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Einen Querschnitt, eine Auswahl des Besten aus der »Phantastischen Bibliothek« bietet dieser Jubiläumsband, der 100. der »Phantastischen Bibliothek«. Während die Science-fiction mit der Ratio konstruiert, leuchtet die Phantastik die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Zwei Autoren sind hervorragende Vertreter ihrer jeweiligen Richtung: Stanislaw Lem, für den die Literatur eine Werkstatt ist, ein Versuchslabor; und H. P. Lovecraft, der zurückgezogen lebende Amerikaner, der nicht weniger an der Wissenschaft interessiert war, aber sie benutzte, um den Menschen das Ausmaß ihres Unwissens zu zeigen und sie in eine Finsternis der Vernunft zu stoßen, in der unser Wissen lediglich ein blasses Flämmchen ist. Beide Autoren sind auf ihre Art typische »Gehirntiere« im Sinne Arno Schmidts. Sie setzen die Maßstäbe, denen die »Phantastische Bibliothek« verpflichtet ist. Dazu die anderen Autoren: H. W. Franke, der nüchterne Wissenschaftler und zuweilen doch surrealistische Phantast, die obsessiven Bilderträumer J. G. Ballard und Cordwainer Smith, der frisch schreibende Peter Schattschneider in der Science-fiction; E. A. Poe, Algernon Blackwood, Ambrose Bierce, M. R. James, Stefan Grabinski als Meister gefinkelten Grauens.
Phantastische Träume
Phantastische Bibliothek Band 100 Herausgegeben von Franz Rottensteiner
Suhrkamp
Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner Umschlagzeichnung von Hans Ulrich und Ute Osterwalder
Scanned by Doc Gonzo Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
suhrkamp taschenbuch 954 Erste Auflage 1983 © dieser Zusammenstellung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983 Quellen- und Ubersetzungshinweise am Schluß des Bandes Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz: LibroSatz, Kriftel Druck: Ebner Ulm • Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1 2 3 4 5 6 - 88 87 86 85 84 83
Inhalt Stanislaw Lem Die Verdoppelung 6 J. G. Ballard Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter 47 Johanna Braun, Günter Braun Limbdisten 90 Herbert W. Franke Der Atem der Sonne 100 Peter Schattschneider Die Jez'r-Fragmente 137 Cordwainer Smith Das ausgebrannte Gehirn 183 Vladimir Colin Die letzte Verwandlung des Tristan 197 H. P. Lovecraft Die Farbe aus dem All 229 Jean Ray Der Friedhofswächter 271 Edgar Allan Poe William Wilson 283 Ambrose Bierce Einer von den Vermißten 314 Josef Nesvadba Die zweite Insel des Doktor Moreau 330 Stefan Grabinski Das Gebiet 343 Fitz-James O'Brien Die Diamantlinse 356 Algernon Blackwood Die Weiden 389 Lord Dunsany Der Gibbelin-Hort 466 Bernd Ulbrich Ein Gott hat geweint 473 Nachwort 499 Quellen- und Übersetzungshinweise 505
Über die Autoren 507
Zur Phantastischen Bibliothek 510
Stanislaw Lem Die Verdoppelung Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich wenigstens sagen könnte: »Es steht schlecht um mich«, wäre es nur halb so schlimm. Ich kann auch nicht sagen: »Es steht schlecht um uns«, weil ich nur zum Teil über meine eigene Person sprechen kann, obwohl ich weiterhin Ijon Tichy bin. Seit langem pflege ich beim Rasieren laut zu sprechen, jetzt aber mußte ich darauf verzichten, weil mich das linke Auge durch ein boshaftes Zwinkern daran stört. Solange ich im LEM steckte, legte ich mir keine Rechenschaft darüber ab, was unmittelbar vor dem Start geschehen war. Dieser LEM hatte nichts mit dem amerikanischen Dreifuß gemein, mit dem die NASA Armstrong und Aldrin auf den Mond geschickt hatte, um von dort ein paar Steine zu holen. Er trug bloß denselben Namen, um meine Mission zu tarnen. Der Teufel hat bei dieser Mission die Hand im Spiel gehabt. Nach der Rückkehr vom Sternbild des Großen Kalbes hatte ich mir vorgenommen, zumindest ein Jahr lang nirgendwohin zu fliegen. Ausschließlich zum Wohle der Menschheit willigte ich ein, wieder einen Flug zu unternehmen. Es war mir klar, daß ich dabei riskierte, nicht mehr zurückzukehren. Doktor Lopez rechnete aus, meine Chancen stünden eins zu zwanzig und acht Zehntel. Das hat mich nicht abgeschreckt, ich bin nun mal ein Wagehals. Mag kommen, was da will. Entweder ich kehre zurück oder nicht, sagte ich mir. Ich kam nicht auf die Idee, daß ich zurückkehren kann, obwohl ich nicht zurückkehren werde, weil wir zurückkehren werden. Um dies zu erklären, muß ich einige Angelegenheiten der höchsten Geheimhaltungsstufe verraten, aber das ist mir schnuppe. Das heißt - teilweise schnuppe. Schreiben kann ich ja auch nur teilweise, mit großer Mühe, ich tippe nur mit der rechten Hand, die linke mußte ich an die Stuhllehne anbinden, weil sie dagegen war. Sie riß das Papier 6
aus der Maschine, ließ sich durch keine Argumente beschwichtigen, und beim Festbinden schlug sie mir ein Auge blau. Das ist eine Folge der Verdoppelung. Jeder hat zwei Gehirnhälften im Kopf, die durch den Balken (lateinisch: corpus callosum) miteinander verbunden sind. Zweihundert Millionen weißer Nervenfasern verbinden das Gehirn, damit es seine Gedanken zusammennehmen kann, aber nicht mehr bei mir. Ein Schnitt – schwupp! – und alles war vorbei. Und es gab nicht einmal einen Schnitt, sondern bloß das Versuchsgelände, auf dem die Mondroboter ihre neuen Waffen ausprobierten. Dabei bin ich ihnen zufällig über den Weg gelaufen. Ich hatte meine Aufgabe schon ausgeführt, diese kalten Geschöpfe ausgetrickst und war bereits auf dem Rückweg zum LEM, als ich das Bedürfnis verspürte, Pipi zu machen. Auf dem Mond gibt es keine Klos. Im Vakuum wären sie übrigens zu nichts nutze. Man trägt bei sich im Raumanzug einen Behälter, wie ihn Aldrin und Armstrong hatten. Pinkeln kann man also an jedem Ort und zu jeder Zeit, aber ich genierte mich. Ich bin, genauer gesagt, ich war zu kultiviert - in der prallen Sonne, inmitten des Mare Serenitatis schickte sich das einfach nicht. Etwas weiter ragte ein großer einsamer Felsen empor, ich ging also dorthin, in den Schatten des Felsens. Woher hätte ich wissen sollen, daß dort schon das Ultraschallfeld wirksam war. Als ich mich erleichterte, verspürte ich plötzlich im Kopf ein kurzes Knacksen. Nicht etwa im Nacken, was ja vorkommt, sondern etwas höher. In der Mitte des Schädels. Das war eben die ferngelenkte integrale Kallotomie. Es schmerzte gar nicht, nur war mir etwas mulmig zumute, aber auch das ging schnell vorbei, und ich begab mich zum LEM. Es stimmt, ich hatte das Gefühl, daß alles irgendwie verändert war, ich selbst auch. Ich schrieb dies jedoch der nach so vielen Erlebnissen nur allzu verständlichen Erregung zu. Die rechte Hand wird von der linken Hemisphäre des Gehirns gelenkt. Deswegen sagte ich, daß ich nur teilweise 7
tippen kann. Die rechte Hemisphäre hat etwas dagegen, was daraus zu schließen ist, daß sie mich am Tippen stört. Das ist schrecklich verwirrend. Ich kann nicht sagen, daß ich etwas bin oder tue, sondern bloß meine linke Hirnhälfte. Mit der zweiten muß ich Kompromisse schließen, ich kann doch nicht ewig mit einer angebundenen Hand dasitzen. Ich habe versucht, die rechte Hirnhälfte auf verschiedene Weise zu besänftigen, aber vergeblich. Sie ist einfach unmöglich. Aggressiv, vulgär und arrogant. Ein Glück, daß sie nicht alles lesen kann. Nur bestimmte Redeteile: am besten die Substantive. So ist es immer, ich weiß es, weil ich schon eine Menge einschlägiger Bücher gelesen habe. Verba und Adjektive versteht sie nicht richtig, also muß ich, da sie darauf schaut, was ich tippe, mich so ausdrücken, daß ich sie nicht verärgere. Ob das gelingen wird, weiß ich nicht. Übrigens weiß niemand, warum die ganze gute Erziehung in der linken Hirnhälfte angesiedelt ist. Auf dem Mond hätte ich auch nur teilweise landen sollen, aber in einem ganz anderen Sinn, denn das war noch vor meinem Mißgeschick, das heißt, bevor ich noch verdoppelt war. Ich sollte um den Mond auf einer stationären Umlaufbahn kreisen, die eigentliche Erkundung war Sache meines Telematen. Er sah mir sogar ähnlich, nur daß er aus Kunststoff und mit Sensoren ausgestattet war. Ich saß also im LEM 1, und auf dem Mond landete LEM z mit dem Telematen. Diese Militärroboter haben eine Mordswut auf die Menschen, in jedem sind sie geneigt, einen Feind zu wittern. Das habe ich mir wenigstens sagen lassen. Leider funktionierte LEM z nicht, und deshalb entschloß ich mich, selber auf dem Mond zu landen, um nachzusehen, was mit ihm los war, denn die Verbindung war nicht völlig unterbrochen. Während ich im LEM 1 saß und LEM 2 nicht mehr spürte, spürte ich dennoch Bauchweh, wobei mein Bauch eigentlich nicht direkt schmerzte, sondern über das Radio, denn, wie es sich nach der Landung herausstellte, hatten die Roboter den Deckel von LEM 8
aufgebrochen, den Telematen herausgezogen und sich dann an LEMS Bauch herangemacht. Auf der Umlaufbahn konnte ich das Kabel nicht abschalten, denn wenn ich es getan hätte, hätten meine Bauchschmerzen zwar aufgehört, aber nach dem Verlust der letzten Verbindung mit meinem Telematen würde ich nicht wissen, wo ich ihn zu suchen habe. Das Mare Serenitatis, wo LEM 2 in die Falle geraten war, ist fast so wie die Sahara. Überdies kannte ich mich in den Kabeln nicht aus, denn obschon jedes eine andere Farbe hatte, gab es ihrer verdammt viele, die Instruktion zur Behebung von Schäden war mir irgendwo abhanden gekommen, und das Suchen nach ihr hatte mich, dem noch dazu der Bauch weh tat, so in Rage gebracht, daß ich, statt die Erde anzurufen, mich entschloß, zu landen, wenngleich man mich gewarnt hatte, dies auf keinen Fall zu tun, widrigenfalls ich mich nicht aus der Klemme ziehen könnte. Aber Rückzug – das widerspricht meiner Natur. Außerdem wollte ich LEM, obwohl er nur eine mit Elektronik vollgestopfte Maschine ist, nicht den Robotern zum Fraß vorwerfen. Wie ich sehe, wird die Sache, je mehr ich sie zu erklären versuche, desto unklarer. Also werde ich vom Anfang an beginnen. Allerdings weiß ich nicht, wie dieser Anfang war, die Erinnerung an ihn steckt vorwiegend in meiner rechten Hirnhälfte, und da mir jetzt der Zugang zu ihr abgeschnitten ist, kann ich meine Gedanken nicht recht sammeln. Ich schließe das aus der Tatsache, daß ich mich an eine Menge Dinge nicht erinnern kann, und um nur einiges über sie zu erfahren, muß ich meiner rechten Hand mit der linken solche Zeichen geben, wie sie in der Taubstummensprache gebräuchlich sind, aber nicht immer will sie mir antworten. Zum Beispiel macht sie das Zeichen für »ätsch, ätsch«, und das ist noch die höflichste Form, in der sie mir zu verstehen gibt, daß sie nicht einverstanden ist. Man kann kaum von mir erwarten, daß ich durch Gebärden 9
einer Hand die andere nicht nur ins Gebet nehme, sondern sie auch, um ihren Widerstand zu brechen, verhaue. Ich sage es offen und unverblümt: Vielleicht würde ich meiner eigenen Ex tremität einen tüchtigen Stoß verpassen, aber die Sache ist die, daß nur meine rechte Hand stärker ist als die linke. Die Füße sind in dieser Beziehung gleich und, was noch schlimmer ist, auf der kleinen Zehe des rechten Fußes habe ich seit langem ein Hühnerauge, was dem linken nicht verborgen blieb. Als damals im Autobus dieser Skandal passierte und ich die linke Hand mit Gewalt in die Tasche preßte, trat mir ihr Fuß aus Rache so fest auf das Hühnerauge, daß es mir vor den Augen flimmerte. Ich weiß nicht, ist das vielleicht eine Folge der durch meine Halbheit bedingten reduzierten Intelligenz, aber ich sehe, daß ich dummes Zeug schreibe. Der Fuß der linken Hand ist einfach der linke Fuß; es gibt Momente, da mein unglückseliger Körper in zwei feindliche Lager zerfällt. Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil ich versuchte, mir selbst einen Fußtritt zu versetzen. Das heißt, das linke Bein wollte dem rechten Fuß einen Tritt versetzen, also nicht mir wollte ich einen Kick verpassen, und nicht ich - zumindest nicht zur Gänze ich – war es, der den Kick verpassen wollte, aber die Grammatik paßt nicht zu solchen Situationen. Ich hatte schon vor, mir die Schuhe auszuziehen, ließ es aber sein. Ein Mensch sollte selbst in einer solchen Notlage keinen Narren aus sich machen. Was, sollte ich mir etwa selbst die Haxen brechen, um zu erfahren, was eigentlich mit dieser Konstruktion und mit diesen Kabeln los war? Einst hatte ich mich wirklich mit mir selbst geschlagen, aber unter ganz anderen Umständen. Einmal mein früheres Ich mit dem späteren Ich, in der Schlinge der Zeit, und ein anderes Mal nach der Vergiftung mit den Benignatoren. Ich schlug mich mit mir selbst, das stimmt, aber ich blieb ein unteilbares Ich, und jeder, der will, kann sich in eine solche Lage einfühlen. Haben denn die Menschen im Mittelalter zur Sühne sich nicht selbst 10
gegeißelt? Jetzt aber kann sich niemand in meine Lage einfühlen. Das ist unmöglich. Ich kann nicht einmal behaupten, daß es meiner zwei gibt, denn wenn man es richtig bedenkt, ist auch das nicht wahr. Es gibt meiner zwei, das heißt, geteilt bin ich auch nur teilweise, weil ich es nicht in jeder Situation bin. Wollt ihr erfahren, was mir zugestoßen ist, dann müßt ihr, ohne viel Gerede und Proteste, der Reihe nach alles, was ich schreibe, lesen, selbst wenn ihr nichts versteht. Einiges wird mit der Zeit klar werden. Nicht bis zum letzten, gewiß, das kann man nur mittels der Kallotomie, ebenso wie man nicht erklären kann, was es heißt, ein Otter oder eine Schildkröte zu sein. Würde jemand, egal wie, zu einer Schildkröte oder einem Otter werden, so könnte er ohnehin nichts darüber berichten, weil Tiere weder reden noch schreiben können. Normale Menschen, zu denen ich einen geraumen Teil meines Lebens gehört habe, können nicht begreifen, wie es kommt, daß ein Kerl mit einem durchschnittenen Gehirn scheinbar weiterhin er selbst bleibt, und es sieht ganz danach aus, daß er es ist, weil er von sich ICH, nicht aber WIR sagt, ganz normal geht, vernünftig redet, und man ihm beim Essen nicht ansieht, daß die rechte Hemisphäre nicht weiß, was die linke tut (in meinem Fall trifft das nur dann nicht zu, wenn ich Graupensuppe vorgesetzt bekomme). Manche Leute sagen übrigens, daß es die Kallotomie schon zur Zeit der Entstehung der Heiligen Schrift gegeben haben muß, weil dort doch geschrieben steht, daß die linke Hand nicht wissen muß, was die rechte tut, aber das halte ich für eine religiöse Metapher. Ein Mann hat mich zwei Monate lang verfolgt, um die Wahrheit aus mir herauszupressen. Er stattete mir zu den unpassendsten Tageszeiten Besuche ab, um mich mit Fragen zu quälen, wie viele Ich es wirklich in mir gibt. Aus Fachbüchern, die ich ihm lieh, damit er selber nachlese und etwas erfahre, konnte er nichts lernen, ich übrigens auch nicht. Ich lieh ihm die Bücher nur, um ihn abzuwimmeln. 11
Ich war damals ausgegangen, um mir Schuhe ohne Schnürsenkel zu kaufen, solche mit einem elastischen Gummieinsatz vorne, die man, glaube ich, früher einmal Stiefeletten genannt hat, denn wenn mein linker Fuß keine Lust hatte, spazieren zu gehen, war ich nicht imstande, die Schuhe zuzuschnüren. Kaum hatte ich die Schnürsenkel mit der rechten Hand zusammengebunden, band sie die linke wieder auf. Ich beschloß also, mir diese Stiefeletten zu kaufen und ein Paar Turnschuhe dazu, nicht weil es mich danach gelüstete, meilenlang das in Mode gekommene Jogging zu betreiben, sondern um die rechte Hirnhälfte ein bißchen Mores zu lehren, denn ich konnte mich mit ihr damals absolut nicht verständigen und war schon ganz blau und grün geschlagen. Ich hielt den Verkäufer im Schuhgeschäft für einen gewöhnlichen Ladenschwengel, brummelte also irgendwas unter der Nase, um mich für mein – genauer gesagt doch nicht mein – sonderbares Verhalten zu entschuldigen. Als er nämlich mit dem Schuhlöffel vor mir kniete, packte ich ihn mit der linken Hand an der Nase. Das heißt, sie ergriff ihn an der Nase, und ich wollte mich entschuldigen, das heißt, die Schuld auf meine linke Hand abwälzen. Ich dachte mir, selbst wenn er mich für einen Irren hält (woher soll ein Verkäufer in einem Schuhgeschäft etwas über Kallotomie wissen?), erreiche ich dennoch mein Ziel, weil er mir schließlich und endlich die Schuhe verkaufen wird. Auch ein Irrer muß nicht barfuß herumlaufen. Leider aber war der Verkäufer ein Philosophiestudent, der sich nur mit Gelegenheitsjobs ein Zubrot verdiente, und die Sache faszinierte ihn über alle Maßen. »Mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet und um Gottes willen«, schrie er in meiner Wohnung, »die Logik sagt doch, daß Sie entweder einer oder mehrere sind! Wenn Ihre rechte Hand die Hose hochzieht und die linke sie daran hindert, so heißt das, daß hinter jeder eine bestimmte Halbkugel des 12
Gehirns steckt, die sich irgend etwas denkt oder zumindest will, wenn sie keine Lust darauf hat, worauf die zweite Halbkugel Lust hat. Wäre dem nicht so, dann würden ja abgeschnittene Hände und Füße auch miteinander raufen, was sie bekanntlich nicht tun!« Also gab ich ihm Gazzaniga. Die beste Monographie des entzweigeschnittenen Gehirns und der Folgen dieser Operation ist das Buch »Bisected Brain« von Professor Gazzaniga, 1970 bei Appleton Century Crofts von der Educational Division in Meredith erschienen. Ich schwöre beim Allerheiligsten – nämlich daß mein zweigeteiltes Gehirn wieder zusammenwächst –, daß ich die reine Wahrheit sage, daß ich mir diesen Michael Gazzaniga und seinen Papa (dem die Monographie gewidmet ist), der Dante Achilles Gazzaniga hieß und auch Doktor (M. D.) war, nicht ausgedacht habe. Wer es nicht glaubt, der möge flugs in die nächste medizinische Buchhandlung laufen und mich gefälligst in Ruhe lassen. Dieser Typ, der mich verfolgte, um mir Würmer aus der Nase zu ziehen und zu erfahren, wie es sich in Verdoppelung lebt, hat nur soviel erreicht, daß er meine beiden Hirnhalbkugeln in einmütige Wut brachte, da ich ihn mit beiden Händen am Hals packte und zur Tür hinauswarf. Solche vorübergehenden Harmonien meines gespaltenen Wesens kommen manchmal vor, aber daraus werde ich auch nicht klug. Jener junge Philosoph rief mich später einige Male mitten in der Nacht an, im Glauben, daß ich, jäh aus dem Schlaf gerissen, ihm mein gruseliges Geheimnis verraten würde. Er bat mich, den Hörer an das linke, dann wieder an das rechte Ohr zu legen, ungeachtet der saftigen Bezeichnungen, mit denen ich ihn bedachte. Er behauptete steif und fest, nicht seine Fragen wären idiotisch, sondern der Zustand, in dem ich mich befinde, dieser stehe nämlich im Widerspruch zu der ganzen anthropo 13
logische, existenziellen und noch irgendwelcher Philosophie des Menschen als eines vernunftbegabten und seiner Vernunft bewußten Wesens. Dieser Philosophiestudent mußte kurz nach seinen Prüfungen gewesen sein, denn er schüttelte die Hegels und Descartes (»Ich denke, also bin ich« - und nicht »Wir denken, also sind wir«) nur so aus dem Ärmel, ging mir mit Husserl und Heidegger als Draufgabe zu Leibe, um zu beweisen, daß nicht sein kann, was mit mir ist, denn es widerspreche allen Deutungen des Geisteslebens, die wir doch nicht irgendwelchen Schnöseln verdanken, sondern den genialsten Denkern aller Zeiten, die sich seit Tausenden Jahren, angefangen bei den alten Griechen, mit der introspektiven Erforschung des Ich beschäftigt hatten – und nun kommt so ein Bursche mit einem durchschnittenen Balken des Großhirns, ist anscheinend gesund und munter wie ein Fisch im Wasser, aber seine rechte Hand weiß nicht, was die linke tut, mit den Füßen ist es genauso, und dabei sagen die einen Experten, er habe das Bewußtsein nur auf der linken Seite, weil die rechte bloß ein seelenloser Automat sei, die anderen, daß er zwei habe, doch das rechte Bewußtsein sei stumm, weil das Broca-Zentrum sich im linken Schläfenlappen des Gehirns befinde, wieder andere, daß er zwei teilweise geteilte Ichs habe – und das ist schon die Höhe! Ebenso wie man nicht teilweise aus einem fahrenden Zug springen könne, schrie er mich an, noch teilweise sterben, könne man auch nicht teilweise denken! Später warf ich ihn nicht mehr zur Tür hinaus, weil er mir leid tat. Vor lauter Verzweiflung versuchte er mich zu bestechen. Er nannte das ein freundschaftliches Geschenk. Achthundertvierzig Dollar, er schwor, dies seien seine ganzen Ersparnisse, für Ferien mit sei nem Mädchen bestimmt, aber er war bereit, auf das Geld und sogar auf das Mädchen zu verzichten, wenn ich ihm nur um Gottes willen gestehen würde, WER denkt, wenn eine meiner Hirnhälften denkt und ICH nicht weiß, WAS sie denkt; als ich ihn an Professor Eccles verwies (dieser nämlich ist, als 14
Anhänger des auf der linken Seite angesiedelten Bewußtseins, der Meinung, daß die rechte Hirnhälfte überhaupt nicht denkt), drückte er sich über Eccles ziemlich respektlos aus. Denn er wußte bereits, daß ich der rechten Hirnhälfte allmählich die Taubstummensprache beigebracht habe - also wollte er, daß ich Eccles aufsuche, um ihn darüber aufzuklären, daß er mit seiner Meinung falsch liege. Statt abends die Vorlesungen zu besuchen, saß mein Student unentwegt über medizinischen Zeitschriften, er wußte schon, daß die Nervenbahnen sich kreuzen, und er suchte in den dickleibigsten Lehrbüchern nach der Antwort auf die Frage, wozu zum Teufel diese Kreuzung gut sei, woher es komme, daß die rechte Hemisphäre die linke Körperhälfte regiert und umgekehrt - aber selbstverständlich stand darüber kein einziges Wort zu lesen. Entweder hilft uns dies, ein Mensch zu sein, räsonierte er, oder es hindert uns daran. Er studierte psychoanalytische Werke und fand einen Autor, der die Ansicht vertrat, in der linken Hirnhälfte stecke das Bewußtsein und in der rechten das Unterbewußte, doch gelang es mir, ihm das auszureden. Ich war aus verständlichen Gründen weit mehr belesen als er. Da ich mich weder mit mir selbst noch mit dem Kerl, der vor Wissensdurst nur so brannte, schlagen wollte, fuhr ich, genauer gesagt, floh ich vor ihm nach New York und geriet so aus dem Regen in die Traufe. Ich mietete mir eine Garconniere in Manhattan und fuhr mit der U-Bahn oder dem Bus zur Öffentlichen Bibliothek, um Yo sawitz, Werner, Tucker, Shapiro, Riklan, Schwartz, Szwarc, Shwarts, Sai-Mai-Halassz, Rossi, Lishman, Kenyon, Harvey, Fischer, Cohen, Brunback und an die dreißig verschiedene Rapports zu lesen; fast jedesmal kam es unterwegs zu drastischen Szenen, weil ich die hübschen Frauen, besonders blonde, in den Po kniff. Das tat natürlich meine linke Hand, nicht immer im Gedränge, aber wie entschuldigt man so etwas in ein paar Worten! Das Schlimmste war nicht, daß ich ab und zu eine Ohrfeige einstecken mußte, sondern daß die Mehrzahl 15
der auf diese Weise Belästigten mir ganz und gar nicht gram war! Im Gegenteil, sie hielten dies für eine Einleitung zu einem kleinen Techtelmechtel, und das war das allerletzte, was mir damals im Kopf herumging. Soweit ich das ausmachen konnte, ohrfeigten mich Aktivistinnen der Women's Liberation übrigens eher selten, weil hübsche Frauen unter ihnen recht dünn gesät sind. Da ich erkannte, daß ich mich, allein auf mich gestellt, aus dieser schrecklichen Lage nicht befreien werde, nahm ich Kon takt zu den hervorragendsten Autoritäten auf. Diese Gelehrten nahmen sich meiner tatsächlich an, doch wie! Ich wurde unter sucht, geröntgt, stachistiskopiert, mit Stromstößen gereizt, mit vierhundert Elektroden umwickelt, an einen speziellen Lehn stuhl festgebunden, dazu gebracht, mir stundenlang durch einen Sehschlitz Äpfel, Hunde, Gabeln, Kämme, Greise, Tische, Mäuse, Pilze, Zigarren, Gläser, nackte Weiber, Säuglinge und ein paar tausend anderer auf dem Bildschirm gezeigter Gegenstände anzugucken – und am Ende sagte man mir, was ich ohnehin schon wußte, daß, wenn man mir in diesem Apparat eine Billardkugel so zeigte, daß nur meine linke Hirnhälfte sie sähe, meine rechte Hand, in einen Sack mit verschiedenen Gegenständen getaucht, nicht imstande wäre, aus diesem Sack eine solche Kugel herauszuholen und umgekehrt, weil ja die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Sie kamen zum Schluß, ich sei ein banaler Fall, und hörten auf, sich eingehend mit mir zu beschäftigen, denn ich sagte ihnen kein Sterbenswörtchen darüber, daß ich meiner stummen Gehirnhälfte die Taubstummensprache beibringe. Schließlich wollte ich doch von ihnen etwas über mich selbst erfahren, an ihrer Fortbildung aber war ich keineswegs interessiert. Ich begab mich nachher zu Professor Turteltaub, der mit allen von mir zuvor Aufgesuchten zerstritten war, doch statt mich über meinen Zustand aufzuklären, eröffnete er mir, was für ein Gesindel, eine Clique diese anderen seien; anfangs hörte 16
ich gespannt zu, im Glauben, er verachte alle seine Kollegen aus erkenntnistheoretischen Gründen. Aber Turteltaub ging es nur darum, daß sie ein von ihm geplantes Projekt zu Fall gebracht hatten. Als ich das letzte Mal bei Herrn Globus und Herrn Sawodnicek oder vielleicht bei anderen Spezialisten - es waren ihrer so viele, daß sie mir etwas durcheinandergeraten sind -war, fühlten sie sich, nachdem sie erfahren hatten, daß ich Turteltaub aufgesucht hatte, zuerst ein wenig gekränkt, dann aber erklärten sie mir, sie hätten ihn aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Turtel taub wollte nämlich, man solle den zu lebenslänglicher Haft oder zum Tode verurteilten Mördern vorschlagen, sich statt der Strafe der Kallotomie zu unterziehen. Denn wenn man aus schließlich Epileptiker auf ärztliche Indikation hin kallotomiere, führte er aus, könne man nicht wissen, ob die Folgen eines Zerschneidens des Balkens bei normalen Menschen dieselben sein würden, und daß jeder, einschließlich seiner eigenen Person, wenn er zum Beispiel seine Schwiegermutter abgemurkst hätte und dafür auf dem elektrischen Stuhl sterben müßte, es bestimmt vorziehen würde, daß man ihm den Corpus callosum durchschneidet, doch der emeritierte Richter des Obersten Gerichtshofs Klössenfänger befand, daß es, abgesehen von ethischen Be denken, besser sei, darauf nicht einzugehen, denn falls es sich erwiese, daß, als sich Turteltaub mit kaltem Vorbedacht an seine Schwiegermutter heranmachte, nur seine linke Gehirnhälfte am Werke war, während die rechte nichts davon wußte, ja sogar dagegen protestierte, aber der dominierenden linken Gehirnhälfte unterlag, und wenn es dann, nach innerem Geistes- und Gehirnkampf zum Mord käme – daß dann ein entsetzlicher Präzedenzfall geschaffen würde, denn man müßte nach der Gerichtsverhandlung die eine Gehirnhälfte einsperren und die andere, vom Verdacht reingewaschen, freisprechen. Im Endergebnis würde der Mörder nur zu 50 Prozent zum Tode 17
verurteilt werden. Da sein Traum unerfüllt blieb, operierte Turteltaub notgedrungen Affen, die im Gegensatz zu Mördern sehr kostspielig sind, seine Subventionen wurden mehr und mehr gekürzt, und verzweifelt jammerte er, daß er bei Ratten und Meerschweinchen enden würde, was ja nicht dasselbe sei wie Menschen. Zur gleichen Zeit schlugen die Damen aus dem Tierschutzverein und dem Verband zum Kampf gegen die Vivisektion Turteltaub regelmäßig die Fensterscheiben ein, ja sogar sein Auto wurde in Brand gesteckt. Die Versicherung wollte nicht zahlen, mit der Begründung, es gebe keinen Beweis dafür, daß er das Auto nicht selber angezündet hatte, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen: eine gerichtliche Verfolgung dieser Tierschützerinnen und einen finanziellen Gewinn zu erzielen, denn das Auto war schon alt. Sein Gerede ödete mich so an, daß ich, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen, die Zeichensprache erwähnte, die ich mit der Rechten meiner Linken beibrachte. Das habe ich in einer bösen Stunde offenbart. Turteltaub rief sofort Globus und vielleicht auch Maxwell an und kündigte ihnen die Vorführung eines Falles in der Neurologischen Gesellschaft an, mit der er sie alle zermalmen würde. Als ich merkte, was mir da blühte, verließ ich Turteltaub fluchtartig, ohne Abschied, und fuhr direkt zu meinem Hotel, aber dort warteten schon die anderen auf mich in der Halle. Beim Anblick ihrer von ungesundem Forsch ungsdurst brennenden Gesichter und Augen redete ich mich heraus – ich würde mich gerne mit ihnen in die Klinik begeben, aber vorher müßte ich mich umziehen; während sie unten auf mich warteten, floh ich über die Feuerleiter vom elften Stock, und mit dem ersten Taxi, das ich erwischte, zum Flughafen. Es war mir eigentlich ganz egal, wohin ich fliegen würde, nur möglichst weit von diesen Gelehrten, und weil das erste Linienflugzeug nach San Diego flog, begab ich mich halt nach San Diego. In einem kleinen schäbigen Hotel, einer wahren 18
Spelunke für verschiedene dunkle Typen, rief ich, noch bevor ich meine Koffer auspackte, Tarantoga an: Hilfe! Glücklicherweise war er zu Hause. Wahre Freunde erkennt man in der Not. Er kam noch in derselben Nacht in San Diego an, und nachdem ich ihm alles möglichst knapp und genau erzählt hatte, beschloß er sich meiner anzunehmen – als die gute Seele, die er war, nicht als Gelehrter. Auf seinen Rat hin wechselte ich das Hotel und ließ mir einen Bart sprießen, während er sich nach einem solchen Sachverständigen umsehen sollte, der den Eid des Aeskulap höher schätzte als einen publicityträchtigen interessanten Fall. Am dritten Tag kamen leichte Unstimmigkeiten zwischen uns auf, denn er war gekommen, um mich mit guten konkreten Nachrichten zu trösten, ich aber konnte ihm meine Dankbarkeit nur teilweise bezeigen. Meine linksseitige Mimik verärgerte ihn, weil ich ihm fortwährend mit einem Auge schelmisch zuzwinkerte. Ich rechtfertigte mich zwar, daß nicht ich es sei, sondern die rechte Hemisphäre meines Gehirns, über die ich nicht die Kon trolle habe, er jedoch, zunächst ein wenig beschwichtigt, begann mir wieder Vorwürfe zu machen, daß nicht alles in Ordnung sei. Selbst wenn es in meinem Körper meiner zwei gäbe, so liege es, den höhnischen und sarkastischen Grimassen nach zu urteilen, die ich zur Hälfte schneide, klar auf der Hand, daß ich schon früher zumindest teilweise Abneigung gegen ihn gehegt hätte, die sich jetzt als schwarze Undankbarkeit enthüllte, er aber sei der Meinung, Freund sei man entweder zur Gänze oder gar nicht. Fünfzigprozentige Freundschaft sei nicht nach seinem Geschmack. Schließlich gelang es mir dennoch, ihn irgendwie zu besänftigen, und nachdem er gegangen war, kaufte ich mir eine Augenbinde. . Einen Spezialisten fand er sehr weit entfernt, erst in Australien, wir flogen also gemeinsam nach Melbourne. Professor Joshua Mclntyre lehrte dort Neurophysiologie; sein 19
Vater war der beste Freund, vielleicht sogar ein entfernter Verwandter von Tarantogas Vater gewesen. Mclntyre weckte Vertrauen durch sein bloßes Aussehen. Er war hochgewachsen, mit einem grauen, bürstenartigen Haarschopf, überaus ruhig, sachlich und, wie mir Tarantoga versicherte, menschlich. Es konnte also nicht die Rede davon sein, daß er mich hätte ausnutzen oder gemeinsame Sache mit den Amerikanern machen wollen, die geradezu aus der Haut fuhren, um mir auf die Spur zu kommen. Nachdem er mich untersucht hatte, was drei Stunden dauerte, stellte er eine Flasche Whisky auf den Schreibtisch, goß mir und sich selbst ein, was der Atmosphäre den Anstrich von Geselligkeit gab, schlug die Beine übereinander, sann eine Weile nach, gab sich einen Ruck und sagte: »Herr Tichy, ich werde Sie in der Einzahl anreden, weil das bequemer ist. Ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß man Ihnen den Balken des Gehirns entzweigeschnitten hat, von der Comissura anterior bis zur posterior, obwohl auf Ihrem Schädel nicht die Spur einer Trepanationsnarbe zu sehen ist. . .« »Aber ich sagte Ihnen doch, Professor«, fiel ich ihm ins Wort, »daß keine Trepanation an mir durchgeführt, sondern eine neue Waffe angewendet wurde. Es soll die Waffe der Zukunft sein: niemand wird getötet, sondern die ganze angreifende Armee wird einer totalen und ferngelenkten Cerebellotomie unterzogen. Jeder Soldat wird, sobald ihm das Kleinhirn abgeschnitten wird, der ganzen Länge nach hinfallen, denn er wird ja gelähmt sein. Das erfuhr ich in jenem Zentrum, dessen Namen ich Ihnen nicht verraten darf. Zufällig kam ich irgendwie seitlich zu diesem Ultraschallfeld zu stehen, sagittal, wie es die Ärzte nennen. Übrigens ist das nicht ganz sicher, wissen Sie, denn diese Roboter arbeiten im geheimen und die Wirkung dieser Ultraschälle ist nicht ganz klar . . .« »Das ist nicht so wichtig«, meinte der Professor, der mich mit gütigen, weisen Augen hinter seiner goldgeränderten Brille 20
ansah. »Wir werden uns nicht mit außermedizinischen Umständen beschäftigen. Über die Zahl der Denkapparate in einem kallotomisierten Menschen gibt es derzeit achtzehn Theorien. Da jede von ihnen durch bestimmte Experimente bestätigt wird, ist es klar, daß keine ganz falsch oder auch ganz richtig sein kann. Sie sind nicht einer, Sie sind auch nicht zwei, und von Bruchzahlen kann gleichfalls nicht die Rede sein.« »Wieviele von mir gibt es also?« fragte ich verblüfft. »Auf eine schlecht gestellte Frage gibt es keine gute Antwort. Stellen Sie sich ein Zwillingspaar vor, das seit seiner Geburt nichts anderes tut, als Holz mit einer zweihändigen Säge zu sägen. Sie arbeiten einvernehmlich, sonst könnten sie doch nicht sägen, aber wenn man ihnen die Säge wegnimmt, werden sie Ihnen in Ihrem gegenwärtigen Zustand ähnlich.« »Aber jeder von ihnen, ob er nun Holz sägt oder nicht, hat nur ein einziges Bewußtsein«, wehrte ich enttäuscht ab. »Herr Professor, Ihre Kollegen in Amerika haben mich schon mit einer Menge solcher Parabeln gefüttert. Auch von den Zwillingen mit der Säge habe ich schon gehört.« »Klar«, sagte Mclntyre und zwinkerte mir mit dem linken Auge zu, so daß mir der Verdacht kam, man hätte vielleicht auch ihn durchschnitten. »Meine amerikanischen Kollegen sind Strohköpfe, und solche Vergleiche sind für die Katz. Ich habe Ihnen absichtlich die Geschichte von den Zwillingen erzählt, die sich einer der Amerikaner ausgedacht hat, weil sie auf Holzwege führt. Wollte man die Arbeit des Gehirns graphisch darstellen, erinnert sie bei Ihnen an ein großes Y, weil Sie nach wie vor einen einheitlichen Gehirnstamm und ein einheitliches Mittelhirn haben. Das ist der Schaft des Ypsilon, die Halbkugeln dagegen sind geteilt wie die Schenkel dieses Buchstabens. Verstehen Sie das? Intuitiv kann man leicht. . .« Der Professor brach ab und stöhnte, weil ich ihm einen Tritt in die Kniescheibe versetzt hatte. »Das war nicht ich, das war mein linker Fuß, verzeihen Sie«, 21
rief ich eilig, »ich wollte wirklich nicht. . .« Mclntyre lächelte nachsichtig (aber in diesem Lächeln lag et was Gezwungenes, wie auf dem Gesicht eines Psychiaters, der so tut, als ob der Irre, der ihn soeben gebissen hat, ein normaler, sympathischer Bursche wäre). Er erhob sich, um sich selbst und seinen Sessel in eine sichere Entfernung von mir zu bringen. »Die rechte Halbkugel ist in der Regel viel aggressiver als die linke. Das ist eine Tatsache«, bemerkte er, indem er vorsichtig sein Knie berührte. »Sie könnten aber Ihre Hände und auch Ihre Beine ineinander verschränken, wissen Sie. Das würde unsere Unterhaltung erleichtern . . .« »Ich habe es versucht, aber sie schlafen so schnell ein. Und dann, wenn Sie gestatten, dieses Ypsilon sagt mir nichts. Wo fängt bei ihm das Bewußtsein an – unter der Gabelung, in ihr selbst, noch höher oder sonstwo?« »Das läßt sich nicht genau eruieren«, antwortete der Professor, weiterhin mit dem getretenen Bein baumelnd, das er sich sorgsam, massierte. »Das Gehirn, lieber Herr Tichy, besteht aus einer großen Anzahl funktionaler Untergruppen, die sich beim normalen Menschen auf verschiedene Art und Weise zur Erfüllung verschiedener Aufgaben verbinden können. Bei Ihnen sind die höchsten Untergruppen dauernd getrennt und können deshalb nicht miteinander kommunizieren.« »Auch von diesen Untergruppen habe ich schon hundertmal gehört, mit Verlaub zu sagen. Ich möchte nicht unhöflich sein, Herr Professor, zumindest kann ich Ihnen versichern, daß meine linke Gehirnhälfte, die jetzt zu Ihnen spricht, nicht unhöflich sein will, aber ich weiß weiterhin nichts. Ich bewege mich doch ganz normal, ich esse, gehe, lese, schlafe, ich muß nur auf meine linke Hand und mein linkes Bein aufpassen, weil sie sich ohne jede Vorwarnung skandalös zu benehmen beginnen. Ich möchte wissen, WER mir diese Streiche spielt. Wenn es mein Gehirn ist, warum weiß ICH dann nichts davon?« 22
»Weil die Hirnhälfte, die das bewirkt, stumm ist, Herr Tichy. Das Sprachzentrum liegt in der linken, im La-. . .« Auf dem Boden lagen zwischen uns ganze Kabelrollen von den verschiedenen Apparaten, mit denen mich Mclntyre vorher untersucht hatte. Ich bemerkte, daß mein linker Fuß sich wieder anschickte, mit diesen Kabeln zu spielen. Er wand sich ein solches dickes Kabel in einer lackglänzenden schwarzen Isolierungsschicht um den Knöchel, ich schrieb dem aber keine besondere Bedeutung zu, bis der Fuß plötzlich, mit einem jähen und starken Ruck, das Kabel rückwärts zog, das, wie sich zeigte, um das Bein des Sessels, in dem der Professor saß, geschlungen war. Der Sessel stellte sich auf die Hinterbeine, der Professor plumpste auf das Linoleum. Er erwies sich jedoch als erfahrener Arzt und Gelehrter, der seine Selbstbeherrschung nicht verliert, denn er sprach, indem er sich aufrappelte, mit fast ruhiger Stimme: »Das macht nichts. Regen Sie sich nicht auf. In der rechten Gehirnhälfte hat die Stereognosie ihren Sitz, deshalb ist sie bei derartigen Aktivitäten geschickter. Ich bitte Sie jedoch abermals, Herr Tichy, weit vom Schreibtisch, von den Kabeln und überhaupt von allem Platz zu nehmen. Das wird unsere Unterhaltung und die Festlegung einer geeigneten Therapie leichter machen.« »Ich will nur wissen, wo mein Bewußtsein ist«, antwortete ich, wobei ich das Kabel vom Fuß herunterwickelte, was gar nicht so einfach war, weil der Fuß fest auf dem Linoleum haftete. »Es sieht so aus, als hätte ich Ihnen den Sessel unter dem Hintern weggerissen, was keineswegs meine Absicht war. WER hat das also getan?« »Ihre linke untere Extremität, gelenkt von Ihrer rechten Ge hirnhalbkugel.« Der Professor rückte seine Brille, die sich verschoben hatte, zurecht, schob den Sessel noch etwas weiter zurück, setzte sich aber, nach kurzer Überlegung, nicht hin, sondern blieb hinter 23
dem Sessel stehen und umklammerte dessen Lehne. Ich weiß nicht, mit welcher Hirnhälfte ich jetzt dachte, daß ihm vielleicht die Lust auf einen Gegenangriff gekommen war. »Auf diese Art können wir uns bis zum Jüngsten Tag unterhalten«, sagte ich, wobei ich fühlte, daß sich meine ganze linke Körperhälfte straffte. Beunruhigt verschränkte ich die Beine und die Arme. Mclntyre, der mich aufmerksam beobachtete, sprach weiterhin mit freundlicher Stimme: »Die linke Hirnhälfte dominiert, weil sie der Sitz des Sprach zentrums ist. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, spreche ich also mit ihr, die rechte Hirnhälfte kann dem Gespräch nur zuhören. Ihre Sprachkenntnis ist sehr beschränkt.« »Vielleicht bei anderen, aber nicht bei mir«, erwiderte ich, während ich, um ganz sicherzugehen, mit der rechten Hand das linke Handgelenk ergriff. »Sie ist tatsächlich stumm, aber ich habe ihr die Taubstummensprache beigebracht, wissen Sie. Das hat mich viel Gesundheit gekostet.« »Das kann doch nicht wahr sein!« In den Augen des Professors blitzte ein Licht auf, wie ich es schon bei seinen amerikanischen Kollegen gesehen hatte. Jetzt bedauerte ich meine Offenheit, aber es war schon zu spät für eine solche Überlegung. »Aber sie kann ja keine Sätze mit Verben bauen! Das steht fest . . .« »Das macht nichts. Verben sind nicht unbedingt nötig.« »Also bitte, dann fragen Sie sie, also sich, das heißt, sie, wollte ich sagen, was sie von unserem Gespräch hält. Können Sie das?« Nolens volens nahm ich die rechte Hand in die linke, streichelte sie erst ein paarmal, um sie gütig zu stimmen, weil ich wußte, daß es ratsam war, so anzufangen, dann begann ich die entsprechenden Zeichen zu geben, indem ich den linken Handteller berührte. Nach einer Weile begannen sich die Finger der Linken zu bewegen. Eine geraume Weile schaute 24
ich zu, dann, mit Mühe meine Wut verbergend, legte ich die Linke auf das Knie, obwohl sie sich dagegen sträubte. Natürlich kniff sie mich sofort schmerzhaft in die Wade. Das war vorauszusehen gewesen, aber ich wollte dem Professor nicht das Spektakel bieten, daß ich mit mir selbst raufte. »Na, und was hat sie gesagt?« fragte der Professor, der sich, alle Vorsicht vergessend, aus dem Sessel herauslehnte. »Nichts Wichtiges.« »Aber ich habe doch ganz deutlich gesehen, daß sie irgendwelche Zeichen gegeben hat. Waren sie etwa unkoordiniert?« »Wieso? Sie waren sogar sehr gut koordiniert, aber das ist eine Kleinigkeit.« »So reden Sie doch! In der Wissenschaft gibt es keine Kleinigkeiten.« »Sie sagte: du Arschloch!« Der Professor war so baff, daß er nicht einmal lächelte. »In der Tat? Dann fragen Sie sie bitte, was sie von mir hält.« »Wie Sie wünschen.« Wieder nahm ich mir die linke Hand vor, zeigte mit dem Finger . auf den Professor, und diesmal brauchte ich sie erst gar nicht zu besänftigen, denn sie antwortete sofort. »Na und?« »Auch ein Arschloch.« »Das hat sie gesagt?« »Ja. Sie kann wirklich nicht mit Verben umgehen, aber verstehen kann man sie schon. Und ich weiß weiterhin nicht, WER spricht. In der Gebärdensprache, aber das ist doch alles eins. Zu Ihnen rede ich mit dem Mund und zu ihr muß ich mit den Fingern reden, also wie ist das eigentlich? In meinem Kopf stecken sowohl >Ich< als auch irgendein >Er Wenn Er drin ist, warum weiß ich nichts von ihm, warum nehme ich nicht seine Erlebnisse, seine Emotionen noch sonst etwas wahr wenn er doch in MEINEM Kopf steckt und einen Teil MEINES 25
Gehirns bildet? Er steht doch nicht draußen. Wenn ich an Bewußtseinsspaltung litte, wenn in meinem Kopf alles drunter und drüber ginge, das könnte ich noch begreifen, nicht aber diesen Zustand. Woher ist er gekommen, dieser ER? Ist er auch Ijon Tichy? Und wenn er es sogar ist, warum muß ich mich an ihn auf Umwegen, über die Hand, wenden, und bekomme die Antwort auch auf Umwegen, Herr Professor? Er, oder sie, wenn es eine Halbkugel meines Gehirns ist, bringt noch ganz andere Sachen fertig. Wenn sie – oder er – wenigstens nicht ganz bei Sinnen wäre. Sie hat mich ja oft in verschiedene Skandale verwickelt.« Da ich nunmehr keinen Grund zur Zurückhaltung sah, erzählte ich ihm die Geschichten von den Bussen und der UBahn. Er war fasziniert. »Ausschließlich Blondinen?« »Ja. Sie können übrigens auch wasserstoffblond sein, das spielt keine Rolle.« »Versucht sie, weiter zu gehen?« »Nicht im Bus.« »Und anderswo?« »Weiß ich nicht, ich habe es nicht versucht. Das heißt, ich gab ihm keine Chancen. Oder ihr, wie Sie wollen. Wenn Sie schon alles so genau wissen wollen, muß ich hinzufügen, daß ich aus diesem Grunde einige Male geohrfeigt wurde. Bekam ich eine Ohrfeige auf die linke Wange, dann war ich einfach zornig und verlegen, weil ich mich gar nicht schuldig fühlte, zugleich aber auch belustigt. Einmal dagegen klebte mir ein Mädchen eine, das anscheinend Linkshänderin war, also in die rechte Wange, da war von Belustigung oder Fröhlichkeit keine Spur. Ich habe darüber nachgedacht und bin zum Schluß gekommen, daß ich diesen Unterschied verstehen kann.« »Aber natürlich«, rief der Professor, »der linke Tichy hat eine Ohrfeige für den rechten abbekommen, und das hat den rechten amüsiert. Als aber der rechte Tichy die Ohrfeige für 26
den rechten einstecken mußte, war das gar nicht amüsant. Er kriegte, sozusagen, die Ohrfeige nicht nur für seine Tat, sondern auch auf seine Gesichtshälfte.« »Genau. Es gibt also anscheinend eine Art Kommunikation in meinem unglückseligen Kopf, aber eine eher emotionale als gedankliche. Emotionen erlebt man aber doch auch, und ich weiß unmittelbar nichts davon. Wenn sie unbewußt wären, dann meinetwegen, aber wie können sie unbewußt sein? Schließlich redet dieser ganze Eccles mit seinen automatischen Reflexbewegungen lauter dummes Zeug. Im Menschen getümmel ein attraktives Mädchen zu erspähen, so zu manövrieren, um sich ihr zu nähern, zuerst ohne zu wissen, wozu, sich hinter sie zu stellen und so weiter, das ist doch eine ganze durchdachte Aktion, und nicht irgendwelche gedanken losen Reflexe. Eine durchdachte, also bewußte Aktion. Aber WEM ist sie bewußt? WER denkt sie aus, WER hat dieses Bewußtsein, wenn nicht ICH es bin?« »Ach, wissen Sie«, meinte der immer noch sehr erregte Professor, »das kann man schließlich erklären. Das Licht einer Kerze sieht man im Dunkeln, aber nicht in der Sonne. Das rechte Gehirn hat vielleicht irgendein Bewußtsein, aber schwach wie eine Kerze, das Bewußtsein der dominierenden linken Gehirnhälfte löscht es aus. Das ist ganz mö . . .« Der Professor bückte sich blitzschnell, und nur dem hatte er es zu verdanken, daß er nicht meinen Schuh auf den Kopf geknallt bekam. Mein linker Fuß war, nachdem er den Absatz gegen das Sesselbein gestemmt hatte, aus dem Schuh geschlüpft, und dieser sprang in einem so schwungvollen Bogen nach vorne, daß er, wie ein Geschoß, um ein Haar den Professor verfehlend, gegen die Wand prallte. »Vielleicht stimmt das, was Sie sagen«, bemerkte ich, »aber sie ist verdammt empfindlich.« »Mag sein, daß sie sich auch, auf eine für sie unklare Art, bedroht fühlt, unter dem Einfluß unserer Unterhaltung oder 27
vielmehr dessen, was sie mißverstanden hat«, meinte der Professor. »Wer weiß, ob es nicht besser wäre, sich direkt an sie zu wenden.« »So wie ich es tue?« Ich glaubte, seinen letzten Satz so verstanden zu haben. »Das habe ich bisher nicht in Betracht gezogen. Aber wozu eigentlich? Was wollen Sie ihr mitteilen?« »Das wird von ihren Reaktionen abhängen. Ihr Fall ist einzigartig. Bislang wurde kein geistig völlig gesunder Mensch, dazu noch einer von überdurchschnittlicher Intelligenz, der Kallotomie unterzogen.« »Gehen wir nicht wie die Katze um den heißen Brei herum«, sagte ich, den Rücken der linken Hand streichelnd, um sie zu beruhigen, denn sie begann sich zu rühren, die Finger einzuzie hen und zu strecken, was mir verdächtig erschien. »Mein Inter esse ist nicht deckungsgleich mit dem Interesse der Wissenschaft. Und dies um so weniger, als ich, wie Sie sagen, ein einzigartiger Fall bin. Falls Sie oder jemand anderer mit IHR – Sie wissen ja, was ich meine – zu einem Einverständnis gelangen, kann sich dies als ungünstig oder gar schädlich für mich erweisen, wenn sie sich immer mehr verselbständigen würde.« »Ach, das ist unmöglich«, wehrte der Professor entschieden ab, zu entschieden für meinen Geschmack. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Sämischlederlappen. Seine Augen hatten ohne Brille nicht den Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit, wie gewöhnlich bei einem Menschen, der ohne Brille fast nichts sieht. Er warf mir einen so scharfen Blick zu, daß man meinen könnte, er brauche die Brille gar nicht, und senkte sofort die Augen. »Aber das Unmögliche geschieht immer wieder, entgegnete ich, sorgsam die Worte abwägend. »Die ganze Geschichte der Menschheit besteht aus lauter unmöglichen Dingen, desgleichen der Fortschritt der Wissenschaft. Ein junger 28
Philosoph versuchte mich zu überzeugen, daß der Zustand, in dem ich mich befinde, unmöglich sei, da er allen Erkenntnissen der Philosophie widerspreche. Das Bewußtsein sei unteilbar. Die sogenannte Bewußtseinsspaltung – das sind in Wirklichkeit aufeinanderfolgende veränderte Stadien dieses Bewußtseins, allerdings verbunden mit Störungen des Gedächtnisses und des Identitätsgefühls. Das ist keine Torte!« »Wie ich sehe, haben Sie eine Menge Fachliteratur gelesen«, bemerkte der Professor und setzte sich wieder die Brille auf die Nase. Er fügte noch etwas hinzu, was ich nicht deutlich hörte. Ich wollte sagen, daß man, nach Ansicht der Philosophen, das Bewußtsein nicht wie eine Torte in Stücke schneiden könne, brach aber mitten im Satz ab, weil meine linke Hand die Finger in die rechte steckte und mir Zeichen zu geben begann. Das war mir bisher nicht passiert. Mclntyre wurde gewahr, daß ich meine eigenen Hände betrachtete, und wußte sofort Bescheid. »Sagt sie was?«, fragte er mit gedämpfter Stimme, so wie man in Anwesenheit eines Menschen spricht, von dem man nicht gehört werden will. »Ja.« Ich war sehr verblüfft, wiederholte aber, was die Hand gesagt hatte. »Sie will ein Stück Torte.« Das Entzücken, das sich auf dem Gesicht des Professors malte, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Nachdem ich der linken Hand durch Zeichen versichert hatte, sie werde ihre Torte bekommen, wenn sie ruhig warte, nahm ich den unterbrochenen Faden wieder auf. »Von eurem Standpunkt aus wäre es herrlich, wenn sie sich immer mehr verselbständigte. Ich nehme es Ihnen nicht übel, ich verstehe ja, es wäre etwas Unerhörtes – zwei voll entwickelte Burschen in einem Körper, wieviel Entdeckungsmöglichkeiten, Forschungsmöglichkeiten und so weiter. Mir paßt jedoch eine solche Einführung der Demokratie 29
in meinem Kopf ganz und gar nicht. Ich möchte immer weniger, und nicht immer mehr verdoppelt sein.« »Sie sprechen mir das Mißtrauen aus? Das kann ich ja verstehen . . .« Der Professor lächelte wohlwollend. »Vorerst versichere ich Ihnen, daß ich alles, was ich über Sie in Erfahrung gebracht habe, bei mir behalten werde. Unter dem Siegel der ärztlichen Schweigepflicht. Überdies fällt es mir nicht einmal ein, Ihnen irgendeine konkrete Therapie vorzuschlagen. Sie werden tun, was Sie für richtig halten. Überlegen Sie es sich aber genau, natürlich nicht hier und nicht gleich. Bleiben Sie lange in Melbourne?« »Auch das weiß ich noch nicht. Jedenfalls werde ich mir erlauben, Sie anzurufen.« Tarantoga, der im Warteraum saß, sprang bei meinem Anblick auf. »Also . . .? Herr Professor? Ijon . . .?« »Vorläufig wurde noch keine Entscheidung getroffen«, sagte Mclntyre in offiziellem Ton. »Herr Tichy muß sich noch mit verschiedenen Zweifeln herumschlagen. Aber ich stehe ihm auf jeden Fall zur Verfügung.« Als Mann von Wort ließ ich unterwegs das Taxi bei einer Konditorei anhalten, um ein Stück Torte zu kaufen, das ich gleich im Auto essen mußte, weil sie es so wollte, obwohl ich selbst keine Lust auf Süßigkeiten hatte. Ich beschloß jedoch, mich zumindest eine Zeitlang nicht mit der Frage zu quälen, WER nun Appetit auf Süßigkeiten hatte, wenn doch niemand außer mir diese Frage beantworten konnte und ich die Antwort nicht wußte. Tarantoga und ich hatten nebeneinander liegende Zimmer, ich ging also gleich zu ihm und informierte ihn in groben Zügen über den Verlauf des Besuchs bei Mclntyre. Die Hand unterbrach mich mehrfach, sie fühlte sich unbefriedigt. Die Torte war nämlich mit Lakritzensaft gesüßt, den ich nicht 30
ausstehen kann. Ich hatte sie trotzdem gegessen, in der Meinung, daß ich es für sie tue, aber es zeigte sich, daß ich und sie – ich und jener, Ich und das andere Ich, weiß der Teufel, wer mit wem – denselben Geschmack hatten. Das ist insofern verständlich, als die Hand selbst nicht essen kann, und Mund, Gaumen, Zunge waren gemeinsam. Ein bedrückendes Gefühl kam in mir auf, wie aus einem idiotischen Traum – halb Alptraum, halb spaßig: daß ich in mir wenn nicht einen Säugling, so doch ein kleines, verzogenes, schlaues Kind herumtrage. Sogleich erinnerte ich mich an die Hypothese irgendwelcher Psychologen, daß kleine Kinder kein einheitliches Bewußtsein haben, weil die afferenten Ner venfasern ihres Corpus callosum noch unterentwickelt sind. »Hier ist ein Brief für dich . . .« Diese Worte Tarantogas rissen mich aus meinen Gedanken. Ich war erstaunt, kannte doch kein Mensch meinen jetzigen Aufenthaltsort. Der Brief war in der Hauptstadt von Mexiko aufgegeben worden, per Flugpost, ohne Absenderangabe. Im Kuvert steckte ein kleiner maschinegeschriebener Zettel: Von La. Nicht mehr. Ich blickte auf die Rückseite des Zettels. Leer. Tarantoga nahm ihn mir aus der Hand, schaute erst ihn, dann mich an. »Was soll das bedeuten? Verstehst du das?« »Nein. Das heißt. . . l.a. könnte Lunar Agency sein. Die haben mich doch geschickt.« »Auf den Mond?« »Ja, auf diesen Erkundungsflug. Nach der Rückkehr sollte ich Bericht erstatten.« »Hast du es getan?« »Ja. Ich schrieb alles nieder, woran ich mich erinnern konnte. Und ich habe es dem Friseur gegeben.« »Dem Friseur?« »So war es verabredet. Um nicht zu ihnen gehen zu müssen. 31
Aber wer ist dieser >er Das kann nur Mclntyre sein. Außer mit ihm habe ich mich hier mit niemandem getroffen.« »Moment mal. Ich verstehe nichts. Was stand in diesem Be richt?« »Das darf ich selbst Ihnen nicht sagen. Ich habe mich zur Geheimhaltung verpflichtet. Aber eigentlich stand dort nicht viel drin. Eine Menge davon habe ich vergessen.« »Nach deinem Unfall?« »Ja. Was machen Sie da, Professor?« Tarantoga stülpte das zerrissene Kuvert auf die linke Seite um. Jemand hatte darauf mit Bleistift, in Druckbuchstaben, ge schrieben: Verbrenne das. Die Rechte darf die Linke nicht zugrunde richten. Ich konnte immer noch nichts verstehen, aber irgendein Sinn steckte drin. Plötzlich blickte ich Tarantoga mit weit aufgerissenen Augen an: »Mir beginnt etwas zu schwanen. Weder auf dem Kuvert noch auf jenem Zettel gibt es ein einziges Substantiv. Verstehen Sie?« »Na und?« »Sie versteht am besten Substantive. Der Absender dieser Botschaft wollte, daß ich etwas erfahre, sie aber nicht.« Bei diesen Worten legte ich die rechte Hand bedeutungsvoll an meine rechte Schläfe. Tarantoga stand auf, machte ein paar Schritte, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und sagte: »Wenn das heißen soll, daß Mclntyre . . .« »Reden Sie nicht weiter . . .« Ich holte mein Notizbuch aus der Tasche und schrieb auf ein leeres Blatt: »Sie versteht das Gehörte besser als das Gelesene. Wir werden uns in dieser Angelegenheit schriftlich verständigen müssen. Mir scheint, daß sie sich daran erinnert, was ich für die l.a. nicht aufgeschrieben habe, denn mir ist es aus dem 32
Gedächtnis entfallen und irgend jemand weiß oder zumindest vermutet es. Ich werde ihn nicht anrufen und nicht aufsuchen, denn es ist wahrscheinlich eben ER. Er wollte sich mit ihr so verständigen, wie ich es tue. Möglicherweise wollte er sie rausholen. Antworten Sie bitte sofort.« Tarantoga las meinen Brief, runzelte die Stirn, sagte kein Wort, schrieb etwas und reichte es mir über den Tisch. »Aber wenn er von der l.a. ist, wozu dann dieser Umweg? l.a. konnte sich doch direkt an dich wenden, oder?« Ich antwortete, natürlich auch schriftlich: »Unter denen, an die ich mich in New York gewandt habe, war bestimmt jemand von der l.a. Von ihm haben sie erfahren, daß ich einen Weg gefunden habe, wie man sich mit ihr verständigen kann. Da ich mich sofort davongemacht habe, konnten sie das nicht selbst mit ihr ausprobieren. Der Sohn des Kerls, der mit Ihrem Herrn Papa in freundschaftlichen Beziehungen gestanden war, hätte sich an sie heranmachen sollen, wenn der anonyme Schreiber die Wahrheit sagt. Vielleicht hätte er aus ihr alles herausgeholt, woran sie sich erinnert, ohne bei mir Verdacht zu erregen. Ich hätte keine Ahnung gehabt, was er von ihr erfahren hat. Wenn sie sich dagegen an mich direkt, offiziell gewendet hätten, hätte ich mich einem solchen Verhör verweigern können, und dann steckten sie in Schwierigkeiten, denn juristisch gesehen ist sie kein von mir unabhängiges Wesen, und nur ich kann mein Einverständnis dazu geben, daß jemand mit ihr redet. Verwenden Sie bitte Partizipien, Pronomina, Verben und eine möglichst komplizierte Syntax.« Der Professor riß das von mir beschriebene Blatt aus dem Notizbuch, steckte es in die Tasche und schrieb mir: »Aber warum willst Du eigentlich nicht, daß sie erfährt, was jetzt vorgeht?« »Für jeden Fall. Deswegen, was auf der Innenseite des Kuverts steht. Das kann nicht von der l.a. sein, denn die ist 33
selbstverständlich nicht daran interessiert, mich vor ihr selbst zu warnen. Das hat wer anderer geschrieben.« Diesmal war die Antwort Tarantogas kurz: »Wer?« »Das weiß ich nicht. Was dort vor sich geht, wo ich war und wo ich den Unfall hatte, das möchten viele gern wissen. Anscheinend hat die l.a. eine starke Konkurrenz. Ich bin der Ansicht, daß es Zeit ist, auf die Gesellschaft von Känguruhs zu verzichten. Türmen wir! Den Imperativ versteht sie nicht.« Tarantoga holte alle Zettel aus der Tasche, knüllte sie, mitsamt dem Brief und dem Kuvert, zu einer Kugel zusammen, zündete sie mit einem Streichholz an, warf sie in den Kamin und sah zu, wie die brennenden Papiere zu Asche verglühten. »Ich gehe zum Reisebüro«, sagte er, »und was wirst du jetzt machen?« »Rasieren. Der Bart juckt teuflisch, und jetzt ist er klarerweise nicht mehr nötig. Je schneller, desto besser, Professor. Es kann auch ein Nachtflug sein. Und sagen Sie mir nicht, wohin.« Tarantoga ging wortlos hinaus. Ich rasierte mich im Badezimmer und schnitt, in den Spiegel schauend, verschiedene Grimassen. Das linke Auge zuckte nicht mit der Wimper. Ich sah ganz gewöhnlich aus. Also begann ich meine Sachen zu packen; von Zeit zu Zeit konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf die linke Hand und den linken Fuß, aber die verhielten sich normal. Erst im letzten Moment, als ich in den gepackten Koffer obenauf die Krawatten legte, warf die linke Hand eine grüne Krawatte mit braunen Tupfern, die ich gern hatte, obwohl sie schon ziemlich alt war, auf den Fußboden. Gefiel sie ihr etwa nicht? Ich hob die Krawatte mit der Rechten auf und reichte sie der Linken, wobei ich versuchte, sie dazu zu zwingen, die Krawatte in den Koffer zu legen. Es trat ein, was ich schon früher einige Male beobachtet hatte: Der Arm gehorchte mir, aber die Finger nicht 34
- sie öffneten sich und ließen die Krawatte auf den Bettvorleger fallen. »Eine schöne Bescherung«, seufzte ich. Mit der rechten Hand preßte ich die Krawatte in den Koffer und machte ihn zu. Tarantoga öffnete die Tür, zeigte mir wortlos zwei Flugtickets und ging selber packen. Ich überlegte mir, ob ich Grund hatte, die rechte Hirnhälfte zu fürchten. Ich konnte mich ruhig meinen Gedanken hingeben, wußte ich doch, daß sie nichts wußte und nur dann etwas erfahren konnte, wenn ich es ihr in der Zeichensprache, über die Hand, sagte. Den Inhalt eines Buches kann man aus dem Inhaltsverzeichnis erfahren, aber im Kopf gibt es kein solches Inhaltsverzeichnis. Der Kopf ist wie ein voller Sack, und um zu erfahren, was drin ist, muß man alles, eines nach dem anderen, herausziehen. Man muß ins Gedächtnis hineingreifen, wie die Hand in einen Sack. Während Tarantoga die Hotelrechnung bezahlte, während wir in der Abenddämmerung zum Flughafen fuhren und später, im Wartesaal, versuchte ich mich an alles zu erinnern, was sich seit meiner Rückkehr vom Großen Kalb zugetragen hatte, um mich zu orientieren, wieviel ich im Gedächtnis behalten hatte. Die Erde fand ich völlig verändert vor. Es war zu einer allgemeinen Abrüstung gekommen. Selbst die Supermächte waren nicht mehr fähig, den Rüstungswettlauf weiterhin zu finanzieren. Die immer intelligenteren Waffensysteme waren auch immer kostspieliger geworden. Wahrscheinlich kam deswegen das Genfer Abkommen zustande. In Europa und in den Vereinigten Staaten wollte niemand mehr zum Militär. Die Menschen wurden durch Automaten ersetzt, aber ein solcher Automat kostete soviel wie ein Düsenflugzeug. Was den Kampfgeist betrifft, so standen die lebendigen Soldaten den leblosen nach. Letztere waren übrigens keine Roboter, sondern kleine elektronische Blöcke, die man in Raketen, Selbstfahrlafetten und Panzer einbaute, alle platt wie große Wanzen, da doch kein Platz für die Besatzung gebraucht 35
wurde; ging ein solcher Block kaputt, wurde ein Reserveblock eingesetzt. Hauptaufgabe des Gegners war nun die Unterbrechung der Verbindung mit dem Oberkommando, der militärische Fortschritt beruhte mithin auf einer Steigerung der Selbständigkeit der Automaten. Die Wirksamkeit stieg zusammen mit den Kosten. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wer die neue Lösung gefunden hatte, und zwar die Verlagerung der Rüstung auf den Mond. Nicht in Form von Rüstungsbetrieben, sondern von sogenannten Planetarma schinen, die schon seit einigen Jahren bei der Erforschung des Sonnensystems verwendet wurden. Während ich mir das alles ins Gedächtnis zurückrief, mußte ich feststellen, daß mir trotz aller meiner Anstrengungen viele Details entgingen, und ich war mir nicht sicher, ob ich sie früher gekannt hatte oder nicht. Wenn man sich an etwas nicht erinnern kann, dann kann man sich meist doch erinnern, ob man es früher so ungefähr gewußt hatte, aber auch das vermochte ich nicht. Wahrscheinlich hatte ich vor meiner Aktion dieses neue Genfer Abkommen gelesen, doch auch dessen war ich mir nicht sicher. Diese Planetarmaschinen wurden von vielen Firmen gebaut, insbesondere amerikanischen. Sie erinnerten an nichts, was bisher die Industrie produziert hatte. Es waren weder Fabriken noch Roboter, sondern eine Art Mittelding. Einige sahen aus wie Riesenspinnen. Natürlich gab es eine Menge Gerede und Appelle, sie sollten nicht mit Waffen bestückt, sondern ausschließlich zu Bergbauarbeiten und so weiter eingesetzt werden, doch als die Zeit kam, sie auf den Mond zu verlagern, zeigte sich, daß jeder Staat, der es sich leisten konnte, schon seine selbstfahrenden Raketenabschußrampen hatte, Geschütz rampen, die tief unter Wasser tauchen konnten, Feuerleitungs zentren, genannt »Maulwürfe«, weil sie sich tief in die Erde eingruben, kriechende Laserwerfer zum einmaligen Gebrauch, weil die Radiationssalve durch eine Atomladung ausgelöst wurde, die zugleich einen solchen Werfer in glühendes Gas 36
verwandelte. Jeder Staat konnte auf der Erde seine Planetar maschinen programmieren, und eine speziell zu diesem Zweck gegründete Lunar Agency beförderte sie auf den Mond, zu den entsprechenden Sektoren. Es wurden Paritäten festgesetzt, welche Mengen jeder Waffenart jeder Staat dort unterbringen konnte, und internationale gemischte Kommissionen wachten über diesen ganzen Exodus. Militärische und wissenschaftliche Experten jedes Staates konnten sich auf dem Mond überzeugen, daß ihre Einrichtungen ausgeladen worden waren, daß sie gehörig funktionierten, worauf sie alle – und zwar gleichzeitig – auf die Erde zurückfliegen mußten. Im zwan zigsten Jahrhundert wäre eine solche Lösung sinnlos gewesen, denn der Rüstungswettlauf beruht nicht so sehr auf quantitati vem Wachstum, als vielmehr auf innovativem Fortschritt, und dieser hing damals ausschließlich von den Menschen ab. Die neuen Einrichtungen funktionierten hingegen nach einem ande ren Prinzip, das der natürlichen Evolution von Pflanzen und Tieren entlehnt war. Es waren Systeme, die zur sogenannten Radiations- und Divergenz-Autooptimierung fähig waren. Um es einfach auszudrücken: Sie konnten sich vermehren und um gestalten. Ich verspürte einige Befriedigung, daß ich mich auch daran erinnern konnte. Könnte die rechte Hemisphäre meines Gehirns, hauptsächlich an Mädchenhintern und Naschwerk in teressiert, gegen eine bestimmte Art von Krawatten allergisch, solche Dinge und Probleme überhaupt erfassen? Vielleicht hatte ihr Gedächtnis gar keinen militärischen Wert? Selbst wenn dem so wäre, fiel es mir ein, wäre es um so schlimmer für mich, denn wenn ich hundert Eide darauf schwören würde, daß sie nichts weiß, würde mir ohnehin niemand glauben. Sie werden mich ins Gebet nehmen, das heißt sie, das heißt eben mich, und wenn sie auf die sanfte Tour, mittels der Zeichen, die ich ihr beigebracht habe, nichts aus ihr herausholen, werden sie ihr die Hölle ganz schön heiß machen, und sie werden nicht locker lassen, koste es, was es wolle. Je weniger sie weiß, desto 37
mehr Gesundheit werde ich verlieren, vielleicht gar das Leben. Das waren keineswegs Phantasien eines Verfolgungswahns. Wieder begann ich in meinem Gedächtnis zu stöbern. Auf dem Mond sollte die elektronische Entwicklung neuer Waffen beginnen. Dank dieser Entwicklung blieb kein Staat, trotz der Abrüstung, wehrlos, da doch jeder sein sich selbstvervoll kommnendes Arsenal beibehielt, zugleich wurde jeder Überraschungsangriff auf den Gegner vereitelt. Ein Krieg ohne Kriegserklärung war unmöglich geworden. Ehe sie in Kriegshandlungen eintrat, müßte sich jede Regierung zuerst an die Lunar Agency wenden, um das Recht auf Zutritt zu ihrem Mondsektor zugebilligt zu bekommen. Das konnte unmöglich geheimgehalten werden, also müßte dem Bedrohten dasselbe Recht zugestanden werden, und dann würde der Rücktransport der Massenvernichtungswaffen auf die Erde beginnen. Das Sicherheitsventil, welches das verhinderte, war die Tatsache, daß der Mond unbewohnt war. Niemand konnte Menschen noch Aufklärungseinrichtungen auf den Mond schicken, um nachzuprüfen, über welches Rü stungspotential er im gegebenen Moment verfügte. Das war schlau ausgeheckt, obgleich das Projekt anfänglich auf den starken Widerstand der Militärs und auf politische Einwände gestoßen war. Der Mond sollte zum Versuchsgelände für die Entwicklung und Erprobung der neuen Waffen in den Sektoren werden, die den einzelnen Staaten zugeteilt wurden. Zuallererst mußten Konflikte zwischen den einzelnen Sektoren verhindert werden. Würde eine in einem Sektor entwickelte Waffe die Waffe des Nachbarsektors angreifen und vernichten, dann wäre das angestrebte Kräftegleichgewicht dahin. Eine solche Nachricht vom Mond würde auf der Erde unvermeidlich zu der Lage führen, die hier früher geherrscht hatte, und wohl auch zum Ausbruch des Krieges, der anfangs mit bescheidenen Mitteln geführt würde, doch nach kurzer Zeit würden alle Beteiligten ihre Rüstungsindustrien wieder aufbauen. Die 38
Programme der Mondsysteme wurden zwar durch die Kontrolle der Lunar Agency und der gemischten Kommissionen so beschränkt, daß kein Sektor einen anderen angreifen konnte, aber diese Sicherung wurde für ungenügend gehalten. Nach wie vor traute niemand niemandem. Das Genfer Abkommen hatte weder die Menschen in Engel noch die zwischenstaatlichen Beziehungen in eine Gemeinschaft der En gel verwandelt. Deshalb wurde nach der Beendigung der Arbeiten der Mond zur Sperrzone erklärt, und zwar für alle. Selbst die Lunar Agency durfte sich dort nicht herumtreiben. Würden auf einem der Versuchsgelände die Sicherungs programme gestört oder gelöscht, so wüßte die ganze Erde im Nu davon, denn jeder Sektor hatte eine mit automatischen und kontinuierlich funktionierenden Sensoren gespickte Schutz abdeckung. Diese Sensoren würden sofort Alarm schlagen, sobald irgendeine Waffe, und sei es auch nur eine Metallameise, die Grenze, gebildet von einem Streifen Niemandsland, überschreiten würde. Auch das bot jedoch noch keine hundertprozentige Sicherheit gegen den Ausbruch eines Krieges. Diese Sicherheit wurde einzig und allein durch die sogenannte Doktrin der totalen Ignoranz gewährleistet. Jede Regierung wußte zwar, daß in ihrem Sektor immer wirksamere Waffen entwickelt wurden, kannte aber deren Wert nicht und wußte vor allem nicht, ob sie effizienter waren als die in den anderen Sektoren entwickelten Waffen. Sie konnte es nicht wissen, ist doch der Lauf jeglicher Entwicklung unvorher sehbar. Das wurde schon vor ziemlich langer Zeit genau nach gewiesen, und die Hauptschwierigkeit lag darin, daß die Politi ker und Generalstäbler für wissenschaftliche Argumente absolut unempfänglich waren. Diese Verbohrten wurden schließlich nicht durch logische Argumente überzeugt, sondern durch den unaufhaltsamen wirtschaftlichen Ruin, herbeigeführt durch das traditionelle Wettrüsten. Selbst der letzte Idiot mußte schließlich einsehen, daß es zum Untergang der Menschheit 39
nicht einmal eines Krieges, atomar oder nicht, bedarf, da doch die ständig eskalierenden Kosten der Aufrüstung zu diesem Untergang führten, und da man über Rüstungsbeschränkungen schon seit Jahrzehnten erfolglos verhandelte, erwies sich das Mondprojekt als einzig realer Ausweg aus der Sackgasse. Jede Regierung konnte sich einbilden, dank den Mondbasen würde sie militärisch immer stärker, sie konnte aber die dort entstehenden Vernichtungskapazitäten nicht mit denen anderer Regierungen vergleichen. Da also niemand wußte, ob er auf einen Sieg rechnen konnte, konnte niemand das Risiko eines Krieges eingehen. Die Achillesferse dieser ganzen Konzeption war die Wirksamkeit der Kontrolle. Die Experten waren sich im vorhinein darüber klar, daß das erste, woran den Programmierern jedes Staates liegen würde, eine solche Ausrüstung der auf den Mond beförderten Systeme sein werde, die sie befähigen würde, die Wirksamkeit der Kontrolle zu unterlaufen. Und zwar nicht unbedingt durch Angriffe auf die Kontrollsatelliten, sondern durch eine schlauere, weil schwerer aufspürbare Methode, nämlich indem man sich heimlich in ihr Verbindungssystem einschlich, um die der Erde und insbesondere der Lunar Agency übermittelten Beobachtungs informationen zu fälschen. An all dies erinnerte ich mich recht gut und fühlte mich deshalb, als ich mit Tarantoga das Flugzeug bestieg, schon ruhiger, aber kaum hatte ich es mir auf meinem Sitz bequem gemacht, begann ich wieder in meinem Gedächtnis zu wühlen. Ja, alle waren sich darüber klar, daß die Unantastbarkeit des Friedens von der Unantastbarkeit der Kon trolle abhing, der Haken lag aber darin, wie man diese Unantastbarkeit hundertprozentig sichern konnte. Die Aufgabe schien unlösbar als regressus ad infinitum: ein System zu schaffen, das über die Unantastbarkeit der Kontrolle wachen sollte – aber auch dieses System konnte zum Angriffsziel werden, also müßte man eine Kontrolle über die Kontrolle über 40
die Kontrolle und so weiter schaffen, bis ins Endlose. Dieses Loch ohne Boden wurde jedoch auf eine ziemlich einfache Weise gestopft: Der Mond wurde mit zwei Kontrollsphären umgürtelt. Die innere, mondnähere, überwachte die Unantastbarkeit der Sektoren, die äußere - die Unantastbarkeit der ersteren. Die Grundlage der Sicherheit sollte die völlige Unabhängigkeit beider Sphären von der Erde bilden. Auf diese Weise sollte das Wettrüsten auf dem Mond unter dem Siegel absoluter Geheimhaltung vor allen Staaten und Regierungen der Welt stattfinden. Die Rüstungen konnten fortschreiten, nicht aber ihre Kontrolle. Diese sollte hundert Jahre lang unverändert funktionieren. Eigentlich sah das Ganze völlig irrational aus. Jede Großmacht wußte, daß ihr Mondarsenal reicher wurde, aber keine wußte, wie. Somit hatte sie politisch nichts davon. Vernünftigerweise hätte man sich für volle Abrüstung ohne diese ganzen lunaren Komplikationen entscheiden sollen, aber davon konnte nicht die Rede sein. Das heißt, schon, geredet hat man vom Anbeginn der Menschheit, mit dem wohlbekannten Resultat. Als man sich schließlich auf das Projekt der Entmilitarisierung der Erde und der Militarisie rung des Mondes geeinigt hatte, war es klar, daß es früher oder später zu Versuchen einer Verletzung der Doktrin der Ignoranz kommen würde. Tatsächlich berichtete die Presse immer wieder unter Balkenletterntiteln über Aufklärungsautomaten, die, kaum wurden sie gesichtet, rechtzeitig fliehen konnten, oder, wie es manche formulierten, von Abfangsatelliten gefangengenommen wurden. Jeder Staat klagte dann die anderen an, diese Aufklärungsautomaten losgeschickt zu haben, aber die Feststellung ihrer Herkunft war unmöglich, weil ein elektronischer Beobachter kein Mensch ist. Man kann ihm, wenn er nur entsprechend konstruiert ist, unmöglich die Würmer aus der Nase ziehen. Nach einiger Zeit hörten diese anonymen Aufklärer, auch kosmische Spione genannt, zu erscheinen auf. Die Menschheit atmete auf, zumal die ganze 41
Sache auch ihren wirtschaftlichen Aspekt hatte. Die Mondrüstungen kosteten keinen roten Heller. Energie wurde von der Sonne geliefert, Rohstoffe – vom Mond. Dies sollte die Rüstungsentwicklung zusätzlich beschränken, weil es auf dem Mond keine Metallerze gibt. Die Generalstäbler aller Staaten wollten anfangs dem Projekt nicht zustimmen, sie behaupteten, Waffen, die an die Mondbe dingungen angepaßt sind, wären auf der Erde zu nichts nutze, schon aus dem Grunde, weil es auf dem Mond keine Atmo sphäre gibt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie der Schwerelosigkeit auf dem Mond abgeholfen wurde, obwohl man mir wahrscheinlich in der Lunar Agency auch das erklärt hatte. Ich flog mit Tarantoga in einer BOAC-Maschine, draußen herrschte tiefe Finsternis, nicht ohne eine gewisse Belustigung dachte ich, daß ich keinen Schimmer habe, wohin wir eigentlich fliegen. Doch Tarantoga zu fragen, erschien mir zwecklos. Dagegen, dachte ich, würde es sicherer sein, uns bald zu trennen. In der mißlichen Lage, in der ich mich befand, war es besser zu schweigen und sich nur auf sich selbst zu verlassen. Tröstlich war für mich das Bewußtsein, daß sie nicht erfahren konnte, was ich denke. Als ob ich im Kopf einen Feind hätte, obwohl ich doch wußte, daß es kein Feind war. Die Lunar Agency war ein überstaatliches, aus der UNO her vorgegangenes Organ, und an mich hatte sie sich aus einem ziemlich merkwürdigen Grund gewandt. Das verdoppelte Kon trollsystem wirkte, wie sich zeigte, zu gut. Man wußte, daß die Grenzen zwischen den Sektoren unangetastet blieben, aber das war auch alles, was man wußte. In einfallsreichen und unruhi gen Köpfen entstand daher die Vision eines Angriffs des men schenleeren Mondes auf die Erde. Der militärische Inhalt der einzelnen Sektoren konnte weder materiell miteinander zusam menstoßen noch einen Informationskontakt anknüpfen, aber das galt nur für eine bestimmte Zeit. Die Sektoren konnten 42
einander durch Bodenschwingungen, zum Beispiel im sogenannten seismischen Kanal, Informationen übermitteln, indem sie diese Erschütterungen den natürlichen Seismen anglichen, die ab und zu die Mondfelsen beben machen. Die sich automatisch vervollkommnenden Waffen könnten sich eines Tages vereinen, um sich mit ihrer ganzen ungeheuer angewachsenen Ladung auf die Erde zu stürzen. Warum sollten sie dies tun? Sagen wir -wegen einer Aberration der Entwicklungsprogramme. Welchen Nutzen könnten die menschenlosen Armeen daraus ziehen, die Erde in Schutt und Asche zu verwandeln? Offensichtlich keinen, aber auch der Krebs, der so oft die Organismen höher entwickelter Tiere und der Menschen befällt, ist eine stetige, aber unnütze, ja sogar sehr schädliche Konsequenz der natürlichen Entwicklung. Als man von diesem Mondkrebs zu schreiben und zu reden begann, als einem solchen Angriff gewidmete Abhandlungen, Artikel, Romane, Filme, Bücher erschienen, kehrte die von der Erde verbannte Angst vor der nuklearen Vernichtung in neuer Gestalt zurück. Das Kontrollsystem enthielt auch seismische Sensoren, und bald fanden sich Experten, die behaupteten, die Beben der Mondkruste seien häufiger geworden und die Dia gramme dieser Beben wiesen eine andere Form auf als früher. Man versuchte also diese Diagramme, in denen man Chiffren vermutete, zu brechen, aber dabei kam nichts heraus außer wachsender Angst. Die Lunar Agency veröffentlichte Kommu niques zur Beruhigung der öffentlichen Meinung, daß die Chancen eines solchen Angriffs weniger als eins zu zwanzig Millionen stünden, aber sie predigte tauben Ohren. Die Angst sickerte schon in die Programme der politischen Parteien ein, und es wurden Stimmen laut, die eine periodische Kontrolle der Sektoren selbst, nicht nur ihrer Grenzen, forderten. Die Sprecher der Lunar Agency widersetzten sich diesen Forderungen und wiesen darauf hin, daß jede Inspektion auch Spionage – die Erkundung des gegenwärtigen Standes der 43
Mondarsenale – zum Ziel haben könnte. Nach langen, komplizierten Beratungen und Konferenzen erhielt endlich die Lunar Agency die Ermächtigung zur Rekogneszierung. Diese erwies sich jedoch als durchaus nicht leichte Aufgabe. Keiner der auf den Mond geschickten Aufklärungsautomaten kehrte zurück, ja gab nicht einmal einen Mucks durchs Radio von sich. Man schickte speziell gesicherte Landeraketen mit TVApparatur los. Wie die Satellitenbeobachtung feststellen konnte, landeten sie tatsächlich an den vorherbestimmten Stellen, auf dem Mare Imbrium, dem Mare Frigoris und Nectaris, in den zwischensektoralen Niemandslandzonen, aber nicht eine dieser Maschinen sendete auch nur ein einziges Bild. Es war, als hätte sie die Mondoberfläche verschluckt. Natürlich rief das erst recht eine Panik hervor. Die Situation einer höheren Notwendigkeit war entstanden. Schon schrieb die Presse, es sei notwendig, den ganzen Mond präventiv mit Was serstoffraketen zu bombardieren. Man müßte jedoch zuerst wieder solche Raketen bauen, also zur atomaren Rüstung zurückkehren. Aus dieser Angst und diesem Tohuwobohu entstand der Auftrag, der mir erteilt wurde. Wir flogen über einer dicken, sanft gewellten Wolkendecke, bis ihre Ausbuchtungen sich vom Schimmer der noch unter dem Horizont verborgenen Sonne rosig färbten. Ich sann darüber nach, warum ich mich so gut an alles Irdische erinnern konnte und so wenig an alles, was ich auf dem Mond erlebt habe. Den Grund konnte ich erraten. Nicht umsonst habe ich seit meiner Rückkehr auf die Erde soviel medizinische Literatur studiert. Ich wußte, daß es zwei Arten des Gedächtnisses gibt, das momentane und das dau ernde. Das Durchschneiden des Balkens tastet nicht das an, was sich dem Gehirn schon gut eingeprägt hat, alle frischen, kaum entstandenen Erinnerungen hingegen verflüchtigen sich sofort, statt ins dauernde Gedächtnis überzugehen. Am meisten verflüchtigt sich das, was der Delinquent kurz vor der 44
Operation erlebt oder wahrgenommen hat. Ich konnte mich also an eine Menge von Dingen nicht erinnern, die ich in den sieben Wochen auf dem Mond erlebt hatte, als ich von Sektor zu Sektor wanderte. Im Kopf geblieben war nur die Aura der Unheimlichkeit, aber da ich sie nicht in Worte fassen konnte, hatte ich sie in meinem Bericht nicht erwähnt. Und doch war dort nichts Alarmierendes geschehen, so schien es mir wenigstens. Keine Verschwörung, keine Gefechtsbereitschaft, keine strategische Konspiration gegen die Erde. Dessen war ich mir sicher. Konnte ich aber beschwören, daß das, was ich fühlte und wußte, schon alles war? Daß sie nicht mehr wußte? Tarantoga schwieg, warf mir nur hie und da einen Blick zu. Wie gewöhnlich, wenn man ostwärts fliegt - wir hatten nämlich den Pazifik unter uns -, stotterte der Kalender und verlor einen Tag. Die BOAC sparte an den Fluggästen. Wir bekamen nur Brathähnchen mit Salat, knapp vor der Landung, in Miami, wie es sich herausstellte. Es war früher Nachmittag. Die Zollhunde beschnüffelten unsere Koffer, wir gingen hinaus ins Freie, zu warm angezogen. In Melbourne war es schon viel kühler gewe sen. Ein Auto ohne Fahrer wartete auf uns. Tarantoga hatte es anscheinend noch in Australien bestellt. Nachdem wir unser Gepäck im Kofferraum verstaut hatten, fuhren wir auf der Highway in dichtem Verkehrsstrom, die ganze Zeit schweigend, weil ich den Professor gebeten hatte, mir nicht einmal zu sagen, wohin wir fahren. Vielleicht war das übertriebene, sogar überflüssige Vorsicht, aber ich hielt es für besser, mich an eine solche Regel zu halten, bevor ich mir keine bessere ausdenke. Er mußte mir übrigens nicht sagen, wohin die Fahrt ging – nach guten zwei Stunden über eine Nebenstraße, als ich das große weiße Gebäude zwischen kleineren Pavillons inmitten von Palmen und Kakteen erblickte, wußte ich sofort, daß mein Freund und Vertrauter mich in ein Irrenhaus gebracht hatte. Ich dachte mir, das sei nicht der übelste Zufluchtsort. Im Auto hatte ich mich ab 45
sichtlich in den Fond gesetzt und mich immer wieder vergewis sert, daß uns niemand folgte, es kam mir jedoch nicht in den Sinn, daß ich vielleicht schon eine so wichtige, geradezu wert volle Person sein könnte, daß man mich auf weniger konventionelle Art beschattet als in einem Spionageroman. Von einem modernen künstlichen Satelliten aus kann man nicht nur Autos beobachten, sondern sogar die auf einem Gartentisch verstreuten Streichhölzchen zählen. Solche Gedanken gingen mir jedoch nicht durch den Kopf - genauer gesagt, durch seine Hälfte, die ohne Taubstummensprache verstehen konnte, in welches Schlamassel der arme Ijon Tichy geraten war.
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J. G. Ballard Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter I Den ganzen Tag hatte dieser seltsame Pilot mit seinem altmodischen Flugzeug das verlassene Raumfahrtzentrum überflogen, eine rasende Maschine, verloren in der Stille Floridas. Bald nach Anbruch der Dämmerung weckte der pochende Motor des alten Curtiss-Doppeldeckers Dr. Mallory, der im fünften Stock des leeren Hotels in Titusville neben seiner erschöpften Frau schlief. Träume vom Raumfahrt zeitalter hatten die Nacht erfüllt, Erinnerungen an weiße Landebahnen so still wie Gletscher, die nun durch dieses sonderbare Flugzeug, das herumkreiste wie der Gedanken splitter eines zerrütteten Geistes, unterbrochen worden waren. Vom Balkon aus beobachtete Mallory den uralten Doppel decker, wie er die rostigen Startrampen von Cape Kennedy umkreiste. Das Sonnenlicht blitzte auf dem Helm des Piloten und ließ das Silberdrahtgeflecht, das den offenen Rumpf mit den Tragflächen verband, aufleuchten, ein Problem, dem der Pilot durch eine Reihe von Rollen und Loopings zu entgehen suchte. Ohne Mallory zu beachten, flog der Pilot über die Baumkronen hin und zurück, und der Motorenlärm hallte über die riesigen verlassenen Plattformen, als könnte dieses Gespenst aus den Pioniertagen der Luftfahrt die schlafenden Titanen des Apollo-Programmes aus ihren Gräbern unter dem eingestürzten Beton heraufbeschwören. Für den Augenblick hatte der Pilot genug, die Curtiss drehte von den Startrampen ab und nahm Kurs ins Landesinnere nach Titusville. Als sie über das Hotel ratterte, erkannte Mallory hinter der Schutzbrille des Piloten den ihm vertrauten starren Blick. Jeden Morgen tauchte derselbe Pilot auf, immer in diesen altmodischen Flugzeugen – Überreste eines aufge 47
lassenen Museums auf einem naheliegenden privaten Flugfeld, nahm Mallory an. Es gab eine Spad, eine Sopwith Camel, ein nachgebautes Modell des Flugzeugs der Gebrüder Wright und einen Fokker-Dreidecker, der am Vortag im Tiefflug über den NASA-Straßendamm geflogen war und Schwärme aufgescheuchter Möwen und Schwalben landeinwärts gejagt hatte, ihnen auch nicht den kleinsten Flecken Himmels gönnend. Mallory stand nackt auf dem Balkon und wärmte sich in der bernsteinklaren Luft. Er zählte die Rippen unter seinen Schulterblättern und bemerkte, daß er zum ersten Mal die Nieren spüren konnte. Obwohl er jeden Tag stundenlang nach Nahrung suchte und in den verlassenen Supermärkten Fleischkonserven plünderte, konnte er sein Körpergewicht nur schwer halten. Seit sie vor zwei Monaten zu der langsamen und unruhigen Fahrt von Vancouver zurück nach Florida aufgebrochen waren, hatte er ebenso wie Anne an die fünfzehn Kilogramm verloren. Es war, als führten ihre Körper für die kommende Welt ohne Zeit noch einmal eine Bestands aufnahme ihrer selbst durch. Aber die Knochen überdauerten. Sein Skelett schien kräftiger und schwerer zu werden und sich auf den nahrungslosen Schlaf des Grabes vorzubereiten. Da er in der feuchten Luft zu schwitzen begann, kehrte Mallory in das Schlafzimmer zurück. Anne war aufgewacht, lag aber regungslos in der Mitte des Bettes. Wie bei einem Kind hatten sich in ihrem Mund blonde Haarsträhnen verfangen. Mit dem starren und leeren Ausdruck glich ihr Gesicht einer Uhr, die eben zu ticken aufgehört hatte. Mallory setzte sich nieder, legte seine Hand auf ihren Bauch und beatmete sie leicht. Jeden Morgen fürchtete er, die Zeit könnte für Anne stillstehen, während sie schlief, und sie für immer in einem Alptraum festbannen. Sie starrte auf Mallory, als sei sie erstaunt, in diesem schäbigen Ferienhotel in der Gesellschaft eines Mannes 48
aufzuwachen, der ihr möglicherweise seit Jahren vertraut war, den sie aber aus irgendeinem Grund nicht wiedererkannte. »Hinton?« »Noch nicht«, Mallory strich ihr das Haar aus dem Mund, »Sehe ich jetzt aus wie er?« »Himmel, ich werde blind.« Anne putzte sich am Kissen die Nase. Sie hob die Hände und starrte auf die zwei Armbanduhren, die ein Paar Zeit-Handschellen bildeten. Die Warenhäuser in Florida waren voll von Uhren und Armbanduhren, die man, für den Fall, daß sie verseucht waren, zurückgelassen hatte, und jeden Tag wählte Anne ein neues Paar Chronometer aus. Beruhigend faßte sie nach Mallory: »Alle Männer sehen gleich aus. Die Weisheit einer Straßendirne. Aber ich habe das Flugzeug gemeint.« »Ich weif? es nicht genau. Es war kein Aufklärungsflugzeug. Die Polizei macht sich verständlicherweise nicht mehr die Mühe, nach Cape Kennedy zu kommen.« »Ich kann es ihr nicht übelnehmen. Es ist ein böser Ort. Ed ward, wir sollten ihn verlassen, brechen wir doch heute auf.« Mallory hatte ihre Schultern umfaßt und versuchte seine abgehärmte, aber noch immer hübsche Frau zu beruhigen. Es lag ihm daran, daß sie sich Hinton von ihrer besten Seite zeigte. »Anne, wir sind erst seit einer Woche hier - lassen wir uns noch ein wenig Zeit.« »Zeit? Edward . . .« In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung ergriff sie Mallorys Hand: »Liebling, das ist etwas, was wir nicht mehr haben. Ich bekomme wieder diese Kopfschmerzen, dieselben wie vor fünfzehn Jahren. Es ist unheimlich, ich spüre dieselben Nerven . . .« »Ich werde dir etwas geben, damit du am Nachmittag schlafen kannst.« »Nein . . . Sie sind eine Warnung. Ich will jeden Stich spüren.« Sie preßte die Armbanduhren an die Schläfen, als wollte sie ihr Gehirn auf den Rhythmus des Tickens 49
abstimmen. »Es war Wahnsinn, daß wir hierher gekommen sind, und noch wahnsinniger ist es, eine Sekunde länger zu bleiben als notwendig.« »Ich weiß. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, aber einen Versuch wert. Eines habe ich in all den Jahren gelernt - wenn es einen Ausweg gibt, finden wir ihn in Cape Kennedy.« »Nein! Hier ist alles vergiftet. Wir sollten nach Australien gehen wie die anderen NASA-Angestellten.« Anne wühlte in ihrer Handtasche auf dem Boden und schob ein illustriertes Vogellexikon beiseite, das sie in einer Buchhandlung in Titus ville entdeckt hatte. »Ich habe nachgeschlagen - WestAustralien ist so weit wie möglich von Florida entfernt. Es liegt Florida fast genau gegenüber. Edward, meine Schwester lebt in Perth. Ich wußte, es hatte seine Gründe, daß sie uns zu sich einlud.« Mallory starrte auf die fernen Startrampen von Cape Kennedy. Es war kaum zu glauben, daß er einmal dort gearbeitet hatte. »Nicht einmal Perth in Australien scheint mir weit genug entfernt zu sein. Wir müssen wieder hinaus in den Weltraum ...« Ein Schauer überlief Anne: »Edward, sag das nicht – hier ist ein Verbrechen geschehen, jeder weiß, daß alles damit begonnen hat.« Während sie dem fernen Brummen des Flugzeugs lauschten, starrte sie auf ihre breiten Hüften und weichen Oberschenkel. Die Herausforderung annehmend, hob sie ihr Kinn: »Laut, nicht? Glaubst du, daß Hinton hier ist? Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr an mich.« »Er wird sich an dich erinnern. Du warst der einzige Mensch, der ihn gern hatte.« »Nun, in gewisser Hinsicht, ja. Wie lange war er im Gefängnis, bevor er ausgebrochen ist? Zwanzig Jahre?« »Eine lange Zeit. Vielleicht nimmt er dich wieder auf einen Flug mit. Das hat dir Spaß gemacht.« »Ja ... Er war merkwürdig. Aber selbst wenn er hier ist, wird 50
er helfen können? Mit ihm hat damals alles angefangen.« »Nein, nicht mit Hinton.« Mallory lauschte seiner eigenen Stimme in dem leeren Hotel. Sie schien tiefer und voller zu klingen, da die langsamer verstreichende Zeit die Frequenzen dehnte. »Um genau zu sein, mit mir hat alles begonnen.« Anne hatte sich von ihm abgewandt und lag auf der Seite, eine Armbanduhr ans Ohr gepreßt. Mallory erinnerte sich daran, daß er seine morgendliche Nahrungssuche antreten mußte. Lebensmittel, eine Vitaminspritze und zwei frische Laken. Er hatte gehofft, daß sie der Sex reizbar machte und wach hielt, statt dessen hatte er Zuneigung hervorgerufen. Angenommen, sie bekamen ein Kind, hier in Cape Kennedy, im Schatten der Startrampen. Er erinnerte sich an die mongoloiden und autistischen Kinder, die er in der Klinik von Vancouver zurückgelassen hatte, und an seine feste Überzeugung - heftig angefochten von den Arztkollegen und den verzweifelten Eltern -, daß es sich dabei um Erkrankungen der Zeit handelte, um Störungen des Zeitsinnes, die diese Kinder auf kleine Inseln des Bewußtseins abdrängten, einige Minuten im Falle der Mongoloiden, einige Mikrosekunden im Falle der Autistiker. Ein Kind, das hier in Cape Kennedy empfangen und geboren wurde, würde in eine Welt ohne Zeit geboren werden, in eine unbegrenzte und unendliche Gegenwart, in jenes ursprüngliche Paradies, an das sich der alte Geist so lebhaft erinnerte, erblickt sowohl von denen, die zum ersten Mal lebten, als auch von denen, die zum ersten Mal starben. Es war merkwürdig, daß man sich unter Himmel und Paradies immer eine statische Welt vorgestellt hatte, nicht die kinetische Ewigkeit, die man eigentlich erwarten würde, die Berg- und Talbahn eines tollen Vergnügungsparkes, die grellen Lunaparks des LSD und Psilocybin. Es war ein seltsames Paradoxon, daß man im Falle der Ewigkeit, einer Unendlichkeit an Zeit, genau jenes Element ausschied, das im Überfluß vorhanden war. 51
Trotzdem, wenn sie noch länger in Cape Kennedy blieben, würden Anne und er bald in die Welt des alten Geistes zurück kehren, wie jene ersten tragischen Astronauten, die mit seiner Hilfe in den Weltraum befördert worden waren. Während der letzten Jahre in Vancouver waren die Anfälle zu häufig gewesen, jene Largo-Phasen, in denen sich die Zeit zu verlangsamen schien und sich ein Abend an seinem Schreibtisch über Tage hinzog. Seine eigenen Konzentrations schwächen wurden sowohl von ihm wie auch von seinen Kollegen auf Überspanntheit zurückgeführt, aber Annes wachsende Verwirrtheit konnte man unmöglich ignorieren. Es waren die ersten deutlichen Anzeichen der WeltraumKrankheit, die allmählich die Uhren verlangsamte, zuerst für die Astronauten und dann für das übrige in Florida stationierte NASA-Personal. Während der letzten Monate waren die Anfälle fünf, sechs Mal am Tage gekommen. Perioden, in denen sich alles verlangsamte, so daß er anscheinend einen ganzen Tag zum Rasieren oder zur Unterzeichnung eines Schecks benötigte. Die Zeit bewegte sich in Sprüngen, wie eine Filmrolle, die in einem defekten Projektor abgespult wurde, staute sich momen tan und kam fast zum Stillstand und raste dann wieder dahin. Bald würde der Tag kommen, an dem sie innehielt, für immer zu einem Bild erstarrt. Hatten sie wirklich zwei Monate gebraucht, um von Vancouver herzufahren, Wochen allein für die Strecke von Jacksonville nach Cape Kennedy? Er dachte an die lange Fahrt entlang der Küste Floridas, an diese Welt der riesigen leeren Hotels und der klebrigen Zeit, an die seltsamen Begegnungen mit Anne in menschenleeren Korridoren und an die sexuellen Aktivitäten, die Tage zu dauern schienen. Ab und zu trafen sie in einsamen Schlafzimmern auf andere Paare, die es nach Florida verschlagen hatte, in die ewige Gegenwart einer zeitleeren Zone, Paolo und Francesca in immerwährender Umarmung im 52
Fontainebleau-Hotel. Aus manchen Augen hatte ihnen Entsetzen entgegengeblickt. . . Was Anne und ihn selbst betraf, so war die Zeit seit fünfzehn Jahren aus ihrer Ehe gewichen, vertrieben durch die Phantome der Weltraumfahrt und die Erinnerungen an Hinton. Sie waren hierhergekommen wie Adam und Eva, die mit einer verhängnisvollen Geschlechtskrankheit in den Garten Eden zurückkehrten. Gott sei Dank verflüchtigte sich die Erinnerung ebenso wie die Zeit. Er blickte auf seine wenigen, nun beinahe bedeutungslosen Besitztümer - einen Kassettenrecorder, auf dem er seinen stetigen Niedergang aufzeichnete, ein Album mit Polaroid-Nacktfotos einer Ärztin, die er in Vancouver gekannt hatte, die Anatomie von Gray aus seinen Studententagen, ein einzigartiges dichterisches Werk, dessen Blätter noch Formalinflecken von den Leichen im Seziersaal trugen, eine Taschenbuch-Auswahl von Muybridges Filmstreifen und eine psychoanalytische Studie über Simon Magus. »Anne . . .?« Das Licht im Badezimmer war heller geworden, merkwürdig glänzend wie die weißen Landebahnen seiner Träume. Nichts bewegte sich, und einen Moment lang hatte Mallory das Gefühl, als seien sie Figuren einer Wachsplastik aus dem Museum oder das müde Paar in einem Kleinstadt-Hotel in einem Gemälde von Edward Hopper. Die Traumzeit näherte sich unversehens und begann ihn zu umhüllen. Wie immer empfand er dabei keine Angst, sein Puls ging ruhiger . . . Draußen ertönte ein schmetternder Lärm, ein Schatten huschte über den Balkon. Der Curtiss-Doppeldecker donnerte durch die Luft und raste dann im Tiefflug über die Dächer von Titusville. Aufgeschreckt durch die plötzliche Bewegung, erhob sich Mallory, schüttelte sich und schlug sich auf die Schenkel, um den Kreistauf anzuregen. Das Flugzeug hatte ihn genau zur rechten Zeit überrascht. »Anne, ich glaube, das war Hinton . . .« 53
Sie lag auf der Seite, die Uhren an die Ohren gepreßt. Mallory streichelte ihre Wangen, aber ihre Augen glitten von ihm ab. Sie atmete ruhig und flach, ihr Puls ging so langsam wie der eines Säugetiers während des Winterschlafes. Er zog das Laken über ihre Schultern. In einer Stunde würde sie erwachen, ein einziges Bild lebhaft in Erinnerung, als Probe für jene letzten Sekunden, bevor die Zeit endgültig erstarrte.
