Pforten der Hölle � von Timothy Stahl
Prolog Thome Woodrue war ein Außenseiter. Unter den Menschen ohnehin, seiner Nat...
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Pforten der Hölle � von Timothy Stahl
Prolog Thome Woodrue war ein Außenseiter. Unter den Menschen ohnehin, seiner Natur wegen. Aber auch von seinesgleichen unterschied er sich. Schon dadurch, daß er die Nähe seiner Artgenossen mied. Er betrachtete sein Wesen nicht als Ruch, wie manche seiner »Brüder und Schwestern« es taten. Er genoß und zelebrierte es. Und er war nicht bereit, diese sinnberauschenden Erfahrungen zu teilen. Thorne Woodrue war Einzelgänger und Egozentriker, gehorchte nur sich und seinem Trieb und ließ sich allein vom Zufall leiten – nicht ahnend, daß es Mächte gab, die den Zufall zu ihrem Nutzen lenkten und ihr Wirken damit tarnten …
Was bisher geschah … � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch heranwächst. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat, daß das Tor bald geöffnet werden soll. Lilith Eden kommt ebenfalls in den Träumen vor, was sie zum Kloster führt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schlie-
ßen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth McKinsay, die von Lilith einst im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth, und ihr Geist wurde durch eine der Türen des Korridors gesogen. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird als Hexe verhaftet und eingekerkert. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Er verleitet die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse kann Beth fliehen … Durch die Hölle jenseits des Tores gelangen Lilith und Landru in die Vergangenheit. Lilith wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 in der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren; Landru im Körper des Vampirs Racoon, zu derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt: Beth MacKinsay! Doch sie hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren und ist auf der Suche nach Satan, der ihr Kind geraubt hat. Seine Spur weist von Paris nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen. In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt die Zusammenkunft nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir. Landrus Geist wird zurückgeschleudert in die Hölle hinter dem Tor, wo sich sein echter Körper befindet und wo er nun seine ganz persönliche Verdammnis durchlebt.
In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen Satans vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich. Salvat kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, dem Bösen den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, der als einziger Heidelberger dem Einfluß Satans trotzen konnte. Sie finden ihn in einem Heerlager, wo er Beth dazu benutzt, einen Riß in der Zeit zu schaffen. Lilith, die beim Kampf in der Kirche ihre Rechte verlor und nun eine fremde Hand, die der Teufel einst einem dienstbaren Heidelberger schenkte, an deren statt trägt, verletzt Satan damit – und folgt ihm durch den Riß! Beth und Tobias bleiben zurück … Als Lilith im London des Jahres 1666 aus dem Riß tritt, wird sie mit dem Mädchen Ruby konfrontiert, das von Satan als »Pestbotin« auserkoren wurde und den Schwarzen Tod über London gebracht hat. Auch Liliths Gastkörper Lena wird mit der Pest infiziert. Trotzdem findet sie ihren Feind – in einer riesigen Pestgrube vor der Stadt nährt er sich vom Tod der Menschen, um seine Stärke wiederzuerlangen. Doch sie ist schon zu geschwächt, um ihn zu bekämpfen. Mit anderen Pestopfern wird Lena in die Grube geworfen und stirbt – und Liliths Geist findet sich in ihrem eigenen Körper in der Hölle wieder, neben Landru …
Vor Wochen �
Die Farm lag wie eine einsame Insel – mit kantigen Bauten und wenigen, aber ausladenden Bäumen bestanden – inmitten des geheimnisvoll leuchtenden Ozeans, in den die untergehende Sonne die schier endlosen Weizenfelder ringsum verwandelte. Die nächste Stadt lag viele Meilen entfernt. Einen einsameren Ort als diesen gab es im weiten Umkreis nicht. Wenn Unheil über diesen Ort käme, würden die Bewohner nirgends Zuflucht oder gar Hilfe finden … Ein Ort, der wie für Thorne Woodrue geschaffen war. Er betrachtete ihn als Geschenk, und einmal mehr genoß er das herrliche Gefühl, dieses Geschenk mit niemandem teilen zu müssen. Wie immer war dieses Gefühl nur eines in einer langen Reihe von Empfindungen, die ihm in Nächten wie diesen beschert wurden. Und er würde sich jedem einzelnen davon hingeben und es auskosten bis zur Neige. Schon dieser Auftakt des eigentlichen Aktes bereitete ihm wohligen Schauder. Die hinter ihm versinkende Sonne ließ seinen Schatten wachsen. Wie ein zweidimensionales Wesen kroch sein dunkles Abbild über die Weizenfelder auf die Farm zu, einem Vorboten der eigentlichen Bedrohung gleich. Er erfreute sich an der Vorstellung, daß ihn jemand von dort aus beobachten könnte. Im kupferfarbenen Gegenlicht mußten sich seine Konturen ausnehmen wie von einer glühenden Korona umflort. Geradezu dämonisch mußte dieser Anblick sein, trotz der weiten Entfernung. Und doch würde niemand Verdacht schöpfen. Denn im Moment war Thorne Woodrue nur ein einsamer Wanderer auf dem Highway, der kurz Halt machte und verschnaufte und sich von der schlichten Schönheit der Landschaft gefangennehmen ließ.
Im Moment. Und noch eine ganze Weile, während die Sonne sich immer tiefer jenseits des Horizonts zurückzog, um der Nacht das Himmelsfeld zu räumen. Das Farbenspiel ringsum veränderte sich beinahe mit jedem Herzschlag. Hatte eben noch alles wie mit einer dunklen Goldpatina bestrichen dagelegen, dominierte nun der Schimmer gehämmerten Kupfers, als wäre jeder Halm mit einer hauchdünnen Schicht beschlagen. Und als würde das Kupfer erhitzt, immer stärker, verwandelte sich das Land schließlich in ein glühendes Meer, in das ein sachter Wind stets neue Wellenmuster zeichnete. Thorne Woodrue ließ sich darin treiben, ging auf in dem, was um ihn her war. Er wurde Teil dieses Ganzen, denn nur so konnte er sich schließlich zum Herrscher darüber aufschwingen – und die Idylle zerstören. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Geräusche, deren Vielfalt sich nur allmählich erschloß. Mit der Zeit gelang es ihm, die vom Wind verursachten von anderen zu unterscheiden. Er vernahm das Rascheln, mit dem kleinstes Getier durch die Weizenfelder strich, meinte selbst den Laut zu vernehmen, mit dem Erdkrumen sich unter geringstem Gewicht bewegten. Thorne Woodrue drang durch den Geruch des Weizens, tiefer hinab, bis er den würzigen Duft der dazwischen wachsenden Gräser und Kräuter und den erdigen des Bodens selbst wahrnahm. Und nach einer Weile schließlich hörte und roch er sogar, was von der Farm drüben ausging. Freilich konnte all das nicht stark genug sein, um tatsächlich bis zu ihm her zu wehen. Es war, als eilten seine Sinne ihm voraus, dem entgegen, was dort seiner harrte – einem reich gedeckten Tisch gleich. Als Thorne Woodrue die Augen wieder öffnete, war die Sonne vollends verschwunden. Ihr allerletztes Licht färbte den Weizen blutrot. Thorne Woodrue entledigte sich seiner Kleider und legte sie sorgsam am Boden ab, ehe er eintauchte in dieses blutige Meer und hindurchwatete, der Farm zu.
Obwohl es noch nicht wirklich vom Abendhimmel kam, konnte er das kalte Silberlicht des Mondes bereits spüren. Provozierend und lockend war es. Noch bevor er die Farm erreicht hatte, würde er darin baden.
* … don’t go around tonight well, it’s bound to take your life there’s a bad moon on the rise Creedence Clearwater Revival Obwohl April Dorn nicht langsam aus dem Schlaf erwachte, sondern schlagartig hellwach war, brauchte sie ein paar Sekunden, um festzustellen, daß entgegen ihres ersten Eindrucks der neue Tag noch lange nicht angebrochen war. Es war nicht das trübe Licht einer wolkenverhangenen Sonne, das durchs Fenster in ihr Zimmer fiel, sondern der milchige Schein des Mondes. Rund und riesengroß hing er inmitten des sternengesprenkelten Nachthimmels, starrte einem zernarbten Gesicht gleich durch die Scheibe. Die Achtzehnjährige fröstelte, obgleich ihr nicht kalt war. Und es lag auch nicht an dem eigenartigen Gedanken, der Mond würde zu ihr hereinglotzen. Nun, allenfalls zu einem winzig kleinen Teil lag es daran … Im Grunde allerdings schauderte sie, weil – – etwas sie geweckt hatte. � Doch worum hatte es sich bei diesem Etwas gehandelt? � Ein Geräusch, fiel ihr die Antwort sofort ein. Nichts Lautes, nichts � wirklich Auffälliges – aber doch etwas Ungewöhnliches. Etwas, das die nächtliche Ruhe gestört hatte, obschon es zu keiner Zeit wirklich still im Haus war. Ein Haus von diesem Alter und dieser Größe produzierte unentwegt Geräusche irgendwelcher Art: Holz knarrte in Böden, Decken oder Wänden, irgendwo klapperte stets eine Dach-
schindel oder ein Fensterladen. Aber an all das hatte April sich so sehr gewöhnt in den Jahren, die sie nun schon hier lebten, daß sie es längst nicht mehr bewußt wahrnahm. Wenn diese Laute jedoch fehlten, von einer Sekunde zur nächsten, dann registrierte April diese unnatürliche Stille sehr wohl. So wie jetzt. Vollkommene Lautlosigkeit lag über der Farm, als hielten das Haus und die Nacht selbst den Atem an – vor Schrecken? Was für eine absurde Idee, versuchte April sich zu beruhigen, doch es wollte ihr kaum gelingen. Denn etwas von diesem imaginären Schrecken spürte sie tief in sich. Er lähmte ihren eigenen Atem und hinderte sie selbst an der geringsten Bewegung. Und so konnte sie nichts anderes tun, als halbaufgerichtet im Bett zu kauern und zu lauschen; darauf, ob es sich wiederholte. Wieder drängte sich ihr unweigerlich die Frage auf, was dieses Es gewesen sein mochte. April glaubte sich zu erinnern, daß sich der seltsame Laut zwar stimmig in ihren bereits vergessenen Traum gefügt hatte. Trotzdem hatte er zu real geklungen, als daß er Teil davon hätte sein können. Und diese Disharmonie hatte sie schließlich aus dem Schlaf gerissen. Ein Ächzen! Es war ein Ächzen gewesen, und es hatte sich nicht angehört wie von morsch gewordenem Holz, sondern wie das eines Menschen, gequält und sogleich erstickend. April hörte es von neuem, wußte jedoch, daß es nur ihrer Einbildung entsprang; eine Wiederholung, von der Erinnerung abgespult wie eine Bandaufnahme. Trotzdem klang es selbst jetzt noch echt und so schaurig, daß sich augenblicklich saurer Angstspeichel auf der Zunge des Mädchens sammelte. Es gab hundert harmlose Erklärungen für das Geräusch, angefangen damit, daß es sich allem realen Schein zum Trotz doch nur um Einbildung handelte. Oder daß Aprils Eltern oder ihre Schwester in
traumschwerem Schlaf gestöhnt hatte. Dennoch konnte das Mädchen an keine dieser beruhigenden Antworten glauben, so sehr sie es auch wollte und versuchte. Ein höchst unangenehmes, nagendes Gefühl tief in ihr ließ es nicht zu. Es schürte einzig Aprils Unruhe, immer weiter, bis hin zu jenem Punkt, da sie nicht länger still und lauschend sitzenbleiben konnte, sondern fast schon gegen ihren Willen aus dem Bett steigen mußte; nur um sich zu bewegen, um diesem ameisenhaften und fiebrigen Kribbeln ein Ventil zu geben. Den Morgenmantel überstreifen und zur Tür huschen war eins. Dort verhielt April, das Ohr am Türblatt, erneut mit angehaltenem Atem lauschend. Sie fragte sich, was sie da überhaupt tat. Sie benahm sich in ihrem Elternhaus, das ihr vertraut und stets sicher erschienen war, wie eine Diebin oder wenigstens doch wie eine Fremde. Aber sie verweigerte sich die Antwort auf diese doch völlig berechtigte Frage. April hörte nicht auf jene tonlose Stimme der Vernunft, die sie überzeugen wollte, daß es besser wäre, sich wieder ins Bett zu legen und die Nacht nicht mit solcherlei Unsinn zu vertrödeln. Aber etwas trieb April an. Eine Art geheimer Motor, der im Moment ihres Erwachens angesprungen und der so tief in ihr verborgen war, daß sie ihn nicht mehr abstellen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Also öffnete April die Tür, nur einen Spalt breit und so vorsichtig, als fürchtete sie, daß jemand sie hören könnte – oder mehr noch, als könnte draußen etwas lauern, das nur auf eine unbedachte Handlung ihrerseits lauerte. Zentimeter um Zentimeter schob April ihr Gesicht zwischen Rahmen und Türblatt hindurch. Silberner Schein leuchtete auch den Flur aus wie das Licht eines düsteren Tages. Mobiliar und Zierrat warfen starre Schatten auf Boden und Wände. Nur einer davon bewegte sich – bis er im nächsten Augenblick um
die Ecke entschwand, wo die Treppe ins nächste Stockwerk führte. Ums Haar hätte April aufgeschrien. Gerade noch gelang es ihr, die Unterlippe zwischen die Zähne zu ziehen, um den Schrei zurückzuhalten. Dafür trieb ihr der plötzliche Schmerz Tränen in die Augen. Eine Täuschung? Es mußte so sein. Sie wollte, wünschte sich, daß sie sich geirrt hatte! April lauschte wieder, mühsam das dröhnende Rauschen des eigenen Blutes in den Ohren aus ihrer Wahrnehmung filternd, und hörte … Schritte. Schleichend, langsam. So vage und leise, daß sie Einbildung sein konnten. Vielleicht … Einen endlosen Moment lang verspürte April den Drang, zur Treppe hinzulaufen, um nachzusehen; um sich davon zu überzeugen, daß ihre Sinne sie genarrt hatten. Sie widerstand ihm, tat es nicht. Weil sie fürchtete, sich nicht getäuscht zu haben – oder weil sie es wußte? Vorsichtig und geräuschlos wie nie zuvor im Leben verließ April ihr Zimmer. Dann schlich sie nach links, weg von der Treppe, in Richtung des hohen Fensters, das den Flur abschloß. Hinter ihr blieb alles still – unnatürlich, beängstigend still. Trotzdem wandte das Mädchen sich nicht ein einziges Mal um, warf keinen noch so flüchtigen Blick über die Schulter. Weil sie weder sehen noch wissen wollte, was dort war – ob dort jemand stand und sie beobachtete, sich vielleicht über ihre Vorsicht, die ihr letztlich doch nichts nutzen würde, amüsierte … Sie wußte nicht, weshalb sie sich gerade jetzt daran erinnerte. Das Bild – dieser unheimliche Anblick – wurde wie von einer übelwollenden Macht in ihr hochgespült, und sie empfand es jetzt in der Erinnerung hundertfach beklemmender und beunruhigender als am Abend, da sie es tatsächlich gesehen hatte. Es … Ihn! � Einem Dämon gleich hatte er in der Ferne gestanden. Reglos wie �
eine Statue. Und im blutroten Gegenlicht der untergehenden Sonne so schwarz, als hätte jemand seine Konturen in den Horizont geschnitten und damit den Blick in die lichtlose Finsternis des Alls freigegeben. Dann war die Gestalt verschwunden gewesen. April hatte nur ein paar Sekunden lang den Blick abgewandt, doch die Zeit hatte gereicht, um das seltsame Spiel aus Licht und Schatten verblassen zu lassen. Am Abend hatte April sich überzeugend eingeredet, daß ihre Beobachtung lediglich eine Täuschung gewesen war. Jetzt jedoch brach diese Überzeugung wie ein Damm unter einer Sturmflut … Warum nur? Wie heiß selbst ihre Finger waren, merkte April, als sie den Türknauf berührte. Geradezu eisigkalt schien er ihr. Dennoch ließ sie ihn nicht los, sondern drehte ihn, langsam und leise. Und ebenso langsam und leise schob sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern auf. Es war lange her, daß sie diesen Raum zum letzten Mal so spät in der Nacht betreten hatte. Als sie und May, ihre Schwester, noch jünger gewesen waren, hatten sie sich so manches Mal mitten in der Nacht ins elterliche Bett gestohlen. Meistens dann, wenn ein Sturm über die einsame Farm hinweggefegt war. Aber irgendeinen Grund hatten sie immer gefunden: böse Träume, Monster im Kleiderschrank … Heute Nacht hatte April den besten aller Gründe, Schutz bei ihren Eltern zu suchen. Das Monster hatte den Kleiderschrank verlassen. Aber es mußte Aprils Reaktion vorausgeahnt haben. Denn es war schon vor ihr hier gewesen. Und es hatte ihre Hoffnung auf Zuflucht und Beistand brutal zerstört. April wollte schreien, weinen und ein Dutzend Dinge mehr. Doch sie tat – nichts, gar nichts. Sie stand einfach nur da, während gefräßi-
ge Leere alles verschlang, was an Emotionen in ihr war, und nur eisiges, lähmendes Entsetzen zurückließ – und eine einzelne absurde Frage: Warum hatten ihre Mutter oder ihr Vater lediglich geächzt, anstatt zu schreien? Denn ihre Schmerzen mußten unvorstellbar gewesen sein! Vielleicht aber waren sie schon tot gewesen, als man ihnen das angetan hatte. April wünschte sich, diese Nacht wäre mondlos und finster gewesen. Denn das silberne Licht überzog auch hier alles mit kaltem Glanz und entriß der Nacht jedes noch so winzige Detail. Selbst das Blut glitzerte auf unnatürliche Weise … Obwohl der Anblick der Toten grauenhaft und widerwärtig war, konnte sich April eines weiteren Eindrucks nicht erwehren. Er erschien ihr bizarr und frevelhaft, und sie schämte sich seiner, aber er ließ sich nicht leugnen: Wer immer ihre Eltern ermordet hatte, er schien es trotz des vielen Blutes, das geflossen war, nicht blindwütig getan zu haben. Es steckte eine morbide Methodik darin, die April zwar nicht erkennen, doch aber auf unnennbare Weise erfassen konnte. Es kam ihr vor, als wäre das mörderische Szenario in diesem Raum sorgfältig arrangiert worden. Als wäre es dem Killer nicht allein um das Töten gegangen, sondern – und vielleicht sogar in erster Linie – um etwas weit darüber Hinausgehendes, das ein normaler Verstand nicht erfassen konnte. Und selbst das Töten schien nicht allein um des Tötens willen geschehen zu sein. Denn April erkannte, mit einer Nüchternheit, die sie geradezu erschreckte, daß sich der Mörder an den Leichen vergangen hatte; nicht sexuell, sondern in anderer, noch abartigerer Weise. Was da auf der zerrissenen Brust ihres Vaters lag, konnte nur sein Herz gewesen sein; jetzt indes sah es aus wie eine schmierige Frucht
– eine angebissene Frucht … Eine heiße, ätzende Woge schoß in Aprils Kehle empor. Mit beiden Händen und hastigem Schlucken hinderte sie sich selbst am Erbrechen und erstickte die würgenden Laute. April versuchte tief und ruhig zu atmen, was ihr freilich kaum gelang, zumal der Blutgeruch ihre Übelkeit mit jedem Atemzug neu aufwallen ließ. Zögernd, als fürchtete sie die Toten, trat sie dann endlich näher an das Bett heran. Mit abgewandtem Blick tastete sie nach dem Telefon auf dem Nachtschränkchen ihres Vaters. Die Nummer des Notrufs zu wählen, ersparte sie sich jedoch. Zum einen, weil kein Freizeichen aus dem Hörer drang. Der Stecker des Apparats war samt der Dose aus der Wand gerissen worden. Zum anderen, weil in diesem Augenblick ein markerschütternder Schrei durchs Haus hallte! April erkannte die Stimme und wußte, was der Schrei zu bedeuten hatte. »O Gott … May …!«
* Thorne Woodrue beglückwünschte sich im stillen einmal mehr zu einer vortrefflichen Wahl. Als er sich diese Farm ausgesucht hatte für seine neuerliche Exkursion, hatte er nicht damit rechnen können, hier mehr als zwei Opfer vorzufinden. Während er jedoch das Haus einem Kaufinteressenten gleich inspiziert hatte – wie es seine Art war, bevor er tat, weswegen er eigentlich gekommen war –, waren ihm die zahlreichen gerahmten Fotos an den Wänden aufgefallen. Sie hatten nicht nur Aufschluß über die Größe der hier lebenden Familie gegeben, sondern ihm auch ermöglicht, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren. Der Hausherr hatte in Diensten der Army gestanden, war in Übersee stationiert gewesen, in Deutschland, wie aus einigen der Bildern
zu ersehen war. Woodrue vermutete, daß Captain Dorn diese Farm von seiner Abfindung erstanden hatte, nachdem er seinen Job bei Uncle Sam an den Nagel gehängt hatte. Wahrscheinlich betrieb er den Getreideanbau eher als Hobby denn zum Broterwerb. Sein vordergründiger Beweggrund, sich als Farmer in Kansas niederzulassen, war wohl der Wunsch nach einem beschaulichen Leben mit seiner Familie inmitten des Schoßes von Mutter Natur gewesen. Woodrue wünschte ehrlichen Herzens, daß die Dorns dieses Leben eine Weile hatten genießen können. Denn heute Nacht würde die Idylle enden … Natürlich schlich Thorne Woodrue nicht durch die Häuser seiner Opfer, um sich ein Bild über deren Leben und Gewohnheiten zu machen. Nicht in erster Linie zumindest. Es war vor allem eine Art Spiel, das er mit sich selbst trieb. Er versuchte sich selbst – oder vielmehr den anderen, den dunklen Teil seines Ichs – so lange wie möglich zu bezwingen. Es ging ihm darum, diesem anderen Teil zu beweisen, wer die Kontrolle innehatte – der Mensch, nicht die Bestie … Erst wenn die imaginären Ketten bis zum Zerreißen angespannt waren, weil die Nähe der Opfer das Biest in ihm bis aufs Blut reizte, ließ er es frei. Aber auch dann gewährte er diesem anderen Ich nicht völlig freie Hand. Er steuerte es und ließ es nur tun, wonach auch ihm der Sinn stand. Und er verknüpfte das Handeln der Bestie stets mit seinem ganz eigenen Empfinden von Lust und Ästhetik. Thorne Woodrue sah sich nicht als blindwütigen Killer. Er verstand sich als Künstler, dessen Werkzeug der Tod war und dessen Werke ewiger waren als die eines jeden anderen. Und er gab nicht anspruchs- oder auch nur wahllos dem Hunger seines zweiten Egos nach. Er war auch in dieser Hinsicht außergewöhnlich – ein Feinschmecker, der sich nur am Erlesensten labte. Er war so anders als die anderen seiner Art. Und er war froh, ihnen entkommen zu sein. Sie hatten und hätten ihn nie verstanden … Thorne Woodrue verließ das Schlafzimmer der Dorns. Die Bestie,
der er gestattet hatte, seinen Leib ein wenig in ihrem Sinne umzuformen, wollte den Raum noch nicht verlassen. Ihr abnormer Hunger war noch lange nicht gestillt. Doch wieder bewies Thorne Woodrue, daß er der kontrollierende Geist in diesem Körper war. Seine ureigenen Gelüste waren befriedigt, und die der Bestie wenigstens soweit, daß sie sich einstweilen zufriedengeben würde. Zumal die Aussicht auf mehr bestand – irgendwo in diesem Haus, hinter irgendwelchen Türen … Das Mondlicht jedoch stand auf Seiten des Biestes. Es schürte dessen Kraft und ließ ihn gegen Woodrues Herrschaft aufbegehren. Schmerz, ziehend und brennend, schoß durch seine Muskeln und Nerven, als die Bestie den Leib weiter erobern und verändern wollte. Doch er zwang sie nieder. Er war kein Tier und nicht willens, auch nur optisch diesen Eindruck zu erwecken. Sekundenlang beschränkte sich seine Aufmerksamkeit einzig darauf, die Kontrolle des Handelns aufrechtzuerhalten und das Dunkle in seine Grenzen zu verweisen. Eilends floh Woodrue aus dem vom Mondlicht erfüllten Korridor zur Treppe, die im Schatten lag. Augenblicklich schmolz die Macht der Bestie. Nach einer Weile erlaubte er ihr, von neuem Witterung aufzunehmen, und ließ sich davon leiten. Hin zu einer Tür, durch deren Holz er tiefe Atemzüge hören konnte. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich ganz auf die instinktive Wahrnehmung, spürte Leben, ohne es zu sehen, und ließ den Wunsch, es zu zerstören, sich entfalten, die süße Qual auskostend, die es bedeutete, diesem Wunsch nur langsam nachzukommen. Erst dann öffnete er die Tür, schlüpfte in das Zimmer dahinter – und verharrte in der Bewegung. Er hatte eine Einrichtung in hellen, freundlichen Tönen erwartet, wie man sie in Jungmädchenzimmer im allgemeinen vorfand. Hier jedoch … Schwarz war die dominierende Farbe, und das Mobiliar war so
aufgestellt, daß es weite Teile des Raumes in Schatten tauchte. Nicht einmal der in dieser Nacht allgegenwärtige Mondschein kam dagegen an. Ein einziger heller Fleck war auszumachen. Auf dem dunklen Kissen des Bettes. Ein Gesicht, schon jetzt, da noch Atem von den Lippen kam, fast totenbleich, aber wunderschön – Thorne Woodrue schlich näher – und mithin zerstörenswert … Das schwarzhaarige Mädchen, nicht älter als achtzehn Jahre, bewegte sich unruhig im Schlaf. Woodrue hielt den Atem an, darauf wartend, daß sie sich wieder beruhigte. Aber das tat sie nicht – im Gegenteil. Das Mädchen schlug die Augen auf. Und ein jähes Flammen darin verriet Woodrue, daß sie wußte, weshalb er gekommen war. Das war selten. Natürlich erschraken die meisten Opfer, wenn sie seiner ansichtig wurden. Aber kaum einem hatte die verbleibende Zeit je gereicht, um auch zu verstehen, was sein Besuch bedeutete. Allenfalls ahnten sie es, doch das wirkliche Begreifen fiel zumeist mit dem Augenblick ihres Todes zusammen. Wenn es längst zu spät für Gegenwehr oder gar Flucht war. Dieses Mädchen jedoch … Thorne Woodrue konnte ihr Entsetzen spüren, intensiver als bei irgend jemandem je zuvor. Es schlug ihm entgegen wie eine tatsächliche Kraft, wie ein gewaltiger Sturm aus dem Nichts und doch ganz anders. Und dieses spürbare Entsetzen schien nicht allein in seinem plötzlichen Auftauchen zu wurzeln. Woodrue erkannte auf eine Weise, die er selbst nicht verstand, daß das Mädchen wußte, was er bereits angerichtet hatte … Irgend etwas geschah. Woodrue konnte nicht einmal sicher sagen, ob das Mädchen es verursachte. Es konnte nicht sein, und doch –
