Ilja Srubar Phänomenologie und soziologische Theorie
Ilja Srubar
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Ilja Srubar Phänomenologie und soziologische Theorie
Ilja Srubar
Phänomenologie und soziologische Theorie Aufsätze zur pragmatischen Lebenswelttheorie
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14487-0
Inhaltsverzeichnis Vorwort
I. Zur E n t w i c k l u n g des p h a n o m e n o l o g i s c h e n Ansatzes in der Soziologie A. Ausgangspositionen und Hintergriinde 1. 1st die Lebenswelt ein harmloser Ort? Zur Genese und Bedeutung des Lebensweltbegriffs 2. Heidegger und Grundfragen der Sozialtheorie B. Zur Entwicklung des Ansatzes von Alfred Schiitz 3. Die Entdeckung des Alltags durch die Sozialwissenschaften. Alfred Schiitz als Beispiel von Sinnsuche in einer sinnentleerten Zeit 4. Zur Bedeutung der Kommunikation in der Friihphase des Schiitz'schen Denkens (Konstuktion sozialer Realitat und die Struktur literarischen Werkes) 5. Die Konstitution von Bedeutsamkeit im Alltagshandeln. Zur Schiitz'schen Losung eines Weber'schen Problems . . . . 6. Die konstituierte und die produzierte Zeit. Zur Theorie der Typenbildung bei Alfred Schiitz und ihren Grenzen . . . 7. Wertbeziehung und Relevanz. Zu Alfred Schiitz' WeberRezeption 8. Abkehr von der transzendentalen Phanomenologie. Zur philosophischen Position des spaten Schiitz 9. Schiitz' pragmatische Theorie der Lebenswelt
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13 35 63
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71 89 115 151 173 195
10. Alfred Schiitz' Konzeption der Sozialitat des Handelns . . . 209
II. P h a n o m e n o l o g i e i m Kontext der E n t w i c k l u n g soziologischer Theorien
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1. »Phanomenologische Soziologie« als Theorie und Forschung 225 2. Von Milieu zu Autopoiesis. Zum Beitrag der Phanomenologie zur soziologischen Theoriebildung 247 3. Marx'Konstruktion sozialer Lebens-Welten 277 4. Die Ebene der Lebens-Welt im Aufbau der Marx'schen Theorie 317 5. Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative 355 6. Grenzen des »Rational Choice«-Ansatzes 383 7. Die (neo-)utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit . . . 403
III. Strukturen der Lebenswelt und Strukturen sozialer Ordnung 1. Lob der Angst vorm Fliegen. Zur Autogenese sozialer Ordnung 2. Geschichtlichkeit und Geschichte in der phanomenologischen Theorie 3. Woher kommt »das Politische«? Zum Problem der Transzendenz in der Lebenswelt 4. Das Politische und das Populare. Die Herstellung der alltagsimmanenten Transzendenz durch die Massenkultur . . . . 5. Lebenswelt und Transformation. Zur phanomenologischen Analyse gegenwartiger Gesellschaftsprozesse 6. Ethnizitat und sozialer Raum 7. Zur Formierung des soziologischen Blickes durch die Grof5stadtwahrnehmung Nachweise
417 417 445 463 491 511 539 561 579
Vorwort In dem vorliegenden Band sind Aufsatze zu einem Thema versammelt, das den Verfasser seit langem begleitet. Damit ist auch ein Grund benannt fiir sein Erscheinen. Mehrere der Texte wurden an entlegenen Orten und in langst vergriffenen Werken publiziert, so dass sie fiir den eventuell interessierten Leser nicht mehr verfiigbar waren. Dies allein ware gewiss noch keine hinreichende Rechtfertigung dafiir, dass sie dort nicht doch der »nagenden Kritik der Mause« liberlassen wurden. Eine weitere, in der Sache selbst liegende Motivation fiir die Veroffentlichung des Bandes ergibt sich aus der gegenwartigen Lage des phanomenologischen Denkens in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum. Phanomenologie wird hier an den von der analytischen Philosophie beherrschten philosophischen Departements kaum noch gepflegt und der Ort, an dem dieses Denken als ein produktives Instrumentarium der Analyse der Lebenswelt und ihrer Konstitutionsprozesse anzutreffen ist, Hegt vielmehr in der ausgepragten auf Alfred Schiitz und durch ihn auf Husserl zuriickgehenden Tradition der verstehenden Soziologie, die iiber mehrere Generationen hinweg im deutschen Sprachraum und dariiber hinaus zu einem weitverzweigten, breit ausdifferenziertem Forschungsparadigma wurde. Insofern ist das Verhaltnis von Phanomenologie und soziologischer Theorie ein Thema, das die gegenwartige Forschungs- und Gedankenlandschaft nachhaltig formt und auch einen Horizont bezeichnet, vor dem phanomenologisches Denken eine - wenn auch durch die Perspektive einer Wirklichkeitswissenschaft gepragte - Weiterentwicklung findet. Zugleich zeigt sich hier auch, dass die phanomenologischen Entwiirfe des menschlichen Weltzugangs und der ihm zugrundeliegenden Konstitutionsmechanismen der Lebenswelt nicht nur eine Option zur Beantwortung fachphilosophischer Fragestellungen sind, sondern offensichtlich das Potential eines Forschungsprogramms in sich tragen, das von sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen und weiterentwickelt wird.
Die hier abgedruckten Texte verfolgen und - wie der Verfasser hofft pragen auch eine Richtung dieser Weiterentwicklung, fiir die sich mit der Zeit der Arbeitstitel »pragmatische LebensweIttheorie« herauskristallisierte. Die Anordnung der Texte versucht, nach einer einleitenden Klarung der phanomenologischen Grundlagen der soziologischen Theoriebildung, den Prozess nachzuzeichnen, in dem diese Richtung im Denken von Alfred Schiitz Gestalt annahm und schliefilich zu einer Abgrenzung von Husserls transzendentaler Sicht der Phanomenologie fiihrte. Nachfolgend sind Aufsatze versammelt, die sich mit dem Verhaltnis des phanomenologischen Ansatzes zur Forschung und Theoriebildung im Fach beschaftigen - die langst noch nicht ganzlich verrauchten Vulkane des Marxismus eingeschlossen. Letztendlich enthalt der Band einige Versuche des Autors, anhand des phanomenologischen Instrumentariums konkrete soziologische Fragestellungen anzugehen. Bei der Drucklegung der Texte hat der Verfasser wertvolle Hilfe erfahren. Zu danken hat er Karla Bald, Hedwig Schwarzott, Linda Nell, Caroline Gassen, Thomas Singer, Christoph Mautz und Gerd Sebald. Ohne sie waren die Tiicken elektronischer Textverarbeitung und einiges mehr nicht zu meistern gewesen. Konstanz 2007
I. Zur Entwicklung des phanomenologischen Ansatzes in der Soziologie
A. Ausgangspositionen und Hintergriinde
1.1st die Lebenswelt ein harmloser Ort? Zur Genese und Bedeutung des Lebensweltbegriffs I. Zur philosophischen Bedeutung des Lebensweltbegriffs Der Topos der Lebenswelt entwickelt sich philosophisch aus dem Problem der selbstverstandlichen Selbstgegebenheit der Welt, wie sie dem Menschen in seiner natiirlichen Einstellung begegnet. Das Thema der Selbstgegebenheit taucht auf im Kontext der antimetaphysischen Wende der philosophischen Orientierung des 19. Jahrhunderts, die - eingeleitet durch die Hegel-Kritik und durch Nietzsche - die unmittelbare, vorwissenschaftliche und vorphilosophische Gegebenheit der Welt bzw. die unmittelbare Lebenswirklichkeit zum Objekt der philosophischen Untersuchung macht. Diese Tendenz zum »radikalen Empirismus«, wie z. B. William James seine »Principles of Psychology« (James 1950) nannte, kommt sowohl in Bergsons »unmittelbaren Gegebenheiten des Bewufitseins« (Bergson 1911) zum Ausdruck, als auch in der hermeneutischen Lebensweltphilosophie Diltheys, aber auch in der Ablehnung der »Verdoppelung« der Welt in eine subjektive und eine objektive in den positivistischen Konzeptionen von Mach und Avenarius, sowie noch etwa in der Wissenschaftslehre des logischen Positivismus von Schlick. Auch bei Edmund Husserl, dessen phanomenologische Philosophic fiir den Begriff der Lebenswelt, so wie wir ihn heute verwenden, die Grundlagen legte, stehen am Anfang seines Weges zum Lebensweltbegriff Uberlegungen, die die Selbstgegebenheit einer natiirlich im Erleben erfassten Welt zum Gegenstand haben. So ontologisch also der Begriff der Lebenswelt anmutet, sein Ursprung im Rahmen des phanomenologischen Ansatzes Husserls ist ein epistemologischer. Unter diesem Aspekt erscheint die Lebenswelt in Husserls Krisis-Schrift als ein Reich urspriinglicher Evidenzen (Husserl 1962: S.130), in welchen die Selbstverstandlichkeit und die Vertrautheit des uns in alltaglicher Praxis begegnenden
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Seienden und seiner Typik verankert ist (Husserl 1962: S.126). Die philosophische Frage, die Husserl an diese so definierte Lebensweh richtet, heilSt dann: Wie vollziehen sich diese urspriinglichen Evidenzen, die der Wek und den Dingen darin die Gekung selbstverstandlicher Gegebenheit verleihen und so die Grundlage unseres Wissens von der Wek vor jeder Wissensckaft darstellen? In dieser Frage und in der Husserlscken Antwort darauf sind bereits die Varianten des Lebenswekbegriffs entkaken, die uns auck in seiner spateren Karriere begegnen werden. Die Frage ricktet sick zuerst auf das Problem der Gekung von etwas als etwas in der Wek der natiirlicken Einstellung. Damit wird die Lebenswelt tkematisiert als der jeweils urspriinglicke Grund, als die urspriinglicke Sinnstruktur, von der aus erst ein menscklickes Weltkaben moglick ist. Nock vor der Entsckeidung dariiber, ob diese lebensweltlicke Sinnstruktur eine universelle oder lediglick eine auf die jeweilige Lebenswelt als Kulturwelt relative sei, wird so die Lebenswelt als jener O r t begriffen, dem die Seinsgewisskeit von Welt und von Dingen entspringt. (Husserl 1962: S. 136) Vor dem Hintergrund dieser lebensweltlicken Fundierung der Weltgeltung gewinnt der Husserl'scke Lebensweltbegriff auck seine wissensckaftskritiscke Potenz, die in Gestalt einer Kulturkritik entwickelt wird. Die Wissensckaften ersckeinen in dieser Perspektive als kulturelle Bestandteile einer Lebenswelt, der sie sick jedock aufgrund ikres abstrakierenden, analytiscken und verdinglickenden Verfakrens entfremden und so die lebensweltlicke Grundlage ikrer Gekung aus den Augen verlieren. Unter dem »Ideenkleid« ikrer matkematiscken Konstruktionen versckwindet die urspriinglicke Lebenswelt, obwokl die Wissensckaften eigentlick angetreten sind, um die Probleme der lebensweltlicken Praxis zu losen. Aus dieser kulturkritiscken Wendung des Lebenswekbegriffs resultiert auck seine etkiscke Dimension: Die pkanomenologiscke Pkilosopkie als eine Wissensckaft von der Lebenswelt soil in Husserls Sickt die urspriinglicke Sinnstruktur der menscklicken Welt aufzeigen und so die Mensckkeit zu ikrer versckiitteten originaren Humanitas zuriickfiikren. Um seine Pkanomenologie als eine Wissensckaft von der Lebenswelt zu entwickeln, setzt Husserl nock einmal zu einer systematisck geseken viel radikaleren Wissensckaftskritik an. Durck seinen Anspruck, die urspriinglicken Sinnstrukturen der Gekung von etwas als etwas zu klaren, verfolgt Husserl auck das Ziel der Aufklarung der vorpradikativen Bedin14
gungen des Urteilens und somit auch der Logik als der Grundlage der wissenschaftlichen Methodologie iiberhaupt. Die gemeinsame Voraussetzung fiir die Durchfiihrung dieser zwei wissenschaftskritischen Projekte, die in Husserls Lebensweltbegriff enthalten sind, ist so die Klarung der Konstitution der Weltgeltung in der natiirlichen Einstellung, also die Klarung der Konstitution der urspriinglichen Sinnstruktur der Lebenswelt selbst. Denn die Selbstgegebenheit der Dinge ist in der natiirlichen Einstellung - wie Husserl zeigt - nur vor einem Welthorizont moglich, der den Zusammenhang, den Kontext, aus dem die Dinge als so-seiend erscheinen, ausmacht. Im Gegensatz zu den Dingen selbst ist dieser Horizont aber nicht als Objekt erfassbar. Er ist vielmehr das Sinnkleid, die Sinnstruktur, die sich iiber die Dinge legt und sie so ihre lebensweltliche Geltung gewinnen lasst. Ausgehend von seiner Bestimmung der Lebenswelt als der Welt der in der natiirlichen Einstellung handelnden und erfahrenden Menschen, nimmt Husserl an, dass die Konstitution dieser Sinnstruktur mit dem Prozess des alltaglichen Handelns und Erfahrens einhergehen muss. Die gesuchte Sinnstruktur wird dann bestimmt als die »von den Menschen fur die Welt ihres gemeinsamen Lebens erworbenen Geltungsauflagen«, d. h. als die Welt der »schlichten intersubjektiven Erfahrungen« (ebd.). So betrachtet ist also die Lebenswelt vorerst die jeweilige kulturspezifische Vollzugswirklichkeit der in ihr lebenden und handelnden Menschen. Seiner radikal wissenschaftskritischen Absicht gemafi sucht Husserl natiirlich einen Ausweg aus diesem Relativismus. Er findet ihn, indem er die Frage danach stellt, wie die lebensweltliche Sinnkonstitution zum Erscheinen gebracht werden kann. Dies kann laut Husserl nur so geschehen, dass die selbstverstandliche Geltung der Lebenswelt eingeklammert wird und der philosophische Blick sich auf die Akte und Prozesse konzentriert, die diese Geltung hervorbringen. Durch diese Einklammerung, durch die phanomenologische Reduktion also, wird die Lebenswelt zu einem Phanomen, also zu einer innerhalb des Bewusstseins zu untersuchenden Struktur. Bei einer solchen Betrachtung zeigt sich dann, dass sich trotz aller Kulturrelativitat an der Sinnstruktur der Lebenswelt allgemeine Ziige aufweisen lassen. Sie ergeben sich vor allem aus der Zeitlichkeit,
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der Raumbezogenheit und der Leibgebundenheit des intentionalen Erlebens, in welchem diese Sinnstruktur hervorgebracht wird. Aus ihrer Deskription lasst sich dann eine allgemeine Matrix gewinnen, die als die Grundstruktur der vorwissenschaftlichen natiirlichen Einstellung gelten kann. Diese Struktur gilt Husserl dann als das konkrete lebensweltliche Apriori, in dem die Bedingungen enthalten sind, aufgrund welcher relativ Seiendes als in der Welt geltend erscheinen kann. Als konkret gilt dieses Apriori der Lebenswelt deswegen, weil es sich nicht auf die Bedingungen von Moglichkeit, sondern auf die Grundlage der Konstitution der Geltung von Erfahrungen richtet. Wir konnen nunmehr die unterschiedlichen Bedeutungen und Dimensionen des Lebensweltbegriffs zusammenfassen, die anhand der Husserl'schen Fassung deutlich wurden: Die Lebenswelt ist zweifelsohne als ein philosophisch fundierender Begriff gedacht. Obwohl die Lebenswelt als solche immer nur in ihrer kulturspezifischen Gestalt unmittelbar sinnspendend wirkt, will die phanomenologische Analyse ihre universalstrukturelle Dimension enthiillen, auf die sich dann ihre Wissenschaftskritik sowohl in der erkenntniskritischen als auch in ihrer kulturkritischen Absicht griindet. Aus der kulturkritischen Perspektive gewinnt der Lebensweltbegriff dann seine humanistisch-ethische Dimension. Der Aufweis der Lebenswelt als einer universalen Sinnstruktur erfolgt als Aufweis der fiir die Geltung der Welt in ihrer Selbstgegebenheit notwendigen konstituierenden Prozesse und Akte. Wie ersichtlich, lassen sich im Husserl'schen Lebensweltbegriff eine kulturspezifische, eine universalstrukturelle, eine wissenschaftskritische, eine ethisch-humanistische und schliefilich eine konstitutionstheoretische Ebene ausmachen, aus deren gegenseitigen Beziigen der Husserl'sche Lebensweltbegriff lebt.
II. Die Erscheinungsweise und die Konstitution der Lebenswelt All diese Komponenten, genauer: ihre grofiere bzw. geringere Betonung oder Modifikation, spielen in der spateren Entwicklung des Lebensweltbegriffs eine Rolle. Systematisch betrachtet sind es jedoch die unterschied-
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lichen Auffassungen des Konstitutionsprozesses der Lebenswelt selbst, die die spatere unterschiedliche Entwicklung des Begriffs pragen. Welche dieser Auffassungen waren hier besonders einflussreich? 1. Transzendentales Bewusstsein als der Ort der Lebensweltkonstitution Vollzieht man mit Husserl die Einklammerung der selbstverstandlichen Weltgeltung in der natiirlichen Einstellung und fragt man nach dem »Wie« des Zustandekommens dieser Weltgeltung, kommen, wie wir gesehen haben, Strukturen des subjektiven Erlebens und Erfahrens in den Blick, in deren Akten sich die Geltung der Welt in ihrer Selbstgegebenheit konstituiert. Die intentionalen Akte des leistenden Bewusstseins ergeben so den Ich-Pol, durch den die Welt, in der das Ich existiert, gilt. Die so erscheinende - daher phanomenale - Bewusstseinsstruktur ist keine eines konkreten Menschen, sie hat keine konkreten kulturellen Inhalte, sondern sie ist eine Deskription der zeitlichen, raumlichen und leiblichen Erlebnisakte, die fiir die Konstitution der Weltgeltung notwendig sind. Zu diesen Bewusstseinsakten gehort wesentlich ihre Intentionalitat, d. h. ihr immer vorhandener Gegenstandsbezug; weiterhin gehort dazu das innere Zeitbewusstsein, in dessen Strom die Synthese von Erlebnissen zu sinngeformten Erfahrungen erfolgt, es gehort dazu auch die kinasthetische Erfahrung meines Leibes als die Grundlage meiner herausgehobenen Ich-Evidenz, sowie das auf diesen Ich-Pol zentrierte Erleben des Raumes, d. h. der Nahe und der Feme, des Vertrauten und Unvertrauten. In diesen allgemeinen Grundziigen der Struktur des leistenden Bewusstseins erscheint so eine konstitutiv notwendige, von einzelnen Subjekten aber losgeloste leistende Subjektivitat als Quelle der Weltgeltung. Das Subjekt dieser Bewusstseinsstruktur ist also ein transzendentales, ebenso wie das ihm zugehorige Bewusstsein ein transzendentales ist (Husserl 1962: S. 187). Der Ort der Konstitution der Weltgeltung liegt somit fiir Husserl in den Akten und Leistungen dieses Bewusstseins selbst. Wir bemerken hier eine merkwiirdige Verschiebung des Ortes der Lebensweltkonstitution, die in Husserls Ausfiihrung der Lebensweltanalyse erfolgt: In seinem Bemiihen, die Konstitution der Lebenswelt als
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eine intersubjektive Erfahrungswelt der vorwissenschaftllchen, alltaglichen menschlichen Praxis aufzuklaren, sucht er nach Wegen, die diesen Prozess der philosophischen Reflexion zuganglich machen wiirden. Er iiberfiihrt den Konstitutionsprozess auf den transzendentalen Boden der reflexiv durchdringbaren leistenden Subjektivitat, so dass die lebensweltliche Sinnstruktur, die der urspriinglichen Intention nach ein Korrelat der intersubjektiven Praxis sein sollte, ais ein Konstrukt der Akte eines transzendentalen Bewusstseins erscheint. Wenn auch damit tiefgehende Einblicke in die subjektive Bezogenheit der Lebenswelt gewonnen wurden, bleiben die lebensweltlichen Konstitutionsprozesse, in welchen Akte nicht nur Bewusstseinsakte, sondern auch Handlungen sind, die sich nicht nur subjektiv, sondern vor allem intersubjektiv, d. h. soziai vollziehen, zwar durch Husserl benannt, aber in ihrem Wirken unaufgeklart. Die intersubjektiven bzw. praktischen konstitutiven Momente der Lebenswelt sind von phanomenologischen Ansatzen aufgegriffen worden, die die Lebensweh nicht primar unter epistemologischen, sondern vielmehr unter ontologischen Gesichtspunkten betrachten, d. h. die die Bedingungen des Seins des Menschen in der Welt thematisieren. Hierzu gehoren vor allem die fundamental-ontologische Betrachtungsweise Heideggers und der philosophisch-anthropologische Ansatz ausgehend von Max Scheler. 2. Konstitution der Lebenswelt als Praxis in der Welt In Heideggers fundamental-ontologischer Wende der phanomenologischen Fragestellung erscheint das Thema der natiirlichen Weltgegebenheit als Jenes des In-der-Welt-Seins des Menschen (des Daseins), dem es um sein Sein selbst geht. Er muss sich aus diesem In-der-Welt-Sein heraus begreifen, sich also aus der Art und Weise, wie er in der Welt ist, selbst verstehen. Die grundlegende Weise seines Weltbezugs ist die Sorge, die hier als eine ontologische Wendung von Husserls Intentionalitat erscheint. In der Sorge um sein endliches Dasein erschliefit sich also dem Menschen die Welt als ein Horizont seiner Moglichkeiten. Durch die Ausarbeitung des Sorge-Motivs gliedern sich allerdings die menschlichen Moglichkeiten in der Welt in zwei Modi von ungleichem Seinswert. Das alltagliche Besor-
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gen, in dem sich die Welt des alltaglichen Umgangs mit den Dingen und mit den anderen konstituiert (also die Zuhandenheit des Seienden und das alltagliche Mit-Sein), lasst eine Sinnstruktur entstehen, die den Menschen bei den Dingen und bei den Anderen verweilen lasst und ihm so seine eigentliche Freiheit zum Selbstentwurf verbirgt. Der eigentliche Urgrund der Weltgeltung, der sich bei Husserl als die intersubjektive Erfahrungswelt der alltaglichen Praxis darstellte, erscheint also bei Heidegger als ein Verfallensein an die Welt der Dinge und an das alltagliche Sein mit Anderen (Heidegger 1967: S. 175). Es bedarf einer besonderen Erschiitterung dieser Verfallenheit, der Angst namlich, damit der Blick fiir die eigentliche, von dem Dasein selbst zu entwerfende Existenzmoglichkeit, frei wird. Erst in diesem Blick wird aber die Differenz der eigentlichen und der uneigentlichen Seinsweise deutlich und die Ganzheit des In-der-Welt-Seins und somit sein wahrer Sinn erfassbar. Auch hier fungiert also die Lebenswelt als Urgrund des Zugangs zur Wahrheit, auch hier ist so ein kritisches Vermogen in ihrer Sinnstruktur angelegt. Die Verschiebung gegeniiber der Konzeption Husserls ist jedoch nicht zu iibersehen. Die kritische Potenz entfaltet sich hier nicht in der Reflexivitat des Bewusstseins, sie ist vielmehr in dem VoUzug des In-der-Welt-Seins - also in der Praxis selbst - angelegt, und zwar ohne jede »Garantie« auf Realisierung. Um zu dieser Struktur der Lebenswelt in ihrer wahren Ganzheit (die Weltlichkeit der Welt) (Heidegger 1967: S.188 f.) zu gelangen, muss aber auch Heidegger die alltagliche Selbstgegebenheit der Welt auflosen. Doch in seiner Sicht erscheint nach dieser Auflosung nicht - wie bei Husserl - nur eine Selbstgegebenheit leistende und ihre Evidenz bestatigende Struktur des Erlebens, sondern ein ambivalentes In-der-Welt-Sein des Menschen, der in VoUzug seiner Existenz innerhalb der Lebenswelt die Wahrheit iiber sie, die auch die Wahrheit liber ihn ist, verstellen oder enthiillen kann. Die Lebenswelt stellt hier also nicht das Reich des alltaglich Vertrauten mit einem zu verschiebenden Unvertrautheitshorizont dar, sondern sie wird zum unheimlichen O r t der gelebten Spannung zwischen Alltag und den ihn transzendierenden Bereichen, zwischen der alltaglich uneigentlichen und der sich frei entwerfenden eigentlichen Existenz.
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3. Die Konstitution der Lebenswelt in der Sozialitat des Menschen Der Art und Weise wie sich die Welt dem Menschen aufgrund seines spezifischen Weitbezugs erscliliefit, eines Weltbezugs, der in der menschlichen naturgeschichtlichen Ausstattung angelegt ist, geht die phanomenologisch orientierte phiiosophische Anthropologic Max Schelers nach. (Vgl. Scheler 1973: insb. S. 240 ff.; u. ders. 1980: insb. S. 148 ff. u. 548 ff.) Schelcr erkannte bereits friih, dass sich die Welt dem Menschen nicht primar theoretisch, sondern pragmatisch - also durch das Handeln erschlieCt. Im Handeln erfahrt der Mensch den Sinn der Dinge, die im pragmatischen Umgang eine »Zeigefunktion« entwickeln, d. h. den Kontext ihres Gebrauchs und ihrer Relevanz fiir den Menschen offenbaren. Dieser Kontext ist jedoch fiir Scheler nicht naturgegeben, sondern durch die Sozialitat des Menschen vermittelt, d. h. durch die primare Fundierung und Pragung der Welterfahrung durch den Bezug auf den anderen. Diese urspriingliche Gegebenheit der Welt im Sozialen - also im WirModus, die Scheler als die Vorgangigkeit des Wir-Bewusstseins vor dem Ich-Bewusstsein ausarbeitet, zeigt die konstitutive Rolle der Sozialitat in der Genese von Lebenswelten an. Die im Handeln erfahrene konkrete Zeigefunktion der Dinge wird immer schon aus der sozial definierten Wir-Welt erfahren, die Geltung der Dinge in der Welt hat also eine soziale Grundlage. Die Sozialitat als anthropologische Konstante des menschlichen Weltzugangs hebt so weltliches Seiendes aus seiner Gebundenheit an naturgegebene Wahrnehmungsapparate heraus und gibt ihm seine spezifisch sinnhafte, menschlich konstituierte Gestalt. In diesem Sinne hat der Mensch keine Umwelt, sondern eben Welt, die nicht naturgeschichtlich, sondern sinnhaft-geistig strukturiert ist. Die Sozialitat des Menschen als das Produkt seiner Naturgeschichte steht so bei Scheler vermittelnd zwischen dem vital-naturhaften und geistig-sinnhaften Charakter des Menschen. Sie gibt der Plastizitat der menschlichen Erfahrungsund Handlungsweise ihre je spezifische Gestalt - sie ist also, obwohl eine anthropologische Konstante, der unerlassliche konstitutive Grund der Varietat menschlicher Lebenswelten.
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III. Lebenswelt als Sozialwelt - die soziologische W e n d u n g des Begriffs Wie erkennbar, erfahrt der Lebensweltbegriff durch seine Bindung an die lebensweltkonstituierenden Momente der Praxis und der Intersubjektivitat/Sozialitat eine wesentliche Soziologisierung. In der Tat nahert sich das Konzept der Lebenswelt und sein Inhalt durch die Verlagerung der lebensweltkonstituierenden Prozesse aus dem Bereich der Bewusstseinsakte in denjenigen der intersubjektiven Praxis, also des sozialen Handelns, der zentralen Materie an, von der die Soziologie typischerweise handelt. Nicht nur konnte also die Soziologie als eine Spezialwissenschaft zur Klarung der so verstandenen Lebensweltkonstitution beitragen, sie konnte den Lebensweltbegriff auch zur Reformulierung eines ihrer zentralen Probleme, namlich des Problems der Entstehung der sozialen Ordnung, heranziehen. N i m m t man an, dass sich die Geltung der Welt - ihre Sinnordnung also - in Akten konstituiert, die bei Husserl Bewusstseinsakte, bei Scheler und Heidegger jedoch auch Akte der Praxis und des sozialen Handelns sind, so liegt es nahe, die Lebenswelt als eine soziale Welt zu begreifen und ihre soziale Ordnung, also die Regulative des Handelns, als ein Konstrukt eben dieses Handelns zu untersuchen. Die Frage nach dem sinnhaften Auf bau der sozialen Welt stellt so die in soziologischer Perspektive gestellte Frage nach den Strukturen der Lebenswelt schlechthin dar. Auch dieser soziologischen Perspektive sind die meisten der bei Husserl vorfindbaren Charakteristika des Lebensweltbegriffs eigen: Durch die Einfiihrung des Lebenswelt-Konzepts will auch die Soziologie ihre Fundierung als eine verstehende Disziplin erreichen und wendet sich somit kritisch gegen eine Soziologie, die ihre Verwurzelung in der Sinnstruktur der sozialen Welt nicht wahrnimmt. Man will eine allgemeine Struktur der Lebenswelt als Sozialwelt beschreiben, in deren Vollzug sich die Varietat der Kulturwelten entwickelt. Worauf die soziologische Lebensweltanalyse allerdings bewusst verzichtet, ist die inhaltliche Begriindung einer ethischen Dimension. Nicht, dass man nicht sehen wiirde, dass in der intersubjektiven Konstitution einer Lebenswelt als Sozialwelt notwendigerweise Ethiken
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entstehen. Im Gegentell: Gerade diese Einslcht, dass die Genese von Wertund Normsystemen unlversell zu der Konstitution von Lebenswelt gehort, macht eine wertende Aussage zugunsten des einen oder des anderen Wertsystems unmoglich. 1. Die Struktur der Lebenswelt als Sozialwelt Paradigmatisch fiir die Entwicklung des Lebensweltbegriffs unter den genannten soziologischen Gesichtspunkten ist der Ansatz von Alfred Schiitz (vgl. Schiitz/Luckmann 1980 u. 1984).^ Fiir Schiitz erschliefit sich, ebenso wie fiir Max Scheler, die Welt dem Menschen durch sein Wirken darin. Der anthropologische Grund fiir dieses Wirken liegt in der Fundamentalangst vor eigener Endlichkeit, die vor dem Horizont der Transzendenz der Welt erfahren wird. Das Wirken als ein Aufrechterhalten der Lebensbedingungen wirkt der Endlichkeit des Menschen entgegen. Dieser pragmatische Weltzugang ist verbunden mit einer Selektivitat der Wahrnehmung, in der jeweils das Wirkensrelevante eine Bedeutung erhalt. Die urspriingliche Sinnstruktur der Welt in der natiirlichen Einstellung ist also in Schiitz' Augen durch eine solche Relevanzstruktur gegeben. Hierzu gehoren natiirlich typische Erwartungen, die, an typische Situationen gebunden, zu typischen Praktiken der situativen Problembewaltigung fiihren. Lebensweltliche Sinnstrukturen sind also durch derart pragmatisch entstandene Relevanz und Typik gekennzeichnet. Das Wirken in der Welt ist aber, anthropologisch gesehen, immer auch ein Wirken mit anderen. In der Wirkensbeziehung mit anderen entstehen Verkettungen gegenseitiger Erwartungen, die ein gemeinsames Deutungsschema, eine Wir-Welt darstellen. Sofern also das Wirken immer auch ein soziales Wirken ist, ist diese Wir-Welt dem individuellen Erfahren als seine Grundlage immer vorgangig. Sie wird zwar durch handelnde Individuen hervorgebracht, ihre Relevanz und ihre Typik stellen jedoch eine iibersubjektive Struktur dar, die aus dem intersubjektiven Geflecht der interaktiven und kommunikativen Verkettung von Handlung und Reaktion besteht, und somit den Handelnden als ein Drittes, sie »Koordinierendes« entgegen^Zu der hier referierten Rekonstruktion des Schiitz'schen Ansatzes vgl. Srubar 1988.
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tritt. Die Lebenswelt, begriffen als eine in solchen interaktiven Prozessen konstituierte und interpretierte Welt, hat also immer, im Gegensatz etwa zu der auf das Subjekt zentrierten Husserlschen Lebensweltkonzeption, zwei konstitutive Pole, die sich gleich urspriinglich im konstitutiven Zusammenhang des sozialen Handelns entfalten. Den einen Pol stellt die sozial verfestigte Wirklichkeit mit ihrer Relevanz- und Typikstruktur dar, die nichtsdestoweniger von handelnden Individuen hervorgebracht wird. Im Verlauf des Handelns werden die Relevanz- und Typikschemata der handelnden Subjekte durch eben diese Wirklichkeit gepragt. Die soziale Formung der subjektiven Erfahrensweise, die Entstehung sozialer Identitat und die Habitualisierung sozial gebilligter Handlungsmuster finden in diesem Mechanismus statt. Dieser Prozess bedeutet jedoch nicht lediglich eine passive Sozialisierung der Subjekte, sondern auch eine individuelle, d. h. immer auch modifizierende, Aneignung und Verarbeitung der sozialen Realitat. Der zweite Pol der so begriffenen Lebenswelt stellt also diese ihre jeweils subjektive Aneignung und Modifizierung dar. Damit erhalt der Lebensweltbegriff eine Dynamik, denn der Prozess der pragmatischen Konstitution der Lebenswelt als sozialer Welt entwickelt sich aus der Spannung zwischen ihrem intersubjektiven/sozialen und ihrem subjektiven Pol. Die Natiirlichkeit der Geltung der Welt liegt hier also nicht nur in den Modi ihrer bewusstseinsmafiigen Konstitution, sondern gleichermaGen in der Vertrautheit und Selbstverstandlichkeit, die der Weltgeltung durch das sozial bestimmte So-Sein der Normalitat zukommt. Durch seine Zentrierung auf diese zwei Pole ist aber der soziologische Lebensweltbegriff notwendigerweise ein perspektivischer. Seine Perspektivitat folgt der Achse Vertrautes/Unvertrautes einerseits und der pragmatischen Relevanz des Wirkens andererseits. Den jeweiligen Vertrautheitskern der in der Perspektive einer Gruppe oder eines Individuums erscheinenden Lebenswelt, stellt die alltagliche Wirkwelt als die Welt dar, in der wir unsere pragmatischen Ziele durch Handeln und Kommunikation mit anderen erreichen konnen. Dies ist auch der Wirklichkeitsbereich, in dem die Deckung der Deutungsschemata in der Reziprozitat der Perspektiven von Ich und Du hoch ist und die Kommunikation problemlos ablaufen kann. Die Lebenswelt ist aber nicht mit dieser Wirkwelt als
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Alltagswelt identisch. Sie schliefit ebenso die diese Wirkwelt in der jeweiligen Perspektive transzendierenden sozialen Bereiche mit ein, deren zunehmende Unvertrautheit durch einige wenige auf sie bezogene Typisierungen liberbriickt wird, die in der Regel die Struktur des Vorurteils haben. Diese Aufschichtung der Lebenswelt ergibt sich aus ihrer sozialen Verankerung. Eine andere Aufschichtung der lebensweltlichen ReaHtat ergibt sich aus der subjektiven Modifizierbarkeit ihres alltagHchen Kerns, also der Wirkwelt, durch die Aussetzung des pragmatischen Interesses an ihr. So entstehen Sinnschichten eines spielerischen, kiinstlerischen, wissenschaftlichen, religiosen oder traumenden Erlebens der Wirklichkeit, die sich kommunikativ und interaktiv zu spezifisch institutionalisierten Erfahrungsstilen und Handlungssystemen verfestigen kdnnen. Die sich gegenseitig transzendierenden Bereiche und Schichten der Lebenswelt werden durch die Sinnklammer der sprachlichen und symbolischen Kommunikation zusammengehalten, also letztlich durch eine soziale Leistung par excellence. Wie ersichtlich, ist der Schiitz'sche Lebensweltbegriff keineswegs auf den Bereich des Alltags reduzierbar. Er bezeichnet eine komplexe Aufschichtung von Sinnstrukturen und sozialen Beziehungen, deren Ausdifferenzierung sich aus dem subjektiven und dem intersubjektiven Pol der Lebensweltkonstitution entwickelt. 2. Lebenswelt und System Auch Schiitz versucht, durch eine phanomenologische Deskription von Erfahrungsstrukturen und durch eine interaktionistische Analyse ihrer sozialen Pragung und Institutionalisierung eine allgemeine Matrix der Lebenswelt als Sozialwelt zu erstellen, die die Konstitutionsprozesse, in deren Vollzug jede soziale Lebenswelt zur spezifischen Kulturwelt wird, beschreiben soil (vgl. Luckmann 1979, 1999). In dieser seiner Gestalt eroffnet der Schiitz'sche Lebensweltbegriff die Moglichkeit, die sozialen Prozesse der Selbstorganisation von Gesellschaften zu beleuchten. Dadurch erfahrt die Figur der Lebenswelt eine breite Rezeption in der Soziologie, weit liber den eigenen Bereich der an Schiitz unmittelbar ankniipfenden phanomenologischen Soziologie hinaus. In der breiteren
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Rezeption des Begrlffs, bzw. des von ihm bezeichneten Sachverhalts einer durch kommunikatives Sinngeschehen erfolgenden Selbstorganisation sozialer Wirklichkeit, ergeben sich allerdings neue Modifikationen der Lebensweltfigur, deren bekannteste mit der Systemtheorie Luhmanns und mit der Theorie des kommunikatlven Handelns von Jiirgen Habermas verbunden sind (vgl. Luhmann 1984 u. Habermas 1981). Luhmann kritisiert zwar den Husserl'schen Lebensweltbegriff, indem er Husserl vorwirft, er bestimme die Lebenswek als den Boden aller Evidenz und als den Horizont von Moglichkeiten zugleich, und bilde damit einen Begriff, der primare Bestimmtheit und Unbestimmtheit in sich einschiie£e (so Luhmann 1986). Nichtsdestoweniger gebraucht Luhmann die Figur eines Sinngeschehens, welches als Leistung von Subjekten und sozialen Systemen deren Handlung steuert und deren Umgebung als eine verstandliche, d. h. ihnen zugangliche Umwelt strukturiert, als die Grundlage seiner systemtheoretischen Konzeption. In Luhmanns Operationalisierung fallt jedoch dieses gemeinsame Sinngeschehen, das noch bei Husserl als eine Konstitution intersubjektiver Erfahrungen ausgewiesen wurde, in zw^ei streng getrennte Konstitutionskreislaufe von subjektivem Bewusstsein und sozialer Kommunikation auseinander. Damit werden der subjektive und der intersubjektive Pol der Lebensweltkonstitution, die Schiitz aufzeigte, voneinander getrennt. Somit verliert die fiir Luhmanns Erklarung der Selbstorganisation von Gesellschaften unentbehrliche Annahme der Koevolution von subjektiven und sozialen Sinnstrukturen ihre systematische Grundlage. Die sinnfundierende Einheit der Lebensweltkonstitution tritt so hinter die Partikularitat der subjektiven und systembezogenen Perspektive zuriick, zu deren Uberwindung der HusserPsche Lebensweltbegriff in seiner Universalitat urspriinglich entworfen wurde. Luhmanns Anlehnung an die Lebensweltfigur ist also eine Paradoxic - einerseits wird die lebensweltliche Generierung von Sinn und Geltung als eine allgemeine Struktur zur Voraussetzung seiner Konzeption, andererseits wird ihre Universalitat durch ihre Zerlegung in einen subjektiven und einen sozialen Konstitutionsprozess aufgehoben. Der Habermas'sche Riickgriff auf den Begriff der Lebenswelt ist durch eine gleichgelagerte Paradoxic gekennzeichnet. Auch Habermas benutzt
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den Begriff der Lebenswelt, um den O r t zu bezeichnen, an dem sich die Sinnstruktur sozialer Wirklichkeit konstituiert. Die lebensweltliche Sinnstruktur stellt fiir ihn die generelle Bedingung fiir die Geltung sozialer Ordnung dar. Die Lebenswelt und die Prozesse ihrer Konstitution stehen also auch hier fiir den universellen Grund von Geltung und Sinn. Dieser Universalitat steht jedoch die Habermas'sche Teilung der sozialen Wirklichkeit in Lebenswelt und System gegeniiber, wobei die Lebenswelt das Korrelat kommunikativen Handelns ist, wahrend das System die institutionalisierte, verdinglichte Struktur der Sachzwange instrumentellen Handelns darstellt, welches sich aus dem Lebensweltzusammenhang herauslost und eine eigene instrumentelle Logik entwickelt. Als Resultat dieses historischen Prozesses stellt die Lebenswelt ein soziales Subsystem dar, in welchem die Sinngeltung von Gesellschaften konstituiert wird, in der also die normative Integration und Legitimation von Handlungen und Institutionen entsteht. (Habermas 1981: S. 229 ff.) Nichtsdestoweniger ist die universelle Geltung der kommunikativen Sinnstruktur der Lebenswelt selbst im Rahmen dieser Aufspaltung fiir Habermas unentbehrlich. In ihr verbirgt sich die Chance der Verallgemeinerung von Geltungsanspriichen durch Kommunikation und somit auch die Chance von konsensuell verallgemeinerbaren Normbegriindungen, auf der Habermas die Moglichkeit der Korrektur von verdinglichender Systementwicklung griindet. In gewisser Weise wiederholt Habermas damit die HusserPsche Gegeniiberstellung von Lebenswelt und verdinglichender Wissenschaft und greift so die darin begriindete ethische Dimension des Lebensweltkonzepts wieder auf.
IV. Universalitat der Lebensweltstruktur und Partikularitat von lebensweltlichen Perspektiven. Zur ethischen Dimension des Lebensweltbegriffs Habermas' soziologische Operationalisierung des Lebensweltbegriffs und seiner ethischen Dimension ist nicht unproblematisch. Einerseits wird versucht, die Lebenswelt als ein konkretes Apriori von sozialer Ordnung zu erhalten, andererseits aber wird sie in dieser ihrer universalen Funktion
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der historischen Entwicklung unterworfen, in der die Aufspaltung in Lebenswelt und System erfoigt. Was hier Probleme macht, ist nicht nur der Umstand, dass selbst das instrumentelle Handeln, in dem Systemstrukturen sich reproduzieren, ein sinngeleitetes ist, dass also die unmittelbare Selbstgegebenheit der Dinge und der anderen fiir den instrumentell Handelnden durch die lebensweltliche Sinnstruktur getragen werden muss. Schwerer wiegt es, dass Habermas selbstverstandlich annimmt, dass der universelle Charakter der Lebenswelt als eines konkreten Sinn-Apriori zugleich auch seine These der konsensuellen Universalisierungsmoglichkeit von Normen durch die sprachHche Kommunikation mittragt. Im Lichte des komplexen Lebensweltbegriffs von Alfred Schiitz lasst sich der Einwand formulieren, dass die universalisierbare Aussage, nach der die Lebenswelt als Sozialwelt in den Akten der Interaktion und Kommunikation konstituiert wird, noch nicht bedeutet, dass dieser kommunikative Prozess als ein lebensweltlicher ohne weiteres in einen universalisierbaren normativen Konsensus einmiindet bzw. einmiinden muss. Die Lebenswelt kann also nicht ohne weiteres als ein unproblematischer Urgrund der Humanitat bzw. als ein Idyll und Quell emanzipatorischer Erneuerung gelten. Vielmehr zeigt Schiitz, dass gerade in den kommunikativen Prozessen der gruppenbezogenen Wir-Welt-Bildung in der natiirlichen Einstellung Relevanz- und Typisierungsstrukturen entstehen, in deren Perspektivitat die Gruppenumwelt in Mustern gruppenspezifischer Vorurteile gedeutet wird. Der lebensweltliche Mechanismus der Uberfiihrung vom Unvertrauten ins Vertraute, der seit Husserl fiir die Genese urspriinglicher Evidenzen steht, erfoigt also primar aufgrund der sozialen Perspektivitat und wirkt sich so partikularisierend aus. Er teilt das soziale Handlungsfeld in die Bereiche des Eigenen und des Fremden auf und ist so weit davon entfernt, ein universalisierbarer Boden humaner Kommunikation zu sein. Diesen Befund finden wir auch in den anthropologischen Untersuchungen Plessners bestatigt (Plessner 1931). Nach Plessner realisiert sich die Machtigkeit des Menschen als seine naturgeschichtlich entstandene Moglichkeit, aber auch Notwendigkeit, seine Lebenswelt selbst hervorzubringen, darin, in dem Prozess der Uber-
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fiihrung des Unvertrauten ins Vertraute, eine Grenze zwischen Eigen und Fremd, zwischen Wir und Ihr durch die Welt zu ziehen. Geht man nun davon aus, dass, wie Schiitz zeigte, die fiir die Kommunikation notwendige Reziprozitat der Perspektiven, in der die Menschen ihr Handeln aneinander ausrichten, im Inneren der auf die jeweilige Gruppe bezogenen Wirkwelt am starksten sei, so sehen wir, dass diese Reziprozitat gegeniiber dem Fremden in dieser natiiriichen Einsteliung erhebiich eingeschrankt werden kann. In der so entstehenden Ausschlussethik kann diese Einschrankung soweit gehen, dass der andere nicht mehr als ein Mitmensch, sondern nur als ein zu manipuUerender Korper betrachtet wird. Wir sehen hier also einen problematischen Punkt. Wohl bietet die Matrix der Lebenswelt als eine Deskription der konstitutiven lebensweltlichen Prozesse einen universalisierbaren Zugang zu ihnen. Jedoch ist diese methodologische Universalitat von der Frage nach der sozialen Uberwindung der mit ihr beschreibbaren perspektivischen Partikularisierung, also nach den in der Struktur der Lebenswelt angelegten Chancen konsensueller Universalisierung von Normen und Werten streng zu trennen. Zu schnell werden hier beide Fragestellungen verwechselt und in eins gesetzt: Die eine wie die andere will von dem durch die Lebensweltanalyse eroffneten Zugang zur Geltung und somit zur Wahrheit profitieren. Allerdings kann allein die Annahme der kommunikativen Genese der Lebenswelt, die eine deskriptive Universalitat besitzt, die Annahme der universalisierenden Kraft dieser Kommunikation nicht ausreichend stiitzen, denn wie wir sahen - es sind eben diese kommunikativen Prozesse, die eine perspektivische Partikularitat in der natiiriichen Einsteliung hervorbringen. Bedeutet dies, dass wir es angesichts dieses Befundes aufgeben mtissen, nach der von Husserl aber auch von Habermas angestrebten lebensweltlichen Fundierung einer universalisierbaren Sinnorientierung zu suchen, die die Partikularitat gruppenbezogener Perspektiven und Vorurteile transzendieren wiirde? Lassen sich in den konstituierenden Prozessen der Struktur der Lebenswelt keine Momente finden, die eine solche Universalisierung freisetzen konnten? Aus der notwendigen Wertneutralitat der soziologischen Lebensweltdeskription kann offensichtlich nur ein erneu-
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ter Riickgriff auf philosophische Lebensweltbetrachtung hinausfiihren. Ein moglicher Weg zu der Realisierung des Husserl'schen aber auch des Habermas'schen Anliegens scheint sich dann - iiberraschenderweise - in der Lebensweltkonzeption Heideggers abzuzeichnen. Wir haben gesehen, dass Heidegger die lebensweltliche Wirklichkeit nicht auf den Bereich der alltaglichen Praxis reduziert, sondern dass er in dem die Lebenswelt erschliejRenden In-der-Welt-Sein des Menschen auch Erlebnismodi erkennt, die den Menschen aus der Routine seiner Alltagspraxis herauslosen. Sie lassen ihn erfahren, dass diese Praxis und die ihr zugehorigen Wertungen und Bedeutungen von Dingen und Mitmenschen nicht die einzig mogHche Existenzweise ist; sie heben die ausschUe^Hche SelbstverstandUchkeit dieser Praxis auf. Damit wird jedoch auch die alltaghch selbstverstandHche Einbettung in der bis dahin fraglos gegebenen Perspektive der eigenen Gruppe, Schicht, Region etc. aufhebbar. Die Perspektivitat des Wissens wird so sichtbar als ein notwendiger Bestandteil des alltaglichen Lebensweltkerns von sozialen Gruppierungen. Dadurch wird auch die notwendige Pluralitat der partikularen Wert- und Deutungsschemata und somit die Zufalligkeit dessen erkennbar, dass mir gerade diese und nicht andere Deutungsschemata vertraut sind. In dieser alltagsiibergreifenden Erfahrungsweise der Lebenswelt ist also eine das jeweilige Gruppenbewusstsein transzendierende Reziprozitat von Perspektiven realisierbar. Welche Arten derartiger Infragestellung von Alltag lassen sich in den Strukturen der Lebenswelt aufweisen? Bei Heidegger ist die Erschiitterung der alltaglichen Gewissheit in der Grundbefindlichkeit der Angst angelegt, in der der Mensch sich vor seinem In-der-Welt-Sein angstigt und zugleich erkennt, dass diese Angst auch jene um dieses Sein ist, um welches es ihm eigentlich geht. Somit wird ihm die Weise seiner Existenz zum Thema, zur Frage und zum Gegenstand der Interpretation (vgl. Heidegger 1976: S. 188). Der VoUzug dieser reflexiven Figur, fiir die Heidegger die Angst als Trager wahlt, kann, wie Alfred Schiitz, aber auch der tschechische Phanomenologe Jan Patocka zeigen, ebenso an alltagstranszendierende Erlebnisse anderer Art gebunden sein, etwa an die kiinstlerische, religiose, philosophische oder wissenschaftliche Erfahrungsweise. Sie alle offnen den Blick
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fiir Erfahrungs- und Handlungsmoglichkeiten, die aufierhalb des alltaglich Selbstverstandlichen liegen und zu seiner Neudeutung zwingen. Daher enthalten sie auch als gesellschaftllch institutionalisierte Wissenssysteme eine aufieralltagliche Interpretation der Lebenswelt, die den lebensweltlich moglichen alltagstranszendierenden Erlebnisweisen entspringt. Der Blick auf die alltagstranszendierende lebensweltliche Wirklichkeit kann sich aber auch mitten in der alltaglichen Praxis eroffnen, dort namlich, wo die Mittel dieser Praxis nicht ausreichen, die hereinbrechende Wirklichkeit zu bandigen, zu manipuiieren. Dort zeigt sich dann das Unvertraute, das Fremde als ein Bestandteil der Lebenswelt, den die alltagliche Routine von uns fernhalten will. Die lebensweltliche Praxis kann uns also sowohl in die Sicherheit von alltaglichen Routinen fiihren als auch einen beunruhigenden Boden von aufieralltaglichen Handlungsmoglichkeiten betreten lassen, fiir die es in der Typik des Alltags keine Begriindung gibt, deren Wahl aber nichtsdestoweniger eine Begriindung erfordert. Diese Begriindungsnot kann natiirlich Angst hervorrufen und eine aggressive Tendenz aktivieren, die alltagliche Normalitat der eigenen Perspektive gegen das sich offnende Anderssein der Welt durchzusetzen, d. h. auch dem Fremden mit Gewalt zu begegnen, um Unvertrautes einzudammen. Vor diesem aggressiven Riickgriff auf die Normalitat sind auch die gesellschaftllch institutionalisierten Systeme aufieralltaglichen Wissens nicht sicher, sofern sie Entscheidungshilfen fiir den Alltag anbieten und somit auch als Stiitzen von Gruppenidentitaten fungieren. Die Einsicht, dass die lebensweltliche Praxis sowohl alltagliche als auch aufieralltagliche Moglichkeiten des Erlebens und Handelns erschliefien kann, ermoglicht allerdings auch eine andere Erfahrung, die der Mensch von seinem In-der-Welt-Sein machen kann. Auf diese macht der tschechische Schiiler von Husserl und Heidegger, Jan Patocka, aufmerksam (vgl. Patocka 1991: insb. Abschnitt III, sowie ders. 1988). In der Erfahrung der Doppelbodigkeit der lebensweltlichen Praxis, die einerseits in die Partikularitat des Alltags fiihren und andererseits diese Partikularitat offenbar machen kann, ist auch die Erkenntnis angelegt, dass die Wahl und die Realisierung einer Moglichkeit des VoUzugs dieser Praxis andere
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Moglichkeiten verschlieEt. Somit tritt die Begriindungsnotwendigkeit des Handelns noch dringender in den Vordergrund. In der Lebenswelt, die immer auch eine soziale Welt ist, bedeutet die Realisierung meiner Moglichkeiten immer auch eine Schliefiung oder Offnung von Moglichkeiten fur andere, die auch Moglichkeiten in den meiner Wirkwelt transzendenten Bereichen der Lebenswelt sein konnen. In dieser auf dem Boden der lebensweltlichen Praxis moglichen Erfahrung ist die Chance angelegt, dass Handlungsbegriindungen entstehen, die die partikulare Perspektive der alltaglichen Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden iiberwinden, indem sie auf Griinde zuriickgreifen, die auch aufierhalb des je eigenen alltaglichen Bereichs und somit fiir mehrere Bereiche der Lebenswelt Geltung haben. Aufgrund solcher Erfahrung schottet die Kommunikation die Grenzen eigener Welten nicht ab, sondern kann sie iiberschreiten. Das eigene Tun und Lassen als Verantwortung anderen gegeniiber aufzufassen - so konnte also die Maxime eines auf dem Boden der Lebenswelt begriindeten, Partikularitat iiberwindenden Handelns hei£en. Als Begriindungsvariante der lebensweltlichen Praxis wurde sie in einer bestimmten Lebenswelt - namlich jener des Ostblocks - gedacht durch Dissidenten, die die Opposition wahlten, um ihren Mitbiirgern die Moglichkeit einer anderen, humaneren Gesellschaft offen zu halten. Es ist jedoch nur eine Moglichkeit unter all den anderen, die uns der Lebensweltbegriff mit seinen vielfaltigen Beziigen an der Wirklichkeit des Menschen ausmachen lasst. Der Begriff der Lebenswelt ist also selbst in dieser seiner ethisch exponierten Fassung kein normativer, sondern ein deskriptiver. Darin liegt seine hermeneutische Starke. Er bezeichnet lediglich die Prozesse der Konstitution der menschlichen, d. h. immer auch der sozialen Realitat. Diese Realitat lasst er uns denken als durchwirkt von Sinnstrukturen, die im menschlichen Handeln hervorgebracht wurden. Er bezeichnet somit nur die in dieser Sinnstruktur angelegten Chancen, ihre Entwicklung und Wirkung. Die Realisierungsmoglichkeiten dieser Chancen nimmt er in keiner Weise vorweg. Der hinter dem theoretischen Riickgriff auf die Lebenswelt stehende Wunsch, aus dem verfahrenen Gefiige der wissen-
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schaftlichen und theoretischen Konstruktionen auszubrechen und zur urspriinglichen Klarheit, Eindeutigkeit und Evidenz der unmlttelbaren Welterfahrung zuriickzukehren, geht damit nur teilwelse in Erfiillung. Was durch den so geschaffenen Lebensweltbegriff sichtbar wird, 1st weder unproblematisch noch von befreiender Eindeutigkeit. Der Begriff hebt vielmehr die Vielschichtigkeit und die Ambivalenz jener Wirklichkeit ins Bewusstsein, auf die er zielt, indem er den auf sich selbst gestellten Menschen mit seinen Moglichkeiten innerhalb seiner Welt zum Thema macht. Literatur: Bergson, Henri (1911): Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung iiber die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen. Jena: Diederichs. Habermas, Jiirgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1967): Sein und Zeit. Tubingen: Niemeyer. Husserl, Edmund (1962): Die Krisis der europaischen Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie. Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff. James, William (1950): Principles of Psychology. New York: Dover Publications. Luckmann, Thomas (1979): Phanomenologie und Soziologie. In: Grathoff, Richard/Sprondel, Walter M.: Alfred Schiitz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart: Enke, S. 196-207, - (1999): Eine phanomenologische Begriindung der Sozialwissenschaften? In: Reckwitz, Andreas/ Sievert, Holger (Hg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 194-202. Luhmann, Niklas (1986): Die Lebenswelt nach Riicksprache mit Phanomenologen. In: Archiv fiir Rechts- und Sozialphilosophie 72, S. 176-194.
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- (1984): Sozlale Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Patocka, Jan (1988): Ketzerische Essays zur Philosophic der Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta. - (1991): Die Bewegung der menschlichen Existenz. Stuttgart: Klett-Cotta. Plessner, Helmuth (1931): Macht und menschliche Natur: Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Berlin (Fachschriften zur Politik und staatsbiirgerlichen Erziehung, Nr. 3). Scheler, Max (1973): Wesen und Formen der Sympathie. Bern/Miinchen: Francke. - (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern/Miinchen: Francke. Schiitz, Alfred/Luckmann, Thomas (1980 u. 1984): Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Srubar, Ilja (1988): Kosmion. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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2. Heidegger und Grundfragen der Sozialtheorie »Der Philosoph sichtet dieses >ManMan< zustande kommt. Aber gerade hieVy wo der Philosoph aufhort zufrageriy beginnt das soziologische Problem.« (Karl Mannheim 1929)
Eines der Motive, nach kritischen Beziigen zwischen Heideggers Denken und der soziologischen Vernunft zu fragen, ist die Verwunderung dariiber, dass Heideggers Philosophic keinen systematischen Eingang in das soziologische Denken fand, insbesondere dann dariiber, dass dies in der verstehenden Soziologie Schiitz'scher Pragung nicht der Fall war, die ihre phanomenologische Fundierung der Sozialwissenschaft vornchmlich auf die Arbeit en Flusserls (und Schelers) stiitzt. Es ware nicht richtig, den geringen Anteil des Heidegger'schen Denkens an der Entwicklung des phanomenologischen Paradigmas in der Soziologie etwa auf die personlichen Idiosynkrasien seiner Autoren zuriickzufiihren. Trotz der Tatsache, dass das intellektuelle Netzwerk von Alfred Schiitz grofienteils aus Personen bestand, die, wie er selbst, vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, und denen Heideggers Involvierung in die nationalsozialistische Bewegung sowie sein Verhalten seinem jiidischen Lehrer gegeniiber nicht entging, wussten Alfred Schiitz, Aron Gurwitsch u. a. wohl zwischen Person und Werk zu unterscheiden, wie ihre Korrespondenz zeigt (Schiitz/Gurwitsch 1985: S. 80). Schiitz' Handexemplar von »Sein und Zeit« weist Spuren intensiver Lektiire sowie Annotationen auf. Insbesondere die Abschnitte iiber die Raumlichkeit des Daseins ebenso wie Heideggers Konzept der Grundbefindlichkeit der Angst und der Erfahrung von Endlichkeit im Sein-zum-Tode erweckten
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Schiitz' Aufmerksamkeit. Auf letzteres greift er 1936-37 zuriick, wenn er die aus der Erfahrung der Endllchkeit entspringende »Fundamentalangst« als das Grundmotiv des Handelns in der Welt bestimmt - ein Heidegger'sches Motiv, das ihn bis in die 40er Jahre begleitet (Schiitz 2003: S. 46, 126, 204; Srubar 1988). Das Zogern, auf Heideggers Philosophie zuriickzugreifen, um Fragen der Fundierung soziologischer Theorie zu klaren, geht daher bei Schiitz nicht auf Unkenntnis der Werke bzw. auf mangelnde Bereitschaft, »brauchbare« Theoreme aufzunehmen, zuriick. Es miissen wohl andere Hemmnisse vorhanden sein, die die Kompatibilitat von Heideggers Daseinsanalytik und soziologischem Denken beeintrachtigen. Den mogUchen Griinden fiir diese mangelnde Kompatibilitat mochte ich nun nachgehen, indem ich die Anschlussfahigkeit des HusserPschen und des Heidegger'schen Ansatzes an die Grundfragestellung soziologischer Theorie miteinander vergleiche. Die vorweggenommene Hauptthese des Vergleichs wird es sein, dass sich die Hindernisse fiir eine produktive Nutzung Heidegger'schen Denkens in der Soziologie daraus ergeben, dass dieses - im Gegensatz zu Husserls Konstitutionstheorie der Lebenswelt die Lebenswelt als Sozialwelt dekonstruiert und ihr durch die Unterscheidung des »verfallenen« und des »eigentlichen« Existenzmodus, die ich hier als »Existenzdifferenz« bezeichnen will, den fundierenden Wirklichkeitscharakter entzieht. Im zweiten Schritt werde ich am Beispiel Patockas praktischer Philosophie zeigen, dass sich dieses kritische Potential Heidegger'schen Denkens erst dann »produktiv« gesellschaftskritisch entwickeln lasst, wenn ihm eine konkrete Funktion innerhalb einer konstitutiven Theorie der Lebenswelt zugewiesen wird. Die Frage, die die Soziologie als Wissenschaft konstituiert, lautet: »Wie ist Gesellschaft« - oder praziser - »Wie ist soziale Ordnung moglich?«. An diesem Punkt pflegen Erorterungen von Grundsatzfragen der soziologischen Konstitution der Wirklichkeit anzusetzen (vgl. Simmel 1908; Parsons 1951; Berger/Luckmann 1970; Luhmann 1981; Giddens 1992). Im Prinzip kann jede soziologische Aussage, sei sie theoretischer, sei sie empirischer Art, als ein Beitrag zur Beantwortung dieser Frage gelesen werden. Aber bereits die Kant'sche Diktion der Frage zeigt, dass sie Konnotationen mitfiihrt, die das Feld des Soziologischen transzendieren.
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Dies wird deutlich, wenn wir uns einen Grundkatalog von Problemen vergegenwartigen, fiir die eine soziologische Theorie Losungen anbieten muss, wenn sie die Frage nach der Moglichkeit der sozialen Ordnung beantworten will. Ein solcher Problemkatalog konnte folgende Form haben: 1. Die Sinnfrage - d. h. die Frage nach der Orientierung menschlichen Handelns; 2. Die Solidaritatsfrage - d. h. die Frage nach dem Ausloser sozialen, d. h. aufeinander bezogenen Handelns; 3. Die Intersubjektivitatsfrage - d. h. die Frage nach dem Fremdverstehen und der Genese gemeinsamen Wissens; 4. Die Institutionalisierungsfrage - d. h. die Frage nach den Mechanismen der Objektivierung und der Stabilisierung gemeinsamer Handlungs- und Wissensmuster; 5. Die Zeitfrage - d. h. die Frage nach dem Bestand und dem Wandel institutionalisierter/stabilisierter Strukturen. Selbstverstandlich enthalten bei Weitem nicht alle soziologischen Theorien detaillierte Antworten auf alle diese Probleme. In der Regel unterbreiten sie uns jedoch eine allgemeine Konstitutionsformel, einen Grundmechanismus der Genese sozialer Ordnung, der die Richtung vorgibt, in der die Losung der einzelnen Problembereiche zumindest anzugehen ware (z. B.: sinnorientiertes soziales Handeln, Interaktion, Kommunikation, Nutzenmaximierung, Verhaltnis von Produktionsverhaltnissen und Produktionskraften etc.). Wie provisorisch und im Detail angreif bar der Fragenkatalog sein mag - er macht anschaulich, wie sehr die soziologische Grundfrage nach der Moglichkeit der Gesellschaft mit philosophischen Implikationen beladen ist. Versuche, soziologische Theorie philosophisch zu fundieren, wenden sich daher an die Philosophic, um die aus der Warte der soziologischen Problemstellung unmittelbar
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nicht sichtbaren, in den Entstehungsprozess der sozialen Ordnung jedoch wesentlich hineinwirkenden Konstitutionsbedingungen der sozialen Wirklichkeit zu klaren. Philosophische Aussagen konnen in diesem Zusammenhang natiirlich nicht den Status unmittelbarer Antworten auf Probleme soziologischer Empiric erhalten. Auch wenn sie gewisse konstitutive Zusammenhange des menschlichen Weltzugangs formulieren, ist die Soziologie gut beraten, diese nicht als empirisch vorfindbare soziale Mechanismen zu betrachten, sondern sie in ihrem philosophischen Kontext zu belassen. Sie dienen vielmehr als eine kritische Instanz fiir die Uberpriifung der theoretischen Grundannahmen, auf welchen die skizzierten Bausteine soziologischer Theorie beruhen. Anschaulich wird dies, wenn wir sehen, welche Husserl'schen Theoreme etwa Alfred Schiitz fiir die Fundierung der Sozialwissenschaften fiir relevant hielt. In seinem Aufsatz iiber »Husserls Bedeutung fiir die Sozialwissenschaften« (Schiitz 1971) zahlt er folgende auf: die Struktur und die Akte des inneren Zeitbewusstseins, in welchen auch die pragmatische Idealisierung des »ich kann immer wieder« fundiert sind, das Konzept der offenen und problematischen Moglichkeiten, die Leibzentrierung des Wahrnehmungsraums sowie die Apprasentationsstruktur der Wahrnehmung selbst. Keines dieser Theoreme intendiert eine Aussage iiber das »Soziale«, nichtsdestoweniger macht ihre Projektion in die Problematik der Sinnstruktur sozialen Handelns und seines Resultats - der intersubjektiv geteilten sozialen Wirklichkeit - die Konstitutionsbedingungen dieser Wirklichkeit in der relativ natiirlichen Einstellung fiir uns sichtbar. Allgemein konnte man also etwa in der Sprache des kritischen Rationalismus formulieren, dass philosophische Fundierung soziologischer Theorien dazu dient, das Netz der Begriffe, in dem die Soziologie die Wirklichkeit einfangen will, enger zu kniipfen (Popper 1973: S. 31). In dieser Allgemeinheit erscheint es zuerst gleichgiiltig, an welche Art Philosophic sich die soziologische Theorie wendet. Sie scheint vordergriindig ihre pragmatischen Interessen an der Aufklarung bestimmter Probleme zu verfolgen im Sinne des »anything goes«. Doch in Bezug auf die Frage »Wie ist die Gesellschaft m6glich?« kommt jenen philosophischen An-
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satzen eine besondere Bedeutung zu, die Ihre kritischen Angebote nicht ledlglich aus erkenntnistheoretisch-methodologischen Uberlegungen ablelten, sondern vielmehr aus der Einsicht in die Modi des menschlichen Weltzugangs vor jeder Wissenschaft gewinnen und so in gewissem Sinne »radikal« empirisch sind. Neben dem Pragmatismus und der Lebensphilosophie - insbesondere jener Bergsons - ist es die Phanomenologie in ihren diversen Auspragungen, der dieser Charakter einer »ursprunglichen Empirie« im Sinne von »zu den Sachen selbst!« zukommt. Soziale Realitat kann dann als die Emergenz einer Ordnung aus diesem Weltzugang heraus aufgefasst werden, der so ihre tieferen Bedingungen angibt. Darin liegt meines Erachtens der eine Grund der Affinitat von Soziologie und phanomenologischem Denken. Der andere Grund ist mit der soziologischen Grundannahme verbunden, dernach soziale Ordnung ein Menschenwerk sei, und daher als eine sich selbst produzierende und reproduzierende Struktur begriffen werden miisse. Der phanomenologische Grundgedanke der Autogenese der menschlichen Wirklichkeit, die sich nicht der Anwendung einer rationalen Methode verdankt, sondern sich spontan aus den Akten des Subjekts ergibt, gleichgiiltig zuerst, ob es Bewusstseinsakte sind, die die Geltung der Welt ausmachen, oder Akte des Daseins in seinem In-der-Welt-Sein - dieser Gedanke also trifft ein Problem, das auch fiir die soziologische Theorie fundamental ist. Diese Homologie der Problemlagen bezeichnete bereits Rehberg (Rehberg 1981) als die »Soziologisierung« philosophischen Denkens am Anfang des 20. Jahrhunderts und sie blieb pragend fiir die Entwicklung der soziologischen Theorie bis in die Gegenwart, wie Luhmanns Adaptierung des Husserl'schen leistenden Bewusstseins zum autopoetischen Prinzip schlechthin zeigt (Luhmann 1996). Es ist also dieser konstitutionstheoretische Zug, der der phanomenologischen Auffassung des menschlichen Weltzugangs anhaftet, der den phanomenologischen Ansatz fiir die Beantwortung der soziologischen Grundfrage nach der Moglichkeit sozialer Ordnung anschlussfahig macht. Das Angebot, das von der Philosophic Husserls und Heideggers an die Soziologie in diesem Zusammenhang ergeht, ist allerdings recht unterschiedlich. Obwohl sie beide eine gemeinsame Absicht teilen - namlich
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die Aufdeckung der Strukturen des vorwissenschaftlich-urspriingllchen menschlichen Weltzugangs - unterscheiden sie sich sowohl in Bezug auf die Ebene, auf der diese Strukturen aufgesucht werden, als auch in der Methode ihrer Aufdeckung. Husserls Frage nach der Konstitution der Weltgeltung in den Akten des Bewusstseins steht gegeniiber der Heidegger'schen Suche nach der Seinsstruktur des Daseins: Der auf Evidenz aufbauende Aufweis der Konstitutionsanalyse steht gegeniiber dem auf das Entbergen des Verborgenen zielenden Destruktionsverfahren der Daseinsanalytik. Gewiss - beide Ansatze folgen dem phanomenologischen Gebot der Sichtbarmachung konstitutiver Momente menschHcher WirkHchkeit, ailerdings mit aufierst unterschiedlichen Konsequenzen fiir die KompatibiHtat mit der soziologischen Grundfrage. Die Grundziige der beiden Konzepte in ihrer Relevanz fiir die Einschlussfahigkeit mochte ich nun kurz skizzieren. Im Zentrum der soziologischen Rezeption Husserls, aber auch an einer zentralen Stelle in seinem Werk, steht der Begriff der Lebenswelt. In der Krisisschrift wird sie definiert als »Reich urspriinglicher Evidenzen«, die vor jeder Wissenschaft die Geltung der Welt in der natiirlichen Einstellung ausmachen (Husserl 1962: S. 130). Dazu gehort, dass sie immer schon eine gedeutete Kultur- und Sozialwelt ist (Husserl 1962: S. 166 u. 176), insofern also seiend, d. h. geltend fiir Menschengemeinschaften. Die seit den Logischen Untersuchungen erfolgte Analyse der sinnkonstituierenden Bewusstseinsakte, ihrer Intentionalitat, ihrer noetisch-noematischen Struktur, ihrer Temporalitat, ihrer Leibzentriertheit etc. konnen als Beitrage zur Klarung der Lebensweltkonstitution betrachtet werden, die die Umrisse einer Sinnstruktur der Lebenswelt und ihrer Typik sichtbar werden lassen. In diesem Sinne ist die Lebenswelt ein kritischer Begriff, weil sie Grundlagen der Weltgeltung, wie sie in der relativ natiirlichen Einstellung erlebt werden, thematisiert, aus welchen erst die Aussagen der logisch-formalisierenden Wissenschaften ihren Sinnbezug und somit auch ihre Wahrheitsfahigkeit beziehen. Die Phanomenologie Husserls strebt also die Klarung eines Sinnfundaments an, von dem aus die Wissenschaften neu zu begriinden waren. Die natiirliche Einstellung wird in diesem Zusammenhang expressis verbis als jene des »alltaglich praktischen Lebens« bezeichnet (Husserl
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1962: S. 135), womit der Anschluss an den soziologischen Gegenstand und seine Konstitution, wenigstens dem Anschein nach, unmittelbar vorllegt. Sowohl seiner kritischen Intention als auch seinem Gehalt nach scheint der Begriff der Lebenswelt fiir eine Fundierung der Soziologie geeignet zu sein. Es ist nun bekannt, dass dieser Anschein eines unmittelbaren Anschlusses triigt: Husserl scheiterte an dem Versuch, die Konstitution der Intersubjektivitat der Lebensweh (d. h. ihrer Geltung fiir andere) in den Akten des transzendentalen Bewusstseins aufzuweisen. Nachdem jedoch intersubjektiv geteikes Wissen eine grundlegende Bedingung fiir das Bestehen sozialer Ordnung ist, wurden hier Modifikationen und Erganzungen des Husserl'schen Ansatzes notwendig, um seine »KompatibiHtat« mit dem soziologischen GrundanHegen herzustellen. Die Erganzungen betrafen vor allem die Erweiterung der lebensweltkonstituierenden Akte um Handlung und Kommunikation. Obwohl damit der Bereich des Husserl'schen Untersuchungsfeldes iiberschritten wurde, konnte man nichtsdestoweniger Husserls konstitutionsanalytischer Ansicht der Lebenswelt folgen. Dies aus gutem Grund: Das Lebensweltkonzept, wenn auch fiir soziologische Zwecke modifikationsbediirftig, liefi sich im Prinzip darauf beziehen, was auch die Soziologie als ihren Gegenstand vorfand - namlich die sinnstrukturierte soziale Welt als eine Kulturwelt. Die ungeklarten Probleme der Sozialitat und der Intersubjektivitat, die an sich als Hindernisse fiir die soziologische Anschlussfahigkeit des Husserl'schen Ansatzes gelten miissten, waren offensichtlich nicht schwerwiegend genug, um zwei prinzipielle Anschlussmoglichkeiten zu blockieren: Erstens konnte mit Husserl die Notwendigkeit der Erforschung gesellschaftsimmanenter, vor allem auch alltagsimmanenter Sinnbildung als Grundlage wissenschaftlicher Aussagen iiber die Gesellschaft aufgewiesen werden. Damit konnte - zweitens - der Selbstproduktionscharakter sozialer Ordnung auf eine nicht mehr hintergehbare Basis gestellt werden: Wenn auch nicht alle Konstitutionsfragen als geklart gelten konnten, so konnte doch die Selbstgenese sozialer Wirklichkeit als ein Prozess der Konstitution der Lebenswelt als Kulturwelt in alltaglicher Praxis und Kommunikation begriffen und als ein basaler Mechanismus der Genese
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sozialer Ordnung angesehen werden. Die unklaren konstitutiven sozialen Schritte in diesem Mechanismus konnten als Aufgabe weiterer Forschung aufgefasst werden, in deren Verlauf seine Gesamtstruktur langsam sichtbar werden konnte. Zusammenfassend kann man folgende Punkte in der Phanomenologie Husserls hervorheben, an die das soziologische Denken ankniipfen konnte: 1. Husserl bietet eine Neubegriindung der Wissenschaften an, und zwar auf einer nicht weiter hinterfragbaren Sinnbasis der Lebenswelt. 2. Wenn sich auch die konstitutiven Strukturen der Lebenswelt erst auf der Ebene der Bewusstseinsakte des transzendentalen Ego erschliejRen, wird sie selbst als eine sinnstrukturierte soziale (gemeinschaftliche) Welt des Menschen in seiner natiirlichen Einstellung begriffen. 3. Die konstitutiven Akte der Lebenswelt konnen schrittweise entdeckt werden und miissen sich auf dem Boden der Evidenz aufweisen, erheben also Anspruch auf Priifbarkeit. Darin ist also ein radikaler Empirismus oder, um mit Gadamer (Gadamer 1990: S. 262) zu sprechen, der »Positivismus« der Husserl'schen Phanomenologie begriffen. 4. Husserls konstitutionstheoretischer Ansatz enthalt so das Konzept eines offenen Forschungsprogramms, das in Schritten abgearbeitet werden kann. Eine auf der Husserl'schen Basis entworfene Konstitutionstheorie der Lebenswelt konnte also ganz im Sinne der »positiven« Forschung in Einzelschritte und Forschungsbereiche zerlegt werden, die dann im Prozess der »normalen« Wissenschaft (Kuhn 1973) aufgearbeitet werden konnten. Sie konnte in diesem Sinne wirklich als ein wissenschaftliches »Paradigma«, d. h. als eine Neufundierung der Soziologie fungieren.
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In Heideggers fundamentalontologischer Radikalisierung der Husserl'schen Frage nach der Geltung der Welt im Sinne einer Frage nach dem In-der-Welt-Sein des Daseins vollzieht sich auch eine radikale Wende der Sicht des menschllchen Weltzugangs. Dieses Sichtveranderung birgt einige Momente in sich, die prima faciae der Anschlussfahigkeit des Heidegger'schen Konzepts an soziologische Grundfragestellungen forderlich sein miissten. Die Idee des Daseins, dessen In-der-Welt-Sein von der Sorge um sein Sein getragen wird, schliefit das Handeln in der Welt als ein Existential des In-der-Welt-Seins konstitutiv mit ein. Bereits dadurch liberschreitet Heidegger den Untersuchungsbereich der Wahrnehmungsphanomenologie Husserls. Indem das Mit-Sein und die Fiirsorge als Existentiale des Daseins bestimmt werden, werden Momente, deren Geltungskonstitution Husserl uniiberwindliche Schwierigkeiten bereitete, ins Zentrum des Vollzugs der menschlichen Existenz in der Welt gestellt. Im gleichen Zuge mit dieser Hervorhebung der Sozialitat wird auch die konstitutive Funktion der Sprache als Rede, zu der auch wesentlich das Horen gehort, fiir die Existentialitat des Daseins betont (Heidegger 1967: S. 34 u. 161). Aus all diesen Seinsmodi erschliefit sich dem Dasein das Verstandnis seiner Welt. Allerdings - die Modi des Sich-Sorgens, des Mitseins und Mitdaseins stehen zuerst fiir das alltagliche Selbstsein - und dieses fiihrt bei Heidegger den Namen des »man«, das wir - so Heidegger - »von dem eigentlichen, d. h. eigens ergriffenen Selbst unterscheiden« (Heidegger 1967: S. 27 u. 129) miissen. AUtagliches Dasein als »man« ist »zerstreut« und muss sich erst selbst finden. Damit wird das, was ich »existentiale Differenz« genannt habe, d. h. die Differenz der eigentlichen und uneigentlichen Existenzmodi des Daseins eingefiihrt, und damit erhalt auch bekanntlich das Heidegger'sche philosophische Verfahren eine von dem Husserl'schen voUig unterschiedliche Stofirichtung. Denn all die aufgewiesenen Existentialien, die das In-der-Welt-Sein des Daseins ausmachen, dienen - selbst wenn sie viel deutlicher auf die praktischen, sozialen und sprachlichen Verankerungen des Weltzugangs des Menschen hinweisen als etwa Husserls Aussagen iiber die gemeinschaftliche Lebenswelt keineswegs der Untersuchung eines sicheren Sinnbodens, von dem aus Wissenschaften neu bedacht und fundiert werden konnten. Das, was Hus-
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serl die Lebenswelt als die Welt der relativ natiirlichen Einstellung nannte, stellt hier nur eine Seinsweise des Daseins dar, in der es an die Welt, Dinge und Andere »verfallt« und daher nicht bei sich und seinen »eigentlichen« Moglichkeiten sein kann. Um zu diesem »Eigentlichen« vorzustofien, bedarf es einer Dekonstruktion des alltaglichen Verfallenseins, in der erst der Blick fiir das ganze Sein des Daseins frei wird. »Das verfallene Sein beim >Nachstbesorgten< der Welt fiihrt die alltagliche Daseinsauslegung und verdeckt ontisch das eigentliche Sein des Daseins [...] Die Freilegung des urspriinglichen Seins des Daseins mufi ihm vielmehr im Gegenzug zur verfallenen ontisch-ontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden« (Heidegger 1967: S. 63 u. 311). Freilich liefie sich diese Figur als eine fundamental-ontologische Variante der HusserPschen Epoche lesen, denn auch dort soil durch die Einklammerung des Alltaglichen seine tiefere Sinn- und Sinngeltungsstruktur entdeckt werden. Doch so sehr die alltagliche Daseinsauslegung auch in der Sicht Heideggers der haufigste Existenzmodus des Daseins ist, die fundamental-ontologische Hermeneutik zielt dariiber hinaus. Es geht nicht um die Beschreibung der Konstitution des alltaglichen Besorgens, sondern um den Durchbruch zu den eigentlichen Seinsmoglichkeiten des Daseins. Der Bereich der Husserl'schen Lebenswelt mit seinen Anschlussmoglichkeiten in Richtung Soziologie wird dekonstruiert, um zu einer tiefer liegenden Begriindungsschicht des menschlichen Weltzugangs vorzustofien. Was erscheint jedoch dort.^ N u n - zuerst ein Dasein, das »eigentlich selbst ist in der urspriinglichen Vereinzelung der verschwiegeneriy sich Angst zumutenden Entschlossenheit« (Heidegger 1967: S. 64 u. 322; Hervorhebungen I. S.). Hier wird deutlich, wie in der von Heidegger angepeilten eigentlichen Seinsweise des Daseins die gegeniiber Husserl gewonnenen konstitutiven Modi des alltaglichen In-der-Welt-Seins - namlich Sozialitat und Sprache - wieder abgeschwacht werden. Das Mitsein als ein O r t der Konstitution sozialer Wirklichkeit wird so dem alltaglichen Verfallensein iiberantwortet, zu dem auch das alltagliche Gerede gehort. Sicher behalt die Sprache in ihrem eigentlichen Modus der Rede und spater dem des Gesprachs ihre Rolle, indem sich das »Weltsein« in ihr ausspricht (Heidegger 1967: S. 34 u. 161). Ebenso wie die alltagliche
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Daseinsweise muss allerdings auch die Sprache selbst erst dekonstruiert werden. Ihre alltagliche Oberflache muss aufgebrochen werden - wie Heidegger selbst es uns in seinem Philosophieren vorfiihrt -, um zu dem eigentlichen Seinsverstehen, das sich in ihr birgt, vorzustofien (darauf weist Bourdieu 1990 bin). Das Dasein hort dann in diesem Existenzmodus allerdings nicht mehr auf den Anderen bzw. dem Anderen zu, sondern es horcht zuerst auf sich selbst. Die Existentiale der Fiirsorge und des Mitseins tauchen in dieser Perspektive nicht mehr als Konstitutionsmodi des Sozialen auf, sondern als freie Optionen des Daseins. Das Raunen des Seins wird in der Fortentwicklung des Heidegger'schen Werkes umso dunkler, je entschiedener Heidegger die unbestimmbare Offenheit seines Seinkonzepts betont, dessen Bodenlosigkeit sich in dem ihm eigentiimlichen »Nichten« (Heidegger 1976) artikuliert und spater zur Ablehnung der anthropozentrischen Seinsauffassung fiihrt (Heidegger 1976a). Wie produktiv dieses Philosophieren fiir die Entwicklung einer neuen Menschen- und Weltsicht sowie hermeneutischer Verfahren sein mochte, wir sehen trotzdem, dass soziologische Versuche, daran anzukniipfen, um die Frage »Wie ist soziale Ordnung m6glich?« zu beantworten, vor einem Dilemma stehen. Entweder sie greifen auf die Konstitutionsmodi des alltaglichen In-der-Welt-Seins zuriick, um dann festzustellen, dass die alltaglichen Existentialien des Mitseins, Redens, des Sorgens etc. keineswegs die Grundschicht darstellen, von der aus der menschliche Weltzugang und somit auch die Produktion und Reproduktion menschlicher Realitat erhellt und fundiert werden konnten. Oder aber sie wenden sich dem hinter der alltaglichen Seinsweise aufscheinenden eigentlichen Seinsmodus zu, um gleichfalls festzustellen, dass die dort sichtbar werdenden Modi des In-der-Welt-Seins keineswegs dazu geeignet sind, so etwas wie Sozialitat zu fundieren. Vielmehr fiihren sie ihrer antialltaglich-asozialen Intention nach von dieser weg. Es kann jedoch nicht als Makel der Heidegger'schen Philosophic angesehen werden, dass sie sich auf dieser ihrer Aussageebene fiir die Fundierung soziologischer Grundfragen wenig eignet. Heidegger lasst keinen Zweifel dariiber aufkommen, dass er jenen Anspruch gar nicht erhebt, der Husserl vorschwebte, namlich eine Fundierung der Wissenschaften zu
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liefern. Im Gegenteil: Deutlich formuliert er, dass seine Daseinsanalytik nicht der Schiedsrichter im existentiellen Bereich, d. h. auch im Bereich der Wirkiichkeitswissenschaften, sein will. Er schreibt: »Die existentiaie Interpretation wird nie einen Machtspruch iiber existentielle Moglichkeiten und Verbindlichkeiten iibernehmen wollen.« (Heidegger 1967: S. 312, Hervorhebung I. S.). Wer also Heideggers Denken fiir einzelwissenschaftliche Zwecke adaptiert, tut es nicht nur gegen den Strich seiner gesamten Denkintention, sondern auch gegen seinen ausdriicUichen Protest. Dass Denkansatze aufgegriffen und in eine Richtung weitergefiihrt werden, die den urspriingHchen Intentionen ihrer Autoren nicht folgen, gehort ailerdings zum normalen Prozess der Wissensentwicklung. Bereits die soziologische Modifikation Husserls trennte sich von seinem TranszendentaHsmus, wenn sie auch im Ubrigen seiner konstitutionstheoretischen Denkweise folgte und diese im Bereich der Untersuchung sozialen Handelns produktiv anwenden konnte. Wie ich jedoch zu zeigen versuchte, lasst Heideggers Daseinsanalyse wenigstens im Falle der Soziologie eine solche Fortsetzung nicht zu. Die Ausrichtung der sozioiogischen Grundfrage nach der MogHchkeit der sozialen Ordnung kann wohl der Konstitutionsanalyse in ihrer Absicht der Aufklarung des Ubergangs von pra-sozialen Bedingungen zur Konstitution sinnhafter sozialer Wirklichkeit folgen, sie tut sich jedoch mit der Umkehrung der Analyserichtung in der fundamental-ontologischen Destruktion des Sozialen schwer, die vom Konstitutionsprozess alltaglicher Sozialitat in die ungewisse Offenheit der eigentlichen Existenz steuert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Heideggers Denken keine Anregungen fiir die soziologische bzw. gesellschaftstheoretische Theoriebildung im weitesten Sinne enthielte. Es bedeutet lediglich, dass diese Theoriebildung der fundamentalontologischen Destruktion nicht folgen kann, weil dieser Weg auf keinen Boden hinfiihrt, von dem aus eine positive Theoriebildung hatte erfolgen konnen. Daher blieb Heidegger auch im Bereich der Sozialwissenschaften eine paradigmatische Wirkung versagt. Typischerweise sehen wir, dass Versuche, an Heidegger anzukniipfen, in dreifacher Weise erfolgen. 1. Einzelne Konzepte werden herausgenommen, ohne dass auf die
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Zusammenhange geachtet wird (Giddens 1981; Luhmann 1996; aber auch Schiitz 2003). 2. Die Struktur des In-der-Welt-Seins wird anthropologisiert bzw. mit einem bestimmten Modell der Gesellschaftsentwicklung verbunden (Plessner 1931; Marcuse 1973). 3. Die Struktur des In-der-Welt-Seins wird in eine lebensweltlichkonstitutionstheoretische Perspektive wiedereingebunden (Patocka 1991). Das Konzept Heideggers, das sich fiir gesellschaftstheoretische Anschliisse am meisten anbietet, besteht zweifelsohne in seiner Auflosung des Subjekts in der Relationierung von Dasein und In-der-Welt-Sein, die auf dem Handein des Daseins in der Welt beruht. Diese Figur, die uneigentliche und eigentliche Seinsmodi gleichermaGen umschlieEt und somit das skizzierte Dilemma soziologischer Anschlussfahigkeit Heideggers in der Schwebe halt, enthalt einige Momente, die mit wichtigen Strangen des sozialtheoretischen Denkens kongruent sind, obwohl diese Kongruenz keineswegs bereits auf Heideggers Einfluss hinweist. Es seien hier einige genannt: 1. Das sich selbst aus seinem praktischen Entwurf in die Welt verstehende Dasein ist zugleich auf ein es transzendierendes In-der-Welt-Sein angewiesen, auf das zu es sich entwirft, und aus dem heraus es sich in seinem so Entworfen/Geworfen-Sein versteht. Niichterner ausgedriickt: Das Selbstverstandnis des Menschen erfolgt zuerst aus seinem Handein in der Welt, und - marxistisch verlangert - aus den Bedingungen dieses Handelns, die ihrerseits seine Produkte sind. Dies ware eine handlungstheoretische Variante, die von einer strukturalistischen Lesart begleitet wird, in der hinter dem Sichverstehen aus der Praxis des Entwurfs eine Seinsstruktur entdeckt wird, die nicht das Produkt, sondern die Moglichkeit des Entwurfs darstellt (etwa Althusser/Balibar 1972 bzw. Foucault 1973, wo auch Heideggers Einfluss angenommen werden darf). 2. Mit dem Entwurfscharakter des Daseins ist auch seine konsequente Verzeitlichung verbunden. Der menschliche Weltzugang ist nicht nur
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an die Akte des Zeitbewusstseins gebunden, sondern In der Form seiner Geschlchtllchkelt wird das Sein des Daselns selbst zeltllch - der Sinn des Daselns als Entwurf aus der Sorge heraus 1st so die Zelt. Wahrend die schllchte Verzeltllchung des Daselns via Geschlchtllchkelt als Postulat zeltllcher Varllerbarkelt von Selbstverstandnis und Existenzbedlngungen der Menschen spatestens selt Marx kein Novum In der Gesellschaftstheorle 1st, bedeutet Heldeggers Inslstleren auf der Zeltllchkelt des Daselns als HInwels auf das prinzlplelle Durchdrungensein von SeIn - Ich lese Struktur - und Zelt - Ich lese Prozess - eine EInsIcht, die In der Gesellschaftstheorle relativ spat erst In der Gestalt der phanomenologlsch durchaus belehrten Systemtheorle Luhmanns aufkam (Luhmann, 1985: S. 388 f.). 3. Aus der FIgur des Entworfenselns des Daselns entsprlngt auch das kritlsche Potential der Heldegger'schen Philosophic. In einem neutralen Aussagemodus konnte man formulleren, dass sich dieses Potential zuerst aus der Heldegger'schen These entwickelt, nach der das In-derWelt-Seln des Daselns sowohl das alltagllch-sorgende SeIn bel den DIngen und Anderen zeltlgt, als auch die Mogllchkelt der Transzendenz dieses Verfallenselns enthalt. Beldes gehort zu der Grundverfassung der Existenz. Doch die Entdeckung der eigentllchen Entwurfsmogllchkelten und somit die EInsIcht In das In-der-Welt-SeIn als Ganzes 1st an die Destruktion des Verfallenselns gebunden, das somIt notwendlgerwelse zum Gegenstand der Kritik wIrd. Worauf diese Kritik hinaus will, blelbt ebenso ambivalent, wie es die Grundverfassung des Daselns 1st. Nachdem das Verfallensein an Selendes nicht nur die alltagllche Selnswelse, sondern spater auch die WIssenschaften einschllefit, die Bezug auf Selendes nehmen »und sonst nlchts« (Heidegger 1976: S.105), kann dIese Kritik auch WIssenschaftskrItIk einschllefien, doch - wIe wir sahen - ohne jede fundlerende Abslcht. Als Kritik des die eigentllchen Existenzmogllchkelten verbergenden alltagllchen Verfallenselns gelesen, gewlnnt das Konzept aber auch unerwarteter- und wohl auch unlntendlerterwelse Anschluss an die gesellschaftskritlsche Entfremdungsfigur der Aufklarung, tradlert selt Rousseau und fortgefiihrt durch Marx. An die Momente der wahrheltsverbergenden biirgerllchen wlssen-
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schaftlichen Vernunft und des entfremdenden kapitalistischen Alltags (Marcuse 1973: S. 83) kniipft denn auch die marxistische Exegese Heideggers an, wie wir sie von Marcuse, aber auch von Karel Kosik (Kosik 1986) kennen. Fiir den gesellschaftstheoretischen Umgang mit Heideggers Theoremen 1st diese Exegese exemplarisch: Die kritische Wirkung der Heidegger'schen Daseinsanalytik kann sich gesellschaftstheoretisch erst entfalten, sobald diese mit einer theoretischen Konzeption verbunden wird, die nicht nur die Frage nach dem Zustandekommen sozialer Ordnung bereits beantwortet, sondern dariiber hinaus auch die historisch situierten Subjekte als mogliche praktische Trager dieser Kritik und eines Gesellschaftswandels in ihrem Sinne angibt. Denn ebenso wie die Heidegger'sche Weigerung, existentiale Interpretation zur Selektionsinstanz existentieller MogUchkeiten zu erklaren, den Verzicht auf die Fundierung von Wissenschaften bedeutet, bedeutet sie auch den Verzicht auf die FormuHerung einer praktischen Philosophic, die das Potential der Kritik des alltaglichen Verfallenseins zu einem Konzept der Begriindung gesellschaftskritischer Praxis verdichten wiirde. Eine solche Option ist jedoch im Heidegger'schen Denken verstellt. Gesellschaft, wenn sie nicht lediglich als ontischer Begriff gelten soil, gehort als Mitsein der uneigentlichen Seinsweise des »man« an und muss daher der Dekonstruktion durch die Daseinsanalytik anheim fallen, die die verborgenen eigentlichen Seinsmoglichkeiten des Daseins freilegen will. Diese weisen jedoch keine »eigentlichen« Varianten der Sozialitat bzw. Solidaritat auf. Das eigentlich existierende, sich in seiner Angst und Einsamkeit entschlossen entwerfende Dasein kennt nur ein »WorumWillen« seines Entwurfs - namlich das eigene Sein, um welches es ihm allein geht. Folgerichtig spricht auch Heidegger von einem »einsam entschlossenen eigentlichen Selbstsein«. Als eine alternative Ausgangsbasis fiir einen »eigentlichen« Solidaritatsmodus taucht spater die Vorstellung einer »das schicksalhafte Geschick«, d. h. die Kulturtradition spendenden Volksgemeinschaft auf (Heidegger 1962; ders. 1967: §§ 74, 384). Im Prinzip wird damit das Dasein in seinen eigentlichen Moglichkeiten auf die Genese dieser Tradition im alltaglichen Mitsein zuriickverwiesen. Dariiber hinaus ist aber diese Denkfigur kaum geeignet, den konstitutiven
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Kern einer zukunftsweisenden philosophischen Gesellschaftskritik abzugeben. Sie weist allenfalls darauf hin, dass Heidegger sich im Rahmen des durch die Differenz von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung gepragten kulturpessimistischen Diskurses der deutschen Zwischenkriegszeit bewegte. Die darin enthaltene Befiirwortung »organischen« Historismus (Gemeinschaft) einerseits und die Ablehnung der »Konstruiertheit« der Gesellschaft andererseits, transportiert auch die Skepsis gegeniiber dem »Politischen« als der - im Aristotelischen Sinne ~ im Gegensatz zu der naturhaften Sozialitat von Menschen herbeigefiihrten Ordnung. Auch dies stellt einen Topos des deutschen Diskurses jener Zeit (Thomas Mann 1918; Vierkandt 1932, teilweise auch Tonnies 1922, Moller van den Bruck 1931, Plenge 1916 u. a.), in dem auch die Praferenz fiir ein organisch-historizistisch-kukurell gepragtes Nationkonzept gegeniiber dem politisch-biirgerhchen Nationmodell der franzosischen Aufklarung mitschwingt. Es zeigt sich also, dass das alltagskritische Potential von Heideggers konstruktiver Daseinsanalytik im gesellschaftstheoretischen Sinne in die Leere lauft. Um mit Luhmann zu sprechen, beobachtet Heidegger das In-der-Welt-Sein des Daseins durch den Code eigentlich/uneigentlich, wobei er die Gesellschaft als das »man« der uneigentlichen Seite der Unterscheidung zuschlagt und die »eigentliche« Seite der Unterscheidung sozusagen »gesellschaftsfrei« offen lasst. Seine Kritik richtet sich also nicht gegen eine historische Form der Vergesellschaftung vor dem Horizont einer Alternative, wie die Figur kritischer Gesellschaftstheorien es verlangt, die in kritischer Absicht nicht nur danach fragen, wie Gesellschaft moglich ist, sondern auch danach, wie gute Gesellschaft moglich ware. Heideggers daseinsanalytische Kritik richtet sich vielmehr gegen den Seinsmodus des lebensweltlich sozialen Mitseins schlechthin. Der Intention der dekonstruierend-kritischen Daseinsanalytik nach kann es daher eine »eigentliche«, durch diese Kritik gereinigte Solidaritatsform der Gesellschaft gar nicht geben. Daher verzichtet Heidegger auch folgerichtig auf die explizite Entwicklung einer praktischen Philosophic, so sehr seine radikale Betonung des Praxismoments in dem In-der-Welt-Sein des Daseins solche Erwartungen wecken mag.
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Es wird also noch einmal deutlich, dass ein Anschluss der Heidegger'schen Daseinsanalytik an sozialtheoretlsche Grundfragestellungen nicht aus ihrer eigenen Intention heraus erfolgen kann, sondern immer eine Rahmung bzw. eine Erganzung voraussetzt, die liefert, was die Analytik nicht liefern kann - namlich ein Konstitutionskonzept der Sozialitat und der sozialen Ordnung, innerhalb dessen die Unterscheidung eigentlich/uneigentlich erst gesellschaftskritisch wirksam und ein Ubergang vom »uneigentlichen« zum »eigentlichen« Modus der vergesellschaftenden Solidaritat gedacht und beurteilt werden kann. Eine Moglichkeit einer solchen Rahmung stellt die Anthropologisierung der Differenz eigentlich/uneigentlich dar, wie wir sie in Plessners Konzept der Exzentrizitat des Menschen vorfinden. Indem die daseinsimmanente Transzendenz in die anthropologische Konstante der Exzentrizitat verwandelt wird, werden beide Existenzmodi gleichberechtigte Momente der Konstitution menschlicher Lebenswelt, in der die Exzentrizitat des Menschen als sein Vermogen, seine urspriingliche, gegen alle und alles gerichtete Machtigkeit zu transzendieren, zur selbst geschaffenen Einschrankungen und so zu seiner Vergesellschaftung fiihrt (Plessner 1931). Doch durch die Anthropologisierung der Differenz wird ihre kritische Spitze gebrochen - es macht keinen Sinn, eine anthropologische Konstante zu kritisieren. Die sogenannte Entfremdung des Menschen an die Gesellschaft wird so fiir Plessner als konstitutives Prinzip des Sozialen zu conditio humana (Plessner 1976). Eine Rahmungsmoglichkeit, in der das kritische Potential der Heidegger'schen Analyse aktiviert wird, stellt Marcuses (Marcuse 1973) historisch-materialistische Konkretisierung der Geschichtlichkeit des Daseins dar. Heideggers Daseinsanalytik wird hier zur philosophischen Bestatigung der Marx'schen aus dem Geschichtsprozess resultierenden Vision der Uberwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation, wozu allerdings der der Gesellschaft anhaftende Entfremdungscharakter dem kapitalistischen In-der-Welt-Sein allein zugeschrieben und das Dasein in ein koUektives Subjekt der Klasse verwandelt werden muss. Eine weitere Moglichkeit der Rahmung besteht in der Einordnung der Heidegger'schen Differenz in eine Konstitutionstheorie der Lebenswelt,
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in der der Ubergang zu einem »eigentlichen« Solidaritatsmodus als mogliches Resultat der Implikationen des alltaglichen Verfallenseins aufgezeigt wird. Fiir diesen Versuch steht die praktische Philosophie Jan Patockas (Patocka 1988 u. 1991), die so als theoretische Grundlage fiir das Konzept einer »Burgergesellschaft« im tschechischen Dissent diente. Nachdem die Ansatze Plessners und Marcuses wohl bekannt sind, mochte ich auf das Konzept Patockas eingehen, um die Notwendigkeit einer konstitutionstheoretischen Umformulierung des Heidegger'schen Denkens fiir sozialtheoretische Begriindungszwecke im weitesten Sinne zu illustrieren. Jan Patockas Denken versteht sich als ein phanomenologisches und nicht primar als ein fundamental-ontologisches. Somit teilt es sowohl Husserls Konstitutionsperspektive, als auch sein Postulat, dass philosophische Antworten auf der Vernunft und ihrer Evidenz zu fundieren sind. Allerdings geht er nicht mit Husserl davon aus, dass sich die Konstitution sinnhafter Lebenswelt in intentionalen Akten des Bewusstseins allein verfolgen lasst, sondern folgt Heidegger, indem er den menschlichen Weltzugang als das In-der-Welt-Sein des Daseins auffasst, d. h. vornehmlich als Praxis versteht. Sein Anliegen ist es, eine Ontologie der Lebenswelt zu entwickeln, wobei er die Lebenswelt als ein Resultat der Existenzmodi des Daseins in der Welt begreift. Ausgehend von den Heidegger'schen Untersuchungen in Sein und Zeit entwickelt er eine konstitutive Phanomenologie der Lebenswelt, in der er die Heidegger'schen Resultate differenziert und weiterfiihrt. So entsteht seine Konzeption der drei Bewegungen der menschlichen Existenz, in welchen sich die Lebenswelt aufbaut. Sie wird begriffen als eine geschichtliche Realitat, in der der Mensch in der Verwirklichung seiner Moglichkeit lebt, sich selbst gestaltet und aus der er sein Selbst- und Weltverstandnis bezieht. Zu betonen ist hier, dass Patocka durchaus den daseinstranszendenten Charakter dieser Lebenswelt vor Augen hat, und immer wieder darauf hinweist, dass ihre Strukturen zwar einerseits dem philosophischen Denken zuganglich, andererseits aber nicht als in diesem Denken auflosbar zu betrachten sind. Ihr ekstatischer Seinscharakter kann evident gemacht werden, ist aber nicht in der Reflexion aufhebbar. Die drei Lebenswelt konstituierenden Bewegungen der Existenz wur-
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den in verschiedenen Schriften Patockas ausformuliert (Patocka 1991: S. 185 f.). Er bezeichnet sie als die Bewegungen der Verankerung, der Reproduktion und Selbstverlangerung sowie der Erschiitterung bzw. des Durchbruchs. Die erste Bewegung besteht im Vollzug der primaren Weltaneignung, aus der die Selbstverstandlichkeit der Weltgegebenheit entspringt. Hier werden Dinge und Menschen, was sie »sind« in ihrer vertrauten Singularitat. Zentral in dieser Bewegung ist die Sozialitat, d. h. der unmittelbare Kontakt mit den anderen und ihre liebende Akzeptanz, durch die die »Verankerung« in der Welt des urspriinglichen Sinns erfolgt. Sicher kennt bereits diese Bewegung auch die Evidenz des transzendenten Welthorizonts, doch durch die in der Sozialitat verankerte Weltaneignung wird diese Transzendenz im Subjekt heimisch, d. h. in die Vertrautheitssphare iiberfiihrt. Angesichts dieser existentialen Ausgangssituation nimmt Patocka Abstand von Heideggers Vorstellung der Geworfenheit des Daseins in die Fremde der Welt. Vielmehr gehort fiir ihn diese Art der Weltaneignung samt ihrer Sozialitat zu einer urspriinglichen, nicht entfremdeten und nicht reifizierten Schicht der Lebenswelt. Reifizierte Ziige und somit auch der Verlust dieses urspriinglichen Welthabens charakterisieren die zweite Bewegung, die aus dem Bediirfnis resultiert, die urspriingliche, weltgebende Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Dies erfordert eine »Einschaltung in die Sachverhaltnisse«, d. h. eine instrumentalisierende Absicherung der Gemeinschaftsbediirfnisse in Arbeit und Kampf. Dinge und Mitmenschen werden hier zu Instrumenten dieser Funktion. Konkurrenz, Unterordnung und Arbeitsteilung sind die Formen, in welchen sich diese Bewegung vollzieht. Dadurch wird eine »Selbstverlangerung« im Sinne technowissenschaftlicher Beherrschung der Welt moglich, die allerdings zugleich ein Sichverlieren an Dinge, also einen Weltverlust durch die Sachzwange der Technik und Macht nach sich zieht. Der verlorene Weltzugang wird ersetzt durch eine zweite »Welt«, eine zweite Natur, um einen Terminus von Karl Marx zu benutzen. Doch im Vollzug dieser verdinglichenden Bewegung ist auch eine Chance des Durchbruchs zum anderen Weltverstandnis gegeben. Die Erfahrung der Grenzen, auf die die Weltbeherrschung stofit, verweist auf einen Weltho-
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rizont, der nicht vom »System« aus beherrschbar ist, und von dem aus dem Menschen das Ganze seiner Moglichkeiten sichtbar werden kann. Der Durchbruch zum Verstandnis des Ganzen der menschlichen Moglichkeiten erfolgt im Vollzug der dritten existentialen Bewegung. Diese besteht - ganz in Heideggers Sinne - in der Erschiitterung der an die Dinge verfallenen alltaglichen Perspektive. Die Moglichkeit einer solchen Erschiitterung ist nicht an besondere Bedingungen bzw. BefindUchkeiten gebunden, sie kann jederzeit durch die menschhche Praxis frei gelegt werden, deren Teil sie ist. In diesem Sinne ist auch die Philosophic nur ein Praxismodus, in dem eine solche Durchbruchschance angelegt ist. Wesentlich fiir die Durchbruchsbewegung ist die Einsicht, dass die Realisierung von Moglichkeiten in meinem Entwurf notwendigerweise andere Moglichkeiten verschliefit, die allerdings auch Moglichkeiten fiir andere sind. Freier Entwurf muss daher auch immer in Bezug auf andere begriindet werden. Sein »Worum-Willen« enthalt daher auch die Verantwortlichkeit gegeniiber den Mitmenschen. Die Durchbruchsbewegung fiihrt somit zu der Moglichkeit einer nicht instrumentalisierten, jedoch auch nicht mehr an die urspriingliche Gemeinschaft der ersten Bewegung gebundenen Solidaritat. Wie wir sehen, unterscheidet sich trotz aller Beriihrungspunkte der Argumentation Patockas Vorschlag von jenen Heideggers wesentlich: Indem Patocka die von Heidegger dargestellten Modi der Existenz nun auch als mogliche Phasen eines Konstitutionsprozesses der Lebenswelt begreift, kann er auch die aufeinander bezogenen konstitutiven Schritte, die den drei Bewegungen eigen sind, ausfindig machen. Das erlaubt ihm dann auch, das Existential der Sozialitat in seiner urspriinglichen, instrumentalisierten und potentiell eigentlichen Gestalt differenzierter darzustellen. Das kritische Potential der Heidegger'schen existentialen Differenz fiihrt so weder in die Einsamkeit des entschlossenen Daseins zuriick noch in die vorgangige Urspriinglichkeit der Volksgemeinschaft. Die »eigentliche Solidaritat«, die aus der entdeckten Verantwortung fiir andere resultiert, hat zwar einerseits den bekannten Charakter einer Schicksalsgemeinschaft der »Erschiitterten«. Indem aber diese Verantwortung fiir andere keineswegs naturwiichsig ist, sondern auf wahrheitsfahige Begriindungen und
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somit auf Vernunft zuriickgeht, ist die Gemeinschaft, die so entsteht, eine aus Griinden konstituierte. Durch das Angewiesensein der Gemeinschaft auf eine auf Vernunft gegriindete Wahrheit als Voraussetzung fiir Freiheit unterscheidet sich diese Art der eigentlichen Solidaritat von jener urspriingiichen der ersten Bewegung. Philosophie gewinnt damit ihre immanente politische Dimension wieder, die ihr seit ihren griechischen Urspriingen eigen ist, und wird nicht nur zur praktischen Philosophie, sondern auch ~ als Entbergerin der Wahrheit - zur Praxis der Gemeinschaft selbst. Es ist dieses Konzept, das dem tschechischen Dissent als ein Leitfaden zur Begriindung dessen diente, was Vaclav Havel (1984) die »Burgergesellschaft« nannte. Es diirfte bereits deutlich geworden sein, dass dieser Begriff nur bedingt damit in Verbindung gebracht werden darf, was die liberalen Gesellschaftsmodelle als »Civil Society« bezeichnen. Denn die liberale »Civil Society« im Sinne von Ferguson oder Miller, so sehr sie auch die spontane Selbstorganisation und Artikulation biirgerlicher Interessen meint, ist immer auch auf Institutionen aus, die diese Interessen umsetzen. In einer Situation, in der an eine Institutionalisierung biirgerlichen Protests nicht zu denken war, geht Havel jedoch von der »vorpolitischen« Macht des »Lebens in der Wahrheit« aus. Darunter wird der frei gewahlte Ausstieg aus den instrumentalisierenden Zwangen des Systems verstanden, der schon dadurch, dass er vollzogen wird, das biirgerliche Selbstbewusstsein (im Sinne von »Citoyen«) fordert und so automatisch politisch gegen das System wirkt, das bereits dadurch schwankt, dass Existenzformen jenseits seiner instrumentellen Logik gelebt werden. In diesem Vorleben von Alternativen besteht denn auch die Verantwortung gegeniiber den anderen, fiir die diese Option deutlich gemacht und frei gehalten werden muss. Die Bedingung dafiir, dass eine solche Solidaritatsgemeinschaft gelebt werden kann, ist allerdings der Verzicht auf jegliche Institutionalisierung, die notwendigerweise eine Instrumentalisierung anderer nach sich Ziehen wiirde. In einer »postsozialistischen Gesellschaft« sollten solche spontan entstehenden Gemeinschaften als Biirgerbewegungen alien ohne weltanschauliche Bindung zuganglich sein. Die Anzahl ihrer Mitglieder solle eher klein sein, damit das Solidaritatsprinzip auch gelebt werden
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konne. Auf diese Art und Weise konne »unpolitische Politik« betrleben werden, eine Vorstellung, die das Denken des Dissents nicht nur in der Tschechischen Republik bestimmt. Parlamentarische Parteiendemokratie stellt in dieser Sicht keineswegs das alleinige Modell einer postsozialistischen Ordnung dar. In Havels Augen tragt diese auch sichtbar jene instrumentalisierenden Tendenzen in sich, die Patocka in seiner zweiten Bewegung skizzierte. Sie muss daher immer auch durch die gelebte Praxis einer »Burgergesellschaft« korrigiert werden. Die in Heideggers Modell eingebaute Abneigung gegen die Gesellschaft als Opposition zur Gemeinschaft findet also auch hier ihren Niederschlag. Allerdings sollte man nicht iibersehen, dass das Patocka vorschwebende Konzept einer eigentlichen Gemeinschaft keineswegs jene antiaufklarerischen Konnotationen beinhaltet, die der Gegeniiberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft in bestimmten Segmenten des deutschen Diskurses eigen waren. Im Gegenteil - durch seine Betonung dessen, dass die frei gewahlten Moglichkeiten der Existenz des Daseins den anderen gegeniiber zu begriinden sind, d. h. in einen Wahrheitsdiskurs einzutreten haben, verbindet er mit den Heidegger'schen Konzepten ein konstitutives Theorem der Aufklarung. Ich komme zum Schluss. Es sollte gezeigt werden, dass die Schwierigkeiten der Soziologie, der Gesellschaftstheorie und gar einer praktischen Philosophic in politischer Absicht, an Heidegger anzuschlie£en, in seiner dekonstruktiven Weise, Daseinsanalytik zu betreiben, liegen, die dem konstitutionstheoretischen Grundanliegen solcher Ansatze zuwiderlauft und weder eine Ausgangsbasis fiir die Beantwortung der Frage »Wie ist Gesellschaft moglich?« noch fiir die Beantwortung der Frage »Wie ist gute Gesellschaft moglich?« bietet. Dies ist hoffentlich deutlich geworden. Allerdings haben wir im Zuge unserer Untersuchungen festgestellt, dass Heideggers Denken nichtsdestoweniger zu Resultaten durchdringt, die sowohl fiir die Zwecke einer marxistischen Gesellschaftstheorie als auch fiir eine den realen Sozialismus kritisierende Praxis adaptierbar sind. Welche Schliisse soil man daraus ziehen? Es ware toricht, nicht sehen zu wollen, dass Heidegger zu verallgemeinbaren Grundbedingungen des In-der-Welt-Seins des Menschen vorstief5, die die Tiefenstruktur seines
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Weltzugangs pragen. Einen sozialtheoretischen Gebrauch davon kann man allerdings erst dann machen, wenn man die systematlsche Absicht des Heidegger'schen Denkens selbst dekonstruiert, um seine Resultate den konstitutionstheoretischen Grundbediirfnissen sozialtheoretischer Fragestellung gefiigig zu machen. Aus dem sozialtheoretischen Gebrauch Heidegger'scher Philosophic ergibt sich so nicht eine Kritik der soziologischen Vernunft, sondern notwendigerweise eine Dekonstruktion der Daseinsanalytik. Literatur: Althusser, Louis/Balibar, Etienne (1972): Das Kapital lesen. Reinbek: Rowohlt. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1971): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Bourdieu, Pierre (1990): Was heifit sprechen? Die Okonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumiiller. Foucault, Michel (1973): Archaologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gadamer, Fians-Georg (1990): Wahrheit und Methode. Grundziige einer philosophischen Hermeneutik. Tubingen: Mohr. Giddens, Anthony (1981): A Contemporary Critique of Historical Materialism. London: Macmillan. - (1992): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Campus. Havel, Vaclav (1984): Moc bezmocnych (Macht der Machtlosen). In: Ders.: O lidskou identitu (Um die menschliche Identitat). London: Rozmluvy. Heidegger, Martin (1962): Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart: Reclam. - (1967): Sein und Zeit. Tubingen: Niemeyer.
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Patocka, Jan (1991): Die Bewegung menschlicher Existenz. Stuttgart: Klett-Cotta. Plenge, Johann (1916): 1789 und 1914: Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes. Berlin: Verlag von Julius Springer. Plessner, Helmuth (1931): Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Berlin: Junker und Diinnhaupt (Fachschriften zur Politik und staatsbiirgerlichen Erziehung, Nr. 3). - (1976): H o m o absconditus. In: Helmuth Plessner: Die Frage nach Conditio Humana. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 138-150. Popper, Karl (1973): Logik der Forschung. Tubingen: Mohr. Rehberg, Karl-Siegbert (1981): Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhange zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland. In: Lepsius, Rainer M.: Soziologie in Deutschland und Osterreich 1918-1945. Sonderheft der KZfSS 23, S. 160-198. Schiitz, Alfred (1971): Husserls Bedeutung fiir die Sozialwissenschaften, in: Alfred Schiitz : Gesammelte Aufsatze, Bd. I. Den Haag: Nijhoff, S. 161-173. - (2003): Das Problem der Personalitat in der Sozialwelt. In: Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. V.l. Konstanz: UVK, S. 35-73. - (2003a): Uber die mannigfaltigen Wirklichkeiten. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK, S. 181-240. - Aron Gurwitsch (1985): Briefwechsel 1939 - 1959. Miinchen: Fink. Simmel, Georg (1968): Soziologie. Berlin: Duncker & Humblot. Srubar, Ilja (1988): Kosmion. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Tonnies, Ferdinand (1922): Kritik der offentlichen Meinung. Berlin: Springer.
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3. Die Entdeckung des Alltags durch die Sozialwissenschaften. Alfred Schutz als Beispiel von Sinnsuche in einer sinnentleerten Zeit Wer Nachforschungen anstellt, um zu erfahren, wann und wie der Alltag zum Gegenstand der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, wurde, wird friiher oder spater mit dem Namen und dem Werk von Alfred Schutz konfrontiert werden. Dessen methodologische Maxime, die als das »Postulat der Adaquanz« in die Methodologie der Sozialwissenschaften einging, fordert unmissverstandlich: Die Modelle der Sozialwissenschaften seien so zu konstruieren, dass sie der alltaglichen Handlungsperspektive derjenigen, deren Handeln durch diese Modelle erklart werden soil, entsprechen (Schutz 1971: S. 50). Damit richtete Schutz die Aufmerksamkeit von Generationen von Sozialwissenschaftlern auf die Erforschung der »Organisation« unseres alltaglichen Handelns und Kommunizierens, auf die Strukturen unserer alltaglichen Wissensvorrate und auf die Art und Weise, wie sie entstehen und wirken. Unter diesem Impuls entwickelte sich verstarkt seit den 60er Jahren - zunachst in den USA - eine qualitative Methodologie der Sozialforschung, die es moglich machte, jenseits von statistischen Verfahren die Strukturen der alltaglichen Kommunikation und des Verstehens zu untersuchen. Wer war Alfred Schutz und wie kam es dazu, dass es gerade sein Werk war, in dem der Alltag eine grundlegende Rolle fiir die sozialwissenschaftliche Durchdringung sozialer Realitat gewann? Die Spur der Schiitz'schen Biografie fiihrt in das Wien der Zwischenkriegszeit, wo so viele intellektuelle Abenteuer begannen, deren Weiterentwicklungen die geistige und wissenschaftliche Landschaft des 20. Jahrhunderts pragten. Dort wird Schutz 1899 als Sohn jiidischer Eltern geboren. In Wien studiert er Jura und Staatswissenschaften u. a. bei Hans Kelsen, Othmar Spann und Max Adler. Nach seiner Promotion 1921 beginnt er als Finanzjurist zu
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arbeiten. In seiner Freizeit jedoch fiihrt er das Leben eines Privatgelehrten, fiir welches ihm die zahlreichen intellektuellen Zirkel in Wien einen einmaligen Nahrboden bieten. Dieses Doppelleben - Jurist am Tage, Philosoph und Wissenschaftler in der Nacht - behalt er bis 1952 bei. Erst dann wird er fiir den kurzen Rest seines Lebens »hauptamtlich« als Professor fiir Soziologie und Philosophie an der New School for Social Research in New York tatig, an der er bereits seit 1943 nebenberuflich als »lecturer« und spater als »visiting professor« lehrte. Die Verlagerung seiner Tatigkeiten in die Vereinigten Staaten erfolgt nicht freiwillig: Nach dem Anschluss Osterreichs muss Schiitz Europa verlassen. Er geht mit Frau und Kindern iiber Paris nach New York, wo seine Familie noch heute lebt. Auch er wird so zu einem Teil der von den Nationalsozialisten ausgelosten Ideenvertreibung, einer Wanderung des Geistes, durch welche Ideen, die vor 1933/38 in Europa entstanden, von ihren vertriebenen Urhebern in ihre Gastlander - vornehmlich in die USA - getragen und dort kultiviert wurden und an Einfluss gewannen, um auf diesem Umweg nach dem Krieg in Deutschland und in Europa erneute Wirkung zu entfalten. 1959 stirbt Schiitz in N e w York, ohne das er sein geplantes Hauptwerk, die »Strukturen der Lebenswelt«, hatte niederschreiben konnen. Dies bleibt einem seiner Schiiler, Thomas Luckmann, vorbehalten, der nach den von Schiitz hinterlassenen Anweisungen aus dem publizierten und nachgelassenen Material des Schiitz'schen OEuvres die beiden Bande dieses nicht realisierten Opus Magnum ausarbeitet (Schiitz/Luckmann 1975, 1984). Zur Zeit des Schiitz'schen Ablebens besteht sein Werk - mit der Ausnahme seiner ersten 1932 in Wien erschienenen Monographic iiber den »Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« (Schiitz 2004) - lediglich aus einer Vielzahl von verstreut publizierten Aufsatzen und nachgelassenen Manuskripten, von denen nach wie vor bedeutende Texte unpubliziert sind. Das uns heute bekannte OEuvre von Schiitz wurde seit den 60er Jahren von seiner Frau Use sowie seinen Schiilern in vier Banden »Collected Papers« (Schiitz 1962, 1964, 1966, 1996) herausgegeben. Erst damit beginnt sein Denken die beispielhafte Wirkung zu entfalten, die ihn zum
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Begriinder der »phanomenologischen« Soziologie bzw. der Soziologie des Alltags werden lasst. In den 60er und 70er Jahren wird der Schiitz'sche Ansatz in den Vereinigten Staaten zum Paradigma fiir eine junge Generation von Sozialwissenschaftlern, die sein Werk als Ausgangspunkt fiir ihre Kritik an der damals in der Soziologie herrschenden strukturfunktionalistischen Systemtheorie von Talcott Parsons (Parsons 1951) nutzt. Gesellschaftliche Realitat als ein System zu denken, bedeutet fiir diese Generation, dass man der Wirklichkeit ein Kategorienschema iiberstiilpt, durch welches die ihr eigenen, alltaglichen Handlungs- und Wissensstrukturen, die vor dem Zugriff der Theorie immer schon eine sinnhafte Ordnung dieser Wirklichkeit ausmachen, verzerrt werden. In dieser Perspektive, die mit der gesellschaftskritischen Protesthaltung der jungen amerikanischen Akademiker jener Jahre einhergeht, wird der Alltag quasi zum Ausdruck einer menschennahen Authentizitat, die gegen die von der Systemtheorie postulierte, das gesellschaftliche Gleichgewicht erhaltende und von dem System den Menschen auferlegte Normativitat opponiert. Die spater von Jiirgen Habermas (1981) formulierte Kontrastierung des Systems mit der (alltaglichen) Lebenswelt begegnet uns hier in einer ersten konkreten historischen Gestalt. So sehr nun diese historische Konfiguration zum Teil als eine Erklarung dafiir plausibel erscheinen konnte, warum das Schiitz'sche Denken an seinem Exilort erst verspatet einen Resonanzboden fand, der seine Wirkung potenzierte, so wenig ist damit iiber die Griinde ausgesagt, die dafiir stehen, dass der Alltag diese systematische Stellung in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung gewinnen konnte. Was macht die Analyse der alltaglichen Lebensfiihrung so faszinierend und systematisch unentbehrlich fiir die Sozialwissenschaften und namentlich fiir die Soziologie? Die Grunde dafiir erhellen sich aus der Lage der theoretischen und methodologischen Diskussion in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In diesem Methodenstreit standen sich der Ansatz der osterreichischen Okonomieschule, vertreten durch Carl von Menger und seine Schiiler, und der deutsche Historismus, vertreten durch Gustav Schmoller, gegeniiber. In den intellektuellen
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Zirkeln, in denen Alfred Schiitz in seiner Wiener Zeit verkehrte, insbesondere im Privatseminar von Ludwig von Mises, der das Denken der osterreichischen Okonomieschule rigoros systematisierend fortsetzte, transformierte sich diese urspriingliche Auseinandersetzung mit dem Historismus Schmollers in eine Debatte mit der verstehenden Soziologie Max Webers. Hier stand auf der einen, der Mises'schen Seite die Forderung nach einer nomothetischen sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie, die von dem a priori geltenden, universellen Handlungsgesetz auszugehen habe, wonach Handeln immer rational und nach Mafigabe einer subjektiven Nutzenabwagung geschehe (Mises 1940: S. 14 ff., 39 ff.). Auf der anderen Seite stand Webers These, dass es den Sozialwissenschaften unmoglich sei, universelle Gesetze zu behaupten, sowie sein Versuch, durch idealtypische Klarung des Handlungssinnes einzelne soziale Phanomene und Entwicklungen zu verstehen (Weber 1973: S. 187 ff.). Schiitz verstand sich einerseits als ein Parteiganger Webers, dessen verstehende Soziologie er fortfiihren woUte. Andererseits sah er die Forderung von Mises' als berechtigt an, dass die sozialwissenschaftlichen Aussagen von einer universalisierungsfahigen Grundlage ausgehen sollten. Den Schliissel zu einer Fragestellung, durch die diese beiden Positionen versohnt werden konnten, sah er in einer sozialphilosophischen Fundierung des Weber'schen Sinnbegriffs, von dessen Klarung sowohl der verstehende Ansatz in der Soziologie als auch moglicherweise die Entdeckung universalisierungsfahiger Handlungsstrukturen abhangen. In seiner Einsicht, dass der Weber'sche Sinnbegriff einer Klarung bedarf, wird Schiitz auch durch Probleme bestarkt, die an der materialen Umsetzung der verstehenden Soziologie durch Weber deutlich werden: Wenn namlich mit Weber angenommen wird, dass die soziale Realitat als ein sinnstrukturierter Handlungszusammenhang begriffen werden muss, was ist dann von der Weberianischen Zeitdiagnose zu halten, die eine zunehmende Entzauberung und Sinnentleerung der Moderne beklagt (Weber 1972: S. 307 f.)? Wenn in der Moderne die sozialen Normensysteme, die die Lebensfiihrung beobachtbar pragen, immer mehr erodieren, wo ist dann der Ort, an dem die Soziologie den die Handlungen orien-
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tierenden Sinn ausmachen kann? Wenn verstehende Soziologie moglich sein soil, dann muss doch gezeigt werden konnen, woher die Sinnorientierung des Handelns selbst in der sinnentleerten Moderne kommt. Zu fragen ware also: Wie und an welchem O r t konstituieren sich die Orientierungen sozialen Handelns, die vor jeder Wissenschaft da sind und die die Sinnstruktur der sozialen Realitat, nach der wir handeln, ausmachen? Die Schiitz'sche Antwort auf diese Fragen lasst sich in zwei Satzen zusammenfassen: Die Sinnorientierungen, die unser Handeln regeln, entstehen in Prozessen dieses Handelns selbst, in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Der Ort, an dem dies schon immer und unter aller Augen geschieht, ist die alltagliche Wirklichkeit (Schiitz 1971: S. 11 ff.). Von der Untersuchung ihrer Strukturen haben wir auszugehen, wenn wir wissen wollen, wieso ein gemeinsam geteiltes Wissen, eine gemeinsame, iibersubjektiv geltende Ordnung unseres Handelns moglich ist. Wenn diese Strukturen und die sie konstituierenden Bewusstseins- und Handlungsprozesse beschrieben und erfasst sind, dann hat die Sozialwissenschaft moglicherweise eine Grundlage erreicht, von der aus sowohl ein Verstehen der Sinnstrukturen der sozialen Wirklicheit, die unser Handeln leiten, als auch universalisierungsfahige Aussagen dariiber moglich werden. Zu dieser Antwort gelangt Schiitz nicht auf Anhieb. Um das Problem der Sinnkonstitution anzugehen, orientiert er sich zuerst an der Lebensphilosophie Henri Bergsons, der er zwar viele Gedanken, die sein gesamtes Werk durchziehen, verdankt, deren erkenntnistheoretischer Dualismus und Intuitionismus ihn jedoch nicht befriedigten. Erst die Begegnung mit der Phanomenologie Edmund Husserls gibt Schiitz den Hinweis auf die Richtung, in der die Antworten auf seine Fragen zu suchen sind. Es ist die in Husserls Werk langsam Gestalt annehmende Idee der Lebenswelt als eines Ortes, an dem sich der urspriingliche Zugang des Menschen zur Welt und sein Wissen von ihr formen, der Schiitz diesen Hinweis entnimmt. 1932 veroffentlicht Schiitz seine Abhandlung iiber den »Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt«, in der er das Forschungsprogramm seines
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Lebens anlegt: die Erforschung der Strukturen der Lebenswelt, ausgehend von der Konstitution ihres alltaglichen Kerns in Handeln, Interaktion und Kommunikation (Schiitz 2004). Erst um diesen Kern gruppieren sich fiir Schiitz Schichten »mannigfaltiger Wirklichkeiten« (Schiitz 2003), die den AHtag als seine wissenschaftHchen, kiinstlerischen, reUgiosen oder poUtischen Transformationen aber auch als seine Traum- oder Phantasiemodifikationen umgeben. Bereits hier wird deutHch, dass Schiitz den Husseri'schen Weg, die Lebensweltstrukturen in der Analyse der Bewusstseinsakte eines transzendentalen Ego zu suchen, verlasst und eine Theorie der sozialen Konstitution der Wirklichkeit anstrebt. Der Weg in eine phanomenologisch orientierte, verstehende Soziologie des AUtags ist damit eroffnet, der Alltag als ein fiir die Erkenntnis der Entstehung sozialer Wirklichkeit zentraler Bereich ist entdeckt. N u n stellt sich allerdings die Frage, inwiefern diese auf die Authentizitat der Theoriebildung und der Erkenntnis sozialer Realitat ausgerichtete Konzeption des AUtags zugleich auch dazu berechtigt, den Alltag als den Ort menschlicher Authentizitat im normativen Sinne zu begreifen. Lasst sich der Alltag als ein wissenschaftskritisches Konzept und als ein gesellschaftskritischer Begriff zugleich verwenden? In diese Richtung tendierte, wie bereits erwahnt, ein Teil der friihen amerikanischen Rezeption von Schiitz ebenso wie die Versuche, gewisse, Defizite des Marx'schen Ansatzes durch Schiitz'sche Konzepte zu iiberbriicken. Ahnliches klingt an in der schon genannten und derzeit wohl bekanntesten Kontrastierung von Lebenswelt und System durch Jiirgen Habermas. Ist also der Alltag oder gar die Lebenswelt im Schiitz'schen Sinne ein harmloser O r t voUer Harmonic? Dies zu behaupten hiefie, die Schiitz'sche Sicht des Alltags griindlich zu missverstehen. In seiner Studie iiber den »Fremden« zeigt Schiitz, dass die Mechanismen alltaglicher Typenbildung, in denen die selbstverstandliche Geltung des Alltagswissens einer Gruppe entsteht, jene, die dieses Wissen nicht oder nicht vollkommen teilen, aus dem Gruppenalltag ausschlielJen. Die gleichen AUtagsmechanismen, die iiber die einen ein schiitzendes Schild selbstverstandlichen Konsenses ausbreiten, stellen fiir
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andere eine Bedrohung dar, die sich mangels gemeinsamer Wissensstrukturen kommunikativ nicht (oder zumindest nicht schnell genug) beheben lasst. Die Mechanismen der Wissensbildung sind strukturell immer schon mil Prozessen der Wirklichkeitsdefinition verbunden und stellen somit auch immer ein Instrumentarium der Ausiibung von Definitionsmacht dar. Sie bilden daher stets ein Potential von Machtasymmetrie und sozialer Ungleichheit, wie Schiitz in einem anderen Aufsatz liber die Probleme der sozialen Gleichheit zeigt. Der Alltag als Teil der Lebensweltstruktur ist also keineswegs gleichbedeutend mit einer Praxis menschlicher Authentizitat, in der moralisch verallgemeinerungsfahige Einstellungen quasi automatisch entstehen wiirden. Im Gegenteil - wenn auch der Alltag fiir die Bildung gemeinsamen Wissens steht - das Resultat der Konstitutionsprozesse konnen hochst konfliktgeladene Wirklichkeiten sein. Der Konflikt der »Mentalitaten« im deutschen Vereinigungsprozess ware etwa mit dem Schiitz'schen Instrumentarium nicht nur analysierbar, sondern auch prognostizierbar.^ Literatur: Habermas, Jtirgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfur t/M.: Suhrkamp. Mises, Ludwig von (1940): Nationalokonomie. Genf: Editions Union. Parsons, Talcott (1951): The Social System. London: Routledge. Schiitz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Bd. I (1975). Neuwied: Luchterhand, Bd. II (1984). Frankfurt am Main: Suhrkamp Schiitz, Alfred (1962/1964/1966): Collected Papers, Vol. 1-3. Den Haag: Nijhoff. - (1971): Gesammelte Aufsatze, Bd. I, Den Haag: Nijhoff. - (1996): Collected Papers, Vol. IV. Dordrecht: Kluwer.
^Siehe dazu den Aufsatz »Ethnizitat und sozialer Raum« in diesem Band S. 539 ff.
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- (2003): tjber die Mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. V.l. Konstanz: UVK, S. 181-240. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. 11. Konstanz: UVK. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Tubingen: Mohr. - (1973): Gesammelte Aufsatze zur Wissenschaftslehre. Tubingen: Mohr.
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4. Zur Bedeutung der Kommunikation in der Fruhphase des Schiitz'schen Denkens (Konstruktion sozialer Realitat und die Struktur literarischen Werkes) In der Mitte der 90er Jahre vorigen Jahrhunderts hat Lester Embree im Nachlass von Alfred Schiitz einen Vortragsentwurf von 1955 mit dem TItel »Sociological Aspects of Literature« (Embree 1998: S. 4 ff.) gefunden. Wenn wir Lester Embrees bemerkenswerte Rekonstruktion lesen, dann fallt zweierlei auf: 1. Es wird deutlich, dass Schiitz 1955, also im letzten Jahrzehnt seines Lebens, seine friihen, vorphanomenologischen Analysen einzelner Kunstformen keineswegs fiir iiberholt hielt. Im Gegenteil: Seine Untersuchungen iiber Sprache, literarische Formen und Musik-^ stellen die Basis fiir den von Embree rekonstruierten Vortragsentwurf von 1955 dar. Schiitz' Gliederung dieses Vortrags lehnt sich haufig bis in die Detailformulierungen einzelner Punkte hinein an den Wortlaut der Friihschriften an, so dass wir annehmen miissen, dass er sie bei der Vorbereitung seines Vortrags von 1955 noch einmal las und als Ausgangsmaterial benutzte. Wie Lester Embree dokumentierte, folgt der Vortrag der Gliederung und den Charakteristika der einzelnen Kunstformen wie sie in den »Lebensformen« vorgenommen wurden (TDL: S. 254 ff./S. 7 ff.). Wir miissen daraus schliefien, dass Schiitz den wissenschaftlichen Wert seiner vorphanomenologischen friihen Schriften aus den 20-er Jahren sein Leben lang durchaus hoch einschatzte und ihre Ergebnisse fiir relevant hielt. ^Die Texte wurden herausgegeben von Ilja Srubar in: Alfred Schiitz: Theorie der Lebensformen unter den Titeln »Erleben, Sprache, Begriff (Spracharbeit) (jetzt in ASW V.2. «, »Sinnstruktur der Novelle: Goethe« und »Sinn einer Kunstform (Musik)«. Weiter zitiert als TDL, erste Seitenangabe bezieht sich auf das Buch, die zweite auf die Originalpaginierung des Schiitz'schen Manuskripts.
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2. Zweltens fallt auf, wie eng die Untersuchungen der literarischen Kunstformen mit Schiitz' philosophischem und sozlologischem Denken auf anderen Gebieten verflochten sind. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass Schiitz 1955 die Konzepte seiner »allgemeinen« Theorie der Lebenswelt benutzt, um damit die Sphare der Kunst zu analysieren, sondern auch umgekehrt: Offensichtlich entdeckt er im Rahmen seiner Kunstanalysen auch strukturelle Zusammenhange, die fiir den Auf bau seiner Theorie der Lebenswek leitend sind. Literarische, aber auch musikaHsche Kunstformen gelten ihm dabei allem Anschein nach als Bereiche, in welchen sich die Vielfak der sprachUchen, aber auch der aufiersprachHchen Kommunikation untersuchen lasst. So betrachtet, bekommen Schiitz' Arbeiten zu diesem Thema - immerhin neun Titel mit einem Umfang von ca. 400 Seiten"^ - ein anderes Gewicht. Auch dem Umstand, dass drei dieser Arbeiten in der friihen Periode seines Schaffens entstehen, kommt so besondere Bedeutung zu. Die These Hegt nahe, dass die Untersuchung von Kunstformen fiir Schiitz nicht nur die Gelegenheitsbeschaftigung eines Bildungsbiirgers bedeutete, sondern dass sie eine systematische Ebene in seinem Werk darstelk. Dann stelk sich natiirhch die Frage nach dem systematischen Beitrag dieser Untersuchungen fiir die Entwicklung seines Gesamtwerks. Dieser Frage mochte ich hier nachgehen. Ich werde vor allem die friihen Schriften in den »Lebensformen« behandeln, in welchen einige der Schliisselgedanken zu entdecken sind, die fiir die Entwicklung der Schiitz'schen Lebenswelttheorie ausschlaggebend waren, aber auch die spateren Texte werden zu Illustration herangezogen. Meine Hauptthesen sind dabei die folgenden: Die Einsicht, dass die soziale Wirklichkeit eine intersubjektive, kommunikativ entstehende Konstruktion ist, entwi'^Es handek sich um folgende Texte: »Erleben, Sprache, Begriff [Spracharbeit]« (Schiitz 2003b), »Sinnstruktur der Novelle: Goethe«, »Sinn einer Kunstform (Musik)« (1924 -1927), in: Schiitz 1981, sowie »Fragments on the Phenomenology of Music« (1944), in: Schiitz 1976, S. 5-71. »Zu Wilhelm Meisters Lehrjahren« (1948), »Zu Wilhelm Meisters Wanderjahren« (1948), beides unpubliziert, »Gemeinsam musizieren« (1950), in: Schiitz 1972: S. 129-150, »Don Quixote und das Problem der Realitat« (1953), in: Schiitz 2003, S. 289-314, »Mozart und die Philosophen« (1955), in: Schiitz 1972, S. 151-173. Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Zeit der Niederschrift.
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ckelt Schiitz im Rahmen seiner friihen Beschaftigung mit der Struktur der Kunstwerke, die er als soziale Produkte betrachtet (TDL: S. 279/1). Insbesondere in der Art und Weise, wie literarischen Fiktionen in der Interaktion von Autor, Werk und Rezipient Realitatscharakter verliehen wird, werden fiir Schiitz die Strukturmomente der Realitatskonstruktion in der Lebenswelt sichtbar. Man kann daher sagen, dass die Strukturen der Lebenswek bzw. die Konstruktion sozialer Realitat dadurch auch eine asthetische Grundlage bekommen. Schiitz benutzt - so mochte ich argumentieren - die Hterarischen Kunstformen als empirisches Material, an welchem die kommunikativen Funktionen der Realitatskonstruktion studiert werden konnen, unter der Annahme, dass ein bestimmter Umgang mit der Sprache zu bestimmten Realitatskonstrukten fiihrt. In diesem Sinne stehen die literarischen Kunstformen fiir empirische Untersuchungsfelder, in welchen die Differenz zwischen alltaglichem und aufieralltaglichem Sprachgebrauch sowie die »Kunstgriffe« der Realitatskonstruktion deutlich werden - etwa so, wie dies in Garfinkels Krisenexperimenten der Fall war. Dass Schiitz die Kunstformen als Einstieg in die Untersuchung der kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit wahlte, lag natiirlich nicht nur daran, dass die Durchfiihrung Garfinkelscher Krisenexperimente in einem Wiener Kaffeehaus damals wohl ziemlich problematisch gewesen ware. Auch die sich damals im deutschen Sprachraum neuformierende Kultur- und Wissenssoziologie (so etwa jene von Alfred Weber und Karl Mannheim) suchte den Zugang zur sozialen Konstruktion von Denkstilen und Kulturwelten iiber die Analyse von Kunstwerken als sozialen Produkten zu gewinnen. So entwickelt etwa Karl Mannheim sein analytisches Konzept der Aspektenstruktur von Denkstilen und Weltanschauungen anhand der Untersuchung des dokumentarischen Sinnes von Kunstgebilden^, fiir die ihm Kunstwerke als ein Paradigma dienen (Mannheim 1970). Diese Versuche, einen nichtmarxistischen Zugang zum sozialen Charakter der Kulturwelt iiber die soziale Aussagekraft des Kunstwerkes zu gewinnen, waren in der Regel mit einer historizistischen Betrachtung ^Garfinkels Konzept der »documentary method of interpretation« stammt daher. Vgl. Garfinkel 1967: S. 17 f.
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der Kunstgeschichte als allgemeiner Geistesgeschichte verbunden. Einer der Hauptvertreter dieser RIchtung war der namhafte Wiener Kunsthistoriker und Schiitz' Zeitgenosse Max Dvorak, dessen Werke Schiitz natiirlich bekannt waren. Schiitz geht jedoch nicht den darin vorgezeichneten Weg des Historismus und letztendllch des erkenntnistheoretischen Relativismus, den etwa Mannheim ging. In dem methodologischen Streit zwischen dem Historismus und einer generell erklarenden Methode der sozialwissenschaften steht er auf der Seite allgemein erklarender Theorien - wenn auch sein Ziel eine generelle Lebenswelttheorie ist, aus der erst die Notwendigkeit der historischen Relativitat jeweiHger Kulturwelten zu erklaren ware. Wenn Schiitz also Kunstwerke als soziaie Produkte betrachtet, dann geht es ihm nicht um ihren jeweils historisch bedingten Stil (TDL: S. 263 f./S. 22), sondern um die universellen »Sinngesetze der Kunst« (TDL: S. 264 f./S. 24), die die Transformation von individuellen Erlebnissen in die unterschiedHchen intersubjektiven ReaHtatskonstrukte der Kunstformen ermogHchen. Worauf also beziehen sich diese generellen »Sinnesgesetze der Kunst«? Ihr Gegenstand ist zuerst das Kunstwerk, verstanden als ein »soziales Produkt«, das in die kommunikative Beziehung von Sinnsetzung und Sinndeutung eingebettet ist. »Wenn man das Kunstwerk als soziales Produkt auffasst, das heifit seine besonderen Beziehungen zum Duproblem untersucht, in welches es sowohl seiner Absicht als seiner Wirkung nach [eingebettet] ist, bleibt [...] das rein stoffliche Moment des Kunstwerkes einer doppelten Sinndeutung zuganglich, einer Deutung namlich, die, die Objektivation des konkreten Kunstwerkes auf die subjektive Sinngebung seines Erzeugers bezieht, und andererseits einer Sinndeutung, die im objektiven Sinngehalt, als welches sich das Kunstwerk dem Beschauer darbietet ihr Problem [...] findet. « (TDL: S. 279/S. 1). Die sinngebende Funktion des Kunstwerks ergibt sich also aus der kommunikativen Beziehung von drei selbststandigen Elementen: der Intention des Autors, ihrer Objektivierung im Werk, das keine blofie Projektion dieser Intention ist, sondern ein soziales Produkt sui generis, und der Rezeption des Rezipienten. Diese grundlegende Kommunikationsfunktion, die jedem Kunstwerk zugrunde liegt, ist es dann auch, auf
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die Schiitz bei seiner Suche nach den»Sinngesetzen der Kunst« zielt. Diese Gesetze [...] sind rein genetisch-explikativer Natur, indem sie die Voraussetzungen fiir die Umwandlung der in der Dauer des Dichters erlebten poetischen Konzeption in das zeit-raumliche objektiv sinnbegabte Sprachmaterial, aber auch fiir die Erlebbarkeit dieses objektiven zeit-raumlichen Sprachzusammenhanges als eines Symbolzusammenhanges in der Dauer des Lesers typisieren (TDL: S. 266/S. 26-27). Die kommunikative Grundstruktur des Kunstwerkes leistet also zuerst das, was die Kommunikation im alltaglichen Bereich auch leistet namlich die Koordinierung zweier Bewusstseinsstrome mittels sprachlicher Handlung bzw. Handlung als Zeichen. Diese Struktur der alltaglichen Kommunikation hat Schiitz bereits in »Erleben, Sprache, Begriff (Spracharbeit)« (2003b) beschrieben. Welche neuen Einsichten gewinnt er jetzt, indem er sie auf das Kunstwerk anwendet? Wahrend die alltagliche Kommunikation von der Selbstverstandlichkeit der sprachlichen Typisierung und ihrer expressiven sowie interpretativen Verwendung lebt, muss die Kunstform der Kommunikation, obwohl sie sich der gleichen Kommunikationsstruktur bedient, eine kiinstliche - asthetische - Realitat schaffen, die als eine solche auch erkennbar sein muss. Damit riicken bei der Analyse von Kunstformen die »Kunstgriffe« der kommunikativen Konstruktion der Realitat in den Blick, die im alltaglichen Bereich durch die habitualisierte Geltung der kommunikativen Formen verdeckt bleiben. In der asthetischen Spiegelung des Kunstwerkes wird also die Realitat als soziale, d.h. kommunikative Konstruktion evident.^ An der Struktur der literarischen Kunstformen kann man so lernen »how to do things ^Schiitz versucht hier mit »asthetischen« Mitteln Bergsons Vorstellung von der Konstitution sozialer Wirklichkeit zu prazisieren. Nach Bergson ist die Transformation des inneren Erlebens in das raum-zeitliche Medium der Sprache die Bedingung fiir die Existenz sozialer Beziehungen, die eine Realitat konstituieren, die vom subjektiven Erleben unabhangig und qualitativ unterschidlich ist (Bergson 1911: S. 79, S. 100-116, S. 139). Diese Transformation und ihre sprachlichen Mittel will Schiitz mit Hilfe seiner Kustwerkanalyse durchleuchten. Bemerkenswert ist, da£ er damit - wohl unter dem Einflufi der von Bergson iibernommenen pragmatistischen Momente - die Position Deweys vorwegnimmt, der ebenso die Analyse der asthetischen Erfahrung sowie der Interaktion von Autor, Werk und Rezipient benuzt, um Mechanismen der Realitatskonstruktion zu beschreiben (Dewey 1934).
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with words«, um Austins beriihmte Formulierung zu apostrophieren. Die Struktur des literarischen Werkes als eine soziale Konstruktion zu begreifen, erfordert einen differenzierten Wirklichkeitsbegriff, in dem bereits mehrere Realitatsschichten enthalten sein miissen. Durch seine Untersuchung wird Schiitz in concrete mit einer Wirklichkeitskonzeption konfrontiert, in der die Realitat durch eine Modifikation des alltaghchen Erfahrungs- und Kommunikationsmodus entsteht. Die Existenz des Hterarischen Werkes - dies wird hier fiir Schiitz sichtbar - setzt also einige »multiple realities« voraus. Dazu gehoren die ReaHtat der alkaglichen Sprache und der Kommunikation, die ReaHtat des hterarischen Textes bzw. des Schauspiels als die transzendierende asthetische Modifikation - die Symbolisierung - der AUtagsebene, und natiirlich die subjektiven Erlebniswelten des hinter dem Werk verborgenen Autors und der Rezipienten. Typen literarischer Formen konnen dann danach unterschieden werden, wie grofi der Abstand bzw. die Nahe der transzendenten, symbolischen Ebene des Kunstwerks zum alltaglich Erlebten ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal stellen die Kunstmittel dar, mit welchen die einzelnen Gattungen den Hiatus zwischen Autor und Rezipient iiberbriicken. Ich mochte hier von der Darstellung der einzelnen Kunstformtypen (Poesie, Drama, Prosa-Roman) absehen - hier sei auf die Schiitz'schen Texte selbst verwiesen. Die Besonderheiten der einzelnen Typen werde ich nur heranziehen, wenn es fiir die Prasentation meines Arguments erforderlich wird. Konzentrieren will ich mich vor allem auf die allgemeinen Funktionen, die von den »Kunstmitteln« aller literarischen Kunstformen erfiillt werden miissen: Sie miissen eine Realitat sui generis hervorbringen, deren typische Struktur die Erwartungen und das Erleben der Rezipienten lenkt, und sie miissen zugleich fiir die Rezipienten anzeigen, dass diese Realitat eine auCeralltagliche ist. Sie miissen also einen aufieralltaglichen Erlebnisstil evozieren - eine asthetische Einstellung, die einen Text oder eine Handlung als »Kunstwerk« und nicht als »Alltag« erlebbar macht. Systematisch betrachtet bedeutet das fiir die Schiitz'sche Analyse folgendes. Es miissen zwei Typen von Mechanismen der Realitatskonstruktion gesucht werden: 1. solche, die die Realitatsgeltung schlechthin fiir den Rezipienten
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konstituleren, 2. solche, die diese Realitatsgeltung als eine alltagstranszendente erscheinen lassen - die also in der Wahrnehmung der Rezipienten die prasentierte Realitat von der ailtaglichen unterscheiden. Damit sind zwei systematische Fragestellungen der Schiitz'schen Analyse angesprochen: 1. die Frage nach Lebensweltstrukturen, die eine intersubjektive Realitatsgeltung stiitzen, und 2. die Frage nach Merkmalen, die die kognitiven Stile des Wirklichkeitserlebens bzw. die unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche voneinander trennen. Ich mochte nun zeigen, dass Schiitz einen wesentlichen Teil dieser fiir seine spatere Theorie der pragmatischen Konstruktion der Lebenswelt wichtigen Konstitutionsmomente anhand von asthetischen Kategorien gewinnt, die die Mittel der Konstruktion literarischer Wirklichkeit bezeichnen. Beginnen wir mit den Bedingungen, die gegeben sein miissen, damit die besondere Realitat des Kunstwerks als solche entstehen und erlebt werden kann. Die kommunikative Struktur des Kunstwerks erfordert es zuerst einmal, dass der Rezipient in die durch das Werk dargestellte Realitat einbezogen wird. Seine Dauer muss mit der »imaginaren Zeit« des Kunstwerks koordiniert werden (TDL: S. 262 f./S. 25, S. 270/S. 35). Der Betrachter muss eine »asthetische Einstellung« einnehmen, die ihm die Projektion seiner Bewufitseindauer in die imaginare Zeit des Werkes und somit eine Identifizierung mit der Realitat des Werkes erlaubt. Dieser Einstellungswechsel wird in der asthetischen Tradition seit Aristoteles, bekraftigt durch Kant, mit einer wesentlichen Bedingung verbunden: Der Rezipient muss seine alltagliche Attitude, d. h. sein pragmatisches Handlungsinteresse fallen lassen. In der Aristotelischen Poetik wird die Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden in dem Mafie moglich, in welchem er sich von seinen alltaglich praktischen Interessen und emotionalen Verstrickungen befreit (vgl. Aristoteles 1982: Kap. V, VII; Jaus 1982: S. 169). Auch Kant macht die Einklammerung pragmatischer Interessen an der betrachteten Sache zur Bedingung des Wechsels in die asthetische Einstellung.
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Schiitz folgt der Tradition in diesem Punkt und versucht, auf seine Weise die Differenz zwischen der alltaglichen und der asthetischen Einstellung des Rezipienten zu bestimmen, indem er die »differentia specifica«, d.h. das pragmatische Moment der alltaglichen Perspektive noch scharfer hervorhebt. Fiir ihn ist bereits in »Lebensformen und Sinnstruktur« (Schiitz 2006: S. 133 ff./S. 116 ff.) das Erleben der Realitat als einer alltaglichen wesentlich mit der Moglichkeit verbunden, in diese Realitat hineinwirken zu konnen, d. h. sie aktiv zu verandern. Genau diese pragmatische Wirklichkeitsorientierung wird Jedoch in der Art und Weise, wie Rezipienten ein Kunstwerk erleben, ausgeschlossen. Um dies zu zeigen, unterscheidet Schiitz zwischen zwei Typen der Sprachverwendung - d. h. zwischen der alltaglichen »Mitteilung« und der kiinstlerischen narrativen »Darstellung« (TDL: S. 260 ff./S. 18-20). Die Mitteilung als Typus der alltaglichen Kommunikation ist fiir Schiitz immer pragmatisch auf das Hervorrufen eines sozialen Verhaltens, einer Handlungsreaktion bei bestimmten Personen ausgerichtet. Diese Reziprozitat des Mitteilens ist im Erleben der Realitat der kiinstlerischen Darstellung (selbst wenn sie als face-to-face erfolgt wie im Drama) aufgehoben. Der Rezipient wirkt nicht aktiv handelnd in den Ablauf der Darstellung hinein, seine pragmatischen Realitatsorientierung ist ausgesetzt. Er ist der Darstellung gegeniiber machtlos, wie Schiitz es spater in »Don Quixote« und in dem »blueprint« von 1955 ausdriicken wird (Schiitz 2003: S. 305 f.); er ist machtlos und damit der imaginaren Wirklichkeit des Kunstwerks ausgeliefert. Sein Beitrag zu der kommunikativen Verwirklichung des Kunstwerks liegt somit in dessen Deutung, die - ebenso wie die sprachlich objektivierte Sinnsetzung durch den Autor wesentlich fiir die Existenz des Kunstwerks ist. Dem Rezipienten bleibt also »... die kiinstlerische Mitarbeiterschaft und gestaltende Anteilnahme versagt, soweit es die Formung des rein Stofflichen betrifft. Freilich hat er die Aufgabe, das gebotenen Kunstwerk seinem inneren Sinn und Symbol nach zu deuten« (TDL: S. 260/S. 16.) Die pragmatische Handlungsorientierung und ihre Einklammerung machen also bereits hier die fiir Schiitz spater so wichtigen Charakteristika von alltaglichen und aufieralltaglichen Realitatsschichten des Erlebens aus. Wie kann jedoch das alltagliche Kommunikationsmedium der Spra-
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che die Alltagswirklichkeit transzendieren und eine alltagstranszendente Realitat evozieren? Wie muss und kann sich der Verweisungskontext der Sprache andern? Schiitz verweist hier auf den prinzipiellen Unterschied zwischen der grammatikalischen und der semantischen Struktur der Sprache. Die letztere ist, im Gegensatz zu der ersten, ambivalent. Sie erlaubt eine subjektivierende Verwendung des Sprachmaterials, die nicht an die Pragmatik der alltaglichen Kommunikation gebunden ist, sondern eine »paradoxe« Ausdrucksweise ermoglicht, die eine aufieralltagliche Realitat zum Gegenstand hat (Schiitz 2003b: S. 52 f./S. 22-23, S. 40 f./2-3). Diese Sprachverwendung wird in der lyrischen Dichtung am deutlichsten. Hier lasst sich am Kontrast der alltaglichen und der lyrisch-symbolischen Bedeutung der Worte der Mechanismus der »Verfremdung«^ am besten beobachten als der Sinngebungsprozess, in welchem Sprachmittel aus ihrem alltaglich pragmatischen Zeichencharakter herausgelost und als Symbole eingesetzt werden, die eine dem AUtag transzendente Realitat gestalten und zugleich zuganglich machen. In diesem Sinne ist Kunst - so wird es Schiitz 1948 in seinem Manuskript iiber Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (S. 49) formulieren - »die bewusste Umdeutung der Relevanzstrukturen der Lebenswelt. Das Imaginare ist nicht an die Grenzen gebunden, die im taglichen Leben durch die Forderung der Durchsetzbarkeit gesteckt sind. « Wenn auch die Deutung des Kunstwerks immer eine subjektive Leistung ist, so geschieht sie daher nicht ganz zufallig. Die kommunikative Funktion des Kunstwerks ist es ja, die Erlebnisstrome des Autors und des Rezipients zu koordinieren. Dem Rezipient tritt jedoch nicht der Autor selbst gegeniiber, sondern - wie wir bereits sahen - die Realitat des Werkes in ihrer imaginaren Zeitlichkeit. Das Werk - sei es als Text oder als Schauspiel stellt eine Realitat dar, die weder der Dauer des Autors noch jener des '^Ich verwende hier den von dem Begriinder des russischen Formalismus, Viktor Sklovskij, eingefiihrten Terminus, der im strukturalistischen Diskurs des Prager Linguistischen Kreises in den 20er Jahren eine grofie RoUe spielte und exakt das von Schiitz gemeinte trifft. Sklovskij (1984) bestimmt »Verfremdung« als eine Technik, die den Automatismus der alltaglichen Sprachverwendung sprengt. Ahnlich sieht auch Roman Jakobson (1921) die poetische Wirkung der Sprache in der »Dissoziation« der alltaglichen Semantik.