II Die Arzttasche in der Hand, trat Mallory durch die zerbrochene Schaufensterscheibe des Supermarktes auf die Straße hinaus. Das verlassene Warenhaus war zu seiner Hauptversorgungs quelle geworden. Hohe Palmen teilten die Gehsteige vor den mit Brettern vernagelten Läden und Bars und bildeten eine schattige Promenade durch die leere Stadt. Mehrmals war er im Freien von einem Anfall überrascht worden, aber die Palmen hatten ihn vor der Sonne Floridas abgeschirmt. Aus einem Grund, der ihm bis jetzt verborgen geblieben war, liebte er es, nackt durch die stillen Straßen zu gehen, beobachtet von den Sittichen und Pirolen. Der nackte Arzt, ein Vogeldoktor . . . vielleicht würden sie ihn in Federn entlohnen; vielleicht waren die mitternachtsblauen Schwanzgefieder der Keilschwanz sittiche, die goldenen Flügel der Pirole ausreichender Lohn, um sich daraus eine Flugmaschine zu bauen? Die Arzttasche war schwer, beladen mit Reis-Paketen, Zucker und Spaghetti-Kartons. Er würde auf irgendeinem anderen Balkon ein kleines Feuer entzünden und ein kräftiges Essen bereiten, mit sorgfältig abgekochtem brackigem Wasser aus dem Dachbehälter. Auf dem Hotelparkplatz blieb Mallory stehen und sammelte Kräfte für den Aufstieg in das fünfte Stockwerk, das über der Ratten- und Küchenschaben-Grenze 54
lag. Er ruhte sich auf dem Vordersitz des Polizeiautos aus, das sie in einem verlassenen Vorort von Jacksonville requiriert hatten. Anne hatte ihren bewährten Toyota nur ungern zurückgelassen, aber der Tausch war vernünftig gewesen. Nicht nur würde der unerwartete Anblick des Streifenwagens jedes Militär-Aufklärungsflugzeug verwirren, sondern der warmgelaufene Dodge war auch schneller als die meisten Leichtflugzeuge. Mallory vertraute darauf, daß das Auto den mysteriösen Piloten, der jeden Morgen in seinen altertümlichen Flugzeugen erschien, einholen konnte. Er hatte bemerkt, daß es sich bei diesen Flugzeugveteranen jeden Tag um ein älteres Modell handelte. Früher oder später würde sich der Pilot in bequemer Reichweite Mallorys befinden und den verfolgenden Dodge nicht mehr abschütteln können, bevor er zur Landung auf einem geheimen Flugfeld gezwungen wurde. Mallory hatte den Polizeifunk eingeschaltet, ein mißtönendes Störgeräusch, das die riesige Leere über Florida reflektierte. Im Gegensatz dazu bildete der Frequenzbereich des Luftverkehrs, sowohl der Großflugzeuge, die in Mobile, Atlanta und Savannah landeten, wie auch der Militärmaschinen, die die Bahamas überflogen, ein Sprachenbabel an BordfunkGeschnatter. Florida wurde von allen gemieden. Nördlich des 31. Breitengrades ging das Leben in den Vereinigten Staaten weiter wie zuvor, aber südlich dieser nicht markierten und kaum bewachten Grenzlinie breitete sich eine ungeheure Stille über menschenleeren Stranden und Einkaufsstraßen, verlassenen Zitrus-Farmen und rudimentären Anwesen, schweigenden Ghettos und Flugplätzen aus. Die Vögel, die ihr Interesse an Mallory verloren hatten, erhoben sich in die Luft. Ein gefleckter Schatten überquerte den Parkplatz, und als Mallory hochschaute, glitt ein zierliches Flugzeug mit schlanken Tragflächen langsam über das Hoteldach. Der Doppelflügel des Propellers sauste wie ein 55
Kinderpaddel durch die Luft, gemächlich angetrieben durch den Piloten, der im durchsichtigen Rumpf rittlings über den Pedalen saß. Der durch Menschenkraft angetriebene Segler moderner Bauart schwebte ruhig über die Hausdächer, getragen von den Aufwinden, die von der leeren Stadt emporstiegen. »Hinton!« Mallory war jetzt sicher, daß er den ehemaligen Astronauten erwischen konnte, ließ seine Lebensmittel liegen und warf sich hinter das Steuer des Polizeiautos. Als er den Motor endlich starten konnte, hatte er das Flugzeug aus den Augen verloren. Die zarten Tragflächen, fast ebenso lang wie die eines Verkehrsflugzeuges, waren über den Wald dahingeglitten, begleitet von den Schwalbenschwärmen, die aufflogen, um diesen scheuen Eindringling in ihren Luftraum näher zu betrachten. Mallory fuhr aus dem Parkplatz hinaus, schlängelte sich zwischen den Palmen, die mitten in der Straße emporwuchsen, hindurch und nahm die Verfolgung des Segelflugzeuges auf. Er rief sich zur Ruhe, warf prüfende Blicke auf die Seitenstraßen und entdeckte das Flugzeug, das das Jai-alaiStadium am südlichen Stadtrand umkreiste. Eine Wolke aus Möwen umschwärmte es, einige fielen über den trägen Propeller her, andere ließen sich auf die Spitzen der Tragflächen nieder. Es schien, als drängte sie der Pilot, ihm zu folgen und lockte sie mit sanften Rollen und Scherungen zurück zum Meer und den waldgesäumten Straßendämmen der Raumfahrt-Anlagen. Mit gedrosselter Geschwindigkeit folgte Mallory dem Segler in einem Abstand von dreihundert Metern. Sie überquerten die Brücke über den Banana-Fluß und strebten dem NASAStraßendamm und den heruntergekommenen Bars und Motels von Cocoa Beach zu. Die nahegelegene Startrampe befand sich immer noch fast zwei Kilometer nördlich von ihnen, aber Mallory wußte, daß er sich bereits im Außenbezirk des Raumfahrt-Geländes befand. Etwas Bedrohliches ging von den 56
alten Startrampen aus, die auf ihre Weise ebenso alt waren wie die berühmten Tempelsäulen von Karnak, diese Träger einer anderen kosmischen Ordnung, Symbole für eine Sicht des Universums, die gleichzeitig mit dem Staate Florida, der sie ins Leben gerufen hatte, in Vergessenheit geraten waren. Als er auf das nun klare Wasser des Banana schaute, erkannte er, daß er den düsteren Wald, der die Straßendämme und Betonplattformen des Raumfahrt-Komplexes einschloß und die Schilder und Absperrungen, die Kamera-Türme und Beobachtungs-Bunker erstickte, vermied. Hier war die Zeit anders als in Alamagordo und Eniwetok, eine Aufspaltung im Bewußtsein hatte Zeit und Raum auseinandergerissen und sich tief in die Psyche der Menschen, die hier arbeiteten, eingegraben. Durch diese frische Naht in seinem Schädel tropfte die Zeit in das stille Wasser unter dem Auto. Die Eichen des Waldes warteten darauf, daß er ihren Wurzeln Nahrung gab, diese reglosen Bäume waren so wahnsinnig wie die Bildvisionen eines Max Ernst. Es waren dieselben unersättlichen Vögel, die sich von der Vegetation nährten, die aus den Kadavern der gefangenen Flugzeuge sproß . . . Erschreckt kreisten die Möwen über dem Straßendamm, und ihre Schreie gellten in den Himmel. Das Segelflugzeug rutschte seitlich aus der Luft ab, zog einen Kreis und segelte die Brücke entlang, sein winziges Fahrwerk nur drei Meter über dem Poli zeiauto. Der Pilot trat wild in die Pedale, der Propeller blitzte in die aufgeschreckte Sonne, und im durchsichtigen Cockpit er blickte Mallory eine blonde Frau. Ein roter Seidenschal wehte von ihrem Hals. »Hinton!« Als Mallory in den Lärm hineinschrie, lehnte sich der Pilot aus dem Cockpit und zeigte auf einen Seitenweg, der durch den Wald nach Cocoa Beach führte, drehte dann hinter den Bäumen ab und verschwand. Hinton? Aus irgendeinem absurden Grund verkleidete sich 57
der ehemalige Astronaut nun als Frau mit blonder Perücke, die ihn wieder in den Raumfahrt-Komplex zurücklockte. Die Vögel hatten sich mit ihm verbündet. . . Der Himmel war leer, die Möwen waren über den Fluß gezogen und im Wald verschwunden. Mallory hielt an. Er wollte gerade aussteigen, als er Motorengebrumm hörte. Der Fokker-Dreidecker war vom Raumfahrt-Zentrum aufgestiegen. Er flog eine Platzrunde über die Startrampe und kam über das Meer heran. Fünfzehn Meter über dem Strand fegte er über die Zwergpalmen und das Riedgras, seine zwei Maschinengewehre genau auf das Polizeiauto gerichtet. Als Mallory den Motor wieder startete, eröffneten die Maschinengewehre über der Windschutzscheibe das Feuer auf ihn. Er nahm an, daß der Pilot nur mit Platzpatronen schoß, die von irgendeinem Schaufliegen übriggeblieben waren. Dann schlugen die ersten Kugeln dreißig Meter vor ihm in der Schotterstraße ein. Der zweite Feuerstoß warf das Auto mit einem Ruck auf die geplatzten Vorderreifen, zerfetzte den Türrahmen neben dem Beifahrersitz und füllte das Wageninnere mit umherfliegenden Glassplittern. Während das Flugzeug steil aufstieg, um ihn zum zweiten Mal anzugreifen, wischte sich Mallory das blutige Glas von Brust und Oberschenkeln. Er sprang aus dem Auto und über das Metallgeländer in den flachen Abwasserkanal neben der Brücke, und sein Blut mischte sich mit dem Wasser, das dem wartenden Wald auf dem Gelände des Raumfahrtzentrums ent gegenfloß. III Von seiner Deckung im Abwasserkanal aus sah Mallory, wie das Polizeiauto auf der Brücke in Flammen aufging. Die Rauchsäule stieg dreihundert Meter in den leeren Himmel, ein Lichtsignal, das im Umkreis von fünfzehn Kilometern von 58
Cape Kennedy sichtbar war. Die Möwenschwärme waren verschwunden. Der Motorsegler war mit seiner Pilotin – er erinnerte sich, daß sie ihn vor der Fokker gewarnt hatte – in seinen Schlupfwinkel irgendwo an der Küste im Süden entwischt. Mallory, zu überwältigt, um sich ausruhen zu können, starrte auf den kilometerlangen Straßendamm. Er würde eine halbe Stunde benötigen, um zurück zum Festland zu gelangen, und Hinton, der über den Wolken in seiner Fokker wartete, eine bequeme Zielscheibe bieten. Hatte der ehemalige Astronaut Mallory erkannt und sofort erraten, weshalb ihn der frühere NASA-Arzt suchte? Zu erschöpft, um den Banana hinaufschwimmen zu können, watete Mallory ans Ufer und machte sich zwischen den Bäumen davon. Er beschloß, den Nachmittag in einem der verlassenen Motels in Cocoa Beach zu verbringen und nach Einbruch der Dunkelheit nach Titusville zurückzugehen. Er spürte den Boden des Waldes kühl unter den bloßen Füßen, aber ein schwaches Licht fiel durch die Baumkronen und wärmte seine Haut. Das Blut auf Brust und Schultern war bereits getrocknet und bildete ein lebendiges Netzwerk wie die Tätowierung eines Eingeborenen, was in diesem von Gewalt geprägten und unsicheren Gebiet eine passendere Bekleidung war als die Kleider, die er im Hotel zurückgelassen hatte. Er ging an einem rostenden Airstream-Anhänger vorbei, dessen Stahlhülle von Lianen und Gundermann überwuchert war, als hätten die Bäume in die Höhe gelangt, um ein vorbeifliegendes Raumschiff zu ergreifen und ins Unterholz herunterzuziehen. Verlassene Autos standen herum und die Überreste einer Camping-Ausrüstung, moosbedeckte Stühle und Tische um alte Barbecue-Spieße, die hier vor zwanzig Jahren von den Urlaubern zurückgelassen worden waren, als sie hastig den Bundesstaat geräumt hatten. Mallory stapfte über diese Endmoräne, diese von einem Abbruch-Trupp zusammengetragenen Stücke eines vergessenen 59
Vergnügungsparkes. Ihm schien es bereits, als gehöre er zu einer älteren Welt inmitten des Waldes, einem Bereich der Dunkelheit, der Geduld und des unsichtbaren Lebens. Das Meerufer war hundert Meter entfernt, die Brecher des Atlantiks spülten an den leeren Strand. Auf ihrem Weg nach dem Süden, zum Golf, tummelte sich eine Schar Delphine gewandt im Wasser. Die Vögel waren fort, aber die Fische schickten sich an, ihren Platz in der Luft einzunehmen. Mallory begrüßte sie. Er wußte, daß er erst seit knapp über einer halben Stunde diese Sandbank hinunterging, aber gleich zeitig kam es ihm vor, als sei er schon Tage hier, möglicherweise sogar Wochen und Monate. Etwas in seinem Bewußtsein war schon immer hier gewesen. Die Minuten begannen sich in die Länge zu ziehen, weitergetrieben durch dieses ereignislose Universum ohne Vögel und Flugzeuge. Seine Erinnerung wurde sprunghaft, er vergaß seine Vergangenheit, die Klinik in Vancouver und die verletzten Kinder, seine Frau, die in einem Hotel in Titusville schlief, er vergaß sogar die eigene Identität. Ein einziger Augenblick war eine kleine Rate der Ewigkeit - er pflückte ein Farnblatt und beobachtete es einige Minuten lang, während es langsam zu Boden fiel, auf anmutigste Weise der Schwerkraft gehorchend. Im Bewußtsein, nun in die Traumzeit einzugehen, lief Mallory zwischen den Bäumen dahin. Er bewegte sich in Zeitlupe, seine schwachen Beine trugen ihn mit der Grazie eines olympischen Athleten über den blätterübersäten Boden. Er hob die Hand, um einen Schmetterling zu berühren, der anscheinend im Fluge schlief, und schickte damit die ausgestreckte Hand auf eine endlose Reise. Der Wald, der die Sandbank bedeckte, lichtete sich und machte den Strandhäusern und Motels von Cocoa Beach Platz. Ein verkommenes Hotel stand zwischen den Bäumen, von den Toren bröckelte das Mauerwerk auf die Einfahrt, Floridamoos 60
hing von einem Plakat, das einen Zoo und einen Vergnügungspark, der dem Raumfahrt-Zeitalter gewidmet war, zeigte. Die Chrom- und Neonraketen ragten zwischen den hüfthohen Zwergpalmen von ihren Untersätzen auf wie Karussellfiguren. Mallory lächelte vor sich hin, sprang über die Tore und rannte an den rostenden Raumschiffen vorbei. Hinter dem Vergnügungspark befanden sich verwilderte Tennisplätze, ein Schwimmbad und die Überreste eines kleinen Zoos, ein Alligator-Becken, Säugetierkäfige und ein Vogelhaus. Voll Freude sah Mallory, daß die Bewohner in ihre Heime zurückgekehrt waren. Ein übergewichtiges Zebra döste in seiner Betonumfriedung, ein gelangweilter Tiger starrte schielend auf seine eigen« Schnauze, und ein ältlicher Kaiman nahm auf dem Gras neben dem Alligator-Becken ein Sonnenbad. Die Zeit verstrich nun langsamer und kam beinahe zum Still stand. Mallory schwebte mitten im Schritt über dem Boden. Ein riesiger durchsichtiger Dragonfly parkte auf dem verfliesten Pfad neben dem Schwimmbecken, der Motorsegler, den er an diesem Morgen gejagt hatte. Zwei verhutzelte Geparden saßen im Schatten unter den Tragflächen und beobachteten Mallory mit festem Blick. Einer erhob sich und setzte sich langsam in seine Richtung in Bewegung, aber er war sechzig Meter entfernt, und Mallory wußte, daß er ihn nie erreichen würde. Sein zerschlissenes Fell, wie aus einer alten Reisetasche umgearbeitet, streckte sich in einem langsamen Bogen, der mitten in der Entstehung für immer zu erstarren schien. Mallory wartete darauf, daß die Zeit stehenblieb. Die Wellen rollten nicht mehr an den Strand, sondern bildeten steife Krau sen wie Zuckerglasur. Die Fische hingen in der Luft, die weisen Delphine waren glücklich, in ihrem neuen Element zu sein und streckten die lächelnden Gesichter der Sonne entgegen. Das Wasser, das der Springbrunnen am seichten 61
Ende des Beckens versprühte, glich nun einem gläsernen Sonnenschirm. Nur der Gepard bewegte sich, immer noch fähig, die Zeit hinter sich zu lassen. Nun war er drei Meter von Mallory entfernt und setzte mit geneigtem Kopf, die gelben Krallen zielsicherer als Hintons Kugeln, zum Sprung auf Mallorys Kehle an. Aber Mallory empfand keine Furcht vor dieser Wildkatze. Ohne die Zeit konnte sie ihn nie erreichen, ohne die Zeit konnte sich der Löwe endlich neben dem Lamm lagern, der Adler neben der Feldmaus. Er blickte hinauf in das helle Licht und sah die Gestalt einer jungen Frau, die mit ausgebreiteten Armen über dem Sprung brett in der Luft hing. Ihr Körper schwebte, in einem Kopf sprung verharrend, so heiter über dem Wasser wie die Delphine über dem Meer. Das unbewegte Gesicht starrte auf den gläser nen Boden drei Meter unter den kleinen ausgestreckten Händen. Gebannt vom Mysterium ihres eigenen Fluges, schien sie Mallory nicht wahrzunehmen, und er bemerkte auf ihren Schultern deutlich die roten Striemen, die die Gurte des Segelflugzeugs hinterlassen hatten und den Silberpfeil der Blinddarmnarbe, der auf ihr kindliches Schambein zeigte. Der Gepard war jetzt nähergekommen, seine Krallen zupften an den Fäden getrockneten Blutes, die Mallorys Schultern be deckten, seine gefletschten Lippen ließen das vereiterte Zahn fleisch und die fleckigen Zähne erkennen. Wenn Mallory die Arme ausstreckte, konnte er ihn umarmen, all die Erinnerungen an Afrika hinwegtrösten, die Grausamkeit aus seinem alten Fell streicheln. IV Wie aus dem Raumfahrtzentrum war auch aus Florida die Zeit hinausgeflossen. Nach einer kurzen Pause rauschte sie wieder heran, und rief, wie eine blockierte Filmrolle, die wieder unge 62
hindert abläuft, eine kinetische Welt wach. Mallory saß in einem Liegestuhl neben dem Becken und beobachtete die Geparden, die im Schatten unter dem Segelflugzeug ruhten. Sie legten ihre Pfoten abwechselnd überund nebeneinander wie Kartenspieler, die ein As in den Händen verbergen und hoben ab und zu die Schnauze, um jenen fremden Mann und sein Blut zu wittern. Trotz ihrer scharfen Zähne fühlte sich Mallory neben ihnen entspannt und ausgeruht wie ein Schläfer, der aus einem kom plizierten, aber beglückenden Traum erwacht. Er war froh, von diesem kleinen Zoo und den lustigen Raketen im Hintergrund, unschuldig wie die Illustrationen eines Kinderbuches, umgeben zu sein. Die junge Frau stand neben Mallory und beobachtete ihn besorgt. Während sich Mallory von seinem Zusammenstoß mit dem Geparden erholte, hatte sie sich angekleidet. Nachdem sie die ungestüme Bestie weggezerrt hatte, setzte sie Mallory in einen Liegestuhl und zog eine geflickte Fliegermontur aus Leder über. Hatte sie nie andere Kleidung getragen? Ein wahres Kind der Lüfte, im Flug geboren und im Fluge schlafend. Mit ihrer grellen Maskara und dem blonden Haar, das wie eine auffallende Perücke wirkte, glich sie einem ledergekleideten Papagei, einer Punk-Madonna der Flugstrecken. Die verblichenen NASA-Abzeichen auf den Schultern verliehen ihr das protzende Aussehen eines Rockers. Auf dem Namensschild über ihrer rechten Brust stand: Nightingale. »Sie Ärmster - sind Sie wieder zurück? Sie waren sehr weit fort.« Trotz der kindlichen Züge, dem weichen Mund und der unscheinbaren Nase, waren die Augen, die ihn vorsichtig mu sterten, die eines Erwachsenen. »He – was ist mit Ihrer Uniform passiert? Sind Sie bei der Polizei?« Als Mallory ihre Hand ergriff, berührte er den schweren Apollo-Siegelring, den sie statt eines Eheringes trug. Aus 63
irgendeinem Grund tauchte in ihm der absurde Gedanke auf, daß sie mit Hinton verheiratet sei. Dann bemerkte er ihre geweiteten Pupillen, ein Anzeichen von Fieber. »Machen Sie sich keine Sorgen - ich bin Arzt. Edward Mallory. Ich mache mit meiner Frau hier Urlaub.« »Urlaub?« Das Mädchen schüttelte den Kopf, erleichtert, aber verblüfft. »Dieses Polizeiauto - ich dachte, jemand hätte Ihre Uniform gestohlen, während Sie ... draußen . . . waren. Doktor, niemand macht mehr in Florida Urlaub. Wenn Sie nicht bald wegfahren, könnte dies ein Urlaub für immer werden.« »Ich weiß . . .« Mallory blickte auf den Zoo mit dem dösenden Tiger, dem munteren Springbrunnen und den lustigen Raketen. Das war die liebenswürdige Welt eines Bildes vom Zöllner Rousseau. Er nahm die Jeans und das Hemd entgegen, die ihm das Mädchen reichte. Er hatte die Nacktheit als angenehm empfunden, nicht aus einem exhibitionistischen Drang, sondern weil sie zu der versunkenen Zone gehörte, die er gerade besucht hatte. Der ruhige Tiger mit seinem flammenden Fell gehörte zu dieser Welt des Lichtes. »Vielleicht bin ich doch an den richtigen Ort gekommen - ich möchte immer hier bleiben. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe eben einen kleinen Vorgeschmack dessen gehabt, wie dieses Für-Immer aussehen wird.« »Nein, danke«. Das Mädchen, neugierig gemacht durch die Person Mallorys, kauerte sich neben ihm ins Gras. »Sagen Sie, wie oft haben Sie diese Anfälle?« »Jeden Tag. Vielleicht öfter, als mir bewußt ist. Und Sie . . .?« Als sie den Kopf ein wenig zu heftig schüttelte, fügte Mallory hinzu: »Sie sind nicht besonders schlimm, wissen Sie. Irgendwie will man zurück.« »Ich verstehe. Doktor, das sollte Sie eigentlich beunruhigen. Nehmen Sie Ihre Frau und fahren Sie weg – jeden Moment werden alle Uhren stillstehen.« 64
»Deshalb sind wir hier – es ist unsere einzige Chance. Meiner Frau bleibt sogar noch weniger Zeit als mir. Wir möchten mit allem einig werden - was auch immer das heißen mag. Jetzt jedenfalls nicht mehr viel.« »Doktor . . . Das wirkliche Cape Kennedy ist in Ihrem Kopf, nicht hier draußen.« Durch die Anwesenheit dieses herumirren den Arztes offensichtlich verunsichert, setzte das Mädchen den Helm auf. Sie prüfte den Himmel, wo sich die Möwen und Schwalben wieder sammelten, in die Luft gelockt durch das ferne Gebrumm eines Flugzeuges. »Hören Sie, vor einer Stunde wären Sie beinahe getötet worden. Ich habe versucht, Sie zu warnen. Unser Kunstflugpilot mag die Polizei nicht.« »Das habe ich bemerkt. Ich bin froh, daß er Sie nicht getroffen hat. Ich war der Meinung, er steuere Ihren Segler.« »Hinton? Er möchte nicht einmal darin begraben sein. Er braucht Geschwindigkeit. Hinton versucht den Vögeln zu fol gen.« »Hinton . . .« Als er den Namen wiederholte, empfand Mallory eine Woge der Furcht und Erleichterung, und er wußte, daß er nun verpflichtet war, jenen Plan auszuführen, den er vor Monaten, als er die Klinik von Vancouver verließ, gefaßt hatte. »Hinton ist also hier.« »Er ist hier.« Das Mädchen nickte Mallory zu, immer noch nicht sicher, ob er wirklich kein Polizist war. »Nicht viele Leute erinnern sich an Hinton.« »Ich schon.« Als sie mit dem Apollo-Siegelring spielte, fragte er: »Sind Sie etwa mit ihm verheiratet?« »Mit Hinton? Doktor, Sie haben seltsame Ideen. Was haben Sie für Patienten?« »Das frage ich mich oft. Aber Sie kennen Hinton?« »Wer kennt ihn nicht? Er hat anderes im Kopf. Er hat das Becken hier gemauert und mir das Segelflugzeug aus dem Mu seum von Orlando gebracht.« Schelmisch fügte sie hinzu: »Disneyland Ost – so hat man Cape Kennedy früher genannt.« 65
»Ich erinnere mich daran – vor zwanzig Jahren habe ich für die NASA gearbeitet.« »Mein Vater auch.« Ihre Stimme klang hart, erzürnt durch die Erwähnung der Raumfahrtbehörde. »Er war der letzte Astronaut - Alan Shepley - der einzige, der nicht zurückgekommen ist. Und der einzige, auf den sie nicht gewartet haben.« »Shepley war Ihr Vater?« Mallory war stutzig geworden und wandte den Blick zu den fernen Gerüsttürmen des Startgeländes. »Er ist in dem Shuttle gestorben. Dann wissen Sie, daß Hinton . . .?« »Doktor, ich glaube nicht, daß wirklich Hinton meinen Vater getötet hat.« Bevor Mallory noch etwas sagen konnte, setzte sie die Schutzbrille auf. »Egal, es ist jetzt gleichgültig. Wichtig ist, daß jemand hier ist, wenn er herunterkommt.« »Sie warten auf ihn?« »Sollte ich nicht, Doktor?« »Doch . . . aber es ist schon lange her. Außerdem ist die Möglichkeit, daß er hier herunterkommt, verschwindend gering.« »Das stimmt nicht. Nach Hinton könnte Vater mit größter Wahrscheinlichkeit hier irgendwo an der Küste herunterkom men. Hinton behauptet, die Umlaufbahnen zerfallen langsam. Ich suche jeden Tag den Strand ab.« Mallory lächelte ihr ermutigend zu, voller Bewunderung für dieses unerschrockene, aber traurige Kind. Er erinnerte sich an die Photos, die von der Tochter des Astronauten in der Presse erschienen waren: Gale Shepley, ein kleines Kind, das nach dem Urteilsspruch draußen vor dem Gerichtssaal von der Witwe heftig in den Armen gewiegt wurde. »Ich hoffe, daß er kommt. Und Ihr kleiner Zoo, Gale?« »Nightingale«, korrigierte sie. »Der Zoo ist für Vater. Ich möchte, daß die Welt ein ganz besonderer Ort für uns ist, wenn wir gehen.« 66
»Ihr geht also beide?« »In irgendeiner Weise ja - wie Sie, Doktor, und jeder hier.« »Sie haben also auch diese Anfälle?« »Nicht oft - deshalb bleibe ich in Bewegung. Die Vögel lehren mich, wie man fliegt. Haben Sie das gewußt? Die Vögel versuchen aus der Zeit hinauszugelangen.« Sie war bereits durch den windstillen Himmel und die sich sammelnden Vögel abgelenkt. Nachdem sie die Geparden angekettet hatte, ging sie schnell zum Segelflugzeug. »Ich muß Sie verlassen, Doktor. Können Sie Motorrad fahren? In der Hotelhalle steht eine Yamaha, die Sie sich ausborgen können.« Aber bevor sie sich entfernte, gestand sie Mallory noch: »Nichts als Wunschdenken, Doktor. Auch bei Hinton. Wenn Vater zurückkommt, wird es keine Rolle mehr spielen.« Mallory versuchte, ihr beim Starten des Segelflugzeugs zu hel fen, aber die leichte Maschine hob sofort ab. Mit schnellen Tritten in die Pedale trieb sie den Segler hoch hinauf über die Chrom-Raketen des Vergnügungsparkes. Das Flugzeug um kreiste das Hotel, pendelte dann die langen, spitz zulaufenden Tragflächen ein und strebte den leeren Stranden im Norden zu. Der Tiger, den ihre Abwesenheit unruhig machte, begann mit dem Lastwagen-Reifen, der von der Deckplatte seines Käfigs hing, zu raufen. Einen Moment lang war Mallory versucht, die Tür zu öffnen und es dem Tiger gleichzutun. Er ging in einem Bogen um die Geparden herum, betrat das leere Hotel und stieg die Treppe zum Dach hinauf. Von der Leiter des Fahrstuhlgehäuses aus beobachtete er das Segelflugzeug, das sich in Richtung Raum fahrtzentrum bewegte. Alan Shepley – der erste Mensch, der im Weltraum umgekommen war. Mallory erinnerte sich nur zu gut an den jungen Piloten des Shuttles, einen der letzten Astronauten, die 67
von Cape Kennedy aus starteten, bevor der Vorhang für das Raumfahrtzeitalter fiel. Ein ehemaliger Apollo-Pilot, war Shepley ein in seinem Beruf völlig aufgehender, aber liebenswerter junger Mann gewesen, ebenso ehrgeizig wie die anderen Astronauten, aber doch merkwürdig naiv. Mallory hatte ihn, wie jeder andere, dem Copiloten des Shuttle bei weitem vorgezogen, einem Physiker, der damals der Alibi-Zivilist unter den Astronauten war. Mallory erinnerte sich, wie er Hinton bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Ärzte-Zentrale instinktiv abgelehnt hatte. Aber er war sofort von der Ungeschicklichkeit und Reizbarkeit des Mannes fasziniert gewesen. In seiner letzten Phase hatte das Raumfahrtprogramm Leute angezogen, die leicht labil waren, und er erkannte, daß Hinton zu dieser zweiten Generation von Astronauten gehörte, Einzelgänger mit vielschichtigen inneren Motiven, ganz anders als die disziplinierten BerufsAstronauten, aus denen sich die Mannschaften von Merkur und Apollo zusammengesetzt hatten. Hinton besaß das heftige und bizarre Temperament eines Cortez, Pizarro oder Drake, deren heißes Blut und kaltes Herz. Hinton war es, der so viele der latenten Rätsel im Kern des Raumfahrtprogrammes aufgedeckt hatte, jene psychologischen Dimensionen, die von Beginn an ignoriert worden waren, und sie allmählich, zu spät, in den Zusammenbrüchen der frühen Astronauten, ihrem Abgleiten in Mystizismus und Melancholie bloßlegte. »Die besten Astronauten träumen nie«, hatte Russell Schweickart einmal gesagt. Hinton träumte nicht nur, er hatte auch das ganze Gewebe von Zeit und Raum zerrissen, das Stundenglas zerbrochen, aus dem nun die Zeit herausrann. Mallory war sich seiner eigenen Mitschuld bewußt. In erster Linie war er dafür verantwortlich gewesen, daß man Shepley und Hinton zusammengebracht hatte, da er der Meinung war, daß der beherrschte und ernste Shepley Anstoß für ein psychologisches Experiment von besonderer Art sein könnte. 68
Jedenfalls war Shepleys Tod der erste Mord im Weltall gewesen, ein Wendepunkt, den er sowohl in Szene gesetzt wie auch unbewußt begrüßt hatte. Der Mord an dem Astronauten und das öffentliche Unbehagen, das darauf folgte, markierten das Ende des Raumfahrtzeitalters. Man wurde sich dessen bewußt, daß der Mensch ein Verbrechen gegen die Evolution verübt hatte, indem er in den Weltraum geflogen war, daß er damit eine Veränderung seiner eigenen Bewußtseinsstruktur herbeiführte. Der Bruch dieses empfindlichen Kontinuums, das von der menschlichen Psyche über Jahrmillionen errichtet worden war, wurde offenkundig im gestörten Zeitsinn der Astronauten sowie des NASA-Personals und im folgenden der Bewohner der Städte in der Nähe des Raumfahrtzentrums. Cape Kennedy und das ganze Gebiet von Florida wurden zu einem vergifteten Land, für immer gemieden wie die nuklearen Testgelände von Nevada und Utah. Aber vielleicht war Hinton im Weltraum nicht verrückt geworden, vielleicht war er der erste Mensch, der im Weltraum »gesund« wurde. Während des Prozesses beteuerte er seine Unschuld und lehnte es ab, sich zu verteidigen, wobei er den internationalen Medien-Zirkus mit einem Stoizismus ertrug, der manchmal schon ans Absurde grenzte. Dieses Schweigen hatte jeden aufgebracht - wie konnte sich Hinton für unschuldig an einem Mord halten (er hatte Shepley in den Andock-Modul gesperrt, die Luftzufuhr geöffnet, und ihn dann in seinem Sarg ausgesetzt, während er die ganze Zeit über alles mit seinem nüchternen Kommentar begleitete), den er vor tausend Millionen Fernsehzuschauern verübt hatte? Man hatte für Hinton Alcatraz wieder in Verwendung genommen, damit dieser einsame, auf einer kalten Insel isolierte Gefangene nicht auch noch die übrige menschliche Rasse verseuchte. Nach zwanzig Jahren war er glücklich vergessen, und auch seine Flucht wurde nur kurz erwähnt. Nachdem er mit einem kleinen, heimlich gebauten Flugzeug in 69
das eisige Wasser der Bay gestürzt war, hielt man ihn für tot. Mallory war nach San Francisco hinuntergefahren, um das mit Wasser vollgesogene Flugzeug zu sehen, einen merkwürdigen Ornithopter, erbaut aus den Eiben, die Hinton in der steinigen Erde der Gefängnisinsel ziehen durfte, angetrieben durch einen selbsthergestellten Raketenmotor, der mit einem auf Naturdüngerbasis entwickelten Treibstoff in Gang gesetzt wurde. Zwanzig Jahre lang hatte er darauf gewartet, daß die langsam wachsenden immergrünen Pflanzen groß genug waren, um ihn in die Freiheit zu tragen. Dann, nur sechs Monate nach Hintons Tod, hatte ein alter NASA-Kollege Mallory von dem seltsamen Kunstflugpiloten erzählt, den man in seinem altertümlichen Flugzeug in der Nähe von Cape Kennedy gesehen hatte, ein Eingeborener der Lüfte, der bis zu diesem Zeitpunkt allen halbherzigen Versuchen, ihn am Aufsteigen zu hindern, entkommen war. Die Beschreibungen der vogelkäfigähnlichen Flugzeuge erinnerten Mallory an den abgestürzten Ornithopter, der auf den winterlichen Strand gezogen worden war. Hinton war also nach Cape Kennedy zurückgekehrt. Als Mallory mit der Yamaha die Küstenstraße entlangfuhr, vorbei an den verlassenen Motels und Bars von Cocoa Beach, schaute er hinaus auf den hellen Sand des Atlantik-Strandes, der so anders war als das felsige Ufer der Gefängnisinsel. Aber handelte es sich bei dem Ornithopter und bei den anderen altertümlichen Flugzeugen, die Hinton über das Raumfahrtzentrum steuerte, vielleicht um Lockvögel, um Maschinen, die irgendeinen anderen Zweck verbargen? Eine andere Flucht.
V
Fünfzehn Minuten später, als Mallory über den NASAStraßendamm nach Titusville raste, wurde er von einem alten 70
Wright-Doppeldecker überholt. Während er den Banana überquerte, bemerkte er, daß der Lärm einer zweiten Maschine das Motorengeräusch der Yamaha verschluckte. Die ehrwürdige Flugmaschine tauchte über den Bäumen auf, im offenen Cockpit saß der vertraute Pilot mit dem hohlwangigen Gesicht. Mit ziemlicher Mühe überholte der Pilot die Yamaha, ging dann auf dreißig Meter Höhe nieder und bedeutete Mallory anzuhalten. Die Maschine wendete und landete auf einer unkrautüberwucherten Betondecke. »Mallory, ich habe Sie gesucht! Kommen Sie, Doktor!« Mallory zögerte, der Sand, den der Propellerstrahl aufwirbelte, brannte auf den offenen Wunden unter seinem Hemd. Als er zwischen der Verstrebung durchschaute, ergriff Hinton seinen Arm und zerrte ihn auf den Beifahrersitz. »Mallory, ja ... immer noch der Alte!« Hinton schob die Schutzbrille auf die markante Stirn und entblößte ein Paar blut unterlaufene Augen. Er starrte Mallory mit unverhülltem Er staunen an, als wundere er sich, daß dieser in den letzten zwan zig Jahren überhaupt gealtert war, zugleich aber hocherfreut, daß er irgendwie überlebt hatte. »Nightingale hat mir eben erzählt, daß Sie hier waren, Doktor Mysterium . . . Ich hätte Sie beinahe getötet!« »Sie versuchen es schon wieder . . .« Als Hinton das Drosselventil öffnete, klammerte sich Mallory an die verschlissenen Sitzgurte. Der Doppeldecker stieg gazellen gleich in die Luft. Über der exponierten Dammstraße flog er in einer Windbö zunächst einige Sekunden lang zurück, stieg dann senkrecht in die Höhe, drehte über den Bäumen ab und nahm Kurs auf die fernen Startrampen. Die Schwalbenschwärme, die das Flugzeug von allen Seiten überholten, beachteten es gar nicht, als seien sie an diesen herumirrenden Piloten und seine grotesken Maschinen nur allzu gewöhnt. Als Hinton das Seitenruder betätigte, betrachtete Mallory 71
diesen nervösen und unterernährten Mann. Die Jahre im Gefängnis und in der rauschenden Luft über Cape Kennedy hatten alle Spuren von Eisensalzen aus seiner blassen Haut gelaugt. Seine entzündeten Lider, die von den Nägeln wundgekratzte Scheidewand der kräftigen Nase und die narbigen Lippen waren vom Wind fast silbern gebleicht. Er hatte das Stadium der Erschöpfung und Unterernährung schon überschritten und einen Nervenzustand erreicht, in dem die rivalisierenden Elemente seines zerrissenen Geistes zusammengepfercht waren wie die Rädchen einer überdrehten Uhr. Als er mit der Faust auf Mallorys Arm schlug, war bereits klar, daß er die Jahre seit ihrem letzten Treffen vergessen hatte. In dem Bedürfnis, sich mit seinem Herrschaftsbereich zu brüsten, zeigte er auf den Wald, die Viadukte, Betonplattformen und Blockhäuser unter ihnen. Sie hatten das Zentrum des Raumfahrtkomplexes erreicht, wo die Startrampen wie Galgen, die zur Vermietung ausgestellt waren, aufragten. In der Mitte stand der riesige Raupenschlep per, und der letzte der Shuttles war aufrecht auf der Abschuß plattform verankert. Die rostenden Raupenketten hingen an ihm herunter wie Fesseln eines befreiten Kolosses. Hier in Cape Kennedy war die Zeit nicht stillgestanden, son dern zurückgeflossen. Der riesige Treibstofftank und die Hilfs motoren des Shuttle ähnelten den Kuppeln und Minaretts einer Nachbildung des Taj Mahal. Auf der Landebahn unter dem Raupenschlepper standen mehrere altertümliche Flugzeuge ein Lilienthal-Segler lag auf der Seite wie ein gefächertes Fenster, eine Mignet Flying Flea, die Fokker, eine Spad und eine Sopwith Camel sowie ein Wright-Segelflugzeug aus den ersten Tagen der Luftfahrt. Als sie die Abschußplattform umkreisten, erwartete Mallory fast, eine Gruppe von Piloten aus der Zeit König Edwards zu sehen, die sich um diese zur Schau gestellten altertümlichen Maschinen scharten. Piloten in Gamaschen und Überziehern und weibliche Passagiere, die 72
Hüte mit Lederriemchen trugen. Bei Tageslicht spukten andere Gespenster in Cape Kennedy herum. Nach der Landung trat Mallory in den Schatten der Abschußplattform, die einer riesigen Kathedrale glich, die an den Himmel stieß. Eine beunruhigende Stille drang aus dem dichten Wald, der die einst offenen Plattformen des Raumfahrt zentrums überwucherte, und aus den öffnungslosen Bunkern und Kamera-Türmen. »Mallory, ich bin froh, daß Sie gekommen sind!« Hinton legte seinen Fliegerhelm ab und entblößte einen unförmigen Schädel mit kurzgeschorenem Haar – Mallory erinnerte sich daran, daß er einmal von einem wütenden Wärter angegriffen worden war. »Ich konnte es nicht glauben, daß Sie es waren. Und Anne? Geht es ihr gut?« »Sie ist hier, im Hotel in Titusville.« »Ich weiß, ich habe sie eben auf dem Dach gesehen. Sie hat ausgesehen . . .« Hintons Stimme wurde schwächer. In seiner Besorgnis vergaß er, was er tat. Er begann, im Kreis zu gehen, nahm sich dann aber zusammen. »Trotzdem, es ist schön, Sie zu sehen. Es ist mehr, als ich gehofft hatte – Sie waren der einzige, der gewußt hat, was hier vor sich geht.« »Wirklich?« Mallory suchte die Sonne, die hinter dem kalten Schatten der Abschußplattform verborgen war. Cape Kennedy war sogar noch finsterer, als er erwartet hatte. Es glich einem uralten Todeslager. »Ich glaube nicht, daß ich –« »Natürlich haben Sie es gewußt! Irgendwie waren wir Kollaborateure – glauben Sie mir, Mallory, wir werden es wieder sein. Ich habe Ihnen viel zu erzählen.« Glücklich, Mallory getroffen zu haben, aber besorgt um den zitternden Arzt, umarmte ihn Hinton mit seinen ruhelosen Armen. Als Mallory beim Versuch, seine Schultern zu schützen, zurückwich, stieß Hinton einen Pfiff aus und schaute bekümmert unter sein Hemd. »Mallory, es tut mir leid – dieses Polizeiauto hat mich 73
verwirrt. Sie werden mich bald holen kommen, wir müssen schnell sein. Aber Sie sehen nicht gerade blendend aus, Doktor. Die Zeit geht zu Ende, nehme ich an. Es ist zuerst schwer zu verstehen . . .« »Ich fange langsam an. Was ist mit Ihnen, Hinton? Ich muß mit Ihnen über alles reden. Sie sehen –« Hinton schnitt eine Grimasse. Er schlug sich auf die Hüfte, ungehalten über seinen unterernährten Körper, dieses verküm merte Werkzeug, das er bald abstreifen würde. »Ich mußte selbst hungern. Die Tragflächenlast dieser Maschine war so gering. Es bedurfte vieler Jahre, oder sie hätten etwas gemerkt. Diese endlosen medizinischen Untersuchungen, weil sie befürchteten, in mir könnte sich eine noch größere Psychose zusammenbrauen - sie konnten nicht begreifen, daß ich die Tür zu einer anderen Welt öffnete.« Er blickte über das Raumfahrtzentrum, in den leeren Wind. »Wir mußten aus der Zeit hinaustreten - das war der Zweck des ganzen Raumfahrtprogrammes . . .« Er winkte Mallory zu einer Metalltreppe, die zur Montage plattform sechs Stock über ihnen führte. »Wir werden nach oben gehen. Ich lebe im Shuttle - eine Raumkapsel der Marsstation befindet sich immer noch im Laderaum, um einiges bequemer als die meisten Hotels in Florida.« Mit ironischem Grinsen fügte er hinzu: »Ich glaube, hier werden sie mich zuallerletzt suchen.« Mallory begann, die Treppe hochzuklettern. Er versuchte, die Berührung mit den öligen Nieten und dem feuchten Geländer zu vermeiden und wandte den Blick von der mit Keramikplatten verkleideten Oberfläche des Shuttle, die über der Montageplattform aufragte. Obwohl er sich viele Jahre lang über Cape Kennedy Gedanken gemacht hatte, war er immer noch überwältigt von der Fremdartigkeit dieser riesigen Reduktionsmaschine, einem Moloch, der von seinen Anbetern um den Planeten geschickt werden konnte und Jahre, Stunden 74
und Sekunden verschlang. Sogar Hinton schien beeindruckt. Prüfend schweifte sein Blick über den Himmel, als erwarte er, daß Shepley auftauchte. Er war darauf bedacht, Mallory nicht den Rücken zuzuwenden, ganz offensichtlich, weil er den Verdacht hegte, daß der ehemalige NASA-Arzt ausgeschickt worden war, um ihn zu stellen. »Das Fliegen und die Zeit, Mallory, diese beiden gehören zusammen. Die Vögel haben das immer gewußt. Um aus der Zeit hinausgelangen zu können, müssen wir zuerst fliegen lernen. Deshalb bin ich hier. Ich bringe mir das Fliegen bei, indem ich die Reihe dieser alten Flugzeuge zurückverfolge bis an den Anfang. Ich möchte ohne Flügel fliegen . . .« Als sich der Deltaflügel des Shuttle über ihnen ausfächerte, lehnte sich Mallory an das Geländer. Erschöpft vom Aufstieg, versuchte er richtig durchzuatmen. Das Schweigen war zu groß, diese Stille im Herzen der abgelaufenen Weltuhr. Er suchte den reglosen Wald und die Landebahnen nach irgendeiner Bewegung ab. Er mußte eine von Hintons Maschinen nehmen, um damit über den Himmel dahinzulärmen. »Mallory, Sie gehen . . .? Keine Angst, ich helfe Ihnen, dies alles durchzustehen.« Hinton hatte seinen Ellbogen gepackt und ihn wieder fest auf die Beine gestellt. Mallory bemerkte plötzlich, wie das Licht steiler einfiel und sich zu diesem intensiven Glanz verdichtete, den er das letzte Mal gesehen hatte, als ihn der Gepard angesprungen war. Die Zeit zog sich aus der Luft zurück, zauderte kurz, als er sich bemühte, in den fliehenden Sekunden seinen Halt zu bewahren. Ein Schwalbenschwarm rauschte über die Montageplattform und wirbelte wie explodierender Ruß um den Shuttle. Wollten sie ihn warnen? Mallory, den das kurze Gestöber aufrüttelte, fühlte, wie sich sein Blick klärte. Er hatte den Anfall 75
abschütteln können, aber er würde wiederkommen. »Doktor -? Sie werden wieder gesund sein.« Hinton war offensichtlich enttäuscht, als er beobachtete, wie sich Mallory am Geländer abstützte und sein Gleichgewicht wiedergewann. »Versuchen Sie nicht, dagegen anzukämpfen, Doktor, jeder macht diesen Fehler.« »Es wird . . .« Mallory stieß ihn von sich. Hinton stand zu nahe am Geländer, die manischen Bewegungen des Mannes konnten ihn über den Rand drängen. »Die Vögel . . .« »Natürlich, wir werden den Vögeln folgen! Mallory, wir können alle fliegen, jeder einzelne von uns. Stellen Sie sich das vor, Doktor, der wirkliche Flug. Wir werden für immer in der Luft leben!« »Hinton ...» Mallory wich auf der Plattform zurück, als Hin ton das ölige Geländer ergriff und sich in den Wind schwingen wollte. Er mußte von diesem Verrückten und seinen Wahnideen loskommen. Hinton winkte zum Flugzeug hinunter, grüßte die Gespenster in ihren Cockpits. »Lilienthal und die Wrights, Curtiss und Bleriot, sogar der alte Mignet - sie sind da, Doktor. Deshalb bin ich nach Cape Kennedy gekommen. Ich mußte an den Anfang zurück, lange bevor die Luftfahrt uns alle auf einen falschen Weg führte. Wenn die Zeit stillsteht, Mallory, werden wir uns von dieser Plattform aufschwingen und der Sonne entgegenfliegen. Sie und ich, Doktor, und Anne . . .« Hintons Stimme wurde tiefer, ein hohles Brummen. Die weiße Flanke des Shuttle war eine Laterne aus durchscheinendem Gebein, die ein gespenstisches Licht auf den düsteren Wald warf. Mallory taumelte nach vorn, aus irgendeinem halbbewußten Impuls heraus wollte er, daß Hinton über das Geländer sprang, in die Luft hinausglitt und sich mit den Vögeln maß. Wenn er ihn an den Schultern stieß . . . »Doktor –« Mallory hob die Hände, aber er war nicht imstande, Hinton 76
näherzukommen. Wie der Gepard mußte er für immer einige Zentimeter entfernt bleiben. Hinton hatte mit tröstender Geste seinen Arm ergriffen und drängte ihn gegen das Geländer. »Fliegen Sie, Doktor . . .« Mallory stand am Rande. Seine Haut wurde ein Teil der Luft, durchdrungen von Licht. Er mußte die ungeheure Last von Zeit und Raum abschütteln, diese rostende Plattform und das grob verankerte Fahrzeug. Er konnte frei schweben, für immer über dem Wald hängen, ein Herr über Zeit und Licht. Er würde fliegen . . . Ein wirbelnder Luftstrom berührte sein Gesicht. Bruchlinien erschienen im Wind um ihn. Die durchsichtigen Tragflächen eines Motorseglers glitten vorbei, sein Propeller zerhackte das Sonnenlicht. Hinton packte seine Schultern und drängte ihn ungeduldig über das Geländer. Der Segler drehte ab, wendete und flog wieder auf sie zu. Das Sonnenlicht blitzte in seinem Propeller, ein Photonenstrom trieb Zeit in Mallorys Augen zurück. Als Mallory sich von Hinton losriß und auf die Knie fiel, rauschte die junge Frau in ihrem Segelflieger an ihnen vorbei. Er sah ihr ängstliches Gesicht unter der Schutzbrille und hörte ihre warnende Stimme, die Hinton etwas zurief. Aber Hinton war schon fort. Seine Tritte hallten auf der Me talltreppe. Als er sich in seiner Fokker davonmachte, schrie er Mallory zornig und enttäuscht etwas zu. Mallory kniete am Rande der Plattform und wartete, daß die Zeit in sein Gehirn zurückfloß. Seine Hände klammerten sich mit der Kraft eines Neugeborenen an das ölige Geländer.
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VI Band 24: 17. August Auch heute wieder kein Zeichen von Hinton. Anne schläft. Als ich vor einer Stunde aus dem Warenhaus zurückkam, richtete sich ihr Blick zum ersten Mal seit einer Woche wieder konzentriert auf mich. Mit einiger Mühe gelang es mir, sie in den wenigen Minuten, die sie völlig wach war, zu füttern. Für sie ist die Zeit praktisch stehengeblieben. Es gibt lange Perioden, in denen sie sich offensichtlich in einer fast stationären Welt, einer Abfolge von gelegentlich sich verändernden Bildern befindet. Erwacht sie kurz, dann spricht sie über Hinton und einen Flug nach Miami, den sie mit ihm in seiner Cessna machen will. Trotzdem scheint sie von diesen Reisen ins Licht erfrischt zurückzukommen, als nähre sich ihr Geist förmlich von der Tatsache, daß keine Zeit vergeht. Auch mir geht es so, trotz der entzündeten Wunde auf meiner Schulter – Hintons schmutzige Nägel. Die Anfälle kommen ein dutzendmal pro Tag, alles verlangsamt sich zu einem kaum wahrnehmbaren Strömen. Das Licht nimmt an Intensität zu, Photonen stauen sich hinauf bis zur Sonne. Als ich das Warenhaus verließ, beobachtete ich einen Sittich, der über die Straße flog und zwei Stunden für eine Strecke von drei Metern zu benötigen schien. Vielleicht bleibt Anne noch eine Woche, bevor die Zeit für sie stillsteht. Und für mich drei Wochen? Es ist ein merkwürdiger Gedanke, daß, sagen wir, genau am 8. September um 15 Uhr 47 nachmittags, die Zeit für immer stillstehen wird. Eine einzelne Mikrosekunde, die, unbemerkt 78
von jedem anderen, vorbeihuscht, wird für mich eine Ewigkeit dauern. Ich sollte mir überlegen, wie ich sie zu verbringen gedenke!
Band 25: 19. August Zwei hektische Tage. Anne hat gestern nachmittag einen Rückfall erlitten, ein Gefäßschock, hervorgerufen dadurch, daß sie genau zu dem Zeitpunkt, als Hinton mit den Bordwaffen seines Wright-Flugzeugs das Hotel beschoß, erwachte. Ich konnte ihren Herzschlag kaum noch wahrnehmen und massierte stundenlang ihre Waden und Schenkel. (Ich wäre glücklich, könnte ich, während ich meine Frau liebkose, in die Ewigkeit eingehen.) Ich konnte sie aufrichten und ging mit ihr auf dem Balkon auf und ab, in der Hoffnung, daß der Lärm von Hintons Flugzeug ihr seelisches Gleichgewicht wieder herstellen würde. Tatsächlich hat sie heute morgen vollkommen verständig mit mir gesprochen und war offensichtlich erschrocken, daß ich so heruntergekommen aussah. Für sie ist es einer jener ruhigen Nachmittage vor drei Wochen. Wir könnten immer noch wegfahren, eines der verlassenen Autos starten und die Grenze bei Jacksonville erreichen, bevor die letzten Minuten verstrichen sind. Ich muß mir ständig ins Gedächtnis rufen, aus welchem Grund wir eigentlich zuerst hierhergekommen sind. Nach Norden zu flüchten, hätte gar keinen Sinn. Wenn es eine Lösung gibt, so liegt sie hier, irgendwo zwischen Hintons Besessenheit und Shepleys kreisendem Sarg, zwischen dem Raumfahrtzentrum und jenen hellen, gespenstischen Starts, die während der Nacht nur allzu deutlich sichtbar sind. Ich hoffe, daß ich nicht gerade in dem Augenblick hinaustrete, wenn er ankommt, und meine Ewigkeit damit verbringe, den sich auflösenden Leichnam des Mannes zu betrachten, an dessen Tod im Weltraum ich 79
mitschuldig bin. Ich denke an jenen Tiger. Irgendwie kann ich ihn besänftigen. Band 26: 25. August 15 Uhr 30 nachmittags. Seit Tagen die erste volle Stunde, in der ich die Zeit ohne Unterbrechung bewußt wahrgenommen habe. Als ich vor fünfzehn Minuten erwachte, hatte Hinton gerade aufgehört, das Hotel zu beschießen - die Palmen schüttelten Staub und Insekten auf den Balkon. Hinton versucht offenbar, uns wach zu halten und das Ende so lange hinauszuzögern, bis er seine letzte Karte ausspielen kann, oder vielleicht, bis ich aus dem Weg bin, und er mit Anne Zusammensein kann. Über seine Motive bin ich mir immer noch nicht im klaren. Er scheint den Zerfall der Zeit begrüßt zu haben, als sei dieses ganze Unbehagen eine Chance, die wir nutzen sollten, der nächste Schritt der menschlichen Evolution. Er hat mich an den Rand der Montageplattform gedrängt, und wenn Gale Shepley nicht in ihrem Segler erschienen wäre, wäre ich über das Geländer gestürzt. Er hat mir auf merkwürdige Weise geholfen, mich in diese neue Welt ohne Zeit geführt. Als er Shepley vom Shuttle abkoppelte, tat er es nicht mit dem Gedanken, ihn zu töten, sondern im Glauben, ihn zu befreien. Die immer primitiveren Flugzeuge - Hintons Suche nach einer Form des reinen Fluges, zu dem er im letzten Moment ansetzen will. Gestern flog eine Santos-Dumont vorbei, ein plumper Kastendrachen, denn von den Maschinen des Ersten Weltkrieges ist er abgekommen. Er steuert absichtlich schlecht konstruierte Flugzeuge, alles Teil seines Versuchs, von der mittelbaren Luftfahrt zum reinen Flug zu gelangen, zu poetischen eher als aeronautischen Gebilden. Die Wurzeln des Schamanentums und der Levitation wie auch der erotische Gefühlswert des Fluges – kann man darunter 80
den Versuch verstehen, der Zeit zu entkommen? Die dem Schamanentum zugesprochene Fähigkeit, die physische Gestalt zu verlassen und mit dem geistigen Körper zu fliegen, der Psychopomp, der die Seelen der Gestorbenen geleitet und imstande ist, Herrschaft über das Feuer zu erlangen, beide zusammen scheinen mit jenen Defekten des Vestibularapparats in Verbindung zu stehen, die durch den langanhaltenden Zustand der Schwerelosigkeit während der Weltraumflüge ausgelöst werden. Wir hätten sie begrüßen sollen. Dieser Tiger – ich bin allmählich besessen von dem Gedanken, daß er in Flammen steht. Band 27: 28. August Ein ungeheures Schweigen heute, nicht ein Murmeln über dem weichen grünen Boden Floridas. Hinton hat sich vielleicht umgebracht. Vielleicht ist dieses Fliegen so etwas wie ein Sühneritual, so daß sein Tod den Fluch des Schamanen brechen würde. Aber will ich überhaupt in die Zeit zurück? Im Gegenteil, diese statische Welt hellen Lichts zieht die Seele an wie eine Vision vom Garten Eden. Wenn die Zeit eine primitive geistige Form ist, lehnen wir sie mit Recht ab. In gewisser Hinsicht versucht nicht nur das Schamanentum, sondern jede mystische und religiöse Anschauung, eine Welt ohne Zeit zu konstituieren. Weshalb besaß der primitive Mensch, dem ein Gehirn genügt hätte, das nur ein wenig größer ist als dasjenige des Tigers in Gales Zoo, in Wahrheit einen Geist, der dem Freuds und Leonardos fast ebenbürtig war? Sollte ihn all dieser Überschuß an neuraler Kapazität etwa von der Zeit erlösen, und bedurfte es des Raumfahrtzeitalters und des Opfers des ersten Astronauten, um dieses Ziel zu erreichen? Hinton töten . . . Aber wie?
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Band 28: 3. September Ganze Tage fehlen mir. Ich nehme den Fluß der Zeit kaum noch wahr. Anne liegt auf dem Bett, erwacht für einige Minuten und macht einen vergeblichen Versuch, das Dach zu erreichen, als könnte der Himmel einen Ausweg bieten. Ich habe sie gerade von der Treppe heruntergeholt. Nach Nahrungsmitteln zu suchen, ist zu anstrengend. Als ich heute morgen zum Warenhaus ging, war das Licht so hell, daß ich die Augen schließen mußte und mich mit den Händen durch die Straßen tastete wie ein blinder Bettler. Ich schien auf dem Boden eines riesigen Hochofens zu stehen. Anne wird immer ruheloser, murmelt in irgendeiner unge wöhnlichen Sprache vor sich hin, als bereite sie sich auf eine Reise vor. Ich habe einen ihrer langen Monologe, der wie ein gälisches Liebesgedicht klingt, aufgenommen und dann in nor maler Geschwindigkeit abgespielt. Ein gequältes »Hinton.. Hinton ...« Sie hat zwanzig Jahre gebraucht, um es zu erlernen. Band 29: 6. September Es können nur noch wenige Tage sein. Die Traumzeit kommt jeden Tag ein dutzendmal, alles verlangsamt sich bis zum Stillstand. Vom Balkon aus habe ich gerade einen Schwärm Pirole die Straße überfliegen sehen. Sie schienen Stunden zu brauchen und, von ihren unbewegten Flügeln unterstützt, über den Bäumen zu hängen. Die Vögel haben endlich das Fliegen gelernt. Anne ist wach . . . Anne: Wer hat das Fliegen gelernt? E. M.: Schon gut – die Vögel. Anne: Hast du es ihnen beigebracht? Wovon spreche ich? Wie lange war ich fort? 82
E. M.: Seit der Morgendämmerung. Erzähl mir, was du ge träumt hast. Anne: Ist das ein Traum? Hilf mir hoch. Gott, ist es dunkel auf der Straße. Hier bleibt keine Zeit mehr, Edward, du mußt Hinton finden. Tu alles, was er sagt.
VII Töte Hinton . . . Als der Motor der Yamaha lief, setzte sich Mallory rittlings auf den Sitz und schaute zum Hotel zurück. Jeden Moment würde Anne das Schlafzimmer verlassen, als müsse sie die letzten ihr verbleibenden Minuten ausnützen, um das Dach zu erreichen. Die stehengebliebenen Uhren von Titusville zeigten ihr die richtige Zeit an, die Ewigkeit würde für diese verlorene Frau ein Treppenaufgang um einen leeren Aufzugsschacht sein. Töte Hinton ... Er wußte nicht, wie. Er fuhr in den östlichen Teil von Titusville. Unsicher schlängelte er sich zwischen den verlassenen Autos durch. Die Yamaha war wegen des schwer zu schaltenden Getriebes und des unzuverlässigen Gashebels nur mit Mühe zu lenken. Er fuhr durch einen ihm unbekannten Vorort der Stadt, eine Gegend mit Reihenhäusern, Geschäfts straßen und Parkplätzen, die während des Baubooms der sech ziger Jahre für die NASA-Angestellten errichtet worden waren. Er passierte einen umgestürzten Lastwagen, dessen Fracht von Fernsehapparaten über die Straße verstreut war, und den Lieferwagen einer Wäscherei, der durch das Schaufenster einer Spirituosenhandlung gekracht war. Fünf Kilometer östlich befanden sich die Startrampen des Raumfahrtzentrums. In der Luft über ihnen hing ein Flugzeug, ein primitiver Hubschrauber mit Schraubflügeln. Die spitz zu laufenden Propellerflügel ruhten, als hätte es Hinton doch noch geschafft, ohne Flügel auszukommen. 83
Mallory hetzte mit Höchstgeschwindigkeit weiter in Richtung Cape Kennedy. Die Reihen der Vorstadthäuser breiteten sich vor ihm aus, eine endlose Wiederholung ihrer selbst, dieselben Einkaufsstraßen, dieselben Bars und Motels, dieselben Läden und Gebrauchtwagen-Plätze, die er und Anne auf ihrer Reise durch den Kontinent gesehen hatten. Fast entstand in ihm der Eindruck, er fahre wieder durch Florida, durch die hundert kleinen Städte, die ineinander übergingen, durch ein Vorstadt-Universum, in dem die identischen Spirituosen-Handlungen, Parkplätze und Einkaufsstraßen die Moleküle einer Städte-DNS bildeten, die vom Zellkern des Raumfahrt-Zentrums erzeugt wurde. Nicht Minuten oder Stunden, sondern Jahre und Jahrzehnte war er durch diese Straße gefahren, über diese stillen Kreuzungen. Der sich dahinziehende Strand bedeckte die ganze Oberfläche der Erde und schwang sich dann in den Raum hinaus, um die Wände des Universums zu bedecken, bevor er sich in sich selbst zurückbog, um wieder seinen Ausgangspunkt hier im Raumfahrt-Zentrum zu erreichen. Neuerlich fuhr er an dem umgestürzten Lastwagen und den verstreuten Fernsehapparaten vorbei, wieder der Lieferwagen der Wäscherei im Schaufenster der Spirituosen-Handlung. Er würde immer wieder an ihnen vorbeifahren, immer wieder über dieselbe Kreuzung, immer wieder dasselbe Schild über demselben Appartement-Haus se hen . . . »Doktor . . .!« Der Geruch brennenden Fleisches drang immer deutlicher in Mallorys Nase. Seine rechte Wade war gegen den Auspuff der leerlaufenden Yamaha gepreßt. Verkohlte Fetzen seiner Baum wollhose klebten in der offenen Wunde. Als die junge Frau im schwarzen Fliegeranzug über die Straße rannte, stieß sich Mal lory von der schweren Maschine ab, taumelte über die sich drehenden Räder und fiel auf die Knie. 84
Er war auf einer Kreuzung ungefähr einen Kilometer vom Zentrum von Titusville entfernt zum Stehen gekommen. Die riesige planetarische Ebene von Parkplätzen hatte sich zurück gezogen, war einen kosmischen Rauchfang hinuntergewirbelt und dann zu dieser kleinen vorstädtischen Enklave von einem einzigen schäbigen Motel, zwei Reihenhäusern und einer Bar zusammengeschmolzen. Sechzig Meter weiter starrten die leeren Bildschirme der Fernsehapparate auf ihn. Einige Schritte daneben lag der Lieferwagen im Schaufenster der SpirituosenHandlung, und das Tragflächenende des Segelflugzeugs, das Gale Shepley auf der Straße gelandet hatte, beschattete die staubigen Wodka- und Bourbonflaschen. »Dr. Mallory! Hören Sie mich? Lieber Himmel. . .« Sie schob Mallorys Kopf zurück und starrte ihm in die Augen, stellte dann den immer noch laufenden Motor der Yamaha ab. »Ich habe Sie hier sitzen sehen . . . mein Gott, Ihr Fuß! Hat Hinton . . .?« »Nein . . . ich habe mich selbst in Brand gesetzt.« Den Arm um die Schulter des Mädchens gelegt, raffte sich Mallory hoch. Er versuchte immer noch, seine Gedanken zu ordnen. Diese riesige Vorstadtwelt hatte etwas merkwürdig Verführerisches an sich . . . »Es war ein verrückter Versuch von mir, auf dem Motorrad zu fahren. Ich muß Hinton treffen.« »Doktor, hören Sie mir zu . . .« Mit fieberhaft geweiteten Augen schüttelte das Mädchen seine Hand. Ihre Maskara und ihre Haare waren sogar noch bizarrer als in seiner Erinnerung. »Sie sind im Sterben! Ein oder zwei Tage noch, eine Stunde vielleicht, und Sie sind nicht mehr am Leben. Wir finden ein Auto, und ich fahre Sie nordwärts.« Mit einiger Mühe riß sie den Blick vom Himmel los. »Ich verlasse Vater nicht gern, aber Sie müssen fort von hier, es sitzt jetzt in Ihrem Kopf.« Mallory versuchte die schwere Yamaha aufzustellen. »Hinton - sonst bleibt uns nichts mehr. Auch für Anne. Irgendwie muß ich – ihn töten.« 85
»Das weiß er, Doktor -.« Beim Näherkommen von Motoren geräuschen verstummte sie. Ein Flugzeug schwebte in der Nähe über die Straßen, sein dunkler Schatten war über den Palmblättern zu sehen, und ein Drehflügel glitzerte in der Sonne. Sie duckten sich zwischen den Fernsehapparaten, und es flog über ihre Köpfe dahin. Ein altertümliches Drehflügelflugzeug, das über den Himmel polterte wie ein Luftmäher und dessen freibeweglicher Rotor anscheinend von der Sonne angetrieben wurde. Der Pilot im offenen Cockpit war zu sehr mit dem Steuern beschäftigt, um die Straßen unter sich abzusuchen. Außerdem hatte Hinton, wie Mallory wußte, sein Opfer bereits gefunden. Auf dem Dach des Hotels, einen Schlafmantel um die Schultern, stand Anne Mallory. Getrieben durch ihren Traum vom Himmel, hatte sie es schließlich doch geschafft, die Treppe hochzusteigen. Blicklos starrte sie auf das Drehflügelflugzeug und trat nur einen Schritt zurück, als es das Hotel umkreiste und in einem Wirbelsturm von Blättern und Staub zum Landen ansetzte. Als es auf dem Dach aufsetzte, riß ihr der Luftstrom des Propellers den Mantel von den Schultern. Nackt wandte sie sich dem Drehflügelflugzeug zu, dem Geliebten dieser seltsamen Maschine, der gekommen war, um sie aus einer der Zeit beraubten Welt zu retten. VIII Als sie die NASA-Landebahn erreichten, stiegen riesige Rauchsäulen vom Raumfahrtzentrum auf. Vom Soziussitz des Motorrades schaute Mallory auf die Rauchschwaden, die in die schmutzige Luft hinaufquollen. Der Wald war rot vor Hitze, und das Blattwerk glühte wie Kohlen in einem Hochofen. Hatte Hinton den Shuttle wieder aufgetankt und startklar gemacht? Er würde Anne mit sich nehmen und sie und sich selbst im Weltraum freisetzen, wie er es mit Shepley getan 86
hatte, und auf diese Weise dem toten Astronauten in seine kreisende Bahre folgen. Vom Startplatz des Shuttles stieg Rauch zwischen den Bäumen vor ihnen auf. Gale bremste die Yamaha und zeigte auf einen Riß in den Wolken. Der Shuttle stand noch mit ruhigen Motoren auf der Plattform, der weiße Rumpf reflektierte die Explosionsblitze von den Betonlandebahnen. Hinton hatte seine altertümlichen Flugzeuge in Brand gesetzt. In dichtem Rauch loderten die Flammen von den glühenden Rümpfen, die auf ihren Fahrgestellen in sich zusammensanken. Der Curtiss-Doppeldecker brannte wild. Eine rasende Feuerlohe verzehrte den Motorraum der Fokker, ließ den Treibstofftank explodieren und die Maschinengewehrmunition hochgehen. Die explodierenden Patronen zerfetzten die Tragflächen, worauf diese wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Gale hielt die Yamaha mit ihren Beinen im Gleichgewicht und schob sie zweihundert Meter von den weißglühenden Maschinen entfernt um die glosenden Bäume herum. Die Explosionen blitzten in ihrer Schutzbrille auf, bleichten ihr kräftiges Make-up und verliehen ihrem blonden Haar eine aschene Fahlheit. Die Hitze brannte auf Mallorys gelblichem Gesicht, als er das Flugzeug nach einem Zeichen von Hinton absuchte. Gefächelt von den Flammen, die in seinem Rumpf dröhnten, rotierte der Propeller des Drehflügelflugzeuges, fing Feuer und kreiste in einem letzten lodernden Festrummel. Neben ihm rasten Flammenzungen über die Tragflächen der Wright-Maschine, die sich in einem Funkenschauer in die Luft hob und zurück auf den rotglühenden Rumpf der Sopwith Camel fiel. Von der großen Hitze entzündet, erwachte der startbereite Motor des Flying Flea brüllend zum Leben, trieb das winzige Flugzeug in einem holprigen Bogen zwischen den brennenden Wracks hinauf, so daß es den Spad und den Bleriot 87
in die Luft jagte, bevor es sich in einem Hochofen wogender Flammen überschlug. »Doktor – auf dem Montage-Deck!« Mallorys Blick folgte der ausgestreckten Hand des Mädchens. Dreihundert Meter über ihm standen Anne und Hinton Seite an Seite auf dem Absatz der Metalltreppe. Die Flammen der bren nenden Flugzeuge flackerten in ihren Gesichtern, als würden sie sich schon beide durch die Luft bewegen. Obwohl Hinton seinen Arm um Annes Taille gelegt hatte, schienen sie einander nicht wahrzunehmen, als sie ins Licht hineintraten. IX Wie immer während der letzten Abende in Cocoa Beach ruhte Mallory am Schwimmbecken des verlassenen Hotels und beob achtete den hellen Segelflieger, der stetig über den stillen Himmel von Cape Kennedy dahinzog. In dieser friedlichen Laube, umgeben von den dösenden Bewohnern des Zoos, lauschte er dem Springbrunnen, der seine kristallenen Perlen auf das Gras neben seinem Sessel warf. Der Wasserstrahl stand jetzt beinahe still wie das Flugzeug und der Wind und die beobachtenden Geparden, Elemente einer sinnbildlichen und glühenden Welt. Als sich die Zeit von ihm zurückzog, stand Mallory neben dem Brunnen und sah glückerfüllt, wie er sich in einen gläsernen Baum verwandelte, der die schillernden Früchte auf seine Schultern und Hände ausgoß. Über dem nahen Meer flogen Delphine durch die Luft. Einmal tauchte er in das Becken, entzückt, in diesem riesigen Block verflüssigter Zeit eingebettet zu sein. Glücklicherweise rettete Gale Shepley ihn, bevor er ertrank. Mallory wußte, daß sie seiner überdrüssig wurde. Sie hatte nun ausschließlich die Suche nach ihrem Vater im Sinn, überzeugt davon, daß er bald aus den Flutkanälen des Weltalls 88
zurückkehren würde. In der Nacht waren die Flugbahnen immer niedriger, Spuren geladener Partikeln, die über den Wald glitten. Sie aß kaum noch etwas, und Mallory war froh, daß sie, wenn ihr Vater ankam, endlich mit dem Fliegen aufhören würde. Dann würden beide gemeinsam fortgehen. Mallory hatte seine eigenen Vorbereitungen für den Abschied getroffen. Den Schlüssel zum Tigerkäfig hielt er immer in der Hand. Nun blieb ihm nur noch wenig Zeit, die lichtdurchflossene Welt hatte sich in eine Reihe von Bildern aus einer Prozession verwandelt, die die ersten Tage der Schöpfung feierte. Im Finale würde jedes Element des Universums, so bescheiden es auch sein mochte, seinen Platz auf der Bühne vor ihm einnehmen. Er betrachtete den Tiger, der vor ihm an den Stäben des Käfigs wartete. Die großen Katzen waren, wie die Reptile vor ihnen, immer teilweise außerhalb der Zeit gewesen. Die Flammen auf seinem Fell erinnerten ihn an das Feuer, das die Flugzeuge im Raumfahrtzentrum verschlungen hatte, das Feuer, durch das Anne und Hinton nun für immer flogen. Er verließ das Becken und ging zum Tigerkäfig. Bald würde er die Tür öffnen, sich diesen Flammen hingeben und sich in einer Welt jenseits der Zeit neben diesem wilden Tier niederlassen.
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Johanna Braun, Günter Braun Limbdisten Zerflatterte letzte Nachrichten und Kommentare Aus dem Programm des Instituts zur Erschaffung eines neuen Menschentyps, Leitung Professor Futurus Augustus Limbda, emeritus: Die Probleme, die jetzt auf dem Erdball entstanden sind, können nur noch durch eine völlig neue Bevölkerung gelöst werden. Alle anderen Lösungsversuche müssen Flickwerk blei ben, da der auf der Erde zur Zeit noch ansässige Menschentyp, gleich welcher Rasse, zu aggressiv, zu schwerfällig, zu energieaufwendig, zu intelligenzarm, zu materialfressend ist, vergleichbar den bereits ausgestorbenen Sauriern der vormenschlichen Zeit. . . Der von mir geschaffene Limbdist stellt seiner Struktur nach ein Dehn-Schrumpf-Wesen dar, das aufgebläht elfmal soviel Fläche wie der bisherige Mensch aufweisen kann, eingeschrumpft aber nur die Größe einer mittleren Melone besitzt. Er hat keine Knochen, sondern ein Dehn-Schrumpf-Gewebe, und ich will nicht verhehlen, daß ich mir dafür den Penis des bisherigen männlichen Menschen zum Vorbild genommen habe. Zusammengeschrumpft bewegt sich der Limbdist rollend fort, wobei er Geschwindigkeiten bis zu 150 Stundenkilometern erreichen kann. Er ist energetisch dreifach abgesichert: im Dehnzustand tankt er Sonnenenergie, aber er kann sich auch bei entsprechendem Wind desselben sowohl zur Fortbewegung mittels des Fluges (bis zu 350 Stundenkilometer) als auch energiespeichernd bedienen. Außerdem ist er in der Lage, die von ihm bei der Verdauung freigesetzten Gase energetisch zu nutzen. Seine äußeren Dehnflächen sind zugleich Schutz gegen extreme Witterungen als auch gegen Stoß und Schlag. Weitreichender als beim bisherigen Menschen sind seine sinnlichen Wahrneh 90
mungsorgane: er besitzt ein (versenkbares) Rundumblickauge für nah und fern, ein Riechtastsystem wie etwa der Hund und ein Sonarsystem ähnlich dem des Delphins. Zu seinen handwerklichen Tätigkeiten dienen ihm zwölf verschieden ausziehbare Greifsysteme, die bis zu drei Meter weit reichen können. Männliche Limbdisten verfügen über einen jederzeit ausfahrfähigen Penis mit Lustwarzen, weibliche über eine verschließbare Vulva und einen zu versenkenden und beliebig zu formenden Busen . . . Der limbdistische Charakter ist gesellig und friedfertig. Im Gehirn des Limbdisten, das feiner strukturiert ist als das Gehirn des bisherigen Menschen, sind Angriffs- wie Verteidigungswaffen gleichermaßen gestrichen. Nie wird ein Limbdist darauf kommen, solche herzustellen.« Aus dem Bericht des Ministerratspräsidenten Schorschy B. K. Koljanski an die Nation: ». . .verzeihen Sie mir, daß ich aus dem Berichtsstil falle und ganz persönlich, sozusagen von bisherigem Menschen zu bisherigem Menschen rede, Verzeihung, ich meine natürlich von Mensch zu Mensch, aber es ist mir unmöglich, noch irgendeine Sitzung durchzuführen, ohne daß sich auf allen freien Flächen wie Schrankaufsätzen, Fensterbrettern, Mauervorsprüngen, Stuhllehnen und sogar auf unserem alten traditionsreichen ovalen Sitzungstisch Limbdisten breitmachen. Sie verhalten sich fast vollkommen ruhig, aber sie richten ihre Augen oder Strahler oder was sie sonst dort haben mögen, auf den Redenden, also jetzt auf mich, was schon ein unheimliches Gefühl erzeugt. Ich gebe zu, sie gehen mir und meinen Kollegen elegant aus dem Wege, noch nie ist jemand von uns über einen Limbdisten gestolpert, nie wurde einer von einem berührt, nicht einmal zufällig, aber wenn wir Maßnahmen beschließen wollen, wie etwa solche zur Verteidigung der Freiheit, die bekanntlich immer zu verteidigen ist, nicht unbedingt für uns, aber doch für andere, beginnen die Limbdisten unangenehm zu wispern, sehr leise 91
zwar, aber es geht einem doch so auf den Geist, daß eine tiefschürfende Erörterung des Gegenstandes nicht mehr mög lich ist. Und immer hat man das Gefühl, von ihren Augen oder Strahlern oder wie diese Organe sonst fachlich bezeichnet wer den müssen, ausgeleuchtet zu werden, wodurch man sich, ent schuldigen Sie, nackt vorkommt. Als wir den Bau des neuen Plastophengroßkombinats beschließen wollten, das ganz Eu ropa bis weit ins nächste Jahrtausend mit plastophenernen Ge brauchsgütern versorgen sollte und eine umfassende Plasto phenkultur hätte begründen können, kamen wir nicht dazu, weil die Limbdisten, die mittels ihrer besonderen Riechorgane eventuelle Dämpfe, die vom Kombinat unter Umständen ausgehen würden, bereits wahrnahmen, obwohl das Kombinat ja noch nicht einmal verbal bestand. Durch nervenzerrüttende Schnief- und Schnüffelgeräusche brachten sie jeden konkreten Beschlußfassungsversuch zum Scheitern. Natürlich haben wir von Anfang an etwas gegen diese Störaktionen getan, unsere Sicherheitsbeauftragten und auch wir selber versuchten, die Limbdisten durch Boxhiebe sowie Fußtritte zu vertreiben, aber sie wichen entweder geschickt aus oder ihre äußere Hülle nahm unsere Tätlichkeiten nicht an, so daß wir uns ungewollt gegen seitig Fußtritte verpaßten. Sie mit gezielten Schüssen aus unseren weltweit anerkannten und preisgekrönten Maschinen pistolen durchlöchern zu wollen, hatte nur den Erfolg, daß wir unsere eigenen Wände beziehungsweise daß die Pistolen schützen sich selbst durchlöcherten. Die Limbdisten sind eben auf eine merkwürdige Art wendig, wechseln auch häufig die Farbe, und trifft durch Zufall ein Geschoß, so dringt es nicht durch das Limbdistengewebe, es fällt plump zu Boden, ohne zu explodieren. Sie dürfen mir glauben, meine lieben bisherigen Mitmenschen, wir arbeiten schon lange an einem Limbdistenvernichtungsgerät. . . Sie dürfen es glauben . . . wir haben . . . wir sind . . . entschuldigen Sie, ich kann nicht weiterreden, ich kann mich nicht konzentrieren, ihr Gewisper 92
macht mich fusselig, und diese Strahlen, die von ihren entsprechenden Organen, Augen oder wie man sie nennen soll, ausgehen . . . Ich bin nicht sicher, ob wir vor ihnen sicher wären, wenn wir in dreifach gepanzerten, hermetisch abgeschlossenen Tiefbunkern tagen würden. Und wie sollten von dort unsere Beschlüsse nach draußen gelangen? Schon kommt es vor, daß Limbdisten Leitungen, Sendesysteme und sogar Satelliten besetzen . . . ach, wozu es leugnen, unser Land ist nicht mehr regierbar. Der einzige bittere Trost, den ich Ihnen geben kann: die ganze Welt ist es nicht mehr. Darüber freuen sich natürlich gewisse subversive Elemente, die dem verstorbenen, aber trotzdem für mich keineswegs verehrungswürdigen Professor Limbda ein Denkmal zu bauen beginnen und zu jeder Gelegenheit sein Grab mit Blumen eindecken . . . Ich hoffe . . . ich glaube . . . entschuldigen Sie, ich muß abbrechen, auch Sie hören sicher das Gewisper dieser Limbdisten . . . sitzen mir direkt vor der Nase . . . ich lege mein Amt. . . für immer . . . liebe bisherige Mitmenschen . . . schon ihre Anwesenheit macht ein weiteres Regieren un . . .« Auszug aus einem Leitartikel der STIMME DER VERNUNFT: ». . .sagt uns die Stimme der Vernunft, wir müssen mit den Limbdisten leben. Wie sich erwiesen hat, sind sie nicht aggressiv. Möglicherweise haben wir als Menschen abgewirtschaftet. Dann müssen wir uns damit abfinden, in die zweite Reihe zu treten. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir sind nicht mehr die Herren der Welt. Und wir sollten darin einen Umstand des Glückes sehen – was haben wir bei der Lösung der dringenden Probleme ENERGIEVERSORGUNG ERNÄHRUNG DER WELTBEVÖLKERUNG ABSCHAFFUNG KRIEGERISCHER HANDLUNGEN erreicht, als noch etwas hätte erreicht werden können? Wie viele Millionen Sitzungen und Konferenzen haben wir vergeblich abgehalten? Jetzt sind wir durch das Vorhandensein der uns überlegenen Limbdisten 93
genötigt zurückzutreten. Die einzige Chance wäre, sie anzuerkennen, von ihnen zu lernen. Natürlich kann es traurig stimmen, daß wir es von uns selbst her nicht vermochten, die Erde vernünftig zu verwalten, sondern nun durch die sanfte Macht, die die Limbdisten durch ihr immer massenhafter werdendes Vorhandensein ausüben, dazu gezwungen werden. Sie nehmen uns nichts weg, zumal ihr Lebensaufwand nach bisher menschlichen Begriffen mehr als bescheiden ist. Wie man hört, nähren sie sich von sogenanntem Unkraut, und ihren Wohnraum gewinnen sie durch Schrumpfen-in-sich-selbst. Sie nehmen uns nichts weg, aber sie zwingen uns, auf Vorhaben zu verzichten, die der Erde etwas wegnehmen würden. Schon werden Stimmen laut: wenn wir als Menschen nicht mehr die Herren der Erde sind, sollten wir diesen Globus doch gleich mit den Atombomben, über die wir jetzt noch verfügen, in die Luft sprengen. Das wäre nur theoretisch möglich, denn die Limbdisten halten sich bevorzugt an Stellen, wo sich Atomwaffen befinden, in großer Anzahl auf, auch in Atom-UBooten hausen bereits welche. Neulich wurden einige an den Raketenabschußrampen angetroffen, ohne daß jemand sie verjagen konnte. Sie bringen nicht nur die Nerven führender Persönlichkeiten durcheinander, sie stören auch den Ablauf feinster elektronischer und mikroelektronischer Prozesse. Trotzdem nehmen sie dem einzelnen bisherigen Menschen direkt nichts weg, es scheint auch keine Anzeichen dafür zu geben, daß sie es künftig tun werden, wenn einige allzu eifrige Limbdistenjäger auch so orakeln. Limbdistische Wertvor stellungen sind nicht die unsrigen . . . Aus der illustrierten Familienzeitung DIE POLSTERBANK, Serie: Die zerbrochene Ehe der Magdalena S.: ». . .da habe ich ihm gesagt, wenn du dich hier noch einmal aufspielst, lade ich einen Limbdisten ein. Siehst du, da sitzt schon einer auf dem Schrank. Ich rate dir, pack deine Koffer und verschwinde, hier 94
hast du. nichts mehr zu melden. Und wenn du glaubst, ich vermisse dann etwas, täuschst du dich.« Ich hätte nicht behaupten sollen, daß Magdalena es mit einem Limbdisten treibt. Seitdem sprach sie nicht mehr mit mir. Der Limbdist sagte ja nie etwas, der hockte immer dabei und starrte mich an. Werden Sie mal so angestarrt! Das hält kein Mensch aus, das geht einem durchs Skelett. Ich packte die Koffer und ließ mich scheiden. Ich glaube, ich bin für die bisherige Ehe nicht geschaffen, ich will keine bisherige Frau mehr, ich sehe dann immer einen Limbdisten vor mir, und ich werde das Gefühl nicht los, daß sie mit ihm im Bett liegt und daß er es besser kann, ich will meinen Frieden. Oder sollte ich die Bekanntschaft einer Limbdistin suchen? STIMME DER VERNUNFT: Aus einem Tele-Interview, SpezialUmlautübersetzung durch Entwisperungsfilter. Reporter: Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem Charakter des herkömmlichen Erdbevölkerungstyps MENSCH und dem des Limbdisten? Limbdist: Wie der olle Futurus Augustus Limbda uns gemacht hat, ist er von technischen Gesichtspunkten ausgegangen. Er hat uns auch sinnestechnisch dem Menschen überlegen ausgestattet, aber er hat nichts für unseren Charakter getan. Was er auch nicht brauchte, denn unsere Überlegenheit macht uns ja schon friedlich. Unterlegene können nicht friedlich sein. Ist doch logisch. Die Menschen hampeln sich ab, sie machen sich alles unbequem, sie komplizieren alles, übertreiben alles und sind vergeßlich, sie sehen und hören nichts und sind trotz ihres dauernden Geredes stumm. Reporter: Was halten Sie von einer fortpflanzerischen Verbindung zwischen menschlichen und limbdistischen Individuen? Limbdist: Wozu sollten wir uns mit Menschen paaren, das macht ja gar keinen Spaß. Kinder würden wir sowieso nicht
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miteinander kriegen, das hat Professor Limbda verhindert, wo mit er sehr klug gehandelt hat. Es fehlte ja noch, daß unser limbdistisches Wesen durch menschlichen Einschlag vermurkst wird. Reporter: Welche Zukunft sehen Sie für den Menschen bisherigen Typs? Limbdist: Er wird mit der Zeit verholzen, verknöchern, versteinen, womit er bereits begonnen hat. Er wird nicht leiden. Reporter: Werden Sie eines Tages den Titel MENSCH übernehmen? Limbdist: Nein, wozu denn. Wir werden uns auch nicht als NEU-MENSCHEN bezeichnen, wie es Professor Limbda wollte. Unser Ziel ist es, die Menschen, die KNOCHENKÖPFE, wie wir sie nennen, an gefährlichen Unternehmen zu hindern, zu denen sie durch ihre Übertreibungssucht und Nervosität neigen. Dazu genügt unsere Anwesenheit. Reporter: Haben Sie noch andere Mittel? Limbdist: Ich wüßte nicht. Von uns geht eben etwas aus, was die KNOCHENKÖPFE verwirrt, sie handlungsunfähig macht. Reporter: Was würden Sie den Menschen raten? Limbdist: Es nützt nicht, einem KNOCHENKOPF zu raten. Und es ist auch nicht nötig. Wir sind vorhanden. Daraus wird sich alles ergeben. Reporter: Herzlichen Dank, Herr . . .? Aus einem Kommentar des WELTUNTERGANG, Gala-Almanach für höheren Pessimismus: ». . .vollzieht sich anders, als wir vorauszusehen glaubten, nicht durch einen gewaltigen Knall, einen Crash oder Bang oder Bum, sondern lautlos und ganz allmählich. Da wir den Untergang der Welt mit dem des Menschengeschlechtes gleichsetzen, kann eine Welt ohne Menschen keine Welt mehr sein, sondern nur noch 96
ein Gestirn und zwar ein unbedeutendes. Wenn man berücksichtigt, daß die menschliche Bevölkerung jährlich um eine halbe Milliarde abnimmt, ist bald auszurechnen, wann der letzte Mensch gelebt haben wird. Die Krankheit der gesamten Menschheit geht schleichend vor sich, sie ist psychologischer Natur. Wir können die Überlegenheit eines anderen biologischen Systems (ist es überhaupt biologisch, wir haben da unsere Zweifel) nicht ertragen. Es nützt nichts zu sagen: leben wir trotzdem weiter, pflanzen wir uns weiter fort. Wir sehen einfach keinen Sinn mehr darin. Wenn wir nicht herrschen können, wollen wir nicht sein. Uns geht die Fähigkeit ab, uns zur Ruhe zu setzen. Wir sind anachronistisch geworden, das müssen wir hinnehmen. Unser Almanach sieht seine Aufgabe darin, das menschliche Weltuntergangsgefühl zu kultivieren. Was bleibt uns anderes übrig, als kulturvoll abzutreten? Leben wir in unseren Werken weiter – die Limbdisten sind durchaus in der Lage und auch willens, die ewigen Werte, die wir im Laufe unserer Geschichte geschaffen haben, nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Sicher werden sie darauf bedacht sein, einige Exemplare von uns in Reservaten zu erhalten, so wie wir noch einige Löwen, Elefanten und Affen in den zoologischen Gärten erhalten haben. In der Art der Limbdisten liegt es, nichts zu vernichten, ihr Charakter ist speicherisch-haushälterisch . . .« Aus dem Zentralorgan des Bundes zur Bekämpfung der Limbdistengefahr DER STURMBOTE: »Unsere Menschen müssen sich zur entscheidenden Schlacht gegen die Limbdisten zusammenscharen. Noch sind es zu wenige, aber wenn die ganze Menschheit sich unserem Appell anschließen und sich zu ehernen Marschkolonnen gegen die Limbdisten vereinigen würde, könnte ihr mächtiger Tritt diese Pest von der Erde vertilgen. Denken wir immer daran, die Limbdisten sind durch 97
Menschenhand erstellt worden, sie werden auch durch Menschenhand wieder ausgelöscht werden. Da darf uns kein Mittel zu teuer sein, da wäre jede Rücksichtnahme antihuman. Mit Anerkennung der Realitäten, wie einige aufgeweichte Schlotterbeine es fordern, ist nichts zu machen. Lest diesen Verrätern an der Menschheit die Leviten! Beseitigt alle Unklarheiten in der Zielrichtung des Erhaltungskampfes der Menschheit! Sprecht niemals in der Sprache der Feiglinge vom >bisherigen< Menschen oder der >Bisher-Menschheit<. Es gibt nur einen Menschen, und das ist der Mensch. Denn der Sieg wird unser sein!« Meldung der Nachrichtenagentur NOVA POSTA: ». . . imposant, welches Aufgebot die Limbdistenbekämpfer noch zustande brachten, um im Tal von Harzleben ein Kesseltreiben gegen Tausende Limbdisten zu veranstalten. Die Luft war durch Hub schraubergeschwader abgesichert. Die Berghänge hatte lücken los elektronische Artillerie besetzt. Die Limbdisten durchbra chen den Kessel, ohne Verluste und ohne von einer Waffe Ge brauch zu machen. Trotzdem wurden das Tal und die darin befindlichen Siedlungen völlig zerstört, Tausende von Limbdistenbekämpfern kamen durch unfreiwillige Selbstschüsse ums Leben, der Rest ergriff die Flucht. . .« Letzte Televisions-Nachricht: »Beim Empfang einer Menschendelegation im LimbdistenCamp von Waldesruh kam es zu freundschaftlich-sachlichen Gesprächen. Der Führer der Delegation, Herr Schorschy B. K. Koljanski, schlug den Limbdisten vor, auf ein fernes Gestirn auszuwandern. Die Menschen würden zu diesem friedlichen Zweck die nötigen Raketen zur Verfügung stellen. Die Limbdi sten lehnten den Vorschlag ab. Auf die entgegenkommende Erwägung Herrn Koljanskis, daß notfalls die Menschen aus wandern würden, antworteten die Limbdisten, sie würden dann 98
– unter Zurücklassung eines Teils ihrer Mitlimbdisten, der die Erde bevölkern soll – mit den Menschen mitfliegen. Die Ver handlungen dauern an.«
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Herbert W. Franke Der Atem der Sonne Ein Meer aus leuchtendem Rot, bedrohlich, schwindelerregend: ein Abgrund! Rote Glut, langsame Strömung unter silbernen Lichtschleiern. Andere Teile blendend klar – treibende Schlacken? Inseln? Gebirgszüge? Menschliche Maßstäbe reichen nicht zur Beschreibung. Ein Ball aus Hitze und Licht, unverrückbar in den Raum gesetzt, Bezugspunkt eines kleinen Universums, lebensvermit telnd und tödlich zugleich. Die Ruhe nur scheinbar: Rotation, Verschiebungen, gerade in ihrer Langsamkeit überwältigend. Und doch: ein Chaos aus elementaren Prozessen, Anfang und Ende der Welt. Was unter der brennenden Flüssigkeit geschieht? Wechselspiel aus Aufbau und Vernichtung, gezähmt lediglich durch die eigene Kraft, Lichtdruck, Gravitation, die in der komprimierten Materie des Inneren zu Naturgewalten werden. Die Bewegung ruhig, die Strömung langsam. Stille. Doch der Frieden ist nicht ungeteilt. Da und dort ein Ausbruch, Eruptionen, Fackeln, Fontänen aus überhitzten Gasen, Stoff im Urzustand, leuchtende Perlenschnüre, im Sonnenwind wie Seile aufgespannt. Schwankungen der Helligkeit, Abglanz der gespannten Chromosphäre, kosmische Gewitter: Warnsignale für Katastrophen, bei denen Kontinente vernichtet und neu geboren werden. Es gibt nichts in unserer Welt, das diesem Anblick gleichkäme. Noch vor wenigen Wochen hätte es sich keiner von ihnen träu men lassen, der Sonne so nahe zu kommen. Gewiß erscheint sie auch vom Merkur aus höchst eindrucksvoll, und das hatte die Trans-All-Touristik AG ja schließlich dazu bewogen, Abenteueraufenthalte auf diesem Planeten anzubieten. Die 100
Hotelanlage allerdings lag aus Sicherheitsgründen auf der der Sonne abgewandten Seite; und so konnten sie das große Schauspiel nur während jener kurzen Fahrten genießen, die sie um die Lichtgrenze herumbrachten - aus dem Bereich lebloser Erstarrung in eine andere, ebenso lebensfeindliche Zone, die von den vielfachen Strahlungsarten des Zentralgestirns erfüllt war. Was hatte sie dazu bewogen, die Bequemlichkeit des Erholungszentrums mit einem risikoreichen Aufenthalt im ungedämpften Sonnenwind zu vertauschen? Vielleicht war es die Langeweile, die enttäuschten Erwartungen, von den Managern von All-Tourist in unerreichbare Höhen geschraubt. Nur wenige Tage, in denen sich das Interesse aufrechterhalten ließ, das Bewußtsein, sich weitab der Erde in kaum bekannten Regionen zu befinden. Einmal nicht Mond oder Mars, Saturn oder Jupiter, hinaus in die leeren und einsamen Weiten des Weltalls, sondern der Sonne entgegen . . . Und dann die Enttäuschung: Von hier aus sah das Zentralgestirn, von dem ihnen so viel vorgeschwärmt worden war, auch nicht anders aus als durch ein gutes Teleskop. 58 Millionen Kilometer Entfernung von der Sonne -das bedeutet, daß sich ihre lichterfüllte Fläche um mehr als das Vierfache vergrößert hatte: eine Erkenntnis, die Begeisterung kaum lange aufrecht zu erhalten vermag. Bald war das interessanteste Ereignis des Tages die Veröffentlichung des Speisezettels über die interne Videoanlage. Sie begannen die Tage bis zur Rückfahrt zu zählen. Und dann die aufregende Entdeckung des zweiten Piloten, des blonden Ungarn Teo Holasz. Er hatte, durch dicke Filterschichten hindurch, jenen Punkt gefunden, der sie alle so sehr in Aufregung versetzte. Ein dunkler Punkt vor der gleißenden Sonnenscheibe, der sich nur unter extremer Vergrößerung als winziges, unregelmäßig begrenztes Scheibchen entpuppte. Er wanderte langsam dahin, auf einer elliptischen Bahn, die gegen die Ekliptik weitaus stärker 101
geneigt war als die Umlaufbahn des Merkur. Ein unbekannter Himmelskörper? Ein neuer Planet? Höchstens ein Asteroid, denn wie Teo nach kurzen Berechnungen bekanntgab, hatte das Ding nicht viel mehr als fünfzehn Meter Durchmesser. Es konnte sich also auch um ein technisches Gebilde handeln; aber war es damals, in der Blütezeit der wissenschaftlichen Raumfahrt, schon möglich gewesen, so tief in den strahlenerfüllten Raum hineinzutauchen? Sie ließen sich die Daten von der Erde geben, erhielten aber keinen Aufschluß: Der Größe nach hätte es eine Station sein können, die seit mehr als 300 Jahren als verschollen galt, doch die Angaben über die Umlaufbahn sprachen dagegen – die alte Station hatte sich in weitaus größerer Entfernung über der Sonnenoberfläche befun den, und offensichtlich war es damals auch gar nicht möglich gewesen, so nahe heranzukommen. Die Debatten über die Entdeckung waren eine willkommene Unterbrechung des gleichförmigen Tagesablaufs, und bald wurde die Frage laut, ob es mit der Fähre möglich sein könnte, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Cheftechniker der Station wie auch die beiden Piloten waren sich einig, daß der Strahlenschutz genügen müßte. Schließlich verfügten sie über gammastrahlenabsorbierende Schwerelement-Abschirmungen und über magnetische Schutzfelder gegenüber allen Arten elek trischer Ladungen. Schließlich war es der Starreporter Mark Ballardi – der eigentlich Max Ballauschek hieß –, von dem der entscheidende Anstoß kam. Wenngleich er den Angehörigen der Reisegesellschaft ebenso wie der Besatzung durch anmaßendes Benehmen unangenehm aufgefallen war, so schien er doch Mut und Einsatzfreude zu besitzen; die Gefahren, die eine weitere Annäherung an die Sonne mit sich bringen mußte, schienen ihn nicht zu schrecken. Es war auch Ballardis Wunsch, daß sich Eva Zoerner an dieser Expedition beteiligte. Offenbar bewunderte sie ihn, fühlte sich aber andererseits - wie sie den Reisegenossen 102
gegenüber offen zugab - auch von ihm abgestoßen. Offenbar nahm der Reporter den Abstecher in den sonnennahen Raum als gute Gelegenheit, alle Zweifel zu beseitigen, die Eva noch an seiner Persönlichkeit haben mochte. Fünfte Teilnehmerin der Expedition war Petra Dorstig, von der man eigentlich nur wußte, daß sie in einer Handelsorganisation eine leitende Funktion hatte. Offenbar hatte es genügt, daß sie gegenüber der Reiseleitung ihren Wunsch zur Teilnahme bekundet hatte –, ohne großes Aufheben schlug sie einige Konkurrenten aus dem Feld, die ganz gern mitgekommen wären. Wahrscheinlich ging es ihnen nur darum, die Zeit bis zur Rückreise in den Heimathafen zu verkürzen, und so war ihr Protest gegen die Bevorzugung von Petra Dorstig nur verhalten. Selbst aus einer Entfernung von vielen Millionen Kilometern von der Sonne ist der Eindruck des Riesenhaften überwältigend. Im Gegensatz zu anderen Himmelskörpern, die zu schweben scheinen, durch Trägheit und Gravitation in Bewegung gehalten, erscheint die Sonne absolut unbeweglich, in einem festen Punkt des Raums verankert. Trotz vielfacher Unregelmäßigkeiten, Hell-Dunkel-Schichten, ringförmig um die Drehachse angeordnet, Nebelwolken strahlender oder lichtbrechender Teilchen und vielen anderen Details einer komplizierten träge bewegten Struktur ist ihr eine eigenartige, makellose Schönheit zu eigen, das geometrische Ebenmaß der Kugel, aus einer unvorstellbar großen Ansammlung von Materie gebildet. Und dieser Feuerball, eingebettet in einen Abgrund von Schwarz, das in der Umgebung - wahrscheinlich nur eine optische Täuschung - von Sternen frei zu sein schien. Diese Begrenzung, mit all ihrer geometrischen Perfektion, befindet sich dennoch in ständiger Bewegung - ein Wellenschlag, der sich weniger in einem schwankenden Auf und Ab äußert als in einer seltsamen Lichterscheinung, einem 103
ständig veränderten Glimmen und Weben, dessen Abglanz weit in die Umgebung hinein reicht. Die Aura der Sonne, ein unbeschreiblich weicher Übergang von blendender Helle in absolute Dunkelheit, Materie, aus dem feurigflüssigen Verband ausgedampft, ein heißer, elektrisch gespannter Dunst, der selbst zu leuchten scheint. Da und dort aber auch Fontänen, die sich weit über den Horizont erheben, manchmal nur ein dünner Strang, der sich von der Oberfläche erhebt und erst irgendwo in unermeßlichen Höhen in Äste zerstiebt, ein Glutre gen, der in langen Fäden wieder abwärts fällt, wie eingesogen vom Kraftfeld, dessen Existenz fast körperhaft zu empfinden ist. Es war kein Asteroid, kein natürliches Gebilde, vom Schwere feld der Sonne eingefangen, sondern eine Station, ein Observa torium, und es mußte aus jener Zeit vor 300 Jahren stammen, als die Erlangung wissenschaftlicher Daten noch als kultureller Auftrag galt. Inzwischen interessierte sich niemand mehr dafür, Kultur spielte sich in einem geistigen Bereich ab, jede Anlehnung an materielle Dinge galt als Rückgriff auf eine archaische Zeit, als sich der Mensch noch durch die Mächte der Natur oder einer aus den Fugen geratenen Technik bedroht gefühlt hatte. Aus dieser Zeit stammte die Kenntnis, wie man die Systeme in Gang hielt, was glücklicherweise vor allem mit Hilfe von Automaten möglich war. Natürlich war es ein leichtes, die Daten über die frühen Unternehmungen der Weltraumfahrt von der Erde abzurufen, und das hatten sie auch getan. Dort hatte man es aber, wie es schien, nicht besonders eilig gehabt, und so waren sie ohne diese Informationen gestartet; man könnte sie ja immer noch übermitteln. Wie sich herausstellte, war die Funkverbindung aber stark gestört, sobald sie aus der Schattenzone kamen, und so begnügten sie sich mit einigen routinehaften Meldungen. Sie machten sich auch keine besonderen Gedanken, als die 104
Verständigung schon kurz darauf abbrach. Wenn das kleine Raumboot, das sonst nur Besichtigungszwecken diente, auch nicht gerade bequem ausgestattet war, so genügte es doch allen Geboten der Sicherheit. Ja, noch mehr: Energieversorgung, Lebenserhaltungssystem, Strahlungsschutz und noch vieles andere waren auf jene nahezu völlige Risikolosigkeit angelegt, wie sie für Touristikunternehmen vorgeschrieben war. Durch die dicken Filterscheiben hindurch, deren Absorptionswert automatisch auf die Empfindlichkeit des menschlichen Auges eingeregelt wurde, beobachteten sie die Sonne, und schon nach zwanzig Stunden, kurz nach der Nachtruhe, auf deren Einhaltung Kapitän Gray bestanden hatte, konnten sie den dunklen Körper ihres Ziels mit freiem Auge erkennen. Aber natürlich hatten sie sich schon vorher der an Bord befindlichen Teleskope bedient und das Objektbild füllend auf die angeschlossenen Monitore gebracht. So konnten sie bald die typische Form altertümlicher Raumstationen erkennen, einen unregelmäßig gekanteten Körper mit vielerlei Streben und Auswüchsen, dazu mehrere nach allen Seiten abstehende Antennensysteme und die weit ausladenden Sonnensegel, damals – im Zeitalter vor der Kernfusion – die beste Möglichkeit, Satelliten und Raumlaboratorien mit Energie zu versorgen. Für einige Stunden beschleunigten sie auf 60 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, durch ihre Gravitonenspulen vor dem Andruck geschützt. Es dauerte keine dreißig Stunden, bis sie in unmittelbarer Nähe der Station lagen. Jetzt endlich hatte sie dreidimensionale Form angenommen, sie wirkte primitiv und urwüchsig, ihr fehlten die meisten jener schon selbstverständlich gewordenen Ausstattungen der modernen Weltraumfahrt – der vom Hauptsystem abgesetzte Reaktorteil, die Antigravspulen, die Feldinjektoren für die Kollisionsschutzsphäre –, dafür wies es einige altertümliche Teile auf, deren Bedeutung längst vergessen war. Die 105
Metallhülle blinkte nur matt, sie schien aufgerauht, verrostet – Spuren der Jahrhunderte hindurch aufprallenden Materieteilchen. Die Station wirkte wie ein totes Insekt, die Flügel in der Erstarrung ausgebreitet, die Beine im Krampf ausgestreckt, der Sonne den Rücken zugewandt. Sie sahen, daß sie es mit einem Wrack, mit einer Ruine zu tun hatten, Erschei nungsbild der Vergänglichkeit angesichts der Allgewalt der Sonne. Zum ersten Mal spürten sie so etwas wie einen Schauder, erfaßten das Ausmaß der Einsamkeit, in der sich der Mensch in dieser Region befindet. »Und was jetzt?« Es war Petra, die die Frage stellte. Mit den andern stand sie am großen Besichtigungsfenster, eigens für Sonnenbeobachtungen durch Touristen eingerichtet. Ihre Hände lagen auf der Lehne ihres Schalensitzes, ein wenig fester als gewöhnlich. Nur langsam schüttelten sie die besondere Stimmung dieses Augenblicks ab, versuchten die Situation - wie es ihre Art war zu überspielen. »Wir gehen hinüber«, sagte Ballardi, als ob das die einfachste Sache der Welt wäre. Natürlich hatten sie von vornherein vorgehabt, die alte Station zu besichtigen, dieser Besuch, sicher ein Nervenkitzel besonderer Art, war ja ihr Ziel. Bisher hatte sich allerdings keiner der Touristen den Kopf darüber zerbrochen, wie das technisch zu bewerkstelligen sei, und so wandten sie sich an Kapitän Gray, der nun ein wenig spöttisch lächelte. »Es gibt doch die Möglichkeit hinüberzukommen - oder?« Fast hatte es den Anschein, als läge Petra Dorstig von ihnen allen am meisten daran, die Station zu besichtigen. »Normalerweise würden wir unsere Raumanzüge benutzen«, erklärte Gray, »doch das wäre wohl ein wenig unbequem. Und abgesehen davon – dazu bedarf es auch einiger Übung.« »Nehmen wir das Notsystem?« fragte Teo Holasz. Gray stimmte ihm zu. »Für den Fall einer Notlandung auf 106
einem Planeten oder einem Mond haben wir die Möglichkeit, eine Schaumstoffverbindung zu legen. Sie paßt sich jeder Umgebung an und schließt druckfest ab. Es ist zwar gegen die Vorschrift, aber was soll's - ich werde das Ganze als Übungstest eintragen.« Mit Teo verließ er die Aussichtskanzel, während die drei Touristen zurückblieben. Eva, die sich zusammen mit Teo ein wenig um die Versorgung gekümmert hatte, holte Becher mit schäumendem Astro-Cola. Aus dem Lautsprecher klang leise Musik – wahrscheinlich durch die Automatik eingeschaltet, die aus dem Sprachklang auf die Stimmungslage schloß. Von ihren gepolsterten Sitzen aus beobachteten sie, wie sich von ihrem Schiff aus ein gelblicher Klumpen Schaum ausbrei tete, zuerst, ohne die zerrenden Kräfte der Gravitation, in Form einer Halbkugel. Dann eine kurze Pause in der aufblähenden Bewegung . . . eine neue, kleinere Kugel, wie ein Auswuchs an der ersten, wuchs wie diese zu einem Durchmesser von rund drei Metern, dann die nächste angesetzte Kugel. . . schließlich, nachdem sich das Ganze etwa vierzigmal wiederholt hatte, erreichte der Schaum die Wand der Station. Der Kapitän hatte mit Vorbedacht darauf verzichtet, eine Luke oder Tür anzuvisieren, deren Funktion wahrscheinlich längst erloschen war. Es erschien ihm sicherer, sich durch die Wand hindurchzubrennen. Eine kurze Wartezeit, vielleicht zehn Minuten, während der der Schaum zu einer flexiblen, doch außerordentlich konsistenten Masse erstarrte. Kurz vor der endgültigen Verfestigung schmolz Teo, der zweite Pilot, einen zylindrischen Hohlraum durch die Verbindung, der auf diese Weise durch eine zusätzliche Kunststoffschicht isoliert war. Die Reisenden hielt es nicht in der Kanzel, sie traten in die Schleusenkammer, die bereits geöffnet war – der Hohlraum, die Verbindung zur alten Station, war von atembarer Luft er füllt, doch Gray wies sie an, sich noch etwas zu gedulden; er hatte nicht die Absicht, sich eine Unvorsichtigkeit zuschulden 107
kommen zu lassen. Erst trieb er einen Hohlbohrer durch die Wand, prüfte Luftzusammensetzung und Druck des Innen raums. Er hatte nicht erwartet, daß dort noch der menschlichen Existenz angepaßte Verhältnisse herrschen würden, und selbst als er sich davon überzeugt hatte, tauschte er die Luft doch lieber aus, bevor er mit dem Handlaser eine fenstergroße Platte aus der Metallwand brannte. Nun erst war der Einstieg frei. Der Augenblick, als die Scheibe zu Boden kippte - langsam, denn das künstliche Gravitationsfeld reichte nur noch schwach hierher - war sicher der entscheidende während dieses Unter nehmens. Darauf hatten sie sich gefreut, und nun waren sie ungeduldig, ließen sich nicht mehr zurückhalten. Mit unge schickten Bewegungen unter den ungewohnten Gravitationsverhältnissen stemmten sie sich vorwärts, drangen durch die scharfkantig begrenzte Öffnung, verharrten kurz . . . einige waren so schlau gewesen, sich mit Taschenlampen zu versorgen, und so tasteten sich nun Lichtkegel in die schon Jahrhunderte hindurch ungestörte Dunkelheit. Viel war allerdings nicht zu erkennen: einige Metallstreben, Röhren, mehrere Schränke, alles eng verschachtelt, wie es eben den Beschränkungen der veralteten Technologie entsprach. Teo war, die Hände rechts und links an die Wände gestützt, einige unsichere Schritte vorgegangen - trotz der überholten Konstruktion folgte sie derselben Logik, und so fand er ohne viel Mühe die Schalter ... ein Griff, und der Raum war von mattem Licht erfüllt. Das Energiesystem schien also noch zu arbeiten, die Sonnensegel waren noch intakt. Dieses lautlose Einsetzen eines technischen Prozesses, die Selbstverständ lichkeit, mit der es geschah - nach einer jahrhundertelangen Pause - wirkte geradezu absurd. Es deutete an, daß es eben doch mehr als leblose Reste, Ruinen einer vergangenen Zeit, waren, was sie zu besichtigen sich anschickten, daß etwas Lebendiges erhalten geblieben war, zu Aktionen und Reaktionen fähig. 108
Plötzlich schob sich die Frage, die sie bisher verdrängt hatten, wieder in den Vordergrund: Wo war die Besatzung geblieben? Würden sie auf mumifizierte Leichen stoßen? Lauerte dort, hinter der nackten Wellblechwand, das Grauen? Es war so, als ob sie eine unbestimmte Furcht zusammenhielt – keiner entfernte sich, keiner ging auf einen eigenen Entdeckungsgang. Schließlich war es der Kapitän, der sich entschloß und durch die Luke trat, hinter der sich der einzige größere Raum verbergen mußte. Unwillkürlich dachte er an die Grabkammer einer Pyramide. Im zentralen Raum der Station befand sich nichts Schreckenerregendes, nichts, das ehedem lebendig gewesen sein könnte. Dicht gedrängt - eine Folge des Platzmangels technische Instrumente, Tastaturen, Schaltbretter, Regale mit abgestellten Bändern und Disketten. Der Sonne zugewandt das gewölbte Fenster aus dunklem Bleiglas. Aber immer noch hell genug breitete sich davor die Hitzewelt der Sonne aus, im beengten Gesichtsfeld geradezu greifbar nahe. Die Bewegungen sind langsam, kaum merklich, aber was bedeutet das schon? Was aus der Distanz wie Ruhe aussieht, ist in Wirklichkeit unbändige Bewegung. Aus dem orange strahlenden Glutmeer stechen immer wieder die weißen Blitze von Nadeln empor, nur einige Sekunden lang, und wieder, an anderer Stelle . . . Manchmal erheben sich ganze Schollen aus zerbröckelnder Glut, braune Abgründe in den offenen Schrunden, Pfeiler aus leuchtendem Gas, aus dem Inneren ausgestoßen. Dazu die Fackeln mit ihren dunklen Herden, Eruptionen elektromagnetischer Stoßwellen und Kaskaden kosmischer Strahlung . . . Über allem aber, majestätisch, der große Strom. Man muß lange hinsehen, ehe man ihn als Veränderung erkennt. Wandernde Sonnenflecken, von chromosphärischen Wirbeln begleitet. . . weit auslaufende, granulierte Flammenbögen, von eingefrorenen Magnetfeldern 109
gefangen. Aber das alles geschieht äußerlich, ist sekundär. Eine dünne Haut, die Äonen jungfräulicher Sternmaterie umschließt, durch Kernprozesse aneinander gebunden und abgestoßen zugleich. Wer will behaupten, daß diese Massen tot sind? Vielleicht - an den kleinlichen menschlichen Dimensionen gemessen . . . Viel leicht ist es das eigentliche Leben, das dort lodert - von dem das unsere nur schwacher Abglanz ist. Wer will behaupten, daß Höchsttemperaturen Leben verhindern? Ist es nicht vielmehr so, daß es sich, getrieben von elementarem Energieumsatz, weitaus stärker äußern kann, sich viel variabler strukturiert, zu einer Vollkommenheit findet, die für menschliches Begreifen unzugänglich ist? Von diesem Ball aus Licht und Feuer geht eine ungeheure Anziehungskraft aus! Er ist der Lebensspender, allein von dem, was als Nebenergebnis der eigentlichen Umsetzungen abfällt, existiert das ganze Planetensystem dieser einsamen Sonne. Kann es ein Verstehen geben? Man müßte mehr wissen . . . mehr wissen... Keiner konnte sich diesem Schauspiel entziehen, und doch wirkte es auf jeden anders. Mark Ballardi betrachtete es mit Genugtuung- als wäre er der Urheber und die anderen hätten es ihm zu verdanken. Eva Zoerner betrachtete das Spiel des weißen und orangefarbenen Lichts wie ein wirkungsvoll inszeniertes Feuerwerk. Petra Dorstig bemühte sich um Distanz, und obwohl sie äußerlich ruhig schien, bewegte es sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Kapitän Gray versuchte die Erinnerungen an das zu aktivieren, was er - im Zusammenhang mit Sicherheitsvorschriften und Rettungs übungen - einst über das Zentralgestirn gelernt hatte; und er runzelte die Stirn, weil der Zusammenhang mit dem, was er vor sich sah, kaum herzustellen war. Teo Holasz war gefangen, er vergaß alles andere um sich herum, wußte zuletzt nicht einmal 110
mehr, was es eigentlich war, dem er sich hier mit der ganzen Intensität seiner Empfindungen widmete. »Wollen wir uns ein wenig umsehen?« Es war der Kapitän, der die von zwiespältigen Gefühlen erfüllte Stille unterbrach. Wie aus einem Traum gerissen, wandten sie sich ihm zu – außer Teo, der noch immer regungslos unter dem Bleiglasfenster saß. »Wir sollten uns umsehen«, schlug Eva vor. »Ich wüßte zu gerne, was hier geschehen ist. . .« »Na, was schon«, unterbrach sie Mark. »Von hier aus haben sie ihre Meßdaten gesammelt, und nach Beendigung ihrer Arbeit hat man sie abgeholt und zurück zur Erde gebracht. Wenn man es sachlich sieht – nichts als Routine.« Gray drehte sich zu Teo herum, faßte ihn an der Schulter und schob ihn vom Ausguck weg. »Laß es gut sein!« sagte er gutmütig. »Vielleicht doch ein bißchen mehr«, widersprach Petra. »Ihr habt doch gehört: Es ist nichts von einer Station bekannt, die so nahe an die Sonne herangekommen wäre. Wie lang konnten sie es mit ihren primitiven Schutzmaßnahmen hier überhaupt aus hallen? Es wäre durchaus möglich, daß hier ein Unglück geschehen ist.« Ihre Worte schwebten im Raum, vielleicht hatte der eine oder andere etwas ähnliches gedacht, aber Petra hatte es als erste ausgesprochen. »Ich schlage vor, wir sehen uns systematisch um«, sagte Gray. Er blätterte einen Stoß Disketten durch, die auf dem Tisch gestapelt lagen, versuchte, aus den Aufschriften klug zu werden. Dann steckte er eine in den Schlitz des Laufwerks. Ein in der Wand eingelassener Monitor wurde hell, nach kurzem Flackern erschienen darauf lange Reihen von Zahlen. »Ach, ich dachte schon . . .« Eva konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Du wirst doch nicht gedacht haben, er hätte uns eine Nach 111
richt hinterlassen!« Mark demonstrierte wieder seine Überlegenheit, doch Eva warf ihm einen zornigen Blick zu, und er verstummte. »In zwei Stunden beginnt die Ruhezeit – ich bestehe darauf, daß sie eingehalten wird«, sagte Gray. »Ich werde mir die Disketten durchsehen, vielleicht finde ich etwas, was uns Aufschluß gibt. Ich vermute, daß sich irgendwo auch Privatsachen befinden – schließlich waren es lebendige Menschen, die sich hier befanden.« Petra blickte sich suchend um, trat dann auf einen in Deckennähe montierten Wandschrank zu. Der Deckel ließ sich mühelos heben, einige Kleidungsstücke kamen zum Vorschein. Petra holte sie mit zwei Fingern heraus, entfaltete sie – eine Jacke, eine Hose, einige Hemden, alles grob und einfach geschnitten - Gebrauchswäsche. Die andern hatten ihr gespannt zugesehen, nun wandten sie sich ein wenig enttäuscht ab, suchten selbst eine Ecke, in der sie kramen konnten. Die Unterhaltung verstummte, nur gelegentlich machte einer die andern auf etwas aufmerksam, was er gefunden hatte: einen Zettel mit unleserlichen Aufzeichnungen, ein Abzeichen mit der Aufschrift AERO-SPACE, ein verblichenes Foto mit der Ansicht einer Stadt. In einer Nische fand Eva Reste einer Mahlzeit, in Plastikgeschirr eingetrocknet; als sie einen Teller vom Bord nahm, rieselte Staub herab. Teo machte Gray auf lose an der Decke befestigte Metallplatten aufmerksam, und nach einiger Diskussion einigten sie sich darauf, daß die Besatzung vermutlich versucht hatte, nach der Sonnenseite hin eine zusätzliche Strahlenschutzverkleidung anzubringen. Petra hatte sich an ein Bandgerät gesetzt. »Daten der Sonnenforschung«, erklärte sie. »Der Mitschnitt eines Vertrags . . . vielleicht erfahren wir etwas über diese Station . . .« Eine in der Lautstärke mehrfach schwankende.Stimme zählte historische Daten auf– 1958, Beobachtungen von Sonnenflares von einem Ballon aus, 1971, Satellit OSO-7, ein Ausbruch von 112
Radiostrahlung, 1973, Start von Sky Lab, drei Besatzungsmitglieder, 1980 abgestürzt. . . Sie ließen das Band weiterlaufen, übersprangen die darauffolgenden Ereignisse, um schließlich festzustellen, daß der Vortrag mit einer etwas ausführlicheren Beschreibung des Solaris-Flugs – der erste Vorstoß über die Merkurbahn hinaus – schloß. Die erwähnten Ereignisse sagten ihnen nichts, sie konnten sich nicht recht vorstellen, um was es den Forschern damals gegangen war und blieben weiterhin auf Vermutungen angewiesen. Den ersten echten Fortschritt erzielte Kapitän Gray an seinem Computerterminal. »Ich glaube, ich habe das elektronische Bordbuch gefunden, da haben wir auch zum ersten Mal Jahreszahlen: 2042, das stimmt mit unseren Annahmen überein. Leider sind riesige Mengen von Daten dazwischengeschoben, es wird lange dauern, ehe ich alles rekonstruieren kann. Ich werde das System mit unserem Bordcomputer verbinden und die Nacht benutzen, um die Daten zu überspielen. Und nun wird es allmählich Zeit. . .« Von den ungewohnten Anstrengungen und der uneingestandenen Aufregung ermüdet, folgten sie der Anweisung. Und wenn auch einige von ihnen keinen rechten Schlaf fanden, so blieben sie doch ruhig in ihren Kojen liegen und vermochten es nicht – weder im Wachen noch im Träumen - sich von den Ereignissen der letzten Stunden zu lösen. Nach etwa fünf Stunden kam es zu einer unerwarteten Unter brechung ihrer Ruhezeit. Es war ein aufgeregt piepsendes Signal, das über die Lautsprecher in ihre Kabinen drang, und dann setzte eine unbekannte Stimme ein: »Eruption in Sektor 73 Berta. Alle auf Station! Fortsetzung der Meßreihen 17,206,2.18. Datenaufnahme im Ultravioletten, Radiowellenund Röntgenbereich. Achtung, alle auf Station!« Sie waren noch im Schlaf verfangen, doch keiner konnte die Aufforderung der unbekannten Stimme einfach übergehen. Sie sammelten sich im Kanzelraum, noch etwas übernächtigt, 113
ungekämmt und steif, nur der Kapitän hatte seine Uniform korrekt zugeknöpft, die Mütze auf dem Kopf. »Woher kam das?« Sie blickten sich um, als könnten sie die Ursache auf diese Weise ausfindig machen. Gray schien ein wenig beunruhigt, man sah es ihm an, obwohl er sich zu beherrschen versuchte. »Einen Moment, ich will mich nur vergewissern . . .« Eilig verließ er den Raum. Als er nach zwei Minuten zurückkam, schien er ein wenig entspannt, doch ein letzter Rest Unruhe schwang immer noch in seiner Stimme. »Wie ich vermutet hatte . . .« - er holte tief Atem - ». . .es kam vom Computer der Station - ihr erinnert euch, ich habe ihn mit unserer Automatik verbunden. Es muß sich um die Reaktion einer automatischen Kontrolleinrichtung handeln. Wieso die Meldung allerdings in unser Kommunika tionsnetz kommen konnte, ist mir schleierhaft.« Mark Ballardi meldete sich mit einem Handzeichen zu Wort - ganz im Gegensatz zu seinem gewohnten selbstbewußten Verhalten. »Eine Eruption . . . was bedeutet das? Ultraviolett, Röntgenstrahlung. . . vielleicht handelt es sich um einen Alarm!« »Ja, vielleicht befinden wir uns in Gefahr?« Der Kapitän versuchte sich im Stimmengewirr Gehör zu ver schaffen. »Doch nicht für uns! Ich versichere euch: Hier sind wir völlig vor Strahlung gesichert. Immerhin haben sich die Zeiten geändert – heute verfügen wir über Sicherheitsanlagen, von denen die damals nur träumen konnten.« Sie glaubten ihm nur allzu gern, doch wieder hatte sich ein Anflug von Unruhe ausgebreitet, brachte etwas zum Schwingen – eine urtümliche Bereitschaft zur Angst -, was sie längst in sich erloschen glaubten. »Schauen wir uns doch diese Eruption einmal an!« forderte Mark, der seine Fassung rasch wiedergewonnen hatte. Der Ka pitän löste die Sperre der Filterautomatik - in den Ruhezeiten waren sie stets voll eingeschaltet. Langsam wurde das Glas 114
durchsichtig, aus dem diffusen Grau heraus kristallisierte der gleißende, die lebensbedrohende Strahlung aussendende Ball. Zentrum der Strahlung, Zentrum des Lichts, Zentrum der Fel der, die weit in den Kaum der einsam kreisenden Planeten hineinreichen. Folgen kernphysikalischer Prozesse, oder viel leicht etwas ganz anderes: eine Botschaft! Was dort unten ge schieht - was es auch immer ist, ob wir es Leben nennen oder nicht: Es ist das wichtigste Geschehen in diesem Winkel des Weltalls, das einzig Wesentliche, was sich begibt. Wer es verstehen will, darf keine Angst haben, darf nicht zögern . . . Die Figuren dort unten . . . Ausbrüche von Feuer, sich aneinander reibende Walzen aus Glut, Spalten in aufsteigenden Magmamassen, die Bögen der leuchtenden Gasfontänen . . . Wir haben alles völlig falsch gesehen. Erklärungen nach Zahlen und Formeln . . . lächerlich, das Geheimnis auf diese Weise entschlüsseln zu wollen! Vielleicht etwas ganz anderes, in den Bergen aus Licht nur schwer erkennbar. . . Vielleicht ausgestreckte Hände, ein Gesicht? Man müßte den Ausdruck erkennen . . . die Gedanken, die dahinterstecken. Nur der kann sie erkennen, der keine Angst davor hat. Näher . . . immer näher . . . Sie versammelten sich vor dem Teleskop, im Zentrum des Blickfelds die angekündigte Eruption. »Immerhin – es war keine Falschmeldung!« versuchte Mark zu scherzen. Doch das, was sie sahen, ließ sie nicht mehr so unberührt, wie noch vor einigen Tagen, als sie das Raumboot für einen Abstecher aus dem Merkurschatten heraus benutzt hatten. Es war nicht mehr der physikalische Prozeß, nicht mehr das Spiel des Lichts, was ihre Augen und ihr Verstand erfaßte, zum ersten Mal begriffen sie, daß Erscheinungen mehr sein konnten als dem Menschen auf irgendeine Weise dienliche Belanglosigkeiten: zur Beschaffung von Nahrung und Energie, zur Sicherung von Le 115
