst ist die Trennung zwischen Tropoythem und Varganen längst vollzogen, erkannte Vargo erstaunt. Ich habe von meinem Volk wie von Fremden gesprochen. »Reden Sie mit keinem anderen Besatzungsmitglied über diesen Verdacht«, warnte ihn Kreton. »Wir haben schon Schwierigkeiten genug. Wenn jetzt bekannt wird, was Sie befürchten, kann es zu einer Katastrophe kommen.« Vargo glaubte nicht an diese Katastrophe. Aber die Zuversicht des Wissenschaftlers erwies sich rasch als trügerisch, denn die führende Gruppe unter Kreton hatte es immer schwerer, die Kontrolle über die Ereignisse in der Eisigen Sphäre zu behalten. An Bord einiger Dutzend Schiffe kam es zu Revolten, Wissenschaftler der Führung wurden abgelöst. Die Varganen wählten Techniker als ihre Anführer, weil sie sich von diesen Frauen und Männern die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Schiffe versprachen, was ihnen im Augenblickvorrangig erschien. Auch an Bord der TERROTH gab es Unzufriedene, aber niemand wagte, offen gegen Kretons Anordnungen zu protestieren. Seine Autorität reichte aus, um ein Überspringen der Revolten auf alle Schiffe zu verhindern, so dass die Wissenschaftler weiterhin in der Lage waren, gemeinsame Aktionen fast aller Besatzungen zu planen. Bedauerlich war nur, dass die Wissenschaftler viel Zeit zur Stabilisierung der politischen Lage aufwenden mussten, Zeit, die sie besser zur Erforschung der Eisigen Sphäre genutzt hätten. Als sich die Varganen mit den Gegebenheiten abzufinden begannen und sich wieder von ihren revoltierenden Artgenossen abwandten, kam es zum Eklat. Kreton, der von der TERROTH aus zu einem anderen Schiff unterwegs war, erreichte sein Ziel nicht. Das Beiboot wurde von Schiffen der
Aufständischen gestoppt und gewaltsam weggeschleppt. Die Entführung löste eine schwere Krise aus. Die besonnenen Varganen sahen sich ihres Anführers beraubt, der Frieden innerhalb der Eisigen Sphäre drohte durch die Aktionen einiger unüberlegt handelnder Frauen und Männer zu zerbrechen.
Das Schiff, auf das Kreton entführt worden war, trug den Namen ERMOTH und wurde von einem Erneuerungsrat befehligt. Diesem gehörten zwei Männer und eine Frau an: Verlos, Kandro und Veschnar. Es waren Techniker, die von sich behaupteten, die Besatzung ihres Schiffes stünde hinter ihnen. An eine gewaltsame Befreiung Kretons war nicht zu denken; für den Fall, dass dieser Versuch gemacht werden sollte, hatte der Erneuerungsrat mit Kretons Tod gedroht. Es gab unter den Wissenschaftlern keinen, der diese Drohung nicht ernst genommen hätte. An Bord der TERROTH kamen sie zu einer Besprechung zusammen, ein Mann namens Verkohr wurde zum vorläufigen Leiter der Gruppe bestimmt. Verkohr war energisch, aber nicht übermäßig intelligent. Für Vargo stand fest, dass dieser Mann nicht wegen seiner Fähigkeiten gewählt worden war, sondern weil von ihm erwartet wurde, dass er ein Mittel gegen die revoltierenden Raumfahrer fand. Er zögerte auch nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. »Wenn wir Kretons Leben schonen wollen, müssen wir abwarten, welche Bedingungen uns dieser so genannte Erneuerungsrat stellen wird. Die Aktion war nicht gegen Kreton persönlich gerichtet, sondern der Rat wollte auf diese Weise etwas erreichen, was er sonst aufgrund seines geringen Einflusses niemals verwirklichen könnte.« Es dauerte nicht lange, bis sich Kandro über Funk meldete.
Er war ein großer, düster aussehender Mann, der eine gewisse Scheu davor zu haben schien, sich auf dem Bildschirm zu zeigen. Vielleicht war er nicht gewohnt, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Das Gespräch, das sich zwischen Verkohr und Kandro entwickelte, konnte an Bord aller Schiffe empfangen werden. »Wir halten Kreton gefangen«, sagte Kandro nervös. »Wir werden einige Bedingungen stellen, ohne deren Verwirklichung der Wissenschaftler dieses Schiff nicht mehr lebend verlassen wird.« Vargo war sicher, dass dies keine leere Drohung war. Ungeachtet aller Nervosität war Kandro ein Fanatiker, der seine Ansichten um jeden Preis durchzusetzen versuchte. Verkohr verhielt sich klug, antwortete nicht, sondern wartete, dass der andere weitersprach. Das verunsicherte Kandro, er blinzelte im Licht. »Wir Techniker haben berechnet, wie wir den uns zur Verfügung stehenden Lebensraum, nämlich die knapp achtzehnhundert Schiffe, möglichst lange nutzen können.« »Und was ist das Ergebnis dieser Bemühungen?« Verkohr reagierte spöttisch, als sei ausgeschlossen, dass von der anderen Seite auch nur eine brauchbare Idee kommen könnte. »Im Augenblick wird die Energie aller Schiffe verschwendet. Kein Wunder, sie schweben weit verteilt in dieser Energieblase.« Vargo war überrascht, dass sich dieses Gespräch um technische Aspekte drehte; er hatte eigentlich erwartet, dass die Forderungen des Erneuerungsrats politischer Natur sein würden. »Was haben Sie dagegen einzuwenden?« »Wir fordern eine den Umständen entsprechende Rationierung der Energien.« Jetzt, da es um sein Fachgebiet ging, wirkte Kandro sicherer. »Das ist nur zu verwirklichen,
wenn alle Schiffe zu einem großen Pulk zusammengebracht und miteinander verbunden werden. Wir haben errechnet, dass jeweils drei Schiffe genügen, um den gesamten Pulk mit der nötigen Basisenergie zu versorgen. Sobald der Vorrat der drei Schiffe aufgebraucht ist, werden die nächsten Einheiten eingeschaltet. Auf diese Weise können wir fast für unbegrenzte Zeit hier leben.« Der Vorschlag überraschte Vargo. Er war zumindest wert, dass darüber diskutiert wurde. Die Energieversorgung aller Schiffe würde im Verlauf der nächsten Jahre zu einem Problem werden – auf dieser Basis allerdings konnte sie gelöst werden. Einige Schiffe konnten außerhalb des Pulks bleiben, um bei eventuell notwendig werdenden Einsätzen benutzt werden zu können. »Sie wissen, dass diese Idee undurchführbar ist«, hörte Vargo den Sprecher der Wissenschaftler sagen. »Ich denke nicht an die technischen Probleme, sondern daran, dass wir so bald wie möglich die Eisige Sphäre verlassen wollen. Eine Verbindung aller Schiffe würde auch politische und psychologische Schwierigkeiten mit sich bringen.« »Ja. Darüber müsste gesprochen werden. Wir geben Ihnen einen Tag Zeit, um über unsere Bedingungen zu beraten.« Das Gerät wurde ausgeschaltet. Nun? Verkohr sah sich im Kreis der Wissenschaftler um. Niemand wollte etwas sagen, so dass sich Vargo entschloss, den Tatbestand seiner Unpopularität zu missachten. Es ist eine gute Idee, signalisierte er. Vorerst gibt es keine Chance, die Eisige Sphäre zu verlassen, deshalb müssen wir mit allem, was uns hier zur Verfügung steht, sorgsam umgehen. Die anderen sahen ihn unwillig an, waren nicht bereit, diesen Vorschlag zu akzeptieren. Der Erneuerungsrat war der politische Gegner – er hatte Unrecht. Vargo verließ achselzuckend die Zentrale, sah keinen Sinn darin, mit den
Wissenschaftlern zu streiten. Die Zeit würde dem Erneuerungsrat in die Hände spielen. Vor seinen geistigen Augen sah Vargo bereits das Bild eines aus achtzehnhundert Raumschiffen bestehenden Pulks im Innern der Eisigen Sphäre. Wollten sie nicht aufgeben und sterben, war das der nächste Schritt zu ihrer Rettung. Der Prozess des Umdenkens beanspruchte ein halbes Jahr. Techniker und Wissenschaftler setzten sich an einen Tisch, um über die notwendigen Vorbereitungen zu beraten, Kreton wurde freigelassen. Erstaunlicher als diese Entwicklung war, dass außerhalb der Eisigen Sphäre noch immer kein tropoythisches Raumschiff erschienen war. So war es kein Wunder, dass die Varganen offen über die ketzerische Frage sprachen, ob sie vielleicht die letzten noch lebenden Tropoyther seien. Eine Reihe von Beobachtungen deutete überdies darauf hin, dass der Zeitablauf innerhalb der Eisigen Sphäre nicht mit dem der übrigen Galaxis korrelierte, sondern einer Art Dilatationseffekt unterworfen war – Jahre im Inneren entsprachen Jahrhunderten oder Jahrtausenden draußen. Vargo vermutete, dass es erst dann zu einer Angleichung kommen würde, wenn es gelang, einen Ausgang aus der Kälteblase zu finden, und überlegte, ob sich hier vielleicht eine modifizierte Version des Umsetzers einsetzen ließ.
Das Leben an Bord der Oktaederschiffe begann sich zu normalisieren. Der Pulk war praktisch fertig gestellt, in einem Kompromiss wurden zweihundert Einheiten nur provisorisch angedockt, so dass sie bei Bedarf leicht abgekoppelt werden konnten. Die Unsterblichen in der Eisigen Sphäre begannen darüber nachzudenken, was sie tun konnten, um nicht von Gleichförmigkeit und Langeweile umgebracht zu werden. Kandro und Kreton, die nun gemeinsam die neue Regierung
bildeten, verzeichneten einen Anstieg aggressiver Handlungen. Es kam zu drei Morden, die Anzahl der Selbstmörder wuchs auf achtzehn. Für Vargo war diese Entwicklung besorgniserregend, denn sie signalisierte den Zerfall der kleinen Gesellschaft, die mit ihrer Zerstörung begann, kaum dass sie sich gefestigt hatte. Im Verlauf einer Besprechung, an der neben Vargo sechs andere Wissenschaftler teilnahmen, schlug der Entdecker der Absoluten Bewegung vor, aktiv zu werden: Forschungs- und Arbeitspläne sollten ausgearbeitet werden – selbst wenn sie noch so sinnlos erschienen. »Die Varganen müssen glauben, dass ihr Leben einen Sinn hat, sonst werden sie sich selbst aufgeben«, warnte ein Wissenschaftler namens Metorg. »Wir müssen sie beschäftigen und in Bewegung halten.« »Solange wir mit dem Aufbau des Pulks beschäftigt waren, gab es keine Probleme«, fügte Vargo hinzu. »Jetzt haben wir kein direktes Ziel mehr, auf das wir hinarbeiten. Das ist unser Problem.« Kreton war von der Richtigkeit dieser Mahnungen überzeugt, aber der nüchterne Kandro hielt sie für übertrieben – neue Schwierigkeiten und Machtkämpfe zeichneten sich ab. Ein paar Tage nach dieser Besprechung nahm die Entwicklung jedoch eine unverhoffte Wendung. Vargo wurde von Kreton in die CESSORT gerufen, ein Schiff fast im Zentrum des Pulks. »Ich muss Ihnen etwas zeigen. Wenn nicht alles täuscht, haben wir ein neues Problem.« Vargo stellte keine Fragen, sondern folgte Kreton in die Aufenthaltsräume. Erstaunt stellte er fest, dass einer bewacht wurde – er lag in Dunkelheit, aber im Licht, das durch die offene Tür hereinfiel, sah Vargo zwei Varganen am Boden liegen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaltete Kreton die Beleuchtung ein. Vargo, der zunächst
geglaubt hatte, die beiden Männer am Boden seien ermordet worden, sah sich getäuscht. Sie lebten, aber ihre Körper befanden sich im Zustand einer rätselhaften Starre. »Sie gehören nicht zur Stammbesatzung der CESSORT«, sagte Kreton. »Wir haben sie von zwei anderen Schiffen hierher bringen lassen, wo sie beinahe gleichzeitig in diesem Zustand gefunden wurden. Ihre Namen sind Perlock und Barraton, beides Techniker.« Vargo beugte sich hinab und untersuchte die Leblosen kurz. »Ihre Bewusstlosigkeit ist so tief, dass ihr Gehirn so gut wie keine Reaktionen mehr zeigt. Wir haben sie gründlich untersucht, die Organe arbeiten einwandfrei, aber sie sind nicht mehr als Lebewesen in unserem Sinne zu bezeichnen. Es sind … Maschinen, wenn Sie so wollen.« Vargo richtete sich wieder auf. Kreton fuhr bitter fort: »Pure Hüllen.« »Sie befürchten, dass sich weitere Fälle ereignen könnten«, erriet Vargo bestürzt. »Ja.« Kreton sah ihn an, als wolle er fragen: Warum beschäftige ich mich noch mit all diesen Dingen, welchen Sinn hat das überhaupt? »Sollte es der Anfang einer Epidemie sein, ist es eine sehr merkwürdige Epidemie.« »Wir haben nichts gefunden, nicht den geringsten Hinweis. Sie liegen da und haben aufgehört zu denken. Als sei das Bewusstsein aus ihren Körpern gewichen.« »Gibt es irgendwelche Übereinstimmungen?« »Nein. Sie hatten vorher nichts miteinander zu tun. Wir haben ihre gesamte Umgebung nach Berührungspunkten untersucht. Sie wurden völlig unabhängig voneinander betroffen.« Vargo grübelte über dieses Problem nach. Natürlich gab es Zusammenhänge, Kreton und er waren nur nicht in der Lage, sie zu erkennen.
»Bisher konnten wir die Sache verheimlichen. Sollte es jedoch weitere Fälle geben …« Kreton überließ es Vargo, sich die Konsequenzen auszumalen. »Wir denken beide das Gleiche. Das ist kein medizinisches, sondern ein psychologisches, metaphysisches oder paranormales Problem. Von dieser Seite sollten wir es auch angehen.« »Das wird eine richtige Generalstabsarbeit.« Vargo nagte an der Unterlippe. Nach einer Weile schlug er vor: »Sagen Sie allen, was geschehen ist. Vielleicht sind viele ganz glücklich, wenn sie hören, dass überhaupt etwas passiert.« Kreton verstand und nickte. Innerhalb der nächsten Tage fielen dreiundvierzig weitere Frauen und Männer in die unheimliche Starre, die fast der nach dem Gebrauch des Kyrachtyl entsprach – und einer der Mondschattenpriester vermutete gar, dass es zu einer »Freisetzung ins Kyriliane« gekommen sei. Bevor jedoch Panikstimmung aufkommen konnte, erwachte Barraton und behauptete, er habe sich außerhalb der Eisigen Sphäre aufgehalten.
Der Techniker genoss es sichtlich, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Vargo wünschte, ein weniger eitler Vargane sei zuerst aus der Starre erwacht, um über seine Erlebnisse zu berichten, denn bei Barraton bestand die Gefahr, dass er übertrieb oder Ereignisse erfand, um sich wichtig zu machen. Neben den beiden Regierungsvertretern befanden sich die wichtigsten Wissenschaftler im Aufenthaltsraum, um Barratons Bericht zu hören. Vargo brauchte sich nur umzusehen, um eine große Bereitschaft bei allen Beteiligten zu erkennen – die Bereitschaft, um jeden Preis etwas Sensationelles zu erfahren, das zur Veränderung der augenblicklichen Situation innerhalb der Eisigen Sphäre beitragen konnte.
»Berichten Sie, was sich ereignet hat«, forderte Kreton den Techniker auf. Barraton sah weder krank noch angegriffen aus, er hatte die sieben Tage der Starre ohne sichtbaren Schaden überstanden. »Ich war in meiner Kabine, als es geschah. Ich lag auf dem Bett und dachte darüber nach, dass wir in der Eisigen Sphäre gefangen sind. Dabei überlegte ich, wie wir von hier entkommen könnten.« »Einen Augenblick. Es ist wichtig, dass wir über Ihren Zustand informiert werden. Befanden Sie sich im Halbschlaf – war es eine Art Traum, was Sie erlebten?« Barraton schüttelte den Kopf. »Ich hatte den intensiven Wunsch, die Eisige Sphäre zu verlassen, das ist alles. Plötzlich löste sich die vertraute Umgebung vor meinen Augen auf, ich spürte, dass ich meinen Körper verließ.« Seine Worte lösten Unruhe unter den Zuhörern aus. »Sie wollen sagen, dass Ihr Bewusstsein den Körper verließ«, warf Metorg ein. »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall fand ich mich plötzlich in einem anderen Körper wieder, im Körper eines Tropoythers, der tot in einem Sterilisationsbehälter lag.« »Woher wussten Sie das so genau?«, wollte Vargo wissen. Barraton sah ihn an und sagte ungeduldig: »Ich wusste es nicht sofort, ich fand es erst später heraus. Zunächst merkte ich, dass ich in einem anderen Körper war, der unter meinem Einfluss zum Leben erwachte. Ich konnte mich aufrichten und den Behälter verlassen. Ich befand mich in einer subplanetarischen tropoythischen Station, wo etwa zweihundert Behälter mit toten Männern und Frauen standen. Lebende Tropoyther entdeckte ich nicht.« »Was haben Sie dann getan?«, wollte Kandro wissen. »Offen gestanden hatte ich große Angst. Ich wagte nicht, den Raum zu verlassen, aber es kam auch niemand zu mir herein.«
Kandro runzelte die Stirn. »Haben Sie die ganze Zeit dort unten zugebracht? Sieben Tage?« »Ja.« »Sie können also nicht genau sagen, ob Sie sich auf Tropoyth befanden?« »Nein, es kann auch ein Kolonialplanet gewesen sein.« Vargo entschuldigte sich im Stillen bei dem wieder erwachten Techniker. Barraton hatte der Versuchung widerstanden, eine Geschichte zu erfinden, hatte sogar zugegeben, dass ihn die Furcht an den Raum gebunden hatte. Die Zuhörer schienen enttäuscht zu sein, viele von ihnen waren nicht bereit, Barraton zu glauben. »Vermutlich haben Sie geträumt«, sagte Kandro. Kreton stand auf. »Das ist völlig ausgeschlossen. Wir haben diesen Mann untersucht, sein Gehirn zeigte während der Zeit der Starre nicht die geringsten Anzeichen einer Reaktion.« »Sie haben ihn einmal untersucht, nicht ununterbrochen«, erinnerte Kandro. Kreton setzte zu einer heftigen Erwiderung an, besann sich aber, dass es besser war, in Anwesenheit Dritter keine Auseinandersetzungen zu beginnen. Vargo kam ihm zu Hilfe. »Es handelt sich offensichtlich um Fälle von gezielter Bewusstseinswanderung. Barratons Geist, sein Ego, seine Seele oder wie immer wir es nennen wollen, verließ den Körper, um in einen anderen Körper überzugehen. Erinnern Sie sich an die Effekte, die bisher durch die Benutzung der Absoluten Bewegung aufgetreten sind: Wir wurden unsterblich, steril und können inmitten dieser eiskalten Umgebung leben. Nun kommt die Fähigkeit der Bewusstseinsteleportation hinzu. Wir sollten dankbar sein, dass es dazu gekommen ist, denn jetzt haben wir endlich eine Möglichkeit, die Eisige Sphäre zu verlassen und uns draußen umzusehen. Ich bin sogar überzeugt, dass wir mit Hilfe der Wirtskörper, in die wir
eindringen, Einfluss auf die Ereignisse außerhalb der Eisigen Sphäre nehmen können.« Vargo war sich sicher, dass sich jede seiner Vermutungen realisieren lassen würde. Als die Besprechung beendet war, zog sich der alte Wissenschaftler in seine Kabine zurück. Er hatte einen Entschluss gefasst. Warum sollte ihm nicht gelingen, was Barraton und die anderen erreicht hatten? Er ließ sich auf seinem Bett nieder und schloss die Augen. Nach einer Weile gelang es ihm, seine Gedanken völlig zu konzentrieren. Er wünschte, die Eisige Sphäre zu verlassen – und es gelang ihm! Die Zeitspanne, die er für den Wechsel benötigte, war nicht messbar; Vargo war sich sicher, dass sich der Vorgang in Nullzeit vollzog. Er spürte, dass er einen anderen Körper hatte – lag allerdings in völliger Dunkelheit. Bereits jetzt überlegte er, wie sie lernen konnten, den Wechsel zu steuern, so dass es möglich war, Ort und Körper zu bestimmen. Er befand sich in einem tropoythischen Körper, der vor langer Zeit gestorben, aber in seinem Sterilisationsbehälter völlig erhalten geblieben war. Da Barraton von einem ähnlichen Vorgang berichtet hatte, nahm Vargo an, dass alle Varganen, die diesen Prozess bisher erlebt hatten, in toten Körpern zu sich gekommen waren. Vargo bewegte sich, fühlte die Enge des Behälters. Offensichtlich war es ihm nicht möglich, die Erinnerungen und das Wissen des toten Gehirns zu nutzen, denn ihm standen nur die eigenen Erfahrungen und Informationen zur Verfügung. Er wusste nicht, wie der Tote hieß und auf welcher Welt er sich befand. Als er sich aufrichtete, stieß er gegen den Deckel des Behälters und presste die Hände dagegen. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg, so dass er befürchtete, nicht in diesem Körper bleiben zu können. Er hätte zurückkehren und einen neuen Versuch unternehmen müssen – da er aber die damit
verbundenen Risiken nicht kannte, entschloss er sich, die Anstrengungen zu verstärken. Es gelang ihm, die Beine anzuziehen und die Füße gegen den Deckel zu stemmen. Nun konnte er die volle Kraft seines neuen Körpers einsetzen. Der Deckel gab nach und kippte zur Seite. Licht fiel in den Behälter. Vargo blickte zu einer stählernen Decke hinauf, an der einige Scheinwerfer angebracht waren. Genau wie Barraton befand er sich in einer subplanetarischen Station. Die Bauweise der Decke ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um eine von Tropoythern gebaute Anlage handelte. Vargo richtete sich auf. Der Behälter war der achte in einer langen Reihe, die auf einer Art Rost standen, der sich an einer Wand des großen Raumes entlangzog. Es war unheimlich still. Vargo kletterte aus dem Behälter und sprang vom Rost, blickte an sich hinab. Der Körper war weiblich, groß, muskulös und jugendlich. Vargo lächelte bei dem spontanen Gedanken, dass die Gefahr bestand, dass er sich in sich selbst verliebte. Er ging an den Behältern entlang und überzeugte sich, dass in jedem ein toter Tropoyther lag. Plötzlich verstand er, warum Barraton Angst empfunden hatte. Das Bewusstsein, mit diesen vielen Toten allein zu sein, ängstigte auch Vargo. Er ahnte, dass er bei seinen Nachforschungen schreckliche Entdeckungen machen würde. Für Vargo war nicht feststellbar, wann sie gestorben waren, sie mussten jedoch schon ziemlich lange hier liegen – dicke Staubschichten hatten sich überall abgelagert. War es nach dem Aufbruch der tropoythischen Besatzung zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes gekommen? Vargo konnte diese Möglichkeit nicht mehr ausschließen, hatte nicht vergessen, dass bisher kein tropoythisches Raumschiff in der Nähe der Eisigen Sphäre aufgetaucht war. Obwohl die Station nicht zerfallen war, hatte Vargo den Eindruck, dass alles in seiner Umgebung sehr alt war. An der dem Rost gegenüberliegenden Wand befand sich
ein großes Tor. Vargo bewegte sich nur vorsichtig und voller Scheu darauf zu, musste seine Gefühle unterdrücken. Wenn Barraton in dieser oder in einer ähnlichen Station herausgekommen war, konnte Vargo verstehen, dass der Techniker den Raum nicht zu verlassen gewagt hatte. Vargo jedoch war Wissenschaftler, war hier, um zu ergründen, was sich ereignet hatte. Ab und zu blieb er stehen, um zu lauschen. Es blieb still, nicht einmal von Maschinen ausgelöste Geräusche waren hörbar. Vor dem Tor blieb Vargo stehen. Konnte er riskieren, diesen Raum zu verlassen? Was erwartete ihn draußen – was war draußen? Hinter dem Tor konnte absolutes Vakuum herrschen, tödliche Hitze, strahlenverseuchte Luft oder andere Schrecken. Je länger Vargo nachdachte, desto unentschlossener wurde er. Im Grunde genommen fürchtete er jedoch weniger die Gefahren als die Wahrheit. Hinter dem Tor wartete die Wahrheit.
Lange stand Vargo neben dem Tor, ohne den entscheidenden Schritt zu wagen. Inzwischen hatte er den Verschlussmechanismus ein paarmal untersucht und festgestellt, dass es nicht schwierig sein würde, diesen Raum zu verlassen. Er kehrte zum Rost zurück und las die Beschriftungen an den Behältern. Die Namen der Toten waren nicht eingetragen. Vargo wusste, dass er nur den Körper zum Leben erweckt hatte, das Bewusstsein der jungen Frau war nicht wieder belebt worden. Diese Feststellung war beruhigend und makaber zugleich. Später stand der Wissenschaftler wieder neben dem Tor und musste sich zwingen, seine Hände nach dem Verschlussmechanismus auszustrecken. Das Metall war kühl, eine Staubschicht hatte sich darauf abgesetzt. Vargo drückte den Hebel nach unten, wunderte sich nicht über die einfache
Konstruktion des Verschlusses. Seine Hersteller hatten sicher mit der Möglichkeit gerechnet, dass er von Fremden bedient werden könnte. Der Hebel rastete ein, das Tor glitt zur Seite. Vargo trat einen Schritt zurück und wartete mit angehaltenem Atem, schloss unwillkürlich die Augen. Was immer er befürchtet hatte, trat nicht ein. Als er die Augen aufschlug, erblickte er eine breite Treppe, die steil nach oben führte. Am Ende befand sich ein beleuchteter Raum, den Vargo von seinem Platz aus jedoch nur als Ausschnitt einsehen konnte. Das Geräusch der eigenen Schritte erschreckte den Varganen, als er die Treppe hinaufging. Er blieb jedoch nicht stehen. Jetzt, da er seine Furcht endlich unterdrückt hatte, wollte er das einmal begonnene Unternehmen auch zu Ende führen. Die Treppe mündete in das Innere einer transparenten Kuppel, die sich auf der Oberfläche eines Planeten emporwölbte. Der Planet hatte keine Atmosphäre, das Land sah aus, als sei es von einer gewaltigen Fräse eingeebnet worden. Die Sonne brannte gnadenlos auf das platt gewalzte Land, nur eine filternde Beschichtung im Material der Kuppel verhinderte, dass Vargo geblendet wurde. Im Innern der Kuppel war lebenserhaltender Sauerstoff, eine Schleuse war zu erkennen. Über ihr stand in großen Buchstaben: AUSGANG NACH TROPOYTH. Vargo taumelte auf die Schleuse zu, war sich nicht bewusst, dass er schrie. Seit ihrer Rückkehr in den Mikrokosmos hatte er geahnt, dass die tropoythische Zivilisation nicht mehr existierte – nun sah er den Beweis. Aus dem einst blühenden Planeten war eine Ödwelt geworden, hier lebte nichts und niemand mehr. Vargo brach vor der Schleuse zusammen, wünschte den Tod herbei, der ihn erlösen würde.
9. Atlan: Ich kam nur langsam wieder zur Besinnung. Alles, was ich in traumähnlicher Form erlebte, hatte sich vor langer Zeit tatsächlich ereignet. Mit Hilfe der seltsamen Kugel übermittelte die Erinnye ein exaktes Bild der varganischen Geschichte. Ich hatte erfahren, dass die Rückkehr der Varganen in ihren ursprünglichen Lebensraum schreckliche Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Die Varganen mussten in der Eisigen Sphäre leben, aus der sie sich nur langsam durch Bewusstseinsteleportation zu befreien begannen. Yarden und die Eisige Sphäre waren identisch. Meine Erlebnisse im Mikrokosmos ließen nur den Schluss zu, dass die letzten Tropoyther noch immer innerhalb der Eisigen Sphäre lebten. Dass sie die Fähigkeit der Bewusstseinsübertragung inzwischen perfekt beherrschten, hatte ich am Beispiel Magantillikens erfahren. Der varganische Henker war mit seinem Bewusstsein in Varganenkörper im Standarduniversum vorgedrungen. Die Frage, die mich jetzt beschäftigte, hieß: Warum hatte Magantilliken diesen Auftrag erhalten? Ich war sicher, dass die Varganen längst eine Möglichkeit gefunden hatten, die Eisige Sphäre auch körperlich zu verlassen, allerdings musste es für sie einen zwingenden Grund geben, immer wieder dorthin zurückzukehren. Vielleicht, überlegte ich, hängt das mit der in diesem Gebiet herrschenden Kälte zusammen? Warum aber gab es die Kreuzzüge nach Yarden? Wozu hatten die Varganen die Gefühlsbasen errichtet? Sicher war nur, dass die wenigen Varganen oder Tropoyther diese mikrokosmische Galaxis beherrschten. Die Tejonther mochten eine bedeutende lokale Macht sein, aber sie wurden von den Tropoythern manipuliert, während andere Völker vermutlich überhaupt keinen Einfluss hatten. »Ich glaube«, wandte ich mich an die Erinnye, »dass die Unsterblichen in der Eisigen Sphäre pervertiert sind. Was sie erlebt haben, hat sie wahnsinnig werden lassen.« Das Wesen antwortete nicht. Unwillkürlich fragte ich mich, ob
Vargo, Kreton, Kandro und wie sie alle hießen, noch immer lebten. Vielleicht bestand sogar die Möglichkeit, diese Wesen kennen zu lernen. Wie würde ich bei einem Zusammentreffen mit ihnen reagieren? Welche Katastrophe war über das tropoythische Volk hereingebrochen? Hatten die Tropoyther die Entdeckung der Absoluten Bewegung mit ihrem Untergang bezahlt? Oder hing es mit dem angedeuteten Umsturz zusammen, der Mamrohn veranlasst hatte, mit der Invasionsflotte den Übergang zu vollziehen? Zu vieles blieb unbeantwortet. So interessant der Blickwinkel Vargos auch sein mochte – in seiner Abgeschiedenheit und Isolation hatte er entscheidende Dinge gar nicht mitbekommen oder bestenfalls am Rande erfahren. »Ich bin müde«, sagte Crysalgira. Ich wandte mich schuldbewusst zu ihr um. Im Verlauf des letzten Berichts hatte ich sie völlig vergessen. Meine Gedanken kreisten um das kosmische Schauspiel, das ich erlebt hatte. »Es ist besser, wenn wir eine Pause einlegen«, schlug die Erinnye vor. »Sobald Sie ausgeruht sind, werden Sie weitere Informationen erhalten.« Diese Bemerkung ermunterte mich zu einigen Fragen. »Ich hätte gern Auskunft über das Schicksal meines Sohnes Chapat, der von euch entführt wurde. Befindet er sich in der Eisigen Sphäre? Was ist mit ihm geschehen?« »Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.« »Was soll mit Crysalgira und mir geschehen, wenn diese Vorstellung beendet ist?« »Sie werden in die Eisige Sphäre gebracht.« Meine Befürchtungen bestätigten sich. Die Varganen waren auf Crysalgira und mich aufmerksam geworden. Sie wussten, dass wir aus dem Makrokosmos kamen. Mein Verhältnis zu Ischtar, die in ihren Augen eine Rebellin war, musste sie zu dem Schluss kommen lassen, dass ich ein Gegner der Unsterblichen der Eisigen Sphäre war. Welche Konsequenzen ergaben sich für Crysalgira und mich daraus? Ich machte mir Hoffnung, indem ich mir ins Gedächtnis rief
dass die Eisige Sphäre der Ort war, von dem aus wir am ehesten in das Standarduniversum zurückkehren konnten. Natürlich hätte ich es vorgezogen, als freier Mann und nicht als Gefangener zu den Varganen zu kommen. Die Metallspiralen lösten sich von meinem Körper, ich konnte die Mulde verlassen, half Crysalgira auf die Beine. »Ich führe Sie in den Ruheraum«, kündigte die Erinnye an und schwebte uns voraus. Als wir uns dem Ausgang näherten, stand dort plötzlich ein Mann. Ein Vargane! Er war hochgewachsen und hatte alle körperlichen Merkmale seines Volkes. Obwohl ich ihn niemals zuvorgesehen hatte, kam er mir bekannt vor. Sein Erscheinen irritierte mich, ich blieb stehen und ergriff Crysalgiras Arm. Der Mann machte eine kurze Geste, worauf sich die Erinnye in aller Eile zurückzog. War er ein echter Unsterblicher oder nur Träger eines varganischen Bewusstseins? »Wer sind Sie?«, fragte ich unbehaglich. Er lächelte. Die Art, wie er sich bewegte, verstärkte den Eindruck, dass ich ihm schon einmal begegnet war. »Du weißt, wer ich bin.« Da erkannte ich ihn. »Magantilliken«, stieß ich hervor. »Der echte Magantilliken.« »Ja. Du hast mich schon in verschiedenen varganischen Körpern gesehen, Arkonide, aber diesmal stehe ich selbst vor dir. Ich habe einen neuen Auftrag erhalten, wurde mit der Organisation des Kreuzzugs betraut.« Der Unterton in seiner Stimme war unüberhörbar. Er wirkte niedergeschlagen. Wahrscheinlich durfte er noch immer nicht in die Eisige Sphäre zurückkehren, weil er bei der Hinrichtung Ischtars versagt hatte. » Warum sollen wir nach Yarden gebracht werden?«, stellte ich die Frage, die mir die Erinnye nicht beantwortet hatte. »Ahnst du das nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Kommt. Ich führe euch in den Ruheraum.« Bisher war er mir immer als Gegner gegenübergetreten, während
er mir hier, in seinem ureigensten Lebensbereich, eher einen hilflosen als einen gefährlichen Eindruck machte. Was Magantilliken als Ruheraum bezeichnet hatte, erwies sich als ein behaglich ausgestattetes Zimmer. »Ich verlasse euch jetzt.« »Sag mir, was dich bedrückt«, forderte ich ihn spontan auf. »Es ist nichts«, erwiderte er müde. »Vielleicht haben wir alle schon zu lange gelebt.« Damit schloss sich die Tür hinter ihm. »Er ist einsam«, stellte Crysalgira mit weiblicher Intuition fest. »Ich habe Mitleid mit ihm.« Ich lachte rau. »Du hättest ihn als unerbittlichen Henker erleben sollen, dann würdest du anders von ihm denken. Solange sein Bewusstsein mit den Körpern toter Varganen arbeiten konnte, machte er einen sehr selbstbewussten Eindruck.« »Es zählt nur, was hier ist.« Gegen ihre weibliche Logik kam ich nicht an. »Seine Erlebnisse im Standarduniversum sind bedeutungslos, sie gleichen den Erfahrungen, die wir unter dem Einfluss der transparenten Kugel gemacht haben.« Es bestand keine unmittelbare Lebensgefahr, zumal die Hoffnung bestand, bald an jener Stelle zu sein, von wo aus es einen Weg zurück ins Standarduniversum gab. Während ich badete, begann ich bereits Pläne zu schmieden. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Chapat zu entführen und eine Waffe gegen Orbanaschol III. aus dem Mikrokosmos zu rauben? Sollte mir das gelingen, wollte ich trotz aller Widrigkeiten, die ich hier erlebt hatte, zufrieden sein. Meine Hoffnung, dass uns Magantilliken zur nächsten »Vorstellung« abholen würde, erfüllte sich nicht. An seiner Stelle erschien die Erinnye und sagte, dass wir nun den Schluss des Berichtes erleben sollten. »Wo ist Magantilliken? Ich möchte mit ihm sprechen, das musst du ihm mitteilen.« »Er wird zurückkommen, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, sagte das durchsichtige Wesen. Vergeblich versuchte ich, das Gesicht
hinter den durcheinander wirbelnden Eiskristallen zu erkennen. »Ich führe euch.« Es hatte keinen Sinn, Einwände zu erheben. Solange wir in der Gefühlsbasis gefangen waren, mussten wir die Anordnungen befolgen. Abgesehen davon war ich sehr daran interessiert, zu erfahren, was sich nach Vargos Ausflug auf dem zerstörten Planeten Tropoyth ereignet hatte. Crysalgira und ich wurden in den Raum mit der Kugel gebracht. Wir wussten, worauf es ankam, ließen uns in den Mulden nieder. Nachdem sich die Spiralarme herabgesenkt hatten, kam Bewegung in die Kugel. Die Erinnye stand reglos ein paar Schritte entfernt und wartete. Während ich noch darüber nachdachte, ob Magantilliken in der Nähe war und uns heimlich beobachtete, sank die Kugel herab, schien mich aufzusaugen. Meine Umgebung hüllte sich in einen undurchsichtigen Nebel, abermals war ich … Vargo Nachdem er eine Zeit lang apathisch vor der Schleuse gelegen hatte, begann er sich wieder für seine Umgebung zu interessieren. Seine Blicke suchten den Boden ab. Dabei entdeckte er einige feine Rillen und faustgroße Vertiefungen. Er fand heraus, dass sich einige Bodenplatten hochheben ließen. Darunter befanden sich mehrere Ausrüstungsdepots. Vargo fand Nahrungskonzentrate, Waffen, Ortungsgeräte und mehrere Schutzanzüge. Alles in einwandfreiem Zustand. Vargo legte einen Schutzanzug an, griff nach einem Stabstrahler und ging wieder zur Schleuse. Er überlegte, ob es überhaupt einen Sinn hatte, die Station zu verlassen. Draußen war nur totes Land zu sehen, das bis zum Horizont reichte. Vargo konnte nicht fassen, dass dies der Planet war, den er vor vielen tausend Jahren verlassen hatte. Er verließ die Kuppel mit der Überzeugung, dass seinem Ego keinerlei Gefahr
drohte. Selbst wenn der weibliche Körper, in dem er sich aufhielt, zerstört werden sollte, konnte sich Vargos Bewusstsein blitzschnell in den eigenen Körper in der Eisigen Sphäre zurückziehen. Vargo wusste nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte. Das Land sah überall gleich aus. Er ging in Richtung der untergehenden Sonne. Als sie hinter dem Horizont verschwand, schaltete er den zu seiner Ausrüstung gehörenden Scheinwerfer ein. Das Licht fiel auf grauen, rissigen Boden. Der Schutzanzug schützte den Körper vor der extremen Kälte. Nachdem er einige Zeit durch die Einöde gewandert war, stieß Vargo auf einen kleinen stählernen Bunker, der nur zu einem Teil aus dem Boden ragte. Über eine Art Rutsche gelangte Vargo zum Eingang. Das Tor stand halb offen. Vargo leuchtete in den Raum. Es gab Hunderte von Kontrollgeräten und mehrere Datenspeicher. Der Bunker war eine kleine Messstation. Vargo war sicher, dass er erst nach der Katastrophe erbaut worden war. Die Technik glich der tropoythischen, aber als Vargo eintrat, um die Instrumente näher zu betrachten, stellte er fest, dass dieses Gebäude und seine Einrichtung vermutlich nicht von Tropoythern geschaffen worden waren. Vargo verzog das Gesicht. Viel hatten die Unbekannten sicher nicht herausgefunden. Er blieb innerhalb des Bunkers, bis die Sonne wieder aufging, dann setzte er seine Wanderung fort. Das Land änderte sein Aussehen nicht. Vargo entschloss sich zur Umkehr. Die Spuren im feinen Staub wiesen ihm den Weg. Der Körper, den er benutzte, zeigte die ersten Ermüdungserscheinungen, aber das war Vargo gleichgültig. Er hätte sein Bewusstsein sofort in die Eisige Sphäre transferieren können, aber es widerstrebte ihm, den schönen Frauenkörper in der Wüste zurückzulassen. Er war entschlossen, ihn in die Station zurückzubringen und im
Sterilisationsbehälter zurückzulassen. Plötzlich war am Horizont eine Gestalt zu sehen. Vargo blieb erschrocken stehen. An eine Begegnung mit einem lebendigen Wesen hatte er nicht geglaubt. Der oder die Fremde schien ihn ebenfalls gesehen zu haben. Vargo fragte sich, ob dieses Wesen zu jenem Volk gehörte, das den Bunker erbaut hatte, und machte seine Waffe schussbereit. Sie näherten sich einander mit großer Vorsicht; je näher das Wesen kam, desto sicherer wurde Vargo, dass es sich um einen Tropoyther handelte. Er hatte bereits aufgehört, daran zu glauben, dass es außer den unsterblichen Varganen in der Eisigen Sphäre noch Angehörige seines Volkes in dieser Galaxis gab. Als sie noch hundert Schritte voneinander entfernt waren, machte Vargo den Versuch, den Unbekannten über Helmfunk anzusprechen. »Woher kommen Sie?«, erkundigte er sich. »Wer sind Sie?« »Ich schlage vor, dass Sie damit beginnen, diese Fragen zu beantworten«, gab der andere in tropoythischer Sprache zurück. Diese Redewendung kam Vargo seltsamerweise bekannt vor. Er beschloss, den Verdacht, der in ihm aufstieg, auszusprechen. »Sie sind Kandro. Ihr Bewusstsein hat Ihren Körper verlassen und ist hier herausgekommen.« Der andere sah ihn mit grenzenloser Verblüffung an. »Woher … woher wissen Sie das?« »Sie sollten es eigentlich wissen. Ich bin sicher, dass es hier bald von Varganen wimmeln wird. Alle werden auf dem Weg der Bewusstseinsteleportation aus der Eisigen Sphäre ausbrechen wollen.« »Sie kommen auch von dort?« »Ja, ich bin Vargo.«
Damit
begann
eine
Zeit
der
unkontrollierten
Bewusstseinswanderungen. Nachdem die Varganen gelernt hatten, die Eisige Sphäre auf diesem Weg zu verlassen, machten sie häufig Gebrauch davon. Der Hochstimmung, die durch diesen Erfolg ausgelöst wurde, folgte jedoch bald Ernüchterung. Wohin sie auch kamen – überall gab es nur tote Tropoyther in Konservierungsbehältern. Während die Unsterblichen in den Oktaederschiffen noch unkontrolliert Versetzungen ihrer Bewusstseine durchführten, begannen die Wissenschaftler bereits zu überlegen, auf welche Weise die neue Fähigkeit optimal genutzt werden konnte. Wir haben die große Chance, uns mit Hilfe toter Körper außerhalb der Eisigen Sphäre zu bewegen, signalisierte Kreton während einer der Besprechungen. Somit wird es jetzt Zeit, den Versuch zu wagen, von außen einen Zugang in die Eisige Sphäre zu schaffen. Die Wissenschaftler arbeiteten zahlreiche Experimentalprogramme aus, die nach und nach realisiert werden sollten. Kreton und Vargo, die die Projekte leiteten, waren sich darüber im Klaren, dass bei allen Versuchen mit äußerster Behutsamkeit vorgegangen werden musste. Die Unsterblichen hatten keine Eile, und nun, da sie sicher sein konnten, dass sie neben den im Makrokosmos zurückgebliebenen Rebellen die letzten Tropoyther waren, gab es eine besondere Verpflichtung, alles für den Erhalt der kleinen Gruppe zu tun. Durch Hunderte von Bewusstseinsversetzungen lernten die Wissenschaftler, wie dieser Vorgang genau gesteuert werden konnte. Sie gaben ihr Wissen an alle Varganen weiter, so dass es ihnen möglich wurde, jede Welt aufzusuchen, auf der sich tote Tropoyther befanden. Diese Toten bildeten die einzigen Empfangsstationen, es gelang den Varganen trotz aller Bemühungen nicht, ihr Bewusstsein in die Körper lebender fremder Wesen zu transferieren. Überdies stellte sich bald
heraus, dass ein Bewusstsein nicht unbegrenzt außerhalb der Eisigen Sphäre bleiben konnte. Nach einer bestimmten Zeit musste es zurückkehren oder zumindest den Körper wechseln. »Wir kommen mehr und mehr in eine Sackgasse«, befürchtete Kreton nach Abschluss des ersten Projekts. »Was nutzt es uns, wenn wir in die Körper von Toten transferieren können und doch auf den jeweiligen Planeten gefangen sind?« Vargo teilte die Bedenken des Mannes, der inzwischen sein Freund geworden war. Schon zeigte sich, dass die Unsterblichen an den Körperübernahmen das Interesse zu verlieren begannen. Wohin sie auch kamen – die Umwelt war zerstört. Die Eisige Sphäre war um einige trostlose Außenposten erweitert worden, die Erkenntnis jedoch, in einem eisigen Gefängnis leben zu müssen, war geblieben. Noch war die systematische Untersuchung aller tropoythischen Planeten längst nicht abgeschlossen, aber Vargo hatte inzwischen wenig Hoffnung, dass sie auf einer der Welten ein Raumschiff finden würden, das ihnen die Möglichkeit gab, außerhalb der Eisigen Sphäre im Weltraum zu operieren. Was immer geschehen war, es hatte die tropoythische Zivilisation nachhaltig ausgelöscht. Wie so oft in solchen Situationen führte der Zufall eine Wende herbei. Vargo, der mit einer achtzehnköpfigen Mannschaft zum Kolonialplaneten Darkhos teleportierte, stieß dort zum ersten Mal auf eine Expedition fremder Intelligenzen, die mit einem Raumschiff gelandet waren, um die tropoythische Station zu untersuchen.
Vargo wartete, bis die achtzehn Männer und Frauen aus den Sterilisationsbehältern geklettert waren, dann stellten sie sich gegenseitig in ihren neuen Körpern vor. Vargo führte die
Gruppe in die eigentliche Station. Die Anlagen glichen sich bis auf wenige Einzelheiten auf allen bisher besuchten Welten. Noch hatten die Varganen keine Hinweise darauf, welcher Art die Katastrophe gewesen war. Als der alte Wissenschaftler die oberen Räume betrat, sah er außerhalb der Kuppel ein hellrotes, stromlinienförmiges Raumschiff stehen und erkannte sofort, dass es sich um kein tropoythisches Schiff handelte. Eine Expedition fremder Wesen war auf Darkhos gelandet. »Zurück!«, rief Vargo sofort. »Draußen sind fremde Raumfahrer. Sie dürfen uns nicht entdecken.« Sie zogen sich in die unteren Räume zurück und berieten, wie sie sich verhalten sollten. »Wahrscheinlich sind sie noch nicht lange hier«, vermutete Techniker Zerrog, der sich jetzt im Körper eines Halbwüchsigen aufhielt. »Sie hätten sonst diese Station längst untersucht.« »Es kann sich auch um ein unbemanntes Raumschiff handeln«, sagte Wissenschaftlerin Leschtar, die einen weiblichen Körper belebt hatte. »Wir warten ab«, entschied Vargo. »Nötigenfalls verbringen wir ein paar Tage hier unten. Ich kehre jetzt in die Eisige Sphäre zurück und erstatte Kreton und Kandro Bericht. Wir brauchen Verstärkung.« Da es in dieser Station insgesamt nur dreiundfünfzig Körper gab, war die maximale Stärke der Gruppe festgelegt. Vargo transferierte zurück und meldete seine Entdeckung der Regierung. »Wir müssen dieses Schiff unter allen Umständen in unseren Besitz bringen«, sagte Kandro sofort. »Es ist unwahrscheinlich, dass wir noch einmal derartiges Glück haben werden; aus diesem Grund darf nichts schiefgehen.« Vargo spürte deutlich, dass auch dieser nüchtern denkende Mann von großer Erregung ergriffen wurde. »Vom Aussehen
des Schiffes lässt sich nicht auf die Kampfstärke der Besatzung schließen. Sie wird uns das Schiff jedoch auf keinen Fall kampflos überlassen.« »Wir besetzen alle sterilisierten Körper auf Darkhos«, ordnete Kreton an. »Dann greifen wir an.« »Das wäre unklug. Sollte dieses Schiff bemannt sein, handelt die Besatzung mit äußerster Vorsicht. Das zeigte sich schon daran, dass sie sich bisher noch nicht entschlossen haben, ihr Schiff zu verlassen. Tauchen wir also unvermutet auf, kann es passieren, dass sie die Flucht ergreifen.« »Vielleicht haben sie ihre Untersuchungen schon abgeschlossen. Dann kann es sein, dass ein Start unmittelbar bevorsteht.« An diese Möglichkeit wollte Vargo nicht glauben. Das Schicksal, das uns schon oft hart getroffen hat, kann nicht schon wieder so unbarmherzig sein, dachte der Wissenschaftler geradezu beschwörend. »Wir müssen sie täuschen. Wenn sie trotz unserer Zurückhaltung keinen Versuch unternehmen, die Überlebensstation zu betreten, müssen wir sie zum Aussteigen verlocken.« »Wie wollen Sie das erreichen?«, fragte ein Techniker. Vargo sah sich um. »Wir schicken einen Lockvogel hinaus. Für den Betreffenden ist das kein Risiko, denn er kann sein Bewusstsein in Sicherheit bringen, sollte er angegriffen werden.« »Wollen Sie das übernehmen?«, fragte Kreton. Vargo nickte entschlossen. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Einsatzgruppe auf Darkhos vervollständigt. Auch Kreton und Kandro übernahmen zwei der zur Verfügung stehenden Körper. Das fremde Schiff stand nach wie vor in der Nähe der Kuppel. Kein lebendes Wesen hatte es bisher verlassen. »Wir ergreifen die Initiative!«, befahl Kreton. »Vargo, wir gehen in der besprochenen Weise vor.«
Obwohl keine Gefahr für sein Leben bestand, war der alte Wissenschaftler unruhig. Wieder einmal hing es von seinem Verhalten ab, wie sich das weitere Schicksal der Unsterblichen gestalten würde. Mit einem kleinen Fehler konnte er ihre Chance zunichte machen. Vargo hatte jetzt den Körper eines jungen Mannes, ging in die Kuppel und öffnete eins der Ausrüstungsdepots. Während er den Schutzanzug anlegte, war er sich darüber im Klaren, dass er vielleicht beobachtet wurde. Er blickte hinaus. Das Schiff war etwa hundertzwanzig Meter hoch und stand auf vier mächtigen Heckflossen. Zwischen zwei dieser Flossen war eine quadratische Schleuse zu sehen. Vargo nahm keine Waffe mit, wollte nichts tun, was die Unbekannten zu einer schnellen Flucht veranlasst hätte. Als er sich dem Schiff näherte, wagte er kaum zu atmen. Bei jedem Schritt fürchtete er, dass etwas Unheilvolles geschehen könnte, und fragte sich, wie er als Besatzungsmitglied dieses Schiffes gehandelt hätte. Es gab keine Antwort darauf, denn Vargo wusste nichts über die Mentalität der Fremden. Unmittelbar vor dem Schiff blieb Vargo stehen. Die Situation, in der er sich befand, mutete ihn fast ein wenig lächerlich an, denn alles, was er, der erfahrene und unsterbliche Wissenschaftler, in diesem Augenblick empfand, war völlige Ratlosigkeit. Im Schiff rührte sich nichts. Sofern der einsame Mann aus der Kuppel wahrgenommen worden war, gab man das durch nichts zu erkennen. Vargo winkte und breitete die Arme aus, aber es geschah nichts. Ungeduldig umkreiste der Tropoyther das Schiff. Vielleicht war es tatsächlich verlassen. Nach der dritten Umrundung blieb Vargo vor der Schleuse stehen. Er musste jetzt irgendetwas unternehmen oder zurückkehren. Die Frauen und Männer, die in der Kuppel warteten, konnten ihm keinen Rat geben. Der alte Mann gab sich innerlich einen Ruck
und schritt auf die Schleuse zu, zögerte keinen Augenblick, sondern schlug mit der geballten Hand dagegen. Dann trat er zurück und wartete. Als er schon nicht mehr damit gerechnet hatte, dass etwas geschehen würde, glitt die Schleusentür zur Seite, vier Fremde in Schutzanzügen sprangen heraus. Ihr Körperbau glich dem der Tropoyther, aber an ihren Köpfen unter den transparenten Helmen erkannte Vargo, dass es sich um Mitglieder eines unbekannten Volkes handelte: Sie waren von schwarzem Pelz bedeckt. In den flachen, aber durchaus ausdrucksvollen Gesichtern fielen Vargo besonders die gelben Augen auf. Die Raumfahrer trugen Waffen, die sie auf Vargo gerichtet hatten. Eins der Wesen machte eine unmissverständliche Geste: Vargo sollte ihnen ins Schiff folgen. Er zögerte und warf unwillkürlich einen Blick zurück zur Kuppel. Im Augenblick hatte er keine andere Wahl, als die Befehle der Fremden zu befolgen, und betrat die Schleusenkammer, worauf sich die äußere Tür sofort schloss. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Er saß in der Falle. Was, wenn das Schiff startete? Die Raumfahrer führten ihn in den zentralen Raum des Schiffes, wo ihm durch Handzeichen verständlich gemacht wurde, dass er seinen Helm abnehmen sollte. Vargo hoffte, dass die innerhalb des Schiffes herrschende Luft seinem Wirtskörper keine Schwierigkeiten bereiten würde, und kam dem Befehl nach. Die Fremden betrachteten ihn interessiert und diskutierten in einer ihm unbekannten Sprache miteinander, schienen über ihr weiteres Vorgehen unschlüssig zu sein. Schließlich schalteten sie einen Bildschirm ein, auf dem die Überlebensstation zu sehen war. Der Anführer der Schwarzbepelzten deutete darauf und dann auf Vargo. Der Sinn dieser Bewegungen war unmissverständlich. Vargo nickte nachdrücklich, sah keinen Sinn darin, aus seiner
Herkunft ein Geheimnis zu machen. Nach einer längeren Diskussion schien endlich eine Entscheidung zu fallen, denn sieben der insgesamt siebzehn Besatzungsmitglieder vervollständigten ihre Ausrüstung. Es war klar, dass sie Vargo hinausbegleiten wollten. Alle anderen würden im Schiff zurückbleiben – ein Umstand, der die Eroberung des Schiffes nahezu unmöglich erscheinen ließ. In der Station würden die Fremden die Konservierungsbehälter finden. Vargo erkannte, dass er sich in einer Zwangslage befand, die schnelles Handeln erforderlich machte. Aber was sollte er tun? Der Wunsch, unter allen Umständen in den Besitz dieses Schiffes zu gelangen, hatte die Varganen voreilig handeln lassen. Sie waren viel zu unüberlegt vorgegangen. Die Raumfahrer hatten ihre Vorbereitungen abgeschlossen, begleiteten Vargo aus dem Schiff. Ihr Anführer deutete unmissverständlich auf die Überlebensstation. Seine Hand lag auf der Waffe. Vargo ging voraus, war sich sicher, dass Kreton und die anderen die sich nähernde Gruppe beobachteten. Aber was sollten sie tun? Vargo öffnete die Schleuse und führte die sieben Fremden in die Kuppel. Von Kreton und den anderen war nichts zu sehen, sie hielten sich nach wie vor in den unteren Räumen auf. Die Schwarzbepelzten schienen es nicht eilig zu haben. In aller Ruhe untersuchten sie den Kuppelraum und entdeckten die Depots. Vargo beobachtete sorgenvoll, dass sie die Waffen hervorholten. Die tropoythischen Ausrüstungsgegenstände riefen Erstaunen und Bewunderung hervor, denn sie wurden untereinander weitergereicht. Die Fremden diskutierten ausführlich über diesen Fund. Nachdem alle Depots geöffnet und untersucht worden waren, stellten die Raumfahrer Funkkontakt zu ihrem Schiff her. Wenig später rollte ein robotisch gesteuerter Wagen aus der Schleuse. Die Fremden luden alles, was sie gefunden hatten, hinein und schickten ihn zum Schiff zurück. Das war
Plünderei, aber Vargo hütete sich, dagegen zu protestieren. Der Wagen verschwand im Schiff, die Besucher wandten ihre Aufmerksamkeit den unteren Räumen zu. Bevor sie den Raum mit den Sterilisationsbehältern erreichten, gerieten sie in den Hinterhalt der Varganen. Kreton hatte ihn vorbereitet. Die Raumfahrer wurden mit Lähmfeldern angegriffen und innerhalb weniger Augenblicke aktionsunfähig gemacht. »Was haben Sie getan?«, schrie Vargo außer sich. »Es sind Fremde im Schiff zurückgeblieben. Sie werden fliehen, wenn sie merken, was hier geschieht.« Die anderen sahen ihn bestürzt an. Nur Kandro, der in jeder Situation Rat zu wissen schien, verlor nicht die Übersicht. »Zieht ihnen die Raumanzüge aus. Es muss schnell gehen, damit an Bord des Schiffes niemand misstrauisch wird, denn die Fremden erwarten sicherlich regelmäßig Funknachrichten.« Vargo sah ihn verständnislos an. »Sieben von uns, deren Größe denen der Gelähmten entspricht, legen die Anzüge an und verlassen damit die Kuppel«, fuhr Kandro hastig fort. »Es muss nach einer wilden Flucht aussehen – nur dann haben wir die Chance, dass sie, ohne auf Erklärungen zu warten, die Schleuse öffnen, um ihre Artgenossen an Bord zu lassen.« Es war ein riskanter Versuch, aber auch Vargo sah keine andere Möglichkeit, das Schiff zu erobern. Wenig später stürmten sieben Varganen aus der Kuppel. Die Sonne war gerade untergegangen, es herrschte Halbdunkel. Vargo, der den Vorgang beobachtete, blickte gespannt zum Schiff hinüber und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, dass die Schleuse aufglitt. Kurze Zeit später gehörte das Schiff den Unsterblichen.
Die Gruppe, die auf Darkhos das tejonthische Raumschiff
erobert hatte, kehrte in die Eisige Sphäre zurück. Gespannt warteten Regierungsmitglieder und Wissenschaftler auf das Auftauchen des Raumschiffs jenseits der Eisigen Sphäre. Acht Varganen befanden sich in wiederbelebten Körpern an Bord und zwangen die tejonthische Besatzung, das Schiff zum vorgesehenen Ziel zu steuern. Niemand konnte vorhersagen, wie der Versuch, von außen mit einem Raumschiff in die Eisige Sphäre einzudringen, enden würde. Dennoch war Vargo voller Optimismus. Hatten sie den Durchbruch einmal geschafft, konnten sie vielleicht eine Energieschleuse oder eine Strukturlücke aufbauen, durch die sie in beiden Richtungen verkehren konnten. Das würde ihnen endlich die Möglichkeit geben, in ihrer richtigen Gestalt und in ihren eigenen Raumschiffen innerhalb der Galaxis zu verkehren. Das Glück, das die Varganen lange Zeit verlassen hatte, schien ihnen endlich wieder hold zu sein. Es gelang, das tejonthische Schiff in die Eisige Sphäre zu bringen. Wenig später schafften sie auch den Aufbau einer Energieschleuse, durch die die Doppelpyramidenschiffe hinausfliegen konnten; der Zeitablauf zwischen innen und außen glich sich an. Zwar stellte sich heraus, dass kein Vargane länger als ein Jahr außerhalb der Eisigen Sphäre leben konnte, ohne nicht wenigstens einmal für ein paar Tage dorthin zurückzukehren, aber angesichts ihrer neuen Möglichkeiten nahmen die Unsterblichen diesen Nachteil in Kauf. Kaum hatten die Varganen ihr Gefängnis verlassen, begannen sie mit der Rückeroberung ihrer Heimatgalaxis. Um über dieses große Gebiet zu herrschen, wurde der Bau der riesigen Gefühlsbasen eingeleitet. Von diesen Stützpunkten aus konnten die Völker großer galaktischer Regionen im varganischen Sinn beeinflusst werden. Innerhalb nur eines Jahrhunderts wurden die Varganen die unumschränkten Herrscher in ihrem Gebiet des Mikrokosmos. Sie begannen zu
vergessen, dass ihr Volk einer schrecklichen, noch immer ungeklärten Katastrophe zum Opfer gefallen war. Ihr Bereich, die Eisige Sphäre, wurde das Zentrum des neuen Imperiums – Yarden. Die Unsterblichen vergaßen nicht nur ihr untergegangenes Volk, sondern auch die Rebellen, die im Makrokosmos zurückgeblieben waren, denn Jahrhunderttausende vergingen …
Die Expedition nach Tollork stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Hier, in der Peripherie der Galaxis, war die Errichtung einer Gefühlsbasis keine unbedingte Notwendigkeit, deshalb war auch bis zum Schluss mit dem Bau gewartet worden. Tollork war ein kleines Sonnensystem; es bestand aus vier Planeten und der kleinen gelben Sonne, die ihm den Namen gab. Die Gefühlsbasis selbst wurde auf Tollork II errichtet, einer Sauerstoffwelt, auf der lediglich eine vielfältige Pflanzenwelt und niedere Tierarten existierten. Dennoch hatten die Besatzungen der drei Oktaederschiffe, die unter Vargos Kommando nach Tollork kamen, unmittelbar nach der Landung die ersten Schwierigkeiten. Die Unsterblichen, die mit dem Bau der letzten Gefühlsbasis beauftragt waren, litten unter rätselhaften Hautallergien, die ihnen sehr zu schaffen machten. Nach drei Tagen stellten die Ärzte fest, dass mikroskopisch kleine Pflanzensporen dafür verantwortlich waren. Vargo befahl, dass die Raumfahrer außerhalb der Schiffe Schutzanzüge tragen mussten. Kaum war die Allergie besiegt, gab es einen tödlichen Unfall. Der Tod eines Artgenossen löste bei den zeugungsunfähigen Unsterblichen stets eine Kette psychologischer Probleme aus. Vargo war sicher, dass sich die Fertigstellung der Gefiihlsbasis durch diesen Vorfall verzögern würde. Als die Anfangsschwierigkeiten überwunden
schienen, kam es zu dem erschreckenden Ereignis, das die Varganen mit einem Schlag an ihre Vergangenheit erinnerte: In der Nähe des Tollork-Systems verschwanden siebzehn Sterne. Sie hörten von einem Augenblick zum anderen zu existieren auf. Auf Tollork II wurde dieser Vorgang überhaupt nicht registriert, wohl aber an Bord von Schiffen, die im Raum standen. Vargo erhielt eine Funkbotschaft von Kandro, in der er aufgefordert wurde, Tollork II sofort zu verlassen und in die Eisige Sphäre zurückzukehren. An der Art, wie die Botschaft abgefasst war, erkannte Vargo, dass die Regierungsmitglieder im höchsten Maße beunruhigt waren. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Eisige Sphäre wurde Vargo empfangen und erhielt einen genauen Bericht über die Katastrophe. Kreton sagte abschließend: »Es sieht nach makrokosmischen Einflüssen aus.« Vargo blickte ungläubig auf die vorliegenden astronomischen Aufnahmen. »Das ist doch nur eine Vermutung. Es gibt viele andere Erklärungen für das Verschwinden der Sonnen.« »Eins unserer Schiffe befand sich in unmittelbarer Nähe dieses Sektors«, berichtete Kandro. »Die Besatzung behauptet, dass es zu hyperenergetischen Einbrüchen kam. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sich eine zweite Eisige Sphäre bilden.« Vargo erschrak. Zerstörungen innerhalb des Mikrokosmos, die auf makrokosmische Auswirkungen zurückgingen, konnten zufällig sein – der Aufbau einer Eisigen Sphäre, selbst wenn er nicht abgeschlossen worden war, deutete jedoch auf bewusste Manipulationen hin. »Nun?«, wollte Kreton wissen. »Was halten Sie davon?« »Ich bin kein Freund voreiliger Spekulationen. Alles kann sich als Täuschung herausstellen.« »Wir haben eine andere Vorstellung«, sagte Kandro voller
Ungeduld. Vargo sah ihn fragend an. »Mamrohn!« Der Name hörte sich an wie ein Fluch. »Solange die Rebellen annehmen müssen, dass wir leben, müssen sie mit einer Bestrafung rechnen«, beantwortete Kandro die unausgesprochene Frage des alten Wissenschaftlers. »Warum sollten sie nicht versuchen, uns zuvorzukommen und uns zu vernichten, bevor wir etwas gegen sie unternehmen können?« »Das ist absurd.« »Wir müssen es in Betracht ziehen.« Kreton leistete seinem Partner Hilfestellung. »Die theoretische Möglichkeit allein zwingt uns, etwas zu unternehmen.« »Sie denken daran, in den Makrokosmos zurückzukehren?« Kreton nickte ernst. »Keiner von uns würde freiwillig dorthin zurückkehren.« »Bestimmt nicht«, pflichtete Kandro Vargo bei. »Deshalb werden wir jemand in den Makrokosmos schicken, der den Auftrag bekommt, alle Rebellen zu finden und hinzurichten. Wir haben alle rechtlichen Vollmachten, die Rebellen zum Tode zu verurteilen. Was uns fehlt, ist ein Henker, der die Urteile auch zu vollstrecken imstande ist.« »Und wer soll das sein?« »Sie wissen, dass es vor dreißig Jahren zu einem Mord kam, den ein Techniker namens Magantilliken verübte.« »Wir haben Magantilliken verstoßen, müssen ihn aber regelmäßig in die Eisige Sphäre zurückkehren lassen, wenn wir ihn nicht umbringen wollen. Er soll jetzt eine Gelegenheit zur Rehabilitierung erhalten.« Kreton ließ keinen Zweifel daran, dass er entschlossen war, diesen Plan zu verwirklichen. »Wer weiß, was passiert, wenn jemand durch den Umsetzer geht?«, gab Vargo zu bedenken. »Wer sagt, dass Magantilliken durch den Umsetzer gehen
soll?« Kreton lächelte überlegen. »Schließlich gibt es die Möglichkeit der Bewusstseinsversetzung. Auf den von uns verlassenen Welten im Makrokosmos gibt es viele sterilisierte tote Körper. Sie können von Magantilliken benutzt werden, um seinen Auftrag auszuführen. Sobald er alle Rebellen getötet hat und wir keine Anschläge mehr zu befürchten brauchen, werden wir ihn rehabilitieren und wieder bei uns aufnehmen.« »Vielleicht ist die Gefahr einer solchen Aktion größer als die Bedrohung aus dem Makrokosmos, von der wir nicht einmal wissen, ob es sie tatsächlich gibt und ob sie gesteuert ist.« Vargo sprach ohne Nachdruck, denn er wusste genau, dass die Entscheidung längst gefallen war. Er selbst hatte viel zu wenig Einfluss, um eine Meinungsänderung herbeizuführen. »Und was ist mit Magantilliken?«, erkundigte er sich, als niemand ihm antwortete. »Wird er überhaupt einwilligen?« Kandro lächelte kalt. »Er hat keine andere Wahl – wir lassen ihn erst in die Eisige Sphäre zurück, wenn er seinen Auftrag ausgeführt hat.« Vargo konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mitglieder der Regierung immer skrupelloser die Erfüllung ihrer Ziele verfolgten. Vielleicht, dachte er müde, ist auch das ein Preis für die Unsterblichkeit.
Vargo, der ein relativ zurückgezogenes und einsames Leben führte, war Magantilliken vorher niemals begegnet, so dass er dem Zusammentreffen mit einer gewissen Spannung entgegensah. Seit die Unsterblichen in voller Konsequenz begriffen hatten, dass sie sich nicht fortpflanzen konnten, galt die Ermordung eines Unsterblichen als ungeheuerliches Verbrechen. Vargo überlegte, was Magantilliken veranlasst haben mochte, dieses Tabu zu ignorieren, und war von der
Regierung beauftragt worden, Magantilliken für dessen Auftrag zu instruieren. Kandro und Kreton hielten ihn für besonders geeignet, nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten, sondern auch wegen seiner Beziehung zu Mamrohn, der als Hauptverantwortlichen angesehen wurde und ganz oben auf der Liste der Verurteilten stand. Magantilliken erwies sich keineswegs als der seelische Krüppel, den anzutreffen Vargo erwartet hatte, sondern war ein ernster und selbstbewusster Mann, der in keiner Weise unbeherrscht wirkte. Die beiden Männer trafen an Bord der KELLORD zusammen. Von hier aus sollte Magantilliken sein Bewusstsein in einen toten Varganenkörper im Makrokosmos transferieren. Vargo hatte darum gebeten, allein mit Magantilliken sprechen zu dürfen, dieser Wunsch war respektiert worden. Der Wissenschaftler war allerdings nicht sicher, ob es in der Kabine, wo das Treffen stattfand, Abhöranlagen gab. Kandro und Kreton wurden immer misstrauischer, was mit einer Reihe von Bemühungen einherging, allgegenwärtig zu sein. Vargo belächelte diese Versuche, denn er sah in ihnen ein Zeichen von Schwäche. »Warum der Mord?«, sagte Vargo anstelle einer Begrüßung und sah Magantilliken abschätzend an. »Wir sprechen nicht über meine Tat, sondern über meinen Auftrag.« Vargo hatte zu viel erlebt, um sich über diese Verhaltensweise noch zu ärgern, er sagte lediglich: »Ich bestimme, worüber gesprochen wird.« »Ich habe ihn umgebracht, weil ich ihn hasste. Ich bin ihm nur zuvorgekommen.« »Sie sind sehr ichbezogen. Das wird Ihnen in dieser Einsamkeit, in die wir Sie verstoßen, sicher helfen.« »Ich fürchte mich nicht vor der Einsamkeit.«
»Lassen wir das, es ist schließlich ihr Problem, damit fertig zu werden. Sprechen wir über Mamrohn.« »Kandro sagte mir, dass Sie nicht daran glauben, dass er noch lebt.« Vargo wurde nachdenklich. »Sollte er noch leben, ist er kein Tropoyther mehr, auch kein Vargane, sondern ein schreckliches Gespenst, das in der eigenen Gedankenwelt gefangen ist. Er ist größenwahnsinnig, aber dieser Wahnsinn wird von enormer Willenskraft bestimmt, vielleicht sogar von einer besonderen Art der Vernunft. Mamrohn ist wirklich ein Rebell. Aber seine Revolution richtet sich letztlich gegen nichts und niemand – er revoltiert gegen seine eigene Bedeutungslosigkeit. Und gerade das hat ihn stets angetrieben, den Wunsch nach Größe und Macht übermächtig werden lassen.« Magantilliken warf sich aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Sie reden von ihm, als sei er ein Gott.« »Vielleicht ist er das? Auf seine Weise …« Magantilliken machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er ist nicht der einzige Rebell. Ich werde mir meine Gedanken nicht vernebeln lassen, nur weil es ihn gibt. Ich muss sie alle töten.« Vargo fröstelte, als er Magantilliken so reden hörte. Dieser Mann würde ein unbarmherziger Jäger sein. Unwillkürlich empfand Vargo Erleichterung darüber, dass er nicht zu den Rebellen gehörte und auf der Liste des Henkers stand. »Lassen Sie uns von den technischen Problemen reden. Ich halte jede Einzelheit für wichtig – ich darf keine Fehler machen …«
10. Atlan: Als ich erwachte, stand Magantilliken neben mir und half mir aus der Mulde. Ich spürte, dass meine Beine nachzugeben drohten. Anscheinend war das Erlebnis eines solchen Berichts anstrengender, als ich vermutet hatte. Magantilliken half auch Crysalgira auf die Beine. »Ist der Bericht zu Ende?« Der varganische Henker deutete zur Kugel hinauf. »Was sie angeht, hat sie alles übermittelt, was ihr wissen sollt.« »Die Kreuzzüge nach Yarden«, erinnerte ich ihn. »Wozu gibt es sie alle dreihundert Arkonjahre?« Er ignorierte meine Frage. »Ich führe euch jetzt in den Aufenthaltsraum und erzähle meinen Teil der Geschichte.« »Ich weiß, dass du den Makrokosmos erreicht und mit deiner Arbeit begonnen hast. Schließlich haben wir uns ein paar mal getroffen.« »Du hast mich nur während der Endphase erlebt, Arkonide.« »Auf jeden Fall hast du nicht alles erreicht. Einige Rebellen leben noch, Ischtar beispielsweise.« Ein Lächeln veränderte sein Gesicht und ließ es weniger hart und abweisend aussehen. »Daran liegt dir viel?« Ich sah keinen Sinn darin, irgendetwas abzustreiten. Magantilliken war schließlich über meine Beziehung zu Ischtar genau informiert. Erging voraus und führte uns wieder in den Aufenthaltsraum. »Ich werde sagen, was nach meinem ersten Eintreffen im Makrokosmos geschah …« Ähnlich, wie ich es von Ischtar her kannte, wechselte er von der akustischen zur quasitelepathischen Kommunikationsform. Gleichzeitig erschienen Bilder vor meinen Augen, und mir wurde bewusst, dass ich fortan Szenen sah, die der Henker der Varganen erlebt hatte; ich wurde zu … Magantilliken
Es war die siebzehnte Welt, die er nach seiner Ankunft im Makrokosmos betrat. Sein Bewusstsein befand sich im zweiten Körper, er hatte bisher drei Rebellen aufgespürt und hingerichtet. Schon auf der Versunkenen Welt seiner Ankunft hatte er ein kleines Oktaederschiff, das früher als Beiboot eines Großraumers gedient hatte, und alle notwendigen Ausrüstungsgegenstände gefunden. Magantilliken war jedoch kein Mann, der so viel Glück als etwas Selbstverständliches hingenommen hätte – er rechnete früher oder später mit einem Rückschlag. Trotz der Anfangserfolge gab er sich keinen Illusionen hin: Seine Arbeit hatte erst begonnen und würde ihn noch auf viele Planeten führen und vor allem viel Zeit beanspruchen. Allein die Tatsache, dass die Rebellen bestimmte Planeten bevorzugten und immer wieder zu den alten varganischen Stützpunktwelten zurückkehrten, gab Magantilliken die Hoffnung, dass er die meisten nach und nach finden würde. Ob es gelang, wirklich alle aufzuspüren, war eine derzeit nicht zu beantwortende Frage. Etliche hatten die Jahrhunderttausende, die inzwischen verstrichen waren, zweifellos ohnehin nicht überlebt, waren eines gewaltsamen Todes gestorben oder hatten selbst ihr Leben beendet. Andere waren allein oder in kleinen Gruppen zu weit entfernten Sterneninseln des Makrokosmos aufgebrochen, ohne dass die Möglichkeit bestand, ihre Spur aufzunehmen, weil sie beim Aufbruch selbst noch nicht gewusst hatten, wohin es sie verschlagen würde. Magantilliken war sich nicht einmal sicher, ob die ihm zur Verfügung stehende Liste der Versunkenen Welten vollständig war – nicht alle Stützpunkte waren seinerzeit erfasst worden, die hier zurückgebliebenen Rebellen hatten überdies weitere errichtet. Hinzu kam, dass mit fortschreitender Dauer dieser Hetzjagd und der steigenden Wahrscheinlichkeit, dass sich einige Rebellen
zunächst dem Zugriff entziehen konnten, andere von Magantillikens Auftrag erfuhren, fortan gewarnt waren und sich gezielt der Verfolgung zu entziehen versuchen würden. Er machte sich keine Gedanken über das Zusammenwirken kosmischer Kräfte, hatte sich damit abgefunden, dass er die Wahrheit wohl niemals ergründen würde. Das Vorhandensein eines Makrokosmos deutete daraufhin, dass es weder Grenzen nach unten noch nach oben gab, wahrscheinlich pflanzte sich die Anzahl der Existenzebenen bis in die Unendlichkeit fort. Jeder musste dort, wo er hineingestellt war, das Beste aus dem Leben machen. Magantillikens nüchterne Denkweise hatte ihm schon viele Erfolge beschert, andererseits war er wegen mangelnder Phantasie schon oft gescheitert. Aber kaum, dass er sein Raumschiff verlassen hatte, ahnte er, dass dies die Welt war, auf der er Mamrohn finden würde. Die drei Rebellen hatten vor ihrer Hinrichtung nicht viel verraten, aber Magantilliken hatte die wenigen Informationen zu einem Mosaik geordnet. Er war sicher, dass sich Mamrohn zurückgezogen hatte und irgendwo allein lebte. Das traf offenbar auf fast alle Rebellen zu. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen und gingen ihre eigenen Wege. Vielleicht sehnten sie sich sogar danach, zu ihrem Volk zurückzukehren. Das Raumschiff des Henkers stand am Ufer eines mächtigen Stromes, der ein paar Kilometer weiter entfernt in einen der zwei großen Ozeane dieses Planeten mündete. Der Landeplatz war eine ausgedehnte Sandbank, die nach der nächsten Regenzeit wieder in den schlammigen Fluten versinken würde. Diese Sandbank war gleichzeitig die einzige freie Stelle im weiten Umkreis, denn der dichte Dschungel reichte überall bis ans Ufer heran. Magantilliken hatte einen Schutzanzug angelegt und sich bewaffnet. Die Fernortung hatte ergeben, dass sich in der Umgebung des Mündungsdeltas eine Station befinden musste.