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Rezipienten angehort (TDL: S. 264 f./S. 25). Es ist in diesem Sinne eine sozial konstruierte, intersubjektive Realitat - ein Sprachzusammenhang, dessen Relevanzsysteme dem Rezipienten auferlegt sind. Diese auferlegten »geschlossenen Symbolsysteme«, wie Schiitz es noch in »Lebensformen« nennt (TDL: S. 266/S. 28), sollen also die Wahrnehmung und das Erleben des Rezipienten entlang der Intention des Werkes lenken. Sie sollen seine subjektive Werkinterpretation in einen intersubjektiven, der kommunikativen Struktur des Werkes immanenten Rahmen einbetten. Mit welchen Mittein wird aber im literarischen Kunstwerk dieser intersubjektive Rahmen seiner Interpretation konstruierbar? Mit dieser Fragestellung sind nun jene Elemente der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit angesprochen, die die intersubjektive Geltung dieser Wirklichkeit stiitzen. Auch bei der Beantwortung dieser Frage lasst Schiitz sich zuerst von der traditionellen Aristotelischen Asthetik leiten, indem er die Einheit von Zeit, Raum und Handlung als den Rahmen anfiihrt, in welchem literarische Kunstwerke die Geltung ihrer Realitat entwickeln. Auch hier nimmt Schiitz jedoch eine wichtige Modifizierung dieses Bezugsrahmens vor, durch die seine Sichtweise radikal geandert wird (TDL: S. 266 f./S. 28 ff.). Die Einheit von Zeit, O r t und Handlung darf in seiner Sicht nicht als ein Stilmittel betrachtet werden, mit welchem Handlungsablaufe und Handlungsmotivationen im literarischen Werk so dargestellt werden sollen, dass sie aus der Alltagsperspektive des Rezipienten verstandlich werden. Im Gegenteil: Die kiinstlerische »Manipulation« der Zeit-, Raumund Handlungsebene der Realitat im literarischen Werk soil dem Rezipienten Relevanzen auferlegen, die seinen subjektiven Bewufitseinsablauf mit der aufieralltaglichen, imaginaren Struktur des Werkes koordinieren und so Grunderlebnisse in seiner Dauer schaffen, die ihn Aufieralltagliches als ein solches auch erleben lassen (TDL: S. 269 ff./S. 33 ff.). Durch diese Wendung gewinnt Schiitz einen neuen Blick auf die RoUe der Zeit-, Raum- und Handlungsdimension im Prozess der Realitatskontitution. Dass das Handeln als Wirken im Raum die Parallelitat von innerer Dauer und aufierem Zeitverlauf erlebbar macht und so die Wirklichkeitsgeltung externer Realitat konstitutiert, hat Schiitz bereits in »Lebensformen und Sinnstruktur« gezeigt (Schiitz 2006: S. 162 ff./S.
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162-5). D o n jedoch war die wirklichkeitskonstltuierende Einheit von Handeln, Zeit und Raum eine Leistung des psychophysischen Ego, die seinen primaren erlebend-pragmatischen Weltzugang charakterisierte. In der Analyse der literarischen Kunstformen entdeckt Schiitz jedoch, dass Zeit und Raum als Dimensionen der Handlung sozial typisierbar sind, dass also die Realitatsgeltung, die aus der erlebbaren Einheit von Handlung, Zeit und Raum hervorgeht, ein soziales, kommunikativ hergestelltes Konstrukt sein kann. Er beobachtet am Beispiel des Dramas, wie einzelne Figuren durch die zeitliche Verkettung von Situationen, in welchen sie auftreten, typisierbar sind. Er sieht, dass Schauspieler die imaginare Welt des Spiels wirklich werden lassen, indem sie die durch die Phantasie des Autors vorgegebenen zeit-raumlichen Bedingungen ihres Handelns als real behandeln und so einen intersubjektiven Relevanzrahmen dem Zuschauer auferlegen. Der Ort des Schauspiels »ist ein Schauplatz jenseits aller Realitdt, der nur dadurch Realitdt symbolisieren kann, dass ihn der Schauspieler bzw. der Held real zu erleben vorgibt. In dieser merkwiirdigen Relativitat erweist es sich, dass das vom Helden als real Angenommene in der gleichen Weise wirkt und uns umgibt wie unsere Umwelt, die wir als real hinnehmen [...] Aber insofern die raumliche Umgebung auf unsere Handlungen iiberhaupt Einfluss hat, hat sie es in keinem anderen Ausmafie als die Kulisse auf den Schauspieler [...] Das Wesentliche und beiden gemeinsam ist nicht das Realsein, sondern das fiir real gehalten Werden, wodurch allein schon alle Moglichkeit fiir Handlung und Sinneseindruck erzeugt und geschaffen wird.« (TDL: S.288/ S. 13-14, Hervorhebung im Orig.). Am Beispiel des Romans, insbesondere am Beispiel der Werke Goethes, untersucht Schiitz auch die Zeittechnik des Erzahlens, die, im Gegensatz zu Drama, den schlichten Zeitzwang der narrativen Folge durchbrechen muss (daher auch die »Chronophobie« des Romans von der Schiitz in seinem »blueprint« von 1955 spricht), um Parallelitat von Ablaufen, Riickblenden oder »Zeitlupen-Schilderungen« moglich zu machen, die zur »Modellierung« der Bewusstseinsablaufe der Rezipienten notig sind. Und er zeigt auch, wie dort, wo diese literarischen Konstruktionstechniken nicht angewendet werden konnen - wie im Falle der Lyrik - weil
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dort das konstruktive Spiel mit der sozialen Typik des Sprachzusammenhangs extrem entpragmatisiert ist, quasi musikalische Sprachmittel der Synchronisierung (also Reim, Rhythmus, Onomatopoie etc.) notwendig werden. Wenn auch Schiitz sich mit Recht dagegen wendet, dass alltagliche Motivationszusammenhange literarischen Figuren unterstellt werden miissen, damit diese verstandlich sind, so sehen wir doch, dass er selbst entdeckt, wie die sozialen Mechanismen der Kommunikation und Wirklichkeitskonstitution im literarischen Werk eingesetzt werden, um eine geltende aufieralltagliche Wirklichkeit hervorzubringen. Die asthetischkonstruktive Verwendung dieser Mechanismen offnet ihm die Augen fiir ihre Funktion in der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit schlecht hin. Es ist also unverkennbar, dass aus der Analyse des Instrumentariums der Konstruktion literarischer Wirklichkeiten Konzepte entwickelt werden, die fiir Schiitz' spatere Theorie der Lebenswelt und ihrer Strukturen wesentlich sind. Um die systematische Stellung zu zeigen, die diese Konzepte in Schiitz' Werk einnehmen, will ich sie hier kurz noch einmal anfiihren. 1. Indem Schiitz das Kunstwerk als eine Kommunikationsstruktur auffasst, die auf der Koordination zweier durees durch einen aufieren, raum-zeitlichen Sprachzusammenhang (oder ein anderes externes Ereignis) beruht, gewinnt er ein Kommunikationsmodell, das in seinem ganzen spateren Werk Giiltigkeit behalt. Im »Sinnhaften Aufbau« (Schiitz 2004, S. 23-26), in »Uber die mannigfaltigen Wirklichkeiten« (Schiitz 2003: S. 194 f.) bis zu »Symbol, Wirkhchkeit und Gesellschaft« (Schiitz 2003a: S. 156 ff.) bedient sich Schiitz iiberall dieser Konzeption, um Kommunikation als den Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit darzustellen. 2. Ebenso entscheidend fiir die Erfassung der Konstitution der Strukturen der Lebenswelt ist die Einfiihrung der pragmatischen Wirkungsbeziehung als Charakterisierung der hervorgehobenen Stellung von Alltagswirklichkeit und als Unterscheidungsmerkmal, dessen Fehlen ausseralltagliche Realitatsschichten kennzeichnet. Damit ist das
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in »Uber mannigfaltige Wirklichkeiten« voll entwickelte, Konzept der Lebensweltaufschichtung benannt. 3. Die Zeit- und Raumdimension des Handelns, die - sozial typisiert die intersubjektive Gekung der Wirklichkeit stiitzt und an der sich Wahrnehmen und Handein orientieren, gehoren zu der Struktur der lebensweklichen Typik, wie sie im Spatwerk entwickek wurde. 4. Die in den Analysen des literarischen Kunstwerks zu Tage tretende Polykontextualitat der Sprache gibt die Grundlage ab fiir die Unterscheidung zwischen zeichenhaften und symbolischen Sprachgebrauch, die in »Symbol, Realitat und Gesellschaft« getroffen wird. 5. Die Formbarkeit der auferlegten Typik von Situationen in der Kommunikation, die Schiitz in der kommunikativen Funktion der literarischen Kunstformen bemerkt, stelk eine der Grundbedingungen der Transformation von Lebensweltstrukturen in eine Kuiturwelt dar. Dies gehort zu den grofien Themen des Schiitz'schen Werkes und wird zentral in »Symbol, Realitat und Gesellschaft« im Konzept des »Kosmions«. Ich habe nun die Erkenntnis der kommunikativen, sozialen Konstruktion der Wirklichkeit als jenen systematischen Beitrag hervorgehoben, der Schiitz' Analysen der literarischen Kunstformen fiir die Entwicklung seiner Lebenswelttheorie geleistet haben. Steht jedoch diese Betonung der Kommunikation nicht im Widerspruch zu den Aussagen, die Schiitz zu den einzelnen Kunstformen, insbesondere zu Jener der Poesie, macht? Wird dort nicht z.B. die Lyrik im als die einsame Kunst bezeichnet, die sich nicht an den Rezipienten wendet und seiner Interpretation nicht bedarf? (TDL: S. 255 f./S. 8 f.) In der Tat haben wir es hier mit zwei opponierenden Positionen zu tun, die die Schiitzsche Theorie der Kunstformen durchziehen. Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Er ist angelegt in der Art und Weise, in der Schiitz versucht, aus der allgemeinen Struktur des Kunstwerkes Typen der einzelnen Kunstformen zu entwickeln. Er sucht zuerst nach universellen »Sinngesetzen der Kunst«, die fiir alle Kunstformen gelten
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sollten. Dazu gehort dann die kommunlkative Struktur des Kunstwerks, wie ich zu zeigen versuchte. Sie ist gestiitzt auf Sprache als allgemeine Basis aller literarischen Kunstformen. Allerdings erhalt die Sprache in jeder Kunstform eine andere Gestalt, je nachdem, welches »Grunderlebnis« sie ausdriicken soil: »Nun ist aber Ausdruck, Mitteilung, Darstellung nicht nur eine Sprachfunktion, sondern bezeichnet auch eine bestimmte Qualitat des Grunderlebnisses selbst. [...] Wenn eine Adaquatheit der Wortes in der objektiven Sprachrealitat zu einem derartig affektuell gefarbten Grunderlebnis erzielt werden soil, muss das Wort als Ausdruck, Mitteilung oder Darstellung gestaltet werden, und seine Gestalt muss das lyrische Gedicht, das Drama oder das Epos sein. Alle drei Gestaltungen sind Sprachfunktionen unter poetischen Sinngesetzen, sie alle stehen unter einem Gesetzt der Einheit, denn dieses liegt bereits dem Material zugrunde, das in seiner Strukturverschiedenheit zur Entstehung der einzelnen Dichtungsgattungen fuhrt.« (TDL: S. 271, S.41). Der obige Widerspruch entsteht nun dadurch, dass Schiitz das Kommunikationsmittel der Sprache in der Kunstform der Poesie in nichtkommunikativer Absicht verwendet wissen will. Dem Dichter sei es nicht daran gelegen, seinen Leser anzusprechen, da er die Sprache primar dazu verwendet, ein subjektives Erleben auszudriicken. Er entpragmatisiert seinen Sprachgebrauch in extremer Weise, unterwirft ihn den lautmalerischen Eigengesetzlichkeiten der Sprache (Rhythmus, Wortklang, Reime). »Hier untersteht das Wort allein seinem eigenen Gesetz. Das einzelne Ich steht der Sprache gegeniiber, sich selbst aus ihr gestaltend.« (TDL: S. 256/S. 9). Da der Dichter sich selbst ein Zuhorer ist, ist er sich selbst auch ein Interpret, der fiihlt, ob der sprachliche Ausdruck seinem Erlebnisinhalt entspricht. Das Gedicht ist zwar fiir andere verstehbar, braucht jedoch dieses Verstandnis nicht. Es ist als Kunstwerk etwas, was Dichter und Sprache miteinander ausmachen miissen - daher sei die Poesie eine einsame Kunst. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob die von Schiitz so beindruckend beschriebene Intention des Dichters, mittels seines Werkes nicht zu kommunizieren bzw. nur mit sich selbst kommunizieren zu wollen, die kommunlkative Struktur des Werkes selbst in irgendeiner Weise einschrankt.
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Schlitz' Argument ist es hier: »Lyrik will nicht mitteilen, sie will nur ausdriicken. Sie >meint< keine Sinnzusammenhange, welche erst durch Deutung des Horers ihren Sinncharakter voll und ganz erhalten. Sie setzt Zusammenhange an sich, die darum schon sinnvoU sind, weil sie gesetzt werden und nicht erst der Erwagung durch Sinndeutung bedurfen.« (TDL: S. 255/S. 8 ff.). Ich verstehe das so, dass der Rezipient in der Poesie - im Gegensatz zu Drama und Prosa - Interpretationen nicht zu bemiihen braucht, weil ihn die lyrische Kunstform mit ihren quasi musikalischen Mitteln unmittelbarer als Drama oder Prosa in ihre imaginare Realitat einbezieht - wenn er geiibt genug ist, mit dieser Gattung umzugehen. »Hier wird durch den Horer das Sprachwerk gleichsam als ein erst zu schaffendes reproduziert und so die subjektive Sinnsetzung des Autors wiederholt.« (TDL: S. 256/S. 8). Es kann also keine Rede davon sein, dass in der Kunstform der Poesie die kommunikative Struktur des Kunstwerks als Koordinierung zweier durees durch einen gesetzten Sprachzusammenhang nicht gegeben ware. Im Gegenteil: Die hier entstehende Beziehung von zwei subjektiven Erlebnisstromen kann viel intimer sein als in den anderen literarischen Kunstformen. Insbesondere hier orientieren sich sowohl der Dichter als auch der Rezipient an den »Gesetzen der Sprachgestaltung«, die nicht nur eine semantische, sondern auch eine musikalische Kommunikation - also ein »tuning in« ermoglichen. Das Gedicht als eine »Notation« von diesem »tuning in« braucht so zu seiner Existenz sowohl seinen Urheber als auch den Rezipienten. Wie wir sehen, sind in Schiitz Betrachtung der Kunstformen zwei unterschiedliche Konzeptionen der Interpretation von Kunstwerken angelegt, die miteinander nicht immer vertraglich sind. Die eine strukturelle, deren systematische Bedeutung fiir das Schiitz'sche Werk ich zu zeigen versuchte, stellte zur Zeit ihres Entstehens in den 20er Jahren einen innovativen Ansatz dar, der mit der zeitgenossischen Entwicklung in der Literaturwissenschaft Schritt hielt (vgl. Anmerkung 82). Sie begreift das literarische Kunstwerk als einen kommunikativen Zusammenhang von Autor, Sprache und Rezipient, in welchem eine aufieralltagliche Realitat - das Kunstwerk - entsteht. Die andere, der Tradition verhaftete Interpretation, versucht das Kunstwerk als das Resultat der Intention und der
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Motivation des Autors zu erfassen. Diese traditionelle »Motivationsasthetik«, die davon ausgeht, dass die Wirkung des literarischen Werkes aus der Verstandlichkeit der Motive seiner Helden hervorgeht, lehnt Schiitz einerseits zugunsten einer strukturellen Argumentation ab (TDL: S. 269, S. 34). Andererseits versucht er aber doch, die Wirkung von Poesie als den Ausdruck der Intentionen und Motive des Dichters darzustellen. Dass er diese Interpretation im Falle der Poesie wahlt, ist sicherlich kein Zufall. Die Vorstellung des Dichters als des einsamen aus sich heraus Kunst schaffenden Genies ist in der traditionellen, romantisierenden Asthetik seiner Zeit noch allgemein verbreitet.^ Damit ist ein Widerspruch vorprogrammiert, denn hier - formuliert in den Termini der Literaturwissenschaft erfolgt im Schiitz'schen Denken en passant ein Paradigmenwechsel von einer werkorientierten zu einer rezipientenorientierten Asthetik, der seit den 20er Jahren in der Literaturwissenschaft heifi umkampft wurde. Schiitz' strukturell-konstruktivistische Sicht des Hterarischen Kunstwerkes, die einerseits seine kommunikative Struktur, andererseits jedoch seinen asthetisch selbststandigen, auCeralltagHchen Reahtatsstatus betont, lag den neuen, rezeptionsorientierten Ansatzen in der Literaturwissenschaft und in der Linguistik seiner Zeit sehr nahe. Dies insbesondere dort, wo sie sich - etwa in der Tradition des Prager Strukturalismus - darum bemiihten, die sprachlichen Mittel der Konstruktion der spezifischen Realitat literarischer Texte zu erschliefien. Es ist nicht auszuschliefien, dass diese Ansatze, die seit der 20er Jahre im »Prague linguistic circle« intensiv verfolgt wurden, Schiitz zur Kenntnis gelangten. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass die seit den 60er Jahren entstehende hermeneutische »Rezeptionsasthetik«, die einerseits aus der strukturalistischen Tradition hervorgeht, andererseits ihre philosophische und vor allem sozialtheoretische Begriindung auch im Werk von Alfred Schiitz sucht. Hans Robert Jaus, einer der Begriinder der Rezeptionsasthetik, die als ein Paradigma in der heutigen Literaturwissenschaft gilt, greift die Schiitz'sche Konzeption der kommunikativen Konstruierbarkeit asthetischer Subsinnwelten auf. Er sieht darin einen Zugang zur Realitat des ^So z. B. noch bei Hermann Cohen (1912, S. 22 ff.), dessen Asthetik Schiitz studierte und der Lyrik ebenso als eine »einsame Kunst« verstand.
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Kunstwerks, der den alltagstranszendenten Charakter des Werkes und seiner Erfahrung betont, »ohne darum den Riickbezug auf die suspendierte tagliche Lebenswelt oder einen ihrer Sinnbereiche zu l6schen« (Jaus 1982: S. 204). Die Wirkung des literarischen Werkes wird in diesem Ansatz in der Interaktion des Rezipienten mit der ihm durch das Werk auferlegten Relevanzstruktur gesehen. Der Text selbst wird hier als Interaktionspartner des Lesers begriffen. »Der Text als Handlung« - so bringt Karlheinz Stierle (1975), einer der bekanntesten Jaus-Schiiler, diese Konzeption auf den Punkt. Ich fiihre diese literaturwissenschaftlichen Ansatze nicht nur deswegen an, um ein weiteres wissenschaftliches Gebiet aufzuzeigen, auf dem Schiitz publiziertes Werk seinen Einflufi entwickelte. Ich hoffe auch gezeigt zu haben, dass die Wahlverwandschaft zwischen ihnen und dem Ansatz von Schiitz sich der systematischen Bedeutung verdankt, die im Schiitzschen Gesamtwerk den Erkenntnissen zukommt, die er aus seiner Beschaftigung mit der Struktur literarischer Werke gewann. Literatur Aristoteles (1982): Poetik. Stuttgart: Reclam. Bergson, Henri (1911): Zeit und Freiheit. Jena: Diederichs. Cohen, Hermann (1912): Asthetik des reinen Gefiihls. Bd. II. BerUn: Cassirer. Dewey, John (1934): Art as Experience. New York: Minton, Balch. Embree, Lester ( ed.) (1998): Alfred Schutz's »Sociological Aspect of Literature«. Dordrecht/Boston/London: Kluwer. Garfinkel, Harold (1967): Studies of Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice-Hall. Jakobson, Roman (1921): Novesaja russkaja poezija (Die neue russische Lyrik). Praha: TipograjSja politika. Jaus, Hans R. (1982): Asthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M.:
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Mannheim, Karl (1970): Beitrage zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation. In: Ders.:Wissenssoziologie. Neuwied: Luchterhand, S. 91-154. Schiitz, Alfred (1981): Theorie der Lebensformen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. - (1971): Gesammelte Aufsatze. Bd. I. Den Haag: Nijhoff. - (1972): Gesammelte Aufsatze. Bd. 11. Den Haag: Nijhoff. - (2003): Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. V.l. Konstanz: UVK. - (2003a): Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft. In: Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. V.2. Konstanz: UVK, S. 119-198. - (2003b): Erleben, Sprache und Begriff. In: Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. V.2. Konstanz: UVK, S. 37-73. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Alfred Schiitz Werkausgabe, Bd. II. Konstanz: UVK. - (2006): Lebensformen und Sinnstruktur. In: Alfred Schiitz Werkausgabe. Bd. I. Konstanz: UVK, S. 49-166. Sklovskij, Viktor: Kunst als Kunstgriff, (zuerst 1917; 1984) In: Helmers, H. (ed.): Verfremdung in der Literatur. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 70-87. Stierle, Karlheinz (1975): Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. Miinchen: Fink.
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5. Die Konstitution von Bedeutsamkeit im Alltagshandeln. 2 u r Schiitz'schen Losung eines Weber'schen Problems I. Vorbemerkung Uberlegungen, die die Beziehung zwischen den Werken von Schiitz und Weber thematisieren, beziehen sich meistens auf das von Schiitz postulierte Vorhaben, die verstehende Soziologie Webers durch eine phanomenologisch orientierte Analyse des Handlungssinnzusammenhangs zu fundieren. In der Diskussion um diesen Fundierungsanspruch, der ebenso temperamentvoll verteidigt wie auch bestritten wird^, scheint eine elementare Tatsache nur selten Beachtung zu finden: dass namlich die Schiitz'schen Arbeiten, insofern sie unbestritten eine Weiterfiihrung der verstehenden Soziologie darstellen, Antworten auf Weber'sche Probleme beinhalten, die keineswegs ausschliefilich als eine Fundierung zu verstehen sind, sondern durchaus als theoretische Konzepte zur Losung einiger durch die Soziologie Webers aufgeworfenen Probleme angesehen werden konnen, deren Brauchbarkeit nicht unbedingt mit der Einlosung des Fundierungsanspruches in eins fallt. Eine Thematisierung so gesehener Zusammenhange zwischen dem Weber'schen und dem Schtitz'schen Gedankengut konnte - meines Erachtens - die sich festzufahren drohende Diskussion auf ein mehr fruchtbares Feld fiihren. Im Folgenden soil versucht werden, einen solchen Zusammenhang darzustellen. Er lasst sich, wie ich meine, in dem uns von den beiden Autoren gebotenen Rahmen der Rolle der Rationalitatsvorstellung bei Analyse alltaglicher Handlungen entwickeln. Beide namlich ^Hierzu siehe »phanomenologischerseits«: Wagner 1973; Williame 1973; extrem: Zijderveld 1972, der Weber Solipsismus vorwirft; seitens der Weberforschung jene radikale, wenn auch differenzierte Ablehnung des Fundierungsanspruchs bei Sprondel 1976; weiter auch bei Weifi 1975: S. 159.
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vertreten die These der Nichtiibereinstimmung der alltaglichen Deutungsschemata mit dem als wissenschaftliches Deutungsinstrument angesetzten Idealtypus des rationalen Handelns, beide nehmen jedoch auch eine Uberschaubarkeit und damit eine typisierende Kalkulierbarkeit der Alltagswelt in der »naturlichen« Einstellung an, die die »Rationalitat« des Alltagshandelns ausmacht. Die eigentliche Differenz besteht in der Art und Weise der Konstruktion derjenigen Struktur, an der sich das AUtagshandeln orientiert. Der Ausgangspunkt des Vergieichs soil die Alltagsstruktur der »entzauberten« Welt sein, fiir die allein Weber die Annahme eines »Rationalitatsglaubens« macht, wobei vor allem die Schiitz'sche Entwicklung des Themas beachtet wird, in der - im Gegensatz zu Weber - die historische Unterschiedlichkeit der Alltagswelten als Modifikation einer als typisch angesetzten Alltagsstruktur erscheint. Um den Zusammenhang und gleichzeitig die Differenz der Positionen von Weber und Schiitz in diesem Punkt zu verdeutlichen, soil in zwei Schritten verfahren werden: Es soil erstens die oft umstrittene gemeinsame Basis der Behandlung des Problems der »Rationalitat« von Alltagshandlungen umrissen werden, zweitens sollen dann die unterschiedliche Weise der Konstruktion der Alltagswirklichkeit und die sich daraus im Rahmen der Weber'schen These der »Weltentzauberung« ergebenden Konsequenzen betrachtet werden. II. D e r Typus des rationalen H a n d e l n s u n d die »Rationalitat« des Alitagshandelns Die Grundannahme der verstehenden Soziologie, die Weber und Schiitz teilen, kann dahingehend formuliert werden, dass der sozialen Wirklichkeit eine Bedeutsamkeit innewohnt, die aus dem Bezug des Handelns einzelner aufeinander und zur Welt resultiert und somit einen wesentlichen Bestandteil des Gegenstands der Sozialwissenschaften darstellt (Weber 1973: S. 170 ff.; Schiitz 2004: S. 86 ff.). Unter Bedeutsamkeit verstehen wir den schlichten Umstand, dass die soziale Wirklichkeit fiir den Handelnden schon immer eine konstituierte ist, d. h. dass sie fiir ihn eine - welche auch immer - Bedeutung hat, wobei
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es zuerst nicht ausschlaggebend ist, was unter »Konstitution« und »Bedeutung« verstanden wird. U m die »vortheoretische« Neutralitat dieses Phanomens, auf welches die verstehende Soziologie abzielt, festzuhalten und zu betonen, verwenden wir hierfiir nicht die Termini »Sinn« oder »Sinnhaftigkeit«, weil sie von Weber und Schiitz bereits als unterschiedhch konstruierte Begriffe zur Erfassung dessen benutzt werden, was wir Bedeutsamkeit nennen und was schon vor jeder Theorie sinnhaft ist. Dariiber hinaus scheint der Ausdruck »Bedeutsamkeit« fiir die Bezeichnung des intendierten Phanomens geeignet zu sein, weil er einerseits auf »Bedeutung« als das Resultat subjektiver Sinnkonstitution verweist, sich aber andererseits auch auf die Signifikanz der diese Konstitution mittragenden auftersubjektiven Momente der sozialen Wirklichkeit bezieht. Die Bedeutsamkeit zu erfassen, ist fiir die adaquate wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der sozialen Wirklichkeit wesentlich. Sie kann nur durch Verstehen - also Deutung - erfasst werden. Die Adaquanz der Deutung jedoch bedarf Kriterien: Eine Deutung bedarf Evidenz. An ihrem Grade kann sie bewertet werden. Folgerichtig fiihrt Weber den Idealtypus des rationalen Handelns als ein Deutungsinstrument von hoher Evidenz ein, wobei das hochste Evidenzmafi dem zweckrationalen Handlungstypus zuerkannt wird (Weber 1973, S. 428; 1972: S. 2). Die Vorstellung einer Rationalitat des Handelns, d. h. auch des Alltagshandelns, dient also im Rahmen der verstehenden Soziologie als ein Mittel der Deutung der sozialen Wirklichkeit (Weifi 1971: S. 55 ff.). An dieser Stelle wird die Uberlegung komplizierter, denn wir nahern uns einer der in der erwahnten Fundierungsdiskussion heifi umkampften Stellungen. Hier stellt sich namlich das Problem, auf welcher Ebene die Deutung vermittelst des Idealtypus des rationellen Handelns zugelassen werden soil. So, wie der Typus des zweckrationalen Handelns als der Trager hochster Evidenz definiert wird^°, kann er, so das Gegenargument, nie als ein Deutungsschema im Alltag verwendet werden. Ist dem so, so kann er umso weniger als wissenschaftliches Deutungsinstrument das postulierte hohe Mafi an Evidenz beanspruchen. Denn Evidenz besitzt ^°D. h.: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert [...]« (Weber 1972: S. 13).
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eine wissenschaftllche Deutung - ein Idealtypus - kraft des adaquaten Bezugs auf den Bereich alltaglicher Deutungsschemata, an denen sich das wissenschaftlich zu erfassende alltagliche Handein orientiert (Schiitz 1971: S. 50). Gibt es diese Adaquanz nicht, so ist die wissenschaftllche Deutung von ihrem Gegenstand abgeschnitten und daher wertlos (Zijderveld 1972: S. 181). Sollen aber andererseits die Sozialwissenschaften ihre Typen richtig biiden - und hier kommt der Fundierungsanspruch zum Tragen - so ist die Analyse der alltaglichen Deutungsschemata (Typisierungen), wie sie von Schiitz in Angriff genommen wurde, von begriindender Bedeutung. Wie ersichtlich, geht das Argument davon aus, Weber wiirde die Zweckrationalitat der Handlung in seinem Sinne als ein Deutungsschema im Alltag ansehen woUen, wahrend Schiitz dies ablehne und damit Anlass gebe, die Adaquanz der Weber'schen Typenbildung anzuzweifeln. Beim naheren Hinsehen zeigt es sich jedoch, dass dies eine verzerrende Polarisierung der beiden Standpunkte ist. Dass die Positionen in diesem Punkt nicht so eindeutig sind, woUen wir uns - in gebotener Kiirze - vor Augen fiihren. So kann fiir Weber^^ g^sagt werden: a) dass er den Idealtypus des zweckrationalen Handelns ausdriicklich als ein Mittel wissenschaftlicher Deutung konzipiert (Weifi 1975: S. 57 ff.; Weber 1973: S. 429 £); b) dass seine Praferenz hinsichtlich dieses Typus eine »forschungstechnische« ist und beziiglich der iibrigen Idealtypen des traditionalen, affektualen und wertrationalen Handelns keine Aussage iiber die Haufigkeit des von ihnen zu deutenden Handelns beinhaltet (Weber 1972: S.12); c) dass er zwischen der Ebene wissenschaftlicher Deutung und der des Alltagshandelns klar unterscheidet (Weber 1973: S. 287; 1972: S. 13);
^^Bei dieser Aufstellung habe ich mich an die Weberinterpretation von Wei£ (1971) und Seyfarth (1979) gehalten.
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d) dass er eine Korrespondenz zwischen der alltaglichen Evidenz und der wissenschaftlichen Deutung als notwendig ansieht (Weber 1973: S. 390 £); e) dass er fiir die Welt des »Zivilisierten«, die einzig hier zur Diskussion steht, eine Annahme der »Rationalitat« des AUtagshandelns macht, die allerdings nicht der idealtypischen Definition folgt, sondern auf dem Postulat des alltaglichen Glaubens an die »Rationalitat« (Kalkulierbarkeit) der Bedingungen des Alltagslebens beruht, wobei das Handeln im Rahmen diesen Glaubens routinenhaft, sich dem »gleichmafiigen Handeln ohne Jede Sinnbezogenheit« annahernd, ablaufen kann (Weber 1973: S. 473, Seyfarth 1979) ^2; Versuchen wir nun angesichts dieser Aufstellung die Schiitz'sche Position zu beschreiben, so sehen wir: a) Schiitz halt seinerseits die von Weber entworfene Konstruktion des zweckrationalen Handelns fiir den Typus des rationalen Handelns schlechthin, und, als einen solchen, gleichfalls fiir ein Instrument wissenschaftlicher Deutung der sozialen Realitat (Schiitz 1972: S. 28). Er sagt explizit, dass die Sozialwissenschaften gezwungen sind, nach der Vorstellung einer Rationalitat des Handelns zu verfahren, da sie nicht iiber einen anderen Zugang verfiigen: »Das Postulat der Rationalitat (unten unter b) angefiihrt, I. S.) impliziert weiterhin, dass alles andere Verhalten als vom Grundschema des rationalen Handelns abgeleitet ausgelegt werden muss. Der Grund dafiir ist, dass nur eine Handlung innerhalb des Rahmens der rationalen Kategorien wissenschaftlich diskutiert werden kann.« (Schiitz 1972: S. 48). b) Im Rahmen des Adaquanzpostulats heifit es dann, dass ein wissenschaftlicher Idealtypus so konstruiert werden muss, »dass der Handelnde in der lebendigen Welt die typisierte Handlung ausfiihren wiirde, wie wenn er eine klare, wissenschaftliche Kenntnis ^^Wir werden spater sehen, dass die hiermit angesprochene »qualitative« Differenz der Alltagswelten bei Schiitz zur Modifikation einer typisierbaren AUtagsstruktur wird.
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aller Elemente besafie, die fiir seine Wahl und die andauernde Tendenz, das angemessenste Mittel zur Realisierung des angemessensten Zweckes zu wahlen, relevant ist.« (Schiitz 1972: S. 48). c) Realiter vollzieht sich fiir Schiitz das Alltagshandeln nie anhand einer solchen wissenschaftlich fundierten Information. Der »Mann auf der StraGe« verfiigt iiber sie nicht, nicht mal der Intellektuelle der »gut informierte Biirger«; nur dem Handeln eines »Experten«, dessen Wissen auf einem beschrankten Gebiet durch »gesicherte Behauptungen« abgedeckt wird, kame im engen Rahmen seines Kompetenzgebiets eine Rationalitat im obigen Sinne zu (Schiitz 1972, S. 28, 87). d) Das alltaghche Handeln ist durch ein »Dahinleben« im Rahmen eines »Kochbuchwissens« gekennzeichnet (Schiitz 1972: S. 28 ff., 33). d. h. die Deutung einer Handlung im Alltag folgt nicht dem obigen »wie wenn« - Muster der Rationalitat sondern einem anderen System von Typisierungen, einem Deutungsmuster, das auf der alltaglichen Ebene die Bedeutsamkeit der »Welt« ausmacht und damit auch diejenige, die als Objekt den Sozialwissenschaften vorgegeben wird. Werden nun aus dem fiir Schiitz Behaupteten Konsequenzen gezogen, so ergeben sich zwei Fragen, die zv/ei Forschungswege anzeigen: a) Wie wird das alltagliche System von Typisierungen konstituiert und was sind die Bedingungen seiner intersubjektiven Geltung, d. h. wie ist die soziale Welt sinnhaft aufgebaut? Dies ist der Weg, den Schiitz bekanntlich ging. b) Wenn i) der wissenschaftliche Typus des rationalen Handelns unentbehrlich ist, und wenn ii) das alltagliche Handeln jedoch einem anderen Deutungsschema folgt, wie ist bei Beibehaltung des Adaquanzpostulats die Ubereinstimmung der wissenschaftlichen Typen des rationalen Handelns und der typisierten Handlungen im Alltag moglich, d. h. wie kommt das »wie wenn« zu adaquaten Deckung?
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Auf die zweite Frage lasst sich eine verhaltnismaCig iiberraschende Antwort nach Schiitz konstruieren. Diese Deckung ist deswegen m5glich, well das Kochbuchwissen zunehmend aus anonymen Ablauf- und Personaltypen besteht, in denen Subjekte hinter der »Anonymitat ihrer Funktion« verschwinden. »Wenn wir wollen«, sagt Schiitz, »konnen wir diesen Prozess der wachsenden Typisierung als einen Prozess der Rationalisierung verstehen. Zumindest ist es eine der verschiedenen Bedeutungen, die Max Weber dem Begriff >Rationalisierung< gibt, wenn er von Entzauberung der Welt spricht.« »Dieser Begriff«, sagt Schiitz weiter, »meint die Umformung einer unkontrolHerbaren und unverstandUchen Welt in eine organisierte Gestalt, die wir verstehen und deshalb beherrschen konnen und in deren Rahmen Vorhersagen moglich werden« (Schiitz 1972: S. 30 f-)Offensichtlich machte die zweite Frage Schiitz keine Schwierigkeiten, denn er erledigt sie mit einem Hinweis auf Weber. Gewiss, man konnte Schiitz hier wohl Inkonsequenz vorwerfen, da er nicht den Weg gegangen ist, den die zweite Frage andeutet und das Problem der Adaquanz ungelost liefi. Doch, so muss man fragen, lasst sich nicht seiner Entscheidung fiir den ersten Weg trotzdem Positives abgewinnen? Konnte nicht, vor der Kulisse des Weber'schen Werkes und aus ihm heraus, der Schiitz'sche Weg zu sinnvoUen Antworten auf Fragen fiihren, die dort angelegt sind? Bevor wir auf eine Antwort hinzuarbeiten beginnen, kann es sinnvoll sein, eine Zwischenbetrachtung einzulegen. Wir gingen davon aus, dass die Vorstellung der Rationalitat einer Handlung in die verstehende Soziologie zwecks Deutung sozialer Realitat eingefiihrt wurde. Weiter kann festgehalten werden, dass a) sowohl Weber als Schiitz den Typus des rationalen Handelns als ein Instrument der wissenschaftlichen Deutung einfiihren; b) beide davon ausgehen, dass fiir eine wissenschaftliche typisierende Erfassung des sozialen Handelns eine Evidenz auf der Ebene seines alltaglichen Ablaufs notwendig ist, ohne dass die Annahme einer erschopfenden inhaltlichen Entsprechung zwischen dem alltaglichen Handeln und seiner wissenschaftlichen Konstruktion gemacht
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werden miisste (Weber 1973: S. 190 ff., 287, 428; 1972: S. 13; Schiitz 1971: S. 46, 49). c) Auf alltaglicher Ebene macht Weber eine subjektiv zweckmittelrational bezogene Orientierung des Handelns zu keiner generellen Regel, sondern mehr zu einer Ausnahme. Sein Postulat der »Rationalitat« im Alltag bezieht sich auf einen Glauben an die prinzipielle Rationalitat der alltaglichen Institutionen und die mogliche Kalkulierbarkeit des Handelns im Rahmen dieses Glaubens. d) Schiitz bestreitet zwar generell, dass alltagliches Handeln sich an zweckrationalen Deutungsschemata orientiert, sein »Kochbuchwissen« basiert aber auf Handlungsrezepten, die auf Routine auf bauen und hiermit auf demselben Glauben an die Kalkulierbarkeit der Situation, in der dieses Wissen angewendet wird, wie er wohl auch Weber vorschwebte. Es wird offensichtlich, dass sich die beiden Autoren in ihrer Auffassung der Verwendung des Konstrukts »rationales Handeln« nur wenig unterscheiden, oder genauer, dass Schiitz hier Weber folgt. Ebenso wenig unterscheiden sie sich in ihrer Einschatzung der wirklichen Rationalitat des Alltagshandelns und der Verbindung der beiden Ebenen durch Evidenz. Die Methode der rationalen Deutung ist auch bei keinem der beiden daraufhin konzipiert, Bedeutsamkeit in die soziale Wirklichkeit hineinzutragen, sondern sie darin zu erfassen. Wie kann sie aber faktisch erfasst werden? Wie kommt die Bedeutsamkeit dessen zustande, was da auf der Alltagsebene evident wird, und zwar nicht nur fiir den wissenschaftlich Deutenden evident, sondern fiir einen, der im Alltag handelt?^^ Gehen wir von der eingangs postulierten Annahme aus, so entspringt die Bedeutsamkeit der sozialen Wirklichkeit dem sinnhaften Bezug der Handlungen einzelner aufeinander und auf die Welt und somit einem System von Typisierungen, an dem sich das Handeln orientiert. Die ^•^Diese wesentliche Differenz beziiglich der Ebene der Fragestellung bringt Weifi - in anderem Ziisammenhang - Idar zum Ausdruck, siehe Weifi 1975: S. 58.
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»Rationalitat« des Alltagshandelns, das offenslchtlich keiner Zweckrationalitat im obigen Sinne folgt, kann nur in einer Uberschaubarkeit des an solchen Typisierungen sich orientierenden Handelns liegen. Die Frage also ist: Wie konstituieren sich solche Systeme im Alltag? Denn - letzten Endes - sie sind es, die dem Ailtagshandeln eine »Rationalitat« im Sinne einer intersubjektiv geltenden Uberschaubarkeit verleihen.
III. Modelle der Konstruktion der Bedeutsamkeit alltaglichen Handelns bei Weber und Schiitz Die Systeme alltaglicher Typisierungen, die die Bedeutsamkeit der sozialen WirkUchkeit ausmachen, konstituieren sich fiir Weber nicht aus einer dem Alltag immanenten Struktur heraus. Sie sind immer ein Resultat des Einflusses von Deutungsschemata, die Aufieralltagliches systematisieren, vor allem also Religionen, auf die alltagliche Lebensfiihrung, deren Systematik dadurch in bestimmter Richtung gelenkt wird.^^ d. h. die Bedeutsamkeit des alltaglichen Handelns entspringt bei Weber dem Spannungsfeld zwischen dem Alltaglichen und dem Aufieralltaglichen, zwischen dem Alltag und Charisma. Weber eroffnet sich durch die Anwendung dieses Modells, das wohl erstmals in der »Protestantischen Ethik« zum Tragen kam, sowohl der Weg zur Analyse und Beschreibung der Entwicklung des okzidentalen Rationalismus vor dem Hintergrund der jiidisch-christlichen Religion, als auch zur Analyse des Fehlens solcher Elemente in an deren Kulturen.^^ Doch wie lasst sich dieses Modell der Erfassung der alltaglichen Bedeutsamkeit unter Bedingungen anwenden, deren Zustandekommen es selbst zu analysieren erlaubte, namlich un^"^Den gewaltigen Umfang dieser Problematik und ihre zentrale Bedeutung fiir ein Verstandnis des Werkes Webers hat neuerdings C. Seyfarth (1979: S. 4, 8, 24) aufgezeigt, wo sich auch eine ausfiihrliche Darstellung des Modells bei Weber und seiner Verwendung findet. Ich beschranke mich hier auf den von Seyfarth und anderen (Bendix 1964: S. 208 ff.; Schluchter 1976, Tenbruck 1975, Weift 1974: S. 142 ff.) dargesteUten Kern der Weber'schen Alltagskonstruktion. ^^Eine vorziigliche Darstellung der Okzidentalen Entwicklung finden wir bei Schluchter (1976). Fiir die Relevanz einer derart aufgefassten ReUgionssoziologie siehe Tenbruck (1975).
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ter denen einer »entzauberten« Welt? Heifit doch »Entzauberung« das Verschwinden religios, also aufieralltaglich, strukturierter Weltbilder in ihrer vereinheitlichenden, ordnenden und sinngebenden Funktion fiir die alltagliche Lebensfiihrung (Schluchter 1976: S. 273 f.; Tenbruck 1975: S. 694)! »Damit verschwindet sukzessive die Separierung und Kombination von Alltag und Aufteralltaglichkeit, die den Traditionalismus bestimmte. Seit auch die Deckung der Alltagsbediirfnisse auf kapitalistischer Basis geschieht [...] verliert die Unterscheidung zwischen dem okonomischen AUtagsbedarf und der charismatisch fundierten Deckung des dariiber reichenden Bedarfs zunehmend ihre Basis.« (Seyfarth 1979 : S. 19-20) Anders ausgedruckt: Es findet ein Prozess statt, in dem sich die sinngebenden Momente des alltaglichen Systems der Typisierungen in die Struktur des Alltaglichen selbst verlagern. Damit »versinken alle jene Annahmen liber charakteristische Eigenschaften von Mensch und Gesellschaft, welche sich im Zeitalter und unter dem Einfluss von Weltreligionen gebildet hatten«. (Tenbruck 1975: S. 694) Wie lasst sich die Bedeutsamkeit dieser veralltaglichten Welt erfassen? Was konnte als Trager eines Systems von Typisierungen dienen, das den verschwindenden vereinheitlichenden Sinnesbezug auf das Aufieralltagliche ersetzt? Welche Alternativen ergeben sich bei Weber selbst? Es liefien sich, meines Erachtens, zwei Moglichkeiten ausmachen, die jedoch, teilweise schon deswegen unbefriedigend sind, da sie schon von Weber implizite verworfen werden. a) Es konnte die Annahme einer wachsenden »Rationalisierung« des alltaglichen Denkens gemacht werden, etwa derart, dass das System der Alltagstypisierungen zunehmend dazu tendieren wird, sich an die Moglichkeit zweckrationaler Deutung zu halten und sich dadurch zu verwissenschaftlichen. Dem allerdings wiirde die eingangs geschilderte Weber'sche Auffassung alltaglicher Handlungsrationalitat widersprechen.^^ ^^Zur Weber'schen Abneigung, Wissenschaft als ein das Alltagshandeln sinnvoll ordnendes Deutungsschema anzusehen, siehe Schluchter 1976: S. 278.
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b) Im Rahmen der Herrschaftssozlologie konnte der Typus der sich perfektionierenden und ausdehnenden biirokratischen Herrschaft eine Struktur markieren, an der sich die Erfassung des sinnvoUen Aufeinanderbezogenseins der Handlungen orientieren konnte. Es konnte dies jedoch nur fiir bestimmte Alkagsregionen der Fall sein, und vor allem: Es bleibt prinzipiell zweifelhaft, ob der Bezug auf eine solche Struktur die Bedeutsamkeit der sozialen Wirklichkeit auch in den entsprechenden Alkagsregionen zu klaren vermochte. Schon bei Weber, und dann wiederholt seit Barnard, stellt die Frage nach den Griinden des Befolgens von Organisationsregeln einen festen Bestandteil organisationssoziologischer Forschung dar, ohne dass eine befriedigende Antwort gegeben werden konnte (vgl. etwa Weber 1972: S. 548, 16; Barnard 1938; Blau 1955; Crozier 1964; Etzioni 1961; Gouldner 1964, Hartmann 1964; Luhmann 1964). Es zeichnet sich also ab, dass die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit einer veralltaglichten Bedeutsamkeit in einer »entzauberten« Welt Webers Modell samt seiner impliziten Moglichkeiten vor erhebliche Schwierigkeiten stellt. An dieser Stelle, an der klar wird, dass die Weber'sche These der »Entzauberung« der Welt uns die Aufgabe auferlegt, nach einem Alternativmodell zu suchen, das geeignet ware, diese mitsamt ihrer Bedeutsamkeit zu erfassen, kann die Schiitz'sche Konzeption der Konstitution von Systemen alltaglicher Typisierungen ins rechte Licht geriickt werden. Auch fiir Schiitz entspringt die »Rationalitat« des Alltagshandelns seiner Orientierung an intersubjektiv geltendem, iiberschaubarem System von Typisierungen. Die Struktur jedoch, die es prinzipiell samt seiner intersubjektiven Deutung tragt, ist eine, die dem Bereich des Alltaglichen selbst immanent ist. Schiitz stellt namlich vorerst die »materiale« Soziologie Webers, in der erst die Weber'sche Konstruktion der Alltagsbedeutsamkeit sichtbar wird, zuriick (Schiitz 2004: S. 87). Er wendet sich dem zu, was er, von Webers Grundbegriffen ausgehend, fiir ihre Basis halt: der intersubjektiven Konstitution der Bedeutsamkeit des alltaglichen Fiandelns, wie sie sich im sinnhaften Aufeinanderbezogensein der Handlungen selber entfaltet, und ihren in der Struktur der alltaglichen
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Handlungssituationen angelegten Bedingungen. Hiermit wird klar ein Fundierungsanspruch erhoben; in unserem Zusammenhang ist es jedoch wichtiger, zu fragen, was da durch den Perspektivenwechsel in den Blick gerat. Die von Schiitz vollzogene Wendung hat zwei wichtige Konsequenzen: a) Sie wirkt sich zuerst negativ aus, und zwar dahingehend, dass es problematisch wird, aus der Schiitz'schen Konzeption heraus eine Konstitution konkreter alltaglicher Lebenswelten abzuleiten.^'^ Diese Schwierigkeit ergibt sich aus seinem Verzicht auf eine Theorie der historischen Entwicklung der sozialen Strukturen. Dies bedeutet jedoch keineswegs - wie wir noch sehen werden - dass seine AHtagsstrukturen gegeniiber der Geschichte invariant waren. Es gibt in der Schiitz'schen Konzeption durchaus Ubergange, die die Ausgestaltung des alltagHchen Systems von Typisierungen an die konkrete historische Situation ankniipfen und damit auch die MogHchkeit bieten, die Typenbildung als historisch bedingt zu fassen (Srubar 1974, 1979). Dies bedarf aber jedenfalls historisierender Momente, die nicht aus dem Schiitz'schen Werk selbst abgeleitet werden konnen. b) Die zweite Konsequenz, fiir deren Realisierung der Preis des unter a) ausgefiihrten zu zahlen ist, ist positiv und lasst sich auch wesentiich kiirzer fassen: Es konnen Bedingungen der Konstitution aUtagUcher Typisierungssysteme aufgezeigt werden, die ausschliefiHch im Bereich des AlltagHchen liegen. Die Erfassung der Bedeutsamkeit und damit auch die der »Rationalitat« des AUtagshandelns wird moglich, ohne dass ein Rekurs auf das Aufieralltagliche systematisch notwendig ware. Diese zweite Konsequenz soil uns jetzt etwas naher beschaftigen.^^ Zuerst woUen wir uns die tragenden Elemente der Struktur alltaglicher ^'^Zur Formulierung dieses Vorwurfs siehe Habermas 1970: S. 214 und Seyfarth 1979. ^^Wie eingangs vermerkt, wird die Fundierungsproblematik hier vernachlassigt, nicht zuletzt wegen des nur teilweise eingelosten Anspruchs, eine Losung des Intersubjektivitatsproblems zu bieten. Wir gehen hier aus von der post mortem erschienenen, von Luckmann besorgten und erganzten »Summa« des Schiitz'schen Denkens - den »Strukturen der Lebenswelt« (Schiitz/Luckmann 1975) - so wie von den relevanten Stellen in den »Gesammelten Aufsatzen« (Schiitz 1971, 1971a, 1971b).
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Handlungssituationen und des in sie eingebetteten Alltagswissens vergegenwartlgen. Schiitz beschreibt, seinem egologischen Ansatz gemaft, eine Basisstruktur alltaglicher Situationen, wie sie sich von dem Handelnden aus ergibt. Diese Grundstruktur der Alltagssituation weist drei Dimensionen auf: 1. raumlich 2. zeitlich 3. soziai 1. Der Alltag ist fiir Schiitz derjenige Bereich, in dem Wirken als subjektiv sinnvoll entworfenes, offenkundiges Verhalten stattfindet (Schiitz 1971: S. 238 ff.). Die raumUche Struktur der Alltagssituation gliedert sich demnach nach der Reichweite und der Wirkzone des als Wirken aufgefassten Handelns. Mit Reichweite bezeichnet Schiitz den Sektor der AUtagswelt, der der unmittelbaren Erfahrung in ihren Zeitmodi zuganglich ist. So kann sich dieser Zugriff auf die aktuelle Erfassbarkeit der Wirklichkeit in meiner Nahe richten, aber auch auf Bereiche, die sich friiher in meiner Reichweite befanden, sowie auf diejenigen, die mir aus meiner aktuellen Situation heraus zuganglich werden konnen. Die Reichweite umgrenzt raumlich die Sphare des Vertrauten samt ihrem Horizont der Ubergange. Innerhalb ihrer zeichnet sich eine Sphare ab, die durch unmittelbares Handeln beeinflusst werden kann - die Wirkzone. Sie kann, wie die Reichweite auch, in eine primare und eine sekundare analytisch eingeteilt werden. »Primar« bezeichnet das Handlungsvermogen eines Individuums anhand seiner anthropologischen Bedingungen, »sekundar« bezieht sich auf die Erweiterung dieses Vermogens anhand kultureller, d. h. wissenschaftlicher und technologischer Mittel (Schiitz/Luckmann 1975: S. 54-60). 2. Die Zeitstruktur der alltaglichen Situation wird durch zwei Zeitdimensionen bestimmt - die subjektive Zeit des inneren Zeitbewusstseins, im Anschluss an Bergson »duree« genannt, und die objektive, lineare, wie Schiitz sagt »kosmische« Zeit. Der so gegliederten Zeitstruktur kommen
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verschiedene Funktionen zu: a) Der Schnittpunkt der beiden Dimenslonen ergibt die Standardzeit, in der Ereignisse und Situationen intersubjektiv fixierbar sind (Schiitz 1971: S. 254 ff.). b) Die objektive Zeit bestimmt dem Handeln auferlegte Grenzen, in denen es realisierbar ist (Schiitz/Luckmann 1975: S. 65). c) Die Gleichzeitigkeit des Miteinanderdauerns, das gleichzeitige Altern, in einer face-to-face Situation macht die Erfahrung einer intersubjektiven Konstitution des Erfahrens Anderer moglich (Schiitz 2004: S. 226). d) Der Grad, in dem sich die in einer Situation relevant werdenden Typisierungen entweder an die intersubjektive Erfahrung des gegenseitigen Bezuges zweier durees stiitzen, oder aber an dem durch die objektive Zeit gesetzten Handlungslimits orientieren, bestimmt die zeitUch gegebene Differenz zwischen den Nah- und Fernbereichen in Alhagssituationen (Schiitz 2004: S. 331). 3. Soziaie Struktur der Alitagssituation bedeutet bei Schiitz zuerst den durch die raum-zeitHchen Strukturelemente gegebenen Unterschied zwischen einer »intimen«, in face-to-face Situationen sich aufbauenden sozialen Beziehung - also einer »Wir-Beziehung« im Rahmen vertrauter Umwelt - und einer auf anonymen Typisierungen basierenden »IhrBeziehung« im Rahmen einer Mitwelt. Die zeitliche Dimension unterteilt weiter die soziaie Struktur in eine Nach- und Vorwelt, also in einen Bereich der typischen Moglichkeit und einen der relevanten Vergangenheit (Schiitz/Luckmann 1974: S. 91 ff., 98). Dieser sozusagen schon spezifizierten Struktur liegen Grundannahmen zugrunde, die fiir die Gegebenheitsweise der alltaglichen Wirklichkeit iiberhaupt tragend sind. Es ist vor allem die »automatisch« in der alltaglichen Einstellung gemachte Annahme der Intersubjektivitat und daher auch der Sozialitat der Alltagswelt, die in der Annahme der Wechselseitigkeit der Perspektiven ihren Ausdruck findet, d. h. einer der »prinzipiell der meinen ahnlichen Erfahrbarkeit der Gegenstande der (alltaglichen, I.S.) Lebenswelt fiir meine Mitmenschen« (Schiitz/Luckmann 1975: S. 73 ff.). Diese drei Dimensionen der Struktur von Alhagssituationen machen die Grundelemente einer jeden Struktur eines Systems alltaglicher Typisierungen aus, d. h., mit Schiitz gesprochen, eines jeden alltaglichen Wissensvorrats (Schiitz/Luckmann 1975: S. 113). Schiitz unterscheidet,
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die Struktur solcher Trager alltaglicher Bedeutsamkeit beschreibend, zwischen den Grundelementen, die einen generellen Rahmen eines jeden Wissensvorrates darstellen und dem »spe2ifischen« Wissen, also der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des Systems alltaglicher Typisierungen (Schiitz/Luckmann 1975: S. 118). Dieses »spezifische« Wissen nimmt aber zum Teil eine Form an, die als Wissensform ebenso der generellen Struktur des Wissensvorrates angehort, namlich die der Routinisierung. So wird ein Teil des »spezifischen« Wissens zum Gewohnheitswissen, auf dessen Basis das »Kochbuchwissen«, d. h. das System von Typisierungen, die vorerst »endgultige« Losungen von Alltagssituationen anbieten, aufgebaut ist. Das so aufgebaute System alltaglicher Typisierungen steht nicht innerhalb der sozialen Wirklichkeit isoliert fiir sich selbst, sondern ist an ihre Dynamik angeschlossen. Dies in einer doppelten Art und Weise: erstens durch seine biographische Bestimmung, zweitens dann durch das System von Relevanzen, in dem es eingebettet ist. Diese zweifache Weise, in der der Wissensvorrat sich entwickelt, spezifiziert inhaltlich den Prozess, den Schiitz die »soziale Verteilung von Wissen« nennt. Wahrend die biographische Bestimmung fiir die individuelle Modifikation auch der Grundelemente des Wissensvorrates steht (Schiitz/Luckmann 1975: S. 125), erfiillt das System der Relevanzen - sowohl auf das Subjekt hin (immanente Relevanz), als auch auf seine historischen Bedingungen (auferlegte Relevanz) bezogen - eine doppelte Funktion. Es umfasst nicht nur diejenigen Interpretations-, Motivations- und thematischen Relevanzen, die anhand der biographischen Genese des Wissensvorrates als der Habitus eines Handelnden sich sedimentieren, sondern auch die »auferlegten« Relevanzen; d. h. solche, die sich als sozialer Zwang (im Durkheim'schen Sinne) prasentieren und daher als Motiv, Interpretation oder Thema akzeptiert werden miissen, wobei sich der Prozess der Akzeptierung durchaus als biographische Bestimmung des Wissensvorrates subjektiv darstellen kann. Die Doppelfunktion des Relevanzsystems erlaubt uns also, das Wissenssystem, das dich einerseits in einer subjektiv spezifischen Weise genetisch aufbaut, andererseits als einen Typus aufzufassen (Schiitz 1971 a: S. 158 ff.).
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Das System der Relevanzen und die auf diese Weise mit ihm gekoppelte blographische Bestimmung des Wissensvorrats sind - als Modelle, in denen generell die Genese von Wissensvorraten fassbar wird - sowohl auf alltagliche als auch auf aufieralltagliche (charismatische) »auferlegte« Relevanzen beziehbar, ohne dass sie deswegen eine auEeralltagliche Stiitze systematisch benotigten. Sie bleiben an die Struktur der Alltagssituation gebunden, der sie als konzeptuelles Modell entspringen. Es wird nun auch klar, warum sich Schiitz, wie wir am Anfang dieser Uberlegungen gesehen haben, mit dem Hinweis auf Webers Rationalisierungsprozess begniigt, ohne sich um die mit seinem »entzauberten« Ausgang aufgezeigten Probleme um die »Rationalitat« des Alltagshandelns zu kiimmern. Wenn akzeptiert wird, dass die »Rationalitat« des Alltagshandelns in seiner Orientierung an einem intersubjektiv geltend iiberschaubaren System alltaglicher Typisierungen beruht, dann hat Schiitz anhand seiner Konzeption keine Schwierigkeit, ein solches System auch in einer »veralltaglichten« Welt zu sehen. Im Gegenteil - er vollzieht ja die Konstitution eines solchen Systems aus dem Alltagsbereich heraus, um die Bedeutsamkeit der sozialen Wirklichkeit zu erschliefien. Fiir Weber noch bedeutet die »Veralltaglichung« der »entzauberten« Welt mit ihrer Anonymisierung durch Vergesellschaftung einen qualitativen Wandel der Alltagsstruktur (Weber 1972: S. 21, 569 f.). Durch das Fortschreiten dieses Wandels wird jedoch die Bedeutsamkeit der sozialen Wirklichkeit dem Zugriff des Weber'schen Modells entzogen. Fiir Schiitz stellt dagegen die »Veralltaglichung« nur ein graduelles Anwachsen des mitweltlich (d. h. anonym) Typisierbaren dar, also nur eine Verschiebung innerhalb der Alltagsstruktur, die an der prinzipiellen Bedeutsamkeit dieser Struktur nichts andern kann. Auch bleiben die umgewandelten »auferlegten« Relevanzen im Rahmen dieser Alltagsstruktur sinnvoll greifbar. Ein Exkurs soil das bereits Gesagte an einem greifbaren Beispiel eines oft beschriebenen Prozesses verdeutlichen: Beim naheren Hinsehen zeigt sich, die drei Dimensionen der Alltagswirklichkeit sind es, die eine entscheidende Rolle in dem Wandel spielen, der sich mit dem Schwinden des Einflusses des Charismatischen in der »entzauberten Welt« vollzieht. Die diesen Wandel kennzeichnende veralltaglichende Vergesellschaftung, die
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mit zunehmender Entpersonlichung der sozialen Beziehungen verbunden ist, bringt auch einen Wandel der auferlegten Relevanzen mit sich, der sich im wesentlichen in der Modifizierung der drei Dimensionen der Grundstruktur von Alltagssituationen manifestiert:
a)zeitiich:
Modifikation der Standardzeit
b)raumlich: Modifikation der Reichweite
c) sozial:
Einschrankungen der Umwelt
Aufsteilen minutioser Zeitpiane, die den Handlungsablauf Einzelner regeln und koordinieren.
Einschrankung der individuellen Bewegungsfreiheit (von der Trennung der Arbeitsstatte von der Wohnstatte bis zur Regelung einzelner Bewegungen in der Industrie und beim Militar)
Entpersonlichung der sozialen Beziehungen, insbesondere Formalisierung von Macht und sozialem Status
Es ist also ein Prozess einer extensiven Neuinstitutionalisierung der drei Dimensionen der Alltagswirklichkeit im Gange. Natiirlich ist die soziale »Technik« solcher Institutionalisierungen^^ nicht die Errungenschaft der »Moderne«. Sicherlich finden wir derartige Regelungen von ^^Fiir die Institutionalisierung als eine »Technik« der Stabilisierung der sozialen Beziehungen schlechthin siehe: Berger/Luckmann 1970: S. 49 ff.; Gehlen 1975: S. 33 ff.
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Handlungsablaufen in Klostern des Mittelalters. Ebenso finden wir in der Geschichte entpersonlichte Amtshierarchien und disziplinierte Betriebe vor. Erst jedoch mit dem sich durchsetzenden Kapitalismus wird die Manipulation der Orientierung des sozialen Handelns durch die Modifikation jener drei Dimensionen zu einer universelien, in alien Bereichen der Gesellschaft praktizierten »Technik« der Integration sozialer Beziehungen. Fabrik, Schule, Krankenhaus, Gefangnis und klassischerweise Verwaltung^°: In all diesen Bereichen wird die Vergesellschaftung von einer »Technik« der Modifikation der drei Dimensionen, die bei Schiitz die Grundstruktur alltaglicher Situationen ausmachen, getragen. Es konnten nun, soweit ich sehe, vor dem Hintergrund der Weber'schen Soziologie drei Einwande geltend gemacht werden. a) Es liefie sich darauf hinweisen, dass die Tendenz zu einer Generalisierung dieser »Technik« sich anzubahnen begann, als die kapitalistische Lebensfiihrung sich unter dem Charisma der protestantischen Ethik konstituierte. Dies bleibt unbestritten.^^ Wichtig fiir unser Argument ist jedoch, dass die Orientierung sozialen Handelns an den drei Dimensionen sich auch nach dem Abklingen des charismatischen Einflusses als integrationsfahig, d. h. als bedeutsamkeitstragend erwies. Hiermit voUzieht sich die Verlagerung der die Bedeutsamkeit tragenden Momente in den Bereich der Alltagswirklichkeit hinein. b) Es konnte weiter gesagt werden, dass die charismatische Komponente nicht verschwand, sondern nur modifiziert wurde, indem an die Stelle der Religion das Charisma der Vernunft tritt. Auch hier besteht kein Zweifel daran, dass die Modifizierung der drei Dimensionen in einem zweckrationalen Zusammenhang gesehen. ^°Dies wurde lange vor Foucault (1977) wiederholt festgestellt: Siehe etwa: Marx 1963: S. 513 ff., 351, 381, 447; Sombart 1928, Kap. 54; Durkheim 1977; Weber 1972 ff., 682 ff. ^^ Weber selbst hat ja die Lostrennung der »Rationalisierung« von ihrer charismatischen Komponente aufgezeigt und die Irreversibilitat des Vorgangs betont, siehe Weber 1973a: S. 373 f.; 1972: S. 681 ff.; M. Weber, in einem Brief an von Harnack 1906, zit. in: Weifi 1975: S. 149.
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d. h. gedeutet werden kann. Es 1st auch wahrscheinlich, dass auf der Ebene des faktischen Alltagshandelns eine solche Modifizierung, sofern sle z.B. in Satzungen zum Ausdruck kommt, unter zweckrationaler Motivation stehen konnte. Trotzdem kann angenommen werden, dass die Masse der sozialen Handlungen sich an den so gestalteten Dimensionen der Alltagssituation orientiert, ohne die Zwecke der Gestaltung, oder deren Rationalitat zu beachten (Weber, 1973: S. 473). Die Vernunft kann so, aber nur so, als eine Ordnung ailtaglicher Handlungsorientierung angesehen werden. Es fragt sich allerdings, was in diesem Zusammenhang die Rede vom Charisma der Vernunft als der aufieralltaglichen Komponente, die das AlltagHche bestimmt, fiir einen Sinn hat. Fragt man so, dann muss zuerst festgehalten werden, dass mit dieser Rede die Ebene der Argumentation wechseit. Wurde die Rationahtat des sozialen Handelns bis jetzt als ein idealtypisch konstruiertes Deutungsinstrument angesehen und damit von dem Bereich faktischen Alltagshandelns unterschieden, so wird sie, wenn die Vernunft als eine charismatische Bestimmung der alltaglichen Lebensfiihrung angesprochen wird, in den Bereich des Alltagshandelns verlagert. Doch es zeigt sich auch hier, dass das Weber'sche Modell in der »entzauberten Welt« auch dann zu kurz greift, wenn die Vernunft eingesetzt wird, um die aufieralltagliche Komponente zu spielen. Es greift deswegen zu kurz, weil die veralltaglichte »entzauberte Welt« die Polaritat des Modells nicht mehr tragt.^^ Das Alltagshandeln wird, wie gezeigt, nicht von einer Idee der Vernunft geleitet, so wie es etwa von der Idee der »innerweltlichen Askese« geleitet wurde, sondern zunehmend an der institutionalisierten Zeit-, Raum- und sozialen Struktur der Alltagswirklichkeit orientiert. Diese Struktur kann zwar zweckbezogen geordnet, also rationalisiert, aber keineswegs zuerst zu diesem Zwecke durch rationelle Uberlegung geschaffen werden. Sie existiert unabhangig als tragen^^Hiermit soil nicht bestritten werden, dass dasjenige Alltagshandeln, das auch unter den Bedingungen der »entzauberten Welt« charismatisch orientiert ist, vom Weber'schen Modell erfasst werden kann.
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der Bestandteil alltaglicher Situationen. Ihre Modifikation wird nicht durch aufieralltagliche Beziige geleitet, sondern orientlert sich an den drei Dimensionen selber, zwecks Erreichens von Zielen, die durchaus Im alltaglichen Bereich anzusiedeln sind. Die Voraussetzung dafiir, dass die Vernunft als Ordnung des »entzauberten« Alltags auftreten kann, ist also die Veralltaglichung ihrer selbst. Was sie als ein Charisma erscheinen lasst, ist selbst ein Produkt dieser Veralltaglichung: Die Bedeutsamkeit der »entzauberten« sozialen Wirklichkeit beruht auf Systemen alltaglicher Typisierungen. Die Kalkulierbarkeit der Alltagssituationen geht auf diese Systeme zuriick. Die Rationalitat dieser Kalkulierbarkeit weist keine aufieralltaglichen Beziige mehr auf. Nachdem sie jedoch auf einem System von Typisierungen aufgebaut ist, ist sie auch mit einem Horizont der Ungewissheit verbunden. Erst die Ungewissheit, die der auf Typisierungen beruhenden Kalkulierbarkeit eigen ist, markiert einen Mangel an Vernunft und projiziert sie so aufierhalb ihrer selbst. Das Charisma der Vernunft ist so eine Form ihrer alltaglichen List. c) Drittens konnte geltend gemacht werden, dass die »Technik« der Modifikation der drei Dimensionen in dem Weber'schen Idealtypus der biirokratischen Herrschaft erfasst wird. Das Problem wurde schon im Vorangegangenen in anderem Zusammenhang gestreift und soil nun naher betrachtet werden. Es steht aufier Zweifel, dass der Idealtypus der biirokratischen Herrschaft auf der Formalisierung der drei Dimensionen aufbaut. Doch er erfasst nicht diese selbst, sondern vielmehr die Auswirkung der »Technik« ihrer Modifikation in einem wesentlichen Bereich: demjenigen der Verwaltung von Sachgebieten. Der Idealtypus der biirokratischen Herrschaft verkorpert so nur einen Spezialfall der Anwendung dieser »Technik«. Trotzdem sieht Weber auch die Tendenz zu ihrer Universalisierung klar. Die Vision eines »Gehauses der H6rigkeit« in der Gestalt einer durchbiirokratisierten Gesellschaft bezieht sich nicht nur auf die Moglichkeit einer Totalisierung der biirokratischen Verwaltung, sondern auch auf die um sich grei-
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fende mechanistische Vergesellschaftung der modernen Produktion. Es hat daher vielmehr den Anschein, dass Weber sich dem hier diskutierten Sachverhalt mit seinem Begriff der universellen »Disziplinierung« nahert, den er als eine »Rationalisierung der politischen und okonomischen Bedarfsdeckung« versteht (Weber 1972: S. 687). Mit dem Hinweis auf die Technik des »scientific management« spricht er die Gestaltung der auferlegten Relevanzen in industriellen Betrieben an. Seine Aufmerksamkeit bleibt jedoch auch hier auf den Vorgang der »rationellen Bedarfsdeckung«, d. h. auf Verwaltung von Mitteln gerichtet. Die Bedeutung der die »Disziphnierung« tragenden modifizierten Dimensionen der Alltagssituationen fiir die Konstitution der sinnhaften Orientierung des sozialen Handelns sowohi innerhalb als auch aufierhalb so geordneter Betriebe wird obwohl ein derartiger Zusammenhang wohl angenommen wird nicht thematisiert(Weber 1972: S. 682).^^ Die auferlegten Relevanzen der neuinstitutionalisierten Zeit-, Raum- und sozialen Dimension tragen jedoch iiber einen so abgesteckten Rahmen hinaus. Der Arbeiter, der Schiiler, der Patient, der Gefangene, der Fahrgast oder auch der Kunde in einem Supermarkt sind keine Trager der »rationellen Kalkulation«. Trotzdem ist es offensichtlich, dass das Alltagswissen - das System alltaglicher Typisierungen - und damit auch die Orientierung des Alltagshandelns der Individuen, sofern sie als Arbeiter, Schiiler etc. handeln, von den eingangs beschriebenen drei Dimensionen getragen wird. Dariiber, inwiefern diese Dimensionen, derart modifiziert, das gesamte System der bedeutsamkeittragenden Alltagstypisierungen der in einer »entzauberten Welt« Handelnden pragen, steht eine systematische empirische Untersuchung noch aus.^"^ Die folgende Gegeniiberstellung ^^Es blieb spateren Weber-Rezeptionen vorbehalten, dem Problem nachzugehen, und etwa eine biirokratische Personlichkeit zu skizzieren. Vgl. Merton 1968: S. 249 ff. Weber selbst lasst es ungeklart und belasst uns im Falle der biirokratischen Herrschaft im Ungewissen iiber den die Identifikation mit dem Befehl bewirkenden Legitimationsglauben (vgl. Weber 1972: S. 544). ^"^Als einen theoretischen Versuch zur Frage der Relevanz der Zeitdimension fiir die alltagliche Typenbildung siehe Srubar 1974.
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zweier historischer Situationen kann vielleicht die Richtung anzeigen, in der solch eine Untersuchung gehen miisste: 1844 erhob sich die Prager Arbeiterschaft und zerstorte in einem blutigen Aufstand die Maschinerie der Textilfabriken - den materialisierten Ausdruck der neugeordneten auferlegten Relevanzen, den sie als lebensbedrohend ansah (Husa 1972). Etwa neunzig Jahre danach, 1930, zerfallt das soziale Leben des osterreichischen Industriedorfes Marienthal und weist stark anomische Ziige auf, nachdem genau diese auferlegten Relevanzen durch die Stilllegung der Betriebe ausfielen, in denen die Mehrzahl der Einwohner beschaftigt war (Jahoda u.a. 1934). Keine Illustration darf mit theoretischen Schlussfolgerungen belastet werden. Auch diese nicht. Sie umreiftt jedoch die Relevanz der drei besprochenen Dimensionen fiir die Konstitution der Bedeutsamkeit der sozialen Wirklichkeit anschaulich. Unseren Exkurs abschliefiend, woUen wir den darin verfolgten Zusammenhang unter Riickgriff auf Max Webers Worte summieren: »Das Schicksal des Charisma ist es, durchweg mit dem Einstromen in die Dauergebilde des Gemeinschaftshandelns zuriickzuebben zugunsten der Machte entweder der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung. Sein Schwinden bedeutet, im Ganzen betrachtet, eine Zuriickdrangung der Tragweite des individuellen Handelns. Von alien jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zuriickdrangen, ist die unwiderstehlichste eine Macht [...]: die rationale Disziplin« (Weber 1972: S. 681). Die Durchsetzung dieser vergesellschaftenden Disziplin beruht auf der Modifikation der von Schiitz aufgezeigten Struktur der Alltagswirklichkeit, die gleichzeitig auch das System der Alltagstypisierungen tragt. Dies scheint fiir die Brauchbarkeit des Schiitzschen Modells zu sprechen, wenn es um die Erfassung der Bedeutsamkeit einer solchen Wirklichkeit geht. Wir fassen zusammen: Schiitz' Modell der Konstitution der Bedeutsamkeit der Alltagswirklichkeit scheint die Erfassung eines Handelns zu erlauben, dessen sinnvolle Orientierung keinem »ideologischen« Charisma entspringt, oder umgekehrt, fiir Schiitz bedarf es keiner aufieralltaglichen Komponente, damit das Alltagshandeln in seiner Bedeutsamkeit fassbar wird. Nicht umsonst greifen die marxistisch orientierten Analysen des alltaglichen, also des falschen Bewusstseins zum Schiitz'schen Modell
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(Leithauser 1976; Sallach 1973; Smart 1976). Nicht umsonst orientieren sich Soziologen an Schiitz, die nach »Regeln oder Standards suchen, durch die Ereignissen oder Objekten Bedeutungen zugeschrieben werden«^^. Die »Veralltaglichung« der »entzauberten« Welt scheint Schiitz' Konzeption entgegenzukommen. Wahrend Weber das Problem der Strukturiertheit des Alltags durch die Frage nach Relevanz des AujReralltaglichen fiir einen historisch gegebenen Prozess lost, fragt Schiitz nach einer Strukturiertheit, die als Bedingung der Konstitution des sinnvollen gegenseitigen Bezugs der Handlungen aufeinander im Alltag selbst entsteht. Das, was bei einer Rekonstruktion alltaglicher, durch Weltreligionen strukturierter Lebenswelten als ein Nachteil des Schiitz'schen Modells erscheinen kann, wendet sich zum Vorteil, wenn nach einer die Bedeutsamkeit tragenden Struktur in einer Lebenswelt gefragt wird, in der es keinen vereinheitlichenden Bezug auf das Charisma des Aufieralltaglichen mehr gibt. Literatur: Barnard, Chester I. (1938): The Functions of Executive. Cambridge, Mass: Harvard Univ. Press. Bendix, Reinhard (1964): Max Weber - das Werk. Miinchen: Piper. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Blau, Peter M. (1955): The Dynamics of Bureaucracy. Chicago: Univ. of Chic. Press. Cicourel, Aaron V. (1970): Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Crozier, Michel (1964): The Bureaucratic Phenomenon. Chicago: Univ. of Chic. Press.
^^Cicourel 1970: S. 281; dort auch Hinweise auf Garfinkels Papiere, in denen Schiitz' Modell expiizit herangezogen wird.
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6. Die konstituierte und die produzierte Zeit. Zur Theorie der Typenbildung bei Alfred Schiitz und ihren Grenzen I. Einleitung: P r o b l e m der U b e r w i n d u n g des Schiitz'schen »egologischen« Ansatzes Elner der gangigsten Vorbehalte gegeniiber dem Schiitzschen methodologischen Ansatz gilt seinem auf Husserl und M. Weber zuriickgehenden Ausgangspunkt: dem Ego, das einzig die soziale Welt sinnhaft konstituieren kann, so dass diese immer als ein subjektiver SInnzusammenhang erscheint (vgl. etwa: Schiitz 2004: S. 27; Schiitz 1971: S. 39 f., 64 f., 72 f., 168 ff.; Schiitz/Luckmann 1975: S. 33 ff.).^^ Stellvertretend fiir die Kritik der sozialwissenschaftlich-methodologischen Brauchbarkeit dieses egologischen Ansatzes, der in dem Versuch seinen Anfang nahm, das Dickicht der Probleme um den Weber'schen Begriff des mit einer Handlung verbundenen »subjektiv gemeinten Sinnes« mit Mitteln der Phanomenologie zu lichten (Schiitz 2004, insb. Abschn I u. IV), sei hier der oft zitierte Einwand von Habermas angefiihrt: »Nun sind Phanomenologen stets von der Erfahrung ihrer eigenen individuellen Lebenswelt ausgegangen, um durch Abstraktion und Generalisierung zu den Leistungen der sinnstiftenden Subjektivitat zu gelangen. Auf diesem Wege mag die Konstitution der Lebenswelt in ihrer abstrakten Allgemeinheit untersucht werden. Aber ^^Das hier sich stellende Problem der tJbertragung der auf der transzendentalen Ebene gewonnenen Ergebnisse Husserls auf die Ebene der natiirlichen Einstellung kann hier nicht erortert werden. Auf eine mogliche Losung bei Husserl selbst sei jedoch hingewiesen in: Husserl 1973: S. 35. Hier spricht Husserl von der Moglichkeit, Resultate transzendentaler Analyse auf empirische Egos zu applizieren in Form einer phanomenologischen Psychologie, vgl. a. Husserl 1968: S. 247 ff., 264 ff., 295 ff., auch Schiitz selbst in: Schiitz 1971: S. 154 und 161; zu Verhaltnis Husserl - Weber ebd.: S. 161, 168 ff.
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so stoCen wir nicht auf eine einzige geschichtlich konkrete Lebenswelt, es sei denn auf die der Phanomenologen selber. Wohl konnen wir phanomenologisch beschreiben, dass es generell nur Lebenswelten geben kann, die unverauiKerlich individuell sind. Aber diese abstrakte Feststellung hilft uns noch nicht iiber die Schranke hinweg, die eine phanomenologische Beschreibung des Aufbaus der sozialen Lebenswelt iiberhaupt von der Erfassung jeder moglichen individuellen Lebenswelt, sei es eines einzelnen oder einer sozialen Gruppe, trennt. In diesem Fall geniigt nicht langer eine Generalisierung der eigenen Erfahrung, bei der Schiitz als guter Husserlschiiler immer stehengeblieben ist«. (Habermas 1970: S. 214 f.) Diese Passage aus »Zur Logik der Sozialwissenschaften« gibt eine sehr verbreitete Einstellung der phanomenologischen Soziologie gegeniiber wieder, mit der schon Schiitz zu kampfen hatte (vgl. Schiitz 1971: S. 55 ff.). Was jene Schranke in der Habermas'schen Sicht ausmacht, ist klar: Es ist die von ihm postulierte Unmoglichkeit der Konstitution einer intersubjektiven sozialen Erfahrungswelt im Rahmen des auf ichhafter Konstitution griindenden phanomenologischen Ansatzes. Es ware nun ein Leichtes, dem Habermas'schen Vorwurf eine reduktionistische Argumentation nachzuweisen, die die Brauchbarkeit der Resultate phanomenologisch orientierter Analysen der Lebenswelt nicht an ihrem Gehalt, sondern an ihrer durch den pauschalen Vorwurf des aller Phanomenologie zugrunde liegenden Solipsismus von vornherein diskreditierten Konstitution misst. Ebenso leicht ware es, mit dem Hinweis auf die Schiitz'schen Argumente, die er den in ahnlicher Richtung gemachten Einwanden von E. Nagel und C.G. Hempel entgegenbrachte, und in denen das Alltagswissen als die gemeinsame Sinnbasis der Handlungen ausgewiesen wird (Schiitz 1971: S. 60), die so interpretierte Habermas'sche Kritik als irrig und die Sache nicht treffend abzuweisen. So zu verfahren hiefie aber, in polemischer Verblendung wirklichen Problemen aus dem Wege zu gehen. Wie kommt es - so ist es zu fragen - dass der Schiitz'sche Ansatz immer noch in der breiten Soziologengemeinde derartigen Vorwiirfen ausgesetzt wird, obwohl sich Schiitz seit seinem ersten Werk auf den Boden der »natiirlichen Einstellung« stellte (Schiitz 2004: S. 19), in der wir die Existenz der sozialen Welt so hinnehmen, wie wir es im taglichen Leben tun, und in der
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»auf jedes Eingehen auf die eigentlich transzendental-phanomenologische Fragestellung nach der Konstituierung des Alter Ego im Bewusstsein des einsamen Ich« verzichtet wird, da das Alter Ego von vornherein dem Sinnzusammenhang »soziale Welt« angehort (S. 219 f.) Weder die spateren Untersuchungen zur Intersubjektivitat (Schiitz 1971b: S. 86 f.), in denen Schiitz das Scheitern der Husserl'schen Versuche der transzendentalen Konstitution von Alter Ego erkennt, noch die Distanzierung von den »eidetisch-phanomenologischen« soziologischen Untersuchungen der Zwanziger Jahre (Schiitz 1971: S. 163)^^ konnten eine entsprechende Korrektur der obigen Bewertung bewirken. Dies lasst die Frage als berechtigt erscheinen, ob die Schiitzsche Darstellung der Struktur der Alltagswelt und des Zugangs zu ihr in der Tat nicht Momente aufweist, die ihr engere Geltungsgrenzen zuweisen als diejenigen, die sie beansprucht. Mit anderen Worten: ob die intersubjektive Sinngeltung der alltaglichen Wissensgehalte als Basis jeder Theorie der sozialen Wirklichkeit nicht mit Mitteln dargestellt wird, die an ihrer Verbindlichkeit zweifeln lassen. 1st die Frage so gestellt, kann auch ein Ansatz einer sinnvollen Kritik an Schiitz gefunden werden. Uber Schiitz hinaus zu gehen, d.h. seinen egologischen Ansatz zu iiberwinden, kann nicht heifien, die Sinngeltung der Alltagswelt auf ihre Konstitution und die wiederum auf die relativ leicht angreifbare Intersubjektivitatstheorie Husserls zu reduzieren und als Solipsismus abzuweisen. Denn dadurch wird der Zugang zur Alltagswelt kritisiert, nicht aber ihre Sinngeltung aufier Kraft gesetzt. Es ist vielmehr notwendig zu sehen, ob nicht Moglichkeiten iibersehen wurden, die bindende Sinngeltung der Alltagswelt plausibler darzustellen als dies bei Schiitz der Fall war. Damit dies untersucht werden kann, muss zuerst bestimmt werden, welche Mittel Schiitz aufzeigt, durch die die Sinngeltung der Alltagswelt realisiert wird.
^^Es handelt sich um Gerta Walthers Arbeit: Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften in Jhb. fiir Philosophie und phanomenologische Forschung 1925, Bd. 7, und die Arbeiten von Edith Stein, die von Schiitz wegen ihrer »Naivitat« (so Schiitz) abgelehnt werden.
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11. Der Typus als tragende Form des alltaglichen Wissens Die Sinngeltung der Alltagswelt manifestlert sich im alltaglichen Wissen. In diesem Wissen, dem alltaglichen »Wissensvorrat«, ist die Welt nicht in der Totalitat ihrer ungeordneten Mannigfaltigkeit gegeben, sondern sie wird, durch Relevanzselektion und Situationsbezug bestimmt, als typisiert erfahren. (Husserl 1972; Schiitz 2004a: S. 92 ff.; Schiitz/Luckmann 1975: S. 113). Mit Schiitz'schen Worten: »Das Alltagswissen des Einzelnen von der Welt ist ein System von Konstruktionen ihrer typischen Aspekte« (Schiitz 1971: S. 8). Den Sinnzusammenhang »Alltagswelt« macht also eine Konstruktion von typisierten Erfahrungen und Erwartungen aus. Gleichzeitig ergibt diese Konstruktion eine Matrix, vor deren Hintergrund auch Atypisches ausgemacht und in einem Zusammenhang behalten werden kann, so dass die Mannigfaltigkeit der Welterlebnisse in ihrer Eigenart erhalten wird (Schiitz/Luckmann 1975: S. 234 ff.) Die Realitat der Welt prasentiert sich also als ein typenstrukturierter Sinnzusammenhang. Wenn wir daher die Schiitz'sche Darstellung der Sinngeltung des AUtags weiter untersuchen wollen, miissen wir unsere Aufmerksamkeit in diese Richtung lenken. Der »pragmatische« Bezug der Typen lasst sich nach dem Gesagten in vier Punkten bestimmen: a) Der Typus, der eine Sedimentierung situationsbestimmter Erfahrung ist (Schiitz/Luckmann 1975: S. 229) dient der Orientierung des Handelns in Situationen, auf deren Interpretation hin er gebildet wurde. b) Der Umstand, dass er der Orientierung dient, deutet darauf hin, dass er sich in atransparenten Situationen zu bewahren hat, also dass er zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem zu vermitteln hat (Schiitz/Luckmann 1975: S. 230 f., Schiitz 2004a: S. 142 f.). c) Davon leitet sich auch seine zeitliche Ausdehnung ab: obwohl an bestimmte Gehalte der Vergangenheit gebunden, d) tragt er Erwartungen mit am Horizont, die, ins Ungewisse gerichtet,
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zwar Handlungsablaufe antizipieren, allerdings von einem Hof alternativer Moglichkelten umgeben sind (typische Vorbekanntheit im Husserlschen Sinne, vgl.: Husserl 1972, S. 8) WIe ersichtlich, stellt der Typus auf alltaglicher Ebene fiir das Handeln eine Situatlonsinterpretation dar, die neutrale Vorgange in der Welt in vertraute Zusammenhange einfiigt und sie auf diese Weise zu bestimmten, d.h. mit bestimmtem Sinn besetzten Ablaufen macht. Dies geschieht, ohne dass besondere Bewusstseinsaktivitaten erforderlich sind: Die Zuordnungen erfoigen »automatisch«. Die Wirklichkeit, die so konstituiert wird, ist die Wirklichkeit schlechthin, die nur in aufierordentlichen Situationen in ihrem Ganzen relativiert werden kann. Eine so geartete Wirklichkeit ist bei Schiitz auch die der sozialen Welt. Sie birgt jedoch eine Doppelbedeutung in sich, die in der doppelten systematischen Funktion ihrer tragenden Form des Typus - zum Ausdruck kommt. Denn einerseits stellt der Typus die Art und Weise dar, in der Welt intersubjektiv verbindlich prasent - d. h. wirklich - wird, so dass er als Mafi der Adaquanz fiir Konstruktionen zweiten Grades - namlich die wissenschaftlichen Typen - dient (Schiitz 1971: S. 46 ff., 68, 293 f.), andererseits, da er immer nur als sedimentierte Erfahrung moglich ist, tragt er jene biographisch bestimmten Momente in sich, die die subjektbezogene Perspektivitat derselben Welt ausmachen. In der ersten Funktion erkennen wir das Denkmodell von Husserls Konzeption der Lebenswelt als Sinnbasis menschlicher Aktivitaten (sowohl praktischer als auch theoretischer Art) wieder. So, wie bei Fiusserl die Lebenswelt »ein Reich urspriinglicher Evidenzen« ist, auf die alle erdenkliche Wahrheitsbewahrung zuriickfiihrt, da in ihnen das intersubjektiv Erfahrbare liegt (Husserl 1969, S. 34 f.), so ist bei Schiitz auf der Ebene der sozialen Welt (der Kulturwelt) die alltagliche soziale Wirklichkeit der Bereich, in dem die das alltagliche Verhalten motivierenden »Konstruktionen des Alltagsverstandes«, die auf der Basis von vorwissenschaftlichen Typisierungen zu Stande kommen, die urspriingliche Grundlage fiir die Adaquanz der Aussagen iiber diese Wirklichkeit und Handlungen in ihr darstellen (Schiitz 1971: S. 68 ff.). Wie man sieht, konstituiert Schiitz im Bereich des Alltagswissens eine besondere Kategorie des Alltagstypus,
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den er als den »konstruktiven« - oder auch als den Idealtypus bezeichnet. Dieser Typus lasst sich m.E. als »Konstruktion des Alltagsverstandes« an dem Ubergang des vorpradikativen in der unmittelbaren Wahrnehmung passiv vorkonstitutierten Wirklichkeitsbereiches zu gedanklichen Gegenstanden pradikativen Charakters verorten.^^ Es handelt sich hier um Handlungsablauf- oder Personaltypen^^, die als typisierte Muster der im Alltag tatsachlich erlebten Motive und Zwecke von Handlungen der Erfassung des Sinnes des Verhaltens Anderer dienen (Schiitz 1971: S. 70), und so auch der alltaglichen Handlungsorientierung. Die Bezeichnung »Idealtypus« darf uns also nicht dazu verleiten, diese Typen im Weberschen Sinne fiir ein Mittel wissenschaftlicher Klassifizierung und Deutung zu halten, das in der sozialen Wirklichkeit nie so der Fall zu sein braucht, wie es konstituiert ist (Weber 1972: S. 9 f.). Das »Ideale« an diesem Typus im Unterschied zu jenem im Sinne Webers liegt darin, dass es sich um einen »gedanklichen Gegenstand« handelt, in dem ein Moment der Abstraktion beinhaltet ist, der ihn fiir mehrere Situationen verwendbar macht. ^° Erst auf der Sinnbasis dieser konstruktiven Typen konnen die wissenschaftlichen Typen als Konstruktionen zweiten Grades konzipiert werden: Typenbildung als sozialwissenschaftliche Methode ist so dadurch legitimiert, dass der alltaglich Handelnde ebenso sein Handeln an typischen Deutungsmustern orientiert. Der Unterschied der alltaglichen und der wissenschaftlichen Typenbildung besteht allerdings darin, dass wissenschaftliche Typisierungen zwar auch wie die Alltagstypen problembezogen konstituiert werden, doch sind sowohl die ihnen zugrunde liegenden ^^Verschiedene Stellen lassen darauf schlieEen, dass Schiitz sich iiber den Konstitutionscharakter dieser Alkagstypen nicht im Klaren war. So spricht er im »Aufbau« liber pradikative Personakypen (Schiitz 2004: S. 342 ff.), in »Problem der Relevanz« aber von vorpradikativer Erfassung der Mitmenschen, ohne diese auf umweltliche Beziehungen zu beschranken (Schiitz 2004a: S. 120 ff.). •^^Das Verhaknis der beiden zueinander wird spater besprochen. ^°Auch hier gibt es Unterschiede zwischen jungem und altem Schiitz, im »Aufbau« (Schiitz 2004: S. 342) hat der Ideakypus noch den Charakter eines Inbegriffs der Variationen des moglichen »Jetzt und So«, so dass er mit einem konkreten Ego nicht in eins fallen konnte. In den »Gesammelten Aufsatzen« (Schiitz 1971: S. 50 ff.) scheint dies nicht mehr der Fall zu sein.
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Relevanzen als auch Ihre Stellung im Rahmen der sozialen Wirklichkeit von einem ganz anderen Charakter. Der Sozialwissenschaftler, wenn er seine Wissenschaft ausiibt, hat kein »hier« in der sozialen Welt, das ihn in eine unmittelbare Interaktion verstricken wiirde. U m die soziale Wirklichkeit zu erfassen, bildet er, von der Typisierung des beobachteten Handlungsablaufs ausgehend, einen diesem typisierten Handlungsablauf entsprechenden Personaltypus - einen Homunkulus, dem er ein »hier« und ein »dort« in der sozialen Welt zuschreibt, ihn mit den fiir das Problem notwendigen Relevanzen und Wissensvorrat ausstattet usw.. Die Adaquanz dieser wissenschaftlichen Typenbildung wird dann gewahrleistet, wenn die Typen a) logisch konsistent sind, b) auf einen fiir den Handelnden moglichen subjektiven Sinn der Handlung zuriickfiihrbar sind und c) Adaquanz besitzen. Unter Adaquanz ist zu verstehen, dass »jeder Begriff in einem wissenschaftlichen Modell menschlichen Handelns so konstruiert sein muss, dafi eine innerhalb der Lebenswelt durch ein Individuum ausgefiihrte Handlung, die mit der typischen Konstruktion iibereinstimmt, fiir den Handelnden selbst ebenso verstandlich ware wie fiir seine Mitmenschen, und das im Rahmen des Alltagsdenkens. Die Erfiillung dieses Postulats verbiirgt die Konsistenz der Konstruktionen des Sozialwissenschaftlers mit den Konstruktionen, die von der sozialen Wirklichkeit im Alltagsdenken gebildet werden« (Schiitz 1971: S. 50).^^ Dieses Adaquanzpostulat zeigt die zentrale Stellung der alltaglichen konstruktiven Typen in der Schiitzschen Auffassung der intersubjektiven Wirklichkeit klar an. Wie ersichtlich, ist die Einhaltung dieses Postulats auch eine Bedingung der unter b) geforderten subjektbezogenen Sinninterpretation. Dies fiihrt uns zu der angesprochenen zweiten Funktion des Typus als der tragenden Form ^^Zu der obigen Charakterisierung des wissenschaftlichen Typus siehe Schiitz 1971: S, 46 ff.
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des Alltagswissens zuriick: Soil der Wissenschaftler anhand des Adaquanzpostulats ein Handlungsmodell bilden konnen, das eine Zuriickfiihrung auf einen subjektiv gemeinten Sinn ermoglicht, muss die die Adaquanz begriindende »alltagliche Konstruktion« schon ein erkennbares Moment der Perspektivitat beinhalten. Diese ergibt sich, wie wir bereits sahen, notwendigerweise aus der Konstitution des Typus als einer Sedimentierung vergangener Erfahrungen, die schon immer biographisch bestimmt ist. Dass die alltaglichen konstruktiven Typen aus einer subjektiven Perspektive heraus gebildet werden, verankert sie in der Unmittelbarkeit der sozialen Welt und macht also ihren »Wahrheitsbezug« aus. Andererseits stellt die Perspektivitat diese so gewonnene intersubjektive Geltung in Frage. Betrachten wir nun noch einmal die RoUe des konstruktiven Typus im Schiitzschen System, so sehen wir, dass der Typus den Wendepunkt darstellt, in dem die intersubjektive Giiltigkeit der sozialen Welt mit dem grundsatzlich nur subjektiv moglichen Zugang zu dieser sich vereint; d.h. dass der Typus diejenige alltagliche Konstruktion darstellt, deren Funktion es ist, die intersubjektive Sinngeltung der Alltagswelt zu tragen, sie im alltaglichen Wissen aufrechtzuerhalten.'^^ Angesichts dieser wichtigen RoUe, die dem konstruktiven Typus bei der sinnhaften Konstitution der sozialen Welt zufallt, und angesichts der oben festgestellten in seiner Konstitution angelegten Unstimmigkeiten zwischen dem intersubjektiven Anspruch und seiner Perspektivitat, ist nach dem Zustandekommen dieser Konstitution, d.h. nach der Typenbildung zu fragen, um zu sehen, ob da Konsequenzreiches nicht iibersehen wurde. III. Typenbildung u n d Zeitstruktur der sozialen Wirklichkeit Die Unstimmigkeit zwischen dem intersubjektiven Anspruch der typisierten sozialen Wirklichkeit und ihrer Perspektivitat, ist Schiitz nicht entgangen. Er stellt seine »Generalthese der Reziprozitat der Perspektiven« im Alltag auf, die besagt, dass: »mein Mitmensch und ich typisch die gleichen Erfahrungen von der gemeinsamen Welt machen wiirden. ^Zu dieser Funktion des Typus vgl. Natansonl970: S. 1-22, insbes. S. 8 u. 21.
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wenn wir unsere Platze austauschten [...]« (Schiitz 1971: S. 365). Die These stiitzt sich auf die Annahme einer gemeinsamen Umweit^*^, die auf der unmittelbaren sozialen Beziehung zwischen Ich und Du basiert, und in der wir gemeinsam erfahren, was in ihr vorgeht. Schiitz erlautert dies am Beispiel eines Vogelfluges: »Ich und Du, wir sehen den Vogel im Flug. Der Vogelflug ist ein Geschehnis in der Weltzeit, der offentUchen Zeit, das gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung des Fluges, also einem Ereignis in unserer inneren, privaten Zeit, stattfindet. Die zwei Bewusstseinsstrome, der deine und der meine, werden mit dem Geschehnis in der Weltzeit (Vogelflug) synchronisiert« (Schiitz 1971: S. 366 f.). Wie aus dem Beispiel hervorgeht, ist die Reziprozitat der Perspektiven nur moglich, wenn zwei Voraussetzungen erfiillt sind: a) Es muss die Identitat des Wahrgenommenen, also die intersubjektive Erfassbarkeit dieser Identitat gewahrleistet werden. b) Es muss eine wenigstens annahernd gleiche Konstitution des Fluges in der Wahrnehmung angenommen werden. Zu a) Wie ersichtlich, ist die intersubjektive Identitat des Wahrgenommenen (des Fluges) dadurch gegeben, dass es in der Weltzeit geschieht. D . h.: Der Ablauf des Fluges in einer iibersubjektiven, aufieren, offentUchen Zeit vereint die Perspektiven der beiden Bewusstseinsstrome in einem Schnittfeld, indem er sie, die sich auf ihn beziehen, »synchronisiert«. Hiermit ist der Ansatz getan, Intersubjektivitat trotz Perspektivitat zu erhalten. Dass die offentliche Zeit diejenige Dimension ist, in der es zu einer Auseinandersetzung der Perspektiven kommen kann, ist klar: offentlich, weil eine iiberindividuelle Dimension gebraucht wird; Zeit und nicht etwa der Raum, weil die Welt egozentrisch wahrgenommen wird, d.h., dass der raumliche, durch die Leiblichkeit gegebene Standpunkt, das jeweilige »hic« und »illic«, die Ich- zentrierte Perspektiveneben der jeweiligen biographischen Situation bestimmt. Obwohl also auch der ^•^Es scheint unslcher zu sein, ob der Begriff »Umwelt« an dieser Stelle im spezifischen Sinne vom »Aufbau« als Gegensatz zu »Mitwelt« zu lesen ist, oder im iiblichen Sinne einer Umgebung zu verstehen ist.
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universale Raum - die Erde - die raumliche Struktur der Alltagswelt bestimmt, kommt der offentlichen Zeit als der universellen Zeitstruktur der Alltagswelt in diesem Sinne eine gravierendere RoUe zu, indem sie den intersubjektiven Bezug auf das Wahrgenommene fundiert und so einen Rahmen des gegenseitigen Bezuges von Handlungen darstellt. Die Weltzeit selbst kann allerdings ihre koordinierende RoUe nur erfiillen, weil sie im Schnittpunkt der »kosmischen« und der »inneren« Zeit liegt (Schiitz 1971: S. 255). Sonst ware sie fiir den Bewusstseinsstrom nicht erreichbar und hatte also fiir das Handeln keine Relevanz. Zu b) Der notwendige Bezug auf den subjektiven Bewusstseinsstrom fiihrt uns zu der zweiten Voraussetzung der gleichen Konstitution des Wahrgenommenen in der Wahrnehmung selbst. Diese Annahme stiitzt Schiitz auf seine Generalthese des Alter Ego, die besagt, dass der Erlebnisstrom des Du »die gleichen Urformen aufweise wie der meine« (Schiitz 2004: S. 220), oder in spaterer, erweiteter Form, »dafi der Gedankenstrom des Anderen die gleiche Grundstruktur wie mein Bewusstsein aufweist. Der Andere ist also wie ich des Handelns und Denkens fahig; sein Gedankenstrom weist den gleichen durchgangigen inneren Zusammenhang auf wie meiner; sein Bewufitseinsleben weist in Analogic zu meinem die gleichen zeitlichen Strukturen einschliefilich der damit verbundenen spezifischen Erfahrungen der Retention und Reflexion, Protention und Erwartung auf« (Schiitz 1971: S. 201). Wir sehen, dass auch die zweite Voraussetzung auf einer Zeitdimension basiert, diesmal auf der des inneren Zeitbewusstseins, der von Husserl und Bergson iibernommenen Grundform jeder im Bewusstsein stattfindenden Konstitution. (Husserl 1966: insb. S. 43 u. Beilage XII; 1973: S. 37, 38, 39; Schiitz 2004: S. 7) Die Gleichheit der Konstitution ist hier durch die gleiche Zeitstruktur des Bewusstseinsprozesses gegeben. Das Wissen um diese Gleichheit, die bei Husserl durch die transzendentale Geltung der in der eidetischen Reduktion durchgefiihrten Analyse des Zeitbewusstseins gegeben ist, erfolgt in der natiirlichen Einstellung durch die Erfahrung der gemeinsamen Dauer in der Dyade, in der ich auf Teilablaufe des fremden Bewusstseinsstromes direkt hinzublicken vermag (Schiitz 2004: S. 20). Auch in diesem Falle ist also die Geltung der obigen
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Voraussetzung von der strukturierenden Funktion der subjektiven Zelt abhangig. Wie aus dieser Darstellung hervorgeht, ist der Schiitz'sche Begriff der alltaglichen Wirkllchkeit so angelegt, dass er eine Vermittlung zwischen der Intersubjektivitat und der Perspektivitat derselben anhand der Zeitstruktur sozialer Realitat zulasst. Diese Zeitstruktur setzt sich zusammen aus einem subjektiven und einem iibersubjektiven Zeitablauf, die sich im Erleben durchschneiden. N u n wurde im Abschnitt II dargelegt, dass der alltagliche Typus die tragende Form dieser Wirklichkeit ist und, dass es daher seine Funktion ist, die intersubjektive Sinngeltung der Alltagswelt im alltaglichen Wissen aufrechtzuerhalten. Es lage der Gedanke nahe, dass die Zeitstruktur der alltaglichen sozialen Wirklichkeit ihren Eingang in die Schiitz'sche Darstellung der Konstitution von alltaglichen Typen gefunden haben muss, dass also der auf einer Ebene der Alltagsanalyse gewonnene Ansatz zur Erfassung der intersubjektiven Welt auch auf alle anderen iibertragen wird, zumal der Ebene der Typenbildung, wie ersichtlich, eine grundlegende Stellung in der Schiitz'schen Konzeption alltaglicher Wirklichkeit zukommt. Hier stofien wir jedoch auf eine fiir eine immanente Schiitz-Kritik entscheidende Stelle, denn nichts davon ist der Fall. Fiir ein besseres Verstandnis wollen wir den Prozess der Typenbildung, so wie er im Schiitz'schen Werk sichtbar wird, etwas ausfiihrlicher darstellen. Wir zeigten den Typus als den Trager der Sinngeltung der Alltagswelt auf. Die Analyse der Typenbildung muss also dort beginnen, wo Schiitz mit seiner Untersuchung der Sinnkonstitution ansetzt, denn nur so kann man sehen, anhand von welcher Strukturen der Sinn in Typen erfasst werden kann. Hierzu miissen wir das erste Werk von Schiitz heranziehen (Schiitz 2004, weitere Seitenzahlen im Text beziehen sich hierauf). Von dem Thema unserer Untersuchung geleitet, lassen wir das eigentliche Motiv des Buches, der verstehenden Soziologie Max Webers Grundlagen zu liefern, die den Begriff des »mit einem Handeln subjektiv verbundenen Sinnes« endgiiltig klaren sollten, unberiicksichtigt. Wir beziehen uns auf das Problem der Sinnkonstitution nur insofern, als dies fiir die Typenbildung selbst relevant ist.
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Schiitz fasst das Sinnproblem auf phanomenologische Weise als ein Zeitproblem auf. Die Zeitlichkeit des Sinnes entspringt dem Inneren Zeitbewusstsein und der ihm eigenen Dauer (duree) (S. 93, 94, 172 ff.). Ein sinnhaftes Erlebnis ist demnach ein solches, das wohlumgrenzt von dem Dauerabiauf des Erlebnisstroms abgehoben werden und von einem reflexiven Blick in seiner Einheit erfasst werden kann. Das Sinnhafte an ihm, der Sinn, besteht also »in der Attitude des Ich zu seiner abgelaufenen Dauer« (S. 172). Diese Attitude unterliegt in ihrem »jetzt und so« allerdings auch dem Zeitstrom der eigenen Dauer. Der »spezifische« Sinn, nach dem der Soziologe fragt, griindet also in dieser Attitude, in ihrer attentionalen Modifikation in der Dauer (S. 176), er besteht in »der Einordnung eines Erlebnisses in den vorgegebenen Gesamtzusammenhang der Erfahrung« von dem Standpunkt des Jeweiligen »jetzt und so« (S. 185); die im Akte einer Selbstauslegung anhand der »Synthesis der Rekognition«^'^, also einer auf der inneren Zeitlichkeit beruhenden Bewusstseinsleistung, geschieht. Wird die Art und Weise, wie diese Einordnung geschieht, thematisch gemacht, so werden Ordnungen innerhalb des Gesamterfahrungszusammenhanges sichtbar, nach denen die erfahrenen Erlebnisse in entsprechende Sinnzusammenhange eingegliedert werden. Einen Sinnzusammenhang hoherer Ordnung, der diese erfahrenden Erlebnisse umfasst, bezeichnet Schiitz als ein »Schema unserer Erfahrung« (S. 189). Diese Erfahrungsschemata werden Deutungsschemata genannt (S. 192), da sie Unbekanntes auf Bekanntes zuriickfiihren, d.h. Erlebnisse vermitteln, das Vorwissen ordnen und so die Selbstauslegung tragen. Die Deutungsschemata, selbst als Sinnzusammenhange auf der inneren Zeitlichkeit basierend, bestimmen den beschriebenen Prozess der Sinnbesetzung der Erlebnisse. Damit dieses Ergebnis intersubjektiv relevant wird, muss gezeigt werden, nach welchen Regeln der so konstituierte Sinn auf den Anderen bezogen werden kann. Schiitz postuliert hier in erster Fassung seine schon erwahnte These des Alter Ego: »dafi auch das Du Bewufitsein iiberhaupt habe, dafi es dauere, dafi sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine« (S. 220). Ich vermag aufgrund dieser Generalthese in der Gleichzeitigkeit der Dauer - des gemeinsamen Alterns - prinzipiell die Konstitutionsakte ^^Der Begriff stammt von Husserl. 1929: S. 143.
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des Bewusstseins des Anderen In Selbstauslegung zu erfassen, da sie auf ahnliche Weise konstituiert sind wie die meinen (S. 221). Auf dieser Ebene unterscheidet Schiitz einen objektiven und einen subjektiven Sinn dessen, was vom Anderen gesetzt wird. Objektiven Sinn haben fiir mich Ereignisse, deren Sinn in seiner Erzeugung »in polythetisch auf bauenden Akten im fremden Bewusstsein von uns unbeachtet blieb«. Subjektiven Sinn im Gegenteil haben solche Ereignisse, »wenn wir den Sinnzusammenhang im Blick haben, in welchem die Erlebnisse des Erzeugenden, von denen das Erzeugnis zeigt, fiir diesen stehen oder standen, d.h. wenn wir die poiythetischen Akte, in denen sich Erlebnisse des Erzeugnissetzenden aufbauen, in Gleichzeitigkeit oder Quasi-Gleichzeitigkeit unserer Dauer nachzuvollziehen verm6gen« (S. 269). Vermittels der Selbstauslegung ist jeder objektive Sinn prinzipiell auf einen subjektiven iiberfiihrbar - denn nur so kann man das Fremdverstehen erreichen. N u r wenn wir den subjektiven Sinn erfassen, verstehen wir, konnen wir erklaren und uns auf den Anderen hin entwerfen. Die Moglichkeit, den subjektiven Sinn zu erfassen, ist nicht in jedem Bereich der sozialen Welt gleich. Die Bedingungen der raumlichen und vor allem der zeitlichen Koexistenz konnen in verschiedener Intensitat erfiillt werden. Daher ist die zuverlassige Erfassung vom subjektiven Sinn nur in der Sphare der Umwelt moglich. Dieser Bereich ist derjenige der Dyade - der intimen Wir-Einstellung - in der die »echte« Gleichzeitigkeit der Wir-Beziehung, also die der zwei durees der beiden Bewusstseinsstrome, durch das unmittelbare Miteinanderleben und Verkehren gegeben ist. In dieser Einstellung ist es also moglich, auf die Bewusstseinsablaufe des Du hinzublicken (S. 313 ff.), d.h. eine Evidenz von Teilablaufen des fremden Bewusstseinsstromes zu haben. In dieser Sphare lerne ich gewisse Motivationen, die mit Handlungen Anderer verbunden sind, in der Selbstauslegung nachzuvollziehen und sie so zu verifizieren. Weitere Bereiche der sozialen Welt die iiber diese Sphare hinausgehen, bilden die Mitwelt - den Bereich der Ihr-Beziehung. Hier kann nicht mit der durch die echte Gleichzeitigkeit gegebenen, evidenten Einsicht in die fremden Bewusstseinsablaufe gerechnet werden. Es muss eine Synthese der Deutungsakte, die ich in der Umwelt konstituiert habe, durchgefiihrt
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werden, es miissen also Idealtypen (d.h. konstruktive Typen, wie sie bei dem spaten Schiitz bezeichnet werden) konstituiert werden (S. 342 f.), die pradikativen Charakters sind.^^ Die Typenbildung ist also notwendig, damit der Handelnde in der Mitwelt, in welcher er sich nicht mehr an jederzeit verifizierbare fremde Bewusstseinsablaufe halten kann, orientieren kann, d.h. sinnhafte Handlungen Anderer unterstellen und danach handeln kann. Die Sinnkonstitution und die Typenbildung sind so aufs engste untereinander verflochten. Der Prozess der eigentlichen Typenbildung wird bei Schiitz wie folgt beschrieben: »Das typisierende Erfassen eines Handlungsablaufes besteht [...], in einer Synthesis der Rekognition, welche der Deutende in Selbstauslegung seiner erfahrenen Erlebnisse von ihm vollzieht. Gegenstand dieser Rekognition sind die im objektiven Zusammenhang sichtbar werdenden Um-zu- und Weil-Motive des Handlungsablaufs. Es werden namlich gleichartig wiederkehrenden Handlungsablaufen, die durch Setzung gleichartiger Mittel, gleichartige Handlungsziele verwirklichen, gleichartige Um-zu- Motive oder [...] gleichartige echte Weil-Zusammenhange der Erlebnisse der jeweils Handelnden zugeordnet. Diese werden als konstant angenommen und gegeniiber alien Modifikationen, welche sie im lebendigen Bewufitsein eines so Handelnden, und zwar welches so Handelnden immer, erfahren mogen, invariant gesetzt« (S. 349). Die Typenbildung beruht also auf dem Vorhandensein von wiederkehrenden Handlungsablaufen. Diese werden nun mit Motiven, die aus der Sphare der Umwelt urspriinglich bezogen werden, ausgestattet. Die Inhaltserfiilltheit des Typus hangt daher von »dem Grad der Uberfiihrbarkeit der mitweltlichen Ihr-Beziehung in eine umweltliche Wir-Beziehung und damit von der Zugehorigkeit der als typisch erfafiten fremden Bewufitseinsinhalte zu einem einzigen realen Dauerablauf oder mehreren Dauerablaufen, auf welche ich im reinen Wir hinsehen konnte« (S. 359 f.). Die Typenbildung stiitzt sich demnach auf die Erfahrungen aus der Umwelt - also auf die durch das innere Zeitbewusstsein und die duree gegebene Zeitstruktur der Fremdeinstellung. Der Sinn, der von diesen ^^Diese prazise Abgrenzung Evidenz/Pradikation geht im Bezug auf die Typenbildung beim spaten Schiitz verloren, wie wir zu zeigen versuchten.
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Typen getragen wird, ist auf die innere Zeitllchkeit zuriickzufiihren, dies auch, wenn mir die Handiungsablaufe als von dem Alter Ego in der Ihr-Einstellung gesetzt begegnen. Denn ich kann sie als Zeugnisse der Bewusstseinsablaufe derjenigen auffassen, die sie setzen. Offensichtlich hat jedoch die Moglichkeit, diese wiederkehrenden Ablaufe als Typen aufzufassen, zwei Wurzeln: Es ist erstens die Voraussetzung, die als Generalthese des Alter Ego oben ausgefiihrt wurde: die auf der inneren Zeitlichkeit beruhende gleiche Struktur der Bewusstseinsstrome. Zweitens ist es die Tatsache, dass es sich um wiederkehrende Ablaufe handelt. Wenn diese Ablaufe einem Typus zugrunde liegen sollen, miissen sie a) liberhaupt der Moglichkeit nach als wiederholbar erfahren werden konnen, und b) die Erwartung berechtigen, dass sie in der Zukunft wirklich auftauchen. Diese zwei Bedingungen sollen bei Schiitz in der von Husserl iibernommenen »Idealisierung des >ich kann immer wieder<« erfiillt werden, die die spontane Aktivitat des Bewusstseins auszeichnet (Husserl 1966: S. 18; 1929: S. 74; Schiitz 1971: S. 23 f., 35). Diese Idealisierung bezieht sich auf die Moglichkeit, Handlungen und Bewusstseinsakte wieder und wieder in gleicher Form zu vollziehen. So z. B. kann ich in der Wiedererinnerung denselben Vorgang »beliebig oft« aktualisieren. Ich kann aufgrund dessen vermittels der Synthesis der Rekognition die vergangenen Erlebnisse mit denjenigen, die ich jetzt erlebe, vergleichen und in ihrer Gleichartigkeit erkennen, also ihr Sich-Wiederholthaben feststellen. Die Erwartung, dass sich Ablaufe in der Zukunft tatsachlich wiederholen, stiitzt sich auf dieselbe Idealisierung, diesmal auf Handlungen bezogen.^^ Die prinzipielle Moglichkeit, Handlungen anhand der in der Rekognition erfassten Sinnzusammenhange immer wieder entwerfen zu konnen, lasst sich als eine »Grundstruktur des Bewusstseinsstromes« im Rahmen der Generalthese des alter ego auf den Anderen beziehen. Auf diese Weise konnen seine Handlungen als prinzipiell beliebig oft vollziehbar ^^Zu der grundlegenden Rolle der Wiederholbarkeit von Ablaufen bei der Typenkonstitution siehe Natanson 1970: S. 5. Auch Natanson, obwohl er wohl die Notwendigkeit sieht, die Schiitz'sche Typenbildung noch auf anderen Wegen abzusichern, fiihrt die typenbildende Funktion der Wiederholung auch auf das »ich kann immer wieder« zuriick.
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und daher wiedererwartbar angesehen werden. Doch der tatsachliche Vollzug der Wiederholung, ihre Realisierung an gerade diesem Zeitpunkt in gerade dieser Situation, werden durch die Idealisierung des »ich kann immer wieder« nicht mehr gedeckt. Der Charakter der Wiederholbarkeit wird durch diese Idealisierung prinzipiell jeder Handlung zuteil, so dass zwar jede Handlung an ihrem Horizont die Mogiichkeit hat, ein wiederkehrender Ablauf zu werden; diese Moglichkeit macht aber kein Spezifikum dieser Handlung gegeniiber anderen aus. Auch kann anhand der blolKen Tatsache, dass eine Handlung in der Rekognition als wiederholt erfasst wird, dieser nicht der Charakter eines »gleichartig wiederkehrenden« Ablaufs zukommen, wenn der Sinnzusammenhang, in dem die vergangenen Erlebnisse und ihre aktuell erfasste Wiederholung miteinander stehen, aufierhalb der allgemeinen »ich kann immer wieder«-Wiederholungsmoglichkeit nicht einen iibergeordneten Ablaufzusammenhang thematisch machen wiirde, innerhalb dessen erst der wiederkehrende Charakter der Ablaufe deutlich werden kann. Dieser iibergeordnete Ablaufzusammenhang muss in der Typenbildung miterfasst werden, denn nur so ist eine sinnvolle Anwendung der Typen als Handlungsorientierungen moglich, d. h. nur so kann sich Sinnadaquanz zwischen der zu deutenden Situation und dem deutenden Typus ergeben - eine Bedingung, ohne die der Typus als Trager der Sinngeltung der Alltagswelt nicht bestehen konnte. Im Bereich der Dyade, der Umwelt also, kann im Idealfalle der Ablaufzusammenhang der wiederkehrenden Handlungsablaufe durch den Gang der Interaktion bestimmt werden: Ich kann die unmittelbare gegenseitige Beziehung so gestalten, dass das Um-zu-Motiv meiner Handlung zum Weil-Motiv des anderen wird. Wir erleben uns in der »lebendigen Gegenwart«, auf unsere Bewusstseinsstrome in der Aktualitat hinabschauend (Schiitz 1971: S. 201). Ich weifi: Wenn ich dieses tue, wird mein Gegeniiber so reagieren; das Wiederkehren seiner Handlungen hangt von den meinen ab und umgekehrt. Ich kann also anhand dieses Wissens den Verlauf der Interaktion lenken. Die Erwartung seiner Handlungen ist an das Vorkommen der meinigen gebunden. Der Ablaufzusammenhang zwischen seinen wiederkehrenden Handlungen, d.h. das »wann« ihres Wiederholens oder
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Nichtwiederholens, ist durch mein Entwerfen im Rahmen meiner duree bestimmbar. Wesentlich anders ist die Situation in der Mitwelt, auf die sich die Typen als Orientierungsstiitzen des Handelns beziehen. Der Ablaufzusammenhang der in der Mitwelt wiederkehrenden Ablaufe ist auf keine ausmachbare personliche duree zuruckzufiihren und der Sinnzusammenhang, in dem die ablaufenden Handlungen und ihre Wiederholungen miteinander stehen, ist keiner, der unmittelbare Interaktion einschliefien wiirde. Die Tatsache, dass ich morgens die Post um acht Uhr in meinem Briefkasten vorfinde, ist kein Resultat einer personlichen Abmachung zwischen mir und dem Brieftrager. Das Wiederkehren der Ablaufe ist so unabhangig von meinem Entwerfen und auch dem derjenigen, die sie setzen. Die wiederkehrenden Handlungsablaufe in der Mitwelt, also die conditio sine qua non der Typenbildung, miissen auf eine andere als die vom Subjekt gesetzte Zeit zuriickgefiihrt werden. Es muss eine Zeitart gefunden werden, die ihr Wiederholen bedingt und daher in die Typenbildung eingeht. Diese kann zwar nur innerhalb der duree erfasst werden, bedingt aber die Zeitstruktur und die Sinngeltung der Alltagswirklichkeit ebenso wie diese. Die genaue Bestimmung dieser Zeitart mag noch dahingestellt bleiben; sie wird uns im nachsten Abschnitt beschaftigen. Vorerst ist es offensichtlich, dass es sich hier um eine iibersubjektive Zeit handelt. Doch ebenso offensichtlich ist es nach unserer Analyse des Typenbildungsprozesses bei Schiitz, dass diese iibersubjektive Zeitart in diesen Prozess keinen Eingang gefunden hat. Dadurch, dass Schiitz den erfassbaren Ablaufzusammenhang der wiederkehrenden Ablaufe nicht analysiert, sondern die Wiederholbarkeit von Handlungen auf ihre abstrakt generelle, im Rahmen der personlichen duree gegebene Moglichkeit »ich kann immer wieder« stiitzt, lasst er eine von ihm selbst postulierte Dimension der Zeitstruktur der Alltagswirklichkeit in der Typenbildung unberiicksichtigt: die iibersubjektive Zeit. Dadurch ergibt sich eine konstitutionsbedingte Diskrepanz in der Sinnadaquanz seiner Typen; seine Typenbildung greift zu kurz. Die Typen, obwohl ihrem Anspruch nach auf alle Bereiche der Alltagswelt bezogen, vor alien Dingen aber auf die Mitwelt, werden konstitutionsmaEig nur auf die durch die innere Zeitlichkeit strukturierte
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Sphare der Umwelt beschrankt. Indem die iibersubjektive Zeit in Bezug auf die Mitwelt in der Typenbildung nicht beriicksichtigt wird, bleibt auch der Weg zur Darstellung der Vermittlung zwischen dem intersubjektiven und dem perspektivischen Moment der Alltagswirklichkeit auf der Ebene der Typisierung versperrt. Da aber die Typen die tragende Form der Sinngeltung dieser Wirklichkeit sind, hat dies zur Folge, dass eine Inadaquanz zwischen der postuHerten intersubjektiven universellen Sinngeltung dieser WirkHchkeit und der Darstellung dessen, wie diese in der Konstitution realisiert wird, besteht. Diese Inadaquanz ist es m. E., die hier irrefiihrt, so dass man, wie wir sahen, geneigt ist, die ganze Konstitution der sozialen Wirklichkeit mangelnder Intersubjektivitat wegen abzuweisen. Ist sie aber einmal erfasst, so steht dem Versuch, der Moglichkeit einer adaquaten Darstellung des Typisierungsprozesses nachzugehen, nichts im Wege.
IV. Der eigentliche Charakter der Zeitstruktur der sozialen Wirklichkeit: die konstituierte und die produzierte Zeit Es wurde gesagt, dass die Typenbildung sich auf die unreduzierte Zeitstruktur der sozialen Wirklichkeit beziehen muss, um die mitweltlichen Ablaufe, auf die sie sich bezieht, erfassen zu konnen. Dazu ist es aber notwendig zu klaren, welche Art von Zeit oder Zeiten es ist, die die soziale Wirklichkeit strukturiert. Die Hauptrichtung der Untersuchung wurde schon von Schiitz bestimmt. Die Zeitstruktur der Alltagswelt ist durch eine private, subjektive Zeit, und eine offentliche, iibersubjektive gegeben. Die nahere Bestimmung der ersteren ist im Kontext des Schiitz'schen Werkes wenig problematisch: Es ist die Zeit, die sich uns anhand des inneren Zeitbewusstseins manifestiert. Sie wird als das Erlebnis der eigenen Dauer und des damit verbundenen Bewusstseinsstroms vorgestellt. Wir schlagen vor, sie die konstituierte Zeit zu nennen, da sie in ihrem ganzen Ablauf im Bewusstsein nachvollzogen und, auf den Leistungen dieses Bewusstseins basierend, von ihm beeinflusst werden kann, wie wir am Beispiel der Dyade sahen. (Ich kann anhand ihrer in der Wiedererinnerung oder in der unmittelbaren Interaktion in der Dyade Situationen und Handlungsablau-
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fe wiederkehren lassen und so den Zeitablauf der Interaktion bestimmen.) Ihre Rolle im Prozess der Sinnkonstitution und der Typenblldung wurde im Abschnitt III ausfiihrlich besprochen. Wesentlich weniger ausgearbeitet finden wir bei Schiitz den Begriff der offentlichen, iibersubjektiven Zeit. Schiitz bestimmt sie als den Schnittpunkt der duree und der kosmischen Zeit (Schiitz 1971: S. 254 ff.). Doch es fragt sich, ob diese Zeit mit dem Zeitablauf, auf den die Ablaufzusammenhange der wiederkehrenden Handlungsablaufe in der Mitweh hinweisen, identisch ist. Mit der offentHchen Zeit meint Schiitz eine Zeitdimension im Sinne, in der sich individuelle Handlungen aufeinander beziehen lassen, die »das System unserer Plane« bestimmt, »in das Handlungsentwiirfe eingeordnet sind: Plane fiir unser Leben, fiir Arbeit und fiir Mufie« (Schiitz 1971: S. 255). N u n ist zu bedenken, dass das aufiersubjektive Element in der offentlichen Zeit von einer kosmischen Zeit getragen wird. Obwohl Schiitz den Begriff dieser Zeit nicht naher bestimmt, hat es den Anschein, dass er, von dem iiblichen Wortgebrauch nicht abweichend, darunter eine anhand vom Kalender oder von einer U h r quantifizierbare Zeitpunktreihe versteht, deren Quantifizierbarkeit von der Bewegung der Himmelskorper abgeleitet wird. Ist dem so, dann ist es nur schwer zu verstehen, wie die Orientierung des Entwerfens an diesem inhaltsleeren, quantitativen und rein abstrakten Zeitablauf eine Bestimmung der »Plane unseres Lebens«, unserer Handlungsablaufe, oder gar der Aufteilung unserer alltaglicher Handlungen zwischen Arbeit und MuCe haben konnte. Spatestens beim letzten Beispiel wird es klar, dass der Rhythmus von Arbeit und Mufie nicht auf eine kosmische, sondern auf eine soziale Zeit zuriickzufiihren ist, die nicht vom Ablauf der Himmelskorper, sondern vom Ablauf der sozialen Prozesse, in die wir arbeitend eingegliedert sind, gesetzt wird. Natiirlich bleibt die quantitative Linearzeit eine, in der diese Ablaufe messbar und daher miteinander vergleichbar sind. Doch diese ihre Funktion wird erst unter den Bedingungen eines komplex gewordenen Ablaufes der sozialen Struktur notwendig.-^'^ Anhand dieser Feststellung sind wir nun imstande, die Zeit, auf die ^7M dem evolutionsbedingten Aufkommen von linearer Zeit siehe: Luhmann Yy71}o.
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der Ablaufzusammenhang der wiederkehrenden Ablaufe in der Mitwelt zuriickzufiihren ist und hiermit auch die iibersubjektive Komponente der Zeitstruktur der alltagiichen Wirklichkeit genauer zu bestimmen. Es wurde schon angedeutet, dass es sich um eine Zeit handelt, die durch den Ablauf sozialer Prozesse gesetzt wird. U m welche Prozesse geht es hier? Es sind solche, die wir als materiale Reproduktionsprozesse in der Struktur einer Geseilschaft bezeichnen kdnnen.^^ Aus der alltagiichen Sicht sind es alle diejenigen, die Termine fiir gewisse Tatigkeiten setzen, deren Verlauf oder Wiederholung in der Kalenderzeit zwar festgelegt werden konnen, ohne dass jedoch auf sie dadurch seitens der ihnen unterliegenden Subjekte im Rahmen des Alltags wesentlicher Einfluss genommen werden konnte, so z. B. der Ablauf der Produktion, die Ablaufe des Marktmechanismus, oder auch diejenigen grofier Institutionen. Schiitz (2004a: S. 162 ff.) zielt auf diesen Zeitmodus, wenn er von auferlegten Relevanzen und von der pragmatischen Notwendigkeit des Wartens spricht (bis sich etwa der Zucker im Wasser aufgelost hat, falls ich Zuckerwasser trinken will). Diese Prozesse entwickeln eine eigene Zeitlichkeit, die ihr Funktionieren riickkoppelungsartig strukturiert, indem sie namlich in Form eines aufieren sozialen Zwangs das Verhalten der im Rahmen dieser Prozesse Handelnden regelt.'^^ Dem Versuch, sie zu regeln, setzen diese Prozesse ihren eigenen Zeitplan. Alle Strategien, die durch diese Ablaufe gesetzte Zeit in den Griff zu bekommen, miissen ihr Rechnung tragen und sie zu ihrer Grundlage haben. Die Zeit, die auf diese Art gesetzt wird, ist, wie wir es schon im Abschnitt III angesprochen haben, durch folgendes charakterisiert: Sie kann zwar typisierend erfasst werden, ihre Bestimmung bleibt jedoch aufierhalb des Subjekts, ebenso wie ihr Ablauf als ^^Diese Auffassung sozialer Zeit stiitzt sich auf die Analysen von Gurvitch 1963: S. 325 ff. Zur auferlegten Relevanz von Zeitstrukturen vgl. Schiitz: Strukturen der Lebenswelt, in: derselbe 1971b. •^^Eine der Formen sokher Zeitlichkeit ist z. B. der Kapitalumlauf. Marx berichtet iiber Anderungen wirtschaftlichen Verhaltens, die die Lebensweise ganzer Landstriche in England modifiziert haben, indem die Pachter gezwungen waren, wegen eines kiirzeren Kapitalumlaufs von der Fleischviehzucht auf die Butter- und Kaseproduktion umzusteigen. Vgl. Marx 1962. Naher zu der Analyse der beiden Zeitarten siehe: Srubar 1974, Abschnitt II + IH.
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Ganzes aufierhalb der Erfassungsmoglichkeit bleibt. Sle wirkt sich im Bereich der Alltagswirklichkeit als anonymer, auCerer Zwang aus, der aus dieser SIcht den Status eines Naturereignisses im Marx'schen SInne hat (Marx/Engels 1972: S. 34). Diese Zeit wollen wir die produzierte Zeit nennen, um erstens ihren sozialen, auf die menschliche Tatigkeit zuriickgehenden Ursprung nicht zu verwischen, und zweitens, um hiermit ihre geschichtliche Veranderbarkeit zu betonen. Es hat den Anschein, dass diese sozial bestimmte Zeit fiir die Gestaltung der Handlungsentwiirfe auf alien Ebenen relevanter ist als die kosmische. Daher scheint die Annahme berechtigt, dass die zwei Zeitarten - die konstituierte und die auf ihrer Basis erlebte produzierte Zeit - die Zeitstruktur der Alltagswirklichkeit im wesentlichen ausmachen. Wir wollen nun die Moglichkeiten skizzieren, die sich aus der Beriicksichtigung der produzierten Zeit fiir die Darstellung der typisierenden Erfassung der Alltagswirklichkeit ergeben. Wir gehen dabei von zwei Thesen aus, die sich aus der Zusammenfassung des bisher Gesagten ergeben: 1. Die produzierte Zeit spielt in der Zeitstruktur der Alltagswirklichkeit fiir die Typenbildung eine entscheidende Rolle, weil sie die iibersubjektive, objektivierende Komponente der zu erfassenden Situation darstellt. Sie kann als der Seinsbezug'^^ der Typenbildung auf die Situation vorgestellt werden. 2. Indem die produzierte Zeit als eine Dimension der typisierenden Erfassung des Alltags aufgefasst wird, kann die Typenbildung nicht mehr als ahistorisch gelten. Wenn nun die Typenbildung in dieser neuen Perspektive betrachtet wird, tritt ein Phanomen ins Blickfeld, das wir als die Zeittypik der Situation bezeichnen mochten. Darunter ist eine zeitliche Ordnung zu verstehen, die das Nach- und Nebeneinander der Handlungen in Situationen regelt.
"^^Mit dem Begriff werden keine ontologischen Aussagen intendiert. Wir verwenden ihn, um einen fiir die Wissenssoziologie prasenten Tatbestand zu bezeichnen, den schon Mannheim (1969: S. 229 ff.) als die »Seinsverbundenheit des Wissens« erfasste.
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die durch den Ablauf der erwahnten anonymen gesellschaftlichen Prozesse - also durch die produzierte Zeit - bestimmt sind. Diese Ordnung, die gleichfalls als sozialer Zwang in der Alltagswirklichkeit erscheint und einen xibersubjektiven Charakter hat, ermdgiicht (oder erzwingt) eine intersubjektiv bindende Typisierung des Situationsabiaufes, die in den subjektiven Perspektiven der in der Situation Handeinden diese als im Grunde unverandert erscheinen lasst. Durch die jeweilige biographische Bestimmung der Subjekte kann zwar die auf dieser Basis typisierte Situation in verschiedene Sinnzusammenhange geraten, die Handlungsentwiirfe aber, sollen sie der Situation gerecht werden, werden durch ihre zeitliche Ordnung mitbestimmt und so selektiert. U m ein Beispiel zu geben: Jeder, der in einem Selbstbedienungsladen einkaufen will, muss seinen Handlungsentwurf der Zeittypik der Situation dieses Einkaufens unterordnen. Er muss zuerst einen Korb nehmen, dann die ausgewahlte Ware hineinlegen, damit sie als im Laden genommen erkenntlich wird; erst anschlieCend kann er an der Kasse bezahlen. Natiirlich ware es moglich, das Handeln so zu entwerfen, dass man zuerst zahlen und dann die Ware holen mochte. Bei der Realisierung dieses Entwurfes wiirde es sich aber zeigen, dass der intersubjektive Sinn, der von der auf der Zeitordnung der Situation beruhenden Typisierung derselben getragen wird, gestort wird. Man miisste z. B. eine Verhandlung mit der Kassiererin fiihren, um durch Kommunikation den intersubjektiven Bezug auf die Situation neu herzustellen. Doch auch hierbei wiirde die Zeittypik der Situation die typische Grundlage darstellen, von der ausgehend eine Abweichung bestimmt werden soil. Wir sehen also anhand dieses einfachen Beispiels, dass die Zeittypik der Situation eine nicht subjektive beliebig auslegbare Matrix der Handlungsorientierung darstellt. Sie wird als eine solche von den beiden Zeitdimensionen der Alltagswirklichkeit getragen. D. h.: Eine Storung eines jeden der beiden Zeitablaufe kann die Aufstellung von sinnvoUen Typen und folglich die Handlungsorientierung verhindern. Doch obgleich die Storung der Funktion des inneren Zeitbewusstseins und die damit verbundene Verschiebung der erfahrenden Akte, die eine Modiifizierung der Kompatibilitat der Handlungen in der Zeit zur Folge hat, die die Mog-
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lichkeit einer intersubjektiven Erfassung der Zeittypik einer Situation radikal elnschrankt'^^ stellt das intakte Vermogen der Zeitkonstitution selbst eine zwar notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung eines intersubjektiv bindenden adaquaten Bezugs der Typenbildung auf die Situation dar. Hierzu ist eben die Einbeziehung der iibersubjektiven Terminierung der Situation notwendig, die ihr immanent ist, und die sie als »eben diese« kennzeichnet, d.h. die Einbeziehung der durch die produzierte Zeit bedingten Handlungsstruktur der Situation in die Typisierung. Fallt die Dimension der produzierten Zeit aus, so wird die Aufstellung intersubjektiv bindender Alltagstypen wesentlich erschwert oder gar unmoglich, weil hiermit auch der aktuelle Seinsbezug auf die zu erfassende Situation ausfallt. Im Folgenden woUen wir zur Ulustrierung dieser These Beispiele solcher Situationen analysieren, die durch das plotzHche Ausfallen der produzierten Zeit gekennzeichnet sind. Zuerst wollen wir eine Situation untersuchen, in der, marxistisch gedacht, der Ablauf der produzierten Zeit selbst der Grund fiir ihr teilweises Ausbleiben in Zeitstruktur der AlltagswirkHchkeit ist. Es ist die Situation der Arbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit bedeutet hier das Abbrechen von Beziehungen zu einer der markantesten von den die produzierte Zeit setzenden sozialen Strukturen - der Warenproduktion selbst. D. h., die Arbeitslosigkeit bedeutet das Ausgegliedertsein aus der Produktion, der Sphare, in der die produzierte Zeit am deutlichsten in die AlltagswirkHchkeit eingreift und ihre Zeitstruktur gestaltet, und dadurch auch den teilweisen Entzug aus dem Einflussbereich der produzierten Zeit. Phanomene, die durch diesen Entzug auftreten, konnte man allerdings nicht anhand von Einzelfallen, die in der Wirtschaft zerstreut standig vorkommen, fiir reprasentativ halten. Deswegen wurde fiir unser Beispiel eine Situation ausgewahlt, die durch massenhafte Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Anhand der bekannten Untersuchung von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1934) (die Seitenangaben im Text beziehen sich hierauf) uber "^^Dies lasst sich anhand von aphasischen Storungen zeigen: vgl. Schiitz 1971: S. 300 f. und Srubar 1974: S. 48 ff.
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die Marienthaler Arbeitslosen lassen sich der mangelnde intersubjektive Wirklichkeitsbezug der Handlungsentwiirfe und die damit verbundene Atomisierung des Dorfes gut verfolgen. Der plotzliche Wandel der Zeitstruktur der Alltagswirklichkeit, durch das Ausbleiben der produzierten Zeit bedingt, wirkte sich laut Autoren auf die Gemeinschaft als ein lahmender Schock aus: Das Vereinsleben erlahmte, die politische Tatigkeit verminderte sich erheblich, das Interesse an Freizeitbeschaftigung ging zuriick, ohne dass es durch andere Aktivitaten ersetzt worden ware. Die Interaktionsstruktur des Dorfes wurde aufgehoben und nie im vollen Umfang wieder erneuert, solange die Arbeitslosigkeit andauerte. Den durch das Ausbleiben der produzierten Zeit bedingten Zerfall der alltagHchen Typik konnen wir auf der »Mikroebene« anhand der aufgezeichneten Tagesablaufe der einzelnen Bewohner betrachten. Es wurden Angaben iiber den zeitHchen Verlauf von Tatigkeiten an einem Tage gesammeh. Diese Angaben, die in den Zeitverwendungsbogen gemacht wurden, zeigen eine klare Differenz zwischen dem Tagesverlauf der Manner und der Frauen (S. 59 ff.). Wahrend sich bei den Mannern als die einzigen zeitsetzenden Punkte nur die vielmehr biologischen Vorgange (Aufstehen, Essen, Schlafengehen) bemerkbar machten, war der Tag der Frauen von Handlungen, die sich an den Familienverpflichtungen orientierten, ausgefiillt. Fiir die Manner, die friiher ihre Handlungen am meisten an der durch die produzierte Zeit gesetzten Tagesordnung orientierten, ergab sich nach ihrem Ausbleiben fast keine Moglichkeit, ihre Handlungen in der Zeit sinnvoll zu entwerfen. Das Verschwinden der Notwendigkeit, sich nach von auf5en gesetzten Terminen richten zu miissen, liefi sie auch die Termine, die im Familienleben einzuhalten waren (zum Essen erscheinen) ignorieren (S. 67). Sie konnten auch in der Interaktion keine Entwiirfe in der realen Gegenwart anbringen, und die gemeinsamen Handlungen der friiheren Kollegen beschrankten sich auf das Treffen im Arbeiterhaus, wo sie der realen Gegenwart durch phantasievolle Erzahlungen aus der Vergangenheit auswichen (S. 57). Aus den Zeitprotokollen geht eine Atomisierung der Gemeinschaft hervor. Die Kommunikation tagsiiber beschrankte sich auf zufallige Begegnungen, sonst safien die Manner allein zu Hause oder gingen allein spazieren usw. Ihr Zeiteinschatzungsvermogen vermin-
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derte sich: Sie gaben unangemessen lange Zeiten fiir Ausfiihrung von Tatigkeiten an, die nur wenig Zeit in Anspruch nehmen (7-8 Uhr Kinderwecken, 15-17 Uhr um die Milch gehen usw.). Man konnte sagen, dass sie introvertiert wurden und in eigene duree versanken."^^ Demgegeniiber zeichneten sich die Tagesablaufe der Frauen durch eine Fiille von Tatigkeiten aus (S. 66). Die standig wiederkehrenden Bediirfnisse der Familie, die befriedigt werden miissen, ersetzten auf der Mikroebene die friiher durch die Fabrik gesetzte produzierte Zeit. Die Entwiirfe der Frauen waren durchaus reaHtatsbezogen; die Frauen verwalteten die FamiHenkasse und entwickelten Strategien, die das Auskommen mit dem Geld ermoglichen sollten. Sie waren die am meisten motivierende Kraft im Haushalt (S. 49 u. 70). Wie wir am Beispiel der Manner, auf die der Verlust der durch die produzierte Zeit bedingten typischen Gliederung der Alltagssituationen besondere Wirkung hatte, weil sie liber keinen Ersatzrhythmussetzer verfiigten wie die Frauen, gut sehen konnen, wirkte sich das Ausbleiben der produzierten Zeit im Sinne einer Handlungs- und Interaktionsunfahigkeit aus, die auf die durch dieses Ausbleiben bedingte Aufhebung der zeitlichen Situationstypik und die daraus resultierende Desorientierung zuriickzufiihren ist. Dementsprechend liefi sich auch ein Zerfall der Zukunftsperspektive feststellen. Das Ausbleiben des durch die produzierte Zeit dargestellten festen Bezugsrahmens machte sinnvolle Entwiirfe unmoglich, die sich, die gegenwartige Situation umfassend, auch nur, um mit Schiitz zu sprechen, fantasierend auf die Uberwindung des jetzigen Zustandes bezogen hatten. 65% der untersuchten Familien verfielen der Resignation, 8% konnten als absolut gebrochen bezeichnet werden und "^^Hierzu iibrigens auch K. Mannheim in seiner Studie liber den wirtschaftHchen Erfolg. Er stellt zwei Verhaltenstypen auf: den eines solchen Verhaltens, das am Erfolg orientiert ist und daher auch an der produzierten Zeit. Diese Orientierung (Mannheim nennt sie Zielstrebigkeit) verhilft diesem Typus zu einer Kontinuitat, an der man sich halten und immer wieder aufrichten kann. Der andere Typus, der dem Erfolg entsagt und sich also der durch die produzierte Zeit gesetzten Ordnung zu entziehen trachtet, wird so beschrieben: »Die Zeit ist fiir sein Erleben diskontinuierlich, er ist Stimmungen ausgesetzt und preisgegeben, und die Moglichkeit des steten Sicht-SelbstVerlierens flankiert die Situation«. (Mannheim 1964: S. 655).
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nur 23% hatten noch irgendwelche Zukunftsvorstellungen (S. 47 u. 51). Die Zukunftsdimension bleibt also in den meisten Fallen unausgefiillt, die Zukunft erscheint als nicht mehr vorhanden, obwohl die kosmische, oder besser die Kalenderzeit in gleicher Weise verfiigbar bleibt. Wenn wir an die Abkapselung des Einzelnen, die sich in den Zeitverwendungsbogen bemerkbar macht, und an den Zerfall des Vereinslebens denken, konnen wir den Zustand der friiher stark gesellschaftlich lebenden Gemeinde als eine Anomie im Durkheim'schen Sinne bezeichnen. Es ist natiirlich zu fragen, ob diese anomische Lage mehr durch die wirtschaftliche N o t oder durch den Ausfall der durch die produzierte Zeit gesetzten Zeitordnung der Alltagswirklichkeit erwirkt wurde. Es hat den Anschein, dass die wirtschaftliche Not wesentlich zur allgemeinen Niedergeschlagenheit in der Lebenshaltung beitrug, dass jedoch, wie aus dem Aufgefiihrten hervorgeht, auf der Ebene der Interaktion, des Entwerfens und Handelns, das Verschwinden der vertrauten Tagesablaufe und der gesamten vertrauten Typisierungshorizonte den anomischen Zustand hervorrief, welchen die Autoren als Schockwirkung bezeichneten. Um den Einwand auszuraumen, die Erlahmung der Interaktion sei nicht auf das Verschwinden der durch die produzierte Zeit bedingten Zeittypik der Situationen zuriickzufiihren, sondern vielmehr auf die durch die wirtschaftliche Lage bedrohte Existenz der Betroffenen, woUen wir eine Situation anfiihren, in der das Ausbleiben der produzierten Zeit keineswegs auf wirtschaftlichen Griinden basiert. Die Insassen eines Gefangnisses befinden sich in einer solchen. Es konnte auf den ersten Blick scheinen, dass die Situation der Arbeitslosen genau umgekehrt ist wie die der Gefangenen. Denn die letzteren sind unfrei, an eine feste Zeitordnung gebunden, beschaftigt, und fiir die Dauer der Haft ohne wirtschaftliche Sorgen. Bei naherem Hinsehen zeigt sich aber, dass sie, von der Aufienwelt in erheblichem Mafie isoliert, auch dem Einfluss der produzierten Zeit wesentlich entzogen sind. Die von Fremden gesetzte Zeit manifestiert sich nur im Ablauf der Gefangnisordnung und in der Hohe der Strafe. In der Studie iiber das Zeiterleben der Gefangenen von S. W. Engel (Engel 1963: S. 55 ff., die Seitenangaben im Text beziehen sich hierauf) konnen wir aber Beschreibungen ahnlicher Phanomene lesen, die auch
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fiir die Arbeitslosen typisch waren. Auch Engel spricht von einem Schock (Zeit-Raum-Schock), der sich durch den Wechsel der Zeitordnung nach Antreten der Haft einstellt. Diesen Schock schreibt der Autor zwel Komponenten zu: 1. Dem Ubergang von einem »freigestalteten« Tag zu einer Zwangsregelung, 2. sowie, was fiir uns wichtig ist, der Masse an Zeit, die der Haftling nicht auszufiiilen weifi, denn die Arbeiten, die er verrichten muss nehmen zwar den Haftling, nicht aber seine Zeit in Anspruch (S. 62). Er hat keine Freizeit, die ihn fiir sinnloses Schuften entschadigen wiirde. Die Zeit, in der er arbeitet und die, in der er es nicht tut, fiigen sich zu einem Block leerer Zeit zusammen. Wir konnen bei den Haftlingen dasselbe Phanomen feststellen, das wir schon bei den Arbeitslosen ausmachen konnten - den volligen Mangel an der in Form der produzierten Zeit gesetzten Zeitknappheit."^^ Sie erfassen die gegenwartige Situation mit ihrer Zukunftsdimension nicht mehr sinnvoll und weichen, ahnlich wie die arbeitslosen Manner in Fantasien, die in der Vergangenheit spielen, oder in einer irrealen Zukunft, der gegenwartigen Realitat aus (S. 63). Da offensichtlich die Last der Zeitstruktur der momentanen Alltagswirklichkeit, in der die eigene duree, von der produzierten Zeit uneingeschrankt, die Oberhand gewinnt, durch die absolute Unmoglichkeit einer freien Interaktion (in der auch das Verstehen des Anderen in der Du-Einstellung in der Gleichzeitigkeit leidet) grofier ist als bei den Arbeitslosen, versuchen die Gefangenen, sich die Zeitknappheit selbst zu setzen, um einen sinnvollen Bezug zu ihrer Lage zu gewinnen. Sie stellen komplizierte Kalender oder andere Zeitmesser her, meistens in der Form von grafischen Darstellungen oder formalistischen Gemalden. Damit diese ihre voile Gestalt gewinnen, ist es notwendig, dass ein gewisses Quantum Zeit verstreicht, dessen Verlauf in die Grafik oder das Bild
"^^Der Begriff wurde von N. Luhmann gepragt. Vgl. Luhmann 1971: S. 143 ff. und Luhmann 1972b: S. 118 ff.
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eingetragen wird. So wird die Entstehung der Bilder terminlert, die Zeit zerstiickelt (S. 70). Die Gefangenen versuchen also, ihre Zeit selbst zu produzieren und sie so in ihre Gewait zu bekommen, um durch einen durch sie terminierten Haftablauf ihr Handeln und Entwerfen wahrend der Haft mit dem Sinn ihrer Lage in Ubereinstimmung zu bringen. Dass sich das Ausbleiben der produzierten Zeit in der Zeitstruktur ihrer AUtagswirkHchkeit trotzdem bemerkbar macht, zeigt die Angst, sich ihr wieder in vollem Mafie auszusetzen. Sie tritt in der Tatsache zum Vorschein, dass die Gefangenen vor ihrer Entlassung davor Angst haben, wieder in der normalen Umgebung leben zu miissen.'^'^ So kommt es zu einer Paradoxic, dass die Hafthnge diejenige Zeitknappheit ersatzweise produzieren, die sie selbst fiirchten. Die Paradoxic erhellt hier die widerspruchsvollc Art, in der die produzierte Zeit im Alltag erschcint. Eincrseits ist sic als cine die Typisierung ermoglichcnde Dimension der Alltagswirklichkeit, d.h. als cine Oricntierungs- und Handlungsstiitze notwendig, und die durch sie gesctzte Zeitknappheit wirkt sich als cin Rcalitatsbezug auf die Ausgangssituation fiir das Entwerfen aus; andercrseits wird aber cben der sozialc Zwang, der durch das Setzen der produzierten Zeit hcrvorgerufen wird und der die Typisicrungen und das Setzen der Zeitknappheit ermoglicht, als negativ empfunden - ein Punkt, der die Typenbildung fiir die Geschichtlichkeit im Sinne einer auf den Geschichtsablauf bezogenen Reflexivitat durchaus empfindlich macht. Doch bevor wir uns mit der durch die Einbeziehung der produzierten Zeit gegebenen Geschichtlichkeit der alltaglichen Typenbildung befassen, wollen wir uns einem Phanomen zuwenden, das, wie die Beispiele zeigen, einen wesentlichen Moment der Zeittypik einer Situation ausmacht: der Zeitknappheit. Die Zeitknappheit ist ein Ausdruck zweier voneinander getrennt ablaufenden Zeitdimensionen; d.h. es hat nur dann Sinn von Zeitknappheit zu reden, wenn es cine Zeitebene gibt, an der die Zeit '^'^Vgl.: Jones 1965 : S. 123. Ahnliches stellte auch Goffman bei Insassen von Irrenhausern, die er als »Kolonisten« bezeichnet, fest. Vgl. Goffman 1973: S. 67. Diese Patienten weichen der »toten und bleischweren Zeit« (Goffmann 1973: S. 72) dadurch aus, dass sie sich vermittels einer »sekundaren Anpassung« (Goffmann 1973: S. 185) einen »eigenen« Alltag schaffen.