ben und Gesundheit oder auch nur zur Unterhaltung und Be wunderung. Nein, das, was dort aus einem riesigen, kesselarti gen Krater emporstieg, war die elementarste Gewalt selbst, ein kosmisches Gewitter, eine nukleare Explosion. Gegenüber die sen Ausbrüchen ist der Mensch ein Nichts! Aber selbst damit war das Eigentliche nicht erfaßt, die Erkenntnis, die - auf be wußtem oder unbewußtem Weg - in ihnen Fuß faßte: Die riesige Weite, die aufgebauten Felder, die gestapelten Absorptionsplatten . . . das alles war lächerlich im Vergleich zu dem, was dort -in unermeßlicher Weite oder in unmittelbarer Nähe? - frei wurde. Dieses Eigentliche reichte durch Potentialwälle und Filter hindurch, erreichte sie unmittelbar. Es war nichts Physikalisches, sondern etwas ganz anderes, was sie noch nie verstanden hatten und auch jetzt nur ahnten. Der Kapitän hatte sich als erster dem Einfluß des Spektakels entzogen. Obwohl seine Aufgabe die der Dienstleistung war, zum Gefallen der die Erde verlassenden Reisenden, so war er doch am stärksten der Technik verhaftet, und so drängte es ihn auch nachhaltig dazu, für das seltsame Geschehen der Nacht Erklärungen zu finden. Sie hatten nicht bemerkt, daß er sich zurückgezogen hatte, und waren nun geradezu erstaunt, als er an der Tür erschien. »Kommt mit, ich habe etwas gefunden . . . ein Videoband . . .« Sie folgten ihm hinüber in die Station, stellten oder setzten sich vor den Monitor, den er ihnen wies. Er schaltete die Wiedergabe ein, auf dem Bildschirm erschien der Kopf eines Mannes. Er war verschwommen, man konnte gerade noch ahnen, daß er weder besonders alt noch besonders jung war, ein Gesicht ohne besondere Merkmale. Dann erklang die Stimme, die sie schon einmal gehört hatten: »Heute ist der 12. November 2051. Heute habe ich einen schwerwiegenden Entschluß gefaßt: Ich habe die Station um 20 Millionen Kilometer näher an die Sonne gebracht. Hier ist die Strahlung dichter, doch für einige Wochen läßt 116
es sich aushalten. Ich hätte es nicht getan, wenn es nicht notwendig gewesen wäre. Aus der Ferne ist alles viel zu undeutlich, viel zu vage. Man muß näher heran, um die wesentliche Information aus dem Untergrund der Störungen zu lösen. Ich bin allein an Bord, für niemand anderen verantwortlich. Solange ich mich hier befinde, werde ich keine Minute ruhen, um das Rätsel zu lösen. Ich habe die Zentraleinheit so programmiert, daß sie fast ebenso gezielt arbeiten kann wie ich selbst. Diesem Ziel ist alles unterzuordnen, selbst für den Fall, daß mir etwas passieren sollte . . .« Während seiner Worte, die hin und wieder von längeren Pausen unterbrochen waren, hatte er den Kopf kaum bewegt – er war so undeutlich geblieben wie von Anfang an, und ebenso undeutlich blieben die Vorstellungen und Ziele dieses Mannes. Es war 300 Jahre her . . . Was auch immer geschehen war, dieser Mann konnte nicht mehr am Leben sein. Und trotzdem war sein Wille, sein Durchsetzungsvermögen immer noch un glaublich stark. War nicht er es gewesen, der sie dazu gebracht hatte, ihren sicheren Standort zu verlassen und sich in die weiten Felder des Sonnenwinds hinauszuwagen? Ging es nicht auf ihn zurück, daß sie jetzt, während der Ruhepause, in der Station zusammengekommen waren, seiner Aufforderung Folge leistend? War nicht er es, der – wenn auch über eine technische Anlage – über Raum und Zeit hinweg zu ihnen sprach? Auf einmal waren sie dieses Abenteuers überdrüssig. Alle Erwartungen, alles Interesse waren plötzlich verflogen. Was, beim Himmel, hatte sie dazu getrieben? Sollte die Station doch noch Tausende von Jahren um die Sonne kreisen, bevor sie endgültig hineinstürzte, um atomar zu verglühen! Was ging es sie an? Diese verlassenen Räume, die peinlich gepflegten, immer noch funktionsfähigen Meßanlagen . . . nichts anderes als Relikte einer irregeleiteten Vergangenheit. Es war das 117
beste, sie wieder der Zeitlosigkeit zu überantworten, sie zurückzulassen, nutzlos, wie sie es immer gewesen waren, und zurückzukehren in die eigene Welt, in der es wahrlich Besseres zu tun gab, als sich mit Gammastrahlenausbrüchen und Eruptionen herumzuschlagen. Sie brauchten sich nicht lange zu verständigen. »Gehen wir, brechen wir auf!« Fünf Minuten später teilte ihnen Guido Gray schreckensbleich mit, daß sich ihr Raumboot nicht starten ließ. Und, als hätte sie auf den Einsatz gewartet, ertönte neuerlich die Stimme: »Sonnenflecken in Sektor 07, Paula, starker Radiowellenausbruch. Aufgabe: spektrale Untersuchung. Achtung, Messungen unverzögert aufnehmen!« »Ich glaube, wir sind in Schwierigkeiten«, stellte Petra unnatürlich ruhig fest. »Schwierigkeiten, daß ich nicht lache!« Im Gegensatz zu Petra hatte der Journalist seine Gefühle nicht in der Gewalt, und er hatte auch gar nicht die Absicht, sich darum zu bemühen. Er ging auf Gray zu, hob den Arm, als wolle er zuschlagen. »Was soll das heißen:. . . läßt sich nicht starten! Dann tu eben was, um das verdammte Ding in Fahrt zu bringen!« Während Gray unwillkürlich einige Schritte zurückwich und nach Worten suchte, sagte Petra kalt: »Mark, benimm dich!« Obwohl sie ganz leise gesprochen hatte und auch keinerlei Drohung in ihrer Stimme lag, folgte der Reporter unverzüglich. Es sah aus, als hätte er seine Aufregung innerhalb einer Sekunde abgeschüttelt, wiewohl die Angst offensichtlich geblieben war. »In dieser Situation sollten wir vor allem Ruhe bewahren«, erklärte Petra. »Setzt euch!« Obwohl es ihnen widerstrebte, folgten sie ihr, und sie merkten, daß ihnen dieser erste Schritt zur Selbstbeherrschung guttat. »Also, Guido, nun berichte! Warum ließ sich das Schiff 118
nicht starten?« »Keine Reaktion . . . keine Zündung ... ich verstehe es einfach nicht!« Er furchte die Stirn, auf der Schweißperlen standen. Petra beobachtete ihn aufmerksam. »War das alles?« fragte sie. Gray sah einen Moment lang erstaunt auf, dann senkte er wieder den Kopf. »Nein . . . nicht alles. Es war unerklärlich...« Die andern sahen ihn irritiert an, und es schien, als würde er im Kreuzfeuer der Blicke in sich zusammensinken. »Also!« forderte Petra unerbittlich. »Eine Stimme . . . ich habe mit dem Computer gesprochen.« Wieder zögerte er. Er merkte, daß ihm die anderen keine Aus flucht ließen. So unwahrscheinlich es war, so unglaubhaft. . . »Der Computer gab den Befehl, die Daten aufzunehmen. Eher gibt er uns keine Starterlaubnis.« Mark beugte sich vor, verlagerte das Gewicht auf die Beine, als wollte er aufspringen. »Du bist verrückt!« Eva, die neben ihm saß, hielt ihn am Arm fest. Der leise Druck genügte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen. »Wer hat das noch gehört - diese Unterhaltung mit dem Computer?« Petra blickte in die Runde . . . niemand antwortete. »Ich allein«, bestätigte Gray. »Ist so etwas technisch möglich? Andernfalls müßte es sich um eine Halluzination handeln. Könnte im Notfall Teo das Boot starten?« »Gewiß, unter normalen Umständen . . .« Es schien, als sei Teo aus tiefen Gedanken erwacht. »Dann versuche dein Glück!« forderte ihn Petra auf. »Doch nun zu meiner Frage: Ist es möglich, daß uns der Computer zurückhält?« Der Kapitän tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, er schien sich beruhigt zu haben. »Aber gewiß«, antwortete er. »Voraussetzung ist allerdings, daß jemand so 119
etwas programmiert. Normalerweise kann ich mir nicht denken . . . aber hier . . .« Er führte seine Vermutung nicht weiter aus. »Verstehe ich richtig«, fragte Eva, »dieser unbekannte Mann, den wir auf dem Bildschirm gesehen haben ... Er hat es so eingerichtet. . .? Aber er konnte doch nicht wissen – es war reiner Zufall, daß wir hierher kamen!« »Vielleicht hat er jemand ganz anderen erwartet«, vermutete Gray. »Vielleicht die Besatzung eines Raumschiffs, die ihn ab holen wollte, vielleicht eine Rettungsmannschaft, die ihn aus der gefährlichen, sonnennahen Zone holen sollte – denn für damalige Verhältnisse war es Wahnsinn, ein solches Risiko einzugehen.« Wahnsinn – nun war das Wort gefallen. Waren sie tatsächlich in der Hand eines Wahnsinnigen, der, auf ungeklärte Weise verschollen und längst tot, seinen unheilvollen Einfluß aufrechterhalten hatte? »Wo ist er geblieben?« Eva sprach es aus, woran nun alle dachten. Wo war er geblieben? Das Schiff war noch betriebsbereit, das System funktionstüchtig, der Computer intakt - in der langen Zeit, die seit den unerklärlichen Entscheidungen dieses Mannes vergangen waren, war niemand hier gewesen. Die Station kreiste um die Sonne, 300 Jahre lang, von Strahlung durchsetzt, einem Bombardment unzähliger atomarer Geschosse ausgesetzt, und doch beständig genug, um auch noch danach ihre Wirkung zu entfalten. Und der Initiator aller dieser Ereignisse - verschwunden . . . In diesem Moment kam Teo zurück. »Es stimmt, wir sitzen fest!« Er schwieg kurz, dann setzte er leiser hinzu: »Auch ich habe die Stimme gehört, wir müssen die Arbeit fortsetzen, es bleibt gar nichts anderes übrig. Er hat sein Leben geopfert, um mehr zu erfahren als je ein Mensch zuvor.« Eigentlich war keiner unter ihnen, der erwartet hatte, daß Teo das Schiff starten würde. Jetzt blickten sie sich wortlos an, zuckten die Achseln. 120
»Und wenn wir uns weigern?« »Sollen wir es darauf ankommen lassen?« Ihre Stimmen klangen durcheinander. »Können wir uns denn nicht wehren?« fragte Eva kläglich. »Müssen wir tun, was uns da gesagt wird?« Und nochmal die Frage: »Und wenn wir uns wehren?« Plötzlich blickten sie alle auf Petra, als wären sie sich einig darüber, daß sie zu entscheiden hatte. »Die Daten aufnehmen, die Meßgeräte bedienen . . . können wir das überhaupt?« Sie wandte sich an Gray. Dieser überlegte kurz. »Es dürfte nicht schwer sein. Die Messungen selbst führt die Automatik aus, offenbar geht es nur darum, die Geräte einzu stellen, den Datenfluß zu dokumentieren. Aber ja, das sollte möglich sein. Aber wollen wir wirklich?« »Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Petra entschieden, »daß wir es nicht mit einem menschlichen Gegner zu tun haben. Wenn es auch ein Mensch war, der das System programmiert hat, so können wir nicht voraussehen, wie es sich verhält. Es hat das Lebenssystem in der Hand - keiner von uns hat Kenntnisse genug, um manuell einzugreifen. Und wir dürfen nicht unbedingt ein Wechselspiel von Drohungen, Demonstrationen der Macht und fein säuberlich dosierte Konsequenzen erwarten. Vielleicht passiert nichts, wenn wir uns weigern. Aber sicherer ist es, dem Befehl zu folgen. Es wird niemand von uns schaden, wenn wir uns mit den Meßgeräten beschäftigen. Klar, daß wir unseren klaren Verstand erhalten und jede Gelegenheit wahrnehmen, die uns Hoffnung gibt.« Es war eine geradezu feierlich wirkende Rede gewesen. Nie mand widersprach. Da die alte Verbindung zur Station nicht mehr bestand - der Kapitän hatte sie vor dem geplanten Start gekappt -, errichtete er nun eine neue. Zwanzig Minuten später befanden sie sich in der Station, saßen vor den Meßgeräten 121
interessiert, lustlos oder verwirrt, jeder auf seine Art. Sie hielten die Köpfe gebeugt, als getrauten sie sich nicht aufzuschauen. Ihnen war, als würden sie beobachtet. Datenprotokolle, Zahlenreihen auf Endlosformular, piepsende Geräusche aus Miniaturlautsprechern, blinkende Leuchtdioden, zuckende Zeiger . . . Sie verstanden nicht, was dahintersteckte, und hatten kein Bedürfnis danach, es zu erfahren. Nur widerwillig beschäftigten sie sich mit den Anlagen, hatten keine Ahnung, ob es richtig war, wie sie es machten, und es war ihnen auch gleichgültig. Schon nach einer halben Stunde schob Kapitän Gray ein Handbuch zurück, in dem er vergeblich nach Anweisungen gesucht hatte. Eine Weile saß er bewegungslos vor dem Bandgerät, starrte auf den leeren Bildschirm. Nach und nach gaben auch die anderen auf. »Das ist doch völlig sinnlos«, murmelte Gray. »Es ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte.« Teo sah etwas verstört aus, sein Haar war zerrauft, als hätte er darin gewühlt. »Die Bedeutung, die dahintersteckt. . . man müßte viel mehr wissen - über die Funktion der Systeme, über die physikalischen Größen, die dahinterstecken . . .« »Ich pfeife auf die physikalischen Größen!« rief Mark. Man sah ihm an, daß er Mühe hatte, seine Beherrschung zu behalten. »Wollen Sie sich wirklich so mir nichts, dir nichts unterwerfen, Gray? Schließlich sind Sie der Kapitän!« Ehe Gray antworten konnte, warf Petra ein: »Solange wir nichts anderes tun können, können wir uns auch mit den Daten beschäftigen . . .« »Können wir wirklich nichts tun?« Mark sprang auf, und infolge der geringen Schwerkraft prallte er heftig an der Decke an, was ihn ein wenig zu beruhigen schien. Er angelte nach der Lehne des Sessels, zog sich vorsichtig hinunter. »Mark hat recht«, meinte Eva, »das kann doch nicht so weitergehen! Ich möchte endlich zur Station zurück . . .« Ihre Stimme erstickte, sie holte ein Taschentuch hervor, hielt es 122
vors Gesicht. »Die Frage ist gar nicht so dumm: Wie lange halten wir es hier aus?« Petra sah Gray an, dann Teo. »Wie lange reicht die Energie? Die Nahrung? Haben wir genug Wasser? Reicht die Luft?« »Alles kein Problem«, erklärte der Kapitän. »Die Energie, die wir verbrauchen, fällt nicht ins Gewicht, Wasser wird im Recycling zurückgewonnen, zum Teil gilt das auch für die Nahrung, und schließlich haben wir Konzentrate, mit denen wir sogar ein Jahr lang auskämen.« »Und wie sieht es mit dem Strahlenschutz aus?« warf Petra ein. Gray zuckte die Schultern. »Schwer abzuschätzen. Bis jetzt ist die Situation sicher nicht bedenklich . . . andererseits . . . der Schutz ist nicht absolut, ein gewisser Teil der harten Gamma strahlung kommt zweifellos durch. Ein paar Tage, eine Woche, das ist sicher ungefährlich. Aber unbestimmte Zeit?« Er schwieg, als sei er schon durch die Erörterung der Frage angewidert. »Können wir denn nicht um Hilfe rufen?« fragte Eva. Gray winkte ab. »Wir befinden uns in der Region des Sonnenwinds – geladene Teilchen, Ionen, in relativ hoher Dichte. Gewiß, wir haben einen starken Sender, bei höchster Leistung mag er auch eine Million Kilometer weit reichen, aber das genügt eben nicht - wir haben uns um ein Vielfaches dieser Strecke vom Merkur entfernt.« »Aber es muß denen doch auffallen, daß wir nicht zurückkommen . . . Eine Rettungsmannschaft? Wenn wir zu lange ausbleiben, müssen sie uns suchen – ist das nicht logisch?« Für einen Moment sah Eva geradezu hoffnungsvoll aus, doch Gray schüttelte den Kopf. »Eine Rettungsexpedition? Das kann lange dauern. Im Mo ment steht kein Schiff zur Verfügung, mit dem man hierher kommen könnte. Die beiden Fähren sind nur für den Transport 123
zwischen der Station und einem Raumschiff im Orbit gedacht. Unser Boot ist das einzige, das genügend für Aufenthalte in der strahlenerfüllten Zone ausgerüstet ist. Nein, nein - ich glaube, wir sollten uns keinen Illusionen hingeben.« »Aber was sollen wir tun?« Die Frage stand im Raum, ausgesprochen oder unausgesprochen. »Ich muß es jedem selbst überlassen, wie er sich verhalten will.« Der Kapitän machte nun einen gefaßten Eindruck, als hätte er sich mit der Situation abgefunden. »Solange die Sicherheit nicht gefährdet wird, ist jeder in seinen Entscheidungen frei. Jedenfalls besteht vorderhand keine Gefahr. Als Vorsichtsmaßnahme werde ich Tabletten ausgeben, die gegen Strahlenschäden helfen.« Er verließ die Kabine, kehrte dann mit einem Schächtelchen zurück. »Jeden Tag zwei davon – das unterstützt die Abwehr des Körpers.« Während sie die braunen Pillen schluckten, dachten sie daran, daß sie in jeder Sekunde von Gammastrahlen getroffen wurden, die ganze Bündel ihrer Zellen töteten. Einige setzten die Arbeit an den Meßanlagen fort oder versuchten es zumindest, andere gingen in das Boot zurück, das größere Bequemlichkeit bot. Eva Zoerner war Mark Ballardi in eine Ecke in der Aussichtskanzel gefolgt, die zugleich Speise- und Aufenthaltsraum war. Über ihren Köpfen, durch das Filterglas gedämpft, hing der glühende Ball der Sonne. Mit einer angewiderten Bewegung schaltete Mark die Filter auf volle Absorption. Eva rückte an ihn heran, als wolle sie Schutz suchen, doch Mark blieb steif sitzen, tat so, als hätte er es nicht bemerkt. »Meinst du . . .« Eva zögerte, als wehrte sich etwas in ihr, das Unheil auszumalen. Sie setzte noch einmal an. »Meinst du, daß wir heil zurückkommen?« Sie wartete, doch Mark gab keine Antwort. Er starrte auf das Filterglas, als könnte er hindurchblicken. »Ach Mark! Warum mußten wir uns auf dieses Abenteuer 124
einlassen! Wenn ich mir vorstelle – geradesogut könnten wir irgendwo am Meer sein, oder auf den Bergen, im Schnee! Glaubst du, wir erleben das noch einmal?« Sie versuchte, einen Arm um seine Schultern zu legen, doch dann merkte sie die Abwehr, die sich in seiner starren Haltung ausdrückte, und ließ sich mit einem Gefühl grenzenloser Enttäuschung in die Tiefe des Stuhls zurücksinken. Noch vor einigen Tagen hatte er offe nes Interesse für sie gezeigt, hatte sie umworben. Einige Sekunden lang dachte sie nicht mehr an die Besonderheit dieses Aufenthalts in einem lebensfeindlichen Strahlungsfeld. Ein wenig ernüchtert blickte sie ihn an. Noch immer starrte er auf das Glas, das Gesicht im Schatten. Plötzlich merkte sie, daß der Körper des Mannes zitterte und daß seine Augen voll Tränen waren. Nur Petra und Teo waren in der Forschungsstation zurückge blieben. Der zweite Pilot war wieder konzentriert mit den Systemen beschäftigt. Von seiner Ausbildung her hatte er wohl oder übel eine Menge über technische Dinge gelernt, und so war er vor den Meßapparaten nicht so hilflos wie die Touristen. In einigen Punkten hatte er sichtbaren Erfolg: Ein Tintenstift zeichnete eine Wellenlinie auf eine Papierrolle, auf einem Bildschirm zitterte eine Kurve, aus der von Zeit zu Zeit Spitzen herauswuchsen, die für kurze Zeit auf und ab liefen, um dann wieder in sich zusammenzusinken. Der Schnelldrucker warf Zahlen auf Papier – und Teo glaubte den Zusammenhang zwischen dem Meßvorgang und den Daten zu erkennen . . . Petra saß bewegungslos, die Hände im Schoß. Die Anlage, der sie sich einige Zeit gewidmet hatte, hatte sie abgedreht, der Monitor war dunkel. Sie beobachtete Teo. »Frequenzen im Röntgen- und Gammabereich . . . diese Ge räusche . . . einige Pulse, überlagert. . .« »Was hörst du?« erkundigte sich Petra. Ohne den Kopf zu wenden, antwortete Teo: »Es ist nicht das gleichmäßige Geräusch eines Strahlenuntergrunds, da dringt 125
etwas anderes durch. Hörst du?« Er war still, regelte einen Lautsprecher höher. Das Geräusch, das bisher leise und kaum merklich im Raum gelegen war, wurde lauter. Teo hatte recht – es war keineswegs gleichmäßig . . . Manchmal waren es nur einzelne Impulse knackender Geräusche, dann erklang ein Knattern wie Maschinengewehrsalven, und gelegentlich kam es zu Turbulenzen – ganze Tonkaskaden perlten auf, überschlugen sich. »Hörst du? Es klingt fast wie Sprache, wenn man sich konzentriert, dann kann man sogar einzelne Worte verstehen . . . Worte einer fremden Sprache . . .« »Wer sollte zu uns sprechen?« fragte Petra ruhig, geradezu unbeteiligt, als wolle sie Teo um keinen Preis in seiner Konzentration stören. »Ich weiß es noch nicht.« Teo sprach leise, geradezu flüsternd. »Die Sonne . . . der energiereichste Platz weit und breit! Könnte sie nicht auch ein Zentrum von Intelligenz sein?. . . einer nicht menschlichen Intelligenz?« Er seufzte tief auf, drehte sich zu Petra herum. Erst jetzt merkte er, daß sie sich allein im Raum befanden. »Wo sind die andern?« »Sie meinen, es wäre sinnlos«, erklärte Petra. »Aber es ist doch unsere Aufgabe .. . wir müssen . . .« Teo schien nicht zu verstehen. Petra stand auf, trat zu ihm, legte ihm die Hand kurz auf das krause Haar. Sie hätte seine Mutter sein können. »Es muß jeder selbst entscheiden.« Sie nickte ihm zu, ging hinaus. Eine Stunde später forderte Gray die andern über die Sprech anlage auf, in die Steuerkanzel zu kommen. Dort war es eng, und sie mußten sich zusammendrängen. Der Kapitän wirkte niedergeschlagen, er saß vor dem Videorekorder und wartete, bis alle angekommen waren. Dann sagte er: »Ich fürchte, was wir hier erleben, ist tatsächlich einem kranken Gehirn entsprungen. Hört euch das an!« Er ließ das Band anlaufen. Wieder erschien das undeutlich verschwommene Gesicht auf dem Schirm, die Gesichtszüge 126
kaum erkennbar. Nur aus einer gewissen Übereinstimmung der Bewegungen mit dem Tonfall der Worte war zu entnehmen, daß es der Mann war, der sprach. Ich werde nie wieder zur Erde zurückkehren. Was soll ich dort? Wer die Pracht der Sonne einmal aus der Nähe gesehen hat, kann sich nie mehr von ihr lösen. Sie haben nicht gewußt, wie raffiniert ihr Plan in Wirklichkeit war, wie gut er gelungen ist. Sie haben mir die Strafe erlassen – mit der Großzügigkeit einer Institution, für die die Spielregeln nicht gelten. Sie hatten die Absicht, mich zu täuschen, aber es gelang ihnen nicht. Ich habe ihre Beweggründe durchschaut. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Früher gab es viele, die bereit waren, das größte Wagnis einzugehen - ohne recht zu wissen, wofür. Ich gehöre nicht zu jenen Abenteurern. Und es war auch kein freier Wille, eher ein Reflex. Damit haben sie gerechnet. Ich habe das Feuer im Theater gelegt. Sie brauchten mich nicht zu verhören – ich habe gestanden. Allen Sicherungseinrichtungen zum Trotz: Es war nicht schwer, sie zu überwinden. Ich habe das Wasserleitungsnetz benutzt, um das Kerosin einzuleiten. Aus den Hähnen, aus der Sprinkleranlage, aus den geplatzten Leitungen kam das Feuer. Was gibt es Lebendigeres als die Glut? Materie in einem höheren Zustand der Existenz! Wie weit hinter mir liegen nun die Demütigungen und Intrigen! Unglaublich, daß sie mir schließlich die Erfüllung gebracht haben. Was könnte höheres Glück bedeuten, als eins zu werden mit dem ewigen Feuer, einzutauchen in die Helligkeit. . . Das Unbehagen wuchs von Stunde zu Stunde. Immer deutlicher wurde ihnen, daß sie sich in einem Gefängnis 127
befanden. Es kam zu erregten Auseinandersetzungen, Mark beschuldigte den Kapitän, die beiden Bordcomputer verbunden zu haben . . . »Nur so konnte sich das Programm auch auf das Raumboot auswirken – es war das entscheidende Ereignis, eine bodenlose Dummheit für einen Techniker!« Er beschuldigte die Reiseleitung ebenso wie die Trans-All AG, selbst die Raumfahrtbehörde machte er für mangelhafte Sicherungsvorkehrungen verantwortlich. Als ihn Petra zu beruhigen versuchte, fuhr er sie grob an und zog sich schließlich trotzig in seine Kabine zurück. Nach solchen Ausbrüchen gingen sie einander betroffen aus dem Weg, versuchten mit der Ratlosigkeit und Angst fertig zu werden und fanden schließlich doch wieder zusammen - wie eine Herde vor dem drohenden Gewitter. Niemand kümmerte sich noch um die Fiktion von Tag und Nacht, man wartete, bis einen die Müdigkeit überfiel und versuchte dann vergeblich einzuschlafen. Keiner hatte den Wunsch, sich mit der Sonne zu beschäftigen, Daten aufzunehmen, sie zu beobachten. Die Scheibe der Aussichtskanzel blieb undurchsichtig, dunkel. Und doch spürten sie immer deutlicher die Nähe ihres unheilvollen Einflusses. Sie spürten die Trockenheit und die Hitze, fühlten sich durstig, ausgedörrt. . . »Es wird immer heißer, spürt ihr es nicht?« fragte Eva, als sie wieder einmal mürrisch beisammensaßen. »Das bildest du dir ein – kein Wunder unter diesen Umstän den!« Immer wieder war es Petra, die zu beschwichtigen ver suchte. Und trotzdem rückten sie unbehaglich hin und her. War die Temperatur nicht tatsächlich gestiegen? – die Luft so trocken wie nie zuvor? Plötzlich sprang Gray auf, lief in die Steuerzentrale. Von dort hörten sie einen Ruf, folgten ihm ... Er deutete auf das Thermometer. »Eva hat sich nicht getäuscht«, stammelte Gray. »Die Temperatur liegt 2,5 Grad über dem Sollwert. Die 128
Regelung gehorcht nicht mehr!« Nervös tippte er einige Befehle ein, las die Antworten vom Monitor ab, verglich sie mit den Einstellungen der Meßanzeigen . . . »Und was ist die Ursache?« erkundigte sich Petra beherrscht. Gray starrte sie an, als wäre er über ihre Frage erstaunt. Dann wandte er sich wieder seinen Daten zu, stutzte, starrte auf ein Anzeigenfeld, in dem die Ziffern in rascher Folge wechselten. Unversehens war eine nervenaufreibende Stille eingetreten sie konnten die böse Nachricht geradezu ahnen. Schließlich war es Gray, der sich zusammennahm. Die Worte entrangen sich ihm nur gepreßt: »Wir verlieren an Höhe . . . wir stürzen in die Sonne!« Wieder reagierten sie unterschiedlich, einige schrien, andere standen wie gelähmt. . . Sie brauchten lang, um die Fassung wenn auch nur notdürftig - wiederzugewinnen. »Wir befinden uns in seiner Gewalt!« rief Eva in einer letzten Regung von Auflehnung. »Wir werden umkommen!« Petra überlegte, ob sie etwas zu Evas Beruhigung sagen könnte, zog aber dann resigniert die Schultern hoch. Sie wandte sich an Gray: »Vielleicht hast du dich geirrt. Besteht wirklich kein Zweifel?« Der Kapitän schüttelte den Kopf, ohne sie anzublicken. Petra fuhr fort: »Eine Veränderung der Position, Verlust an Höhe – das sind doch physikalische Erscheinungen. Ich meine ... da muß es auch physikalische Ursachen geben . ..« Eva fuhr aus ihrer Lethargie auf. »Du kannst dir deine überlegenen Gesten sparen! Das hilft uns gar nichts. Es ist der Wahnsinnige, der dahintersteckt. . . Ich sagte ja: Wir befinden uns in seiner Gewalt. Er hat uns einen Befehl gegeben, und wir haben ihn ignoriert. Das ist die Strafe! Wir sollten hinübergehen, zu den Instrumenten . . .« »Ich weigere mich!« Mark schrie sie wütend an. »Ich lasse mich doch nicht nötigen! Wir müssen uns zur Wehr setzen! Daß keiner von euch hinübergeht! Ich sage euch: keiner von 129
euch!« »Jetzt bist du aber unlogisch«, stellte Petra fest. »Gestern noch hast du . . .« Mark ließ sie nicht ausreden. »Mach dich nicht lächerlich mit deiner Logik! Dann bin ich eben unlogisch!« Abrupt wandte er sich um, verließ den Raum - die letzten Worte waren in einen schluchzenden Laut übergegangen. Wortlos waren sie auseinandergegangen, einige warfen sich in ihre Kojen, andere irrten in den Räumen des Raumschiffs und der Sonnenstation herum - ziellos. Schließlich rief sie ein Alarmsignal wieder zusammen: der Sirenenton höchster Gefährdungsstufe: Feuer! War es schon soweit? Hatte sich das Raumschiff bereits bis zum Flammpunkt aufgeheizt, waren die Wände aufgeschmolzen? Es roch brenzlig, Schwaden von beißendem Qualm zogen sich die Decke entlang. Sie waren der Panik nahe, wußten nicht, ob sie hinzueilen oder fliehen sollten. Ein Zischen - die automatische Löschanlage hatte eingesetzt. Eine dumpfe Stimme aus der Richtung der Schlafräume: »Ein Brand in Marks Kabine!« Obwohl die Information erschreckend genug war, wirkte sie andererseits aber auch wieder beruhigend . . . Also noch eine Galgenfrist. Das Zischen verstummte, die beizenden Wolken wurden abgesaugt, machten der sterilen Luft aus der Umwälzanlage Platz. Marks Kabinentür stand offen, sie standen davor und starrten hinein: Auf der Koje lag sein schwarz verbrannter Körper. Mark war tot. Dem Ziel schon so nah, so nah! Doch immer noch: die schreck liche Ungewißheit, der Mangel an Einsicht. Es sind die Fesseln, die einem so gebrechlichen Wesen wie dem Menschen auferlegt sind, einem Wesen, das dem Zwischenreich angehört: 130
nicht heiß, nicht kalt, nicht hell, nicht dunkel, nicht flüssig, nicht fest. . . Die andere Existenzform, die Möglichkeit zur Verwandlung. Nur lächerliche Furcht, der Ballast des lose gefügten Körpers, des erdbezogenen Geists! Doch die Materie ist wandlungsfähig, die Erlösung nah . . . nicht mit dem Wasser: Mit dem Feuer wird die Taufe erfolgen. Nur das Feuer ist stark genug, um die entscheidende Wandlung zu vollziehen . . . Eva saß vor den Instrumenten der Sonnenstation, allein. Ihre Finger glitten über die Tastaturen, über die Potentiometerräd chen . . . Was sie tat, war sinnlos, und sie wußte es. Ihr Dilemma war unlösbar: Sie war bereit, sich zu unterwerfen, doch ihre Kenntnisse reichten nicht. . . Teo hatte ihr eine Weile zugesehen, dann war er aus dem Raum gegangen . . . Petra Dorstig und Guido Gray saßen in der Steuerkabine des Raumboots. »Wir haben die Möglichkeit noch nicht erörtert«, sagte Petra, »und das hatte seinen Grund. Ich hatte gehofft...» »Und nun bist du sicher?« »Ja. Marks Tod hat die Entscheidung gebracht. Ich habe nie an den Geist des Sonnenforschers geglaubt. Ein Programm, das die Macht an sich reißt, Menschen gefährdet. . . Ich verstehe nicht allzuviel davon, doch für mich besteht kein Zweifel daran, daß Sicherungen dagegen vorgesehen sind. Die ganze Erde wird schließlich von Prozeßrechnern gesteuert, doch habe ich noch nie gehört, daß es Schwierigkeiten gegeben hätte. Und außer dem«, fügte sie hinzu, »ist der Computer der Forschungsstation über 300 Jahre alt!« Kapitän Gray versuchte unbewußt, dem raschen Wechsel des Höhenmeters zu folgen, doch die niedrigen Stellen verschmolzen zu einem hastigen Flimmern. 131
»Warum hast du vorher nichts darüber gesagt? – uns sogar darin bestärkt, dem Befehl zu folgen?« Petra lächelte kurz und keineswegs fröhlich. »Bedenk doch: Ich mußte den Verdacht für mich behalten. Ich wußte ja nicht, wer es war. Vielleicht Mark, vielleicht Teo . . .« »Vielleicht ich«, fuhr Gray fort. »Vielleicht du«, bestätigte Petra. »Eva konnte ich bald aus schließen, sie handelt so vordergründig, versteht zu wenig von technischen Dingen.« »Also Teo . . .« »Ja, Teo. Als zweiter Pilot besaß er die Kenntnisse, vor allem aber war er sensibel genug, um sich von der besonderen Situation beeinflussen zu lassen.« »Ist er krank? Vielleicht pyromanisch veranlagt – wie der Unbekannte?« »Vielleicht etwas labil, sonst aber gesund. Ich bin davon überzeugt, daß es Situationen gibt, die einen normalen Menschen überfordern. Dann wird das Unlogische logisch, das Absurde wahr . . . Was wir an Verhaltensregeln gelernt haben, ist nicht mehr anwendbar. Anpassung an das Andersartige – vielleicht liegt darin die Erklärung.« Der Kapitän blickte von seinen Instrumenten auf, musterte Petra, als wollte er in ihrem Gesichtsausdruck etwas lesen, ließ den Kopf dann wieder sinken. »Und warum nicht wir?« Ent schlossen drehte er sich nun herum, als müsse er sich von den flackernden Lichtspielen mit Gewalt lösen. »Eine rhetorische Frage? Ehrlich, ich bin nicht sicher, ob wir normal sind – ob uns nicht etwas abhanden gekommen ist, was man eigentlich besitzen sollte. Denk an Mark: ein Mann, völlig in die eigene Eitelkeit verstrickt, dem jede Situation, jede menschliche Begegnung nur Bestärkung seiner Egozentrik be deutet. Und Eva . . . Ein Wesen, das unserer Maschinenwelt angepaßt ist, unserem System eines leeren Reiz-Reaktionsverhaltens, eines trostlosen Überlebens. Ihr fehlte die 132
Vorstellungsgabe, die Fähigkeit, über den engen Horizont hinaus zu denken. Eine Reise zum Merkur, ein Ausflug auf eine sonnennahe Station - für sie war es Zeitvertreib, nicht mehr.« »Aber ich hätte in Frage kommen können«, meinte der Kapitän. »Wirklich?« fragte Petra zurück. »Ich habe dich beobachtet. Du bist verschlossen, läßt nichts von deinen eigentlichen Gedanken und Empfindungen ahnen. Ich kenne dich aber besser als du denkst: Ich glaube, in Wirklichkeit bist du von Trauer erfüllt. Vielleicht wärst du einmal dazu fähig gewesen: damals, als du dich – ungewöhnlich genug – zum Piloten eines Raumschiffs hast ausbilden lassen. Daß deine Erwartungen enttäuscht wurden – es konnte nicht ausbleiben. Aber was rede ich da – du mußt es doch selbst am besten wissen!« Gray nickte, überlegte, nickte noch einmal. »Es ist wahr. Die Raumfahrt! Als Junge las ich jene Bücher, in denen die unglaublichsten Abenteuer beschrieben waren. Ja, ich bin enttäuscht. Pendelverkehr zwischen Heimathafen und Planetenstationen -technische Routine, zur Dienstleistung entartet. Schrecklich, dieser Akt der Anpassung, diese Empfindungslosigkeit! Es ist doch ein Wunder, daß wir uns hier befinden, ein Abenteuer! – und ich habe nichts davon bemerkt.« »Teo wäre es nicht anders ergangen – ohne diesen Zwischenfall.« »Und was ist mit dir?« Es schien, als hätte Gray die prekäre Lage vergessen, so sehr war er auf Petras Analyse fixiert. »Ich nehme mich selbst nicht aus – halte mich nicht für normal. Der Beruf, den ich habe, meine Position . . . Ich konnte es nur so weit bringen, weil ich es verstand, meine Gefühle zu unterdrücken. Aus meiner Sicht heraus ist die Welt ein System von aufeinander bezogenen Wechselwirkungen, gewiß kompliziert, doch stets durchschaubar. Und was über diese 133
Ebene des intellektuellen Zugriffs hinausgeht, liegt jenseits meines Horizonts. Sicher: Ich war fasziniert vom Ungewöhnlichen unseres Vorstoßes, aber ich sah ihn eben auch nur als die Möglichkeit einer Sicht aus anderen Perspektiven. Doch vielleicht ist es Vorteil und Nachteil aller Beschränkten: die Größe nicht zu erkennen, um nicht von ihr erdrückt zu werden.« »Eigentlich paradox – unsere ganze Gruppe, mit Ausnahme von Teo: lauter Menschen, die vom üblichen Standard abwei chen.« Petra beugte sich vor, als hörte sie ein Geräusch in der Ferne. Doch sie sprach im gleichen Tonfall wie bisher weiter: »Gar nicht so seltsam, wie es scheinen mag. Ein doppelter Ausleseprozeß: schon das Reiseziel Merkur, ein neues Angebot im Katalog der Erholungszentren. Und dann noch die Herausforderung der unerwarteten Entdeckung: die Sonnenstation - unbekannt, geheimnisvoll . . . Wer sich hierzu meldet. . .« Sie führte den Satz nicht zu Ende, schien sich auf etwas zu konzentrieren, das außerhalb des Blickfelds lag. »Na schön«, sagte der Kapitän. Er atmete tief auf, als hätte er eine Anstrengung hinter sich. »Jetzt sind wir informiert, haben unsere Erklärung. Nichts Ungewöhnliches, nur ein Defekt im System: ein Mensch, der empfindlich auf Einflüsse von außen reagiert. Nützt uns dieses Wissen? Löst es unser Problem?« Er stand auf, lehnte sich an einen schmalen Streifen glatter Metall wand neben der Tür. »Vielleicht ist es schon gelöst«, sagte Petra. Sie deutete auf die Meßanzeige des Höhenmeters: Die laufenden Ziffern waren zur Ruhe gekommen, es mußte eben erst geschehen sein. Und jetzt lief ein Zittern durch das Schiff. »Mir war schon vorher, als hätte ich etwas gehört. . . Viel leicht war es auch nur eine Erschütterung, eine Vibration«, sagte Petra. »Im übrigen: Ist dir aufgefallen, daß das Bordmikrofon eingeschaltet war?« 134
Dex Kapitän hatte sich wieder vor die Anzeigetafel gesetzt, hob nun die Hand zur Sprechtaste, doch Petra legte ihm die Hand auf den Arm, hielt ihn zurück. Im Lautsprecher ein Knacken und dann eine Stimme. Sie kannten sie, hatten sie schon gehört, damals, als ihnen der beunruhigende Befehl gegeben worden war. Sie war verfremdet und auch wieder bekannt. Nun, da sie wußten, wer dahintersteckte, schien die Identität klar. »Ich habe getötet«, sagte die Stimme. »Mark hat es verdient, doch es war Unrecht. Das weiß ich jetzt.« »Du hast zugehört«, konstatierte Petra. »Ja. Ich habe verstanden, was du gesagt hast. . . Daß du zu mir gesprochen hast. Jetzt habe ich die Erklärung für meine Empfindungen, für mein Handeln – ich konnte nicht anders. Und trotzdem: Ich empfinde noch immer so. Ich glaube noch immer daran, daß dort irgendwo unten eine Grenze liegt, die man überschreiten muß. Bald werde ich wissen, was dahinter liegt.« Die Stimme war ein wenig leiser geworden, und jetzt klang ein Rauschen auf. »Hört ihr die Geräusche, die von der Sonne kommen? Ihr müßt euch voll konzentrieren . . . der Ton, der dahinter liegt. . . Ich höre ihn immer deutlicher . . . Die Bot schaft . . . Ich werde sie verstehen, bald . . .« Aus dem Lautsprecher nur noch das Knacken. »Hat er noch eine Chance?« fragte Petra. »Keine«, antwortete Gray; er beobachtete die Instrumente. »Er spricht über Kanal 7 – aus der Rettungsboje. Er hat sie losgekoppelt, läßt sich mit ihr fallen . . . doch für diese Strahlenintensität ist sie nicht eingerichtet. Er hat den Schutzschild unseres Magnetfelds verlassen und ist auch der Gammastrahlung voll ausgesetzt. Es ist fraglich, ob er überhaupt noch lebt.« Sie lauschten . . . Der Raum war nun vom Rauschen erfüllt. Manchmal klang es höher, manchmal tiefer, manchmal schwankte auch die Lautstärke - sie lauschten, und eine Weile 135
war ihnen, als könnten sie hinter dem Untergrund der Störungen einen fremdartigen Gesang erkennen. »Ist damit unser Problem gelöst?« fragte Petra. Der Kapitän wischte sich über die Augen, als müßte er ein störendes Traumbild verscheuchen. Einige Griffe an der Tasta tur, einige Sekunden des Wartens, dann ging eine Erschütterung durch das Schiff. . . Auf den Anzeigetafeln leuchteten Zahlen auf, ein tiefes, beruhigendes Summen lag in der Luft, übertönte das Rauschen aus dem Lautsprecher. Das System war betriebsbereit, sie konnten starten. Mit Höchstgeschwindigkeit bewegten sie sich auf den Rand des Merkur zu. Die Signale, die die Antenne immer noch auffing, wurden rasch leiser und verstummten dann für immer.
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Peter Schattschneider Die Jez'r-Fragmente Fragment 1 Dies ist geschrieben und bezeugt: Unter der Herrschaft des Schlächters vom Stamm Khabi'r war Streit. Jener trug Zwist in das Erdenrund. Leid war, und war unehrliches Töten, und war Betrug an jedem selbst. Das Volk Thu'r war geknechtet, und litt Not, und wurde unterdrückt durch unehrliche Soldaten der Khabi'r. Da erhob sich im Jahre Tausend nach der scharfen Flut Ashkaron der Redliche vom Volk und sah den wahren Grund des Übels, und sprach: Treibt nicht Selbstbetrug, dann werdet ihr den Schlächter besiegen. Zuerst aber besiegt euch selbst, und tötet euch im Augenblick. Das Volk verstand nicht, und wurde immer geringer unter seinen Feinden, und die Not stieg. Jez'r Schriftrollen, Fragment 1 -I Nichts war geblieben außer dem Drang zu suchen. Er stand für sich, bedurfte keiner Persönlichkeit, und irrte in der Nacht, in der Seeleneinsamkeit umher. Das Ziel war entschwunden – so wie das Gewesene und das Werden. Von wo? Wonach? Zu weit waren die Antworten entfernt. Ich blickte in den nachtdunklen Himmel. Er war offen, schien Hoffnung zu tragen. Wo war ich? Woher kam dieser Sand? Die Lichter am Horizont. Was war das: Ich? Hier war alles zu Ende. Keine Kraft mehr. Die Nacht sank nieder.
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I
Starrte gerade den gottverdammten Planeten an, da kam das Shuttle längsseits. Dockte an. Der Stoß lief kräftig durch. Sollte mich eigentlich freuen. Nach vier Monaten Fahrt wieder mal Planetenboden tut dir immer gut. Fast immer. Nicht, wenn du Proxi II anfliegst und ständig die gleichen Stories hörst von den Veteranen. Diese Hitze. Alle dreihundert Kilometer ein Wasserloch. Nirgends in der Galaxis gibts einen mieseren Planeten. Doch, sagst du. War mal auf Spica IV. Dort entziehen sie dem Silikat das Kristallwasser. Eine Tasse am Tag. Du vertrocknest. Spica IV? sagt der Veteran geringschätzig. Hab dort Urlaub gemacht nach der Proxi-Offensive. Du wirst dich an die Hitze gewöhnen, beruhigt er, wenn du blaß wirst. Kaut an seinem Memoral, bis die Erinnerung in sein Ledergesicht einschießt. Schlimmer sind die Eingeborenen, sagt er. Tapfer, grausam, die Thu'. Und beim Apostroph zieht er die Luft ein, daß es ähnlich klingt wie Tuu-ach. Damit du siehst, er war dort zu Hause. Spricht akzentfrei Thu'rim. War mal auf Barnards Stern, wirfst du ein. Bloß Etappe geschoben. Die Nativen haben uns gereicht. Zwei Mann hats erwischt. Als wir sie Tage später fanden, lebten sie noch. Dienten als Brutstätte für die dressierten Riesenspinnen. (Auch ohne Memoral wird mir schlecht, wenn ich daran denke.) Der alte Krieger verzieht keine Miene. Die Thu' graben ihre Feinde ein, sagt er langsam. Bis zum Hals. Am Ufer der Säure seen. Bei Ebbe natürlich. So geht es dahin. Vier Monate in Deep Space, Tag für Tag. Dieselben Stories über Proxi II. Bis du es glaubst, und dann weiter, bis du es nicht mehr glaubst. Weil du endlich wieder ground spüren willst. Die Nase voll hast von der endlosen 3g Fahrt. 138
Mein Dienstgeber, das Ministerium für Fremdwelterschlie ßung, ist dem obersten Flottenkommando unterstellt. Die haben mir das eingebrockt. Die und die Jez'r-Funde. Alte Schriften, kürzlich auf Proxi II ausgegraben. Wieder einmal glauben einige Beamte, sie hätten den Stein der Weisen gefunden. Das Rezept für eine ewige Sozietät. – ». . . die Untersuchungen der Thu'-Kultur ist im Hinblick auf die Jez'r-Fragmente von eminenter volkswirtschaftlicher Bedeutung . . .«; so Stands in meinem Überstellungbefehl. Würde ihnen klarmachen müssen, daß man alte Texte nicht wörtlich nehmen dürfe. Auf die mühsame Art. In der Wüste, unter den Thu', in der Nähe von Säureseen und grausamen Wilden. Obwohl ich wußte, daß man sich die Mühe sparen konnte. Trotzdem freute ich mich nach vier Monaten Deep Space auf den gottverlassenen Planeten. Hoffte, daß die Sache bald vorbei sein würde. Danach Bericht ans Flottenkommando, daß es eine Schnapsidee gewesen war, mich nach Proxi II zu schicken. Es gibt kein dauerhaftes Sozialgefüge. Die langlebigsten Kulturen existierten etwa drei Jahrtausende. Aber auch nur, wenn es keine äußeren Feinde gibt. In konkurrierenden Ökosystemen wälzt sich die Kultur dauernd um. Darum läßt sich eine galaktische Föderation nicht für die Ewigkeit zementieren. - So würde mein Bericht lauten. Undeutlicher in den Schlußfolgerungen. Und dann zurück nach Heavensgate, zu Orchideen, weißen Stranden, Sonne, wo ich eine sublinguistische Sozietät erforschte. Ein Traumjob für einen Xenosoziologen. Trotzdem Nebensache. Der Hauptgrund für mein Bleiben auf Heavensgate war dem Flottenkommando unbekannt. Er war blond und hieß Angela. Bei ihr fand ich den vollkommenen Augenblick. Oder beinahe. Mußte noch üben. Aber irgendwann schaffte ich es schon noch. Keine Begierden mehr, eins mit sich, wie man sagt. Abschalten. Bloß zufrieden sein, nicht mehr suchen müssen. Schaffte es noch. Ganz sicher. 139
Da kam Bewegung in mein Grübeln. Ließ mich mit den anderen treiben. Korridor. Schleuse. Uniformen vor mir. Stimmen hinter mir. Im Shuttle bequeme Reihen. Hingelümmelt und gewartet zwischen blöden Witzen, Erwartung und Angst. Die Veteranen rührten keine Miene. So abgeklärt mußt du erst sein, Mann. Ich hatte den Fensterplatz. Über mir der Rumpf der Galaxy, die Flammrohre tot. Wuchtiger Rumpf, Schatten vor den Sternen. Und da kam mit der Schiffsrotation Proxi II runter. Schimmerte zwischen den Reaktorstreben durch, sank weiter, war voll da in seinem kotzigen Gelb. Der ganze Planet eine Sandkugel. Zum hundertsten Mal verfluchte ich das Flottenkommando und die Jez'r-Funde. Warum muß das mir passieren? Das Shuttle klinkte aus, und mein Magen dazu. Brauche immer einige Sekunden, um mich an Nullfahrt zu gewöhnen. Bin eben kein Veteran. Der Transporter wartete auf das Landefenster. Die Galaxy trieb ab, Bug voran. See you! Ich rutschte in den Sitz, wollte mich mit Angela und dem Augenblick beschäftigen. Aber die Alten ließen wieder mal ihre Geschichten vom Stapel. Gesprächsfetzen, Witze, Angst hinter großen Worten. »Dort ist Jez'r.« Das war mein Nachbar. Zeigte auf einen Stecknadelkopf in der Proxi-Wüste. »Rechts neben dem See dort.« – »Soll groß was los sein in dem Nest, seit sie die Rollen gefunden haben«, meldete sein Kumpel. »Achttausend Jahre alt, das Zeug, und die Thu' können's lesen wie die Zeitung.« – »Und?« – »Na«, sagte der Zweite wieder, »wär' gut für die Föderation zu wissen, wie sich die so lange halten konnten.« – »Fragen wir die Kerle doch.« – »Bringt nichts.« Sie schwiegen, starrten wieder nach draußen. Proxi II war unter dem Shuttle. Das Landemanöver begann. »Wir kriegen's schon raus«, prahlte der Fähnrich, der vorhin gesprochen hatte. »Steht in den Schriftrollen, wie sie das ma 140
chen. Ist halt nicht sehr verständlich. Sie schicken ein paar Eierköpfe, um das zu entziffern.« Der andere lachte verächtlich. »Ich würd's rausprügeln aus den Wilden«, schlug er vor. Bewundernswert, die Geheimhaltung bei der Flotte. Muß schon sagen. Fragment 2. Seine Studien über den Einzig-Ort trennten ihn von der Welt, und es war gut. Nicht mehr hatte er Leibbrüder, noch Schwe stern, noch Sinnes- oder Gedankenbrüder. Ashkaron war allein, und dürstete, und nahm keine Nahrung wegen der Not. Da sprach Der zu ihm im Schlaf und riet, den Einzig-Ort aufzusu chen für das Volk. Als Ashkaron erwachte und die lange Reise zu dem gemiedenen See antreten wollte, besuchte ihn sein Innenbruder, den er längst totgeglaubt hatte. Ashkaron erzählte von seinem Plan, und der Bruder sprach: Ich werde dir folgen, aber wisse, daß es dort Drachen gibt und Salzstürme und Verderben für Brüder. Begib uns nicht unnütz in Gefahr. Laß uns an den Hof Khabi'r ziehen. Deiner Weisheit und meiner Vorsicht werden wir ein schönes Leben danken. Nichts wird uns mangeln. Der Redliche aber, durch Den gestärkt, brach auf, und sein Innenbruder mußte ihm folgen. Jez'r-Schriftrollen Fragment 2. -2 Ich spürte die Angst aufsteigen in dieser kalten Nacht, die über der Wüste hing und ans Herz mir griff. Die Einsamkeit schwebte gläsern über mir, umfing den fremden Sternenhimmel, den ich nie gesehen, und krallte sich in den 141
zurückweichenden Horizont. Voran! Ich wußte die Richtung, strebte beharrlich weg von dem Ort, dessen Namen ich vergessen hatte wie so vieles. Je weiter er zurückfiel, desto mehr entschwand mir. Was war dort geschehen? Was mußte ich tun, damit es geschah? Ich war des Menschlichen leer. Nur der Zwang war in mir, durch diese gläserne Nacht zu fliehen, zu suchen, zu tun, was getan worden war. Ich war die Nacht selbst, die mit Steinklauen – Steinklauen? sich zerfleischte, war die gläserne Angst zwischen den Sternen, war die Wüste. O verloren! 2. Jez'r ist ein dreckiges Nest. Fünfzigtausend Einwohner, Haupt stadt von Thur'j. Die Gassen eng, meist überkuppelt. Händler bieten Dinge an, die du besser nicht nimmst, weil du nichts damit anfangen kannst. Jeder Thu'r verkauft irgendwas, jeder kauft. Handel gehört zur Religion, Umsatz ist Pflicht. Unmengen von Kindern in den Straßen. Kehliges Lärmen besonders die eingeatmeten Endsilben fallen auf. Wasser ist kostbar. Kommt aus dreihundert Meter tiefen Brunnen. Für die Reinigung ist nicht viel da. Es stinkt erbärmlich in der Stadt. Vom Büro des Gouverneurs sah man auf die Kuppeln. Hier war's klimatisiert, und Raeloff hatte mir vier Eiswürfel in mei nen Whisky getan. Guter Empfang. Mußte nur so bleiben, dann war ich's zufrieden. - Sah leider nicht danach aus. »Wie auch immer«, sagte Raeloff auf meinen Einwand zur Expedition. »Wir müssen die winzigste Chance wahren, unser System zu stabilisieren. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie nötig wir's haben. Wirtschaftskrisen im Aldebaran-Sektor, Kleinkriege auf Spica und Procyon, religiöser Fanatismus auf 142
der Alterde. Wega haben wir bereits an die Rebellen verloren, und sie werden immer stärker. Wenn wir kein Mittel gegen diese Krankheiten finden, gibt es in zwanzig Jahren keine Föderation mehr. – Und deshalb, Ashley, muß ich Sie auf diese Expedition schicken.« Das war Raeloffs Antwort auf meine Skepsis. Er hätte es einfacher haben können. Ohne lange Erklärungen. Hätte sagen können: Sie unterstehen dem Flottenkommando. Sie fahren. Ich nahm einen großen Schluck. Die Eiswürfel knisterten. »Habe einige Erfahrung mit alten Schriften«, versuchte ich es ein zweites Mal. »Unglaublich, wie sich die Dinge in den Sandsteinhöhlen gehalten haben.« »Die konstante Trockenheit«, nickte Raeloff. »Die helle Freude für einen Archäologen. - Da bringt mir mal einer einen Text von der Alterde - prima übersetzt - und erzählt mir allen Ernstes, daß die damals, in der frühen Maschinenzeit, schon künstlich befruchtet hätten. Der Text nämlich beschreibt eine heterosexuelle Zweierbeziehung, und wenn es erotisch wird, gibts Küsse und Zärtlichkeiten, und dann schlafen beide ein. Regelmäßig. Schließlich haben wir herausgefunden, daß das Verb >schlafen< wechselbezüglich gebraucht, damals soviel wie koitieren bedeutet hat.« Raeloff lächelte. »Die alten Kulturen hatten eine blumige Sprache«, stieß ich nach. Betrachtete eingehend meinen Whisky. »Geben Sie sich keine Mühe«, blockte der Gouverneur ab. »Will sagen, diese Jez'r-Fragmente, darf man nicht wörtlich nehmen. Einzig-Ort, Drachen, Verderben - das sind Krypto gramme, weitab von ihrer heutigen Bedeutung. Keine Chance, das nach achttausend Jahren aufzudecken. Dieser Ashkaron hat sich da was Mystisches gezimmert. Ist wichtig für eine Religion. Mehr nicht. Aber bitte, wir werden dort hinfahren.« – Mir bleibt nichts anderes übrig, he? – »Die Salzstürme werden wir erleben. Und 143
vielleicht ein paar Luftspiegelungen«, konnte mir's nicht ver kneifen. Raeloff starrte mich an. Überlegte, ob er mir mein Todesurteil jetzt schon bekanntgeben sollte. »Da wäre ich nicht so sicher.« Vielsagend. Na gib schon her, was du auf Lager hast. Er spielte mit mir um diesen beschissenen Einzig-Ort. Und gewann ich – überzeugte ihn also, daß das ganze Tamtam und die Expedition sinnlos waren - dann würde er die Spielregeln ändern. So oder so. Ich würde fahren. Müssen. Raeloff nestelte an seinem Schreibtisch-Terminal herum. Das Fenster wurde grau, dann kam das Bild. »Das hat unser Aufklärer vor zwei Wochen aufgenommen«, sagte er in die anlaufende Szene hinein. Luftaufnahmen. Eintönig zog Wüste vorbei, mal eine Düne, dann wieder ein verdorrter Strauch. Dazwischen makelloses Gelb. Schwenk, Totale: von links ein See, zerbissene weißge trocknete Ränder. »Das ist Fajz'r, ein Säuresee hundert Kilometer nördlich von Jez'r«, erläuterte Raeloff. »Die Aufnahmen wurden vor zwei Wochen gemacht. Wir vermuten dort diesen - Einzig-Ort.« Er dehnte das Wort. Ich verdrehte die Augen. Kein Kunststück – unbeobachtet wie ich gerade im Dunkeln saß. »Das ist unser einziger Aufklärer hier«, fuhr Raeloff fort, als die Landschaft stetig unter der Kamera forthuschte. »Wir hätten ihn fast verloren.« Der Säuresee rückte näher. Die weißen Beißspuren an der Küste traten aus dem Flimmern hervor, wurden zu Salzwucherungen. Glitzernde, hochschießende Kristallnadeln, wo die Säure genagt hatte. Die Wüste ging abrupt in Fels über. Roter, rundgewaschener Sandstein. Wasser oder Säure hatten ein Höhlensystem in die regellos aufwachsenden Kegel, Zinnen und Minarette gegraben. Zum See hin war das Gestein wuchtig 144
aufgeschichtet; Klippen ragten über das Ufer schräg in den Himmel. Der Aufklärer zog eine Schleife, gewann Höhe, und die Kamera erfaßte das zerklüftete Minigebirge mitten in der Wüste. Ein felsiges Labyrinth neben dem See; wohl einen Tagesmarsch für einen Thu', um es zu durchqueren. Und für Ashkaron. Ich grinste. Die Kamera zoomte einen Ausschnitt heran. Ich beugte mich vor, blinzelte, weil ich zuerst an einen Augenfehler dachte. Da hing tatsächlich eine Wolke über dem Felsland. Auf dem trockensten Planeten der Galaxis, mitten in der Wüste, unter klarem, brennendem Himmel hing eine Regenwolke. So nieder, daß ihre Unterseite wohl die Sandsteinzinnen berührte. »Jetzt passen Sie auf«, sagte Raeloff überflüssigerweise. Der Aufklärer drehte ab, kam tiefer, nahm Kurs auf die Wolke. Man erkannte nichts Aufregendes – was ist schon an einem tiefhängenden Nimbus dran, wenn er nicht grade in der Wüste herumhängt. Plötzlich flackerte das Bild. Querstreifen, schlechte MAZ. Es fing sich wieder, pendelte auf die Wolke ein, die grau und unscheinbar da hockte, dann zitterte das Bild wieder, aber diesmal ohne Querstreifen. Entweder war der Kameramann betrunken oder das Flugzeug begann zu trudeln. Zweimal wirbelte die Wolke vorbei, Klippen aus rotem Stein, der See, Himmel – aus. Ein Insert mit irgendwelchen Codesignalen und dem Schriftzug »Geheim«. Raeloff tippte ins Terminal, und das Licht ging an. »Wir konnten nicht näher an das Ding ran«, sagte er. »Turbulenzen vielleicht . . .« »Und die Störungen in der MAZ?« warf ich ein. »Die Magnetaufzeichnung wird durch starke Felder gestört, so wie die ganze Elektronik. Der Pilot konnte die Kiste gerade noch abfangen.« Er wartete auf meine Frage. Tat ihm aber nicht den Gefallen. Also sagte er schließlich: »Wir kennen die Ursache nicht. Optisch, radiografisch und 145
im Radar ist die Wolke unspezifisch. Soweit wir feststellen können, besteht sie nur aus Wasser.« »Komisch, wie?« ätzte ich. Er überging das und informierte mich weiter: »Wir haben einige Flüge gemacht, als die Wolke verschwunden war. Da gab's keine Störungen. An der Stelle ist ein Krater. Alles trocken. Es gibt tektonische Beben in der Gegend - wenn die Wolke erscheint, ist alles wieder ruhig.« »Dann ist es ja in Ordnung«, warf ich ein. Wußte selbst nicht, ob ich's zynisch meinte. Raeloff trank von seinem Whisky, stellte das Glas bedächtig ab. »Sehen Sie, Ashley«, erklärte er geduldig, »wir haben diese Sache bisher nicht beachtet. Erst durch die Funde vor zwei Monaten sind wir hellhörig geworden. Die Fragmente sind über achttausend Jahre alt und es ist Thu'rim, so wie es heute gesprochen wird. Es gibt auch andere Anzeichen dafür, daß diese Kultur hochstabil ist - brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen - aber die Schriftrollen waren der erste und schlüssigste Beweis. Also werden wir diesen Einzig-Ort, die Wolke Najjaz'reen mal unter die Lupe nehmen. Unter die soziologische Lupe.« »Zu Fuß?« wagte ich zu fragen. »Wir kommen nicht anders ran. Und die Thu' praktizieren das seit Jahrtausenden.« »Das reinste Himmelfahrtskommando.« »Die Gegend ist jetzt bebenfrei«, beschwichtigte er. »Wir haben Schwerkraftanomalien festgestellt, aber die sind harmlos. Die Wolke ist aus Wasser, soviel wir von hier erfahren können. Und die Synchrotronstrahlung ist zu schwach, um gefährlich zu sein.« Den Ausdruck hatte ich schon mal gehört, aber ich fing nichts damit an. Ließ ihn also weiterreden. Irgendwas hatte er sicher noch auf Lager. Er quatschte was von Elementarteilchen und hochenergetischen Wechselwirkungen, Zeitumkehr, 146
Quasaren und jungen Galaxien. Ich hörte gar nicht hin, weil der Clou noch ausstand. Aber der kam nicht. Ich erfuhr bloß, daß die Wolke alle zwei Wochen erschien, einige Tage stationär war und wieder verschwand. Kein Zusammenhang mit der Wetterlage. Kein Zusammenhang mit irgendwas. Ein Rätsel auf diesem trockenen Sandhaufen – Planet war schon zu viel gesagt. Das einzige, was ich mir von seinem Gerede merkte, waren die Schwerkraftanomalien. Die Bodenkundler vermuteten ein massives Objekt im Inneren des Planeten. Wenn es sich verschob, traten Beben auf. Mußte gleich an einen Sack voller Kiesel denken. Die Steinchen bewegen sich, wenn der Allmächtige den Sack aufhebt, und dann rumpelt es mächtig. Proxi n - ein Sack voll Kiesel. Hätte besser aufpassen sollen. Blöderweise versteh' ich nichts von dem wissenschaftlichen Plunder. Das höchste, was mir dazu einfällt, sind Kiesel in einem Beutel. Drum hörte ich weg. Dachte an Heavensgate, weit, weit weg. Sie stahlen meine kostbare Zeit. Da hockte ich in der Wüste, konnte nicht nach dem suchen, was ich einmal – einmal! – finden mußte. O verdammt, wie wenig Zeit. Sie blinkte von den Uhren, machte mich ruhlos und schlaff, trug das Ziel weg. Weiß ja, es klingt verrückt, aber so ist es nun mal. Ich glaube an die persönliche Vervollkommnung. Man muß an sich arbeiten, hineinhorchen in den Rachen der Begierden, die nutzlosen töten und die dauerhaften pflegen. Irgendwann ist sie da: die enttäuschungsfreie Erfüllung. Lust, Freude, Zufriedenheit aus der Nähe, alles auf einmal und nicht aus immer wechselnder Distanz wie täglich. Der Augenblick. Ihn suchte ich. Und Raeloff war ein Idiot. Blockierte mich hier, dieser Ehrgeizling. Der Föderalismus tropfte aus ihm heraus wie aus einem vollgesogenen Waschlappen. Nicht Manns genug, selbst 147
in die Wüste zu gehen. Da schickte er mich. Es lebe die Föderation! Der Gouverneur beendete gerade seine Aufzählung von Belanglosigkeiten. »Wenn die Wolke kommt, werden die Thu' unruhig. Der Säuresee zieht sie an wie das Licht die Motten«, schloß Raeloff. Ich hatte Pech. Die Wolke war wieder da, ahnte ich. »Sie haben Glück. Die Wolke ist seit gestern stationär«, strahlte der Gouverneur. Fragment 3 Sieben Tage und sieben Nächte zog der Redliche durch die Wüste. Drachen querten seinen Weg und spien mit heißen Nü stern Salzstürme. Der Unerschrockene blieb standhaft, sein In nenbruder aber, der durch die Wüste irrte und ihn suchte, floh in Panik. Ashkaron glaubte sich alleine, als er am See Fajz'r an langte, den alle Sterblichen meiden. Er suchte den Augenblick, aber sein Innenbruder war weit. Als er noch für einen Tag Wasser hatte, hob er die Arme gen Himmel und flehte Den an um ein Zeichen, und Jener sandte Najjaz'reen und sprach: Dort suche die Vergangenheit, die zugleich das Kommende ist. Dort bist du gestorben und wirst zweimal geboren werden. Jez'r-Schriftrollen, Fragment 3 -3 Beharrlich strebte die Sonne der Kulmination entgegen, als hätte der glühende Sand noch zu wenig von ihrem Glanz getrunken. Beharrlich schmolzen unter ihrer Kraft die Schatten der wüstenroten Zitadellen dahin, die stolz aus der Ebene wuchsen. Ein weißer Himmel trieb beiläufig vorüber, flüchtig an den Horizont tastend, als ginge ihn das alles nichts an, und 148
dort flimmerte der Sand verloren. Die endlose Nacht hatte mich mit Unwissen gequält. Jetzt aber, nach den guten Augenblicken des keimenden Tages, die mich für den fehlenden Schlaf entschädigten, jetzt aber war auch Entsetzen in mir. Die Unrast war geblieben, die Angst und der Zweifel, aber ich hatte erkannt, daß ich ihn finden mußte. Es war gewiß: Ohne ihn konnte ich nicht existieren. Diese Wahrheit, die während des langen Irrweges aus mir herausgewachsen war wie eine Felsnadel aus der Wüste, sie stärkte mich, und ich klammerte mich fest daran, weil ich bar jedes sonstigen Haltes war. Ein Ertrinkender. Was das Entsetzen hervorbrachte, war die Einsamkeit dieser Erkenntnis. Sie stand alleine da. Ich wußte nichts sonst. Wenn er nun nicht kam? Wenn ich seinen Weg verfehlte? Ihn nicht erkannte? Ohne ihn war ich der Wüste ausgeliefert, und ich fühlte ihr geduldiges Warten. Sie hatte Zeit. Den Durst, die Erschöpfung und die Hitze konnte ich ertragen. Aber die Wüste – sie kroch mich an. Ich horchte in mich hinein. Hatte ich dies hier schon erlebt? Schon gedacht? Die schlanken Zinnen, die Minarette aus rotem, glattgeschliffenem Sandstein muteten mich vertraut an. Die hingeworfene Weite außerhalb des labyrinthischen Felslandes. War dies meine Heimat? Ich lehnte mich an eine Schattenwand, tintenschwarz aus dem Boden geschnitten, tastete nach Erinnerungen . . . Dieser andere, dieser Unbekannte, er suchte mich auch. Er brauchte mich ebenso wie ich ihn. Würde sterben, wenn nicht wenn nicht. . . Ich wandte den Kopf. Inmitten des Einzig-Ortes saß Najjaz'reen. Dort mußten wir hin, ja! dort waren wir geboren worden, in einem Augenblick, aus einem Namen ... Er hieß – hieß – wie ich natürlich, denn er war mein Bruder. Und mein Name - oh, ich wußte ihn, wußte ihn, aber was tut ein Name zur Sache, und müde machte mich das schreckliche Grübeln, 149
schmerzte, als würden Steinklauen in den Schädel greifen und die Gedanken entlang der Gehirnwindungen schraubend verdrillen. Ich brauchte Ruhe, um diesen Namen zu nennen – den Namen, der auch meiner war . . . bloß ein wenig Ruhe. 3 Die Wüste kriecht einen an. Wie eine Natter liegt sie, du glaubst, sie sei tot. Schaust in den glasigen Himmel. Die Sonne brennt. Sehnst dich nach Wasser. Kein Durst. Es ist die Angst vor dem Durst. Würgst das Gefühl ab, blickst wieder auf den ausgebrannten Boden – und du merkst, daß er dir nähergekommen ist. Schärfer die Konturen, deutlicher die Details der Felskrümel, Sandsteinbrocken, giftiger das Strauchwerk der dürren Ma-ka'ra. Jedesmal, wenn du wegschaust, rückt der Glutofen näher. Will dich einbeziehen. Ganz beiläufig. Das verstärkt die Angst. Vor dem Verdursten. Vor der Hitze. Den Maka'ra-Samen. Den Thu'. Und vor der verdammten Wolke. Einen Tag waren wir von Jez'r entfernt. Raeloff hatte mir zwei Geländewagen gegeben. Zehn Mann. Jede Menge Wasser und CPB-Strahler. Und einen Eingeborenen, der übersetzen sollte. Keine Ahnung, was. Raeloff bestand aber darauf. Ich hätte die Sache anders aufgezogen. Ganz anders. Sagte ich ihm auch. Hätte die Thu'-Kultur studiert. Sprache, Religion, Gewohnheiten, Tabus. Einige Monate lang. Hätte schon rausgekriegt, warum die so stabil sind. Wollte er ja wissen. Die Wolke interessierte ihn genausowenig wie mich. Aber jemand hatte ihm einen Floh angesetzt. Das Geheimnis der Wolke. Ein Physiker sicher. Mit Quarks und Quasaren und so. Dabei war klar, daß die Wolke nur ein Symbol war. Wasser ist selten auf Proxi II. Das Wolkenwunder. Gott schwebt heran. 150
Die Thu' pilgern dann natürlich, wie es dieser Ashkaron getan hat. Mannbarkeitsritus. Einer von der harten Sorte. Die Thu' pilgern alleine. Zu Fuß. Die Reise dauert Tage. Für die meisten dauert sie ewig. Von hundert Thu' kommen fünf aus der Wüste zurück. Und irgendwann im Leben bricht jeder auf. Hatte Raeloff erklärt, wozu Mannbarkeitsriten gut sind. Ver suchte ihn zu beruhigen, von der Schnapsidee mit der Wolke wegzubringen. Wollte ihm eine soziologische Studie verkaufen. Paar Monate in Jez'r - Leute, Museum, Whisky auf Eis - wäre nett gewesen. Half nichts. Raeloff blieb stur wie ein Sirius-Mufflon. Schickte mich in die Wüste mit einem Dolmetsch und einem Meßtechniker. Der für die Wolke, der andere für gar nichts. Glaubte ich damals noch. Wollte noch Gefahrenzulage rausschinden, ging aber nicht rein. Also hockte ich mich in die Karawane, entschlossen, mich nicht zu übernehmen. Einfach herumführen lassen. Die Wüste gar nicht zur Kenntnis nehmen. Dachte an Heavensgate, während die Allradwagen durch den Sand krochen. Studierte unter Palmen meine friedlichen Einge borenen, während irgendwo voran wieder einige Thu' verdur steten. Sah Angela im Abendwind, der zum Meer blies, wie sie aus der Brandung stieg, mir entgegenlief, weiche Lippen an den meinen, der Sonnenuntergang – das war nahezu der vollkommene Augenblick. Dämmerung auf Heavensgate, und in Angela versinken, das war fast die Erfüllung. Ich suchte den vollkommenen Augenblick, die momentane innerliche Komplettierung. War ihr schon nahe. Irgendwann würde sie kommen, ich wußte, man mußte nur beständig üben – entspannen, Glück. Was sonst konnte man schon tun? Karriere machen? Sozialprestige? Geld, Wissenschaft? Selbstentsagung zum Wohl des Staates? 151
Nichts von alledem. Ich wollte meine persönliche, vollkom mene Erfüllung. Nach nichts mehr streben. Nur einen Augen blick lang. Wenn es einmal gelungen war, würde es immer wieder passieren. Ich übte. War fast schon am Ziel gewesen in Heavensgate. Daheim. So bequem. Während am Horizont die Wolke flimmerte. Unter dem Kli madach des Wagens war es angenehm kühl. Man konnte fast Eier braten. Wir mühten uns dahin. Eine einzige, strichgerade Spur von Jez'r bis hierher. Eine Tagesreise von hier zum Säure see. Dann zwei Stunden zur Wolke. Der See kochte in der Ferne. Wartete geduldig. Wir lümmelten auf den harten Bänken, fünf Mann je Wagen. Die Sonne saugte einem das Leben aus. Wir schwiegen. Die Männer kauten Memoral, um die Wüste zu vergessen. Waren ganz abwesend. Die Hitze lahmte mich. Stunden durch Ödland. Auf dem schwankenden Wagen. Meine Gedanken schwankten mit - An gela - Raeloff - die Wüste. Wiederholt, stereotyp. Die Wüste behauptete sich. Schob sich bei jedem Pendeln des Geistes un merklich vor. Umkreiste mich. Der Gouverneur verblaßte verblaßte. Dann Angela, die Suche nach dem Sinn. Bis bald! abends bin ich bei dir. Muß noch den Sand wegschaffen, der rings wächst. Uns zudeckt. Ein Fluch, dann wischt einer mit dem Ärmel übers Gesicht. Aber es ist kein Schweiß – der dunstet gleich ab in der Trockenheit – es ist Flugstaub und Salz, was ihn kitzelt; was uns ockergelb und schmierig bedeckt, in die Nase kriecht und den Mund pelzig macht. Der Säuresee lag wie ein Schmelztiegel im Norden. Am Westufer Klippen, wie Rauhreif aus der Ferne, Saum des Sandstein-Gebirges, über dem die Wolke wachte. Rührte sich seit Tagen nicht von der Stelle. Ein UFO, eine Nebel-Qualle, deren Rand am Boden aufsaß. Unscheinbar von hier. Einen halben Tag noch. Die Fahrt ging voran. Stunde um Stunde. 152
Schließlich Dämmerung. Die Sonne erreichte den Horizont. Ich starrte hin, bereit für die Zufriedenheit wie jeden Abend auf Heavensgate. Wartete auf die Farben, die von der Sonnenscheibe wegfluten mußten. Aber da war nichts. Proxima behielt das aufdringliche Gelb, rutschte einfach unter die Wüste. Ich starrte in den Untergang, sah zu, wie der Tag gefressen wurde. Es dauerte keine fünf Minuten. Das Dunkel war beherrschend. Als griffe mir eine fremde Wirklichkeit mit Steinklauen ans Gehirn. Mit Sandsteinklauen. Die Suchscheinwerfer bahnten uns den Weg, stetig weiter. Es gab keine Bestien in der Wüste, die uns auflauern konnten. Das Ödland war harmlos, bis auf die giftige Maka'ra, deren bolzen-förmige Samen lange Schatten warfen. Die Maka'ra war tödlich, wenn nicht innerhalb von zehn Minuten das Gegengift gespritzt wurde, von dem wir einige Ampullen mithatten. Gefährlich waren aber nicht die Samen – die staken bloß im Sand –, sondern die Thu', die die Bolzen als Wurfwaffe verwendeten. Und die Thu' waren ein kriegerisches Volk. Ahi'rim, der Dolmetsch, wurde unruhig. Er suchte die Dunkelheit ab, die seitlich vorbeizog, hüllte seine Schultern tiefer in den Burnus, brummte etwas auf Thu'rim. Ich ignorierte ihn. Die Kolonne kroch weiter. Es wurde rasch kühl. Eine Stunde später fröstelten alle. Wir hielten und bauten das Nachtlager. Das beruhigte auch den Eingeborenen. War wohl müde – wie die anderen. Freute mich selbst auf den Schlafsack. Der Ordnung halber stellten wir eine Wache auf, die zweimal abgelöst werden sollte. Passieren konnte nichts. Bloß wegen der Vorschrift. Dachte ich. Ich schlief tief und traumlos. Kinski, der Meßtechniker, rüttelte mich unsanft wach. Ich kam langsam zu mir, hörte aber noch nicht richtig. Dann bat ich ihn, zu wiederholen, was er eben gesagt hatte. »Dahlberg ist umgebracht worden«, wiederholte er. 153
Hellwach sprang ich auf, lief zu den anderen, die am Rand des Lagers beisammen standen. Die Sonne war gerade aufgegangen. Die Luft kühl, die Wüste 'sammelte Kraft. Würde bald losschlagen. Vielmehr hatte sie schon, dachte ich und trat in den Kreis. Der Tote lag mit dem Gesicht nach oben. In seinem Hals steckte ein Maka'ra-Bolzen. Dahlberg hatte die letzten beiden Stunden Wache geschoben. Wann der Tod eingetreten war, konnten wir ohne Arzt nicht feststellen. Warum hatte er nicht um Hilfe gerufen? Das Gift war ja nicht sofort tödlich. Ich winkte den Dolmetsch heran, fragte ihn. »Thu' haben ein scharfes Auge und eine sichere Hand. Ein guter Wurf zerstört die Sprache«, sagte er. Die Maka'ra hatte Dahlbergs Kehlkopf zertrümmert. Ein guter Wurf ... Ob der Dolmetsch? »Warum?« Ich wies auf den Toten. Ahi'rim breitete die Handflächen zum Himmel. Das hieß »Gott allein weiß es«. Und er fügte hinzu »Die Thu' töten ehrenhaft«. Damit war der Fall für ihn erledigt. Er meinte, daß der Unbekannte einen triftigen Grund gehabt hatte zu töten. Notwehr? Dahlbergs Strahler lag im Sand, war ihm aus der Hand gefallen. Vielleicht hatte der Thu' aus Angst getötet. Oder auch nicht. Wer konnte sich schon in eine Thu'-Seele versetzen? Die hiesige Kultur kannte eine Reihe legitimer Gründe. Mehr als wir. Und wir wußten ja, daß sie die Gegend unsicher machten. Leutnant Ritsko kam von einem Rundgang um das Lager zurück. Kniff die Augen zusammen, kratzte sich am Kopf. »Da gibts Spuren«, erklärte er. »Weiches Schuhwerk, wie es die Eingeborenen tragen.« »Na los dann. Den Kerl schnappen wir!« Ritsko lachte trocken. »Da ist ein Haken an der Sache«, kratzte sich wieder am Kopf. »Die Spur führt zum Lager, aber nicht wieder weg.« 154
Ich erschrak. Ein Blick in die Runde – da war niemand zuviel. Ritsko zeigte mir die Schuhabdrücke. Weiche Konturen, ein schleifender Schritt. Die Spur kam schnurstracks von Norden, verlor sich im Flimmern des beginnenden Tages. Dahinter ragten die Sandsteinkegel von Alar'ta aus der Wüste, keine Stunde Fußmarsch entfernt. Und mitten zwischen den Klüften und Zinnen hockte Najjaz'reen, die Wolke - wie eine Glucke, die ihre Küken schützt. Saß behäbig am Boden auf, eine diffuse Halbkugel. Ein Pilz. Wartete ruhig. Plötzlich hatte ich den zwingenden Eindruck von Gefahr. Wußte, daß uns etwas drohte. Als wäre ein Schalter im Gehirn umgelegt worden. Dahlbergs Tod, die Wolke, die Spur, die nicht zurückführte – was verbarg sich hinter dem lichtschluckenden Nebel? Wir rätselten, wie der Eindringling verschwunden sein konnte. Daß er sich in der eigenen Fährte entfernt hatte, verwarfen wir nach eigenen Versuchen. Entweder hatte er sich aufgelöst, oder er war mit einem Gleiter gekommen. Ich schickte nach Ahi'rim. Zeigte ihm die einseitige Fährte. Er starrte auf die Stelle, wo sie endete. Murmelte etwas auf Thu'rim. »Dahlberg war schwach«, sagte er schließlich. »Er hat getötet.« - »Aber der andere ist verschwunden.« – »Er hat sich selbst getötet.« Wir wurden nicht schlau daraus. Ritsko verständigte über Funk die Basis. Sie versprachen, den Aufklärer zu schicken. Wiesen uns an, weiterzufahren. Also begruben wir Dahlberg, verstauten alles und zogen weiter – parallel zur Spur des Fremden. Die Sonne kletterte gen Mittag. Die Hitze war mörderisch. Der Aufklärer fand natürlich nichts. Kurvte ein paarmal über uns dahin, zog dann ab. Der abflauende Motorenlärm klang enttäuscht. Wir erreichten die ersten Ausbrüche rötlichen Sandsteins. Zog in breiten Bändern über das Ödland, wellige Hügel, die 155
aus dem Sand auftauchten. Die Spur des Mörders hatten wir am Felsboden verloren. Be kümmerte uns aber nicht. Waren froh, die Klimadächer zu haben. Wenig bewegen, wenig denken. Das ist die Wüste. Sie prägte uns schon. Zur Rechten türmten sich Klippen, schräge Schichtungen. Dazwischen schillerte der Säuresee wie geschmolzenes Blei. Weiße und gelbe Kristalle säumten das Ufer. Spröde ragten die Stalagmiten in den Wüstenhimmel. Ich führte eine schleppende Unterhaltung mit Kinski. Er hatte mir erklärt, woher die starken Störfelder kamen, die den Aufklärer jedesmal zum Abdrehen zwangen. Ich verstand nichts davon, aber ich vermutete damals, er dachte sich das mit dem Schwarzen Loch inmitten der Wolke bloß aus, um sich zu beruhigen. Schwebt ständig dort in irgendwelchen Feldern, sagte er. Hätte er mal auf Wega III gesehen. Bei ruhiger Luft war es unsichtbar, aber wenn Sand reinspiralte - wie bei einem Mahlstrom -entstand diese Synchrotron-Strahlung. Und der Nebel. Mochte sein oder nicht. Spielte keine Rolle. Mir war es egal. Wußte nur, daß mich die Wolke, groß wie ein Atompilz von hier, nervös machte. Irgendwo dort vorn lauerte der Mörder. Ich wollte nach Hause. Angela, hörst du? Ich komme wieder. Wir werden den Augenblick finden. Zufrieden leben. Es bedurfte nur der Übung. Ich schloß die Augen, wollte mich in den Sonnenuntergang auf Heavensgate fallen lassen. Aber die Wüste beobachtete mich. Drang mir unter die Augenlider. Sandsteinklauen. In Najjaz'-reen wartete etwas. Rutschte unbehaglich auf der Bank herum. Die Hitze machte mich verrückt. Ich verfluchte Raeloff.
Fragment 4
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Endlich führte Der ihn an den Roten See und sprach: Knie nieder und trink. Dies ist mein Blut. Über dem Wasser schwebe ich, und gebe Leben und nehme es wieder, bevor ich es gab – ich bin der, dessen Name du nicht sprechen kannst. Und Ashkaron kniete nieder und trank und sah Den über dem Wasser schweben in seiner Herrlichkeit, welche den Nebel vertrieb. Jez'r-Schriftrollen, Fragment 4 -4 Motorengeräusch floß zwischen die steinernen Türme, prallte an Felswände, irrte in den Höhlen umher. Ein Signal war es für die mächtig getürmte Wolke, die nahe, zu nahe wartete. Ich kam aus unruhigem Schlummer zurück in den Wüstentag. Da kamen die Wagen gerollt, die – ich war sicher – ihn brachten. Den Bruder. Beeile dich, Freund, die Zeit ist knapp, sie tropft aus unserem Leben, und Najjaz'reen saugt sie gierig ein. Beeile dich! Als die Fahrzeuge vorbeikrochen, wurde der Zwang zu suchen so stark, daß es mich kaum mehr hinter der schützenden Felswand hielt. Hier kam er, einer von zehn, die auf die Wolke zuhielten. Zehn Fremde, an mir vorbei, schon zogen sie weiter ins Verderben, und wenn ich ihn nicht fand, war auch ich verloren. Zehn Fremde. Der Bruder war dabei, aber ich kannte ihn nicht. Der Name! Gib, daß ich mich erinnere, so kann ich dir ein Zeichen geben. Warte auf mich, warte, gleich fällt er mir wieder ein! Sie hielten an, blickten in meine Richtung, unvorsichtig hatte ich mich aufgerichtet, da hatten sie mich wohl entdeckt. Sie liefen heran, und die Angst quoll aus mir heraus. Sie durften mich nicht aufhalten. Alles wäre vergebens. Ich wandte mich zur Flucht - zwischen den Kegeln und Fels 157
wänden dahin, von Schatten zu Schatten, durch steinerne Bögen, verwinkelte Gänge und Schluchten, wie in Trance, während ich verzweifelt den Namen suchte. Die Sonne blendete mich, als ich gebückt aus einem Stollen ans Licht kam, ich blinzelte, und im verblassenden Nachbild hatte ich undeutlich und zaghaft die Erinnerung an einen wunderschönen Planeten – und sternesprühend aus dem Dunkel hochglitzernd, für einen Augenblick auch den Namen. Mit fliegenden Fingern nahm ich einen Splitter auf und ritzte das Signal in die weiche Felswand – für den Bruder, der nun wissen würde, daß ich wartete. Wir würden einander erkennen. 4 Bald hatten wir Alar'ta erreicht. Das Gelände wurde hügelig. Die Wagen krochen zwischen windgeschliffenen Blöcken dahin, hinein in einen Wald aus Steinkegeln. Die Sonne schnitt tintenschwarze Schatten in den Boden. Die mächtig geschichteten Klippen am Ufer des Sees fielen zurück. Wandte man den Blick, sah man den schillernden Säurespiegel hier und dort zwischen Klippen und Hügeln glitzern. Dann war nur noch der Sandstein um uns. Plötzlich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Starrte zwischen Türme und Felsbrocken. Da sah ich den Fremden. Er stand im Schatten eines gewaltigen Findlingsblockes, bewegte sich nicht. Hätte ich nicht genau hingeschaut, wäre er in seinem rotbraunen Burnus mit dem Sandstein verschmolzen. Ich stieß Kinski mit dem Ellbogen wach, deutete auf den Thu'. Er brauchte einige Zeit, um ihn zu erkennen. Dann hatte er gleich seine Kamera bei der Hand. Knipste. Inzwischen waren auch die anderen beiden auf unserem Wagen aufmerksam geworden. Ich wies den Fahrer an, im Schutz eines großen Felsens zu halten. Leise sprangen wir ab, pirschten uns an den Fremden heran. Die CPB-Gewehre 158
schußbereit, Kinski zielte mit der Kamera, stürmten wir den Hügel, von dem er uns beobachtet hatte. Ich sah gerade noch die Kutte hinter einem Felsen verschwinden. »Dort! Hinter dem Felsen!« rief ich. Ritsko sprintete ihm schon nach, tauchte als erster ins Felsgewirr. Wir hinterher, erreichten ihn fünfzig Schritt weiter. Er wartete vor einer Öffnung im Fels. Ritsko leckte sich die Lippen. »Ich hol' ihn raus«, flüsterte er, schlich seitlich an das Loch heran. Dann verschwand er im Finstern. Wir hörten ihn in der Höhle tappen, es wurde still. Schließlich kam er rechts hinter dem Felskegel hervor. Er war verstört. »Das reinste Labyrinth«, erklärte er. »Da kriegen wir ihn nie. – Für Sie hab' ich was, Ashley.« Dies zu mir. Ich folgte ihm in einen natürlichen Hof. Der Sandstein wuchs rundum mehrere Meter empor, es gab drei Ausgänge. »Er kam von hier.« Ritsko deutete auf eine Nische im Fels. – »Ja, und?« – »Dort an der Wand.« Jemand hatte etwas in den weichen Sandstein geritzt. Ich blickte genau hin. ASHLEY stand dort in ungelenken Blockbuchstaben. Mußte meinen Magen beruhigen. Kinski knipste, holte einst weilen die anderen. Ratlos standen wir in dem Hof, der die Gluthitze sammelte. Wir kannten uns nicht aus. Ritsko befragte auch Ahi'rim. »Niemand weiß, was der Innenbruder tut. Manche erinnern sich. Sie bedürfen der Hilfe.« Wieder eins seiner Orakel. Ich entschied, daß eine Verschwörung lief. Die Thu' wollten die Expedition sabotieren. Möglicherweise war der Dolmetsch ihr Zuträger. Wir zogen weiter. Das Funkgerät lieferte nur noch Störungen, und Raeloff hörte uns sicher auch nicht mehr. Zu nahe waren wir der Wolke Najjaz'reen. Ahi'rim saß neben mir auf dem Transporter. Während wir auf die Nebelwand zuhielten, erzählte er von seiner Pilgerreise. 159
Es klang wie die Geschichte von Ashkaron. Ich lernte nichts Neues. Auf die Frage, was ein Innenbruder sei, antwortete er: »Sie sind verschieden. Meiner war wild und ungestüm wie Fajz'r. Ich floh ihn, und doch half er mir im Augenblick. Deiner aber sorgt sich. Schütze ihn, wenn es soweit ist.« »Was meinst du mit >Augenblick« wollte ich wissen. Ahi'rim starrte in die Ferne. Er saß ganz locker da, und sein Oberkörper pendelte im Gegentakt zum Holpern des Fahrzeuges. »Das ist schlecht übersetzt«, sagte er. »Ihr habt kein Wort dafür. Es ist ein Ziel und ein neuer Anfang. Eine große Zeitlosigkeit.« »Die Ewigkeit?« half ich.
»Ja, das.«
»Und was hat dieser – dieser Innenbruder damit zu tun?«
»Du erlebst ihn.«
»Ewig also?«
»Nein, nur im Augenblick.«
Ich war nahe daran, aufzugeben. Einmal noch, redete ich mir
zu. Ganz behutsam, ganz ruhig. »Ashkaron sagte zum Volk«, zitierte ich aus dem ersten Fragment, »>besiegt euch selbst und tötet euch im Augenblick<«. Der Dolmetsch nickte.
»Richtig übersetzt?«
»Bis auf den Augenblick - das Wort ist nicht gut.«
»Das ist auch dein Augenblick?«
»O ja. Im Augenblick sind alle gleich. Alles endet und
beginnt. Alles bricht aus dem Augenblick hervor in die neue Welt. Dies ist geschrieben und bezeugt.« Bei diesen Worten legte Ahi'rim die Handkante an die Nasenwurzel. Eine religiöse Handlung. Ich gab ihm etwas Zeit, bevor ich weitertastete: »Hast du den Augenblick erlebt? Ich meine: war er schon?« 160
Der Dolmetsch nickte wieder. Vielleicht war es auch nur ein Pendeln seines Kopfes im Schwanken des dahinkriechenden Geländewagens. Es war unerträglich heiß. Der Fels waberte, glühte von unten gegen die Gesichter. Eine hypnotische Trägheit bemächtigte sich meiner. »Ich habe den Augenblick gekostet«, sagte Ahi'rim, und seine Stimme war fest. »Das Fremde wurde selbstverständlich, mein Hunger gestillt, und mein Zweifel war zufrieden. Das Tor zwischen dem Leben und dem Fühlen war für einen Augenblick offen. Ich habe es durchschritten, und es hat mich wiedergeboren.« Der Unsinn stieg mir in die Nase, zerplatzte zu befremdenden Gefühlen. Was war das für ein Drängen in mir? Ein Jagen und Hasten, das wie mit samtenen Fühlern von Schmetterlingen nach mir tastete. War Ahi'rims Augenblick der, den ich suchte? Eine zufällige Übereinstimmung der Bezeichnung? ASHLEY. Die Verschwörung. Die Wüste kroch mich an. Hier wanderte Ashkaron. Wagte die Wolke. Und ich? »Was heißt Najjaz'reen?« fragte ich, meine Gefühle bezäh mend. »Das ist ein heiliges Wort«, sagte Ahi'rim. »Es ist etwas, was dem Gott untersteht und mehr kann als er. Es bedeutet ZeitMahlstrom.« Die Wolke Zeitmahlstrom. Hübsch. Und doch war es eine Verschwörung. Ich war sicher. Eine Nebelwand dampfte vor uns. Das Sonnenlicht fing sich in Myriaden Tröpfchen. Najjaz'reen leuchtete. Der Zug hielt. Kinski hantierte mit irgendwelchen Meßgeräten. Die anderen saßen unter den Klimadächern. Beäugten mißtrauisch das Naturwunder. »Das ist Wasser«, verkündete Kinski nach Minuten. Raeloff hatte sich also nicht geirrt. »Waschechter Nebel mit wenig Schwefeltrioxid. Völlig ungefährlich«. Man hörte, daß ihm die Sache unbegreiflich war. Mir auch. Aber nicht wegen des Was 161
sers auf diesem ausgequetschten Planeten. Sondern wegen Dahlberg. Wegen des Unbekannten. Mein Name im Fels. Der Augenblick, von dem Ahi'rim dauernd sprach. War es auch mein Augenblick? Eine Namensgleichheit? Fühlte mich ganz krank. Der Sand, die Hitze. Da sollte einer normal bleiben. Kinski packte seine Geräte ein. Wir zogen weiter. Hinein in den Nebel. Nach dem Sonnenglast war es trüb und farblos in der Wolke. Am Rand wogten Schleier wie fallende Vorhänge. Nach ein paar Metern war alles gleichmäßig dicht. Das Licht kam von überall. Das Motorengeräusch der Fahrzeuge war gedämpft. Sogar die selten fallenden Worte klangen verhalten. Nebelfinger streichelten die Haut. Ich zog meinen Burnus enger um die Schultern, sperrte die flirrenden Tröpfchen aus. Alle hatten über Raeloffs Idee, uns zu tarnen, gemeutert, aber jetzt waren sie froh über die langen schützenden Umhänge der Thu'. Wenn sie auch zu nichts ande rem gut gewesen waren – den Nebel hielten sie ab. Der erste Wagen suchte zehn Meter vor uns seinen Weg. Hügeliges Gelände, geröllgesäumte Niederungen und Täler, als wären hier Bäche geflossen. Wir kamen im Schrittempo voran. Stellenweise trieb der Nebel so dicht, daß der Weg nach zwei Metern verschwand. Der Geländewagen voran tauchte ab und zu wie ein Schemen aus dem Leuchten auf, blieb meist verbor gen. Wir orientierten uns nach dem Geräusch. Plötzlich glaubte ich gedämpfte Rufe zu hören. Der Motor des im Nebel begrabenen Leitfahrzeuges röhrte auf. Metall kreischte. Dann war es still. Ritsko befahl Halt. Wir saßen sekundenlang, lauschten in das Zwielicht, aus dem es träge gluckerte. Der Leutnant bedeutete mir und Ahi'rim, ihm zu folgen. Kinski blieb beim Fahrer zu rück. Wir tasteten uns über den gerölligen Boden, sondierten vor jedem Schritt, die Strahler im Anschlag. 162
Der Nebel schluckte alles bis auf zwei Schritt Entfernung. Deshalb kamen wir ganz an den Abgrund heran, bevor wir ihn sahen. Der Boden brach senkrecht ab. In der Schlucht gluckerte es. Man erkannte nichts. Wir standen hilflos da. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber der Nebel war in mein Sprachzentrum eingedrungen und hatte es blockiert. Wie stickig die Luft war! Ritsko sagte schließlich überflüssigerweise: »Sie liegen da unten«, und wie zur Bestätigung lichteten sich die Schleier sekundenlang. Die Wand fiel zehn Meter ab. Am Boden der Schlucht rauschte ein Bach in offenen Mäandern. Der Wagen lag auf der Seite, sank langsam in sich zusammen. Der Fluß brodelte, wo er das Wrack berührte. Gelbe Schwaden stiegen auf. Die Säure arbeitete gründlich. Ich glaubte eine leblose Gestalt zu sehen, seltsam verrenkt, aber der Nebel stieß gleich vor, füllte die Schlucht wieder. Wir mußten sie wohl umgehen, der gegenüberliegende Steilabfall war zu weit entfernt. Dort standen drei Gestalten. Sie starrten zu uns herüber. Ich wagte mich nicht zu rühren. Dann stieß ich Ritsko vorsichtig an, zeigte hin. Als er aufblickte, begannen sie zu verblassen. Sie nahmen das Leuchten der Umgebung an. Ich erkannte gerade noch, daß sie in die rotbraunen Kutten der Thu' gehüllt waren. Dann lösten sie sich auf. Vielleicht hatte sie auch nur der Nebel verschluckt. »Wir kehren um«, sagte Ritsko. Seine Stimme war welk. Ahi'rim wiegte zweifelnd den Kopf. »Vergeßt nicht die Innenbrüder«, und fixierte uns mit pechschwarzem Blick. Dann drehte er sich um und ging. Ritsko schaute mich fragend an. Ich den Leutnant. Wir ent schlossen uns, zum Wagen zurückzukehren und mit Kinski zu beraten. Ahi'rim war schon dort. Ritsko berichtete, was geschehen war. Der Säurefluß. Das Wrack. Keine Überlebenden. 163
»Drei Eingeborene haben uns von der gegenüberliegenden Seite beobachtet«, schloß er. »Ich denke, die haben nichts Gutes vor«. Kinski war hochgradig nervös. Wischte ständig den Nebel vom Gesicht, blickte rundum, als erwarte er hinter dem nächsten Felsen einen Thu' zu sehen. »Das war kein Zufall«, stieß Kinski hervor. »Erst Dahlberg, jetzt das Leitfahrzeug. Die haben was vor. Ich sag' euch, die haben was vor!« Er begann hysterisch zu werden. Wir schwiegen. »Haben Sie Einwände dagegen, die Mission abzubrechen?« fragte mich Ritsko schließlich. Einwände? Keine. Aber es war wichtig zu wissen, was hinter dem Nebel wartete. Lebensnotwendig möglicherweise. »Was?« Ritsko glotzte mich an. »Was ist los?« »Sie sagten soeben >lebensnotwendig
Fragment 5 Trotz seiner Verletzung suchte Ashkaron den Augenblick. Er hatte Den verschmäht im Angesicht der Ewigkeit, und Der 164
hatte ihn verlassen. Da trat der Unerschrockene aus dem Nebel heraus und sprach zu sich selbst: Nur ich kann dir helfen. Folge mir, was auch immer geschieht, und habe Vertrauen. Denn ich war das, was du sein wirst. Jez'r-Schriftrollen, Fragment 5 -5 Sie verließen das Zentrum! Sie wollten fort, jetzt, da das Ziel so nahe war. Bald! hatte ich frohlockt, als sie mit dem Wind hielten. War ihnen gefolgt, stets außer Sicht, kaum sah ich sie selbst, aber ich spürte ja ihre Nähe, das Land war mir vertraut, ich fühlte mich sicher. Die kräftige Brise brachte Erinnerungen mit den wallenden Nebeln, je näher wir dem Zentrum kamen, der Heimat, wohin mich dieser unerklärliche Zwang führte, die Angst, den Augenblick zu verfehlen, die Sorge um den Bruder, der blind – blinder als ich – durch die Wolke irrte. Erinnerungen an einen roten See, an eine nährende, tötende Sonne. Ich mußte dem Pfad meiner Erinnerung folgen. Aber sie hatten sich abgewandt. Strebten nach draußen, in die Wüstenglut zurück, als sie zögernd, unsicher durch den wirbelnden Nebel tappten, der ihnen in die Lunge drang und den Atem zuschnürte. Es wäre ihr Verderben. Nur jener mit dem nach innen gehenden Blick war mit sich vereinigt. Er war über die Angst erhaben, er würde den Weg finden. Die anderen aber wären verloren. So wie ich und der Bruder des dritten, der sich noch nicht gezeigt hatte. Ich mußte sie aufhalten. Mußte jedenfalls ihm ein Zeichen geben, mir zu folgen, denn der Augenblick war nah. Kaum dachte ich es, da löste sich, als wären meine Wünsche durch das Zwielicht geeilt und hätten zugegriffen, ein Felsen von einem Überhang und blockierte den Weg der Fliehenden. 165
Leise Schritte entfernten sich. Der Bruder des anderen. Auch er mußte sie aufhalten. Konnte wie ich nicht mehr warten. Hinter einer Brüstung verborgen, lauschte ich. Der Wind trug mir die Worte zu, durch den Nebel geschwächt, wie aus weiter Ferne, wiewohl sie nur Schritte entfernt waren. Die Zeit lag dazwischen. Eine fremde, beklemmende Zeit, die aus dem roten See hochdampfte und uns umfing. Sie schmolz dahin, die Zuckerwatte des Vergessens wurde zu einem Joch, das mich nebelfeucht in die Knie zwang. Bald war es soweit. Bruder! Hör' mich an. Aber sie brachen auf. Entfernten sich wieder, und ich eilte ihnen nach, überholte sie auf unsichtbaren, winkeligen Umwe gen. Mußte handeln. Mußte gegen alle Angst handeln - oder es war zu spät. Also trat ich ihnen in den Weg. Sie kamen aus dem Dämmerlicht heraus, verhielten, als sie mich sahen, und wir standen einander gegenüber, Sekunden verstrichen, während ich ahnte, daß Gefahr drohte, als hätte ich dies bereits erlebt. Ich sah es kommen und wandte mich um, fort in den Nebel, flieh! Da traf mich der Blitz. Der Schmerz warf mich um. 5 Der Fahrer versuchte vergeblich den Wagen zu starten. Immer wieder, bis die Batterie tot war. Die Verkabelung war feucht geworden. Vielleicht waren auch die Störfelder schuld. Jetzt, da der Wagen streikte, griff Kinskis Nervosität auf den Leutnant über. Sie und der Fahrer holten Funkgerät und Kreiselkompaß aus dem Fahrzeug. Zu Fuß sollten wir den Rückzug antreten. Najjaz'reen verlassen und Hilfe anfordern, sobald der Sender wieder intakt war. Leichter Wind kam auf. Netzte die Haut mit Wasser tröpfchen. Es prickelte beim Atmen. Man sah die Hand nicht vor den Augen. Ritsko und die anderen waren Schatten in dem 166
Nebelweiß. Schatten aus einem Spiel, das mich nicht berührte. Lehnte mich an einen Felsen, der war kühl an meinem Rücken. Dachte >Muß ihnen helfen«, aber die Gedanken kamen wortweise und zerbrachen. Hatten keine Bedeutung in dieser kühlen, in die Seele kriechenden Luft. Ich wartete. Worauf? »Verdammt, Ashley, nehmen Sie den Wasserkanister! Worauf warten Sie noch.« Das war Ritsko. Versteckte die Angst hinter Befehlen. Aber er hatte recht: wir mußten hier raus. Ich packte also den verdammten Kanister und fügte mich in die Reihe. Voran Ritsko mit dem Kompaß, dann der Meßtechniker mit einigen Utensilien. Als dritter der Dolmetsch mit den Notrationen, und hinter mir schleppte der Fahrer das Funkgerät. Wir kamen langsam voran. Nach zwei Stunden hatte sich der Nebel immer noch nicht gelichtet. Wir hätten längst den Wol kenrand erreichen sollen. Allmählich wurde auch ich nervös. Mein Gefühl, im Kreis marschiert zu sein, sollte mich nicht trügen. Anfangs dachte ich, es läge an dem Wasserbehälter, der mich einseitig belastete, einen gekrümmten Weg vortäuschte. Orientierung fiel weg, da der Nebel die Welt auf eine Kugel von zwei Metern Radius beschränkte. Der Wind war heftiger geworden, wechselte ständig die Richtung. Als Ritsko halt machen ließ, war ich schon ausgepumpt. Setzte mich auf den Kanister und dachte nur daran, auszurasten. Die Stimmung war gedrückt. Ritsko fluchte leise. Er hatte den Kompaß auf den Boden gestellt. Ich starrte auf die Leuchtnadel des nuklear betriebenen Krei sels. Der Pfeil wies uns die Richtung nach Jez'r. Das war beru higend. Während ich an Raeloffs klimatisiertes Büro dachte, rückte die Nadel ein winziges Stück weiter. Ich stellte mir noch vor, wie es außerhalb dieser Nebelburg aussah, vergegenwärtigte mir die schmierigen, belebten Straßen Jez'rs, sah den 167
Gouverneur mit einem Glas Whisky, besorgt um die Föderation, hoffend, in der Wolke Najjaz'reen das Rezept für ewige Stabilität zu finden. Jetzt war die Kompaßnadel wohl dreißig Grad weitergerückt. Ich verstand nichts von Navigation. Vielleicht war das auch ganz in Ordnung. Jedenfalls machte ich Kinski auf den rotierenden Richtungspfeil aufmerksam. Er beäugte minutenlang den Kreiselkompaß, und ich dachte, er hätte die Sprache verloren. »Ich hab's gewußt«, krächzte er schließlich. »Ich hab's ja ge wußt. Ein Schwarzes Loch.« Inzwischen hatten auch die anderen mitbekommen, daß was nicht stimmte. Der Meßtechniker erklärte etwas von Gezeiten wirkung in der Nähe einer Metriksingularität, und daß dadurch ein Moment auf den Kreisel ausgeübt wurde. Das Loch in der Raumzeit sei wahrscheinlich mitten in der Wolke zu finden, und wir könnten den Kompaß wegwerfen. Ich hörte kaum hin. Es war unwesentlich. Viel mehr interessierten mich die Gestalten an der Schlucht. Und der Unbekannte, der meinen Namen in den Fels geritzt hatte. Innenbruder? Mystischer Unsinn, den die Thu' tradierten. Aber irgendwie paßte dieses Wort zu den Ereignissen. Ich hatte das Gefühl zu wissen. Aber ich wußte nicht zu sagen, was. Ein böiger Wind trieb die Nebelballen voran, direkt in meinen Umhang. Die Luft war schal. Drückte auf die Lunge. Wie sollten wir je wieder rauskommen? Ziemlich hoffnungslos ohne Orientierungsmöglichkeit. Merkwürdigerweise hatte ich keine Angst. Die Überlegung war bloß akademisch. Ritsko rief uns zusammen. »Wir bilden zwei Gruppen«, schlug er vor. »Ashley, Kinski und Ahi'rim, ihr nehmt eine beliebige Richtung. – Wir beide« – damit wandte er sich an den Fahrer – »gehen entgegengesetzt. Eine halbe Stunde lang. Keine Minute länger. Dann kehrt ihr zurück. Wir treffen uns wieder hier.« 168
Er hatte eindringlich gesprochen, und wir waren's zufrieden. Wir hatten nur diese Chance. Ich verteilte Wasser. Sie tranken bedächtig. Dann füllte ich den halben Rest für Ritsko und den Fahrer in einen Plastiksack. Viel blieb nicht übrig. »Wenn wir nicht gleich zurückkommen, wartet hier. Dann sind wir draußen und funken um Hilfe«, erklärte Ritsko. Er war bereit. »Oder ihr habt euch verirrt«, ergänzte Kinski. Er hätte das besser für sich behalten. Der Leutnant erwiderte nichts. Starrte Kinski bloß an, drehte sich um und verschwand in dem allseitigen diffusen Leuchten. Der Fahrer schleppte das Funkgerät hinter ihm her. Ritsko setzte wohl voraus, daß sie den Ausgang finden würden. Wir standen verloren da. »Rein in das Nichts.« Das war Kinski. Ich wußte nicht, ob er uns oder die anderen meinte. Traf für beide zu. Er nannte die genaue Zeit, dann brachen wir auf. Voran der Meßtechniker, Ahi'rim in der Mitte. Ich bildete die Nachhut. Nach zehn Minuten wurde die Landschaft schroffer. Ich merkte es an den scharfkantigen Stalagmiten, die häufiger aus dem Nebel tauchten. Uns Umwege aufzwangen. Ich war mir nicht mehr sicher, ob wir noch Richtung hielten. Der Boden schien zu schwanken. Wir gingen ständig bergab. Plötzlich rannte ich in Ahi'rim hinein, der stehengeblieben war. Kinski starrte in das Glimmen der Wassertröpfchen. »Was ist?« fragte ich. Sah nur den Lichtvorhang. Er hob den Arm, Ruhe heischend, suchte die unsichtbare Landschaft. »Da ist jemand«, zischte er. Wir rührten uns minutenlang nicht, warteten, konnten aber nichts Ungewöhnliches bemerken. Schließlich nahm Kinski den Strahler von der Schulter, entsicherte und ging langsam weiter. Auch ich war nun wachsam. Versuchte meinen Blick tiefer in die 169
Nebelwolken zu bohren, die der auffrischende Wind zerblies. Turbulenzen quirlten ringsum. Wir tasteten uns blind weiter. Es ging endlos dahin. Ich war sicher, daß wir die Richtung verloren hatten. Kinski beruhigte mich. Er habe einen guten Orientierungssinn. Tatsächlich sah es so aus, als ob wir dem Wolkenrand näherkamen. Es wurde merklich wärmer. Zugleich hatte das Licht aber eine graue Färbung angenommen, als läge mehr Nebel zwischen uns und der Sonne. Mehrmals glaubte ich in dem diffusen Leuchten ein Flackern zu bemerken, aber es waren wohl die überanstrengten Augen. Ein Fixpunkt für den Blick fehlte. Dann starrte man noch intensiver in das Wolkengrau, glaubte Schatten am Rand des Sehfeldes zu erkennen. Äugte hin, aber da war nichts. Oder folgte uns jemand im Schutz des Nebels? Ich versuchte mich abzulenken, indem ich alle Fakten auf reihte. Einen Sinn darin finden. Dahlbergs Tod. Mein Name im Fels. Ashkarons Religion. Ein Schwarzes Loch. Innenbrüder. Tötet euch im Augenblick. Heavensgate. Die ewige Stabilität. Und etwas . . . Als Raeloff mir die Wolke im Film gezeigt hatte, war eine Bemerkung gefallen. Etwas Technisches, auf das ich nicht geachtet hatte. Jetzt, nachdem ich mehr erfahren hatte, schien es mir wichtig. Barg vielleicht den Schlüssel. Aber was –? Ich hatte das Gefühl zu wissen. – »Stop«, sagte Kinski da. Wir verhielten. »Wir müssen zurück«, sagte er. »Die halbe Stunde.« Er war nervös. »Finden Sie den Weg?« zweifelte ich. Er nickte durch den Nebel hindurch. Er war nicht sicher, aber was blieb uns anderes übrig? Die Zeit drängte. Wir sahen den Dolmetsch an. Erwarteten wohl eine entschie dene Stellungnahme des Eingeborenen. Ahi'rim aber schwieg. Kaum ein Wort hatte er verloren, seit wir herumirrten. Kinski übernahm also wieder die Führung. Wir trotteten hinter ihm her. 170
Wir hielten jetzt gegen den böigen Wind. Blies uns den Nebel unter die Umhänge, feuchtwarm auf der Haut. Vereinzelt blitzte es außerhalb unserer eingeschränkten Welt, deutlicher als eine Einbildung. Und die Schatten am Rand des Sehfelds – sie verhuschten, wenn ich den Blick wandte. Von dort schien auch das Geräusch tappender Füße zu kommen. Aber das war wohl Kinskis Schritt, der sich an dem Felsen brach. Was hatte Raeloff mir damals erzählt? Elementarteilchen, Synchotronstrahlung. – Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Vielleicht wußte Kinski etwas. »Kinski«, rief ich nach vorne. »Was hat ein Schwarzes Loch mit Elementarteilchen zu tun?« Er schwieg sekundenlang. »Erzähl' ich Ihnen, wenn wir da raus sind«, brummte er dann. »Machen Sie schon. Es ist wichtig«, drängte ich. Er dachte wohl, ich sei übergeschnappt, bequemte sich aber doch: »Schwarze Löcher haben keine Baryonenzahl. Soll heißen, sie können Elementarteilchen vernichten. Oder erzeugen.« – Während er weitersprach, überholte ich Ahi'rim und gewann gleiche Höhe mit Kinski. – »Daß sie Teilchen vernichten, ist offensichtlich. Masse wird im starken Gravitationsfeld gefangen, spiralt zum Zentrum, wird geschluckt. Das Loch wird immer massiver. Hab' mal ein Mini-Loch auf Spica iv gesehen – da tut sich was, sag' ich Ihnen. Sandstürme, Turbulenzen durch das starke Feld. Das macht auch hier den Wind.« Er kroch tiefer in seine Kapuze. »Was passiert, wenn das Schwarze Loch runterfällt?« Kinski lachte. »Ebensogut? fällt der Planet auf das Loch. – Was passiert? Das Ding ist heiß, weil es ständig Materie frißt. Lassen Sie mal einen Fußball von zwanzigtausend Grad fallen.« »Alles schmilzt.« Kinski brummte. »Die Schmelze wird explosionsartig ver 171
drängt, zum Teil auch geschluckt. Ein kleines Schwarzes Loch müßte auf der Erde herumperlen wie ein Wassertropfen auf der Herdplatte« – Er kicherte. – »Aber das sind Spekulationen. Die Kinski-Theorie. Vielleicht fällt es auch in den Planeten rein, bis zum Zentrum.« »Und wird immer schwerer?« »Natürlich. Es frißt den Planeten auf. Langsam, aber sicher. Es ist stärker. Der Planet fällt ins Loch, nicht umgekehrt.« Das waren ja Aussichten. Als ob Sturm und Nebel und Wüste nicht genügten. Ich schlüpfte tiefer in meine Kutte. Kinski schritt aus, als wüßte er den Weg zurück. Es beruhigte ein bißchen. »Wenn alles geschluckt wird; wieso kann Materie erzeugt werden?« überlegte ich laut. »Das ist nicht so offensichtlich. Materie entsteht auch sonst aus dem Vakuum. Teilchen und Antiteilchen bilden sich von selbst, als zufällige Fluktuation. Aber sie sind so nahe beisammen, daß sie einander gleich wieder vernichten. Man merkt nichts davon. Im Feldgradienten allerdings werden sie getrennt.« »Im was?« unterbrach ich. Er seufzte. »Die Schwerkraft ändert sich in der Nähe des Schwarzen Loches so stark, daß das zufällig entstandene Teilchen-Antiteilchen-Paar auseinander gezogen wird. Gezeitenwirkung, Sie verstehen?« Nicht ganz, aber ich hatte eine vage Vorstellung. Kiesel, die an Gummizügen hängen. Sobald die beiden getrennt waren, konnten sie einander nicht mehr auslöschen. Eine gute Story. Aber was half das alles in diesem Labyrinth. Fern von Heavensgate. Wir kämpften uns durch die Nebelfetzen. Windböen huschten an Kinskis Gesicht vorbei. Er starrte auf den Boden, kannte den Weg auswendig. »Materie und Antimaterie entstehen aus potentieller Energie. Dies widerspricht der Erfahrung, daß die Entropie stets zu nimmt. Ein irreversibler Prozeß wird in der Nähe eines 172
Schwarzen Loches plötzlich reversibel« - schon möglich, entgegnete ich in Gedanken. Damit fing ich nichts an. - »Es gibt da eine abenteuerliche Theorie«, fuhr er fort, »mit Zeitumkehr. Die Ereignisse sollen verkehrt herum ablaufen. Aus Zukunft wird Vergangenheit. Sie wollen damit die Entropie retten.« Verkehrt herum. Vergangenheit aus Zukunft. »Warum verkehrt herum?« wollte ich wissen. »Denken Sie an einen fallenden Stein. Wenn Sie in seiner Bewegungsgleichung die Zeit spiegeln, steigt er vom Boden auf. Jetzt nehmen Sie an, dieser thermodynamisch unmögliche Vorgang wäre beobachtbar. Durch Zeitspiegelung machen Sie daraus einen gewöhnlichen, normalen, fallenden Stein. Aber für den Stein ist unsere Zukunft Vergangenheit. – Genauso soll es den Antiteilchen gehen, die nahe einem Schwarzen Loch erzeugt werden.« »Sie kommen aus der Zukunft?« Kinski brummte zustimmend. »Und was – ich meine, wenn sie könnten – was würden solche verkehrt laufenden Teilchen sehen?« Er blickte verwirrt zu mir, kam außer Tritt, fing sich wieder. »Ich bin kein Philosoph«, fuhr er mich an. Ich beschloß nicht weiter zu fragen. Obwohl... es war wichtig. Wegen der Innenbrüder. In den Jez'r-Texten gab es Hinweise auf die Zeit, verdrehte Argumente, die vielleicht gar nicht so symbolisch zu verstehen waren, wie ich gedacht hatte. Und die Wolke hieß nicht von ungefähr Najjaz'reen. – Plötzlich dumpfes Grollen, ein Schatten von oben. Ein Fels block krachte zwei Schritte vor uns nieder. Der Boden zitterte. Geröll polterte nach. Kinski hechtete auf die Seite, duckte sich unter einen Vorsprung. Ahi'rim und ich waren stehengeblieben. Wir horchten in das Niemandsland, bis die letzten Steinchen über die Böschung ge kollert kamen. 173
Da war es wieder: Tappen und Scharren eiliger Schritte hinter dem Nebel. Kinski trat zu uns. Er atmete heftig. »Das war ein Anschlag«, stellte er fest. »Der Kerl ist weggelaufen!« Ich nickte. Wir begutachteten den Stein, der uns gegolten hatte. Ein Riesending. Wir hätten es nicht überlebt. »Vielleicht eine Warnung«, schlug ich vor. Ein bißchen weit voran für einen Anschlag. Kinski knurrte unwillig. »Die Innenbrüder sind heftig, wenn der Augenblick naht«, orakelte Ahi'rim. »Quatsch«, brüllte Kinski hysterisch. »Ein Anschlag war's! Ihr kennt euch in dem verdammten Nebel aus. Wollt uns unbemerkt beseitigen. Erst Dahlberg, dann das Leitfahrzeug. Jetzt sind wir dran. Daraus wird nichts. Ich finde den Weg alleine.« Er legte auf den Dolmetsch an. Ich trat dazwischen, versuchte Kinski zu beruhigen. Unwillig senkte er den Strahler. »Er geht voran«, entschied er. »Wenn er Dummheiten macht, knall ich ihn ab.« Er hatte Angst. War unberechenbar. Ich schaute Ahi'rim an. Der taxierte Kinski, dann nickte er und übernahm die Führung. Auch er hatte Angst. Aber sie be herrschte ihn nicht. Wir zogen schweigend weiter. Ich verfolgte wieder die Idee mit der Zeitumkehr und den Innenbrüdern. Symbole der Angst in Ashkarons blumiger Spra che. Symbole bloß? Was, wenn in Najjaz'reen eigene Naturge setze galten, hervorgerufen durch das Schwarze Loch, an dessen Existenz ich nicht mehr zweifelte? Sollten wir die Jez'rFragmente wörtlich nehmen? Der Dolmetsch war stehengeblieben. Kinski dicht hinter ihm. Preßte ihm den Strahler in den Rücken. Aus dem Nebel vor uns löste sich eine Gestalt. Winkte zaghaft. Im Wind flatterte eine braune Kutte. Kinski trat einen Schritt zur Seite. Ich wußte, was er 174
vorhatte, wollte ihm in den Arm fallen. Da drückte er schon ab. Der lonenstrahl pfeilte glimmend ans Ziel. Der Unbekannte mußte geahnt haben, daß Kinski schießen würde, und wandte sich zur Flucht. Es erwischte ihn gerade noch an der Hüfte. Er stolperte. Da riß mir ein scharfer Schmerz die linke Seite auf. Ich preßte die Hand auf die Taille, ging zu Boden. Rote Schleier tanzten im Nebel. Fragment 6 Sie kamen an den See, und Ashkaron erkannte, daß es gut war. Der Bruder sah den Augenblick nahen, und trank vom Blute Dessen, und näherte sich Dem in Verzweiflung. Als der Redliche aber sah, daß Sein Zorn nach dem Bruder griff, zögerte er nicht, sondern trat hinzu und tötete im Augenblick. Indem er mit dem Bruder starb, ward er neu aus dem Blut Dessen geformt. Jez'r-Schriftrollen, Fragment 6 -6 Beeile dich, bevor die Sonne eintaucht und das Tor zum Mahl strom verschließt, in einer gewaltigen Lohe einen Krater brennt, der dich, Bruder, vernichtet. Bis hierher bist du mir gefolgt, und ich werde dich zwingen, weiterzufolgen, so wie mich die Zeit trotz meines Schmerzes zwingt, als wäre alles schon geschehen. Ja! Ich weiß nun wieder – je näher der Augenblick rückt, desto klarer werden die Bilder, die erlebten, zwingenden, schmerzenden Bilder unserer Geburt. Das Floß bringt mich an den Mahlstrom, wo du gewesen sein wirst, wenn du nicht vor meinen Augen verbrennen willst. Spürst du schon die Glut auf meinem Rücken? Folge dir, schwimm' gegen die Zeit, rette mich, indem du mich bezwingst. Siehe, ich bin deine Angst, 175
dein Zweifel, dein Zögern, und ich brenne in den heilenden Flammen der Zeit. Du suchst den Augenblick? Hier ist er, und er ist stabil. Nicht Heavensgate ist die Erfüllung, sondern Najjaz'reen. Hier! Hier bin ich - gib mir die Hand. Der Mahlstrom wartet auf uns, und wir stürzen hineiiin . . . niiienih tiez regissülf sua legeips nenie ni . . . 6 Als ich wieder klar sah, kniete der Meßtechniker vor mir. Be stürmte mich mit Fragen. Der Schmerz hatte nachgelassen. Ich zog die Hand weg, einer klaffenden Wunde gewärtig, aber da war nicht einmal ein Kratzer. Besorgt schaute ich nach dem Kuttenmann. Er war in den schützenden Nebel entkommen. »Der Schmerz wird rasch abflauen«, beruhigte Ahi'rim. »Es ist Ihr Bruder, Ashley, den Sie spüren. Wenn er stirbt, sind auch Sie tot. Die Zeit ist kurz. Folgen Sie ihm.« »Wohin?« »Zum Augenblick.« »Hören Sie nicht auf ihn«, zischte Kinski. »Es ist ein Anschlag. Ein Anschlag!« Ich versuchte vorsichtig aufzustehen. Tatsächlich war der Schmerz beinahe verflogen. »Ahi'rim hat recht«, wandte ich mich an den Techniker. »Der Fremde verfolgt mich. Ich brächte euch nur in Gefahr, wenn wir zusammenblieben. Ich muß das alleine durchstehen.« Kinskis Moral kämpfte mit seiner Angst. Er atmete rasch, fingerte an seinem Strahler herum. »Ich komme nach«, half ich ihm. »Gehen Sie voran. Los, Mann!« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Deutete Ahi'rim, wieder die Führung zu übernehmen. Nebelschwaden griffen 176
nach den beiden. »Was - muß ich tun?« rief ich hinterher. »Sie werden es erlebt haben«, kam Ahi'rims Antwort. Dann tauchten er und Kinski in die Wolke ein. Er war mein Bruder. Wenn er starb, war auch ich tot. Ein Teil von mir. – Dahlberg, so erkannte ich, hatte sich über einen Umweg selbst umgebracht. Sich erschossen. Und die verblassenden Gestalten an der Schlucht: lösten sich auf, als ihre Brüder im Wrack starben. Irgendwo ganz nahe wartete auch auf Kinski ein Schatten. Ich lauschte. Rasch verklangen die Schritte der Kameraden. Dann war da nur noch das Säuseln des Windes um die Zinnen und Minarette. Kam durch den dämpfenden Nebel. Gleichsam ein Negativ-Geräusch. Seltsam. Ich fühlte keine Angst. Sie hatte mich um so mehr verlassen, je tiefer ich in Najjaz'reen eingedrungen war. Viel leicht war der Bruder, der Ashkaron versucht hatte, doch nur ein Symbol? Der Fremde nur eine Projektion meiner eigenen Ängste? Eine heilende Ausschwitzung der Seele? Vielleicht manifestierte sich die Angst - ektoplasmatisch. Und Kinski hatte meine Imagination angeschossen. Verrückt. Wenn ich weiter überlegte, schnappte ich über. Da war es wieder: Vorsichtige Schritte aus der Deckung des allseitigen Graus. Dann trat der Fremde aus dem Nebel. Undeutlich, schemenhaft. Ich erkannte einen rotbraunen Umhang, dem meinen gleich. Die Kapuze hatte der Unbekannte ins Gesicht gezogen. Als ich mich ihm näherte, wandte er sich um, wies mir den Weg. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Er eilte voraus. Er hinkte, aber er bezähmte den Schmerz. Mußte sich überwinden, es blieb nicht mehr viel Zeit. Es ging bergab, über gerölligen Boden. – Ins Zentrum, nahm ich an. Wir hatten Rückenwind. Während des Abstiegs gewann er 177
an Stärke. Böen rissen an meinem Umhang. Der Nebel wurde dichter. Eine heftige Strömung saugte ihn voran wie in einen Mahlstrom. Es wurde dunkler. Voran flackerte es in der Wolkenwand. Mein Führer schien den Weg zu kennen. Er schritt rasch aus, scheinbar hatte er keine Mühe, sich rücklings gegen den Wind zu stemmen. Nicht mehr viel Zeit. Mit einemmal traten wir ins Freie. Der Wechsel war so abrupt, daß ich stehenblieb, um das Szenario zu erfassen. Ich stand auf einer geröllbedeckten Böschung. Zwanzig Schritt voran ein See, schräg wie der Abhang, von dem ich beobachtete. Die Landschaft bis zum Nebelvorhang hinter dem gegenüberliegenden Ufer war gekippt. Aber der See lief nicht aus. Die Wolkenwand, aus der ich getreten war, hüllte das Gewässer zylindrisch ein. In der Mitte des Sees war die Flüssigkeit kegelförmig hochgewölbt. Zwei Meter darüber schwebte eine rotglühende Scheibe mit einer gleißenden Zentralkugel. Miniatur eines rasch rotierenden Planeten systems. Ich spürte die Hitze, die das Gebilde ausstrahlte. Der See dampfte. Girlandige Wolken wurden hochgerissen, vorbei an dem schwebenden Zentralgebilde. Mächtige Turbulenzen ver dichteten sich in der Höhe zu dem Wolkengrau, das uns allseits einhüllte. Wie in einem Hochofen blies der Wind zum glühenden Zentrum, nahm über dem See Feuchtigkeit auf, schoß hoch. Kondensierter Wasserdampf stand wie der Pilz einer nuklearen Explosion über dem Zentrum, quoll in die Breite und fiel schützend über das Land. Eine stete Zirkulation, wie ein Rauchring rund um den See, sorgte für Verteilung und Nachschub. Najjaz'-reen wuchs aus dem Gewässer. Ufer, See und Wolkenwand badeten im düsteren Rot der Zentralscheibe. Zwischen dem schwebenden Diskus und dem aufgewölbten See flackerten stille Entladungen; kräftige Felder hielten wohl 178
die Scheibe in Schwebe. Es roch nach Ozon. Der Kapuzenmann war, während ich staunte, ans Ufer gelau fen. Dort lag ein Floß vertäut. Er zurrte es hastig los, abwech selnd mich und die glühende Scheibe beobachtend, und bestieg es. Ich lief hin, die gekippte Ebene abwärts. Er wartete ruhig. Bevor ich ihn erreichte, stieß er ab. Das Floß trieb vom Ufer weg. Mir war, als lächelte der Fremde. Sein Gesicht war im Schatten, das Zentralgestirn stand hinter ihm. Er hielt direkt darauf zu. Jetzt wurde mir klar, warum der See nicht ausfloß, obwohl die Landschaft seltsam gekippt war. Warum die Flüssigkeit wie ein Berg zur Mitte gewölbt war: Die winzige, glimmende Scheibe war sehr massiv. Ein Schwarzes Loch, es zog den See an. Verschob den Schwerpunkt des Planeten, so daß ich schräg zur Oberfläche zu stehen schien. Das war Raeloffs Schwerkraftanomalie. Der Boden war zentralsymmetrisch geneigt. Von jedem Punkt des Ufers mußte sich das gleiche Bild bieten. Versuchsweise lief ich ein Stück an den Wellen entlang, darauf bedacht, stets außer Reichweite der Säure zu bleiben. Die Fläche kippte auf mich zu, als säße ich in einem Kreisel. Noch etwas erhielt mit einemmal Sinn: Hier, vor meinen Au gen, glomm ja die Ursache der Massenanomalie von Proxi II. Ein Schwarzes Loch. Ein Schwarzes Loch, das nicht immer hier schwebte. Normalerweise war hier, an dieser Stelle, ein Krater. Was konnte diesen See zum Verschwinden bringen? Er konnte versickern. Oder aber durch diese glühende Scheibe – wenn sie eintauchte – Die Hitze war unerträglich. Ich nahm die Kapuze ab, aber es half nichts. Es brannte auf Kopf und Nacken herunter. Obwohl ich doch weit weg war. Da traf mich die dritte Erkenntnis. Diesmal gar nicht wissen schaftlich. Denn das Floß war in Seemitte angelangt. Mitten 179
auf dem wellenüberzogenen Hügel verharrte es. Der Fremde, der Innenbruder, meine Angst stand hochaufgerichtet unter der glühenden Zentralflamme und wartete darauf, verbrannt zu werden. Es wäre auch mein Tod. Mein Rücken schmerzte. Die kleine Sonne war unmerklich tiefer gesunken, während ich meine Überlegungen angestellt hatte. Er hatte mich geführt. Zum Augenblick. Hier und jetzt. Mir blieben ein paar Minuten. Ich warf den Umhang ab, stürzte mich in den See. Wasser, wie vermutet. Die letzte Hürde für Zaghafte. Ich schwamm mit kräftigen Tempi, bergan, wie mir schien. Mein Rücken brannte. Kopfschmerzen stellten sich ein. Weiter hatte sich die Minisonne gesenkt. Den See zu sich gezogen. Eine Wassersäule stieg vor mir hoch. Zu langsam. Ich schaffte es nicht. Rote Schleier wallten vor meinen Augen. Da kniete der Fremde, der gar nicht Fremde, auf dem Floß nieder, netzte Stirn und Rücken. Der Schmerz ebbte ab, ich schöpfte neue Kraft. Ein paar Züge noch, die Wassersäule empor, der Sonne entgegen. Der Feuerball war nahe. Das Wasser fiel träge um, wurde zu einer waagrechten Stange, an der ich entlangschwamm. Die Flamme war tiefer gesunken, stand nur noch einen Meter über dem Floß. Mein Kopf war Feuer, der Rücken schmolz. Ich schluckte Wasser. Glimmentladungen rundum. Zeitumkehr. Meine Angst wartete. Am Floß. Quälte mich. Alles brannte. Die Angst, die Sonne. Ich krieg' dich. Ich bring' dich um. Tötet euch im Augenblick. Der Rote See. Das Blut! Kraft! Ich tastete blind, spürte Holz . . . das Floß . . . eine Hand - meine Hand. Jetzt hatte ich - mich. Die Sonne zerplatzte. Ich blickte in einen Spiegel aus flüssiger Zeit hineiiin . . . niiienih nezrüts riw dnu, . . .