Der genaue Standort war nicht zu bestimmen gewesen. Wer auch immer diese Station bewohnte, hatte zahlreiche Tarnmaßnahmen getroffen, die auch hochwertige varganische Ortungsanlagen täuschten. Magantilhken war sich darüber im Klaren, dass er ein großartiges Ziel für jeden Gegner bot. Da sein Bewusstsein jedoch jederzeit in einen anderen toten varganischen Körper überwechseln konnte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Auch der Verlust des Schiffes konnte ihn nicht gefährden, denn sein Bewusstsein war weder an diese noch an eine andere Welt gebunden. Er wollte den oder die Unbekannten in der Station herauslocken, aber das konnte er nur, wenn er sie neugierig machte. Die drei hingerichteten Rebellen waren völlig arglos gewesen, hatten sie ihn doch für einen der ihren gehalten. Magantilliken hatte keinerlei Skrupel. Er schaltete das Flugaggregat ein und schwebte über die Sandbank zur anderen Seite des Flusses. Ein paar Vögel erhoben sich kreischend von ihren Nistplätzen in den Bäumen, um ihre Artgenossen vor dem seltsamen Ungeheuer zu warnen, das da herangeflogen kam. Magantilliken kümmerte sich nicht um die Tiere, sondern suchte nach Spuren, die ihm Hinweise auf die Anwesenheit anderer Varganen geben konnten. Am rechten Unterarm trug er ein Instrumentenband. Dort befanden sich neben Spürgeräten auch analytische Anzeiger und die Schaltungen für die Aggregate des Schutzanzugs. Magantilliken hatte sein Funkgerät auf Empfang geschaltet; zwar rechnete er nicht damit, dass sich jemand melden würde, aber er wollte für alle Eventualitäten gerüstet sein. Er flog jetzt über dem Dschungel, in den Bäumen unter ihm regte sich vielfältiges Leben. Vielleicht gab es irgendwo auf diesem Planeten intelligente Eingeborene, aber sie waren bedeutungslos, denn sie hatten keine sichtbare Zivilisation hervorgebracht. Es war früh am Morgen, nicht
lange nach Sonnenaufgang. Entsprechend der Eigenrotation des Planeten verblieb dem Varganen noch fast der ganze Tag, um bei Licht zu suchen. Er schwebte eine Zeit lang über dem Wald hin und her und näherte sich dabei dem offenen Meer. Vor der Küste entdeckte er einen dunklen Punkt auf der Wasseroberfläche und änderte die Flugrichtung. Als er den Strand erreicht hatte, sah er, dass es sich um ein kleines Boot handelte, das an einer Boje ankerte. Wer sich auch immer hier im Dschungel niedergelassen hatte, kam ab und zu zum Fischen her. Magantilliken ließ sich auf das Boot hinabsinken und untersuchte es kurz. Es war ein aufgeschnittener Wasserbehälter, wie es sie an Bord varganischer Raumschiffe gab. Als Motor diente ein kleiner Pumpenantrieb, an dem eine Schraube befestigt war. Am Boden des Bootes lagen ein Netz und eine Angel. Nun war Magantilliken sicher, dass er ein neues Opfer gefunden hatte, richtete sich im Boot auf und beobachtete den Strand. Natürlich war seine Ankunft beobachtet worden. Die Rebellen, die auf dieser Welt lebten, konnten nichts von Magantillikens Auftrag wissen, deshalb war es erstaunlich, dass sie sich nicht zeigten. Vielleicht wollten sie weiterhin in völliger Abgeschiedenheit leben. Magantillikens Lippen zuckten; er würde sie herausfordern. Bedächtig zog er den Stabstrahler und schoss das Boot leck, schwebte ein paar Meter in die Höhe, wartete, bis das Boot voll Wasser lief und versank, dann zerstrahlte er die Boje. Am Strand rührte sich nichts. Entweder war die Zerstörung des Bootes nicht beobachtet worden, oder der Besitzer nahm den Zwischenfall nicht tragisch. Magantilliken wartete einige Zeit, dann setzte er seine Suche über dem Dschungel fort. Er ging systematisch vor, aber als die Sonne hinter den heraufziehenden Nachtwolken versank, hatte er immer noch keine Spur einer Station gefunden. Er flog zur Sandbank zurück, um die Nacht
in seinem Schiff zu verbringen. Bevor er die Schleuse betrat, knackte sein Helmlautsprecher, und eine Stimme fragte: »Warum haben Sie das getan?« Der Henker wusste sofort, dass sich diese Frage auf die Zerstörung des Bootes bezog. »Warum kommen Sie nicht her und finden es heraus?« Der Unsichtbare lachte dumpf, dann herrschte wieder Schweigen. Magantilliken betrat die Schleuse, stürmte ins Schiff und ließ sich durch einen Rettungsschacht nach unten gleiten. Augenblicke später hatte er das Schiff wieder verlassen und rannte quer über die Sandbank. Ohne zu zögern, warf er sich in die Fluten und ließ sich davontreiben. Auf der anderen Seite blitzte es zwischen den Bäumen auf, der Energiestrahl ließ die obere Pyramide des Oktaeders aufglühen und in sich zusammenfallen. Magantilliken drehte sich auf den Rücken, um besser beobachten zu können, und beglückwünschte sich zu seiner instinktiven Handlung. Eine zweite Salve wurde abgefeuert, verwandelte das nur 44 Meter hohe Beiboot völlig in Trümmer. Glühende Metallbrocken landeten zischend im Fluss, die Sandbank war jetzt in weißen Dampf gehüllt. Magantilliken hatte die Stelle, von der aus geschossen wurde, deutlich erkannt, stieg aus dem Wasser und verschwand zwischen den Bäumen. Wenig später erlebte er eine Enttäuschung. Die Strahlenkanone, die in den Büschen am Ufer stand, wurde von zwei Robotern bedient. Ein Vargane war nicht zu sehen. Magantillikens Blicke suchten die Umgebung ab. Er fand eine Schneise, die die Roboter mit ihren Waffenarmen in den Dschungel gebrannt hatten. Entschlossen folgte er dieser Spur. Sie führte eine größere Strecke landeinwärts, als Magantilliken angenommen hatte. Plötzlich stieß er auf eine große Lichtung. Sie war künstlich geschaffen worden, in ihrem Mittelpunkt stand ein kleines, aber wuchtig
aussehendes Gebäude. Am Rand der Lichtung, bereits völlig von Pflanzen überwuchert, sah Magantilliken ein Oktaederbeiboot. Der Besitzer des Schiffes und des Gebäudes lag in einem bequemen Sessel vor der Tür. Es war gerade noch hell genug, um Magantilliken erkennen zu lassen, dass es sich tatsächlich um Mamrohn handelte. Der ehemalige Wissenschaftliche Erste Rat war bis zum Skelett abgemagert und hatte alle Haare verloren. Er trug nur eine Art Lendenschurz, quer über seinen Beinen lag eine schwere Strahlwaffe. Magantilliken empfand keinen Triumph, nicht einmal Befriedigung. Er näherte sich Mamrohn von der Seite, lautlos über den Boden schwebend. Als er ihn fast erreicht hatte, schien der Rebell die Gefahr zu spüren, denn er drehte plötzlich den Kopf und sah den Henker an. Für Augenblicke versenkten sich ihre Blicke ineinander, dann ließ Mamrohn sich aus dem Sessel kippen und riss die Waffe hoch. Magantilliken war bereits über ihm und versetzte ihm einen Tritt, der die Waffe davonschleuderte. Angesichts seiner körperlichen Überlegenheit empfand Magantilliken fast so etwas wie Scham und spielte mit dem absurden Gedanken, Mamrohn eine gleichwertige Chance zu geben, doch dann siegte seine Vernunft. Er richtete seine Handfeuerwaffe auf den Rebellen. »Zurück in den Sessel!« Mamrohn ließ sich zurücksinken, er sah erschöpft und müde aus. Magantilliken fragte sich ernsthaft, ob dieser Mann wirklich einen Angriff gegen den Mikrokosmos versucht hatte. »Woher kommen Sie, was wollen Sie von mir?« »Mein Name ist Magantilliken. Sie wurden wie alle Rebellen von der varganischen Regierung zum Tode verurteilt. Ich bin gekommen, um dieses Urteil zu vollstrecken.« »Sind Sie verrückt? Es gibt keine varganische Regierung mehr.«
»Hier nicht. Aber im Mikrokosmos.« Interesse flackerte in Mamrohns Augen auf. »Kommen Sie von dort?« »Ja.« Mamrohn warf einen Blick zum Rand der Lichtung. »Warten Sie nicht auf Ihre Roboter. Ich vollstrecke das Urteil, bevor sie hier sind.« »Warum wollen Sie mich umbringen?«, erkundigte sich Mamrohn gelassen. »Was würde sich dadurch ändern? Es ist bedeutungslos, ob ich tot bin oder hier lebe. Ich kann nichts mehr tun, sondern warte, bis ich von einem wilden Tier zerrissen werde oder bei einem Sturm im Meer ertrinke. Meine Anwesenheit schadet niemandem. Eigentlich bin ich schon tot. Die Vollstreckung dieses Urteils wäre unsinnig.« Er hat Recht, dachte Magantilliken. Dieses Wrack kann nichts mehr erreichen. Aber darauf kommt es nicht an. Für Magantilliken war es wichtig, gerade dieses Urteil zu vollstrecken, denn er wollte in die Eisige Sphäre zurück und rehabilitiert werden. Er brachte es jedoch nicht fertig, die Waffe abzufeuern. Allmählich wurde er unsicher. Lebt Vargo noch?, fragte Mamrohn einige Zeit später und wechselte mit sichtlicher Mühe zur Kommunikation auf telepathischer Übermittlungsbasis. Dunkelheit senkte sich über die Lichtung. Mamrohn war nur mehr ein dunkler Schatten im Sessel. Im Dschungel wurde es lebendig. Warum machen Sie kein Licht?, antwortete Magantilliken ebenfalls auf lautlose Weise. Mamrohn stand auf und ging zu dem kleinen Gebäude. Scheinwerfer flammten auf; sie erhellten die gesamte Lichtung. »Warum schließen Sie sich nicht den ›Rebellen‹ an? Wollen Sie wieder in den Mikrokosmos zurück – in diese aussichtslose Winzigkeit?« »Ich kann hier nicht auf Dauer leben. Seit der Rückkehr in
den Mikrokosmos hat sich unser Metabolismus geändert. Wir müssen in regelmäßigen Abständen in die Eisige Sphäre zurückkehren. Das ist der Sektor, in dem wir jetzt leben – eine Energieblase im Mikrokosmos.« »Niemand konnte ahnen, dass alles so enden würde. Wir mussten einen hohen Preis bezahlen.« Im Scheinwerferlicht sah er beinahe durchsichtig aus, ein Mann, der sich bewegte, atmete, sprach und doch nicht mehr in diese Welt gehörte. »Ich habe viel über alles nachgedacht. Als wir die Tür zum Makrokosmos aufstießen, dachte ich, dass wir etwas erreichen könnten. In Wirklichkeit haben wir nur zwei gleichermaßen bedeutungslose Positionen gewechselt. Ich bin jetztlange genug hier, um zu wissen, dass auch ›über‹ dieser Existenzebene etwas Größeres existieren muss. Es gibt ungezählte Universen. Die Reihe lässt sich endlos fortsetzen, verstehen Sie?« Nein, signalisierte Magantilliken. Ich denke niemals über diese Probleme nach. Mamrohn lachte. »Ein philosophierender Henker – das wäre auch verrückt.« Magantilliken wollte nicht mehr zuhören. Je länger er hier stand und diesen Mann reden hörte, desto unsicherer wurde er. Deshalb hob er die Stabwaffe und drückte ab, aber seine Hand zitterte; er traf nicht richtig. Mamrohn drehte sich um die eigene Achse, sah Magantilliken mit einem Ausdruck des Erstaunens an, als hätte er nicht ernsthaft damit gerechnet, dass der Ankömmling seine Drohung verwirklichen könnte. Mamrohn ging in die Knie. Seltsam, signalisierte er kraftlos. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch am Leben hänge. Alles war mir gleichgültig geworden, jetzt merke ich, dass ich nicht sterben will. Magantilliken schloss die Augen. »Sie sind hinter uns allen her, nicht wahr?«, drang die Stimme Mamrohns in sein Bewusstsein. Magantilliken konnte
nur nicken. »Das schaffen Sie nicht«, sagte Mamrohn mit plötzlicher Wildheit. »Sie erwischen niemals alle.« Dann wurde es still. Magantilliken öffnete die Augen. An der Haltung, in der Mamrohn am Boden lag, erkannte er, dass der Rebell tot war. Ich hätte kein zweites Mal auf ihn schießen können, dachte Magantilliken und verließ den Planeten in dem Bewusstsein, dass er auch nach einer Rückkehr in die Eisige Sphäre immer ein Ausgestoßener bleiben würde.
Bei der Jagd auf die Rebellen, die so erfolgreich begonnen hatte, musste Magantillikens schnell erkennen, dass Mamrohns Prophezeiung zutreffend gewesen war. Bald schon hatten viele Rebellen von Magantillikens Anwesenheit und seinem Auftrag gehört und verhielten sich entsprechend vorsichtig. Ab und zu kehrte Magantilliken in die Eisige Sphäre zurück, um sich zu erholen und dann die Jagd in einem anderen Körper fortzusetzen. Inzwischen hatten Vargo, Kreton und die anderen Wissenschaftler auf der Basis von varganischen Dialogpartnern Spezialkonstruktionen für den Einsatz im Makrokosmos entwickelt -Erinnyen genannte Wesen, deren robotischer Kern in eine organische Hülle eingebettet war und die ein Pseudobewusstsein entwickelten, die mehr noch als die Dialogpartner perfekte Androiden aus positronischen Verbindungen, organischen Substanzen und höhergeordneten Netzwerken waren. Darüber hinaus gab es ein über Vargos Umsetzer betriebenes Kommunikationssystem zwischen Makro- und Mikrokosmos, mit dessen Hilfe die Bewohner der Eisigen Sphäre mit Magantilliken in Verbindung treten konnten. Diese Entwicklungen, die die Arbeit des Henkers erleichtern sollten, stellten in Wirklichkeit eine psychologische Belastung dar, bewiesen sie ihm doch, dass auch in der Eisigen
Sphäre keineswegs an eine schnelle Erledigung des Auftrags geglaubt wurde. Magantilliken begann sich zu ändern, das Leben im Makrokosmos prägte ihn. In den kurzen Phasen, die er in der Eisigen Sphäre verbrachte, fühlte er sich immer mehr als Fremder. Trotzdem brauchte er diesen Aufenthalt im Mikrokosmos. Vielleicht würde sich der Zustand dieses ständigen Wachseins von einer Existenzebene in die andere niemals ändern. Magantilliken überlegte oft, ob er nicht freiwillig aus dem Leben scheiden sollte. Er hatte keine Freunde, weder im Makro noch im Mikrokosmos. Genau wie Vargo vorhergesagt hatte, litt er unter schlimmster Einsamkeit. Ohne sich dessen bewusst zu werden, kapselte sich Magantilliken mehr und mehr von allen schönen Dingen des Lebens ab, verhärtete innerlich und vergaß sein früheres Leben. Schließlich war er nur noch der varganische Henker – ein Mann, der sich nicht vorstellen konnte, jemals etwas anderes tun zu können, als Rebellen zu jagen und sie zur Strecke zu bringen. Jahrzehntausende verstrichen – und dann kam die Zeit der Rückschläge …
Er wusste sofort, dass etwas falsch war. Das Gefühl der Angst, ihm sonst nahezu unbekannt, betäubte ihn fast. Er war schon oft in die Eisige Sphäre zurückgekehrt. Nur hier konnte sein Bewusstsein jene Energie aufnehmen, die es benötigte, um die uralten Körper mit Leben zu erfüllen, deren er sich bediente. Es hatte sich immer nur um kurze Aufenthalte gehandelt, aber er war zumindest für einen Augenblick in seine normale Daseinsform zurückgekehrt. Das war ein äußerst wichtiger Punkt. Gerade der direkte Kontakt mit der Wirklichkeit dieses Ortes gab dem Henker positive Impulse.
Diesmal fühlte er sich isoliert und gefangen. Es dauerte lange, ehe er erkannte, was der Grund für seine Beunruhigung war. Er erinnerte sich nur mühsam daran, dass sein letzter Körper vernichtet worden war. Durch eine von innen wirkende Kraft. War seine Schwäche auf das völlig überraschende Todeserlebnis zurückzuführen? Er wusste es nicht, hatte jedoch den vagen Gedanken, gegen etwas ankämpfen zu müssen. Aber als er es versuchte, merkte er, dass er erstens kein Ziel und zweitens keine Kraft dazu hatte. Wer oder was hatte ihn angegriffen und den alten Körper vernichtet? Die Erinnerung an die plötzliche Hitze blieb vage und ungenau. Nun hing er im Nichts, körperlos. Sein Bewusstsein vermittelte ihm ein verschwommenes Bild der Umgebung, von dem er jedoch wusste, dass er sich auf keinen Fall darauf verlassen durfte. Er glaubte Bäume zu sehen, graziöse Tiere neben einem glitzernden Bach, schneebedeckte Berge – und dann erkannte er, dass es sich nur um Spiegelungen handelte, um Reste von Erinnerungen, die er aus dem letzten Körper übernommen hatte. Was hat das zu bedeuten?, dachte er. Gleichzeitig warf die Umgebung den Gedanken auf ihn zurück, wiederholte ihn in einer wirren Form von Echos, die schmerzhaft auf die jetzige körperlose Struktur wirkten. Magantilliken spürte den Drang, die Hände gegen die Ohren zu pressen, und lachte hysterisch, als er sich bei dem Versuch ertappte, diese Bewegung auch auszuführen. Er hatte sich noch nicht mit der Vernichtung des alten Körpers abgefunden. Solche Anpassungsschwierigkeiten waren ungewöhnlich. Seine Unsicherheit wuchs. Er wusste nicht, wie viel Zeit verging. Er hing in dieser Leere, umgeben von den Traumbildern und Illusionen. Die Zeit der rein geistigen Gefangenschaft erschien ihm äußerst lang, aber er wusste aus
Erfahrung, dass das ein subjektiver Eindruck war, der mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen musste. Plötzlich gab es einen Ruck. Magantilliken merkte, dass ihn etwas samt dieser unwirklichen Leere weitertransportierte. Und auch das wunderte ihn, denn im körperlosen Zustand hatte er so etwas noch nicht erlebt. Wie ein scharfer Speer durchdrang ein Gedanke die Isolierung von der Außenwelt: Du hast versagt! Magantilliken war verwirrt. Dann keimte Ärger in ihm auf. Allmählich glaubte er zu durchschauen, welches Spiel man mit ihm trieb. Er hatte die Eisige Sphäre noch gar nicht betreten, sondern war an oder in ihrer Begrenzung hängen geblieben. Die ihm zur Verfügung stehende Energie reichte nicht aus, um aus eigener Kraft den Rest des Weges zu überwinden. Ich verlange Zutritt! Der Gedanke eines Lachens echote in seinem Bewusstsein, seine Wut wuchs. Ich bin Magantilliken, der Henker!, schrien seine Gedanken den Unbekannten an. Sagt dir das etwas? Nein, behauptete der andere prompt. Ich kenne zwar einen Magantilliken, aber der ist kein Henker, sondern ein Versager, eine Null. Magantilliken hätte den Atem angehalten, wäre er dazu imstande gewesen. Was ging hier vor? Was geschah mit ihm? Ein neues Gedankenmuster mischte sich in die verwirrende Unterhaltung: Magantilliken, ich weiß, dass du mich verstehst. Antworte auf meine Frage: Hast du deine Aufgabe erfüllt? Der Henker zuckte zusammen. Mein Körper … wurde vernichtet, stammelten seine Gedanken. Ganz langsam begann er wirklich zu begreifen. Ich … Also nein, stellte die Stimme fest. Wir wissen das bereits, aber wir legten Wert auf eine persönliche Bestätigung deinerseits. Du nennst dich den varganischen Henker. Das ist eine stolze Bezeichnung. Führst du sie zu Recht? Wir glauben es nicht. Du hast
dich wie einer dieser Primitiven verhalten, denen du dort begegnest. Du hast wertvolle Zeit verschwendet. Ischtar lebt immer noch – und mit ihr viele andere Varganen, die zwar weniger wichtig, für uns aber dennoch eine Gefahr sind. Warum hast du sie noch nicht getötet? Es ist schwierig, an sie heranzukommen. Magantilliken wand sich innerlich vor Verlegenheit. Sie überhaupt zu finden … Du weißt, dass das nicht stimmt, behauptete ein anderer Vargane, dessen Gedankenmuster der Henker noch nicht kannte. Die Erkenntnis, dass sich mehrere Bewohner der Eisigen Sphäre mit ihm befassten, wirkte wie ein Schock. Stehe ich vor einem Gericht? Noch nicht. Aber es ist möglich, dass du bald in einer solchen Situation sein wirst. Der Aufenthalt in der Nullzeitblase soll lediglich dazu dienen, dir den Zustand der Verbannung begreiflich zu machen. Zurück zum Thema. Halt, bat Magantilliken rasch. Ich habe ein Recht darauf, die Eisige Sphäre zu betreten. Jetzt ist es übergenug, mischte sich ein weiterer Vargane ein; das Bewusstsein des Henkers schrak vor der Autorität dieser Stimme zurück. Kreton? Kandro? Oder Vargo? Noch ein paar Bemerkungen dieser Art, und die endgültige Verbannung wird auch ohne Gerichtsbeschluss wirksam. Als wir dich aussandten, um die Rebellen hinzurichten, wurden deine Rechte eingeschränkt. Wir können dir jederzeit den Zutritt verweigern; erst mit Erfüllung deines Auftrags wirst du rehabilitiert, das weißt du. An deinem Bewusstsein wurden Korrekturen vorgenommen, um dich besser auf deine Aufgabe vorzubereiten. Ich verzeihe dir deine Anmaßung und nehme an, dass einige Erinnerungen infolge des langen Aufenthalts in der … Außenwelt verwischt wurden. Aber ich will nichts mehr hören, was meine Geduld überfordern könnte. Magantilliken schwieg verwirrt. Funktionierte sein
Gedächtnis wirklich nicht mehr einwandfrei? Hingen damit die Fehler zusammen, die er machte? Möglich, antwortete eine Gedankenstimme versöhnlich auf die lautlose Frage. Wir werden dich neu konditionieren, ehe wir dich wieder hinausschicken. Der plötzliche Schock der Erkenntnis erschütterte das Bewusstsein des Henkers. Versagt! Noch immer war seine Aufgabe ungelöst. Deshalb hatten die Varganen eingegriffen. Sie waren es gewesen, die den alten Körper vernichtet hatten! Wie hatte es so weit kommen können? Du hast dich verwirren lassen, wurde er streng zurechtgewiesen. Am Anfang waren deine Handlungen so zielbewusst und sicher, wie wir es erwartet hatten. Aber irgendwann mischten sich egoistische Motive in deine Handlungen. Du wurdest überheblich – und irrationaler. Vielleicht ist es auf die Körper zurückzuführen, in die du geschlüpft bist. Die unbewussten Resterinnerungen scheinen stärkere Auswirkungen auf dich zu haben, als wir dachten. Wichtig ist, dass du in Zukunft aufhörst, eine persönliche Beziehung zu deinen Opfern herzustellen. Kein Hass. Keine Suche nach Befriedigung durch primitiven Jagdtrieb. Es spielt keine Rolle, wie du Ischtar tötest. Wichtig ist nur, dass sie stirbt. Und zwar bald. Die Gefahr wächst unaufhörlich. Dir standen alle Zeit und Mittel zur Verfügung, die du brauchtest, setzte eine andere Gedankenstimme den Vortrag fort. Deine Entschuldigungen sind also lächerlich. Dass du dein Ziel bisher nicht erreicht hast, liegt daran, dass du unkonzentriert warst. Du hattest Ischtar bereits gestellt – und du hast versagt. Du hast sie entkommen lassen. Überdies hast du den Fehler begangen, zu viel Zeit mit diesem Barbaren zu verschwenden. Er ist Ischtars Geliebter, versuchte Magantilliken sich zu verteidigen. Er weiß zu viel. Und … Er weiß gar nichts. Magantilliken riss sich zusammen. Nach wie vor war er der
Meinung, dass der leichteste Weg zu Ischtar über diesen Atlan führte. Sie hatte zweifellos einen Narren an ihm gefressen, sich durch diese Geisel in die Falle locken lassen. Alles war vorbereitet gewesen. Magantilliken hatte damit gerechnet, dass Ischtar auf Zercascholpek zuerst versuchen würde, die Toten Augen des Kyriliane-Sehers zu erreichen. Kam sie dabei schon durch die Androidenwächterin um – umso besser. Der eigentliche Schlag hatte jedoch eben durch diese Augen stattfinden sollen, in denen ein beachtliches Potenzial paranormaler Kraft gespeichert war. Ein Potenzial, das durch den heraufziehenden Hypersturm noch verstärkt und weiter aufgeladen werden sollte. Durch einen »Zündimpuls« schlagartig freigesetzt, hätte es das Ende der Varganin bedeutet. Nicht einmal sie hätte diese auf engsten Raum fokussierte Eruption abwehren können. Doch so weit war es gar nicht gekommen, die Varganen der Eisigen Sphäre hatten eingegriffen, Magantillikens Körper verglühen lassen. In ihrer Ungeduld hatten sie Magantillikens Plan vereitelt. Letztlich waren sie dafür verantwortlich, dass er versagt hatte. Aber er hütete sich, diesen Gedanken so zu formulieren, dass die anderen ihn erfassten. Du wirst jetzt wieder gehen, sagte jemand. Die Korrektur deines Bewusstseins ist abgeschlossen. Nach unseren Berechnungen wirst du nach deinem Eintritt in die Außenwelt wieder genauso zielstrebig handeln wie am Beginn deines Weges. Wir haben dich mit einer ausreichenden Energiemenge ausgestattet, so dass du die Reise gut überstehen wirst. Geh, töte Ischtar! Nein! Der Gedanke brach wie eine winzige, aber strahlend helle Flamme durch die Begrenzung des unwirklichen Raumes. Magantilliken spürte die Verwirrung, die jenseits der Wand aus Zeit herrschte. Wer war das? Wer wagt es, sich hier einzumischen?
Still, ich höre etwas. Gedankenstimmen schwirrten durcheinander, für einen Moment überwog die Verwirrung die Achtsamkeit derer, die über den Henker wachten. Er tat fast unabsichtlich einen Blick durch dieses sich für unmessbar kurze Zeit öffnende Fenster und sah seine Welt, die Eisige Sphäre – dann schlug die Tür wieder zu, Magantilliken zuckte verwirrt zurück. Der Augenblick hatte nicht ausgereicht, ihn erkennen zu lassen, wo er sich befand. Was blieb, war nur ein Gefühl der Trauer und der Sehnsucht. Er musste einen Weg finden, um bald wieder direkten Zutritt zu erhalten. Er spürte, wie sich die Erinnerung allmählich abschwächte. Die Eindrücke, die er in dem wilden Sternendschungel der Außenwelt aufnahm, drängten sich immer stärker in den Vordergrund. Es war das Kind, bemerkte jemand. Erstaunen, Ratlosigkeit. Schließlich eine Frage: Was willst du? Diesmal war nicht Magantilliken gemeint. Es hätte auch niemand eine solche Fülle von Zärtlichkeit in eine Frage an den Henker gelegt. Ich bitte euch, Ischtar am Leben zu lassen. Sie ist meine Mutter! Das wissen wir, Chapat, und es tut uns unendlich Leid. Sie muss sterben, daran können auch wir nichts ändern. Bedauern lag in diesem Gedanken, Mitleid, Wärme, Verständnis. Ich glaube euch nicht!, schrien Chapats Gedanken verzweifelt. Ihr seid allmächtig. Ein Wort von euch genügt, um Ischtar zu retten. Lasst es nicht zu, dass Magantilliken sie tötet. Magantilliken zuckte vor dieser maßlosen Verzweiflung zurück. Auch die anderen schienen Mühe zu haben, mit Chapats wilder Anklage fertig zu werden. Aber das dauerte nur Augenblicke. Der Henker wusste, welche Antwort der Embryo erhalten würde. Niemand ist allmächtig. Auch wir nicht. Du wirst es später begreifen lernen … Der größte Teil der Varganen, die sich unsichtbar für den
Henker versammelt hatten, richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Ungeborenen. Ihre Gedanken wurden für Magantilliken unverständlich. Hilflos hing er in der Ungewissheit und wartete. Bald würden sie sich wieder an ihn erinnern. Er fürchtete sich vor diesem Augenblick, wusste, wie wichtig seine Aufgabe war. Er kannte die Gefahr, die die VarganenRebellen für die Bewohner der Eisigen Sphäre bedeuteten. Sie durften keinen Weg in diese Zufluchtsstätte finden. Gelang es einem von ihnen, bis an diesen Ort vorzudringen, konnte er alles vernichten, selbst wenn er das bewusst gar nicht beabsichtigte. Es war notwendig, dass Magantilliken seinen Auftrag erfüllte. Dazu musste er die Eisige Sphäre verlassen. Aber der Henker hätte es vorgezogen, endlich Frieden zu finden. Ein scharf gebündelter Impuls durchdrang das Nichts und traf auf das Bewusstsein des Henkers. Geh! Er zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Die unwirkliche Blase, in der er körperlos schwebte, zerbarst. Lichtfetzen umwirbelten ihn, dann nahm ihn das vertraute, nebelhafte Etwas auf, in dem es weder Raum noch Zeit gab. Seine Reise zu einem neuen Körper begann. Diesmal war es anders als sonst, denn er hatte kein klares Ziel. Der Körper, den er in der langen Zeit der Benutzung voll akzeptiert hatte und mit dem ihn ein Band der Gewohnheit verflochten hatte, war zerstört. Es war beunruhigend, ohne Ziel zu sein, aber er vertraute auf seine Fähigkeit. In diesem Zustand spürte er die Annäherung an einen varganischen Körper wie einen Sog, der ihn unwiderstehlich mit sich riss. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sich das deutliche Muster eines übernahmebereiten Pols abzeichnete. Er strebte darauf zu, ohne etwas von einer direkten Bewegung zu merken. Die Anziehungskraft des fremden Körpers wurde größer. Magantilliken erkannte, dass es mehrere waren, die
ihm zur Auswahl standen. Drei schieden für seine Zwecke aus. Die Schwingungen, die er aus ihrer Richtung empfing, sagten ihm, dass es sich um Frauen handelte. Eine Übernahme der bewusstseinslosen Leiber wäre durchaus möglich gewesen, aber der Henker hatte eine klare Vorstellung davon, wie sein neuer Körper beschaffen sein sollte. Je besser er die Muster erkennen konnte, desto klarer wurden die Informationen. Er merkte, dass eins Zeichen des Verfalls aufwies. Er zögerte. Das war kein gutes Zeichen. Normalerweise waren die toten Körper für eine halbe Ewigkeit konserviert. Es musste äußere Ursachen geben. Der Stützpunkt, in dem diese Körper lagerten, war offensichtlich beschädigt. Das hieß, dass auch die technischen Einrichtungen mangelhaft sein mussten und fehlerhaft arbeiteten. Kein guter Start für die Fortsetzung der Jagd. Aber es war zu spät, um sich aus dem Sog zu befreien. Er musste zumindest für kurze Zeit einen der Körper übernehmen, ehe er sein Bewusstsein an einen anderen Ort projizieren konnte. Magantilliken erinnerte sich daran, dass er sich mit etlichen Rebellen vor ihrer Hinrichtung unterhalten hatte. Die meisten Gespräche waren längst vergessen. In einigen waren jedoch Dinge erwähnt worden, die der Henker nie richtig hatte einordnen können. Manche Varganen wollten Spuren entdeckt haben, die scheinbar varganischer Natur waren, aber nicht von ihnen stammten. Die Silberkugeln, die beispielsweise im Dreißig-Planeten-Wall die Welten miteinander verbanden, schienen ein solcher Hinweis zu sein. Manche der Rebellen hatten sogar die Auffassung vertreten, dass die religiös verbrämten Mythen und Überlieferungen einschließlich des uralten Dogmas der Konservierung der Toten damit zusammenhingen oder gar auf die »verschollenen Varganen« zurückgingen, wie Ischtar die Unbekannten angeblich nannte. Weil jedoch die Konservierung Voraussetzung für eine
erfolgreich angewandte Bewusstseinsprojektion war, stellte sich die Frage, ob ihre fernen Vorfahren wie auch die ihnen offenbar ähnelnden Unbekannten vielleicht schon einmal diese Fähigkeit gehabt und die Varganen in der Eisigen Sphäre sie nur wieder entdeckt hatten – begünstigt durch die Veränderungen, die mit dem Übergang zwischen den Existenzebenen sowie der Entstehung dieser Enklave selbst verbunden gewesen waren. War der Ursprung der tropoythischen Zivilisation gar nicht der Planet Tropoyth im Mikrokosmos gewesen? Hatte das vor einer halben Ewigkeit zur Verurteilung des Kyriliane-Sehers geführt, weil Vrentizianex mit seinen Augen die Ursprünge erkannt und gesehen hatte? Hing vielleicht damit sogar die Rückkehr zusammen – quasi eine Flucht vor der Wahrheit? Fragen, auf die Magantilliken keine Antwort wusste, zumal die neue Konditionierung seines Bewusstseins sie zugleich ins Unterbewusste abdrängte. Er fand einen Körper, dessen Muster gesund und kraftvoll war, und wartete nicht länger. Sein Geist verband sich mit den vegetativen Strömungen. Der fast völlig fehlende Widerstand, den ihm der fremde Körper entgegensetzte, bewies dem Eindringling, dass er sich in einer sehr alten Anlage befand. Dieser Körper musste seit langer Zeit hier gelagert worden sein. Jahrhunderttausende! Erst als Magantilliken sicher war, die volle Kontrolle über die neue fleischliche Hülle auszuüben, öffnete er die Augen. Der Schock traf ihn unvorbereitet und mit voller Wucht. Er befand sich nicht in einer varganischen Station, nicht auf einer der Versunkenen Welten. Die Geräte, die er ringsum entdeckte, waren ihm dennoch nur zu gut bekannt. Es gab keinen Zweifel: Er befand sich in einer Anlage jener Barbaren, die sich Arkoniden nannten …
Mit äußerster Willenskraft löste er sich von dem Körper. Aber dann geschah etwas, das ihm die Lage unmissverständlich verdeutlichte: Er stieß im Nichts auf eine Sperre! Sein Bewusstsein wurde zurückgeschleudert, als sei es auf eine unsichtbare Mauer geprallt. Es schnellte in den alten Körper, eine Welle von Schmerzen durchzuckte den Henker. Er fühlte, dass sich seine organische Hülle aufbäumte, und kämpfte verzweifelt, bis er die Kontrolle zurückgewonnen hatte. Dann blieb er ganz still liegen und dachte nach. Die Sperre konnte nur eine Bedeutung haben: Die Varganen selbst hatten ihm den Rückzug abgeschnitten, die Eisige Sphäre war für Magantilliken unerreichbar geworden. Angst stieg in ihm auf. War er für immer verbannt? Was sollte werden, wenn die Energie, die die Varganen ihm mitgegeben hatten, verbraucht war? Hatten sie ihn damit quasi zum Tode verurteilt? Würde sein Bewusstsein erlöschen, irgendwo im Nichts zwischen den Existenzebenen und Universen verwehen? Der Henker starrte in den fremdartigen Raum. Die Schmerzen verebbten, seine Gedanken klärten sich. Sie würden ihn nicht für alle Ewigkeit ausschließen, denn damit hätten sie selbst das Projekt in Gefahr gebracht. Er musste seine Aufgabe lösen – sehr schnell lösen, ehe seine Lage hoffnungslos wurde. … doch auf Cherkaton geriet er dann in die Gewalt des Propheten der Unwissenheit – und der Körper wurde von Ischtar vernichtet. Für kurze Zeit ließen ihn die Varganen in die Eisige Sphäre; er schöpfte Kraft, doch dann musste er in seinem echten Körper Yarden verlassen.
11. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon
Die varganische Technik und ihre über die Öde Insel verstreuten Hinterlassenschaften bleiben uns ein Rätsel. Nicht einmal das genaue Alter konnten wir bislang ermitteln, müssen jedoch von mehreren hunderttausend Arkonjahren ausgehen. Ob der DreißigPlaneten-Wall, das Schwarze System mit Za ‘Ibbisch oder die Riesenkugel im System des Kometen Glaathan: Stets hatten wir es mit Dingen zu tun, die nicht gerade für Bescheidenheit sprechen. Seit wir damit konfrontiert wurden, versuche ich mir vorzustellen, wie die Galaxis zur Blütezeit dieses Volks ausgesehen haben mag. Gab es damals ein varganisches Großreich, ein Herrschaftsgebiet mit Zehntausenden Siedlungswelten, riesigen Raumflotten und ungezählten Wesen? Wie lange bestand es? Aus welchem Grund und vor allem wie endete es? Warum zogen sich Varganen in das als Eisige Sphäre umschriebene »Refugium« zurück, während sich andere wie Ischtar nicht anschlossen und offenbar seither Ziel des Henkers sind? Aus welchen Grund hinterließen die Varganen dann die Rätselspur zum Stein der Weisen? Oder war alles ganz anders? Gab es dieses vermeintliche Reich gar nicht? Wie aber kam es dann zu den technischen Großtaten? Niemand stampft so ohne weiteres eine Station von fünfzehn Kilometern Durchmesser aus dem Boden, niemand versetzt mal so eben dreißig Planeten und gruppiert sie auf eine gemeinsame Umlaufbahn. Könnte es sein, dass die Varganen in vielerlei Hinsicht gar nicht die Urheber waren, sondern auf noch ältere Hinterlassenschaften zurückgriffen? Nicht einmal das ist ausgeschlossen. Wenn ich an das Tarkihl und die Spinnenwüste von Gortavor denke, an andere Ruinen und Artefakte, die im Laufe der Jahrtausende auf vielen Welten gefunden wurden und sich deutlich von der varganischen Technik unterscheiden, steht für mich fest, dass wir es bei den Varganen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mit der als Großes Altes Volk umschriebenen Kultur zu tun haben, die viele Jahrlausende vor der arkonidischen Blütezeit die Öde Insel besiedelte. Das allerdings macht das Rätsel noch größer – und mir
einmal mehr bewusst, wie wenig wir wirklich wissen.
In der Gefühlsbasis: 2. Prago der Katanen des Capits 10.498 da Ark »Mein Auftrag ist noch immer nicht beendet«, sagte Magantilliken ruhig. »Obwohl ich geächtet wurde, kann ich mir doch nicht vorstellen, dass sie jemals einen anderen nach ›oben‹ schicken werden, um die letzten noch lebenden Rebellen zu töten.« Sein Bericht hatte mir vieles begreiflich gemacht, ich sah in ihm nicht länger nur den erbitterten Gegner. »Du lebst zwischen Makro- und Mikrokosmos. Besser als alle anderen weißt du, dass Crysalgira und ich nicht hierher gehören. Warum willst du uns nicht helfen?« »Das kann ich nicht. Wir brauchen euch.« »Wozu?« »Vieles hat sich inzwischen verändert. Daran bist zum Teil du schuld.« Ich sah ihn verständnislos an. »Du hast einen Sohn mit einer Unsterblichen, hast mit der Rebellin Ischtar ein Kind gezeugt! Kannst du ermessen, was das für uns bedeutet? Wir Varganen können uns untereinander nicht fortpflanzen, aber offensichtlich ändert sich das, sobald eine fremde Komponente ins Spiel kommt.« Er musterte Crysalgira. »Das heißt, dass ich mit ihr ein Kind haben könnte.« Sie sah ihn erschrocken an und wich zurück. Ich hatte plötzlich einen entsetzlichen Verdacht. War die Tatsache, dass Ischtar und ich in Chapat einen gemeinsamen Sohn hatten, der Grund, dass die Varganen uns vor der Hinrichtung durch die Tejonther auf Belkathyr gerettet hatten? Ich schluckte und wagte nicht, Crysalgira einen Blick zuzuwerfen. Bevor ich länger über die unglaublichen Konsequenzen
nachdenken konnte, sagte Magantilliken: »Crysalgira wird die Mutter vieler varganischer Kinder sein, du wirst dafür sorgen, dass es viele varganische Mütter geben wird. Wir hoffen, dass sich diese Kinder untereinander wieder normal fortpflanzen können!« Crysalgira gab einen erschrockenen Laut von sich und flüchtete in meine Arme. Ich versuchte nicht, sie zu trösten, denn es gab keine Zweifel daran, dass die Varganen ihre Absicht verwirklichen wollten. »Nur zu diesem Zweck bringen wir euch nach Yarden!« Ich stieß einen Schrei aus und warf mich auf ihn, doch er befand sich in einem energetischen Prallfeld, von dem ich zurückgeschleudert wurde. »Reiß dich zusammen. Es gibt Schlimmeres.« »Ich werde es niemals tun«, schluchzte Crysalgira. Magantilliken erwiderte nichts, sondern ging hinaus. Wir waren allein. Was sollte ich sagen? Die Macht der Tropoyther war zu groß, wir konnten nichts unternehmen. »Vielleicht gibt es eine Fluchtmöglichkeit, wenn wir in der Eisigen Sphäre sind. Von dort aus können wir am ehesten ins Standarduniversum entkommen, dort befindet sich Vargos Umsetzer.« Sie schüttelte wild den Kopf. »Sie werden uns nicht eher weglassen, bevor sie nicht sicher sein können, dass ihr schreckliches Experiment Erfolg hat.« Ja, dachte ich düster. Das stimmt. Die Aussicht, den moralisch pervertierten Tropoythern aus ihrer Stagnation zu helfen, war wenig erfreulich. Ich durfte nicht zulassen, dass wir als Brut- und Zeugungsmaschinen missbraucht wurden. »Es wird eine Lösung geben.« Sie sah mich ernst an. »Ich werde mich umbringen!« Ich presste eine Hand auf ihren Mund. »Das darfst du niemals wieder sagen. Dazu besteht überhaupt kein Grund. Wir werden kämpfen, selbst wenn unsere Lage jetzt noch aussichtslos ist.«
Als Magantilliken wieder erschien, machte er einen nervösen Eindruck und schien in Eile zu sein. Vielleicht hatte er neue Instruktionen erhalten. »Wir hatten ursprünglich vor, euch durch das Transmittersystem der Gefühlsbasen nach Yarden zu bringen. Angesichts gewisser … hm, Probleme werdet ihr an Bord eines tejonthischen Raumschiffs gebracht, das den Kreuzzug nach Yarden mitmacht. Dieses Schiff wird euch ans Ziel bringen. Die Besatzung ist angewiesen, euch gut zu behandeln.« »Du gehörst längst nicht mehr zu den Unsterblichen der Eisigen Sphäre«, sagte ich. »Warum schließt du dich uns nicht an und versuchst uns zu helfen? Wir würden nach unserer Rettung alles tun, um dir das Leben im Makrokosmos zu erleichtern.« »Du vergisst, dass ich in regelmäßigen Abständen in die Eisige Sphäre zurückkehren muss.« »Auch für dieses Problem gibt es eine Lösung.« Seine Augen sahen durch mich hindurch. »Nein! Unsere Wissenschaftler hätten längst eine Möglichkeit gefunden, wenn es sie gäbe. Denkst du, wir wollen für immer an die Eisige Sphäre gebunden sein? Vargo und die anderen haben nichts unversucht gelassen.« Du kannst ihn nicht überreden, meldete sich mein Extrasinn. »Vielleicht«, sinnierte der Henker, »sehen wir uns niemals wieder. Es ist erstaunlich, wie oft wir uns bisher begegnet sind.« »Wirst du wieder in den Makrokosmos gehen?« »Bestimmt.« »Schone Ischtar. Sie bedeutet keine Gefahr für euch.« »Es ist keine persönliche Sache. Mir sind diese Rebellen gleichgültig. Ich spüre keinen Groll, wenn ich an Ischtar
denke. Dennoch werde ich sie töten, sobald ich wieder auf die Jagd geschickt werde.« Ich erkannte, dass ich mit keinem meiner Worte unter die Oberfläche seines Denkens drang. Er hatte aufgehört, persönliche Bedürfnisse anderer Intelligenzen zu akzeptieren, war zu einer mordenden Maschine geworden. Mit Schrecken dachte ich an ein Zusammentreffen mit den anderen Unsterblichen in der Eisigen Sphäre. »Die Erinnye wird euch zum Raumschiff bringen, sobald die Zeit gekommen ist«, sagte der Henker abschließend. »Lebt wohl.« »Wie hast du ihn nur um etwas bitten können?«, hielt mir Crysalgira vor. Ich sah das anders, aber ich wollte mich seinetwegen nicht mit ihr überwerfen. Noch vor kurzem hatte sie mit ihm Mitleid gehabt, inzwischen sah sie in ihm – und zweifellos in allen Varganen – ein Ungeheuer. »Er erwähnte ein Transmittersystem«, lenkte ich ihre Gedanken in eine andere Richtung. »Wir haben keinen Anlass, an dieser Aussage zu zweifeln. Vielleicht haben wir eine Chance, von dieser Basis zu fliehen.« Sie war sofort bei der Sache, ein Umstand, der mich sehr erleichterte, denn er bewies, dass die Prinzessin längst noch nicht aufgegeben hatte. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt. Wir sollten sie jedoch zu nutzen versuchen.« Willst du von einer Gefühlsbasis in die andere fliehen?, fragte mein Extrasinn. Was versprichst du dir davon? »Eine Art Aufschub.« Unwillkürlich hatte ich laut gesprochen. Crysalgira sah mich an. »Schon gut. Lass uns die Räume durchsuchen.« Der Haupteingang des Aufenthaltsraums war verschlossen, das hatte ich bereits festgestellt. Es war auch sinnlos, diesen Fluchtweg benutzen zu wollen. »Klopf die Wände ab. Ich durchsuche den Baderaum.« Ich war nicht sicher, ob wir beobachtet wurden. Vermutlich hatten Magantilliken und die Erinnye keine besonderen
Vorsichtsmaßnahmen getroffen, weil sie wussten, dass wir keine Chance für eine Flucht aus der Gefühlsbasis hatten. Schließlich gab es außerhalb der Station nur die lebensfeindliche Umwelt des Asteroiden. Unsere einzige Möglichkeit war die Transmitterverbindung zu den Gefühlsbasen, von der Magantilliken gesprochen hatte. Wenn es uns gelang, eine andere Basis zu erreichen, konnten wir hoffen, auf einer Sauerstoffwelt herauszukommen. Ich untersuchte alle Wände des Baderaums; sie machten einen stabilen Eindruck und konnten ohne entsprechende Werkzeuge nicht geöffnet werden. Auch der Boden erwies sich als widerstandsfähig. Ich gab jedoch nicht auf. Auf einem Sessel, den ich ins Badezimmer schob, untersuchte ich die Leuchtdecke, klopfte sie ab. Dabei entstanden hohl klingende Geräusche. Crysalgira, die sie hörte, kam herein. »Über der Decke ist ein Hohlraum. Die Frage ist nur, wie hoch er ist und wie wir dorthin gelangen.« Ich montierte einen zweiten Sessel auseinander und benutzte eine der freigelegten Metallstreben, um den Deckenrand zu bearbeiten. Das Licht erlosch, offenbar hatte ich die Stromzufuhr unterbrochen. Es gelang mir, einen Teil der Decke aufzubrechen. Mit Hilfe einer größeren Metallstange, die ich als Hebel benutzte, vergrößerte ich die Öffnung, ließ Crysalgira auf den Sessel klettern und hob sie hoch, damit sie in das entstandene Loch blicken konnte. »Der Zwischenraum ist nicht besonders hoch. Ich nehme an, dass er zur Belüftungsanlage gehört. Wir werden kriechen können. Nun gut, wir haben nichts zu verlieren.« Ich reichte ihr die beiden Metallstangen und half ihr, sich in die Öffnung zu zwängen. Ihr zu folgen war nicht einfach; ich musste mich hochziehen und den Oberkörper in das Loch schieben. Crysalgira half mir, so gut es ging. Kurze Zeit darauf lagen wir schwer atmend nebeneinander. Kühle Luft blies mir
ins Gesicht. Von unten fiel nicht genügend Licht durch die Öffnung, um Einzelheiten unserer Umgebung zu erkennen. »Ich krieche voraus«, entschied ich und schlug aufs Geratewohl eine Richtung ein. Wir kamen trotz der unbequemen Körperhaltung erstaunlich gut voran. Bald befanden wir uns in völliger Dunkelheit. Ab und zu hielten wir an, um zu lauschen. Es war still. Etwas, das sich wie ein dichtes Netz aus Metall anfühlte, stoppte mich schließlich. Ich tastete das Hindernis mit den Händen ab. Crysalgira lag neben mir. »Wir könnten versuchen, uns gewaltsam einen Durchschlupf zu schaffen. Dabei würde jedoch Lärm entstehen, deshalb schlage ich vor, dass wir eine Zeit lang an diesem Gitter entlangkriechen und feststellen, wo wir herauskommen.« Sie erhob keine Einwände. Der Zwischenraum, in dem wir uns befanden, musste riesig sein, wahrscheinlich zog er sich quer durch die gesamte Station. Plötzlich griffen meine Hände ins Leere. Ich tastete vorsichtig umher und stellte fest, dass ich mich am Rand einer runden Öffnung befand: ein senkrechter Schacht. Ich ließ mich mit den Beinen voran hineingleiten. Indem ich mich mit den Beinen und dem Rücken an den Wänden abstemmte, stieg ich langsam abwärts. »Kannst du mir folgen?« Crysalgira hatte ihre Gewandtheit und Kraft schon oft bewiesen, so dass ich keine Bedenken hatte. Es dauerte nicht lange, dann spürte ich festen Boden unter mir. Ich richtete mich auf und wartete, bis Crysalgira neben mir stand. »Was, glaubst du, ist das hier, Atlan? Ein Schacht oder ein Behälter?« »Keine Ahnung.« Meine Hände, die über die glatten Innenwände tasteten, trafen auf Widerstand. Ich untersuchte die Ausbuchtungen gründlich und drückte von allen Seiten dagegen. Nichts geschah. Meine Hoffnung, einen Verschlussmechanismus gefunden zu haben, bestätigte sich
nicht. Ich ergriff eine der beiden Metallstreben und schob sie in eine Vertiefung, stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Es gab ein knirschendes Geräusch, irgendetwas brach auseinander. Gleichzeitig entstand ein schmaler Spalt, durch den Licht hereinfiel. Ich brachte mein Gesicht an die Öffnung, blickte in einen beleuchteten Korridor. Das Gebiet, in das ich einsehen konnte, war verlassen. Crysalgira war vernünftig genug, jetzt keine Fragen zu stellen. Ich schob beide Metallstangen in die kleine Öffnung; die Vergrößerung des Spaltes war kein Problem. Schließlich konnte ich den Kopf hinausstrecken. Wir befanden uns in einer hohlen Säule mitten im Korridor. Ich drehte den Kopf und entdeckte den Öffnungsmechanismus außen an der Säule, streckte die Hand aus. Die Säule ließ sich nun ohne Schwierigkeiten öffnen. Ich trat auf den Korridor und zog Crysalgira ins Freie. Hastig blickte ich mich um. Es blieb keine Zeit, die Spuren zu verwischen. Alles, was ich tun konnte, war, die schmale Tür wieder zuzudrücken. »Wohin?« Crysalgira sah sich um. Ich wünschte, ich hätte eine Antwort gewusst. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich für eine Seite des Korridors zu entscheiden, um festzustellen, wohin er uns führte. Wir rannten los und bemühten uns, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Trotzdem kamen mir unsere Schritte übermäßig laut vor. Ich fragte mich, ob Magantilliken und die Erinnye die einzigen Bewohner der Gefühlsbasis waren. Der Korridor endete an einem breiten Tor. Ich presste ein Ohr gegen das Metall, aber es war nichts zu hören. Auf der anderen Seite konnten unsere Gegner sein. Crysalgira nickte mir zu, sie war entschlossen, jedes Risiko einzugehen. Das Tor ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Wir betraten einen halbdunklen Raum. Im Hintergrund
standen einige Konsolen mit Bildschirmen. Rechts war ein Instrumentensockel, im Hintergrund erkannte ich eine Art Korb, der offenbar zu einem Lift gehörte. Gegenstation konnte nur ein Podest etwa zehn Meter höher sein. Dort war ein kreisrundes Fenster in die Wand gelassen, das den Durchblick in den benachbarten Raum gestattete. Ich fragte mich, was dort so Besonderes war, um diesen Aufwand zu rechtfertigen. Ein eisiger Hauch traf mich – ich fuhr erschrocken herum und sah die Erinnye unmittelbar neben Crysalgira stehen; das Wesen war wie aus dem Nichts erschienen. Crysalgira stand versteinert, Angst und Enttäuschung zeigten sich in ihrem Gesicht. In meiner Verzweiflung machte ich einen Schritt auf das seltsame Geschöpf zu und schlug nach ihm. Ich traf ins Leere und erhielt dafür einen Schockstrahl, der meinen Körper vibrieren ließ. Für Augenblicke stand ich heftig zitternd da und war unfähig, irgendetwas zu tun. Die Erinnye musterte mich. »Sie hätten Ihre Unterkunft nicht verlassen sollen«, sagte das Wesen. Wahrscheinlich konnte es keinen Ärger empfinden. »Kommen Sie! Ich bringe Sie in Ihre Unterkunft zurück.« Wir folgten ihr. Ich war niedergeschlagen und fühlte mich für den Fehlschlag verantwortlich. »Es war ein Versuch«, sagte Crysalgira. »Immer noch besser, als tatenlos abzuwarten.« Als wir in unserer Unterkunft eintrafen, war die Decke des Baderaums bereits repariert. Magantilliken erschien, aber er machte uns keine Vorhaltungen. »Es ist sinnlos, den Versuch zu wiederholen. Ihr werdet wieder scheitern.« »Wann werden wir abgeholt?« »Es ist bald so weit.« Er schickte die Erinnye hinaus und zog plötzlich eine Stabwaffe. Ich sah ihn bestürzt an, denn ich rechnete damit, dass er uns bestrafen würde. Er zögerte, dann warf er die Waffe auf den Tisch. Ich sah ihn erstaunt an. »Ihr
habt sie während eures Ausbruchsversuches gefunden und an euch genommen.« »Warum tust du das?« Er zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Ich ging zum Tisch und nahm die Waffe an mich. »Das ist eine Falle«, sagte Crysalgira. »Du darfst diesen Strahler nicht anrühren.« »Ich denke, er meint es ehrlich.« Prüfe, ob sie geladen ist, ermahnte mich mein Extrasinn. Ich wusste, dass die stabförmigen Waffen im Kombimodus arbeiteten und je nach Einstellung einen Paralayse-, Thermooder Desintegratorstrahl abfeuern konnten. Kleine zylindrische Energiemagazine befanden sich im Stabende; die Anzeige zeigte fast volle Ladung an. Zufrieden schob ich den Stab unter den Anzug. »Was hast du jetzt vor?«, wollte die Prinzessin wissen. »Abwarten. Hier in der Gefühlsbasis haben wir keine Chance, aber das kann sich ändern, sobald wir an Bord eines tejonthischen Schiffes sind.« Ich dachte darüber nach, dass Magantilliken ein höchst ungewöhnlicher Mann war, der immer wieder für Überraschungen sorgen konnte. Was ging im Kopf des Henkers vor? Wollte er uns durch das Überlassen einer Waffe helfen, oder wünschte er unseren schnellen Tod? War er am Ende sogar gegen den Plan, dass Crysalgira und ich für den Fortbestand der Varganen sorgen sollten? Auf jeden Fall verfolgte dieser Mann seine eigenen Pläne, gehörte nur noch dem Namen nach zu den letzten Tropoythern oder Varganen, die in Yarden lebten. Ich versuchte, mir die Verhältnisse in der Eisigen Sphäre vorzustellen, aber trotz allem, was ich erfahren hatte, gelang mir das nicht einmal annähernd. Die Unsterblichen, die sich durch ihre Experimente mit der Absoluten Bewegung beinahe selbst ausgerottet hatten, waren
nicht mit Ischtar zu vergleichen. Ich erinnerte mich, wie fremd mir aber sogar sie trotz meiner Liebe zu ihr geblieben war. Ähnelten die varganischen Frauen in der Eisigen Sphäre Ischtar? War Chapat inzwischen dem Embryostadium entwachsen und aus dem Überlebensbehältnis herausgenommen worden? Hatten Crysalgira und ich nach Erfüllung unserer Aufgabe Hoffnung, durch den Umsetzer ins Standarduniversum entlassen zu werden? Würde diese Prozedur für uns ähnliche Folgen haben wie für die Varganen? Das alles waren Fragen, die mich so intensiv beschäftigten, dass ich keine Ruhe fand. Das Bewusstsein, nun eine Waffe zu haben, war ebenfalls aufregend. Ich werde sie einsetzen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bietet.
Gedankenkaleidoskop: Ich erinnerte mich an die Begegnungen mit Ischtar, glaubte plötzlich ihre Stimme zu hören. »Atlan! Sehr lange habe ich auf einen Mann wie dich gewartet, auf einen Mann, der würdig ist, mit mir einen Sohn zu zeugen.« Sie wollte mich an sich ziehen, doch ich wich zurück. »Warum sträubst du dich? Gefalle ich dir nicht?« »Doch, du gefällst mir sehr«, murmelte ich tonlos. »Aber …« Ihre Fingerspitzen glitten über meine Lippen und verschlossen sie. »Wenn ich dir gefalle, gibt es kein Aber. Glaube mir, ich kann dich glücklich machen. Ich weiß mehr von der Liebe, als du dir vorstellen kannst. Wir werden einen Sohn zeugen, der das Erbgut der Varganen in die ferne Zukunft weiterträgt. Atlan, ich kenne das Geheimnis des ewigen Lehens, und ich werde es unserem Sohn übermitteln. Er wird Chapat heißen.« Sie hatte einen Mann gesucht, mit dem sie einen Sohn zeugen wollte, aber durfte ich ihr das zum Vorwurf machen? Über die genetische Kompatibilität machte ich mir keine Gedanken – das Wunder meiner Heilung verdeutlichte, zu
was die Varganen in der Lage waren. Die Versunkenen Welten bewiesen es ebenfalls, die Stationen bei der Suche nach dem Stein der Weisen, der Quaddin-Körper, bei dem varganische Wissenschaftler vor langer Zeit eine Symbiose mit Tieren und ganz speziellen Pflanzen eingegangen waren, weil sie ihr Bewusstsein erweitern und noch unglaublichere Dinge erschaffen wollten, als sie ohnehin schon zuwege gebracht hatten. Muss ein experimentierfreudiges Volk gewesen sein, dachte ich und erinnerte mich an den »Zeitwächter« Ngulh, der sich als Verschmelzung von Varganenbewusstseinen mit einem elektronischen Trägerkörper bezeichnet hatte. Oder als mir der Schlag die Besinnung raubte, irgendetwas in meinem Innersten zerriss und ich plötzlich die Stimme Ischtars vernahm. Die Goldene Göttin sprach zu mir. Das ist ein posthypnotisch verankertes Schutzfeld. Ich will nicht, dass du stirbst. Im Falle akuter Lebensgefahr bündelt sich deine Geistesenergie zu einem psionischen Schockstrahl, der deinen Gegner vernichtet. Mehr kann ich für dich nicht tun. Fortan bist wieder ganz auf dich allein angewiesen. Auch deine Feinde erkennen dich wieder als Kristallprinzen von Arkon. In diesem Augenblick erlischt deine Schutzaura. Du musst kämpfen, wenn du nicht sterben willst. Ich denke an dich, Atlan, denn ich liebe dich! Der Blinde Sofgart starb. Sein Körper war von einem Strahl durchbohrt worden, den mein Geist erzeugt hatte. Über welche unvorstellbaren Machtmittel müssen die Varganen verfügen? Ich fröstelte. Ein »Eingriff« Ischtars hatte genügt, um das Duell mit dem Folterkönig zu beenden. Sie hatte dieses Zusammentreffen in weiser Voraussicht kommen sehen. Liebt sie mich wirklich so sehr, dass sie mich nicht schutzlos in das Glaathan-System hat ziehen lassen wollen? Ich dachte an die Silberkugel Dovreens und ihren ovalen Behälter, dessen Oberfläche aussah, als bestünde sie aus
grauem Stahl. Trotz eingehender Untersuchungen hatten wir nichts über sie in Erfahrung gebracht. Kugel wie Behälter waren zu sehen und konnten berührt werden, aber für die Messgeräte schien weder das eine noch das andere zu existieren. Weder Masse- noch Energie- oder Konturortung lieferten Daten. Es war zwar möglich, ein Foto oder eine Holoaufnahme anzufertigen, aber damit hatte es sich auch. Sie waren Teil einer völlig fremden Technologie, die von den Messbereichen unserer Instrumente offensichtlich nicht erfasst wurde. Ob es nun an den beiden selbst lag oder Ergebnis einer besonders wirksamen Abschirmung war, blieb offen. »Ich habe eine ähnliche Silberkugel in meinem Schiff«, sagte Ischtar nachdenklich und wiederholte exakt jene Worte, die sie auch schon Ra gegenüber ausgesprochen hatte: »Ein altes Geheimnis meines Volkes. Nicht einmal ich kenne die ganze Geschichte. Ich brauchte sehr lange Zeit, um ein wenig über die Kugel zu erfahren. Ich weiß nur so viel, dass es das Bindeglied zu den verschollenen Varganen darstellt. Es wird mir bei der endlosen Suche helfen.« Mein fotografisches Gedächtnis lieferte passend dazu die Szene: … fällt Ras Blicks auf eine strahlende Energiewolke. Ischtar hat davor gekniet und seltsame Beschwörungen ausgestoßen. Das Gebilde hält eine kleine, faustgroße Silberkugel in der Schwebe. Ringsum stehen schwere Maschinenblöcke, unter deren Abdeckplatten ein Summen hervordringt. Die Kugel selbst scheint zu pulsieren. Die Energiewolke verzerrt den Gegenstand. Unwillkürlich streckt Ra seine Hand aus und will die Silberkugel ergreifen. Ischtar stößt einen Schrei aus und springt ihm in den Weg. »Nein, Ra … Hände weg! Nicht berühren!« »Genau so geschah es, Liebster«, flüsterte sie und fügte dann lautlos auf telepathischer Übermittlungsbasis hinzu: Kolchos Auge wird selbst mir unheimlich. Es hat dir Dinge gezeigt, die … Fast wie bei den Toten Augen des Kyriliane-Sehers.
»Tote Augen? Kyriliane-Seher?« Sie lächelte matt. »Ein dunkles Kapitel aus weit zurückliegender Vergangenheit, dessen Einzelheiten ich nur am Rande mitbekam und ansonsten vom Hörensagen kenne. Viele meines Volks verfügen über starke geistige Kräfte, doch Vrentizianex sah Dinge, die er nicht hätte sehen dürfen. Er war der Kyriliane-Seher, der sah, was immer er sehen wollte – und wurde bestraft.« Sie seufzte. »Eine halbe Ewigkeit verging, nie hatte ich mehr von den Heimkehrwilligen gehört, wusste nicht einmal, ob ihnen der Übergang gelungen war. Einige der Zurückgebliebenen unternahmen später vergleichbare Experimente, konnten mit geeigneten Mitteln hin und her wechseln, begegneten dabei aber keinem anderen Varganen. Von der Eisigen Sphäre erfuhr ich erst, als Magantilliken vor mehr als dreißigtausend Jahren deiner Zeitrechnung seine Jagd begann – einige seiner Opfer entkamen ihm, konnten den anderen berichten, was sie von dem Henker erfahren hatten. Viel war es nicht, aber wir waren gewarnt, verstreuten uns noch mehr, wechselten häufig den Aufenthaltsort, zogen uns in vermeintlich sicheren Verstecken in den Tief schlaf zurück …«
Drei Pragos später – im Standarduniversum der letzte Prago des Jahres 10.498 da Ark – erschienen zwei Erinnyen in unserer Unterkunft. Vergeblich wartete ich auf Magantilliken; vermutlich war der Henker bereits nicht mehr in der Gefühlsbasis. »Der Kreuzzug nach Yarden ist in der Nähe dieser Gefühlsbasis eingetroffen.« Bedeutete das, dass weitere Verbände zu den tejonthischen Einheiten gestoßen waren? Trotz aller Schwierigkeiten fand der Kreuzzug offenbar auch diesmal statt. Noch immer war
mir unklar, warum die Tejonther auf Veranlassung der Varganen alle dreihundert Arkonjahre diesen Flug unternahmen. Das hatte der Bericht der Kugel nicht offenbart – ich befürchtete jedoch, dass es dafür einen schrecklichen Grund gab. Immerhin wussten wir inzwischen, dass angeblich noch nie Kreuzzugsschiffe zurückgekehrt waren. Andererseits … mir fielen Groya-Dol und seine Eisnarbe ein. Er war aus der Eisigen Sphäre zurückgekehrt, wie immer ihm das auch gelungen sein und was immer er dort erlebt haben mochte. »Was wird mit uns geschehen?«, fragte ich. »Ein Schiff wird landen, um Sie abzuholen. Es wird Sie nach Yarden bringen, wo Sie bereits erwartet werden.« Unwillkürlich berührte ich die Waffe unter meinem Anzug. »Wir bringen Sie jetzt zur Schleuse. Dort erhalten Sie Schutzanzüge.« Crysalgira warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich reagierte nicht darauf. Es war sinnlos, die Waffe auf dem Weg zum Schiff zu benutzen. Nur an Bord des tejonthischen Schiffes hatten wir eine Chance. Die beiden Erinnyen führten uns zur Schleuse. Auf dem Weg dorthin sah ich mich vergeblich nach Magantilliken um. Wir bekamen vor der Schleuse Schutzanzüge – vielleicht waren es sogar jene, die wir bereits bei unserer Ankunft getragen hatten. Offenbar verlief nicht alles so reibungslos, wie die Erinnyen geplant hatten, denn nachdem wir die Anzüge angelegt hatten, mussten wir noch einige Zeit warten, bis wir die Schleuse betreten durften. Draußen erwarteten uns drei bewaffnete tejonthische Raumfahrer. Wir gingen los. In einiger Distanz sah ich kurz darauf ein hundertzwanzig Meter hohes Schiff; es stand auf den an die großen Heckleitwerken angeflanschten Triebwerkszylindern. Ich überlegte, wie viele Besatzungsmitglieder sich an Bord aufhalten mochten, denn davon hing in erster Linie der Erfolg jeder Aktion ab. An der
Größe des Schiffes gemessen konnten es mindestens fünfzig sein. Wie sollen wir sie mit nur einer Waffe besiegen? Die Tejonther schienen es eilig zu haben, denn sie brachten uns sofort zum Schiff, ohne mit den Erinnyen Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich hatten sie vorab ihre Anweisungen per Funk erhalten. An Bord wurden Crysalgira und ich sofort in eine Kabine gebracht. An den Vibrationen und Erschütterungen spürten wir, dass das Schiff unmittelbar nach unserer Ankunft in den Weltraum startete, um sich wieder der Kreuzzugsflotte anzuschließen. »Die Waffe hilft uns wenig«, befürchtete Crysalgira nach einer Weile. »Wir sind eingesperrt; sie kümmern sich überhaupt nicht um uns.« »Das hängt davon ab, wie lange sie nach Yarden unterwegs sind. Sofern sie die Distanz im Direktflug überbrücken, erreichen wir unser Ziel sicher bald. Ich neige jedoch zu der Annahme, dass sie noch ein Reihe dieser Gefühlsbasen anfliegen müssen – was immer der Grund dafür sein mag. Das bedeutet, dass sie uns verpflegen müssen.« Ich wunderte mich, dass sie uns die Anzüge gelassen hatten. Stand uns vielleicht ein weiterer Ausflug in den Weltraum bevor? Trotz der Informationen, die wir in der Gefühlsbasis erhalten hatten, konnte ich mir kein Bild von der Eisigen Sphäre machen. Wie sieht sie aus, wie groß ist sie? Abermals dachte ich an Groya-Dol und seine Eisnarbe. Können Normalsterbliche überhaupt in Yarden leben? »Ich frage mich, ob wir nicht sogar das Risiko auf uns nehmen und uns nach Yarden bringen lassen sollten.« Sie sah mich ungläubig an. »Du weißt, was uns dort erwartet.« »Zumindest unser Leben wäre nicht bedroht. Wenn sie uns wirklich zur Zeugung einer neuen Generation benutzen wollen, werden sie sehr vorsichtig mit uns umgehen.« »Du willst also aufgeben?«
»Nein. Das sind theoretische Überlegungen. Natürlich werden wir versuchen, das Schiff in unsere Gewalt zu bringen und damit zu entkommen.« Es war unmöglich, einen genauen Plan zu entwickeln – wir mussten warten, dass uns der Zufall eine Gelegenheit gab. Trotz der Ungewissheit, die mit meinem Vorhaben verbunden war, wartete ich voller Ungeduld, dass einer der Tejonther in unsere Kabine kam. Als es nach einigen Tontas endlich so weit war, erschienen mir die Umstände für einen Angriff denkbar ungeeignet. Die Tür sprang auf, auf dem Gang stand ein Tejonther mit einer schweren Strahlwaffe in den Händen. Ein zweiter Mann mit eine Handfeuerwaffe im Gürtelhalfter betrat zwar den Raum, blieb aber im Eingang stehen. Er hatte ein Übersetzungsgerät dabei, das er jetzt einschaltete. »Haben Sie bestimmte Wünsche?« »Ich habe Fragen. Aber die werden Sie mir bestimmt nicht beantworten.« »Dazu bin ich nicht berechtigt, abgesehen davon, dass ich vermutlich weniger weiß als Sie.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir regelmäßig Nahrung erhalten könnten.« »Das ist selbstverständlich.« Ich überlegte, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Sicher war er kein bösartiger Mann, sondern führte seine Befehle aus und wirkte verunsichert. »Gut. Bringen Sie uns zu essen und zu trinken.« Er drehte sich um und stand dabei genau zwischen mir und dem Mann mit dem Strahlgewehr auf dem Gang. Jetzt!, rief mein Logiksektor. Blitzschnell zog ich die Stabwaffe. Der Mann auf dem Korridor konnte es nicht sehen, der zweite wandte mir den Rücken zu. Als er die Kabine verließ, gab er den Blick auf den bewaffneten Raumfahrer frei, der wahrscheinlich nicht begriff, was geschah. Ich schoss auf ihn; die Waffe, die mir
Magantilliken gegeben hatte, funktionierte einwandfrei. Der im Paralysatormodus getroffene Tejonther taumelte rückwärts bis zur Wand, ohne die Waffe loszulassen. Seine Augen waren weit geöffnet. Ich zielte auf den zweiten Mann, der sich jetzt langsam umdrehte, mit einem Ausdruck ungläubiger Überraschung im Gesicht. »Lassen Sie Ihre Waffe stecken!«, befahl ich. Seine Hände zuckten zurück, während ich mich an Crysalgira wandte: »Sieh nach, ob noch jemand im Korridor ist.« Während sie vorsichtig aus der Tür blickte, sprang ich zu dem Tejonther, zog ihm die Waffe aus dem Gürtelhalfter und warf sie der Prinzessin zu, die gelassen feststellte: »Niemand hier.« Ich deutete auf den Tejonther. »Bewach ihn und lass ihn nicht aus den Augen.« Sie nahm vor ihm Aufstellung und bedrohte ihn mit seiner eigenen Waffe. Ich trat auf den Gang, sah mich nach beiden Seiten um, packte den Bewusstlosen und zog ihn in die Kabine. Alles war blitzschnell gegangen, ich hörte mich aufatmen. Noch war nichts gewonnen, aber wir hatten Zeit zum Atemholen. Ich griff nach dem Übersetzungsgerät. »Wie heißen Sie?« Der Tejonther war völlig eingeschüchtert und brachte keinen Ton hervor. »Sprechen Sie. Ich habe nicht viel Zeit.« »Warquel.« »Wie viele Besatzungsmitglieder befinden sich an Bord?« »Mit mir sind es zehn.« Zweifellos sprach er die Wahrheit. Ich hatte mich also verschätzt, denn ich hatte mit mindestens fünfzig Gegnern gerechnet. Dass es nur zehn waren, erleichterte mich. Jetzt hatten die Prinzessin und ich eine echte Chance, das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Warquel war unser Gefangener, der andere Mann bewusstlos. »Wie viele Raumfahrer halten
sich in der Zentrale auf?« »Nur einer – das Schiff wird vom Robotpiloten gesteuert.« »Wie die übrige Kreuzzugsflotte?« »Ja.« »Ich will vermeiden, dass es Tote gibt. Deshalb wäre es klug von Ihnen, mir zu helfen.« Allmählich gewann er seine Fassung zurück. Seine gelben Augen bewegten sich heftig, offensichtlich suchte er nach einem Ausweg. »Handeln Sie nicht unüberlegt. Die Besatzung wird überleben, wenn sie sich meinen Befehlen fügt.« »Was haben Sie eigentlich vor? Sie haben doch überhaupt keine Chance, irgendetwas zu erreichen.« Ich ignorierte diese Behauptung, mit der er uns nur einzuschüchtern versuchte. »Wo sind die übrigen Besatzungsmitglieder?« Er zögerte. Ich richtete den Lauf der Waffe auf ihn. »Kommen Sie nicht auf die Idee, uns zu belügen.« »Vermutlich im Aufenthaltsraum, zwei Decks höher. Ich weiß nicht, was sie dort tun, aber die Mehrzahl wird schlafen oder sich ausruhen.« Ich nickte zufrieden. Die Situation war ausgesprochen günstig. Wenn wir schnell und entschlossen handelten, konnten wir unser Ziel erreichen. Ich nahm die schwere Strahlwaffe an mich. »Sie führen uns dorthin. Lassen Sie sich zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen, eine Waffe bleibt immer auf Sie gerichtet.« In Gedanken war ich schon bei der nächsten Stufe meines Planes. Sobald wir das Schiff in unserer Gewalt hatten, mussten wir eine Möglichkeit finden, um aus der Flotte auszuscheren. Wie würden die übrigen Raumfahrer auf ein solches Manöver reagieren? Konnten die Robotpiloten einfach ausgeschaltet werden? Gab es Sicherheitssperren? Ich wollte später mit Warquel über dieses Problem reden, jetzt mussten
wir zuerst die Besatzung ausschalten. Crysalgira erwies sich einmal mehr als zuverlässige Verbündete und ließ den Tejonther nicht aus den Augen, so dass ich ohne Risiko die Umgebung beobachten konnte. Warquel hatte die Wahrheit gesprochen, auf dem Weg zum Aufenthaltsraum trafen wir mit niemandem zusammen. Schließlich standen wir vor dem Eingang. »Du bleibst mit Warquel hier und bewachst ihn«, sagte ich. »Zögere nicht zu schießen, sollte er sich rühren.« »Du kannst dich auf mich verlassen.« Ich nickte ihr zu und öffnete vorsichtig das Schott. Im Vorraum befand sich niemand. Ich durchquerte ihn und öffnete die nächste Tür, blickte in eine Art Bibliothek. Sieben Raumfahrer saßen in bequemen Sesseln um eine sich drehende Bildsäule. Sie blickten nicht auf, als ich eintrat, wahrscheinlich dachten sie, Warquel oder der andere Mann seien eingetreten. Sie hatten ihre Ausrüstung abgelegt. Soweit ich sehen konnte, trug keiner von ihnen eine Waffe. »Hallo!«, rief ich in das Übersetzungsgerät. »Niemand rührt sich von seinem Platz!« Sie starrten mich an wie eine Erscheinung. Ein großer Mann erholte sich zuerst von seiner Überraschung, fast wäre es ihm fast gelungen, mich zu überrumpeln: Unvermittelt warf er sich vornüber und zog eine kleine Strahlwaffe. Bevor er abdrücken konnte, traf ihn der Schuss des varganischen Stabs. Er blieb vor dem Sessel paralysiert liegen und rührte sich nicht mehr. »Ich will nicht, dass sich ein solcher Zwischenfall wiederholt. Fügen Sie sich meinen Anordnungen.« Ich rief Crysalgira und Warquel herein. »Sieh dir die anderen Räume an«, bat ich die Prinzessin. »Wir brauchen ein geeignetes Gefängnis.« Ich winkte Warquel mit der Waffe. Er trat zu den anderen, während Crysalgira mit der Untersuchung der benachbarten Räume begann und mich kurz darauf informierte. Ich
entschied mich dafür, die Gefangenen in einer großen Vorratskammer unterzubringen, die von außen verriegelt werden konnte. Bis auf Warquel trieb ich die Raumfahrer hinein und versprach ihnen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Wahrscheinlich hassten sie mich, doch ich konnte auf die Gefühle dieser Wesen nicht viel Rücksicht nehmen. Ob sie mir geglaubt hätten, dass ich auf Belkathyr für die Beendigung der Kreuzzüge gekämpft hatte? Vielleicht wussten sie es sogar. Die überwiegende Mehrheit der Tejonther war für die Beibehaltung der Kreuzzüge nach Yarden, obwohl sie nicht wussten, warum sie überhaupt durchgeführt wurden. Die Tejonther waren nur Werkzeuge der letzten Tropoyther, aber das war ihnen kaum begreiflich zu machen – und selbst wenn, änderte es vermutlich nichts. Im Bericht der Kugel war schließlich davon die Rede gewesen, dass die Varganen von den Gefühlsbasen aus »die Völker großer galaktischer Regionen in ihrem Sinne beeinflussen« konnten. Also Hypnosuggestion oder eine vergleichbare paramechanische Beeinflussung? Fröstelnd erinnerte ich mich an die Erlebnisse auf Somor. Die Raumfahrer dort haben ihre Herkunft vergessen, sind degeneriert. Daran war vermutlich nicht nur die Katastrophe schuld, sondern zweifellos auch der Einfluss der – defekten? – Gefühlsbasis, dessen bin ich mir sicher. Nachdem der Vorratsraum verriegelt war, befahl ich Warquel, uns in die Zentrale zu bringen. Dort hielt sich das letzte freie Besatzungsmitglied auf. Seine Überwältigung bereitete keine Schwierigkeiten – der Mann war im Kontursessel eingeschlafen. Crysalgira brachte den verstörten Raumfahrer zu den anderen Gefangen, während ich die Bildschirme und Ortungsanzeigen musterte. Offenbar waren doch annähernd zehntausend Einheiten zusammengekommen. Es war ein imposanter Anblick, der mich so faszinierte, dass ich Warquel für Augenblicke fast
vergessen hätte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er langsam näher kam. Er glaubte an eine Chance, mich überwältigen zu können. Ich bedrohte ihn sofort mit der Waffe. »Stehen bleiben!« In Zukunft, beschloss ich, muss ich noch vorsichtiger sein. Auf keinen Fall darf ich diesen Tejonther unterschätzen. Wenn ich nicht aufpasse … Er brachte es fertig zu lächeln. »Sie sehen, dass Sie nur eine relative Freiheit gewonnen haben. Das Schiff befindet sich mitten in der Kreuzzugsflotte. Sie können nicht entkommen. Geben Sie auf.« Ich winkte mit der Waffe und ließ ihn im Sessel vor den Kontrollen Platz nehmen. »Wir werden es aus der Flotte steuern.« Sein Pelz sträubte sich im Nacken, er schien ernsthaft bestürzt zu sein. »Kommen Sie nicht auf den Gedanken, eine Funkbotschaft abzustrahlen oder Ihren Freunden sonst ein Zeichen zu geben. Vergessen Sie nicht, dass Sie und alle anderen Besatzungsmitglieder mit uns sterben werden, sollte irgendetwas mit dem Schiff passieren.« »Ja.« Meine Blicke wanderten über die Kontrollen. Inzwischen waren mir die Instrumente nicht mehr völlig fremd. Es fiel mir leicht, die Funkanlage zu finden. Ich zerstörte ein paar Schaltungen, so dass Warquel keine Verbindung zu anderen Schiffen aufnehmen konnte, ohne vorher auffällige Vorbereitungen zu treffen. Er schien enttäuscht zu sein. »Unterhalten wir uns darüber, wie wir nun vorgehen.« Er machte keinen sehr bereitwilligen Eindruck, aber ich ließ mich davon nicht irritieren. »Sie wissen, was ich vorhabe. Es geht darum, den Kreuzzug zu verlassen.« »Das ist unmöglich.« Er ließ sich im Sitz zurücksinken, als sei die Sache damit erledigt. »Mag sein, dass Sie so denken. Trotzdem werden Sie es versuchen, wenn Sie am Leben bleiben wollen.«
Er seufzte. Ich war nicht sicher, ob er wirklich mit großen Schwierigkeiten rechnete oder mir nur etwas vormachte. Auf jeden Fall wollte ich mich nicht von meinen Plänen abbringen lassen. Die Eroberung des Schiffes war völlig sinnlos, wenn wir weiterhin in diesem Pulk mitflogen. Ich presste Warquel den Lauf der Waffe in den Nacken. »Entscheiden Sie sich.« Das wirkte. Er begann, an den Kontrollen zu hantieren. Ich ließ die Bildschirme und die Panoramagalerie nicht aus den Augen. Da ich nicht bereit war, eine Funkverbindung zu anderen tejonthischen Einheiten zuzulassen, musste ich mich auf die optischen und ortungstechnischen Informationen verlassen. Crysalgira kam in die Zentrale zurück. »Ich habe ihn gut untergebracht.« Ihr Blick fiel auf die Kontrollen. »Geht es los?« Ich nickte nur, wollte mich jetzt nicht ablenken lassen. Bei der Bedienung der verschiedenen Schaltanlagen machte Warquel einen sicheren Eindruck. Ich konnte nicht völlig ausschließen, dass er einen Trick versuchte, denn dazu kannte ich die tejonthische Technik nicht gut genug. Einmal mehr musste ich mich völlig auf meinen Instinkt verlassen. Auf den Leuchtskalen erschienen jetzt ständig neue Werte, auch die Stellung des Schiffes zum übrigen Verband begann sich zu ändern. Das Manöver hatte begonnen. Obwohl alles sehr schnell ging, verstrich die Zeit scheinbar mit quälender Langsamkeit. Keines der anderen Schiffe schien zu reagieren, aber das war eine oberflächliche Feststellung, denn ich konnte längst nicht alle Einheiten beobachten. Sofern sie aber robotgesteuert flogen, war die ausbleibende Reaktion nicht verwunderlich. Warquel hatte die manuelle Kontrolle übernommen, dennoch drängte sich mir bald der Verdacht auf, dass er das Ausschermanöver absichtlich verzögerte. »Es geht zu langsam!«, herrschte ich ihn an. »Beeilen Sie sich, wenn Sie diese Aktion überleben wollen!«
»Ich tue, was ich kann.« Zum ersten Mal wurde er richtig wütend und widerspenstig. »Die Robotpiloten lassen sich normalerweise nicht so einfach überbrücken. Bei diesem Schiff gelingt es nur, weil es für Sondermissionen ausgestattet ist.« Ich verstand sofort. Im Normalfall musste der Spielraum der Schiffe der Kreuzzugsflotte minimal sein – ein weiteres Indiz dafür, wie sehr die Tejonther von den Varganen manipuliert wurden. Unser Raumer dagegen gehörte zu jenen, die im Rahmen anderer Befehle frei beweglich waren. Immerhin hatte er eine Gefühlsbasis angesteuert, um uns abzuholen. Da wir auf Warquel angewiesen waren, beschloss ich, ihn während der Kurskorrektur nicht zu stark unter Druck zu setzen, denn das konnte zu einer Kurzschlussreaktion führen. Als ich wieder auf die Bildschirme blickte, sah ich auf einer Seite den offenen Weltraum. Unser Schiff war im Begriff, sich von der Flotte der Kreuzzügler zu trennen. Bisher war nichts dagegen unternommen worden – weil vermutlich angenommen wurde, wir hätten abermals Sonderbefchle auszuführen. Ich wandte mich wieder an Warquel. »Beschleunigen Sie jetzt mit Höchstwerten.« Er wollte Einwände erheben, besann sich aber anders und führte meine Anordnung aus. Das Schiff schien förmlich aus diesem Sektor der mikrokosmischen Galaxis herauszuspringen. Wenig später verschwand die Kreuzzugsflotte aus der Ortung, weil die Raumer synchron ein Überlichtmanöver durchführten. »Geschafft«, rief Crysalgira.