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prinzipiell nicht knapp werden kann, weil dort die Idealisierung »ich kann Immer wieder« den Zeitablauf bestimmt (hier die der konstituierten Zeit), und eine andere, mit dieser korreiierende, auf der ein beliebiges Wiederholen von Situationen durch ihre Einbettung in die realen geselischaftlichen Prozesse eingeschrankt wird - die der produzierten Zeit. D.h. erst die Begegnung der Idealisierung »ich kann immer wieder« mit ihrer pragmatischen Einschrankung »ich kann nur dann und dann« macht Zeitknappheit als ein Moment der Zeittypik von Situationen fassbar. Indem nun Zeitknappheit als ein Bestandteil der Zeittypik der Situationen miterfasst wird, konnen Situationen als auf einen iibergeordneten Ablaufzusammenhang (produzierte Zeit) hinweisende, umgrenzte Einheiten, in deren Rahmen nur eine begrenzte Zahl von Handlungsentwiirfen moglich ist, im Erleben abgegrenzt und von dem biographisch bestimmten Erfahrungshorizont des Erlebenden als aktuell abgehoben werden es. So ist die Zeitknappheit eines der die Struktur der Alltagswirklichkeit bestimmenden Phanomene, die der von Schiitz als »hell wach sein« (Schiitz 1971: S. 244) umschriebenen Einstellung eines im Alltag praktisch handelnden Ego zugrunde liegen. Als ein Moment der erfassbaren Zeittypik der Situation tragt sie den konstitutiven Seinsbezug der Typenbildung auf die zu erfassende Situation, also die intersubjektiv geltende Sinnadaquanz zwischen der Situation und ihrer Typisierung. Wir woUen noch einmal zusammenfassen: Situationen, deren Ablauf von der produzierten Zeit bestimmt wird, haben eine von der individuellen duree unabhangige Dauer, die einen Bestandteil ihrer Zeittypik ausmacht. Entwiirfe solcher Handlungen, die sich auf diese Situationen beziehen sollen, miissen diesem Umstand Rechnung tragen, d.h. es miissen solche ausgewahlt werden, deren Realisierung im zeitlichen Rahmen der Situationen moglich ist. Die Beriicksichtigung dieses Momentes der auf der produzierten Zeit beruhenden Zeittypik hat zwei methodologische Konsequenzen, die eine bessere Analyse des Handlungszusammenhanges ermoglichen: a) Wenn das in der Zeittypik miterfasste Moment der Zeitknappheit in der Tat die Wahl der Handlungsentwiirfe, wie wir postulierten, motiviert, und wenn die Zeittypik sich als ein sozialer Zwang
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auswirkt, dann hat der Beobachter, der die Zeittypik der Situation grundsatzlich miterfassen kann, eine bessere Chance, den Anfang und das Ende einer Handlung in dieser Situation zu bestimmen und so mit intersubjektiver Gliltigkeit typisierend zu erfassen, als wenn er sich ledigHch auf seine in der Umwehbeziehung gewonnenen und verifizierten Deutungsschemata verlassen wurde. Somit wird die von Schiitz postuHerte Schwierigkeit, den Anfang und das Ende einer fremden Handlung auszumachen wesentHch eingeschrankt. b) Die Zeitknappheit, die als den Ablauf der Situation zeittypisch auszeichnend in den alltaglichen Typus miteingeht, bietet auch - wie wir sahen - den Horizont fiir die notwendige Darstellung der Vermittlung zwischen der intersubjektiven Geltung des Situationsablaufs und der subjektiven, durch die je eigene biographische Perspektive gepragte Interpretationsmoglichkeit dieser Geltung auf der Ebene der Typisierung. Hierfiir ist die Differenz der beiden Zeitablaufe - der konstituierten und der produzierten Zeit - die in Gestalt der Zeitknappheit sichtbar wird, ausschlaggebend. Der von der duree unabhangig verlaufende Situationsablauf bezieht diese, soweit es die duree der an der Situation Beteiligten ist, mit in die Situation ein. Anhand der Zeittypik wird die Situation als wesentlich intersubjektiv erlebt und so typisiert. So kann die bindende Geltung des Situationsablaufs hergestellt werden. Ist die Situation abgelaufen, d. h. ist der Zeitknappheitsdruck und Handlungszwang gewichen, kann der intersubjektiv geltende Ablauftypus in der jeweiligen duree in unbegrenztem Mafie variiert werden, in der Wiedererinnerung wieder und wieder aktualisiert werden usw. Doch alle diese Variationen, die nur deswegen moglich sind, weil die Situationen in einer anderen Zeit ablaufen als in derjenigen, in der sie voUzogen werden miissen, aus welcher Perspektive auch immer sie kommen, das in dem Ablauftypus intersubjektiv bindend erfasste Nach- und Nebeneinander der Handlungen in der Situation als Grundlage enthalten, sobald sie den Anspruch erheben, in einer ahnlichen wieder aktuell gewordenen Situation zur Geltung zu kommen.
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Indem also gezeigt werden kann, dass die subjektive Typenbildung die produzierte Zeit als eine Dimension der Setzung von sozialen Ablaufen erfasst, kann auch klar gezeigt werden, dass die von Subjekten vorgenommenen Typisierungen in alien Bereichen der Alltagswirklichkeit eine intersubjektive Geltung haben, obwohl sie anhand verschiedener biographischer Perspektiven geschehen, dass sie also keine blofien Projektionen dyadischer Erfahrungen in die Mitwelt sind, sondern sich auf intersubjektiv bindende soziale Prozesse stiitzen. Dieser Zusammenhang zeigt schliefilich auch die M5glichkeit an, die wir in unserer zweiten These postulierten: namlich die Typenbildung geschichtlich aufzufassen und ihr so zu Konkretheit zu verhelfen. Dies soil nun naher ausgefiihrt werden. Urn uns einen Ausgangspunkt hierzu zu verschaffen, wollen wir erst einmal festhalten, was mit dem Vorwurf mangelhafter Geschichtlichkeit in Bezug auf eine Wirklichkeitsauffassung (und die Analyse der Typenbildung ist zweifelsohne eine) gemeint werden kann. Es gibt zwei Moglichkeiten, einen solchen Vorwurf zu interpretieren: a) Er kann als ein Problem der »passiven Entsprechung« aufgefasst werden: D. h. es kann bedeuten, dass diese Wirklichkeitsauffassung ihrem Eingebettet-Sein in den Geschichtsablauf nicht Rechnung tragt, also keine Mittel zur Verfiigung hat, systematisch zu zeigen, wie die Typen, mit denen sie umgeht, der sich wandelnden Realitat entsprechen und von ihr in konkret geschichtlicher Situation bestimmt werden kdnnen (der Habermas'sche Einwand). b) Es kann andererseits heifien, dass im Rahmen der Wirklichkeitsauffassung keine Moglichkeit besteht, die Prozesse einer »aktiven Entsprechung« aufzuzeigen, d. h. solche, die aus Handlungen bestehen, die - auf den Geschichtsablauf reagierend - die Intention haben, denselben formend zu konstituieren. Soil der Vorwurf der Ungeschichtlichkeit hinfallig werden, muss gezeigt werden, dass die Einfiihrung der Dimension der produzierten Zeit in die Analyse der Typenbildung seinen beiden Varianten den Boden entzieht.
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Zu a) Die sozialen Ablaufe, die die produzierte Zeit setzen und in ihr verlaufen, sind, mit Marx gesprochen, auch diejenigen des geschichtlichen Wandels. Der reale Ablauf der produzierten Zeit wirkt sich normativ auf die Handlungsmoglichkeiten aus, d.h. er gliedert das Feld der sozialen Handelns dadurch, dass er neue Moglichkeiten der sozialen Beziehungen schafft und in seiner Zyklizitat stabilisiert. Marxisten nennen diesen Prozess >Arbeitsteilung<, Systemtheoretiker sprechen von innerer Ausdifferenzierung des Systems, wir konnen von der Herausbildung von Rollen- und Handlungstypen reden. Diese gehoren als anhand der erlebten produzierten Zeit konstituierte Typisierungen einer auf diesem Wege sehr wohl in ihrer Geschichtlichkeit bestimmbaren Alltagswirklichkeit an. Indem die Typen auf diese Weise im Prozess ihrer Entstehung an den Ablauf der produzierten Zeit gekoppelt sind, bietet sich durchaus die Moglichkeit, im Rahmen der Analyse der alltaglichen Typenbildung eine Beschreibung einer konkreten geschichtlichen sozialen Wirklichkeit zu leisten. Die Einfiihrung der produzierten Zeit als einer Dimension der Typenbildung bietet den systematischen Bezug hierfiir. Zu b) In der Paradoxic der Erscheinungsweise der produzierten Zeit im Alltag, wie sic uns das Beispiel des Zeiterlebens der Gefangenen anschaulich machte und die in der Alltagstypik festgehalten werden kann, haben wir einen Ansatzpunkt zur Beschreibung von Alltagsstrukturen gewonnen, die einem auf den Geschichtsablauf orientierten Handeln zugrunde liegen. Gleichgiiltig ob dieses Handeln sich von einem erhaltenden oder innovatorischen Interesse leiten lasst: Die Spannung zwischen der intersubjektiven Selbstverstandlichkeit des Alltags, die sich auf die durch die produzierte Zeit strukturierte Zeittypik stiitzt, in der notwendigerweise ein solches Handeln seine Basis hat, und der aus dem sozialen Zv^angscharakter der produzierten Zeit resultierenden Moglichkeit, dass sich diese Selbstverstandlichkeit - als Einschrankung identifiziert - als Mangelhaftigkeit manifestieren konnte, diese Spannung also, kann, neben der sozialen Verteilung von Wissen, die unter a) zu erfassen ware, als ein Grundinterpretationsmuster fiir solches Handeln gelten, welches anhand des unter a) ausgefiihrten geschichtlich konkretisiert werden kann. Dieser kurze Umriss mag geniigen, die Argumente zu skizzieren, die
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sich vom Standpunkt einer Analyse der alltagllchen Typenbildung aus, die von einer nichtreduzierten Zeitstruktur der Alltagswirklichkeit ausgeht, dem Vorwurf der Ungeschichtlichkeit derselben entgegenbringen lassen. Sich weiter in den Problembereich zu begeben, der sich hier offnet, wiirde allerdings iiber den Rahmen dieser Abhandlung weit hinausgehen. An dieser Stelle muss es geniigen, (wenn es gelungen ist,) anzuzeigen, in welcher Richtung man mit Schiitz und iiber ihn hinaus die Urspriinge der intersubjektiven Sinngeltung der AlhagswirkHchkeit zu suchen hat. Literatur: Engel, S. W. (1963): Die Zeit der Gefangenen, In: G. Schaltenbrand (Hrsg.): Zeit in nervenarztHcher Sicht. Stuttgart: Enke, S. 55 ff. Goffman, Erving (1973): Asyle. Uber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gurvitch, Georges (1963): La muhipiicite des temps sociaux. In: Ders.: La vocation actuelle de la sociologie. Bd. II. Paris: Pr. Univ. de France, S. 325-430. Habermas, Jiirgen (1970): Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Husserl, Edmund: (1966): Zur Phanomenologie des inneren Zeitbewufitseins. Husserliana Bd. X. Den Haag: Nijhoff. - (1969): Die Krisis europaischer Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie. Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff. - (1972): Erfahrung und Urteil. Hamburg: Meiner. - (1929): Formale und transzendentale Logik. Halle: Niemeyer. - (1968): Phanomenologische Psychologic. Husserliana. Bad IX. Den Haag: Nijhoff. - (1973): Cartesianische Meditationen. Husserliana. Bd. I. Den Haag: Nijhoff.
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7. Wertbeziehung und Relevanz. Zu Alfred Schiitz' Weber-Rezeption Alfred Schiitz' Erstlingswerk - Der sinnhafte Aufbau der sozlalen Welt (Schiitz 2004, erstmals 1932) - tragt bekanntlich den Untertitel »Eine Einleitung in die verstehende Soziologie« und kiindigt schon damit unmissverstandlich an, dass Schiitz die von Max Weber eroffnete, neue Betrachtungsweise des soziologischen Gegenstandes aufnehmen will. Freilich tut er das aufgrund einer Auseinandersetzung mit Weber, die vor allem zwei Punkte betrifft: Zum einen richtet sich die Schiitz'sche Kritik gegen Webers Handlungs- und Sinnbegriff, zum anderen kritisiert Schiitz die Weber'sche Konzeption des Idealtypus, um sie durch seine eigene zu ersetzen. Den ersten Punkt geht Schiitz bekanntlich mit seinem an Henri Bergson und Edmund Husserl geschulten kritischen philosophischen Instrumentarium an. Das Feld der zweiten Auseinandersetzung wird nicht nur von diesem philosophischen Horizont abgesteckt, sondern dariiber hinaus von Schiitz' Beziehung zum Ludwig Mises-Kreis und der dort vertretenen osterreichischen okonomischen Schule. (vgl. Prendergast 1986; Eberle 1988 und Srubar 1992)."^^ Die Frage, inwiefern diese zwei Auseinandersetzungen aneinander ankniipfen und einen immanenten Zusammenhang im Aufbau des Schiitz'schen Argumentes in seinem Erstlingswerk aufweisen, wird haufig verkiirzt unter lediglich methodologischen Aspekten abgehandelt, die den Zusammenhang im gesamten Kontext des Buches und des spateren Werkes vernachlassigen. Ebenso ist es bis heute nicht ausreichend geklart, welche Weber'schen Konzepte - von den genannten, vordergriindigen abgesehen - von Schiitz aufgenommen und in welcher Richtung sie von ihm bearbeitet wurden. Schiitz' Auseinandersetzung mit Webers Sinn- und Handlungsbegriff "^^Zu betonen ist hier auch der Einfluss des methodologischen Denkens von FeUx Kaufmann, der fiir Schiitz' Position von einiger Bedeutung war; vgl. dazu Helling (1984; 1985)
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im ersten Abschnitt des Sinnhaften Aufbaus erfolgt ganz auf dem Boden der Grundbegriffe von Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1972). Von der Weber'schen Definition des sozialen Handelns ausgehend, entwickelt Schiitz im schnellen Durchgang drei kritische Fragestellungen, die sein weiteres Vorgehen antizipieren. Erstens: Was bedeutet die Aussage, der Handelnde verbinde mit seinem Handeln einen Sinn? Zweitens: In welcher Weise ist Alter Ego dem Ich als ein Sinnhaftes vorgegeben? Drittens: »In welcher Weise versteht das Ich fremdes Verhalten, (a) iiberhaupt, (b) nach dem subjektiven Sinn des sich so Verhaltenden« (Schiitz 2004: S. 98)? Damit ist Schiitz' Weg in die Untersuchung der Sinnkonstitution innerhaib mundaner SoziaHtat eroffnet. Von hier aus fiihrt Schiitz vor dem Hintergrund der Bergson'schen und Husserl'schen Analysen des leistenden Bewusstseins den Nachweis, dass sowohl das aktuelle als auch das motivationsmafiige Verstehen Webers sich lediglich auf den objektiven, das heifit sich aufierlich manifestierenden Sinn bezieht, dass jedoch die Schichten seiner subjektiven bzw. intersubjektiven Konstitution unbelichtet bleiben. Webers Konzept des sozialen Handelns und dessen verstehenderklarender Erfassung scheint also vordergriindig nur als Sprungbrett fiir die Entwicklung des eigentlichen Untersuchungsthemas zu dienen - der mundanen Sinnkonstitution. Diese prasentiert Schiitz bekanntlich in drei Schritten: Zuerst zeigt er die Akte des Zeitbewusstseins auf, in welchem Erfahrungsschemata entstehen, in denen sich Handlungsentwiirfe und Motivationszusammenhange als handlungsbezogene Sinnzusammenhange konstituieren (Schiitz 2004: S. 172 ff.). Dann wird die situationsbezogene Plastizitat dieser Erfahrungsschemata analysiert und ihre Pragbarkeit in der Interaktion der Wirkensbeziehung hervorgehoben. Die auf dieser Grundlage entstehende intersubjektiv geteilte »Wir-Welt« liefert dann die Basis fiir die anonymisierten, typischen Erwartungen, an welchen sich das Handeln in der Mitwelt, also in der die Dyade transzendierenden Alltagswelt, orientiert (Schiitz 2004: S. 299 ff.). Nachdem nun gezeigt wurde, dass die Orientierung des sozialen Handelns sich im alltaglichen Falle aufgrund von intersubjektiv generierten Typisierungen vollzieht, die durchaus einen hohen Grad an Anonymitat
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und Abstraktion errelchen konnen"^^, geht Schiitz an seine Reformulierung des Idealtypus. Er lehnt Webers neukantianische Konzeptlon des Idealtypus als eines zum Zwecke der Ordnung des Chaos von Einzelereignissen konstruierten Instruments ab und stellt den Wissenschaftler prinzipiell mit dem in der Mitwelt Deutenden gleich (Schiitz 2004: S. 403). Auch der Wissenschaftler vollzieht bei seiner Typenbildung eine Invariantsetzung von Motivationszusammenhangen und Deutungsschemata, da er ja annehmen darf, dass sich das zu deutende Handeln ebenso im Rahmen typischer Orientierungen bewegen muss (Schiitz 2004: S. 430; WiUiame 1973: S. 104). Diese Invariantsetzung als Bildung eines Handlungsmodells mit dem zugehorigen Motivations- und Deutungshorizont kann auf diversen Ebenen vor sich gehen, je nach dem zu deutenden Phanomen und dessen Anonymitats- und Abstraktionsgrad (Schiitz 2004: S. 433 i.)."^^ Die Wahl des Objektes und der damit verbundenen Abstraktionsebene der Invariantsetzung sowie der Modellausstattung ist die Sache des Wissenschaftlers; sie muss allerdings der logischen Stimmigkeit, der rationalen Zuordnung und der »Erfahrung von der Sozialwelt und der Welt iiberhaupt entsprechen« (Schiitz 2004: S. 430 ff.)."^^ So lasst sich der Hergang der Auseinandersetzung mit Weber, wie sie auf der Oberflache des Schiitz'schen Textes erscheint, in knappsten Ziigen darstellen, und so wird sie in der Regel auch in der Sekundarliteratur wahrgenommen (Wiliame 1973; Eberle 1984; Grathoff 1989; Lehmann/Eikelpasch 1983; Thomason 1982; Bodenstedt 1966; Crespi/Izzo 1980). Bezog sich aber Schiitz' kritische Anlehnung an Webers Werk wirklich nur auf die Erorterung der Begriffe Handeln, Sinn und Idealtypus?"^^ "^ Dieser Aspekt findet sich deutlich herausgearbeitet bereits in der Arbeit von WiUiame (1973). '^^Die teleskopische Funktion der Schiitz'schen sozialwissenschaftlichen Typenbildung arbeitet Prendergast (1986) heraus. "^^Schiitz verweist in diesem Zusammenhang kritisch auf Webers Objektivitatsaufsatz von 1904 und glaubt, seine Position nahere sich eher jener, die bei Weber in Wirtschaft und Gesellschaft erkennbar wird (Weber 1972: 9 ff.). '^^Schiitz' Untersuchungen zu Sinn- und Kausaladaquanz sowie zur objektiven Chance, die im »Sinnhaften Aufbau« vorgenommen werden, gehoren in den Zusammenhang der Kritik des Weber'schen Typenbegriffs.
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Dagegen scheint schon der Kontext zu sprechen, in dem Schiitz seine Kritik und seine Umformung des Weber'schen Idealtypus entwickelt. Diese wird nicht nur von dem Schiitz'schen eigentlichen Erkenntnisinteresse getragen, sondern auch vor dem Hintergrund der Mises'schen Weberkritik vorgebracht - im Rahmen einer Perspektive der Weber-Rezeption also, die Schiitz besonders vertraut, wenn auch nicht ganz einsichtig war.^° Mises, der sich als Fortfiihrer des sich seit Carl Menger (1884) im Gange befindlichen Methodenstreits zwischen der osterreichischen Grenznutzenschule und dem deutschen nationalokonomischen Historismus sah, stand in scharfer Opposition zu Weber, dessen verstehende Soziologie er als einen weiteren Siindenfall dieses Historismus wertete.^^ In Mises' Auffassung war die Nationalokonomie der am weitesten entwickelte Zweig einer allgemeinen Soziologie, deren Satze a priori gelten, die Gesetze des Handelns bestimmen (Mises 1933: S. 22 ff.) und durch Erfahrung nicht widerlegt werden konnen (Mises 1933: S. 27). Sie geben an, was in jedem elementaren Handeln vorhanden ist, so dass dieses sich nach den in diesen Satzen enthaltenen Regeln entfalten miisse. Sie sind in dem Sinne streng allgemein und nomothetisch, als sie eine Pradiktion ermoglichen (Mises 1933: S. 87). Webers idealtypische Methode hingegen sei lediglich auf vergangene, historische Einzelphanomene anwendbar, deren rationale Durchdringung lediglich zum Verstehen eines historischen Hergangs, nicht aber zu generalisierungsfahigen Satzen fiihren kann. Webers Idealtypen sind daher mit den Satzen einer als Gesetzeswissenschaft verstandenen Soziologie hinsichtlich ihres logischen Status nicht vergleichbar - nie konnen diese als jene gelten (Mises 1933: S. 74). ^°Zur Stellung des Schiitzschen Erstlingswerkes in der Kontroverse Mises/Weber vgl. insbes. Prendergast (1986), wenn dieser auch den Zusammenhang der Schiitz'schen methodologischen Vorschlage mit dem konstitutionstheoretischen Argument des »Sinnhaften Aufbaus« nicht erkennt und so an Schiitz' vorrangigem Erkenntnisinteresse vorbeisieht. ^^ Vgl. Mises (1933); in dieser Aufsatzsammlung sind einige Arbeiten Mises' enthalten, die in den zwanziger Jahren entstanden sind und auf die sich Schiitz bezieht, so zum Beispiel der Aufsat z »Soziologie und Geschichte. Epilog zum Methodenstreit in der Nationalokonomie« von 1929, der im »Sinnhaften Aufbau« haufig herangezogen wird (Mises 1933: S.64 ff.), sowie etwa der Essay »Bemerkungen zum Grund-Problem der subjektivistischen Wertlehre« von 1928.
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Betrachten wir nun dieses Kraftefeld, In dem Schiitz seine Position verortet, naher. Zuerst wird deutllch, dass die Ausgangsposltlonen von Weber, MIses und Im Anschluss daran auch von Schiitz In einlgen Punkten iiberelnstlmmen. Alle drel vertreten einen methodologlschen Indlvlduahsmus, wollen kollektive Gebllde auf das Handeln von Indlvlduen zuriickfiihren und sehen daher als Grundlage der sozlologlschen Analyse das Handeln EInzelner an. Insofern haben sowohl MIses' Praxeologle als auch Webers und Schiitz' handlungstheoretlscher Ansatz Ihre gemelnsame Wurzel In der osterrelchlschen Schule. Auf diesem gemelnsamen Boden vollzleht sich also Schiitz' Rezeptlon der belden Ansatze, deren wichtlgste methodologlsche Aussagen allerdlngs als Gegensatze wahrnehmbar sind: Dem MIses'schen nomothetlschen Aprlorlsmus steht Webers Idealtypus gegeniiber, der zwar kelner exakten emplrlschen Entsprechung bedarf, aber doch nach Erfahrungsregeln zu konstruleren 1st (Weber 1973: S. 127). Anstelle des MIses'schen Inslstlerens auf der Gesetzmafilgkelt der sozlologlschen Satze und deren pradlktivem Charakter findet sIch bel Weber der Begrlff der Chance (Weber 1972: S. 9 f.), der fiir die Treffslcherhelt der Idealtyplschen Analyse steht. Schiitz' elgene Position - und darauf wurde schon hingewlesen (Eberle 1988; Prendergast 1986) - scheint zuerst In diesem Spannungsfeld eine vermlttelnde Stellung einzunehmen: Seine Konstruktion des Idealtypus besteht In der Invarlantsetzung bestlmmter Motive und Typlslerungen Innerhalb des Deutungsschemas, anhand dessen ein Ich sein Handeln orlentleren wiirde (Schiitz 2004: S. 432 f.). Die Berechtlgung des Sozlalwlssenschaftlers, solche Modelle aufzustellen, leltet sIch dann von der Tatsache ab, dass auch alltagllch Handelnde sIch prinzlplell an typlschen Konstruktionen, die Ihren WIssensvorrat bllden, orlentleren. So 1st die wissenschaftllche Idealtyplsche Rekonstruktion einerselts auf Erfahrung gestiitzt, also nicht a priori, andererselts aber rekurrlert sle auf eIne unlverselle »EIgenschaft« der sozlalen WIrkllchkelt und kommt so der Forderung, die sozlologlsche Begrlffsblldung habe generallslerbare Aussagen zu ermogllchen, nahe. EIne Vermlttlung zvi^Ischen Webers Begrlff der Chance und der Pradlktionsforderung der MIses'schen Theorle scheint sIch fiir Schiitz In der Betonung der Zeltllchkelt des Handlungs- und Bezlehungs-
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prozesses anzubahnen. Ein auf die Zukunft bezogener Entwurf einer Handlung erfolgt nach Schiitz modo futuri exacti, also im Sinne eines »ich werde gemacht haben«, das aufgrund des Wissensvorrats an Vergangenem antizipierend in die Zukunft einen Handlungsentwurf als abgelaufen setzt. Zu Typisierungen von Motivations- und Handlungsschemata auf der Alltagsebene gehoren also auch typische Handlungsantizipationen, aufgrund welcher Voraussagen in Form von Erwartungen moglich werden. Die Wiederholbarkeit von Handlungen - deren Erfahrung auch zur alltaglichen Typenbildung gehort - ist fiir Schiitz grofienteils aus diesen typisierten Zukunftsbeziigen modo futuri exacti erklarbar.^^ In Bezug auf Pradiktion haben idealtypische Konstruktionen natiirlich lediglich eine Chance; dies ist schon darin gegeben, dass es sich um Typen handelt, die immer durch eine Erwartungsstruktur gekennzeichnet sind. Diese Chance ergibt sich aber nicht lediglich aus dem fallweisen Zutreffen oder Nicht-Zutreffen einer Erwartung, sondern aus der Orientierung der wissenschaftlichen Typenbildung an einer dem Gegenstand immanenten Struktur. Offensichtlich ist es auch die Orientierung - die Adaquanz der wissenschaftlichen Typenbildung, wie Schiitz (Schiitz 1971: S. 50) es spater nennen wird -, mit der sich die Chance einer Gesetzmafiigkeit der sozialwissenschaftlichen Aussagen iiberhaupt offnet.^-^ In der Ausfiihrung dieser Fundierung, die eine mundan-phanomenologisch begriffene Konstitutionstheorie der Sozialwelt als Kulturwelt verfolgt und so im Gegensatz zum neokantischen methodologischen Konstruktivismus steht, wird in der Kegel - und gewiss richtig - auch der Weg gesehen, auf dem Schiitz den Weberschen Boden verlasst. Im folgenden mochte ich allerdings zeigen, indem ich auf einige bislang unberiicksich^ Bezeichnenderweise finden sich seit 1928 in Schiitz' Notizen in diesem Zusammenhang haufig Hinweise auf das sogenannte Tireisias-Problem, das heiftt auf das Problem der Moglichkeit von Vorhersagen aufgrund der Typik des Erfahrenen - ein Thema, das Schiitz spater in seinem Aufsatz »Tireisias, oder unser Wissen von zukiinftigen Ereignissen« aufgreift (Schiitz 2003: S. 251 ff.). ^^Entsprechend gilt das Adaquanzproblem als das Schliisselproblem der Schiitz'schen Methodologie, und es fehlt nicht an Kritikern, die die Unmoglichkeit dieser Konstruktion nachzuweisen suchen; vgl. etwa Helling (1979), Gorman (1977), Coenen (1985), Carroll (1982); eine Ubersicht dieser Kritik siehe auch in McLain (1981).
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tigte Materialien aus dem Schiitz'schen Nachlass elngehe, dass auch im Hintergrund der Schiitz'schen Analysen der mundanen Sinnkonstitution sowie seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der Orientierung der wissenschaftlichen Typen an dieser einige Weber'sche Denkfiguren standen. Das Leitmotiv, dem wir hier zu folgen haben, ist das Problem der Relevanz, das Schiitz seit den Anfangen seiner theoretischen Arbeit beschaftigt. Die ersten Notizen zu diesem Thema entstehen noch im Zusammenhang mit der Theorie der Lebensformen (Schiitz 1981) etwa um 1927 (Schiitz, Nachlass: 6778-6804).54 1928 bis 1929 wechselt dann der Bezugsrahmen, und die Beziige zu Vorarbeiten fiir den »Sinnhaften Aufbau« werden deutlicher.^^ Wahrend der Arbeit am »Sinnhaften Aufbau« tritt das Thema in den Hintergrund, obwohl es als eines der wichtigsten Probleme der verstehenden Soziologie dortselbst hervorgehoben wird (Schiitz 2004: S. 439). Die erste Ausarbeitung erfahrt das Relevanzproblem 1936/37 in dem nachgelassenen Manuskript »Das Problem der Personalitat in der Sozialwelt« (Schiitz 2003)^^ und spater im Problem der Relevanz (Schiitz 2004a)^^ sowie in den Notizbiichern von 1957, aufgrund welcher Thomas Luckmann die zwei Bande der Strukturen der Lebenswelt verfasste (Schiitz/Luckmann 1975 und 1984).^^ Fiir die Schiitz'sche Weber-Rezeption ist nun jene Fassung des Relevanzproblems von Interesse, die Schiitz vor der Entstehung des »Sinnhaften Aufbaus«, also zwischen 1927 und 1929, beschaftigte (Schiitz 2004a: 45 ff.). In seiner allgemeinsten Form steht das Relevanzproblem in jener Zeit bei Schiitz fiir die Frage nach der »Auswahl aus der Totalitat der Welt, ^'^Die Angaben liber Nachlassstellen beziehen sich auf die fortlaufende Numerierung der Nachlassmaterialien im Sozialwissenschaftlichen Archiv in Konstanz. ^^Dies wird vor allem an der Thematisierung der Konstruktionsprobleme von Ideakypen und der Sinnkonstitution erkennbar. ^^Ausfiihrliche Beschaftigung mit diesem Manuskript sowie seine systematische Einordnung in den Kontext des Gesamtwerkes findet man geleistet in Srubar (1988). ^'^Dieses posthum von R. M. Zaner edierte Manuskript entstand in den Jahren 1947 bis 1951. Es blieb vor allem deswegen unvollendet, weil Schiitz die Notwendigkeit erkannte, die soziale Konstitution der Lebenswelt an den Anfang seiner Untersuchung zu stellen. Vgl. dazu Srubar (1988: S. 270) sowie Wagner (1983: S. I l l f.). ^^Die Notizbiicher sind als Anhang in Schiitz/Luckmann (1984) abgedruckt, vgl. insbesondere das Notizbuch Nr. 1.
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die sowohl [dem] Leben als auch [dem] Denken vorgegeben ist« (Schiitz 2004: S. 51). Angesprochen werden also ein selektierendes Verhalten und Handeln (inneres oder aufieres), seine Funktionen sowie die Rahmenbedingungen, innerhalb welcher es sich vollzieht. Diese Problemstellung hat im Schiitz'schen Denken mehrere Quellen, die gleichzeitig auf die Ebenen hinweisen, auf welchen das Relevanzproblem angegangen werden kann. Die Selektivitat als ein wesentliches Merkmal des Handelns stellt eine der Ausgangsthesen der Praxeologie von Mises dar (Mises 1933: S. 55 ff. u. 76 ff.). Handeln impliziert demnach immer eine Entscheidung zwischen mehreren Moglichkeiten und bedeutet daher ein Wirtschaften mit vorhandenen Mitteln zwecks Erreichen von Zielen. Der pragmatische Weltzugang ist also immer ein wertend selektierender. Schiitz fallt es nicht schwer, diese Problemsicht zu akzeptieren: Bergsons Analysen des Bewusstseinsstroms zeigten ihm ja, dass die attention a la vie, durch die das Welterleben des wachen Bewusstseins gepragt wird, ebenso eine pragmatisch selektierende Funktion hat, dass also bereits der mundan-kognitive Weltbezug von dieser Funktion getragen wird. Auch Husserls Konzeption intentionalen Erlebens mit dessen noetisch-noematischen Struktur, die sowohl die inhaltlichen Momente der Erlebnisse als auch das kontextuelle »Wie« des Erlebens in den Blick riickt, weist fiir Schiitz in diese Richtung. Ausfiihrlich behandelt findet er dieses Thema des pragmatisch-selektiven Weltzugangs in Max Schelers philosophisch-anthropologischen Untersuchungen und insbesondere in seiner Abhandlung iiber »Erkenntnis und Arbeit« (Scheler 1980; 1973; 1980a). Hier findet er auch ein Konzept, das es moglich macht, das pragmatische und das kognitive Moment des Handelns im Zusammenhang zu sehen und die Selektivitat dieser beiden Momente als eine sozial gepragte zu begreifen (Scheler 1980: S. 359 ff.; 1973: S. 232 £; Schiitz 2004a: S. 48 f., Nachlass: 30). Im Lichte dieser Ansatze erscheint also die Selektivitat als grundlegendes Merkmal des menschlichen Zugangs zur Welt in all seinen Modi. Die Frage nach den Vollzugs- und Konstitutionsmechanismen dieser Selektivitat, das heifit nach dem Zustandekommen von Relevanzen, zielt daher in Schiitz'schen Augen auf ein Grundphanomen der Konstitution der sinnhaften Welt. Schiitz notiert: »Relevanz und Sinn - offenbar Kor-
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relativa: N u r zwischen Relevantem bestehen Sinnzusammenhange; nur das in Sinnzusammenhangen Stehende ist relevant« (Schiitz 2004a: S. 49 f.). Das Relevanzproblem wird zum zentralen Problem der verstehenden Sozialwissenschaft (Schiitz 2004a: S. 51 f.), denn: »Verstehen heifit Relevanz feststellen. Was fiir die Logik das Urteil wahr oder falsch ist, ist fiir Verstehen [die] Feststellung der relevanten Sinnelemente« (Schiitz 2004a: S. 47). Damit bekommt das Relevanzproblem neben der konstitutionsanalytischen auch eine methodologische Komponente. Vor welchem Hintergrund entsteht nun diese Fassung des Relevanzproblems, in der diese Komponenten, in deren gegenseitiger Beziehung sich die Adaquanzproblematik ankiindigt, miteinander verzahnt werden? Schiitz unterscheidet drei Ebenen, auf welchen sich das Problem der Relevanz stellt: Es taucht auf a) als Grundproblem der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre, b) fiir den Handelnden (sich sozial verhaltenden), c) als die Lebensform der Werte konstituierend (Schiitz 2004a: S. 45). Aus dem Kontext, in dem diese Unterscheidung in den Notizen steht, lasst sich als erstes erkennen, dass sich diese Schiitzschen Uberlegungen an seine Theorie der Lebensformen anlehnen (Schiitz 1981). Weiterhin kann man hier erkennen, dass Schiitz fiir die Behandlung des Relevanzproblems auf der Ebene der alltaglich Handelnden die von Mises a priori postulierte These des rationalen Wahlhandelns fiir nicht ausreichend halt. Wohl ordnet er zuerst das Relevanzproblem der alltaglich Handelnden der rationalen Lebensform zu, denn fiir die Handlung konne nur das relevant sein, was fiir den Handlungsentwurf als sedimentiertes Wissen verfiigbar ist. Relevant ware dementsprechend, was durch die reflexive Zuwendung (rationale Konstruktion) aus dem vergangenen Wissen mit meiner aktuellen Situation verbindbar ware (Schiitz 2004a: S. 45 f.). Sogleich sieht Schiitz sich aber doch gezwungen, die genetische (polythetische) Konstitution dieses Wissens zu beriicksichtigen, die tief in die Erlebensschichten des Bewusstseins und in das Geflecht der Lebensformen hineinreicht. Denn »prinzipiell ist jedes Moment fahig, fiir irgendeinen
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Sinnzusammenhang relevant zu sein«. Man miisse also beriicksichtigen, dass die Selektion dieser Momente durch die Filter der pragmatischen Funktion der Wahrnehmung und der attention a la vie (Bergson) und durch die Intentionalitat des Bewusstseins (Husserl) geschieht. Inhaltlich gedeutet, also durch Sinnbezug ausselektiert, werden diese Momente in den Symbolisierungsmechanismen aller Lebensformen, darunter jener des handelnden, des Du-bezogenen und des sprechenden Ich, deren lediglich die hochste die des rationalen Denkens sei (Schiitz 2004a: S. 49 f.). Das Problem der Relevanz in dieser friihen Fassung verweist also auf der Ebene des alltaglichen Handelns auf ein Zweifaches: Erstens ist es das Problem der Orientierung des Handelns in einer Situation, also das Problem der Wahl von Entwiirfen in einem jetzt und So. Zweitens ist es aber das Problem der Genese des Sinnfeldes, in welchem diese Orientierung stattfinden kann, also das Problem der selektiven Herausbildung von iibergreifenden Deutungsschemata schlechthin. Dieser Differenzierung tragt nun Schiitz auch Rechnung mit seiner Unterscheidung zwischen dem Relevanzproblem, wie es sich dem Handelnden stellt, und jenem Prozess der Selektion, der zu einer iibergreifenden Lebensform der Werte fiihrt. Schon in Anbetracht der mit der Fassung dieser beiden Ebenen verbundenen Schwierigkeiten ware es sicher legitim, das so verfasste Relevanzproblem als das methodologische Hauptproblem der verstehenden Sozialwissenschaft zu betrachten. Und tatsachlich finden wir in Schiitz' Notizen diese zwei Ansatzpunkte auf die Ebene der Methodologie der Sozialwissenschaft in einer Weise projiziert, die uns aus dem »Sinnhaften Aufbau« bekannt ist; in beiden Fallen tauchen sie auf als das Problem der Definition des Objekts (das heifit der immer schon gedeuteten Wirklichkeit) der Sozialwissenschaften und als jenes des gemeinten Sinns (also der situationsbezogenen Handlungsorientierung). Uber diese sich abzeichnende immanente Verbindung der konstitutionstheoretischen und methodologischen Momente hinaus zahlt Schiitz jedoch zu dem Relevanzproblem auf der Wissenschaftsebene auch noch die Wahl des Problems durch den Wissenschaftler und, grundlegend, die Konstruktion der Idealtypen als Instrumente der Forschung (Schiitz 2004a: S. 51 f.). Da nun die zwei bereits genannten konstitutionstheoretischen Annahmen iiber die
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Relevanzstrukturen des »Sinnhaften Aufbaus« der sozialen Wirklichkeit die von Schiitz thematisierte Reichwelte des Relevanzproblems fiir die sozialwissenschaftliche Methodik nicht ganz abdecken, stellt sich erneut die Frage nach dem Hintergrund, vor welchem Schiitz eine Verbindung der konstitutionstheoretischen und methodologischen Komponenten des Relevanzproblems dachte. Die Rede liber selektive Beziehungen als Merkmale der Definition des Forschungsobjekts der Sozialwissenschaften im Zusammenhang mit der Problematik der wissenschaftlichen Problemwahl einerseits und der Konstruktion der Idealtypen andererseits gemahnt bereits thematisch an Webers Objektivitatsaufsatz von 1904, der im »Sinnhaften Aufbau« als Bezugstext fiir die Kritik der Weber'schen Typenbildung fungiert (Weber 1973: S. 146 ff.; Schiitz 2004: S. 432). Uberraschenderweise finden wir in den Schiitz'schen Notizen unter dem Titel »Relevanz« eine Reihe von Seitenverweisen, die sich ebenso auf jene Stellen in Webers Wissenschaftslehre beziehen, die Schiitz fiir seine Uberlegungen zum Relevanzproblem insbesondere herangezogen hat (Schiitz, Nachlass: 6804). Sie konzentrieren sich aber auf Webers Konzeption der Wertbeziehung, aufgrund welcher die Konstitution der empirischen Kulturwirklichkeit und der Prozess der wissenschaftlichen Problemauswahl aus dieser erfolgen. Als quasi konkrete Illustration der Anwendung dieses generellen Modells betrachtet Schiitz dann das Beispiel der Skatrunde, an welchem Weber die verschiedenen Relevanzstrukturen demonstriert, die sich je nach wissenschaftlichem Interesse eroffnen, mit dem man sich diesem Ausschnitt der Kulturwirklichkeit nahert (Weber 1973: S. 337 ff.). Uberraschend und bedeutend zugleich ist der Bezug auf die Wertbeziehung deswegen, weil es sich in neueren Betrachtungen, die Schiitz' kritische Fundierung und Umgestaltung des Weber'schen verstehenden Ansatzes thematisieren, eingebiirgert hat, gerade die Eliminierung des Wertbeziehungskonzepts als eine fiir diese Umgestaltung grundsatzliche Pramisse anzusehen (Prendergast 1986: S.19; Zaret 1980: S. 1189 ff.) Bei Zaret (1980: S. 1190) lesen wir gar: »The initial premise of Schiitz's phenomenological interpretation of Weber implies the irrelevance of Wertbeziehung«. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Webers Wertbeziehung im engen Zusammenhang mit
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der Entwicklung des Schiitz'schen Ansatzes steht. Die zentralen Stellen in Sachen Wertbeziehung, auf die auch Schiitz sich bezieht, lauten bei Weber bekanntlich wie folgt: »Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist fiir uns Kultur, weil und sofern wir sie mit Wertidealen in Beziehung setzen, sie umfafit diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehungen fiir uns bedeutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweiis betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserem durch jene Wertideen bedingten Interesse gefarbt, er allein hat Bedeutung fiir uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die fiir uns in Folge ihrer Verkniipfung mit Wertideen wichtig sind« (Weber 1973: S. 175). »Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinne ist also in sofern an >subjektive< Voraussetzungen gebunden, als sie sich nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kiimmert, welche irgendeine - noch so indirekte - Beziehung zu Vorgangen haben, denen wir Kulturbedeutung beilegen« (Weber 1973: S. 182). »Daraus folgt nun aber selbstverstandlich nicht, dafi alle kulturwissenschaftliche Forschung nur Ergebnisse haben konne, die >subjektiv< in dem Sinne seien, da£ sie fiir den einen gelten und fiir den anderen nicht. Was wechselt, ist vielmehr der Grad, in dem sie den einen interessieren und den anderen nicht. Mit anderen Worten: Was Gegenstand der Untersuchung wird und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhange erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen« (Weber 1973: S. 184). Wir erkennen, dass Schiitz die von ihm unterschiedenen drei Ebenen des Relevanzproblems, die des iibergreifenden Deutungsschemas, die der individuellen Handlungsorientierung und die der methodologischen Herangehensweise bei Weber durch die selektierende, die Welt als Kulturwelt konstituierende Funktion der Wertbeziehung miteinander verbunden findet. Es liegt nahe, anzunehmen, dass er auch bei der Unterscheidung dieser drei Ebenen dem Weber'schen Gedankengang folgt. Welche Schliisse lassen sich daraus in Bezug auf die uns bekannte publizierte Auseinandersetzung mit Weber im »Sinnhaften Aufbau« ableiten.^ Fassen wir noch einmal den Gehalt der Weber'schen Wertbeziehungskon-
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zeption zusammen, wie er sich in dem Schiitz'schen Relevanzproblem widerspiegelt: Es gibt einen allgemelnen Sinnzusammenhang der Kulturwelt, in dem alltagliches Handeln und sozialwissenschaftliche Erkenntnis aufeinander beziehbar sind. Dieser Zusammenhang stellt die gemeinsame Basis der ailtaglichen und der wissenschaftlichen Erfahrung dar (Weber 1973: S. 213). Soweit sich also sozialwissenschaftliche Konstruktionen Idealtypen - auf Erfahrung griinden, verweisen sie auf diesen Zusammenhang. Er entsteht durch eine Selektion aus den Gegebenheiten der Welt, die die Einbindung dieser Gegebenheiten in einen Sinnzusammenhang leistet und sie so zu Objekten einer Kulturwelt macht. Diese Selektion geschieht durch die Wertbeziehung. Es ist nicht zu iibersehen, dass das Konzept der Wertbeziehung in dieser Form durchaus ambivalent ist. Man kann die Wertbeziehung und den in ihr geleisteten Sinnzusammenhang als eine universelle Struktur begreifen, die den menschlichen Zugang zur Welt kennzeichnet.^^ Man kann aber auch ihren Vollzugscharakter betonen und den geschichtlichen Wandel der Wertbeziehung auf der Ebene der empirischen Kulturwirklichkeit als derart amorph begreifen, dass es unmoglich wird, hier nach allgemeinen Regeln dieses Prozesses zu fragen. Die Wertbezogenheit der Fiille des Geschehens ist zwar auch dann die Voraussetzung der Erkenntnis, der Fiille selbst sind jedoch nur durch ihre Ordnung durch idealtypische Konstruktionen festere Konturen abzugewinnen (Weber 1973: S. 184 u. 213). Schiitz' Option ist uns aus dem »Sinnhaften Aufbau« bekannt: Er entscheidet sich fiir die den universellen Sinnzusammenhang betonende Lesart, ohne jedoch methodologisch das Instrument des Idealtypus fiir die Sozialwissenschaften aufzugeben. Es hat also den Anschein, dass Schiitz in der Wertbeziehung die Idee eines Sinnzusammenhangs erblickt, in dem er - unter dem Titel der Relevanz - die Moglichkeit der Verbindung der Konstitutionsanalyse des kulturweltlichen Zusammenhangs mit dem Problem der Adaquanz der wissenschaftlichen Typisierungen findet. Dies festzuhalten ist insofern von Bedeutung, als zu dem hier zur Diskussion stehenden Zeitpunkt von 1927 bis Anfang 1929 die Husserl'sche Konzeption der Lebenswelt als Grundlage von Wissenschaften noch nicht ^So ist es mit Heinrich Rickert zu lesen (Rickert 1913: S. 326 f.).
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in breiterer Offentlichkeit bekannt war.^° Es stand zwar zu jener Zeit das Problem des Verhaltnisses der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Alltagserfahrung generell im Raume (Bergson 1889; Schlick 1925; Carnap 1928; Scheler 1980a: S. 359, um nur einige zu nennen), und auch Schiitz (1981) versuchte in seinem ersten theoretischen Entwurf der Theorie der Lebensformen, die Verbindung der Lebensform des rationalen Denkens mit jenen des vorwissenschaftlichen Erlebens zu beleuchten. Doch der unmittelbare Zusammenhang von Konstitutionsanalyse und Bildung eines wissenschaftlichen Instrumentariums tritt hier in seinem vor dem Hintergrund der Wertbeziehung gedachten Relevanzkonzept neu hinzu. Die in der Wertbeziehung ausgesprochene Idee eines Kulturwelt konstituierenden Sinnzusammenhangs erfahrt allerdings bei Schiitz Modifikationen, die sich aus dem oben aufgezeigten Kontext seines Denkens ergeben, in welchem das Problem der Relevanz in jener Zeit steht. Schiitz versteht Relevanz nicht als ein Statisches, Gegebenes, sondern im Sinne seines konstitutionsanalytischen Ansatzes als eine selektierende Sinnleistung, also dynamisch. Dem entspricht auch seine Anmerkung, Relevanz sei es, was fiir die Lebensform der Werte konstituierend sei. Wahrend also fiir Rickert und Weber die Wertbeziehung den fundierenden Charakter eines letzten Grundes kultureller Realitat hat, und fiir Weber sich die Beantwortung der Frage nach dem Gelten von Werten aus der Analyse des empirischen Stoffs des Handelns verbietet (Weber 1973: S. 213), richtet sich Schiitz' Fragestellung gerade auf die Konstitutionsgenese der selektierenden Relevanzbeziehungen, also darauf, wie sie als Sinnorientierungen des Handelns entstehen und wie sie - nicht im Weber'schen Sinne als sein sollend, sondern im phanomenologischen Sinne als gegeben - gelten konnen. Schiitz hebt also die Voraussetzungslosigkeit der Wertbeziehung auf und schlagt vor, dem Relevanz hervorbringenden Prozess ihrer Konstitution in zwei Richtungen nachzuspiiren: In der einen Richtung fiihrt Husserls Schriften bezogen sich bis dahin in dieser Hinsicht lediglich auf die Fundierung logischer Gekung in den intentionalen Bewusstseinsakten (Husserl 1900) bzw. auf den Nachweis der allgemeinen, die natiirliche Einstellung und das logische Denken umschlie£enden Sinnstrukturen des Bewusstseins (Husserl 1929). Auch Schiitz' Kontakte zu Husserl, in deren Rahmen die Lebenswelt Diskussionsthema hatte werden konnen, setzen erst nach dem Erscheinen des »Sinnhaften Aufbaus« 1932 ein.
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der Weg, wie wir gesehen haben, zur Analyse der selektiven Leistungen der Bewusstseinsakte, die mit der attention a la vie, der Intentionalitat, der Reflexivitat und der Zeitlichkeit des Bewusstseins angesprochen sind. In der anderen Untersuchungsrichtung wird die Genese von Relevanz aber mit dem Handeln selbst verbunden - teils wohl unter dem Gewicht des Mises'schen Postulats des Wahlhandelns, teils in der Erwagung der pragmatischen Konstitutionsmomente, die Schiitz seit seinen Untersuchungen zur »Lebensform des Handelnden Ich« (Schiitz 1981: S. 142 ff.), aber auch durch Schelers Einfluss stets im Auge behielt. Wir erkennen hier also einige der bisher im Hintergrund verborgenen Strange, die Schiitz im »Sinnhaften Aufbau« mit jenen dort vordergriindigen verkniipft. In seinen dort vorgenommenen Analysen des Fremdverstehens und der Sozialwelt setzt er zur Klarung der Genese iibersubjektiv geltender Deutungsschemata an, die in ihrer Deutungs- und Verweisungsfunktion Relevantes von Irrelevantem scheiden und so auf verschiedenen Stufen Sinnzusammenhange hervorbringen, als deren allgemeinste Stufe der Sinnzusammenhang der Kulturwelt gelten darf. Wie eingangs betont, geschieht dies durch das Aufzeigen der Genese intersubjektiver Deutungsschemata aus der Interaktion der Wirkungsbeziehung und durch die Beschreibung des Prozesses der Anonymisierung und Institutionalisierung dieser Schemata zu alltaglichen Typisierungen, die ihre Anwendung in der Mit welt finden. Wie kritisierbar diese Konzeption im Detail auch sein mag - eines bleibt unumstofilich: Durch diese Wendung erscheinen Werte und Wertbeziehungen nicht mehr als dem sozialen Handeln aufierlich und von ihm losgelost, sondern sie werden als ein immanentes Produkt und Regulativ des Handelns selbst begreifbar.^^ Sie werden ein immanenter Teil eines generalisierbaren Sinnsetzungsprozesses, dessen Dynamik nicht mehr fiir seine historische Relativitat steht. Die Relativitat historischer Wirklichkeit, die Vielfalt empirischer Kulturwelten lasst sich vielmehr als das Resultat des immerwahrenden VoUzugs dieses generellen, auf Sozialitat, Reflexivitat, Zeitlichkeit und Pragmatizi^^Dies lasst uns den Erkenntnisvorsprung erkennen, den Schiitz wahrend seiner Debatte mit Parsons 1940/41 bereits hatte (Schiitz/Parsons 1977). Zu dieser Debatte vgl. ausfiihrlich Kassab (1988).
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tat zuriickgehenden Sinnsetzungsprozesses begreifen (dazu Srubar 1988: S. 189 ff.). Mit einem derart veranderten Charakter des kukurweltlichen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen die alkagliche und die sozialwissenschaftliche Erfahrung ihre gemeinsame Basis finden konnen, verandert sich auch der Charakter des Erfahrungsbegriffs, das heifit die Auffassung der Erfahrungsregeln, auf welche die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen sich letztHch beziehen (Weber 1973: S. 127; Schiitz 2004: S. 430). Obwohl Schiitz Webers diesbeziigHche Auffassung im Prinzip teilt, will er offensichtlich unter einer Fundierung auf Erfahrung nicht den einfachen Bezug auf jenes unermessliche, wenn auch durch wechselnde Wertbeziehungen mit Sinn ausgestattete Geschehen verstehen, welches, von Individuen als bedeutsam erlebt, den subjektiven Bezugspunkt der im gleichen Strome begriffenen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis bildet (Weber 1973: S. 184 ff.). Dieser in der Weber'schen Konzeption der Wertbeziehung durchscheinende Relativismus deckt sich nicht mit Schiitz' Position, und zwar nicht nur deswegen, weil er jenem im Mises'schen Kreis verponten Historismus verdachtig nahe kommt. Vielmehr kann Schiitz den geforderten Erfahrungsbezug mit dem Verweis auf einen im anthropologischen Sinne universellen Mechanismus eines Sinnsetzungsprozesses einlosen, in dessen Verlauf sich Kulturwelten konstituieren. Dieser Prozess, den Schiitz in seiner notwendigen Gestalt sichtbar macht, kann begriffen werden als die Genese von Relevanzstrukturen aus den Akten sozialen Handelns. Die darin sichtbar werdenden formalen Konstitutionszusammenhange sind also Konstitutionszusammenhange lebensweltlicher Erfahrung schlechthin. Sie sind nicht a priori, weil sie einen Vollzugscharakter haben, das heifit aufierhalb der Erfahrung nicht fassbar sind.^^ Sie sind aber auch nicht jener beliebige, flache Empirismus, von dem Schiitz (Schiitz 2004: S. 433) sich distanziert. Indem sich sozialwissenschaftliche Typisierungen auf diesen universellen Sinnsetzungsprozess und seine Strukturen beziehen, werden
^^Hier profitiert Schiitz offensichtlich von der bei Scheler vorgefundenen Form der phanomenologischen Einstellung, die die Gegebenheitsweise von Erfahrungstatsachen im Sinne eines radikalen Empirizismus im Vollzug des Erfahrens sichtbar macht.
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sie adaquat, ohne in Relativismus zu verfallen.^"^ Die Notwendigkeit der Typenbildung ist dann nicht mehr - wie bei Weber - die methodologische Foige des proteischen Charakters der empirischen Kulturwirklichkeit, sondern sie ist nun darin begriindet, dass der Sinnsetzungsprozess, dessen Resultat die Kulturwirklichkeit ist, selbst aufgrund von Typisierungen verlauft. Die adaquate Erfassung alltaglichen Handelns, dessen Orientierung sich anhand der Invariantsetzung alltaglichen Typisierens vollzieht, verlangt daher, ja gebietet methodologisch ein Verfahren, das der Tatsache der alltaglichen Invariantsetzung folgt. Indem also sozialwissenschaftliche Konstruktionen mit den Mechanismen der Konstitution der sinnhaften Welt kongruent sind, haben sie eine objektive Chance, sinnvoU zu sein (Schiitz, Nachlass: 29), und konnen einen verstehenden Anspruch erheben.^'* Daher sind sozialwissenschaftliche Typen immer sinnadaquat und kausaladaquat zugleich, denn sie setzen die fortwahrende Selbstgenese von Sinnorientierungen durch soziales Handeln voraus (Schiitz 2004: S.420 f.). Selbst dort, wo sich der verstehende Ansatz von Weber unter Annahme einer »chinesischen« Erstarrung (Weber 1973: S. 184) oder einer durchgreifenden Disziplinierung individuellen Handelns (Weber 1972: ^^Diese Intention wird bei Prendergast (1986) richtig erkannt. ^"^Hier wird deutlich, wie verkiirzt der Begriff des Verstehens ist, den Prendergast (Prendergast 1986: S. 20) als eine blofie »imputation of >objective< meanings by an observer equipped with an overlapping stock of knowledge and scheme of relevance« prasentiert, ohne zu sehen, dass schon die Rede von einem »scheme of relevance« auf die fundierende Relevanzstruktur der Lebenswelt verweist, in deren Rahmen solche Zurechnungen erst moglich werden. Es entgeht ihm daher auch der Wandel von Schiitz' Erfahrungsbegriff, der auf den phanomenologischen, aber auch in Bergsons Denken enthaltenen radikalen Empirizismus zuriickgeht. Infolgedessen stellt Prendergast Schiitz vor die Alternative einer »nonempirical«, das heifit a priori verstandenen Methodologie oder einer in »empathic intuition« verankerten Fundierung der verstehenden Sozialwissenschaft, wobei er dann Schiitz fiir die erste pladieren lasst (Prendergast 1986: S. 12 u. 14). Dies kann Prendergast freilich nur deswegen, weil er sich unter phanomenologischem Zugang lediglich eine »theory of generalization and formalization« vorstellt. Daher iiberrascht es nicht, dass er glaubt, Schiitz hatte Webers Wertbeziehung als Prinzip der Begriffsbildung aus der sozialwissenschaftlichen Methodologie eliminiert (Prendergast 1986: S. 19), anstatt zu sehen, dass er sie durch seine phanomenologische Wendung in den Relevanzstrukturen der Lebenswelt - in Hegels Sinn des Wortes - auf hob.
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S. 687) mangels erkennbarer individueller Wertbeziehung lediglich auf eine kausaladaquate, das heifit auf Sinnkomponenten verzichtende Typenbildung zuriickziehen und so sein VerstehenwoUen aufgeben muss, selbst dort also ermoglicht die Schiitz'sche Alternative einen verstehenden, das hei£t Sinnorientierung einbeziehenden Zugang. Durch die derart gegebene objektive Chance des Verstehens wird also das forschende Tun der Sozialwissenschaft in die Sinnstrukturen von Kulturwelt qua Lebenswelt eingebunden, wie auch die verstehende Soziologie Webers durch die Wertbeziehung in die historisch konkrete Kulturwelt eingebunden war.^^ Hier sehen wir die Weiterentwicklung des Schiitz'schen Ansatzes in aller Deutlichkeit vorgezeichnet: Die Moglichkeit der verstehenden Soziologie hangt in seiner Sicht von der Entwicklung einer Theorie der Lebenswelt ab, in der die Genese der handlungsorientierenden Sinnstrukturen aus dem Handeln selbst heraus beleuchtet wird, von einer Theorie, die eine lebensweltliche Relevanzstruktur freilegt, deren Rahmen die sozialwissenschaftliche Konstruktion mit umfasst und ihre Sinnadaquanz sichert. Der Weber'sche Hintergrund, vor dem dieser Entwurf unternommen wurde, ist offensichtlich tiefer, als bisher angenommen wurde. Literatur Bergson, H . (1889): Essai sur les donnees immediates de la conscience, Paris: Alcan; dt. Ubersetzung (1924): Zeit und Freiheit. Jena: Diederichs. - (1896): Matiere et memoire, Paris: Alcan; dt. Ubersetzung 1982: Materie und Gedachtnis. Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein. Bodenstedt, A. A. (1966): Idealtypus und soziale Wirklichkeit. In: Soziale Welt 17: S. 79-91. Carnap, R. (1928): Der logische Aufbau der Welt. Berlin: Weltkreisverlag. ^^In der Betrachtung der Differenz der alkaglichen und der wissenschaftlichen RelevanTstrukturen folgt Schiitz allerdings der bei Rickert und Weber vorzufindenden Unterscheidung: Im Gegensatz zum alkaglichen Tun lasst das Tun des Wissenschaftlers jegliches praktische Interesse an seinem Gegenstand fallen (Rickert 1913: S. 325; Weber 1973: S. 155; Schiitz 1971: S. 73, erstmals 1936; vgl. auch Srubar 1988: S. 150 ff.).
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8. Abkehr von der transzendentalen Phanomenologie. Zur philosophischen Position des spaten Schiitz Prolog Ich schreibe die Uberschrift nieder, und noch bevor Ich den letzten Strich ziehe, tauchen am Horizont des durch sle apprasentierten thematischen Kerns, auf den sich die intentionalen Akte meines Bewusstseins aktuell richten, Zweifel auf: Es soil in diesem Aufsatz der Frage nachgegangen werden, welches die philosophische Position von Schiitz gewesen sein mag, als er sich mehr und mehr von dem transzendental-phanomenologischen Ansatz Husserls abwandte. Gleich jedoch meldet sich besagter Zweifel: War die kritische Einstellung gegeniiber transzendentaler Argumentation wirklich erst ein Produkt des spaten Denkens von Schiitz? Wissen wir nicht vielmehr, dass dies auch der Ausgangspunkt seines Denkens war, das sich in seiner »vorphanomenologischen« Periode eng an Bergson und dessen Antikantianismus anlehnte (vgl. Schiitz 1981: S. 332 ff.)? Ware es daher nicht moglich, dass Schiitz sein Leben lang einen inneren Abstand zur transzendentalen Denkweise Husserls bewahrte? Miisste man daher nicht, so iiberraschend es klingen mag, eine Neuverortung der gesamten Position von Schiitz vornehmen? Oder fand Schiitz die Vorbehalte seiner Jugend durch die Reife seines gesamten Wissens bestatigt? Und weiter: Liefie sich bei der Verortung des Denkens von Schiitz aus der Gesamtheit seines theoretischen Standpunkts - des philosophischen und des soziologischen - der philosophische Teil einfach extrapolieren? Nach so vielen Fragen rufen wir uns doch zur wissenschaftlichen Disziplin zuriick, die es nicht duldet, sich iiber thematische Horizonte auszulassen, ehe deren Kern bestimmt wurde. Wir nannten diese Zeilen denn auch Prolog, da sie keinen anderen Zweck haben, als den Hergang weiteren Geschehens
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anzudeuten und die Erwartungen des Lesers zu wecken.
1. Warum eine Neubestimmung? Es gilt in der Geschichtswissenschaft die Regel, dass als erfasst und als ausreichend bestimmt geltende Geschichtsabschnitte dann neu anzugehen sind, wenn sich in der bisherigen Darstellung Inkonsistenzen bzw. dunkle Stellen ergeben oder wenn neue Queilen auftauchen. Wiirde man diese Faustregel auf die Ideengeschichte anwenden, so miisste es auf den ersten Blick scheinen, als konne eine erneute Frage nach der philosophischen Position von Alfred Schiitz keine liberraschende Antwort bringen. Alfred Schiitz hat offensichtlich seinen festen Platz unter Phanomenologen Husserlianischer Pragung, dies unbeschadet seiner oft erwahnten Beeinflussung durch Bergson und James. Diese Gewissheit wird etwas gestort, wenn man sich Arbeiten ansieht, die sich nicht mit Schiitz als Phanomenologen beschaftigen, sondern seine philosophische Position im Ganzen thematisieren. Mit Uberraschung stellt man dann fest, dass diese Analysen die Affinitat des Schiitz'schen Denkens zu recht verschiedenen Ansatzen feststellen. Hier eine kleine Auswahl: Gorman (1977) und Helling (1979) linden insbesondere in Schiitz' wissenschaftstheoretischer Position einen starken Hang zum Szientismus Nagel'scher Pragung. Kockelmans (1979) verzeichnet eine Abkehr von Husserl und eine Hinwendung zur »hermeneutischen Phanomenologie« Heidegger'scher Pragung. Sogar Aron Gurwitsch (1971), der die intimsten Regungen in Schiitz' theoretischer Seele kannte, findet in dessen Auffassung der Phanomenologie der natiirlichen Einstellung eher die Erfiillung der Intentionen Diltheys als derjenigen Husserls. Die Auffassungen der beiden letzten Autoren werden offenbar auch durch die Kritik, die Schiitz (1971b: S. 86 ff., 127 ff.) in seinem publizierten Werk an Husserl iibte, bestatigt^^. Schon diese Befunde konnten also, im Sinne erwahnter Regel, eine Nachforschung rechtfertigen. Voll zur Anwendung muss die Regel Jedoch kommen, nachdem die Korrespondenz zwischen Schiitz und Gurwitsch ^^Vgl. insbesondere: »Das Problem der transzendentalen Intersubjektivitat bei Husserl«, sowie »Typus und Eidos in Husserls Spatphilosophie«. In: Schiitz 1971b.
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zuganglich ist^^, die durch bestimmte Aussagen die anfangs nur leicht gestorte Gewissheit um Schiitz' philosophische »Zuordnung« erheblich erschiittert. Die Korrespondenz zeigt namlich, dass Schiitz sich von der transzendentalen Phanomenologie Husserrscher Pragung immer entschiedener abwandte. Hier eine Ubersicht dieser Entwicklung: 1954 glaubt Schiitz zwar nicht mehr an die Husserl'sche transzendentale Losung des Intersubjektivitatsproblems (was er auch, drei Jahre spater, im erwahnten Aufsatz klar zum Ausdruck bringt), meint jedoch, die »Krisis« sei »grofiartig, und von hochster Bedeutung fiir die Sozialwissenschaften« (siehe Anlage 1). Zu jener Zeit arbeitet Schiitz an seinem »SymbolAufsatz«^^, und in einem seiner Briefe notiert er, dass die damals gerade erschienene Husserhana-Ausgabe der »Krisis« eine Reihe von Gedankengangen enthalt, die mit den seinen iibereinstimmen. Im selben Brief gibt er auch die Seitenzahlen an, so dass wir in der Lage sind, dieses nachzupriifen. Samthche erwahnte Stellen beziehen sich entweder auf das Problem der Beziehung von phanomenologischer Psychologic und transzendentaler Phanomenologie oder auf Beschreibungen mundaner Einstellung als Grundlage der Lebenswelt. Die in diesen Passagen oft angefiihrten Betrachtungen transzendentaler Strukturen der Lebenswelt werden von Schiitz iibersprungen. Im Laufe der Arbeit am besagten Aufsatz verstarkt sich der Zweifel an der Husserl'schen Konzeption; Schiitz beginnt, an der Tauglichkeit der phanomenologischen Reduktion als Methode zur Erfassung der im Rahmen der Lebenswelt vollzogenen natiirlichen Einstellungen zu zweifeln und ist der Meinung, dass die Reduktion eher von den »Sachen selbst« wegfiihrt (siehe Anlage 2). Dieser Verdacht verfestigt sich im Laufe der Zeit immer mehr. Schiitz stellt sich die Aufgabe, eine »Ontologie der Lebenswelt« zu erarbeiten, und glaubt nun nicht mehr daran, dass Husserls Losung des Intersubjektivitatsproblems, der von ihm entworfene Zugang zur Lebenswelt und die von ihm bevorzugte Methode ^^Die Korrespondenz befindet sich im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz. Zwei Jahre nach der Veroffentlichung dieses Aufsatzes wurde sie von Richard Grathoff herausgegeben. Die im Aufsatz zitierten Briefe konnen darin anhand des Korrespondenzverzeichnisses nach Datum aufgefunden werden (vgl. Schiitz/Gurwitsch 1985: S. 507 ff.) ^^Schiitz: Symbol, WirkHchkeit und Gesellschaft. In: Schiitz 2003a: S. 119-197.
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der Epoche ihm dabel hilfreich sein konnten. Er halt, trotz der Gegenrede von Gurwitsch, das Vorhaben, das in der »Krisis« formuliert wurde, in seiner Husserl'schen Ausfiihrung fiir gescheitert und empfindet vielmehr die Notwendigkeit, eine »Phanomenologie mundaner Einstellung« bzw. eine »Ontologie der Lebenswelt« zu entwickeln (vgl. Anlage 3 und 4). Diese Position scheint spatestens 1957 endgiiltig festzustehen, nachdem Schiitz seinen »Intersubjektivitats-Aufsatz« beendet hat und er ihn auch als eine wirkHche Zasur im eigenen Denken betrachtet (siehe Anlage 5). Er hort natiirlich deswegen nicht auf, philosophisch zu denken, und es ist ihm voll bewusst, dass eine »Ontologie der Lebenswelt« ohne philosophische Fundierung nicht durchfiihrbar ist (siehe Anlage 6). Er stellt in diesem Zusammenhang allerdings Fragen, die ihn immer mehr aus dem Gedankenreich der Husserl'schen Philosophic hinausflihren, so etwa: »nicht Sein oder Schein, sondern Sein oder Sinn ist hier das Dilemma« (siehe Anlage 7). Als er 1959 an einem von M. Farber erbetenen Aufsatz liber »Typus und Eidos in Husserls Spatphilosophie« arbeitet, vermerkt er: »Vielleicht bin ich in besonders kritischer Stimmung, aber jeder Versuch einer Klarung der Grundbegriffe der Husserl'schen Philosophic zeigt die Unhaltbarkeit der Konstruktion« (siehe Anlage 8).
2. Die philosophische Unreduzierbarkeit der Lebenswelt als Radikalisierung ihres Fundierungsanspruchs Ganz iiberraschend sind die obigen Aussagen nicht. Schon in dem publizierten Werk von Schiitz sind Distanzierungen und kritische Einstellungen zu Husserls Transzendentalismus spiirbar. Man konnte Jedoch bisher annehmen, dass Schiitz auf mundaner Ebene das »nachliefert«, was von Husserl versaumt wurde, namlich die Deskription der Lebenswelt als einer sozialen, intersubjektiv konstituierten Wirklichkeit, wobei er iiber die Briicke der phanomenologischen Psychologic Husserl'sche Konzepte aus der transzendentalen Sphare in die mundane iiberfiihrt und dort kreativ zur Anwendung bringt. Die Briefe machen jedoch deutlich, dass Schiitz die Husserl eigene Art des philosophischen Denkens nicht fiir die seine hielt und auch nicht glaubte, mit ihrer Hilfe die mit der Phanomenologie
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der natiirlichen Einstellung verbundenen Probleme losen zu konnen. Dies wirft natiirlich eine Menge Fragen auf: Welche systematische Stellung haben die Analysen Husserls in Schiitz' eigenem Verstandnis seines Werkes? Welche Alternative entwickelt Schiitz, um seine Phanomenologie der natiirlichen Einstellung, die er als »Ontologie der Lebenswelt« versteht, zu begriinden? Und schliefilich - welche Stellung haben Husserl'sche Konzepte in dieser Alternative, da sie ja durch die Zerschneidung ihres transzendentalen Zusammenhanges den Geltungsanspruch verlieren? Riickt man nun diese Fragen vor den Hintergrund der Aufierungen, die Schiitz in seinen Briefen macht, erhalten diejenigen Aussagen in seinem publizierten Werk eine Schliisselposition, die die Kritik an Husserl zusammenfassen. Es sind insbesondere die kritischen Anhange der beiden spaten Husserl-Aufsatze.^^ Wenden wir uns nun zuerst dem Intersubjektivitats-Aufsatz zu. Schiitz glaubt dort, beziiglich der Konstitutionsanalyse zwei Phasen in der Entwicklung des Husserl'schen Denkens ausmachen zu konnen: »Konstitution bedeutet im Anfang der Phanomenologie Aufklarung der Sinnstruktur des Bewusstseinslebens [...], eine Riickfiihrung aller Cogitata auf die intentionalen Leistungen des stromenden Bewusstseinslebens. Diese Aufweisungen sind von dauerndem Wert; [...] sie sind von allergrofiter Wichtigkeit fiir die Fundierung der positiven Wissenschaften, insbesondere derer von sozialer Welt. Denn es bleibt dabei, dafi alles in der Reduktion Aufgewiesene seine Giiltigkeit nach der Riickkehr in die natiirliche Einstellung der Lebenswelt behalt. Aber unter der Hand wandelt sich [...] die Idee der Konstitution von einer Aufklarung der Sinnstruktur, von der Auslegung des Sinns des Seins, in eine Begriindung der Seinstruktur und von einer Auslegung in eine Kreation.« (Schiitz 1971b: S. 117-118) Diese Passage zeigt, dass Schiitz die in der transzendentalen, durch die Reduktion zu erreichenden Einstellung gewonnenen Ergebnisse durchaus gelten lasst, solange diese die Sinnkonstitution, also die Geltung der Welt, und nicht die Moglichkeit ihrer Seinsformen als »apriorischer We^Das Problem der Intersubjektivitat bei Husserl, (Schiitz 1971b: insb. S. 114-118), Typus und Eidos in Husserls Spatphilosophie, (Schiitz 1971b: insb. S. 147-152).
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sensformen« (Husserl 1969: S. 177) betreffen. Nachdem es nicht sinnvoU erscheint, anzunehmen, dass Schiitz in seinen Publikationen das Gegenteil von dem behauptete, was er privat dachte, miissen wir nach dem Sinn seiner gleichzeitigen Bejahung und Ablehnung des transzendentalen Denkens und seiner Methode, der Epoche, fragen. Die Losung liegt m. E. darin, dass Schiitz sich aus guten Griinden weigert, anzuerkennen, dass durch die transzendentale Analyse der in der Reduktion aufgewiesenen sinnkonstituierenden Leistungen des subjektiven Bewusstseins die Gesamtheit der in die Sinngebung hineinwirkenden Komponenten aufzuzeigen und dadurch also der gesamte Bereich der menschlich sinnhaften Wirklichkeit abzustecken und zu durchleuchten ware. Er ist vielmehr der Meinung, dass eine solche Auffassung, die die Geltung der Lebenswelt in der Reduktion aus der Reduktion selbst begriinden will, gerade von den intersubjektiven, in der Sozialitat angelegten Griinden dieser Geltung wegfiihrt, indem sie - durch die Epoche - die sozial auferlegten, in Form von Relevanzsystemen auftauchenden Bedingungen der Sinngebung in ihrer Geltung aufhebt. Schiitz spricht davon, dass sowohl der eidetischen Variation als auch den transzendentalen Strukturen der Sinnsetzung mundane Beschrankungen auferlegt sind (Schiitz 1971b: S. 152 sowie Anlage 2 u. 5). Die Ideation konne nichts enthiillen, was im mundanen, sozial zustande gekommenen Typus nicht enthalten sei. Der transzendentale Anspruch als Absicherung der Geltung von Aufweisungen, die die Sinngebung betreffen, darf nach Schiitz nicht so weit gehen, das Sein der Lebenswelt begriinden zu wollen und sich so seiner eigenen lebensweltlichen Basis zu entziehen. Geschieht dies, dann fiihrt die transzendentale Reduktion in einen neuen Bereich der Metaphysik und verklart mehr, als sie zu erklaren vermag. Es ware wohl hier zu fragen, ob durch diese Beschrankung des Geltungsbereichs des transzendentalen Anspruchs nicht die Moglichkeit seiner Geltung auch dort aufgehoben wird, wo Schiitz sie unangetastet lasst. Wie soil die Phanomenologie der natiirlichen Einstellung ohne die transzendentale Absicherung durch die Epoche einen Zugang zu ihrem Gegenstand finden und dabei nicht in naiven Realismus verfallen? Wie
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sieht also die Schiitz'sche Alternative aus?^° 3. Versuch einer anthropologischen F u n d i e r u n g Schiitz' philosophischer Standpunkt ist, soweit wir dies anhand der uns zuganglichen publizierten und unpublizierten Materialien feststellen konnen, in dem Sinne antimetaphysisch, als er die philosophische Klarung letzter Seinsbedingungen fiir undurchfiihrbar halt. Obwohl man annehmen darf, dass Schiitz die Konstitution menschlicher Wirklichkeit als einen Prozess der subjektiven (bewusstseinsimmanenten) und der intersubjektiven (objektivierenden und institutionalisierenden) Sinnsetzung betrachtete und sich dadurch von seinem Freund Gurwitsch den Vorwurf »ontologischer Neigungen« einhandelte, stand er einer philosophischmetaphysischen Ontologie ablehnend gegeniiber. In seinem Brief an Gurwitsch vom 15. Juni 1953 schreibt er: »Dass wir nicht verstehen, was wir nicht selbst geschaffen haben, will ich gerne zugeben. Die ontologische Grundlage alles Verstandnisses und Selbstverstandnisses ist [daher] selbst prinzipiell unverstehbar. Deshalb ist sie aber doch beschreibbar. Wenn Du das Hobbes statement dahin variierst, dass wir nichts akzeptieren konnen, was wir in seiner Struktur und seinem inneren Sinnauf bau nicht durchschauen und iibersehen konnen, so antworte ich, dass es nicht in unserer >Verm6glichkeit< liegt, das. ''°An dieser Stelle muss erneut auf den zitierten Aufsatz von Kockelmans (1979) hingewiesen werden, in dem diese Problemstellung prazise ausgearbeitet und mogliche Akernativen fiir die Position von Schiitz erortert werden. Kockelmans kommt zu dem Schluss, dass Schiitz de facto eine interpretative, hermeneutische Phanomenologie betrieben hat, deren Grundlage bei Heidegger gesehen werden muss. Bei aller bewunderungswiirdigen Genauigkeit der Kockelmans'schen Analyse, die wohl ohne Kenntnis der Korrespondenz zustande kam, kann meines Erachtens diese Aiaffassung nicht aufrechterhalten werden - wir werden es im Weiteren zeigen -, wenn sie bedeuten soil, dass Schiitz eine fundamentalontologische Position eingenommen hatte. Wir wissen vielmehr, dass er eine phanomenologische Begriindung des Seins (also auch des Daseins) ablehnte. Seine Position nahert sich eher derjenigen von Gadamer (1990), insbesondere was die Rolle der Sprache als eines Modus des Welthabens anbelangt. Aber auch hier bleibt Schiitz »gemaEigt« und zieht die Konsequenz nicht, die Welt als »Text« zu betrachten.
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was uns aufgedrungen ist (>imposed<), zu akzeptieren oder nicht. Und was ist uns aufgedrungen? Unsere Stellung als Menschen im Kosmos. Mehr meine ich nicht, als dafi diese in ihrer Unverstehbarkeit einfach ontologisch da ist und dass sich auf ihrem Urgrund - als Lebenswelt ~ erst alles Verstandnis ermoglicht. Ich glaube, ich bin nicht so weit weg von Husserl und Dir. Denn zweifellos willst Du mit Deiner Weigerung, Unverstehbares zu akzeptieren nicht sagen, dass wir Phanomenologen von derlei wegzuschauen haben.« Obzwar sich Schiitz hier eindeutig als Phanomenologe versteht, macht er fiir die Phanomenologie keine Ausnahme. Konsequent lehnt er alle Versuche ab, die ontologische Grundlage der Lebenswelt phanomenologisch zu hinterfragen und zu begriinden. Dieses Bestreben macht er Husserl zum Vorwurf (und wir werden sehen, dass dies auch fiir Heidegger gilt). In seinem Intersubjektivitat-Aufsatz schreibt er (Schiitz 1971b: S. 118): »Aus einer Enthiillung des Bewufitseinslebens wird ein Ersatz fiir die der Phanomenologie prinzipiell unerreichbare Begriindung einer Ontologie aus den Lebensprozessen der Subjektivitat.« Fundamental Probleme, die auf die ontologische »Stellung des Menschen im Kosmos« hinweisen, wie das der Intersubjektivitat, konnen also nicht philosophisch eine Ebene tiefer verlagert werden, sondern sind dort zu untersuchen, wo sie anzutreffen sind - in ihrem lebensweltlichen Zusammenhang, denn: »es kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dafi nur eine solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale Konstitutionsanalyse, jenen Wesenszug der Intersubjektivitat aufzuklaren vermogen wird, der die Grundlage samtlicher Sozialwissenschaft bildet« (Schiitz 1971b: S. 116). Fiir Schiitz ist also das So-Gewordensein des Menschen als eines vitalgeistigen Wesens auf einen Sinn hin nicht befragbar. Befragbar, also verstehbar, ist erst die lebensweltliche Realitat, die in der von Anfang an sozialen und menschlichen Handlungs- und Denkweise sinnhaft entsteht, welche als Konsequenz des, um mit Plessner zu formulieren, exzentrischen Bauplanes des Menschen aufzufassen ist. Daher stellt auch die philosophische Anthropologic den Zugang zu dieser untersten Ebene der
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Verstehbarkeit zur Verfiigung, well sie eine conditio humana, hier vor allem die der Sozialitat des menschlichen Welthabens, aufzeigen kann, ohne hierfiir philosophische Begrlindungen im Sinne einer Metaphysik liefern, bzw. einen verborgenen eigentlichen Sinn der menschlichen Existenz aufdecken zu miissen. Die Phanomenologie kann in diesem Zusammenhang in Anschiag gebracht werden, um entweder den Prozess der Sinnkonstitution im ieistenden Bewusstsein zu klaren, also im Schiitz'schen Sinne, oder, wie Max Scheler sie einsetzte, um die Beschreibung evidentermafJen vorhandener, durch positive Wissenschaften jedoch eher verschiitteter Phanomene zu leisten. Durch den Riickgriff auf den anthropologischen Befund der Sozialitat und ihrer Folgen fiir die Konstitution der Wirklichkeit, der auf ontologischer Ebene aufweisbar ist, ohne deswegen naiv oder metaphysisch sein zu miissen, wird die Phanomenologie aus dem Begriindungszusammenhang entlassen. Sie ist, ebenso wie die Philosophic Bergsons und James', fiir Schiitz nur ein Organon, das einen fiir die menschliche Wirklichkeitskonstitution zentralen Bereich der Sinngebung zu erschliefien hilft, das aber verlassen werden kann, sobald es durch seine Systemlogik in Aporien stiirzt.
4. Das subjektive Verstehen intersubjektiver Wirklichkeit Fiir Schiitz ist die Wirklichkeit erst dann verstehbar, wenn sie vom sozialisierten Menschen mit Sinn besetzt, beziehungsweise handelnd durchsetzt wird/^ Sie ist also nur als eine soziale sinnhaft und somit Lebenswelt. Dies lasst uns aufhorchen: Obwohl nun die Intersubjektivitat anthropologisch als ontologische Bedingung der Lebenswelt verstanden wird, halt Schiitz an seinem egologischen Zugang zur Sinngebung weiterhin fest. Sinngebung bedeutet fiir ihn, unbeschadet der Tatsache, dass ihr sozial vermittelte Relevanzschemata der Auslegung und Thematisierung auferlegt sind, eine notwendigerweise einem Subjekt zuzurechnende Leistung. Aus diesem Grunde gibt es fiir Schiitz keine Schicht des hinter dem Uneigentlichen verborgenen eigentlichen Sinnes, den das Individuum ^^Man vergleiche dies mit Sartres Argumentation gegen die Moglichkeit einer materialistischen Dialektik (Sartre 1967: S. 36 ff.).
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um seines Daseins willen realisieren miisste. Sinn bedeutet subjektive Wirklichkeitsauslegung, die freilich einen iibersubjektiven Rahmen und eine intersubjektive Genesis hat. Der Akt der Auslegung erfolgt fiir Schiitz bekanntlich auf der Ebene der Reflexion. Er akzeptiert nur mit Vorbehalten die Rede von prareflexiver Typisierung, leiblicher Welthabe, und von »passiver Synthesis«, die bei Husserl und noch mehr bei Merleau-Ponty, ganz zu schweigen von Scheler, auf die Moglichkeit sinnhaften Erlebens hinauslaufen. Der Akt der Sinndeutung ist immer eine reflektierende Aktivitat des Bewusstseins, welche das Erlebnis eines »Ereignisses« aus der duree heraushebt, in den Wissensvorrat einreiht und dadurch kontextuell deutet. Das Verstehen vollzieht sich in solchen Akten. Es ist jedoch ein wesentlich intersubjektiv gerichteter Vorgang. Die im Verstehen gegebene Verflechtung der subjektiven Sinndeutung mit ihren sozial hervorgebrachten Bedingungen verdeutUcht Schiitz am Beispiel der sprachlichen Kommunikation (Schiitz 2003a: S. 374)^^. Verstehen wird als eine Beziehung zweier Bewusstseinsstrome aufgefasst, die durch ein Ereignis in der Wekzeit aufeinander bezogen und dadurch synchronisiert werden (Schiitz 2003a: S. 367). Dieses Ereignis in der Weltzeit ist im Falle der Rede das Wort, in dem sich der apprasentierte Sinn als Laut bzw. als graphisches Zeichen objektiviert. Die Rede ist so ein intersubjektiver Zeitvorgang, in dem zwei Ablaufe der inneren Zeit, namlich der des Sprechenden und der des Zuhorenden, aufeinander und zugleich auf ein Ereignis in der Weltzeit abgestimmt werden (Schiitz 2003a: S. 374). Das Wort ist natiirlich ein »Ereignis« von besonderem Charakter; es steht als Element des Zeichensystems Sprache im Apprasentationsverhaltnis zu einem bestimmten Bedeutungshorizont, der auf einer Typik aufbaut, zu deren Trager das Wort wird. Die Sinnsetzung und Deutung im Vorgang des Redens setzt also eine annahernde Deckung des diese '^^Die Sprache wurde von Schiitz seit seinen ersten theoretischen Versuchen in diesem Zusammenhang thematisiert. Das sprechende Ich steht fiir Schiitz immer im Schnittpiinkt subjektiven Erlebens und objektiver, sozial hervorgebrachter Wirklichkeit. Vgl. Alfred Schiitz: Erleben, Sprache, und Begriff. In: Schiitz (2003), S. 39-73. Dieser Gedankengang, den Schiitz in den 20er Jahren entwickelte und der mit vollem Gewicht beim spaten Schiitz auftaucht, mag eins der »Refugien« gewesen sein, von denen aus Schiitz seinen Abstand zu Husserl bewahren konnte.
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Typik enthaltenden Wissensvorrats seitens der Kommunizierenden voraus und, dariiber hinaus, eine Korrespondenz ihrer Relevanzschemata, die sie, die Kommunizierenden, eine bestimmte Typik in Anschlag bringen lassen. Obwohl sich also das Verstehen in subjektiven Bewusstseinsleistungen voUzieht, bedarf es eines synchronisierenden externen Ereignisses, das als Zeichen - d. h. als Apprasentation eines gesetzten Sinnes - aufgefasst wird, und der relativen Deckung der Wissensvorrate beim Sinnsetzenden und Sinndeutenden. Das Phanomen des Verstehens verweist also auf Probleme der Apprasentation und der Relevanz (ein Handeln wird als Zeichen und als ein Zeichen fiir mich aufgefasst) sowie der Typik (die Strukturen des Wissensvorrates sollen annahernd iibereinstimmen). Diese Probleme aber liegen nicht alle auf der gleichen Ebene. Die Apprasentation als eine Leistung des subjektiven Bewusstseins ist der Analyse des Bewusstseinslebens zuzuschreiben, wahrend die Relevanzschemata (zumal die sprachlichen), obzwar sie »Bewusstseinstatsachen« sind und als solche mit Gewinn phanomenologisch angehbar, ihrer Genese nach als Produkte sozialer Interaktion aufgewiesen werden miissen. Das Phanomen des Verstehens weist also in seinem Horizont Momente auf, die fiir das Verstehen konstitutiv, jedoch nicht mit den Mitteln der transzendentalen Phanomenologie analysierbar sind. Die Anwendung der phanomenologischen Methode auf das Verstehensphanomen fiihrt somit in ein fiir die transzendentale Bewusstseinsanalyse nicht mehr erreichbares Feld. Das subjektive Bewusstsein bleibt Grund der Geltung der Welt, die Konstitution dieser Geltung kann sich jedoch fiir Schiitz, wie die Analyse des Verstehens zeigt, nicht ausschliefilich in diesem Bewusstsein vollziehen, sondern ist immer schon auch eine »vergesellschaftete«. Und zwar gilt dies nicht in dem »naiv realistischen Sinne«, dem zu entgegnen ware, dass universelle Bewusstseinsstrukturen ihre empirisch-konkreten, kulturellen Inhalte erhalten, sondern in jenem viel radikaleren Sinne, demgemafi diese Bewusstseinsstrukturen in ihrer Auspragung und ihrer »Funktionsweise« nicht nur ein »Resultat« der mundanen Sozialitat, d. h. der ontologisch vorangehenden Intersubjektivitat darstellen, sondern ohne sie gar nicht begreifbar sind. Schiitz bemerkt: »Es ist zweifellos moglich, eidetisch materiale Bereiche oder Regionen
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des Seienden zu erfassen; aber diese Regionen werden nicht durch Leistungen unseres Bewusstseins konstituiert, sie sind In der Tat ontologische Regionen der Welt und als solche unserer Erfahrung vorgegeben oder wie man sagen kann - auferlegt. [...] Die Ideation kann dann nichts anderes enthiillen, was nicht schon im Typus vorkonstruiert war.« (Schiitz 1971b: S. 152) Der konsequente Vollzug des egologischen Ansatzes, der darauf beharrt, dass Sinngebung ein individuell zurechenbarer Prozess ist und dass Sinn sich nur in Bezug auf subjektives Bewusstsein bewahrheiten kann, fiihrt also den spaten Schiitz liber den Bereich des Subjektiven hinaus und lasst ihn das Fundierungsverhaltnis umkehren: Nicht die Intersubjektivitat ist im Bewusstsein zu konstituieren, sondern dieses in jener. Damit aber hat Schiitz den Begriindungsboden der transzendentalen Phanomenologie verlassen, und so musste er einen anderen, namlich den oben skizzierten, betreten.
Epilog Aron Gurwitsch, der Adressat der Briefe, die den Anlass zu unseren Uberlegungen gaben und auf dessen Verstandnis fiir seine »Haresien« ihr Autor zahlen konnte, hatte in gewissem Sinne recht, wenn er, in Kenntnis dieser Wende, Schiitz in Verbindung mit Dilthey brachte. Schiitz legte namlich durch seine »ontologische Variante« die Grundlagen zu einer Rekonstruktion konkreter historischer Lebenswelten, die nicht von einem Chaos der Ereignisse ausgeht, in das es einen Sinn von aufien hineinzubringen gilt, sondern die vielmehr den intersubjektiv konstituierten Sinn aufdecken will, der jeder von Individuen hervorgebrachten sozialen Wirklichkeit innewohnt. Damit ist auch die Grundlage fiir eine Wissenssoziologie gelegt, die sich als Handlungstheorie versteht. Das Schiitz'sche philosophisch-anthropologische Postulat des ontologischen Primats der Intersubjektivitat hat allerdings noch eine viel radikalere Reichweite: Wenn es stimmt, dass sich alles Wissen auf mundane, sozial hervorgebrachte Typik stiitzt, dann muss angenommen werden, dass beliebige, also auch wissenschaftliche und philosophische Wissenssysteme
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ihre Sinnhaftigkeit von diesem Ausgangspunkt her bezlehen. Nachdem Schiitz den phanomenologischen Sprung »hinter« die Lebenswelt abgelehnt hat, ist anzunehmen, dass die Aufgabe, dieses Verhaltnis zu klaren, einer Theorie der sozialen Konstitution des Wissens zukommen muss. Diese kann sich nicht mehr darauf beschranken, die soziale Bestimmung des Wissens nachzuweisen. Vielmehr muss sie soziale Entwicklungen zu unterscheiden suchen, in die die Annaherung sozial konstituierten Wissens an Wahrheiten bestimmten Typs (philosophische, wissenschaftliche etc.) eingebettet ist. Dabei kommt es nicht nur auf die historische Deskription an, sondern auf den Aufweis der differentia specifica, nach der schon Max Weber bei seiner Suche nach den Quellen abendlandischer Rationahtat fragte. Vielleicht HeiKe sich auf diesem Umwege die Soziologie Webers doch noch mit Schiitz fundieren. Anlagen: Die folgenden, hier erstmals pubUzierten Passagen aus Briefen, die Alfred Schiitz an Aron Gurwitsch schrieb, stammen aus der Sammlung ihrer Korrespondenz, die sich im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz an der Universitat Konstanz befindet. In langeren Ausziigen wurden die Stellen, auf die sich der vorausgehende Text insbesondere bezieht, in Kursivschrift gedruckt.^"^ Anlage 1: aus dem Brief vom 23. August 1954. Bevor ich New York verlieC, sandte ich mein Symbol-Manuskript (Schiitz 2003a: S. 119 ff., I.S.) an Natanson zwecks editing, kaufte am letzten Tag die »Krisis« und begann sie in Bar Harbor gleich zu studieren. Ich war tief bewegt, manchmal bis in die Formulierungen ahnliche in den Schriften aus dem Nachlafi zu finden, wie Dinge, die ich in meinem Manuskript gesagt hatte. (Beispiele: p 213/14, 216, 220/221, 258/9, 261/63, 266/67, 300, 303, 305, 307/9, 310-11, 464, 470, 479-81, 492/93). Andererseits ist es mehr denn je meine Uberzeugung, dafi Husserls Phanomenologie das Problem der Intersubjektivitat, und besonders der transzendentalen, nicht ''^Frau Alice Gurwitsch und Frau Use Schiitz gebiihrt der Dank dafiir, dass diese Briefe nunmehr der wissenschaftiichen Offentlichkeit zuganglich sind.
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losen kann und daran scheitert. Ich personlich telle Delne Melnung, dafi Husserls Spatschrlften groCartlg slnd und von hochstem Wert fiir die Sozlalwlssenschaften. Anlage 2: aus dem Brief vom 13. Oktober 1954. Was Du zum Symbolaufsatz zu sagen hast, hat nattirllch melne allergrofite Aufmerksamkeit. Ich halte von dlesem Aufsatz sehr viel und glaube, dafi er zumindestens so wlchtlg fiir mlch 1st wle die »Multlple Realltles« (Schiitz 2003: S.181 ff.), deren Fortsetzung er In elnem gewlssen Slnne 1st. Umso wlchtlger slnd mlr Delne Bemerkungen, auf die Ich nunmehr Im Elnzelnen elngehen mochte: Ich glaube tatsachllch, dafi Apprasentatlon [sic! I. S.] elnes - aber nur elnes - der vlelen Mlttel 1st, das Transzendenzerlebnls (auf jeder der Stufen der vlelfaltlgen Transzendenzen) In die Situation des Jetzt und So elnzubezlehen. Denn darum handelt es slch elgentllch: nlcht um die Lebenswelt als solche, sondern um die Zeltstruktur, die das Instantane auftauchende Phanomen mlt selnem Vorher und Nachher, das »specious present« mlt den Retentlonen und Reproduktlonen, den Protentlonen und Antlzlpatlon zur lebensweitllchen Zelt verkniipft. Ich habe, mangels Kenntnls der Ms, kelne genaue Vorstellung davon, was Husserl unter dem oft gehorten Schlagwort der »Zeltlgung der Zelt« versteht. Wenn es aber elne lebensweltliche Zeltstruktur geben soil, dann kann sle In natiirllcher Elnstellung nur durch Elnbezlehung der das Jetzt und So transzendlerenden Elemente - der friiheren Jetzt, der antlzlplerten Jetzt, der fremden Jetzt - In meln aktuell biirgerllches (»speclous«) Jetzt gewonnen werden. Ahnllches gilt fiir die Raumstruktur des aktuell Gegebenen, fiir welche natiirllch »Welt In aktueller Relchwelte« durch »Welt In vormallger (kiinftlger) Relchwelte«,»Welt In Relchwelte des Anderen« transzendlert wlrd. All dies slnd Grundsachverhalte menschllcher Exlstenz, d. h. endllchen Bewufitselns. Die Engel des St. Thomas haben kelne Welt In Relchwelte, kelne Zelt, die In dlesem Slnne erst gezeltlgt werden miifite; sle haben zwar Mltengel, aber sle tellen wechselseltlg Ihr ganzes Bewufitselnsleben. Engel haben kelne »prlvate« Welt und darum auch kelne Lebenswelt. Es 1st aber - mlt Ausnahme jener Form der Apprasentatlon, die Ich Symbol zu nennen vorschlug - nlcht so, dafi das Apprasentlerte die Lebenswelt transzendlert.
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Was transzendiert wird, ist das instantane Jetzt-Hier-So und der Mechanismus, durch den das Transzendente in das Jetzt-Hier-So apprasentativ einbezogen wird, macht Lebenswelt erst moglich. - Ich glaube, daC viele der im Krisisband veroffentlichten Teile des »Forschungsmanuskriptes« in diesem Sinne zu lesen sind. Aber auch Whitehead und G. E. Moore (»Defense of Common Sense«) scheinen mir das gesehen zu haben. So viel zur allgemeinen Theorie, die also nicht versucht, Apprasentation aus der Transzendenz zu erklaren, sondern umgekehrt, die Struktur der Lebenswelt aus dem Erlebnis der Transzendenz, u. zw. in dem vorliegenden Aufsatz: vermittels Apprasentation. (Es gibt auch Akte des Willens und Fiihlens, vermittels derer das Transzendente erlebbar wird und die nicht apprasentativen Ursprungs sind, aber hier sehe ich noch nicht klar.) Die herkommliche Phdnomenologiey Husserls einbegrifferiy ist in dem Sinne naivy daj^ sie als Hauptparadigma die Wahrnehmung analysiert, ohne sich daruber Rechenschaft zu geben, dafi Wahrnehmung ja ein lebensweltliches Phdnomen ist und daher die apprasentativen Strukturen, die zur Konstitution der Lebenswelt fuhren, implizite voraussetzt. Ichfurchte, dafi der Kunstgriff der phdnomenologischen Reduktion diesen Sachverhalt verdeckt. Denn eigentlich ist Intentionalitdt nur innerhalb der Lebenswelt moglich, solange sie nicht zum Phdnomen reduziert wird. Die Welt bleibt als »Sinn« auch in der Reduktion erhalten, aber, heifit es, als Phdnomen, als Welt wie sie mir erscheint und genau so wie sie mir erscheint. Aber ist nicht vielleicht die Anderung des »Sinnes« der Welt, die beim Ubergang in die phdnomenologische Einstellung erfolgt, darauf zuruckzufiihren, daj? anstelle der Selbsthabe des »bei den Sachen seins« (welche lebensweltlich - »naturlich« - die Transzendenzen ortlicher, zeitlicher, intersubjektiver Gegebenheitsweisen voraussetzt, und zwar als Fundierungszusammenhang) die »Intentionalitdt« getreten ist, diejene Fundierungszusammenhdnge aufier Spiel setzt? - Ich weiji sehr wohl, da/^das Vorstehende noch sehr ungekldrt formuliert, weil noch nicht zu Ende gedacht, ist. Aber ich glaube wirklich, da/?hier eine Hauptschwierigkeit der Phdnomenologie steckt. [Hvhg. I. S.] Wie Du siehst, ist meine Auffassung des Verhaltnisses zwischen Transzendenz and Apprasentation vielleicht verbliiffend, aber kaum einfach.
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Anlage 3: Aus dem Brief vom 1. Januar 1956. Ich mochte eine Zeile zum zweiten Husserl Aufsatz^"^ schreiben, den ich inzwischen aufmerksam studiert habe. Das Manuskript ist voller Randbemerkungen. Die beziehen sich aber [...] keineswegs auf Deine vorziigliche Darstellung und Wiedergabe des Husserl'schen Gedankenganges. Aber gerade, wenn dieser so scharf und konzentriert prasentiert wird, wie es in Deiner Schrift geschieht, erweist sich die Schwache der Hauptposition geradezu erschreckend. Die Lebenswelt ais gemeinsame Welt, als historische Ziviiisation, ais Spezialgruppe der zeitgenossischen Gelieimrate, als Intersubjektivitatsgemeinschaft, als gemeinsamer Boden, als Produkt kollektiver Tatigkeit, als geistiger Erwerb (wie sich in Reflexion herausstellt!), - das geht alles so durcheinander, da£ es der phanomenologischen Methode unwiirdig ist. Da wird ein Boden ein Horizont, eine geschichtlich-relative Ziviiisation ein geistiger Erwerb der Reflexion, aber relativ auf eine Spezialgruppe - um dann, wie Du klar zeigst, in einer Epoche von der objektiven (galileischen) Wissenschaft erfafibar zu werden (p. 10), obwohl vorher (pp. 8 and 9) das Universum der Wissenschaft eine Substruktion der Lebenswelt darstellt. Und wenn auch die Lebenswelt zweifellos ihre wesensgesetzliche Typik hat, sehe ich doch nicht ein, wieso Husserl hoffen kann, ohne Aufklarung der Intersubjektivitat zur Idee einer Ontologie der Lebenswelt zu kommen. Wie mir aber die phanomenologische Reduktion dazu verhelfen soil, sehe ich schon gar nicht ein. Andere werden Dir mit Recht fiir Deine ausgezeichnete Arbeit dankbar sein, weil sie nun erst verstehen werden, was iiberhaupt durch H. geleistet ist. Ich bin Dir dafiir dankbar, dafi gerade Deine Prazision das Scheitern dieser Leistung fiir mich klar gemacht hat. Anlage 4: aus dem Brief vom 1. Mai 1956. Ich finde und habe immer gefunden, dafi Phan. der natiirlichen Einstellung viel dringender ist und auch viel fruchtbarer. Wenn alle transzendentale Phan. auf der Lebenswelt fundiert ist - obwohl, o Wunder iiber Wunder ^^Es handek sich um Gurwitschs Besprechung von Husserls »Knsis der europaischen Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie«(Gurwitsch 1957).
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die letztere durch die erstere konstituiert wird, dann ziehe ich es vor, mich vor allem der Erforschung der Lebenswelt hinzugeben. Wir haben Jetzt vielleicht schon zwanzig »Zugange« zur transzendentalen Sphare, aber ich sehe keinen »Exit« aus ihr. Da ist die Lebenswelt und da bleibt sie - etsi furca expellas - und da kommt sie in die Monaden ohne Fenster dvgadey, Welch transzendentale Architektur! Wie die Schildbiirger miissen wir in die solipsistische »Sante« das lumen naturale mit Sacken hineintragen. Anlage 5: aus dem Brief vom 22. Marz 1957. Hier ist Deine Kopie meines Husserlpapers, das ich heute nach Paris geschickt habe/^ Wie schade, dafi ich es tun mufite, ohne Deinen Kommentar zu haben! Es ist das Resultat fiinfundzwanzigjahrigen Nachdenkens und angestrengter Arbeit wahrend fiinf weekends. Ich habe noch gar keine Distanz zu dem Aufsatz, aber beim Korrekturlesen scheint mir manches ganz gelungen zu sein. Da leider alle Deine Bemerkungen zu spat kamen, um fiir Paris verwendet zu werden, hast Du lange, lange Zeit, mir Deine Meinung zu sagen. Ich bin natiirlich auf Dein Urteil sehr neugierig. Fiir mich personlich bedeutet der Aufsatz jedenfalls den Abschlufi einer Epoche. Jetzt ist die Bahn frei, um sich beruhigt ins fruchtbare Bathos der Lebenswelt zu begeben. Ein Kerl, der spekuliert ist ein Tier auf diirrer Heide Von einem bosen Geist im Kreis herumgefiihrt Und ringsherum ist fette, griine Weide.
Anlage 6: aus dem Brief vom 7. Dezember 1957. Fiinfte Problemgruppe - oder das Schutz Problem: Wo setzt Sozialisierung und Intersubjektivitat ein? Sind die Gegenstande Baume und Berge fiir jedermann? Wie kommt dies? Sind sie es prapradikativ [sic! I. S.] als Gattungen und zwar als dieselben Gattungen fiir jedermann? Oder bedarf es des Worts und wenn ja, vollzieht sich mit ''^Es handelt sich um »Das Problem der transzendentalen Intersubjektivitat bei Hussserl«, in: Schiitz (1971b:S. 86 ff.).
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der Benennung schon der Ubergang von typischer Gattungsmafiigkeit zu Allgemeinbegrifflichkeit? 1st vielleicht schon die Nennung eines Eigennamens Pradizierung? - 1st aber, andererseits, nicht auch die Zeigegeste intersubjektiv? Hat die typische Welt vielleicht nur physiognomischen Charakter? Und wenn dies der Fall ist, gibt es intersubjektive physiognomische Interpretation (d. i. die namlichen physiognomischen Charaktere fiir jedermann?). Oder: von Dir aus gesehen: gibt es Thematisches, das intersubjektiv ist und, wenn ja, wie ist dies moglich? Oder: von mir aus gesehen: gibt es Relevanzen, die intersubjektiv sind und wie ist dies moglich? Oder: gemeinsames Problem fiir Dich und mich (welche Gemeinsamkeit eigentlich die soeben gestellten Fragen, wunderbar genug, beispielhaft beantwortet): Ist Thematisierung und Relevanzbildung lehrbar? Was sind die Bedingungen solcher Lehrbarkeit? Und was waren die intersubjektiven Voraussetzungen von Lehrbarkeit iiberhaupt? Anlage 7: aus dem Brief vom 21. Juli 1958. Ich habe mich in den letzten Tagen eingehend mit Deinem hier vorgefundenen Artikel befafit/^ Der ist vorziiglich gelungen und die Begeisterung der Berliner mehr als verstandlich [...] Die ruhige, behutsame Vortragsart stellt den Sachverhalt vollig klar. - Du weiCt gar nicht, wieviel ich von Dir lerne, wenn Du auch nur iiber Dinge sprichst, die mir wohl vertraut sind. Natiirlich habe ich nichts, gar nichts, gegen Deine Darstellung Husserls einzuwenden. Aber gerade weil Du seine Bewufitseinstheorie so klar dargestellt hast, hat sich in mir der Verdacht, unter dem ich seit vielen Jahren leide, verfestigt, dafi die Lehre von der Intentionalitat niemals zur Konstituierung der objektiven Welt fiihren kann, sondern diese als unbefragten Boden der Lebenswelt schlicht voraussetzt. Dies gilt auch abgesehen von dem Intersubjektivitatsproblem, dessen Losung der transzendentalen Phanomenologie nicht gegliickt ist und wohl auch nicht gliicken kann. Was fehlt, ist eben eine durchgearbeitete Ontologie, die sich nicht mit der Aufstellung von Regionen oder formalen Ontologien begniigt. Z. B. p. 20 Deiner Darstellung: Quid juris kann ich behaupten, dafi ich in abgesetzten '^^Es handelt sich um Gurwitschs Aufsatz »Der Begriff des Bewufitseins bei Kant und Husserl«, in: Gurwitsch (1966: S. 148 ff.).
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Wahrnehmungsakten mir der »strengen Identitat« des Noema bewufit bin, das als dasselbe einer Vielheit von Akten entspringt? Woher weifi ich in der Tat, dafi die Abschattungen und Perspektiven solche ein und desselben Wahrnehniungsobjektes sind? Schon gar, dafi dieses Wahrnehmungsobjekt dasselbe (Sehding) ist, oder dafi es als Manipulationsobjekt dasselbe (Sehding) Objekt einer anderen Wahrnehmung (Tastding) ist, oder dafi es als Manipulationsobjekt identisch mit dem Wahrnehmungsobjekt bleibt vielleicht sogar »streng identisch« oder »numerisch identisch«, whatever this means! Gesetzt, der »Sinn« des Noemas ware identisch, aber das Objekt wandelte sich durch die Intervention eines genie malin oder durch Vater Malbranche's Instantanschopfung? Gesetzt, es ware das Schicksal der Leibniz'schen Monade, zu immer neuen Perzeptionen fortschreiten zu miissen, weil das gespiegelte Universum eben immer im Heraklitischen Flufi steht? Dabei habe ich bei Husserl nicht einmal die transzendentale Apperzeption als Garantie der Einheit, sondern ein Ich, das sowohl mundan als transzendental prinzipiell schizophren ist. Infolge dieser Ungeklartheit kommt Husserl weder zu einer Theorie der objektiven Welt - Welt fiir mich meinetwegen: Die Trisselwand vor meinem Fenster ist »dieselbe« wie vor 22 Jahren und zwar (fiir mich) unverandert -, noch zu einer haltbaren Theorie der Intersubjektivitat, noch - und diese Einsicht verdanke ich den letzten Seiten Deines Aufsatzes - der Kausalitat. Ferner: Was ist der Sinn der Rede von einer »passiven Synthesis«? Ist das nicht ein holzernes Eisen? Gibt es denn passive ^Qwxx&tstmsleistungen} Die Entgleisung diirfte darauf zuriickzufiihren sein, dafi Flusserl die entdeckte Identitat der Idealen Gegenstande (Beweis der 3 Hohen des A) (p. 31) auf alle Noemata anwendet - aber wieder frage ich: quid juris? Und urn in dieser Beichte mein games Herz auszuschutten: Ich bin so hdretisch geworden, daj? ich nicht mehr verstehe, wie eidetische Reduktion vollziehbar sein kanny wenn nur die Identitat des noematischen Sinns und nicht des objektiven Gegenstandes vorausgesetzt ist. Ich verstehe auch nicht mehr, wie Evidenz auf»bei den Sachen selbst sein« zuriickgefiihrt werden kann, wenn wir bestenfalls zur Identitat des noematischen Sinns des Bewufitseinsaktes vorstofien konnen. Nicht Sein oder Schein, sondern Sein oder Sinn ist hier
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das Dilemma. [Hvhg. I. S.] Anlage 8: aus dem Brief vom 3. Februar 1959. Mit wirklich grofien Schwierigkeiten arbeite ich an meinem Aufsatz fiir Farber, der den Titel »Type and Eidos in Husserl's late Philosophy« (Schiitz 1971b: S. 127 ff.) haben soil. Vielleicht bin ich in besonders kritischer Stimmung, aber jeder Versuch einer Klarung der Grundbegriffe der Husserl'schen Philosophic zeigt die Unhaltbarkeit der Konstruktion. Sollte es mir gelingen, diese Arbeit fertigzustellen, werde ich eine Kopie fiir Dich anfertigen und Dir senden. Literatur: Gadamer, Hans (1990): Wahrheit und Methode. Tubingen: Mohr. Gorman, Robert A. (1977): The Dual Vision. Alfred Schiitz and the Myth of Phenomenological Social Science. London: Routledge. Gurwitsch Aron (1956/1957): The Last Work of Edmund Husserl, Part I in: Philosophy and Phenomenological Research 16, Part II-V. 16 (1956), S. 370-398; 17 (1957), S. 380-399. - (1971): Einleitung. In: Schiitz, Alfred: Gesammelte Aufsatze. Bd. I. Den Haag: Nijhoff, S. XV-XXXVIII. - (1966): Studies in Phenomenology and Psychology, Evanston: Northwestern Univ. Pr. Helling Ingeborg (1979): Zur Theorie der Konstrukte erster und zweiter Ordnung bei Alfred Schiitz. Diss., Konstanz: Husserl, Edmund (1969): Die Krisis europaischer Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie. Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff. Kockelmans, Joseph J. (1979): Deskriptive und interpretierende Phanomenologie in Schiitz' Konzeption der Sozialwissenschaft. In: Grathoff, Richard/Sprondel, Walter M. (Hg.): Alfred Schiitz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart: Enke, S. 26-42.
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Sartre, Jean Paul (1967): Dialektik in der Kritik der dialektischen Vernunft. Hamburg: Rowohlt. Schiitz, Alfred (1971/1972/1971b): Gesammelte Aufsatze: Bd. I/Bd. II/Bd. III. Den Haag: Nijhoff. - (2003): Theorie der Lebenswelt 1. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK. - (2003a): Theorie der Lebenswelt 2. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.2. Konstanz: UVK. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. II. Konstanz: UVK. - (2004a): Das Problem der Relevanz. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. VI.l. Konstanz: UVK, S. 65-222. Schiitz, Alfred/Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939 - 1959. Miinchen: Fink. Schiitz, Alfred/Luckmann, Thomas (1975/1984): Strukturen der Lebenswelt: Bd. I: Neuwied: Luchterhand. Bd. II: Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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9. Schiitz' pragmatische Theorie der Lebenswelt Das in der methodologischen Debatte in der Soziologie intensiv diskutierte Schiitz'sche Adaquanzpostulat besagt, dass wissenschaftliche Typen so konstruiert werden miissen, dass sie mit der Perspektive des in der relativ natiirlichen Einstellung Handelnden kongruent sind (Schiitz 1971: S. 50; 1972: S. 21). Uber die Operationalisierung dieser Kongruenz wurde viel geratselt, denn man nahm haufig an, sie gabe eine Regel an die Hand, um alltagliche Typisierungen in wissenschaftliche umzuwandeln, oder diese an jenen zu verifizieren. Wiederholt wurde dann mit einiger Enttauschung festgestellt, dass Schiitz keine exakten Anweisungen fiir diese Prozedur erarbeitet hatte und daher seine Fundierung der Sozialwissenschaften methodologisch gescheitert oder zumindest fraghch sei (vgl. Gorman 1977, insb. Kap. 2. und 3.; HelHng 1979; Eberle 1984: S. 304 f.). Dariiber wird haufig der eigentiiche Kontext vergessen, in dem das Adaquanzpostulat in der Schiitzschen theoretischen Konzeption steht. Diesen Kontext will ich im Folgenden skizzieren. Es ist sicher nicht so, dass Schiitz den Sozialwissenschaftler vollig uninformiert iiber die Beschaffenheit der Lebenswelt lasst, mit der seine (des Wissenschaftlers) Typisierungen kongruent sein sollen. Das Postulat der Adaquanz hat, aufier Alltag und Wissenschaft, noch einen dritten, ausschlaggebenden Bezugspunkt - namlich die Theorie der Lebenswelt selbst, die Schiitz entwickelt, um der sozialwissenschaftlichen Typenkonstruktion den geforderten Bezug auf die lebensweltliche Struktur ihres Gegenstandes anzubieten. Die Fundierung der Sozialwissenschaft liegt also fiir ihn in der Durchfiihrung der Lebenswelttheorie und nicht etwa in der Ausarbeitung von je nach Zielrichtung induktiv beziehungsweise deduktiv funktionierenden Umwandlungsregeln. Ich will im Folgenden die Lebensweltkonzeption aufzeigen, die sich - unter Beriicksichtigung der nachgelassenen Materialien - in Schiitz' (Euvre abzeichnet und vor deren Hintergrund die Schiitz'schen Unter-
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suchungen als eine Einheit zu verstehen sind. Es ist eine pragmatische Konzeption, die auf die Genese der Lebenswelt im Handeln abhebt und nicht auf einem transzendental-phanomenologischen, sondern auf einem philosophisch-anthropologischen Begriindungsboden steht. Einige ihrer Elemente sind schon im »Sinnhaften Aufbau« erkennbar, zu ihrer ersten Ausformulierung kommt es allerdings erst 1936-37 in dem bisher unpublizierten Manuskript iiber »Das Problem der Personalitat in der Sozialwelt«, das als Fortsetzung des »Sinnhaften Aufbaus« gedacht war und auszugsweise (ohne die Lehre von der sozialen Person) in dem Aufsatz »Uber die mannigfaltigen Wirklichkeiten« publiziert wurde (Schiitz 2003)^^. Ihre letzte wesentliche Erganzung erfahrt die Konzeption der Lebenswelt in »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«, das als Fortsetzung zu den »Mannigfaltigen Wirklichkeiten« konzipiert wurde. (Schiitz 2003a: S. 119-197) Einen Uberblick iiber den Versuch der Systematisierung der Lebenswelttheorie letzter Hand geben uns die Schiitz'schen Notizbiicher, die als Anlage zu den Strukturen der Lebenswelt publiziert und als Leitfaden zu ihrer Ausarbeitung angelegt wurden (vgl. Schiitz/Luckmann 1984). Betrachten wir nun jene erste Fassung der Lebenswelttheorie, wie sie Schiitz, auf bauend auf den Ergebnissen der Untersuchungen der Wirkensbeziehung im Sinnhaften Aufbau (Schiitz 2004: S. 291 f.), in seinem Manuskript iiber »Das Problem der Personalitat« entwickelt. Im Zentrum dieser Konzeption steht das Postulat des Primats des pragmatischen Motivs, unter dem der menschliche Weltzugang in der natiirlichen Einstellung steht. Ihre zentrale Kategorie ist daher die des Wirkens und die der Wirkensbeziehung als der primaren Konstitutionszelle sozialer Realitat. Dieses Postulat hat seine Fundierung in einer philosophisch-anthropologischen Bestimmung des menschlichen In-der-Welt-Seins, die Scheler'sche und ^'^Es handelt sich um die Manuskripte »Das Problem der Personalitat in der Sozialwelt« von 1936 und »Bruchstiicke zum ersten Hauptteil« von 1937, in: Schiitz (2003). Sie dienten als Grundlage fiir den Schiitzschen Aufsatz »Uber die mannigfaltigen Wirklichkeiten«, der, in diesem Kontext, in dem selben Band der Werkausgabe neu ediert wurde. Eine mit ausfiihrlichen Zitaten belegte Darstellung dieser Manuskripte und ihrer Bedeutung im Gesamtkontext des Schiitz'schen Werkes siehe in: Srubar (1988) sowie Srubar/EndreE (2003).
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Heideggerianische Motive vereinigt (Schiitz 2003: S. 42, 126). Der Mensch wird begriffen als die Einheit von ego agens und ego cogitans. Sein Inder-Welt-Sein wird durch Pragma (Wirken), Sozialitat, Reflexivitat und Zeitlichkeit bestimmt, die die Grundlage menschlicher Welterfahrung und Weltbewaltigung darstellen. In der Welt wirkend erfahrt der Mensch diese in vielfacher Weise als transzendent, als Widerstand leistend und undurchsichtig. In absoluter Weise erfahrt er diese Transzendenz aufgrund seiner Zeitlichkeit - als endliches Wesen in einer unendlichen Welt. Der Ausdruck dieser Erfahrung ist die Fundamentalangst vor dem Tode, die das urspriingliche Motiv des Wirkens ist - Mensch wirkt in der Welt, um zu iiberleben. Zwischen sich und die transzendente Welt legt also der Mensch als ego agens und ego cogitans das Handeln (das heifit im Schiitz'schen Sinne das Wirken und das Denken), das aber in der relativ natiirlichen Einstellung unter dem Primat des Wirkens steht. Das Wirken schafft »die pragmatische Relevanzen, die ihrerseits alle cogitationes determinieren« (Schiitz 2003: S. 135). Wirken ist jedoch nicht nur die Grundbeziehung, in der die materielle Welt bearbeitet und geformt wird, sie ist auch die Grundbeziehung, in der Subjekte zueinander stehen. Das Wirken in der Welt wird bei Schiitz von dem Boden der Wirkensbeziehung aus gedacht. Die Wirkensbeziehung ist die Keimzelle der sozialen das heifit in der Interaktion und Kommunikation hervorgebrachten und gedeuteten Realitat. Im Wirken stellt also der Mensch zwischen sich und die kontingente, transzendente Welt das Produkt seiner Sozialitat, Reflexivitat und Zeitlichkeit - eine sozial generierte und daher verstehbare Realitat. Dies bedeutet nicht, dass Schiitz die Sozialitat und Intersubjektivitat einfach als anthropologische Konstanten annehmen wiirde und weiter unanalysiert lielKe. Intersubjektivitat ist fiir ihn nicht einfach da, sondern sie voUzieht sich im Prozess des Handelns. Dem Wirken kommt dabei eine doppelte Rolle zu. a) Wirken in der Welt ist von dem Wirkenszusammenhang mit anderen her zu begreifen.""^ Der pragmatische Weltzugang konstituiert sich ^^Dies ist die Maxime, in der man die Ergebnisse der Analyse der Wirkensbeziehung als Wir-Beziehung im »Sinnhaften Aufbau« zusammenfassen kann (Schiitz 2004: S. 316 ff.
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also primar in der Wirkensbezlehung, als einer Wir-Beziehung. Sie ist als ein Prozess von Typisierung und Selbsttypisierung aufzufassen, in dem eine soziale Realitat und ein Wir-Bewusstsein konstituiert werden, die als Grundlage fiir die Konstitution subjektiver Erfahrungsschemata, Wissensvorrate und Relevanzsysteme dient. Mit dem Primal des pragmatischen Motivs ist also das Primat der Sozialitat als Grundlage subjektiver Sinnkonstitutionen wesentlich verbunden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Wirkensbeziehung die Keimzelle der sozialen Wirklichkeiten darstellt, weil sie der primare Ort ist, wo 1. die Konstitution, die Typisierung und die Institutionalisierung, 2. die Uberlieferung und Internalisierung und schliefilich 3. die Reproduktion von sozialen Attitiiden und deren Hierarchiesystemen, von Relevanzsystemen und schliefilich von Apprasentationssystemen im Sinne einer sozialen Ordnung stattfinden/^ b) Das so begriffene Wirken strukturiert sowohl die soziale Welt als Umwelt als auch das wirkende Subjekt selbst. Einerseits gliedern die im Wirken entstandenen Relevanzsysteme die Welt als Bereich praktischen Handelns, andererseits strukturieren sie, als sedimentierte und erlebte Erfahrungsschemata, den Wissensvorrat und die Habitualitat der Handelnden. Im Wirken vollzieht sich also sowohl die intersubjektive Konstitution der sozialen Welt und ihrer Ordnung als auch deren subjektive Aneignung in Form einer subjektspezifischen Habitualisierung, auf der die soziale Identitat des Individuums beruht. Das System pragmatischer Relevanzen, das sich dem Handelnden in seinem Wirken in der Welt erschliefit, spielt hier also die Rolle einer Sinnklammer zwischen Handelnden und ihrer Realitat. Es verbindet aufiere Ordnung der Welt mit der inneren Ordnung der Person. u. 323). '^^Der Punkt 3. greift teilweise auf Schiitz' (2003a) Untersuchungen in »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« vor.
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Soziale Wirklichkelt begriffen als Wirkwelt ist so immer eine intersubjektive und eine subjektzentrierte Realltat zuglelch. Dies nicht nur, weil sie vom Subjekt aus raumlich, zeitlich und sozial im Sinne der Reichweite, der Vor- und Nachwelt oder sozialen Nahe und Feme gegliedert ist, sondern weil sie immer auch subjektive Attitiiden zu intersubjektiv auferlegten Relevanzen enthait. Andererseits sind aber diese subjektiven Attitiiden immer diejenigen einer in Wirkensbeziehungen sozialisierten Person. In dieser interaktiven Integration des subjektiven und des sozialen Moments ist also das Ausgezeichnete der Realitat der Wirkwelt angelegt, auf die alle menschliche Realitat zuriickweist: Nur von hier aus - in der Wirkensbeziehung - kann intersubjektiv geltende Realitat entstehen, und nur auf ihrem Boden sind Verstehen und Kommunikation moglich. Hier manifestiert sich zum ersten Mai das Schiitz'sche Konzept der Lebenswelt als einer subjektzentrierten und intersubjektiven Wirklichkeit, die als eine Einheit von zwei im Wirken miteinander vermittelten Polen zu begreifen ist: Den einen Pol stellt die in Wirkensbeziehungen hervorgebrachte, intersubjektive durch das System der pragmatischen Relevanzen geordnete und dadurch auferlegte soziale Wirklichkeit dar, der andere Pol ist die subjektive Spontaneitat, als Quelle der Aneignung und der subjektiven, »privativen« Modifikation der so auferlegten Realitat. Ebenso wie die intersubjektive Objektivitat der sozialen Realitat wird also ihre subjektbezogene Perspektivitat betont, die so neben der Intersubjektivitat als eine gleichurspriingliche, grundlegende Charakterisierung in den Schiitz'schen Lebensweltbegriff eingeht. Spater werden wir sehen, dass die Perspektivitat des Lebensweltbegriffs sich nicht nur auf seinen subjektiven Konstitutionspol bezieht, sondern ebenso auch gruppenbezogen ist und von institutionalisierten gruppenbezogenen Apprasentationssystemen getragen wird. Der an dieser Stelle fiir die Weiterentwicklung der Lebensweltkonzeption wichtige Punkt ist, dass die Verankerung der Wirkwelt im subjektiven Pol das Vermogen in sich schliefit, die Wirkwelt zum Gegenstand von Modifikationen zu machen, die sie transzendieren. Hier bezieht sich Schiitz wiederum auf die anthropologische Ebene und geht (inspiriert von Bergson, James und Husserl) von Arten des nichtpragmatischen (das heiEt nicht wirkensbedingten) Zugangs zur Welt aus, die in der
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subjektiven Erfahrungsweise typisch enthalten sind und so zur Realitat der menschllchen Welt wesentlich gehoren. Der wichtigste, well mit dem Vermogen der Reflexivitat, d.h. der DIstanzfahigkeit und des Selbstbezugs, verbundene Bereich ist hier derjenige der Phantasie und insbesondere der Kontemplation. Diese wirkwelttranszendenten Erfahrungsbereiche - die geschlossenen Sinnbereiche der »Mannigfakigen Wirklichkeken« (Schiitz 2003: S. 206 f.) - thematisieren die Realitat in einem die Wirkwelt transzendierenden Erkenntnisstil. Sie wird nicht aufgrund der transzendenziiberwindenden pragmatischen Relevanz erlebt, sondern auf dem Boden des Transzendenzerlebnisses selbst. Damit wird die Verbindung der Wirkwelt mit den sie transzendierenden Wirklichkeitsebenen miterlebt, thematisiert und in aufieralltaglichen Relevanzsystemen systematisierbar. Dieses Vermogen bedeutet nicht nur die Moglichkeit, phantasierend eine Lebenswelt als die Welt subjektiver Erfahrung zu konstituieren. Verschiedene Sinnbereiche der Phantasie und Kontemplation mit ihren spezifischen kognitiven Stilen konnen durchaus eine Sozialisierung erfahren, - das heifo sie konnen zu aufieralltaglichen Wissenssystemen (Philosophie, Religion, Wissenschaft und Kunst) werden, die den Zusammenhang der Wirkwelt mit den sie transzendierenden Wirklichkeiten in einer alltagstranszendenten Weise betrachten und so ~ aufgrund ihrer Aufieralltaglichkeit (man denke an Webers Kategorie des Charisma) - zu legitimierenden Instanzen im Wirkweltbereich werden konnen. Damit sind wir an dem Punkt angelangt, an dem Schiitz in seiner Lebensweltkonzeption ein neues Ordnungselement einfiihren muss. Schiitz tut es in seinem Aufsatz »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« und prasentiert uns so die entwickelte Fassung seiner Lebenswelttheorie (Schiitz 2003a: S. 163 ff.). Seine bisherige Konstruktion der Lebenswelt sah etwa folgendermaCen aus: Um den Kern einer sozial geordneten, auf Wirkensbeziehung aufgebauten Wirkwelt, zentrieren sich die in der jeweiligen Perspektive der in dieser Wirkwelt Handelnden als transzendent erscheinenden Spharen der Natur- und Sozialwelt, die ebenso als eine auferlegte Ordnung empfunden werden. Diesem transzendenten sozialen Bereich gehoren auch die wirkwelttranszendenten Wissenssysteme an, die aber in die Wirkwelt als Regulative hineinwirken konnen. Dies ist der sozial
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auferlegte Pol der Lebenswelt. Den subjektiven Pol stellen die privativen Modifikationen der auferlegten Wirklichkeit dar, das heifit erstens diejenigen, die durch ihre biographische Aneignung entstehen und zweitens diejenigen, die durch das Erleben dieser Wirklichkeit in aufieralltaglichen Erlebnisstilen konstituiert werden. Um eine derart in mannigfaltigen Realitatsebenen aufgeschichtete Lebenswelt als eine Sinneinheit darzustellen, greift aber das urspriingliche Konzept der pragmatischen Relevanz zu kurz. Das System pragmatischer Relevanz kann zwar als ordnendes Element sowohl der sozialen Person als auch ihrer Umwelt als Wirkwelt in Anschlag gebracht werden, und, wenn es als das ordnende Prinzip der Konstitution von gruppeneigenen Wirklichkeiten betrachtet wird, die der Gegenstand privativer Modifikationen sind, auch als der Trager des thematischen Sinnzusammenhangs der beiden Pole der Lebenswelt dienen. An und fiir sich verlangt aber diese Mehrschichtigkeit der Lebenswelt nach einer weitergehenden Klarung ihres Sinnzusammenhangs als Kulturwelt und zwar derart, dass der Zusammenhang der sich gegenseitig transzendierenden Realitatsschichten nicht nur als ein thematischer, sondern auch als ein struktureller deutlich wird. Ein solches Konzept der Sinnklammer der Lebenswelt entwickelt Schiitz in seiner Theorie der apprasentativen Systeme, die er in »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« darstellt. Er geht hier von der Husserlschen Konzeption der Apprasentation als eines intentionalen Aktes aus, in dem die Wahrnehmung von A als ein Verweis auf ein nicht vorhandenes B erfahren wird. Aber um seine Theorie der Apprasentation zu entwickeln, setzt er wieder bei dem anthropologischen Motiv der Lebensweltkonstitution an, das heifit bei der auf die Fundamentalangst zuriickgehenden pragmatischen Uberwindung der Welttranszendenz. Was in dem Prozess der Weltbewaltigung wiederholt als relevant erscheint, verlangt nach einer Fixierung durch Bezeichnung. Bezeichnungen und ihre Systeme werden zu Tragern von Relevanzen und Deutungsschemata und somit zu Mitteln der Transzendenziiberwindung, wobei den verschiedenen Typen der Transzendenz verschiedene Typen von Apprasentationsschemata entsprechen. Prinzipiell ordnen und verbinden jedoch Apprasentationsschemata die Realitat auf vier Ebenen zu einem Zusammenhang und sind also geeig-
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net, verschiedene Realitatsschichten aufeinander zu beziehen. Sie tun es, Indem sie Ihnen folgende Ordnungsschemata auferlegen: 1. Apperzeptionsschema (die Klasse der als Bezeichnung in Frage kommenden Gegenstandlichkeiten) 2. Apprasentationsschema (die Klasse der apprasentierenden Glieder) 3. Verweisungsschema (die Klasse der apprasentierten Glieder) 4. Deutungsschema (der spezifische Sinnzusammenhang zwischen 1., 2. und 3.) (Schiitz 2003a: S. 163 f.) Diese Ordnung kann, als Fixierung von Relevanzen, zwar durchaus rein subjektiv erfolgen (private Schrift, Merkzeichen), wesentlich erfolgt sie jedoch sozial, das heifit in der Wirkensbeziehung. Dort bedeutet die interaktive Fixierung von Apperzeptionsschemata durch Typisierung und Selbsttypisierung den Prozess der sozialen Billigung von Typisierung- und Relevanzschemata, also den Prozess der Konstitution eines gemeinsam geteilten Wissensvorrats und seine Institutionalisierung. Apprasentationsschemata in diesem Sinne sind keine Produkte von intentionalen Leistungen des subjektiven Bewusstseins (transzendental oder nicht), sondern Produkte sozialer Interaktion und Kommunikation, die als institutionalisierte Systeme die Lebenswelt sinnvoll ordnen, indem sie die Weltrealitat mit einem Sinnkleid iiberziehen. Eines der wichtigsten Bezugssysteme, durch die jenes apprasentative Sinnkleid der soziokulturellen Welt getragen wird, ist die Sprache. Ihre apprasentative Funktion beschrankt sich nicht nur auf den Verweis bestimmter Laute auf bestimmte Bedeutungen. In dieser ihrer Eigenschaft erfiillt die Sprache zwar die Grundbedingung der Kommunikation, weil Ausgesprochenes als ein Ereignis in der Weltzeit subjektive Bewusstseinsstrome zu koordinieren vermag (Schiitz 2003a: S. 154, 160 f.). Aber ihre apprasentative Funktion geht dariiber hinaus: Sie ist Tragerin von Relevanzsystemen, die in ihr als Benanntes oder Unbenanntes, als Erwahnenswertes oder Vernachlassigbares zum Ausdruck kommen. Die Bedeutungshorizonte ihres Wortschatzes enthalten Wertungen und stehen fiir
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Typisierungen von Sinnzusammenhangen, deren gemeinsamer Besitz fiir Schiitz eine soziale und kulturelle Gemeinschaft auszeichnet und deren intersubjektive Geltung und Anwendung eine wesentliche Moglichkeit der Uberwindung der Kontingenz der Welt darstelk (Schiitz 2003a: S. 154 f.). Die Sprache iiberwindet die Transzendenz der Wek nicht nur, indem sie als Trager intersubjektiver Typik fungiert, sondern auch dadurch, dass sie dies in einer Weise tut, die von der Endlichkeit einzelner Individuen unabhangig ist. Sie erhah die Kontinuitat der Transzendenzbewakigung durch Sinnfixierung iiber die Endlichkeit des Einzelnen hinaus. In diesem Sinne ist die Sprache eine Objektivierung und Institutionalisierung der urspriinglich nur interaktiv festgelegten Schemata. Auch hier zeigt sich, dass die Sozialitat des Handelns fiir Schiitz die Grundannahme ist, von der aus er sein Konzept der sprachlichen Kommunikation entwickelt. Die Voraussetzungen, die er dafiir postuliert, dass namlich die Deutungsschemata und Relevanzsysteme der Kommunizierenden im wesentlichen iibereinstimmen miissen (Schiitz 2003a: S. 152 f.), erschliefien sich aus der beschriebenen Genese der Apprasentationsschemata aus der Wirkensbeziehung ihre lebensweltliche Fundierung. N u r vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die im Laut des Wortes oder im Schriftzeichen objektivierten apprasentativen Verweise nicht nur eine Koordinierung der Bewusstseinsstrome, sondern dariiber hinaus auch eine Koordinierung der erfahrenden Akte der Interagierenden bewirken, das hei£t, dass Kommunikation zustande kommt. Auch in diesem Zusammenhang wird klar: Apprasentative Schemata sind fiir Schiitz nicht mehr nur im phanomenologischen Sinne Bewusstseinsleistungen bestimmter Intentionalitatsform, sondern sie sind auch objektivierte und institutionalisierbare Produkte sozialer Interaktion, die die Welt zur Kulturwelt gestalten. Nicht zufallig findet sich in diesem Zusammenhang bei Schiitz einer der seltenen Verweise auf Durkheims conscience collective.^° Nicht weniger wichtig fiir die Einheit der Lebenswelt als Kulturwelt sind jene Apprasentationssysteme, die Schiitz als symbolische bezeichnet (Schiitz 2003a: S. 169 ff.). Ihre Eigenart ist es, dass ihr Apprasentationsschema im Bereich der Wirkwelt liegt, wahrend das, worauf sie °Vgl. die Notizbiicher, in: Schiitz (1984: S. 332).
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verweisen, einem wirkwelttranszendenten Bereich angehort. Durch sie werden also die der jeweiligen Wirkwelt transzendenten Bereiche in dieser Wirkwelt selbst reprasentiert. Wir erkennen hier wieder jene »sozialisierten« wirkwelttranszendenten Wissenssysteme wie Religion, Philosophic, Wissenschaft und Kunst, die das Verhaltnis der Wirkwelt zu den sie transzendierenden Realitatsbereichen verarbeiten und so eine transzendente Weltordnung in der Wirkwelt verankern, wo diese als ein symbolisch prasentes Regulativ des alltaglichen Handelns reproduziert wird. Um diese von Apprasentationssystemen von innen her zusammengehaltene und beleuchtete Lebenswelt zu charakterisieren, gebraucht Schiitz den Voegelinschen Ausdruck Kosmion (Schiitz 2003a: S. 196). Welcher theorctische Gewinn lasst sich aus der Konstruktion der Lebenswelt als ein Kosmion ziehen? Vor allem zeigt sich, dass eine verstehende Theorie des sozialen Handelns immer auch eine Theorie der pragmatischen Konstitution der Lebenswelt voraussetzt, die zeigt, wie soziales Handeln seine Regulative aus sich selbst hervorbringt. Die Hervorhebung und Nachzeichnung der pragmatischen Genese der Lebenswelt hat einen doppelten Vorteil: Diese Genese kann als ein integraler Mechanismus des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt erfasst werden, zugleich aber wird mit diesem Mechanismus auch eine Dynamik beschrieben, aus der sich die inter- und intrakulturelle Vielfalt der menschlichen Realitat generiert. Damit wird ein Zugang zu der Selbstkonstitution der sozialen Realitat eroffnet, ohne dass ihr dadurch eine verzeichnende kategoriale Konstruktion aufgestiilpt werden miisste. Diese Lebensweltkonzeption erlaubt es, die menschliche Realitat als eine Verkettung von Lebenswelten und diese als eine Vielfalt von Wirklichkeitsebenen und Perspektiven aufzufassen, ohne dass dadurch ihr Strukturzusammenhang als Sinnzusammenhang verschwande. Zwei in der gegenwartigen Diskussion, insbesondere von Habermas und Luhmann gepragten Einschatzungen des Schiitz'schen Konzepts der Lebenswelt werden damit korrekturbediirftig. So heifit es etwa bei Habermas (1970: S. 220): »So griinden auch bei Husserl und Schiitz die sprachlichen Symbole in der umfassenden Apprasentationsleistung des transzendentalen Ich. Die Monaden spinnen die sprachliche Intersubjektivitat erst aus sich heraus.« Anhand des oben Ausgefiihr-
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ten sollte nun klargeworden sein, dass bei Schiitz die Konstitution der Lebenswelt nicht lediglich eine Leistung kognitiver Akte des Subjekts ist, sondern diejenige sozialer Interaktion. Apprasentationssysteme und Sprache griinden daher nicht in den Akten des transzendentalen Ichs, sondern in der Sozialitat der Wirkensbeziehungen. Dort werden sie wohl von Handelnden - doch nicht von diesen als Monaden - hervorgebracht, angeeignet und reproduziert. Daher lasst sich insbesondere mit der Schlitzschen Theorie der Apprasentation zeigen, wie die Sprache und Kultur die Lebenswelt strukturieren. Damit wird auch der spatere Einwand hinfaUig, den Habermas (1981: S. 198) erhebt, wenn er bemangelt, Schiitz konstruiere »die Strukturen der Lebensweh nicht im direkten Zugriff auf die Strukturen sprachHch erzeugter Intersubjektivitat, sondern in der Spiegelung des subjektiven Erlebens einsamer Aktoren«. Dies konne behoben werden, indem man »Lebenswelt« als »Komplementarbegriff« zum »kommunikativen Handeln« einfiihrt. Auch Luhmanns (1986: S. 176) Sicht auf die Schiitz'sche Lebenswelttheorie als eine Art Trivialanthropologie, die dort den Platz verstellt, wo Theorieleistungen zu erbringen waren, ist im Lichte des Dargestellten nicht mehr haltbar. Vielmehr erweist sich der Schiitz'sche Ansatz als eine Theorie, die die Autogenese sozialer Ordnung im sozialen Handeln begriinden und von daher beschreiben kann, ohne in die Aporien der gegenseitigen Exklusion von psychischen und sozialen Systemen zu verfallen. So betrachtet aber, konnte man einwenden, ist die Schiitz'sche Theorie in ihrer StoErichtung anderen Ansatzen ganz nah. Worin besteht dann ihre »Originalitat«? Es ist, denke ich, an der Zeit zu begreifen, dass Gemeinsamkeiten und Konvergenzen von Theorien in unserem Each nicht etwas sind, was im Interesse der Schulbildung zu negieren, zu bekampfen oder zu verdrangen ist. Vielmehr miissen diese Gemeinsamkeiten wissenschaftliche Sorgfalt vorausgesetzt - als Folge der im Gegenstand selbst liegenden Implikationen gewertet werden, die eine thematische und strukturelle Konvergenz erzwingen. So betrachtet sind solche Konvergenzen kein Zeichen mangelnder Originalitat ihrer Urheber, sondern ein Zeichen der Adaquanz und somit einer der wenigen Indikatoren der Lebensweltgebundenheit sozialwissenschaftlicher Theorie.
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Literatur: Eberle, Thomas (1984): Sinnkonstitution im Alltag und Wissenschaft. Bern: Haupt. Gorman, Robert A. (1977): The Dual Vision. Alfred Schiitz and the Myth of Phenomenological Social Science. London: Routledge. Habermas, Jiirgen (1970): Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfur t/M.: Suhrkamp. - (1981): Theorie des kommunikativen Handelns: Bd 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1986): Die Lebenswelt nach Riicksprache mit Phanomenologen, in: Archiv fiir Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 176-194. Schiitz, Alfred (1971/1972/1971b): Gesammelte Aufsatze: Bd. I - III. Den Haag: Nijhoff. - (2003): Theorie der Lebenswelt 1. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK. - (2003a): Theorie der Lebenswelt 2. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.2. Konstanz: UVK. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. II. Konstanz: UVK. - (2004a): Das Problem der Relevanz. In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. VI.l. Konstanz: UVK, S. 65-222. - /Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939 - 1959. Miinchen: Fink. - /Luckmann, Thomas (1975/1984): Strukturen der Lebenswelt. Bd. I: Neuwied. Luchterhand, Bd. II. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Srubar, Ilja (1988): Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von A. Schiitz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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- /EndreC, Martin (2003): Einleitung der Editoren, In: Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK.
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10. Alfred Schiitz' Konzeption der Sozialitat des Handelns Alfred Schiitz' Analysen der alltaglichen Lebenswelt werden vor allem als ein Versuch wahrgenommen, der unter Anwendung des bewusstseinsphilosophischen Ansatzes von Husserl den Prozess der subjektiven Sinnkonstitution klaren soil, welcher der Orientierung alltaglichen Handelns zugrunde liegt. Mit dieser Wahrnehmung wird dann in der Regel der Vorwurf verbunden, dass der egologische Ansatzpunkt durch seine Betonung der Subjektgebundenheit der Sinnkonstitution die eigentlichen sozialen, d. h. die interaktiven bzw. strukturellen Bedingungen der Orientierung sozialen Handelns nicht geniigend mitthematisiert, dass also die Sozialitat des Handelns und seiner Orientierung nicht hinreichend in den Blick kommt. (So »klassisch« Habermas 1970: S. 214 f.) Dieser Eindruck kann entstehen, wenn man der Darstellung des Problems in »Sinnhafter Aufbau der sozialen Wirklichkeit« (vgl. Schiitz 2004) oder in »Das Problem der Relevanz« (Schiitz 2004a) folgt, wo immer von der Klarung der subjektiven Perspektive Ausgang genommen wird. Ich mochte hier zeigen, dass diese Analysen vor dem Hintergrund eines sehr differenzierten Problembewusstseins erfolgen, dem eine komplexe Konzeption der Sozialitat des Handelns und seiner Orientierung zugrunde liegt. Erst diese Konzeption lasst diese Untersuchungen in ihrem eigentlichen Zusammenhang erscheinen - namlich als Bausteine eines Ansatzes, in dem Handlungs- und Lebenswelttheorie als eine Einheit gedacht werden. Ich werde mich bei diesem Versuch sowohl auf die publizierten als auch auf die unpublizierten Texte aus dem Nachlass von Schiitz stiitzen, die im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz aufbewahrt werden. Bevor ich mit meiner Darstellung beginne, ist es angebracht, die bei Schiitz eng miteinander verwobenen Probleme der Sozialitat und der Intersubjektivitat wenigstens analytisch voneinander zu unterscheiden.
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Das Problem der Intersubjektivitat bezieht sich auf die Gegebenheitsweise des Anderen als eines Nicht-Ich im Erleben des Ego. Als Problem der Sozialitat wird die Art und Weise thematisiert, wie mein Denken und Handeln in meiner Beziehung zu Anderen und durch diese gestaltet wird. Das Problem der Intersubjektivitat bezieht sich auf die Frage nach der Moglichkeit des Verstehens des von Anderen konstituierten Sinns, d.h. eines Erlebnisses, das sich in dem mir wesentlich unzuganglichen Bewusstseinsstrom des Anderen vollzieht. Die Losung des Problems der Sozialitat des Handelns enthalt - wenigstens fiir den Bereich der relativ natiirlichen Einstellung - einen fiir die Theorie des sozialen Handelns wesentlichen Teil der Antwort darauf. Beide Problemkreise sind durch das Thema des Fremdverstehens, d.h. des Sinnsetzens und Sinndeutens durch das Ego und den Anderen sowie durch das Problem der iibersubjektiven Geltung von Deutungsschemata miteinander verbunden. Wahrend jedoch in der Perspektive des Intersubjektivitatsproblems die sinnsetzenden und sinndeutenden Bewusstseinsakte des Ich in den Vordergrund treten, kommen unter dem Gesichtspunkt der Sozialitat des Handelns der interaktive, und spater auch der erweiterte soziale Zusammenhang der Konstitution menschlicher Wirklichkeit zum Vorschein. Diesem Zusammenhang woUen wir uns nunmehr zuwenden. Zum Ausgangspunkt der Darstellung wahle ich einen Text aus dem Nachlass von Schiitz, betitelt »Das Problem der Personalitat in der Sozialwelt«, der in den Jahren 1936-37 entstanden ist (Schiitz 2003). In diesem Text werden die zwei im »Sinnhaften Aufbau« aufgezeigten Grundprobleme der verstehenden Soziologie, namlich das Problem der sozialen Person und das Problem der Relevanz, aufgearbeitet und ein erstes Modell der Konstitution von sozialisierten Individuen und ihrer Relevanzsysteme entworfen. Die Grundlage der Herausbildung einer sozialen Person, d. h. - Scheler nachempfunden - des Individuums als die Einheit seiner sozialen Akte (vgl. Scheler 1980: S. 548 ff.) ~ beruht hier in dem Vermogen des Individuums, zwei Grundeinstellungen zur Welt miteinander zu verbinden - die des ego cogitans und die des ego agens. Ego cogitans ist der Trager der Bewusstseinsleistungen und vor allem der Zeitstruktur des Erlebens in ihren bekannten drei Modi - der Aktualitat, der Antizipation und
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schliefilich der bewahrenden Sedimentierung des Erlebten als Vergangenheit - die auch den Rahmen des ego agens festlegen. Ego agens jedoch steht fiir das Handeln des Individuums in der aufieren Welt - Schiitz nennt es »Wirken« - und ist so nicht nur der Vermittler zwischen der Zeitstruktur des inneren Zeitbewusstseins und der »auferlegten« Zeitstruktur der auCeren »burgerlichen Zeit«, sondern vielmehr auch das konstituierende und strukturierende Moment beider Bereiche - der inneren Erfahrungswelt und der aufieren Wirkwelt, die schon hier fiir Schiitz eine »ausgezeichnete« Stellung einnimmt. Die Wirkwek ist der ReaHtatskern aller anderen Wirkhchkeitsbereiche des Subjekts. Alle Reahtat verweist zuriick auf Akte des Wirkens. Das Agieren in der Wirkwelt hat Ziele zu verwirklichen, Mittel aufzusuchen und Hindernisse zu iiberwinden. So entstehen Relevanzsysteme, die - zuerst als sedimentierte Erfahrung - die Orientierung des weiteren Handelns leiten. Obwohl Wirken immer der Einheit von ego cogitans und ego agens entspringt, kommt in sozialer Hinsicht dem pragma, also dem Handeln in der Weh, Primat zu (Schiitz 2003: S. 139). Die im Wirken entstehenden Relevanzsysteme gliedern also sowohl die Welt als den Bereich des praktischen Handelns als auch den Erfahrungsvorrat und die einzelnen habitualisierten Systeme der sozialen Akte, deren Einheit das Subjekt als soziale Person ist. Die Wirkwelt und ihre Relevanzsysteme sind jedoch nicht das Produkt eines einsamen Egos. Sie entstehen im Zusammenwirken mit Anderen und durch das Wirken fiir Andere. In diesem Zusammenwirken erfolgt auch die Ubernahme von vorgegebenen Typisierungen, also die Ubernahme sozial akkumulierten Wissens. Pragmatische Relevanzen sind daher nicht nur mir auferlegt, sondern auch den Anderen, sie entstehen in der Wirkungsbeziehung mit ihnen. Die primare Festlegung der sozialen Person (Identitat) und der damit verbundenen Handlungsorientierung hat so fiir Schiitz einen eindeutig interaktiven Charakter. Wenn wir dieses Konzept der sozialen Person in Beziehung zu den Erorterungen in »Sinnhafter Aufbau« setzen, wie Schiitz es in dem genannten Manuskript verlangte, erscheinen diese in einem anderen Licht: Es wird deutlich, dass die Funktion jenes Systems erfahrender Akte, das in
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reflexiver Zuwendung aus der aktuellen Situation heraus pragmatisch unsere Erlebnisse in einen Zusammenhang bringt und ihnen so Sinn verleiht (Schiitz 2004: S.188 ff.), nicht lediglich eine im Subjekt sich vollziehende Bewusstseinsaktivitat ist, sondern einen durch interaktiv hervorgebrachte Relevanzsysteme orientierten, also einen sozial bestimmten Vorgang darstellt. Wenn also Schiitz davon spricht, dass echtes Fremdverstehen sich in den Akten der Selbstauslegung des Verstehenden vollzieht (Schiitz 2004: S. 238 f.), bedeutet diese Selbstauslegung den Riickgriff auf einen primar in der Wirkensbeziehung entstehenden sozialen d.h. intersubjektiv geltenden Wissensvorrat. Die Postulate der Reziprozitat der Perspektiven und der Ubereinstimmung von Relevanzsystemen, die Schiitz spater als Bedingung der Verstandigung aufstellen wird (Schiitz 2003a: S. 152), haben hier ihre reale, mundan-ontologische Grundlage. Die mit dem intersubjektiv geltenden Relevanzsystem verbundenen Typisierungen erschliefien sich als solche erst durch die Erfahrung, die die in der Wirkungsbeziehung stehenden Subjekte von der »Regelhaftigkeit« ihres Handelns machen. Sie sind also nicht nur Typisierungen von Ablaufen der aufieren Welt, sondern zugleich auch Selbsttypisierungen, weil sie als Grundlage der Handlungsentwiirfe das Handeln des Subjekts auf die Erwartungen Anderer beziehen. Diesen Prozess illustriert Schiitz an mehreren Stellen (Schiitz 2004: S. 258 ff. u. 321 ff.) am Beispiel der Sinnsetzung und Sinndeutung im kommunikativen Handeln. Unter Riickgriff auf seine sozial entstandenen Apprasentationsschemata entwirft der Sinnsetzende sein Handeln nicht nur so, dass es seinem eigenen Erlebniszusammenhang adaquat wird, sondern auch so, dass es den antizipierten Erwartungen des Sinndeutenden in Bezug auf die Adaquanz von Sinn und Ausdruck entspricht. In diesem Zusammenhang zeigt sich die eigentliche Bedeutung der viel kritisierten Schiitz'schen These, nach der der gemeinte Sinn einer Handlung erst von dem jeweiligen aktuellen Jetzt und So aus nach ihrem Abgelaufensein bestimmbar sei (vgl. etwa Cox 1978; Eickelpasch/Lehmann 1983; Gorman 1972). Fiir die Schiitz'sche Interaktionsanalyse heifit das, dass der wirkliche Sinn der kommunikativen Handlung erst aus der Situation nach
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ihrer Setzung deutlich wird, d. h. dass erst an der Reaktion des Partners geklart werden kann, ob die Handlung ihrem subjektiven Gehalt und der intersubjektiven, auf Selbsttypislerung aufbauenden Erwartungen adaquat war. Die Sozialitat des Handelns ist also fiir Schiitz in mehrfachem Sinn gegeben. Erstens: Das Handeln in seinem Entwurf orientiert sich am sozial hervorgebrachten Relevanzsystem. Zweitens: Sein spezifischer Sinn wird fiir den Handelnden erst im Zusammenhang mit der Reaktion des Anderen fassbar. Drittens: Die Genese der Relevanzsysteme selbst ist in Prozessen der interaktiven Fixierung und Habituaiisierung von Handlungsmustern und Deutungsschemata angelegt, d.h. in dem gleichen Prozess, in dem auch die Wirkweit als materiale soziaie Wirklichkeit entsteht. In diesem Sinne ist fiir Schiitz die Wirkweit als Einheit der unter »drittens« genannten Momente der Kern jeder Lebenswelt. Sie ist »jene einzigartige Realitat«, in der Sozialitat moglich ist und die so Kommunikation moglich macht (Schiitz/Luckman 1984: S. 382). Die phanomenologische Analyse des Handelns und seiner sinnhaften Orientierung deckt also seine Sozialitat als seine wesentliche Bestimmung auf. Der Blick des Phanomenologen wurde hier jedoch auch durch andere Optik gelenkt, namlich durch die des James'schen und vor alien Dingen des Bergson'schen Pragmatismus. Es war zweifelsohne die Bergson'sche Konzeption des Handelns als der pragmatischen selektierenden Verbindung zwischen der aufieren raumzeitlichen Welt und der inneren Welt des Erlebens, die Schiitz' Konzeption des Wirkens gepragt hatte (vgl. Bergson 1919; Schiitz 1981: S. 164 sowie Srubar 1981: S. 32) In Bergsons Perspektive bedeutet Sozialitat die verraumlichte, im regelhaft wiederholbaren Handeln geronnene aufiere Form des inneren Erlebens, die jedoch auch aus diesem lebt. Auch fiir Schiitz entspringt das Vermogen der Sozialitat dem menschlichen Vermogen (oder der Notwendigkeit), zwei Zustande voneinander zu trennen und zugleich miteinander verbinden und aufeinander beziehen zu miissen. Um iiberhaupt handeln zu konnen, muss es moglich sein, aus dem Erlebnisstrom herauszutreten und seine Inhalte - Erlebnisse - in einer reflexiven Zuwendung zu einem Sinnzusammenhang - einem Handlungsentwurf etwa - zu formen (Schiitz 2004: S. 172 f.). Erst hier, bei dieser Zuwendung als einem erfahrenden
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Akt, setzt die Moglichkeit ein, dass sozial gehandelt wird: Die in der Wirkensbeziehung interaktiv generierten Relevanzsysteme machen die Struktur der Erfahrungsschemata aus und legen so die Basis fest fiir eine sinnvolle Orientierung des Handelns an gemeinsam geteilten Handlungsund Deutungsmustern. Darin besteht die lebenswekliche Moglichkeit der Betrachtung meines Handelns in der Perspektive des Anderen, die in der Typisierung und Selbsttypisierung sowie im Handlungsentwurf in Bezug auf die Reaktion des Anderen vollzogen wird. Durch das Vermogen der menschlichen Reflexivitat ist also die Moglichkeit der gemeinsamen Lebenswelt gegeben. Daher kann Schiitz feststellen, dass fiir das Handeln in der relativ natiirlichen Einstellung Intersubjektivitat schon immer gegeben ist (Schiitz 2004: S. 220 f.), um sich weiter lediglich mit der Erfahrungsweise dieser Intersubjektivitat in der dyadischen Wir-Beziehung zu beschaftigen. Wir sehen, dass die Reflexivitat der Sinnkonstitution, also die Behauptung, Erlebnisse erhielten ihren Sinn erst durch eine spezifische Zuwendung, die einzelne Erlebnisse aus dem Erlebnisstrom heraushebt und in einen bestimmten Zusammenhang bringt, bei Schiitz eine tiefer liegende, anthropologische Bedeutung hat. Die phanomenologische Kritik, die sich gegen diesen Punkt richtet, und die unter Gesichtspunkten einer phanomenologischen Konstitutionsanalyse Recht haben mag (etwa Cox 1978: S. 126), iibersieht diese Dimension und somit auch die Tatsache, dass es Schiitz um die Analyse der Sinnorientierung sozialen Handelns geht. Daher untersucht er die Bedingungen, die hierfiir einschlagig sind und findet sie in dem anthropologischen Zusammenhang von Reflexivitat und Sozialitat. Die vom Subjekt ausgehende Untersuchung der Sinnorientierung sozialen Handelns fiihrt also iiber den Bereich hinaus, der mit den von der Transzendentalphanomenologie Husserls zur Verfiigung gestellten Mitteln durchleuchtet werden konnte. Der interaktive Konstitutionszusammenhang des Handlungssinnes verweist auf Konstitutionsprozesse, die sich nicht in den Akten des leistenden Bewusstseins des Ego vollziehen, sondern in den pragmatischen Akten des praktischen Wirkens und der sozialen Wirkensbeziehung. Darin liegt auch der Grund beschlossen, dass Schiitz immer mehr die Notwendigkeit einer Ontologie der
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Lebenswelt betont, unter der er die Klarung der mundanen Prozesse und Bedingungen versteht, in denen die Lebenswelt sozial konstituiert wird. Das, was er als Struktur der Lebenswelt beschreibt, muss in diesem Sinne verstanden werden. In einem Brief an seinen Freund Aron Gurwitsch schreibt er: »Ich finde und habe immer gefunden, dafi Phanomenologie der natiirlichen Einstellung viel dringender ist und auch viel fruchtbarer. Wenn alle transzendentale Phanomenologie auf der Lebenswelt fundiert ist, obwohl - oh Wunder iiber Wunder - die letztere durch die erstere konstituiert wird, dann ziehe ich es vor, mich vor allem der Erforschung der Lebenswelt hinzugeben.« Und in einem anderen Brief: »Und wenn auch die Lebenswelt zweifellos ihre wesensgesetzliche Typik hat, sehe ich doch nicht ein, wieso Husserl hoffen kann, ohne Aufklarung der Intersubjektivitat zur Idee einer Ontologie der Lebenswelt zu kommen. Wie mir aber die phanomenologische Reduktion dazu verhelfen soil, sehe ich schon gar nicht ein.« (Schiitz/Gurwitsch 1985: S. 379 f. u. 391 f.) Wie ersichtlich, ist mit diesem Schiitz'schen Perspektivenwechsel auch eine zunehmende Distanz zu der transzendentalen Vorgehensweise der Husserl'schen Phanomenologie verbunden. Schiitz versucht daher, seiner Konzeption eine andere Fundierung zu geben, die mit seinen Vorstellungen eines von der Sozialitat des Handelns ausgehendem sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt kompatibler ware, als die an dem Problem der Intersubjektivitat chronisch krankende Phanomenologie Husserls. Es ist eine philosophisch-anthropologische Konstruktion, der er sich dabei bedient. Sie geht von einer Erfahrung aus, der jeder Mensch durch sein Wirken in der Welt ausgesetzt ist. Es handelt sich um das Erlebnis der Transzendenz (vgl. Schiitz/Luckmann 1984: S. 139 f. u. Natanson 1986). Dieses Erlebnis und seine Evidenz begegnen dem Subjekt schon auf der Ebene des alltaglichen Handelns. Es geht schon auf die Erfahrung des Anderen zuriick, dessen Handlungsreichweite und Handlungsweise sich nicht mit der meinen deckt und so ein Moment der Ungewissheit in den Interaktionszusammenhang bringt. Es ist weiter in dem Bewusstsein angelegt, auf welches der unbefragt geltende Wissensvorrat trotz seiner selbstverstandlichen Vertrautheit immer schon verweist, in dem Bewusstsein namlich, dass diese Selbstverstandlichkeit eben nur auf typischen.