Sie stieß ihm die Hände entgegen, krümmte sie zu Klauen, krallte sie ins Nichts, riß sie brüllend mit einem Ruck nach links und rechts, als wollte sie etwas wie einen unsichtbaren Vorhang zerfetzen und – Es war unglaublich, unbegreiflich. Selbst für ihn, dem doch kaum etwas Abgründiges fremd war. Und diesmal war er es, dem die Zeit fehlen würde, um zu verstehen, was passierte …
* Der Gedanke an Flucht hatte April nur im allerersten Moment beherrscht. Dann war er von ihr abgefallen, ohne daß sie ihn willentlich hätte verdrängen müssen. Ihre Schwester befand sich in Gefahr, und das Band zwischen ihnen war so stark, daß April wie instinktiv reagierte. Sie würde May helfen, und, wenn es sein mußte, mit ihr sterben … Die Zeit, ins Wohnzimmer hinunterzulaufen, nahm April sich aller gebotenen Eile zum Trotz dennoch. Es wäre verrückt gewesen, May unbewaffnet beistehen zu wollen … Der Waffenschrank ihres Vaters war unverschlossen. Einen Moment lang war April versucht, nach einem der Gewehre zu greifen, weil sie glaubte, den Killer allein mit der Größe der Waffe beeindrucken zu können. Dann nahm sie doch einen handlichen Revolver. Flüchtig kontrollierte sie, ob er geladen war. Natürlich war er es, wie alle Waffen ihres Vaters. Er hatte seine Töchter früh den Umgang mit Schußwaffen gelehrt und ihnen auch entsprechende Vorsicht und Ehrfurcht beigebracht. Die Gefahr, daß sie unbedacht damit herumspielten, hatte nie bestanden. Während April nach oben rannte – schnell, aber doch so leise wie irgend möglich – wunderte sie sich wie auf einem Nebengleis ihres Denkens darüber, daß sie in dieser Situation so berechnend und beinahe kaltblütig zu agieren imstande war. Ihre Eltern waren tot, la-
gen ermordet in diesem Haus, und sie verspürte weder Entsetzen noch Trauer, sondern – was eigentlich? Nichts … Eine Schutzmaßnahme des Unterbewußtseins, vermutete April. Der große Zusammenbruch würde erst erfolgen, wenn alles vorbei war … Mays Zimmer lag in der oberen Etage, wo der Dachschräge wegen alle Räumlichkeiten kleiner und bedrückender waren als im Rest des Hauses. So recht verstanden hatte niemand, weshalb May unbedingt hier oben ihr Zimmer hatte einrichten wollen. Aber sie hatte schon immer zu unkonventionellem Tun und Denken geneigt. Sie war schon immer ganz anders als ich, ging es April durch den Sinn, obwohl wir doch Zwillinge sind. Im Grunde ist May nicht einfach nur anders, sondern das völlige Gegenteil von mir. Wir sind wie die beiden Teile eines zerbrochenen Ganzen und zugleich wie Tag und Nacht, Licht und Schatten. Weil uns die Mitternacht von Geburt an getrennt hat …? Warum nur mußte sie gerade jetzt daran denken, da doch ganz andere Dinge zählten? Als April endlich im Dachgeschoß des Hauses anlangte und von der Treppe in den Flur einbog, blieb sie unvermittelt stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. Tatsächlich aber war der Grund, der sie zurückprallen ließ, sehr wohl zu sehen – wie auch zu hören. Flackerndes Licht wie von loderndem Feuer drang aus der offenstehenden Tür zu Mays Zimmer. Und dazu Geräusche, die definitiv nicht May verursachen konnte und die nur zu einem geringen Teil von dem brutalen Mörder stammen konnten. Denn die Laute klangen nicht, als kämen sie aus irgendeines Menschen Mund, sondern – April überwand die Lähmung und lief mit vorgestreckter Waffenhand weiter. Dabei hielt sie sich dicht an der gegenüberliegenden Wand, und schließlich stieß sie den Revolver noch weiter vor, als sie sich soweit vorangeschoben hatte, daß ihr Blick in Mays Zimmer
fiel. Wieder erstarrte April. Hatte sie eben noch befürchtet, im Zimmer ihrer Schwester wäre etwas in Brand geraten, sah sie sich nun getäuscht. Trotzdem wünschte sie fast, es wäre so gewesen. Denn ein Feuer hätte sie irgendwie löschen können. Dies hier jedoch … Es gab nichts, was April dagegen tun konnte. Und selbst wenn ihr ein geeignetes Mittel zur Verfügung gestanden hätte, wäre sie kaum in der Lage gewesen, es auch einzusetzen. Zum einen ließ der grauenhafte Anblick sie regelrecht versteinern, und zum anderen war ihr Denken vollauf mit dem Versuch beschäftigt, auch nur im Ansatz zu verstehen, was sie da sah. Es war bizarr, grotesk, entsetzlich – und so irreal, daß es kaum Worte gab, es zu beschreiben. In der Wirklichkeit schien ein Loch zu klaffen! Als wäre der vertraute Anblick von Mays Zimmer nur eine Folie, die eine fotorealistische Darstellung zeigte und die nun in der Mitte zerrissen worden war. Jenseits dieses Lochs kochte glühendes Licht wie von glutflüssiger Lava, und die sengende Hitze, die April entgegenschlug, unterstrich den Vergleich noch. Trotzdem blieb das Zimmer rings um den Riß von dieser Hitze unberührt. Aber daran verschwendete April keinen bewußten Gedanken. Denn das Feuer innerhalb des Lochs stellte nicht mehr als die Hintergrundkulisse zum eigentlichen Geschehen dar. Was April tatsächlich den Atem raubte und ihr Blut gefrieren ließ waren die – Dinge, die von jenseits des Risses (aus einer anderen Welt?) herübergriffen: krallenbewehrte Klauen, schuppig und hornig; dunkle, schleimglänzende Tentakel, die sich wie im Takt einer furchtbaren Melodie wiegten. Und sowohl die Klauen als auch die Tentakel, die unmittelbar aus der wabernden Glut zu langen schienen, hatten ein Ziel gefunden – einen monströs verwachsenen Körper, weder Mensch noch Tier,
eine Bestie. Krallen gruben sich in den teils pelzbewachsenen Leib, während er in der würgenden Umarmung der Tentakel hing. Schreie aus entmenschlichter Kehle schmerzten April in den Ohren. »May …!« entfuhr es ihr. Wo war ihre Schwester? Da! Sie kauerte auf ihrem Bett, das bleiche Gesicht von Schweiß glasiert, und beobachtete das fürchterliche Drama schreckensstarr einerseits – und zufrieden andererseits … Irgendwo zwischen Aprils wirbelnden Gedanken rastete etwas wie ein Schutzschalter mit fast hörbarem Klick ein. Augenblicklich legte sich das Chaos hinter ihrer Stirn. Alles, was mit Angst und Schrecken zu tun hatte, verging. Sie versuchte nicht länger, das Unbegreifliche zu begreifen oder auch nur ansatzweise zu verstehen. Sie nahm einfach hin, was da passierte. Die Klauen und Tentakel zerrten das brüllende Monstrum zu sich, und die Glut hinter dem klaffenden Riß gewann an Intensität, wogte heftiger, wie in gieriger Vorfreude auf das Opfer. Doch nicht alle Klauen und Tentakel zogen sich zurück. Während die Bestie – und obgleich April wußte, daß sie in diesem Wesen den Mörder ihrer Eltern vor sich hatte, verspürte sie einen Anflug von Mitleid mit ihm – in dem Loch verschwand, tasteten die verbliebenen Auswüchse im Zimmer umher. Wie blind zunächst noch, und dann zielgerichtet. Nach den beiden Geschwistern!
* May war den zuckenden und tastenden Gliedmaßen näher. April konnte beobachten, wie der erste Tentakel die Haut ihrer Schwester berührte, und fast meinte sie, die kalte Berührung am eigenen Leibe zu spüren. May wich zurück, doch schon wurde ihr Rückzug von weiteren dieser kopflosen Schlangengebilden aufgehalten. Sie begann verzweifelt mit den Armen zu fuchteln, aber es waren
keine Abwehrbewegungen, die sie vollführte. Für April sah es vielmehr aus, als versuchte May etwas wie einen unsichtbaren Vorhang zu schließen. Aber was es auch war, das May vorhatte, es gelang ihr nicht. Der sich tiefer und tiefer in ihre verzerrten Züge grabende Schrecken verriet das Maß ihrer stetig wachsenden Anstrengung, und doch half alles Mühen nicht. April indes – verstand. Woher das Wissen kam, wußte sie nicht. Es war, als wäre es schon immer in ihr gewesen und in diesem entscheidenden Augenblick erst nutzbar geworden. Im gleichen Moment jedoch begegnete Mays Blick dem ihren, und es schien ihr, als bestünde jenes geschwisterliche Band zwischen ihnen in dieser Sekunde als etwas Tatsächliches, fast Greifbares; wie eine Leitung, über die Dinge flossen. »Was hast du getan …?« flüsterte April erschrocken. »Ich weiß es nicht«, gab May heulend zurück. »Aber ich kann es nicht mehr aufha-aaahhh!« Der Hieb eines Tentakels ließ May vornüber stürzen, und schon senkte sich eine hornige Klaue auf sie nieder, die sich in der nächsten Sekunde in ihren Rücken graben würde. »April!« schrie May. »Hilf mir!« »Ja!« April tat es. Irgendwie. Sie wußte nicht, wie sie es bewerkstelligte, nur ein seltsamer Gedanke begleitete ihr Handeln: Wir sind wie die beiden Teile eines zerbrochenen Ganzen … Das Glosen der Glut verlosch. Der Riß in der Realität schloß sich. Als würden unsichtbare Hände die Wirklichkeit restaurieren. Die Klauen und Tentakel, die sich durch das Loch gereckt hatten, wurden gekappt, fielen zu Boden, vertrockneten binnen Sekunden, bis nur noch Staub, im Mondlicht wie Silber glitzernd, von ihrer vergangenen Existenz zeugte.
Davon jedoch bekamen weder April noch May etwas mit. Beide stürzten nieder, wurden von Schwärze aufgefangen. Das Entsetzen verlangte seinen Tribut. Ebenso wie die Erschöpfung. Denn May und April Dorn hatten buchstäblich Unirdisches geleistet.
* Sie konnten sich nicht daran erinnern, wann und wie sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatten. Sie wußten nur, daß sie es in der Hoffnung getan hatten, der Schrecken dieser einen Nacht würde dort zurückbleiben – zusammen mit den Überresten jener Monstrositäten und den Leichen ihrer Eltern. Aber sie irrten sich. Das Entsetzen hing ihnen an wie ein Schatten, wohin sie auch gingen. Und es folgte ihnen die Furcht davor, es könnte nicht alles tot sein, was in jener Nacht gestorben war … Dazu kam noch die Angst, es könnte sich wiederholen … Weder April noch May hatten einen Namen gefunden für das, was sie in jener Nacht getan hatten. Doch sie ahnten, daß es sich auch damit nicht hätte bezwingen lassen. Es in Worte zu fassen würde nicht bedeuten, es zu verstehen – oder verhindern zu können … Ihr wirklich bewußtes Denken hatte erst wieder eingesetzt, als sie nach ihrer blinden Flucht viele, viele Meilen von Zuhause fort gewesen waren. Eine Zeitlang hatten sie die Ermittlungen im Mordfall Dorn noch über die Zeitungen verfolgen können. Die Töchter der Ermordeten galten als vermißt; man nahm an, der Täter hätte sie entführt. Seinem brutalen Vorgehen auf der Farm zufolge rechnete man seitens der Polizei nicht damit, daß die Mädchen noch am Leben sein könnte. Und schließlich waren April und May weit genug entfernt, daß die Kreise, die der Fall zog, sie nicht mehr berührten. Irgendwo wollten sie ein neues Leben beginnen, unbehelligt von
den Schatten der Vergangenheit. Doch es gab kein Entkommen. Es geschah wieder. Und wieder. Und so hinterließen April und May Dorn ihre Spuren. Spuren, die für die meisten Menschen unsichtbar blieben. Nur wenige waren in der Lage, sie zu erkennen. Und ihnen zu folgen.
* Gegenwart Italien, im Kloster Monte Cargano »… Niemals wieder werdet ihr das Herz des Monte Cargano verlassen. Doch wird diese Innere Halle nicht euer Kerker sein, sondern eure neue Heimstatt – und mehr noch. Die Aufgabe, die euch fortan an diesen Ort bindet, ist eine der größten dieser Welt. Ihr seid ausersehen, sie zu erfüllen, und dies mag euch Pflicht und Ehre in einem sein. Denn nur wenigen Männern könnte man sie übertragen. Ich lege das Schicksal der Menschheit in die Hände der besten dieser Männer – in die euren. Wachet von nun an über das Heiligtum der Illuminati. Und verteidigt es gegen jeden und alles – nicht allein mit eurer besonderen Kraft und eurem Leben, sondern gebt – wenn es sein muß – auch eure Seelen dafür.« Salvat selbst schwieg längst, als seine letzten Worte noch immer wie von Geisterhänden aufgefangen und einander zugeworfen zwischen den grünlich phosphoreszierenden Felswänden einherschwangen. Nur ganz allmählich erstarben die Echos, als könnte die Bedeutung der Worte nicht oft genug wiederholt werden. Schließlich kehrte doch Stille ein, und sie schien letztlich schwerer zu wiegen als die unzähligen Tonnen von Fels, die die Innere Halle von al-
len Seiten umdrängten. Trotz seiner immensen Ausmaße herrschte in dem Dom stets eine Atmosphäre der Bedrückung, der nicht einmal Salvat sich vollends zu entziehen vermochte. Schon gar nicht mehr, seit das Unfaßbare geschehen war … Wie zufällig ging der Blick des Ordensführers hinüber zum Heiligtum – zum Tor, das sich haushoch und mit geheimnisvollen Symbolen und Hieroglyphen versehen in die nördliche Wand der Inneren Halle fügte. Es war mit Dutzenden von Riegeln und Schlössern beschlagen sowie mit metallen schimmernden Nieten besetzt, deren Anordnung aus der Ferne besehen sinnverwirrende Muster ergab. Salvat mußte lange zum Tor hingesehen haben, gedankenverloren, voller Sorge und Vorwürfe, denn erst als die auf ihn gerichteten Blicke der zwölf Auserwählten spürbar wurden wie körperliche Berührungen, kehrte er ins Hier und Jetzt zurück. Sein eigener Blick wanderte noch einmal am Halbkreis der Zwölf entlang. Einen jeden einzelnen von ihnen nahm er fest ins Visier, und dabei tat er viel mehr, als sie nur anzusehen. Unter seinem Blick erstarb etwas in ihren Augen, und ein harter, stumpfer Glanz füllte die entstandene Leere. Zugleich veränderten sich auch die Züge der Männer. Alles Weiche schwand daraus, machte spürbar ewiger Entschlossenheit Platz. Etwas Archaisches umgab die Zwölf nunmehr. Ohne daß es eines weiteren Wortes von Salvat bedurft hätte, wandten sie sich ab und tauchten ein in die Schatten der Inneren Halle, nahmen ihre Plätze darin ein, von denen nur der Tod sie einst vertreiben würde – auf welchem Wege er auch zu ihnen kommen mochte … »Wenn unser Orden die mächtigste Armee auf Gottes weiter Welt ist, dann sind sie die Elitesoldaten.« Der alte Mann neben Salvat sah den Auserwählten, die eben zu den neuen Wächtern des Tores ernannt worden waren, versonnen nach. Dabei erkannte Salvat selbst mit einem flüchtigen Blick zur
Seite hin, daß Adrien, sein treuer Freund und Lehrmeister der Gesandten, jenseits des Tatsächlichen etwas ganz anderes sah. Und doch – die wahren Schrecken, die der Welt harrten, vermochte nicht einmal der alte Adrien sich vorzustellen, der beinahe zeit seines Lebens in Monte Cargano weilte. »Trotzdem«, meinte Salvat mit dunkler, leiser Stimme, »sind sie vielleicht nicht gut genug, wenn das Schlimmste eintritt.« »Es sind die Besten«, erinnerte Adrien ihn an seine eigenen Worte. »Mehr können wir unsererseits nicht in die Waagschale werfen. Es muß genügen.« Salvat schritt langsam, wie in Gedanken versunken, zwischen den Säulen einher, die steinernen Bäumen gleich die im Dunkel liegende Decke der Inneren Halle stützten. Adrien blieb an seiner Seite. Ihre beider Schritte hallten dumpf und dutzendfach vom Fels ringsum wider; arhythmisch, weil Salvat das linke Bein beim Gehen leicht nachzog, und das helle Klicken seines Gehstocks setzte einen weiteren disharmonischen Ton in die Echos. Nicht zum ersten Mal fragte sich Adrien, welcher besonderen Art eine Verletzung sein mußte, die jemanden wie Salvat so nachhaltig beeinträchtigen konnte. Salvat hatte es ihm nie verraten. Doch in seinem Gesicht hatte Adrien erkennen können, daß der bloße Gedanke an die Ursache dieser Verletzung ihn selbst heute noch erschreckte – oder gar entsetzte … »Es hat schon einmal nicht genügt«, sagte Salvat nach einer Weile. Wie anklagend sah er zum Tor hin, dem sie sich näherten. »Du hast getan, was du konntest«, versuchte Adrien, der wie Salvat die Kutte mit dem verschlungenen Zeichen der Bruderschaft trug, ihm über die Selbstvorwürfe hinwegzuhelfen. »Nein, das habe ich nicht. Ich hätte schneller und besonnener reagieren müssen. Meine Aufgabe war und ist es, zu verhindern, daß das Tor geöffnet wird. Aber es ist geschehen, und somit habe ich
versagt.« »Dich trifft keine Schuld. Der Verlust deines Sohnes belastete dich zu schwer, als daß du völlig klar und nüchtern hättest handeln können.« Adrien verhielt kurz im Schritt und sah dem Ordensführer ins asketische Gesicht. »Letztlich fühlst und leidest du doch –«, er lächelte matt, »– wie ein Mensch.« Salvats Blick umflorte sich mit Schatten. Rasch wandte er sich ab und ging weiter. »Das habe ich viel zu oft getan. Nie war es zu meinem oder irgendeines Menschen Besten. Und doch habe ich nie gelernt aus diesem einen Fehler und ihn immer wieder begangen.« Adrien lächelte wieder, breiter diesmal und unverhohlen schelmisch. »Eben das schätze ich so an dir, alter Freund.« »Spar dir deine Scherze – Jungspund.« Wenigstens für einen Moment wich das Dunkle aus Salvats Zügen, als auch seine Lippen sich zu einem flüchtigen Lächeln verzogen. Doch schon im nächsten Augenblick krochen die Schatten wieder zurück in die tiefen Linien seines Gesichts, trat erneut jener harte Schimmer in seine Augen, und er ging wieder wie ein Mann, auf dessen Schultern die Bürde einer Welt ruhte; wie ein Mann, der zwar nie gestöhnt hätte unter solchem Gewicht, der aber doch darunter litt – ohne es je zuzugeben, weder anderen noch sich selbst oder gar Ihm gegenüber. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Dennoch war es, als spräche Salvat zu Adrien, so klar und deutlich erkannte dieser die Gedanken des anderen. Sie befaßten sich mit der allerjüngsten Vergangenheit, in der sich so viel mehr ereignet hatte als in all der langen Zeit, die Adrien sich zurückentsinnen konnte. Was in einer Ewigkeit nicht hatte geschehen können, war eingetreten: Das mysterienumwobene Tor tief unter dem Kloster war geöffnet worden – von einem Kind! Ein Knabe hatte geschafft, was ein Dutzend und mehr Verblendete in Jahrhunderten nicht vermocht hatten. Sie alle hatten für ihren Frevel gesühnt, trotzdem sie letztlich erfolglos geblieben waren. Dieses
Kind jedoch hatte Salvat nicht zur Rechenschaft gezogen – wohl, weil es ein Kind war. Und weil selbst ein Mann wie Salvat auf Grenzen traf, über die er sich nicht hinwegsetzen konnte. Letztlich fühlst du doch wie ein Mensch, erinnerte sich der Alte seiner eigenen Worte, als wehte ihr Echo noch durch die Halle. Vielleicht hätte Salvat den Knaben aufzuhalten und zu verhindern vermocht, daß das Tor geöffnet wurde. Doch zu viele Dinge hatten sich nahezu gleichzeitig ereignet. Fremde – Vampire, wie Adrien inzwischen wußte – waren ins Kloster eingedrungen und hatten sowohl Salvat als auch die Bruderschaft abgelenkt, just in dem Moment, da tief drunten im Berg der Knabe an Dingen gerührt hatte, die auf ewig unangetastet bleiben mußten, sollte die Welt, wie die Menschheit sie kannte, nicht vergehen.* Ob das Zusammentreffen dieser Ereignisse zufällig oder geplant gewesen war, darüber ließen sich allenfalls Mutmaßungen anstellen. Adrien selbst neigte dazu, die Dinge in – wie es die Menschen draußen vielleicht genannt hätten – »kosmischem Zusammenhang« zu sehen. Ihm persönlich behagte dieser Ausdruck nicht sonderlich, doch er wußte keinen geeigneteren. Er kannte seine eigene Sicht der Dinge, und da zählte es nicht, mit welchem Wort sie am ehesten zu bedenken wären. Dennoch hütete er sich, Salvat gegenüber konkret zu werden in dieser Sache. Denn letztlich bedeutete Adriens Auffassung nichts anderes, als daß – egal, was sie taten und wie sehr sie auch meinten, individuelle Entscheidungen zu treffen – alles vorherbestimmt war. Und Salvat mochte dazu durchaus anders stehen – und vielleicht richtig liegen. Immerhin hatte er den besseren Draht … »Es braucht neue Arten der Sicherung. Der Schutz des Tores muß verstärkt werden.« Selbst ganz in Gedanken versunken, hatte Adrien kaum gemerkt, daß sie am Fuß des Tores angelangt waren. Aus unmittelbarer Nähe *siehe VAMPIRA T17: »Der Hort der Wächter«
wirkte es noch vielfach gewaltiger, und es war kaum vorstellbar, daß irgend etwas in der Lage sein könnte, die tonnenschweren Flügel aus geschwärztem Holz zu bewegen. Und doch war es geschehen – ein kleiner Junge hatte das unmöglich Scheinende fertiggebracht … »Was willst du tun?« fragte Adrien. Seine Stimme klang leise, beinahe ehrfürchtig, wie immer, wenn er direkt vor dem Tor stand. »Ich habe schon etwas getan«, erklärte Salvat und fuhr dann scheinbar zusammenhangslos fort: »Eine besondere Situation bedarf besonderer Talente.« Adrien verstand und nickte. »Es hat mit deiner Reise nach Rom zu tun, nicht wahr?« »Ich habe viel Zeit in der Vatikanischen Bibliothek zugebracht und die geheimen Aufzeichnungen durchforstet, die seit Jahrhunderten im Auftrag Ihrer Heiligkeiten geführt werden …« »Oh«, unterbrach ihn Adrien, verschmitzt lächelnd, »hat dir dabei etwa Kardinal Alessandro Caracolli zur Seite gestanden?« Salvat nickte, gleichfalls lächelnd. »Ja, ich hatte darum gebeten. Du kannst dir vorstellen, wieviel Freude es ihm bereitet hat, ausgerechnet mich unterstützen zu dürfen. Der Bursche haßt mich wirklich aus tiefstem Herzen. Wahrscheinlich begegne ich dem Alten seiner Meinung nach nicht mit dem nötigen Respekt.« »Na so was, wo du doch ein solch herzerwärmendes Wesen hast. Bist du fündig geworden?« Adrien kehrte übergangslos zum der Sache angemessenen Ernst zurück. »Ich habe mich bei meiner Suche in erster Linie auf die Auflistungen jener Geburten konzentriert, die in ›besonderen‹ Nächten erfolgten«, holte Salvat weiter aus. »Jeden einzelnen dieser Fälle ließ ich über die Datenbanken der verschiedensten Regierungsbehörden weiterverfolgen, und tatsächlich ergaben sich hier und da gewisse Auffälligkeiten. Die wiederum überprüfte ich näher auf eine etwaige Eignung für unsere Zwecke, und inzwischen haben sich Gesandte auf den Weg gemacht, um den von mir ausgewählten Spuren zu fol-
gen.« Adrien zog die Stirn kraus. »Trotzdem verstehe ich nicht ganz, wie du erkannt haben willst, wie wir aus diesen Fällen, wie du sie nanntest, einen Nutzen ziehen könnten.« Salvat grinste schief und tippte gegen seine markante Nase. »Du kennst doch meinen göttlichen Riecher.« »Lassen wir uns überraschen«, meinte Adrien gottergeben. »Und hoffen wir, daß die Überraschung erstens angenehm ausfällt und zweitens nicht allzu lange auf sich warten läßt«, ergänzte Salvat. »Du meinst …?« Adrien sah beunruhigt zum Tor hin. »Ich bin nicht sicher«, schwächte Salvat ab. »Nur so ein Gefühl … als wäre es noch nicht vorbei. Zumal jener Fremde, der sich in der Gestalt eines Adlers zu verbergen vermag, entkommen konnte. Zwar habe ich ihm Enya nachgeschickt, damit sie ihn beseitige. Aber sie hat sich seither nicht mehr gemeldet. Ich bin nicht sicher, wieviel von dem, was von drüben herüberkam –«, er wies mit einer beiläufigen Geste auf das Tor, »– noch in diesem Mann war. Es könnte ihn zur Rückkehr zwingen, und dann …« Er zog wie fröstelnd die Schultern hoch. »Was ist mit dem Knaben?« fragte Adrien. »Von ihm scheint keine Gefahr zu drohen. Er liegt in der Kammer der Schläfer, reglos, seitdem ich ihn dort hingebracht habe. Ich werde mich noch näher mit ihm befassen …« »Willst du ihn …?« Adrien ließ den Rest der Frage unausgesprochen, doch allein sein Tonfall machte deutlich, was er hatte fragen wollen. »Nein. Er ist – ein Kind.« Salvat lächelte bitter. »Ich wünschte, er wäre es nicht.« »Was ist mit den beiden, die, wie du erzähltest, durch das Tor hinübergezerrt wurden? Könnte von ihrer Seite eine Gefahr drohen?« wollte Adrien weiter wissen, an Lilith Eden und Landru, deren Na-
men er freilich nicht kannte, erinnernd. Salvat schüttelte ruckartig den Kopf. »Nein. Für sie gibt es keine Rückkehr.« »Sie sind also tot?« Salvat sah dem Lehrmeister der Gesandten in die Augen, so durchdringend und mit solch flammendem Ausdruck, daß selbst Adrien unter diesem Blick erschauerte. »Glaub mir, mein Freund, wenn ich dir sage, daß es Dinge gibt, die schlimmer sind als der Tod. Sie liegen jenseits dieses Tores.« Seine Hand strich über das dunkle Holz. »Und zumindest ihr gönne ich diese Dinge aus tiefster Seele. Möge ihr Leiden dahinter nie enden.« Voller Haß und Abscheu dachte er an die Mörderin seines Sohnes. An Lilith Eden, die, nach allem, was er wußte und zu wissen meinte, Raphael Baldacci auf dem Gewissen haben mußte. Schmerz schnitt ihm sengend durch die Brust. Und noch im selben Moment wußte Salvat, daß dieser Schmerz nicht allein vom Verlust seines Sohnes herrührte. Aber die schmerzliche Erinnerung, die sich da so unvermittelt und in seine Gedanken drängte, konnte doch nichts mit all dem zu tun haben … Es war die Erinnerung an ein Mädchen, das er vor langer, vor sehr langer Zeit kennengelernt hatte. Ein besonderes, ein geheimnisvolles Mädchen namens Lilena … Warum nur mußte er gerade jetzt an sie denken? Es ergab einfach keinen Sinn … Fast erschrocken ertappte Salvat sich dabei, daß er mit einemmal wie streichelnd mit der Hand über das eisenharte Holz des Tores fuhr. Er zog sie zurück, so hastig, als läge sie auf einer glühend heißen Herdplatte. Und doch war ihm noch jetzt, als hätte er Lilenas samtige Haut unter seinen Fingern gespürt, als wäre er ihr auf diese Weise ganz nah gewesen … Mit einem Ruck wandte Salvat sich ab und stürmte davon.