Wir beschlossen, abwechselnd zu schlafen, denn es wäre ein Fehler gewesen, Warquel unbeaufsichtigt an den Kontrollen des Schiffes zu lassen. Ich wollte die erste Wache übernehmen, denn die Prinzessin war wesentlich erschöpfter als ich. Ihr
Durchhaltevermögen war sowieso bewundernswert. Sie lehnte sich an mich und küsste mich flüchtig auf die Wange. »Ich bin froh, dass wir dem Schicksal entronnen sind, das uns die Varganen zugedacht haben«, sagte sie müde, aber glücklich. »Ich darf nicht daran denken, was mit uns geschehen wäre, hätten sie uns in die Eisige Sphäre gebracht.« Ich runzelte die Stirn. Meine Gedanken beschäftigten sich bereits mit der Zukunft. Wahrscheinlich würde Crysalgira von meinen Plänen nicht begeistert sein. »Vergiss nicht, dass es in der Eisigen Sphäre eine Möglichkeit gibt, die uns ins Standarduniversum zurückbringen kann, Prinzessin. Wir werden nach Yarden gehen – auf meine Weise. Dort haben wir die Chance, Vargos Umsetzer zu benutzen. Vielleicht kann ich sogar meinen Sohn befreien.« Ihr Gesicht veränderte sich, ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. »Es geht dir also um diesen Bastard!« Ich vergaß mich und schlug ihr ins Gesicht. Sie wich zurück und sah mich wie einen Fremden an. Ich begriff, dass ich mit diesem Schlag viel zerstört hatte, aber er ließ sich nicht zurücknehmen. »Ja«, fuhr sie mit entstellter Stimme fort. »Wenn du ihn zu ihr zurückbringst, wird sie dich in Gnaden aufnehmen.« Ich verstand sofort, dass sie von Ischtar sprach. Fast hätte ich erneut die Beherrschung verloren. »Wir sind beide müde. Alles wird anders aussehen, sobald wir uns ausgeruht haben. Unsere Nerven wurden in letzter Zeit überbeansprucht.« Sie ließ nicht locker. »Gib es doch zu. Du träumst davon, wie sie unsterblich zu werden und mit ihr zu leben – vielleicht bist es sogar schon, solltest du ins Standarduniversum zurückkehren, wer weiß? Hast du vergessen, dass du für die Freiheit der Arkoniden kämpfen musst? Was ist mit deinen Plänen, Orbanaschol vom Kristallthron zu vertreiben?« Mit dumpfer Stimme gab ich zurück: »Ich habe nichts davon vergessen.«
Sie lachte spöttisch. Unser Gespräch war damit beendet, wir hatten uns im Augenblick nichts mehr zu sagen. Mein Extrahirn meldete sich: Hat sie wirklich Unrecht? Wann hast du zum letzten Mal an die Mörder deines Vaters gedacht? Ich lauschte in mich hinein. In den vergangenen Tagen hatte ich kaum Zeit gefunden, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Nein, dachte ich entschieden. Ich habe nichts vergessen, weder meine Freunde noch meine Gegner im Standarduniversum. Ich war entschlossen, zurückzukehren und den Kampf wieder aufzunehmen. Aber der Weg dorthin führte über die unsterblichen Varganen – mitten durch die weiterhin rätselhafte Eisige Sphäre, denn nur dort gab es den Umsetzer, der die Absolute Bewegung erzeugen konnte.
12. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon Bleibt das Problem Ischtar. Langlebige oder gar unsterbliche Varganin; Nin-ana, Herrin des Himmels, die Goldene Göttin, letzte Königin der Varganen … Vor über fünf’ Arkonjahren war sie auf Ras Heimatwelt. Irgendwann kam sie nach Frossargon, versetzte die Prulth-Statue, war vielleicht sogar auf Than Ardodergarin dem Paralleluniversum. Schließlich zog sie sich in die künstliche Hibernation zurück. Kaum zu sich gekommen, machte sie sich an den Kristallprinzen heran, wollte von ihm einen Sohn! Sie war nicht einmal sonderlich verblüfft, Ra gegenüberzustehen. Es gibt keinen Zweifel, dass sie viel mehr weiß, als wir bislang erfahren haben. Ich sehe mich jedoch außerstande, ihre Beweggründe, Motive und Hintergedanken genauer abzuschätzen. Nachfolgend notiere ich nochmals die aus Ras Bericht stammenden Aussagen und Stichwörter:
»Seit Äonen durchquere ich die Galaxien«, hatte sie dem Barbaren gesagt. » Verstehst du nun, weshalb ich einsam bin? Ich bin eine der letzten lebenden Varganen, als deren letzte Königin man mich einst bezeichnet hat. Sie sind alle verschwunden oder tot. Der letzte, dem ich begegnete, schenkte mir den Himmelsstier. Ich sah sein Raumschiff niemals wieder …« Sie erwähnte weiterhin den Planeten Tabraczon, die Insel mit ihrer Station, die subplanetarische Fabrik, in der aus Plasma riesenhafte Tierwesen hergestellt werden konnten – ähnlich jener, die wir auf der Dunkelwelt Za Tbbisch erlebten? Weitere Namen und Begriffe waren Mamrohn, Vargo, Kreton, die Welt Dopmorg sowie der Wall der dreißig Planeten. Von besonderer Bedeutung schien für die Frau eine »Silberkugel« zu sein – vergleichbar jener, die wir von dem Weisen Dovreen erhielten? –, zu der sie sagte: »Ein altes Geheimnis meines Volkes. Nicht einmal ich kenne die ganze Geschichte. Ich brauchte sehr lange Zeit, um ein wenig über die Kugel zu erfahren. Ich weiß nur so viel, dass es das Bindeglied zu den verschollenen Varganen darstellt. Es wird mir bei der endlosen Suche helfen.« Für mich steht fest, dass sie ihre eigenen Pläne verfolgt. Ebenso sicher ist aber auch, dass sie dem Jungen das Leben gerettet hat, mehrfach sogar. Sie heilte seine eigentlich tödlichen Wunden auf Frossargon, sie half ihm mit dem posthypnotisch verankerten Schutzfeld und stattete ihn – wie immer das auch im Einzelnen möglich war – mit der Fähigkeit aus, im Falle akuter Lebensgefahr seine Geistesenergie zu einem paranormalen Schockstrahl zu bündeln, der seinen Gegner vernichtete. Sogart starb auf diese Weise. Als sie mit ihrem goldenen Oktaederraumer von Frossargon startete, konnte es die KARRETON nicht einmal anmessen! Das Technologieniveau der Varganen ist beachtlich – es wäre uns eine gewaltige Hilfe, könnten wir auf diese Mittel zurückgreifen.
An Bord des tejonthischen Schiffes: 1. Prago des Eyilon
10.499 da Ark »Aufpassen, Atlan!« Crysalgiras Schrei warnte mich zur gleichen Zeit wie der Impuls meines Extrasinns, während gleichzeitig die Maschinengeräusche erstarben. Warquel setzte gerade zu einem Sprung an, der ihn in die Nähe der Öffnung des Abfallvernichters bringen würde. Offensichtlich wollte er das dreizackige Instrument vernichten, das für die Beherrschung des Schiffes unentbehrlich war. Doch Crysalgira passte auf. Bevor ich reagieren konnte, feuerte sie mit ihrer auf Paralyse justierten Strahlwaffe auf den Tejonther. Das schwarz bepelzte Wesen kam nicht über den Sprungansatz hinaus, erstarrte und fiel schwer zu Boden. »Gut gemacht.« Ich hob die Zackenkugel auf und schob sie wieder in die dafür vorgesehene Öffnung. Augenblicklich leuchteten die zahlreichen Kontrolllampen, die beim Herausziehen des Instruments erloschen waren, wieder auf. Ob es sonstige Manipulationen oder Sabotageversuche gegeben hatte, würde erst eine genaue Überprüfung ergeben. »Der Überlichtflug wurde unterbrochen«, sagte das Raumschiff aus mehreren verborgenen Lautsprechern; wie schon in Vruumys’ Schiff hatten wir die Translatorfunktion programmiert. »Wird Wiederaufnahme gewünscht?« »Vorläufig nicht. Beobachte die Umgebung und melde uns, wenn deine Ortungssysteme andere Raumschiffe entdecken.« »Verstanden. Überlichtflug bleibt unterbrochen. Die Ortungssysteme beobachten die Umgebung. Wir befinden uns über einem leuchtenden Gasnebel und treiben auf den Raum zwischen zwei gelben Sonnen zu. Andere Raumschiffe werden nicht geortet.« Ich atmete erleichtert auf und nickte der Prinzessin beruhigend zu. Das Schiff war vorläufig nicht gefährdet. »Hörst du mich, Schiff?«
»Ich höre.« »Ich benötige zweierlei. Einmal die Koordinaten eines Planeten, auf dem wir unsere Gefangenen absetzen können und von dem sie in absehbarer Zeit von ihren eigenen Leuten abgeholt werden – und zum Zweiten die Koordinaten von Yarden. Kannst du uns helfen?« »Die Koordinaten von Yarden sind nicht gespeichert. Aber ich kann zur nächsten Gefühlsbasis fliegen, von der aus die Flotte des Kreuzzuges nach Yarden weitergelenkt werden soll. Sobald die Flotte eintrifft, brauchen wir uns ihr nur anzuschließen.« »Unbrauchbar. Wie ist es mit den Koordinaten eines Planeten, auf dem wir unsere Gefangenen aussetzen können?« »Ich habe mehrere solcher Koordinaten gespeichert. Es handelt sich um Depotplaneten, die in unregelmäßigen Abständen von Raumschiffen angeflogen werden.« »Gibt es auf diesen Depotplaneten permanente Besatzungen?«, erkundigte sich Crysalgira. »Darüber liegt keine Information vor.« Das leuchtete mir ein. Ein Raumschiff – beziehungsweise sein positronisches Steuergehirn – benötigte keine Informationen über Depot- oder Stützpunktbesatzungen, denn es brauchte solche Informationen nicht, um seinen Zweck zu erfüllen. Folglich hatte es für die Tejonther keinen Grund gegeben, derartige Informationen zu speichern. »Wir werden also warten müssen, bis Warquel vernehmungsfähig ist«, sagte ich. »Denkst du, dass er die Wahrheit sagen wird?« »Nicht freiwillig. Wir werden ihn zwingen, die Wahrheit zu sagen.« Wir überbrückten die Wartezeit, indem wir das Schiff über alles ausfragten, was es wusste. Vielleicht konnten uns diese Informationen irgendwann einmal helfen. Als Warquel sich
endlich wieder regte, half ich ihm auf die Beine und führte ihn zu einem freien Sessel. »Ich habe die Bewaffnung des Schiffes überprüft«, sagte ich. »Sie reicht aus, um den Stützpunkt eines Depotplaneten zu zerstören. Genau das haben wir vor. Was sagen Sie dazu?« »Sie müssten erst einmal die Koordinaten eines Depotplaneten kennen.« Ich lächelte kalt. »Das Schiff kennt die Koordinaten mehrerer Depotwelten. Ich brauche ihm nur zu befehlen, die nächstgelegene Depotwelt anzufliegen. Die Besatzung des Stützpunkts wird keinen Verdacht schöpfen, wenn sich ein tejonthisches Raumschiff nähert – bis es für sie zu spät ist. Aber ich habe beschlossen, Ihnen die Wahl zu überlassen, welchen Depotplaneten wir anfliegen sollen.« Warquels gelbe Augen funkelten. Sonst konnte ich keine Regung an ihm beobachten, da auch sein Gesicht von schwarzem Fell bedeckt war. Sicher überlegte er, wie er uns hereinlegen konnte. Ich hoffte, dass es eine tejonthische Depotwelt ohne Besatzung gab, und erwartete, dass Warquel sie mir nennen würde, weil er dann sicher sein durfte, dass unser Angriff keine Opfer forderte. Jedenfalls hätte ein Arkonide in seiner Lage so gehandelt. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Crysalgira lächelte, als der Tejonther schließlich sagte: »Fliegen Sie den Planeten Ayw an.« »Warum ausgerechnet diesen Planeten? Befindet sich unter der Besatzung des Stützpunktes auf Ayw vielleicht ein persönlicher Feind von Ihnen?« Seine Augen leuchteten kurz auf. Ich wertete das als Zeichen, dass er glaubte, ich hätte mich selbst hereingelegt, indem ich ihm ein Argument lieferte, nach dem er bisher vergeblich gesucht hatte. »So ist es.« »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Natürlich hat Ayw überhaupt
keine Besatzung. Ich hoffe es jedenfalls, denn wir werden dort landen, um Sie und Ihre Leute auszusetzen. Oder glaubten Sie wirklich, Crysalgira und ich wären darauf aus, intelligente Wesen kaltblütig umzubringen, die wir überhaupt nicht kennen?« »Sie haben mich überlistet«, sagte Warquel resignierend. »Und ich dachte wirklich, Sie wollten einen bemannten Stützpunkt vernichten. Es tut mir Leid. Sie haben meinen Respekt. Dennoch werde ich die erste Gelegenheit nutzen, Sie zu überwältigen.« »Ihre Haltung verdient ebenfalls Respekt. Entschuldigen Sie, dass ich dafür sorge, dass Sie keine Gelegenheit erhalten werden, uns zu überwältigen.« Ich stellte die Stabwaffe auf schwächste Paralyseleistung und feuerte auf den Tejonther. Er wurde nicht komplett gelähmt, sondern seine Bewegungen verlangsamten sich so stark, dass er sich nicht wehren konnte, als ich ihn in eine leere Abstellkammer führte und einsperrte. »Schiff?« »Ich höre.« »Nimm Kurs auf den Depotplaneten Ayw und lande dort.« »Verstanden. Die Koordinaten von Ayw liegen vor. Der Kurs ist programmiert. Wir werden den Depotplaneten in sieben Tontas erreichen. Überlichtflug wird eingeleitet.« Ich erwiderte nichts, denn das Schiff benötigte keine Antwort. Stattdessen blickte ich auf die Bildschirme, die die Umgebung zeigten und bald die undefinierbaren Lichtmuster und Schleier des merkwürdigen Zwischenraums.
Als wir in den Normalraum zurückkehrten, leuchtete auf dem Frontbildschirm eine gelbweiße Sonne. Ein Planet war nicht zu sehen. Wir waren offenbar noch zu weit von Ayw entfernt. Das Schiff, das ohne Eigenfahrt den Überlichtflug beendet
hatte, beschleunigte wieder bis auf ungefähr halbe Lichtgeschwindigkeit. Dennoch dauerte es noch zwei Tontas, bis der Frontschirm den blassen Lichtfleck eines Planeten abbildete und das Schiff meldete: »Anflug auf Ayw.« »Hat diese Sonne noch andere Planeten?«, erkundigte sich die Prinzessin. »Weitere sechs, alle unbewohnt. Ayw ist der dritte Planet, von innen gezählt. Wir werden in einer Tonta aufsetzen.« Ich lehnte mich im Sessel zurück und schloss die Augen. Mein Pflegevater Fartuloon hatte zwar versucht, mir in vielen harten Lehrjahren Geduld anzutrainieren, doch gab es auch für mich eine Grenze. Ich vibrierte innerlich vor nervöser Anspannung. Zu lange schon irrten wir durch den Mikrokosmos. Gewiss, wir hatten viele wertvolle Informationen gesammelt, aber der Weg, der noch vor uns lag, kam mir mit jedem Tag länger vor. Viele Wege führen zu einem Ziel, hatte Fartuloon stets gesagt. Ich wusste aus zahlreichen Erfahrungen, dass das stimmte. Aber seit einer ganzen Weile schon beschritt ich offenbar nur neue Umwege, während das Ziel, die Absetzung Orbanaschols, in immer weitere Fernen zu rücken schien. »Landemanöver eingeleitet«, meldete das Schiff. Der Zielplanet stand groß und blau im Frontbildschirm. Ungefähr die Hälfte seiner Oberfläche war den Blicken durch weiße strahlende Wolkenfelder entzogen. »Wurden Raumschiffe geortet?«, fragte ich. »Keine anderen Schiffe innerhalb des Ortungsbereichs.« »Bezeichne das Landegebiet näher.« »Ein Felsplateau innerhalb eines Gebirges. Nördlich davon befindet sich in einer Felswand der getarnte Eingang zum Depot.« »Gibt es dort Abwehrforts?« »Darüber liegt keine Information vor. Es ist jedoch davon
auszugehen, dass es automatisch arbeitende Abwehranlagen gibt, denn bei Annäherung muss ein Kodesignal zur Erkennung abgestrahlt werden.« Ich fuhr hoch. »Warum hast du das nicht früher gesagt? Wie lautet das Erkennungssignal?« »Es wurde bereits abgestrahlt.« Aufatmend sank ich in meinen Sessel zurück. Es beunruhigte mich dennoch, dass ich nicht an alles gedacht hatte. So etwas konnte eines Tages tödlich sein. Das Schiff bremste stärker ab. Noch bevor es die ersten dünnen Schleier der Atmosphäre durchstieß, drehte es sich, so dass die starken Hecktriebwerke nach unten gerichtet waren. Dann sank es vibrierend in die Lufthülle. Die Gasmassen tobten heulend um den aktivierten Prallschirm. Später tauchten wir durch eine dicke Wolkenschicht. Als sie durchquert war, entdeckte ich unter uns ein mächtiges Gebirge, das sich durch eine riesige graugrüne Ebene wand. Das Schiff sank tiefer und tiefer. Ein scheinbar winziges Plateau wurde sichtbar, wuchs an und füllte den Bildschirm schließlich völlig aus. Mit einem schwachen Ruck kam das Schiff zum Stehen. Crysalgira und ich schauten uns an. Wir kannten das Risiko, das wir eingegangen waren. Falls Warquel uns getäuscht hatte und sich doch eine Besatzung im Depot befand, würden wir unweigerlich entlarvt werden, und es käme zum Kampf; ich war nicht sicher, ob es uns gelingen würde, in diesem Fall wieder in den Weltraum zu entkommen. Doch nichts rührte sich. Wir wurden weder über Funk angerufen, noch zeigte sich ein Tejonther. Dennoch konnten wir unsere Gefangenen nicht einfach freilassen. Gelang es ihnen, schnell genug in den Stützpunkt zu kommen und die Bodenforts zu aktivieren, konnten sie das Schiff nach dem Start abschießen. Als eine halbe Tonta ereignislos verstrichen war, stand ich auf und sagte: »Ich schaue mich im Stützpunkt um. Schiff, wie
komme ich in den Stützpunkt hinein?« »Indem ich einen Symbolkodespruch abstrahle.« »Dann strahle ihn ab.« Das Schiff schwieg eine Weile, dann sagte es: »Symbolkodespruch ist abgestrahlt. Der geheime Zugang öffnet sich in zwei Zentitontas.« »Also, bis nachher«, sagte ich zu Crysalgira und ging zum Zentraleschott.
Als ich das Schiff verließ, sah ich, dass sich in der nördlichen Felswand eine gleitergroße Öffnung gebildet hat. Sie war quadratisch wie die Schleusen der tejonthischen Raumschiffe und hell erleuchtet. Langsam ging ich auf die Öffnung zu. Meine Waffen ließ ich in den Gürtelhalftern stecken. Erstens würden sie mir gegen die Verteidigungsanlagen des Depots ohnehin nichts nützen, zweitens wollte ich – für den Fall einer Automatüberwachung – jeden Eindruck von Feindseligkeit vermeiden. Ich wusste nicht, ob eine Automatüberwachung zwischen mir und einem Tejonther unterscheiden konnte. Körperform und -große sowie Bekleidung und Bewaffnung stimmten überein. Aber außer durch das fehlende Fell und die rötlichen Augen unterschied ich mich von einem Tejonther durch Charakteristika der Individualschwingungen und anderer Parameter. Als ich die Öffnung erreicht hatte, ohne dass eine feindselige Reaktion erfolgt war, wuchs meine Zuversicht wieder. Dennoch spähte ich misstrauisch in die quadratische Kammer. Ihre Kantenlänge betrug schätzungsweise fünf Meter. Sie war leer, an ihrer Rückwand sah ich die Umrisslinien eines Schotts oder einer Tür. Mir blieb weiter nichts übrig, als mein Spiel weiterzuspielen. Ich trat ein. Summend schloss sich die Öffnung hinter mir. Ich hoffte, dass sie sich wieder öffnen
würde, wenn ich hinauswollte. Nachdem sich die Öffnung geschlossen hatte, öffnete sich in der gegenüberliegenden Wand das Schott. Dahinter lag ein in gelbliches Licht getauchter Korridor. Auch er war leer. Ich betrat ihn und entdeckte in den Seitenwänden die Umrisslinien weiterer Schotten. Als ich mich dem nächsten Schott bis auf zwei Schritt genähert hatte, teilte es sich. Die beiden Hälften glitten zur Seite. Ich trat näher und sah einen Raum, der mit Geräten zur Hälfte angefüllt war. An einer Wand befanden sich sechs Bildschirme, die vielleicht der optischen Beobachtung der Außenwelt dienten, aber nicht aktiviert waren. Vermutlich war die Kammer für eine Wachmannschaft ausgestattet worden, die dann aber doch nicht eingesetzt worden war. Mir konnte das nur recht sein. Damit war mein Interesse an diesem Raum befriedigt. Ich verließ ihn wieder und wandte mich dem nächsten Schott zu. Es öffnete sich ebenfalls automatisch. Der Raum war leer bis auf ein paar Stahlmöbel, die anscheinend hier untergestellt worden waren, um anderswo Platz zu schaffen. Ich untersuchte die Wände und stellte fest, dass sie aus massivem Stahlplastik bestanden. Sie waren höchstens mit einer Energiewaffe zu durchbrechen. Damit hatte ich gefunden, wonach ich suchte: einen Raum, in dem die Gefangenen so sicher untergebracht werden konnten, dass sie den Start des Raumschiffs nicht zu behindern vermochten. Ich kehrte ins Schiff zurück. Das Außenschott öffnete sich ebenso bei Annäherung wie die inneren Schotten. Ich ging in einen Ausrüstungsraum des Schiffes in der Hoffnung, das zu finden, was ich brauchte, um erstens die Gefangenen ausbruchssicher unterzubringen und um zweitens dafür zu sorgen, dass sie ihr Gefängnis nach annehmbarer Zeit wieder verlassen konnten. Das Glück verließ mich auch diesmal nicht. Ich entdeckte mehrere Impulskodeschlösser, die über eine
automatische Einschweißvorrichtung verfügten, sowie einige Wurfgranaten mit Zeitzündern. Indem ich einen der Zeitzünder mit einem Impulskodeschloss verband, dass der Zündimpuls das Verriegelungsfeld desaktivieren konnte, erhielt ich ein elektronisches Zeitschloss. Anschließend befreite ich die gefangenen Tejonther, führte sie ins Depot und dort in den Raum mit den Stahlmöbeln. »Sie werden einige Zeit hier bleiben müssen. Aber keine Sorge, ich stelle das Zeitschloss auf zwölf Tontas meiner Zeitrechnung ein. Sobald sich das Schott öffnet, sind Sie frei. Ich nehme an, Sie können über Funk Hilfe herbeiholen. Andernfalls gibt es im Depot sicher genug Vorräte, mit denen Sie sich am Leben erhalten können, bis wieder ein Raumschiff auf Ayw landet.« Die Tejonther erwiderten nichts, starrten mich nur mit ihren gelben Augen an, bis das Schott sich zwischen sie und mich schob. Der Rest war einfach. Ich drückte das Impulskodeschloss von außen gegen die Mittelfuge des Schottes und trat zurück. Wenige Augenblicke später glühte der untere Rand des würfelförmigen Schlosses bläulich auf. Das Gebilde fraß sich etwa drei Zentimeter tief ins Schott, dann erlosch das Glühen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Zeitzünder nicht beschädigt war, stellte ich ihn auf eine Laufzeit von zwölf Tontas. Danach verließ ich das Depot. Crysalgira wartete im Kommandoraum auf mich. Ihre Augen leuchteten, als sie mich unversehrt wieder sah. Ich lächelte ihr zu und sagte: »Dem Start von Ayw steht nichts mehr im Wege, Prinzessin. Später können wir überlegen, welches Ziel wir für die Suche nach Yarden anfliegen.« Ich setzte mich und wandte mich an das Schiff: »Start und Überlichtflug zum nächstgelegenen Sonnensystem.«
Es dauerte nicht mehr als zwei Tontas, bis wir das nächstliegende Sonnensystem erreichten, eine grünlich schillernde große Sonne mit nur einem Planeten. Das Schiff teilte mir auf eine entsprechende Frage mit, dass der Planet von den Tejonthern unter Quarantäne gestellt worden sei. Den Grund dafür konnte es uns nicht angeben. »Ich bin nicht scharf darauf, den Grund herauszufinden, indem wir auf dieser Welt landen«, sagte ich. »Vielleicht existieren dort gefährliche Lebensformen.« »Ich möchte es auch nicht herausfinden und dabei eventuell umkommen. Ich denke, wir sollten trotz der damit verbundenen Gefahren die nächste Gefühlsbasis anfliegen und versuchen, dort die Koordinaten der Eisigen Sphäre zu bekommen.« »Zu gefährlich. Du weißt doch, dass sich die Flottenteile der Kreuzzügler gerade jetzt sammeln und in nächster Zeit weitere Gefühlsbasen anfliegen werden.« »Dann müssen wir eben irgendwo warten, bis wir sicher sein dürfen, dass die Tejonther die Eisige Sphäre erreicht haben. Danach können wir die nächstgelegene Gefühlsbasis anfliegen.« »Hm. Der Gedanke hat was. Aber wir sollten nicht im Weltraum warten, wo wir durch einen dummen Zufall geortet werden könnten, sondern auf einem Planeten.« Ich wandte mich an das Schiff: »Gibt es in der Nähe der nächstgelegenen Gefühlsbasis Planeten, die für Lebewesen wie uns bewohnbar sind, die aber noch nicht besiedelt wurden und auf denen auch keine Stützpunkte existieren?« »Es gibt die so genannten Planwelten. Das sind Planeten, die von meinen Erbauern erforscht, kartografiert und für eine spätere Besiedlung vorgesehen wurden.« »Das klingt nicht übel. Aber sind solche Planwelten nicht ständig von Forschungskommandos besetzt?« »Nicht während eines Kreuzzugs. Ein solcher beansprucht
alle Kräfte meiner Erbauer. Die Planwelten werden auf lange Sicht nicht genutzt werden können.« »Wir fliegen die nächstgelegene Planwelt an.« »Verstanden.« Crysalgira und ich lehnten uns zurück, während das Schiff aus seiner weiten Kreisbahn um die grün schillernde Sonne ausscherte und beschleunigte. Als die Überlichtflugphase einsetzte, verstellten wir beide unsere Sessel so, dass sie zu bequemen Liegen wurden. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, waren wir uns darüber einig geworden, dass wir den Überlichtflug zu einer Schlafpause ausnutzen wollten. Ich streckte mich aus, warf noch einen Blick auf die seltsamen Leuchterscheinungen und wirbelnden Grauschleier des Zwischenraums und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Ein schrilles Signal weckte mich. Ich fuhr hoch und benötigte einige Augenblicke, bevor ich mich erinnerte, wo ich mich befand und was in letzter Zeit alles geschehen war. Neben mir richtete sich die Prinzessin auf, gähnte verhalten, blinzelte und fragte schläfrig: »Was ist los?« »Wir befinden uns im Landeanflug auf die Planwelt«, teilte das Schiff mit. Ich blickte auf den Frontschirm und erkannte die Scheibe eines Blauen Planeten mit weißen Wolkenfeldern. »Ich brauche Daten über das System und den Zielplaneten.« »Die Planwelt ist der dritte Planet einer gelbweißen Sonne, die von insgesamt dreizehn Planeten und siebenundzwanzig Monden umkreist wird. Der Zielplanet hat zwei Monde, einen mit einem Achtel seiner eigenen Masse und einen mit einem Zwanzigstel seiner Masse. Er ist der einzige besiedelbare Planet des Systems.« »Gut. Hier werden wir in aller Ruhe abwarten können, bis
die Kreuzzugflotte alle Gefühlsbasen passiert hat und nach Yarden weitergeflogen ist. Ich möchte, dass wir auf einem Kontinent mit gemäßigtem Klima landen.« »Verstanden.« Das Abbild des Planeten im Frontbildschirm wuchs sehr schnell an, außergewöhnlich schnell sogar. »Ist unser Landeanflug zu schnell? Überprüfe die Verzögerungsrelationen!« »Das ist bereits geschehen. Es gibt Differenzen, die auf Unregelmäßigkeiten des Hauptreaktors zurückzuführen sind. Ich musste ihn stilllegen, da sonst die Gefahr eines Zusammenbruchs der Abschirmfelder besteht. Eine Reihe weiterer Aggregate auf Hyperbasis wurden ebenfalls gedrosselt; leider gehört das Ortungs- und Tastungssystem dazu …« »Dann stürzen wir also ab«, sagte Crysalgira erstaunlich ruhig, während ich in Gedanken fluchte. »Nicht unbedingt.« Ich schüttelte den Kopf. »Welche Maßnahmen sind erforderlich, um eine weiche Landung auf der Planwelt zu gewährleisten?« »Das Schiff muss so gesteuert werden, dass es von der Atmosphäre abgebremst wird. Das ist bereits eingeleitet. Sobald die Geschwindigkeit weit genug gesunken ist, genügen die beiden Nebenreaktoren, um eine weiche Landung zu gewährleisten. Allerdings muss ich dann dort landen, wo uns die Verzögerungs-Schwung-Relation hintreibt – wahrscheinlich der zweitgrößte Kontinent der Nordhalbkugel, auf dem derzeit Winter herrscht.« »Hauptsache, es gibt keine Bruchlandung. Ebenso wichtig erscheint ist, dass wir wieder starten können.« »Es besteht eine Wahrscheinlichkeit von siebenundachtzig Prozent, dass die Reparaturschaltung den Hauptreaktor instand setzt, sobald er stillgelegt worden ist. Danach wären
sowohl ein normaler Start als auch der Weiterflug möglich. Die automatische Reparatur hat begonnen und wird alle Aggregate mit Fehlfunktioncn umfassen.« Ich atmete auf und lächelte Crysalgira zu, die doch ein wenig blass geworden war. Eine Wahrscheinlichkeit von siebenundachtzig Prozent war eine gute Chance. Die Stromlinienform des tejonthischen Raumschiffs war mit der stabilisierenden Wirkung der mächtigen Heckflossen eine unschätzbare Hilfe. »In Ordnung. Versuch, auf festem Land zu landen. Wenn es nicht anders geht, müssen wir auch eine Wasserung in Kauf nehmen. Ich hoffe doch, dass das Verhältnis zwischen der festen Materie des Schiffes und den Hohlräumen so günstig ist, dass unser spezifisches Gesamtgewicht unter dem von Wasser liegt und wir nicht sinken können.« »So ist es.« Ich erkannte, dass der Landeanflug in die kritische Phase eintrat. Augenblicke später tauchten wir in die oberen Ausläufer der Atmosphäre. Als die ersten feinen Gasschleier auf den Bildschirmen zu sehen waren, wurde meine Brust völlig unerwartet von einem gewaltigen Druck zusammengepresst. Von Crysalgira kam ein gequältes Pfeifen, als die Luft aus ihren Lungen entwich. Entweder hatten die Andruckneutralisatoren versagt oder waren ausgeschaltet worden, damit die frei werdende Energie zur Verzögerung und Steuerung des Schiffes verwendet werden konnte. Vor meinen Augen wurde es schwarz. Dennoch spürte ich, wie das Schiff von der dichteren Atmosphäre aufgefangen, abgebremst und wieder hinaus in den Raum geschleudert wurde. Der Druck wich von meiner Brust. Ich konnte allmählich wieder etwas erkennen. Eine grelle Sonnenscheibe erschien im Frontschirm – und tauchte wieder nach oben weg, als sich die
Nase des Schiffes abermals senkte. Auch beim nächsten Eintauchmanöver quetschte eine mächtige Kraft Crysalgira und mir die Lungen zusammen, so dass wir beinahe das Bewusstsein verloren. Aber es wurde nicht ganz so schlimm wie beim ersten Mal. Wieder schossen wir aus der Atmosphäre hinaus. Diesmal tauchte die Sonne nicht im Frontschirm auf, ein sicheres Zeichen dafür, dass unser Abschwungwinkel flacher geworden war. Das dritte Eintauchmanöver war längst nicht mehr so hart. Dennoch bewegte ich mich vorsichtshalber nicht. Noch einmal verließen wir die Atmosphäre. Als wir zum vierten Mal eintauchten, blieben wir darin. Langsam schwenkte das Schiff herum, bis das Heck zur Oberfläche des Planeten zeigte. Auf dem Bildschirm sah ich, wie glühende Gassäulen aus den Triebwerken stachen. Erneut presste mich der Andruck auf den Sessel, doch er blieb erträglich. Der Andruck schwächte sich etwas ab, dann blieb er konstant. Das konnte nur bedeuten, dass unsere Verzögerung für eine weiche Landung ausreichte. Wieder widmete ich meine Aufmerksamkeit dem Bildschirm, der nun alles zeigte, was sich unter dem Schiff befand. Außer der Glutsäule und wirbelnden Schneewolken war jedoch nichts zuerkennen. Wenig später rissen die Wolken auseinander. Unter uns erstreckte sich eine schneebedeckte Ebene, aus der sich die kahlen Äste und Zweige von Pflanzen reckten. Das Flachland wurde auf einer Seite durch einen breiten Strom begrenzt, auf dem Eisschollen trieben. Auf dem jenseitigen Ufer lagen weiße Hügel, die allmählich zu einem Vorgebirge übergingen, das vor einer grauweißen Gebirgsmauer endete. Kein sehr verlockender Anblick, aber schließlich wollten wir uns hier nicht für den Rest unseres Lebens niederlassen, sondern nur eine Rast einlegen. Als der Triebwerksstrahl die weiße Ebene traf, wurde der
Schnee in weitem Umkreis verdampft. Mächtige Dampfschwaden nahmen mir die Sicht. Das Schiff schüttelte sich, wurde langsamer und hielt nach einem von Knirschen und Knacken begleiteten Ruck an. »Wir sind weich gelandet«, meldete das Schiff.
Als sich die Dampfwolken verzogen hatten, sah ich rings um die Heckflossen des Schiffes eine halb durchsichtige, milchglasähnliche Masse. Die Hitze des Triebwerksstrahls hatte den Boden in einem Radius von hundert Metern geschmolzen. Er war noch weich, erstarrte aber zusehends, wobei er wieder undurchsichtig wurde und zahlreiche Risse und Sprünge bekam. »Da wären wir also auf Cerkol«, stellte ich fest. »Cerkol?« Ich lächelte. Das Wort stammte aus dem Altarkonidischen und bedeutet so viel wie Schneeflöckchen. »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich diese Welt so nennen.« »Oh! Ein sinniger Name, wenn auch nicht ganz zutreffend, da der Winter hier nur eine der Jahreszeiten ist. Aber meinetwegen, nennen wir die Welt Cerkol.« »Für uns wird es eine Winterwelt bleiben. Ich habe nicht vor, bis zur Schneeschmelze auszuharren.« »Ich auch nicht. Sobald der Boden abgekühlt ist, möchte ich mir draußen die Füße vertreten und frische Luft atmen. Wenn du einverstanden bist, bereite ich inzwischen eine Mahlzeit für uns zu.« »Ich habe nichts dagegen – im Gegenteil. Auch mit dem Ausflug bin ich einverstanden. Vielleicht gibt es draußen Wild, dass wir richtiges Fleisch essen können. Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich einen Spießbraten gegessen habe.« »Einen Spießbraten? Was ist das?«
Ich sah die Prinzessin verwundert an, bis mir einfiel, dass der auf der Kristallwelt lebende Adel dem natürlichen Leben weitgehend entfremdet war. Manche Arkoniden waren so dekadent geworden, dass sie vor allen natürlichen Nahrungsmitteln einen starken Widerwillen empfanden und nur noch Synthonahrung zu sich nahmen. »Wildbret, auf einen Stahlstab gesteckt und über offenem Feuer zubereitet. Selbstverständlich wird das erlegte Wild vorher abgezogen und ausgenommen. Nach Möglichkeit soll man es auch noch einige Tage bei niedriger Temperatur abhängen lassen.« Crysalgira schüttelte sich und fragte angewidert: »Und so etwas kannst du essen?« »Ich habe es sogar schon oft gegessen. Vergiss bitte nicht, dass ich schon als Kind von Arkon fliehen und seitdem auf vielen Welten unter primitiven Bedingungen leben musste. Aber ich bin sicher, dass du nach allem, wovon wir uns bisher im Mikrokosmos notgedrungen ernähren mussten, einen Spießbraten als Delikatesse empfinden wirst.« Sie blickte mich zweifelnd an. Ich zuckte die Achseln. Vielleicht gab es hier tatsächlich Wild, dann konnte ich Crysalgira beweisen, dass ein Spießbraten immer noch besser mundete als das synthetische Zeug, das wir bislang bekommen hatten. Nachdem Crysalgira den Kommandostand verlassen hatte, durchstreifte ich das Schiff von vorn bis hinten, oben bis unten.
Die Prinzessin hatte aus den verschiedensten Ingredienzien tejonthischer Herkunft ein Menü zubereitet, das aus einer gebundenen Suppe, einem täuschend nachgemachten Synthofleischbraten mit ebenfalls täuschend nachgemachten Sherkklößen und Trubgemüsen sowie einem Dessert bestand,
das an arkonidische Rukhalbeeren erinnerte. Es schmeckte sogar so ähnlich, wie es aussah. Ich hatte nicht gedacht, dass eine verwöhnte Prinzessin des arkonidischen Hochadels imstande war, aus absolut fremdartigen Zutaten ein solches Menü zuzubereiten. Crysalgira errötete bei meinem Lob. »Ich habe mich mit der Kochkunst beschäftigt, seit ich Chergost kennen lernte«, sagte sie, als würde das alles erklären. In diesem Augenblick beneidete ich den jungen Adligen. Doch das ging schnell vorüber. Als wir unser Mahl beendet hatten, dankte ich der Prinzessin und sagte: »Wenn du nichts dagegen hast, können wir einen kleinen Verdauungsspaziergang machen.« Sie lächelte mich an. »Ein Glück, dass ich inzwischen abgehärtet bin, sonst hätte ich mich bei der Erwähnung des Verdauungsvorgangs übergeben müssen. Beim arkonidischen Hochadel ist bereits die geringste Andeutung in dieser Richtung verpönt.« »Ich bitte um Verzeihung. Das wusste ich nicht.« Nach einer Weile fügte ich finster hinzu: »Ein weiteres Merkmal für die schleichende Dekadenz unseres Volkes. Wenn nicht bald etwas geschieht, was dieser Entwicklung Einhalt gebietet, gerät das Große Imperium in eine Talfahrt, die sich nicht mehr aufhalten lässt.« »Ich sehe da nicht so schwarz wie du. Komm, an der frischen Luft werden deine trüben Gedanken verfliegen.« »Ich hoffe es«, erwiderte ich und stand auf.
Als wir aus der Schleuse auf die ausgefahrene Rampe traten, wehte uns eisiger Wind in die Gesichter. Doch das war nicht so schlimm, wie es uns im ersten Moment vorkam. Wir waren nur die gleichmäßige Temperatur im Innern des Raumschiffs gewohnt. Rasch stiegen wir die Rampe hinunter. Unten blies
der Wind erheblich schwächer. Allmählich gewöhnten wir uns an die Kälte und atmeten tief die klare frische Luft ein, die sich wohltuend von der sterilen Luft im Schiff unterschied. Ich trug zusätzlich zu meinen beiden Handwaffen ein Nadelgewehr, das zur Ausrüstung der ursprünglichen Besatzung gehört hatte. Es verschoss winzige Stahlnadeln, die im Ziel eine Schockwelle auslösten, die jedes Lebewesen bis zu einer bestimmten Körpergröße tötete. Für die Jagd war es die ideale Waffe, denn es ersparte der Beute auch dann jegliches Leiden, wenn die Nadel kein lebenswichtiges Organ traf. Vorerst aber ließ sich kein Tier blicken. Ich sah nur die Zweige von niedrigen Bäumen und kugeligen Sträuchern, die sich im Wind bewegten und uns zuzuwinken schienen. Doch wo es Pflanzen gab, sollte es auch Tiere geben. Langsam stapften wir durch den wadenhohen pulvrigen Schnee außerhalb der Schmelzzone. Als wir den ersten Baum erreichten, sah ich, dass er nur scheinbar niedrig war. Unter der Pulverschneedecke befand sich eine ältere, dick verharschte Schneedecke, die wahrscheinlich den größten Teil der Baumstämme verbarg. Wir gingen weiter und hielten dabei ständig nach Tieren Ausschau. Doch wir entdeckten nichts – bis wir plötzlich hinter einem Baum auf eine Spur stießen. Es war die Fährte eines katzenartigen Tieres, einer Großkatze, wie an den breiten Trittsiegeln zu erkennen war. Ihre Stellung deutete daraufhin, dass sich das Tier im Schlendergang fortbewegt hatte. »Die Spur ist frisch«, sagte ich. »Sonst wäre sie wenigstens teilweise zugeweht. Das Tier muss sich in der Nähe befinden.« »Kann es uns gefährlich werden?« »Nicht, wenn wir es entdecken, bevor es uns angreift.« Ich feuchtete einen Finger an und hielt ihn hoch. »Der Wind weht in die Richtung, in die sich das Tier entfernt hat. Wahrscheinlich hat es uns längst gewittert. Wir werden einen
Bogen schlagen, damit es unsere Witterung verliert.« »Wolltest du nicht ein Tier schießen?« »Ja, aber möglichst einen Pflanzenfresser. Das Fleisch von Raubtieren hat meist einen unangenehm strengen Geschmack.« Ich wich nach rechts von unserer bisherigen Marschrichtung ab, behielt aber die Gegend, in die das Raubtier verschwunden sein musste, weiterhin im Auge. Wenn es mich überraschend ansprang, würde mir auch das Nadelgewehr wenig nützen. Nach ungefähr hundert Metern schlug ich wieder die alte Richtung ein. Ich warf einen Blick zum Schiff. Es ragte kerzengerade in den trübgrauen Himmel Cerkols und wirkte wie das Versprechen, dass wir diesen Planeten in absehbarer Zeit wieder verlassen konnten. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich das Tier. Es war nur etwa fünf Meter entfernt hinter einem dichten Strauch hervorgekommen und offensichtlich genauso überrascht wie wir. Ich brachte das Nadelgewehr in Anschlag, schoss aber nicht, sondern beobachtete das Tier. Crysalgira griff nach meinem Arm. Es handelte sich tatsächlich um eine Großkatze, zwei Meter lang, mit etwa achtzig Zentimetern Schulterhöhe, kleinem Schädel und schneeweißem Fell. Die hellroten Augen hatten Schlitzpupillen. Die Lefzen waren etwas zurückgezogen und gaben den Blick auf fingerlange, messerscharfe Reißzähne frei. Die Schneekatze duckte sich und fauchte. Dennoch schoss ich nicht. Die Tatsache, dass das Tier wie wir einen Bogen geschlagen hatte, der es aus der bisherigen Richtung brachte, bewies mir, dass es uns gewittert hatte und ausgewichen war, anstatt sich auf die Lauer zu legen. Die Schneekatze fauchte lauter, dann wandte sie sich um und eilte in langen Sprüngen davon. In zwanzig Metern Entfernung blieb sie noch einmal stehen und blickte zurück, dann verschwand sie hinter einem Busch. Crysalgira atmete auf. »War das nicht leichtsinnig, einfach
stehen zu bleiben, statt zu schießen?« »Keineswegs. Erstens weichen die meisten Raubtiere den Vertretern der dominierenden planetarischen Intelligenz grundsätzlich aus, und zweitens war unser Geruch völlig fremdartig für das Tier. Es konnte uns nicht einordnen. Folglich stellten wir keine Beute dar.« Wir marschierten weiter und kamen bald darauf ans Ufer des breiten Stromes. Die Eisschollen trieben träge dahin, denn die Strömung war wegen des geringen Gefälles nur sehr schwach. »Dort«, flüsterte Crysalgira plötzlich und deutete mit dem Arm zur anderen Seite des Stromes. Ich sah in die angegebene Richtung und entdeckte am gegenüberliegenden Ufer drei große gehörnte Tiere, die ihre Köpfe zum Wasser senkten und tranken. Ihr langhaariges Fell war grau und braun gefleckt. Nach einiger Zeit machten die Tiere kehrt und tauchten in den Hügeln unter. »Offenbar Pflanzenfresser«, sagte ich. »Vielleicht sollten wir morgen in den Hügeln auf die Jagd gehen. Für heute ist es zu spät. Es wird bald dunkel.« »Wie sollen wir hinüberkommen? Wir haben weder ein Boot noch einen Gleiter.« »Die Eisschollen treiben sehr dicht zusammen und langsam. Außerdem sind sie mindestens einen Viertelmeter stark. Es dürfte ein Kinderspiel sein, von einer Scholle zur anderen das gegenüberliegende Ufer zu erreichen.« Crysalgira blickte mich skeptisch an. Als sie merkte, dass es mir ernst war, lachte sie. »Bei dir kann man wirklich viel dazulernen, Atlan. Ich bin sehr froh darüber, dass wir uns getroffen haben.« »Ich auch. Obwohl ich dir die Strapazen unserer Irrfahrt gern erspart hätte. Gehen wir zum Schiff zurück.« Wir kehrten um und erreichten das Schiff, kurz bevor die
Nacht hereinbrach. Als wir den Kommandoraum betraten, sahen wir auf den Bildschirmen, dass es dunkel geworden war. Nur der größte der beiden Monde Cerkols schien als gelber Lichtfleck durch die Wolkendecke und spendete ein wenig Helligkeit. Ich gähnte hinter der vorgehaltenen Hand und fragte: »Schiff, wie weit sind die Reparaturarbeiten gediehen?« »Leider noch nicht beendet. Ortungund Hyperfunk weiter gestört.« »Vorläufig bleiben wir auf Cerkol. Ich muss unbedingt noch einen Spießbraten schießen.« Ich zwinkerte Crysalgira zu. »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich dir nicht die Vorzüge eines naturhaften Mahls beweisen würde. Außerdem wird es dein Sonnenträger sicher zu schätzen wissen, wenn du ihm später einmal eigenhändig einen Spießbraten zubereitest.« »Wenn mir dein Spießbraten schmecken sollte, werde ich Chergost beibringen, wie er so etwas zubereiten kann.« Ihr Gesicht verdüsterte sich, wehmütig fügte sie hinzu: »Wenn ich ihn jemals wieder sehen sollte.« Ich streckte mich auf meinem zurückgeklappten Sessel aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sagte: »Du wirst viele Kinder mit Chergost haben. Und nun wünsche ich dir eine gute Nacht.«
Der neue Tag begrüßte uns mit einem strahlend blauen Himmel. Crysalgira und ich hielten uns nicht länger auf als unbedingt nötig. Mich lockte in erster Linie das Jagdfieber, die Prinzessin dagegen wohl mehr das schöne Wetter, das aber auch mich reizte. Nachdem wir etwas gegessen hatten, nahm ich wieder das Nadelgewehr, dann verließen wir das Schiff. Die Luft draußen war etwas kälter als am Vortag, dafür aber noch klarer und trockener. Frohen Mutes stapften wir durch
den Schnee zum Strom. Bald machten sich die wärmenden Strahlen der Sonne bemerkbar. »Ich wünschte, wir hätten Langlaufschneeschuhe«, murmelte ich. »Dann kämen wir schneller vorwärts.« »Man kann nicht alles haben, Gos’athor.« Als wir den Fluss erreichten, stellten wir fest, dass er während der Nacht ganz zugefroren war. Die Eisschollen waren regelrecht zusammengewachsen. Hier und da waren einige von ihnen hochgeschoben und aufgetürmt worden. Das hob unsere Stimmung noch mehr. Wir fanden die Trittspuren der Tiere, die wir am Vortag beobachtet hatten, auf Anhieb. Von den Tieren selbst war zwar nichts zu sehen, aber ich hoffte, dass wir auf sie treffen würden, wenn wir den Spuren geduldig folgten. Die Spuren führten uns zwischen den Hügeln durch. Auf dieser Seite des Stromes gab es nur vereinzelte Bäume, dafür waren sie erheblich größer als auf der anderen Seite. Ich erkannte, dass die Tiere bei den Bäumen angehalten und die jungen Zweige mit den Blatt- und Blütenknospen abgefressen hatten. Der Schnee ringsum war von ihren Hufen zertrampelt. Die Tiere hatten sich gemächlich bewegt, auch das konnte ich aus den Spuren herauslesen. Das Bild änderte sich jedoch, als wir in ein muldenförmiges Tal kamen, das von drei Hügeln umrahmt wurde. Hier mussten die Pflanzenfresser durch etwas aufgescheucht worden sein, als sie sich gerade an den jungen Zweigen eines Baumes zu schaffen gemacht hatten. Die Spuren verrieten, dass sie in weiten Sprüngen zuerst auf den einen Hügel zugerannt waren. Dort hatten sie plötzlich gewendet und waren auf den Zwischenraum von zwei anderen Hügeln zugestürmt. »Was mag sie aufgescheucht haben?«, fragte Crysalgira mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht eine Schneekatze.« Ich blickte mich wachsam um. Oder ein anderes Raubtier, dachte ich. Dennoch konnte ich mich
eines unguten Gefühls nicht erwehren. Wenn die Pflanzenfresser von einer Schneekatze oder von mehreren Schneekatzen verfolgt wurden, wo sind dann die Spuren der Raubtiere geblieben? Sie müssten doch irgendwo die Spuren der Pflanzenfresser kreuzen und dann neben oder auf ihnen bleiben. Ich wandte mich um und spähte zwischen dem mittleren und dem rechts von uns gelegenen Hügel hindurch. Die Pflanzenfresser waren in die gegenüberliegende Richtung geflohen. Irgendwo weiter draußen glaubte ich so etwas wie eine Spur zu sehen, vermochte aber nicht zu erkennen, ob sie von einer Schneekatze stammte. Sie sah eher wie eine breite Schleifspur aus. Gefahr! Der Warnimpuls meines Extrasinns traf mich so intensiv, dass ich unterdrückt aufstöhnte. »Was hast du?«, fragte Crysalgira erschrocken. Ich schluckte. »Wir kehren lieber zum Schiff zurück. Hier stimmt etwas nicht. Vielleicht gibt es intelligente Eingeborene.« »Auf einer Planwelt?« »Ich weiß, das klingt unwahrscheinlich. Aber wir wissen nicht, ob die Tejonther die gleichen Maßstäbe wie wir an Kolonisationswelten anlegen. Vielleicht nehmen sie keine Rücksicht auf Eingeborene, wenn sie nur primitiv genug sind, dass sie ihnen nicht gefährlich werden können.« Sie zog die Brauen hoch. »Dann kehren wir lieber um.« Wir drehten uns um. aus den Augenwinkeln bemerkte ich auf einem Hügel eine Bewegung – und im nächsten Augenblick knallte es peitschenartig. Von drei Seiten flogen dunkle Bündel in hohem Bogen in unsere Richtung, entfalteten sich über uns zu feinmaschigen, metallisch schimmernden Netzen und stürzten auf uns herab. Ich ergriff Crysalgiras Hand und lief, so schnell ich konnte. Aber wir schafften es nicht. Als die Netze uns berührten, durchfuhr mich ein starker
energetischer Schlag. Ich konnte nur noch einen halb erstickten Schrei ausstoßen, dann kippte ich stocksteif um. Es war die gleiche Wirkung, wie sie durch Schockwaffenbeschuss hervorgerufen wurde. Also doch keine primitiven Eingeborenen, dachte ich, während Crysalgira halb über mich fiel und mir die Sicht nahm. Es war immer äußerst deprimierend, von einer Schockwaffe gelähmt zu werden und dem Gegner völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Ich konnte kein Glied rühren. Glücklicherweise war die Bewegung meiner Augenlider von der Lähmung nicht beeinträchtigt, sonst wären meine Augäpfel innerhalb kurzer Zeit gefroren und ausgetrocknet. Lange Zeit blieb es still. Ich begann schon zu fürchten, dass uns die Wesen, die uns mit ihren Schocknetzen ausgeschaltet hatten, hilflos in der Kälte liegen lassen würden. Dann wären wir nämlich innerhalb einer Tonta erfroren. Doch dann vernahm ich knarrende und schleifende Geräusche, die sich uns näherten. Wenig später wurde Crysalgira von mir gezogen, so dass ich nach einer Seite wieder freie Sicht bekam. Das Lebewesen, das in meinem Gesichtsfeld auftauchte, war fremdartig. Doch die Fremdartigkeit interessierte mich zuerst weniger als die Kleidung, die es trug. Es war ein kombiartiger Schutzanzug, der nicht nur gegen die Winterkälte gedacht war. Der Randwulst unterhalb des Kopfes und der kapuzenartig auf dem Rücken zusammengefaltete KlarsichtDruckhelm verrieten eindeutig, dass es sich um einen Raumanzug handelte. Demnach hatte Cerkol Besuch von fremden Raumfahrern erhalten. Das Wesen war kein Tejonther, auch kein Angehöriger eines Volkes, das ich kannte. Immerhin war es ein aufrecht gehender Zweibeiner mit einem Rumpf, einem Kopf, zwei kurzen Stummelbeinen und zwei langen Armen und demnach ein humanoider Typ. Der Rumpf glich dem einer arkonidischen Flunder, eines so genannten
Plattfisches. Nur der Kopf unterschied sich sehr stark von dem eines Plattfisches. Er saß halslos und kammförmig auf dem Rumpf, war fünfzehn Zentimeter hoch und breit und verlief vom obersten Rückenwirbel – wenn das Wesen eine Wirbelsäule hatte – in Richtung Brust. In diesem Kamm, der in leuchtendem Rot gehalten war, waren auf jeder Seite drei Augen zu erkennen. Auf dem Kammrücken befanden sich acht quastenartige Gebilde. Die Haut war, soweit ich sie sehen konnte, grau. Die Größe des Wesens betrug schätzungsweise anderthalb Meter; als es sich umdrehte, entdeckte ich einen aus der Steißgegend ragenden stachelähnlichen Auswuchs, der bis zu den Kniekehlen reichte. Der Auswuchs war allerdings von dem gleichen Material überzogen, aus dem der Raumanzug bestand. Das Wesen wandte sich wieder mit der Vorderseite zu mir und gab eine Reihe von knarrenden Lauten von sich. Dabei sah ich, dass es eine Art fleischigen Schubladenmund bewegte, der mitten auf der Brust saß und nur zu sehen war, weil dort eine Klappe im Raumanzug geöffnet war. Die knarrende Sprache war mir völlig fremd – und da mein tejonthischer Translator desaktiviert war, konnte sie nicht übersetzt werden. Dennoch sagte ich etwas auf Arkonidisch, womit wiederum der Fremde nichts anzufangen wusste. Außerhalb meines Blickfelds bewegten sich weitere Fremde. Ich hörte ihre Schritte und ihre knarrende Unterhaltung. Hände griffen zu und befreiten mich von meinen Waffen sowie von den anderen Ausrüstungsgegenständen, die ich am Gürtel und in den Außentaschen trug. Ganz zuletzt nahm mir jemand den Translator ab. Das Wesen kannte offenbar die Bedeutung und Funktionsweise des Geräts, denn es schaltete es zielsicher ein. Danach wandte es sich an mich und sagte: »Sie sind mit einem tejonthischen Raumschiff gelandet, aber Sie sind keine Tejonther. Welchem Volk gehören Sie an?
Befinden sich noch andere Personen an Bord Ihres Schiffes?« Die Lähmung hatte meinen Stimmapparat nicht betroffen, wie ich schon vorher festgestellt hatte, deshalb antwortete ich: »Ich heiße Atlan, meine Begleiterin Crysalgira. Wir waren Gefangene der Tejonther, konnten uns aber eines Raumschiffs bemächtigen und hierher fliehen. Da Sie uns angegriffen haben, müssen die Tejonther Ihre Feinde sein. Da die Tejonther auch unsere Feinde sind, besteht kein Grund zu einer Gegnerschaft zwischen uns.« »Das wird unser Stammesführer entscheiden. Sie haben noch nicht gesagt, ob sich an Bord des Schiffes weitere Personen befinden. Antworten Sie.« Ich überlegte, ob ich ihm verraten sollte, dass wir ganz allein mit dem tejonthischen Schiff auf Cerkol gelandet waren. Er würde dann wissen, dass wir ihnen hilflos ausgeliefert waren, so dass die Fremden mit uns machen konnten, was sie wollten. Dennoch entschied ich mich dafür, bei der Wahrheit zu bleiben, denn wenn ich log, kam es sicher heraus, und in dem Fall würden uns die Fremden nicht mehr trauen können. »Wir sind allein gekommen. Leider kennen wir Ihr Volk noch nicht. Wie nennen Sie sich?« »Wir sind Lopsegger. Wir bringen Sie in unser Lager. Verhalten Sie sich ruhig, wenn die Lähmung verschwindet. Vielleicht lässt Karsihl-HP Sie am Leben.« »Karsihl-HP, ist das Ihr Stammesführer? Was bedeutet das ›HP‹ am Ende des Namens?« Darauf antwortete der Lopsegger jedoch nicht. Er schaltete den Translator aus und entfernte sich. Kurz darauf wurde ich auf die Ladefläche eines niedrigen Fahrzeugs gehoben und festgeschnallt. Was ich von dem Fahrzeug sah, ließ mich vermuten, dass es sich um einen Düsenschlitten handelte. Ein solcher Schlitten musste es gewesen sein, der die breite Schleifspur jenseits der drei Hügel hinterlassen hatte. Offenbar
hatten die Lopsegger uns seit unserer Landung beobachtet und uns dann bei den Hügeln eine Falle gestellt. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Crysalgira neben mir auf die Ladefläche gehoben und ebenfalls festgeschnallt wurde. »Bist du in Ordnung, Prinzessin?«, erkundigte ich mich. »Ja, bis auf ein paar blaue Flecken. Die Burschen sind nicht gerade sanft mit mir umgegangen.« »Tut mir Leid. Aber ich denke, wir haben nichts Schlimmes zu erwarten. Die Lopsegger haben uns nur gefangen, weil sie uns für Tejonther hielten. Sobald ich ihrem Anführer klar gemacht habe, dass die Tejonther auch unsere Feinde sind, wird alles gut werden.« Sie seufzte. »Dann bin ich ja beruhigt.« Die Ironie in ihrem Tonfall war nicht zu überhören. Meine Worte mussten nicht sehr überzeugend geklungen haben. Wahrscheinlich deshalb, weil ich selbst nicht davon überzeugt war, dass wir auch diese Situation zu unserem Besten wenden konnten.
Als sich der Düsenschlitten summend und fauchend in Bewegung setzte, kam Wind auf. Es war ein warmer Wind, der gar nicht zu der Jahreszeit passte, die auf diesem Kontinent herrschte. Aber ich war dankbar dafür, denn er vertrieb die Kälte, die mir inzwischen bis in die Knochen gedrungen war. Die Luft erwärmte sich immer stärker, wenig später schwitzte ich am ganzen Körper. Gleichzeitig brauten sich am Himmel graue Wolken zusammen. Sie verdunkelten die Sonne, so dass wir bald durch eine im Halbdunkel liegende Landschaft fuhren. Kurz darauf traf uns eine Sturmbö. Der Düsenschlitten schwankte und schaukelte. Der Schnee schien schnell abzuschmelzen, denn hin und wieder spritzten Wasserfontänen von den Kufen hoch und
überschütteten Crysalgira und mich mit Schmelzwasser. »Es wird Frühling«, rief ich Crysalgira über dem Heulen des Sturmes zu. »Darauf hätte ich gern verzichtet.« Der Schlitten schoss eine Anhöhe hinauf und hielt an. Mehrere Lopsegger schnallten die Prinzessin und mich los. Ich spürte, dass die Schockstarre aus meinen Gliedern wich. Vorsichtig bewegte ich Finger und Zehen. Die Lopsegger ließen mir jedoch keine Zeit, mäch langsam von der Starre zu erholen. Zwei von ihnen stellten mich auf die Füße und ließen mich dann so abrupt los, dass ich beinahe gestürzt wäre. Ich schwankte, konnte mich aber unter Aufbietung aller Willenskraft halten. Als die beiden Lopsegger auch Crysalgira losschnallten und neben mich stellten, beherrschte ich meinen Körper bereits gut genug, um sie abzustützen, damit sie nicht fiel. Die Lopsegger trieben uns mit vorgehaltenen Strahlwaffen zu einem kuppelförmigen Zelt. Ich hatte nichts dagegen, aus dem Regen zu kommen. Unter der Zeitdecke hing eine Atomlampe und verbreitete gelbliche Helligkeit. Mehrere Sitzgelegenheiten und eine Art Schreibtisch standen im Zelt. Hinter dem Lisch saß ein Lopsegger und betrachtete eine ausgebreitete Karte. Seine sechs Augen richteten sich auf Crysalgira und mich. Er musterte uns eine Weile schweigend, dann schaltete er einen flachen, schachteiförmigen Translator ein, der ihm an einer Schnur vor der Brust hing. »Warum sind Sie auf diesem Planeten gelandet?« Ich wischte mir mit dem Ärmel das Wasser fort, das aus den Haaren über meine Augen rann. »Wir wollten uns hier verstecken, bis die Kreuzzugsflotte der Tejonther endgültig nach Yarden aufgebrochen war. Wären wir im Raum geblieben, hätten sie uns vielleicht geortet.« »Woher soll ich wissen, ob Ihre Angaben stimmen? Sie
könnten ebenso gut Spione der Tejonther sein. Oder können Sie beweisen, dass die Tejonther Ihre Gegner sind? Wo befindet sich die von Ihnen angeblich überwältigte tejonthische Schiffsbesatzung?« »Wir haben sie auf einem Depotplaneten der Tejonther ausgesetzt.« »Das kann stimmen. Es kann aber auch nicht stimmen. Wie soll ich die Wahrheit feststellen?« »Ich weiß es nicht«, gab ich resignierend zu. »Vielleicht lässt sich aus unserem Verhalten nach der Landung schließen, dass wir keine Spione sind. Spione wären wohl kaum auf die Jagd gegangen und ahnungslos in eine Falle getappt. Das war doch nur möglich, weil wir keine Ahnung davon hatten, dass es auf Cerkol andere Intelligenzen gibt.« »Cerkol?« »Wir haben den Planeten so genannt, weil wir wegen des Ausfalls unseres Hauptreaktors auf diesem Kontinent landen mussten und eine Winterlandschaft vorfanden. Cerkol bedeutet Schneeflöckchen.« »Bald wird dieser Name nicht mehr zutreffen. Aber es stimmt, Spione hätten sich anders verhalten – es sei denn, es wäre Ihre Absicht gewesen, sich von uns einfangen zu lassen.« »Wir lieben unsere Freiheit«, warf Crysalgira zornig ein. »Niemals hätten wir uns freiwillig in Gefangenschaft begeben. Aus dem Grund haben wir ja auch die tejonthische Besatzung des Raumschiffs überwältigt.« Der Lopsegger blickte uns lange schweigend an. »KarsihlHP wird entscheiden, ob Sie als Spione einzustufen sind oder nicht. Sobald der Regensturm abgeflaut ist, lasse ich Sie zu ihm bringen. So lange werden Sie in einem Zelt eingesperrt.« Er schaltete den Translator aus, knarrte unsere beiden Wächter befehlend an und beugte sich wieder über die Karte auf dem Tisch. Unsere Wächter führten uns aus dem Zelt,
durch einen Schneebrei zum Nachbarzelt und stießen uns hinein. Auch von der Decke dieses Zeltes baumelte eine Atomlampe. Ansonsten bestand die Einrichtung nur aus zwei kleinen Kissenstapeln. Wir setzten uns und blickten uns in die nassen Gesichter. Unsere Wächter waren draußen geblieben. »Was tun diese Lopsegger eigentlich auf Cerkol?«, erkundigte sich Crysalgira. »Sie scheinen sich im Krieg mit den Tejonthern zu befinden. Wahrscheinlich haben sie sich die Planwelt als Stützpunktplaneten ausgesucht.« »Die tejonthische Besatzung des Raumschiffs hat die Lopsegger nie erwähnt und auch nicht nach ihren Raumschiffen Ausschau gehalten. Demnach scheinen die Tejonther die Lopsegger nicht als gefährliche Gegner einzustufen. Ich nehme an, dass unsere neuen ›Freunde‹ militärisch zu schwach sind, um offen gegen die Tejonther zu kämpfen. Deshalb fürchten sie sich auch vor Spionen, die den Tejonthern melden könnten, dass sie Cerkol besetzt haben.« »Schon möglich. Ich hoffe, dass ich diesen Karsih-HP davon überzeugen kann, dass wir wertvolle Verbündete in seinem Kampf gegen die Tejonther sein könnten.« Crysalgira lächelte. »Du willst natürlich versuchen, mit Hilfe der Lopsegger den Weg nach Yarden fortsetzen zu können.« »Stimmt.« »Ich bewundere dich.« »Schlaf lieber ein paar Tontas«, gab ich zurück und streckte mich auf meinem Kissenstapel aus. »Bewundern darfst du mich, wenn wir unsere Ziele erreicht haben.«
13. Aus: Gedanken und Notizen, Bauchaufschneider Fartuloon Die Größe der Öde Insel genannten Galaxis zwingt unweigerlich zur Demut: Abermilliarden Sonnen, ungezählte bewohnte Planeten und eigenständige Zivilisationen – und doch ist das nur eine Momentaufnahme, spiegelt die Gegenwart wider. Rechnet man noch die Jahrmillionen der Vergangenheit hinzu, die Zahl längst ausgestorbener Völker und verschwundener Sternenreiche, muss die Demut noch größer werden. Eins dieser Völker waren unzweifelhaft die Varganen, von denen es anscheinend nur noch wenige lebende Vertreter und rätselhafte Hinterlassenschaften gibt. Einige lernten wir kennen, ohne dass sich bislang ein Gesamtbild hätte zusammenstellen lassen oder klar geworden wäre, was varganischen Herkunft war und was nicht. Die Vergessene Positronik, der Wall der dreißig Planeten, das Schwarze System mit Za ‘Ibbisch, die fünfzehn Kilometer durchmessende Riesenkugel im System des Kometen Glaathan, Margon, Tabraczon – was erwartet uns noch?