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also idealisierten, Erfahrungsschemata beruht, deren Vertrautheit die Existenz des Unvertrauten, also des prinzipiellen Anders-Sein-Konnens der Welt, lediglich marginalisleren, aber nicht eliminieren kann. In diesen Bereich gehort nicht nur die Transzendenz der Naturwelt, sondern die der Sozialwelt, die in ihrer Komplexitat den Horizont meiner vertrauten Wirkzone iibersteigt. In diesen - wie Luckmann sagen wiirde - kleinen und mittleren Transzendenzen (Schiitz/Luckmann 1984: S. 137 f., 157 f.) meldet sich schon das fiir Schiitz fundamentale Transzendenzerlebnis an das Erlebnis, in dem mir die Transzendenz der Totalitat der Welt begegnet. Es ist das Erlebnis meiner Sterblichkeit und die daraus resultierende Fundamentalangst vor dem Tode, in der mir meine Endlichkeit gegeniiber dem Fortbestehen der Welt bewusst wird. Dieses unverkennbar Heideggerianische, seit 1936 im Schiitzschen Denken fest verankerte Motiv (Schiitz 2003: S. 126 f.) hat jedoch keine fundamental-ontologische Konnotation, aus welcher sich die Fragen nach dem »eigentlichen Sein des Daseins« ergeben wiirden. Fiir Schiitz kennzeichnet die Fundamentalangst und die Tatsache des Geworfenseins in eine im Prinzip unbekannte Welt die mundane Situation aller handelnden Subjekte; er betrachtet sie als eine anthropologische Grundtatsache (Schiitz 2003: S. 204 f.). In dem Erlebnis der eigenen Endlichkeit und des Anders-Sein-Konnens der Welt ist die Transzendenz der Welt als die Moglichkeit der Diskontinuitat und der Kontingenz von Wirklichkeit gegeben. Die so erlebte Welt ist jedoch zugleich die meines Wirkens mit Anderen, in dessen interaktivem Zusammenhang einerseits gemeinsame Relevanzsysteme entstehen, die ich mir - andererseits -- biographisch aneigne und so zu einer spezifischen und doch sozialen Person werde. Das Wirken in der Welt, dessen erstes Motiv die Fundamentalangst vor dem Tode ist, ist zugleich die Bedingung dafiir, dass die Transzendenz der Welt, auf die die Angst verweist, in einem intersubjektiv geltenden Bezugs- und Deutungsschema aufgefangen wird (Schiitz 2003a: S. 127 f.) das den Umgang mit ihr moglich macht. Die den einzelnen Menschen transzendierende Welt wird also durch die Sozialitat des Handelns zu gemeinsamer Wirkwelt. Dies bedeutet nicht, dass das Transzendenzerleben aus dem Horizont der Individuen eliminiert wird. Es kann aber von dem Boden der intersubjektiven sozialen Wirklichkeit
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der Wirkwelt aus mit Hilfe soziokultureller Deutungsschemata bewaltigt werden, obwohl es als letzte (oft verborgene und nur in Krisen wieder auftauchende) Motivation wirksam bleibt. Diese Deutungsschemata woUen wir nunmehr etwas naher betrachten. Es war schon die Rede von den erfahrenden Akten des Subjekts, die durch intersubjektiv geltende Relevanzsysteme gegliedert sind, welche im Interaktionszusammenhang des Wirkens entstehen. Diese Akte enthalten Schemata, die in einer typischen, relevanten und sozial akzeptierten und approbierten Weise den grofiten Teil meiner Weherfahrung bestimmen. In seinen Notizbiichern unterscheidet Schiitz hier drei Typen solcher Schemata: die apperzeptuellen, die interpretativen und die apprasentativen (Schiitz/Luckmann 1984: S. 332). Apperzeptuelle Schemata sind solche, die die Ereignisse, Objekte und Gegebenheiten der aufieren Welt als fur mich relevant oder irrelevant klassifizieren. Interpretationsschemata enthalten typische Sinnzusammenhange, die ich Handlungen Anderer in typischen Situationen unterlege. Diese beiden sind nun durch den dritten Typus der apprasentativen Schemata miteinander verbunden, die die Voraussetzung jeglicher Interpretation von Ereignissen in soziokulturellen Welten sind. Sie geben an, in welcher typischen Art und Weise in unserer soziokulturellen Umgebung Objekte, Tatbestande und Ereignisse der AujRenwelt nicht als »diese selbst« verstanden werden, sondern als Verweise auf etwas Anderes (Schiitz/Luckmann 1984: S. 344 f.). Sie sind also soziokulturelle Leistungen, die Naturdinge in Kulturobjekte, Leiber in Mitmenschen, Leibbewegungen in Handlungen oder sinnvolle Gesten, Schallwellen in Sprache etc. umwandeln (Schiitz/Luckmann 1984: S. 333). Als solche iiberziehen sie gleichsam die transzendente Aufienwelt mit einem Sinnkleid und machen es moglich, die Erfahrung ihrer Transzendenz zu bewaltigen. Die Wirkwelt, als die Welt des taglichen Lebens, ist so »durch apprasentative Beziehungen durchwaltet, die als schlicht gegeben hingenommen werden und inmitten derer ich [...] mein Wirken [...] in der Weise des alltaglichen common-sense-Denkens schlicht ausfiihre« (Schiitz/Luckmann 1984: S. 333). Fiir Schiitz generiert also das Handeln als Wirken durch seine Sozialitat seine sinnhaften Regulative selbst und hebt so die Kontingenz der transzendenten Welt auf. Dies ist
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die Stelle, an der sich Schiitz' Theorien des Handelns und der Lebenswelt mitelnander verbinden. Apprasentative Schemata sind hier nicht lediglich Bewusstseinsleistungen in phanomenologischem Sinne, sondern sie sind auch objektivierte, institutionalisierbare Resultate sozialer Interaktion, die unsere Welt als Kuiturwelt gestalten. Die Sprache stellt eines der wichtigsten solcher Apprasentationssysteme dar, in welchen die interaktiv festgelegten Relevanz- und Deutungsschemata objektiviert und institutionalisiert werden (Schiitz 2003a: S. 148 ft; Luckmann 1980). Der institutionalisierte Charakter der Apprasentationssysteme verdeckt notwendigerweise ihre interaktionsbezogene Genese, so dass sie von den Handelnden als auferlegte Relevanzen erfahren werden, d.h. als Bedingungen, die gleichermafien mir und anderen Mitwirkenden auferlegt sind, sich aber der Manipulation durch unser Wirken entziehen. Insofern, als sie auch eine Art Transzendenz darstellt, kann die Auferlegtheit der gesellschaftlichen Mitwelt wiederum durch apprasentative Schemata bewaltigt werden und findet in die Typisierungen, an welchen sich das Handeln orientiert, Eingang. Zugleich werden jedoch mit der Kategorie der Auferlegtheit Faktoren angesprochen, die das theoretische Anbinden des sozialen Handelns an die Bedingungen der Sozialstruktur anvisieren. Die Zeit-, Raum- und Sozialstruktur der Lebenswelt in ihrer objektivierten Form der Weltzeit, der Modi der Handlungsreichweite, der Umwelt und der Mitwelt mit der Definitionsmacht ihrer Ablaufe^^ stellen hier eine Ebene dar, auf der die Sozialitat des Handelns seine Einbettung in den Kontext seiner gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet. Angesichts dieser Dimension seines Relevanzsystems ist das Wirken im Schiitz'schen Sinne ohne den Horizont der Gesellschaft nicht denkbar (vgl. Srubar 1979) Wenn Schiitz die institutionalisierten Apprasentationssysteme als Trager auferlegter Relevanzen betrachtet, bedeutet dies nicht, dass er sie von der Ebene der Interaktion derjenigen, denen sie auferlegt sind, trennt. Er zeigt vielmehr die Interaktion als jenen Prozess auf, in dessen Vollzug sie sich reproduzieren: Die Wir-Beziehung ist der primare Ort, an ^^Zum Problem der »Definitionsmacht« siehe A. Schiitz: »Die Gleichheit und die Struktur der Sozialen Welt« (in: Schiitz 1971a: S. 232 f.).
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dem die Geltung der Deutungs- und Handlungsschemata erfahren werden kann und wo diese als intersubjektiv geltende fixiert und tradiert werden konnen. Die Wir-Beziehung ist also eine Wirkensbeziehung, in der ich mir meine Orientierungsschemata handelnd aneigne und gleichzeitig auch die unmittelbare Erfahrung ihrer intersubjektiven Geltung machen kann, indem ich sie anwende. Die notwendige Parallelitat und zeitliche Verwobenheit dieser zwei Momente beschreibt Schiitz als die im gleichzeitigen Miteinander-Alter werden gegebene Parallelitat subjektiver Bewusstseinsstrome, in der die Interaktionspartner gegenseitig auf ihre Erlebnisablaufe hinzublicken vermogen. Dadurch wird eine intersubjektive Spiegelung moglich, die Schiitz als die Keimzelle von intersubjektiver Bedeutungsfixierung betrachtet: Sinnzusammenhange, deren Adaquanz fiir die Interaktionsorientierung in der Wir-Beziehung erprobt wurde, werden als typische Orientierungsmuster akzeptiert. Es kann sich dabei um Sinnzusammenhange handeln, die einzig dem Wirken der Wir-Beziehung entspringen. Im gleichen interaktiven »Verifizierungsprozess« erfolgt aber auch die Aneignung schon vorhandener, sozial akkumulierter, also auferlegter Deutungs- und Handlungsschemata mit ihrem Relevanzsystem sowie ihrer apprasentativen und interpretativen Funktion. Damit rasten Schiitz' Auffassung der Genese der Relevanzsysteme aus dem Zusammenhang des Wirkens und seine Auffassung der intersubjektiven Beziehung ineinander ein, wobei sich die Schiit'zsche anthropologisch fundierte Konzeption der Sozialitat des Handelns als ihr notwendiger gemeinsamer Bezugsrahmen erweist. In der Sozialitat des Handelns finden also die von Schiitz beschriebenen einzelnen Aspekte der Lebenswelt ihren Ausgangspunkt und ihre Synthese. Das Handeln in der Wirkwelt bedeutet nicht nur den sozialen Erwerb von Wissensvorrat, sondern auch - als Erwerb der relativ natiirlichen Einstellung - die Aneignung sozialer Identitat. Dieses Handeln stellt sich nicht nur als der Prozess der materialen Strukturierung der Wirkwelt dar, sondern zugleich auch als der Ausgangspunkt der Genese der intersubjektiven Geltung ihrer Sinnstruktur. Die Sozialitat des Handelns ist damit die anthropologische und zugleich lebensweltliche Grundlage, auf der der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt stattfindet.
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Literatur: Bergson, Henri (1919): Materie und Gedachtnis. Jena: Diederichs. Cox, Ronald R. (1978): The Phenomenology of Relevante. Critical Grounding of Schiitz' Theory of the Life World. Den Haag: Nijhoff. Eickelpasch, Rolf /Burkhardt Lehmann(1983): Soziologie ohne Gesellschaft. Probleme einer phanomenologischen Grundlegung der Soziologie. Miinchen: Fink. Gorman, Robert A. (1972): The Dual Vision. Alfred Schiitz and the Myth of Phenomenological Social Science. London: Routledge and Kegan Paul. Habermas, Jiirgen (1970): 2 u r Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luckmann, Thomas (1980): Aspekte einer Theorie der Sozialkommunikation. In: Ders.: Lebenswelt und Gesellschaft. Paderborn: Schoningh, S. 93-121. Natanson, Maurice (1986) : Anonymity. A Study in the Philosophy of Alfred Schutz. Bloomington: Indiana Univ. Press. Scheler, Max (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern: Francke. Schutz, Alfred (1971/1972/1971b): Gesammelte Aufsatze: Bd. I - III. Den Haag: Nijhoff. - (1981): Theorie der Lebensformen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. - (2003): Theorie der Lebenswelt 1. Alfred Schutz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK. - (2003a): Theorie der Lebenswelt 2. Alfred Schutz Werkausgabe: Bd. V.2. Konstanz: UVK. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Alfred Schutz Werkausgabe: Bd. II. Konstanz: UVK. - (2004a): Das Problem der Relevanz. In: Alfred Schutz Werkausgabe. Bd.
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VI.l. Konstanz: UVK, S. 65-222. - /Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939 - 1959. Miinchen: Fink. - /Luckmann, Thomas (1975, 1984): Strukturen der Lebenswelt: Bd I. Neuwied: Luchterhand/Bd 11. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Srubar, lija (1979): Die Theorie der Typenbildung bei Alfred Schiitz. In: Grathoff, Richard/Sprondel, Walter M.: Alfred Schiitz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart: Enke, S.43-64 (jetzt in diesem Band S. 115 ff.). - (1981): Einleitung. In: Schiitz, Alfred: Theorie der Lebensformen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 13-75.
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II. Phanomenologie im Kontext der Entwicklung soziologischer Theorien
1. »Phanomenologische Soziologie« als Theorie und Forschung I. Im August 1971 fand zum ersten Mai im Rahmen eines Kongresses der American Sociological Association in Denver, Colorado, eine Sitzung mit dem Thema »Phenomenological Sociology« statt. Spatestens seit jenem August, als sich eine betrachtliche Interessengemeinschaft amerikanischer Soziologen unter dem Stichwort »Phanomenologische Soziologie« im Rahmen eines der angesehensten Fachverb'ande etablierte, wurde klar, dass damit auch ein neues theoretisches Paradigma institutionelle Weihen erhielt - die »phanomenologische Soziol6gie« betrat nun die offizielle Szene des Faches^^. Selbstverstandlich wirkte das phanomenologische Denken in den Sozialwissenschaften bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert vor diesem denkwiirdigen Datum; auch stellten jene, die den Anspruch erhoben hatten, »phanomenologische Soziologen« zu sein, keine einheitliche Schule oder Forschungsrichtung dar; noch weniger liefi es sich behaupten, dass unter diesem Ansatz eine bestimmte Methode oder Forschungstechnik verstanden werden konne^^, von den Problemen, die die Verbindung transzendentaler Philosopheme mit dem Verfahren einer Erfahrungswissenschaft mit sich bringt, gar zu schweigen (vgl. Heap/Roth 1973). Nichtsdestoweniger wurde hier dokumentiert, dass eine breite Stromung innerhalb der amerikanischen Soziologie wirksam wurde, die vom phanomenologischen Denken ausgehend und dieses mit den pragmatistischen sowie symbolisch-interaktionistischen Ansatzen verbindend, um eine neue Auffassung des soziologischen Gegenstandes und um einen ^^Als programmatische Publikationen konnen hier Douglas 1971 und Psathas 1973 geken. ^"^Zu der friihen Vielfalt von Ansatzen in diesem Bereich siehe etwa Wolff 1979 und Wagner 1973.
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neuen Zugang zu diesem bemiiht war^'^. In diesem Aufsatz wird es nun weniger um die Darstellung der Vielfalt der einzelnen in dieser Stromung zusammenfliefienden Ansatze gehen. In dieser Hinsicht sei der Leser auf die bereits existierenden Ubersichten verwiesen (vgl. etwa Grathoff 1978, Eberle 1984, Wagner 1983, Thomason 1983, Srubar 1988, Srubar/Endrefi 1997, Lehmann 1988, Psathas 1997, Nasu 1997). Hier soil vielmehr gezeigt werden, welche innovativen Momente das phanomenologische Denken in die soziologische Theoriebildung einbrachte und welchen Gebrauch die soziologische Theorie davon macht. Die ideengeschichtlichen, aber auch die im Gesellschaftswandel selbst angelegten Hintergriinde des folgenreichen Zusammentreffens von Phanomenologie und Sozialwissenschaft sind bereits haufig und ausfiihrlich dargestellt worden. Daher seien sie hier nur insofern skizziert, als dies fiir das Verstandnis der veranderten Sichtweise notig ist, in der der Gegenstand und die Methode der Sozialwissenschaften in der Folge dieses Zusammentreffens erschienen. Die erste Innovation, die Husserls phanomenologischen Ansatz fiir die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Diskussion der ersten Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende relevant werden liefi, war seine Fassung des Sinnproblems. Nachdem die soziale Realitat durch Simmel und Weber^^ als eine schon imrrier sinnhaft geordnete Kulturwirklichkeit begriffen und das sinngeleitete Handeln zum eigentlichen Gegenstand der Sozialwissenschaften wurde, stellte sich die Frage nach dem moglichen Zugang zu dem Phanomen »Sinn« in seiner sozial emergenten bzw. fiir das soziale Handeln relevanten Form. Von der jeweiligen Auffassung dieses Zugangs war ja die Argumentierbarkeit und die Reichweite des als notwendig erachteten sinnverstehenden Verfahrens der Sozialwissenschaft abhangig. Das Weber'sche - und letztendlich auch das Simmersche - Konzept, das die Orientierung des Handelns an objektivierten kulturellen Werten festgemacht hatte^^, stand auf der ^"^Eine gute allgemeine Ubersicht bietet Wolff 1979, zur Ethnomethodologie vgl. Attewell 1974, zu Ethnomethodologie und Konversationsanalyse siehe Heritage 1984 und 1984a, gute Zusammenfassung auch in Bergmann 1988. ^^Dazu insb. Lehmann 1988 sowie Srubar 1988. ^^Zu Webers Konzept der Wertbeziehung siehe Weber (1973: S. 175, 182 ff.) sowie »Wertbeziehung und Relevanz«, in diesem Band S. 151 ff., zu Simmel vgl. Simmel
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einen Seite - in materialer Hinsicht - in einer zunehmend sich entzaubernden Welt auf wankendem Boden, auf der anderen Seite liefi es - in theoretisch-systematischer Hinsicht - die Frage nach der Genese der sinnorientierenden Werte und der Sinnkonstitution im allgemeinen offen.^'^ Angesichts dieser Problemlage hot es sich an, auf Husserls Vorschlag zuriickzugreifen, die Sinnkonstitution als die Konstitution der Weltgekung in ihrer Selbstgegebenheit zu begreifen, als einen Prozess, der sich in den intentionalen Bewusstseinsakten des Subjekts in der natiirlichen Einstellung vollzieht und von dem die Phanomenologie die philosophische Wissenschaft sein will^^. Fiir die Sozialwissenschaften wurde damit eine neue Moglichkeit der Sinnauffassung eroffnet: Konnte man mit Husserl davon ausgehen, dass sich der Weltsinn als die geltende Gegebenheitsweise der Welt in den intentionalen Akten des Bewusstseins konstituiert, dann konnte man auch daran gehen, die Konstitution der sozialen Wirklichkeit als eines sinnhaften Handlungszusammenhanges in den diese Wirklichkeit hervorbringenden Akten - also im sozialen Handeln selbst - zu verorten, das heifit - mit Schiitz zu sprechen ~ die Sinnkonstitution im Rahmen mundaner Sozialitat zu untersuchen (Schiitz 2004: S. 129). Die erste theoretische Umorientierung der Sozialwissenschaften unter dem phanomenologischen Einfluss fiihrt also zu der Suche nach Prozessen, in welchen das soziale Handeln seine sinnorientierten Regulative selbst hervorbringt. Als Konsequenz dieses Ansatzes erscheinen handlungsorientierende Deutungsschemata nicht mehr als vom Handeln selbst losgetrennte Wertsysteme bzw. - in marxistischer Manier - als Reflexe gesellschaftsstruktureller Determinanten, sondern als in Interaktionsprozessen entstehende, intersubjektive Orientierungsmuster. Die Entdeckung (1908: S. 21 ff.). ^'^Im Rahmen seines neokantianischen Ansatzes sieht Weber keine Moglichkeit, einen Zugang zur Geltung von Werten durch die Analyse empirischen Materials zu gewinnen. Vgl. Weber 1973: S. 213. ^^Zur Analyse intentionalen Erlebens siehe insb. in: Bd. 11 der Logischen Untersuchungen (Husserl 1984), das Problem des phanomenologischen Zugangs zu diesem in der natiirlichen Einstellung wird thematisiert in: Husserl (1950, 1974), zur Phanomenologie als strenger Wissenschaft siehe Husserl (1987: S. 3-62).
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des Alltags als soziologisch relevante Emergenzebene dieser Prozesse kiindigt sich hier an. Damit wird auch das zweite innovative Moment, das mit dem phanomenologischen Einjfluss einhergeht, angesprochen: Es wird ein neuer Theorietypus erforderlich. Zu entwickeln ist eine Konstitutionstheorie sozialer Realitat, die die grundlegenden Mechanismen der Autogenese dieser Realitat thematisiert. Der dritte wesentliche Punkt, der die Phanomenologie schnell zu einem philosophischen Ansatz machte, mit dessen Hilfe iiber die Sozialwissenschaften hinaus auch weitere Humanwissenschaften ihre Fragestellungen reformulierten, war das Selbstverstandnis der Phanomenologie als eines Forschens, das zwar auf eine systematische Fundierung nicht verzichtete, aber auch in Anspruch nahm, Phanomene in der Eigenart ihrer spezifischen Selbstgegebenheit befragen zu konnen und so neue Auswege aus verfahrenen Problemstellungen zu eroffnen. 11. Die Wirkung dieses phanomenologischen »Angebots« entfaltete sich in der sozialwissenschaftlichen Landschaft unterschiedlich, je nachdem, welches der genannten Momente als vordergriindig wahrgenommen wurde. Einige, die die voile Reichweite einer bis auf die elementaren Mechanismen der Autogenese sozialer Realitat zurtickgreifenden Konstitutionsanalyse nicht erkannten, betrachteten die Phanomenologie als eine Art Abkiirzung, die mittels Wesensschau unter Umgehung der Konzeptualisierung der mundanen Sinngebung zu der Erkenntnis des Sozialen und seiner Gestalten fiihren wiirde (so Stein 1922 und Walther 1923). Andere, darunter auch gestandene Soziologen wie Vierkandt, sahen in der Phanomenologie die Moglichkeit, sich gegen den Positivismus in den Sozialwissenschaften zu wehren, wobei sie allerdings unter Positivismus einen geistlosen Szientismus verstanden und in der Phanomenologie eine idealistische Konzeption im klassischen Wortverstande erblickten, die einer ideengeleiteten Wirklichkeit das Wort redet (Vierkandt 1926, Litt 1919). Sie sahen nicht, dass die Phanomenologie, die die Sinnkonstitution
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in der Weltimmanenz der mundanen Einstellung verankert, jeglichem Idealismus ein Ende zu bereiten vermag. Auch sie liefien sich von der Moglichkeit blenden, durch eidetische Varlationen zu Wesensstrukturen von Phanomenen vorzustofien, und verwechselten dieses Instrument der Untersuchung mit der sich darin mitteilenden Wirklichkeit.^^ Das autogenetische, das konstitutionsanalytische und das explorative Moment vereinigend, entwickelte Max Scheler eine philosophischanthropologische Alternative zu Husserls transzendental-phanomenologischem Ansatz, und leistete so einen wesentlichen Beitrag zu einer produktiven Verkniipfung phanomenologischen Denkens mit einer auf Ergebnissen der Einzelwissenschaften aufbauenden Wissenschaft vom Menschen und seiner Sozialitat. Trotz der letztendlich metaphysischen Intention sind Schelers Untersuchungen zur Entwicklung der sozialen Identitat und zur Konstitution sozialer Milieus^° als Beitrage zur Beleuchtung der Autogenese sozialer Realitat bahnbrechend (Scheler 1980: S. 127 ff., 370 ff.). Er zeigte, dass die Sozialitat des Menschen die grundlegende Bedingung fiir die Konstitution sinnstrukturierter menschlicher Wirklichkeit ist, dass sie einen Rahmen darstellt, in dem das pragmatische und das kognitive Moment des menschlichen Weltzugangs, auf welchem diese Konstitution beruht, miteinander verbunden sind.^^ Die Plastizitat beider - des Menschen und seiner Welt - ist so auf seine Sozialitat zuriickzufiihren. Eine sowohl die Husserl'sche als auch die Scheler'sche Spielart der Phanomenologie reflektierenden^^ Konstitutionstheorie, die die Selbstkonstitution sozialer Wirklichkeit explizit zu ihrem Gegenstand macht, entsteht in direktem Anschluss an den verstehenden Ansatz Webers. Ihr soUte es auch beschieden sein, als das »phanomenologische Paradigma« ^^Zu den Konsequenzen dieser Verwechslung siehe Schiitz 1971. ^°Vgl. auch »Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative« in diesem Band S. 355 ff. ^^Zum pragmatischen Weltzugang siehe Schelers Milieutheorie (Scheler 1980: S. 127 ff. und Scheler 1980a: S. 359 ff.), vgl. dazu auch Srubar 1980. ^^Die Fortfiihrung der Schelerschen Konzeption durch Plessner 1975 miindet spater in die Theorie der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit von Berger und Luckmann (1970) ein.
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die Landschaft der sozialwissenschaftlichen Theorie am nachhaltigsten zu verandern, und ihr Autor - Alfred Schiitz - gilt daher mit Recht als der Begriinder der »phanomenologischen Sozioiogie«.^-^ Auch hier verweise ich zuerst den Leser auf die inzwischen sehr umfangreich gewordene Sekundarliteratur zum Schiitzschen Ansatz^"^ und beschranke mich auf die wesentlichsten und konsequenzreichsten seiner Theoreme. Das phanomenologische, den Prozess der Sinnkonstitution im Erlebnisstrom des handelnden Subjekts zum Ausgangspunkt nehmende Verfahren flihrt Schiitz schnell vor Augen, dass die sinngebenden Akte nicht ausschlie£lich in der Bewusstseinssphare des Subjekts zu suchen sind, sondern dass sie eine wesentliche Pragung in den Interaktionen der Wirkungsbeziehung erfahren. In Wirkungsbeziehungen entstehen immer Verkettungen von Typisierungen und Selbsttypisierungen, die als intersubjektive Sinnschemata fungieren, in welchen sich das gegenseitige Verstehen und das Verstehen der Situation bzw. der Umwelt voUzieht. Es sind diese Schemata, die die Handlungsorientierung moglich machen. In der in unmittelbarer dyadischer Wir-Beziehung entstehenden Wir-Welt verankert, richten sich typische Erwartungen auf die diese Wir-Welt transzendierenden weiteren Spharen des alltaglichen Wirkens - das Typisieren und die Typik als strukturelle Merkmale der Handlungsorientierung in der alltaglichen Welt werden so sichtbar. Im Wirken miteinander und in der Welt wird also die Realitat quasi mit einem Sinnkleid liberzogen - sie wird zur sinnhaften Welt. Die vielfaltigen Moglichkeiten des sozialen und des individuellen Umgangs mit der in der Wirkwelt erfahrenen Deutungsstruktur und ihrem jeweiligen kulturellen Gehalt machen das sich zwischen dem subjektiven und dem sozialen Pol entfaltende Spektrum mannigfaltiger Wirklichkeiten aus, die durch Systeme apprasentativer ^^Den bedeutenden, aber im publizierten Werk nicht manifesten Einfluss Heideggers lasse ich hier unbehandelt. Wesentlich fiir Schiitz' Auffassung der ZeitUchkeit und der Transzendenz der Weh war Heideggers Betonung der EndHchkeit des Daseins und des Todes. Die neben dem phanomenologischen Denken fiir das Schiitz'sche Werk ausschlaggebenden Einfliisse von Bergson und etwa Leibniz setze ich hier als bekannt voraus. Vgl. dazu Srubar (1988 und 1989 in diesem Band). ^'^Dazu etwa Wagner 1983, Eberle 1984, Thomason 1983, Natanson 1986, Srubar 1988 sowie eine BibHographie der Sekundarhteratur in Grathoff 1989.
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Sinnbeziehungen - darunter die Sprache - miteinander zu einer kulturellen Lebenswelt - zu einem Kosmion - verbunden sind.^^ Schiitz' Theorie der sinnhaften Konstitutlon der sozialen Welt stellt uns also diese Konstitution als einen Prozess der Autogenese dieser Welt vor, in welchem das soziale Handeln seine orientierenden Regulative selbst hervorbringt und somit eine sinngeordnete Lebenswelt qua Kulturwelt schafft. Damit beleuchtet er die elementare Mechanik der Entstehung menschlicher Realitat schlechthin und stellt so ein wichtiges anthropologisch-ontologisches Theorem auf. Zugleich wird hier gezeigt, dass eine Theorie des sozialen Handelns immer mit einer Theorie der Lebenswelt einhergehen muss, deren handlungsregulierende Sinnstrukturen in diesem Handeln produziert und reproduziert werden. In diesen zwei Theoremen werden also die systematischen Moglichkeiten eingelost, die in dem oben skizzierten »Angebot« angelegt wurden, das die Phanomenologie fiir die Umorientierung der Theoriebildung in der Sozialwissenschaft bereithielt. Diese beiden im Schiitz'schen Ansatz zum Ausdruck kommenden Ergebnisse zogen eine Reihe von Folgen nach sich, die nicht nur fiir die Weiterentwicklung des Schiitz'schen Denkens von Bedeutung waren, sondern die auch - groCenteils durch Schiitz vermittelt - in der soziologischen Forschung und Theoriebildung nach und nach relevant wurden. Betrachten wir also zuerst die Konsequenzen, die diese zwei Theoreme in Schiitz' eigenem Werke zeitigten. Es sind dies zuerst Konsequenzen methodologischer Art. Soil das Verfahren der Sozialwissenschaft ein verstehendes, d. h. soil das angewandte explorative Intrumentarium dem Gegenstand sinnadaquat sein, muss es sich an der diesem Gegenstand immanenten Sinnstruktur orientieren. Das bedeutet zuerst, dass dieses Verfahren typenbildend sein muss, denn auch die Sinnstrukturen, die alltagliches Handeln leiten, folgen einer Typik (Schiitz 2004: S. 374 ff.). Die pragmatische Genese dieser Typik, ihre pragmatisch bedingte Gliederung in zeitliche, raumliche und soziale Dimensionen, die Entstehung und das Wirken von Relevanz- und Motivationsstrukturen, die dieser Typik zugrunde liegen - dies sind Probleme, die eine Theorie der Lebenswelt zu thematisieren hat. Die in ihrem Rahmen aufgedeckten Strukturen der ^Zum Schiitz'schen Kosmion-Gedanken vgl. Srubar 1988.
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Lebenswelt stellen dann den Bezugsrahmen der wissenschaftlichen Typenbildung dar und ermoglichen einen sinnadaquaten Gegenstandsbezug. III. Durch diese Konzeption werden der Forschung mehrere Wege eroffnet, die wiederum mehrere Optionen bieten: Man kann entweder die Theorie der Lebenswelt und ihrer Strukturen weiterverfolgen - sozusagen als Grundlagenforschung - oder man kann sich - durch diese geleitet - der Analyse konkreter Wirklichkeitsausschnitte von Kulturwelten zuwenden. Schiitz selbst verfolgt die erste Alternative, indem er eine pragmatische Lebenswelttheorie konzipiert, ihren autogenetischen Charakter im Auge behaltend. Sein Entwurf der Strukturen der Lebenswelt wird in der Folge in der Tat als eine auf ihre Voraussetzungen befragbare Matrix betrachtet (Luckmann 1979), die als ein gemeinsamer Bezugsrahmen fiir die Untersuchung diverser Segmente von Kulturwelten herangezogen werden kann und der Vergleichbarkeit von Phanomenen dient. Doch auch das die Konstitutionsdynamik der sozialen Realitat betonende autogenetische Moment im Schiitz'schen Ansatz zeitigt auf der Theorieebene Folgen^^: Schiitz selbst ist in der Lage, sich auf dieser Basis gegeniiber der Parsons'schen friihen Handlungstheorie einen Erkenntnisvorsprung zu schaffen, indem er die Genese von »Wertorientierungen« - d. h. in seinem Sinne von Relevanzstrukturen - als interaktionsimmanent begreifen kann und somit die Wertgeltung nicht schlicht voraussetzen muss.^'' Diese theoretische Differenz wird spater bedeutsam, wenn Garfinkel (1952) sie aufgreift und den darin liegenden Erkenntnisgewinn in seine als Alternative zu Parsons systemtheoretischem Ansatz gedachte Ethnomethodologie einfliefien lasst. ^^Die Betonung der Dynamik des lebensweklichen Konstitutionsprozesses und die Sorge, dieser konnte durch die Hypostasierung der Matrixfunktion der Lebenswekstrukturen verwischt werden, scheint z. B. Grathoffs Uberlegungen zu einer Lebenswektheorie von Luckmanns Ansatz zu unterscheiden. Vgl. Grathoff (1989: S. 116 ff., 364 ff.) ^''Zu der friihen Auseinandersetzung von Schiitz und Parsons siehe dieselben (1977), zu Schiitz' Erkenntnisgewinn vgl. Srubar 1988 und Bergmann 1988.
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Das von der Schiitz'schen Konzeption in Anspruch genommene Vermogen, das kognitive und das pragmatische (praktische) Moment der Produktion und Reproduktion sozialer Wirklichkeit in ihrem fiir diese Wirkiichkeit konstituierenden Zusammenhang aufzuzeigen, wirkte auch aujRerhalb der engeren phanomenologisch orientierten Theoriebildung. Vor allem nicht-orthodoxe marxistische Ansatze wurden von der hier sich bietenden Moglichkeit angezogen, das Problem der Vermittlung zwischen sozialstrukturellen Faktoren, den sozialen Bewusstseinslagen und den entsprechenden alltaglichen Praxisarten neu zu beleuchten.^^ Ein Reflex dieser Problemstellung scheint in der Habermas'schen Verwendung der Opposition von Lebenswelt und System durch (Habermas 1981, Bd. II: S. 171 ff. u. 230 f.).. Auch Habermas verwendet das Konzept der Lebenswelt, um die Autogenese sozialer Wirklichkeit zu erfassen. Auch hier bezeichnet die Lebenswelt den Ort, an dem die systemische, instrumentell verdinglichte Gestalt der sozialen Realitat produziert und reproduziert wird. Den generativen Mechanismus stellt in diesem Falle allerdings nicht generell das soziale, sondern lediglich das kommunikative Handeln dar. Damit schlieCt Habermas aus dem pragmatischen Konstitutionszusammenhang der Lebenswelt, der bei Schiitz noch unter dem Begriff des Wirkens sowohl kommunikatives als auch instrumentelles Handeln im Habermas'schen Sinne umfasst, etwa die Sphare des Arbeitens aus, in der wesentliche Relevanzstrukturen der lebensweltlichen Raum- und Zeitdimension mitfundiert sind. Die Unterschatzung der Bedeutung des instrumentellen Umgangs mit den Dingen der Welt fiir die Konstitution von lebensweltlichen Sinnstrukturen^^ schlagt sich auch in der Ausblendung der Leiblichkeit der handelnden Subjekte nieder, deren Beit rag zur Sinnkonstitution dementsprechend nicht thematisch wird.^°^ Nichtsdestoweniger zeigt Habermas' Ansatz klar, dass eine Handlungstheorie, die ^Zu Versuchen, Marxismus, Phanomenologie und »phanomenologische Soziologie« zu verbinden (vgl. z. B.: Leithauser (1976), Piccone (1971), Smart (1976), Dallmayer (1977)). ^^In der von Schiitz rezipierten pragmatischen Auffassung der Konstitution von Wirklichkeit kommt dem Wirken als der Uberwindung des materialen Widerstandes eine zentrale Stellung zu. Vgl. dazu Srubar (1988: S. 143 ff.). ^°°Zu diesem Defizit vgl. Matthiesen (1983).
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sich als Konstitutionstheorie begreift, zugleich auch eine Theorie der Lebenswelt sein muss. Die Innovativen Moglichkeiten, die das »Paradigma« des konstitutionstheoretischen Vorgehens im Sinne Husserls fiir die sozialwissenschaftliche Theoriekonstruktion mitbrachte, lassen sich - sozusagen am Werk - an Luhmanns neuer Fassung der Theorie sozialer Systeme betrachten. Entgegen dem Parsons'schen Systembegriff, der als ein kategoriales Schema zur Beschreibung sozialen Geschehens gedacht wird (Parsons 1951: S. 3), setzt Luhmanns Ansatz »existierende« Systeme voraus, die sinnproduzierend, selbstkonstituierend und daher auf sich selbst bezogen sind (Luhmann 1984: S. 93 u. Anm. 3). Der grundlegende Konstitutionsprozess in derart fungierenden - d. h. autopoietischen - Systemen ist das Sinngeschehen, durch welches die systemfundierenden Leistungen der Reduktion der Komplexitat, der Aufrechterhaltung der Systemgrenze und der Selbstreferenz hervorgebracht werden. U m diesen basalen Prozess der Systemkonstitution zu beschreiben und so die Autogenese der Systemwirklichkeit darzustellen, greift Luhmann auf die konstitutionstheoretischen Vorgaben des phanomenologischen Ansatzes zuriick. Das transzendentale Bewusstsein Husserls, das sich quasi unendlich in seinen eigenen Akten immer wieder aufbaut und seine intentionalen Korrelate im Prozess dieser Reproduktion zu einem Weltenganzen werden lasst, dient ihm hier als Modell eines autopoietischen Sinnordnungsprozesses, in dem soziale und psychische Systeme durch Koevolution miteinander eingebunden sind. Fiir sinnstrukturierte Systeme wird also alles, was ihnen begegnen kann, zum Element des Sinngeschehens, das zugleich selektiert und Zusammenhange herstellt, das zwar den aktuellen Zustand des Systems von dem Horizont seiner potentiellen Zustande scheidet, diese Grenze aber zugleich durchlassig halt. Sinnstrukturierte Systeme existieren also immer innerhalb eines sinngeordneten Horizonts, sie kennen - ihr »Kosmion« kreierend - Unsinniges nicht. Die hier enthaltene Idee des sich selbst hervorbringenden kognitiven Feldes macht die phanomenologische Denkfigur, die im Hintergrund des Luhmann'schen Systemkonzepts steht, mit Maturanas und Varelas biologischem Konzept der Autopoiesis - d. h. der Selbstorganisation von Organismen -
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kompatibel (Maturana/Varela 1980, Srubar 1989). Wenn auch Luhmann durch die Anwendung des autopoietischen Prinzips auf soziale Systeme eine Trennung dieser Systeme vom sozialen Handeln als einer Leistung von Subjekten verfolgt, lasst es sich nicht iibersehen, dass er durch die Einbindung des Systemrealitat konstituierenden Sinngeschehens in eine autopoietische Naturgeschichte (Co-Evolution!) eine Figur aufgreift, die bereits in der phanomenologisch orientierten philosophischen Anthropologie dazu diente, den Husserl'schen subjektbezogenen Ansatz zu iiberwinden (vgl. Plessner 1975: S. IX f.). Auch dadurch stiitzt sich also Luhmanns Konzeption auf den vom phanomenologischen Diskurs vorbereiteten Boden. IV. Das am Beispiel von Habermas und Luhmann zu beobachtende innovative Einwirken phanomenologischer Theoreme in den Bereich »nichtphanomenologischer« Theoriebildung erfolgte natiirhch vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung des phanomenologischen Ansatzes selbst, dessen seit den sechziger Jahren zu beobachtender Aufschwung den hier diskutierten Theoremen einen breiten Resonanzboden verlieh. Der erste Versuch, die Schiitz'sche Idee einer anthropologisch verankerten, pragmatischen Konstitutionstheorie der Lebenswelt auf dem Wege einer wissenssoziologischen Grundlagentheorie zu einem gesellschaftstheoretischen Ansatz auszubauen, wurde bekanntlich von Berger und Luckmann unternommen (Berger/Luckmann 1970). Hier wird eine Briicke geschlagen von der Schiitz'schen Konzeption der Strukturen der Lebenswelt als einer Sinnmatrix zu jener Ebene, auf der im konkreten Handeln diese Sinnmatrix in ihrer wirklichkeitshervorbringenden Funktion emergent wird - zu der Ebene des AUtags also. Hier werden auch zum ersten Mai die Mechanismen der Institutionalisierung und der Legitimation von intersubjektiven »Sinnwelten« genauer thematisiert, die aus dem Bereich der Interaktionsanalyse in den Bereich der Gesellschaftskonstruktion iiberleiten. Damit eroffnet sich die systematische Moglichkeit, den Schiitz'schen Ansatz mit den soziologischen Konzepten der Sozialisation, der RoUe,
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der sozialen Ausdifferenzierung etc. in Beziehung zu setzen und diese als Funktionen des Selbstkonstitutionsprozesses einer sozialen Welt qua Lebenswelt dadurch zu begreifen, dass man sie von der Ebene ihrer Reproduktion im alltaglichen Handeln her entziffert.^^^ Die »Routine- und Konversationsmaschine« (Berger/Luckmann 1970: S. 163 f.) des Alltags prasentiert sich hier also als jener Ort, von dem aus die Analyse des gesellschaftlichen Selbstkonstitutionsprozesses auszugehen hat. Damit wurde nicht nur eine Konkretisierung des Schiitz'schen Ansatzes von einer »Protosoziologie«^^^ zur soziologischen Theorie hin betrieben. Es wurde wenn auch mehr implizit - auch eine neue Frage in den Raum gestellt: Liefien sich nicht - nachdem der autogenetische Charakter der sozialen Wirklichkeit mit Schiitz geklart und auf seiner alltaglichen Vollzugsebene als manifest erkannt wurde - anhand der Analyse dieses alltaglichen Vollzugs des sinnhaften Ordnens und Reproduzierens von sozialer Realitat allgemeinere Aussagen iiber die Mechanismen dieses Prozesses machen, die nun nicht auf der Ebene einer protosoziologischen Matrix lagen, sondern eine soziologische Handlungstheorie eines anderen Typus erlaubten? Diese Fragerichtung zielte auf eine konstitutionstheoretische Alternative zu der zu jener Zeit vorherrschenden systemtheoretischen Handlungstheorie Parsons - auf eine Alternative also, die jenen Erkenntnisgewinn einlosen wiirde, der sich bereits in der Schiitz'schen Konfrontation mit Parsons am Anfang der vierziger Jahre abzeichnete (Schiitz/Parsons 1977). Diese in dem Schiitz'schen phanomenologischen Ansatz angelegte Fundierung fiir eine solche Theorie wurde allerdings bereits in den fiinfziger Jahren im unmittelbaren Umkreis von Parsons wahrgenommen. In seiner bei Parsons geschriebenen Dissertation konfrontierte Garfinkel (1952: S. 11 ff.) die zwei Theorietypen miteinander und gewann so die erste theoretische Grundlage fiir seine »Ethnomethodologie«. Bereits hier betont er, dass eine adaquate Theorie der sozialen Ordnung die Genese dieser Ordnung im alltaglichen HandlungsvoUzug aufzeigen muss. Die Aufmerksamkeit der Ethnomethodologie richtet sich daher auf die »for^°^Diese Figur ist z. B. auch in Habermas* systemreproduzierender Funktion der Lebenswelt wiederzufinden, vgl. Habermas (1981: Bd. II, S. 230 f.) ^°^Zum Begriff der Protosoziologie vgl. etwa Luckmann (1991).
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mal properties of common sense activities as a practical organizational accomplishment« (Garfinkel 1967: S. VIII). Diese sind zuganglich, weil der alltagliche InteraktionsvoUzug standig auch »Signale« mitliefert, durch die auf den Kontext der gesetzten Akte verwiesen wird, so dass diese Akte in der Praxis ihrer Setzung zugleich auch ihren Interpretationsrahmen mitsetzen, d. h. immer reflexiv auf sich selbst bezogen sind und in dieser ihrer beobachtbaren praktischen Reflexivitat rational zuganglich. Selbstverstandlich sind die Interpretationsrahmen der Akte nicht fix und nicht eindeutig.^^^ Ihre Reflexivitat lasst aber eine Typik erkennen, innerhalb welcher einige Anschlusshandlungen sinnvoll moglich sind und andere nicht. ^°^ Auch der Garfinkel'sche Ansatz enthalt die bereits bei Schiitz vorhandene doppelte Forschungsperspektive - einerseits zielt er auf den tatsachlichen Verlauf der Emergenz sozialer Ordnung im konkreten Handlungsvollzug, andererseits jedoch sollen die »formal properties« dieses ordnenden Vollzugs erfasst werden, die wohl als Elemente einer Theorie der alltagspraktischen Genese sozialer Ordnung zu betrachten sind, die im zweiten Schritt zu leisten ware. Durch die in diesem Programm angelegte Notwendigkeit, Ausschnitte alltaglicher Interaktion moglichst genau zu untersuchen, zersplitterte jedoch der ethnomethodologische Ansatz in eine Unzahl von Einzeluntersuchungen^^^, deren kaleidoskopische Fiille eher geeignet war, die auf eine mogliche Theorie hinweisenden generalisierbaren Momente der alltaglichen Wirklichkeitskonstitution zu verdecken. Aus dieser Fiille ragt allerdings ein Ansatz heraus, der den Garfinkel'schen Entwurf durch penible Untersuchungsverfahren der Sprachinteraktion verscharft und methodologisch ausbaut die Konversationsanalyse von Sacks und Schegloff, die ihr Anliegen wie folgt formulieren: ^°^Dies liegt in der von Garfinkel postulierten Indexikalitat der Akte, durch die er zwar einerseits die kontextuelle Einbindung von Akten ausdriickt, andererseits jedoch gerade durch diese Kontextualitat keine eindeutige und ausschliefilich mogliche Anschlusshandlung festlegt. Vgl. Garfinkel (1967: S. 4 ff.). ^^'^So heii^t es in Garfinkel 1967, S. 33 dazu: »Any setting organizes its activities to make its properties as an organized environment of practical activities [...] accountable.« ^°^Zu dieser bereits friih ansetzenden Entwicklung vgl. etwa Mehan/Wood (1975) oder Turner (1974).
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»We have proceeded under the assumption (an assumption borne out by our research) that in so far as the materials we worked with exhibited orderUness, they did so not only to us, indeed not in the first place for us, but for the co-participants who had produced them. If the materials (records of natural conversations) were orderly, they were so because they had been methodically produced by members of the society for one another, and it was a feature of the conversations that we treated as data that they were produced so as to allow the display by the co-participants to each other of their orderliness, and to allow the participants to display to each other their analysis, appreciation and use of the orderliness. Accordingly, our analysis has sought to explicate the ways in which the materials are produced by members in orderly ways that exhibit their orderliness and have their orderliness appreciated and set, and have that appreciation displayed and treated as the basis for subsequent action.« (Schegloff/Sacks 1974: S. 234). Die Suche nach den »formal properties« spitzt sich also im konversationsanalytischen Ansatz zu. Konversationsanalytische Untersuchungen werden unternommen "to explore the possibility of achieving a naturalistic observational discipline that could deal with the details of social action(s) rigorously, empirically, and formally" (Schegloff/Sacks 1974: S. 233, Hervorhebung I. S.). Tatsachlich gelingt es auch im Rahmen dieses Ansatzes und seiner Weiterfiihrung einige »formale Eigenschaften« des Konversationsablaufes zu finden, in welchen die Autogenese und Selbstregularitat alltaglichen HandlungsvoUzugs zutage treten. Sie betreffen vor allem die Strukturen der Gesprachsorganisation, der Sequentialitat der Interaktion sowie die darin enthaltenen Selektionsformen der Anschlussfahigkeit von Handlungen.^°^ Hier scheint auch die Quelle des Begriffs der »Anschlussfahigkeit« bei Luhmann zu liegen, der fiir seine Kommunikationskonzeption wesentlich ist (Luhmann (1984: S. 61, 204 f-). Betrachtet man diese Analysen vor dem ihnen zugehorigen Horizont ^°^Vgl. etwa Schenkein (1978), Psathas (1979), Garfinkel/Sacks (1976) oder Cicourel (1975), gute Ubersicht in Bergmann (1988). Zur Weiterfiihrung dieses Ansatzes siehe auch Luckmann (1989).
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einer Handlungstheorie, die die Konstitutionsmechanismen der soziaien Wirklichkeit im sozialen Handeln lokalisiert, das sich selbst durch Sinnorientierung ordnet, so wird deutlich, dass die hier erkennbaren »formai properties« auch Eigenschaften jener Konversationsmaschine sind, der etwa Berger und Luckmann die Sicherung der Alitagswirklichkeit in der Perspektive handelnder Subjekte zuschreiben.^°'^ Man darf sich also nicht durch die mikrosoziologische Ebene, auf der diese Untersuchungen sich bewegen, tauschen lassen. Sie tragen einen strikt generaUstischen Anspruch in sich: Wenn die durch Schiitz' Vermittlung in die Soziologie eingefiihrte Pramisse wahr ist, dass die soziale Reahtat ein Produkt des sich durch Sinn selbstreguiierenden sozialen Handelns ist, dann miissen in jedem beUebigen Ausschnitt einer Jeder behebigen sozialen Interaktion Mechanismen erkennbar und in ihren formalen Eigenschaften beschreibbar sein, die diese Selbstregulierung leisten. Die Erfassung der Struktur und des Zusammenhangs dieser konstituierenden Mechanismen muss also zu einer »general theory of action« hinfiihren, die nicht praskriptivnormativ, sondern konstitutiv-genetisch verfahrt und so zugleich eine gegenstandsimmanente, aber nicht mehr protosoziologische, sondern par excellence soziologische Theorie der Autogenese sozialer Wirklichkeit ist.i°«
Fiir die Erfiillung dieses Anspruchs, der sich hier so als eine soziologische Einlosung des durch die Phanomenologie Husserls und durch die mundane Phanomenologie Schiitz' eroffneten, konstitutiven Theorieweges prasentiert, ist sicherlich noch einiges an Forschungsarbeit zu tun. Vor allem der konstitutive Ubergang von Interaktionsstrukturen zu komplexeren sozialen Strukturen stellt hier eine Herausforderung dar.^°^ Eine Moglichkeit der Erfassung dieses Ubergangs im konkreten sozialen Kontext hat bereits Goffman^^° vorgefiihrt. Er beschreibt, wie einige konstitutive ^°^So Berger/Luckmann (1970: S 163). Dahin tendiert auch Luckmanns Konzeption des »kommunikativen Haushalts« einer Gesellschaft. Siehe Luckmann (1989). ^°^Zu dieser tendenziellen Verschiebung der Forschungsperspektive vgl. ebenso Luckmann (1989). ^°^Theoretische Vorschlage dazu formulierten etwa Knorr-Cetina (1981) oder Schegloff (1987). ^^°Obwohl Goffman sicherlich wesentHch starker in der Tradition des symboUschen
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Elemente des autogenetischen Prozesses - In diesem Falle die alltaglich erkennbaren interaktiven Prozesse der Identitatsbildung - zwecks Schaffung manipulativer sozialer Beziehungen sozial »angewendet« werden und so zum Vehikel des institutionalisierten Aufbaus von asymmetrischen und hierarchischen sozialen Ausdifferenzierungen werden konnen^^^ Die in den Goffman'schen Untersuchungen manifest werdende doppelte Reflexivitat des sich in der Interaktion voUziehenden Konstitutionsprozesses, der einmal im Garfinkelschen Sinne der Selbstbezogenheit reflexiv ist, zum anderen Mai aber zum Zwecke seiner Modifikation auf sich selbst angewendet werden kann, zeigt also einen moglichen Zugang dazu, wie der Kristallisationsprozess von komplexeren gesellschaftlichen Strukturen aus dem autogenetischen Kern der Interaktion zu begreifen und sichtbar zu machen ware. Hierzu liefie sich eine Reihe von bereits existierenden Untersuchungen heranziehen, die die Verwendung und das Funktionieren der alltaglichen konstitutiven Elemente in institutionellen settings analysieren und zeigen, wie grundlegend diese fiir das Zielerreichen und die Aufrechterhaltung des Betriebs von Institutionen sind (vgl. etwa Cicourel 1968, Knorr-Cetina 1984, Fengler/Fengler 1980, Bergmann 1980, Soeffner 1984). Mit dieser Perspektive vor Augen kann man erst die erkenntnisrelevante Bedeutung des Wirkens von phanomenologischen Ansatzen in der Sozialwissenschaft und insbesondere in der Soziologie im vollen Umfang ermessen: Sie bieten nicht nur eine dem sozialwissenschaftlichen Gegenstand angemessenere Theoriekonzeption an, sie verdichten sich vielmehr zu einem Forschungsprogramm, an dessen Ende eine nunmehr empirisch fundierte, pragmatische Theorie der Selbstgenese sozialer Wirklichkeit nicht nur sichtbar, sondern auch greif bar wird.
Interaktionismus verankert ist, kann man ihn trotzdem als einen Parteiganger der phanomenologischen Soziologie betrachten, zumal er auch selbst Beziige dazu herstellt. Vgl. Goffmann (1974, 3 ff.) ^^^Exemplarische Analysen dieses Vorganges finden sich in Goffman (1972). Zu Systematisierungsmoglichkeiten des Goffman'schen Ansatzes vgl. Giddens (1988). Knorr-Cetina (1981) entdeckt die Untersuchung dieses Mechanismus auch bei Cicourel (1968).
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2. Von Milieu zu Autopoiesis. Zum Beitrag der Phanomenologie zur soziologischen Theoriebildung
Die Begegnung von Phanomenologie und Soziologie in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war gekennzeichnet durch eine eigentiimliche Ideenkonstellation. Als Resultat einer langjahrigen Methodendiskussion, deren beiden Pole die neukantianischen Schulen sowie die Diithey'sche Lebensphilosophie darstellten, wurde die deutsche Soziologie von der Erkenntnis eines Zusammenhangs von Sinn und Sozialitat gepragt, die sich in der Betonung der Notwendigkeit eines verstehenden Ansatzes niederschlug. Da das soziologische Verstehenskonzept, vor allem in der Form, in der wir es bei Weber und Simmel vorfinden, von der Moglichkeit abhing, die Handlungsorientierung an objektivierten Wertsystemen abzulesen, geriet die so begriindete Verstehensmethode angesichts des fortschreitenden »Wertzerfalls« der Moderne in zunehmende Anwendungsschwierigkeiten. Ein Bediirfnis nach einem anderen Zugang zum Sinnphanomen stand daher im Raume, nach einem Zugang, der sozusagen »von unten«, vom handelnden Subjekt her, die Konstitution von Sinn beleuchten wiirde, der als orientierendes Moment dem Handeln inne ist. Die mit der Phanomenologie Husserls gegebene Moglichkeit, die Sinnkonstitution als den Prozess der Konstitution der Selbstgegebenheit der Welt und ihrer Geltung in den intentionalen Leistungen des Bewusstseins aufzufassen, fiel daher auf einen durch dieses Bediirfnis fruchtbar gemachten Boden. Dieses Angebot seitens der Phanomenologie war um so verlockender, als Husserls schon in den »Logischen Untersuchungen« und sparer in der »Formalen und transzendentalen Logik« vorgelegter Versuch, die Geltung von Urteilen auf den Boden des intentionalen Erlebens zuriickzuverfolgen.
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die festgefahrene philosophisch-methodologische Kontroverse zwischen methodengestiitzter Konstruktion und erlebnisgestiitzter Konstitution der Wirklichkelt als ein Scheinproblem aufloste und so einen erlebnisimmanenten und doch »streng wissenschaftlichen« Wirklichkeitszugang offerierte (Husserl 1950, 1974, 1984, 1987). Damit wurde ein methodisch kontrollierter Weg zu Phanomenen frei, deren Evidenz unbestritten war, die jedoch bisher lediglich als blo£ »intuitiv« zuganglich galten (Sinn, Leiblichkeit, Emotionalitat, Intersubjektivitat, Erleben schlechthin). Dadurch, dass das phanomenologische Denken nicht primar auf ein philosophisches System aus war, sondern zum Erforschen von Phanomenen in ihrer Selbstgegebenheit anleitete, bot es sich als philosophische Grundlage zur Klarung und Neuformulierung festgefahrener einzelwissenschaftlicher Fragestellungen und Probleme an. Dies lasst sich an der schon friih einsetzenden Verwendung der Phanomenologie in der Psychologie, Psychiatrie, Anthropologie oder etwa in der Rechtswissenschaft jener Zeit deutlich erkennen (vgl. Spiegelberg 1965; Wyss 1977; Srubar 1988). Fiir die soziologische Theorie selbst war vor allem jener Zugang von Bedeutung, den die phanomenologische Analyse auf dem Wege einer phanomenologischen Psychologie zu den Sinnkonstitutionsprozessen in der natiirlichen Einstellung zu liefern versprach. Durch das immer klarer erkennbare systematische und wissenschaftskritische Gewicht, das dem Bereich der natiirlichen Einstellung - der intersubjektiven Lebenswelt als dem O r t urspriinglicher Sinnkonstitution und Evidenz in Husserls Denken zukam, wurde auch das soziologische Denken in seiner verstehenden Ausrichtung bekraftigt und gefordert. Husserls Konstitutionsanalysen bekamen hier jedoch eine andere Aussrichtung. In das Zentrum der Aufmerksamkeit riickte nun die Suche nach Prozessen, in welchen sich der Handlungssinn als notwendiges Moment im Verlauf des Handelns selbst konstituiert. So wie die Konstitution der sinnhaften Geltung der Welt in der Husserl'schen Perspektive das Resultat von aufzeigbaren Akten des transzendentalen Bewusstseins war, in welchen sich der Weltsinn selbst generiert, so sollten auch die Konstitutionsprozesse, die die soziale Wirklichkeit als einen sinnhaften Handlungszusammenhang hervorbringen, in den Akten dieser Wirklichkeit selbst aufgezeigt werden. So
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verstanden, fiihrte das Husserl'sche Verfahren der Konstitutionsanalyse die soziologische Theorie dazu, nach einer Theorie sozialen Handelns zu suchen, die die Grundmechanismen der Selbstgenese der als sinnhaften Zusammenhang aufgefassten sozialen Realitat beleuchten wiirde. Damit wurden die engen Fachgrenzen iiberschritten, die von der soziologischen »Grundergeneration« diesseits und jenseits des Rheins gezogen wurden, um die Soziologie als eine Wissenschaft mit eigenem Gegenstand gegeniiber anderen Humanwissenschaften zu etablieren. Vielmehr eroffnete die phanomenologische Optik einen Blick auf den spezifischen Bereich der sozialen Wechselbeziehungen bzw. auf die sozialen Tatsachen sui generis in der Nachfolge von Simmel, Max Weber und Durkheim, in dem erneut die Moglichkeit einer universellen Wissenschaft von der menschlichen Realitat erschien: einer Wissenschaft von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Es war sicher nicht nur die phanomenologisch orientierte Sozialwissenschaft, die in der Weimarer Zeit ein solches Vorhaben verfolgte. Die Wissenssoziologie Mannheims und die auf den Hegel'schen Totalitatsbegriff gestiitzte Gesellschaftstheorie, die am Frankfurter Institut fiir Sozialforschung gepflegt wurde, verfolgten der Intention nach das gleiche Ziel. Mannheims These der Seinsgebundenheit des Wissens, die die soziale Genese des Sinns behauptet, und sich somit die Selbstgenese von Kulturwelten bewusst zur Voraussetzung macht, lasst jedoch diese Voraussetzung im Raume stehen^^^, ohne den Versuch zu unternehmen, diese Genese als einen allgemeinen Prozess zu fassen. Das Projekt der Frankfurter, in dem das Prozessieren der gesellschaftlichen Totalitat in einem dialektischen, materialgesattigten Modell erfaCt werden sollte, stand sich durch seinen universalistischen Charakter selbst im Wege, wie es sich an seinen Schwierigkeiten ablesen lasst, durch die Aufnahme einzelwissenschaftlicher Forschungen die intendierte materiale Sattigung zu erreichen. Der Riickgriff auf Psychoanalyse als ein Modell der Klarung der Genese ^^^Dies zeigt iibrigens, dass eine solche These den Konsensus des damaligen theoretischen Problembewusstseins hinter sich wusste, der sich auch in der begeisterten Aufnahme der Mannheim'schen Thesen durch den 6. Soziologentag 1928 in Zurich niederschlug (vgl. Kaslerl981).
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alltaglichen Handelns blleb lange Zeit der einzige Weg zu der subtheoretischen Ebene mundanen Geschehens^^^ und lieferte weniger materlale Evidenz als ein - zuweilen arg strapaziertes - Interpretatlonsschema. Ohne ausreichende Beriicksichtigung der Ergebnisse der Humanwissenschaften (insbesondere der Psychologie, der Anthropologie, der Ethnologie, aber auch der biologischen Verhaltensforschung) war jedoch die Suche nach einem Modell der Selbstgenese sozialer Realitat kaum mogllch. Allerdings gait es, diese Ergebnisse in einem neuen Lichte zu betrachten und so zur Synthese zu bringen, dass eine einheitliche Sicht der diversen Verhaltensaspekte moglich wurde. »Philosophische Anthropologie« hiefi das Unternehmen, mit welchem die Frage nach der Selbstgenese der sozialen Welt als Kulturwelt in diesem Sinne aufgenommen wurde. Die Phanomenologie, als eine frageleitende Matrix, als eine Fiihrung des forschenden Blickes, erfiillte dabei unbestreitbar die RoUe eines »Gedankenkatalysators«. Die konsequenteste Entwicklung des Problems der Selbstgenese aus der anthropologischen Fragestellung finden wir im Denken Schelers. Sein Weg - ausgehend von der Analyse der Sozialitat als der zwischen Vitalitat und Geist vermittelnden Kategorie, iiber eine Theorie des Auf baus sozialer Milieus und die Konzeption der sozialen Person fiihrt ihn zum Entwurf einer Wissenssoziologie in universeller Absicht. Wie auch immer Schelers mannigfaltiges Werk beurteilt werden mag, die Entwicklung des obigen Zusammenhanges, die er in seinem Werk gibt, bedeutete eine Innovation im theoretischen Denken der Soziologie und wies iiber die damals erkennbaren »main stream«-Lehren - etwa von Wieses »formale Soziologie« (Wiese 1933) - hinaus. Sie lieferte den damals (und heute noch)^^"^ haufig verkannten Unterbau fiir eine sinnvolle Postu^^^Es ist durchaus bemerkenswert, dass Freuds Theorie eine vegleichbare Rolle auch in Parsons' Systemtheorie spielt (Parsons 1951: S. 546 f.) und somit zwei entschiedenen Widersachern auf dem Felde der Gesellschaftstheorie ahnUche Dienste Hefert. ^^"^Nicht zufallig kam die Kritik und Ablehnung von den »konkurrierenden« Zeitgenossen Horkheimer (1935) und Mannheim (1925). Aber auch spatere Kritiker waren kaum imstande, Schelers anthropologische Fundierung der Wissenssoziologie zu erkennen: so etwa Lieber (1949) oder Lenk (1959). Eine positive, differenzierende Rezeption des Schelerschen wissenssoziologischen Programms setzt erst im Gefolge der Auseinandersetzung mit der »phanomenologischen Soziologie« A. Schiitz' ein. Siehe etwa P. H.
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lierung wissenssoziologischer Theoreme iiberhaupt, wie uns der Stand der heutigen soziologischen Handlungstheorie zeigt.^^^ Schelers Gebrauch der Phanomenologie als eines klarenden Sehens baut auf Husserls Konzept der phanomenologischen Reduktion (Husserl 1950: §§ 50 f.) als eines Zugangs zu Bewusstseinsakten auf, in welchen das Setzen der Welt in der natiirlichen Einstellung erfolgt (Scheler 1957: S. 380 f.). Doch statt nach der Struktur eines Weltgeltung leistenden transzendentalen Bewusstseins zu suchen, wendet er diese »Methode« an, um die asymbolische, unmittelbare Erscheinungsweise jener Daseinsund Lebensformen zu beschreiben, »in denen sich der Gehalt der Welt auftut« (ebd.). Dieses Interesse »an den Beriihrungsstellen von Erleben und Gegenstand Welt, ganz gleichgiiltig, ob es sich dabei um Physisches oder Psychisches handelt« (ebd.), fiihrt ihn zu der bekannten Analyse des geistig-vitalen Weltzugangs des Menschen, in deren Zuge er sich mit den Ergebnissen der damaligen Psychologic, Wahrnehmungsphysiologie und deren naturwissenschaftlichen Grundlagen auseinandersetzt. Schelers phanomenologische Kritik dieser Ergebnisse ist zwar geleitet durch den Anspruch, Wesenszusammenhange aufzuzeigen, durch die mundane Phanomene fundiert werden. Das Bemiihen, die Zusammenhange der »reinen« Erlebnistatsachen, die die »Wesensstruktur« des menschlichen Weltzugangs ausmachen, zu entdecken, fiihrt Scheler jedoch zu Ergebnissen, die als Problemdefinitionen fiir die materiale Forschung durchaus von Wert sind. So stellt Scheler im Rahmen seiner Kritik an den sinnesphysiologischen Thesen von der Erkenntnisfunktion der Sinne das Postulat eines »Aktionssystems« auf, einer den Lebewesen eigenen Struktur von Vermogen und Intentionen (Scheler 1954: S. 439), der sowohl die anatomische Struktur als auch das Milieu des Lebewesens angepasst sein miissen und die das »Wesen« der Gattung ausmacht. Milieu ist dabei definiert als der Teil der ein Lebewesen umgebenden Welt, deren Veranderung
Spader (1983). ^^^Dass die Durchfiihrung einer Soziologie des Wissens die Beantwortung der Frage nach den elementaren Formen der interaktiven Sinnkonstitution voraussetzt, ist inzwischen zu einer Selbstverstandlichkeit in der soziologischen Handlungstheorie geworden (Vgl. P. Berger/T. Luckmann 1971, E. Goffman 1975, Garfinkel 1967).
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auch eine Veranderung im Lebensprozess des Lebewesens bewirkt.^^^ Das menschliche Milieu ist dann in jener natiirlichen Einstellung gegeben, in der das tagliche Leben sich voUzieht. Es ist also ein Realitatsausschnitt, dessen Gegebenheiten allesamt eine fiir dieses Leben relevante »Zeichen«oder »Zeigefunktion« haben und so zum Ausgangspunkt fiir das Handeln werden (Scheler 1954: S. 437; 1980: S. 150 ff.). So ist die in der natiirlichen Einstellung gegebene Welt immer eine sinnhafte, und das Handeln darin hat immer einen Sinnbezug. Die Erfahrung der Sinnhaftigkeit ist an das Erlebnis der Wirksamkeit der Handlungsorientierung im Vollzug des Handelns gebunden (Scheler 1980: S. 154 ff.). Der Sinnzusammenhang der Gegebenheiten der natiirlichen Einstellung ist jedoch kein Produkt eines Ich. Er erschliefit sich dem Menschen durch seine urspriingliche Einbindung in die Gemeinschaft. Das Individuum - um iiberhaupt ein solches werden zu konnen - erfahrt zuerst seine Welt im Erleben eines Wir-Bewufitseins. Die anderen miterlebend, voUzieht es die Akte ihrer Wertnahme - d. h. ihrer Handlungsorientierung - mit, die so auch seine Praxis werden (Scheler 1973: S. 240). Es lebt also zuerst in der »Gesamtperson« der anderen, bei anderen, bevor es sich gegen diesen Horizont als Individuum abheben kann. Die Konstitution des menschlichen Milieus ist so an die Sozialitat als ihre Wesensbedingung gebunden. Sozialitat stellt daher einen Bestandteil des fiir den Menschen spezifischen »Aktionssystems« dar. Die Sinnhaftigkeit der Welt ergibt sich damit aus der Sozialitat des Handelns als conditio humana. Damit wurde eine Gedankenfigur formuliert, die in der philosophischen Anthropologic, aber auch dariiber hinaus, von grundlegender Wirkung war. Plessners (Plessner 1975) These der natiirlichen Unnatiirlichkeit und der Exzentrizitat des Menschen sowie Gehlens (Gehlen 1962) Konzept des Menschen als eines seine natiirliche Mangelausstattung durch Sozialitat kompensierenden Wesens stehen
^^^Obwohl hier der Einfluss Uexklills unverkennbar ist (Uexkiill 1909), kommt man nicht umhin, die prazise Antizipation von Thesen zu bewundern, die heute als Resultate wahrnehmungsphysiologischer Forschung einen Paradigmaumsturz auf verschiedenen Gebieten der Humanwissenschaften auslosen, wie das Konzept der Autopoiesis von H. R. Maturana und R Varela (1980), sowie den Abschnitt III dieser Abhandlung. Zu der stiirmischen Rezeption dieses Ansatzes siehe S. J. Schmidt (1987).
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auf diesem von Scheler vorbereiteten Boden.^^''' 11. Vor dem oben skizzierten Hintergrund entwickelt Alfred Schiitz, der bekannteste Protagonist des phanomenologischen Denkens in den Sozialwissenschaften, sein eigenes Konzept der Selbstgenese der sozialen Wirklichkeit. An der Gestaltung seiner Fragestellung bis zu dem Zeitpunkt der Niederschrift seines »Sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt« (Schiitz 2004) konnen wir die Beziige zu diesem Hintergrund deutlich ablesen. Schon friih an der Erforschung der dem sozialen Handeln immanenten Sinnkomponente interessiert, die er mit Weber annimmt, bedient er sich zuerst der Lebensphilosophie Bergsons, um den Aufbau der Sinnstruktur menschlicher Lebensformen in der vorwissenschaftlichen Sphare des taglichen Lebens zu rekonstruieren (Schiitz 1981). Dabei erkennt er bald die Grenzen, die der Bergson'sche Dualismus seinen Untersuchungen auferlegt. Husserls Veroffentlichungen iiber das innere Zeitbewusstsein und iiber das Problem der Intersubjektivitat (Husserl 1966, 1974) iiberzeugen ihn von der Relevanz der phanomenologischen Methode fiir seine Problemstellung. Husserls Analysen des inneren Zeitbewusstseins und der noetisch/noematischen Struktur des intentionalen Erlebens liefern Schiitz Jenes Instrumentarium, mit dem er die Klippen des Bergson'schen Dualismus umfahren kann. Die Analyse des Handelns und des mit ihm verbundenen Sinnes, die er mit phanomenologischen Mitteln betreibt, um die zentrale Kategorie des Weber'schen Theorieentwurfs zu klaren^^^, verweist ihn allerdings schnell auf die auiJersubjektiven Komponenten, die auf dem Horizont der Konstitution des Handlungssinnes auftauchen. Dies zwingt ihn, die transzendentale Perspektive Husserls zu verlassen. ^^'^Zu der breiten Wirkung der Scheler'schen »Sozialisierung« als conditio humana siehe: K.S.Rehberg(1981). ^^^»Soziologie soil heifien: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursachlich erklaren will [...] Soziales Handeln soil ein solches Handeln heifien, welches seinem von den [...] Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (Weberl972: S. 1).
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Sein Interesse gilt den Prozessen der Sinnkonstltution in der mundanen Sozialitat (Schiitz 2004: S. 129), in der natiirlichen Einstellung also, die auch Scheler verfolgte. Unter dem Einfluss der Scheler'schen These vom Primat des Wir-Bewusstseins und des »pragmatischen«, also sich mil der Umwelt handelnd auseinandersetzenden Weltzugangs in der natiirlichen Einstellung, wendet sich Schiitz dem Problem der sozialen Sinngenese im Prozess der Interaktion zu, die er als »Wirkensbeziehung« bezeichnet. In einer minutiosen Analyse zeigt er, wie in der Wechselseitigkeit der Wirkensbeziehung die individuellen erfahrenden Akte, in welchen Erlebnisse in Kontexte eingegliedert werden und so ihren Sinn erhalten, zu einem gemeinsamen Erfahrungsstil, zu einer gemeinsam geteilten Verkettung von Typisierungen werden, die das Wir-Bewusstsein der Handelnden ausmachen (Schiitz 2004: §§ 25, 32, 33). Die Sinnelemente dieses in der Interaktion entstehenden Wir-Bewusstseins sind nicht nur an der »Zeigefunktion« des Handelns objektiviert ablesbar, sondern sie sind zugleich auch Elemente der subjektiven Erfahrungsstruktur und des koUektiven Wissensvorrats der Akteure. Die Sinnorientierung des sozialen Handelns ist also hier das Resultat dieses Handelns selbst. Es produziert und reproduziert seine intersubjektiv geltenden Regulative, indem es stattfindet. Mit diesem Ergebnis ist zuerst der Nukleus der Mechanik der Selbstgenese sozialer Realitat beschrieben. Es wird damit aber auch fiir Schiitz klar, dass eine so aufgefasste verstehende Theorie sozialen Handelns nunmehr auch als eine Theorie der Konstitution mundaner Lebenswelten betrieben werden muss. Sie muss die pragmatische Konstitution der sinnhaften Handlungsorientierung begreifen als den Prozess der Genese einer intersub jektiven Welt in Handlungen einzelner, deren Handeln aber zugleich kraft der intersubjektiven Geltung dieser Welt von derselben gepragt wird. Die soziale Realitat muss also betrachtet werden als ein Feld, das sich zwischen dem subjektiven und dem intersubjektiven Pol erstreckt, die beide mit einer »Sinnklammer« verbunden sind, wobei der selbstgenerierende Konstitutionszusammenhang dieser Komponenten zu klaren ist. Schiitz entwickelt zwei solche selbstgenerative Modelle. In der ersten, alteren Variante setzt er bei dem Wirken in der Welt und bei der Wirkensbeziehung an. Im Wirken als dem Umgang mit den Dingen der
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Welt, der sich im Rahmen des Umgangs mit anderen vollzieht, entstehen pragmatische Relevanzen, deren Netz die Realitat quasi mit einem Sinnmantel iiberzieht, so dass sie fiir die Akteure zu einer gemeinsamen lesbaren »Landkarte« wird. Die derart entstandenen, intersubjektiv auferlegten Relevanzen pragen subjektive Attitiiden, deren biographische Sedimentierung die soziale Person des Subjekts ausmacht. Durch die Moglichkeit der subjektiven Variation des Relevanzsystems dieser Wirkwelt entstehen andere, die Wirkwelt transzendierende Sinnbereiche, die von der ausschliefilich subjektiven Realitat des Traums bis zu den intersubjektiven Wirklichkeiten des Spiels oder der Wissenschaft reichen (Schiitz 2003: S. 35 ff.). Wir erkennen in diesem Entwurf das bekannte Konzept der »multiple realities« (Schiitz 2003: S. 181 ff.) und sehen, dass die pragmatischen Relevanzen hier die Rolle der Sinnklammer zwischen dem subjektiven und intersubjektiven Pol der Realitat spielen, wobei dem pragmatischen Motiv der Lebensweltkonstitution eindeutig das Primat zukommt. Das pragmatische Motiv, die Sozialitat und die Reflexivitat (als das Vermogen der subjektiven Modifikation der intersubjektiv konstruierten Wirkwelt) sind hier die anthropologischen Annahmen, auf welchen dieses Selbstgenesemodell ruht. Doch sind sie fiir Schiitz nicht ausreichend. In der Analyse der Zeitlichkeit, die fiir ihn zu den zentralen Dimensionen der Sinnkonstitution und des menschlichen Weltzugangs gehort, entdeckt Schiitz eine weitere anthropologische Fundierung seines Konzepts. In dem Erlebnis eigener Endlichkeit, der Sicherheit eigenen Todes, in welcher die Transzendenz der unabhangig vom Subjekt dauernden Welt anschaulich wird, liegt fiir den Menschen der Zwang begriindet, zwischen sich und die fremde Welt eine pragmatisch bewaltigbare Wirkwelt zu legen. In der »Fundamentalangst« vor dem Tode liegt die Motivation, zwischen sich und dem Tod im gemeinsamen Wirken eine zweite Natur zu errichten - die soziale Welt.^^^ Die Uberwindung bzw. die Verbindung der verschiedenen sich jedes ^^^Das Motiv der »Fundamentalangst« taucht zum erstenmal auf in dem Schiitz'schen Manuskript von 1936/37 (Schiitz 2003) und wird spater fiir die Konzeption der »mannigfaltigen Wirklichkeiten« iibernommen. Zu der zentralen Rolle dieses Motivs im Schiitz'schen Denken siehe M. Natanson (1962, 1986) sowie Srubar (1988).
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Mai transzendierenden humanen WIrklichkeitsbereiche zu einer konkreten Lebenswelt - zu einem sozialen Kosmion - stellt auch den Ausgangspunkt der Konstruktion des zwelten, spaten Schiitz'schen Modells der Selbstgenese sozialer Realitat dar (Schiitz 2003a). Auch hier finden wir das durch die »Fundamentalangst« motivlerte Wirken in der Welt als grundlegende Motivation vor. Dock die pragmatischen Relevanzen dieses Wirkens erfahren hier etwas mehr als ihre Objektivierung in der Zeigefunktion des Handelns. Es gehort nunmehr zu dem pragmatischen Relevanzzusammenhang auch die Notwendigkeit einer sekundaren Objektivierung des Relevanten durch Signa.^^^ Schiitz betrachtet nun die mundane Lebenswelt nicht nur als durch das System pragmatischer Relevanzen sinnhaft strukturiert. Er sieht sie jetzt auch durch apprasentative Systeme geordnet, die verschiedene Realitatsschichten sinnhaft aufeinander beziehen, indem sie etwa aus der Summe des Seienden eine Klasse von Dingen oder Erscheinungen auswahlen, die sich zu Zeichen eignen, daraus ein Zeichen oder ein System davon selektieren, diesen eine Realitatsschicht des Bezeichneten zuordnen und das Deutungsschema, vor welchem diese Zuordnung von Signifikat und Signifikant sich vollziehen kann, prasent halten (Schiitz 2003a: S. 132 ff.). Die Produktion und Reproduktion der apprasentativen Systeme ist zwar in der Sozialitat der Wirkensbeziehung und der Wirkwelt verankert, ihre Ordnungsfahigkeit ist jedoch von einer iiber diese Welt hinausschreitenden Universalitat. In der Einbindung in konkrete Wirkensbeziehungen und Wirkwelten erhalt also die mundane Lebenswelt ihre Spezifik, die durch ihre apprasentativen Ordnungen zu einer universellen Weltinterpretation - zu einem Kosmion - erweitert werden kann. In der Sozialitat ihrer Genese liegt so die Varietat der Kosmia als kultureller Lebenswelten begriindet. Es ist nun nicht schwer, die phanomenologischen Bezugsquellen der vier anthropologischen Grundkomponenten - der Reflexivitat, der Sozialitat, des pragmatischen Motivs und der Zeitlichkeit - auszumachen, auf welchen die Schiitz'sche Konzeption der Selbstgenese von Lebens^^°Ich verwende diesen umstandlichen Ausdruck, well in der Schiitz'schen Terminologie Anzeichen, Merkzeichen und Symbole durch spezifische Funktionen gekennzeichnet sind.
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welten beruht. Hinter seinem Konzept der Reflexlvitat steht vor allem Husserls Auffassung des die Weltgeltung leistenden transzendentalen Bewusstselns mit seinem Vermogen, durch seine Akte in autonomer Distanz und doch zugleich im wesentlichen Kontakt mit ihren Gegenstandskorrelaten zu sein. Dieses Vermogen, das als eine hohere Stufe die Moglichkeit einschliefit, den Volizug jener Akte selbst anzuschauen, ist fiir Schiitz zugleich auch der Ausdruck der Piastizitat des Bewusstseins, also seiner Moglichkeit, mehrere Attitiiden zum Gegebenen einzunehmen und doch ihre gegenseitigen Verweisungen aufrechtzuerhalten. Dies ist die Bedingung und gleichzeitig auch der Ansatzpunkt zur Klarung seiner sozialen Formbarkeit. An dieser Stelle verbindet sich das Konzept der Reflexivitat mit jenem der Sozialitat und des pragmatischen Weltzugangs, wie Scheler sie entwickelt. Die Schiitz'sche Auffassung der Zeitdimension sozialen Handelns orientiert sich an den Analysen Bergsons und Husserls. Doch fiir sein Verstandnis der Zeitlichkeit des Subjekts als eines in der Welt handelnden wird der - haufig iibersehene - Einfluss Heideggers ausschlaggebend. Das soziale Wirken als Uberwindung der Welttranszendenz, als Uberwindung der Fundamentalangst von der Endlichkeit, in deren Erlebnis die Welttranszendenz offenbar wird - dies sind bekannte Motive der Heideggerschen Untersuchung der Angst und der Sorge sowie ihrer zeitlichen ontologischen Struktur, wenn auch ihre anthropologische Umformulierung durch Schiitz nicht zu iibersehen ist.^^^ Es ist eine anthropologisch - und nicht fundamental ontologisch - verstandene Zeitlichkeit qua Endlichkeit als Sinn der Sorge, einer Sorge, die zur »Domestizierung« der Welttranszendenz durch soziale Konstruktion von Kulturwelten - Kosmia - fiihrt und die fiir Schiitz eine Triebfeder der Selbstgenese sozialer Realitat bedeutet. Der Schiitz'sche Ansatz ist also eng verjflochten mit dem ganzen Spektrum des phanomenologischen Denkens der Vorkriegszeit. In seiner Rezeption, die zuerst in den USA ansetzte, wohin Schiitz 1939 emigrieren musste, ist jedoch der anthropologische Hintergrund seines Denkens groE^^^So eroffnet die Angst bei Schiitz nicht einen besonderen, »eigentHchen« Bereich der Moglichkeiten des Daseins. Der von Heidegger herausgestelke »E)urchbruchcharakter« der Angst bleibt bei Schiitz unbemerkt. (Vgl. Heidegger 1967: §§ 40, 41, 51-53, 65).
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tenteils unentdeckt geblieben. Nichtsdestoweniger hat der von Husserl gepragte Typus eines konstitutionsanalytischen Denkens in der amerikanischen Soziologie durch Schiitz' Wirkung nachhaltig Fufi gefasst. Der Schiitz'sche Ansatz wurde dort zur Grundlage einer theoretischen Entwicklung, durch die die »phanomenoiogische Soziologie« zu einem theoretischen Paradigma in der allgemeinen Soziologie wurde. Im Rahmen dieses Paradigmas entstanden viele empirisch forschende Ansatze, die die Produktion der Handlungsregulative im Verlauf der sozialen Interaktion zu erfassen suchen und am empirischen Material die einzelnen Elemente dieses selbstgenerativen Mechanismus analysieren. Harold Garfinkel war der erste Schiitz-Anhanger, der die Mechanismen der handlungsorientierenden Interpretation sozialer Situation empirisch zu untersuchen begann. Sein urspriingliches Anliegen war es, eine Alternative zu der damals die gesamte soziologische Forschung dominierenden Systemtheorie Parsons' zu finden. Durch Husserls Frage nach der Konstitution der Gegebenheitsweise der Welt angeregt und durch Schiitz' These der notwendigen Adaquanz zwischen der Konstruktion wissenschaftlicher Typen und alltaglichen Wissens geleitet, radikalisierte und verdichtete Garfinkel die mundan phanomenologische Sichtweise Schiitz' zu einem Forschungsprogramm, das, als Ethnomethodologie bekannt, bald in unzahligen Varianten iiberall Anhanger gewann und sowohl zu der Verbreitung als auch zu der Wahrnehmung der »phanomenologischen Soziologie« als einer »Hauptkonkurrentin« der Systemtheorie beitrug (vgl. Garfinkel 1967, Douglas 1971, Attewell 1974, Wolff 1979, Atkinson 1988). Die epistemologischkritische Fragestellung Husserls - in Garfinkels Fassung: »How do we believe our eyes« (Garfinkel 1952: S. 11) - und die Schiitz'sche Forderung nach lebensweltlicher Adaquanz soziologischer Typisierungen formuliert Garfinkel um, indem er die Tatigkeit des um Verstehen bemiihten Soziologen und die des alltaglich Handelnden gleichsetzt und den Anspruch erhebt, die Strukturen zu beschreiben, auf die die beiden notwendigerweise zuriickgreifen miissen, wenn sie versuchen, soziales Handeln und soziale Situationen zu verstehen. Nichts anderes kann eine verstehende Handlungstheorie begriinden, als die Erschlie£ung jener praktischen Prozeduren, durch die - fiir die jeweiligen Partner wahrnehmbar - in der
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sozialen Interaktion der handlungsorientierende Sinn generiert wird. Die beriihmten Garfinkel'schen Missverstandnisexperimente haben eben den Zweck, durch die geplante Verweigerung einer durch situationsgerechtes Verstandnis geleiteten Handlungsweise den Interaktionspartner zu zwingen, sein normalerweise in seinem Wissensvorrat stillschweigend vorhandenes Interpretationsinstrumentarium in aufieres Handeln umzusetzen und so beobachtbar zu machen. Auch Aaron Cicourels kognitive Soziologie (Cicourel 1975), Erving Goffmans Rahmenanalyse (Goffman 1974) sowie Schegloffs und Sacks' Konversationsanalyse (Schegloff/Sacks 1974) gehen auf den von Schiitz vermittelten »phanomenologischen« Theorietypus zuriick, in dessen Zentrum die sinngeleiteten elementaren Strukturen sozialen Handelns stehen. III. Jene verabsolutierte Gegeniiberstellung von »phanomenoIogischer Soziologie« und Systemtheorie, wie sie in der amerikanischen Diskussion iiberwog, hatte gewiss erhebliche ideologisierende Ziige an sich. Die urspriinglich theoretische Kontroverse verrutschte schnell auf die Ebene des Konflikts zwischen »konservativer« main stream sociology der Lehrstiihle und der »alternativen« Soziologie des von dem Vietnam-Protest getragenen wissenschaftlichen Nachwuchses. Sie verdeckte eine gewisse Zeit die faktischen Konvergenzen zwischen Schiitz und Parsons, die erst anhand ihrer Nachlasse ganz sichtbar wurden (vgl. Schiitz/Parsons 1977, Parsons 1986, Kassab 1988). Dass allerdings die Weiterentwicklung der Systemtheorie, sobald sie sich als eine Theorie der Selbstgenese sozialer Systeme begriff, durchaus vom phanomenologischen Denken und seinen Ergebnissen profitierte - dies zeigt klar die Theorie sozialer Systeme Niklas Luhmanns (Luhmann 1984, 1997). Anhand des Luhmann'schen Ansatzes erschliefien sich uns zwei weitere Aspekte, die die Bereicherung des soziologischen Denkens durch die Phanomenologie beleuchten. Es ist zum einen - enger fachbezogen - die Weiterentwicklung des Systembegriffs mit Hilfe des Husserl'schen Bewusstseinskonzeptes als einer sinnprozessierenden Struktur. Zum zweiten - und hier die Fachgren-
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zen iiberschreitend - ist es die Moglichkeit, den so gewonnenen Begriff des Systems mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung in Bezug zu setzen - namlich mit der Theorie der Autopoiesis von Maturana und Varela (1980). Die Wendung, die die Theorie der sozialen Systeme durch Luhmann nimmt, gleicht jener Gedankenfigur, durch die auch Garfinkels Kritik an Parsons bestimmt war: Es soil nicht an einem kategorialen Schema gefeilt werden, das es uns erlaubt, die soziale Wirklichkeit als ein System zu betrachten, sondern es sollen die Prozesse aufgezeigt werden, durch die sich die soziale Wirklichkeit selbst als ein System konstituiert. Der Parsons'sche Systembegriff wurde als ein »theoretischer« gedacht, also als eine gedankliche Konstruktion von Kategorien, die eine Beschreibung von sozialem Geschehen erlaubt. Luhmann lehnt diese Parsons'sche, in der neukantianischen Denktradition verankerte Sichtweise ab. Soziale Systeme sind nicht nur analytische Schemata des Beobachters, »es gibt« sie wirklich (Luhmann 1984, S. 30). Diese Annahme stellt Luhmann vor jenes Problem, das 1908 von Simmel (1908: S. 22) formuliert wurde und zur Problemgenese der phanomenologisch orientierten soziologischen Theorie der Zwischenkriegszeit gehorte: Es kann nicht angenommen werden, dass erst der Beobachter die beobachteten Elemente zu einem System fiigt und so zu einem sinnhaft interpretierten Geschehen macht, sondern eine soziale Einheit als Gegenstand der Beobachtung stellt schon immer durch »Eigenleistungen« ihrer Elemente einen sinnhaften Handlungszusammenhang dar. Soziale Systeme sind also in dieser Sicht genetisch auf sich selbst bezogen und die Fragestellung bei ihrer Erforschung muss auf das »wie« ihrer Selbstkonstitution gerichtet sein, wobei das Sinngeschehen das wesentliche Moment dieser Selbstkonstitution darstellt. Soziale Systeme miissen demgemafi als existierende, selbstbezogene, sinnproduzierende, selbstgenerierende - also autopoietische - Systeme begriffen werden. Fiir diese Luhmann'sche Systemauffassung waren die Ergebnisse von Husserls Bewusstseinsanalysen pragend. Husserls Konzept des transzendentalen Bewusstseins, das in seinen intentionalen Akten den Pol der Weltgeltung darstellt, begreift Luhmann als die Beschreibung eines univer-
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sellen Sinngeschehens, in dem die Welt ais unendliche Vielfalt von Moglichkeiten fortwahrend zu einem aufeinander verweisenden - sinnhaften ~ Zusammenhang geordnet wird: »Husserl hatte nun phanomenologisch beschrieben, dass die Welt, obwohl unendlicher Horizont, ihre eigene Bestimmbarkeit garantiere« (Luhmann 1984: S. 122). Die Rede von der Welt als Horizont, die ihre eigene Bestimmbarkeit garantiert, zeigt uns an, in welcher Richtung Luhmann Husserls urspriingliches Konzept verschiebt. Den transzendentalen Charakter der von Husserl aufgezeigten Bewusstseinsstrukturen versteht er als einen Hinweis auf die Universalitat des dort geleisteten Sinngeschehens, welches gerade dieser seiner Universalitat wegen nicht als an empirische Subjekte gebunden gedacht zu werden braucht, da es in Bezug auf konkrete Individuen als diese transzendierend gilt. Husserls Vorstellungen von der Unsterblichkeit und der Unendlichkeit des transzendentalen Bewusstseins als einer sinnstiftenden Struktur konnten am ehesten als Evidenzen fiir diese Auffassung dienen. Flir Luhmann gilt dieses universelle Sinngeschehen als eine Art materiales A priori: Seine Ontologisierung des Systembegriffs hat quasi die Ontologisierung des transzendentalen Bewusstseins als einer Systemqualitat zur Folge. Mit dieser Ontologisierung geht aber auch eine Entsubjektivierung des Sinnbegriffes einher: Das universelle Sinngeschehen kann im Prinzip von zwei Seiten konstitutionsanalytisch angegangen werden (Luhmann 1984: S. 43). Es kann vom Subjekt her, aber auch von seiner subjekttranszendierenden - sozialen - Qualitat her analysiert werden. Luhmanns Entscheidung ist bekannt: Er baut seine Theorie sozialer Systeme auf einer asubjektiven Sinnkonstruktion auf. Dafiir gibt es gute Griinde, die in der soziologischen Tradition, im systemtheoretischen Denken, aber auch in Husserls Phanomenologie gefunden werden konnen. Das traditionelle, seit Durkheim formulierte soziologische Argument bestreitet die Rolle des subjektiven Bewusstseins bei der Konstitution sinnhafter Handlungsorientierung nicht - es verweist lediglich darauf, dass es ideelle Bestande eines koUektiven Wissens gibt, deren Konstitution und Aufrechterhaltung einer Gruppe bedarf, d. h. einer Handlungsstruktur, die nicht mit der Leistungsstruktur subjektiven Bewusstseins identisch ist, wenn sie auch darauf aufbaut. Systemtheoretisch gewendet heifit das, dass
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jene Gruppenstruktur eine sinnkonstituierende Organisation sozialer Beziehungen darstellt, in der dem Bewusstsein der Subjekte die Rolle von Elementen zukommt, die erst durch diese Organisation zu einem systembildenden Zusammenhang zusammengefiigt werden. Und mit Husserl vor Augen ist es einsichtig, dass eine Konstitutionsanalyse nicht von Einzelelementen (etwa Erlebnisinhalten) ausgehen kann, sondern nach der zusammenhangleistenden Struktur von sinngebenden (erfahrenden) Akten fragt. Allerdings ist diese zusammenhangleistende Struktur, d.h. der Organisationsmodus, in welchem Elemente zum Sinnzusammenhang werden, in psychischen und sozialen Systemen unterschiedlich - in diesen heii^t sie »Bewusstsein«, in jenen heifit sie »Kommunikation«. Somit steht Luhmann vor jener eingangs skizzierten Aufgabe, die sich der soziologischen Theorie unter dem Einfluss phanomenologischen Denkens am Anfang des Jahrhunderts stellte. Es gilt, die Selbstgenese des Sinnes, deren Analyse Husserl fiir den Bereich des transzendentalen Bewusstseins geleistet hatte, auch im Bereich des Sozialen und seiner spezifischen Akte zu erfassen. Ich mochte hier nicht auf die Paradoxien eingehen, die notwendigerweise entstehen, wenn ein am Subjekt orientierter Sinnbegriff zur Eigenschaft sozialer Systeme wird.^^^ Es muss hier der Hinweis geniigen, dass sich daraus zumindest eine Inversion des Intersubjektivitatsproblems ergibt. Es muss zwar nicht mehr die soziale Sinnkonstitution vom Subjekt aus nachgewiesen werden, dafiir wird aber die Frage nach den Leistungen des subjektiven Bewusstseins im Rahmen eines so verstandenen sozialen Sinnkonstitutionsprozesses zum Problem. Um diesem Problem auszuweichen, betrachtet Luhmann das Sinngeschehen als ein Drittes, als ein Produkt und zugleich als einen gemeinsamen Rahmen der Co-Evolution von psychischen und sozialen Systemen, welche durch die ihnen jeweils eigene Organisation ihrer Akte (Bewusstsein, Kommunikation) die fiir ihre Selbstproduktion (Autopoiesis) erforderlichen Leistungen des Sinngeschehens erreichen. Darin liegt wohl der eigentliche Grund dafiir, dass Luhmann den Sinn als ein nicht an Subjekte gebundenes Phanomen verstanden haben will. Dabei besteht allerdings kein Zweifel, dass er die ^Zu diesen vgl. Hejl (1986), Haferkamp (1987) und Habermas (1985).
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Leistungen des Sinngeschehens auf der Grundlage der Husserl'schen Konzeptlon des transzendentalen Bewusstseins bestimmt: »Was Sinn 1st, lasst sich am besten in der Form einer phanomenologischen Beschreibung vorfiihren. [...] Husserl hatte in Richtung auf eine Theorie des transzendentalen Subjekts abstrahiert, wir abstrahieren in Richtung auf iibergreifende Giiltigkeit fiir personale und fiir soziale Systeme. Das heifit: Begriffe wie Intention, Verweisung, Erwartung, Erleben, Handeln bezeichnen in der folgenden Darstellung Elemente bzw. Strukturen, die sowohl psychischen als auch sozialen Systemen aufgeordnet werden k6nnen« (Luhmann 1984: S. 93 und S. 93, Anm. 3). Welches sind nun die systemfundierenden Leistungen des Sinngeschehens? Nach systemtheoretischer Vorgabe benennt sie Luhmann als Reduktion der Komplexitat, Aufrechterhaltung der Grenzen System/Umwelt und Aufrechterhaltung der Selbstreferenz. Obwohl damit drei Grundpfeiler systemtheoretischer Theoriekonstruktion genannt sind, benutzt Luhmann zu ihrem Aufbau vornehmlich phanomenologisches Gedankengut. Er geht zuerst von der intentionalen Verweisungsstruktur aus, durch die die aufieren und die inneren Horizonte des Erlebens und Handelns miteinander verwoben sind. In diesem Rahmen besteht die Sinnleistung in der Verweisung auf die Moglichkeitshorizonte von Erleben und Handeln, sowie auf die darin enthaltene Differenz zwischen aktuell Gegebenem und dem daraufhin Moglichen (also etwa zwischen den offenen und problematischen Moglichkeiten Husserls (Husserl 1972: § 21c)). Alle in dieser Verweisungsstruktur vorkommenden Inhalte und Ereignisse tauchen also als auf ein anderes verweisend auf. Daher ist alles, was derart organisierten Systemen begegnen kann, mit Sinn besetzt. Das Sinngeschehen ist universal und ordnend - d. h. selektiv. Damit ist die erste Ebene erreicht, auf der das Sinngeschehen die Komplexitat der Welt reduziert, indem es sie zum Sinnzusammenhang ordnet, gleichzeitig aber ihre prinzipielle Offenheit in Gestalt eines Moglichkeitshorizonts aufrechterhalt. Die zweite Ebene wird dadurch erreicht, dass im Sinngeschehen eine Selektion der zu aktualisierenden Moglichkeiten aus der Menge jener erfolgt, auf die Gegebenes verweist. Diese Selektion bedeutet also, dass bestimmte Moglichkeiten in Realisierung iibergehen und so als realisierte Elemente dem
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System zugeordnet werden konnen, im Gegensatz zu anderen, die auf dem Moglichkeitshorlzont bleiben. Indem nun durch diese Selektionsleistung des Sinngeschehens die Elemente der Verweisungsstruktur in realisierte Systemzustande und deren Moglichkeitshorizonte geteilt werden, wird durch den Sinnbereich der Systeme eine Grenze gezogen, die das System von seiner Moglichkeitenumwelt trennt. Da dies jedoch eine Sinngrenze ist, hat sie zugleich eine trennende und eine verbindende Funktion.^^-^ Sie verweist auf Elemente innerhalb und aufierhalb des Systems und hat somit einen durchlassigen, beweghchen Charakter. Diese komplexitatsreduzierende und grenzziehende Funktion konnte das Sinngeschehen nicht leisten, wenn es nicht einen hohen Grad an Reflexivitat, also an dem Vermogen, eigene Zustande und Akte anzuschauen, besafie. Die Selektion und die realisierende Systemzuordnung von Elementen der Verweisungsstruktur setzen eine Selbstregulierung des Sinngeschehens auf dem Wege der Selbstbeobachtung und Differenzierung von Sinnelementen voraus. Das transzendentale Bewusstsein Husserls, das sich quasi unendlich in seinen eigenen Akten immer wieder aufbaut und seine intentionalen Korrelate im Prozess dieser Reproduktion zu einem Sinnganzen der Welt werden lasst, dient hier Luhmann als das Modell eines solchen Prozesses. In Luhmanns neutralisierender, vom Subjekt wegfiihrender Sprache heifit dann ein solches Sinngeschehen, das zu seiner Realisierung (also zur Sinnkonstitution als eigener Reproduktion) ausschliefilich auf die in der von ihm hervorgebrachten Verweisungsstruktur enthaltenen Elemente zuriickgreift, selbstreferenziell. Sinnorganisierte Systeme sind daher selbstreferenzielle Systeme, also solche, die selbstgenerierend sind. In Luhmanns Worten: »Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence« (Luhmann 1984: S. 1001). Damit ist das Stichwort gefallen, das uns den anderen Argumentationsstrang Luhmanns ankiindigt, der sich hier iiberraschenderweise mit dem phanomenologischen Gedankengut verbindet. Es handelt sich um die Theorie der Autopoiesis als Organisation lebender Systeme, die als der Versuch einer »Biologie der Erkenntnis« von den chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francesco Varela entworfen wurde. Es soil hier ^Vergleiche dazu auch den Grenzbegriff bei Plessner (1975: S. 99 ff.).
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nicht erortert werden, inwiefern Luhmanns Synthese der systemtheoretischen, der phanomenologischen und der autopoietischen Argumentation seine Konzeption einer asubjektiven Theorie sinnproduzierender sozialer Systeme wahrscheinlicher macht. Ich mochte hier lediglich priifen, welche Beriihrungspunkte es zwischen den autopoietischen und phanomenologischen Positionen gibt, geben kann, die die MogUchkeit gegenseitigen Bezugs eroffnen. Denn es ist keineswegs selbstverstandlich, dass phanomenologische Konzepte der Sinnkonstitution mit einer »Biologie der Erkenntnis« als kompatibel gelten konnen, gehen sie doch prinzipiell von der Kritik einer naturaUstischen Bewusstseins- und Korperauffassung aus. Welche fiir unsere Betrachtung relevanten Grundziige weist die Biologic der Erkenntnis Maturanas und Varelas auf?^^"^ Die Richtung, in der die Fragestellung der beiden Autoren vorstofit, ist cine konstitutionstheoretische. Nicht was gewusst wird, bzw. woher es gewusst wird, ist die Frage, sondern welches die Prozesse sind, in denen sich Erkennen (also Wissenskonstitution) iiberhaupt vollzieht. Dabei gilt Erkennen als ein biologisches Phanomen, also als eine Qualitat von Organismen. Die Grundhypothese, von der die beiden Autoren ausgehen, ist die der autopoietischen Organisation aller lebenden Systeme. Autopoiesis heifit hier, dass Lebewesen eine Organisation besitzen, die als ein geschlossenes Netzwerk der Produktion von Bestandteilen begriffen werden kann, die durch ihre Interaktion jenes Netzwerk rekursiv produzieren, das sie hervorgebracht hat. Im Vollzug seiner Akte selektiert (verwirklicht) dieses Netzwerk seine Bestandteile und erhalt sich als eine Einheit im Raum (Maturana 1987: S. 99). Diese Organisation ist nicht etwa mit der Struktur (also mit den konkreten physiologischen Elementen und deren Beziehungen) des Organismus zu verwechseln. Diese kann sich wandeln bzw. in verschiedene Zustande geraten, wahrend die autopoietische Organisation identisch bleibt und so die Identitat des Systems in der Zeit gewahrleistet. Wird die Autopoiesis unterbrochen, liegt ein toter Korper vor uns. Die autopoietische Organisation ist also als ein prozessierender Zusammenhang leistender Akte zu denken, durch welche »die Dynamik von Interaktionen ^^'^Die folgende Darstellung stiitzt sich auf: Maturana (1982, 1987) sowie auf Maturana/ Varela (1980).
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und Transformationen bestlmmt wird, in die ein System eintreten kann« (Maturana/Varela 1980: S. 137). Das grundlegende Merkmal der autopoietischen Organisation ist so die Kognition, d. h. eben jene ihre Leistung, durch die ein Bereich bestimmt wird, innerhalb dessen das System seine Akte vollzieht. Dieser Aktionsbereich erstreckt sich potentiell sowohl auf die Umgebung als auch auf das Innere des Systems. Er verdankt sich aber keiner abstrakten Bestimmung, sondern wird durch die Akte des Systems, durch seine Interaktion konstituiert. Der Interaktionsbereich des Systems ist also zugleich sein kognitiver Bereich. Dieser ist zwar durch die in der autopoietischen Organisation angelegte Reichweite der Akte begrenzt, innerhalb dieser Grenzen jedoch unbeschrankt (Maturana 1982: S. 75). Das System in seinen Interaktionen schafft sich so ein seiner Organisation adaquates Kognitionsfeld; es verhalt sich nicht etwa zu einer Aufienwelt an sich, sondern die ihm prasente Realitat ist immer an die Art seiner autopoietischen Organisation gebunden (Maturana 1982: S. 73). In diesem Sinne sind autopoietische Systeme, trotz der Tatsache, dass es zu ihrer Autopoiesis gehort, in der Welt zu agieren, zugleich geschlossene Systeme, denn ihr Kognitions- und Handlungsbereich wird durch ihre innere Organisation bestimmt und nur durch sie moglich. So wird nicht nur das Medium - die Umwelt - als das »auCere« Kognitionsfeld des Systems aufgrund seiner autopoietischen Organisation und Struktur als fiir es bedeutsam (sinnhaft) konstituiert. Auch die Interaktion zwischen dem System und seiner derart beschaffenen Umwelt vollzieht sich nicht nach einem Input/Output- bzw. nach einem Reiz/Reaktion-Schema. Vielmehr rufen Veranderungen in der Umwelt bestimmte Zustande im System hervor, deren Konstitution jedoch ausschliefilich im Rahmen der autopoietischen Systemorganisation erfolgt. Veranderungen in der Umwelt konnen zwar zur Selektion dieser Systemzustande beitragen, sie sind jedoch mit ihnen weder identisch noch sind sie im kausalen Sinne deren Ursache. Das kognitive Bild der »aufieren« Realitat ist eine Leistung des Systems selbst, wenn auch zwischen der Organisation des Systems und dem von ihm ausselektierten Medium eine Isomorphic angenommen wird. Systeme benutzen also ihre eigenen Zustande und deren Veranderungen, um die »Welt« zu beschreiben (Maturana 1987: S. 113).
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So, wie aufgrund seiner autopoietischen Organisation ein AuEenhorizont von Moglichkeiten fiir das System prasent wird, erschliefit sich in seinem kognitiven Feld auch ein Innenhorizont: Lebewesen, die iiber ein Nervensystem verfiigen, konnen mit ihren eigenen Zustanden interagieren. Sie werden so selbst zu einem Bestandteil ihres kognitiven Feldes. Das bedeutet nicht, dass Kognition ein Produkt von neuronalen Aktivitaten ware. Das Nervensystem erweitert lediglich die Interaktionsmoglichkeiten eines Organismus. Im Organismus selbst fungiert es aber als ein geschlossenes System, dessen Zustande lediglich Elemente der autopoietischen Organisation sind (Maturana 1987: S. 101, 104). Je entwickelter das Nervensystem wird, desto mehr erweitert sich der Interaktionsbereich, desto komplexer werden die Moglichkeiten des Systems, sich zu den Eigenzustanden zu verhalten. Aufgrund dieser »Selbstbeobachtung« konnen Organismen die Differenz zwischen sich und der Aufienwelt treffen und ihr inneres Verhalten in ein beobachtbares umsetzen, d. h. in Kommunikation mit anderen treten. Die kognitiven Bereiche der kommunizierenden Systeme werden dann zu einem konsensuellen Bereich (Maturana 1982: S. 255). Dabei spielt ein interessantes Ergebnis der wahrnehmungsphysiologischen Forschung der Autoren eine wichtige RoUe: Wenn es zu einer »strukturellen Koppelung« eines Systemzustands mit einem anderen, auf seinem Innen- oder Aufienhorizont befindlichen, kommt, gilt eine solche Koppelung zuerst immer als der generelle Fall, d. h. als die Regel. Es sind weitere spezifizierende Koppelungen notig, um die Einmaligkeit einer Erfahrung zu etablieren (Maturana 1982: S. 73). Die strukturellen Koppelungen der Zustande mehrerer autopoietischer Systeme im konsensuellen Bereich erhalten so den Charakter von Typisierungen. Tritt die Fahigkeit dazu, diese primare, im Verhalten objektivierte »Weltbeschreibung« vermittels der Sprache abermals zu beschreiben, erschliefit sich aufgrund der ontogenetischen Plastizitat der interagierenden Systeme die Moglichkeit einer unbegrenzten Varietat der konsensuellen Bereiche (Kulturen), die in ihrer jeweiligen Auspragung eine notwendige (weil immer prasente) selbst geschaffene Bedingung der selbstregulierenden Funktionsweise der menschlichen Autopoiesis sind (Maturana 1982: S. 308 f.). Es ist ersichtlich, dass das Hauptanliegen dieser Theorie bei aller
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Verdinglichung durch die naturwissenschaftliche Ausdrucksweise darin besteht, die Selbstgenese der Kognition nachzuweisen und so ihre Subjektbezogenheit als den notwendigen, unentrinnbaren Bestandteil der Organisation von Lebewesen hervorzuheben. Damit wird der Kritik, die die phanomenologischen Ansatze seinerzeit an den naturalisierenden Konzeptionen der Psychologie und der Wahrnehmungsphysiologie iibten, die Spitze genommen. Denn der gegen diese naturalisierenden Auffassungen gerichtete Vorwurf bestand vor allem darin, dass sie die Rolle der »leistenden Subjektivitat« (Husserl 1962: § 13 f.). libersehen und aufierstande sind, die Gegebenheit der Welt und der Natur, von der sie die Wissenschaften sein wollen, als ein Produkt des humanen Weltzugangs zu begreifen. Demgegeniiber wird die Selbstkonstitution eines sinnhaften Zusammenhanges »Welt« in den intentionalen Akten der leistenden Subjektivitat betont, die Husserl als die Akte des transzendentalen Bewusstseins, Merleau-Ponty (1966) als die einer sinnstiftenden Leiblichkeit und Scheler (1980) als die eines vital-geistigen Wesens zu erfassen sucht. Die Betonung liegt dabei immer auf dem Nachweis einer geschlossenen Struktur, durch deren Leistung die Unendlichkeit der Moglichkeiten des Welthorizonts sichtbar wird und als ein aufeinander sinnhaft bezogener Verweisungszusammenhang erscheint. Das Ziel der phanomenologischen Reduktion Husserls ist es, leistendes Bewusstsein in seiner »Reinheit« zu betrachten, »als einen fiir sich geschlossenen Seinszusammenhang [...], als einen Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschliipfen kann, der kein raumlich-zeitliches Draufien hat und in keinem raumlich-zeitlichen Zusammenhange darinnen sein kann, der von keinem Ding Kausalitat erfahren und auf kein Ding Kausalitat liben kann - vorausgesetzt, dafi Kausalitat den normalen Sinn natiirlicher Kausalitat hat, als einer Abhangigkeitsbeziehung zwischen Realitat« (Husserl 1950: § 49). Durch die Reduktion auf diesen geschlossenen Zusammenhang haben wir »nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das [...] alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich >konstituiert<« (Husserl 1950: § 50). Und auch Merleau-Ponty in seiner Kritik des Husserlschen Intellektualismus geht aus von der Denkfigur der Selbstgenese des Sinnes als der Leistung eines subjektiven, geschlossenen Zusammenhangs,
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wenn er auch diesen Zusammenhang vom Bewusstsein in die Leiblichkeit vorveriegt: »Durch den Begriff des Korperschemas ist nicht allein die Einheit des Leibes auf neue Weise bestimmt, sondern durch diese auch die Einheit der Sinne und die Einheit des Gegenstandes. Mein Leib ist der O r t des Phanomens des Ausdrucks oder vielmehr dessen Aktualitat selbst, [...] ihr Ausdruckswert begriindet die vorpradikative Einheit der wahrgenommenen Welt und hierdurch auch die Darstellung im verbalen Ausdruck wie die intellektuelle Bedeutung« (Merleau-Ponty 1966: S. 274 f.). Und denken wir an das »Aktionssystem« Schelers (1980: S. 168 f., 294 f.), d. h. jene Struktur von Vermogen und Intentionen des menschHchen Wesens, der das innere als auch das aufiere MiHeu der Gattung Mensch angepasst sein miissen, bzw. an die Schiitzsche Analyse der Selbstgenese von Kulturwelten (Schiitz 2003a), dann sehen w^ir, dass hier Sachverhalte in einer Weise formuliert wurden, die sich mit jener der oben skizzierten autopoietischen Theorie beriihren. Vollig iiberraschend kommt diese Korrespondenz der Perspektiven nicht. Der mogliche gegenseitige Bezug zwischen einer phanomenologischen und einer biologischen Konstitutionsanalyse der subjektbezogenen Weltgegebenheit zeigte sich schon friih in der Scheler'schen Rezeption der Umweltlehre Uexkiills (Uexkiil/Kriszat 1970), die ihrerseits Gemeinsamkeiten mit dem autopoietischen Modell aufweist. Andererseits lasst Luhmanns Hauptthese der Komplexitatsreduktion der Welt durch sinnstiftende Sozialitat den oben skizzierten Grundgedanken der philosophischen Anthropologic erkennen.^^^ Und so zeigt die Affinitat zwischen dem phanomenologischen Konzept der Sinnkonstitution und der autopoietischen »Biologie der Erkenntnis« einmal mehr, dass es der Phanomenologie Husserls gelang, ein neues, unerschlossenes Wissensfeld von universaler Relevanz zu betreten und an Zusammenhangen zu riihren, deren Erforschung nicht auf den Bereich philosophischen Denkens beschrankt bleibt. Sie erscheinen vielmehr - sozusagen von der Sache selbst her - auf dem Horizont der Spezialwissenschaften, denen sie, wie im obi^^^Diesen Bezug fiihrt auch Luhmann selbst in einem seiner friihen Entwiirfe der Theorie sozialer Systeme expUzite auf (Luhmann 1974: S. 131, Anm. 9). Diesen Hinweis entnehme ich einem unpubHzierten Manuskript Uwe Schimanks (Schimankl988).
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gen Falle, eine Reformulierung ihrer Problemslcht auferlegen. Damit wird deutlich angezeigt, dass das phanomenologische Denken nicht nur ein Forschen ist, sondern dass auch das Forschen zum phanomenologischen Denken fiihren kann. Literatur: Attewell, Paul (1974): Ethnomethodology since Garfinkel. In: Theory and Society 1, S. 174-210. Attkinson, Paul (1988): Ethnomethodology. A Critical Review. In: Annual Review of Sociology,14, S. 411-465. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1971): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Cicourel, Aaron V. (1975): Sprache in der sozialen Interaktion. Miinchen: List. Douglas, John D. (ed.) (1971): Understanding Everyday Life. London: Rout ledge. Garfinkel, Harold (1952): The Perception of the Other. A Study in Social Order. Diss., Harvard. - (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Gehlen, Arnold (1962): Der Mensch. Wiesbaden: Athenaion (erstmals 1940.). Goffman, Erwing (1975): Interaktionsrituale. Frankfurt/M.: Suhrkamp. - (1974): Frame Analysis. London: Penguin. Habermas, Jtirgen (1985): Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse. In: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp S. 426-455. Haferkamp, Hans (1987): Autopoietisches soziales System oder konstruktives soziales Handeln? In: Schmid, Michael/Haferkamp, Hans (Hg.):
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3. Marx' Konstruktion sozialer Lebens-Welten A. Einleitende Bemerkungen Die Phanomenologie in der Husserrschen Spatfassung wird als eine Wissenschaft von der Lebenswelt konzipiert (Husserl 1962: § 39). Je klarer jedoch die Schwierigkeiten hervortreten, eine solche Wissenschaft von der Lebenswelt transzendental zu begriinden und so eine universelle Konstitutionstheorie der Lebenswelt zu formulieren^^^, desto aktueller stellt sich das Problem der Konstitution historisch-spezifischer Lebenswelten. Unter dieser Fragestellung entwickelte sich eine Richtung der Soziologie, an deren Ursprung Alfred Schiitz^^'^ stand und die gemeinhin als phanomenologische Soziologie bezeichnet wird. Gleichzeitig ist seit den Dreifiiger Jahren eine Diskussion im Gange, die das gegenseitige Verhaltnis von Phanomenologie und Marxismus zum Gegenstand hat und unter verschiedenen Aspekten nach ihren Gemeinsamkeiten fragt. Die Versuchung liegt also nahe - und der Charakter der Marx'schen Theorie bestarkt sie -, den Versuch zu wagen und die Frage zu stellen, ob nicht in den Marx'schen Analysen Ansatze zur Beschreibung der Konstitution historisch konkreter Lebenswelten auszumachen sind. Dabei ware die Aufmerksamkeit nicht so sehr den bekannten Marx'schen Ausfiihrungen liber die Grundsatze der Entwicklung sozialer Strukturen zu widmen, sondern vielmehr der Art und Weise, wie Marx die konkrete Wirklichkeit, die das Resultat der so gefassten gesellschaftlichen Prozesse darstellt, konstruiert. Der Nutzen des Unternehmens ware ein doppelter: Gelingt es, eine solche Konstitution bei Marx auszumachen, dann konnten sich daraus ergeben: a) ein Ausgangspunkt fiir eine sinnvolle Annaherung von Marxismus und Phanomenologie; b) Ansatze zu einer Weiterfiihrung der ^^^Eine Zusammenfassung dieser Schwierigkeiten und ihrer Konsequenzen siehe z. B. bei Waldenfels (1971) und Strasser (1976). ^^•^Zum Schiitzschen Ansatz siehe zusammenfassend Schiitz/Luckmann (1975).
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bei Schiitz angelegten Analyse der Struktur alltaglicher Lebenswelt (z. B. indem man die geschichtliche Dimension der sozialen Verteilung von Wissen, des Systems von Reievanzen etc. spezifizieren konnte). Zunachst miissen wir, um Marx einer solchen Fragestellung unterziehen zu konnen, sehen, ob bei ihm die Vorstellung von einer Lebenswelt vorhanden ist. Da dies der Gegenstand des vorliegenden Textes ist, ist hier nur zu klaren, was unter dem Terminus »Lebens-Welt« in Bezug auf Marx verstanden wird. Diese etwas literarische Neuschopfung, die an dieser Stelle der Untersuchung nur als eine Metapher gelten kann, geht auf die Ausfiihrungen in der »Deutschen Ideologie« (Marx/Engels 1973) zuriick. Marx und Engels sprechen dort bekanntlich von der Produktion des materiellen Lebens einer Gesellschaft, worunter er sowohl die Produktion im klassischen Sinne der Herstellung versteht als auch das Hervorbringen von gesellschaftlichen Verhaltnissen und Institutionen, also von Gesellschaft als einem Phanomen sui generis. Produktion (menschliche Aktivitat) bringt demnach die Welt des (Er-)Lebens einer Gesellschaft hervor, eine Lebens-Welt. B. Einstieg in die Problematik Sollen die Begriffe »Lebenswelt« und »Lebens-Welt« nicht ein blofies Wortspiel bleiben, so ist zu untersuchen, ob sie beziiglich ihres Inhalts und ihrer Konstruktion vergleichbar sind. Zuerst sei kurz Husserls Bestimmung der Lebenswelt erwahnt, die als Paradigma aller anderen Lebensweltkonzeptionen angesehen werden kann. Husserl bestimmt die Lebenswelt als eine »Welt des Lebens, die alle praktischen Gebilde [...] ohne weiteres in sich auf nimmt« (Husserl 1962: S. 176). Sie ist ein Bereich der »alltaglich-praktischen Situationswahrheiten«, die zwar relativ sind, aber genau diejenigen, die »die Praxis jeweils in ihrem Vorhaben sucht und braucht« (Husserl 1962: S. 135). In diesem Sinne gilt die Lebenswelt als ein »Universum prinzipieller Anschaubarkeit«, als ein »Reich urspriinglicher Evidenzen« in der vorwissenschaftlich-natiirlichen Einstellung, in dem alle Wissenschaften samt ihren Aussagen wurzeln und
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Bewahrung finden konnen (Husserl 1962: S. 130 ff.)^^^. So ist die Lebenswelt diejenige Sinnbasis, auf die die Aussagen der Wissenschaften kritisch zuriickzubeziehen sind. Die Wissenschaften selbst gehoren gleichermafien als Kulturtatsachen dem lebensweltlichen Horizont an, wie ihm auch alle reaien Individuen und die »realen« Dinge in ihrer Anschaulichkeit angehoren (Husserl 1962: S. 132 f.). Das fundierende und mit kritischer Absicht aufgezeigte Verhaltnis der Lebenswelt zu den Wissenschaften verlockt sehr zu einer ParalleHsierung dieses Verhaltnisses mit der Marxschen Gegeniiberstellung von Basis (den materiellen Produktionsbeziehungen) und Uberbau (ihrer »ideologischen« Reflexion), die dieselbe kritische Intention in Bezug auf die »entfremdeten« Wissenschaften beinhaltete (Marx/Engels 1973: S. 37-38; Marx 1973a: S. 9). Eine so gesehene ParalleUtat wird auch in der Tat haufig als Ansatz zu einer gemeinsamen Behandlung der Theorien von Husserl und Marx (Langrebe 1977: S. 102, Grofi 1975: S. 11, Piccone 1971: S. 25) benutzt und stellt, wie sich zeigen wird, eine Quelle haufiger Missverstandnisse dar, die geeignet sind, eine sinnvoUe Bezugnahme des phanomenologischen Ansatzes auf das Marx'sche Denken geradezu unmoglich zu machen. Ein Grund dafiir lasst sich generell formulieren: Er besteht in der bei naherem Hinsehen zutage tretenden Art und Weise der Konstruktion der beiden Wirklichkeitsbereiche (d. h. der Lebenswelt und der »Basis«), die im Falle Husserls von der phanomenologischen transzendentalen Reduktion, im Falle Marxens von der Analyse der kollektiven sozio-okonomischen Beziehungen ausgeht. Es scheint, dass die beiden Konstruktionsprozesse ^^^Die Mehrdeutigkeit des Lebensweltbegriffs, wenn man ihn als »Universum prinzipieller Anschaubarkeit« definiert, soil hier vorerst aufter Acht gelassen werden. Diese Bestimmung zielt klarerweise sowohl auf die Lebenswelt der »doxischen« Einstellung als auch auf die transzendentale Universalstruktur aller moglichen Lebenswelten, die in der Reduktion beschreibbar sind, ab. Das zeigen z. B. die Arbeiten von Waldenfels (1971: S. 24 ff.), Aguirre (1970: S. 176) und Vasquez (1976: S. 113 £). Doch u. E. liegt das Innovatorische des Husserl'schen Denkens an diesem Punkte in der Idee der Sinnstiftung durch die Lebenswelt als des Reiches der »Urevidenzen«, der Seinsgewissheit in der natiirlichen Einstellung, und nicht unbedingt in ihrer transzendentalen Durchfiihrung. Daher halten wir uns an die ersterwahnte Bedeutung des Lebensweltbegriffs. Die Schwierigkeiten, die aus seinerMehrdeutigkeit resultieren, gehen jedoch in die weitere Argumentation ein, insofern sie fiir den Bezug auf Marx relevant werden.
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sich In entgegengesetzte Richtungen bewegen, wobei der Husserl'sche Weg in den Bereich dessen hinzufiihren scheint, was Marx als »Ideologie« bezeichnet hat. In Anbetracht dieser Divergenz, die sich entweder als ein Gegensatz zwischen transzendentalem und ontoiogischem Vorgehen oder, in Marx'schen Termini, als einer zwischen »Ideologie« und historisch-materialistischer Diaiektik fassen lasst, sind zwei Standpunkte mogiich: a) Die Mogiichkeit eines sinnvollen Aufeinanderbeziehens von Phanomenologie und Marxismus kann entschieden negiert werden; dann namHch, wenn die Divergenz der beiden Ansatze in Form des ersten Gegensatzes konzeptualisiert wird (Urbancic 1977: S. 144). b) Wird der zweite Gegensatz als Ausdruck der Divergenz formuliert, so ist er mit einer Negation des transzendentalen Anspruchs gleichzusetzen. In einem solchen Falle konnen Lebensweltkonzeptionen, die auf Transzendentalitat verzichten, in die Marx'sche Konstruktion integriert werden. Dies trifft etwa auf diejenige von Schiitz zu, in der die Analyse der Lebenswelt als Analyse der Welt der natlirlichen Einstellung, d. h. des gelebten Verhaltnisses zur Welt, aufgefasst wird. Dieses gelebte Verhaltnis gilt dann allerdings nicht als ein Element der »Basis«, sondern als eines des »Uberbaus«: namlich als das falsche Bewusstsein schlechthin, das seinen historischen Ursprung nicht reflektiert und sich in der Entfremdung verliert. Solche Lebensweltkonzeptionen konnen, soweit sie, wie etwa die Schiitz'sche, die Analyse der Strukturen der Alltagswirklichkeit zum Gegenstand haben, als eine richtige Beschreibung der entfremdeten sozialen Realitat gelten, die zwar ihre Entfremdung verkennen, in ihrem Rahmen aber zutreffen.^^^ In diesem Sinne werden sie als fiir eine Erganzung des Marxismus brauchbar angesehen.^-^^ Eine spezifische Form dieser Argumentation ist noch zu erwahnen: der »Heidegger'sche« Marxismus. Mit Heidegger wird hier auf der Suche nach dem eigentlichen Sein - nach dem Individuum, das in der Totalitat seiner eigentlichen Moglichkeiten lebt - die Destruktion der Uneigent^^^So etwa Leithauser (1976: S. 104 f., 144), der in der Schuld des von der Frankfurter Schule gepragten Begriffs der »falschen Praxis« steht. ^^°Siehe die Rezeption von Heidegger durch Marcuse (1973: S. 59, 61, 67 £).
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lichkeit, des Pseudokonkreten, also der Lebenswelt in ihrer alltaglichen Form betrieben (Kosik 1967: S. 17, Marcuse 1973). Resultate von Lebensweltanalysen, die sich ihrem Gegenstand nur liber transzendentale Untersuchungen der leistenden Subjektivitat nahern konnen (so die von Husserl selbst), werden hochstens als anschaulicher Beleg der totalen Entfremdung angefiihrt, die der Bindung der Phanomenologie an die biirgerliche Klasse, deren Ideologie sie ist, entspringt.^^^ So betrachtet stellt die phanomenologische Wissenschaft von der Lebenswelt genau das dar, was Marx mit »Ideologie« im Gegensatz zu »Wissenschaft« bezeichnet (Marx 1973a: S. 9). Das kann in dieser Form allerdings kein Argument gegen das Phanomen der Lebenswelt selbst sein. Eine Parallelisierung von »Lebenswelt« und »Basis« scheint also schon deswegen bedenklich zu sein, weil diese Zuordnung keine eindeutige ist. Abgesehen von jeglicher Bewertung des Wahrheitsgehalts der Rede von der Lebenswelt als Inbegriff falschen Bewusstseins scheint eins klar zu sein: Man kann mit Marx leicht auch so argumentieren, dass diese Zuordnung in ihr Gegenteil umschlagt - die Lebenswelt wird ein Element des »Uberbaus«. Doch ist dies nicht die einzige Widerspriichlichkeit, die der obigen Parallelisierung innewohnt. Auch wenn man sich iiber die oben aufgezeigten Probleme hinwegsetzt und ein adaquateres Verstandnis von Marx und Husserl zum Ausgangspunkt nimmt, wenn man namlich eine phanomenologische Rekonstruktion des Marxismus durchfiihrt, in der die Lebenswelt zur >Basis< materialisiert wird^^^, sieht man sich Schwierigkeiten, allerdings anderer Art, ausgesetzt. Inwiefern, so konnte man fragen. ^^^So Lukacs (1962: S. 11, 12, 15, 16 und Abschnitte 5 und 6 des 4. Kapitels). Etliche Autoren (etwa Dallmayr 1977: S. 15 ff.; Piccone 1971: S. 8 oder Smart 1976: S. 116) glauben, bei Lukacs eine erste Beriihrung von Phanomenologie und Marxismus ausmachen zu konnen. Es ist nicht ausgeschlossen, wenn auch nicht belegt, dass Lukacs in seiner Heidelberger Zeit mit der Phanomenologie in Beriihrung kam. Sein marxistisches Werk lasst jedoch m. E. keine positive Bezugnahme auf die Phanomenologie erkennen. ^^^So Piccone (1971: S. 24): »Whereas Marx materiaUzes Hegel, critical or >phenomenological< Marxism must >materialize< Husserl by interpreting the base as the 'Lebenswelt' and the worker as the >transcendental subjectivity< precisely to the extent that both notions have become reified within >orthodox< Marxism and occlude rather than explain social dynamics.«
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decken sich die beiden Bereiche thematlsch, d. h. konnen sie liberhaupt ineinander iiberfiihrt werden, wenn man einen Perspektivenwechsel vornimmt? Eine detailllerte Bestandsaufnahme dessen, was thematisch in die beiden Bereiche hineingehort, ist, wenn liberhaupt mogHch, hier nicht zu ieisten. Fiir unseren Zweck geniigt es aber vollkommen, wenn wir uns auf die Abgrenzung der »Basis« gegeniiber dem »Uberbau« beschranken, d. h. die Trennungskriterien untersuchen, um zu sehen, ob sie auch bei der Bestimmung der Lebenswelt greifen. Wir haben z. B. gesehen, dass die Husserl'sche Lebenswelt die Wissenschaften einschliefJt und mit ihnen auch alle anderen »Kulturtatsachen«. Bei Marx gehoren der Basis jedoch per definitionem bekanntlich nur die Produktionskrafte und Produktionsverhaknisse an. Im Falle der Wissenschaften konnen demnach nur diejenigen der Basis angehoren, die als Produktivkraft zu betrachten sind - also nur die technischen. Der Status der politischen Okonomie z. B. ist schon unklar, da sie in ihren »burgerlichen« Modi der sozialen Wirklichkeit gegeniiber eine entfremdete, d. h. die kapitalistische Produktionsweise als »naturlich« darstellende, Einstellung einnimmt. Alle iibrigen institutionalisierten Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins, sowohl des wissenschaftlichen als auch des laienhaften, bevolkern das Reich des »Uberbaus«. Wird eine solche Abgrenzung einer Lebenswelt gerecht, die »alle praktischen Gebilde (sogar die objektiven Wissenschaften als Kulturtatsachen... ) ohne weiteres in sich aufnimmt« (Husserl 1962: S. 176)? Es wird offensichtlich, dass die Absicht, die Lebenswelt durch eine bei Husserl fehlende - soziale Struktur zu erganzen, also zur »Basis« zu materialisieren, durch eine Reduktion der thematischen Weite des Begriffs erkauft wird. Es geschieht namlich folgendes: Die Lebenswelt auf soziale Strukturen ausdehnen heifit zunachst nur: in irgendeiner Weise den Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, die Husserl mit der transzendentalen Konstitution der Intersubjektivitat hatte. Eine immanente thematische Einschrankung liegt im Lebensweltbegriff selber nicht. Im zweiten Schritt ist dann zu zeigen, wie sich die konkrete Sozialitat einer historischen Lebenswelt konstituiert und wie sie beschrieben werden kann. Dieser
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zweite Schritt wird nun offensichtlich mit der Gleichsetzung »Lebenswelt« - »Basis« intendiert. Dadurch wird aber die Bestimmung der Lebenswelt in ihrer thematischen Offenheit eingeschrankt. Die Inadaquatheit der Parallelisierung und damit auch diejenige des in ihr angelegten Ansatzes, zwischen einer phanomenologischen Theorie der Lebenswelt und Marx zu vermitteln, wird deutlich. Dabei bestatigt sich auch der allmahlich aufkommende Zweifel, dass die Anwendung des Begriffspaares »Basis« - »Uberbau« zum Zwecke der Lokalisierung der Stellung des Lebensweltbegriffs im Rahmen der Marx'schen Theorie nicht die gliickHchste ist. Es gibt noch einen spezifischen Grund daflir, dass der Basisbegriff als das Marx'sche Gegenstiick zur Lebenswelt immer wieder aufgegriffen wird. Wir haben ihn schon eingangs gestreift. Er liegt in der tragenden Idee der Wissenschaftskritik, wie sie von Marx und Husserl formuliert wird: namlich dass die wissenschaftlichen Aussagen erst sinnvoll werden, wenn sie auf eine sie fundierende Ebene zuriickbezogen werden, die aufierhalb ihrer liegt. Denn, so das Argument, wenn Marx durch radikalen Bezug der »burgerlichen« Wissenschaften auf die materiellen Bedingungen ihres Entstehens ihre wirkliche Bedeutung klar werden lasst, so tut Husserl ahnliches, indem er den Sinn der wissenschaftlichen Aussagen auf ihre lebensweltliche Fundierung zuriickfiihrt. Will man nun die Wissenschaftskritik der beiden Autoren als einen Einstieg in die Lebensweltproblematik benutzen, so wird man verfiihrt, von der Parallele »Lebenswelt« - »Basis« auszugehen, um die Gemeinsamkeiten der beiden Kritiken hervorzuheben. Verfahrt man so, dann werden nicht nur die oben ausgefiihrten Widerspriichlichkeiten generiert, sondern es wird auch dem Husserlschen kritischen Ansatz die Grundlage entzogen. Diese besteht in dem transzendentalen Anspruch der Beschreibung der Lebensweltkonstitution, der seinerseits voraussetzt, dass die Lebenswelt nicht als ontologische Grofie gedacht wird, also kein Inbegriff des Seienden ist, um mit Heidegger zu reden, sondern in ihrer Universalitat den Charakter eines Horizontes hat. Die Lebenswelt stellt fiir Husserl immer, wenn er sie auf transzendentaler Ebene behandelt, einen Welthorizont dar. N u r so kann sie als Korrelat eines transzendentalen
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Bewusstseins gesehen und deshalb in der Reduktion als das »Polsystem einer transzendentalen Subjektivitat konstltutionsmaftig als der Sinnboden der Wissenschaften ausgewiesen werden«(Husserl 1962: S. 180 ff.). Wiirde man die Lebenswelt nicht als einen Welthorizont auffassen, sondern im Sinne einer materiellen Basis ontologisieren, wiirde man sie also als ein schlicht Seiendes (d. h.: als gesellschaftliches Sein) ansehen, dann ware damit der Weg zu einer Kritik der Wissenschaften, zumindest im Husserlschen Verstandnis, versperrt (vgl. Rovatti 1973: S. 33). Aber genau das, namlich eine Ontologisierung, erfahrt die Lebenswelt, wenn man sie auf Soziales bezieht. Sozialitat bedeutet namlich nicht nur Inter subjektivitat, sondern auch eine Externalisierung des intersubjektiv Gemeinten in sozialen Institutionen und daher eine Reifizierung der Resultate bewusster Aktivitat (Berger/Luckmann 1970: S. 64 f.). Dies bedeutet aber auch ihre Ontologisierung - ihre Verwandlung in Seiendes - und, insofern dieses Verdinglichte eine Bedingung weiterer Aktivitat ist, die Bestimmung dieser Aktivitat von aufien. Es lasst sich nun behaupten, dass eine der Hauptintentionen des Versuchs, Phanomenologie und Marxismus aufeinander zu beziehen, darin besteht, die Lebenswelt als eine soziale Struktur aufzuzeigen und so als den gemeinsamen Boden der beiden Theorien zu bestimmen. Ist dem so, dann ist die Wissenschaftskritik eine sehr briichige Ausgangsbasis dafiir; denn indem man mit Marx die Vergesellschaftung der Lebenswelt betreibt, ist man dabei, den im Transzendentalen verankerten kritischen Anspruch der Phanomenologie und damit den auf einem Kritizismus fufienden gemeinsamen Ausgangspunkt aufzugeben. Die Losung des Problems, die beiden Realitatskonstruktionen sinnvoll aufeinander zu beziehen, wird offensichtlich weder von einer kurzschlussartigen Parallelisierung von »Lebenswelt« und »Basis« noch von einem von der Wissenschaftskritik ausgehenden Ansatz begiinstigt. Wie sich im Laufe der Untersuchung zeigen wird, bedarf es mancher Umwege, bis eine fruchtbare Beziehung hergestellt werden kann. Die erste Bedingung hierfiir folgt aus den obigen Ausfiihrungen zu einem sinnvoUen Einstieg in solch ein Unternehmen. Dort zeigte sich, dass es wenig nutzt, die Lebenswelt thematisch einschranken zu wollen, indem man sie mit
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einem Teil der Dichotomic innerhalb der Marxschen Gesellschaftskonstruktion identifiziert. Alternativ bietet es sich angesichts des universellen Charakters der Lebenswclt an, sic mit dem Marxschen Totalitatsbegriff zu konfrontieren, der das Resultat der Lebensproduktion am authentischsten zu fassen scheint. Denn so wie die Lebenswelt alle Momente einschhefit, die den »naiven Seinssinn der Welt« fiir ein Subjekt fundieren, also sein »Welthaben« ausmachen (Husserl 1962: S. 180), so umfasst der Marxsche Totalitatsbegriff alle Momente, die das subjektive Aneignen einer gesellschaftlichen Welt bestimmen. An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs notwendig, der die oben schon angedeutete Notwendigkeit klart, den transzendentalen Weg aufier Acht zu lassen, wenn der hier vorgenommene Versuch sinnvoll sein soil. Denn offensichtlich gehort es zu der Marxschen Bestimmung des gesellschaftlichen Handelns, dass die Bedingungen, unter denen gehandelt wird, selbst Resultate menschlicher Aktionen sind. Der Rahmen fiir die theoretische Rekonstruktion einer konkreten, historischen, produzierten Lebens-Welt ist damit gegeben.^^-^ Marx macht diese »lebensweltliche Evidenz« zu einer seiner theoretischen Hauptpramissen (vgl. Zeleny 1973: S. 51, sowie Schafer 1976: S. 148 ff.). Auch fiir Husserl sind die Probleme der Weltkonstitution (es bleibt in der Schwebe, ob einer Bewusstseinsmafiigen oder auch praktischen) durch den Menschen und die Vorgegebenheit der Welt dem Subjekt gegeniiber prasent als solche, die auf eine lebensweltliche Evidenz zuriickgehen.^^"^ Doch sein Ansatz zwingt ihn, zuerst die Konstitution des Anderen im Fremdverstehen, in den Bewusstseinsleistungen des transzendentalen Ego, zu untersuchen, damit der Sinn der Rede von »Menschen« im Plural transzendental gesichert wird (Husserl 1962: § 54). Dieser Weg, der mit den bekannten Schwierigkeiten verbunden ist, das Problem der Intersubjektivitat zu klaren (vgl. Waldenfels 1971: Kap I; Schiitz 1971b: S. 86 ff.), fiihrt zu dem Versuch einer universellen Theorie der Lebenswelt, deren intersubjektive Geltung wiederum von dem Erfolg ^^•^Wildermuth (1970: S. 109) nennt den sich beim jungen Marx angesichts dieser Feststellung anbahnenden Ubergang zu einer Gesellschaftstheorie den Ubergang zur alltaglichen Lebenswirklichkeit. ^^^Husserl (1962: §§ 51-53); vgl. auch Waldenfels (1971: Kap. L, Abschnitte 2 und 3), wo Belege aus dem gesamten Husserl'schen Werk zu finden sind.
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der ersten Untersuchung abhangt. So wird die in der Lebenswelt sich evidentermafien abzeichnende Problematik der praktischen Konstitution konkreter, historischer Lebenswelten auf der Ebene der transzendentalen Lebenswelttheorie zu dem Problem, wie sich eine universelle Struktur in der Konstitution der Lebenswelt durch das transzendentale Bewusstsein aufweisen lasst. Trotz aller Bedeutung solcher Analysen fiir die Beschreibung der Sinnstruktur der Lebenswelt ist nicht zu iibersehen, dass der transzendentale Ansatz nicht nur eine Reduktion als Methode verwendet, sondern dass er, durch seine Art und Weise, die Lebenswelt zu erfassen, auch eine Reduktion der mit dem Thema der Lebenswelt vorgegebenen Problematik darstellt. Wahrend namlich die HusserPsche Bestimmung der Lebenswelt diese einerseits als eine Welt der praktisch situativ begrenzten Subjekte beschreibt und daher durchaus eine Auffassung der Lebenswelt als einer historisch und sozial strukturierten erlaubt, reduziert andererseits der HusserPsche Versuch einer Theorie der Lebenswelt diese thematische Fiille auf einen Entwurf der transzendental-egologischen Rekonstruktion des lebensweltlichen »Welthabens«.Wenn also der phanomenologische und der Marx'sche Ansatz in der Lebenswelt und der Lebens-Welt einen Beriihrungspunkt haben sollen, dann muss der Lebensweltbegriff auch seitens der Phanomenologie in seiner mundanen thematischen Fiille konzeptualisiert werden. Erst so erschliefit sich die Sozialitat der Lebenswelt und hiermit auch der Zugang zur Erfassung der Konstitution historisch-konkreter Lebenswelten. Wir wollen mit dem Versuch fortfahren, uns einen Zugang zur Konstitution historischer Lebenswelten zu erschliefien. Wir fragen uns, inwiefern der Marx'sche Totalitatsbegriff dem einer Lebenswelt nahe kommt. Ein Zitat aus der »Deutschen Ideologie« soil hier die Marxsche Totalitatsauffassung verdeutlichen. Die adaquate geschichtliche Erfassung einer Gesellschaft, so formulieren Marx und Engels, »beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozefi, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhangende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die biirgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Ak-
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tion als Staat darzustellen wie die samtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewufitseins, Religion, Philosophic, Moral etc. etc. aus ihr zu erklaren und ihren Entstehungsprozefi aus ihnen zu verfolgen, wo dann natiirlich die Sache in ihrer Totalitat (und darum die Wechselwirkung der verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann [...] Diese Summe von Produktionskraften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als >Substanz< und >Wesen des Menschen< vorgestellt haben« (Marx/Engels 1973: S. 37 f. Hervorhebung I.S.). Es wird aus diesem umfangreichen Zitat deutlich, dass der Begriff der Totalitat nicht nur die Summe der im Prozess der Lebensproduktion entstehenden sozialen Verhaltnisse, Institutionen und Wissenssysteme umfasst und damit den Bereich der Evidenzen abdeckt, sondern dass er gleichzeitig auch eine Darstellung der gegenseitigen Beziehungen seiner Momente mitmeint. Die Totalitat wird erst dann greifbar, wenn eine Strukturbeziehung der Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Genese fiir die Theorie sichtbar wird. Gesellschaft in ihrer Totalitat erfassen hei£t fiir Marx folglich, iiber die Ebene der unmittelbaren Lebensproduktion hinausgehen und den strukturell genetischen (dialektischen) Zusammenhang zwischen ihr und ihren Resultaten herstellen. So beinhaltet der Totalitatsbegriff sowohl die Ebene des unmittelbaren Welthabens als auch die der Rekonstruktion seiner historischen Konstitution, also die Ebene der Lebens-Welt und die der Wissenschaft von ihr. Mit dem Begriff der Lebenswelt ist er also nicht gleichzustellen, da der darin steckende Theorieanspruch eine Transzendenz der Ebene der »ursprunglichen Evidenzen« impliziert. Die Implikationen des Totalitatsbegriffs hat Marx weder explizit behandelt noch implizit ausgeschopft. Dies aus dem folgenden Grunde: Es wird zwar im Totalitatsbegriff sehr wohl eine Lebens-Welt als die dem individuellen Aneignen unmittelbar vorgegebene gesellschaftliche Wirklichkeit angesprochen, jedoch gibt es hinter dieser »Front der Selbstverstandlichkeit« immer noch ein »Dahinter« der darzustellenden fundierenden Struktur, der das eigentliche Interesse gilt: Eine Verbindung wurde hier von Marx nie systematisch hergestellt, und Generationen von
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Marxisten griibeln iiber dieses Problem der »Vermittlung«.^^^ Es zeigt sich also, dass bei Marx kein vorgefertlgter Begriff angeboten wird, der dem der Lebenswelt entsprechen wiirde. Soil unsere These plausibel bleiben, dass bei Marx die Konzeption einer Lebens-Welt anzutreffen ist, so miissen wir uns selbst den Zugang zu ihr durch die Analyse der Texte von Marx suchen. Zu fragen ist: Wie stellt sich die Ebene der Lebens-Welt bei Marx dar und wie wird sie von Marx konstruiert bzw. als ein Mittel in der Methode eingesetzt? Wir konnen bei der Beantwortung dieser Frage nicht denjenigen folgen, die den Status der Lebens-Welt im Marx'schen Werk mit dem »falschen Bewusstsein« gleichsetzen, weil sie damit der Lebens-Welt den Charakter eines devianten Modus der Wirklichkeit verleihen und deshalb vor allem die Prozesse ihrer Aufhebung und nicht die ihrer Konstitution verfolgen (Kosik 1967, Lukacs 1970, Sallach 1973). Ebenso wenig kann, wie gezeigt wurde, die Gleichsetzung »Lebenswelt« - »Basis« akzeptiert werden. Wir miissen also einen anderen Ausgangspunkt suchen, um die Ebene der Lebens-Welt in der Marxschen Realitatskonstruktion auszumachen. Wie schon kurz skizziert, kann uns hier die Analyse der Marx'schen Konzeption der Totalitat weiterfiihren. Fangen wir damit an, dass wir die dem Totalitatsbegriff seinem Anspruch nach innewohnende Wissenschaft von der Lebens-Welt, wie sie bei Marx in Form der Geschichtsmechanik von Produktionskraften- und verhaltnissen explizit wird, nach Moglichkeit zuriickstellen und uns der Suche nach ihrem Gegenstand zuwenden. Dieses Vorgehen hebt natiirlich den dialektischen Zusammenhang, von dem der Totalitatsbegriff getragen wird, auf, und jeder Marxist muss hier pjflichtgemafi Einspruch erheben. Wir sehen jedoch keinen anderen Weg, unser Interesse zu verfolgen, und last, not least soil hier nicht die Totalitatskonzeption untersucht werden, sondern eine ihrer Implikationen. Aufierdem stellt, wie wir sahen, das Auftauchen eines Gegenstands bei Marx gleichzeitig auch schon immer sei^•^^Selbst die differenzierten Versuche von Lukacs (1970) oder Kosik (1967) werden allzu schnell zu dem Bereich des >Eigentlichen< hingezogen und lassen die Konstitution konkreter lebensweltlicher Zusammenhange als Pseudokonkretheit groEtenteils unanalysiert.
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ne rekonstruierende Darstellung dar, so dass eine volllge Zuriickstellung derselben sowieso unmoglich ist. Kehren wir nun zum obigen Zitat aus der »Deutschen Ideologie« zuriick. Marx und Engels gehen dort von einer sozialen Realitat aus, die als die Summe von »Produktivkraften, Kapitaiien und sozialer Verkehrsform« den Individuen vorgegeben ist. Diese »Summe« stelk offensichtlich die Ausgangsbasis jeder Untersuchung dar. Sie kann in doppeker Perspektive thematisiert werden, je nachdem, ob das Produzieren eines Gesellschaftsganzen oder dessen Reproduktion in den Vordergrund gestelk wird (Marx/Engels 1973: S. 29, 38). a) Wird das Gesellschaftsganze als ein Produziertes betrachtet, so sind die Momente, die das Produzieren bestimmen, diejenigen, die die Art der Aneignung der Natur, das gattungsmafiige »Wehhaben«, d. h.: das Hervorbringen einer materiell existierenden Gemeinschaft mit ihrer typischen Struktur tragen. In der Terminologie der »Deutschen Ideologie« (Marx/Engels 1973: S. 32) sind dies: die Produktivkrafte (d. h. das gesellschaftlich institutionalisierte technologische Wissen und die Art seiner Anwendung), die Verkehrsform (d. h. die gesellschaftlich institutionalisierte Organisation der Produktivkrafte mit der Struktur der darauf aufbauenden gesellschaftlichen Beziehungen) und das gesellschaftliche Bewusstsein (man ist versucht zu sagen: die institutionalisierten Deutungsschemata). Dies ist also die wohlbekannte Grundlage, auf der Marx seine Prinzipien der gesellschaftlichen Bewegung entwickeln kann, indem er die Beziehung der drei Momente zueinander priift. Die gesellschaftliche Realitat in ihrer Bewegung (Geschichte) wird in dieser Perspektive auf die Gattung bezogen, die im Prozess ihrer Vergesellschaftung in Form von Klassen diese Bewegung tragt. b) Der Bezugspunkt wechselt aber, wenn derselbe Prozess in der Perspektive der Reproduktion betrachtet wird. Das Reproduzieren eines vorgegebenen Gesellschaftsganzen heifit ein Reproduzieren der institutionalisierten Handlungsweisen auf den drei oben erwahnten Ebenen (also Herstellen, Miteinanderverkehren und Denken). Das heifit aber aus der Perspektive des Subjekts soviel wie die Konstitution eines in den urspriinglichen Evidenzen griindenden »Seinssinnes«, also eines auf den sinnvollen
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Umgang mit der vorgegebenen sozialen Wirklichkeit orientierten Welthabens und seines lebensweltlichen Horizontes der Moglichkeiten. Auf dieser Ebene der vorgegebenen Realitat, ihrer Vermittlung und Reproduktion im Bereich der unmittelbaren Lebensproduktion oder, um Husserl zu paraphrasieren, auf der Ebene alltaglich-praktischer Situationen, finden wir eine geschichtlich jeweils spezifzlerbare Entsprechung zum Lebensweltbegriff, also die gesuchte Lebens-Welt. Die Wirklichkeitsebene, die hier bei Marx thematisiert wird, ist keine in sich theoretisch strukturierte, denn: »Die Menschen beginnen keineswegs damit, in einem theoretischen Verhaltnis zu Dingen der Aufienwelt zu stehen« (Marx 1974: S. 362 f.). Ihre Position im Marx'schen Gesellschaftsmodell ist auch nicht genau auszumachen, denn sie setzt sich aus Momenten zusammen (Produktivkrafte, Produktionsverhaltnisse, gesellschaftliches Bewusstsein), die Marx in ihren »wesentlichen« struktureligenetischen Zusammenhangen erortert. Damit behandelt er sie jenseits der jeweiligen »Erscheinungsoberflache«, weiche die sich schnell wandelnden Resuhate der Bewegung dieser Momente darstelh und eine viel grofiere Variationsbreite hat als die historisch vorfallenden Konstellationen der sie tragenden Modi. Wollen wir uns also dieser lebens-wehlichen Wirklichkeit nahern, miissen wir nach Stellen suchen, wo Marx explizit oder implizit dazu angesetzt hat, den Reproduktionszusammenhang und die ihm zugrunde liegende vorgegebene soziale Realitat zu thematisieren, um damit eine historisch konkrete Lebens-Welt in ihrem Bedeutungszusammenhang fiir die in ihr handelnden Subjekte zu erfassen. Diese Stellen finden sich zufallig verstreut und ohne systematischen Bezug auf das hier gestellte Thema, jedoch glauben wir, dass es moglich ist, sie in drei Themenbereiche zu unterteilen und spater einen, allerdings lockeren, Systematisierungsvorschlag zu machen. Die Themenbereiche schliefien ein: I. Die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit; II. Entstehung so genannter Charaktermasken und III. Darstellungen, die wir, an Schiitz denkend, als strukturbedingte Relevanzverschiebungen bezeichnen mochten. Ehe der Versuch gemacht wird, diese Themenbereiche in einen Zusammenhang zu bringen, miissen sie naher besprochen werden.