Adrien kam es vor, als fliehe er vor irgend etwas. Vielleicht vor einer der vielen leidvollen Erfahrungen, die ein äonenlanges Leben ganz zwangsläufig mit sich bringen mußte – und die aller Zeit zum Trotz doch nie wirklich vergingen. Nicht einmal für ein Wesen wie Salvat.
* Ganz in der Nähe … … und doch Welten entfernt Landru keuchte auf. Jähes Erschrecken verdrängte die eben noch allmächtige Begierde, für diesen einen endlosen Moment zumindest. Obwohl sich um ihn her ohnehin nichts wirklich gerührt hatte, kam es ihm doch vor, als würden dieses Wenige und die Zeit selbst gefrieren im Eis jenes Schreckens, der ihm schneidend kalt in Fleisch und Knochen fuhr. Eine winzige, im Grunde lächerliche Bewegung hatte diesen Schrecken ausgelöst – zwei Augenlider hatten sich gehoben. Die Lider einer Toten …? Als er sich vorhin nach der reglosen Gestalt gebückt und ihre aristokratisch blasse Haut berührt hatte, waren doch weder Herzschlag zu spüren noch irgendein Lebenszeichen auszumachen gewesen. Landru schloß jeden Zweifel aus: Lilith Eden war tot … … oder war sie es nur – gewesen? Jetzt hatte sie jedenfalls die Lider geöffnet. Und die Landru ebenso vertrauten wie verhaßten Augen dahinter brodelten nun schier vor Leben, winzigen jadegrünen Seen gleich, deren Wasser in einem Sturm kochten. Ein Konglomerat unterschiedlichster Emotionen entdeckte Landru darin. Schließlich jedoch manifestierte sich ein einziges Gefühl, verdrängte alle anderen, als es wie von unwiderstehli-
cher Macht an die Oberfläche dieser grünen Seen gesogen wurde: Entsetzen! Und es überwog jenes, das Landru verspürte, sichtlich um ein Vielfaches, so daß er grimmige Genugtuung verspürte. Seine Lippen verzogen sich zu einem sardonischen Lächeln, als er sie ansprach: »Willkommen zurück!« Ein keuchender Laut wich von Liliths vollen Lippen, aus dem Landru nur vage seinen eigenen Namen heraushörte. Denn der verzerrte Ton ging über in ein kehliges Knurren, das sich zum Fauchen steigerte und alsbald an ein gereiztes Raubtier erinnerte. Landru reagierte auf die plötzlich veränderte Situation. Eben hatte er sich noch in der Rolle des Überlegenen befunden, und er würde sie nicht abgeben. Er hatte Lilith an die Kehle gewollt, um sich an ihrem Blut nicht nur zu laben, sondern darüber hinaus zu ergötzen, auf daß es all jene Schrecken, die eine grausame Macht ihm angetan hatte, ins Vergessen spülte. Daneben war jedoch auch Rache seine Triebfeder gewesen. Denn welcher Natur die Wesenheit auch sein mochte, die jenes furchtbare Spiel mit ihm getrieben hatte, sie hatte Lilith Eden als Werkzeug oder wenigstens doch ihren Leib als eine Landru verhöhnende Tarnung genutzt.* Und sich nun an eben diesem Körper zu vergreifen, selbst wenn er tot war, würde die erlittene Schmach vielleicht ein wenig lindern. Um keinen Preis wollte Landru sich das nehmen lassen! Und so setzte er jene Bewegung fort, die er abgebrochen hatte, als das Hurenbalg die Augen aufschlug. Seine nackte Haut berührte die Liliths, an der wie tot und zerrissen der Symbiont klebte. Obwohl er doch nichts anderes im Sinn hatte, als ihr Blut und Leben zu nehmen, verspürte Landru ein hitziges Prickeln ob ihrer samtenen Weichheit. Ein Gefühl, das für den Bruchteil einer Sekunde gänzlich andere Wünsche in ihm weckte, *siehe VAMPIRA T22: »Die Verdammnis«
als Lilith nur zu töten. Zuvor – Diese geringe Ablenkung genügte Lilith. Reflexhaft hatte sie Arme und Beine angewinkelt, um Landrus Anprall abzufangen und zu verhindern, daß sie reg- und wehrlos unter ihm zu liegen kam. Jetzt nutzte sie den winzigen Moment, in dem Landru sie womöglich richtig in den Griff hätte bekommen können, um ihn von sich zu stoßen. Zwar gelang es ihr nicht, ihn von sich fort zu katapultieren, aber immerhin konnte sie ihn abwerfen und in der gleichen Bewegung selbst auf die Beine kommen. Doch sie stand kaum, da hatte auch Landru sich schon wieder erhoben. Einander belauernd wie wilde Tiere standen sie, beide leicht geduckt, im Schatten des Tores, das von dieser Seite aus – oder zumindest für sie beide – einem kantigen Block gleichsah, schwarz und narbig, als wäre er aus einem erloschenen Stern herausgeschlagen. Landru und Lilith standen auf einer Art Geröllstreifen, der den Fuß des finsteren Monuments säumte. Jenseits davon lag etwas, das wie eine spiegelglatte Ebene aus Basalt aussah. Landru wußte oder ahnte wenigstens, daß auch diese Ebene nur eine Kulisse war, die von der Macht dieses Ortes jederzeit gegen eine andere ersetzt werden konnte. Ob es so etwas wie Wirklichkeit hier überhaupt gab, bezweifelte er nach allem, was ihm widerfahren war … Seine Gedanken drohten abzudriften und seine Aufmerksamkeit zu unterwandern. Lilith bewegte sich, ohne zu wissen, daß sie sich damit einen schlechten Dienst erwies – denn diese Bewegung war es, die Landrus Konzentration wieder ganz auf sie lenkte. Lilith mochte sich in eben diesem Sekundenteil zum Angriff auf ihn vorbereitet haben, nun aber kam er ihr zuvor. Aus dem Stand sprang er sie an, mit vorgestreckten Händen, die nach ihrer Kehle zielten. Sie versuchte seine Arme beiseitezuschlagen, doch er hatte diese Gegenwehr erwartet und hielt dagegen. Daß ihm dies gelang, be-
wies Landru vollends, daß die fremde und unüberwindbare Macht sich aus Lilith zurückgezogen hatte. Triumphierendes Fauchen stieg heiß in seiner Kehle empor, als seine Hände Liliths Kehle berührten – und erstickte dann in dumpfem Gurgeln! Lilith hatte einen Fuß hochgerissen und traf Landru an einer Stelle, die selbst bei Blutsaugern noch eine gewisse Empfindsamkeit aufwies – zumal sie beide in dieser Welt ihre vampirischen Fähigkeiten eingebüßt hatten. Sein schmerzhaftes Niederzucken nutzte sie, um ihn zur Seite zu drängen. Mit einem harten Ellenbogenstoß verlängerte sie seine unkontrollierte Bewegung, die ihn gegen das Tor prallen ließ. Augenblicklich setzte sie nach. Mit blitzschnellen Hieben und Tritten nagelte sie ihn gegen den lichtschluckenden Monolithen, bis er schließlich an dem Block entlang zu Boden sank. Sein nackter Rücken schabte über das rissige Material. Glitzernde Spuren aus dunklem Blut zeichneten sich darauf ab. Lilith atmete hechelnd vor Erschöpfung. Nur eine Sekunde wollte sie sich nehmen, um Kraft zu schöpfen und – Sie schrie auf, vor Wut und Erschrecken in einem. Landru hatte sie getäuscht. Er war noch längst nicht am Ende, hatte den Angeschlagenen nur gemimt, um sie überraschend anzugehen. Aus seiner kauernden Stellung sprang er Lilith an und stieß sie so zurück, daß sie taumelte. Landru schlug hart auf dem Geröllboden auf, schnellte aber gleich wieder vor, um sich erneut gegen Lilith zu werfen. Wieder versetzte er ihr einen Stoß, der sie zwei weitere Schritte nach hinten torkeln ließ. Seine nächste Attacke brachte sie schließlich zu Fall. Lilith stürzte. Unmittelbar am Rand des »sicheren« Geröllstreifens, der das Tor umgab. Der Sturz trug Lilith über dessen Grenze hinaus. Der Aufprall auf der basaltartigen Fläche trieb ihr pfeifend die Luft aus den Lungen.
Zugleich schien die Wucht groß genug, um die Oberfläche zerspringen zu lassen! Wie in einem zerberstenden Spiegel zogen sich gezackte Sprünge durch den Boden, immer mehr. Wie das Netz einer wahnsinnig gewordenen Spinne weiteten sie sich aus. Aus den Rissen drängte waberndes Glutlicht empor, in dessen noch schwachem Schein sich nebulöse Fratzen formten, die Landru ein stummes Brüllen entgegenschleuderten. Landru wußte, daß diese Gesichter einzig für ihn bestimmt waren, daß nur er sie sehen und ihr anklagendes, verhöhnendes Schreien hören konnte. Wie schon einmal. Seine Verdammnis sollte von neuem beginnen. Aber vielleicht gab es eine Chance, das zu verhindern. Er wußte nicht, wie er auf die Idee kam. Wahrscheinlich war es nur Ausdruck seiner panischen Furcht vor dem, was ihn wieder erwartete. Was er tat, war nicht mehr als ein verzweifelter Versuch, es abzuwenden. Ein weiteres Mal warf er sich nach vorn, bremste seine Bewegung aber, bevor auch er über den Rand des Streifens getragen wurde. Er ahnte, daß alles zu spät sein würde, wenn auch er diese Insel trügerischer Sicherheit in einem Meer höllischen Wahnsinns verließ. Dann streckte er die Arme nach Lilith aus, die sich benommen aufrichten wollte, und bekam ihren Knöchel zu fassen. Mit einem heftigen Ruck riß er sie zu sich. Im ersten Moment sträubte sie sich dagegen. Dann jedoch begann flackerndes Entsetzen auch ihren Blick zu füllen, als sie sich umschaute. Landru war sicher, daß sie gänzlich andere Dinge sah als er; daß die monströse Macht, deren Heimstatt dieser Pfuhl war, für Lilith einen anderen, individuellen Horror bereithielt und ihn nun offenbarte. Aufschreiend ließ sie es zu, daß Landru sie heranzerrte. Wie eine
Schiffbrüchige aus sturmtosender See kroch sie endlich von der basaltähnlichen Fläche zurück auf den Geröllstreifen und in den Schatten des Tores. Hinter ihr schlossen sich die Sprünge in der Ebene, nachdem das glühende Nebelleuchten zurück in die darunter lauernden Tiefen geschlürft worden war. Landrus fiebrige Stirn sank nieder, berührte den kühlen Boden. Sein Instinkt wollte ihm diese Sekunde der Erholung nicht gönnen, wollte ihn aufspringen lassen, um sich erneut Lilith zuzuwenden und zu beenden, was er gerade erst begonnen hatte. Aber er widerstand diesem Drängen, konnte gar nicht anders. Selbst er brauchte diesen Moment, um das Entsetzen zu verdauen, das ihn da gerade angesprungen hatte. Insgeheim rechnete er mit einem Angriff Liliths, während er dalag, aber es geschah nichts. Offenbar steckte auch ihr der Anblick, der ihr geboten worden war, noch in allen Gliedern und lähmte sie. Schließlich richtete Landru sich halbwegs auf und wandte sich um. Unterschwellig erwartete er, ungeachtet ihrer abgrundtiefen Feindschaft zueinander, etwas wie Dankbarkeit in Liliths Zügen zu finden. Doch sie begegnete ihm lediglich mit eben jenem Ausdruck, der auch seine Gelüste ihr gegenüber beschrieb. Begierde lag über ihrem Gesicht wie eine grausige Maske. Und es handelte sich spürbar um dieselbe Gier, die auch Landru beseelte. Die Gier nach Blut. Nur war es bei Lilith die Gier nach seinem Blut.
* New York
»Hast du je so einen schrecklichen Sinn in Mamas Geschichten vermutet?« April Dorn lag auf der schäbigen Matratze und stierte zu der stockfleckigen Decke der Absteige hoch, in der sie nach ihrer Odyssee durch etliche Staaten eine weitere Zuflucht gefunden hatten. Durch das rußgeschwärzte Fenster sickerte schwacher Widerschein ferner Leuchtreklamen. Neonfarbene Kreaturen wanderten über Wände und Decke des Zimmers, und Aprils in den vergangenen Wochen geschürte Phantasie hauchte den Gestalten unheimliches Leben ein. »Nein, niemals«, antwortete May leise von der anderen Seite des Zimmers her. Während ihrer ziellosen Flucht hatten die Schwestern kaum einmal über das gesprochen, was vorgefallen war, jedenfalls nicht wirklich und ausführlich. Erst hier in New York, wo sie sich in einer wenig wohnenswerten Gegend verkrochen hatten, versuchte April das Thema aufzugreifen. Weil es ihr regelrecht auf der Seele brannte. Wenn sie es schon weder vergessen noch verdrängen konnte, würde es vielleicht helfen, darüber zu reden. »Sie nannte die Nacht unserer Geburt immer eine ganz besondere Nacht«, fuhr sie fort. »Ja. Walpurgisnacht. So nennt man diese Nacht drüben in Europa.« April und May hatten in Deutschland das Licht der Welt erblickt, als ihr Vater noch als Captain der U.S. Army dort stationiert gewesen war. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai. Dabei hatte April noch vor Mitternacht den Schoß ihrer Mutter verlassen, May indes wenige Minuten danach. So war es also gekommen, daß sie, obgleich sie Zwillinge waren, an unterschiedlichen Tagen Geburtstag feierten – weil die mitt’re Nacht sie trennte; jene Grenze, die einen Tag vom anderen schied – und deren Bedeutung noch größer zu sein schien, als die beiden Mädchen heute zumindest ahnten.
»Es heißt, die Hexen würden sich in dieser Nacht versammeln, um mit dem Teufel zu buhlen«, erinnerte April sich weiterer Einzelheiten aus den Geschichten ihrer Mutter. »Ich dachte immer, Mama wollte uns mit diesen Dingen erschrecken, wenn wir nicht brav waren«, sagte May. April konnte ihr stilles Lächeln fast hören. »Ich bin sicher, daß sie nichts anderes wollte.« »Ich nicht.« »Du meinst …?« fragte April, beinahe alarmiert. Sie richtete sich ein wenig auf, sah hinüber zum Matratzenlager ihrer Schwester. Mays Gesicht schimmerte fahl im Zwielicht der stickigen Bude. Ein Zucken durchlief ihren Körper, als sie im Liegen die Schultern hob. »Wer weiß?« meinte sie. »Vielleicht wußte sie viel mehr, als sie uns je erzählt hat.« »Glaubst du, sie hätte uns belogen?« fragte April. »Nicht belogen. Nur einen Teil der Wahrheit verschwiegen.« »Aber …« »Sieh uns doch an!« schnaubte May. »Was aus uns geworden ist! Dieses Schicksal kann kein Zufall sein. Es muß Gründe haben.« Obwohl Erregung in ihren Worten mitschwang, klang ihre Stimme doch erschöpft. Sie hatte wenig geschlafen in den vergangenen Wochen. Denn im Schlaf, in ihren Träumen konnte es ohne ihr bewußtes Zutun geschehen. April hatte fast noch weniger Schlaf gefunden. Denn an ihr war es, über Mays Schlaf und Träume zu wachen. Weil nur sie kontrollieren konnte, was May zu bewirken imstande war. Mehr denn je waren April und May die beiden Teile eines Ganzen, das die Mitternacht einst gespalten hatte. Ein Geist und eine Kraft, verteilt auf zwei Körper. Ying und Yang. Immer wieder war es in den vergangenen Wochen zu »Zwischenfällen« gekommen. Einmal ausgelöst durch den übermächtigen Schock, den die Mordnacht im Haus ihrer Eltern bedeutet hatte, genügten mittlerweile wesentlich nichtigere Anlässe, um May reagie-
ren zu lassen. Wann immer sie sich auch nur bedroht fühlte, war sie drauf und dran, die Wirklichkeit niederzureißen und freizulassen, was jenseits davon lauerte. Und es hatte in dieser Zeit sehr viele Situationen für die beiden alleinreisenden Mädchen gegeben, in denen zumindest ein gefahrvoller Hauch geweht hatte. Und nicht immer hatte April ihre Schwester rechtzeitig »bezähmen« können … Obwohl jeder neuerliche dieser »Zwischenfälle« an ihrer Kraft und Substanz zehrte, hatte April sich inzwischen halbwegs damit arrangiert und befand sich in einer Art ständiger Alarmbereitschaft. Daß sie darüber binnen weniger Wochen wenigstens optisch um Jahre gealtert war, nahm sie hin. Gerade in den letzten Tagen jedoch hatte sie eine neue Entwicklung Mays beobachten können: Sie schien immer weniger zu versuchen, sich zu beherrschen. Mehr noch – May schien Gefallen zu finden an dem, wozu sie in der Lage war. Oder wenigstens doch nahm sie die Gefahren, die sie heraufbeschwor, mehr und mehr auf die leichte Schulter, wenn es ihr und April zum Vorteil gereichte. Fehlt nur noch, dachte April, daß sie irgendwann vorschlägt, mit dieser Show in Las Vegas aufzutreten. Zu ihrer Überraschung ging dieser Gedanke kaum mit Ironie einher. Denn soweit hergeholt schien ihr ein solches Ansinnen von Mays Seite aus gar nicht … »Das Ganze kann viele Gründe haben«, griff April schließlich den Faden ihres Gesprächs wieder auf. »Ich neige dazu, den naheliegendsten zu akzeptieren«, sagte May. »Und der wäre?« »Mutter hat uns dieses elende Erbe mitgegeben.« »Du meinst, sie wäre so was wie eine Hexe gewesen?« April wollte ihre Worte spöttisch klingen lassen, aber es blieb ihr nur ein bitterer Geschmack davon auf der Zunge. »Nein, das nicht«, erwiderte May. »Aber wer weiß schon, welche Geheimnisse unsere Geburt noch umgeben. Daß sie in dieser seltsa-
men Nacht geschah, mag vielleicht nur eines davon sein.« »Was sollte es denn noch für Geheimnisse darum geben?« Wieder zuckte May mit den Achseln. »Vielleicht ist bei unserer Zeugung irgend etwas Besonderes vorgefallen?« Sie setzte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: »Oder womöglich kennen wir unseren wahren Vater gar nicht. Das heißt – vielleicht auch nur aus Schauergeschichten?« »Du weißt ja nicht, was du da sagst! Dafür sollte ich dir eigentlich eine verpassen«, zischte April angewidert. »Versuch’s doch.« Mays Gesicht wandte sich ihrer Schwester zu. Ein helles Blitzen darin verriet, daß sie die Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen hatte. Dabei griff sie wie beim Trockenschwimmen mit beiden Händen in die Luft. Ein eisiger Hauch wehte zu April herüber, als die Luft unmittelbar vor May zu flimmern begann. »Untersteh dich!« drohte sie. »Keine Sorge.« May sank lächelnd zurück. »Solange du mir nichts tust …« Den Rest des Satzes ließ sie unausgesprochen. Trotzdem schauderte April. Die Entwicklung ihrer Schwester gefiel ihr nicht nur immer weniger, allmählich flößte sie ihr auch stetig wachsende Furcht ein. In der nächsten Sekunde schrak April regelrecht zusammen! May hatte sich mit einem heftigen Ruck auf ihrer Matratze aufgerichtet, saß nun starr da, den Blick zur Tür gerichtet, die sich als dunkles Rechteck im neonfarbenen Lichterspiel auf der Wand abzeichnete. »Was war das?« zischte May. »Was? Ich habe nichts gehört.« »Draußen. Da war etwas. Schritte.« April winkte ab. »Wir leben nun mal nicht allein in dieser Bruchbude. Außerdem wimmelt es hier von Ratten – vierbeinigen und zweibeinigen.«
May schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, da ist jemand vor unserer Tür«, behauptete sie entschieden. »Wer es auch ist – er hat sich angeschlichen, und jetzt steht er da draußen.« »Du hörst und siehst Gespenster«, erwiderte April, bemüht, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. Die Bilder jener Nacht auf der Farm ihrer Eltern tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, ohne daß sie es verhindern konnte. Die Situationen dort und hier ähnelten sich. Fast genauso hatte es damals begonnen – »Dazu haben wir auch allen Grund, nicht wahr?« gab May bissig zurück. April erwiderte nichts. Aber sie zuckte unwillkürlich zusammen. Denn jetzt hörte auch sie ein Geräusch. Das Knarren einer Dielenbohle, nur wenige Meter entfernt, von ihnen nur durchs Türblatt getrennt. Einbildung, flüsterte es in ihr. Mach dich nicht verrückt. LASS dich nicht verrückt machen! Das Knarzen wiederholte sich. »Wir müssen ganz still sein«, wisperte April, »nicht bewegen, nicht atmen.« »Unsinn«, knurrte May. »Wer auch immer da draußen herumlungert, wir müssen nur eines tun – ihn zur Hölle schicken!« »Nein!« entfuhr es April. »Bitte, May, tu’s nicht!« Aber May ließ sich nicht aufhalten. Lautlos wie ein Schatten glitt sie vom Bett und mit drei fließenden Schritten zur Tür. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den Knauf, holte tief Luft – – und riß die Tür auf! � May zuckte zurück. � April schrie auf. � Beide wußten nicht sicher, was sie draußen vorzufinden erwartet � hatten. Nur eines wußten sie mit Bestimmtheit: Mit diesem Anblick hatten sie nicht im entferntesten gerechnet!
Die Frau, die beinahe lässig jenseits der Türschwelle stand, wirkte fast harmlos. Und sie sah gut aus. Ein schwarzlederner Overall schmiegte sich einem Etui gleich um ihren schlanken Körper. Ihr langes Haar mußte unter dem Widerschein des vielfarbigen Neonlichtes lackschwarz sein. Ihr Gesicht verriet ihre asiatische Abstammung, und es war schön – daran konnte auch die dunkle Klappe über dem rechten Auge nichts ändern … »Wer sind Sie?« fragte May schließlich, weder freundlich noch ihren Schrecken verbergend. »Lyn Shaa.« »Was wollen Sie hier?« Ein flüchtiges Lächeln huschte über die naturroten Lippen der Asiatin. »Ich bin gekommen, um euch zu holen.« May lachte böse auf. »Wir sind nicht die sieben Geißlein. Die wohnen zwei Türen weiter.« »Und ich bin nicht der böse Wolf«, erwiderte Lyn Shaa. »Sondern?« »Eine Gesandte.« »Aha.« »Ihr habt zwei Möglichkeiten«, fuhr Lyn Shaa fort. »Entweder ihr folgt mir freiwillig. Oder ich muß euch zwingen. Mir wäre die erste lieber.« May schüttelte den Kopf, beinahe bedauernd. »Sie vergessen die dritte Möglichkeit«, sagte sie. »Und die wäre?« »Sie gehen allein – zur Hölle!« Und mit diesen Worten zerriß May Dorn die Wirklichkeit!