Cerkol: 2. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Trotz unserer misslichen Lage schlief ich fest und traumlos. Ich erwachte davon, dass es still wurde. Als ich mich lauschend aufrichtete, merkte ich, dass das Heulen des Sturmes und das Prasseln der Regenböen verstummt waren. Von draußen klangen die knarrenden Sprechlaute der Lopsegger sowie das Summen von Maschinen herein. Ein Blick zur Seite überzeugte mich davon, dass Crysalgira noch schlief. Sie hatte sich im Schlaf in Embryohaltung zusammengerollt, ein Beweis dafür, dass ihr Unterbewusstsein nach Geborgenheit strebte. Leise erhob ich mich, ging zur Zeltöffnung und schlug sie
zurück. Sofort richteten sich die Strahlwaffen der Wächter auf mich. Ich blieb stehen und zeigte ihnen meine leeren Hände. Ob sie mich verstanden, wusste ich nicht. Ihre Waffen zeigten jedenfalls weiter auf meinen Bauch. Ich ignorierte die Bedrohung und spähte nach draußen. Es war immer noch trübe. Ein leichter Nieselregen ging über dem Lager nieder. Ich erkannte andere Rundzelte, mehrere schwere Gleiskettenfahrzeuge sowie eine Gruppe Lopsegger, die mit Hilfe von Maschinen eine Art Bohrturm errichteten. Ich runzelte die Stirn. Mir war bekannt, dass viele PrimitivZivilisationen ihren Energiebedarf mit Hilfe von Erdöl deckten, das sie verbrannten, wobei die dabei entstehende Wärme zur Aufheizung von Wasser diente, das in Dampf umgewandelt wurde und Turbinen antrieb, die elektrischen Strom lieferten. Aber keine der mir bekannten Zivilisationen, die interstellare Raumfahrt betrieben, deckte ihren Energiebedarf noch auf diese Weise. Das hätten sie auch nicht nötig gehabt, denn wer interstellare Raumfahrt betrieb, verfügte über Fusionsreaktoren: mit diesen ließ sich Energie erheblich rationeller und vor allem in größeren Mengen erzeugen als mit Kraftwerken, die auf der Basis fossiler Brennstoffe arbeiteten. Ein Bohrturm konnte also bei den Lopseggern kaum bedeuten, dass sie nach Erdöl suchten. Es musste eine andere Bewandtnis damit haben. Welche, vermochte ich jedoch nicht zu erraten, denn zu geologischen Untersuchungen wurden in fortgeschrittenen Zivilisationen keine Bohrungen durchgeführt. Dafür nahm man Detektoren, die auf der Basis von Hyperwellen arbeiteten. Als eine Maschine ein klobiges Gebilde zum Oberteil des Bohrturms hievte, wich meine Verwunderung einem Anflug von Besorgnis. Das Gebilde war zweifellos ein Desintegratorbohrer, auch wenn es plumper als ein arkonidischer Desintegratorbohrer konstruiert war. Trotz der
Plumpheit musste er enorm leistungsfähig sein. Das ließ sich schon allein am Durchmesser der Abstrahlmündungshülle erkennen. Ein Lopsegger mit einem Translator kam näher. Ich wusste nicht, ob es der gleiche war, der uns in dem Zelt verhört hatte, denn für mich sahen diese Intelligenzen alle gleich aus. Er blieb vor mir stehen und sagte: »Ich habe Anweisung erhalten, Sie zu Karsihl-HP zu bringen.« »Gut. Ich hole meine Begleiterin.« Ich kehrte zurück und weckte Crysalgira. »Sind wir schon in Nam Torh, Chergost?« Ich musste lächeln. Offensichtlich hatte Crysalgira von vergangenen besseren Zeiten geträumt. »Nein, wir sind noch immer auf Cerkol – und ich bin leider nicht Chergost, sondern nur Atlan.« »Oh.« Crysalgira sah enttäuscht aus. »Ich muss geträumt haben. Warum hast du mich geweckt?« »Wir sollen zu Karsihl-HP gebracht werden. Bist du bereit?« »Was bleibt mir weiter übrig.« Ich half ihr hoch, wir traten vor das Zelt. Die Wächter hatten sich ein paar Schritte zurückgezogen und hielten ihre Waffen gesenkt. Ein elliptisch geformter Gleiter schwebte an und landete dicht vor uns. Der Lopsegger mit dem Translator stieg zuerst ein. Wir folgten ihm, dann kamen die beiden Wächter. Gleich darauf startete der Gleiter wieder. Glücklicherweise war es ein geschlossenes Fahrzeug, sonst wäre der Flug bei dem Nieselregen recht unangenehm geworden. Ich blickte aus dem Seitenfenster neben mir und sah, dass wir auf das Gebirge zuflogen, das ich schon vom Raumschiff aus gesehen hatte. Meine Vermutung, das Hauptquartier des Lopsegger befände sich mitten im Gebirge, erfüllte sich jedoch nicht. Schon von weitem entdeckte ich das Raumschiff, das – noch im Vorgebirge – in einer flachen Talmulde, ungefähr zweihundert Meter über dem Meeresspiegel, stand. Es handelte sich um ein rund sechzig Meter langes ovales
Raumfahrzeug, das einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern hatte und auf einer Doppelkufe ruhte. Von der offenen Backbordschleuse führte eine breite Rampe nach unten. As der Pilot unseres Gleiters zur Landung ansetzte, zerriss der Donner einer Explosion die Stille. Ich fuhr herum und blickte aus dem Heckfenster. Weit hinten stand ein schwefelgelber Rauchpilz. Qualmende Trümmerstücke segelten davon. »Sie haben unser Schiff gesprengt«, stieß Crysalgira hervor. Ich presste die Lippen zusammen. Die Zerstörung unseres Raumschiffes war eine sinnlose Tat. Sie brachte den Lopseggern keinen Nutzen – und uns beraubte sie des Transportmittels, ohne das wir zur Passivität verurteilt waren. Wie sollten wir ohne Raumschiff in die Eisige Sphäre kommen?
Nach einer eleganten Schleife setzte unser Gleiter direkt vor dem Fuß der Rampe auf. Wir mussten über die Rampe gehen und wurden in den Kommandoraum des Schiffes geführt. Dort erwartete uns ein weiterer Lopsegger. War das KarsihlHP? Die respektvolle Haltung unserer Wächter schien meine unausgesprochene Frage zu bejahen. Ich grüßte nach der alten Sitte arkonidischer Raumoffiziere. Wenn diese Intelligenzen Ehrenbezeigungen kannten, mussten sie merken, dass ich eine Art von Zeremonie absolvierte, die distanzierten Respekt ausdrücken sollte. Der Lopsegger, der uns erwartete, trug ebenfalls einen Translator vor der Brust. »Sie sind Atlan und Crysalgira. Ich bin Karsihl-HP, der Leiter dieser Expedition.« »Wir grüßen Sie, Karsihl-HP. Leider muss ich sagen, dass Ihr Verhalten mich empört. Es war völlig unnötig, unser Raumschiff zu zerstören.« »Es handelte sich um ein tejonthisches Raumschiff«,
erwiderte Karsihl-HP, als sei damit alles erklärt. »Aber wir sind keine Tejonther.« »Das ist mir klar. Welchem Volk gehören Sie an, Atlan?« »Wir sind Arkoniden.« Damit verriet ich absolut nichts, denn mit diesem Namen konnten höchstens die varganischen Leerraumkontrolleure etwas anfangen, nicht aber die Angehörigen anderer Völker des Mikrokosmos. »Ich habe noch nie etwas vom Volk der Arkoniden gehört.« »Und ich erfuhr heute zum ersten Mal, dass es Lopsegger gibt«, konterte ich. »Ihre Heimatwelt muss sehr weit von hier entfernt sein. Erzählen Sie mir mehr davon.« Das war eine heikle Angelegenheit. Ich konnte diesem Wesen schlecht die Wahrheit berichten, nämlich, dass wir Arkoniden ein gewaltiges Sternenimperium besaßen und dass unsere Raumflotten aus Hunderttausenden von schweren und schwersten Kampfschiffen bestanden. Das hätte die Lopsegger nur zu der Überlegung veranlasst, warum wir noch nicht mit unseren Schiffen in ihrem Sektor aufgetaucht waren. Folglich musste ich ein Gemisch von Lüge und Wahrheit ersinnen, das aber nicht zu bunt werden durfte, wenn ich mich nicht später in Widersprüche verwickeln wollte. »Wir Arkoniden sind ein sehr altes Volk, das bereits die Raumfahrt betrieb, als die Tejonther noch halbe Tiere waren. Aber nach vielen Jahrtausenden stetiger Höhenentwicklung verlief unsere Entwicklung wieder rückläufig. Wir stellten die Raumfahrt nach und nach ganz ein und lebten ganz allein unseren philosophischen Gedankenflügen. Vor einiger Zeit aber bildeten sich mehrere Gruppen, die die Rückkehr meines Volkes zur früheren Größe anstreben. Sie konzentrierten sich zuerst auf die Entwicklung einer leistungsfähigen Technologie, mit deren Hilfe interstellare Raumschiffe gebaut werden konnten. Da man für Raumschiffe ausgebildete
Besatzungen braucht, wurde außerdem mit der Schulung ausgesuchter Leute begonnen. Crysalgira und ich gehörten zu den Leuten, deren Ausbildung zuerst abgeschlossen wurde. Wir starteten mit dem ersten neuen Raumschiff zu einem Probeflug. Aber dann tauchten Raumschiffe der Tejonther auf. Sie fingen uns ein. Wir sollten, wie wir erfuhren, nach Yarden gebracht werden. Das Raumschiff, in das wir gebracht wurden, schloss sich der Kreuzzugsflotte an. Es gelang Crysalgira und mir jedoch, die Besatzung zu überwältigen und aus dem Sektor des Flottenaufmarschs zu entkommen. Wir setzten die tejonthische Besatzung auf einem Depotplaneten der Tejonther aus und landeten auf diesem Planeten, um in aller Ruhe abzuwarten, bis die Flotte der Kreuzfahrer endgültig nach Yarden aufgebrochen war. Das ist alles. Leider griffen Ihre Leute uns an, nahmen uns gefangen und vernichteten unser Transportmittel.« Karsihl-HP schwieg lange Zeit. Offenbar musste er meine Aussage erst gründlich durchdenken. Nach einer Weile sagte er: »Ich bedaure, dass meine Männer gewaltsam gegen Sie vorgingen, Atlan und Crysalgira. Aber sie hatten keine andere Wahl, denn wir erfüllen auf dieser Planwelt der Tejonther eine schwierige und geheime Mission. Jeder Fremde, der hier auftaucht, könnte ein Spion sein, der uns an die Tejonther verrät.« »Das sehe ich ein. Aber wir sind keine Spione, sonst hätten wir uns anders verhalten und wären Ihren Leuten nicht in die Falle gegangen. Ich bitte Sie, uns als Freunde zu betrachten.« »Das kann ich nicht eher tun, als bis erwiesen ist, dass Sie tatsächlich Gegner unserer Erbfeinde sind. Dennoch werde ich Ihnen verraten, mit welcher Mission meine Expedition betraut ist. Sie werden keine Gelegenheit erhalten, die Tejonther darüber zu informieren. Die Tejonther sind seit langem unsere Feinde. Wir führten viele Kriege gegen sie und verloren sie
alle, da die Tejonther eine weitaus größere Werftkapazität als wir haben und auch über ein größeres Reservoir an Besatzungen verfügen. Seit dem letzten Krieg haben die Tejonther uns immer weiter zurückgedrängt. Sie greifen unsere Siedlungswelten an. Dabei haben sie selbst mehr Siedlungswelten, als sie auf absehbare Zeit benötigen. Aus diesem Grund erklären sie alle neu entdeckten, besiedlungsfähigen Welten zu Planwelten, die sie irgendwann in der Zukunft einmal besiedeln werden, wenn ihre derzeitige Bevölkerung sich verdoppelt oder verdreifacht hat. Wir Lopsegger sind gezwungen, unseren Kampf gegen die tejonthische Übermacht heimlich zu führen. Unsere Flotten sind zu schwach, um bewohnte tejonthische Welten anzugreifen. Deshalb suchen wir nach den Planwelten und manipulieren sie so, dass die Tejonther vor einer Besiedlung zurückschrecken. Sobald sie sie abgeschrieben haben, können wir versuchen, sie selbst zu kolonisieren. Selbstverständlich müssen wir vorher die Manipulationen rückgängig machen.« Plötzlich wusste ich, was der starke Desintegratorbohrer zu bedeuten hatte, der in dem Gerüst des Lagers montiert worden war. Die Lopsegger hatten tatsächlich vor, die Magmaschicht anzubohren und damit schwerste Beben und Vulkanausbrüche hervorzurufen. »Mit Tiefbohrungen können Sie einen ganzen Kontinent verwüsten.« »Ich merke, Sie haben unseren Bohrer im Lager entdeckt und begriffen, was man damit anfangen kann. Aber wir werden nur wenige Bohrungen durchführen. In erster Linie bringen wir die Poleiskappen durch Installierung künstlicher Atomsonnen zum Abschmelzen. Außerdem heizen wir die Atmosphäre auf, indem wir sie mit Kohlendioxid anreichern. Die Wolkenmassen, die sich durch die Hitze und die dadurch bedingte größere Wasserverdunstung bilden, bringen wir durch Abregnen von Chemikalien zum Niederschlag.«
»Das ist Wahnsinn!«, warf Crysalgira entsetzt ein. »Dadurch würden riesige Landmassen überflutet, und das Klima würde mörderisch werden.« »So soll es auch sein. Nur dann werden die Tejonther diesen Planeten abschreiben. Natürlich würde sich der Planet von selbst wieder in die Normalität einpendeln, doch das dauert Jahrtausende. Wir werden diesen Vorgang zu gegebener Zeit beschleunigen. Ich rechne damit, dass wir ein Jahrhundert, nachdem die Tejonther den Planeten aufgegeben haben, mit der Besiedlung anfangen können.« »Wenn die Tejonther dahinterkommen, welches Spiel Sie treiben, werden sie sich fürchterlich rächen«, sagte ich ernst. »Sie können nicht eine Planwelt nach der anderen manipulieren, ohne dass es herauskommt .« »Deshalb sind wir so vorsichtig gegenüber Fremden, die plötzlich auf einer Planwelt auftauchen, die wir gerade manipulieren wollen.« »Und was fangen Sie mit uns an?«, erkundigte sich Crysalgira. »Sie werden einem unserer Arbeitskommandos zugeteilt. Da Sie offenbar etwas von Desintegratorbohrungen verstehen, lasse ich Sie dort arbeiten. Colgan-HP wird Sie zum Lager zurückbringen.« Damit waren wir verabschiedet. Der Lopsegger mit dem Translator, der uns zu Karsihl-HP begleitet hatte und der Colgan-HP hieß, führte uns aus dem Schiff und zum Gleiter zurück. Als wir starteten, sagte Crysalgira leise: »Die Arbeit mit einem Desintegratorbohrer ist gefährlich, nicht wahr?« »Nur, wenn man damit den Kern eines Planeten anbohrt«, erwiderte ich mit einem Anflug von Sarkasmus.
Bis wir das Lager erreichten, hatte der Nieselregen aufgehört.
Über uns spannte sich wieder blauer Himmel. Aber die Landschaft hatte sich verändert. Der Schnee war zum größten Teil geschmolzen. Das Schmelzwasser strömte und gurgelte zwischen den Hügeln zum Strom hinab. In den Tälern hatten sich regelrechte Seen gebildet, die Hügel selbst glichen großen Schlammklumpen. Die Tiere, die sich aus den reißenden Schmelzwasserfluten gerettet hatten, standen oder lagen hilflos auf den Hügelkuppen. Innerhalb des Lagers lagen, zu einer Reihe geordnet, fünf Schneekatzen, die sich auf den Hügel geflüchtet hatten und von den Lopseggern erlegt worden waren. Colgan-HP führte uns gleich nach der Landung zum Bohrgerüst und stellte uns der Mannschaft vor. Ich konnte nicht erkennen, ob die Lopsegger über uns als zusätzliche Arbeitskräfte erfreut waren oder ob sie uns als unliebsame Konkurrenz betrachteten. Da Colgan-HP bei uns blieb, ließ ich mir von ihm erklären, mit welcher Geschwindigkeit die Bohrung vorgetrieben werden sollte. Die Antwort erschreckte mich. Schon am ersten Tag sollte die Bohrung bis zur Magmazone vorgetrieben werden, am zweiten Tag sollte sie sie erreichen. Prallfelder sollten den freigesetzten Ultrafeinstaub verdichten, die Blöcke ließen sich dann stapeln. »Das ist viel zu schnell«, sagte ich. »Wenn wir so vorgehen, gibt es einen Energierückschlag, der das Bohrgerüst mitsamt der Bemannung zerfetzen wird. Ich schlage vor, die Bohrung am zweiten Tag nur bis knapp vor das Magma heranzubringen und dann schnellstens von hier zu verschwinden. Die Masse dürfte dann erst etwa einen Tag später durchbrechen.« »Einverstanden, Atlan. Ich ernenne Sie zum Leiter des Bohrkommandos, da Sie offenbar über einschlägige Erfahrungen verfügen.« Das wiederum passte mir nicht. Aber Colgan-HP ließ sich
von seinem Entschluss nicht abbringen. Er teilte ihn der Bohrmannschaft mit, und wir mussten sofort mit den Arbeiten anfangen. Ich bekam sogar einen Translator, damit ich mich mit der Mannschaft verständigen konnte. Zu meiner Verwunderung erhob niemand einen Einwand gegen meine Ernennung. Die Lopsegger führten alle meine Anordnungen exakt aus. Der Desintegratorstrahl war ungefähr schenkelstark und schnitt durch die Gesteinskruste wie durch Butter, so dass wir gut vorankamen. Gegen Abend hatten wir eine Bohrtiefe von 10.300 Metern erreicht. Selbstverständlich konnten wir den Bohrer nicht abschalten, sonst wäre der vom Strahl geschaffene und allein von ihm erhaltene Schacht innerhalb weniger Augenblicke eingedrückt worden, und wir hätten ganz von vorn anfangen müssen. Ich sorgte dafür, dass meine Leute abgelöst wurden. Ich selbst als Verantwortlicher wagte nicht, mich zu entfernen, und musterte nachdenklich die davonschwebenden Pressblöcke des verdichteten Ultrafeinstaubs. Crysalgira besorgte etwas zu essen. Sie blieb bei mir, da sie sich fürchtete, allein in ein Zelt zu gehen. Ihre Angst war natürlich unbegründet. So aßen wir gemeinsam auf dem Bohrturm, während ich die Kontrollen des Lasergeräts überwachte. Scheinwerfer erhellten den Turm und das Lager und machten für uns die Nacht zum Tage.
Gegen Mitternacht brach dann das Unheil über uns herein. Ich hatte gerade angeordnet, die Vortriebsgeschwindigkeit zu drosseln, um eine Instabilität in der Strahldichte zu kompensieren, als der Turm von einer Orkanbö getroffen wurde. Lopsegger schrien, die Metallverstrebungen schwankten und ächzten, und von oben stürzte ein Arbeiter dicht an Crysalgira und mir vorbei in die Tiefe. Ich
umklammerte mit einem Arm die Prinzessin und mit dem anderen das Geländer, das den Kontrollstand umgab. Dennoch fühlte ich mich alles andere als sicher, denn der ganze Turm schwankte unter dem Anprall immer neuer Orkanböen. Einmal wagte ich einen Blick ins Lager. Ich sah, dass sämtliche Zelte von der Hügelkuppe gefegt waren. Ein Düsenschlitten lag zerschmettert an der Seitenwand eines Gleiskettenfahrzeugs. Dunkle Gestalten krochen durch den Schlamm oder lagen verrenkt zwischen zerbeulten und zerfetzten Geräten und Zeltstangen. Ungefähr die Hälfte der Scheinwerfer war ausgefallen. Die Helligkeit reichte aber noch aus, um mich erkennen zu lassen, dass es kaum hätte schlimmer kommen können. Doch dann neigte sich der Turm mit Unheil verkündendem Knirschen und Knacken zur Seite … »Wir müssen runter!«, schrie Crysalgira. »Das geht nicht. Die Leiter ist fort.« Die schwere Metallplastikleiter, die von unten bis zur Kontrollplattform führte, war aus ihren Verankerungen gerissen worden und hatte sich um den Aufbau eines Kettenfahrzeugs gewickelt. Wenn wir versuchten, in dem Metallplastikgerüst nach unten zu klettern, würde der Orkan uns wahrscheinlich losreißen. Dabei bestand die Gefahr, dass wir in den Desintegratorstrahl gerieten. Der Strahl, rief mir mein Logiksektor zu. Wenn der Turm umstürzt, zerquetscht er alles in seiner Umgebung. Ich musste den Bohrer abschalten, das war mir klar. Mir war nur nicht klar, wie ich das bewerkstelligen sollte, denn die Kontrollen befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite der Plattform, und wenn ich unseren Halt losließ, würden wir beide von der Plattform geweht werden. Dennoch muss es getan werden! Ich schob meinen rechten Arm, mit dem ich das Geländer
umklammerte, weiter um das Geländer herum, so dass ich mit der rechten Hand das Schloss von Crysalgiras Waffengürtel erreichte. Den linken Arm schob ich ganz um ihre Taille, bis ich auch die linke Hand an ihr Gürtelschloss brachte. »Was hast du vor?«, rief sie. Ich antwortete nicht, denn ich brauchte meine ganze Kraft und Konzentration, um mein Vorhaben durchzuführen. Mit beiden Händen öffnete ich das Gürtelschloss, dann zog ich unter Anspannung aller Kräfte, bis Crysalgira gegen das Geländer gepresst wurde und ich das Gürtelschloss hinter der Geländerstange wieder schließen konnte. »Festhalten!« Sie packte die obere Geländerstange mit beiden Händen, so dass sie nunmehr an drei Punkten mit dem Geländer verbunden war. Das Gürtelschloss würde sicher halten, doch auch ihre Hände mussten halten, sonst konnte die nächste Orkanbö ihr das Rückgrat brechen. Crysalgira verstand offenbar, was ich vorhatte. Sie klammerte sich mit den Händen fest und nickte mir zu. Als ich losließ, wurde ich gegen die Kontrollen des Bohrers geschleudert. Ich warf mich mit dem Oberkörper über das schräge Schaltpult, krallte eine Hand um den oberen Rand und betätigte mit der anderen die Schalthebel, mit denen der Bohrer Grad um Grad gedrosselt werden konnte. Diese allmähliche Drosselung war wichtig, denn schaltete ich den Desintegrator sofort aus, würde eine glutflüssige Magmafontäne aus dem Bohrschacht schießen. Schwächte sich die Leistung aber langsam ab, kroch der schenkelstarke Strahl nur aufwärts, während die zwanzig Kilometer dicke Planetenkruste im Bereich des Bohrlochs so »verschweißt« wurde, dass das weiter unten brodelnde Magma nicht nachstoßen konnte. Der Turm neigte sich immer stärker. Die Bohrung wurde davon nicht beeinflusst, da das schwere Gerät von Gyroskopen ständig so nachgesteuert wurde, dass der Strahl
genau senkrecht auf die Oberfläche traf. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit von zwei Dezitontas, konnte ich den Desintegrator ganz ausschalten. Der inzwischen stark abgeschwächte Strahl erlosch. Nacheinander schaltete ich die starken Magnetanker aus, an denen der Bohrer hing. Das Gerät löste sich und prallte mit Donnergetöse auf den Boden. Dennoch war der Fall des Bohrturms nicht mehr aufzuhalten. Er krängte bereits zu stark. Ich wusste aber auch, dass ich so gut wie tot war, blieb ich bei den Kontrollen. Der Turm würde nach dieser Seite stürzen. Ich musste wieder auf die andere Seite, nur dann hatte ich eine geringe Überlebenschance. Als nach der nächsten Bö kurz Stille eintrat, löste ich meine blutenden Hände vom Schaltpult, drehte mich um, stemmte die Füße fest in den Winkel, den Schaltpult und Plattform bildeten, und stieß mich mit aller Kraft ab. Ich erreichte das Geländer neben Crysalgira, als sich die nächste Orkanbö gleich einem gigantischen Ungeheuer gegen den Turm warf. Verbissen hielt ich mich fest, obwohl ich das Gefühl hatte, bei dem Ruck in zwei Teile zerrissen worden zu sein. Der Bohrturm stürzte endgültig. Ich bezweifelte, dass wir den Aufprall überleben würden. Wurde die riesige Konstruktion zerschmettert, würden wir von den losgerissenen Teilen erschlagen und begraben werden. Die aufgewühlten Elemente selbst kamen uns im letzten Augenblick zu Hilfe. Die Orkanrichtung änderte sich um hundertachtzig Grad – und als der Bohrturm fiel, stemmte sich ihm die nächste Bö entgegen und bremste die Fallgeschwindigkeit ab. Es war ein Wunder, aber das riesige Gebilde schlug kaum härter auf als ein Gleiter bei einer etwas überhasteten Landung. Irgendwo brachen ein paar Stützen weg, doch die waren sicher schon vorher angeknackst worden. Dann war es vorbei. Ich half Crysalgira, ihr Gürtelschloss zu öffnen, dann krochen wir um die Kontrollplattform herum, so
dass wir sie als Schutzwand gegen den Orkan benutzen konnten. Gegen Morgen hörte der Orkan auf. Crysalgira und ich lebten – und einige Lopsegger hatten die Katastrophe ebenfalls überstanden. Aber ringsum herrschte ein unvorstellbares Chaos, das die Lopsegger wahrscheinlich mit ihren planetenweitcn Manipulationen selbst verschuldet hatten. Aber meine Hoffnung, sie würden ihr wahnwitziges Vorhaben aufgeben, erfüllte sich nicht. Colgan-HP, der sich unter den Überlebenden befand, ordnete die Bergung des Bohrers an. Er sollte an einer anderen Stelle des Planeten in einem neuen Bohrturm installiert werden und seine Arbeit dort fortsetzen. Ich wusste nicht, ob ich diese »Planeteningenieure« wegen ihrer Zähigkeit bewundern oder wegen ihrer Sturheit verwünschen sollte. Aber ich ahnte, dass der Orkan nur ein Vorgeschmack von dem gewesen war, was uns auf Cerkol noch erwartete.
Drei Tage war es her, seit der Orkan unseren Bohrturm umgerissen und die Bohrung vereitelt hatte. Seitdem hatten wir alle Hände voll zu tun gehabt. Wir waren mit den Gleiskettenfahrzeugen und dem Bohrer zum Raumschiff des Karsihl-HP gefahren und hatten dort aus Teilen, die von einem anderen Raumschiff angeliefert worden waren, einen zweiten Bohrturm errichtet. Bei ständigem Regen, der hin und wieder von Hagelschauern abgelöst wurde, hatten wir eine neue Bohrung vorgetrieben. Diesmal war kein Orkan dazwischengekommen. Vor dem Magma hatten wir, so, wie ich es vorgeschlagen hatte, die Bohrung gestoppt. Danach waren wir müde, durchnässt und zerschlagen darangegangen, den Turm zu demontieren und im Laderaum des Schiffes zu verstauen – und vor einer Zentitonta war das Schiff gestartet.
Crysalgira saß neben mir in der Mannschaftskabine und schlief mit halb offenem Mund. Ihr Haar war nass an den Kopf geklatscht, ihre Haut gerötet, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Ich fühlte mich ebenfalls todmüde. Dennoch hielt ich mich wach, denn ich wollte während des Flugs so viel wie möglich von den Veränderungen sehen, die inzwischen auf der Oberfläche von Cerkol bewirkt worden waren. Das Raumschiff gewann schnell an Höhe. Als es die untere Wolkenschicht durchstieß, war von der Planetenoberfläche nichts mehr zu sehen. Doch nach etwa einer halben Tonta rissen die Wolken unter uns auf. Ich sah, dass wir ein Gebirgsmassiv ansteuerten. Ein Lopsegger kam aus dem Kommandostand und setzte sich auf einen freien Sessel mir gegenüber. Ich nahm an, dass es Karsihl-HP war, konnte es aber nicht mit Bestimmtheit sagen. »Karsihl-HP?« »Ich bin Karsihl-HP.« Er deutete zu dem Gebirge hinüber. »Dort arbeitet das Bohrkommando von Zirko-HP. Wir werden der Bohrstelle einen Besuch abstatten und danach zum Nachbarkontinent fliegen. Dort bringen wir eine zweite Bohrung an.« »Aha.« Die nächste Bohrung interessierte mich im Moment nicht sonderlich. Dafür interessierte mich etwas anderes. »Diese Bezeichnung ›HP‹ hinter den Namen, was bedeutet sie?« »Sie steht für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm«, antwortete Karsihl-HP bereitwillig. »Auf diesem Planeten arbeite ich nur mit Angehörigen meines Stammes. Harpen-Pincat war der Gründer unseres Stammes. Die Buchstaben HP sind eine Abkürzung.« »Gibt es viele Stämme?« »Sehr viele. Die meisten sind klein und unbedeutend. Die größten und mächtigsten Stämme leben auf unserer
Heimatwelt Wartzong. Sie heißen HP, QR, RE, JL und TT.« Ich sagte nicht, dass sich meiner Meinung nach interstellare Raumfahrt nicht mit einer Stammesgesellschaft vertrug. Die Kräfte wurden zu sehr zersplittert, so dass die wirtschaftliche und militärische Leistungsfähigkeit gering bleiben musste. Vielleicht waren die Lopsegger deshalb den Tejonthern unterlegen. »Haben Sie keine Zentralregierung?« »Wozu? Wenn gemeinsame Probleme gelöst werden müssen, treffen sich die Stammesführer, beraten darüber und führen einen Beschluss herbei.« »Wollen Sie sagen, dass Sie nicht einmal ein gemeinsames militärisches Oberkommando haben?« »Militärisches Oberkommando? An so etwas haben wir nicht einmal gedacht. Wir kennen keine speziellen Streitkräfte, wenn Sie das meinen. Unsere Raumschiffe dienen dem Handel und unseren Expeditionen. Nur wenn wir angegriffen werden, setzen wir unsere Schiffe für militärische Zwecke ein.« »Hm.« Offensichtlich waren die Lopsegger von Natur aus ein friedliebendes Volk, sonst hätten sie unter dem Druck der tejonthisehen Bedrohung längst eine Zentralverwaltung und eine ständige Kriegsflotte geschaffen. »Dort liegt das Lager von Zirko-HP.« Karsihl-HP deutete aus einem Fenster schräg nach unten. Ich blickte in die angegebene Richtung und entdeckte an der Flanke des Gebirgsmassivs einen großen Bohrturm. Daneben stand ein Raumschiff des gleichen Typs wie das von Karsihl-HP. Außerdem gab es noch einige große Rundzelte und alle möglichen Maschinen und Kettenfahrzeuge. Das sichtbare Stück des Desintegratorstrahls leuchtete von unten heraus wie eine künstliche Sonne. Während ich noch hinschaute, erlosch der Strahl. Im nächsten Augenblick schwankte die Turmkonstruktion. Es sah aus, als sähe ich sie durch stürmisch bewegtes Wasser hindurch. »Zirko!«, schrie Karsihl-HP.
Der riesige Bohrturm kippte um. Ich schloss unwillkürlich die Augen, als er mit großer Wucht auf das ovale Raumschiff der Gruppe Zirko-HP krachte. Als ich die Augen wieder öffnete, war das Raumschiff zertrümmert. Lopsegger krochen aus den Trümmern hervor, andere rannten in panischer Flucht zu den Kettenfahrzeugen. Als das erste Fahrzeug anrollte, barst der Boden der Bohrstelle. Zuerst schoss nur eine schenkeldicke Glutfontäne in die Luft. Aber sie verbreiterte sich schnell und wurde zu einer zweihundert Meter durchmessenden Säule, die sowohl das zertrümmerte Raumschiff als auch sämtliche Gleiskettenfahrzeuge verschlang – und alle Lopsegger der Gruppe Zirko-HP. Unser Pilot zog das Schiff hart nach Steuerbord, dann kippte er nach Backbord und ließ es steigen. Der Schauplatz der Katastrophe fiel rasch zurück. Dennoch sah ich noch genau, wie sich das Gelände in kilometerweitem Umkreis in einen wahren Höllenschlund verwandelte, aus dem die sonnenheißen Massen des Planetenkerns geschleudert wurden. Die Lopsegger hatten ihr Ziel, einen monströsen Vulkanausbruch herbeizuführen, erreicht, aber sie hatten es mit ihren eigenen Leben bezahlt. »Das ist Wahnsinn«, sagte ich. »Zirko-HP war unvorsichtig. Ich werde die anderen Kommandos anweisen, größere Vorsicht walten zu lassen.« »Das hätten Sie längst tun sollen«, sagte ich tonlos und deutete zum Horizont jenseits des Gebirges. Dort brauste ebenfalls eine gigantische Magmasäule in den Himmel. Gründlich waren die Lopsegger, das musste ich ihnen lassen … Unser Raumschiff hatte die Atmosphäre verlassen und war in eine niedrige elliptische Umlaufbahn eingeschwenkt. Karsihl-HP wollte beobachten, welche Erfolge seine Arbeitskommandos bisher erzielt hatten, und erzählte mir,
dass insgesamt siebzehn Raumschiffe seines Stammes an verschiedenen Stellen des Planeten gelandet seien. Zwei waren inzwischen ausgefallen. Gingen die Lopsegger weiterhin so unvorsichtig zu Werke, würden sie noch mehr Raumschiffe und noch mehr Leute verlieren. Sie arbeiteten einfach zu hastig. Wahrscheinlich standen sie unter Zeitdruck, weil sie befürchteten, von tejonthischen Patrouillenbooten entdeckt zu werden. Oder sie wollen die Zeit des Kreuzzugs nach Yarden ausnutzen. Während Karsihl-HP wieder in den Kommandoraum ging, um die übrigen Kommandos über Funk zu größerer Vorsicht zu ermahnen, beobachtete ich weiter die Planetenoberfläche. Deutlich waren die überschwemmten Küstenstreifen zu erkennen. Aber auch im Binnenland der Kontinente gab es riesige Überflutungen. Alle Binnenseen waren durch heftige Regenfälle und verstärkte Zuflüsse weit über die Ufer getreten, neue Binnenseen hatten sich in Senken und Tälern gebildet. Die Bäche waren zu Flüssen, die Flüsse zu reißenden Strömen angewachsen, und die Ströme hatten weite Landstriche unter Wasser gesetzt. Doch das war längst nicht alles. Es schien noch einige Trockengebiete zu geben, denn auf dem kleinsten Kontinent des Planeten entdeckte ich die halb unter Rauchwolken verborgenen Glutfelder riesiger Waldbrände. Brände dieser Ausdehnung konnten nicht auf natürliche Weise entstanden sein. Offenbar hatten lopseggische Kommandos sämtliche trockenen Waldgebiete in Brand gesteckt. Ich war sicher, dass es auch dort bald regnen würde. Der Regen kam aber bestimmt zu spät, um noch etwas von den Waldbeständen zu retten. Er würde die Zerstörung vollenden, indem er die nunmehr ungeschützte Bodenkrume fortschwemmte. Große Landstriche würden durch die Bodenerosion für lange Zeiträume unfruchtbar werden. Als ich mich nach Crysalgira umschaute, schlief sie noch
immer. Ich verspürte ein kaum noch bezähmbares Verlangen, ebenfalls die Augen zu schließen und mich auszuschlafen. Vorher aber wollte ich noch einmal mit Karsihl-HP reden. Meiner Meinung nach fügten seine Kommandos dem Planeten zu großen Schaden zu. Es bestand die Gefahr, dass die Ökologie planetenweit so total umkippte, dass sie auch mit massiver Unterstützung nicht mehr zu regenerieren sein würde. Davor wollte ich den Stammesführer warnen. Ich stemmte mich hoch und ging zu dem Schott, das die Mannschaftskabine und den Kommandoraum miteinander verband. Das Schott öffnete sich automatisch vor mir. Ich blickte in den Kommandoraum und sah, dass Karsihl-HP eine Videokonferenz mit den Leitern der anderen Kommandos abhielt. Auf den Monitoren erkannte ich die Abbilder von vierzehn Lopseggern, schaltete meinen Translator ein und wollte mich bemerkbar machen. Doch als das Gerät die nächsten Worte von Karsihl-HP übersetzte, stockte ich. »Selbstverständlich gibt es keinen Beweis dafür, dass Atlan und Crysalgira keine Spione der Tejonther sind«, sagte Karsihl-HP. »Dann sollten wir diesen Unsicherheitsfaktor schnellstens beseitigen«, erwiderte einer der Konferenzteilnehmer. »Wie meinen Sie das?«, fragte Karsihl-HP. »Wir müssen die Fremden töten. Nur dann können wir sicher sein, dass den Tejonthern nichts über unsere Arbeit hier verraten wird.« »Nein«, warf ein anderer Konferenzteilnehmer ein. »Wir haben bisher immer versucht, mit den Angehörigen anderer Völker friedlich auszukommen. Von dem Prinzip sollten wir auch bei den Arkoniden nicht abweichen.« »Ich bin auch nicht dafür, Atlan und Crysalgira zu töten«, sagte Karsihl-HP. »Andererseits dürfen wir ihnen auch nicht trauen. Ich schlage deshalb vor, wir lassen sie nach Abschluss
unserer Arbeiten einfach auf diesem Planeten zurück. Hier wird in absehbarer Zeit kein Raumschiff landen; selbst dann ist es unwahrscheinlich, dass sich zwei Personen ohne technische Hilfsmittel bemerkbar machen können.« »Das ist eine gute Lösung«, erwiderte ein anderer Lopsegger. »Wir brauchen nicht zu töten und haben dennoch die Gewissheit, dass die Arkoniden uns nicht verraten können.« Tch hatte genug gehört; mir wurde klar, dass die Lopsegger nicht merken durften, dass ich ihre Gespräche mitgehört hatte. Nur dann hatten Crysalgira und ich Aussichten, ihren Plan zu durchkreuzen. Leise trat ich zurück. Das Schott schloss sich wieder, als ich weit genug entfernt war. Ich ging zu meinem Platz, setzte mich und schaltete meinen Translator aus. Danach weckte ich die Prinzessin. »Sind wir gelandet?« Schlaftrunken warf Crysalgira einen Blick aus dem Seitenfenster. »Oh! Wir sind noch im Raum. Weshalb hast du mich nicht weiterschlafen lassen? Ich bin völlig fertig.« »Du wirst gleich hellwach sein.« Ich berichtete, was ich belauscht hatte. Wie ich vorausgesagt hatte, fiel alle Müdigkeit von Crysalgira ab. »Sie wollen uns auf Cerkol aussetzen. Aber das würde für uns das Ende bedeuten. Wie sollen wir in dem Chaos, das die Lopsegger anrichten, überleben?« »Überhaupt nicht. Für uns gibt es nur eines: Wir müssen erzwingen, dass man uns mitnimmt.« »Wie denn?« »Das weiß ich auch noch nicht. Aber uns wird schon etwas einfallen.« »Dir bestimmt nicht, wenn du nicht sofort schläfst«, sagte die Prinzessin energisch. »Du siehst aus, als würdest du im nächsten Augenblick umfallen.«
»So fühle ich mich auch«, erwiderte ich matt. »Dann lehn dich zurück und schließ die Augen.« Ich gehorchte – und war im nächsten Augenblick weg.
Als ich erwachte, waren die Sessel vor mir leer. Ich drehte den Kopf und sah, dass Crysalgira neben mir schlief. Mein nächster Blick ging zu den Fenstern. Wir waren inzwischen gelandet. Das Schiffstand auf einem Felsplateau, das sich nach rechts mindestens zehn Kilometer weit erstreckte und nach links steil in eine Schlucht abfiel, durch die die schäumenden Wassermassen eines Flusses tobten. Zwei weitere Raumschiffe ruhten in der Nähe auf ihren Landekufen. Mindestens hundert Lopsegger waren dabei, Rundzelte aufzubauen, die beiden anderen Schiffe zu entladen und aus irgendwelchen Teilen Geräte zusammenzusetzen. Ich fuhr von meinem Platz hoch. Die Passagierkabine war leer. Hatten die Lopsegger uns ganz allein in ihrem Schiff zurückgelassen? Ich rüttelte Crysalgira an den Schultern. »Aufwachen, schnell!« »Was ist los?«, fragte sie unwillig. »Du tust mir ja weh, Atlan.« »Wir sind allein im Schiff. Das ist die Gelegenheit für uns, den Planeten zu verlassen.« Das machte sie vollends wach; sie fuhr genauso hoch wie ich kurz vorher. »Dann wollen wir keine Zeit verlieren.« Wir setzten uns in Richtung Kommandoraum in Bewegung – und erstarrten, als das Schott sich viel zu früh öffnete. Drei bewaffnete Lopsegger erschienen in der Öffnung. Einer trug einen Translator vor der Brust. Er musste Karsihl-HP sein. »Ich wollte Sie gerade wecken. Können Sie ein Flugzeug steuern?« »Selbstverständlich«, antwortete ich, ohne lange zu überlegen. »Ich musste vorher nur Gelegenheit haben, mich
mit der Bedienung vertraut zu machen.« »Die sollen Sie bekommen. Vorher müssen Sie meinen Leuten helfen, das erste Flugzeug aus den Einzelteilen zusammenzusetzen, die aus dem Schiff von Leptron-HP entladen wurden.« »Gut. Aber ich brauche Crysalgiras Hilfe – auch bei der Führung des Flugzeugs. Sie ist eine gute Navigatorin.« »Einverstanden. Kommen Sie mit.« Er führte uns aus dem Schiff. Unterwegs flüsterte Crysalgira: »Ich habe noch nie ein Flugzeug geflogen.« »Ich auch nicht. Aber ich habe schon viele Gleiter gesteuert, da werde ich wohl auch mit einem Flugzeug zurechtkommen.« Inzwischen hatten wir den Platz erreicht, auf dem das Flugzeug zusammengebaut wurde. Ich ließ mir die Montageanleitung und die Konstruktionsdaten geben. Es handelte sich um ein zweisitziges Überschallflugzeug mit verstellbaren Tragflächen, zwei fusionsgeheizten Pulsatortriebwerken und einer Höchstgeschwindigkeit von 6,3-facher Schallgeschwindigkeit in 27.000 Metern Höhe. Die Spannweite betrug bei maximaler Tragflächenspreizung einundzwanzig Meter, minimal rund zehn Meter; die Gesamtlänge zweiundzwanzig und die Höhe fünf Meter. »Welche Aufgaben soll das Flugzeug erfüllen?«, wandte ich mich an Karsihl-HP. »Sobald es fertig montiert ist, werden unter den Tragflächen sechs Luft-Boden-Lenkwaffen eingehängt. Sie verfügen über spezielle Fusionssprengladungen, die sogar den stärksten Wasserdruck aushalten. Sie sollen sie auf einen Tiefseegraben verschießen, den ich Ihnen noch auf einer Karte zeigen werde.« »Und sie sollen im Tiefseegraben explodieren? Welche
Energieentfaltung hat denn eine Lenkwaffe?« »Zehn Gigatonnen Vergleichs-TNT«, antwortete der Lopsegger. »Aber das ist Wahnsinn. Sechs Lenkwaffen mit je zehn Gigatonnen Explosionswirkung in einen Tiefseegraben zu schießen kann zum Aufreißen der Planetenkruste und damit zu verheerenden Beben führen, die einen ganzen Kontinent vernichten können.« »So ist es. Wir werden dafür sorgen, dass der kleinste Kontinent des Planeten untergeht. Erst das wird die Tejonther endgültig davon überzeugen, dass ihre Planwelt untauglich zur Besiedlung ist. Geologische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Untergang des kleinsten Kontinents zur Auffaltung von hohen Gebirgszügen auf zwei anderen Kontinenten führen wird. Diese Gebirgszüge sollen uns später dabei helfen, die Zustände wieder zu normalisieren.« Das klang genial. Dennoch schauderte ich bei dem Gedanken, dass ich mithelfen sollte, einen ganzen Kontinent im Meer versinken zu lassen. Schließlich hatten die Tiere und Pflanzen, die dort existierten, ebenfalls ein Recht auf Leben. Ich beschloss, diesen Auftrag nicht durchzuführen und nach Möglichkeit vorher zu fliehen. Nachdem ich eine Weile mitgeholfen hatte, die Einzelteile zusammenzubauen, führte ich Crysalgira auf die Seite. »Wir werden entweder noch heute oder morgen fliehen.« »Das nützt uns nichts. Wenn wir fliehen, verurteilen wir uns selbst dazu, auf Cerkol zu bleiben.« Ich lächelte beruhigend. »Wir nehmen Karsihl-HP als Geisel mit. Dann können wir den Lopseggern die Bedingung stellen, uns mitzunehmen, wenn sie ihren Anführer wieder sehen wollen.« »Und wie sollen wir fliehen? An die Raumschiffe kommen wir nicht heran. Etwa mit dem Flugzeug?«
»Vielleicht. Natürlich wird es eng in der Kanzel werden, die nur für zwei Personen ausgelegt ist. Aber wir brauchen ja nicht weit zu fliegen, sondern nur eine gewisse Entfernung zwischen uns und dieses Lager zu legen.« Sie blickte mich prüfend an. Ich merkte, dass sie wusste, welche Risiken wir mit einer Flucht und einer Entführung des Anführers auf uns nehmen würden. Dennoch stimmte sie schließlich zu.
Gegen Abend war das Flugzeug fertig montiert. Nach einem Probelauf der Pulsationstriebwerke forderte Karsihl-HP mich auf, einen kurzen Probeflug zu unternehmen. Ich hatte nichts dagegen, denn der Probeflug bot Crysalgira und mir die Möglichkeit, uns mit der Maschine vertraut zu machen. Immerhin war es bis auf die Pulsationstriebwerke ein primitives Fahrzeug, wie es vielleicht meine Urahnen auch einmal geflogen hatten. Wer an den Umgang mit Raumschiffen und Gleitern gewöhnt war, würde sich gründlich umstellen müssen, wenn er eine Maschine steuerte, die nach aerodynamischen Gesetzen funktionierte. Prinzessin Crysalgira und ich nahmen in der doppelsitzigen Kanzel hintereinander Platz. Ich musterte die Kontrollen, mit denen ich mich anhand der Zeichnungen und theoretisch vertraut gemacht hatte. Mein fotografisches Gedächtnis erwies sich als unschätzbare Hilfe, ohne die ich, wie ich gestehen musste, den Start nach so kurzer Vorbereitung niemals hätte wagen dürfen. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass alles einwandfrei funktionierte, erhöhte ich den Schub der beiden Pulsationstriebwerke. Die Aggregate arbeiteten mit Fusionsenergie, saugten Luft an, heizten sie atomar auf und stießen sie hinten als sonnenheißen Plasmastrahl wieder aus
den Felddüsen. Langsam ließ ich das Flugzeug zur vorbereiteten Startbahn rollen. Dabei drehte ich es ganz kurz »versehentlich« so, dass die Plasmastrahlen ein Raumschiff als glutheiße Orkanbö trafen. Das Schiff schwankte leicht. »Passen Sie auf, Atlan!«, rief Karsihl-HP über Sprechfunk. »Sie dürfen das Seitenruder nicht zu abrupt betätigen!« »Schon bemerkt«, gab ich grinsend zurück. Am Anfang der Startbahn stellte ich die Bremsen fest und jagte die Triebwerke kurz bis zu ihrer Leistungsgrenze hoch. Ein infernalisches Donnern erfüllte die Luft. Der Rumpf der Maschine erbebte. Ich löste die Bremsen und rollte an. Es war ein komisches Gefühl, zu wissen, dass die Triebwerke allein das Flugzeug niemals in die Luft bringen konnten, wie es bei Raumschiffen oder Fluggleitern der Fall war. Doch ich gewöhnte mich überraschend schnell an diesen Gedanken. Crysalgira hatte unterdessen anhand der Leistungswerte in Relation zum Startgewicht von rund 50.000 Kilogramm die Geschwindigkeit errechnet, bei der wir abhoben. Als die Geschwindigkeit erreicht war, zog ich den Steuerknüppel leicht an. Gehorsam hob die Maschine ihre Bugnase. Das Rollgeräusch des Fahrwerks verstummte, als wir abhoben. Die Maschine lag ruhig in der Luft, für mich ein ganz neues, aber nicht unangenehmes Fluggefühl. Für kurze Zeit fühlte ich mich wie ein Vogel. Doch dann unterdrückte ich dieses Gefühl wieder. Ich zog die Maschine immer steiler nach oben und glich mit den Seitenrudern aus, wenn wir von Windböen getroffen wurden. Das Wichtigste war jetzt, erst einmal gefühlsmäßig mit der Maschine zu verwachsen. Ich ging auf zehntausend Meter Höhe, wofür ich knapp vier Millitontas benötigte. Vorher hatte ich die Tragflächen zurückgefahren, so dass die Maschine pfeilförmig aussah wie manche arkonidischen Raumjäger. Bei zehntausend Metern probierte ich so lange, bis ich wusste, wie
viel ich der Maschine zumuten konnte. Sie erwies sich als erstaunlich wendig für ein Primitivgerät und bestand auch die Trudelversuche mit Bravour. Das, was die Beschreibung »integrierte Avionik« genannt hatte, war relativ modern. Die Untersysteme bestanden vor allem aus einem einfach lichtschnell arbeitenden Mehrzwecktaster, der weitgehend automatisiert war, einer Trägheitsnavigationsanlage und einem Zentralcomputer, der unter anderem dazu diente, den starr eingebauten Bugstrahler bei Zielerfassung auszulösen und die Lenkwaffen ins Ziel zu steuern. Natürlich führten wir beim Probeflug die Lenkwaffen nicht mit. Ich hatte auch nicht vor, sie jemals einhängen zu lassen, obwohl ich kurz mit dem Gedanken spielte, die lopseggischen Raumschiffe damit anzugreifen. Ich hätte es niemals fertig gebracht, die im Grunde genommen friedliebenden Lopsegger vorsätzlich zu töten. Außerdem wäre die Maschine nach dem ersten Angriff mühelos von den übrigen Raumschiffen abgeschossen worden. Nachdem ich mich mit der Maschine vertraut genug gemacht hatte, ließ ich sie auf ihre Dienstgipfelhöhe steigen. Ich versuchte dann, sie noch höher zu bringen, doch das schaffte sie nicht. In größerer Höhe war die Luft zu dünn, so dass die Leistung der Pulsationstriebwerke rapide sank. Ich orientierte mich und kehrte um. Während ich die Maschine allmählich sinken ließ, schaltete ich das Funksprechgerät ab und sagte: »Heute Nacht geht es los, Crysalgira. Wir müssen Karsihl-HP überwältigen, fesseln und ins Cockpit zwängen. Danach starten wir. Unterwegs stelle ich den Lopseggern über Sprechfunk unser Ultimatum. Danach sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich landen. Klar?« »Nein. Ich frage mich nämlich, wo du mit einem Flugzeug landen willst, dessen Landestrecke mit ausgefahrenen Tragflächen rund tausend Meter beträgt und das auf einem
Räderfahrwerk aufsetzen muss.« Sie hatte völlig Recht, aber wenn wir gewinnen wollten, mussten wir eben einiges riskieren. »Wir werden schon einen ebenen Landeplatz finden.« Kurz daraufkam der provisorische Flugplatz in Sicht. Ich drosselte die Triebwerke, fuhr die Landeklappen aus und ging tiefer. Wieder hatte ich ein unbehagliches Gefühl, als ich etwas tun musste, was sich von allem unterschied, was ich bisher mit Gleitern und Raumschiffen getan hatte. Mir wurde fast zu spät klar, dass ich die letzte Phase der Landung allein nach dem Gefühl absolvieren musste. Ich musste sozusagen mit dem Gesäß fühlen, wann das Fahrwerk den Boden berührte. Doch auch das gelang. Zwar zog ich den Steuerknüppel etwas zu stark an, so dass die Maschine nach einem Hopser unsanft den Boden berührte, aber schließlich rollte sie aus. Ich berührte den Schalter, der das Kanzeldach hochklappte, winkte den wartenden Lopseggern zu und rief: »Kompliment, Freunde. Das Ding fliegt sogar.«
14. Atlan: In stillen Momenten, kurz vor dem Einschlafen oder vor dem endgültigen Erwachen bemerke ich, dass es seit dem Aufenthalt in der Gefühlsbasis tief in mir rumort. Es dringt selten an die Oberfläche des Wachbewusstseins, gleicht einer Bewegung, die gerade noch aus den Augenwinkeln wahrgenommen wird, aber verschwunden ist, sobald sich die volle Aufmerksamkeit darauf lichtet. Es ist nur eine Ahnung, aber irgendetwas sagt mir, dass die direkt erkannten Informationen aus Vargos Geschichte bestenfalls die Spitze des Eisbergs darstellen. Genau wie sich beim Eisberg die Hauptmasse unter der Wasseroberfläche befindet, gibt es viele weitere Dinge, die im Bericht mitgeschwungen haben, von mir auch
aufgenommen wurden, aber seither unter der Oberfläche bleiben. Aber sie sind da, zu einem Teil von mir geworden. Sie haben sich mit anderen Dingen vernetzt, so dass das Ergebnis unter Umständen etwas Neues ergibt. Noch kann ich sie nicht greifen, sie bleiben Schatten oder Bewegungen im Augenwinkel; irgendwann jedoch werden sie die Oberfläche durchbrechen, sich greifen und in Worte fassen lassen. Vorläufig erscheinen manchmal nur vage Begriffe, von denen ich nicht genau sagen kann, ob und wie sie genau im Zusammenhang stehen. Beim Gedanken an die Gefühlsbasen assoziierte ich die Begriffe Leuchtfeuer, Macht und Beeinflussung damit; ich muss an das goldenfarbene Leuchten unter dem Krater auf Somor denken, aber auch an die merkwürdige zähe Flüssigkeit und den Inhalt der Urne, die Vruumys den Tod brachte. Ich glaube das Hämmern und Pochen zu hören – sehe die schwarze Flüssigkeit aus dem Fels neben der goldenen Substanz quellen. Das ist keineswegs Grundwasser, sondern etwas anderes, Zählflüssigeres – dem Kratersee vergleichbar. Am Boden bildet sich eine Lache, deren Schwarz das goldene Licht förmlich »zu fressen« scheint. Winzige Bläschen platzen geräuschlos, die Masse wird von einem Brodeln durchzogen; fast drängt sich mir der Eindruck auf, dass diese Brühe auf absonderliche Weise lebt. An ihrem Rand bilden sich deutlich flüssigere und glasklar werdende Rinnsale – ein stechender Geruch breitet sich aus, der mich an die Flüssigkeit der Urne erinnert, die Vruumys und ich gefunden hatten. Das Bild von Ischtar steht mir vor Augen, genau wie das von Magantilliken und des Kyriliane-Sehers Vrentizianex. Ich denke an Chapat, der von den Erinnyen in die Eisige Sphäre entführt wurde. Wiederholt habe ich den Eindruck, abermals auf dem erschreckenden Thron Vrentizianex’ zu sitzen – und ein anderes Mal wandere ich, genau wie damals in den Träumen an Bord des Maahkraumers, wieder durch die zum Leben erweckte Stadt von Vassantor. Noch schrecke ich nach solchen Momenten auf ohne mich an die Details erinnern zu können, die sich meinem bewussten Zugriff
ebenso entziehen wie dem des Extrasinns. Außer einer erschreckenden Leere, die gleich einem bodenlosen Schacht in mir aufklafft, bleibt nur das eindringliche Gefühl, etwas Wichtiges erkannt, erlebt oder erfahren zu haben. Vielleicht hebt sich ja irgendwann der Schleier, lässt sich das Vage doch noch greifen.
Cerkol: 6. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Nach einer letzten Beratung mit Crysalgira hatten wir uns auf eine Tonta vor Sonnenaufgang als Startzeit geeinigt. Danach waren wir in dem Zelt, dass die Lopsegger uns zuwiesen, schlafen gegangen. Ich wachte allerdings schon kurz nach Mitternacht auf und konnte nicht wieder einschlafen. Deshalb öffnete ich den Zelteingang ein Stück und beobachtete das Lager. Beide Monde Cerkols standen am Himmel und verbreiteten genug Helligkeit zur Orientierung. Das Lager lag still und friedlich da. Kein Wachtposten war zu sehen. Auch vor dem Zelt des Anführers stand kein Posten. Wir wussten, dass Karsihl-HP allein in seinem Zelt schlief. Das würde unser Vorhaben wesentlich erleichtern. Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir mit einem Raumschiff entkommen könnten. Doch ich wusste, dass in jedem Schiff drei Lopsegger schliefen und dass die Schotten nachts von innen elektronisch verriegelt wurden, so dass ein Einbruchsversuch Alarm auslösen würde. Genau zur vorgesehenen Zeit weckte ich die Prinzessin. Wir sahen uns vor dem Zelt noch einmal genau um, aber es war noch immer alles ruhig. Ich nickte Crysalgira zu, dann schlichen wir zum Zelt des Anführers. Crysalgira hielt vor dem Zelt Wache, während ich hineinschlüpfte. Die rasselnden Atemzüge verrieten mir, dass Karsihl-HP fest schlief. Ich wartete, bis sich meine Augen halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die nur durch das Mondlicht etwas erhellt
wurde, das durch den spaltweit geöffneten Eingang fiel. Dann schlich ich zu Karsihl-HP und schlug ihm meine Faust an die Stelle zwischen Kopf und Rückgrat. Das Atemgerassel brach ab. Der Lopsegger fuhr hoch und schlug mit den langen Armen um sich. Ich erhielt einen Schlag auf die Nase, so dass mir das Wasser in die Augen schoss. Ich presste die Lippen zusammen und schlug noch einmal auf dieselbe Stelle. Diesmal trat die erhoffte Wirkung ein. Karsihl-HP sank schlaff zusammen. Ich fesselte ihn mit den Plastikbändern, die wir uns besorgt hatten. »Alles ist ruhig«, flüsterte Crysalgira. »Gut. Geh voraus und öffne das Kanzeldach.« Sie huschte leichtfüßig davon. Ich folgte ihr mit meiner schweren Last erheblich langsamer. Karsihl-HP war noch immer bewusstlos, als wir ihn gemeinsam ins Cockpit hoben. Crysalgira setzte sich so, dass ihre Beine auf dem Rücken von Karsihl-HP lagen und die Füße auf den Armlehnen meines Sitzes. So konnte sie sich wenigstens anschnallen. Ich verzichtete darauf, die Maschine durchzuchecken, sondern schaltete sofort die Triebwerke ein und rollte in Richtung Startbahn. Das Donnern der Pulsationstriebwerke war natürlich nicht zu überhören. Deshalb wunderte ich mich auch nicht, als Crysalgira mir kurz darauf Bewegung innerhalb des Lagers meldete. Ich wunderte mich nur darüber, dass wir nicht beschossen wurden, obwohl die glühenden Plasmastrahlen der Triebwerke doch verrieten, dass jemand mit dem Flugzeug starten wollte. Doch das konnte uns nur recht sein. Ich beschleunigte und brachte die Maschine so exakt hoch wie bei unserem Probeflug. Als ich eine scharfe Linkskurve flog, regte sich Karsihl-HP und gab knarrende Laute von sich. Ich schaltete meinen Translator ein. »Immer mit der Ruhe, Karsihl-HP. Wir wollen Ihnen nichts tun, sondern haben Sie
nur ein bisschen entführt.« Ich aktivierte das Funksprechgerät und rief nach Karsihls Stellvertreter. Als er sich meldete, sagte ich: »Hier spricht Atlan. Wir haben Ihren Anführer mitgenommen. Werden Sie also nicht leichtsinnig. Wir wissen, dass Sie uns nach Beendigung Ihrer Mission auf Cerkol zurücklassen wollen. Das würde angesichts der aufgewühlten Elemente unseren sicheren Tod bedeuten. Sie werden verstehen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als von Ihnen mitgenommen zu werden. Sie haben nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder lassen Sie uns auf Cerkol zurück – dann teilt Karsihl-HP unser Schicksal –, oder Sie lassen uns in eines Ihrer Raumschiffe einsteigen, dann ist Ihr Anführer gerettet. Wir melden uns wieder. Ende!« Ich schaltete das Gerät ab. Die Lopsegger sollten in Ruhe überlegen, was sie tun wollten. Natürlich rechnete ich damit, dass sie uns eine Falle zu stellen versuchen würden, aber dem ließ sich vorbeugen. »Ich werde lieber mit Ihnen sterben als zulassen, dass meine Leute erpresst werden«, machte sich Karsihl-HP bemerkbar. Mir war klar gewesen, dass er so etwas sagen würde. Es war logischerweise die erste Reaktion. Aber wir hatten Zeit, und ich hoffte, dass es für Karsihl-HP Zeit genug zur besseren Einsicht sein würde. Wenn nicht, dann allerdings hatten wir unser Spiel verloren. »Es ist keine Erpressung, sondern Notwehr. Wir verlangen von Ihnen und Ihren Leuten nichts weiter als eine faire Überlebenschance. Die hätten wir aber nicht, wenn wir auf Cerkol zurückblieben. Was verlieren Sie schon, wenn Sie uns mitnehmen?« »Mein Gesicht.« Ich erwiderte nichts, sondern zog die Maschine auf fünftausend Meter. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, so
dass wir uns besser orientieren konnten. Lange durften wir nicht in der Luft bleiben, das war uns von vornherein klar gewesen. Die Lopsegger würden mit ihren Raumschiffen starten und uns verfolgen; umstellten sie uns nach der Landung, bestand die Gefahr, dass sie uns überrumpelten. Als ich voraus, mitten in einer düster wirkenden Geröllebene, einen fünf Kilometer langen und hundert Meter breiten Sandstreifen entdeckte, entschloss ich mich, dort zu landen. Mir war klar, dass unter dem Sand Felsbrocken oder -klippen verborgen sein konnten. Auf jeden Fall war es höchst ungewiss, wie dieser Sandstreifen entstanden war. Doch sonst entdeckte ich nur schlammiges Hügelland, überschwemmte Wälder und glühende Lavafelder. Ich drückte die Maschine hinunter, fuhr die Tragflächen ganz aus und schwebte mit über vierhundert Kilometern pro Tonta neben der sandigen Naturpiste entlang. Dabei nahm ich das Gelände in Augenschein. Ich bemerkte, dass der Sand nass war; vor nicht allzu langer Zeit musste es hier geregnet haben. An einigen Stellen stachen niedrige und scharfkantige Felsbuckel heraus. Das war der erste Hinweis auf die geologische Entstehungsgeschichte. Eine alte Bebenspalte musste sich im Verlauf langer Zeiträume mit angewehtem Sand gefüllt haben. Der Sand würde also vermutlich fest genug für eine Landung sein. Nur vor den Felsbuckeln musste ich mich in Acht nehmen. Wenn ein Rad des Fahrwerks einen Felsbuckel auch nur streifte, würde die Maschine unweigerlich zu Bruch gehen. Ich zog das Flugzeug wieder hoch, kehrte um und flog zum zweiten Mal an. Am liebsten wäre ich die Piste im Schleichflug angegangen. Doch ich wusste, dass die Maschine absacken würde, wenn die Fluggeschwindigkeit unter dreihundertfünfzig Kilometer pro Tonta sank. Folglich musste ich diese Geschwindigkeit noch draufhaben, wenn das
Fahrwerk den Boden berührte. Schneller, als mir lieb war, waren wir unten. Diesmal konnte ich einen Hopser vermeiden und brachte sogar eine Dreipunktlandung zustande. Sofort nach Bodenberührung schaltete ich auf Gegenschub um. Die glühenden Plasmaströme schossen in Fahrtrichtung aus den vorderen Felddüsen der beiden Triebwerke. Danach blieb mir nur noch übrig, die Maschine »auf der Spur« zu halten, denn wenn sie nach der Seite ausbrach, musste das auf dem Sandboden zur Katastrophe führen. Ich presste unwillkürlich die Lippen zusammen, als das linke Fahrwerksrad nur einen halben Meter an einem scharfkantigen Felsbuckel vorbeirollte. Die Reifen hinterließen handspannentiefe Spuren im nassen Sand. Plötzlich sprang das Bugrad hoch. Es musste über einen vom Sand verdeckten Buckel gerollt sein. Ich kam nicht mehr dazu, eine Bugradlenkung zu kontrollieren. Als das Bugrad aufsetzte, war es um dreißig Grad verdreht. Prompt brach die Maschine aus der Spur, drehte sich nach Backbord und kippte dann nach Steuerbord um. Knirschend und splitternd zerbarst die rechte Tragfläche, gefolgt vom Seitenleitwerk. Die Maschine legte sich auf die Seite und drehte sich um ihre Längsachse. Das rechte Höhenleitwerk verfing sich an einem weiteren Felsbuckel und brach ab. Plötzlich lagen wir still. Ich holte erst einmal tief Luft, dann drehte ich mich um. »Wir sind gelandet«, verkündete ich. »Die Passagiere werden gebeten auszusteigen.« »Leben wir tatsächlich noch?«, fragte Karsihl-HP. Wahrscheinlich war es ironisch gemeint. »Probieren Sie mal aus, ob Sie noch denken können«, gab ich ebenfalls ironisch zurück. »Wenn ja, leben Sie noch. Wenn nein, haben Sie keine Sorgen mehr.« Ich schnallte mich los und half Crysalgira, sich aus ihrer Enge zu befreien. Anschließend hievten wir Karsihl-HP
hinaus, was uns durch die Seitenlage der Maschine erleichtert wurde. Mit einem Messer durchtrennte ich die Beinfesseln und half ihm auf die Füße. »Meine Leute werden auf Ihren Handel nicht eingehen, Atlan«, sagte der Anführer der Lopsegger. »Sie hätten lieber allein fliehen sollen.« Mir ging ein Licht auf. »Hatten Sie das so geplant? Dann war meine Ernennung zum Primitivpiloten nur ein Vorwand, um mir eine Fluchtgelegenheit vor die Nase zu setzen, wie?« »Sie sind für uns ein zu großes Sicherheitsrisiko. Mit Hilfe des Flugzeugs hätten Sie sich einen einigermaßen sicheren Platz aussuchen können, auf dem Sie das Abklingen der Orkane und Beben abwarten konnten.« »Und wovon hätten wir uns ernähren sollen?«, fragte Crysalgira erbittert. »Im Flugzeug befindet sich ein Vorrat an Konzentraten, der mindestens hundert Lage reicht. Danach hätten Sie auf die Jagd gehen müssen. Außerdem sind die Meere und Flüsse sehr fischreich.« »Vielen Dank. Wir ziehen es vor, Cerkol mit einem Raumschiff zu verlassen und auf einem bewohnten Planeten zu landen. Bis Ihre Leute eingesehen haben, dass sie auf unsere Wünsche eingehen müssen, werden wir allerdings auf der Flucht sein.« Ich wandte mich an Crysalgira. »Ganz in der Nähe ist ein Fluss, dessen Strömung noch nicht zu reißend geworden ist. Wir nehmen das Schlauchboot, das im Bombenschacht der Maschine verstaut ist, und lassen uns flussabwärts treiben.« »Sollten wir uns nicht lieber irgendwo verstecken?« Ich deutete auf das Flugzeugwrack. »Die Lopsegger werden es bald entdeckt haben. Bis dahin müssen wir von hier verschwunden sein. Also, an die Arbeit.« Wir holten das zu einem kleinen Paket zusammengefaltete
Schlauchboot sowie die beiden Paddel. Den Rucksack mit den Konzentraten hängte ich Karsihl-HP über die Schultern. Danach machten wir uns auf den Weg zum Fluss. Als wir das Ufer erreichten, sah ich, dass die Strömung doch stärker war, als ich von oben gesehen hatte. Aber das half nichts mehr. Wir konnten nicht zurück. Ich nahm die Leine in die Hand und warf das gefaltete Boot in den Fluss, wo es sich automatisch aufblies. Danach ließ ich zuerst Karsihl-HP einsteigen und sich am Bug niederkauern. Ihm folgte Crysalgira, die einen erbeuteten Schockstrahler schussbereit auf den Rücken des Lopseggers richtete. Ich warf ihr die Leine zu und sprang. Das kleine Boot schaukelte bedrohlich und wurde sofort von der Strömung mitgerissen. Ich setzte mich ins Heck und gebrauchte ein Paddel als Steuer. Viel nützte es nicht. Wir waren praktisch auf Gnade und Ungnade den Launen des Flusses ausgeliefert. Das Wasser war gelblich braun gefärbt und führte Pflanzenteile, ausgerissene Bäume sowie Tierleichen mit sich. Die Bäume waren die größte Gefahr. Mehrmals konnte ich erst im letzten Moment eine Kollision mit sperrigen Ästen oder Wurzeln verhindern. Kurz darauf öffneten sich die Schleusen des Himmels erneut. Ein wahrer Wolkenbruch ergoss sich über uns. Im Nu füllte sich das Schlauchboot mit Wasser. Es war zwar warm, aber ich wusste, dass tontalange Sitzbäder trotzdem nicht allzu gesund waren. »Es wird Zeit, dass wir ans Ufer gehen«, sagte Karsihl-HP nach ungefähr zwei Tontas. »Sie müssen es schon noch etwas länger aushalten. Crysalgira und ich würden auch lieber mit trockenen Sachen in einem Zelt sitzen.« »Darum geht es nicht. Offenbar wissen Sie nicht, dass wir bald einen steil abfallenden Katarakt erreichen.« Ich runzelte die Stirn. Woher sollte ich wissen, ob Karsihl-
HP die Wahrheit sprach oder bluffte? Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass ich den Fluss vom Flugzeug aus zwar registriert, seinen Lauf aber nicht kontrolliert hatte. Karsihl-HP konnte das allerdings nicht wissen. Ich entschloss mich, ihm zu trauen. Aufmerksam musterte ich die Ufer. Sie sahen nicht verlockend aus. Links rauschte das Wasser an haushohen Felsen vorbei, und rechts sah ich eine schlammige Böschung. Plötzlich vernahm ich durch das Prasseln und Tosen des Wolkenbruchs und das Gurgeln des Flusses ein fernes dumpfes Donnern. Das musste der Katarakt sein. Karsihl-HP hatte also nicht geblufft. Am rechten Ufer wurde die schlammige Böschung von steil aufragenden Felswänden abgelöst. Dort kamen wir nicht hinauf. Ich blickte erneut zum linken Ufer. Dort waren die Felswände ebenfalls steil, aber nicht zusammenhängend wie rechts. Es gab tiefe Einschnitte, in denen das Wasser ruhiger war. »Wir versuchen, einen Einschnitt zu erreichen«, sagte ich. »Anschließend marschieren wir zu Fuß flussabwärts. Unterhalb des Katarakts setzen wir dann die Fahrt fort.« Weder Crysalgira noch Karsihl-HP erwiderten etwas darauf. Es gab auch nichts, was dazu zu sagen gewesen wäre. Das Donnern des Katarakts schwoll zusehends an. Es wurde höchste Zeit, dass wir den Fluss verließen. Crysalgira ergriff das freie Paddel. Gemeinsam arbeiteten wir uns zum linken Ufer, wichen einer treibenden Insel aus ineinander verkeilten Bäumen aus und gelangten mit letzter Kraft in einen der Felseinschnitte. Das Boot drehte sich einige Male um sich selbst, dann lag es still. Ich nahm die Leine und sprang auf eine Felsleiste, die sich mit Unterbrechungen nach oben wand. Danach stiegen Karsihl-HP und Crysalgira aus. Der Lopsegger blickte an der Felsleiste empor und sagte: »Mit gefesselten Händen komme ich nicht weit.« Er hatte Recht, deshalb erwiderte ich: »Zuerst wird
Crysalgira hinaufsteigen. Sobald sie oben ist, schneide ich Ihre Fesseln durch. Crysalgira, du wirst von oben auf ihn aufpassen. Greift er dich an oder versucht zu fliehen, schieß ihn nieder. Ich bleibe dicht hinter ihm.« Während sie die Leiste emporkletterte, ließ ich die Luft aus dem Boot. Das winzige Pumpaggregat würde es wieder füllen, sobald sein Sensor unter Wasser geriet. Als Crysalgira oben angekommen war, schickte ich den Lopsegger hinterher. Ich folgte ihm in wenigen Metern Entfernung. Karsihl-HP kletterte sehr geschickt und erweiterte seinen Vorsprung. Ich nahm es nicht tragisch, denn oben wartete ja Crysalgira mit schussbereiter Schockwaffe, und ich wusste, dass sie nicht zögern würde, sie zu benutzen. Der Lopsegger schwang sich auf die Felskuppe. Im nächsten Moment hörte ich die dumpfe Entladung der Schockwaffe. Wütend auf mich selbst, legte ich den Rest der Strecke zurück. Wie ich erwartet hatte, lag Karsihl-HP oben stocksteif auf dem Boden. »Er ging einfach auf mich los. Mir blieb keine andere Wahl.« »Er hat es drauf angelegt. Da er zu schwer ist, als dass ich ihn tragen könnte, bleibt uns weiter nichts übrig, als die vier Tontas hier zu warten, bis er sich wieder bewegen kann, wenn wir nicht auf ihn als Geisel verzichten wollen.« »Und das können wir nicht«, ergänzte Crysalgira. »Nein. Machen wir es uns also gemütlich.« Das war natürlich blanker Zynismus. Machen Sie es sich einmal gemütlich, völlig durchnässt auf einem harten Felsen, während der Regen so dicht herabstürzt, dass Sie kaum atmen können. Aber was blieb uns anderes übrig?