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C. Ansatze zur Konstruktion historisch-konkreter Lebens-Welten I. Die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit Das Thema der Sinnlichkeit oder, aktueller, der Leiblichkeit, ist in der Marx-Literatur nicht unbemerkt geblieben. Arbeiten, die sich mit der Marx'schen Entfremdungsproblematik oder mit dem Menschenverstandnis des jungen Marx im allgemeinen beschaftigen, beriicksichtigen auch jene Stellen in den »Pariser Manuskripten« (Marx 1973b), die hierfiir am ergiebigsten sind (vgl etwa: Lapin 1974, Meszaros 1973, Oilman 1971, Popitz 1967, Weber 1973). Auch tauchen Hinweise auf, die das Verhaltnis zwischen Sinnlichkeit und Gesellschaft oder den Zusammenhang der phanomenologischen Leiblichkeitsauffassung mit dieser Beziehung thematisieren.^-^^ Weniger Beachtung findet schon die Fortfiihrung des Sinnlichkeitskonzeptes im spateren Werk.^"^^ Das Problem der Sinnlichkeit wird fiir Marx zunachst (d. h. in den Pariser Manuskripten), als einer der Wege, Hegel zu kritisieren, relevant. Marx iibernimmt die Feuerbach'sche Gegeniiberstellung: sinnliches Gattungswesen Mensch - Hegel'sches Selbstbewusstsein (Feuerbach 1973: S. 33 ff., 55) als einen Ansatz zu seiner materialistischen Fragestellung. Indem er jedoch Feuerbachs philosophisch-anthropologischem Begriff der Sinnlichkeit eine unmittelbare, praktische Beziehung des Individuums zur Umwelt unterlegt^^^ und so die Arbeit zu einer konstitutiven Komponente der Sinnlichkeit des Subjekts macht, geschieht folgendes: Die Kategorie der Arbeit kann sowohl mit dem nun kritisch reflektierten Instrumentarium der Hegel'schen Philosophic als auch unter dem Aspekt der politischen Okonomie behandelt werden. Die dialektische Beziehung des Selbstbewusstseins und seiner Entaufierung, wenn sie einmal anhand ^•^^So Bockmiihl (1961), Landgrebe (1977); ein Zusammenhang von Leiblichkeit und Geschichte wird von Landgrebe (1976) auf transzendentalem Wege gezeigt. ^•^^So wird die Entwicklung der SinnHchkeitsproblematik in der »Deutschen Ideologie« fast nur von philosophischen Arbeiten behandelt, die sich mit dem Verhaltnis Marxens zu Feuerbach befassen (vgl. Bockmiihl 1961; Schuffenhauer 1965). Eine Sammlung von Belegstellen aus dem gesamten Marxschen OEuvre siehe bei Schmidt (1962). ^^^1. Feuerbach-These, in: Marx/Engels (1973: S. 5).
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des Sinnlichkeitsargumentes in die des Individuums und der Resultate seiner Arbeit umformuliert ist, kann mit historisch-konkreten Formen der gesellschaftlichen Organisation solcher Beziehungen konfrontiert werden - eine Gegeniiberstellung, der die Marx'sche Auffassung von Entfremdung entspringt. Die Ablehnung des kapitaiistischen Privateigentums als des tragenden Prinzips von entfremdenden gesellschaftlichen Beziehungen erganzt den Zusammenhang, in dem Marx sein Sinnlichkeitskonzept entwickelt. Wir werden den hier angelegten Argumentationszusammenhang, der die Realisierung des Menschen in seiner universellen Sinnlichkeit mit der geschichtlichen Moglichkeit einer kommunistischen Gesellschaft verbindet, nicht weiter verfolgen. Auch haben wir nicht vor, den philosophischanthropologischen Erlauterungen weiter zu folgen als unbedingt notig. Es geht uns vor allem darum zu sehen, ob Marx ein Modell fiir die soziale Bestimmung der sinnlich-leiblichen, d. h. der unmittelbaren, vom Leib getragenen Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung hat, und ob und wie er dieses Modell verwendet, um die Konstitution einer historischkonkreten Lebens-Welt zu erfassen. Die Sinnlichkeit des Menschen entspringt bei Marx zuerst seinem »Naturcharakter«: Der Mensch ist »unmittelbar Naturwesen«. Als solches ist er ein »bedingtes und beschranktes« Wesen, da er von den Gegenstanden der Befriedigung seiner Bediirfnisse, die von ihm unabhangig sind, selbst abhangig ist (Marx 1973b: S. 578). Daraus resultiert seine Offenheit der Welt gegeniiber, d. h. seiner Sinnlichkeit ist ein notwendiger und praktischer Bezug auf Gegenstandliches eigen: eine »nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft] (Marx 1973b: S. 579). Marx weiter: >Dafi der Mensch ein leibliches, naturkraftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches, gegenstandliches^-^^ Wesen ist, heifit, dass er wirkliche, sinnliche Gegenstande zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensaufierung hat oder dass er nur an wirklichen, sinnlichen Gegenstanden sein Leben aufiern kann< (Marx 1973b: S. 578).« Diese Lebensaufierung bedeutet Aneignung der Natur durch die Ar^^^Eine Pradikatenreihe, die die Opposition gegen Hegel und, teilweise implizit, gegen Feuerbach markiert.
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belt, also Produktion der Lebens-Welt: »Der Arbeiter kann nichts schaffen ohne die Natur, ohne die sinnliche Aufienwelt. Sie ist der Stoff, an welchem sich seine Arbeit verwirklicht [...] aus welchem und mittels welchem sie produziert.« (Marx 1973b: S. 512). Mit dem Fortschreiten der Arbeitsteilung und ihrer gesellschaftlichen Organisation wird nach Marx bekanntlich die Transparenz und Unmittelbarkeit dieses Verhaltnisses aufgehoben - der Entfremdungsprozess in seinen verschiedenen Formen kommt ins Rollen. »Die Produktion produziert den Menschen nicht nur als eine Ware, die Menschenware [...] sie produziert ihn, dieser Bestimmung entsprechend, als ein ebenso geistig wie korperlich entmenschtes Wesen« (Marx 1973b: S. 524) Offensichtlich stellt also die Sinnlichkeit als Weltoffenheit fiir Marx zuerst die allgemeine Basis des Zugangs des Individuums zur Welt dar, und zwar eine, die den Menschen in seiner Beziehung zu seiner Umwelt nicht problematisiert und die im Bereich praktischer Beziehungen Mensch Welt, also in dem Bereich der »Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens« (Marx 1973b: S. 545), grundet. Da diese Beziehung praktisch ist, d. h., da ihre Bedingungen durch die Arbeit (und die Arbeit in ihrer bisherigen Form ist fiir Marx immer eine arbeitsteilige) produziert und reproduziert werden, ist Sinnlichkeit fiir Marx immer schon sozial bestimmt und daher geschichtlich wandelbar. Dies bedeutet, dass die beiden Pole des Sinnlichkeitsverhaltnisses sich wandeln, dass also nicht nur der Modus des sinnlichen Zugangs zur Welt sozial bestimmt ist, sondern auch, dass die »sinnlichen Gegenstande«, welche die Objekte der sinnlichen Tatigkeit sind, in zunehmendem Mafie als die Produkte dieser Tatigkeit zu Resultaten sozialer Prozesse werden. Im Rahmen des Sinnlichkeitsverhaltnisses wird die Natur zur Gesellschaft und die Gesellschaft zur zweiten Natur (Marx 1973b: S. 543 f.). Die menschlichen Bediirfnisse, die Art und die gesellschaftliche Moglichkeit ihrer Befriedigung entsprechen so bei Marx immer einer bestimmten historischen Form der gesellschaftlichen Verhaltnisse, deren »Ensemble« das Individuum ist. Selbst physiologische Bediirfnisse, die eine verhaltnismafiig wenig wandelbare Schicht der Sinnlichkeit ausmachen, wie z. B. der Hunger, verlieren in der Vergesellschaftlichung ihre Konstanz:
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»Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegessnes Fleisch befriedigt, ist ein anderer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv« (Marx 1970: S. 13). Wir wollen zuerst die subjektive Seite der sozialen Bestimmung des SinnHchkeitsverhaltnisses untersuchen und sehen, wie sich diese Bestimmung auf die sinnHche Basis des subjektiven Zugangs zur Welt auswirkt. Es ist klar geworden, dass Marx mit solch einer Bestimmung nicht etwa einen Wandel kultureller Handlungsmuster meint, von dem gewisse anthropologische Konstanten nicht beriihrt werden (vgl. A. Schmidt 1962: S. 70). Er ist vielmehr iiberzeugt, dass die gesellschaftlich bedingten Modifikationen der Sinnlichkeit bis in die Wahrnehmungsfunktionen durchschlagen und die vom Leib getragene Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung in der Welt umwandeln: »... erst durch den gegenstandlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge fiir die Schonheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Geniisse fahige Sinne [...] teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt [...] Die Bildung der Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. Der unter dem rohen praktischen Bediirfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornierten Sinn« (Marx 1973b: S. 541 f.). Die durch den Leib gegebene Art des Erlebens der Welt, also die tiefste Ebene der Weltkonstitution ist es, die hier angesprochen wird. Geht man von der Reproduktion der sozialen Wirklichkeit durch die in ihr handelnden Individuen aus, dann konnte das Modell einer im Rahmen dieser Wirklichkeit erfolgenden Vergesellschaftung des sinnlichleiblichen Zugangs zur Welt ein taugliches Instrument zur Beschreibung der Konstitution historisch-konkreter Lebens-Welten abgeben. Wir wollen nun sehen, inwiefern sich Marx dieses Instrumentariums bedient. Dies erfordert, dass wir uns dem anderen Pol des SinnHchkeitsverhaltnisses zuwenden, namlich der historisch-sozialen Bestimmung des Bereichs der »sinnlichen Gegenstandlichkeiten«. Denn erst in der geschicht-
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lich spezifischen Moglichkeit (oder Unmoglichkeit) des leiblich-sinnlichen Erlebens eines bestlmmten Bereichs der »smnlichen Gegenstandlichkeiten« schlagt bei Marx die soziale Bestimmung des Zugangs zur Welt durch. Dies nicht nur auf der relativ oberflachlichen Ebene des Hinweises darauf, dass mit zunehmender Vergesellschaftung der Natur auch die Gegenstande der Wahrnehmung Resultate gesellschaftlicher Produktion sind.^'^^ Es geht vielmehr darum, dass der praktische Bezug auf die Gegenstande - die Arbeit in ihrer jeweiligen historischen Organisationsform - das Individuum in einen Bereich der sozialen Wirkiichkeit einbezieht und daran seine Sinnlichkeit wesentlich bindet, also einen spezifischen Modus der vorgegebenen Wirkiichkeit und des subjektiven sinnlich-leiblichen Zugangs zu ihr zeitigt. Mit anderen Worten: Im Prozess der Arbeitsteilung werden Individuen in verschiedene soziale Positionen distribuiert, mit denen verschiedene Bereiche der »sinnlichen Gegenstandlichkeiten« kompatibel sind. Im praktischen Umgang mit diesem Bereich entstehen Habitualitaten, die sich nicht nur in einem entsprechenden Wissensvorrat niederschlagen,^"^^ sondern den sinnlich-leiblichen Zugang zur Welt pragen. Dies ist der Sinn der obigen Aussage, dass unter spezifischen geschichtlichen Bedingungen die Produktion den Menschen »als ein ebenso geistig als auch korperlich entfremdetes Wesen« produziert. Dieses zweipoligen Konzepts der Sinnlichkeit bedient sich auch der »spate« Marx, wenn er den Wandel der gesellschaftlichen Struktur als den Wandel der vorgegebenen Wirkiichkeit mit der Modifikation des subjektiven Zugangs zu ihr koppeln und in einem konkreten historischen Zusammenhang aufzeigen will. So etwa, wenn er die Produktion des relativen Mehrwerts behandelt und die Folgen des in ihrem Rahmen erzwungenen IJbergangs von der Manufaktur zur maschinellen Arbeit beschreibt: ^'^°Auf dieser Ebene bewegt sich ein Teil der Feuerbachkritik in der »Deutschen Ideologie«: »Er [Feuerbach, I.S.] sieht nicht, wie die ihn umgebende sinnHche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes... « (Marx/Engels 1973: S. 43). ^'^^Dies wurde von Berger/Luckmann (1970: S. 57 f.) klar herausgestellt. Die Marx'schen Wurzen des Bourdieuschen Ansatzes treten hier klar vor Augen (Vgl. Bourdieu 1976: S. 139 ff.)
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»In den englischen Buchdruckereien z. B. fand friiher ein dem System der alten Manufaktur und des Handwerks entsprechender Ubergang der Lehrlinge von leichtren (!) zu inhaltsvollren (!) Arbeiten statt. Sie machten einen Lerngang durch, bis sie fertige Drucker waren. Lesen und schreiben zu konnen, war fiir alle ein Handwerkserfordernis. Alles das anderte sich mit der Druckmaschine. Sie verwendet zwei Sorten von Arbeitern, einen erwachsnen (!) Arbeiter, den Maschinenaufseher, und Maschinenjungen, meist von 11-17 Jahren, deren Geschaft ausschlie£lich darin besteht, einen Bogen Papier der Maschine zu unterbreiten oder ihr den gedruckten Bogen zu entziehen. Sie verrichten, in London namentlich, diese Plackerei 14, 15, 16 Stunden ununterbrochen wahrend einiger Tage in der Woche und oft 36 Stunden nacheinander mit nur zwei Stunden Rast fiir Mahlzeit und Schlaf... Ein grofier Teil von ihnen kann nicht lesen, und sie sind in der Regel ganz verwilderte, abnorme Geschopfe... Sobald sie zu alt fiir ihre kindische Arbeit werden, also wenigstens im 17. Jahr, entlasst man sie aus der Druckerei. Sie werden Rekruten des Verbrechens. Einige Versuche, ihnen anderswo Beschaftigung zu verschaffen, scheiterten an ihrer Unwissenheit, Rohheit, korperlichen und geistigen Verkommenheit«^'^^. Die Konstruktionstechnik, die sich uns hier darbietet, lasst sich wie folgt summieren: a) Darstellung (hier nur angedeutet) eines sich anhand der »Logik« der kapitalistischen Produktion anbahnenden Wandels (Produktion relativen Mehrwerts durch Verkiirzung der notwendigen Arbeitszeit - Ubergang von Manufaktur zu Maschinerie); b) Aufzeigen der Implikationen, die sich fiir die Gestaltung eines spezifischen Bereichs der »sinnlichen Gegenstandlichkeiten« - also der vorgegebenen Wirklichkeit - und damit fiir das agierende Erleben darin ergeben (Veranderung der Arbeitsbedingungen - keine Notwendigkeit der Qualifizierung); c) Folgen, die daraus fiir den leiblich-sinnlichen Zugang zur Welt resultieren (geistige und korperliche Verkommenheit). Das Konzept der Sinnlichkeit ermoglicht es also, den historischkonkreten Zusammenhang der vorgegebenen Wirklichkeit (der LebensWelt) und des sinnlich-leiblichen Zugangs zu ihr zu fassen. Doch in dem ^^^Marx (1962: S. 509); die Marx'sche Darstellung beruht auf dem Bericht V. der >Children Employment Commission<, 1860.
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zitierten Belspiel tauchte noch eine andere Ebene auf, auf die sich Marx bezieht: die der »Logik« des kapitalistischen Produktionsprozesses. Um zu sehen, wie es Marx gelingt, diese »Logik« mit der vorgegebenen Wirklichkeit zu koppeln, wollen wir uns dem Thema der Charaktermaske zuwenden. 11. Die Charaktermaske Auch dieses Thema ist kein unbekanntes. Schon Lukacs (1970: S. 242 f.) wies darauf hin, um die Handlungsweise, die dem Kapitahsten als einem vergesellschafteten Actor durch die »Logik« des Kapitalprozesses aufgezwungen ist, von seinem subjektiven Wollen abzusetzen. Dahrendorf (1974: S. 27) und Merton (1957: S. 462)^^^ versuchten, die Charaktermaske als einen normativ festgelegten Handlungszwang, als einen Ansatz zum Rollenbegriff zu deuten. Auf den Begriff der Charaktermaske stiitzen sich auch die Versuche, eine Handlungstheorie bei Marx zu beschreiben.^"^"^ Wir wollen eine Erorterung solch weitgreifender Zusammenhange meiden und uns eng ans Thema halten. Zu fragen ist: Welche Rolle kommt dem Begriff der Charaktermaske bei der Konstruktion der konkret historischen Lebens-Welten zu? Um dies zu klaren, miissen wir zuerst den Geltungsbereich des Begriffs untersuchen. Wir gehen dabei von der Bestimmung der Charaktermaske aus, wie sie sich beim »spaten« Marx im Kapital findet. Marx analysiert den Austauschprozess und schreibt: »Die Personen existieren hier nur fiireinander als Reprasentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden iiberhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die okonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der okonomischen Verhaltnisse sind, als deren Trager sie sich gegenubertreten.« (Marx 1962: S. 99 f.) Als erstes kann festgehalten werden, dass die Charaktermaske allem Anschein nach eine Kategorie ist, die sich auf die den Individuen jeweils ^'^•^Zur Kritik dieser Ansatze siehe Matzner (1964), wo auch Belegstellen zum Thema Charaktermaske gesammelt sind. ^"^^Exemplarisch: Ottomayer (1974), eine Kritik dieses Ansatzes siehe bei Paris (1976).
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vorgegebene Wirklichkeit, ihre Lebenswelt, bezieht. Sie bezeichnet sowohl das vom Individuum an den Tag gelegte Handeln einem anderen gegeniiber als auch einen dem Handelnden selbst auCersubjektiv vorgegebenen Zwang^"^^, eigenes Handeln in bestimmter Weise zu gestalten. In diesem SInne driickt sich in der Charaktermaske das fiir den Handelnden wahrnehmbare Resultat derjenigen Prozesse aus, welche die Welt des materiellen Lebens produzieren. Dieses Resultat ist als solches fiir den Theoretiker durchschaubar, dem Handelnden jedoch vorgegeben, ohne dass die Transparenz des Zusammenhanges erforderlich ware. Daher bezieht sich die Charaktermaske als Kategorie auf die Lebens-Welt in unserem Sinne. Es bleibt zu fragen, ob die Charaktermaske, wie es bei Marx oft der Fall ist, als eine solche nur in einem spezifischen historischen Zusammenhang ihre Anwendung findet. Es lage nahe, sie nur fiir die kapitalistische Gesellschaft gelten zu lassen, die schliefilich der Hauptgegenstand Marxscher Untersuchung ist.^"^^ Doch sehen wir, dass in der Marxschen Bestimmung der Charaktermaske von Warenbesitzern die Rede ist, also von Handelnden, die unter irgendwelchen Bedingungen einer warenproduzierenden Gesellschaft solche geworden sind. Dass diese Bedingungen diejenigen der durch Kapital strukturierten Wirtschaft sein miissten, wird nicht gesagt. Wenn wir schon auf dem Wege der philologischen Exegese sind, so sei angemerkt, dass die obige Bestimmung der Charaktermaske dem 2. Kapitel des I. Kapitalbandes entnommen wurde, in der die allgemeinen Bedingungen der Warenproduktion erortert werden, wahrend die Entwicklung ihrer kapitalistischen Form erst im 4. Kapitel beginnt. Dariiber hinaus lasst sich belegen, dass Marx den Begriff der Charaktermaske fiir die Beschreibung der sozialen Verhaltnisse im Mittelalter gleichfalls benutzt. So schreibt er, die »Transparenz« der Produktionsverhaltnisse im Mittelalter gegen diejenigen in der industrialisierten Gesellschaft abhebend: »Die Fronarbeit ist ebenso gut durch die Zeit gemessen wie die Waren ^"^^Uber die Nichtnormativitat dieses Zwanges vgl. Ottomeyer (1974: S. 8 ff.). ^"^^Diese Auffassung finden wir z. B. bei so verschiedenen Autoren wie Lukacs (1970: S. 242 f.) und Dahrendorf (1974: S. 27).
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produzierende Arbeit, aber Jeder Leibeigene weif5, dass es ein bestlmmtes Quantum seiner personlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt [...] Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier gegeniibertreten, die gesellschaftlichen Verhaltnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eigenen personlichen Verhaltnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhaltnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte« ( Marx 1962: S. 91 f.). Dieselben Griinde sprechen denn auch dagegen, den Begriff der Charaktermaske nur auf eine gesellschaftliche Gruppe (Klasse) zu beziehen, wie Lukacs (1970: S. 242) es tut. Vielmehr scheint es, dass Marx ihn als eine generalisierte (d. h. hier: mit mehr als einem historischen Zustand kompatible) Kategorie verwendet, mittels welcher er die »Manifestierungen« des jeweils gegebenen Zustandes der gesellschaftlichen Struktur oder ihrer Telle auf der Ebene der den Individuen vorgegebenen Wirklichkeit in den Griff zu bekommen sucht. Dies fiihrt uns jedoch zu der Frage, inwiefern der Zustand der gesellschaftlichen Struktur fiir Marx auch derjenige des okonomischen Systems ist. Das angefiihrte Zitat scheint eine klare Sprache zu sprechen: Es handelt sich bei der Charaktermaske um eine Personifizierung okonomischer Verhaltnisse. Dies liberrascht bei Marx niemand und braucht auch niemanden zu iiberraschen angesichts der ausdriicklichen Erklarung des Autors im Vorwort zur ersten Auflage des »Kapitals«, er habe vor, Personen nur zu behandeln, »soweit sie die Personifikation okonomischer Kategorien sind, Trager von bestimmten Klassenverhaltnissen und Interessen« (Marx 1962: S. 16). Wir wollen nun sehen, ob diese Einschrankung auf okonomische Verhaltnisse die einzige bei Marx vorfindliche Variante ist. Dazu kann es dienlich sein, die Genese der Denkfigur, die in der Charaktermaske zum Ausdruck kommt, naher zu betrachten. Die Rede von einer Charaktermaske impliziert offensichtlich eine - wenigstens analytische Trennung zwischen einem Individuum mit seinem subjektiven Wollen und demselben Individuum in der Rolle des Warenbesitzers, das Handlungszwange, die aufierhalb seines subjektiven Wollens angesiedelt sind, realisiert. Das subjektive Wollen kann natiirlich mit den aufiersubjektiven
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Handlungszwangen Im besten Einvernehmen sein; in dieser Denkfigur ist dies jedoch nur eine Kombinationsmoglichkeit. Den ersten (uns bekannten) Ansatz zu solch einem Denkmodell finden wir in der »Deutschen Ideologie«, wo eine Differenzierung zwischen den moglichen Perspektiven, das Individuum zu betrachten, eingefiihrt wird, die Marx und Engels fiir die biirgeriiche Gesellschaft als Differenzierung zwischen personlichem Individuum und Klassenindividuum bestimmen. Ihre aiigemeine Formulierung lautet allerdings so: »Man kann dann diese verschiedenen Stande und Klassen als Spezifikationen des allgemeinen Ausdrucks, als Unterarten der Gattung, als Entwicklungsphasen der Menschheit fassen... Die Individuen gingen immer von sich aus, natiirlich aber von sich innerhalb ihrer gegebenen historischen Bedingungen und Verhaltnisse, nicht vom >reinen Individuum< im Sinne der Ideologen^'^'^. Aber im Lauf der historischen Entwicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbstandigung der gesellschaftlichen Verhaltnisse tritt ein Unterschied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es personlich ist und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazu gehorigen Bedingungen subsumiert ist« (Marx/Engels 1973: S. 75 f.). Die Subsumtion des Individuums unter ein Subsystem, d. h. seine Unterordnung unter auEersubjektive Handlungszwange, und die daraus resultierende Charaktermaske werden also vom Prozess der Arbeitsteilung getragen. Damit tritt wieder die Kategorie der Arbeit als ein theoretischer Angelpunkt hervor: Einerseits lasst sich die Arbeitsteilung mit Marx, aber auch mit Durkheim, Parsons, Luckmann, Luhmann, etc. als einer der allgemeinen Prozesse der - mit Luhmann gesprochen - Ausdifferenzierung sozialer Systeme ansehen. In diesem Fall entfallt die okonomische Einschrankung, denn der Prozess der Arbeitsteilung bedeutet bei Marx die Ausdifferenzierung (Marx, andere Akzente setzend, sagt »Trennung«) des gesellschaftlichen Bewusstseins, der Produktionskrafte und des »gesellschaftlichen Zustands«, die dann verschiedene Kombinationen der einem »2weig der Arbeit« zugehorenden Bedingungen bilden konnen. Auch ^'^''»Ideologen« bezieht sich hier auf M. Stirner, dessen Buch »Der Einzige und sein Eigentuni« in der »Deutschen Ideologie« verrissen wird.
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in diesem Sinne ist das Indivlduum ein »Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhaltnlsse«. Andererselts ist die Arbeitsteilung schon immer ein Prozess der Arbeitsorganisation und daher auch mitsamt den Folgen in Kategorien der politischen Okonomie greif bar ist - der Fall, der im »Kapital« vorliegt. Anhand des Gesagten erscheint die These vertretbar, dass die Charaktermaske sich auf »Manifestierungen« der entsprechenden Zustande der gesellschaftlichen Struktur bezieht und nicht nur als Personifizierung okonomischer Verhaltnisse gilt. Marx verwendet also die Kategorie der Charaktermaske als ein Mittel zur Ubersetzung der historischen Bewegung einer gesellschaftlichen Struktur auf die Ebene individuellen Handelns derart, dass er sie (die Charaktermaske) als einen vorgegebenen, lebens-weltlichen Zusammenhang von Handlungszwangen, die aus dieser Bewegung resultieren, konzipiert. Dies ermoglicht es ihm gleichzeitig, das Handeln zu typisieren, es also als etwas zu fassen, das in einer historischen Lage als typisch erwartet werden kann. Vollziehen wir nun den letzten Schritt in der Betrachtung des Konzepts der Charaktermaske, und setzen wir es mit dem der Sinnlichkeit in Beziehung. Wir sahen, dass sich die Marx'sche Beschreibung der sozialen Bestimmung der Sinnlichkeit in drei Schritten vollzog: a) Darstellung einer sich anhand der »Logik« der kapitalistischen Produktion ergebenden Bewegung der gesellschaftlichen Struktur, b) Implikationen, die sich daraus fiir die Gestaltung einzelner Bereiche der »sinnlichen Gegenstandlichkeiten« und damit fiir das darin agierende Erleben ergeben, c) die daraus resultierenden Modifikationen der Sinnlichkeit. Die Kategorie der Charaktermaske, so wie sie von Marx gebraucht wird, bezieht sich offensichtlich auf den Bereich des zweiten Schrittes, da sie die dort erwahnten Implikationen entweder als typische Motivationen des Handelns (Handlungszwange) oder als typisch zu erwartende Handlungen auffasst, die sich den Individuen je nach ihrer Lage im Prozess der Arbeitsteilung zuschreiben lassen. Auf diese Art und Weise konnen mit
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ihrer Hilfe die Schrltte a) und c) systematisch aufeinander bezogen werden. Trifft dies zu, so bedeutet das, dass dem durch die Charaktermaske als typisch erfassbaren Handeln ein spezifischer Zugang zur Wirklichkeit eigen ist, dass also der von Marx mit »Charaktermaske« gemeinte Sachverhalt immer auch eine spezifische Modifikation der Sinnlichkeit beinhaltet. Das sinnlich-leibliche Individuum und »seine« Charaktermaske sind demnach nicht zu trennen, sondern stellen eine Einheit dar. Eine »Rollendistanz« ist unmoglich. Im Rahmen dieser Einheit wird die SinnUchkeit einer Typisierung durch die Charaktermaske zuganghch. Allerdings stelk eine solche Spezifizierung des SinnHchkeitskonzeptes durch die Charaktermaske eine Schmalerung desselben dar. Die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit, so wie sie urspriinglich ausgearbeitet wurde, schliefit namlich nicht nur typisierbare Falle ein, sondern gilt generell. Aus dieser Differenz erhalt die Unterscheidung zwischen dem personlichen, aber nichtsdestoweniger innerhalb seiner historischen Bedingungen »von sich ausgehenden« Individuum und demjenigen, »das unter irgendeinen Zweig der Arbeit« subsumiert ist, einen Sinn: Marx geht von einem total vergesellschafteten Individuum aus. Die im Rahmen der Charaktermaske typisierten Modi des vergesellschaftet agierenden Erlebens sind diejenigen des »subsumierten« Individuums. In diesem Sinne findet die typisch vorgegebene, lebens-weltliche Wirklichkeit bei Marx in der Charaktermaske ihren Ausdruck. Alle iibrigen Erlebnismodi, die sich solcher Typisierung entziehen, fallen dem personlichen Individuum zu. So ergibt sich eine Grauzone, die die Kategorie der Charaktermaske nicht mehr abdeckt und fiir die sich kein weiteres Instrumentarium bei Marx findet.^'^^ Diese kurze Skizze des Zusammenhanges der beiden Konzepte muss hier geniigen. Wir wollen im nachsten Abschnitt sehen, wie Marx diese beiden Konstruktionstechniken der Lebens-Welt faktisch verwendet. III. Die strukturbedingten Relevanzverschiebungen In diesem Abschnitt wollen wir uns der letzten Perspektive zuwenden. ^"^^Dies ist einer der Griinde, warum die Versuche, das Konzept der Charaktermaske zu einer marxistischen Handlungstheorie auszubauen, wenig Erfolg haben.
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in der sich unseres Erachtens bei Marx eine Konstruktion der lebensweltlichen Realitat ausmachen lasst. Es geht hier wieder um Stellen, an denen Marx aus der »Logik« der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise den historischen Wandel konkreter Berelche der den Individuen vorgegebenen Realitat ableitet, und um die Art und Weise, wie er solche veranderten Bedingungen in die Handlungsweise der unter ihnen agierenden Subjekte integriert, d. h. ihr Relevantwerden beschreibt. Bei diesem Thema befinden wir uns - verglichen mit den vorherigen Abschnitten - in einer etwas schwierigeren Lage. Es hat keinen festen Platz in der Marx-Forschung und wird kaum behandelt^"^^. Auch gibt es bei Marx selbst keinen Begriff der Relevanz. Geht man jedoch von dem Schiitzschen Konzept der auferlegten Relevanz aus, das sich auf »Situationen und Ereignisse« bezieht, »die nicht aus freien Handlungen entspringen und die wir so annehmen miissen, wie sie sind, ohne jegliche Moglichkeit, sie durch unsere spontane Aktivitat zu verandern« (Schiitz 1972: S. 93)^^°, dann sieht man, dass bei Marx Darstellungen solcher Situationen und Ereignisse oft vorkommen. Dies nicht nur, wie wir schon sahen, in der Gestalt der Beschreibung eines »Bereiches sinnlicher Gegenstandlichkeiten«, sondern auch als Darstellung konkreter Komplexe sozialer Zwange, die als Handlungssituationen den Individuen vorgegeben sind und die in ihrer personifizierten Form unter der Kategorie der Charaktermaske erfasst werden konnen. Die Verschiebungen, die in diesen Komplexen durch den generellen Wandel der Gesellschaftsstruktur eintreten und die Handlungszwange modifizieren, machen unter anderem die historische Dynamik der Charaktermaske aus. Marx beschreibt solche Verschiebungen im gesamten Spektrum der Bereiche der lebens-weltlichen Wirklichkeit, wie an folgenden Beispielen deutlich wird: a) Verschiebungen in der sozialen Struktur: ^'^^Die einzige mir bekannte Arbeit, in der dieser Zusammenhang, wenn auch sehr knapp, behandelt wird, ist der schon zitierte Aufsatz von Sallach (1973). Zum Problem der Rekonstruktion einer Wirklichkeitsebene bei Marx siehe G. Pfafferott (1975). ^^°Eine ausfiihrliche Behandlung der Relevanzproblematik siehe in: Schiitz (2004a) und Schiitz/Luckmann (1975).
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z. B.: Verlagerung des grofiten Teiles sozlaler Handlungen aus dem Bereich der Familie in den Berelch vergesellschafteter Beziehungen durch die Fabrikarbeit (Marx 1962: S. 513 ff.) Damit eng verbunden sind: b) Verschiebungen in den sozialen Verhaltnissen der Produktionssphare: Hierarchisierung der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz (Marx 1962: S. 351, 381, 447) c) Verschiebungen in Wissenssystemen: Abschwachung der praktischen VerbindHchkeit biirgerHcher SittHchkeitsnormen (Marx 1962: S. 488, 493, 517, 724) d) Verschiebungen der materiellen Orientierung wirtschaftHchen Handelns: Umstellung der Produktion auf andere Erzeugnisse (Marx 1965: Kap. 12) Die unter a) bis c) aufgefiihrten Verschiebungen sind fiir Marx Resultate desselben Prozesses - namhch der Entwicklung kapitaHstischer Arbeitsorganisation, beginnend mit der manufakturellen Zentralisierung der Produktion an einer Arbeitsstatte. Hieraus ergibt sich fiir die Individuen die Notwendigkeit - bei der sich generell durchsetzenden Lohnabhangigkeit -, ihre Haupttatigkeit aus der FamiUe in die Betriebe zu verlegen. In Verbindung mit der durch die Maschinerie bewirkten Vereinfachung der Arbeit, die Kinderarbeit zulasst, und den knapp kalkuHerten Lohnen hat dies zur Folge, dass: 1. der Anteil der Famihe an Sozialisierungs- und Kontrollfunktionen schwindet; 2. eine EingHederung in Handlungssituationen erfolgt, die nach Prinzipien »rationeller Produktion« strukturiert sind, d. h. eine Hierarchisierung und FormaHsierung des Handlungszusammenhanges erzwingen;
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3. die tradltionellen normativen Erwartungen in Bezug auf die Differenz der Rollen von Mann und Frau, auf die Sittlichkeit, die Kinder-Eltern -Beziehung usw. in der Praxis aufgehoben werden, weil die Arbeit unter denselben Bedingungen die Rollendifferenz Mann-Frau nivelliert und so eine »Verrohung der weiblichen Sitten« bewirkt, weil ferner die Zusammenarbeit zufallig zusammengekommener Jugendlichen ohne familiare KontroUe Promiskuitat und einen Anstieg der Geburtsrate unehelicher Kinder fordert und weil schliefilich unter solchen Umstanden die familiaren Bindungen schwer leiden. Auch die unter d) angefiihrte Verschiebung ist ein Resultat der Logik des Prozessierens von Kapital, namlich seiner Zirkulationszeit. Indem z. B. die Zirkulationszeit des in Viehzucht zum Zwecke der Fleischproduktion angelegten Kapitals eine wesentlich langere ist als die des in Milchproduktion investierten, wurden - bei Kapitalmangel - Viehziichter gezwungen, sich umzustellen, wodurch der Charakter ganzer Landstriche verandert wurde (Marx 1965: Kap. 12). Bei genauerer Betrachtung dieser Beispiele zeigt es sich, dass sie sozusagen nur eine Halfte des eingangs formulierten Relevanzzusammenhanges beleuchten. Sie zeigen alle, wie die Auswirkungen einer generellen Bewegung, die von der in der Gesellschaft dominierenden Struktur ausgeht, die Bedingungen konkreter Handlungssituationen verandern. Was allerdings damit nicht explizit wird, ist die restliche Komponente des Relevanzzusammenhanges - die Art und Weise namlich, in der die Modifikationen der Handlungsbedingungen zu Handlungszwangen werden, d. h. in der sie als auferlegte Motivationen fiir das Handeln an Relevanz gewinnen. Denn erst wenn dies klar ist, schliefit sich der Bogen der Rekonstruktion der Konstitution lebens-weltlicher Realitat. Die Gegebenheitsweise der vorgegebenen Realitat muss miterfasst werden. Dies ist auch fiir die Aufrechterhaltung des Marx'schen Darstellungszusammenhanges wesentlich. N u r wenn die arbeitsteilig jeweils relevanten Bereiche der vorgegebenen Wirklichkeit erfasst und reproduziert werden, fangt eine gesellschaftliche Formation in ihrer strukturell spezifischen Auspragung an, Kontinuitat und damit Bestand zu haben. Zu fragen ist also, welcher Konzepte sich
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Marx bedient, um die Integration der modifizierten Handlungsbedingungen in die Motivationszusammenhange individuellen Handelns und damit die Verschiebung der Handlungsrelevanzen darzustellen. Untersucht man die vier Beispiele naher, dann fallt auf, dass das vierte sich von den iibrigen in einer Hinsicht unterscheidet: Wahrend die anderen drei nur eine Verschiebung der Handlungsbedingungen beschreiben, an deren Gesamtheit als einem Situationsrahmen sich das Handeln zu orientieren hat, ohne dass eine spezifische Handlungsorientierung dadurch vorgegeben ware, ist die Richtung der Relevanzverschiebung im vierten Beispiel klar vorgezeichnet. Es muss dasjenige produziert werden, worin das angelegte Kapital die schnellste Zirkulation erreicht. Die Relevanzverschiebung erfolgt hier offensichthch anhand eines bestimmten Bediirfnisses. In der Tat hat es den Anschein, als besafien wir im Marxschen Konzept des Bediirfnisses dasjenige Verbindungsglied, das die Kette des Relevanzzusammenhanges schlieCt. Die erste begriffliche Annaherung an das Relevanzproblem liefie sich, so betrachtet, in Marx' Konzeption des Systems von Bediirfnissen erblicken, wie es im »Elend der Philosophie« skizziert wird. Das System der Bediirfnisse wird hier unter dem Aspekt des Verhaltnisses von Produktion und Konsumtion thematisiert: »Der Konsument ist nicht freier als der Produzent. Seine Meinung hangt ab von seinen Mitteln und seinen Bediirfnissen. Beide werden durch seine soziale Lage bestimmt, die wiederum selbst abhangt von der allgemeinen sozialen Organisation. Allerdings, der Arbeiter, der Kartoffeln kauft, und die ausgehaltene Matresse, die Spitzen kauft, folgen beide nur ihrer respektiven Meinung; aber die Verschiedenheit ihrer Meinungen erklart sich durch die Verschiedenheit der Stellung, die sie in der Welt einnehmen und die selbst wiederum ein Produkt der sozialen Organisation ist. Ist das System der Bediirfnisse in seiner Gesamtheit auf die Meinung oder auf die gesamte Organisation der Produktion begriindet? In den meisten Fallen entspringen die Bediirfnisse aus der Produktion oder aus einem auf die Produktion begriindeten allgemeinen Zustand« (Marx 1964: S. 75 f.). Bediirfnisse also, die sich auf die Arbeitsteilung und ihre soziale Orga-
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nisation griinden und daher der jeweiligen sozialen Lage des Individuums entsprechen, konnen als Zentren jeweiliger Relevanzfelder aufgefasst werden. Die AUgemeinheit dieses Zusammenhanges, der hier von Marx als eine prinzipielle Klarstellung Proudhon gegeniiber formuliert wird, ist freilich wenig geeignet, ein Mittel der Beschreibung spezifischer Lebenswelten abzugeben. In eine andere Perspektive gerat allerdings das Konzept des Bediirfnisses, wenn es mit konkreten Handlungsbedingungen verbunden wird. So verwendet der »reife« Marx denn auch die Kategorie des Bediirfnisses in einer etwas spezifizierteren Form. Das Thema des Bediirfnisses wird in der Einleitung zu den »Grundrissen der Kritik der politischen Okonomie« in den aus dem »Elend der Philosophie« bereits bekannten Zusammenhang des Verhaltnisses von Produktion und Konsumtion aufgenommen. Das Problem ist hier Jedoch, diese beiden Modi der vergesellschafteten Aneignungstatigkeit der Individuen in ihrer gegenseitigen immanenten Beziehung zu erfassen, wobei die Kategorie des Bediirfnisses die Vermittlerrolle spielt. Marx schreibt: »Wenn es klar ist, dass die Produktion den Gegenstand der Konsumtion aufierlich darbietet, so ist daher ebenso klar, dass die Konsumtion den Gegenstand der Produktion ideal setzt, als innerliches Bild, als Bediirfnis, als Trieb und als Zweck. Sie schafft die Gegenstande der Produktion in noch subjektiver Form. Ohne Bediirfnis keine Produktion. Aber die Konsumtion reproduziert das Bediirfnis [...] Die Produktion liefert dem Bediirfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bediirfnis... Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand fiir das Subjekt, sondern auch ein Subjekt fiir den Gegenstand« (Marx 1970: S. 13 f.). Anders ausgedriickt: Eine durch den Wandel der Gesellschaftsstruktur bewirkte Verschiebung in einem Komplex der Handlungsbedingungen wird fiir das Fiandeln als Verschiebung im System der Bediirfnisse relevant. Die Bediirfnisse, wie sie in diesem Zusammenhang aufgefasst werden, stellen, obwohl als »innerliche Bilder« und »Zwecke« internalisiert, ein System strukturell auferlegter Relevanzen dar, da ihre materielle, gegenstandliche Moglichkeit aufierhalb des Wirkungskreises des einzelnen Subjekts im Bereich der Resultate der vergesellschafteten praktischen
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Tatigkelt llegt. Anders gewendet: Obwohl der Wandel des Systems von Bediirfnissen, d. h. Handlungsorientierungen eines vergesellschafteten Subjekts, aus dem gegebenen Wandel der sozialen Organisation und der materiellen Ausgestaltung des gegenstandlichen Bereichs ihrer Befriedigung resultiert, ermoglicht es gerade die wesentliche Bindung der Bediirfnisse an das Subjekt, die Produktion und Konsumtion in ihrer Einheit als einen Aneignungsprozess aufzufassen. Es scheint alles darauf hinzudeuten, dass die Konzeption des Wandels von Bediirfnissystemen auf das zweipolige Konzept der sozialen Bestimmung der Sinnlichkeit, wie wir es kennen lernten, zuriickgeht. Die Anderungen im Bereich der »sinnlichen Gegenstandlichkeiten«, in dem das Individuum handelnd involviert ist, haben eine Modifikation seines Zuganges zur Welt zur Folge, die sich im Wandel der von ihm angestrebten Ziele - Bediirfnisse - niederschlagt. Es erfolgt also eine durch die Bewegung der gesellschaftlichen Struktur ausgeloste Verschiebung der dem Individuum auferlegten Relevanzen, die jedoch als verinnerlichte Motivationen in das Handeln iibergehen. Nun wurde im Abschnitt iiber die Charaktermaske gezeigt, dass die lebens-weltlichen Resultate einer solchen Bewegung nicht mit Modifikationen des leiblich-sinnlichen Zuganges zur Welt ausgeschopft sind. Auch unter der Kategorie der Charaktermaske werden auferlegte Handlungszwange thematisiert, die aus dieser Bewegung resultieren. Wir woUen nun klaren, ob diese Gegebenheit durch die Kategorie des Bediirfnisses fiir den Relevanzzusammenhang fruchtbar gemacht werden kann. Fiir diese Klarung ist die von Marx beschriebene Verbindung von Bediirfnis und Konsumtion aufschlussreich. Die Konsumtion kann laut Marx unter einem subjektiven und einem objektiven Aspekt betrachtet werden. Sie kann entweder angesehen werden als Befriedigung eines durch die Sinnlichkeit internalisierten Bediirfnisses oder aber als Befriedigung eines auferlegten und damit als Handlungszwang auftauchenden Bediirfnisses, das jedoch nicht internalisiert ist. Das ist nach Marx beispielsweise hinsichtlich der Konsumtion von Produktionsmitteln der Fall (Marx 1970: S. 15). Es ist z. B. offensichtlich, dass es wohl den Eltern kein durch die soziale Bestimmung ihrer Sinnlichkeit auferlegtes Bediirfnis ist, ihre sechs-
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jahrigen Kinder arbeiten zu lassen, ebenso wie es dem Kapitalisten kein verinnerlichtes Bediirfnis ist, Niedrigstlohne zu zahlen, sondern dass dies zuerst ganz banal Notwendigkeiten sind, die - im jeweiligen Handlungskontext - das Befriedigen anderer sinnlicher Bediirfnisse ermoglichen. Im tieferen Sinne der Marxschen Konzeption einer sozialen Bestimmung der Sinnlichkeit ware zu fragen, inwiefern der durch solche Notwendigkeiten bestimmte Zugang zur sozialen Realitat dieses Handeln als ein solches zu betrachten erlaubt, das im Rahmen des Normalen ablauft, also der lebens-weltlichen Realitat schlechthin zugeschrieben werden kann. Denn so gesehen ergibt sich naturlich eine Riickkoppelung der Charaktermaske an die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit - das »Tragen« der Charaktermaske hat eine Bestimmung der Sinnlichkeit zur Folge. Dies ist ein Punkt, der eine psychologisierende Argumentation im Rahmen der Marx'schen Emanzipationstheorie zu erlauben scheint. Eine solche wiirde allerdings auf einem Missverstehen des aufgezeigten typisierenden Zuges der Charaktermaske beruhen. Aus dem Gesagten wird klar, dass die Marx'sche Kategorie des Bediirfnisses ambivalent ist: Sie deckt sowohl die internalisierten Bediirfnisse ab als auch diejenigen, die als Handlungszwange in der Charaktermaske personifiziert werden. Wird von einem System der Bediirfnisse gesprochen, so ist es immer unter diesen zwei Aspekten zu betrachten. Wenn also der Tenor des Marx'schen Argumentes besagt, dass sich mit der Strukturverschiebung auch das System der Bediirfnisse (also das Relevanzsystem) andert, dann bedeutet das immer, dass damit Modifikationen des Zuganges zur Welt sowie der typisierbaren Handlungsmotivationen und -erwartungen mitgemeint sind. Bedenkt man, dass - wie wir sahen - auch die Sinnlichkeit durch die Charaktermaske einer Typisierung zuganglich wird, so sieht man, dass Marx imstande ist, historisch typische Relevanzsysteme als Systeme von Bediirfnissen zu konstruieren, die fiir ihn die Bedeutsamkeit der den Individuen vorgegebenen sozialen Realitat ausmachen. Auf der Moglichkeit, dass die strukturellen Widerspriiche de kapitalistischen Produktion auf der lebensweltlichen Ebene, als Widerspriiche zwischen den das Relevanzsystem tragenden, auferlegten Zwangen und den verinnerlichten Bediirfnissen, im Prozess der Verelendung durchschlagen, fufit die Uberzeugung von Marx,
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dass emanzipatorische Bewegungen praktizierbar sind. Damit gewinnt seine Konstruktion der Konstitution historischer Lebens-Welten voile Gestalt. Um strukturelle Verschiebungen von Relevanzen zu begriinden, die notwendig sind, damit die Reproduktion und die Modifikation eines Gesellschaftsganzen moglich wird, muss Marx aufzeigen, wie die Auswirkungen der Strukturbewegung in die lebens-weltlichen Bedingungen des Handelns eingehen. Hierzu bedient er sich der von uns erlauterten Konzepte der sozialen Bestimmung der Sinnlichkeit, der Charaktermaske und des Systems von Bediirfnissen. Diese Konzepte, oder genauer, die in ihnen festgehaltenen sozialen Beziehungen, stellen bei Marx eine notwendige Voraussetzung fiir die Erfassung konkreter historischer Wirklichkeit dar. Sie machen, auch wenn sie bei der Darstellung konkreten Milieus nicht aufgefiihrt werden, den Sinn solcher Darstellungen im Marxschen Gesamtkonzept aus. Es zeigt sich also, dass es auch Marx um die Bedeutsamkeit lebensweltlicher Realitat zu tun war. Erst wenn dieses klar geworden ist, ergibt sich ein sinnvoller Bezugsrahmen fiir die Verbindung von Phanomenologie und Marxismus. Literatur: Aguirre, Antonio (1970): Genetische Phanomenologie und Reduktion. Zur Letztbegriindung der Wissenschaft aus der radikalen Skepsis im Denken E. Husserls. Phaenomenologica 38. Den Haag: Nijhoff. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Bockmiihl, K. E. (1961): Leiblichkeit und Gesellschaft. Studien zu Religionskritik und Anthropologic im Friihwerk von L. Feuerbach und K. Marx. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dahrendorf, Ralf (1974): H o m o sociologicus. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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4. Die Ebene der Lebens-Welt im Auf bau der Marx'schen Theorie I Bei dem Versuch, die Konstruktion historischer Lebens-Welten bei Marx aufzuzeigen (Srubar 1978)^^\ sahen wir uns mit mehreren Ebenen konfrontiert, aus deren Verflechtung Marxens theoretisches Gebaude hervorgeht. Wir waren im Gange unserer Betrachtung gezwungen, zwischen der Darsteliung einer allgemeinen Tendenz der Bewegung einer Geseilschaftsformation, der sich daraus ergebenden Konsequenzen fiir einzelne Lebensbereiche und schiiefilich der konkreten individuellen Modifikation dieser Lebensbereiche zu unterscheiden. Wir stellten dabei fest, dass sich aus der sozialen Bestimmung der SinnHchkeit, dem System der Bediirfnisse und der Charaktermaske Konzepte ergeben, mit deren Hilfe Marx die WirkHchkeit, die den Individuen jeweils im Prozess der gesellschaftUchen Reproduktion vorgegeben ist, als ihre Lebens-Welt konstruiert und so die drei oben genannten Ebenen verkoppelt. Es stellt sich nun die Frage nach einer genaueren Bestimmung der RoUe dieser lebens-weltHchen WirkHchkeit im theoretischen System von Marx. Hat sie dort eine theoriefundierende Funktion, die etwa mit ihrem phanomenologischen Pendant vergleichbar ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, die Ebene der lebenswehhchen WirkHchkeit im Marx'schen Theorieaufbau genau zu lukiiHsieren. Dazu miissen wir uns zuerst fragen, welche Aufbaustufen im Marx'schen Vorgehen iiberhaupt feststeilbar sind. Sind jene, die wir oben schon en passant erwahnten, die einzigen, oder gibt es andere, die ^^^Zu diesem Thema ist auf die vorziigliche Studie von Agnes Heller hinzuweisen (Heller 1978: insb. S. 26), die leider erschien, als der obige Aufsatz schon im Druck war. Die Autorin entwickelt gleichfalls das Konzept einer Lebenswelt aus dem Zusammenhang der Reproduktion der sozialen WirkHchkeit.
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wir noch nicht thematisiert haben? In welchem Verhaltnis stehen sie zueinander? Miissten wir uns hier alle Antworten auf diese Fragen allein erarbeiten, so wiirde diese Aufgabe und deren Gewichtigkeit unser Problem sicherlich iiberschatten. Gliicklicherweise aber konnen wir uns, abgesehen von Marxens eigenen Ausfiihrungen, auf umfangreiche Studien von verschiedener Seite stiitzen und daher auf relativ gesichertes Wissen zuriickgreifen, um so ungehindert unserem Anliegen nachzugehen (Althusser 1968; Zeleny 1973; Eberle/Henning 1974; Schafer 1976; Pfafferrott 1975; Reichelt 1973, Rosdolsky 1968; Wygodski 1967). Ehe wir jedoch auf systematisierende Sekundarliteratur eingehen, seien einige Stellen bei Marx angefiihrt, die die Ausgangspunkte der Interpretation markieren. Die erste Differenzierung, die Marx bei der Beschreibung seines Vorgehens vornimmt, ist die bekannte Unterscheidung zwischen Forschung und Darsteilung: »Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspiiren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun« (Marx 1962: S. 27). Weitere methodische Differenzierungen sind in Passagen aus den »Grundrissen« zu finden, wo Marx den Fortgang vom Abstrakten zum Konkreten beschreibt und die Beziehung der gedachten Totalitat zu ihrer Wirklichkeitsbasis anspricht. Die folgende Stelle bietet so vielfaltige Interpretationsmoglichkeiten, dass wir ein ausfuhrliches Zitat nicht scheuen: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozefi der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg
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wurde die voile Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verfliichtigt^^^; im zweiten fiihren die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens. Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst bewegenden Denkens zu fassen, wahrend die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art des Denkens ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozefi des Konkreten selbst [...] Fiir das Bewufitsein daher - und das philosophische Bewufitsein ist so bestimmt -, dem das begreifende Denken der wirkliche Mensch und daher die begriffene Welt als solche erst das Wirkliche ist, - erscheint daher die Bewegung der Kategorien als der wirkliche Produktionsakt [...], dessen Resultat die Welt ist; und dies ist [...] soweit richtig, als die konkrete Totalitat als Gedankentotalitat, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs des aufier oder iiber der Anschauung oder Vorstellung denkenden und sich selbst gebarenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig moglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der kiinstlerischen, religiosen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor aufierhalb des Kopfes in seiner Selbstandigkeit bestehn; solange sich der Kopf namlich nur spekulativ verhalt, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher mufi das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.« ( Marx 1970: S. 21). Konzentriert man sich auf dieses methodologische Modell, so kann man feststellen, dass hier drei Ebenen unterschieden werden: die Ebene der Erscheinungen, d. h. jene des anschaulich gegebenen Stoffes (I), weiter jene der begrifflichen Verarbeitung dieses Stoffes, also die Aufspiirung des »inneren Bandes« (II), und letztlich die Ebene der eigentlichen Theorie, d. h. jene der Darstellung der wesentlichen Bewegung einer Gesellschaftfor^^^Marx bezieht sich hier auf seine vorhergehende Aussage iiber die scheinbare Konkretheit des Vorgegebenen, das ohne innere Bestimmung und daher abstrakt ist.
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mation (III), aus der die Fiille der Erscheinungen resultiert, dargestellt in Begriffen der Ebene 11. Denn Marx geht ja bekanntlich davon aus, dass alle Wissenschaft liberfliissig ware, »wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen [...]« (Marx 1970a: S. 825). Diese drei Schritte - Analyse des empirischen Materials, Finden (oder Nicht-Finden) eines inneren Zusammenhangs, Aufstellen einer Theorie sind fiir sich betrachtet ein gangiges Modell der wissenschaftlichen Praxis. Interessanter wird es aber, wenn man die nahere Bestimmung der jeweiligen Ebenen und ihre gegenseitigen Beziehungen untersucht. So ist Ebene I (also die des empirischen Stoffes in der Anschauung), auch als wirklicher Ausgangspunkt der Analyse, nicht durch das Merkmal des Konkreten gekennzeichnet, sondern vielmehr durch ein in sich unbestimmtes Abstraktes. Nimmt man dieses Abstrakte als das Konkrete, von dem auszugehen ist, so fiihrt dies zu keiner naheren inhaltlichen Bestimmung der Erscheinungsebene, sondern zu einer zunehmenden Verfliichtigung derselben. Konkret ist erst die geistig zu reduzierende Totalitat, also die geistige Reproduktion des Seienden (der Ebene I), das damit an Wirklichkeit jedoch nichts einbiifit. Den Prozess dieser Reproduktion umschreibt Marx als das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, was in hegelianischer Optik wohl zu entziffern ist als das Aufsteigen vom Unbestimmten (Ebene 1) zum Bestimmten (Ebene III). Demzufolge kann die Erscheinungsebene erst konkret werden, wenn sie durch die Theorie (Ebene III) interpretiert ist. Diese Theorie gilt es aber erst zu konstruieren, und dazu ist es notwendig, das innere Band aufzuspiiren, wie Marx sagt. Die Frage stellt sich nun, wie ein solches Band in einer Fiille abstrakter und unbestimmter Erscheinungen gefunden werden kann. Kann dieses Ratsel etwa gelost werden, indem man nach dem Grunde der Abstraktheit der Erscheinungsebene fragt und diesen in der praktischen Abstraktheit der sozialen Beziehungen einer Gesellschaftsformation sucht? Diesen Weg legt das Kapitel liber die Ware (Marx 1962: Kap. I) nahe mit seiner Intention, die Ware - die Zelle des kapitalistischen Gesellschaftsgewebes als Trager dieser Abstraktion zu bestimmen, von dessen Analyse daher auszugehen ware. Die lebens-weltlich praktizierte Abstraktheit wiirde
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in diesem Sinne jene unbestimmte Abstraktheit der Erscheinungsebene aufheben, indem sie ihre strukturellen Trager erkennen lasst und damit die anfangliche Unstrukturiertheit der letzteren (d. h. der Erscheinungsebene als Forschungsobjekt) durchbricht. So verlockend es ware, die Uberlegungen zur Rolle der LebensweltEbene hier anzusiedeln, so sehr gilt es doch, die Gefahr voreiliger Schliisse zu vermeiden. Denn erstens ist diese praktizierte Abstraktheit der Erscheinungsebene als soziales Phanomen fiir Marx nur in der kapitalistischen Gesellschaft signifikant, obwohl er gleichzeitig ganz allgemein vom abstrakten, namlich unbestimmten Stoff der Anschauung spricht. Zweitens ist leicht zu ersehen, dass die aus den »Grundrissen« zitierte Passage sich auf die Forschungsmethode bezieht, wahrend das Warenkapitel das klassische Exempel der Marx'schen Darstellungsweise bietet.^^^ Solche Unklarheiten zeigen an, dass die Suche nach Bezugspunkten, die es erlauben wiirden, eine Lokalisierung der Lebens-Welt-Ebene im Marx'schen System vorzunehmen, keineswegs schon hier eingestellt werden kann. Es bedarf also einer weiteren Durchleuchtung des Marx'schen Verfahrens. Deshalb empfiehlt es sich, auf Untersuchungen zuriickzugreifen, die das Marx'sche methodische Vorgehen selbst thematisieren. Wir wollen also Studien miteinander vergleichen, deren Autoren besonders systematisch vorgehen und die zudem verschiedener Provenienz sind. Es handelt sich um die Arbeiten von Althusser (1968), Zeleny (1973) und von Eberle und Henning (1974).
^^^Marx fangt das Warenkapital nicht mit der Analyse der Abstraktheit der Erscheinungsebene an, sondern mit der des Warenphanomens. Erst nachdem er in der Untersuchung des Verhaknisses der relativen Wertform und der Aquivalentform ein Modell der vergesellschafteten Umwandlung der abstrakten Arbeit in konkrete und umgekehrt ausgearbeitet hat, geht Marx zu der Analyse des Warenfetischismus iiber, der hier fiir die Erscheinungsebene in ihrer Abstraktion steht. Die Abstraktion der Erscheinungsebene kann also in der Darstellung erst durchbrochen werden, wenn ein theoretisches Modell ausgearbeitet wird. Erst dann wird die Abstraktion als eine solche deutlich, da in dem Modell Kriterien ihrer mangelhaften Bestimmung aufgestellt werden.
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II Beginnen wir mit Althussers strukturalistischem Systematisierungsversuch. Diese Studie thematisiert eine weitere Ebene des Marx'schen Vorgehens, die aus den aufgefiihrten Marx-Zitaten nicht ohne weiteres abgelesen werden kann, deren Relevanz aber sofort einleuchtet, bedenkt man, dass »Das Kapital« als Kritik der politlschen Okonomie geschrieben wurde. Es ist dies die Ebene der >biirgerlichen< Theorien, wie Marx sie vorgefunden hat, und die neben dem realen Forschungsobjekt der Erscheinungsebene einen gleicherweise bedeutsamen Ausgangspunkt der Analyse darstellen. Althusser setzt in seinem Versuch, Marxens theoretische Praxis zu beschreiben, gerade an dieser Ebene an. Die Wissenschaft, so sagt er, geht immer von der Erfassung eines Universellen aus (wir neigen dazu, dieses Universelle als Totalitat zu verstehen). Daraus resultiert die Allgemeinheit ihrer Begriffe. Im Prozess der wissenschaftlichen Praxis seien dann drei qualitativ verschiedene Stufen der Allgemeinheit auszumachen (Althusser 1968: S. 125 ff.): Die »Allgemeinheit I« besteht aus schon bestehenden Begriffen und Vorstellungen, die »vorgangiger, ideologischer Natur« sind (Althusser 1968: S. 125). Sie stellt die Grundmaterie dar, an der die Wissenschaft arbeitet. Die »Allgemeinheit III«, die neue Theorie also, verkorpert die konkrete Allgemeinheit, jene Erkenntnis also, die als Resultat der begrifflichen Verarbeitung der »Allgemeinheit I« durch die wissenschaftliche Praxis gewonnen wurde. Die »Allgemeinheit II« ist dann der eigentliche Prozess der wissenschaftlichen Praxis, der seine Basis hat in den gangigen Theorien. Resiimierend kann man also sagen, »dass die theoretische Praxis durch die Arbeit der Allgemeinheit II an der Allgemeinheit I die Allgemeinheit III produziert« (Althusser 1968: S. 127). Althusser appliziert dieses Schema auf Marx; dabei geht er vorwiegend aus von der oben zitierten Passage aus den »Grundrissen«. Die dort beschriebenen Ebenen des methodologischen Vorgehens interpretiert er im Sinne der drei Allgemeinheitsstufen der wissenschaftlichen Praxis. Bezogen auf das Problem des Zusammenhangs von Forschung und
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Darstellung ergibt sich somit in der Tat eine Art Losung. Welches sind namlich die Folgen dieser Deutung? Wahrend Allgemeinheit II und III iibereinstimmen mit der von Marx umrissenen Bestimmung der zweiten und dritten Ebene, erfolgt bei der Deutung von Ebene I, d. h. der Grundmaterie der wissenschaftlichen Praxis, in den Termini der Allgemeinheit I eine folgenreiche Verschiebung: Die Erscheinungsebene des Stoffes in der Anschauung wird durch die Ebene der »vorgangigen, ideologischen Begriffe« ersetzt. Dadurch wird das Problem der Abstraktheit der Ebene I in origineller Weise aufgehoben. Jene Begriffe, die inadaquat verallgemeinern, sind in Bezug auf ihren Gegenstand tatsachlich nur »Abstraktionen«, wahrend solche, die die »reale Bewegung« ihres Gegenstandes geistig reproduzieren, in ihrer Allgemeinheit konkretisierend sind, im Gegensatz zu den ersteren also eine geistige konkrete Totalitat ausdriicken. Althusser unterscheidet selbstverstandlich zwischen dem Konkret-Wirklichen und dem KonkretGedanklichen. Um aber das Problem der Abstraktheit auf der Ebene I auf seine Weise losen zu konnen, ist er gezwungen, das Verhaltnis zwischen der Erkenntnis (dem Geistig-Konkreten) und ihrem Gegenstand (dem Wirklich-Konkreten) fiir unproblematisch zu erklaren. Als unproblematisch gilt dieses Verstandnis deshalb, weil die wissenschaftliche Praxis standig damit zu tun hat und damit fertig wird (ALthusser 1968: S. 128). Mit dieser pragmatischen Annahme, das Wirkliche gehe unproblematisch in der Erkenntnis auf, wird aber auch der Widerspruch zwischen Marxens Bestimmung der Ausgangsebene als dem wirklich Realen und ihrer Althusserschen Deutung beseitigt. Wenn Althusser sich, nachdem er methodologische Schwierigkeiten auf diese Weise wegdefiniert hat, gegen Interpretationen wendet, die die Realitat wissenschaftlicher Resultate missachten, den Unterschied von theoretisch Abstraktem und theoretisch Konkretem verkennen und von der Differenz zwischen Sein (konkret) und Denken (abstrakt) her argumentieren, so kampft er an der falschen Front. Das Problem, das sich ergibt, wenn man Marxens Ausfiihrungen zur Methode folgt, besteht nicht darin, dass dort kein Unterschied zwischen Denken und Sein gemacht wird. Dies zeigen schon die zitierten Stellen aus den »Grundris-
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sen«. Das Problem ist nach wie vor, wie die Abstraktheit des Seienden durchbrochen werden kann, damit die des Denkens erreicht wird. Dies Problem kann nicht geloKonkretheitst werden durch eine Umdeutung der Grundmaterie der theoretischen Praxis, auch dann nicht, wenn man die wirklich-konkrete Ebene I als eine immer schon strukturierte, komplexe Einheit ausgibt (Althusser 1968: S. 143 f.). Natiirlich ist eine solche generelle Annahme prinzipiell zulassig.^^"^ Genauer besehen ist sie allerdings problematisch: Die Strukturiertheit der Erscheinungsebene wird in der Darstellung erst ex post deutlich, d. h. erst nachdem das Strukturierende die reale Bewegung der Gesellschftsform - klar herausgearbeitet ist, also erst in der Rekonstruktion. Ob und in welcher Form sich diese Annahme auch auf die Forschungsweise auswirkt, bleibt dabei unklar.^^^ Obwohl uns Althusser keine genaue Vorstellung von dem Verhaltnis von Darstellung und Forschung bei Marx vermitteln kann, fiihrt er uns vielleicht dennoch nahe an das wirkliche Arbeitsvorgehen Marxens heran: Als Marx erkannt hatte, dass die politische Okonomie das Mittel sei, die Abstraktheit der Erscheinungsebene von Gesellschaften zu durchbrechen, fand er diese Wissenschaft in einem Stadium vor, wo alle von ihm aufgenommenen Begriffe schon gepragt und fest umrissen waren. Es fehlte nur die Spezifizierung ihres Gehaltes, und diese konnte sich erst aus einer tieferen Erkenntnis des gesellschaftlichen Zusammenhangs ergeben, welche dann eine universalistische Klarung der Erscheinungsoberflache ermoglichte. Die empirische Fiille des Materials ist also nicht die ausschliefiliche Ausgangsbasis der Analyse, da sie schon in begrifflichen Mustern vorsystematisiert war, wenn auch nicht widerspruchslos und restlos; denn der entscheidende Einschnitt war damals auf der Erscheinungsebene noch nicht erfolgt. Marxens wissenschaftliche Praxis ging also nicht einfach von einer Erscheinungsfiille aus, sondern er konnte in mancher Hinsicht an sehr subtile theoretische Vorarbeiten ankniipfen. ^^"^Die Moglichkeit eines solchen Schrittes ist im Rahmen der Althusserschen Konzeption gegeben. Wenn die Ebene I als die der Vortheorien bestimmt wird, dann wird die sonst an ihrer Stelle stehende Erscheinungsebene von dem Attribut der Abstraktheit befreit und kann als vorstrukturiert, d. h. vorbestimmt gelten. ^^^Abgesehen von der Aussage, dass dieses immer schon gegebene strukturierte Ganze auch seine Erforschung bestimmt (Althusser 1968: S. 143).
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So sehr Althusser das Verdienst zukommt, auf diesen Umstand hingewiesen und ihn systematisch ausgefiihrt zu haben, kann man sich trotzdem des Gefiihls nicht erwehren, dass hier das Problem vereinfacht 1st. Althussers Fehler scheint darin zu liegen, dass er, teils durch die Eleganz seiner Losung abgelenkt, teils durch ihre immanente Logik gezwungen, Marxens Beziehung zur Erscheinungsebene im Sinne der vorgegebenen Wirklichkeit ganzlich ausblendet. Er negiert diese Wirklichkeit zwar nicht, er zeigt sie ja als Pol des Erkenntnisverhaltnisses auf. Aber weil sie fiir ihn nur bedeutsam ist als Kulisse ihrer theoretischen Klarung und ansonsten zum ideologischen »gelebten Verhaltnis zur Welt« verklart wird (Althusser 1968: S. 184), steht auch die Aussage iiber ihre immer schon gegebene Vorstrukturiertheit unbegriindet im Raume. Uber das Verhaltnis der Wirklichkeit zur theoretischen Praxis und zur Art und Weise, wie diese in jener aufgehen kann, erfahren wir nur wenig.
Ill Im Gegensatz zu Althusser geht Zeleny diese Probleme direkter an. Er versucht namlich den eigentlichen Prozess der wissenschaftlichen Praxis, den er Ableitung nennt, genauer einzukreisen. Auch er halt sich an die Dreiteilung des methodischen Vorgehens, wie wir sie bei Marx kennen lernten, wobei er die Relevanz der Vortheorien nicht iibersieht. Er schreibt: »Die Analyse von Marx bewegt sich gleichzeitig auf zwei Ebenen, auf der Ebene der theoretischen Entwicklung (zuweilen spricht Marx von >logischer Entwicklung<) und auf der Ebene der wirklichen historischen Bewegung. Jedoch ist die Bewegung auf der Ebene der theoretischen Entwicklung abgeleitet, ist in gewisser Hinsicht ebenfalls Bewegung der wirklichen Geschichte [...]« (Zeleny 1973: S. 59). Dies ist aber nicht im Sinne einer ontologischen Identitat gemeint, sondern die theoretische Ebene »spiegelt das Leben des Stoffes wider«, wie Zeleny mit Marx bemerkt (ebd.). Die Form, in der Marx die Erkenntnisse auf der theoretischen Ebene organisiert, ist jene des Begriffs: »Der >Begriff< ist nach Marx die gedankliche Reproduktion der inneren Gliederung, der inneren Struktur eines Gegenstandes, und zwar dieser inneren
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Struktur in Ihrer Entwicklung, in ihrer Entstehung, in Existenz und Untergang.« Er ist kurz »die gedankliche Widerspiegelung des Gegenstandes in seinem strukturell-genetischen Wesen« (Zeleny 1973: S. 62). In dieser Form verkorpert der Begriff eine typische und idealisierte gedankliche Organisation seines Gegenstandes samt dessen Genesis (Zeleny 1973: S. 59). Abgesehen von dem Prozess der Ableitung (worauf wir spater eingehen werden), der die beiden erwahnten Ebenen verbindet und der fiir die Ebene II kennzeichnend ist, ergibt sich, bedenkt man die im »Kapital« vorliegende Darstellungsweise, ein standiges »Oszillieren« (ebd.) zwischen beiden Ebenen. Dieses »Oszillieren« kann als Schliisselbegriff fiir unsere Fragestellung betrachtet werden. Damit werden namlich drei Sachverhake angesprochen: 1. dass die sinnliche konkrete Wirklichkeit eines der fundierenden Momente von Marxens wissenschaftlicher Praxis ist, und zwar in ihrer originaren Form und nicht nur in ihrer begrifflichen Verarbeitung durch die Vortheorien; 2. dass die Analyse nicht immer durch den Bezug auf die konkrete Wirklichkeit weitergetrieben wird, sondern dass sie auch durch eine innere Logik der theoretischen Konstrukte, durch Begriffe also, in Bewegung gehalten werden kann; 3. dass es schliefilich ein erkennbares Modell geben muss, nach welchem die Vermittlung zwischen der konkret sinnlichen historischen Wirklichkeit und der Theorieentwicklung bei Marx erfolgt. Wir woUen nun den erstgenannten Zusammenhang verfolgen, um die Ebene I naher bestimmen zu konnen. Es geht darum herauszufinden, wie Zeleny die Frage nach den Modi beantwortet, in denen die sinnliche Wirklichkeit im Marx'schen System auftritt. Er teilt diese Modi in zwei Gruppen ein (Zeleny 1973: S. 60): a) Beispiele und Illustrationen, »die die theoretische Entwicklung veranschaulichen«:
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b) historische Ereignisse und Tatsachen, die »selbst keine Verdeutlichung zur theoretischen Entwicklung sind, sondern die in die Marxsche Analyse bewusst in der Form konstatierter theoretisch unableitbarer, historischer gegebener Voraussetzungen eingefiihrt werden und dann der Ausgangspunkt weiterer theoretischer Entwicklung sind...«. Welches Verhaltnis besteht nun zwischen der so spezifizierten Ebene I und der Ebene II, d. h. jener der theoretischen Ableitung, also der Theoriebildung im Sinne Althussers? Zeleny weist auf drei Bedingungen hin, die nach Marx fiir die Rechtmafiigkeit des Ableitungsprozesses unabdingbar sind. AUe drei nehmen Bezug auf die Ebene I. Es sind: a) griindliche empirische Kenntnisse des Stoffs; b) ein Wissen um die historischen Grenzen der theoretischen Darlegung, d. h. um die faktische historische Wirklichkeit, sofern sie als konstatierte, nicht ableitbare Voraussetzung, in die Analyse eingeht; c) ein bestimmter Reifegrad der Wirklichkeit und das Vorhandensein vorhergehender Untersuchungen dieses sich entwickelnden Ganzen, die »ein bestimmtes gedankliches Material angehauft haben«(Zeleny 1973: S. 92-93) . Die systematische Beriicksichtigung dieser Bedingungen ist die Basis fiir die Umstiilpung der Hegel'schen Dialektik, welche aus der materialistischen Modifikation des Begriffskonzepts resultierte. Damit eroffnete sich der Weg zur Analyse der realen Bewegung der gesellschaftlichen Struktur, die in den okonomischen Vortheorien verschliisselt bereitlag. Zweifellos ist Zelenys Analyse komplexer und vielseitiger als Althussers Modell. Dies nicht nur, weil im obigen Punkt (c) das strukturalistische Argument mitenthalten ist. Vor allem schildert Zeleny den Prozess der Theoriebildung einleuchtend als Konstruktion von Typen, die sich auf konkrete historische Bedingungen stiitzt und die Wesensstruktur ihres Gegenstandes in genetischer Perspektive darstellt. Stellt man nun erneut die
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Frage, wie die abstrakte Unbestimmtheit der Erscheinungsebene durchbrochen wird, so sieht man, dass im Rahmen von Zelenys Konzeption das Argument der Selbststrukturierung der Erscheinungsebene nicht auf dieselbe Weise wie bei Althusser eliminiert wird. Da sich die Ableitung gleichzeitig auf den Gegenstand wie auf die Vortheorien bezieht, wird die (eigentlich strukturalistische) These der Selbststrukturierung der Erscheinungsebene im Zuge des Reifens der Struktur des Ganzen plausibel. Ein Problem bleibt aber dennoch: die relative Unklarheit namlich liber den Fortgang der Typenkonstruktion selbst. 1st dieser Fortgang mit jenem Prozess gleichzusetzen, den Marx als das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten bestimmt, so muss er als Prozess der zunehmenden Bestimmung eines Gegenstandes in gedanklicher Abstraktion betrachtet werden. Zeleny beschreibt zwar die Marx'schen Ankniipfungspunkte bei Hegel und den klassischen Okonomen samt ihrer Modifikation. Er zeigt dies aber immer schon im Hinblick auf das begriffliche Konzept selbst, im Hinblick also auf das Resultat des Ableitungsprozesses. Es ist jedoch denkbar, dass der Konkretisierungsprozess in der gedanklichen Reproduktion stufenweise vor sich geht. Deshalb stellt sich die Frage, ob bei Marx solche Stufen auszumachen sind, die eine verfeinerte Beschreibung der Theoriebildung ermoglichen wiirden.
IV Hinweise auf eine Antwort lassen sich in der Untersuchung von Eberle und Henning (1974) finden. Dort wird die Differenz zwischen Darstellungs- und Forschungsweise systematisch beriicksichtigt (Zeleny 1973: S. 68). Im Rahmen dieses Versuchs, das Verhaltnis von Forschung und Darstellung bei Marx zu bestimmen, bemerken die Autoren zwar, dass es der dunklen Quellenlage wegen unmoglich sei, eine Systematik von Marxens Umgang mit empirischen Daten im Forschungsgang selbst aufzuzeigen. Sie gehen jedoch davon aus, dass die Darstellungsmethode, wie sie im»Kapital« und den Vorarbeiten zu finden ist, nicht nur eine systematisierende und vermittelnde Funktion hat, sondern dass Marxens Darstellung auch Motiven einer ursachlichen Beweisfiihrung folgt. Da-
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her soil systematisch und in Form eines Beweises der Zusammenhang zwischen dem, was wir im Anschluss an Zeleny einen »Wesenstypus« nennen, und der Erscheinungsebene aufgezeigt werden (Zeleny 1973: S. 47). Zugleich soil aufgezeigt werden, wie die Erscheinungsebene bestimmt wird. Den Stufen dieses Bestimmungsprozesses im abstrakten Denken, wie sie in der Darstellung fassbar sind, gilt die besondere Aufmerksamkeit der Autoren (Zeleny 1973: S. 72). Sie verfolgen, ahnlich wie die friiher erwahnten Arbeiten, den in der Einleitung zu den »Grundrissen« skizzierten Verlauf der gedanklichen Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten in seinen drei Phasen (Zeleny 1973: S. 85): a) das >Penetrieren< der Erscheinungsebene durch ihre anfangliche Systematisierung; b) die Entwicklung der Wesenslogik der realen Bewegung der Gesellschaftsformation, die Entwicklung des Wesenstypus also; c) die Rekonstruktion der Erscheinungsebene anhand der wesenstypischen Logik, d. h. das Aufheben der Abstraktion und die Produktion der konkreten Totalitat. Auch hier versuchen die Autoren in einem ersten Schritt zu begreifen, in welchem Sinne Marx auf die Erscheinungsebene Bezug nimmt. Drei Bezugsweisen werden hier unterschieden: a) »beliebige Beispiele«; b) Belegstellen, die der geschichtlichen Probe dienen; c) Belegstellen, die dariiber hinaus theoretische Aussagen illustrieren, indem sie die historische Genesis ihres Gegenstandes beschreiben (Zeleny 1973: S. 70). Wie werden nun diese heterogenen Elemente der Erscheinungsebene in die Systematik einbezogen.^ Wie gelingt der eigentliche Ubergang vom Phanomen zur Wesensbestimmung? Die Autoren unterscheiden im Verlauf der bestimmenden Abstraktion zwei Stufen. Auf der ersten Stufe
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finden sie die »einfachen Begriffe«, die der »Strukturierung und Interpretation der Forschungsergebnisse liber konkrete gesellschaftliche Erscheinungen« dienen (Zeleny 1973: S. 78); auf der zweiten Stufe Aussagen iiber die »unbewusste Logik der Geschichte« (ebd.). Die »einfachen Begriffe« spielen fiir diese wesenstypischen Aussagen iiber die reale Bewegung der Geseilschaftsstruktur eine vermittelnde Rolle, indem sie Wesenstypen und Erscheinungsebene aneinanderkoppeln (Zeleny 1973: S. 80 f.). Der Verlauf der gedanklichen Reproduktion der konkreten Totalitat kann demgemafi schematisch wohl folgendermafien dargestelit werden (vgl. Zeleny 1973: S. 85): Wesenstypus der Bewegung der Geseilschaftsstruktur
Erscheinungsebene
Rekonstruierte Erscheinungsebene (konkrete Totalitat)
einfache Begriffe
Schwierigkeiten tauchen allerdings dort auf, wo Eberle und Henning versuchen, die »einfachen Begriffe« zu lokalisieren. Sie gehen von der Analyse von Textstellen aus^^^, die einen solchen Vorgang mehr vermuten lassen, als dass sie ihn explizit vorfiihren. Die Autoren arbeiten vielmehr zu diesem Zwecke kontextuelle Hinweise auf Begriffe minderer Komplexitat heraus. Wiirde man die entsprechenden Stellen wortlich nehmen, dann wiirden sich »Ware] und >Klasse< als >einfache Begriffe< herausstellen. Wir wollen diesen Hinweis aufnehmen und uberprufen.« Der Begriff »Ware« konnte durchaus ein solcher Vermittlungsbegriff sein, denn Marx verwendet diesen Begriff tatsachlich, um die Erscheinungsebene zu durchdringen und eine Basis fiir die Behandlung von Wesenstypen zu gewinnen. Der Begriff »Klasse« vermittelt zwar - gemafi ^Marx (1962: S. 12; 1970a: S. 892).
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der Einleitung zu den »Grundrissen« (Marx 1970: S. 21) - die Bevolkerung im Allgemeinen mit dem Wesenstypus der Gesellschaftsstruktur, doch handeit es sich hier um eine Vermittlung in umgekehrter Richtung. Die Konkretheit des Klassenbegriffs ist voliig unabhangig vom Wesenstypus der Gesellschaftsstruktur.^^'^ Wahrend namlich die Ware als etwas Produziertes im Geflecht der gesellschaftlichen Beziehungen auf ihre Genese die Arbeit und deren gesellschaftliche Organisation -, also konkretisierend auf Strukturelles hinweist, hat der Klassenbegriff keine bestimmende Kraft, solange er nicht mit einem Wesenstypus der Gesellschaftsstruktur gekoppelt und so durch differenzierende Merkmale erganzt ist. Der Klassenbegriff scheint also, im Sinne der beiden Autoren, ein einfacher Begriff zu sein, dessen vermittelnde RoUe erst auf der rekonstruierenden »Ruckreise« (vgl. Marx 1970: S. 21) vom Wesenstypus zur konkreten Totalitat zur Geltung kommt, wahrend der Warenbegriff als Beispiel fiir die Vermittlung zwischen Erscheinungsebene und Wesenstypus im aufsteigenden Sinne dienen konnte. Demnach miisste die obige Darstellung des Marxschen Vorgehens erganzt werden: Wesenstypus der Bewegung der Gesellschaftsstruktur
Erscheinungsebene
einfache Begriffe
einfache Begriffe
Rekonstruierte Erscheinungsebene (konkrete Totalitat)
Die Autoren unterscheiden im Prozess der bestimmenden Abstraktion (man konnte auch sagen: Ableitung, theoretische Praxis, Rekonstruktion etc.) eine Zwischenstufe, die sowohl im Sinne des Theorieaufbaus als auch im Sinne der Rekonstruktion der Erscheinungsebene zwischen dem ^^'^Dass dies im Falle der Ware nicht so ist, zeigt die zunachst allgemein gehaltene Abhandlung dieses Phanomens in den ersten drei Kapiteln des l.Bandes des »Kapital«.
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Wesenstypus und der vorgegebenen Wirklichkeit vermittelt, wobei dahingestellt bleibt - und eher unwahrscheinlich ist -, ob ein und derselbe Begriff in belden Fallen Verwendung finden konnte.
Wir wollen nun die Ergebnisse der behandelten drei Studien zusammenfassen und einige Konsequenzen aufzeigen, die sich fiir das weitere Vorgehen ergeben. Die Schemata 1 und 2 konnen uns dabei behilflich sein. Wie ersichtlich modifizieren alle drei Autoren das Marx'sche Dreiebenenmodell. Ihr gemeinsames Resultat lasst sich darin erblicken, dass bei alien die den Individuen vorgegebene Wirklichkeit, also die lebens-weltliche Ebene, im Rahmen von Marxens Vorgehen in einem doppelten Sinne auftaucht: einmal als die von der Wissenschaft unbestimmte Erscheinungsebene, das andere Mai als deren geistige Rekonstruktion, d. h. als Bestandteil der konkreten Totalitat. Zwischen diesen beiden Formen vollzieht sich der komplizierte Rekonstruktionsprozess, dessen wichtigste Phase wiederum jene der Konstruktion von Wesenstypen ist, als dem Ausdruck der Bewegung der gesellschaftlichen Struktur. Was den Verlauf dieses Prozesses angeht, bestehen dann aber erhebliche Divergenzen. Dieser Prozess lasst sich namlich in einem doppelten Zusammenhang betrachten: erstens in seiner Bindung an die Erscheinungsebene, zweitens in seinem Verhaltnis zur rekonstruierten Form derselben, namlich der konkreten Totalitat. Die expliziten und vor allem die impliziten Weisen der Marx'schen Bezugnahme auf die den Individuen vorgegebene Wirklichkeit sind also zu unterscheiden im Hinblick darauf, ob sie sich auf diese Wirklichkeit in ihrer unbestimmten Erscheinungsform richten oder mit ihrer rekonstruierten Form im Zusammenhang stehen. Die erste Art von Bezugnahme nennt Zeleny^^^ die unableitbaren Bedingungen der Ableitung, die zweite umfasst Illustrationen, Beispiele und >historische Proben<, wie Zeleny, Eberle und Henning iibereinstimmend feststellen.
^Ahnliche Hinweise findet man auch bei Schafer (1976: S. 64).
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Schema 1: Ebenen des theoretischen Vorgehens Stufen des Vorgehens
Marx' Bestimmungen
Althussers Deutung
Zelenys Deutung
Eberles und Hennings Deutung
I
Erscheinungsebene (abstrakt)
Vortheorien
Erscheinungsebene Ableitung: Modifikation der Vortheorien (Hegel, Ricardo) +
Erscheinungsebene
II
Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten (»Aufspuren des inneren Bandes«)
Wissenschaftliche Praxis, Modifizierung des Begriffsrahmens
Bezug auf Ebene I als Bedingung der Ableitung: a) empirische Kenntnis b) historische Begrenztheit der Geltung von Kategorien c) historische Bedingtheit der Aufstellbarkeit von Theorien
Einfache Begriffe + Ubergang zur Logik des historischen Gesellschaftsablaufs (Wesenstypus)
Darstellung der wirklichen Bewegung der Gesellschafts-
Neue Theorie
Begriff (Wesenstypus - Reproduktion der Struktur und der Genesis des Gegenstandes)
Wesenstypus + Einfache Begriffe - Rekonstruktion der Erscheinungsebene, konkrete Totalitat
III
konkrete Totalitat
< struktur + Rekonstruktion der Erscheinungsebene ^ (»Ruckreise«)
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Schema 2: Aussagen liber die Funktion der Elemente der Erscheinungsebene bei Zeleny
Eberle und Henning
a) Illustration
a) Illustrationen im Text (»blo£e Beispiele«)
b) Unabdingbare Voraussetzung der Ableitung
b) Historische Proben c) Illustrationen durch historische Darstellung der Entwicklung des Gegenstandes
VI Unsere Aufgabe ist es nunmehr, die Ebene der Lebens-Welt in diesem komplizierten Gefiige zu lokalisieren. Dies erfordert die Einfiihrung einer weiteren spezifizierenden Bestimmung, die das Vorgegebensein einer Wirklichkeit betrifft und die wir mit dem Terminus Bedeutsamkeit umschreiben wollen. Mit Bedeutsamkeit ist ganz allgemein die sinnhafte Beziehung der Individuen zur sie umgebenden sozialen Lebenswek gemeint, einer Wirklichkeit, in die die Individuen eingebettet sind. In Marxens wissenschaftUchem Vorgehen lasst sich unseres Erachtens Bedeutsamkeit in einem doppelten Sinne ausmachen: a) in einer wissenschaftstheoretischen Perspektive, wo sie als der vom Wissenschaftler angestrebte strukturell-genetische Zusammenhang der Momente eines abstrakten, d. h. in sich unbestimmten Gegenstandes erscheint; b) in einer gesellschaftstheoretischen Perspektive, wo sie selbst in all ihren Formen als gesellschaftliches Phanomen zum Objekt der Erklarung wird. Die Wechselbeziehung dieser Perspektiven, so konnte die These lauten, halt das Marx'sche System zusammen.
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Mit dieser doppelten Differenzierung haben wir ein Raster gewonnen, mit dem sich gewisse Knotenpunkte der Marx'schen Bezugnahme auf die vorgegebene Wirklichkeit fixieren lassen. Sie konnen uns als Ausgangspunkt bei der Lokalisierung der Ebene der Lebens-Welt dienen. Schematisch lassen sie sich in einer Vierfeldertabelle festhalten (siehe Tabelle S. 336). Auch wenn der Wert solcher Versuche, »die Dialektik aufzuzeichnen«, sehr beschrankt ist, wird durch diese optische Differenzierung etwas deutlich, was sonst vermengt, verborgen oder unausgesprochen bleibt. Es zeigt sich namHch, dass der Erscheinungsebene abstrakte Unbestimmtheit und somit mangelhafte Relevanz in Bezug auf eine wissenschaftlich adaquate Erfassung - also eine mangelhafte theoretische Bedeutsamkeit - nur in der wissenschaftstheoretischen Perspektive anhaftet: nur dort also, wo die Aneignung der Welt in einer theoretisch-wissenschaftlichen Weise stattfindet, die im Gegensatz zu alien anderen steht. In gesellschaftstheoretischer Perspektive ist die Erscheinungsebene dagegen immer eine historisch-spezifische und beinhaltet somit immer ein Moment der geistigpraktischen Aneignung (vgl. Marx 1970: S. 22). Im Fetischismus-Abschnitt des Warenkapitels lasst sich verfolgen, dass die Struktur der Situationen, in denen praktisches Handeln sich vollzieht, selbst dann nicht ungreifbar zu sein braucht, wenn die geistig-praktische Aneignung den Charakter einer praktizierten Abstraktheit tragt. Die Abstraktheit bezieht sich hier, im Rahmen der zwei aufgezeigten Perspektiven betrachtet, auf zweierlei: Sie ist zuerst ein Resultat des praktischen Ablaufs sozialer Beziehungen. »Die Menschen beziehen also ihre Produkte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als blofi sachliche Hiillen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (Marx 1962: S. 88) Das gesellschaftliche Phanomen der verallgemeinerten, vergesellschafteten und abstrakten Arbeit, die dem Wertbegriff als Grundlage dient, wird von praktischen sozialen Verhaltnissen getragen. Daher sprechen wir von praktizierter Abstraktheit, einer Abstraktheit also, die sich selber bestandig reproduziert. Fahren wir aber fort im Zitat, so heiCt es dort:
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»Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe« (ebd.). Hier findet der Ubergang in die wissenschaftstheoretische Perspektive statt. Die praktizierte Abstraktheit als entfremdete, sich ihres Zustandekommens nicht bewusste Bedeutsamkeit ist, von der wissenschaftstheoretischen Perspektive aus gesehen, noch nicht ausreichend bestimmt. Als Gegenstand der Wissenschaft ist sie daher abstrakt, ohne schon in ihrer Praxis abstrakt zu sein. Dieser Zusammenhang lasst sich auch in umgekehrter Richtung konstruieren. Dass die konkreten sozialen Verhaltnisse bedeutsam sind, kann als eine Bedingung ihrer Reproduktion und damit auch als Bedingung des kontinuierlichen Geltens der Wertbeziehungen angesehen werden. Damit wird der Gesellschaftsanalyse ein Problem aufgegeben: Es gilt, den konkreten VoUzug dieser Praxis zu »entziffern«, d. h. ihren »Konstitutionsprozess« zu beschreiben. Auf diese Weise wird sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, und es stellt sich die Frage nach einer diese Praxis lenkenden »realen Bewegung«, die sich in konkreten, aber bestimmungsbediirftigen und daher abstrakten sozialen Verhaltnissen sedimentiert. Damit der Konstitutionsprozess der Praxis erfasst werden kann, werden die konkreten Formen ihrer Geltung eingeklammert, solange der ihnen zugrunde liegende strukturelle Zusammenhang noch nicht gefunden ist. Die Abstraktheit der Erscheinungsebene in wissenschaftstheoretischer Perspektive ist der folgerichtige Ausdruck dieses Verfahrens. Doch dieses wissenschaftstheoretische Gebot der Abstraktion durch Einklammerung des Gegebenen andert nichts daran, dass die praktische Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verhaltnisse den wirklichen Ausgangspunkt einer Untersuchung darstellt, die nicht nur an der blofien Methode, sondern auch an der Analyse konkreter Gesellschaften interessiert ist. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern bei einem solchen Verfahren der Einstieg in die Erscheinungsebene in wissenschaftstheoretischer Perspektive bedingt ist durch die konkrete Ausgestaltung derselben Ebene, wie sie sich in gesellschaftstheoretischer Perspektive darstellt. Es bieten sich hier zwei Losungswege an. Man konnte sich an Marxens Forschungsverfahren
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halten, wie es die Rekonstruktionsversuche von Althusser und Zeleny nahe legen. Die Basis fiir die Produktion der wissenschaftlichen Bedeutsamkeit stellen hier die Vortheorien dar, wobei die empirische Aneignung der vorgegebenen Wirklichkeit bei ihrer Modifizierung als Korrektiv fungiert. Fiir ein solches Vorgehen fehit es uns an Anhaitspunkten im Marx'schen Werke, das ganzlich auf Darstellung ausgerichtet ist. Wir sind also auf ein Vorgehen angewiesen, das von der Darstellung ausgeht, und miissen zusehen, welche Beziehungen zwischen den beiden moglichen Betrachtungen der vorgegebenen Wirklichkeit in ihrer Erscheinungsform dort sichtbar werden. Pointiert konnte man fragen: Gibt es eine Beziehung zwischen der Bedeutsamkeit der Erscheinungsebene und der Moglichkeit, diese Ebene wissenschaftlich zu durchdringen? Fraglich ist offensichtlich die genaue Funktion der historisch-konkreten unableitbaren Bedingungen des Ableitungsverfahrens, die Zeleny erwahnt. Diese Bedingungen bestehen, laut Zeleny, darin, dass »das untersuchte, sich entwickelnde Ganze in der Wirklichkeit einen bestimmten Reifegrad erreicht hat und dass die vorhergehenden Untersuchungen dieses sich entwickelnden Ganzen ein bestimmtes gedankliches Material angehauft haben« (Zeleny 1973: S. 93). Anders ausgedriickt: Die vorgegebene Wirklichkeit muss einen Strukturierungsgrad sowohl in Bezug auf ihre wissenschaftliche als auch auf ihre praktizierte Bedeutsamkeit erreicht haben, ehe sie aufgebrochen und >richtig< rekonstruiert werden kann. Wahrend ihre wissenschaftliche Vorstrukturierung auf Rechnung der Vortheorien geht, vollzieht sich die praktische Vorstrukturierung im Zuge des konkret gesellschaftlichen Handelns. Es konnten nun Zweifel dariiber aufkommen, ob die Relevanz dieser zweiten Vorstrukturierung fiir das theoretische Entziffern der Abstraktheit der Erscheinungsebene wirklich mit ihrer praktizierten Bedeutsamkeit zusammenhangt oder ob sie sich einfach aus einem Mehr an Information ergibt, das aus der Kenntnis eines langer andauernden Prozessablaufs resultiert (vgl. auch Zeleny 1973: S. 93, Anm. 35). Solche Zweifel kann man, wie wir glauben, zugunsten der ersten Moglichkeit ausraumen, und dies nicht nur aufgrund eines von Marx seit der »Deutschen Ideologie« aufrecht erhaltenen Theorems, demzufolge der
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Mensch seine Geschichte in der Arbeit selber produziert und ihr daher bewusst gegeniibersteht (Marx/Engels 1973: S. 30 f.). Fiir die theoretische Relevanz der bedeutsamen Vorstrukturierung der Erscheinungsebene, die als sinnhafter Bezug der Handelnden auf ihre Situation verstanden wird, sprechen auch konkretere Anhaltspunkte. Marx schreibt: »Es bedarf vollstandig entwickelter Warenproduktion, bevor aus der Erfahrung selbst die wissenschaftliche Einsicht herauswachst, dass die unabhangig voneinander betriebenen, aber als naturwiichsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit aliseitig voneinander abhangigen Privatarbeiten fortwahrend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Mafi reduziert werden, weil sich in den zufalligen und stets schwankenden Austauschverhaitnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt.« (Marx 1962: S. 89). Dem Wert steht es in der Tat nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Damit jedoch a) seine Relevanz im Rahmen einer gesellschaftstheoretischen Analyse offensichtlich und b) die tragende Struktur der ihn konstituierenden sozialen Verhaltnisse deutlich wird, muss er zu einem auf der Erscheinungsebene evidenten, generell verbindlichen Regulativ werden, an dem sich praktisches Handeln faktisch orientiert. Erst in diesem Stadium ist der vorstrukturierte Gegenstand fiir eine wissenschaftliche Analyse reif, und paradoxerweise kann diese Vorstrukturierung erst dann in der wissenschaftstheoretischen Perspektive eingeklammert und als in sich unbestimmt betrachtet werden. Gleichzeitig werden auch in der wissenschaftstheoretischen Perspektive, die diese Unbestimmtheit durchdringt und aufhebt, die gesellschaftstheoretischen Aussagen iiber die entfremdete Bedeutsamkeit der Erscheinungsebene sinnvoll, da das theoretische Vorgehen eine adaquatere, wissenschaftliche Bedeutsamkeit zu produzieren verspricht. VII Bisher haben uns die bei Marx vorkommenden Bezugnahmen auf die vorgegebene Wirklichkeit in ihrer Erscheinungsform beschaftigt. Wir
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wollen uns nunmehr der Frage zuwenden, welchen Stellenwert diese Bezugnahmen in ihrer Rekonstruktionsform im Marx'schen System einnehmen. Wie wir wissen, handelt es sich um jene Bezugnahmen, die den Wesenstypus illustrieren oder seine Deutungskraft iiberpriifen sollen. Um Missverstandnissen vorzubeugen, gilt es jedoch zunachst zu priifen, wieweit schon der Kern des Rekonstruktionsprozesses - die wesenstypische Darstellung der realen Bewegung der Gesellschaftsstruktur ein Ausdruck jener zu rekonstruierenden konkreten Totalitat ist. Was wissen wir liber die Form der Darstellung dieser >realen< Bewegung, die nach Marx den darzustellenden Stoff zu beleben hat, aufier dass sie dialektisch ist? Althusser umschreibt sie mit dem Terminus »neue Theorie«, Zeleny spricht spezifizierter vom »Begriff«, in dem der genetisch-strukturelle Zusammenhang der Momente eines Gegenstandes festgehalten wird, und Eberle und Henning bezeichnen sie als ein Ablaufmodell der gesellschaftlichen Struktur. All diese Bestimmungen weisen darauf hin, dass es sich nicht um eine Form handelt, welche die konkrete Totalitat in ihrer historisch spezifischen Fiille umfassen konnte. Auch wir teilen diese Auffassung und fiihrten deshalb fiir diese Form den Terminus >Wesenstypus< ein. Mit welcher Berechtigung dies geschieht, soil nun aufgezeigt werden. Schon bei der Betrachtung der Marx'schen wissenschaftstheoretischen Bestimmung der Erscheinungsebene kann es als ausgemacht gelten, dass Marx hier mit einem Erklarungsmodell von Wesen und Erscheinung arbeitet. Wir wissen ja: » [...] alle Wissenschaft ware liberfliissig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen [...] « (Marx 1970a: S. 825) In welcher formalen Beziehung steht jedoch das Wesen zur Erscheinungsebene? Dies erhellt eine Stelle, wo Marx den Sinn der Rede von Personen im »Kapital« erlautert (Marx 1962: S. 16). Personen gelten im Kontext dieser Darstellung ihm nur als »Personifikationen okonomischer Kategorien«, als »Trager gewisser Klassenverhaltnisse und Interessen«. Personen treten also nicht als Individuen auf, sondern sie werden zu Zwecken der Darstellung auf die im gegebenen sozialen Kontext typische Menge von Handlungen reduziert. Marx ist also hier daran interessiert, den komplexen Zusammenhang auf die Wesenstypik zu reduzieren, die fiir die Darstellung von Belang ist. In
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gleicher Weise verfahrt Marx dort, wo er das Wesentliche des Prozesses der biirgerlichen Gesellschaft - die Kapitalverwertung - darstellt. In der rekapitulierenden Einleitung des dritten Bandes des »Kapital« lesen wir: »Im ersten Buch wurden die Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische Produktionsprozefi fiir sich genommen, darbietet, als unmittelbarer Produktionsprozefi, bei dem noch von alien sekundaren Einwirkungen ihm fremder Umstande abgesehen wurde« (Marx 1970a: S. 33). Die wesentlichen Analysen des ersten Bandes, die den ganzen theoretischen Aufbau stiirzen, sind also unter Ausklammerung "storender" Faktoren an einem typischen Idealfall durchgefiihrt worden. Diese Interpretation wird anderswo explizit von Marx bestatigt: »In der Darstellung der Versachlichung der Produktionsverhaltnisse und ihrer Verselbstandigung gegeniiber den Produktionsagenten gehen wir nicht ein auf die Art und Weise, wie die Zusammenhange durch den Weltmarkt, seine Konjunkturen, die Bewegung der Marktpreise, die Perioden des Kredits, die Zyklen der Industrie und des Handels, die Abwechslung der Prosperitat und der Krise, ihnen als iibermachtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze erscheinen und sich ihnen gegeniiber als blinde Notwendigkeit geltend machen. Deswegen nicht, weil die wirkliche Bewegung der Konkurrenz aufierhalb unseres Planes liegt und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben« (Marx 1970a: S. 839) Aus dem Zitat wird deutlich, dass die Darstellung so lange der wissenschaftstheoretischen Perspektive zu folgen hat, bis sich ein typischer Verlauf der wesentlichen Bewegung der Gesellschaftsstruktur unter Ausschaltung der Wechselfalle Erscheinungsebene herausstellt. Dieser typische Verlauf kann in der wissenschaftstheoretischen Perspektive als ein theoretisches Rekonstruktionsmodell gelten. Er verkorpert zugleich die reale wesentliche Bewegung der wirklichen gesellschaftlichen Formation, deren Derivate alle anderen in ihr vorkommenden Phanomene sind, da wissenschaftstheoretische und gesellschaftstheoretische Perspektive demselben Gegenstand gelten. Der Verlaufstypus dieser Bewegung ist als Wesenstypus zu betrachten, da er ein reales Regulativ der Erscheinungs-
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ebene zum Ausdruck bringt, im Gegensatz etwa zum Idealtypus Max Webers, der ja ein vom wissenschaftllchen Interesse her konstruiertes Instrument der Erklarung ist (Kocka 1966: S. 328 ff.; Mayer 1974: S. 265; Lowith 1960). Ist das Wesentllche des Ablaufs der realen Bewegung gefunden, so bedarf der Wesenstypus nicht mehr der standigen Verifizierung durch Bezugnahme auf Evidenzen der Erscheinungsebene, sondern die Erscheinungsebene kann nun bestlmmt werden durch die immanente Logik des Wesenstypus. Wie grofi die Diskrepanz zwischen der abstrakten Evidenz der Erscheinungsebene und der konkreten Logik ihrer wesentlichen Bestimmung sein kann, zeigt sich in der Moglichkeit, Marx auch strukturaHstisch zu deuten.^^^ Die Grundthese dieser Interpretation besagt, dass die Struktur einer gesellschaftHchen Formation (wir wiirden sagen: der Wesenstypus) nie mit den sichtbaren sozialen Beziehungen zusammenfallt, »sondern deren verborgene Logik erklart« (Godeher 1970: S. 7). TatsachHch linden wir bei Marx Stellen, wo diese »One-Way«-Erklarung praktiziert wird. Charakteristisch fiir dieses Verfahren sind Marxens Ausfiihrungen zur Profitrate im dritten Band des »Kapital«: »Wenn die Rate des Mehrwerts bekannt und seine Grofie gegeben ist, driickt die Profitrate nichts anderes aus als das, was sie in der Tat ist, eine andere Messung des Mehrwerts, seine Messung am Wert des Gesamtkapitals, statt an dem Wert des Kapitalteils, aus dem er durch dessen Austausch mit Arbeit direkt entspringt (d. h. des variablen, fiir die Lohne ausgegebenen Kapitals, I. S.). Aber in Wirklichkeit (d. h. in der Erscheinungswelt) verhak sich die Sache umgekehrt. Der Mehrwert ist gegeben, aber gegeben als Uberschuss des Verkaufspreises der Ware iiber ihren Kostenpreis; wobei es mysterios bleibt, woher dieser Uberschuss stammt... Was ferner gegeben ist, ist das Verhahnis dieses Uberschusses zum Wert des Gesamtkapitals, oder die Profitrate« (Marx 1970a: S. 57). Bevor wir auf das Zitat naher eingehen, miissen wir den Zusammenhang beleuchten, in dem die Profitrate innerhalb des Marx'schen Systems auftaucht. Die Theorie der Profitrate muss entwickelt werden, um zu erklaren, wie sich der Mehrwert auf den Profit des in der Produktions^So Althusser (1968), extremer noch: Godelier (1970)
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sphare und des in der Zirkulationssphare tatigen Kapitalisten aufteilt und wie es iiberhaupt zu einem Handelsprofit kommt. Die Theorie der durchschnittlichen Profitrate liefert aufierdem eine Erklarung fiir die zyklische Krisenproduktion und die Verelendungsthese. Die Bestimmung der Profitrate hangt nun, wie wir sehen, von der Bestimmung der Grofie des Mehrwerts ab: Profitrate = . Mehrwert insgesamt investiertes Kapital Marx spricht hier sogar vom Messen des Mehrwerts. Allerdings erlaubt keine der empirisch vorfindbaren Grofien der Kapitalkalkulation eine unmittelbare Berechnung der GroCe des Mehrwerts. Soil namlich der Mehrwert die Differenz zwischen Verkaufs- und Kostenpreis ausmachen, dann stimmt dies nur annahernd, denn der Verkaufspreis einer Ware ist nicht identisch mit ihrem Wert, und demnach kann ein solcher Uberschuss auch nicht das Ma£ des realisierten Mehrwerts ergeben. Mit Recht sagt Marx, dass es sich hier nur um die Erscheinungswirklichkeit des Mehrwertes handelt. Aber dennoch benotigt Marx schon seit dem vierten Kapitel des ersten Kapitalbandes Annahmen iiber die Gr5fie des Mehrwerts, um iiberhaupt den Wesenstypus der Kapitalverwertung entwickeln zu konnen. Dem Mehrwert, seiner Grofie und damit auch der Profitrate entsprechen demnach keine empirischen Grofien. Die beiden Kategorien sind aber trotzdem erfassbar in einem logischen, wesenstypischen Zusammenhang, der die Bewegung der empirischen Grofien nicht nur zu begreifen erlaubt, sondern auch als ein diese tatsachlich bestimmendes Regulativ auftritt. Obwohl der Wesenstypus iiber weite Abschnitte der Darstellung von seiner Eigenlogik getragen wird, bedeutet das noch nicht, dass dies ohne Bezugnahme auf die vorgegebene Wirklichkeit geschieht. Nur ist die Stellung dieser Wirklichkeit hier eine andere. Die Bezugnahmen gehen vom Wesenstypus aus, so dass der Akt der Bezugnahme immer auch ein Akt der Rekonstruktion der vorgegebenen Wirklichkeit ist. Weiter oben sahen wir, dass es zwei Arten solcher Bezugnahmen gibt: entweder >historische Proben< oder schlichte >Illustrationen<. Die ersteren sind hier wichtiger.
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da sie nicht nur der Veranschaulichung dienen, sondern auch die Tragfahigkeit des Wesenstypus demonstrleren. Indem namlich Ausschnltte der >abstrakten< Wirklichkeit mittels des Wesenstypus in einen erklarenden Zusammenhang gestellt werden, wird diese im Akt der Rekonstruktion nicht nur konkreter, sondern es wird die Tragfahigkeit des Wesenstypus erwiesen, indem sich die Akzidenzien unter ihn subsumieren lassen. Die erfolgreiche Interpretation der widersprlichlichen Wirklichkeit mit Hilfe des Wesenstypus dient dazu, seine Stimmigkeit zu beweisen. Denken wir nun an den friiher eingefiihrten Unterschied zwischen der wissenschaftstheoretischen und gesellschaftstheoretischen Perspektive, dann konnen wir sagen, dass in Marxens Optik die Produktion der wissenschaftHchen Bedeutsamkeit zu Ende gefiihrt wird durch eine Rekonstruktion der vorgegebenen Wirkhchkeit, die als Subsumtion unter den Wesenstypus erfolgt. Der Wesenstypus geniigt dem dialektischen Anspruch der Analyse, da er als These auch alle erforderlichen Argumente enthalt. Auf die vorgegebene Wirklichkeit kann er sich daher auch nur in Form der Subsumtion beziehen.^^° Die Subsumtion als deutend-bestatigende Bezugnahme auf die >abstrakte< Wirklichkeit weist aber darauf hin, dass der Wesenstypus seiner Eigenlogik wegen nicht grenzenlose Geltung beanspruchen kann. Demzufolge miissen wir eine Blickwende vollziehen und uns jetzt der gesellschaftstheoretischen Perspektive des Marx'schen Verfahrens zuwenden. Wir sahen bereits, dass Marxens Darstellung nicht von einer Untersuchung der historischen Entwicklung kapitalistischer Produktionsweise ausgeht, sondern sie geht aus von der Rekonstruktion des Wesenstypus der voU entwickelten kapitalistischen Produktionsverhaltnisse. »Es ware untubar und falsch, die okonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist die Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen biirgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemafte erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht.« (Marx 1970: S. 28). Das subsumierende Verfahren, das die >abstrakte Wirklichkeit< in °Man denkt hier unwillkiirlich an das Hegel'sche »um so schlimmer fiir die Fakten«.
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Form von >Proben< rekonstruiert, weist in zwei Richtungen: Es bezieht sich erstens auf die aktuelle Gegenwart der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise, zweitens auf deren Genese, also auf die ihr vorangegangenen Produktionsformen. Wenn nun die rekonstruierende Funktion des Wesenstypus darin besteht, die ihm entsprechende historische Wirklichkeit auf realiter wirksame Regulative zuriickzufiihren, dann muss sich die Rekonstruktionsweise mit der Hinwendung zur Vergangenheit betrachtlich verandern. Mit der rekonstruierenden Bezugnahme auf Produktionsformen, die dem Wesenstypus historisch vorangehen, wird dieser zu einem Interpretationstypus. Marx druckt dies metaphorisch so aus: »In der Anatomie des Menschen ist der Schliissel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Flohres in den untergeordneten Tierarten konnen dagegen nur verstanden werden, wenn das Hohere selbst schon bekannt ist« (Marx 1970: S. 26). Der Wesenstypus, der dieses Hohere ausdriickt, hat auf der niederen Stufe der Entwicklung noch keine regulierende Wesensgeltung. Er dient hier der Rekonstruktion in ahnlicher Weise wie etwa auch der Weber'sche Idealtypus: Er ist ein an die konkrete Materie herangetragenes theoretisches Raster, das Abweichungen deutlich macht und damit die Speziflzitat des Konkreten erhellt. Er kann dann aber nicht gelten als Wesenstypus der realen Bewegung des konkreten Wirklichkeitsabschnittes. Wichtig sind dann umgekehrt gerade die gegeniiber dem Wesenstypus vorhandener Abweichungen. »Wenn daher wahr ist, dass die Kategorien der biirgerlichen Okonomie eine Wahrheit fur alle anderen Gesellschaftsformen besitzen, so ist es nur cum grano salis zu nehmen. Sie konnen dieselben entwickelt, verkiimmert, karikiert etc. enthalten, immer in wesentlichem Unterschied« (ebd.). Dasselbe gilt auch fiir die Genesis der kapitalistischen Produktionsweise selbst, wie uns z. B. die Analyse der durchschnitt lichen Profit rate zeigt. Die regulative Geltung des Wesenstypus der sie fundierenden Kapitalbewegung macht Marx von zwei historischen Bedingungen abhangig: a) vom Vorhandensein einer ausreichenden Mobilitat der Arbeitskrafte, b) von der Mobilitat des Kapitals (Marx 1970a: S. 206),
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beides also Phanomene, die erst bei voller Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise aufkommen. Wir konnen also festhalten: Trotz der eigenen Entwicklungslogik gilt der Wesenstypus nicht unabhangig von der Erscheinungsebene. Dort, wo die historisch konkreten Bedingungen seines Geltens nur unvoUstandig gegeben sind, gilt er nur interpretativ. D . h. die Geltung des Wesenstypus bleibt eingeschrankt, solange sich die logische Struktur desselben noch nicht in der konkreten Fiille der Erscheinungen als vorgegebene Wirklichkeit entfaltet hat. Es wird nun klar, dass die Rekonstruktion der vorgegebenen Wirklichkeit in ihrem gesellschaftstheoretischen Anspruch nicht nur aufgrund der Eigenlogik des Wesenstypus moglich ist. Damit zeigt sich auch, dass es unstatthaft ist, Marxens Rede von Naturgesetzen der gesellschaftlichen Bewegung zu verabsolutieren und seine Theorie in ein solch vereinfachtes Schema von Wesen und Erscheinung zwangen zu wollen. Wir haben ja gerade gesehen, dass mit der Subsumtion der Erscheinungen unter den Wesenstypus nur der wissenschaftstheoretische Endpunkt des Konkretisierungsprozesses der >abstrakten< Wirklichkeit gesetzt ist. Durch diese Subsumtion wird unbestimmte Wirklichkeit bestimmt. Dadurch wird ein gewisser Grad von wissenschaftlicher Transparenz - d. h. Bedeutsamkeit - erreicht und ein wichtiger Teil der »Ruckreise« vom Wesenstypus zur rekonstruierten konkreten Totalitat zuriickgelegt. Das gesellschaftstheoretische Interesse erschopft sich jedoch nicht in der bestimmenden Gegeniiberstellung von Wesen und Erscheinung, wo das Wesen als Naturgesetz und die Erscheinungsebene als die verdinglichte Objektebene seiner mechanischen Durchsetzung anzusehen ist.^^^ In Marxens gesellschaftstheoretischer Perspektive kommt dem »Wesen-Erscheinung«-Modell eine andere, sozusagen vergesellschaftete Form zu - namlich jene des Verhaltnisses von Wesen und Praxis. Der damit erhobene Erklarungsanspruch^^^ lasst sich mit dem besprochenen Subsumtionsverfahren gerade ^^^Man ist versucht, diese Ebene mit der von Husserl in der »Krisis« auf gezeigten Galileischen Welt, der objektivierten Lebenswelt, gleichzusetzen. Vgl. Husserl (1962: § 9). "^Wir finden diesen Anspruch schon in der 8. Feuerbach-These als programmatische
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nicht einlosen. Die Ebene der Praxis zu rekonstruieren bedeutet namlich nicht nur, die Auswirkungen der im Wesenstypus erfassten Bewegung der gesellschaftlichen Struktur als Abschnitt der >abstrakten< Wirklichkeit festzuhalten bzw. solche Abschnitte durch die Subsumtion in ihren >objektiven< Ausgestaltungen zu bestimmen. Es muss dariiber hinaus noch gezeigt werden, wie sich diese konkrete Ausgestaltung der einzelnen Wirklichkeitsbereiche in die Bedingungen praktischen Handelns umsetzt bzw. zu solchen wird. Dies bedeutet aber, dass nicht nur die vorgegebene Wirklichkeit durch den Wesenstypus bestimmt, sondern auch der Prozess ihrer Reproduktion durch konkrete Individuen rekonstruiert werden muss. Erst dann darf man von einer gedankHchen Reproduktion der konkreten TotaUtat eines historisch konkreten gesellschaftUchen Zustandes sprechen. Die angestrebte konkrete TotaUtat muss also auch den Schritt zur Rekonstruktion eines unmittelbaren Welthabens mit umfassen, das fiir die praktische Reproduktion eines gesellschaftHchen Ganzen unentbehrhch ist. Erst dann ist die lebensweitliche Bedeutsamkeit der vorgegebenen WirkHchkeit rekonstruiert und ein Weg zur Konstruktion der Lebens-Welt gefunden. Marx versucht, diese Rekonstruktion ebenfalls als Subsumtion von Individuen unter den Wesenstypus einer sich entwickelnden Gesellschaftsstruktur durchzufiihren. Naher besehen wird jedoch deutlich, dass diese Art der Subsumtion nicht ohne weiteres durch die Eigenlogik des Wesenstypus getragen wird. Es sind vermittelnde Glieder in der Zuordnungskette notig, die sich nicht aus der Logik des Wesenstypus ergeben, sondern vielmehr Annahmen liber den Ubergang dieser Logik in die Bedingungen sozialen Handelns enthalten. An anderer Stelle (Srubar 1978) haben wir die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit, die Charaktermaske und das System der Bediirfnisse als Konzepte der Ubertragung der Strukturbewegung auf die Handlungsebene beschrieben und dabei festgestellt, dass sie in Marxens Theorie die Ansatzstelle zur Rekonstruktion historisch konkreter Lebens-Welten darstellen. Welchen Stellenwert haben nun aber die rekonstruierenden Bezugnahmen auf diese Lebens-Welt im Hinblick auf den Wesenstypus und die Forschungserklarung (siehe Marx 1973: S. 7).
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unmittelbar unter ihn subsumierte, vorgegebene und >objektiv< bestimmte WIrklichkeit? Zuerst ist festzuhalten, dass dies jene Bezugnahmen sind, die in der eingangs besprochenen Literatur als Illustrationen ohne systematischen Wert betrachtet wurden. Es handelt sich hier namlich meistens um Milieuschilderungen, die Marx oft als Beispiele faktischer Lebens- und Handlungsbedingungen in bestimmten historischen Phasen heranzieht. Diese Beispiele sind aber weder zusammenhanglos noch zufallig. Sie werden durch die genannten vermittelnden Konzepte in das Darstellungssystem miteingeflochten. Dass diese Einflechtungen nicht kraft der Eigenlogik des Wesenstypus erfolgen konnen, ist nur die Folge eines der Systemaxiome von Marx selbst, dem zufolge die 'Naturgesetze' des Wesenstypus sich nur im Medium der menschlichen Praxis realisieren konnen. Dies zeigt uns, welche Funktion die Bezugnahme auf die LebensWelt in erster Linie hat. Ihre Einflechtung in das Darstellungssystem des »Kapital« ist notwendig, um die Reproduktion der Geltungsbedingungen des Wesenstypus zu verdeutlichen. Denn »Die Waren konnen nicht selber zu Markte gehen und sich nicht selber austauschen [...] Um [...] Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, miissen die Warenhiiter sich zueinander als Personen verhalten, deren Wille in den Dingen haust [...]« (Marx 1962: S. 99). Andererseits liefert gerade die (durch die drei Vermittlungsmodelle gegebene) Moglichkeit, Abschnitte der vorgegebenen Wirklichkeit mittels des Wesenstypus als Lebens-Welten zu rekonstruieren, den Nachweis, dass der in okonomische Kategorien gefasste Wesenstypus gesellschaftstheoretisch relevant ist. Ohne diese Vermittlung ware das Kapital namlich nicht als soziales Verhaltnis darzustellen. Die Rekonstruktion der >abstrakten< Wirklichkeit anhand des Wesenstypus erfolgt also auf zweifache Weise, je nachdem, ob die zu rekonstruierende vorgegebene Wirklichkeit in ihrer Beziehung zum Wesenstypus als schlicht zu subsumierende Erscheinungsebene oder als die Gesellschaft reproduzierende Praxis aufgefasst wird. Im ersten Falle werden Wirklichkeitsabschnitte unmittelbar der Logik des Wesenstypus subsumiert und so ihrer urspriinglichen Abstraktheit enthoben. Im zweiten Falle ist die Konkretisierung nur auf dem Umweg iiber die Rekonstruktion einer Lebens-Welt-Ebene moglich. Die Funktion des Wesenstypus ist dabei in
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beiden Fallen verschieden. Im ersteren wird der Wesenstypus durch die Tatsache der erfolgten Subsumtion verifiziert; im zweiten kommen durch die Rekonstruktion die gesellschaftlich bedingten Grenzen seiner Geltung zum Vorschein. Damit ist wohl jener Sachverhalt praziser ausgedriickt, den Zeleny als »Oszillieren« zwischen Empirie und Begriff in der Darstellung umschreibt. Die beiden Rekonstruktionsweisen erganzen sich im Verlauf der Darstellung auf eine Weise, die die Strukturierung des zu konkretisierenden Wirklichkeitsabschnitts durch die Logik des Wesenstypus verdeutlicht und gleichzeitig die historisch-soziale Abhangigkeit der Geltung dieser Strukturierung aufweist. Aus dieser Darstellungsweise erwachst die kritische Haltung gegeniiber den Vortheorien, die vor allem auf eine mangelhafte Reflexion der historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit ihrer Entstehung und Geltung zielt (vgl. etwa Marx 1970a: S. 838 f-). Fassen wir zusammen: Die Rekonstruktion der Lebenswelt-Ebene wird durch Marxens Anspruch, eine Theorie der gesellschaftlichen Praxis zu liefern, systematisch erzwungen. Projizieren wir das oben Gesagte auf das Schema der drei im Marx'schen Vorgehen eingangs ausgemachten Ebenen, dann kann man sehen, dass die Lebens-Welt-Ebene in ihrer Bestimmung als individuelle, geistig-praktische Aneignung der vorgegebenen Wirklichkeit an zwei entgegengesetzten Enden des Schemas auftaucht: einmal als das jeder wissenschaftlichen Tatigkeit vorgeordnete Forschungsobjekt, das andere Mai im Rahmen der Darstellung als vermittelndes Element der Rekonstruktion der gesellschaftlichen Praxis. Zu diesen beiden Formen ist folgendes anzumerken: I. Zur ersten Form: Paradoxerweise birgt fiir Marx der Grad der Vorstrukturiertheit der Lebens-Welt als gesellschaftstheoretisches Forschungsobjekt die Moglichkeit in sich, das, was sie strukturiert, darzustellen. Die Lebens-Welt ist auf dieser Stufe des Untersuchungsprozesses eine theoretisch unableitbare und daher >naturwuchsige<, grundlegende Bedingung der Moglichkeit von
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Theorien und deren Geltung iiberhaupt.^^^ II. Zur zweiten Form. Obwohl der Lebens-Welt diese fundamentale RoUe zukommt, bleibt sie theoretisch unbestimmt, solange sie nicht einer konkretisierenden Rekonstruktion unterworfen wird. Diese Konkretisierung erfolgt zuerst durch die Reduktion auf einen Wesenstypus. N u n wird dieser Schritt durch einen weiteren erganzt, in dem versucht wird, die Logik des Wesenstypus in die Bedingungen der konkreten Praxis umzusetzen. Die Rekonstruktion der Lebens-Welt hat hierbei die Funktion, zwischen dem Wesenstypus und den gesellschafthchen Bedingungen seiner Geltung zu vermitteln, und setzt so im Rahmen der Darstellung die unter (I) aufgestellte Maxime in ein konkretes Verfahren um. Abschliefiend sei noch eine Uberlegung erlaubt. Wenn es zutrifft, dass die Rekonstruktion von Lebens-Welten im Marx'schen Darstellungsverfahren systematisch notwendig ist, so wirft die Weise, wie sie vorgenommen wird, ein neues Licht auf die Diskussion um den >jungen< und den >alten< Marx. Bedenkt man namlich, dass zwei tragende Elemente dieser Rekonstruktion - die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit und das System der Bediirfnisse - Marxens Uberlegungen noch vor 1848 entstammen^^"^, wobei das Konzept der sozialen Bestimmung der Sinnlichkeit in den »Pariser Manuskripten« deutlich philosophisch-anthropologische Ziige aufweist, dann ist die Annahme eines radikalen theoretischen Bruches zwischen dem >jungem< und >alten< Marx anzuzweifeln^^^, obschon zugegebenermafien Entwicklungen stattgefunden haben^^^. Vielmehr scheint ^^^Die Konsequenz hieraus ware, dass richtige Theorien nicht jederzeit moglich sind, da sie von der Eigenentwicklung des Gegenstandes abhangen. ^^'^Die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit wurde erstmals in den »Philosophischokonomischen Manuskripten von 1844« (Marx 1973b) entwickelt; das System der Bediirfnisse entstammt dem »Elend der Philosophie« (Marx 1964), geschrieben 18461847, wobei wichtige Anhaltspunkte hierzu schon in den »Manuskripten« und der »Deutschen Ideologic* (Marx/Engels 1973) zu linden sind. ^^^Diese Differenz wird insbesondere von Althusser (1968). und Schaff (1965) vertreten. ^^^So z. B. in der Losung der Entfremdungsproblematik, im »Kapital« Bd. 3: (Marx 1970a: S. 828), wo die Forderung nach Aufhebung der Arbeitsteilung, wie sie in der
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es, dass die einmal erarbeiteten Einsichten in die Bedingungen individueller, geistig-praktischer Aneignung der Welt den Hintergrund abgeben fiir sein spateres Darstellungsverfahren im »KapitaI«. Es ware wohl iibertrieben zu sagen, die Lebens-Welt - Ebene sei die fundierende Ebene im Marx'schen System. Wiirde man jedoch die Empfehlung der strukturalistischen Marx Interpretation, leicht abgeandert, beherzigen und von Strukturen ausgehen, die ein Ganzes verstandlich machen, im konkreten Stoff (hier also im Marx'schen Text) aber nur implizit enthalten sind, dann konnte man sagen, dass der dargestellten Rekonstruktion der Lebens-Welt im Marx'schen Spatwerk genau diese Funktion zukommt. Literatur: Althusser, Louis (1968): Fiir Marx. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eberle, Friedrich/FIenning, Eike (1974): Anmerkungen zum Verhaltnis von Theorie und Empiric. In: Gesellschaft. Beitrage zur Marxschen Theorie 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-110. Godelier M. (1970): System, Struktur, Widerspruch im »Kapital«. Berlin: Merve. Heller, Agnes (1978): Das Alltagsleben. Versuch einer Erklarung der individuellen Reproduktion. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Husserl, Edmund (1962): Die Krisis der europaischen Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie. In: Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff. Kocka, Jiirgen (1966): Karl Marx und Max Weber. In: Zeitschrift fiir die gesamte Staatswissenschaft 122 (1966), S. 328-357. Lowith, Karl (1960): Max Weber und Karl Marx. In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz. Stuttgart: Kohlhammer, S. 1 ff.
»Deutschen Ideologic* aufgestellt wird, fallengelassen wird.
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Marx, Karl (1962): Das Kapital: Bd. I. In: Marx Engel Werke. Bd. 23. Berlin: Dietz. - (1970): Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie. Frankfurt/M. und Wien: EVA. - (1970a): Das Kapital: Bd. III. Marx Engels Werke. Bd. 25. Berlin: Dietz. - (1973b): Philosophisch-okonomische Manuskripte. In: Marx Engels Werke. Erganzungsband: Schriften bis 1844. Berlin: Dietz. - (1974): Randglossen zu A. Wagners »Lehrbuch der Politischen Okonomie«. In: Marx Engels Werke. Bd. 19. Berlin: Dietz. - /Engels, Friedrich(1973): Deutsche Ideologic. In: Marx Engels Werke Bd. 3. Berlin: Dietz. - (1973a): Vorrede zu Zur Kritik der politischen Okonomie. In: Marx Engels Werke. Bd. 13. Berlin: Dietz. - (1964): Das Elend der Philosophic. In: Marx Engels Werke. Bd. 4. Berlin: Dietz. - (1965): Das Kapital: Bd. II. In: Marx Engels Werke. Bd. 24. Berlin: Dietz. Mayer, Carl (1974): Die Marxinterpretation von Max Weber. In: Soziale Weh 25 (1974), S. 265-277. Pfafferott, G. ( 1975), Karl Marx und das Problem der Wirklichkeit. Wuppertal. Reichelt, H . (1973): Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Frankfurt/M.: EVA. Rosdolsky, R. (1968): Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«. Frankfurt/M.: EVA. Schafer, Erhard (1976): Dialektik und Empiric. Zum Begriff der Erfahrung bei Marx. Bonn: Bouvier. Schaff, Adam (1965): Marxismus und das menschliche Individuum. Wien/Frankfurt/M./Ziirich: EVA.
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Srubar, Ilja (1978): Konstruktion sozialer Lebens-Welten bei Marx. In: Waldenfels, Bernhard u. a. (Hg.): Phanomenologie und Marxismus: Bd. 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 170-206 (jetzt in diesem Band S. 277 ff.). Wygodski, W. S. (1967): Die Geschichte einer grofien Entdeckung. Berlin: Die Wirtschaft. Zeleny Jindfich (1973): Die Wissenschaftslogik und >Das Kapital<. Frankfurt/M./Wien: EVA.
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5. Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative Die Soziologie des Wissens lebt von der These der sozialen Bestimmung ihres Gegenstandes. Die Reflexivitat, die in diesem ihrem grundlegenden Axiom enthalten ist, erlaubt es, ja sie erzwingt es geradezu, die sozialen Hintergriinde der Entstehung der wissenssoziologischen Problemstellung selbst zu thematisieren, wenn man sich ihr in ihren verschiedenen Modi nahern will. Denn oft wird erst durch die Beriicksichtigung dieses Hintergrundes eine bisher nur als Fragment eines Denkens dastehende Konzeption mit Sinn erfiillt. Dies gilt besonders im Fall Max Schelers, dessen Soziologie des Wissens, aus diesem Zusammenhang herausgerissen, fast ausschlieElich negative Aufnahme fand^^'^, obwohl sie, wie im Folgenden gezeigt wird, durchaus ein Forschungsprogramm darstellt, das weit iiber den Horizont der »traditionellen«, der »Seinsverbundenheit« von Wissen nachgehenden Wissenssoziologie hinausgeht. Dieser Aufsatz stellt sich also eine doppelte Aufgabe: erstens, die Wissenssoziologie Schelers als eine Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit zu betrachten, und zweitens, einige ihrer Konzepte zu skizzieren, die nur selten beachtet werden, zugleich jedoch fiir das oben erwahnte Programm zentral sind. Wenn wir dieses Programm eine wissenssoziologische Alternative nennen, gehen wir von der geistesgeschichtlichen Tatsache aus, dass es, aus welchen Griinden auch immer, eine andere Konzeption der wissenssoziologischen Problemstellung war namlich die Karl Mannheims, die am meisten Eingang in die Tradition soziologischen Denkens fand und so die Wissenssoziologie als eine Einzeldisziplin erstmals etabliertet.^^^ Sie ist bekannt und braucht im Einzelnen ^^^Als Beispiele vgl. Brack (1974); Lenk (1959); Lieber (1949); Mannheim (1964); Riischemeyer (1958); eine Ausnahme stellt hier, neben Becker und Dahlke (1942), der Aufsatz von Biihl (1978) dar. ^^^Der schon 1924 von Max Adler, der am 4. Deutschen Soziologentag den wissensso-
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nicht vorgestellt zu werden. Ein Vergleich der beiden Ansatze ist daher nicht primar das Thema des Aufsatzes. Im Laufe der Darstellung wird es jedoch stellenweise erforderlich sein, den Mannheim'schen Ansatz zur Verdeutlichung der Position Schelers heranzuziehen. Das eigentlich Spezifische an der soziologischen Betrachtung des Wissens, wie sie sich in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Deutschland entwickelte, war nicht so sehr die Idee seiner sozialen Bestimmung, sondern vielmehr die aus den zu Ende gedachten Konsequenzen dieser These resultierende theoretische Einstellung, die einerseits von der Einsicht der Generahsierung der Relativitat aller Wissensgehalte, einschhefilich derjenigen der Wissenschaft, gekennzeichnet, andererseits jedoch diese Relativitat ins Positive zu wenden bemiiht war, indem sie sie zur konstruktiven, systematischen Grundlage neuer Betrachtungsweisen der sozialen Realitat machte.^^^ Gewiss, dieses Problembewusstsein wurde, allgemein betrachtet, durch einen langen Prozess der Relativierung des Denkens und seiner Geltung ermoglicht, der die Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft begleitet. Die einzelnen Stationen dieses Prozesses - der Bruch des universalistischen Weltdeutungsanspruchs der Religionen, die historisch-materialistische Hinterfragung der Geltung philosophischer Systeme, die allmahliche Generalisierung des Ideologieverdachts bis zur Relativierung der Vernunft selbst - wurden oft unter verschiedenen Vorzeichen analysiert und beschrieben (vgl. Plessner 1974; Mannheim 1964, 1964a, 1969; Lukacs 1955; Liibbe 1963; Liebert 1974). Wenn wir jedoch die diesem Problembewusstsein entsprungenen wissenssoziologischen Losungsversuche richtig einschatzen woUen, miissen wir die Ebene allgemeiner Betrachtung verlassen und uns die soziale Situation vor Augen fiihren, in der sie gedacht wurde. Welche gesellschaftliche Relevanz - so ware wissenssoziologisch zu fragen - hatte die wissenssoziologische Fragestellung im Deutschland jener Zeit und welchen Auftrieb ziologischen Beitrag Schelers diskutierte, geaufierte Einwand, Scheler vertrete keine soziologische, sondern vielmehr eine geistesgeschichtliche Auffassung, taucht in der Literatur immer wieder auf. Vgl. Adler (1925: S. 183); Lieber (1949: S. 74 f.; 1975: S. 237); Bracht (1974: S. 15 ff.). ^ ^Diese Einstellung finden wir sowohl bei Scheler (1960: S. 25 f.) als auch bei Mannheim (1969: S. 3 f., 242 f.) vor.
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erhielt sie dadurch? Wenn man eine Illustration fiir die These Max Webers von der Entzauberung der Welt als dem Prozess des Zerfalls der Lebensfiihrung strukturierenden Wertsysteme suchen wiirde, wiirde man wohl kaum ein besseres Beispiel jfinden als Deutschland vor und nach der Jahrhundertwende. Dem machtigen Industriestaat, in dem das Biirgertum politische Selbstandigkeit nicht erreichte und sich statt dessen an eine monarchistisch-militarische Staatsmacht anlehnte, fehlte somit eine Schicht, die sich in ihrer Werthaltung mit der von ihr in Gang gesetzten Industrialisierung und ihren Folgen identifizieren konnte.^^° Dieses Unvermogen gait nicht nur den negativen, aus der Vergesellschaftung resultierenden sozialen Folgen der Industrialisierung, sondern auch den Institutionen des Biirgertums, auf die es im Ausland seine errungene politische Macht stiitzte. Parlamentarismus und Liberalismus galten grofien Teilen des deutschen Biirgertums als gleichermafien unerwiinschte Implikation kapitalistischer Gesellschaftsmodelle.^'^^ Die Betonung der »Innerlichkeit«, das heifit der Ablehnung eines mechanistischen Utilitarismus als Handlungsorientierung zugunsten »geistiger« Werthaltungen, die in dem Gegensatz von Zivihsation und Kultur^""^ zum Ausdruck kamen, driickt auf der Werthaltungsebene die Distanz zu der sich verandernden sozialen Wirklichkeit aus. Dieses Unvermogen der Identifikation liefi allerdings auch den Blick fiir die dysfunktionalen sozialen Folgen marktmafiig durchrationalisierter Betriebe frei, die auch diejenigen bedenklich stimmte, die die politischen Folgen der biirgerlichen Gesellschaftsordnung zu akzeptieren bereit waren.^^^ Die Skala der eher konservativen kritischen Einstellungen dem Kapitalismus gegeniiber wurde von einer nicht minder bestimmten Kritik ^'^°Wir folgen hier der vorziiglichen Darstellung Plessners (1974). ^"^^Treffend bemerkt hierzu Ludwig von Mises in seinen Erinnerungen: »Um 1900 herum war jedermann im deutschen Sprachgebiet Etatist oder Staatssozialist. Im Kapitalismus erblickte man eine bose Episode der Geschichte, die gliicklicherweise fiir immer erledigt sei.« (Mises 1970: S. 10). ^''^Vgl. Plessner (1974: S. 167 ff.). Zur sozialgeschichtlichen Genese dieser Differenz vgl. Elias (1977), sowie Mannheim (1964a) und Scheler (1923: S. 229 f.). ^^^Fiir diese Einstellung ist Max Webers Aufsatz »Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland« exemplarisch (Weber 1971).
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der linksgerichteten Gruppen flankiert. Es ergibt sich also das Bild einer Situation, in der der soziale Wandel nicht einmal von den Gruppen, von welchen er betrieben wird, als im Prinzip positiv gedeutet wurde. Die Veranderung der Gesellschaft durch Industrialisierung wurde einerseits in vielen ihrer Folgen abgelehnt, andererseits erzeugte sie natiiriich Zwange, die eine Anpassung der Handlungsorientierung erforderlich machten und einen Einstellungswandel nach sich zogen. Die gleichzeitige Koexistenz derart kontrarer Sinnprovinzen im Rahmen einer und derselben sozialen Wirklichkeit begiinstigte eine Vielfalt von Situationsdeutungen, deren einziger gemeinsamer Zug die Ablehnung des Vorhandenen darstellte, verbunden mit dem Verlangen nach einer sinnvollen und verbindHchen Wertordnung.^'^'^ Der Enthusiasmus, den die Mehrheit der deutschen Bevolkerung und Inteliektueiien beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges empfand, wird oft auf die Hoffnung auf die Uberwindung dieser Krise zuriickgefiihrt.^'^^ Der Verlauf des Krieges veranderte jedoch diese Situation keineswegs. Die schon vor dem Krieg wohl bemerkbare ZerspHtterung und PluraHsierung der Denkstandpunkte wurde durch die Niederlage derart radikalisiert, dass man fast von anomischen Zustanden sprechen kann. Die Isoiierung Deutschlands und seine Darstellung durch die Medien der Westmachte, in welcher Deutschland aus der Gemeinschaft ziviHsierter Nationen quasi ausgeschlossen wurde, wurden als zusatzliche folgenschwere Irritierung des nationalen Selbstverstandnisses empfunden (Plessner 1974: S. 39 ff.; Scheler 1917; 1963). Die Kritik der irrationalistischen Entwicklung von rechts und links, die dadurch gegebene Pluralitat von Deutungsschemata, deren Wirklichkeiten sich kaum beriihrten, das durch die Niederlage von 1918 noch gescharfte Bewusstsein einer Gesellschaftskrise - das waren also die konkreten sozialgeschichtlichen Momente, die die Probleme markierten, welchen die deutsche Wissenssoziologie Rechnung zu tragen hatte. Die Ansatze Schelers sowie diejenigen Mannheims reagieren auf ^'''^Die Forderung Max Webers nach einer Verantwortungsethik, die neukantianischen Versuche einer sozialen Erziehung, die zu jener Zeit allgemein empfundene Notwendigkeit einer Bildungsreform, die eine Werterziehung realisierte, illustrieren deutlich diese Bewusstseinslage. Vgl. Weber (1921); Natorp (1922); Scheler (1960a). ^^^So Scheler (1916: S. 196 ff.) sowie zusammenfassend Liibbe (1974: S. 173 ff.).
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diese Situation in zweifacher Hinsicht: Auf der einen Seite machen sie sie zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Studien.^''^ Auf der anderen Seite Jedoch sind sie bemiiht, Konzeptionen zu entwickeln, die eine Moglichkeit der Uberwindung des konstatierten Zustands aufzeichneten. Die Grundiiberlegung, die das Modell des wissenssoziologischen Denkens dazu anbot, lasst sich etwa folgendermafien skizzieren: Wenn alles Wissen sozial bedingt ist, dann lasst sich seine notwendige Relativitat zeigen. Hiermit kann der Wahrheitsanspruch einzelner gruppenbezogener Deutungen in Frage gestellt werden, ohne dass eine Wertung des Inhalts erfolgen miisste. Dadurch ware der Weg zu einem alternativen, die Relativitat des Wissens reflektierenden Entwurf der Wirklichkeitsinterpretation im Prinzip frei gemacht. In der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Alternative unterscheiden sich nun die Konzeptionen Schelers und Mannheims derart, dass sie geradezu als zwei entgegengesetzte Typen gegeneinander abgegrenzt werden konnen. Schon die Ideenkonstellationen, von denen sie gepragt wurden - die durch Wilhelm Dilthey und Max Weber verfeinerte Affinitat zu Marx bei Mannheim einerseits und eine eigenartige Verbindung vitalistischer Lebensphilosophie mit Phanomenologie bei Scheler andererseits -, zeigen diese Differenz an. Schelers Interesse an wissenssoziologischen Problemen entfaltete sich schon lange vor der Niederschrift seiner »Probleme einer Soziologie des Wissens«. Es ware sicher falsch, eine unmittelbare kausale Beziehung zwischen den sozialen Umstanden und der Scheler'schen Konzeption zu konstruieren. Seine Werke zeigen jedoch klar, dass sein wissenssoziologisches Interesse, das einerseits von seinem philosophischen Werk her begriindet ist, andererseits gerade auch durch die oben skizzierten sozialen Probleme mitgepragt und entfaltet wurde.^'^'^ Im Vordergrund ^^^So Schelers Aufsatze »Der Bourgeois«, »Der Bourgeois und die religiosen Machte«, »Die Zukunft des Kapitalismus«, »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen« in: Scheler 1923, weiter in Aufsatzen zur Weltanschauung der Nationen, in: (Scheler 1963) sowie Scheler 1915; 1916. Zu Mannheims Untersuchungen zu diesem Thema vgl. Mannheim (1964a, 1967). ^^^Vgl. hierzu die in der vorhergehenden Anm. zitierten Arbeiten Schelers sowie Scheler (1915; 1916; 1917). Hier iiberall versucht Scheler, teilweise noch im Rahmen der »Welt-
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seiner Betrachtung stand nicht die Tatsache der Seinsverbundenheit im Sinne der generellen These des Verhaltnisses zwischen sozialem Wissen und Geseilschaftsstruktur. Seine philosophisch-anthropoiogischen Studien - und die daraus resultierende Konzeption des Menschen als eines vital-geistigen Wesens - fiihrten ihn jedoch schon bald, von einer anderen Perspektive her, nicht nur zu der Erkenntnis der Verwurzelung der Wissenskonstitution im sozialen Bereich, sondern sie ermogUchten es ihm auch, die PluraUtat der Zugange zur ReaHtat, auf denen der Wissensaufbau basiert, samt ihrer Einbettung in soziale MiUeus zu erfassen (Scheler 1973, 1980). An der geselischaftUchen Lage seiner Zeit werden fiir ihn daher vor allem die Entstehung, die Struktur und die soziale Wirksamkeit von Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit thematisch. Er versucht, die widerstreitenden Werthaltungen verschiedener Gruppen in ihrer Auswirkung auf die jeweilige Lebensfiihrung zu erfassen (Scheler 1923a: S. 50 f.). Dabei stellt fiir ihn Werthaltung und Lebensfiihrung immer einen Erlebensstil dar, dessen Spezifika nicht nur im kognitiven, sondern auch im emotionalen und volitiven Bereich liegen. Die Analyse der biirgerlichen Ressentiments zeigt klar die Diskrepanz zwischen dem auf innerweltliche Askese hin orientierten Wertschema der Biirger und ihren sich im praktischen Handeln niederschlagenden Folgen: »Wozu schliefilich«, so fragt Scheler, »die endlose Herstellung angenehmer Dinge, wenn der Typus, der sich darin verzehren muss, sie herzustellen, und der sie besitzt, derselbe ist, der sie von Hause auch nicht geniefien kann; und der, der sie geniefien konnte, sie nicht besitzt?« (Scheler 1923a: S. 205 f.). Die Grenzen der Rationalitat des kapitalistischen Wirtschaftens werden hier sichtbar und damit fiir Scheler auch die Grenzen der auf diesen kognitiven Stil fundierten Lebensfiihrung. Er bezweifelt, dass eine Gesellschaft, deren Entwicklung auf Herrschaftswissen beruht, das anschauungsanalyse«, teilweise jedochbereits in soziologischer Betrachtungsweise, den Zusammenhang von Werthaltung und Lebensfiihrung in den Griff zu bekommen. Den philosophischen Hintergrund seines wissenssoziologischen Interesses finden wir in »Wesen und Formen der Sympathie« (Scheler 1973; zuerst 1912) sowie in »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik« (Scheler 1980, zuerst 1913) ausformuliert, wo die Lehren von sozialer Person, von den Formen der Einsfiihlung und des Fremdverstehens sowie von der Milieubildung auf diesen Boden hiniiberfiihren.
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heiCt auf einem Wissen, welches durch die Mittel von Wissenschaft und Technik die Beherrschung von Natur und Gesellschaft intendiert, bei der Beibehaltung dieses Erkenntnisstils liberhaupt eine »Lebenstechnik« generieren konnte, die eine Lebensfiihrung ermoglichte, welche der oben skizzierten Diskrepanz nicht ausgesetzt ware. Die Vernunft, insofern sie sich in dem aufklarerischen Anspruch manifestiert, durch rationelle Organisation des geselischafthchen Handeins eine verniinftige, d. h. menschUchen Bediirfnissen adaquate Lebensweise hervorzubringen, hebt sich in diesem Sinne fiir Scheler durch den Prozess ihres geselischafthchen Realwerdens selbst auf (Scheler 1960: S. 134 ff.; 1923a: 217 ff., 225 ff.). Dieser Auffassung entsprechend fallt auch Schelers Entwurf alternativer Lebensformen aus. Seine Begriindung geht auf seine philosophische Anthropologic zuriick und wird wissenssoziologisch in der Analyse der Wesensformen des Wissens (d. h. des religiosen, des metaphysischen und des wissenschaftlich-technologischen) und ihrer sozialen Funktion konkretisiert (Scheler 1980: S. 122 ff.; 1973: S. 24 f., 65 f.), Schelers Konzeption des Menschen stellt diesen als ein Wesen vor, dem mannigfaltige Moglichkeiten des Zugangs zur Realitat, der Wissenskonstitution und daher auch der entsprechenden Lebensfiihrung offen stehen, die verschiedene kulturelle Auspragung erfahren konnen. Die der Scheler'schen Menschenauffassung zugrunde liegende vital-geistige Existenzweise des Menschen impliziert, dass der menschliche Zugang zur Wirklichkeit sich nicht nur durch rationelles Urteilen vollzieht, sondern dass der Mensch die Welt ebenso als ein leibliches, fiihlendes und qualitativ wertendes Wesen erfahrt. Das Werten, »die Wertnahme«, ist fiir Scheler untrennbar mit alien menschlichen Akten verbunden, gleichgiiltig, ob sie der geistigen oder der vitalen Sphare angehoren. Der Akt des Wertens, der fiir die Wissenskonstitution somit wesentlich wird, vollzieht sich in zwei Phasen: dem Werterkennen und dem WertvoUziehen. Damit ist nun eine zweite Annahme verbunden, in der die Scheler'sche Version der Seinsverbundenheit des Wissens zum Ausdruck kommt. Sehr vereinfacht konnte sie auf den Grundsatz gebracht werden, dass jedem Erkenntnismittel ein korrespondierender Gegenstandsbereich entspricht, der in seiner unmittelbaren Gegebenheit erfasst werden kann. Dinge sind demnach keine
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Rekonstruktionen des Verstandes. Ihre Objektivitat verschwindet also durch den VoUzug des sie intendierenden Aktes nicht. Nachdem der Mensch kein ausschliefilich Intellektuelles Wesen ist, sondern immer auch ein leiblich-vitales, ist er auch als ein Indlviduum in einer bestimmten Umwelt, einem bestimmten Milieu zu begreifen. Scheler - das Paradigma der Umweltlehre von Jakob von Uexkiill vor Augen - geht davon aus, dass der selektierende, wertende Bezug des vitalen Menschen auf seine Umwelt diese erst zu einer ihm gegebenen macht, wobei die Objektivitat des Gegebenen durch die menschbezogene Selektion des Seienden nicht aufgehoben werden kann. Selbstverstandlich ist der Mensch nicht an seine Umwelt tierartig gebunden, sondern er kann sie als geistiges Wesen transzendieren. Diese seine Freiheit geht auch in die milieubildende selektive Beziehung zur WirkUchkeit ein. Die Objektivitat der Aktkorrelate, das heifit, auch der zu erkennenden Werte, geht jedoch dadurch nicht verloren, sie bleibt aber auf den Geltungsbereich der Akte beschrankt (Scheler 1980: S. 36, 169 ff.). Die Breite der Modi des menschlichen Zugangs zur Welt macht also auch die Moglichkeiten der menschlichen Welt aus. Der phanomenologische Ansatz und das dort entwickelte Verfahren der phanomenologischen Reduktion erlauben Scheler die Annahme der prinzipiellen Konstruierbarkeit eines Wesenszusammenhanges, in dem die jeweiligen Zugangsmodi mit ihren Sinnhorizonten und ihren gegenstandlichen Korrelaten ihrer Moglichkeit nach stehen miissen.^''^ Diese Wesensstruktur, die keinen Anspruch auf Faktizitat erhebt, bezeichnet das Universum spezifisch menschlicher Moglichkeiten und tragt die Bestimmung des Wesens des Menschen in sich. Von dieser Vorstellung eines dem Menschen wesentlich eigenen Universums von Moglichkeiten ausgehend, betrachtet Scheler nun die selektive Realisierung dieser Moglichkeiten in verschiedenen Kulturen und historisch konkreten Gesellschaften. In seiner Wissenssoziologie grenzt er bekanntlich die drei kulturell real gewordenen Typen der Wissensformen ein, die als verschiedene Ausgestaltungen des Welt^''^Eine ausfiihrliche Darstellung dieser Gedanken finden wir in dem nachgelassenen Manuskript Schelers, iiber den »Ordo amoris«. Siehe Scheler (1957: S. 347-376, insb. S. 348 ff.) sowie Scheler (1960: S. 24 ff.).
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zugangs jeweils ganz andere soziale Welten implizieren. Sein Beharren auf der Relevanz philosophischer Erkenntnis fiir die Erfassung menschlicher (d. h. schon Immer sozialer) Realitat, welches Ihm oft als Einfiihren unwissenschaftlicher Verfahren in die Soziologie vorgeworfen wurde, macht ihm den BHck fiir eine nicht eurozentrische Betrachtungsweise frei. Seine Kritik an der »entmenschhchten« Wirklichkeit des KapitaHsmus hat mit derjenigen des jungen Marx daher denseiben Ausgangspunkt: die Annahme eines der universellen Entfakung fahigen Menschen, der durch »falsche Wirkhchkeit« an dieser Entfakung gehindert wird. Die Erkenntnissysteme und die Lebensfiihrungen, in die sie eingebettet sind, geken Scheler als prinzipiell gleichwertig. Eine evolutionare Reihung Comte'scher Art, an deren Spitze die positive Wissenschaft steht, lehnt Scheler ab mit dem Hinweis auf die Relevanz aufierpradikativer, emotional gelagerter Erfahrung fiir die Wissenskonstitution auf der Ebene der individuellen Wissenssysteme einerseits und auf die Wichtigkeit der religiosen und metaphysischen Erkenntnissysteme auf der Ebene des Kulturwissens andererseits.^'^^ Vor diesem Hintergrund ist die Scheler'sche Forderung nach alternativen Lebenstechniken zu verstehen, die dem Erkenntnisstil der Rationalitat des Herrschaftswissens nicht folgen und andere Werthaltungen realisieren, die die Prioritat der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Werte, unter anderem auch okologischer Art, betonen und in den Vordergrund stellen (Scheler 1923a: S. 233). Diese Lebenstechniken sieht er vor allem in Kulturen realisiert, die - wie die asiatischen - von Werthaltungen gekennzeichnet sind, die der Universalitat der menschlichen Geistes- und Lebenswerte mehr Rechnung tragen als die westliche. Scheler halt es fiir moglich, dass die Lebensfeindlichkeit der wesentlichen Kultur quasi partisanenhaft von innen ausgehohlt werden kann, wenn Lebensfiihrungen praktiziert werden, die der dieser Kultur immanenten Werthaltung die Gefolgschaft aufkiindigen (Scheler 1923: S. 135 ff.). In Marx'sche Termini umgesetzt: Die Entwicklung der Basis hat eine sinnvolle Legitimation dieser Entwicklung im Uberbau unmoglich oder wenigstens sehr problematisch gemacht, so dass sich nur noch in dem Versuch, sich durch alternative Lebensweisen dieser Basis zu entziehen. ^Fiir die individuelle Ebene vgl. Scheler (1980: S. 127 ff.; 1973: S. 69 ff.).