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Fragment 7 Was kommen wird und was geschah, ist eins im Augenblick. Ashkaron ging aus Wasser und Sand hervor, und wußte es und erkannte. Er aß von dem Salz, das gab ihm Kraft. So ertrug er die lange Reise in die Heimat. Er trat vor das Volk, daß sie staunten, und hörten zu, als er predigte, was ihm geschehen war: »Suchet die Angst in euch, stellt ihr nach und tötet sie im Augenblick der Vereinigung. Denn seht, ihr werdet wiedergeboren, und die Kraft ist bei euch.« Dies ist geschrieben und bezeugt. Jez'r-Schriftrollen, Fragment 7 ±7 . . . niiie zuvor waren die Konturen der Gegenstände so klar gewesen. Ein Spiegel vor der Zeit schärfte die Dinge, entfernte die Hülle des Ungewissen, der Möglichkeit hinter den Fakten, der Abfall trieb mit den Wolken dahin. Bestimmtheit war an dessen Stelle getreten, und solcherart die Suche nach dem Augenblick beendet. Ashley lag am Rande des Kraters, den die herabtauchende Minisonne freigelegt hatte; der See war verdampft. Wolken lagen in breiten Schlieren über der Wüste – Reste der Eruption. Sie verschwanden zügig, und die Sicht klarte auf. Die Nebelfront wich zurück, gleichsam ehrerbietig, als hätte sie erkannt, daß sie nicht mehr vonnöten war. Noch waren die aus dem Dunst tretenden Sandsteinformationen kühl unter der Wü stensonne - aus dem Ungewissen wiedergeboren. Es war still zwischen den Felsen am Ufer des versch wundenen Sees. Das Schwarze Loch war in den Planeten eingetaucht, hatte das Zwielicht und den Doppelsinn fortgenommen. Ashley lauschte in die Stille, dann stand er auf. Sein Rücken 181
war von Brandblasen bedeckt. An der Seite, wo ihn der Strahl aus Kinskis Waffe getroffen hatte, klaffte eine nässende Wunde. Er spürte sie kaum. In seinem Herzen war eine Veränderung vorgegangen. Es schlug jetzt voller, als wäre ein zweites Wesen in ihm, das ihm Kraft gab. Keine Zweifel mehr, kein Suchen nach Träumen. Die Zeit lief wieder geradeaus, zwei Zweige zu einem beständigen Strom verschmolzen. Ashley wandte sich nach Südwesten. Nach Jez'r - der Stadt mit den schweigsamen Leuten, die den Augenblick gefunden hatten. Dort wartete Raeloff. Er würde seinen Bericht bekommen. Einen langen, in seinen Augen nutzlosen Bericht. Verstehen würde er erst, wenn auch er auf die Reise ginge. Ashley lächelte. Die Föderation . . . sein Beruf. . . Angela alles hatte seine Ausschließlichkeit verloren. Auch Heavens gate war nur noch ein wunderschöner Planet. Mählich lichteten sich die Schleier. Ein blauer Himmel lugte zwischen Wolkenstreifen hindurch. Der Wind zerblies die letz ten schneeweißen Schwaden über dem Horizont.
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Cordwainer Smith Das ausgebrannte Gehirn 1. Dolores Oh Ich sage euch, es ist traurig, es ist mehr als traurig, es ist furchterregend – denn es ist schrecklich, ins Auf-und-Hinaus zu fahren, zu fliegen, ohne zu fliegen, zwischen den Sternen zu flattern wie ein Schmetterling zwischen den Blättern an einem Sommerabend. Von all den Männern, die große Schiffe ins Pianoform lenkten, war keiner tapferer, keiner stärker als Kapitän Magno Taliano. Seher gab es seit Jahrhunderten keine mehr, und der jonasoi dale Effekt war so einfach, so beherrschbar geworden, daß es für die meisten Passagiere der großen Schiffe nicht schwerer war, Lichtjahre zu durchmessen, als von einem Zimmer ins andere zu gehen. Die Passagiere reisten bequem. Nicht so die Mannschaft. Am wenigsten der Kapitän. Der Kapitän eines jonasoidalen Schiffes, das zu einer interstellaren Reise gestartet war, stand unter ungewöhnlichen, fast unerträglichen Belastungen. Die Kunst, alle Kompli kationen des Weltraums zu umschiffen, glich mehr der Fahrt auf stürmischen Gewässern in alter Zeit als dem Segeln auf ruhiger See, wie es der Legende nach die Menschen der Vorzeit gepflegt hatten. Go-Kapitän auf der Wu-Feinstein, dem besten Schiff seiner Klasse, war Magno Taliano. Von ihm ging die Sage: »Er könnte allein mit den Muskeln seines linken Auges durch die Hölle segeln. Er könnte sich mit seinem lebendigen Gehirn durch den Weltraum tasten, sollten seine Instrumente versagen . . .« 183
Die Frau des Go-Kapitäns war Dolores Oh. Der Name war japonesisch, aus der Tradition irgendeines Volkes der alten Zeit. Dolores Oh war einmal schön gewesen, so schön, daß sie den Männern den Atem raubte, Weise zu Narren machte und junge Männer in Ungeheuer von Lust und Begierde verwandelte. Wo immer sie auftauchte, hatten Männer ihretwegen gestritten und um sie gekämpft. Aber Dolores Oh war über alle Maßen stolz. Sie lehnte es ab, sich der normalen Verjüngung zu unterziehen. Eine schreckliche Sehnsucht nach einer Zeit, die hundert oder mehr Jahre zurücklag, mußte über sie gekommen sein. Vielleicht sagte sie sich, angesichts der Hoffnung und des Schreckens, die ein Spiegel in einem stillen Zimmer für jeden bringt: »Ich bin ich, das ist gewiß. Ich muß ein Ich besitzen, das mehr ist als die Schönheit meines Gesichtes, es muß ein Etwas geben, das über die Glätte meiner Haut und die zufälligen Konturen meines Kinns und meiner Backenknochen hinausgeht. Was haben die Männer geliebt, wenn nicht ich es war? Werde ich je erfahren, wer ich bin oder was ich bin, wenn ich mich nicht dazu durchringe, meine Schönheit verwelken zu lassen und in der Gestalt weiterzuleben, die das Alter mir gibt?« Wie sie den Go-Kapitän kennengelernt und geheiratet hatte, das war eine romantische Geschichte, die seinerzeit auf vierzig Planeten und der Hälfte aller Schiffe Tagesgespräch gewesen war. Magno Taliano stand damals am Beginn seines kometenhaften Aufstiegs. Der Weltraum, das laßt euch gesagt sein, ist rauh -rauh wie die wildesten sturmgepeitschten Gewässer, voller Gefahren, die nur die sensitivsten, die schnellsten, die wagemutigsten Männer bestehen. Der Beste unter ihnen allen, Klasse für Klasse, Alter für Alter, eine Klasse für sich, besser als alle seine Vorgesetzten, 184
war Magno Taliano. Für ihn war die Heirat mit der schönsten Schönheit von vierzig Welten wie die Vermählung von Heloise und Abälard oder wie die unvergeßliche Romanze von Heien America und Herrn Nicht-mehr-grau. Die Schiffe des Go-Kapitäns Magno Taliano wurden immer schöner, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert. Als die Schiffe verbessert wurden, bekam er stets die neuesten Modelle. Er hielt seinen Vorsprung vor den anderen Go-Kapitänen so souverän, daß es undenkbar war, daß das schönste Schiff der Menschheit ohne ihn am Steuer in die rauhe Ungewißheit des zweidimensionalen Raumes hinausgefahren wäre. Stop-Kapitäne waren stolz, wenn sie neben ihm herfahren durften. (Obwohl die Stop-Kapitäne keine andere Aufgabe hat ten, als für die Instandhaltung sowie die Be- und Entladung des Schiffes zu sorgen, solange es sich im normalen Raum befand, galten sie in ihrer Welt mehr als gewöhnliche Menschen, einer Welt freilich, die weit unter dem majestätischen, von Abenteuergeist durchwehten Universum der Go-Kapitäne lag.) Magno Taliano hatte eine Nichte, die nach modernem Brauch statt eines Familiennamens einen Ortsnamen führte. Sie ließ sich »Dita vom Großen Südhaus« nennen. Als Dita an Bord der Wu-Feinstein ging, hatte sie schon viel von Dolores Oh gehört, ihrer angeheirateten Tante, die einst Männer in vielen Welten in ihren Bann geschlagen hatte. Dita war deshalb völlig unvorbereitet auf das, was sie in dem Schiff erwartete. Dolores begrüßte sie durchaus zuvorkommend, doch ihre Höflichkeit war eine Saugpumpe grauenhafter Angst, ihre Freundlichkeit der reine Hohn, die Begrüßung selbst ein Angriff. Was um alles in der Welt ist mit dieser Frau los? fragte sich 185
Dita. Als hätte sie ihre Gedanken erraten, erwiderte Dolores laut und in Worten: »Es ist schön, einmal eine Frau kennenzulernen, die nicht versucht, mir Taliano wegzunehmen. Ich liebe ihn. Kannst du dir das vorstellen? Glaubst du mir?« »Warum nicht?« sagte Dita. Sie sah das verfallene Gesicht von Dolores Oh, sah das träumende Grauen in ihren Augen, und sagte sich, daß Dolores die Grenze zum Alptraum überschritten und sich zu einem wahren Dämon der Reue entwickelt habe, einem Dämon, der den Ehemann mit Haut und Haaren besitzen wollte, ihm alle Vitalität versagte, der Geselligkeit scheute, Freundschaft haßte, selbst die oberflächlichsten Bekanntschaften ablehnte, weil sie von der nie nachlassenden, grenzenlosen Furcht gepeinigt wurde, daß sie selbst in Wahrheit nichts zu bieten habe, daß sie ohne Magno Taliano verlorener wäre als in den schwärzesten interstellaren Strudeln des Nichts. Magno Taliano kam herein. Er sah seine Frau und seine Nichte beisammen stehen. Er mußte sich an Dolores Oh gewöhnt haben. In Ditas Augen war Dolores fürchterlicher als ein dreckverklebtes Reptil, das in blindem Hunger und blinder Raserei den verwundeten und giftigen Kopf hebt. Für Magno Taliano aber war das schaurige Weib, das einer Hexe gleich neben ihm stand, irgendwie immer noch das schöne Mädchen, das er vor hundertsechzig Jahren umworben und geheiratet hatte. Er küßte die runzlige Wange, er strich über das spröde, sträh nige Haar, er schaute in die gierigen, vor Angst flackernden Augen, als seien es die Augen eines geliebten Kindes. Leichthin und mit sanfter Stimme sagte er: »Sei nett zu Dita, mein Schatz.« Er ging durch die Empfangshalle des Schiffes in das innere Heiligtum des Planoformier-Raumes. Der Stop-Kapitän wartete schon auf ihn. Von draußen 186
wehten die parfümierten Brisen des angenehmen Planeten Sherman durch die offenen Fenster ins Schiff herein. Wu-Feinstein, das beste Schiff seiner Klasse, hatte Metallwände nicht nötig. Es war einem antiken, prähistorischen Gebäude, dem Palast vom Mount Vernon, nachgebaut, und wenn es zwischen den Sternen schwebte, war es von seinem eigenen starren und sich stetig selbst erneuernden Kraftfeld umschlossen. Die Passagiere verlebten ein paar angenehme Stunden, in denen sie sich auf dem Rasen ergingen, sich der weitläufigen Räumlichkeiten erfreuten oder unter der erstaunlichen Nachbildung eines atmosphäregefüllten Himmels plauderten. Nur im Planoformier-Raum wußte der Go-Kapitän, was wirklich geschah. Der Go-Kapitän, seine Lichtstecher neben sich, steuerte das Schiff aus einer Kompression in die andere, so daß es in irrwitzigen Sprüngen den Raum durchmaß, bald nur ein Lichtjahr, bald deren hundert in einer einzigen Etappe zurücklegend, vom Geist des Kapitäns mit leichter Hand gesteuert den Fährnissen von Millionen und aber Millionen Welten entging und schließlich seinen Bestimmungsort erreichte, wo es unendlich sanft, wie eine Feder, die auf andere Federn herabsinkt, in einer bestickten und dekorierten Landschaft niederging, in der die Passagiere ihre Reise so rasch vergaßen, als hätten sie nur einen angenehmen Nachmittag in einem gemütlichen alten Haus an einem Fluß verbracht. II. Die verlorene Deckplatte Magno Taliano nickte seinen Lichtstechern zu. Der Stop-Kapitän verbeugte sich ehrerbietig unter der Tür des PlanoformierRaumes.Taliano musterte ihn streng, doch mit robuster Freund lichkeit. Mit formeller, karger Höflichkeit fragte er ihn: »Sir und Kollege, ist alles bereit für den jonasoidalen Effekt?« 187
Der Stop-Kapitän verbeugte sich beinahe noch formeller. »Fürwahr bereit, Sir und Meister.« »Die Deckplatten befestigt?« »Fürwahr befestigt, Sir und Meister.« »Die Passagiere in Sicherheit?« »Die Passagiere sind in Sicherheit, gezählt, glücklich und bereit, Sir und Meister.« Dann kam die letzte und schwerwiegendste Frage. »Sind die Stechgeräte warm und die Lichtstecher kampfbereit?« »Kampfbereit, Sir und Meister.« Mit diesen Worten empfahl sich der Stop-Kapitän. Magno Taliano lächelte seinen Lichtste chern zu. Allen ging derselbe Gedanke durch den Kopf. Wie ist es möglich, daß ein so prächtiger Mann so viele Jahre hindurch bei einer Vogelscheuche wie Dolores Oh bleibt? Kann es sein, daß diese Hexe, dieses Scheusal, einmal eine Schönheit gewesen ist? Soll man glauben, daß diese Hyäne jemals eine Frau war, noch dazu die göttliche, strahlende Dolores Oh, deren Bild wir immer noch gelegentlich in 4-D sehen? Doch er war immer noch ein prächtiger Mann, mochte er auch noch so lange mit Dolores Oh verheiratet sein. Ihre Einsamkeit und Gier mochten an ihm saugen wie ein Nachtmahr, seine Kraft war mehr als genug Kraft für zwei. War er nicht Kapitän des größten Schiffes, das zwischen den Sternen segelte? Während die Lichtstecher noch sein Begrüßungslächeln erwiderten, drückte seine Rechte schon den goldenen Zeremonialhebel des Schiffes herunter. Dies war das einzige mechanische Instrument. Alle anderen Steuerelemente wurden schon seit langem telepathisch oder elektronisch betätigt. Im Planoformier-Raum wurden die schwarzen Himmel sicht bar, und das Gespinst des Weltraums schoß ringsum auf wie kochendes Wasser am Fuß eines Kataraktes. Außerhalb dieses einen Raumes wandelten die Passagiere noch gemessenen 188
Schrittes auf den parfümierten Rasenflächen. Magno Taliano saß reglos in seinem Go-Kapitän-Sessel. Von der gegenüberliegenden Wand ausgehend, bildete sich ein tele pathisches Muster, das ihm binnen drei oder vier Millisekunden sagen würde, wo sich das Schiff befand und wie er es weiter bewegen mußte. Er bewegte das Schiff mit den Impulsen seines eigenen Gehirns, das durch die Wand auf unübertreffliche Weise ergänzt und erweitert wurde. Die Wand war ein lebendes Mosaik aus Deckplatten, mehr schichtigen Folien, hunderttausend Stück pro Quadratzentime ter. Sie war vorgefertigt und vor dem Einbau getestet worden, um allen erdenklichen Notfällen der Fahrten gewachsen zu sein, die das Schiff jedesmal aufs neue durch halb unbekannte Unendlichkeiten von Zeit und Raum führten. Das Schiff machte wie erwartet einen Sprung. Der neue Stern wurde scharf. Magno Taliano wartete, daß die Wand ihm zeigte, wo er sich befand, um (in Partnerschaft mit der Wand) das Schiff wieder dem Muster des stellaren Raumes einzufügen und es durch gewaltige Sprünge vom Startort zum Bestimmungsort zu bewe gen. Aber diesmal geschah nichts. Nichts? Zum erstenmal seit hundert Jahren geriet sein Geist in Panik. Es war unmöglich, daß nichts geschah, rein gar nichts. Irgend etwas mußte doch scharf werden. Die Deckplatten holten immer irgend etwas in den Schärfebereich. Er durchdrang mit seinem Geist die Deckplatten und kam zu der furchtbaren, alle Grenzen normalen menschlichen Kummers sprengenden Gewißheit, daß sie verloren waren, wie noch nie ein Schiff verloren gewesen war. Aufgrund irgendeines Fehlers, der in der Geschichte der Menschheit noch nicht vorgekommen war, bestand die Wand aus lauter 189
Duplikaten ein und derselben Deckplatte. Zu allem Unglück war auch noch die Deckplatte für die Not rückkehr verlorengegangen. Sie befanden sich inmitten von Sternen, die keiner von ihnen je gesehen hatte, vielleicht nur fünfhundert Millionen Kilometer, im schlimmsten Fall aber bis zu vierzig Parsec vom Zielort entfernt. Und die Deckplatte war verloren. Und sie mußten sterben. Sobald der Antrieb des Schiffes versagte, und das mußte in wenigen Stunden der Fall sein, würden Kälte und Schwärze und Tod über sie hereinbrechen. Das würde dann das Ende vom Lied sein, das Ende der Wu-Feinstein, das Ende von Dolores Oh. III.
Das Geheimnis des dunklen alten Gehirns
Die Passagiere außerhalb des Planoformier-Raums der WuFeinstein ahnten nicht, daß sie im absoluten Nichts gestrandet waren. Dolores Oh saß in einem uralten Schaukelstuhl und schaukelte hin und her. Ihr hageres Gesicht sah freudlos auf den imaginären Fluß, der am Rande des Rasens dahinfloß. Dita vom Großen Südhaus saß auf einem Kissen ihrer Tante zu Füßen. Dolores erzählte von einer Reise, die sie unternommen hatte, als sie noch jung war und vibrierend vor Schönheit, einer Schönheit, die Kummer und Haß mit sich brachte, wo immer sie auftauchte. ». . . und so tötete der Wächter den Kapitän und kam dann in meine Kabine und sagte: >Jetzt müssen Sie mich heiraten. Ich habe Ihretwegen alles aufgegeben. Aber ich entgegnete ihm: >Ich habe nie gesagt, daß ich Sie liebe. Es war lieb von Ihnen, daß Sie sich in einen Kampf eingelassen haben, und ich kann das wohl als Kompliment für meine Schönheit ansehen; das 190
heißt aber noch lange nicht, daß ich Ihnen für den Rest meines Lebens gehören müßte. Überhaupt, für wen halten Sie mich eigentlich?<« Dolores Oh stieß einen trockenen, häßlichen Seufzer aus, wie das Klirren des Winterwinds in gefrorenen Zweigen. »Du siehst also, Dita, schön zu sein auf die Art, wie du es bist, führt zu nichts. Eine Frau muß erst sie selbst sein, um herauszufinden, was sie ist. Ich weiß, daß mein Herr und Gatte, der Go-Kapitän, mich liebt, weil meine Schönheit dahin ist, und da meine Schönheit dahin ist, muß wohl ich selbst es sein, die er liebt, meinst du nicht auch?« Eine seltsame Gestalt kam auf die Veranda heraus. Es war ein Lichtstecher in voller Kampfmontur. Lichtstecher durften eigentlich den Planoformier-Raum unter keinen Umständen verlassen, und es war ein unerhörter Vorfall, daß sich einer von ihnen unter die Passagiere mischte. Er verneigte sich vor den beiden Damen und sagte mit ausgesuchter Höflichkeit: »Würden die Damen bitte in den Planoformier-Raum kom men? Es ist unumgänglich, daß Sie unverzüglich den GoKapitän aufsuchen.« Dolores Oh hob die Hand an den Mund. Diese Geste des Erschreckens kam so blitzschnell und automatisch wie das Zu packen einer Schlange. Dita ahnte, daß ihre Tante hundert Jahre und länger auf die Katastrophe gewartet hatte, daß sie den Ruin ihres Mannes herbeigesehnt hatte, wie manche Menschen sich nach Liebe, andere nach dem Tod sehnen. Dita sagte nichts. Und auch Dolores besann sich und sagte kein Wort. Schweigend folgten sie dem Lichtstecher in den Planoformier-Raum. Die schwere Tür schloß sich hinter ihnen. Magno Taliano saß noch immer reglos in seinem Kapitänssitz. 191
Er sprach sehr langsam, so daß seine Stimme wie eine Sprachkonserve klang, die zu langsam auf einem uralten Parlophon abgespielt wird. »Wir sind im Weltraum gestrandet, Liebling«, sagte die frostige geisterhafte Stimme des Kapitäns, der noch in der Trance des Go-Kapitäns war. »Wir sind im Weltraum gestrandet, und ich dachte mir, daß wir vielleicht einen Ausweg finden, wenn dein Geist meinem zu Hilfe kommt.« Dita schickte sich an, etwas zu sagen. Der Lichtstecher ermunterte sie: »Nur zu, liebes Fräulein, sprechen Sie. Haben Sie einen Vorschlag zu machen?« »Warum fahren wir nicht einfach zurück? Aber das wäre de mütigend, nicht wahr? Doch immer noch besser als Sterben. Nehmen wir doch die Deckplatte für die Notrückkehr und fahren einfach zurück. Die Welt wird Magno Taliano den ersten und einzigen Fehlschlag nach Tausenden glanzvoller, erfolgreicher Reisen sicherlich nachsehen.« Der Lichtstecher, ein sympathischer junger Mann, war so be hutsam und taktvoll wie ein Arzt, der jemanden vom Tod oder der Verstümmelung eines nahestehenden Menschen unterrich ten muß. »Das Unmögliche ist geschehen, Dita vom Großen Südhaus. Die Deckplatten sind alle unbrauchbar. Es sind lauter Duplikate ein und derselben Ausführung. Keine einzige davon eignet sich für eine Notrückkehr.« Nun wußten die beiden Frauen, wie die Sache stand. Sie wußten, daß der Weltraum sie durchdringen, sie auflösen würde, wie wenn nacheinander die einzelnen Fasern aus einem Faden herausgezogen werden, so daß sie, und dies war die eine Möglichkeit, im Laufe von Stunden nach und nach sterben würden, weil die Substanz ihrer Körper sich verflüchtigte, ein paar Moleküle hier, ein paar dort. Die andere Möglichkeit war, daß sie alle zusammen auf einen Schlag starben, falls der GoKapitän sich entschloß, lieber sich und das ganze Schiff zu vernichten, als auf einen langsamen Tod zu warten. Und dann 192
gab es natürlich noch die dritte und letzte Möglichkeit – sie konnten beten, falls sie religiös waren. Der Lichtstecher sagte zu dem reglosen Go-Kapitän: »Wir glauben, ein bekanntes Muster am Rande Ihres eigenen Gehirns wahrgenommen zu haben. Dürfen wir es genauer betrachten?« Taliano nickte sehr langsam und ernst. Der Lichtstecher stand still. Die beiden Frauen sahen zu. Nichts Sichtbares geschah, doch sie wußten, daß sich jenseits der Grenzen optischer Wahrneh mung und doch vor ihren Augen ein großes Drama vollzog. Die Lichtstecher sondierten mit ihrem Geist tief in den Geist des starren Go-Kapitäns, suchten inmitten der Synapsen nach dem mindesten Hinweis auf eine mögliche Rettung. Minuten vergingen, die ihnen vorkamen wie Stunden. Endlich sprach der Lichtstecher wieder: »Wir können in Ihr Zwischenhirn sehen, Kapitän. Am Rande Ihres Paläokortex findet sich ein Sternenmuster, das dem linken hinteren Oberteil unseres derzeitigen Standortes ähnelt.« Der Lichtstecher lachte nervös. »Was wir von Ihnen wissen wollen, können Sie das Schiff mit Ihrem Gehirn nach Hause steuern?« Magno Taliano sah den Fragesteller mit tieftragischen Augen an. Seine Stimme war immer noch langsam, denn er wagte nicht, sich aus der Halbtrance zu lösen, die bislang noch das ganze Schiff zusammenhielt. »Meinen Sie, ob ich das Schiff mit meinem Gehirn allein steuern kann? Dabei würde mein Gehirn ausbrennen, und das Schiff wäre dennoch verloren . . .« »Wir sind verloren, verloren, verloren«, schrie Dolores Oh. Auf ihrem Gesicht lag eine gräßliche Hoffnung, ein Hunger nach Vernichtung, eine gierige Bereitschaft zum Untergang. Sie schrie ihren Mann an: »Wach auf, Liebling, und laß uns gemeinsam sterben. Dann werden wir wenigstens für immer 193
zusammen sein.« »Warum sterben?« sagte der Lichtstecher leise. »Sagen Sie es ihm, Dita.« Dita sagte: »Warum versuchen wir es nicht, Sir und Onkel?« Langsam drehte Magno Taliano sein Gesicht seiner Nichte zu. Wieder kam seine hohle Stimme: »Wenn ich dies tue, werde ich am Ende ein Wahnsinniger oder ein Kind oder ein toter Mann sein, aber für dich will ich es tun.« Dita hatte sich eingehend mit der Arbeit der Go-Kapitäne befaßt und wußte sehr wohl, daß ein Mensch, dessen Paläokor tex zerstört wurde, intellektuell unversehrt blieb, aber zu einer emotional verdrehten Persönlichkeit wurde. Mit dem urtüm lichsten Teil des Gehirns verschwanden auch die grundlegenden Steuermechanismen für Feindseligkeit, Hunger und Sex. Die wildesten Tiere und die vorzüglichsten Menschen wurden damit auf eine Stufe gestellt - eine Stufe infantiler Freundlichkeit, auf der Lust und Verspieltheit und sanfter, doch unstillbarer Hunger auf ewig der einzige Lebensinhalt blieben. Magno Taliano zögerte nicht. Er streckte langsam die Hand aus und drückte Dolores Oh die Hand. »Wenn ich sterbe, werde ich wenigstens endlich die Gewißheit haben, daß ich dich liebe.« Wieder sahen die Frauen nichts. Es wurde ihnen klar, daß man sie nur gerufen hatte, um Magno Taliano einen letzten Blick auf sein eigenes Leben werfen zu lassen. Ein schweigsamer Lichtstecher senkte eine Strahl-Elektrode mitten in den Paläokortex von Kapitän Magno Taliano. Der Planoformier-Raum belebte sich. Seltsame Firmamente umstrudelten sie wie Milch, die in einer Schüssel gerührt wird. Dita merkte, daß ihre Begabung zur Teil-Telephatie auch ohne die Hilfe einer Maschine erhalten blieb. Mit ihrem Geist fühlte sie die tote Wand der Deckplatten. Sie registrierte das Schaukeln der Wu-Feinstein, die von Raum zu Raum sprang, so unsicher wie ein Mann, der von einem vereisten Schrittstein 194
zum nächsten springend einen Fluß zu überqueren versucht. Auf eine seltsame Art wußte sie sogar, daß der paläokortische Teil des Gehirns ihres Onkels endgültig und für immer ausbrannte, daß die Sternmuster, die in den Deckplatten fixiert gewesen waren, im unendlich verwickelten Muster seiner eigenen Erinnerungen weiterlebten und daß er mit Hilfe seiner eigenen telepathischen Lichtstecher sein Gehirn Zelle für Zelle ausbrannte, um für sie einen Weg zum Zielort des Schiffes ausfindig zu machen. Dies war unwiderruflich seine letzte Reise. Dolores Oh betrachtete ihren Mann mit einer Gier, der kein Ausdruck gerecht zu werden vermochte. Ganz allmählich nahm sein Gesicht einen entspannten und blödsinnigen Ausdruck an. Dita konnte sehen, wie das Zwischenhirn leerbrannte, wäh rend die Steuerelemente des Schiffes mit Hilfe der Lichtstecher den glänzendsten Intellekt seiner Zeit nach einem letzten Weg in den sicheren Hafen absuchten. Auf einmal fiel Dolores Oh auf die Knie und nahm schluchzend die Hand ihres Mannes. Ein Lichtstecher nahm Dita am Arm. »Wir sind am Ziel«, sagte er. »Und mein Onkel?« Der Lichtstecher warf ihr einen eigentümlichen Blick zu. Sie merkte, daß er mit ihr sprach, ohne seine Lippen zu bewegen – er sprach auf dem Wege reiner Telepathie von Geist zu Geist. »Sehen Sie es denn nicht?« Der Lichtstecher wiederholte ihr seine emphatische gedachte Mitteilung: »Während Ihr Onkel sein Gehirn ausbrannte, haben Sie seine Fähigkeiten übernommen. Spüren Sie es nicht? Sie sind jetzt selbst ein Go-Kapitän, und einer der größten dazu.« »Und er?« 195
Der Lichtstecher dachte eine mitleidvolle Bemerkung. Magno Taliano hatte sich von seinem Sitz erhoben und wurde von seiner Frau und Gefährtin Dolores Oh hinausgeführt. Er hatte das liebenswerte Lächeln eines Idioten, und zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren zuckte sein Gesicht vor scheuer und einfältiger Liebe.
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Vladimir Colin Die letzte Verwandlung des Tristan Die Rekonstruktion der letzten Verwandlung von Tristan dem Alten erfreute sich einer ungewöhnlichen Popularität, und das brachte mir nicht selten Ungelegenheiten. Zeitschriften mit ho her Auflage beuteten meine der kleinen Zeitschrift »Formes« anvertrauten Gedanken schamlos aus und traten nach unzähli gen Anfragen mit »neuen, sensationellen Details«, der geschwätzigen Publicity-Formel für einen ganz bestimmten Geschmack, an die Öffentlichkeit. Ich war mehrfach gezwungen, verantwortungslose Behauptungen zu dementieren und die Dummheit anderer unter Beweis zu stellen, denn die beinahe vierhundert Jahre, die seit dem mysteriösen Verschwinden von Tristan dem Alten vergangen sind, scheinen nicht genug, um Gerüchten und Disputen aller Art Einhalt zu bieten. Wäre es gleichwohl ungerecht, die Verantwortung für das Aufsehen um seine Person ihm selbst zuzuschreiben, so kann man nicht umhin zuzugeben, daß die erstaunlichen Umstände, deren Held er zweifellos war, dazu angetan waren, die verständliche Neugier seiner Zeitgenossen und der Kuriositätenliebhaber aller Zeiten in gleicher Weise zu wecken. Seit vier Jahrhunderten zieht sich die Kette der Versuche hin, Licht in das Dunkel seiner Biographie zu bringen, um schließlich am Finale seiner berühmten »Evasion« zu scheitern. Ich erinnere nur an das heute so gesuchte Manuskript Vita Tristani Senecti (Paris 1588) des rätselhaften Nestor Nescio, verfaßt im Jahre, als der Alte verschwand; an den exaltierten Panegirico di Tristan il Vecchio (Florenz 1635), als dessen Verfasser der berühmte Giacomo della Pergola zeichnet, an den ironischen Discours sur la naivete universelle des Abälard de Cluny (Lyon lyoz), an die gelehrte Legende des Tristan der Alte (Frankfurt 1832) des angesehenen Professors Hugo Mayer 197
und an die mystische Schrift Le mystere devoile ou Essai sur la vie et la transfiguration de Tristan le Vieux, die 1876 von Raoul Didot in Bordeaux herausgegeben wurde und deren Verfasser sich rühmt, in die »Geheimnisse des Hermes Trismegistos« eingeweiht und Träger eines obskuren »Spiegelordens« zu sein, über den ich keine Auskünfte einholen konnte. (Natürlich habe ich von den über dreißig, dem Alten gewidmeten Kommentaren nur die wichtigsten Arbeiten genannt, die dem Thema neue, wenn auch irrige Aspekte abgewinnen und habe ohne Reue Elukubrationen eines Roland de Tardvenu, Alberot Faria oder Manuel Lopez ausge klammert, die für eine gesamte Geistesrichtung von Wissenschaftlern des 19. Jhs. charakteristisch sind sowie die uninteressanten Wiederholungen von Mathias Gondos, Hermann von Lebenshaffen und all der vielen nichtssagenden Kompilatoren.) Das Interesse aller erwähnten und aller schweigend übergangenen Autoren wie auch das Interesse des Publikums für die mysteriöse Gestalt des Alten ist ohne Zweifel auf seine hinreißende Biographie und ihr erregendes Ende zurückzuführen, vor allem jedoch auf die faszinierende Domäne, die Tristan schon von zartester Kindheit an explorierte: die Alchimie. Jeder von uns kann sich überzeugen, welche Anziehungskraft die geheimnisvolle Disziplin von Albertus Magnus auch heute besitzt. Man durchstreife die Straßen großer Städte oder nehme in irgendeinem Dorfe Quartier und ziehe die Aufmerksamkeit aller durch augenfällig archaische Kleidung und seltsames Gehaben auf sich. Alsdann verbreite man die Kunde, den Stein der Weisen, mit dessen Hilfe man aus Blei Gold gewinnen könne, oder das Lebenselixier zu besitzen und stelle sich denen zu Diensten, die Reichtum und ewiges Leben erhoffen. Alsdann lasse man sich von Resultaten überraschen, die die kühnsten Erwartungen übersteigen. Tausende Scharlatane leben von ähnlichen Betrüg ereien, denn trotz der Errungenschaften der Wissenschaft lebt 198
in den Herzen unserer Zeitgenossen das Streben der ersten Mythenschöpfer nach dem Absoluten weiter: alle dürstet nach dem Geschenk von absolutem Reichtum und ewigem Leben. Ich gehe auf diesen Aspekt ein, um den grundlegenden Unterschied zwischen Alchimist und Scharlatan, welch letzterer sich so oft an des ersteren Stelle schiebt, hervorzuheben. Schon seit frühester Jugend hat mich die asketische Lebensweise der großen Alchimisten beeindruckt, ihre undankbare Arbeit in bescheidenen Laboratorien, wo sie hofften, das berühmte Opus Magnum zu vollbringen. Ich habe die Schlüsselwörter zu Papier gebracht: Alchimie und Askese. Ich schicke voraus, daß mich die mystische Seite der Alchimie niemals interessierte und daß ich den Begriff der Askese verwende, um die absolute Selbstverleugnung der wirklichen Alchimisten aufzuzeigen, mit der sie sich ihrer Arbeit widmeten, ja, der so viele ihr Leben opferten. Für mich hatte die Askese der Alchimisten niemals übernatürliche Bezüge, sondern schien mir immer mit der totalen Hingabe des Forschers unserer Tage an seine Wissenschaft vergleichbar. Der Alchimist wußte, daß er erst am Ende eines entbehrungsreichen Lebens, nach ununterbrochener Arbeit, vielleicht die Ars Magna beherrschen würde, die ihn vollkommen verändern und einen höheren Menschen aus ihm machen wird: einen wachen Menschen, zum Unterschied von denen, die mit offenen Augen schlafen. In der Kryptosprache heroischer Forscher, die aus der Erfahrung wissen, daß sie ihre Entdeckungen vor der Habgier der Mächtigen schützen müssen, versteckt sich hinter symboli schen Formeln offensichtlich der einfache Ausdruck der Hoff nung, sich dann im Besitz eines Geheimnisses zu befinden, in einer von der restlichen Menschheit völlig unterschiedlichen Position zu sein, anders zu sein. Vor diesem einmaligen Augenblick, dem sie das ganze Leben zu weihen gewillt waren, mußte der berühmte Stein der Weisen und das Lebenselixier 199
gefunden werden, die Bedingungen für den letzten Sinn, ohne dieser letzte Sinn zu sein. Dies ist in großen Zügen alles, was ich intuitiv erfaßte, als ich das Schaffen von Tristan dem Alten zu untersuchen begann. Heute ist mir klar, daß gerade diese nebelhaften Intuitionen, die alle mystischen Versuche, mit denen sich so viele Forscher verzetteln, von vorneherein ausschlössen, es mir ermöglichten, das erstaunliche Ziel zu identifizieren, das die Alchimisten anstrebten, und das, so glaube ich fest, der alte Tristan erreicht hat. Ich wurde auch nicht von Zweifeln verschont. Da mir in seinen, wie in den Arbeiten seiner Confratres auf Schritt und Tritt Elemente begegneten, die aus dem Arsenal der Religion entlehnt waren, brauchte ich eine geraume Zeit, mich davon zu überzeugen, daß die christlichen Infiltrationen nichts als elementare Vorsichtsmaßnahmen waren, um die Alchimisten vor der mißtrauischen Wachsamkeit der Kirche zu schützen. Ich verlor viel Zeit – doch kann man das als verlorene Zeit bezeichnen? – bis ich die während der Experimente im Laboratorium gemurmelten Gebete als Texte identifizierte, deren Länge die für die Operation benötigte Zeit messen sollten (daher die rhythmisehen Anweisungen für das Sprechen der Texte) oder, daß ähnlich den alten Ägyptern, die ihre Erkenntnisse den Pyramiden weihten, die Alchimisten sich mit den bedeutendsten Bauwerken ihrer Zeit, den Kathedralen befaßten, ohne ihr Wissen dadurch der Kirche unterzuordnen. Pergament und Papyrus konnten zerstört werden, die Pyramiden und Kathedralen bestehen. Ich glaube, die Menschheit kennt wenig Beispiele, in denen sich der Einfallsreichtum der Forscher mit größerem Geschick einer of fiziellen Form bediente, um in ihr eine häretische Lehre einzu schließen. Wenn ich heute die Elemente überdenke, die sich in mir stauten, bis sich meinem Geist das größte und letzte Geheimnis der Alchimie auftat, wird mir klar, daß eine Seite 200
der Biographie von Tristan mich die Wahrheit ahnen ließ, und zwar die letzte, auf der die Dispute zahlreich waren. Man beachte den bekannten Text von Nestor Nescio, dem einzigen zeitgenössischen Biographen des Alten, wenn er erzählt: »Vnnd war aber das End des incomparablen Gelarten ein Wunder diweilen es in nichts geringer war den wundern seyns gantzen Lebens. Denn disen gewissen Morgen sendet Henri HI der Valois den Vicomte de Sursis mit etlich Soldner von der Schweytzer Gard in die Thurn Stube so deme Alten zugewisen worden. Vnd ieder Schweytzer trüge ein Last Bley, Kupffer oder sonstig gemeynes Metal auff daß Tristan es transmutir in feinstes Goldt alß wie er gelobet hat. Die Schweytzer trugen scharpffe schwerter an der Seiten diweilen sie Order hatten vom Valois den Alten auff der Stell zu tödten so die Sach nit soll gelingen vnd sollen s tun auff denen Steyn Platen der Zelle neben denen Violen vnd vor deme Ouen so die letzten Hoffnungen des Allerchristlichsten Königs in Rauch soluiret hette. Vnnd dergestalt traten sie ein nachdem sie auffgeschlossen hetten mit deme Schlüssel so deme Sursis vom König anvertra wet worden. Vnnd sie erblicketen den Alchymisten da er am fensterlyn stundt. Hette auch die Schale von Agat in henden, sähe sie aber nit an da er den Kopff in den Nacken thete legen alß wolte er ein Zeychen ausdeuten auff dem geschwertzten Balcken allwo eyn ausgespannte Fledermaus festgenaglet war. »Hir binn ich, Tristan«, sagte der Sursis. Der Alte neigete den weißen Bart und schauete lange auff ihn. Doch thete er ihn niht sehen noch kenen. »Ich komme auff deß Königs Order«, sagte widerumb der Sursis dieweil die Schweytzer ire Trage Lasten auff deine Steyn Boden nider setzeten. »Sage deym König ich bin eyn freier Mann, Vicomte«, sagte er leise. Sodann drete er sich mit gantzem Leyb zu der Treppe so sich biß under das Thurn Dach wandt vnd hob seyne Arme. 201
Vnnd da verschwand er; nit schrittweys wie der Rauch oder eyn von denen Wellen fortgespület Trug Bildt vilmer auff der Stell vnd sonder Warnung. So erzälete darnach der Sursis vnnd die Schweytzer bezeugeten daß er von wo er still vor inen stände nit mehr war. Vnnd was sie auch kamen allesambt zu suchen in der Zell so fanden sie nichts als were den sie suchten verschmoltzen mit denen Steyn Mauren. Allso verschwände Tristan der Alte an dem Tag deß 11 May A. D. 1588 vnn ließ Henri HI ohne seyn verheißen Goldt vnnd ohn mechtig wider den de Guise so auff die Stundt den Tag der Barricaden organisiret. Da er sich aber nit vermasz biß zu deme Endt zu gen vnnd deme Valois nit auch die Herrschafft nähme ward er getötd von denen fünf vnnd viertzig aus deß Königs Garde wes ding sich auch nit zugetragen hette so Henri sich Vertrawen kunte erkauffen mit dem Alchymistisch Goldt so ihm verheyssen worden von dem Alten. Welcher auch nit kann bezychtiget werden deß Blut vergißens da er übergangen woselbst Valois vnnd de Guise nicht eyn mal seyn zween Namen.« Wie so viele andere hat der alte Text des Nestor Nescio auch mich aufgewühlt. Oft kehrte ich in die Mauern des Louvre zurück, um in die bescheidene Zelle hinaufzusteigen, wo das Laboratorium des Alten war. Die präzise Beschreibung des Alten ließ sie mich ziemlich leicht finden, vor allem weil die nachfolgenden Umbauten sie verschont hatten. Ein Sonnenstrahl fiel durch das schmale Fenster und ließ den unter meinen Tritten aufgewirbelten Staub aufleuchten und wie feinen Goldstaub flimmern. Auch der Ofen stand dort, das Loch seit Jahrhunderten mit Spinnweben verhangen und oben, auf dem verrauchten Balken, zeigte eine flaumige Ausbuchtung die Stelle an, wo die Fledermaus angenagelt war, die Tristan in seinem letzten Augenblick betrachtete. Sonst war die Zelle leer, wenn man von der Treppe absieht, »so sich biß under das Thurn Dach wandt«. Ich 202
lauschte in die Stille, ich durchforschte die Zelle. Ich klopfte Wände und Fliesen ab, ich stieg die Treppe hoch und überzeugte mich, daß der Raum keinen anderen Ausgang hatte als die eisenbeschlagene Tür. Was sollte ich also von dem seltsamen Verschwinden des Alten denken? Da ich in der alten Zelle keine Antwort finden konnte, kehrte ich wieder zu den Texten zurück. Die Untersuchung der Texte überzeugte mich bald, daß Nestor Nescio – die Bescheidenheit des Pseudonyms machte mich nachdenklich – ebenfalls nach der Kenntnis des großen Geheimnisses gestrebt hatte, mit anderen Worten, daß er Alchimist war. Seine Beschreibung ist glaubwürdig und sei es nur darum, weil dies auch drei Zeugen bekräftigen, die ich nacheinander studierte. Der Vicomte de Sursis erzählt in einem glücklicherweise in den Archiven der Bibliotheque Nationale (MS NR. 316501) aufbewahrten Schreiben über seine letzte Begegnung mit Tristan und den Grund, weshalb er die Mission, die ihm Henri m aufgetragen hatte, nicht ausführen konnte. Natürlich kann man den Vicomte verdächtigen, ein »Miracel« erfunden zu haben, um sich vor dem König reinzuwaschen, wenn ihm auch die Zeugenaussagen der Söldner dabei im Wege gestanden wären. Doch angenommen, die wackeren Schweizer hatten sich kaufen lassen. Aber die Chronik des Philippe Auvergnat erwähnt gleichfalls das Verschwinden des Alten. Dieser jedoch hätte bei seiner fanatischen Parteinahme für Henri IV. sich wohl auch diesmal kaum die Gelegenheit zu einer seiner berühmten Diatriben gegen den effeminierten Bearnaisen entgehen lassen. Auch ist es schwer anzunehmen, daß sich der Hugenotte enthalten hätte, einmal mehr die wahnwitzige Verschwendungssucht des letzten Valois zu brandmarken, die ihn daran gehindert hatte, den Intrigen des de Guise mit den nötigen Geldmitteln entgegenzuwirken. Nun findet der unbeugsame Chronist, anstatt in die erwartete Philippica auszubrechen, verständ 203
nisvolle Worte für das Drama von Henri m, »so im letzten Augen Blick von dem Alchymisten verraten worden, in den er all seyn Hoffnung gesetzet vnd der sich genau am Abend vor dem unheil vollen Tag der Barricaden verflüchtiget, welch unglückselig umbstand, trotz all seyn Laster, dem Valois nicht alß eyn Laster auß geleget werden kann.« Die Tatsache, daß das Verschwinden bei den Höflingen, die den Louvre füllten, Glauben fand (nirgends traf ich auf ein Wort des Zweifels an der Version de Sursis', der doch einige Feinde hatte), stützt die Glaubhaftigkeit des Berichts. Nicht zu vergessen, daß, um vom skeptischen, blasierten Adel akzeptiert zu werden, der Umstand sich so abgespielt haben mußte, daß ein mitwissendes Lächeln unmöglich war. Der König von Frankreich konnte betrogen, der Aberglaube von Catarina de Medici ausgenützt werden, doch die adeligen Weber feingesponnener Intrigen waren weit entfernt davon, naiv zu sein. Zudem besitzen wir noch eine dritte, aufschlußreiche Zeugenaussage (im Protokoll des Jehan le Noir, anläßlich der Untersuchung des Mathieu Machin verfaßt, enthalten). Der erwähnte Machin verfertigte auf Geheiß der argwöhnischen Catarina »etlich Restaurations Arbeyten in gewissen Kammern vom Palast«. Die euphemistische Formel umschließt ganz einfach die ausgeklügelten Rohre, welche es der alten Königin erlaubten, durch die Mauern das zu belauschen und manchmal sogar zu sehen, was sich in »gewissen Kammern« zutrug. Wie groß der Aberglaube Catarinas auch gewesen sein mag, nahm sie doch die Nachricht vom Verschwinden des Alchimisten mit einigem Mißtrauen auf. Ihr erster Gedanke war, Machin habe sich nicht nur auf die von ihr befohlenen Arbeiten beschränkt, sondern einige »Restaurationen« ausgeführt, die auch anderen, vor allem dem Alchimisten des Königs, nützlich waren. Der unglückliche Architekt starb an den Folgen der peinlichen Befragung, ohne das Geheimnis der Falltür zu lüften, durch das 204
der Alte hätte entkommen können. So eine Falltür gibt es nicht. Zudem hätte Machin, als Vater von vier Kindern, um sein Leben zu retten, sie ohne Zögern verraten. Dies ist die Schlußfolgerung des Protokolls, die auch durch die Anwesenheit des berühmten Cosimo Ruggieri in der Folterkammer bekräftigt wird, eines Astronomen und Vertrauensmannes von Catarina und alten Feindes von Tristan, der alles Interesse hatte, das mysteriöse Verschwinden auf einen geschickt abgekarteten Betrug zu reduzieren. Am Ende meiner Nachforschungen bestärkte mich die Fülle der Beweise in der Überzeugung, daß Sursis und seine Männer wirklich in die Zelle des Alchimisten drangen, ihn sahen und Zeugen seiner unverständlichen »Verflüchtigung« wurden, um den Ausdruck des Chronisten zu gebrauchen. Eine einzige Erklärung drängte sich mir auf und hielt mich eine Zeit gefangen: die Hypnose. Der Alte, über dessen Faszinat ionskraft kein Zweifel besteht (die Biographie bestätigt ihm zu wiederholten Malen die Glaubwürdigkeit, die er bei den Mächtigen seiner Zeit auf Anhieb zu erwecken vermochte), hatte den Abgesandten des Königs, der die Order hatte, das lang ersehnte und stets hinausgeschobene Versprechen der Verwandlung sofort auszuführen, beeinflußt. Obwohl er noch in ihrer Mitte stand, hatte er die Illusion seines Verschwindens geschaffen, damit de Sursis und seine Söldner schwören konnten, sie hätten ihn mit eigenen Augen plötzlich und ohne Warnung verschwinden sehen. Der findige Scharlatan vermochte sich darauf durch den Palast, dessen Topographie ihm bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt war, davon zuschleichen. Wie gesagt, hielt ich für einige Zeit dies für die einzig plausible Erklärung. Aber es war eine kompromittierende Erklärung, und ich fühlte etwas wie Scham, eine naive Enttäuschung bei der Entdeckung, daß sich alles auf einen banalen Betrug reduzierte, der durch vier Jahrhunderte wahre 205
Tintenbäche in Bewegung versetzt hatte. Also fuhr ich zunächst ans Meer. Ich lag im heißen Sand ausgestreckt und versuchte nicht mehr an Tristan den Alten zu denken. Ich floh seine Erinnerung. Ich mühte mich, ihn in den Weiten des Himmels zu verlieren und rang mich zur Überzeugung durch, daß es sich nicht lohnte, meine Zeit mit ihm zu vergeuden, während sich neben mir am Strand junge Leute tummelten und mir nicht mehr viel Zeit blieb, mich an ihrer Unbeschwertheit zu erfreuen. Doch der Alte bestieg mit mir das Fischerboot, ich sah ihn ernst und verbrannt aus den Wassern des Mittelländischen Meeres steigen. Die Zweifel überkamen mich mit ungeahnter Macht. Alles was ich über die Alchimie und den alten Tristan wußte, paßte so wenig zu dem zweifelhaften Vaudevillefinale, das er inszeniert hatte . . . Ich hatte ihn für einen Asketen gehalten. War es also möglich, daß er sich von allem Anfang an nur in den Kopf gesetzt hatte, einen lasterhaften König zu betrügen und den Gefahren eines Datums mit Taschenspielertricks auszuweichen? Warum? Aus welchem Interesse? Das Zeugnis der Zeitgenossen bestätigte, daß et keine Besitztümer anhäufte, daß er nur seinen ermüdenden Erfahrungen lebte, daß er weniger aß als ein Mönch und jahrelang im gleichen säurezerfressenen, verbrannten Kaftan durch die Räume des prunkvollsten Palastes von Europa schritt und dadurch den Spott des Ruggieri herausforderte, dessen Eleganz es mit den schillernden Kostümen der Höflinge aufnehmen konnte. Zu Beginn der von Nestor Nescio sorgsam kalligraphierten Handschrift ist der alte Alchimist in einer wunderbaren Miniatur abgebildet. Sein Ernst und seine Würde erinnern an die Heiligenbilder von Teophan dem Griechen. »Es gibt keine Wunder«, sagte ich zu mir und betrachtete den weißen Fleck eines Segels, das zwischen Meer und Himmel schaukelte, »und dieser Mann war kein Schwindler.« 206
Ich wehrte mich nicht mehr. Mit dem ersten Zug kehrte ich nach Paris zurück, und als ich die Bibliothek betrat, empfing mich der Alte auf meinem Arbeitstisch. Ich hatte sein Portrait fotografiert und aufgestellt, um ihn stets vor Augen zu haben. Unschlüssig nahm ich wieder die Aufzeichnungen des Nestor Nescio zur Hand. Dort wiederholten sich Formeln, die Albertus Magnus und Raimund Lulle zugeschrieben wurden und die der Alte verifi ziert hatte. Paracelsus wurde genannt, der im Geburtsjahr des anderen großen Alchimisten, Giambattista della Porta, gestor ben war. Die Texte waren eher dunkel als dicht und zuweilen chiffriert. Mysteriöse Zeichen schmückten die Seiten. Als ich das Pergament an zwei Stellen erhitzte, tauchten beinahe unleserliche Zeichen zwischen Gebetsketten auf. Ich kopierte sie und sofort verschwanden die Zeichen auf dem jahrhundertealten Original, wie ein Symbol des Verschwindens dessen, der sie einst dachte. Doch es genügte, die steife Seite wieder zu erhitzen, daß sie aufs neue erschienen, während Tristan der Alte für immer verschwunden war. Da beschloß ich, die Versuche nach den Angaben der alten Schrift zu wiederholen. Mit Verblüffung mußte ich feststellen, daß kein Chemiker je eine solch elementare Neugierde an den Tag gelegt hatte. Unbeachtet liegen die Arbeiten der Pioniere der modernen Chemie brach, dabei waren die Formeln, um die sich die Wissenschaft bemüht, nur aus den verstaubten Folianten von denen abzuschreiben, die den Scharfsinn der Alchimisten gewiß zu schätzen wüßten. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo man durch Zufall moderne Erfindungen in alten, vergessenen Manuskripten wiederent deckt, doch will ich nicht mit altbekannten Tatsachen die Zeit vergeuden. Ich hoffte nicht auf das märchenhafte Resultat, das zu errei chen ein Menschenleben nicht genügte, ich versuchte nur zu verstehen, zu erahnen, was der strenge Alte, der mich aus der 207
Fotografie mißtrauisch ansah, angestrebt hatte. Unter Schwie rigkeiten besorgte ich mir die Achatschale (zufällig fand ich sie bei einem Antiquar), die Schmelztiegel und die angegebenen Ingredienzien, und nach dem Vorbild des in der Zelle des Alten erhalten gebliebenen erstand ich einen primitiven Ofen. Ich kämpfte mit Quecksilberdämpfen und mit Arsenwasserstoff, welche zahlreichen Alchimisten ans Leben gegangen waren, ich entdeckte, daß der berühmte Mondstrahl, unter dem ich einige Substanzen auflösen sollte, nichts anderes, als das zu Lebzeiten des Alten noch unbekannte polarisierte Licht war. Ich ließ die erhaltene Flüssigkeit verdampfen und kalzinierte den Rückstand wieder und wieder, ohne die Operation durch Jahre hindurch fortzusetzen, wie die Instruktionen verlangten. Ich erhoffte kein Zeichen, daß ich mich auf dem richtigen Weg befand, die sternförmigen Kristalle, nach denen ich die Mischung hätte »altern« lassen müssen, ehe ich in einem aus Bergkristall geschliffenen Gefäß, das mit dem »Verschluß des Hermes Trismegistos« versiegelt war, »Finsternis machte«. Um so weniger erhoffte ich, jene schwarzblaue Flüssigkeit zu erzielen, die »Rabenflügel« genannt war (ich entdeckte voll Staunen, daß das elektronische Gas eine solche Färbung hat), danach das »alchimistische Ei«, das sich an der Luft erhärten und absondern sollte. Ich wußte, daß damit der Prozeß nicht zu Ende war. Im Gegenteil, jetzt begannen die empfindlichsten Operationen, wiederholte Waschungen mit dreifach destil liertem Wasser, das Schmelzen der erhaltenen Substanzen bei tiefen Temperaturen mit Hilfe von Katalysatoren, Monate und Jahre hartnäckiger Arbeit, belohnt durch das heißbegehrte »Projektionspulver«, auch Stein der Weisen genannt, das die Metalle verwandeln konnte. Voll Verwunderung erkannte ich, daß die unaufhörlichen Experimente auf die Zertrümmerung der Struktur der Materie abzielten. Das Endresultat war nichts als eine Reserve an Nu klearenergie in Suspension. (Darum bewahrten die Alchimisten 208
ihr Geheimnis im Wissen um die Gefahr, die eine solche Kraft in den Händen irgendeines Potentaten bedeutet hätte), wie überhaupt das Geheimnis der Alchimisten darin besteht, die Materie auf eine bestimmte Art zu manipulieren, sie zu zerlegen und nach neuen Gesetzen wieder zusammenzufügen, um ein unbekanntes Kraftfeld zu erzeugen. Jenseits des Steins der Weisen und des Lebenselixiers – einfache Legenden oder Realitäten, welche unsere Wissenschaft immer noch ignoriert – war das Essentielle die Einwirkung dieses Kraftfeldes auf den Alchimisten selbst, in dem sich seltsame Wandlungen vollzogen. Tristan der Alte verschwand »auff der Stell vnnd sonder Warnung . . .« Ich ahnte eine derart phantastische Hypothese, daß ich mich weigerte, die verblüffenden Perspektiven, die sich mir auftaten, anzuerkennen. Ich mußte mich erinnern, wie primitiv die Labo ratorien waren, in denen die modernen Physiker die Wissen schaft erneuerten, wie erstaunlich die »Hausmittel«, zu denen die moderne Medizin zurückkehrt, wie komplex das von den »Primitiven« auf empirische Weise erlangte Wissen, oft ohne Verständnis der Phänomene, was sie nicht hinderte, zu den wahren Resultaten zu gelangen. Ich beriet mich mit Physikern, Chemikern und Mathematikern. Einige zuckten die Achseln, andere begeisterten sich für die von mir aufgestellte These. Dann folgten Tage und Nächte fieberhaften Suchens. Ich machte einen halluzinierten Eindruck, und meine Freunde be trachteten mich bereits mit Sorge und wechselten das Thema, wenn ich unter ihnen auftauchte. Meine Frau appellierte an das Können von Professor Leger, einem großen Psychiater, dessen plötzliche Fürsorge kaum einer spontanen Sympathie entsprun gen sein kann, wie meine Frau mir einzureden suchte. Bis heute habe ich die Wahrheit nicht erfahren, doch Leger begeisterte sich für meine Nachforschungen und wurde mein Freund. Ich bin überzeugt, daß ich diese intelligente Freundschaft Tristan zu verdanken habe. 209
Als ich den Zeitpunkt für gekommen hielt, die anfänglichen Einwände zu übergehen, veröffentlichte ich, was ich entdeckt hatte, in »Formes«. Was folgte, ist bekannt. Alles was phanta stisch erscheint, wird von Sensationslüstlingen übernommen und aufgebauscht, so daß ich genötigt war, im Interesse der Wahrheit einzugreifen. In der Zwischenzeit jedoch habe ich meine Untersuchungen fortgesetzt und überdies die Meinungen anderer Wissenschaftler eingeholt, deren Untersuchungen na türlich von ganz anderen Ausgangspunkten her beim mysteriö sen Tun und Trachten der Alchimisten angelangt waren. Heute behaupte ich mit allem Verantwortungsbewußtsein, daß ich weiß, wie der Alte aus seiner steinernen Zelle unter den Augen derer verschwunden ist, die gekommen waren, ihn ein ganz anderes – vielleicht unbedeutenderes – Wunder vollbringen zu sehen als das, das er ihnen darbot. Ich habe sein Verschwinden im Detail rekonstruiert, mehr noch, ich weiß, was mit ihm geschah, nachdem er vor den Augen des Vicomte de Sursis und den mit nutzlosen Schwertern bewaffneten Söldnern ver schwand. Und manchmal frage ich mich, ob es möglich wäre, daß ich ein Zeichen erhielte, ein einfaches Zeichen, das mir bewiese, daß ich mich nicht getäuscht habe . . . ... als er beim Morgengrauen, nach den zwei Stunden Schlaf, die er sich gönnte, erwachte, blickte der Alte wie gewöhnlich zur Kathedrale hinüber. Zu dieser Stunde der Hoffnung schienen die alten Steine rosenfarben, als wären ihre Mauern aus der schwerelosen Substanz der von der Sonne entfachten Wolken gehoben worden. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rollen der Räder auf dem Pflaster war wie das Echo der Luft und der Erde zu vernehmen. Sonst war Stille, und der Alte hörte mit einem die Kathedrale umfassenden Blick die Stimme der auf Arkaden und Türme geschriebenen Symbole, deren Zusammenklang ihm alles verriet, was die Meister einst auf ihrem Weg zum großen Geheimnis erfahren hatten. Dann streifte sein Blick die rubinfarbene Glaskugel im dunkelsten 210
Winkel der Zelle. Dort, wo das schwache Dämmerlicht, das durch das schmale hohe Fenster fiel, das Dunkel nicht durchdringen konnte, sprühte das Glas in violetten Feuern. Er überlegte, daß er aufstehn mußte, verlängerte aber die angenehme Unruhe, die ihn erfüllte und wandte sich dem ruhigen Anblick der Kathedrale zu, die er vielleicht nie mehr sehen würde. Denn er war am Ziel. Er wußte, welches Teilchen der Wahrheit jedes in Stein gehauene Bild verbarg, das dort aufgestellt war, wo ein geheimnisvoller Sinn es erstarren ließ, zur Erleuchtung derer, die unter Trugbildern irren. Im Laufe der Jahre, als das Blut noch mächtig in seinen Adern schwoll und ihn zwang, vom unermüdlichen Streben, dem er sich verschrieben hatte, abzuweichen, suchte der Jüngling, den der Alte von heute in die Knie zwang, dem er den blinden Lebensdurst erstickte, den er an die Retorten und an den brennenden Ofen kettete, an der stummen Weisheit der steinernen Bilder Halt und Rat. In den grausigen Grimassen der erstarrten Gesichter las er seine Niederlagen ab, welche bereits zu Staub verfallene Forscher vorausgeahnt hatten, in der Heiterkeit der allwissenden Augen aus Stein las er Gestaltung und Antrieb. Unerschütterlich prüfte er seine Arbeit an der Reihe der Statuen und begann von vorne, wenn es die schweigenden Wegweiser verlangten. Unaufhörlich richtete er seine Zeit nach der unerschütterlichen Zeit, die in die Masse des Bauwerkes geschrieben und mit denen sie in eins verschmolzen war. Jedes Jahr ward auf Befehl einer Mauer, nach dem Gesetz eines Säulenschaftes vergeudet. Jeder Tag richtete sich nach der Einteilung, die in den Spitzengeweben der Gesimse geschrieben stand, und um sich den Steinen anzuschmiegen, ihr Leben zu leben, kannte er jetzt das Innere der Kathedrale, von den Grundfesten bis zum Dachgiebel. Ihre Maße gaben ihm die Jahre an. Und so wurde er alt, während er immerfort strebte und jedem Augenblick entgegentrotzte. 211
Ein einziger steinerner Eiszapfen war verblieben, den er noch nicht gelebt hatte. War dieser einmal erfaßt und in seine Struktur, in sein Innerstes einverleibt, dann war das Leben der Sterblichen für ihn abgeschlossen. Ihm war es gegeben, den Weg bis zum Ende zu gehen. Die giftigen Dämpfe aus der Retorte hatten ihn nicht überwältigt, nicht eine der furchtbaren Explosionen aus Salpeter, Kohlenstoff und Schwefel, die so viele Leben von Albertus Magnus bis zum Schwarzen Mönch dahingerafft hatten, rissen ihn in Stücke, kein König oder Prinz, deren unersättliche Habgier durch den Stein der Weisen gestillt zu werden versprach, hatte ihn getötet. Er war hindurchgestoßen, wie der Grashalm in seiner Zartheit die harte Erde durchstößt. Vorbei an den unheilbringenden Zeichen so vieler Toter hatte er den Weg bis zur letzten Probe zurückgelegt. Er war ein anderer geworden, das lebende Abbild der toten Kathedrale. Er sah sie an und suchte hinter dem Schutz der Erscheinungen das wahre Antlitz, denn hinter dem hoffnungslosen Alter brannte das Feuer, und längst war er nicht mehr der Greis, den Ruggieri verlachte. Cosimo Ruggieri. . . auch er hatte irgendwann den großen Aufstieg begonnen, doch sich von den Intrigen des Hofes erniedrigen und in die Fallen des kleinen Lebens locken lassen. Voll Verbitterung verspottete er nun alles, was er verloren hatte, mit dem Ingrimm des Verlorenen, der sich einzureden versucht, daß er gut gewählt hat. Kopfschüttelnd verscheuchte er die Gedanken an den Favoriten der alten Königin. Dies war der letzte Tag seines Lebens – er konnte nicht jenseits des steinernen Pfeiles der Kathedrale leben, wo die Welt der blauen Unendlichkeit begann – und er konnte es sich nicht erlauben, sinnlos zu sterben. Er fühlte keine Todesangst, er wußte schon längst den Tag und erwartete ihn mit der Unruhe der großen, rechtfertigenden Entdeckung. Dieser Tag befugte die Tage und Nächte, die seine Stirn und Mundwinkel durchfurcht hatten, die 212
seinen Blick getrübt und ihm für immer die Farbe aus Haar und Bart geraubt hatten. Valois hatte ihm nur zögernd die Frist bis zum auserwählten Tag gewährt, denn alle Kalkulationen zeigten ihn als den letzten an, den er unter den Schlafenden wandeln mußte. Es wäre ein Verbrechen gewesen, sich ausgerechnet jetzt überraschen zu lassen. Doch konnte er noch überrascht werden? Langsam erhob er sich von dem Lager, das seinem alten Blut keine Wärme mehr zu spenden vermochte und das die Kälte der Steine absorbierte. In der Ecke war das beschlagene Glas von der in seine Struktur verstreuten Substanz rubinrot geworden. Sein suchender Blick erkannte, daß der Ballon leer war. So wie es verlangt wurde, verschmolz die bei tiefer Temperatur lösliche Substanz vor dem Schmelzen des Glases mit dessen Wänden, die nun nicht mehr transparent waren. Violette Flammen loderten im Innern und rund um den rubinfarbenen Ballon. Seine Hände zitterten. Wegen des Alters, wegen der Unruhe? »Ich bin doch ein Mensch . . .« dachte er und legte den Ballon in die Achatschale und schlug kräftig mit dem Stößel zu. Die Scherben klangen wie Glocken. Mit gleichmäßigen Stößen pul verisierte er das Glas und verwandelte es nach und nach in Staub. Unaufhörlich schlugen die violetten Flammen wie tau melnde Vogelschwärme auf und zerstoben im Halbdunkel der Zelle. Er dachte an nichts, denn er lebte das einzige Ziel aller Gedanken eines ganzen Lebens und danach hatte nichts mehr Bedeutung. Die Schläge des Stößels zeigten die letzten Herzstöße an. Myriaden von zuckenden Flügeln schlugen an des Alten Gesicht, glitten um den dürren Körper, schienen unmerklich durch die verfeinerte Haut einzudringen, nisteten in den erschöpften Gedärmen, in den schweigenden Flöten der Knochen. Seine ganze Zusammensetzung war durch den unaufhörlichen violetten Überfall zerrüttet. Und plötzlich schlug sein Herz schneller als der ungeahnt schwer gewordene 213
Stößel. Es schien ihm, als trüge er eine glühende Masse unter der Schädeldecke, einen Feuerball, aus dem in immer kürzeren Intervallen violette Explosionen sprühten. Alles war violett. Im Hautsack seines Körpers standen ungeahnte Kräfte auf und weckten violette Schmerzwogen. Seine Lungen füllten sich wie vergessene Blasebälge einer verlassenen Schmiede und begannen wild zu arbeiten. Sein Atem wurde schneller. Als er fühlte, wie er in einem Paroxismus an Vitalität zu ersticken drohte, spannte er sich wie eine Saite und legte den Kopf in den Nacken. »Der steinerne Pfeil. . .« schoß es ihm durch den Sinn, als er gewahr wurde, daß er erstarrt war und sich nicht mehr bewegen konnte. In diesem Augenblick hörte er gleichsam aus der Ferne einer anderen Welt, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte und ohne zur Tür zu blicken, sah er durch das eisenbeschlagene Holz de Sursis mit den Schweizern. Doch er konnte sich nicht bewegen. »Hier bin ich, Tristan«, sagte der Vicomte, aber die Worte drangen verspätet an seine durch andere, den Sterblichen unhörbare Geräusche scharf gewordenen Ohren. Er hörte das Echo noch verworrener Stimmen, als redete eine riesige Menschenmenge jenseits der Mauern des Palastes. »Ich komme auf des Königs Order«, sprach de Sursis aufs neue, während die Fliesen unter dem Blei und den anderen, von den Söldnern abgelegten Lasten erzitterten. Es verging ein langer Augenblick, ehe der Alte seinen Körper plötzlich von der Umklammerung frei fühlte, als hätte sich die Kraft, die ihn niedergehalten, verstreut. Jetzt fühlte er hingegen überhaupt keine Schwerkraft mehr. Vielleicht schien es ihm deshalb, als berührten seine Füße den ausgetretenen Steinboden nicht mehr, und er sah die Ankömmlinge plötzlich als kleine, lebende Puppen, die ihn zwingen wollten, die königliche Schatzkammer mit alchimistischem Gold zu füllen. Nie gekanntes Mitleid ergriff ihn, als er durch ihre schweren Gewänder die roten Muskelstränge, das Nervengeflecht und die 214
pulsierenden Eingeweide erblickte. Trügerische Unterschiede umhüllten die fundamentale Wahrheit ihrer Skelette. Denn alle waren sie gleich und trugen in gleicher Weise, auf der verletzlichen Säule der Wirbel die weiße, letzte Wahrheit des Totenschädels. Diese neue Erkenntnis zeigte ihm, wie weit er sich von diesen Geschöpfen entfernt hatte, die von ihrer lächerlichen Wichtigkeit erfüllt waren; und ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Stimmen der Menge vor dem Palast schwollen mächtiger an. Sursis und seine Männer standen unter des Königs Wut, sie bedrohten ihn mit der Wut des gekrönten Skeletts, das über Skelette herrschte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte auch er sich vor dem letzten Valois gebeugt. . . Wie einer vergessenen Existenz gedachte er der Intrigen des de Guise, der Hugenotten, des Henri de Navarra. Schwärmende Schatten . . . und er flüsterte: »Sage deinem König, ich bin ein freier Mann, Vicomte!« Jetzt hörte er die Stimmen deutlich. Sie kamen nicht von unten, vom Platz, sondern von irgendwo jenseits des Daches und er wandte seinen ganzen Körper und hob seine Arme dorthin, wo die Stimmen ertönten. Etwas schlug wie ein riesiges Augenlid, ein einziges Mal, die Luft erhellte sich, als wäre die Sonne mit überirdischer Geschwindigkeit und unter ohrenbetäubendem Pfeifen auf- und untergegangen - und dann stand er auf einem Platz. Es war nicht der Platz vor dem Königspalast. Alles schien riesenhaft, und beim ersten Hinsehen erfüllte ihn ein unbezwingliches Schwindelgefühl. Er bedeckte seine Augen mit den Händen und fühlte sich so schwer, als trüge er bei jeder Bewegung die Lasten der Söldner mit sich. Doch er dachte daran, wie leicht er sich einen Augenblick vorher gefühlt hatte. Verwundert blickte er zwischen den gespreizten Fingern hervor. Und wieder quälte ihn das jähe Schwindelgefühl beim Anblick der Häuser, die den Platz umgaben, hohe Gebäude, für 215
die er vergebens nach einem anderen Wort als wuchernd suchte. Wuchernde Häuser. Es war eine Verschwendung, eine Verschmelzung vielfältiger Formen, als hätten sich die Erbauer bemüht, so viele Körper als möglich in einen begrenzten Raum zu zwängen. Und doch schien der Raum unermeßlich. Aus der fremdartigen Zusammenballung niegesehener, nieerahnter Volumina, aus ihrer verworrenen Zusammensetzung, die sich zu bewegen schien, sobald er den Kopf wandte, die zu spielen und andere, ebenso komplizierte Zusammensetzungen hervorzubringen schien, aus dieser ungewöhnlichen, chao tischen Verschmelzung entsprang das Schwindelgefühl. Und dennoch (das erkannte er) beherrschte eine bizarre Ordnung diese Anarchie der Volumina, eine Ordnung, die darum nicht weniger verwirrend war. Er suchte sich zu fassen und richtete seinen Blick auf den Platz, doch selbst der schien sich zu neigen, ein Abhang gähnte zu seinen Füßen, er stürzte hinein und schlug hart auf etwas, das näher war als er dachte. Es wurde dunkel. Er schlug seine Augen auf und bemerkte zuerst die Decke des Raumes, in dem er lag. Er lag auf dem Rücken und schloß die Augen, um dem neuen Schwindelgefühl Herr zu werden. Die unwirkliche Decke über ihm bewegte sich in unregelmäßigen Abständen. Doch einen Augenblick später beruhigte sich alles und er konnte die fremden Formen nach Belieben ansehen. Sie versetzten ihn nur noch in Erstaunen. »Willkommen, Tristan«, sagte jemand, und als er sich um wandte, begegnete der Alte mehreren Blicken. Die Worte waren die einer unbekannten Sprache, aber er ver stand sie mühelos. »Vielen Dank«, antwortete er und erkannte ungläubig, daß sich nur ein zweiter Mensch im Raum befand. Nur einer neigte sich über ihn. Doch der war einer und gleichzeitig mehrere. Es war wie ein Traum. »Wo bin ich?« fragte er schließlich. »Dort, wohin du gelangen wolltest, trink . . .« 216
Auch das Glas und die Hand, die es ihm reichte, waren seltsam. Aber er trank und sein Körper entspannte sich. Als er, ohne zu wissen, wie lange nachher, erwachte, stand der vielfache Mann wieder neben ihm. »Bist du noch schwindlig?« »Nein, Mirg, ich fühle mich wohl.« Aber er sah ihn mit so viel Verwunderung an, daß er sich nicht einmal fragte, woher er den Namen des anderen wußte. »Also steh auf«, befahl Mirg, »und schau!« Der Alte gehorchte. Er stand vor einem riesigen Spiegel mit ungeahnter Tiefe, die ihn nicht mehr störte. Schweigend be trachtete er sein Gesicht. Es war nicht eins, sondern mehrere. Mirg stand dabei und beobachtete ihn. Er wartete. Dann trat er einen Schritt vor, und beide spiegelten sich in den erstarrten Wassern des Glases. Und Tristan sah, daß der Spiegel nicht log. Da wandte er sich zum andern mit einem einzigen Wort: »Sprich!« »Sonderbar, daß du nicht wußtest, was du suchst, Tristan«; antwortete Mirg und faßte ihn am Arm. Langsam führte er ihn zu einer Tür und öffnete sie. Sie standen auf einer Terrasse über einer Stadt und setzten sich auf die Stühle, deren fremde Formen der Alte nicht einmal mehr bemerkte. Seine Blicke schweiften über die verblüffende Ansicht der Stadt. »Versuche zu begreifen«, sagte Mirg. »Du bist durch die unsichtbare Mauer gedrungen, die zwei Welten trennt. Du kommst aus einer Welt der Länge, Breite und Höhe, drei Dimensionen, wenn wir von der Zeit absehen . . .« Der Alte verhielt ein Schaudern. Er wollte fragen, ließ jedoch seine Blicke über die Stadt schweifen und sah wieder auf den Sprechenden. Die Sinnlosigkeit der Frage erschütterte ihn. »Weiter«, sagte er, »sprich weiter.« »Eure Welt, ein dreidimensionaler Raum, liegt in einem vierdimensionalen Raum, zu dem unsere Welt gehört. Stell dir ein zweidimensionales Blatt in einer dreidimensionalen 217
Schachtel eingeschlossen vor. So wie das Blatt in der dritten Dimension, der Höhe, unendlich schmal ist, so ist der Mensch und seine Welt in der vierten Dimension, für die er nicht einmal die Notwendigkeit einer Bezeichnung empfindet, unendlich schmal. Doch sei sie auch kaum wahrnehmbar, der Mensch besitzt eine vierte Dimension, so wie das Blatt ein Minimum an Höhe besitzt. Nur aus diesem Grunde konntest du als Gleicher zu uns gelangen.« Ohne den Blick von der Ansicht der Stadt zu lösen, wiederholte der Alte mit leiser Stimme: »Als Gleicher . . .« »Dich wundert deine neue Gestalt? Bedenke, der einfachste dreidimensionale Körper, die Pyramide, besitzt vier zwei dimensionale Oberflächen. Der einfachste vierdimensionale Körper hat fünf dreidimensionale Oberflächen, Tristan. Der Kontakt mit ihnen machte dich schwindeln, als du in unsere Welt drangst, und zuerst schien dir alles überfüllt und in Bewegung.« »Und so wurde ich mehr als eins.« »Du hast noch die Erinnerung an deine alte Gestalt in dir, doch für unsere Welt bist du immer noch eins.« Selbst die Geräusche, die zu ihnen heraufdrangen, waren fremd für den Alten, der sie abwesend wahrnahm. »Und das war die Aufgabe und das ungeahnte Ziel eines ganzen Lebens?« fragte er. »Ich bin zu euch gelangt, alt und am Ende meiner Kräfte. Weshalb? Der Preis ist hoch . . .« Er fühlte keine Trauer noch Freude oder Unruhe, nicht einmal den erregenden Triumph dessen, der nach unzähligen Hindernissen ans Ufer gelangt. Es war eine Feststellung, weiter nichts. »Deine Wege waren teuer«; antwortete Mirg und überging die erste Frage. »Schau!« Erst jetzt erblickte der Alte den seltsamen Tisch vor ihnen. Mirg beugte sich über einige Knöpfe, über denen Meßgeräte 218
angebracht waren. Er drückte auf die Knöpfe, und die Nadeln der Meßgeräte begannen in ihren kleinen Behältern zu zucken. Dann zog er einen Hebel, und die Terrasse begann zu rotieren. Ein violetter Nebel hüllte sie ein. Tristan hörte ein Summen, das von unzähligen Stimmen übertönt wurde, die wie Windstöße in einem Wald von Hörnern hallten. Dann verstummte jäh das Getöse. Der farbige Windstoß verflüchtigte sich, und die Häuser traten immer weiter daraus hervor, nahmen immer deutlichere Formen an, als betrachte man sie durch ein Fernrohr, dessen Gläser sich von selbst adjustierten. Sie befanden sich auf derselben Terrasse, doch das Haus, zu dem sie gehörte, war nicht mehr dasselbe. Auch die meisten Häuser um den Platz hatten ihr Aussehen verändert, und eine riesige Statue befand sich in der Mitte des Platzes. »Wir haben gelernt, uns entlang der Zeitachse vor- und zurückzubewegen«, sagte Mirg. »Schau!« Ein Mann und eine Frau näherten sich von der anderen Seite des Platzes, und der Alte warf nur einen Blick auf sie, dann wandte er sich zu Mirg, der ihm zulächelte. »Ja, Tristan, die kommen aus deiner Welt.« Zuerst versetzte ihn der ungewöhnliche Schnitt ihrer Kleidung in Erstaunen. Auch seine Gewänder schienen fremd auf Mirgs Welt, doch niemals war ihm in den Sinn gekommen, daß sich die Menschen auf der Erde so verschieden von dem kleiden könnten, was er unter Kleidung verstand. Selbst das Material ihrer Kleider war fremd. Nur aus der Zukunft konnten solche Boten kommen. Und er verlangte keine Erklärung. Als sie jetzt näher kamen, erkannte er, daß sie jung waren, und er verstand die Worte dessen, der ihn durch die Zeit geführt hatte. Hoch war der Preis nur für ihn gewesen, der die Wege beschritten hatte, die ihm seine Zeit aufgezwungen hatte. »Kann jeder die vierte Dimension bezwingen in der Epoche, aus der sie kommen?« »Nicht jeder, Tristan. Doch keiner braucht ein ganzes Leben, 219
um zu uns zu finden.« Das Paar war bei ihnen angelangt. Er sah ihre glatten Gesichter, auf denen das Kupfer der Sommersonne lag, er sah ihre leuchtenden Blicke und verweilte einen Augenblick auf dem schwarzen Haar der Frau, die ihre Finger durchgleiten ließ. Ohne ihre vielfachen Gesichter wären sie zwei Verliebte auf einem Spaziergang gewesen, wie am Wochenende die Verliebten vor den Toren von Paris. Und nicht einmal jetzt trauerte er um die Jahre, die er dem Feuer seines Ofens gewidmet hatte, während er sich die Freude des jungen Mannes versagte, der den Arm um die weichen Schultern einer Frau legt. Er erkannte, wie weit und wie schwer der Weg in den schweigenden Mauern der Kathedrale, in den schweigenden Pergamentrollen und alten Schriften gewesen war. Unnötig schwer und weit. Die Hände zum Gruß erhoben, schritt das junge Paar an ihnen vorüber und trat in ein Haus am Rande des Platzes. »So schnell wie das Leben«, schoß es ihm durch den Sinn. Doch ohne Trauer dachte er daran, daß er die Gefühle eines Erdenmenschen zurückgelassen hatte. Schwach und gebeugt saß er auf der Terrasse einer fremden Welt, in einer Zeit, die noch nicht gekommen war. »Ich muß gehen«, sagte er plötzlich. Er hatte hastig gesprochen. Mirg blickte ihn voll Verständnis an, er wußte, wohin der Alte gehen wollte. Er stellte keine Fragen, sondern setzte die Maschine, die in der Terrasse einge baut war, in Bewegung, und erst als sie in der Zeit, aus der sie gekommen, angelangt waren, zeigte er ihm, wie man die Knöpfe bedienen mußte. »Ich warte auf dich, mein Freund«, sagte er ernst, ohne den Blick von des Alten Gesicht zu lösen. »Ich kehre zurück.« Und als Mirg ins Haus trat, bewegte er die Knöpfe. Die Ter rasse rotierte und hüllte sich in den violetten Nebel. Wieder hörte er das Pfeifen, das vom Stimmengewirr übertönt wurde, 220
dann blieb die Terrasse stehen. Er trat auf den beinahe unveränderten Platz und dachte an einen bestimmten Ort. Das riesige Auge, das für ihn schon einmal geschlagen hatte, bewegte sich rasch. Er stand auf einer alten Straße, die völlig finster war. Er erkannte das Haus und die Kellerwohnung, doch alles schien ihm jetzt platt wie eine Zeichnung. Er preßte das Gesicht an die niedere Scheibe und erkannte ohne Herzklopfen im jungen Mann, der sich über die krausen Zeichen eines alten Pergaments beugte, alles was er gewesen. Aus der dunklen Straße wog der Alte ernsten Gesichtes seine eigene Jugend. Nicht einmal, als er sich dem Geheimnis näherte und hoffte, das unbekannte Ziel seines zurückliegenden Lebens zu erreichen, nicht einmal da ahnte er, daß einmal eine solche Begegnung möglich sein würde. Hätte er es gewußt, geahnt, er hätte sich wahrscheinlich eine sinnlose Unterhaltung vorgestellt, einen, wenn auch stummen Dialog, angedeutet durch eine Geste, eine Aufforderung. Voll Erregung würde er auf ein Zeichen gewartet haben. Jetzt aber begnügte er sich mit Schauen. Er erkannte alles wieder, jeden Stein in der Wand, jedes Buch. Also? Weshalb war er gekommen? Was suchte er in der Gegenüberstellung mit sich selbst? Weshalb war er zurückgekehrt, um in den Keller zu blicken, der seine Jugend verzehrt hatte ohne die wärmende Liebkosung einer Frau und weshalb gerade jetzt? Neben ihm erklang das Lied, auf das er gewartet hatte, das Lied des Mädchens, das vor sechzig Jahren erklungen. Die Stimme zitterte verheißungsvoll und wie damals, wie jetzt, war ihm, als sähe er die vollen Lippen der Sängerin, als fühlte er ihre Nasenflügel beben. Er wußte, daß selbst das steinerne Kellergewölbe plötzlich von der Hitze des jungen duftenden Körpers erfüllt war. Er hörte ein Stöhnen, dann brach plötzlich die Stimme ab und die Kaskaden eines heiseren Lachens schlugen auf die Straße, durchdrangen die Mauer, rollten auf den Tisch und hielten genau über dem schimmligen Pergament, zuckten konvulsivisch und ließen die 221
gelbe Flamme des Dochtes erbleichen. Und plötzlich wußte er, daß er gekommen war, den vom Weg abzuwenden, der er gewesen. Und, als wäre er vom Lachen, das über dem alten Pergament flackerte, geblendet, hob er den Blick. Ohne es zu wissen, begegneten seine Augen den Augen des Alten. »Zahlt sich das aus?« hörte Tristan die Frage aus den Tiefen der gemarterten Jugend aufsteigen, die Frage, die er sich im Laufe der Jahre so oft stellen würde. »Und wenn . . .« Eine schwere Stille hüllte ihn ein, denn er war jenseits aller Wut. Doch er blickte geradewegs in die vom Wachen entzündeten Augen, die ihn nicht sehen konnten. Scharf und gerade. Seufzend bedeckte der junge Mann sein Gesicht mit den Händen. Als sein Blick auf das Pentagramm in der oberen Ecke der Seite fiel, war das Lachen verklungen und der Docht erbleicht. Mit grimmiger Verzweiflung begann er aufs neue das zu entwirren, was der Alte schon vor langer Zeit nach monatelangem Bemühen entwirrt hatte, denn die Zeichen des alten Pergaments trogen und der Weg, den sie verhießen, führte nirgendwohin. Der Anfang des Weges begann anderswo. Und während der junge Mann ein nutzloses Geheimnis zu ergründen suchte, erkannte der Alte, daß er seine Vergangenheit nicht mehr ändern konnte. Die Jahre mußten vergeudet werden, wie sie vergeudet worden waren, trotz des Preises, um jeden Preis. Und er verstand das Schweigen dessen, der ihn nicht daran gehindert hatte, sich an jenem Kreuzweg, der Jugend, zu begegnen, im Wissen, daß er sich beugen würde vor dem unerbittlichen Gesetz der gesetzten Tat. Er bereute nichts, mühte sich jedoch zu erkennen, was die Möglichkeit, in der vierten Unendlichkeit zu existieren, von nun an bedeuten konnte. Und wieder fand er darin ein neues großes Warten. Mit einem letzten Blick auf den, der er gewesen, löste er das violette Wimpernschlagen aus. Er befand sich auf dem Platz 222
und begab sich, von der Terrasse aus, in die Zeit. »Ich habe dich erwartet«, sagte Mirg und stand in der Tür, die zur Terrasse führte. »Weshalb bin ich in eure Welt eingedrungen?« »Weil du denkst.« »Aber ich wußte nicht, was ich suchte, ich wußte nicht einmal was ich tat.« Wieder nahmen sie Platz auf der Terrasse und sahen die Vielfachmenschen über den Platz gehen. Voll Staunen sah der Alte, daß sie ihm keineswegs monströs erschienen, obwohl sie den Menschen seiner Welt nicht ähnlich sahen. Alle waren groß und die Menge ihrer Gestalten gehorchte einer fremden Harmonie. Einige hatten identische Gesichter, andere trugen verschiedene. Und mit einem Male entdeckte er die Komplexität der Gedanken, die diese Wesen mit den mehrfachen Gesichtern dachten, während sie gleichzeitig gegensätzliche Zustände widerspiegelten. Um so seltsamer empfand er Mirgs Worte. »Wir können euch nicht verstehen, Tristan. Wenn unsere distinktiven Welten auch durch die unsichtbaren Bande der Vernunft verbunden sind. Wir denken und ihr denkt. Unabhängig. Wenn ich dich irgendwie verstehe, dann nur, weil ich seit Jahren die Mentalität der in einer dreidimensionalen Welt Lebenden studiere. Doch unsere Begriffe unterscheiden sich, und sehr oft stoßen wir auf die Unmöglichkeit, uns die genauen Dimensionen eurer An schauungen vorstellen zu können. Ich möchte, daß wir zusam menarbeiten, einander helfen. Wir hoffen, du erleichterst uns den Weg, Tristan.« Verwundert schlug der Alte die Hände zusammen. »Ist es möglich, daß ihr nicht in unsere Welt eindringen könnt, während ich . . . blindlings . . . um den Preis eines Lebens . . .« »Es geht nicht um ein Eindringen in eure Welt«, antwortete Mirg. »Wir haben nicht nur eine, sondern zwei Zutritts 223
möglichkeiten. Erstens kann ein jeder von uns als Projektion, als dreidimensionaler Schatten unserer vierdimensionalen Wirklichkeit in eure Welt dringen. Auf der Erde scheint er ein Mensch wie jeder andere, doch hat er keine Wirklichkeit und würde umsonst mit dem Schwert durchbohrt oder in Ketten gelegt. Wie ein Schatten geht er durch die Mauern und wenn er auch sichtbar ist, so kann doch keiner Hand an ihn legen.« »Ein Phantom!« rief der Alte. »Unsere Bischöfe bedienen sich solcher Erscheinungen.« »Nicht das bezwecken wir, siehst du«, sagte Mirg bitter. »Außerdem bleibt die Religion ein Teil eurer Auffassungen, die uns unverständlich sind. Zweitens können wir eure Welt mit einer unserer dreidimensionalen Seiten kreuzen, und auch dann sind wir sichtbar und sehen euch. Dies ist die Art, wie du vorhin deiner Jugend begegnet bist. Wir können die dreidimensionale Ansicht aus eurer Welt zurückziehen und in die vierte Dimension verschwinden, dann sind wir unsichtbar. So wie für ein Insekt, das nicht fliegen kann, der Stein, den du seinem Gesichtsfeld entziehst, unsichtbar wird und in die dritte Dimension verschwindet.« »So bin ich vor de Sursis und seinen Männern entschwunden.« Der Alte lächelte. »Auf der Erde nennt man das ein Wunder.« »Nenne es wie du willst«, sagte Mirg, »nicht der Name kann uns verstehen helfen. Eure Träume und Beweggründe sind uns so schwer verständlich wie es euch die Ideale flacher, zweidimensionaler Wesen wären. Du aber hast in der dritten Dimension gelebt und selbst die vierte erobert. Du verstehst die Welt, aus der du gekommen bist und hast die Möglichkeit, sie uns zugänglich zu machen!« »Ist denn niemand außer mir zu euch gekommen?« fragte der Alte. »Ich habe doch nur die Lehren der Weisen verfolgt, die mir den Weg gezeigt haben.« »Unvorstellbar wenige, Tristan. In großen Abständen . . . 224
und meist so alt. . .« ». . . daß sie, wie ich, euch nicht lange helfen konnten«, vollendete er des anderen Gedanken. »Ich verstehe.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er langsam und deutlich: »Mein Preis war hoch, wie der ihre. Und du wußtest es, Mirg. Du wußtest auch, daß die Zukunft einen kürzeren und leichteren Weg entdecken wird, doch du hieltest mich nicht vom Weg ab. Warum hieltest du mich nicht ab, Mirg?« »Einer ist nichts im Vergleich zu allen«, erinnerte ihn der andere. Seine Stimme klang sanft, aber fest. »Wir können es nur billigen, was auch immer der Preis ist, den ein einzelner bezahlt, um die Kenntnisse der Allgemeinheit zu erweitern. Wenn du übrigens an die Zukunft denkst, solche Paare, wie ich dir eines zeigte, sind selbst dann nicht zahlreich. Die Erforschung ihrer dreidimensionalen Unendlichkeit wird sie noch lange faszinieren. Sie müssen Planeten, Sonnensysteme, Galaxien erforschen. Und gemessen an dir, kommen sie aus einer solchen Entfernung in der Zeit, daß ihnen nur ein paar Daten deiner Zeit aus Büchern bekannt sind. Sie wissen nicht viel mehr als wir von Religion, Kriegen und Königen.« Langsam leerte sich der große Platz. In Gedanken wägte der Alte die Worte des anderen ab, und eine letzte Frage drängte sich über seine Lippen: »Warum hast du mir nicht wenigstens den Weg verkürzt?« »Wenn das möglich gewesen wäre!« seufzte Mirg. »Doch wir sind Kinder unserer Zeit. Der Weg der Jungen, die du vorhin gesehen hast, war nicht der deine, wenn auch nur aus dem Grunde, daß du ihn nicht verstehen konntest. Ich half dir auf deinem Weg.« »Du?« Der Alte hob sich mit dem ganzen Körper aus dem Stuhl. Wenn er gestand, daß er in seiner Nähe gewesen, dann tat es Mirg nur, weil er gefragt wurde. »Die bis zu dir gelangt waren, zeigten mir den Weg. Einmal 225
löschte ich deinen Ofen, als die Mischung, die du schmelzen wolltest, zu explodieren drohte. Du warst eingeschlafen, damals warst du jung.« »In Lyon«, erinnerte sich der Alte. »Ich habe nie verstanden, wie das Feuer verlöschen konnte. . . und das zweite Mal?« »Viel konnte ich nicht tun«, antwortete Mirg. »Bedenke, wie viele Dinge ich nicht verstand. Einmal sandte dir jemand einen silbernen Kelch.« »Catarina de Medici! Ich suchte ihn einen ganzen Tag.« »Ich zeige ihn dir. Durch Zufall erfuhr ich, daß er vergiftet war.« Sie saßen auf der Terrasse und sahen einander lächelnd an. »Wenn du durch die Zukunft deiner Welt reist, wirst du mehr erfahren«, sagte Mirg endlich. »Du wirst denen, die suchen, besser helfen können, du wirst die Bedrohten schützen, du ver stehst, Tristan.« Und der Alte wunderte sich nicht mehr, daß die vernünftigen Wesen zweier vollkommen andersartiger Welten untereinander durch ungeahnte Bande verbunden waren. Aus solchen Welten kehrten Boten, für die sich die Zukunft auftat, in Zeiten zurück, die noch nicht gekommen waren. Er dachte an den jungen Mann, den er im dunklen Keller über das alte Pergament gebeugt zurückgelassen hatte. Der hatte keine Hilfe nötig. Laut sagte er: »Es geschehen so viele Verbrechen.« »Ich habe dir gesagt, daß wir das meiste nicht verstehen. Je mehr wir wissen, um so mehr werden wir das unterstützen, was unterstützt werden muß. Deshalb kümmern wir uns vor allem um die Menschen, die zu uns kommen, Tristan. Um jeden Preis.« Sie redeten gemächlich wie alte Freunde auf der Terrasse. Unten auf dem Platz hatte das Kommen und Gehen der Vielfachmenschen aufgehört. »Ein Gast aus der Zukunft deiner Welt hat mir gesagt, daß 226
man viel über dich schreiben wird«, erinnerte sich Mirg nach einer Weile. »Doch der, der als erster verstand, wie du aus dem steinernen Turm des Palastes gelangt bist, war . . .« ».. . ein Alchimist?« »Nein«, lächelte Mirg, »ein Träumer.« »Ich möchte ihn gerne sehen.« Mirg gab ihm die nötigen Erklärungen und wieder beugte sich der Alte über die Knöpfe der Maschine. Das Auge blinkte. Er befand sich in einem Raum voll seltsamer Möbel im Herzen einer großen Stadt der Zukunft. Lange Bücherreihen standen in den Regalen an der Wand. An einem Tisch befaßte sich ein Mann mittleren Alters mit einer Arbeit, die der Alte nicht ver stand, denn er hatte niemals eine Schreibmaschine gesehen. Hingegen erkannte er das Porträt, das den Tisch schmückte, und er besah sein Bild mit der Ausdauer dessen, der entdeckt, daß er anders aussieht, als er es gewohnt war. Dann beugte er sich über die Schultern des Mannes und begann die Zeilen zu lesen, die deutlich auf das weiße Papier geschrieben waren. Sie waren in das Französisch einer anderen Zeit gefaßt, doch konnte er leicht verstehen: »Ich habe sein >Verschwinden< im Detail rekonstruiert«, las er, »mehr noch, ich weiß, was mit ihm geschah, nachdem er vor den Augen des Vicomte de Sursis verschwunden war.« Der Mann mittleren Alters hielt inne, streckte die Hand aus und faßte nach dem Portrait; lange sah er es an und lehnte es näher zu sich, an eine grünspanige Bronzestatuette, die einen einbalsamierten Osiris darstellte. Indem er mit zwei Fingern auf Tasten klopfte, ließ er auf dem Papier eine neue Reihe von Buchstaben erscheinen: »Und manchmal frage ich mich, ob es möglich wäre, daß ich ein Zeichen erhielte, ein einfaches Zeichen, das mir bewiese, daß ich mich nicht getäuscht habe.« Da streckte der Alte die Hand aus und nahm die Fotografie und nahm sie für immer in seine unerreichbare Dimension, die 227
ihn verschluckte. Als der Mann an dem Tisch seinen Blick zur Statuette wandte, erstarrte er. Er wurde blaß. Mit überstürzten Bewegungen hob er ein Buch auf, kramte in einem Stoß Papier, suchte unter dem Tisch, wühlte im Papierkorb. Nach einigen Augenblicken setzte er sich erschöpft wieder hin. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und stand in scharfem Gegensatz zu den Blicken, die er auf die Bronzestatuette warf. Durch das offene Fenster drang der Lärm der Stadt herauf. Da legte er seine Stirn in seine Hände und verweilte lange Zeit regungslos. Allein - mit seinen Gedanken und Hoffnungen. Und eine tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus.