Der Regen hörte schon nach zwei Tontas auf. Dafür schaukelte plötzlich der Boden unter der Gewalt eines Bebens. Crysalgira und ich legten uns flach hin und krallten uns in den Rissen
und Vorsprüngen der Felskanzel fest. Beim dritten Stoß bildete sich krachend und knisternd ein Spalt, der mitten durch den Fels ging. Er erweiterte sich bis auf einen halben Meter, eines der Paddel fiel hinein, bevor ich es halten konnte. Ich kroch zu Karsihl-HP, schlang ihm das Seilende um den Leib und legte mich auf das zusammengefaltete Boot. Abermals schwankte der Boden. Der Spalt vergrößerte sich. Felsbrocken lösten sich von der Kante unseres Felsens und stürzten ins Wasser. Ich rief Crysalgira an und deutete auf die schmale Felsbrücke, die unsere Klippe mit dem gleich hohen Steilhang des eigentlichen Ufers verband. Crysalgira zögerte einen Moment. Doch dann sah sie wohl ein, dass ich Recht hatte. Sie stand auf, lief hinüber und blickte sich nach mir um, das gerettete Paddel in der Hand. Ich löste das Seil von Karsihl-HP und warf den Packen hinüber. Danach packte ich den Lopsegger unter den Achseln und schleifte ihn über die Felsbrücke. Ich war noch nicht ganz drüben, da lief das nächste Beben durch den Fels. Unsere Klippe brach in der Mitte auseinander. Die äußere Hälfte stürzte ins Wasser, die andere wurde plötzlich von vielen Rissen durchzogen. Kaum war ich drüben, brach die Felsbrücke ein, und kurz darauf sank der Klippenrest in sich zusammen. Ich schleifte KarsihlHP noch etwa hundert Meter weit, dann ließ ich ihn liegen. Crysalgira packte einige Konzentratwürfel aus. Wir kauten sie langsam. »Lange halten wir das nicht durch, Atlan.« Ich zuckte die Achseln. »Das habe ich schon oftmals gedacht. Dennoch lebe ich noch. Wir werden es schon überstehen.« Aber das Schlimmste war, dass wir untätig herumhocken mussten, weil eine Schocklähmung eben eine bestimmte Zeit anhält. In der Richtung, aus der wir gekommen waren, braute sich unterdessen ein Gewitter zusammen. Als Karsihl-HP sich endlich wieder regen konnte, brach das Gewitter mit
fürchterlicher Wucht über uns herein und nagelte uns eine weitere Stunde am Boden fest. Blitze zuckten in unaufhörlicher Folge knatternd herab und entluden sich krachend. Der Donner grollte ohrenbetäubend, schwoll an, sank wieder ab und schwoll wieder an. In der Nähe schlug ein Blitz in einen Felsenturm und zerschmetterte ihn. Die Steinsplitter flogen bis zu uns herüber, verletzten aber glücklicherweise niemanden. Als sich das Gewitter verzogen hatte, richteten wir uns benommen auf. Das Erste, was ich sah, war eine Flammenwand, die sich uns vom Horizont auf unserer Seite des Flusses näherte. Sie war noch mindestens acht Kilometer entfernt, doch an der zunehmenden Helligkeit ließ sich erkennen, dass sie näher rückte. »Lava«, rief Crysalgira. »Wir müssen auf die andere Seite des Flusses, wenn wir nicht verbrennen wollen.« »Aber erst unterhalb des Wasserfalls. Karsihl-HP, ich fordere Sie auf, künftig alles zu unterlassen, was uns aufhalten könnte. Wenn es ums nackte Überleben geht, lassen wir Sie notfalls liegen.« »Ich werde nichts unternehmen, bis wir vor der Lavaflut in Sicherheit sind«, erwiderte er. Ich warf ihm das Boot zu. Schließlich konnten wir verlangen, dass er auch etwas tat. Es ging ja auch um sein Leben. Dann brachen wir auf. Der Marsch flussabwärts gestaltete sich leichter, als ich erwartet hatte. Zwar zogen sich zahlreiche frische Spalten durch den Felsboden, aber keine war so breit, dass wir sie nicht überspringen konnten. Als sich uns immer mehr Felsblöcke in den Weg stellten, wichen wir in Richtung Fluss aus. Dort gab es eine durchschnittlich fünfzehn Meter breite Uferterrasse, die rund fünf Meter über dem Fluss lag. Auf ihr kamen wir gut voran. Ungefähr fünf Dezitontas später erreichten wir den Katarakt. Wir wären mit dem Boot niemals lebend durchgekommen, denn die Wassermassen stürzten in
drei Stufen insgesamt etwa hundertzwanzig Meter tief hinab. In dem großen Becken am Fuß des Katarakts wirbelten in den Strudeln zerkleinerte Bäume herum. Ich blickte mich nach der Lavafront um. Sie war inzwischen bis auf zwei Kilometer herangerückt und näherte sich weiter. Dampf und Rauch wallten über der rund zehn Meter hohen Masse aus glutflüssigem Gestein, Schlackenkrusten und Flammenzungen. »Unterhalb des Beckens müssen wir über den Fluss, sonst schaffen wir es nicht mehr«, sagte Karsihl-HP. Ich hielt ihm das Funksprechgerät hin, das ich aus dem Flugzeug mitgenommen hatte. »Rufen Sie Ihre Leute und sagen Sie ihnen, dass sie uns mitnehmen sollen.« »Niemals!« Er drehte sich einfach um und marschierte weiter. Ich war wütend, konnte aber nichts tun. Blieb Karsihl-HP stur, mussten wir unseren Kampf gegen die aufgewühlten Elemente so lange fortsetzen, bis er psychisch zermürbt war. Ich hoffte nur, dass wir nicht zuerst zusammenbrachen. Unterhalb des großen Beckens flossen die Wassermassen wieder so ruhig dahin, wie das bei Hochwasser möglich war. Die großen Bäume waren im Mahlstrom des Katarakts und im Wirbel des Beckens zerkleinert worden und konnten uns nicht mehr viel schaden. Wir brachten das Boot zu Wasser, stiegen ein – und wurden sofort von der Strömung mitgerissen. Wieder saß Karsihl-HP im Bug. In der Mitte hockte Crysalgira und bedrohte ihn mit der Schockwaffe, ich paddelte um unser aller Leben. Plötzlich schrie Crysalgira auf. Mein Kopf fuhr hoch. Ich hatte die ganze Zeit über so verbissen gepaddelt, dass ich keinen Blick mehr nach vorn geworfen hatte. Im ersten Moment erkannte ich nicht, warum die Prinzessin geschrien hatte. Karsihl-HP saß unverändert im Bug und blickte sich
nicht einmal um. Doch dann sah ich Crysalgiras ausgestreckten Arm und folgte ihm mit den Augen. »Festhalten!«, schrie ich. Knapp zehn Meter vor uns rotierte ein riesiger Strudel. Sein Mittelpunkt lag mindestens einen halben Meter tiefer als die übrige Wasseroberfläche. Das bewies, welchen ungeheuerlichen Sog er ausübte. Ich paddelte wie ein Verrückter, um uns auf einen Ausweichkurs zu bringen. Doch schon bald sah ich ein, dass es ein sinnloses Unterfangen war. Wir befanden uns bereits im Anziehungsbereich des Strudels. Crysalgira saß erstarrt im Boot. Ihr ausgestreckter Arm zeigte noch immer auf den Strudel. Ich zog das Paddel ein, warf mich nach vorn und riss Crysalgira auf den Boden des Schlauchboots. Während ich sie mit dem Gewicht meines Körpers niederhielt, packte ich mit den Händen die Verseilung der Bootsränder. Im nächsten Augenblick wurde das Boot von einer furchtbaren Kraft herumgewirbelt. In meinen Ohren rauschte, dröhnte und gurgelte es. Dann gab es einen harten Ruck, ich hatte das Gefühl, als würden glühende Drahtseile durch meine Hände gezogen. Ich wusste zunächst gar nicht, was geschehen war. Erst als das Wasser über meinem Kopf zusammenschlug und ein schlammiger Schwall mir in den Mund drang, merkte ich, dass mich der Ruck aus dem Boot geschleudert hatte. Ich schlug mit den Armen um mich, brachte den Kopf über Wasser und schnappte nach Luft. Bevor ich sehen konnte, was mit dem Boot und meinen Gefährten geschehen war, klatschte mir eine Welle ins Gesicht. Abermals schluckte ich Wasser. Als ich wieder sehen konnte, trieb ich mit der Strömung ungefähr in der Flussmitte. Weder von dem Boot noch von Crysalgira und Karsihl-HP war etwas zu entdecken. Oder doch? Undeutlich erkannte ich etwas Dunkles, das schräg hinter mir auf das jenseitige Ufer zuschwamm. Aber schwamm es nicht viel zu
schnell? Crysalgira konnte es jedenfalls nicht sein. Karsihl-HP? Konnten Lopsegger so schnell schwimmen wie dieses undefinierbare Dunkle? Dank ihrer flunderförmigen Körper? Schmerz und Zorn wallten in mir auf, als ich mir klar darüber wurde, dass Karsihl-HP uns absichtlich in den Strudel hatte fahren lassen. Er hatte im Bug gesessen und hätte die Gefahr vor Crysalgira entdecken müssen. Dennoch hatte er uns nicht gewarnt. Wahrscheinlich, weil er sicher war, dass nur er sich aus der reißenden Strömung retten konnte. War Crysalgira ertrunken, von dem mächtigen Strudel unbarmherzig in die Tiefe gezogen worden? Der Zorn auf Karsihl-HP steigerte meine Kräfte. Mein Körper verwandelte sich in ein maschinenhaft funktionierendes Bündel aus Knochen, Muskeln und Sehnen, das sich förmlich durch das Wasser schnellte. Karsihl-HP wird mir nicht entkommen! Und ich schaffte das, was ich niemals so schnell geschafft hätte, wäre ich noch bei klarem Verstand gewesen. Als ich das schlammige Ufer erreichte, krallte ich mich förmlich in den Boden, zog mich an Land und richtete mich auf, um den Lopsegger einzuholen, der sicher zu fliehen versuchte, wenn er mich sah. Doch plötzlich stoppte ich so abrupt, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Der Grund dafür war Karsihl-HP, der zwanzig Meter entfernt im Schlamm stand und Crysalgira hielt. Die Prinzessin lebte, aber ihre Schockwaffe befand sich in Karsihls Hand und war auf mich gerichtet. Doch es war nicht die Waffe, die mich zusammenbrechen ließ, sondern die Tatsache, dass das Motiv meines Rachedursts plötzlich nicht mehr existierte. Damit verließen mich auch meine Kräfte. Völlig ausgepumpt sank ich in den Schlamm.
Ich merkte noch, wie Karsihl-HP mir das Funksprechgerät
abnahm, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Außerdem hatte er Crysalgira als Geisel. Die Lage hatte sich ins Gegenteil verkehrt. »Ich sagte Ihnen schon, dass ich mich nicht erpressen lasse«, vernahm ich Karsihls Stimme. »Ich rufe meine Leute und verlasse Sie dann. Aber ich sorge dafür, dass Sie einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln bekommen, damit Sie die schlimmste Zeit überbrücken können.« Ich wollte aufstehen, schaffte es aber nicht. Ich hatte überhaupt kein Gefühl mehr in Armen und Beinen und konnte gerade noch den Kopf so weit drehen, dass Crysalgira und Karsihl-HP in mein Blickfeld gerieten. Der Anführer der Lopsegger hatte die Prinzessin losgelassen und entfernte sich rückwärts von uns. Nach dreißig Schritten blieb er stehen, schaltete das Funksprechgerät ein und sprach hinein. Crysalgira kam zu mir und kniete sich neben mich in den Schlamm. »Er hat mich gerettet«, berichtete sie. »Ich wurde durch einen furchtbaren Ruck aus dem Boot geschleudert und wäre ertrunken, halb betäubt, wie ich war, hätte Karsihl-HP mich nicht gepackt. Ich muss ihm also noch dankbar sein.« Ich versuchte ein grimmiges Lächeln, wusste aber nicht, ob es mir gelang. »Alles Berechnung«, stieß ich mit rauer, krächzender Stimme hervor. »Er brauchte das Funkgerät. Ohne dich als Geisel und ohne deine Waffe hätte er es nicht bekommen. Also musste er dich retten.« »Jedenfalls wäre ich ohne ihn tot.« Das war typisch weibliche Logik. Wusste sie denn nicht, dass er uns, indem er ihr das Leben gerettet hatte, zum sicheren Tode verurteilte? Wie sollten wir inmitten von Schlamm, reißendem Wasser, flammenden Lavaströmen und ständigen Beben auf die Dauer überleben? »Wir müssen ihn aufhalten.« Diesmal klang meine Stimme
schon fast wieder normal. »Hilf mir hoch.« Sie gab sich alle Mühe, aber ich war einfach noch zu schlapp, um aufzustehen. Nach einiger Zeit brachte ich es gerade fertig, auf die Knie zu kommen. Mehr schaffte ich nicht. Karsihl-HP sprach in kurzen Abständen immer wieder in das Funkgerät. Wahrscheinlich dirigierte er einen Bergungstrupp hierher. Ich drehte den Kopf und blickte zu dem Ufer, von dem wir gekommen waren. Die Lavafront hatte den Fluss fast erreicht und staute sich vorübergehend an der Barriere aus großen Felsblöcken, die hinter der Uferterrasse eine weite Fläche bedeckten. Oberhalb des Katarakts mussten die ersten Ausläufer sich bereits in den Fluss ergossen haben, denn dort sah ich Dampfwolken aufsteigen. »Wir dürfen hier nicht bleiben«, sagte ich. »Sobald die Lava in den Fluss stürzt, wird sie sein Bett auffüllen. Dann wird der Fluss zu uns herübergedrängt.« »Wir haben noch etwas Zeit«, erwiderte Crysalgira. »Ruh dich erst einmal aus, Atlan.« Ich sah, dass Karsihl-HP das Funksprechgerät abschaltete und in eine seiner Gürteltaschen schob. Als ich den Kopf hob, entdeckte ich über dem Fluss einen Fluggleiter. Die Erkenntnis, dass wir in wenigen Minuten allein zurückbleiben würden, wenn es mir nicht gelang, den Anführer der Lopsegger umzustimmen, verlieh mir neue Kraft. Ich konnte mich erheben und ging mit Crysalgiras Unterstützung langsam auf Karsihl-HP zu. Erst als er die Schockwaffe wieder auf mich richtete, blieb ich stehen. »Nehmen Sie uns mit. Wenn Sie uns retten, können wir Ihnen gegen die Tejonther helfen. Wir verstehen mehr von Raumschiffen und von Raumkriegführung als Ihre Leute. Es gibt keinen logischen Grund dafür, warum Sie auf unsere Hilfe verzichten sollten.« »Kommen Sie keinen Schritt näher. Sie haben verloren und könnten nicht einmal mehr dann gewinnen, sollten Sie mich
überwältigen. Meine Leute würden Sie töten.« »Wenn Sie uns zurücklassen, verlieren Sie ebenfalls – den Kampf gegen die Tejonther nämlich.« Aber es war sinnlos. Der Fluggleiter landete zwischen uns und Karsihl-HP. Bewaffnete Lopsegger sprangen heraus und legten ihre Strahlgewehre auf uns an. Sie hätten uns zweifellos erschossen, wenn ihr Anführer ihnen nicht zugeschrien hätte, uns am Leben zu lassen. Hilflos mussten wir zusehen, wie Karsihl-HP in den Gleiter stieg. Kurz darauf warf ein Lopsegger etwas heraus, was wie ein Rucksack aussah. Dann stiegen alle Lopsegger ein. Der Gleiter hob mit leisem Summen ab, drehte sich in der Luft und schwebte über den Fluss davon. »Vorbei!«, sagte ich resignierend. »Wir werden auf einem Planeten sterben.« Ein dumpfes Donnern ertönte, dann ein lautes Prasseln und Zischen. Die Lavafront hatte den Fluss auf der gegenüberliegenden Seite erreicht. Glutflüssiges Gestein rann am Steilufer hinab und ergoss sich in die Fluten. Mächtige Dampfwolken stiegen auf und verbargen den grässlichen Anblick vor uns. »Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, Karsihl hätte mich nicht aus dem Fluss gezogen«, sagte Crysalgira. Das brachte mich zur Besinnung. Ich merkte erst jetzt, dass ich auf dem besten Wege gewesen war, mich selbst aufzugeben. »Nein!«, sagte ich schroffer als beabsichtigt. »Wir werden den Kampf gegen die entfesselten Naturgewalten Cerkols aufnehmen.« Ich lächelte. »Schließlich haben wir beide unsere Ziele, nicht wahr?« »Ich werde Chergost nie wieder sehen. Selbst wenn wir überleben – wie sollten wir Cerkol verlassen?« »Vielleicht treffen wir auf eine andere Gruppe Lopsegger und können ihnen das Raumschiff stehlen. Oder ein Patrouillenschiff der Tejonther landet später, und wir können
uns der Besatzung bemerkbar machen.« »Es kann Jahre dauern, bis die Tejonther sich um ihre Planwelt kümmern.« »Dann müssen wir eben Jahre aushalten. Wir schaffen es schon, Prinzessin.« Sie lächelte zaghaft. Als ich merkte, dass es mir gelungen war, ihr wieder etwas Mut zu machen, nahm ich sie am Arm und zog sie zu dem Rucksack, den die Lopsegger zurückgelassen hatten. Ich öffnete ihn und fand darin Konzentrate, Wasserkapseln und eine komplette Angelausrüstung. Als meine suchenden Hände auf etwas Hartes, Metallisches stießen, zog ich es heraus. Ich hielt einen Thermostrahler in der Hand, an dem sogar zwei ErsatzEnergiemagazine befestigt waren. Ein weiteres befand sich im Handgriff. Lächelnd schob ich die Waffe in mein Gürtelhalfter und verstaute die beiden Energiemagazine in den Außentaschen des flexiblen MetAtlanzugs. »Damit können wir uns notfalls gegen Raubtiere wehren.« »Und jagen«, fügte Crysalgira hinzu. »Nur, wenn es uns nicht gelingt, mit der Angelausrüstung genügend Fische zu fangen.« »Drei Energiemagazine reichen nicht ewig.« Sie packte meinen Arm, als Wind aufkam und die über dem Fluss entstehenden Dampfwolken auf uns zutrieb. Beim jenseitigen Ufer zischte und brodelte es wie in einem Hexenkessel. »Ich weiß, wir müssen weiter.« Sie streckte den Arm aus und deutete über die schlammige Ebene, auf der wir standen. Am Horizont entdeckte ich die verschwommenen Umrisse eines Gebirgszuges. Es würde ein weiter Marsch werden, aber es genügte, höher gelegenes Terrain zu erreichen, um vor dem Wasser und der unerbittlich vorrückenden Lavaflut sicher zu sein. Ich hängte mir den Rucksack über die Schultern, dann stapften wir durch den
knöcheltiefen Schlamm. Bald hatten die Dampfwolken uns eingeholt, hüllten uns ein und raubten uns die Sicht. Doch wir kannten die Richtung, in die wir zu gehen hatten.
Gegen Abend drehte der Wind. Die Dampfwolken blieben hinter uns zurück und bildeten eine himmelhohe Wand, die uns den Ausblick auf die Gegend verwehrte, aus der wir gekommen waren. Erleichtert stellten wir fest, dass wir unsere Marschrichtung beibehalten hatten. Im Schein der Abendsonne färbte sich der Gebirgszug vor uns goldrot. Die Gipfel schienen aufzuglühen. Auch weiter unten glühte es, dort allerdings nicht nur scheinbar. Eine Magmasäule stieg rasend schnell empor. Augenblicke später barst der Boden an seinem Fuß. Ein gigantischer Feuerball breitete sich aus, über dem ein Rauchpilz in den Himmel stieg. Kurz darauf erreichte uns ein Rumoren, das in einem Donnerschlag endete, der überhaupt nicht mehr aufhören wollte. Der feste Boden unter unseren Füßen erbebte, vom Gebirge wehte ein heißer Brodem zu uns herüber. Wir blieben stehen. »Das ist das Ende«, stellte Crysalgira lakonisch fest. »Das Ende unserer Marschrichtung, ja. Aber nicht unser Ende. Ich schlage vor, wir gehen die fünfhundert Meter bis zum Beginn des felsigen Bodens geradeaus und schwenken dann im Winkel von fünfundvierzig Grad nach links.« »Einverstanden. Aber ich kann bald nicht mehr.« »Dann rasten wir auf dem Felsen.« Wir marschierten weiter und erreichten den felsigen Boden nach ungefähr einer halben Tonta. So lange brauchte man in dem knöcheltiefen Schlamm, um einen halben Kilometer zurückzulegen. Auf der kümmerlichen Grasnarbe zwischen zwei flachen Felsbuckeln ließen wir uns nieder. Crysalgira streckte sich seufzend aus und schloss die Augen. Ich war
ebenfalls erschöpft. Meine Knie zitterten. Ich nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und holte zwei Konzentratwürfel heraus. »Iss!«, sagte ich und hielt Crysalgira einen der Würfel hin. Doch sie rührte sich nicht – sie schlief. Ich legte den Würfel zurück und schob mir den anderen in den Mund. Danach öffnete ich eine Wasserkapsel und ließ mir das warme, aber klare Nass in den Mund rinnen. Dabei wurde mir klar, dass wir ins Gebirge mussten. Nur dort konnten wir eine Quelle finden. Keinesfalls durften wir das durch Schlamm, verfaulende Pflanzenteile und Tierkadaver verunreinigte und verseuchte Wasser eines Flusses oder Sees trinken. Dadurch ergab sich ein Dilemma, denn wie sollten wir im Gebirge Fische fangen? Vielleicht gab es Gebirgsbäche, in denen Fische lebten, aber auch diese Bäche würden durch die letzten Wolkenbrüche so reißend geworden sein, dass die meisten Fische talwärts gespült worden waren. Doch das war ein Problem, das jetzt noch nicht akut war. Ich fühlte mich gesättigt, war müde und erschöpft und hatte nur noch den einen Wunsch, vierzehn Tage lang rund um die Uhr zu schlafen. Kaum hatte ich mich ausgestreckt, schlief ich auch schon.
Als ich erwachte, war es heller Tag, sofern man bei einem wolkenverhangenen Himmel von einem hellen Tag sprechen konnte. Das dumpfe Donnern und Grollen des neuen Vulkans hielt unverändert an. Ich richtete mich auf. »Entschuldige, dass ich gestern einfach eingeschlafen bin«, sagte Crysalgira zur Begrüßung. Ich blickte nach links und sah, dass sie sich einen Konzentratwürfel aus dem Rucksack genommen hatte und darauf herumkaute. Neben ihr lagen zwei geleerte
Wasserkapseln. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte ich. »Wie fühlst du sich?« »Würde ich die Augen schließen und mir die Ohren zuhalten, fühlte ich mich sicher, satt und zufrieden.« Ich lachte leise. »So gefällst du mir schon besser als gestern.« Ich stand ganz auf und blickte zu dem neuen Vulkan hinüber. Das ausströmende Magma hatte einen Glutberg von zweihundert Metern Höhe und drei Kilometern Durchmesser gebildet – und weiterhin schoss ein dicker Magmastrom aus dem Eruptionskanal. Noch während ich hinsah, riss die uns zugewandte Flanke des Schildvulkans auf. Eine Dampfwolke schoss empor, gefolgt von einer riesigen Fontäne aus Felsbrocken und Asche. »Da ist ein subplanetarischer Fluss verdampft worden«, sagte ich. »Wir brechen am besten auf, bevor es hier zu ausgedehnten Beben kommt und wir wieder in Dampf gehüllt werden.« Ich nahm mir ebenfalls einen Konzentratwürfel, leerte eine Wasserkapsel und warf mir den Rucksack über. Danach marschierten wir im Winkel von fünfundvierzig Grad nach links zu unserem bisherigen Kurs. Hin und wieder warf ich einen argwöhnischen Blick auf den Schildvulkan. Noch immer schoss unter Hochdruck stehender Wasserdampf aus dem Riss in seiner Flanke. Er breitete sich jedoch nicht aus, sondern stieg fast senkrecht nach oben. Plötzlich fesselte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Der Teil des Bergmassivs, der – von uns aus gesehen – direkt hinter dem Vulkan lag, schwankte unvermittelt, dann gerieten Milliarden Tonnen Fels in Bewegung. Es war ein Ausschnitt von mindestens fünfzig Kilometern Breite dieser Bergkette, der in sich zusammensank. Aber auch die Berge rechts und links davon wankten. Felslawinen gingen zu Tal.
»Hinlegen!«, rief ich, während Crysalgira gebannt auf das grauenhafte Schauspiel starrte. Mir war klar, dass die Erschütterungen, die diese Berge zum Einsturz gebracht hatten, auch uns erreichen mussten. Kaum lagen wir, da schnellte der Felsboden förmlich mit uns hoch. Ringsum war nur noch ein ohrenbetäubendes Donnern, Knirschen und Krachen zu hören. Mund, Augen und Ohren füllten sich mit Staub und Rauch, ich wurde immer wieder durchgeschüttelt, hochgeworfen und geprellt. Kleine Steinsplitter prasselten auf mich herab. Einer riss mir die linke Wange auf. Ich kroch blind zu Crysalgira und schob mich schützend über sie. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis die Beben allmählich nachließen. Ganz hörten sie nicht auf, aber wenigstens prasselten keine Steinsplitter mehr herab. Ich spie Staub aus, wischte mir Staub aus den Augen, hustete und nieste, bis ich wieder einigermaßen sehen und atmen konnte. Ringsum trieben dünne Rauchwolken in der Luft. Der Boden, der vor dem Beben glatt gewesen war, wies unzählige Risse und Spalten auf. Eine Spalte – sie mochte drei Meter breit sein – zog sich wenige Schritte entfernt durch den Boden. Aus ihr stiegen gelbliche Schwaden, die einen Geruch nach faulen Eiern verbreiteten. Ich zog Crysalgira hoch. Sie war unverletzt, hatte aber einen leichten Schock erlitten. »Komm!« Ich packte ihre Hand und zog sie mit. In ihrem derzeitigen Zustand würde ich sie nicht bewegen können, über den Spalt zu springen. Wir konnten also unsere alte Marschrichtung nicht beibehalten. Da der Geruch verriet, dass die aus dem Spalt steigenden Gasschwaden unter anderem Schwefelwasserstoff enthielten, führte ich die Prinzessin von dem Spalt fort. Wir kamen bis zu der Schlammebene, die wir am Vortag durchquert hatten. Dort war unser Weg zu Ende, denn unter dem Schlamm hatten sich Hunderte von heißen Quellen geöffnet. Überall kochte, brodelte und zischte es.
Schlammfontänen spritzten hoch. Ich drehte mich um – und erschrak. Aus der Flanke des Schildvulkans kam kein Dampf mehr. Dafür waren noch mehr Spalten entstanden – und aus ihnen wälzten sich lodernde Ströme glühender Lava, die sich in der Ebene vereinigten und unaufhaltsam weiter vorrückten. In weniger als dreieinhalb Tontas musste uns die Lava erreicht haben. Ich packte Crysalgira an den Schultern und schüttelte sie heftig, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Als sie einen Schmerzenslaut von sich gab, hörte ich auf. »Verstehst du mich?« »Ja. Was war mit mir?« Ich atmete auf. »Schockeinwirkung. Das Beben! Traust du dir zu, über einen drei Meter breiten Spalt zu springen?« »Ich werde es schaffen«, antwortete sie tapfer. Ich nahm sie wieder bei der Hand und führte sie zu dem Spalt, aus dem noch immer giftige Gasschwaden stiegen. Der Schwaden wegen bemerkte ich die Veränderung erst, als wir schon dicht bei dem Spalt waren. Er hatte sich erweitert, seine geringste Breite betrug ungefähr acht Meter. Das schaffte keiner von uns. Wir waren tatsächlich am Ende – am Ende unseres Weges und am Ende unseres Lebens. Über den Spalt kamen wir nicht, vom Gebirge her näherte sich eine glühende Lavaflut. Sie näherte sich schnell, da das Gelände in unsere Richtung abfiel. Und durch die kochende Schlammebene kamen wir auch nicht. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, denn an ihrem anderen Ende verdampfte der Fluss unter der anbrandenden Lava. »Wir werden heute noch sterben«, sagte Crysalgira mit leiser Stimme. Ich blickte in ihre Augen und sah, dass sie die Furcht vor dem Tode bereits überwunden hatte. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande. Aber ich wusste, dass die Furcht vor dem Sterben noch kommen würde, dann nämlich, wenn die Flitze
der Lava uns die Haut verbrannte und die Haare aufglühen ließ. »Wahrscheinlich. Aber wir könnten versuchen, durch das kochende Schlammmeer zu entkommen. Vielleicht versiegt die Lavaflut rechtzeitig.« Donnern schwoll an, klang ähnlich wie das ausbrechender Vulkane und doch irgendwie anders, weil es von einem metallischen Dröhnen begleitet wurde. Als ich erkannte, worum es sich handelte, blickte ich nach oben. Sie waren noch nicht sehr hoch, die Raumschiffe der Lopsegger, aber der Kurs ihrer keilförmigen Formation wies nach oben. Demnach hatten sie ihre Mission erfüllt und verließen Cerkol. Ich hob die Fäuste, ließ ich sie resignierend sinken. Zorn würde uns auch nicht helfen. Die Lopsegger ließen uns zurück, weil sie uns nicht vertrauten. Irgendwie konnte ich sie verstehen, obwohl sie in unserem Fall Unrecht hatten. Plötzlich kniff ich die Augen zusammen. Bei dem äußersten Schiff des linken Keilflügels blitzte es grell auf, es scherte aus und verlor an Höhe. »Es stürzt ab«, rief Crysalgira. »Nein. Es will landen!« Mein Puls beschleunigte sich, als ich sah, dass das Raumschiff genau in unsere Richtung flog und dabei stetig an Höhe verlor. Aber vielleicht wollten die Lopsegger gar nicht landen. Vielleicht hatten sie uns mit ihren Ortungsgeräten entdeckt, wollten mit einem Schuss aus dem Buggeschütz dafür sorgen, dass wir nicht doch noch überlebten. Dennoch blieb ich aufrecht stehen. Es war sowieso alles egal. Doch das Schiff landete knapp fünfzig Meter vor uns. Die Schleuse an seiner Seite öffnete sich, die Rampe glitt heraus. Crysalgira und ich standen immer noch unbeweglich, als die Rampe den Boden berührte. Erst als in der Schleuse ein Lopsegger erschien und uns zuwinkte, erwachten wir aus unserer Erstarrung. Wir liefen los, rannten die Rampe hinauf und standen wenig später vor dem Lopsegger, der kein
anderer als Karsihl-HP sein konnte. »Ich habe nachgedacht«, sagte Karsihl-HP. »Und beschlossen, Sie mit zu meiner Heimatwelt zu nehmen. Willkommen an Bord.« »Danke, Karsihl-HP«, sagte Crysalgira. Ich zog meinen Handstrahler mit zwei Fingern, hielt ihn am Lauf fest und reichte ihn Karsihl-HP. »Damit es keine Missverständnisse gibt. Danke.« Wir gingen durch die Schleuse, während die Rampe eingezogen wurde. Wenig später saßen wir im Kommandoraum und beobachteten auf den Bildschirmen, wie das Schiff abhob. Es sollte uns nach Karsihls Heimatwelt bringen. Ich war gespannt, was uns dort erwartete.
15. Atlan: Abermals knapp dem Tod entronnen, abermals gefangen, abermals dem Ziel keinen Schritt näher gekommen! Der Flug verläuft ereignislos, umso eindringlicher und belastender wandern die Gedanken, irren umher, suchen nach Ansatzpunkten. Viele Tontas lassen sich in Gesprächen mit Crysalgira überbrücken, aber irgendwann kommt der Augenblick, da sich die Inhalte im Kreis drehen, sämtliche Aspekte von allen denk- wie undenkbaren Seiten beleuchtet, betrachtet und bis ins Kleinste seziert sind – gefolgt von dumpfem Brüten, bei dem das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit überwiegt. Und nachts kommen die Albträume, die Schreckensbilder und Gestalt gewordenen Dämonen aus den Tiefen der eigenen Seele. Wiederholt sehe ich den Mann auf dem Thron. Er ist groß, breit und massig gewachsen. Dort, wo die rote Kleidung die Haut frei lässt, schimmert sie in einem metallischen Bronzeton. Auf den Knäufen der Lehnen ruhen die Hände – gefährliche Krallen, dicht
mit schimmernden Schuppen besetzt. Haare hat der Mann nicht, auch der Schädel ist dicht mit Schuppen besetzt, die eine Art zylindrischen Hut bilden, der fest mit dem Kopf verwachsen scheint. Erschreckender noch sind die Augen: zwei kinderfaustgroß gewölbte Kristalle. Grelle, zuckende Reflexe der vielen Facetten strahlen mich an, scheinen mich durchbohren zu wollen. Es ist Vrentizianex – er sitzt auf dem Thron und rührt sich nicht. Nur seine Lippen zeigen eine Bewegung. Leise, kaum hörbar, spricht der Vargane mit einer Stimme, die vom Leid durchtränkt wirkt. Es ist ein Singsang der Qual, in einer Sprache, die ich zunächst nicht verstehe … … bis ich den zweiten Thron sehe, aus makellos weißem Stein geschnitten, langsam näher trete und mit der Hand über die Lehne fahre. Der Staub liegt zentimeterdick auf dem Thron. Ich reiße von einem nahe stehenden Baum ein großes Blatt und wische den Thron damit sauber, dann setze ich mich. Der Stein ist warm und scheint unter der Fläche meiner Hand zu pulsieren. Der Schmerz kommt plötzlich, überfallartig. Er tobt in meiner Stirn, frisst sich in die Augenhöhlen. In den Ohren klingen mein Schreien und das höhnische Lachen meiner Peiniger. Sieh, Vrentizianex, spottet eine Stimme. Sieh, du kannst doch so viel sehen, selbst mit geschlossenen Augen. Der Hohn dieser Stimme schmerzt fast mehr als das Feuer, das meinen Schädel zu verbrennen droht. Sie wissen genau, wie sie mich zu quälen haben. Diese Varganen sind perfekte Meister der Folterkunst, Genies, wenn es darum geht, andere leiden zu lassen. Sie lachen mich aus, amüsieren sich bestens, wenn sie mich schreien hören. Und immer wieder fordern sie mich auf zu sehen. Sieh, Vrentizianex, höhnen sie. Sie, die mir gerade die Augen aus dem Leibe gerissen haben. Du bist doch der Kyriliane-Seher. Der Schmerz lässt langsam nach, ich spüre einen Druck in den Augenhöhlen. Die Stimmen werden allmählich schwächer, sind bald nicht mehr vernehmbar. Dafür setzen die Depressionen in immer stärkerem Maße ein. Verzweiflung überschwemmt meinen Verstand, die Einsamkeit frisst sich in meine Gedanken, verstärkt von dem
sicheren Wissen, dass es vor diesen Qualen kein Davonlaufen gibt, dass sie niemals enden werden. Ich beginne haltlos zu schluchzen. Irgendwo in der Ferne spricht eine leise, wispernde Stimme auf mich ein: Aufstehen. Du musst aufstehen. Ich versuche mich zu bewegen, aber die Muskeln folgen den Nervenimpulsen nicht. Es gelingt mir nur, mit den Füßen zu zucken. Langsam kommt die Stimme näher, wird drängender, fordernder. Bewege dich! Du musst dich bewegen, sonst bist du verloren! Meine Gedanken wirbeln chaotisch durcheinander. Mit dem letzten wachen Funken meines Bewusstseins spüre ich, wie der Wahnsinn von mir Besitz ergreift. Ich konzentriere mich, versuche die wirbelnden Gedanken zurückzudrängen. Obwohl der Schmerz mich zu zerreißen scheint, bringe ich es fertig, aufzustehen. Nur ein Schritt, Kristallprinz, ruft mir die Stimme zu. Ein Schritt, und du bist gerettet. Ich stöhne auf, aber es gelingt mir, den rechten Fuß ein Stück anzuheben – und wie ein feiner Schleier zerreißt die Illusion, ich sehe, wie mir das Gras entgegenzustürzen scheint. Ich kann gerade noch die Arme ausstrecken und meinen Fall teilweise abfangen. Hart pralle ich mit dem Kopf auf eine Wurzel – und kann die zum Albtraum herangewachsene Erinnerung abschütteln, schrecke schweißgebadet hoch, keuche und atme tief aus …
Wartzong: 10. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Die kleine Raumflotte der Lopsegger war auf der Nachtseite des Planeten gelandet, so dass wir von der Hauptstadt Wartzonga nur ein gleißendes Lichtermeer gesehen hatten. Prinzessin Crysalgira und ich blieben bis zum Morgen in der Kabine eingesperrt. Wir hatten versucht, auf den fremdartigen Lagerstätten, die vielleicht für die Lopsegger, aber niemals für Arkoniden gedacht waren, zu schlafen. Vergebens. Zu viele
Gedanken beschäftigten uns. Als der Morgen graute, erhoben wir uns und traten an den Bildschirm unserer Kabine, um einen Blick auf die Stadt zu werfen. Zuerst erkannte ich jenseits des Raumhafens, auf dem wir in der Nacht gelandet waren, nur einen gigantischen unförmigen Koloss. Als es aber immer heller und heller wurde, konnte ich die Einzelheiten voneinander unterscheiden. Ich sah, dass Wartzonga ein Monstrum von Stadt war, besonders bedrückend für Arkoniden, die eine Aversion gegen jede Enge hatten. Die Einzelgebäude waren unterschiedlich groß und pyramidenförmig, aber sie standen so dicht zusammen, dass mein erster Eindruck war, sie wären übereinander gebaut. So eng ging es höchstens noch in einem Insektenbau zu. Von Straßen konnte ich überhaupt nichts sehen. Über einigen Stellen der Stadt schwebten Fluggleiter, teils im Begriff zu landen, teils waren sie eben gestartet. Es musste demnach auch in diesem Chaos noch Plattformen oder freie Plätze geben, denn auf den Pyramidenbauten selbst konnten keine Gleiter starten oder landen. Als sich das Schott unserer Kabine zischend öffnete, fuhren Crysalgira und ich herum, auf das Schlimmste gefasst. Doch in der Öffnung stand nur ein einzelner Lopsegger; er hielt keine Waffe in der Hand. »Ich bin Karsihl-HP«, sagte der Lopsegger, sein Translator übersetzte. Ich hatte mir beim Anblick des einzelnen Lopseggers schon gedacht, dass es sich um Karsihl-HP handeln musste. Sicher war ich mir allerdings erst jetzt, denn für einen Arkoniden sah ein Lopsegger wie der andere aus. »Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns nicht auf Cerkol zurückgelassen, sondern mitgenommen haben«, sagte ich, während der Translator des Lopseggers meine Worte in knarrende Laute übersetzte.
Er erwiderte: »Sie sind Gegner der Tejonther – und alle Gegner der Tejonther sind Freunde der Lopsegger. Ich hoffe, dass wir eine Möglichkeit finden, wie Sie uns nützlich sein können.« Das hoffte ich auch, aber noch mehr hoffte ich natürlich, dass ich mir die Lopsegger nützlich machen konnte. Sie verfügten über eigene Raumschiffe – das allein war schon ungeheuer wertvoll. »Ich denke, dass ich eine solche Möglichkeit gefunden habe. Alles, was Ihr Volk bisher gegen die Tejonther unternommen hat, reicht nicht aus, um die Bedrohung abzubauen. Sie haben einige der Planeten, die später einmal von den Tejonthern besiedelt werden sollten, für eine Kolonisierung unbrauchbar gemacht. Aber es wird noch lange dauern, bis diese Anstrengungen Früchte tragen.« »Das ist mir ebenfalls klar. Was könnten wir aber sonst noch tun?« »Wir könnten beispielsweise eine Gefühlsbasis der Leerraumkontrolleure erobern. Das würde die Macht der Tejonther unmittelbar schwächen.« Karsihl-HP erwiderte lange Zeit nichts darauf. Ich dachte schon, er würde meinen Vorschlag rundheraus ablehnen, doch dann sagte er: »Das ist ein sehr kühner Plan, Atlan. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr kann ich mich dafür begeistern. Aber ich kann nicht allein über eine so wichtige Angelegenheit entscheiden. Darüber muss ich mit den führenden Mitgliedern der Stämme sprechen. Ich wollte Sie und Crysalgira sowieso den Stammesführern vorstellen. Am besten brechen wir sofort auf. Bitte, folgen Sie mir.« Ich atmete auf. So schnell einen einflussreichen Befürworter meines Planes zu gewinnen, hatte ich kaum zu hoffen gewagt. Ich warf Crysalgira einen aufmunternden Blick zu, dann wandte ich mich wieder an den Lopsegger. »Wir fühlen uns geehrt, Karsihl-HP.«
Der Lopsegger führte uns in einen kleinen Schleusenhangar, in dem ein ovaler Fluggleiter auf Kufen stand. Schweigend wies Karsihl-HP uns Plätze an und setzte sich vor die Steuerung. Auf einen Funkimpuls hin öffnete sich das äußere Hangarschott. Der Gleiter erhob sich und schwebte langsam hinaus. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück, der viel zu breit für einen Arkoniden war, und spähte hinaus. Bei den übrigen gelandeten Raumschiffen herrschte reger Betrieb. Wartungskommandos eilten geschäftig hin und her, wechselten verbrauchte Teile aus, tankten mit Spezialanlagen hochkatalysiertes Deuterium auf und untersuchten die Außenhüllen sorgfältig mit Detektoren. Dennoch wirkte alles im Vergleich zu einem arkonidischen Raumhafen irgendwie improvisiert. Die Raumfahrttechnik der Lopsegger war längst nicht so ausgefeilt wie die des Großen Imperiums. Bei einem Seitenblick auf Crysalgira sah ich, wie sie sich an den Oberschenkeln kratzte. Erst dadurch wurde mir bewusst, dass ich ebenfalls einen heftigen Juckreiz verspürte. Die Erklärung war ganz einfach. Wir waren seit vielen Tagen nicht mehr aus unseren flexiblen blauen MetAtlanzügen herausgekommen. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit den MetAtlanzug, den ich aus Vruumys’ Beständen sozusagen geerbt hatte, auszuziehen und mir den getrockneten Schweiß vom Körper zu waschen. Ansonsten hatte mir die Metallrüstung gute Dienste geleistet; sie war durch eine zusätzliche Ausrüstung der Lopsegger ergänzt worden. Karsihl-HP steuerte den Gleiter in Richtung Stadtzentrum. Zum ersten Mal sah ich, wie die ineinander verschachtelten Bauwerke von Wartzonga miteinander verbunden waren. Für Straßen im eigentlichen Sinne war kein Platz gewesen. Außerdem wären sie wegen der starken Höhenunterschiede
keine praktische Lösung gewesen. Stattdessen hatten die Lopsegger komplizierte, sich vielfach überschneidende Treppensysteme angelegt. Es war ein chaotisches Gewirr, das sich aufwärts und abwärts schlängelte und alle nur denkbaren Treppenformen beinhaltete. Dabei waren es nicht einmal primitive Rolltreppen, sondern urzeitliche Steintreppen, auf denen man sich nur mit Hilfe der eigenen Muskelkraft bewegen konnte. Doch dem Gewimmel auf den Treppen nach zu schließen, machte das den Lopseggern wenig aus. Aus der Höhe wirkte die Stadt durch dieses Gewimmel noch mehr wie ein Insektenbau. Karsihl-HP legte den Gleiter auf die linke Seite und drückte ihn gleichzeitig tiefer. Wenig später huschte das Fahrzeug zwischen zwei besonders hohen Pyramidenbauten hindurch. Vor uns erkannte ich einen unregelmäßig geformten freien Platz, der mit der ihn umgebenden Silhouette aus unterschiedlich großen und verschachtelten Gebäuden einer Urwaldlichtung ähnelte. Auf dem Platz herrschte reger Betrieb. Ständig landeten Gleiter, schwebten zum Rand des Platzes, luden ihre Passagiere aus, schwebten wieder zur Mitte und starteten. Dadurch erhielten die Bewegungen etwas spiralig Kreiselndes – wie ein ewig rotierendes System. Karsihl-HP setzte den Gleiter auf dem Punkt auf, auf dem auch alle anderen Gleiter vor uns gelandet waren. Anschließend steuerte er ihn in wenigen Zentimetern Höhe auf den Platzrand zu. Dort hielt er jedoch noch nicht an, sondern steuerte ihn noch ungefähr hundertfünfzig Meter in eine schmale Häuserschlucht hinein, bog nach rechts in eine Toreinfahrt ein und hielt in einer kleinen niedrigen Halle, in der schon andere Gleiter parkten. Kaum stand das Fahrzeug, stieg Karsihl-HP aus und ging auf eine Treppe zu, die in die linke Seitenwand der Halle führte. Er hielt es offenbar für selbstverständlich, dass die
Prinzessin und ich ihm folgten, denn er sagte nichts und drehte sich auch nicht nach uns um. Wir beeilten uns, ihm zu folgen, denn verloren wir ihn aus den Augen, würden wir uns unweigerlich in dem urbanen Labyrinth von Wartzonga verlaufen. Stets den Rücken des Lopseggers vor Augen, stiegen wir die niedrigen Stufen einer Wendeltreppe empor, kamen ins Freie und mussten eine Geschosstreppe hinabsteigen, die ungefähr genauso lang war wie die Wendeltreppe, die wir zuvor hinaufgestiegen waren. Anschließend ging es über eine schmale Brücke ohne Geländer, von der aus man mindestens dreihundert Meter tief fallen konnte, wenn man einen Fehltritt tat. Danach kamen noch mehrere kleinere Treppen. Ich fragte mich schon, ob das bis zum Abend so weitergehen sollte, als Karsihl-HP durch ein quadratisches Tor trat, einem langen Korridor folgte und endlich in einer großen, hell erleuchteten Halle stehen blieb, in der schon mindestens zwanzig andere Lopsegger warteten. Es bedurfte der Warnung meines Extrasinns nicht. Ich merkte auch so sofort, dass uns die meisten Lopsegger keine freundlichen Gefühle entgegenbrachten. Inzwischen kannte ich die Psychologie dieser Wesen gut genug, um an ihrer Haltung zu erkennen, dass sie Crysalgira und mir mit Misstrauen und teilweise sogar mit Feindseligkeit begegneten. Karsihl-HP merkte das ebenfalls; seine Haltung drückte Ärger den anderen Lopseggern gegenüber und Verlegenheit uns gegenüber aus, als er sagte: »Atlan und Crysalgira, ich stelle Ihnen die führenden Mitglieder meines Stammes sowie der Stämme QR, RF, JL und TT vor.« Er nannte die Namen und wandte sich an die Lopsegger: »Atlan und Crysalgira wurden von unseren Feinden entführt, konnten ihnen aber entkommen. Ich brachte sie nach Wartzong, weil sie Gegner der Tejonther und damit zwangsläufig unsere Verbündeten sind.«
Einer der wartenden Lopsegger, es war Marsugg-TT, wedelte mit seinen Hörquasten und gab eine Folge knarrender Laute von sich, die vom Translator übersetzt wurden: »Wir alle kennen Sie als ehrenhaften Stammesführer und vertrauen Ihnen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auch den Fremden vertrauen. Wer sagt, dass sie nicht tejonthische Spione sind?« »Ich habe die beiden gut genug kennen gelernt, um sicher zu sein, dass sie keine tejonthischen Spione sind.« »Es sind fremdartige Lebewesen«, rief Quatrux-JL dazwischen. »So fremdartig, dass es für einen Lopsegger unmöglich sein dürfte, ihre Mentalität und ihre Auffassung von Moral und Ethik zu durchschauen. Wir werden niemals genau wissen, ob wir ihnen trauen dürfen oder nicht.« »Richtig«, bekräftigte Marsugg-TT. »Sie werden immer nur eine Belastung für uns darstellen. Die beste Lösung wäre, sie zu töten.« Karsihl-HP hob seine beiden langen Arme. »Sie sind meine Gäste – und damit auch die Gäste des ganzen Stammes HP. Wer sie bedroht, bedroht den Stamm HP.« Das waren harte Worte. Ich befürchtete schon eine heftige Auseinandersetzung, bei der es nicht bei Worten bleiben würde. Zu meinem Erstaunen aber änderten Karsihls Worte die Atmosphäre beinahe schlagartig. Zwar drückte die Haltung der Stammesführer noch immer Argwohn aus, aber die Feindseligkeit verschwand völlig. Marsugg-TT, der soeben noch unsere Hinrichtung gefordert hatte, trat vor. »Der Führer eines Stammes entscheidet, wer seine Gäste sind; seine Gäste unterstehen nur seiner Rechtsprechung und sonst keiner. So war es, so ist es, und so soll es immer sein.« »So war es, so ist es, und so soll es immer sein«, sagten die anderen Lopsegger im Chor. Ich begriff, dass Karsihl-HP dadurch, dass er uns als seine Gäste bezeichnet hatte, die volle Verantwortung für uns
übernommen hatte. Damit hatte er erreicht, dass sich die anderen Stammesführer uns gegenüber neutral verhielten. Doch ich war sicher, dass Karsihl-HP dadurch das Risiko auf sich genommen hatte, zur Verantwortung gezogen zu werden, falls sich herausstellen sollte, dass wir doch gegen die Interessen der Lopsegger arbeiteten. Es war ein Risiko, das ein Arkonide nur seinem besten Freund zuliebe in Kauf nehmen würde. Ich war mir nur noch nicht klar darüber, ob Karsihl es eingegangen war, weil er uns für seine Freunde hielt oder weil er von meinem Plan, eine Gefühlsbasis zu erobern, begeistert war und zugleich wusste, dass er ein solches Unternehmen ohne unsere Unterstützung nicht durchführen konnte. Doch das ist vorerst zweitrangig. Wichtig ist, dass er Crysalgira und mir das Leben gerettet hat. Karsihl-HP sagte: »Der Rat der Stammesführer hat noch einiges zu besprechen, Atlan. Ich werde Sie und Crysalgira zu einer Unterkunft bringen lassen und bitte Sie, sie vorläufig nicht zu verlassen.« Er winkte einem anderen Lopsegger. »Penfar-HP, bringen Sie meine Gäste in den Guhrsilom-Sektor und veranlassen Sie, dass sie würdig untergebracht werden.«
Penfar-HP brachte uns über viele Kilometer Treppen zu einem Gebäude am Südrand der Stadt. Das Gebäude war pyramidenförmig wie alle in Wartzonga, aber es kam mir, im Unterschied zu den meisten Häusern, die ich bisher in der Stadt gesehen hatte, ziemlich neu vor. Als wir eintraten, sah ich, dass mein erster Eindruck nicht getrogen hatte. Dieses Gebäude war neu. Das hellblaue Metall der Türen und das Metallplastik der Wände glänzten fleckenlos; die Treppe, zu der Penfar-HP uns führte, lief auf leise summenden Drehfeldern. Crysalgira und ich ließen uns hinter dem schweigsamen
Penfar siebenundvierzig Etagen nach oben befördern. Dem Lopsegger schien die Karussellfahrt nichts auszumachen, und er schwankte nicht einmal, als er oben von der Treppe hüpfte. Mit hin und her pendelndem Stachelschwanz marschierte er einen langen Flur entlang. Vor einem rosafarbenen Schott blieb er stehen. Seine Finger glitten über die Schaltsensoren eines schmalen silberfarbenen Armbands. Im nächsten Moment öffnete sich das Schott. Penfar-HP streifte das Armband ab und reichte es mir, dann deutete er auf das offene Schott. Da er keinen Translator trug, wäre es sinnlos für ihn gewesen, sich durch Worte mit uns verständigen zu wollen. Ich sah ein geräumiges Zimmer mit dreieckigem Grundriss und zwei niedrigen Fenstern. In einer Ecke lag ein wahrer Berg von Kissen unterschiedlicher Formen und Größen und Farben. In der Mitte des Zimmers stand ein Versorgungsautomat. Eine breite, niedrige Tür führte in einen für hygienische Zwecke gedachten und entsprechend ausgestatteten Raum; die Tür stand offen. Ich überlegte, ob ich dem Lopsegger durch Zeichensprache klar machen konnte, dass wir zwei getrennte Zimmer bevorzugen würden. Aber als ich zu dem Entschluss gekommen war, es immerhin zu versuchen, und mich umdrehte, befand sich Penfar-HP bereits am anderen Ende des Korridors. »Tut mir Leid, dass es für dich kein separates Zimmer gibt, Prinzessin«, sagte ich. »Es muss deprimierend für dich sein, keine Intimsphäre zu haben.« Sie lächelte. »Ich habe viel dazugelernt, seit ich in den Mikrokosmos verschlagen wurde. Unter anderem, dass man sich mit Gegebenheiten abfinden muss. Es hätte ja wirklich schlimmer kommen können, nicht wahr?« »Das hätte es allerdings.« Mit der ihr inzwischen eigenen Selbstverständlichkeit streifte sie den flexiblen MetAtlanzug ab. Ich bemühte mich,
kaltes Blut zu bewahren. Es fiel mir nicht leicht, denn unbekleidet war Crysalgira noch schöner und begehrenswerter. Doch es war selbstverständlich für mich, dass ich die Beziehung zwischen ihr und dem Sonnenträger respektierte. Als ich sicher war, dass ich mich völlig unter Kontrolle hatte, folgte ich Crysalgiras Beispiel. Erst nachdem ich entkleidet war, merkte ich, welch große Wohltat es war. Viel länger hätte ich es in dem eng anliegenden Anzug nicht ausgehalten. Die Bademulde im Nebenraum war groß genug war, um uns beide aufzunehmen. Zwar wollte ich abwarten, bis Crysalgira sich erfrischt hatte, aber sie spürte wohl an sich selbst, wie dringend wir beide ein Bad nötig hatten, und forderte mich auf, nicht länger zu warten. Das heiße Bad erfrischte uns und machte uns zugleich schläfrig. Nachdem wir uns von der Heißluftdusche hatten trocknen lassen, errichteten wir aus den reichlich vorhandenen Kissen zwei bequeme Lager, streckten uns aus und waren kurz darauf eingeschlafen.
Als ich erwachte, wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Crysalgira war es jedenfalls nicht gewesen. Ich überzeugte mich durch einen Blick in ihre Richtung, dass sie noch fest schlief. Schnell wandte ich mich wieder ab. Da ertönte ein dreimaliges quarrendes Hupen. Das musste das Geräusch gewesen sein, das mich geweckt hatte. Allerdings wusste ich nicht, was es bedeuten sollte – bis mein Blick auf das Schott fiel. Dort, wo die beiden Schotthälften zusammenstießen, schimmerte ein hellgelber Lichtstreifen. Ich sah, dass das Licht nicht von draußen hereinfiel, sondern dass es offenbar Signalstreifen waren, die aktiviert worden waren. Wahrscheinlich forderte jemand Einlass. Ich kroch aus dem Kissenberg heraus, streifte mir die Hose
über und ging zur Tür. Schnell deckte ich so viele Kissen über die Prinzessin, bis nur noch ihr Gesicht herausschaute. Davon erwachte sie. Unwillkürlich griffen ihre Hände nach einer imaginären Decke. »Keine Sorge. Bleib so, Crysalgira. Jemand möchte uns besuchen.« Sie errötete leicht, was ihr wirklich gut stand, aber ihre Augen verrieten mir, dass sie verstanden hatte. Abermals hupte es dreimal. Ich ging zum Schott und betätigte das Kodeimpuls-Armband. Das Schott öffnete sich augenblicklich. Zwei Lopsegger standen draußen. Ich vermutete, dass einer von ihnen Karsihl-HP war. »Karsihl-HP?« »Ich bin Karsihl-HP«, antwortete einer der beiden Lopsegger. Der Translator übersetzte seine Worte. »Mein Begleiter ist Penfar-HP. Dürfen wir eintreten, Atlan?« Ich trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie herein. Sie sind uns jederzeit willkommen. Entschuldigen Sie bitte, dass Crysalgira nicht aufsteht. Sie ist noch nicht angekleidet – und bei uns ist es unschicklich, seine Gäste unbekleidet zu empfangen.« »Ein Tabu?«, erkundigte sich Karsihl-HP interessiert. »Richtig, ein Tabu.« Die beiden Lopsegger traten näher. Das Schott schloss sich hinter ihnen. Penfar-HP ging wie selbstverständlich zum Versorgungsautomaten und tastete vier Portionen eines mir unbekannten Fleischgerichts mit Gemüsebeilagen. »Wir wollen zusammen essen«, sagte Karsihl-HP. »Penfar-HP und ich werden Crysalgira nicht sehen, bevor sie bei uns ist.« Die beiden Lopsegger stellten sich vor die quadratische Platte des Versorgungsautomaten, knickten in den Knien ein, bis ihre Stachelschwänze den Boden berührten und ihnen als Stütze dienten, und nahmen das Besteck auf. Da sie mit dem Beginn der Mahlzeit nicht auf uns gewartet hatten, nahm ich an, dass so etwas bei Lopseggern verpönt war. Deshalb wartete ich auch nicht. Das Besteck bestand aus einem
zangenartigen Instrument, das sich verstellen ließ. Nach den ersten Schwierigkeiten gewöhnte ich mich aber schnell daran, es zweckentsprechend zu benutzen. Das Fleischgericht schmeckte etwas tranig, aber ich wusste, dass ich bei fremden Lebewesen auf einer fremden Welt keine arkonidische Feinschmeckerkost erwarten durfte. Außerdem war ich seit langem daran gewöhnt, bei der Nahrungsaufnahme meinen Geschmacks- und Geruchssinn weitgehend zu unterdrücken. Wichtig war nur, dass eine Nahrung ausreichende Mengen an Kalorien, Vitaminen und Spurenelementen enthielt, so dass der Organismus nicht durch Mangelkrankheiten geschädigt werden konnte. Nachdem ich einige Bissen gegessen hatte, schmeckte es mir sogar halbwegs. Bald erschien Crysalgira, die sich angekleidet hatte. Auch sie nahm die fremde Nahrung ohne erkennbaren Widerwillen auf. Bevor sie in den Mikrokosmos verschlagen worden war, mochte sie bessere Kost gewohnt gewesen sein. Doch inzwischen hatte sie gelernt, sich umzustellen. Auch mit dem ungewohnten Besteck kam sie nach einigen missglückten Versuchen gut zurecht. Die beiden Lopsegger waren zuerst fertig mit ihrer Mahlzeit. Sie warteten, bis auch Crysalgira und ich fertig waren, dann klopfte Karsihl-HP mit den Fingern auf die Platte des Versorgungsautomaten. »Ich habe den Plan, eine Gefühlsbasis zu erobern, den Führern der anderen Stämme vorgetragen«, berichtete er. »Die Resonanz war unterschiedlich. Der Stamm QR ist klar dafür, während der Führer des Stammes RF noch unschlüssig war. Die Führer der Stämme JL und TT sind strikt dagegen. Sie behaupten, es sei zu gefährlich, eine Gefühlsbasis anzugreifen, noch dazu, da sich derzeit die Flotte der Tejonther zum Kreuzzug nach Yarden sammelt. Welche Argumente für das Unternehmen kann ich noch vorbringen, um alle Stämme
dafür zu gewinnen?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Karsihl-HP hatte einen wunden Punkt berührt. Ich konnte gegenüber den Lopseggern schlecht mein eigenes Motiv als Argument gebrauchen, nämlich das Bestreben, in einer Geßhlsbasis der Leerraumkonstrukteure Hinweise auf einen Weg in die Eisige Sphäre zu finden. Ich wollte die Lopsegger auch nicht in Schwierigkeiten bringen, aus denen sie sich nicht selbst wieder heraushelfen konnten. Deshalb überlegte ich, ob es für die Lopsegger tatsächlich nützlich sein würde, eine Gefühlsbasis zu erobern. Für kurze Zeit wurde ich selbst schwankend, bis ich ein Argument fand, das meines Wissens der Wahrheit weitgehend entsprach. »Karsihl-HP«, sagte ich eindringlich, obwohl der Translator keine gefühlsmäßigen Betonungen übersetzen konnte. »Es gibt ein sehr schwerwiegendes Argument für die Eroberung einer Gefühlsbasis. Die Tejonther unternehmen alle dreihundert Arkonjahre mit jeweils zehntausend Raumschiffen den Kreuzzug nach Yarden. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dienen die Gefühlsbasen dabei als eine Art von Leuchtfeuer. Wenn es uns gelingt, eine Gefühlsbasis oder gar mehrere zu erobern und auszuschalten, werden die Raumflotten der Tejonther die Orientierung verlieren. Vielleicht können sie dann den Kreuzzug nicht durchführen; vielleicht müssen sie auch nur eine Verzögerung in Kauf zu nehmen. Aber sicher dürfte sein, dass die Aktivitäten der Tejonther gebremst werden. In jedem Fall aber werden sie Ihnen, den Lopseggern, weniger Schaden zufügen können. Das allein lohnt schon den Einsatz. Dazu kommt, dass wir unser Wissen über die Gefühlsbasen und ihre Funktionen erweitern können, was Ihnen letzten Endes weitere Vorteile gegenüber den Tejonthern verschafft.« Karsihl-HP erhob sich abrupt. »Das sind ausgezeichnete
Argumente. Wenn ich sie den Führern der Stämme vortrage, werden mir sicher alle zustimmen. Ich denke, dass wir bald zur nächsten Gefühlsbasis aufbrechen können, Atlan und Crysalgira.« Penfar-HP erhob sich ebenfalls. Beide Lopsegger marschierten zum Schott. Damit schien der Besuch bei uns beendet zu sein. Ich öffnete das Schott wieder mit Hilfe des Armbands, die Lopsegger marschierten hinaus – und Crysalgira und ich waren wieder allein. »Mir kam es vor, als hättest du bei Karsihl so etwas wie Begeisterung ausgelöst.« Ich seufzte. »Hoffentlich gelingt es ihm, seine Begeisterung auf die anderen Stammesführer zu übertragen. Mir selbst kamen meine Argumente etwas weit hergeholt vor. Es wundert mich, dass Karsihl alles einfach hinnahm, ohne Fragen zu stellen.« »Das wird an der Mentalität dieser Leute liegen. Ich bin davon überzeugt, dass Karsihl sich durchsetzen wird.« »Ich denke schon.« Doch sicher war ich längst nicht. Mir wurde klar, dass wir für die Lopsegger ziemlich nutzlos waren, wurde Karsihls Vorschlag nicht angenommen. Und was die Lopsegger mit nutzlosen Gästen anfingen, darüber hatten wir keine Informationen. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass wir unbegrenzt geduldet werden würden.
Den ganzen Nachmittag über beobachteten Crysalgira und ich durch die Fenster den Betrieb in der Stadt. Wir stellten fest, dass nach einigen Tontas relativer Ruhe der Flugverkehr schlagartig zunahm. Zur gleichen Zeit setzte auf den Treppen ein Gewimmel von Lopseggern ein, wie wir es bisher noch nicht gesehen hatten. Wenig später überflogen zahlreiche kleine Flugmaschinen die Stadt, keine normalen Fluggleiter,
sondern offenbar Stratosphärenflugzeuge, die dem Fernverkehr dienten. Ich machte mir meine Gedanken über die allgemeine Betriebsamkeit. Wahrscheinlich war es zu heftigen Kontroversen zwischen den einzelnen Stämmen gekommen; ich brauchte nicht lange zu überlegen, was wohl der Anlass dafür gewesen sein mochte. Offenbar hatte sich Karsihl-HP mit seinen neuen Argumenten doch nicht durchsetzen können. In den Fernflugzeugen saßen möglicherweise Abgesandte anderer Stämme, die zu Beratungen nach Wartzonga gekommen waren. Ich konnte nur hoffen, dass die Streitigkeiten der Lopsegger nicht in eine bewaffnete Auseinandersetzung ausarteten. Gegen Abend aber normalisierte sich das Leben in Wartzonga wieder. Die Fußgängerströme versiegten, die meisten Gleiter und Flugzeuge verschwanden vom Himmel. Aufatmend ging ich zum Versorgungsautomaten und versuchte mich damit, genießbare Mahlzeiten für die Prinzessin und mich zu tasten. Obwohl ich die Symbole der Tasten nicht kannte, servierte der Automat nach einem gründlichen Fehlanschlag zwei Schüsseln mit einer würzigen Suppe, zwei Fladen eines körnigen scharfen Gebäcks und zwei große Becher mit einer Flüssigkeit, die nach kaltem Kräutertee schmeckte. Crysalgira und ich aßen, dann sprachen wir noch einmal über unsere Lage und die Aussichten, wieder ins Standarduniversum zurückzukehren. Anschließend legten wir uns schlafen. Als ich diesmal wach wurde, wusste ich sofort, was mich geweckt hatte, denn ich hörte noch den letzten Hupton. Zuerst ärgerte ich mich über die Störung, doch dann sagte ich mir, dass Karsihl-HP einen wichtigen Grund haben würde, wenn er mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss. Noch ein wenig schlaftrunken stieg ich in die Hose, ging zum Schott
und öffnete es mit Hilfe des Armbands. Im Zimmer hatte matte Helligkeit geherrscht, hervorgerufen von den Lichtern von Wartzonga, die durch die beiden Fenster schienen. Draußen im Korridor aber war es völlig finster. Da stimmt etwas nicht, warnte mein Extrasinn. Bevor ich reagieren konnte, wurde ich in eine bittersüß riechende Wolke gehüllt. Meine Glieder wurden von einem Augenblick zum anderen so schwer wie Blei, mein Gehirn schien in meinem Kopf gleich einer Trainingszentrifuge zu rotieren. Ich sah noch aufflammende Helligkeit und hörte knarrende Laute, dann verlor ich das Bewusstsein und fiel in einen tiefen schwarzen Abgrund, durch eine Röhre, die mitten durch den Planeten der Lopsegger führte … … und nach Passieren des Mittelpunkts stieg ich wieder nach oben, verließ den schwarzen Abgrund und fand mich in blendender Helligkeit wieder. Habe ich nur schlecht geträumt? Ich bewegte den Kopf – und merkte, dass ich nicht geträumt hatte, denn ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Schädel, so stark, dass ich unwillkürlich aufstöhnte. Das musste die Nachwirkung des Betäubungsmittels sein, das mich als bittersüß riechende Wolke eingehüllt hatte. Ich wartete mit geschlossenen Augen, bis der Schmerz nachließ, dann öffnete ich die Augen erneut, diesmal aber, ohne den Kopf zu bewegen. Was ich sah, ließ mich abermals glauben, ich hätte nur schlecht geträumt, denn ich befand mich auf einem Kissenberg in einem Zimmer, durch dessen Fenster helles Tageslicht fiel. Deutlich erkannte ich auf einem benachbarten Kissenberg die Prinzessin. Crysalgira schlief noch fest. Hier gibt es nur ein Fenster, flüsterte der Logiksektor. Schon bemerkt, dachte ich ärgerlich zurück, denn der Impuls war äußerst schmerzhaft gewesen. Behutsam richtete ich mich auf, wobei ich meinen schmerzenden Schädel so vorsichtig auf
dem Hals balanciert wie eine Eingeborene von Harseitha einen vollen Wasserkrug auf dem Schädel. Abgesehen davon, dass dieses Zimmer nur ein Fenster besaß, gab es noch andere Beweise dafür, dass Crysalgira und ich uns nicht mehr in der Unterkunft befanden, in die Penfar-HP uns gebracht hatte. So war der Grundriss dieses Raumes quadratisch, die Wände waren nicht strahlend sauber und neu, sondern fleckig und stumpf, und der Versorgungsautomat in der Mitte des Zimmers hatte eine runde Platte. Jemand hat uns betäubt und verschleppt. Ich überlegte, ob ich zu leichtfertig gewesen war, als ich das Schott geöffnet hatte. Nein, das war ich sicher nicht gewesen. Wie hätte ich wissen sollen, dass draußen nicht Karsihl-HP oder Penfar-HP warteten, sondern …Ja, wer eigentlich? Wer kann daran interessiert sein, uns zu verschleppen? Ein lautes Stöhnen ließ mich herumfahren. Im nächsten Augenblick fuhr mir erneut der grässliche Schmerz durch den Schädel. Ich hatte das Gefühl, als sei die Schädeldecke geplatzt. »Oh!«, stieß Crysalgira hervor. Ich ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen, atmete langsam ein und sagte zur eigenen Beruhigung: »Irgendwann wird der Schmerz aufhören.« Abermals stöhnte die Prinzessin und flüsterte: »Woher kommt nur dieser grauenhafte Kopfschmerz?« Sie hatte demnach überhaupt nichts von dem Überfall bemerkt und war wohl im Schlaf ein Opfer des Betäubungsgases geworden. Vorsichtig blickte ich zu ihr; sie hockte zwischen den Kissen und hob die Hände an die Brust, als sie mich sah. »Man hat uns mit Gas betäubt und verschleppt«, sagte ich. »Wir befinden uns in einem anderen Haus, vielleicht sogar in einer anderen Stadt.« »Aber warum?« Sie verzog das schmerzverzerrte Gesicht. »Und wer?«
»Ich versuche gerade, darüber nachzudenken. Mit meinem Gehirn scheint aber noch nicht alles in Ordnung zu sein.« Plötzlich hörte ich ein schwaches Tappen vor der Tür. »Ruhe bewahren«, mahnte ich und drehte mich langsam herum, so dass ich das Schott ins Blickfeld bekam. Die Schotthälften glitten mit zischendem Geräusch auseinander. Ich erblickte drei Lopsegger. Zwei von ihnen waren mit Strahlgewehren bewaffnet, die sie sofort auf mich richteten. Der dritte, unbewaffnete Lopsegger trug einen Translator. Er trat ein, blieb aber so weit entfernt stehen, dass seine Begleiter mich weiterhin mit ihren Waffen bedrohen konnten. »Was soll der Unsinn?«, fragte ich ungehalten. »Wir sind Gäste von KarsihlHP.« »Wir bedauern die Maßnahme, zu der wir uns gezwungen sahen«, sagte der Unbewaffnete. »Doch wir versichern Ihnen, dass wir Sie nicht töten werden, wenn Sie uns nicht durch eine unbedachte Handlung dazu zwingen.« »Wie großzügig. Wer sind Sie – und wo sind wir hier?« »Sie sind nicht mehr in Wartzonga, das muss genügen. Wir werden Sie so lange hier festhalten, bis die Idee, eine Gefühlsbasis erobern zu wollen, wieder aufgegeben wird. Wir halten ein solches Unternehmen für zu riskant. Da Sie KarsihlHP diese Idee eingegeben haben, vertrauen wir darauf, dass Karsihl-HP zu seinem klaren Denken zurückfindet, wenn er einige Zeit Ihrem Einfluss entzogen ist.« Ich trat auf den Lopsegger zu. »Wenn die Aktion gegen eine Gefühlsbasis schnell und kompromisslos durchgeführt wird, gibt es kein Risiko für die Stämme, das nicht zu verantworten wäre.« Der Lopsegger trat zurück. »Bleiben Sie stehen. Meine Leute schießen, wenn sie annehmen müssen, dass Sie mich angreifen wollen.« Ich sah ein, dass es keinen Sinn hatte, zuviel zu wagen. »Ich
verstehe Ihre Bedenken. Die Eroberung einer Gefühlsbasis kann nur vorteilhaft für die Stämme der Lopsegger sein, weil sie die Macht der Tejonther schwächen wird.« »Vielleicht haben Sie Recht. Aber wenn Ihr Plan nicht ganz aufgeht und wenn die Tejonther erfahren sollten, dass wir eine Gefühlsbasis angegriffen haben, werden sie sich an uns rächen. Wie gesagt, Ihnen wird nichts geschehen. Versuchen Sie aber nicht zu fliehen. Sie kämen nicht weit.« Er kehrte auf den Korridor zurück, und das Schott schloss sich wieder. »Glaubst du, dass man uns nach Wartzonga zurückbringen wird?«, fragte Crysalgira leise. »Müssten unsere Entführer dann nicht damit rechnen, dass wir sie verraten?« »Nein, das müssten sie nicht. Wir können ja nicht einmal einen Lopsegger vom anderen unterscheiden, haben also auch keine Ahnung, wer uns entführt hat und zu welchem Stamm diese Leute gehören.« »Das beruhigt mich ungemein.« Ihre Skepsis war unüberhörbar. Die Frage ist, ob die Entführer wissen, dass für euch ein Lopsegger wie der andere aussieht, teilte mir der Logiksektor mit. Diese Frage machte auch mir zu schaffen.
Nachdem ich das Schott und das Fenster überprüft und festgestellt hatte, dass beide sich ohne Werkzeuge oder Waffen nicht öffnen ließen, beschlossen Crysalgira und ich, uns ganz normal zu benehmen, als sei nichts Besonderes geschehen. Wir wuschen uns, zogen uns an und ließen uns danach am Versorgungsautomaten nieder. Ich versuchte mich auch hier wieder mit der Tastatur; es gelang mir tatsächlich wiederum, etwas Essbares und Trinkbares auf die Platte zu zaubern. Sogar ein Krug war dabei, den ich als einen lopseggischen
Weinkrug erkannte. Doch als ich etwas von dem Inhalt in die Trinkbecher gießen wollte, kam kein Wein heraus. Stattdessen klapperte es darin. Ich kippte den Krug und griff hinein. Als ich die Hand wieder herauszog, hielt ich einen Handlaser zwischen den Fingern, wie er von den Lopseggern als Werkzeug benutzt wurde. Das Gerät war nicht leistungsstark genug, um bei einer Schießerei wirkungsvoll eingesetzt zu werden. Man hätte den Laserstrahl mehrere Sekunden lang auf einen Lopsegger oder Arkoniden richten und im Ziel halten müssen. Doch es reichte völlig aus, um das Impulsschloss eines Schotts herauszuschneiden oder eine Panzerglasscheibe zu zerstören. »Offenbar haben wir in dieser Stadt, wie sie auch heißen mag, einen Gönner.« »Unser Besucher sagte, wir würden nicht weit kommen, sollten wir ausbrechen«, erwiderte die Prinzessin. »Das ist mir völlig klar. Jeder Lopsegger, der uns sähe, würde uns augenblicklich als Fremde erkennen. Außerdem steht auf dem Korridor sicher eine Wache. Doch das weiß unser Helfer bestimmt ebenfalls, also müsste er sich einen Plan ausgedacht haben.« Ich griff noch einmal in den Weinkrug. Diesmal holte ich eine zusammengefaltete Schreibfolie heraus, faltete sie auf der Platte auseinander und glättete sie. »Eine Zeichnung?« »Hm.« Zuerst wurde ich nicht klug daraus, bis ich mit Hilfe des Extrasinns begriff, dass sie nicht nur eine räumliche Skizze darstellte, sondern auch einen zeitlichen Ablauf widerspiegelte. »Wir sollen am Ende der ersten Nachthälfte durch das Fenster aussteigen, auf einem schmalen Sims entlang bis zu einer korkenzieherartig geformten Treppe gehen, die Treppe hinabsteigen und auf der nächsten nach rechts führenden Brücke warten.« »Aber auf was oder auf wen sollen wir dort warten?«
»Das geht aus der Zeichnung nicht hervor. Aber ich nehme an, dass wir uns dort mit einem Helfer treffen werden, der uns weiterbringt.« Ich trat zum Fenster und suchte nach dem Sims. Es gab ihn tatsächlich, doch er führte in schwindelnder Höhe um das pyramidenförmige Gebäude, in dem wir gefangen gehalten wurden. Wo er endete, konnte ich von meinem Standort aus nicht sehen. »Das wird gefährlich«, flüsterte Crysalgira hinter mir. Ich drehte mich um und strich ihr sanft über ihr hochgestecktes silbriges Haar. »Wir schaffen es.« Sie blickte mich aus ihren roten mandelförmigen Augen vertrauensvoll an. Für einen Moment empfand ich ihre vollen feuchten Lippen als Einladung, aber ich schüttelte diesen Gedanken ab. Beinahe schroff wandte ich mich um, griff nach dem Handlaser und versteckte ihn zwischen den Kissen – für den Fall, dass wir noch einmal Besuch bekamen. Die Zeichnung schob ich in eine Tasche meines flexiblen blauen MetAtlanzugs, den unsere Entführer mir und auch der Prinzessin gelassen hatten. Am liebsten wäre es mir gewesen, wir hätten sofort aufbrechen können. Aber ich wusste, dass Geduld ein Faktor war, der nur zu oft über Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens entschied. Wir werden warten müssen.