* »NEIN!«
April Dorn schrie auf, aber mit Worten allein war May längst nicht mehr aufzuhalten. In Sachen Härte und Kompromißlosigkeit konnte sie es längst mit jenem Gezücht aufnehmen, das sie in diese Welt zu entlassen imstande war. Machtvolles Fauchen und Donnern wie von einem nahen Sturm erfüllte das schäbige Zimmer mit einemmal. Wind aus dem Unsichtbaren trug arktische Kälte heran, als May ihre Finger ins Nichts krallte und es zerfetzte. Mit einem Geräusch wie von aufbrechendem Fels entstand eine Kluft in der Realität; ein Fenster, eine Pforte hinüber in ein vor Schrecken überquellendes Anderswo. April wünschte sich das reflexgesteuerte Reaktionsvermögen ihrer Schwester. Dann hätte sie sofort eingreifen und das Schlimmste verhindern können, indem sie die Kontrolle an sich riß, zu der May nicht fähig war. So aber war sie zur Starre verdammt, weil lähmendes Entsetzen jede Faser ihres Körpers einfror und lähmte und sich nicht ohne weiteres vertreiben ließ. Sekunden mußte sie tatenlos verstreichen lassen. Sekunden, in denen so vieles geschah. Das Loch in der Wirklichkeit spie mörderisches Grauen aus, gebar monströse Dinge. Ein wie glasiert wirkender Tentakel schnellte sich einer blinden Schlange gleich der Asiatin entgegen, drosch, wie zufällig, aber doch mit ungeheuerlicher Kraft, gegen ihre Brust und ließ Lyn Shaa nach hinten stürzen. Zu ihrem Glück, denn nur dadurch entging sie dem Hieb einer schuppigen Pranke, die anstatt ihrer Kehle nun lediglich den Türstock zerfetzte. Das Knirschen des Holzes jagte April einen Schauer über den Rücken – und ließ sie endlich die Lähmung abstreifen! Ein Sprung brachte sie von der Matratze, ein weiterer zur Tür. »Hör auf!« schrie sie May an, wohl wissend, daß Worte noch immer nichts bewirken konnten. Es gab nur einen Weg, das höllische Spektakel zu beenden. Obwohl sie nicht zum ersten Mal gezwungen war, es zu tun, graute ihr noch immer davor.
Durch ihr Zaudern verlor April wieder ein, zwei Sekunden. Eine lächerliche Zeitspanne – unter allen anderen Umständen. Hier und jetzt jedoch kam die Dauer einer kleinen Ewigkeit gleich. Denn der Riß in der Wirklichkeit, von May offengehalten, entließ sekündlich neue Schrecken. Aber sie kamen nie zur Gänze herüber, stets nur in Teilen. Als wären sie drüben verwurzelt und könnten einzig ihre Glieder ausstrecken – um das Grauen gewissermaßen herüberzutragen; oder Opfer hinüberzuzerren … Der Gedanke hatte April eine weitere Sekunde gekostet. Jetzt endlich wollte sie tun, was getan werden mußte! Sie tauchte unter den schlagenden und pendelnden Monstrositäten hinweg, griff selbst mit beiden Händen nach den Wundrändern der verletzten Realität. April umschloß Mays geballte Fäuste, um sie aufeinander zuzuzwingen – – und hielt erschrocken inne! Bislang hatte May es stets willenlos geschehen lassen. Als könnte sie gar nichts dagegen unternehmen, daß April den Riß schloß; als bekäme sie es nicht einmal bewußt mit. Jetzt aber – »Laß es!« fauchte May. »Das Weib soll büßen!« »Nein, ich laß’ es nicht zu«, gab April zurück, keuchend vor Anstrengung, die ihr Mays Widerstand schon jetzt abnötigte. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie sich die Asiatin gegen die Tentakel und Klauen zur Wehr setzte. Sie tat es mit geradezu akrobatischer Geschicklichkeit. Trotzdem konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ihre Kräfte nachließen oder sie schlicht einen Fehler machte – der ihr Leben kosten würde. »Dann wirst du mit ihr sterben!« drohte May. � »Was …?« � Im nächsten Moment erfuhr April, wovon ihre Schwester sprach. � Ein harter Prankenhieb streifte ihre Schläfe, wollte sie forttaumeln �
lassen, doch sie hielt eisern fest. Der nächste Schlag jedoch überstieg ihre Kraft. April stürzte. Augenblicklich zielten die monströsen Auswüchse aus dem Jenseitigen nach ihr. »May! Nein, bitte …!« schrie sie auf. »Du hast es nicht anders gewollt«, erwiderte May leidenschaftslos. »Ich kann sie nicht zurückhalten. Du hättest dich ihnen nicht entgegenstellen sollen – nicht bevor es vorbei ist!« Ein weher Ton schwang in ihren Worten mit. April spürte die kalte, schleimige Berührung eines Tentakels auf ihren nackten Armen, an ihrem Hals. Ein weiterer tastete einem fetten Wurm gleich nach ihrem Gesicht. Sie fühlte sich angehoben, dann wie schwebend. Der Riß im Nichts wuchs vor ihr zu einem flammenden Schlund, wurde immer größer, bis er ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Gleich mußte er sie verschlingen –! Ein Schatten wischte heran. In einer Geschwindigkeit, die es unmöglich machte, Bewegungen als solche zu erkennen. Dennoch wußte April, daß es nur die geheimnisvolle Fremde sein konnte, die da aufgetaucht war. Wie in einem irren Tanz wich sie den Tentakeln und Pranken aus. Dann war sie plötzlich unmittelbar neben April. Für die Dauer einer nicht nennbaren Zeitspanne sah April ihr direkt ins Gesicht, sah, wie die Hand der Asiatin zu ihrer Augenklappe hochfuhr, sie anhob und – Blendend grelles Licht ergoß sich explosionsartig in jeden Winkel des Raumes, sengend heiß und eiskalt in einem. Und dann – April bekam nicht mehr mit, was dann geschah. Sie wußte nicht einmal, ob sich ihre Lider im Reflex geschlossen hatten, oder ob die gleißende Helligkeit sie das Augenlicht gekostet hatte. Blind stürzte April in Schwärze. Ihr Körper schlug in pestilenzartig stinkenden, ascheweichen Staub.
Mays Schrei gellte ihr noch in den Ohren. Bis sie nicht mehr nur blind, sondern auch taub wurde. Als legte jemand einen Schalter nach dem anderen um, erloschen nach und nach alle ihre Sinne. Schließlich empfand April nicht einmal mehr Leere …
* Jenseits des Tores Ohne sich mit Worten verständigen zu müssen, hatten Lilith Eden und Landru eine Art Waffenstillstand geschlossen. Mochte er auch trügerisch und gewiß nicht von Dauer sein, so bot er Lilith zumindest genug Zeit, um sich ihrer abermals vollkommen neuen Situation gewahr zu werden. Vorhin hatten Landrus unerwartetes Auftauchen und sein Angriff ihr Denken zur Gänze vereinnahmt. Sie hatte reagiert wie ein Tier, sich ganz ihren Instinkten und Reflexen hingegeben. Und die fürchterlichen Visionen, die sie schließlich dort draußen auf der Basaltebene heimgesucht hatten, hatten sie in solchem Maße erschüttert und entsetzt, daß sie eine Weile keinen klaren Gedanken fassen konnte. Jetzt aber ordnete sich das Chaos hinter ihrer Stirn, beruhigte sich der Aufruhr in ihrer Seele. Während sie einen kleinen Teil ihrer Aufmerksamkeit nach wie vor Landru widmete, konnte Lilith rekapitulieren, was geschehen war – und damit rührte sie altes Entsetzen von neuem auf, denn – – sie roch den widerwärtigen Gestank der Pestgrube vor den Toren Londons. – sie fühlte, wie sie selbst hinabgeschlürft wurde in den Sumpf aus verseuchten Leichen. – sie spürte die Berührungen von totenkalten und fäulniswarmen Leibern.
Und dann – war Lilith gestorben? Aber war sie denn nicht längst tot gewesen – oder wenigstens Kathalenas Körper, in den es ihren Geist verschlagen hatte? * Es brachte Lilith nichts außer Kopfschmerzen und dem Gefühl, sich in klebrigem Wahnsinn zu verstricken, länger darüber nachzusinnen. Was auch immer sich ereignet hatte in jenem London des Jahres 1666, es hatte darin gegipfelt, daß sie aus ihrem Gastkörper vertrieben worden war. Und schließlich war sie auf unbegreifliche Weise hierher – zurückgekehrt. An jenen Ort, wo alles begonnen hatte. In die Hölle …? Nur – war dies wirklich die Hölle? Gab es überhaupt eine Hölle? Oder war das Wort nur ein unzulänglicher Begriff für etwas, das sich nicht beschreiben ließ – weil es jede Vorstellungskraft sprengen mußte? Nun, vielleicht war dies trotz allem die Hölle – und vielleicht sah sie hinter dem, was Liliths Blicke fanden, ganz und gar anders aus. Denn es mochte sein, daß ihr dieses Szenario nur vorgegaukelt wurde, weil sie den wirklichen Anblick gar nicht zu sehen imstande gewesen wäre … »Warum?« Lilith sah erschrocken auf. Landrus Stimme tropfte in die Stille, klang überlaut, obgleich er eher leise gesprochen, fast geflüstert hatte. »Warum?« echote sie, argwöhnisch, eine neuerliche Hinterhältigkeit erwartend. »Warum bist du hier?« präzisierte er. Lilith entspannte sich ein klein wenig, als sie nach kurzer, aber eingehender Musterung nichts Verdächtiges in seinen Zügen fand. Er sah sie nur an, und selbst die altgewohnte Feindseligkeit ließ er vermissen. Lediglich in seinen Augen glomm es düster, aber der dunkle Glanz schien Lilith weder Ausdruck von Zorn noch Haß zu sein, sondern vielmehr eine seltsame Abart von Verzweiflung und Trauer. Als hadere Landru mit seinem Schicksal, und als stünde er an der *siehe VAMPIRA T23: »London 1666« �
Grenze zur Resignation, wie an der Kante eines gähnenden Abgrunds, überlegend, ob es nicht besser wäre, sich einfach fallen zu lassen. »Warum bist du hier?« wiederholte Lilith seine Frage. Landru wandte den Blick zum Tor, an dem er hockend lehnte. »Seinetwegen.« »Wie ich«, sagte Lilith. Dann erzählten sie, ohne daß einer den anderen dazu aufforderte. Sie taten es abwechselnd und stellten dabei Parallelen fest, die zwischen ihren jüngsten (und doch so lange vergangenen) Erlebnissen bestanden. Sie waren beide unfreiwillig durch das Tor unter dem Bergkloster gegangen, auf der anderen Seite mit ihren ureigensten Ängsten konfrontiert worden und in die Vergangenheit, in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges entkommen. Sie waren in fremde Körper verbannt worden, Beth MacKinsay begegnet – und hatten schließlich dem Satan selbst gegenüberstanden. Landru hatte diesen Kontakt schon beim ersten Mal nicht »überlebt«. Lilith war ihm mehr als einmal begegnet – und hatte sie geholfen, ihn auszutreiben, ihn zu verjagen aus der Welt der Menschen? Sie wußte die Antwort selbst nicht. Landru indes war, nachdem es ihn aus dem Leib des Vampirs Racoon gerissen hatte, mit Verdammnis gestraft worden. Er war dazu verflucht gewesen, ein Dasein als Mensch zu führen, in einer illusionären Welt, wo ihm auf Schritt und Tritt seine als Hüter des Kelchs begangenen »Sünden« zu Fallstricken und zur Geißel geraten waren.* »Wie kommt es, daß du nichts davon weißt?« fragte er. »Du warst es doch, die hinter all dem stand, was ich zu erdulden hatte.« Mißtrauisch beäugte er Lilith. Sie fühlte sich unter diesem Blick unbehaglicher denn je zuvor. Fast unbewußt befahl sie ihrem Symbionten, sie »hochgeschlossener« zu kleiden. Zähe Schwärze begann *siehe VAMPIRA T22: »Die Verdammnis«
zu kriechen und blasse Haut zu bedecken. Landru quittierte es mit schiefem Grinsen. »Offenbar«, antwortete Lilith schließlich auf seinen Einwand, »wurde mein Körper als Marionette mißbraucht. Da ich ihn – ebenso wie du den deinen – unversehrt zurückerhalten habe«, sie strich sich über Hüften und Schenkel, als müßte sie sich vergewissern, daß es sich dabei tatsächlich um ihre handelte, »wird man ihn gewissermaßen ›eingelagert‹ haben. Und während ich noch drüben war, konnte er unter fremder Kontrolle dir gegenübertreten.« Landru verzog abschätzig die Lippen. »Mag sein. Und was du von deinem ›Abschied‹ aus der Vergangenheit erzähltest, könnte die Ursache für jenes Beben gewesen sein, das mich aus der Verdammnis erlöste. Die Macht, die hinter all dem steht, schien für einen Moment die Kontrolle über ihr Wirken zu verlieren. Das verfluchte Schmierentheater, das für mich inszeniert worden war, stürzte ein, und so konnte ich entkommen.« »Bist du so sicher, der Verdammnis entkommen zu sein?« fragte Lilith. Ein müdes Grinsen huschte über ihre erschöpften Züge. Landru sah sie nur fragend an. Sie wies vage ins Nichts um sie beide herum. »Ist das nicht unsere größte Verdammnis – du und ich, allein an diesem Ort?« Landru knurrte mürrisch. »In der Tat. Ich hatte selten üblere Gesellschaft.« »Danke, gleichfalls.« Sie schwiegen eine Weile. Dann, als die Stille unangenehm wurde, begann Lilith: »Wollen wir tatenlos hier herumsitzen?« »Was willst du tun?« fragte Landru zurück. »Da hinaus gehen?« Er deutete über die basaltene Ebene. »Das dürfte uns schlecht bekommen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Es gibt jedoch etwas, das ich nicht mehr allzu lange im Zaum werde halten können.« Er benannte es nicht, aber Lilith wußte ohnedies, wovon er sprach. Nicht zuletzt deshalb, weil sie es ebenso, vielleicht sogar ärger spür-
te als er. Durst … Sie nickte zögernd. »Es würde wenig Sinn machen, wenn wir uns hier bekämpfen – bis aufs Blut«, meinte sie. »Wir sollten – nun ja, haushalten.« »Was schlägst du vor?« »Es gäbe wohl eine Möglichkeit, mit der uns beiden gedient wäre. Dazu bedürfte es allerdings einer Voraussetzung …« »Und die wäre?« fragte er. »Vertrauen«, antwortete sie. Der düstere Blick, mit dem Landru sie maß, ließ Lilith frösteln. Und unbehaglich mit der Hand über die eigene Kehle streichen.
* Monte Cargano »Lilena …« Lilena … lena … na … Salvat verlangsamte seinen Schritt. Einen Moment lang beunruhigte ihn das Gefühl, von flüsternden Geistern belauert zu werden. Aber natürlich war es einzig das Echo seiner eigenen Stimme, das durch den gewundenen Felskorridor wehte. Nur hatte der Führer der Bruderschaft nicht gemerkt, daß er laut ausgesprochen hatte, was er lediglich für einen Gedanken gehalten hatte. Ein Gedanke … Salvat entließ einen weiteren Laut ins Dämmer, das hier, tief unter dem Kloster ewig herrschte. Sein bitteres Seufzen zersplitterte am Fels und schien aus einem Dutzend Kehlen zugleich nachgeahmt zu werden.
Lilena* war nicht nur ein Gedanke, und sie war mehr als ein Name. Sie war Salvat eine Erinnerung, unliebsam, leidvoll und bittersüß in einem. Und darüber hinaus war sie eines der ganz wenigen Geheimnisse, vielleicht sogar das einzige, das selbst er nie hatte lösen können. Ihre zwar kurze, aber doch so dramatische und folgenschwere Begegnung lag weit über 300 Jahre zurück. Daß Salvat nach dieser langen Zeit gerade jetzt immer wieder an das Mädchen Lilena denken mußte, mochte daran liegen, daß die Situationen damals und heute einander in vielerlei Hinsicht ähnelten. Hätte er Lilena seinerzeit nicht getroffen – nun, die Welt, wie sie heute war, wäre nie geworden. Lilena, dieses ewige Mysterium, hatte dem Bösen selbst die Stirn geboten. Er, Salvat, hatte sie in diese schicksalhafte Schlacht geschickt, und er wünschte noch heute, er hätte es nicht tun müssen. Viel lieber hätte er Lilena an seiner Seite behalten, nicht nur, um ihre Rätselhaftigkeit zu ergründen … Ächzend, als schiebe er eine große Last fort, verdrängte Salvat die müßigen Überlegungen. Es war nicht zu ändern, und es hatte damals keinen anderen Ausweg gegeben, als das Mädchen gleichsam zu opfern. Was es auch gewesen sein mochte, das da an Rätselhaftem in ihr gesteckt hatte, es hatte genügt, um das schlimmste Los von der Menschheit abzuwenden. Dennoch – Salvat wünschte, sie (oder wenigstens doch jemand wie Lilena) wäre auch jetzt an seiner Seite. Denn gerade jetzt hätte er solcherlei Beistand dringend gebraucht. Aber das Mädchen Lilena war einmalig – zu ihrer Zeit und wohl in alle Ewigkeit. Alles Wünschen half ihm nicht, und selbst aus seinen Gebeten bezog Salvat nicht wirkliche Hilfe, sondern »nur« Kraft. Und Hoff*zur Information: So hatte Lilith alias Lena sich Salvat in der Vergangenheit vorgestellt. Von ihrer wahren Identität ahnt Salvat nichts.
nung. Daß noch nicht alles zu spät war. Daß er auf dem richtigen Weg war, das Richtige zu tun. Nun, im Augenblick war Salvat tatsächlich auf dem Weg. Dieser Weg führte ihn tiefer und tiefer hinein in das nahezu unergründliche Labyrinth im Fels des Klosterberges. Ungezählte Gänge verschlangen sich wie zu einem kalten Aderwerk, an dem entlang sich eine Unzahl von Kavernen und gewaltigen Felsräumen reihten. Und viele davon bewahrten gewaltige Geheimnisse. Eine dieser Kammern war Salvats Ziel. Jene, in der das Kind ruhte. Das Kind, der Knabe, der das Unmögliche getan hatte – der das Tor geöffnet hatte. Salvat hatte die Ankunft des Jungen vorhergesehen und mithin auch, weswegen das Kind nach Monte Cargano kommen würde. Umgehend hatte Salvat den Großen Plan in die Tat umgesetzt und damit entsprechende Gegen- und Schutzmaßnahmen eingeleitet. Im entscheidenden Moment jedoch war die Ablenkung durch weitere fremde Ankömmlinge im Kloster so groß gewesen, daß der Knabe ungehindert tun konnte, weswegen er gekommen war. Zwar war es Salvat gelungen, unter Einsatz all seiner Macht das Tor wieder zu schließen. Aber es hätte noch nicht einmal soweit kommen dürfen. Niemals durfte das Portal geöffnet werden – niemals! So lautete Salvats Auftrag. Und doch war es geschehen. Er hatte – versagt … Salvat glaubte (hoffte), die Flügel der Pforte gerade noch rechtzeitig wieder geschlossen und versiegelt zu haben. Ganz sicher konnte er indes nicht sein. Ob etwas – und wenn ja, wieviel – von dem, was drüben auf seine Rückkehr lauerte, herüber gekommen war, wußte er nicht mit wirklicher Sicherheit zu sagen. Nun, wenn es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten gab, würden sie ihn ohnedies einholen, auch ohne sein Zutun. Vorerst hatte er mit der Entsendung Enyas ausreichende Maßnahmen getroffen, so daß er sich nun – endlich – eines weiteren Problems annehmen konnte:
Jetzt mußte er sich um das Kind kümmern. Und danach mußte er begutachten, was die inzwischen zurückgekehrten Gesandten mitgebracht hatten. Er hoffte inständig, daß sie auf Talente gestoßen waren, die der Bruderschaft und ihrer großen Aufgabe dienlich sein konnten … Nachdem der Knabe das Tor geöffnet hatte, schien ihn aller Wille und jede Macht verlassen zu haben. Lammfromm hatte er sich von Salvat schließlich aus der Inneren Halle und in die Kammer der Schläfer führen lassen. Dort hatte Salvat das Kind in eine Art magisches Koma fallen lassen, um sich zu gegebener Zeit seiner anzunehmen. Freilich wäre es wichtig gewesen, das Geheimnis des Knaben umgehend zu ergründen. Aber andere Dinge, die Sicherung des Tores etwa, waren noch dringlicher gewesen. Jetzt aber wollte Salvat sich die nötige Zeit nehmen, um den Geist des Knaben zu erkunden; um in Erfahrung zu bringen, wer das Kind auf die frevelhafte Aufgabe vorbereitet und schließlich gesandt hatte. Und wer oder was auch immer dahinter stecken mochte, Salvat war sicher, daß seine eigene Macht der anderen überlegen sein würde. Der lange Schlaf des Kindes und die Aura der Kammer selbst mußten das Fremde zermürbt haben in den seither vergangenen Tagen. Die niedrige Pforte der Kammer war so unscheinbar wie alle anderen. Keine noch so geringe Besonderheit ließ Unbeteiligte, die ohnedies nie ihren Fuß in dieses Labyrinth setzen würden, erahnen, welche Geheimnisse sich dahinter verbargen. Salvat löste die Riegel der Bohlentür und drückte sie auf. Vages Zwielicht, das aus den Wänden sickerte, erfüllte die Kaverne, die, abgesehen von einer Anzahl steinerner Liegestätten, leer war. Leer waren auch jene altarähnlichen Felsblöcke, die sich im Kreis um einen weiteren in ihrer Mitte reihten. Auf jenem zentralen hatte
Salvat vor Tagen das Kind zur Ruhe gelegt. Nun jedoch war diese Liegestatt so verlassen wie alle anderen. Das Kind war verschwunden! Salvats zornbebender Schrei war von solcher Macht, daß er das Labyrinth unter dem Kloster wie unirdischer Donner erfüllte.
* Die Dunkelheit wich nur zu einem kleinen Teil, als April Dorn die Augen öffnete. Weder wußte sie, wo sie war, noch wie sie hierher gekommen war. Ihre jüngste Erinnerung – Das Entsetzen, das diese Erinnerung barg, war so frisch und lebendig, daß April sich regelrecht davon angesprungen und niedergerissen fühlte. Sie war blind – und tot …? Nein, unmöglich. Sie sah, wenn auch nicht sehr viel, und sie atmete, konnte sich bewegen. Wie zur Probe krümmte sie einen Finger nach dem anderen, schabte mit den Nägeln über harten Untergrund. Und so empfand April trotz der fremdartigen Umgebung eine nie gekannte Erleichterung, fühlte sich annähernd wie neugeboren. Zugleich jedoch keimten Zweifel in ihr, ob dieses »zweite« Leben denn auch lebenswert sein mochte. Denn sie fand sich wieder inmitten eines Raumes, der an Kahlheit und Ödnis kaum zu überbieten war. Die Wände bestanden aus nacktem Fels. Von irgendwoher drang vage Helligkeit herein, gerade genug, um erkennen zu lassen, daß sich die Einrichtung der Kammer in der hölzernen Pritsche erschöpfte, auf der sie lag. »May …!« Der Name ihrer Schwester entfuhr April als leiser Schrei, kaum laut genug, daß man ihn jenseits der Bohlentür hören würde. Die eigene Stimme schien die Wirkung einer Initialzündung für
April zu haben. Die Erinnerungen brandeten in ihr hoch mit der Macht einer Flutwelle, und sie waren ebenso erstickend und beklemmend. Schwer atmend und mit hämmerndem Herzen versuchte April die Bilder zu ordnen. Doch sie brachte kaum Sinn hinein. Da war der Besuch der seltsamen Asiatin gewesen. May hatte darauf »reagiert«. Und sie, April, hatte die Schwester nicht aufhalten können, nicht dieses Mal. Dann jedoch hatte die Fremde ins Geschehen eingegriffen, auf unbeschreibliche, schreckliche Weise, und dann – April wußte nicht, was dann passiert war. Sie spürte lediglich, daß all das schon eine Weile, die nicht nur ein paar Stunden betrug, zurücklag, und daß sie sich nicht mehr am Ort jener Geschehnisse befand, sondern weit, sehr weit davon entfernt. Wie war sie hierhergekommen? Wer hatte sie hergebracht? Unweigerlich fielen ihr die Worte der Asiatin wieder ein. Ich bin gekommen, um euch zu holen … Wie auch immer – die Fremde (hatte sie sich nicht Lyn Shaa genannt?) hatte ihren Worten offenbar Taten folgen lassen. Nur – wo war May? Hatte man sie etwa nicht entführt? War sie am Ende –? Obwohl May sich auf so schreckliche Weise verändert hatte, beinahe entartet war, wollte April nicht einmal daran denken, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Das Band zwischen ihnen war zu stark und von zu besonderer Art, als daß es reißen könnte, unter welcher Belastung auch immer. Wenn sie also diese Möglichkeit außer acht ließ, hieß das, daß May sich ebenfalls an diesem Ort (wo und was er auch sein mochte) aufhalten konnte oder gefangengehalten wurde. Herausfinden konnte April es nur auf einem Weg – und der führte aus dieser Kammer hinaus. Leise, obwohl dem Anschein nach doch niemand hier war, der sie hätte hören können, glitt das Mädchen von der Pritsche herunter.