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H. P. Lovecraft Die Farbe aus dem All Westlich von Arkham steigen wild die Berge auf. Dort gibt es Täler mit tiefen Wäldern, an die nie die Axt gelegt wurde. Es gibt dunkle, enge Schluchten, wo Bäume phantastisch überhängen und dünne Rinnsale plätschern, die nie ein Sonnenstrahl erreicht hat. Auf den sanfteren Hängen stehen Bauernhöfe, uralt und klobig, mit geduckten, moosbewachsenen Hütten, die seit Ewigkeiten unter dem Schutz riesiger Felswände die Geheimnisse des alten NeuEngland hüten; aber sie stehen jetzt alle leer; die großen Kamine zerbröckeln und die Schindelwände neigen sich bedenklich unter den niedrigen Walmdächern. Die alteingesessenen Bewohner sind fortgezogen, und Ausländer werden dort nicht heimisch. Franko-Kanadier haben es versucht, Italiener haben es versucht, und die Polen kamen und gingen. Es ist nichts, was man sehen oder hören oder anfassen könnte, es ist etwas, das man sich nur vorstellen kann. Der Ort ist nicht gut für die Phantasie und bringt in der Nacht keine erholsamen Träume. Das muß es sein, was die Ausländer fernhält, denn der alte Ammi Pierce hat ihnen nie von den Dingen aus vergangenen Tagen erzählt, an die er sich erinnert. Ammi, der seit Jahren ein bißchen wirr im Kopf ist, ist der einzige, der nicht fortgezogen ist, der einzige, der jemals von den seltsamen Tagen spricht; er hat nur deshalb den Mut dazu, weil sein Haus so nahe an den offenen Feldern und belebten Straßen rings um Arkham steht. Früher einmal gab es eine Straße über die Berge und durch die Täler, die dort verlief, wo heute die verfluchte Heide ist; aber die Leute hörten auf, sie zu benützen, und eine neue Straße wurde gebaut, die einen weiten Bogen nach Süden macht. Spuren der alten Straße sind noch immer zu sehen inmitten des wuchernden Unkrauts einer zurückkehrenden 229
Wildnis, und manche von ihnen werden zweifellos auch dann noch nicht verschwinden, wenn das halbe Tal mit dem Wasser des neuen Stausees überflutet sein wird. Dann werden die dunklen Wälder abgeholzt werden und die verfluchte Heide wird tief unter blauen Wassern schlummern, deren Oberfläche den Himmel widerspiegeln und sich im Sonnenlicht kräuseln wird. Und die Geheimnisse der seltsamen Tage werden eins sein mit den Geheimnissen des tiefen Wassers; eins mit den geheimen Sagen vom alten Ozean und allen Mysterien der urzeitlichen Erde. Als ich in diese Berge und Taler kam, um das Gelände für den neuen Stausee zu vermessen, sagte man mir, daß der Ort verwunschen sei. Man sagte es mir in Arkham, und weil dies eine sehr alte Stadt voller Hexenglauben ist, dachte ich, der böse Zauber müsse etwas sein, was seit Jahrhunderten die Großmütter ihren Enkeln mit flüsternder Stimme erzählt hatten. Die Bezeichnung »verfluchte Heide« schien mir sehr sonderbar und theatralisch, und ich fragte mich, wie sie in das Volksgut eines puritanischen Volkes gekommen war. Dann sah ich selbst dieses Gewirr von Schluchten und Abhängen im Westen der Stadt und wunderte mich nicht mehr über die alten Geheimnisse, die es umgaben. Es war Vormittag, als ich es sah, aber dort lauern ständig dunkle Schatten. Die Bäume standen zu dicht und ihre Stämme waren zu dick für einen gesunden Wald in Neu-England. Es war zu still in den düsteren Gassen zwischen ihnen, und der Boden war zu weich von feuchtem Moos und faulenden Resten aus ungezählten Jahren des Verfalls. Auf den Lichtungen, meist entlang der ehemaligen Straße, waren kleine Bergbauernhöfe; von manchen standen noch alle Gebäude, von anderen nur ein oder zwei, und manchmal war nur ein einsamer Kamin oder ein fast zugewachsener Keller übriggeblieben. Unkraut und Dornengestrüpp hatten die Herr schaft übernommen, und im Unterholz raschelte es geheimnis 230
voll von wilden Tieren. Über allem lag ein Schleier von Unrast und Bedrückung; ein Hauch des Unwirklichen und Grotesken, so als sei ein wesentliches Element der Perspektive oder des Wechsels von Licht und Schatten zerstört. Ich wunderte mich nicht, daß die Ausländer nicht bleiben wollten, denn dies war keine Gegend, in der man ruhig schlafen konnte. Sie ähnelte zu sehr einer Landschaft von Salvator Rosa, zu sehr einem unheimlichen Holzschnitt aus einer Geistergeschichte. Aber all dies war nicht so schlimm wie die verfluchte Heide. Ich spürte es im selben Augenblick, als ich im Grund eines weiten Tales auf sie stieß; denn keine andere Erscheinung hätte zu einem solchen Namen gepaßt, und kein anderer Name hätte zu einer solchen Erscheinung gepaßt. Es war, als hätte ein Dichter diese Wendung geprägt, nachdem er dieses Stück Land gesehen hatte. Es mußte, so überlegte ich, von einem Brand verwüstet worden sein; aber warum war danach nichts mehr auf diesem fünf Morgen großen, grauen Ödland gewachsen, das sich offen dem Himmel darbot wie ein großer, von einer Säure kahlgefressener Fleck inmitten der Wälder und Äcker? Es lag zum größten Teil nördlich der alten Straße, aber an einer Stelle griff es auch auf die andere Seite über. Ich fühlte ein seltsames Widerstreben, mich ihm zu nähern, und tat es schließlich nur, weil ich es in Erfüllung meines Auftrags überqueren mußte. Es gab auf diesem breiten Streifen keinerlei Vegetation, sondern nur feinen grauen Staub, der wie Asche aussah und den niemals ein Windstoß aufzuwirbeln schien. Die Bäume auf allen Seiten waren kränklich und verkrüppelt, und viele tote Stümpfe standen oder lagen am Rand. Als ich so hastig darüberging, sah ich zu meiner Rechten die zerborstenen Ziegel und Steine eines alten Kamins und eines Kellers und den gähnenden schwarzen Rachen eines verlassenen Brunnens, über dessen abgestandenem Wasser die Luft sonderbar flimmernd mit den Sonnenstrahlen spielte. 231
Sogar der lange, dunkle Waldabhang auf der anderen Seite schien freundlich im Vergleich zu dieser Wüste, und ich wun derte mich nicht mehr über das furchtsame Geflüster der Leute von Arkham. Ich hatte in der Umgebung kein Haus und keine Ruine gesehen; selbst in früherer Zeit mußte die Gegend einsam und verlassen gewesen sei. Und in der Dämmerung scheute ich mich, nochmals an diesem Ort vorüberzugehen, und zog den Umweg auf der nach Süden ausweichenden Straße vor. Ich hatte den undeutlichen Wunsch, es möchten ein paar Wolken aufziehen, denn eine merkwürdige Angst vor dem offenen Himmel über mir hatte sich in meine Seele geschlichen. Am Abend befragte ich die Leute in Arkham über die verfluchte Heide und die Bedeutung des Ausdrucks »seltsame Tage«, den viele so verstohlen gebrauchten. Ich bekam jedoch keine klaren Antworten, erfuhr aber, daß die mysteriösen Ereignisse längst nicht so weit zurücklagen, wie ich gedacht hatte. Die Sache entsprang keineswegs irgendwelchen alten Legenden, sondern hatte sich zu Lebzeiten der Menschen ereignet, die darüber sprachen. Es war in den achtziger Jahren passiert, und eine Familie war verschwunden oder ums Leben gekommen. Keiner wollte so recht mit der Sprache heraus; und weil alle mir sagten, ich sollte nicht auf die verrückten Erzählungen des alten Ammi hören, suchte ich ihn am nächsten Morgen auf; ich hatte gehört, daß er alleine in einer alten, verfallenden Hütte wohnte, dort wo der dichte Wald anfing. Es war ein bedrückend altes Anwesen und es strömte jenen schwach giftigen Geruch aus, der sich in Häusern festzusetzen pflegt, die schon sehr lange stehen. Der alte Mann hörte mich erst nach anhaltendem Klopfen, und an der Art, wie er furchtsam zur Tür schlurfte, konnte ich erkennen, daß er nicht gerade begeistert war, mich zu sehen. Er war nicht so hinfällig, wie ich erwartet hatte; aber seine Augen blickten müde zu Boden und seine schmuddeligen Kleider und der ungepflegte, 232
weiße Bart ließen ihn sehr heruntergekommen und elend aussehen. Ich wußte nicht recht, wie ich das Gespräch beginnen sollte, und schützte geschäftliches Interesse vor; ich erzählte ihm von meinen Vermessungen und stellte ihm belanglose Fragen über den Distrikt. Er war viel gescheiter und gebildeter, als man mir hatte einreden wollen, und bevor ich es recht bemerkte, war er ebensogut über mein Vorhaben im Bilde wie irgendein anderer, mit dem ich in Arkham darüber gesprochen hatte. Er war über haupt nicht wie die anderen Bauern, mit denen ich in anderen Gegenden, in denen Stauseen errichtet werden sollten, zusam mengetroffen war. Von ihm kamen keine Proteste über die Meilen alter Wälder und fruchtbaren Ackerlandes, die ausge löscht werden sollten, aber vielleicht nur deshalb nicht, weil sein Grundstück nicht auf dem Gebiet des zukünftigen Stausees lag. Erleichterung war die einzige Regung, die er erkennen ließ; Erleichterung über den Untergang der dunklen Täler, die er sein Leben lang durchstreift hatte. Es war besser, daß sie jetzt unter Wasser stehen würden - jetzt, nach den seltsamen Tagen. Und als er dies vorausgeschickt hatte, senkte er seine heisere Stimme, während er sich vorbeugte und eindrucksvoll seinen zittrigen rechten Zeigefinger erhob. Und dann hörte ich die Geschichte, und während er mit krat ziger, flüsternder Stimme weitschweifig erzählte, schauderte ich immer wieder trotz des sommerlichen Wetters. Oft mußte ich den Sprecher wieder auf den rechten Weg bringen, wenn er den Faden verloren hatte, mußte wissenschaftliche Einzelheiten ergänzen, die er nur unvollständig in papageiengleich nachgeplapperter Gelehrtensprache hervorbrachte, und Lücken ausfüllen, wenn sein Sinn für Logik und Zusammenhang ihn im Stich ließ. Als er geendet hatte, verstand ich, warum er ein bißchen wunderlich geworden war und die Leute von Arkham nicht gerne über die verfluchte Heide sprachen. Ich hastete vor 233
Einbruch der Dämmerung zu meinem Hotel zurück, weil ich nicht den offenen Sternenhimmel über mir haben wollte; und am folgenden Tag kehrte ich nach Boston zurück, um meine Stellung zu kündigen. Nie mehr würde ich einen Fuß in dieses Chaos aus Wäldern und Bergen setzen oder mich in der Nähe jener verfluchten Heide aufhalten, wo der schwarze Brunnen neben den zerborstenen Mauerresten sich in gähnende Tiefen öffnet. Der Stausee wird jetzt bald gebaut werden, und all die alten Geheimnisse werden für immer tief unter den Wassermassen begraben liegen. Aber selbst dann würde ich wahrscheinlich nicht gerne bei Nacht in dieser Gegend umherstreifen; jedenfalls nicht, wenn die unheimlichen Sterne am Himmel stehen; und nichts könnte mich dann dazu bringen, das Wasser aus der neuen Versorgungsanlage in Arkham zu trinken. Angefangen, sagte der alte Ammi, hatte alles mit dem Meteoriten. Davor hatte es seit der Zeit der Hexenprozesse keine düsteren Legenden gegeben, und selbst diese Wälder im Westen waren nicht halb so gefürchtet wie die kleine Insel im Miskatonic, auf der der Teufel Hof hielt, neben einem kuriosen Steinaltar, der älter war als die Indianer. Es seien keine verwunschenen Wälder gewesen, und ihre phantastische Dunkelheit sei bis zu den seltsamen Tagen nie furchteinflößend gewesen. Dann sei diese weiße Wolke um die Mittagszeit gekommen, diese Kette von Explosionen und diese Rauchsäule über dem Tal weit drinnen im Wald. Und in der Nacht hatte ganz Arkham den großen Stein gehört, der vom Himmel fiel und sich neben dem Brunnen auf Nahum Gardners Grundstück in die Erde bohrte. Das war das Haus, das an der Stelle stand, wo später die verfluchte Heide entstehen sollte – das schmucke, weiße Haus von Nahum Gardner mit seinen fruchtbaren Obst- und Gemüsegärten. Nahum war in die Stadt gegangen, um den Leuten von diesem Stein zu erzählen, und hatte unterwegs bei Ammi 234
Pierce hereingeschaut. Ammi war damals vierzig gewesen, und all die seltsamen Dinge waren ihm noch frisch im Gedächtnis. Er und seine Frau waren mit den drei Professoren der Miskatonic-Universität mitgegangen, die am nächsten Morgen hinausgeeilt waren, um den unheimlichen Besucher aus unbekannten, interstellaren Räumen zu besichtigen; sie alle hatten sich gewundert, warum Nahum am Abend zuvor den Stein als so groß beschrieben hatte. Er sei geschrumpft, sagte Nahum, und zeigte auf den großen, bräunlichen Hügel über der aufgerissenen Erde und das versengte Gras neben dem antiken Wippbaum an seinem Ziehbrunnen; aber die weisen Männer antworteten, daß Steine nicht schrumpfen. Er strahlte noch immer Hitze aus, und Nahum erklärte, in der Nacht habe er schwach geglommen. Die Professoren klopften ihn mit einem Geologenhammer ab und entdeckten, daß er merkwürdig weich war. Er war tatsächlich so weich, daß er fast geknetet werden konnte; und die Probe, die sie zur Untersuchung ins College mitnehmen wollten, mußten sie eher herausstechen als abschlagen. Sie legten sie in einen alten Eimer aus Nahums Küche, denn sogar das kleine Stück wollte nicht abkühlen. Auf dem Rückweg machten sie bei Ammi Rast und schienen nachdenklich zu werden, als Mrs. Pierce sie darauf hinwies, daß der Klumpen kleiner wurde und den Boden des Eimers durchbrannte. Sie gaben zu, daß er ziemlich klein sei, aber vielleicht hätten sie ein kleineres Stück mitgenommen, als sie geglaubt hätten. Am Tag darauf - all das geschah im Juni '82 - waren die Professoren in höchster Aufregung wiedergekommen. Als sie an Ammis Haus vorüberkamen, erzählten sie ihm, wie merkwürdig die Probe sich verhalten habe und wie sie sich in Nichts aufgelöst habe, als sie sie in ein Becherglas getan hatten. Auch das Becherglas hatte sich aufgelöst, und die weisen Männer sprachen davon, der seltsame Stein habe eine Affinität für Silikon. Er hatte in dem wohlgeordneten 235
Laboratorium ganz unglaublich reagiert; er hatte sich überhaupt nicht verändert und keine absorbierten Gase gezeigt, als er über Holzkohle erhitzt worden war; er hatte in der Boraxperle völlig negativ reagiert und sich bald als völlig unverdampfbar bei jeder Temperatur herausgestellt, ein schließlich der des Knallgasgebläses. Auf einem Amboß hatte er sich als hochgradig verformbar erwiesen, und in der Dunkelheit hatte er auffallend geleuchtet. Da er sich kein bißchen abkühlte, war bald das ganze College in höchste Aufregung geraten; und als er vor dem Spektroskop erhitzt worden war und farbige Streifen gezeigt hatte, die von den normalen Spektralfarben völlig verschieden waren, hatte ein hektisches, atemloses Gerede über neue Elemente, bizarre optische Eigenschaften und andere Dinge eingesetzt, von denen Männer der Wissenschaft gewöhnlich sprechen, wenn sie sich dem Unbekannten gegenübersehen. Da er so heiß war, wurde er in einem Schmelztiegel mit allen erdenklichen Reagenzien getestet. Wasser bewirkte nichts. Dasselbe Ergebnis bei Salzsäure. Salpetersäure und sogar Königswasser zischten und spritzten nur ohnmächtig gegen seine sengende Unverletzlichkeit an. Ammi hatte Schwierig keiten, sich an all diese Dinge zu erinnern, erkannte aber einige Lösungsmittel wieder, als ich sie in der gebräuchlichen Reihenfolge der Anwendung erwähnte. Man hatte es mit Ammoniak und Ätznatron, Alkohol und Äther, mit ekelerregendem Schwefelkohlenstoff und einem Dutzend anderer Mittel probiert; aber obwohl das Gewicht ständig abnahm und der Brocken sich leicht abzukühlen schien, war in den Lösemitteln keine Veränderung festzustellen, die darauf hingewiesen hätte, daß sie die Substanz auch nur im geringsten angegriffen hatten. Es war aber ohne Zweifel ein Metall. Denn zum einen war der Brocken magnetisch; und nach dem Eintauchen in die Säuren schien er schwache Spuren der Widmänstattschen Figuren aufzuweisen, die auf Meteoreisen 236
gefunden worden waren. Als die Abkühlung weiter fort geschritten war, wurden die weiteren Versuche in Gläsern vorgenommen; und in einem Becherglas bewahrten die Professoren auch all die Splitter auf, in die sie das ursprüngliche Fragment während der Arbeit zerkleinert hatten. Am nächsten Morgen waren Becherglas wie auch Splitter spurlos verschwunden, und nur ein verkohlter Fleck markierte die Stelle auf der Holzplatte, auf der sie gestanden hatten. Das alles erzählten die Professoren Ammi, als sie vor seiner Tür stehengeblieben waren, und wieder ging er mit ihnen, um den steinernen Boten von den Sternen anzuschauen, während seine Frau zu Hause blieb. Diesmal war er deutlich geschrumpft, und sogar die nüchternen Professoren konnten nicht an der Wahrheit dessen zweifeln, was sie sahen. Rings um den braunen Klumpen neben dem Brunnen war freier Raum, außer an den Stellen, wo Erde nachgerutscht war; und während er am Vortag gut sieben Fuß im Durchmesser gehabt hatte, waren es jetzt kaum noch fünf. Er war noch immer heiß, und die Weisen studierten neugierig seine Oberfläche, während sie mit Hammer und Meißel eine neue, größere Probe entnahmen. Diesmal meißelten sie tiefer, und als sie die Probe herausbrachten, bemerkten sie, daß der Kern des Klumpens nicht ganz homogen war. Sie hatten etwas freigelegt, das wie die Seite einer großen, gefärbten Kugel aussah, die in die umhüllende Substanz eingebettet war. Die Farbe, die einigen der Bänder in dem sonderbaren Spektrum des Meteors ähnelte, war fast nicht zu beschreiben; und man konnte sie eigentlich nur aufgrund einer Analogie als Farbe bezeichnen. Die Kugel glänzte, und durch leichtes Klopfen stellte man fest, daß sie spröde und hohl zu sein schien. Einer der Professoren versetzte ihr einen scharfen Schlag mit dem Hammer, worauf sie mit einem kurzen, leisen Knall zersprang. Es trat nichts aus, und das Ding war verschwunden, als wäre es nie dagewesen. Es hinterließ eine 237
kugelförmige Aushöhlung von etwa drei Zoll Durchmesser, und alle hielten es für wahrscheinlich, daß noch andere solche Kugeln entdeckt werden würden, wenn die umhüllende Substanz sich allmählich auflöste. Aber solche Vermutungen waren müßig; nach vergeblichen Versuchen, durch Anbohrungen weitere Kugeln zu entdecken, kehrten die Professoren mit ihrem neuen Probestück in die Stadt zurück, es erwies sich jedoch im Laboratorium als genauso widerspenstig wie sein Vorgänger. Abgesehen davon, daß es ebenso leicht zu verformen, heiß und magnetisch war, daß es leuchtete, sich in konzentrierten Lösungen leicht abkühlte, ein unbekanntes Spektrum hatte, sich an der Luft auflöste und Silikonzusammensetzungen mit dem Resultat gegenseitiger Zerstörung angriff, besaß es keinerlei identifizierende Eigenschaften; und am Ende ihrer Untersuchungen mußten die Wissenschaftler sich eingestehen, daß sie den Stein nicht einordnen konnten. Er war nicht von dieser Erde, sondern ein Bestandteil des unendlichen Alls, und besaß als solcher außerirdische Eigenschaften, die außerirdischen Gesetzen gehorchten. In dieser Nacht gab es ein Gewitter, und als die Professoren am nächsten Tag zu Nahums Haus hinausgingen, erlebten sie eine herbe Enttäuschung. Der Stein, magnetisch wie er war, mußte irgendeine besondere elektrische Eigenschaft gehabt haben; denn er hatte »den Blitz angezogen«, wie Nahum sagte, und zwar mit einzigartiger Beharrlichkeit. Sechsmal innerhalb einer Stunde sah der Farmer den Blitz in die Vertiefung in seinem Vorgarten schlagen, und als das Gewitter vorüber war, befand sich neben dem alten Wippbaum nichts mehr außer einer zerrissenen Grube, halb verschüttet durch nachgerutschte Erde. Grabungen hatten sich als zwecklos erwiesen, und die Wissenschaftler stellten fest, daß der Stein vollständig verschwunden war. Der Mißerfolg war total; es blieb also nichts übrig, als ins Laboratorium zurückzugehen und die 238
Untersuchungen an dem dahinschwindenden Probestück fortzusetzen, das in einem Bleibehälter aufbewahrt wurde. Dieses Stück blieb eine Woche lang erhalten, an deren Ende man nichts Neues herausgefunden hatte. Als es sich aufgelöst hatte, war keine Spur mehr von ihm vorhanden, und nach einiger Zeit waren die Professoren sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich mit eigenen Augen diesen geheimnisvollen Zeugen außerirdischer Räume gesehen hatten, diese einzelne, unheimliche Botschaft aus anderen Universen und anderen Systemen von Materie, Kraft und Existenz. Natürlich stellten die Arkhamer Zeitungen mit Hilfe der College-Professoren den Vorfall groß heraus und schickten Reporter zu Nahum Gardner und seiner Familie. Schließlich entsandte auch eine Bostoner Zeitung einen Korrespondenten, und Nahum wurde bald eine lokale Berühmtheit. Er war ein magerer, freundlicher Mann von etwa fünfzig und lebte mit seiner Frau und seinen drei Söhnen auf der hübschen Farm in dem Tal. Er und Ammi besuchten sich oft gegenseitig, ebenso ihre Frauen; und Ammi wußte nach all den Jahren nur Gutes von ihm zu berichten. Er schien ein wenig stolz über das Aufsehen, das er erregt hatte, und sprach in den folgenden Wochen oft von dem Meteoriten. Der Juli und der August waren heiß, und Nahum arbeitete hart, um das Heu von seinen zehn Morgen Weideland jenseits von Chapman's Bach einzubringen, und sein klappriger Karren grub tiefe Furchen in die schattigen Wege zwischen seinem Haus und den Wiesen. Die Arbeit ermüdete ihn mehr als in früheren Jahren, und er glaubte zu spüren, daß sein Alter ihm allmählich zu schaffen machte. Dann kam die Zeit der Obsternte. Die Birnen und Äpfel wur den langsam reif, und Nahum erzählte überall, daß seine Obst bäume besser gediehen als je zuvor. Die Früchte wuchsen zu phänomenaler Größe und ungewohntem Glanz heran, und es waren so viele, daß Nahum zusätzlich Körbe bestellte, um die 239
bevorstehende Ernte bewältigen zu können. Aber mit der Reife kam herbe Enttäuschung, denn trotz all der glänzenden Pracht war nicht ein Bissen genießbar. In das Aroma der Birnen und Äpfel hatte sich ein bitterer, zum Erbrechen reizender Beige schmack gemischt, so daß selbst kleinste Bissen einen lange anhaltenden Abscheu hervorriefen. Mit den Melonen und Tomaten war es dasselbe, und Nahum mußte betrübt feststellen, daß seine ganze Ernte verdorben war. Er war um eine Erklärung nicht verlegen und behauptete sogleich, der Meteorit habe den Boden vergiftet; und er dankte Gott, daß die meisten seiner Felder auf dem Berggrundstück und neben der Straße lagen. Der Winter kam früh und war bitterkalt. Ammi sah Nahum nicht so oft wie früher und bemerkte, daß er besorgt aussah. Auch seine Familie schien wortkarg geworden zu sein und er schien längst nicht mit der gewohnten Regelmäßigkeit in der Kirche ober bei den verschiedenen geselligen Zusammen künften in der Umgebung. Für diese Zurückhaltung oder Niedergeschlagenheit war kein Grund zu entdecken, obwohl alle Mitglieder der Familie hin und wieder über einen verschlechterten Gesundheitszustand und ein vages Gefühl der Beunruhigung klagten. Nahum selbst äußerte sich am deutlichsten von allen, indem er erklärte, er sei beunruhigt über gewisse Fußspuren im Schnee. Es waren die gewohnten Winterspuren von roten Eichhörnchen, weißen Kaninchen und Füchsen, aber der grüblerische Farmer beteuerte, irgend etwas an der Anordnung der Spuren sei nicht in Ordnung. Er ging nie auf Einzelheiten ein, schien aber der Meinung zu sein, daß die Spuren nicht so typisch für die Anatomie und die Gewohnheiten von Eichhörnchen und Kaninchen und Füchsen waren, wie sie sein sollten. Ammi hörte sich diese Berichte teilnahmslos an, bis er eines Nachts in seinem Schlitten auf dem Rückweg von Clark's Corners an Nahums Haus vor beifuhr. Der Mond hatte geschienen, und ein Kaninchen war 240
über die Straße gerannt, und die Sprünge dieses Kaninchens waren länger, als Ammi und seinem Pferd lieb sein konnte. Das Pferd war beinahe durchgegangen, und Ammi hatte scharf die Zügel anziehen müssen, um es zum Stehen zu bringen. Danach nahm Ammi Nahums Erzählungen ernster und fragte sich, warum die Hunde der Gardners jeden Morgen zitternd und mit eingezogenem Schwanz herumliefen. Sie hatten, so stellte sich heraus, fast nicht mehr den Mut zu bellen. Im Februar waren die McGregor-Jungen aus Meadow Hill auf Murmeltierjagd gegangen, und nicht weit von Nahums Haus hatten sie ein sehr sonderbares Exemplar erbeutet. Die Proportionen des Körpers schienen auf eine seltsame, unbeschreibliche Weise verändert, während das Gesicht einen Ausdruck hatte, den man nie zuvor bei einem Murmeltier gesehen hatte. Die Jungen waren richtig erschrocken und warfen das Ding auf der Stelle weg, so daß die Leute der Umgebung nur aus ihren Erzählungen von diesem grotesken Tier erfuhren. Aber daß in der Nähe von Nahums Haus die Pferde scheuten, war inzwischen allgemein bekannt, und abergläubisches Gerede machte die Runde. Die Leute beschworen, daß der Schnee um Nahums Haus schneller schmolz als anderswo, und Anfang März gab es in Potters Laden in Clark's Corners eine beklommene Diskussion. Stephen Rice war in der Frühe am Haus der Gardners vorbeige fahren und hatte gesehen, daß aus dem feuchten Boden am Waldrand jenseits der Straße Stinkende Zehrwurz wuchs. Nie waren so riesige Exemplare dieser Pflanze gesehen worden, und sie hatten so seltsame Farben gehabt, daß man es nicht beschreiben konnte. Ihre Form war grotesk gewesen, und die Pferde hatten geschnaubt wegen eines Geruchs, den Stephen als völlig unnormal empfunden hatte. Am selben Nachmittag fuhren mehrere Personen zu der angegebenen Stelle, um die abnormen Pflanzen anzuschauen, und sie waren übereinstimmend der Meinung, daß Gewächse dieser Art in 241
einer normalen Welt nicht wachsen dürften. Die verdorbenen Früchte vom letzten Herbst wurden immer wieder erwähnt, und es ging von Mund zu Mund, daß Nahums Boden vergiftet sei. Natürlich war der Meteorit schuld; und weil sie sich erinnerten, wie merkwürdig die Leute vom College den Stein gefunden hatten, sprachen einige Farmer mit ihnen über die Ange legenheit. Eines Tages besuchten sie Nahum; da sie aber keinen Hang zu abenteuerlichen Geschichten und Legenden hatten, waren sie in ihren Schlußfolgerungen sehr vorsichtig. Die Pflanzen waren natürlich sehr merkwürdig, aber die Stinkende Zehrwurz hatte fast immer seltsame Formen und Farben. Vielleicht hatte irgendein Mineral aus dem Stein die Erde durchdrungen und würde bald herausgewaschen sein. Und was die Spuren und die scheuenden Pferde anging, so handelte es sich dabei natürlich nur um Gerede, das man nach dem Einschlag eines Meteorsteins fast mit Sicherheit erwarten konnte. Für ernsthafte Männer gab es in solchen Fällen wilden Tratsches nicht viel zu tun, denn man wußte ja, daß die abergläubischen Bauern alles glaubten und weitererzählten. Und so hielten sich während der ganzen seltsamen Tage die Professoren veracht ungsvoll fern. Nur einer von ihnen erinnerte sich anderthalb Jahre später, als er zwei Fläschchen mit Staub für die Polizei analysieren sollte, daß die kuriose Farbe dieser Stinkenden Zehrwurz fast dieselbe gewesen war wie die Spektralfarbe des Meteor-Bruchstückes und wie die Farbe der kleinen Kugel, die man in dem vom Himmel gefallenen Stein gefunden hatte. Die Analyse dieser Staubproben zeigte zunächst dasselbe seltsame Spektrum, aber später verlor sich diese Eigenschaft. Die Bäume um Nahums Haus trieben verfrüht Knospen, und in der Nacht schwankten sie unheimlich im Wind. Nahums zweiter Sohn Thaddeus, ein Bursche von fünfzehn Jahren, schwor, daß sie sich auch dann bewegten, wenn es windstill war; aber das glaubten nicht einmal die Klatschweiber. 242
Dennoch lag zweifellos Unruhe in der Luft. Die ganze Familie Gardner nahm die Gewohnheit an, verstohlen zu lauschen, obwohl sie nicht wußten, worauf sie lauschten. Dieses angestrengte Horchen schien tatsächlich seinen Ursprung eher in solchen Momenten zu haben, in denen sie plötzlich nicht mehr bei vollem Bewußtsein waren. Solche Augenblicke traten leider von Woche zu Woche immer häufiger auf, so daß es schließlich zu einer geläufigen Redensart wurde, daß »mit Nahums Leuten irgendwas nicht ganz in Ordnung« sei. Als der frühe Steinbrech sich zeigte, hatte auch er eine seltsame Farbe; nicht genau dieselbe wie die Zehrwurz, aber offensichtlich von ähnlicher Tönung und ebenso unbekannt für jeden, der sie sah. Nahum brachte einige Blüten nach Arkham und zeigte sie dem Chefredakteur der Gazette, aber diese Respektsperson schrieb nur einen witzigen Artikel darüber, in dem die dunklen Ängste des Landvolkes einer höflichen Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Es war ein Fehler von Nahum gewesen, einem arroganten Städter davon zu erzählen, wie die Trauermantel schmetterlinge sich verhielten, wenn sie in die Nähe des Steinbrechs kamen. Im April ergriff eine Art Irrsinn die Leute in der Umgebung, und zu der Zeit begannen sie die an Nahums Haus vorbeiführende Straße zu meiden, bis sie sie schließlich überhaupt nicht mehr benutzten. Es lag an der Vegetation. Alle Obstbäume in Nahums Garten blühten in sonderbaren Farben, und aus der steinigen Erde im Hof und der angrenzenden Weide wuchs eine Pflanze, die nur ein Botaniker mit der normalen Flora dieser Gegend hätte in Verbindung bringen können. Keine vernünftigen, gesunden Farben waren zu sehen, außer am Gras und den Blättern der Bäume; aber überall fanden sich diese hektischen, prismatischen Varianten eines zugrundeliegenden, krankhaften Farbtons, die nicht der Skala der auf der Erde vorkommenden Färbungen angehörten. Der Doppelsporn entwickelte sich zu einem bedrohlichen Gewächs, 243
und die Blutwurz beleidigte mit einer wahrhaft perversen Färbung das Auge. Ammi und Gardner glaubten, daß ihnen die meisten dieser Farben auf irritierende Weise bekannt vorkamen; sie erinnerten sie an die spröde Kugel in dem Meteorstein. Nahum pflügte und säte seine zehn Morgen Weideland und die höhergelegenen Äcker, ließ aber die Felder um sein Haus brachliegen. Er wußte, daß es keinen Zweck haben würde, und hoffte, die Gewächse dieses Sommers würden alles Gift aus dem Boden ziehen. Er war jetzt beinahe auf alles gefaßt und hatte sich an das Gefühl gewöhnt, daß in seiner Nähe irgend etwas darauf wartete, gehört zu werden. Daß die Nachbarn sein Haus mieden, ging ihm natürlich sehr nahe; aber noch schwerer traf es seine Frau. Die Jungen waren besser daran, weil sie den ganzen Tag in der Schule waren; aber auch sie waren von dem Gerede eingeschüchtert. Thaddeus, ein besonders sensibler Bursche, litt am meisten. Im Mai kamen die Insekten, und Nahums Anwesen wurde zu einem von summenden und kriechenden kleinen Ungeheuern wimmelnden Alptraum. Die meisten der Insekten waren in Aussehen und Bewegung recht unnormal, und wie sie sich in der Nacht verhielten, widersprach jeder Erfahrung. Die Gardners fingen an, in der Nacht Ausschau zu halten - planlos nach allen Richtungen, ohne zu wissen, wonach sie Ausschau hielten. In diesen Nächten merkten sie alle, daß Thaddeus recht gehabt hatte mit dem, was er über die Bäume erzählt hatte. Mrs. Gardner war die nächste, die es vom Fenster aus beobachtete, während sie die verdickten Ahornäste vor dem mondhellen Himmel ansah. Kein Zweifel, die Zweige bewegten sich, und es war völlig windstill. Es mußte der Saft sein. Ein böser Zauber lag in allen Gewächsen. Doch es war niemand aus Nahums Familie, der die nächste Entdeckung machte. Gewöhnung hatte sie abgestumpft, und was sie nicht sahen, entdeckte ein furchtsamer Windmüller aus Bolton, der eines Nachts ahnungslos am Schauplatz der gespenstischen 244
Ereignisse vorbeifuhr. Was er in Arkham erzählte, stand am nächsten Morgen in der Gazette; und erst aus dieser kurzen Meldung erfuhren es die Bauern – und auch Nahum. Die Nacht war finster und der Schein der Wagenlaternen schwach gewesen, aber in der Nähe einer Farm in einem Tal – bei der es sich nur um Nahums Anwesen handeln konnte – war die Dunkelheit nicht so dicht gewesen. Denn die ganze Vegetation, ob Gras, Blatt oder Blüte, schien schwach, aber deutlich erkennbar, zu phosphoreszieren; einen Augenblick lang schien es außerdem, als tanze ein aus dieser Lumineszenz ent standenes Irrlicht im Hof vor der Scheune herum. Bisher war das Gras verschont geblieben, und die Kühe grasten friedlich auf der Weide beim Haus; aber gegen Ende Mai begann die Milch schlecht zu werden. Nahum ließ daraufhin die Kühe auf die höhergelegenen Wiesen treiben, und das Übel schien behoben. Nicht lange danach war die Veränderung am Gras und den Blättern der Bäume nicht mehr zu übersehen. Alles Grüne wurde grau und fühlte sich merkwürdig spröde an. Ammi war jetzt der einzige, der noch zu Nahum ging, aber auch seine Besuche wurden immer seltener. Während der Schulferien waren die Gardners praktisch von der Welt abgeschnitten und ließen sich manchmal von Ammi ihre Besorgungen machen. Sie versagten auf merkwürdige Weise sowohl physisch als auch geistig, und niemand wunderte sich, als die Neuigkeit von Mrs. Gardners Geistesgestörtheit die Runde machte. Es passierte im Juni, ungefähr am Jahrestag des Meteoriteneinschlags, und die bedauernswerte Frau schrie vor Entsetzen über Dinge in der Luft, die sie nicht beschreiben konnte. Ihr Gestammel enthielt kein einziges präzises Haupt wort, sondern nur Verben und Pronomen. Dinge bewegten sich und änderten sich und flatterten umher, und die Ohren gellten ihr von Schwingungen, die keine richtigen Töne waren. Irgend etwas würde ihr weggenommen - irgend etwas würde aus ihr 245
herausgesaugt - es dränge sich ihr etwas auf, das nicht sein dürfe - jemand müsse es wegtun - nachts sei nichts ruhig - die Wände und Fenster bewegten sich. Nahum brachte sie nicht in die Distrikts-Heilanstalt, sondern ließ sie im Haus herum laufen, solange sie sich und den anderen keinen Schaden zufügte. Sogar als ihr Gesichtsausdruck sich veränderte, unter nahm er nichts. Erst als die Jungen sich vor ihr zu fürchten begannen und Thaddeus fast in Ohnmacht gefallen war über die Fratzen, die sie ihm schnitt, entschloß er sich, sie in die Dachkammer zu sperren. Als es Juli wurde, sprach sie kein Wort mehr und kroch auf allen vieren, und bevor der Monat zu Ende gegangen war, bemerkte Nahum, daß sie in der Dunkelheit jenen schwachen phosphoreszierenden Schimmer hatte, den er inzwischen auch selbst zweifelsfrei an den Pflanzen rings um sein Haus festgestellt hatte. Kurz zuvor waren die Pferde durchgegangen. Irgend etwas hatte sie in der Nacht aufgeschreckt, und sie hatten im Stall fürchterlich gewiehert und gestampft. Sie waren durch nichts zu beruhigen, und als Nahum die Stalltür öffnete, sprengten sie alle hinaus wie verprellte Waldhirsche. Es dauerte eine Woche, bis alle vier wiedergefunden waren, aber es zeigte sich, daß sie sich nicht mehr dirigieren ließen und zu nichts mehr nütze waren. In ihren Köpfen war irgend etwas zersprungen, und sie mußten alle den Gnadenschuß bekommen. Nahum borgte sich von Ammi ein Pferd für die Heuernte, mußte aber feststellen, daß es nicht in die Nähe der Scheune ging. Es scheute, schlug aus und wieherte, und schließlich konnte er nichts anderes tun, als es in den Hof zu treiben und mit seinen Söhnen den schweren Heuwagen selbst so nahe an die Scheune zu ziehen, daß sie mit den Gabeln den Heuboden erreichten. Und während der ganzen Zeit wurden die Pflanzen grau und spröde. Sogar die Blumen, die zunächst so sonderbare Farben hatten, wurden jetzt grau, und das Obst war grau und verschrumpelt und ohne Geschmack. Die Astern und Goldruten blühten grau und 246
verkümmerten, und die Rosen und Zinnien im Vorgarten boten einen so widerwärtigen Anblick, daß Nahums ältester Sohn Zenas sie abschnitt und wegwarf. Die aufgeblähten Insekten starben und sogar die Bienen verließen ihre Stöcke und flogen in den Wald. Als der September ins Land ging, zerfiel die gesamte Vegetation schnell zu grauem Staub, und Nahum befürchtete, daß die Bäume absterben würden, bevor das Gift aus dem Boden war. Seine Frau hatte jetzt grauenhafte Schreikrämpfe, und er und seine Söhne litten ständig unter einer nervösen Spannung. Sie wichen jetzt den anderen Leuten aus, und als die Schule wieder anfing, gingen die Jungen nicht hin. Aber es war Ammi, der als erster bei einem seiner seltenen Besuche merkte, daß das Brunnenwasser nicht mehr in Ordnung war. Es hatte einen schlechten Geschmack, der aber nicht eigentlich faulig oder salzig war, und Ammi riet seinem Freund, weiter oben einen Brunnen zu graben und dessen Wasser zu verwenden, bis der Boden wieder gut sein würde. Nahum aber ignorierte den gutgemeinten Rat, denn er war inzwischen gleichgültig gegen sonderbare und unangenehme Dinge geworden. Er und seine Söhne verwendeten weiter das verpestete Wasser und tranken es genauso lustlos und mechanisch, wie sie ihr kärgliches, schlecht zubereitetes Mahl zu sich nahmen und ihren undankbaren, eintönigen Arbeiten während des sinnlos verstreichenden Tages nachgingen. Dumpfe Resignation lag über ihnen allen, als gingen sie halb in einer anderen Welt durch ein Spalier namenloser Wächter einem sicheren und schon erahnten Verderben entgegen. Thaddeus verlor im September während eines Gangs zum Brunnen den Verstand. Er war mit dem Eimer losgegangen und mit leeren Händen zurückgekehrt, schreiend und mit den Armen um sich schlagend, und verfiel ab und zu in ein albernes Gekicher über »die beweglichen Farben dort unten«. Zwei in einer Familie waren ein harter Schlag, aber Nahum trug es mit 247
Fassung. Er ließ den Jungen noch eine Woche frei herum laufen, bis er zu stolpern und sich zu verletzen begann, und sperrte ihn dann in ein Dachzimmer, das dem seiner Mutter gegenüberlag. Die Art, wie die beiden sich abwechselnd über den Gang hinweg etwas zuschrien, war grauenhaft, besonders für den kleinen Merwin, der sich einbildete, sie sprächen dabei eine furchtbare Sprache, die nicht von dieser Erde war. Merwin bekam immer schrecklichere Phantasievorstellungen, und seine Rastlosigkeit verschlimmerte sich, nachdem sein Bruder, der sein bester Spielkamerad gewesen war, eingeschlossen worden war. Fast um dieselbe Zeit begann das Sterben unter den Haustieren. Das Geflügel wurde grau und verendete schnell, das Fleisch erwies sich als trocken und stank, wenn es zerschnitten wurde. Die Schweine wurden abnorm fett und machten dann abstoßende Veränderungen durch, die niemand erklären konnte. Ihr Fleisch war natürlich ungenießbar, und Nahum war am Ende seiner Weisheit. Die ländlichen Tierärzte weigerten sich, auf seinen Hof zu kommen, und der städtische Tierarzt aus Arkham konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Die Schweine wurden grau und spröde, bevor sie verendeten, und ihre Augen und Rüssel wiesen einzigartige Mißbildungen auf. Es war völlig unerklärlich, denn sie hatten nie Futter bekommen, das auf dem vergifteten Boden gewachsen war. Dann waren die Kühe an der Reihe. Bestimmte Partien oder manchmal der ganze Körper wurden erbarmungslos ausgedörrt oder zusammengepreßt, und entsetzliche Zusammenbrüche oder Zersetzungen waren meistens die Folge. Im letzten Stadium – und der Ausgang war immer tödlich – wurden sie grau und spröde, genau wie es zuvor mit den Schweinen passiert war. Von Vergiftung konnte keine Rede sein, denn all dies vollzog sich in einem sauberen, verschlossenen Stall. Auch Bisse von herumschleichenden wilden Tieren kamen nicht in Frage, denn welches lebende Tier konnte solide 248
Hindernisse durchdringen? Es mußte eine natürliche Krankheit sein – doch welche Krankheit solche Folgen zeitigen konnte, überstieg alle menschliche Vorstellungskraft. Als die Erntezeit kam, war kein einziges lebendes Tier mehr auf dem Hof, denn Kühe, Schweine und Geflügel waren tot, und die Hunde waren ausgerissen. Diese Hunde, drei an der Zahl, waren alle in einer Nacht verschwunden und nie mehr gesehen worden. Die fünf Katzen waren schon früher davongelaufen, aber ihr Fehlen wurde kaum bemerkt, weil es auch keine Mäuse mehr gab und nur Mrs. Gardner eine Vorliebe für diese grazilen Tiere gehabt hatte. Am neunzehnten Oktober kam Nahum mit einer schrecklichen Nachricht in Ammis Haus getaumelt. Der Tod hatte den armen Thaddeus in seiner Dachkammer ereilt, und er war in einer Gestalt gekommen, die man nicht schildern konnte. Nahum hatte auf dem eingefriedeten Stück Boden hinter dem Haus, das als Familiengrabstätte ausersehen war, ein Grab geschaufelt und das hineingelegt, was er gefunden hatte. Es konnte nichts von draußen gekommen sein, denn das kleine, vergitterte Fenster und die verschlossene Tür waren unversehrt; aber es war fast dasselbe wie in den Ställen gewesen. Ammi und seine Frau trösteten den gebrochenen Mann so gut sie konnten, aber sie schauderten dabei. Blanker Terror schien allem anzuhaften, was um die Gardners war und was sie berührten, und die bloße Anwesenheit eines solchen Menschen im Haus war wie ein Hauch aus namenlosen unnennbaren Regionen. Ammi begleitete Nahum mit dem größten Widerstreben nach Hause, und tat sein Bestes, um den hysterisch schluchzenden kleinen Merwin zu beruhigen. Zenas bedurfte nicht solchen Trostes. Seit einiger Zeit schon tat er nichts anderes mehr, als ins Leere zu starren und gehorsam auszuführen, was sein Vater ihm auftrug; und Ammi dachte, daß sein Schicksal gnädig mit ihm sei. Hin und wieder erhielten Merwins Schreie eine schwache Antwort aus dem 249
Dachgeschoß, und auf einen fragenden Blick hin sagte Nahum, seine Frau werde zusehends schwächer. Als der Abend anbrach, stahl sich Ammi davon; denn nicht einmal seine freundschaftlichen Gefühle konnten ihn dazu bringen, an die sem Ort zu bleiben, wenn das schwache Leuchten der Vegetation begann und die Bäume sich womöglich biegen würden, obwohl kein Wind ging. Es war Ammis Glück, daß er nicht mehr Phantasie besaß. Selbst bei diesem Stand der Dinge blieb er beinahe ungerührt; aber wäre er imstande gewesen, über all die bösen Omen nachzudenken und sie miteinander in Verbindung zu bringen, er hätte rettungslos den Verstand verlieren müssen. In der Dämmerung hastete er nach Hause, und die Schreie der geistesgestörten Frau und des hysterischen Kindes gellten ihm furchtbar in den Ohren. Drei Tage darauf kam Nahum frühmorgens in Ammis Küche gestürzt und berichtete vor Verzweiflung stammelnd über ein neues Unglück; Mrs. Pierce – Ammi war gerade nicht zu Hause - lauschte ihm mit wachsendem Entsetzen. Diesmal ging es um den kleinen Merwin. Er war verschwunden. Er war spät abends mit einem Eimer und einer Laterne zum Brunnen gegangen und nicht zurückgekehrt. Schon seit Tagen war er völlig außer sich gewesen und hatte kaum gewußt, was er tat; bei der geringsten Kleinigkeit hatte er zu kreischen angefangen. Als Nahum plötzlich einen gellenden Schrei aus dem Vorgarten gehört hatte, war er zur Tür gestürzt, hatte aber keine Spur mehr von dem Jungen entdeckt. Kein Lichtschein von der Laterne war zu sehen, und das Kind selbst war verschwunden. In diesem Augenblick dachte Nahum noch, die Laterne und der Eimer seien auch verschwunden; aber als er im Morgengrauen von seiner stundenlangen Suche in Wäldern und Wiesen zurückkehrte, fand er ein paar äußerst merkwürdige Dinge neben dem Brunnen. Dort lag ein zusammengepreßter und offenbar teilweise geschmolzener Metallklumpen, der zweifellos einmal eine Laterne gewesen war; und nicht weit 250
davon schienen ein verbogener Henkel und plattgedrückte eiserne Ösen, alles stark angeschmolzen, auf die Überreste des Eimers hinzudeuten. Das war alles. Nahum war längst darüber hinaus, noch irgendwelche Vermutungen anzustellen, Mrs. Pierce war ratlos, und auch Ammi wußte keine Erklärung, als er zurückkam und die schreckliche Neuigkeit erfuhr. Merwin war verschwunden, und es würde keinen Zweck haben, es den Leuten der Umgebung zu sagen, die mittlerweile alle Gardners ängstlich mieden. Ebenso zwecklos würde es sein, die Leute in Arkham zu informieren, da sie ohnehin nur über die ganze Geschichte lachten. Thaddeus war verschwunden, und jetzt war auch noch Merwin verschwunden. Irgend etwas kroch und kroch und wartete darauf, gesehen und gehört zu werden. Auch er, Nahum, würde bald dahingehen, und er bat Ammi, sich um seine Frau und Zenas zu kümmern, falls sie ihn überlebten. Es müsse wohl alles eine Strafe Gottes sein, obwohl er sich nicht vorstellen könne, wofür; denn zeit seines Lebens sei er ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Über zwei Wochen lang sah und hörte Ammi nichts von Na hum; besorgt, wie es ihm gehen mochte, überwand er schließlich seine Angst und fuhr zu ihm hinaus. Aus dem großen Kamin stieg kein Rauch auf, und einen Augenblick lang befürchtete der Besucher das Schlimmste. Die ganze Farm sah schreckenerregend aus - graues, vertrocknetes Gras und Laub bedeckten die Erde und die Kletterpflanzen lösten sich in sprödem Zerfall von den uralten Mauern und Giebeln. Große, kahle Bäume schienen sich mit ostentativer Bosheit dem grauen Novemberhimmel entgegenzustrecken, und Ammi konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß die Zweige sich leicht nach oben gekrümmt hatten. Doch Nahum war gottlob noch am Leben. Er war schwach und lag auf einer Bank in der niedrigen Küche, doch er war bei vollem Bewußtsein und konnte Zenas noch einfache Befehle erteilen. Der Raum war eiskalt; und als Ammi sichtlich fröstelte, rief sein Gastgeber 251
mit heiserer Stimme nach seinem Sohn, er solle Holz nachlegen. Und Holz war wirklich bitter nötig, denn der tiefe Kamin war kalt und leer, und der eisige Wind, der durch den Schornstein kam, blies ab und zu eine Rußwolke in den Raum. Gleich darauf fragte Nahum, ob es jetzt von den nachgelegten Scheiten schon wärmer würde, und da wurde Ammi klar, wie es um ihn stand. Auch das stärkste Seil war jetzt gerissen, und die Seele des unglücklichen Farmers war gegen neue Sorgen gefeit. Auf seine taktvollen Fragen erhielt Ammi keinerlei klare Auskünfte über den vermißten Zenas. »Im Brunnen, er lebt im Brunnen –« war alles, was der umnachtete Farmer hervor brachte. Plötzlich kam dem Besucher der Gedanke an Nahums geistesgestörte Frau, und er lenkte seine Befragung vorsichtig auf dieses Thema. »Nabby? Na, hier ist sie doch!« war die überraschte Antwort des armen Nahum, und Ammi sah ein, daß er selber nachsehen mußte. Er ließ den harmlosen Schwätzer auf der Couch zurück, nahm die Schlüssel von einem Nagel neben der Tür, und erklomm die knarrenden Stiegen zum Dachgeschoß. Dort oben war die Luft furchtbar muffig und übelriechend, und kein Laut war zu hören. Von den vier Türen war nur eine verschlossen, und an deren Schloß probierte er die Schlüssel aus, die er von unten mitgebracht hatte. Der dritte Schlüssel erwies sich als der richtige, und nach kurzem Rütteln stieß Ammi die niedrige, weiße Tür auf. Drinnen war es ziemlich düster, denn das Fenster war klein und wurde noch von dem groben Holzgitter verdunkelt; Ammi sah überhaupt nichts auf dem aus breiten Dielen bestehenden Fußboden. Der Gestank war unerträglich, und bevor er weiter hineinging, mußte er sich erst noch einmal in einen anderen Raum zurückziehen und seine Lungen mit halbwegs frischer Luft füllen. Als er schließlich hineinging, sah er etwas in der Ecke, und als er es genauer betrachtete, schrie er entsetzt auf. Während er noch schrie, glaubte er zu sehen, wie eine Wolke 252
für einen Augenblick das Fenster verdunkelte, und eine Sekunde später fühlte er, daß etwas wie ein Pesthauch an seinem Gesicht entlangstrich. Seltsame Farben tanzten vor seinen Augen, und wäre er nicht von dem gegenwärtigen Entsetzen so benommen gewesen, so hätte er an die Kugel in dem Meteoriten gedacht, die der Geologenhammer zerbrochen hatte, und an die makabren Pflanzen, die im Frühjahr aus der Erde sproßten. So aber dachte er nur an das blasphemische Monstrum, dem er gegenüberstand und das nur allzu offensichtlich das unsagbare Schicksal des jungen Thaddeus und der Haustiere geteilt hatte. Aber das Haarsträubende an diesem Ungeheuer war, daß es sich langsam und sichtbar bewegte, während es sich weiter auflöste. Ammi berichtete mir über keine weiteren Einzelheiten dieser Szene, aber die Gestalt in der Ecke tauchte in seiner Erzählung nicht mehr als bewegliches Objekt auf. Es gibt Dinge, über die man nicht spricht, und was aus verständlichem Mitleid began gen wird, erfährt manchmal eine grausame Beurteilung durch das Gesetz. Ich folgerte, daß Ammi nichts Bewegliches in dieser Dachkammer zurückließ und daß jede andere Handlungsweise einer Untat gleichgekommen wäre, die mit ewiger Verdammnis hätte bestraft werden müssen. Außer einem unerschütterlichen Bauern hätte niemand diesen Anblick ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren, aber Ammi ging im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte durch diese niedrige Tür und schloß das abscheuliche Geheimnis hinter sich ein. Er mußte sich jetzt um Nahum kümmern; der mußte gefüttert und versorgt und an einen Ort gebracht werden, an dem man ihn pflegen konnte. Als er die Treppe hinabzusteigen begann, hörte Ammi von unten einen dumpfen Fall. Er glaubte sogar, ein Schrei sei plötzlich erstickt worden, und dachte an den widerwärtigen Luftstrom, der in jenem schrecklichen Raum an ihm vorbeigestrichen war. Welche Erscheinung hatte er mit seinem 253
Schrei und seinem Eindringen aufgestört? Durch ein vages Angstgefühl gelähmt, blieb er stehen und vernahm noch weitere Geräusche von unten. Es hörte sich an, als würde ein schwerer Gegenstand herumgeschleift, und außerdem war da ein abscheulich schmatzendes, saugendes Geräusch. Mit fieberhaft übersteigerter Einbildungskraft dachte er unwill kürlich an das, was er oben gesehen hatte. Großer Gott! In welche unheimliche Traumwelt war er geraten? Er wagte weder vorwärts noch rückwärts zu gehen und stand zitternd in der dunklen Biegung der engen Treppe. Jede kleinste Einzelheit brannte sich ihm ins Gedächtnis. Die Geräusche, das Gefühl einer schrecklichen Vorahnung, die Dunkelheit, die Steilheit der Treppe – und, gerechter Himmel! – die schwache, aber unübersehbare Lumineszenz aller sichtbaren Holzteile, ob Stufen, Wandverkleidung, Leisten oder Balken. Dann brach Ammis vor dem Haus stehendes Pferd in ein wildes Wiehern aus, dem gleich darauf ein Getrappel folgte, das auf eine überstürzte Flucht schließen ließ. Im nächsten Augenblick waren Pferd und Wagen außer Hörweite und überließen den Mann auf der Treppe seinen Vermutungen darüber, was sie verjagt haben mochte. Aber das war noch nicht alles. Es war noch ein anderes Geräusch von draußen gekommen. Eine Art Platschen – Wasser – es mußte der Brunnen gewesen sein. Er hatte Hero, ohne ihn anzubinden, neben dem Brunnen stehengelassen, und ein Rad des Wägelchens mußte den gemauerten Rand gestreift und einen Stein hineingestoßen haben. Und noch immer leuchtete fahl das abscheulich alte Holz. Gott, wie alt dieses Haus war! Der größte Teil vor 1670 erbaut, und das Walmdach nicht später als 1730. Ein schwaches Kratzen war jetzt deutlich vom Fußboden im Erdgeschoß zu vernehmen, und Ammis Faust schloß sich um einen Prügel, den er im Dachgeschoß zu irgendeinem Zweck an sich genommen hatte. Er riß sich zusammen, stieg die 254
restlichen Stufen hinab und ging beherzt in die Küche. Aber er ging nicht so weit, wie er vorgehabt hatte, denn was er suchte, war nicht mehr an seinem Platz. Es war ihm entgegen gekommen, und war in gewisser Weise noch immer lebendig. Ob es gekrochen oder von irgendwelchen äußeren Kräften über den Boden geschleift worden war, konnte Ammi nicht feststellen; aber der Tod hatte es angerührt. Alles war in der letzten halben Stunde passiert, aber es war schon sehr grau geworden, zusammengefallen und zersetzt. Es war fürchterlich spröde, und trockene Schuppen sprangen ab. Ammi konnte es nicht berühren, sondern blickte nur entsetzt in die verzerrte Fratze, die einmal ein Gesicht gewesen war. »Was war es, Nahum – was war es?« flüsterte er, und die gespaltenen, hervortretenden Lippen waren gerade noch imstande, ihre letzte Antwort zu geben. »Nichts . . . nichts . . . die Farbe ... sie brennt. . . kalt und feucht, aber sie brennt... sie hat im Brunnen gesteckt... ich hab sie gesehen . . . eine Art von Rauch . . . grad wie die Blumen letztes Frühjahr . . . der Brunnen hat geleuchtet in der Nacht. .. Thad und Merwin und Zenas . . . alles, was gelebt hat. .. aus allem das Leben rausgesaugt... in dem Stein ... es muß in dem Stein gekommen sein . . . den ganzen Grund vergiftet.. . ich weiß nicht, was es will. . . das runde Ding, das die Männer vom College aus dem Stein gegraben haben ... sie haben's zerbro chen ... es war dieselbe Farbe . . . genau dieselbe, grad wie die Blumen und Pflanzen . . . müssen ein paar gewesen sein ... Samen . . . Samen ... sie sind gewachsen . . . hab's erst diese Woche wieder gesehn . . . muß Zena arg gepackt haben . . . war ein starker Junge, so lustig . . . bricht dir den Verstand und dann kriegt's dich . . . verbrennt dich ... im Brunnenwasser . . . hast recht gehabt. . . böses Wasser . . . Zenas is nich vom Brunnen wiedergekommen . . . kannst nich loskommen . . . zieht dich ... du weißt, irgendwas kommt, hat aber keinen Zweck . . . hab's 255
immer wieder gesehen, seit Zenas weg is . . . Nabby, Ammi?. . . mein Kopf is so schwer . . . weiß nich, wann ich sie zuletzt gefüttert hab ... es wird sie kriegen, wenn wir nich aufpassen . . . nur 'ne Farbe ... ihr Gesicht hat manchmal die Farbe am Abend . . . und es brennt und saugt. . . es is von woher gekommen, wo die Sachen nich so sind wie hier . . . einer von den Professoren hat's gesagt... er hat recht gehabt. . . paß auf, Ammi, es wird noch mehr tun . . . saugt das Leben aus . . .« Aber das war alles. Was eben noch gesprochen hatte, konnte nicht mehr sprechen, weil es völlig in sich zusammengefallen war. Ammi breitete ein rotkariertes Tischtuch über das, was übriggeblieben war, und rannte durch die Hintertür auf die Felder hinaus. Er stieg den Abhang zu dem zehn Morgen großen Grund hinauf und wankte über die nördliche Straße und durch die Wälder nach Hause. Er konnte nicht an diesem Brunnen vorbeigehen, von dem sein Pferd weggerannt war. Er hatte durch das Fenster nach ihm geschaut und festgestellt, daß kein Stein aus der Einfassung herausgebrochen war. Also hatte der schleudernde Wagen doch nichts weggerissen - das Platschen mußte etwas anderes gewesen sein – irgend etwas, das in den Brunnen gefahren war, als es mit dem armen Nahum fertig war . . . Als Ammi zu Hause ankam, waren Pferd und Wagen schon längst da und hatten seine Frau in die ärgste Besorgnis gestürzt. Er beruhigte sie, ohne ihr etwas zu erklären, und machte sich sogleich auf den Weg nach Arkham und unterrichtete die Behörden davon, daß es die Familie Gardner nicht mehr gab. Er ging nicht auf Einzelheiten ein, sondern berichtete nur von Nahums und Nabbys Tod - daß Thaddeus gestorben war, wußte man schon – und fügte hinzu, daß die Todesursache wahrscheinlich dieselbe merkwürdige Krankheit gewesen sei, der der gesamte Tierbestand zum Opfer gefallen war. Er erwähnte auch, daß Merwin und Zenas verschwunden waren. 256
Auf dem Polizeirevier stellte man ihm eingehende Fragen, und schließlich mußte Ammi drei Polizeibeamte sowie den Leichenbeschauer, den Amtsarzt und den Tierarzt, der die kranken Tiere behandelt hatte, zu Nahums Haus begleiten. Er ging nur sehr widerwillig mit, denn der Nachmittag war schon fortgeschritten, und er fürchtete, die Nacht könnte sie an diesem fluchbeladenen Ort überraschen; aber es war ein gewisser Trost, daß so viele Leute mitgingen. Die sechs Männer fuhren in einer offenen Kutsche hinter Ammis Wagen her, und sie erreichten das von der Pest heimgesuchte Haus gegen vier Uhr. Obwohl die Beamten schaurige Erlebnisse gewöhnt waren, blieb keiner ungerührt beim Anblick dessen, was sie in der Dachkammer und unter dem rotkarierten Tischtuch auf dem Fußboden im Parterre fanden. Das ganze Aussehen der Farm in ihrer grauen Verlassenheit war schrecklich genug, aber diese beiden zerfallenden Objekte waren kaum zu ertragen. Keiner konnte sie länger ansehen, und sogar der Arzt mußte zugeben, daß es nur wenig zu untersuchen gab. Natürlich konnten Proben untersucht werden, also beschäftigte er sich damit, sie zu entnehmen – und hier wäre einzufügen, daß später noch ein rätselhaftes Nachspiel in dem College-Laboratorium stattfand, wohin die zwei Gläschen Staub schließlich gebracht worden waren. Unter dem Spektroskop zeigten beide Proben ein unbekanntes Spektrum, dessen erstaunliche Bänder fast völlig jenen glichen, die im Jahr zuvor an dem seltsamen Meteor festgestellt worden waren. Nach einem Monat verschwand diese Fähigkeit der Proben, und sie bestanden danach im wesentlichen nur noch aus alkalischen Phosphaten und Karbonaten. Ammi hätte den Männern gar nichts über den Brunnen gesagt, wenn er damit gerechnet hätte, daß sie gleich an Ort und Stelle etwas unternehmen würden. Die Sonne würde bald untergehen, und er wollte auf keinen Fall noch länger bleiben. 257
Aber er konnte es nicht verhindern, daß er immer wieder ängstlich zu der gemauerten Einfassung neben dem großen Wippbaum hinübersah, und als ihn einer der Polizeibeamten fragte, gab er zu, daß Nahum sich vor etwas gefürchtet hatte, was er dort unten wähnte - so sehr, daß er nicht im entferntesten daran gedacht hatte, nach Merwin und Zenas zu suchen. Jetzt gab es für die Männer kein Halten, der Brunnen mußte sofort entleert und untersucht werden, so daß Ammi zitternd zusehen mußte, wie Eimer für Eimer fauligen Wassers hochgezogen und auf die bald durchtränkte Erde neben dem Brunnen ausgeschüttet wurde. Die Männer waren von dem Geruch der Flüssigkeit angeekelt und hielten sich zum Schluß die Nasen zu vor dem entsetzlichen Gestank, den sie aufdeckten. Es dauerte nicht so lange, wie sie befürchtet hatten, da das Wasser erstaunlich seicht war. Es ist nicht notwendig, allzu genau zu beschreiben, was sie fanden. Merwin und Zenas lagen beide dort drinnen, jedenfalls Teile von ihnen, und die entdeckten Reste waren hauptsächlich Skelettknochen. Außerdem fand man einen kleinen Hirsch und einen Hund, beide in demselben Zustand, sowie eine Anzahl von Knochen kleinerer Tiere. Der glitschige Schlamm am Grund schien merkwürdig durchlässig und von Blasen durchsetzt zu sein, und einer der Männer, der sich an einem Strick hinabließ und mit einer langen Stange darin herumstocherte, fand keinen festen Grund, so tief er auch stieß. Die Dämmerung war jetzt hereingebrochen, und Laternen wurden aus dem Haus geholt. Als es sich dann herausstellte, daß der Brunnen keine weiteren Geheimnisse preisgeben würde, gingen sie alle ins Haus und konferierten in der uralten Wohnstube, während das flackernde Licht eines gespenstischen Halbmondes die graue Trostlosigkeit vor den Fenstern fahl beleuchtete. Die Männer waren offensichtlich ratlos, was sie von dem ganzen Fall halten sollten, und konnten kein einleuchtendes Verbindungsglied zwischen dem seltsamen 258
Zustand der Vegetation, der unbekannten Krankheit der Menschen und Tiere und dem unerklärlichen Tod von Merwin und Zenas in dem vergifteten Brunnen entdecken. Sie wußten natürlich von den Gerüchten, die in der ganzen Umgebung im Umlauf waren, aber sie wollten nicht glauben, daß etwas geschehen war, das den Naturgesetzen widersprach. Kein Zweifel, der Meteor hatte den Boden vergiftet, aber die Krankheit der Menschen und Tiere, die nichts gegessen hatten, was auf diesem Boden gewachsen war, stand auf einem anderen Blatt. War es das Brunnenwasser? Sehr gut möglich. Es würde sich lohnen, es zu analysieren. Aber welche eigenartige Geistesschwäche konnte die beiden Jungen dazu gebracht haben, in den Brunnen zu springen? Sie hatten sich so gleichartig verhalten – und die Überreste zeigten, daß sie beide den grauen, spröden Tod erlitten hatten. Warum war alles so grau und spröde? Der Leichenbeschauer, der an dem Fenster zum Vorgarten saß, bemerkte als erster das Leuchten um den Brunnen. Es war inzwischen vollends Nacht geworden, und rings um das Haus schien die Erde noch von einem anderen Glanz als den launen haften Mondstrahlen schwach zu leuchten; aber dieses neue Licht war klar und deutlich zu sehen; es schien wie der ge dämpfte Strahl eines Scheinwerfers aus dem schwarzen Loch aufzusteigen und spiegelte sich schwach in den Pfützen, die das aus dem Brunnen geschöpfte Wasser gebildet hatte. Es hatte eine äußerst merkwürdige Farbe, und als alle Männer ans Fenster drängten, fuhr Ammi entsetzt zusammen. Denn dieser gräßliche, widernatürliche Lichtstrahl war von einer Färbung, die ihm keineswegs unbekannt war. Er hatte diese Farbe schon einmal gesehen und wagte nicht darüber nachzudenken, was dies bedeuten mochte. Er hatte sie in der widerlichen kleinen Kugel in jenem Meteoriten vor zwei Sommern gesehen, hatte sie in den verrückten Frühlingspflanzen gesehen und glaubte sie auch am Morgen dieses Tages einen Augenblick lang durch 259
das vergitterte Fenster jener Dachkammer gesehen zu haben, in der Unsagbares geschehen war. Sie hatte dort für eine Sekunde aufgeleuchtet, und ein kühler, unangenehmer Pesthauch war an ihm entlanggestrichen – und dann war der arme Nahum von etwas getroffen worden, das diese Farbe gehabt hatte. Das hatte er am Schluß gesagt - daß es wie die kleine Kugel und die Pflanzen gewesen sei. Danach waren die Pferde durchgegangen und etwas war in den Brunnen gefallen - und jetzt spie dieser Brunnen einen fahlen, heimtückischen Lichtstrahl von derselben dämonischen Farbe in die Nacht. Es spricht für Ammis Geistesgegenwart, daß er sogar in diesem gespannten Augenblick über eine Frage nachdachte, die eigentlich wissenschaftlicher Natur war. Er wunderte sich darüber, daß ein flüchtiger Schleier hinter einem vom Morgenlicht durchfluteten Fenster und ein nächtlicher Brodem, der als phosphoreszierender Nebel gegen eine schwarze, verbrannte Landschaft zu sehen war, genau denselben optischen Eindruck hinterließen. Das war nicht in Ordnung – es war gegen die Natur –, und er dachte an jene schrecklichen letzten Worte seines unglücklichen Freundes, »es is von woher gekommen, wo die Sachen nich so sind wie hier . . . einer von den Professoren hat's gesagt. . .« Die drei Pferde, die draußen an ein verkrümmtes Bäumchen gebunden waren, begannen plötzlich wild zu wiehern und zu stampfen. Der Fahrer der Kutsche wandte sich zur Tür, um nach ihnen zu sehen, aber Ammi legte ihm seine zittrige Hand auf die Schulter. »Geh'n Sie nicht raus«, flüsterte er. »Da ist was, das verstehen wir nicht. Nahum hat gesagt, in dem Brunnen lebt was, das einem das Leben aussaugt. Er hat gesagt, es muß was aus einer runden Kugel sein, genau wie die, die wir alle in dem Meteorstein gesehen haben, der vor einem Jahr im Juni runtergefallen ist. Es saugt und brennt, hat er gesagt, und ist bloß eine Farbwolke, so wie das Licht da draußen, die man kaum sehen kann und wo man nicht weiß, 260
was es ist. Nahum hat gedacht, es ernährt sich von allem Lebendigen und wird immer stärker. Er hat gesagt, er hat's erst diese Woche noch gesehen. Es muß was sein, was von weither aus dem Himmel gekommen ist, genau was die Leute vom College letztes Jahr von dem Meteorstein gesagt haben. Das Zeug, aus dem es gemacht ist, und die Art, wie es funktioniert, sind nicht von dieser Welt. Es ist was von außerhalb.« So hielten die Männer unschlüssig inne, während das Licht vom Brunnen sich verstärkte und die angebundenen Pferde im mer heftiger stampften und wieherten. Es war wahrhaftig ein furchtbarer Augenblick; das Grauen in diesem uralten, fluchbe ladenen Haus, vier Häufchen grausiger Überreste – zwei aus dem Haus und zwei aus dem Brunnen – im Holzschuppen hinter dem Haus, und vorne diese gräßliche, phosphore szierende Lichtsäule aus den glitschigen Tiefen. Ammi hatte den Fahrer impulsiv zurückgehalten, weil er nicht daran gedacht hatte, daß er selbst ja die Berührung mit dem Pesthauch in der Dachkammer unversehrt überstanden hatte; aber vielleicht hatte er doch richtig gehandelt. Denn niemand wird jemals erfahren, was in dieser Nacht umging; und obwohl diese blasphemische Erscheinung bis dahin keinen Menschen verletzt hatte, der bei klarem Verstand war, konnte man nicht wissen, was sie in jenen letzten Augenblicken nicht noch hätte tun können, denn sie wuchs jetzt mit solcher Stärke dem bewölkten, mondhellen Himmel entgegen, daß ein schrecklicher Höhepunkt unmittelbar bevorzustehen schien. Plötzlich fuhr einer der Polizisten, der am Fenster stand, mit einem unterdrückten Aufschrei zusammen. Die anderen sahen ihn erschrocken an, und ihre Augen folgten seinem Blick zu einem Punkt, auf den er wie gebannt zu starren schien. Es bedurfte keiner Worte. Was bisher selbst die Klatschweiber auf dem Lande nicht so recht geglaubt hatten, war jetzt unbestreitbare Wirklichkeit. Und was alle Augenzeugen später übereinstimmend erzählten, ist der Grund dafür, daß über die 261
seltsamen Tage nie jemand in Arkham spricht. Es muß vorausgeschickt werden, daß es windstill war. Später erhob sich zwar ein Wind, aber zu diesem Zeitpunkt regte sich noch kein Lüftchen. Nicht einmal die trockenen Spitzen der verkümmerten Wegranke und die Fransen am Verdeck der Kutsche verrieten die leiseste Bewegung. Aber trotz dieser bedrückenden, gottlosen Stille bewegten sich die langen, kahlen Äste aller Bäume im Garten. Unter unnatürlichen, krampfhaften Zuckungen krümmten sie sich in konvulsivi schem, epileptischem Wahn den mondhellen Wolken entgegen und peitschten ohnmächtig die verpestete Luft, als seien sie un trennbar mit wesenlosen, unterirdischen Scheusalen verbunden, die unter ihren schwarzen Wurzeln zuckten und zerrten. Ein paar Sekunden lang wagte keiner der Männer zu atmen. Dann schob sich eine dickere Wolke vor den Mond, und die Silhouette der himmelwärts gekrümmten Zweige verblaßte. Da schrien sie plötzlich auf – gleichzeitig und alle mit fast derselben vom Schreck erstickten, heiseren Stimme. Denn mit der Silhouette war keineswegs auch das Grauen verblaßt, und in einem bangen Moment tieferer Finsternis sahen sie in Höhe der Baumwipfel tausend kleine Punkte einer schwachen, unheimlichen Strahlung, die aus den Spitzen der Zweige züngelten wie Elmsfeuer oder die Flammen, die zu Pfingsten auf die Häupter der Apostel herabkamen. Es war ein makabres Geflimmer unnatürlichen Lichts, wie ein satter Schwärm aasfressender Feuerfliegen, der höllische Sarabanden über einem verwunschenen Sumpf tanzt; und seine Farbe war dieselbe namenlose Blasphemie, die Ammi kennen und fürchten gelernt hatte. Währenddessen wurde die Lichtsäule über dem Brunnen heller und heller und erfüllte die Seelen der dicht beieinanderstehenden Männer mit einem Gefühl der Verderbnis und der Abnormität. Das Licht leuchtete nicht mehr, es schoß aus der Tiefe empor; und der formlose Strahl unbestimmbarer Farbe, der unablässig aus dem Brunnen kam, 262
schien direkt in den Himmel aufzusteigen. Der Tierarzt schauderte und ging zur Vordertür, um noch zusätzlich den großen Riegel vorzuschieben. Ammi zitterte nicht weniger, und weil seine Stimme versagte, mußte er die anderen am Ärmel zupfen und mit dem Finger hinausdeuten, um ihre Aufmerksamkeit auf die verstärkte Lumineszenz der Bäume zu lenken. Das Wiehern und Stampfen der Pferde war im höchsten Grad schrecklich geworden, aber kein einziger der Männer in diesem alten Haus hätte sich für irgendeinen irdischen Lohn hinausgewagt. Das Leuchten der Bäume verstärkte sich zusehends, während sie ihre rastlosen Zweige immer steiler emporzurecken schienen. Jetzt begann das Holz des Wippbaumes zu leuchten, und gleich darauf deutete einer der Polizisten stumm auf ein paar hölzerne Schuppen und Bienenstöcke in der Nähe der Steinmauer an der Westseite. Auch sie begannen zu leuchten, während die angebundenen Fahrzeuge bis jetzt noch nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Dann hörten sie von der Straße her wildes Geratter und Hufgetrappel, und als Ammi die Lampe löschte, damit sie mehr sehen konnten, stellten sie fest, daß die beiden Grauschimmel in ihrer Panik das Bäumchen ausgerissen hatten und mit der Kutsche durchgegangen waren. Der Schock löste die Zungen, und die Männer begannen beklommen miteinander zu flüstern. »Es breitet sich über alles Organische aus, das es hier gibt«, murmelte der Amtsarzt. Niemand antwortete, aber der Mann, der in den Brunnen hinabgestiegen war, meinte, seine Stange müsse etwas Ungreifbares aufgerührt haben. »Es war schrecklich«, fügte er hinzu. »Es kam einfach kein Grund, nur Schleim und Blasen und das Gefühl, daß irgend etwas sich dort unten verbarg.« Ammis Pferd stampfte und wieherte noch immer ohrenbetäubend auf der Straße draußen und übertönte fast die zittrige Stimme seines Besitzers, als er seine unzusammenhängenden Überlegungen vor sich hinmurmelte. »Es ist aus diesem Stein gekommen - es ist dort unten 263
gewachsen - es hat alles Lebendige erfaßt - es nährt sich von ihnen, Körper und Geist – Thad und Merwin, Zenas und Nabby - Nahum war der letzte – sie alle haben das Wasser getrunken – es hat sie überwältigt - es ist aus dem Jenseits gekommen, wo die Dinge nicht so sind wie hier - jetzt kehrt es zurück -« In diesem Augenblick, als die seltsam gefärbte Lichtsäule plötz lich stärker aufloderte und undeutlich eine phantastische Form anzunehmen schien, die später jeder der Augenzeugen anders beschrieb, kam von dem armen Hero ein Schrei, wie ihn nie zuvor oder danach ein Mensch von einem Pferd gehört hat. Alle, die in der niedrigen Wohnstube versammelt waren, hielten sich die Ohren zu, und Ammi wandte sich entsetzt und angeekelt vom Fenster ab. Worte konnten es nicht beschreiben - als Ammi wieder hinausschaute, lag die unglückliche Kreatur unbeweglich und zusammengeschrumpft auf der mondbeschie nenen Erde zwischen den zersplitterten Deichseln des Wagens. Das war das letzte, was sie von Hero sahen, bis sie ihn am nächsten Tag begruben. Aber jetzt war keine Zeit zum Trauern, denn fast im selben Augenblick machte einer der Polizisten sie auf etwas Schreckliches in eben diesem Zimmer aufmerksam, in dem sie sich befanden. Jetzt, da das Licht der Lampe fehlte, wurde offenbar, daß eine schwache Phosphoreszenz das ganze Zimmer zu durchdringen begann. Sie glimmte auf den breiten Bodendielen und dem kleinen Fleckerlteppich und schimmerte auf den Rahmen der kleinen Fenster. Sie lief an den freiliegenden Eckbalken auf und ab, funkelte um den Kaminsims und infizierte sogar Türen und Möbel. Jede Minute, die verging, sah sie stärker werden, und schließlich war es klar, daß gesunde Lebewesen dieses Haus verlassen mußten. Ammi zeigte ihnen die Hintertür und den Weg durch die Felder hinauf zu der zehn Morgen großen Weide. Sie gingen und stolperten wie im Traum und wagten nicht, sich umzuschauen, bis sie weit weg auf dem erhöhten Feld waren. Sie waren froh über diesen Fluchtweg, denn niemals hätten sie 264
vorne hinausgehen können, vorbei an diesem Brunnen. Es war schon schlimm genug gewesen, an der leuchtenden Scheune und den Schuppen vorbeigehen zu müssen, und durch die glänzenden Obstbäume mit ihren knorrigen, diabolischen Umrissen; aber gottlob hatten die Äste steil nach oben gestanden. Der Mond verschwand hinter finsteren Wolken, als sie auf der alten Holzbrücke Chapman's Bach überquerten, und von dort aus mußten sie sich im Finstern ihren Weg zu den Wiesen ertasten. Als sie in das Tal und auf das ferne Gardner-Anwesen zurückschauten, bot sich ihnen ein erschreckender Anblick. Die ganze Farm leuchtete von dem gräßlichen, unerklärlichen Farbengemisch: Bäume, Gebäude, und sogar das Gras und das Laub, soweit es nicht schon diese tödliche, graue Sprödigkeit angenommen hatte. Die Zweige bogen sich alle himmelwärts, an den Spitzen mit widerwärtigen Flämmchen besetzt, und züngelnde Tropfen desselben monströsen Feuers krochen über die Firstbalken des Hauses, der Scheune und der Schuppen. Es war eine Szene aus einer der Visionen von Füßli, und über allem anderen herrschte dieser Aufruhr leuchtender Formlosigkeit, dieser fremdartige, dimensionslose Regenbogen kryptischen Giftes aus dem Brunnen - brodelnd, tastend, schlürfend, greifend, glitzernd, zerrend und bösartig blubbernd in seinem kosmischen, unbestimmbaren Chromatismus. Dann plötzlich, ohne jede Vorwarnung, schoß das Ding vertikal in den Himmel, wie eine Rakete oder ein Meteor, ließ keine Spur zurück und verschwand durch ein rundes und merkwürdig regelmäßiges Loch in den Wolken, bevor auch nur einer der Männer einen Laut des Erstaunens über die Lippen brachte. Keiner, der es sah, wird diesen Anblick je vergessen, und Ammi schaute benommen auf die Sterne des Schwans, mit dem funkelnden Deneb über den anderen, wo die unbekannte Farbe mit der Milchstraße verschmolzen war. Aber sein Blick wurde im nächsten Moment zur Erde zurückgezogen, durch ein 265
Prasseln unten im Tal. Nichts weiter. Nur ein reißendes, prasselndes Geräusch, und nicht ein Explosionsknall, wie hinterher viele der anderen Augenzeugen beteuerten. Aber das Ergebnis war dasselbe, denn in einem fieberhaften, kaleidoskopischen Moment brach aus der verdammten, fluchbeladenen Farm ein leuchtender, eruptiver Kataklysmus unnatürlicher Funken und Stoffteilchen hervor, der die wenigen Beobachter blendete und einen gewaltigen Wolkenbruch solch farbiger und phantastischer Fragmente zum Zenit sandte, wie sie unser Universum notwendigerweise verleugnen muß. Durch schnell sich wieder schließende Wolken folgten sie dem anderen morbiden Ding, das schon vorher verschwunden war, und innerhalb einer Sekunde waren auch sie verschwunden. Hinter und unter den Männern war nur eine Dunkelheit, in die sie nicht zurückzugehen wagten, und überall war ein immer stärker werdender Wind, der in schwarzen, eisigen Stößen aus dem interstellaren Raum herabzuwehen schien. Er pfiff und heulte und peitschte die Felder und die entstellten Wälder in wahnsinniger, kosmischer Wut, bis alsbald das zitternde Grüppchen einsah, daß es keinen Sinn hatte, darauf zu warten, daß der Mond sichtbar machen würde, was dort unten auf Nahums Grund übriggeblieben war. Zu benommen, um irgendwelche Theorien auch nur anzudeuten, trotteten die sieben Männer auf der nördlichen Straße nach Arkham zurück. Ammi war schlechter daran als seine Gefährten und bat sie, noch in sein Haus mitzukommen, anstatt gleich zur Stadt zurückzugehen. Er wollte nicht alleine auf der Hauptstraße durch den verbrannten Wald nach Hause gehen. Denn er hatte noch einen zusätzlichen Schock erlitten, der den anderen erspart geblieben war, und war für immer mit einer lauernden Angst geschlagen, über die er viele Jahre lang mit niemandem zu sprechen wagte. Als die anderen Beobachter auf dieser stürmischen Anhöhe ihre Gesichter stumpf der Straße zugewandt hatten, hatte Ammi einen Augenblick auf 266
das dunkle Tal der Verwüstung zurückgeschaut, in dem noch vor so kurzer Zeit sein unseliger Freund gelebt hatte. Und von diesem weit entfernten, heimgesuchten Ort sah er etwas schwach sich erheben, nur um gleich wieder an der Stelle herabzusinken, von der aus die gräßliche Farbwolke in den Himmel geschossen war. Es war nur eine Farbe – aber keine der bekannten Farben zwischen Himmel und Erde. Und weil Ammi diese Farbe kannte, und weil er wußte, daß dieses schwache Überbleibsel noch immer dort unten im Brunnen lauern mußte, ist er seitdem nie mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Ammi würde nie mehr in die Nähe dieses Ortes gehen. Es ist jetzt vierundvierzig Jahre her, daß das Schreckliche geschah, aber er ist nie mehr dort gewesen und wird froh sein, wenn der neue Stausee alles zudeckt. Auch ich werde froh sein, denn es gefiel mir gar nicht, wie das Sonnenlicht über dem verlassenen Brunnenloch seine Farbe veränderte, als ich daran vorbeikam. Ich hoffe, das Wasser wird immer sehr tief sein - aber auch dann werde ich es nie trinken. Ich glaube kaum, daß ich jemals wieder in die Gegend von Arkham kommen werde. Drei der Männer, die bei Ammi gewesen waren, kehrten am nächsten Morgen zurück, um die Ruinen bei Tageslicht anzusehen, aber sie fanden keine wirklichen Ruinen. Nur die Ziegel des Kamins, die Steine des Fundaments, ein paar mineralische oder metallene Reste hier und dort und die gemauerte Einfassung dieses abscheulichen Brunnens. Abgesehen von Ammis totem Pferd, das sie wegschleiften und eingruben, und dem Wagen, den sie ihm bald darauf zurückbrachten, war alles, was dort je gelebt hatte, spurlos verschwunden. Fünf Morgen unheim licher, staubiger, grauer Wüste blieben zurück, und seitdem ist dort nie mehr etwas gewachsen. Bis zum heutigen Tag bietet sich das Gelände offen dem Himmel dar wie ein großer, von einer Säure kahlgefressener Fleck in den Wäldern und Feldern, und nur wenige haben es bisher gewagt, ihn anzuschauen, 267
obwohl er in den Erzählungen der Landleute den Namen »verfluchte Heide« bekommen hat. Diese Erzählungen sind sonderbar. Sie wären wohl noch sonderbarer, wenn Leute aus der Stadt und die CollegeChemiker dazu gebracht werden könnten, das Wasser aus dem verlassenen Brunnen zu analysieren, oder auch den grauen Staub, den kein Wind aufzuwirbeln scheint. Auch Botaniker sollten die verkümmerte Flora am Rande dieses Fleckens studieren, denn dies könnte Aufschluß geben über die landläufige Meinung, daß der Gifthauch sich ausbreitet, ganz allmählich, vielleicht um einen Zoll pro Jahr. Die Leute sagen, das Laub der umstehenden Bäume hat im Frühjahr nicht die richtige Farbe und das Wild hinterläßt merkwürdige Spuren auf der dünnen winterlichen Schneedecke. Der Schnee ist auf der verfluchten Heide nie so tief wie anderswo. Pferde – die wenigen, die in diesem motorisierten Zeitalter übriggeblieben sind - scheuen in dem stillen Tal; und die Jäger können sich nicht mehr auf ihre Hunde verlassen, wenn sie zu sehr in die Nähe dieses mit grauem Staub bedeckten Flecks geraten. Man sagt, auch die seelischen Einflüsse seien sehr schädlich; viele Leute wurden ein bißchen wunderlich in den Jahren nach Nahums Untergang, und sie alle hatten nicht mehr die Kraft wegzugehen. Dann verließen die geistig robusteren Leute alle die Gegend, und nur die Ausländer versuchten, in den verfallenden alten Häusern zu wohnen. Aber sie konnten nicht bleiben; und man fragt sich manchmal, welche für uns verschlossenen Einsichten sie aus ihren wilden, unheimlichen Geistergeschichten gewonnen haben. Ihre nächtlichen Träume, so beklagen sie sich, seien schrecklich in dieser grotesken Umgebung; und wirklich genügt allein der Anblick dieses dunklen Reiches, um phantastische Wahnvorstellungen hervorzurufen. Kein Reisender konnte sich je diesem merkwürdigen Gefühl der Beunruhigung in diesen tiefen Schluchten entziehen, und die Künstler schaudern, wenn sie die 268
dichten Wälder malen, deren Geheimnis den Geist ebenso wie das Auge umfängt. Ich selbst wundere mich über das Gefühl, das ich bei meinem einsamen Gang verspürte, bevor Ammi mir seine Geschichte erzählte. Als die Dämmerung hereinbrach, hatte ich den undeutlichen Wunsch gehabt, ein paar Wolken möchten aufziehen, denn eine merkwürdige Angst vor dem offenen Himmel über mir hatte sich in meine Seele geschlichen. Fragen Sie mich nicht nach meiner Meinung. Ich weiß es nicht – das ist alles. Außer Ammi gab es niemanden, den ich hätte fragen können; denn die Leute in Arkham sprechen nicht über die seltsamen Tage, und alle drei Professoren, die den Meteoriten und seine farbige Kugel sahen, sind tot. Es waren noch mehr solcher Kugeln da - verlassen Sie sich darauf. Eine mußte sich genährt haben und entschwunden sein, und wahrscheinlich gab es noch eine andere, die sich verspätet hatte. Zweifellos ist sie noch immer tief unten im Brunnen; ich weiß, irgend etwas stimmte nicht mit dem Sonnenlicht, das über dem stinkenden Wasser spielte. Die Bauern sagen, der Pesthauch kriecht jedes Jahr um einen Zoll weiter, also findet vielleicht auch jetzt noch eine Art Wachstum oder Ernährung statt. Aber was für eine dämonische Macht dort auch brütet, sie muß an irgend etwas gefesselt sein, sonst würde sie sich schneller ausbreiten. Ist sie an die Wurzeln der Bäume geheftet, die sich mit ihren Ästen in die Luft krallen? Eines der in Arkham umlaufenden Gerüchte betrifft knorrige Eichen, die in der Nacht leuchten und sich bewegen, wie sie es eigentlich nicht tun dürften. Was es wirklich ist, weiß Gott allein. Physikalisch ausgedrückt würde ich sagen, daß das, was Ammi beobachtete, ein Gas genannt werden dürfte, daß aber dieses Gas Gesetzen gehorchte, die in unserem Kosmos nicht gültig sind. Es war keine Frucht solcher Welten und Sonnen, wie sie in den Teleskopen und auf den photographischen Platten unserer 269
Observatorien zu sehen sind. Es war kein Hauch von den Himmeln, deren Bewegungen und Dimensionen unsere Astronomen vermessen oder die ihnen zu unendlich für irgendeine Messung erscheinen. Es war eine Farbe von außerhalb allen Raumes – ein fürchterlicher Sendbote aus formlosen Bereichen der Unendlichkeit jenseits aller uns bekannten Natur. Aus Bereichen, deren bloße Existenz unseren Verstand betäubt und uns erstarren läßt unter den außerkosmi schen Tiefen, die sich vor unseren entsetzten Augen auftun. Ich bezweifle sehr, daß Ammi mich bewußt anlog, und ich glaube nicht, daß seine Erzählung nur eine Ausgeburt seines verwirrten Geistes war, wie die Leute in der Stadt mir warnend vorhergesagt hatten. Irgend etwas Schreckliches kam in der Gestalt dieses Meteors auf die Hügel und Täler herab, und irgend etwas Schreckliches ist davon zurückgeblieben – wenn ich auch nicht weiß, in welchem Ausmaß. Ich werde mit Freuden die Wassermassen kommen sehen. Inzwischen hoffe ich, daß Ammi nichts zustößt. Er sah soviel von dem Ding und seine Wirkung war so heimtückisch. Warum konnte er sich nie dazu aufraffen, aus dieser Gegend wegzuziehen? Und wie genau er sich an Nahums letzte Worte erinnerte – »kannst nich loskommen – zieht dich – du weißt, irgendwas kommt, hat aber keinen Zweck –«. Ammi ist so ein netter alter Mann – wenn die Arbeitskolonne mit dem Bau des Stausees beginnt, muß ich dem leitenden Ingenieur schreiben, daß er ein Auge auf ihn haben soll. Der Gedanke ist mir verhaßt, ihn mir als die graue, verkrümmte, spröde Mißgestalt vorstellen zu müssen, die mich immer öfter in meinen Träumen heimsucht.
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Jean Ray Der Friedhofswächter Aus welchem Grund ich Friedhofswächter in Saint-Guitton wurde, Herr Untersuchungsrichter? Ja, mein Gott: Hunger und Kälte. Stellen Sie sich einen Mann vor, der in einem Sommeranzug die sechzig Kilometer von der Stadt, in der man ihm jegliche Arbeit und Hilfe verweigert hatte, bis zu der anderen, in die er seine letzte Hoffnung setzte, zu Fuß zurückgelegt hat. Stellen Sie sich ihn vor, wie er von gefrorenen, nach Jauche stinkenden Karotten gelebt hat und den sauren, steinharten Äpfeln, die jemand auf dem Gras eines verlassenen Obstgartens vergessen hatte; stellen Sie sich ihn vor, durchnäßt vom Oktoberregen, gebeugt unter den Stößen des anstürmenden Nordwinds, dann sehen Sie den Mann vor sich, der ich bei meiner Ankunft im Vorort Ihrer unheimlichen Stadt war. Ich betrat das erste Haus, die Herberge >Zu den zwei Regen pfeifern<, wo mich der barmherzige Wirt mit heißem Kaffee, Brot und einem Bückling labte; der brave Mann erzählte mir, daß einer der Friedhofswächter von Saint-Guitton seinen Posten aufgegeben habe und man einen Nachfolger für ihn suche. Warum sollte ich mich vor den Toten fürchten? Die Lebenden hatten mich so sehr gepeinigt! Konnten die Toten schlimmer sein? Ich will Ihnen meine Freude darüber nicht verhehlen, daß ich von den beiden anderen Wächtern, die auf dem Friedhof und für die damit verbundenen Angelegenheiten unbeschränkte Vollmacht zu besitzen schienen, auf der Stelle für den Posten angenommen wurde. Ich bekam sofort warme Kleidung und eine Mahlzeit. Und was für eine Mahlzeit! Dicke rote Fleischschnitten, von Saft triefende Pasteten, reichliche Mengen goldbraun gebratener 271
Fischchen. Ein paar Worte noch über den Friedhof von Saint-Guitton; es ist ein riesiges Feld der Ruhe, auf dem seit zwanzig Jahren kein Mensch mehr begraben wird. Die Grabsteine sind bröcklig, ihre Inschriften von Moos und Regen zerfressen. Manche Grabdenkmäler sind verfallen, andere durch Einsturz teilweise im Erdboden verschwunden, aus dem nur wenige Zentimeter grauen Steins hervorgucken. Die Alleen sind von einer Art spärlichem Buschwerk überwuchert, die Rasenflächen erinnern an einen Urwald. Die Stadtgemeinde, die arm ist und nun ihre Toten auf dem riesigen neuen Ostfriedhof zur ewigen Ruhe bestattet, hatte die Hoffnung gehegt, die alte Totenstadt in ein Industriegebiet umzuwandeln. Doch die Fabrikanten wollten sie nicht haben, wahrscheinlich waren sie ebenso abergläubisch wie die Vorortbewohner, die abends vor ihren kleinen Koksöfen sitzen, und wenn sie hören, wie der Wind heulend durch die Eiben des Friedhofs von Saint-Guitton streicht, grausige Gespenstergeschichten erzählen. Vor acht Jahren änderte sich die Sachlage. Die steinreiche Fürstin Opoltschenska – aus russischem oder bulgarischem Adel – schlug kurze Zeit vor ihrem Tod der Stadt vor, sie wolle den außer Betrieb befindlichen Friedhof für eine phantastische Summe kaufen, unter der Bedingung, daß sie dort ihr Grab haben könne und als letzter Mensch auf dem Friedhof bestattet würde. Sie fügte noch hinzu, daß der Friedhof Tag und Nacht von drei Wächtern behütet werden solle, für die Spesen werde sie testamentarisch Vorsorgen. Zwei ihrer alten Diener wurden dafür bestimmt, ein dritter Mann sollte hinzukommen. Ich wiederhole es: die Gemeinde war arm; sie erklärte sich sogleich mit dem Vorschlag einverstanden. Alsbald machte sich eine Menge Arbeiter daran, im entlegensten Winkel des Friedhofs ein Mausoleum von der 272
Größe eines kleinen Palastes zu bauen; zugleich wurde die Umgrenzungsmauer auf das Dreifache ihrer Höhe gebracht. Kaum war das Mausoleum fertiggestellt, wurden die sterbli chen Überreste der Fürstin darin beigesetzt. Die Welt hatte in der ganzen Sache nur eine gewisse Originalität gesehen; die Millionärin hatte sich mit ungeheuer wertvollem Schmuck begraben lassen und wollte offenbar ihre letzte Ruhestätte vor Leichenfledderern schützen. Nun also meine Geschichte: Die zwei Wächter bereiteten mir einen vortrefflichen Empfang. Es sind Riesen mit Bulldogg-Gesichtern, aber sie müssen brave Jungen sein, denn ich sah, wie erfreut und zufrieden sie über meinen glänzenden Appetit waren, und nur Menschen mit gutem Herzen schmunzeln über den Appetit der Armen. Bei Antritt meines Postens mußte ich schwören, die Vorschriften streng zu befolgen: Den Friedhof während der Dauer meiner Dienstzeit - ein Jahr - nicht zu verlassen, keine Verbindung mit der Außenwelt zu haben und auch keine zu suchen, ferner mich niemals dem Mausoleum der Fürstin zu nähern. Welitscho, dem die oberste Überwachung dieses Friedhofswinkels obliegt, machte mich aufmerksam, daß seine Weisung dahin ginge, auf jeden zu schießen, der sich dem Grab nähere. Bei diesen Worten brachte er seine Flinte auf einen Ast einer weit entfernten Pappel in Anschlag, auf dem ein winziger Schatten hüpfte. Der Schuß krachte, und ein Häher mit blau gesprenkeltem Gefieder fiel zu Boden. Welitscho war ein hervorragender Schütze. Das bewies er übrigens täglich, denn es wimmelte auf dem Friedhof von wilden Kaninchen, großen Wildtauben mit opal farbigen Federn und sogar Fasanen, die manchmal schnell ins dunkle Gebüsch flüchteten. 273
Der zweite Wächter, Ossip - er allein verließ bisweilen den Friedhof, um unseren Einkauf zu besorgen –, bereitete uns köstliche Wildgerichte zu. Ich erinnere mich da an eine Wildpastete in goldbrauner Sülze, die einem im Mund zerging, zartes Fleisch mit Cremesauce, Trüffeln, Pistazien und fein geschmortem Paprika. Meine Tage verlaufen unter Essen und Spaziergängen in dem traurigen Park, zu dem der Friedhof nunmehr geworden ist. Ich habe mir von Welitscho eine Flinte geliehen, bin jedoch ein so schlechter Schütze, daß ich nur dann und wann ein Echo verursache, das einige Sekunden lang wie eine jämmerliche Klage zwischen den vergessenen Gräbern hallt. Abends versammeln wir uns in unserem kleinen Wachzimmer rund um den Füllofen mit dem roten, boshaft lächelnden Glimmerauge. Draußen gibt es nichts als Wind und Dunkelheit; Ossip und Welitscho sprechen nur wenig. Sie kehren die Köpfe dem hohen Fenster, das von der Nacht schwarz verfärbt wird, zu und scheinen ständig auf der Lauer zu sein; aus den Mienen ihrer breiten Hundegesichter spricht tiefste Herzensangst. Warum? Ich lächle über den Aberglauben ihrer rauhen Seelen; im selben Moment fühle ich mich ihnen überlegen. Ja, weshalb fürchten sie sich? Draußen gibt es nichts als die Dunkelheit des Winternächte, nichts als das kreischende Klagen des Windes. Manchmal ertönt hoch oben am Himmel der Todesschrei nächtlicher Raubvögel, und wenn der Mond klein und strahlend in der Ecke des höchsten Fensters erscheint, höre ich, wie die Steine im Frost bersten. Gegen Mitternacht bereitet uns Ossip ein heißes Getränk zu, das er »Schur« oder »Skur« nennt. Es ist ein fast schwarzes Gebräu, das gut nach fremdartigen Krautern riecht. Ich trinke es mit höchstem Vergnügen; kaum 274
ist der letzte Schluck getan, erfüllt mich eine köstliche Wärme, ich spüre ein nie gekanntes Wohlbehagen, möchte lachen und sprechen, und wäre es auch nur, um eine zweite Tasse zu verlangen. Aber das kann ich plötzlich nicht mehr, denn vor meinen Augen beginnt ein vielfarbiges Rad sich zu drehen, und ich habe gerade noch Zeit, mich auf mein Feldbett zu werfen, auf dem ich sofort einschlafe. Nein, ich habe keine Angst vor der Nacht auf dem Friedhof. Was ich fürchte, ist die Langeweile, und das veranlaßt mich, ein Tagebuch zu führen oder, besser gesagt, meine Eindrücke aufzuzeichnen, denn dies ist eigentlich kein Tagebuch, da es weder Tages- noch Datumsbezeichnung enthält. Diesem Heft, Herr Untersuchungsrichter, entnehme ich alle Stellen, die sich auf mein schreckliches Abenteuer beziehen. Ich wollte Sie nicht nötigen, die poetischen Beschreibungen von schneeüberzogenen Gräbern oder meine Gedanken über Grieg und Wagner zu lesen, ebensowenig darüber, wem meine Vorliebe in der Literatur gilt, oder meine philosophischen Hirngespinste über Angst und Einsamkeit. Ossip und Welitscho verwöhnen mich! Diese Mahlzeiten sind großartig! Als ich letzthin nicht so viel Appetit hatte wie bei den anderen Mahlzeiten, zeigten sie sich beinahe lächerlich besorgt. Welitscho warf seinem Gefährten in übermäßig heftigen Ausdrücken vor, er habe sich bei der Bereitung der Mahlzeit weniger Mühe gegeben als gewöhnlich. Seither fragt mich Ossip dauernd, was mir schmeckt und wofür ich eine Vorliebe habe. Wirklich, es sind brave Kerle. Bei dieser Lebensweise müßte ich eigentlich fett werden wie eine Wachtel, doch davon ist keine Rede. Merkwürdig, manch mal finde ich sogar, ich sehe recht kränklich aus.
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Gestern hatte ich zum erstenmal so etwas wie Angst. Dabei muß ich gestehen, daß der Ursache kaum mehr als ein unangenehmes Zusammenzucken entsprochen hätte. Als ich in der Dämmerung aus einer kleinen Seitenallee kam, zerriß ein entsetzlicher Schrei die Stille. Ich glaube gesehen zu haben, wie Welitscho aus dem Wächterhaus kam und ins Unterholz rannte. Als ich zum Haus kam, sah ich Ossip, der aufmerksam die dunklen Sträucher beobachtete; als ich ihn fragte, was denn los sei, antwortete er mir, es sei eine Kronschnepfe gewesen. Und Welitscho brachte mir am nächsten Tag eine, die er geschossen hatte. Ein seltsames Tierchen mit einem langen, dolchartigen Schnabel und einem Schrei, der für ein so hübsches Vögelchen doch recht häßlich ist. Ich streichelte lachend seinen aschenfarbigen Flaum, doch mein Lachen klang falsch, und meine Beklemmung wich nicht so völlig, wie ich es gewünscht hätte. Meine Gesundheit ist entschieden nicht so glänzend, wie sie sein sollte. Ich esse aber doch wie ein Wolf, und Ossip kocht besser denn je. Aber morgens hält mich eine seltsame Erstarrung noch im Bett fest, während der Sonnenschein bereits auf den Scheiben spielt und ich den Peitschenknall von Welitschos Flinte und das Töpfeklappern Ossips höre. Hinter meinem Ohr fühle ich einen dumpf stechenden Schmerz. Als ich mir die Stelle im Spiegel genau ansehe, entdecke ich eine leichte Rötung rund um eine winzige Schwellung. Es ist eine kleine, unbedeutende Wunde, aber sie schmerzt sehr . .. Als ich heute auf der Pirsch hinter einer Wildtaube oder einer Schnepfe das Gebüsch durchsuchte, bewegte sich etwas in den Zweigen vor mir: ich sah einen prächtigen Fasan, der seinen schmalen Kopf zwischen zwei Zweiglein schob. Die 276
Gelegenheit war zu lockend, ich feuerte. Der verwundete Vogel flüchtete mit einem hängenden Flügel. Ich eilte ihm beherzt nach, und es begann eine lange Verfolgung; plötzlich blieb ich stehen und gab sie auf. Ich hatte soeben eine Stimme gehört. Sie war rauh und klagend; Worte in einer mir unbekannten Sprache, die jämmerlich und fast flehend klangen. Ich blickte mich um; hinter mir zeichnete sich eine dichte Hecke aus Zypressen und Tannen als dunkle Masse ab: das Grab der Fürstin. Ich befand mich auf verbotenem Boden. Ich dachte an die Warnung Welitschos und zog mich zurück – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er, barhäuptig und totenbleich, aus dem Nadelwäldchen trat. Als ich ihn am Abend betrachtete, sah ich eine lange häßliche Strieme auf seiner rechten Wange; es kam mir vor, als bemühe er sich, sie vor meinen Blicken zu verbergen. Es ist bald Mitternacht; meine zwei Gefährten würfeln. Plötzlich stockt mir das Herz einen Augenblick vor eisigem Schreck. Nahe, ganz nahe vorm Haus hat die Kronschnepfe geschrien. Ach, was für ein fürchterlicher Schrei! Als ob der ganze Friedhof von Saint-Guitton sein Entsetzen hinausschrie! Welitscho verharrte reglos wie eine Statue, den Lederbecher in der Hand; Ossip stürzte sich mit einem rauhen Aufschrei zu dem Herd, wo der »Schur« heiß gemacht wurde. Er stieß mir geradezu die Tasse zwischen die Finger, und ich sah, daß seine Hand zitterte . . . O weh, wie das schmerzt! Die rosa Schwellung hinter meinem Ohr hat sich vergrößert. Die kleine Wunde in der Mitte ist tiefer geworden, sie blutet! 277
Oh! das schmerzt! das schmerzt! das schmerzt! Gestern ging ich längs der Ostseite der Umgrenzungsmauer spazieren. Es ist eine unheimliche Stelle, zu der ich mich noch nie hingewagt hatte. Eine hohe Stecheichenhecke zog meine Blicke auf sich; sie lief von der Ost- zur Nordmauer und schloß somit ein dreieckiges Grundstück ab, das sich meinem Blick entzog. Welche seltsame Ahnung veranlaßte mich, die auf diese Art abgeschlossene Fläche sehen zu wollen? Es fiel mir sehr schwer, denn die Hecke war dicht, und die Blätter zerrissen mir, als wären sie Krallenhändchen, die Haut. In dem Gehege war nichts anderes zu sehen als acht Kreuze, deren Alter in gewissermaßen regelmäßiger Progression abnahm; das erste war also zerfressen und vom Regen verwaschen, das achte schien ganz frisch zu sein ... Sie sahen aus wie neue Gräber . . . In jener Nacht wurde mein Schlaf durch Alpträume gestört, mir war, als lastete ein gewaltiges Gewicht auf meiner Brust, und meine Wunde bereitete mir trotz meiner Betäubung gräßliche Schmerzen. Oh, ich fürchte mich . . . Es geht etwas vor; wie kommt es, daß ich es nicht schon früher bemerkt habe? Weder Ossip noch Welitscho trinken von dem »Schur«; heute morgen haben sie die drei Tassen auf dem Tisch vergessen, nur die meine enthielt Reste des Gebräus, ihre Tassen waren leer und trocken! Ich muß schlafen! Heute abend will ich wach bleiben, will sehen; ich habe den »Schur« getrunken, ich liege auf dem Feldbett. Ich will nicht schlafen, ich will nicht, mit meinem ganzen Willen, mit aller Kraft meines Hirns. Ach, ist das ein entsetzlicher Kampf gegen 278
den bleiernen, lähmenden Schlaf! Ossip und Welitscho betrachten mich. Sie glauben, ich schlafe. Noch eine Minute werde ich standhalten, vielleicht nur eine Sekunde . . . Gräßlich! Die Kronschnepfe hat vor dem Fenster geschrien. Oh, es ist etwas Fürchterliches, Entsetzliches geschehen . . .! Da ... ein Höllenantlitz hat sich an die Scheibe gepreßt. . . Schaurige, glasige Augen, Leichenaugen, schneeweiße, wie Lanzen starrende Haare und ein riesiger grinsender Mund mit schwarzen Zähnen, ein Mund, rot wie Feuer oder wie strömen des Blut. Dann drehte sich wieder das Feuerrad in meinem Kopf und der Schlaf, die Alpträume überfielen mich. Ich trinke den »Schur«, ich trinke ihn Abend für Abend. Sie bewachen mich wie Tiger, und ich spüre, daß Nacht für Nacht Gräßliches geschieht. Was? Das weiß ich nicht; ich kann nicht mehr denken, nur mehr leiden . . . Welche geheimnisvolle Macht hat mich wieder zu dem Gehege mit den Kreuzen getrieben? Als ich fortgehen wollte, blieb mein Blick an einem Stück Holz haften, das neben dem achten Kreuz aus dem Boden ragte. Ich zog es gedankenlos heraus: es war ein Brett, auf dem einige unbeholfen geschriebene Worte standen. Die Inschrift hatte sehr gelitten, dennoch vermochte ich sie zu lesen: Freund, wenn es dir nicht gelingt zu fliehen, wird hier dein Grab sein. Sieben haben sie schon umgebracht. Ich werde der achte sein, denn ich habe keine Kraft mehr, ich weiß nicht, was hier vorgeht. Es ist ein fürchterliches Geheimnis. Fliehe! Pierre Brunen Pierre Brunen! Ich erinnere mich, es ist der Name meines Vorgängers. Die acht Kreuze geben die Stellen der Gräber der 279
Hilfswächter an, die seit acht Jahren aufeinander gefolgt sind ... Ich habe versucht zu fliehen; ich erkletterte die Nordmauer an einer Stelle, wo ich einige Unebenheiten gefunden hatte. Ich war schon in die Nähe der scharfen Spitzen an der Mauerkrone gelangt, da plötzlich zersprang, zwei Zoll von meiner Hand entfernt, ein Stein, dann wieder einer und ein dritter. Unten stand Welitscho, zielte eiskalt mit seiner Flinte nach mir und seine Augen hatten den eisigen Glanz des Metalls, aus dem man die Totenglocken gießt. Ich ging nochmals zu dem Gehege mit den Kreuzen. Neben dem Kreuz Brunens ist ein frisches Grab ausgehoben. Das ist mein zukünftiges, baldiges Grab. Oh! Fliehen! Hunger und Kälte leiden auf feindseligen Straßen, nicht aber in diesem Geheimnis, in diesem Greuel zugrunde gehen! Doch sie bewachen mich, und ihre Blicke sind an mich ge schmiedet wie Ketten. Ich habe eine Entdeckung gemacht. Vielleicht wird das meine Rettung sein. Ossip gießt den Inhalt einer dunklen Phiole in den »Schur«: Wo mag er sie versteckt haben?. . . Ich habe die Phiole gefunden! Den Inhalt, eine farblose Flüssigkeit mit süßlichem Geruch, habe ich ihnen in den Tee gegossen . . . Heute abend werde ich handeln . . . Werden sie es merken? Wie mein Herz klopft, mein armes Herz! Sie trinken! Sie trinken! In meiner Seele scheint die Sonne. Als erster ist Ossip eingeschlafen. Welitscho blickte mich mit ungeheurem Staunen an, dann blitzten seine Augen grausam auf, seine Hand tastete nach seinem Revolver, doch er vermochte die Bewegung nicht zu Ende zu führen. Er fiel einschlafend auf den Tisch. 280
Ich nahm mir Ossips Schlüssel, doch als ich die schwere Pforte des Friedhofs aufschloß, fiel mir ein, daß meine Aufgabe nicht beendet war, daß es hinter mir ein Rätsel gab, welches man lösen, und acht Tote, die man rächen mußte, und daß ich vielleicht, solange die Wächter am Leben waren, teuflischen Verfolgungen ausgesetzt sein würde. Ich ging zurück, nahm Welitschos Revolver, hielt den Lauf hinter die Ohren der Wächter und drückte dort, an der gleichen Stelle, wo mir meine kleine Wunde so große Schmerzen bereitete, ab... Sie rührten sich nicht.
Nur Ossip durchfuhr ein heftiger Schauder.
Und ich wartete, neben den Leichen sitzend, allein auf das
Mitternachtsrätsel. Wie jeden Abend stellte ich die drei Tassen auf den Tisch. Ich setzte den Wächtern die Mützen auf und zog sie über die rote Wunde an ihren Köpfen; vom Fenster aus könnte man glauben, sie schlafen. Das Warten beginnt. Wie langsam doch die Zeiger der Uhr auf die Mitternacht, die allabendliche schreckliche Stunde des »Schur« zukriechen. Das Blut der Toten tröpfelt langsam, mit einem leisen Geräusch wie von fallenden Blättern nach einem Frühjahrsregen, auf die Fliesen nieder. Und die Kronschnepfe hat geschrien . . .
Ich legte mich auf mein Feldbett und tat so, als schliefe ich.
Da schrie die Kronschnepfe«näher.
Etwas streifte an die Fensterscheiben.
Stille . . .
Die Tür öffnete sich ganz leise.
Jemand oder etwas trat ins Zimmer.
Welch schauderhafter Leichengestank!
Schritte gleiten zu meinem Bett. . .
Und plötzlich lastet ein gewaltiges Gewicht auf mir. Scharfe
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Zähne verbeißen sich in meine schmerzende Wunde, und ent setzliche eisige Lippen saugen gierig mein Blut. Ich fahre brüllend hoch. Ein noch gräßlicheres Heulen antwortet mir. Oh, welch fürchterlicher Anblick! Ich brauche meine ganze Kraft, um nicht ohnmächtig zu werden! Zwei Schritte von meinem Gesicht entfernt starrt mir das seinerzeit am Fenster erschienene Alptraumgesicht entgegen, seine Augen schleudern Blitze, und aus seinem schauderhaft roten Mund rieselt Blut. Mein Blut. Ich habe begriffen. Die Fürstin Opoltschenska aus den rätsel haften Ländern, wo man die Existenz der Lemuren und Vampire nicht leugnen konnte, hat ihr jämmerliches Leben verlängert, indem sie das junge Blut von acht unglücklichen Wächtern trank! Nur eine Sekunde stutzte sie. Dann war sie mit einem Sprung über mir. Ihre Krallenhände bohrten sich in meinen Hals. Blitzschnell spie der Revolver seine letzten Kugeln aus, und das Vampirweib stürzte mit einem gewaltigen Todesröcheln, das die Wand mit schwarzem Blut bespritzte, auf den Boden. Und deshalb, Herr Untersuchungsrichter, werden Sie neben den Leichen von Welitscho und Ossip die Leiche der Fürstin Opoltschenska finden, die vor acht Jahren verschied und auf dem Friedhof von Saint-Guitton beigesetzt wurde.