Wir legten den Zeitpunkt so fest, dass wir eher etwas zu früh aufbrachen als zu spät. Als es so weit war, stellte ich den Handlaser auf stärkste Strahlbündelung und brannte eine Fensterhälfte heraus. Es war eine mühselige Arbeit, da das dicke Panzerglas dem Strahl starken Widerstand entgegensetzte. Doch schließlich konnten wir die Scheibe mit Hilfe von drei Löchern, die ich vorher in die Mitte gebrannt hatte, damit Crysalgira die Scheibe festhalten konnte, lösen
und hereinziehen. Wir legten sie auf den Boden, dann schob ich den Handlaser hinter den Gürtel und stieg durch die Öffnung. Der Sims lag ungefähr einen Meter unterhalb des Fensters, so dass es nicht besonders schwierig war, mit den Füßen Halt darauf zu finden. Ich rückte ein Stück zur Seite, hielt mich mit einer Hand am Fensterrahmen fest und ergriff mit der anderen Crysalgiras Handgelenk, um ihr beim Ausstieg zu helfen. Sie zitterte. Der Ausblick auf die von vielen Lichtern erhellte Tiefe machte sie offenbar nervös und unsicher. »Sieh nicht hinab«, flüsterte ich. »Dreh dich mit dem Rücken zur Wand und halt deinen Schwerpunkt immer so dicht an der Wand wie möglich. Du kannst die Augen schließen und dich von mir führen lassen.« Sie gehorchte. Ich stand ebenfalls mit dem Rücken zur Wand. Der Sims war höchstens zwanzig Zentimeter breit. Mir reichte das völlig aus, um mich seitwärts vorzutasten. Aber die Prinzessin hatte nicht genug Übung darin, ihren Körperschwerpunkt bei einer solchen Kletterei immer über dem Sims zu halten. Manchmal verlagerte sie ihn zu weit nach vorn; mehrmals musste ich sie durch einen sanften Druck auf den Unterarm vorsichtig wieder zurückdrängen, damit sie nicht stürzte. Doch nach und nach gewöhnte sie sich daran. Ihr Zittern ließ nach. Wir kamen etwas schneller voran. Dennoch atmete ich erleichtert auf, als wir endlich die korkenzieherartig geformte Treppe erreichten. Wir legten eine Pause ein und sahen uns um. Es war ruhig in der fremden Stadt, die hellen Flecken ungezählter Fenster und Beleuchtungskörper glommen in der Finsternis. Ab und zu erblickten wir die Positionslichter eines Fluggleiters, der zur Landung anschwebte oder nach dem Start steil hochzog. Fußgänger waren nirgends zu sehen. Plötzlich ertönte ein hohles Brausen, dann traf uns ein kalter
Windstoß. Augenblicke später prasselten Regenschauer auf uns herab. Ich war froh, dass wir den Sims schon verlassen hatten. Der Regen machte ihn sicher schlüpfrig; ein einziger Ausrutscher hätte genügt, uns beide in die Tiefe stürzen zu lassen. Der Regen dauerte kaum eine Zentitonta, nur der Wind blieb. Er pfiff und heulte durch die Häuserschluchten und rüttelte an der Metallsäule, um den die Wendeltreppe lief und die ihr einziger Halt war. Wir hielten uns an dem schienenartigen Geländer fest, das um die Säule lief. An der Außenseite der Treppe gab es kein Geländer; bei dem starken Wind konnte man fortgeblasen werden. Es dauerte ungefähr zwei Dezitontas, bis wir die erste nach rechts führende Brücke erreichten, eine frei zwischen zwei Treppensäulen aufgehängte Gitterkonstruktion, die so zerbrechlich wirkte, als könne ein besonders heftiger Windstoß sie zerreißen. »Ich würde lieber auf der Treppe bleiben«, sagte Crysalgira nach einem Blick auf die schwankende Brücke. »Wir sollen auf der Brücke warten. Aber ich sehe ebenfalls nicht ein, warum wir es so genau nehmen sollen. Bleiben wir also hier.« Wir hielten uns an der Geländerschiene und gegenseitig fest und ließen den inzwischen zum Sturm gewordenen Wind geduldig über uns ergehen. Leider konnten wir nicht lange bleiben. Plötzlich zuckte an der Spitze des Gebäudes, aus dem wir entflohen waren, in kurzen Intervallen ein grellgelbes Licht auf. Gleichzeitig röhrten laute Huptöne los und übertönten den Sturm. »Was bedeutet das?«, fragte die Prinzessin. »Alarm! Unsere Flucht muss entdeckt worden sein. Hoffentlich kommt unser Helfer bald.« Vorerst aber kamen lediglich bewaffnete Lopsegger. Sie hasteten aus vielen Türöffnungen der benachbarten Bauten, eilten über Treppen und leuchteten mit Handscheinwerfern in dunkle Winkel. Als
einige der Lopsegger am oberen Ende unserer Treppe erschienen, zog ich Crysalgira hoch und sagte: »Wir müssen über die Brücke.« Sie schüttelte den Kopf und deutete auf das obere Ende der Treppe, die durch die Brücke mit unserer Treppe verbunden war. Als ich in die angegebene Richtung schaute, sah ich auch dort die Lichter von Handscheinwerfern und in ihrem Schein die Umrisse von Verfolgern. Dieser Weg war uns also versperrt. Ich presste die Lippen zusammen und musterte die Brücke. Ihre Gitterkonstruktion bot einem geübten Kletterer die Möglichkeit, sich dort zu verbergen. Aber Crysalgira? Doch es gab keine andere Möglichkeit, den Verfolgern zu entgehen. »Wir müssen in das Gitterwerk unter der Brückendecke kriechen. Oder wir lassen uns wieder einfangen.« Ihre Augen weiteten sich, als sie das Gitterwerk musterte, doch dann sagte sie entschlossen: »Wir verstecken uns dort.« Es blieb keine Zeit mehr zu verlieren, denn die Verfolger waren auf beiden Treppen schon einige Windungen herabgestiegen. Ich ließ die Geländerschiene los, hielt mich mit den Händen an der Seite der Brückendecke fest und kroch, mit dem Unterkörper voran, in das Gitterwerk. Als ich völlig hinübergewechselt war, drehte ich mich um und half der Prinzessin. Meine Füße hatten ausreichend Halt gefunden. Wäre der Sturm nicht gewesen, hätte ich mich freihändig bewegen können. So aber musste ich mich ständig mit einer Hand festhalten, um nicht von der heftig schlingernden Konstruktion geschleudert zu werden. Glücklicherweise gab es keine scharfen Kanten, an denen wir uns verletzen konnten. Crysalgira bewies großen Mut. Dennoch glitt sie ein paarmal aus und wäre ohne meine Hilfe wahrscheinlich abgestürzt. Als wir beiderseits der Brücke die Schritte der Verfolger hörten, pressten wir uns an das Gitterwerk und verhielten uns still.
Kurz darauf polterten Schritte über die Brücke. Mehrere Lopsegger sprachen miteinander. Wir konnten nichts verstehen, da wir keinen eigenen Translator hatten. Doch die Verfolger mussten zu dem Schluss gekommen sein, dass wir uns hier nicht befanden. Sie entfernten sich wieder nach beiden Seiten. Ich wartete, bis ich ihre Schritte nicht mehr hörte, dann sagte ich: »Halt dich fest und beweg dich nicht. Ich sehe nach, ob wir wieder nach oben können.« »Gut.« Allein bereitete es mir keine Mühe, durch das Gitterwerk zu klettern. Bald darauf befand ich mich wieder auf der Treppe, über die wir gekommen waren. Die Lichtfinger der Handscheinwerfer unserer Verfolger geisterten bereits ganz unten herum. Plötzlich sagte die mechanische Stimme eines Translators: »Ich nehme an, Sie sind Atlan.« Ich fuhr herum und erblickte auf der anderen Seite der Brücke eine schattenhafte Lopseggergestalt. Ich konnte nur hoffen, dass es unser angekündigter Helfer war. »Ja, der bin ich.« »Dann kommen Sie.« »Einen Augenblick«, erwiderte ich, verwundert darüber, dass der Lopsegger sich gar nicht nach Crysalgira erkundigte. Schließlich musste sein Auftrag doch lauten, zwei Personen abzuholen. »Erst muss ich Crysalgira aus ihrem Versteck helfen!« »Beeilen Sie sich. Ich dachte, sie sei abgestürzt, weil ich sie nicht sah.« »Das hätte Ihnen wohl nichts ausgemacht«, murmelte ich erbittert, während ich wieder in die Gitterkonstruktion kroch. Doch ich sah ein, dass meine Erbitterung unangebracht war. Ich konnte nicht verlangen, dass jemand für zwei völlig fremde Wesen, von denen er nur die Namen kannte, Mitgefühl empfand. Nachdem ich die Prinzessin herausgeholt hatte,
führte uns unser Helfer die gegenüberliegende Wendeltreppe hinab auf einen Sims, der zu einem Drittel um den nächsten Pyramidenbau reichte. Wieder musste ich Crysalgiras Hand nehmen und die Prinzessin führen. Der Lopsegger gab ungeduldige Knarrlaute von sich. Er kam mühelos voran, da er sich mit seinen langen Arme zusätzlich mit den Händen an der Kante des Simses abstützen konnte, ohne sich vorzuneigen. Diesmal war es sogar noch gefährlicher als zuvor, denn der Sims war noch feucht. Glücklicherweise wehte uns der Wind genau in die Gesichter und drückte uns dadurch gegen die Wand des Gebäudes. Endlich erreichten wir eine ovale Öffnung, die in das Gebäude führte. Der Gang, den wir betraten, musste ein Geheimgang sein, denn er lag innerhalb der Außenwand des Gebäudes. Nach ungefähr zwei Dezitontas blieb unser Helfer stehen, betätigte ein Schaltarmband – und vor ihm glitt ein Stück der inneren Wandung zur Seite. Der Lopsegger ging durch die Öffnung, wir folgten ihm. Hinter uns schloss sich die Wand wieder. Erstaunt blieben Crysalgira und ich stehen und blickten uns um. Wir befanden uns in einem großen, für lopseggische Begriffe luxuriös ausgestatteten Raum mit kostbaren Wandteppichen, Muldensesseln, einer Art Schaltarbeitstisch und einer Batterie von verschiedenartigen Kommunikationsgeräten. Unser Helfer verschwand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers durch eine Tür, ohne ein Wort zu verlieren. Die Prinzessin und ich standen allein – und noch immer Hand in Hand – einem überdurchschnittlich großen Lopsegger gegenüber, der in ein robenartiges Gewand gekleidet war. »Willkommen in der Botschaft des Stammes HP«, begrüßte er uns. Ein kleiner Translator, den er an seinen linken Unterarm geschnallt hatte, übersetzte seine Worte. »Ich bin Germyr-HP, Diplomat des Stammes HP. Ein
Gewährsmann berichtete mir davon, dass Sie in einem Haus der Stadt Kalayshtan gefangen gehalten wurden. Da Sie den Status von Gästen unseres Stammes haben, war ich verpflichtet, Sie zu befreien.« »Dafür danken wir Ihnen«, sagte ich. »Darf ich erfahren, welchem Stamm Kalayshtan gehört?« »Sie gehört dem Stamm TT. Marsugg-TT will mit allen Mitteln verhindern, dass Sie Karsihl-HP weiterhin dahingehend beeinflussen, eine Gefühlsbasis zu erobern. Deshalb hat er Sie entführen lassen.« »Wie kommen wir nach Wartzonga zurück?« »Wir werden sehen. Bitte, machen Sie es sich erst einmal bequem. Ich werde mich unterdessen draußen umhören, welche Maßnahmen Marsugg-TT angeordnet hat, um Sie wieder zu ergreifen.« Er verließ uns, Crysalgira und ich blieben allein zurück. Genau genommen hatte sich an unserer Lage nicht viel geändert. Solange wir nicht nach Wartzonga zurückkehren konnten, arbeitete die Zeit weiterhin für Marsugg-TT.
Es dauerte fast zwei Tontas, bis Germyr-HP zurückkehrte. Die Prinzessin und ich hatten es uns auf den fremdartigen Muldensesseln mit den Aussparungen für die Stachelschwänze der Lopsegger so gemütlich gemacht, wie das möglich war. Doch so richtig zu entspannen vermochten wir uns nicht. Als der Diplomat zurückkehrte, merkte ich sofort an seinen fahrigen Bewegungen, dass er keine guten Nachrichten mitbrachte. Seine Worte bestätigten meine Vermutung. »Marsugg-TT hat erfahren, dass Sie mit meiner Hilfe entkommen sind.« »Wie konnte er das?«, wollte Crysalgira wissen. »Seine Leute haben Ihren Helfer abgefangen und verhört.«
»Es war unvorsichtig, den Mann aus der Botschaft gehen zu lassen«, sagte ich. »Er hätte hier bleiben müssen, bis wir uns endgültig in Sicherheit befanden.« »In der Botschaft des Stammes HP sind Sie in Sicherheit. Wir befinden uns auf exterritorialem Gebiet. Marsugg-TT hat mir persönlich versichert, dass er sowohl meine diplomatische Immunität als auch die Exterritorialität der Botschaft achten werde.« Ich lachte ironisch. »Die Tatsache, dass Marsugg-TT eine solche Versicherung abgab, zu der er nicht verpflichtet war, ist für mich ein Beweis dafür, dass er nach Mitteln und Wegen sucht, uns hier gewaltsam herauszuholen. Verständlicherweise möchte er, dass wir bis dahin in der Botschaft bleiben.« »Er wird es nicht wagen. Niemals wird er es wagen, Sie unter meinen Augen aus der Botschaft zu schleppen. Meine Aussage vor dem Gericht aller Stämme würde dazu führen, dass er ausgestoßen würde.« »Das wird er sicher nicht riskieren«, sagte Crysalgira. »Bestimmt nicht«, stimmte ich zu. »Deshalb muss MarsuggTT dafür sorgen, dass Germyr-HP nicht aussagen kann. Falls ihm keine Drogen zur Verfügung stehen, mit denen sich Germyrs Gedächtnis löschen lässt, bringt er den Diplomaten vielleicht um.« »Das würde es für ihn nur noch schlimmer machen«, entgegnete Germyr-HP. Ich lächelte. »Nicht, wenn es dafür keine Zeugen gibt. Jeder Mord lässt sich als Unfall arrangieren, wenn man selbst das Gesetz verkörpert.« Das stimmte den Diplomaten nachdenklich. Er sagte eine ganze Weile überhaupt nichts. Als ich schon dachte, er hätte vor Schreck die Sprache verloren, sagte er abrupt: »Wir müssen sofort von hier verschwinden.« Er musterte uns
genau, dann fügte er hinzu: »Aber zuerst erhalten Sie von mir Waffen und andere Ausrüstungsteile. So kämen Sie niemals bis nach Wartzonga.« »Warum nicht?«, erkundigte sich Crysalgira. »Weil wir meinen Gleiter nicht benutzen können. Kein Fahrzeug darf aus Kalayshtan starten, bevor es gründlich durchsucht wurde. Die Bodenforts würden uns abschießen, versuchten wir es dennoch. Nein, uns bleibt nur der Weg durch die Wüste Thar, die zwischen Kalayshtan und Wartzonga liegt. Kommen Sie!« Er führte uns in einen kleinen Raum, in dem ein ganzes Waffenarsenal lagerte. Ich suchte für die Prinzessin und mich je einen Handstrahler und ein Strahlgewehr sowie ein Messer aus, dazu einen Vorrat an Energiemagazinen. Leider gab es keine Flugaggregate. In dieser Hinsicht schienen die Lopsegger nur unzureichend ausgestattet zu sein. Germyr-HP schien von meiner Argumentation sehr beeindruckt zu sein, denn er drängte fortwährend zu einem schnellen Aufbruch. Ich hängte mir noch drei Behälter mit Wurfbomben an den Gürtel, dann folgten wir wieder dem Diplomaten, der uns zurück in den Geheimgang brachte. Auch er hatte sich mit Waffen ausgestattet. Der Diplomat führte uns zu einer schmalen Treppe, die sich ebenfalls noch in der doppelten Mauer befand. Danach mussten wir neunhundertachtundachtzig Stufen hinabsteigen. Ich zählte sie, obwohl es dafür eigentlich keinen logischen Grund gab. Die Treppe endete in einem langen Stollen, von dessen Mauerdecke Wasser tropfte. Hier gab es keine Beleuchtung, so dass Germyr-HP seinen Handscheinwerfer einschaltete. »Der Stollen führt unter der Stadt hindurch zu einer Handelsstation an der Trans-Thar«, sagte er. »Dort werden wir einen Ghyran bekommen, ein gepanzertes und bewaffnetes Wüstenfahrzeug.«
»Von wem werden wir das Fahrzeug bekommen?«, erkundigte ich mich. »Von dem Händler, dem die Station gehört.« »Ist er vom Stamme HP?«, fragte Crysalgira. »Nein, vom Stamme JL, der ebenfalls gegen die Eroberung einer Gefühlsbasis ist. Aber wir machen seit langer Zeit Geschäfte. Er muss mir helfen, weil er sonst in Wartzonga Schwierigkeiten bekommen würde.« Ich sagte vorläufig nichts dazu. Aber ich dachte mir, dass dieser Händler wahrscheinlich Schmuggelware beförderte. Gemeinsame verbotene Geschäfte banden anscheinend auch auf Wartzong stärker als Blutsbande. Wir setzten unseren Weg fort. Es war ein langer und mühseliger Marsch. Oft war der Stollen durch herabgestürztes Mauerwerk blockiert, das so nahe an die Decke reichte, dass wir uns mühsam durch den Spalt zwängen mussten. An anderen Stellen hatte sich der Boden gesenkt, und in den Mulden hatte sich Wasser angesammelt, das uns bis zu den Knien reichte. Nach rund einer Tonta erreichten wir schließlich eine weitere Treppe. Germyr-HP führte uns hinauf. Ich zählte auch hier die Stufen und kam auf siebenhundertdrei. Die Treppe endete vor einem stählernen Tor, das aussah, als wäre es seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden. Germyr-HP zog einen Impulskodegeber hervor und schaltete ihn ein. Über dem Tor bewegte sich etwas. Als ich hinschaute, konnte ich nur einen glänzenden Fleck auf dem Mauerwerk sehen. Er bewegte sich nicht mehr, doch ich war sicher, dass es sich um ein getarntes Fernsehauge handelte. Kurz darauf versank das Tor völlig geräuschlos im Boden. Es wurde demnach doch öfter benutzt, als es den Anschein hatte. Vor uns lag eine Kammer, die von einer Deckenleuchtplatte erhellt wurde. Germyr-HP trat ein, wir folgten ihm. Hinter uns stieg das Tor wieder empor. Dann öffnete sich vor uns eine ausgezeichnet
getarnte Tür. Vier Lopsegger standen hinter der Öffnung. Die Mündungen ihrer Handstrahler waren auf uns gerichtet. »Was soll dieser feindselige Empfang, Vuudohr-JL?«, fragte der Diplomat. »Du hast die Fremden bei dir, die von Marsugg-TT gesucht werden«, erwiderte der zweite Lopsegger von links. »Ich habe wenig Lust, Schwierigkeiten mit dem Stamm TT zu bekommen.« »Marsugg-TT kann dich nicht beschuldigen, den Fremden geholfen zu haben. Damit würde er zugeben, dass es seine Beauftragten waren, die sie entführten. Aber wenn du uns nicht hilfst, wirst du Schwierigkeiten mit dem Stamm HP bekommen. Du weißt, dass ich mit Karsihl-HP verwandt bin.« Der Händler überlegte kurz, dann befahl er seinen Leuten, die Waffen wegzustecken. »Ich komme so oder so in Schwierigkeiten. Aber wir sind Geschäftspartner. Deshalb werde ich dir helfen. Was brauchst du?« »Wir brauchen einen guten Ghyran. Voll ausgerüstet selbstverständlich.« »Dann kommt mit!«, befahl Vuudohr-JL barsch.
Wieder mussten wir eine Treppe hinaufsteigen. Aber diesmal waren es nur sechsundvierzig Stufen. Der Händler führte uns in eine Tiefgarage, in der fünfzig Fahrzeuge standen. Die meisten waren Gleiskettenfahrzeuge, aber es waren auch Fahrzeuge mit Allradantrieb und großen Luftreifen dabei. Vor einem der Fahrzeuge mit zwei meterbreiten Gleisketten blieb Vuudohr-JL stehen. Es war fast doppelt so groß wie ein Fluggleiter. Am Bug befand sich ein nach außen gewölbtes Fenster aus Panzerglas. Aus dem drehbaren Turm ragte der spiralige Lauf eines Strahlgeschützes, auf einer Plattform am
Heck war ein Raketenwerfer montiert, der für die Abwehr von Flugobjekten bestimmt war. »Mit diesem Ghyran werdet ihr keine Schwierigkeiten haben, die Wüste Thar zu durchqueren«, versicherte der Händler. »Er ist frisch überholt und hat Nahrung und Wasser für dreißig Tage und fünf Mann Besatzung an Bord. Eigentlich sollte er als Geleitschutz die nächste Karawane eskortieren.« »Ich wette, er ist gestohlen«, murmelte ich. Der Händler fuhr zu mir herum. »Du wagst es, Fremdling«, schrie er so laut, dass der Translator sich bei der Übersetzung zweimal verschluckte, »mich einen Dieb zu nennen?« Ich grinste ihn offen an. »Ein Schmuggler sollte nicht so empfindlich sein. Außerdem war meine Bemerkung nicht als Beleidigung gemeint, sondern nur das Ergebnis logischer Überlegung. Wenn dieser Ghyran nicht Ihr Eigentum ist, kann Marsugg-TT, falls es seinen Leuten gelingt, uns wieder einzufangen, Ihnen nicht nachweisen, dass Sie uns geholfen haben. Ich an Ihrer Stelle hätte genauso gehandelt.« »So war deine Bemerkung also gemeint, Fremdling«, sagte der Händler besänftigt. »Du hast Recht. Der Wagen ist gestohlen worden, aber nicht von mir oder meinen Leuten. Parias boten ihn mir zum Kauf an.« Er wandte sich wieder an den Diplomaten. »Ihr solltet euch übrigens vor den Parias in Acht nehmen. Sie sind in letzter Zeit sehr aktiv. Ich bezweifle zwar, dass ein einzelner Ghyran sie zu einem Überfall reizt, aber vorsehen würde ich mich an deiner Stelle jedenfalls.« »Ich danke dir, Vuudohr-JL. Wenn du wieder nach Wartzonga kommst, kannst du den Ghyran auf dem Heimweg mitnehmen.« »Ich danke Ihnen auch, Vuudohr-JL«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher, ob es gut für uns Lopsegger ist, dass ich euch helfe. Du hast Karsihl-HP den Plan eingeredet, eine
Gefühlsbasis zu erobern. Das beschwört große Gefahren für unser Volk herauf.« »Nicht, wenn Karsihl-HP so vorgeht, wie ich es ihm vorschlagen werde. Sie dürfen mir glauben, dass ich einige Erfahrungen in der Raumkriegführung und speziell in Kommandounternehmen habe.« »Von welchem Volk stammt ihr?« »Vom Volk der Arkoniden«, antwortete ich, denn mit Ausnahme der Tropoyther, die identisch mit den Vargancn waren, konnte kein Volk des Mikrokosmos je etwas von Arkon gehört haben. »Deine Heimatwelt muss sehr weit von Wartzong entfernt sein. Jedenfalls ist die Kunde von deinem Volk noch nicht bis hierher gedrungen.« Er winkte mit den Armen. »Ich wünsche euch jedenfalls allezeit Wasser von glücklichen Quellen.« Damit waren wir offenbar endgültig verabschiedet, denn Germyr-HP öffnete wortlos das seitliche Einstiegsluk des Wüstenfahrzeugs, kletterte durch die Öffnung und bedeutete Crysalgira und mir, ihm zu folgen. Das Innere des Ghyrans erwies sich als ziemlich geräumig. Zwar war die Steuerkanzel, von der aus auch die Waffensysteme betätigt werden konnten, nicht sehr groß, aber es gab neben einem Frachtraum voller Wassertanks und Verpflegungspakete einen großen Schlafraum mit gut gepolsterten Schlafmulden. Germyr-HP gönnte uns jedoch nur wenig Zeit zur Inspektion des Fahrzeugs, führte uns in die Steuerkanzel, setzte sich in den Muldensessel vor der Tastensteuerung und sagte: »Wir müssen sofort aufbrechen. Vuudohr-JL rechnet damit, dass alle Handelsstationen bald Besuch von Soldaten des MarsuggTT erhalten. Bitte, machen Sie sich mit den Schaltungen für die Waffensysteme vertraut. Falls wir von Parias angegriffen werden sollten, müssen Sie dafür sorgen, dass kein Angreifer näher als zwanzig Meter herankommt. Das Gleiche gilt für die
Sphavn. Das sind große Sandwürmer, deren Säuredrüsen ihren Inhalt fünfzehn bis zwanzig Meter weit schleudern können.« »Ein friedliches Land«, rief Crysalgira ironisch. »Sie irren sich. Die Wüste Thar ist alles andere als ein friedliches Land.« »Es war ironisch gemeint«, sagte ich. »Wir Arkoniden sagen manchmal das Gegenteil von dem, was wir denken, um eine Tatsache besonders hervorzuheben.« Germyr-HP erwiderte nichts darauf, sondern schaltete das Antriebssystem ein. Wie ich an den Kontrollen sah, wurden die Gleisketten von vier Elektromotoren angetrieben, die ihre Energie aus einem Fusionsreaktor bezogen. Der Ghyran rollte an Vuudohr-JL und seinen Männern vorbei auf das nach außen führende Tor der Tiefgarage zu. Das Tor öffnete sich ferngesteuert. Wir fuhren eine Rampe hinauf, rollten über ein Schotterfeld und bogen auf eine breite Betonpiste ab – eine sechsspurige Straße, die durch eine Felswüste führte. Sicher wäre es taktisch klüger gewesen, nicht auf der Straße zu fahren. Aber ein Rundblick über die vom Tageslicht erhellte Landschaft zeigte mir, warum Germyr-HP die Straße gewählt hatte. Die Felswüste war von breiten Spalten durchzogen und mit teilweise gleitergroßen Felsbrocken übersät. Nicht einmal ein so geländegängiges Fahrzeug wie der Ghyran wäre hier weit gekommen. Nach dem Rundblick widmeten Crysalgira und ich uns dem Studium der Feuerschaltungen und -kontrollen. Wir durchschauten das System schon nach kurzer Zeit. Die Bedienung war einfach. Mich störte allerdings, dass es kein Gerät gab, mit dem ein Energieschirm zum Schutz des Ghyrans aufgebaut werden konnte. Das bedeutete, dass wir auf jeden Fremden schießen mussten, der sich dem Fahrzeug auf eine Distanz zu nähern drohte, aus der er uns mit Wurfgranaten bombardieren konnte. Ich blickte wieder nach
draußen und sah, dass der Ghyran mit hoher Geschwindigkeit über die Piste nach Osten rollte. Genau vor uns ragte am Horizont ein kegelförmiger Berg auf. Nordöstlich davon befand sich ein zweiter Berg. Unsere Straße führte nach meiner Schätzung, wenn sie einen Bogen nach Norden beschrieb und dann wieder nach Osten einschwenkte, genau zwischen den beiden dicht zusammenstehenden Bergen hindurch. Ich beschloss, besonders wachsam zu sein, sobald wir uns diesem Engpass näherten. Gab es in der Wüste räuberische Parias, wussten sie auch, dass sich der Engpass besonders gut für einen Hinterhalt eignete. Wie sagte mein Lehrmeister Fartuloon gern? Zum Teufel mit der Langzeitplanung! Unsere Aufgabe ist, erst einmal zu überleben! Alles andere kommt später!
16. Atlan: Das gleichförmige Rasseln der Gleisketten hat trotz vereinzeltem Rumpeln und der Fahrzeugbewegungen eine merkwürdig einschläfernde Wirkung. Nach einer Weile beginnt das halb wache Dösen; Gedanken wandern und entziehen sich, Schatten, Bewegungen und bizarre Formen erwachen mit Bildern der Erinnerung zum Leben – und plötzlich funkeln die Kristalle in Vrentizianex’ Augenhöhlen. Ich ahne, dass er eine Unbesonnenheit plant. Blitzartig schnellt er sich hoch, stemmt sich ab und springt Grek 1 an. Der Maahk taumelt zwar unter der Wucht des Anpralls, aber er schleudert den Seher von sich – und als Vrentizianex in den Schnee fällt, zieht Grek 1 seinen Impulsstrahler und drückt ab. Der unsterbliche Kyriliane-Seher ist augenblicklich tot. Doch mit seinen Augenkristallen geschieht etwas Grauenhaftes – sie lösen sich selbstständig vom Schädel, zerspringen förmlich. Die Bruchstücke fallen weit verstreut in den Schnee, leuchten grell auf und
verwandeln sich in sprühende Funkenfontänen, die erst nach einer Weile erlöschen … … während ich an die vermeintliche Spätwirkung des varganischen Achtyl-Hachat denke, das ich benutzt habe. Ich beginne zu träumen. Ich schlafe nicht wirklich, sondern dieses Gift – oder was immer es auslöst – betäubt meine direkte Wahrnehmung. Ich schwebe wie eine Flaumfeder zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen der tödlichen Realität und der Fluchtwelt der Visionen. Vor meinem inneren Auge wird es dunkel. Es gibt nur noch eine unfassbar tiefe, kosmische Schwärze. Wie ein abgefeuertes Projektil schießt mein Verstand geradeaus in dieses Medium hinein und scheint sich zwischen den winzigen, stechend scharfen Lichtpunkten zu verirren. Die Vision beginnt immer mit diesem ersten Eindruck. Ich habe mich scheinbar von meinem Körper gelöst und bewege mich als Phantom auf meine Phantasiewelt zu. Gleich wird sie erscheinen. Gleich werden mich die Geheimnisse des Mondes gefangen nehmen und mich von meinen Ängsten befreien. Aus der großen Dunkelheit schält sich eine halbmondartige Form aus Lichtreflexen hervor. Und Gedanken dazwischen: Erinnerungen an Vassantor – visualisiert von Informationsbruchstücken, die ich aufgenommen habe, als ich auf Vrentizianex’ Thron saß? Oder das, was seine Kristallaugen einmal gesehen haben? Oder noch mehr? Nur Vision – oder reiste mein Bewusstsein tatsächlich? Dass solches möglich ist beweisen die Vecorat ebenso wie die Varganen … Vor mir liegt wieder die Ebene. Zwanzig Kilometer groß, mit verschwimmenden Grenzen, von goldgelb leuchtenden Bergzügen eingerahmt. Felsen ragen wie gichtig verkrümmte Finger aus dem Boden. Ich gehe weiter und befinde mich nach einer nicht messbaren Zeitspanne am oberen Rand eines schrägen, mit silbernem Staub bedeckten Hanges. Der große, hellgrau und golden gemusterte Platz der runden Ebene liegt klar unter dem Licht der Sterne. Hinter dem Gebirge ist die ferne Sonne versteckt. Die säulenartigen Felsen vor mir haben eine braune Schattenfärbung. Langsam gehe ich den Hang
hinunter und an den Spuren vorbei, die ein Schiff hinterlassen hat. Tief, bis auf den Fels und das Geröll hinunter, haben sich die Landestützen eingegraben. Vor Äonen muss hier eine Stadt gewesen sein. Während ich dem fernen Gebirge entgegenschreite und den wirbelnden Staub hinter mir lasse, schiebt sich immer mehr und deutlicher erkennbar im Sternenlicht die »Burg« zwischen den Felssäulen hervor. Ich habe diesem Gebäuderest diese Bezeichnung gegeben. Die Würfel und Zylinder deuten darauf hin, dass es ein riesiges Bauwerk gewesen sein muss, das sich über die Stadt mit ihren weiten Straßen und fast unkenntlichen Hausfronten und die Ebene erhoben hat. Vorübergehend verdrängt, eine zweite Vision die erste. Es ist ein Sprung in der Zeit. Ich sehe plötzlich die Stadt und die Ebene in den Jahren, da die Bewohner lebten und mächtig waren. Der Mond war damals noch eine riesige bewohnte Welt in der Bahn um einen Planeten gewesen, dessen riesige Sichel am Himmel stand. In diese Welt dringe ich nun ein. Weiße Gebäude entstehen plötzlich vor meinen Augen auf der großen Fläche aus Bäumen und flacher Vegetation, die bis zu den Hängen der Gebirge hinaufreicht. Eine runde Stadt, die dicht vor mir mit kleineren Gebäuden neben breiten Prunkstraßen beginnt, die in die Richtung des Zentrums immer mehr in die Höhe wächst und schließlich ihren absoluten Mittelpunkt mit einem runden Hügel und der Burg darauf hat. Die Burg ist wirklich ein faszinierender Bau: groß, strahlend weiß, mit metallenen Verzierungen und leuchtenden silbernen Dächern und Kuppeln. Fragen reihen sich aneinander: War sie einst die Zentrale der Stadt? Wurden von ihr aus sämtliche Einrichtungen gesteuert, die ich aus meinen anderen Visionen kannte? Jene Gänge und Hallen, voll von lautlosen grauen Maschinenquadern und reichen Schatzkammern? Dann folgen Gedanken und andere Erinnerungen: Oris, Ibin, Valas und Huril entsprechen bei den Varganen den archaischen Urelementen Feuer, Wasser, Erde und Luft,
während Vragon für eine höher geordnete, fünfdimensionale Kraft oder Energie und Kyrthon im Sinne von Eis oder Kristall für die den Dingen zugrunde liegende Ordnung oder Regelmäßigkeit steht. In diesem Konzept liegt auch die Vorliebe der Varganen für die sechseckigen Oktaeder begründet. Und über allem und in allem wirkt natürlich Kyriliane – das Ganze. Ich gehe bis zu einer Stelle zwischen Rundbögen, durchbrochenen Mauern und Pfeilern, von der aus ich das Zentrum des rechteckigen Hofs genau sehen kann. Dort ist ein Miniaturgarten angelegt. Rasen und geharkte Sandflächen, Ziersteine und ein winziges Rinnsal, etwa ein halbes Dutzend Bäume und schmale Pfade aus weißem Kies – alle diese Teile verbinden sich zu einem kleinen Park von betäubender Schönheit. Auf Säulen hocken die Statuen von Fabelwesen, eins ist eine Mischung aus Raubkatzenkopf und Saurier. Noch während meine Augen geblendet über diese Schönheit gleiten, höre ich Schritte vor mir. Plötzlich erfüllt beruhigende Musik den Hof und hallt zwischen den Kreuzgewölben wider. Hinter den Büschen sehe ich die Bewegungen einer schlanken Gestalt in einem weißen Kleid. Ich weiß, dass es Ischtar ist, doch ehe ich nach ihr greifen kann, zerstäubt das Bild, erlischt der Traum, verweht die Vision – und nur das Rasseln der Gleisketten bleibt real …
Wartzong: 12. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Als wir eine halbe Tonta gefahren und noch keinem anderen Fahrzeug begegnet waren, wandte ich mich an Germyr-HP und fragte nach dem Grund dafür. »Die Straße ist nur auf etwa einem Zehntel der Gesamtstrecke passierbar«, antwortete er. »Es handelt sich um einen alten Handelsweg, der gebaut wurde, als Kalayshtan und Wartzonga noch kleine Oasen waren. Damals herrschte hier reger Betrieb. Doch dann kam der Flugverkehr. Die Straße
wurde nicht mehr benutzt und verfiel, vor allem durch den extremen Unterschied zwischen Tagesund Nachttemperaturen. In dieser Zeit wurde es auch üblich, Gesetzesbrecher aus den Oasen und Städten in die Wüsten des Planeten zu verbannen. Diese Ausgestoßenen lebten meist nicht lange. Vor allem die Thar-Wüste mit ihren lebensfeindlichen Bedingungen forderte viele Opfer unter den Parias. Das änderte sich, als die Wirtschaft mit der Verstärkung des Raumflugverkehrs starken Auftrieb erhielt. Die großen Städte, wie beispielsweise Wartzonga und Kalayshtan, wurden errichtet. Die Kapazitäten an Gleiter- und Flugzeugfrachtraum reichten nicht mehr aus, die Transportbedürfnisse zu befriedigen. Folglich musste der Überlandverkehr mit bodengebundenen Fahrzeugen intensiviert werden. Das geschah auch auf der Strecke zwischen Wartzonga und Kalayshtan. Doch dabei stellte sich heraus, dass viel mehr Parias überlebt hatten als angenommen. Sie hatten sich angepasst und vermehrt. Immer wieder wurden Transporte überfallen und ausgeraubt. Dabei erbeuteten die Parias auch hochmoderne Waffen, Kleinstreaktoren und Energiemagazine. Wir bekamen es zu spüren, als der erste bewaffnete Konvoi losgeschickt wurde und sein Ziel nie erreichte. Zur Suche ausgeschickte Gleiter entdeckten die ausgebrannten Begleitfahrzeuge, die Leichen von Soldaten und Zivilisten sowie mehrere ausgeraubte und beschädigte Lastfahrzeuge nördlich des PjukSalzsees. Von diesem Tag an ließ der Verkehr auf der TransThar schlagartig nach. Nur wenige Händler schickten von Zeit zu Zeit Karawanen mit bewaffnetem Gleitschutz los. Manche zahlten Tribut an die Parias. Das ist zwar verboten, wird aber getan. Von den anderen Karawanen kam ungefähr die Hälfte durch – mit mehr oder weniger starken Verlusten an Lopseggern und Material.«
»Warum werden die Parias nicht mit Hilfe von Kampfflugzeugen gezwungen, sich in Sammellager zu begeben, in denen sie für ein Leben in der Zivilisation umerzogen werden könnten?«, erkundigte ich mich. »Bisher wollte kein Stamm solche Aktionen finanzieren. Sie wären auch nur zu bestenfalls dreißig Prozent erfolgreich, denn die meisten Parias leben in Höhlenlabyrinthen des Sheitar-Gebirges, die sich aus der Luft nicht bekämpfen lassen. Es gibt eine andere Möglichkeit, die mehr Erfolg verspricht. Wenn die Trans-Thar voll ausgebaut und durch Forts gesichert wird, können die Transporte wirkungsvoll geschützt werden. Dieses Vorhaben kann aber nicht von einer der beiden Städte allein durchgeführt werden. Aus diesem Grund wurde ich von Karsihl-HP nach Kalayshtan geschickt, um mit den TT über die Verteilung der Lasten zu verhandeln. Die Teilstrecke, auf der wir fahren, wurde schon vor einigen Jahren gebaut. Dann kam es zu Streitigkeiten über die Finanzierung. Die Arbeiten wurden eingestellt. Ich hoffe, dass sie trotz des Zwischenfalls mit Ihnen bald wieder aufgenommen werden können.« Ich ärgerte mich über die Formulierung des Diplomaten, die praktisch Crysalgira und mich zu den Schuldigen am Abbruch der laufenden Verhandlungen abstempelte. Dennoch ging ich nicht darauf ein, sondern brachte einen Gedanken ins Spiel, der mir soeben gekommen war. »Ich sehe eine noch bessere Möglichkeit. Crysalgira und ich waren Zeugen, wie lopseggische Kommandos einen potenziellen Kolonialplaneten der Tejonther umformten. Da Ihr Volk dazu fähig ist, ganze Planeten nach Belieben bewohnbar oder unbewohnbar zu machen, muss es erst recht in der Lage sein, eine Wüste in fruchtbares Land zu verwandeln. In einer umgewandelten Thar aber brauchten die heutigen Parias keine Karawanen mehr zu überfallen. Sie könnten vom Ertrag des Bodens besser und sicherer leben.«
Germyr-HP drehte seinen Körper hin und her, so dass mich die Augentrios an seinen beiden Kammseiten abwechselnd ansehen konnten. Nach einer Weile hielt er inne und sagte: »Die Beeinflussung der Natur auf unseren eigenen Planeten ist für uns Lopsegger tabu. Das gilt, seit in ferner Vergangenheit ein lopseggischer Planet zerstört wurde.« »Dann muss man damals sehr radikal vorgegangen sein. Durch die Umwandlung einer Wüste in fruchtbares Land würde das Gefüge des Planeten nicht erschüttert.« »Ich weiß es. Andere Lopsegger wissen das auch. Aber in den Massen ist das alte Tabu so tief verwurzelt, dass schon die Äußerung der Absicht, Wartzong oder auch nur einen Teil von Wartzong umzuwandeln, den größten Teil der Bevölkerung in Panik stürzen würde. Ich rate Ihnen, mit keinem anderen Lopsegger jemals über diese Möglichkeit zu sprechen.« »Ich werde schweigen, denn ich beabsichtige nicht, Ihrem Volk zu schaden.« Ich meinte es ernst, denn ich wusste, dass Hindernisse psychologischer Art viel schwerer zu überwinden waren als materielle Schwierigkeiten. Es gab Beispiele dafür, dass hochintelligente Völker nur deswegen keine Raumfahrt entwickelt hatten, weil religiöse, philosophische oder pseudowissenschaftliche Tabus sie daran hinderten, die betreffenden Probleme überhaupt in Angriff zu nehmen. Meine Überlegungen wurden unterbrochen, als die Fahrt des Ghyrans sich verlangsamte. Als ich nach draußen blickte, entdeckte ich den Grund: Die voll ausgebaute Straße endete an einer Baustelle. Unser Fahrzeug rollte nicht mehr über eine Betonpiste, sondern über Schotter. Nach wenigen hundert Metern endete auch der Schotter. Der Ghyran musste sich durch die Trichter von Explosionen quälen, mit denen die Baukommandos den Fels gesprengt hatten, damit die Strecke nivelliert und für die Anlegung der Piste vorbereitet werden konnte.
Als wir die Explosionstrichter hinter uns ließen, sahen wir die ehemalige Handelsstraße, ein schmales Band, auf dem sich entgegenkommende Fahrzeuge nur mit Mühe ausweichen konnten. Die alte Handelsstraße war aus großen Steinplatten gebaut worden, die zum überwiegenden Teil geborsten waren und sich an manchen Stellen gesenkt hatten. Unser Gleiskettenfahrzeug schaukelte durch die Unebenheiten. Doch die Fahrt auf dieser Strecke war immer noch einer Fahrt durch die Felswüste beiderseits des Handelsweges vorzuziehen. Ich hielt nach Leben Ausschau. Hoch am Himmel entdeckte ich einige große graue Vögel, die geduldig über der Strecke kreisten, wahrscheinlich Aasfresser, denn Tiere, die ihnen als Beute dienen könnten, ließen sich nicht sehen. Es gab auch nicht den geringsten Pflanzenwuchs. Dieses Land war tot. Und doch nicht ganz tot, denn einmal erspähte ich die Gestalt eines Lopseggers in hellgrauem Umhang, die für einen Augenblick hinter einem Felsbrocken vortrat und gleich wieder hinter einem anderen verschwand. »Ein Kundschafter der Parias«, sagte Germyr-HP, als ich ihm meine Beobachtung mitteilte. »Das ist kein Grund zur Beunruhigung.« Germyrs Antwort beruhigte mich nicht. Sie zeigte nur, dass er ein furchtloser Lopsegger war, aber sie bewies meiner Meinung nach nicht, dass wir nicht mit einem Überfall zu rechnen hatten. Ich nahm mir vor, ab sofort meine ganze Aufmerksamkeit der Umgebung zu widmen.
Seit wir die ausgebaute Straße verlassen hatten, war gut eine Tonta vergangen. In dieser Zeit hatten wir uns den beiden Bergen so weit genähert, dass wir Einzelheiten erkennen konnten. Der kegelförmige Berg, der genau vor uns lag, mochte sechshundert Meter hoch sein. Der Fels war beinahe
glatt und völlig kahl. Nur seine Nordflanke passte nicht in dieses Bild. Sie sah aus, als hätte die Axt eines Riesen ein Zehntel des Berges abgeschlagen. Allerdings musste der imaginäre Riese anschließend die meisten Felstrümmer beseitigt haben. Jedenfalls war von unserer Position aus nur ein geringer Rest der Felsmassen zu sehen, die dem Berg fehlten. Das gleiche Bild bot der zweite Berg, der nördlich des ersten aus der Felswüste ragte. Er war zwar nicht kegelförmig, sondern ungefähr nierenförmig, mit sanft aufsteigenden Hängen und einem schmalen Gipfel, aber auch ihm fehlte ein Teil seiner Masse. An der Südflanke, also genau gegenüber dem »abgehackten« Hang des Kegelberges, brach der Berg abrupt ab. Ich fragte den Diplomaten, ob ihm bekannt sei, was dieses Phänomen verursacht hätte. Germyr-HP verneinte. »Es gibt allerdings eine uralte Legende. Danach soll in grauer Vorzeit das Raumschiff eines unbekannten Volkes auf Wartzong abgestürzt sein. Angeblich hat es dabei eine Lücke in den damals zusammenhängenden Berg gerissen.« »Dann muss es sich um eine Notlandung gehandelt haben. Wäre ein Raumschiff ungebremst hier abgestürzt, hätte sich seine Masse in Energie verwandelt. Dabei wäre der Berg verdampft worden.« »Wie gesagt, es ist nur eine Legende. Tatsache ist aber, dass die vom Buulberg und vom Arakaun abgeschlagenen Trümmer östlich des Einschnitts auf einer großen Fläche verteilt sind. Sie müssen mit großer Wucht dorthin geschleudert worden sein.« Ich ertappte mich dabei, wie ich versuchte, dem Phänomen durch Überlegungen auf den Grund zu gehen. Dabei hatte ich viel wichtigere Probleme zu durchdenken. Also schob ich die Überlegungen über die Berge von mir. Was immer dort geschehen sein mochte, es lag so weit zurück, dass es die heutigen Ereignisse in keiner Weise beeinflussen konnte. Die
Straße bog, wie ich erwartet hatte, nach Norden ab und zielte auf den Einschnitt zwischen den beiden Bergen. Aufmerksam beobachtete ich die Steilhänge, konnte aber keine verdächtige Bewegung erkennen. Wahrscheinlich erschien den Parias ein einzelner Ghyran tatsächlich nicht wichtig genug, um Munition zu verschwenden und vielleicht noch eigene Opfer zu riskieren. Aber sicher konnten wir in der Beziehung nicht sein. Als wir in die Schlucht einfuhren, wurde es dunkler. Der südlich von uns aufragende Buulberg warf seinen Schatten über die gesamte Breite der Schlucht. Nur die obere Hälfte des Arakaun-Steilhangs war in helles Licht getaucht. Die breiten Gleisketten verursachten auf der von Steintrümmern übersäten alten Handelsstraße klirrende, mahlende und knirschende Geräusche, die von den Steilwänden als Echos reflektiert wurden. Ich betätigte die Waffenschaltungen und ließ den Geschützturm hin und her schwenken, so dass die hochgereckte Energiekanone abwechselnd auf die Ränder beider Steilhänge zielte. Auf diese Weise würde ich bei einem Überfall schneller reagieren können, da sich ein Geschütz aus der Bewegung heraus leichter auf ein Ziel ausrichten ließ. Crysalgira warf mir hin und wieder einen fragenden Seitenblick zu, der Unsicherheit ausdrückte. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass sich die Schlucht ideal für einen Hinterhalt eignete. Ein paar Sprengungen würden genügen, um sie an beiden Seiten zu blockieren; saß der Ghyran erst einmal fest, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis wir erledigt waren. Aber nichts rührte sich. Kein Paria tauchte auf, keine Explosion erschütterte die Luft. Als wir neun Zehntel der Schlucht hinter uns gelassen hatten, ohne dass etwas geschehen war, entspannte ich mich allmählich wieder – und in diesem Moment tauchten sie auf: vier offene gepanzerte Geländefahrzeuge mit je vier Räderpaaren, überdimensionalen
Reifen und mit je einem drehbaren leichten Zwillingsstrahlgeschütz ausgerüstet, hinter denen jeweils zwei Lopsegger hockten. Zusätzlich befanden sich in jedem Geländefahrzeug noch sechs Lopsegger, die dunkelgrüne Kombinationen trugen. »Soldaten aus Kalayshtan.« Germyr-HP kuppelte die kurveninnere Kette aus und betätigte die Lenkbremse, um den Ghyran auf der Stelle zu wenden. »Nein«, rief ich, während ich die Geschützkuppel schwenkte, um die Drehbewegung des Ghyrans zu kompensieren und ein Ziel anzuvisieren. »Nicht zurück – vorwärts! Wir müssen durchbrechen! Hinter uns kommen bestimmt auch welche.« Germyr-HP reagierte viel zu langsam. Offensichtlich besaß er so gut wie keine Kampf erfahrung. Bevor ich ins Ziel gehen konnte, wurden wir von mehreren Energiestrahlen getroffen. Glücklicherweise waren die Zwillingskanonen der Geländewagen zu schwach, als dass sie die Panzerung unseres Ghyrans auf Anhieb zerstören konnten. Aber die Hitze der Waffenstrahlen entlud sich an der Panzerung und drang ins Innere des Ghyrans. Endlich hatte ich das erste Ziel erfasst: das hintere Radpaar eines Geländewagens. Ich wollte möglichst keinen Soldaten töten, denn sie waren im Grunde genommen nicht unsere Feinde. Nur die Furcht vor dem Risiko hatte Marsugg-LT dazu bewogen, sich gegen uns zu stellen. Der Strahl meines Energiegeschützes schmolz das Radpaar. Der Geländewagen sackte hinten weg und kippte im Zeitlupentempo auf die rechte Seite. Die Soldaten sprangen heraus und suchten hinter einigen Felsblöcken Deckung. Unterdessen hatte Germyr-HP den Ghyran wieder auf den ursprünglichen Kurs gebracht und beschleunigt. Aufheulend raste er auf zwei dicht beieinander stehende Geländewagen zu. Crysalgira schaltete die vier starken Frontscheinwerfer des
Ghyrans ein. Die Soldaten hinter den Zwillingskanonen rissen geblendet die Arme vor die kammförmigen Köpfe. Die Waffenstrahlen eines abseits stehenden Geländewagens entluden sich links neben dem Ghyran und schleuderten glühende Steinbrocken hoch. Ich erwiderte das Feuer und zielte unter den Wagen. Die Energie meines Schusses entlud sich, hob den Wagen hoch und warf ihn um. Im gleichen Augenblick prallte der Ghyran mit voller Wucht auf die beiden Geländewagen, die die Schlucht abriegelten. Die Besatzungen hatten sich im letzten Moment mit waghalsigen Sprüngen in Sicherheit gebracht, feuerten mit Handstrahlern auf uns. Doch damit konnten sie dem Ghyran nichts anhaben. Wir rasten aus der Schlucht und befanden uns nach wenigen hundert Metern in einer Sandwüste, die sich vor uns scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckte. Als ich meinen Blick wieder auf die Sandwüste richtete, kam mir alles unwirklich vor. Und doch wusste ich, dass der Tod, wenn er uns hier ereilte, wirklich und endgültig sein würde …
Die Überreste der alten Handelsstraße führten rund fünfhundert Meter in die Wüste und endeten dann im Sand. Ich sagte: »Würden Sie bitte anhalten!« »Warum?« »Weil ich mich vom Turm aus umsehen möchte. Folgt uns jemand? Ich bin sicher, dass die vier Geländewagen nicht die einzigen waren, die Marsugg-TT uns nachgeschickt hat.« »Einverstanden.« Germyr-HP hielt den Ghyran an. »Hatten die Soldaten den Auftrag, uns zu töten?«, fragte Crysalgira. »Wahrscheinlich«, antwortete der Diplomat. »Marsugg-TT wird sich sagen, dass er unseren Tod den Parias anlasten kann und dass er deswegen keine Rücksicht auf meine
diplomatische Immunität zu nehmen braucht.« Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich war zu dem gleichen Schluss gekommen. Die Mentalität so genannter zivilisierter Völker hatte offenbar zahlreiche Gemeinsamkeiten, ob diese Völker nun im Makrokosmos oder im Mikrokosmos lebten. Hier wie da hatte man oftmals keine Skrupel, sich unbequemer Personen zu entledigen, sofern die Angelegenheit nur so geregelt wurde, dass die Schuld jemand anderem zugeschoben werden konnte. Ich stieg durch den breiten Schacht – er war ja für Lopsegger gedacht – hinauf, klappte das Turmluk zurück und setzte mich auf den Rand. Hinter uns waren nur die beiden Berge zu sehen und versperrten den Blick auf Kalayshtan. Waren uns außer den vier Geländewagen, die wir unbrauchbar gemacht hatten, noch andere Fahrzeuge gefolgt, hielten sie sich in der Schlucht verborgen. Vielleicht warteten sie darauf, dass wir zwischen den Sanddünen verschwanden, um uns unbemerkt folgen zu können. Ich drehte mich um. Mein Blick wanderte über die zahllosen Dünen, von deren schmalen Graten ständig feiner Sand stob, so dass es aussah, als wehe der Wind den hellen Rauch von vielen Holzfeuern davon. So weit das Auge sah, war der Anblick gleich. Nur südöstlich von unserem Standort erhoben sich in der Ferne schneebedeckte Gipfel. Das musste das Sheitar-Gebirge sein, von dem Germyr-HP gesprochen hatte. Dort sollten sich die unzugänglichen Schlupfwinkel der Parias befinden. Ich kletterte wieder hinunter und wandte mich an den Diplomaten. »Welche Richtung würden Sie von hier aus normalerweise einschlagen?« »Ich bin noch nie durch die Thar gefahren. Aber Wartzonga liegt genau in östlicher Richtung. Folglich werden wir nach Osten fahren.« »Nein. Das ist genau das, was unsere Verfolger annehmen
werden. Ich nehme an, sie wollen uns, durch die Dünen unseren Blicken entzogen, überholen und uns tiefer in der Thar den Weg versperren. Deshalb schlage ich vor, wir biegen weit nach Südwesten ab und gehen erst in einiger Entfernung wieder auf Ostkurs.« »Südöstlich von uns liegt der Pjuk-Salzsee mit zahlreichen Salzsümpfen. Spätestens dort müssten wir wieder nach Osten abbiegen, denn ich kenne keinen der sicheren Wege, die durch die Salzsümpfe führen.« »Einverstanden. Aber wir biegen auf halbem Weg zum See schon einmal nach Osten ab, halten die Richtung einige Zeit und schwenken dann zum zweiten Mal nach Südosten, bis zum Salzsee. Das dürfte unsere Verfolger verwirren, denn sie beobachten zweifellos die von den Gleisketten des Ghyrans aufgewirbelten Sandwolken.« »Gut.« Er ließ den Ghyran wieder anrollen und steuerte ihn nach Südosten. Wir kamen gut voran, da die Sanddünen alle von Nordwest nach Südost verliefen und wir, solange wir unsere Richtung hielten, in den Tälern bleiben konnten. Dennoch ließ sich nicht vermeiden, dass die von den Gleisketten aufgewirbelten Sandwolken über die Dünenkämme wehten. Von einem Fahrzeug, das einen Dünenkamm überquerte, mussten wir aufweite Entfernung hin zu sehen sein. Ich verließ mich aber darauf, dass unsere Verfolger sich, sobald sie unsere neue Fahrtrichtung ermittelt hatten, ebenfalls in den Dünentälern halten würden, denn sie wollten schließlich nicht entdeckt werden. Doch wir waren höchstens drei Kilometerweit gekommen, als sich der Himmel verdunkelte. Ich schaute auf und entdeckte, dass die ganze südliche Hälfte des Himmels von einer graubraunen Wand überzogen war, die sich rasch ausdehnte. »Ein Sandsturm«, sagte Germyr-HP überflüssigerweise.
»Wir hätten uns lieber in Kalayshtan verstecken sollen.« »Unser Ghyran dürfte auch dem stärksten Sandsturm standhalten«, entgegnete ich, verärgert über den Pessimismus des Diplomaten. »Sicher. Aber der Sturm legt die Nester der Sphavn frei und macht sie aggressiv. Werden wir von Sphavn angegriffen, während der Sturm uns festhält, sind wir verloren.« Ich erwiderte nichts darauf. Trotz des Hinweises auf die großen Wüstenwürmer teilte ich den Pessimismus des Diplomaten nicht. Ich hatte schon schlimmere Gefahren bestanden, Gefahren, von denen der lopseggische Diplomat nicht einmal etwas ahnte. Er hatte wahrscheinlich zeit seines Lebens Wartzong nicht verlassen. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr. Der erste Windstoß traf unseren Ghyran, brachte eisige Kälte mit, die im Nu durch die Panzerung des Fahrzeugs drang. Meine Finger wurden steif. Ich schob die Hände unter die Achselhöhlen. Crysalgira folgte meinem Beispiel, schaute mich aus geweiteten Augen an. »Wir werden schon in der Wüste nicht erfrieren«, sagte ich lächelnd. Dabei merkte ich, dass meine Lippen sich spannten. Vielleicht bringt uns die Kälte doch um. Im nächsten Augenblick brach der Sandsturm mit elementarer Wucht über uns herein. Es wurde schlagartig stockdunkel. Der Sturm heulte, brauste und pfiff und schüttelte den Ghyran heftig durch. Germyr-HP schaltete den Antrieb ab. Wir saßen völlig still, während sich der Sturm austobte. Wenigstens hatte der heiße Sand die Kälte vertrieben. Doch allmählich machte sich die Hitze unangenehm bemerkbar. Ich transpirierte so stark, dass ich mir wie gebadet vorkam. Glücklicherweise schlossen die Luken des Ghyrans so dicht, dass nur wenig Staub ins Innere drang. Dennoch legte er sich als hellgrauer Puder auf die Inneneinrichtung, unsere Anzüge und Gesichter und reizte
uns zum Husten. Dem Lopsegger schien er nichts auszumachen. Nach ungefähr einer Tonta verebbten die Geräusche des Sturmes. Dennoch wurde es nicht hell. Der Ghyran musste von den angewehten Sandmassen begraben worden sein. Germyr-HP schaltete den Antrieb ein. Die Gleisketten mahlten knirschend im Sand, aber ich merkte gleich, dass wir keinen Meter vorankamen, sondern uns nur noch tiefer wühlten. »Schalten Sie auf Rückwärtsfahrt.« Der Diplomat gehorchte, ohne eine Frage zu stellen. Wahrscheinlich hatte er Angst und konnte kaum noch klar denken. Ich hatte ihm aus gutem Grund gesagt, er solle auf Rückwärtsgang schalten. Meine Absicht war, den Rückstoß der Strahlkanone als zusätzlichen Antrieb zu verwenden. Da das Rohr nach vorn zeigte und ich es wegen des Widerstands, den die Sandmassen ihm entgegensetzten, nicht drehen konnte, musste der Wagen rückwärts fahren. Ich stellte die Austritts- und Abstrahlfelder auf größte Fächerwirkung und schaltete das Geschütz auf Dauerfeuer mit minimaler Abstrahlleistung. Als ich den Feuerknopf drückte, wurde es vor dem Bug hell. Zuerst war es nur ein matter Lichtschimmer, doch er verwandelte sich schnell in eine blutrote Glutwolke. Unser Ghyran schüttelte sich und kroch langsam vorwärts. Ich erhöhte die Abstrahlleistung allmählich, bis hinter uns ein Feuerorkan kochte und brodelte. Da das Geschützrohr schräg nach unten gerichtet war, trieb der Rückstoß uns im gleichen Winkel nach oben. Die kochende Luft verwandelte sich in Plasma und trieb uns zusätzlich voran. Aber sie erhitzte auch die Panzerung. Lange würde die Wandung nicht standhalten. Schon glühte der Bug des Ghyrans krischrot, als das Heck plötzlich ins Freie schoss. Auf den Bildschirmen, die die heckseitige Umgebung wiedergaben, entdeckte ich nur blauen
Himmel. Ich wusste, was das bedeutete, aber bevor ich meinem Gefährten eine Warnung zurufen konnte, kippte der Ghyran nach hinten und donnerte mit den Gleisketten hart auf den Sand eines Steilhangs. Germyr-HP, Crysalgira und ich flogen durcheinander und holten uns blaue Flecken, während sich der Ghyran mehrmals überschlug und schließlich mit einem letzten schmetternden Krachen stehen blieb. Aus tränenden Augen blickte ich hinaus und sah, dass der Ghyran auf der Unterseite gelandet war. Immerhin hätte das Fahrzeug auch auf dem Rücken liegen bleiben können. Das wäre das Ende unserer Fahrt gewesen, denn drei Personen konnten einen schweren Ghyran nicht umdrehen. So aber konnten wir weiterfahren, sobald wir uns etwas erholt hatten. Da wir außer schmerzhaften Prellungen keine Verletzungen davongetragen hatten und von Verfolgern weit und breit nichts zu sehen war, beschlossen wir, die Fahrtrichtung schon hier zu ändern und auf Ostkurs zu gehen. Germyr-HP bestand darauf, weiterhin die Steuerung zu übernehmen, obwohl ich ihm angeboten hatte, ihn abzulösen. Aber er fuhr irgendwie nervös oder zerstreut, bremste manchmal unvermittelt oder schlug einen Bogen, obgleich voraus kein Hindernis zu sehen war. Ich erkundigte mich nach dem Grund. Doch der Diplomat schwieg sich aus. Als er wieder einmal einem imaginären Hindernis auswich, fuhr der Ghyran über eine Sanddüne, verlor den Halt und rutschte in dem losen Sand abwärts. Das erschien mir nicht gefährlich. Dennoch stieß der Diplomat plötzlich schrille Schreie aus und versuchte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er musste einen Grund für sein Verhalten haben, deshalb blickte ich in die Richtung, in die der Ghyran rutschte. Im nächsten Moment erschrak ich. Auf dem Grund des Dünentals, genau an der Stelle, an der wir ankommen würden, geriet der Sand in
Bewegung. Seltsame, ekelhaft anzuschauende wurmähnliche Lebewesen ringelten sich durcheinander und richteten dann ihre Köpfe auf. Es waren fünf Tiere, jedes anderthalb Meter lang und – bis auf zwei Reihen schwarzer Flecken an den Flanken – von der gleichen Färbung wie der Wüstensand. Die runden Köpfe waren mit je zwei dreieckigen, grünlich schillernden, pupillenlosen Augen ausgestattet. Die Münder waren hornige graue Aufwölbungen, und an jeder Kopfseite befand sich eine faustgroße Ausbuchtung. Ich wusste sofort, dass es sich bei den Wurmwesen nur um die Sphavn handeln konnte, die der Diplomat beschrieben hatte. Doch bevor ich reagieren konnte, zischte und brodelte das Panzerglas vor unseren Gesichtern. Deutlich hatte ich gesehen, wie eines der Tiere zwei Strahlen einer farblosen Flüssigkeit aus seinen Ausbuchtungen am Schädel abgeschossen hatte. Meine Faust fuhr auf den Feuerknopf. Der Energiestrahl traf drei der Wurmwesen und verwandelte sie in Rauch und Asche. Dann brodelte es überall auf dem Ghyran. Giftige Dämpfe wallten auf und krochen durch die dünnsten Ritzen herein. Ich drückte erneut auf den Feuerknopf, doch da befanden sich die Sphavn bereits im toten Winkel. Glücklicherweise begriff Germyr-HP endlich, was er zu tun hatte. Statt weiter zu versuchen, den Ghyran abzubremsen oder von der Gefahr fortzusteuern, lenkte er ihn auf die beiden noch lebenden Würmer zu und rollte mit der linken Gleiskette über sie hinweg. Kurz darauf brachte er den Ghyran zum Stehen. Ich öffnete sämtliche Luken, damit der Durchzug die ätzenden Dämpfe aus dem Wageninnern vertrieb. Die Heckbeobachtungsschirme zeigten mir, dass die Sphavn keine Gefahr mehr darstellten. Aber die Sphavn-Säure hatte die gewölbte Panzerglasscheibe bis auf wenige kümmerliche Überreste aufgelöst. Wir würden künftig ohne ihren Schutz
auskommen müssen. »Wenn Sie noch einmal solche Würmer entdecken, dann warnen Sie mich, Germyr-HP«, sagte ich. Er erwiderte nichts darauf, saß reglos in seinem Muldensessel. Offenbar hatte er einen Schock erlitten. »Ich steige aus und sehe mir die Schäden an, die die Sphavn angerichtet haben.« »Sieh dich vor«, sagte Crysalgira. »Ich übernehme die Feuerschaltungen.« Ich lächelte ihr zu und kletterte durch das Turmluk nach draußen. Die Wirkung der Säure war inzwischen verbraucht, hätte allerdings nicht viel länger anhalten dürfen. Auf dem Bug, dem Vorderteil des Aufbaus, der Geschützkuppel und auch auf dem Abstrahlrohr des Geschützes selbst befanden sich große Flächen, wo sich die Säure tief eingefressen hatte. Vorsichtig, damit ich mit keiner der Flächen in Berührung kam, stieg ich nach unten und inspizierte die Gleisketten. Die vorderen Schutzpanzerbleche waren förmlich aufgefressen, aber die Ketten selbst hatten nur ein paar Spritzer abbekommen. Sie würden bis nach Wartzonga halten – falls wir nicht noch einmal von Sphavn angegriffen wurden. Ich stieg wieder ein und sagte zu Germyr-HP: »Rücken Sie zur Seite. Ich übernehme die Steuerung für eine Weile.« »Aber Sie erkennen die Sphavn-Nester nicht«, protestierte der Diplomat. »Dann zeigen Sie sie mir. Sie stehen unter Schockwirkung. In diesem Zustand beherrschen Sie das Fahrzeug nicht. Crysalgira, kannst du an den Feuerschaltungen bleiben?« Sie lächelte spöttisch. »Verzeihung. Ich hätte mir die Frage ersparen können. Wer ein Raumschiffsteuern und seine Waffen bedienen kann, kommt auf jeden Fall mit diesem Kinderspielzeug zurecht.« Die Giftschwaden hatten sich inzwischen verzogen. Ich schloss die Luken, dann räumte Germyr-HP seinen Platz, und ich setzte mich hinter die Steuerung. Nach kurzer Überlegung
entschloss ich mich dazu, wieder nach Südosten abzuschwenken, bis zum Salzsee zu fahren und seinem Ufer folgend wieder Kurs Ost einzuschlagen, und dachte: Eigentlich müssten wir innerhalb von zwei Tagen wieder in Wartzonga sein. Der scharfe, mit Staub durchsetzte Fahrtwind ließ meine Augen und die Augen meiner Begleiter tränen. Darum erkannten wir die Falle, die man für uns aufgebaut hatte, erst im letzten Moment. In fünfzig Metern Entfernung erschienen zu beiden Seiten des Ghyrans drei weiße Rauchwolken, dann knallte es – und im nächsten Augenblick zischte etwas über uns hinweg. Ich dachte zuerst an Raketen zur Panzerbekämpfung und schloss mit dem Leben ab, denn gegen Waffen, die sich selbst ins Ziel lenkten und durch die Panzerung fraßen, bevor sie explodierten, bot unser Ghyran keinen Schutz. Aber dann entdeckte ich, dass die Raketen – es waren insgesamt sechs – weitmaschige Stahlnetze hinter sich herzogen. Man will uns fangen! Ich reagierte, ohne zu überlegen. Der Ghyran ruckte förmlich nach links, beschleunigte mit voller Kraft und raste genau auf die Bodenverankerung eines Netzes zu. Crysalgira hatte unterdessen das Geschützrohr im rechten Winkel nach oben gestellt, feuerte mit maximaler Energieabgabe, während sie die Kuppel hin und her drehte. In dem Netz über uns entstand ein feuriger Bogen. Dennoch wären wir von den übrigen Netzen begraben und festgehalten worden, wäre ich nicht nach der Seite ausgebrochen. Es knallte laut, als der Bug die Bodenverankerung rammte und fortschleuderte. Nur noch der Zipfel des betreffenden Netzes fiel klirrend auf den Ghyran, konnte ihn aber nicht festhalten. Zwar verfing sich die Bodenverankerung am Geschützrohr, so dass ein Netz dreihundert Meter weit mitgeschleppt wurde, doch dann löste es sich von selbst wieder. Ich fuhr erst einmal in der eingeschlagenen Richtung weiter, denn noch hatte sich
kein Lopsegger und kein Fahrzeug blicken lassen. Dennoch musste der Gegner irgendwo lauern, denn von selbst war die Netzraketenfalle nicht hierher gekommen. »Eigentlich ist es erstaunlich, wie genau der Gegner wusste, dass wir ausgerechnet hier und nirgendwo anders durchkommen würden«, sagte Crysalgira. Auch ich hatte mich zuerst darüber gewundert, aber dann war mir eine mögliche Erklärung eingefallen. »Wenn wir von einem Flugzeug oder einem Satelliten aus beobachtet werden, ist es nicht erstaunlich. Wir sind seit rund eineinhalb Tontas immer in die gleiche Richtung gefahren und dabei im selben Dünental geblieben. Da genügt es, ein paar Gleiter auf einem vorausberechneten Punkt landen und die Netzraketen installieren zu lassen.« »Die Satelliten gehören allen Stämmen gemeinsam«, sagte der Diplomat. »Dementsprechend sind die Besatzungen zusammengesetzt. Von dort haben die TT keine Unterstützung erhalten. Ich nehme an, dass Marsugg-TT ein hoch fliegendes Aufklärungsflugzeug eingesetzt hat.« »Dann können wir den Verfolgern also nicht entgehen.« »Ich denke doch. Zu große Aktivität im Zusammenhang mit unserer Flucht würde Marsuggs Absicht bloßstellen. Das kann er sich nicht leisten. Folglich darf er das Flugzeug nur einmal einsetzen – für einen begrenzten Zeitraum.« Ich erwiderte nichts darauf, denn ich hatte den Ghyran gerade über einen Dünenkamm gesteuert – und als der Bug sich wieder senkte, entdeckte ich ein grausiges Schauspiel. Sechs Konzentrationen einer brodelnden, blasenwerfenden und dampfenden Masse kennzeichneten die Stellen, wo die Wüstenwagen unserer Verfolger von Sphavn überfallen worden waren. Die Wagen mussten direkt auf ein unter dem Sand verborgenes riesiges Nest der Wurmwesen gefahren sein. Mindestens vierzig Sphavn wimmelten um die
verlaufenden Überreste. Die Vorderkörper hoben und senkten sich in kurzen Intervallen, die hornigen Mäuler tunkten immer wieder in die brodelnden Massen. Ich riss den Ghyran herum – rasten wir in diese Meute, würde es unserem Fahrzeug und uns nicht besser ergehen als den sechs Wüstenwagen und ihren Besatzungen. Die Gleisketten wirbelten eine mächtige Sandwolke auf, wodurch uns die Sicht nach hinten genommen wurde. Crysalgira hatte unterdessen die Geschützkuppel herumgeschwenkt und feuerte pausenlos aufs Geratewohl durch die Sandwolke hindurch. Einige Säurestrahlen schossen über den oberen Rand der Sandwolke und zerstoben in der Luft, während sie sich wieder herabsenkten. Ein feiner Sprühregen traf das Heck des Ghyrans und den Sandboden hinter ihm. Dann waren wir endgültig aus der Gefahrenzone. »Das war knapp«, sagte die Prinzessin trocken. »Wir hatten einfach Glück. Wären die Sphavn nicht voll von ihrem grausigen Mahl beansprucht worden, hätten sie unsere Annäherung früher bemerkt und sofort angegriffen. So aber blieb mir gerade noch Zeit zum Wenden.« »Fahren Sie schneller, Atlan!«, rief Germyr-HP und deutete nach rechts. Ich blickte hinüber und sah etwa zehn Sphavn, die ihre Wurmkörper abwechselnd zusammenzogen und auseinander schnellten. Auf diese Weise kamen sie sehr rasch voran. Ihre Absicht war offenbar, uns den Weg abzuschneiden. Als ich nach links schaute, entdeckte ich auch dort zehn Sphavn. Bestimmt waren auch welche hinter uns, jedoch von der aufgewirbelten Sandwolke unseren Blicken entzogen. Ich beschleunigte so stark, wie es die Bodenverhältnisse zuließen. Aber der lockere Untergrund und die zahllosen hohen Dünen waren für den Ghyran doch ziemlich hindernd. Die Sphavn dagegen bewegten sich in einem Gelände, an das sie seit zahllosen Generationen angepasst waren, schnellten mit
weiten explosiven Sprüngen durch die Luft. Crysalgira feuerte ununterbrochen, aber die schaukelnden, schwingenden Bewegungen des Ghyrans, die schnellen Sprünge der Sphavn und die Sanddünen, die den Tieren immer wieder Deckung boten, erlaubten kein sicheres Zielen. Bisher war nur ein einiges Tier getroffen worden. »Sic werden uns einholen«, prophezeite der Diplomat. Ich wollte ihn scharf zurechtweisen, als ich auf dem Bildschirm, der das Wagenheck zeigte, sah, wie ein Wurmtier aus der von uns aufgewirbelten Sandwolke schnellte und genau auf das Heck zuflog. Wieder reagierte ich instinktiv, indem ich scharf abbremste, damit das Tier gegen den Turmaufbau geschleudert wurde. Auf dem Bildschirm erschien ein grellweißer Feuerball. Ein harter Schlag erschütterte den Ghyran. Ich beschleunigte wieder und musste meine Aufmerksamkeit nach vorn richten, wo, teilweise aus dem Sand ragend, Trümmer einer ehemaligen Festung standen. »Das Tier hat eine Rakete ausgelöst«, berichtete Crysalgira, die den Bildschirm beobachtete, der den Luftraum über dem Fahrzeug zeigte. »Bestimmt ist es im Feuerstrahl umgekommen.« »Germyr-HP«, sagte ich, »haben die Raketen auch atomare Gefechtsköpfe?« »Ja. Aber sie müssen erst durch Fernschaltung geschärft werden, sonst explodieren sie nicht.« Ich atmete auf, denn die Vorstellung, dass die Rakete irgendwo in bewohntem Gebiet, vielleicht sogar in einer der beiden nächsten Städte, niedergehen und explodieren könnte, hatte mich mit eisigem Schrecken erfüllt. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Trümmer. Ich kurvte zwischen ihnen hindurch, ließ den Ghyran über einen Schotterwall klettern und steuerte ihn auf der anderen Seite
wieder in die Sanddünen. »Sie folgen uns nicht mehr«, rief Crysalgira. »Die Sphavn bleiben zurück.« »Sie scheuen die Nähe des Utgald«, sagte Germyr-HP. »Das Utgald? Meinen Sie damit diese Trümmer?« »Ja. Hier soll früher ein Dämonenstamm gehaust haben. Er hatte einen Zauberbann über das Utgald gelegt, der auch heute noch wirkt.« »Ich habe nichts davon gemerkt.« »Der Ghyran schützt kurzfristig vor diesem Zauberbann.« Seine Erklärung war für mich Hinweis darauf, dass es sich bei dem »Zauberbann« wahrscheinlich um eine Strahlung handelte, die sich auf die Psyche und Physis von Lebewesen negativ auswirkte. Wahrscheinlich hatte damit der vermeintliche »Dämonenstamm« seine Zufluchtsstätte geschützt. Ich fuhr noch rund fünf Kilometer weiter, bis ich einen Kurs einschlug, der uns in weitem Bogen zum Salzsee bringen würde.