Sie trug noch dieselbe Kleidung wie beim Auftauchen der Asiatin in New York: nur ein knapp knielanges Baumwollshirt. Als hätte es erst dieser Feststellung bedurft, merkte April auf einmal, wie empfindlich kühl es hier war. Trotzdem fror sie nicht. Erregung und Angst schürten ein seltsames Fieber in ihr, das sie wärmte. Barfuß schlich sie zur Tür. Die Lichtverhältnisse reichten nicht aus, um einen etwaigen Riegel oder Griff daran erkennen zu lassen. So fuhr sie, fast blind, mit den Händen über das harte, rissige Holz – – und stürzte urplötzlich vornüber! Die Tür hatte unvermittelt nachgegeben, und April prallte jenseits der Schwelle hart auf steinernen Boden. Im ersten Moment glaubte sie noch, die Tür wäre nur angelehnt gewesen und unter ihren tastenden Händen aufgeschwungen. Als sie jedoch den Blick hob, bemerkte sie ihren Irrtum. Zwei Stiefelpaare gerieten als erstes in ihr Gesichtsfeld, dann, als sie den Kopf weiter anhob, sah sie auch die zugehörigen Gestalten. Obwohl die beiden Männer nicht wirklich beängstigend aussahen, schauderte April bei ihrem Anblick. Vielleicht lag es daran, daß sie in ihren Kutten seltsam fremdartig, zumindest aber doch ungewohnt ausschauten; vielleicht aber war es auch etwas Unsichtbares, das April lediglich spüren konnte, weil es die Männer wie ein frostkalter Hauch umwehte. »Tut uns leid«, sagte einer von ihnen, blondhaarig und von seiner gesamten Erscheinung her nordisch wirkend. Er beugte sich leicht vor und reichte April die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie sah geflissentlich darüber hinweg und erhob sich aus eigener Kraft. Der Blonde lächelte milde über ihren kindlichen Trotz. »Wenn Sie uns bitte folgen wollen«, sagte der andere Mann. Sein Haar war dunkel, und April vermutete aufgrund seines Aussehens, daß er aus lateinamerikanischen Gefilden stammte. Wo war sie da nur hingeraten …?
»Von wollen kann gar keine Rede sein«, gab sie zurück. Der Tonfall des Latinos verschärfte sich, nur um eine winzige Nuance, trotzdem klang er mit einemmal bedrohlich. »Es wäre zu ihrem Besten, wenn Sie sich ein klein wenig kooperationsbereit zeigten.« »Kooperationsbereit?« wiederholte April. »Verdammt, was wollt ihr von mir? Und was habt ihr mit meiner Schwester gemacht?« Der Blonde machte eine beruhigende Geste. »Sie bekommen Antworten auf all Ihre Fragen«, versicherte er und ergänzte: »Wenn es an der Zeit ist.« »Verdammt, ihr könnt mich …!« fuhr April auf – und verstummte. Ein Seufzen des Blonden hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt, so daß sie nicht mitbekommen hatte, wie der andere blitzschnell mit der Hand nach ihrem Nacken griff. Dort taten seine Finger irgend etwas – sie schienen einen Schalter zu berühren und umzulegen, der ihren Widerstand kurzerhand ausschaltete. Willenlos folgte sie den beiden, als sie mit einladender Geste den kahlen Gang entlangwiesen. Das Bild, dachte sie innerlich zitternd, mußte ganz dem ähneln, wenn ein Delinquent zu seiner Hinrichtung geführt wurde …
* Dashiell … Er hatte seinen Namen schon immer gehaßt. Dashiell Rooney … Das klang nach – nichts; allenfalls nach einem Weichling. Und es sprach sich noch nicht einmal gut aus. »Dash Roon …« Der eisige Nachtwind riß ihm die beiden Worte von den Lippen, ehe er sie selbst hören konnte. Trotzdem wußte er, daß dieser Name Klang besaß. Er hatte ihn hunderte, wenn nicht tausende Male laut
ausgesprochen, in allen nur denkbaren Tonfällen. Als müßte er ihn immer und überall nennen und hinterlassen, damit man sich seiner erinnerte. Nun, irgendwann würde jeder diesen Namen kennen. Spätestens dann, wenn er sich seinen festen Platz in der Literatur über die Geheimnisse und Mysterien dieser Welt erobert hatte. Vielleicht schon nach dieser Nacht … Denn diese Nacht mochte der erste Schritt sein hin zu weltweitem Ruhm. Der Reichtum, den man gemeinhin gerne in einem Atemzug mit Ruhm nannte, interessierte Dashiell Rooney (Dash Roon!) eher weniger. Geld würde ihm eine angenehme Begleiterscheinung bedeuten, mehr nicht. Warum er sich gerade jetzt, in dieser Situation, mit solcherlei Gedanken befaßte, leugnete er sich selbst gegenüber ab, obgleich er den Grund tief in sich sehr wohl kannte. Hätte er nämlich darüber nachgedacht, wäre ihm der selbstmörderische Wahnsinn seines Unternehmens verdammt hart auf den Magen geschlagen, befand er sich doch mehr als zweieinhalb Kilometer über dem Erdboden, in eiskalter Nacht, wo er sein Leben ein paar Metern Aluminiumgestänge und knapp sechs Quadratmetern Kunststoffgewebe anvertraut hatte! Fauchend schnitt sich der Gleiter seine Bahn durch die Nacht über den Abruzzen, einem schwarzen Drachen gleich, der Dash Roon in seinen Fängen hielt. Oh, er hatte schon durchaus ähnliche Aktionen hinter sich gebracht, seit er seine Odyssee durch die Lehrsäle etlicher Universitäten beendet und seine verschiedensten Studien endgültig an den Nagel gehängt hatte, um die graue Theorie aller Forschung gegen hautnahe Praxis einzutauschen. Aber nie zuvor hatte er sich mitten in der Nacht, nur an einem Gleitdrachen hängend, von einem Berggipfel gestürzt, auf dem er sich zuvor von einem Helikopter hatte absetzen lassen – wohl wissend, daß er das Ziel nicht allein mit der
Beherrschung seines Fluggeräts erreichen konnte, sondern obendrein noch eine Portion Glück dazu brauchen würde – eine geradezu unverschämt große Portion Glück! Andererseits hatten ihm all jene anderen Versuche auch nicht den erhofften Erfolg und die daraus resultierende Anerkennung eingetragen. Wer Überdurchschnittliches erreichen wollte, mußte Überdurchschnittliches wagen – das war Dash Roons Motto; zumindest seit heute Nacht … Er drängte die aufkeimende Angst, die ihm die gewaltige Entfernung zur Meeresspiegelhöhe einflößen wollte, zurück und gab sich statt dessen dem Gefühl hin, das Nahrung in der bloßen Nähe seines Ziels fand. Von seiner momentanen Warte aus wirkte es wie ein lichtschluckendes, riesengroßes Loch, das schräg unter ihm in der Nacht klaffte. Tatsächlich war es »nur« ein Berg, gewaltig und feindselig, vom Fuße aus schier unbezwingbar. Deshalb hatte Dash Roon diesen unkonventionellen Weg ersonnen, um den Gipfel zu erreichen – den Gipfel und das, was sich dort verbarg, vielleicht schon seit Menschengedenken. Das geheimnisumwobene Kloster … Nur eine Handvoll Menschen schien überhaupt von seiner Existenz zu wissen. Dash Roon gehörte dazu, wenn er sich das Wissen darum auch nur erschlichen hatte, nachdem er durch Zufall auf eine entsprechende Spur gestoßen war. Er hatte sich im Rahmen seiner Suche nach lohnenswerten Zielen praktischer Forschung unter anderem mit den Geheimkulten der Welt befaßt, mit den Templern etwa – und auch mit der Illuminati, einem freimaurerischen Geheimorden, der im 18. Jahrhundert ins Leben gerufen worden war. Das zumindest glaubte alle Welt, sofern sie überhaupt davon wußte, und auch Dashiell Rooney hatte daran nicht gezweifelt – bis er anderslautende Aufzeichnungen entdeckt hatte, in einem vergesse-
nen Winkel einer staubigen Privatbibliothek. Diesen handschriftlichen Dokumenten zufolge existierte die Illuminati gewissermaßen in doppelter Ausführung – zum einen gab es da den »offiziellen« Orden, der den selbstgeschaffenen Legenden und Mysterien nach aus dem Geheimen die Welt regierte; und zum anderen schien ein weiterer Bund diesen Namen zu tragen. Eine Organisation, über deren Sinn und Ziele der unbekannte Autor der Aufzeichnungen nur Vermutungen hatte anstellen können. Aber was er da niedergeschrieben hatte von wegen »Wächter eines Weltentores« und »stärkste Armee auf Gottes Erde« – es hatte in Dash Roon mehr als bloße Neugierde geweckt auf diese »wahren Illuminaten«. Seither folgte er ihrer spärlich markierten Fährte. Schließlich hatte ihn die Spur in den Vatikan geführt. Dort war er freilich gegen Mauern des Schweigens gerannt, zunächst jedenfalls. Denn letztlich war auch der Vatikan nur ein Staat, und in jedem Staat ließ sich mit Geld und Kontakten allerhand bewegen. Über beides verfügte Dash Roon in genügendem Maße, denn sein Vater, seines Zeichens Inhaber der weltweit operierenden Rooney Inc. hatte sich ob dessen Abenteuerlust nicht etwa von seinem Sohn abgewandt, sondern unterstützte ihn in jeder Hinsicht. Ganz so, als wäre er gar nicht unglücklich darüber, daß der leichtlebige Dashiell kein sonderliches Interesse am familieneigenen Firmenimperium zeigte. Weitere Hinweise hatten Dash Roon schließlich in die Abruzzen nördlich von Rom geführt. Und hier hatte er jenes merkwürdige Kloster entdeckt, das im Schoß der Wolken lag und, dem steinernen Horst eines monströsen Raubvogels gleich, unterhalb eines Berggipfels dem Fels entwuchs. Niemand in der ohnehin öden Umgebung schien von der Existenz dieses Klosters zu wissen (oder zumindest wissen zu wollen). Und die wenigen, die Roon nicht mit bloßem Schweigen begegnet waren, hatten weder gewußt, wer dort oben lebte, noch, was man dort trieb. Nun, Dash Roon war inzwischen wenigstens sicher zu wissen, wer sich dort oben vor aller Welt versteckte: die Illuminati. Nachdem
seine Versuche, den Berg auf herkömmliche Weise zu erklimmen, an dessen steilaufragenden Flanken gescheitert waren, war er nun also auf diese unkonventionelle Weise unterwegs. Die fast vollkommene Schwärze des Berggipfels schien ihm entgegenzuwachsen, als wollte sie ihn schlucken. Von Bord eines kleinen Privatflugzeugs aus hatte er sich die örtlichen Gegebenheiten bei Tageslicht angesehen und auf Fotos festgehalten. Mit dem Gleitdrachen dort zu landen würde sehr schwierig, aber nicht unmöglich werden. Es gab direkt auf dem Gipfel ein Felsplateau von genügender Größe, das zudem vom dicht darunterliegenden Kloster aus nicht einzusehen war. Jetzt steuerte Dash Roon sein Fluggerät über Seilzüge und vorsichtige Körperdrehungen beinahe blind in die entsprechende Richtung. Rechts raste ein kantiger Schatten an ihm vorbei, so dicht, daß Roon hören konnte, wie der Wind sich pfeifend daran fing. Er wußte, daß es sich dabei um eine steilaufragende Felsnadel handelte, die er von seinen Fotos her kannte. Wenn er in der Dunkelheit nur eine Spur weiter nach rechts manövriert hätte, wäre sein Ausflug hier abrupt zu Ende gewesen … Noch dreißig Meter bis zu dem Plateau, rechnete Dash Roon, in Gedanken die Fotografien sichtend. Noch zwanzig … Zehn … Mit geübter Bewegung zog Dash Roon die Beine aus der Vorrichtung, die seinen Körper bisher in der Waagrechten gehalten hatte. Vorsichtig ließ er die Füße nach unten sinken – und traf auf Widerstand! Seine Stiefelspitzen verhakten sich für einen winzigen Moment irgendwo, an einem Felsgrat vermutlich, lösten sich aber sofort wieder. Trotzdem genügte der kurze Kontakt, um die Landung des Gleiters ganz und gar anders ausfallen zu lassen als von Roon geplant.
Die Spitze des aluminiumverstärkten Planendreiecks senkte sich vornüber, schlug knirschend gegen Fels, tickte wieder hoch und von neuem nach vorne. Das Gestänge des Fluggeräts verbog sich knarrend, Stoff riß, als das Gerät sich überschlug und zum Spielball der Fliehkraft degradiert wurde. Dash Roon konnte nichts, aber auch gar nichts gegen die unkontrollierte Landung unternehmen. Hilflos hing er im Tragegestell, wurde hin und hergeschleudert, schlug mit Armen und Beinen immer wieder gegen Fels. Er beglückwünschte sich allein zu der Vorsichtsmaßnahme, einen Helm aufgesetzt zu haben. Andernfalls hätte sich der Inhalt seines Schädels längst auf höchst unappetitliche Weise über das gesamte Plateau verteilt … Das Plateau …! Dash Roon keuchte, nicht vor Schmerz diesmal, sondern unter eisigem Schrecken! Für eine planmäßige Landung hätte die Größe des Plateaus seiner Einschätzung zufolge zwar genügt, für einen derartigen Absturz jedoch – Es konnten nur noch wenige Meter bis zur Kante sein. Dahinter gähnte das Nichts, viele hundert Meter tief. Und darunter – dornenspitze, scharfkantige Felszähne, die ihn regelrecht zerfleischen würden. Wenn er das Pech hatte, noch zu leben, wenn er dort aufschlug … Ein mörderischer Ruck durchlief das Knäuel aus Aluminium und Stoff, in das sich der Gleiter inzwischen verwandelt hatte. Eine halbe Drehung noch – dann nichts mehr. Dash Roon lag still, starr – – über dem Nichts! Die letzte Bewegung hatte ihn doch noch über den Rand des Gipfelplateaus hinausgetragen, nachdem sich die Reste des Gleiters an einer emporspringenden Felsnase verhakt hatten. Jetzt hing er nur noch in den Tragegurten, die den brachialen Absturz wie durch ein
Wunder überstanden hatten. Unter ihm ein pechschwarzer Abgrund. Über ihm stockfinstere Nacht. Und um ihn her nur das Säuseln des eisigen Windes – – und das knirschende Reißen von Leder und Kunststoff! Dash Roons Abenteuer schien zu Ende, noch bevor es sich wirklich gelohnt hatte, dafür zu sterben.
* Im Gegensatz zu ihrer Schwester wußte May Dorn sehr genau, was in New York nach dem Eingreifen der Asiatin weiter geschehen war und wie sie schließlich hierhergebracht worden waren. Wie Tiere! Zumindest May fühlte sich so behandelt. Die Sicherheitsvorkehrungen und die Präzision des Transports hatten den Verdacht nahegelegt, es würde ein hochgefährlicher Schwerverbrecher von einer Verwahranstalt in eine neue, modernere gebracht. In der kurzen Zeit ihrer eigenen Bewußtlosigkeit war May zu einem Paket verschnürt worden – mit Ledergurten, Ketten und einer schallundurchlässigen Gesichtsmaske. Daß sie durch die Maske Luft holen konnte, erschien ihr wie ein kleines Wunder. Ihr Abtransport war zunächst mit einem Kastenwagen erfolgt, später dann waren sie in den Gepäckraum eines Flugzeug (gewiß keiner Linienmaschine!) verladen worden, um nach einer endlos langen Reise wieder auf vier Rädern weitertransportiert zu werden. Der abschließende Teil ihres elenden Leidensweges war der absonderlichste gewesen: mittels eines geradezu vorsintflutlichen Aufzugs waren sie auf den Gipfel eines Berges verbracht worden, wo man May schließlich von April getrennt und in ein Kerkerloch geschleift hatte, freilich noch immer verschnürt und angekettet. Und hier lag sie nun, regungslos, stumm – und zunehmend auch
apathisch. Ihr Zorn, der vielleicht doch nichts anderes gewesen war als Angst, hatte sich gelegt. Mit jeder Stunde, die ereignislos verstrich, war ein Stückchen mehr von diesem eisigen Etwas weggeschmolzen, und nun war kaum mehr etwas davon übrig. Taubheit in allen Sinnen war an seine Stelle getreten. Sehr groß, fand May, konnte der Unterschied zwischen ihrem jetzigen Zustand und endgültigem Tod nicht sein. Fast sehnte sie den Tod sogar herbei. Dann wäre ihr wenigstens auch noch die Mühe des Denkens abgenommen worden. Denn Denken war das einzige, zu dem sie noch fähig war, aber sie empfand es zunehmend als Fluch. Weil jeder Gedanke ihr wie Selbstgeißelung vorkam. May begann sich dafür zu hassen, daß sie April so übel mitgespielt hatte. Sie hätte auf die Schwester hören sollen. Vielleicht wäre es ihnen gelungen, irgendwo ein neues, ein eigenes Leben anzufangen, weitab aller Schatten der Vergangenheit. Und wenn sie ihre besondere Gabe wenigstens versucht hätte zu ignorieren, dann wäre sie womöglich irgendwann versiegt. Und außerdem – niemand hätte sie, April und May, dann ausfindig machen können. Denn daß diese Entführung irgend etwas mit ihrer verdammten Fähigkeit, diese – Tore zu schaffen, zu tun haben mußte, daran zweifelte May kaum noch; obwohl niemand sie darauf angesprochen hatte. Wie überhaupt kaum jemand ein Wort zu ihr gesagt hatte, seit sie New York verlassen hatten; von Mund auf! einmal abgesehen, wenn man ihr etwas zu essen brachte und sie fütterte. Aber schon die Tatsache, daß man ihr mit den Fesseln jede Handbewegung unmöglich machte, bewies May, daß man sehr genau wußte, wozu sie in der Lage war – wenn man sie gewähren ließ … Plötzlich übersprang Mays Herz einen Schlag! Fahles, flackerndes Licht glomm auf. Dann spürte sie eine Bewegung, die sich näherte. Im Grunde war das nichts Außergewöhnliches, schließlich brachte man ihr regelmäßig Essen, oder es sah einfach jemand nach ihr, wenn auch nur, um sich vom festen Sitz ihrer
Fesseln zu überzeugen. Aber die seltsamen Leute – samt und sonders in einheitliche Kutten gewandet und doch irgendwie spürbar keine gewöhnlichen Mönche –, die bisher bei ihr aufgekreuzt waren, hatten sich nicht so langsam, so zögernd bewegt wie derjenige, der da jetzt in ihr Verlies gekommen war. Wer es auch sein mochte, er schlich förmlich näher, und er schien bemüht, sich nicht in ihrem durch die verfluchte Maske eingeengten Gesichtsfeld zu zeigen. May versuchte sich irgendwie verständlich zu machen, doch die Maske erstickte jeden ihrer Laute zu idiotischem Gebrabbel. Sie ekelte sich vor sich selbst deswegen. Dann – eine Berührung! May wollte sich in den Gurten und Ketten hin- und herwerfen, doch mehr als ein schwaches Zucken gelang ihr nicht. Die Berührungen wiederholten sich. Ein Gefühl, als würden Spinnenbeine über ihren Körper krabbeln, vorsichtig, wie prüfend an den Ketten und Gurten ziehend. Schließlich spürte sie ein Tasten links und rechts ihres Kopfes, ziehend und ruckend. Sie wollte aufschreien, aber wieder wurde nicht mehr als ein dumpfes Grummeln daraus. Zuerst jedenfalls, denn schließlich – – hallte May der eigene Schrei in den Ohren wider! � Als ihre Maske fiel! � Augenblicklich legte sich eine weiche Hand auf ihre Lippen, um � den Schrei zu ersticken. Gleichzeitig hörte sie ein erschrockenes »Pssst!« dicht an ihrem Ohr. »Sei still!« flüsterte die Stimme dann, weder die eines Mannes noch die einer Frau. »Was …?« machte May, als sie der Finger mit einem Kopfschütteln endlich ledig geworden war. »Hallo.« Als sie sah, wer ihr die Maske abgenommen hatte und jetzt lächelnd vor sie hintrat, verstummte May abrupt.
»Wer bist du?« fragte sie überrascht und zugleich ungläubig, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. »Gabriel«, antwortete der Knabe mit dem unschuldigsten Gesicht, das May je gesehen hatte.
* Alle Bemühungen, sich tunlichst nicht zu bewegen, schienen einzig dazu zu führen, daß Dashiell Rooney noch heftiger hin- und herschwang, während das nervenzehrende Knirschen der Tragegurte kaum merklich, aber stetig lauter und damit bedrohlicher wurde. Seine Versuche, die Belastung der Halterungen zu verringern, führten sogar soweit, daß er die Luft anhielt. Mit dem Ergebnis, daß er nach etlichen Sekunden heftig Atem holen mußte und die Pendelbewegung seines Körpers nur noch verstärkte … Dann endlich versuchte Dash Roon seine höchst mißliche Lage nicht länger durch Nichtstun hinauszuzögern, sondern irgend etwas zu unternehmen, was ihn aus ihr herausbringen konnte. Die Chancen, daß er dabei trotzdem abstürzen würde, standen denkbar günstig … So vorsichtig, wie es ihm nur möglich war, drehte er den Kopf, um sich zunächst einmal ein umfassenderes Bild seiner Situation zu machen. Das Alu-Gestänge des zerstörten Gleitdrachens hatte sich an der steilaufragenden Felsnase am Plateaurand verhakt. Ein Teil der Tragegurte hatte sich aus den Zwischenhalterungen gelöst, so daß das Geschirr nun nur noch an einigen (sehr wenigen!) Stellen mit dem Rahmen verbunden war. Die betreffenden Ösen hatten sich unter der Überbeanspruchung bereits verformt, und jede weitere Belastung konnte dazu führen, daß sie vollends abrissen. Die Gurte selbst, teils aus Bandmaterial, teils aus Leder bestehend, hatten während des Sturzes offenbar über scharfkantige Bruchstellen der Alu-
miniumrohre gerieben und waren stellenweise stark beschädigt worden. Vorher nur kleine Risse wurden breiter und breiter … Dash Roon hing wie schwebend über dem Nichts. Jetzt versuchte er, ganz behutsam und einem Trockenschwimmer gleich, mit den Händen die neben ihm abfallende Felswand zu erreichen. Vielleicht konnte er seine Finger in eine Spalte klemmen und die Gurte dann mit seinem Messer durchschneiden – Er schaffte es nicht. Zehn, höchstens fünfzehn Zentimeter fehlten seinen Händen bis zur Felswand. Wenn er die Pendelbewegung seines Körpers nutzte, konnte es klappen. Allerdings erhöhte er damit auch die Gefahr eines Absturzes. Nun, vielleicht war es nicht ganz so gefährlich, wenn er es versuchte, ohne sich wirklich Schwung zu geben; wenn er nur die Arme bewegte, ganz langsam, zeitlupenhaft … Über ihm rieb Aluminium mit gänsehauterzeugendem Knirschen über Stein! Die Felswand schien vor seinen Augen ruckartig nach oben zu rutschen, als er tiefer sackte! Zwei Handbreiten … drei … Aus! Wieder knirschten Alu und Fels, als sich das Gestänge von neuem verkantete. Dash Roon wagte nicht, nach oben zu sehen, um sich davon zu überzeugen, wie sicher sein Halt war. In der Haltung eines Fallschirmspringers vor dem Ziehen der Reißleine hing er da. Die Entfernung zur Felswand war lächerlich gering, doch ebensogut hätte sie eine Meile oder mehr betragen können. Was hätte es für einen Unterschied gemacht? Wieder bewegte Roon die Arme, noch langsamer diesmal. Ganz sanft begann er in dem Geschirr zu schaukeln, hin und her. Beinahe meinte er, das Reißen jeder einzelnen Faser der Gurte hören zu können, dröhnend laute, widerwärtige, angstmachende Geräusche.
Hin und her, hin und her … Seine Finger berührten den Fels, entfernten sich wieder, streiften von neuem darüber. Nur nicht leichtsinnig werden, hämmerte er sich ein und versuchte sich selbst zu beruhigen, indem er sich immer wieder in Gedanken sagte: Ganz ruhig … es läuft … ganz ruhig … Trotzdem konnte er nichts dagegen tun, daß er die Schwingbewegung unbewußt verstärkte. Die rettende Felswand war nah, so nah, nur ein Zentimeter mehr und – Ein Ruck! Mit einem hellen, reißenden Laut löste sich der verkantete AluRahmen über ihm von der Felsnase. Für den winzigsten Teil einer Sekunde fühlte Dash Roon sich federleicht, schwebend, als könnte er fliegen. Dann krallte sich die Panik mit eisigen Klauen in ihn! Er schrie auf, als der zerstörte Drache auf ihn herabstürzte. Gleich würde das Gerät ihn treffen und mit hinabreißen, Hunderte von Metern in die Tiefe – wie lange würde der Sturz dauern? Ein mörderischer Ruck wollte Dash Roon die Arme aus den Schultergelenken reißen! Die Gurte schnitten sich durch seine Kleidung und schmerzhaft ins Fleisch, als sie sich unter dem Gewicht des Gleiters strafften. Aber er ließ nicht los. Niemals würde er loslassen, nie und für nichts in der Welt würden seine blutenden, schmerzenden Finger den Felsgrat loslassen, um den er sie blind und schon im Sturz befindlich gekrallt hatte! Sein Gesicht schrammte über die rissige Felswand, verwandelte sich in eine glühende Maske, die direkt auf seinem rohen Fleisch saß. Dash Roon stöhnte. Aber er hielt sich weiter eisern fest, als wären seine Finger mit dem Fels verwachsen.