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Edgar Allan Poe William Wilson »Kein Wort von ihm? Nichts vom Gewissensgrimm, dem Spuk auf meinem Pfad?« William Chamberlayne, >Pharronida<
Sei mir erlaubt, mich für den gegenwärtigen Zweck >William Wilson< zu nennen. Das mir jetzt vorliegende saubere Blatt braucht nicht mit meinem wahren Namen befleckt zu werden. Der ist schon allzusehr ein Gegenstand des Spotts - des Grauens – des Abscheus der ganzen Gattung. Haben nicht die unwilligen Winde seine beispiellose Schändlichkeit bis in die entferntesten Teile des Erdballs getragen? Oh, Ausgestoßener noch aus den verworfensten Ausgestoßenen! – bist Du der Erde nicht für immer tot? – ihren Ehrungen, ihren Blüten, ihrem goldenen Trachten? – und eine Wolke, dick düster und grenzenlos, hängt sie nicht ewig zwischen Deinen Hoffnungen und dem Himmel? Selbst wenn ich's könnte, möchte ich doch heut und hier nicht einen zusammenfassenden Bericht bringen über das unaussprechliche Elend, die unverzeihlichen Verbrechen meiner späteren Jahre. Jene Epoche – diese späteren Jahre – unterfingen sich einer jähen Eigenbewegung zu Gipfeln der Verworfenheit, über deren Ursprung Angaben zu machen, lediglich meine gegenwärtige Absicht ist. Gewöhnlich wird der Mensch schrittweise schlechter. Von mir fiel all- und jede Tugend schlagartig ab, wie ein Mantel. Von relativ geringfügigen Niederträchtigkeiten ging ich, mit dem Schritt eines Giganten, zu Ungeheuerlichkeiten über, schlimmer als Heliogabal. Welcher Zufall – welches erste Ereignis das Übel herbeiführte und auslöste, – man habe Geduld mit mir, während ich es berichte. Der Tod rückt näher; und der Schatten, der ihm vorangeht, hat einen besänftigenden Einfluß auf meinen Geist geübt. Ich sehne mich, bei meiner Wandrung 283
im finstern Tal, nach der Anteilnahme - beinah hätt' ich gesagt, nach dem Mitleid meiner Mitmenschen. Gern würde ich es sehen, wenn sie glauben könnten, daß ich in gewissem Maße der Sklave von Umständen gewesen bin, die außerhalb menschlicher Kontrolle liegen. Wünschen würde ich, daß aufgrund des Details, das zu liefern ich mich anschicke, sie inmitten der Wildnis meiner Verirrungen eine kleine Oase vorbestimmten Verhängnisses für mich ausfindig machten. Einräumen hören möchte ich sie – was einzuräumen sie nicht umhin können – nämlich daß, ob-schon gleichgroße Versuchungen vordem existiert haben mögen, zumindest noch nie ein einzelner Mensch vor mir so versucht worden – gewißlich aber noch nie so gefallen ist. Und liegt es daran, daß noch nie einer so gelitten hat? Habe ich nicht buchstäblich wie in einem Traum dahingelebt? Und sterbe ich nun nicht, als ein Opfer des Grauens und Mysteriums der wildesten aller Visionen unterm Mond? – Ich bin der Abkömmling eines Geschlechtes, dessen Temperament, sei es ob seiner leichten Erregbarkeit, sei es ob seiner Bildkraft, allzeit Aufsehen erregt hat; und schon in frühester Kindheit soll ich zu erkennen gegeben haben, daß ich die Familienmerkmale voll und ganz erbte. Wie ich zunahm an Jahren, entwickelten sie sich immer ausgeprägter und wurden, aus verschiedenen Gründen, eine Quelle ernster Beunruhigung für meine Freunde und positiven Schadens für mich selbst. Ich wurde eigenwillig, den wildesten Capricen ergeben, und überhaupt eine Beute der unlenksamsten Passionen. Meine Eltern, willensschwach und von ähnlich labiler Konstitution wie ich selbst, konnten nur wenig unternehmen, um die üblen Neigungen, die mich auszeichneten, in Schach zu halten. Einige schwächliche und ungeschickte Bemühungen in dieser Richtung endeten mit kompletten Fehlschlägen ihrer-, und ergo mit totalem Triumph meinerseits. Von da an war meine Stimme Gesetz im Hause; ich sah mich, in einem Alter wo erst 284
wenige Kinder des Gängelbandes ledig sind, der Leitung meines eigenen Willens überlassen; und wurde in allem, außer dem Namen nach, Herr meiner Handlungen. – Meine frühesten Erinnerungen an ein Schulleben sind mit ei nem großen, weitläufigen Elisabethanischen Gebäude, in einer immer neblig wirkenden ländlichen Ortschaft Englands ver knüpft, wo eine gewaltige Anzahl gigantischer knorriger Bäume herumstanden, und wo sämtliche Häuser im höchsten Grade altertümlich dreinschauten. Wahrlich, es war ein traumhaftes und beruhigendes Fleckchen Erde, dieses ehrwürdige alte Städtchen. Jetzt, im Augenblick noch, spüre ich etwas wie die erfrischende Kühle seiner tiefschattenden Alleen; atme ich den Wohlgeruch seiner tausend zieren Gesträuche; durchschauert mich erneut, mit unerfindlichem Entzücken, der gewölbte tiefe Ton der Kirchenglocke, wie er, jedwede Stunde, verdrossen unversehens aufgrollend, Stille und Dämmerdunst durchbrach, in die das Maßwerk des gotischen Spitzturmes eingebettet und verschlafen dalag. Es bereitet mir vielleicht so hohe Lust, wie ich sie überhaupt jetzt noch zu empfinden imstande bin, auf dem Kleindetail der Erinnerungen an meine Schule und deren Angelegenheiten zu verweilen. Mir, der ich im tiefsten Elend walle - einem Elend, ach, nur allzu wirklich - wird man die Schwäche verzeihen, daß ich Linderung, sei sie noch so leicht und vorübergehend, bei ein paar planlos-weitläufigen Einzelheiten suche. Sie haben über-dem - obschon ganz trivial, ja an sich sogar lachhaft - für mein Gefühl eine Art fatidiker Wichtigkeit angenommen, da sie gekoppelt sind mit einem Lebensabschnitt und einer Örtlichkeit, wo und wann ich nunmehr die ersten doppeldeutigen Warnzeichen jenes Schicksals erkenne, das mich späterhin so gänzlich überschattete. Man vergönne mir also die Erinnerung. Das Gebäude war, wie ich bereits sagte, alt und unregelmäßig. Das Grundstück selbst beträchtlich groß; und 285
eine hohe massive Ziegelmauer, gekrönt von einer Lage Mörtel mit Glasscherben darin, umgab die ganze Anlage. Diese gefängnismäßige Umwallung bildete die Grenze unseres Lebensraumes; was jenseits lag, bekamen wir nur drei Mal die Woche zu sehen – einmal jeglichen Sonnabend nachmittag; wo man uns, beaufsichtigt von zwei Unterlehrern, einen kurzen Klassenspaziergang durch die angrenzenden Felder gestattete – und zweimal sonntags; wo wir auf die gleiche förmliche Weise zum Morgen- beziehungsweise Abend-Gottesdienst in die einzige Kirche des Fleckens geführt wurden. Unser Schulrektor war gleichzeitig der Pastor dieser Kirche. Wie unverändert tief war das Gefühl des Staunens und der Verblüfftheit, mit dem ich ihm von unserm entlegnen Gestühl auf der Empore aus zusah, wie er so, gemessenen und feierlichen Schritts, zur Kanzel hinaufstieg! Dieser ehrwürdige Mann, das Antlitz so bescheiden und liebreich, der Talar so schimmernd und geistlich niederwallend, die Perücke so korrekt gepudert, so gesteift und mächtig – konnte er derselbe sein, der jüngsthin noch mit saurer Miene, die Kleidung fleckig vom Schnupftabak, in der Hand die Rute, die drakonischen Gesetze des Internats vollstreckte? Oh des gigantischen Paradoxons; allzu maßlos ungeheuerlich um je gelöst zu werden! Wo die plumpe Mauer einen Knick machte, dräute ein noch plumperes Tor. Es war verbolzt und besät mit dicken eisernen Nietenköpfen, und überragt von widerhakigen Eisenzinken. Welche Gefühle heil'ger Scheu flößt es uns ein! Nie tat es sich auf; es sei denn anläßlich der schon erwähnten drei regelmäßigfeierlichen Ein- und Auszüge; und dann, in jedem Knarr der starken Angeln, fand unsereins geheimnisfüllige Machtvollkommenheit - eine ganze Welt von Stoff für ehrerbietige Flüsteranmerkungen, oder für noch ehrerbietigere stille Betrachtungen. Der eingehegte große Bezirk war von unregelmäßiger Form und schloß zahlreiche geräumige Unterteilungen in sich, von 286
denen drei oder vier der größten Schulhof und Spielplatz bildeten. Sie waren planiert, und der Boden mit feinem hartem Kies bedeckt. Ich weiß genau, daß hier weder Bäume, noch Bänke, noch sonst etwas Ähnliches sich fand. Selbstverständlich waren sie auf der Rückseite des Gebäudes gelegen. Nach vorn hinaus lag ein kleines Vorgärtchen, bepflanzt mit Buchs und anderen Sträuchern; aber diese geheiligte Abteilung wurde von uns nur bei wirklich ganz seltenen Anlässen durchschritten – wie etwa bei der Erst aufnahme in die Schule oder beim endgültigen Abgang von derselben; oder allenfalls, wenn Eltern beziehungsweise Be kannte uns zu den Weihnachts- oder Großen Ferien abholten und wir freudenvoll den Weg nach Hause einschlugen. Aber das Haus selbst! - was für ein wunderliches altes Gebäude das war! – für mein Empfinden buchstäblich ein verzauberter Palast! Sie hatten tatsächlich kein Ende, seine Krümmungen und Windungen – und seine unbegreiflichen Unterteilungen nicht minder. Es war schwierig, zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt mit Bestimmtheit zu entscheiden, in welchem seiner zig Stockwerke man sich im Augenblick befände. Von jeglichem Raum in jedweden anderen konnte man sicher sein, drei oder vier Stufen anzutreffen, sei es hinauf oder hinunter. Dann die seitlichen Abzweigungen waren unzählbar – unvorstellbar – und gingen derartig ineinander über, so daß noch unsere korrektesten Vorstellungen von dem ganzen Hohl sich nicht allzusehr von denen unterschieden haben werden, die wir uns von der Unendlichkeit schlechthin machten. Zumindest ich bin während der fünf Jahre meines dasigen Aufenthaltes nie imstande gewesen, mit Bestimmtheit herauszubringen, in welch entfernter Ecke nun eigentlich der kleine Schlafsaal lag, der mir und einigen achtzehn oder zwanzig anderen Scholaren zugewiesen war. Das eigentliche Schulzimmer war das größte im Hause – ja, wie ich meinte, auf der ganzen Welt. Es war sehr lang, sehr 287
schmal und widerwärtig niedrig, mit gotischen Spitzbogenfen stern und einer Decke aus Eichenholz. In einer entlegenen und angsteinflößenden Ecke befand sich ein abgeteiltes Räumchen von acht oder zehn Fuß im Quadrat, das >während des Unterrichts< das Sanctum unsres Rektors, des Ehrwürdigen Doktor Bransby, bildete. Es handelte sich um eine solide Umfriedung mit einem massiven Türchen, das selbst während der Abwesenheit des >Domimie< zu öffnen, wir auch unter der peine forte et dure unbedingt verweigert hätten. In den andern Ecken befanden sich zwei ähnliche Verschlage, weit weniger verehrt, zugegeben; aber immerhin noch kultgegenständlich genug. Bei dem einen handelte es sich um das Katheder des >Klassischen<, bei dem andern um das des Unterlehrers für >Englisch und Mathematik<. Über den ganzen Raum verstreut, kreuz und quer in endloser Unregelmäßigkeit, schwärzlich, alt und abgenützt, aufs verwegenste von Türmen abgegriffener Bücher überragt, standen unzählige Schulbänke, die derart mit Kerbschnitt-Monogrammen oder auch ganzen Namen, grotesken Figuren und anderweitigen Leistungen des Taschenmessers übersät waren, daß sie das bißchen Zweckform, das in längst vergangnen Tagen allenfalls ihr eigen gewesen sein mochte, gänzlich eingebüßt hatten. Ein kolossaler Wasserzuber stand an dem einen, und eine Uhr von wundersamen Ausmaßen am andern Ende des Raumes. Umgeben von den massigen Mauern dieser altehrwürdigen Bildungsanstalt, verbrachte ich, doch nicht etwa unter Taedium oder Widerwillen, die Jahre des dritten Lustrums meines da seins. Die fruchtbare Einbildungskraft der Kindheit bedarf ja keiner ereignisreichen Außenwelt, um sich zu beschäftigen oder zu unterhalten; und die scheinbar trübselige Monotonie der Schule war gesättigt mit intensiveren Erregungen, als meine reiferen Jünglingsjahre sie dem Luxus, oder mein volles Mannesalter sie dem Verbrechen abgewonnen haben. Immerhin muß ich annehmen, daß meine frühe geistige 288
Entwicklung speziell viel vom Ungewöhnlichen – ja, sogar vom outre an sich hatte. Beim überwiegenden Teil der Menschheit hinterlassen die Ereignisse sehr früher Jahre im reifen Alter ja nur selten festumrissene Erinnerungsspuren. Alles ist grau und schattenhaft – ein schwaches und lückenhaftes Sichentsinnen – ein undeutliches Eingedenksein schwächlicher Genüsse und eingebildeter Pein. Bei mir ist das nicht so. Ich muß in meiner Kindheit mit der Energie eines Mannes dasjenige empfunden haben, was ich noch heute mei nem Gedächtnis in so lebendigen, tiefen und dauerhaften Linien wie in den exergues karthagischer Denkmünzen eingeprägt finde. Dabei, in Wahrheit - der Wahrheit, wie die Welt sie versteht -, wie wenig Erinnernswertes fiel doch eigentlich so an! Jeden Morgen das Aufwecken, allabendlich das ins Bett Komman diertwerden; das Auswendiglernen und Wiederhersagen; die regelmäßig wiederkehrenden freien Halbtage und Schulwande rungen; der Spielplatz mit all seinem Tumult, seiner Kurzweil, und seinen Cliquen-Ränken; – ihnen allen eignete, infolge eines längstverlernten mentalen Zaubertricks, eine wahre Wildnis von Empfindungen, eine Welt des reichsten Kleindetails, ein Universum vielfältigster Emotionen, von allerleidenschaftlichsten und geistaufrührerischsten 'regungen >Oh, le bon temps, que ce siede de fer!< Ohne Ruhm zu melden war es so, daß Feuer, Begeisterung und Anmaßlichkeit meiner Veranlagung mich sehr bald zu einer Zentralfigur unter meinen Schulkameraden machten; und mir in zwar langsamer, aber ganz organischer Stufenfolge ein Übergewicht über alle verschafften, die nicht gerade beträchtlich älter als ich selber waren; – über alle, mit 1 einzigen Ausnahme. Diese Ausnahme bestand in der Person eines Mitschülers, der, obschon nicht mit mir verwandt, den gleichen Vor- und Zunamen wie ich selbst trug; – ein, um ehrlich zu sein, nicht gerade frappierender Umstand; denn, 289
ungeachtet edler Abstammung, führte ich doch einen jener Allerweltsnamen, die infolge einer Art Verjährungsrecht seit undenklichen Zeiten das gemeinschaftliche Eigentum des Mob zu sein scheinen. In dem hier vorliegenden Rechenschafts bericht habe ich mich deshalb als >William Wilson< bezeichnet – ein fingierter Titel, dem richtigen nicht sehr unähnlich. Dieser mein Namensverwandter allein war es, der von allen, die in der Schülersprache >unsern Verein< ausmachten, sich herausnahm, mit mir in den Klassenfächern zu wetteifern – beim Sport und beim Toben auf dem Schulhof nicht minder – der es ablehnte, sowohl meinen Behauptungen absoluten Glauben zu schenken, als auch sich meinem Willen zu unterwerfen - kurzum, der meiner unbeschränkten Diktatur in jeder denkbaren Beziehung prinzipiell in die Quere kam. Und wenn es auf Erden einen extremsten und unbedingten Despotismus gibt, dann ist das ja der Despotismus eines hochbegabten Kindes über die weniger energischen Geister seiner Mitschüler. Wilsons Rebellion war für mich eine Quelle der verwirrendsten Verlegenheiten; – um so mehr als ich, der Renommisterei zum Trotz, mit der ich ihn und seine Anmaßungen in der Öffentlichkeit betont behandelte, insgeheim empfand, daß ich ihn fürchtete; auch konnte ich nicht umhin, die Ebenbürtigkeit mit mir, die er so mühelos behauptete, als Beweis seiner eigentlichen Überlegenheit zu werten; denn nicht überholt zu werden, kostete mich einen ständigen Kampf. Gleichwohl erkannte besagte Überlegenheit ja, auch nur Ebenbürtigkeit - in Wirklichkeit kein einziger außer mir selber; unsre sämtlichen Kameraden schienen infolge irgendeiner unerklärlichen Verblendung auch nicht entfernt dergleichen zu mutmaßen. Und sein Wettbewerb, sein Widerstand und speziell sein impertinentes und zähes Einmischen in meine Absichten waren schließlich auch nicht minder verstohlen als gezielt. Des Ehrgeizes, der mich dazu 290
spornte und der passionierten Energie des Geistes, die es mir ermöglichte, mich auszuzeichnen, schien er gleichermaßen bar. Was sein Rivalisieren überhaupt in Tätigkeit setzte, hätte meistens nur wie eine grillenhafte Lust, mich zu erstaunen, zu kränken, mir in die Quere zu kommen, gewirkt; wären dann nicht wieder Zeiten gewesen, wo ich, mit einem Gefühlsgemisch aus Verwunderung, Demütigung und Gereiztheit, wahrnehmen mußte, wie er seinen Kränkungen, seinen Beleidigungen, seinen Widerreden eine gewisse, gänzlich unangebrachte und vor allem mir höchst unwill kommene Sorte von Zutunlichkeit mit beimischte. Mir blieb nur übrig anzunehmen, daß ein so eigenartiges Gebaren einem vollendeten Eigendünkel entspringen müsse, der sich vulgärerweise als Gönnerhaftigkeit und Protektion gebärde. Vielleicht ist es dieser letzte Zug in Wilsons Aufführung gewesen, der - im Verein mit unsrer Namensgleichheit und dem rein zufälligen Umstand, daß wir am selben Tage in die Schule aufgenommen worden waren – in den oberen Klassen der Anstalt das Gerücht ingang setzte, wir seien Brüder. Nun kümmert man sich dort im allgemeinen nicht mit übermäßiger Sorgfalt um die Angelegenheiten der Junioren; und ich habe ja auch zuvor schon erwähnt, beziehungsweise hätte es erwähnen sollen, daß Wilson in keinem, auch nicht dem entferntesten Grade mit meiner Familie in Verbindung stand. Aber zugegeben, wenn wir Brüder gewesen wären, hätten wir sogar Zwillinge sein müssen; denn ich habe, nach dem Abgang von Dr. Bransbys Internat, durch Zufall erfahren, daß mein Namensverwandter am 19. Januar 1813 geboren sei – und das ist natürlich ein einigermaßen bemerkenswertes Zusammen treffen; denn besagter Tag ist genau der meiner eigenen Geburt. Es mag befremdlich erscheinen, daß ich, der immer währenden Beängstigung, die mir der Wettbewerb Wilsons verursachte, wie auch seinem unerträglichen Widerspruchsgeist 291
zum Trotz, es dennoch nicht über mich gewinnen konnte, ihn nun uneingeschränkt zu hassen. Sicher, wir hatten fast jeglichen Tag unsere Streiterei, in der er mir zwar öffentlich die Palme des Sieges ließ, es jedoch auf irgendeine Weise fertig brachte, bei mir den Eindruck zu erzeugen, wie eigentlich er es sei, der sie verdient habe; trotzdem bewirkte ein Gefühl des Stolzes auf meiner, sowie eine wahrhafte Würde auf seiner Seite, daß wir immer, wie es in der Schulsprache heißt, miteinander redeten<; während es doch wahrlich so manche Züge beträchtlicher Geistesverwandtschaft in unseren Gemütern gab, die bei mir beständig daraufhinarbeiteten, ein Gefühl zu erwecken, das zur Freundschaft zu reifen vielleicht einzig unsere falsche Stellung zueinander verhinderte. Es ist einigermaßen schwierig, meine wirklichen Gefühle ihm gegenüber zu präzisieren oder auch nur zu beschreiben. Sie bildeten ein buntscheckiges und ungleichartiges Gemische – ein Schuß hadernder Animosität, die sich noch nicht bis zum Haß ausgewachsen hatte; ein bißchen Achtung; mehr Respekt; sehr viel Furcht; und eine ganze Welt unbehaglichster Neubegierigkeit. Für einen Psychologen wird es unnötig sein, ergänzend hinzuzufügen, daß Wilson und ich die allerun zertrennlichsten Gefährten waren. Zweifellos war es eben dieser anormale Stand der Dinge zwischen uns, daß alle meine Attacken auf ihn (und es waren ihrer viele, teils offene, teils versteckte) mehr die Gestalt von Hänseleien oder handgreiflichen Spaßen annahmen (die unter dem äußerlichen Anschein von bloßen Witzen weh genug taten), als daß sie sich zu ernsthafteren und entschiedenen Feindseligkeiten ausgebildet hätten. Doch meine Anschläge in dieser Richtung waren keineswegs durchgängig von Erfolg begleitet, selbst wenn meine Minen am sinnreichsten angelegt waren; denn mein Namensvetter hatte in seinem Wesen viel von jener unanmaßlichen und katonischen Einfachheit an sich, die sehr wohl das treffend Anzügliche des eignen Schabernacks 292
zu genießen weiß, selber jedoch keinerlei Achillesferse auf weist und sich platterdings nicht auslachen läßt. Ich konnte tatsächlich nur eine verletzbare Stelle ausfindig machen; und diese, die in einer physischen Eigenart bestand (vielleicht die Folge eines angeborenen Übels), würde auch noch von jeglichem Widersacher geschont worden sein, der weniger als ich am Ende seines Witzes gewesen wäre - mein Rivale laborierte an einer Schwäche der Kehl- oder Rachenorgane, die ihn daran hinderten, seine Stimme jemals zu mehr als zu einem sehr leisen Wispern zu erheben. Und ich verschmähte nicht, von diesem Gebrechen so viel armseligen Vorteil zu ziehen, als nur immer in meiner Macht lag. Wilsons Wiedervergeltungen waren mannigfalt und in gleicher Münze; und vor allem gab es eine Form seiner FoppPraktiken, die mich über alles Maß aufbringen konnte. Wieso sein Scharfsinn überhaupt zuerst entdeckt haben mag, daß eine solche Nichtigkeit mich zu vexieren angetan sei, ist ein Problem, das ich nie zu lösen vermocht habe; aber, nach einmal gemachter Entdeckung, plagte er mich jedenfalls habituell damit. Ich hatte nämlich immer eine Aversion gegen meinen unfeinen Familien- wie auch den nicht minder gewöhnlichen, wenn nicht gar plebejischen, Vornamen empfunden. Beide Klänge waren Gift in meinen Ohren; und als am Tage meiner Ankunft noch ein zweiter William Wilson in dem Institut eintraf, wurde ich von vornherein aufgebracht gegen ihn, da er den Namen trug; und doppelt angewidert vom Namen selbst, weil ein Fremder ihn trug, der ab jetzt die Ursache seiner zwiefältigen Wiederholung sein würde; der beständig in meiner Gegenwart sein würde; und dessen Angelegenheiten, im normalen Ablauf des Schultrabes, aufgrund jener abscheulichen Übereinstimmung, unvermeidlich oft mit meinen eigenen zusammengeworfen und verwechselt werden mußten. Das also entstandene Gefühl der Schikane wurde mit 293
jeglichem Umstand, der auf eine Ähnlichkeit, sei's geistig, sei es körperlich, zwischen meinem Rivalen und mir hinzuweisen schien, immer stärker und stärker. Damals hatte ich noch gar nicht die bemerkenswerte Tatsache entdeckt, daß wir vom gleichen Alter seien; aber daß wir genau gleich groß waren, sah ich wohl; und ich bemerkte nicht minder, daß wir, was allgemeinen Kontour der Gestalt und Schnitt der Gesichtszüge anbelangte, uns sogar auffallend ähnelten. Auch reizte mich das in den Oberklassen umlaufende Gerücht, das von einer Verwandtschaft zwischen uns wissen wollte, nicht wenig. Mit einem Wort: nichts konnte mich ernstlicher aufbringen (obschon ich das aufs peinlichste zu verhehlen suchte), als die leiseste Anspielung darauf, daß zwischen uns etwelche Ähnlichkeit hinsichtlich Charakter, Äußerem oder Benehmen bestünde. Dabei hatte ich wirklich keinen Grund, anzunehmen, daß (jene Hypothese einer Verwandtschaft, und Wilsons eigenen Fall beiseite gesetzt) unsere Ähnlichkeit jemals Gesprächsgegenstand der Schulkameraden oder überhaupt nur von ihnen bemerkt worden sei. Daß er sie in ihrer ganzen Tragweite, zwar genauso fasziniert wie ich selbst, bemerkt hatte, war außer aller Frage; aber daß er sich aus solchem Sachverhalt ein derart fruchtbares Betätigungsfeld für Schika nen zu schaffen vermochte, kann, wie ich zuvor schon sagte, nur seinem weit überdurchschnittlichen Scharfsinn zugesch rieben werden. Sein Trick bestand darin, daß er mich hundertprozentig zu imitieren unternahm, sowohl was Ausdrücke als auch Gebärden anbelangt; und meisterlich führte er seine Rolle durch. Meinen Anzug zu kopieren war eine Kleinigkeit; meine Haltung und mein Benehmen allgemein eignete er sich ohne Schwierigkeit an; ja, seinem angeborenen Gebrechen zum Trotz, entging ihm selbst meine Stimme nicht. Zwar die lautere Sprechweise versuchte er natürlich gar nicht erst; aber der ganze Tonfall, er war identisch; und sein eigentümliches 294
Gewisper, es wurde schlechthin das Echo meines eigenen! Wie sehr dies so con amore ausgeführte Porträt mir zur Last fiel (denn als eine Karikatur konnte man es füglich nicht bezeichnen), will ich jetzt nicht weiter zu beschreiben unternehmen. Ich hatte lediglich einen Trost – in dem Umstand, daß die Imitation anscheinend einzig von mir allein bemerkt wurde, und ich nur das wissende und seltsam sarkastische Gelächel meines Namensverwandten selbst zu erdulden hatte. Zufrieden damit, in meinem Busen die beabsichtigte Wirkung hervorgebracht zu haben, schien er heimlich in sich hinein zu kichern ob des mir beigebrachten Stachels; blieb aber ansonsten bezeichnend uninteressiert an dem öffentlichen Beifall, den der Erfolg seiner witzigen Unternehmungen ihm doch so leicht eingetragen haben könnte. Daß man in der Schule tatsächlich weder seine Absicht spürte, noch ihre vollendete Durchführung wahrnahm und an der Ver höhnung sich beteiligte, war mir, so manchen ängstlichen Mo nat hindurch, ein Rätsel, das ich nicht zu lösen vermochte. Vielleicht machte der stufenweise Aufbau seiner Maske sie nicht so geschwind wahrnehmbar; oder aber, und das ist das Wahrscheinlichere, ich schuldete meine Sicherheit der Meisterschaft des Maskenbildners, der den Buchstaben (der bei einem Gemälde das einzige ist, was Stumpfe erblicken) verschmähte, dafür aber vollendet den Geist seines Originals wiedergab, mir zum individuellen Bespiegeln undVerdruß. Ich habe bereits mehr als einmal von der widerlich begönnernden Haltung gesprochen, die er mir gegenüber annahm, und von seiner häufigen, zudringlichen Einmischung in meinen Willen. Diese Einmischung nahm oftmals den unangenehmen Charakter eines Rates an; eines Rates, nicht offen gegeben, sondern nur in Winken und halben Andeutungen bestehend. Ich empfing ihn mit einem Widerwillen, der an Stärke gewann, wie ich an Jahren zunahm. Immerhin möchte ich ihm, nach so langer Zeit, die simple 295
Gerechtigkeit erweisen und es zu Protokoll geben, wie ich mich nicht eine Gelegenheit entsinnen kann, daß die Einflüster ungen meines Nebenbuhlers im Sinne jener Verirrungen und Torheiten gelautet hätten, die seinem jugendlichen Alter und seiner scheinbaren Unerfahrenheit doch so gemäß gewesen wären; daß zumindest sein sittliches Gefühl (wenn nicht gar seine Begabung allgemein, und Weltklugheit überhaupt), weit ausgebildeter war als mein eigenes; und daß ich heut vielleicht ein besserer und folglich glücklicherer Mann sein könnte, hätte ich weniger häufig die Ratschläge von mir gewiesen, wie sie sich mir in jenem bedeutsamen Wispern zum Ausdruck brachten, die ich damals nur zu sehr von Herzen haßte und allzu bitterlich verachtete. Wie die Dinge aber lagen, wurde ich endlich störrisch bis zum Exzeß unter seiner leidigen Beaufsichtigung und zeigte meinen Groll ob dessen, was ich als unerträgliche Anmaßung empfand, von Tag zu Tag immer offener. Ich habe gesagt, daß während der ersten Jahre unseres Zusammenlebens als Schulkameraden meine Gefühle ihm gegenüber leichtlich zu echter Freundschaft hätten reifen können; in den letzten Monaten meines Institutaufenthaltes jedoch, obschon die Aufdringlichkeit seines bisherigen Gehabens zweifellos in gewissem Grade an Intensität verloren hatte, nahmen meine Gefühle, in ungefähr gleichem Verhältnis, so ziemlich den Charakter echten Hasses an. Bei einem Anlaß merkte er das auch, wie ich glaube, und mied mich daraufhin; bezie hungsweise machte wieder ein Schauspiel daraus, mich zu mei den. Es muß, wenn ich mich recht erinnere, um dieselbe Zeit gewesen sein, daß ich anläßlich eines heftigen Wortwechsels mit ihm, in dessen Verlauf er weniger als gewöhnlich auf seiner Hut war und mit einer seiner Natur sonst fremden Offenheit sprach und vorging, in seinem Tonfall, seinen Mienen, seinem Äußeren allgemein, ein Etwas entdeckte, oder 296
zu entdecken wähnte, das mich erst stutzen machte und dann insofern aufs tiefste zu interessieren begann, als er mir matte optische Eindrücke meiner frühesten Kindheit wieder zu Sinn brachte – wildverworrne Erinnerungsdränge aus einer Zeit, da die Erinnerungsfähigkeit selbst noch ungeboren war. Ich kann das auf mich eindringende Gefühl nicht besser beschreiben, als wenn ich sage, wie ich nur unter Schwierigkeiten die Einbildung abzuschütteln vermochte, mit dem Wesen, das da vor mir stand, in sehr weit zurückliegenden Zeiträumen schon einmal bekannt gewesen zu sein – auf irgendeinem, schier unendlich fernen Punkt der Vergangenheit. Die Täuschung zerging jedoch ebenso schnell wieder, wie sie gekommen war; und ich tue ihrer auch nur deshalb Erwähnung, um den Tag der letzten Unterredung, die ich dort mit meinem kuriosen Namensverwandten hatte, zu charakterisieren. Das mächtige alte Haus, mit seinen zahllosen Unterteilungen, hatte mehrere große, miteinander in Verbindung stehende Gemächer, wo die überwiegende Zahl der Schüler schlief. Überdem jedoch gab es (wie bei einem derart wunderlich entworfenen Gebäude schlechthin unvermeidlich) viele kleine Winkel und Ecken, den architektonischen Abfall gleichsam; und auch sie hatte die ökonomische Findigkeit Dr. Bransbys als Schlafkammern herzurichten gewußt; obgleich sie, da es sich um bloße Alkoven handelte, nur ein einzelnes Individuum aufzunehmen vermochten. Und von diesem kleinen Räumchen hatte eins Wilson inne. Eines Nachts, gegen Ende meines fünften Jahres an der Schule und unmittelbar nach dem eben erwähnten Wortwechsel, nachdem ich gewiß sein konnte, daß jedermann in Schlaf versunken sei, erhob ich mich vom Bett und stahl mich, die Lampe in der Hand, durch Labyrinthe enger Korridore, aus meinem eigenen Schlafraum zu dem meines Rivalen. Ich hatte lang schon eines jener bösartigen Pröbchen 297
von handgreiflich groben Spaßen auf seine Kosten vorbereitet, in denen mir bisher so durchgehends wenig Erfolg beschieden gewesen. Ich hatte die Absicht, nunmehr meinen Anschlag in die Tat umzusetzen, und war entschlossen, ihm der Bosheit, die sich in mir aufgestaut hatte, vollen Anteil zu geben. Als ich seinen Alkoven erreicht hatte, trat ich lautlos hinein; die Lampe, mit einem Blendschirm davor, blieb draußen. Ich tat einen Schritt nach vorn und lauschte dem ruhevollen Gang seines Atmens. Seines Festeingeschlafenseins sicher, drehte ich wieder um, nahm die Leuchte und näherte mich mit ihr erneut der Bettstatt. Sie war mit dichten Gardinen verhangen, die ich, in Verfolgung meines Planes, langsam und leise zurückzog, so daß die Lichtstrahlen hell auf den Schläfer fielen, und meine Blicke, im selben Moment, auf sein Angesicht. Ich schaute; – und sogleich durchrann es wie Erstarrung, wie ein Gefühl der Vereisung, meine Gestalt. Meine Brust hob sich, meine Knie zitterten, mein ganzer Geist wurde wie besessen von gegenstandlosem, aber unerträglichem Entsetzen. Nach Atem ringend, führte ich die Lampe tiefer, in noch nähere Nachbar schaft des Gesichts. Waren das – das die Züge William Wil sons?! Sicher, ich sah ja, daß es die seinen waren; aber es schüttelte mich wie Fieberfrost ob der Einbildung, daß sie es nicht seien. Was hatten sie denn an sich, daß es mich in solchem Maß bestürzt machte? Ich starrte – während mein Hirn vor einer Vielheit unzusammenhängender Gedanken schwindelte. So sah er doch nicht – nein; so garantiert nicht – in seinen wachen Stunden, wenn er lebte, aus. Derselbe Name!, dieselben Umrißformen der Gestalt!, derselbe Tag der Ankunft im Institut! Und dann sein stur- und sinnloses Nachäffen meines Ganges, meiner Stimme, meiner Angewohnheiten und meiner ganzen Manier! Lag es denn wirklich im Bereich menschlicher Möglichkeit, daß das, was ich jetzt erblickte, lediglich das Ergebnis langanhaltender Übung solch sarkastischen Imitierens war? Völlig verstört, von Schauern 298
überlaufen, löschte ich meine Lampe, zog mich lautlos aus der Kammer zurück und verließ, ohne Verzug, die Hallen jener alten Bildungsanstalt, um sie niemals wieder zu betreten. Nach einem Interregnum von ein paar in schierem Müßiggang daheim vertanen Monaten fand ich mich dann als Höherer Schüler in Eton wieder. Die kurze Zwischenzeit hatte hingereicht, um meine Erinnerung an die Ereignisse bei Dr. Bransby abzuschwächen; oder zumindest doch bezüglich der Natur der Gefühle, mit denen ich ihrer gedachte, eine ganz erhebliche Veränderung herbeizuführen. Das unmittelbar Wirkliche – das Tragische – des Dramas war nicht mehr. Ich konnte nun schon die Besonnenheit aufbringen, das Zeugnis meiner Sinne anzuzweifeln; ja, ich rief mir den ganzen Erlebniskomplex nur selten noch zurück, ohne mich gleichzeitig über das Ausmaß menschlicher Leichtgläubigkeit zu verwundern, und ohne ein Lächeln ob der Lebhaftigkeit und Kraft der Einbildung, die mich als Erbteil überkommen hatte. Auch war die Art des Lebens, das ich in Eton führte, wenig dazu angetan, diese spezielle Sorte Skeptizismus abzuschwächen. Der Strudel von Torheiten, in den ich mich dort so unvermittelt und so unbekümmert stürzte, wusch alle meine vergangenen Stunden bis auf winzige Schaumreste von mir, verschlang sogleich jedweden nachhaltigen oder ernsthaften Eindruck und ließ dem Gedächtnis nur den flüchtigen Abhub von etwas wie einem früheren Dasein. Ich bin jedoch nicht willens, hier den Kurs aufzuzeichnen, den meine erbärmliche Liederlichkeit nahm – eine Liederlichkeit, die den Gesetzen Hohn sprach, während sie gleichzeitig die Wachsamkeit des Lehrkörpers geschickt umging. Drei törichte, ohne jeden positiven Gewinn verbrachte Jahre hatten lediglich die Tendenz zum Laster in mir befestigt; allerdings auch, in einigermaßen ungewöhnlichem Grade, mein körperliches Wachstum befördert; als ich einmal, nach einer Woche seelenloser Völlerei, den engeren Zirkel meiner im 299
Wüsten fortgeschrittensten Mitschüler zu einer heimlichen Trinkorgie auf meine Zimmer einlud. Wir trafen uns nachts, zu später Stunde; denn es war ungeschriebenes Gesetz, daß unsre Ausschweifungen sich bis zum Morgen hinzuziehen hatten. Der Wein floß in Strömen; auch bestand kein Mangel an anderweitigen, womöglich noch gefährlicheren Versuchungen; so daß, als unsre rasenden Extravaganzen auf dem Höhepunkt waren, im Osten bereits der Morgen schwach zu grauen begann. Bis zur Tollheit erhitzt von Trunk und Kartenspiel, war ich just dabei, einen Toast von mehr als üblicher Ruchlosigkeit auszubringen, als meine Aufmerksamkeit plötzlich durch ein heftiges, obschon nur teilweises Aufreißen der Zimmertür durch die eindringliche Stimme eines Dieners von außen abgelenkt wurde. Er informierte mich, daß jemand, der anscheinend große Eile hätte, mich im Vorraum zu sprechen verlange. In meiner wilden alkoholischen Erregung ergötzte mich die unerwartete Unterbrechung mehr als sie mich überraschte. Ich stolperte sogleich voran, und ein paar Schritte brachten mich zum Vestibül des Hauses. In dem niedrigen und engen Raum dort hing keine Lampe; und zur Zeit hatte überhaupt keinerlei Licht Zutritt, abgesehen von dem äußerst schwachen Dämmerschein, der seinen Weg durch das halbkreisförmige Fenster nahm. Als ich den Fuß über die Schwelle setzte, wurde ich der Gestalt eines Jünglings gewahr, von annähernd meiner eigenen Größe und angetan mit einem weißen Schoßrock aus Kasimir von neumodischem Schnitt, wie ich ihn im Moment ebenfalls trug. Soviel zu erkennen setzte die kärgliche Beleuchtung mich in den Stand; aber die Züge seines Gesichts konnte ich nicht unterscheiden. Nachdem ich eingetreten war, kam er hastig auf mich zugeschritten, bemächtigte sich mit einer Geste verdrießlicher Ungeduld meines Arms und wisperte gleichzeitig die Worte »William Wilson!« in mein Ohr. 300
Ich war im Handumdrehen völlig nüchtern. In der ganzen Art des Fremdlings, und in dem schulternden Dräuen seines erhobenen Fingers, wie er ihn zwischen meinen Augen und dem Licht hielt, lag ein Etwas, das mich mit unein geschränkter Bestürzung erfüllte; aber das war es noch nicht einmal, was mich so heftig bewegte. Es war das feierlich Mah nungsträchtige in der eigentümlich leisen, zischelnden Aussprache; es war vor allem der Charakter, der Tonfall, die Klangfarbe dieser wenigen simplen und vertrauten, aber gewisperten Silben, bei denen mich tausendfältiger Schwärm von Erinnerungen an vergangene Tage überkam und meine Seele traf wie der Stromstoß einer galvanischen Batterie. Bevor ich noch den Gebrauch meiner Sinne wiedererlangte, war er schon gegangen. Obgleich dieser Vorfall nicht verfehlte, einen lebhaften Ein druck auf meine unordentliche Einbildungskraft zu machen, erwies er sich dennoch als ebenso vorübergehend wie lebhaft. Zugegeben, ein paar Wochen hindurch war ich mit ernstlichen Nachforschungen beschäftigt oder hüllte mich in ein Gewölke morbider Grübeleien. Ich unternahm nicht etwa, meinem Wahrnehmungsvermögen hinsichtlich der Identität des merkwürdigen Wesens, das sich so ausdauernd in meine Angelegenheiten einmischte und mir mit seiner aufdringlichen Beratung beschwerlich fiel, auch nur das geringste vorzumachen. Aber Wer und Was war dieser Wilson? - woher kam er? - und was waren seine Ziele? Über nicht eine dieser Punkte konnte ich Befriedigendes in Erfahrung bringen; nur das gelang mir, mit Bezug auf ihn festzustellen: daß ein unvorhergesehenes Ereignis in seiner Familie seine Abberufung aus Dr. Bransbys Internat bewirkt hatte; und zwar am Nachmittag desselben Tages, an dem ich damals durch gegangen war. Aber binnen kurzer Zeit hörte ich wieder auf, über den Gegenstand nachzudenken; da all meine Aufmerksamkeit von dem bevorstehenden Abgang zur 301
Universität Oxford in Anspruch genommen wurde. Ich übersiedelte auch bald dorthin; und die gedankenlose Eitelkeit meiner Eltern stattete mich mit einer Equipierung und einem jährlichen Wechsel aus, die es mir von vornherein ermöglichten, dem Luxus, der meinem Herzen schon so teuer geworden war, nach Belieben zu frönen, – in Geldverschwendung zu wetteifern mit dem hochfahrendsten Erben der reichsten Earls von Großbritannien. Angeregt durch solche Hilfsmittel zum Laster, brach mein angeborenes Temperament mit verdoppelter Brunst hervor; und ich setzte in der wahnwitzigen Verblendung meiner Schwelge reien selbst die simpelsten Regeln der Klugheit und des Anstands beiseite. Aber es wäre absurd, auf Einzelheiten meiner Extravaganzen zu verweilen. Es möge genügen, daß ich, was Verschwendung anlangt, auf einen Herodes anderthalbe setzte; und, indem ich einer Vielzahl neuer Torheiten Sein und Namen gab, der langen Musterkarte von Lastern, die damals auf der verkommensten Universität Europens im Schwange gingen, ein Supplement hinzufügte, das nicht klein war. Immerhin konnte es, selbst an solchem Ort, schwerlich glaubhaft erscheinen, daß ich, als Gentleman, so tief gesunken sein sollte, um mich mit den niederträchtigsten Kniffen des gewerbsmäßigen Spielers bekannt zu machen, und sie, nachdem ich es in seiner verächtlichen Kunst zur Meisterschaft gebracht hätte, dann auch regelmäßig anwenden würde, als ein Mittel, meine sowieso schon enormen Einkünfte auf Kosten der naiveren unter meinen Mitstudenten noch weiter zu vermehren. Nichtsdestoweniger war dies der Fall. Und zweifellos ist es eben die blanke Ungeheuerlichkeit solcher Versündigung gegen jedes männliche und ehrenhafte Empfinden gewesen, was die Haupt-, wenn nicht gar die einzige Erklärung für die Straflösigkeit liefert, mit der ich mein Unwesen derart treiben konnte. Denn Wer, selbst unter meinen 302
verkommensten Kumpanen, hätte nicht eher das klarste Zeugnis seiner eignen Sinne abgestritten, als ihn solcher Prakti ken für fähig zu halten, ihn, den muntren, biedren, freigebigen William Wilson - den nobelsten und großzügigsten Studenten in ganz Oxford - ihn, dessen Streiche (wie seine Schmarotzer es formulierten) doch lediglich Streiche der Jugend und einer ausgelassenen Laune – dessen Irrgänge doch nur unnachahmliche Schnurren – dessen schwärzestes Laster nichts als liebenswürdige Unachtsamkeit und fesche Extravaganzen wären. Zwei Jahre war ich nunmehr in diesem Genre erfolgreich tätig gewesen, als an der Universität ein frisch geadelter, junger par-venu, namens Glendinning erschien - dem Gerücht nach reich wie Herodes Atticus - seine Reichtümer angeblich auch ebenso leicht erworben. Ich hatte bald heraus, daß er etwas dümmlich war, und erkor ihn mir selbstredend zum geeigneten Gegenstand meiner Fingerfertigkeit. Ich machte, daß wir uns häufig beim Spiel gegenübersaßen, und brachte es nach gewohnter Spielertaktik zuwege, ihn zunächst beträchtliche Summen gewinnen zu lassen, um ihn desto sicherer in meine Garne zu locken. Zu guter Letzt, als meine Anschläge gereift waren, trafen wir uns (meinerseits mit der vollen Absicht, daß dieses Treffen endgültig und entscheidend sein solle) in der Wohnung Mr. Prestons, eines mit uns beiden gleichermaßen auf vertrautem Fuß verkehrenden Mitstudenten; der allerdings, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch nicht den entferntesten Verdacht dessen hegte, was ich im Schilde führte. Um dies besser zu bemänteln, war es mir zu veranstalten gelungen, daß sich im ganzen unserer 8 oder 10 dort ver sammelten; und vor allem hatte ich besondere Sorge dafür getragen, daß die Karten scheinbar gänzlich durch Zufall aufs Tapet gebracht würden, ja womöglich auf den Vorschlag des auserkorenen Gimpels selbst zurückgehen sollten. Um ein widerliches Thema kurz abzutun: nicht eine derjenigen 303
niedrigen Finessen war übersehen worden, wie sie bei ähnlichen Anlässen so gebräuchlich sind, daß man mit Recht staunen kann, wie sich überhaupt noch jemand findet, der töricht genug ist, auf sie hineinzufallen. Wir hatten unsre Sitzung schon bis tief in die Nacht ausgedehnt, und ich hatte endlich das Manöver vollbracht, Glendinning als einzigen Gegner mir gegenüber zu haben. Das Spiel war gleichfalls meine Spezialität, ecarte. Der Rest der Gesellschaft, von der Höhe unserer Einsätze angezogen, hatte sein eigenes Spiel eingestellt und umstand uns als Zuschauer. Der parvenu, den ich im früheren Verlauf des Abends durch meine Listen und Ränke dazu vermocht hatte, schwer zu trinken, mischte, gab und spielte nunmehr auf eine wild nervöse Art, die sich durch seine Trunkenheit zum Teil, obschon, wie mir dünkte, gänzlich doch wohl nicht erklären ließ. Innerhalb kürzester Frist war er mein Schuldner über eine erhebliche Summe geworden, als er, nach einem neuerlichen, tiefen Zug Portwein, genau das tat, womit ich längst kalt gerechnet hatte – er schlug vor, unsere sowieso schon unsinnigen Einsätze zu verdoppeln. Nach einem gut gemimten Anschein von Widerstreben und nicht, bevor ich ihn durch meine wiederholten Weigerungen zu einigen ärgerlichen Worten verleitet hatte, die meiner Einwilligung noch einen Anstrich von pique gaben, willigte ich endlich ein. Das Resultat bewies selbstredend nur das eine, wie umfassend ich die Beute in meinen Netzen hatte; in weniger als 1 Stunde waren seine Schulden vervierfacht. Seit einiger Zeit schon hatte sein Gesicht nach und nach die ihm vom Wein verliehene blühende Farbe zu verlieren begonnen; aber nunmehr bemerkte ich, zu meinem Erstaunen, daß sie einer wahrhaft fürch terlichen Blässe Platz gemacht hatte. Zu meinem Erstaunen, sage ich. Glendinning sei, hatte es auf meine mehrfachen eifrigen Erkundigungen immer geheißen, unermeßlich reich; und die Summen, die er bis jetzt verloren hatte, konnten, 304
obwohl an sich erheblich genug, ihn meiner Ansicht nach sehr ernstlich nicht behelligen, viel weniger ihn derart heftig angreifen. Daß ihn der eben hinuntergestürzte Wein über wältigt habe, war mein nächstliegender und wahrscheinlichster Gedanke; und mehr im Hinblick auf die Aufrechterhaltung meines persönlichen Rufes in den Augen der Anwesenden als aus einem weniger eigennützigen Motiv schickte ich mich eben an, mit Entschiedenheit auf Einstellung des Spieles zu dringen, als einige Ausdrücke der Zuschauer in meiner Nähe, sowie ein unterdrückter Ausruf seitens Glendinnings, der äußerste Verzweiflung besprach, mir zu verstehen gaben, daß ich seinen totalen Ruin bewirkt hätte; und zwar unter Umständen, die, indem sie ihn zum Gegenstand des Mitleids von jedermann machten, dazu hätten angetan sein sollen, ihn vor den bösen Schlichen selbst eines Teufels zu bewahren. Wie ich mich nun eventuell des weiteren hätte verhalten können, ist schwer zu sagen. Der bemitleidenswerte Zustand des Geprellten hatte eine Atmosphäre von finsterer Verlegenheit über alles verbreitet; und diverse Augenblicke lang herrschte ein tiefes Schweigen, während dessen ich nicht umhin konnte, zu fühlen, wie mir ob der vielen verächtlichen oder zumindest tadelnden Blicke, die die weniger Verworfenen der Gesellschaft scharf auf mich richteten, die Wangen brannten. Ich will sogar zugeben, daß ein unerträgliches Gewicht der Beklemmung für einen kurzen Moment von meiner Brust genommen wurde durch die plötzliche und ganz außerordentliche Unterbrechung, die erfolgte. Die schwere, breite Flügeltür des Raumes wurde unversehens aufgestoßen, in ihrer ganzen Weite, mit einem Ungestüm, so kraftvoll und andrängend, daß es, wie durch Magie, jedwede Kerzenflamme im Zimmer auslöschte. Ihr vergehendes Licht setzte uns grade noch in den Stand, wahrzunehmen, daß ein Fremder eingetreten sei, ungefähr von meiner Größe, einen Mantel dicht um sich geschlagen. Aber die Finsternis war nunmehr 305
vollständig geworden, und wir konnten nurmehr fühlen, daß er in unsrer Mitte stand. Bevor sich noch einer von uns von dem unsäglichen Erstaunen erholen konnte, in das dergleichen Unmanierlichkeit alle gestürzt hatte, vernahmen wir schon die Stimme des Eindringlings. »Meine Herren«, sagte er in einem leisen, sehr deutlichen und nimmer vergeßbaren Wispern, das mich bis ins innerste Mark durchschauerte. »Meine Herren, ich entschuldige mich nicht erst ob solchen Benehmens; denn ich erfülle, indem ich mich so benehme, lediglich eine Pflicht. Sie sind zweifellos über den wahren Charakter der Person nicht im Bilde, die Lord Glendinning heut nacht eine namhafte Summe Geldes im ecarte abgewonnen hat. Ich will Ihnen deshalb ein ebenso rasches wie entscheidendes Mittel an die Hand geben, sich diese sehr notwendige Einsicht zu verschaffen. Wollen Sie bitte in aller Muße und Bequemlichkeit einmal das Innenfutter seines linken Ärmelaufschlages inspizieren, oder auch die diversen kleinen Päckchen, die sich womöglich in den etwas sehr geräumigen Taschen seines gestickten Morgenrocks antreffen lassen werden.« So tief war die Stille, während er sprach, daß man das zu Boden Fallen einer Stecknadel hätte hören können. Kaum geendet, nahm er bereits wieder seinen Abgang; und zwar ebenso unvermittelt, wie er eingetreten war. Kann ich – soll ich meine Empfindungen schildern? – muß ich sagen, wie ich alle Schrecken der Verdammten fühlte? Soviel steht fest, daß mir wenig Zeit zum Überlegen gelassen wurde. Viele Hände ergriffen mich auf der Stelle und rauh; auch wurden Lichter unverzüglich wieder herbeigeschafft. Eine Körpervisitation erfolgte. Im Futter meines Ärmelaufschlags wurden sämtliche beim ecarte geltenden Hof-Karten gefunden; und in den Taschen meines Morgenrocks mehrere Pakete Spielkarten, Faksimiles der sonst bei unsern Zusammenkünften auch benützten - mit der einen Ausnahme, daß die meinigen von der 306
Art waren, die der Kenner arrondees nennt, bei denen die Honneurs ganz leicht konvex an den Schmal-, die niedrigen Karten leicht konvex an den Längsseiten sind. Bei solcher Anordnung wird es dem zu Prellenden, der, wie üblich, der Länge nach vom Pack abhebt, unweigerlich widerfahren, daß er seinem Gegner ein Honneur aufdeckt; während der Falschspieler, der der Breite nach abhebt, mit derselben Wahr scheinlichkeit für sein Opfer nichts aufdeckt, was beim Spiel irgend nennenswert zählte. Jeder laute Ausbruch der Entrüstung auf diese Entdeckung hin wäre mir weniger empfindlich gewesen, als die schweigende Verachtung, die sarkastische Gelassenheit, mit der man sie zur Kenntnis nahm. »Mr. Wilson«, sagte unser Gastgeber, und bückte sich dabei, um einen überaus luxuriösen Mantel aus rarsten Pelzen aufzu heben, der zu seinen Füßen lag, »Mr. Wilson, das ist wohl Ihr Eigentum.« (Die Witterung war kalt; und ich hatte beim Verlassen meines eigenen Zimmers über meinen Morgenrock einen Mantel geworfen, den ich dann, nach Erreichen des Schauplatzes, abgelegt hatte.) »Ich nehme an, es wird überflüssig sein, hier« (und er musterte mit bitterem Lächeln die Falten des Kleidungsstückes) »nach noch weiteren Belegen Ihrer Geschicklichkeit zu fahnden. Wir haben ja auch wahrlich genügend davon gehabt. Sie werden, wie ich hoffe, die Notwendigkeit einsehen, Oxford zu verlassen – auf jeden Fall aber meine Wohnung zu verlassen, und zwar sofort.« Erniedrigt, bis in den Staub gedemütigt, wie ich damals war, ist es durchaus wahrscheinlich, daß ich seine beißende Rede auf der Stelle durch Tätlichkeiten geahndet hätte, wäre nicht im selben Augenblick meine Aufmerksamkeit durch einen Umstand der allerfrappierendsten Art gänzlich gefangen genommen gewesen. Der Mantel, den ich angehabt, hatte aus einer sehr seltenen Pelzart bestanden; wie selten, wie übertrieben kostbar, wage ich gar nicht zu sagen. Auch seine 307
Machart ging auf meinen eigenen fantastischen Entwurf zurück; denn ich war in Dingen dieser nichtigen Art in einem Grade gewählt, daß es an die absurdeste Geckenhaftigkeit streifte. Als deshalb Mr. Preston mir denjenigen hinhielt, den er nahe der Flügeltür des Zimmers vom Boden aufgerafft hatte, war es mit einem fast an Grausen grenzenden Erstaunen, daß ich meinen eignen bereits über meinem Arm hängen sah, (wohin ich ihn zweifellos unwillkürlich gelegt hatte), und daß der mir jetzt dargereichte nicht mehr und nicht weniger war, als sein genaues Gegenstück bis in jegliche, auch die winzigste nur denkbare Kleinigkeit. Das sonderbare Wesen, das mich so verhängnisvoll bloßgestellt hatte, war, wie ich mich erinnerte, in einen Mantel gehüllt gewesen; und kein anderes Mitglied unserer Gesellschaft, mit Ausnahme meiner selbst, hatte ansonsten einen getragen. Einen letzten Rest Geistesgegenwart bewahrend, nahm ich den mir von Preston dargebotenen entgegen; legte ihn, unbeachtet, über meinen eigenen; verließ das Zimmer mit einer Miene trotziger Verachtung, und trat gleich am folgenden Morgen, ehe der Tag noch aufdämmerte, eine überstürzte Reise von Oxford nach dem Kontinent an, schier halb tot vor Schrecken und Scham. Ich floh vergebens. Mein böses Geschick verfolgte mich gleichsam frohlockend und bewies mir alsobald, daß die Ausübung seiner geheimnisvollen Herrschaft nur erst im Anfang stünde. Kaum hatte ich Fuß gefaßt in Paris, als mir auch schon frische Beweise von dem abscheulichen Interesse wurden, das dieser Wilson an meinen Angelegenheiten nahm. Die Jahre gingen dahin, und ich erfuhr keinerlei Erleichterung. Der Schuft! – wie trat er nicht zur allerungelegensten Zeit, dafür aber mit wie gespenstischer Zudringlichkeit wieder, in Rom zwischen mich und den Gegenstand meines Ehrgeizes! Ebenso in Wien – in Berlin – und in Moskau! Welcherorts, wahrlich, hätte ich nicht bittersten Grund gehabt, ihn herzinniglich zu verfluchen? Vor seiner unerforschlichen 308
Tyrannei floh ich am Ende, von Panik gepackt, dahin, wie vor einer Seuche; floh zu den äußersten Enden der Erde - und floh vergebens. Und wieder, immer wieder, in geheimen Aussprachen mit meinem eigenen Geist, stellte ich mir dann die Fragen: »Wer ist er? – woher kommt er? – und was sind seine Ziele?«. Aber keine Antwort stellte sich ein. Und anschließend analysierte ich, in minutiösen Analysen, die Art und die Methoden und die bezeichnenden Züge seiner impertinenten Aufseherrolle. Aber selbst so ergab sich äußerst wenig, auf das man irgend Schlüssiges hätte begründen können. Das eine war natürlich auffallend, daß in keinem der zahlreichen Fälle, in denen er letzthin meinen Pfad gekreuzt, er ihn anders gekreuzt hätte, als um Pläne zu hintertreiben oder Handlungen zu vereiteln, die, wäre mir ihre Durchführung gelungen, vermutlich böses Unheil zur Folge gehabt hätten. Armselige Rechtfertigung, traun, für so viel gebieterisch angemaßte Autorität! Armselige Entschädigung, um mir derart hartnäckig, derart beleidigend, das naturgegebene Recht auf Handlungsfreiheit zu ver kümmern! Auch hatte ich gezwungenermaßen zur Kenntnis nehmen müssen, wie mein Quälgeist es schon seit sehr langer Zeit fertig zu bringen verstand, daß ich, während er seine diversen Eingriffe in meine Willensakte ausübte, auch nicht einen Moment mehr seine Gesichtszüge zu sehen bekam; (obschon er seine andere Grille, nämlich genau identisch mit mir gekleidet zu gehen, aufs peinlichste und mit wahrhaft wundersamer Fertigkeit beibehielt). Mochte nun Wilson sein was er wollte: dies zumindest war ja doch wohl die blanke Affektiertheit, wenn nicht gar Albernheit. Konnte er sich etwa, auch nur einen Augenblick lang, einbilden, daß ich in dem Mahner von Eton – dem Vernichter meiner Ehre zu Oxford – in ihm, der meinen Bestrebungen in Rom in die Quere kam, meiner Rache in Paris, meiner leidenschaftlichen Liebe in Neapel, oder in Ägypten 309
dem, was er, völlig schief, als meine Habsucht bezeichnete daß ich in diesem, meinem Erz-Feind und Bösen Genius, etwa nicht den William Wilson meiner ersten Schultage erkennen würde - den Namensvetter, den Kameraden, den Nebenbuhler – den gehaßten und gefürchteten Nebenbuhler bei Dr. Bransby? Ausgeschlossen! - Aber ich eile zur letzten, verhängnisvollen Szene des Dramas. Soweit hatte ich seine gebieterische Herrschaft praktisch untätig über mich ergehen lassen. Das Empfinden tiefer Ehrfurcht, womit ich den hohen sittlichen Charakter, die majestätische Weisheit, die scheinbare Allgegenwärtigkeit und Allmacht Wilsons zu betrachten gewohnt war, und wozu noch ein Gefühl ausgesprochenen Grauens hinzutrat, mit dem gewisse andere Züge in seinem ganzen Wesen und Auftreten mich erfüllten, hatten sich bisher in dem Sinne ausgewirkt, mir die Idee meiner eigenen absoluten Schwäche und Hilflosigkeit einzuhämmern und mir eine unbedingte, obwohl von bitterlichem Widerstreben begleitete Unterwerfung unter seine Willkürherrschaft nahezulegen. Aber letzthin hatte ich mich hundertprozentig dem Weine verschrieben; und dessen tollmachender Einfluß auf mein mir angeerbtes Temperament ließ mich einer Beaufsichtigung mehr und mehr überdrüssig werden. Ich fing an zu murren – zu stutzen – Widerstand zu leisten. Und, war es nur Einbildung, die mich zu dem Glauben bewog, daß mit dem Anwachsen meiner eigenen Festigkeit die meines Quälgeistes eine genau entsprechende Abnahme erführe? Sei dem, wie ihm wolle; ich begann jedenfalls ab nun von neuer Hoffnung durchglüht zu werden und nährte endlich heimlich in Gedanken den festen und verzweifelten Entschluß: mich dieser Sklaverei nicht länger zu unterwerfen. Es war in Rom, zur Zeit des Karnevals von 18--, daß ich an einer Maskerade im Palazzo des neapolitanischen Herzogs Di Broglio teilnahm. Ich hatte mich noch freisamlicher denn son sten den Verlockungen des Wein-Büffets überlassen; was zur 310
Folge hatte, daß die erstickende Atmosphäre der überfüllten Räume mich über die Maßen behelligte. Auch trug die Schwierigkeit,-mir meinen Weg durch all das gesellschaftliche Laby rinth zu bahnen, nicht wenig zur Verschlechterung meiner Laune bei; war ich doch (man erlasse mir das Geständnis, mit welch unwürdigem Motiv) eifrigst auf der Suche nach der jungen, der lustigen, der schönen Gattin des alten und halbkindischen Di Broglio. Mit einer etwas allzu leichtfertigen Vertraulichkeit hatte sie mir zuvor das Geheimnis zukommen lassen, in welche Maske verkleidet sie erscheinen würde; und ich, der ich ihrer Person flüchtig ansichtig geworden war, beeilte mich nunmehr, mir Bahn zu brechen, um in ihre Gegenwart zu gelangen. - In diesem Augenblick fühlte ich, wie eine leichte Hand sich mir auf die Schulter legte, und vernahm wieder das unvergeßliche, leise, schändliche Wispern in meinem Ohr. In einem wahren Tobsuchtsanfall von Wut fuhr ich herum zu ihm, der mich dergestalt unterbrochen hatte, und packte ihn heftig beim Kragen. Er war, wie ich schon erwartet hatte, mit einem Kostüm angetan, das das meinige hätte sein können; eine spanische capa also, aus blauem Samt, um die Taille zusammengehalten von einem carminenen Gurt, darin ein Stoßdegen. Sein Gesicht war gänzlich hinter einer Maske aus schwarzer Seide verborgen. »Du Schuft!« sagte ich, mit einer Stimme, heiser vor Wut; und jede Silbe, die ich hervorbrachte, gab meiner Raserei neuen Brennstoff: »Du Schuft! Betrüger! Verwünschter Bube! Du sollst nicht - sollst mir nicht bis zum Tode auf Schritt und Tritt nachspüren! Folge mir; oder ich ersteche dich hier auf der Stelle!« – und ich erzwang mir einen Weg aus dem Ballsaal in ein kleines, angrenzendes Vorzimmer – wobei ich ihn, wie ich ging, unwiderstehlich und unwiderstanden mit mir schleifte. Beim Eintreten noch schleuderte ich ihn wutvoll von mir. Er stolperte gegen die Wand; während ich mit einem Fluche die 311
Tür schloß und ihm befahl, zu ziehen! Er zauderte einen Augenblick nur; dann, mit einem kaum vernehmbaren Seufzen, zog er schweigend und setzte sich in Verteidigungsstellung. Unser Kampf war jedoch nur kurz. Ich war außer mir vor jeglicher Art wildester Erregung und fühlte in meinem einen Arm die Energie und Macht einer Armee. Binnen weniger Sekunden hatte ich ihn durch schiere Kraft an die getäfelte Wand getrieben; und rammte ihm, dem mir dergestalt auf Gnade und Ungnade Preisgegebenen, den Degen mit brutaler Wildheit in die Brust und mehrfach durch und durch. Im gleichen Augenblick probierte jemand außen die Klinke der Tür. Ich beeilte mich, eine unberufene Einmischung zu verhindern; und kehrte dann unverzüglich zu meinem sterbenden Widersacher zurück. Aber welche von Menschen gesprochene Sprache kann das Erstaunen, das Entsetzen annähernd wiedergeben, das bei dem Schauspiel, das sich meinem Auge jetzt darbot, Besitz von mir ergriff? Der kurze Zeitraum, wo ich den Blick abwandte, hatte anscheinend hingereicht, eine durchgreifende Veränderung der Zimmer einrichtung am oberen, entfernteren Ende zu bewirken. Ein hoher Spiegel – so schien es mir zuerst in meiner Verwirrung – stand nunmehr dort, wo vordem keiner sichtbar gewesen war; und als ich, in einem Übermaß von Grausen, darauf zutrat, kam mir mein eignes Bild entgegen, aber ganz bleich im Gesicht und blutbespritzt, auch schwächlichen, wankenden Ganges. So schien es, sagt' ich; doch so war es nicht. Es war mein Widersacher – war Wilson, der da vor mir stand, im Todes kampf, der Auflösung nahe. Seine Maske und capa lagen, wie er sie von sich geworfen hatte, auf dem Boden, und es war kein Faden in all seiner Kleidung – nicht eine Linie in all den scharfgeprägt- und unverwechselbaren Zügen seines Gesichts, die nicht, bis in die allerabsoluteste Identität, auch die meinigen gewesen wären! Es war Wilson; aber er sprach mitnichten länger im 312
Wisperton, und ich hätte mir leichthin einbilden können, ich selber sei es, der rede, als er die Worte formte: »Du hast gesiegt, und ich trete ab. Doch von nun an bist auch Du tot – tot für die Welt, für Himmel und Hoffen. In mir warst Du am Leben – nun, in meinem Tode, schau in diesem Bild, es ist Dein eigenes, wie gänzlich Du dich selbst gemordet hast.«
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Ambrose Bierce Einer von den Vermißten Jerome Searing, gemeiner Soldat in der Armee General Sher mans, die damals dem Feind bei Kenesaw Mountain in Georgia gegenüberstand, wandte einer kleinen Gruppe von Offizieren, mit denen er leisen Tones geredet hatte, den Rücken, stieg über die leichte Linie von Erdwällen und entschwand im Wald. Keiner der hinter den Wällen aufgereihten Soldaten hatte ein Wort zu ihm gesagt, noch hatte er auch nur genickt, als er sie passierte, aber alle, die ihn sahen, begriffen, daß dieser tapfere Mann mit irgendeiner gefahrvollen Aufgabe betraut worden war. Jerome Searing, obgleich nur Gemeiner, diente nicht in den vordersten Linien, sondern war zum Dienst beim Divisionshauptquartier abkommandiert und wurde in den Listen als Ordonnanz geführt. >Ordonnanz< ist ein Begriff, der eine Unmenge von Pflichten umschließt. Eine Ordonnanz kann Bote sein, Schreiber, Offiziersbursche - überhaupt alles. Er kann Dienste leisten, für die es in den Verordnungen und Militärreglements keine Bestimmungen gibt. Die Art dieser Dienste mag abhängig sein von seinen Fähigkeiten, von Gunst, vom Zufall. Der Gemeine Searing, ein unvergleichlicher Scharfschütze, jung - es ist überhaupt erstaunlich, wie jung wir alle in jenen Tagen waren -, verwegen, intelligent und unempfänglich für Furcht, war ein Patrouillengänger. Der General, der seine Division kommandierte, gab sich nicht damit zufrieden, Befehlen blindlings zu folgen, ohne zu wissen, was an seiner Front vorging, selbst dann nicht, wenn sein Kommando nicht für besondere Aufgaben eingesetzt war, sondern einen Frontabschnitt innerhalb der Linie der Armee bildete. Auch war er nicht befriedigt, wenn er seine Kenntnisse über den Gegner vor ihm durch die üblichen Kanäle bekam. Er wollte mehr wissen als das, was er vom Korpskommandeur erfuhr, und mehr als nur von Zusammenstößen der Vorposten 314
und von Schützengeplänkeln. Daher denn Jerome Searing – mit seinem außerordentlichen Wagemut, seinem Jagdinstinkt, seinen scharfen Augen und seinen zuverlässigen Meldungen. Im heutigen Fall waren die Instruktionen einfach: so nah wie möglich an die feindlichen Linien heranzukommen und alles in Erfahrung zu bringen, was er nur konnte. In wenigen Minuten hatte er die Vorpostenkette erreicht, wo die diensttuenden Soldaten in Gruppen von zweien oder vieren hinter kleinen Erdwällen lagen, die aus der leichten Bodensen kung aufgeschaufelt waren, während ihre Flinten aus den grü nen Büscheln herausragten, mit denen sie ihre primitiven Verteidigungsstellungen getarnt hatten. Ohne Unterbrechung erstreckte sich der Wald gegen die Front zu, so einsam und schweigend, daß man sich nur mit angestrengter Phantasie vorstellen konnte, er sei von bewaffneten Männern bevölkert, munteren und wachsamen, ein Wald voll schrecklicher Möglichkeiten für ein Gefecht. Nachdem Searing einen Augenblick in einem der Schützenlöcher pausiert hatte, um die Kameraden über sein Vorhaben zu informieren, kroch er verstohlen auf Händen und Knien weiter und war bald in einem dichten Unterholzdickicht verschwunden. »Das ist das letzte, was wir von ihm zu sehen bekommen haben«, sagte einer der Leute. »Ich wünschte, ich hätte seine Flinte. Diese Kerle werden ein paar von uns damit abknallen.« Searing kroch weiter, indem er alles, was ihm der Zufall bot, jede Senke, jedes Gebüsch, ausnützte, um sich bessere Deckung zu verschaffen. Seine Augen drangen überallhin, seine Ohren registrierten jedes Geräusch. Er atmete lautlos und schmiegte sich an den Boden. Es war ein langsames Tun, aber kein langweiliges. Die Gefahr machte es erregend, aber die Erregung machte sich physisch nicht bemerkbar. Sein Puls ging so regelmäßig, seine Nerven waren so ruhig, als ob er versuchte, einen Spatzen zu fangen. >Es scheint lange zu dauern<, dachte er, >aber ich kann 315
noch nicht weit gekommen sein. Noch bin ich am Leben.< Er lächelte selber über seine Methode, die Entfernung zu schätzen, und kroch weiter. Eine Sekunde darauf drückte er sich plötzlich flach an die Erde und lag reglos, Minute um Minute. Durch eine enge Öffnung im Buschwerk hatte er einen kleinen Hügel aus gelbem Lehm gesehen – einen der feindlichen Schützengräben. Nach einer Weile hob er vorsichtig den Kopf, zentimeterweise, dann den Körper, indem er ihn auf die rechts und links ausgespreizten Hände stützte, während er die ganze Zeit gespannt auf den Lehmwall sah. Im nächsten Augenblick war er auf den Füßen, das Gewehr in der Hand, und rannte blitzschnell vorwärts, ohne viel auf Deckung zu achten. Er hatte die Anzeichen, worin immer sie auch bestanden, richtig gedeutet: der Feind war abgezogen. Um über jeden Zweifel hinaus völlig sicher zu sein, bevor er zurückging und eine dermaßen wichtige Nachricht überbrachte, drang Searing über die Linien der verlassenen Gräben weiter vor und lief durch den jetzt lichteren Wald von Deckung zu Deckung, die Augen voller Wachsamkeit, um eine mögliche Nachhut zu erspähen. Er gelangte an den Rand einer Ansied lung, einer dieser verlassenen, verwüsteten Heimstätten der letzten Kriegsjahre, überwachsen von dornigem Gebüsch, häßlich, mit zerbrochenen Zäunen, trostlos mit ihren verloren dastehenden Gebäuden, die an Stelle von Türen und Fenstern leer gähnende Löcher hatten. Nach scharfer Prüfung aus der sicheren Deckung einer jungen Kieferngruppe lief Searing leichtfüßig über ein Feld und durch einen Obstgarten zu einem kleinen Bau, der gesondert von den übrigen Farmhäusern auf einer leichten Erhöhung stand und von dem er meinte, er würde ihm die Möglichkeit geben, einen großen Teil des Gebietes zu überblicken, in dessen Richtung, wie er annahm, der Feind sich zurückgezogen hatte. Das Gebäude, das ursprünglich aus einem einzigen Raum bestanden hatte, erhob sich auf vier Pfosten von ungefähr zehn Fuß Höhe und war nur noch wenig 316
mehr als ein bloßes Dach. Der Fußboden war verfallen, die Querbalken und Planken lagen auf der Erde übereinander gehäuft oder waren mit einem ihrer Enden oben hängen geblieben und starrten nach verschiedenen Richtungen. Die vier Pfosten selbst standen nicht mehr gerade, und das Ganze sah aus, als ob es schon bei der Berührung eines Fingers zusammenbrechen würde. Im Schutz der Trümmer aus Balken und Brettern blickte Searing über das offene Feld, das zwischen seinem Aussichtspunkt und einem um eine halbe Meile entfernten Ausläufer des Kenesawgebirges lag. Eine Straße, die aufwärts und über diesen Ausläufer hinwegführte, war voller Truppen der Nachhut des zurückweichenden Feindes -, die Rohre ihrer Geschütze funkelten im morgendlichen Sonnenlicht. Searing hatte nun alles in Erfahrung gebracht, was zu wissen er überhaupt nur hoffen konnte. Es war seine Pflicht, so rasch wie möglich zu seinem Kommando zurückzukehren und über seine Entdeckung zu berichten. Aber die graue Infanterie kolonne der Konföderierten, die sich mühselig die Bergstraße hinaufarbeitete, brachte ihn in die größte Versuchung. Seine Flinte, eine gewöhnliche >Springfield<, aber mit einem vorgesetzten Kugelvisier und Stecherauslösung ausgestattet, hätte ohne weiteres ihre ein und ein viertel Unzen Blei zischend mitten in die Kolonne geschickt. Das hätte zwar die Dauer und den Ausgang des Krieges nicht weiter beeinflußt, aber Töten ist nun einmal das Geschäft des Soldaten. Auch sein Vergnügen ist es, falls er ein guter Soldat ist. Searing spannte seine Flinte und stellte den Stecher ein. Aber es war von Anbeginn der Zeiten bestimmt, daß der Ge meine Searing an diesem hellen Sommermorgen niemanden morden sollte, noch sollte er vom Rückzug der Konföderierten Rapport erstatten. Denn seit unmeßbaren Ewigkeiten hatten die Ereignisse sich zu diesem erstaunlichen Mosaik, dessen undeutlich erkennbaren Teilen wir den Namen >Geschichte< 317
geben, so zusammengefügt, daß die Aktionen, die er beabsichtigte, die Harmonie des Musters zerstört hätten. Fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte die höhere Macht, die mit der Ausführung der Arbeit, dem Entwurf entsprechend, betraut war, gegen eine derartige Kalamität Vorkehrungen getroffen, indem sie die Geburt eines gewissen Kindes männlichen Ge schlechts in einem kleinen Nest am Fuß der Karpaten veran laßte, es sorgfältig großzog, seine Erziehung überwachte, seine Wünsche auf eine militärische Laufbahn hinlenkte und es zu gegebener Zeit zum Artillerieoffizier machte. Durch das Zusammentreffen einer ungeheuren Zahl begünstigender Einwirkungen und ihres Übergewichts gegenüber einer ungeheuren Zahl hemmender Einwirkungen war dieser Artillerieoffizier dazu gebracht worden, einen Verstoß gegen die Disziplin zu begehen und aus dem Lande seiner Geburt zu entfliehen, um der Strafe zu entkommen. Er war nach New Orleans statt nach New York gelenkt worden, wo ihn am Hafen ein Rekrutierungsbeamter erwartete. Er wurde angeworben und befördert, und die Dinge wurden dergestalt angeordnet, daß er nunmehr drei Meilen von da, wo gerade Jerome Searing, der Patrouillengänger der Unionstruppen, stand und seine Flinte spannte, eine konföderierte Batterie kommandierte. Nichts war außer acht gelassen worden – bei jedem Schritt im Lauf des Lebens dieser beiden Männer und im Leben ihrer Vorfahren und ihrer Zeitgenossen war das Rechte geschehen, um das gewünschte Resultat herbeizuführen. Wäre irgend etwas in diesen unermeßlichen Verkettungen übersehen worden, so hätte der Gemeine Searing vielleicht an diesem Vormittag auf die abziehenden Konföderierten geschossen und womöglich sein Ziel verfehlt. Wie es sich aber nun verhielt, so amüsierte sich ein Artilleriehauptmann der Konföderierten, der nichts Besseres zu tun hatte, während er darauf wartete, bis die Reihe an ihn kam, abzuziehen und wegzukommen, mit einer Feldhaubitze, die zu seiner Rechten versteckt war, etwas 318
anzuvisieren, was er fälschlich für ein paar Offiziere der Unionstruppen auf dem Hügelkamm hielt, und zog das Geschütz ab. Der Schuß flog weit über sein Ziel. Als Jerome Searing den Hahn seiner Flinte spannte und, die Augen auf die fernen Konföderierten gerichtet, überlegte, wohin er zielen könnte, um die meiste Aussicht zu haben, aus irgend jemandem eine Witwe oder eine Waise oder eine kinderlose Mutter zu machen – vielleicht sogar all dies zugleich, denn der Gemeine Searing war, obwohl er schon wiederholt eine Beförderung zurückgewiesen hatte, doch nicht ganz ohne einen gewissen Ehrgeiz –, hörte er einen sausenden Ton in der Luft, wie von den Schwingen eines großen Vogels, der auf seine Beute niederstößt. Rascher, als er die Steigerung wahrzunehmen imstande war, wuchs der Ton zu einem heiseren, entsetzlichen Dröhnen an, als das Geschoß, das dies verursachte, aus dem Himmel auf ihn niedersauste, mit betäubendem Anprall gegen einen der Pfosten stieß, die das Durcheinander der Spanten über ihm stützten, ihn zu Kleinholz zersplitterte und das baufällige Gefüge mit lautem Krachen, in Wolken von Staub, herunterbrachte. Leutnant Adrian Searing, der das Vorpostenkommando an dem Frontabschnitt hatte, an dem sein Bruder Jerome bei seinem Auftrag vorübergekommen war, saß aufmerksam horchend hinter seiner Brustwehr an der Front. Nicht der mindeste Laut entging ihm. Der Schrei eines Vogels, das Belfern eines Eichhörnchens, das Wehen des Windes in den Pinien - alles wurde sorgfältig von seinen angestrengten Sinnen registriert. Plötzlich hörte er, unmittelbar gegenüber seiner Stellung, aus der Ferne ein schwaches, verworrenes Poltern, wie vom Zusammenbrechen eines Gebäudes. Im gleichen Augenblick kam von rückwärts her ein Offizier zu Fuß auf ihn zu und salutierte. »Herr Leutnant«, sagte der Adjutant, »der Oberst befiehlt Ihnen, Ihre Linie weiter nach vorn zu verlegen und Fühlung mit dem Feind zu nehmen, wenn Sie ihn finden. 319
Wenn nicht, sollen Sie weiter vorrücken, bis Ihnen Halt befohlen wird. Es besteht nämlich Grund zur Annahme, daß der Feind sich zurückgezogen hat.« Der Leutnant nickte und antwortete nichts. Der andere Offizier ging. Eine Minute später hatten die Soldaten, durch die Unteroffiziere in gedämpftem Ton von dem Befehl in Kenntnis gesetzt, ihre Schützengräben verlassen, hatten in breiter Front Aufstellung genommen und bewegten sich in Gefechtsordnung voran, mit zusammengebissenen Zähnen und klopfenden Herzen. Der Leutnant blickte mechanisch auf seine Uhr: achtzehn Minuten nach sechs. Als Jerome Searing wieder zu Bewußtsein kam, begriff er nicht gleich, was geschehen war. Tatsächlich dauerte es eine Weile, bis er auch nur die Augen öffnete. Eine Zeitlang meinte er, daß er gestorben und begraben sei, und versuchte sich an irgendwelche Vorgänge bei der Beerdigungsfeier zu erinnern. Er dachte, daß seine Frau über seinem Grab knie und das Gewicht der Erde auf seiner Brust durch das ihrige noch vermehre. Beides zusammen, Witwe und Erde, hatten seinen Sarg eingedrückt. Wenn die Kinder sie nicht dazu überredeten, nach Hause zu gehen, würde er nicht mehr lange imstande sein zu atmen. Er hatte das Gefühl von einer Ungerechtigkeit. >Ich kann nicht mit ihr reden<, dachte er, >die Toten haben keine Stimme. Und wenn ich die Augen aufmache, bekomme ich sie voll Erde.< Er machte die Augen auf - ein großes Stück blauer Himmel, hinter einem Saum von Baumkronen. Im Vordergrund, die Aussicht auf ein paar dieser Bäume versperrend, ein hoher, schwarz-brauner Erdwall von kantigem Umriß und durchkreuzt von einer verworrenen, planlosen Anlage gerader Furchen, und das Ganze in unermeßlich weiter Ferne - einer Ferne, so unbegreiflich groß, daß es ihn ermüdete und er die Augen wieder schloß. Im gleichen Moment aber, in dem er das tat, wurde er sich einer unerträglichen Helligkeit bewußt. In seinen 320
Ohren war ein Ton wie das tiefe, rhythmische Donnern einer weit entfernten Meeresbrandung, die in regelmäßig einander folgenden Wellen auf einen Strand rollt. Und aus diesem Lärm heraus, anscheinend dazu gehörig, möglicherweise aber auch jenseits davon, aber vermischt mit einem unaufhörlichen Unterton, kamen die deutlich artikulierten Worte: >Jerome Searing, du bist gefangen wie 'ne Ratte in 'ner Falle - in 'ner Falle, Falle, Falle.< Plötzlich brach tiefe Stille ein, eine schwarze Finsternis, eine unendliche Gelassenheit, und Jerome Searing, seines Ratteseins durchaus bewußt und gänzlich überzeugt von der Falle, in die er geraten war, erinnerte sich an alles und machte, keineswegs alarmiert, die Augen wieder auf, um die Stärke seines Feindes zu erkunden, zu überprüfen und auf Verteidigung zu sinnen. Er war gefangen in zurückgelehnter Haltung, sein Rücken fest gestützt durch einen soliden Balken. Ein weiterer Balken lag quer über seiner Brust, aber er war imstande gewesen, ein wenig unter ihm zurückzuweichen, so daß er nicht mehr so auf ihn drückte, wenn er auch nicht wegzuschieben war. Eine im rechten Winkel mit dem Balken verbundene Eisenstrebe hatte ihn gegen einen Bretterstapel zu seiner Linken gedrängt und keilte ihm auf dieser Seite den Arm ein. Seine Beine, leicht gespreizt und am Boden ausgestreckt, waren bis zu den Knien hinauf von einem Trümmerberg bedeckt, der über seinen beengten Horizont ragte. Sein Kopf steckte so unbeweglich fest wie in einem Schraubstock. Bewegen konnte er seine Augen, seinen Kiefer – weiter nichts. Lediglich sein rechter Arm war teilweise frei. »Du mußt uns hier heraushelfen«, sagte er zu ihm. Aber er konnte ihn weder unter dem schweren Balken, der quer über seinem Oberkörper lag, vorziehen, noch ihn mehr als sechs Zoll vom Ellbogen an von sich weg bewegen. Searing war weder ernstlich verwundet, noch hatte er Schmerzen. Ein derber Schlag auf den Kopf von einem Stück des zersplitterten Pfostens, der gleichzeitig mit dem entsetzlich 321
jähen Schock seines Nervensystems erfolgt war, hatte ihn nur betäubt. Die Zeit seiner Bewußtlosigkeit, mit einbegriffen den Moment, in dem er wieder zu sich kam und jene eigenartigen Vorstellungen gehabt hatte, hatte wahrscheinlich nicht länger als ein paar Sekunden gedauert, denn der Staub von den Trümmern hatte sich noch nicht einmal ganz gesetzt, als er schon mit einer vernünftigen Begutachtung der Situation begann. Mit seiner teilweise freien rechten Hand versuchte er jetzt den Balken zu greifen, der quer über seiner Brust, aber nicht gänzlich dagegen gepreßt lag. Es war ganz unmöglich. Er war nicht imstande, die Schulter so hinunterzudrücken, daß er den Ellbogen über die Sparrenkante bekommen konnte, die seinen Knien am nächsten war. Wenn er aber dazu nicht imstande war, so konnte er den Unterarm und die Hand nicht heben, um den Balken zu greifen. Die Strebe, die mit dem Balken nach unten und rückwärts einen Winkel bildete, hinderte ihn, irgend etwas in dieser Richtung zu unternehmen, und der Raum zwischen ihr und seinem Körper war nicht halb so groß wie die Länge seines Unterarmes. Es war klar, daß er seine Hand weder unter noch über den Balken bekommen konnte, er konnte ihn tatsächlich nicht einmal berühren. Nachdem er dieses Unvermögen eingesehen hatte, ließ er davon ab und begann darüber nachzudenken, ob er etwas von den Trümmern, die über seine Beine getürmt waren, erreichen könnte. Als er den Haufen betrachtete, um diese Frage zu entscheiden, wurde seine Aufmerksamkeit von etwas gefesselt, was ein Ring aus glänzendem Metall zu sein schien, seinen Augen unmittelbar gegenüber. Zuerst kam es ihm so vor, als ob der Ring, ein bißchen weiter als ein halber Zoll im Durchmesser, irgendeine tiefschwarze Substanz umschließe. Plötzlich aber merkte er, daß das Schwarze bloßer Schatten und der Ring in Wirklichkeit die aus dem Trümmerhaufen herausragende Mündung seiner Flinte war. Er brauchte nicht 322
lange, um sich darüber zu beruhigen, daß das wirklich stimmte – falls es eine Beruhigung war. Wenn er ein Auge zumachte, konnte er ein kleines Stück den Lauf entlangsehen, bis dorthin, wo er vom Schutt verborgen wurde. Er konnte mit dem entsprechenden Auge die eine Seite im genau gleichen Winkel sehen wie die andere Seite mit dem anderen Auge. Mit dem rechten Auge betrachtet, schien die Waffe auf eine linke Stelle seines Kopfes gerichtet zu sein und umgekehrt. Die Oberseite des Laufes war er nicht imstande zu sehen, aber die untere Seite des Schaftes konnte er in einem leichten Winkel erkennen. Die Waffe zielte wahrhaftig genau auf die Mitte seiner Stirn. Bei der Erkenntnis dieses Umstandes und in Erinnerung daran, daß er kurz vor dem Mißgeschick, dessen Resultat die jetzige ungemütliche Situation war, seine Flinte gespannt und den Abzug so eingestellt hatte, daß die kleinste Berührung ihn auslösen konnte, überkam den Gemeinen Searing ein Gefühl von Unbehagen. Aber dies Gefühl war so weit wie nur möglich von Furcht entfernt. Er war ein tapferer Mensch, so ziemlich gewöhnt an den Anblick von Flinten und, was dies betrifft, auch an den von Kanonen. Und jetzt entsann er sich mit so etwas wie Erheiterung an einen Vorfall, den er beim Sturm auf Missionary Ridge erlebt hatte, wo er, zu einer der feindlichen Schießscharten hinaufgehend, eine schwere Kanone sah, die eine Kartätsche nach der anderen zwischen die Angreifer feuerte, und wie er einen Augenblick gemeint hatte, das Geschütz sei aus dem Gefecht gezogen worden. Er konnte in der Öffnung nichts weiter sehen als einen metallenen Kreis. Was das war, hatte er gerade noch rechtzeitig begriffen, um einen Schritt zur Seite zu tun, als schon ein neuer Eisenhagel über den wimmelnden Abhang hinunterprasselte. Es ist eines der gewöhnlichsten Vorkommnisse im Leben eines Soldaten, mit Feuerwaffen zu tun zu haben, auch mit solchen, die mißgünstig hinter ihm her zischen. Dafür ist ein Soldat ja da. 323
Dennoch – der Soldat Searing fand die Situation nicht durchaus genußreich und wandte seine Augen weg. Nachdem er ziellos eine Weile mit seiner rechten Hand herumgetastet hatte, machte er ohne Ergebnis den Versuch, seine Linke zu befreien. Dann probierte er, mit dem Kopf loszukommen, dessen Unbeweglichkeit um so ärgerlicher war, als er nicht wußte, was ihn eigentlich festhielt. Sodann versuchte er seine Füße herauszuziehen, aber während er zu diesem Zweck die kräftigen Muskeln seiner Beine bemühte, fiel ihm ein, daß das Rütteln an dem Trümmerhaufen, der sie fesselte, das Gewehr auslösen konnte. Wie die Flinte überhaupt alles, was ihm bisher schon zugestoßen war, überstanden hatte, konnte er nicht begreifen, wenn auch die Erinnerung ihm in dieser Hinsicht verschiedene Fälle lieferte. Besonders an einen entsann er sich: da hatte er in einem Moment der Zerstreutheit den Gewehrkolben benutzt, um einem anderen Gentleman den Schädel einzuschlagen, und erst hinterher bemerkt, daß die Waffe, die er so emsig, den Lauf in der Hand, geschwungen hatte, geladen, mit Zündhütchen versehen und gänzlich entsichert war - die Kenntnis dieser Sachlage hätte seinen Gegner zweifellos zu längerem Widerstand ermuntert. Immer hatte er bei der Erinnerung an diesen Schnitzer der grünen Anfänge seiner Soldatenlaufbahn gelächelt, aber jetzt lächelte er nicht. Er wandte die Augen wieder der Gewehrmündung zu und dachte einen Augenblick, sie habe sich bewegt. Sie schien jetzt etwas näher zu sein. Wieder sah er weg. Die Kronen der fernen Bäume jenseits des Plantagengebietes interessierten ihn. Vorher hatte er nicht wahrgenommen, wie leicht und befiedert sie aussahen und wie tief das Blau des Himmels war, sogar zwischen den Ästen, wo er durch das Grün etwas blasser wirkte. Über ihm schien er beinahe schwarz. >Es wird ungemütlich heiß hier werden, wenn es auf den Mittag zugeht<, dachte er, >ich möchte wissen, in welche Himmelsrichtung ich eigentlich schaue.< 324
Aus den Schatten, die er zu sehen vermochte, schloß er, daß es Norden war. So würde er wenigstens nicht die Sonne in die Augen bekommen, und Norden – ja, das war dort, wo seine Frau und seine Kinder waren. »Pah!« rief er ganz laut, »was haben denn die damit zu tun?« Er schloß die Augen. »Wenn ich hier doch nicht herauskomme, kann ich genausogut schlafen. Die Rebellen sind weg, und un sere Leute werden ganz bestimmt hier nach Proviant stöbern kommen. Die werden mich schon finden.« Aber er schlief nicht. Allmählich merkte er, daß ihm die Stirn weh tat. Es war ein dumpfer Schmerz, zuerst kaum wahrnehmbar, dann aber wurde er immer unangenehmer. Searing machte die Augen auf, und schon war es weg – er schloß sie, und es war wieder da. »Verflucht noch mal!« sagte er unsachlicherweise und starrte wieder in den Himmel. Er hörte das Zwitschern der Vögel, die seltsam metallischen Töne der Feldlerche, wie vibrierend aneinanderklirrende Degen, und er versank in frohe Erinnerungen an seine Kindheit, spielte wieder mit Bruder und Schwester, rannte querfeldein, scheuchte mit Geschrei die Lerchen vom Boden auf, gelangte in den dunklen Wald drüben und ging mit zaghaften Schritten den undeutlich erkennbaren Pfad zum Geisterfelsen entlang, um schließlich mit hörbarem Herzklopfen vor der Höhle des Toten Mannes zu stehen und danach zu trachten, in ihr grausiges Geheimnis einzudringen. Zum ersten Mal bemerkte er, daß der Eingang zur Spukhöhle von einem Metallring umschlossen war. Sodann versank alles übrige, und wie zuvor starrte er in die Mündung seiner Flinte. Hatte sie aber vorhin näher geschienen, so schien sie jetzt in unbegreiflicher Ferne und eben deshalb um so unheimlicher. Er schrie auf, und erschreckt durch etwas in seiner eigenen Stimme - den Ton der Angst -, betrog er sich selbst mit der Lüge: >Wenn ich nicht laut rufe, könnte ich ja womöglich bis ans Lebensende hierbleiben.< 325
Nun machte er keinen Versuch mehr, dem drohenden Starren des Flintenlaufs zu entgehen. Wenn er für eine Sekunde die Augen abwandte, so war es, um nach einer Abhilfe zu schauen, obgleich er auf keiner Seite den Boden sehen konnte, und er erlaubte seinen Augen dann wieder, zurückzukehren, dem hyp notisierenden Zwang gehorchend. Wenn er sie schloß, geschah es aus Ermattung, und sofort zwang ihn der stechende Schmerz in der Stirn – die Ankündigung und Drohung der Kugel –, sie wieder aufzumachen. Die Spannung für Nerven und Gehirn war zu groß, die Natur erlöste ihn durch Momente von Bewußtlosigkeit. Aus einer solchen erwachend, fühlte er einen heftigen, schneidenden Schmerz in der rechten Hand, und als er die Finger aneinander legte und die Handflächen mit ihnen rieb, spürte er, daß sie naß und schlüpfrig waren. Er konnte zwar die Hand nicht sehen, kannte aber das Gefühl: es war fließendes Blut. Während er besinnungslos war, hatte er mit der Hand gegen die spitzen Holztrümmer gehämmert, sie war voller Splitter. Er beschloß sein Schicksal mannhafter zu ertragen. Er war ein schlichter, einfacher Soldat und hatte keinen Glauben und nicht viel Le bensweisheit. Er konnte nicht wie ein Heros mit großen und bedeutenden Worten auf den Lippen sterben, nicht einmal, wenn jemand dagewesen wäre, sie zu hören, aber er konnte in anständiger Haltung sterben, und das wollte er. Aber wüßte er doch nur, wann der Schuß zu erwarten war! Ein paar Ratten, die wahrscheinlich den Schuppen bewohnten, kamen und schnüffelten und polterten umher. Eine erkletterte den Trümmerhaufen, der das Gewehr hielt, eine andere folgte ihr und dann noch eine. Searing betrachtete sie zunächst mit Gleichgültigkeit, dann mit freundlichem Interesse. Dann, als der Gedanke, daß sie den Flintenabzug berühren könnten, seinen verwirrten Kopf durchfuhr, fluchte er, sie sollten sich davonmachen. »Euch geht das gar nichts an!« schrie er. 326
Die Tiere verschwanden. Später würden sie sicher zurückkommen, über sein Gesicht herfallen, seine Nase anknabbern, seine Kehle durchbeißen – er wußte das, aber er hoffte bis dahin schon tot zu sein. Nichts vermochte jetzt mehr seinen Blick von dem kleinen Metallring mit dem schwarzen Innern zu lösen. Der Schmerz in seiner Stirn war schneidend und gleichmäßig. Er spürte, wie er allmählich tiefer und tiefer das Gehirn durchdrang, bis ein Vordringen von dem Holz hinter seinem Kopf endlich aufge halten wurde. Jede Sekunde wurde der Schmerz unerträglicher, und nun begann er mutwillig seine zerfetzte Hand von neuem gegen die Splitter zu hämmern, um diesem gräßlichen Schmerz entgegenzuwirken. In langsamer, regelmäßiger Wiederkehr schien er mit jedem Pulsschlag schärfer als beim vorigen, und manchmal schrie Searing auf: er vermeinte, er habe die tödli che Kugel schon gefühlt. Keine Gedanken an sein Heim, an Frau und Kinder, an Vaterland und Sieg. Jede Erinnerung war erloschen, die Welt war erloschen, keine Spur von ihr übrigge blieben. Hier, in der Wirrnis von Spanten und Brettern, ist das gesamte Universum. Hier ist Unsterblichkeit in der Zeit, jeder Schmerz ein ewig währendes Leben. Die Pulsschläge trennen Ewigkeiten. Jerome Searing, ein Mann von Mut, der gefürchtete Gegner, der starke, entschlossene Krieger, war bleich wie ein Gespenst. Sein Kinn hing herunter, seine Augen waren aus den Höhlen getreten, er zitterte mit allen Fasern. Sein Körper war gebadet in kaltem Schweiß, und er schrie vor Angst. Er war nicht wahnsinnig – er war von Schrecken gepeinigt. Während er mit seiner zerrissenen, blutenden Hand herum tastete, griff er ein Holzstück, und als er daran zog, merkte er, daß es nachgab. Es lag parallel zu seinem Körper, und wenn er den Ellbogen, soweit der beschränkte Raum es zuließ, beugte, konnte er es jedesmal um ein paar Zoll näherziehen. Endlich war es ganz aus den Trümmern, die seine Beine bedeckten, 327
herausgelöst, und er konnte es, frei von Hemmnissen, in ganzer Länge vom Boden heben. Seine Seele füllte sich mit großer Hoffnung: vielleicht konnte er es hochbekommen oder viel mehr rückwärts, weit genug, um das Ende der Flinte damit zu heben und sie zur Seite zu stoßen oder, wenn sie zu fest einge keilt war, das Holzstück so halten, daß es die Richtung des Schusses ablenkte. Mit dieser Absicht also schob er das Holzstück zurück, Zoll um Zoll, und wagte kaum zu atmen, aus Furcht, daß sein Vorhaben mißlinge, und unfähiger denn je, seine Augen von der Flinte abzuwenden, die sich jetzt womöglich eilen würde, ihre dahinschwindenden Chancen noch wahrzunehmen. Etwas zumindest war gewonnen: in der Beschäftigung mit diesem Versuch der Selbsterhaltung fühlte er den Schmerz in seinem Kopf weniger heftig, und er hatte aufgehört zu schreien. Aber immer noch war er voller Angst, und seine Zähne klapperten wie Kastagnetten. Die Holzlatte hörte auf, seiner Hand zu folgen. Er zerrte an ihr mit aller Kraft, änderte ihre Längsrichtung, soweit er das konnte, aber sie war hinter ihm auf irgendeinen Widerstand gestoßen, und das vordere Ende war noch zu weit weg, um den Holzstoß zu heben und die Gewehrmündung zu erreichen. Tat sächlich reichte sie beinahe bis zum Abzugsbügel, der, vom Schutt nicht bedeckt, seinem rechten Auge halbwegs sichtbar war. Er versuchte die Latte mit der Hand zu zerbrechen, fand aber keinen Hebelpunkt dafür. Er begriff seine Niederlage, und sein ganzes Entsetzen kehrte zurück, zehnfach vergrößert. Die schwarze Mündung der Flinte schien zur Strafe für seine Rebellion mit einem böseren und baldigeren Tod zu drohen. Die Bahn der Kugel durch seinen Kopf schmerzte mit intensiverer Qual. Er fing wieder an zu zittern. Plötzlich aber wurde er ruhig, sein Zittern flaute ab. Er biß die Zähne zusammen und runzelte die Brauen. Sein Selbstverteidigungswillen war nicht erschöpft, ein neuer Plan 328
hatte sich von selbst in seinem Innern gebildet, ein anderer Schlachtplan. Indem er das vordere Ende der Latte hob, schob er sie vorsichtig vorwärts durch die Trümmer zur Seite des Gewehrs, bis sie gegen den Abzugsbügel drückte. Dann bewegte er das Ende langsam nach außen, bis er fühlen konnte, daß der Bügel ganz frei lag, dann machte er die Augen zu und stieß die Latte mit aller Kraft gegen den Abzug. Es erfolgte keine Explosion – das Gewehr war schon losgegangen, als es ihm beim Zusammenbrechen des Gebäudes aus der Hand gefallen war. Aber es hatte sein Werk getan: Jerome Searing war tot. Eine Vorpostenkette der Unionstruppen schwärmte über die Plantage auf den Berg zu. Sie kamen beiderseits des zerstörten Baues vorüber, ohne etwas zu bemerken. Kurz nach ihnen kommt ihr Kommandoführer Leutnant Adrian Searing. Neugierig läßt er die Augen über die Ruine schweifen und sieht einen toten Körper, halb unter Brettern und Latten begraben. Er ist so von Staub bedeckt, daß seine Kleidung ebenso grau ist wie die Uniform der Konföderierten. Das Gesicht ist gelblich weiß, die Wangen sind eingefallen, auch die Schläfen sind eingesunken, mit scharfen Furchen, die die Stirn abstoßend eng machen. Die Oberlippe, etwas hochgezogen, zeigt die weißen Zähne, krampfhaft aufeinandergebissen. Das Haar ist voller Nässe, das Gesicht ebenso feucht wie das betaute Gras ringsum. Von seinem Standort aus bemerkt der Offizier die Flinte nicht. Anscheinend ist der Mann durch das einstürzende Bauwerk getötet worden. »Seit einer Woche tot«, sagt der Offizier kurz im Weitergehen und zieht mechanisch seine Uhr, wie zur Bestätigung seiner Zeitabschätzung. Es ist vierzig Minuten nach sechs.
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Josef Nesvadba Die zweite Insel des Doktor Moreau Verehrte Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates! Ich habe eine neue Krankheit entdeckt. Und deshalb möchte ich sie Ihnen beschreiben, ehe noch die Diskussion über die Abschaffung der Medizin abgeschlossen wird. Ich selbst bin Ärztin, und ich bitte Sie, mich nicht zu verdächtigen, daß ich lediglich meinen Beruf retten will. Wir sind nicht mehr sehr zahlreich, die sogenannten Krankheiten, einst durch Schmarotzer oder durch unsere eigene Unvernunft hervor gerufen, sind völlig verschwunden, und die Präventiv maßnahmen besorgt heute jedermann selbst. Ich wollte schon einen neuen Beruf ergreifen – ich befasse mich auch mit Gymnastik, kenne mich also in den Funktionen des menschlichen Körpers gut aus und wollte in Maler- und Bildhauerwerkstätten Oberflächenanatomie vortragen -, als mich die überraschende Einladung des kosmologischen Instituts erreichte, das eine Institutsärztin suchte. »Sie werden es selbst sehen«, sagte mir der Professor für Elementarforschung, der den Direktor vertrat. »In unserem Betrieb ereignen sich in letzter Zeit seltsame Dinge. Wir haben schon mit verschiedenen Fachleuten gesprochen, und schließlich sagten wir uns, daß es nicht schaden könne, auch einen Arzt hinzuzuziehen. Doch es dauerte sehr lange, bis wir einen fanden, und in der Zwischenzeit ist ein weiterer Kollege verschwunden.« »Wieso denn? Verschwunden?« fragte ich. »Seit wann sollen Ärzte auch als Detektive arbeiten?« Er erklärte mir alles. Man teilte mir einen Raum zu, der mit Büchern und komplizierten physikalischen Apparaten ausgestattet war. In diesem Raum, den wir nach altem Brauch Ordination nannten, sollte ich auf meine Kranken warten. Ich wartete lange. Ich entsinne mich genau an den Tag, da Iwan vom Institut 330
zur Erforschung der kosmischen Krümmung zu mir kam. Er behauptete, er fühle sich nicht wohl, er wolle ausspannen und irgendwohin ans Meer fahren. Wenigstens für ein paar Tage. »Wie William und wie Stephan?« fragte ich ihn, denn wegen dieser Fälle hatte ich hier meinen Posten angetreten. »Wollen Sie in die Südsee fahren und unterwegs verschwinden wie Ihre Kollegen? Was fehlt Ihnen überhaupt? Habt ihr das untereinander heimlich abgesprochen?« Es sah ganz danach aus. Auf diese Weise würde ihre Abteilung bald leer sein. Er tat beleidigt, das Verschwinden seiner Kollegen hätte ihn genauso überrascht wie alle anderen. Er fühle sich tatsächlich nicht wohl, er wolle ausspannen, sonst nichts. Er war blaß, müde, seine Miene düster. Das Haar gelichtet, die Augen zusammengekniffen, er ging sogar ein wenig gebeugt. »Sie treiben nicht genug Sport, Sie unterziehen sich nicht den kosmetischen Kontrollen, Sie müssen sich untersuchen las sen . . .« sagte ich ihm. Aber er wollte fort. Er wollte das Institut verlassen. Ich wußte sehr gut, daß ich ihn nicht zurückhalten konnte. Da folgte ich ihm wie ein richtiger Detektiv. Natürlich ging er nicht nach Hause. Er begab sich stracks zum Standplatz der Fernraketoplane nach Ruzyn. Ich wollte nicht, daß er mich sähe, und daher stieg ich in einen anderen Aerobus ein. Auf dem Flugplatz passierte Iwan bereits die automatische Stewardeß. Er war der letzte Passagier. Vergeblich versuchte ich, hinter ihm einzusteigen. Hier zeigte sich wieder einmal, wie stur Maschinen sind. Auf dem ganzen Standplatz gab es keinen einzigen Menschen, und der automatischen Stewardeß konnte ich nichts von meiner Aufgabe erzählen. Sie hätte mich nicht verstanden, zumindest nicht gleich. Der Raketoplan startete ohne mich. Ich mußte auf den nächsten warten. Das dauerte einige Stunden. Ich konnte wenigstens nachsehen, wohin Iwan geflogen war. Der Ort hieß Arica, ich erfuhr, daß 331
es ein Hafen irgendwo in Chile sei, ich hatte den Namen noch nie gehört. Es versteht sich, daß aus Prag dorthin nicht allzu oft Raketoplane starteten. Die Reise dauerte etwa dreißig Minuten. Aber in Arica waren unzählige Menschen auf dem Flugplatz. Vor einer Weile war Alarm gegeben worden. Ein Passagier des Raketoplanes, der vor uns angekommen war, war unterwegs verschwunden. Ich mußte nicht erst nach seinem Namen fragen. Ich wußte, daß es Iwan war. Ich erfuhr, daß in letzter Zeit auf der Linie nach Arica Passagiere auf die sonderbarste Weise versch wanden. Zunächst hatte man angenommen, daß es sich um einen Fehler der Zählapparate bei der Abfertigung handele, doch die Kontrollen brachten keinen Defekt an den Tag, und dann verschwand ein ganzer Raketoplan mitsamt der Besatzung. Dafür konnte nun freilich niemand mehr die Apparate verantwortlich machen. Iwan hatten die übrigen Passagiere über dem Stillen Ozean ins Büfett gehen sehen, etwa auf 53° südlicher Breite und 101° westlicher Länge, wie das Bordbuch besagte. Im Büfett war er nicht angelangt, er war nicht zurückgekehrt, die Türen und der Notausstieg des Flugzeuges waren in Ordnung, so daß er nur absichtlich ausgestiegen sein konnte. Ich fand eine alte englische Karte. In der genannten Gegend lag eine kleine vulkanische Insel, die Nobles Island hieß. Ich meldete mich freiwillig zu den Rettungsarbeiten, erhielt ein kleines Propellerboot und flog mit den anderen Rettern ab. Wir suchten lange. Doch obwohl ich die Noblesinsel ganz niedrig überflog, sah ich nicht die Spur eines Lebewesens. Nur die Überreste einer uralten Militärbasis mit verrosteten Ab schußrampen ragten aus diesem längst erloschenen Vulkan, et liche Holzbaracken moderten am Ufer, sonst gab es nirgends auch nur eine Maus. Ich suchte alles ganz genau ab, obwohl die übrigen Angehörigen meiner Rettungsmannschaft schon längst nach Norden abgeflogen waren, ich umkreiste fast jeden Baum, 332
und so merkte ich gar nicht, daß ein Unwetter heraufzog. Der erste heftige Windstoß schleuderte mein kleines Propellerflug boot direkt in die Kronen der höchsten Bäume, die Maschine kippte um und zerschellte. Es regnete in Strömen, Blitze zuckten über den Himmel, ich konnte mich nur langsam aus den Trümmern befreien. Ich war nicht verletzt, nur durchnäßt war ich, ich wollte die anderen warnen, aber meine Verbindungsanlage war gestört, offenbar würde ich allein auf dieser Insel bleiben müssen, bis man mich vermißte. Ich wollte nun in den altertümlichen Baracken Unterschlupf suchen. »Waren Sie vorsichtig?« fragte mich der Mann, der im ersten Raum hinter einem schweren Eichentisch saß. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er nur eine kleine Taschenlampe brennen hatte. Ich sah nur seine mächtige weiße Mähne. »Waren Sie vorsichtig?« fragte er abermals, und es kam mir vor, als hätte ich seine Stimme schon irgendwo gehört. »Selbstverständlich«, brachte ich stockend hervor und trat näher zu ihm. »Wissen Sie, in was Sie sich da einlassen? Sie haben die Gelübde abgelegt, Sie wollen tatsächlich mit uns zusammen arbeiten . . .« Zum ersten Male sah er mich an, und er sprang auf. »Wer sind Sie?« schrie er, doch er wartete keine Antwort ab, er rannte in den angrenzenden Raum und betätigte die Alarmanlage. Von allen Seiten vernahm ich Sirenen. »Hinaus!« sagte jemand hinter mir, und ich spürte ein Messer zwischen meinen Schulterblättern. »Wohin?« Ich drehte mich um. Es war Iwan, und es sah aus, als wäre er zu allem entschlossen. »Wohin sollte ich gehen, da ich Sie endlich gefunden habe? Wir müssen auf die Rettungsexpedition warten. Man wird die Trümmer meiner Maschine entdecken. Sobald dieses Unwetter vorüber ist. . .« Ich blickte aus dem Fenster, er regnete noch immer, das Wrack meines Flugzeuges aber war verschwunden. Der grauhaarige Mann kehrte ins Zimmer zurück, trat nahe vor mich hin, ich 333
erkannte ihn und verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, war der Himmel bereits blau. Doch ich sah ihn durch Gitterstäbe. Man hatte mich in eine primitive Zelle gesperrt, die offenbar einst, in Kriegszeiten, vor vielen Jahren Soldaten in den Fels gesprengt hatten. Ich sah etliche Rettungspropellerboote direkt über mir, ich begann zu rufen, aber man hörte mich nicht, sie waren viel zu weit. Offenbar hatten sie auf der Insel nichts Verdächtiges wahrgenommen, auch sie hielten sie wohl für menschenleer. Und dann vernahm ich jäh eine andere Stimme. Es war ein langgezogenes, schmerzliches Stöhnen. Abermals erkannte ich Iwans Stimme. Abermals schrie er. Ich versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war mit Eisen beschlagen. Ich lief zum Fenster, ich wollte noch einmal rufen oder wenigstens mit einem Taschentuch winken, aber die Flugzeuge waren bereits fort. Jetzt brüllte Iwan wie am Spieß. Ich rief seinen Namen, doch er schrie viel lauter als ich. Ich erinnerte mich an jenen Greis. Kein Zweifel, es war jener berühmte Chirurgie-Professor, wegen dessen Vorlesungen ich immer nach Wien gefahren war. Ich erinnerte mich, wie er sich zur Wehr setzte, als man seinen Lehrstuhl auflöste, weil man Nährflüssigkeiten und künstliche Gewebe erfunden hatte, so daß man nicht mehr herumnähen und reparieren mußte; wie er sich weigerte, sein Institut zu schließen und es dem Museum anzugliedern. Er liebte die Chirurgie, wie die Alchimisten einst ihre Schein wissenschaft geliebt haben, er behauptete, daß man jetzt, in der neuen Zeit, auf chirurgischem Wege die Menschen für die verschiedenen Beschäftigungen zurechtmachen könne, sozu sagen umformen, wie der Schöpfer. Und damals taufte ihn auch jemand nach dem alten Buch von Wells und gab ihm den Namen dieses erdachten Vivisektors. Man nannte ihn Doktor Moreau. Ich konnte mich nicht irren, er hatte im letzten Jahr für ganz Europa Chirurgie gelesen, und es waren mit mir nur vier Hörer gewesen, die seine Vorlesungen besuchten. Ich saß 334
ihm stets direkt gegenüber, um die Präparate ganz aus der Nähe sehen zu können. Vielleicht hatte er mich nun erkannt. . . Aber ich hatte ihm doch nie etwas angetan, ich hatte ihn nicht verspottet, er hatte mir eher leid getan, denn ich wußte, daß mit ihm eine der großen Künste der Vorzeit von der Bühne abtrat, eine Kunst, die der Menschheit viele Generationen hindurch gedient hatte. Weshalb hatte er mich also eingekerkert? Was verbarg er hier? Wie war Iwan hergelangt? Und weshalb schrie er jetzt nebenan vor Schmerz? Dann bekam ich langsam Hunger. Und ich fand in der Tasche meines Kleides eine kleine Nagelfeile. Die Gitterstäbe waren in die Ziegelsteine einge lassen, ich kam mir wie in einem romantischen Roman vor. Lange brauchte ich nicht zu arbeiten. In dieser Zelle war offenbar schon seit vielen Jahren niemand mehr eingekerkert gewesen, die Eisenstäbe waren verrostet und zerbröckelten fast von selbst. Ich stand inmitten eines tiefen Waldes. Iwan schrie abermals vor Schmerz auf. Ich wollte mich im nächsten Gebüsch ver stecken, doch von dort ertönte eine Glocke, genau wie vorhin beim Alarm in der Aufnahmebaracke. Mit einem Satz war ich bei der nächsten Palme, doch auch diese schien Alarm zu läuten, ich rannte durch den dichtesten Busch weiter, die Alarmzeichen ständig um mich, ich war zerschunden, meine Kleidung ging in Fetzen, aber schließlich hörte das Ganze auf, ich stand auf einer Lichtung, vor mir sah ich seltsame Tarnzelte, kein Läuten war mehr zu hören, ich lief in das nächste Zelt und ließ mich auf das erstbeste Lager fallen. Karbolgeruch lag in der Luft, genau wie in den Krankenhäu sern von ehedem. Ich mußte lächeln. Vielleicht war diese Insel ein großes Museum der Medizin von einst. Meine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht im Zelt. Die Planen trugen nämlich Tarnbemalungen wie in früheren Kriegszeiten. Ich blickte mich um und hätte fast vor Angst aufgeschrien. Auf jedem Lager lag ein Verwundeter, genau wie 335
früher, sie blickten mich an, denn sie lebten. Etwa fünf waren hier, alle bei Kräften und alle verstümmelt. »Willkommen!« sagte der mir am nächsten Liegende, dem bis auf eine Hand, in der er Hubbles Astronomische Frage hielt, alle Glieder fehlten. »Du bist wirklich eine Frau, nicht wahr?« Ich nickte stumm. »Du bist überhaupt die erste Frau, die Sehnsucht nach dieser Insel bekundet...» sagte er und blickte sich nach den übrigen um. Alle lächelten. Der Mann ohne Beine, der ihm gegenüber lag, der andere mit dem verunstalteten Gesicht und der Einhändige etwas weiter im Dämmerlicht, dessen Bein mittels eines altertümlichen Flaschenzuges gespannt wurde. »Hast du schon mit dem Doktor gesprochen?« fragten sie mich. Endlich fand ich wieder Worte. Ich trat in die Mitte des Zeltes. »Ja. Ich kenne ihn nämlich. Ich bin ebenfalls Ärztin. Und ich kann euch sagen, daß er euch zu Krüppeln macht. Wer hat das schon jemals gehört, Verwundete so behandeln? Inmitten von Karbol! Menschen zusammenflicken! Habt ihr denn in euren Büchern, die ich hier überall herumliegen sehe, nichts über die neuen Entdeckungen in der Kunst des Heilens und Kurierens gelesen? Es genügt, dem erstbesten der Rettungsflugzeuge zuzuwinken, vor denen euch Moreau zu verbergen trachtet, und ihr bekommt Regenerationslösungen, eure Wunden werden sich binnen weniger Minuten schließen, und nach einiger Zeit bekommt ihr dann neue Gliedmaßen aus biologischen Stoffen. Ihr müßt fort von hier, Moreau würde euch für immer zu Krüppeln machen . . .« sagte ich resolut. Während meiner Rede hatten sie sich in ihren Betten aufgesetzt. Das Gewicht, das das Bein des einen Mannes streckte, fiel polternd zu Boden. »Was redest du da? Hast du denn nicht die Gelöbnisse abge legt?« »Wir wollen gar keine Rettung herbeirufen.« 336
»Wage nicht hinauszugehen!« »Wie bist du in unseren Kreis geraten?« Und drei von ihnen, die sich fortbewegen konnten, legten die Bücher weg und humpelten zum Ausgang des Zeltes. Sie hoben ihre vorsintflutlichen Krücken. Ich stieß sie mühelos zur Seite. Sie begannen zu schreien. Auf der Lichtung ertönte plötzlich das Alarmzeichen. Moreau stand vor mir, er stützte den verunstalteten Iwan, ich hätte ihn wohl gar nicht mehr erkannt, wenn er nicht vor Schmerz gewimmert hätte. »Ein Verbrechen! Das ist ein Verbrechen, für das Sie sich verantworten werden . . .« sagte ich ihm, er wollte sich auf mich stürzen, doch ich habe schon stärkere Männer in Staunen versetzt, als es dieser alternde Sonderling hier war, ich schleuderte ihn sofort zur Seite, und dann sah ich, wie Iwan, der noch immer wimmernde Iwan, seine schweren Krücken hinter mir drohend hob. Ich begriff nicht, warum das Opfer seinem Peiniger beistehen wollte, ich vergaß, mich zur Wehr zu setzen und verlor abermals das Bewußtsein. Diesmal weckten sie mich selbst. Sie saßen in einem engen Kreis um mich, ich vermochte mich kaum zu rühren. »Wir sind freiwillig hier«, wiederholte Iwan schon zum x ten Male. »Ich, William, Stephan«, und er zählte sie alle namentlich auf, es waren Namen bekannter Wissenschaftler, und alle waren zu Krüppeln gemacht worden. Er zählte sie an seinen Fingern auf, und dabei merkte ich, daß er an der rechten Hand sieben Finger hatte. Ich konnte ihn nicht begreifen. Ich bekam Angst. »Sie wissen doch selbst, daß die Forschungen über unseren dreidimensionalen Kosmos nicht von der Stelle kommen . . .« »Seit Hubbles Entdeckung haben wir keine Fortschritte mehr gemacht«, sagte der Mann mit dem verunstalteten Gesicht. »Wir wissen lediglich, daß sich die Galaxien von uns fortbewegen und daß ihre Geschwindigkeiten den Entfernungen proportional sind«, sagte der Beinlose, und seine 337
Stimme zitterte wie die eines Pfarrers, der seine Litanei herunterleiert. »Der Radius der Krümmung unseres Weltalls wächst. Der Inhalt ändert sich nicht. Schon seit einer Reihe von Jahren. Warum?« »Ist das All endlich?« »Hat es eine bestimmte Form?« »Und was ist dahinter? Was in der vierten Dimension?« überschrien einander die Verkrüppelten hier, als gäbe es für sie nichts Aufregenderes auf der Welt, als wären das die allerwichtigsten Probleme. »Ein Experiment ist nötig«, sagte Iwan, der als Neuling der ruhigste von ihnen war. »Man muß eine Sonde ins All aussen den . . .« Alle verstummten, ihre Augen glänzten, ich kam mir vor wie bei der Zeremonie irgendeines primitiven Stammes. »Aber müßt ihr euch denn deshalb verstecken? Gebt eure Forderungen doch dem Kosmologischen Institut bekannt, man wird sie in den Plan einbauen, man wird das Experiment durchführen, sobald die Techniker die geeigneten Raketen geliefert haben . . .« Sie lächelten, als wäre ich ein törichtes Kind. »Solche Materialien existieren nicht«, sagte Iwan. »Es ist un möglich, eine Rakete zu konstruieren, die einen Menschen eine so ungeheuer weite Strecke tragen könnte, wahrscheinlich ist das irgendein Grundgesetz. Ein Gesetz, mittels dessen die Natur dem Erkennen der Menschen Grenzen setzt. . .« »Solche Gesetze existieren nicht. Es muß doch irgendein Weg, irgendein Mittel gefunden werden. Die Vernunft hat bis jetzt jedes Hindernis überwunden.« »Gerade deshalb sind wir ja hier«, sagte Iwan. »Wir haben den Weg gefunden. Wir verkleinern unsere Körper, wir entle digen uns der überflüssigen Organe, wir haben einen Meister der Chirurgie gefunden, der gelobte, uns so zu vervollkomm nen, daß wir nur unsere Hirne und unsere verbesserten Hände 338
auf die Reise schicken werden, er wird unser Bewußtsein, un sere Beobachtungsgabe, unser Gedächtnis und unsere Fähigkeit bewahren, Schlüsse zu ziehen. Und wir können dann die gewöhnlichen Raketen benutzen, die aus dem Zeitalter der Kriege übriggeblieben sind. Wir werden ein minimales Ge wicht haben . . .« Sie lächelten. Diese Phantome! Als hätten sie sich das seit jeher erträumt, als freuten sie sich auf das bevor stehende Paradies. Der Mann mit dem verunstalteten Antlitz bleckte nur die Zähne. »Aber das wird doch kein Leben mehr sein. Wozu werden euch dann eure Erkenntnisse noch nützen?« sagte ich schwach. »Wir hätten sie töten sollen!« fuhr Moreau, der sich bis jetzt im dämmrigen Hintergrund gehalten hatte, wild auf. Ich zuckte zusammen. »Ich bin doch stets gut vorbereitet zu den Prüfungen angetre ten«, sagte ich einfältig, weil es mir so unsinnig vorkam, daß in unserer Zeit überhaupt noch jemand an das Töten eines Men schen denken konnte. »Sie wird uns nicht verraten. Sie begreift uns nicht, aber sie wird niemandem etwas sagen. Sie ist nur gekommen, weil sie uns helfen wollte. Wir brauchen Ihre Hilfe nicht, Ärztin, alles, was wir tun, tun wir aus freiem Willen. Kehren Sie nach Hause zurück . . .« sagte Iwan. Ich erhob mich widerwillig. Man brachte mich ans Ufer. Freilich, sie waren frei, sie konnten tun, was sie wollten, niemand konnte sie zu etwas zwingen oder ihre Entschlüsse beinflussen. Ich blieb mit Iwan allein. »Ihr müßt euch doch noch mit irgend etwas beschäftigen, mit Kunst oder Sport. . .« »Sport betreiben hat mir nie Spaß gemacht, ich hielt das stets für Zeitverschwendung. Ich habe mir deshalb absichtlich einige Male meinen Knöchel gebrochen, und so ließ man mich schließlich damit in Ruhe. Ich habe gesagt, daß ich mich der Malerei widme, aber in Wirklichkeit vervielfältigte ich durch 339
ein besonderes Expreßverfahren, das ich selbst erfunden habe, die Porträts minder bekannter Maler vergangener Zeiten. Niemand hat etwas gemerkt, man glaubte, ich hätte einfach kein Talent.« »Aber Sie müssen doch jemanden lieben ...» »Ich liebe die Kosmologie«, sagte er, ohne zu lächeln. »Ich opfere ihr mein ganzes Dasein. Leben Sie wohl!« Er ging schnell davon, er blickte sich nicht einmal mehr nach mir um. Aber ich wollte nicht abfliegen. Weshalb? Erst jetzt begriff ich es. Stets waren mir die Männer nachgerannt, sie warben um mich, sie liebten mich, weil sie mich schön fanden. Keiner von diesen Verkrüppelten hier hatte mir etwas Derartiges gesagt. Und vielleicht begann ich nun selbst, Iwan zu lieben. Ich weiß nicht. Aber ich beschloß, auf der Insel zu bleiben und um Iwan zu kämpfen, ich sagte mir, das wäre meine Pflicht, ich dachte dabei an die Medizin, aber in Wirklichkeit war es die Pflicht der lebendigen Frau. Diese letzte Nacht sehe ich wie im Traum vor mir. Ich ging im Mondenschein das Ufer entlang und sang ganz für mich irgendein Liedchen aus meiner Kindheit vor mich hin, vielleicht tanzte ich sogar, ich weiß es nicht, aber plötzlich schien es mir, als könnten meine eigenen Gedanken, meine Stimme, meine Beine, Hüften und Brüste, meine schwarzen Haare, die ich immer mit einer silbernen Schleife zusammenbinde, als könnte all dies diese Menschen hier ändern, als könnte ich Iwan retten, indem ich mich entkleidete und wie bei gymnastischen Festveranstaltungen über den Sand lief. Das Ufer, durch die ständige Brandung feucht, hielt meine Spuren fest, bis sie von der nächsten Welle ausgelöscht wurden. Aber dann kam mir das alles wieder nichtig vor, ich wußte, daß diese verkrüppelten Wissenschaftler wohl nicht einmal ahnten, daß ich überhaupt auf der Insel geblieben war, daß sie sich, anstatt zu leben, lieber Folterungen unterzogen und daß sie sich nicht ändern würden, selbst wenn ich die 340
wunderschönsten Mädchen der Welt mit den vollkommensten Körpern zum größten Gymnastik-Wettbewerb aller Zeiten auf diese Insel beriefe. Ich sank auf den Boden nieder und begann zu weinen. Es war ein ganz sonderbares Erlebnis. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie geweint. Iwan suchte und fand mich erst gegen Morgen, ich fror, und ich wußte, daß ich nun nicht mehr schön war, ich klapperte mit den Zähnen und erwartete, daß er mich umarmen, daß er mich zudecken würde, daß er gekommen war, um mich zu wärmen. Und ich sagte ihm, daß ich ihn liebe. Er lächelte nicht einmal. »Sie müssen diese Insel sofort verlassen, oder Sie treten unserer Gemeinschaft bei . . .« Mich überkam Grauen. Stets hatte ich vor Unfällen und vor Leiden ein wenig Angst gehabt. »Dann könnten Sie in meiner Nähe bleiben.« Auf so eine Nähe legte ich keinen Wert, ich wollte nicht, daß mein Gehirn in irgendeiner Nährlösung neben seinem schwimme, so stellte ich mir ein glückliches Zusammenleben nicht vor. »Wir werden zusammen das fundamentale Geheimnis des Kosmos erkennen. Wir zwei werden die Materie beherrschen. Und dann werden wir die Herren aller sein . . .« sagte er ruhig. Ich hörte zu beben auf. Jetzt hatte ich ihn ganz klar durchschaut. Diesen Menschen ging es nicht um die Wissenschaft, nicht wegen Erkenntnis ließen sie sich zu Krüppeln machen, sondern um ihrer selbst willen, ihrer Macht und ihrem Ruhm zuliebe, sie wollten mehr wissen als die anderen, die anderen beherrschen können, genau wie einst die primitiven Medizinmänner, sie wollten ihr eigenes Tabu haben, mit dem sie die Welt unterjochen könnten wie die Geheimgesellschaften der Alchimisten, das waren keine freien Menschen mehr mit den Rechten freier Menschen, das waren Kranke, und sie wußten es nicht. »Ich gehe. Gleich bei Tagesanbruch. Lassen Sie mich allein . ..« sagte ich und war plötzlich ganz ruhig, als säße er in meiner Ordination. Und am Morgen reiste ich mit dem ersten Propellerflugboot ab. Gleich in Arica versuchte ich Meldung 341
zu erstatten. Aber dort sah man mich an, als käme ich vom Mond. »Nobles Island? Haben Sie denn nicht von der Katastrophe gehört? Heute nacht ist dort ein altes Militärdepot in die Luft geflogen. Wahrscheinlich wieder einer dieser versteckten Blindgänger, die uns durch ihre Selbstzündung immer wieder gefährden . . .« Aber ich wiederholte meinen Bericht. Ich umfuhr die Insel in Begleitung von Angehörigen des Sicherheitsausschusses, aber das Eiland war bereits verlassen, die Lagerschuppen ausgebrannt, der Fels, in dem man mich gefangengehalten hatte, stand unter Wasser. »Es muß eine besonders starke Bombe gewesen sein . . .« sagte der Kommandant. »Es war ihr Experiment. Höchstwahrscheinlich ist es miß glückt, denn die Navigatoren meldeten keine Rakete. Doch die Leute hier sind vielleicht geflohen, vielleicht sind sie an einen anderen Ort gezogen. Und sie sind krank, gefährlich krank, wir müssen sie verfolgen, sonst stecken sie ihre Mitmenschen an . . .« Aber niemand wollte mir Glauben schenken. Darum schreibe ich Ihnen, verehrte Mitglieder des Wissen schaftlichen Rates, um Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Fall zu lenken und um jene Krankheit zu beschreiben, für die ich keinen Namen habe, die jedoch meines Erachtens vom Beginn der Zivilisation an latent unter den Menschen grassiert und deretwegen ein spezielles Fach geschaffen werden müßte, das mit der Medizin von ehedem wohl nichts mehr gemein hätte, uns jedoch alle vor dieser Ansteckung schützen müßte, die durch einen besonderen Degenerationsprozeß den mensch lichen Organismus verunstaltet.