Als wir den Salzsee erreichten, brach die Nacht herein. Die riesige Ebene lag bäum- und strauchlos vor uns, die Salzkristalle auf ihrer Oberfläche leuchteten silberfarben auf, bevor es endgültig dunkel wurde. Ich bremste den Ghyran unmittelbar am Ufer ab und schaltete die Antriebsmotoren aus. Der Reaktor lief mit gedrosselter Leistung weiter; wir brauchten Energie für die Innenbeleuchtung und für den Mikrowellenherd, in dem wir die Fertiggerichte für unsere Abendmahlzeit aufwärmten. Wir aßen schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich dachte wieder einmal an Ischtar und fragte mich, ob sie mit ihrem Raumschiff noch immer den Stützpunktplaneten der Maahks belauerte. Uns trennten mehr als Welten, obwohl
ich nicht genau hätte definieren können, was uns eigentlich trennte. Ischtar mit ihrem Schiff befand sich genauso wie der Stützpunktplanet der Maahks im Standarduniversum. Ich dagegen befand mich im Mikrokosmos. Dennoch war ich irgendwie sicher, dass es mir gelingen würde, mit Crysalgira ins Standarduniversum zurückzukehren. Wieder einmal fragte ich mich auch, ob es nicht möglich war, aus dem Mikrokosmos heraus etwas gegen Orbanaschol zu unternehmen. Wird die Absolute Bewegung einwandfrei beherrscht, ist es vielleicht möglich, vom Mikrokosmos aus an eine beliebige Stelle des Standarduniversums zurückzukehren – beispielsweise direkt nach Arkon I … »Woran denkst du, Atlan?«, fragte Crysalgira. Ich wollte im Augenblick nicht alles zerpflücken, was mir durch den Kopf gegangen war, deshalb sagte ich: »Daran, dass ich lieber an der frischen Luft draußen wäre, statt in der heißen abgestandenen Luft des Ghyrans zu hocken. Kommst du mit raus?« Germyr-HP, dessen Translator natürlich auch das übersetzte, was zwischen Crysalgira und mir gesprochen wurde, sagte: »Draußen ist es zu gefährlich.« »Meinen Sie die Sphavn?« »Nein, die Sphavn erstarren, wenn die Luft abkühlt. Aber es könnten Parias vorbeikommen.« »Das riskiere ich«, erwiderte ich und stand auf. »Die Thar ist so groß, dass eine rein zufällige Begegnung mit Parias, noch dazu im Dunkeln, unwahrscheinlich sein dürfte.« »Ich komme mit«, sagte die Prinzessin und erhob sich ebenfalls. »Ich habe Sie gewarnt«, rief Germyr-HP uns nach. Doch wir ließen uns nicht aufhalten. Als wir draußen waren, schlug uns angenehm kühle, salzhaltige Luft entgegen. Ein leichter Wind wehte aus dem Sheitar-Gebirge von Süden,
strich über den Salzsee und spielte mit dem Sand der Wüste. Es war nicht so dunkel, dass wir gar nichts hätten sehen können. Langsam gingen wir nebeneinander am Ufer des Sees entlang, von dem ein anheimelndes Glitzern ausging. Wir hatten uns etwa hundert Meter von dem Ghyran entfernt, als mich mein Extrasinn vor einer Gefahr warnte. Ich ergriff Crysalgiras Unterarm, zog mit der freien Hand meinen Strahler und drehte mich um. Der Ghyran war nur als schattenhafte Ballung am Ufer zu sehen. Sonst war nichts zu erkennen. Nein! Etwas bewegte sich in der Nähe des Fahrzeugs. Tiere, Lopsegger – oder nur Einbildung? Ich schaute nach rechts. Dort ging es drei Meter bis zum See hinunter. Die Uferböschung bot also eine gute Deckung gegen Beschuss aus der Richtung, in der der Ghyran stand. Crysalgira verhielt sich mustergültig. Sie hatte kein Wort gesprochen, obwohl ich sicher war, dass sie durch nichts vor einer Gefahr gewarnt worden war und sich über mein Verhalten wunderte. Ich zog sie die Uferböschung hinab und bedeutete ihr, sich hinzulegen. Dabei beobachtete ich unablässig die Umgebung des Ghyrans. Als ich wieder eine schemenhafte Bewegung zu erkennen glaubte, gab ich einen Schuss in die Luft ab. Er war als Warnung für Germyr-HP gedacht. Der Schuss löste ein Chaos aus. Plötzlich zuckten mindestens fünfzehn blendende Energiestrahlen aus mehreren Richtungen auf den Ghyran zu, entluden sich in der Panzerung und brachten sie zur Rotglut. Krächzende Laute ertönten. Im nächsten Augenblick brummten die Elektromotoren auf, der Ghyran bewegte sich, schien zu versinken, als er die Uferböschung hinabfuhr, und tauchte gleich darauf über dem Glitzern des Salzsees auf. Wütend presste ich die Lippen zusammen, als mir klar wurde, dass Germyr-HP floh, ohne sich um uns zu kümmern. Dabei hätten die Angreifer ihn ohne
meinen Warnschuss wahrscheinlich überrumpeln können. Die Angreifer – ich konnte nicht erkennen, ob es Parias oder Soldaten waren – schossen hinter dem Ghyran her. Einige dunkle Gestalten tauchten über der glitzernden Oberfläche des Salzsees auf. Aber kein Fahrzeug folgte dem Ghyran. Offenbar waren die Angreifer zu Fuß gekommen. »Schnell, fort«, flüsterte ich. Wir rannten, so schnell wir konnten, nach Westen. Dabei hielten wir uns immer unmittelbar unter der Böschung, um nicht gesehen zu werden. Wären wir auf den See hinausgelaufen, hätten die Angreifer uns zweifellos entdeckt. Doch sie wussten durch meinen Schuss, dass sich jemand außerhalb des Ghyrans aufhielt. An ihren knarrenden und krächzenden Rufen erkannte ich, dass wir verfolgt wurden. Mehrere Strahlschüsse zuckten über uns hinweg. Aber sie waren ungezielt abgegeben worden. Unsere längeren Beine erwiesen sich als Vorteil gegenüber den Verfolgern. Die Rufe blieben immer weiter hinter uns zurück und hörten schließlich ganz auf. Wir blieben stehen, atmeten schwer. Lange hätten wir nicht mehr durchgehalten. »Was tun wir jetzt?«, fragte Crysalgira nach einer Weile. Ich lachte bitter. Da standen wir in einer riesigen Wüste, am Ufer eines Salzsees, dessen Sümpfe jedem Fremden zu Todesfallen werden konnten, ohne Fahrzeug, ohne Nahrung und ohne Wasser. Aber untätiges Warten wäre auf jeden Fall tödlich gewesen. Hielten sich die Angreifer bei Tagesanbruch noch in der Nähe auf, würden sie uns entdecken. Dann waren wir verloren. »Wir gehen über den See und versuchen, den Ghyran wieder zu finden. In dieser Richtung werden die Angreifer wahrscheinlich nicht suchen. Sie fürchten die Salzsümpfe.« »Und wir? Ich fürchte mich ebenfalls vor den Salzsümpfen.« »Ich auch«, gab ich unumwunden zu. »Das Risiko ist groß. Aber das Risiko ist unkalkulierbar, wenn wir auf dieser Seite
des Sees bleiben.« »Gut, gehen wir«, sagte Crysalgira tapfer. Wir waren mitten in der Salzwüste, die sich scheinbar endlos nach allen Seiten erstreckte. Nur der Anblick des SheitarGebirges mit seinen eis- und schneegekrönten Gipfeln gab die tröstliche Gewissheit, dass auch der Salzsee endlich war. Wir waren bis ungefähr Mitternacht marschiert und hatten uns dann auf einer flachen buckelartigen Erhebung niedergelegt. Crysalgira war fast sofort eingeschlafen. Ich hatte noch eine Weile auf verdächtige Geräusche gelauscht. Als ich nichts dergleichen festgestellt hatte, war ich ebenfalls eingeschlafen. Crysalgira schlief noch immer. Sie erwachte, als ich aufstand und mich reckte. Im ersten Augenblick hatte sie etwas von einem verschreckten Vogel an sich, der nicht wusste, ob er fliehen oder sich tot stellen sollte. Doch dann fiel ihr Blick auf mich, und sie lächelte zaghaft. Ich streckte ihr die Hand entgegen. Crysalgira nahm sie und ließ sich von mir aufhelfen. »Mir tut alles weh.« »Kein Wunder«, erwiderte ich mit einem bezeichnenden Blick auf den harten salzüberkrusteten Buckel, auf dem wir standen. »Sicher hätten wir auch eine weichere Stelle gefunden, aber der Buckel kam uns in der Nacht wie eine sichere Insel vor.« Sie blickte sich aufmerksam um. »Salzschollen, Soletümpel und angewehter Sand. Nirgends eine Spur von Leben.« »Darüber bin ich eigentlich recht froh. Obwohl ich mich natürlich über den Anblick unseres Ghyrans noch mehr freuen würde.« »Ob Germyr-HP zurückgefahren ist und nach uns sucht?« »Ich weiß es nicht. Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen. Ich schlage vor, wir gehen weiter nach Süden und wenden uns, sobald wir den See hinter uns haben, nach Osten.«
»Ohne Wasser schaffen wir es nie bis nach Wartzonga.« »Das stimmt. Aber in der Thar muss es Wasserstellen geben, sonst könnten die Parias nicht existieren. Vielleicht finden wir eine.« »Sofern wir nicht vorher verdursten.« Ich sagte nichts. Es wäre sinnlos gewesen, denn ich selbst spürte den Durst bereits schmerzhaft. Länger als einen Tag hielten wir es ohne Wasser bestimmt nicht aus. »Gehen wir!« Während wir nach Süden gingen, beobachtete ich aufmerksam die Umgebung. Zwar hatten wir den Nachtmarsch überstanden, ohne in einen Sumpf zu geraten, doch machte mich das nicht leichtsinnig. Nach einer Tonta war es bereits so heiß, dass wir am liebsten alles weggeworfen hätten, was wir am Leib trugen. Doch wir wussten, dass wir unsere Ausrüstung brauchen würden, wollten wir unsere Überlebensaussichten nicht noch mehr reduzieren. Nach einer weiteren Tonta brach Crysalgira unverhofft zusammen. Ich kniete mich neben sie, öffnete ihren MetAtlanzug etwas und versuchte, ihr mit einem Tuch etwas Kühlung zuzufächeln. Dabei spürte ich, dass meine Kräfte ebenfalls stark nachließen. Mir wurde schwarz vor den Augen; die Versuchung, mich einfach neben Crysalgira fallen zu lassen, war groß. Im letzten Augenblick riss ich mich zusammen, stand auf und zog die Prinzessin mit hoch. Durch die Anstrengung wurde mir wieder schwarz vor den Augen. Eine Weile stand ich mit gespreizten Beinen da und bemühte mich, weder umzufallen noch Crysalgira loszulassen. Glücklicherweise kam sie bald wieder zu sich, so dass ich nicht mehr ihr ganzes Gewicht halten musste. »Entschuldige bitte, dass ich …«, fing sie an. »Ich will keine Entschuldigungen hören, sondern ich will, dass du dich zusammenreißt. Machst du noch einmal schlapp, bekomme ich dich wahrscheinlich nicht mehr hoch.«
»Wie redest du mit mir? Ich bin eine Prinzessin des Quertamagin-Khasurn.« Ich bemühte mich, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Genau diese Reaktion hatte ich erzielen wollen. »Dann benimm dich auch wie eine solche!« »Du wirst nicht nochmals erleben, dass ich schwach werde. Lass mich los, Kristallprinz!« Ich gab sie nur zögernd frei, denn ich war nicht sicher, ob sie sich ohne meine Hilfe auf den Beinen halten konnte. Doch die Entrüstung hatte ihre Kräfte offenbar verdoppelt. Sie hielt sich nicht nur ohne Hilfe auf den Beinen, sondern schritt so zügig aus, dass ich nur mühsam mit ihr Schritt halten konnte. Verbissen stapfte ich vorwärts. Ich hatte das Gefühl, als hingen Stahlplastikgewichte an meinen Füßen. Mein Gehirn schien in der Gluthitze zu brodeln, mein Mund dörrte so aus, dass mir die Zunge bald gleich einem heißen Stein darin lag. Ich blickte starr geradeaus in die flimmernde Luft über der Salzwüste. Nur ab und zu drehte ich den Kopf, um zu sehen, ob Crysalgira noch neben mir war. Jedes Mal sah ich ihr maskenhaft starres Gesicht, in dem nur noch die Augen zu leben schienen. Als ich wieder einmal den Kopf drehte, sah ich die Prinzessin nicht mehr. Erschrocken blieb ich stehen. Mein Gehirn arbeitete so langsam, dass ich wahrscheinlich eine halbe Zentitonta brauchte, bis ich auf den Gedanken kam, dass ich mich umdrehen musste. Die Ausführung des Gedankens beanspruchte noch einmal so viel Zeit. Als ich mich dann endlich umgedreht hatte, entrang sich ein Krächzen meiner ausgedörrten Kehle. Crysalgira steckte bis zu den Hüften in einem Sumpfloch. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst. Offenbar ließ es ihr Stolz nicht zu, dass sie um Hilfe rief. Ich taumelte auf sie zu und wäre wahrscheinlich ebenfalls in dem Sumpfloch gelandet, hätte sie nicht geflüstert: »Stehen bleiben,
du Narr! Kehr um, geh allein weiter. Du kannst mir nicht helfen.« »Unsinn«, krächzte ich, ließ mich langsam in die Knie sinken, legte mich auf den Bauch und kroch auf Crysalgira zu. Als meine Hände nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt waren, berührten sie salzigen Schlamm. »Greif zu! Ich hole dich raus!« »Eine Prinzessin des Quertamagin-Khasurn braucht keine Hilfe.« Im nächsten Moment schluchzte sie trocken, streckte die Arme aus – endlich konnte ich ihre Hände ergreifen. Ich zog mit aller Kraft, die mir noch geblieben war. Zentimeter um Zentimeter kam Crysalgira aus dem Sumpfloch heraus, während ich rückwärts kroch. Plötzlich glitt ich mit den Ellbogen auf einer nassen Stelle aus. Für kurze Zeit war ich so kraftlos, dass ich Crysalgira nicht mehr halten konnte. Schmatzend und gurgelnd zog der Sumpfbrei sie wieder zurück. Ich hätte am liebsten vor ohnmächtigem Zorn geheult. Aber ich kroch nur verbissen Crysalgira nach, packte abermals ihre Hände und zog – bis ich merkte, dass ich diesmal nichts erreichte. Im Gegenteil, sie sank unaufhaltsam tiefer. Ich hielt dennoch fest, obwohl ich wusste, dass ich sie damit nicht mehr retten konnte. Crysalgira klagte nicht, blickte mich nur traurig an. Der Sumpf reichte ihr schon bis zur Brust. Plötzlich erscholl lautes Brummen, Rasseln und Klirren. Zuerst achtete ich überhaupt nicht bewusst darauf. Doch als es immer lauter wurde, hob ich langsam den Kopf – und sah einen Ghyran heranrollen. Wenige Meter vor dem Sumpfloch drehte das Fahrzeug bei. Die Gleisketten schleuderten Salzstaub und Tümpelbrühe über Crysalgira und mich. Das überzeugte mich endgültig davon, dass ich nicht das Opfer einer Halluzination geworden war. Ich wollte rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Der Ghyran stand still. Eine halbe
Ewigkeit schien zu vergehen, bis sich das große Luk an der Seite öffnete. Der Oberkörper eines Lopseggers erschien, ein langer Arm warf sehr geschickt ein Seil, dessen Schlinge sich über Crysalgiras Schultern senkte. Ich half Crysalgiras Arme über die Schlinge zu heben. Als sie sich unter ihren Achseln straffte, verlor ich das Bewusstsein. Als ich erwachte, wäre ich vor Erleichterung beinahe wieder ohnmächtig geworden: Ich sah Crysalgiras Gesicht über mir. »Nicht schlappmachen«, sagte sie lächelnd. »Vergessen Sie nicht, dass Sie der Kristallprinz des Tai Ark’Tussan sind, Erhabener.« Ich lächelte schief zurück und wollte sprechen, aber meine Kehle war noch immer zundertrocken. Crysalgira hob meinen Kopf an und hielt mir eine Trinkschale an die Lippen. Sie enthielt köstliches klares Wasser; ich trank genießerisch, obwohl es warm war. Als die Schale leer war, seufzte ich und sagte krächzend: »Das war Hilfe in letzter Not. Wo ist GermyrHP?« »Ich bin hier«, antwortete der Diplomat von irgendwoher. »Fühlen Sie sich besser, Atlan?« »Ja. Vielen Dank, dass Sie uns gerettet haben. Aber woher wussten Sie, wo Sie nach uns suchen mussten?« »Das habe ich durch logisches Nachdenken ermittelt. Ich wusste, in welche Richtung Sie und Crysalgira am Abend gegangen waren, und konnte mir denken, dass Sie bei dem Überfall in der gleichen Richtung weitergeflohen waren. Da Sie der Angreifer wegen nicht in die Wüste zurückgehen konnten, mussten Sie über den See, und zwar innerhalb eines relativ schmalen Streifens, dessen Position ich mir aus der Strecke errechnete, die Sie zurücklegen würden, bevor die Verfolger umkehrten.« »Genial«, sagte ich – und meinte es auch so, denn die wenigsten Arkoniden wären auf den Gedanken gekommen,
allein durch logisches Nachdenken den schmalen Geländestreifen zu bestimmen, in dem sie uns zu suchen hätten. Außerdem revidierte ich meine Meinung über den Charakter des Diplomaten. Als er mit dem Ghyran geflohen war, hatte ich gedacht, er würde uns im Stich lassen. Es hatte sicher Mut dazu gehört, bei Tagesanbruch zum nördlichen Ufer des Sees zurückzufahren, dort unseren Weg zu ermitteln und zum zweiten Mal über den heimtückischen Salzsee zu fahren. Das Wasser hatte mich erfrischt und meine Lebensgeister geweckt. Mit Crysalgiras Hilfe richtete ich mich auf. Germyr-HP saß vor der Steuerung des Ghyrans. Wegen der fremdartigen Stellung seiner sechs Augen vermochte ich nicht zu erkennen, ob er nach draußen oder in meine Richtung schaute. »Fahren wir weiter nach Süden?« »Ja. Über den See und weiter zum Sheitar-Gebirge.« »Aber ich denke, dort befinden sich die Schlupfwinkel des Parias? Sollten wir nicht lieber am Südufer des Sees entlang nach Osten fahren?« »Nein. Ich habe mir ausgerechnet, dass die Parias, die uns angegriffen haben, genau damit rechnen. Sie werden den Ostzipfel des Sees umgehen und sich in einen Hinterhalt legen. Deshalb müssen wir einen weiten Bogen fahren. Abgesehen davon – das Sheitar-Gebirge ist groß. Wenn wir nur die Ausläufer durchqueren, werden wir wahrscheinlich keinen Parias begegnen.« Ich dachte darüber nach. Germyr-HP hatte bewiesen, dass er logisch denken und planen konnte. Es gab keinen Grund für mich, daran zu zweifeln, dass seine Berechnungen auch diesmal stimmten. »Einverstanden.« Germyr-HP schaltete, drehte den Ghyran nach Süden und beschleunigte. Die Gleisketten schleuderten Salz, Wasser und Schlamm hoch. Ich setzte mich wieder hinter die Feuerschaltungen, kniff die Augen zusammen und spähte
nach draußen. Crysalgira und ich waren dem Tod so nahe gewesen wie selten zuvor. Dennoch lebten wir noch. Das ließ mich hoffen, dass wir auch alle anderen Gefahren und Schwierigkeiten überwinden würden, die auf dem Weg zur Eisigen Sphäre auf uns warteten.
17. Atlan: Die Varganen – oder Tropoyther oder Leerraumkontrolleure, wie sie hier genannt werden – haben in ferner Vergangenheit das Geheimnis der Absoluten Bewegung nutzbar gemacht, der Möglichkeit, von ihrem Mikrokosmos in den Makrokosmos und umgekehrt überzuwechseln und dabei jedes Mal voll integriert zu werden. Sie drangen in den Makrokosmos des Standarduniversums vor und begannen dort ihren Eroberungsfeldzug, errichteten ihr Imperium. Aber der Preis für den Wechsel der Existenzebene ist hoch gewesen – unfruchtbar geworden, wären sie ausgestorben, hätten sie nicht gleichzeitig die Unsterblichkeit erlangt. Viele kehrten in den Mikrokosmos zurück und verzichteten fortan darauf, abermals in den Makrokosmos vorzudringen. Nur eine kleine Gruppe von Rebellen blieb im Standarduniversum, zu der Ischtar gehörte. Dieses Wissen vor Augen, war mir längst klar, weshalb sie so interessiert auf den Einsatz des maahkschen Molekularverdichters reagiert hatte. Durch Magantilliken erfuhren sie, dass Ischtar mit mir einen Sohn gezeugt hatte; ein keineswegs zufälliges Ereignis, dafür war die Goldene Göttin viel zu gezielt vorgegangen. Durchaus möglich, dass sie – im Gegensatz zu ihren Artgenossen in der Eisigen Sphäre – bereits seit Jahrtausenden wusste, dass es eine Möglichkeit gab, die varganische Unfruchtbarkeit zu überwinden. Die Varganen schickten daraufhin die Erinnyen aus, die meinen Sohn Chapat entführten – und als Crysalgira und ich in den Mikrokosmos eingedrungen waren, verhinderten sie die Hinrichtung durch die
Tejonther und beauftragten sie, uns in die Eisige Sphäre zu bringen. Dort wollten sie uns dazu zwingen, mit ihnen Kinder zu zeugen. Aus verständlichen Gründen verspürten die Prinzessin und ich keine Lust, uns als Zuchtexemplare missbrauchen zu lassen – selbst wenn gentechnologische Verfahren und Methoden zum Einsatz kamen, die künstliche Befruchtung, biomechanische Gebärmutter, wie sie von Ischtar bei Chapat eingesetzt wurde, und dergleichen beinhalteten. Das Fatale an unserer Situation ist, dass der Schlüssel zur Rückkehr ins Standarduniversum eben in der Eisigen Sphäre zu finden ist: Nur dort befindet sich der Umsetzer, mit dem die Absolute Bewegung erzeugt werden kann. Im Gegensatz zu meinem ersten mikrokosmischen Abenteuer, gab es hier kein Ende der Ebene, das uns ein anderweitiges Entkommen gestattet hätte. Zwar hatte Ischtar angedeutet und Vargos Bericht bestätigt, dass auch die im Standarduniversum zurückgebliebenen Rebellen Versuche mit Umsetzern durchgeführt hatten, doch deren »Gegenpol« im Mikrokosmos wird für uns kaum erreichbar sein, zumal er keineswegs permanent aktiviert sein dürfte und auch kein offen stehendes Tor darstellt. Nein, nach derzeitigem Wissensstand bleibt uns nur Vargos Umsetzer – und ich frage mich nicht zum ersten und bestimmt nicht zum letzten Mal, wie sich das Ziel erreichen lässt, ohne den Varganen zu Diensten zu sein. Müssen wir uns unter Umständen doch mit ihnen arrangieren? Ich glaube nicht, dass sich Crysalgira dazu hergeben wird, sondern lieber stirbt – schon die Vorstellung daran lässt sie zittern.
Wartzong: 13. Prago des Eyiion 10.499 da Ark Germyr-HP fuhr den Ghyran voll aus, der Wagen entwickelte eine beinahe beängstigende Geschwindigkeit. Ich sagte nichts dazu, obwohl ich mehrmals nahe daran war, ihn zu fragen, warum er in einem ihm unbekannten Gelände, in
dem tückische Sümpfe unter der Salzkruste lauerten, nicht vorsichtiger fuhr. Als wir in einen der großen Sümpfe gerieten, war ich froh, dass ich den Diplomaten nicht gefragt hatte. Wir versanken nämlich nur deshalb nicht, weil die Geschwindigkeit des Ghyrans so hoch war, dass die gefährliche Stelle bereits hinter uns lag, als die Salzkruste auf der vollen Spurbreite barst und der Sumpf gierig seine Schlammfühler ausstreckte. Germyr-HP musste meine Gedanken erraten haben, denn er sagte: »Hohe Geschwindigkeit ist für jemanden, der die Sümpfe nicht kennt, die einzige Möglichkeit, lebend wieder herauszukommen. Ich bin nicht in der Lage, einen Sumpf, der unter einer Salzkruste liegt, zu erkennen, bevor der Ghyran darüberfährt. Würde ich langsamer fahren, bräche der Wagen mit Sicherheit ein.« »Verstanden«, erwiderte ich. Dennoch atmete ich erst auf, als wir den Salzsee hinter uns gelassen hatten. Abermals fuhren wir durch eine Sandwüste. Aber im Unterschied zu der Wüste nördlich des Sees ragten hier überall bizarr geformte Felsklippen aus dem Sand. Später stieg das Gelände allmählich an. Der Sand machte nacktem Felsgestein Platz. Anfangs kletterte der Ghyran brav über das Gelände, aber nach und nach wurde die Landschaft wilder und unwegsamer. Germyr-HP steuerte auf eine Gruppe von Hügeln zu, die, genau von West nach Ost ausgerichtet, eine lange Kette bildeten. Der Diplomat wollte in dem Tal zwischen den Hügeln und dem eigentlichen Sheitar-Gebirge nach Osten fahren. Dort würden wir vor den Blicken von Parias, die irgendwo in der Nähe des Sees lauerten, hoffentlich sicher sein. Als wir den ersten Hügel erreichten, musste Germyr-HP nach Süden abschwenken, um den Ghyran in das Tal dahinter steuern zu können. Wir fuhren praktisch um den halben
Hügel. Dann lag das lang gestreckte Tal vor uns – und nur hundert Meter entfernt waren rund dreißig Geländewagen in einem Kreis abgestellt. Innerhalb dieses Kreises standen niedrige schwarze Zelte, zahlreiche Lopsegger gingen zwischen den Zelten herum. »Parias!«, stieß Germyr-HP hervor. Crysalgira stieß einen halb erstickten Schrei aus und blickte aus schreckgeweiteten Augen auf das Lager, in dem wir inzwischen entdeckt worden waren. Lopsegger rannten auf ihre Fahrzeuge zu, zweifellos, um uns mit ihnen zu verfolgen. »Halt!«, sagte ich scharf, als ich sah, dass Germyr-HP den Ghyran abbremsen und um hundertachtzig Grad drehen wollte. »Wenn wir fliehen, holen sie uns bald ein. Dann sind wir verloren. Fahren Sie langsam weiter und halten Sie vor dem Kreis der Wagen.« »Dann sind wir erst recht verloren.« »Nein. Wir müssen so tun, als suchten wir Anschluss. Vielleicht nehmen uns die Wüstenbewohner auf, wenn wir behaupten, wir seien Ausgestoßene.« »Vielleicht. Aber wenn nicht, foltern und töten sie uns.« Aber trotz seines Einwands fuhr er langsam weiter. Der Ghyran musste den Parias bedrohlich erscheinen. Deshalb entschloss ich mich, die Situation zu entschärfen, indem ich mich zeigte. Außerdem hoffte ich, dass der Anblick eines völlig Fremden die Wissbegier der Parias erregen würde. So schnell es ging, kletterte ich nach oben, stieß das Turmluk auf und schwang mich auf den Rand der Öffnung. Ich sah, dass zahlreiche Parias zwischen den Wüstenwagen in Deckung gegangen waren und mit Strahlgewehren auf uns zielten. Andere Wagen hatten sich in Bewegung gesetzt und schwärmten aus. Von ihnen richteten sich leichte Strahlgeschütze auf den Ghyran. Ich winkte und rief etwas, das die Parias zwar nicht verstehen konnten, aus dem sie aber
zu schließen vermochten, dass ich Kontakt mit ihnen aufnehmen wollte. Am meisten aber überzeugte sie wohl die Tatsache, dass ich den relativ sicheren Schutz des Ghyrans verlassen hatte, von meiner Friedfertigkeit. Die meisten Strahlgewehre wurden gesenkt. Kein einziger Schuss fiel. Direkt vor dem Wagenring hielt Germyr-HP an, er und Crysalgira stiegen aus. Ich kletterte von meinem luftigen Sitz und stellte mich neben meine Gefährten. Eine Gruppe von Parias näherte sich langsam, während vier offene Wüstenwagen an unserem Ghyran vorbeirollten und hinter dem Hügel verschwanden. Ihre Besatzungen sollten offenbar nachsehen, ob uns jemand folgte. Wenige Meter vor uns blieben die Parias stehen. Einer von ihnen trat vor und sagte: »Wer seid ihr, und woher kommt ihr?« Seine Worte wurden von Germyrs Translator übersetzt. Der Diplomat stellte uns vor. »Die beiden Fremden wurden vom Stamm HP auf einem anderen Planeten gefangen genommen. Als sie erfuhren, dass in der Thar viele Ausgestoßene unter schlechten Bedingungen leben, schlugen sie vor, das Klima so zu beeinflussen, dass aus der Thar fruchtbares Acker- und Weideland wird.« Weiter kam er nicht, denn die Parias stießen ein Durcheinander von knarrenden Lauten aus, so dass der Translator nicht in der Lage war, etwas zu übersetzen. Dann hob der Anführer der Parias die Hand und wartete, bis Stille eintrat. »Damit haben die Fremden gegen das uralte Tabu verstoßen. Warum wurden sie nicht sofort hingerichtet?« »Ich setzte mich für sie ein. Ich erklärte, dass die Fremden nicht absichtlich gegen das Tabu verstießen, sondern deshalb, weil sie es nicht kannten. Daraufhin beschränkte sich KarsihlHP darauf, die Fremden in die Wüste auszustoßen. Mich verurteilte er zu dem gleichen Schicksal, weil ich es gewagt hatte, sie zu verteidigen. Wir verließen Wartzonga und fuhren
über den Nordkurs nach Kalayshtan. Dort baten wir um Aufnahme, wurden jedoch abgewiesen und sogar von Soldaten gejagt.« »Von Soldaten? Sind sie euch gefolgt?« »Sie stellten uns unterwegs eine Falle«, sagte ich. »Aber alle Soldaten wurden Opfer von Sphavn. Diese griffen auch unseren Ghyran an, doch wir konnten entkommen und fuhren über den Salzsee.« Der Anführer blickte mich an. »Ihr habt einen weiten Weg hinter euch. Wie kamst du dazu, dich als Fremder für die Umwandlung der Thar in fruchtbares Land einzusetzen?« »Weil das die Voraussetzung für ein friedliches Nebeneinander der Stadtbewohner und jetzigen Wüstenbewohner ist.« »Du hast Recht. Wir wollen den Frieden, aber die Wüste kann uns nicht ernähren. Deshalb müssen wir die Transporte der Stadtbewohner überfallen und ausrauben. Wenn ihr wollt, könnt ihr bei uns bleiben.« »Wir nehmen dankend an.« »Gut. Wir nennen uns Hevla. Ich bin Hevla-Toorn, du wirst von nun an Hevla-Atlan heißen. Dein Freund heißt HevlaCrysalgira, und Germyr-HP wird sich Flevla-Germyr nennen und seinen alten Stamm vergessen müssen.« »Wir danken dir und deinem Stamm, Hevla-Toorn«, sagte Germyr-HP feierlich.
Wir durften uns an dem »Feuer des Anführers« niederlassen, das natürlich kein offenes Feuer war, sondern ein großer Mikrowellenherd, der seine Energie von dem Minireaktor in seinem Sockel bezog. Offiziell waren wir damit in den Stamm der Hevla aufgenommen, aber ich merkte, dass die Lage sich erst entspannte, als die Besatzung der vier Wüstenwagen
zurückgekehrt war und berichtet hatte, dass uns niemand gefolgt war. Es amüsierte mich ein wenig, dass Crysalgira von den Hevla als männliches Wesen eingestuft wurde. Andererseits war mir natürlich klar, dass ein Lopsegger keine Ahnung von den Geschlechtsmerkmalen der Arkoniden haben konnte. Nachdem wir mit den Hevla zusammen gegessen hatten, wies Hevla-Toorn uns eines der schwarzen Zelte zu. »Es gehört euch. So, wie ihr von heute ab zu den Hevla gehört. Ruht euch aus. Später werde ich euch zur Beratung holen lassen.« Als er gegangen war, blickte Crysalgira mich von der Seite an. »Wir gehören also jetzt zu den Wüstenräubern. Wie lange soll unser Gastspiel eigentlich dauern?« »Nur so lange, bis wir uns wegschleichen können. Oder dachtest du, ich sei daran interessiert, den Rest meines Lebens bei einem Stamm von Wüstenräubern zu verbringen?« »So leicht kommen wir nicht fort«, sagte Germyr-HP. »Hevla-Toorn war freundlich zu uns, aber ich weiß, dass er uns überwachen lassen wird. Sollten wir zu fliehen versuchen, werden wir umgebracht.« »Das sind ja schöne Aussichten«, murrte Crysalgira. Ich lächelte ihr beruhigend zu. »Bisher haben wir noch aus jeder Lage einen Ausweg gefunden. Deshalb schlage ich vor, wir ruhen ein wenig und hören uns nachher an, was bei der Beratung gesagt wird.« »Einverstanden.« Crysalgira gähnte. »Ich gestehe, dass ich so müde bin, dass ich bestimmt drei Tage lang schlafen könnte.« Sie streckte sich aus. Ich folgte ihrem Beispiel, während der Diplomat sich gleich einer Assel zusammenrollte. Innerhalb weniger Augenblicke war ich eingeschlafen.
Ich erwachte von einigen knarrenden Tönen. Als ich mich aufrichtete, stand ein Paria in der Zeltöffnung. Wieder sagte er etwas. Aber ich verstand nichts, weil der Translator in Germyrs zusammengerolltem Körper verborgen war. Ich stieß den Diplomaten mit dem Fuß an. Germyr-HP rollte sich auseinander und schaute erst mich und dann den Besucher an. »Hevla-Toorn bittet euch zur Beratung«, sagte der Paria – diesmal übersetzte der Translator. Inzwischen war auch Crysalgira aufgewacht. Der Paria wartete schweigend, bis wir das Zelt verlassen hatten, und führte uns zu einem Halbkreis von Parias, dem fünf andere Parias gegenübersaßen. Wir wurden angewiesen, am linken Flügel des Halbkreises Platz zu nehmen. Der mittlere der fünf Parias wartete, bis wir saßen. »Ich habe unsere neuen Stammesmitglieder rufen lassen, damit sie lernen, wie wir Hevla leben, arbeiten und kämpfen. Schon morgen werden sie sich an einem Überfall auf eine Gewürzkarawane beteiligen können, die von Kalayshtan nach Wartzonga unterwegs ist. Für die Fremden möchte ich erklären, was es mit diesen Gewürzen auf sich hat. Es sind damit keine Gewürze gemeint, die für Speisen verwendet werden. Vielmehr handelt es sich um Kräuter, die zu Drogen verarbeitet werden, die die Seele beflügeln und den Geist entspannen. Offiziell ist das ›Würzen‹ bei den Stadtbewohnern verpönt, weshalb die Gewürze heimlich eingeführt werden müssen. Inoffiziell werden die Gewürzschmuggler allerdings geduldet, denn alle Lopsegger nahmen regelmäßig Gewürzdrogen zu sich. Die Heimlichkeit, mit der das geschieht, beruht auf der Politik der Gewürzhändler, die mit den Stammesführern zusammenarbeiten und die Preise bestimmen. Deshalb wird uns der Überfall auf die Gewürzschmuggler einen großen Reichtum bringen. Wir
brauchen dann die Gewürze nur einem Händler von Wartzonga anzubieten. Er wird gezwungen sein, sie zu kaufen, denn bis zur nächsten Lieferung vergeht viel Zeit. Mit dem Geld beschaffen wir uns neue Waffen, die uns helfen werden, auch die nächsten Transporte der Gewürzschmuggler erfolgreich zu überfallen. Der Stamm Hevla wird bald einer der reichsten Wüstenstämme sein.« Als er schwieg, brachen die Anwesenden in lauten, knarrenden Jubel aus. Ich forderte meine Gefährten auf, mit mir ein Stück zu gehen, und wandte mich an Germyr-HP: »Wenn die Gewürzschmuggler überfallen werden, was geschieht mit den Schmugglern?« »Sie werden getötet«, antwortete der Diplomat, als sei das selbstverständlich. »Das wäre Mord. Da mache ich nicht mit, Germyr-HP.« »Wir alle werden mitmachen müssen. Es soll unsere Bewährungsprobe sein. Sollten die Hevla feststellen, dass wir schlechte Kämpfer sind oder gar nicht mitmachen wollen, werden sie uns ebenfalls töten.« Ich holte tief Luft. »Wenn es so ist, werden wir unser Verhalten den Umständen anpassen müssen.« »Willst du dich dazu hergeben, die Gewürzschmuggler abzuschlachten?«, fragte Crysalgira empört. »Nein«, erwiderte ich ernst. »Ich schlage im Gegenteil vor, dass wir versuchen, die Gewürzschmuggler vor dem Überfall zu warnen, so dass sie sich darauf vorbereiten können.« »Wie sollen wir das anstellen?«, fragte der Diplomat. »Das weiß ich auch noch nicht. Aber hören wir erst einmal zu, was Hevla-Toorn noch zu sagen hat Anschließend überlegen wir uns, wie wir die Schmuggler rechtzeitig warnen können.«
Hevla-Toorn erklärte, dass die Gewürzschmuggler am Abend den Nordostzipfel des Salzsees erreichen und dort ihr Nachtlager aufschlagen würden. Ich überlegte, dass die Hevla einen Spitzel nach Kalayshtan eingeschleust haben mussten, sonst hätten sie nicht über so genaue Informationen verfügen können. Dann hörte ich wieder dem Paria zu, der soeben sagte, dass der Überfall im ersten Morgenlicht stattfinden sollte. Er teilte die Männer des Stammes in drei Gruppen ein. Eine sollte nachts mit ihren Geländewagen auf einem geheimen Pfad über den See fahren und den Schmugglern den Rückweg abschneiden, die zweite nach Osten ausholen und die Karawane frühmorgens aus dieser Richtung angreifen. Hevla-Toorn rechnete damit, dass die Schmuggler, wurden sie von zwei Seiten bedrängt, in südlicher Richtung ausweichen würden. Dort sollte das Gros der Parias ihnen auflauern und sie überrennen. Der Diplomat, Crysalgira und ich wurden der ersten Gruppe zugeteilt und durch drei Parias verstärkt, die in unserem Ghyran mitfahren sollten. Sobald die dritte Gruppe die Schmuggler angriff, sollten die Parias der ersten Gruppe im Schutz des Ghyrans vorstoßen und die Schmuggler im Nahkampf überwinden. Noch während Hevla-Toorn sprach, legte ich mir meinen Plan zurecht. Vorsichtshalber redete ich jedoch noch nicht darüber. Damit wartete ich, bis wir uns nach der Versammlung in unser Zelt zurückgezogen hatten. Germyr-HP hatte sich wieder zusammengerollt und schlief fest, so dass sein Translator nicht ansprechen konnte. Das war wichtig, denn ich wollte den Diplomaten nicht in die Einzelheiten meines Planes einweihen. Nachdem ich ihn der Prinzessin dargelegt hatte, sah sie mich zweifelnd an. »Das ist gefährlich. Sollten die Parias etwas merken, sind wir alle verloren.« »Wir müssen das Risiko auf uns nehmen«, sagte ich.
»Erstens kann ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Unschuldige zu töten, zweitens würden uns die Hevla niemals ziehen lassen. Werden sie aber zurückgeschlagen und zur Flucht gezwungen, können wir zurückbleiben und mit den Schmugglern weiterziehen.« Crysalgira überlegte eine Weile, bis sie leise sagte: »Einverstanden.«
Wir schliefen ebenfalls noch eine Weile. Kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit wurden wir geweckt. Wir nahmen eine letzte Mahlzeit mit den Parias ein, danach brachen wir auf. Die drei Parias, die uns in den Ghyran begleiteten, waren schwer bewaffnet. Sie setzten sich an die Rückwand der Steuerkabine, so dass sie uns ständig beobachten konnten. Ich zweifelte nicht daran, dass sie von Hevla-Toorn zu unseren Aufpassern bestimmt worden waren. Der Paria traut uns also nicht. Das ist mir allerdings nur recht, denn es bewahrt mich davor, ihm gegenüber Gewissensbisse zu empfinden. Zu unserer Gruppe gehörten fünf offene Geländewagen, in denen jeweils acht bewaffnete Parias saßen. Zwei fuhren voran, gefolgt von dem Ghyran. Die restlichen drei Wagen bildeten den Schluss. Es war dunkel, als wir das Südufer des Salzsees überquerten. Trotz der Dunkelheit fuhren die Parias ziemlich schnell. Sie kannten den Salzsee und seine Tücken zweifellos genau. Wir kamen gut voran und erreichten das Nordufer rund zweieinhalb Tontas nach unserem Aufbruch. Die Wagen der Parias fuhren langsamer und blieben auf dem See. Als sie anhielten, war es Mitternacht. Ich blickte nach draußen, konnte aber nur die schemenhaften Umrisse der beiden ersten Wagen erkennen. Viel Zeit blieb mir nicht mehr, denn ich musste vor dem Aufbruch zurück sein. Vor allem aber musste ich unter einem Vorwand den Ghyran allein
verlassen – und ich brauchte den Translator des Diplomaten, wenn ich mich mit den Schmugglern verständigen wollte. Unsere drei Aufpasser kamen meinen Absichten unerwartet entgegen, denn einer von ihnen wandte sich an uns: »Ihr müsst aussteigen und draußen schlafen. Wir bleiben hier und bewachen den Ghyran.« »Aber draußen wird es sehr kalt«, erwiderte ich, um mir nicht anmerken zu lassen, wie erfreut ich über die Aufforderung war, den Ghyran zu verlassen. »Hevla-Toorn hat es so angeordnet.« »Dann müssen wir gehorchen«, sagte Germyr-HP. »Die Befehle eines Stammesführers sind bindend.« »Es ist gut, dass du das einsiehst. Gehorchen oder sterben, das ist das Gesetz des Stammes.« Ich gab meinen gespielten Widerstand auf und verließ mit meinen Gefährten das Fahrzeug. Die anderen Parias hatten ihre Wagen verlassen und bauten die schwarzen Zelte auf. Der Anführer unserer Gruppe kam zu uns und teilte uns mit, dass für uns ebenfalls ein Zelt aufgestellt worden sei. Er führte uns hin und kehrte zu seinen Leuten zurück. Kaum waren wir im Zelt, sagte Germyr-HP: »Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich die Schmuggler warnen muss.« »Das hatte ich eigentlich vor.« »Ich dachte es mir. Aber mir werden die Schmuggler eher glauben als einem Fremden.« Er zog eine Metallscheibe, auf der Symbole eingraviert waren, aus einer Tasche. »Damit kann ich mich als Diplomaten des Stammes HP ausweisen und die Schmuggler davon überzeugen, dass sie mir vertrauen können.« Das leuchtete mir ein, deshalb sagte ich: »Einverstanden, Germyr-HP. Aber Sie müssen einige Zeit vor Tagesanbruch wieder hier sein, sonst werden die Parias misstrauisch.«
»Ich werde rechtzeitig zurück sein.« Ohne weiteren Kommentar hob er die Rückwand des Zeltes an und kroch hinaus. »Was geschieht mit uns, wenn er sein Wort nicht hält?«, erkundigte sich Crysalgira. Ich erwiderte nichts darauf, denn sie kannte die Antwort ebenso gut wie ich.
Als der Anführer unserer Gruppe zum Aufbruch rief, war Germyr-HP allerdings immer noch nicht zurück. Crysalgira murmelte: »Wahrscheinlich ist er mit den Schmugglern sofort nach seiner Ankunft weiter nach Osten gefahren.« »Möglich. Wir müssen den Parias gegenüber behaupten, dass wir nichts von seinem Verschwinden bemerkt haben. Wenigstens hat er uns seinen Translator gelassen, sonst könnten wir uns überhaupt nicht verständigen.« Ich hängte mir gerade das Gerät um, als der Anführer unserer Gruppe im Zelteingang erschien. »Kommen Sie heraus. Wir müssen …« Er stockte, als er sah, dass Germyr-HP fehlte. Im nächsten Augenblick drehte er sich um und rief einige Befehle. Innerhalb weniger Augenblicke versammelten sich alle Parias unserer Gruppe um das Zelt. Wir wurden gezwungen, es zu verlassen; zahlreiche Waffen richteten sich auf uns. »Wo ist Hevla-Germyr?« »Hier!«, rief eine Stimme, die ebenfalls von dem Translator übersetzt wurde. Die Parias fuhren herum. Ich riss Crysalgira zu Boden, denn ich ahnte, was kommen würde. Im nächsten Augenblick entluden sich die Strahlen zahlreicher Energiewaffen. Schreie ertönten. Hitzewellen fauchten über uns hinweg. Plötzlich wurde es totenstill. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass von den Parias unserer Gruppe keiner mehr lebte. Lopsegger in schwarzen Kombinationen eilten ins Lager.
Einige kletterten sogar aus unserem Ghyran und warfen die sterblichen Überreste unserer Aufpasser auf die Salzkruste des Sees. Einer der Lopsegger näherte sich. Ich erkannte den Diplomaten an der Kleidung, durch die er sich von den Schmugglern unterschied. »Sie hätten nicht später kommen dürfen, Germyr-HP.« »Ich sagte doch, dass ich rechtzeitig wieder zurück sein würde. Wir warteten mit dem Angriff nur, bis sich die meisten Parias um Sie versammelt hatten. Dadurch waren sie leichter zu bekämpfen, und einige Schmuggler konnten heimlich in den Ghyran steigen und die Aufpasser ausschalten, bevor sie mit dem Energiegeschütz eingreifen konnten.« »Das war tatsächlich genial. Bestimmt haben Sie auch schon den weiteren Ablauf der Ereignisse geplant.« »So ist es. In diesem Augenblick wird die zweite Gruppe der Parias überwältigt. Danach ist uns der Sieg über das Gros der Parias sicher.« Ein zweiter Lopsegger näherte sich. Germyr-HP stellte ihn als den Anführer der Schmuggler vor. Die beiden Lopsegger duzten sich. Sie arbeiten für Germyr-HP!, raunte mein Logiksektor. Der Diplomat betreibt nebenberuflich einen schwunghaften Gewürzhandel. Das erklärt, warum er unbedingt selbst zum Lager der Schmuggler schleichen wollte und warum sie sich nach seinen Plänen richteten. Diese Vorstellung amüsierte mich. Ich überlegte, ob ich Germyr-HP verraten sollte, dass ich ihn durchschaut hatte. Doch ich ließ es dann doch lieber sein. Ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde. Die Schmuggler hatten unterdessen die Wüstenwagen der Parias besetzt. Germyr-HP, Crysalgira und ich stiegen wieder in den Ghyran. Der Diplomat übernahm die Steuerung und fuhr hinter den Wüstenwagen her. Inzwischen war es Tag geworden. Als wir das Lager der Schmuggler erreichten, näherte sich von Osten her eine
Kolonne der kleinen offenen Wüstenwagen, wie die Parias sie benutzten. Aber sie waren mit Schmugglern besetzt. Demnach war also auch die zweite Gruppe der Parias besiegt worden. Die Wagenkolonne der Schmuggler setzte sich in Bewegung und fuhr nach Süden, während Germyr-HP uns erklärte, wie es weitergehen sollte. Ich konnte keinen Fehler in seinem Plan entdecken. Für Hevla-Toorn und seine Gruppe musste es so aussehen, als sei ihr Plan aufgegangen, als die Fahrzeuge der Schmuggler sich ihnen in wilder Flucht näherten, verfolgt von zwei Fahrzeugkolonnen, in denen die Wagen der Parias zu erkennen waren. Dieser Eindruck wurde noch durch den Schusswechsel zwischen Verfolgten und Verfolgern verhärtet. Hevla-Toorn glaubte sicher, leichtes Spiel zu haben. Die voll besetzten Wagen seiner Gruppe erreichten einen Dünenkamm und fuhren auf die Wagen der Schmuggler zu. Ihre Geschwindigkeit war so bemessen, dass sie in die Schmugglerkolonne hineinrasen mussten. Nach Ansicht der Parias würden die Schmuggler ja nicht bremsen, weil ihnen die Verfolger im Nacken saßen. Aber genau das taten die Schmuggler – und der Angriff der Parias stieß ins Leere. Während sich ihre Wagen neu zu formieren versuchten, waren auch die beiden »Verfolgergruppen« angekommen. Die Verwirrung bei den Parias war vollkommen, als alle drei Gruppen das Feuer auf sie eröffneten. Ihre Wagen standen größtenteils in Flammen, bevor sie recht begriffen, dass sie überlistet worden waren. Nur zwei Wüstenwagen mit Parias entkamen. Vom Stamme Hevla drohte dem Handel auf absehbare Zeit keine Gefahr mehr. Die Transportfahrzeuge der Schmuggler formierten sich neu und fuhren nach Osten davon, in Richtung Wartzonga, begleitet von den mit Schmugglern besetzten erbeuteten Wüstenwagen.
»Heute Abend sind wir zu Hause«, versicherte Germyr-HP.
Es war noch hell, als wir den westlichen Stadtrand von Wartzonga erreichten. Die Fahrt vom Salzsee aus war ohne Zwischenfälle verlaufen. Der Anführer der Schmuggler verabschiedete sich. Während wir mit dem Ghyran zu einem öffentlichen Parkhaus weiterfuhren, bog die Kolonne der Transportwagen und Beutefahrzeuge nach Süden ab und nahm Kurs auf einen Handelshof, der noch außerhalb der Stadt lag. Wir stellten den Ghyran ab und stiegen aus. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich. »Ohne Sie wären wir immer noch die Gefangenen der TT. Würden Sie uns bitte sagen, wie wir zu Karsihl-HP kommen?« »Ich bringe Sie hin. Er wird in seiner Wohnung sein; ganz in der Nähe. Wir können zu Fuß geben.« »Sie sind wirklich ein prima Kerl«, sagte Crysalgira. »Wären Sie ein Arkonide, würde ich Sie küssen.« Der Translator übersetzte zwar auch das, aber ich bezweifelte, ob Germyr-HP damit etwas anfangen konnte. Lopsegger küssten sich ganz sicher nicht. Jedenfalls vermochte ich mir das bei diesen Wesen nicht vorzustellen. Der Diplomat ging voraus und führte uns zu einer der obligatorischen Treppen. Seine Auffassung von Entfernungen unterschied sich stark von der unsrigen, denn nach einer halben Tonta wanderten wir immer noch treppauf, treppab. Ich wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als unvermittelt ohrenbetäubende Huptöne erschollen. Die Lopsegger, die sich mit uns auf der Treppe befanden, standen einen Augenblick lang erstarrt, dann stoben sie aufgescheucht auseinander. Wir wurden von der Menge an die Wandseite der Treppe gedrängt. »Was ist los?«, schrie ich über das Hupen und Knarren
hinweg. »Das bedeutet doch Alarm? Ist Krieg zwischen Wartzonga und Kalayshtan ausgebrochen?« »Es ist viel schlimmer. Die Alarmsignale bedeuten, dass Wartzong aus dem Weltraum angegriffen wird. Wahrscheinlich von Tejonthern. Ich hoffe nur, dass unsere Wachflotte sie aufhält.« »Wir müssen schnellstens zu Karsihl-HP!«, rief Crysalgira. »Bringen Sie uns endlich zu seiner Wohnung!« »Dort ist er nicht mehr. Karsihl-HP wird beim ersten Alarmsignal aufgebrochen sein und befindet sich auf dem Weg zum Hauptquartier.« »Dann führen Sie uns dorthin«, sagte ich. »Ja«, erwiderte der Diplomat – und warf sich zu Boden. Ich blickte nach oben. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern erstarren. Ein ovales Raumschiff stürzte brennend vom Himmel. Die Flammen waberten aus dem aufgerissenen Rumpf, hüllten das Heck völlig ein und vereinten sich zu einer brausenden Feuersäule. Winzig anmutende dunkle Gestalten stürzten aus Luken im Vorderteil und fielen wie Steine herab. Es sah aus, als würde das brennende Schiff genau auf uns stürzen. Ich wusste allerdings aus einschlägigen Erfahrungen, dass solche Eindrücke meist täuschten. Dennoch mussten wir in Deckung gehen. Ich schaute mich um und sah zehn Meter unter uns eine Öffnung in dem Gebäude, an dessen Wand unsere Treppe entlangführte. »Mitkommen!« Ich ergriff Crysalgiras Hand und hastete mit ihr die Stufen hinunter, immer zwei oder drei auf einmal nehmend. Die Prinzessin stolperte, genau vor der Öffnung stürzten wir. Ein Lopsegger landete neben uns und trampelte über uns hinweg durch die Öffnung: Germyr-HP. Gerade wollte ich Crysalgira hochziehen, als das brennende Raumschiff mit ohrenbetäubendem Rauschen, Heulen und Donnern über uns hinwegschoss. Der Pilot hatte offenbar todesmutig auf seinem
Platz ausgeharrt, denn ich sah, dass er das Schiff hochzureißen versuchte, damit es nicht in die Stadt stürzte. Er schaffte es tatsächlich, den Bug wieder hochzuziehen, doch dann sackte das Schiff endgültig weg und schlug irgendwo am Ostrand von Wartzonga auf. Ich konnte die Aufschlagstelle nicht einsehen, da Gebäude im Weg standen, aber ich sah die schmerzende Helligkeit, die sich schlagartig ausbreitete, gefolgt vom Donner der Explosion. Die Treppe schwankte heftig, aber sie hielt. Als es still wurde, kroch Germyr-HP vorsichtig aus der Öffnung. »Das muss ein Raumschiff unserer Wachflotte gewesen sein.« Noch verärgert über die Rücksichtslosigkeit, mit der er über uns hinweggetrampelt war, erwiderte ich unfreundlich: »Dann bringen Sie uns schnellstens zum Hauptquartier, bevor die Angreifer selbst auftauchen.« »Kommen Sie.« Er hüpfte die Treppe hinab. Wir folgten ihm. Die meisten Passanten waren verschwunden. Nur einige einzelne Lopsegger hasteten noch panikerfüllt über die benachbarten Treppen. Plötzlich wurde alles in gleißende Helligkeit getaucht. Ein hohles Brausen war zu hören. »Nicht aufblicken!«, rief ich. »Die Bodenforts haben das Feuer eröffnet.« Wir hasteten weiter, rannten über einen freien Platz und liefen eine andere Treppe hinauf. Plötzlich bäumte sich der Boden unter unseren Füßen auf. Nacheinander ertönte das schmetternde Krachen, mit dem sich starke Energiestrahlen in fester Materie entluden. Ich sah, wie ein pyramidenförmiges Gebäude zur Linken förmlich zerbarst. Glühende Trümmer wirbelten durch die Luft. Ein Schiff der Tejonther musste die Abwehr der Lopsegger durchbrochen haben und beschoss Wartzonga mit seinen Strahlkanonen. Nur Augenblicke später strahlte über der Stadt eine künstliche Sonne – das tejonthische
Raumschiff war im konzentrischen Beschuss der Bodenforts explodiert. Es hatte sich bereits innerhalb der Atmosphäre befunden, deshalb würden seine Trümmer zweifellos auch in der Stadt einschlagen. Abermals sah ich mich nach einer Deckung um, entdeckte mehrere Öffnungen, aber ich kam nicht dazu, mit Crysalgira in eine zu flüchten, denn GermyrHP war uns etwa zehn Meter voraus und rannte unaufhaltsam weiter. Wir mussten ihm auf den Fersen bleiben, wollten wir zum Hauptquartier finden. Wir kamen immerhin anderthalb Treppen weiter, bevor der Trümmerregen einsetzte. Glühende Hüllenfetzen, brennende Aggregate und zahllose undefinierbare Teile schlugen rings um uns ein, rissen Häuserwände nieder, setzten Gebäude in Brand und schlugen Treppen in Stücke. Wie durch ein Wunder blieben wir unverletzt. Germyr-HP schien von blinder Panik ergriffen zu sein, beschleunigte sein Tempo, sprang über breite Lücken, die von Trümmern in Treppen gerissen worden waren, rutschte eine Schutthalde hinunter und hastete eine neue Treppe hinauf. Wir rannten soeben über eine schmale Brücke zwischen zwei Treppensäulen, als die Stadt sich in eine einzige riesige, flackernde Aureole zu hüllen schien. Dann brach das dumpfe Krachen der Explosionen über uns herein. Raketenbeschuss! Im nächsten Augenblick verschwand das obere Drittel des Nachbargebäudes wie weggeblasen. Knallend barsten die Halterungen unserer Brücke. Aus, dachte ich, während ich mich irgendwo festhielt und unsere Brücke in den Abgrund zwischen den Treppentrümmern stürzte.
Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Allerdings keine normale Nacht, denn das Glühen und Flackern zahlloser Brände hellte die Dunkelheit auf. Wartzonga stand in
Flammen – und ich lag mittendrin. Ich konnte mich nicht an den Augenblick zu erinnern, an dem ich das Bewusstsein verloren hatte, wusste nur noch, dass die Brücke mit mir in die Tiefe gestürzt war – mit mir, mit Crysalgira und wahrscheinlich auch mit Germyr-HP. Bis zum Boden waren es mindestens dreihundert Meter gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich einen Sturz aus dieser Höhe überlebt haben sollte – dennoch lebte ich nicht nur, ich konnte sogar meine Lage überdenken. Was ist mit Crysalgira? Ich richtete mich auf. Außer Prellungen schien ich keine Verletzungen erlitten zu haben. Im zuckenden Schein der Flammen sah ich die Prinzessin ausgestreckt auf der Brücke liegen, offenbar bewusstlos. Doch ich sah auch, dass die Brücke nicht abgestürzt war, jedenfalls nicht sehr tief, sondern stetiges Knirschen und Knacken verriet mir, dass sie nicht mehr lange hier hängen würde. Auf Händen und Knien kroch ich zu Crysalgira, drehte sie behutsam um, stellte fest, dass sie atmete, und schlug ihr ein paarmal gegen die Wangen. Die Lider über den mandelförmigen Augen hoben sich, die Lippen zitterten. »Atlan?« »Ja, ich bin es. Kannst du aufstehen? Wir müssen schnellstens hier weg.« »Ich dachte, wir wären tot.« »Komm endlich zu dir!«, rief ich ungeduldig. Plötzlich knackte und knirschte es laut. Die gesamte Treppe kippte um etwa fünf Grad, sackte ein Stück ab und hing dann erneut fest. Ich begriff, dass wir nicht länger warten durften. Entschlossen legte ich mir Crysalgira über die Schulter, richtete mich auf und balancierte über den schrägen Brückenboden zum benachbarten Treppenturm. Erneut knackte und knirschte es. Ich spürte, wie sich die Brücke wiederum unter meinen Füßen senkte. Mit einem Sprung erreichte ich den Treppenturm, lehnte mich an die Säulenleiste und hörte, wie die Brücke
hinter uns endgültig losbrach. Eine halbe Ewigkeit später drang das Geräusch des Aufpralls aus der Tiefe zu uns herauf. Der Treppenturm schwankte bedenklich, aber er hielt. »Ich glaube, ich kann selber stehen«, flüsterte Crysalgira. So behutsam wie möglich ließ ich sie herabgleiten und stellte sie auf die Füße. Vorsichtshalber hielt ich sie mit einer Hand weiter fest, während ich mit der anderen Hand die Säulenleiste umklammerte. »Es geht schon wieder.« Sie versuchte zu lächeln. »Was ist mit Germyr-HP?« »Wahrscheinlich ist er abgestürzt. Wir müssen versuchen, uns allein zum Hauptquartier durchzuschlagen.« Ich schaute nach oben. Sämtliche benachbarten Pyramidenbauten brannten. Soeben sank ein weiter entferntes Gebäude funkensprühend in sich zusammen. Wahrscheinlich stand ganz Wartzonga in Flammen. Die Aussichten, aus diesem Feuermeer herauszukommen, waren gering. Dennoch war jeder Versuch besser, als mutlos aufzugeben. Ich richtete meinen Blick nach unten, um zu sehen, ob wir auf dem Treppenturm bis zum Boden gelangen konnten. Dabei entdeckte ich fünfzehn Meter tiefer die Gestalt eines Lopseggers, der sich in eine Stufe verkrallt hatte, während der übrige Körper in der Luft pendelte. »Germyr-HP!« »Atlan?« »Halten Sie aus!«, schrie ich. »Wir helfen Ihnen!« Ich wandte mich an Crysalgira: »Folg mir langsam und halt dich immer an der Säulenleiste fest.« Danach lief ich die Stufen hinab, legte mich so hin, dass sich meine Beine unter einer Stufe verklemmten, und packte mit den Händen den Umhang des Diplomaten. Germyr-HP war doppelt so schwer wie ein Arkonide, ich musste alle Kraft aufwenden, um ihn Zentimeter um Zentimeter höher zu ziehen. Dabei hatte ich mehrmals das Gefühl, als würde mein
Rückgrat im nächsten Moment brechen. Schließlich kam Crysalgira bei uns an und half mir, sonst hätte ich es vielleicht doch nicht geschafft. Der Diplomat lehnte sich gegen die Treppensäule. »Ich danke Ihnen. Sie haben mein Leben gerettet. Lange hätte ich mich nicht mehr festhalten können.« »Warum haben Sie uns nicht gerufen? Dann hätten wir Ihnen schon früher helfen können.« »Ich dachte, Sie seien mit der Brücke in die Tiefe gestürzt. Aber das ist alles unwichtig.« Seine linke Hand machte eine vage Geste. »Wir werden ohnehin sterben.« »Vielleicht auch nicht. Zumindest müssen wir versuchen, uns zum Hauptquartier durchzuschlagen.« »Wie denn? Die ganze Stadt brennt. Wir können nicht durch die Flammen laufen. Hören Sie nicht die Bewohner schreien, die in der Gluthölle sterben?« Ich hatte nicht auf die Wellen von knarrenden Lauten geachtet, die unablässig über uns hinwegbrandeten. Erst als der Diplomat mich darauf hinwies, wurde mir bewusst, dass es sich um Schreie der Lopsegger handelte, die in höchster Todesnot ausgestoßen wurden. Erschüttert schloss ich die Augen, aber ich konnte die Ohren nicht verschließen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder halbwegs gefasst hatte. »Dennoch versuchen wir es«, sagte ich tonlos. »Wir haben kein Recht, aufzugeben, solange wir noch um unser Leben kämpfen können.« Germyr-HP antwortete nicht sofort. Erst nach einiger Zeit sagte er leise: »Gut, Atlan, versuchen wir es.« Wir stiegen die Turmtreppe hinab und eine andere Treppe hinauf. Allerdings kamen wir nicht weit. Die Treppe hörte nach der halben Umrundung eines Gebäudes einfach auf; ein Trümmerstück hatte sie zerschlagen. Wir kehrten um und suchten nach einem Eingang, um in das Gebäude zu kommen. Es gab mehrere, aber sie waren verschlossen. Endlich
entdeckten wir, halb von den Trümmern eines abgestürzten Fluggleiters begraben, einen offenen Eingang. Wir zwängten uns hindurch. Vor uns lag ein langer Korridor. Decke und Wände zeigten Risse und Spalten, die durch die Erschütterungen der Explosionen hervorgerufen waren. So schnell wir konnten, eilten wir durch den Korridor. An seinem Ende befand sich ein Panzerschott, aber es öffnete sich, als Germyr-HP noch etwa drei Schritte entfernt war. Durch die Öffnung drangen Licht und knarrende Schreie. Der Diplomat blieb stehen und drehte sich um. »Die Bewohner sind nach unten geflüchtet, weil weiter oben alles brennt. Aber das Feuer wird sich tiefer fressen, wenn meine Vermutung stimmt, dass die Tejonther Glühstaubbomben verwendet haben.« Er zwängte sich durch die Menge, die nur widerwillig Platz machte. Erschüttert sah ich, dass sich Tausende von Männern, Frauen und Kindern in den Räumen und Korridoren aufhielten. Sie schienen zu wissen, dass es für sie keine Rettung gab, und ergaben sich apathisch in ihr Schicksal. »Sagen Sie ihnen, sie sollen ins Freie flüchten!«, rief ich. »Das ist zwecklos. Hier haben sie die Chance, einen schnellen Tod zu sterben, wenn die oberen Stockwerke einstürzen.« Dennoch versuchte er es wenigstens. Aber die meisten Lopsegger reagierten überhaupt nicht darauf. Die spärlichen Antworten waren Beschimpfungen, die vom Translator bruchstückhaft übersetzt wurden. Endlich erreichten wir einen Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes. Doch wir konnten nicht hinaus, denn die Tejonther flogen einen neuen Angriff. Aus dem Geräuschinferno glaubte ich herauszuhören, dass diesmal Raumjäger eingesetzt wurden, die bis tief in die Atmosphäre hineinstießen und die Stadt mit Strahlkanonen und kleinen Nuklearbomben angriffen. Das Gebäude
schwankte unter dem Aufprall der Druckwellen. Die Lichter erloschen, die Lopsegger verstummten vor Entsetzen. Immer und immer wieder krachte es, röhrten Triebwerke, donnerten Energieentladungen, heulten Bomben und Raketen. Dann trat überraschend Stille ein, eine so absolute Stille, dass ich im ersten Moment glaubte, ich sei tot. Doch schon im nächsten Augenblick brandete wieder das knarrende Geschrei der Lopsegger auf. Germyr-HP stürzte aus dem Ausgang, Crysalgira und ich folgten. Draußen erhellten flackernde Brände die Nacht. Doch es waren nicht mehr so viele – die Druckwellen der letzten Explosionen mussten zahlreiche Feuer ausgeblasen haben. Dafür hatte sich die Stadt endgültig in ein Trümmermeer verwandelt. Überall liefen Gestalten umher, verwirrte Einwohner, die wahrscheinlich noch nicht begriffen hatten, welches Unheil über sie hereingebrochen war. Germyr-HP winkte, als drei Fluggleiter durch Rauch und Qualm stießen. Die Gleiter kreisten einmal über dem Gelände. Ein greller Lichtkegel traf den Diplomaten, dann Crysalgira und mich. Wenig später setzten die Gleiter neben uns auf. Bewaffnete Lopsegger sprangen heraus und umringten uns. »Bringt uns zum Hauptquartier!«, rief Germyr-HP. »Und sorgt dafür, dass die Bewohner des Hauses in Sicherheit gebracht werden!« »Steigen Sie ein«, sagte ein Lopsegger. Wir kletterten in die Sitzmulden eines Gleiters, der kurz darauf abhob. Das Trümmermeer blieb rasch unter uns zurück. Wir waren dem Inferno des Grauens entkommen …
Das Hauptquartier befand sich in einem Tiefbunker neben dem Raumhafen von Wartzonga. Als wir auf der Versenkplattform landeten, sah ich, dass drei der Raumschiffe,
mit denen wir gekommen waren, als ausglühende Wracks auf dem Raumhafen lagen. Die übrigen Schiffe hatten wahrscheinlich noch rechtzeitig starten können. Die Plattform sank so schnell, dass ich schlucken musste. In ungefähr zweihundert Metern Tiefe hielt sie an, wir wurden durch einen Gang geführt. Hier unten hatte der Angriff keinen Schaden anrichten können. Wir erreichten einen kleinen Saal, in dem sich ungefähr fünfzehn Lopsegger aufhielten. Sie sprachen erregt aufeinander ein – bis sie uns erblickten. Schlagartig verstummten die Gespräche. Einer der Lopsegger kam langsam auf Crysalgira und mich zu. Plötzlich riss er seine Strahlpistole aus dem Halfter und schrie: »Spione und Verräter! Ihr habt uns an die Tejonther verraten! Dafür werdet ihr sterben!« Germyr-HP trat rasch zwischen den Lopsegger, der kein anderer als Karsihl-HP sein konnte, und uns. »Halt, KarsihlHP! Sie sind keine Verräter. Wir waren die ganze Zeit zusammen, schlugen uns mit Verfolgern aus Kalayshtan, mit Sphavn und Parias herum und befanden uns auf dem Weg zu dir, als der Angriff erfolgte. Crysalgira und Atlan hatten überhaupt keine Gelegenheit, den Tejonthern die Position Wartzongs zu verraten.« Langsam ließ Karsihl-HP die Strahlpistole sinken, schob sie ins Halfter zurück, trat dicht vor die Prinzessin und mich und sagte: »Mein Leben gehört Ihnen, denn ich habe Sie des Verrats beschuldigt, obwohl Sie unschuldig sind. Tun Sie mit mir, was Sie wollen.« »Vergessen Sie es. Ihre Stadt wurde verbrannt. Ich kann verstehen, dass Sie erregt sind und uns für Verräter hielten.« »Danke, Atlan. Ich hoffe, Sie werden auch Marsugg-TT verzeihen.« Ein anderer Lopsegger näherte sich, blieb vor uns stehen und sagte: »Ich bin Marsugg-TT – ich hatte Ihre Entführung
befohlen. Verfügen Sie über mich.« Er hätte Strafe verdient. Dennoch hielt ich es im Interesse der Sache für angebracht, auch ihm zu verzeihen. Nachdem er sich bedankt hatte, sagte Karsihl-HP: »Die Tejonther zogen sich zurück, als unsere Raumschiffe ihren kleinen Verband angriffen. Doch nichts wird sie daran hindern, wiederzukommen und weitere Städte auf Wartzong zu zerstören, sofern wir nicht unsererseits die Initiative ergreifen.« Er wandte sich den anderen Lopseggern zu und rief: »Sechsunddreißig Raumschiffe sind uns geblieben. Ich schlage vor, dass wir alle Schiffe, sobald sie wieder gelandet sind, überholen und für einen Angriff auf die nächste Gefühlsbasis der Tejonther ausrüsten. Wer dagegen ist, soll sich melden.« Niemand meldete sich. Ich war sicher, dass noch nicht alle Stammesführer mit dem Vorhaben einverstanden waren. Aber unter dem Eindruck der Verwüstung von Wartzonga wagte niemand, Karsihl-HP zu widersprechen. »Gut!«, sagte KarsihlHP, als das Schweigen anhielt. »Jeder weiß, was er zu tun hat.« Während sich der Saal allmählich leerte, wandte sich der Anführer des Stammes HP an Crysalgira und mich: »Ich nehme an, Sie sind immer noch dafür, an der Eroberung einer Gefühlsbasis persönlich teilzunehmen?« Ich brauchte die Prinzessin nicht erst nach ihrer Meinung zu fragen, denn ich kannte sie. »Wir sind bereit. Je früher wir eine Gefühlsbasis erobern, desto besser. Dennoch muss ich Sie bitten, meinen Hinweis zu akzeptieren, dass auch die Tejonther im Grunde ihres Wesens friedfertig sind. Wenn sie sich aggressiv verhalten, dann nur, weil sie von den Tropoythern unter Druck gesetzt werden.« »Das kann ich nicht akzeptieren«, erwiderte Karsihl-HP schroff. »Es waren Tejonther, die Wartzonga zerstörten, nicht irgendwelche Tropoyther. Sagen Sie nie mehr, die Tejonther
seien friedfertig, Atlan!« Ich seufzte resigniert. Die Lopsegger kannten die Zusammenhänge im Mikrokosmos leider zu wenig, um meine Behauptung zu verstehen. Aber vielleicht bot sich bald eine bessere Gelegenheit, um etwas gegen die Feindschaft zwischen den beiden Völkern zu tun. »Wann starten wir?« »Sobald die Schiffe ausgerüstet sind. Germyr-HP wird Sie an Bord meines Flaggschiffs bringen.« Ich dachte: Dovreen der Weise sagte: Das Universum ist für den Unkundigen voller Rätsel, für den Kundigen ist es ein einziges Rätsel. Er wusste nicht, dass das auch für das des Mikrokosmos gilt.
18. Dovreen der Weise sagte: Diese Kugel birgt Leben und Tod, Schrecken und Freude, Sieg und Niederlage. Dem Würdigen aber kann sie den Weg zum Stein der Weisen zeigen. Sie wird euch auf ihre besondere Art leiten, und der Stein der Weisen wird euch das ewige Leben schenken, wenn ihr alle eure Handlungen von Weisheit lenken lasst. Aber der Weg zum Stein der Weisen ist noch lang und führt über einen schmalen Grat, neben dem die Abgründe der Finsternis lauern.