Mit diesem brüchigen, bröckelnden Fels … Blindlings ließ er seine Fußspitzen über die Wand rutschen. Er mußte einen Vorsprung finden, damit er sein Gewicht verlagern konnte. Um mit einer Hand das Messer ziehen zu können, damit er die Gurte durchschneiden konnte und das Gewicht des Gleiters loswurde. Irgendwie gelang es ihm. Er wollte gar nicht sehen, wie schmal und brüchig der Halt unter seinen Füßen war. Und er ließ auch alle Vorsicht fahren. Mit einem Ruck riß er das beidseitig geschliffene Messer aus der Scheide und säbelte wie irrsinnig an den Haltegurten. Daß er sich dabei selbst verletzte, war ihm gleich. Die letzte Halterung riß. Der Gleiter verschwand unter ihm in der Schwärze. Und es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Dash Roon, ganz leise, den Aufprall des Geräts hörte. Er stöhnte auf unter der Vorstellung, selbst da hinabzustürzen. Diese letzten Sekunden seines Lebens wären auch zu den längsten geworden – sicher lang genug, um ihm sein ganz Leben noch einmal vor Augen zu führen … Er wußte nicht, wie lange er starr und mit geschlossenen Augen dicht gegen die Wand gepreßt hängenblieb und einfach nur das Gefühl genoß, am Leben zu sein. Dann weckte ihn ziehender Schmerz aus diesem Zustand. Wenn er nicht zusah, daß er nach oben kam, würden seine Arme so wehtun, daß er sie nicht mehr bewegen konnte. Die Entfernung zur Felskante über ihm betrug etwa drei Meter, allenfalls vier. Trotzdem schien ihm die Distanz während des Kletterns schier endlos. Stellenweise mußte er sich erst einen Meter zur Seite bewegen, bevor er geeignete Vorsprünge für Hände und Füße fand, damit er weiter nach oben klettern konnte. Irgendwann zogen ihn seine schmerzenden Arme, ganz so, als funktionierten sie unabhängig von seinem Willen, über den Rand des Plateaus. Minutenlang blieb er liegen, wartete darauf, daß sein
Atem und sein Puls sich beruhigten und die Schmerzen nachließen. Vollends verschwand der Schmerz nicht, aber bevor seine Muskeln als Nachwirkung der zurückliegenden Anstrengung regelrecht versteinern konnten, richtete Dash Roon sich doch auf und lief über das Plateau in die Richtung, in der er das Kloster wußte. Etwas von seiner alten Willenskraft flackerte neu in ihm auf, wie eine Kerzenflamme, die der Sturm nicht ganz hatte auslöschen können und die nun, da der Sturm vorbei war, wieder alter Größe entgegenwuchs. Auf dem Weg überprüfte Dash Roon seine Ausrüstung. Den größten Teil hatte er in einem Rucksack verpackt gehabt, der am Gleitdrachen befestigt gewesen war. Das Zeug war mit dem Wrack abgestürzt. So war Roon nur geblieben, was er bei sich trug: Messer, Revolver, ein dünnes Kunststoffseil, das Handy, sein Diktaphon und ein paar weitere Kleinigkeiten … Zum Kloster hin wurde das Plateau durch einen natürlichen Felswall abgeschirmt. Als er sich dahinter niederließ, um die Lage zu sondieren, dachte Roon kurz daran, daß er womöglich dort beim Landeanflug mit der Fußspitze hängengeblieben war. Das Kloster lag in einer möglicherweise von Hand erweiterten Nische, die wie die Kerbe einer Riesenaxt in der Bergflanke klaffte. Ein Teil des Bauwerks ragte über den Rand dieser Einbuchtung hinaus, wodurch von unten der Eindruck entstand, das Kloster würde aus dem Felsen hervorwachsen. Hier und da flackerten Feuer zwischen den verschiedenen Gebäuden innerhalb der Außenmauer. Und in ihrem Licht sah Dash Roon schattenhafte Gestalten über den Hof hin und her eilen. Er holte das Diktiergerät aus der Tasche seiner Wetterjacke und drückte die Aufnahmetaste. »Ich bin am Ziel«, flüsterte er in das winzige eingebaute Mikrofon. »Das Kloster liegt mir quasi zu Füßen. Und obwohl ich gerade den ersten Blick darauf werfe, bin ich sicher, daß ich in den Jungs da un-
ten keine normalen Betbrüder vor mir habe. Brave Mönche sollten um diese nachtschlafene Zeit längst in ihren Betten liegen. Da unten allerdings –« Er zögerte kurz, bevor er grinsend weitersprach: »– scheint die Hölle los zu sein!«
* Sehr viel schlimmer konnte auch das Gefühl nicht sein, an einem mittelalterlichen Pranger zu stehen, dachte April Dorn. Obgleich man ihr weder Leid zufügte noch sonst etwas antat, kam sie sich gedemütigt vor. Die beiden Männer hatten sie durch endlose Tunnel und Korridore geführt. Als sie endlich diesen großen Saal betreten hatten, der – obwohl sie über etliche Treppen nach oben gestiegen waren – ohne Zweifel unterirdisch gelegen war, hatte die eigenartige Taubheit in April schon merklich nachgelassen. Ihr Wille zum Widerstand indes blieb gebrochen. Nun stand sie inmitten des Saales, dessen Wände in Dunkelheit verschwanden. Licht fiel aus einer versteckten Quelle nur auf die Stelle, an der sich April befand. Was jenseits dieser Insel aus Helligkeit lag, blieb für das Mädchen unsichtbar. Dennoch wußte sie, daß sie nicht allein war. Sie spürte die Nähe weiterer Personen, fühlte sich von ihren Blicken berührt und konnte ihr Atmen hören. Eine ganze Weile geschah nichts. Man taxierte sie nur, wartete vielleicht darauf, daß sie etwas sagte. Aber den Gefallen wollte sie den Unsichtbaren nicht tun. Doch deren Geduld erwies sich letztlich als strapazierfähiger als ihre eigene. »Was wollen Sie?« entfuhr es April endlich, ein schluchzender Aufschrei.
»Wer bist du?« kam es aus den Schatten zurück. Eine Männerstimme. »Das wissen Sie doch längst«, erwiderte das Mädchen. »Sonst hätten Sie mich nicht entführen lassen. Aber wenn Sie glauben, Sie könnten Lösegeld erpressen, dann irren Sie sich. Es gibt niemanden, der …« »Das wissen wir. Und es tut uns sehr leid um deine Eltern.« Es lag keine Häme in den Worten, sie klangen ehrlich. Und trotzdem empfand April sie als zutiefst beunruhigend. »Was habt ihr mit meiner Schwester gemacht? Wo ist May?« stellte April die nächste Frage. »Sie ist – nun, sagen wir, gut aufgehoben.« »Was soll das heißen?« »Alles zu seiner Zeit«, wurde ihr von neuem gesagt. »Zuerst möchten wir, daß du uns einige Fragen beantwortest.« »Was für Fragen?« April erfuhr es. Doch die wenigsten Fragen wurden ihr laut gestellt, und jene, die sie zu hören bekam, waren im Grunde banal und offenbar unwichtig. April beantwortete sie trotzdem, verriet ihren Namen, woher sie kam und dergleichen mehr. Antworten holten sich die Unsichtbaren jedoch auch auf Fragen, die sie gar nicht gestellt hatten. Sie »pflückten« sie auf unvorstellbare Weise direkt aus April heraus! Das Mädchen spürte ein nicht einmal schmerzhaftes, aber doch unangenehmes Ziepen zwischen ihren Schläfen, wieder und wieder. Und mit jedem einzelnen kleinen Reißen tauchte ein Gedankenbild auf, als würde ein entsprechendes Foto aus einer Kartei gezogen. So erlebte April in allen Einzelheiten noch einmal die grausige Mordnacht auf der Farm ihrer Eltern nach, machte ein zweites Mal die gemeinsame Flucht mit May durch, sah erneut die Stationen ihres Weges von Kansas nach New York – und damit auch alles, was sich währenddessen ereignet hatte, weil May ihre unheimliche Kraft
immer wahlloser eingesetzt hatte. »Nein, bitte nicht«, wimmerte April endlich. »Aufhören, bitte …« Sie sank in die Knie, schluchzend, weinend, sah dann aber doch auf und in die Schatten ringsum, mit tränenverschleiertem Blick und trotzdem fast dankbar, weil man ihren Wunsch erfüllte. Wie die anderen es auch angestellt haben mochten, sie hörten auf, Aprils Erinnerung zu durchforsten. Wohl weniger aus Mitleid als vielmehr, weil es nichts mehr gab, was sie ihr noch hätten entlocken können. »Bringt die andere herbei!« befahl der Mann, der anfangs mit April gesprochen hatte. Schritte entfernten sich. Dann kehrte Stille ein. Minutenlang geschah nichts, und unter diesem Warten litt April kaum weniger als unter dem vorherigen »Verhör«. Denn einmal geweckt, waren die Bilder ihrer Erinnerung noch immer präsent, und so sehr sie es auch versuchte, April konnte sie einfach nicht verdrängen. Das würde, wie schon einmal, nur die Zeit vermögen.
* Mitleid und ähnliches menschliches Gefühl hatte Salvat sich seit jeher verboten. Oder zumindest hatte er es versucht. Ganz gelungen war es ihm nie, und in manchen Situationen bereute er es nicht einmal. Jetzt jedoch wäre er gerne gleichgültig gewesen. Denn der Anblick des am Boden kauernden Mädchens schnitt ihm unangenehm in die Brust, heiß und kalt in einem. Trotzdem – es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, ihre Geheimnisse zu ergründen. Auf entsprechende Fragen hätte sie keine Antworten geben können, weil sie gewiß nicht in Worte fassen konnte, was es mit ihr und ihrer Schwester auf sich hatte. Aufmerksam war Salvat auf die Geschwister durch deren bemerkenswertes Geburtsdatum geworden – die Walpurgisnacht. Solcher-
lei Besonderheiten wurden seit langem registriert und aufgezeichnet. Die Geburt in der Nacht zum 1. Mai hatte zwar nicht zwangsläufig eine Spur sein müssen, aber die Informationen über das weitere Schicksal der beiden waren Salvat denn doch zu auffällig erschienen, als daß Zufall dahinter stecken mochte. Und er hatte sich nicht geirrt, wie er nun, nach dem Verhör und auch schon Lyn Shaas Bericht zufolge, wußte. Dieses Mädchen verfügte über ein ganz und gar absonderliches Talent – und die Gabe ihrer Schwester mußte noch um etliches bemerkenswerter sein. Das Mädchen May, die in der »Geisterstunde« geborene, war offensichtlich das »auslösende Moment«, während April die Kontrolle oblag. Salvat spürte, daß sich aus dem Talent der beiden ein Nutzen für die Illuminati ziehen ließ. Nur wußte er um die Praxis dieses Nutzens noch nicht recht. Aber darüber konnte womöglich eine »Befragung« Mays Aufschluß geben … Schritte näherten sich aus dem Dunkel. So rasch, daß Salvat augenblicklich Unruhe in sich aufsteigen fühlte. Der Bruder, den er gesandt hatte, May zu holen, kehrte allein zurück. »Was ist?« fragte Salvat barsch. »Das Mädchen ist verschwunden«, antwortete der Bruder. »Verschwunden? Wie –?« fuhr Salvat auf. »Ich weiß es nicht«, antwortete der andere. »Ihre Fesseln waren geöffnet und –« »Verdammt!« Erst das Kind, jetzt das Mädchen! Salvat ballte die Fäuste. Seine Gesichtszüge entgleisten, formten sich zu einer geradezu dämonischen Maske vor Zorn und Enttäuschung. Glitt ihm denn alles aus den Händen? War dies die Strafe für sein Versagen – dafür, daß er das Öffnen des Tores nicht verhindert hatte? War am Ende längst alles zu spät, und was geschah nur noch ein grausames Spiel, das der
Herr zur Strafe mit ihm, Salvat, trieb? Nein, das konnte, das durfte nicht sein! Nach dem verschwundenen Kind ließ Salvat bereits suchen. Er hatte versucht, deswegen möglichst wenig Aufsehen innerhalb der Bruderschaft zu erregen. Nun, da er die Suche auf May ausdehnen mußte, würde sich diese Unauffälligkeit nicht länger praktizieren lassen. Er mußte das Kloster in Alarmbereitschaft versetzen. Alle verfügbaren Kräfte mußten sich an der Suche beteiligen. Denn wenn sie das Mädchen nicht umgehend aufspürten, würden die Folgen unabsehbar und womöglich irreparabel sein. Schließlich hatte Salvat mehr als nur eine Ahnung davon, wozu May Dorn fähig war. Und wenn ihre Schwester nicht bei ihr war, gab es niemanden, der sie aufhalten konnte. Mit wenigen Worten wies er die umstehenden Brüder und Schwestern an, was zu tun war. Sie würden die anderen Ordensmitglieder verständigen und zur Suche aufrufen. Gerne hätte Salvat ihnen gesagt, sie mögen Vorsicht walten lassen. Aber für Vorsicht war längst nicht mehr die rechte Zeit. Nachdem die anderen den Saal verlassen hatten, wandte Salvat sich an April. »Was ist mit meiner Schwester?« flüsterte sie. »Ich brauche deine Hilfe«, erwiderte Salvat ruhig. »Wozu …?« »Das weißt du sehr wohl, nicht wahr?« April nickte. »Ja. Gegen May …« »So ist es«, antwortete Salvat ernst. »Wenn du uns nicht hilfst, könnte sie die ganze Welt ins Verderben stürzen.« »Ich weiß«, flüsterte April zurück. »Dann komm.« Widerstandslos folgte sie dem Fremden aus dem Saal hinaus. Ihre Angst war unter seiner Nähe geschmolzen wie Eis in der Sonne. Et-
was Warmes, beinahe Vertrautes ging von ihm aus. Fast etwas Väterliches. Obwohl er doch wirkte wie ein zorniger Racheengel.
* May wagte erst wieder zu atmen, als die Schatten sich entfernt hatten und die Schritte der kuttengewandeten Männer und Frauen nur noch als Echos zu hören waren. Ganz still wurde es jedoch nicht. Endlos hallten Stimmen durch das Felsenlabyrinth, mal näher, mal weiter entfernt; fortwährende Bewegung und das knarrende Öffnen und Schließen zahlloser Türen erfüllten die unübersichtlich verzweigten Tunnels mit einem Geräusch wie ferner Donner. »Sie suchen uns«, stellte sie fest. Der Junge, der neben ihr um die Gangbiegung lugte, nickte ängstlich. »Ja«, flüsterte er, »aber sie dürfen uns nicht finden. Sie werden uns – schrecklich bestrafen.« »Keine Sorge, die kriegen uns nicht«, erwiderte May gegen alle Überzeugung. Sie strich dem Jungen über das dunkle Haar, und tatsächlich schien das angstvolle Flackern in seinem Blick unter der beruhigenden Geste ein wenig abzunehmen. Noch immer wußte May nicht mehr als den Namen des etwa elfjährigen Jungen. Es war sicher weder der rechte Ort noch die richtige Zeit, um ihn nach weiteren Dingen zu ragen, aber sie tat es trotzdem. Denn zu sehr kam ihr sein plötzliches Auftauchen wie ein kleines Wunder vor – und an Wunder wollte sie nicht glauben müssen. Nicht hier. »Wer bist du?« � »Hab ich dir doch schon gesagt«, antwortete der Junge. »Gabriel.« � »Ich meine – woher kommst du? Warum bist du hier?« präzisierte �
May. »Die bösen Leute haben mich entführt«, erklärte das Kind mit vager Geste ins Nichts. »Ich weiß nicht, warum. Sie hielten mich hier fest, in einem Kellerloch. Ich weiß nicht einmal, seit wann ich hier bin. Schon ziemlich lange.« »Haben sie dich denn nicht bewacht?« wunderte sich May. Andererseits – auch vor ihrer Zelle waren keine Wachen postiert gewesen. Nun, in ihrem Fall mochte das erklärbar sein; sicher hatte man nicht damit gerechnet, daß sie sich aus ihren Fesseln würde befreien können. Der Knabe schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich habe mich die ganze Zeit über nicht gewehrt und bin ganz brav gewesen. Darüber sind sie wohl leichtsinnig geworden.« »Schlaues Kerlchen, hm?« May zauste ihm das Haar. Gabriel lächelte zaghaft. »Kennst du dich denn hier aus?« fragte sie dann. Er zuckte die schmalen Schultern. »Ein bißchen.« »Weißt du einen Weg, der nach draußen führt?« Schritte näherten sich. Hinter der nächsten Ecke tauchten Schatten auf. May zog Gabriel mit sich zurück und tauchte hinter eine andere Gangbiegung. Die Schritte entfernten sich. »Ich bin nicht sicher«, meinte der Junge. »Vielleicht sollten wir einfach alle Treppen nehmen, die nach oben führen.« »Gute Idee. Dann los!« zischte May und schlich in irgendeine Richtung los. Eine war so gut – oder so schlecht – wie die andere. Der Weg führte sie vorüber an etlichen Türen, die ins Gestein zu beiden Seiten eingelassen waren, und durch geradezu verschlungene Gänge. Nach einer Weile langten sie tatsächlich an einer Treppe an. Die Stufen waren von unterschiedlicher Breite, und sie hochzusteigen ließ May schwindlig werden, zumal sie nach den langen Stunden völlig starren Liegens ohnehin noch etwas Mühe mit dem Gehen hatte. Oben schloß sich ein weiter, nach beiden Seiten führender Gang
an. May wollte sich nach rechts wenden, doch Gabriel zog sie nach links. »Warum dahin?« fragte sie. »Nur so ein Gefühl.« Er lächelte – eigenartig … Sie passierten eine abwärts führende Felsstiege, dann kam eine nach oben gehende in Sichtweite, und – »Halt! Stehenbleiben!« »Da sind sie!« May hatte nicht gehört, wie die anderen nähergekommen waren. Aber sie waren da, wie aus dem Nichts in der Einmündung eines Seitengangs aufgetaucht – und sie verschwendeten keine Sekunde. Im Laufschritt kamen sie heran. »Sie haben uns!« entfuhr es Gabriel erschrocken. »Noch lange nicht!« knurrte May. Eisiger Schimmer legte sich wie Rauhreif über ihre braunen Augen, als sie stehenblieb und sich den Verfolgern zuwandte. Dann griff sie ins Nichts – und zerfetzte es! Mit einem Ruck riß sie die Wirklichkeit über die gesamte Breite des Ganges auseinander. Waberndes Glutlicht füllte den Felstunnel, und dann – kamen sie! Höllische Ausgeburten … May sah nicht länger hin als nötig. Trotzdem wußte sie, was hinter ihr geschah. Die grauenhafte Schreie der Männer redeten eine widerlich deutliche Sprache. »Was war das?« staunte Gabriel. »Ein kleiner Trick«, sagte May. Ein mieser Trick, dachte sie. »Cool!« »Red nicht, komm weiter!« Sie nahm den Jungen bei der Hand und zog ihn mit sich, hastiger als zuvor. Denn sie war nicht mehr nur vor ihren Verfolgern auf der Flucht. Sondern auch vor sich selbst …
* � Jenseits des Tores � Lilith Eden zitterte, stöhnte. Vor Angst, wie auch vor abseitiger Erregung! Kalt lagen Landrus Lippen an ihrem Hals. Die Wärme, die sie verspürte, rührte allein von ihrem Blut her, das, kaum daß es aus den Bißmalen hervortrat, auch schon von Landru aufgesogen wurde. Sein Schlürfen widerte sie ein. Und doch war irgend etwas in diesem Akt, das sie wohlig schaudern ließ – gegen ihren Willen. Liliths Hände lagen um seinen Kopf, bereit, ihm das Genick zu brechen, wenn er sich nicht an die getroffene Absprache hielt; wenn er sich mehr nehmen wollte, als sie ihm zugestehen würde. Nur – würde sie noch Gelegenheit haben, sich zu wehren? Das war eine Frage, deren Antwort sie nicht erfahren wollte … Das Zittern ihres Körpers nahm zu. Vielleicht ein erstes Anzeichen der Schwächung durch den Blutverlust …? »Genug!« Hastig stieß sie Landru von sich. Ein dunkler Film glänzte um seine Lippen; seine gebleckten Zähne waren von winzigen Blutschlieren befleckt, die er genüßlich fortleckte. »Genug«, sagte er dann böse grinsend, »wäre es erst, wenn kein Tropfen mehr in deinen Adern flösse.« »Spar dir deine Drohungen«, entgegnete Lilith, nicht halb so kalt, wie sie es sich gewünscht hätte. Trotz ihres Abkommens, hier, an diesem Ort einander nicht blindwütig an die Kehle zu gehen, konnte sie ihre tiefverwurzelte Ablehnung Landru gegenüber nicht ablegen. Denn es war sehr viel mehr als nur Ablehnung: kreatürliche, instinktive Angst. Und eine unbeschreibliche Art von – Respekt …
Mochte der einstige Hüter des Kelches auch ihr ärgster Widersacher sein, so blieb er doch auch der Mächtigste der Alten Rasse. Und vor dieser uralten Macht beugte selbst Lilith – wenn auch nur innerlich und ganz und gar unfreiwillig – in Ehrfurcht das Haupt. Noch immer zitterte sie. Nun jedoch nicht mehr nur vor Furcht und Erregung, sondern in viel stärkerem Maße vor Gier. Der Durst nach schwarzem Blut ließ sie beinahe reagieren wie einen Junkie, der seinen nächsten Schuß brauchte. Dieser Durst war ihr Fluch, von Gott selbst auferlegt. Er hatte dafür gesorgt, daß nicht mehr rotes Blut sie nährte, sondern allein das schwarze der Alten Rasse. Eine perfide Motivation, damit sie nicht nachließ in der ihr gestellten Aufgabe, die Tod allen Vampiren hieß! Jetzt und hier bot sich ihr die Chance, den mächtigsten zu vernichten, mit seinen eigenen Waffen zu schlagen … »Denke nicht einmal dran.« Landrus dunkler Blick spießte Lilith förmlich auf. Als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vielleicht hatte er es sogar … Lilith erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Die Verlockung war gewaltig. Aber wenn sie es tat – wenn es ihr gelänge! –, würde sie sich lediglich der einzigen »Nahrungsquelle« berauben, die ihr hier zur Verfügung stand. Und wer wußte schon, wie lange sie noch darauf angewiesen sein würde? Eine Ewigkeit vielleicht, womöglich länger … Sie fröstelte unter der Vorstellung, bis ans Ende aller Zeit hier im Schatten des Tores mit Landru festzusitzen. Nein, sie konnte nichts gegen ihn unternehmen. Nicht nur, weil sie sein Blut brauchte, sondern auch – und vielleicht wog dieser Grund sogar schwerer –, weil nur er ihr Gesellschaft leisten konnte. Dazu verdammt zu sein, völlig einsam hier schmoren zu müssen – nein, daran wollte sie nicht einmal denken. Welch eine Ironie des Schicksals … Sie haßte Landru wie nichts und niemanden sonst auf der Welt, und doch wäre sie ihm Moment
bereit gewesen, nahezu alles darum zu geben, daß er nur bei ihr blieb … »Nun …«, begann sie und rückte ein Stück auf Landru zu. Der begegnete ihr kalt lächelnd. »Was würdest du sagen, wenn ich mich nicht an unsere Absprache halte?« »Ich würde dich töten«, zischte Lilith. »Das würdest du nicht.« Er las ihr Gedanken, kein Zweifel. Oder standen sie ihr etwa so deutlich ins Gesicht geschrieben …? Lilith begann sich selbst dafür zu hassen. Und sie ekelte sich vor sich selbst, als sie flüsterte: »Bitte …« Landrus Grinsen wurde breiter, gemeiner. »Das wollte ich hören. Welch ein Triumph … Das Hurenkind bettelt!« »Allein dafür werde ich dich töten«, schwor Lilith mit spröder Stimme und eissprühenden Blickes, und diesmal zweifelte Landru nicht im geringsten an ihren Worten. »Irgendwann – verlaß dich darauf.« »Wir werden sehen«, meinte Landru. Dann hob er den rechten Arm und setze einen seiner Fingernägel an die Pulsader. Offensichtlich hatte er nicht vor, Lilith den Hals zu bieten. »Aber …«, begann sie. »Hältst du mich für so unvorsichtig?« fragte er zurück. »So geht es auch.« Und damit ritzte er die Haut über seiner Schlagader. Schwarzes Blut quoll hervor, und Lilith konnte sich nicht mit Widerspruch abgeben, wollte sie sich daran laben. Rasch nahm sie Landrus Arm, führte das Handgelenk zum Mund und trank sein Blut. Daß sie beide ihre Kräfte eingebüßt hatten, verhinderte, daß die Wunde sich auf magische Weise schnell wieder schloß. Während sie das lebenspendende Elixier schlürfte, ging ihr durch den Kopf, daß Landru nicht nur klug handelte, was die vordergründige Bedrohung betraf, die Liliths Biß für ihn bedeutete, sondern
auch (wissentlich?) ein Risiko umging, das ihr erst jetzt wieder zu Bewußtsein kam. Mit dem Biß übertrug jeder Vampir den Keim, der sein Opfer nach dessen Tod zur Dienerkreatur machte. Liliths Keim aber war von Gott umgestaltet worden. Wenn sie nun ihre Zähne in die Adern eines Vampirs schlug, wurde er ihr hörig. So konnte sie ohne Probleme an wichtige Informationen gelangen, was ihre Suche enorm erleichterte. Kannte Landru die Wirkung dieses Keims? Vermied er auch deshalb, daß Lilith ihn biß? Sie wußte es nicht. Sie wußte ja nicht einmal, ob sie nicht auch diese Fähigkeit hier, jenseits des Tores, eingebüßt hatte. Kalt und zäh rann es aus Landrus Ader. Der Geschmack war widerwärtig wie alles schwarze Blut, aber die Tatsache, daß es sich um das Landrus handelte, versüßte ihr das Ganze. Obwohl sie eben noch willens gewesen war, sich nur das unbedingt nötige Quantum zu nehmen, konnte Lilith nicht aufhören. Sie fand sich in den Fängen der eigenen Gier, und Landru selbst beendete den bizarren Aderlaß. Heftig stieß er sie fort. Eine Sekunde lang fixierte sie ihn funkelnden Blickes, gierig keuchend, als wollte sie sich umgehend wieder auf ihn stürzen. »Wage es nicht«, drohte Landru aus tiefer Kehle. Das Feuer in Liliths jadegrünen Augen erlosch. Angewidert wischte sie sich dunkle Reste von Mund und Lippen. »Ich hoffe, es hat gemundet?« fragte Landru spöttisch, während er die Wunde mit der Hand bedeckte. Lilith schwieg. Und schrie im nächsten Moment spitz auf! Landru sah alarmiert zu ihr hin, folgte dann ihren Blick nach oben. »Was ist das?« entfuhr es Lilith, erschrocken und staunend in einem.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Landru. Es gab keinen Himmel in dieser Welt. Oben und unten verschmolzen irgendwo zu einer dunklen Einheit. Trotzdem erinnerte das, was sie sahen, an ein abnormes Himmelsschauspiel. In der Lichtlosigkeit über ihnen klaffte mit einemmal ein Loch wie eine schwärende Wunde, in der sich glühende Eingeweide wanden. Und es blieb nicht der einzige Riß. Immer mehr kamen hinzu. Als würden unsichtbare Hände die Finsternis zerfetzen!