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eine Losung anbietet. Fiir diese Alternativen, die eine immer umfassender werdende technologische Beherrschung von Natur und Gesellschaft als eine Bedrohung des Lebens in Frage stellen, fordert Scheler Toleranz, von ihrer Entwicklung erwartet er einen Ausgleich der lebensfeindlichen Tendenz in der Werthaltung moderner Gesellschaften (Scheler 1960: S. 135 ff.). In einer ganz anderen Richtung entwickeln sich die Lageeinschatzung und die entsprechende Losungsskizze Mannheims. Auch Mannheim stellt eine IrrationaHtat in der Entwicklung industrieller Gesellschaft fest. Fiir ihn besteht sie jedoch grofienteils in der Diskrepanz zwischen dem Rationalitatsgrad, den die gesellschaftliche Struktur in ihrer Organisation objektiv erreichte, und demjenigen der dieser Struktur entsprechenden Denkstandpunkte (Mannheim 1967: S. 45). Zwischen der Basis und dem Uberbau besteht also ein cultural lag, das durch die Entwicklung entsprechender wissenschaftlicher (und vor allem sozialwissenschaftlicher) Mittel zum Ausgleich dieser Diskrepanz zu iiberbriicken ist (Mannheim 1967: S. 279 f.; 1969: S. 3 ff., 243 ff.). Die Wissenssoziologie stellt eines dieser Mittel dar, dessen Aufgabe es ist, die Seinsverbundenheit und somit die Partikularitat der Denkstandpunkte aufzudecken, ihr Zustandekommen transparent zu machen und so die Voraussetzungen fiir ihre hohere Rationalitat zu schaffen. Somit ware dann der Weg zu einer rationell geplanten Gesellschaft offen, in der durch die Entwicklung und zweckmafiige Anwendung von Sozialtechniken irrationale Handlungsweisen, die die an sich rationelle Organisation der Industriegesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Institution missbrauchen konnten, vermieden werden sollen (Mannheim 1967: S. 74 f., 294 ff.). In bewusster Opposition zu der »konservativen« Kritik der biirgerlichen Gesellschaftsordnung, die auch Scheler vertritt - wenn man hier die in Mannheims Studie iiber das konservative Denken aufgestellte Unterscheidung anwenden darf (Mannheim 1964a: S. 483 f.) -, entscheidet sich Mannheim fiir eine Losung, die den Rationalitatsanspruch der Aufklarung aufrecht erhalt. Die Perspektive, in der er Moglichkeiten fiir diese Losung sieht, ist also eine durchaus kulturimmanente. Das vorgeschlagene Verfahren folgt dem Denkstil positiver Wissenschaft und besteht in der Perfektionierung vorhandener
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Moglichkeiten. Stellt man die beiden Konzeptionen nebeneinander, wird nicht nur klar, dass sie jeweils einen von ganz unterschiedlichen Pramissen getragenen Denktypus darstellen, sondern es zelgt sich auch, wie vorsichtig das Verteilen von Pradikaten wie »konservativ« oder »enianzipatorisch« gehandhabt werden muss. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass gerade die von dem Marx'schen Erbe herriihrende Afjfinitat zu dem Vernunftideal der Aufklarung, die sich in dem Losungsvorschlag und vor allem in der Methode Mannheims niederschlagt, ihm eine Beachtung unter den Soziologen verschaffte, die Scheler in diesem Ausmafi verwehrt blieb. Obwohl Schelers Verfahrensweisen keineswegs nur derartigen Wegen folgen und daher auch manchem Vorurteil ausgesetzt waren und sind^^°, ist seinem Werk ein wissenssoziologisches Programm von erhebHcher Bedeutung zu entnehmen. Schelers moghche AktuaUtat beschrankt sich keineswegs darauf, in kukurkritischer Einstellung die entmenschhchende kapitaiistische Wirklichkeit erneut aufgedeckt und alternative Lebensweisen gefordert zu haben. Sie besteht vielmehr in der Auffassung der Seinsverbundenheit des Wissens und der Art seiner Fundierung in der sozialen Wirklichkeit, die Scheler sich in seinen Werken zu Eigen macht. Um die darin bestehende »Alternative« aufzuzeigen, wollen wir folgende Fragestellung verfolgen: Eine wissenssoziologische Untersuchung muss von der Sozialitat des Wissens ausgehen. Wie aber entsteht Wissen als Soziales? Welcher Art ist diese Sozialitat, in der das Wissen wurzelt, und wie kommt es zu dieser Verwurzelung selbst? Gehen wir zuerst kurz der Konzeption des »Sozialen«, mit dem das Wissen seinsverbunden ist, bei Mannheim nach. Mannheim spricht von Gesellschaftsstruktur, von sozialgeschichtlichem Prozess, der in die Konstitution verschiedener Denkstandorte hineinragte, und ihre Aspektstruktur, das heifit, ihr Relevanz- und Deutungsraster, konstitutiv bestimmt (Mannheim 1969: S. 230 ff.). Sozialen Schichten kommen so bestimmte geistige Schichten zu, Denkstile haben ihre sozialen Tragerim Sinne ^^°Exemplarisch: Svend Ranulf (1938: S. 204), der fordert: »... it is necessary, that a methodological standpoint like that of Max Scheler should be met with general and absolute condemnation in the scientific world«.
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unterschiedlicher Gruppierungen, deren Tragerschaft zu enthiillen und zu untersuchen ist. Die soziale Gebundenheit des WIssens, seine Seinsverbundenheit also, stellt fiir Mannheim eine Tatsache, eine »Faktizitat« dar, die an empirischen Beispielen, etwa durch den Nachweis variierender Begriffsbedeutung bei verschiedenen sozialen Tragern, zu belegen ist (Mannheim 1969: S. 29 f.). Die Aufgabe der Wissenssoziologie besteht also in einer Schritt fiir Schritt-Rekonstruktion des Zusammenhanges vom jeweiligen Denkstil und seinem sozialen Standort in seiner historischen Entwicklung (Mannheim 1969: S. 263 ff.). Das Wissen, das auf diese Art und Weise in den Blickpunkt gerat und von der Wissenssoziologie als Gegenstand intendiert werden kann, muss daher eine sozial-geschichtlich umgrenzbare Gestalt haben, d. h. ein »ideologisches System« darstellen. N u r solches Wissen, Mannheims empirische Studien zeigen es, ist fiir seine Soziologie fassbar. Hier ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem radikalen Anspruch der These von der Seinsverbundenheit des Wissens und ihrer wissenschaftlichen Ausfiihrung bei Mannheim. In aller Konsequenz gedacht besagt die These, dass alles menschliche Wissen sozialen Ursprungs ist. Eine Soziologie des Wissens sollte sich also nicht damit begniigen, diverse Ideologien auf ihren sozialen Ursprung hin zu befragen, sondern die soziale Konstitution des menschlichen Wissens als ein grundlegendes soziologisches Problem thematisieren, dass heifit, die »Faktizitat« seiner Seinsverbundenheit auf ihr Zustandekommen befragen. Dass Mannheim dies unterlasst, ist wohl vor allem auf seine Orientierung an dem Marx'schen Theorietypus zuruckzufiihren, dessen bis heute ungelostes Problem es ist, gerade die »Vermittlung« zwischen dem Prozessieren der Basis und der Bewusstseinskonstitution im Uberbau nachzuzeichnen.^^^ Einen Versuch in der Richtung, dieses Defizit zu kompensieren, stellen bei Mannheim wohl die »principia media« dar, also die Faktoren, die Dass Mannheim in diesem Zusammenhang haufig positiv auf Lukacs' »Geschichte und Klassenbewu£tsein«verweist, wo sich dieses Unvermogen geradezu exemplarisch darstellt, bekraftigt unsere Auffassung. Vgl. etwa Mannheim (1969: S. 110 f., 266 f; Lukacs 1923). [Aus der Sicht von 2006 muss jedoch nachgetragen werden, dass Mannheims Eistellung zum dogmatischen Marxismus bereits 1930 eindeutig kritisch wurde (Mannheim 2000: S. 87 ff.)].
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als Auswirkungen des gesellschaftllchen Gesamtprozesses die einzelnen sozialen Bereiche in ihrer geschichtlichspezifischen Konfiguration bestimmen (Mannheim 1967: S. 210 ff.). Doch auch mit dieser Konstruktion versucht Mannheim nicht, Faktoren herauszuarbeiten, die fiir die Orientierung des Handelns in bestimmten Situationen spezifisch sind; wobei die Vermittlungsfrage immer noch offen bUebe -, sondern vielmehr eine Art von Zwischenbegriffen zu entwickeln, die aus der Perspektive des Forschers jene Schritt fiir Schritt-Rekonstruktion der Seinsverbundenheit erleichtern. Mannheims Aufmerksamkeit gilt also der Entstehung konkreter eingrenzbarer Ideologien/Wissenssysteme aus einer bestimmten sozial-historischen Situation heraus. Die Frage danach, wie menschHches Wissen als Soziales hervorgebracht wird, d. h. das Problem der sozialen Konstitution des Wissens selbst, entzieht sich seinem wissenschaftlichen BHck. Wenn wir nun die von Scheler (Scheler 1960: S. 52) angenommenen Grundbeziehungen zwischen Wissen und Gesellschaft mit dem Problemverstandnis Mannheims vergleichen, zeigt es sich, dass sie eigentlich nur in einem Punkt iibereinstimmen, der gleichzeitig auch die Mannheimsche Problemstellung ausschopft: namlich in der Annahme, dass alles Wissen in irgendeiner Weise zum gegebenen Zeitpunkt das Sosein der Gesellschaft bestimmt und, noch wichtiger, dass eine der Grundbeziehungen von Wissen und Sozialem in der Verankerung der Konstitution von Wissen und Verstehen in sozialen Gruppen besteht. Wir sehen, dass die wissenssoziologische Intention Schelers von der oben skizzierten radikalen Interpretation der These von der Seinsverbundenheit ausgeht und sich auf das Problem des sozialen Ursprungs von Wissen richtet. Dementsprechend wird auch die Ausgangsebene der Untersuchung wesentlich tiefer angesetzt. Unter Wissen wird alles soziale Wissen in alien seinen, also auch taglich amorphen Formen verstanden. Es wird als in Gruppen hervorgebrachtes intersubjektives Wissen betrachtet, womit die Bedingungen seiner intersubjektiven Verstehbarkeit mitthematisiert werden. Scheler schlagt also vor, beim Aufbau einer Wissenssoziologie die Konstitutionsproblematik des sozialen Wissens in den Vordergrund zu stellen, wobei den Problemen der Entwicklung von individuellem Wissen
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aus Gruppenwissen und der sozialen Genese des intersubjektiven Bezugs von Handelnden besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist.^^^ Daran ist zu ersehen, mit welcher Radikalitat die Scheler'sche Fragestellung ansetzt: Wenn namllch die Entstehung von indivlduellem Bewusstsein erst auf der Basis der Sozialitat moglich ist, dann sind alle Bev^usstseinsformen einschlie£lich der Kategorien im Kant'schen Sinne sozial fundiert und daher im geschichtlichen Wandel begriffen (Scheler 1960: S. 9). Nicht nur bestimmte Deutungsschemata, sondern das Wissen selbst als die erlebend-erfahrende Existenzweise des Menschen in der Welt ist in seinem Ursprung sozial. Diese Auffassung schliefit also sowohl die soziale Selektion der Wissensgehalte als auch die soziale Bestimmung der Modi ihrer Hervorbringung ein. Mit welchem Inhalt erfiillt nun Scheler sein Programm? Es geschieht nicht primar in der Lehre von den Real- und Idealfaktoren, die oft als »die Wissensoziologie« Schelers gilt. Diese bezieht sich auf die eine Seite dessen, dem eine soziologische Behandlung vom sozialen Wissen nachgehen muss: namlich auf die kausalen, das Sosein einer Gesellschaft letzten Endes bestimmenden Krafte, die in dem Bewusstsein der Menschen nicht prasent zu sein brauchen. Diese Scheler'sche Konzeption ist wohlbekannt und wurde oft kritisch diskutiert. Unser Interesse gilt hier jedoch vielmehr der anderen Seite des Problems, die Scheler fiir ebenso wichtig halt. Damit namlich die Betrachtung der Bestimmung des Wissens durch soziale Struktur nicht einseitig bleibt, ist es fiir Scheler ebenso notwendig, die Beziehungs- und Verbindungsformen zwischen den Menschen in ihrem Erleben, WoUen, Handeln und Verstehen zu untersuchen, in welchen sich erst jene objektiven Faktoren als Wissen realisieren und auswirken konnen (Scheler 1960: S. 17).^^-^ Die Untersuchungen Schelers zu diesem i82^^£ gg-j^g Untersuchungen in »Wesen und Formen der Sympathie« gestiitzt, fiihrt Scheler dies als Axiome der Wissenssoziologie schlechthin an. Vgl. Scheler (1973: S. 240 ff., 1969: S. 52 ff.). ^^^Die in diesem Zusammenhang erfolgende Distanzierung Schelers von der verstehenden Soziologie Max Webers ist u. E. nicht so zu verstehen, dass sich hier Schelers Aufmerksamkeit ausschliefilich auf die im gesellschaftlichen Sein hinter dem Riicken der Handelnden wirkenden Bewusstseinsbildenden Faktoren richtet. Scheler spricht hier ausdriicklich vom menschlicben Sein und hat also auch die Prozesse der Wissens-
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Thema finden wir, wie er uns mltteilt^^'^, nicht nur auf den Seiten seiner »Probleme einer Soziologle des WIssens«, sondern vor allem in seinen philosophisch-anthropologischen Arbeiten. Gehen wir nun Schelers Hinweis nach und versuchen, seine Konzeption der Konstitution sozialen Wissens kurz darzustellen: Den Ausgangspunkt des Scheler'schen Entwurfs stellt auch hier seine Auffassung des Menschen dar, als eines vital-geistigen, also eines sowohl in seinem natiirlich leiblichen Sein bestimmten als auch kraft seines intellektuellen Vermogens freien Wesens. Als einem solchen ist ihm, wie wir sahen, eine Vielfalt von Realitatszugangen emotionaler, leiblich-sinnlicher und kognitiver Art eigen, die gleicherma£en fiir sein Wissen konstitutiv sind. Die Erfassung der Realitat ist also fiir Scheler keineswegs primar ein rationaller Erkenntnisprozess, sondern sie setzt schon auf der Ebene des prareflexiven emotionalen und leiblichen Wertbezuges ein, in dessen Rahmen schon immer eine »Wertnahme« erfolgt, das heiCt, eine qualitatsorientierte Einstellung des aus seiner Umwelt heraus handelnden Menschen, die das rationale Erkennen wesentlich mitbedingt. Eine derartige Erweiterung der Betrachtungsperspektive stellt eine wesentliche Annaherung an die reale Situation des in der relativ natiirlichen Einstellung Handelnden dar. Die phanomenologische Vorgehensweise erlaubt es Scheler hier, die hochst fluchtigen Phanomene des emotionalen und leiblichen Erlebens zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen (vgl. etwa Scheler 1980: S. 331 ff.), die sonst nur als Randbedingungen der Wissenskonstitution betrachtet werden, denen aber trotzdem evidenterweise ein erhebliches
konstitution im Auge, die er in seinen anthropologischen Arbeiten analysiert und die ebenso wenig wie die »Realfaktoren« den Handelnden bewusst zu sein brauchen. Scheler sucht also nicht nach einem »egologischen« Zugang, sondern nach einem strukturellen Konzept fiir die Erfassung der Wissenskonstitution, das sowohl ihre Rahmenbedingungen als auch die Prozesse auf der Handlungsebene einschUefien wiirde. ^^^Scheler (1960, Anm. 2, S. 28, Anm. 2, S. 33, Anm. 2 und Anm. 1, S. 52 und 53). Der eindeutige systematische Bezug des kultur- und wissenssoziologischen Ansatzes von Scheler auf seine philosophisch-anthropologischen Arbeiten dokumentieren die den Prozess des »Wertens« betreffenden Passagen in Scheler (1960: S. 24 ff.) und in Scheler (1980: S. 126).
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Gewicht zukommt.^^^ Das Fiihlen, einer der intentionalen Akte, durch die dem Menschen seine Wirklichkeit wesentlich gegeben ist^^^, stellt fiir Scheler auch diejenige Beziehung dar, in der die Sozialitat des Menschen urspriinglich fundiert ist. Die zuerst emotionale Einbindung des reifenden Individuums in der Familie, die Gruppe, bzw. die Zweierbeziehung, die Scheler als einen der Falle der Einsfiihlung analysiert (Scheler 1973: S. 30 f., 37 ff., 240 f.), stellt eine Evidenz der Fremderfahrung her, die keines »Analogieschlusses« bedarf. Viel wichtiger in diesem Zusammenhang ist es jedoch, dass Scheler diese Einbindung als die tragende Beziehung der Ubernahme von Wertungen und somit als die Voraussetzung zur Herausbildung von Wir-Bewusstsein bestimmt. Unter Wir-Bewusstsein wird hier ebenso wenig nur ein tradiertes System von Normen verstanden, wie hier unter Wertung der Vollzug von Werturteilen verstanden werden darf. Wertung bedeutet hier eine Selektion und daher eine deutende, also eine sinnproduzierende Einstellung zur Realitat in alien fiir die Gruppe relevanten Bereichen einschliefilich der Kleidungs-und Tischsitten einerseits und der Unterscheidung von Gut und Bose andererseits.^^'^ Das WirBewusstsein ist daher analog als der Besitz dieses Wissens zu verstehen, welches das Individuum zuerst mit der Identitat eines Gruppenmitglieds ausstattet. Erst gegen diese Basis kann sich individuelles Bewusstsein, Selbstbewusstsein als Eigenstandiges abheben und individuelle Identitat entstehen lassen (Scheler 1973: S. 242, 244).^^^ Das Wissen eines Individuums von sich selbst, von der Realitat und von dem Umgang damit ist also das Produkt seiner Sozialitat par excellence. Naher beleuchtet Scheler die Genesis des als Wir-Bewusstsein erworbenen »Traditionswissens« in ^^^Erst Talcott Parsons (1951: S. 101 ff.; 1954) versuchte, einige Jahrzehnte spater, die Bedeutung der Funktion der Emotionalitat im Rahmen einer Theorie des sozialen Handelns zu erschliefien und die emotionale Bindung als den primaren Trager der Normgeltung aufzufassen. ^^^Dies gilt sowohl fiir die vitalen als auch fiir die geistigen Akte. Vgl. Scheler (1980: S. 262 ff., 331 ff.) sowie die Analyse Manfred Frings (1966). ^^^Diese Konsequenz ergibt sich aus der Scheler'schen Konzeption des Fiihlens und Wertens, wie sie oben skizziert wurde. Sie lasst sich durchaus durch Aussagen Schelers stiitzen. Vgl. dazu Scheler (1980: S. 39 f.). ^^^Die Tatsache sei hier vermerkt, dass dies zu einem Zeitpunkt gedacht wurde (1913), der weit vor dem Erscheinen der Werke von George Herbert Mead liegt.
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seiner Beschreibung der Milieubildung. Der Milieubegriff, der - wie wir sahen - urspriinglich aus der Umweltlehre Uexkiills bezogen wird, hat fiir Scheler hier eine menschlich-spezifische Bedeutung, die auf ihrer untersten Ebene gleichzeitig die anthropologische Fundierung der Sozialitat beriihrt. Der Mensch, der sich auf Grund seiner Mangelhaftigkeit ais rein vitales Wesen in seiner vitalen Sphare durch instrumenteiles, also »kunstliches« Handeln bewahren muss, erreicht bereits dadurch einen Grad der Herauslosung aus seiner natiirlichen Umwelt, der eine Pluralitat der Wirklichkeit mit sich tragt, die zu bewaltigen ist ( Scheler 1980: S. 292 ff.). In der anthropologischen Perspektive erscheint die Milieubildung auf sozialer Ebene als die spezifisch menschliche Art dieser Bewaltigung. Unter Milieu versteht Scheler nun die durch Wertnahme erfasste, also als wirksam erlebte Wirklichkeit, in der sich das Handeln und WoUen des in der relativ natiirlichen Weltanschauung lebenden Individuums vollzieht. Es kann also - um mit Alfred Schiitz zu sprechen - als ein Schema von Relevanzen vorgestellt werden, das die Interessen und Bediirfnisse des Individuums in eine bestimmte Richtung lenkt und ihm gleichzeitig bestimmte Techniken und Praktiken sowie eine Auswahl von Objekten fiir ihre Befriedigung bietet, das heil5t, die »chaotische« Umwelt mit Sinn besetzt. Konstituierend fiir dieses Schema ist das Erlernen und - ebenso wichtig - das handelnde Befolgen der »Zeigefunktion« bestimmter Erlebnisse (Scheler 1980: S. 155). Das »Erlernen« bedeutet nicht einen Wissenserwerb im Sinne expliziter Mitteilung von Normen und Werten. Es erfolgt vielmehr im »Vollzug des Handelns«, also in der Interaktion, in der Handlungsregeln und ihre Anwendung »als erfiillt oder verletzt erlebt werden und erst in diesen Erlebnissen iiberhaupt zu Gegebenheit kommen« (ebd.). Entscheidend fiir die Milieubildung ist daher nicht nur der wertend-selektierende Bezug auf die Welt, sondern auch die Realisierung der Wertung im Handeln, die erstens das Erlernen von Handlungsregeln ermoglicht, zweitens jedoch die Regeln iiberhaupt als materiell erscheinen lasst. Milieus im Scheler'schen Sinne sind also immer mit der sozialen Praxis der sie tragenden Gruppe verbunden. Damit wird erneut der soziale Bezug der Wertung sichtbar, denn die unter Milieu verstandene, als wirksam erlebte Wirklichkeit variiert selbstverstandlich nach Art der
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Gruppe. Die »ZeigefunktIon« von Erlebnissen, ihre Sinnbesetzung also, die auf diese Art zu Stande kommt, iiberzieht das Erleben des einem Milieu angehorenden Individuums sozusagen mit einem Sinnmantel, der alle Erlebnisse einhiillt, gleich ob sie emotionaler, sinnlicher oder kognitiver Art sind. Es gibt daher fiir Scheler in diesem Bereich kaum Akte und ihre Gegenstande, die nicht bereits sozial bestimmt, also mit Sinn besetzt waren. Schon auf der Ebene des einfachen »Sehens«, »H6rens«, »Spurens« etc. setzt die soziale Bestimmung des Wissens ein und reicht bis zu der Gestaltung der kognitiven Akte hin und der Auswahl ihrer Gegenstande. Milieus weisen so auch eigene Erlebnis- und Denkstile auf, die von ihren Tragern nicht einfach abgelegt werden konnen, sondern zum Habitus werden (Scheler 1980: S. 157, 163). In dem Konzept der Milieubildung legt Scheler also ein generalisierbares Modell vor, das ihm den Zusammenhang von Wissenskonstitution, Interaktion und konkreter sozialer Umwelt zu rekonstruieren ermoglicht, wobei der Totalitat der sozialen Wissensbestimmung dem Inhalt und der Form nach, wie sie sich fiir Scheler aus seinen philosophischanthropologischen Untersuchungen ergibt, vollends Rechnung getragen wird.1^9 Der Prozess der Milieubildung muss auch unseres Erachtens als die Grundlage fiir die Konstitution dessen betrachtet werden, was Scheler die »relativ natiirliche Weltanschauung« nennt (Scheler 1980: S. 162, Anm. 1), und zwar insofern, als dieser Weltanschauung alles angehort, was generell in einer Gruppe als fraglos gegeben gilt, d. h. also »jeder Gegenstand und Inhalt des Meines in den Strukturformen des ohne besondere spontane Akte Gegebenen, der allgemein fiir eine Rechtfertigung nicht bediirftig und fahig gehalten und empfunden wird« (Scheler 1960: S. 61). Im Gegensatz zum Milieu versteht Scheler unter den relativ natiirlichen Weltanschauungen »Sinnuniversa«, die mehrere Wissensformen mit je^^^An dieser Totalitat der Wissensbestimmung durch die soziale Bedingtheit der Selektion seiner Inhalte und der Gestaltung der Art seiner Hervorbringung andert u. E. auch die Scheler'sche Unterscheidung zwischen der intimen und der sozialen Person nichts. Denn auch die Intimperson kann sich im Vollzug ihrer Akte aus ihrer sozial bestimmten Emotionalitat und Denkart nicht ganzlich herauslosen.
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weils eigenen Erlebnis- und Erkenntnisstilen einschliefien, fiir welche sie gleichzeitig einen Sinnhintergrund abgeben. Auf dieser Ebene reicht die unmlttelbare Interaktion selbst als Trager des Wissenserwerbs nicht aus, sondern es miissen andere Mittel der Wissenstradlerung aufgezeigt werden. Aufier Mythos und Sage spielt hier die Sprache eine wesentliche Rolle (Scheler 1960: S. 63). Das in der Untersuchung der Milieubildung sichtbare Konzept des unmittelbaren, durch den Handelsvollzug erfolgenden Wissenserwerbs scheint jedoch auch hier seine Relevanz zu erhalten. Die natiiriiche Volkssprache wird nicht als blofies generaHsierbares System von Zeichen verstanden, in dem Wissen kommuniziert werden kann. Sie wird vielmehr selbst zum inhaltlichen Wissenstrager, indem ihre Ausdriicke ein implizit mitgegebenes Wissen enthalten.^^^ Dementsprechend zeichnen sich auch die auf dem Boden der relativ natiirlichen Weltanschauung entstehenden Wissensarten der Religion, der Philosophic, der Wissenschaft und der Technologic durch spezifische Sprachstile aus, die ihrem Erkenntnisstil, ihrem Gegenstand sowie den fiir sie charakteristischen Bedingungen der Wissenstradierung angemessen sind (Scheler 1960: S. 64). Die Bedeutung, die Scheler der Einwirkung der den verschiedenen Wissensformen eigenen Erkenntnisstile auf die jeweiligen Lebensfiihrung von Individuen beimisst, haben wir schon eingangs kennen gelernt. Seine Annahme der den Erkenntnisstilen entsprechenden Lebenstechniken und Zielen korrespondiert deutlich mit den aufgrund der Milieuanalyse erarbeiteten Auffassungen, die so das konkretisierende Kettenglied liefern, das den Prozess der Vermittlung zwischen sozialem Milieu, Bewusstseinsform und Handeln anschaulich macht.^^^ Es ist jedoch nicht nur die aufgezeigte Losung des Vermittlungsproblems, die hier interessiert. Die Durchfiihrung der Untersuchungen und die Richtung, in die sie gehen, legen ein neues Verstandnis der wissenssoziologischen Forschung an den Tag und ^^°Hier kommt Scheler der Auffassung von Alfred Schiitz nahe, derzufolge die Sprache einen der bedeutsamsten Trager der alltaglichen Typisierungen darstellt. Vgl. Schiitz/Luckmann (1975: S. 232 ff.). ^^^Die Tragweite des Milieukonzepts illustrieren eindrucksvoll die sozialgeschichtlichen Untersuchungen von Norbert Elias (Elias 1977), die die soziale Bestimmung des sinnlichen und emotionellen Erlebens hervorragend darstellen.
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stellen so die Wissenssoziologie auf einen neuen Boden. Welche programmatischen Konsequenzen ergeben sich nun aus dem Schelerschen Entwurf der Wissenskonstitution fiir die Entwicklung einer Soziologie des Wissens? In welche Richtung welst seine Alternative? Vor allem scheint sie von der Vorstellung der Wissenssoziologie als einer Einzelwissenschaft wegzufiihren zugunsten einer interdisziplinaren Betrachtungsweise, die der Mannigfaltigkeit der konstitutiven Aspekte sozialer Wissensgenerierung Rechnung tragt und iiber den Rahmen der Untersuchung ihres gesellschaftsstrukturellen und sozialgeschichtlichen Hintergrundes hinausgeht. Die von Scheler aufgezeigte Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen den anthropologischen und sozialen Bedingungen der Wissenskonstitution zu erforschen, hinter der die Erkenntnis des Fundierungsverhaltnisses von Sozialitat und der sich aus der vitalgeistigen Existenzweise des Menschen ergebenden Vielfalt der menschlichen Zugange zur Realitat steht, fiihrt uns anschaulich vor Augen, dass die soziale Bestimmung des Wahrnehmens und des Fiihlens die Gegebenheitsweise der Realitat wesentlich pragt und auf diese Art und Weise das handelnde Individuum in verschiedene Welten einbettet. Daraus ergibt sich die Relevanz der Untersuchungen, die dieser sozialen Bestimmung der Emotionalitat und Sinnlichkeit sowie ihren Voraussetzungen nachgehen. Hier ist also das Feld nicht nur fiir die sozialwissenschaftlichen, sondern auch fiir die entsprechenden psychologisch und naturwissenschaftlich orientierten Forschungen offen, die diese Phanomene im obigen Zusammenhang thematisieren. Schelers Verdienst bleibt es, gezeigt zu haben, dass die soziale Bestimmung der Hervorbringung von Wissen auf bestimmte anthropologische Bedingungen zuriickgeht, so dass die etwaigen soziobiologischen Forschungen die Soziologie nicht unvorbereitet antreffen. Ebenso macht die Scheler'sche Auffassung des sozialen Wissenserwerbs in der Gruppe, wonach die Herausbildung des die WirIdentitat fundierenden Wissens der Konstitution des Ich-Bewusstseins zuvorgeht, die wissenssoziologische Fragestellung mit den Untersuchungen in dem gesamten Bereich der Soziologie der Gruppen, der Familie, der Sozialisationsforschung usw kompatibel. Dies zeigt klar, dass die Wissenssoziologie nicht als eine Einzeldisziplin bestehen kann, sondern dass
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es einer Pluralitat von soziologischen Betrachtungsperspektiven bedarf, um das Phanomen des sozialen Wissens soziologlsch in den Griff zu bekommen. Schelers multikulturelle Betrachtungsweise, in der die Pluralitat der Deutungsschemata und ihrer Erkenntnisstile betont wird, sowie sein Entwurf von Konzepten, die diese Vielfalt auf bestimmte gemeinsame Strukturen menschlichen Handelns zuriickfiihren, erfordern geradezu die Einbeziehung der kulturanthropologischen Forschung in das Spektrum der Perspektiven, die zur Klarung der Konstitution von sozialem Wissen beizutragen vermogen. Dies einerseits, indem sie den verschiedenen Erkenntnisstilen nachgehen und so die Konstitution von kulturund gruppenspezifischen Milieus konkret nachvollziehen, andererseits, indem sie die Moglichkeit liefern, anhand solchen Materials gemeinsame Struktur der Wissensbildung nachzupriifen. Letztendlich ist auch auf die Bedeutung von sprachorientierten Untersuchungen hinzuweisen, die aus der Schelerschen Betonung der Sprache als eines Wissenstragers resultiert. Diese Perspektiven stellen keine blofie Aufzahlung von moglichen Forschungen dar, zu welchen die Scheler'sche Konzeption als Inspiration dienen konnte. Alle diese Perspektiven hat Scheler in sein Werk mehr oder minder systematisch eingearbeitet^^^, so dass sie in immanenter Beziehung zu seiner Auffassung der Wissenssoziologie stehen als einer Wissenschaft, die sich den sozialen Ursprung alles Wissens zum Gegenstand gemacht hat. Es wird also deutlich, dass das Ziel der Bemiihungen Schelers nicht eine sozialwissenschaftliche Disziplin darstellt, die die Relativitat des an seine sozialen Trager gebundenen Wissens thematisiert, sondern eine vor dem anthropologischen Hintergrund zu entwickelnde Wissenschaft von der Konstitution des Wissens, die gleichermafien die gesellschaftlichen, sozialgeschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie die kognitiven, volitiven, sinnlichen und emotionalen Konstitutionsprozesse ^^^So gehen in seine Argumentation wiederholt die kulturanthropologischen Arbeiten Emil Durkheims und Lucien Levy Bruhls ein, ebenso wie die psychoiogischen Arbeiten von Karl Biihler, Ivan P. Pawlow, Carl Stumpf, Sigmund Freud, Wolfgang Kohler (einschliefilich seiner Primatenforschung), Kurt Koffka, Felix Kriiger und Adhemar Gelb, sowie die sprachwissenschaftlichen Ansatze Wilhelm von Humboldts.
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des Wissens selbst in ihrer sozialen Einbindung untersucht. Somit wird die Genese des sozialen Wissens in der Vielfalt ihrer kulturellen, sozialen, anthropologischen, psychologischen und sprachlichen Aspekte zum Untersuchungsgegenstand. Der Zusammenhang der Natur- und Kulturbestimmung des menschlichen Zugangs zur Welt - zur menschlichen Wirklichkeit also - gerat so in einer eigenartigen Art und Weise in den Blick: Das menschliche Wissen ist einerseits an die sinnlich-leiblich und emotional erlebende Existenzweise des Menschen gebunden und somit naturbezogen, gleichzeitig aber wird es in Interaktionsprozessen hervorgebracht und tradiert und ist also in seiner Naturbezogenheit immer schon in Sozialitat eingebettet. Sozialitat bedeutet allerdings immer auch eine Perspektivitat des Wissens, die nicht einfach auf der naturbedingten Selektivitat der Sinnesorgane beruht, sondern das Resultat eines Interaktionsprozesses darstellt, in dem das gruppenspezifische Welterleben und -erfahren hervorgebracht wird. Sie ist sozusagen die Quelle der Varietat der menschlichen Perspektiven und somit auch der Ort, an dem sich auch die Freiheit des Menschen als eines geistigen, d. h. der Transzendierung des Gegebenen fahigen Wesens im Scheler'schen Sinne realisiert. Die Sozialitat des Wissens wird also zum spezifischen Rahmen, in dem sich dem Menschen der Zugang zur Welt erschliefit, sie wird sozusagen zur conditio humana. Die strukturelle Erfassung dieses Zusammenhangs, die Scheler - wie gezeigt - ansatzweise versucht, stellt die Grundlage dar, von der aus das Problem der Seinsverbundenheit und der Sozialitat des Wissens neu formuliert werden konnte. Zu fragen bleibt noch, inwiefern diese breit angelegte Konzeption mit Leben erfiillt wurde. Wer die unmittelbare Wirkung Schelers betrachtet, eines Gelehrten, der ohne eigene Schiiler blieb, wird geneigt sein, dies zu verneinen.^^^ Und doch erfuhr seine anthropologisch-soziologische Konzeption der Genesis sozialen Wissens eine Systematisierung und originare Ausfiihrung in dem Werk Helmuth Plessners, dessen Theorie der exzen^^^Die Wirkung des Werkes von Scheler fasst Walter L. Biihl (Biihl 1978) zusammen. Zu dem Einfluss Schelers auf die anthropologische Forschung siehe Wyss/Huppmann (1975).
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trischen Position des Menschen ebenso wie seine Untersuchungen zur Anthropologie der Sinne (Plessner 1923, 1928, 1970) ihre latente Wirkung auf die Entwicklung einer »nicht-Mannheim'schen« Wissenssoziologie ausiibten. Die Arbeiten Plessners, die diese Linie des Scheler'schen Konzepts konsequent entwickeln, zeigen die Gewichtigkeit dieses Ansatzes fiir die Neuorientierung der Wissenssoziologie, die nunmehr die Grundlagen des sozialen Handelns zu erfassen sucht und somit fiir den soziologischen Theorieauf bau fundamental wird. Die heute vertretenen Positionen der konstitutionstheoretisch orientierten Wissenssoziologie der phanomenologischen, interaktionistischen bzw. erkenntnisgenetischen Pragung, die vor handlungstheoretischem Hintergrund der Konstitution sozialen Wissens und ihren moglichen universellen Strukturen nachgeht^^"^, verfolgen daher eine Linie wissenssoziologischer Fragestellung, die Scheler mit seinem Werk vorzeichnete.
^^"^Hier einige Beispiele: Eine konsequente Neuorientierung auf einer anthropologischbewusstseinsgenetischen Basis betreibt Giinter Dux, dessen Ansatz in vieler Hinsicht aus Plessners Ideenwek schopft. Auch das wissenssoziologische Denken Thomas Luckmanns entwickeke sich in dieser Richtung einer Perspektivenerweiterung, die iiber die egologische Konzeption von Alfred Schiitz weit hinausfiihrt. Der Begriff des Milieus als einer sozialen Umwelt, in der die strukturgesellschaftlichen Bedingungen eine in unmittelbarer Interaktion hervorgebrachte und tradierte Deutung erfahren, findet erneut Eingang in die aktuelle Diskussion, wie uns die Untersuchungen Richard Grathoffs zeigen. Auch Ulrich Oevermanns Untersuchungen machen sich dieses Problembewusstsein zu Eigen. Einen umfassenden Versuch, den Zusammenhang von Denken, Fiihlen und Handeln in der alltaglichen Wissenskonstitution aufzuzeigen, stellt die Arbeit Hans Peter Thurns dar, die vor diesem Hintergrund einer Anthropologie des Alltags nachgeht. Auch die in den USA sich abzeichnenden zaghaften Versuche einer »existential sociology«, die die leiblich-emotionale Komponente des Handelns in den Vordergrund stellen, sind auf der Suche nach Strukturen, fiir deren Erschliefiung sich bei Scheler ein Instrumentarium anbietet. Vgl. Dux (1970; 1976); Schiitz/Luckmann (1975: Kap. IV), das weitgehend Luckmanns Auffassung wiedergibt, weiter: Luckmann 1979, 1980, 1980a), Grathoff (1979); Oevermann (1972); Thurn (1980); Douglas/Johnson (1977).
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6. Grenzen des »Rational Choice«-Ansat2es Hartmut Esser hat sich bereits an mehreren Stellen mit der Handlungstheorie von Alfred Schiitz auseinandergesetzt. Er publizierte eine ausfiihrliche Studie iiber »Alltagshandeln und Verstehen«, die den Vergleich der Rational Choice Theory (RC-Theorie) mit dem Schiitz'schen Ansatz zum Gegenstand hat (Esser 1991). Einige Voriiberlegungen zu diesem Thema sowie eine geklirzte Fassung seiner Auseinandersetzung mit Alfred Schiitz erschienen in der »Zeitschrift fiir Soziologie« (Esser 1990, 1991a). Im Folgenden werde ich mich vor allem auf den in dieser Zeitschrift abgedruckten Aufsatz (Esser 1991a) beziehen, ich werde aber auch Essers ausfiihrlicheren Text (Esser 1991) beriicksichtigen, in dem manches detaillierter, scharfer und polemischer ausformuliert ist. Soweit ich sehen kann, verfolgt Esser mit seinem Vergleich von RCTheorie und der Schiitz'schen Handlungstheorie zwei Hauptziele. Indem er die »hohe Ubereinstimmung« zwischen den beiden Ansatzen aufzeigt, mochte Esser erstens die Grenzen zwischen einer »rational erklarenden« und einer interpretativen Handlungstheorie aufbrechen, die in der Rezeptionsgeschichte beider Ansatze entstanden sind (Esser 1991a: S. 430). Dadurch sollen die Beriihrungspunkte, die sich aus der jeweiligen Problemsicht der diskutierten Ansatze ergeben, freigelegt werden. In diesem Sinne versteht sich Essers Untersuchung als ein Beitrag zur Uberwindung des Methodendualismus in den Sozialwissenschaften (Esser 1991: S. 88 ff.) und als eine Aufforderung zur vorurteilslosen Zusammenarbeit bei der Erforschung des gemeinsamen Gegenstandes. Zum zweiten will Esser unter Beriicksichtigung der Schiitz'schen Analysen der alltaglichen Handlungsbedingungen die Rahmenbedingungen der RC-Theorie moglichst dicht an reales Handeln und seine subjektive Orientierung heranfiihren (Esser 1991: S. 4) und zugleich zeigen, dass die von Schiitz postulierten Eigenheiten des Alltagshandelns auch mit den - allerdings gelockerten Mitteln der RC-Theorie modellierbar sind (Esser 1991a: S. 439 f.). Der
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Nachweis der Konvergenz beider Ansatze dient hier also auch als Nachweis des adaquaten Bezugs der RC-Theorie auf das sich innerhalb der Strukturen der Lebenswelt vollziehende alltagliche Handeln (Esser 1991a: S. 443). Gemafi diesen zwel Zielsetzungen mochte ich auch mein Vorgehen gliedern: Zuerst werde ich anhand der Genese des Schiitz'schen Werkes zeigen, wo die von Esser aufgezeigten Beziige zu den Theoremen der RCTheorie im Denken von Alfred Schiitz ihre Quellen haben und welches ihr Stellenwert in seinem Werk ist. Dann werde ich auf die Tiefe dieser Konvergenz eingehen und die Kompatibilitat der beiden Ansatze und ihrer Erklarungsstrategien priifen. I. Q u e l l e n der Schiitzschen Auseinandersetzung m i t der »Theorie rationaler Wahl« Es ist nicht iiberraschend, dass Esser im Werk von Alfred Schiitz Anregungen findet, die dazu geeignet sind, zwischen dem interpretativen Ansatz in der Soziologie und der auf das neoklassische Modell des homo oeconomicus zuriickgehenden RC-Theorie zu vermitteln. Denn genau dies war - und darauf wurde bereits mehrmals hingewiesen (Prendergast 1986; Eberle 1988; Helling 1988; Srubar 1990) - ein wesentlicher Bestandteil der Problemstellung, von der aus Schiitz in seiner Wiener Periode seinen Ansatz zu entwickeln begann. Zu dem theoretischen Rahmen, aus dem heraus sich Schiitz* Konzeption einer Neubegriindung der verstehenden Soziologie formte, gehorten nicht nur die Soziologie Max Webers, die Lebensphilosophie Bergsons und die Phanomenologie Husserls und seiner Schiiler. Ebenso geh5rte dazu die Handlungslehre und die sozialwissenschaftliche Methodologieauffassung der liberalen osterreichischen Okonomieschule. Schiitz nahm aktiv und regelmafiig an dem Privatseminar von Ludwig von Mises teil, unter anderem zusammen mit EA. Hayek, E. Machlup, G. Haberler, E. Voegelin. Er war daher nicht nur mit Mises' Handlungslehre bestens vertraut, sondern durch den Einfluss von Mises auch argumentativ »unter Druck« gesetzt. Wenn Esser also den Eindruck gewinnt, in Alfred Schiitz einen Bundesgenossen im Streit
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gegen den interpretativ-rationalistischen Methodendualismus zu finden, dann deswegen, weil Schiitz selbst sich mitten im gleichen Methodenstreit befand und selbst nach einer Losung suchte. Um zu zeigen, wie nahe die von Mises vertretene Handlungstheorie, mit der Schiitz sich auseinandersetzen musste (Schiitz 2004: §§ 48, 49), an die von Esser angefiihrten Prinzipien der RC-Theorie und deren SEU-Variante herankommt, fiihre ich hier einige charakteristische Aussagen von Mises (1933) an.^^^ Das Handeln und der ihm adaquate methodoiogische Zugang werden bei Mises folgenderweise umrissen: S. 33: »Handeln ist ex definitione immer rational.« S. 33(a): »Die Beweggriinde des Handelns und die Ziele, denen es zustrebt, sind fiir die Lehre vom Handeln Daten, von deren Gestaltung der Verlauf des Handelns im einzelnen Falle abhangt, ohne dass das Wesen des Handelns dadurch beeinflusst wird.« S. 33(b): »Die Ausdriicke rational und irrational, die immer nur auf die Mittel und Wege angewendet werden konnen, gewinnen in dieser Verwendung nur Sinn, wenn sie vom Standpunkte einer bestimmten Technologic gebraucht werden. Ein Abweichen vom Wege, den diese Technologic als den >rationalsten< vorschreibt, kann aber nur auf zwei Umstande zuriickzufiihren sein: entweder darauf, dass der >rationalste< Weg dem Handelnden nicht bekannt war oder darauf, dass er ihn verlassen hat, weil er noch andere (vom Standpunkt des Betrachtenden vielleicht sehr torichte) Zwecke mitnehmen wollte. In keinem der beiden Falle ist man berechtigt, von >irrationalem< Handeln zu sprechen.« S. 31: »Auf dem Wege zum Hauptzweck werden Nebenzwecke mitgenommen. Ein Mann wandert von A nach B. Er wiirde den kiirzesten Weg wahlen, wenn nicht noch Nebenzwecke Befriedigung heischen wiirden [...] Wenn er sich fiir einen Umweg entscheidet, so entnehmen wir daraus, dass der Erreichung solcher Nebenzwecke im Augenblick der Entscheidung in seinem Urteil hohere Wichtigkeit zukam als der Ersparnis an ^^^Hierin sind Mises' Aufsatze von 1929-1932 gesammelt, auf die sich Schiitz entweder expHzit im »Sinnhaften Aufbau« (Schiitz 2004, erstmals 1932) bezieht, oder deren Kenntnis wir aufgrund der Diskussionen im Mises'schen Seminar bei Schiitz vor 1932 voraussetzen diirfen.
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Weglange. Der >Umweg< war mithin fiir ihn gar kein Umweg, da sein Begehen ihm mehr Befriedigung brachte oder - nach der Sachlage, wie er sie im Augenblicke der Entscheldung sah - hatte bringen miissen als das Erreichen des Zieles auf dem kiirzeren Wege. Nur wer diese Nebenzwecke nicht mit ins Auge fasst, kann den an Meilen langeren Weg einen Umweg nennen. Fiir unseren Wanderer war er der angezeigte Weg, d.i. der Weg, der die hochste Befriedigung versprach.« S. 41: »Wir gehen in der Wissenschaft vom Handeln des einzelnen aus, weil wir nur dieses unmittelbar zu erkennen vermogen. Die Vorstellung einer Gesellschaft, die aufierhalb des Handelns von einzelnen wirken oder sichtbar werden konnte, ist absurd.« S. 63: »Wenn man die Methode der modernen Nationalokonomie ablehnt und darauf verzichtet, das menschliche Handeln formal zusammenzufassen unter dem >eudamonistischen< Gesichtspunkte, dass es ausnahmslos der Steigerung der - vom einzelnen nach seiner subjektiven Wertung beurteilten - Wohlfahrt dient, dann bleibt nur die Wahl zwischen dem Verfahren der Triebsoziologie und dem des Behaviorismus.« (Hervorhebung I.S.) S. 54-55: »Da es dem Menschen nicht gewahrt ist, alle Triebe veil zu befriedigen, da er dieses und jenes nur erreichen kann, wenn er auf anderes verzichtet, muss er zwischen den Trieben unterscheiden, muss er sich fiir dies und gegen anderes entscheiden, muss er wdhlen und werten, vorziehen und zuruckstellen, kurz: handeln.« (Hervorhebung I.S.) Aus den oben angefiihrten methodologischen Grundsatzen ergibt sich fiir Mises folgende Kritik an Webers »interpretativem Paradigma«: S. 82: »Die Unterscheidung, die Max Weber innerhalb des sinnhaften Verhaltens zieht, wenn er das zweckrationale Verhalten und das nicht zweckrationale Verhalten auseinander zuhalten sucht, kann mithin nicht aufrechterhalten werden. Alles, was wir als menschliches Verhalten ansehen konnen, weil es iiber das blofi reaktive Verhalten der Organe des menschlichen Korpers hinausgeht, ist zweckrational, wahlt zwischen gegebenen Moglichkeiten, um das am sehnlichsten erwiinschte Ziel zu erreichen. Eine andere Auffassung ist fiir eine Wissenschaft, die das Handeln als solches, nicht aber die Beschaffenheit seiner Ziele ins Auge fassen will.
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nicht zu brauchen. Max Webers fundamentaler Irrtum liegt in der Verkennung des Anspruches auf ausnahmslose Geltung, mit der der soziologische Satz auftritt.« Schiitz' methodologische Uberlegungen seit dem »Sinnhaften Aufbau« (Schiitz 2004) bewegen sich also unter anderem zwischen der Position Webers und dem hier aufgezeigten Mises'schen Standpunkt. Hier liegt die Quelle dafiir, dass Schiitz' Gedankenfiihrung sich mit den RC-Theoremen beriihrt. Mises' Ansatz ist sicherlich nicht so technisch elaboriert und mag auch in seinen Annahmen dogmatischer sein als die von Esser prasentierte »moderne« Version der RC Theorie. Wie aus den angefiihrten Passagen hervorgeht, enthalt er aber bereits vier entscheidende Momente, auf die auch Essers Version Wert legt: Mises geht ~ ahnlich wie die von Esser vorgestellte SEU-Theorie - von der subjektiven Wertung der Situation durch den Handelnden aus (Mises 1933: S. 63). Er unterstellt ein beschranktes Wissen des Akteurs (also in Essers Terminologie eine »bounded rationality«) und lafit das »framing« von Situationen durch »Nebenziele« zu (Mises 1933: S. 33b, 31). Er lasst auch andere, »triebhafte« Handlungstypen gelten, beharrt aber darauf, dass ihrer »Wahl« eine rationale, der jeweiligen subjektiven Situationsdefinition angemessene Entscheidung vorausgeht (Mises 1933: S. 54-55). Dabei sind die konkreten Bedingungen, d.h. Wertungen, Motive, Zwecke und Mittel des Handelns, unter welchen dieses Handlungsmodell »a priori« zu funktionieren hat, als empirische Gegebenheiten von der »Logik« des Handelns (»Logik der Selektion«) prinzipiell zu trennen (Mises 1933: S. 33a).
11. Uberwindung des Methodendualismus durch Riickgriff auf Strukturen der Lebenswelt Wie ersichtlich, wurde Schiitz durch den Mises'schen Ansatz durchaus schon mit Theoremen konfrontiert, mit deren Hilfe Esser im Nachhinein seine Theorie des alltaglichen Handelns modellieren mochte. Wenn Schiitz sich also gegen den »Utilitarismus« der Wiener okonomischen Schule wendet, dann sind diese Momente in seiner Kritik einkalkuliert. Sein Umgang mit diesen Theoremen ist eingebettet in seine Wahrneh-
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mung der methodologischen Differenzen, aber auch der Gemeinsamkeiten zwischen Mises und Max Weber. Sowohl fiir Mises als auch fiir Weber und folglich auch fiir Schiitz ist der theoretische Ausgang vom handelnden Subjekt, also der »methodologische IndividuaHsmus« unbestritten. Ebenso unbestritten ist fiir Schiitz, dass eine Handlungstheorie den Entwurfsund den Selektionscharakter des Handelns respektieren muss. Dies ist die Forderung von Mises, dies findet Schiitz auch in Webers methodologischer Praferenz fiir den zweckrationalen Ideahypus des Handelns sowie in seiner Betonung des sinngebenden selektiven Charakters der Wertbeziehung bestatigt.^^^ Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Positionen besteht auch fiir Schiitz in dem wissenschaftstheoretischen Status von Mises' Handlungsgesetz und Webers Ideahypus (Schiitz 2004: § 44, 48, 49). Wahrend Mises fiir sein Modell des rationalen Handelns die generelle Geltung a priori fiir alle beobachtbaren Handlungen beansprucht (Mises 1933: S. 22 ff.), ist Webers Ideahypus eine Konstruktion, die letztendlich auf Erfahrungssatzen aufbaut (Weber 1973: S. 127) und nur die »Chance« einer Pradiktion enthalt (Weber 1972: S. 9 ff.). Um diese Opposition aufzulosen, greift Schiitz auf die von beiden Ansatzen betonte Subjektivitat der Handlungsorientierung zuriick (Schiitz 2004: § 49) und zeigt, dass beide Positionen zur Erklarung sozialen Handelns Modelle (Idealtypen) konstruieren, indem sie subjektive Handlungsmotivationen und Deutungsschemata invariant setzen und damit typisch Handelnde kreieren (Schiitz nennt diese spater »homunculi«), die dann die jeweiligen Handlungsmodelle bevolkern (Schiitz 2004: S. 432 f.). Die Geltung solcher Modelle hangt also ab von der Adaquatheit des ihnen immanenten Bezugs auf die dem Handeln zugrunde liegende subjektive Sinnorientierung (Schiitz 204: S. 433 f), d.h. letztendlich von der Adaquanz ihres Bezugs auf die lebensweltlichen Sinnstrukturen alltaglichen Handelns.^^7 ^^^Diesbeziigliche Ankniipfung an Weber geht aus dem Schiitzschen Nachlass eindeutig hervor. Vgl. »Wertbeziehung und Relevanz. Zu Alfred Schiitz' Weber-Rezeption« in diesem Band S. 151 ff. ^ '^Dies formuliert Schiitz spater bekanntlich als »das Postulat der Adaquanz« von alltaglichen und wissenschaftlichen Typisierungen (Schiitz 1971: S. 72; 1972: S. 21, 49).
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Der Untersuchung dieser fiir die adaquate Aufstellung sozialwissenschaftlicher Typen notwendigen Basis dient die Schiitzsche Analyse des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt und der daraus resultierenden Lebensweltstrukturen. Untersucht wird die Konstitution einer sinnstrukturierten Lebenswelt, die als sinnhafter Rahmen der Orientierung des sozialen Handelns aus diesem selbst entsteht. Diese Konstitution prasentiert Schiitz im »Sinnhaften Aufbau« (Schiitz 2004) in drei Schritten: Er zeigt zuerst die Akte des Zeitbewusstseins auf, in welchen Erfahrungsschemata entstehen, in denen sich Handlungsentwiirfe und Motivationszusammenhange als handlungsbezogene Sinnzusammenhange konstituieren (Schiitz 2004: S. 17 ff.). Dann wird die situationsbezogene Plastizitat dieser Erfahrungsschemata analysiert und ihre Pragbarkeit in der Interaktion der Wirkensbeziehung hervorgehoben.^^^ Die auf dieser Grundlage entstehende, intersubjektiv geteilte »Wir-Welt« liefert dann die Basis fiir die anonymisierten, typischen Erfahrungen, an welchen sich das Handeln in der Mitwelt, also in der die Dyade transzendierenden Alltagswelt orientiert (Schiitz 2004: S. 299 ff.). Durch diesen konstitutionstheoretischen Ansatz arbeitet Schiitz einen allgemeinen Konstitutionsmechanismus der sozialen Wirklichkeit - sozusagen die Kernstruktur ihrer Autogenese - heraus. Diese Struktur ist in jedem Ausschnitt dieser Wirklichkeit enthalten; die soziale Wirklichkeit entfaltet sich in ihrer Mannigfaltigkeit im Vollzug dieses Mechanismus (Schiitz 2003: 181 ff.), den Schiitz durch die Analysen seiner identitatsbildenden (Schiitz 2003: S. 95 ff.; Srubar 1988: 132 ff.) und kommunikativen (Schiitz 2003a: S. 119 ff.) Momente erganzt. Die hier erscheinende »Matrix« von Lebensweltstrukturen und ihre »Logik« konnen also den gleichen Grad an AUgemeinheit beanspruchen, den auch das Mises'sche Handlungsmodell fiir sich reklamiert.^^^
^^^Systematisch dazu: Srubar 1988: 116 ff. ^^^Es sind gerade die generativen Mechanismen dieser Matrix, denen interaktionistische, ethnomethodologische und konversationsanalytische Analysen gelten. Sie zielen auf eine allgemeine generative Struktur sozialer Realitat und miissen als Beitrag zur Theorie sozialer Ordnung gelesen werden. Zum Begriff der Matrix vgl. Luckmann 1973.
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Nachdem Schiitz gezeigt hat, dass die Orientierung sozialen Handelns sich im alltaglichen Fall aufgrund von intersubjektiv generierten Typisierungen vollzieht, kann er auch den logisch systematischen Grund fiir die Fundierung sozialwissenschaftlicher Typisierungen in der Sinnstruktur alltaglichen Handelns offen legen: Der Wissenschaftler ist berechtigt, in seiner Typenbildung eine Invariantsetzung von Motivationszusammenhangen und Deutungsschemata zu voUziehen, weil er nun begriindet annehmen darf, dass das zu deutende Handeln sich ebenso im Rahmen typischer Orientierungen bewegen muss (Schiitz 2004: S. 429 f.). Dadurch offnet sich fiir Schiitz der Weg zu einer Uberwindung des in den Positionen von Weber und Mises gegebenen Methodendualismus: Die wissenschaftliche Konstruktion des Idealtypus besteht in der Invariantsetzung bestimmter Motive und Typisierungen innerhalb des Deutungsschemas, anhand dessen ein Ich sein Handeln orientieren wiirde (Schiitz 2004: S. 432 f.). Die Berechtigung des Sozialwissenschaftlers, solche Modelle aufzustellen, leitet sich allein von der Tatsache ab, dass auch alltaglich Handelnde sich prinzipiell an typischen Konstruktionen, die ihren Wissensvorrat bilden, orientieren. So ist die wissenschaftliche idealtypische Rekonstruktion einerseits auf subjektive Erfahrungsmuster gestiitzt und der Grundsatz des Verstehens bleibt gewahrt, andererseits aber rekurriert sie auf eine universelle »Eigenschaft« der sozialen Wirklichkeit und kommt so der Forderung nach, die soziologische Begriffsbildung habe generalisierbare Aussagen zu ermoglichen. Die Schiitzsche Uberwindung des Methodendualismus erfolgt also nicht etwa, wie Esser (1991a: S. 443 f.) nahe legt, in einer verschleierten Akzeptanz der RC-Prinzipien als des konstitutiven Mechanismus alltaglichen Handelns, sondern ist in dem Nachweis der Typik als einer allgemeinen Struktur der alltaglichen Handlungsorientierung begriindet. Die von Schiitz intendierte Uberbriickung des Methodendualismus setzt einen anderen Typus von Handlungstheorie voraus, in der Handeln, seine sinnhafte Orientierung sowie die intersubjektiven und institutionalisierten Formen der Elemente dieser Orientierung zusammen begriffen werden, dergestalt, dass gezeigt wird, wie im Verlauf des sozialen Handelns selbst seine sinnhaften Regulative in Form von Typik und Relevanz
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entstehen und reproduziert werden. Schiitz legt dar, dass Typik und Relevanz als Handlungsregulative nicht nur intersubjektive Geltung, sondern auch intersubjektive Genese haben (Schiitz 1971: S 11). Sie entstehen nicht (grofienteils nicht) im Handein isolierter Individuen aufgrund abwagender Entwiirfe, sondern in der Interaktion und in der Kommunikation als intersubjektive Motivationsverkettungen, die als Orientierungs- und Deutungsschemata kiinftigen Handelns Typik- und Relevanzstrukturen festlegen (Schiitz 1971: S. 26). Die sinnhafte Ordnung der Lebenswelt ist also immer schon das Produkt einer »Aggregation« von individuellen Handlungen in ihrem intersubjektiven Wirkungszusammenhang (Schiitz 1004: S. 309 f., 1971: S. 29 f.; Srubar 1988: S. 123 f.), ein Produkt, das unabhangig von der individuellen Handlungsintention fortbesteht. Die hier angelegten sprachlichen und symbolischen Verweisungsstrukturen (Schiitz 2003a: S. 148 ff) stellen die Grundlagen der subjektiven Situationsdefinition dar, und sie bieten zugleich auch den Sinnrahmen, dessen Relevanzstrukturen und Typik Routinehandlungen auslosen bzw. die Selektion von Handlungsentwiirfen einleiten konnen (Schiitz 1972: S. 57 f., 65 f.; Schiitz 1971: S. 102 ff.). III. Schiitz* Kritik a m Modell der »rationalen Wahl« Wie ersichtlich, besteht der Schiitzsche Ansatz zur Uberwindung des Methodendualismus in der Ausarbeitung einer Handlungstheorie, in deren struktureller Matrix sich die alltagliche »Logik« sozialen Handelns, die »Logik« von Situationsdefinitionen und die Muster der intersubjektiven »Aggregation« von Handlungen miteinander verschranken. Die so beschriebene Struktur einer im sozialen Handein entstehenden und dieses zugleich regelnden Ordnung der Lebenswelt soil als Grundlage der sozialwissenschaftlichen Modellbildung den ausreichenden Bezug auf die fiir jedes individuelle Handein ausschlaggebende Sinnstruktur der sozialen Wirklichkeit gewahrleisten (Schiitz 1971: S. 74 f.). Vor dem Hintergrund dieser Konzeption entwickelt Schiitz seine Kritik am »Utilitarismus« des Mises'schen RC-Modells, aber auch am Positivismus von Nagel und Hempel, wie Esser (1991: S. 32 ff.) sorgfaltig verzeichnet. Hat sich aber
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wirklich die RC-Theorie seit Schiitz' Zelten derart entwickelt, dass die im Schiitz'schen Ansatz realisierte Kritik sie nicht mehr trifft? Betrachten wir diese Kritik naher. Die von Schiitz erhobenen Vorwiirfe richten sich nicht dagegen, dass Mises' Modell die Subjektgebundenheit des Handelns und seiner Bedingungen missachtet, sondern vielmehr dagegen, dass diese Bedingungen zwar als integraler Bestandteil des Modells fungieren, aber aus dem theoretischen Erklarungszusammenhang ausgeschlossen sind. Die im sozialen Handeln selbst angelegte Genese seiner Orientierungsschemata bleibt unerkannt. Die in diesen Schemata enthaltene Typik- und Relevanzstruktur, deren Selektionsleistungen den Handlungsverlauf mitkonstituieren, figurieren nicht als ein Teil der Handlungslogik, sondern stellen Randbedingungen dar, die der als universell eingesetzten Selektionslogik der subjektiven Nutzenoptimierung unterworfen sind. Hier werden die negativen Erklarungsfolgen sichtbar, die eine »Entkoppelung« der drei Erklarungslogiken, die auch Esser im Gegensatz zu Schiitz verfolgt (Esser 1991: S. 49,1991a: S. 431), nach sich zieht. Hier zeigt sich auch, wie unzutreffend es ist, wenn man Schiitz' Analysen des Entwurfs- und Wahlcharakters des Handelns ohne Beriicksichtigung seiner sinnkonstituierenden Funktion als die Schiitz'sche »Erklarung des Handelns« begreift (Esser 1991a: S. 432
ff.). Welchen Stellenwert kann man also der Mises'schen Handlungslehre in Schiitz' eigener Theorie zumessen? Schiitz bestreitet nicht die Moglichkeit, ein Handlungsmodell, das auf Nutzenmaximierung aufbaut, aufzustellen und - etwa fiir den Wirtschaftsbereich - mit Gewinn anzuwenden (Schiitz 2004: S. 433 ff.). Was er bestreitet, ist die universelle Geltung einer solchen Selektionslogik. Er deckt den tautologischen Charakter dieser Geltung auf: Das Modell gilt universell nur, solange es Handelnde annimmt, die vollig anonymisiert sind, d. h. deren angenommener subjektiver Wissensvorrat bis auf das Optimierungsmotiv inhaltsleer ist. Die generelle Geltung des Modells ist so die Folge seiner Annahmen und wird dariiber hinaus durch seine Inhaltsleere erkauft (Schiitz 2004: S. 434 f.). Werden aber »Randbedingungen« in Form eines durch alltagliche Typik und Relevanz strukturierten Wissensvorrats zugelassen, d.h. wird »die
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Sphare des absolut anonymen >jedermann< verlassen oder gar die Wendung zum subjektiven SInnzusammenhang eines konkreten alter ego vollzogen, dann kann freilich auch von einem atypischen Verhaken gesprochen werden: atypisch namlich In Bezug auf die als typisch angesetzten materialen Ziele des Wirtschaftens« (ebd.). Die Erklarung dieses atypischen, von Alltagswissen geleiteten Handelns, ist aus dem Modell selbst nicht mehr moglich - es verliert hier seine Gekung und die Erklarungsfunktion geht auf die »Logik« der Typik- und Relevanzstrukturen, die alltagliches Handeln leiten, iiber. Auf eine Formel gebracht, heifit dies: Wenn die im Mises'schen Handlungsmodell geforderte Subjektgebundenheit in die Erklarungslogik dieses Modells konsequent eingefiihrt wird, kann seine generelle Geltung nicht aufrechterhaken werden. Durch diesen Nachweis will Schiitz aber keineswegs den Entwurfscharakter und die Selektivitat des Handelns bestreiten. Er zeigt vielmehr, dass die Erklarung fiir die Ausfiihrung eines bestimmten Entwurfs bzw. fiir die Selektion einer Handlung im Alltag nicht immer in der abwagenden Tatigkeit von Subjekten zu liegen braucht, und typisch auch nicht liegt, sondern, dass sie vielmehr in der Selektivitat der Typik- und Relevanzstruktur von Wissensvorrat und Handlungssituation vor jedem individuellen Entscheiden mitenthalten ist (Schiitz 1971: S. 37). Diese bieten in der »Synthesis der Rekognition« in typischen Situationen alternativlos (Schiitz 1972: S. 34, 38) typische Handlungsfolgen ~ also Routinen und Rezepte - an, die sich nicht aus der Optimierungslogik des RC-Modelles erklaren lassen, sondern in der Selektionslogik der Sinnorientierung des Handelns und ihrer intersubjektiven Genese aufgesucht werden miissen. Die mit diesem Befund konforme Typologie alltaglichen Handelns kann man sich dann etwa als ein Kontinuum zwischen einem reinen RC-Modell und dem Idealtypus eines nur routinemafSigen Handelns vorstellen. Bei der Konstruktion dieser Typen unterschatzt Schiitz keineswegs die bereits von Max Weber methodisch bevorzugte Evidenz zweckrationaler Idealtypen. Ihre Verwendung darf lediglich nicht dazu fiihren, dass die ihnen eigene Rationalitat die eventuelle Irrationalitat, also das vom Idealtypus erkennbar Abweichende, am untersuchten Gegenstand verdeckt, indem sie die Sinnstruktur des Gegenstandes mit der Konstitutionslogik
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des Idealtypus verwechselt (Schiitz 1971: S. 51). Auf dem von Schiitz aufgezeigten Boden der Sinnstruktur der Lebenswelt ist dies allerdings nicht der einzige adaquate Zugang zur Erklarung alltaglichen Handelns. Ebenso konnte vom Idealtypus des Routinehandelns Ausgang genommen werden, allerdings mit der gleichen Auflage. In beiden Fallen ist die Rekonstruktion der Selektivitat notwendig, die in der Struktur der interaktiv aggregierten Sinnkontexte, in welchen das Handeln sich vollzieht, angelegt ist, sei es um »Randbedingungen« zu klaren, sei es um die »Logik« der Routine in den Blick zu bekommen. Vor diesem Hintergrund sieht Schiitz selbstverstandlich keine Veranlassung, auf die Erklarungskraft rationaler Handlungstypen zu verzichten; im Gegenteil - er macht mit Gewinn davon Gebrauch, wie Esser auch darstellt (Esser 1991a: S. 432 ff.). Voraussetzung dafiir ist allerdings die theoretische Bewaltigung der Adaquanz der Typenbildung, die Schiitz bei Mises und anderen vermisst und die er versucht, als eine Theorie der pragmatischen Genese der Lebenswelt zu entwickeln (Srubar 1988). Das Problem der Intersubjektivitat, d.h. des interaktiven Ursprungs und der Reproduktion sozialer Realitat (Schiitz 1971: S. 148 ff.) ist somit ein zentrales Problem, in dem Handlungstheorie und Theorie sozialer Ordnung sich verzahnen. Es ist somit auch ein grundlegendes Problem fiir Essers »Logik der Aggregation« - also weit entfernt davon, lediglich ein »Spezialfall des Problems der Situationswahrnehmung« zu sein (Esser 1991: S. 98).
IV. Die Grenzen der RC Theorie Essers Hauptthese ist nun, dass die RC-Theorie in ihrer Weiterentwicklung die von Schiitz kritisierte Position verlassen hat und nunmehr geeignet ist, problemlos das Alltagshandeln im Schiitzschen Sinne zu modellieren (Esser 1991a: S. 430 ff., 443). In der Tat benutzt die von Esser prasentierte SEU-Variante der RC-Theorie subjektive Momente im Rahmen ihres Handlungsmodells. Steht sie damit aber jenseits der kritischen Reichweite des Schiitz'schen Ansatzes? Ich mochte es an dem von Esser (1991a: S. 432 ff.) referierten Beispiel der SEU-Theorie priifen. Das Modell gliedert die Handlungswahl in drei Phasen: die Kognition, die Kalkulation
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(Evaluation) und die Selektion. Ich gehe von der Phase der Kalkulation aus, die den »Kern« der Theorie bildet: »Jeder Akteur bewertet danach einen Satz an Ziel- Situationen vor dem Hintergrund seiner eigenen Praferenzen. Dieser Satz an bewerteten Zielsituationen sei mit U i , U2, . . . Uj, . . . Un bezeichnet. Der Satz an Handlungsalternativen sei Ai, A2, . . . , Aj, . . . Am- Mit den Zielen sind diese Handlungsalternativen iiber eine Matrix P von subjektiven Erwartungen pn . . . Pij, • •. , pmn verbunden. Die pjj-Werte kennzeichnen die subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Akteurs, dass eine Handlung A{ zur Realisierung des Zieles Uj fiihrt. P modelliert damit das subjektive Wissen. Es wird nun weiter angenommen, dass jeder Akteur fiir jede einzelne Handlungsalternative Aj in Bezug auf jedes Ziel Uj eine Gewichtung mit der jeweils zugehorigen subjektiven Wahrscheinlichkeit pij vornimmt. Dies geschieht durch die Bildung des Produktes der Zielbewertung Uj und der subjektiven Wahrscheinlichkeit pjj: pjj • Uj. Fiir jede Handlung werden in der Phase der Evaluation diese Produkte fiir jedes Ziel bestimmt und dann - getrennt fiir jede Handlungsalternative - iiber alle Ziele aufaddiert. Das Ergebnis ist die gesamte >subjective expected utility< (SEU) einer Handlungsalternative Aj in Bezug auf alle betrachteten Ziele Ui bis Un: SEU(i) = X^ Pij • Uj. Mit dieser Kalkulation gibt es schliefilich fiir jede der Handlungsalternativen einen SEU-Wert. Als Kegel fur die Logik der Selektion nimmt die Theorie der rationalen Wahl das Kriterium der Maximierung der subjektiven Nutzenerwartung an. Dazu werden die m >kalkulierten< SEU-Werte fiir alle Handlungsalternativen verglichen. Gewahlt wird die Alternative, die den hochsten Wert dieser subjektiven Nutzenerwartung aufweist« (Hervorhebung I.S.). Es ist offensichtlich, dass ein gewichtiger Teil der Selektionsleistungen, die in dieses Modell implizit eingehen, im Bereich der »Matrix P« liegt. Die Typik- und Relevanzstrukturen dieser Matrix diirften z. B. dariiber entscheiden, ob nicht etwa jedes Ziel durch eine routinisierte, typische Handlungsfolge zu erreichen ist, die ihm ohne weitere »Kalkulation« zugeordnet ist; sie diirfte auch die pragmatisch erforderliche Tiefe dieser »Kalkulation« bestimmen. Die selektierende Rolle der »subjektiven Erwartungen« in der Phase der Kognition wird von Esser auch klar erkannt:
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»Bei der Kognltion werden die Situationsumstande, die Ubertragung von Informationen, Wahrnehmungen, die kognitiven Prozesse der Erinnerung und Assoziationsbildung, die Aktualisierung der >Alltagstheorien< der Akteure bedeutsam. Hier spielen insbesondere die sichtbaren Merkmale der Situation, Symbole und Markierungen, ausgetauschte Informationen und >Kommunikation<, Rolienstereotype und der institutionelle Kontext eine wichtige Rolle. Es werden dabei insbesondere die (subjektiven) Erwartungen (in Form von eingeschatzten >Wahrscheiniichkeiten<) strukturiert, die eine zentrale Rolle im weiteren Prozess spielen« (Esser 1991a: S. 432). Ebenso wird erkannt, dass »die Handlung danach einer bestimmten Logik der Selektion (folgt), wie sie die jeweils eingesetzte Handlungstheorie annimmt« (Esser 1991a: S. 431). Fiir die »Logik der Selektion«, die dem prasentierten Modell zugrunde liegt, bleibt jedoch die Erkldrung der Selektionsleistung der lebensweltlichen Typik- und Relevanzstrukturen auCerhalb ihrer Reichweite, denn sie nimmt als Regel fiir die Selektion »das Kriterium der Maximierung der subjektiven Nutzenerwartung an«, was - darin ist Esser mit Schiitz einig - nur in Ausnahmefallen im Alltag der Fall ist.'^^^ Diese iibereinstimmende Einschatzung wird deutlich, wenn Esser zu dem Schluss kommt: »Das heife aber auch: dass die >maximierende< und >kalkulierende< Zweckrationalitat nur ein Spezialfall der allgemeinen Selektionsregel der Rational Choice beim menschlichen Handeln ware« (Esser 1991a: S. 442). Wie sieht aber diese »allgemeine Selektionsregel des Rational Choice« aus? Die Abschwachung von »maximizing« zum »satisfying«, die Esser (1991a: S. 440) im Anschluss an Riker/Ordeshook (1973: 21-23) vornimmt, hilft hier nicht viel, denn an der angegebenen Stelle (S. 23) lesen wir: »Unless we ask decision makers to play God, maximizing and satisficing are the same thing.« Esser kann jedoch und will sich auch nicht der nun offen liegenden Problematik der zwei unterschiedlichen Selektionslogiken verweigern und strebt einen Kompromiss an, indem er einen »zweistufigen Prozess« einfiihrt (Esser 1991a: S. 440 f.). Er lasst Routinen und Relevanzstrukturen mit ihrer Eigenlogik als »habits« und »frames« zu, allerdings ^°°In diesem Sinne ist wohl auch Essers Betonung der entlastenden Funktion von Routinehandlungen zu verstehen. (Esser 1991a: S. 438 £., 443).
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unter der Annahme, dass die Entscheidung zur Anwendung von Routinen (habits) bzw. Relevanzen (frames) im Prozess der rational choice erfolgt.^°^ Damit aber wird die eingeschrankte Erklarungsfahigkeit des RC-Modeils klar ans Licht gebracht. Im Fall der habits bedeutet die Annahme, ihre Ausfiihrung gehe auf eine rationale Wahl zuriick, entweder, dass man sich entscheiden muss, iiber den Handlungsverlauf nicht zu entscheiden, oder sie ftihrt dazu, dass eine »unreflektierte Wahl« angenommen werden muss, wofiir Esser (1991a: S. 442) pladiert. Was auch immer empirisch der Fall sein mag, erkenntnistheoretisch wird klar, dass die Annahme einer RC-Selektionslogik hier keinen Erklarungswert mehr hat. Nachdem in einer »unreflektierten Wahl« weder ein Entwurf noch eine Evaluierung von Zielen und Mitteln - und welchen Gesichtspunkten auch immer stattfinden kann, muss die Erklarung eines routinemaCigen Handlungsablaufs aus der Typik des Orientierungsmusters, dem die Handlung folgt, erfolgen.^^^ Dasselbe Problem stellt sich auch im Falle der »frames«. Hier ist die Annahme der Moglichkeit, dass Handelnde einen Rahmen - im Sinne Goffmans (Goffman 1973: S. 21 ff., 40 ff.) - wahlen oder interaktiv herzustellen suchen, nicht vollig unrealistisch. Wenn man jedoch »frames« mit Relevanz im Schiitz'schen Sinne gleichsetzt (Esser 1991a: S. 440 ff.), dann miisste man auch »auferlegte« Relevanzen beriicksichtigen, also solche, die dem Handelnden in der Interaktion und von der Situation her aufgedrangt werden und den Rahmen seines Handelns vorgeben (Schiitz 1972: S. 94 ff., 2004a: S. 90 ff.). Hier wird man nicht von einer Wahl sprechen konnen. Selbst wenn Weber'sche Idealtypen des Handelns als reale »frames« von Handlungen bestimmt werden (Esser 1991a: S. 442 ff.), muss die angenommene Wahl zwischen ihnen auf die Ebene einer »spontanen Orientierung an bestimmten frames« gelegt werden (Esser 1991a: S. 442). Damit gilt fiir das Erklarungsvermogen des RC-Modells in Bezug auf die »frames« dasselbe, das oben fiir die »habits« aufgezeigt ^°^Zu dem Modell von »Frames« und »Habits« siehe ausfiihrlich Esser (1990). ° Wiirde man die Unterlegung des habitualisierten und routinisierten Handelns durch die RC-Selektionslogik oder durch beliebiges anderes Wahlverhalten faktisch annehmen, miisste man davon ausgehen, dass kompetente Mitglieder einer kulturellen Lebenswelt miteinander als Fremde im Schiitz'schen Sinne interagieren (Schiitz 1972: S. 66 ff.). Zu erklaren ware dann, warum sie das nicht tun.
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wurde.^^^ Auch die Fragen »warum gelten die institutionellen Regeln? [...] Was sind die Selektionsregeln fiir institutionalisiertes Handeln?«, mit welchen Esser (1991a: S. 442) die Notwendigkeit begriindet, die Geltung von Webers Idealtypen zu hinterfragen, scheinen in einer interaktionistischen Theorie der Konstitution von sozialen Lebenswelten eher beantwortbar zu sein als auf der Ebene eines unreflektierten bzw. spontanen rationalen Wahlens.204 Angesichts des Gesagten wird offensichtlich, dass die im Schiitzschen Ansatz angelegte methodologische Kritik an dem RC-Modell auch gegeniiber seiner »modernen« Variante aufrechterhalten werden kann, ja muss. Diese Kritik bedeutet allerdings - wie wir sahen - keine pauschale Ablehnung. Auf die Frage, ob eine Handlungstheorie angesichts der Strukturen des alltagHchen Handelns noch eine andere Erklarungslogik aufier jener des RC-Modells verfolgen muss, muss differenziert geantwortet werden. Wenn unter Erklarungslogik schlicht die formallogisch stimmige Konstruktion von wissenschaftlichen Handlungsmodellen verstanden wird, der auch das RC-Modell unterliegt, heifit die Antwort »nein«. Wenn aber Erklarungslogik als die angenommene immanente Selektionslogik eines Handlungsmodells begriffen wird, dann erweist sich die Erklarungskraft des RC-Modells als beschrankt und das Heranziehen einer die Selektivitat der lebensweltlichen Typik- und Relevanzstrukturen erklarenden Theorie als notwendig. Ebenso differenziert kann die Bewertung von Essers These vorgenommen werden, laut welcher die >Strukturen der Lebenswelt< die Prinzipien einer >rationalen Wahl< in keiner Weise aufier Kraft setzen bzw. dass das ^°^Bemerkenswert ist hier, dass Esser mit diesem Argument exakt die Figur wiederholt, die Mises gegen Max Weber bereits in seinem Aufsatz »Soziologie und Geschichte« von 1929 vorbrachte (vgl. Mises 1933: S. 82) und an der Schiitz seine Argumentation bereits ausrichtet. ^^'^Die Behandlung des Problems vorpradikativer Bewusstseinsakte, auf welches Esser bei der Weiterentwicklung seines Modells sto£t, fiihrt iibrigens tief in das philosophische Denken hinein, wo sie insbesondere in der Phanomenologie eine lange Tradition hat (vgl. etwa Husserl 1972,1974). Hier wird wieder einmal deutlich, wie eng soziologische Theoriebildung mit philosophischen Fragestellungen verwoben ist. Es ist daher kein »philosophischer Ballast« (Esser 1991: S. 7), wenn Schiitz im »Sinnhaften Aufbau« diese Fragen zu klaren sucht, bevor er »deutlich systematisiert« antworten kann.
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Alltagshandeln sich problemlos mit den Mitteln der RC-Theorie modellieren lasst (Esser 1991a: S. 442). Wenn damit gemeint ist, dass im Rahmen der RC Theorie idealtypische Modelle rationalen Handelns aufgestellt und zur Erklarung des AUtagsverhaltens mit Nutzen angewandt werden konnen, dann kann dem unter zwei Bedingungen zugestimmt werden. Erstens: Die im Modell verwendeten Randbedingungen bleiben »alltagsnah«. Zweitens: Die von Schiitz geforderte Regel muss gelten, der nach rational konstruierte Handlungsmodelle das von ihnen abweichende Handeln nicht auch als rational im Sinne des Modells erklaren diirfen. Wird dies befolgt, so lasst sich durch die Anwendung solcher Modelle anders verlaufendes Handeln sichtbar machen, und einer seinem Verlauf adaquateren Erklarung zufiihren. Werden diese Grenzen iiberschritten, dann wird - wie wir sahen - das RC-Modell fiir die Erklarung des Handelns bedeutungslos. Ganz anders sahe die Sache aber aus, wenn mit Essers These gemeint sein sollte, dass das RC-Modell als konstituierendes Prinzip der sozialen Wirklichkeit im Schiitz'schen Sinne angenommen werden konne. Diese Tendenz ist in Essers Auffassung des RC-Modells beobachtbar. Wenn jedoch die selektive Logik des RC-Modells den Mechanismen der Konstitution sozialer Wirklichkeit als die sie bewegende Handlungsdynamik unterstellt wird (Esser 1991: S. 50), dann wird - abgesehen von allem anderen - eine Entscheidung getroffen, die die Forschungsoptik der sie treffenden Soziologen betrachtlich einengt: Weder bekommen sie dann die interaktiven und kommunikativen sozialen Prozesse in den Blick, aus welchen die soziale Ordnung hervorgeht, noch sind fiir sie die darin angelegten Institutionalisierungsmechanismen ein Thema. Im Gegenteil: Die empirische Forschung, die danach sucht, »besteht nicht« - wie sie glauben - »aus der Beantwortung von soziologischen Fragen« (Esser 1991a: S. 444, Anm. 12). Doch werden gerade hier die »Randbedingungen« genau erforscht, auf deren exakte Kenntnis das »gelockerte« RC-Modell angewiesen ist, weil sie die »Gewichte« darstellen, die seine Mechanik in Gang setzen. Durch die prinzipielle Gleichsetzung der RC-Selektionslogik mit der Dynamik dieser Prozesse wird ihr wirkliches Funktionieren grofitenteils ausgeblendet. Der Zugang zu adaquaten »Randbedingungen« bleibt
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versperrt. Schlimmer noch - wo die Antworten von vornherein klar sind, dort gibt es kein Fragen mehr. Dort horte dann die Wissenschaft auf und der Weg zum Dogma ware beschritten. Gegen diese Tendenz ist kein paradigmatischer Ansatz gewappnet - weder jener der RC-Theorie noch der von Alfred Schiitz. Dagegen hilft nur die Infragestellung aus anderen Perspektiven, durch weiche eingefahrene Rezeptionsmuster hinterfragt und neue Anschlussstellen aufgezeigt werden. Einen fundierten Beitrag dazu hat Esser zweifellos vorgelegt. Literatur Eberle, Thomas S. (1988): Die deskriptive Analyse der Okonomie durch Alfred Schiitz. In: List/Srubar (1988), S. 68-121. Esser, Hartmut (1990): »Habits«, »Frames« und »Rational Choice«. Die Reichweite von Theorien der rationalen Wahl (am Beispiel der Erklarung des Befragtenverhaltens). Zeitschrift fiir Soziologie 19 (1990), S. 231-247. - (1991): Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhaltnis von erklarender und verstehender Soziologie am Beispiel von »Rational Choice«. Tubingen: Mohr. - (1991a): Die Rationalitat des Alltagshandelns. Eine Rekonstruktion der Handlungstheorie von Alfred Schiitz. Zeitschrift fiir Soziologie 6 (1991), S. 430-445. Goffman, Erving (1974): Frame Analysis, London: Harper and Row. Helling, Ingeborg (1988): Alfred Schiitz, Felix Kaufmann, and the Economics of the Mises Circle: Personal and Methodological Continuities. In: List/Srubar (1988). S. 43-68. Husserl, Edmund (1972): Erfahrung und Urteil. Hamburg: Meiner (erstmals 1939). - (1974): Formale und Transzendentale Logik. In: Husserliana Vol. XVII. Den Haag: Nijhoff (erstmals 1929).
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7. Die (neo-)utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit »Wenn jeder alle seine Anschauungen selbst bilden und die Wahrheit aufallein von ihm gebahnten Wegen suchen wollte, ware es nicht wahrscheinlichy dass eine grofie AnzahlMenschen sich jemals in irgendeinem gemeinsamen Glauben vereinigen wurde«. (Alexis de Toqueville, Uber die Demokratie in Amerika) Essers Buch »Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhaltnis von erklarender und verstehender Soziologie am Beispiel von >Rational Choice<« (Esser 1991) eroffnet eine Debatte wieder, die schon im Rahmen des Methodenstreits in der deutschen Okonomie vor etwa einhundert Jahren gefiihrt wurde, und die - wenigstens fiir die Soziologie - spatestens seit Parsons' »Structure of Social Action« (Parsons 1937) als ausgetragen gait. Indem Esser den »Rational Choice«-Ansatz (RC) der verstehenden Soziologie von Alfred Schiitz gegeniiberstellt und letztere auf die Grundlagen eines rational nutzenmaximierenden Entscheidungsmodells zu iiberfiihren sucht, stellt er auch erneut die damalige Frage in den Raum: Kann ein Modell okonomischen Handelns, das von subjektiver Nutzenmaximierung und rationaler Wahl von Zwecken und Mitteln ausgeht, als ein universelles Handlungsgesetz gelten und somit die theoretische Grundlage fiir die sozialwissenschaftliche Erklarung sozialer Tatbestande liefern? Auf diese Frage gab Parsons, aber vor ihm bereits auch Alfred Schiitz in seinem »Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« (Schiitz 2004, erstmals 1932), eine vernemende Antwort.2°5 Gibt uns Essers Buch Anlass dazu, diese negative ^°^Eine neuere sorgfaltige Rekonstruktion des Parsons'schen Arguments siehe in Joas (1992: 19 ff.). Zur Schiitzschen Position vgl. Srubar (1992), jetzt in diesem Band S. 383 ff.
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Antwort zu revidieren? Liefert der neuformierte RC-Ansatz gar eine der entzauberten, individualisierten Gegenwartsgesellschaft adaquate Konstruktionsmechanik, in der sich die soziale Wirklichkeit aus der Aleatorik von rationalen Entscheidungen Einzelner summiert?^°^ Die These des Erklarungsprimats okonomischer Handlungsmodelle ist verbunden mit dem methodologischen Individualismus der osterreichischen Okonomieschule, in dessen Kontext auch Alfred Schiitz stand. Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der inneren Logik dieser These, so erscheint eine Argumentationsstruktur, deren innere Paradoxie auch fiir das Verstandnis der gegenwartigen RC-Ansatze in der Soziologie erhellend ist. War fiir Carl Menger das »Dogma des Eigennutzes« eine der wichtigsten Grundlagen fiir eine »exakte Theorie der socialen Erscheinungen« (Menger 1883: S. 78 ff.), so stand es fiir ihn doch noch aufier Frage, dass dieses »Dogma« nicht ausschliefilich und nicht die Totalitat dieser Erscheinungen beeinflusst (Menger 1883: S. 78, 80). Immer wieder weist er, etwa unter Riickgriff auf Adam Smith' »Theory of Moral Sentiments«, auf die normativen Regulative des Handelns hin. Allerdings erklart bereits Menger diese »organisch« gewachsenen Regulative des Handelns als »unbeabsichtigte Resultate« des dem »Eigennutzdogma« folgenden individuellen Handelns (Menger 1883: S. 182). Dem nomologischen Erklarungsziel, das Menger verfolgte, wohnt so eine quasi monokausale Tendenz inne, die spater, etwa in der Praxeologie des Ludwig von Mises, in ein apriorisches Handlungsgesetz einmiindet, das den Anspruch erhebt, alles menschliche Handeln im Prinzip zu erklaren (Mises 1940: S. 14 f., 39 ff.). Bereits hier wird die ambivalente Stellung der rationalen Handlungstheorie gegeniiber der sozialen Wirklichkeit und ihrer Ordnung sichtbar: Einerseits wurden die unerlasslichen sozialen Bedingungen des Handelns theoretisch zugelassen, andererseits aber wurden sie aus dem Erklarungszusammenhang der rationalen Handlungstheorie verdrangt. Denn wenn auch die soziale Wirklichkeit weiterhin als eine Folge des Handelns gait, blieben sowohl der Prozess ihrer Konstitution als auch die handlungsregulierende, selektive Wirkung intersubjektiver Handlungsori^°^Dieses Verstandnis legt Becks Konzept einer »reflexiven Moclernisierung« nahe. Siehe Beck (1993).
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entierungen unthematisiert, well mit dem »aprIonschen Handlungsgesetz« ein vermelntlich ausreichender Selektionsmechanismus des Handelns feststand. Am erstgenannten Punkt setzt die Kritik von Alfred Schiitz an, der diesem Defizit seine pragmatische Konstitutionstheorie der Lebenswelt entgegensetzte,^°^ am zweiten entziindete sich bekanntiich die im Parsons'schen Theorieentwurf vorgebrachte Kritik. Aus diesem in der rationalen Handlungstheorie strukturell angelegten Erklarungsdefizit resultiert ihre eigentiimliche Skepsis gegeniiber den intersubjektiven, normativen Regulativen sozialen Handelns, die fiir die soziale Wirklichkeit sui generis und somit wohl fiir den Gegenstand der Soziologie schlechthin stehen. Im breiten Feld der RC-Theorie nimmt diese Skepsis deutliche, wenn auch recht unterschiedliche Formen an. In seiner radikalsten - sozusagen paleo-liberalen - Form begegnen wir ihr etwa bei Ludwig von Mises, bei dem sie - historisch verkleidet als liberale Abwehr totalitarer Gesellschaftsordnungen - in der altneuen These kulminiert, das rationale Handlungsmodell wiirde quasi automatisch demokratische Verhaltnisse hervorbringen, wenn nicht anders geartete gesellschaftliche Normensysteme es in seiner Funktion storen wiirden (Mises 1944).^°^ In einer anderen, wissenschaftlich geklarten Gestalt vollzieht sich der Ausschluss des Normativen aus dem Erklarungsbereich der RC-Theorie bei Jon Elster, der soziale Normen zwar als notwendige Elemente sozialer Ordnung anerkennt, ihre Konstitution aber ausdriicklich in dem von RC-Modellen ungeklarten (unerklarbaren?) Bereich der sozialen Realitat ansiedelt. Auch Elster, der Tradition folgend, halt soziale Normen fiir Mechanismen, die rationale Wahl als Handlungsprinzip behindern (Elster 1989: S. 150, 246 ff., 285 ff.).^^^ In seinem Opus magnum scheint auch James Coleman, haufig auf Hobbes verweisend, soziale Normen als etwas zu betrachten, was in die soziale Wirklichkeit bei Bedarf ^°^Zu der Rekonstruktion des Schiitz'schen pragmatischen Ansatzes sowie zu seiner Auseinandersetzung mit Parsons siehe Srubar (1988). ^°^Diese Transformation des Methodenstreits in einen Streit der Wekanschauungen kennzeichnet bekanntiich auch die Werke anderer namhafter osterreichischer Emigrees. Vgl. Popper (1958, 1979) bzw. Hayek (1959). ^°^Wobei Elster diese normative Behinderung der Nutzenmaximierung fiir zuweilen durchaus positiv halt.
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per Entscheidung eingefiihrt wird, und suggeriert so die Moglichkeit von sozialen Beziehungen und Handlungszusammenhangen, die frei von kontrafaktischen, intersubjektiv geteilten Erwartungen verlaufen konnten (Coleman 1990: S. 249 ff., 286 f.). Die ambivalente Beziehung zu den normativen und kulturellen Momenten soziaier Ordnung fiihrt also in der gegenwartigen Weiterentwicklung des RC-Ansatzes zu einer charakteristischen doppelgleisigen Theoriestrategie: Einerseits werden diese Momente als Faktoren der sozialen Ordnung anerkannt, andererseits wird aber angenommen, dass sie fur die »eigentliche« Erklarung dessen, wie soziale Ordnung zustande kommt, doch zweitrangig oder gar vernachlassigbar sind. In typischer Weise kommt diese theoretische Ambivalent in Adam Przeworskis RC-orientierten Analysen der Transformationsprozesse totalitarer Gesellschaften zum Ausdruck: »I am not claiming that normative commitments to democracy are infrequent or irrelevant, only that they are not necessary to understand the way democracy works« (Przeworski 1991: S. 24).2io Mit der in der Erklarungslogik des RC-Arguments angelegten Tendenz zum Ausschluss des Sozialen^ ^^ muss sich auch der von Esser prasentierte Ansatz auseinandersetzen. Esser ist sich der reduktionistischen Tendenz des von ihm vertretenen Modells wohl bewusst. Er ist daher einerseits bemiiht, den soziologischen Erklarungsbereich seiner Variante der RC-Theorie nicht zu eng zu fassen. Im Gegenteil, sein Ziel ist es, die Selbstorganisation und die Evolution soziaier Systeme sowie die Eigendynamik sozialen Wandels zu erklaren, um so zur Aufklarung gesellschaftlicher Steuerungsprobleme beizutragen (Esser 1991: S. 49). Dem von Esser angepeilten Bereich der Selbstorganisation soziaier Wirklichkeit gehoren explizit die sozialen, d.h. auch die normativen Bedingungen des ^^°Die theoretische Ambivalenz, ja geradezu Verlegenheit beziigHch der kulturellen und normativen Ordnung der sozialen Wirklichkeit setzt sich in der von Przeworski diesem Satz angefiigten Fufinote fort: »This assertion does not imply that culture does not matter. Culture is what tells people what to want; culture inforces them what they must do; culture indicates to them what they must hide from others. I take it as an axiom that people function in a communicative and moral context.« ^^^Die Tendenz aller RC-Ansatze, das Soziale aufzulosen, stellt z.B. Kappelhoff (1992) fest.
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Handelns samt ihrer Entstehung an (Esser 1991, S. 44). Andererseits versucht Esser sein RC-Handlungsmodell zwischen dem handlungsrationalen homo oeconomicus und dem normativen homo sociologicus anzusiedeln. Er behalt die okonomlstischen Annahmen von Rational Choice bei, die sich in der utiHtaristischen Anthropologie eines RREEMM-Menschen^^^ niederschlagen, stattet aber in Schiitz'scher Manier seine Akteure qua homuncuii mit sozialen Identitaten, subjektiven Wissensvorraten, Routinten (habits) und Relevanzsystemen (frames) aus (Esser 1991: S. 61 ff.; 1991a: S. 440 f.). Damit sucht er den an die Adresse der RC-Theoretiker gerichteten Vorwurf, sie trieben eine Soziologie ohne Sinn, zu entgehen (Esser 1992: S. 135). Das reduktionistische Dilemma des RC-Ansatzes ist allerdings damit nicht ausgeraumt. Es spiegelt sich in Essers Hauptthese wieder, laut welcher die Einfiihrung der Sinndimension in das RC-Modell an der ausschliefilichen Geltung der Logik der subjektiven Nutzenmaximierung (SEU), durch die die Selektion von Handlungen und ihrer Orientierung erfolgt, nichts andert (Esser 1991:S. 73; 1992: S. 137). Dass dem in Essers Ansatz so ist, ist allerdings kein »Sieg« der RC-Theorie, sondern ihr chronischer, uns bereits bekannter Mangel: Sie lasst auch in ihrer Esser'schen Gestalt die Selektivitat der intersubjektiv entstehenden Sinndimension sozialer Realitat gelten, zwingt sie aber nach wie vor unter die Selektivitat subjektiver Nutzenmaximierung. Damit wird die von Esser angestrebte Abkoppelung von Situations-, Selektions- und Aggregationslogik (Esser 1991: S. 46 ff.) konterkariert. Die Selektivitat von Situationen und von kollektiven Phanomenen (Aggregationen) ist nun doch nur als Folge der nutzenmaximierenden Selektivitat zu begreifen. Die Konsequenz davon ist, dass auf der Mikroebene der individuellen Handlungsentwiirfe die Orientierung an intersubjektiv geltenden Situationsrahmungen und Handlungsmustern als eine spontane oder gar als eine unreflektierte Wahl aufgefasst werden muss (Esser 1991a: S. 442). Auf der Makroebene entsteht das Mysterium der Aggregation, die sich einerseits als kollektives Phanomen nicht allein aus dem Handeln der Akteure ^ RREEMM steht fiir »resourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing Man« (Esser, 1991: S. 52).
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ableiten lasse (Esser 1992: S. 133), andererseits aber doch nur in diesem, letztendlich nutzenmaximlerenden Handeln hervorgebracht werde (Esser 1992: S. 141). Das den Gegenstand der Soziologie konstitulerende Geheimnis der unsichtbaren Hand, die aus Individuellem Soziales schafft, wird zwar so sichtbar, aber nicht geliiftet. Der Blick auf die Selektionslogik dieses Prozesses bleibt einer RREEMM-Anthropologie verstellt, in der die Genese der Sinnstruktur des Handelns auf die nutzenmaximierende Evaluierung wahrgenommener Situationen und damit letztendlich auf subjektive Bewusstseinsakte hinauslauft. Damit stiinde Esser einem bewusstseinsphanomenologischen Ansatz naher, als seiner Theorie wohl lieb sein kann. Die soziologische Behandlung des Problems der unsichtbaren Hand verlangt nach der Verlagerung der Sinnkonstitution von der Bewusstseinsebene auf die Ebene des sozialen Handelns. Das bedeutet aber, dass sich auch die erklarende Logik der Handlungsselektion von der Ebene subjektiver Kalkulation auf die Ebene der in der Interaktion entstehenden Verkettungen von Handlungsanschliissen verlagern muss, auf deren Basis inter subjektive Erwartungen und Handlungsorientierungen entstehen. Auf dieser Selektionsebene - das zeigen sowohl die interaktionistischen, die phanomenologischen als auch die systemtheoretischen Untersuchungen zum Thema iibereinstimmend - hat aber der Akteur die Sinnorientierung seines Handelns nie allein in der Hand. Sie ist von kommunikativen Prozessen und von ihren institutionalisierten Resultaten abhangig. Diese Prozesse konnen nicht per maximierender Entscheidung ausgesetzt oder eingefiihrt werden: Sie stellen einen immer prasenten Bestandteil sozialer Ordnung dar. Die Erwartungen des RREEMM-Menschen sind so mehrfach durch die Selektivitat (intersubjektive Sinnsetzung und ihre Institutionalisierung)^^-^ ihres sozialen Konstitutionsprozesses gebunden. Die Einfiihrung der Sinndimension in eine soziologische Theorie, die die Konstitution sozialer Ordnung vom Handeln her thematisieren will. ^^^Wobei sowohl die Differenz als auch der konstitutive Zusammenhang zwischen Prozessen primarer (alltaglicher) und sekundarer (etwa formal organisierter) Institutionalisierung Beachtung finden miissen. Vgl. etwa Goffman (1973) aber auch Foucault (1973 und 1977), Bourdieu (1984) oder Elias (1977).
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setzt also voraus, dass die Konstitution dieser im sozialen Handeln entstehenden Selektivitat geklart wird. Genau die Klarung wird aber durch die Annahme einer RREEMM-Axiomatik ersetzt und somit zugedeckt. Der blinde Fleck der Beobachtung der Konstitution sozialer Ordnung mit den Mitteln des okonomistischen Referenzschemas des RC-Modells wird nunmehr augenscheinlich. Die diesem Modell eigene, solipsistische Anthropologie blendet die aus der natiirlichen Kiinstlichkeit des Menschen entspringende Sozialitat seines Weltzugangs vollig aus. Symbolische Interaktion, darstellendes Verhalten und Kommunikation als Prozesse der Konstitution von Sinnwelten, deren Selektivitat den Rahmen und somit die Voraussetzung fiir das Fungieren der drei Esser'schen Logiken darstellt, bleiben infolgedessen fiir das Erklarungspotential dieser Logiken unerreichbar. Die Aggregationslogik, die hier die Aufklarung der sinnkonstituierenden »unbeabsichtigten Folgen« individuellen Fiandelns iibernehmen miisste, verfolgt eher das Programm einer Simulation von Moglichkeiten, die die Chancen der Summierung von Einzelentscheidungen in einer Situation angeben und damit die Transformation individuellen Handelns in »kollektive Effekte« klaren woUen. Fiir diese Simulation ist allerdings nach wie vor die Kenntnis der »Geltung von Regeln und Konventionen«, die den Sinnrahmen von Situationen angeben, vonnoten (Esser 1991: S. 47), und so wird das Problem der »unsichtbaren Hand«, die dieses schafft, nur verschoben, aber keineswegs aufgehoben. Wenn Esser dann die Erforschung der Genese von Sinnordnungen und ihrer Bedeutung fiir die Orientierung sozialen Handelns mit ethnomethodologischen und konversationsanalytischen Ansatzen schlichtweg identifiziert, die fiir ihn nicht einmal eine Mikro-, sondern gleich eine Picosoziologie darstellen (Esser 1992: S. 141), so zeigt dies an, dass die makrosoziologische Bedeutung dieser Problematik - fiir die immer noch die Weber'schen Studien zur Religionssoziologie einen guten Beleg darstellen - nach wie vor in der durch einen okonomischen Reduktionismus gepragten Perspektive der RC-Theorie schwer wahrnehmbar ist. Die aus dem 19. Jahrhundert mitgeschleppte Axiomatik scheint so die Integration soziologischer aber auch anthropologischer und ethologischer Erkenntnisse in den RC-Ansatz nur selektiv zu ermoglichen; Essers Buch legt
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selbst Zeugnis davon ab, wie lange an dem sperrlgen okonomistischen Erbe geschliffen werden muss, bis Anschlussfahlgkelt liber die Grenzen des Ansatzes hinaus hergestellt werden kann. In der Ausfiihrung des RC-Modells - selbst in seiner ausdifferenzierten Form, die Esser zweifellos bietet - werden also Erklarungsgrenzen sichtbar, die auf seine okonomistische Grundlage zuriickgehen. Doch gerade der in dieser Grundlage beschlossene Reduktionismus stellt den geheimen Charme des Ansatzes dar: Da ihm kein anderes ordnendes und erklarendes Selektionsprinzip als das okonomische zur Verfiigung steht, steht er unter dem Zwang, Selektionswirkungen, die offensichtlich nicht auf dieses Prinzip zuriickgehen, doch letztlich als Folgen von Rational Choice zu deuten. Infolgedessen erscheint ihm die Eigendynamik sozialer Wirklichkeit und des sie konstituierenden Handelns als in der Reflexion auflosbar und durch Umbau von Entscheidungsbedingungen gar als kontrolliert beeinflussbar. Diese aufklarerische Komponente des RC-Ansatzes, die ihn mit seinem kollektivistischen Weggenossen - dem marxistischen Okonomismus - verbindet, schlagt sich in der beobachtbaren Praferenz seiner Autoren fiir sozialmechanische Ausdrucksweisen (so etwa Elsters »Nuts and Bolts«^^'^) und fiir sozialtechnische Anwendungstendenzen nieder (Esser 1991: S. 49; Coleman 1990: S. 650 ff.). Dieses Versprechen eines sozialwissenschaftlichen Steuerungskonstruktivismus trifft sichtbar auch auf ein Bediirfnis der Zeit. Der globale Sieg der Marktwirtschaft scheint ihrer handlungstheoretischen Quintessenz einen universalen Charakter zu verleihen. Zugleich haben die Wende im Osten Europas sowie die Rezession und die Verteilungskampfe in der westlichen Welt die Glitzerschicht der Postmoderne weggeblasen. Angesichts der um ihre Neuintegration ringenden Gesellschaften treten Individualisierung, Selbstverwirklichung und Aleatorik der Lebensstile, die, auf der Oberflache der westlichen Gesellschaften schillernd, die Soziologie der satten Jahre beschaftigten, zuriick. Sie geben den Blick frei auf die klassischen gesellschaftlichen Integrationsmechanismen der Wirtschaft, der Herrschaft und ihrer sinnhaften Legitimation. Das Problem der Erhaltung sozialer Ordnung auf dem durch die Moderne erreichten ^^'^Obwohl Elsters weise Skepsis diese Tendenz wieder abmildert (Elster 1989a: S. 167 ff.).
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Niveau eines Rechts- und Sozialstaats im Westen bzw. der Wunsch, eine solche Ordnung zu erreichen im Osten, machen fiir eine Theorie empfindlich, die verspricht, die Komplexitat dieser Aufgaben in kalkulierbaren Entscheidungsprozessen rationalen Handelns aufzulosen und die den Anspruch erhebt, dieses durch computerunterstiitzte Modeilbildung auch steuerbar zu machen. Inwiefern die RC-Theorie diesem Desiderat des Zeitgeistes entsprechen kann, sei der Priifung der Zeiten iiberlassen. Zu zeigen ist hier iedigiich, dass der Anspruch, eine rational beherrschbare Handlungsmechanik zu entwickeln, notwendigerweise innerhalb ihres okonomistischen Erklarungskerns zu Aporien fiihrt. Die technisch-manipuiative Intention der Theorie wiirde sich gegen die ihr zugrunde Hegende RREEMMAnthropologie wenden und sie in ihr Gegenteil verkehren. Die Annahme des »restricted« aber doch »resourceful man« wurde entwickek, um gegen den von aufien durch soziale Zwange gesteuerten »homo sociologicus« zu argumentieren. Eine auf das RC-Modell gestiitzte Steuerungstheorie hefe Jedoch notwendigerweise auf die Entwicklung von Soziahechniken hinaus, die den RREEMM-Menschen zum Objekt der SoziaHngenieure machten. Das Ziel einer soichen angewandten RC-Theorie miisste es dann sein, jene ungewoUten Foigen - d.h. auch Sinnorientierungen ~ des individuellen Handelns aufzuheben bzw. gar nicht zustande kommen zu lassen, die ihrer - der Theorie - Vorstellung liber das Funktionieren von Gesellschaften zuwiderlaufen konnten. Sie miisste, mit Popper gesprochen, als »technologische Sozialwissenschaft [...] Mittel zur Vermeidung solcher unrealistischen Konstruktionen schaffen« (Popper 1979: S. 37). An diesem im RC-Modell stillschweigend mitgedachten »Widerstand« des Gegenstandes zeigt sich aber klar, dass die »ungewollten Handlungsfolgen« in der Reflexionsschleife der RC-Theorie nicht aufzulosen sind, dass also der Gegenstand »soziale Realitat« dieser Theorie in vorgegebener Weise nicht folgt. Den Nutzen des RC-Ansatzes wird man so nicht im Bereich des social engineering suchen, sondern dort, wo er als Mittel der Forschung seine Dienste anbietet. Hierher gehoren zunachst die entwickelten Techniken der Konstruktion und der Modellierung rationaler Handlungstypen.
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Einen weiteren wichtigen Beitrag muss man darin sehen, dass er - in ahnllcher Weise wie die phanomenologische Soziologie einst fiir die unreflektierte Ubernahme alltaglicher Typisierungen in die soziologische Theoriebildung sensibilisierte - unreflektierte Annahmen iiber Entscheidungssituationen aufdecken und ihre theoretischen Konsequenzen - im Rahmen seines Geltungsbereiches - formal aufzuhellen vermag. Beides sind Beitrage zur allgemeinen soziologischen Theoriebildung, auf die nicht verzichtet werden kann. Eine universale Begriindung sozialwissenschaftlicher Erklarung der Konstitution sozialer Ordnung kann jedoch das RC-Modell kaum leisten, weil es einen grofien Teil der Selektionsprozesse, die soziale Ordnung konstituieren und auf Dauer stellen, nicht abdeckt bzw. verhiillt. Versuche, die Grenzen seiner Geltung zu verwischen, indem man es zu einem universalen Erklarungsprinzip stilisiert, konnten lediglich dazu fiihren, dass sich die Selektionslogik des RC-Ansatzes in die Nahe jener Erklarungsprinzipien begibt, die Gregory Bateson definierte als »eine Art konventionelle Ubereinkunft zwischen Wissenschaftlern, die dazu dient, an einem bestimmten Punkt mit dem Erklaren der Dinge aufzuh6ren«. Mit solchen Prinzipien liefie sich - das demonstriert Bateson seinem staunenden Tochterchen am Beispiel von »Instinkt« - alles erklaren, was man nur mochte (Bateson 1985: S. 74). Literatur: Bateson, Gregory (1985): Okologie des Geistes. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zur Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1984): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Elias, Norbert (1977): Uber den Prozess der Zivilisation. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Elster, Jon (1989): The Cement of Society. A Study in Social Order. Cambridge: Cambridge Univ. Press.
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III. Strukturen der Lebenswelt und Strukturen sozialer Ordnung
1. Lob der Angst vorm Fliegen. Zur Autogenese sozialer Ordnung I. Das Problem der Autogenese als klassische Frage der Soziologie Die Gesellschaft ist ein Menschenwerk. Diese seit Giambattista Vico (1992, erstmals 1725) selbstverstandliche Pramisse europaischer Gesellschaftsbetrachtung bezeichnet zugleich das Schliisselproblem der Soziologie: Wie bringen Menschen die Gesellschaft hervor? Die Annahme der Autogenese von Gesellschaften und die Frage danach, wie unter dieser Pramisse die Entstehung sozialer Ordnung moglich ist, konstituieren die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin.^^^ Resultate soziologischer Forschung lassen sich als Antwort auf diese generelle Frage lesen. In der Art der Antworten spiegelt sich nicht nur der Erkenntnisgewinn der Soziologie, sondern auch die Entwicklung ihres Gegenstandes, dessen zunehmende strukturelle Ausdifferenzierung die Erkenntnis des Selbstorganisationsprozesses bedingt. Bereits die friihen, aufklarerisch-emanzipatorischen Schritte der Sozialtheorie des 18. und des friihen 19. Jahrhunderts stiitzten sich auf die Annahme der Machbarkeit von Gesellschaften, indem sie die Frage nach dem Zustandekommen gesellschaftlicher Ordnung als eine in die Zukunft gerichtete voluntaristisch begriffene Organisationsfrage darstellten. Noch Marxens an der zu seiner Zeit sichtbar werdenden okonomischen Integration der biirgerlichen Gesellschaft orientiertes Entwicklungsmodell ist von der Vorstellung der Planbarkeit von Gesellschaften behaftet. Dies verstellt Marx den Blick fiir die systematische Bedeutung seiner fiir die Untersuchung der Selbstorganisation sozialer Ordnung wichtigen ^^^Vgl. dazu paradigmatisch Simmel (1968: S. 21 ff.), systematisch dann Luhmann (1981: S. 195 ff.).
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Entdeckung, dass sich die soziale Wirklichkelt als Produkt sozlalen Handelns den Intentionen der Handelnden gegeniiber verselbstandigt und den Akteuren als eine Art »zweiter Natur« entgegentritt (Marx/Engels 1973: S. 33 f., sowie Marx 1973: S. 517 ff.). Statt dies als ein notwendiges Moment in der Genese sozialer Ordnung zu generalisieren, historisiert Marx diesen Effekt bekanntlich durch den Begriff der Entfremdung als einen nur der kapitalistischen Gesellschaftsformation eigenen strukturellen Zwang. Systematisch gesehen gibt Jedoch diese Marx'sche Entdeckung der Frage »wie Gesellschaft von Menschen gemacht wird« ihre eigentliche soziologische Dimension: Wie geschieht es, dass menschliches Handeln Zusammenhange produziert, die ihm als seine intersubjektiven Regulative entgegentreten, die also das Soziale schlechthin ausmachen? Und wie ist der Zusammenhang zwischen Handeln und diesen seinen Regulativen beschaffen? Eine genauere Antwort wurde erst moglich, nachdem der fortschreitende Individualisierungsprozess der Moderne den Soziologen erlaubte, einen Blick auf die Strukturen sozialen Handelns unterhalb der Ebene sozialer Kollektiva zu werfen, die noch Marx als Bezugsgrofie dienten. Webers Postulat der subjektgebundenen Orientierung sozialen Handelns einerseits und Durkheims Betonung der sozialen Genese und des auferlegten Charakters der Muster dieser Orientierung andererseits heben die zwei Komponenten hervor, deren Synthese eine Losung des Problems der Autogenese bedeuten konnte. Der Mechanismus dieser Synthese, d. h. die Frage, wie aus dem Handeln seine iibersubjektiven Regulative hervorgehen, bleibt aber auch in diesen klassischen Paradigmen grofienteils unbeleuchtet. In beiden Ansatzen wird zwar eine sich gegenseitig bestimmende Verbindung von Handeln und seinen sozialen Regulativen im Sinne einer sozialen Ordnung vorausgesetzt. Die Tatsache dieser Verbindung wird jedoch bestenfalls empirisch nachvollzogen und bleibt in ihrer systematischen Bedeutung fiir die Frage »wie ist Gesellschaft moglich« unentdeckt. In der Folge bleibt etwa auch die fein gegliederte Handlungstheorie des friihen Parsons bei der Annahme eines anpassungsbediirftigen Individuums einerseits und eines sozialisierenden Systems von gesellschaftlichen Normen und Werten andererseits stehen (vgl. Parsons 1951: S. 26 ff.).
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Naher an das Problem der Autogenese heran fiihren die Betrachtungen der sozialen Ordnung als eines Resultats von Interaktionen, in welchen iibersubjektive Handlungsorientierungen erzeugt und zugleich internalisiert werden. In diesem Sinne antwortet bereits Simmel (Simmel 1968: S. 30) auf die Frage »wie ist Gesellschaft m6glich«, wenn er auf Vergesellschaftung durch soziale Wechselwirkungen verweist. Dezidiert wird diese Spur verfolgt von den phanomenologisch orientierten Ansatzen, beginnend mit Schiitz und parallel dazu von dem symbolischen Interaktionismus Mead'scher Pragung. Die dort entwickelten konstitutionstheoretischen Ansatze thematisieren soziale Ordnung als einen sinnhaften Handlungszusammenhang^^^, dessen Genese und praktische Reproduktion in der alltaglichen Interaktion aufzuspiiren ist. Das Problem der sozialen Ordnung erhalt somit eine handlungsbezogene Grundlage, die konstitutionstheoretische Annahmen selbst dort erzwingt, wo - wie im Falle der Parsons'schen »general theory of action« (Parsons/Shils 1951: S. 53 ff.; McKinney 1954) - das Problem der Autogenese der sozialen Ordnung zugunsten einer strukturell-funktionalen Betrachtungsweise in den Hintergrund tritt. Das langsame Einsickern der konstitutionstheoretischen Betrachtungsweise in die Definition des soziologischen Forschungsgegenstandes fiihrt so zu zunehmender Fokussierung des soziologischen Theoriedesigns auf das Phanomen der Autogenese als eines der fur die Erklarung der Konstitution sozialer Wirklichkeit zentralen Probleme. Die in den handlungstheoretischen Ansatzen immer prasente und in den phanomenologischen sowie in den symbolisch-interaktionistischen Ansatzen besonders betonte Sinndimension der Flandlungsorientierung tritt dabei als Medium der sozialen Ordnungsprozesse in den Vordergrund. Zum Schliissel fiir die Losung des Problems der Selbstorganisation sozialer Ordnung werden dementsprechend die Untersuchungen der alltaglichen Kommunikation^^'^, des kommunikativen Handelns und seiner ^^^Auf den erheblichen Beitrag Max Webers fiir diese Sicht des soziologischen Gegenstandes muss hingewiesen werden. Vgl. dazu Srubar (1988: S. 13 ff.). ^^''So die ethnomethodologischen und konversationsanalytischen Ansatze sowie die Untersuchungen Goffmans und die von Berger/Luckmann ausgehenden sprachsoziologischen Ansatze. Vgl. dazu etwa Psathas (1979), Schenkein (1978), Goffman (1971, 1974, 1977, 1981), Berger/Luckmann (1970), Luckmann (1973, 1989).
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strukturierenden Rolle in der Evolution von Gesellschaften iiberhaupt (Habermas 1981), bzw. der Kommunikation »pur« (Luhmann 1984). Diese Betonung der konstitutiven Rolle der Kommunikation fiir die Autogenese sozialer Ordnung erm5glicht ein produktives Ankniipfen an Resultate von nicht-soziologischen, insbesondere systemtheoretischen, biologischen und ethologischen Forschungen, die die Kommunikation als Prinzip der Selbstorganisation von Systemen aller Art thematisieren.'^^^ Wie inspirierend diese Ansatze auch sein mogen - es darf nicht, trotz Luhmanns autopoietischer Gegenargumentation^^^, dariiber hinweggesehen werden, dass ihre Kompatibilitat mit der Frage nach der Genese sozialer Ordnung auf dem handlungstheoretischen, genauer auf dem handlungs- und konstitutionstheoretischen Bezugsrahmen des Autogeneseproblems beruht. Man kann natiirlich diese Kompatibilitat so deuten, dass sich hier ein allgemeines Ordnungsschema am besonderen Fall der sozialen Ordnung realisiert. Damit wird aber eine theoretische Entscheidung getroffen, die dem Prozess der sozialen Selbstorganisation im Voraus ein Ordnungsmuster auferlegt. Eine so begriffene Kompatibilitat macht es dann auch moglich, die soziale Wirklichkeit im theoretischen Instrumentenflug hoch iiber den Wolken systemtheoretisch und subjektlos zu konstruieren (Luhmann 1984: S. 13). Gibt es aber nicht gute Griinde, einem solchen Flug nicht ganz zu trauen, insbesondere, wenn es sich in seinem Verlauf zeigt, ^^^Die Affinitat von Handlungs- und Systemtheorie befliigelte bereits Parsons (1951), der alierdings von dem Problem der Autogenese nur die Frage nach der funktionalen Bestandssicherung wahrnahm und mit seinem Konzept des Equilibriums beantwortete (Parsons 1951: S. 481 ff.). Zu den fiir die neuere Betrachtung des Autogeneseproblems relevant gewordenen nichtsoziologischen Ansatzen vgl. etwa v. Foerster (1960), Maturana/Varela (1980), v. Eigen (1971), Prigogine (1977), Bateson (1972, 1982); zu der daraus resultierenden Kommunikationsauffassung siehe z. B. Hejl u. a. (1978). ^^^Diese sei hier stichwortartig zusammengefasst: Die Autogenese sozialer Ordnung erfolgt auf Sinnbasis in Form von Kommunikation. Kommunikation ist ein autopoietisches Geschehen, weil sie ihre Elemente (Handlungen) sowie ihre Struktur durch ihren Ablauf selbst hervorbringt. Da weder Subjekte noch ihre Bewusstseinsleistungen als Produkte der Kommunikation gelten konnen, gehoren sie nicht der Autopoiesis sozialer Ordnung an, d. h. sie bleiben als Umwelt sozialer Systeme aus der Autogenese der Systemordnung ausgeschlossen (Luhmann 1984: S. 236, 240, 286 ff., 346 ff.). Zur interaktionistischen Kritik an Luhmann siehe etwa Haferkamp (1987).
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dass auf die Frage, woran denn das kommunikative Funktionieren der Selbstorganisation sozialer Ordnung beobachtbar sei, die Antwort nach wie vor lautet: an der Handlung selbst?^^°
11. Autogenese und Interaktion - Goffmans primarer Interaktionsrahmen Streng genommen miisste der Mechanismus der Selbstorganisation in jedem beliebigen Ausschnitt sozialer Interaktion zu entdecken sein; der ideale Ort fiir seine Beobachtung scheint jedoch die fliefiende, alltagliche, formal-institutionell nicht praformierte, in der Offentlichkeit ablaufende Interaktion zu sein, die somit einen geringen Grad von »Fremdvorstrukturierung« aufweist. Aus diesem Grunde bieten die Resultate von Goffmans Analysen der alltaglichen Interaktion ein geeignetes Material an, an dem sich die Sichtbarkeit der Autogenese sozialer Ordnung im Interaktionsverlauf iiberpriifen lasst."^^^ Sichten wir zuerst die Goffman'schen Ergebnisse unter dem Aspekt der Charakteristika von Handlungen als Indikatoren fiir Autogenese. Handlungen haben nach Goffman Zeichencharakter. Als »Beziehungszeichen« sind sie »Mittel, um in einer Situation eine Position einzunehmen und gleichzeitig zu bekunden, dass man dies getan hat« (Goffman 1974: S. 301). Diese Verweisungsfunktion von Handlungen erfiillt nicht nur eine wichtige Rolle fiir die Organisation der Interaktion im AUtag, sondern begriindet auch die Moglichkeit der wissenschaftlichen Beobachtung dieser Organisation schlechthin. Mit dieser Auffassung kniipft ^^°Luhmann (1984: S. 226): »Die wichtigste Konsequenz dieser Analyse ist: da£ Kommunikation nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden kann. Um beobachtet zu werden oder um sich selbst beobachten zu konnen, mufi ein Kommunikationssystem deshalb als Handlungssystem ausgeflaggt werden.« Ist es dann nicht berechtigt, den deduktiven Spiefi umzudrehen, um die Frage konkreter zu stellen: Wo und vor allem wie lasst sich die Selbstorganisation sozialer Ordnung an der Handlung beobachten? Lassen sich gar ihre Grundziige durch Interaktionsanalysen - also induktiv enthiillen? ^^^Dabei stiitze ich mich vor allem auf Goffman (1961, 1963,1971, 1973, 1974, 1975, 1976, 1977).
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Goffman einerseits etwa an Mead an, andererseits aber an die ethologischen Forschungen Batesons, der zelgt, dass Handlungen Signale ihrer Interpretierbarkeit mitfiihren (Bateson 1972: S. 177 ff., 203 ff.). Worauf aber verweisen Handlungen als Zeichen? Die banale und nichtsdestoweniger richtige und wichtige Ant wort lautet: Sie weisen notwendigerweise auf einen Kontext hin, aus dem sie verstandlich werden. Diesen Kontext, der in Interaktion immer mitgegeben ist, belegt Goffman mit dem von Bateson iibernommenen Begriff des Rahmens (Bateson 1972: S.184 ff.; Goffman 1973: S. 23; 1977: S. 52).^^^ Die Merkmale des Rahmens machen die »Lesbarkeit« der Handlung aus. Rahmen und Handlung ergeben also die »soziale Information« (Goffman 1974: S.396 ff.), die den Interagierenden die Orientierung in Handlungssituationen ermoglicht. Dies ist umso wichtiger, als das Interaktionsgeschehen immer auf mehreren Handlungsund Sinnebenen verlauft, die Goffman als Handlungskanale bezeichnet. Eine der Funktionen des Rahmens ist es, deutlich zu machen, was in der laufenden Interaktion etwa ein Haupt- und was ein Nebenvorgang, bzw. was in dem jeweiligen Rahmen nicht anschlussfahig und daher zu ignorieren ist (Goffman 1977: S.607). Nicht weniger wichtig ist das Phanomen des Rahmens auch fiir unsere Fragestellung: »Rahmen« bedeutet sowohl ein Deutungsschema, als auch die Praktiken seiner Anwendung als Interpretations- und Gestaltungsmittel der Interaktion (Goffman 1977: S. 54, 274). Im Rahmen darf man also die Struktur und den Prozess vermuten, durch die die Anschlussfahigkeit von Handlungen bestimmt wird. Somit stellt der Rahmen einen prominenten Zugang zum Prozess der Autogenese dar: »Menschen haben eine Auffassung von dem, was vor sich geht, auf dies stimmen sie ihre Handlung ab, und gewohnlich finden sie sie durch den Gang der Dinge bestatigt. Diese Organisationspramissen, die im Bewusstsein und im Handeln vorhanden sind, nenne ich den Rahmen des Handelns.« (Goffman 1977: S. 274). Die Rahmenanalyse (Goffman 1977), jenes dem so definierten Problem des Rahmens eigens gewidmete Werk Goffmans, lasst allerdings eine wichtige, ja zentrale Frage offen - wie namlich der primare Interaktions^Zu der Entwicklung des Rahmenkonzepts bei Goffman siehe Hettlage (1991).
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rahmen beschaffen ist, dessen Modifizierungsmodi den Gegenstand der Rahmenanalyse ausmachen. Es ist nicht anzunehmen, dass Goffman so verfahren wiirde, hatte er in seinem der Rahmenanalyse vorgelagerten Werk keinen Aufschluss liber die Merkmaie des primaren Rahmens gewonnen. Tatsachlich geben uns die Arbeiten Goffmans Anhaltspunkte genug, die es erlauben, solche Merkmaie zu bestimmen. Versuchen wir also, die Gestalt des primaren Rahmens aus Goffmans Interaktionsanalysen herauszuarbeiten. Dabei wird natiirlich Goffmans Werk in den Kontext unserer Fragestellung »eingerahmt«. Denn unsere Suche nach dem Primat von Rahmeneigenschaften muss bereits bei solchen ansetzen, die den alltaglichen Praktiken vorgelagert sind, auf die also die alltagliche Rahmungspraxis eine meistens nicht reflektierte Antwort ist, auf die sie verweist, ohne sie direkt intendiert zu haben. Sie werden im Folgenden als strukturelle Eigenschaften oder Merkmaie bezeichnet.^^^ 1. Generative Interaktionsmechanismen Entscheidend fiir die Bestimmung der Merkmaie des primaren Interaktionsrahmens - und fiir unsere Frage nach der Sichtbarkeit der Autogenese wesentlich - ist die Bedingung, dass diese Merkmaie im Interaktionsgeschehen selbst emergent sein miissen. Die »Sichtbarkeit« des Rahmens, in der seine alltagliche Funktion liegt, ermoglicht zugleich - wie bereits bemerkt ^^^Die Stofirichtung, die hier in Goffmans Werk verfolgt wird, korrespondiert mit derjenigen der Ethnomethodologie und der Konversationsanalyse. Auch diese Ansatze fragen ja nach den formalen Strukturen alltaglicher Praktiken (Garfinkel/Sacks 1976: S. 140 f.), und es ist anzunehmen, dass sie nicht nur dabei einiges Goffman verdanken (vgl. dazu Widmer 1991). Ich verwende hier absichtlich den Begriff »strukturelle Merkmale«, um diese von den kompetenzgebundenen Rahmeneigenschaften abzuheben und so die Spezifika des Goffman'schen Ansatzes zu verdeutlichen. Denn obwohl diese Unterscheidung auch implizit bei Garfinkel und Sacks als die von situationsbezogenen Praktiken und ihrer formalen Eigenschaften gegeben ist, scheinen die ersteren dort keine ordnungskonstituierende Bedeutung (Garfinkel/Sacks 1976: S. 138) zu haben, sondern lediglich Trager und Garanten der Sichtbarkeit der letztgenannten zu sein. Daruber hinaus neigen Garfinkel und Sacks der Meinung zu, die formalen Eigenschaften seien restlos Produkte der Interaktion (Garfinkel/Sacks 1976: S. 141). Auch dies kann man mit Goffman differenzierter sehen, mit Konsequenzen fiir die Betrachtung der Autogenese, wie unsere Uberlegung zeigt.
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- auch seine wissenschaftliche Extrapolation.^^"^ Welches sind nun die allgemeinen strukturellen Merkmaie des primaren Interaktionsrahmens, seine basalen Eigenschaften also, aus Goffmans Sicht?^^^ Als erstes ist hier der Interaktionszwang zu nennen, den Goffman in seiner rudimentaren Form in der Analyse der nicht-zentrierten Interaktion beschreibt (Goffman 1963: S. 33 f.; 1974: S. 174 ff.). Hier wird deutlich, wie bereits die physische Nahe eines anderen gleichsam katalysatorartig einen Prozess aufeinander bezogener Organisation von Korperhaltung, Blickrichtung und »Engagements« hervorruft. Zugleich ist bereits diesem rudimentaren Interaktionsgeschehen eine involvierende Kraft eigen, die als ein »Situationssog« oder - wie Goffman sagt - als »Verpflichtung zum Engagement« die Handelnden in die Ordnung der ablaufenden Interaktion einbindet? (Goffman 1963: S. 24, 35 ff., 50 f., 156, 243, 242 ff.; 1971: S.125 ff., 142 ff.;1974: S. 117, 181 f.). Die zweite basale Eigenschaft des Primarrahmens, die wir bei Goffman vorfinden, wurde bereits thematisiert. Es ist der dem generellen Zeichencharakter des Handels entsprechende Kundgabezwang in der Interaktion. Dieses Rahmenmerkmal ist alltaglich so selbstverstandlich, dass seine Prasenz erst dann evident wird, wenn wir dem Zwang zu seiner Erfiillung ausgesetzt werden, ohne iiber die situationsadaquaten Mittel dazu zu verfiigen. Die Interaktionsverpflichtung verlangt nach einer anschlussfahigen Handlung, die, aus welchen Griinden auch immer, nicht moglich ist. Der Kundgabezwang hat also Ersatzhandlungen zufolge, in welchen das Handlungsunvermogen offenbar und thematisiert wird. In der sich derart manifestierenden Verlegenheit verortet Goffman sowohl die Evidenz dieses Zwangs als auch eine sozial vertragliche Verarbeitung des Unvermogens, ihn einzulosen (Goffman 1971: S. 114 ff.). Komplementar zum Kundgabezwang ist der Interpretationszwang und die damit verbundene generelle Ambivalenz als letzte basale Eigenschaft des primaren Interaktionsrahmens. Der Interpretationszwang wird ^^"^So konnte man das Prinzip Goffmans »naturalistischer« Methode (Goffman 1974: S. 17) umschreiben, das er mit den Verfahren der Ethnomethodologie teilt. ^^^Im Folgenden werden die von Goffman beschriebenen Phanomene erlautert, die als Eigenschaften des primaren Interaktionsrahmens anzusehen sind. Die zu ihrer Kennzeichnung verwendete Terminologie stammt jedoch vom Verfasser.
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von Goffman haufig beschrieben als die dem Individuum auferlegte Aufgabe, festzustellen, was in dem beobachteten Interaktionsgeschehen »eigentlich vorgeht«. Goffman zieht eine Verbindungslinie zwischen diesem Interpretationszwang und tierischem, auf absichernde Umweltbeobachtung gerichtetem Verhalten, und macht so auf den naturgeschichtlichen Hintergrund der basalen Eigenschaften aufmerksam (Goffman 1974: S. 300, 318 f.; 1977: S. 58). Der ethologische bzw. der anthropologische Bezug der hier genannten basalen Rahmeneigenschaften, auf den Goffman hinweist, bedeutet allerdings, dass diese Merkmale nicht als das Produkt der Interaktion selbst betrachtet werden konnen, wenn sie auch einzig in ihrem Vollzug im Interaktionsgeschehen ihre konkrete und wirkende Gestalt haben. Angesichts dieses ihren Charakters mochte ich sie hier als generative Interaktionsmechanismen bezeichnen.^^^ 2. Interaktionsregulative Es wurde bereits gesagt, dass die Struktur und der Prozess des Rahmens fiir die Autogenese insofern von grundlegender Bedeutung sind, als sie die Anschlussfahigkeit des Handelns bestimmen. Die beschriebenen basalen Eigenschaften des Rahmens auf die die Interaktion verweist, sind allerdings zu generell, als dass sie diese Funktion erfiillen konnten. Wir konnen jedoch in Goffmans Analysen noch eine Reihe von anderen strukturellen Rahmeneigenschaften finden, die auf einer anderen Ebene zu liegen scheinen als die basalen Rahmenmerkmale. Es ist die Ebene, auf der sich die »Uniformitat, Reproduzierbarkeit, wiederholtes Auftreten, Standardisierung usw. offenbaren«, d. h. jene Merkmale, auf die auch die Ethnomethodologie und die Konversationsanalyse bei ihrer Suche nach den formalen Eigenschaften alltaglichen Handelns zielen (Garfinkel/Sacks 1976: S. 140). Allerdings hat es bei Goffman den Anschein, dass die generativen Interaktionsmechanismen auf dieser Ebene gewisse Interaktionsregulative implizieren, bzw. dass sie in der Interaktion in Form von solchen Regulativen umgesetzt werden. Die in dieser Umset^^^Es ist nicht zu iibersehen, dass Goffmans Analyse dieser Mechnismen jenes Phanomen umfasst, das in der Sytemtheorie als das Problem der »doppelten Kontingenz« erkannt wird (vgl. Parsons 1951: S. 36 ff.; Luhmann 1984: S. 148 ff.).
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zung entstehenden Formen der Regelung von Anschlussfahigkeit schelnen dann gewissermafien Vorgaben fiir die Kommunikation abzugeben als den sinnsetzenden Prozess der Verbindung - d. h. der Kontextuierung von Handlungs- und Erlebenselementen. Auch diese Interaktionsregulative tauchen in Goffmans Untersuchungen nicht aufgrund theoretischer Ableitung auf, sondern werden anhand struktureller Verv/eise der Interaktion selbst eingefiihrt. Dabei lasst sich die immanente Beziehung der Regulative zu den basalen Rahmeneigenschaften nicht iibersehen. Ich lasse mich in der folgenden Darstellung von dieser Beziehung leiten. Soil der bestehende Interaktionszwang nicht lediglich in Form von Verlegenheit auf dem Interaktionspartner lasten, dann muss er in Handlungen umgesetzt werden, die in der gegebenen Situation anschlussfahig sind. Selbstverstandlich gilt auch fiir Goffman die Mead'sche - und schliefilich auch Schiitz'sche - Grundregel, dernach der Sinn meiner Handlung in der Reaktion des anderen erscheint (Mead 1973: S. 120; Schiitz 2004: 258 ff.; Srubar 1988: S. 121 ff.). Faktisch bedeutet das, dass jede Handlung, auf die es eine Reaktion gibt, jede einfache Interaktionsabfolge also, eine Sinn hervorbringende Verkettung von Anschliissen darstellt. Diese Verkettung dient als Kontext der individuellen Handlungen, aus welchen sie besteht. Somit entsteht in jeder »Interaktion« als ihr Resultat ein die Einzelbeitrage transzendierendes und ihnen »fremd« gegeniiberstehendes, intersubjektives Deutungsschema. Die Emergenz intersubjektiver sozialer Realitat aus individuellem Handeln hat also bereits in diesem elementaren Kommunikationsgeschehen ihren Ursprung.^^'' Diese generelle Fassung der kommunikativen Konstitution von Deutungsschemata lauft allerdings auf eine Tautologie hinaus: Handlungen sind so lange anschlussfahig, solange eben Anschliisse an sie stattfinden. Mag diese Tautologie den autogenetischen Charakter der Kommunikation als Grundlage sozialer Ordnung anzeigen, die Erfassung der eigentlichen Organisation der Anschlussfahigkeit von Handlungen, auf die Goffman mit seinem Rahmenkonzept zielt, erlaubt sie in dieser Allgemeinheit nicht. Es lasst sich ^^'^Auf diesen in der Sozialitat des Menschen verankerten und damit unvermeidbar »entfremdeten« Charakter der sozialen Realitat hat bereits Plessner verwiesen. Vgl.: Plessner(1966:S.19ff.).
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mit ihr zwar erklaren, wieso Handlungen in der Interaktion im Prinzip immer Schemata ihrer Deutung hervorbringen. Die innere Organisation dieser Schemata, auf die Handlungen verweisen und ohne die sie nicht lesbar sind, bleibt jedoch ungeklart. Mit Goffman lasst sich nun zeigen, dass es zu der Organisation der Anschlussfahigkeit von Interaktionsbeitragen wesenthch gehort, dass Handlungen als Zeichen die in Anspruch genommene Position des Handelnden in der Situation anzeigen und zugleich seine Absicht kundtun, wie und als was er andere zu behandeln vorhat. Die Inanspruchnahme bestimmter Identitat durch den Handelnden und die Identitatszuschreibung, die er auf andere richtet, sowie die Bestatigung oder Ablehnung, die diesen Akten durch die Interaktionspartner zuteil werden - dies ist der Kern der interaktiven Organisation der Anschlussfahigkeit, den wir bei Goffman vorfinden (Goffman 1971: S. 16 ff., 52f.; 1974: S. 54, 101 ff.; 1976: S. 15 ff., 221 f.). Eine anschlussfahige Markierung der eigenen Position und der Position der anderen, d. h. eine gegenseitige Selbst- und Fremdverortung in der Situation durch das Handeln, gehoren so zu den Interaktionsregulativen des primaren Rahmens, in welchen der Interaktionszwang umgesetzt wird. Als eine weitere Umsetzung des Interaktionszwangs kann die beobachtbare Tendenz des Interaktionsverlaufs zur Systembildung betrachtet werden, die sich aus dem Interaktionsengagement ergibt. In seiner Untersuchung der zentrierten Interaktion zeigt Goffman, dass die ablaufende Interaktion quasi eine Membrane um sich bildet, eine Systemgrenze, die er »conventional engagement closure« nennt (Goffman 1963: S. 156). Das beobachtbare Engagement von Individuen in einer Interaktion hebt also das geordnete Interaktionsgeschehen von seiner sozialen Umwelt ab, dessen Grenzen von Umstehenden entweder durch Nichteinmischung oder aber durch Anwendung von »grenzuberwindenden Ritualen« respektiert werden (Goffman 1963: S. 156 ff.; 1974: S. 115 ff.). Die Tendenz von interaktiven Engagements Systeme zu bilden, d. h. sich beobachtbar von ihrer sozialen Umwelt temporar abzugrenzen, manifestiert sich in interaktionsregulativer Form in dem von Goffman beschriebenen Phanomen der sozialen Territorialitat. Goffman zeigt, dass auf einem »Kanal« des sozialen Handelns ein Markierungsverhalten mitlauft, durch welches
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Grenzen sozialer Raume abgesteckt werden, Grenzen, mit welchen durch eine besondere Organisation des Verhaltens umgegangen wird. Diese territorialen Interaktionsregulative wirken also In zwei RIchtungen: erstens als Mechanlsmen des Auf baus von sozlalen Terrltorlen und zweltens als solche des Umgangs mIt Ihnen. Auch hier schlmmert der ethologlsche HIntergrund des Goffmanschen Instrumentarlums durch, Insbesondere, wenn er etwa von den raumllchen Terrltorlen des Selbst sprlcht (Goffman 1971: S. 41 ff.; 1974: S. 54 ff., 249 ff., 272 ff.).^^^ Wesentllch fiir unsere Betrachtung ist hIer jedoch, dass die sozialen Terrltorlen als interaktlv geschaffene und definlerte Raume verstanden werden konnen. A m »Schutzraum« eines Gesprachsreservats (Goffman 1974: S. 69 ff.; 1971: S. 41 ff.), der besteht, solange die Interaktion andauert, manifestiert sich die am Verhalten beobachtbare interaktive Systembildung als Interaktionsregulativ in Reinform. Auch der Kundgabezwang als eine basale Eigenschaft des primaren Interaktionsrahmens bringt Interaktionsregulative hervor, die aufgrund struktureller Verweise ablaufender Interaktion beobachtbar sind. Wir finden Sie in Goffmans Analysen beschrieben als die Praxis der InformationskontroUe, die als eine Selektion von Interaktionsbeitragen nach Mafigabe ihrer Anschlussfahigkeit verstanden werden darf. Die Selektivitat dieser Regulative wirkt auch hier in zweifache Richtung: Einerseits wird durch sie das Setzen von Handlungen beeinflusst, also die Kundgabe von Zeichen, die fiir ein in Anspruch genommenes Image oder eine Identitat stehen (Goffman 1971: S. 10 ff.; 1975: S. 10 f.). Die Verortung eigener Position und derjenigen anderer Interaktionsteilnehmer erfolgt aufgrund dieser Selektivitat. Andererseits fungiert die Informationskontrolle als ein Rahmungsfilter dafiir, was in einer Interaktion als beobachtbar gelten und was unthematisch bleiben soil. Diese Selektivitat wird von Goffman am Phanomen des Takts demonstriert (Goffman 1976: S. 208 ff.; 1971: S. 35 ^^^Diese Anleihe aus der Ethologie tragt allerdings, wie Goffman selbst bemerkt, nur so weit, als »Territorium« dort auch kein festumgrenztes, sondern durch Aktivitat abgestecktes Gebiet bedeuten kann. Es miisste wohl deutlicher unterschieden werden zwischen der sozialen Genese und sozialen Definition von Territorien und der Moglichkeit »ethologisch« (wenn auch hier sozial iiberformt) den Anspruch auf sie zu verteidigen.
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ff.). Selbstverstandlich reichen die zeichenselektierenden Relevanzsysteme der Interaktionspartner iiber den Situationsrahmen hinaus, so dass die gesamte Erscheinung der Interagierenden ein Komplex von Beziehungszeichen darbietet, in dem unterhalb des situativ Thematisierbaren durchaus Widerspriiche zwischen vordergriindig Beanspruchtem und wirklich an Handlung und Rahmen Ablesbarem ausmachbar sind."^^^ Dieses Spiel von virtualer und aktualer Identitat (Goffman 1975: S. 10 f.) ist Jedoch ein wesentlicher Bestandteil der durch den Kundgabezwang initiierten Interaktionsregulierung. Ein »unproblematischer« Interaktionsablauf setzt voraus, dass die in ihm Involvierten als kompetente Handelnde erscheinen, d. h. dass die Anschlussfahigkeit ihrer Beitrage nicht als zweifelhaft hingestellt wird. Die Aufrechterhaltung des Image des kompetenten Akteurs ist so eine Bedingung der Interaktion (Goffman 1971: S. 17; 1974 S. 224; 1975: S. 221), die allerdings durch die immer mogliche Diskrepanz von virtualer und aktualer Identitat bedroht wird. Die aus dem Kundgabezwang resultierende Informationskontrolle als Interaktionsregulativ enthalt also zugleich den Zwang zur Normalitat als einer Erscheinungsweise des Handelns, durch deren Vollzug diese Diskrepanz vermieden werden kann (Goffman 1974: S. 283 ff., insb. S. 284, 319 ff.; 1971: S. 100 ff.). Die das erforderliche Image eines kompetenten Akteurs laufend bedrohende Ambivalenz und die Interpretationsbediirftigkeit des sich als ein Geflecht von Beziehungszeichen darbietenden Interaktionsgeschehens, die wir als die letzte basale Eigenschaft des primaren Interaktionsrahmens ausmachten, wird in strukturelle Interaktionsregulative umgesetzt, die diese Ambivalenz reduzieren und so als eine Entlastung vom Interpretationszwang fungieren. Sie konnen mit Goffman als die allgegenwartige Ritualisierung von Interaktion beobachtet werden, die den fiir die Anschlussfahigkeit von Beitragen erforderlichen Kompetenz- und Normalitatsanschein stiitzt (Goffman 1974: S. 250 ff., 301; 1971: S.52). Aufgrund ihrer den Interaktionsablauf stabilisierenden Wirkung sind Ritualisierungen prominente Strukturmittel der Autogenese sozialer Ordnung. Der autogenetische Charakter ihrer strukturtragenden Funktionsweise wird ^^^Auch hier sehen wir Goffmans Verpflichtung Bateson gegeniiber, dessen »double bind«-Konzept von dieser Diskrepanz lebt. Vgl. Bateson (1972: S. 206 ff.).
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in Goffmans Untersuchung von Reparaturmechanismen in der Interaktion deutlich (Goffman 1974: S. 138 ff.). Diese richten sich bekanntlich auf die Wiederherstellung der Geltung von meist bereits ritualisierten Elementen der Interaktionsordnung, d. h. auf die Anerkennung einer bereits festgelegten Beziehung von Handlung und Rahmen und somit auf die Beibehaltung eines bestimmten Kommunikationsmusters. Zugleich steigern sie die Elastizitat der Interaktionsordnung, indem sie diese trotz faktisch erfolgten Regelbruchs gegen Abweichungen immunisieren (Goffman 1974: S. 155). Sie dienen also zur Aufrechterhaltung eines durch Ritualbeschadigung ambivalent gewordenen Interaktionsrahmens. Aufgrund dieser notwendigen Funktion, die die Reparaturmechanismen fiir den Bestand der Anschlussordnung von Handlungen haben, geraten sie selbst unter Ritualisierungszwang und werden ein Bestandteil des rituellen Idioms (Goffman 1974: S. 165). Die Uberdeterminierung von Ritualisierungen, die in anthropologischer Sicht zur Absicherung der Stabilitat von Ordnungsstrukturen gehort, findet hier ihre Bestatigung (vgl. Gehlen 1975: S. 70 ff., 84). 3. Normalitat Wir haben den primaren Interaktionsrahmen, auf den die Handlung verweist, als eine Ordnung der Anschlussfahigkeit von Interaktionsbeitragen begriffen. Wir konnten an diesem Rahmen einige strukturelle Eigenschaften erkennen, die mit der Autogenese seiner Ordnung offenbar zusammenhangen. Es waren zuerst die primaren Merkmale des Rahmens, d. h. der Interaktions-, Kundgabe- und Interpretationszwang. Wir bezeichneten diese Eigenschaften als die basalen, interaktionsgenerierenden Mechanismen des Rahmens. Mit Goffmans Hilfe liefi es sich dann zeigen, immer von den interaktionsimmanenten Verweisen ausgehend, wie sich diese Mechanismen als interaktionsstrukturierende Regulative umsetzen und die Gestalt von Selbst- und Fremdverortung, Systembildung, Informationskontrolle und Ritualisierung annehmen. Diese Regulative mit ihrer Selektivitat geben sozusagen die Formvorgaben der Ordnung der Anschlussfahigkeit von Handlungen an, d. h. sie fungieren im allgemeinsten Sinne als Formvorgaben der Kommunikation. Im Verlauf der Erorterung
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der Eigenschaften des primaren Interaktionsrahmens wurde deutlich, dass die regulative Funktion dieser kommunikativen Vorgaben nur dann im Sinne der Regelung von Anschlussfahigkeit voll greift, wenn ihre Implikationen, die als Eigenschaften des Interaktionsrahmens den Handelnden auferlegt sind, mit Kompetenz erfiillt werden. Wer die Anschlussfahigkeit seiner Interaktionsbeitrage nicht in Zweifel ziehen lassen will, muss eine unkontrollierte Diskrepanz zwischen Beitrag und Rahmen vermeiden.^-^° Die Ordnung der Anschlussfahigkeit braucht also die Normalitat so wie Goffman sie versteht - als eine interaktiv geschaffene Transparenz von Situationen, die eine unauffallige Deutung derselben ermoglicht (Goffman 1974: S.319, 339 f.). Damit werden Elemente des primaren Interaktionsrahmens angesprochen, auf die Handlungen verweisen miissen, wenn sie als kompetent gelten sollen, denn Normalitat in diesem Sinne setzt die Beherrschung des »rituellen Idioms« voraus. Als die Kompetenz und Normalitat bezeugenden Merkmale des Interaktionsrahmens konnen bei Goffman jene des Benehmens gelten. Das Benehmen schliefit die Beherrschung eines breiten Spektrums von Interaktionsritualen ein. Sein normalitatschaffender Mechanismus lasst sich als das Zusammenspiel des bestatigenden und des korrektiven Austausches begreifen (Goffman 1971: S. 91 ff.; 1974: S.98 ff.). Seine Verastelungen in einzelne »Gattungen« des Benehmens hangen mit den strukturellen Rahmeneigenschaften eng zusammen. Als Ratifizierungs- und Anerkennungsrituale, als Rituale der Kontaktaufnahme und -pflege, als Grufirituale bzw. Zugangs- und Abgangsrituale stellen die Praktiken des positiven Austausches den konkreten sozialen Umgang mit den auferlegten strukturellen Implikationen des Interaktionsrahmens dar: In Ratifizierungsritualen wird die Selbstund Fremdverortung der Interaktionspartner in der Situation ausgehandelt, Rituale der Kontaktpflege stellen Interaktionsoptionen auf Dauer, Grufi- und Zugangsrituale tragen der Territorialitat Rechnung (Goffman 1974: S. 103 ff., 107 ff., 117). Der Vollzug des positiven Austausches bedeu^^°Die leitende Kontrolldifferenz ist hier also nicht die von Beitrag und Thema wie bei Luhmann 1984: S. 213 £, sondern jene von Beitrag und Rahmen. Innerhalb dieser sind Themen eine Elementklasse, da geeignete Rahmen thematisch »verkehrte« Beitrage durchaus zulassen.
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tet so die praktische gegenseitige Anerkennung der auf die struktureilen Rahmeneigenschaften gestiitzten Interaktionsordnung.^-^^ Gleiches gilt fiir den korrektiven Austausch, mit dessen Hilfe es gelingt, dass durch anschlussunfahige Beitrage und Rahmenbeschadigungen weder die rituelle Kompetenz der Akteure noch die Geltung des Rahmens in Frage gestellt zu werden brauchen. Die Beherrschung der Formen des korrektiven Austausches - der Ersuchungs- und Entschuldigungsrituale sowie der Gattung »Erklarungen« - eroffnet die Moglichkeit, durch kundgetane Korrekturabsicht die Anerkennung des Rahmens auszudriicken und zugleich als ein konform Handeinder trotz Abweichung durch den Interaktionspartner bestatigt zu werden. Der kompetente korrektive und bestatigende Austausch bilden so eine normalitatschaffende Einheit. Das Beherrschen des rituellen Idioms versetzt Handelnde in die Lage, Handlungen als Beziehungszeichen richtig zu rahmen und somit auch die InformationskontroUe, also die Selektion der Handlungsanschliisse, ordnungsmaCig zu handhaben. Dass die Aneignung dieser Praktiken nur im Vollzug der Interaktion selbst, genauer im Vollzug des in die gegenseitige Selbst- und Fremdverortung einmiindenden Interaktionszwangs moglich ist, wurde gezeigt. Damit schliefit sich der Kreis der Autogenese sozialer Ordnung, den wir aufgrund der Goffman'schen Analysen beobachten konnen: Das Benehmen als Beherrschen des rituellen Idioms bedeutet kompetentes Umsetzen der struktureilen Rahmenimplikationen in situierte Interaktion. Die so erzeugte Normalitat ist fiir die Selbstreproduktion der Interaktionsordnung konstitutiv, weil sie die Anschlussfahigkeit von Interaktionsbeitragen erwartbar und kontrollierbar macht. Durch ihren Vollzug wird auch der Vollzug des primaren Rahmens mit alien seinen Merkmalen realisiert. Mit Goffman lassen sich auch Anhaltspunkte dafiir zeigen, dass dieser autogenetische, normalitatschaffende Ordnungsprozess fiir den Aufbau und Reproduktion komplexer sozialer Ordnungen grundlegend ist. Im alltaglichen Handeln begriindet die Emergenz der ^^^Die erforderliche gegenseitige Ordnungsakzeptanz schlagt sich in der sequentiellen Struktur des Austausches nieder, die den Austausch solange andauern lasst, bis die Normalitat im einen von alien Beteiligten anerkannten Ma£e hergestellt wird. Vgl. dazu Goffman (1974: S. 98 f, 235 ff).
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Normalitat in einer Situation - pars pro toto - die Annahme der Normalitat der Handelnden auch in situationstranszendenten Handlungsbereichen und Rollen (Goffman 1974: S. 397 ff.). In dieser Funktion des Benehmens liegt ein weiterer Uberdeterminierungsmechanismus der Ritualisierung, der fiir die Reproduktion situationsiibergreifender intersubjektiver Erfahrungsschemata wirksam ist. Anschlussfahige Modulationen des primaren Interaktionsrahmens sind nur aufgrund dieser iibergreifenden Funktion der Normalitat moglich, erstens, weil sie nur vor diesem Hintergrund als solche wahrnehmbar (tun als ob, Scherzen, Spiel, Sonderausfiihrungen) oder durchfiihrbar sind (Tauschung), und zweitens, weil die darin begriindete Annahme der situationstranszendierenden Normalitat die Erwartung erlaubt, dass modulierte Interaktionsrahmen wieder verlassen werden konnen (Goffman 1974: S. 398; 1977: S. 52 f.). Die in Organisationen genutzte Moglichkeit, die Regulative des primaren Rahmens reflexiv zu modulieren, d. h. auf sich selbst anzuwenden, um damit die Manipulierung der sozialen Identitat und somit die Orientierung des sozialen Handelns auf Organistionsziele hin zu bewirken (Goffman 1961, 1974: S. 444 ff; Strong 1988), bezeichnet einen anderen Weg des autogenetischen Ubergangs von der Interaktionsebene zu komplexeren Gestalten sozialer Ordnung.