An Bord des lopseggischen Flaggschiffs: 18. Prago des Eyilon 10.499 da Ark Crysalgira warf mir einen langen, rätselhaften Blick zu, hob die Hand mit den schlanken Fingern und strich ihr langes Haar aus der Stirn. Sie wartete, bis der Lopsegger den Raum verlassen hatte, dann hob sie die eckige Flasche von dem halbautomatischen Serviertisch. »Ich habe mich an das Leben voller Gefahren schon so gewöhnt, dass ich direkt unruhig
werde, wenn Ruhe herrscht«, sagte sie zögernd. »Ich weiß nicht, wie es dir geht.« Ich lehnte mich zurück und griff nach der Flasche. Mit einem schnellen Griff entfernte ich den Korken. »Ich genieße diese Tage«, sagte ich leise. Es war die absolute Wahrheit. Während das schwach grüne Getränk, dem Geruch und Geschmack nach eine Mischung zwischen Wein, Bier und einem Früchteauszug, in die Gläser floss, fuhr ich fort: »Du weißt, dass wir uns auf einer Irrfahrt befinden, die uns beide das Leben kosten kann?« Willst du sie erschrecken?, wisperte der Extrasinn. »Ja, ich weiß es.« Sie aß ruhig weiter. »Wir befinden uns in einem unbekannten Universum, wir suchen Yarden und das Geheimnis der Absoluten Bewegung, und wir sind auf das Wohlwollen und den Kampfgeist der Lopsegger angewiesen.« Sie sah mich aus ihren schönen, kühnen Mandelaugen an. »Worauf willst du hinaus?« »Ich will versuchen, dir klar zu machen, dass wir ein Leben in tödlichen Gefahren führen.« Sie lächelte mich an. Wir fühlten uns wie zwei Gestrandete auf einer winzigen Insel. Und keiner von uns wusste, wann wir unser weit gestrecktes Ziel erreichen würden. Aber eines unterschied unsere Lage von der Zeit vor dem heutigen Tag: Wir hatten ein Ziel. In der entspannenden Stille der Raumschiffskabine hob Crysalgira das Glas, trank einen sehr großen Schluck und sagte ungerührt: »Ich weiß, dass wir ein solches Leben führen.« »Und trotzdem bist du sorglos und sagst, du würdest das Abenteuer vermissen?« »Ich habe nicht gesagt, dass ich es vermisse. Ich sagte nur, dass ich unruhig werde, wenn ich warten muss.« Ich hob die Schultern. »Es ist nicht zu ändern, wir sollten das
Beste daraus machen. Zum Beispiel dieses ungewohnte, aber gute Essen genießen.« »Nichts anderes tue ich.« Der Verband aus sechsunddreißig kleinen Schiffen war unterwegs, um eine Gefühlsbasis der Leerraumkonstrukteure zu finden und zu überfallen. Beide Gruppen, sowohl wir Arkoniden als auch die Lopsegger, waren für diese Mission hinreichend motiviert. Nach einer Weile fragte Crysalgira: »Du hast dich lange mit Karsihl und Germyr unterhalten. Haben sie dir sagen können, warum die Tejonther alle dreihundert Jahre diesen Kreuzzug nach Yarden veranstalten? Es scheint mir eine Art sinnloses Massenopfer zu sein.« Ich schüttelte den Kopf. Das Essen, das in unsere Kabine gebracht worden war, war mehr als exotisch, aber es schmeckte. »Nein. Sie wissen es auch nicht. Es ist ein Geheimnis. Das ist eines der Dinge, die für die Lopsegger die Natur ihrer tejonthischen Feinde so fremdartig und unerklärlich machen. Ein psychologischer Faktor.« »Zweifellos.« Sie war eine bemerkenswerte junge Frau. Ich merkte, dass sie aus Arkons Palästen kam und dort alles gelernt hatte, was man bei Hof wissen musste, um sich dort zu bewegen wie ein Fisch im Wasser. Mit ihr verglichen war ich zwar nicht gerade ein Barbar, aber mir fehlten die Raffinesse und die Kenntnisse des teilweise sinnlosen Zeremoniells. Und dann war sie hierher versetzt worden. In eine Welt, die für jeden, selbst für ihre Bewohner, voller Gefahren war. Sie hatte sich an einem bestimmten Punkt entschlossen, um jeden Preis zu überleben, um zu Chergost zurückzukehren. Dieser Entschluss war kalt, schnell und mit jeder Konsequenz getroffen worden. Ich kannte diesen Wesenstyp oder besser: Ich hatte Wesen kennen gelernt, die es geschafft hatten, von einer bestimmten Tonta an ihren bisher normalen Lebensrhythmus ins Gegenteil zu verkehren. Ich kannte den
Blick, dieses Flimmern, in den rötlichen Augen der Prinzessin. Wenn es je eine junge Frau gegeben hatte, die diesen Weg bis zum Ende gehen konnte – Crysalgira war diese. In diesem Zusammenhang von mir zu sprechen war nicht dasselbe. Mein Einsatz war höher. Meine Schulung war anders verlaufen – der Bauchaufschneider Fartuloon hatte mich zu einem Mann gemacht und zu einer Art Überlebensmaschine werden lassen. Für mich waren Abenteuer, Gefahren und ständige Bedrohung das normale Leben. Und deswegen schätzte ich die langen Tage des Fluges so sehr. Ich erholte mich, ich entspannte mich, hatte Zeit nachzudenken. Blindes Reagieren, so eines der vielen klugen Worte Fartuloons, ist Art eines gehetzten Tieres. Jemand, der Kraft, Gerissenheit und Entschlussfreudigkeit mit Können und kalkulatorischer Fantasie verbindet, hat ungleich mehr Chancen als jeder andere. Ein psychologischer Faktor? Es musste mehr sein. Auch für mich war das Ziel – Yarden – klar motiviert. Ich wollte Chapat, meinen Sohn, finden und befreien. Ich wollte das Geheimnis der Absoluten Bewegung ergründen, das dort in der Eisigen Sphäre verborgen war. Und ich wollte zurück ins Standarduniversum, wo weitere Aufgaben auf mich warteten – unter anderem der Brudermörder Orbanaschol. »Nein«, sagte ich leise und beendete das Essen, »wir wissen, dass den Lopseggern mehrere Gefühlsbasen bekannt sind, aber bisher wagten sie sich nicht dorthin. Niemand weiß genau, was sie bezwecken, welche Funktion sie haben. Eine Art düsteres Geheimnis umgibt sie.« Wir trugen noch immer die blauen MetAtlanzüge aus den winzigen Segmenten aus dem Besitz Vruumys’. Es war wie eine zweite Haut und ebenso bequem. Und Crysalgira sah darin hinreißend aus. »Wir werden auch hinter dieses Geheimnis kommen«, versprach sie lachend. »Dir jedenfalls scheint die Pause sehr gut zu bekommen.«
»So ist es.« Ich füllte den Rest aus der Flasche in die fast leeren Gläser. In diesen Tagen schlief ich lange, dann benutzte ich die wenigen Einrichtungen des Schiffes, um meinen Körper in Form zu halten. Die Technik war zwar auf die ungewöhnlichen Körper der Lopsegger zugeschnitten, aber ich konnte sie ebenfalls benutzen. Woran ich mich nur schwer gewöhnen konnte, war die knarrende, laute Sprache dieser sechsäugigen Freunde – aber wir hatten genügend Übersetzungsgeräte. Jedenfalls war ich ausgeruht, die letzten Abschürfungen, Prellungen und Wunden waren verheilt. Das nächste Abenteuer konnte beginnen. »Wann erreichen wir das Mithuradonk-System?«, fragte Crysalgira. »Laut Auskunft von Germyr-HP kurz nachdem wir ausgeschlafen haben; also in rund acht Tontas.« Sie lächelte. »Also keine tödlichen Abenteuer während der Schlafperiode.« Ich stapelte Teller und Schüsseln auf die Platte des Wagens neben dem Tisch. »Und morgen … sehen wir weiter.« Ich wusste ziemlich genau, dass diese Tage für lange Zeit die letzten ruhigen Tage gewesen sein würden. Es schien, als strecke die angeflogene oder zumindest gesuchte Basis schon jetzt ihre furchtbaren Tentakel nach uns aus. Ich beging nicht den Fehler, an das Ende der Odyssee zu denken. Ich wusste, dass uns zahllose Abenteuer von diesem Ziel ablenken würden. Aber nicht heute. In den nächsten Tontas würden wir versuchen, neue Kräfte für den langen Weg nach Yarden zu schöpfen. Der Blick von vier der sechs Augen konzentrierte sich auf Crysalgira. »Ja«, schnarrte Karsihl-HP, das Übersetzungsgerät bildete eine Art Echo, »es ist extrem gefährlich. Wir kennen dieses System kaum.« Schon jetzt, eine halbe Tonta nachdem wir in die normalen
Bezüge des Mikrokosmos-Weltraums zurückgefallen waren, schwebte das Flaggschiff weit vor dem Rest der Flotte. »Habt ihr tejonthische Schiffe orten können?«, erkundigte ich mich. Der rechte Arm Karsihls, der mit den Fingerspitzen den Boden berührte, schwenkte hoch. Ein runder Bildschirm erhellte sich. »Hier – das System liegt vor uns.« Auf dem Schirm waren die Echos dreier Planeten und der starke Ortungsimpuls der Sonne zu sehen. Wir befanden uns jetzt innerhalb der Bahn des äußersten Planeten. »Wir wissen, dass es hier keine raumfahrenden Völker gibt. Aber trotzdem sollten wir vorsichtig sein.« Ich deutete auf den Bildschirm, der die Position der Flotte angab. Immer mehr entfernten wir uns von der Masse der Schiffe, die sich in der Nähe des letzten Planeten aufhalten sollten. »Keine tejonthischen Schiffe?« »Wir haben keine festgestellt. Es kann aber sein, dass einige von ihnen auf diesem oder jenem Planeten gelandet sind.« »Jedenfalls befindet sich hier irgendwo eine Gefühlsbasis. Habe ich Recht?« »Ja.« Dreiundzwanzig Planeten umkreisten die Sonne. Die Flotte hatte alle ihre Ortungsgeräte eingeschaltet und suchte immer wieder den Raum ab. Aber es gab kein Zeichen dafür, dass es im Umkreis der Sonne eine Flotte der Tejonther gab. »Was hältst du davon?«, fragte Crysalgira leise. »Ich weiß nur, dass es hier keine tejonthischen Schiffe gibt. Die Hauptmasse dieser Kreuzzugsflotte versammelt sich in der Nähe einer anderen Gefühlsbasis.« Ich rechnete damit, dass wir in Kürze die ersten Hinweise auf die Gefühlsbasis finden würden. Die Lopsegger wussten, dass es hier eine solche Basis gab. »Wenn wir wüssten, wozu diese Basen dienen. Sind es nur Treffpunkte oder Leuchtfeuer? Welche Bedeutung haben sie?«
Es war mir plötzlich, als würde aus der Dunkelheit und der Ferne ein Angsthauch ins Schiff wehen und uns in seinen Bann schlagen. Ich wusste nicht, woher dieser Eindruck kam; er verschwand so schnell, wie er gekommen war. Als ich einen Blick in Crysalgiras Gesicht warf, merkte ich, dass auch sie es gespürt hatte. Karsihl-HP wandte sich an mich. Seine acht quastenförmigen Hörorgane bewegten sich aufgeregt. »Wir können nicht ausschließen, dass plötzlich die gegnerischen Schiffe hier auftauchen.« Ich nickte, hatte mit dieser Möglichkeit zu rechnen. Das Schiff flog langsam weiter in Richtung Sonne. Auf den Schirmen der Ortung war zu erkennen, dass wir die Bahn des zweiundzwanzigsten Planeten kreuzten. Die Lopsegger schienen die Tejonther mehr zu fürchten, als ich bisher angenommen hatte – ich sah und spürte es jede Sekunde, die wir in der Leitzentrale verbrachten. »Die Vision, dass zehntausend Schiffe der Tejonther hier auftauchen, erfüllt uns alle mit Angst und Grauen«, sagte Karsihl-HP knarrend. »Niemand würde uns helfen. Außer uns gibt es hier niemanden, der die Raumfahrt beherrscht.« Wir verließen den Bereich der Planetenbahn und drangen weiter vor. Das Schiff flog etwa mit halber Lichtgeschwindigkeit. Zwischen dem Rest unserer kleinen Flotte und dem Flaggschiff bestand Bildfunkverbindung, aber es gab keine Informationen, die zwischen den beiden Partnern gewechselt werden müssten. »Wir warten.« Crysalgira und ich wechselten schweigend einen langen Blick. Wir spürten deutlich die Spannung, die im Schiff herrschte. Ich sah Karsihl-HP von der Seite an. »Du bist unruhig, Freund Karsihl?« »Ja, du hast Recht. Ich erwarte Störungen, Zwischenfälle oder die verdammten Tejonther.« »Welchen Planeten steuern wir an?«
»Den siebten. Ofanstände ist sein Name, so nennen wir ihn. Dort soll sich die Gefühlsbasis befinden.« Zweifellos waren die Lopsegger kein Raumfahrervolk, die es mit aller Gewalt in die Ferne drängte. Aber sie kannten trotzdem einen ziemlich großen Ausschnitt ihres Universums.
Wieder erfasste uns ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Ich begann mich für lange Augenblicke wie ein schutzloses Kind zu fühlen. Karsihl-HP stieß einen lang gezogenen Zischlaut aus. »Das ist das Zeichen.« »Du hast es auch gespürt?«, fragte ich. Vorsicht! Du kennst die Ausstrahlung der Basis von Somor. Versuche, dagegen Immun zu werden, flüsterte mein Extrasinn eindringlich. »Ja. Ich auch. Es war wieder da, wie ein Ruf aus der Unendlichkeit.« Crysalgira war bleich geworden. Inzwischen schob sich das Flaggschiff über die Bahn des zehnten Planeten. Die dunklen Ortungsschirme verzeichneten vor uns vier Objekte. Deutlich war zu sehen, dass die Mannschaft unruhig wurde. Germyr-HP drehte seinen Sessel, hob einen Arm und knarrte einen Befehl. »Was gibt es?«, fragte Crysalgira besorgt. Wir saßen leidlich bequem in den großen schwarzen Sesseln. Die Schalen hatten tiefe Einbuchtungen, in denen die lang gezogenen Kopfteile der Lopsegger verschwanden, wenn die flachen Körper dieser Wesen sich anlehnten. Ein grauhäutiger Raumfahrer mit einem auffallend rot leuchtenden Kamm näherte sich und trug eine eckige Schale in den Händen. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber mir schien es, als ob er einen erregten Eindruck machte. »Atlan, du bist ein mutiger Mann«, stellte Karsihl-HP laut fest. Ich widersprach nicht.
»Eine Frage oder eine Feststellung?«, erkundigte sich Crysalgira. Der Lopsegger mit der Schale kam näher und blieb zwischen uns stehen. Aus der Schale stiegen unbeschreibliche Gerüche auf. »Eine Feststellung.« Germyr-HP deutete auf die Schale. »Es erfordert Mut, dem Unbekannten ins Auge zu sehen. Wir wissen, dass du kämpfen kannst, Atlan. Aber übertriebener Mut ist Wahnsinn und eines Kriegers unwürdig.« »Wahr gesprochen. Hat unser Mut etwas mit diesen stark riechenden Dingen zu tun?« »So ist es, Arkonide.« Die Gerüche waren bekannt und unbegreiflich gleichermaßen. Sie stachen in die Nase, die Augen begannen zu tränen, und ich musste einen Hustenreiz mit Gewalt unterdrücken. Der lange Arm des Boten schwenkte die Schale einladend vor unseren Gesichtern hin und her. »Gewürze. Verbotene Gewürze. Aber sie helfen. Wir wissen dies.« »Gewürze?«, fragte ich verblüfft zurück. »Sie gehören ins Essen, denke ich.« Narr! Es sind Drogen, die euch widerstandsfähiger gegen die Strahlungen machen sollen, zischte der Extrasinn. Tatsächlich sagte Karsihl aufgeregt: »Nehmt immer dann, wenn euch die Furcht zu übermannen droht, ein Stück der Verbotenen Würzung. Ihr werdet die Furcht verlieren.« »Die Verbotene Würzung ist also ein Psychopharmazeutikum.« Crysalgira streckte die Hand aus, griff in die Schale und betrachtete den braungelb gemaserten, unregelmäßigen Würfel auf ihrer Handfläche. Das Material, krümelig und weich, schien zu leben, denn die Farben spielten ununterbrochen im Licht der Instrumentenbeleuchtung. Auch ich griff in die Schale, fühlte eine kribbelnde Masse zwischen den Fingern und fischte einen Würfel heraus. Crysalgira hatte
einen unbeschreiblichen Gesichtsausdruck. »Essen?« Wir hatten die halbe Nacht miteinander diskutiert, und ich wusste, dass sie entschlossen war, unser Ziel zu erreichen. Aber jetzt scheute sie vor dieser stechend riechenden, scheinbar lebenden Substanz zurück. Ich sah, wie Germyr-HP seelenruhig zwei der Würfel packte, den schubladenähnlichen Mund aufklappte und die Würze hineinfallen ließ. Die kantige Öffnung unterhalb der Sprachorgane schloss sich mit einem leisen, schmatzenden Geräusch. »Augenscheinlich.« Ich hielt mir die brennende Nase zu und versuchte den Würfel zu schlucken. Es war, als beiße ich in ein Stück weiß glühendes Eisen. Aber ich schluckte den kribbelnden, säuerlich fremdartig schmeckenden Würfel hinunter. Keine zwei Millitontas später begann meine Nase zu laufen, die Augen traten hervor und tränten, und in der Kehle hatte ich ein unaussprechliches Gefühl. Ich hustete wie ein Ertrinkender und klammerte mich am schmalen Schultergelenk Germyr-HPs fest. »Ist gar nicht schlimm.« Der kleine Lopsegger wedelte mit seinen acht Hörquasten wie eine Fächertänzerin. »Gut?« Crysalgira betrachtete noch immer zweifelnd den Würfel, dann hielt sie sich die Nase zu und schluckte die »Würzung«. Sie zeigte dieselben Symptome wie ich, aber ich wusste: Die Verbotene Würzung wirkte. Ich keuchte: »Erstaunlich.« Ich fühlte, wie eine kühle Ruhe über mich kam. Obwohl hinter uns an den Pulten, Schirmen und Suchgeräten Unruhe und gelegentliche Ausbrüche von Furcht deutlicher wurden, spürte ich nichts von dem verhängnisvollen Einfluss der Basis. Ich drehte mich um und sah, wie sich die Lopsegger um die Schale drängten und die Würzung zu sich nahmen. »Ich merke es auch«, rief Crysalgira. »Das ist ein Zaubermittel.« »Es hat den Vorteil«, antwortete Karsihl gemessen, »dass es
beruhigt, aber den Geist nicht einschläfert. Nur das Gefühl der Angst wird ausgeschaltet. Aber es macht, wenn man sich daran gewöhnt, süchtig. Deswegen ist die Würzung verboten.« »Ich verstehe.« Das Flaggschiff änderte, während die Würzwürfel verteilt wurden, seinen Kurs. Auf dem Zielschirm begann ein schwach leuchtender Punkt zu wandern. Hinter diesem Punkt, der schon jetzt deutlich zur Scheibe wurde, krochen zwei kleinere Punkte hervor. Vermutlich waren es die Monde des siebenten Planeten. Nach einer Weile fragte ich: »Karsihl-HP, kennst du diesen Planeten Ofanstände? Zwei Monde, nicht wahr?« »Ich weiß nur, was unsere Raumfahrthandbücher sagen. Ich selbst war noch nie auf dieser Welt. Es ist ein kleiner Planet, aber mit einer Lufthülle, die wir gut atmen können. Unsere Bewegungen werden leichter sein, denn die Oberflächenschwerebeschleunigung ist geringer. Aber wir wissen nicht mehr. Es soll keine intelligenten Bewohner dort geben.« Das Schiff flog jetzt genau auf Ofanstände zu. Auf den Schirmen wurde das Bild größer und deutlicher. Deutlicher wurde auch die Strahlung der nicht lokalisierten Basis. Aber wir konnten ihr widerstehen – wir fühlten sie wie die Schnitte eines Chirurgen unter lokaler Betäubung. Wir konnten genau feststellen, wie lange und wie stark die einzelnen Schübe waren. Die Strahlung kam und ging in gleichmäßigen Wellen. Die Entfernung eines Schiffes spielte eine wichtige Rolle. Crysalgira sprach meine Gedanken aus: »Auf der äußersten Planetenbahn war es nur ein ganz schwaches Gefühl. Die Intensität steigt vermutlich im Quadrat abnehmender Entfernung.« »Richtig. Somit steht fest, dass die Quelle der Strahlung auf
Ofanstände ist.«
Als wir uns dem siebenten Planeten so weit genähert hatten, dass wir auf den Schirmen das Bild einigermaßen deutlich in der Vergrößerung sehen und interpretieren konnten, waren die beiden Monde wieder hinter der Scheibe des Planeten verschwunden. Im Flaggschiff herrschte eine gespannte Ruhe. Nur wenige Kommentare wurden zwischen der Flotte und unserer Einheit gewechselt. Immer näher flog das Schiff heran. Wir sahen vier Fünftel als dunkle Fläche; von dort, wo sich die gelbe Sonne befand, tauchte aus der Schwärze des Weltraums eine scharfe Sichel auf – die beleuchtete Fläche des Planeten. Die Lufthülle war eine zarte Schicht, es gab ein paar Wolken, die sich um die Krümmung zogen. Die vorherrschende Farbe war ein sattes Braun. Das Schiff änderte abermals leicht seinen Kurs und schwebte auf die beleuchtete Fläche zu. Je näher wir dem Planeten kamen, desto deutlicher wirkte sich der Effekt aus. Die ausgeleuchtete Zone wuchs und wurde größer und schärfer. Wieder packte uns eine Welle der Gefühlsstrahlung. Wir hätten uns ohne die Würzung mit Sicherheit wimmernd in die Winkel verkrochen. Es gab meines Erachtens keinen Piloten, der ohne diese Droge ein Schiff einigermaßen sicher auf dem Planeten hätte landen können. Eine wichtige Einzelheit fiel mir ein, während wir merkten, wie das Flaggschiff seine Geschwindigkeit verringerte. »Wie lange hilft ein Würfel der Würzung gegen die emotionelle Strahlung?« Der Apparat übersetzte meine Worte in den knarrenden, scharfen und vokalreichen Dialekt der Lopsegger. »Es ist verschieden. Auf jeden von uns haben die Teile der Würzung eine andere Wirkung. Und das gilt auch für euch. Keine Sorge … wir haben eine genügend große Menge an Bord. Außerdem
werden wir wohl nicht jahrelang hier bleiben.« Ich lachte auf. »Das hoffen wir, nicht wahr, Crys?« Ich legte kurz den Arm um ihre Schultern, sie schmiegte sich an mich. Wir waren zu Abenteurern wider Willen geworden, inzwischen band uns mehr als nur ein Zusammengehörigkeitsgefühl aneinander. »Du hast völlig Recht«, sagte sie deutlich. In der Leitzentrale war es hell geworden. Die Helligkeit ging von den Schirmen aus, auf denen jetzt fast die volle Hemisphäre des siebenten Planten zu sehen war. Die Strahlung wurde stärker und begann mit klebrigen Fäden an uns zu ziehen. Trotz der dämpfenden Wirkung dieses erstaunlichen Pflanzenauszugs spürten wir die Wogen der Angst und der uferlosen Niedergeschlagenheit. Sie hätte uns, ungeschützt, in den Selbstmord treiben können. Wie halten es die Tejonther eigentlich unter diesem Inferno aus Furcht und Melancholie aus, ohne krank zu werden? Wir behielten unser klares Denkvermögen. »Wir werden mit Sicherheit das Schiff verlassen und dort unten suchen.« »Ich gehe mit. Ich helfe dir, wo ich nur kann.« Sie hatte wirklich Mut. Für einen Augenblick verglich ich sie mit der unförmigen, hässlichen Gjeima, die unter den Pfeilen des Dschungelbarbaren gestorben war, verdrängte die Erinnerung und hob den Kopf. Die Mannschaft des Flaggschiffs war hervorragend aufeinander eingespielt. »Hier! Dies scheint die Quelle der Strahlung zu sein.« Karsihl drehte an wuchtigen Schrauben, um die Einstellung des Vergrößerungsschirms zu verändern. »Ist die Strahlung hyperenergetischer Natur? Ist sie mit euren Instrumenten anzumessen?«, fragte die Prinzessin und begann ruhig, ihr schulterlanges Haar in einen kurzen dicken Zopf zu flechten. »Nein. Sie wirkt nur aufs Gemüt. Jedenfalls haben wir keine
Instrumente, mit denen wir sie messen können.« Seine Augenpaare bewegten sich paarweise unabhängig voneinander; ein verblüffendes Bild. Je ein Paar richtete sich auf den Schirm, auf Crysalgira und auf mich aus. Das Licht von den Schirmen flirrte durch den Raum und riss die letzten Ecken aus der Dunkelheit. Ich beugte mich vor und betrachtete die wechselnden Bilder, sah die gerundeten, abschmelzenden Ränder von zwei dünnen Polkappen. Im harten Licht der Sonne erkannte ich die von oben nach unten verlaufende Grenze zwischen Festland und Wasser. Das Wasser des Ozeans glänzte hell. Dann begann die Linie nach Westen auszuschwingen und bildete die Konturen eines großen Kontinents. »Hier!«, stieß plötzlich Karsihl hervor. Es klang wie ein Schuss. Gleichzeitig sprang uns das Bild entgegen, überflutete die Ränder des Schirmes und wurde langsam wieder scharf. Wolken trieben vorbei, ganz langsam, und ihre Schatten zogen über eine Form der Oberflächenansicht, die ins Auge fallen musste. »Ich sehe es.« Ich war wie elektrisiert. Ein Krater. Die Messlinien sagten mir, dass die exakt kreisrunde Vertiefung nicht weniger als zehn Kilometer Durchmesser aufwies. Der Zentralberg fehlte, Wände und die aufgeworfenen Massen von Geröll, Sand und Steinen sahen aus, als sei der Krater erst vor ganz kurzer Zeit entstanden. Wieder packte ein Schauer von Gefühlsstrahlen die Schiffsbesatzung. Die Ordonnanz kam wieder in den Raum und stellte die frisch gefüllte Schale so hin, dass niemand mehr als zwei Schritte tun musste, um einen Würfel zu packen. Karsihl und Germyr blickten mich mit insgesamt acht Augen an. »Es kann nicht anders sein«, sagte ich scharf und dachte an den Krater auf Somor. »Dieser frische Krater ist die Stelle, an der die Strahlung auftritt. Wir haben dieses rätselhafte Ding gefunden. Es war auch nicht
weiter schwer.« Unablässig klickten Instrumente, einen Augenblick lang erschütterten starke Vibrationen das Schiff, dann gab es eine Reihe von Befehlen. Das Schiff änderte seine Richtung und ging in eine spiralförmige Landebahn über. Karsihl deutete auf den Krater, der unter dem Einfluss von Lageveränderungen, Vergrößerungen, Licht und Schatten ständig sein Aussehen veränderte. »Wir landen in der Nähe des Kraters. Vielleicht finden wir heraus, was unserem Gegner schadet – oder wenigstens etwas, das uns Lopsegger nützt.« »Du weißt, dass wir ähnliche Gründe haben.« Seid nicht zu wagemutig, warnte der Logiksektor. Die Mannschaft steuerte das Schiff in einer präzise ausgerechneten Bahn tiefer. Der Mittelpunkt unserer kreisförmigen Bewegungen blieb der Krater. Unsere Augen hingen an den Bildschirmen, die uns verschiedene Oberflächenansichten in allen denkbaren Vergrößerungen zeigten. Es gab keine Spuren einer Besiedlung. Meldungen und Anordnungen gingen hinaus zur Bahn des äußersten Planeten und teilten den Besatzungen der wartenden Schiffe mit, war hier geschah. Auf den Bildschirmen tauchten Inselketten auf, Buchten und Gebirge, deren Gipfel von Schnee bedeckt waren. Wälder breiteten sich aus, braungrün und von Flüssen und Seen unterbrochen. Und noch immer hielt uns die Strahlung in ihrem Griff. Ich warf Crysalgira einen raschen Blick zu. Sie saß da, beugte sich vor und massierte ihre Schläfen. Ich spürte den Druck ebenfalls an diesen Stellen, aber der Druck war weniger schlimm als normale Kopfschmerzen. Der Raum hatte inzwischen infernalisch nach den Gewürzen zu riechen begonnen; ein Zeichen, dass sich meine Nasenschleimhäute von der Paralyse erholt hatten. Nur die trockenen Lippen und die taube Zunge zeigten noch, dass wir die Verbotene Würzung zu uns genommen hatten.
»Wir werden den Krater untersuchen, Karsihl-HP?«, fragte ich. »Ja. Wir schleusen ein Kommando aus, und ihr könnt euch diesen Männern anschließen.« »Mit einem gehörigen Vorrat dieses Teufelszeugs«, sagte Crysalgira. »Gibt es besonders wilde Tiere auf Ofanstände?« »Ich kenne die Tierwelt nicht. He, Terpahl-RF!« »Ja?« Einer der Männer in den hellen Raumanzügen drehte seinen Sessel. »Was wisst ihr über die Fauna?« »In den Erklärungen steht nichts über besonders gefährliche Exemplare. Diejenigen, die diesen Planeten untersuchten, scheinen nicht angegriffen worden zu sein.« Ich nickte und kratzte mich im Nacken. »Ich habe den Verdacht, dass diese Strahlung nicht nur auf die Hirne von intelligenten Wesen wirkt, sondern vermutlich auch auf Tiere. Es ist nicht auszudenken, wie sich ein Tiergigant, von Furcht und Niedergeschlagenheit verwirrt und gereizt, uns gegenüber benimmt.« »Nun«, sagte Germyr-HP ruhig, »falls es dazu kommt, werden wir unsere Waffen benutzen.« Dezitontalang hatte ich die beängstigende und verwirrende Vision von einer Tierwelt, angefangen bei Laufkäfern bis zu sauriergroßen Raubtieren, die allesamt unter dem Einfluss der Gefühlsstrahlung standen. Ich schauderte und murmelte: »Je weiter man reist, desto genauer sieht man, dass die Welt zunehmend schwieriger wird. Das gilt auch für den Mikrokosmos.« Wieder schien Yarden, die Eisige Sphäre, um ein gutes Stück weiter in die Zukunft zu rutschen. »Vielleicht entschädigen uns die Funde, die wir machen, für den Ärger«, sagte Crysalgira. »Noch immer unruhig wegen des fehlenden Abenteuers?
Dort ist es.« Das Schiff heulte und jaulte durch die Lufthülle. An den Schatten unter uns konnten wir erkennen, dass in der Gegend der riesigen, trichterförmigen Wunde im Planetenboden gerade früher Nachmittag herrschte. Die Geschwindigkeit nahm ab, und die Linsen wurden dazu benutzt, einen geeigneten Landeplatz zu finden. Wir warteten unruhig. »Ich sehe das Abenteuer. Es wird eine Freude sein, wieder an deiner Seite zu weilen, Kristallprinz.« »Danke«, entgegnete ich trocken. Der Krater war nicht sonderlich tief, bestenfalls einige hundert Meter. Der exakt ausgebildete Trichter war keineswegs steil; die Wandung hatte einen Winkel von etwa dreißig Grad. Der Rand bestand aus aufgeworfenem Material. Riesige Felsbrocken, kleineres Gestein, zerfetzte Bäume, zusammengedrückte Büsche. Im nahezu senkrecht einfallenden Sonnenlicht zog das Schiff einen Kreis in mehr als tausend Metern Höhe und schwebte dann auf einen Landeplatz zu. Es war ein runder Hügel, der sich zungenförmig aus einem riesigen Wald hervorschob und fast übergangslos in den Kraterrand am Osten mündete. Donnernd und fauchend senkte sich das Flaggschiff. Ein leichter Ruck ging durch den Schiffskörper, als er aufsetzte. Jetzt fühlten wir, wie es in den Schläfen zu pochen begann. Wir waren in unmittelbarer Nähe der Basis. Ein winselndes Geräusch schraubte sich die ganze Tonleiter hinunter und verstummte. Als Ruhe herrschte, sagte KarsihlHP: »Wir sind da, Freunde. Acht Männer haben sich bereits gemeldet. Wir nehmen zwei Spezialfahrzeuge.« Das Flaggschiff war nicht größer als die anderen Schiffe. Die Möglichkeiten, umfangreiche Ausrüstungen einzulagern, bestanden nicht. Die Besatzungsangehörigen begannen, kaum dass das Schiff aufgesetzt und seine schräge Rampe
ausgefahren hatte, die Halbgleiter aus den Laderäumen zu bugsieren. Ich ließ mir zwei Waffen geben; es waren strahlerähnliche Konstruktionen, die ich kannte. Dann reichte ich Crysalgira einen der Gürtel, die für den Körper eines Lopseggers hergestellt und viel zu lang waren. »Ich hänge ihn über die Schulter. Anders geht es nicht.« Als wir an der Schale mit den Würzung-Würfeln vorbeikamen, steckten wir ein paar der Drogenstücke ein und grinsten uns an. Jetzt rochen sogar wir nach diesem rätselhaften Zeug. Wir blieben oben an der Rampe stehen. Die Luft war kühl und gut atembar. Fremde Gerüche wurden mit einem leichten warmen Wind herbeigetragen. Schräg unter uns erhob sich der aufgetürmte Geröllwall des Kraters und erstreckte sich rechts und links bis an den Horizont. Ein fahlblauer Himmel mit kräftigen weißen Wolken wölbte sich über uns. »Fühlst du es? Die Strahlung greift nach uns.« Crysalgiras Finger umkrampften meine Hand. Auch in meinen Schläfen pulsierte es noch immer. Ich nickte. »Ja, ich spüre es – wie die anderen auch. Versuchen wir also, die Geheimnisse des Mithuradonk-Systems zu enträtseln.« Geräuschlos war Karsihl-HP hinter uns getreten. Es gab nur wenige Unterscheidungsmerkmale bei diesen Wesen, aber ich erkannte ihn an den Symbolen an seinem Raumanzug. Hoffentlich, fuhr es mir durch den Kopf, brauche ich keinen Planeten zu betreten, dessen Atmosphäre für einen Arkoniden nicht atembar ist. Die Raumanzüge dieser Wesen funktionieren zwar genauso wie ein arkonidischer Anzug, aber es wird fast unmöglich sein, in einen solchen Anzug hineinzuschlüpfen. Der erste Grund war die mangelnde Größe, dann erst kamen die anderen Unterschiede. Ich verschob auch diesen Gedanken auf später. »Eine schöne, leere Welt. Die Basis muss tief im Boden verborgen sein.« Sein langer Arm deutete auf den Krater, der
in seiner ganzen Größe vor uns lag. Im Mittelpunkt gab es eine funkelnde Fläche, die sich zu bewegen schien. Die Tropoyther schienen sich nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, die Spuren zu verwischen. »Wir werden es herausfinden«, sagte Crysalgira. »Deine Männer scheinen fertig zu sein.« Die beiden Fahrzeuge waren schalenförmige, halb offene Konstruktionen mit jeweils sechs riesigen Rädern mit wuchtigem, stollenförmigem Profil. Eine Strahlenkanone war über den Platz des Kopiloten montiert. Breite Sitzbänke und geräumige Staufächer, verbunden mit einer halbrunden Ladefläche, füllten das Innere aus. Jetzt begannen die Maschinen zu brummen, die Räder ruckten an, und die Fahrzeuge ratterten an die Rampe heran. Hinter uns kamen die Männer mit der Ausrüstung und gingen nach unten. Sei wachsam! Dies ist wieder eine unbekannte Welt für dich, warnte der Logiksektor. Während wir die Fahrzeuge bestiegen, ertönte aus dem Wald hinter uns ein röhrender Schrei. Knirschende und splitternde Geräusche folgten. Wir sahen uns an, dann sagte Karsihl-HP einige scharfe Worte in das Mikrofon seines Raumanzugs. Aus den Lautsprechern kam Antwort. Vermutlich handelte es sich um Anweisungen für den Schutz des Schiffes. Mit fünf Lopseggern in dem einen, drei Lopseggern und zwei Arkoniden im anderen Fahrzeug starteten wir. Die Räder zogen eine breite Spur in den weichen Boden, als wir hügelabwärts fuhren. Dann suchten wir nach einem Durchgang, kurvten zwischen Felsbrocken und Holzresten auf den Wall zu. Ich beugte mich aus dem Fahrzeug und erkannte die tiefen Spuren von offensichtlich großen Tieren, die entlang des Walles gerannt waren; ich wandte mich an den Beifahrer, der seine langen Arme um die Zielvorrichtung der Kanone ringelte. »Wie viel Zeit haben
wir?« Ich versuchte, die Sprache der Lopsegger zu gebrauchen. Er verstand mich sogar. »Bis es dunkel wird. Ein unheimlicher Platz.« Beide Wagen fuhren hintereinander auf den Durchgang zwischen zwei haushohen Felsen zu. Aus dem Wald erscholl ein zweiter Schrei, nicht weniger schauerlich als der erste. Als die Steigung zu steil wurde, schalteten die Fahrer den Antrieb aus und die Schwebeeinrichtung ein. In einem steilen Bogen schwebten beide Fahrzeuge hoch und senkten sich wieder in den weichen Boden auf der Krone des riesigen Ringwalls. Die Räder versanken drei Handbreit tief in Erde und Kies. Crysalgira drehte sich um und schrie plötzlich auf. Ich zuckte zusammen, meine Hand fuhr zum Griff der Waffe. »Dort! Sie kommen her! In der Luft!« »Darsahl! Darsahl a ton fftalon!«, schrie ich und sprang auf. Gefahr, hieß es, Gefahr aus der Luft. Viel mehr Worte in dieser Sprache kannte ich nicht. Ich zog die Waffe und versuchte, den Gegner genau zu erkennen.
Die Gefahr war weiß und kam aus dem Wald. Zuerst erkannten wir nur einen riesigen trichterförmigen Schwarm, der zwischen den runden braungrünen Baumkronen aufstieg. Der Schwarm änderte seine Form, bildete eine rüsselförmige Spitze aus, die suchend hin und her schwenkte. Dann schienen die ersten Exemplare dieser Vögel oder Rieseninsekten uns als Gegner ausgemacht zu haben und erhoben sich in einem großen Bogen in die Luft, wurden schneller und stürzten sich dann auf uns herunter. Ein helles, bösartiges Summen erfüllte die Luft. Ich sah das Sonnenlicht auf Tausenden von Libellenflügeln glitzern. Sie bewegten sich ungeheuer schnell. Ringsum ertönten schnelle, harte Befehle, die Wagen wendeten. Die Kopiloten entsicherten die Geschütze, wir
anderen griffen zu unseren Waffen. Bis auf dreißig Meter waren die ersten Exemplare herangekommen. Ich erkannte, dass es riesige Insekten waren. Libellenflügel, lange, hakenbewehrte Gliedmaßen und eine furchtbare Zange vor den Mundöffnungen. Die großen Facettenaugen leuchteten im Sonnenlicht wie kostbare Steine. Über unseren Köpfen begannen die dröhnenden Abschüsse des ersten Strahlengeschützes. Ich zog meine Waffe, entsicherte sie und sah, dass Crysalgira meinem Beispiel folgte. Glühende Strahlen verbreiteten Druckwellen und Hitze. Die Phalanx der angreifenden Libellen wurde auseinander gerissen, die Hitze schmolz die Flügel von Dutzenden der libellenähnlichen Tiere. Aber sie griffen weiter an. Aus beiden Fahrzeugen wurde aus allen Waffen gefeuert. Den Insekten schlug eine Wolke von Hitze entgegen. Aber jetzt schien sich der Schwarm vergrößert zu haben. Zwischen den Bäumen stiegen ungeheure Mengen der hellen, glasähnlichen Tiere auf. Das Sirren und Summen wurde lauter und stechender. Es neutralisierte sogar die Wellen der Emotiostrahlung aus dem Krater. Wir feuerten ununterbrochen. Es waren zehntausend Tiere oder mehr. Sie sind durch die Strahlung rasend gemacht und sehen einen Angreifer vor sich, warnte der Extrasinn. Die schwere Waffe in meiner Hand zitterte und warf lange weiße Feuerstrahlen aus. Die Strahlen töteten gleichzeitig mehrere der Angreifer, aber die Libellen drangen durch. Der Schwarm faserte in mehrere Teile aus. Sie sahen aus wie mehrere Finger, die sich aus der Höhe nach unten krümmten und nach uns griffen. Ununterbrochen fielen zuckende Insektenleiber zu Boden. Das hohe Sirren marterte unsere Nerven. Die beiden Energiekanonen feuerten und hinterließen in den Angriffswellen tiefe Gassen, die sich sofort wieder schlossen. Im Schiff schien im Augenblick noch niemand
aufmerksam geworden zu sein, aber unser Fahrer kuppelte ein und fuhr langsam ein Stück in den Krater hinein. Die ersten Libellen erreichten den Wagen. Ich sprang auf, packte meine Waffe fester und schlug mit dem heißen Lauf Insekten vom Rand des Fahrzeugs weg. Die langen, in Ringe eingeteilten Körper krümmten sich wie Fragmente von Würmern. Wieder schoss ich, wieder starben einige Angreifer. Aber es waren zu viele. »Verdammt!«, schrie ich. Crysalgira duckte sich in ihren Sessel und schoss dicht neben meinem Kopf in die Luft. Zwei Libellen mit versenkten Flügeln kollidierten. »Achtung! Hinunter!« Ich bewegte die Waffe von links nach rechts. Die donnernden Strahlen beschrieben einen Halbkreis. Zehn oder mehr der Libellen sanken zu Boden. Inzwischen hatten sich die fingerähnlichen Teile der Wolke aufgelöst und bildeten dicke Klumpen, die unsere beiden Fahrzeuge umgaben. Hin und wieder drang das Geräusch der klickenden Kiefer durch das Summen der Flügel. Ich hatte den Eindruck, als würden wir in einem Bienenschwarm erstickt. Langsam rollte unser Wagen die schräge Fläche des Kraters abwärts. Wir schossen wild um uns, hatten die Gefahr durch die Strahlung vergessen. Überall war die krabbelnde, fliegende und übereinander kriechende Masse. Auf dem Boden krümmten sich die flügellosen Tiere in dicken Klumpen. Sie krochen über die Ränder des Wagens, kletterten auf die Räder und wurden unter den Stollen zerquetscht. Die Tiere verkeilten sich ineinander, bissen sich gegenseitig in die Körper und Köpfe; aus der Luft ließen sich die Libellen fallen, teilweise getroffen, teilweise wütend vor Angriffslust. Unser Wagen rollte immer tiefer in den Krater. Das Krachen der Waffen hatte uns alle fast taub gemacht. Ab und zu schleuderte einer von uns eine Libelle aus dem Wagen, die sich verbissen hatte. Die Tiere behinderten sich gegenseitig. Sonst wären wir schon verloren
gewesen. Jetzt rannten Lopsegger aus dem Schiff, eröffneten Sperrfeuer auf die nachrückenden Tierschwärme. Ich bemerkte, dass auch das zweite Fahrzeug langsam zu rollen begann und das Gefälle des Kraters ausnützte. Die riesigen Räder hinterließen wie bei uns eine Spur aus zermalmten Libellen. »Atlan! Hilf mir!«, schrie Crysalgira. Ich warf mich herum, griff mit der linken Hand in die Luft und schmetterte mit Faust und Unterarm einige Libellen zur Seite. Dann sah ich, dass die Prinzessin in einem Klumpen von Libellen zu ersticken drohte. Ich packte die Tiere, warf sie in die Luft, bekam Flügel zwischen die Finger, haarige Beine, eine Zange grub sich in das Metall meines Anzugs, aber ich schaffte es, den Platz rund um Crysalgira freizukämpfen. Ein harter Stoß traf den Wagen; ich fiel schwer in meinen Sitz zurück. Eins der Räder war über einen halb mannsgroßen Steinbrocken geklettert und krachte auf der anderen Seite wieder zu Boden. Ich merkte, dass der Ansturm der Tiere nachließ. Ich hob den Kopf, suchte die Luft ab und entdeckte, dass wir nur noch mit den Libellen kämpften, die auf der Ladefläche umherkrabbelten und immer wieder versuchten, ins Innere des Wagens zu kommen. Nur noch wenige Exemplare schwirrten mit summenden Flügeln über uns. Sie schienen verwirrt zu sein und kein Ziel mehr zu haben. Wirkte die Natur des Kessels auf die Tiere ein? Die Strahlung, sagte der Logiksektor. Ich schrie eine Warnung zum anderen Wagen hinüber, der schräg hinter uns rollte. Er wurde noch aus der Luft angegriffen. Jetzt krachten und heulten die Geschütze des Schiffes auf und rissen gewaltige Löcher in die Masse des Hauptschwarmes. Der Pilot des zweiten Halbgleiters begriff. Der Motor grollte auf und schob den Wagen in einem langen Satz abwärts. Damit war auch dieser Wagen aus der
Gefahrenzone herausgekrochen. Ringsum arbeiteten die Lopsegger wie die Besessenen, warfen die Tiere aus dem Wagen und säuberten die Ladefläche, während der Fahrer beschleunigte und schräg abwärts jagte. Dann hielt er an. Mit ein paar Handgriffen schaltete er die Mikrofone und Lautsprecher des tragbaren Übersetzungsgeräts an. »Das war hart! Ist jemand verletzt?« Wir kontrollierten uns gegenseitig. Unsere Anzüge mit ihren Metallplättchen hatten die Angriffe der Libellen zum größten Teil unwirksam gemacht. Die schwereren Raumanzüge der Lopsegger hatten den Kiefern noch besser widerstanden. Es gab einige Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden, aber keinerlei ernsthafte Verletzungen. Durch das Donnern der Schiffsgeschütze sagte ich: »Offensichtlich hat die Landung die Tiere aufgescheucht.« Crysalgira betrachtete angewidert die Reste von Schwingen, die wie dünnes Papier an den Rändern des Wagens klebten, und die Spuren der zermalmten Körper an Rädern und Profilen. Ich atmete langsam und tief durch. Ich erholte mich schnell, sicherte meine Waffe und schob sie wieder zurück. Langsam trat Stille ein. Wir sahen uns um. Der Schwarm, weniger als die Hälfte der Menge, die aus dem Wald hervorgekommen war, drehte und wand sich hoch über uns. Ab und zu verließ ein einzelnes Individuum die Masse und segelte mit wild schlagenden, zerfransten Schwingen schräg nach unten, wo es aufschlug und liegen blieb. »Die Tiere hätten alles angegriffen, was sich bewegte«, sagte Crysalgira. »So waren wir hier, und sie griffen uns an.« Offensichtlich handelte es sich nicht um eine Verteidigungseinrichtung derjenigen, von denen dieser Krater stammte. »Wir haben uns hervorragend geschlagen. Aber später sollten wir vielleicht die Metallhaube des Gleiters schließen.«
Der Fahrer wartete die Übersetzung ab. »Ja. Das werden wir tun. Für jetzt ist die Gefahr vorbei.« Ein Blick zum Schiff. Sie hatten dort aufgehört zu schießen; der Beifahrer sprach mit jemandem im Raumschiff. Das ovale Schiff passte ebenso wenig in die Landschaft wie dieser gewaltige Krater. Ich richtete mich auf und blickte nach unten. Undeutlich erkannte ich die schimmernde Fläche. Sie wirkte wie blasenwerfendes Ol. »Die Sonne wartet nicht auf uns.« »Ja. Wir fahren weiter.« Die beiden Fahrer riefen sich etwas zu, die Räder ruckten wieder an. Die Wagen bewegten sich mit brummenden Maschinen und knarrenden Riesenrädern abwärts und aufeinander zu. Wenig später hatten wir vom Ringwall aus etwa einen Kilometer zurückgelegt und befanden uns nur drei Meter voneinander entfernt. Ich klammerte mich neben dem Beifahrer an die hochgewölbte Frontscheibe, lehnte meinen Oberkörper hinüber und betrachtete genau den Teil des Kraters, der vor uns lag. Erst jetzt merkte ich, dass zweierlei Dinge geschahen. Obwohl im Augenblick nicht die kleinste Wolke vor der Sonne vorbeizog, verloren alle Gegenstände ihren Glanz. Es gab keine hellen Reflexe mehr. Die großen Reifen wirkten plötzlich stumpfschwarz. Die Farben der Kämme meiner neuen Freunde sahen gebrochen und matt aus. Die Chromteile der Maschine, die leise brummend nach unten fuhr und eine tief eingedrückte Spur hinterließ, wirkten wie verrostet. Und … die Stille wurde immer tiefer. Es schien etwas zu geben, was jedes Geräusch schluckte. Vielleicht war es tatsächlich nur die frisch aufgerissene Erde, aber ich merkte, wie mir ein Schauer über die Haut lief. Eine unheimliche, niederdrückende Atmosphäre breitete sich hier aus. Auch die anderen spürten es, denn sie hörten auf zu sprechen und blickten nach allen Seiten. Die Strahlung war weiterhin vorhanden. Wir spürten sie durch den dämpfenden
Eindruck der Würzung hindurch in langen Wellen. Aber die Wirkung der fremden, verbotenen Substanzen hielt noch an. Das einzig Beruhigende waren die Geräusche der Motoren und der schweren Getriebe. Beide Fahrzeuge rollten langsam weiter abwärts, der schillernden Fläche entgegen. Ununterbrochen hatten wir uns bisher auf frischem Boden bewegt. Er war vor so kurzer Zeit aufgerissen worden, dass er noch krümelig und feucht war. Es gab keine Spuren außer denen, die wir hinterließen. Hin und wieder knarrten aus dem Lautsprecher einige Fragen, und der Fahrer gab Antwort. Das Schweigen zwischen uns wurde lastender und ausgesprochen unbehaglich. Ich drehte mich um, sah Crysalgira an und sagte halblaut: »Du spürst, dass sich die Welt in diesem Krater verändert?« Sie biss sich auf die Lippen und nickte langsam. »Ich weiß nicht, was es ist. Aber die Stimmung, diese Ruhe und das Fehlen von Farben – es legt sich aufs Gemüt.« »Nicht nur auf unser Gemüt.« Ich deutete auf die Besatzungen der Fahrzeuge. »Auch auf die Nerven unserer Gastgeber.« »Es ist nicht verwunderlich.« Wir hatten jetzt etwa die Hälfte der Entfernung zwischen dem Schiff und dem kleinen runden Teich aus unbeschreiblicher Substanz zurückgelegt. Unsere Spuren schnitten tief in den weichen Untergrund ein. Der undeutliche Schatten unseres Wagens wurde länger; die Sonne sank. Ich drehte mich wieder um und blickte nach vorn. Die Lopsegger hantierten mit Untersuchungsgeräten, deren Zweck ich nur erraten konnte. Aber soviel ich sehen und begreifen konnte – keine Reaktion. Plötzlich sah ich etwas. Dort vorn, keine zwanzig Meter entfernt, lag etwas im aufgerissenen Boden. Ich riss den Arm hoch und rief: »Halt! Seht nach vorn! Ein Fundstück!«
Beide Fahrer reagierten schnell und sicher, schienen den Gegenstand im gleichen Augenblick gesehen zu haben. Sie rissen die Steuerung herum, die Wagen hielten genau fünf Meter vor dem Ding, indem sie schräg auseinander fuhren und unserem Fund die Breitseiten zukehrten. Aller Augen und die Linsen eines tragbaren Aufnahmegeräts richteten sich auf das matt glänzende, etwa einen halben Quadratmeter große Fundstück. »Was kann das sein?« Crysalgira zog sich an meiner Schulter hoch. »Nicht die geringste Ahnung.« Wir starrte das undefinierbare Fundstück an. Es sah aus wie ein großes, etwa dreieckiges Stück aus grausilberner, dicker Folie, die zerknüllt und eingerissen war. Ein spitzes Ende hatte sich in den braunen, dampfenden Boden gebohrt. Ein Lopsegger aus unserem Wagen und zwei Männer aus dem anderen Fahrzeug schwangen sich gewandt über den gekrümmten Rand der Schale, turnten entlang der Lochfelgen der großen Räder und gingen auf den Fund zu. »Vorsicht! Nicht anrühren! Nicht mit bloßen Händen!« Ich sprang auf, stellte einen Fuß auf den Reifen und schwang mich mit einem weiten Satz hinunter auf die weiche Erde. Ich federte wieder hoch, stolperte im bröseligen Untergrund und fing mich ab. Die drei Raumfahrer umstanden den Fund, und eben bückte sich einer von ihnen und fasste die Kante des Fundes an. »Halt!« Ich sprang hinzu und packte ihn an seiner kantigen Schulter, aber er ließ nicht los. Das Licht spielte auf der zerknitterten Oberfläche, die unablässig ihre Farben veränderte. Es waren nicht wirklich Farben; es war mehr eine schnelle Folge verschiedener Helligkeitswerte, die über die Teile wischten. Dann schrie der Lopsegger kreischend auf und hielt seinen langen Arm hoch. Hohläugig starrten wir auf den Handschuh des Raumfahrers. Er verwandelte sich. Der lederartige Stoff
löste sich auf und tropfte zu Boden. Der Mann schrie wie ein Rasender, seine Kameraden stürzten auf ihn zu. Ich stand wie erstarrt; meine Blicke gingen von dem Gegenstand zum Lopsegger und zurück. Nicht nur der Handschuh löste sich auf. Wir sahen starr vor Schrecken, dass sich auch die Finger auflösten, als grober Staub zusammen mit dem Material des Handschuhs zu Boden rieselten. Plötzlich stank es nach verbranntem Horn. Einer der Männer spurtete zurück zum Wagen und kam mit einem medizinischen Hilfsgerät zurück. Der Raumfahrer sprang hin und her, schwang seinen Arm und schrie noch immer, musste rasende Schmerzen haben, denn die Farbe seiner Kammquasten wechselte vom tiefen Rot in ein scharfes, stechendes Blau. Drei Mann sprangen aus verschiedenen Richtungen auf den Lopsegger zu, hielten ihn fest und versuchten, seinen Arm zu packen. Er wehrte sich, halb von Sinnen vor Schmerz. Aus beiden Lautsprechern brüllten die Fragen, die jemand im Raumschiff stellte. Karsihl-HP richtete sich hinter der Scheibe des zweiten Halbgleiters auf und schrie donnernd: »Haltet ihn fest! Schlagt ihm einen Kolben in den Nacken! Helft ihm doch!« Ich tauchte unter einem herumschwingenden Arm hinweg, sprang in die Höhe und packte den Arm dicht hinter dem Handgelenk. Ich erhielt einen wuchtigen Hieb in die Kniekehlen, stöhnte auf, aber ich lockerte meinen Griff nicht. Dann schwang ich ein Bein herum und klemmte den Arm des Raumfahrers zwischen meinen Knien fest. »Jetzt! Helft ihm!« Die geringe Schwerkraft dieses Planeten beeinflusste meine Bewegungen, deren Schnelligkeit und Sicherheit. Aber wir hatten den Rasenden überwältigt. Eine Spritze zischte auf, der stinkende und schmorende Stumpf der Hand verschwand in dem Hilfsgerät. Augenblicke später beruhigte sich der Raumfahrer. Wir hoben ihn hoch und schleppten ihn die wenigen Schritte bis zur Ladefläche des anderen Fahrzeugs.
Der flache, ovale Körper zuckte nur noch schwach, als das Gerät summend die Hand behandelte. Aus den Öffnungen der kleinen, kastenförmigen Maschine kam eine stinkende Wolke, bis die Automatik wohl den richtigen Wirkstoff herausgesucht und angewandt hatte. Ich ließ das Handgelenk los. Die anderen kümmerten sich um den Kameraden. Ich drehte mich um, fing einen sorgenvollen Blick Crysalgiras auf und ging langsam auf den Fund zu, zog an dem Waffengurt um meine Hüfte und klappte den Riemen auf, der das lange, spitze Messer hielt. Ich packte es, kauerte mich auf die Hacken nieder und berührte mit der Spitze der Waffe das dreieckige Stück, das eine merkwürdige Beschaffenheit hatte. Die nadelfeine Spitze des Messers rutschte zunächst ab, aber an einer Kante bohrte sie sich in das Material, über dessen Oberfläche noch immer die Muster verschiedener Helligkeit zogen. Kein Metall. Aber auch kein Kunststoff, sagte der Extrasinn. Hinter mir erscholl ein lang gezogenes Stöhnen. Es klang, als entspanne sich der verwundete Lopsegger. Ich zog das Messer aus dem kleinen Loch und hütete mich, dem Material näher zu kommen. Noch einmal fuhr die Schneide über das fremdartige, geheimnisvolle Ding. Ein kreischendes Geräusch ertönte. Als ob ich über Schiefer oder Porzellan geschnitten hätte. Der Schnitt zeichnete sich deutlich ab, seine Ränder fransten aus. Ich holte tief Atem und blickte auf, als ein Schatten über meinen Arm und die rätselhafte Substanz fiel. »Was ist das?«, fragte Karsihl-HP. Soweit ich es beurteilen konnte, war sein Gesichtsausdruck niedergeschlagen. »Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich denke, es ist ein Stück der Gefühlsbasis. Baumaterial, Abfall, was weiß ich. Jedenfalls etwas, das die Leerraumkontrolleure hinterlassen haben.« »Verfluchte Tropoyther!« Er richtete zwei Augen auf den
stöhnenden Verwundeten. Ich folgte seinem Blick und sah, dass der Armstumpf jetzt mit einer hellgelben Bindenhülle verdeckt war. Unruhig wälzte sich der Lopsegger auf der Ladefläche hin und her. Das Material zu unseren Füßen lag unbeweglich da. Karsihl-HP deutete zum Himmel. »Die Zeit vergeht. Sie vergeht immer zu schnell.« »Was willst du damit sagen?« »Wir schicken ein Fahrzeug zurück zum Schiff. Der Mann muss versorgt werden. Und wir kehren rechtzeitig um, denn in der Nacht suchen wir nicht.« »Einverstanden.« Ich richtete mich auf. »Was sollen wir mit diesem Material anfangen?« »Es ist von Übel. Liegen lassen. Nicht mehr anrühren. Es erhellt die Dunkelheit der Unwissenheit nicht.« Ich lächelte schwach. »Aber die Sonne der Erkenntnis wird eines Lages aufgehen. Hoffentlich erleben wir dieses Morgenrot noch.« Er betrachtete mich nachdenklich mit allen sechs Augen. »Das Leben ist hart. Und nur die Unwürdigen erreichen ein hohes Alter.« »Dann«, sagte ich, packte seinen Arm und zog ihn mit mir zu unserem Fahrzeug, »bin ich gern ein Unwürdiger. Ich habe vor, ein bemerkenswert hohes Alter zu erreichen.« »Meine guten Wünsche begleiten dich – auch wenn sich unsere Wege gabeln sollten.« »Ich danke dir, mein Freund.« Er kletterte in unseren Wagen, gab einige Befehle und wartete, bis zwei Raumfahrer mit ihrer umfangreichen Ausrüstung zu uns hereinkletterten. Dann wendete das andere Fahrzeug und raste mit durchdrehenden Riesenrädern davon. Es fuhr hangaufwärts, die Profile der Räder rissen feuchten Sand hoch und schleuderten ihn weit nach hinten. Wir fuhren langsamer geradeaus, der Fahrer drehte die Steuerung und
wurde schneller. Wir näherten uns dem Mittelpunkt des Kraters, der zugleich der tiefste Punkt des Trichters war. Die Flüssigkeit kam immer näher – der kleine kreisrunde See maß von einem Rand zum anderen nicht mehr als dreihundert Meter. Schweigend fuhren wir weiter und versuchten, die Eindrücke richtig zu verarbeiten. Das dreieckige Fundstück lag verloren und unscheinbar hinter und über uns, zwischen den Spuren der zwölf großen Reifen. »Atlan«, sagte Crysalgira nach einer Weile. Ich drehte mich halb um und blickte in ihre Augen. Sie hatte einen sehr nachdenklichen Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht. Der Zopf hatte sich halb aufgelöst. Je mehr wir uns der öligen Fläche dort unten näherten, die unaufhörlich in Bewegung war, desto unruhiger wurde ich. »Ich höre.« »Ich denke, dass es hier im Krater keine Gefühlsbasis mehr gibt.« Aufmerksam verfolgte Karsihl unsere Unterhaltung. Er befand sich immer in der Nähe des Übersetzungsgeräts. »Es ist möglich, dass du Recht hast«, antwortete ich nach einigen Augenblicken des Nachdenkens. »Wenn die Basis vorhanden ist, dann tief unter diesem Krater.« Karsihl deutete auf die Instrumente und die Testgeräte. »Wenn dort unten eine bestimmte Menge Stahl verborgen wäre, hätten wir dies gemerkt. Aber weder die Geräte des Raumschiffs noch unsere Detektoren hier konnten etwas feststellen.« Ich hob die Arme. »Ich weiß es auch nicht. Beides ist möglich. Aber versuchen wir zuerst, diese Flüssigkeit dort zu untersuchen.« »Einverstanden.« Die Gefühlsbasis mochte verborgen oder nicht vorhanden sein, aber die Gefühlsstrahlung war unverkennbar da, wirkte noch immer. Wir spürten sie. Nicht nur Crysalgira und ich,
sondern auch die Lopsegger. Nach einigen Dezitontas, in denen das Fahrzeug geradeaus fuhr und immer tiefer zum Grund des Kraters gesteuert wurde, bremste der Fahrer ab, fuhr eine Kurve und hielt den Wagen an. Jetzt wies die Spitze wieder nach oben, in die Richtung des Schiffes. Mit einem letzten Aufgrollen wurden die Maschinen abgeschaltet. Wir alle beugten uns über die Bordwand und betrachteten die Flüssigkeit, deren Rand keine fünf Schritte vor uns lag. Ein neues Rätsel. »Das ist kein Wasser«, sagte Karsihl-HP schließlich. »Dies ist etwas anderes.« Diese Flüssigkeit hatte die Konsistenz von leichtem Öl und war pechschwarz. Auch sie schien das Licht irgendwie zu absorbieren. Vielleicht waren es die Sonnenstrahlen und deren latente Energie, die es ermöglichten, dass diese Brühe lebte. Gebannt und fasziniert starrten wir die Oberfläche an. »Der See lebt. Aber es ist nicht unsere Art von Leben«, sagte Karsihl beeindruckt. Ich dachte an Somor – auch hier war es keineswegs Regenoder Grundwasser. Eine undefinierbare Substanz breitete sich aus. Die Oberfläche dieses kleinen Sees war samtig schwarz und fraß das Licht. Entlang der Kreislinie des »Ufers« liefen unerklärliche Prozesse ab. Der matte Spiegel des Flüssigkeitskreises lebte, schien zu gären, zu arbeiten, und als wir hinsahen, erschien es uns allen, als versuche dort eine übergeordnete, geheimnisvolle Kraft etwas zu erschaffen – ohne Bauplan und vergeblich, aber mit immer neuen Versuchen. Blasen platzten fast geräuschlos; sie erschienen in allen Größen an der Oberfläche und lösten sich auf. Fingerartige Auswüchse erhoben sich langsam, als blase sie eine schwerfällige Kraft von unten her auf. Sie taumelten hin und her, bogen sich, krümmten sich wie Keime oder Würmer, berührten mit ihren Kuppen und Spitzen die Flüssigkeit und
sanken wieder zusammen. Hin und wieder erschien eine riesige Blase, bildete mit Schwierigkeiten fast eine Kugel, deren Wandung voller Warzen und Auswüchse war, versuchte sich von der Brühe zu lösen und in die warme Luft des späten Nachmittags hochzuschwingen, dann aber verließ die Kraft diese Form, und sie zerplatzte. Das alles erschien mir wie die Konstruktivität hinter den Gedanken eines geistig zurückgebliebenen Kindes. Viele Anstrengungen, unklare Zielvorstellungen, ein willfähriges Material, aber keinerlei wichtige Ergebnisse. Dann, ganz plötzlich, schien uns die Flüssigkeit bemerkt zu haben. Sie bildete eine Insel, die in der Mitte des Sees entstand. Es war eine ovale Form, die langsam von der Mitte nach außen drang, sich schob und zwischen Hunderten platzender kleiner und großer Blasen dem Ufer zustrebte. Sie bildete Pseudopodien aus, die gierig versuchten, sich über das Niveau des Sees zu erheben und uns zu fassen. Gespenstisch. Makaber. Auf alle Fälle unheimlich. Trotz der wellenförmigen Schübe, in denen die Gefühlsstrahlung auf mich eindrang, fühlte ich hinter diesen unsinnigen und nutzlosen Versuchen einer Scheinintelligenz, wie sich in der schwarzen Flüssigkeit eine Gefahr aufbaute. Ich schloss einige Augenblicke die Augen, dachte an meine Beobachtungen im Krater auf Somor und sagte dann: »Ich bin kein weiser Mann. Aber ich sage euch, dass dieser hässliche Ausfluss ein Rest der Gefühlsbasis ist.« Täuschte ich mich, oder sprach wirklich tiefes, die Grenzen unserer Verschiedenheit mühelos überwindendes Verständnis aus der Antwort des Lopseggers? Ich täuschte mich oft. Nicht hier und nicht jetzt. Karsihl sagte: »Auch wir sind sicher. Diese Flüssigkeit ist nicht die Quelle der Gefühle, die uns heimsuchen. Es ist ein unbedeutender Rest. Die Gefühlsbasis, die wir suchen, befindet sich nicht in oder unter diesem
Krater. Aber es ist wahrscheinlich, dass sie sich hier befunden hat und nun nicht mehr da ist.« Fast gleichzeitig, als sei ein telepathischer Kontakt entstanden, blickten wir nach oben zum Ringwall, zum Schiff und nach dem Sonnenstand. Es war spät geworden. »Du willst zurück?« »Ja. Denn wir werden nichts entdecken. Dieser kleine See sagt uns nichts. Sieh die Instrumente.« Er deutete nach unten. Die Geräte, deren Linsen, Antennen oder Sensoren sich auf die Oberfläche des schwarzen Tümpels richteten, schlugen nicht aus, zeigten keinerlei Reaktion. Mit den Mitteln der Lopsegger konnte hier nichts festgestellt werden. Außerdem stank die Brühe nach faulender organischer Materie. Noch immer war sie in wütender Bewegung und produzierte sinnlose Blasen, Finger, Auswüchse und Inseln, die sich alle auflösten und zerplatzten, ehe irgendetwas zu erkennen war. »Es wird langsam dunkel. Fahren wir zurück«, sagte ich. Der Fahrer drückte einen Schalter; winselnd und rasselnd erwachten die Maschinen des Wagens. »Wenn die Gefühlsbasis nicht hier ist«, fragte Crysalgira, »wo ist sie dann?« Wir blickten uns ratlos an. »Ich weiß es nicht.« »Auch ich kann keine gute Antwort geben. Vielleicht haben wir in der Nacht eine wichtige Erkenntnis.« Karsihl deutete, den Fahrer anblickend, in die Richtung des Schiffes. »Ein Fehlschlag also«, sagte ich. »Was diesen Planeten und den Krater betrifft – ja.« Wir nickten uns zu, der Wagen begann die Rückfahrt. Wir fuhren dicht neben unseren eigenen Spuren. Geradeaus, ziemlich schnell, durch den Schatten, denn die Sonne begann hinter dem Wald, dem Ringwall und dem Hügel zu verschwinden. Je dunkler es wurde, desto düsterer wurde die Stimmung. Wir waren froh, als der Fahrer dicht vor dem Wall aus Felsen und
Holztrümmern die Schwebeeinrichtung betätigte und das Schiff erreichte. Wir stiegen aus und blieben auf der Rampe stehen. »Immerhin haben wir einige wichtige Einsichten gewonnen. Auch eine negative Information ist eine Information«, tröstete uns Karsihl-HP. Zu meinem Erstaunen sagte Crysalgira plötzlich: »Atlan … ich möchte diese Nacht außerhalb des Schiffes schlafen.« Karsihl hatte jedes Wort verstanden. »Ich habe nichts dagegen«, sagte ich leise. »Wir essen im Schiff; es wird kein großes Problem sein. Gibt es entsprechende Schutzvorrichtungen, Freund Karsihl-HP?« Er beugte den flachen Körper und bewegte dadurch den wulstartigen Kopf und die federnden Quasten; es entsprach einem Nicken. »Gut. Ich bereite alles vor.« Wir gingen zurück ins Schiff. Der Einstieg und die Rampe waren gesichert. Aus dem Wald hörten wir, als wir die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wieder den lang gezogenen Schrei eines großen Tieres, aber er kam von sehr weit her. Von den wahnsinnigen Libellen war nichts zu hören und nichts zu sehen. Als wir den Einstieg erreichten, blieb ich stehen und hielt Crysalgira und Karsihl an den Armen zurück. »Der Mond«, sagte ich. »Der erste der beiden Monde geht auf.« Karsihl erwiderte ruhig: »Es ist ein schönes, urtümliches Bild.« Das war es. Über dem fernen Horizont erhob sich die riesige Scheibe des zitronengelben ersten Mondes; die Krater, Maare und Linien bildeten feine schwarze Filigranmuster. Der namenlose Mond hatte eine sehr hohe Albedo, seine Bahn verlief sehr nahe am Planeten, denn ich kannte die wahre Größe des Trabanten. Ebbe und Flut mussten hier
ausgesprochen dramatische Unterschiede erreichen. Es war ein Anblick, der aus einem Horrorbild stammen konnte. Das gelbe Licht des Mondes mischte sich mit dem letzten Sonnenlicht der Dämmerung. Das Land ringsum wurde von einem bösartigen Glanz überschüttet. Und schlagartig in dem Augenblick, als sich die untere Rundung des Mondes – der jetzt flach gedrückt und verzerrt erschien – vom Horizont löste, begannen die tausendfachen Geräusche im Wald. Schweigend gingen wir in die ruhige Wärme des Schiffes. Es war wie eine Flucht.
Epilog Aus: Zahlen, Zenturien, Ziele und Zeugnisse – aus der Arbeit des Historischen Korps der USO, Chamiel Senethi, SonthraxBonning-Verlagsgruppe, Lepso, 1327 Galaktikum-Normzeit (NGZ) Das Geheimnis der Varganen: Obwohl im Laufe der Zeit viele Versunkene Welten der Varganen gefunden und untersucht wurden und Atlans Bericht über die Erlebnisse in seiner Jugendzeit wiederholt bis ins Kleinste analysiert wurde, mussten viele Fragen offen bleiben. Daran änderten erst Atlans Begegnung mit der Varganin Kythara in der Obsidian-Kluft im Jahr 1225 NGZ und die nachfolgenden Ereignisse etwas, obwohl nach wie vor als sicher gilt, dass selbst die neu gewonnenen Informationen keineswegs alles abdecken und vieles wohl für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben wird. Fest steht, dass der erste Vorstoß der Varganen im Jahr 806.366 vor Christus erfolgte. Zweitausend Oktaederraumer und fünfzig Arsenalstationen stellten die Streitmacht dar, die über die Milchstraße herzog. Innerhalb von rund 6000 Jahren errichteten sie in der Milchstraße ihr Reich, stießen aber auch über die Grenzen der
Sterneninsel hinaus – unter anderem auch nach Andromeda/Hathorjan. Um 800.000 vor Christus hatte das von den Varganen errichtete Imperium seinen Höhepunkt erreicht, als beim »Projekt Kyrlan« mit dem Bau von insgesamt fünf Psi-Stationen im Leerraum begonnen wurde, mit denen die Varganen Kosmische Kräfte anzapfen und ihre Energie horten wollten; Speicher, die ihnen und ihren Parafähigkeiten unbegrenzt und auf Dauer zur Verfügung stehen sollten – Kalarthras war einer der Projektleiter, seine damalige Geliebte Kythara ebenfalls zeitweilig beteiligt. In jener Zeit verfielen aber zunehmend mehr Varganen in extreme Zustände von Lethargie und Depression. Tausende legten sich in biologischen Tiefschlaf in der Hoffnung, die Zukunft möge eine Erlösung bringen. Andere begingen Selbstmord, indem sie »die Droge« benutzten. Das Kyrachtyl gewährleistete ihnen den »sanften Tod«, die gezielte Lösung des Bewusstseins von der Hülle – umschrieben als »Freisetzung ins Kyriliane«. Ihre toten Körper wurden konserviert. Die Gründe für die Rückkehr in den Mikrokosmos waren letztlich vielfältig, nicht alle wurden offen ausgesprochen, einige waren nur einem kleinen Kreis bekannt. Eine zweifellos wichtige Rolle spielte hierbei der Kyriliane-Seher Vrentizianex, der Dinge sah, »die er niemals hätte sehen dürfen«. Für eine kleine Gruppe Varganen, die von dem Kyriliane-Seher informiert wurde, waren das überaus brisante Informationen, deren Verbreitung sie mit allen Mittel zu verhindern suchten: Sie nahmen Vrentizianex seine Augen, gaben ihm Kristalle dafür und verhinderten, dass er seine eigenen Augen auf Zercascholpek im Baum der Erinnerung erreichen konnte. Und er wurde sie nicht mehr los, weil sie sich zu schützen wussten, weil sie mit ihm, seinem Ich, untrennbar verschmolzen waren. Zur weiteren Steigerung sollte er für immer leiden, tausend Tode sterben, ohne wirklich vergehen zu können. Denn er war, wie alle Varganen, unsterblich. Sie hatten den Seher ausgestoßen und verbannten ihn auf die Welt Helpakanoi; wo Vrentizianex im Verlauf der Jahrhunderttausende wahnsinnig wurde – beteiligt daran waren neben der langen Zeit und der Einsamkeit mehrere Thronsessel, die
mit seinen Kristallaugen und untereinander in besonderer paramechanischer Verbindung standen: Wo immer sich der Seher in seiner Station auch befand, seine Gedanken und Erinnerungen ließen ihn nicht los, er hatte keine Chance, jemals wieder normal denken und empfinden zu können. Im Jahr 800.234 vor Christus kehrte das Gros der Varganen in ihren »Mikrokosmos« zurück, nur einige tausend – als »Rebellen« umschrieben, darunter Ischtar, Kythara, Kalarthras, Mamrohn und viele andere – blieben im »Makrokosmos« und gingen fortan, mehr noch als zuvor, ihre eigenen Wege. An einem Fortbestand des varganischen Imperiums waren die wenigsten interessiert, so dass dieses schon nach wenigen Jahrhunderten vollständig verschwand, während vormalige Stützpunktplaneten zu den Versunkenen Welten wurden. Nach einer Phase der räumlichen Zerstreuung fanden aber auch immer wieder Varganen zu gemeinsamen Aktionen zusammen, sie führten Expeditionen durch – erwähnt sei an dieser Stelle exemplarisch nur jene von Wothanasor, der später als Wuthana, der erste Ganjo des Ganjasischen Reiches in Gruelfin, als eine Art Sagengestalt aus der Vorzeit in die Erzählungen der Cappinvölker einging, sowie die von Kalathras zur Galaxis Gantatryn/Dwingeloo I. Wieder andere Varganen ergänzten die prächtige Sternenstadt VARXODON und bauten sie aus. Für rund 700.000 Jahre war VARXODON politisches, kulturelles, wissenschaftliches und technisches Zentrum jener Unsterblichen, die aktiv, neugierig und tatenhungrig geblieben waren. Weil ihre Zahl begrenzt war und mit der Zeit durch freiwilligen oder durch Fremdeinwirkung herbeigeführten Tod nur abnahm, übten die Varganen eher eine Herrschaft »aus dem Hintergrund« aus; viele von ihnen gingen auf ausgedehnte Reisen hinaus ins Universum, andere forschten mehr oder weniger eigenbrötlerisch – was durchaus Selbstversuche von eher zweifelhaftem Charakter ebenso einschloss wie die ungehemmte Produktion von Androiden –, wieder andere nahmen sich mit der Zeit selbst das Leben und ließen ihre Körper nach den traditionellen Methoden der Mondschattenpriesterschaft
konservieren oder überbrückten lange Zeitabschnitte durch Tiefschlafkonservierung. Während die in den Mikrokosmos zurückgekehrten Varganen von der Eisigen Sphäre aus ihre Herrschaft ausübten, gelang es einigen Rebellen durch das Einbringen von »Fremdkomponenten« und gentechnologische Methoden, die Unfruchtbarkeit zu überwinden – andererseits nutzten sie die bei Versuchen mit der UmsetzerTechnologie gewonnenen Erkenntnisse, um mit ihnen befreundeten Wesen unterschiedlichster Zivilisationen durch den Hin- und Rückwechsel ebenfalls Unsterblichkeit zu verleihen. Einer dieser Wechsel drohte im Mikrokosmos zu einer zweiten Eisigen Sphäre zu werden und war Anlass, dass die dortigen Varganen im Jahr 43.926 vor Christus den Henker Magantilliken aussandten. Dieser begann seine Jagd, aber einige seiner Opfer entkamen, warnten andere Rebellen und konnten die von ihm erhaltenen Informationen weitergeben, so dass sich eine Gruppe entschloss – auch für den Fall ihres Todes durch den Henker –, das Geheimnis der Unsterblichkeit jenen Wesen, die sich als »würdig« erweisen, zugänglich zu machen. Ab etwa 40.000 vor Christus schufen sie gezielt die diversen Stationen der »Schnitzeljagd-Strecke« zum Stein der Weisen, unter denen sich neben der Vergessenen Positronik auch der DreißigPlaneten-Wall befand. Wie wir inzwischen wissen, bot dieses phantastische Gebilde wie bereits von Ischtar vor dem Hintergrund der »Silberkugeln« vermutet – neben dem vom Kyriliane-Seher gewonnenen Wissen – den Schlüssel zum eigentlichen Geheimnis der Varganen, ihrer wahren Herkunft und der Entstehung ihrer mikrokosmischen Heimat …
Nachwort Im Rahmen der insgesamt 850 Romane umfassenden ATLANHeftserie erschienen zwischen 1973 und 1977 unter dem Titel ATLAN-exklusiv – Der Held von Arkon zunächst im vierwöchentlichen (Bände 88 bis 126), dann im zweiwöchentlichen Wechsel mit den Abenteuern Im Auftrag der Menschheit (Bände 128 bis 176), danach im normalen wöchentlichen Rhythmus (Bände 177 bis 299) insgesamt 160 Romane, die nun in bearbeiteter Form als »Blaubücher« veröffentlicht werden. Mit Band 24 startete ein neuer Handlungsabschnitt der Jugendabenteuer des Kristallprinzen: der Zyklus »Die Varganen«. In Band 28 flossen, ungeachtet der notwendigen und möglichst sanften Eingriffe, Korrekturen, Kürzungen und Ergänzungen, um aus fünf Einzelheften einen geschlossenen Roman zu machen, der dennoch dem ursprünglichen Flair möglichst nahe kommen soll, folgende Hefte ein: Band 198 Planet der Zombies von Dirk Hess, Band 199 Kreuzzug nach Yarden von Clark Darlton, Band 200 Herrscher im Mikrokosmos von William Voltz, Band 202 Ingenieure der Vernichtung und 203 Planet im Feuersturm von H. G. Ewers sowie der Anfang von Band 205 Ein Mond ohne Namen von Hans Kneifel.
Auch im vorliegenden Buch sollte man sich den »Mikrokosmos« der »Einfachheit halber« am besten als ein eigenständiges (Miniatur-) Universum außerhalb des vertrauten Raum-Zeit-Kontinuums des Standarduniversums vorstellen, obwohl selbst dieses Modell nicht sämtliche Fallstricke auszuräumen vermag, die sich bei näherer Betrachtung des Konzepts offenbaren.
William Voltz als Exposeautor für die ATLAN-Serie griff die bereits in der RHODAN-Serie eingebrachte Verkleinerungsthematik des maahkschen »Zwergenmachers« auf, ging ungeachtet der damit verbundenen Schwierigkeiten einen Schritt weiter und vollzog mit der weiteren Verkleinerung Atlans den Übergang in den »Mikrokosmos«, mit dem das Geheimnis der Eisigen Sphäre zusammenhängt. Dass das Geheimnis der Varganen weitere Facetten beinhaltet und viel weiter reicht, ist eine andere Geschichte … Wie stets gilt der Dank allen Helfern im Hintergrund – sowie Sabine Kropp und Klaus N. Frick. Rainer Castor