* Lyn Shaa … Sie wußte nicht einmal sicher, ob dies ihr wirklicher Name war, oder ob man ihr den erst hier, in Monte Cargano, gegeben hatte. Ihre Erinnerung reichte nicht weit genug zurück. Obwohl – wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann stimmte das nicht ganz. Denn im Grunde war es eher so, daß sie alles, was vor ihrem Eintritt in den Orden der Illuminati lag, vergessen und verdrängt hatte. Gelungen war es ihr nicht ganz. An etliche Dinge entsann sie sich noch viel zu gut … Nicht zuletzt deshalb riß sich Lyn Shaa förmlich um jeden Auftrag, den Salvat an die Gesandten des Ordens zu vergeben hatte. Die Beschäftigung half ihr, sich nicht erinnern zu müssen. Meditationsübungen, mit denen sie oft ganze Tage zubrachte, waren ein weiteres, sehr hilfreiches Mittel, um den Kopf freizubekommen – von den Ereignissen vor Illuminati. Daß Lyn Shaa Dienst im Kloster tat, kam demzufolge sehr selten vor. Heute jedoch tat sie es. Denn heute wurde jeder einzelne Verfügbare dringend gebraucht. Und so beteiligte auch sie sich auf Salvats Geheiß hin an der Suche nach den Entflohenen. Obgleich sie sich hinter den Mauern des Klosters stets vorkam wie ein Vogel in
einem viel zu kleinen Käfig. Genau wie damals … Die Erinnerung drängte in Lyn Shaa hoch, unaufhaltsam. Und die Bilder waren so grausam lebendig wie eh und je …
* Lyn Shaa war ein Kind Nippons. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, nicht weit von Tokio entfernt. Inzwischen mochte der gierige Millionenstadt-Moloch den Ort längst verschlungen haben. Sie wußte es nicht. Japan zählte zu den wenigen Ländern, die Lyn Shaa nie besucht hatte, seit sie zur Illuminati gehörte … Trotz der Nähe zur Hauptstadt war das Leben in Lyn Shaas Heimatdorf nach anderen, nach alten Regeln abgelaufen. Traditionen waren mehr als nur Dinge, mit denen man sich schmückte. Man folgte ihnen und hielt sie in Ehren. Zugleich aber trieb auf solchem Boden auch der Aberglaube mitunter absonderliche Blüten. Lyn Shaa wußte das nur allzu gut. Dabei hatte alles harmlos, unscheinbar begonnen. Mit dem Tod einer Katze … Eines morgens hatte Lyn Shaa ihre Eltern geradezu bekniet, ihr kleines Kätzchen zum Doktor in die Stadt zu bringen. Es ginge ihm sehr schlecht, und wenn das Tierchen keine Hilfe bekäme, würde es sterben, hatte das Mädchen, gerade fünf Jahre alt geworden, weinend beteuert. Natürlich hatte man dem Kind nicht geglaubt. Am Abend war das Kätzchen tot gewesen … Weitere Ereignisse, sich in ihrer Bedeutung und Tragweite allmählich steigernd, waren gefolgt. Zunächst hatten sich die Nachbarskinder einen Spaß daraus gemacht, Lyn Shaas Macht der Vorhersehung auf die Probe zu stellen. Und das Mädchen, glücklich über die Beachtung, die ihm zuteil
wurde, hatte eifrig mitgetan und ein ums andere Mal kleine Dinge prophezeit, die sich ganz gewiß ereignen würden. Daß Katos Kuh ein totes Kalb gebären würde, noch in derselben Nacht – und so war es geschehen. Daß die alte Xia sich den Fuß brechen würde, wenn sie vom Geflügelmarkt zurückkam – es war geschehen. Daß der Wagen des Burschen Zan, seines Zeichen größter Herzensbrecher des Dorfs, nicht mehr anspringen würde – so war es gekommen … Nach einer Weile, es mochten vier oder fünf Wochen seit dem Tod ihres Kätzchens vergangen sein, interessierten sich nicht mehr nur Gleichaltrige für Lyn Shaas eigenartige Kunst. Auch Erwachsene suchten immer öfter die Nähe des Mädchens, um sich Rat in allerlei Hinsicht zu holen. Freilich taten sie es nur heimlich, darauf achtend, daß kein anderer Dörfler sie bei Lyn Shaa sah, und das Schweigen des Mädchens erkauften sie sich mit kleinen Geschenken oder klingender Münze. Und so sagte Lyn Shaa voraus, wann der beste Tag sei, um mit der Reisernte zu beginnen; ob es sich lohnte, gerade heute Nacht auf Brautschau zu gehen; was der sterbenskranke Großvater als letzten Willen verfügt hatte. Immer absonderlicher wurden die Fragen, auf die Lyn Shaa Antwort geben sollte. Und schließlich wollte Wang, ein durchtriebener Kerl, sogar die Todesstunde des alten Li wissen. Auch darauf hatte Lyn Shaa die Antwort gewußt. »Heut’ Nacht«, war es von ihren Lippen gekommen, sehr zu ihrem eigenen Entsetzen. Am liebsten wäre das Mädchen losgelaufen, um den Bedauernswerten zu warnen. Doch Wang hatte sie zurückgehalten und beschwichtigt. »Du tust es besser nicht«, hatte er sie gewarnt, »denn es möchte gut sein, daß du dich geirrt hast. Wenn du dem armen Li nun sagst,
er würde heute sterben, dann könnte es angehen, daß er sich zu Tode ängstigt und daran stirbt. Daran willst du doch nicht die Schuld tragen, oder?« Nein, das hatte sie nicht gewollt. Anderntags war der alte Li tot aufgefunden worden. Mit einem Messer im Herzen. Lyn Shaa hatte gewußt, wer es ihm hineingestoßen hatte, und Wang des Mordes bezichtigt! Nachweisen indes hatte man ihm die Tat nie können. Sein Haß auf Lyn Shaa jedoch fand kein Ende – und gebar grausame Früchte. Vielleicht hätte es eine Möglichkeit gegeben, alles abzuwenden, doch Lyn Shaas Eltern hatten sich blenden lassen. Und sie selbst – nun, sie war nur ein kleines Mädchen gewesen, das geschehen ließ, was die Erwachsenen für recht und gut hielten … Wang selbst war es, der die Künste des Mädchens offen bewarb. Und so kamen immer mehr Leute in die Hütte der Eltern, die wenigsten und immer weniger nur heimlich, um Ratschläge einzuholen. Und jeder einzelne ließ etwas bei der Familie – einen Laib Brot der eine, eine hübsche Puppe ein anderer, die allermeisten jedoch lohnten Lyn Shaas Worte mit barer Münze. Nur auf eine Art von Fragen antwortete Lyn Shaa nicht mehr. Nie nannte sie jemanden die Stunde seines oder eines anderen Todes … Wang jedoch ließ Gegenteiliges verlauten. Ihm hätte das Mädchen sehr wohl verraten, wann der eine oder andere sterben würde – und daß all diese Menschen zur genannten Stunde verstarben, lag gewiß nicht an Lyn Shaa … So war es Wang im Laufe der Zeit ein Leichtes, das Mädchen als Hexe zu denunzieren. Und unter solcherart »dummgeredetem« Volk verbreitete sich diese Parole wie ein Lauffeuer. Schließlich hieß es gar, das Mädchen würde den Tod nicht etwa weissagen, sondern mit seinen Worten erst heraufbeschwören! Und
von diesem Punkt bis hin zu dem, da man Lyn Shaas Bestrafung und Schlimmeres verlangte, war es nicht weit … Bei Nacht und Nebel stahlen sich die Eltern mit ihrem Kind aus dem Dorf. Die nötigste Habe hatten sie in ihrem alten Wagen verstaut. Darin wollten sie nach Tokio fliehen. Und in der Stadt würden sie eine von tausend Möglichkeit nutzen können, um unterzutauchen und das Heimatdorf zu vergessen. Sie kamen nicht einmal bis jenseits der äußersten Häuser. Das aufgehetzte Volk erschien, als hätte die Nacht es ausgespuckt. Ein dichter Ring zog sich um das altersschwache Auto, zwang den Vater zum Anhalten. Keiner sprach ein Wort. Schweigend hatten die Dörfler Lyn Shaa aus dem Wagen gezerrt. Stumm sahen es die Eltern mit an. Allein die Mutter hatte leise geschluchzt, als ihr Kind fortgebracht wurde. Inmitten des Dorfplatzes sah Lyn Shaa, welches Schicksal man ihr zugedacht hatte. Welchen Tod … Trockenes Holz war zu einem Hügel aufgeschichtet worden. Aus der Mitte ragte ein Pfahl in die Nacht auf. Links und rechts hatten sich zwei vermummte Gestalten postiert, jeder eine blakende Fackel in der Hand. Lyn Shaa war sicher, daß unter einer der beiden Masken Wangs grinsende Visage steckte. Das Mädchen wehrte sich nicht, als man es zum Scheiterhaufen führte. Denn sie hatte eine Vision von ganz besonderer Art. Alles würde anders werden. Schrecklich, entsetzlich – aber nicht für Lyn Shaa … Dennoch verspürte sie Angst, gewaltiger denn alle Furcht, die sie je zuvor verspürt hatte. Sie wollte nicht, daß geschah, was sie schon jetzt geschehen sah. Und doch war es gerade diese Angst, die es unausweichlich machte.
Heiß und kochend wallte die Panik in dem Mädchen empor. Und etwas anderes mengte sich hinzu, etwas ganz und gar Fremdartiges, Grauenhaftes … Einen letzten Versuch wagte Lyn Shaa, um das Furchtbare abzuwenden. »Geht weg! Flieht!« rief sie panisch. »Sonst seid ihr alle des Todes!« »Hört, sie will uns verfluchen!« kam es aus der Menge. »Sie will uns mitnehmen, die elende Hexe!« »Macht ihr ein Ende!« wurde gefordert. Zu spät … Man kam nicht mehr dazu, das Mädchen auf den Scheiterhaufen zu stellen. Lyn Shaa senkte stöhnend den Blick, und als sie ihn wieder hob – »Seht nur!« »Ihr Auge!« »Es – brennt!« Aber es war viel mehr als Feuer, das aus Lyn Shaas Auge loderte. In ihrem Kopf schien eine Sonne zu explodieren. Und Licht und Hitze dieser Explosion waren machtvoll genug, ein ganzes Dorf niederzubrennen! Irgendwann – vielleicht war der neue Tag, vielleicht sogar der übernächste längst angebrochen – fand Lyn Shaa sich inmitten eines riesigen Aschefeldes sitzend wieder. Wie durch ein Wunder war Mai Ling, ihre liebste Puppe, nicht verbrannt, und auf eine Weise, an die sich das Mädchen nicht hatte erinnern können, war die Puppe in ihre Hände geraten. Genau so hockte sie da, spielend im Staub der Toten, als man sie fand. »Komm mit«, hatte der Fremde nur gesagt. »Wohin?« hatte sie gefragt. »An einen schönen Ort.«
Ob Monte Cargano ein schöner Ort war, darüber ließ sich streiten. In jedem Fall aber waren das Kloster ein besserer Ort als das Dorf ihrer Eltern und die Illuminati eine bessere Gesellschaft als jene, die Lyn Shaa als Hexe hatten verbrennen wollen …
* Die Gesandte erwachte wie aus tiefem Schlaf, taumelte einen Moment lang haltlos, bis sie sich an der Wand des Felstunnels abstützen konnte. Nie mehr hatte sie sich all dieser Schrecken erinnern wollen. Und mit einemmal wußte sie, daß sie es nie mehr würde tun müssen. Ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, war verschwunden, als sie diese andere »Gabe« erhalten hatte. Jetzt aber, in diesem Moment, konnte sie über ihr hellseherisches Talent erneut verfügen. Wenn auch nur für einen Moment und in einer ganz bestimmten Angelegenheit. Lyn Shaa sah – – ihren eigenen Tod. � Sie stand ihm schon gegenüber. � Während sie in den Erinnerungen gefangen gewesen war, mußte � sie wie ein Schlafwandlerin weitergelaufen sein. Und nun fand sie sich vor einem jener Risse in der Wirklichkeit wieder, wie sie das Mädchen, das sie selbst hierhergebracht hatte, zu schaffen vermochte. Die Plötzlichkeit der Konfrontation mit diesem Hindernis ließ Lyn Shaa zu spät reagieren. Vielleicht hätte sie ohnedies nichts dagegen unternommen. Manche Dinge waren vorherbestimmt. Man mußte sie hinnehmen. Dinge wie den eigenen Tod etwa … Lyn Shaa ließ sich packen von den Klauen und dem schleimigen
Gewimmel und hineinzerren in die Hölle …
* Obwohl May sich dafür haßte, ja verabscheute, tat sie es immer wieder. Sie sah keine andere Möglichkeit, die Verfolger abzuhängen, als sie in den Tod zu schicken. Immer wieder tauchten hinter irgendwelchen Ecken Suchtrupps auf, und May hielt sie auf, indem sie ihnen das pure Grauen in den Weg warf. Doch die Zahl der Verfolger schien stetig zu wachsen, anstatt endlich abzunehmen, und längst vermochte May die Zahl der geschaffenen Pforten nicht mehr zu überblicken. »Ich kann nicht mehr«, keuchte sie schließlich und blieb zitternd stehen. »Ich muß aufhören, ich darf nicht …« »Du mußt!« rief Gabriel. »Es ist unsere einzige Chance!« »Wir kommen hier nicht heraus – und wenn ich die Hölle selbst öffnen könnte!« Der Knabe sah starr zu ihr hoch, in den Augen ein Ausdruck, der sie schaudern ließ. Seine Stimme jedoch klang flehend und unwiderstehlich, als er leise sagte: »Bitte, tu’s. Bring uns hier weg. Ich bitte dich – tu’s für mich. Ich möchte – nach Hause …« Seine Worte, sein Tonfall ließen May schier das Herz brechen. Dieser Schmerz überstieg jenen, den ihr Tun ihr verursachte. Sie konnte, sie durfte Gabriel nicht enttäuschen. »Na schön …« Sie nickte, schweratmend, ergriff wieder seine Hand, lief weiter – – und entließ das Grauen, wo immer sie sich dazu gezwungen sah. Daß längst nicht mehr sie die Richtung ihrer Flucht vorgab, merkte sie über all dem nicht einmal.
Gabriel führte sie immer tiefer hinab. Hinein ins steinerne Herz des Monte Cargano.
* »Es ist unvorstellbar!« Dash Roon hatte sich in einer Ecke zusammengekauert, linste mit einem Auge um die Mauerkante, während er das Diktaphon dicht an seine Lippen hielt. Der Abstieg in den Klosterhof war einfacher gewesen, als er angenommen hatte. Und obgleich hier unten ein hektisches Hin und Her herrschte, war es ihm nicht schwergefallen, in das größte der Gebäude vorzudringen. Offenbar waren die Kuttenträger – zu seinem Erstaunen fanden sich auch Frauen darunter! – zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß sie auf ihn hätten aufmerksam werden können. Und eben diese anderen Dinge interessierten Dash Roon brennend. Er wollte ihnen nachspüren und würde sie schließlich ans Licht der Öffentlichkeit zerren … Später. »Ich befinde mich jetzt im Haupthaus des Klosters«, flüsterte Dash ins Mikrofon seines Diktiergeräts. »Es entscheidet sich kaum von dem anderer Klöstern. Sehr schlicht eingerichtet und –« Er machte noch ein paar Angaben über Details, die ihm aus seinem Versteck heraus auffielen. »Offenbar konzentriert sich die Aufregung aber auf tiefer gelegene Regionen des Klosters«, fuhr er dann fort. »Ich habe ganz in der Nähe einen Treppenabgang bemerkt. Werde versuchen, dort hinabzusteigen.« Er mußte noch einige Minuten warten, bis es um ihn her wenigstens etwas ruhiger wurde. Völlige Stille trat freilich nicht ein, aber schließlich schien ihm die Situation doch günstig genug, um sich aus seinem Versteck zu wagen.
Geduckt hastete er über den steingefliesten Hauptkorridor und tauchte dann schattengleich durch jene Tür, hinter der eine Wendeltreppe abwärts führte. Dash Roon eilte in die Tiefe. Dingen entgegen, die ihm Weltruhm eintragen würden. Glaubte er …
* Jenseits des Tores … … und aller Grenzen Einst hatte er sein Leben geopfert, um ein anderes zu retten. Vielleicht sogar zum Wohl einer ganzen Welt. Er wußte es nicht. Ebenso wenig wußte er, wie lange das nun schon zurücklag. Zeit spielte keine Rolle an diesem Ort, an dem er sein Dasein seither zu fristen verflucht war. Nichts war hier von wirklicher Bedeutung. Außer Erinnerungen … Sie behalten zu dürfen war jedoch keine Gnade, sondern eine Strafe. Verdammnis! Dennoch erging es ihm an diesem Ort besser als anderen. Es mochte an der Art und Weise liegen, wie er hierher gelangt war. Vielleicht war aber auch seine Herkunft, seine Abstammung die Ursache. Denn er war nicht zu vergleichen mit all den anderen. Er war kein Normalsterblicher – und somit war er auch nicht normal gestorben. War er denn überhaupt gestorben? Er glaubte nicht recht daran, obschon es auch nicht Leben war, das ihn erfüllte. Ein Geist lebte nun einmal nicht … Inzwischen wußte er, daß sein Tod – oder wie immer man seinen Ab schied aus der Welt auch nennen konnte – nicht vergebens war. Letztlich
hatte er damit geholfen, Dinge, Ereignisse in Bewegung zu setzen, die der Welt zum Wohl geraten mochten. Vielleicht … Denn noch war nichts entschieden, noch war es nicht vorbei … Er wußte es, wie er so viele Dinge wußte und sah, seit er hier war. Obwohl es letztlich nichts anderes als ein fast grenzenloser Kerker war, bekam er doch all das mit, was jenseits davon geschah – all die furchtbaren Ereignisse, die in den Untergang der Welt münden konnten. Er wünschte, er hätte noch etwas dagegen unternehmen können. Seit Ewigkeiten wünschte er sich das … Irgendwann erschütterte etwas diese seine neue Welt, die man drüben HÖLLE nannte. Klüfte taten sich auf – Portale, die hinüber führten. Wenn auch durch den Wahnsinn. Dennoch widerstand er der Versuchung nicht lange, wählte den Weg durch das Reich völligen Wahns und des Chaos. Er kehrte zurück. Ging hinüber in seine alte Welt. Nach Hause …
* May wußte, daß sie sich einen eventuellen Rückweg längst selbst verwehrt hatte. Nahezu hinter jeder Biegung dieses Labyrinths hatte sie die Realität zerstört, eine Pforte geschaffen, um die Häscher zu stoppen. Nur April hätte sie schließen können. Und vielleicht wären es der Risse längst zu viele gewesen, als daß selbst sie noch etwas dagegen hätte tun können. Mays Skrupel, die Tore aufzureißen, schwanden – zunächst zu ihrem Erschrecken, nach einer Weile war es ihr schließlich gleichgültig. Es war, als ersticke etwas ihren stummen Widerstand und setze etwas anderes an dessen Stelle.
Das Gefühl, eine heilige Pflicht zu erfüllen. Eine verdammte heilige Pflicht … Gabriels kleine Hand umschloß die ihre, während er ihr vorauseilte. Immer wieder sah er zu ihr hoch, aufmunternd lächelnd. Aber es war ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Dennoch waren sie nicht leer. Etwas glänzte darin, schwarzem Eis gleich, und May meinte die Kälte dieses Eises spüren zu können. Egal … Der Gedanke erlosch wie so vieles andere in ihr. »Komm doch«, forderte das Kind sie auf, als sie vor Erschöpfung unwillkürlich langsamer wurde. »Wohin …?« murmelte sie. »Wohin führst du mich?« »Ans Ziel.« Mehr nicht. Wie auf einem Nebengleis ihres Bewußtseins bekam sie mit, daß der Junge irgend etwas tat – mit seinen Händen, mit obskuren Gesten, die er vollführte. Der Gang, durch den sie liefen, schien sich nicht zu verändern, als liefen sie immer wieder dasselbe Stück entlang. Und doch spürte und wußte May, daß sie trotzdem vorankamen. »Was …?« begann sie verwirrt. Der Junge brachte sie mit einer Handbewegung zum Verstummen. »Fallen«, sagte er, »sie haben diese Gänge mit Fallen gespickt. Ich führe uns daran vorbei, keine Sorge.« »Wer bist du?« fragte May. Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf – und verging. »Vertrau mir. Du mußt mir vertrauen«, erwiderte das Kind, dieses seltsame, unheimliche Kind. »Ja, das tue ich«, sagte May lahm. Immer weiter liefen sie, May wie ein Automat, Gabriel wieselflink und nimmermüde. Und dann endlich – »Wir sind da!« rief Gabriel und zeigte nach vorne.
Vor ihnen gähnte ein gewaltiger Durchbruch im Fels. Dahinter erstreckte sich eine gewaltige Höhle, so weit und hoch, daß May die Wände kaum und die von mächtigen Säulen gestützte Decke überhaupt nicht ausmachen konnte. Nur eines erkannte sie überdeutlich: Das riesenhafte Tor in der Wand gegenüber. Und die archaisch anmutenden Gestalten, die ihnen aus den Schatten entgegentraten. Sie trugen absonderliche Waffen, deren Einsatz und Wirkung May fremd war. Zugleich jedoch erkannte sie auf eine Weise, die sie selbst nicht verstand, daß es nicht die Waffen waren, die diese Männer zur Bedrohung machten. »Sie«, setzte sie stockend an, »sie … werden uns töten!« Das Kind schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das werden sie nicht«, sagte es. »Nicht, wenn du sie zur Hölle schickst!« Gabriel kicherte – diabolisch …
* … und triumphierend! Denn alles lief in seinem Sinne! Salvat – dieser GÖTTLICHE Narr! Er hatte ihm, Gabriel, mit allem, was er getan hatte, nur in die Hände gespielt! Er hatte den Knaben in jene Kammer gebracht und ihm Teile seiner eigenen Kraft einverleibt, darauf vertrauend, daß diese Kraft das Kind betäuben würde. Ha! Gabriel hatte diese Kraft verarbeitet und umgewandelt, und selbiges hatte er mit der Energie der Kammer getan. Natürlich hatte es eine Weile gedauert, ehe er diese neugewonnene Macht zu seinem Vorteil nutzen konnte, aber schließlich hatte es geklappt.
Die Siegel und Schlösser der Kammertür zu brechen und hernach wieder herzurichten, war kein Problem gewesen … Und schließlich hatte Salvat noch jenes Mädchen May ins Kloster schleifen lassen. Gabriel hatte ihre besondere Kraft regelrecht schmecken und riechen können. Sie kam ihm wie gerufen. Und womöglich war sie das ja auch – herbeigerufen von ihm selbst, oder wenigstens doch von jener Macht, die hinter ihm stand, deren Teil er war … Nur eines hatte in jüngster Vergangenheit nicht in seinem Sinn geklappt. Lilith Eden! Sie hätte nicht durch das Tor gelangen dürfen. Andererseits – es war wohl unausweichlich gewesen. Denn letztlich hatte sich damit der Kreis geschlossen. Und es gab, wie Gabriel erkennen mußte, offenbar Dinge, an denen selbst er – oder eben die Macht, der er zugehörte – nicht rühren konnte. Der Lauf der Zeit schien eines dieser Dinge zu sein … Jetzt aber stand er an einer Schwelle, an einem Tor, hinter dem sich die Zukunft gestalten ließ. Gabriel war hier, um genau dies zu tun. Er mußte sich nur noch den Weg bereiten lassen. »Los! Tu es!« feuerte er May an. Und sie gehorchte.