Ill Autogenese oder Autopoiesis? Goffmans »naturalistische Methode« zeigt uns wie sich bereits in einfachen Begegnungssituationen eine komplexe Interaktionsordnung formt. Sie zeigt es, indem sie sich den alltaglichsten Interaktionsphanomenen zuwendet, deren Verlauf die Merkmale dieser Ordnung und ihrer Formung sichtbar macht. Goffmans Konzept von Fiandlung und Rahmen macht es moglich, den interaktionsimmanenten Verweisen (Praktiken) nachzugehen, durch die der Prozess der Rahmensetzung und -interpretation alltaglich geschieht. Es erlaubt aber auch, die tiefer liegenden strukturellen Eigenschaften dieses sichtbar gemachten, sich selbst ordnenden Interakti-
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onsgeschehens systematisch zu erfassen^^^, auf die Interaktionsverlaufe gleichermafien verweisen. Mit Goffmans Hilfe lasst sich alltagliches Handeln wie ein Text lesen, der zugleich auch immer sein Zustandekommen mit anzeigt. Was besagt der Interaktionstext, mit Goffman'scher Optik gelesen, zum Problem der Autogenese nun systematisch? Zuerst gibt er iiber einiges Aufschluss, womit auch die neuere Systemtheorie (Luhmann 1984) operiert. Dazu gehort der durch simple Nahe ausgeloste, empfindbare Interaktionszwang sowie die anhand ritueller Verklammerung durch Eroffnungs-, Zugangs-, Abschluss- und Abgangsriten erkennbare System/Umweltbildung durch interaktive Verlaufe. Auch die Form der inneren Organisation der Interaktionsordnung lasst Ziige erkennen, die der systemtheoretischen Betrachtung nicht fremd sind. Sie erfolgt offensichtlich als Selektion von Beitragsanschliissen durch Informationskontrolle, die sich zugleich in Form der Selbstdarstellung als situationsbezogener Selbst- und Fremdverortung als auch in Form der ebenso situationsbezogenen Nichtwahrnehmung als Unterdriickung rahmensprengender Storfaktoren auswirkt. Das selektive Moment ergibt sich dabei aus dem Verhaltnis von Handlung und Rahmen, die Selektion verlauft also auf einer Sinnbasis, sofern unter Sinnkonstitution eine Eingliederung von Erlebens- bzw. Handlungselementen in einen Kontext verstanden wird.^^^ Die Kommunikation als der Vollzug dieser Eingliederung, die sich als Realisierung bzw. Nichtrealisierung von Anschliissen in Mustern niederschlagt, kann dann als die basale Ablaufsform der so entstehenden sozialen Ordnung angesehen werden. Es hat also den Anschein, als waren einige Instrumente, nach denen sich der systemtheoretische Hohenflug ausrichtet, durchaus mit Skalen ausgestattet, die der anderswo stattgefundene enge Kontakt mit dem Gegenstand diktierte. N u n erscheint der Prozess der Autogenese sozialer Ordnung in der Optik dieses engen Kontaktes doch anders als aus der Perspektive des systemtheoretischen Instrumentenflugs. Die Rekonstruktion •^^^Die systematischen Ziige des Goffman'schen Ansatzes wurden bereits herausgestelk. Vgl. dazu Giddens (1988), Hettlage (1991), Rawls (1987). ^^^Also im Sinne von Schiitz (2004: S. 184).
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des primaren Interaktionsrahmens zeigte, dass seine basalen Eigenschaften, die wir als interaktionsgenerative Mechanismen bezeichneten, nicht Produkte der Interaktion selbst sind, sondern in der naturgeschichtlichen Ausstattung des Menschen angelegt sind. Diese natiirliche Grundlage der Unnatiirlichkeit des humanen Weltzugangs (Plessner 1975: S. 309) sollte nicht zu Soziobiologismen verfiihren, sie soil aber auch nicht die Tatsache verschleiern, dass der Prozess der Selbstkonstitution sozialer Ordnung schon aus diesem Grunde nicht als ein autopoietischer begriffen werden kann, wenn unter Autopoiesis die soziale Selbstproduktion aller seiner Relationen und Elemente verstanden werden soil. Er kann lediglich dann als Autopoiesis bezeichnet werden, wenn man ihm seine breite Fassung belasst, die ihm bereits Maturana und Varela gaben, als sie Autopoiesis als Organisation des Lebens schlechthin bezeichneten.^^'* Angesichts des spezifischen Falls der sozialen Ordnung scheint es also angebrachter zu sein, von einer Autogenese zu reden, um damit einen Prozess der sich selbst erhaltenden Organisation einer Ordnung zu bezeichnen, dessen konstitutive Momente aber nicht ganzlich Produkte dieser Organisation sind. In der Betrachtung der Autogenese durch Goffmans Optik wurde auch deutlich, dass der autogenetische Prozess nicht auf das Schema struktureller Zwange reduzierbar ist, sondern dass er vielmehr um seine Struktur zu erhalten, individuelle Handlungskompetenz erfordert: Die in der Differenz von Handlung und Rahmen strukturell angelegte Ambivalenz des Interaktionsgeschehens kann unter dem daraus resultierenden Interpretationszwang nur durch Praktiken reduziert werden, die Handlung und Rahmen zur Deckung bringen, die also eine Normalitat der Erwartung von Handlungsanschliissen hervorbringen. Diese Strukturstabilisierung erfordert Handlungskompetenz, wie am Fall des Beherrschens des rituellen Idioms deutlich wurde. Handlungskompetenz ihrerseits ist nur in Prozessen der Identitatsbildung durch intersubjektive Spiegelung erlangbar^-^^; sie ist also an den Sinnbedarf und vor allem an die Sinnleis^^"^Maturana/Varela (1980). Zu den Problemen, die sich aus der Ubertragung des Autopoiesiskonzepts in die Soziologie ergeben, siehe Heji 1990. ^^^Ich benutze hier den von Luckmann gepragten Ausdruck als einen Oberbegriff fiir die Prozesse der interaktiven Identitatsbildung, wie sie im Anschluss an Mead und Schiitz
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tungen des Subjekts gebunden. Dies gilt nicht etwa nur in dem Sinne, dass der Prozess der Autogenese sich der Subjekte lediglich als Speicher sozial generierter Wissensmuster bediente, die vonnoten sind, wenn interaktiv entstandene soziale Ordnungen reproduktionsfahig sein sollen. Vielmehr enthalt die ordnunghervorbringende Interaktionsdynamik den Mechanismus der Identitatsbildung als ein konstituierendes Moment. Der strukturell auferlegte Zwang zur Normalitat ware als Anschlusssicherung von Beitragen nicht ausreichend, wenn Normalitat zugleich nicht ein Mittel der identitatsbildenden Selbstdarstellung ware, an der Subjekte ein »Interesse« haben, um als Produzenten anschlussfahiger Handlungen, d. h. als problemlos Interagierende, betrachtet zu werden.^^^ Das methodologische Argument, dass Subjekte nicht als Elemente der Autogenese sozialer Ordnung angesehen werden konnen, da ihre Bewusstseinsleistungen, die in den Prozess eingehen, nicht sichtbar sind^^^, muss offensichtlich materialer Evidenz weichen: Gerade deswegen, weil die subjektiven Sinnleistungen ein wesentlicher Bestandteil des Autogeneseprozesses sind, besteht der systematische Zwang dazu, sie mittels sozialer Formen nicht nur zu gestalten, sondern auch sichtbar und erwartbar zu machen.^-^^ Das Benehmen mit seinen normalitatschaffenden Praktiken ist eine Einlosung dieser systematischen Implikation. Das Individuum, seine Sinnleistungen und ihre soziale Plastizitat sind also von dem autogenetischen Prozess, in dem soziale Ordnung entsteht, nicht trennbar^^^, womit zwei traditionelle soziologische Einsichten als beschreibbar sind. Vgl. Luckmann (1980: S. 131 f.). ^^^Die anthropologischen Grundlagen dieses Interesses an der Geltung von einmal intersubjektiv etablierten Erwartungen erortert Gehlen unter dem Titel der Hintergrundserfiillung. Vgl. Gehlen (1975: S.49 ff.). Auch Parsons (1951: S. 31 ff.) verweist darauf, als auf einen konstitutiven Bestandteil des sozialen Systems. ^^''So etwa Luhmann (1984: S. 158 f., 346), mit der bekannten Konsequenz, nicht nur Handlungen, sondern auch Lernen, Gedachtnis oder Intelligenz als emergente Realitat des sozialen Systems, also als von subjektiven Sinnleistungen durch Systemgrenze getrennt, betrachten zu miissen. ^•^^Auch hier kann man auf Gehlen (1975: S. 145 ff.) verweisen, in dessen Untersuchungen zum darstellenden Verhalten man die Erorterung eines solchen stabilisierenden Darstellungszwangs findet. 239p^j, Argumente gegen eine Trennung beider Systeme, entwickelt aus den Aporien
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rehabilitiert gelten diirften: Es zeigt sich wieder, dass das Individuum qua soziale Person als ein im Kommunikationsprozess geformtes Element der Autogenese sozialer Ordnung gelten kann und dass sein sozialisiertes Verhalten zur Uberdeterminierung der Struktursicherung sozialer Ordnung gehort. Andererseits eroffnet die Ambivalenz vom Rahmen mit ihrer Interpretationsbediirftigkeit Raum fiir eine auf Bewusstseinsakte des Subjekts gestiitzte Dynamik, aus der Abweichungen und Modifikationen bis zu der Moglichkeit einer totalen Umrahmung resultieren.'^'*^ So betrachtet besteht kein Grund, den Begriff der Kommunikation nur auf das aufiere soziale Geschehen zu beschranken. Vielmehr macht es Sinn, wenigstens fiir die Betrachtung des Problems der Autogenese sozialer Ordnung, Kommunikation als einen Prozess zu betrachten, aus dem das subjektive und das soziale Sinngeschehen als ein geschlossener Zusammenhang zu begreifen sind. Wollte man abschliefiend die fiir die Betrachtung des Autogeneseproblems aus dieser Sachlage resultierenden Konsequenzen in Thesen formulieren, dann waren es wohl folgende: 1. Es gibt naturgeschichtliche Bedingungen der Autogenese sozialer Ordnung, die nicht ihr Produkt sind. 2. Bewusstsein, Handeln und ihre soziale Plastizitat sind Teile der Autogenese, ihre Akte sind Akte des autogenetischen Prozesses. 3. Die grundlegende Organisationsebene der Autogenese ist der Sinn, d. h. die Einordnung von Handlungen und Erlebnissen in einen Zusammenhang mit anderen Handlungen und Erlebnissen. Die des Luhmann'schen Ansatzes, siehe Martens (1991). Der Versuch Luhmanns, diese Trennung durch Maturanas Begriff der »strukturellen Koppelung« zu uberbriicken (Luhmann 1990: S. 38 ff.), bleibt unbefriedigend, da er die notwendige Beziehung von Bewusstsein und Kommunikation aufierhalb von Kommunikation ansiedek und somit auch aus der Autogenese sozialer Ordnung ausschlieEt. ^"^^Als paradigmatisch fiir diese Tradition sei hier Mead (1973) genannt, aber auch bei Simmel (1968) oder Schiitz (2004 u. 1971) finden wir ihre Wurzel. Die Durchtrennung dieses Prozesses durch eine Systemgrenze, deren Uberwindung des Kunstgriffs einer Interpenetration bedarf (Luhmann 1974: S. 286 ff.), scheint mehr Erklarungsbedarf als Erkenntnisgewinn zu schaffen. Vgl. dazu Giegel (1987), der auch entsprechende Konsequenzen fiir den Kommunikationsbegriff zieht.
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Sinnhaftigkeit der Akte der Autogenese, ihrer Setzung und ihrer Interpretierbarkeit resultiert aus ihrem kontextuellen Bezug. 4. Sinn kommt also in der Kommunikation zustande, sofern Kommunikation den Prozess des Verbindens von Handlungen und Erlebnissen bedeutet. Sofern Interaktion das Aufeinanderbezogenwerden von Handlungen ist, sind Kommunikation und Interaktion strukturgleich. 5. Kommunikation in der obigen Bedeutung ist die Grundorganisationsform der Autogenese. 6. Die generativen Mechanismen, Regulative und Muster der Kommunikation sind am Handeln aufgrund seiner kontextuellen Verweisungen beobachtbar. 7. Es lassen sich unterscheiden: a) strukturelle Verweisungen, d. h. solche, die sich auf generative Mechanismen und strukturelle Merkmale der Kommunikation qua Interaktion beziehen und deren Umsetzung im konkreten Interaktionsverlauf erfolgt. b) Kompetenzgebundene Verweisungen, d. h. solche, die sich auf den Horizont der alltaglichen Handlungs- und Kommunikationskompetenz richten (alltaglicher Wissensvorrat, Sprachkompetenz, rituelle Kompetenz etc.). Die Anschliisse regelnde Funktion dieser Verweisungen besteht nicht zuletzt darin, dass sie Handlungen mit typischen Bewusstseinsinhalten erwartbar verbinden, also ein Medium der sozialen Bewusstseinsformung sind. 8. Sowohl die strukturellen als auch die kompetenzgebundenen Merkmale der Kommunikation, die in dieser Verweisungsstruktur erscheinen, sind fiir die Anschlussfahigkeit von Erlebens- und Handlungsakten konstitutiv.
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2. Geschichtlichkeit und Geschichte in der phanomenologischen Theorie Will man die Phanomenologie als eine Theorie der Geschichte begreifen, dann muss man fragen, in welcher Weise sich das phanomenologische Denken iiberhaupt einen Zugang zur Geschichte erschliefit. Dieser Zugang offnet sich in der phanomenologischen Tradition durch die Differenz von Geschichtlichkeit und Geschichte. Nur vor diesem Hintergrund lasst sich die Stellung historischer Welten im phanomenologischen Ansatz bestimmen und verstehen. Es wird zweckdienlich sein, zuerst die philosophischen Ausgangspositionen des phanomenologischen Ansatzes in diesem Kontext zu skizzieren. Sie werden uns fiir das Verstandnis seiner soziologischen Gestalt gute Dienste erweisen.
Der systematische Ort, an dem das phanomenologische Denken der Geschichte begegnet, ist die Lebenswelt. Dies scheint in der heutigen Zeit, in der der Lebensweltbegriff zu einer Art theoretischer Folklore geworden ist, selbstverstandlich zu sein. Wo sonst konnte das Denken der Geschichte begegnen, wenn nicht in der Welt des Lebens? Doch die Beziehung zwischen Geschichte und Lebenswelt, so wie sie sich in Husserls urspriinglichem Ansatz darstellt, ist alles andere als derart einfach. Das liegt daran, dass die Lebenswelt in Husserls Auffassung ein kritischer Begriff ist, der sich bekanntlich gegen den faktischen Hergang eines Teils der europaischen Geschichte, namlich der Wissenschaftsgeschichte - und damit auch der Geistesgeschichte - wendet. Die Lebenswelt - das Reich der urspriinglichen Evidenzen, in welchem uns die Welt in ihrer Vertrautheit und Typik vor jeder Wissenschaft gegeben ist (Husserl 1962: S. 126) - stellt hier den urspriinglichen Modus der Selbstgegebenheit einer Wirklichkeit
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dar, die unter dem »Ideenkleid« des abstrahierenden, mathematischen Verfahrens der WIssenschaften verschwindet und durch die Phanomenologie wieder entdeckt werden soil. Mit diesem wissenschaftskritischerkenntnistheoretischen Auftrag des phanomenologischen Lebensweltbegriffs ist auch ein ethisch-kulturkritischer verbunden. Die Phanomenologie als eine Wissenschaft von der Lebenswelt soil in Husserls Sicht die urspriingliche Sinnstruktur der menschlichen Welt enthiillen, ihre teleologische Realisierbarkeit in der Geschichte des Denkens aufzeigen, und so die Menschheit zu ihrer verschiitteten originaren Humanitas zuriickfiihren. Als Funktionar der Menschheit, d.h. als derjenige, der die Lebenswelt enthiillt, muss der Philosoph »durch die Kruste der veranderlichen historischen Tatsachen der Philosophiegeschichte durchstofien, deren inneren Sinn aufweisend.« (Husserl 1962: S. 15 f.) Weil jedoch alle postulierte Geltung der Welt und des in ihr Seienden auf dem Boden der lebensweltlichen Sinnevidenz sich ausweisen muss, ist die Aufgabe der Dekomposition der realen Geschichte nicht nur auf die Philosophic und die Wissenschaftsgeschichte zu beschranken. Insofern, als »die Geschichte das grofie Faktum des absoluten Seins« darstellt, wie Husserl einmal notiert (vgl. Landgrebe 1976: S. 24), auf die »Urhistorizitat« der Welt als Lebenswelt zielend (Stroker 1983: S. 119), miisste auch die Phanomenologie eine »transzendentale Theorie der Geschichte« formulieren k6nnen(Landgrebe 1976: S. 17). Es ist also nicht vorderhand die faktische Geschichte, auf die die phanomenologischen Analysen Husserls mit ihrem Lebensweltbegriff zielen. Im Gegenteil: diese wird - im Rahmen der damals gangigen Kulturskepsis, die, mit Simmel (1996) zu reden, die Geschichte Europas in eine »Trag6die der Kultur« einmiinden sah - als eine zu kritisierende Fehlentwicklung betrachtet. Wie will aber dann die Phanomenologie ihren Beitrag zu einer »transzendentalen Theorie der Geschichte« leisten? Worauf, auf welches verborgene Geschehen, auf welche seiner Strukturen will sie sich, den faktischen Geschichtslauf destruierend, beziehen? Und wie gewinnt sie den Anschluss an die Faktizitat der Geschichte zuriick? Husserls origineller Losungsversuch, aus dem wir heute immer noch Anregungen schopfen, besteht bekanntlich in dem Entwurf einer Konsti-
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tutionstheorie, durch die er die Seibstgegebenheit der Welt, zu der auch ihre Geschichtlichkeit gehort, transparent machen wollte. Der Anschaulichkeit halber sei hier an die Grundfigur seines Verfahrens erinnert: Die Realitat, mit der wir alltaglich operieren, wird mittels der »phanomenologischen Reduktion« - der Epoche - eingeklammert und zuerst in ihrer Geltung suspendiert. Damit verwandelt sie sich in ein Phanomen, dessen Zustandekommen in den Bewusstseinsakten sichtbar gemacht werden kann. Gefragt wird dann also: Welche Bewusstseinsakte machen es moglich, dass X oder Y uns als gegeben gilt, d. h. iiberhaupt Sinn haben kann? Mit dem Versuch der Rekonstruktion von Strukturen des sinnleistenden Bewusstseins gewinnt Husserl das »materiale a priori« der Weltgeltung und somit auch die transzendentale Ebene seiner Argumentation. Seine Wendung zur Geschichte hin stellt also eine Destruktion der Geschichte im Rahmen dieses Verfahrens dar. Sie voUzieht sich als eine Einklammerung der Selbstverstandlichkeit des Werdens der Welt in der konkreten Geschichte und erhebt die Frage nach den Akten des Bewusstseins, die die Sinnstruktur der Welt als einer im Geschehen entstehenden konstituieren. Damit avanciert die »Geschichtlichkeit« der Welt in ihrer urspriinglichen Seibstgegebenheit zu einem der zentralen Probleme der Phanomenologie, wenn sie sich als eine Wissenschaft von der Lebenswelt begreift. Wir sehen also: Nicht die Verlaufsformen der Geschichte, sondern die Geschichtlichkeit der Lebenswelt ist es, worauf sich die Phanomenologie als einer Theorie der Geschichte zuerst bezieht. Husserl, dessen Denken in seinen nachgelassenen Manuskripten immer wieder um dieses Problem kreiste (vgl. Stroker 1983 sowie Janssen 1970), ist es allerdings nicht gelungen, eine diesbeziiglich konsistente Konzeption zu entwickeln. Er hat allerdings einige Zugange aufgezeigt, die fiir die theoretische Frage »Wie geschieht Geschichte eigentlich?« aufschlussreich waren und es bis heute sind. Diese Zugange offnen sich dort, wo Husserl die Bedingungen sichtbar macht, die die Lebenswelt als eine dynamische, in der Zeitlichkeit verankerte Struktur aufweisen. Die Rede von einer dynamischen Struktur ist hier keine Verlegenheitslosung. Es ist genau dieser Zug des Husserlschen Sinnbegriffs, der es spater etwa Luhmann (1984: S. 377 ff.) erlaubt, den Gegensatz zwischen Prozess und Struktur aufzulosen.
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Welches sind nun die von Husserl aufgezeigten Bedingungen des »Geschehens« der Lebenswelt? Zuerst und als allgemeiner Hintergrund gehort dazu, dass die Lebenswelt als eine Sinnstruktur das Resultat des leistenden Bewusstseins und seiner Intentionalitat ist, also auf Aktivitat zuriickgeht. Daher kann eine ihr adaquate Theorie nur eine Konstitutionstheorie sein. Die das Geschehen der Lebenswelt bedingenden Ebenen dieser Aktivitat konnen dann als Jene der Zeitlichkeit, der Leiblichkeit sowie der Intersubjektivitat bestimmt werden. Unter Zeitlichkeit versteht Husserl bekanntlich die synthetisierenden intentionalen Akte des inneren Zeitbewusstseins, in welchen erst die einzelnen Momente der Wahrnehmung miteinander verbunden werden, so dass etwa statt einzelner Tone eine Melodic wahrnehmbar wird. In diesem Sinne ist die aktuell wahrgenommene aber auch die erinnerte bzw. die in die Zukunft projizierte Welt eine Zeitkonstruktion, deren Inhalte durch die Aktivitat des Zeitbewusstseins konstituierte Zeitobjekte sind. Als solche Zeitobjekte gelten sowohl derart konstituierte »Weltinhalte« als auch ihre Interpretationen, d.h. die Art und Weise, wie das Bewusstsein sich diesen Inhalten zuwendet. Auch dies unterliegt standigem Wandel, mit welchem natiirlich auch die zeitlichen Modifikationen des jeweiligen intentionalen Gegenstandes verbunden sind. Die Sinnstrukturen, die als Synthese von Zeitobjekt und Interpretation die Lebenswelt kennzeichnen, sind also prinzipiell Zeitstrukturen, d. h. im Prozess ihres Werdens wandelbar und »dynamisch«. Damit ist die erste der Voraussetzungen fiir die Plastizitat der Lebensweltstruktur gegeben, auf welchen ihre Wandelbarkeiten in der Zeit und somit auch ihrer Geschichtlichkeit beruht. Wahrend der Zusammenhang zwischen Geschichtlichkeit der Lebenswelt und der Zeitlichkeit ihrer Konstitution unmittelbar einleuchtet, ist die Rolle der Leiblichkeit als eine Bedingung der Geschichtlichkeit der Lebenswelt nicht so evident. Nichtsdestoweniger hat sie in Husserls Denken diesbeziiglich eine systematische Stelle und zwar in mehrfacher Hinsicht: im Erleben eigener Leiblichkeit auf der Ebene der kinasthetischen Wahrnehmung ist auch die Evidenz der Aktualitat des Erlebens fundiert, durch die sich das der korperUchen Aktivitat offene Handlungsfeld der gelebten Gegenwart auszeichnet. Insofern offnet das Erlebnis der Leiblichkeit den
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aktuellen Handlungsbereich, in dem ich, von den Sinnstrukturen meiner Lebenswelt geleitet, in diese eingreifen kann. Die Evidenz des »ich kann dies und jenes tun« und zwar immer wieder, von der das fiir das Geschehen der Lebenswelt notwendige pragmatische Moment herriihrt, ist hier begriindet. Aus dem Erleben der Eigenbewegung als eines einerseits in der Kinasthese innerlich erfahrenen, andererseits aber als eine Bewegung in der Aufienwelt beobachtbaren Vorgangs, ergibt sich die Erfahrung der Reflexivitat. Ich kann mich demselben Vorgang in dieser oder jener Weise zuwenden - bin also nicht mit ihm eindeutig verbunden, sondern kann zu ihm diese oder jene Stellung beziehen und in mehreren Zustanden auf einmal existieren. Die Reflexivitat in diesem Sinne stellt also eine weitere Bedingung fiir die Plastizitat der Lebensweltstruktur dar, auf der die Geschichtlichkeit der Lebenswelt aufbaut. Schliefilich ergibt die Leiblichkeit des Ego in Gestalt der Evidenz fiir das originare Erleben von »ich selbst« das Zentrum der Raumstruktur der Lebenswelt, d.h. den Punkt, um den sich diese in konzentrischen Kreisen von Handlungsbereichen und Wahrnehmungsspharen aufbaut. Zeitliche und reflexive Plastizitat sowie das pragmatische Vollzugsmoment »ich kann« stellen also die konstitutiven Elemente der Dynamik von Lebensweltstrukturen dar, so wie sie Husserl in den Akten eines transzendentalen Bewusstseins aufweist. Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt ist hier noch gestiitzt auf die innere Konstitutionsaktivitat des - wenn auch transzendentalen - Ego. Die dritte Bedingung, die Dynamik in die Sinnstruktur der Lebenswelt bringt, geht iiber die Begrenzung der Konstitution der Sinngeltung auf ein Ego hinaus. Dass die Lebenswelt eine Welt gemeinsamen Handelns und der Kommunikation ist, gehort ebenso zu der urspriinglichen Evidenz ihrer Geltung, wie alle anderen konstitutiven Elemente auch. Es ist dies kollektive Miteinander, das die Struktur der Lebenswelt mit gemeinsamen Inhalten fiillt und die Lebenswelt in eine - historische - Kulturwelt verwandelt. Hinter der Intersubjektivitat der lebensweltlichen Sinnstrukturen verbirgt sich also ein Konstitutionsmechanismus, der ihre Dynamik und Plastizitat im realen Vollzug in ein konkretes kollektives Geschehen transferieren und somit ihre implizite Geschichtlichkeit in Geschichte zu iiberfiihren vermag.
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Die Analyse der intersubjektiven Konstitution der Geltung von Lebenswelt - also der sozialen Sinnkonstitution - wiirde es moglich machen, so lasst es wenigstens die Intention der Husserl'schen Argumentation in den »Cartesianischen Meditationen« und in der »Krisis« (Husserl 1973, 1962) vermuten, den Bogen von der Analyse der Geschichtlichkeit als eines immanenten, der Lebenswelt innewohnenden Vermogens zuriick zur Geschichte zu schlagen. N u r so hatte wohl die Lebenswelt als jene natiirliche Grundlage der Humanitas erscheinen konnen, die Husserl als den Ausgangspunkt fiir seine Geschichtskritik suchte. Wir wissen, dass dieser Teil der Lebenswelttheorie von Husserl nicht geschrieben wurde. Husserl verstellte sich den Weg dahin durch seinen Versuch, die soziale, in der Interaktion und in der Kommunikation stattfindende Sinnkonstitution in den Akten des transzendentalen Bewusstseins aufzulosen. Nichtsdestoweniger blieb sein paradigmatischer Entwurf einer Theorie richtungweisend, die auf die Frage, »Wie geschieht eigentlich Geschichte?« durch die Rekonstruktion des Prozesses antworten woUte, in dem sich in menschlicher Aktivitat eine sinnstrukturierte Lebenswelt konstituiert. Entscheidend fiir das Paradigmatische an diesem Ansatz war die Vorstellung, dass ein in sich invarianter Konstitutionsmechanismus entdeckt werden kann, zu dessen invarianten Merkmalen es Jedoch gehorte, dass er in seinem faktischen Vollzug Dynamik und Plastizitat freisetzt und sich so in einer Vielfalt von Kulturwelten verwirklicht, deren Werden - d. h. Geschichte - mit ihm beschreibbar ware. Parallel zu der Entwicklung des Husserl'schen Lebensweltkonzepts vollzog sich in der phanomenologischen Bewegung eine grundlegende Umformulierung des Lebensweltgedankens, die fiir seine soziologische Weiterverwendung von besonderer Bedeutung war. Sie bestand in der Ontologisierung bzw. in der Anthropologisierung der phanomenologischen Grundfrage. Demnach war die Lebenswelt nicht nur eine, in der sich die Geltung der Welt urspriinglich konstituierte, sondern der Ort, an dem sich das Sein des Menschen in seiner Praxis vollzog. Die Verwandlung der Auffassung der Lebenswelt als einer Sinnstruktur in eine, natiirlich auch sinnstrukturierte, Seinsstruktur - wie sie im Denken Heideggers aber auch Max Schelers erfolgte - hatte weitreichende Konsequenzen:
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Erstens bezog eine derart gedachte Lebenswelt die Sozialitat in den Sinnkonstitutionsvorgang mit ein, ohne sie wieder transzendental-egologisch verschwinden zu lassen."^"^^ Zweitens wurden die Leistungen, die die Lebenswelt konstituieren, nicht ausschliefilich als Bewusstseinsakte, sondern als Praxis, d. h. als menschliche Handlungsakte schlechthin begriffen. Die Lebenswelt, das In-der-Welt-Sein, war somit nicht nur ein Reich urspriinglicher Evidenz, in der, vor jeder Wissenschaft, die Wirklichkeit originar gegeben ist, sondern auch das Resultat eines primar pragmatisch/praktischen Weltzugangs. Husserls Intentionalitat verwandelte sich in Heideggers »Sorge«, bzw. bei Scheler in pragmatische »Wertnahme«, durch die die Lebenswelt ihre Konturen gewinnt. Die Sorge und die Angst urns Dasein, oder spater bei Alfred Schiitz die »Fundamentalangst«, werden zu auslosenden Momenten des Handelns in der Welt, aus welchen sich auch die der Existenz vorlaufende Zeitlichkeit erschlieiSt. Doch auch in der ontologisierten Fassung des Lebensweltkonzepts erfolgt der Zugang zur Geschichte nach der Vorgabe des Husserlschen Modells namlich aus der »inneren Dynamik« der Lebensweltstruktur selbst. Heidegger bringt es knapp auf die Formel: »Geschehen der Geschichte ist Geschehen des In-der-Welt-Seins« (Heidegger 1967: S. 388). Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt kommt also nicht von der Geschichte, sondern von der Grundstruktur des In-der-Welt-seins, d.h. von seiner in der Sorge verwurzelten Zeitlichkeit. Auch hier wird also das Phanomen der Geschichte durch Geschichtlichkeit als ein Vermogen der Lebensweltstruktur erklart, nicht umgekehrt. Allerdings fiihrt die philosophische Reflexion des Verhaltnisses von Lebenswelt und Geschichte hier iiber die Husserl'schen Vorstellungen hinaus: Wenn sich die Lebenswelt in den Akten der Praxis konstituiert, stellt ^"^^Es soil hier nicht iibersehen werden, welch unterschiedlichen Status diese Sozialitat in der jeweiligen Konzeption hat: Das Heidegger'sche Mitsein als alltaglicher Seinsmodus ist zugleich ein Bestandteil des Uneigentlichen, welches die »wahre« Seinsmoglichkeiten einschliefilich der Geschichtlichkeit verhiillt. Schelers Konzept der Sozialitat steht vermittelnd zwischen dem vitalen und dem geistigen Wesen des Menschen und ist somit fiir die Konstitution einer »Welt« in Schelers Sinne unentbehrlich. Vgl. »Heidegger und die Grundfragen der Sozialtheorie« in diesem Band S. 35 ff. sowie »Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative* in diesem Band S. 355 ff.
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sich die Frage, wie eine Praxis beschaffen sein muss, die aus dem Zustand schlichter lebensweltmafiiger Reproduktion des Daseins in die Geschichte im Sinne einer sukzessiven, phasenmafiigen Entfaltung einer Kulturwelt hiniiberfiihrt. D.h. was muss geschehen, damit die Geschichtlichkeit der Lebensweltstruktur sich wirklich als Geschichte realisiert? Hier werden wir auf etwas aufmerksam gemacht, was in Husserls urspriingHchem Konzept unthematisiert blieb. Die Plastizitat der Sinnstruktur der Lebenswelt und ihre Einbettung in Intersubjektivitat steht zwar fiir das dynamische Potential, d.h. fiir die GeschichtHchkeit der Lebenswelt, reicht aber nicht zur Erklarung dessen hin, dass diese anfangt, sich auf der evolutionaren Achse zu entfalten. Die Frage, welches die allgemeinen Bedingungen dieses Ubergangs sind, blieb bei Husserl, der Geschichte teleologisch als eine philosophische Vernunftgeschichte Europas denkt, verborgen. In der ontologischen bzw. anthropologischen Behandlung des Problems dieser »innerweltlichen Transzendenz« wurden zwei Beantwortungsstrategien entwickelt: Entweder - etwa bei Heidegger und seinen Nachfolgern^"^^ - wird das Handeln des Menschen in der Welt, durch welches sich Lebenswelt konstituiert, als eine Aktivitat begriffen, durch die sich neue Perspektiven und Zusammenhange erschliefien, aus welchen transzendierende Fiandlungsentwiirfe moglich werden. Oder aber man versucht und diesen Weg wahlt Scheler (1960) in seiner Wissenssoziologie (es ist dies auch der Weg, den Weber (1923) in seiner Religionssoziologie geht) - die transzendierende Orientierung des Handelns in der inneren Logik von Wissenssystemen auszumachen, die die Lebenswelt als eine konkrete, empirische Kulturwelt pragen. Der theoretische Zugang zum Problem der Geschichte, den uns die phanomenologische Philosophic im Rahmen des Lebensweltkonzepts erschliefit, hat also folgende Gestalt: a) Das Geschehen der Geschichte kann nur begriffen werden, wenn geklart wird, wie die Geschichtlichkeit der Lebenswelt, d.h. die Plastizitat und die Dynamik, die der Lebensweltstruktur eigen sind, in dem Konstitutionsprozess der Lebenswelt verankert ist. ^Hier vor allem Jan Patocka, (1991).
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b) Gleich ob die Akte dieser Konstitution im Bewusstsein oder in der Praxis lokalisiert werden - sie voUziehen sich auf drei Konstitutionsebenen: jener der Zeitlichkeit, der Leiblichkeit und der Intersubjektivitat. c) Geht die Konstitution der Lebenswelt von der Praxis aus, so stellt sich die Frage der »innerweltiichen Transzendenz«: Welche Strukturen des pragmatischen Weltzugangs fiihren aus der potentiellen Geschichtiichkeit der Lebenswelt in die Geschichte iiber? d) Eine Theorie der Geschichte kann nicht aus dem Wechselgang des Geschichtsablaufs selbst abgeleitet werden. Gesucht wird nach einem invarianten Konstitutionsmechanismus der Lebenswelt, in dessen Vollzug die Vielfalt der (geschichtlichen) Kulturwelten entsteht. Im Prinzip soil das Konzept der Lebenswelt also das leisten, was auch im Zentrum des soziologischen Interesses steht: es soil - mit Toulmin (1994: S. 60 ff.) zu sprechen - eine allgemeine, globale und zeitlose Wissenschaft vom Besonderen, Lokalen und Zeitgebundenen ermoglichen, also eine Episteme von der Doxa sein.^^^^^ II Auch die Soziologie, wenn sie in der Geschichte nicht lediglich einen Steinbruch zur Datengewinnung sieht, will als Theorie der Gesellschaft das Werden ihres Gegenstandes systematisch verarbeiten, also auch eine Theorie der Geschichte sein. Zwei traditionelle Wege stehen ihr dazu zur Verfiigung: entweder sie entwirft ein Schema von Begriffen, um die Geschichte als einen Strom von Wechselfallen des Lebens darin einzufangen und ihr eine Struktur zu verleihen, die sie verstehbar und erklarbar macht. ^"^^Mit diesem Anspruch umschreibt Toulmin die primare Intention der cartesianischen Wende im philosophischen und wissenschaftlichen Denken. Husserls Riickgriff auf die Lebenswelt will zwar genau diese Tendenz zum Denken »more geometrico« kritisieren, bleibt ihr jedoch gerade durch den rationalistischen allgemeinen Geltungsanspruch seiner Wissenschaftskritik verhaftet.
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Dies ist bekanntlich etwa das neokantianlsche Verfahren Max Webers und auch der Parsons'schen Systemtheorie, in dem die wissenschaftliche Methode ihren Gegenstand und seine Erkenntnis zugleich schafft. Oder aber die Soziologie versucht jene immanenten Akte und Prozesse zu erfassen, durch welche die soziale Wirklichkeit als eine geschichtliche konstituiert wird. Die konstitutionstheoretischen Ansatze variieren dann je nach der Ebene, auf der sie diese Akte ansiedeln, von den handlungstheoretischen iiber kollektivistische (etwa marxistischer Art) bis zu den autopoietischsystemtheoretischen. Auch die historisch-genetische Theorie (vgl. Dux 1982) gehort m. E. zu dieser Gattung. All diese Konstitutionstheorien erheben den Anspruch, keine blofien Schemata der Wissenschaft zu sein, sondern von Prozessen der Konstitution sozialer Realitat auszugehen und dementsprechend die Begriffe fiir die wissenschaftliche Analyse zu formen. Wir diirfen allerdings nicht iibersehen, dass diese beiden Typen der Theoriebildung so lupenrein nicht sind, d. h. dass etwa Weber oder Parsons sehr wohl Annahmen iiber die Konstitution der sozialen Realitat durch die Handelnden machen, wahrend die Konstitutionsanalyse etwa eines Marx oder Alfred Schiitz durchaus stellenweise durch ihre Begriffssystematik getragen wird. Aus dieser faktischen Uberschneidung beider Theorietypen diirfen wir also schliefien, dass eine soziologische Geschichtstheorie beide Ansatze in sich vereinen sollte: Sie erfordert ein begriffliches Instrumentarium, das die Vielfalt des Geschichtsverlaufs ordnet und verstehbar macht; zugleich sollte aber dieses Instrumentarium in Konstitutionsprozessen der geschichtlichen Wirklichkeit verankert werden, und zwar auf einer Ebene, die allgemein genug ist, um es gegen den Vorwurf des Relativismus zu wappnen. In dieser Sachlage scheint das Konzept der Lebenswelt ein guter L6sungsvorschlag zu sein: Es bietet eine Konstitutionstheorie an, es vermeidet die Fundierung des Konstitutionsmechanismus in einem bestimmten Geschichtsablauf (wie etwa Modernisierungstheorien Marxscher oder Parsons'scher Pragung) und es zielt auf die Formulierung einer invarianten Struktur ab, die das Geschehen der Geschichte begrifflich fassbar und begreifbar machen wiirde.
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Ich mochte nun priifen, inwiefern die soziologische Fassung des oben ausgefiihrten Lebensweltkonzepts die Anforderungen an eine soziologische Theorie der Geschichte einlost. Beginnen wir mit dem Modell der Lebensweltkonstitution, wie wir es bei Alfred Schiitz - dem Begriinder der »phanomenologischen Soziologie« - vorfinden. Betrachten wir zuerst, wie sich im Rahmen des Schiitz'schen Versuchs, eine verstehende Soziologie zu fundieren, die Prozesse der Lebensweltkonstitution auf jenen drei Ebenen darstellen, die die Geschichtsdynamik der Lebensweltstruktur ausmachen: also Jener der Leiblichkeit, der Intersubjektivitat und der Zeitlichkeit. Die konstitutiven Leistungen des Leiblichkeitserlebens erfahren in der Schiitz'schen Fassung kaum eine Modifikation: Auch fiir ihn ist dies der O r t der Entfaltung der Reflexivitat sowie der Offnung des aktuellen Handlungsfeldes durch das Erleben der Eigenbewegung, in dem auch das pragmatische Moment des »ich kann immer wieder« begriindet ist. Wesentliche Veranderungen erfahren allerdings die Ebene der Intersubjektivitat und der Zeitlichkeit, deren Konstitutionsbeitrage in der Schiitz'schen Sichtweise nahe aneinander riicken und miteinander verflochten sind. Wesentlich fiir diese Entwicklung des Schiitzschen Konzepts ist die durch Heidegger und vor allem durch Max Scheler vollzogene Verlagerung der die Lebenswelt konstituierenden Akte in den Handlungsbereich der Praxis. Schiitz zeigt, wie jene Plastizitat der Sinnstruktur der Lebenswelt, die bei Husserl durch den zeitlichen Charakter der Weltinhalte in ihrer Interpretation sowie durch die Reflexivitat des Bewusstseins fundiert war, gepragt wird durch Akte des gegenseitigen Wirkens in der Interaktion. In seiner Fassung ist also die Plastizitat und somit die potentielle Geschichtlichkeit der Lebensweltstrukturen einerseits auf die Akte des inneren Zeitbewusstseins und seine Reflexivitat gegriindet, andererseits jedoch auf die Akte der sozialen Wirkensbeziehung, wie er im »Sinnhaften Aufbau« die Interaktion nennt (Schiitz 2004: S. 299 ff.). Im gegenseitigen Bezug der Handelnden aufeinander laufen Prozesse der Fremdund Selbsttypisierung ab, in welchen eine gegenseitige Koordinierung der subjektiven Bewusstseinsstrome erfolgt. Das Resultat dieser interaktiven Koordinierung in der Zeit stellt schliefilich eine gemeinsame Wir-Welt dar,
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in der Relevanz- und Typikstrukturen entstehen, die den alltaglichen Kern von Lebenswelt als einer Kulturwelt ausmacht. Diese pragmatische Modifikation des Konstitutionsmechanismus lebensweltlicher Sinnstrukturen erfordert offensichtlich auch eine neue Fassung der Zeitlichkeit des Konstitutionsprozesses. Die Akte des inneren Zeitbewusstseins der Subjekte konnen offensichtlich nur durch Handlungsakte - darunter typischerweise auch Sprechakte - koordiniert werden, die als Ereignisse in einem dem Subjekt aufieren Zeitablauf gelten. Zu der subjektiven Zeitdimension der inneren Dauer tritt also ein objektiver Zeitablauf der Weltzeit hinzu. Prinzipiell wird die Verbindung beider Ablaufe miteinander durch das Handeln in der Welt ermoglicht, das aufgrund der im Leiblichkeitserleben erfahrbaren Reflexivitat als innerer und aufierer Vorgang zugleich erfahrbar wird. Im sozialen Handeln stellen Handlungsakte nicht nur Ereignisse dar, die die Weltzeit und die eigene Subjektzeit koordinieren, sondern sie leisten auch die Koordinierung der Bewusstseinsablaufe der Handelnden untereinander. So erzeugt gegenseitiges Wirken einen Schnittpunkt von Weltzeit und mehreren subjektiven Bewusstseinsstromen, aus dem sich eine gemeinsame Struktur zeitlicher Relevanz und Typik entwickelt eine soziale Zeitstruktur also - die Schiitz »die biirgerliche Zeit« nennt (Schiitz 2003: S. 197 f.). Durch die Schiitz'sche Analyse wird also folgendes deutlich: Nicht nur ist der Sinnstruktur der Lebenswelt aufgrund ihrer zeitlichen Konstitution - wie Husserl sie beschrieb ~ eine Plastizitat und Dynamik eigen, sondern die Zeitlichkeit der Lebenswelt selbst, da sie eine sozial konstituierte ist, ist in sich plastisch, pragbar - also geschichtlich konkretisierbar. Durch diese Verbindung von Intersubjektivitat und Zeitlichkeit zeichnet sich also bei Schiitz jener Ubergang von der invarianten Ebene lebensweltlicher Geschichtlichkeit in die Faktizitat der Geschichte ab, der bei Husserl aufgrund seines Unvermogens, das Problem der Intersubjektivitat befriedigend zu losen, unrealisiert blieb. Aus der Dynamik der pragmatischen und intersubjektiven Konstitution der Lebenswelt entwickelt Schiitz nun das, was er als Strukturen der Lebenswelt bezeichnet also jenes invariante Gefiige von Relevanz und Typik, durch welches die Kulturwelten immanent gegliedert werden, die sich im VoUzug der pragmatischen Lebensweltkonstitution je konkret entfalten. Diese Strukturen
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sind bekanntlich noch mal auf der zeitlichen, raumllchen und sozlalen Ebene um das handelnde Ich als ein Zentrum gruppiert, gegliedert nach zeitlicher, raumlicher und sozialer Nahe in Vor- und Nachwelt, in die Bereiche der unmittelbaren und mittelbaren Reichweite sowie in die intime Wir- und die anonyme Mit-Welt. Diese Relevanz- und Typiksysteme, die die Gegebenheiten der Welt mit einem Sinnkieid iiberziehen und so zu einer Lebenswelt formen, werden durch Zeichensysteme getragen, die die auf der zeitlichen, raumlichen und sozialen Ebene angelegten Transzendenzen iiberbriicken. Sprache und symbolische Apprasentationssysteme sind die typischen Trager der Typik und Relevanz, die die Lebenswelt als ein Kosmion von innen heraus mit Sinn ausleuchten (Schiitz 2003a: S. 119
ff.). Fiir die Geschichte steht in einem solchen Kosmion die Jeweilige Vorwelt der in ihm Handelnden. Von hier aus ist Geschichte denkbar entweder als Abfolge solcher Kosmien qua Kulturwelten oder als vergangenes Handeln innerhalb einer solchen. Grundsatzlich ist sie aber immer als ein Resultat der pragmatisch-interaktiven Konstitution von Wir-Welten und der darauf aufbauenden Systeme von Relevanz und Typik vorzustellen. Da allerdings uns Gegenwartigen keine unmittelbare Wirkensbeziehung, keine Kommunikation mit der Vergangenheit und somit keine adaquate Moglichkeit, die Konstitutionsakte unseres Bewusstseins mit jenen der Vorfahren originar zu koordinieren, gegeben ist, sind wir immer auf eine idealtypische Erfassung der Geschichte angewiesen. Wir erfassen also nur in annahernder Rekonstruktion den objektiven Sinn der Geschichtsablaufe als Resultate vergangenen Handelns, dessen subjektive Motivationen unserer originaren Anschauung unzuganglich bleibt. Als idealtypisches Interpretationsmuster dient hier dann das invariante Modell der Konstitution der Lebenswelten und ihrer Strukturen, das - wie wir wissen - in seinem konkret praktischen VoUzug immer nur als Kulturwelt prasent sein kann (Schiitz 2004: S. 273 ff.). Fiir eine soziologische Theorie der Geschichte ist es allerdings wesentlich, ob die begriffliche Konstruktion, durch die sie das »Geschehen der Geschichte« klart, Anschlussmoglichkeiten an die Faktizitat der Geschichte parat halt. Solche Moglichkeiten sind bereits in der Schiitzschen
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Konstitutionstheorie der Lebenswelt erkennbar: Seine Reformulierung der Zeitlichkeitsebenen ermoglicht die Rekonstruktion sozialer Zeitstrukturen in ihrer geschichtlich unterschiedlichen Form und erlaubt Riickschliisse auf die Art und Weise, wie diese die empirischen Relevanz- und Typiksysteme mitpragen, an welchen sich soziales Handeln orientiert. Historische »Falle«, wie sie etwa Lazarsfelds Studie iiber Marienthal darstellte (Jahoda 1975), werden durch einen solchen Zugang verstehbar aber auch systematisch erklarbar. Auch die Raumstruktur der Lebenswelt, die die Reichweite des Handelns, ihre soziale Organisation und ihre Sinngrenzen thematisiert, lasst ohne weiteres eine Historisierung zu. Ebenso erlaubt die soziale Dimension, die entlang der Achse intim/anonym in Wir- und Mit-Welt gegliedert ist, etwa vor dem Horizont der Beziehung von Gemeinschaft und Gesellschaft, eine Rekonstruktion sozialer Realitat auf der Geschichtsachse. Konsequent wird die Anschlussfahigkeit des Schiitz'schen Lebensweltkonzepts an die Faktizitat der Geschichte durch Berger und Luckmann (1970) ausgearbeitet. Die Dynamik und somit die Geschichtlichkeit der Lebensweltkonstitution verankern Berger und Luckmann im dialektischen Prinzip der Objektivierung von Sinnstrukturen durch ihre »Entaufierung« in der Praxis und der gleichzeitigen, modifizierenden subjektiven Wiederaneignung des Objektivierten durch handelnde Individuen (Berger/Luckmann 1970: S. I l l ff.). Vor diesem Horizont verbinden sie die Schiitz'sche Theorie der Lebenswelt mit soziologischem Begriffsinstrumentarium. Vom Schiitz'schen pragmatischen Ansatz ausgehend, verkniipfen sie die Konstitution der Lebensweltstruktur mit der pragmatischen Ausdifferenzierung der Relevanz- und Typiksysteme in sozialen Rollen. Somit beziehen sie in die Konstitution der Lebenswelt den Prozess der Arbeitsteilung mit ein, mit alien seinen strukturierenden Konsequenzen, bestehend in der Schaffung von sozialer Ungleichheit, von Wissens- und Machtgefallen und - wesentlich - in der Emergenz der Notwendigkeit, diese lebensweltlich-organische Ausdifferenzierung der Ungleichheiten im Rahmen eines Kosmions durch eine symbolische Sinnwelt zu legitimieren. Damit wird die mit dem Lebensweltkonzept verbundene theoretische Intention, in einem invarianten Modell die Ent-
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wicklungsdynamik der intersubjektiven, sozialen Realitat einzufangen, bis an die Grenzen soziologischer Gebrauchsfertigkeit herangefiihrt: »Wir haben uns«, sagen die Autoren, »bisher mit den Merkmalen der Institutionalisierung abgegeben, die als sozioiogische Konstante bezeichnet werden konnen. Von dem, was an Variationen, Manifestationen und Kombinationen dieser Konstanten in der Geschichte vorkommt, konnen wir nicht einmal einen Uberblick geben. Einer solchen Aufgabe wiirde nur Herr, wer eine Universalgeschichte unter soziologischem Aspekt schreiben wollte« (Berger/Luckmann: S. 84.) »Unter soziologischem Aspekt« will hier aber wohl heifien -- unter der Anleitung des hier angelegten theoretischen Zugangs zur Geschichte. Stellt jedoch dieser Zugang bereits eine sozioiogische Theorie der Geschichte dar? Die Antwort hangt wohl davon ab, was als der Zweck einer solchen Theorie betrachtet wird. Wenn es darum geht, dem Geschichtsstrom eine Matrix zu unterlegen, die in Prozessen der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit als einer sinnhaften Lebenswelt verankert ist, und die es erlaubt, Geschichtsablaufe und Formationen als Resultate solcher Prozesse zu beschreiben und zu verstehen, dann darf man die obige Frage positiv beantworten. Anders sahe es jedoch aus, wenn man von einer soziologischen Geschichtstheorie mehr erwarten wiirde: Etwa, dass sie auch die Bedingungen fiir die »innerweltliche Transzendenz« angibt, unter welchen sich im Rahmen der Lebenswelt den Handelnden Moglichkeiten eroffnen, die die bisherige Lebensform zu transzendieren erlauben und so ihre potentielle Geschichtlichkeit in die Geschichte verwandeln. Oder dass sie ein Entwicklungsprinzip formuliert, teleologisch oder nicht, das diesem Ubergang in die Geschichte eine Richtung weist. Fiir die Losung dieser Probleme gibt es in Bergers und Luckmanns Konstitutionsmodell zwei strukturelle Vorgaben, deren Einlosung allerdings nur eine empirische ist - entweder sie sind der Fall oder nicht. Die eine besteht in dem Prozess der Arbeitsteilung: N u r dann, wenn die Arbeitsteilung eine Ausdifferenzierung von Macht- und Wissensspezialisten hervorbringt, kann der Schritt in die Geschichte erfolgen. Die andere betrifft die innere Logik der legitimierenden Sinn- bzw. Subsinnwelten: N u r dann, wenn diese durch ihre Systematisierung auch eine Weiterent-
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wicklung der Handlungsorientierung zeitigt, kann aus dem Schritt in die Geschichte ein Marsch durch diese werden. Die Kontinuitat und die Richtung des jeweiligen Entwicklungsprozesses ist dann aus der empirischen Logik der symbolischen Deutungssysteme abzuleiten.^'^'^ Warum der Schritt in die Geschichte hier erfolgt und dort nicht, warum der Marsch in jener oder dieser Phase zum Stillstand kommt oder doch weitergeht und welcher inneren Logik die Evolution seiner Phasen folgt, ist allerdings diesem Modell nicht zu entnehmen. Eine Ant wort auf diese Frage ware nur als eine empirische moglich. Sie ware dadurch zu gewinnen, dass man die Sukzession und Parallelitat entsprechender historischer Falle oder Perioden unter Heranziehung der Matrix von Lebenswekstrukturen analysieren und vergleichen wiirde, also wirkUch versuchen wiirde, eine Universalgeschichte in soziologischer Absicht zu schreiben. Dann aber ware das Resultat keine Theorie der Geschichte, sondern eben die Beschreibung einer oder mehrerer Geschichtsfolgen. Die Phanomenologie als Theorie der Geschichte, sofern sie im Rahmen soziologischer Theoriebildung auftritt, kennt also keine historischen Welten. Sie kennt nur die Lebenswelt mit ihrer dynamisch-geschichtlichen Struktur, deren Variationen geschichtliche Welten als Kulturwelten sind. Ihre Absage an jegliche teleologische Pragung der Lebensweltstruktur und ihrer Konstitution sowie die Abwesenheit einer Entwicklungslogik, die der Dynamik der Lebensweltstruktur eine evolutionare Stufenfolge verleihen wiirde, machen jedoch die Sicht frei fiir die Vielfalt der Handlungskonfigurationen, Entwicklungslogiken und Evolutionsprozesse, deren Resultat reale Geschichte ist. Insofern erfiillt sie das Gebot phanomenologischen Denkens, demnach die Theorie die Wirklichkeit nicht praformieren, sondern vielmehr die Akte erscheinen lassen soUte, in welchen sie wird wie sie ist. Dafiir zahlt der phanomenologische Ansatz allerdings einen hohen Preis, indem er einige der Fragen der empirischen Entscheidung iiberlassen muss, auf die wir legitimerweise von einer Theorie der Geschichte eine Antwort erwarten, und zu deren Beantwortung auch die phanomenologisch-philosophische Reflexion des ^'^'^Die Synthese der Standpunkte von Marx, Durkheim und Max Weber, der diese Vorgaben entspringen, ist hier nicht zu iibersehen.
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Verhaltnisses von Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Geschichte drangt. Dieser erwiinschten Reduktion der Komplexitat des Gegenstands »Geschichte« muss sich jedoch der dargestellte phanomenologische Ansatz verweigern, wenn er seinen Postulaten treu bleiben und seinen allgemeinen Geltungsanspruch nicht verlleren will. In dieser Hinsicht scheint der phanomenologische Zugang zu der Frage danach, wie Geschichte geschieht, eher eine Theorie im urspriinglichen Sinne einer zuschauenden Betrachtung zu sein, denn eine cartesianische Theoriemaschine, die ihren Gegenstand zergliedert und nach eigenen Prinzipien wieder als einen erkannten zusammensetzt. Der phanomenologische Ansatz in der Sozialtheorie ist somit - wiederum im Sinne der urspriinglichen Intention der phanomenologischen Philosophic - ein Mittel der offenen Forschung und nicht das Fundament eines Sicht einengenden Theoriesystems, das die Wirklichkeitserklarung bereits in seinen Pramissen tragt. Literatur: Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Dux, Giinter (1982): Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1967): Sein und Zeit. Tubingen: Niemeyer. Husserl Edmund (1962): Die Krisis der europaischen Wissenschaften und die transzendentale Phanomenologie. In: Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff. - (1973): Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrage. In: Husserliana Bd. I. Den Haag: Nijhoff. Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Janssen, Paul (1970): Geschichte und Lebenswelt. Den Haag: Nijhoff. Landgrebe, Ludwig (1976): Die Phanomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte. In: Phanomenologische Forschungen Bd. 3, S. 17-47.
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Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Patocka, Jan (1991): Die Bewegung der menschlichen Existenz. Stuttgart: Klett-Cotta. Scheler, Max (1960): Die Wissensformen und die Gesellschaft. Bern/Mlinchen: Francke. Schiitz, Alfred (2003): Theorie der Lebenswelt 1. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.l. Konstanz: UVK. - (2003a): Theorie der Lebenswelt 2. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. V.2. Konstanz: UVK. - (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Alfred Schiitz Werkausgabe: Bd. 11. Konstanz: UVK. Simmel, Georg (1996): Der Begriff und die Tragodie der Kultur. In: Georg Simmel: Gesamtausgabe: Bd. 14. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Stroker, Elisabeth (1983): Zeit und Geschichte in Husserls Phanomenologie. Zu Fragen ihres Zusammenhangs. In: Phanomonologische Forschungen Bd. 14: Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger. S. 111-137 Toulmin, Stephen (1994): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weber, Max (1923): Gesammelte Aufsatze zur Religionssoziologie. Tiibingen: Mohr.
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3. Woher kommt »clas Politische«? Zum Problem der Transzendenz in der Lebenswelt Gehen wir davon aus, dass Alfred Schiitz durch seine Theorie des Slnnhaften Auf baus der sozialen Welt und spater durch die Theorie der Lebenswelt die Sozialwissenschaften neu begriinden wollte, dann stehen wir vor einem Problem: Die Fundierung miisste sich auf das ganze Spektrum der Sozialwissenschaften und ihrer Objektbereiche erstrecken - d. h. sie miisste sich, neben dem »Sozialen« schlechthin, auch auf das »Wirtschaften« und auf das »Politische« beziehen. Dies scheint keine besondere Schwierigkeit darzustellen, solange man unter dem »Sozialen« die »Gesellschaft« versteht, innerhalb welcher dann die Politik und die Wirtschaft als soziale Subsysteme begriffen werden. Dieser »positivistischen«, systemtheoretischen Zugangsweise widerspricht jedoch die Fundierungsabsicht von Schiitz, dem es ja bekanntlich darum geht, die Konstitution sinnhafter sozialer Wirklichkeit aufzuzeigen, wie sie vor dem theoretischen Zugriff der Sozialwissenschaften erfolgt. Schiitz geht es also um die Modi des Weltzugangs des Menschen in seiner relativ natiirlichen Einstellung, auf welchen die Strukturen seiner Lebenswelt beruhen. Will man die Sozialwissenschaften auf dieser Basis neu fundieren, so muss man zeigen, inwiefern die menschlichen Tatigkeiten, die zum Gegenstand der einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen geworden sind, in dieser Lebensweltstruktur erfasst werden. Und hier taucht ein Problem auf: Wahrend das Wirtschaften im Sinne der primaren Reproduktion des Lebens problemlos unter die pragmatisch motivierte Strukturierung der Lebenswelt in Relevanz- und Typikschemata subsumiert werden kann^"^^, ist dies im Falle des »Politischen« keineswegs so selbstverstandlich. Es ^"^^So gehort bei Schiitz das Leben reproduzierende Handeln zu den primaren Mitteln, durch die die »fundamental anxiety« iiberwunden wird, die aus der Erfahrung der eigenen Endlichkeit angesichts der Transzendenz der Welt resultiert. Vgl. Schiitz (2003: S. 130 £.).
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hat vielmehr den Anschein, dass die in der Interaktion mit Dingen und Mitmenschen sich realisierende Struktur der Lebenswelt im Sinne der primaren sozialen Realitat von Gruppen und der gruppenbezogenen Systeme von Typisierungen und Relevanzen im Schiitz'schen Verstandnis keineswegs auch Elemente politischer Organisation enthalt (Schiitz 1972: S. 203). Im Gegensatz zum Wirtschaften, das durch die Lebensweltstruktur als die Struktur des primaren menschiichen Weltzugangs erfasst wird und somit auch in die Organisation selbst der einfachsten sozialen Einheiten integrierbar ist, kann offensichtHch von einer poHtischen Organisation auf dieser Ebene primarer SoziaHtat nicht gesprochen werden. Hier hilft es auch nicht, wenn man - wie etwa Otaka (1932: S. 135 f.) es tut - das PoHtische einfach unter ein Eidos genannt »soziale Organisation« subsumiert. Denn damit wird das Problem, das hier sichtbar wird, lediglich zugedeckt, aber nicht gelost. Dass das »Politische« nicht einfach der sozialen Organisation von Kollektiven zugeschlagen werden kann, wurde bereits in den Anfangen der europaischen politischen Philosophic deutlich, und auch dort verband sich damit bereits das Problem der Fundierung des Politischen im menschiichen bzw. im sozialen Leben. Platons Einsicht, dass die »natiirlich gewachsene« soziale und wirtschaftliche Ordnung aufgehoben werden miisste, wenn in der Polis eine rationale politische Ordnung verwirklicht werden soUte, die er uns in seiner »Politeia« darbietet (Platon 1989: Buch 5 und 8), zeigt an, dass fiir ihn der Unterschied zwischen der politischen und der sozialen Realitat, wie sie sich in der relativ natiirlichen Einstellung konstituiert, einerseits eine Selbstverstandlichkeit war. Seine These, die Polis sei - andererseits - ein »grofi geschriebener Mensch« (Voegelin 1965: S. 93, Platon 1989: 368 c bis d) zeigt aber auch, dass er einen Zusammenhang zwischen dem Politischen und dem Wesen des Menschen annahm, wenn auch nicht klar aufzuzeigen vermochte. Der Weg zu diesem Zusammenhang fiihrte wohl in Platons Augen nicht durch die Analyse der relativ natiirlichen Einstellung und der darauf aufbauenden Lebensweltstruktur, sondern vielmehr von dieser weg und aus der Hohle der Alltaglichkeit hinaus zum klarenden Logos, auf dessen Grundlage die den Menschen und die Polis verbindende »eidetische Struktur« sichtbar
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werden sollte. Vielleicht noch klarer als Platon sieht Arlstoteles die Differenz zwischen der »prapolitischen« sozlalen - um den Ausdruck von Hannah Ahrend zu verwenden (Ahrend 1971: S. 42) - und der politischen Ordnung der sozialen Realitat. Die »naturlich« gewachsene und somit genetisch der Polis vorausgehende soziale Organisation ist die des Oikos bzw. der Oikia, d. h. der Familienhaushalte unter der Herrschaft des mannlichen Oberhauptes, in denen Manner, Frauen, Kinder und Sklaven zu einer Wirtschaftsgemeinschaft verfasst sind (Aristoteles 1973: 1252 a, 10 bis 20; 1253 a bis 1254 a, b l f.). Hierarchische Ungleichheit sozialer Positionen, definiert durch Freiheit/Unfreiheit sowie Abhangigkeit/Unabhangigkeit ist fiir diese Organisation kennzeichnend. Der Haushalt in diesem Sinne stellt, wie Hannah Ahrend zeigt (Ahrend 1971: S. 35), das Idion, d. h. das Eigene der FamiHe dar, das sich von dem Gemeinsamen (Koinon) der PoHs klar abhebt, ebenso wie sich dariiber hinaus auch die soziale Organisation der PoHs in ihren Produktionsverhaltnissen, Handels- und Familienbeziehungen sowie in ihrer sozialen Zusammensetzung von der politischen Gemeinschaft der Polis abhebt. Der letzteren gehoren bei Aristoteles bekanntlich freie, d. h. auch vor allem von der Erwerbsarbeit freie Burger an, die berechtigt sind, an Regierung und Gericht teilzunehmen (Aristoteles 1973: 1261a, 20 f.). Das Charakteristikum der sozialen Positionen in der politischen Gemeinschaft ist somit - im Gegensatz zu jenen innerhalb der »naturlichen« sozialen Ordnung - die »Gleichheit Verschiedener«. Selbst wenn die unterschiedlichen Verfassungen der Polis auf eine Hierarchisierung der Burger hinauslaufen, so ist die hier entstehende Rangordnung keine »naturlich soziale«, sondern sie stellt eine Umformung der urspriinglichen politischen Biirgergleichheit dar. Damit werden wir auf ein wichtiges konstitutives Moment des Politischen aufmerksam, namlich auf die ihm innewohnende Definitionsmacht, durch die der Mensch aus seiner »naturlich« entstehenden sozialen Welt und der in ihr bestehenden relativ natiirlichen Einstellung herausgelost und in ein anderes. System von »Typik und Relevanz« versetzt wird. Aufgrund der offensichtlichen Differenz zwischen dem prapolitischen Sozialen und dem Politischen stellt sich Aristoteles natiirlich die Frage
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nach ihrem gegenseitigen Verhaltnis und nach der Herkunft der politischen Ordnung. Er ist bemiiht, das Problem mit selnem Hinweis auf den »zoon politikon« zu losen, zu dessen Natur es gehort, nach dem »Staat« zu streben (Aristoteles 1973: 1253a, 30 f.). Somit ist der Mensch ein von Natur aus Staaten bildendes Wesen, und zwar im hoheren Sinne als etwa Tiere, da er Sprache und somit auch die Einsicht in den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bosen, Gerechten und Ungerechten besitzt. Die ersten Seiten der Aristotelischen »Politik« scheinen klare Auskunft zu geben: Das Politische gehort zum Telos des Menschen, im Sinne seiner Natur als conditio humana. Indem die Polis die Verwirklichung des Gesetzes und das Gesetz die Verwirklichung der Gerechtigkeit darstellt, die den Menschen vom Tiere trennt, ist der Staat gar der natiirlichen Oikia vorgangig, da er das Spezifische des menschlichen Telos verwirklicht (Aristoteles 1973: 1253a, 20 f.). Diese Argumentation, und dies sieht Aristoteles auch, klart jedoch weder das Problem der Differenz zwischen dem Politischen und dem Sozialen, noch antwortet sie auf die Frage nach den Bedingungen des Ubergangs von dem einen zum anderen. Denn die Rede vom Primat hat nur dann Sinn, wenn zwischen dem Primaren und dem Sekundaren unterschieden wird - die Differenz bleibt also bestehen. Ebenso macht die Rede von der »naturlichen Neigung« zum Politischen nicht die Ubergangsbedingungen klar. Denn dass etwas Zusatzliches notig ist, um von dem einfachen Leben zum »bios politikos«, d. h. zum guten Leben in der Polis zu kommen, macht Aristoteles in der Nikomachischen Ethik deutlich. Die Ordnungsmacht der Polis ergibt sich nicht einfach aus dem »Eidos« der Gesetze, sondern aus der Handlungsmacht ihrer Glieder (Aristoteles: 1973: 1328a, 35 f.). Das Problem der griechischen Politiktheorie besteht ja gerade darin, diese Handlungsmacht so zu gestalten, dass sie zu einer guten und gerechten Ordnung hinfiihrt. Dafiir jedoch reicht es nicht aus, wie Aristoteles (1985) in seiner Ethik zeigt, einfach das »Gute« im Sinne der Befriedigung von Lust zu verfolgen, denn dies wiirde den Menschen nicht von Tieren trennen. Ebenso wenig reicht es aus, so zu handeln, dass man die Anerkennung anderer findet, denn dies ist ein auEeres Kriterium, dessen Inhalt relativ und zufallig ist. Erst wenn
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die Anerkennung fiir »schone Taten«, also fiir das Handeln (praxis) und Reden (lexis) im Sinne des gerechtes Maftes (mesotes) erwiesen wird, lasst sich von einer tugendhaften Lebensfuhrung sprechen, durch die die Handlungsmacht der Burger in den Bahnen der Gerechtigkeit gehalten und ein »bios politikos« verwirklicht wird. Weder die naturbedingten noch die durch soziale Anerkennung entstehenden Handlungsmaximen fiihren also automatisch zum politischen Handeln im aristotelischen Sinne. Zur Verwirklichung des zoon politikon ist eine besondere »Anstrengung« notig, die Aristoteles bekanntlich als das Bemiihen um die Einsicht (phronesis) in die Bestimmungen des Telos des Menschen begreift. Es ist also eine rejflexive Leistung erforderlich, die zwar in der Struktur des natiirlichen Weltzugangs des Menschen der Bedingungen nach angelegt ist, deren Vollzug aber nicht automatisch erfolgt, sondern gewoUt werden muss, und damit auch iiber die Grenze der relativ natiirlichen Welteinstellung hinausfiihrt und diese auf das Aufieralltagliche hin transzendiert. Neben dem Hinweis auf die dem Politischen notwendigerweise innewohnende Definitionsmacht macht Aristoteles damit auf zwei weitere Momente des Politischen aufmerksam. Erstens zeigt er, dass das Politische immer auch eine Begrenzung der Handlungsmacht der Glieder der Polis beinhalten muss, deren Tugend nicht nur darin besteht, regieren zu konnen, sondern auch darin, sich regieren zu lassen (Aristoteles 1973: 1277b). Zweitens weist er darauf hin, dass die Definitionsmacht des Politischen sich durch ihren die relativ natiirliche Einstellung transzendierenden Bezug legit imiert. Wir sehen also, dass Aristoteles' Rede von der Vorgangigkeit des Staates und des zoon politikon keineswegs die Gleichsetzung der sozialen mit der politischen Ordnung bedeutet, sondern vielmehr das Problem ihrer gegenseitigen Beziehung in seiner ganzen Reichweite sehr differenziert formuliert: Er zeigt die Spezifik des Politischen, aufgrund welcher das Soziale und das Politische unterschieden werden miissen. Zugleich zeigt er jedoch, dass die beiden Bereiche eine gemeinsame Basis in der »Natur des Menschen« sowie einen gemeinsamen Bezug, namlich die Beziehungen der Menschen untereinander - haben. Damit hebt er zwei fiir die Klarung des »Politischen« grundlegende Fragen ins philosophisch-theoretische Be-
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wusstsein. Erstens - worin liegen die gemeinsamen Wurzeln des Sozialen und des Politischen, und zweitens - wie vollzieht sich der Schritt von dem einen zum anderen? Sozial- und kulturgeschichtlich gesehen vollzieht Aristoteles damit eine Bewegung des Ubergangs von der relativ natiirlichen Einstellung innerhalb der natiirlich gewachsenen sozialen Ordnung, die durch die ihr eigenen (idion) Systeme von Typik und Relevanz gekennzeichnet sind, zu gesellschaftlichen Ordnungen, die auf liber den Bereich einzelner Gruppierungen hinaus generalisierbaren Handlungsmaximen aufbauen, indem sie sich als symbolische Reprasentationen von transzendenten, also aufieralltaglich begriindeten Wissenssystemen legitimieren (Voegelin 1965: S. 17). Zu den Wissenssystemen der »Achsenzeit« (Jaspers 1949: S. 18 f.) dieses Ubergangs gehort neben den Universalreligionen auch und insbesondere die griechische Philosophic. Ideengeschichtlich betrachtet, formuliert die politische Philosophic der Griechen mit ihrcr Frage nach dem zwischen dem Sozialen und dem Politischen bestehenden Verhaltnis ein Problem und zugleich ein Instrumentarium, das fiir die Behandlung des »Politischen« im europaischen Denkraum von pragender Bedeutung blieb, auch wenn zwischenzeitlich die Scharfcn seiner Kontur verwischten. Mit Hannah Arendt (1971) lasst sich zeigen, wie etwa im Mittelalter das urspriingliche Differenzierungspotential der antiken politischen Philosophic durch die Anschauung des geringeren Ausdifferenzierungsgrades mittelalterlicher Gcsellschaften abnimmt. Untcr dem Eindruck der Strukturhomologie der familiaren und feudalen Herrschaft setzt Thomas von Aquin Soziales und Politisches in eins und formuliert: »Homo est naturaliter politicus, it est, socialis« (Arendt 1971: S. 34, 38). Doch diese Synthese kann gegen die immer wieder erfahrbare Evidenz der Unterschiedlichkeit der beiden Bereich nicht bestehen: Zwar vollzieht sich die Synthese des Politischen und des Sozialen historisch in dem Mafie, in dem soziale Verhaltnissc des »Hauses« zum Objekt des Politischen werden, wobci im christlichen Europa anfanglich die hier wirksamen Handlungsmaximen jene der die Offcntlichkeit vertrctenden Religion waren (Arendt 1971: S. 44). Im Fortschreiten dieses Prozesses entsteht »Gesellschaft« als die durch die Herrschaft (und spater auch durch die Wirtschaft) willentlich und zunehmend zweckrational gegliederte soziale
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Wirklichkeit. Die Synthese des Sozialen und des Politischen ruft jedoch im gleichen Zuge den Opposltionsbegriff der »Gemeinschaft« hervor, um den sozialen Bereich zu kennzeichnen, in dem »naturliche« soziale Beziehungen vorherrschen. In dem in der bekannten Tonnies'schen bzw. Weber'schen Unterscheidung zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung finden wir diese Differenz zwischen dem politischen und dem prapolitischen Organisationsmodus der sozialen Wirklichkeit wieder (Tonnies 1979; Weber 1971: S. 20 f.). Die UnterschiedHchkeit dieser Organisationsformen ist allerdings nicht etwa erst durch den explosionsartigen Lauf der deutschen Industrialisierung und Gesellschaftsmodernisierung wieder bewusst geworden. Eine radikale Ausformulierung dieses Gegensatzes findet sich bereits viel friiher am Anfang der angehenden Moderne in der Rousseau'schen naturrechtlichen Kritik der Zivilisation. In dieser Perspektive kann die Entwicklung der Gesellschaft den Naturzustand des Menschen samt seiner natiirlichen Sozialitat derart verformen, dass der Mensch von seinem natiirlichen Wesen entfremdet wird (Rousseau 1989). Im Rahmen dieser Gedankenfigur fiihrt der Wunsch nach der Errichtung einer menschengerechten Gesellschaft, in der ein »gutes Leben« moglich ware, zum Riickgriff auf den prapolitischen Naturzustand, der von der das menschliche Wesen verdinglichenden Vergesellschaftung frei ware eine Figur, die auch der Marx'schen Utopie zugrunde liegt (Marx 1973). Sowohl die Husserl'sche als auch die Schiitz'sche Konzeption der Lebenswelt als eines kritischen Begriffs lasst sich als eine Variante der oben geschilderten Figur begreifen. Die Absicht der Phanomenologie als einer Wissenschaft von der Lebenswelt - gleich ob sie mundan oder transzendental verfahrt - ist es, die Akte aufzuzeigen, die in der relativ natiirlichen Einstellung die Geltung der Welt, und zwar auch der sozialen, konstituieren. Auch daran sehen wir noch einmal deutlich, dass nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass die Struktur der Lebenswelt, wie sie der relativ natiirlichen Einstellung zugrunde liegt, auch das Politische als eines ihrer ausdifferenzierten Bestandteile mit erfasst, da die Figur der Lebenswelt ihre kritische und fundierende Intention gerade daraus schopft, dass sie die prapolitische, »natiirliche« Ordnung der Lebenswelt alien anderen Ordnungen gegeniiberstellt. Der Bezug auf das
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»Politische« stellt also auch die phanomenologische Lebenswelttheorie vor die altgriechische Frage danach, wie sich der Schritt vom Leben zum politischen Leben vollzieht, d. h. exakter, an welchen Momenten der Struktur der Lebenswelt dieser Ubergang ansetzen und sich voUziehen kann. Dies konstitutiv zu zeigen, hieEe dann auch, die Grundlage zu einer phanomenologischen Fundierung der Wissenschaft vom Politischen zu legen. Die Frage so zu stellen, bedeutet keine blofi akademisch-philosophische Ubung. Der gesuchte Zusammenhang ist durchaus auch von wissenschaftlicher Bedeutung: Soziologie, Kulturgeschichte und Politikwissenschaft stellen empirisch die evolutionare Differenz zwischen diesen zwei Arten sozialer Organisation fest und konstatieren auch faktisch die Tatsache der Emergenz des Politischen aus dem Sozialen. Wir haben bereits gesehen, dass diese Differenz tief in die sozialwissenschaftliche aber auch in die philosophische Begriffsbildung einwirkt. Der eigentliche Hergang dieses Geschehens und vor allem seine in der Struktur des menschlichen Weltzugangs angelegten Bedingungen erweisen sich jedoch als ein theoretisch schwierig zu fassender Gegenstand. Dazu zwei Beispiele: Max Weber unterscheidet zwar die auf emotionaler Interaktion beruhende Vergemeinschaftung von der zweckrational verfassten Vergesellschaftung und ordnet ihnen als idealtypische Ordnungskrafte die Sitte, gestiitzt auf Macht, und das Recht, gestiitzt auf politische, da bereits per Gesetz agierende Herrschaft, zu. Zugleich aber erklart er Macht zu einem soziologisch »amorphen« Begriff, da »alle denkbaren Qualitaten« einen Menschen in die Lage versetzen konnen, »seinen Willen in einer gegebenen Situation« durchzusetzen (Weber 1971: S. 17, 21, 28). Weber sieht also die Differenz der Ordnungen, halt jedoch die »prapolitischen« Bedingungen der Konstitution sozialer Ordnung, sofern sie an die Macht einzelner gebunden sind, fiir theoretisch nicht behandelbar. Sie lassen sich wohl empirisch in ihrer bereits kollektiv gewonnenen Gestalt fassen, d. h. sofern sie in Form beobachtbaren Normsystemen - Sitte, Brauch etc. - soziales Handeln regulieren. Der Ubergang von Sitte zu Recht wird zwar von Weber an empirisch historischen Fallen beschrieben, die konstitutiven Bedingungen seiner Moglichkeit bleiben jedoch ungeklart.
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ja nicht einmal als Problem formulierbar.^^^ Aber auch dort, wo die Emergenz politischer Gesellschaft aus einem prapolitischen sozialen Zustand thematisiert wird, wie etwa in Voegelins »New Science of Politics« (1965), werden die naheren Bedingungen dieses Prozesses nicht ausreichend geklart. Fiir Voegelin ist eine politische Gesellschaft durch »Reprasentation« verfasst. Dies bedeutet, dass sie einerseits iiber ein Deutungsschema verfiigen muss, in welchem der Bezug auf transzendente Wahrheiten symbolisiert wird, durch den sich die Gesellschaft selbst als eine Ordnung legitimiert. Durch diese »transzendente Reprasentation« ihrer Ordnung stellt sie jenes von Sinn geordnete Kosmion dar, von dem auch Alfred Schiitz in Anlehnung an Voegelin spricht (Voegelin 1965: S. 84; Schiitz 2003a: S. 196). Das Politisch-Werden einer Gesellschaft hat allerdings bei Voegelin auch einen »existentiellen« Zug. Eine Gesellschaft wird politisch, indem sie sich artikuliert und einen existentiellen Reprasentanten, sei es eine Person, sei es ein KoUegium, ihres politischen Willens hervorbringt (Voegelin 1965: S. 78). Es ist der Begriff der Artikulierung der offensichtlich auf den Ubergang vom prapolitischen zum politischen gesellschaftlichen Zustand zielt, den es zu klaren gilt. Um ihn zu beleuchten, zieht Voegelin diverse Zeitzeugen und Analytiker solcher Prozesse heran (Voegelin 1965: S. 67 ff.). Das Ergebnis ist jedoch recht mager: Es werden organische Analogien angefiihrt, so etwa die Herausbildung eines voll entwickelten Korpers aus einem Embryo, sowie illustrierende Begriffe wie »Eruption« (ex populo erumpit regnum) eingefiihrt, schliefilich auch die historische Verkorperung der politisch gewordenen Gemeinschaft in der Person des Konigs erortert, kurz - das Phanomen der Artikulierung wird belegt, veranschaulicht und von alien Seiten beleuchtet, doch seine Konstitutionsbedingungen bleiben auch hier im Dunkeln: Die Artikulierung als »intentio populi« muss letztlich als das »nichtfa£liche Lebenszentrum der Gesamtheit des Reichs« charakterisiert werden (Voegelin 1965: S. 71, Hervorhebung I. S.). ^"^^Sicher spielt hier die philosophische und wissenschaftstheoretische Ausrichtung Webers am Neukantianismus eine Rolle, die nicht auf Konstitutionsprozesse sozialer Realitat abhebt, sondern sie durch eine idealtypische Rekonstruktion begreifen will. Darauf zielt auch Schiitz' Kritik des Weber'schen Verfahrens im »Sinnhaften Aufbau« (Schiitz 2004: §§ 2, 3 und 4)
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Angesichts solcher Literaturbefunde wird die Bedeutung deutlich, die der Klarung von lebensweltlichen Konstitutionsbedingungen des Politischen sowohi hinsichtlich der Fundierung bzw. Neuorientierung der Sozialwissenschaften als auch hinsichtlich des Zugangs zur Beantwortung konkreter sozialwissenschaftlicher Problemstellungen zukommt. DeutHch wird auch, dass, sofern man einen phanomenologischen 2ugang zu dem Problem wahlt, eine Untersuchung auf der »eidetischen« Ebene wenig hilfreich ist. Man kann sicher »Herrschaft« und »Gesetz« als die eidetischen Merkmale der politischen Ordnung begriinden. Dies ist auch insofern sinnvoll, als die Differenz zwischen dem Sozialen und dem Politischen darin deutlich wird. Nachdem sich jedoch jede eidetische Struktur an den Akten ausweisen muss, in welchen sich die Konstitution ihres Gegenstandes notwendig vollzieht, kann die phanomenologische Frage nach der »Moglichkeit« des Politischen nicht von der eidetischen Struktur seiner fertigen Gestalt ausgehen, sondern muss sich den diese Gestalt ermoglichenden Konstitutionsbedingungen zuwenden. Und dies bedeutet im Sinne der phanomenologischen Konstitutionsanalyse, dass diese Bedingungen auf dem Boden der Lebenswelt, d. h. innerhalb der relativ natiirlichen Einstellung, aufgewiesen werden miissen. Einen der wesentlichen Beitrage fiir die Untersuchung der Konstitutionsbedingungen des Politischen in diesem Sinne finden wir in der phanomenologisch orientierten politischen Anthropologic Helmut Plessners (Plessner 1981, 1981a). Plessner sucht nach einem Zusammenhang zwischen »dem menschlichen Wesen« und dem »Politischen« (Plessner 1981: S. 201). Dabei wendet er sich dagegen, bestimmte Eigenschaften an der Gattung Mensch feststellen zu woUen, denen die Neigung zu Ordnungsstiftung immanent ware. Eine solche Festlegung lauft immer Gefahr, kulturspeziflsche Annahmen liber die menschliche Natur zu verabsolutieren. Der Wesenszug des Menschen, der auch das Politische in der menschlichen Praxis fundiert, liegt fiir Plessner vielmehr - umgekehrt darin, dass ihm jegliche von Natur aus mitgegebenen, inhaltlich ausgepragten Handlungsorientierungen und Merkmale fehlen. Die Offenheit und Unergriindlichkeit des Menschen bedeuten, dass seinen Handlungen von Natur aus auch keine Grenzen gesetzt sind. Der Mensch kann daher alles
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seinem Handeln unterwerfen. Seine Macht ist in diesem Sinne grenzenlos. Diese grenzenlose Offenheit seines Handelns bedeutet allerdings zugleich auch seine Orientierungslosigkeit. U m sinnvoU zu handeln, muss der Mensch seine Offenheit durch selbstgesetzte Ordnung begrenzen. Aus dieser Selbstbegrenzung, dieser Machtigkeit des offenen Menschen, entsteht die Varietat von Ordnungen und Kulturen, die uns in der Geschichte begegnen (Plessner 1981: S. 232). In gewisser Hinsicht konnte man sagen, dass dieser Versuch, die konstitutiven Bedingungen des PoHtischen in der Universalstruktur der conditio humana aufzuzeigen, einige Momente aufweist, die bereits in der aristotelischen Bestimmung des PoHtischen deutUch wurden. Auch fiir Aristoteles ware die Ordnung der PoHs nur aufgrund der Selbstmafiigung (mesotes) der Handlungsmacht ihrer Mitglieder moghch, wahrend ein »entgrenzter« Mensch ohne diese Tugend und ihr Gesetz einem ma£los seine Machtigkeit ausiebenden Tier gleiche. Plessner ist allerdings allzu sehr Phanomenologe, als dass er im aristotelischen Sinne normativ entscheiden mochte, was das richtige Mafi der Selbstbeschrankung sei, und welche inhaltlichen Tugenden dazu fiihren. Stattdessen sucht er nach allgemeinen Momenten dessen, was er die »Umrisse der menschlichen Lebenssituation« nennt (Plessner 1981: S. 191), d. h. - in unseren Termini - nach jenen Momenten, die die Struktur der Lebenswelt in der relativ natiirlichen Einstellung ausmachen. So stofit er auch auf die grundlegende Differenz, entlang welcher die Struktur der Lebenswelt aufgebaut wird - namlich auf die Unterscheidung zwischen Vertrautheit und Unvertrautheit. Sie gliedert die Welt in die Bereiche des selbstverstandlich Gegebenen, vertrauten »richtigen« und des unvertraut Unsicheren und »Wesenswidrigen« (Plessner 1981: S. 192). Auf der Ebene sozialer Beziehungen trennt dann diese Differenz in Plessners Auffassung quasi automatisch Mitmenschen in vertraute Freunde und fremde Feinde. Dieser partikularisierende Mechanismus, durch den die Welt und die Menschen entlang der Achse vertraut/unvertraut und Eigenes/Fremdes gegliedert werden, hat natiirlich eine »ethnozentrisierende« Wirkung. Er steht in Plessners Sicht fiir die Bindung des Menschen an ein Volk mit seiner je eigenen Vertrautheitssphare von Kultur und Sitten und in der
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Folge auch fiir die Existenz konkurrierender volkischer Gemeinschaften (Plessner 1981: S. 232 f.). In der Einsicht in die Zufalligkeit dessen, was je nach partikularem Standpunkt als eigenes Volkstum erscheinen kann, besteht fiir Plessner die Chance der »Zivilisierung« von Politik, durch die die Selbstverstandlichkeit von Freund-Feind-Beziehungen relativiert wird (Plessner 1981: S. 233). Plessner gelingt es zu zeigen, dass die Machtigkeit, Offenheit und die daraus resultierende Notwendigkeit der Selbstbegrenzung des Menschen als Rahmenbedingungen die Konstitution des Politischen bereits in der naturgeschichtlichen Genesis der Struktur des menschlichen Weltzugangs angelegt sind. In unserem Zusammenhang ist es besonders wichtig, dass er diese Rahmenbedingungen auch als allgemeine konstituierende Momente der relativ natiirlichen Einstellung aufweisen kann, so dass sie als allgemeine Bedingungen der Regelhaftigkeit menschlichen Handelns gelten miissen, gleichwohl, ob sich diese in einer prapolitischen oder einer politischen sozialen Ordnung niederschlagt. Damit lasst sich auch zeigen, dass Machtigkeit und Selbstbegrenzung, die von Aristoteles als Momente des Politischen angeflihrt werden, bereits die lebensweltlichen Bedingungen jeglicher sozialen Ordnung darstellen, namlich insofern, als in der Interaktion mit Anderen und Dingen erfahrungsmafiige und sozial gebilligte Deutungsschemata der Welt entstehen, die als Handlungsorientierungen selektiv wirken und die Variationsbreite sinnvoUer Handlungsentwiirfe begrenzen. Diese Prozesse sind immer mit darstellendem Verhalten verbunden, in dem eine kommunikative Objektivierung von Deutungsschemata erfolgt. Die Motivation des Handelns wird dadurch auf institutionalisierte Symbolzusammenhange iibertragen. Damit wird das Handeln durch eine scheinbar aufiere, sozial auferlegte Ordnung geregelt, in der die Ungleichheit von sozialen Positionen mit der ungleichen Verteilung von Definitionsmacht einhergeht. Die Verortung der Bedingungen des Politischen in den allgemeinen Rahmenbedingungen des menschlichen Weltzugangs darf allerdings nicht bedeuten, dass man die differentia specifica der politischen Ordnung und ihrer Konstitution aus den Augen verliert. Dieser Gefahr setzt sich jedoch Plessner in vielfacher Weise aus. Er verlagert das »Politische« in Bereiche
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hinein, wo Weber von blofien Machtspielen innerhalb sozialer Beziehungen sprechen wiirde. »Politik« kann es in Plessners Sinne innerhalb der alltaglich-privaten Beziehungen zwischen Mann und Frau ebenso geben, wie innerhalb der offentlichen Sphare des Staates (Plessner 1981: S. 194). Denn das Politische ist in seinen Augen die Folge der urspriinglichen Nichtgepragtheit des Menschen und daher ist es auch nicht an alltagtranszendierende Begriindungen gebunden (ebd.). Damit wird bei Plessner die klassische Aristotelische aber auch Voegelin'sche Trennlinie zwischen dem Politischen und dem Sozialen folgenreich eingeebnet. Folgerichtig ist fur Plessner auch das Freund-Feind-Verhaltnis keine spezifisch politische Beziehung, da es auch die private Sphare dominieren kann. Dafiir, dass Freundschaft und Feindschaft in Plessners Sinne keine ausschliefilich politischen Begriffe sind, spricht bereits die Konstitutionsweise dieser Trennung innerhalb der lebensweltlich universellen Perspektivitat von vertraut und unvertraut, die das Weltbild »prapolitisch« - etwa ethnozentrisch - verfasster Gruppierungen pragt. Sofern die Kategorie des Volkes konstitutiv an diesen Prozess gebunden wird, wiirde sich die Frage erheben, ob das Volk in diesem Sinne ein politischer Begriff ist und nicht vielmehr eine Gemeinschaft bezeichnet, die sich in einem - mit Voegelin zu sprechen - politisch nicht artikulierten Zustand befindet. So gesehen miisste Carl Schmitt (1963) Recht behalten, wenn er das Politische erst dann entstehen sieht, wenn eine Gemeinschaft die Trennung FreundFeind nicht mehr in der relativ natiirlichen Einstellung quasi automatisch vollzieht, sondern, sich aus dieser losend, souveran - und d. h. willktirlich je nach Fall entscheidend - setzt. Dieser Deutung verschliefit sich Plessner zwar, indem er eine andere Zasur zwischen dem politischen und dem prapolitischen Gebrauch des Freund-Feind-Verhaltnisses setzt: Nicht die Souveranitat der Setzung, sondern die Einsicht in die Zufalligkeit dieser lebensweltlich gewachsenen Relation markiert den Punkt, an dem die eigentliche politische Reflexion und der politische Gebrauch der Freund-Feind-Beziehung ansetzt. Plessner bezeichnet diese Einsicht als das Moment der »Zivilisierung von Politik«, und vollzieht damit nolens volens eine weitere aristotelische Figur namlich die der Einsicht in das Politische als die Gleichheit Verschiedener,
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gegen die sich die Kategorie des Volkes als eine im Prinzip prapolitische Gleichheit der »Blut«-Gleichen abhebt. Diese Differenzierungsmoglichkeit, die sich, wie ich zu zeigen versuche, in dem Plessner'schen Text anbietet, bleibt von ihm selbst jedoch ungenutzt. Plessner selbst ordnet die »Gebundenheit an ein Volk« der Bestimmung des Politischen zu und lasst die dadurch notwendig gewordene Differenzierung der politischen und der prapolitischen Handlungsweise des durch seine Macht, Offenheit und Begrenzung allgemein bestimmten Menschen ebenso offen. Plessner zeigt uns also den universellen Rahmen der conditio humana, in der das Politische angelegt ist, ohne bereits »Gesetz« und »Herrschaft« zu sein. Machtigkeit, Offenheit und Selbstbegrenzung des Menschen als die Rahmenbedingungen, aus denen das Politische entsteht, bezeichnen allerdings eine Vermoglichkeit, die den gesamten Bereich der menschlichen Praxis pragt. Sie muss verstanden werden als der Mechanismus der Variation, Selektion und Stabilisierung menschlichen Verhaltens schlechthin, auf dem die Herausbildung und Institutionalisierung von Handlungsregulativen jeglicher Art beruhen - angefangen mit der Herausbildung von Sprache, liber kulturelle Stile etc. bis etwa zu politischen Ordnungen hin. So sehr es wichtig ist, das Machtmoment auch in diesen Bereichen zu erkennen, so offensichtlich ist es auch, dass etwa Sprach- bzw. Kunstordnungen »eigenmachtig sind« - man denke nur an die illokutionare Macht der Sprache, der Austin (1962) und Habermas (1981) nachspiirten. Diese Eigenmachtigkeit kann zwar politisch instrumentalisiert werden, aber gerade deswegen ist sie von der Eigenmachtigkeit des Politischen wohl zu unterscheiden. Wenn also auch mit Plessner die Antwort auf die Frage nach den Momenten, die in den Strukturen menschlichen Weltzugangs das Politische ermoglichen, vorangetrieben werden konnte, so bleiben doch jene Mechanismen darin ungeklart, die die »Artikulierung« bzw. die »Emanation« des Politischen naher bestimmen. Fiir die weitere Klarung der lebensweltlichen Fundierung des Politischen - und somit auch fiir die Weiterfiihrung einer phanomenologischen Fundierung einer Wissenschaft davon - lasst sich nun mit Gewinn der Schxitz'sche Ansatz nutzen, den er in seiner Untersuchung von »Equality and the Meaning Structure of the Social World« von 1955 (Schiitz
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1972a) entwickelt. Schiitz behandelt hier u. a. drei Fragen, die fiir die Untersuchung der Genese des Politischen aus der Struktur der Lebenswek wesentlich sind. 1. Wie konstituieren sich die eigenen Deutungsschemata der Wek in der relativ natiirlichen Einstellung und die darin enthakenen Merkmale von Gleichheit? 2. Welche Prozesse laufen ab in den Beziehungen von in-groups zu out-groups und vice versa, insbesondere dann, wenn eine Gruppe der anderen ihr Deutungsschema auferlegen kann? 3. Welches sind die Bedingungen der Akzeptanz eines Deutungsschemas unter dem mehrere Gruppierungen verfasst sind? Diese Probleme behandek Schutz natiirHch im Rahmen seiner Gesamtkonzeption, vor aliem im Rahmen der hier insbesondere einschiagigen Konstitutionstheorie der Lebenswek (Schutz 1972, 2003, 2003a, 2004; Schiitz/Luckmann 1975, 1984). Die thematischen und systematischen Beziige seiner Analyse, zu den in diesem Aufsatz bisher besprochenen Fragen sind kein Zufall: Die pragmatische und anthropologische Ausrichtung seiner Lebenswelttheorie (Srubar 1988) bringt sie in die Nahe des Plessner'schen Denkens, in dessen Hintergrund, ebenso wie bei Schutz, Husserl und Max Scheler stehen. Schiitz' Bezug auf die Arbeiten Voegelins ist gerade in den 50er Jahren, als die beiden Gelehrten Voegelins »New Science« und die ersten Bande seines »Order and History« diskutieren, besonders intensiv (vgl. Opitz 1993; Schiitz/Voegelin 2004). Als sicher kann schliefilich der Bezug aller drei Autoren auf die aristotelische »Politik« gelten. Ich mochte nun kurz den theoretischen Rahmen skizzieren, in dem sich Schiitz' Untersuchung der Gleichheit bewegt, soweit es fiir die Beantwortung der Frage nach der Emergenz des Politischen aus der Struktur der Lebenswek notig ist. Gruppeneigene Deutungsschemata fasst Schiitz auf als Systeme von Relevanz und Typik, die in Gruppen selbstverstandlich gelten und ihre soziokulturelle »Welt« ausmachen (Schiitz 1972a: S.
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206 f.). Er will sich auf den alltaglichen Bereich dieser Welten beschranken, macht aber deutlich, dass die Lebenswelt als die Welt des Menschen in seiner relativ natiirlichen Einstellung auch aufieralltagliche Bereiche aufweist - und verweist darauf, dass es eine Grundstruktur dieser Welt gibt, die in der »conditio humana« wurzelt (1972a: S. 207). Fiir unsere Untersuchung ist es nun dienlich, die Grundziige dieser Lebensweltstruktur sowie die sie konstitutierenden Mechanismen kurz in Erinnerung zu rufen. Auch hier will ich mich auf Momente beschranken, die fiir unsere Problemstellung von Bedeutung sind. Die Struktur der Lebenswelt als einer Kulturwelt erschliefit sich aus dem pragmatischen Weltzugang des Menschen (Schiitz 2003: S. 132 ff.). In der Interaktion mit Dingen und Mitmenschen entstehen Systeme von Typik und Relevanz, die die zeitliche, raumliche und soziale Dimension und Reichweite der Handlungsfelder der Akteure kulturell unterschiedlich pragen. Die zeitliche, raumliche und soziale Dimension der Handlungsfelder selbst sowie das Primat des pragmatischen Motivs fiir die Relevanz und Typenbildung liegen jedoch tiefer in der conditio humana begriindet. Sie resultieren aus der Reflexivitat und Zeitlichkeit des Bewusstseins, aus der Leibgebundenheit des Welterlebens, aus der Sozialitat des Menschen und aus der sich daraus ergebenden Plastizitat und sozialer - d. h. kommunikativer und interaktiver - Pragbarkeit seiner Wirklichkeit.'^'^'^ Durch den Umgang mit Dingen und Menschen sowie durch die soziale Billigung bzw. Missbilligung seiner Verlaufe entstehen Schemata einer selbstverstandlich geltenden Welt, die sich in Zonen von Vertrautheit und Unvertrautheit gliedert. Das selbstverstandliche Eingebettetsein in diese Welt zieht Grenzen von Inklusion und Exklusion durch den sozialen Raum und trennt so in-groups von out-groups, wenn auch zu dem vertrauten System von Relevanz und Typik einer in-group Heterotypisierungen der unvertrauten out-group gehoren. Dies hat fiir Schiitz einen systematischen Grund, der in unserem Zusammenhang wichtig ist. Die lebensweltliche Konstitution des Anderen beruht auf der Annahme der Reziprozitat von Perspektiven. Ist diese nicht faktisch gegeben - etwa anhand der Kommunikation - so ^'^"'Fiir die Rekonstruktion dieser Schiitz'schen Position siehe Srubar (1988), Srubar/Endrefi (2003).
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muss sie trotzdem anhand von gruppeneigenen Annahmen iiber andere hergestellt werden, da sonst ein Verstandnis des Anderen - selbst wenn es sich um ein Missverstandnis handelt - nicht moglich ware. Das Wissen von Anderen in der relativ natiirlichen Einstellung weist so immer auch die Merkmale von Vorurteil auf (Schiitz 1972a). Die so konstituierte soziale Realitat und ihre Sinnstruktur sind jedoch nie auf den Alkagsbereich beschrankt, d. h. die »Lebenswek« einer Gruppe ist nicht mit ihrer Alkagswelt identisch. In ihrem Umgang mit der Weh wird der Mensch immer mit den Erlebnissen der Transzendenz dieser Wek auf unterschiedlicher Ebene konfrontiert - mit der Transzendenz der Realitat, die aufierhalb seiner Handlungsreichweite liegt, mit der Transzendenz des Anderen, die Kommunikation erheischt, und schlieClich mit der Transzendenz der Welt als Ganzem angesichts der eigenen Endlichkeit. Das Erleben der Transzendenz lasst so auch Aufieralltagliches innerhalb der relativ natiirlichen Einstellung erscheinen und gehort zu den wesentlichen Momenten der Lebensweltstruktur mit an. Es erzwingt seine Verarbeitung in gruppeneigenen Zeichensystemen (Semantiken) und pragt durch seine Symbolik den Alkagsbereich und seine Praxis (Schiitz 2003a, 2003b). Betrachten wir nun diese Grundziige der Schiitz'schen Konzeption, so sehen wir eine Reihe von Topoi, die sie mit den Ansatzen Plessners und Voegelins teilt. Wir finden auch im Schiitz'schen Denken die Figur der Hervorbringung der menschlichen Welt im Handeln verbunden mit der These der Selbstbegrenzung des Handelns durch seine kommunikativinteraktiv entstehenden Regulative wieder, die bereits auch der Plessner'schen anthropologischen Fundierung des Politischen zugrunde lag. Die Orientierung an den Lebensweltanalysen Husserls, die den beiden Autoren gemeinsam ist, lasst sie auch die Konstitution von Gruppenwelten vor dem Hintergrund der Vertrautheit und Unvertrautheit der Welt begreifen und den Mechanismus sozialer Inklusion und Exklusion damit verbinden. Wahrend Plessners Begrifflichkeit »expressiver« ist und die konflikttrachtige Machtigkeit des Handelns betont, ermoglicht Schiitz neutralere Rede vom Handeln sowie von den in- und out-groups eine differenzierte Betrachtung der hier angelegten Konfrontationssituation. Die gegenseitige Freund-Feind-Wahrnehmung von Gruppen ist fiir Schiitz
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- wie wir noch sehen werden - nur eine Moglichkeit, die aus der Struktur der gruppeneigenen Deutungsschemata der Anderen resultleren kann. Im Schiitz'schen Konzept der von innen her sinnhaft ausgeleuchteten Gruppenwelt wird der Konsens mit Voegelins symbolischer Reprasentation von Gesellschaften erkennbar, ebenso wie in seiner Einbeziehung des Transzendenzbezugs auf Aufieralltagliches in die Struktur der Lebenswelt. In seiner Korrespondenz mit Voegelin macht Schiitz jedoch geltend, dass in Transzendenzbeziigen dieser Art keineswegs auch immer das Sakrale mitzuschwingen braucht, und moniert, dass Voegelin das Problem der Gegenseitigkeit von In- und Exklusion zwischen unterschiedlichen Gruppen nicht ausreichend betrachtet (Opitz 1993: S. 100). Es ist auch tatsachlich das Problem der gegenseitigen Beziehung zwischen in- und out-groups, deren Untersuchung durch Schiitz ein Instrumentarium bietet, mit dem wir die Frage nach der Emergenz des Politischen aus der Struktur der Lebenswelt angehen konnen: Schiitz untersucht das genannte Problem vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen dem subjektiven und objektiven Sinn der Gruppenmitgliedschaft (Schiitz 1972: S. 232 f.). Der subjektive Sinn der Gruppe fiir ihre Mitglieder besteht in dem gemeinsam geteilten System von Typisierungen und Relevanzen, d. h. in ihrer relativ natiirlichen Weltanschauung, durch die soziale Positionen und ihr Status selbstverstandlich gegeben sind und durch die auch eine »homogene« d. h. von alien geteilte Selbsttypisierung der Gruppenmitglieder definiert wird. Der objektive Sinn der Gruppenmitgliedschaft ergibt sich aus der Perspektive eines Aufienseiters (oder einer out-group), dessen Typisierungsschema nicht der Homogenitat der Selbsttypisierung der in-group folgt, sondern diese notwendigerweise missachtet und daher in der Sicht der in-group Heterogenes (d.h. Untypisches) unter fiir ihn - den Aufienstehenden - typisch Gleiches subsumiert. Solange zwei (oder mehrere) Gruppierungen schlicht nebeneinander existieren, resultieren aus dieser Struktur ihrer relativ natiirlichen Weltanschauungen keine Probleme. Sobald sie aber in die Lage geraten, in der sie miteinander um die Definitionsmacht der Situation konkurrieren bzw. in der eine Gruppierung der anderen ihre Deutungsschemata auferlegt, andert sich die Situation radikal. Die Selbstverstandlichkeit der Selbst- und Fremdtypisierung wird in
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der Konfrontation erschiittert. Vor allem der unterliegenden Partei droht dabel ein Identitatsverlust. In dieser Situation stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Stabilitat derart beschadigter Selbstdefinitionen und somit auch der sozialen Ordnung wiedererlangt werden kann. Schiitz weist darauf hin, dass diese Situation desto schwieriger wird, je tiefer die durch die Trager der Definitionsmacht auferlegte Fremdtypisierung in das Seibstverstandnis einer in-group eindringt. Die erste feststellbare Bedingung fiir die Akzeptanz des neuen Deutungsschemas und somit fiir die Stabilisierung der neuen sozialen Verhaltnisse ist daher die Selbstbegrenzung eigener Handlungsmacht durch die Definitionstrager selbst. Dies setzt jedoch ein Zweifaches voraus: Erstens muss eine zumindest partielle Distanzierung von der alltagiichen, unbefragten und daher auch seibstverstandlichen, totalen Geltung des eigenen Deutungsschemas seitens der Definitionstrager bestehen - wenn auch an der Uberlegenheit des eigenen Systems nicht gezweifelt werden braucht; zweitens ist eine wie auch immer geartete Modifikation des urspriingiichen Deutungsschemas der definierenden Gruppe notwendig, die den durch dieses Schema Fremdtypisierten einen Anschluss an dieses ermoglicht und somit ihre zumindest teilweise Inklusion in den durch die Normen der definierenden Gruppe geschiitzten sozialen Raum bewirkt (Schiitz 1972:S. 236). Welche systematischen Konsequenzen lassen sich nun aus der bisher gesagten in Bezug auf die Emergenz des Politischen aus der Struktur der Lebenswelt ziehen? Beginnen wir mit der Frage, wie das Politische in dieser Struktur liberhaupt verankert sei. Plessners, aber auch Schiitz' Untersuchungen der Grundstruktur der relativ natiirlichen Weltanschauung legen nahe, dass das Politische seiner Moglichkeit nach in der Machtigkeit des Menschen (Plessner) bzw. in dem pragmatischen Weltbezug des Menschen (Schiitz) und aus der daraus resultierenden Konstruiertheit der sozialen Realitat fundiert ist. Handlungsmacht, reflexive Plastizitat (Offenheit) des Menschen und die Selbstregulierung des Flandelns durch sozial generierte Deutungsschemata sind die Grundlagen dieses in der conditio humana angelegten Konstitutionsmechanismus, durch den relativ natiirliche Weltanschauungen generiert werden. Die Artikulierung bzw. die Emergenz des Politischen kann nun als eine Sequenz der Reflexion
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und der daraus folgenden Instrumentalisierung dieser Konstruiertheit der »Welt« qua ihrer Machbarkeit begriffen werden.^"^^ Die Einsicht in die pragmatische Produzierbarkeit der Wirklichkeit, gebunden bereits an die Evidenz des »Ich kann immer wieder« dies und jenes tun, begleitet allerdings den Menschen seit der Herstellung des ersten Werkzeugs und muss in Bezug auf das Politische spezifiziert werden. Von einer Emergenz des Politischen konnen wir dann sprecheuy wenn die sozialen Bedingungen der Intersubjektivitdt, d. h. die Definition der Reziprozitdt von Perspektiven der Akteure zum Gegenstand von Reflexion und Konstruktion werden. Schiitz' Erorterungen zeigen, dass dies in Momenten der Erschiitterung des »subjektiven Sinns« der Gruppenmitgliedschaft passiert, d. h. dann, wenn die relativ natiirlichen Einstellungen dieser Gruppierungen miteinander konfrontiert werden und ihre »taken for grantedness« damit in Frage gestellt wird. In solchen Situationen entsteht das Bediirfnis, die Bedingungen, unter welchen sich die Akteure als Mitmenschen anerkennen (oder nicht), neu zu definieren, d. h. die Tiefe und den Umfang der Reziprozitat von Perspektiven und damit auch die soziale (d. h. durch gemeinsame Kultur definierte) oder gar die anthropologische (d. h. durch die Zugehorigkeit zu der gleichen Gattung definierte) Intersubjektivitat festzusetzen. Dies ist es, worauf auch die Bestimmung des PoHtischen als eines durch das Verhaltnis von Freundschaft und Feindschaft gekennzeichneten Bereichs sozialer Ordnung zielt. Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen der aufgrund der primaren Differenzierung zwischen Vertrautheit und Unvertrautheit definierten Freundschaft und Feindschaft in der relativ natiirlichen Einstellung und einer Definition, die sich aus diesem urspriinglichen Verhaltnis von Auto- und Heterotypisierung herauslost und die Kriterien fiir die Unterscheidung von Freund-Feind nach anderen Mafigaben setzt. Erst in diesem zweiten Falle, d. h. erst dann, wenn dieses Verhaltnis reflexiv angewandt wird, kann man von einer politischen Konstruktion von Feindschaft und Freundschaft sprechen, worauf Carl Schmitt (1963) durchaus zutreffend hinweist. In der von Schiitz eroffneten Sicht zeigt sich allerdings auch, dass die "^"^^Vergleiche dazu die Charakterisierung des Politischen in der Polis als eines »KonnenBewusstseins« in: Meier (1995: S. 435 f.).
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Verankerung des Politischen in der Struktur der Lebenswelt und seine Artikulierung aus dieser heraus keineswegs mit dem Hinweis auf die reflexive Redefinition des Freund-Feind-Verhaltnisses ausreichend erfasst wird."^"^^ Begreift man das Politische als die Redefiniton der Reziprozitat der Akteursperspektiven, so wird sowohl sein Exkiusions- sowie sein Inklusionscharakter deutlich, und zwar in einer Weise, in der die Inklusion selbst als der Hintergrund des Freund-Feind-Verhaltnisses sichtbar wird.^^° Es ist wohl die Tatsache der Emergenz des Politischen aus der Konfrontation bzw. aus der Konkurrenz mehrerer Gruppen und ihrer relativ natiirlichen Weltanschauungen, die die Aufmerksamkeit primar auf das Freund-Feind-Verhaltnis lenkt. Denn dort, wo die alltagliche Selbstverstandlichkeit von Auto- und Heterotypisierung fraglich und somit neu definierbar wird, entsteht auch das Problem der Durchsetzung der Neudefinition und somit auch ihrer Legitimierung. Die Definitionsmacht liegt nicht mehr in selbstverstandlich geltenden Deutungsschemata, sondern ist ein Resultat der Auseinandersetzung konkurrierender Gruppen, und ihre Durchsetzung erfordert eine Asymmetrisierung sozialer Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren. Die Herauslosung der Definition der Reziprozitat von Perspektiven aus der Selbstverstandlichkeit der relativ natiirlichen Einstellung, die das Politische ausmacht, hat jedoch auch weitere Konsequenzen. Da sich die Neudefinition nicht mehr voll auf die Geltung der relativ natiirlichen »taken for grantedness« stiitzen kann, muss die Definitionsmacht ihre Legitimation in einem alltagstranszenden^"^^Es ist hier nicht der Ort, auf die aus der Zwischenkriegssituation in Deutschland verstandlich zu machende Verkiirzung des Politischen auf die volksgebundene FreundFeind-Perspektive einzugehen. Vor allem der darin angelegte Versuch, das Politische zu versachlichen und von der transzendenten, d. h. »blofi moralisierenden bzw. ideologisierenden« Dimension seiner Legitimation zu trennen, den wir bereits bei Plessner aber vor allem dann auch bei Carl Schmitt vorfinden, zeigt u. a. die Erschiitterung deutscher Bildungsbiirger, die sich in der Fremddefinition durch die alliierte Propaganda im Ersten Weltkrieg in der Rolle primitiver, nach Blut diirstender teutonischer Barbaren wiederfanden. Vgl. dazu etwa Durkheim (1915). ^^°Diese Hintergrundsfunktion schimmert immer wieder auch bei Carl Schmitt durch, der Kriege dann fiir apolitisch halt, wenn dem Feinde seine menschliche Wiirde moralisch abgesprochen wird, so dass der Krieg nicht seiner Verdrangung, sondern seiner definitiven Vernichtung dient. Vgl. Schmitt (1963: S. 37).
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ten Bezug suchen. In den Termini der »Multiple Realities« (Schiitz 2003a) bedeutet das, dass die in der relativ natiirlichen Einstellung konstitutierte Wirklichkeit im Rahmen eines anderen, sie transzendierenden Erkenntnisstils thematisiert und somit auch modifiziert wird. Damit wird auch die bisher als selbstverstandlich geltende Handlungsmachtigkeit gegeniiber dem heterotypisierten Anderen aufgehoben. Die notwendig werdende Legitimation des Politischen durch den Bezug auf Deutungsschemata, die die Partikularitat der relativ natiirlichen Einstellung transzendieren, enthalt so die Chance, dass die in diesem Rahmen fundierte Reziprozitat der Perspektiven von Akteuren die Partikularitat des relativ natiirlichen Freund-Feind-Verhaltnisses iiberschreitet, d. h. einen generelleren Rahmen setzt, in dem das Politische wenigstens einiger seiner Reziprozitatsmerkmalen nach als Gleichheit Verschiedener realisierbar wird. Zugleich eroffnet sich auch die Chance, dass durch eine solche Erweiterung und Generalisierung der gegenseitigen Anerkennung die Handlungsmachtigkeit der Akteure begrenzt wird, so dass ihre Verschiedenheit nicht zum aggressiven Ausleben des primaren Freund-Feind-Verhaltnisses etwa in der Exklusion bis hin zur Eliminierung der Fremden fiihrt. Die reflexive Erschiitterung der Selbstverstandlichkeit des »subjektiven Sinns« der Gruppenmitgliedschaft kann natiirlich Reaktionen hervorrufen, die auf die Wiederherstellung der verlorenen Fraglosigkeit des Freund-Feind-Verhaltnisses hinzielt. Dies kann allerdings nunmehr als ein rekonstitutiver Akt geschehen, der sich auf die Einsicht in die Konstruierbarkeit sozialer Beziehungen stiitzt und so als politisch zu gelten hat. Dieser Fall liegt Schmitts Konstruktion des Politischen zugrunde. In der Tat lassen sich solche reprimitivisierenden (Mannheim 1930) oder gegenmodernisierenden (Beck 1996) sozialen Bewegungen als Reaktionen auf die Emergenz sozialer Reflexivitat und Generalisierung von Reziprozitatsbedingungen in der Geschichte haufig finden.^^^ Die von Schiitz aufgezeigte Vorurteilsstruktur des relativ natiirlichen Verhaltnisses von in^^^ Als Beispiel konnen hier etwa das Wechselspiel von Reformation und Gegenreformation bzw. von Revolution und Restauration in Europa des 17. und 19. Jahrhunderts dienen. Auch die Genese des Nationalismus als Reaktion auf die Universalisierung moderner Lebensbedingungen durch die industrielle Revolution kann als eine Veranschaulichung dienen; vgl. Gellner (1988).
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und out-groups wird in diesen Fallen reflexiv eingesetzt, um ein FreundFeind-Verhaltnis neuer Art zu kreieren, durch welches die diesen Akt ermoglichende Reflexion wieder aufgehoben werden soil. Dieses FreundFeind-Verhaltnis stellt dann allerdings nicht die fundierende Grundlage des Politischen dar, sondern lediglich eine mogliche Reaktion auf seine Emergenz. Die Emergenz des Politischen selbst bleibt primar gebunden an die Reflexion der Rekonstruierbarkeit der sozialen Bedingungen von Intersubjektivitat, an die Generalisierung der legitimierenden Deutungsschemata sowie an die Selbstbegrenzung der Handlungsmacht. Es ist also die Inklusionsdynamik des Politischen, die sich als der Rahmen seiner Exklusionsmacht erweist. Denn gerade weil es wohl zutrifft, wie wir gesehen haben, dass das Freund-Feind-Verhaltnis erst dann zu einem Politischen wird, wenn es aus der relativ natiirlichen, gruppenzentrierten Selbstverstandlichkeit herausgehoben wird, ist sein Politischwerden an die Genese generalisierender Deutungsschemata gebunden, die die Natiirlichkeit dieses Gegensatzes transzendieren und so den Kontrahenten zumindest einige Merkmale von Reziprozitat und Gleichheit zuerkennen, und so auch die Handlungsreichweite ihrer gegenseitigen Aktionen begrenzen. In diesem Sinne resultiert das Politische nicht aus der Souveranitat von Gleichen (Staaten bzw. Volkern), das Freund-Feind-Verhaltnis zu bestimmen, sondern aus den konflikthaften, asymmetrischen und kontroversen Wechselbeziehungen von Verschiedenen, aus denen solche Deutungsschemata hervorgehen. Nicht der Staat, Herrschaft und Gesetz, sondern der pragmatische Weltzugang, Konflikt, Kommunikation und Inklusion waren demnach die Genera des Politischen. Auf diese Weise fiigt sich das Politische in den Konstitutionsmechanismus der sozialen Ordnung wieder ein, von dessen relativ natiirlicher Basis es sich durch seine Reflexivitat abloste. Welche Moglichkeiten zur Analyse des Politischen bietet nun die hier mit Hilfe von Alfred Schiitz skizzierte Verortung des Politischen in der Struktur der Lebenswelt? Wir gewinnen hier vor alien Zugang zur Analyse politischer Semantiken und zu ihrer diskursiven Genese. Es liefie sich zuerst unterscheiden, inwiefern eine bestimmte politische Praxis sowie die Deutungsschemata, die sie in einer Gesellschaft reprasentieren, exklusive
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bzw. inklusive Momente In der Definition der Reziprozitat der Perspektiven von Akteuren betonen: An der Achse der Exklusion konnten wir verfolgen, wie die gesellschaftlich gebilligte Reziprozitat von Perspektiven im Rahmen von Freund-Feind-Definitionen beschaffen ist, d.h. etwa wie die zugebilligte Reziprozitat abnimmt, bis der menschliche Status ganzlich negiert wird und der »Gegner« aus dem Rahmen des Politischen hinausgedrangt und zum nicht-menschlichen, tierhaften Objekt wird so etwa Juden im Dritten Reich oder die schwarze Bevolkerung Afrikas in der Zeit des Skiavenhandels. Auf der Inklusionsachse ware dann das GeneraUsierungsniveau der Deutungsschemata und ihrer angebotenen Anschluss und Absorbtionsfahigkeit von heterogenen Gruppierungen sowie das Ausmafi des daraus resultierenden normativen Schutzes zu beachten. Eine weitere analytische Dimension ergibt sich aus der Betrachtung des Grades und der Art und Weise, in der die Definitionsmacht des poHtisch reprasentativen Deutungsschemas in die Bereiche der Lebensfiihrung von Individuen und Gruppen eingreift und eine Identifizierung damit erwartet. Auf diese Achse Hefien sich z.B. Hberale versus totahtare Semantiken abbilden. Von besonderer Wichtigkeit ware die Untersuchung des transzendenten Bezugs, durch den die Legitimation der Deutungsschemata erfolgt. Die distinktive Grofie ware hier der Grad der Reflexivitat solcher Semantiken, d. h. etwa der Entwicklung ihrer instrumentellen bzw, kommunikativen RationaHsierung im Habermas'schen Sinne oder ihrer formalen und materialen RationaHtat im Sinne von Max Weber. Insbesondere ware die Betrachtung der Konfiguration all dieser Momente wichtig, die unterschiedlichen, historisch jeweils vorfindbaren Deutungsschemata eigen sind. Hier ware es besonders reizvoll, mit diesem Instrumentarium zu priifen, inwiefern die Annahmen etwa der Evolutionstheorie Parsons (1972), Luhmanns (1997) oder auch Huntingtons (1991) stimmen, denen zufolge das jeweils hohere Reflexivitatsniveau mit einem geringeren Mafi an Exklusivitat einhergeht. Auf der Handlungsebene erlaubt die hier eroffnete Perspektive, die Ambivalenz der Prozesse der Konstitution von Definitionsmacht zu untersuchen, die einerseits im Konflikt der Akteure verlaufen, andererseits aber auch Anschliisse fiir die Kontrahenten bieten miissen, soil die Definitionsmacht politisch wirksam sein.
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Wie ersichtlich, lasst sich durch die Untersuchung der Genese des Politischen aus der Struktur der Lebenswelt, die hier im Anschluss an die Konstitutionstheorie von Alfred Schiitz und auf die Art und Weise, wie er sie angewendet hat, versucht wurde, eine Sicht des Politischen begriinden, die in zweifachem Sinne hilfreich ist: Erstens macht sie es moglich, einige der polarisierenden Bestimmungen des Begriffs des Politischen in der Tradition der politischen Philosophic zu liberwinden bzw. zu korrigieren. Zweitens konnten mit ihrer Hilfe Konzepte gewonnen werden, die die Praxis und Lexis des Politischen und seiner gesellschaftlichen Representation empirischer Forschung zufiihren. Damit findet der Bereich des Politischen im Rahmen des Schiitz'schen Entwurfs eine Konzeptualisierung, mit der sich sowohl theoretisch als auch empirisch arbeiten lasst. Und das ist genug. Literatur: Arendt, Hannah (1971): Vita Activa, Miinchen: Piper (Original (1959): The Human Condition. New York: Doubleday). Aristoteles (1973): Politik. Zurich: Artemis. - (1985): Nikomachische Ethik. Hamburg: Meiner. Austin, John L. (1962): H o w to do Things with Words. Oxford: Clarendon Press. Beck, Ulrich u. a. (1996): Reflexive Modernisierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Durkheim, Emile (1915): »Deutschland iiber alles«. Die deutsche Gesinnung und der Krieg. Paris: Libraire Armand Colin. Gellner, Ernest (1988): Nations and Nationalism. Oxford: Blackwell. Huntington, Samuel F. (1991): The Third Wave. Democratization in Late 20. Century. Norman. Oklahoma: Univ. of Oklahoma Press. Jaspers, Karl (1949): Ursprung und Ziel der Geschichte. Zurich: Artemis.
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4. Das Politische und das Populare. Die Herstellung der alltagsimmanenten Transzendenz durch die Massenkultur In der europaischen Tradition seit Platon und spatestens seit Aristoteles wird »das PoIitische« im Sinne einer von Menschen gesatzten Ordnung sozialer (Macht-)Beziehungen durch drei Merkmale charakterisiert: 1. Die politische Ordnung - die PoHs - ist von der natiirhchen Ordnung sozialer Beziehungen - dem Oikos der Familie - verschieden. Wenn familiare Beziehungen als solche angesehen werden, die immer im Zusammenleben von Menschen entstehen und daher zu ihrer relativ natlirlichen Alltagswelt gehoren, dann muss die politische Ordnung als etwas Aufieralltagliches gelten. 2. Da die Legitimation der politischen Ordnung nicht automatisch in der relativ natlirlichen Einstellung erzeugt wird, erfordert das »Politische« den Bezug auf eine alltagstranszendente Sinnebene, von der aus es seine Legitimation erhalt. Es bedarf also einer symbolischen Representation - einer Semantik des Politischen im weitesten Sinne, durch die es sich darstellen und handlungsmotivierend wirken kann. 3. Die handlungsmotivierende Wirkung politischer Ordnung kann natiirlich nicht nur auf ihre symbolische Darstellungsweise zuriickgefiihrt werden. Sie geht ebenso von dem dieser Ordnung immanenten Machtmoment aus, das darin besteht, die Handlungsmacht einzelner zu begrenzen. Dieses Moment politischer Macht wirkt entweder durch ihre symbolische Prasenz - sozusagen durch die Darstellung der Machtinsignien - oder durch den institutionalisierten Zwang, die symbolisch angebotenen Handlungsweisen zumindest aufierlich zu befolgen.
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Fiir konstltutlonstheoretische Uberlegungen, die der Frage nach dem sinnhaften Aufbau der sozialen Welt nachspiiren, ergeben sich aus diesem Sachverhalt zumindest drel folgende Fragen: 1. In welchen Mechanismen der Konstltution der sozialen Realitat in der relativ natiirlichen Einstellung ihrer Akteure ist die Chance begriindet, den Schritt von der sozialen, d. h. von der pra-politischen zu der politischen Ordnung zu vollziehen? 2. Wie differenziert sich die alltagstranszendente Sinnebene aus und welche Funktionen muss sie erfiillen? 3. Was geschieht mit dem alltagstranszendenten Bezug des Politischen in der Moderne/Postmoderne, d. h. in Zeiten der Entzauberung und der Veralltaglichung von transzendenten Sinndimensionen aller Art? Gibt es eine innerweltliche Transzendenz, d. h. eine Transzendenz in der Immanenz des AUtaglichen? Ich will mich nun diesen drei Fragen der Reihe nach zuwenden. 1. Folgt man der phanomenologischen Tradition ausgehend von Alfred Schiitz, so liegt die Moglichkeit der Genese des Politischen aus der relativ natiirlichen Einstellung in der Struktur des Fremdverstehens. In der Begegnung mit Fremden kann die fiir das Fremdverstehen fundierende alltagliche Annahme der Reziprozitat von Perspektiven als eine solche reflektiert und einer Praxis unterworfen werden, aus der eine neue Konstruktion der sozialen Beziehungen hervorgeht. Diese ist nicht mehr ausschliefilich in den geltenden Alltagsschemata verankert, sondern zieht eine diese Schemata transzendierende, also auCeralltagliche Sinnebene nach sich, deren Normativitat der Chance nach nunmehr auch den Fremden einbezieht gleichwohl ob schiitzend oder nicht. Zu den Funktionsmerkmalen einer alltagstranszendenten Semantik des Politischen gehort somit nicht nur die In- und Exklusion, sondern auch eine Erweiterung (Universalisierung) der Normgeltung auf alle Ordnungsgenossen, sowie eine Reflexivitat, die in der Einsicht in die Konstruierbarkeit
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von sozialen Bezlehungen besteht, derart, dass relativ natiirliche Konstitutionsmechanismen sozialer Ordnung nun zur Konstruktion alltagstranszendenter Ordnungen angewandt warden konnen (Schiitz 1971, Srubar 1999). Dabei kann natiirlich der Grad der faktischen Bewusstheit dieser Prozesse historisch deutlich variieren - bis zur Umkehrung seiner Phasen in der Wahrnehmung der Beteiligten: so etwa, wenn die alltagliche Ordnung als die Ordnung des Welthauses ins Transzendente projiziert wird, und in dieser ihrer transzendenten Gestalt wiederum zur Legitimation der irdischen Ordnung herangezogen wird (Eliade 1990 ). 2. Die Frage nach der Ausdifferenzierung der alltagstranszendenten Sinnebene der Lebenswelt, auf die sich das Politische bezieht, kann hier in ihrer ganzen Komplexitat natiirlich nicht erortert werden. Ich greife nur die Momente auf, die in unserem Kontext, namlich fiir die Beantwortung unserer dritten Frage nach der Transzendenz in der Immanenz des Alhags, von Belang sind. Grob eingeteilt, erfolgt in Europa bekanntHch ein Prozess der Ablosung von reUgiosen durch vernunftgesttitzte Semantiken der Aufklarung, der natiirHch auch in die symboHsche Representation des PoHtischen hineinspielt. In der Terminoiogie Max Webers ware dieser Wandel wohl als der Ubergang von der traditionalen zur rationalen Herrschaft zu fassen, wobei sich auch die charismatischen Momente der Herrschaft andern, die - von Weber als eigenstandiger Herrschaftstypus konzipiert - wohl eher quer zu den traditionalen und rationalen Herrschaftstypen liegen und in beiden in einer charakteristischen Art und Weise enthalten sind. Dies ist in unserem Kontext aus folgenden Griinden wichtig: Da wir die Ausdifferenzierung der aufieralltaglichen Sinnebene des Politischen verfolgen, ist der Wandel der charismatischen Momente dieser Ebene fiir uns von Bedeutung. Dies insbesondere, weil ja nach Webers Definition das Charisma auf auCeralltagliche Kompetenzen von Personen, bzw. auf aufieralltagliche Sinnmomente von »Wertbeziehungen« zuriickgeht. Gehen wir nun davon aus, dass die traditionale Herrschaft ihr Charisma aus dem transzendenten Bezug ihrer religiosen Sinnelemente schopfte.
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entsteht die Frage, woher dieser Bezug im Falle der rationalen Herrschaft kommt? Der rationale Herrschaftstypus steht bekanntlich bei Weber (Weber 1971: S. 26 ff., 31 ff.) fiir biirokratische Machtausiibung sowie fiir Wirtschaftsbetriebe, die kontinuierlich auf dem Kosten-Nutzen-Prinzip arbeiten - beides Kennzeichen der Moderne. Dass Weber hier politische und wirtschaftliche Herrschaft auf das gleiche Legitimationsprinzip riickfiihrt, ist kein Zufall, wie wir noch sehen werden. Denn inmitten des durch die Entzauberung der protestantischen Ethik sakularisierten biirokratischen und kapitalistischen Alkags gibt es nur noch eine einzige alkagstranszendente Macht, die die rationale Herrschaft legitimieren kann: das Charisma der Vernunft selbst (Weber 1971: S. 726). Mit der Legitimierung der Herrschaft durch die Vernunft wird aber der erste Schritt im Prozess der Verlagerung der alltagstranszendierenden Beziige des Politischen in die diesseitigen profanen Sinnbereiche der Lebenswelt eingeleitet. Mit Alfred Schiitz zu sprechen, haben wir es hier mit einer Verschiebung der symbolischen Reprasentation des Politischen in den Bereich des - rationalen - Wirkens zu tun, also, in Schiitz Sicht, in den Bereich des AUtaglichen par excellence. Bereits dieser Schritt hat schwerwiegende Folgen fiir die Ausgestaltung der entsprechenden Semantiken des Politischen. Wir haben es hier sozusagen mit einem Knauel sich langsam sakularisierender Transzendenzbeziige zu tun, dessen Neuformierung man bereits etwa an der Begriindung der Vertragstheorie durch John Locke sehen kann (Locke 1977). Den Ausgangspunkt bildet hier das auf die Vernunft des Menschen gestiitzte Naturrecht, das die Gleichheit und die Freiheit des Menschen, nach seinem Willen zu handeln, rechtfertigt (Locke 1977: S. 238). In Lockes Konstruktion wird allerdings die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, zu einer der legitimatorischen Hauptstiitzen des Politischen. Von hier aus kann er die Legitimation der sozialen Ungleichheit bei der Beibehaltung naturrechtlicher Prinzipien aufbauen. Freiheit, Vernunft, Eigentum und Naturrecht werden also zu einem Legitimationszusammenhang verbunden, aus dem die Rationalitat der Herrschaft ihr diesseitiges
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Charisma beziehen kann. Damit wird ein erstes Konzept der Transzendenz in Immanenz in die politische Semantik der Moderne eingefiihrt, in dem das von der Vernunftbegabtheit des Menschen herriihrende diesseitige Naturrecht jene aufieralltagliche Instanz darstellt, durch die das alltagliche Wirtschaftsstreben und sein Resultat - die soziale Ungleichheit - zu charismatisch geladenen rationalen Elementen der neu zu konstruierenden politischen Ordnung der biirgerlichen Gesellschaft wurden. Die Gebote der Gleichheit und Handlungsfreiheit konnen hier so nebeneinander mit der Legitimation des Eigentums und der davon resultierenden Ungleichheit in einem rationalen Sinnzusammenhang bestehen und sich zugleich gegenseitig stiitzen. Max Weber weist darauf hin, dass eine derart konstruierte politische Semantik nur moglich ist, weil der hier involvierte vernunftgestutzte Freiheitsbegriff gleichermafien fiir die politisch/religiose Gesinnungsfreiheit als auch fiir die wirtschaftliche Handlungsfreiheit steht (Weber 1971: S. 727). Damit werden das Gleichheitsgebot im Sinne der Gesinnungsfreiheit und zugleich auch die »naturliche« Hierarchisierung sozialer Schichten aufgrund der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit bedient. Die faktischen materialen Exklusionsmechanismen der Klassenzugehorigkeit werden hier durch die normative Inklusion der Gesinnungsfreiheit »neutralisiert«, indem die alltaglichen Erfordernisse der entstehenden biirgerlichen Gesellschaft in den »Naturzustand« projiziert werden, der so als eine reflexive Konstruktion des Politischen gelten muss. Wenn wir also dieses friihe Modell der alltagsimmanenten Transzendenz in der politischen Semantik der Moderne betrachten, so wird folgendes deutlich: Entgegen aller Ausdifferenzierungstheorien tritt hier die wirtschaftliche Komponente als legitimierendes Merkmal des Politischen massiv in den Vordergrund und wird in dem Modell der Locke'schen »civil society« sowie in den Konzepten seiner Nachfolger bis Friedrich Hayeks »Verfassung der Freiheit« (Hayek 1983) durch den Bezug auf die Vernunft und/oder das Naturrecht charismatisch aufgeladen. Der Kapitalismus im Sinne einer marktwirt-
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schaftlichen Warenproduktion steht hier noch nicht dafiir, wofiir ihn seine Kritiker selt dem Beginn des 19. Jahrhunderts halten: namlich fiir schnode Ausbeutung, die politisch geregelt werden muss. In ihrer charismatisch-rationalen Aufladung stellt die Marktwirtschaft einen Mechanismus biirgerlicher Emanzipation und Befreiung aus unmiindiger Abhangigkeit von traditional/standischen Herrschaftsverhaltnissen dar. Sie wird gesehen und dargestellt als ein rationales Organon der Verwirklichung individueller politischer Freiheit und zugleich auch der gesamtgesellschaftlichen Ziele, wie es uns Adam Smiths Metapher der unsichtbaren Hand plastisch vor Augen fiihrt (Smith 1978). N u n wissen wir von Max Weber (Weber 1971: S. 142 ff.), dass die innnerwehhchen charismatischen Beziige der Vernunft das Schicksal aller Charismen teilen - sie werden veralhaghcht, indem ihre Tragerin - die Vernunft selbst - zunehmend zum kalkuherbaren Instrument erzwungener Handlungskoordinierung wird. Dieser Veraihaglichungsprozess wird um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa und insbesondere in Deutschland mit Handen greifbar, wie eine Reihe von Autoren in jener Zeit belegt (etwa: Weber 1971, Simmel 1996, Scheler 1979, Vierkandt 1931, Horkheimer/Adorno 1971). Als die treibende Kraft der Veralltaglichung der Vernunft wird die kapitalistische Marktwirtschaft gesehen als eine Verkorperung der instrumentellen Vernunft, die den Menschen in einen Korsett von schicksalhaften Abhangigkeiten und Sachzwangen hineinzwangt. Der mangelnde Transzendenzbezug einer auf diese instrumentelle Vernunft gestiitzten Herrschaft manifestiert sich auf der Ebene der Semantik im Topos der Kulturlosigkeit des Kapitalismus, d.h. in der Behauptung seiner Unfahigkeit, aufier Sachzwangen auch alltagstranszendierende legitimierende Momente der subjektiven Handlungsorientierung hervorzubringen. In Reinform k5nnen wir diese Figur in Simmels Aufsatz iiber den »Begriff und die Tragodie der Kultur« ( Simmel 1996) betrachten. Simmel unterscheidet hier zwischen subjektiver und objektiver, d.
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h. materialer Kultur von Epochen und versucht zu zeigen, dass in vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen die in Wechselwirkungen von Individuen entstehende objektive Sachkultur immer auch als alltagstranszendente Wirklichkeit der subjektiven inneren Orientierung dienen konnten, wodurch der Reproduktionskreislauf von Gesellschaftsformationen nicht nur objektiv erzwungen, sondern auch als subjektiver Lebensentwurf von Akteuren gelebt werden konnte. Die Tragodie der kapitalistischen Kultur bestehe nur darin, dass die marktmafiigen Wechselwirkungen der Akteure eine objektive Kultur produzieren, die keine, d. h. auch keine alltagstranszendenten subjektiven Orientierungen und Identifizierungsmoglichkeiten anbietet. In Simmels Analyse haben wir eine Momentaufnahme eines Zustands der kapitalistischen Moderne vor uns, in welchem aus dem auf der charismatischen Anziehungskraft der Vernunft aufgebauten aufklarerischen Reprasentationsmodell der innerweltlichen Transzendenz alles Charismatische und somit auch der Transzendenzbezug entwichen ist. Der »gnostische Charakter«, den Voegelin den modernen Reprasentationen des Politischen unterstellte (Voegelin 1965), verliert damit seine Grundlage. Simmels Zeitdiagnose, die in vielen Varianten von anderen geteilt wurde, liefert dann die Grundlage fiir eine politische Kapitalismuskritik biirgerlicher Pragung (Vierkandt 1931). Sollte man aufgrund der damaligen Analysen schliefien, dass sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft auch der Charakter des Politischen dahingehend verandert hatte, dass das Politische in der Moderne keines transzendenten Bezugs mehr bedarf? Schiitz' Analysen der Struktur der Lebenswelt zeigen, dass die Erfahrung der Transzendenz aus der Struktur des menschlichen Weltzugangs weder durch Veralltaglichung noch durch Rationalisierung und Modernisierung eliminierbar ist. Im Anschluss darauf hat Thomas Luckmann untersucht, wie sich das Bediirfnis nach religioser Transzendenz in sakularisierten Formen einer »unsichtbaren Religion« verwirklichen kann (Luckmann 1991). Das transzendente Bediirfnis nimmt hier die Gestalt privater »Kulte« an, die durch
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sakularisierte Institutionen und Medien mit »einem letzten Sinn« beliefert werden. Wie sieht es aber mit dem »Politischen« und seinen Semantlken aus? Im Gegensatz zum religiosen Transzendenzbediirfnis, das im individuellen Erleben notfalls auch ohne eine Gemeinde befriedigt werden kann, ist das Politische auf die Offentlichkeit angewiesen, und kann daher auf seine symbolische Reprasentation nicht verzichten, wenn politische Ordnung moglich sein soil. Und wenn zugleich der Schiitz'sche Hinweis auf die Unmoglichkeit, das Transzendenzerlebnis aus der Lebensweltstruktur zu eliminieren, Giiltigkeit hat, miissen wir also weiterhin auch unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne nach einem alltagstranszendierenden Bezug des Politischen Ausschau halten. Wo aber ist er zu suchen, nachdem das Charisma der Vernunft einer Veralltaglichung anheim gefallen ist? In welchen anderen Formen lasst sich die innerweltliche Transzendenz als eine dem Alltag immanente Transzendenz in der entwickelten Moderne /Postmoderne antreffen? Einen ersten Hinweis erhalten wir von jenen deutschen Kulturpessimisten, die sich paradoxerweise vor dem fatalen Versuch ihrer Landsleute, die entzauberte Moderne zu re-charismatisieren, in das Eldorado der instrumentellen Vernunft retten mussten. Die Rede ist von den Mitgliedern des Frankfurter Instituts fiir Sozialforschung, insbesondere von Horkheimer und Adorno, die sich in den USA mit dem Phanomen der seit den 20er Jahren boomenden »Massenkultur« konfrontiert sahen. Die Frankfurter erkennen schnell, dass der Kapitalismus in Gestalt der Massenkultur das nachgeliefert hat, was Simmel noch in seiner Analyse der Tragodie der modernen Kultur vermisst hatte - namlich die identifizierungsfahigen Sinnangebote, an denen sich subjektiven Orientierungen des Handelns sowie ganze Lebensentwiirfe ausrichten konnen. Horkheimer und Adorno (1971) und spater Marcuse (1970) arbeiten scharfsinnig die reproduktiven und legitimierenden Funktionen heraus, die die Massenkultur mit ihren medialen Sinnangeboten fiir die »Autopoiesis« der kapitalistischen Warenproduktion und fiir die biirgerliche Gesellschaft im Ganzen hat. Sie erkennen, dass der Kapitalismus wie alle Gesellschafts-
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systeme in der Massenkultur jene Kulturform generiert hatte, die es fiir seine Reproduktion braucht. Sie analysieren, wie die im Radio, in HoUywood-Filmen, sowie in der Reklame prasentierten alltaglichen Lebensstile Identifizierungsangebote mitfiihren, die das alltagliche Handeln und Erleben bis in die Emotionalitat hinein pragen, es in die Bahnen des Warenkonsums lenken und so die Unterwerfung der Subjekte unter die kapitalistischen Produktionsbedingungen erzwingen. Marcuse (1970) verfolgt diese Auswirkungen der massenkukurellen Reproduktion des Systems in den Bereichen der Kommunikation, der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft, wobei er auf die den massenkukurellen Semantiken innewohnende Definitionsmacht hinweist, die das Entstehen von systemtranszendierenden Alternativen verhindert, und so das Bestehende quasi immunisiert. Im Endeffekt unterscheidet sich also die Zeitdiagnose der Frankfurter nicht allzu sehr von der Simmerschen. Zwar bildet der Kapitalismus eine ihm adaquate Kulturform heraus, aber dem auf die Massenkultur als seine Legitimationsgrundlage gestiitzten Politischen fehlt in dieser Sicht jeglicher Bezug zu alltagstranszendenten Bereichen. Es wird vielmehr geradezu in die massenkulturelle Representation seiner Alltaglichkeit eingeschlossen. Dafiir spricht auch der von den Frankfurtern iibereinstimmend konstatierte affirmative Charakter der Massenkultur, d. h. ihr Unvermogen, die alltagliche Realitat kunstvoll zu verfremden, und damit einen die Reflexion ermoglichenden Freiraum fiir die Entwicklung von alternativen Realitatskonstrukten zu schaffen. In dieser Sicht scheint der Prozess der Veralltaglichung des Politischen in der Moderne zwei Phasen zu durchlaufen, an deren Ende eine vollige Eliminierung des Transzendenzbezugs steht: In der ersten Phase wandelt sich das befreiende Charisma der Vernunft in die instrumentelle Rationalitat der Produktion kapitalistischer Sachzwange, wodurch der politische Anspruch der Aufklarung zum Massenbetrug wird. Die zweite Phase wird durch das Aufkommen der Massenkultur eingeleitet, zu deren symbolischem Repertoire keine alltagstranszendenten Elemente mehr gehoren, deren sich das Politische bedienen konnte. Damit ware die Veralltaglichung der Moderne in der Sicht der Frankfurter voUendet.
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Lasst man nun den politischen Kulturpessimismus der Frankfurter beiseite und konzentriert man sich auf die sachliche Analyse, so ergibt sich folgender Sachverhalt: Der Kapitalismus entwickelt eine Kulturform, deren semantisches Repertoire keine expliziten Transzendenzbeziige mehr transportiert. Die symbolischen Darstellungen samtlicher gesellschaftlicher Sachverhalte, also auch die des Politischen, miissen sich nun dieses Repertoires bedienen. Als Reaktion darauf konnen zwar charismatisierende Semantiken entstehen (Fundamentalismen unterschiedlichster Art und politischer Couleur), aber auch sie miissen auf die veralltaglichten massenkulturellen Selbstdarstellungsmittel zuriickgreifen. Wenn es also in der entwickelten Moderne ein Sinnreservoir geben soil, aus dem das Politische seinen Transzendenzbezug schopfen konnte, miisste man es innerhalb des Phanomens der Massenkultur suchen. Dazu muss man aber die Perspektive der Frankfurter verlassen, die nur eine Seite des Funktionierens der Massenkultur betrachtet, namlich ihren den Menschen auferlegten, das System reproduzierenden Charakter. Will man die Mechanismen beleuchten, durch welche innerhalb der Massenkultur Transzendenz in der Immanenz des Alltaglichen erzeugt wird, muss man - mit Parsons gesprochen (1951: S. 36 ff.) - nach dem »appeal« und den »gratifications« fragen, die den »user« an die massenkulturellen Angebote binden. Diese Bindekraft, an deren Stelle in Form von vormodernen und friihmodernen Gesellschaftsformationen das Religiose und/oder das Rationale stand, wird in der entwickelten massenkulturellen Moderne, dem »Popularen« zugewiesen, das sozusagen die differentia specifica ausmacht, durch die moderne Massenkultur von den bisherigen Hochkulturen zu unterscheiden ist. Folgt man John Fiske (2003), einem der Hauptvertreter der »cultural studies«, der sein Werk der Untersuchung der »popular culture« gewidmet hat, so entspringt die Bindekraft des Popularen, der ihm eigenen »pleasure«, also der »Lust«, die der Umgang mit dem Popularen seinen Rezipienten verschaffen kann. Der Terminus »Lust« zielt dabei auf mehrere Momente des alltaglichen Handelns und Erlebens ab, die seine Kommentatoren in den Termini der Lacan'schen Psychoanalyse wiedergeben: »desir« (Verlangen), »plaisir« (Freude) und »jouissance« (Vergniigen).
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Das Populare ist so einerseits das Produkt der Massenkultur und Massenindustrle mit ihren intendierten systemischen Reproduktionsfunktionen. Damit diese jedoch eine Chance haben, sich im Handeln der Akteure zu realisieren, miissen massenkulturelle Angebote andererseits Momente der lustvollen Rezeption und Anwendungspraxis beinhalten. Dadurch jedoch werden dem Rezipienten Chancen eroffnet, die systemisch intendierten hegemonialen Sinnangebote zu verfremden: d.h. fiir eigene Vergniigungszwecke zu verwenden oder gar zu Gegenpositionen zu den intendierten hegemonialen Sinngehalten umzuwandeln (Hall 1980, Fiske 2003). Der Genuss des Popularen kann so zu einer »Selbstermachtigung« der Rezipienten zum politischen Handeln fiihren. Mit anderen Worten - das Populare fiihre wohl Momente mit, die aus dem Alltaglichen das Politische aufsteigen lassen konnen, also einen alltagstranszendenten Bezug hervorbringen. Wie aber kann dieser Bezug dem Popularen als einer Quintessenz der veralltaglichenden Massenkultur entspringen? Betrachten wir die Sache naher: Die Elemente der Semantik des Popularen - ob es nun Musik, Fernsehen, Film oder Texte sind, sind per Definition bar jener transzendenten Beziige, die den »elitaren Hochkulturen« eigen waren. Populares zu verstehen, setzt zuerst keine Kenntnis anderer als alltaglicher Codes voraus, d.h. es erfordert keine besondere asthetische, religiose oder wissenschaftliche Einstellung. Die jedermann verstandlichen kommunikativen und interaktiven Mittel der Konstruktion sinnhafter alltaglicher Realitat werden hier also verwendet, um eine mediale Konstruktion von Wirklichkeit zu vollbringen, die bevorzugt als AUtagswirklichkeit dargestellt wird. Das Populare stellt in diesem Sinne eine reflexive Form des Alltaglichen dar, indem es Konstitutionsmechanismen der Realitat, die der alltaglichen Praxis eigen sind, verwendet, um eine mediale Representation der Alltaglichkeit als Kulturform zu produzieren. Aus diesem Grund wird die Entstehung des Popularen zuweilen mit der Demokratisierung von Kultur bzw. mit der modernen Massendemokratie schlechthin gleichgesetzt (Fluck 1998). Systematisch betrachtet geschieht ein Zweifaches: 1. Dadurch, dass AUtagliches reflexiv wird, d.h. dass es medial auf sich selbst bezogen und somit zur Representation seiner selbst wird,
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transzendiert es den Bereich des individuell gelebten Alltags. Es wird zum Symbol und damit zu einem aufieralltaglichen Bezugsangebot fiir die alltagliche Praxis. Diesen Mechanismus der reflexiven »Zeichenverschiebung« hat bereits Roland Barthes (1964) als den Prozess alltaglicher Mythenbildung identifiziert. Die Formen und Inhalte der medialen Darstellung alltaglicher Realitat werden so zu Deutungsschemata eigenen Handelns und Erlebens. In diesem Sinne wird das Populare zum Produzenten alltagsimmanenter Transzendenz schlechthin. Seine Rezeption, die immer auch eine Rezeption der symbolischen Ebene ist, erzeugt demgemal^ auch »aufieralltagliche« Erlebnissituationen, die sich vom »Alltag« des iibrigen Lebensvollzugs abheben. Dem alltaglichen Erleben steht hier also das singulare Erlebnis medial erzeugter und reprasentierter Alltaglichkeit gegentiber, das frei von den Sachzwangen der alltaglichen Praxis zu sein scheint und vielmehr fiir die aufieralltagliche »Freizeit«, bzw. Festzeit im Sinne von Norbert Elias (1984) steht. Spatestens hier wird aber auch die Differenz zwischen gelebtem und reprasentiertem Alltag fiir die Rezipienten des Popularen erfahrbar, die fiir den Genuss des Popularen erforderlich zu sein scheint. 2. Durch diese Reflexivitat des Popularen im Sinne der alltagsimmanenten Transzendenz eroffnet sich auch jener Konstruktionsfreiraum, der es erlaubt die erforderlichen »Lustmomente« einzubauen, in denen alltagliche Codes der Wirklichkeitskonstruktion verfremdet werden, bzw. zu »karnevalesker« Darstellung (Bachtin 1990) gelangen. Durch die Einiibung der Seh- und Deutungsgewohnheiten, die mit dieser Verfremdung einhergehen, erzeugt das Populare seine eigenen »asthetischen Einstellungen« und Rezeptionspraktiken, die als Grundlage der Identifikation der »Selbstermachtigung«, etwa in Form der Bildung von Fangemeinschaften etc., dienen konnen. Wir sehen also, dass das Populare als eine Form der alltagsimmanenten Transzendenzerzeugung vielfaltige Anschliisse bietet, an welche symbolische Representationen des Politischen andocken k5nnen.