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Stefan Grabinski Das Gebiet Seit über zwölf Jahren hatte Wrzesmian überhaupt nichts mehr geschrieben. Nach der Veröffentlichung des vierten Bandes seiner originellen und seltsamen Werke im Jahre 1900 war er verstummt und hatte sich endgültig dem Blickfeld der Welt entzogen. Seit dieser Zeit hatte er die Feder nicht angerührt und nicht einmal ein belangloses Gedicht publiziert. Aufmunterun gen seiner Freunde veranlaßten ihn nicht, sein Schweigen aufzugeben; Stimmen der Kritiker, die aus der überlangen Pause allerlei Vermutungen über ein neues, weitgespanntes Werk ableiteten, reizten ihn nicht. Alle Erwartungen trogen, Wrzesmian äußerte sich nie mehr. Langsam begann sich eine deutliche, sonnenklare und einfache Meinung über ihn zu bilden: er habe sich vorzeitig erschöpft. »Ja, ja«, murmelten die literarischen Feinschmecker mit traurig gesenkten Köpfen, »er hat sich zu schnell leergeschrieben. Er hat die Ökonomie der Kräfte nicht beherrscht und zu viele Probleme in einem einzelnen Werk angepackt. Er hat sich selbst geschadet – nun fehlen ihm die Themen.« Diese Urteile gelangten Wrzesmian zu Ohren, aber sie erzielten nicht die geringste Wirkung. Deshalb glaubte man an seine frühe Erschöpfung, und die Welt ging zur Tagesordnung über. Zudem erstanden neue Talente, am Horizont zeichneten sich neue Silhouetten ab, man ließ ihn schließlich in Ruhe. In Wirklichkeit war die Mehrheit mit diesem Verlauf der Angelegenheit sogar zufrieden, denn Wrzesmian erfreute sich keiner allzu großen Beliebtheit. Die von ausufernder Phantasie durchsetzten, von starkem Individualismus geprägten Werke dieses seltsamen Menschen machten keinen guten Eindruck, da sie die eingefahrenen ästhetisch-literarischen Meinungen um stießen, sie ärgerten die Gelehrten, weil sie feststehende 343
Pseudo-wahrheiten unbarmherzig verhöhnten. Überhaupt, mit der Zeit hielt man sein Schaffen für das Erzeugnis einer kranken Phantasie, für das wunderliche Produkt eines Verdrehten, vielleicht sogar eines Irren. Wrzesmian war aus verschiedenen Gründen unbequem, er verursachte unnötige Unruhe und trübte stille Wasser. Deshalb nahm man seinen vorzeitigen Abgang mit dem Gefühl heimlicher Erleichterung hin, die Leute atmeten auf. Und niemand vermutete auch nur für einen Augenblick, das Urteil könnte grundfalsch sein, die Ursache seines Abtretens aus der Arena der Welt müsse nicht unbedingt seine Erschöpfung oder sein Kräfteverfall sein. Doch Wrzesmian war es völlig gleichgültig, was für eine Legende über ihn entstand; er hielt das für eine rein persönliche, private Angelegenheit und dachte nicht daran, den Irrtum zu berichtigen. Wozu auch? Wenn das, was er nunmehr anstrebte, sich ver wirklichen sollte, würde die Zukunft die Wahrheit an den Tag bringen und die erstarrte Schale zerbrechen, in die man ihn gesperrt hatte; wenn aber seine Träume nicht in Erfüllung gehen sollten, würde er die anderen erst recht nicht überzeugen, sondern sich nur dem Spott und der Beleidigung aussetzen. Besser also abwarten und schweigen. Denn es fehlte ihm nicht an Atem und Schwung, vielmehr hatten neue Wünsche ihn erfaßt. Wrzesmian wollte stärkere Ausdrucksmittel erobern, er strebte machtvollere schöpferische Verwirklichungen an. Das Wort genügte ihm nicht mehr, er suchte etwas Unmittelbareres, er sah sich nach einem plastischeren Material zur Realisierung seiner Einfälle um. Die Situation war um so schwieriger, seine Träume um so weniger zu verwirklichen, als die Schaffensrichtung, die er ein schlug, von den ausgetretenen Wegen abwich. Letzten Endes nämlich bewegt sich die Mehrzahl der Kunst werke in einem mehr oder weniger realen Gebiet, da sie die Erscheinungen des Lebens nachbilden oder umgestalten. Die 344
Ereignisse, auch die erdachten, pflegen nur seine Analogie zu sein, zwar gesteigert durch Exaltation und Pathos, aber doch zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich; ähnliche Bilder können in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen sein oder in der Zukunft erscheinen; nichts widerspricht dem Glauben an ihre Möglichkeit - die Vernunft sträubt sich nicht gegen eingängige Fiktionen. Sogar die Werke eines Großteils der Phantasten schließen eine mögliche Realisation nicht aus, sofern nicht überhaupt der Wunsch zu spielen oder das flüchtige Lächeln eines geschickten Jongleurs in ihnen zutage tritt. Bei Wrzesmian jedoch stellte sich die Sache etwas anders dar. Sein gesamtes wunderliches, rätselhaftes Schaffen war eine einzige große Fiktion. Vergeblich mühten sich die Kritiker bei der Ermittlung sogenannter literarischer Einflusses >Analogien<, ausländischer Strömungen<, die wenigstens annähernd einen Schlüssel zu der unzugänglichen Burg der Gedichte Wrzesmians liefern könnten - vergeblich suchten schlaue Rezensenten Zuflucht bei den gelehrten Kennern der Psychiatrie, blätterten Stöße verschiedener Bücher durch oder wühlten in Enzyklopädien; Wrzesmians Werke erhoben sich siegreich über die Interpretationen, noch geheimnisvoller als zuvor. Ein düsterer Zauber ging von ihnen aus, eine verwirrende, schaudererregende Tiefe quälte den Leser. Trotz seiner unbedingten, absoluten Fiktivität, die in keinem einzigen Punkt das wirkliche Leben berührte, wirkte Wrzesmian erschütternd, verblüffend und überraschend; die Leute wagten nicht, mit leichtfertigem Achselzucken an ihm vorbeizugehen. Irgend etwas wie ein Geschoß steckte in diesen kurzen und konzentrierten Werken, irgend etwas fesselte die Aufmerksamkeit, nahm die Seele gefangen; eine machtvolle Suggestion löste sich aus diesen scharfen Verkürzungen, die in vordergründig kühlem, scheinbar berichtendem, scheinbar wissenschaftlichem Stil geschrieben waren, hinter denen aber 345
die Glut eines Rasenden pulsierte. Denn Wrzesmian glaubte an das, was er schrieb. Im Lauf der Jahre hatte er die unumstößliche Überzeugung gewonnen, jeder, auch der kühnste Gedanke, jede, auch die wahnwitzigste Fiktion könne sich verwirklichen, werde einst ihre Erfüllung in Raum und Zeit finden. »Der Mensch denkt nicht vergeblich. Keine Gedanke, auch nicht der wunderlichste, vergeht fruchtlos«, wiederholte er des öfteren im Kreise seiner Freunde und Bekannten. Und anscheinend schürte gerade dieser Glaube an die Erfüll barkeit der Fiktionen die verborgene Glut in den Arterien seiner Werke, so daß sie trotz ihrer scheinbaren Trockenheit zutiefst erschütterten . . . Doch er war nie mit sich zufrieden; wie jeder echte Schaffende suchte er stets nach neuen Mitteln sich auszusprechen, nach immer präziseren Zeichen, die seine Gedanken so treu wie möglich wiedergeben sollten. Schließlich verwarf er das Wort, verachtete die Rede als allzu zerbrechliche Ausdrucksform und fing an, sich nach etwas Unmittelbarerem zu sehnen, das mit seiner Plastizität und Berührbarkeit alle bisherigen Versuchungen übertreffen sollte. Er wollte eine andere Realisierung. Was für eine, wußte er nicht genau, aber er glaubte unverrückbar an ihre Möglichkeit. Ein paar Tatsachen, die vor Jahren, als er noch schrieb und veröffentlichte, eingetreten waren, bestärkten ihn in diesem Glauben; er hatte sich nämlich schon damals davon überzeugt, daß seine Schöpfungen trotz ihres imaginären Charakters eine besondere Kraft der Beeinflussung von Welt und Menschen besaßen. Wrzesmians wilde Einfalle schienen, sobald sie das glühende, schöpferische Magma verlassen hatten, eine befruchtende Kraft zu haben und neue, bis dahin unbekannte Strudel zu bilden, irgendwelche irrsinnigen Gedankenmonaden, deren Symptome unerwartet in den Taten und Gesten bestimmter Personen, im Verlauf 346
gewisser Ereignisse aufleuchteten. Aber auch das genügte ihm nicht. Er wünschte völlig von den Gesetzen der Wirklichkeit unabhängige Erfüllungen, so frei wie ihre Quelle – die Fiktion, wie ihr Sauerteig – die Einbildung. Das wäre das Ideal – die höchste Realisierung ohne jeden Rest, die volle Aussage ohne die Spur eines Mangels . . . Wrzesmian verstand jedoch, daß eine solche Realisierung für ihn selbst zur Vernichtung werden konnte. Die unbedingte Erfüllung wäre auch das absolute Sichausleben, also der Tod aus Überanstrengung, aus Übermaß . . . Denn das Ideal liegt, wie man weiß, im Tode; das Werk er drückt den Schöpfer mit seinem Gewicht; die vollständig umgesetzten Gedanken können bedrohlich und rachsüchtig werden, besonders die wahnsinnigen Gedanken. Sich selbst überlassen, ohne Bezugspunkt zur wirklichen Grundlage, können sie dem gefährlich werden, der sie geschaffen hat. Wrzesmian ahnte eine solche Möglichkeit voraus, aber er zö gerte und erschrak nicht. Das Verlangen war stärker als alles andere . . . Inzwischen vergingen die Jahre still, ohne die ersehnten Ver wirklichungen zu bringen. Wrzesmian verschwand völlig aus dem Blickfeld der Leute und wohnte einsam am Rande der Stadt, in einer auf Felder und Brachland hinausführenden Nebenstraße. Hier verbrachte er, eingeschlossen in seine zwei Zimmer, abgesondert von der Gesellschaft, Monate und Jahre mit Lektüre und Kontemplation. Allmählich beschränkte er sich auf immer engere Bezirke des wirklichen Lebens, dem er nicht die geringste Aufmerksamkeit widmete und nur einen minimalen, unvermeidlichen Tribut zollte. Er verkapselte sich ganz in sich selbst, in seine Träume und in die Sehnsucht nach ihrer Erfüllung. Seine Ideen, nicht wie früher zu Papier gebracht, gewannen an Kraft und Saft, sie quollen über vom unausgesprochenen Inhalt. Manchmal schien es ihm, als dächte 347
er nicht Abstraktionen, sondern etwas Materielles, fast Verdichtetes, als genüge es, mit der Hand hinzulangen, um es zu fassen, zu ergreifen. Doch die Illusion verwehte schnell und machte einer bitteren Enttäuschung Platz. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Um sich durch den Anblick der äußeren Welt nicht allzusehr abzulenken, schränkte er den Bereich seiner alltäglichen Wahrnehmungen auf eine geringe Zahl von Bildern ein, die, Tag für Tag und jahrelang gesehen, langsam in den geschlossenen Kreis der Ideen eingingen und zu ihrem kommensurablen Terrain wurden, indem sie mit der Welt der Träume zu einem einzigen eigenartigen Gebiet verschmolzen. So entwickelte sich unmerklich ein greifbares Milieu, eine geheimnisvolle Oase, zu der niemand außer Wrzesmian Zutritt hatte. Dieses vom Ich des Träumers durchtränkte, von ihm randvoll ausgefüllte Milieu stellte sich dem nicht Eingeweihten als gewöhnlicher Ort im Raum dar. Die Leute konnten nur seine äußere Seite bemerken, seine physische Existenz – den innerhalb des Sauerteigs seiner Gedanken bebenden subtilen Zusammenhang mit der Person Wrzesmian vermochten sie nicht zu erfühlen. Infolge eines seltsamen Zufalls war der von den Gedanken des Phantasten umfaßte Raum, der Ort, den er zum Gebiet seiner Träumereien umgestaltete, nicht seine Wohnung; die Oase der Fiktionen erhob sich gegenüber seinen Fenstern, auf der anderen Straßenseite in Form einer zweigeschossigen Villa. Die düstere Vornehmheit des Hauses hatte ihn gleich nach dem Einzug in die neue Wohnung gefesselt. Am Ende des schwarzen Zypressenspaliers, das in Doppelreihe den Plattenweg einfaßte, erschien eine mehrstufige Terrasse, von der aus eine schwere, stilvolle Doppeltür ins Innere führte. Durch die eisernen Staketen, die das kleine Palais rings umgaben, leuchteten beiderseits der Zypressenallee hell die Flügel des Hauses. Mit blaßgrüner Farbe überzogen, blickten 348
aus der Tiefe die kranken, traurigen Gesichter der Wände. Die im Gartengrund verborgene Feuchtigkeit kroch hier und da als dunkler Schleim heraus. Einst sorgfältig gepflegte Blumenrabatten, chimärisch gewundene Beete hatten im Laufe der Zeit die Deutlichkeit ihrer Linien verloren. Nur zwei Fontänen weinten leise und ergossen ihr Wasser aus Mar morschalen auf die Büsche reicher roter Rosen. Nur ein musku löser Triton zur Linken streckte stets mit derselben Geste seine Hand zur Begrüßung einer geschmeidigen Meerjungfrau entge gen, die sich auf der anderen Seite aus einer Marmorzisterne lehnte und ihn seit Jahren lockte – vergeblich, denn die Zypres sen trennten sie. Das Ganze machte den Eindruck einer düsteren, schon lange menschenleeren, von den Nachbargebäuden isolierten Einöde. Die Straße endete mit der Villa, außer ihr gab es dort kein Haus mehr; nur Wiesen, Felder und Brachland breiteten sich aus, fern dunkelten im Winter die schwarzen, im Herbst die rostfarbenen Buchenwälder. In der resedagrünen Villa wohnte seit einer Reihe von Jahren niemand. Der Eigentümer, ein begüterter Aristokrat, war vor langer Zeit ins Ausland gereist und hatte das Haus ohne Obhut zurückgelassen. Deshalb stand es vernachlässigt mitten in dem üppigen Garten, versehrt von der zerstörenden Arbeit des Regens, verletzt von der Bissigkeit der Winde und Schneestürme im Winter. Der düstere Zauber, der von diesem einsamen Ort ausging, zog Wrzesmians Seele seltsam an. Die Villa war für ihn das plastische Symbol der Stimmung, die in seinem Schaffen atmete -wenn er sie betrachtete, fühlte er sich daheim. So verbrachte er ganze Stunden am Fenster und ließ, gegen den Rahmen gelehnt, seine gedankenverlorenen Blicke in Richtung des traurigen Hauses schweifen. Besonders gern beobachtete er in Mondnächten die märchenhaften Effekte, die 349
das Mondlicht in der phantastischen Abgeschiedenheit erzeugte. Nur die Nacht schien deren eigentliches Element zu sein. Tagsüber erstarrte die Villa gewissermaßen im Todesschlaf; der ganze Zauber, der in ihrem geheimnisvollen Inneren verborgen lag, entfaltete sich erst nach Sonnen untergang. Dann belebte sich das Haus; ein ungreifbares Beben lief schaudernd durch die schläfrige Einsiedelei, erschütterte die in Trauer erstarrten Zypressen, runzelte in Wellenlinien die verwitterten Vorgiebel und Friese . . . Wrzesmian sah zu und lebte mit dem Leben des Hauses. In ihm erwachten präzise, harmonisch auf die Szenerie gegenüber abgestimmte Gedanken, pathetische Tragödien wurden geboren, stark wie der Tod, drohend wie die Vorher bestimmung - oder nebelhaft dunkle Einfalle, gleichsam gedämpft von der Patina des silbrigen Mondlichts. Jeder Winkel würde zur sinnhaften Entsprechung der Fiktio nen, zur massiven Realisierung der Gedanken, die sich an die Gesimse hefteten, durch die einsamen, leeren Säle wanderten, auf den Stufen der Terrasse seufzten. Die schwankenden Schalen der Träume, die Nebelschleier der Einbildungen irrten unstet und regenfeucht an den Wänden entlang, ohne Halt zu finden. Von der Launenhaftigkeit ihrer Bewegungen gereizt, stieß die Phantasie sie verächtlich fort, wie erschreckt rieselten sie als trübes Rinnsal in den großen bemoosten Bottich an der Hausecke und sickerten in seinen schwarzen Leib, schläfrig, eintönig wie das Regenwasser bei spätherbstlichem Nieselwetter. Unansehnliche, rostige, blutarme Gedanken. Wrzesmian berauschte sich an der düsteren Spielerei der Phantasie und ließ ihren Geschöpfen freien Lauf; nach seiner Laune änderte er ihre Richtung, er vertrieb sie vom Schauplatz und zauberte sie dann wieder scharenweise herbei. Niemand störte ihn. Kein unerwünschter Eindringling ging über die menschenleere Straße des abgelegenen Stadtteils, kein lärmender Wagen zerstörte die Stimmung. 350
So hatte er die letzten Jahre verbracht, äußerlich durch nichts beeinträchtigt, innerlich voller Grauen und Seltsamkeiten. Bis sich eines Tages in dem Haus gegenüber irgendwelche Änderungen vollzogen und Wrzesmian aus einer Versunken heit rissen, die bereits durch Gewohnheit und Übung festge legte Formen anzunehmen begonnen hatte. Es war an einem heiteren Juliabend. Wie gewöhnlich saß Wrzesmian am offenen Fenster, den Kopf in die Hand gestützt, und sein gedankenverlorener Blick schweifte über Villa und Garten. Als sein Auge eines der Fenster im Seitenflügel wahr nahm, erbebte er. Durch die Scheibe starrte ihn das blasse Gesicht eines Mannes an. Der unverrückt auf ihn geheftete Blick des Unbekannten war bedrohlich. Eine unbestimmte Angst erfaßte ihn. Er rieb sich die Augen, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und schaute wieder zum Fenster hinüber, das strenge Gesicht war nicht verschwunden, sondern blickte fortwährend zu ihm her. »Ist der Villenbesitzer vielleicht zurückgekehrt?« überlegte er halblaut. Als Antwort verzerrte sich die düstere Maske in ein wild ironisches Lächeln. Wrzesmian zog den Vorhang vor, er konnte den Blick nicht länger ertragen. Um den Eindruck auszulöschen, versenkte er sich bis Mitter nacht in seine Lektüre. Gegen zwölf Uhr erhob er sich erschöpft und schob, von einer übermächtigen Versuchung getrieben, den Vorhangrand zur Seite, um hinauszuschauen. Und wieder fuhr ihm ein Angstschauer bis in die Knochen: Der blasse Mann stand immer noch reglos hinter der Scheibe auf dem rechten Flügel, hell beleuchtet vom magnesiumartigen Glanz des Mondes, und lahmte ihn mit seinem Blick. Beunruhigt ließ Wrzesmian den Vorhang wieder fallen und versuchte einzuschlafen. Aber vergeblich. Seine von Angst durchdrungene Phantasie gönnte ihm keine Ruhe und quälte ihn unerträglich. Erst gegen 351
Morgen versank er in einen kurzen, nervösen Schlaf voller Alpträume und Schreckbilder. Als er am nächsten Tag um die Mittagszeit mit schwindligem Kopf erwachte, war sein erster Gedanke, zum Fenster der Villa hinüberzublicken. Er atmete auf - das hartnäckige Gesicht war verschwunden. Den ganzen Tag hatte er Ruhe. Gegen Abend jedoch erblickte er hinter einer Scheibe im Oberstock die starrende Maske einer Frau; windzerzauste Haare umgaben das bereits verblühte Gesicht mit den Spuren ehemaliger Schönheit, ein wahnsinniges Gesicht mit zwei verstörten, verbissenen Augen. Auch sie schaute ihn mit irrem Blick genauso streng an wie ihr Gefährte vom rechten Flügel. Beide schienen von ihrer gemeinsamen Existenz in dem seltsamen Haus nichts zu wissen. Nur die Wrzesmian bedrohende Haltung verband sie. Auf eine vom Ausschauhalten nach den Verfolgern unterbro chene schlaflose Nacht folgte wieder ein Tag, frei von den Larven. Doch als die Dämmerung sich insgeheim mit der Nacht verbündete, erschien in einem dritten Fenster eine neue Gestalt, um bis zum Morgen nicht zu weichen. So füllten sich binnen weniger Tage sämtliche Fenster der Villa mit unheilverkündenden Gesichtern. Hinter jeder Scheibe blickten ihn verzweifelte Augen an, leuchteten von Schmerz oder Wahnsinn durchfurchte Ovale. Das Haus betrachtete ihn mit den Augen von Irren, mit den Grimassen von Verrückten, es grinste ihn an mit dem Gelächter von Besessenen. Nicht einen dieser Menschen hatte er im Leben je gesehen, und trotzdem waren sie ihm irgendwie bekannt. Woher, wußte er nicht. Jeder hatte ein anderes Gesicht, alle aber vereinte die drohende Bewegung zu ihm hin; offenbar hielt man ihn dort für den gemeinsamen Feind. Dieser Haß entsetzte ihn und zog ihn zugleich auf magnetische Weise an. Und seltsam – in den tiefsten Schichten seiner Seele verstand er ihren Zorn und gab ihnen recht. Sie aber – als errieten sie ihn von ferne – wurden in ihrem 352
Ausdruck immer sicherer, ihre Masken mit jedem Tag rück sichtsloser. Bis sich in einer Augustnacht, als er, aus dem Fenster gelehnt, den durchdringenden Blicken der haßerfüllten Augen standhielt, die unbeweglichen Gesichter plötzlich belebten; in allen leuchtete gleichzeitig derselbe Wille auf. Dutzende von knochendünnen Armen hoben sich in befehlender Gebärde, Dutzende von blassen Händen vollzogen mit gebogenen Fingern eine bedeutsame Geste . . . Wrzesmian verstand - man rief ihn. Wie hypnotisiert sprang er über das Fensterbrett, überquerte den schmalen Streifen der Straße, schwang sich über den Zaun und ging durch die Allee auf die Villa zu. Es war vier Uhr früh. Der Mondschein badete das Haus in silberne Flut und entlockte den Winkeln lange Schatten. Der Weg war hell, blendend weiß zwischen den Trauerwänden der Bäume. Deutlich hallten seine Schritte auf den Steinplatten, leise murmelten die Fontänen. Er betrat die Terrasse und riß an der Klinke – die Tür gab nach. Er schritt durch einen langen Korridor mit zwei Reihen korinthischer Säulen vor den Wänden. Das nächtliche Halbdunkel wurde erhellt vom Mondlicht, das durch ein buntes Glasfenster am Ende des Ganges hereinflutete und den Porphyr des Fußbodens mit grünen Märchen überspann . . . Plötzlich schob sich hinter dem Schaft einer Säule eine Gestalt hervor und folgte ihm. Ihn schauderte, doch er ging schweigend vorwärts. Wenige Schritte weiter löste sich eine neue Gestalt aus der Nische zwischen den Pfeilern, dann eine dritte, eine zehnte – alle folgten ihm. Er wollte umkehren, aber sie vertraten ihm den Weg. Also durchschritt er den Säulenwald und bog nach rechts in einen runden Saal ab, der hell war vom Mondschein und angefüllt mit irgendwelchen Leuten. Er wand sich zwischen ihnen hindurch auf der Suche nach dem Ausgang. Vergeblich! Sie umgaben ihn in immer 353
engeren, zudringlicheren Kreisen. Von blassen, blutlosen Lippen löste sich ein drohendes Flüstern: »Er ist's! Er ist's!« Er blieb stehen und blickte herausfordernd in die Menge. »Was wollt ihr von mir?« »Dein Blut! Dein Blut wollen wir! Blut! Blut!« »Und was habt ihr davon?« »Wir wollen leben! Wir wollen leben! Wozu hast du uns aus dem Chaos des Nichtseins gerufen und zum Elend halbverkör perten Herumirrens verdammt? Schau, wie kraftlos und blaß wir sind!« »Erbarmen!« stöhnte er und stürzte verzweifelt zu der Wendeltreppe an einer Seite des Saales. »Haltet ihn! Umzingeln! Umzingeln!« Wie ein Wahnsinniger rannte er die Treppe zum Oberstock hinauf und eilte in eine Kammer. Doch die Verfolger waren ihm auf den Fersen. Ihre dünnen Arme, ihre nebelfeuchten Hände verbanden sich zu einem Reigen ohne Ausgang. »Was habe ich euch getan?« »Wir wollen volles Leben! Du Elender hast uns an dieses Haus gefesselt! Wir wollen hinaus in die Welt, uns von diesem Ort frei machen und ungebunden leben! Dein Blut wird uns stärken, dein Blut wird uns kräftigen! Erwürgt ihn! Erwürgt ihn!« Unwillkürlich strebte er zum Fenster um hinauszuspringen. Eine Legion glitschiger, kalter Hände ergriff ihn, trieb ihm die gekrümmten Haken der Finger ins Haar, umfaßte seinen Hals ... Er riß sich einmal, zweimal los. Dann gruben sich Fingernägel in seine Kehle, saugten sich Lippen an seiner Schläfe fest . . . Er taumelte, lehnte sich an den Fensterrahmen, neigte sich rückwärts. Seine krampfhaft vorgestreckten Arme öffneten sich in der Geste des Opfers, auf die weißgewordenen Lippen trat ein müdes Lächeln – er lebte nicht mehr . . . 354
In dem Augenblick, als Wrzesmians Körper in der Agonie erkaltete, zerriß ein dumpfes Glucksen die Stille des Tagesan bruchs. Es kam aus dem Bottich an der Hausecke. Die Oberflä che des mit grünem Schimmel bedeckten Wassers wallte auf, aus der Tiefe der vermoderten, von rostigen Reifen umfaßten Tonne stiegen Strudel empor, das Trübe wirbelte, das Abgestandene brodelte. Ein paar große Blasen stiegen hoch, und der unförmige Stummel einer Hand kam zum Vorschein; etwas wie ein Rumpf, ein Leib tauchte wassertriefend auf, ein schimmelbedecktes, leichenhaft stinkendes Wesen, weder Mensch noch Tier noch Pflanze. Das Scheusal hob sein erstauntes Gesicht zum Himmel, öffnete in unbestimmtem, dümmlich-rätselhaftem Lächeln die schwammigen Lippen, zog die wie Korallenäste verdrehten Beine aus dem Bottich, schüttelte das Wasser ab und fing mit schwankenden, wiegenden Schritten an zu gehen. Im Freien dämmerte es bereits. Das seltsame Wesen öffnete die Gartenpforte hinter dem Haus, schob sich wie ein Knäuel über den Weg und glitt, von den Strahlen des Morgenlichts übergössen, in die schlummernden Wiesen und Felder. Langsam schrumpfte seine Gestalt, verflüssigte sich, verlosch ... Bis sie zerfloß und verwehte im Glanz des Sonnenaufgangs.
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Fitz-James O'Brien Die Diamantlinse 1. Früh krümmt sich Von Kindesbeinen an hatte der Hang meiner Neigungen aus nahmslos mikroskopischen Forschungen gegolten. Ich zählte nicht über zehn Jahre, als ein weitläufiger Verwandter unserer Familie, in der Hoffnung, meine Unwissenheit damit zu überra schen, ein Mikroskop für mich baute, indem er durch eine Kupferscheibe ein kleines Loch bohrte, in welchem, durch Ka pillarität gehalten, ein klarer Wassertropfen schwebte. Gewiß, diese höchst primitive Vorrichtung, die eine etwa fünfzigfache Vergrößerung zuwege brachte, lieferte nur verschwommene und unzulängliche Formen, trotzdem waren sie wundervoll genug, meine Einbildungskraft in einen unerhörten Erregungs zustand zu versetzen. Als er mein starkes Interesse an diesem plumpen Instrument bemerkte, erklärte mir mein Vetter, was er über die Grundlagen des Mikroskopes wußte, meldete mir einige der Wunder, die mit seiner Hilfe vollbracht worden waren und schloß mit dem Versprechen, mir unverzüglich bei seiner Rückkehr in die Stadt ein vorschriftsmäßig konstruiertes zu schicken. Ich zählte die Tage, Stunden und Minuten, die zwischen diesem Versprechen und seiner Abreise lagen. Indem war ich nicht müßig. Ich stürzte mich auf jeden durchsichtigen Stoff, der auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit einer Linse aufwies und machte vergebliche Anstreng ungen, dieses Instrument zu fertigen, dessen Konstruktions theorie ich bislang nur ungenau begriff. Alle Glasscheiben, die jene sphäroidgeformten Ornamente, landläufig »Butzen« genannt, enthielten, wurden ruchlos zerstört in der Hoffnung, hierdurch in den Besitz von Linsen mit wunderbaren Kräften zu gelangen. Ich trieb es selbst so weit, die kristalline 356
Flüssigkeit aus den Augen von Fischen und anderen Tieren zu extrahieren, und bemühte mich, sie in den Dienst der Mikroskopie zu zwingen. Ich bekenne mich schuldig, die Gläser aus der Brille meiner Tante Agatha gestohlen zu haben, mit der unbestimmten Idee, sie zu Linsen erstaunlichen Vergrößerungsvermögens zu schleifen – es erübrigt sich wohl anzumerken, daß mir dieser Versuch kläglich fehlschlug. Endlich traf das versprochene Instrument ein. Es entstammte jener Klasse, die unter der Bezeichnung >Field's einfaches Mikroskop« bekannt ist, und hatte vermutlich runde fünfzehn Dollar gekostet. Was den erzieherischen Wert anlangte, so hätte ein passenderes Gerät schwerlich ausgewählt werden können. Beigefügt lag ein schmales Traktätlein über das Mikroskop – seine Geschichte, seinen Anwendungsbereich und seine Entdeckungen. Damals bekam ich zum ersten Mal eine Vorstellung von den Wundern aus »Tausendundeiner Nacht«. Der öde Schleier des gewöhnlichen Daseins schien sich mit einem Male zu heben und ein zauberisches Land freizulegen. Ich fühlte mich meinen Kameraden gegenüber so, wie sich wohl der Prophet angesichts der gewöhnlichen Volksmenge fühlen mochte. Ich hielt mit der Natur in einer Sprache Unterredung, die sie nicht verstanden. Ich stand in täglicher Verbindung mit lebenden Wunderwerken, die sie sich nicht in ihren kühnsten Träumen ausmalten. Ich durchschritt das sichtbare Portal der Dinge und schweifte in den Heiligtümern umher. Wo sie nur einen Wassertropfen wahrnahmen, der langsam eine Fensterscheibe hinunterrann, sah ich ein Universum angefüllt von Lebewesen, die, beseelt mit allen Lei denschaften, die dem physikalischen Leben eigen sind, ihren winzigen Bereich mit so erbitterten und ausschweifenden Kämpfen, wie sie die Menschen austragen, erschütterten. In den gewöhnlichen Schimmelflechten, die meine Mutter, gute Hausfrau die sie war, ungestüm von ihren Marmeladentöpfen fortwischte – dort harrten meiner, unter dem Namen Mehltau, 357
verzauberte Gärten voller Senken und Alleen dichtesten Laubwerks und erstaunlichster Grünflächen, indessen von den phantastischen Zweigen dieser mikroskopischen Wälder wundersame grün, silbrig und golden glitzernde Früchte hingen. Es war nicht wissenschaftlicher Drang, der damals meinen Geist erfüllte. Es war die schiere Lust eines Dichters, dem sich eine Welt der Wunder eröffnet hat. Niemandem sprach ich von meinen einsamen Vergnügungen. Allein mit meinem Mikroskop trübte ich mir Tag auf Tag, Nacht für Nacht das Augenlicht und richtete meine Sinne auf die Wunder, die es mir offenbarte. Ich glich dem, der, nachdem er das einstige Eden in all seiner ursprünglichen Herrlichkeit aufgefunden hat, beschließen sollte, es in Einsamkeit zu genießen und das Geheimnis seiner Lage keinem Sterblichen anzuvertrauen. In diesem Augenblick stand ich am Scheideweg meines Lebens. Ich gab mir die Bestimmung, Mikroskopiker zu werden. Wie jeder Novize, so bildete natürlich auch ich mir ein, als Entdecker dazustehen. Zu dieser Zeit ahnte ich nichts von den Abertausenden scharfsinniger Geister, die sich mit dem gleichen Vorhaben befaßten wie ich, und das mit dem Vorteil tausendfach leistungsfähigerer Instrumente, als es das meinige war. Die Namen eines Leeuwenhoek, Williamson, Spencer, Ehrenberg, Schultz, Dujardin, Schact und Schieiden galten mir damals für nichts, oder falls doch, so nicht für ihre geduldigen und erstaunlichen Forschungen. Mit jedem Exemplar der Gattung der Kryptogamen, das ich unter mein Instrument schob, vermeinte ich Wunder entdeckt zu haben, von denen die Welt bisher nichts mutmaßte. Ich entsinne mich noch gut des Wonne- und Bewunderungsschauers, der mich durchfuhr, als ich zum ersten Mal beobachtete, wie das gewöhnliche Rädertierchen (Rotifera vulgaris) seine flexiblen Speichen ausdehnte und wieder zusammenzog und offensichtlich im Wasser rotierte. Aber ach! als ich älter wurde und einige 358
Abhandlungen über mein Lieblingsstudium erwarb, fand ich heraus, daß ich nurmehr auf der Schwelle einer Wissenschaft stand, deren Erforschung einige der bedeutendsten Männer des Zeitalters ihr Leben und ihre Geistesgaben weihten. Als ich heranwuchs, zeigten sich meine Eltern äußerst erpicht darauf, daß ich mir ein Gewerbe aussuchte, denn sie veranschlagten die Wahrscheinlichkeit, es ergebe sich aus der Untersuchung von Moosbröcklein und Wassertropfen vermittels eines Messingtubus und eines Glasstückchens jemals etwas sonderlich Verwertbares, für gering. Es war ihr Wunsch, ich solle in das Kontor meines Onkels Ethan Blake, eines wohlhabenden Kaufmannes, eintreten, der sein Geschäft in New York betrieb. Gegen diesen Vorschlag zog ich entschieden zu Felde. Ich fände keinen Geschmack am Handel; ich würde mich bloß als Versager herausstellen; kurzum, ich weigerte mich, Kaufmann zu werden. Dennoch tat es not für mich, mir eine Tätigkeit zu suchen. Meine Eltern waren nüchterne Neu-Engländer, die auf die Not wendigkeit der Arbeit pochten; und deshalb wurde beschlossen, obwohl ich dank der Hinterlassenschaft meiner armen Tante Agatha mit Erreichen der Volljährigkeit ein kleines Vermögen erben würde - hinreichend groß, mich der Sorge ums tägliche Brot zu entheben – ich solle, anstatt darauf zu warten, die noblere Rolle spielen und die dazwischenliegenden Jahre daranwenden, mich selbständig zu machen. Nach reiflichen Erwägungen fügte ich mich den Wünschen meiner Familie und wählte mir einen Beruf. Ich entschied mich für ein Medizinstudium an der New York Academy. Diese Zukunftsaussicht gefiel mir. Die Entfernung von meinen Ange hörigen würde es mir erlauben, ohne Angst vor Entdeckung nach Belieben über meine Zeit zu verfügen. Solange ich meine Kolleggelder entrichtete, mochte ich nach Herzenslust schwän zen; und da ich nie die leiseste Absicht hegte, ein Examen zu 359
bestehen, bestand für mich keine Gefahr »durchzurasseln«. Zu dem war eine Weltstadt gerade der rechte Ort für mich. Hier konnte ich, nebst exzellenten Geräten und den neuesten Veröf fentlichungen, vertraulichen Umgang mit Männern erwerben, deren Forschungen den meinen glichen - mit einem Wort, alle die Dinge, die nötig waren, um eine vorteilhafte Hingabe meines Lebens an meine geliebte Wissenschaft zu gewähr leisten. Ich verfügte über Geld im Überfluß, hatte kaum einen Wunsch, der nicht von meinem Beleuchtungsspiegel einerseits und meinem Objektivglas auf der anderen begrenzt wurde, was also sollte verhindern, daß aus mir ein berühmter Erforscher der verschleierten Welten wurde? Mit den hochfliegendsten Hoffnungen schied ich von meiner neuenglischen Heimat und logierte mich in New York ein. II. Sehnsüchte eines Wissenschaftlers Meine erste Unternehmung galt natürlich dem Anmieten einer geeigneten Wohnung. Einige mit Suchen hingebrachte Tage bescherten mir schließlich eine Unterkunft in der Fourth Avenue; sie lag im zweiten Stock, war außerordentlich schmuck, unmöbliert und umfaßte Wohnzimmer, Schlaf zimmer und ein kleineres Gelaß, das ich beabsichtigte, mir als Laboratorium einzurichten. Ich möblierte die Zimmer schlicht, doch recht elegant, und dann wandte ich meine ganze Energie an die Ausschmückung des Tempels meiner Anbetung. Ich stattete Pike, dem berühmten Optiker, einen Besuch ab, und ließ seine hervorragende Sammlung von Mikroskopen vor mir Revue passieren –Field's Verbundmikroskop, Hinghams, Spencers, Nachets Binokular (das auf den Prinzipien des Stereoskops basierte) - und entschied mich zu guter Letzt für das Modell mit Namen Spencers Zapfenmikroskop, weil dies die meisten Verbesserungen in sich vereinte, und zudem noch beinahe völlig erschütterungsfrei war. Gleichzeitig schaffte ich 360
alles mögliche Zubehör an - Ausziehröhren, Mikrometer, eine Camera lucida, einen nivellierbaren Objekttisch, achromatische Kondensatoren, Prismen, parabolische Kondensatoren, Polari sationsapparate, Pinzetten, Glasplättchen mit mikroskopischen Präparaten, Glasröhrchen und eine Menge anderer Artikel, von denen ein jeder in der Hand eines erfahrenen Mikroskopikers nützlich gewesen wäre, die jedoch für mich, wie ich später herausfand, gegenwärtig so gut wie keinen Wert besaßen. Es bedarf einer jahrelangen Praxis, um ein kompliziertes Mikroskop richtig handhaben zu können. Als ich diesen Großeinkauf tätigte, musterte mich der Optiker mißtrauisch. Er schwebte offensichtlich im Zweifel, mich entweder als irgendeine wissenschaftliche Berühmtheit oder als Besessenen einstufen zu sollen. Ich glaube, er neigte der letzteren An nahme zu. Vermutlich war ich besessen. Jedes große Genie ist auf das Fachgebiet versessen, in dem es Meister ist. Der Beses sene, dem der Erfolg versagt bleibt, wird erniedrigt und Irrer genannt. Verrückt oder nicht, ich begab mich mit einem Feuereifer an die Arbeit, wie ihn nur wenige wissenschaftliche Studenten jemals an den Tag legten. Alles was für dies delikate Studium, auf das ich mich eingelassen hatte, von Belang war, mußte ich erlernen – ein Studium, das die höchste Geduld erforderte, die schärfsten analytischen Verstandesgaben, die ruhigste Hand, das ausdauerndste Auge, die feinsten und subtilsten Handgriffe. Lange Zeit lag die Hälfte meiner Apparaturen unbenutzt in den Regalen meines Laboratoriums, mittlerweile auf das Reichhaltigste beschickt mit jeder nur erdenklichen Vor richtung zur Erleichterung meiner Forschungsarbeit. Tatsächlich verstand ich mit einigen meiner wissenschaftlichen Utensilien nicht umzugehen – ich war ja nie in Mikroskopie unterrichtet worden – und diejenigen, deren Gebrauch ich theoretisch begriff, blieben so lange von nur geringem Nutzen 361
für mich, bis ich mir durch Übung die nötige Geschicklichkeit ihrer Handhabung angeeignet hatte. Und trotzdem, so ungestüm erwies sich mein Ehrgeiz, so unermüdlich die Beharrlichkeit meiner Experimente, daß ich mich, so unglaublich dies auch klingen mag, im Verlauf eines Jahres zu einem theoretisch wie praktisch ausgebildeten Mikroskopiker entwickelte. In diesem Abschnitt meiner Bemühungen, bei denen ich Vertreter jeder mir erreichbaren Substanz der Wirkung meiner Linsen unterwarf, wurde ich zum Entdecker – in begrenztem Maße, zugegeben, denn ich war noch sehr jung, aber immerhin ein Entdecker. Ich war es, der Ehrenbergs Theorie, die Volvox globator sei ein Tier, umstieß und bewies, daß seine soge nannten »Monaden« mit Magen und Augen nur Phasen in der Bildung einer Pflanzenzelle darstellten, und daß diese, wenn sie ihr Reifestadium erreicht hatten, zur Konjugation oder einem wirklich echten Zeugungsakt unfähig waren, ohne welchen man von keinem Organismus, der sich zu einer höheren Lebensstufe als der pflanzlichen entwickelt, behaupten kann, er sei vollständig. Ich war es, der das sonderbare Problem der Rotation in Pflanzenzellen und Pflanzenhaaren mit dem Hinweis auf ciliare Anziehung löste, entgegen der Versicherungen von Mr. Wenham und anderen, meine Erklärung resultiere aus einer optischen Täuschung. Aber trotz dieser Entdeckungen, so mühselig und beschwerlich sie auch zustande gebracht worden waren, fühlte ich mich entsetzlich unzufrieden. Bei jedem Schritt legte mir die Unzulänglichkeit meiner Instrumente Fesseln an. Wie alle eifrigen Mikros kopiker ließ ich meiner Einbildung freien Lauf. In der Tat wird gegen viele von ihnen der gängige Vorwurf laut, sie ersetzten die Mängel ihrer Geräte durch Ausgeburten ihrer Hirne. Ich träumte von immer tieferen Schichten in der Natur, die zu erkunden mir die beschränkte Stärke meiner Linsen verwehrte. Ich lag nachts wach und konstruierte irgendein Mikroskop von 362
unermeßlicher Vergrößerungskraft, mit dem ich alle Hüllen der Materie zu durchstoßen schien, bis hinab zum Uratom. Wie verfluchte ich diese unvollkommenen Hilfsmittel, die mich aus Unkenntnis geborene Notwendigkeit zu verwenden zwang! Wie sehnte ich mich danach, das Geheimnis einer voll kommenen Linse zu endecken, deren Vergrößerungsvermögen nur die Lösbarkeit des Objekts begrenzte, und die gleichzeitig frei von sphärischen und chromatischen Abweichungen sein würde, mit einem Wort, von all den Fallstricken, über die der bedauernswerte Mikroskopiker unablässig stolpert. Ich war von der Konstruktionsmöglichkeit eines einfachen Mikroskopes, bestehend aus einer einzigen Linse von solch gewaltiger und doch fehlerloser Stärke, überzeugt. Den Versuch zu unternehmen, das Verbundmikroskop zu solcher Güte zu entwickeln, hätte bedeutet, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen; denn das Verbundmikroskop stellte nichts weiter dar als das teilweise geglückte Unterfangen, den Schwächen, die dem einfachen Instrument anhafteten, Abhilfe zu schaffen, das dann, waren diese erst einmal überwunden, nichts mehr zu wünschen übrig lassen würde. Aus dieser Gemütsverfassung heraus wurde ich ein schöpferischer Mikroskopiker. Nachdem ein weiteres Jahr mit dieser neuen Tätigkeit verstrichen war, und ich mit allen möglichen Substanzen experimentiert hatte – Glas, Edel steinen, Kieseln, Kristallen, künstlichen Kristallen hergestellt aus Mischungen mannigfaltiger Glasmaterialien – kurz gesagt, nachdem ich so viele verschiedene Linsen hergestellt hatte, wie Argus Augen besaß, stand ich noch genau da, wo ich begonnen hatte, um kein Jota klüger geworden, als um ein umfassendes Wissen über Glasherstellung. Ich war halbtot vor Ver zweiflung. Meine Eltern äußerten ihr Befremden über die mangelhaften Fortschritte meiner medizinischen Studien (seit meiner Ankunft in der Stadt hatte ich nicht ein Kolleg besucht), und die Unkosten, die mir mein verrücktes Treiben verursacht 363
hatte, erwiesen sich als so umfangreich, um mich in ernste Verlegenheit zu setzen. In dieser Stimmung experimentierte ich eines Tages gerade in meinem Laboratorium mit einem kleinen Diamanten – dem Stein, der wegen seiner großen Brechungskraft schon von jeher meine Aufmerksamkeit mehr als jeder andere auf sich gezogen hatte -, als ein junger Franzose eintrat, der im Stock über mir wohnte und mich gelegentlich besuchen kam. Ich glaube, Jules Simon war Jude. Er wies zahlreiche Züge des hebräischen Charakters auf: eine Vorliebe für Geschmeide, Garderoben und Wohlleben. Die Spur eines Geheimnisses umgab ihn. Immer hatte er irgend etwas zu verkaufen und bewegte sich dennoch in den besten Kreisen. Statt verkaufen hätte ich wohl besser verhökern sagen sollen; denn seine Transaktionen beschränkten sich für gewöhnlich auf den Verkauf einzelner Gegenstände – ein Bild zum Beispiel, oder eine seltene Elfenbeinschnitzerei, oder ein Paar Duellpistolen, oder die Kleidung eines mexikanischen Caballero. Als ich anfangs meine Räume einrichtete, machte er mir seine Aufwartung, was damit endete, daß ich einen kleinen Silberleuchter erstand, von dem er mir beteuerte, er stamme aus Cellinis Werkstatt - und selbst dafür war er noch wohlfeil genug -, und außerdem noch einigen anderen Schnickschnack für mein Wohnzimmer. Warum Simon diesem uneinträglichen Gewerbe nachging, habe ich nie verstanden. Offensichtlich besaß er viel Geld und hatte das Entree zu den besten Häusern der Stadt – trotzdem hütete er sich meiner Ansicht nach davor, Geschäfte mit dem Zauberzirkel der Oberen Zehn einzugehen. Allmählich gelangte ich zu dem Schluß, daß diese Hökerei nur zur Tarnung eines weit größeren Unternehmens diente, und schrak nicht einmal vor der Annahme zurück, mein junger Bekannter sei am Sklavenhandel beteiligt. Bei besagter Gelegenheit also kam Simon in einigermaßen erregtem Zustand in mein Zimmer. 364
»Ah! mon ami!« rief er, ehe ich ihn noch wie gewohnt begrüßen konnte, »es ist mir widerfahren, Zeuge der Dinge der erstaunlichsten dieser Welt zu sein. Ich spazierte mich zum Haus von Madame – wie heißen der kleine Tier – le renard – auf lateinisch?« »Vulpes«, antwortete ich. »Ah! natürlich – Vulpes. Ich spazierte mich zum Haus von Madame Vulpes.« »Dem Medium?« »Ja, die große Medium. Gütiger Himmel! was für eine Frau! Ich schreiben viele Fragen zu Angelegenheiten den höchst geheimsten auf ein Stückchen Papier - Angelegenheiten, die sich verbergen in den Abgründen den allertiefsten meines Herzens; und siehe da! als Beispiel! was passiert? Dieser Teufel von eine Frau macht mir Antworten, die aller wahrhaftigsten auf sie alle. Sie spricht zu mir von Dingen, über die ich es nicht lieben, zu mir selbst zu sprechen. Was soll ich denken? Ich bin eingewurzelt in die Erde!« »Wollen Sie damit sagen, Monsieur Simon, daß diese Madame Vulpes Fragen beantwortet hat, die Sie heimlich aufgeschrieben haben, Fragen, die sich auf Ereignisse beziehen, die nur Ihnen allein bekannt sind?« »Ah! mehr als das, mehr als das«, erwiderte er mit Anzeichen von Beunruhigung. »Sie erzählte mir Dinge – aber«, fügte er nach einer Pause und in verändertem Tonfall hinzu, »warum uns beschäftigen mit diese Narrheiten? Es war nur das tierische Magnetismus, ohne Zweifel. Es versteht sich von selbst, daß es nicht meine Glaubwürdigkeit hat. - Aber warum bin ich hier, mon ami? Es ist mir widerfahren, zu entdecken die allerschönste Ding, das Sie sich können vorstellen - eine Vase mit grünen Eidechsen darauf, geschaffen von die große Bernard Palissy. Es ist in meiner Wohnung; steigen wir hoch. Ich werde sie zeigen zu Ihnen.« Mechanisch folgte ich Simon; doch meine Gedanken waren 365
weit entfernt von Palissy und seinen glasierten Töpferarbeiten, obwohl ich gleich ihm im Dunkel eine große Entdeckung suchte. Diese beiläufige Erwähnung der Spiritualistin Madame Vulpes setzte mich auf eine neue Fährte. Was, wenn dieser Spiritualismus tatsächlich eine große Rolle spielte? Was, wenn ich durch Kommunikation mit feineren Organismen als ich selbst, mit einem Schlag an dem Ziel wäre, das mir ein in aufreibend geistiger Anstrengung zugebrachtes Leben nie zu erreichen vergönnen würde? Während ich meinem Freund Simon die Palissy-Vase abkaufte, bereitete ich im Geist einen Besuch bei Madame Vulpes vor. III. Leeuwenhoeks Geist Zwei Abende später erwartete mich, auf Grund einer schriftlich getroffenen Verabredung und der Zusage großzügiger Entloh nung, Madame Vulpes allein in ihrem Domizil. Sie war eine grobschlächtige Frau mit stechenden und ziemlich grausamen schwarzen Augen und einem außerordentlich wollüstigen Zug um Mund und Unterkiefer. Sie empfing mich in völliger Stille, in einem sehr spärlich eingerichteten Zimmer des Erdgeschosses. In der Mitte des Raumes, nahe bei Mrs. Vulpes Sitzplatz, stand ein einfacher, runder Mahagonitisch. Wäre ich in der Absicht gekommen, ihren Kamin zu fegen, diese Frau hätte mein Erscheinen nicht gleichgültiger hinnehmen können. Nicht der geringste Versuch, dem Besucher Ehrfurcht einzuflößen. Alles zeigte einen ungekünstelten und praktischen Aspekt. Für Mrs. Vulpes schien der Verkehr mit der Geisterwelt eine so alltägliche Angelegenheit wie ihr Mittagstisch oder eine Fahrt mit dem Omnibus zu sein. »Sie suchen mich wegen einer Verbindung auf, Mr. Linley?« fragte das Medium mit trockener, geschäftlicher Stimme. »Verabredungsgemäß – ja.« 366
»Welche Art Verbindung wünschen Sie? – Eine schriftliche?« »Ja– ich ersuche um eine schriftliche.« »Mit einem bestimmten Geist?« »Ja.« »Sind Sie diesem Geist jemals in dieser Welt begegnet?« »Nie. Er starb, lange bevor ich geboren wurde. Ich möchte nur eine Auskunft von ihm, eine Auskunft, die er mir eigentlich besser als jeder andere zu erteilen imstande sein sollte.« »Würden Sie bitte am Tisch Platz nehmen, Mr. Linley«, sagte das Medium, »und die Hände darauf legen?« Ich gehorchte – Mrs. Vulpes saß mir gegenüber, ihre Hände lagen ebenfalls auf dem Tisch. So verharrten wir etwa eineinhalb Minuten, bis eine heftige Folge von Klopflauten auf dem Tisch erklang, auf der Rückenlehne meines Stuhls, auf dem Boden direkt unter meinen Füßen, ja sogar an den Fensterscheiben. Mrs. Vulpes lächelte gelassen. »Heute abend sind sie besonders stark«, bemerkte sie. »Sie haben Glück.« Dann fuhr sie fort: »Wollen die Geister mit diesem Herrn Verbindung aufnehmen?« Nachdrückliche Bekräftigung. »Will der bestimmte Geist, den er zu sprechen wünscht, Verbindung aufnehmen?« Dieser Frage folgte ein ziemlich verworrenes Gepoche. »Ich weiß, was sie meinen«, sagte Mrs. Vulpes zu mir, »sie möchten, daß Sie den Namen des bestimmten Geistes, mit dem Sie reden wollen, aufschreiben. Stimmt das?« fügte sie zu ihren unsichtbaren Gästen gewandt hinzu. Daß es sich so verhielt, ging aus den zahlreichen, bestätigenden Antworten deutlich hervor. Während sich dies zutrug, riß ich einen Zettel aus meinem Notizblock und kritzelte unter dem Tisch einen Namen. »Will dieser Geist schriftliche Verbindung mit diesem Herrn aufnehmen?« fragte das Medium erneut. 367
Nach einer kurzen Pause schien ihre Hand ein machtvolles Beben zu ergreifen, das so stark war, daß der Tisch davon vibrierte. Sie sagte, ein Geist habe ihre Hand ergriffen und würde schreiben. Ich schob ihr einige Blätter Papier hin, die auf dem Tisch lagen, und dazu noch einen Bleistift. Letzteren hielt sie locker in ihrer Hand, die sogleich mit einer merkwürdigen und scheinbar unfreiwilligen Bewegung über das Papier glitt. Nachdem einige Augenblicke vergangen waren, reichte sie mir das Blatt, auf dem ich in großen, ungelenken Schriftzügen die Worte las: »Er ist nicht hier, aber er wird geholt.« Nun verstrich eine etwa einminütige Pause, in deren Verlauf Mrs. Vulpes völlig still blieb, das Pochen hingegen aber in regelmäßigen Abständen wiederkehrte. Als besagte kurze Zeitspanne um war, wurde die Hand des Mediums wieder von dem krampfartigen Beben gepackt, und unter diesem sonderbaren Einfluß schrieb sie ein paar Worte auf das Blatt, das sie mir anschließend gab. Sie lauteten wie folgt: »Ich bin hier. Fragen Sie. Leeuwenhoek.« Ich war verblüfft. Der Name stimmte mit dem überein, den ich unter dem Tisch notiert und sorgfältig verborgen hatte. Andrerseits lag es auch jenseits aller Wahrscheinlichkeit, daß eine so ungebildete Frau wie Mrs. Vulpes auch nur den Namen des großen Vaters der Mikroskopie kennen sollte. Es könnte tierischer Magnetismus gewesen sein; aber auch diese Theorie war zu baldigem Untergang verdammt. Ich setzte auf das Blatt, das ich noch immer vor Mrs. Vulpes versteckt hielt, eine Anzahl von Fragen, die ich, um der Gefahr der Langatmigkeit zu entgehen, zusammen mit den Antworten, ihrer Reihenfolge nach auflisten werde: – Ich: – Kann das Mikroskop zur Vollkommenheit entwickelt werden? Geist: - Ja. Ich: - Bin ich ausersehen, diese große Aufgabe zu erfüllen? 368
Geist: – Sie sind es. Ich: - Ich möchte wissen, wie ich vorgehen muß, um dieses Ziel zu erreichen. Im Namen der Liebe, die Sie zur Wissenschaft empfinden, helfen Sie mir! Geist: – Setzt man einen hundertundvierzigkarätigen Diamanten lange Zeit elektromagnetischen Strömen aus, so werden sich seine Atome inter se umgruppieren, und aus diesem Stein werden Sie die universelle Linse schaffen. Ich: - Wird der Gebrauch einer solchen Linse umwälzende Entdeckungen nach sich ziehen? Geist: – Derartig umwälzende, daß alles Vorhergegangene sich als null und nichtig erweist. Ich: – Die Brechungskraft eines Diamanten ist doch aber so gewaltig, daß das Bild in der Linse entstehen wird. Wie soll diese Schwierigkeit überwunden werden? Geist: – Durchbohren Sie die Linse in ihrer Axis, und das Problem ist umgangen. Das Bild wird in dem Hohlraum entste hen, der seinerseits die Aufgabe des Tubus erfüllt. Jetzt werde ich abberufen. Gute Nacht. Die Wirkung, die diese außergewöhnlichen Mitteilungen auf mich ausübten, vermag ich nicht zu beschreiben. Ich war restlos verwirrt. Keine Theorie über tierischen Magnetismus konnte der Entdeckung der Linse Rechnung tragen. Das Medium hätte es, vermittels magnetischer Beziehung zu meinem Verstand, fertigbringen können, meine Fragen zu lesen und sie zusammenhängend zu beantworten. Doch tierischer Magnetismus konnte es nicht zu der Entdeckung befähigt haben, daß magnetische Ströme die Kristalle eines Diamanten dergestalt veränderten, daß seine vorherigen Mängel beseitigt wurden und es somit möglich wurde, ihn zu einer vollkommenen Linse zu glätten. Eine ähnliche Theorie mag mir zwar durch den Kopf gegangen sein, aber wenn dem so war, hatte ich sie vergessen. Mein erhitzter Geisteszustand ließ mir nur einen Weg offen, ein Bekehrter zu werden, und in 369
schmerzhaft nervöser Erregung schied ich an diesem Abend aus dem Haus des Mediums. Sie begleitete mich zur Tür und hoffte, ich sei zufriedengestellt. Das Pochen folgte uns, als wir durch die Halle gingen, und klang von den Treppengeländern, Dielen, selbst von den Türschwellen. Hastig verlieh ich meiner Zufriedenheit Ausdruck und entfloh eilends in die kühle Nachtluft. Auf dem Heimweg plagte mich nur ein einziger Gedanke – wie gelangte ich in den Besitz eines Diamanten der erforderlichen, ungeheuren Größe. Eine mehrmalige Verhund ertfachung meines gesamten Vermögens hätte zu seinem Erwerb nicht ausgereicht. Außerdem tauchen solche Steine selten auf, und wenn, dann gehen sie in die Geschichte ein. Ich konnte ihn nur unter den Regalien östlicher oder europäischer Monarchen finden. IV. Das Auge des Morgens In Simons Zimmer brannte Licht, als ich nach Hause kam. Ein unbestimmtes Gefühl trieb mich dazu, ihn aufzusuchen. Als ich die Tür seines Wohnzimmers ohne anzuklopfen öffnete, saß er gerade mit dem Rücken zu mir über eine Carcel-Lampe gebeugt, vertieft in die eingehende Untersuchung eines Gegenstandes, den er in Händen hielt. Wie ich hereinkam, fuhr er plötzlich hoch, stopfte sich mit der Hand etwas in seine Brusttasche und drehte sich mit einem vor Verlegenheit hochroten Gesicht zu mir um. »Wie!« rief ich. »Bei Träumereien über der Miniatur einer schönen Dame? Na, Sie brauchen nicht rot zu werden, ich will sie gar nicht sehen.« Simon lachte recht unbeholfen, ergriff aber nicht die bei sol chen Gelegenheiten üblichen ableugnenden Ausflüchte. Er bat mich Platz zu nehmen. »Simon«, sagte ich, »eben komme ich von Madame Vulpes.« 370
Diesmal wurde Simon weiß wie ein Laken und wirkte betäubt, so als hätte ihn ein plötzlicher elektrischer Schlag durchzuckt. Er lallte unzusammenhängende Worte und begab sich rasch zu dem kleinen Schrank, in dem er für gewöhnlich seine alkoholischen Getränke aufbewahrte. Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken befaßt, um groß auf etwas anderes zu achten. »Sie tun recht daran, Madame Vulpes ein Teufelsweib zu nennen«, fuhr ich fort. »Simon, sie hat mir heute abend wunderbare Dinge gesagt oder diente vielmehr als Vermittlerin, mir wunderbare Dinge zu sagen. Ah! könnte ich nur einen Diamanten bekommen, der einhundertundvierzig Karat wiegt!« Kaum war der Seufzer, mit dem mir dieser Wunsch entfuhr, auf meinen Lippen erstorben, da sprang Simon wie ein wildes Tier auf, starrte mich wütend an und stürzte zum Kaminsims, wo einige fremdländische Waffen an der Wand hingen, ergriff einen malaiischen Kris und fuchtelte furchterregend damit herum. »Nein!« schrie er in Französisch, in das er immer verfiel, wenn er aufgeregt war. »Nein! Sie werden ihn nicht bekommen! Sie sind niederträchtig. Sie stecken mit dem Dämon unter einer Decke und wollen meinen Schatz. Aber eher sterbe ich. Ich! Ich bin tapfer! Sie jagen mir keine Angst ein!« Das alles, mit lauter, vor Erregung zitternder Stimme vorge bracht, verwunderte mich. Ich merkte gleich, daß ich durch Zufall einen Zipfel von Simons Geheimnis erhascht hatte, was immer dies auch sein mochte. Ich mußte ihn beruhigen. »Mein lieber Simon«, sagte ich, »ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden. Ich suchte Madame Vulpes auf, um sie wegen eines wissenschaftlichen Problems zu konsultieren, zu dessen Bewältigung, wie ich herausfand, ein Diamant der eben von mir erwähnten Größe erforderlich ist. Über Sie ist den 371
ganzen Abend lang kein Wort gefallen, noch hat man Ihrer, wenigstens soweit es mich betrifft, gedacht. Was bedeutet dieser Ausbruch? Wenn Sie sich im Besitz einer wertvollen Diamantensammlung befinden, brauchen Sie von mir nichts zu befürchten. Den Diamant, den ich benötige, können Sie nicht besitzen; oder, wenn doch, würden Sie nicht hier leben.« Etwas in meinem Ton mußte ihn vollständig beruhigt haben, denn augenblicks veränderte sich sein Gebaren zu einer gezwungenen Fröhlichkeit, die jedoch mit einer gewissen mißtrauischen Überwachung meiner Bewegungen einherging. Er lachte und meinte, ich müsse Geduld mit ihm haben, er werde ab und zu von Schwindelanfällen heimgesucht, die sich in wirren Reden äußerten und ebenso schnell wieder abklängen, wie sie aufträten. Während er diese Erklärung abgab, legte er die Waffe aus der Hand und bemühte sich mit einigem Erfolg darum, etwas lustiger zu wirken. All dies konnte mich nicht im geringsten beeindrucken. Ich war zu sehr an analytisches Arbeiten gewöhnt, um mich von einem so dürftigen Verschleierungsversuch täuschen zu lassen. Ich beschloß, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. »Simon«, sagte ich ausgelassen, »wir sollten alles bei einer Flasche Burgunder vergessen. Unten bei mir steht eine Kiste Lausseures Clos Vougeot, duftend nach den Gerüchen und gerötet vom Sonnenlicht der Cote d'Or. Lassen Sie uns ein paar Flaschen davon genießen. Was meint Ihr?« »Von Herzen gern«, antwortete Simon mit einem Lächeln. Ich kredenzte den Wein, und wir begannen zu trinken. Es war ein fabelhafter Jahrgang, ein 1848er, das Jahr, als Krieg und Wein zusammen gediehen - und sein reiner, doch starker Saft spendete den Organen frische Kräfte. Nachdem wir mittlerweile die zweite Flasche zur Hälfte geleert hatten, begann es sich in Simons Kopf, der, wie ich wußte, wenig vertrug, zu drehen; ich hingegen blieb so ruhig wie zuvor, nur schien mit jedem Schluck eine Welle neuer Lebenskraft durch 372
meine Glieder zu strömen. Simons Unterhaltung wurde immer fahriger. Er hob an, französische chansons wenig moralischen Inhalts zu singen. Just am Ende einer solch dahergefaselten Strophe stand ich plötzlich vom Tisch auf, und indem ich ihn ruhig fixierte, sagte ich: »Simon, ich habe Sie getäuscht. Ich habe Ihr Geheimnis heute abend erfahren. Sie können ganz offen darüber zu mir sprechen. Mrs. Vulpes oder, genauer gesagt, einer ihrer Geister verriet mir alles.« Er sprang entsetzt auf. Sein Rausch schien augenblicklich verflogen, und er langte nach der Waffe, die er kurz zuvor weggelegt hatte. Ich hielt ihn mit der Hand zurück. »Ungeheuer«, schrie er leidenschaftlich, »ich bin ruiniert! Was soll ich tun? Sie werden ihn nie bekommen! Das schwöre ich bei meiner Mutter.« »Ich will ihn überhaupt nicht«, sagte ich, »da können Sie ganz beruhigt sein, aber seien Sie aufrichtig zu mir. Erzählen Sie mir alles darüber.« Die Trunkenheit kehrte zurück. Mit weinerlichem Ernst beteuerte er mir meinen völligen Irrtum – ich sei berauscht; dann bat er mich, ewige Verschwiegenheit zu geloben, und versprach mir das Geheimnis zu enthüllen. Natürlich verpflichtete ich mich zu allem. Mit unbehaglicher Miene und vor Alkohol und Nervosität zitternden Händen zog er ein kleines Kästchen aus seiner Brusttasche und öffnete es. Himmel! Wie zersplitterte das milde Lampenlicht in tausend prismatische Pfeile, als es auf einen riesigen, rosettenförmigen Diamanten traf, der in dem Etui glitzerte! Ich verstand nichts von Diamanten, aber ich sah mit einem Blick, daß dies ein Edelstein seltener Größe und Reinheit war. Ich blickte Simon verwundert und - muß ich es gestehen? -neiderfüllt an. Den trunkenen Erklärungen (deren Verworrenheit, glaube ich, halb gekünstelt war), die er mir auf meine Fragen gab, konnte ich nur entnehmen, daß er eine Gruppe von Sklaven beim Diamantenwaschen in Brasilien beaufsichtigt hatte; daß er 373
bemerkt hatte, wie einer von ihnen einen Diamanten bei sich versteckte, aber statt seinem Arbeitgeber Meldung zu machen, hatte er den Neger so lange beobachtet, bis er zusehen konnte, wie dieser seinen Schatz vergrub; daß er ihn ausgegraben hatte und damit geflohen war, daß er sich aber noch davor fürchtete, ihn öffentlich zu verkaufen – denn ein so wertvoller Edelstein würde mit ziemlicher Sicherheit zu viel Aufmerksamkeit auf das Vorleben seines Besitzers lenken – und daß es ihm nicht gelungen war, einen jener dunklen Kanäle ausfindig zu machen, auf dem solche Dinger sicher fortgeschafft werden können. Er fügte hinzu, daß er, gemäß der orientalischen Sitte, den Diamanten auf den schwärmerischen Namen »Das Auge des Morgens« getauft habe. Während mir Simon das berichtete, betrachtete ich den großen Diamanten eingehend. Nie zuvor hatte ich etwas so Schönes gesehen. Alle Herrlichkeiten des Lichts, die jemals ersonnen oder beschrieben wurden, schienen in seinen Kristallkammern zu pulsieren. Sein Gewicht betrug, wie ich von Simon erfuhr, genau einhundertundvierzig Karat. Hier lag eine erstaunliche Übereinstimmung vor. Das Schicksal mochte seine Hand mit im Spiel haben. Genau an dem Abend, an dem mir Leeuwenhoeks Geist das große Geheimnis des Mikroskops anvertraut, taucht das unschätzbare Mittel, das er mich anzuwenden heißt, leicht erreichbar vor mir auf! Mit aller Vorbedacht beschloß ich, Simons Diamanten an mich zu bringen. Als Simon über seinem Glas einnickte, saß ich ihm gegenüber und überdachte still die ganze Angelegenheit. Nicht einen Augenblick zog ich eine so dumme Tat wie gewöhnlichen Diebstahl in Erwägung, der natürlich entdeckt oder mich wenigstens zur Flucht und einem Leben im Verborgenen zwingen würde, was alles meine wissen schaftlichen Pläne stören mußte. Es war nur ein Schritt möglich - Simon umzubringen. Was galt schon das Leben eines kleinen 374
Schacherjuden im Vergleich zu den Interessen der Wissenschaft? Täglich holt man menschliche Wesen aus den Todeszellen ab, damit Chirurgen an ihnen Experimente vornehmen können. Dieser Simon war ja nach eigenen Aussagen ein Verbrecher, ein Räuber und, wie ich in meiner Seele glaubte, auch ein Mörder. Er verdiente den Tod ebenso wie jeder vom Gesetz verurteilte Schurke: warum sollte ich nicht, wie die Regierung, verfügen, daß seine Bestrafung zum Fortschritt des menschlichen Wissens beitragen sollte? Das Mittel, durch das sich alle meine Wünsche verwirk lichen lassen würden, lag in meiner Reichweite. Auf dem Kaminsims stand eine halbvolle Flasche französischen Laudanums. Simon war so sehr mit seinem Diamanten beschäftigt, den ich ihm eben zurückgegeben hatte, daß es nicht schwierig war, etwas in sein Glas zu mischen. Nach einer Viertelstunde lag er in tiefem Schlaf. Nun knöpfte ich seine Weste auf, fingerte den Diamanten aus der Innentasche, in der er ihn verwahrt hatte, und schleppte Simon zum Bett, auf das ich ihn so zu liegen brachte, daß seine Beine über die Kante hingen. Ich versah mich mit dem malaii schen Kris, den ich in der Rechten hielt, indessen ich mit der Linken nach dem genauen Sitz des Herzens tastete, so gut es mir der Herzschlag eben erlaubte. Es war wesentlich, daß alle Anzeichen seines Todes auf Selbstmord hindeuteten. Ich schätzte den richtigen Winkel ab, unter dem die Waffe wahrscheinlich, würde sie von Simons eigener Hand geführt, in die Brust eindränge, und dann trieb ich sie mit einem kraftvollen Stoß bis ans Heft in eben die Stelle, die ich durchbohren wollte. Ein krampfartiges Zittern erschütterte Simons Glieder. Er gab einen erstickten Laut von sich, der genauso klang, wie das Platzen einer großen, von einem Taucher hochgesandten Luftblase, wenn sie an die Wasserober fläche dringt; er wälzte sich halb auf die Seite, und als wollte er meine Pläne noch wirksamer unterstützen, krallte sich seine 375
rechte Hand, von einem krampfhaften Impuls getrieben, um den Griff des Kris' und hielt diesen mit unnachgiebiger Hartnäckigkeit umklammert. Andere sichtbare Anzeichen eines Kampfes traten nicht auf. Das Laudanum lahmte vermutlich die normale Nerventätigkeit. Er muß auf der Stelle tot gewesen sein. Es gab noch etwas zu tun. Um sicherzugehen, daß alle Ver dachtsmomente nicht auf einen Hausbewohner, sondern auf Simon selbst wiesen, mußte am Morgen die Tür von innen ver schlossen vorgefunden werden. Wie konnte ich das zuwege bringen und hinterher dennoch verschwinden? Nicht durch das Fenster, das war eine körperliche Unmöglichkeit. Außerdem hatte ich beschlossen, daß man auch die Fenster verriegelt vorfinden sollte. Die Lösung war einfach genug. Verstohlen schlich ich in mein eigenes Zimmer hinab, um ein besonderes Instrument zu holen, das mir dazu gedient hatte, schlüpfrige Substanzen, wie zum Beispiel winzige Glaskügelchen, festzuhalten. Bei diesem Instrument handelte es sich um nichts anderes, als um eine lange, schlanke Schraubzange mit mächtigem Haltevermögen und beträchtlicher Hebelwirkung, wobei sich letztere von ihrer Griffform herschrieb. Nichts leichter als, stak der Schlüssel im Schloß, das Ende seines Stabes von draußen durch das Schlüsselloch mit dieser Schraubzange festzuhalten und so die Türe abzuschließen. Zuvor jedoch verbrannte ich in Simons Kamin einige Papiere. Selbstmörder verbrennen immer Papiere, ehe sie sich um bringen. Ich goß auch noch mehr Laudanum in Simons Glas nachdem ich zuerst alle Weinreste daraus entfernt hatte –, säu berte das andere Weinglas und nahm die beiden Flaschen mit mir fort. Hätten sich in diesem Zimmer die Spuren zweier Weintrinker gefunden, würde sich unvermeidlich die Frage erhoben haben: >Wer war der zweite?<. Abgesehen davon, daß man die Weinflaschen als von mir stammend identifiziert haben könnte. Das Laudanum schüttete ich aus, um, im Falle 376
einer post-mortem-Untersuchung, sein Vorhandensein in Simons Magen zu erklären. Die Theorie würde bestimmt lauten, daß er zuerst plante, sich zu vergiften, daß ihm aber der Geschmack der Droge, nachdem er ein wenig davon getrunken hatte, entweder Ekel erregte, oder er sich aus anderen Gründen dazu entschloß, zum Dolch zu greifen. Als ich diese Vorkehrungen getroffen hatte, ging ich hinaus, verschloß die Tür mit meiner Schraubzange und legte mich schlafen. Simons Tod wurde erst nachmittags kurz vor drei entdeckt. Die Dienstmagd, erstaunt darüber, Licht brennen zu sehen unter der Tür hindurch ergoß sich sein Schein auf den dunklen Treppenabsatz -, spähte durch das Schlüsselloch und entdeckte Simon auf dem Bett. Sie gab Alarm. Man drückte die Tür ein, und die Nachbarschaft glühte im Fieber der Erregung. Jedermann im Haus wurde verhaftet, meine Person nicht ausgenommen. Eine Untersuchung schloß sich an, die aber keine andere Todesursache als die durch Selbstmord erbrachte. Merkwürdigerweise hatte er in der zurückliegenden Woche einige Unterhaltungen mit seinen Freunden geführt, die auf Selbstmord hinzudeuten schienen. Ein Herr beschwor, Simon habe in seiner Gegenwart gesagt, »er sei des Lebens müde«. Sein Vermieter bestätigte, daß Simon beim Bezahlen der letzten Monatsmiete bemerkte: er würde ihm jetzt keine Miete mehr bezahlen. Alle anderen Augenscheinlichkeiten stimmten dazu – die von innen verriegelte Tür, die Lage des Körpers, die verbrannten Papiere. Wie ich es vorausgesehen hatte, wußte niemand, daß Simon diesen Diamanten besaß, also drängte sich auch kein Motiv für einen Mord an ihm auf. Nach ausgedehnter Untersuchung fällte die Jury den üblichen Spruch, und die Nachbarschaft versank wieder in ihre herkömmliche Ruhe. V. Animula
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In den drei Monaten, die auf Simons Verhängnis folgten, wid mete ich mich Tag und Nacht meiner Diamantlinse. Ich hatte eine riesige galvanische Batterie konstruiert, die aus nahezu zweitausend Plattenpaaren bestand - eine höhere Stärke wagte ich nicht anzuwenden, denn ansonsten lief ich Gefahr, den Diamanten zu verbrennen. Mittels dieses enormen Apparates befand ich mich in der Lage, einen dauerhaft starken elektri schen Strom durch meinen Diamanten, der mir täglich an Glanz zu gewinnen schien, zu schicken. Nach Monatsfrist begann ich mit dem Schleifen und Polieren der Linse, einer äußerst mühseligen und delikaten Arbeit. Die hohe Dichte des Steins, im Verein mit der Vorsicht, die bei der Krümmung der Linsenoberfläche obwalten mußte, machten dies zur qualvollsten und aufreibendsten Tätigkeit, der ich mich bisher unterzogen hatte. Endlich kam der denkwürdige Augenblick; die Linse war fertig. Bebend stand ich auf der Schwelle zu neuen Welten. Vor mir lag die Verwirklichung von Alexanders berühmtem Wunsch. Die Linse ruhte auf dem Tisch, bereit, auf das Gestell gehoben zu werden. Meine Hände zitterten nicht wenig, als ich, die Untersuchung eines Wassertropfens vorbereitend, diesen mit einem dünnen Mantel aus Terpentinöl umhüllte - ein erforderlicher Vorgang, um das schnelle Verdunsten des Wassers zu verhindern. Jetzt schob ich den Tropfen auf einem dünnen Glasträger unter die Linse, und indem ich einen starken Lichtstrahl auf sie warf, der den gemeinsamen Kräften von Prisma und Spiegel entsprang, näherte ich mein Auge an das winzige, durch die Linsenaxis gebohrte Loch. Für einen Moment sah ich nur, was mir als ein erleuchtetes Chaos erschien, ein gewaltiger, glänzender Abgrund. Reine, weiße Helligkeit, wolkenlos und klar und offenbar so grenzenlos wie das All selbst, diesen Eindruck empfing ich zuerst. Behutsam und mit größter Vorsicht senkte ich die Linse um Haaresbreite. Das wunderbare Licht blieb noch, aber als ich die Linse dem 378
Objekt annäherte, enthüllte sich meinem Blick eine unbeschreiblich schöne Szenerie. Ich schien in einen unermeßlichen Raum zu sehen, dessen Grenzen jenseits meines Sehvermögens lagen. Eine Atmosphäre magischen Glanzes durchsetzte das ganze Gesichtsfeld. Ich war erstaunt, keine Spur mikroskopischen Lebens vorzufinden. Offenbar bewohnte kein lebendes Wesen diesen bestiirzend weiten Raum. Ich wußte gleich, daß ich mit der wunderbaren Kraft meiner Linse über die gröberen Partikel wäßriger Substanz, über das Reich der Infusorien und Protozoen hinaus vorgestoßen war, hinab zum gasförmigen Urkügelchen, in dessen strahlendes Innere ich wie in einen fast schrankenlosen, von übernatürlichem Schein erfüllten Dom blickte. Ich schaute jedoch in keine völlige Leere. Rundherum nahm ich liebliche anorganische Formen wahr, aus unbekanntem Stoff und in den bezauberndsten Farben getönt. Das Phänomen, das diese Formen vorstellten, könnte man, in Ermangelung einer genaueren Definition, höchst ungewöhnliche Blattwolken nennen, das heißt, sie wallten, teilten sich in pflanzliche Gebilde und färbten sich mit einer Pracht, im Vergleich zu der die Vergoldung unserer Herbstwälder wie Schlacke im Vergleich zu Gold wirkte. Weit hinaus in diese maßlose Ferne erstreckten sich lange Alleen dieser gasförmigen Wälder, schwach durchscheinend und mit unvorstellbar leuchtkräftigen Regenbogenfarben bemalt. Die niederhängenden Zweige wogten entlang der flüssigen Lichtungen, bis jeder Durchblick zwischen halbschimmernden Reihen vielfarbig schwankender, seidiger Wimpel zu brechen schien. Von den Kronen dieses Zauberwaldes perlten, was entweder Früchte oder Blumen sein mochten, buntgescheckt in vielen Tönen, blendend und ewig sich verändernd. Keine Hügel, Seen oder Ströme, weder belebte noch unbelebte Formen waren zu sehen, nur diese riesigen, im Schimmer der Morgenröte strahlenden Dickichte, 379
die heiter in der lichten Stille schwammen, mit Blättern und Früchten und Blumen, die in unbekannten Feuern glühten, wie sie bloße Vorstellungskraft nicht zu schaffen vermag. Wie seltsam, dachte ich, daß diese Sphäre zur Einsamkeit verdammt sein sollte! Ich hatte gehofft, wenigstens eine neue Gattung tierischen Lebens aufzufinden – von einer niedrigeren Stufe vielleicht, als jede andere der uns augenblicklich bekann ten, aber immerhin doch einen lebenden Organismus. Mir er schien meine neu entdeckte Welt als eine schöne, farbige Wüste, wenn ich mich so ausdrücken darf. Während ich Spekulationen über die einzigartigen Gegebenheiten des inneren Baues der Natur anstellte, mit denen sie so häufig unsere festgefügtesten Theorien in ihre Atome zerschlägt, glaubte ich eine Gestalt zu sehen, die langsam über die Lichtung eines der prismatischen Wälder schritt. Ich blickte aufmerksamer hin und stellte fest, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Worte können die Unruhe nicht widerspiegeln, mit der ich die weitere Annäherung des geheimnisvollen Objektes erwartete. War es nur eine leblose Substanz, die in der verdünnten Atmosphäre des Kügelchens schwebte? Oder war es ein von Lebenskraft und Bewegung erfülltes Tier? Es kam näher, flatterte hinter den gazeartigen, bunten Schleiern des Wolkenlaubs, wurde für Sekunden undeutlich sichtbar und verschwand wieder. Endlich vibrierten die violetten Wimpel, die in meiner allernächsten Nähe hingen; sie wurden sanft auseinandergeschoben, und die Gestalt trieb hinaus ins helle Licht. Es war eine weibliche, menschliche Gestalt. Wenn ich menschlich sage, meine ich damit, daß sie die Umrisse eines Menschen hatte - doch da endet die Analogie. Ihre bewundernswerte Schönheit erhob sie himmelweit über die hübscheste von Adams Töchtern. Ich vermag und wage es auch nicht, die Reize dieser göttlichen Offenbarung vollkommener Schönheit aufzuzählen. 380
Diese mystisch veilchenblauen Augen, tauig und hell, entziehen sich meinen Worten. Ihr langes, leuchtendes Haar, das ihren herrlichen Kopf wie ein goldenes Kielwasser umspülte, gleich der Spur, die eine Sternschnuppe an den Himmel heftet, löscht meine brennendsten Worte mit seiner Pracht aus. Und ließen sich alle Bienen Hyblas auf meinen Lippen nieder, sie vermöchten doch nur mißtönend die wunderbaren Harmonien der Umrisse zu summen, die ihre Gestalt umschlossen. Sie schwebte durch die Regenbogenvorhänge der Wolken bäume hinaus in das gleißende Lichtmeer, das jenseits lag. Ihre Bewegungen glichen denen einer anmutigen Naiade, die mit bloßer Willensanstrengung die klaren, glatten Wasser zerteilt, die die Kammern der See füllen. Sie glitt mit der heiteren Grazie einer duftigen Seifenblase dahin, die durch den reglosen Luftkreis eines Junitages emporschwebt. Die absolute Vollkommenheit ihrer Glieder bildete holde und entzückende Kurven. Es war, als lausche man der ätherischsten Symphonie des göttlichen Beethoven, betrachtete man den harmonischen Fluß der Linien. Dies verkörperte wahrlich ein um jeden Preis wohlfeiles Vergnügen. Was scherte es mich, daß ich zum Portal dieses Wunders durch das Blut eines anderen Mannes gewatet war? Ich würde mein eigenes geopfert haben, um einen solchen Augenblick des Rausches und der Lust zu genießen. Atemlos vom Bestaunen dieses berückenden Wunders und im gegenwärtigen Vergessen aller Dinge außer ihrem Dasein, sah ich eilig vom Mikroskop auf – ach! Als mein Blick auf das dünne Plättchen traf, das unter meinem Instrument lag, funkelte das helle Licht aus Spiegel und Prisma auf einem farblosen Wassertropfen! Dort, in dieser winzigen Tauperle, war das schöne Wesen auf immer gefangen. Der Planet Neptun konnte mir nicht ferner sein als sie. Ich beeilte mich, wieder durch das Mikroskop zu schauen. Animula (ich will sie jetzt bei dem geliebten Namen nennen, 381
den ich ihr später verlieh) hatte ihren Standort gewechselt. Sie hatte sich wieder zu dem wundersamen Wald begeben und sah inbrünstig hinauf. Sogleich entrollte einer der – wie ich ihn bezeichnen muß – Bäume einen langen Ciliarfortsatz, mit dem er eine der Früchte ergriff, die in seinem Wipfel glitzerten, und, indem er langsam herabschwang, bot er sie Animula dar. Die Sylphe nahm sie in ihre zarte Hand und begann zu essen. Meine Aufmerksamkeit wurde so völlig von ihr beansprucht, daß ich mich nicht der Mühe unterziehen konnte, zu entscheiden, ob diese einzigartige Pflanze von einem Willen beseelt war, oder nicht. Mit tiefer Achtsamkeit beobachtete ich sie bei ihrer Mahlzeit. Die Zierlichkeit der Bewegungen jagte mir einen Wonneschauer durch den Körper, mein Herz hämmerte wie toll, als sie ihre schönen Augen auf den Fleck richtete, wo ich stand. Was hätte ich nicht um die Kraft gegeben, mich selbst in diesen leuchtenden Ozean stürzen zu können und mit ihr durch jene purpurnen und goldnen Haine zu treiben! Während ich so gespannt jede ihrer Bewegungen verfolgte, stutzte sie plötzlich und schien einen Moment lang zu lauschen, dann zerteilte sie den glänzenden Äther, in dem sie schwamm, fuhr wie ein Lichtblitz durch den opalenen Wald und war verschwunden. Augenblicklich überfiel mich eine Reihe der sonderbarsten Empfindungen. Mir schien, ich sei mit einem Mal erblindet. Die leuchtende Sphäre lag noch vor mir, aber das Sonnenlicht war erloschen. Was hatte das plötzliche Verschwinden verursacht? Hatte sie einen Liebhaber oder Gatten? Ja, das war die Lösung! Ein Zeichen eines glücklichen Mitwesens war durch die Alleen des Haines geklungen, und sie hatte die Aufforderung befolgt. Die peinigenden Gefühle, die meine Folgerung begleiteten, bestürzten mich. Ich versuchte, die Überlegung, die mir mein Verstand aufdrängte, zurückzuweisen. Ich kämpfte gegen den 382
fatalen Schluß – aber vergebens. Es war so. Es blieb mir keine Ausflucht. Ich liebte ein mikroskopisches Wesen, ein Animalculum! Dank der wunderbaren Kräfte meines Mikroskopes erschien sie mir zwar von menschlichen Proportionen; statt die abstoßendere Seite der roheren Geschöpfe darzustellen, die in den leichter löslichen Bestandteilen des Wassers leben und kämpfen und sterben, war sie holdselig und zart und von ungemeiner Schönheit. Aber was nützte mir das alles? Jedesmal wenn ich den Blick vom Instrument nahm, fiel er auf ein elendes Wassertröpfchen, in dem sich, mit dieser Einsicht mußte ich mich begnügen, all das aufhielt, was mein Leben herrlich machen konnte. Könnte sie mich nur einmal sehen! Könnte ich nur für einen Moment die mystischen Wände durchstoßen, die so unerbittlich zu unserer Trennung aufragten, und alles flüstern, was meine Seele erfüllte, ja, dann könnte ich mich dareinfügen, mich für den Rest meines Lebens mit dem Wissen um ihre ferne Sympathie zu bescheiden. Es wäre schon etwas, auch nur die leiseste persönliche Fühlungnahme, die uns vereinte, zustande gebracht zu haben – zu wissen, daß sie beim Umherschweifen in den zauberischen Lichtungen, manchmal des wundersamen Fremden gedenken würde, der mit seiner Gegenwart die Eintönigkeit ihres Lebens durchbrochen und eine liebe Erinnerung in ihrem Herzen hinterlassen hatte! Doch es konnte nicht sein. Keine Erfindung, deren der menschliche Geist fähig war, vermochte die Barrieren einzureißen, die die Natur errichtet hatte. Ich konnte meine Seele an ihrer ungeheuren Schönheit weiden, aber ihr mußten die anbetenden Augen auf immer verborgen bleiben, die Augen, die Tag und Nacht auf sie gerichtet waren und die sie sogar, wenn sie geschlossen waren, noch in Träumen sahen. Mit einem bitteren Schmerzensschrei floh ich aus dem Zimmer, warf mich auf mein Bett und weinte mich wie ein 383
Kind in den Schlaf. VI. Der Leidenskelch fließt über Mit Tagesanbruch stand ich am nächsten Morgen auf und stürzte an mein Mikroskop. Ich zitterte, als ich die leuchtende Miniaturwelt suchte, die mein ein und alles barg. Animula war da. Ich hatte die Gaslampe, im Schutz ihrer Moderatoren, beim Zubettgehen letzte Nacht brennenlassen. Ich fand die Sylphe, wie sie mit freudig belebten Zügen sozusagen in dem strahlen den Licht badete, das sie umgab. Mit unschuldiger Koketterie warf sie das Haar über die Schulter. Sie schwebte ausgestreckt in dem durchsichtigen Medium, wobei sie sich mühelos vor dem Sinken zu bewahren wußte und tanzte mit der Grazie, die die Nymphe Salmacis wohl gezeigt haben mochte, als sie den keuschen Hermaphrodit erobern wollte. Ich unternahm ein Experiment, um mir Klarheit darüber zu verschaffen, ob ihre Reflexionskraft ausgebildet sei. Ich dämpfte das Licht erheblich. Im schwachen Restschein konnte ich sehen, wie ein schmerzlicher Ausdruck über ihr Gesicht zuckte. Plötzlich sah sie auf und ihre Brauen zogen sich zusammen. Ich überflutete den Objekttisch wieder mit dem vollen Lichtstrahl, und ihr ganzer Ausdruck veränderte sich. Wie ein aller Schwerkraft beraubter Stoff federte sie empor. Ihre Augen blitzten und ihre Lippen bewegten sich. Ah! wenn doch die Wissenschaft nur ein Mittel besäße, Klänge zu leiten und zu reduplizieren, so wie sie es mit Lichtstrahlen tut, welch Jubelgesänge des Glücks würden mein Ohr dann erfüllt haben, was für Lobeshymnen auf Adonis hätten die leuchtende Luft durchrieselt! Jetzt begriff ich, wie der Conte de Gabalis dazu kam, seine mythische Welt mit Sylphen zu bevölkern - herrlichen Wesen, deren Lebensodem züngelndes Feuer war, und die sich auf ewig in Gefilden reinsten Äthers und Lichts ergingen. Der Rosenkreuzer hatte die Wunder geahnt, deren Verwirklichung 384
mir tatsächlich gelungen war. Wie lange diese Anbetung meiner fremden Gottheit dauerte, weiß ich kaum. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, konnte man mich dabei finden, wie ich durch diese wundervolle Linse spähte. Ich traf niemanden, ging nirgendwohin und ließ mir fast kaum die Zeit für meine Mahlzeiten. Mein gesamtes Lebenswerk versank in eine so tiefe Betrachtung wie das eines römischen Heiligen. Mit jeder Stunde, die ich diese göttliche Gestalt anblickte, wuchs meine Leidenschaft – eine Leidenschaft, die immer von der rasend machenden Gewißheit überschattet wurde, daß, obwohl ich sie nach Belieben betrachten konnte, sie mich nie und nimmer würde sehen können! Mit der Zeit machten mich der Mangel an Schlaf und das dauernde Brüten über meine wahnsinnige Liebe und ihre grau samen Umstände so blaß und abgezehrt, daß ich mich zu dem Versuch entschloß, mich von ihr loszureißen. »Komm«, sagte ich mir, »das ist bestenfalls ein Hirngespinst. Deine Phantasie hat Animula Reize verliehen, die sie in Wahrheit gar nicht besitzt. Der Rückzug aus der weiblichen Gesellschaft hat diese morbide Gemütsverfassung verschuldet. Vergleiche sie mit den schönsten Frauen deiner eigenen Welt, und dieser falsche Zauber wird zerstieben.« Ich blätterte zufällig in der Zeitung. Dort stieß ich auf die Anzeige einer gefeierten danseuse, die allabendlich im Niblo auftrat. Der Signorina Garadolce eilte der Ruf voraus, die schönste wie auch anmutigste Frau der Welt zu sein. Gleich zog ich mich an und ging in das Theater. Der Vorhang rollte hoch. Der übliche Halbkreis in weißen Musselin gekleideter Feen umstand auf der rechten Spitze die aus grüner Leinwand gefertigte Blumenbank, auf der der von der Nacht überraschte Prinz schlummerte. Plötzlich ertönte eine Flöte. Die Feen huschen. Die Bäume öffnen sich, alle 385
Feen stehen auf der linken Spitze und die Königin tritt auf. Es war die Signorina. Unter donnerndem Applaus beugte sie sich vor, stieg auf einem Fuß empor und verharrte so schwebend in der Luft. Himmel! Sollte dies die große Bezauberin sein, die Monarchen an die Räder ihres Triumphwagens gezogen hatte? Diese plumpen, muskulösen Glieder, diese dicken Knöchel, diese höhlenartigen Augen, dies stereotype Lächeln, die roh bemalten Wangen! Wo waren der güldene Hauch, die klaren, ausdrucksvollen Augen, die harmonischen Glieder meiner Animula? Die Signorina tanzte. Welch grobe, ungeschlachte Bewegun gen! Ihr ganzes Gliederspiel war falsch und künstlich. Ihre Sprünge glichen mühsam athletischen Anstrengungen; ihre eckigen Posituren beleidigten das Auge. Ich konnte es nicht länger ertragen; mit einem Ausruf des Abscheus, der alle Augen auf mich zog, erhob ich mich mitten bei Signorinas pasde-fascination und verließ geradewegs das Haus. Ich eilte heim, um meine Augen erneut an der schönen Gestalt der Sylphe zu ergötzen. Ich spürte, daß es fürderhin unmöglich sein würde, diese Leidenschaft zu bekämpfen. Ich preßte mein Auge auf die Linse. Dort war Animula - aber was konnte nur geschehen sein? In meiner Abwesenheit mußte eine schreckliche Veränderung stattgefunden haben. Ein geheimer Kummer schien ihre herrlichen Züge zu verdüstern. Sie hatte ein hageres und verhärmtes Gesicht bekommen; ihre Glieder schleppten; der wunderbare Glanz ihrer Haare war verblichen. Sie war krank! – krank, und ich konnte ihr nicht beistehen! Ich glaube, in diesem Augenblick hätte ich mich freudig aller meiner menschlichen Geburtsrechte begeben, wenn ich dadurch nur zur Größe eines Animalculum hätte schrumpfen können und es mir erlaubt gewesen wäre, jene zu trösten, von der mich das Schicksal auf immer getrennt hatte. Ich zerbrach mir den Kopf über die Lösung des Geheimnisses. Woran litt die Sylphe? Sie schien ungeheure 386
Qualen zu erdulden. Ihr Gesicht verzerrte sich, ja, sie krümmte sich sogar wie unter einem inneren Todeskampf. Auch die wundersamen Bäume hatten die Hälfte ihrer Schönheit eingebüßt. Ihre Farben waren verwaschen und an manchen Stellen sogar ganz geschwunden. Brechenden Herzens beobachtete ich Animula stundenlang, und unter meinem Blick schien sie völlig dahinzuwelken. Plötzlich entsann ich mich, tagelang nicht mehr nach dem Wassertropfen gesehen zu haben. Sein Anblick war mir im Grunde verhaßt, denn er gemahnte mich an die natürliche Barriere zwischen Animula und mir. Hastig blickte ich zum Objekttisch hinunter. Das Plättchen lag noch da - aber, gütiger Himmel! der Wasser tropfen war verschwunden! Die fürchterliche Wahrheit brach über mich herein: er hatte sich zu einer Winzigkeit verflüchtigt, die es dem bloßen Auge nicht mehr erlaubte, ihn zu erkennen; ich hatte auf sein letztes Atom geschaut, jenes, das Animula enthielt – und sie starb! Ich stürzte wieder an die Linse und sah hindurch. O weh, sie zuckte im letzten Todeskampf. Die Regenbogen-Wälder waren allesamt zerschmolzen und Animula rang ermattet in einem scheinbar dämmerigen Lichtkegel. Ah! der Anblick war entsetzlich: die einst so wohlgeformten und hübschen Glieder schmorten zu einem Nichts zusammen; die Augen – diese Augen, die einst wie der Himmel strahlten – erloschen zu schwarzem Staub; das leuchtend« goldene Haar hing jetzt schlaff und farblos. Die letzte Todeszuckung kam. Ich sah das letzte Aufbäumen der sich verdunkelnden Gestalt – und ich wurde ohnmächtig. Als ich nach vielen Stunden aus der Trance erwachte, lag ich zwischen den Trümmern meines Instrumentes, an Geist und Körper ebenso zerbrochen wie dieses. Kraftlos kroch ich ins Bett, das ich monatelang nicht mehr verließ. Jetzt behaupten sie, ich sei verrückt; aber sie irren sich. Ich bin arm, weil ich weder Lust noch Willen zum Arbeiten 387
verspüre; mein ganzes Geld ist verbraucht, und ich lebe von der Wohlfahrt. Vereine junger Männer, die sich gern einen Spaß machen, laden mich ein, ihnen eine Vorlesung über Optik zu halten, sie bezahlen dafür und lachen während meines Vortrags über mich. »Linley, den verrückten Mikroskopiker« nennt man mich. Vermutlich rede ich beim Vortrag unzusammenhängend. Wer könnte auch vernünftig sprechen, wenn einem grausige Erinnerungen im Kopf spuken und ich dann und wann zwischen Todesschatten die strahlende Gestalt meiner verlorenen Animula erschaue!
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Algernon Blackwood Die Weiden Stromabwärts von Wien, aber noch lange vor Budapest, durch zieht die Donau ein weites Gebiet aus nichts als Verlassenheit und ödnis, darin das Hauptbett des Stromes sich verliert in unzählige, nach allen Richtungen sich teilende Nebenarme und das angrenzende Land auf viele Kilometer hinaus ein einziger Morast ist, überwuchert von einem unübersehbaren Meer krüp peliger Weidenbüsche. Auf den großen Landkarten ist jener weltverlorene Landstrich in einem schummrigen Blau wie dergegeben, einem Blau, das gegen das trockene Land hin ver blaßt und in weitspationierten Lettern die Bezeichnung Sümpfe trägt. Zu Zeiten des Hochwassers ist diese riesige Fläche aus Schwemmsand, abgelagertem Schotter und weidenbestandenen Inseln fast zur Gänze überflutet. Ist aber das Wasser auf seinen normalen Stand gesunken, so biegen und wiegen die Büsche sich raschelnd im grenzenlosen Wind der Ebene, und das silbrige Schimmern ihrer im Sonnenlicht windwärts hingestrichenen Zweige wandelt die in immerwährendem Wogen befindliche, weite Fläche zu einem Meer von bestürzender Schönheit. Niemals aber erlangen jene Weiden die Würde von Bäumen: sie haben keinen festen Stamm und bleiben bescheidenes Buschwerk mit gerundeten Häuptern und sanften Konturen. Ihre schlanken, biegsamen Zweige gehorchen dem zartesten Druck und beginnen schon im leisesten Lufthauch zu schwanken, nicht minder sanft und unermüdlich als das Gras, so daß dies hinwogende Geschwanke uns mit einem Mal glauben macht, die gesamte Ebene sei in Bewegung, nein, lebe. Denn unablässig durch wellt ja der Wind die weithin sich breitende Fläche, als wären's nicht Wellen aus Weidengezweig, sondern Wogen aus Wasser, herantreibend in tiefgrünem Schwall wie das Meer, und 389
vorüber in weißlichem Schäumen, sobald erst die niedergebogenen Zweige ihre silbrige Seite sonnenwärts kehren. Die Fluten der Donau aber, als wären sie erleichtert, endlich dem Zwang der unverrückbaren Ufer entronnen zu sein, neh men hier ihren eigenen Lauf, verlieren sich im Labyrinth der Kanäle, das mit seinem verzweigten Geäder die aufgeschütteten Inseln allerorten durchschneidet in breiten Straßen, darin die Wasser mit Getöse dahinschießen: Wirbel bildend und Strudel, ja schäumende Stromschnellen, den sandigen Strand unterwaschend, Stücke Ufers mit ganzen Weidengruppen mit sich reißend und unzählige neue Inseln aufschüttend, Inseln, die mit jedem Tag Gestalt und Größe ändern und so im wahrsten Sinn ein wechselvolles Dasein führen bis zu dem Zeitpunkt, da sie unter den abermals steigenden Fluten spurlos verschwinden. Genaugenommen beginnt dieser so bestrickend verwirrende Abschnitt im Leben des Stromes nicht lange, nachdem er Preß burg hinter sich gelassen, und wir, in unserem KanadierZweier, ausgerüstet mit Bratpfanne und Zweimannzelt, erreichten jenes Gebiet bei höchstem Wasserstand um die Mitte des Juli. Noch in aller Frühe des nämlichen Tages, im Osten zeigte sich die erste Morgenröte, hatten wir in rascher Fahrt das noch in tiefem Schlaf liegende Wien hinter uns gelassen, und wenige Stunden danach war es nur noch ein rauchiger Fleck am Himmel, vor den am Horizont verblauenden Höhenzügen des Wienerwaldes. Stromabwärts von Fischamend hatten wir am Rande eines im Wald rauschenden Birkenwäldchens gefrühstückt und waren dann in der reißenden Strömung vorbei an Orth getrieben, vorbei an Petronell (mit den Resten des römischen Carnuntum aus Marc Aureis Zeiten) und Hainburg, und schließlich auch an den finster herniederblickenden Thebener Höhen, jenen westlichsten Ausläufern der Karpaten, wo sich zur Linken die March so unauffällig in die Donau 390
stiehlt und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn verläuft. Unser zügiges Tempo - wir machten immerhin zwölf Kilometer pro Stunde – trug uns rasch nach Ungarn hinein. Die schlammigen Fluten - dies untrügliche Anzeichen von Hochwasser -ließen uns auf so manche Schotterbank auflaufen und wirbelten unser Boot in den überraschend auftretenden Strudeln wie einen Korken herum, noch ehe die Türme von Preßburg (dem ungarischen Poszony) sich stromabwärts vorm Himmel zeigten. Bald aber schoß unser Kanu, sich bäumend wie ein feuriges Pferd, mit Höchstgeschwindigkeit an den grauen Ufermauern vorbei, kam sicher über die quer durch den Strom hängende Kette der Brückenfähre hinweg, beschrieb dann eine scharfe Linkswendung und stieß mit gelblich aufschäumender Bugwelle mitten hinein in die Wildnis aus Inseln, Sandbänken und den dahinter sich erstreckenden Sümpfen – hinein in das einsame, unermeßliche Reich der Weiden. Der Wechsel vollzog sich so plötzlich, als hätten die Reihenbilder eines Bioskops vom Leben und Treiben in den Straßen einer Stadt ohne jeden Übergang gewechselt zu einer Szenerie aus Wäldern und Seen. Wie auf Flügeln wurden wir hinübergetragen in das Land der Verlassenheit, und keine halbe Stunde später war da nicht Boot noch Fischerhütte mehr zu sehen, kein fernes Dach, ja nicht einmal das kleinste Anzeichen von menschlicher Wohnstatt oder Arbeit. Dies Gefühl vollkommener Weltabgeschiedenheit und letzten Einsamseins, diese Bestrickung durch eine so befremdliche Landschaft aus nichts als Weiden, Wind und Wasser – sie übte unverzüglich ihren Zauber auf uns beide, daß wir einander halb scherzhaft eingestanden, man müßte von Rechts wegen einen eigens ausgestellten Passierschein besitzen, um hier aufgenommen zu werden, und dürfte nicht, wie wir es getan, in aller Dreistigkeit und ohne um Erlaubnis zu fragen, in ein so verschlossenes 391
Reich des Zaubers und der Wunder eindringen, das nur jenen vorbehalten war, die ein Recht darauf hatten, und wo allerorten die Verbotstafeln errichtet waren, freilich nur sichtbar für jene, die über genug Phantasie verfügten, dieser ungeschriebenen Warnungen innezuwerden. Obgleich es noch früh am Nachmittag war, hatten uns die pausenlosen Stöße eines recht stürmischen Windes müde ge macht, so daß wir schon jetzt begannen, nach einem passenden Nachtlagerplatz Ausschau zu halten. Aber die trügerische Be schaffenheit der Inseln machte das Landen schwierig. Zwar trugen die wirbelnden Fluten uns uferwärts, doch schwemmten sie uns im letzten Moment wieder ins offene Wasser zurück. Die Weidenzweige aber, sobald wir sie ergriffen, um das Boot zum Stillstand zu bringen, rissen uns die Hände wund, und wir zerrten so manchen Meter sandigen Ufers mit uns ins Wasser, bevor wir schließlich doch noch mit Hilfe eines mächtigen Sei tenwindes aus dem Bereich der Strömung gerieten und es zuwege brachten, das Boot inmitten einer schäumenden Gischtwolke an Land zu ziehen. Dann, nach all der Anstrengung, lagen wir keuchend und lachend auf dem heißen, gelben Sandboden, endlich im Windschatten, jedoch in der prallen Hitze einer sengenden Sonne, zu Häupten einen wolkenlosen Himmel und rings im Umkreis ein unüberschaubares Heer von im Winde tanzenden, rauschenden Weidenbüschen, die von allen Seiten heranzurücken und in weißlichem Aufschäumen wie mit abertausend kleinen Händen dem schließlichen Erfolg unserer Anstrengungen Beifall zu klatschen schienen. »Was für ein Strom!« sagte ich zu meinem Gefährten, während ich an die riesige Wegstrecke dachte, die wir von den Quellen im Schwarzwald bis hierher zurückgelegt hatten, und daran, wie oft wir in den ersten Junitagen gezwungen gewesen, das Boot in den seichten Gewässern des Oberlaufs watend vor uns herzuschieben. 392
»Jetzt, bei Hochwasser, versteht der keinen Spaß«, gab er zurück, zog das Boot ein wenig weiter auf den festen Grund und rollte sich dann zusammen, um ein Schläfchen zu tun. Ich lag neben ihm, in sorgloser Zufriedenheit das Bad der Elemente auskostend – dies Elixier aus Wasser und Wind, aus Sand und flirrender Sonnenhitze -, und überdachte noch einmal die lange Reise, welche nun hinter uns lag, gedachte auch der großen Wegstrecke, die uns noch immer vom Schwarzen Meer trennte, und war im übrigen glücklich, in meinem schwedischen Freund einen so angenehmen und verläßlichen Begleiter gefunden zu haben. Wir hatten schon viele ähnliche Flußfahrten hinter uns, doch mehr als alle mir bekannten Ströme hatte die Donau von Anfang an uns durch eine stets wechselnde Lebendigkeit beeindruckt. Von ihrem winzigen, rieselnden Zutagetreten inmitten der fichtenumstandenen Einfassung von Donaueschingen bis zum gegenwärtigen Augenblick, da der ziehende Strom in aller Verspieltheit eines mächtigen Gewässers sich in der Einsamkeit dieser Sümpfe zu verlieren begann, ungehemmt und von niemandem beobachtet, hatte es uns geschienen, als folgten wir dem Heranwachsen eines lebenden Geschöpfes. Mehr schlafend als wachend zunächst, doch im weiteren Verlauf immer mehr sich der eigenen Tiefen bewußt und deshalb immer eigenwilliger, immer heftiger werdend, wälzte der zum Strom gewordene Fluß sich gleich einem Ungeheuern Lebewesen durch all die Länder, welche wir hinter uns gelassen – hatte er unser kleines Boot auf seinem mächtigen Rücken bis hierher getragen, ihm so manchen derben Streich dabei gespielt, so daß wir auf die Dauer nicht umhingekonnt, ihn für eine große Persönlichkeit anzusehen. Wahrhaftig, wie hätte es auch anders kommen können, da seine Fluten uns so viel von ihrem verborgenen Leben erzählt hatten? Nachts im Zelt hörten wir sie unterm Monde singen, 393
mit jenem sonderbaren, zischenden, nur ihnen eigentümlichen Laut, von dem gesagt wird, er rühre von dem ununterbrochen am Grunde des Flusses sich voranschiebenden Geröll her, so unwiderstehlich ist die Gewalt dieser Strömung. Und auch das Geräusch ihrer gurgelnden Strudel, jener so plötzlich aufkochenden Wirbel an Stellen, die vorher ganz glatt und harmlos geschienen, es war uns nicht minder vertraut denn das Sausen der Untiefen und der reißenden Stromschnellen, nicht minder auch als das beständige Grollen des Grunds unter allen Geräuschen der Oberfläche, und das unablässige, ziehende Waschen der eisigen Wasser am Ufergestein. Wie standen diese Fluten auf und schrien, sobald erst der Regen auf sie niederprasselte! Und wie schallend schwoll ihr Gelächter, wenn der Wind stromauf blies, ihrer wachsenden Schnelligkeit zu gebieten! Jawohl, wir kannten jetzt all diese Laute und Stimmen: jenes schäumende Sichüberstürzen, die aufspritzende Vergeblichkeit des Anrennens gegen die Pfeiler der Brücken, das plätschernde, nahezu betretene Verstummen im Angesicht ragender Berge, die affektierte Würde des Dahingleitens, die sich viel zu ernst nahm, als daß sie über die Ortschaften hätte lachen mögen, an denen die Fluten vorüberzogen, und all das zarte, sanfte Geflüster an den ruhigeren Strombiegungen, auf deren spiegelnde Glätte die Sonne herniederbrannte, bis der Dunst sich in Schleiern vom Wasser hob. Aber auch in seinen Anfängen, noch bevor er in die eigentliche Welt eintrat, steckte dieser Strom voll Überraschungen. Da gab es Stellen im Oberlauf, inmitten der schwäbischen Wälder, wo noch nichts auf seine spätere Bestimmung hinwies und an denen er plötzlich in der Erde verschwand, um jenseits der wasserdurchlässigen Kalkberge wieder aufzutauchen unter anderem Namen als ein neuer Fluß, dabei in seinem alten Bett so wenig Wasser weiterführend, daß wir gezwungen waren, aus dem Boot zu klettern und es watend kilometerweit über die seichten Stellen zu bugsieren! 394
Und eine der Hauptvergnügungen solcher ersten, noch niemandem verantwortlichen Jugend bestand darin, sich schmal zu machen, bevor die kleinen, schäumend aus den Alpen kommenden Nebenflüsse sich in ihn ergossen, und diese Vereinigung nicht anzuerkennen, sondern kilometerlang Seite an Seite mit ihnen dahinzufließen unter peinlichster Beobachtung der trennenden Linie, ja sogar mit anderem Wasserstand, dergestalt sich aufs hartnäckigste weigernd, den Neuankömmling auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Indes, unterhalb von Passau ließ er diese sonderbaren Launen sein, denn dort bricht der Inn mit so donnernder, unabweislicher Gewalt in das neue Bett, dort setzt er dem Hauptstrom so drängend zu, daß in der folgenden, gewundenen Talenge kaum Platz zu sein scheint für beide, und ihre Fluten, bald rechts gegen die Felsen geschleudert, gezwungen sind, in schäumender Eile ihre gurgelnden und schwappenden Wassermassen voranzuwälzen. Und unser sich dahinkämpfen des Kanu hatte, hinauf- und hinuntergerissen in diesem bestän digen Ringen, seine große Stunde inmitten solchen Wildwasserstromes. Doch hatte der Inn seinem Widersacher eine Lektion erteilt, so daß dieser alle hinter Passau einmündenden Flüsse willig in sich aufnahm. Das alles lag natürlich schon viele Tage zurück, und in der Zwischenzeit hatten wir weitere Eigenheiten des großen Stromes kennengelernt. Durch die weizenbestandenen Ebenen der Straubinger Gegend floß er so langsam dahin unter der sengenden Junisonne, daß es nur geringer Anstrengung bedurfte, sich vorzustellen, man triebe auf einer bloß spannenhohen Wasserfläche, während gleich darunter, von einem seidenen Mantel verhüllt, ein Gewoge aus Wassernixen geräuschlos und unsichtbar dem Meer entgegenzöge, in aller Gemächlichkeit, auf daß sie von oben nur ja nicht entdeckt würden. Vieles verziehen wir diesem sich ständig wandelnden 395
Strome auch um seiner Freundlichkeit willen, die er den Vögeln und Tieren entgegenbrachte, welche an seinen Ufern hausten. Reihenweise säumten die Kormorane an einsamen Plätzen die Ufer, kurzen, schwarzen Zaunpfählen vergleichbar, und Schwärme grauer Krähen bevölkerten die Schotterbänke. Fischend standen Störche im flachen Gewässer der zwischen den Inseln sich unsern Blicken öffnenden Buchten, und Falken, Schwäne sowie Sumpfvögel aller erdenklichen Arten kreisten auf schimmernden Schwingen und mit gereiztem, weithin hal lendem Schrei in der Luft. Unmöglich, angesichts der immer neuen Aspekte, die dieser Strom uns wies, auch nur eine Spur von Langeweile zu empfinden, gar dann, wenn etwa gegen Abend ein Reh mit seinem Sprung das Wasser aufspritzen machte und knapp vor dem Bug unser Fahrwasser kreuzte. Oft auch gewahrten wir Jungtiere, die aus dem schützenden Unter holz zu uns herüberäugten, oder wir blickten geradewegs in die braunen Augen eines Hirsches, wie wir da im zügigsten Tempo eine Landzunge umrundeten und uns plötzlich einer völlig neuen Uferlandschaft gegenübersahen. Auch Füchse schnürten immer wieder am Wasser entlang, zwängten sich geschmeidig durch das Verhau aus angeschwemmtem Astwerk und waren so plötzlich verschwunden, daß man ihren Bewegungen gar nicht zu folgen vermochte. Nun aber, da Preßburg hinter uns lag, hatte ein Wandel sich vollzogen, und der Strom war zusehends ernster geworden. Er hatte alles Spielerische zurückgelassen, jetzt, da er schon auf halbem Wege zum Schwarzen Meer war, beinahe schon im Bereich des Duftes anderer, befremdlicher Länder, wo keinerlei Launen mehr verfangen würden. Fast hatte es den Anschein, als wär' er plötzlich erwachsen geworden und erheischte nun unsren Respekt, ja unsere scheue Ehrfurcht. Zunächst einmal schien er sich verdreifachen zu wollen, teilte sich in drei Arme, die erst wieder hundert Kilometer stromabwärts zusammenflössen, und da gab es nun keinerlei 396
Hinweise für ein treibendes Kanu, welchem dieser drei Wasserläufe es zu folgen hätte. »Wenn Sie in einen Seitenarm geraten«, hatte der ungarische Beamte gesagt, als wir in Preßburg unsere Vorräte ergänzten, »dann kann es Ihnen passieren, daß Sie sich, sobald das Hoch wasser zurückgegangen ist, plötzlich auf dem Trockenen finden, fünfzig Kilometer von jeder Ansiedlung entfernt und mit nichts als dem Hungertod vor Augen. Lassen Sie sich's gesagt sein und fahren Sie nicht weiter! Außerdem, der Fluß steigt noch immer, und auch dieser Wind wird noch stärker werden.« Daß der Fluß noch weiter steigen würde, beunruhigte uns noch am wenigsten, aber die Möglichkeit, bei plötzlichem Fallen des Wassers hoch oben auf dem Trockenen zu sitzen, erschien uns recht bedrohlich. So hatten wir uns denn im Hinblick auf solchen Zwischenfall mit zusätzlichen Vorräten versehen. Im übrigen sollte der Beamte mit seiner Voraussage recht behalten, denn der Wind, welcher aus einem glasklaren Himmel blies und blies, nahm beständig zu und wuchs sich aus zu einem steifen West, der beinahe schon ein Sturm zu nennen war. Wir hatten unser Lager früher als sonst aufgeschlagen, denn die Sonne stand noch recht hoch am Himmel und würde erst in etwa zwei Stunden unterm Horizont verschwinden. So ließ ich meinen Freund auf dem heißen Sandstrand weiterschlafen und machte mich daran, unsern Rastplatz einem ersten Augenschein zu unterziehen. Die Insel, so stellte ich fest, umfaßte nicht einmal ein halbes Hektar Landes und war weiter nichts als eine Sandbank, die zwei bis drei Fuß über den Wasserspiegel ragte. Ihr oberes, gegen Sonnenuntergang weisendes Ende war ganz bedeckt von der weißlichen Gischt, die der gewaltige Wind von den schäumenden Kämmen der an der Landspitze sich brechenden Wellen ans Ufer blies. Insgesamt hatte unsre Sandbank die Form eines langgezogenen 397
Dreiecks, dessen schlanke Spitze stromaufwärts gerichtet war. Mehrere Minuten verharrte ich regungslos und sah den unge stümen, von der Sonne geröteten Fluten zu, wie sie mit Getöse heranschossen und mit ihren Wogen die sandigen Ufer über schwemmten, als wollten sie in einem einzigen Schwung hinwegwaschen, was sich ihnen da in den Weg stellte, um hernach in zwei schäumenden Strömen an beiden Seiten vorüberzuwirbeln. Der Boden schien zu erzittern unter so heftigem Ansturm, während das Furioso der windgepeitschten Weidensträucher den merkwürdigen Eindruck verstärkte, die Insel bewege sich stromaufwärts. Zwei, drei Kilometer weiter oben konnte ich den Strom in seiner ganzen Breite auf mich zukommen sehen: es war, als blickte man einen ins Gleiten geratenen Hang hinauf, der sich in weißlichem Aufschäumen beständig nach der Sonne emporzuschnellen schien. Die ganze übrige Insel war viel zu dicht von Weiden überwuchert, als daß ein Rundgang sonderlich erholsam gewesen wäre, allein, ich unternahm ihn dessenungeachtet. Am unteren Ende waren die Lichtverhältnisse naturgemäß ganz anders, und die Fluten boten von hier aus einen düsteren, ja zornmütigen Anblick. Nur die Kämme der dahineilenden Wogen waren zu sehen, wie sie da mit Schaumstreifen bedeckt dahinzogen und durch die gewaltigen, hinterrücks einfallenden Windstöße noch rascher vorangetrieben wurden. Doch war der Strom nur noch auf Kilometerlänge zu überblicken, wie er da zwischen den Inseln verschwand und wieder hervorschoß, um gleich darauf in einer gewaltigen Kehre zwischen den Weiden zu verschwinden, welche sich gleich einer Herde monströser, vorsintflutlicher Wesen darüberdrängten, um ihren Durst zu löschen. Unwillkürlich mußte ich an irgendwelche riesenhafte Schwammtiere denken, die nun dort unten die Wassermassen in sich einsaugten. In so überwältigender Masse drängten sie sich aneinander, daß nur sie dies plötzliche Verschwinden bewirkt haben konnten. 398
In all der äußeren Verlassenheit und bizarren Suggestions kraft beeindruckte die Szene mich aufs tiefste, und wie ich so stand und lange Zeit gespannt hinüberstarrte, stieg mit einem Mal ein sonderbares Gefühl in mir auf. In mein Entzücken angesichts so urtümlicher Schönheit mischte sich, völlig ungerufen und unerklärlich, eine kriechende, befremdliche Unruhe, ja beinahe Furcht. Die steigenden Fluten eines Flusses haben ja stets etwas Be drohliches an sich: viele Inseln und Inselchen vor meinen Augen mochten schon mit dem nächsten Morgen fortgeschwemmt sein, und die so unwiderstehlich dahin donnernde Wasserflut mußte in jedwedem Beschauer unweigerlich Furcht heraufrufen. Darüber hinaus aber war mir bewußt, daß mein Unbehagen einem sehr viel tieferen Grunde entsprang, keineswegs diesem aus Angst und Verwunderung gemischten Gefühl, das mich ja gar nicht so sehr bewegte. Auch war's nicht die Gewalt des peitschenden Windes, dieses heulenden Orkans, der von einem Moment auf den andern ein paar Hektar weidenbestandenen Grundes verwüsten und in die Lüfte schleudern mochte, um sie wie Spreu weithin über das Land zu verstreuen. Dieser Wind blies ja einfach um seiner selbst willen, denn da war nichts, was aus so flach hingebreiteter Landschaft sich erhoben hätte, um ihn auf zuhalten, und auch ich gab mich ganz bewußt und in lustvoller Erregung dem gewaltigen Spiel der Elemente anheim. So hatte dies neuerwachte Unruhegefühl auch mit dem Wind nichts zu schaffen. Tatsächlich war ja das Mißbehagen, welches ich da empfand, so unbestimmt, daß es mir schlechterdings nicht möglich war, zu seinem Ursprung vorzudringen und auf diese Weise damit fertig zu werden, obgleich ich mir durchaus im klaren war, daß es irgendwie zusammenhing mit meinem Erfassen unserer völligen Bedeutungslosigkeit im Angesicht der rings um mich entfesselten Naturgewalten. Auch der ungeheuerlich angeschwollene Strom hatte mit meiner Unruhe 399
zu tun – weckte den vagen, unbehaglichen Gedanken, wir hätten mit der Macht der Elemente gespielt und seien nun Tag und Nacht ohne jede Hilfe in deren Gewalt gegeben. Denn an diesem einsamen Ort wirkten sie im Übermaß zusammen, und solcher Anblick mußte ja die Phantasie beflügeln. Dennoch, soviel ich zu erkennen vermochte, schienen meine Empfindungen weit stärker von den Weidenbüschen beeinflußt, von dieser riesigen Fläche aus Weiden und Weiden, dicht zusammengeschart so weit das Auge reichte; herandrängend gegen den Fluß, als wären sie willens, ihn zu ersticken, aufgereiht in dichter Schlachtordnung bis an den Rand des Himmels - wachend und wartend und horchend. Ganz abgesehen von dem Wüten der Elemente, trugen diese Weiden nahezu unmerklich zu meiner Malaise bei, griffen in aller Heimtücke und einzig vermöge ihrer ungeheuerlichen Zahl das Gemüt an und brachten es auf die eine oder andere Weise zuwege, in mir das Gefühl zu wecken, wir hätten es hier mit einer neuen, mächtigen Kraft zu tun, mit einer Macht, die uns durchaus nicht nur freundlich gegenüberstand. Die großen Offenbarungen der Natur verfehlen ja niemals, ihren Eindruck auf uns zu üben, und namentlich mir waren solche Stimmungen nicht fremd. Berge hatten für mich stets etwas Überwältigendes, der Ozean erschreckte mich jedesmal aufs neue, wogegen das Geheimnisvolle unermeßlicher Wälder einen ganz eigenen Zauber auf mich übte. All diese Empfindungen aber hängen in dem oder jenem Punkte mit dem menschlichen Leben und seinen Erfahrungen zusammen, und wenn sie uns gleich beunruhigen, so tun sie's doch auf verständliche Weise, kurz, sie tendieren nun einmal zur Exaltation. Ganz anders hingegen, ich fühlte es, verhielt sich's mit diesem gewaltigen Einschließungsring aus nichts als Weiden. Etwas Tiefbedrohliches ging von ihnen aus und legte sich schwer auf das Herz. Etwas Ehrfurchtgebietendes, gewiß, doch 400
war solche Ehrfurcht irgendwo durchsetzt von unwägbarer Angst. Diese Mauer aus Reihen und Reihen von Weiden, die ringsum immer dunkler wurden, je tiefer die Schatten herabsanken, dies Furioso aus dennoch sanftem Gewoge, es weckte in mir das kuriose und unbehagliche Gefühl, daß wir mit unserem Eindringen die Grenzen der Menschenwelt überschritten hatten, daß wir hier Fremdlinge waren in einer Welt, die uns weder gerufen hatte, noch willens war, uns zu dulden - in einer Welt, darin wir so mancher Gefahren gewärtig sein mußten! Solche Empfindungen hatten indes zu jenem Zeitpunkt für mich noch nichts sonderlich Bedrohendes, obschon sie auch weiterhin jeder Erklärung entzogen blieben. Dennoch verur sachten sie mir eine beständig nagende Unruhe, auch während des durchaus handfesten Geschäfts, in einem orkanartigen Wind das Zelt aufzustellen und ein Feuer für unseren Kochtopf zu entfachen. Sie waren gerade noch stark genug, mich unsicher zu machen und zu irritieren, ja einem überaus reizvollen Lagerplatz ein Gutteil seiner Gemütlichkeit zu nehmen. Ich ließ aber meinem Gefährten gegenüber nichts davon verlauten, da ich ihn für einen völlig phantasielosen Menschen hielt. Auch hätte ich niemals die Worte gefunden, meine vagen Befürchtungen auszudrücken, und hätte ich ihm gesagt, was ich meinte, hätte der andere ja doch nur verständnislos darüber gelacht. Inmitten der Insel gab es eine kleine Mulde, und hier hatten wir unser Zelt aufgeschlagen. Die Weiden rundum hielten uns ein wenig den Wind vom Leibe. »Der Platz kann mir gestohlen bleiben«, warf der unerschütterliche Schwede hin, als wir das Zelt so weit hatten, daß es überhaupt stand. »Kein einziger Stein, kein trockenes Feuerholz. Morgen früh hauen wir von hier ab, meinst du nicht auch? In dem Schwemmsand hält doch rein gar nichts!« Aber die schlechte Erfahrung mit Zelten, die um Mitternacht 401
über den Schläfern zusammenbrechen, hatte uns so manche Vorkehrungen gelehrt, und so verankerten wir diesmal unsere behagliche Zweimannbehausung nach allen Regeln der Kunst und machten uns dann daran, einen Holzvorrat zu sammeln, der bis zur Schlafenszeit reichen sollte. Da aber Weiden kein Fallholz liefern, waren wir einzig auf angeschwemmtes Astwerk angewiesen. So suchten wir den Strand aufs genaueste ab und mußten dabei gewahren, daß die steigenden Fluten allerorten daran waren, große Stücke Ufer von unserer Insel loszureißen und mit aufspritzendem Gurgeln zu verschlingen. »Die Insel ist jetzt schon viel kleiner als bei unserer Landung«, sagte der unbestechliche Schwede. »Wenn das so weitergeht, ist sie bald weggeschwemmt. Wir sollten das Boot lieber zum Zelt nehmen, damit wir schon drinsitzen, wenn die Kündigung kommt. Ich jedenfalls schlaf heute nacht in den Kleidern.« Er stapfte in einiger Entfernung von mir den Strand entlang, und ich hörte ihn beim Äußern seiner Befürchtung belustigt auflachen. »Nun schlägt's aber dreizehn!« rief er schon im nächsten Moment, und ich fuhr herum, um zu sehen, was los sei. Aber vor lauter Weiden konnte ich ihn nicht entdecken. »Was zum Teufel ist denn das?« hörte ich ihn rufen, doch diesmal im Ernst. Ich machte, daß ich zu ihm kam. Er spähte über den Fluß und zeigte auf etwas, das im Wasser trieb. »Himmel, das ist doch ein Mensch!« schrie er aufgeregt. »So schau doch!« Irgend etwas Schwarzes, das von den schäumenden Wogen um und um gedreht wurde, glitt da draußen in raschem Tempo vorüber. Immer wieder verschwand es, um gleich danach aufs neue aufzutauchen. Doch als es, zwei bis drei Bootslängen vom Ufer entfernt, an uns vorbeitrieb, hob es plötzlich den Kopf, spähte um sich und richtete dann den Blick direkt auf uns. Die 402
Augen glühten vom Rot der untergehenden Sonne und spielten plötzlich ins Gelbliche, sobald der Körper sich neuerlich herumwarf. Dann, mit einem raschen, glucksenden Plätschern, tauchte es wie der Blitz und war verschwunden. »Ein Otter, wahrhaftig!« riefen wir wie aus einem Mund und lachten erleichtert auf. Jawohl, es war ein Otter, ein ganz lebendiger Otter auf der Jagd. Indes, er hatte dem Leichnam eines hilflos in der Strömung treibenden Toten zum Verwechseln ähnlich gesehen. Erst ziemlich weit unten kam das Vieh noch einmal an die Oberfläche, und wir konnten jetzt sein schwarzes, nasses Fell im Licht der Abendsonne aufglänzen sehen. Schon waren wir im Begriff, mit einer Ladung Schwemmholz in den Armen zum Zelt zurückzukehren, als ein zweites Ereignis eintrat und uns am Ufer festhielt. Und dieses Mal war es wirklich ein Mensch, ja mehr noch: ein Mann in einem Boot. Nun ist ein kleines Boot auf der Donau ja stets ein ungewöhnlicher Anblick, aber hier, inmitten dieser Einöde und noch dazu bei Hochwasser, kam das so unerwartet, daß es ein wirkliches Ereignis bedeutete. Wir standen, und die Augen wollten uns aus dem Kopf treten. War es nun das fast waagrecht einfallende Sonnenlicht, oder war's die Spiegelung der in der Abendröte zauberhaft glühenden Fluten – kurz, was auch immer, ich vermochte nicht, diese vorüberfliegende Erscheinung hinlänglich scharf ins Auge zu fassen. Immerhin konnte ich wahrnehmen, daß dort drüben ein Mann aufrecht in einer Art Zille stand und, indem er ein langes Ruder als Steuer benützte, sich mit atemraubender Schnelligkeit längs des jenseitigen Ufers stromab treiben ließ. Offensichtlich blickte er zu uns herüber, doch war die Entfernung zu groß, das Licht schon zu ungewiß, als daß wir seine Absicht mit ausreichender Deutlichkeit erkannt hätten. Doch wollte mir scheinen, als winke er zu uns herüber und sei bestrebt, uns durch Zeichen vor irgend etwas zu warnen. Auch 403
seine aufgeregt rufende Stimme konnten wir noch übers Wasser hören, aber der stürmische Wind machte die Worte unverständlich. Insgesamt haftete dem Ganzen etwas Befremdliches an – dem Mann wie dem Boot, den Zeichen wie der Stimme –, das mich weit über die Geringfügigkeit solchen Anlasses hinaus in Unruhe versetzte. »Jetzt bekreuzigt er sich!« rief ich aus. »So schau doch, er macht das Kreuzzeichen!« »Da kannst du recht haben«, versetzte mein schwedischer Freund, während er mit der Hand die Augen beschattete und dem Manne nachblickte, bis er verschwunden war. Der schien sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben, schien aufgegangen zu sein in jenem Meer aus Weiden, das dort unten an der Strombiegung und im Licht der sinkenden Sonne gleich einer Barriere aus Feuer erstrahlte. Auch stieg jetzt die Feuchtigkeit vom Wasser auf, so daß die Luft voll Dunst hing. »Aber was, zum Teufel, hat der Kerl hier bei Nacht, Nebel und Hochwasser verloren?« sprach ich halb zu mir selbst. »Wohin mag er um diese Zeit nur unterwegs sein, und was kann er mit seinem Winken und Rufen gemeint haben? Glaubst du, daß er uns vor irgend etwas warnen wollte?« »Vielleicht hat er den Rauch gesehen und uns für Gespenster gehalten«, sagte mein Kumpel und lachte. »Diese Ungarn glau ben doch jeden Blödsinn: denk nur an das Ladenweib «in Preßburg, wie sie uns einreden wollte, daß noch nie eine Menschenseele hier an Land gegangen ist, weil dieses Gebiet irgendwelchen übernatürlichen Wesen gehört. Ich vermute, die glauben alle noch an Feen und Elementargeister, vielleicht sogar an Dämonen. Der Bauer in seinem Boot hat zum erstenmal im Leben Menschen auf einer dieser Inseln gesehen«, setzte er gleich darauf hinzu, »und da hat er Angst gekriegt, weiter nichts.« Allein, es hatte nicht sehr überzeugend geklungen, und auch dem Gehaben meines schwedischen Freundes fehlte etwas von 404
der sonstigen Sicherheit. Ich hatte das schon bei seinen ersten Worten gemerkt, obgleich ich nicht imstande gewesen wäre, es zu präzisieren. »Wenn sie genug Phantasie hätten«, sagte er, und ich lachte schallend - wie ich ja überhaupt versuchte, möglichst viel Lärm zu machen -, »wenn sie genug Phantasie hätten, so könnten sie einen Ort wie diesen recht gut mit ihren alten Gottheiten bevöl kern. Die Römer dürften dieses Gebiet ohnehin im Überfluß mit ihren Altären, heiligen Hainen und Naturgöttern übersät haben.« Wir ließen den Gegenstand fallen und kehrten zu unserem Kochtopf zurück, denn mein Freund hatte im allgemeinen nichts für Phantastereien übrig. Außerdem, ich erinnere mich nur zu gut, war es mir damals sehr recht, daß er so wenig phantasiebegabt war. Ich empfand sein dem Praktischen zugewandtes, nüchternes Wesen in jenen Augenblicken eher als einen Trost. Was für ein bewundernswerter Mensch, sagte ich mir damals: er konnte durch Stromschnellen steuern wie eine waschechte Rothaut und verstand es, gefährliche Brücken und Strudel besser zu meistern als irgendein Weißer, den ich je in einem Kanu gesehen hatte. Auf gefahrvollen Fahrten war er ein großartiger Kamerad, ja ein wahrer Turm in der Schlacht, wenn einmal dicke Luft herrschte. So betrachtete ich jetzt sein hartes Gesicht unter dem leicht gewellten Haar, während er unter seiner Treibholzlast (die zweimal so groß war wie die meine!) voranstapfte, und verspürte ein Gefühl echter Erleichterung. Ja, ich war damals ganz eindeutig froh darüber, daß der Schwede so war, wie er war, und daß er niemals mehr meinte, als er sagte. »Der Fluß steigt noch immer«, setzte er wie in Gedanken hinzu und ließ seine Holzlast mit seufzendem Aufatmen fallen. »Wenn das so weitergeht, ist die Insel in zwei Tagen überschwemmt.« »Mir war's lieber, dieser Wind würde sich legen«, versetzte 405
ich. »Auf das Hochwasser pfeif ich.« Tatsächlich barg ja das Hochwasser für uns keinerlei Schrecken in sich. Innerhalb von zehn Minuten konnten wir im Boot sitzen, und je höher der Wasserstand war, desto lieber konnte es uns sein, denn das bedeutete eine raschere Strömung und die Ausschaltung jener heimtückischen Schotterbänke, die uns schon oft genug beinahe den Kiel aufgerissen hätten. Gegen unsere Erwartung ließ der Wind mit Sonnenuntergang nicht nach. Vielmehr schien er mit hereinbrechender Finsternis noch stärker zu werden und strich heulend über unsere Köpfe dahin, die Weiden rundum wie Strohhalme schüttelnd. Sonder bare Laute begleiteten ihn, die wie Geschützdonner hallten, und immer wieder brach's in schweren, flachen Böen über das Wasser und die Insel herein. So mag die Erde durch den Weltraum donnern, könnte man sie nur hören, dachte ich. Indes, der Himmel blieb sternklar, und bald nach dem Abendessen stieg auch der Vollmond im Osten herauf und überschüttete den Strom und die weite, rauschende Weidenfläche mit nahezu taghellem Licht. Wir lagen rauchend in unserer Sandmulde, ganz nahe am Feuer, lauschten den Stimmen der Nacht rings um uns und unterhielten uns in aller Sorglosigkeit über die Fahrt, die schon hinter uns lag, und über unsere Zukunftspläne. Die Karte lag ausgebreitet im Zelteingang, aber der stürmische Wind machte das Kartenlesen fast unmöglich, und so zogen wir jetzt die Zeltbahn vor und löschten die Sturmlaterne. Der Schein des Feuers war durchaus hinreichend, um dabei rauchen und einan der anblicken zu können, und die Funken stoben wie ein Feuer werk in die Nacht hinaus. Ein paar Schritte weiter drüben gurgelten und zischten die Wassermassen, und von Zeit zu Zeit verriet uns ein schwerer, klatschender Fall, daß ein weiteres Uferstück in die reißenden Fluten gestürzt war. Es fiel mir auf, daß unser Gespräch sich nur um weit zurückliegende Vorfälle und die Beschaffenheiten unsrer ersten 406
Lagerplätze im Schwarzwald drehte, oder aber um andere Dinge, soweit sie nicht mit unserer gegenwärtigen Situation zu tun hatten. Über sie verlor keiner von uns ein unnötiges Wort, ganz als wären wir stillschweigend übereingekommen, jeder Erörterung dieses Camps und der damit verbundenen Umstände aus dem Wege zu gehen. Weder der Fischotter noch auch der Mann in dem Boot wurden eines Wortes gewürdigt, obschon sie im Normalfall genug Gesprächsstoff für den Rest des Abends geliefert hätten. Ihr Erscheinen inmitten solcher Verlassenheit war ja ein hinlänglich bedeutsames Ereignis gewesen. Der Mangel an Brennholz machte den Unterhalt des Feuers zum Problem. Der Wind verlieh ja den Flammen weit mehr Zug als sonst und blies uns, wie auch immer wir uns setzen mochten, beständig den Rauch ins Gesicht. So machten wir uns abwechselnd daran, in aller Finsternis auf Holzsuche zu gehen. Indes, so oft der Schwede einen weiteren Armvoll herbeigeschleppt brachte, wollte mir scheinen, er habe im Vergleich dazu unverhältnismäßig lange gebraucht. Nun verhielt es sich so, daß es mir zwar nichts ausmachte, allein gelassen zu werden, daß ich aber dennoch das Gefühl hatte, es sei fortwährend an mir, sich auf der Suche nach weiterem Feuerholz mit den Büschen herumzuschlagen oder im Mondlicht das glitschige Ufer entlangzutappen. Da uns aber der tagelange Kampf gegen Wind und Wasser - und noch dazu solchen Wind und solches Wasser! - hundemüde gemacht hatte, war es so gut wie beschlossen, daß wir uns früh aufs Ohr legen würden. Dennoch traf keiner von uns irgendwelche Anstalten dazu, sondern wir lagen nur weiterhin da, schürten das Feuer, ließen ab und zu ein paar Worte verlauten und spähten im übrigen in das uns umzingelnde Dickicht aus Weidenbüschen oder horchten hinaus in das donnernde Getöse von Wasser und Wind. Die Verlassenheit dieses Ortes, nun hatte sie schon bis in die Knochen Besitz von uns ergriffen, 407
und so schien es das Natürlichste von der Welt, zu schweigen, weil ja noch unser leisestes Reden gezwungen und unwirklich klang. Ich hatte das Gefühl, in dieser Umgebung sei nur der Flüsterton die angemessene Form der Unterhaltung, ja es hafte jedem lauten Wort inmitten all des Aufruhrs der Elemente etwas Ungehöriges, Unerlaubtes an, so als hätte man sich in einer Kirche lärmend unterhalten, oder an sonst einem Ort, wo es nicht gestattet, ja vielleicht nicht einmal ratsam ist, sich allzusehr bemerkbar zu machen. Das Unheimliche des einsamen Platzes, dieses von Hunderttausenden Weiden eingekreisten Flecken Landes, über den der Sturmwind hinbrauste und an dessen Ufern die schäumenden Fluten vorüberschössen, hatte jeden von uns gepackt. Noch nie zuvor von menschlichem Fuß betreten, ja nahezu unentdeckt, so lag die Insel unterm Mond, allem menschlichen Einfluß entzogen und an der Grenze zu einer andern, fremden Welt - einer Welt, welche bloß von Weiden und von den Seelen der Weiden bewohnt war. Und wir, in unsrer Unbesonnenheit, hatten gewagt, hier einzudringen, ja mehr noch: uns häuslich niederzulassen! So war's denn auch mehr als das bloße Geheimnis solchen Ortes, was mich mit Bangnis erfüllte, während ich so dalag, die Füße zum Feuer und den spähenden Blick auf die durch das Laubwerk funkelnden Sterne gerichtet. Schließlich erhob ich mich, um noch ein letztes Mal nach Brennholz zu suchen. »Wenn auch diese Ladung verbraucht ist«, sagte ich entschlossen, »dann geh' ich endgültig in die Klappe.« Träge blickte mein Gefährte mir nach, bis die rings uns umdrohenden Schatten mich verschluckt hatten. Für einen phantasielosen Menschen war er, so schien es mir, an jenem Abend ungewöhnlich empfänglich und allem, was über das sinnlich Wahrnehmbare hinausging, auf eine besondere Weise aufgeschlossen. Auch auf ihn hatten ja die Schönheit und Einsamkeit dieses Platzes ihre Wirkung geübt. 408
Indes, ich entsinne mich, daß mir solcher Wandel in der Gestimmtheit meines Gefährten gar nicht so sehr willkommen war. So arbeitete ich mich, anstatt sogleich mit dem Holzsammeln zu beginnen, bis ans untere Ende unserer Insel fort, von wo sich ein vorteilhafterer Blick auf die im Mondlicht hingebreitete Landschaft aus Wasser und Weiden bot. Ganz plötzlich hatte mich der Wunsch nach Alleinsein überkommen, und meine frühere Bangnis meldete sich nun mit Macht. Irgend etwas war in mir erwacht, und ich wünschte, es ins Auge zu fassen und auf die Probe zu stellen. Sobald ich den äußersten Punkt der ins brausende Wasser vorspringenden Landzunge erreicht hatte, sank der Zauber sol chen Ortes mit einem veritablen Schock auf mich herab. Keine »Landschaft« im üblichen Sinn hätte dergleichen jemals bewir ken können. Nein, hier steckte schon etwas mehr dahinter etwas, das mich zu Recht in Unruhe versetzte. Ich spähte über diese Wüstenei aus dahinschäumendem Wasser; beobachtete die im Winde zischelnden Weiden, horchte in das unablässige Peitschen des Windes hinaus. Und all dies zusammengenommen weckte in mir das Gefühl einer befremdlichen Gefahr. Aber vor allem waren es die Weiden: unaufhörlich ging's zwischen ihnen her und hin wie ein raunendes Flüstern, zuweilen untermischt von Gelächter, zuweilen auch von einem schrillen Aufschrei oder von seufzendem Stöhnen. Doch wovon auch immer sie so viel Aufhebens machten – es war ein Teil von dem geheimen Leben dieses flachen Lands, darin sie zu Hause waren. Und solches Leben, es war meiner eigenen Welt im Innersten nicht minder fremd wie jener andern der tobenden und im Grunde doch so gutartigen Elemente. Unwillkürlich mußte ich an ein Heer fremder Wesen denken, beheimatet in einer andern Dimension, vielleicht auch zugehörig einer unbekannten Entwicklungs stufe. Und das beredete sich nun über einem Geheimnis, welches einzig und allein ihnen bekannt war. Ich sah, wie sie 409
sich geschäftig zueinander neigten, aufs sonderbarste ihre großen, buschigen Häupter schüttelnd, und ununterbrochen flatternd mit all den Myriaden von Blättern, auch dann noch, wenn der Wind sich vorübergehend gelegt hatte. Jawohl, sie regten sich aus eigener Kraft, aus eigenem Willen, schienen zu leben weit über ihr pflanzenhaftes Dasein hinaus, und rührten damit auf unwägbare Weise an meine für alles Grauenvolle geschärften Sinne. Da standen sie nun im Mondlicht, umzingelten als ein uner meßlicher Heerbann unser Lager und schüttelten herausfor dernd ihre unzähligen Lanzen, bereit, uns anzugreifen. Das seelische Moment, welches, zumindest in Augenblicken lebhafter Einbildung, von manchen Orten ausgeht, ist überaus suggestiv. Besonders für den, der im Freien kampiert, haben gewisse Lagerplätze von vornherein ihre »persönliche Note«: sie heißen den Ankömmling entweder willkommen, oder sie stoßen ihn ab. Das mag zunächst gar nicht so sehr in Erscheinung treten, weil ja all die Handgriffe des Zeltbaus und Abkochens nichts anderes neben sich aufkommen lassen. Aber sobald die erste Ruhe eintritt - meist nach dem Abendbrot -, kommt es ungerufen und steht plötzlich da. Ganz ähnlich offenbarte sich jetzt auch mir das Wesen unseres Nachtlagers inmitten der Weiden auf unmißverständliche Weise: wir waren Eindringlinge, Störenfriede; man wünschte nicht, uns hier zu sehen. Und das Gefühl solcher Fremdheit wuchs mehr und mehr, je länger ich da auf meinem Posten stand. Wir hatten die Grenzen einer Region durchbrochen, darin man unsre Gegenwart nicht dulden mochte, es wäre denn für eine einzige Nacht. Aber für die Dauer eines längeren, noch dazu mit solcher Neugierde verbundenen Aufenthaltes - nein! Bei allen Göttern der Bäume und der Wildnis, nein! Wir waren die ersten Menschen, welche diese Insel betreten hatten, und waren unerwünscht. Die Weiden waren gegen uns! Solche und ähnlich sonderbare, bizarre Gedankengänge und 410
Phantastereien waren es, die, ich weiß nicht welchen Ursprungs, sich in meinem Hirn einnisteten, während ich hier stand und lauschte. Wie, so ging's mir durch den Sinn, wenn diese kriechenden Gespensterweiden sich in Wahrheit als lebendig erwiesen? Wie, wenn sie mit einem Mal sich erhöben, gleich einem Ungeheuern Schwärm lebender Geschöpfe, unterm Kommando jener Gottheiten, deren ureigenstes Gebiet wir betreten hatten, und wenn sie auf uns zuschössen aus dem Hinterhalt der ungeheuern Sumpfregionen, sich hinauf in die Nacht schwängen – und danach über uns herfielen? Und während ich noch stand und hinüberstarrte, war's mir nachgerade schon, als bewegten sie sich wirklich – als kröchen sie näher – zögen sich um ein kleines zurück – drängten sich in dichten Scharen zusammen, in feindseligen Heerhaufen, die nur noch auf den einen, gewaltigen Windstoß lauerten, darin sie allesamt sich auf uns zu stürzen gedachten. Ich hätte schwören mögen, daß ihr Aussehen sich kaum merklich gewandelt hatte, daß ihre Reihen immer tiefer sich staffelten, immer enger aneinanderrückten. Der klagende Schrei eines Nachtvogels durchgellte über mir die Luft, und plötzlich verlor ich fast das Gleichgewicht, denn ein Stück Boden, auf dem ich stand, war von der Strömung unterwaschen worden und stürzte nun mit gewaltigem Aufklatschen in den ziehenden Strom. Ich hatte eben noch rechtzeitig zurückspringen können und machte mich nun ernstlich daran, einen Armvoll Brennholz zu ergattern, innerlich fast schon lachend ob der verqueren Gedanken, die meinen Geist befallen und in ihren Bann geschlagen hatten. Die Äußerung des Schweden hinsichtlich unseres morgigen Aufbruchs fiel mir wieder ein, und ich war eben dabei, ihr aus ganzem Herzen zuzustimmen, als ich mit einem Ruck herumfuhr und den Gegenstand meines Denkens direkt vor mir stehen sah. Er war schon ganz nahe, doch hatte das Brausen der Elemente jedes Geräusch dieser Annäherung verschluckt. 411
»Du bist so lange weggewesen« – er schrie es, um den Wind zu übertönen –, »daß ich schon geglaubt habe, es sei dir etwas passiert.« Allein, in seiner Stimme schwang etwas mit, in seinem Ge sichtsausdruck lag etwas, das mir mehr verriet als die bloßen Worte, und so hatte ich blitzartig den wahren Grund seines Nachkommens erfaßt: auch ihn hielt jener schwarze Zauber gepackt, der über diesem Platze lag, und nun ertrug er's nicht länger, allein zu sein. »Der Fluß steigt noch immer«, schrie er mir ins Ohr und wies auf die im Mondlicht blitzende Flut, »und der Sturm ist einfach entsetzlich!« Er sagte ja stets dasselbe, doch was seinen Worten Gewicht verlieh, war der unausgesprochene Ruf nach dem Gefährten. »Wir können froh sein«, schrie ich zurück, »daß unser Zelt in der Mulde steht! Ich glaube, so wird es durchhalten!« Dann äußerte ich noch etwas über die Schwierigkeit, weiteres Feuer holz aufzutreiben, und wollte damit meine lange Abwesenheit begründen, aber der Sturm riß mir die Worte von den Lippen und schleuderte sie weit übers Wasser, so daß mein Gegenüber nichts hörte, sondern mich bloß durch die Zweige ansah und bestätigend nickte. »Wir können froh sein, wenn wir hier ungeschoren davonkommen!« schrie er – oder zumindest war's etwas in diesem Sinne. Und ich erinnere mich meines Ärgers darüber, daß er es gesagt hatte, denn genau das war auch mir auf der Zunge gelegen. Irgendwo hing das Unheil in der Luft - ich wurde diese unbehagliche Vorahnung nicht los. Wir kehrten ans Feuer zurück und brachten es noch einmal zum lodernden Aufflammen, indem wir es mit den Füßen aufstocherten. In der flackernden Helle blickten wir ein letztes Mal um uns. Ohne den Wind wäre die Hitze höchst unangenehm gewesen. Ich sagte das auch und entsinne mich, wie betroffen mich die Antwort meines Freunds machte: er 412
würde lieber die ärgste Julihitze aushalten als diesen >infernalischen< Wind. Alles war für die Nacht an seinem gehörigen Ort: das Boot lag kieloben neben dem Zelt, die beiden gelben Paddel waren daruntergeschoben, der Proviantsack hing an einem Weidenast, und das gespülte Eßgeschirr war, in sicherem Abstand vom Feuer säuberlich zusammengestellt, schon wieder bereit für das Frühstück. Nachdem wir die Glutreste mit Sand erstickt hatten, krochen wir unters schützende Zeltdach. Die Eingangsklappe ließen wir zurückgeschlagen, und so konnte ich weiterhin die Zweige, die Sterne und das silbrige Mondlicht sehen. Die schwankenden Weiden und die heftigen Böen, mit denen der Wind gegen unsre straffgespannte, kleine Behausung anrannte, waren das letzte, was ich wahrnahm, ehe der Schlaf mich überkam und alles unter seinem sanften, wohltuenden Vergessen begrub. 2 Irgend etwas hatte mich plötzlich geweckt, und nun äugte ich von meinem sandigen Lager aus durch den offenen Spalt. Dann blickte ich auf meine in der Zeltwand befestigte Uhr und sah in der weißlich hereinfallenden Helle, daß es schon nach Mitter nacht war - die Schwelle eines neuen Tags. Demnach hatte ich mehrere Stunden geschlafen. Neben mir der Schwede schlief noch immer, und draußen heulte der Wind wie eh und je. Etwas zerrte an meinem Herzen und machte mir Angst. Mir war's, als ginge in nächster Nähe etwas vor sich. Mit einem Ruck saß ich aufrecht und spähte ins Freie. Die Weiden, hin und her geschüttelt von der Willkür des Winds, schwankten ungestüm, doch unser kleines grünes Zelt stand wohlgeborgen in seiner Mulde, denn es bot den darüber hin brausenden Windstößen eine zu geringe Angriffsfläche, als daß sie es hätten einreißen können. Dennoch wurde ich meine Ban 413
gigkeit nicht los, und so stahl ich mich ins Freie, um nachzuse hen, ob unsre Habseligkeiten noch an Ort und Stelle wären. Um den Gefährten nicht zu wecken, bewegte ich mich äußerst vorsichtig. Eine kuriose Erregung hatte von mir Besitz ergriffen. Ich war erst halb aus dem Zelt und noch immer auf allen vieren, als ich auch schon gewahrte, daß die Wipfel der Weiden vor mir in dem unablässigen Wogen ihres Laubwerks Figuren vor dem Himmel formten – Gestalten! Fassungslos vor Staunen ließ ich mich auf die Schenkel zurückfallen. Es war unglaublich – und dennoch wahr: unmittelbar vor mir, nur ein wenig weiter oben, zeigten sich unbestimmte Figuren in den Weiden, und die windgepeitschten Zweige schienen sich den Erscheinungen anzupassen, indem sie sich in stetem Wandel zu den monströsesten Umrissen zusammenschlössen, die im Licht des Mondes fortwährend und in größter Schnelligkeit ihre Gestalt wechselten. Das alles spielte sich in einer Entfernung von nicht einmal zwanzig Schritten ab. Meine erste Regung war, den Freund zu wecken, damit auch er dieses Schauspiel sähe, indes, irgend etwas machte mich zögern, hielt mich davon ab. Vielleicht weil ich plötzlich erkannte, wie wenig mir an einer Erhärtung solcher Vorgänge gelegen war. So verharrte ich in meiner gebückten Haltung und starrte in höchster Verwunderung und mit schmerzenden Augen auf das Geschehen vor mir. Ich war hellwach und erinnere mich noch deutlich, daß ich mir ausdrücklich vorsagte, dies alles sei kein Traum. Zunächst wurden diese riesigen Gestalten eben noch zwischen den Wipfeln der Weiden sichtbar, waren ungeheuerlich, von bronzener Tönung und bewegten sich völlig unabhängig vom Schwanken des Gezweigs. Ich sah sie in aller Deutlichkeit vor mir und bemerkte erst jetzt, da ich sie mit größerer Kaltblütigkeit betrachtete, daß sie Menschenmaß bei weitem überstiegen, ja daß ihre ganze Erscheinung sie 414
sofort als außermenschliche Wesen kennzeichnete. Ganz gewiß aber waren sie kein Blendwerk, hervorgerufen durch das im Mondlicht schwankende Gezweig. Nein, sie wechselten von sich aus ihre Erscheinung und schwebten empor in ununterbrochenem Strome, bis sie im Dunkel des nächtlichen Himmels verschwanden. Auch hingen sie untereinander zusammen, bildeten eine einzige, große Kolonne, und ich sah, wie ihre Glieder und riesenhaften Leiber sich gegenseitig durchdrangen, ineinander verschmolzen, aufs neue sich teilten und insgesamt einen wogenden Reigen bildeten, der auf und nieder schwang, sich bog und sich emporschraubte im Einklang mit dem konvulsivischen Gewoge des winddurch schüttelten Gezweigs. Es waren nackte, fortwährend ineinander verfließende Formen, die da aus den Büschen sich erhoben, nahezu zwischen den Blättern – und sich in einer lebendigen Säule gen Himmel hoben. Doch war da keinerlei Gesicht, das ich hätte sehen können. Es war eine unablässige, aufwärts strebende Ergießung, ein beständiges Ineinander von kreisender und sich wendender Bewegung, und über all diesen Wesen aus Schatten lag's wie ein stumpfer Schimmer von Bronze. Ich hatte die Augen aufgerissen, willens, mich von keinerlei Visionen narren zu lassen. Lange Zeit vermeinte ich, dies alles müsse jetzt und jetzt sein Ende finden, müsse sich auflösen im Wogen des Gezweigs, sich als eine optische Täuschung erweisen. Allerorten forschte ich nach einem handfesten Realitätsbeweis und war mir dabei doch nur zu sehr im klaren, daß aller Wirklichkeitscharakter sich hier gewandelt hatte. Und je länger ich hinsah, desto größer wurde die Gewißheit, daß diese Gestalten Wirklichkeit waren und lebten, wenn auch vielleicht nicht nach jener Gesetzlichkeit, wie sie die Kamera und der Biologe voraussetzen. Weit entfernt davon, Furcht zu empfinden, war ich besessen von einem Gefühl ehrfürchtigen Staunens, wie ich es noch nie 415
zuvor empfunden hatte. Mir war's, als starrte ich auf die gestaltgewordenen Elementarkräfte dieser verwunschenen, vorzeitlichen Region. Unser Eindringen hatte die unter gründigen Kräfte des Ortes zum Leben erweckt. Wir selbst waren die Ursache solchen Aufgestörtseins, und mein Hirn war plötzlich bis zum Platzen gefüllt mit den Sagen und Legenden über die Geister und Gottheiten von Andachtsstätten, denen im Lauf der Jahrtausende die Verehrung und Huldigung der Menschen gegolten. Doch noch ehe ich zu irgendwelcher möglichen Erklärung hätte kommen können, fühlte ich den unwiderstehlichen Zwang, mich weiter vorzuwagen, kroch auf den Sandstreifen zu - und richtete mich auf. Barfuß, wie ich war, spürte ich noch die Wärme des Tages in dem sandigen Grund. Der Wind zerrte an meinen Haaren und fuhr mir ins Gesicht, und der Strom überschwemmte mit einem plötzlichen Aufrauschen mein Gehör. Dies alles, ich wußte es, war Wirklichkeit und bewies mir, daß ich meine fünf Sinne beisammen hatte. Und dennoch schwebten jene Gestalten noch immer von der Erde zum Himmel, in tiefer, schweigender Majestät und in einem ungeheuren Schwunge, der so anmutsvoll und kraftgeladen schien, daß mich stärker und stärker ein echtes Gefühl der Demut überkam. Mir war's, als müßte ich niederstürzen und in Anbetung verfallen – in bedin gungslos anbetende Huldigung. Vielleicht hätte ich's schon in der nächsten Minute getan wäre ich nicht durch einen gewaltsamen Windstoß zur Seite geschleudert und beinahe zu Fall gebracht worden. So aber war meine traumhaft-elbische Stimmung weggeblasen, so daß ich den Dingen urplötzlich anders gegenüberstand. Zwar stiegen jene Gestalten noch immer aus dem Herzen der Nacht gegen den Himmel, doch begann jetzt wieder die Stimme der Vernunft in mir zu dominieren. Das Ganze mußte eine rein subjektive Wahrnehmung sein, so argumentierte ich – freilich darum nicht weniger real, aber doch immerhin subjektiv! Das 416
Mondlicht und das wogende Gezweig, sie waren es, die das Entstehen all der Bilder im Spiegel meiner Einbildungskraft bewirkten, und aus einem mir unbekannten Grund projizierte ich diese Bilder nach außen, so daß ich sie objektiv wahrzunehmen meinte. Natürlich, so mußte es sein! Ich war das Opfer einer äußerst lebhaften und fesselnden Halluzination geworden! Also faßte ich mir ein Herz und begann über die offene Sandfläche vorwärtszuschreiten. Allein und in drei Teufels Namen, war's nun wirklich nur Halluzination? Wirklich nur ein subjektiver Eindruck? Oder stützte meine Vernunft sich nicht lediglich in der alten, abgeschmackten Weise auf unser armseliges Menschen wissen? Ich wußte nur, daß jene gewaltige Kolonne aus Schattenwesen während eines mir sehr lang erscheinenden Zeitraums so dunkel gen Himmel gestiegen war und dabei so wirklich geschienen hatte, wie sich die Mehrzahl der Menschen die Wirklichkeit vorstellen mag. – Und dann war das alles plötzlich verschwunden! Sobald es aber verschwunden war, sobald dies nahezu hand greifliche Wunder so großartiger Manifestation sich aufgelöst hatte, überstürzte mich die Angst mit einem eisigen Grauen. Das unzulängliche Geheimnis dieser weltverlassenen, geisterhaften Region, nun sprang es auf mich über und machte mich vor Entsetzen erschaudern! Gehetzt blickte ich um mich es war die nackte, beinahe schon panische Angst –, doch sah ich keine Möglichkeit des Entrinnens. Und dann, in der Erkenntnis, wie hilflos ich war, wie wenig mir zu tun blieb, kroch ich schweigend ins Zelt zurück, streckte mich wieder auf mein sandiges Lager, nachdem ich zuvor noch die Eingangsklappe hinter mir geschlossen hatte, um nicht mehr die Weiden in diesem Mondlicht sehen zu müssen, und vergrub meinen Kopf, so tief es nur ging, unter den Decken, um auch das Heulen dieses fürchterlichen Winds nicht mehr zu hören.