* »Ich fürchte, ich habe einen Fehler begangen – einen fürchterlichen Fehler! Ich hätte meine Nase nicht hier hineinstecken sollen. Ich hätte nie in dieses verfluchte Labyrinth hinabsteigen dürfen …« Dash Roon lehnte kreidebleich und verschwitzt in einer Felsnische. Lahm ließ er das Diktiergerät in die Hosentasche gleiten. Daß er noch am Leben war, kam einem Wunder gleich. Zweimal
war er in den vergangenen Minuten dem Tod mit Müh und Not und reichlich Glück von der Schippe gesprungen. Und jeder weitere Schritt konnte sein Ende bedeuten! Dieses Labyrinth, aus dem er womöglich nie mehr herausfinden würde, war mit Fallen gespickt! Die Auslösemechanismen schienen unsichtbar zu sein, und Dash Roon zweifelte fast daran, ob es sich tatsächlich um Mechanismen im herkömmlichen Sinne handelte, oder ob nicht Bewegungssensoren oder etwas in dieser Art die Fallen aktivierten. Beim ersten Mal waren Flammen aus kaum sichtbaren Spalten in Wand, Decke und Boden geschlagen und hatten seine Jacke in Brand gesetzt. Gerade noch hatte er sie abstreifen können, bevor sich das Feuer auf Kleidung und Haut darunter durchgefressen hatte. Obwohl er ungleich vorsichtiger weitergegangen war, hatte es ihn auch beim nächsten Mal kalt erwischt! Ein Teil der Decke war eingebrochen. Nur ein reflexhafter Hechtsprung nach vorne hatte ihn vor größerem Schaden bewahrt. Die Stellen, an den einzelne Brocken ihn trotzdem noch getroffen hatten, taten jetzt noch höllisch weh. Inzwischen war Dash Roon zu der Überzeugung gelangt, daß es sicherer war, den Weg nicht fortzusetzen. Zurück konnte er nicht mehr, und so – Er zog das Diktaphon noch einmal hervor. »Ich werde hier warten«, begann er niedergeschlagen. »Keinen Schritt gehe ich mehr weiter in dieses teuflische Labyrinth. Irgendwann wird mich jemand finden, hoffe ich.« Seine Hoffnung erfüllte sich. Wenn auch auf gänzlich andere Weise, als er es sich je vorgestellt hätte.
*
SEINE Welt, seine HEIMAT hatte ihn wieder. Dennoch fühlte er sich darin alles andere als willkommen. Er war ein Fremdkörper in dieser Welt, vielleicht schon zu sehr verwurzelt mit jener, aus der er herübergekommen war. Die Zahl der Pforten, die von drüben nach hüben führten, war inzwischen kaum noch zu überblicken. Grauen und Tod waren allgegenwärtig. Er wollte, MUSSTE etwas dagegen unternehmen. Aber er spürte, wie seine Kräfte schwanden, sein körperloses Wesen verging. Als reiner Geist, der er war, konnte er hier nicht bestehen. Er brauchte einen Halt in dieser Welt. Eine Hülle. Einen Leib! Er fand einen. Und nahm ihn sich. Mit Gewalt und rücksichtslos. Weil das Schicksal einer Welt auf dem Spiel stand.
* April hatte oft davon gehört oder zumindest gelesen, daß ein Mensch in Minuten altern konnte. Geglaubt hatte sie nie, daß so etwas tatsächlich geschehen könnte. Bisher jedenfalls nicht. Jetzt aber, da sie Salvat verstohlen musterte, änderte sie ihre Meinung. Zwar schien ihr der seltsame Mann nach wie vor auf unbestimmte Weise alterslos, so daß sie sein Alter noch nicht einmal zu schätzen vermocht hätte; aber die Linien in seinem Gesicht waren tiefer und tiefer geworden und glichen mittlerweile dunklen Furchen. Seine Züge hatten sich auf eine Art verhärtet, als wäre seine Haut zu altem Leder oder gar zu fleischfarbenem Stein geworden. Er schien Dinge wahrzunehmen, die ihr verwehrt (oder erspart?) blieben, und sie mußten ihn in einem Maße beunruhigen, die April sich kaum vorzustellen in der Lage war. Trotzdem flüsterte sie: »May?« Salvat nickte.
»Sie tut es also …«, hauchte April. »Und wie«, stöhnte Salvat, der im Geiste an vielen Orten innerhalb des Klosters zugleich war. Aber nicht allein Mays Wirken setzte ihm so zu. Viel stärker belastete ihn die Nachricht, daß das Mädchen nicht allein unterwegs war: Das Kind war bei ihr, hatte sie womöglich sogar befreit, und seine Absicht war Salvat klar – das verfluchte Balg würde Mays Kraft nutzen wollen, um zu vollenden, was Salvat beim vorigen Mal mit Müh und Not vereitelt hatte. Er wandte sich an April. »Du bist meine letzte Hoffnung«, sagte er. Das Mädchen erzitterte, obgleich Salvat sehr leise gesprochen hatte. Aber sie glaubte, das Gewicht der Bedeutung seiner Worte zu spüren, obgleich sie sie nicht annähernd verstand. Aber vielleicht war es auch gut so …
* Die Innere Halle glich einem Tollhaus, dessen Baumeister allein der Wahnsinn war! Heulen und Brüllen erfüllte den gewaltigen Felsendom, so mächtig, daß die uralten Wände erbebten. Überall klafften glühende Risse in der Luft und spien todbringendes Gezücht aus. Die zwölf Wächter des Tores kämpften unerschrocken. Aber vergebens … Längst war ihre Zahl um die Hälfte dezimiert, und für jede Klaue und jeden Tentakel, den sie mit ihren monströsen Waffen abschlugen, wuchsen sofort zwei, drei neue nach. Es war eine aussichtslose Schlacht, die sie führten, und doch kam Aufgeben nicht in Frage für sie. Weil die bloße Möglichkeit, den Kampf abzubrechen, ihnen nicht einmal in den Sinn kam. »Weiter! Weiter!« kreischte Gabriel.
May schluchzte auf. »Nein, genug … Es ist genug …« »Noch lange nicht!« brüllte der Junge wie irr und geifernd. Ein Todesschrei gellte in ihren Ohren. Wieder fiel einer der Wächter, erst seines Waffenarmes und in der nächsten Sekunde seines Hauptes beraubt. »Komm mit!« verlangte Gabriel und winkte ihr zu. May hatte Mühe, ihn in all dem Getümmel und Gewimmel noch auszumachen. Er hatte die Halle zur Hälfte durchquert. Sein Ziel war klar – – das Tor … � »Was hast du vor?« rief May, keuchend vor Entkräftung. � »Du mußt mir helfen«, gab Gabriel zurück, kam ihr entgegen und � zog an ihrer Hand. »Komm schon.« »Ich kann nicht mehr«, stöhnte das Mädchen. »Einmal noch«, sagte Gabriel, und dann speichelsprühend: »Reiß dich zusammen, verfluchte Schlampe!« Ein lautes Klatschen, und Gabriel stürzte zu Boden. May schmerzte die Hand, so heftig hatte sie den kleinen Bastard geohrfeigt. »Den Teufel werd’ ich tun«, zischte sie. »Genau das wirst du tun«, knurrte das Kind, während es sich erhob. »Genau das. Und dann – wirst du dafür bezahlen!« Er rieb sich die feuerrote Wange. »Du kleine Ratte!« fuhr May ihn an. »Ich werde –« Sie verstummte. Als wäre ihr urplötzlich die Stimme genommen worden. Im nächsten Moment hatte sie schon vergessen, was sie hatte sagen wollen. Und eine weitere Sekunde später erlosch ihr Wille bis auf einen kleinen Funken, gerade noch groß genug, um sie erkennen zu lassen, was sie tat – unter fremdem Willen tat! Sie ging auf das Tor zu, als Gabriel in diese Richtung wies. Irgendwoher nahm sie noch die Kraft, ein haßerfülltes Funkeln in ihren Blick zu zwingen. Das Kind lachte nur.
Und dann befahl es mit eisiger und uralter Stimme: »Öffne es!« �
* Jenseits des Tores Die Hölle selbst schien dem Untergang geweiht! So jedenfalls empfanden Lilith und Landru, was um sie her geschah. Längst waren die glühenden Klüfte ringsum nicht mehr zu zählen. Und jede einzelne gab den Blick frei auf Dinge, deren Anblick genügte, einen Geist in Wahnsinn zu verstricken. Lilith hatte den Blick abgewandt. Es war schlimm genug, das tobende Chaos mitanhören zu müssen. Geräusche, wie Lilith sie nie gehört hatte. Sie hätte sich nicht einmal vorzustellen vermocht, daß irgend etwas solche Laute überhaupt hervorbringen könnte! Landru indes beobachtete das abartige Geschehen weiter. Vielleicht war er schon nicht mehr in der Lage, den Blick abzuwenden. Vielleicht hatten die Szenarien ihn bereits so in Bann geschlagen und zerrüttet, daß er nie mehr etwas anderes sehen würde. »Bei den Hohen!« flüsterte er, fast ehrfürchtig. »Welch ein Spektakel!« Immer weitere Risse entstanden um sie her. Lilith bekam es mit, ohne hinsehen zu müssen. Sie hörte es, spürte es. Fast fühlte sie sich an das unheilige, widerliche Brausen erinnert, mit dem der Satan gekommen und gegangen war, drüben in der anderen Zeit – ZZZUUUWWW!!! »Verdammt!« Landrus Aufschrei alarmierte sie, ließ sie nun doch den Blick heben – – und sie sah, was selbst Landru, der das Ganze bisher wie ein faszinierendes Feuerwerk betrachtet hatte, entsetzte!
Die ersten jener Dinge, die sich aus den Rissen der Welt drängten, griffen in ihre Richtung! Noch waren sie zu weit entfernt, als daß sie ihnen gefährlich nahegekommen wären. Aber die Distanzen schrumpften zusehends. »Was sollen wir tun?« rief Lilith. Landru sah auf sie herab, zuckte die Schultern. »Sterben«, meinte er mit bitterem Lächeln. »Welch ein Tod …« Er ging in die Knie, als wollte er sich neben Lilith niedersetzen, verhielt jedoch auf halbem Wege in grotesker Stellung. »Sieh dir das an!« Er wies hinter Lilith. Zum Tor hin –? Sie wandte sich in der Hocke um. »Es –«, setzte sie fassungslos an. Weiter kam sie nicht. Landru versetzte ihr einen derben Stoß, der sie haltlos vornüber stürzen ließ!
* Weshalb Salvat in scheinbar unsinnigem Zickzack-Kurs durch die Gänge des Labyrinths hetzte, wurde April bewußt, als sie ein einziges Mal nicht genau seinen Schritten folgte. Flammen schossen aus den Wänden und versengten ihr Haar! Salvat riß sie hastig zu sich heran. »Hübsch auf dem Weg bleiben!« Er schaffte sogar ein aufmunterndes Lächeln, und April brachte es irgendwie fertig, es auch zu erwidern. Ihr Weg führte durch ein unüberschaubares Gewirr aus Stollen, durch Räume, über Treppen – immer tiefer hinab, endlos. Aprils Beine zitterten längst; jeder Schritt drohte über ihre Kräfte zu gehen. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie. »Halt durch«, sagte Salvat. Der Griff seiner Hand um ihre Finger wurde um eine Spur kräftiger, und der nächste Schritt fiel April auf wundersame Weise leichter.
Wieder langten sie an einer Treppe an. An Salvat vorbei konnte April bis zum Fuß der Stiege hinabsehen. Der Widerschein vielfarbigen Lichts gloste dort, als würde in der Nähe ein Feuerwerk abgebrannt. Und dann hörte sie auch den tobenden Lärm. Die Schreie von Menschen. Und andere, furchterregendere Dinge! »Zu spät«, flüsterte sie erschöpft. »Nein!« schrie Salvat auf. »Niemals!« Er zerrte April förmlich die Stufen hinab. Ein kurzer Gang führte, durchbrochen von Seitenzugängen, zu einem großen Felsdurchlaß. Und dahinter – »May!« schrie April auf. »Was hast du getan?« Salvat stieß das Mädchen tiefer in die Halle hinein, in der Chaos und Tod allumfassend regierten. »Halte sie auf!« herrschte er April an und deutete quer durch den Felsendom, dorthin, wo ein riesenhaftes Tor in die Wand eingelassen war – – das May mittels ihrer gewaltigen Kraft gerade zu öffnen begann!
* Salvat blieb an Aprils Seite, während sie ihren Weg durch das Toben fand. Fast schien es ihr, als hielte er alles, was sie aufhalten wollte, von ihr fern. Als stünde sie unter dem Schutz mächtiger Schwingen … Nur aus den Augenwinkeln registrierte April, daß sie mit ihrer Vermutung ganz richtig lag. In letzter Konsequenz jedoch vermochte sie es nicht zu erkennen. Ihr war, als ließe irgend etwas nicht zu, daß sie den Kopf weiter drehte … Außerdem erkannte sie, daß Salvat ein monströses Etwas schwang. Ein Schwert vielleicht – und doch mußte es etwas ganz anderes sein, etwas fortwährend seine Form Veränderndes, Flammendes … Egal!
Weiter! Ein urgewaltiges Knarren schwang durch die Halle, überlagerte selbst den Lärm des mörderischen Schlachtens ringsum. Die Flügel des Tores glitten auf. Mays Hände lagen um die Kanten der beiden Hälften und zogen daran. Das Gewicht mußte nach Tonnen zählen, und doch schaffte May es, das Tor Stück um Stück weiter aufzuziehen. Ein eisiger Hauch wehte April entgegen. Formlose Schwärze quoll auf sie zu. Noch fünf Schritte, dann hatte sie May erreicht. Sie wußte mit einemmal, daß ihre Kraft genügen würde, das Tor zu schließen – so wie Mays ausreichte, es zu öffnen. Drei Schritte … Sie schrie auf. Stolperte. Stürzte. Ein kleiner Junge sah auf sie herab, grinsend und mit haßflammendem Blick. Irgendwo hinter ihr brüllte Salvat. Im Liegen sah April, daß Tentakel ihn aufgehalten und umschlungen hatten. Er schlug mit seiner absonderlichen Waffe danach und würde gegen die Kräfte aus dem Nichts siegreich bleiben, kein Zweifel. Aber er würde ihr nicht beistehen können, um May aufzuhalten. Ein weiterer Schrei zitterte durch die Innere Halle. Ein junger Mann, zerzaust und zerschunden, kämpfte sich zwischen peitschenden Tentakeln hindurch! Fast schien es, als wäre er selbst aus einem der höllischen Schlünde gekommen. April sah ihn heranstürmen – und wußte doch im gleichen Augenblick, daß dies nicht möglich sein konnte. Dieser Mann mußte tot sein! Die Verletzungen, die er erlitten hatte und die seine Kleidung blutrot färbten, konnte er einfach nicht überlebt haben! Und doch lief er geradewegs auf Salvat zu …
* � Sie erwischten ihn auf den letzten Metern, gewissermaßen auf der Zielgeraden! Salvat strauchelte, als sich ein Tentakel zwischen seine Füße drängte. Doch bevor er stürzte, fingen ihn weitere auf, umschlangen ihn und hoben ihn empor. Während er versuchte, das Geschehen am Tor im Auge zu behalten, ließ er das Flammenschwert in der Faust wirbeln. Die Schneide traf auf zähen Widerstand, durchdrang ihn. Grauenhafte Schreie aus dem Nichts malträtierten Salvats Ohr, als er Klauen und Arme der dort lauernden Kreaturen abschlug. Trotzdem würde er zu spät kommen. Das Tor öffnete sich bereits. Und April allein war hilflos, würde nicht skrupellos genug sein, um zu tun, was getan werden mußte. Vom Eingang zur Inneren Halle wehte ein Schrei heran. Salvat wandte den Blick, sah einen Fremden auf sich zustürmen – und erkannte ihn doch. Obgleich es keinen offensichtlichen Beweis dafür gab, hatte er doch kaum einen Zweifel. Das Wesen, nicht das Aussehen des jungen Mannes, der den Eindruck machte, als käme er geradewegs aus der Hölle, war ihm vertraut wie kaum etwas anderes. Salvat hing für eine Sekunde fast reglos im Klammergriff der Monstrositäten, unfähig, irgend etwas anderes zu tun, als den jungen Mann, der auf ihn zurannte, nur anzustarren. Vor ihm verhielt der andere. Ebenfalls nur für eine Sekunde. Sie sahen sich an, schweigend, und der junge Mann berührte Salvat flüchtig. Doch in diesem kaum nennenswerten Kontakt floß Wissen, das er in sich trug, in Salvat über – und er verstand. Wortlos setzte der junge Mann seinen Sturmlauf zum Tor hin fort.
Salvat sah ihm nach. Raphael Baldacci – seinem Sohn. Und wurde Zeuge, wie er sich ein zweites Mal opferte, um eine Welt zu retten.
* April hatte sich halb aufgerichtet, als der junge Mann bei ihnen anlangte. An ihrer Schwester vorbei wollte sie nach den Torflügeln greifen, um Mays Kraft entgegenzuwirken. Der Schrei eines zornigen Kindes gellte auf. Dann fühlte April sich von einem harten Stoß getroffen, der sie nach vorne gegen May und weiter trieb – – durch das Tor! � Der junge Mann hatte sie angesprungen. � Und während April und May haltlos ins Jenseits taumelten, trat � auch er über die Schwelle und packte von innen nach den Kanten des Tors, um es zu schließen. Raphael Baldacci spürte noch, wie etwas an ihm vorbeiglitt, hinaus aus dem Tor, zurück in die Welt. Schon wollte er voller Schrecken danach greifen, es zurückzerren, als er erkannte, worum es sich dabei handelte. Er lächelte. Dann hatte die Hölle ihn wieder. Und Dash Roon hatte sein Leben zum Wohle der Menschheit gegeben. Nur würde die Welt nie davon erfahren. Sein Name versank in Vergessen.
*
Jenseits des Tores � Es hatte sich verändert! Der monolithische Block schien aufzuweichen, zu einem grauen Sumpf zu werden, aus dessen Tiefen ein eisiger Sog griff. Lilith fühlte sich davon gepackt. Und auch Landru gab sich ihm hin. Nur – zu spät …! Die monströsen Auswüchse aus den Klüften wucherten über die basaltene Ebene heran, über die Gestade des eben noch sicheren Eilandes inmitten des Nichts, griffen und schlugen nach den beiden Flüchtenden! Und trafen! Gruben sich durch Fleisch und Knochen, ohne es zu verletzen. Trotzdem brüllten Lilith und Landru auf in irrsinnigem Schmerz. Das Tor, in das sie schon halb eingetaucht waren, vermochte ihre Laute nicht zu ersticken, reflektierte das wahnsinnige Brüllen nur, peinigte Lilith und Landru zusätzlich zu den glühenden Klauen und Krallen, die in ihren Körpern wüteten, sie festzuhalten versuchten, indem sie sich in ihren Geist krallten, daran rissen und zerrten. Ziehender Schmerz durchflutete beide, als würde ihnen das Innerste entrissen. Dann war es vorbei. Schwärze spie zwei Körper aus, durch den Spalt eines gewaltigen Tores hindurch, der sich im nächsten Augenblick mit dumpfem Donnern hinter ihnen schloß. Reglos blieben sie liegen, ohne Besinnung – – ohne Leben?
* Salvat sank entkräftet in die Knie.
Die Auswüchse auf seinem Rücken bildeten sich zurück. Der Sturm, den er entfacht hatte, hatte das Tor vollends geschlossen. Und auch die Klüfte in der Wirklichkeit waren verschwunden, im gleichen Moment, da May und April jenseits der Pforte verschwunden waren. Atemlose Stille lastete über der Inneren Halle. Das Kind! durchfuhr es Salvat. Verschwunden … Aber wohin? Er wußte es nicht; zu vieles war zu schnell geschehen. Nach einer Weile hatte Salvat genug Kraft gesammelt, um sich aufzurichten und zum Tor hinüberzugehen. Vor den beiden Körpern, die das Jenseits ausgespien hatte, verhielt er, sah hinab. Auf die Frau, die er für die Mörderin seines Sohnes gehalten hatte. Jetzt wußte er, daß sie nicht für sein Schicksal verantwortlich war. Ganz im Gegenteil … Mit jener kurzen Berührung hatte Raphael ihm vieles mitgeteilt, ehe er die beiden Schwestern mit sich gerissen hatte – zurück in die Hölle. Salvat beugte sich nieder, strich eine schwarze Haarsträhne aus einem totenbleichen Gesicht. Lilith Eden war ihr Name – in dieser Zeit … Sie hatte keine Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das er vor über 300 Jahren getroffen hatte. Und doch – sie war es. Und was sie auch getan haben mochte, er würde ihr verzeihen. Weil er in ihrer Schuld stand. Einem Hauch gleich kam ihm ein einzelnes Wort von den Lippen. Ein Name. »Lilena …« ENDE
Der späte Gast Leserstory � von Rudolph Gebhardt � »Es ist schon spät«, sagte der Fremde. »Ich würde mich gerne zurückziehen. Auch Sie wirken müde, wenn ich das sagen darf.« »Das scheint nur so.« Trockau lächelte nicht. »Es ist die Langeweile. Die lange Zeit, sie zehrt an meiner Ausdauer, macht das Leben fad. Sie können nicht wissen, wie das ist … als gäbe es jeden Tag nur Linsen.« »Das Nachtlager … Sie können mir doch ein Bett anbieten, oder?« Trockau nickte. Sein Arm wies zur Treppe. »Oben. Oben ist ein Zimmer, dort können Sie die Nacht verbringen. Die anderen sind dort auch immer eingeschlafen.« Der junge Mann musterte sein Gegenüber. »Sie haben mich nicht nach meinem Namen gefragt.« »Namen.« Trockaus Pupillen reflektierten das flackende Feuer im Kamin. »Was sind schon Namen? Ich habe noch nie nach einem Namen gefragt. Ich würde ihn mir ohnehin nicht merken können.« »Aber möchten Sie denn nicht wissen, wer …?« Wieder schüttelte Trockau den Kopf. »Das ist ohne Bedeutung. Aber Sie sagten eben selbst, es ist schon spät. Sie sollten Ihr Zimmer aufsuchen. Gute Nacht.« Trockau saß in der großen Halle, den Kopf gesenkt. Er wartete. Darauf, daß der Fremde die unübersehbaren Zeichen verstehen würde. Bis heute hatte niemand das Unheil rechtzeitig erkannt – was einem Todesurteil gleichkam. Sie waren alle gestorben, und ihr Tod war sein Leben gewesen. Bis heute. Es war kalt draußen. Die Kälte fraß die Wärme, die die letzte Glut im Kamin noch verbreitete. Trockau wünschte sich, frieren zu kön-
nen. Früher, ja früher hatte er den Frost noch gespürt. Wie er ihn bis auf die Knochen durchströmt, den Körper in einen eisigen, zitternden Block verwandelt hatte. Jetzt war nur noch die Kälte der Seele in ihm. Sie verursachte kein Beben, nur eine Starre der Empfindungen, Gefühllosigkeit. Trockau sehnte sich nach dem Zittern. Unzählige Nächte hatte er hier verbracht, regungslos, den Blick verschmolzen mit der sterbenden Glut im Kamin. Das Verlöschen des letzten schwachen Glimmens war seine Hoffnung. Die Hoffnung zu sterben … endlich. Trockau wartete. Lauschte. Der junge Mensch mußte inzwischen das Zimmer betreten haben. Wenn er aufmerksam war und das Licht seiner Kerze ausreichte, würde er die getrockneten Blutflecken auf den Dielen sehen. Die Spritzer an der Wand. Das Zimmer war wie ein Stall. Trockaus Besucher waren das Vieh, das dort darauf wartete, geschlachtet zu werden. Würde es diesmal anders sein? Viel Zeit blieb nicht mehr. Zwanzig, vielleicht dreißig Minuten, bis Trockau wieder vom Durst übermannt würde, bis er das Feuer aus den Adern des Besuchers saugen würde, saugen mußte, um die Kraft zu erhalten für die endlosen Nächte vor dem Kamin. Vielleicht suchte der Fremde gerade nach einem Nagel an der Wand, um seinen Mantel daran aufzuhängen. Würde er auch das Blut sehen? Und würde er die richtigen Schlüsse ziehen, wenn er die Lade des Nachttischs öffnete, in der der Pfahl aus Eschenholz lag – der Pflock, der Trockau das Lodern der Seele und das Frieren des Fleisches zurückgeben konnte? Für einen kürzen Augenblick, der gleichzeitig seinen Tod bedeutete, könnte er wieder sein, was er schon seit Jahrhunderten nicht mehr war: lebendig! Warten. Ungewissen Hoffen. Dann – Geräusche an der Treppe! Tastend im Dämmerschein des verlöschenden Feuers. Schon fühlte Trockau den Durst in sich aufstei-
gen. Er blickte nicht auf, hielt den Kopf gesenkt, in stiller Erwartung. Die Schritte kamen näher, hallten über den Steinfußboden der kalten Halle. Dann hatte der Gast den großen Ohrensessel erreicht. Die Schritte verstummten. Trockau blickte auf. Vor ihm stand der junge Mann. Schwächlich gebaut, aber es war genug Kraft in ihm, um den Holzpflock in die Brust zu treiben. Trockau sah die schmalen Finger, die den Pfahl umspannten, fest und entschlossen. Die Adern auf der Hand traten deutlich hervor. Dort pulsierte Wärme. Trockau fühlte die Gier in sich wachsen. »Ich kenne jetzt Ihre wahre Natur«, sagte der Fremde. Seine Stimme bebte. »Ich habe das Blut gesehen. Und ich habe dieses … Werkzeug gefunden.« In seinen Augen war kein Mitleid. »Sie sind eine Bestie. Ich werde Sie töten.« Und doch zögerte er, haderte mit seinem Vorhaben. Ein Keuchen drang aus Trockaus Kehle, ein Laut, in dem sich Gier und Enttäuschung mischten, als er sich auf den Fremden stürzte. »Zu spät! Wieder zu spät …!« ® Rudolph Gebhardt, Schmalzbergstr. 10, 91.207 Lauf ENDE
Inkarnationen � von Adrian Doyle und Timothy Stahl Lilith Eden und Landru sind zurück – aus einer Dimension, die ihre Körper gemartert, ihre Seelen in die Vergangenheit geschleudert und ihren Geist mit Trugbildern genarrt hat. Fast wären die Halbvampirin und der Mächtigste der Alten Rasse daran zerbrochen, doch letztlich sind sie der Hölle unbeschadet entkommen. Wirklich unbeschadet? Nein. Denn ihre Flucht durch das Tor hat Folgen – weitreichender und fataler, als sie je gedacht hätten. Als sie im Kloster Monte Cargano wieder zu sich kommen, hat sich ihrer beider Leben grundlegend verändert. Und es ist blanke Ironie, daß dieses Schicksal ausgerechnet zwei Todfeinde trifft …