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1. Es stellt eine Generalisierung alltaglicher Erwartungen auf der symbolischen Ebene medialer Wirklichkeit dar, die den Hintergrund fiir die Darstellung jeglicher Inhalte im offentlichen Raum ausmacht. Geht man davon aus, dass Erwartungen immer auch mit normativen Vorstellungen verbunden sind, dann stellt das Populare in diesem Sinne ein Vehikel der Generalisierung von Normen dar. 2. Zugleich setzt seine auf Lust zuriickgehende Bindekraft Prozesse der In- und Exklusion in Gang, die sowohl die Form emotionaler Bindungen als auch sekundarer Rationalisierung annehmen konnen und sich etwa in verschiedenen Fankulturen niederschlagen. Dass Popmusik bestimmter Genres als Einstiegsschiene in unterschiedlichen Subkulturen Jugendlicher dient (Farin/Seidel-Pielen 1997), fiihrt uns die bindende Mobilisierungskraft des Popularen und ihre politische Verwendbarkeit plastisch vor Augen. Wenn eingangs gesagt wurde, dass Semantiken des Politischen eine Reflexivitat mitfiihren miissen, die es erlaubt, die soziale Konstruiertheit prapolitischer Vergesellschaftungsformen einzusehen, um so die Mechanismen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit intendiert zur Neuordnung sozialer Verhaltnisse einzusetzen, so sehen wir, dass eine derartige Reflexivitat auch dem Popularen eigen ist, wenn auch zuerst in einem eingeschrankten Sinne. So wie etwa die Tatsache der normativen Regelung des Zusammenlebens in der relativ natiirlichen Einstellung zur Schaffung einer Rechtsordnung reflexiv herangezogen werden kann, indem man das Setzen von sozialen N o r m e n selbst einer Normierung unterwirft, so wendet das Populare alltagliche Formen der Realitatskonstruktion an, um sich selbst als eine mediale Wirklichkeitsdarstellung hervorzubringen. Von der Reflexivitat einer rationalen Rechtsetzung, die - wie wir sahen - selbst eine Form der Veralltaglichung der Moderne darstellt, unterscheidet sich jedoch die Reflexivitat des Popularen in einem entscheidenden Punkt. Die auf Rationalitat aufbauenden reflexiven Konstruktionen aufieralltaglicher Ordnungen - etwa das Recht, die biirokratische Organisation, Wissenschaft usw. - wenden Alltagliches auf Alltagliches an (Norm auf Norm, auf Uber- und Unterordnung, Denken
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auf Denken etc.), um innerweltliches Aufieralltagliches zu schaffen - etwa Gerechtigkeit, personenunabhangige Systemloyalitat oder Wahrheit. Die Art und Weise, in der sie das tun, impliziert jedoch immer, dass sie die Konstruktionsweise der so entstehenden Ordnung transparent machen, indem sie die Schritte ihrer Konstruktion systematisch angeben: Schritte der Gesetzgebung, Regeln der Organisation, Schritte der wissenschaftlichen Methode usw. Diese Transparenz der reflexiven Selbstkonstruktion geht dem Popularen ab. Seine Reflexivitat als Bedingung der Konstruktion alltagsimmanenter Transzendenz bleibt latent und leuchtet nur in Gestalt von »pleasure« auf. Dies macht die typische Funktionsweise des Popularen als eines massenkulturellen Produkts aus, dies befahigt es auch, als ein Vehikel von hegemonialen Semantiken zu dienen, denen immer das Konnotat des »Massenbetrugs« anhaftet. Wohl kann das Populare bei seinen Konsumenten eine Reflexion auslosen, durch die seine Machart erkannt und ihrerseits lustvoll verfremdet werden kann. In diesem Falle entwickeln die Konsumenten laut Fiske (2003) und Hall (1980) eine oppositionelle, subversive Lesart der popularen Prasentation, indem sie diese als ein Konstrukt erkennen, dessen Funktionieren sie fiir ihre eigenen Zwecke verwenden. Wenn auch in dieser Moglichkeit eines der politisierenden Potentiale des Popularen liegt, so hangt ihre Realisierung von der Einstellung der Konsumenten ab und stellt keine systematische Bedingung der Konstruktion des Popularen an sich dar. Das Populare stellt also eine Form der latenten Reflexivierung des Alltags dar, durch die eine alltagsimmanente Transzendenz generiert wird. Damit eignet es sich als ein Mittel der symbolischen Representation des Politischen unter den Bedingungen der entzauberten, veralltaglichten Moderne. Welche typischen Formen nimmt diese populare Representation des Politischen an? Wir woUen kurz nur bei den zwei auffalligsten verweilen: Eine der allgegenwartigsten Formen des Popularen, die mit ihrer alltagsimmanenten Transzendenzfunktion dem Politischen zur Verfiigung steht, ist die Popmusik, und hier vor alien Dingen die Popsongs. In fast alien Subkulturen Jugendlicher spielt Musik sowohl bei ihrer Entstehung als auch in ihrer Weiterentwicklung die Rolle eines symbolischen Inklusions- und Exklusionsmechanismus und wird so zum moglichen
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Trager politischer Inhalte. Die Skinhead-Bewegung z. B. identifiziert sich von Anfang an mit einigen von der offiziellen Musikindustrie verponten latelnamerikanischen, insbesondere karibischen (Jamaika) Genres (Ska, Reggae), die zu ihrem Markenzeichen geworden sind. Die legalen und halblegalen Kultkonzerte sowie die von den verponten Rhythmen getragenen politisch unkorrekten Texte stellen eine Anziehungskraft dar, durch die neue Anhanger geworben wurden. Kultbands und Kultlieder wirkten sich auf die Ausdifferenzierung der Szene aus, indem sich ihre Anhanger in unterschiedhchen Fangemeinden mit ihren jeweiligen »fan scenes« vergemeinschaften, die nun wiederum zu medialen Tragern diverser poUtischer Einstellungen werden. Nationalsozialistische und rote sowie SHARP-Skins (Skinheads Against Racial Prejudice) und ihre politischen Differenzen finden sich reprasentiert durch die jeweiligen PolitRockgruppen wie »B6hse Onkelz«. Und es ist auch Popmusik, die als Identifizierungsstiitze und Tragerin politischer Inhalte fiir Gruppen dient, die sich in der Opposition zu der Skin-Bewegung sehen (Farin/SeidelPielen 1997). Aber die Popmusik als Tragerin politisch aufgeladener Oppositionsbewegungen ist kein ausschliefiliches Produkt kapitalistischer Popkultur. Auch im realen Sozialismus wurde Popmusik zur symbolischen Representation politischen Protests. Die Musik der tschechoslowakischen Rockgruppe »Plastic People of Universe«, die in ihren Songs in privaten oder halblegalen Konzerten die Absurditat des realsozialistischen Alltags nach 1960 widerspiegelte, wurde zum Vehikel der Artikulation von Andersdenkenden, die sich mit dem kommunistischen Regime nicht arrangieren mochten. Nachdem die Mitglieder der Band verhaftet und zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, formierte sich zu ihrer Unterstiitzung eine Bewegung, aus der die Charta 77 hervorging (mujweb.atlas.cz/www/jonash/plastic.htm). Es ist nicht nur der oppositionelle Diskurs, der auf die Genres des Popularen zwecks seiner symbolischen Representation zuriickgreift. Auch die Vertreter des »hegemonialen Diskurses« konnen auf die alltagsimmanente Transzendenz des Popularen nicht verzichten, wenn sie der von ihnen reprasentierten politischen Sicht Ausdruck verleihen wollen. Dies
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ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass sie sich elektronischer Massenmedien, insbesondere des Fernsehens bedienen miissen, deren formale Mediensprache jene des Popularen mit seiner »Lustfunktion« ist. Der typische Ort, wo dies geschieht, sind politische talk shows, in welchen die Selbstinszenierung der politischen Akteure im Rahmen des Popularen erfolgt. Nachdem das Charisma der Vernunft als Legitimation des Politischen verflogen ist, wird die Handlungsmotivation, auf die das Politische angewiesen ist, durch die Bindekraft des lustvoU Popularen und seiner aus der alltaglichen Konstruktion der Wirklichkeit gewonnenen Mittel transportiert. N u r wenn sich Politiker zu ihrer Selbstdarstellung und damit zur Darstellung ihrer politischen Ansatze dieser Mittel bedienen, konnen sie darauf hoffen, dass sie nicht nur als »Redende«, sondern auch als kompetent Handelnde erscheinen und dass sie vom breiten Publikum voraussetzungslos verstanden werden. Die dem Popularen immanente Reflexivitat macht es dariiber hinaus moglich, dass Politiker die notige Rollendistanz zwischen ihrem Auftritt und jenem eines Schauspielers auch realisieren konnen. Oder - wie ein Medienanalytiker formuliert: »Der heutige Politiker darf nicht austauschbar sein, er muss in seiner medialen Prasenz einzigartig wirken und das Weltbild, das er zu reprasentieren hat, muss er auch auf der Biihne seines Korpers in sein unverwechselbares mediales Selbstbild einbinden.« (Kurt 1998, 578 ). Ist aber, so ist abschliefiend zu fragen, dieser im Popularen enthaltene Zwang zur Veralltaglichung der symbolischen Representation des Politischen nicht auch etwas Positives, das fiir die zunehmende Volksnahe qua Demokratisierung der Selbstdarstellung der Politik spricht? Dies ist in der Tat eine anhand der Entwicklung der US-amerikanischen politischen Kultur vertretene These. Hier wird argumentiert, dass das Populare in den Dienst der ohnehin an diesseitiger Transzendenz orientierten Zivilregion der amerikanischen Verfassungsvater tritt und ihre noch aufieralltaglichen Transzendenzbeziige durch die alltagsimmanente Transzendenz popularer medialer Inszenierungen ersetzt (Dorner 1998, Fluck 1998). In dieser Sicht wird also das Populare als ein Produkt der kapitalistischen Massenkultur zum Vehikel der Demokratie erklart und in diesem Sinne sozusagen genetisch in seiner Entstehungs- und Wirkungsweise mit der Marktwirtschaft
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und der Demokratie verbunden. Das Populare als symbolische Reprasentation des Politischen ware in diesem Sinne typischerweise nur auf einen Typus der modernen Gesellschaft, namlich auf die demokratisch verfassten Marktgesellschaften beschrankt. Nun haben wir aber am Beispiel der »Plastic People of Universe« gesehen, dass populare Reprasentationsformen des Politischen durchaus auch in anderen Gesellschaftsformationen moglich sind, und das nicht nur im Sinne eines symbolischen Ausdrucks oppositioneller Diskurse, sondern durchaus auch »staatstragend«, wie man etwa an Lenins Betonung der Bedeutung vom Film als Medium der sozialistischen Revolution absehen kann. Es kann also abschliefiend die These formuliert werden, dass das Populare eine Form der Representation und Legitimation des Politischen darstellt, auf die alle modernen Gesellschaften zuriickgreifen, die angesichts der Veralltaglichung der Transzendenzbeziige in ihren Selbstbeschreibungssemantiken gezwungen sind, diese Beziige nunmehr alltagsimmanent herzustellen. Oder - weniger akademisch - ausgedriickt: 1st das Populare einmal entstanden, so bleibt es seiner Wirkungsweise nach keineswegs an eine politische Ordnung gebunden, sondern ist ebenso wie sein Erzeuger, der Kapitalismus, mit einem breiten Spektrum politischer Varianten der Moderne kompatibel, die ihren symbolischen Ausdruck nicht mehr in der Gnosis politischer Religionen, sondern nur in der Immanenz des AUtags finden konnen. Literatur: Bachtin, Michail (1990): Literatur und Karneval. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (1964): Mythen des AUtags. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dorner, Andreas (1998): Zivilreligion als politisches Drama: Politischkulturelle Traditionen in den popularen Medien der USA. In: Willems, Herbert (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 543-565. Eliade, Mircea (1990): Das Heilige und das Profane. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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5. Lebenswelt und Transformation. Zur phanomenologischen Analyse gegenwartiger Gesellschaftsprozesse I. Phanomenologie als Zeitdiagnose Betrachtet man das gegenwartige Spektrum der Theorien, die eine Erklarung der Transformationsprozesse in Osteuropa anstreben, fallt auf, dass der »phanomenologische« Ansatz kaum vertreten ist. Merkels (1994) Ubersicht der Systemwechseltheorien unterscheidet nur noch zwischen einer strukturellen bzw. systemtheoretischen Sicht und einer Akteursperspektive, wobei unter Akteuren in der Regel koUektive Akteure verstanden werden. Kollmorgens (1996) Kartographie der diesbeziiglichen theoretischen Landschaft weist immerhin auch handlungstheoretische Ansatze auf, darunter auch einige, die sich im Hintergrund auf Alfred Schiitz berufen (Thomas 1992; Srubar 1991, 1994). Doch gemessen an der Anziehungskraft der phanomenologischen Bewegungen in der Soziologie der 70er und 80er Jahre ist dies ein eher sparlicher Ertrag. Die Frage lautet also: Was bedeutet Phanomenologie heute? Ist sie immer noch das Mittel der aktuellen geistigen Auseinandersetzung mit der »Krise der modernen Gesellschaft«, als welches sie Husserl (1962) in seiner »Krisis« entwarf und das spater der soziologischen Kritik an der »main stream sociology« diente (Armstrong 1979)? Lassen sich die Prozesse der Transformation unserer Gesellschaften mit phanomenologischen Mitteln begreifen? U m die phanomenologisch orientierte Soziologie heute in dieser Richtung zu entwickeln, miissten zwei Hindernisse iiberwunden werden, die durch die soziologische Weiterentwicklung des phanomenologischen Ansatzes in der letzten Zeit entstanden sind. Es miisste erstens die Dynamik und somit auch die Geschichtlichkeit der Lebensweltstruktur aufgezeigt werden, und zweitens miisste gezeigt werden, dass man von der
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Matrix der Lebensweltstruktur analytisch nicht nur mikrosoziologisch, sondern auch makrosoziologisch, d. h. auch auf der Ebene des Gesellschaftswandels Gebrauch machen kann. Ich will versuchen, einen Weg dorthin zu skizzieren. Das Instrument, das Edmund Husserl benutzt, um die kritische Analyse der Sinnkrise seiner Zeit durchzufiihren, ist das Konzept der Lebenswelt. In der Krisisschrift wird dieses Konzept in mehreren Richtungen entwickelt, die unterschiedliche Zwecke verfolgen. Es ist erstens die Konstitutionstheorie der Lebenswelt als des »Reiches primarer Evidenzen« (Husserl 1962: S. 34), die die primaren Strukturen der Weltgeltung und somit auch der alltaglichen Sinnkonstitution der Weltgegebenheit aufdecken soil. Von dieser Basis aus wird dann - zweitens - die »Sinnvergessenheit« der modernen Wissenschaft aufgezeigt. Damit bekommt der Lebensweltbegriff seine erste kritische - hier also wissenschaftskritische - Bedeutung. Die Kritik der verdinglichenden Wissenschaften und ihrer philosophischen Basis - des Cartesianismus - soil jedoch weiterfiihren: sie soil die philosophische Rationalitat auf ihre lebensweltliche Basis zuriickfiihren und somit einen Humanismus in die Moderne einfiihren, der die technowissenschaftliche, cartesianische Entfremdung der modernen Zeit aufhebt, ohne auf die philosophische Rationalitat zu verzichten. Damit ist die dritte - zeitkritische - Bedeutung des Lebensweltbegriffs umrissen (Husserl 1962: §§ 2-7). Es ist also die Struktur der Lebenswelt, so wie sie in den Bewusstseinsakten und - mit Alfred Schiitz gesprochen - ebenso in den Handlungsund Interaktionsakten hervorgebracht wird, die die Weltgeltung tragt und somit auch unser alltagliches, aber auch wissenschaftliches, kiinstlerisches und politisches Handeln orientiert. Die Erfassung dieser Lebensweltstruktur ermoglicht auch ein adaquates Verstandnis des menschlichen Weltzugangs und somit auch der menschlichen, also auch der gesellschaftlichen Welt - ein Verstandnis, das auch die Grundlegung fiir eine gegenwartskritische Wendung der Analyse erlaubt.
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11. Dynamik der Lebensweltstruktur Eine der wichtigsten Voraussetzungen fiir den analytischen Gebrauch der phanomenologischen Lebensweltkonzeption in diesem Sinne ist m. E. die von ihr vermittelte Einsicht in den dynamischen, plastischen Charakter der Lebenswekstruktur, aus dem ihre Geschichtlichkeit resukiert. Gestiitzt auf Husserls und Schiitz' Analysen mochte ich jene Charakteristika der Lebenswekstruktur hervorheben und weiterentwickeln, die diese Dynamik bedingen. Sie ergibt sich zuerst aus der prinzipiellen Ruckfiihrbarkeit der Lebenswek auf die Aktivitat des Subjekts, d. h. auf seine intentionalen Bewusstseinsleistungen und pragmatischen Akte. Mit Husserl (1952, 1962, 1963, 1966, 1973) lassen sich m . E . drei Ebenen dieser Aktivitaten unterscheiden, die diese Dynamik bedingen: jene der Zeitlichkeit, der Leiblichkeit und der Intersubjektivitat.^^^ Unter Zeitlichkeit versteht Husserl (1966: § 7 ff.) die synthetisierenden intentionalen Akte des inneren Zeitbewusstseins, in welchen erst die einzelnen Momente der Wahrnehmung miteinander verbunden werden, so dass etwa statt einzelner »Momentaufnahmen« eine Bewegung wahrnehmbar wird. In diesem Sinne ist die aktuell wahrgenommene, aber auch die erinnerte bzw. die in die Zukunft projizierte Wek eine Zeitkonstruktion, deren Inhake durch die Aktivitat des Zeitbewusstseins konstituierte Zeitobjekte sind. Ais solche Zeitobjekte geken sowohl derart konstituierte »Wekinhake« als auch ihre Interpretationen: d. h. die Art und Weise, wie das Bewusstsein sich diesen Inhaken zuwendet. Die Sinnstrukturen, die als Synthese von Objekt und Interpretation die Lebenswek kennzeichnen, sind also prinzipiell Zeitstrukturen, d.h. im Prozess ihres Werdens wandelbar und »dynamisch«. Damit ist die erste der Voraussetzungen fiir die Plastizitat der Lebensweltstruktur gegeben, auf welchen ihre Wandelbarkeit in der Zeit und somit auch ihre Geschichtlichkeit beruht. Wahrend der Zusammenhang zwischen Dynamik der Lebenswek und der Zeitlichkeit ihrer Konstitution unmittelbar einleuchtet, ist die ^^^Die fundierende RoUe des pragmatischen Moments fiir die Lebensweltkonstitution hat Schiitz 1936/37 in seinem Manuskript »Das Problem der PersonHchkeit in der Sozialwelt« ausgearbeitet (Schiitz 2003).
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Rolle der Leiblichkeit hier nicht so evident. Nichtsdestoweniger hat sie in Husserls Denken (Husserl 1952) diesbeziiglich eine systematische Stelle, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Im Erleben eigener Leiblichkeit auf der Ebene der kinasthetischen Wahrnehmung ist auch die Evidenz der AktuaHtat des Erlebens fundiert, durch die sich das der korperHchen Aktivitat offene Handlungsfeld der gelebten Gegenwart auszeichnet. Insofern offnet das Erlebnis der Leibhchkeit den aktuellen Handlungsbereich, in dem ich, von den Sinnstrukturen meiner Lebensweh geleitet, in diese eingreifen kann. Die Evidenz des »ich kann dies und jenes tun« und zwar immer wieder, von der das fiir das Geschehen der Lebenswelt notwendige pragmatische Moment herriihrt, ist hier begriindet (Husserl 1952: §§ 59 ff.). Aus dem Erleben der Eigenbewegung als eines einerseits in der Kinasthese innerlich erfahrenen, andererseits aber als eine Bewegung in der Auf^enwelt beobachtbaren Vorgangs, ergibt sich die Erfahrung der Reflexivitat. Ich kann mich demselben Vorgang in dieser oder jener Weise zuwenden - bin also nicht mit ihm eindeutig verbunden, sondern kann zu ihm diese oder Jene Stellung beziehen und in mehreren Zustanden auf einmal existieren, in mehreren Moglichkeiten leben (Husserl 1952: §§ 37 ff.). Die Reflexivitat in diesem Sinne stellt also eine weitere Bedingung fiir die Plastizitat der Lebensweltstruktur dar, auf der die Dynamik der Lebenswelt aufbaut. Schliefilich ergibt die Leiblichkeit des Ego in Gestalt der Evidenz fiir das originare Erleben von »ich selbst« das Zentrum der Raumstruktur der Lebenswelt, d. h. den Punkt, um den sich diese in konzentrischen Kreisen von Handlungsbereichen und Wahrnehmungsspharen aufbaut (Husserl 1952: §§ 41 f.). Zeitliche und reflexive Plastizitat sowie das pragmatische VoUzugsmoment »ich kann« stellen also die konstitutiven Elemente der Dynamik von Lebensweltstrukturen dar, so wie sie Husserl in den Akten eines transzendentalen Bewusstseins aufweist. Die dritte Bedingung, die Dynamik in die Sinnstruktur der Lebenswelt bringt, geht iiber die Begrenzung der Konstitution der Sinngeltung auf ein Ego hinaus. Tu den konstitutiven Elementen der Lebenswelt in ihrer sebstverstandlichen Geltung gehort es, dass sie als eine Welt gemeinsamen Handelns und der Kommunikation erscheint. Es ist die Intersubjektivitat als ein kollektives Miteinander,
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das die Struktur der Lebenswelt mit gemeinsamen Inhalten fiillt und die Lebenswelt in eine - historische - Kulturwelt verwandelt (Husserl 1963: §§ 57 ff.). 2 u der urspriinglichen Dynamik der Lebensweltstruktur gehort noch ein wesentliches Moment, das mit der Intentionalitat von Bewusstseins und Handlungsakten verbunden ist. Auf seine Bedeutung hat Alfred Schiitz (2003: S. 204 f.). hingewiesen. Es ist das Erlebnis der Transzendenz, d.h. dessen, was mich iiberschreitet und worauf die intentionalen Akte des Bewusstseins des Handelns bezogen sind. In dem Bediirfnis der Transzendenz, d. h. Uberschreitens des Vertrauten auf ein Unvertrautes bin, in welchem das Unvertraute zum Vertrauten wird, ist ein grundlegendes Motiv der Konstitution der Lebenswelt verankert. Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Intersubjektivitat als drei Ebenen der Lebenswelt konstituierenden, auf Transzendenz gerichteten Aktivitat des Subjekts machen also die Plastizitat und somit die Dynamik der Lebenswelt aus und verweisen zugleich auf die zeitliche, raumliche und soziale Dimension der Lebensweltstruktur, durch die das menschliche Handlungsfeld gepragt wird. Es war vor allem Schiitz' Verdienst, diese Dimensionen ausgearbeitet und vor allem gezeigt zu haben, dass sie selbst im Prozess der Interaktion und Kommunikation formbar, d. h. als sozial konstituierte Systeme von Typik und Relevanz begreifbar sind. Zeit, Raum und Sozialitat sind in diesem Sinne nicht nur formale Dimensionen der universalen Matrix der Lebenswelt, sondern sie stellen auch sprachlich und symbolisch interpretierte, mit der Handlungs- und Sozialstruktur verbundene Semantiken dar, die den jeweils geschichtlichen, handlungsorientierenden Wissensvorrat pragen. Dieser Punkt scheint mir fiir den Fortgang meiner Darstellung wichtig zu sein und ich mochte ihn etwas genauer ausfiihren: Indem wir namlich die zeitliche, raumliche und soziale Dimension der Lebensweltstruktur mit der auf der Aktivitat von Subjekten ruhenden Dynamik qua Geschichtlichkeit der Lebenswelt verbinden und als ein semantisches System auffassen, gewinnen wir von dem Boden der phanomenologischen Lebensweltanalyse aus den Zugang zur historischen sozialen Realitat und konnen also den Schritt von der Geschichtlichkeit der Lebensweltstruk-
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tur zur Geschichte von Gesellschaften vollziehen.^^^ Die intersubjektive Konstruktion der zeitlichen, raumlichen und sozialen Dimension von Handlungsfeldern wird so ais ein Mechanismus der historischen Formung der sozialen Ordnung fassbar. Damit allerdings dieser Schritt getan werden kann, sind die genannten drei Dimensionen naher zu spezifizieren. Vor allem ist zu sehen, dass die drei Dimensionen, insofern sie sozial konstituiert und symbolisch reprasentiert sind, nicht lediglich als Bewusstseins oder Wissensstrukturen des subjektiven Handlungsfelds auftreten, sondern auch als institutionalisierte Formen der intersubjektiven Handlungskoordinierung objektiviert sind - wobei diese Objektivierung semantischer - etwa sprachlicher - aber auch materialer Art sein kann. Der Markt, die Biirokratie, die Fabrik, aber auch die Schule stellen etwa solche materialisierten Koordinierungen der zeitlichen, raumlichen und sozialen Dimension eines kollektiven Handlungsfeldes dar. Eine phanomenologisch angeleitete Analyse der Gesellschaft und somit auch eine Gegenwartsdiagnose lasst sich also als eine Untersuchung des Entstehens und des Wandels derart objektivierter Zeit-, Raum- und Sozialstrukturen sowie ihrer Wirkung und Reproduktion im Rahmen alltaglicher Lebensfiihrung durchfiihren. Eine derartige Analyse ist damit nicht mehr auf den Mikrobereich der alltaglichen Interaktion beschrankt, sondern findet durchaus Zugang zu der gesellschaftlichen Makroebene und ihrem Wandel. Zu diesem Zwecke miissen jedoch die drei Dimensionen praziser gefasst werden. Die Zeit Nachdem die phanomenologische Tiefenfundierung der Temporalitat der Lebenswelt bereits thematisiert wurde, will ich mich hier lediglich auf die Zeitstruktur der Interaktion und die daraus resultierende soziale Zeitlichkeit beschranken. Sie hat ihren Ursprung in dem Bedarf an Koordinierung der Tatigkeit mehrerer Individuen in ihren Wechselbeziehungen. Die Koordinierung, die man mit Schiitz (2003: S. 193 f.) durchaus als eine Parallelisierung von subjektiven Bewusstseinsstromen und Handlungs^^^Damit verlasse ich allerdings - wie schon Alfred Schiitz (1971a: S. 86 ff.) - den Bereich der von Husserl (1963) angestrebten Losung des Intersubjektivitatsproblems.
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ablaufen begreifen kann, erfordert ein - mit Arnold Gehlen (1975: S. 54 ff.) gesprochen - »darstellendes Verhalten«, durch welches mit Hilfe der Gestik, Sprache und Symbollk die Bewusstseins und Handlungsablaufe einzelner aufeinander bezogen werden. Diese kommunikative Bedingtheit der Zeitdimension von Interaktionen bewirkt, dass diese immer auch eine Semantik mitfiihrt. Das kollektive Handeln bezieht sich allerdings auch auf die sachlich-materialen Bedingungen der Lebensweltproduktion, also auf Objekte/Dinge, die seine Bediirfnisstruktur mitpragen. Es impliziert daher auch immer Formen von Arbeitsteilung, durch die die Zeitdimension der Interaktion und ihrer Semantik ebenso gepragt werden. Die durch die Arbeitsteilung bedingte Zeitkoordinierung erfordert spezifische Stabilisierungsformen, die sich in unterschiedlichen Typen der Institutionalisierung und der Organisation koUektiver Tatigkeit niederschlagen - beginnend mit ritualisierten Jagd-, Saat- oder Erntevorgangen bis zu computerisiertem Borsenhandel. Die Zeitstruktur der Interaktion und ihre Semantik sind auf diese Art und Weise mit sozialen Strukturen und Gruppierungen eng verwoben und tragen somit recht unterschiedliche »Zeitinhalte« und Zeithorizonte mit. Sie unterscheiden sich in der Schnelligkeit bzw. Langsamkeit des Zeitempfindens und der Zeitrhythmen, in der Akzentuierung der Zukunfts-, Gegenwarts- oder Vergangenheitshorizonte, in der Betonung der Linearitat bzw. der Zyklizitat des Zeitablaufs usw. Die Konfiguration solcher inhaltlichen Momente sowie die daraus resultierende, handlungsorientierende »innere Logik« sind in der Entwicklung von gesellschaftsspezifischen Semantiken von wesentlicher Bedeutung. Auf der Ebene der alltaglichen Lebensfiihrung stellen solche Semantiken Schemata von Handlungsrelevanzen und Typiken dar, die das, was Schiitz einen »Lebensplan« nannte, pragen. Sie setzen sich in individuelle Erwartungsstrukturen und Handlungsstrategien um, deren Resultate subjektive Lebenslaufe sind. Die Offnung und SchlieEung der Vergangenheitsund Zukunftshorizonte durch die Zeitsemantik, aber auch durch die arbeitsteilige Zeitkoordinierung stellen so ein wichtiges Moment der Konstitution sozialer Identitat dar. Aber nicht nur die Bildung individueller Biographien ist in dieser Struktur der sozialen Zeit verankert, auch die
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Typen- und Relevanzschemata kollektiver Gedachtnisse von Generationen bzw. von ganzen Gesellschaften finden hier sozusagen ihre sozialen »Filter« (Gurvitch 1963: S. 325). Der Raum Auch im Falle des Raums will ich mich auf die Struktur des sozialen Raumes beschranken. Sie entwickelt sich - ebenso wie jene der sozialen Zeit - in der Interaktion mit anderen und mit den Dingen der Umwelt als Objekten des Handelns. Ebenso wie die Zeitdimension stellt auch die Raumdimension der Lebenswelt als Struktur des menschlichen Handlungsfeldes eine Sinnstruktur, d.h. eine durch pragmatische Handlungsrelevanzen und -typik getragene Interpretation der Umwelt und ihrer das Handeln leitenden Grenzen und Zonen dar. Insofern ist die Raumdimension auch immer mit einer Raumsemantik verbunden, die die Umwelt in einen sprachlich und symbolisch strukturierten sinnhaften Handlungsraum verwandelt. Die Struktur des Handlungsraums und seiner Semantik folgt der Differenzierung von vertraut/unvertraut, die auf der pragmatischen Ebene des Objektbezugs den Handlungsraum in die Zonen der aktuellen, potentiellen und wieder erlangbaren Reichweite gliedert. Die Raumdimension der Lebenswelt und ihre Semantik sind daher immer auf die individuellen oder kollektiven Subjekte des Handelns zentriert (d.h. auf Individuen oder soziale Gruppen). Die Vertrautheit des Handlungsfelds, aus deren Differenz zur Unvertrautheit diese Zentrierung hervorgeht, entsteht allerdings nicht nur im alltaglichen Umgang mit anderen und mit Dingen in der Reichweite. Sie ist ebenso verankert in der gruppenbezogenen kollektiven Rauminterpretation, durch die die Zonen des Alltaglichen und AuGeralltaglichen geordnet und symbolisch aufeinander bezogen werden. Der objektivierte Niederschlag solcher Raumsemantiken reicht von der Gestaltung von Wohnstatten und Siedlungsweisen bis zu der Komposition von Speisen (Ying/Yang) und der Merkmale geschlechtsbezogener RoUen (Mann - aufien, rechts, aktiv, Feuer; Frau - innen, passiv, Wasser, links etc. vgl. etwa Bourdieu 1976: S. 39; Granet 1985: S. 116 ff.). Die Grenze der Geltung derartiger Raumsemantiken bezeichnet somit auch die Grenze des kollektiven Handlungsraums, aufierhalb welcher fiir die Gruppenmitglieder der Bereich des Unvertrauten
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bzw. des Fremden liegt und wo sinnhaftes Handeln nur begrenzt moglich ist. Ahnliche Prozesse der sozialen Raumgliederung finden allerdings auch durch Ausdifferenzierung und Hierarchisierung sozialer Positionen innerhalb sozialer Gruppen statt: Hier zieht die Raumsemantik Grenzen zwischen sozialen Gruppen, die die Moglichkeiten ihrer Interaktion wesentlich formen. Die Zugehorigkeit zu einer sozialen Klasse, Schicht, Berufsgruppe, Ethnie oder Geschlechtskategorie zieht so Grenzen innerhalb des Handlungsraums und gliedert die Reichweite und Moglichkeiten des Handelns ihrer Mitglieder (Simmel 1968: S. 460 ff.; Elias/Scottson 1965). Die Veranderung des Status und der sozialen Position von sozialen Gruppen schlagt sich also in der kollektiven Definition des sozialen Raumes nieder, formt seine Strukturen und ihren semantischen Ausdruck. Dabei spielen sowohl Veranderungen in der sozialen Position als auch Verschiebungen von Zentrum und Peripherie des sozialen Raumes eine Rolle. Die Semantik des sozialen Raumes als eine gelebte Sinnstruktur ist - ebenso wie die Zeitsemantik - ein Bestandteil individueller Handlungsentwiirfe und Biographien und somit eine wesentliche Komponente der Konstitution sozialer Identitat. Sozialitat Die Gliederung der sozialen Dimension der Lebenswelt weist eine Strukturahnlichkeit mit der Raumdimension auf. Auch sie gliedert sich auf der Achse von vertraut/unvertraut, oder wie Schiitz (2004: S. 358 f.) es formuliert, auf der Skala von Intimitat und Anonymitat.^^"^ Diese Trennung differenziert den kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft, um einen Terminus von Thomas Luckmann (1986: S. 206) zu gebrauchen, in ein allgemeines Wissen von hoher Anonymitat und Generalisierbarkeit und in spezifische Wissensvorrate von grofier Konkretheit und hohem Verifizierungsgrad. Durch den Abbruch von alten und durch die Herstellung von neuen Kontakten zu Interaktionspartnern und Bezugsgruppen wird die intersubjektive Verifizierungschance von handlungsorientierenden Typisierungen und Relevanzschemata durch kommunikative, langerfristi^^"^Ein schones Beispiel dafiir liefert der Mythenwandel in den Cargo-Kulten, wo etwa dem einheimischen Schopfungsgott ein Bruder in Ubersee beigegeben wird, der die ersehnten Gaben der westlichen Welt sendet (vgl. Worsley 1973: S. 296 f.).
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ge face-to-face-Beziehungen verandert, unterbrochen oder neu eroffnet. Prozesse sozialer Ausdifferenzierung, Segregation sowie der Mobilitat verandern die Gestalt, Intensitat und den Umfang sozialer Kontakte in den Netzwerken sozialer Wechselbeziehungen. Sie gliedern, hierarchisieren und gruppieren diese Netzwerke um und verandern so das Verhaltnis von Intimitat und Anonymitat des Wissensvorrats im Verlauf von individuellen und kollektiven Biographien. In der Sozialitat der Lebensweltstruktur ist also die Moglichkeit ihrer Pragung durch Formen der Interaktion und Kommunikation angelegt, einer Pragung, die natiirlich auch - wie wir gesehen haben - die Zeit- und Raumdimension und ihre Semantik erfasst. Hier beriihren wir einen Punkt, der fiir das Begreifen der Dynamik der Lebensweltstruktur und ihrer Geschichtlichkeit wesentlich ist, vor allem, wenn wir verstehen wollen, wie sich diese Dynamik in der realen Geschichte umzusetzen pflegt. Wenn Interaktion und Kommunikation Semantiken hervorbringen, die fiir die zeitliche, raumliche und soziale Dimension der Lebenswelt sozusagen eine Definitionsmacht haben, dann ist es nicht ohne Bedeutung, welche sozialen Gruppen, welche Kommunikationsprozesse und welche institutionalisierten Formen an der Konstitution der Definitionsmacht von Semantiken beteiligt sind. Die Fahigkeit, die zeitliche, raumliche und soziale Dimension der Lebenswelt auf diese Art und Weise zu gestalten, gibt den Tragern der Definitionsmacht die Moglichkeit, das Handlungsfeld der Gruppenmitglieder zu strukturieren. Sie konnen Institutionen entwerfen, die das Handeln von Individuen durch die Manipulation der drei Dimensionen beeinflussen. Es ist daher kein Zufall, dass Untersuchungen der Entwicklung der Wissens- und Organisationsstruktur der Moderne - wie etwa die von Michel Foucault (1973, 1977) und Anthony Giddens (1981, 1984) - auf diesen Mechanismus stol e n , wenn sie die Techniken der Disziplinierung des modernen Menschen und seiner Lebensfiihrung enthiillen. Insbesondere Foucaults Untersuchungen liefern anschauliche Belege fiir den Zusammenhang von Macht und Zeit-Raum-Semantik sowie seiner Formung im sozialen Diskurs.
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III. Zeit- u n d R a u m - u n d soziale D i m e n s i o n der Transformation postsozialistischer Lander Wir sehen nun, dass der Versuch, die Dynamik der Lebensweltstruktur sowelt zu prazisieren, dass sie uns zur Analyse der Dynamik und Geschichtlichkeit sozialer Realitat hinfiihrt, kein blofi akademisches Unterfangen war. Ich will nunmehr das hier angelegte analytische Potential am aktuellen Beispiel testen, indem ich es auf die Transformation der postsozialistischen Lander Osteuropas anwende. Ich will zuerst versuchen, die zeitliche, raumliche und soziale Dimension dieses Prozesses in dem soeben definierten Sinne zu beleuchten, um anschliefiend eine »gegenwartskritische« Interpretation zu wagen. Zur Zeitdimension Der Wandel der Zeitdimension im Transformationsprozess ist auf der Ebene der sozialen Struktur gekennzeichnet durch den Wechsel von der Dominanz des Staates zu der Dominanz des Marktes als jener zeitsetzenden Institution, in welcher die Koordinierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung objektiviert ist. Die Autonomic biirokratischer Zeitsetzung wird abgelost oder wenigstens wesentlich eingeschrankt durch den zentralistisch nicht beherrschbaren Zeitrhythmus der Kapitalverwertung. Auf der Ebene der alltaglichen Lebensfiihrung bedeutet dies den Anstieg der individuellen Arbeitszeit gegeniiber der Freizeit und somit auch den Zwang zur Arbeitsdisziplinierung und Leistung. Die Abhangigkeit der Arbeitschancen von der wechselnden Marktlage steigt, und somit wird auch die eigene Leistungsfahigkeit zum wichtigen Faktor der Planung der nunmehr vom Staat nicht mehr oder wenig abgesicherten Zukunft. Bemerkenswerterweise wird diese Verunsicherung - selbst in den okonomisch wenig erfolgreichen Landern mit hoher Arbeitslosigkeit - als eine Offnung der Zukunft erlebt. Ergebnisse von Umfragen, die die Einstellungen der Bevolkerung der postsozialistischen Lander zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermitteln, zeigen, dass die Menschen durchgehend der Uberzeugung sind, dass sich ihre Situation in den jeweils nachsten fiinf Jahren bessern wird (Rose/Seifert 1995). Einer der Effekte des Transformationsprozesses ist also offensichtlich die Wiederoffnung der im realen Sozialismus
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jahrzehntelang blockierten Zukunftsdimension individueller Lebensfiihrung. Diese soziale Definition der durchaus ambivalenten sozialen und okonomischen Veranderungen, die der Transformationsprozess mit sich brachte, ist eines der Resultate des Wandels der Zeitsemantik, die nun das Handlungsfeld der postsozialistischen Akteure strukturiert. Wie sieht diese neue Zeitsemantik aus? Sie ist - wie der ganze semantische Haushalt der postsozialistischen Gesellschaften - durch den Ubergang von der Ideenwelt des Marxismus zu jener des okonomischen und poHtischen LiberaUsmus gekennzeichnet. Dass dieser Semantikwechsel den Zukunftshorizont offnet, ist nicht frei von Paradoxien: Im Prinzip ist ja dem Marxismus eine Linearitat des Geschichtsverlaufs eigen, in der das Moment der offenen Zukunft als Transzendenz des Gegenwartigen eine wesentliche RoUe spielt. Die Evolution von Gesellschaften stellt hier eine lineare Entwicklung dar, in der eine Gesellschaftsformation durch die darauf folgenden - hoher entwickelten - iiberwunden wird. Wie Karl Mannheim (1969: S. 207 ff.) zeigt, ist diese offene Zukunft des Marxismus daher auch immer durch ein Moment der utopischen Transzendenz charakterisiert und lasst die Vorstellung eines Gesellschaftszustands, der als das »Ende der Geschichte« gelten konnte, nicht zu. Paradoxerweise fiihrte die totalitare Verwirklichung des marxistischen Entwurfs in den Landern des realen Sozialismus zu einer Erstarrung des sozialen Lebens, durch die gerade diese zukunftsoffnende, utopisch transzendente Dimension auf der Ebene alltaglicher Lebensfiihrung voUig irrelevant wurde. An ihre Stelle tritt nun die neoliberale Gesellschaftskonstruktion, die - ebenso wie die marxistische - von einer linear zunehmenden Humanisierung durch okonomisches Wachstum und ein steigendes Entwicklungsniveau der Gesellschaft ausgeht, deren Semantik allerdings keine Momente transzendenter Utopie enthalt, weil sie nur eine Gesellschaft kennt, in der die linear zunehmende Humanisierung stattfinden kann, namlich die liberale. So ist im Rahmen des liberalen Gesellschaftskonzepts die innergesellschaftliche Zukunft zwar offen, die geschichtliche Jedoch bereits abgeschlossen. In dieser Zeitsemantik, die zwar dem Individuum innerhalb der Gesellschaft eine Zukunft offnet, die Zukunft der Gesellschaft jedoch fiir abgeschlossen halt, liegt scheinbar die Anziehungskraft der
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liberalen Ideologic im real sozialistischen Setting: Die Burger sind nicht an historischen Zukunftsexperimenten interessiert, sondern an ihrem individuellen Fortkommen innerhalb eines stabil bleibenden gesellschaftlichen Rahmens. Die Zukunft offnet sich hier paradoxerweise durch »das Ende der Geschichte«, wie Fukuyama (1992) argumentieren wiirde. Mit dieser von den Gefahren transzendent-utopischer Briiche gereinigten Linearitat der liberalen Zukunft ist allerdings die Semantik der Zeitdimension des Transformationsprozesses keineswegs ausreichend beschrieben. Ihre Struktur ist komplizierter und so auch ihre Wirkung: Sie offnet die Zukunft zwar, bewirkt allerdings gleichzeitig, dass diese fiir viele verschlossen bleibt. Jiirgen Habermas (1990) und Francois Furet (Dahrendorf/Furct/Gcrcmek 1992: S. 47 ff.) haben darauf hingewiesen, dass die Semantik der Zeitdimension des Transformationsprozesses ein cigcntiimlichcs Muster aufweist, das man am chesten durch das Stichwort »back to the future« bezeichnen konnte. Die durch den Wechsel vom Marxismus zum Liberalismus neu geoffnete Zukunft wird in den realsozialistischen Landern zugleich als cine Riickkehr zu einem Weg gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet, der in der Vergangenheit verlassen wurde. Die Semantik der Zukunftsoffnung durch die Riickkehr bildet so eine zyklische Zeitschleife, die als Voraussetzung fiir den Eintritt in die liberale Linearitat gelten muss. In dieser Zeitschleife versuchen die postsozialistischen Gesellschaften quasi ihre sozialistische Vergangenheit zu fangen und einzuschniiren, um sie sozusagen als einen Fremdkorper aus ihrer Geschichte auszuschliefien. Diese hier nur abstrakt skizzierte Zeitsemantik hangt natiirlich nicht frei in der Luft. Sie ist ein Bestand des sozialen Machtdiskurses im Sinne von Foucault und definiert auf der Ebene alltaglicher Lebensfiihrung die neuen Muster der Bewertung und Selbstdarstellung von Biographien. Auf diese Weise greift sie in die Mechanismen der sozialen Konstitution von Identitaten sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene ein. Individuen, deren aktive Lebensphase innerhalb jener nunmehr auszuschliefienden realsozialistischen Vergangenheit gepragt wurde, sehen sozusagen einer sozialen Entwertung ihres Lebens entgegen, sofern sie nicht in der Lage sind, ihre Biographien im Code der neuen Semantik
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zu prasentieren und somit einen Identltatswandel einzuleiten. Die Zeitsemantik des Transformationsprozesses offnet also die Zukunft nicht fiir alle: Die zyklische Zeitschleife der Riickkehr schneidet - wenigstens der objektiven Chance nach - bestimmte Generationen und Bevolkerungsgruppen von dieser Zukunft ab (Huinink/Mayer 1993). Doch auch wenn die biographische Anpassung an die neuen Bedingungen gelingt, ist damit das Problem individueller Identitat und ihrer sozialen Auswirkungen nicht behoben. Es bleiben Telle der biographischen Identitat, d. h. der individuellen Teilhabe an vergangenem kollektivem Wissen im subjektiven Wissensvorrat erhalten. Dort bleiben sie - selbst wenn sie nicht artikuliert werden konnen, well die neue Semantik keinen affirmativen Code fiir sie hat - trotzdem wirksam. Auf der individuellen Ebene bedeutet die Nichtartikulierbarkeit von Biographieabschnitten, dass dieser Teil des handlungspragenden Wissensvorrats unbenannt in der Latenz bleibt. Die Latenz von Werteinstellungen - darin stimmen Soziologen seit Parsons (1951: S. 96 f.; 1972: S. 20 f.) iiberein - ist eine wichtige Bedingung ihrer stabilen Geltung. Die polnische Soziologin Mira Marody (1988) zeigt in ihren Untersuchungen zu Wertvorstellungen im Transformationsprozess, dass sich hier zwei Wertesysteme ausgebildet haben, die im Wissensvorrat parallel zueinander bestehen: Das liberale individuelle Leistungsprinzip wird auf der einen Seite als personliche Orientierung akzeptiert, andererseits werden jedoch realsozialistische Verhaltensformen fiir normal gehalten, wie etwa Patronage, gruppenspezifische Privilegien, Ausbeutung institutioneller Positionen fiir private Zwecke etc. Diese Einstellungen bilden also die Schattenseite der Handlungsorientierung in den postsozialistischen Landern, die durch die neue Zeitsemantik verdeckt wird. Auf der kollektiven Ebene bedeuten die nicht artikulierbaren Biographieabschnitte eine in ihrem Ganzen nicht artikulierbare kollektive Geschichte und somit auch eine Verunsicherung kollektiver Identitat. Der durch die liberale Zeitsemantik ausgeschlossene transzendente Zukunftsbezug stellt in diesem Zusammenhang einen problematischen Punkt dar. Der Liberalismus gewahrt zwar individuelle Rechte, offnet die individuelle Zukunft, bietet jedoch keine kollektive, integrierende Utopie an, die
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den gelebten, in der Lebensweltstruktur verankerten Transzendenzbedarf befriedigen wiirde. Die Zeitsemantik des Transformationsprozesses strukturiert also das Handlungsfeld der Akteure in mehrfachem Sinne: Sie offnet den Zukunftshorizont individuellen Handelns, schliefit jedoch aus diesem Horizont das Moment der utopischen Transzendenz (um mit Schiitz/Luckmann (1984: S. 161 ff.) zu sprechen der »grofien« Transzendenz) aus. Sie zwingt zur Umdefinition von Biographien und selektiert so die praktischen Chancen von Akteuren, an die neue geoffnete Zukunft Anschluss zu finden. Zugleich verurteilt sie Teile des bestehenden koUektiven Wissensvorrats zu einem unartikulierbaren »Schattendasein« und bereitet damit dem kiinftigen Bediirfnis nach seiner Artikulierung den Boden, einem Bediirfnis, das im Rahmen der liberalen Zeitsemantik schwer zu befriedigen ist. Zur Raumdimension Ebenso wirkungs- und paradoxienreich wird die Raumdimension des Handlungsfelds der Akteure im Transformationsprozess verandert. Der sozialstrukturelle Wandel vom Staat zum Markt zieht auch einen Wandel der Raumstruktur nach sich. U m es in Wallerstein'schen Termini zu formulieren: Die Geschlossenheit des Ostblocks als eines biirokratischzentralisierten Weltreichs wurde durchbrochen durch die Offenheit des polyzentrischen Weltwirtschaftssystems (Wallerstein 1986: S. 57 ff.). Die unmittelbare, aber auch die potentielle und wiedererlangbare Reichweite des individuellen Handlungsfelds ist durch die so erreichte individuelle Mobilitat unermesslich erweitert worden. In dieser Hinsicht hat hier die Transformation eine ahnlich offnende Wirkung wie im Falle der Zeitdimension. Doch auch hier werden die Handlungsmoglichkeiten durch den Wandel der Raumsemantik wesentlich mitgepragt und selektiert. Die soziale Definition des gelebten Raumes wird im modernen Europa typischerweise durch die Semantik des Nationalstaats getragen. Diese enthalt, wie Ernest Gellner (1988) zeigt, zwei tragende Momente, die miteinander fest verkniipft sind. Der territorial Herrschaftsanspruch, der in den feudalen und traditionellen Gesellschaften die Multikulturalitat und Multiethnizitat der Territorien bestehen liefi, wird in der Moderne deckungsgleich mit einer ethnischen Definition des Lebensraums, wobei
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die Momente der Territorialltat und der Ethnizitat durch die Behauptung der Kulturidentitat ethnischer Kollektive miteinander verquickt werden. Die Einheit der territorialen, ethnischen und kulturellen Grenzen also - in den Termini von Stein Rokkan (Rokkan/Urvin 1982) - die Einheit des »territorial and membership space«, war in dieser Semantik das Ideal, auf welches die Entwicklung moderner europaischer Staaten zugearbeitet hatte, die zugleich das polyzentrische Muster des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems bildet. Die westeuropaischen Spatentwickler auf diesem Wege, etwa Deutschland und Italien, stellten, solange sie in ihrer Selbstdefinition diese Einheit nicht erreicht haben, die trouble maker dieses Systems dar. Im biirokratisch-zentralistischen Etatismus des Sowjetreiches und seiner Satteliten wurde diese Einheit von territorial und membership space getrennt zugunsten der Dominanz des territorialen Prinzips. In multiethnischen Staaten des sozialistischen Slid- und Osteuropa wurde die Raumdefinition von der kulturell-ethnischen Dimension abgetrennt und der politischen Semantik der territorialen Einheit des sozialistischen Staates unterworfen. Die Definition des sozialen Raums als eines ethnischkulturell integrierten membership space lief der internationalistischen Semantik und der ihr zugrunde liegenden sowjetischen Machthegemonie zuwider. Damit wurde der Prozess der Bildung von Nationalstaaten nach dem Muster der westlichen Raumsemantik, der eine wichtige Sequenz in der westlichen Modernisierung darstellte, sozusagen »eingefroren«. Mit dem Zerfall der Weltreichstruktur des Ostblocks sind allerdings auch seine territoriale Gliederung und ihre Semantik hinfallig geworden. Die Option fiir eine Redefinition des sozialen Raumes in den Termini des ethnischkulturellen membership space wurde wieder frei. Die Gruppendynamik dieser Re-Ethnisierung des sozialen Raums bringt die betroffenen postsozialistischen Lander in eine geopolitische Position, in der sie sich etwa befanden, als sie am Ende des 19. Jahrhunderts in den Prozess der Nationalstaatsbildung einstiegen. Auch der Wandel der Raumdimension bringt so eine Art Zyklizitat in die Entwicklung der Transformationslander hinein. Die Tendenz zur Re-Ethnisierung des sozialen Raumes wird verstarkt
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durch die Konkurrenz einzelner Gesellschaften um die Positioner! im Weltwirtschaftssystem, zu dessen Mitgliedern die postsozialistischen Lander geworden sind. Die Eingiiederung der postsozialistischen Lander in das Weltwirtschaftssystem, die einerseits eine Erweiterung und Offnung der Raumdimension individuellen Handeins ermogHcht, bewirkt auf der kollektiven Ebene auch eine segregative Schliefiung des sozialen Raumes, indem sie ihre Semantik vom Prinzip des territorial space auf das Prinzip des ethnisch bezogenen membership space umstellt. Die Raumsemantik des Transformationsprozesses transportiert also zwei zueinander im Widerspruch stehende Repertoires: einerseits das liberale Repertoire der Mobilitat und Raumoffnung durch freie, globalisierte Markte, die iibrigens auch Kulturmarkte sind; andererseits das Repertoire einer ethnischen Segregation, hinter dem die neu belebte Dynamik der Nationalstaatsbildung steht. Diese Repertoires markieren auch die Pole, zwischen denen sich die neue politische Kultur der Transformationslander entwickelt, der auch die neuen Identifizierungsangebote an die biographisch geschadigten Burger entspringen. Z u r sozialen Dimension Der Wandel der Raumdimension durch den Transformationsprozess sozialistischer Gesellschaften betrifft nicht nur die Neugliederung des sozialen Raumes durch Mobilitat oder ethnische Segregation. Auch die neu entstehende Ausdifferenzierung sozialer Positionen, die eine neue Verteilung der Lebenschancen zur Folge hat, zieht neue Grenzen durch den sozialen Raum und bewirkt so neue Gliederungen der sozialen Gruppierungen und der sozialen Netzwerke darin. Diese Prozesse sind allerdings mit der sozialen Dimension des Transformationsprozesses so eng verbunden, dass ich mit ihnen die Darstellung dieser Dimension beginnen will. Die Ausdifferenzierung von Lebenschancen sowie die damit verbundenen, neu entstandenen enormen Unterschiede in der Lebensfiihrung bedeuten einen sprunghaften Anstieg der Distanz zwischen den unteren und oberen Positionen der Gesellschaft und somit auch eine Neugliederung der sozialen Distanz zwischen Gruppen und Individuen. Damit wird auch die Intimitat und Anonymitat sozialer Beziehungen neu strukturiert. So werden auch die Verifizierungsmoglichkeiten von Relevanz- und
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Typiksystemen in der Interaktion neu gestaltet, was auch eine Neustrukturlerung des semantischen Haushalts der betroffenen Gesellschaften nach sich zieht. Die Grenzen zwischen allgemeinem und gruppenspezifischem Wissen werden neu verteilt, und der gesamte soziale Wissensvorrat sowie die Struktur alltaglicher Kommunikation werden damit erheblich modifiziert. Wie sahen nun diese Strukturen im realen Sozialismus aus? Die materialen Bedingungen der Lebensstiie unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten waren - mit Ausnahme der Nomenklatura - wenig ausdifferenziert. Die umfangreichen informeilen Versorgungsnetze, in denen der Austausch von Waren und Dienstleistungen stattfand, verbanden wie ein Quasi-Markt - unterschiedliche Berufsgruppen miteinander und stellten so notgedrungen personlich - informelle face to face-Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern her (Srubar 1991). Man kann also annehmen, dass sich das gegenseitig face to face - verifizierte typische Wissen auf die alltagliche Lebensfiihrung unterschiedlichster Gruppen erstreckte. Wahrend das berufliche Wissen der einzelnen Akteure alltagstranszendent, also spezifisch blieb, fiel das Wissen urn die alltagliche Lebensfiihrung unterschiedlicher Berufsgruppen in den Bereich des face-to-face-verifizierten Allgemeinwissens. Angesichts der egalitaren Einkommensstruktur war auch die Differenzierung der Lebensfiihrungsstile eingeschrankt, so dass etwa die Definition jener Konsumgegenstande, durch die eine »standesgemafie« Lebensfiihrung symbolisiert wurde, quer durch unterschiedlichste Gruppen und Schichten recht einheitlich war. Da die konsumorientierte Semantik des Erfolgs nicht ausreichend differenzierungsfahig war, spielte Bildung die ausschlaggebende Rolle in der Hierarchisierung von sozialen Posit ionen. Zum festen Bestandteil des allgemeinen alltaglichen Wissensvorrats in den realsozialistischen Gesellschaften gehorte das Wissen darum, dass Normen sozialer Solidaritat und die Reziprozitat von Verpflichtungen nur innerhalb der eigenen sozialen Netzwerke gelten, und dass es zu diesem Solidaritatsgebot auch gehort, die beruflichen bzw. institutionellen Positionen im Interesse der Mitglieder des eigenen Netzwerkes auszubeuten bzw. zu missbrauchen (Nowak 1980). Im Transformations-
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prozess wurden Teile dieses Allgemeinwissens, die biographisch wahrend der realsozialistischen Periode entstanden und die die individuellen Wissensvorrate weiterpragen, durch die neue Zeitsemantik - wir sahen das - aus dem Diskurs ausgeschlossen. Die faktische oder zugeschriebene Verwendung solcher Handlungsmuster kann nunmehr einen marginalisierenden Charakter haben - also als ein unerwiinschtes Spezialwissen thematisiert werden. Andererseits verlieren sie ihre handlungsorientierende Bedeutung nicht und bilden nunmehr als Instrumente der neuen, am Markt orientierten Handlungsstrategien die mafiose Schattenseite des Transformationsprozesses. Die explosionsartig entstehende soziale Ungleichheit sowie die Verteilung von Leistungen und Waren durch den Markt - also unabhangig von informellen sozialen Beziehungen - haben in die bestehenden Interaktionsnetzwerke neue Grenzen eingezogen. Sie haben die soziale Distanz zwischen Berufsgruppen und sozialen Schichten vergrofiert, die Reichweite der zwischen ihnen stattfindenden personlich-informellen Beziehungen verkiirzt und einen neuen Schub der Anonymisierung der sozialen Beziehungen hervorgebracht. Diese neu entstandene Distanz der Akteure erfordert eine neue generalisierbare Organisation alltaglicher Kommunikation, in der die Bereitschaft, den anderen als gleichberechtigten Partner anzuerkennen, nicht von der sozialen Bekanntschaft mit ihm abhangt. Die Semantik, der sich diese neue Organisation von Kommunikation bedient, ist jene der »Professionalisierung« (Tanzler/ Mazalkova 1996). Anonyme Akteure soUen sich als Trager von Berufsrollen gemafi den Berufsstandards behandeln, die von der Sache her, nicht aber durch personliche Beziehungen gerechtfertigt werden. Diese Semantik zielt also auf eine Versachlichung sozialer Beziehungen, in deren Zentrum die Umsetzung des Spezialwissens in eine Leistung steht, und zwar nicht um der Person willen, sondern als ein marktmafiiges Angebot. Die Professionalisierungssemantik gehort so zu jenen Repertoires fiir »Ruckkehr«, durch die alte »realsozialistische« Wissensbestande neutralisiert werden sollen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass damit auf der AUtagsebene Handlungsmuster betont werden, die Talcott Parsons (1951: S. 182 ff.) in seiner Systemtheorie als Merkmale der Modernisierung von Handlungs-
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orientierungen in westlichen Industriegesellschaften betonte. Sowohl die netzwerkartige als auch die »professionalisierte« Organisation der alltaglichen Kommunikation sind allerdings in der sozialen Realitat der Transformationslander eng miteinander verwoben - wobei die sog. »professionellen Standards« nicht immer einem sachbezogenen Spezialwissen entsprechen, sondern Teile der Handlungsstrategie von Netzwerken sind. Nichtsdestoweniger zeigt die in der Figur der Professionalisierung manifeste Verbindung von Spezialwissen und Leistung an, wie sich die Kriterien der Bewertung sozialer Position und somit auch die Semantik der sozialen Dimension in Transformationsprozessen verandert hat. Spezialwissen - Bildung - stellt nicht mehr das ausschlaggebende Merkmal dar, nach dem die soziale Position vor dem Hintergrund einer egalitaren Gesellschaft bewertet wurde. Bildung wird nunmehr als ein Mittel zum materiellen Erfolg angesehen, dessen Merkmale - Einkommen, Besitz, Macht etc. - nunmehr fiir die Selbstdefinition von sozialen Positionen einschlagig wurden (Kurczewski 1994). Wir sehen also, dass sich auch in der sozialen Dimension des Transformationsprozesses und ihrer Semantik eine Riickkehrtendenz bemerkbar macht, die wir auch auf der zeitlichen und raumlichen Ebene feststellen konnten: Eine Ausdifferenzierung der Lebensfiihrungen durch soziale Ungleichheit, eine Anonymisierung und Versachlichung der Organisation alltaglicher Kommunikation, eine Vergrofierung sozialer Distanz zwischen sozialen Gruppierungen wird auf der Ebene der Semantik durch das Professionalisierungs- und Leistungsprinzip legitimiert, wobei die Selbstbewertung sozialer Position nun auch nach Kriterien des materialen Erfolgs geschieht wie seit jeher in den kapitalistischen Industriegesellschaften des Westens. Welche zeitdiagnostischen Aussagen erlaubt uns nun die vorangegangene Untersuchung der Zeit-, Raum- und Sozialdimension des Transformationsprozesses? Wir haben gesehen, dass alien untersuchten Dimensionen eine Dynamik eigen ist, die man als eine Dynamik der »Ruckkehr« bezeichnen kann, der auch eine Riickkehrsemantik entspricht. Die Riickkehrdynamik fiihrt die Transformationslander zuriick in die Entwicklungslinie westlicher kapitalistischer Gesellschaften. Die Riickkehrseman-
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tik stiitzt sich - grosso modo - auf Deutungsmuster aus dem Repertoire des politischen und okonomischen Liberalismus und trifft sich somit mit dem Diskurs, der, getragen von der Globalisierung der Wirtschaft, auch im Westen zunehmend Fufi fasst. Die historische Entwicklung der postsozialistischen Lander scheint also einen Zyklus umschrieben zu haben, der von der westeuropaischen Entwicklung weg und dann wieder zu dieser hinfiihrte. Wie sollen wir diese Zyklizitat werten? 1st sie wirklich der Beweis der Uberlegenheit des westlichen liberalen Gesellschaftsmodells, auf welches die Evolution von Industriegesellschaft zulaufen soil, wie etwa Talcott Parsons (1972) aber auch Friedrich A. Hayek (1983) behaupten? Haben wir hier den Beweis vom Ende der Geschichte, wie Fukuyama (1992) es sieht, vor uns? Wie stellt sich dieser Befund in der hier dargestellten Perspektive der Phanomenologie als einer Lebenswelttheorie dar?^^^ Wir haben gesehen, dass die phanomenologisch beschreibbare Struktur der Lebenswelt als eine conditio humana, in ihrer zeitlichen, raumlichen und sozialen Dimension dynamische Momente enthalt, die die Geschichtlichkeit und somit auch die Plastizitat der Lebenswelt ausmachen und somit die Lebenswelt immer auch zu einer sozial konstituierten Kulturwelt formen. Ein weiteres wesentliches Moment dieser Dynamik ist das Erlebnis der Transzendenz, das in der Evidenz der mich iiberschreitenden Wirklichkeit der Welt, der Gesellschaft, des Anderen und ihrer Dauer bzw. in der Differenz zwischen dem Alltaglichen und AujReralltaglichen, dem Vertrauten und Unvertrauten begriindet ist. Die Intentionalitat meiner vor diesem Welthorizont ablaufenden kognitiven und pragmatischen Akte erweckt ein Bediirfnis der Transzendenz meiner selbst auf das mich je Uberschreitende zu. Das Bediirfnis nach Transzendenz sowie die Erfahrung ihrer handlungsleitenden Bedeutung schlagt sich in den Lebenswelten als Kulturwelten in einer Vielfalt von kognitiven und pragmatischen Praktiken nieder, die diese Transzendenz in Semantiken kleiden, bearbeiten und kanalisieren, die jedoch das Transzendenzbediirfnis, das sie ja selbst zum Motiv haben, nicht eliminieren konnen. ^Zum Problem der Zyklizitat der postsozialistischen Modernisierung vgl. Srubar (1996).
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Schauen wir nun unsere Resultate der Analyse der Zeit-, Raum- und Sozialdimension des Transformationsprozesses in Osteuropa genau an, so sehen wir, dass auch hier die Geschichtlichkeit zeitigende Dynamik der Lebensweltstruktur ihre Wirksamkeit beibehalt. Ich habe auf die Paradoxien in der Riickkehrsemantik des Transformationsprozesses hingewiesen, die auf der einen Seite das individuale Handlungsfeld offnet und soziale Beziehungen versachlicht, auf der anderen Seite Jedoch Briiche in individuellen und kollektiven Identitaten erzeugt, eine Re-Ethnisierung des sozialen Raumes transportiert und eine Anonymisierung sowie Atomisierung sozialer Beziehungen fordert. Hinzu kommt, dass die Riickkehrdynamik der Transformation die postsozialistischen Lander vor typische Probleme westlicher Industriegesellschaften stellt, die im Sozialismus als bereits einmal gelost galten - etwa soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Probleme des Aufbaus von Nationalstaaten im internationalen Kontext, ethnische Konflikte etc. Das Bediirfnis nach iiberindividueller Sinngebung als Bediirfnis nach Transzendenz des Gegenwartigen wird durch diese sozialen Problemlagen verstarkt und durch die individuellen sowie kollektiven Biographieerschiitterungen befordert. N u n ist aber gerade jener Bestandteil der Transformationssemantik, der die Zukunftsdimension artikuliert, vom liberalen Repertoire besetzt, das nur eine individuell innergesellschaftliche, aber keine kollektive, die Gesellschaft verandernde Transzendenz kennt, und das fiir eine Zukunft steht, die mit den Problemen der Vergangenheit belastet ist. Es ist also recht unwahrscheinlich, dass die liberale Semantik im Stande ware, die Dynamik, die in der Entwicklung der Zeit-, Raum- und Sozialdimension des Transformationsprozesses angelegt ist, ganzlich zu bewaltigen oder gar die der Lebensweltstruktur immanente Geschichtlichkeit zum Stillstand zu bringen. In diesem Sinne ist also der Transformationsprozess kein Schritt auf das Ende der Geschichte zu. Im Gegenteil - er stellt eine radikale Neueroffnung der Geschichte dar. Er markiert den Ausbruch aus der Stabilitat der Hegemonic der zwei Atomblocke, durch den der geschichtlichen sowie der sozialen Variabilitat der Lebenswelten als Kulturwelten der Weg wieder geoffnet wird, der zu neuen Semantiken und Varianten der Gesellschaftsorganisation fiihren mag und eine Verschiebung von Zen-
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tren und Peripherien Im globalen Raum wieder moglich macht. Etwas von diesen neuartigen Varianten lasst uns bereits die Kombination von realsozialistischen und marktorientierenden Handlungsmustern ahnen, die einen Mafia-Kapitalismus (Varese 1994) in weiten Teilen Osteuropas hervorbrachten. Ich hoffe gezeigt zu haben, auf weichen Wegen sich das phanomenologisch orientierte Denken zu zeitdiagnostischen Zwecken nutzen lasst. Inwiefern hat es aber auch seinen urspriinglichen zeitkritischen Impetus behalten? Kann es eine phanomenologische Gesellschaftskritik geben? Und worin solite sie bestehen? Im Lichte des hier Gesagten miisste die Antwort etwa folgendermafien lauten: Das kritische Potential der Phanomenologie besteht darin, dass sie die Sicht auf jene Momente freihalt, die die Dynamik und Geschichtlichkeit der Lebensweltstruktur konstituieren. Damit lasst sich zeigen, dass die soziale Realitat ihre Eigendynamik hat, die nie vollig den Vorgaben von Ideologien und theoretischen Gesellschaftsmodellen folgt, obwohl diese Modelle immer als Teile der Lebensweltsemantik wirksam sind. Die Phanomenologie macht es uns also moglich, die konstitutive und die geschichtstreibende Dynamik der Lebenswelt als Kulturwelt zu betrachten, ohne dass sie uns zwingt, einem der Modelle zu glauben, durch die die involvierten Akteure diese Konstitutionsprozesse selbst interpretieren. Sie lasst uns nicht glauben, sie lasst uns sehen. Und das macht sie - sowie jene, die mit ihr denken - kritisch. Literatur: Armstrong, Edward G. (1979): Phenomenologophobia. Human Studies, 2 (1979), S. 63-76. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dahrendorf, Ralf/Furet, Francois/Geremek, Bronislaw (1992): Wohin steuert Europa? Frankfurt/M.: Campus. Elias, Norbert/Scottson, John L. (1965): The EstabHshed and the Outsiders. London/Frankfurt: Cass.
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6. Ethnizitat und sozialer Raum Es gibt einen doppelten Grund, sich mit dem Problem der Ethnizitat heute zu beschaftigen: Erstens kann die Entstehung ethnischer Gemeinschaften - sofern heute noch empirisch rekonstruierbar - als ein ausgezeichnetes Beispiel der sozialen Konstruktion der Wirkhchkeit dienen. Zweitens zeigen uns die Prozesse der Ethnisierung bzw. der Re-Ethnisierung im Verlauf der postsoziaHstischen Transformation erneut an, welche reale und folgenreiche Kraft dem Mechanismus derartiger ReaUtatskonstruktion innewohnt. Ich mochte im ersten Teil des Aufsatzes auf die Mechanismen der sozialen Konstruktion von Ethnizitat eingehen, um dann im zweiten Teil einige der sich daraus ergebenden Konsequenzen am Beispiel der Entstehung und der Teilung der Tschechoslowakei sowie der deutschen Vereinigung zu demonstrieren. Kann man iiberhaupt von einer sozialen Konstruktion von Ethnien sprechen? Sind sie nicht vielmehr natiirliche, durch Abstammung und Verwandtschaft gegebene, primare soziale Gruppierungen, die sozusagen »automatisch« entstehen und immer eine spezijfisch interpretierte Lebenswelt als ihre Kulturwelt mittransportieren, die die Grundlage ihrer Identitat ausmacht? Die neuere historische und soziologische Nationalismusforschung (Hobsbawm 1996, Bahr 1969, Hroch 1985, Fishman 1962, Geertz 1962) hat in der Tat einen derartigen »Primordialismus« abgewiesen, Jedenfalls was die europaische Neuzeit anbelangt, und sich fiir das Konstruktionsprinzip ausgesprochen, insbesondere, indem sie die Rolle der Kommunikation in Ethnisierungsprozessen betonte (Deutsch 1953, Fishman 1973). Wenn es auch ein unbestrittener Verdienst dieser Forschungen ist, die Vorstellung einer universellen, primaren Gliederung der Menschheit in ethnische Gruppierungen zu entkraften, so sollten wir allerdings dieses Resultat nicht mit dem Nachweis verwechseln, dass es im Prozess der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit keine univer-
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sellen Strukturen gibt. Im Gegenteil: Alle Aufzahlungen von Kriterien, durch die die Charakterisierung einer Population als einer Ethnie gekennzeichnet ist, (siehe die bereits erwahnten Autoren und Anthony Smith 1986, 1990) betonen hier das Merkmal einer gewissermafien »symbolischen« Welt und insbesondere eine gemeinsame Interpretation der Raumund der Zeitdimension dieser Symbolwelt, durch die der Lebensraum und die Geschichte eines Kollektivs zu einer spezifischen Gruppentradition zusammenfliefien. Richtig ist allerdings, dass diese hier sichtbar werdende allgemeine Struktur ethnischer Merkmale nicht an Ethnizitat als solche gebunden ist, sondern vielmehr an die Struktur der Lebenswelt verweist, die Alfred Schiitz in seiner mundanen Phanomenologie analysierte (Schiitz/Luckmann 1975, 1984). Diese gliedert bekanntlich das Handlungsfeld des Menschen in eine soziale, zeitliche und raumliche Dimension, wobei die Differenz von vertraut/unvertraut fiir die Strukturierung dieser drei Dimensionen grundlegend ist. Demnach ist das primordiale Handlungsfeld des Menschen um seine Leiblichkeit zentriert und raumlich durch die Zonen der Handlungsreichweite sowie zeitlich in die Vor-, Mit- und Nachwelt gegliedert, wahrend die soziale Dimension des Handlungsfeld in die Zonen von Intimitat und Anonymitat teilt. In der Interaktion und Kommunikation von Gruppenmitgliedern entstehen entlang dieser Dimensionen gemeinsame Relevanz- und Typiksysteme, die, durch Sprache getragen, eine spezifische Interpretation des gruppenbezogenen Handlungsfeldes darstellen. So entsteht ein sozialer Wissensvorrat, durch den der Lebensraum der Gruppe quasi von innen ausgeleuchtet und symbolisch besetzt wird. Einen solchen symbolisch gedeuteten Lebensraum nennt Alfred Schiitz (2003a: S. 196) im Anschluss an Eric Voegelin ein »Kosmion«. Solche primaren Lebenswelten als Kulturwelten sind also immer gruppenzentriert, weil sie von der pragmatischen Relevanz der Gruppenmitglieder getragen werden. Sie enthalten immer sowohl eine symbolische und semantische Konstruktion des sozialen Lebensraums der Gruppe als auch eine Konstruktion der Gruppengeschichte (Vor- und Nachwelt), in der die Kontinuitat des Kollektivs symbolisch vergegenwartigt wird. Die reale historische Tiefe der koUektiven Erinnerung sowie der Zeitraum,
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den die Idealisierung der Gruppenkontinultat umfasst, konnen dabel das mochte ich hier empirisch bemerken - durchaus unterschiedlich sein, ja, sle konnen durch die Uberzeitlichkeit von Ursprungsmythen ersetzt werden. Fiir meine Uberlegungen hier ist es von besonderer Bedeutung, dass der gruppenbezogene und typisierende Charakter der Konstitution dieses urspriinglichen Wissensvorrats zugleich auch immer bedeutet, dass seine Elemente die Struktur des Vorurteils aufweisen. Die in der jeweiligen Gruppenperspektive wahrgenommene Differenz der gruppenbezogenen Relevanz- und Typiksysteme wird gegenseitig als Devianz wahrgenommen, die dann als jeweils gruppenspezifisch typisiert wird (Schiitz 1972). Die graduelle Unvertrautheit mit den Relevanzsystemen anderer Gruppen wird so durch Herausbildung von Stereotypen im eigenen Wissensvorrat kompensiert, in die allerdings die Devianz des Unvertrauten als typisch eingeht. Die Beobachtung der anderen aufgrund dieser Stereotypisierung hebt nun die »inkriminierten« Merkmale ihres Handels vor, womit seine Befremdlichkeit »empirisch« bestatigt erscheint. Der circulus vitiosus der Vorurteilsbildung wird so geschlossen. Sicherlich lassen sich in diesem Schiitz'schen Modell wesentliche Momente der ethnozentrischen Konstruktion der Wirklichkeit erkennen, indes, wie Schiitz selbst betont, ist dieser Prozess der lebensweltlichen Konstruktion der Realitat in seiner Struktur nicht auf Ethnien beschrankt. Die Tatsache der perspektivischen, d.h. prinzipiell auf Individuen oder Gruppen zentrierten Konstitution sinnhafter Realitat gilt allgemein fiir alle »Kollektiva«, wie uns die Untersuchungen iiber die Bildung von jugendlichen Gangs in amerikanischen Grofistadten (Thrasher 1960) oder iiber die Einheimischen und AuCenseiter innerhalb der englischen middle class (Elias/Scottson 1990) zeigen. Aus all dem konnen wir also folgern, dass es wohl primordiale Formen relativ natiirlicher Weltanschauung - um mit Max Scheler zu sprechen gibt, die allerdings, weil sie an Interaktion und Kommunikation gebunden sind, zugleich auch primordiale Formen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit darstellen. Weiterhin sehen wir, dass diese »relativ natiirliche Weltanschauung« zwar auf Kollektive hin zentriert ist, also quasi einen
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ethnozentrischen Charakter hat, dass sie Jedoch keineswegs ursachlich von der Existenz von Ethnien abhangt. Ethnizitat stellt daher vielmehr einen Fall sozialer Konstruktion der Wirklichkeit innerhalb dieser allgemeinen Struktur der Lebensw^elt dar. Damit allerdings stellt sich die Frage nach den besonderen Merkmalen bzw. nach der differencia specifica, durch die sich die Ethnisierung eines sozialen Kollektivs bzw. eines Populations-Teils vollzieht. Hier begegnen wir enormen Schwierigkeiten. Die scheinbar eindeutigen Merkmale, die iiblicherweise als die Charakteristiken einer Ethnic angegeben werden ~ wie etwa gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur, Tradition, Territorium etc. - erweisen sich bei naherer Betrachtung als recht unzuverlassig, da sie haufig das Resultat einer Selektion darstellen, die erst im Verlauf der Ethnisierung stattfindet. So kann von der einheitlichen Abstammung einer Population in Europa keine Rede sein, so dass die Ethnizitat im Sinne einer Volkszugehorigkeit haufig einer entweder institutionell durch Volkszahlungen oder alltagsweltlich durch soziale, wirtschaftliche oder politische Interessen erzeugte bzw. motivierte Option war. Die geradezu verzweifelten Anstrengungen der Volkszahler, eine ethnisch indifferente Bevolkerung zu irgend einem Bekenntnis zu bewegen, sind gerade in sprachlich gemischten Gebieten Mitteleuropas gut belegt (Peroutka 1991, Hroch 1985). Die Befragten bezeichneten sich durchweg als »hiesige«, womit sie zwar eine lokale Gruppenzentrizitat bekundeten, jedoch keine ethnische. Auch die Unterscheidung nach Sprachgebrauch war kaum moglich. Befragte Bauern gaben z. B. an, sowohl Slowakisch als auch Ungarisch zu sprechen, und konnten keine der Sprachen als »Muttersprache« bezeichnen, weil in den Familien schon immer so gesprochen wurde. Der Besitz eines Idioms als »ethnische Muttersprache« erweist sich hier also nicht als eine Voraussetzung, sondern vielmehr ein Resultat von Ethnisierungsprozessen. Auch innerhalb der gleichen Sprachgruppen liefen bekanntlich komplizierte Selektionsprozesse ab, ehe ein Dialekt als die »authentische« Muttersprache gait. Dariiber hinaus liefie sich auch zeigen, dass es Ethnien gibt, die sich zwar als solche definieren, die jedoch in sich mehrsprachig sind, wie das Beispiel der Nord-(gegisch) und Siid(toskisch) Albaner zeigt. Mit diesen Hinweisen soil die Rolle des Idioms
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auf die Identitatsbildung keineswegs bestritten werden, sie machen allerdings klar, dass mit dieser Identitatsbildung noch keineswegs automatisch »Ethnizitat« verbunden ist. Es hat vielmehr den Anschein, dass bestimmte Kommunikationsprozesse erst ablaufen miissen, in welchen eine Selektion von kollektiven Wissensbestanden und Erinnerungen stattfindet, durch die eine Neuzuordnung dieser Bestande erfolgt, in der bestimmt wird, was nun mehr die ethnisch »authentischen« Kultur- und Traditionselemente sind. Auch die territorial Charakterisierung von Ethnien ist keineswegs eindeutig. Die faktische Besiedelung eines geographischen Raumes ist kein notwendiges Merkmal ethnischer Identitat, wie uns die Beispiele von Diaspora-Ethnien zeigen, bzw. die Tatsache, dass wir haufig ethnische Identifizierungen mit Gebieten vorfinden, die von der fraglichen Ethnie langst nicht mehr besiedelt werden. Angesichts all dessen ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Forschung Kriterien der Ethnizitat durchsetzten, die sich weniger auf die dem Aufienbeobachter zuganglichen Merkmale (d.h., im Schiitz'schen Wortgebrauch, auf den »objektiven Sinn« von Gruppierungen) stiitzen, sondern vielmehr darauf abheben, festzustellen, ob und wie die genannten Ethnizitatsmerkmale in der Selbstdefinition von Gruppen auftauchen. Ausschlaggebend wird hier also, dass die von mir eingangs beschriebene soziale Konstruktion der raum-zeitlichen Lebenswelt einer Population nunmehr als eine »ethnische« verstanden und vollzogen wird, und zwar grofienteils unabhangig von der Faktizitat der Abstammung, des Territoriums usw. Zu den Merkmalen eines solchen gruppenimmanenten ethnisierten Deutungsschemas werden dann gezahlt: der Mythos der gemeinsamen Abstammung, kollektiv geteilte Erinnerungen, Elemente gemeinsamer Kultur, die Verbindung mit einer spezifischen »Heimat« im Sinne eines symbolisch gedeuteten Lebensraums, sowie Solidaritatskriterien, die die Population entlang dieser Relevanzlinien in in- und out-groups teilen (Smith 1990: S. 21). Welche Konsequenzen hat es nun, wenn die oben genannten Elemente, als Elemente der relativ natiirlichen Einstellung, nach den Kriterien einer angenommenen gemeinsamen Abstammung gegliedert werden? Es bedeutet erstens eine einschneidende Umdefinition des sozialen Raumes einer
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solchen Population, durch die die Grenzen der sozialen In- und Exklusion neu gezogen und somit die individuellen Handlungsfeider neu strukturiert werden. Die Strukturen der sozialen Schliefiung und Offnung - um mit Max Weber zu sprechen - erhalten so eine neue Gestalt. Anrechte auf Solidaritat werden umdefiniert und die Neudefinition kann die Solidaritatskriterien, die in den bisher bestehenden sozialen Netzwerken galten, ja sogar die blutverwandschaftlichen Beziehungen wesentlich schwachen. Zweitens verandert sich auch die symbolische Deutung dessen, was man einen heimatlichen Lebensraum nennen konnte. Dies bedeutet nicht nur die Trennung der lebensweltlich vertrauten Landschaft und Nachbarschaft in Heimat und Nichtheimat, sondern auch haufig die Entstehung von »Heimatbezugen« entlang der nunmehr ethnisch definierten kollektiven Erinnerung. Die zu Ethnisierung zugehorige Expansion der Zeitdimension, etwa in Gestalt gemeinsamen Ursprungsmythen, transportiert dann haufig kontrafaktischer Identifizierungen mit geographischen Raumen, die langst nicht mehr von der fraglichen Ethnic bewohnt werden. Die serbische Beziehung zu Kosovo Polje, die Identifizierung mit dem Sudetenland sowohl von tschechischer als auch von deutscher Seite oder der Bezug auf Jerusalem im Judentum konnen uns als Beispiel dienen. Dieser in der Zeit kontrafaktisch erhaltene symbolische Raumbezug stellt offensichtlich einen wichtigen Mechanismus im Prozess der Ethnisierung dar, und ist fiir die Aufrechterhaltung ethnischer Kontinuitat unentbehrlich (Halbwachs 1985). Dies bedeutet jedoch nicht, dass man den Prozess der Ethnisierung bzw. der ethnischen Nationalisierung mit der ethnischen Nationalstaatsbildung gleichzusetzen hatte. Diese setzt erst dann ein, wenn politische Momente hinzutreten, d.h. wenn der Anspruch erhoben wird, den symbolischen Bezugsraum einer Ethnic auch ihrer politischen Herrschaft zu unterstellen. Eine solche Nationalisierung setzt bekanntlich in der Regel eine Mobilisierungsbewegung voraus, in der die ethnische Konstruktion der sozialen Realitat noch einmal, sozusagen reflexiv, wiederholt wird, indem ein Idiom zu nationaler Hochsprache gekiirt, Authentizitatskriterien fiir eine iibergreifende nationale Kultur aufgestellt, ein nationaler Geschichtskanon etabliert und ein ausdriicklicher politischer, nicht nur
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kultureller Territorialanspruch erhoben wird, dessen Legitimation mit den Elementen der nationalen Selbstdefinition verbunden wird, denen nun der Charakter eines sakularisierten Naturrechts zukommt. Sobald dies eintritt, und es sind Prozesse, die die Modernisierung von Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert begleiten, wird Ethnizitat zum ernsthaften Problem. Die Verwandlung von ethnischem »membership space« (Rokkan/Urwinn 1987) in territoriale Herrschaftsanspriiche steilt eine weitere radikale Umformung des sozialen Raumes dar. Aus den kognitiven Landkarten der symbolischer Deutung ethnischer Lebensraume werden handfeste Kampfe um kulturelle und politische Definitionsmacht sowie um Sprach- und Landesgrenzen. In ethnisch gemischten Gebieten bzw. Territorialstaaten werden die ethnisch definierten sozialen Verteilungen der Solidaritatsanrechte zum institutionalisierten Status von Staatsnation und Minderheiten. Und umgekehrt: In bisher politisch geteilten ethnischen KoUektiven entsteht eine Vereinigungsdynamik, die nach aufien hin das Problem neuer politischer Grenzziehungen zeitigt, nach innen dann die Frage der Hegemonie einer oder einiger der friiher getrennten Gruppierungen impliziert. In alien Fallen entsteht eine Situation, in der um die nunmehr ethnisch-national gestiitzte kulturelle und politische Definitionsmacht konkurriert wird und deren Ausgang also zu einer Asymmetrisierung des kulturellen und politischen Status der beteiligten Kollektive fiihrt. Die asymmetrisierende Definitionsmacht kann, braucht aber nicht, auch institutionell gestiitzt zu werden. Ausschlaggebend ist hier die »Ubermacht« eines als national geltenden Systems von Relevanzen und Typisierungen, dass auch bei der formellen Sicherstellung von Gleichheit gegeniiber den Deutungsschemata der unterlegenen Konkurrenten ein exklusives Gewicht gewinnt. Diese stehen dann vor der Alternative von Anpassung - haufig als Voraussetzung fur »voice« in Hirschmans (1970) Sinne - oder exit. Der Verdacht nationalen Verrats gegen Akteure, die im Sinne von Anpassung handeln bzw. Bemiihungen um Sezession, Irredenta oder Aussiedlung sind damit vorprogrammiert. Wir sehen also, dass Ethnisierung den sozialen Raum in ein symbolisch gedeuteten, ethnischen »membership space« verwandelt und somit die potentielle Grundlage fiir eine spatere national- territoriale Neuver-
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teilung legt. Der Schritt von Ethnisierung zu Beanspruchung nationaler Territorien kann allerdings mehrere Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, in welchen die Konstruktion des Nationalen durch intellektuellen Eliten von der Rekonstruktion nationaler Kultur zum Anspruch auf politische Selbstandigkeit fortschreitet, wie etwa die Untersuchungen der Entstehung kleinerer europaischer Nationen (Hroch 1985) zeigen. Europas traditionelle multiethnische Reiche gingen an ihrer Unfahigkeit, oder vielleicht an der Unmoglichkeit zugrunde, dem Bediirfnis nach politischer Selbststandigkeit, dass aus der ethnisch-national begriindeten Kulturautonomie resultierte, Rechnung zu tragen. Hans Mommsen (1993) verweist allerdings mit Recht darauf, dass es den Nachfolgerstaaten des Osmanischen Reiches, der Habsburger-Monarchie und das zaristische Russland ebenso wenig gelungen ist, hier eine dauerhafte Losung zu finden. Sie verfuhren zwar bei der territorialen Neugliederung formell nach dem Ethnizitatsprinzip, ohne allerdings die immanenten Strukturen der involvierten ethnischen Sozialen- und Kulturraume zu beachten. Insbesondere in der Sowjetunion wurden haufig kiinstliche, ethnisch definierte federative Gebilde geschaffen, die der faktischen ethnischen Struktur nicht entsprachen, womit der Konkurrenz um die Definitionsmacht Boden bereitet wurde. Selbst wenn die Regionalisierung »ethnisch sauber« verlief, wurden damit okonomische Verteilungskonflikte aktiviert, die zu unaufloslichen Bestandteilen der ethnischen Konkurrenz wurden. Auch diese Regionalisierungseffekte trugen zu der allmahlichen Transformation der territorialen Gliederung mit ethnischem Charakter in eine Vielfalt von ethnischen »membership spaces«. Die Re-Ethnisierung des sozialen Raumes in den multiethnischen postsozialistischen Staaten ist daher als ein Resultat dieses latenten Zustands anzusehen, durch den viele der Volker im Status »verspateter Nationen« gehalten wurden, wie der slowenische Soziologe Peter Klinar (1994) formuliert. Die postsozialistischen Re-Ethnisierungsprozesse sind allerdings um so radikaler, als sie nicht nur die In- und Exklusionslinien in ethnisch gemischten sozialen Raumen verandern, sondern dies auch mit den ethno-nationalistischen Territorialanspriichen tun, die ihre Exponenten mit zum Teil herrenlosen Teilen des geerbten Machtapparats zu verfolgen imstande sind.
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Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Die Ethnisierung sozialen Raums bedeutet eine Neudefinition der sozialen Schliefiungs- und Offnungsmechanismen und schafft somit in diesem Raum neue Linien der Inund Exkiusion. Da der symbolisch gedeutete Lebensraum, mit dem die »ethnische Identitat« verbunden ist, sich haufig nicht mit den faktisch nicht existierenden territorialen, kulturellen und politischen Gebietsgliederung deckt, sind dem Prozess ethnischer Nationalisierung Konkurrenzkampfe um die Definitonsmacht des sozialen und kulturellen Raumes immanent, die in die Forderung politischer Autonomie einzumiinden pflegen. Dieses ethnisch-nationale Autonomiestreben kann sowohl die Form von Sezession als auch von Vereinigung bzw. - in Fallen von Irredenta - von beidem haben, wobei es in Fallen von Vereinigungen insbesondere gilt, dass die Aufhebung von territorialen Grenzen die Grenzziehungen im sozialen Raum deutlich sichtbar werden lasst. Territorial Vereinigung zieht also keineswegs automatisch eine Homogenisierung des soziales Raums nach sich. Die Ethnisierung sozialen Raums tragt also eine Asymmetrisierung von sozialen Beziehungen potentiell in sich, die in der Dominanz eines lebensweltlichen, haufig auch institutionell gestutzten Relevanz- und Typiksystems zum Ausdruck kommt. Damit bedeutet die Ethnonationalisierung auch die Schaffung bzw. Verschiebung von Zentren und Peripherien, und zwar faktisch durch eventuelle politischer Neugliederung, aber ebenso wichtig - auch auf der Ebene des symbolisch gedeuteten sozialen Raumes der beteiUgten Kollektiven. Damit konnen auch Prozesse der Konstitution kollektiver Identitat eingeleitet werden, die ich hier als »inferiore Identitatsbildung« bezeichnen mochte. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Gruppe die ihr auferlegte marginalisierende Fieterotypisierung zur Selbstbeschreibung iibernimmt - wenn auch die Kontextualisierungen der auferlegten Merkmale recht unterschiedlich sein konnen (Goffman 1975; Schiitz 1972) - und somit eine Selbstperipherisierung im sozialen Raum vornimmt. Ich mochte nun diese aus der Ethnisierung des sozialen Raumes resultierende Vereinigungs- und Trennungsdynamik an zwei konkreten Beispielen untersuchen. Ich wahle dazu absichtlich zwei Falle aus, namlich die Entstehung und Teilung der Tschechoslowakei sowie die deutsche
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Wiedervereinlgung, in welchen diese Dynamik in moderaten Formen ablief, um zu zeigen, dass die immanenten Mechanismen dieser Dynamik am Werk sind, selbst wenn keine radikale, gewaltbereite ethnisch-nationaie Mobilisierung stattfindet. Wenn ich im deutschen Falle von moderaten Formen dieser Dynamik spreche, so wird damit auch deutiich, dass ich hier die im radikalen Nationalismus der deutschen NationalsoziaHsten (Lepsius 1966) und in seinen internationalen Folgen Hegenden Griinde fiir die deutsche Teilung ausklammere, deren Erorterung den Rahmen dieser Abhandlung sprengen wiirde. Im Falle der Entstehung und des Zerfalls der Tschechoslowakei haben wir die in der Ethnisierung und in anschliefiender Nationalisierung sozialen Raumes liegende Dynamik in alien ihren Facetten fast paradigmatisch vor uns: Die ethnische Nationalisierung der tschechischen und slowakischen Population fiihrt zu ihrer Herauslosung aus den historischtraditionellen Verbindungen mit dem Konigreich Ungarn bzw. mit dem zisleithanischen Landerverband im Rahmen der Habsburger Monarchic und zu ihrer Vereinigung im neuen tschechoslowakischen Staat. Nach einer 70-jahrigen konfliktvollen gemeinsamen Geschichte, die bereits eine voriibergehende Trennung einschliefit, fiihrt eine Reethnisierung okonomischer und sozialer Differenzen zu dem Zerfall des gemeinsamen Staates. Sieht man in die Geschichte, so verlauft der Prozess der ethnischen Nationalisierung in Bohmen und in der Slowakei parallel etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stattfindenden Vorlauf tschechischerseits, in dem die Rekonstruktion der tschechischen »nationalen« Kultur und Sprache durch die tschechische intellektuelle Elite erfolgt. Wahrend sich allerdings die tschechischen Intellektuellen auf eine bereits stattgefundene Ethnisierung stiitzen konnen, verliefen die Prozesse der Ethnisierung und Nationalisierung in der Slowakei etwa zu gleicher Zeit. Durch diese Eigentiimlichkeit erklart sich die im Vergleich mit den tschechischen Landern sehr kleine Mobilisierungsbasis, die die slowakische nationale Bewegung in der Bevolkerung, aber auch innerhalb der intellektuellen Elite findet. Noch 1918, als es um die Grenzziehung zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn nach
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dem ethnischen Mehrheitsprinzip geht, konnen oder mogen sich viele der Befragten in dem strittigen Raum nicht festlegen. »Slowake oder Ungar, was macht das; geht es gut mit den Ungarn, so will ich ein Ungar sein, geht es gut mit den Tschechen, werde ich Slowake« - so zitiert einer der ehrlich emporten Volkszahlungskommissare die typische Antwort der Dorf bevolkerung in der Region (Peroutka 1991: S. 135). Vor diesem Problem stand allerdings nicht nur die nominelle slowakische Bevolkerung, sondern auch die slowakische nationale Elite bei ihrer Uberlegung, wo sich die nationale Autonomic der Slowaken wird am besten entfalten konnen im Verband mit den Tschechen oder mit den Ungarn? Fiir letzteres sprach die gemeinsame okonomische Infrastruktur, die die slowakischen und ungarischen Hersteller und Markte verband, fiir ersteres die sprachliche Nahe sowie der Platz an der Seite der siegreichen Entente. Die sprachliche Nahe machte es auch moglich, den Griindungsmythos von zwei unter dem Habsburger-Joch leidenden Volkern zu plausibilisieren, der auch im Gestalt der juristischen Fiktion eines tschechoslowakischen Volkes und einer tschechoslowakischen Sprache Eingang in die Verfassung des neuen Staates fand. Obwohl der Prozess der ethnischen Nationalisierung die Slowakei durch die Vereinigung mit Bohmen und Mahren aus der magyarischen Peripherie herausloste und mehr an das Zentrum des neuen Staates heranfiihrte, indem die Slowaken ein Teil der nominellen Staatsnation wurden, hat sich an der prinzipiell peripheren Lage der Slowakei und somit an der Asymmetric der sozialen Beziehungen zwischen der tschechischen und slowakischen Population in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung wenig geandert. Der tschechischen politischen und kulturellen Elite, die fiir die Schaffung des neuen Staates und die nationale Mobilisierung federfiihrend war, fiel quasi automatisch die Definitionsmacht zu, die, trotz der formal rechtlichen und biirgerlichen Gleichstellung, slowakischerseits als »Pragozentrismus« wahrgenommen wurde. Hinzu kommt das eindeutig hohere okonomische und soziale Entwicklungssowie Modernisierungsniveau der tschechischen Gesellschaft. Bohmen war die Industriekammer der Habsburger Monarchic, in der bereits 1910 anteilsmafiig mehr Erwerbstatige in der Industrie beschaftigt waren (34,5
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%) als in Frankreich und nur 3 % weniger als im Deutschen Reich.^^^ Die Slowakei, wenn auch gemessen an Rumanien oder Serbien wesentlich mehr entwickelt, war iiberwiegend agrarisch gepragt mit etwa 12 % Beschaftigter im nichtagrarischen Bereich (Retzier 1981; S. 296). Bei der gleichzeitig geringen Entwicklung der slowakischen Bildungsund Mitteischichten wurde die Slowakei notgedrungen zum Objekt der tschechischen Entwicklungshilfe, die sich in etwa zwei Phasen voUzog. In der Ersten Republik 1918 bis 1938 wurde die Bildung- und Qualifikationsstruktur der slowakischen Bevolkerung durch den Aufbau des Bildungssystems wesentlich verbessert, eine intensive Industrialisierung und Urbanisierung der Slowakei erfolgte wahrend der realsozialistischen Phase 1945 bis 1989, so dass bei der Trennung 1992 die beiden Landesteile die gleiche Sozial- und Beschaftigungsstruktur aufwiesen.^^^ Letztendlich wurde die Tschechoslowakei nach 1968 in eine Foderative Republik umgewandelt, wodurch die Slowakei den formellen Status einer autonomen Republik erreichte. Es konnte also scheinen, dass diese okonomische und politische Entwicklung zu einer Integration der beiden Populationen beitragen und insbesondere die Slowaken an den Staat binden miisste, durch den sie zu einer mitteleuropaischen Industrienation wurden. Dass es nicht so kam, liegt u.a. daran, dass es nicht gelang, die ethnisch unterlegte Asymmetrie der Definitionsmacht von sozialem und kulturellem Raum aufzuheben, die am Anfang der Vereinigung der beiden Populationen stand und die zu einer inferioren Identitatsbildung slowakischerseits fiihrte. Um Missverstandnissen vorzubeugen: Der Begriff der Inferioritat enthalt hier keine Behauptung der Minderwertigkeit einer Population. Er zielt lediglich auf die Tatsache, dass unter Bedingungen asymmetrischer Definitionsmacht soziale Identitaten auferlegt werden konnen, die soziale Ungleichheit und somit auch die empfundene Ungleichwertigkeit sozialer Position habitualisieren. Prisonierungs- und Hospitalisierungseffekte sind ebenso ^^^Frankreich: 30,0 %; Bohmen: 34,5 %; Restosterreich: 25,3 %; Deutschland: 37,4 %; vgl. Berendt/Ranki (1974: S. 134). ^^'^Der slowakische Anteil an der Produktion von BIP der Tschechoslowakei lag noch 1948 bis 1960 bei etwa 20 %, wahrend die Investitionen auf dem Gebiet der Slowakei im gleichen Zeitraum etwa bei 30 % lagen. (Prucha u. a. 1974: S. 451).
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Resultate solcher Situationen, wie die Akzeptanz stigmatisierter bzw. marginalisierter Identitat durch die Betroffenen, die etwa von Erving Goffman beschrieben wurden (Goffman 1975). Die hier angesprochene Asymmetrisierung findet ihren Anfang bereits in dem »Grundungsmythos«, in dem die Metapher vom alteren tschechischen und jiingeren slowakischen Bruder im gemeinsamen Haus bemiiht wird. Die hier formulierte Anlehnungsbediirftigkeit, die durch offensichtUche okonomische Abhangigkeit des slowakischen Teiis von den tschechischen Landern unterstrichen wurde, fiihrte tschechischerseits zu einer Redefinition der slowakischen Bevolkerung zu einem etwas unterentwickelten Tschechentum, das sich nur etwas entlegener tschechischer Dialekte bedient. Damit verbunden war die Definition gesellschaftlicher Normalitat tschechischerseits in den Kategorien einer sakularisierten, auf Leistung orientierten, individualisierten, urbanisierten und liberalen Normativitat, von der sich die katholische, agrarisch-traditionelle Lebensfiihrung der slowakischen Bevolkerung als eine sympathisch pittoreske, aber doch schleunigst zu iiberwindende vormoderne Entwicklungsphase abhob (Pfihoda 1993: S. 32 ff.). Komplementar zu dieser Heterotypisierung entstand eine entsprechende Autotypisierung slowakischerseits, in der sich seit 1918 das Modernisierungsgefalle abbildete und die zum Kern der anschliefienden inferioren Identitatsbildung wurde. Die positiven Werte dieses slowakischen Selbstbildes, das man den Schriften der Vertreter des slowakischen Autonomic entnehmen kann, betonen das Bediirfnis nach Solidaritat, nach der Einbindung in Freundeskreis und Kollektiv, Freigiebigkeit und Emotionalitat. Demgegeniiber steht der stereotype Tscheche als ein rational kalkulierender, methodisch und sorgfaltig arbeitender Mensch, der sich durch Leistungsorientierung und professionelle Gewissenhaftigkeit auszeichnet. In einer extremen Variante dieser Wahrnehmung sind Tschechen keine slawischen Bruder mehr, sondern, expressis verbis, eine mental germanisierte nordische Nation, wahrend die Slowaken den lebensfrohen Siidvolkern zugerechnet werden (Mikos 1972: S. 139). Wenn auch selbstverstandlich in dieser Rahmung der herzliche Slowake dem gefiihlskalt kalkulierenden tschechischen Vernunftmenschen vorzuziehen ist, so ist doch nicht zu iibersehen, dass die
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hier als typisch tschechlsch hervorgehobenen Merkmale auch jene der modernen Berufsrolle sind. Da allerdings die in der genannten slowakischen Autotypisierung betonten positiven Eigenschaften den Anschluss an diese eher erschweren, ist mit dieser Selbsttypisierung immer auch die Vermutung verbunden, dass der typische Tscheche den typischen Slowaken nicht fiir ganz voll nimmt, d.h. etwas abstrakter, dass die Relevanztypik der relativ natiirlichen Einstellung der Slowaken nicht mit der definitionsmachtigen Relevanzstruktur tschechischerseits kompatibel ist. Diese Selbstperipherisierung der slowakischen Position im sozialen Raum der tschechoslowakischen Gesellschaft hielt sich wahrend der ganzen Existenz des gemeinsamen Staats: 1990 sind etwa 60 % und 1992 sogar 73 % der Slowaken der Meinung, dass sie von den Tschechen nicht fiir gleichwertig gehalten werden. Ebenso unterschiedlich sind die nunmehr empirisch gemessenen »typischen« Merkmale der den beiden Populationen eigenen Deutungsschemata: Slowaken glauben nicht an die Vorteile der Privatisierung und an die uneingeschrankte Differenzierung von sozialen und materialen Positionen nach dem Leistungskriterium, sie betonen die Werte der Solidaritat und Gemeinschaft und suchen Schutz beim patriarchalischen Staat, d.h. sie misstrauen im Grofien und Ganzen dem Trend der postsozialistischen Reformen (Butorova/Butora 1993: S. 119). Die als massiv wahrgenommene Dominanz der tschechischen Definitionsmacht, vertreten durch die marktwirtschaftlichen und liberalen Reformen von Vaclav Klaus, die auf eine Neugestaltung des sozialen Raums drangt, wenn auch diese Neugestaltung nicht ethnisch, sondern okonomisch motiviert ist, lasst slowakischerseits ein Bediirfnis nach einer abwehrenden Grenzziehung durch den sozialen Raum entstehen, die letztendlich an der latent vorhandenen Asymmetrisierung der ethnischen Identitatsbildung ansetzt. Wohl sind sich beide Telle der Bevolkerung dariiber im Klaren, dass ein gemeinsamer Staat vorteilhafter ware, auch fiirchten die Slowaken okonomische Nachteile der Trennung, die sie klar sehen (ebd.). Doch die vor dem Hintergrund einer inferioren Identitatsbildung eintretende Ethnisierung dieses urspriinglich politisch-okonomischen Konflikts wird zum Vehikel der Trennung, die von der tschechischen Seite aus okonomischen Griinden forciert wird und in die die Slowakei auf einer Welle des
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sozialen und ethnlsch nationallsierenden Popullsmus hineinschlittert. Das tschechoslowakische Beispiel zeigt also, wie triigerisch und ineffizient ethnisch motivierte Vereinigungsprozesse sein konnen. Sie bauen auf einem Gleichwertigkeit unterstellenden Griindungsmythos auf, zeitigen jedoch zugleich haufig ein asymmetrisches Verhaltnis der Systeme von Relevanz und Typik, an die die Identitat der beteiligten ethnischen Kollektive gebunden ist. Die dadurch in Gang kommende »inferiore Identitatsbildung« kann sich als sehr persistent erweisen und trotz massivster Entwicklungshilfe seitens der die Definitionsmacht besitzenden Gruppe liberdauern. Es zeigt sich, dass die Angleichung der sozialen Struktur und des okonomischen Entwicklungsstandes der betroffenen Bevolkerungsteile keine Garantie fiir ausreichend starke Interaktionseffekte darstellt, die eine Re-Ethnisierung sozialer und okonomischer Konflikte und die damit verbundene Spaltungsgefahr vermeiden wiirden. Den Fall der deutschen Wiedervereinigung in dem hier skizzierten Kontext zu diskutieren ist sicherlich nicht ohne Probleme. Durch die Teilung Deutschlands wurden zwei Gebilde geschaffen, deren Bevolkerung die Phase der ethnischen Nationalisierung gemeinsam sozusagen bis zum bitteren Ende durchlief. Die Schaffung einer einheitlichen nationalen Kultur und Geschichte durch die Bildungseliten setzt bereits tief im 18. Jahrhundert ein und kann aus einem jahrhundertealten Kultur reservoir gemeinsamer Geschichte schopfen. Das Streben nach der Vereinigung der deutschen Lander durchzieht das ganze 19. Jahrhundert und die politische Geschichte des Deutschen Reiches seit 1871 war wohl geeignet, eine historische »Schicksalsgemeinschaft« seiner Bewohner herzustellen. Unter diesen Umstanden konnte man wohl von einer Homogenisierung des sozialen Raumes sprechen, in dem ethnische Gleichheit geradezu die legitimierende Voraussetzung fiir die Partizipation an kulturellen, sozialen und politischen Anrechten war. Wie kann man also hier von einer Konkurrenz um die Definitionsmacht und von der daraus resultierenden Asymmetrisierung von Beziehungen im sozialen Raum im Zusammenhang mit ethnischer Identitatsbildung reden? Die Debatte dariiber, ob die Teilung Deutschlands zur Entwicklung von zwei unterschiedlichen Staatsnationen gefiihrt hatte oder nicht, ist
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stark von politischen und ideologischen Optionen belastet und soil uns hier nicht beschaftigen. Die Wiedervereinigung zeigte allerdings eindeutig und empirisch messbar, dass die Existenz der beiden deutschen Populationsteile unter unterschiedlichen politischen und okonomischen Bedingungen tatsachlich zur Herausbildung von zwei unterschiedlichen Kollektividentitaten fiihrte. So lange die beiden Staaten existierten, erschien die Debatte um eine spezifische Identitat von DDR-Biirgern, insbesondere innerhalb der DDR, als ein Bestandteil der iiblichen realsozialistischen Ideologieschulungen. Umso grower war die Uberraschung der Bevolkerung der ehemaligen DDR, als sie nach der Wiedervereinigung feststellen musste, dass die Definitionen sozialer Normalitat in West und Ost recht unterschiedlich sind. Dies war keine Propaganda mehr, sondern ein erlebtes Anderssein, das die Handlungsfelder der Beteiligten konkret umstrukturierte und ihre bisher verborgenen unterschiedlichen sozialen Identitaten zum Vorschein brachte. In Termini von Alfred Schiitz formuliert: Die westlichen und ostlichen kollektiven Wissensvorrate enthielten zwar Heterostereotypen beziiglich der jeweils Anderen, doch in der nunmehr moglichen direkten Interaktion erwiesen sich die Relevanz- und Typiksysteme beider Gruppen einschliefilich dieser Heterostereotypen als grofienteils inkompatibel, so dass die Fremdheit offensichtlich wurde. Die Abschaffung der politischen Grenzen machte die Grenzlinien im sozialen Raum sichtbar und zugleich auch wirksam. Es liefie sich trefflich dariiber diskutieren, welche konkreten Griinde fiir die abweichende Konstruktion sozialer Realitat seitens der DDRBevolkerung wahrend der 40-Jahrigen Trennung pragend war. Man konnte z. B. auf ein Phanomen hinweisen, das aus der Geschichte der Entwicklung von ehemaligen Koloniallandern bekannt ist. Dort wurden haufig ethnisch kulturell zusammenhangende Gebiete durch die Kolonialherren in neue politische Einheiten eingeteilt, was zu einer allmahlichen Identifizierung mit der neuen regionalen Einheit und zur Herausbildung neuer Ethnizitat fiihrte. Dies zeigt uns, dass die Entstehung neuer Ethnizitat innerhalb bereits einmal ethnisch verfasster Populationen durchaus moglich ist. Dafiir sprechen auch die europaischen Beispiele von Osterreich und Schweiz. Doch fiir die konkrete Gestalt der in Ostdeutschland entstan-
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denen Muster kollektiver Identitat sind wohl eher die realsozialistischen Bedingungen der Organisation alltaglicher Lebensfiihrung verantwortlich mit ihrem Zwang zur schattenwirtschaftlichen Absicherung in privaten Netzwerken, zur Korruption und Patronage sowie zu der daraus resultierenden, zwischen »Wir« und »Ihr« unterscheidenden Ausschlussmoral: alles Merkmale, die in unterschiedlicher Intensitat die alltagliche Lebensfiihrung aller realsozialistischen Landern pragten. Unter den das ostdeutsche Selbstverstandnis konstituierenden Merkmalen spielen die gemeinschaftliche Orientierung, die Betonung der Solidaritat und der Geborgenheit im eigenen Netzwerk eine entscheidende Rolle (Hradil 1996; Weifi 1996). Damit verbunden ist die Betonung der Authentizitat von Freundschaft, von substantieller Gerechtigkeit, Emotionalitat usw. Demgegeniiber steht der Heterostereotyp des individualistischen, berechnend egoistischen Westdeutschen, der den Vorteil seiner Definitionsmacht und das Instrument formaler Rechtsstaatlichkeit riicksichtslos fiir das Erreichen eigenen Vorteils einsetzt (Weifi 1996). Analog entspricht dem die Heterotypisierung des Ostdeutschen westlicherseits als eines initiativlosen, auf staatliche Hilfen wartenden Zeitgenossen, dem das Verstandnis fiir Marktwirtschaft und westliche Modernitat erst beizubringen ist. Die Opposition der Auto- und Heterotypisierung hat hier strukturell die gleiche Gestalt, durch die auch die Differenz der gegenseitigen slowakischen und tschechischen Deutschungsschemata beim Entstehen des gemeinsamen Staates 1918 gekennzeichnet war - ein Umstand, der meines Erachtens eindeutig fiir die demodernisierende Wirkung realsozialistischer Systeme in entwickelten Gesellschaften spricht. Auch beziiglich der Asymmetric der Definitionsmacht weist das Verhaltnis zwischen West- und Ostdeutschland eine strukturelle Ahnlichkeit mit jenen zwischen den tschechischen Landern und der Slowakei auf. Im Falle der deutschen Wiedervereinigung scheint diese Asymmetric sogar etwas ausgepragter zu sein: Die absolute Dominanz der alten Bundesrepublik hat nicht nur den Lebensraum der Bevolkerung der neuen Bundeslander definiert, organisiert und nach eigenen Prioritaten restrukturiert, sondern hat auch - was in der Slowakei nicht der Fall war - die politische Artikulierung der Reprasentanz der Ostdeutschen - mit Ausnahme der PDS -
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in das westdeutsche Parteiensystem kanalisiert, wo sie durch die westdeutschen Mehrheiten dominiert werden. Auf diese Art und Weise ist nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die soziale und politische Existenz der neuen Bundeslander vollig von dem westdeutschen Finanztransfer und der westlichen »Entwicklungshilfe« abhangig geworden. Dementsprechend setzt auch der Mechanismus der »inferioren Identitatsbildung« ein. 80 % der ostdeutschen Bevolkerung sehen sich selbst als Burger zweiter Klasse an und reagieren auf ihre Fremdbestimmung mit signifikant niedriger Systemakzeptanz als es in Westdeutschland der Fall ist (Gersinke 1995: S. 149). Zugleich jedoch hebt eine regionale Abwehrreaktion an, die mit dem Motto »Bewusst als Ostdeutscher leben« umschrieben werden kann. Die durchaus als different empfundenen ostliche Identitat wird so zur Grundlage eines »neuen Selbstbewusstseins« und Forderungen nach einem eigenen ostdeutschen Lebenstraum, in dem ein selbstandiges, ostdeutsch authentisches Handeln moglich ware, tauchen auf (Woderich 1996; Gesinke 1995). Dieses neue Selbstbewusstsein vermag allerdings offensichtlich die inferiorisierenden Konnotationen der ostdeutschen Identitatsbildung nicht zu brechen, denn den sozialen Raum, in dem die ostdeutsche Identitat lebbar ware, konnen sich ihre Befiirworter nur an der Peripherie der neuen deutschen Gesellschaft vorstellen (Woderich 1995: S. 96). Sicherlich darf man die Ansatze zu einer regionalbestimmten und auf eine gemeinsame historische Erfahrung einer Schicksalsgemeinschaft gebundenen gesonderten Identitatsbildung im Osten Deutschlands in diesem Stadium nicht iiberbewerten. Doch die tschechoslowakische Erfahrung zeigt, dass man solche Sprlinge in der Definition gemeinsamen sozialen Raums auch nicht unterschatzen darf, vor allem, weil es sich zeigen lasst, dass solche Grenzziehungen im symbolischen Lebensraum nicht automatisch durch okonomische und sozialstrukturelle Angleichung verschwindet. Soziale, okonomische und formal rechtliche Gleichstellung sind fiir das »Zusammenwachsen« von Landesteilen in ethnisch motivierten Vereinigungsprozessen zwar notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen. Gleichheit muss auch auf der Ebene der Relevanz- und Typiksysteme der beteiligten Kollektive, d.h. im symbolischen Bereich der Lebenswelt einer Gesellschaft, ermoglicht werden. Es ist zwar nicht mog-
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lich, die Asymmetrisierung von Definitionsmacht aus dem Prozess der sozialen Konstruktion der Moglichkeit auszuschliefien. Sie sollte jedoch, um wiederum mit Alfred Schiitz zu formulieren, nicht den ganzen Lebensraum und die ganze Lebensfiihrung einer Gruppe durchdringen, und die Semantik einer Gesellschaft derart dominieren, dass gleichberechtigte Artikulation von Interessen in Termini eines abweichenden kollektiven Relevanzsystems unmoglich bzw. marginalisiert wird. Die Gleichheit der im sozialen Raum einer Gesellschaft eingenommenen Positionen ist erst dann moglich, wenn das diesen Raum deflnierende Relevanz- und Typiksystem nicht die Exklusion anderer impliziert. Vielmehr entsteht faktische Gleichheit von Handlungschancen in einem sozialen Raum erst dann, wenn eine Kongruenz von Relevanz- und Typiksystem erreicht wird, deren Mindestniveau wenigstens sicherstellen muss, dass das an die anderen gerichtete Definitionsangebot mit ihrer Selbstdefinition und den Handlungserwartungen, die aus ihr resultieren, vertraglich ist. Erst dann kann der Kreis der »inferioren Identitatsbildung« durchbrochen und eine Spaltung des sozialen Raums wenigstens im Ansatz vermieden werden, die als Voraussetzung einer erfolgreichen Vereinigung gelten darf. Literatur: Barth, Fredrik (Ed.) (1969): Ethnic Groups and Boundaries. Boston: Little, Brown. Berendt, Ivan T./Ranki, Gyorgy (1974): Economic Development in EastCentral-Europe in the 19^^ and 20^^^ Century. New York: Columbia Univ. Press. Biitorova, Zdena/Biitora, Martin (1993): Die unertragliche Leichtigkeit der Trennung. In: Kipke Riidiger/Vodicka, Karel (Hg.): Abschied von der Tschechoslowakei. Koln: Verlag Wissenschaft und Politik. Deutsch, Karl W. (1953): Nationalism and Social Communication. An Enquiry into the Foundations of Nationality. Cambridge/Mass.: Technology Press of the Massachusetts Institute of Technology. Elias, Norbert/Scottson, John L. (1992): Etablierte und Aufienseiter.
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7. Zur Formierung des soziologischen Blickes durch die GroiSstadtwahrnehmung Die Soziologie ist ein Grofistadtkind. Die Grofistadte haben ihr als Anschauungsobjekt der Moderne gedient, und dementsprechend schieden sich die soziologischen Geister bei der Wertung des Grofistadtphanomens. Dem Bild der Groftstadt als Schmelztiegel, in dem starre, liberlieferte soziale Strukturen zu modernen, dynamischen und funktionalen umgeschmolzen werden, standen Warnungen vor den entmenschlichenden, entfremdenden und dysfunktionalen Auswirkungen der Grofistadtentwicklung gegeniiber. Eins batten jedoch Kulturpessimisten und Fortschrittsglaubige gemeinsam: Anhand der Beobachtung der Entwicklung von sozialen Beziehungen und Formen in Grofistadten, die sich deutlich gegen die traditionellen sozialen Strukturen abhoben, haben sie gelernt, die soziale Realitat in einer Weise wahrzunehmen und zu beschreiben, die den Zugang der Soziologie zu ihrem Gegenstand bis heute nachhaltig bestimmt. Denn - wie Rene Konig (1977) schon fiir Saint Simon und Comte hervorhob - die Grofistadt war quasi ein Laboratorium, in dem in vivo die Konstitutionsprozesse beobachtbar waren, durch welche aus heterogenen Elementen eine neue soziale Gestalt entstand. Selbst dann, wenn sich die junge Soziologie primitiven Gesellschaften zuwandte, suchte sie dort Antworten auf Fragen, die erst durch ihren grofistadtisch geiibten Blick aktuell geworden waren. Durkheims Analyse primitiver Religionen (Durkheim 1981), W. I. Thomas' Untersuchungen des primitiven Verhaltens (Thomas 1909), Tonnies' Theorie der Gemeinschaft (Tonnies 1887), Vierkandts Gesellschaftslehre (Vierkandt 1928), ja selbst Max Webers Religionssoziologie (Weber 1963) lassen sich als Belege hierfiir anfiihren. Ich mochte nun dem Zusammenhang zwischen der Formierung des soziologischen Blickes und der Grofistadtwahrnehmung in drei Schritten nachgehen:
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Erstens will ich die fiir die soziologische Grofistadtwahrnehmung charakteristischen Merkmale an Beispielen zeigen; zweitens werde ich auf die begrifflichen Konstruktionen eingehen, die in dieser Wahrnehmung ihre lebensweltliche Grundlage haben und drittens mochte ich einige der theoretischen Konsequenzen aufgreifen, die fiir die Soziologie aus diesen Denkfiguren resultieren. Wenn wir den Anteil der Grofistadtwahrnehmung an der Genese des soziologischen Blickes erkennen wollen, miissen wir uns dem Friihstadium des soziologischen Denkens zuwenden, in dem sich die moderne soziologische Begrifflichkeit formte. Dies ist etwa die Zeit der vier Jahrzehnte um die Jahrhundertwende, der Zeitraum also, in dem die »Grofistadt« als ein soziales Gebilde besonderer Art thematisiert wurde.^^^ Es ist keine voU ausgebildete Wissenschaft mit einem entwickelten, standardisierten Instrumentarium, die hier einen unstrittig in ihre Kompetenz fallenden Gegenstand aufgreift: Dass die Soziologie durch die Betrachtung der Grofistadt grofitenteils erst ihr theoretisches Instrumentarium entwickelt, kann man schon daran absehen, dass die Grofistadt zu jener Zeit nicht zum Objekt einer routiniert verfahrenden BindestrichSoziologie wird, sondern dass ihre Analyse immer den tragenden Bestandteil der je zu entwickelnden Theorie darstellt. Doch damit greife ich bereits dem zweiten Schritt meiner Ausfiihrungen vor. Zuerst ist schlicht nach dem Bild zu fragen, das die Soziologie jener Zeit von der Grofistadt zeichnet. Die Grofistadte gelten der Soziologie als der Typus der modernen Vergesellschaftung schlechthin. Durkheim (1977: S. 337 ff.) konstatiert 1893 eine zunehmende soziale Dichte des GroEstadtlebens, in der die alte, auf einem fest gefiigten, allgemein verbindlichen Normsystem aufgebaute Gesellschaftsstruktur sich auflost und Raum freigibt, in welchem »Ideen, Moden, Sitten und Bedurfnisse« in schnellem Wechsel geboren werden. ^^^Zur Entwicklung der Grofistadtthematik in dieser Zeit unter sozialhygienischen, kulturkritischen und spater soziologischen Gesichtspunkten vgl. Pfeil (1972: S. 27 ff.).
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Diese entsprechen sozialen Einheiten und Gruppierungen, die in keinem traditionellen, vom gemeinsamen Kollektivbewusstsein getragenen Zusammenhang miteinander stehen, sondern ledigiich durch die funktionale Arbeitsteilung aufeinander bezogen sind. Die Pluralisierung der kollektiven Normen fiihrt zu einer »Bewegiichkeit des Geistes«, zu einer Konzentration des Geisteslebens, in dem Neuerungen durch Infragestellung des Uberlieferten den Ton angeben. »Kein Boden ist fiir Evolutionen aller Art gunstiger«, kommentiert Durkheim diese Freiheitsatmosphare der Grofistadte (ebd.). Die Angleichung der sozialen Lagen bei zunehmender Pluralitat der Meinungen tragt zur Erweiterung der Toleranzgrenzen und zur Schaffung einer liberal gesonnenen Offentlichkeit bei. Durkheim lasst keinen Zweifel daran bestehen, dass er die Erweiterung des in den GroCstadten anlaufenden sozialen Wandels auf die ganze Gesellschaft wiinscht. Wie entgegengesetzt sind demgegeniiber die Konsequenzen, die Tonnies (1887) aus der Analyse des gleichen Phanomens zieht. Auch fiir ihn ist die Grofistadt »typisch fiir die Gesellschaft schlechthin« (Durkheim 1977: S. 284), dies im Gegensatz zur Stadt, die als Beispiel der organischen, gemeinschaftlichen sozialen Organisation figuriert. Die natiirlichen gemeinschaftlichen Beziehungen existieren jedoch in der Tonnies'schen Sicht in der Grofistadt nur in einer verkiimmerten, entstellten Form. Vielmehr stehen sich hier vereinzelte Personen gegeniiber, die ledigiich durch den 5konomischen Mechanismus des Marktes und einen gemeinsamen, zufallig gewahlten Wohnort verbunden sind. Sie verlieren den inneren Halt, den sie an der iiberlieferten Sitte batten, und werden ledigiich durch auCere Faktoren zu Gruppen zusammengeschlossen. Die Pluralitat der normativen Muster geht einher mit einer »Willkiirlichkeit des Sub)ekts«, das ledigiich seine individuellen Zwecke verfolgt. Frechheit und Liige sind die typisch groCstadtischen gesellschaftlichen Umgangsformen (Durkheim 1977: S. 178, 187). Die Willkiirhchkeit des Subjekts lasst eine Menge konkurrierender Meinungen entstehen, die von einer sprunghaften Offentlichkeit getragen und fallengelassen werden. Hinter derartiger Offentlichkeit steht die atomisierte Masse, deren Glieder nur von Fall zu Fall zum temporaren Trager eines willkiirlichen Dafiirhaltens
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werden, um anschliefiend wieder in die Anonymitat zu versinken (Tonnies 1922: S. 245 f.). Allerdings kann Tonnies ebenfalls nicht umhin, die betonte Rationalitat zu erkennen, die den sozialen Beziehungen in Grofistadten zugrunde liegt, selbst wenn er sie als kalkulierende Berechnung des Einzelinteresses negativ wertet. Den weltanschaulichen Differenzen zum Trotz entwerfen beide Autoren ein Bild, das die Grofistadt als ein soziales Gebilde wiedergibt, in dem individuelle Freiheit und rascher Wandel eine Pluralitat der Lebensstile fordern, die durch die Sprengung »organischer« Kollektive und durch die Entstehung anonymer Grofistadtmassen ermoglicht wird, Massen, die lediglich durch den Markt und durch funktionaie Arbeitsteilung zusammengehalten werden. Die Entwicklung individueller und geistiger Freiheit und die Subsummierung einer anonymisierten Massengesellschaft unter die Gesetze des Marktes begleiten und bedingen sich in der soziologischen Grofistadtwahrnehmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Als 1903 der erste Versuch unternommen wurde, die Grofistadt als Phanomen wissenschaftlich interdisziplinar zu erfassen (Petermann 1903), ging Simmel, der in jenem der Grofistadt gewidmeten »Sammelwerk« die Soziologie vertrat, dem skizzierten Zusammenhang tiefer nach. In seinem Beitrag iiber die »Grofistadte und das Geistesleben« (Simmel 1903) versuchte er, den unter dem Einfluss des derart beschaffenen grofistadtischen Milieus entstehenden Typus des Grofistadtmenschen zu beschreiben und die Grundziige seines Weltzugangs sowie seines sozialen Umgangs zu charakterisieren. Wir finden hier einen bereits vertrauten Bezugsrahmen vor, innerhalb dessen die Untersuchung vor sich geht: Die Grofistadt als der O r t millionenfachen Lebens und Erlebens stellt eine enorme Steigerung des Nervenlebens dar, in dem Individuen einem raschen und ununterbrochenen Wechsel innerer und aufierer Eindrucke ausgesetzt sind (Durkheim 1977: S. 228). U m diesem zu begegnen, legt das Grofistadtindividuum das Medium verstandesmafiig abstrahierender Betrachtung zwischen sich und die sprudelnde Fiille der Eindrucke. Auf die bedrohliche Vielfalt von Diskrepanzen und Stromungen seines aufieren Milieus reagiert der Groftstadtmensch »mit dem Verstande, durch Steigerung seines Bewusstseins« (ebd.).
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Dies manifestiert sich habituell in einer zur Schau getragenen Gleichgiiltigkeit und Blasiertheit, durch die die Distanz des Beobachters gewahrt wird. Denn diese ist notig, wenn die verwirrende Fiille der fliichtigen individueilen Eindriicke zu einem bestandigeren, Orientierung erlaubenden Muster verarbeitet werden soil. Der Grofistadtmensch ist so gezwungenermaften gleichgiiltig gegen alles Individuelle, und orientiert sich nur an sachlichen Merkmalen, die iiberindividuell sind und allgemeinere Erwartungen erlauben. Es sind solche, die als gemeinsame Bedingungen der individuellen Lebensfiihrung das der Moglichkeit nach willkiirliche individuelle Handeln zu einem typisch erwartbaren machen. Die Regeln des Geldverkehrs, die Benutzung des Geldes als Medium, die Zeit als Koordinierungsdimension komplexer Handlungsablaufe stellen solche iiberindividuell regelnden Faktoren dar, die eine Objektivierung von Erwartungen erlauben.^^^ Am Verhalten anderer nimmt also der Grofistadtmensch vornehmlich »objektivierbare Attituden« wahr, bei denen die Chance der Wiederholbarkeit besteht. Mitmenschen begegnen ihm nicht als ganze Individuen, sondern lediglich als deren typisierbare Segmente, die er als Beobachter nur aufgrund nicht-individueller Merkmale zu interpretieren weifi. Die extreme Arbeitsteilung, die Grofistadten eigen ist, verstarkt noch die Tendenz zu dieser segmentaren Wahrnehmung. Die fliichtigen und segmentaren Kontakte der GroGstadtmenschen ziehen, bei der gegebenen individuellen Freiheit, den Versuch nach sich, vermittels personlicher Selbstdarstellung - etwa durch Kleidung und Verhalten die eigene Individualitat als eine besondere zu prasentieren. Doch derselbe Mechanismus verv/andelt den gewiinschten individuellen Ausdruck wiederum in einen Typus. So erganzt Simmel den fiir die Groftstadte typischen Zusammenhang von subjektiver Freiheit und Anonymitat um eine weitere Dimension: Die subjektive Freiheit der Individuen ist zugleich der Grund dafiir, dass sie sich, als gegenseitige Beobachter, auf typische Merkmale ihres Verhaltens reduzieren, die sie als Glieder eines mehr oder minder anonymen Kollektivs ausweisen. Simmels Beobachtungen waren bahnbrechend. Sie entfalteten ihre ^^ Eine genaue Analyse des Geldes als eines sozialen Mediums fiihrt Simmel bekanntlich bereits 1900 in seiner Philosophie des Geldes aus, vgl. Simmel (1900).
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Wirkung nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, wo eine andere Grofistadt - Chicago - als Laboratorium fiir die Entwicklung soziologischer Sichtweise diente. Simmels Charakteristika des Grofistadtlebens wurden zum festen Bestandteil des Programms der Grofistadtforschung der Chicago-Schule. In seinem beriihmten Aufsatz »Urbanism as a Way of Life« fiihrte Louis Wirth (1938) den fliichtigen und segmentaren Charakter der Kontakte, die Anonymitat, die Gleichgiiltigkeit und ihre Schutzfunktion sowie die Instrumentalitat der sozialen Beziehungen als die definitorischen Merkmale der Urbanitat als Lebensform ein. Die beobachtbaren Implikationen des Phanomens »Grofistadt« fiihrten auch jenseits des Atlantiks recht friih zu ahnlichen Feststellungen. So schreibt R. E. Park, der bei Simmel studierte, in seinem Aufsatz »City as social laboratory« von 1929: »Another thing that makes the city an advantageous place to study social life and gives it the character of a social laboratory is the fact that in the city every characteristic of human nature is not only visible but is magnified. In the freedom of the city every individual, no matter how eccentric, finds somewhere an environment in which he can expand and bring what is peculiar in his nature to some sort of expression. A smaller community sometimes tolerates eccentricity, but the city often rewards it. Certainly one of the attractions of a city is that somewhere every type of individual-the criminal and beggar, as well as the man of genius may find congenial company and the vice or the talent which was suppressed in the more intimate circle of the family or in the narrow limits of a small community, discovers here a moral climate in which it flourishes. The result is that in the city all the secret ambitions and all the suppressed desires find somewhere an expression. The city magnifies, spreads out, and advertises human nature in all its various manifestations. It is this that makes the city interesting, even fascinating. It is this, however, that makes it of all places the one in which to discover the secrets of human hearts, and to study human nature and society« (Park 1929: S. 19). Auch hier geht die Beobachtung der Freiheit des Grofistadtindividuums einher mit der Frage nach einer in dieser Freiheit sichtbar werdenden Ordnung, einer Ordnung, die nun aufgrund der Vervielfachung
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des Individuellen manifestiert wird. So erscheinen Im Vergrofierungsglas der Grofistadt die Mechanismen der Konstitution der sozialen Ordnung schlechthin: »The social problem is fundamentally a city problem. It is the problem of achieving in the freedom of the city a social order and a social control equivalent to which grow up naturally in the family, the clan, and the tribe« (Park 1929: S. 2). Die Sensibilisierung des urbanen Beobachters fiir die hochindividualisierte Identitat und Handlungsfreiheit einerseits und ihre Brechung in iiberindividuellen Verhaltensweisen andererseits schildern zwei Ansatze, die jeweils das subjektbezogene bzw. iiberindividuelle Moment der Groftstadtwahrnehmung verfolgen. Es handelt sich um Benjamins Interpretation des »Flaneurs« (Benjamin 1987) und um Kracauers »Ornament der Masse« (Kracauer 1972). Die Benjamin'sche Baudelaire-Studie stammt aus den 30er Jahren, Kracauers Aufsatz wurde am Ende der 20er geschrieben - sie entstanden also bereits zu einer Zeit, in der die soziologischen Griinderjahre langsam zu Ende gingen. Sie fiihren uns jedoch die lebensweltlichen Grundlagen der Wahrnehmbarkeit der oben vom Simmel und Park aufgezeigten Merkmale des individuellen und sozialen Grofistadtlebens in einer scharfsinnig entwickelten Form vor Augen, und helfen uns so zu begreifen, welche Rolle urbane Erfahrungsweise fiir die Gestaltung des soziologischen Blickes spielte. Die virtuose Habitualisierung der Grofistadtwahrnehmung in der »relativ natiirlichen Einstellung« stellt der Flaneur dar. Er ist ein Beobachter, der sich in die Menge begibt, um Zerstreuung zu suchen. »Das Vergniigen, in einer Menge sich zu befinden, ist ein geheimnisvoUer Ausdruck fiir den Genuss an der Vervielfaltigung der Zahl« zitiert Benjamin Baudelaire, um das Motiv des Flaneurs zu kennzeichnen (Benjamin 1987: S. 561). Die bauliche Beschaffenheit der Grofistadt, die auf die Schaustellung von Waren aus ist (Passagen), lockt die Masse an und kommt so diesem Genusstrieb entgegen. Das Schauspiel der Menge fasziniert den Flaneur einerseits, andererseits lasst ihn das Gewiihl der Grofistadt sein Ich-Bewusstsein umso starker erfahren (Benjamin 1987: S. 562 f.). Er ist sich im Gegensatz zum Gaffer (le badaud) seiner Individualitat und seiner Distanz als Beobachter bewusst. In der Art eines Detektivs greift
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er die Muster auf, die die Masse ihm bietet, um sie, da Individuen ihm nicht mehr aufgrund ihrer subjektiven Willkiirlichkeit und somit auch Anonymitat unmittelbar verstandlich sind, mit seiner Interpretation, mit seinem Ich-Bewusstsein zu fiillen (Benjamin 1987: S. 572, 563). Die Interpretation des willkiirlich anonymen anderen - hinter dessen Entindividualisierung Benjamin im Sinne der Frankfurter Schule die verdinglichende Kraft der Warenproduktion durchscheinen lasst - kann also nicht mehr unmittelbar, sondern nur auf dem Umweg liber die ihm durch sein allgemeineres, sein Massenwesen auferlegten Merkmale erfolgen. Das Gegenstiick, das die Einstellung des Flaneurs moglich macht, d. h. die Emergenz der am Verhalten der Grofistadtmenge beobachtbaren Muster, beschreibt Kracauer in seinem Aufsatz »Das Ornament der Masse«. Vordergriindig bezieht er sich auf ein Phanomen der grofistadtischen Massenkultur, die »Tiller Girls«, ein amerikanisches Revuetanzensemble. Auf dem zweiten Plan erkennen wir jedoch, dass es ihm hier um die Erfassung der Eigenart von Mustern geht, die am Verhalten der Grofistadtmassen wahrnehmbar werden. Kracauer fiihrt folgende Merkmale auf, die diese Eigenart konstituieren (Kracauer 1977: S. 55-61): a) Die Muster - die Ornamente - sind nur an Menschen als Massengliedern, nicht an solchen als Individuen erkennbar. b) Sie stellen, wie die sie hervorbringende Warenproduktion auch, einen Selbstzweck dar, d. h. sie dienen ihrer eigenen Erhaltung. c) Sie werden von ihren Tragern nicht mitgedacht, sie sind nicht intendiert. d) Sie folgen einer von ihren Tragern abgelosten Rationalitat. e) In ihrer »Denaturierung« zu Teilchen des Ornamentzusammenhangs lasst sich das soziale Wesen der Trager erkennen. Wir sind nun gewappnet genug, um die Hauptziige, die die friihe Soziologie an der Grofistadt und am Groftstadtmenschen als charakteristisch hervorhebt, zu einem Bild zu sammeln und zu sehen, zu welchen
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begrifflichen Konstruktionen diese Wahrnehmung verarbeitet wird. Die Grofistadt steht als Typus der vergesellschafteten sozialen Beziehungen fiir die »Gesellschaft« im Gegensatz zur »Gemeinschaft«. Das Erscheinungsbild der Grofistadt wird wahrgenommen als eine Pluralitat von Verhaltensweisen, Moden, Bediirfnissen und Produkten zu ihrer Befriedigung, die auf die Lebensfiihrung mannigfacher, arbeitsteilig ausdifferenzierter, heterogener sozialer Gruppierungen zuriickgeht. Ihre Mitglieder sind durch den Mechanismus des Marktes, der Warenproduktion und der Arbeitsteilung aufeinander bezogen, aber auch durch ein Netz von Wechselwirkungen, in welchem sie sich allerdings in einer typisierten Gestalt begegnen. Die daraus resultierende Anonymitat lasst die Grofistadtmenschen trotz aller Vielfalt und individuellen Freiheit als Masse auftreten. Die subjektive Freiheit ist an die kollektive Anonymitat gebunden. Das Individuum erfahrt seine Umgebung als einen standigen Wechsel mannigfaltiger Eindriicke, der es in eine gesteigerte Nervenspannung versetzt. Erhohte Reizbarkeit und die Sprunghaftigkeit von Interessen sind die Folge. Dieser Pluralitat entspricht eine Willkiirlichkeit des individuellen Handelns - eine Willkiirlichkeit des Subjekts, die in der Perspektive des Beobachters nur durch au£ere, auferlegte Bedingungen der Lebensfiihrung in einem allgemein verbindlichen Mafie strukturiert wird. Da die Individualitat frei, d. h. willkiirlich ist, ist das GroEstadtindividuum gegen nur Individuelles gleichgiiltig. Umso empfanglicher ist es fiir das »Ornament der Masse« - es orientiert sich an »objektivierbaren« iiberindividuellen Regelmafiigkeiten und Erwartungen, die sich am Verhalten der Menge ablesen lassen. Reflektierter Abstand und Distanz sind die Charakteristika des GroiKstadtmenschen. Er hat also eine Erfahrung von sich als von einem bewusst erlebenden Ich, das als Beobachter am Verhalten anderer nur das Segment einer »objektivierenden« Attitiide wahrnimmt, und weifi, dass sein eigenes Verhalten in der Wahrnehmung anderer ebenso zu einer solchen Attitiide gerinnt. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich die Soziologie jenes Wahrnehmungsmuster, das sie bei dem Grofistadtindividuum ausgemacht hatte, selbst angeeignet hat. Die Attitiide des distanzierten Beobachters, die Erfassung von Individuen nach ihren typischen Merkmalen unter Abse-
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hung von subjektiv willkiirlichen Besonderheiten, die Aufmerksamkeit auf die »objektiven Faktoren«, die die subjektiv als willkiirlich erfahrene Lebensfiihrung doch zu typischen kollektiven Verhaltensweisen pragen - dies sind die Charakteristika des soziologischen Blickes schlechthin. Die Detektivarbeit wissenschaftlich zu leisten, durch die der Flaneur aus »objektiven Merkmalen«, die sich an der Oberflache des Massenverhaltens zeigen, die Komplexitat des individuellen Geschehens rekonstruiert, wurde zum erklarten Ziel der Soziologie, wobei sie freilich nicht nur an dem individuellen, sondern auch an dem Strukturzusammenhang Jener objektiven Merkmale interessiert ist. Welches sind nun die signifikantesten Konstrukte, mit denen die Soziologie versucht hat, dies zu leisten? Die Kumulation heterogener sozialer Gruppierungen und Schichten in der Grofistadt und die Frage nach ihrem Zusammenhalt erzwang eine Differenzierung von Typen unmittelbarer und mittelbarer Sozialorganisation, die in der Dichotomie von mechanischer und organischer Solidaritat Durkheims, bzw. in der Tonnies'schen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ihren Ausdruck findet. Mit dieser Unterscheidung ging die Konstruktion makrosoziologischer Modelle und Begrifflichkeit einher, die die verschiedenen Modi und Erscheinungsformen der Vergesellschaftung erfassen wollten. Dazu gehorte in erster Linie das Konzept funktionaler Arbeitsteilung, mit dem Durkheim auf die Frage nach dem integrierenden Mechanismus in modernen Gesellschaftssystemen antwortete, die durch zunehmende soziale Ausdifferenzierung und durch Pluralisierung der Normsysteme gekennzeichnet sind. Ein heterogenes Ganzes, das sich in einem, wenn auch fragilen, funktionalen Gleichgewicht befindet - das ist die Denkfigur, an die systemtheoretische Ansatze in der Soziologie ankniipfen. In der kulturpessimistischen Perspektive erschien das Phanomen der Pluralisierung von Normsystemen als eines der Verwischung von traditionell verbindlichen, individuelle Identitat stiftenden Klassen - oder standespezifischen Lebensstilen - also als ein Prozess der Vermassung. Die These des Ubergangs von der Klassen- zur Massengesellschaft ebenso wie das Konstrukt einer in ihrer Anonymitat entwurzelten, politisch manipulierbaren Offentlichkeit kiindigen sich hier an - beides Konzepte,
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die spater bei der Beantwortung der Frage nach der Genese totalitarer Systeme aus dem SchoCe der biirgerlichen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen.2^° Auf der Ebene der soziologischen Handlungstheorie bedeuteten die Beobachtungen des »Ornaments der Masse« sowie der »segnientaren« Wahrnehmung, in der sich Individuen im sozialen Verkehr der Grofistadte begegnen, eine wesentliche Veranderung der Forschungsperspektive: Auch hier kommt die schon auf der makrosoziologischen Ebene angewandte Betrachtungsweise zum Tragen. Ebenso wie das Bild der heterogenen Kumulierung sozialer Gruppierungen bot die Grofistadt das Bild der heterogenen Ansammlung von willkiirlichen Subjekten, deren Verhalten nichtsdestoweniger wahrnehmbare gemeinsame Muster aufweist. Es wurde also nach Prozessen gesucht, die das willkiirliche Handeln einzelner zu solchen Mustern integrierten. Wesentlich dabei war die Einsicht, dass die Objektivitat der beobachtbaren iiberindividuellen Handlungsmuster nicht nur durch die auf der Arbeitsteilung und dem Marktgeschehen beruhenden Sachzwange hervorgebracht wird, sondern auch ein Resultat von Wechselwirkungen von Individuen sein kann, die dadurch selbst sozusagen ein neues Ornament in die Masse einbringen. Die Bestimmung der verschiedenen Formen und Inhalte dieser Wechselwirkungen erlaubte es dann, eine Typologie der beobachtbaren Mannigfaltigkeit von sozialen Gruppierungen und sozialen Beziehungen zu entwerfen - so die Simmel'sche Losung (vgl. Simmel 1968). Man konnte sogar jene sozialen Makrophanomene mit ihrer regulativen Kraft, wie etwa die Wirtschaft und den Markt, als besonders ausdifferenzierte, institutionalisierte Falle solcher Wechselwirkungen begreifen, d. h. das Ganze der sozialen Realitat als einen Handlungszusammenhang betrachten - so die Weber'sche Losung (Weber 1972), und damit die »Verdinglichung« des Gesellschaftsbegriffs zumindest theoretisch auflosen. In der Beobachtung, dass die Grofistadtindividuen in solche Wechselwirkungen nur mit einem ihrer »Segmente« eintreten, welches dann durch die einer Wechselwirkung eigene Typik gepragt wird, lag der erste Ansatz zu einer Theorie der Kon^^°Vgl. etwa Tonnies 1922, Geiger 1926, Vierkandt 1931, Jiinger 1932, Lederer 1940, Arendt 1951.
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stitution sozialer Rollen oder, der damaligen Zeit gemafier ausgedriickt, der sozialen Teilpersonen.^^^ Damit kommen wir zu einem der wichtigsten mikrosoziologischen, fur die Entwicklung einer Handlungstheorie unentbehrlichen Konzepte, die der soziologischen Grofiwahrnehmung entspringen - namlich zum Konzept der sozialen Person. In diesem Konzept wird die am Grofistadtindividuum ausgemachte Innen- und Aufienwahrnehmung miteinander verkniipft und zu einer Theorie der Entstehung sozialer Identitat unter modernen Lebensbedingungen verlangert. Wir haben gesehen, dass in der soziologischen Perspektive der Grofistadtmensch als ein bewusstes Ich erscheint, das zugleich aber die Attitude eines distanzierten Beobachters einnimmt, der einer Vielfalt innerer und aufierer Eindriicke ausgesetzt wird. Dem eigentlichen Ich wird also ein Vorposten vorgeschoben, der in Distanz zu diesem in die Welt eintaucht. In der Aufienwahrnehmung dieses beobachtenden Vorpostens erscheinen die anderen jedoch als Verkorperung typischer Merkmale, d. h. ihr Verhalten und ihre Erscheinung sind Bestandteile eines iiberindividuellen Musters, dessen Trager sie, bzw. die gerade in Erscheinung tretenden Segmente ihrer Person, sind. Diese beiden nach dem Subjekt und nach dem Alter Ego ausgerichteten Perspektiven werden in dem Konzept der sozialen Person zu einem Modell zusammengefasst: Das in einen Ich-Kern und eine in der Welt agierende Person geteilte Individuum tritt mit verschiedenen Segmenten der sozialen Welt in Wechselwirkung, durch die es verschiedene Handlungsmuster annimmt. Die verschiedenen Eindriicke, die aus diesen Aktivitatssegmenten resultieren, sedimentieren sich zu sozialen Teilpersonen, zu den verschiedenen Schichten der »Gesamtpers6nlichkeit«. So entsteht die Sozialperson als eine Einheit der Akte des Subjekts, die aber wesentlich soziale, d. h. durch uberindividuelle Faktoren in der Wechselwirkung gepragte Akte sind.^^^ Diese Konstruktion der sozialen Person kann als der konzeptuelle Kern von all jenen Modellen angesehen werden, der sich die Soziologie in mehr oder minder abgewandelter Form zur Klarung von Prozessen der ^^^Zur Entwicklung des Rollenbegriffs aus diesem Kontext vgl. Gerhardt (1971). ^^^Vgl. etwa Scheler (1980); Thomas (1966); zu Schiitz' Personenkonzept vgl. Srubar (1988).
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Sozlalisierung und Identitatsbildung bis heute bedient. Das Konstrukt einer mehrschichtigen Personlichkelt ist sicher nicht eine Alleinerfindung der Soziologie. Der Wandel von einem monistischen zu einem mehrschichtigen Identitatsbegriff lasst sich auch an der philosophischen Karriere des Personenbegriffs verfolgen, der - in der Tradition auf das Gleichbleibende in der Mannigfaltigkeit abhebend um die Zeit der Jahrhundertwende ebenso zu brockeln und sich zu ghedern begann, wie man z. B. an Wundt (1912), Lipps (1907), aber auch an Bergson (1919) sehen kann. Man kann jedoch sicher sagen, dass die Soziologie zu dieser Entwicklung in der Philosophic ihren Teil beisteuerte. Das Eisler'sche Worterbuch der philosophischen Begriffe in seiner 4. Auflage von 1929 verzeichnet eine starke Soziologisierung des Personenbegriffs in der zeitgenossischen Philosophic (Eisler 1929), und tatsachlich ist etwa die Scheler'sche philosophische Anthropologic ein markanter Beleg dieser Tendenz (Scheler 1973, 1980). Andererseits wirkt die philosophische Entwicklung in die Soziologie hinein. So beeinflusst z. B. die in der Bergson'schen Trennung zwischen dem eigentlichen Erlebnisstrom der duree und seinen verdinglichten, zeitraumlichen Formen angelegte ablehnende Haltung zu sozialen Modi solcher Verdinglichung die Wertung der Person durch die Soziologie (Bergson 1911). Etwa fiir Tonnies ist die Person in diesem Sinne der Ausdruck der Gesellschaft im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Selbst (Tonnies 1887: S. 282 ff.). Der Zerfall des Ichs in eine Anzahl von Schichten und deren Perspektiven ist jedoch keine rein akademische Konstruktion. Er wird auch, iibrigens wohl vor derselben Kulisse der Grofistadtwahrnehmung, zum tragenden literarischen Motiv und Stilmittel. Proust, Joyce, Musil oder Hesse konnen hier als Beispiele dienen. Die Soziologie tragt also in ihrem Personenkonzept einer Veranderung ihres Gegenstandes Rechnung, die auch in anderen geistigen Bereichen am gleichen Anschauungsobjekt manifest wurde. So gliedert sich unter dem an der Grofistadt geschulten Blick der Soziologie die soziale Realitat in den Bereich vielschichtiger, dem Ego transparenter, wenn auch sozial bestimmter Innerlichkeit und den Bereich einer mehr oder minder anonym vergesellschafteten Wirklichkeit und
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ihrer Akteure, der lediglich durch iiberindividuelle, typische Merkmale erschllefibar wird. Vermittelnd zwischen diesen Polen breitet sich ein Netz zwischenpersonlicher Wechselwirkungen aus, in welchem Individuen zu sozialen Personen werden und auf dessen Geflecht die Objektivitat iiberindividueller Regulative des Handelns letztlich beruht. Aus einer derartigen Konstruktion des soziologischen Gegenstandes ergeben sich bestimmte Konsequenzen und Probleme fiir seine theoretische Erfassung. Ich mochte nur einige davon aufzeigen, und zwar solche, die - wie mir scheint - als Folgeprobleme die soziologische Tradition am nachhaltigsten pragen. Es ist vor allem hier die Notwendigkeit des typenbildenden Verfahrens in der Soziologie zu nennen, die aus der Erkenntnis resultiert, dass die soziale Realitat dem Beobachter nicht auf der Ebene der Individualitat, sondern auf derjenigen der Typik begegnet. Komplementar dazu wird das Verstehen als ein Moment des soziologischen Zugangs thematisch: Wenn Individuen und ihre Handlungen als Typen oder vermittels Typisierungen zu begreifen sind, dann stellt sich auch das Problem des Verstehens, also der Rekonstruktion des Individuellen aufgrund des Typischen. Fiir den wissenschaftlichen Beobachter impliziert dies die Frage nach der Adaquanz seiner Typenbildung. Die methodologischen Streitigkeiten, die wir seit der Einfiihrung des methodologischen Typenbegriffs durch Max Weber (1973: S. 190 ff.) in der Geschichte der Soziologie gewartigen, sind entsprechend immer Streitigkeiten um diese Adaquanz, aber nie um die Berechtigung des typisierenden Verfahrens als solchen. Die Annahme der typenvermittelten Emergenz der sozialen Realitat wird in dem Mafie berechtigter, Je praziser unsere Kenntnisse der Genese von Typisierungen in den konkreten Wechselwirkungen des sozialen Handelns werden. Die vor dem Hintergrund der GrolJstadt skizzierte Konstruktion der sozialen Realitat wurde auch von einer Modifizierung der Dimensionen begleitet, in welchen die Soziologie ihren Gegenstand verortet: In der Zeitdimension wird die Differenzierung zwischen subjektiver und objektiver Zeitlichkeit notwendig, und zwar nicht lediglich als die systematische, in der Philosophic tradierte Trennung zwischen subjektivem Zeiterleben und dem raumzeitlichen, objektiven Zeitmafi der Physik.
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Diese Trennung erfuhr ihre anschauliche lebensweltliche Konkretisierung in der doppelten Perspektive, in der der Grofistadtmensch erscheint einerseits namlich als freies, durch die Willkiirlichkeit seines Handelns und Erlebens gekennzeichnetes Subjekt, andererseits als das Glied einer anonymen Masse, die der exakten, handlungskoordinierenden Zeitokonomie der modernen Gesellschaft unterworfen ist. Wie sich das Resultat der Verschrankung dieser zwei Dimensionen in dem biographischen Auf bau der sozialen Person und ihrer Identitat niederschlagt, fiihren uns nicht nur die Analysen von Alfred Schiitz vor Augen, sondern auch die in den 30er Jahren von Lazarsfeld ausgefiihrten klassischen Untersuchungen liber die Arbeitslosen von Marienthal."^^^ Auch die Konzeption des sozialen Raumes ist durch die Dichotomic von Ich und Masse gekennzeichnet: Um das originell erlebende Ich zentriert sich der Raum in konzentrischen Kreisen von abnehmender Privatheit und zunehmender Anonymitat. Diese Anonymitat hat jedoch nicht den Charakter absoluter Fremdheit wie etwa die Welt jenseits des griechischen Oikos. Sie ist durch eine, freilich sehr allgemeine, Typik gekennzeichnet. Der moderne Mensch lebt in der Annahme, dass er nach den Worten Max Webers - wenn er nur wollte, jederzeit auch mit diesen Bereichen vertraut werden konnte, da sie prinzipiell samt ihrer Anonymitat typisch seiner Welt angehoren (Weber 1973: S. 473). In soziologischen Unterscheidungen zwischen Privatheit und Offentlichkeit, zwischen primaren und sekundaren Gruppierungen, zwischen Umwelt und Mitwelt etc. klingt der Ausdruck dieser Raumauffassung an. Die soziale Dimension ist durch die Notwendigkeit gekennzeichnet, die als auseinander fallend empfundenen Momente der Subjektivitat und der anonymen Kollektivitat aufeinander zu beziehen. Hier erfolgt die gegenseitige Angleichung der Konzepte der aufieren und der inneren sozialen Wirklichkeit - der multisektoralen Vielfalt der sozialen Welt entspricht die Vielschichtigkeit der sozialen Person. Die Versuche, ihre gegenseitige Vermittlung aufzuzeigen, stellen die Triebfeder der Entwicklung der Theorien sozialen Handelns und der entsprechenden Forschung dar. An dem Mafi ihres Gelingens lasst sich der Fortschritt der soziologi'^Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1986, zu Schiitz' Zeitkonzept vgl. Srubar 1988.
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in der Fruhphase des Schiitz'schen
ist die deutschsprachige Fassung von »The construction of social reahty and the structure of Hterary work«. In: Embree, Lester (Ed.) (1998): Alfred Schiitz's »Sociological Aspects of Literature«. Dordrecht: Kluwer, S. 75-88. Die Konstitution von Bedeutsamkeit im Alltagshandeln. Zur Schiitz'schen Losung eines Weber'schen Problems In: Sprondel, Walter M./Seyfarth, C. (Hg.) (1981): Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns. Stuttgart: Enke, S. 93-107.
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Die konstituierte und die produzierte Zeit Zur Theorie der Typenbildung bei Alfred Schiitz und ihren Grenzen In: Grathoff, Richard/Sprondel, Walter M. (Hg.) (1979): Alfred Schiitz und die Idee des Alltags. Stuttgart: Enke, S. 43-64. Wertbeziehung und Relevanz. Zu Alfred Schiitz' Weber-Rezeption In: Wagner, G./Ziprian, H . (Hg.) (1994): Max Webers Wissenschaftslehre. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 259-277. Abkehr von der transzendentalen Phdnomenologie. Zur philosophischen Position des spdten Schiitz In: Grathoff, Richard/Waldenfels, Bernhard (Hg.) (1983): Sozialitat und Intersubjektivitat. Miinchen: Fink, S. 68-86. Schiitz'pragmatische Theorie der Lebenswelt In: Baumer, Angelica/ Benedikt, Michael (Hg.) (1993): Gelehrtenrepublik - Lebenswelt. Edmund Husserl und Alfred Schiitz in der Krise des phanomenologischen Denkens. Wien: Passagen Verlag, S. 335-347. Alfred Schiitz' Konzeption der Sozialitdt des Handelns In: List, Elisabeth/Srubar, Ilja (Hg.) (1988): Alfred Schiitz. Neue Beitrage zur Rezeption seines Werkes, Amsterdam: Rodopi Verlag, S. 145-156. »Phdnomenologische Soziologie« als Theorie und Forschung In: Herzog, Max/Graumann, Carl F. (Hg.) (1991): Sinn und Erfahrung. Heidelberg: Assanger, S. 169-183. Von Milieu zu Autopoiesis. Zum Beitrag der Phdnomenologie zur soziologischen Theoriebildung In: Jamme, Christoph / Poggeler, Otto (Hg.) (1989): Phanomenologie im Widerstreit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 307-331.
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Marx'Konstruktion
sozialer Lehens-Welten
In: Waldenfels, Bernhard u. a. (Hg.) (1978): Phanomenologie und Marxismus Bd. 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 170-206. Die Ebene der Lebens-Welt im Aufbau der Marxschen Theorie In: Waldenfels, Bernhard u. a. (Hg.) (1979): Phanomenologie und Marxismus Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 95-127. Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative In: Stehr, Nico/Meja, Volker (Hg.) (1980): Wissenssoziologie. Sonderheft 22/1980 der Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, S. 343-359 . Grenzen des »Rational Choice«-Ansatzes In: Zeitschrift fiir Soziologie 21 (1992), Nr. 3, S. 157-165. Die (neo-)utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit In: Soziologische Revue 2 (1994), S. 115-121. Lob der Angst vorm Fliegen.. 2ur Autogenese sozialer Ordnung In: Sprondel, Waker M. (Hg.) (1994): Die Objektivitat der Ordnung und ihre kommunikative Konstruktion. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 95-120. Geschichtlichkeit und Geschichte in der phdnomenologischen Theorie In: Weisenbacher, Uwe (Hg.) (1998): Soziologische Theorie und Geschichte, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 121-133. Woher kommt »das Politische«? Zum Problem der Transzendenz in der Lebenswelt In: Honer, Anne/Kurt, Roland/Reichertz, Jo (Hg.) (1999): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung der modernen Kultur. Konstanz: UVK, S. 17-38.
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Lebenswelt und Transformation Zurphdnomenologischen Analyse gegenwdrtiger Gesellschaftsprozesse In: Klaus Miiller (Hg.) (1998): Postsozialistische Krisen. Theoretische Ansatze und empirische Befunde. Opladen: Leske +Budrich, S. 68-87. Ethnizitdt und sozialer Raum In: BISS Public 25 (1998), S. 33-49. Zur Formierung des soziologischen Blickes durch die Grofistadtwahrnehmung In: Manfred Smuda (Hg.) (1992): Die Grofistadt als Text. Paderborn: Schoningh, S. 37-52.
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