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Ich entsinne mich, daß ich lange Zeit nicht einschlafen konnte, ganz als sollte ich noch tiefer davon überzeugt werden, nicht geträumt zu haben. Und als ich endlich doch noch einschlief, war's ein unruhiger, verstörter Schlummer, der einzig die Kruste meiner Bewußtheit betäubte, nicht aber jenes Etwas, das darunterlag und weiterhin wach und sprungbereit blieb. So erfolgte mein zweites Aufschrecken unter allen Anzeichen echten Entsetzens. Weder der Wind noch der Strom hatte mich geweckt, sondern das schleichende Herannahen von etwas, das meinen dürftigen Schlaf mehr und mehr schrumpfen machte, bis zuletzt nichts davon übrig war und ich mich plötzlich aufrecht sitzend fand – pfeilgerade und mit angespannten Sinnen. Da draußen war's wie ein Tappen von unzähligen Füßen! Und dies Herankommen, ich wußte es ganz gewiß, vollzog sich schon seit geraumer Zeit, war schon meinem Schlaf vernehmbar gewesen! Hellwach bis in den letzten Nerv saß ich da, so als hätt' ich überhaupt noch keinen Schlaf gefunden. Mein Atem, so schien mir, ging jetzt mühsamer, und wie eine Zentnerlast hatte sich's mir auf den Körper gelegt. Trotz der drückenden Hitze dieser Nacht überkam mich ein Schüttelfrost, und ich war ganz sicher, daß irgend etwas da draußen beständig gegen die Zeltwände drückte, ja daß ein Gewicht sich auf das Zelt herabsenkte. War das wirklich bloß die Körperlichkeit solchen Windes? War's das knatternde Heranwehen losgerissner Weidenblätter? Oder der vom Wasser heraufstäubende Sprühregen, welcher da in schweren Tropfen gegen die Zeltbahn schlug? Ein ganzes Dutzend solcher Möglichkeiten geisterte mir durch den Sinn. Dann aber stand plötzlich die allein mögliche Erkärung vor mir: es mußte ein Ast der Pappel sein, dieses einzigen, großen Baumes auf der Insel! Er war vom Wind abgebrochen und 418
losgerissen worden! Nun hing er noch im anderen Gezweig verfangen, doch schon mit dem nächsten Windstoß würde er herabstürzen und uns unter sich begraben! Seine Blätter waren es, die jenes tappende und scheuernde Geräusch an den straffen Zeltwänden verursachten! Ich schob die Eingangsklappe zur Seite und stürzte ins Freie, wobei ich dem Schweden zurief, mir unverzüglich zu folgen. Indes, als ich mich draußen aufrichtete, mußte ich gewahren, daß das Zelt frei von aller Bedrohung dastand. Kein Ast hing darüber, keinerlei Sprühregen benetzte es, nichts bewegte sich darauf zu. Ein kaltes, graues Licht sickerte ringsum durchs Gezweig der Weidenbüsche und legte sich als ein bleicher Schimmer auf den Sand. Noch konnte ich über mir die Sterne erblicken, noch heulte der Wind mit unverminderter Kraft. Aber das Feuer war erloschen, tot und schwarz, und durch das Buschwerk hindurch gewahrte ich die ersten rötlichen Streifen am Morgenhimmel. Es mußten also mehrere Stunden verstrichen sein, seit ich jene aufsteigenden Gestalten beobachtet hatte. Noch jetzt machte der Gedanke daran mich schaudern, als überfiele solcher Alp traum mich aufs neue. Ach, und wie müde mich dieser in pausenlosem Schwall heranrasende Wind machte! Aber trotz der tiefen Erschlaffung nach einer ruhelosen Nacht vibrierten mir die Nerven mit aller Spannung einer nicht minder ruhelosen Gewärtigkeit, die den Gedanken an Schlaf gar nicht erst aufkommen ließ. Der Fluß war sichtlich weiter angestiegen, sein donnerndes Rauschen erfüllte die Luft, und jetzt machte sich auch ein feiner Sprühregen fühlbar - drang durch das dünne Gewebe meines Nachthemds. Dennoch konnte ich nirgendwo auch nur die leiseste Spur irgendwelcher Bedrohung entdecken. Meine tiefe, innere Un ruhe entbehrte weiterhin jedes ersichtlichen Grundes. Mein Gefährte hatte sich nicht gerührt, als ich ihn gerufen, und jetzt bestand kein Anlaß mehr, ihn zu wecken. 419
Aufmerksam spähte ich umher, mich jeden Dinges zu vergewissern: des kieloben gedrehten Kanus; der gelben Paddel – zwei Stück, ich zählte sie; des Proviantsackes und der Reservelampe, beide am nämlichen Weidenast hängend; und schließlich auch all derer, die mich da rings umzingelten, alles andere einhüllend und verdeckend - der Weiden, dieser endlos sich reihenden, im Winde sich biegenden Weiden! Eben erscholl der erste Morgenschrei eines vereinzelten Vogels, und ein Strich Enten zog schwirrenden Flugs durch den dämmernden Himmel über mich hinweg. Trocken und stechend wirbelte der wehende Sand um meine bloßen Füße. Ich schritt um das Zelt herum und arbeitete mich dann so weit durchs Gesträuch, daß ich einen Blick auf den Fluß und das jenseits sich breitende Ufer werfen konnte. Jedoch im Angesicht des grenzenlos gegen den Horizont sich erstreckenden Meers aus Weidenbüschen, das im fahlen Licht der Frühe so geisterhaft und unwirklich dalag, befiel mich abermals jene profunde, unerklärbare Melancholie. So schritt ich auf leisen Sohlen auf und nieder, noch immer nachgrübelnd über jenes sonderbare, unablässig tappende Geräusch und den auf dem Zelt lastenden Druck, der mich geweckt hatte. Es konnte nichts andres als der Wind gewesen sein, überlegte ich – der Wind, der den heißen Flugsand aufgewirbelt und die Sandkörner gegen die straffgespannte Zeltwand geschnellt hatte – jener Wind, der sich so drückend auf unser zerbrechliches Obdach gelegt! Doch unerachtet aller Überlegungen nahm mein enervierendes Unbehagen immer mehr zu. Ich begab mich ans entgegengesetzte Inselufer und gewahrte, wie sehr sein Verlauf sich während der Nacht geändert hatte welche Massen Sandes durch die Fluten fortgerissen worden waren. Ich tauchte die Hände, die Füße in den kalten Wasser strom, benetzte auch die Stirn. Schon sandte die steigende Sonne ihre Strahlen über den Horizont herauf, schon war auch 420
die erfrischende Kühle des anbrechenden Tages zu spüren, und so wählte ich meinen Rückweg zum Zelt mit Vorbedacht durch eben jene Buschreihen, von wo ich nachts die Gestalten zum Himmel hatte emporsteigen sehen. Aber inmitten des Dickichts überkam mich ein Gefühl so konzentrierten Entsetzens wie noch nie zuvor, und aus dem Schattengrund löste sich eine riesenhafte Gestalt und strich rasch an mir vorüber. Jawohl, irgend jemand war an mir vorübergeglitten - ich wußte es mit tödlicher Sicherheit . . . Ein überwältigender Windstoß trieb mich plötzlich vorwärts, und sobald ich mich erst im offenen Gelände fand, nahm jenes Ensetzensgefühl merkwürdig rasch ab. >Die Winde sind losgelassen und geistern nun umher<, so sagte ich mir vor, >denn unter Bäumen regen sie sich oftmals gleich Ungeheuern, geisterhaften Wesen.< Alles in allem war ja die Furcht, welche mich hier beständig umschwebte, von so unbekannter und maßloser Art, war so gänzlich anders, als ich sie jemals empfunden hatte, daß ein Gefühl ehrfürchtiger Verwunderung in mir erwachte, ein Gefühl, welches mir unversehens half, den ärgsten Auswirkungen solcher Furcht schon wieder zu begegnen. Und als ich jenen erhöhten Punkt in der Mitte unserer Insel erreicht hatte, von welchem ich den weithin sich erstreckenden Strom überblicken konnte, seine von der aufgehenden Sonne geröteten Fluten, überkam mich die ganze zaubrische Schönheit solchen Bildes mit so überwältigender Macht, daß ein ungestümes, sehnsüchtiges Begehren in mir erwachte und mir als ein Schrei in die Kehle stieg. Doch solcher Schrei, er ward nicht getan, denn als ich meinen Blick von der Ebene jenseits des Stromes wieder zu unserer Insel zurückschweifen ließ, als er beim Mustern meiner näheren Umgebung wieder auf das kleine, unter den Weiden halb versteckte Zelt fiel, stand mir mit schrecklicher Plötzlichkeit eine Entdeckung vor Augen, angesichts deren meine Furcht vor dem geisterhaften Wind zu einer lächerlichen 421
Nichtigkeit zusammenschrumpfte. Nämlich, die Landschaft hatte sich auf irgendeine Weise verändert. Es lag nicht daran, daß mein erhöhter Aussichtspunkt mir einen andern Blick eröffnet hatte - nein, es war ein ins Auge springender Wandel im Verhältnis des Zelts zu den Weiden, oder vielmehr in jenem der Weiden zu unserem Zelt! Ich war völlig sicher, daß die Weidenbüsche das Zelt nun viel enger umdrängten - unnötig, ja unbehaglich eng: sie waren nähergerückt! Auf lautlosen Füßen, herankriechend über den wandernden Sand, näher und näher sich schiebend, unmerklich, mit leisen, langsamen Bewegungen - so waren die Weiden im Dunkel der Nacht vorgerückt gegen das Zelt! Nur: hatte der Wind sie verschoben - oder waren sie selbst es gewesen? Ich dachte an jenes Geräusch unzähliger, kleiner Schritte, an den Druck auf das Zelt und auch auf mein eigenes Herz, der mich so entsetzt aus dem Schlaf hatte auffahren machen. Und mir schwindelte plötzlich inmitten des Windes, ich begann zu schwanken wie jene Weidenbüsche, ja es ward mir schwer, auf dem Sandhügel meine aufrechte Haltung zu behaupten. Und so stark war diese gestaltlose Wesenheit eines treibenden Agens, eines vorbedachten Willens, einer aggressiven Feindschaft, daß eine lähmende Furcht mich nahezu in Starrkrampf versetzte. Doch alsbald erfolgte die Reaktion: jener Gedanke kam mir plötzlich so grotesk vor, so absurd, daß ich versucht war, in ein schallendes Gelächter auszubrechen. Allein, mit diesem Lachen verhielt sich's nicht anders als vorhin mit meinem Schrei: die Erkenntnis, daß mein Gemüt derlei gefährlichen Einbildungen so sehr offenstand, brachte ja den zusätzlichen Schrecken mit sich, daß es der Geist und nicht der Körper war, der solchen Angriff heraufbeschwor - ja schon ins Werk gesetzt hatte! Von allen Seiten stieß jetzt der Wind nach mir, und es hatte mit einem Mal den Anschein, als stiege die Sonne mit größerer 422
Schnelligkeit über den Horizont herauf. Es war ja schon vier Uhr vorbei, und ich mußte mich länger als gedacht auf meiner kleinen, sandigen Warte verweilt haben, wohl auch aus Furcht, den Weiden nur ja nicht zu nahe zu kommen. Nun aber schritt ich möglichst geräuschlos und mit Gruseln im Herzen auf unser Zelt zu, freilich nicht ohne vorher einen zweiten, gründlich prüfenden Blick in die Runde geworfen und – ich bekenne es frei – noch einige Messungen vorgenommen zu haben. Ich schritt nämlich auf dem warmen Sandboden die Distanz zwischen den Weiden und dem Zelt aus und notierte mir den derzeit kürzesten Abstand. Heimlich wie ein Dieb in der Nacht stahl ich mich unter meine Decken. Allem Anschein nach schlief mein Gefährte noch immer den Schlaf des Gerechten, und ich war heilfroh darüber. Würden nämlich, so sagte ich mir, meine Wahrnehmungen von niemandem bestätigt, so könnte ich vielleicht die Kraft aufbringen, sie zu verwerfen. Dann mochte es mir mit steigendem Tageslicht möglich sein, dies alles abzutun als ein halluziniertes Geschehen - mir einzureden, ich sei einem Nachtmahr zum Opfer gefallen, einer Spiegelfechterei, die meine aufgewühlte Phantasie mir vor gegaukelt. Dann war da nichts mehr, was mich hätte beunruhigen mögen. So fiel ich denn fast ohne Übergang in Schlaf, aufs äußerste erschöpft und dennoch weiterhin in Furcht, jener geisterhaft tappende Laut unzähliger Füße könnte sich abermals melden, der Druck auf mein Herz mir aufs neue den Atem abwürgen. 4 Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als der Schwede mich aus meinem totenähnlichen Schlaf rüttelte: der Porridge sei fertig, sagte er, und die Zeit fürs Morgenbad gekommen. 423
Von draußen drang der appetitliche Duft von gebratenem Speck herein. »Der Fluß steigt noch immer«, sagte mein Freund, »und ein paar von den Inseln in der Mitte des Stromes sind nicht mehr zu sehen. Auch die unsere ist viel kleiner geworden.« »Haben wir noch Feuerholz?« frage ich schlaftrunken. »Holz und Insel enden morgen im toten Rennen«, versetzte er lachend, »aber bis dahin reicht noch beides.« Ich sprang von der in den Strom ragenden Landzunge ins Wasser – sie hatte seit gestern merklich die Gestalt gewechselt und war beträchtlich kleiner geworden – und fand mich Sekun den später schon abgetrieben bis zu unserem Landeplatz unter halb des Zeltes. Das Wasser war eiskalt, und das Ufer schien im Eilzugstempo an mir vorüberzurasen. Unter solchen Bedingungen war das Baden eine erschöpfende Angelegenheit, doch ward mir immerhin das Grauen der Nacht aus den Knochen geschwemmt oder auch von der herniederbrennenden Sonne aus dem Hirn gedunstet. Nicht die kleinste Wolke stand am Himmel, jedoch der Wind hatte um kein Jota an Heftigkeit verloren. Unwillkürlich schoß es mir durch den Kopf, was sich hinter den Worten des Schweden verbarg: sie bedeuteten ja, daß er nicht länger wünschte, Hals über Kopf von hier aufzubrechen, sondern daß er sich eines anderen besonnen hatte. »Aber bis dahin reicht noch beides«, hatte er gesagt. Also bis morgen. Für ihn war's ausgemacht, daß wir eine weitere Nacht hier zubringen würden. Das war mehr als sonderbar! Noch gestern war er entgegengesetzten Sinnes gewesen. Was nur mochte solchen Wandel in ihm bewirkt haben? Während wir frühstückten, stürzten abermals große Ufer brocken laut aufklatschend ins reißende Wasser, so daß der Sprühregen bis in unsere Bratpfanne spritzte. Indes, während der ganzen Zeit verbreitete sich mein Reisegefährte über die Schwierigkeiten, unter denen bei Hochwasser die Dampfer 424
zwischen Wien und Budapest die richtige Fahrrinne zu finden hätten. Mich aber interessierte seine Gemütsverfassung weit mehr als der Zustand des Stromes samt allen Dampfer kalamitäten, denn irgendwie hatte mein Freund sich seit gestern abend verändert. Sein Gehaben war nicht mehr das alte - war um ein geringes zu forciert und doch auch wieder gedrückt, auch haftete seiner Stimme sowie seinen Gesten etwas Argwöhnisches an. Ich weiß nicht, wie ich es jetzt, da ich mit klarem Kopf über diesen Blättern sitze, beschreiben soll - doch entsinne ich mich, daß ich damals in einem Punkte ziemlich sicher war: mein Gefährte hatte es mit der Angst! Er sprach dem Frühstück nur mäßig zu, steckte auch ganz unvermittelt seine Pfeife weg, studierte dabei aber beständig die Karte, welche ausgebreitet neben ihm lag. »Ich glaube, es wäre besser, innerhalb der nächsten Stunde von hier zu verschwinden«, gab ich nunmehr zu bedenken. Ich suchte ja nach einem Anstoß, der ihn wenigstens indirekt dazu bringen mochte, endlich Stellung zu nehmen. Seine Antwort jedoch blieb mir dunkel, ja versetzte mich in Bestürzung: »Besser?« meinte er. »Ja, schon – wenn sie uns lassen!« »Lassen? Wer soll uns lassen? Das Wasser, der Wind?« fragte ich schnell und wie nebenbei. »Die Mächte dieses schrecklichen Orts, wer immer sie sein mögen«, versetzte er, ohne den Blick von der Karte zu wenden. »Wenn irgendwo auf Erden Götter sind, dann hier auf dieser Insel.« »Die wahren Unsterblichen sind noch immer die Elemente«, gab ich zurück und lachte so ungezwungen wie möglich, ob schon ich nur zu wohl wußte, wie sehr mein Aussehen dies Lachen Lügen strafte. Er aber blickte auf, sah mich bedeutsam an und sagte durch den Rauch des Feuers hindurch: »Wir können froh sein, wenn wir ohne weiteres Unheil von hier wegkommen.« Das entsprach völlig meinen eigenen Befürchtungen, und so 425
raffte ich mich endlich zu einer direkten Frage auf. Es war wie beim Zahnziehen: schließlich und endlich mußte das Ganze ja doch heraus, alles andere war die reine Komödie. »Ohne weiteres Unheil?« fragte ich. »Warum? Was ist denn passiert?« »Zunächst einmal – das Steuerpaddel ist weg«, sagte er ruhig. »Das Steuerpaddel weg?« wiederholte ich in größter Bestür zung. Steuerlos auf der Hochwasser führenden Donau zu trei ben bedeutete glatten Selbstmord! »Und was ist noch? . . .« »Und das Kanu ist leckgeschlagen - hat ein Loch im Boden«, fuhr er fort, und wahrhaftig, seine Stimme zitterte. Ich starrte ihn weiterhin an, lediglich imstande, die Worte geistesabwesend zu wiederholen. Mir war's, als senkte sich in diesem Augenblick, inmitten der Sonnenhitze und des brennen den Sandes, eine eisige Kälte auf uns herab. Dann erhob ich mich, um ihm zu folgen, denn er hatte nur düster genickt und war dann zu dem mehrere Schritte entfernten Zelt getreten. Das Kanu lag noch immer dort, wo ich es nachts gesehen hatte, kieloben gedreht, und die Paddel, oder besser gesagt, das Paddel, neben sich im Sand. »Das andere ist weg«, sagte er und bückte sich, um das verbliebene aufzuheben. »Und da ist der Riß in der Bootswand.« Schon lag's mir auf der Zunge, ihm zu sagen, daß ich noch vor wenigen Stunden zwei Paddel gezählt hatte, aber irgend etwas hielt mich davon ab, und so verkniff ich mir's und trat wortlos näher, um mich zu überzeugen. Es war ein langer, ganz schmaler Schnitt im Boden des Kanus, als hätte eine scharfe Felszacke oder ein Baumknorren ihn der Länge nach aufgeschlitzt. Dabei war ein Holzspan herausgeschält worden, und der nähere Augenschein zeigte uns, daß der Schaden durch und durch ging. Hätten wir, ohne ihn zu bemerken, die Weiterfahrt angetreten, so wäre das Boot 426
unweigerlich vollgelaufen und gesunken. Zunächst hätte das Wasser ja das Holz aufquellen lassen und damit den Riß geschlossen, doch draußen in der Hauptströmung wäre es mit größter Gewalt hereingeschossen, und unser Kanu, das ja stets nur zwei Zoll aus dem Wasser ragte, wäre abgesackt wie ein Stein. »Das ist er – der Versuch, ein Opfer für die Opferung bereitzumachen«, sagte mein Gefährte mehr zu sich selbst. »Oder eigentlich zwei«, fügte er hinzu, während er sich über das Boot beugte und die Finger über die aufgerissene Stelle gleiten ließ. Ich begann zu pfeifen - so mechanisch, wie ich das immer tat, wenn mich etwas aufs äußerste verwirrte - und bemühte mich, gar nicht auf derlei Worte zu hören. Ich war fest entschlossen, sie als leeres Gerede abzutun. »Gestern abend war das noch nicht«, sagte er jetzt, während er sich nach erfolgter Prüfung aufrichtete, wobei er geflissentlich vermied, mich anzusehen. »Das kann uns nur beim Landen passiert sein, kein Zweifel!« Ich hatte zu pfeifen aufgehört. »Die Steine hier sind sehr scharfkantig . . .« Das Wort blieb mir in der Kehle stecken, denn er hatte sich herumgedreht und blickte mir unverhohlen ins Gesicht. Ich wußte so gut wie er, wie absurd meine Erklärung war: hier gab es ja gar keine Steine. »Und wie erklärst du dir dies?« setzte er in aller Ruhe hinzu und reichte mir das verbliebene Paddel, wobei er auf das Ruderblatt zeigte. Ein neues, ganz eigenartiges Frösteln überlief mich, als ich das Paddel in der Hand hielt und prüfte. Sein Ruderblatt war viel dünner geworden, war abgeschabt in staunenswert gleichmäßiger Arbeit, ganz als hätte jemand alle Mühe daran gewendet, es mit Glaspapier so dünn zu schmirgeln, daß es beim ersten kräftigen Ruderschlag am Halse abbrechen mußte. 427
»Das muß einer von uns im Schlaf getan haben«, sagte ich lahm. »Oder – oder vielleicht war's der Wind – der beständige Strom des Flugsands.« »Hört, hört«, sagte der Schwede auflachend und wandte sich ab. »Wie er nur alles erklären kann!« »Und von demselben Wind ist unser Steuerpaddel ans Ufer geweht worden und mit dem nächsten Sandbrocken ins Wasser gefallen«, rief ich hinter dem Davongehenden her, fest entschlossen, für alles, was er mir zeigte, eine prompte Erklärung zu finden. »Aber gewiß doch«, rief er zurück, warf mir noch einen Blick zu und verschwand im Weidengesträuch. Allein gelassen mit diesen bestürzenden Beweisen eines persönlichen Eingreifens, war mein erster Gedanke, einer von uns beiden müsse dies getan haben, doch könne dieser eine ganz gewiß nicht ich sein. Aber schon die nächste Überlegung zeigte mir, wie unmöglich, wie unter allen Umständen unhaltbar dieser Gedanke war. Die Vermutung, daß mein Gefährte, dieser verläßliche Freund eines ganzen Dutzends ähnlicher Fahrten, wissentlich seine Hand dabei im Spiel haben könnte, schloß sich von vornherein und ganz von selbst aus. Ebenso absurd schien aber die Erklärung, daß ein so unerschütterlicher, dem Praktischen zugewandter Mensch plötzlich den Verstand verloren haben und auf irgendwelche Wahnideen verfallen sein sollte! Dennoch war die Tatsache nicht abzuleugnen – und dies ver störte mich am allermeisten, ja hielt meine Furcht sogar in der sengenden Sonnenhitze und inmitten all der unberührten Natur wach –, daß ohne allen Zweifel irgendeine merkwürdige Veränderung mit seiner Gemütsverfassung vorgegangen war: daß er nervös, furchtsam, argwöhnisch wirkte – irgendwelcher Vorgänge sich bewußt war, über die er nicht sprach, in aller Wachsamkeit eine Reihe von geheimen, noch nicht formulierbaren Ereignissen beobachtend, mit einem Wort, auf 428
eine Krise wartend, die er vorhersah und, wie ich glaubte, für nahe bevorstehend hielt. Ganz intuitiv schoß mir dieser Gedanke durch den Sinn – ich wußte gar nicht wie. Hastig machte ich mich daran, das Zelt und seine Umgebung zu mustern, aber die Messungen, welche ich während der Nacht vorgenommen hatte, stimmten noch alle. Doch bemerkte ich jetzt erstmals, daß da im Sande tiefe Höhlungen entstanden waren, wannenförmig und von der Größe einer Teetasse bis zu der einer Schüssel. Kein Zweifel, auch für diese kleinen Krater mußte der Wind verantwortlich sein, geradeso wie für den Verlust unsres Paddels. Einzig der Riß in dem Boot blieb mir unerklärlich, doch war es auch in seinem Falle durchaus plau sibel, daß irgend etwas Scharfkantiges bei unserer Landung ihn verursacht haben konnte. Meine Untersuchung des Strandes stützte diese Annahme zwar in keiner Weise, doch hielt ich dessenungeachtet daran fest mit der immer mehr zusammen schrumpfenden Spitzfindigkeit, welche ich für »gesunden Hausverstand« hielt. Es war unbedingt nötig, eine Erklärung zu finden, ganz wie ja auch das Universum einer solchen bedarf, weil sie - wie absurd sie immer klingen mag - zum Seelenfrieden jedes Menschen beträgt, der in dieser Welt seine Pflicht erfüllen und den Problemen des Lebens nicht ausweichen will. Dieser Vergleich schien mir damals durchaus zutreffend zu sein. Unverweilt machte ich mich daran, den Teer zu erhitzen, und der Schwede beteiligte sich an dieser Arbeit, obgleich das Boot auch unter günstigsten Umständen nicht vor dem morgigen Tag fahrbereit sein würde. Nebenher lenkte ich die Aufmerksamkeit meines Freundes auch auf jene Mulden im Sand. »Ja«, sagte er, »ich weiß. Sie sind über die ganze Insel verteilt. Aber wie ich dich kenne, hast du ja zweifellos eine Erklärung dafür!« »Der Wind, was denn sonst?« antwortete ich ohne Zögern. »Hast du noch nie diese winzigen Windhosen beobachtet, die 429
in den Straßen alles so spiralenförmig zusammenwirbeln? Und der Sand ist locker genug, um ihnen nachzugeben, weiter nichts.« Er gab keine Antwort, und so arbeiteten wir eine Zeitlang schweigend dahin. Immer wieder beobachtete ich ihn und hatte das Gefühl, daß auch er mich beobachtete. Auch schien er die ganze Zeit gespannt auf etwas zu lauschen, das ich nicht hören konnte, vielleicht auch auf etwas, das er bloß zu hören erwartete, denn er wandte sich beständig um, spähte ins Gesträuch, blickte zum Himmel oder auch zwischen den Weidenbüschen aufs Wasser hinaus. Zuweilen hielt er sogar die Hände ans Ohr und verharrte eine Zeitlang in solcher Haltung. Dennoch ließ er mir gegenüber kein diesbezügliches Wort verlauten, und auch ich stellte keinerlei Fragen. Dazwischen aber, sooft er sich mit der Erfahrung und dem Geschick einer echten Rothaut mit der Ausbesserung des schadhaften Bootes beschäftigte, verschaffte mir seine Hingabe an diese Arbeit viel Erleichterung, denn in mir zitterte ja beständig die unbestimmte Angst, er könnte auch noch die veränderte Stellung der Weiden erwähnen. Hätte er das getan, so wäre es all meiner Phantasie nicht mehr möglich gewesen, diesen Umstand auch nur halbwegs vernünftig zu erklären. Schließlich, nach langem Schweigen, begann der Schwede wieder zu sprechen. »Komische Sache«, sagte er beiläufig, so als wollte er das Gesagte im Reden schon wieder abtun. »Komische Sache, das mit dem Otter gestern abend.« Ich hatte etwas ganz anderes erwartet, so daß diese Worte mich verblüfften und ich den Sprecher überrascht ansah. »Daran kannst du sehen, wie einsam dieser Ort ist«, sagte ich. »Otter sind ja überaus scheue Geschöpfe, und –« »Das hab' ich nicht gemeint«, unterbrach er mich. »Was ich sagen will, ist – sag einmal, glaubst du eigentlich wirklich, oder hast du gestern abend geglaubt, daß es tatsächlich ein 430
Otter war. « »Ja – was denn sonst, um Gottes willen?« »Weißt du, ich hab' es schon früher als du gesehen, und da schien es viel größer zu sein – bei weitem größer als ein Otter.« »Gegen die untergehende Sonne hat er eben größer ausgesehen, das wird's gewesen sein«, versetzte ich. Er sah mich geistesabwesend an, so als dächte er schon an ganz anderes. »Jene gelben Augen waren gar zu sonderbar«, fuhr er, halb zu sich selbst gewendet, fort. »Auch das war die Sonne«, sagte ich mit forciertem Lachen. »Und jetzt fängst du wohl auch noch mit dem Kerl im Boot an und fragst dich . . .« Aber ich ließ den Satz unausgesprochen. Mein Gefährte hatte den Kopf soeben horchend in den Wind gedreht, und etwas in seiner Miene machte mich verstummen. So blieb der Gegenstand unerörtert, und wir widmeten uns weiterhin unserer Ausbesserungsarbeit. Offensichtlich hatte er meinen angefangenen Satz gar nicht beachtet. Dennoch warf er mir einige Minuten danach über das Boot hin einen Blick zu, die rauchende Teermasse noch in der Hand. Sein Ausdruck war tiefernst. »Wenn du's genau wissen willst«, sagte er langsam, »ich habe mich gefragt, was es mit dem Ding in jenem Boot wohl auf sich hatte. Im ersten Moment hab' ich geglaubt, es sei gar kein Mensch, denn für einen solchen schien mir das Ganze viel zu rasch aus dem Wasser aufgetaucht zu sein.« Abermals lachte ich ihm ein wenig gezwungen ins Gesicht, doch diesmal empfand ich dabei schon Ungeduld, ja sogar Ärger. »Jetzt hör mir gut zu«, rief ich. »Der Platz hier ist schon sonderbar genug, auch ohne unsere läppischen Einbildungen! Das Boot war ein Boot und sonst nichts, und der Mann war ein ganz gewöhnlicher Mensch, und beide sind den Strom 431
hinuntergetrieben, so schnell sie nur konnten. Und auch dein Otter war ein Otter. Und wir beide werden jetzt darüber nicht den Kopf verlieren!« Er blickte mich weiterhin mit jenem ernsten Ausdruck an, schien auch nicht im mindesten verärgert zu sein. Doch das steigerte nur meinen Mut. »Und dann, um Himmels willen«, fuhr ich fort, »tu doch nicht immer so, als möchtest du was Besonderes hören, sonst fahr' ich noch aus der Haut! Und außerdem gibt's hier gar nichts zu hören - nichts als den Fluß und diesen ekelhaften, lästigen, verdammten Scheißwind!« »Du Trottel!« kam's mit leiser, empörter Stimme zurück. »Du Supertrottel! Redest daher, wie alle reden, denen's an den Kragen geht! Als ob du nicht genausogut Bescheid wüßtest wie ich!« Etwas wie höhnische Geringschätzung und auch Resignation schwang in seiner Stimme. »Das einzige, was wir tun können, ist, nicht die Nerven zu verlieren und einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren. Dieser ganze, lahme Selbstbetrug macht es uns nur noch schwerer, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wenn sie erst einmal da ist.« Damit war ich mit meiner Weisheit am Ende und wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. Nur zu sehr war ich mir im klaren, daß er recht hatte und daß ich der Idiot war, nicht er. Bis zu einem gewissen Punkt dieses Abenteuers behielt er die stärkeren Nerven, und vermutlich ärgerte ich mich darüber, nach Punkten geschlagen zu sein, weniger seelische Widerstandskraft, weniger Feinfühligkeit als er bewiesen zu haben angesichts so ungewöhnlichen Geschehens, ja in halber Ahnungslosigkeit den Dingen gegenüberzustehen, die sich vor meiner Nase begaben. Er hingegen schien von Anfang an alles gewußt zu haben. Aber im Moment verstand ich überhaupt nicht, was er mit seinen Worten über die Notwendigkeit eines Opfers gemeint hatte, und schon gar nicht, weshalb wir selbst dieses Opfer sein sollten. 432
Doch gab ich von da an alle Verstellung auf, obschon damit meine Angst nur noch stärker anwuchs und auf ihren Höhe punkt zusteuerte. « »Aber in einem hast du durchaus recht«, sagte er noch, bevor wir das Thema fallenließen. »Nämlich, daß wir besser nicht über das alles sprechen sollten, ja nicht einmal daran denken, denn woran man denkt, darüber spricht man, und ist es erst ausgesprochen, so passiert es auch.« Den ganzen Nachmittag, während unser Kanu trocknete und die Flickstelle hart wurde, verbrachten wir mit Angeln, probier ten wir den Härtegrad unserer Ausbesserung, sammelten Feuer holz und beobachteten die steigenden Fluten. Große Mengen Schwemmholz trieben zuweilen ganz nahe am Ufer vorüber, und wir zogen, wessen wir davon habhaft werden konnten, mit langen Weidenruten an Land. Die Insel wurde jetzt merklich kleiner, Stück um Stück ihres Ufers verschwand mit aufspritzendem Gegurgel in der reißenden Strömung. Aber das Wetter blieb strahlend schön bis um etwa vier Uhr nachmittags. Dann, zum ersten Mal nach drei Tagen, begann der Wind nachzulassen. Im Südwesten stiegen Wolken auf und breiteten sich langsam am Himmel aus. Das Nachlassen des Windes war uns eine große Erleichterung, denn das unaufhörliche Heulen und knallende Donnern hatte genugsam an unseren Nerven gezerrt. Doch die Stille, welche sich um etwa fünf Uhr ganz plötzlich herniedersenkte, war auf ihre Weise nicht weniger bedrückend. Jetzt wurde das drohende Grollen des Stromes von nichts mehr übertönt: es füllte die Luft mit murrendem Rauschen, das zwar melodischer als das Sausen des Windes war, aber weitaus monotoner. Der Wind hatte viele Töne gehabt, hatte steigend und fallend die gewaltige Harfe der Elemente geschlagen, wogegen der Gesang des Stromes zumeist nur auf drei Töne gestimmt war – auf dunkle, gedämpfte Töne, die nach all dem Orgeln des Windes so kummer- und schwermutsvoll klangen, 433
daß sie mich, überreizt wie ich war, nur zu sehr an die Musik des Untergangs, der Verderbens gemahnten. Ganz ungewöhnlich war es auch, wie das plötzliche Erlöschen des strahlenden Sonnenscheins alles Freundliche, Ermutigende von der Landschaft hinweggenommen hatte. Und da sie in diesem besonderen Fall ohnehin schon düster und drohend genug gewesen war, bestürzte solcher Wandel uns um so mehr. In mir rief diese allgemeine Verdüsterung eine ganz deutliche Unruhe hervor, so daß ich mich mehr als einmal dabei ertappte, wie ich im Geist überschlug, wann wohl nach Sonnenuntergang der Vollmond im Osten aufgehen mochte, und ob die sich zusammenballenden Wolken ihn daran hindern würden, unsere kleine Insel zu erhellen. Seit der Wind sich nahezu gänzlich gelegt hatte – nur gelegentlich regte er sich noch in kurzen Stößen -, kam es mir vor, als würde der Strom immer düsterer, als rückten die Weiden immer dichter zusammen. Auch verharrte jenes Dickicht in einer Art Eigenleben, schien sich raschelnd und tuschelnd zu unterreden, auch wenn kein Lufthauch sich regte, ja schien weiterhin auf die sonderbarste Weise mit allen Zweigen zu schwanken in einer aus den Wurzeln kommenden Bewegung. Sobald aber auf solche Weise das Unscheinbare, Alltägliche den Charakter des Bedrohlichen annimmt, wühlt es unsere Einbildungskraft viel tiefer auf, als Dinge von ungewöhnlicher Erscheinungsform dies vermögen. So nahm auch das Weidengesträuch, welches sich dichtgedrängt um uns scharte, in der Dunkelheit für mich ein dermaßen bizarres, phantastisches Aussehen an, daß ich vermeinte, mich von lebenden, absichtsvoll handelnden Wesen umzingelt zu sehen. Gerade die Unscheinbarkeit dieser Weiden war es ja, unter der sich - ich spürte es deutlich - all das verbarg, was uns so böswillig und feindselig gegenüberstand. Und mit dem Herein brechen der Nacht rückten die Mächte dieses Ortes abermals näher gegen uns heran. Ihr Ziel war diese Insel - und waren auf 434
dieser Insel wir selbst. Jawohl, dies ungefähr waren die Grenzen einer Imagination, innerhalb deren an so wenig geheuerem Ort meine wirklich unbeschreiblichen Empfindungen mir zum Bilde wurden. Ich hatte den frühen Nachmittag zum größten Teil verschlafen und mich auf diese Weise ein wenig von der Erschöpfung einer ruhelosen Nacht erholt, doch führte solche Stärkung bloß dazu, daß ich noch anfälliger wurde für den bedrückenden Zauberbann all des gespensterhaften Webens rundum. Ich kämpfte dagegen an, tat meine Gefühle als absurd und kindisch ab, ja lachte darüber und suchte ihnen mit den plansten physiologischen Erklärungen beizukommen. Doch alle Anstrengungen blieben fruchtlos, und der böse Zauber gewann mehr und mehr Macht über mich, so daß ich das Herannahen der Nacht zu fürchten begann, wie ein im Wald verirrtes Kind sich vor all der Finsternis ängstigen mag. Das Boot hatten wir tagsüber sorgsam mit einer wasserdichten Plane zugedeckt, und der Schwede hatte das verbliebene Paddel an einem Baumstrunk festgemacht, damit uns der Wind nicht auch noch dieses eine raube. Von fünf Uhr nachmittags an machte ich mir am Kochtopf zu schaffen und traf alle Vorbereitungen zum Abendessen, denn die Reihe des Kochens war heute an mir. Wir hatten Kartoffeln und Zwiebeln, gehackten Speck zur Geschmacksverbesserung sowie einen dicken Rückstand früherer Mahlzeiten am Boden des Topfes. Mit eingebröckeltem Schwarzbrot mußte das ein ganz delikates Gericht werden, und hinterher gab's noch gezuckerten Dörrpflaumenabsud und schwärzlich aufge gossenen Tee mit eingerührter Trockenmilch. Ein großer Haufen Feuerholz lag in Reichweite aufgestapelt, und da der Wind sich nun vollends gelegt hatte, wurde mir die Arbeit leicht. Mein Gefährte saß lässig am Feuer und sah mir zu, wobei er seine Aufmerksamkeit einerseits dem Reinigen seiner Pfeife zuwandte, zum andern aber dem Erteilen nutzloser Rat 435
schläge, diesem stillschweigend zugestandenen Privileg des Mannes, der dienstfrei ist. Den ganzen Nachmittag war er äu ßerst wortkarg gewesen, beständig damit beschäftigt, das Boot zu kalfatern, das Zelt nachzuspannen und, während ich schlief, nach Schwemmholz zu angeln. Kein weiteres Wort über uner wünschte Dinge war zwischen uns laut geworden, und die we nigen Bemerkungen, welche mein Freund von sich gegeben, hatten, soweit ich mich erinnere, lediglich der fortschreitenden Zerstörung unserer Insel gegolten. Er hatte festgestellt, daß die Sandbank nun schon um ein Drittel kleiner geworden sei, als sie zum Zeitpunkt unserer Landung gewesen. Im Topf begann es eben zu sieden, als ich den Schweden vom Strand heraufrufen hörte. Er hatte sich unbemerkt davongemacht, und so stürzte ich ihm nach. »Komm her und horch«, sagte er, »und dann erklär mir, was das zu bedeuten hat!« Er hielt seine Hände als einen Schalltrichter ans Ohr, wie er's tagsüber schon des öftern getan. »Nun - hörst du es jetzt?« fragte er und blickte mich voll Spannung an. Wir standen nebeneinander und lauschten aufmerksam. Zu nächst vernahm ich nur das dunkle Gemurre des Wassers und das zischende Drüberhinströmen der aufgestörten Wogen. Die Weiden standen plötzlich regungslos und gaben keinen Laut. Dann aber drang ein kaum vernehmbarer, fremdartiger Ton an mein Ohr – am ehesten noch dem vibrierenden Klang eines fernen Gongs vergleichbar. Er schien durch das Dunkel herüber-zuschweben von der sumpfigen, weidenbestandenen Einöde des jenseitigen Ufers, kam heran in gleichmäßigen Intervallen, rührte aber gewiß nicht von einer Schiffsglocke her, noch auch von der Dampfpfeife eines fernen Schleppers. Auch heute noch vermag ich keinen bessern Vergleich zu finden, als den mit dem Klang eines ungeheuren Gongs, der hoch oben im Himmel hing, seinen gedämpften metallischen Schlag beständig wiederholend, wohltönend und weich, sooft 436
er in Schwingung versetzt ward. Das Herz begann mir schneller zu schlagen, während ich so dastand und lauschte. »Ich hör' das schon den ganzen Tag«, sagte jetzt mein Gefährte. »Heut nachmittag, während du geschlafen hast, ist es von allen Seiten gekommen. Von einem Ende der Insel zum andern bin ich hinterhergehetzt, kam ihm aber nie nahe genug, um etwas sehen zu können, oder gar, um es genauer zu lokalisieren. Manchmal war's über mir, und dann wieder klang's, als stieg' es geradewegs aus dem Wasser. Und einoder zweimal hätt' ich schwören mögen, daß es gar nicht außerhalb war, sondern in mir selbst – verstehst du? So wie man den Klang aus einer vierten Dimension sich vorstellen könnte.« Ich war viel zu verwirrt, als daß ich sonderlich auf seine Worte hätte achten mögen. Angespannt lauschend, mühte ich mich, irgendwelche Anklänge an mir bekannte Töne herauszuhören -doch ohne Erfolg. Die sonderbaren Laute kamen aus allen möglichen Richtungen, zuweilen auch aus größerer Nähe, um alsbald wieder aus äußerster Ferne zu erklingen. Ich könnte nicht behaupten, daß ihre Schwingungen etwas Bedrohliches an sich hatten, dazu waren sie viel zu melodisch. Dennoch - ich muß es bekennen - lösten sie in mir ein so intensives Gefühl der Bedrückung aus, daß ich hätte wünschen mögen, sie niemals vernommen zu haben. »Es ist der Wind – er verfängt sich in jenen Sandmulden«, sagte ich, gewaltsam nach einer Erklärung suchend. »Oder vielleicht auch das scheuernde Geräusch der Weidenzweige nach dem Sturm.« »Es klingt, als würde der ganze Sumpf läuten«, versetzte mein Freund. »Es kommt von überall zugleich.« Er hatte meine Erklärung -gar nicht beachtet. »Aber irgendwie hat es auch mit den Weiden zu tun . . .« »Wie können es denn die Weiden sein«, fiel ich ihm ins Wort, »jetzt, da sich doch der Wind gelegt hat?« 437
Seine Antwort machte mich betroffen, denn sie entsprach ganz und gar meinen Befürchtungen, und außerdem erkannte ich intuitiv, daß er die Wahrheit sprach. »Wir hören es, weil der Wind sich gelegt hat. Bis jetzt hat er alles in seinem Heulen ertränkt. Und außerdem glaube ich, daß das, was wir jetzt hören, der Ruf jener . . .« Ich machte kehrt und rannte Hals über Kopf hinauf zur Feuerstelle, denn ein brodelndes Zischen hatte mir angezeigt, daß unser Essen überkochte. Doch war ich nicht nur deshalb so unvermittelt davongestürzt: in Wahrheit scheute ich ja davor zurück, noch weiter zuhören zu müssen. Wenn's auch nur ir gendwie zu machen war, wollte ich all diesen Erörterungen aus dem Wege gehen, denn ich fürchtete, er könnte wieder mit seinen Gottheiten anfangen, mit irgendwelchen Elementar kräften oder mit sonst etwas Beängstigendem. Und ich hatte doch nur den einen Wunsch, kaltes Blut zu bewahren für all das, was uns da noch bevorstand. Wir hatten eine zweite, endlose Nacht in dieser bedrückend geisterhaften Umgebung zu überstehen, und kein Mensch konnte wissen, was das Dunkel noch alles für uns bereithielt. oder »Komm her da und schneid uns das Brot für die Suppe«, rief ich hinunter, wobei ich voll Eifer in der verlockenden Brühe rührte. Der Kochtopf - es machte mich lachen -, dieser Kochtopf allein hielt jetzt unsere Sinne zusammen. Langsam schlenderte der Schwede heran, hob den Proviantsack vom Ast, kramte in dessen unergründlichen Tiefen – und schüttete dann den gesamten Inhalt auf die darunter ausgebreitete Decke. »So mach doch schon!« rief ich. »Das Essen kocht!« Aber mit einem Mal brach der Schwede in ein hemmungsloses Gelächter aus. Erschrocken fuhr ich herum: dieses Lachen, obschon es nicht gespielt war, klang alles andere denn belustigt. »Es ist nichts da!« prustete er und schien sich nicht fassen zu 438
können. »Brotschneiden, hab' ich gesagt!« »Weg - alles weg! Sie haben's uns fortgenommen!« Ich ließ den Kochlöffel fallen und sprang auf, um mich zu überzeugen. Unsere sämtlichen Vorräte lagen auf der Decke verstreut, nur von einem Brotlaib war nichts zu sehen! Zunächst war's mir, als müßte ich unter der Last der plötzlich mich überstürzenden Angst zusammenbrechen. Dann aber platzte auch ich heraus: lachen war das einzige, was man hier noch tun konnte! Und sobald ich erst zu lachen angefangen, verstand ich auch, weshalb er lachte. Es war die körperliche Spannung unserer Furcht, die den Ausbruch so unnatürlicher Heiterkeit bewirkte - war der Versuch so lange unterdrückt gewesener Kräfte, sich Luft zu machen -, war ein Sicherheitsventil, und sonst nichts! Denn ebenso unvermittelt, wie es eingesetzt hatte, versiegte unser beider Lachen. »Ich bin doch blöder, als die Polizei erlaubt!« schrie ich auf, nach wie vor in allem Eigensinn darauf bedacht, nur ja nichts Unerklärliches zu dulden. »Da hab' ich doch glatt vergessen, in Preßburg den Laib Brot mitzunehmen! Dieses tratschhafte Frauenzimmer hat mich ganz durcheinandergebracht, und so ist unser Brot einfach auf dem Pult liegengeblieben oder . . .« »Auch die Haferflocken sind seit heute morgen weniger geworden«, unterbrach mich der Schwede. Was muß er auch das noch ausdrücklich feststellen, dachte ich verärgert. »Fürs Frühstück werden sie reichen«, sagte ich und rührte eifrig in meinem Kochtopf. »Und in Komorn oder Gran haben sie so viel, daß sie's verkaufen müssen. Morgen um diese Zeit sind wir schon kilometerweit von hier fort.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, brummte er, während er alles wieder im Proviantsack verstaute. »Wenn wir nur nicht vorher geopfert werden.« Und mit sonderbarem Auflachen zerrte er den Sack ins Zelt, wohl aus Gründen der Sicherheit. Drinnen 439
hörte ich ihn noch weiter vor sich hin brummen, doch waren seine Worte so undeutlich, daß nichts leichter war, als sie zu überhören. Unsere Mahlzeit verlief unstreitig in recht düsterer Stimmung. Wir aßen nahezu ohne ein Wort, vermieden auch, einander anzublicken, und waren bloß darauf bedacht, ein hochaufloderndes Feuer zu unterhalten. Dann spülten wir das Eßgeschirr und trafen alle Vorbereitungen für die Nacht. Sobald wir aber rauchend am Feuer saßen, aller Pflichten des Tages ledig, begann die gestaltlose Furcht der vergangenen Stunden sich mehr und mehr um uns zu verdichten. Zwar stand die Bedrohung noch nicht wirklich vor mir, doch war's gerade das Unbestimmte ihres Ursprungs, das mich bedrückte, weit mehr noch, als hätte ich sie mit Namen nennen und ihr entgegentreten können. Der sonderbare Laut, den ich einzig mit dem Klang eines Gongs zu vergleichen vermocht, nun war er fast ohne Unterlaß zu hören und füllte die nächtliche Stille mit einem zarten, unablässigen, nahezu übergangslosen Geläut, das beständig um uns war, bald hinterrücks, bald vor uns ertönte, sich manches Mal aus dem Buschwerk zur Linken erhob, um gleich darauf aus dem Dickicht zur Rechten aufzusteigen. Noch öfter aber zitterte es direkt über uns, gleich dem Schwirren irgendwelcher unsichtbaren Schwingen. Tatsächlich, nun machte sich's schon überall gleichzeitig bemerkbar, hinter uns, vor uns, zu beiden Seiten und auch uns zu Häupten – es umkreiste uns, kreiste uns ein! Noch heute entzieht jener Klang sich meiner Beschreibung. Nichts, das ich jemals vernommen, nichts davon läßt sich dem unaufhörlichen, dunkeltönenden Summen vergleichen, welches sich damals aus der Verlassenheit einer Welt erhob, die nur aus schwankendem Morast bestand, und aus sich wiegenden Weiden. So saßen wir rauchend und wagten kein Wort, und unsere Spannung wuchs an von Minute zu Minute. Das Ärgste an unserer Lage, so wollte mir scheinen, war, daß wir nicht 440
wußten, was da auf uns zukam, und daß wir aus diesem Grund keinerlei Maßnahmen treffen konnten, uns dagegen zur Wehr zu setzen. Nichts war voraussehbar. Darüber hinaus kamen nun all meine Erklärungen, die bei Sonnenlicht so plausibel geklungen, über mich und verfolgten mich mit all ihrer unzulänglichen Dummheit, und so wuchs die Gewißheit um uns beide, daß ein offenes Wort nun unausweichlich war, ob wir's nun wollten oder nicht. Schließlich mußten wir die Nacht gemeinsam überstehen, Seite an Seite liegend im nämlichen Zelt. Jetzt erst begann ich einzusehen, daß ich ohne den Zuspruch des Freundes nicht länger durchhalten würde, und so war eine freimütige Aussprache das Gebot dieser Stunde. Dennoch: solang ich nur irgend vermochte, zog ich diesen krisenhaften Augenblick hinaus und versuchte, hinwegzuhören oder hinwegzulachen über die gelegentlichen Worte, die da mein Gefährte ins Leere sprach. Manche dieser Äußerungen beunruhigten mich um so tiefer, als sie ja die Bestätigung dessen waren, was ich selbst seit geraumer Zeit empfand: eine Bestätigung, die um so überzeugender war, als sie mir von einem ganz anderen Standpunkt her zuteil wurde. Mein Gefährte formte ja so sonderbare Sätze, stellte sie so ohne inneren Zusammenhang vor mich hin, als wüßte er selbst nicht recht, was er da redete, ja als wären diese Fragmente nur der unverdauliche Rest eines Denkens, das sich auf unwegsamen Pfaden bewegte. So mochte ihm einzig dies Vor-sich-Hinspre-chen Erleichterung bringen, ja so mochte es kommen, daß er seine Worte nicht so sehr sprach als vomierte. »Es sind da Dinge über uns, die, ich bin ganz sicher, darauf aus sind, alle Ordnung zu stören und aufzulösen, die nichts als Zerstörung im Sinn haben, und zwar unsere Zerstörung«, sagte er unter anderem, während das Feuer zwischen uns in die Nacht loderte. »Wir sind auf irgendeine Weise auf die andere Seite der uns gezogenen Grenzen geraten.« 441
Und dann, als jene an einen Gong gemahnenden Töne ganz in der Nähe erklangen, lauter als jemals zuvor, ja unmittelbar über unseren Köpfen, sagte er noch – aber es war, als spräche er zu sich selbst: »Ich glaube ja nicht, daß man diese Laute phonographisch aufnehmen könnte. Sie gehen gar nicht übers Gehör. Ihre Schwingungen erreichen mich auf ganz andere Weise, scheinen aus mir selbst zu kommen, und das entspricht genau unsern Vorstellungen von Klängen aus einer anderen Dimension.« Ich vermied es wohlweislich, darauf zu antworten, doch rückte ich ein wenig näher ans Feuer und spähte in die Finsternis rundum. Die schweren Wolken hatten sich über den ganzen Himmel ausgebreitet, und kein Strahl des Mondes vermochte, sie zu durchdringen. Auch herrschte ein so tödliches Schweigen, daß der Strom und die Frösche nur mehr sich selbst überlassen schienen. »Das Ganze hat etwas an sich«, fuhr er fort, »was sich aller Erfahrung restlos entzieht. Es ist unerhört im eigentlichsten Wortsinn. Nur durch ein Wort läßt es sich annähernd wiederge ben: es ist ein außermenschlicher Laut – es kommt aus einer andern Welt.« Nachdem er diesen unverdaulichen Brocken von sich gegeben hatte, schwieg er eine Weile vor sich hin. Aber er hatte meine eigenen Empfindungen auf so bewundernswerte Weise ausgedrückt, daß es eine wahre Erleichterung war, diesen Gedanken endlich loszusein, ihn eingegrenzt zu wissen in den Schranken dieser Worte, so daß er mit seinem ziellosen Wandern kein Unheil mehr in unseren Köpfen anrichten konnte. Werde ich die Verlassenheit jenes Nachtlagers an der Donau jemals vergessen können? Dieses Gefühl, ausgesetzt zu sein, mutterseelenallein auf einem unbewohnten Planeten? Ununter brochen kreisten meine Gedanken um das Leben in den Städten, um das Treiben der Menschen darin. Ich hätte, wie 442
man so sagt, mein Seelenheil dafür hingegeben, in diesem Augenblick einbezogen zu sein in den Dunstkreis jener bayrischen Dörfer, die wir zu Dutzenden hinter uns gelassen hatten – einbezogen in alle Gewöhnlichkeit solchen Alltags: an Tischen im Schatten der Bäume mit den Bauern Bier zu trinken, hinter der rotgedeckten Kirche und am Fuße des Felsens mit der alten Burgruine. Sogar die Touristen wären mir jetzt willkommen gewesen. Dennoch, was ich empfand, hatte nichts mit banaler Gespen sterfurcht zu tun. Es war unendlich größer, befremdlicher, und schien heraufzusteigen aus einem düstern, vorzeitlichen Angst bereich, dessen profunde Verstörung alles überbot, was ich je erlebt, wovon ich je geträumt hatte. Wir waren, ganz wie der Schwede gesagt, »auf die andere Seite geraten«, in Regionen oder Konstellationen, wo die Gefahren überaus groß, wenn gleich für uns nicht zu entschlüsseln waren – wo die Grenzen einer unbekannten Welt schon an unser Dasein streiften. Und es war eine Wohnstatt außerirdischer Wesen, eine Art Periskop aus jenseitigen Bereichen, durch das sie unser irdisches Treiben ausspähen konnten, ohne selbst wahrgenommen zu werden – eine Stelle, an welcher der trennende Schleier schon ein wenig dünn geworden war. In letzter Konsequenz unsres zu langen Verzuges auf dieser Insel zog es uns nun über die Grenze, auf daß wir all dessen beraubt würden, was wir »Leben« nannten, indes nicht auf physische Weise, sondern in einem rein geistigen Vorgang. Dies war's, was mein Gefährte gemeint hatte, als er davon gesprochen, wir seien als die Opfer unseres Wagnisses zur Opferung ausersehen. Solche Erkenntnis überwältigte jeden von uns auf besondere Weise, ganz nach dem persönlichen Maß seiner Empfänglichkeit und seiner Widerstandskraft. Für mich war dies alles in irgendeiner Form eine Gestaltwerdung der von uns so gröblich aufgestörten Naturkräfte, denen ich nun alle Schrecknisse einer böswillig auf uns gerichteten Absicht 443
zuschrieb und die nun Rache nehmen wollten für unser aberwitziges Eindringen in ihren bislang unberührt gebliebenen Nährboden. Mein Gefährte hingegen hatte zunächst die herkömmlichere Vorstellung von der Schändung einer vorzeitlichen Kultstätte gehabt, eines Ortes, wo die alten Gottheiten noch hofhielten, eines Weiheplatzes, der noch immer überquoll von der Verehrung früherer Anbeter. Was Wunder, daß des Schweden vorzeitliches Teil dem alten, heidnischen Zauber zu erliegen begann? Indes, wie dem auch immer sein mochte - wir befanden uns hier an einem von Menschen noch nicht besudelten Ort, den die Winde bislang von aller Entweihung reingehalten hatten, an einem Ort, wo das Weben und Wirken geistiger Mächte noch nicht zerstört worden war und sich nun zum Angriff gegen uns anschickte. Niemals, weder vorher noch nachher, hat mir das Wissen um die Existenz einer »Welt jenseits unserer Sinne«, um andere Lebensordnungen, um andere, uns Menschen völlig fremde Entwicklungsstufen so sehr zu schaffen gemacht. Schon stand mir als unabweisliches Ende vor Augen, daß unser Geist dem Gewicht des fürchterlichen Zaubers endgültig erliegen, daß jeder von uns über die Grenze gezogen würde, hinüber in jene andere Welt. Bisher hatten nur kleine Anzeichen auf die bestürzenden Einflüsse hingewiesen, unter denen dieser Ort stand, doch jetzt, in der Stille rings um das Lagerfeuer, machten sie sich unsern Sinnen mehr und mehr bemerkbar. Noch die Atemluft auf dieser Insel, sie schien vergrößernde, ja verzerrende Eigenschaften in sich zu bergen: hatte sie nicht den im Strom sich wälzenden Otter ebenso zum ungeheuerlichen Zerrbild gemacht wie den vorübertreibenden Mann im Boot, der da seine beschwörenden Zeichen in die Leere geschrieben? Sie auch war es, welche die Weiden beständig verwandelte, jedes Ding seiner natürlichen Erscheinung beraubte und auf irgendwelche Weise jenen anderen Aspekt enthüllte - den 444
Aspekt, der da Gültigkeit hat jenseits der Grenzen einer fremden Welt. Und dieser Wandel, ich spürte es, war nicht nur mir selbst etwas völlig Unvertrautes, er war unsrer menschlichen Natur unbekannt: so unbekannt wie jede einzelne Erfahrung, die uns jetzt an solcher Schwelle widerfuhr. Wir waren in einen ganz neuen Erfahrungsbereich geraten, im wahrsten Sinn des Wortes in einen Bezirk des Außerirdischen. »Was einem auch noch den letzten Mut nimmt, ist diese vorbedachte, berechnende Zweckmäßigkeit, die hinter allem steckt«, sagte der Schwede plötzlich, als hätte er in meinen Gedanken gelesen. »Andernfalls könnte man's ja noch als bloße Einbildung hinstellen. Aber das Paddel, das Boot - und das Abnehmen des Proviants . . .« »Hab' ich nicht für all das eine Erklärung gefunden?« fragte ich ein wenig spitz. »Das hast du«, versetzte er trocken. »Unstreitig, das hast du.« Er machte noch seine üblichen Bemerkungen über diese, wie er es nannte, »klare Entschlossenheit«, sich eines Opfers zu versichern. Ich aber, nachdem ich mich halbwegs gesammelt hatte, erkannte in diesem Gerede einfach die Auflehnung der angsterfüllten Seele meines Freundes gegen das Wissen, daß man ihn in einem lebenswichtigen Punkte bedrohte, daß er irgendwie umstrickt, ja vernichtet werden sollte. Unsere Lage erforderte ja ein Maß an Courage und kaltblütiger Überlegung, das keiner von uns aufzubringen vermochte, und so war ich mir so intensiv bewußt wie noch nie zuvor, daß da zwei Seelen in meiner Brust wohnten: eine, die jedes Ding zu erklären trachtete, und eine zweite, die bloß lachte über solche Torheit, dabei aber zitterte vor Angst. Inzwischen war in der pechschwarzen Dunkelheit unser Feuer heruntergebrannt, und auch der Holzvorrat war bis auf einen kleinen Rest zusammengeschrumpft. Allein, keiner von 445
uns traf irgendwelche Anstalten, ihn zu erneuern. So schloß sich denn alsbald die Finsternis recht nahe um unsre Gesichter, und kaum zwei Schritte vom Lagerfeuer herrschte schon Tintenschwärze. Zuweilen durchbebte ein schwacher Windhauch die Zweige der Weiden rundum, doch abgesehen von solchem nicht gerade angenehmen, zischenden Laut, hatte eine tiefe, bedrückende Stille sich über alles gelegt, eine Stille, die einzig vom Gurgeln des Stromes unterbrochen wurde, und auch von jenem summenden Klang in den Lüften. Ich glaube, wir vermißten jetzt beide recht schmerzlich die heulende Gesellschaft des Winds. Schließlich, als einer dieser gelegentlichen Stöße etwas länger anhielt, so als wollte der Wind sich von neuem erheben, hatte ich die Nase endgültig voll und empfand nur mehr das dringende Bedürfnis, mir in offener Aussprache die ganze Last von der Seele zu reden oder aber eine überspannte, hysterische Handlung zu setzen, deren Auswirkungen auf uns beide wohl weit schlimmer gewesen wären. So schürte ich das Feuer zu seiner alten Helle und wandte mich danach unvermittelt an meinen Gefährten. Der schrak zusammen und blickte zu mir auf. »Ich kann's nicht mehr verhehlen«, sagte ich, »aber ich ertrage diesen Ort nicht länger – weder die Finsternis noch auch all die Geräusche und schon gar nicht dieses entsetzliche Angstgefühl, das mich hier befällt! Mit dieser Insel hat es etwas auf sich, das mich aufs äußerste beunruhigt. Wenn du's genau wissen willst – ich hab' ganz einfach eine Scheißangst! Und wenn ich wüßte, daß es drüben, am anderen Ufer, daß es dort, wie soll ich's nur sagen – geheuerer ist als hier, ich schwör dir, daß ich dann am liebsten hinüberschwimmen würde!« Unter aller Wind- und Sonnenbräune war das Antlitz des Schweden totenbleich geworden. Er starrte mich an und redete dann merkwürdig ruhig, allein, die unnatürliche Ruhe solcher 446
Stimme verriet mir den Grad seiner Aufgewühltheit nur um so mehr. Trotzdem war er im Moment der Stärkere von uns beiden, wohl auch, weil er der Phlegmatischere war. »Wir haben es hier nicht mit physischen Kräften zu tun, vor denen wir nach Belieben Reißaus nehmen könnten«, versetzte er im Ton eines Arztes, der eine sehr ernste Diagnose stellt. »Vielmehr müssen wir bis zum letzten ausharren und abwarten. In unserer nächsten Nähe sind Kräfte am Werk, die in einer einzigen Sekunde eine Herde von Elefanten ebenso leicht auslöschen könnten, wie du oder ich das mit einer Fliege fertigbringen. Unsre einzige Chance liegt in der Bewahrung absoluter Ruhe. Nur, wenn wir uns möglichst wenig bemerkbar machen - nur dann mag es sein, daß wir vielleicht noch davonkommen.« Mein Gesicht war eine einzige Frage, doch vermochte ich nicht, sie in Worte zu kleiden. Mir war zumut, als hörte ich der exakten Beschreibung einer Krankheit zu, deren Symptome mich seit langem beunruhigt hatten. »Was ich damit sagen will«, fuhr mein Gegenüber fort, »ist, daß sie, obschon sie unserer störenden Gegenwart durchaus inne sind, uns noch nicht gefunden haben – >geortet<, wie es die Amerikaner nennen. Jene Mächte tappen noch im dunkeln, etwa wie Menschen, die ausströmendem Gas nachspüren, auf der Suche nach dem Schaden in der Leitung. Das Paddel, das Boot und unsere Vorräte sind ein Beweis dafür. Ich glaube, daß sie uns zwar spüren, uns aber nicht sehen können. Deshalb müssen wir ruhig bleiben bis ins Innerste, denn es ist unser Geist, was sie fühlen. Wir müssen unsre Gedanken im Zaume halten, oder es ist um uns geschehen.« »Du meinst, sie würden uns - töten?« stammelte ich, und ein eisiger Schrecken überkam mich bei dieser Vorstellung. »Schlimmer – bei weitem schlimmer«, sagte er. »Der Tod, so wie wir ihn sehen, ist ja entweder die radikale Auslöschung unserer Sinne – oder aber die Befreiung von ihren Schranken. 447
Unser Eigentliches bleibt unberührt von ihm. Das Ich ändert sich nicht, bloß weil da der Körper nicht mehr existiert. Was uns aber jetzt droht, ist eine radikale Verkehrung, ein vollständiger Wandel, ein Verlust des gesamten Selbst in einem fürchterlichen, aberwitzigen Austausch - und der ist weit schlimmer als der Tod, und bei weitem nicht mit der bloßen Vernichtung vergleichbar. Der Zufall hat's gewollt, daß wir unser Lager an einem Orte aufgeschlagen haben, wo ihre Region an die unsre streift, wo der trennende Schleier schon ein wenig dünn geworden ist« - o namenloses Entsetzen!, er gebrauchte meine eigene Wendung, Silbe für Silbe meine eigenen Worte –, »so daß sie unserer Gegenwart in so naher Nachbarschaft gewahr geworden sind.« »Aber – wer ist gewahr geworden?« fragte ich. Und über solcher Frage vergaß ich des Geschwankes der Weiden inmitten so tödlicher Flaute, vergaß ich des summenden Klanges über uns, ja vergaß ich jedes Dinges in diesem Warten auf eine Antwort, der ich in größerer Angst entgegenbangte, als ich schlechterdings zu beschreiben vermag. Er aber dämpfte seine Stimme, beugte sich über das Feuer zu mir – beugte sich näher mit einem unwägbar veränderten, jenseitigen Ausdruck, der mich die Augen abwenden und den Blick zu Boden schlagen ließ. »Solange ich lebe«, sagte er, »war ich mir auf merkwürdig eindringliche Weise der Existenz einer andern Region bewußt einer Region, gar nicht weit von der unsern in gewissem Sinn, aber völlig anders geartet –, wo unaufhörlich gewaltige Dinge im Gange sind, und unermeßliche, fürchterliche Wesen schattengleich vorüberhuschen, in aller Intensität auf unfaßliche Dinge bedacht, gegen die unser irdisches Streben, gegen die der Aufstieg und Fall der Völker, das Schicksal der Weltreiche, das Los von Kriegsheeren und von Kontinenten nichts sind als ein Staubkorn auf der Waagschale solcher 448
Vergleichung. Auf unfaßliche Dinge bedacht, sage ich, auf Dinge, welche einzig die Seele betreffen, mitten in sie hineinzielen, nicht nur auf ihre Regungen, auf ihre . . .« »Weißt du, ich würde vorschlagen . . .« unterbrach ich ihn, bestrebt, seinen Worten Einhalt zu gebieten, da ich mehr und mehr das Gefühl hatte, einem Irrsinnigen gegenüberzusitzen. Er aber schwemmte solchen Einwand hinweg mit einem Rede strom, der nicht mehr aufzuhalten war - der einfach seinen Lauf nehmen mußte. »Du hast geglaubt«, sagte er, »es sei der Geist der Elemente. Und ich - vielleicht, daß ich gedacht habe, es könnten die alten Gottheiten sein. Aber jetzt sage ich dir - es ist keines von beiden. Denn das wären erklärbare Wesen, weil sie Beziehungen unterhalten zu uns Menschen, weil sie abhängig sind von unsrer Verehrung und unsern Opfergaben! Die Wesen hingegen, die uns jetzt umgeben, haben mit allem, was Mensch heißt, überhaupt nichts zu tun, und es ist der pure Zufall, daß ihre Sphäre gerade an diesem Ort an die unsere streift.« Schon die bloße Konzeption, die er mit so überzeugenden Worten inmitten all des finsteren Schweigens dieser weltabge schiedenen Insel vor mich hinstellte, machte mich über und über erschaudern. Ich vermochte nicht, meine innere Bewegung zu bemeistern. »Und was denkst du, daß wir tun sollten?« versuchte ich einzuwenden. »Vielleicht, daß eine andere Opferhandlung, ein anderes Opfer sie ablenken könnte und es uns auf diese Weise ermöglichte, von hier zu entkommen«, fuhr er fort. »Ganz so, wie die Wölfe über dem Verschlingen der Hunde alle Verfolgung vergessen und so dem Schlitten die Flucht ermöglichen. Aber ich sehe kein anderes Opfer.« Ich starrte ihn an, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Glosen in seinen Augen war gar zu beängstigend. Indes, 449
schon sprach er weiter. »Es sind die Weiden. Nichts als die Weiden. Sie sind die Maske, unter der die andern sich verstecken, die andern, welche beständig nach uns tasten. Und wir, sobald wir unserm Denken gestatten, seine Angst preiszugeben, sind verloren – rettungslos verloren.« Er blickte mich mit solcher Ruhe und Entschlossenheit an, mit solchem Ernst, daß alle Zweifel, die ich bezüglich seiner geistigen Gesundheit gehegt hatte, von mir abfielen. Er war so normal, wie nur je ein Mensch normal gewesen ist. »Wenn es uns gelingt, diese Nacht zu überstehen«, fügte er hinzu, »dann mag es sein, daß wir bei Tageslicht unbemerkt von hier fortkommen - oder, besser gesagt, unentdeckt.« »Und du glaubst wirklich, daß irgendein anderes Opfer uns . . .« Doch mit meiner Frage senkte jener gongartig summende Klang sich ganz nahe auf uns herab. Was mich aber in Wahrheit verstummen machte, war der zu Tode erschrockene Ausdruck meines Gegenübers. »Still!« raunte er und hob die Hand. »Sprich nicht von ihnen, wenn du nicht unbedingt mußt! Nenn sie nicht mit Namen! Namen nennen heißt sich entblößen, sich deklarieren - und damit gibst du ihnen den Schlüssel in die Hand, dessen sie bedürfen. Unsre einzige Hoffnung besteht aber darin, daß wir ihrer nicht achten, auf daß auch sie unsrer nicht achten mögen.« »Auch in Gedanken?« fragte ich ihn, der zutiefst aufgewühlt schien. »Besonders in Gedanken! Unsere Gedanken werfen Wellen kreise in jener andern Welt. Und so müssen wir um jeden Preis versuchen, uns alles aus dem Sinn zu schlagen, was mit ihr zu tun hat – wir müssen jene Wesen aus unserem Geist verbannen.« Ich scharrte die Glutreste zusammen, damit nicht die 450
Finsternis alle Macht über uns gewänne. Niemals zuvor hatte ich mich stärker nach dem Licht der Sonne gesehnt denn jetzt, in der schrecklichen Düsternis dieser Sommernacht. »Warst du gestern die ganze Nacht lang wach?« fragte er unvermittelt. »Kurz nach Einbruch der Dämmerung hab' ich ein wenig geschlafen, aber schlecht«, entgegnete ich ausweichend, indem ich seinen Anweisungen, deren Richtigkeit ich instinktiv erkannt hatte, Rechnung zu tragen versuchte. »Du weißt ja, dieser Wind »Schon gut. Aber die Geräusche kamen nicht alle vom Wind.« »Du hast sie gehört?« »Ich habe die ständig sich vermehrenden, zahllosen Schritte gehört«, sagte er und fügte zögernd hinzu: »und dann jenen anderen Laut. . .« »Den über dem Zelt? Das, was sich dann mit solcher Gewalt auf uns gelegt hat - jenes fürchterliche, gigantische Etwas?« Er nickte voll düsterer Zustimmung. »Es war, als müßte man von innen her ersticken«, sagte ich. »Ja, ungefähr. Für mich war's, als hätte das Gewicht der Luft sich verändert – hätte aufs ungeheuerlichste zugenommen, so daß man jeden Moment gewärtig sein mußte, zerquetscht zu werden.« »Und das hier«, fuhr ich fort, fest entschlossen, mir auch noch das Letzte von der Seele zu reden, und wies nach oben, wo ohne Unterlaß jener gongähnliche Klang ertönte, steigend und fallend wie die Stimme des Winds »und das, wie erklärst du dir das?« »Das ist ihre Stimme«, raunte er feierlich. »Es ist der Klang ihrer Welt, das tönende Summen ihres Bereichs. Die trennende Wand ist an diesem Ort so dünn, daß es auch an unsre Ohren dringt, auf irgendwelche Weise. Aber wenn du genau hinhörst, wirst du entdecken, daß dieser Laut nicht so sehr von oben 451
kommt - daß er vielmehr rund um uns ist. Er kommt aus den Weiden. Die Weiden selbst sind es, die so unablässig vor sich hinsummen, denn hier sind sie zum Symbol jener Mächte geworden, welche sich gegen uns gewandt haben.« Mir war nicht ganz klar, was er damit meinte, aber dennoch stand außer Zweifel, daß jeder von uns das gleiche dachte. Ich erkannte es ebensosehr wie er, nur konnte ich's nicht so gut auseinanderhalten. Schon war ich drauf und dran, ihm auch noch von jener Erscheinung der emporschwebenden Gestalten und des aus eigenem Antrieb schwankenden Weidengesträuchs zu erzählen, als er sich plötzlich noch näher über das Feuer zu mir herüberbeugte und in noch ernsterem Tone auf mich einzu flüstern begann. Sein Ernst und seine Entschlossenheit, dies augenscheinliche Meistern der Situation, erstaunte mich über die Maßen. Und diesen Mann hatte ich durch all die Jahre für phantasielos, für stumpf gehalten! »Jetzt hör mir gut zu«, sagte er. »Das einzige, was wir tun können, ist, weiterzumachen, als ob gar nichts passiert wäre: unsern alltäglichen Gewohnheiten nachzugehen, nachts ins Zelt zu kriechen, und so weiter. Mit einem Wort, so zu tun, als wär' überhaupt nichts geschehen, als hätten wir gar nichts bemerkt. Es ist eine rein geistige Frage, und je weniger wir an jene Wesen denken, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, ihnen doch noch zu entkommen. Und vor allem eines: denk nicht! Denn was du denkst, das geschieht auch.« »Nun gut«, brachte ich eben noch hervor. Seine Worte und das Befremdliche der Situation hatten mir einfach die Sprache geraubt. »Nun gut. Ich will's versuchen. Aber sag mir nur noch eins: was hältst du von jenen Stapfen im Sand rings um uns, von jenen trichterförmigen Vertiefungen?« »Hör auf!« rief er in höchster Erregung und uneingedenk seines bisherigen Flüstertons. »Ich wag' es nicht, ich wag's einfach nicht, es in Worte zu fassen! Mir soll es nur recht sein, wenn du selbst es noch nicht erkannt hast! So denk erst gar 452
nicht darüber nach! Mir haben sie's schon ins Hirn gegraben tu du dein Äußerstes, daß es ihnen nicht auch bei dir gelinge!« Seine Stimme war wieder zu einem Flüstern herabgesunken. Ich aber drang nicht weiter in ihn. Mein Ersetzen war schon groß genug – seine Steigerung hätte ich nicht mehr ertragen. So erstarb unser Gespräch, und wir rauchten wortlos vor uns hin. Dann trat etwas ein – etwas, das an sich ganz bedeutungslos war, wie das in Momenten äußerster Nervenanspannung bisweilen der Fall ist. Und dieser kleine Vorfall zeigte mir unsere Lage für eine kurze Zeitspanne in gänzlich anderem Licht. Rein zufällig hatte ich auf die Strandschuhe an meinen Füßen geblickt – wir benutzten sie meist nur im Boot –, und da rief der Anblick ihrer offenen Kappen mir plötzlich das Schuhgeschäft in London ins Gedächtnis, ließ mich an den geplagten Verkäufer denken und an die Schwierigkeiten des Anprobierens, kurz an all das Drum und Dran solchen zwar langweiligen, aber doch zweckmäßigen Vorgangs. Und diese Erinnerung hatte eine ganze Reihe weiterer zur Folge, die mir insgesamt das Bild jener skeptischen Welt heraufriefen, in der ich daheim zu leben gewohnt war. Unversehens dachte ich wieder an Roastbeef und Ale, an Automobildroschken und Polizisten, an Blaskapellen und an Dutzende anderer Dinge, welche die Seele in den Bann des Alltäglichen und Nützlichen schlagen. Die Wirkung dieses Sicherinnerns war so unmittelbar, daß sie mich in Staunen versetzte. Psychologisch betrachtet, war's wohl ganz einfach eine heftige Spontan reaktion auf all die Angespanntheit unsres Aufenthalts inmitten von Dingen, die jedem normalen Bewußtsein als unmöglich und unglaublich erscheinen mußten. Indes, was auch immer der Grund gewesen sein mag, der Zauberbann war mit einem Mal von meinem Herzen genommen, und ich fühlte mich minutenlang frei von aller Angst und Bedrückung. Plötzlich konnte ich meinem Freund wieder in die Augen blicken. »Du verdammter alter Heide!« schrie ich und lachte ihm 453
schallend ins Gesicht. »Du unverbesserlicher Phantast! Du abergläubischer Götzenanbeter! Du . . .« Doch mitten im Satz verschlug's mir die Rede, so sehr war das alte Entsetzen aufs neue über mich hergefallen. Ertappt wie bei einem Sakrileg, war ich darauf bedacht, meine Stimme zu dämpfen. Auch der Schwede mußte ihn gehört haben: den sonderbaren Schrei in der Dunkelheit über uns - und diesen plötzlichen Ruck in der Luft, als hätte mit einem Mal sich etwas ganz nahe an uns herangeschoben! Er wurde aschfahl unter all seiner Bräune, sprang kerzengerade vom Feuer auf und starrte mich an, so steif wie ein Stock. »Jetzt ist es genug«, sagte er in einer Art ratloser Gehetztheit. »Jetzt müssen wir fort von hier! Keine Sekunde länger dürfen wir bleiben. Wir müssen unverzüglich das Lager abbrechen und zusehen, daß der Fluß uns möglichst weit von hier fortträgt!« Was er da redete, war ziemlich verrückt und, wie ich sah, vom erbärmlichsten Schrecken diktiert - von jenem Entsetzen, dem er so lange widerstanden und das ihn nun doch überwältigt hatte. »Jetzt? Bei Nacht und Nebel?« rief ich aus, selber noch schlotternd vor Angst nach meinem hysterischen Ausbruch, aber dennoch unsere Lage klarer überblickend als er. »Das ist der nackte Wahnsinn! Der Strom führt Hochwasser, und wir haben nur das eine Paddel! Außerdem kämen wir nur noch tiefer in ihren Machtbereich hinein! Auf nahezu hundert Kilometer haben wir nichts vor uns als Weiden, Weiden und wieder Weiden!« Er setzte sich hin, dem Zusammenbruch nahe. Zufolge einer kaleidoskopartigen Verwandlung, wie die launenhafte Natur sie bisweilen liebt, waren unsere Positionen plötzlich vertauscht, so daß die Kontrolle nun auf mich überging. Jetzt war er derjenige, dessen Geist zu unterliegen begann. 454
»Was hat dich nur dazu gebracht, so etwas zu tun?« flüsterte er, und nacktes Entsetzen sprach ihm aus der Stimme wie aus dem Blick. Ich ging um das Feuer herum, ergriff des Verstörten Hände, ließ mich auf die Knie nieder und blickte ihm in die angstgeweiteten Augen. »Jetzt schüren wir das Feuer ein letztes Mal auf«, sagte ich mit aller Bestimmtheit, »und dann gehen wir schlafen! Bei Sonnenaufgang sind wir schon mit Volldampf nach Komorn unterwegs. Und nun reiß dich zusammen, und halt dich an das, was du selbst mir geraten hast: Nicht an die Angst denken!« Er sagte nichts mehr und war offensichtlich bemüht, mir zu gehorchen. Irgendwie verschaffte es jedem von uns Erleichte rung, jetzt aufzustehen und in aller Finsternis auf Holzsuche zu gehen. Wir hielten uns nahe aneinander, blieben beständig in Tuchfühlung und tasteten uns gemeinsam durchs Buschwerk und am Ufer entlang. Aber das Summen über uns ließ nicht nach, sondern schien mit wachsender Entfernung vom Feuer nur noch stärker zu werden. Zähneklappernd machten wir uns an die Arbeit. Wir wühlten uns eben durch eine besonders dichte Weiden gruppe, in deren Gezweig sich ganz oben einiges Treibholz von früheren Überschwemmungen verfangen hatte, als ich mich plötzlich von einem Griff umklammert fühlte, der mich beinahe zu Fall gebracht hätte. Es war der Schwede. Er hatte sich haltsuchend an mich geklammert und atmete keuchend und stoßweise. »Alle guten Geister, so schau doch!« flüsterte er, und zum erstenmal im Leben vernahm ich eine vor Entsetzen weinende Stimme. Der Schwede zeigte auf das kaum zwanzig Schritt entfernte Feuer. Ich folgte der Richtung seiner Hand – und, ich schwor's, mein Herzschlag setzte aus. Dort drüben, zwischen uns und dem schwachen Glutschein, 455
bewegte sich etwas! Ich vermochte nur undeutlich zu sehen, wie durch den Schleiervorhang, den man auf dem Theater verwendet, so sehr schien alles in Nebel gehüllt. Was sich dort regte, war aber weder eine menschliche Gestalt, noch schien es ein Tier zu sein. Auf mich machte es den befremdenden Eindruck einer ganzen Gruppe von Tieren, so als bewegten sich zwei, drei dicht aneinandergedrängte Pferde voran. Auch der Schwede sah es ähnlich, doch drückte er's anders aus: für ihn hatte jenes Schattenwesen die Form und Größe einer Gruppe von Weidenbüschen mit abgerundeten Wipfeln, die über und über in Bewegung begriffen waren. - »Qualmend und quellend wie Rauch«, sagte er später. »Ich hab' gesehn, wie es sich durchs Gesträuch herabgesenkt hat!« schluchzte er an meinem Ohr. »So schau doch - mein Gott! - Es kommt auf uns zu! Oh, oh!« - er gab einen pfeifenden Angstlaut von sich – »Sie haben uns gefunden!« Ich warf einen entsetzten Blick hinüber und konnte eben noch gewahren, wie jenes schattengleiche Etwas sich durchs Gesträuch auf uns zu bewegte. Dann brach ich zusammen und stürzte krachend rücklings in die Zweige. Die konnten mein Gewicht nicht halten, und da sich auch noch der Schwede an mich gehängt hatte, stürzten wir in gemeinsamer Umklamme rung auf den sandigen Grund. Ich wußte kaum, wie mir geschah und was da um uns vorging, sondern ward lediglich eines alles einhüllenden, eisigen Angstgefühls inne, das mir die Nerven aus dem Fleisch reißen wollte, indem es nach allen Richtungen daran zerrte und zog, bis ich nur mehr ein zitterndes Bündel Angst war. Die Lider hielt ich krampfhaft zusammengepreßt, schon saß mir das Ersticken in der Kehle, schon gab das Gefühl, daß mein Bewußtsein sich ausdehne, ja hinaufwüchse ins Leere, einer neuen Empfindung Raum, darin ich fiel und fiel und mich verlor in eine alles auslöschende Nähe des Todes. 456
Ein stechender Schmerz durchzuckte mich: es war der Schwede, der sich in unserm gemeinsamen Sturz auf abscheu liche Weise in mich verkrampft hatte. Doch gerade dieser Schmerz war meine Rettung: er sei es gewesen - so beteuerte mein Gefährte später -, der mich jene Wesen vergessen, der mich an anderes habe denken lassen, genau in dem Augenblick, da sie im Begriff gestanden, meiner habhaft zu werden. Jener Schmerz habe genau im Moment der Entdeckung meinen Geist vor ihnen verhüllt, gerade noch rechtzeitig für mich, um ihrem fürchterlichen Zugriff zu entrinnen. Ihm selbst, so sagte er, seien in jenem Moment die Sinne geschwunden, und auf diese Weise sei auch er den Verfolgern entgangen. Indes, fürs erste wußte ich nur, daß ich einige Zeit danach, wie lange oder wie kurz vermag ich nicht zu sagen, mich in verzweifelter Anstrengung aus der schlüpfrigen Umklamm erung der Weidenzweige zu befreien suchte und dabei gewahrte, wie mein vor mir stehender Gefährte mir die Hand zur Hilfe entgegenstreckte. Benommen starrte ich ihn an, den Arm reibend, den er mir beinahe ausgerenkt hatte. Noch immer brachte ich kein Wort über die Lippen. »Ich war vorübergehend bewußtlos«, hörte ich ihn sagen. »Das hat mich gerettet, weil es mich davor bewahrt hat, weiter an sie zu denken.« »Und vorher hast du mir fast den Arm gebrochen«, versetzte ich. Mehr als diesen einen Satz vermochte ich im Moment nicht zu sagen. Mein Geist war so taub wie mein Körper. »Das hat dich gerettet!« gab er zur Antwort. »Irgendwie ist's uns gelungen, sie gemeinsam in eine falsche Richtung zu locken. Das Summen hat aufgehört. Es ist weg – zumindest im Augenblick!« Aufs neue überschwemmte mich eine Welle hysterischen Lachens, und diesmal stimmte auch mein Freund mit ein: es war ein zwerchfellerschütterndes, gesundes Gelächter, das eine 457
ungeheure Erleichterung mit sich brachte. Danach machten wir, daß wir zurück ans Feuer kamen, und warfen alles mitgebrachte Holz hinein, so daß die Flammen hoch emporloderten. Im Scheine solchen Brandes gewahrten wir, daß das Zelt zusammengestürzt war und als zerknülltes Bündel auf dem Boden lag. Wir richteten es wieder auf, strauchelten aber im Verlauf dieser Arbeit zu mehreren Malen, weil unsre Füße immer wieder in dem sandigen Boden einbrachen. »Das waren diese Löcher«, rief der Schwede, sobald unser Zelt wieder stand und der Feuerschein den Boden auf einige Meter im Umkreis erhellte. »Und schau nur, wie groß sie sind!« Rings um das Zelt und unsere Feuerstelle, überall dort, wo wir die schleichenden Schatten erspäht hatten, befanden sich nun diese tiefen, schüsselförmigen Höhlungen im Sandgrund. Sie glichen aufs Haar jenen andern, die wir allerorten auf der Insel gefunden hatten, nur waren sie viel größer und tiefer, wunderbar deutlich ausgeprägt und in manchen Fällen groß genug, mein ganzes Bein in sich aufzunehmen. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir wußten beide, daß es für uns am sichersten war, schlafen zu gehen, und das taten wir denn auch, ohne zu zögern. Vorher aber löschten wir noch das Feuer mit Sand und nahmen den Proviantsack wie auch das Paddel mit uns ins Zelt. Auch unser Boot hatten wir so nahe darangerückt, daß wir's mit den Füßen berühren konnten und noch seine geringste Bewegung uns aus dem Schlaf schrecken mußte. Um für alle Fälle gerüstet zu sein, blieben wir in den Kleidern, so daß wir jederzeit ohne Verzögerung aufbrechen konnten. 5 Ich war fest entschlossen, die ganze Nacht hindurch wachzulie 458
gen und auf jedes Geräusch zu achten, doch meine nervliche Erschöpfung und körperliche Müdigkeit wollten es anders: so überkam mich denn alsbald der Schlaf und breitete den willkommenen Mantel des Vergessens über mich. Daß mein Gefährte früher als ich eingeschlafen war, beschleunigte diesen Vorgang nur. Zunächst war mein Freund freilich noch unruhig gewesen, hatte sich immer wieder aufgesetzt und mich gefragt, ob nicht auch ich >dies oder jenes gehört< hätte. Beständig hatte er sich auf seiner Korkmatratze herumgewälzt und behauptet, das Zelt bewege sich, und der Fluß sei im Begriff, die Insel zu überfluten. Doch sooft ich auch nach draußen gegangen war, um nachzusehen, stets hatte ich ihn beschwichtigen können mit der Versicherung, alles sei in bester Ordnung. So war er nach und nach ruhiger geworden und nur mehr still dagelegen. Nach einer weiteren Weile waren seine Atemzüge gleichmäßig geworden, und jetzt hörte ich ihn ganz unverkennbar schnarchen. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, daß Schnarchen mir willkommen, ja, daß es eine Beruhigung für mich war. Dieser Gedanke, ich weiß es noch, war der letzte, bevor auch ich einschlummerte. Ich erwachte aus Atemnot: die Decke lag mir überm Gesicht. Aber nicht nur die Decke – noch etwas zweites hatte sich auf mich gelegt und drückte mich zu Boden. Zunächst dachte ich, mein Gefährte sei im Schlaf von seiner Matratze zu mir herübergerollt. So rief ich ihn an und setzte mich auf - wußte aber im Moment meines Aufsetzens, daß das Zelt umstellt war! Wieder war das Geräusch jener unzähligen, leisen Schritte von draußen zu vernehmen und füllte die Nacht aufs neue mit Entsetzen. Nochmals rief ich den Schläfer an, jetzt schon lauter. Aber keine Antwort erfolgte - nicht einmal sein Schnarchen war zu hören. Auch bemerkte ich jetzt, daß die Zeltklappe herunterge lassen war. Welch unverzeihliche Nachlässigkeit! Sogleich 459
kroch ich ins Dunkel hinaus, um sie wieder festzuhaken. Dabei bemerkte ich, daß der Schwede nicht mehr da war. Er hatte sich in aller Heimlichkeit davongemacht! Wie von Sinnen stürzte ich aus dem Zelt, von einer fürchterlichen Unruhe erfaßt. Doch kaum im Freien, fand ich mich auch schon eingetaucht in eine Art Wirbelstrom aus raunendem Summen. Von allen Seiten rückte es mir auf den Leib, aus sämtlichen Himmelsrichtungen gleichzeitig schien es zu kommen. Es war das nämliche Summen wie früher – doch jetzt bis zum Aberwitz gesteigert! Rings um mich erdröhnte die Luft, als umkreiste mich ein Schwärm riesenhafter, unsichtbarer Bienen! Sogar die Atemluft schien immer zäher, dicker zu werden von diesem Klang, und ich spürte, daß meine Lungen sie kaum mehr bewältigen konnten. Aber ich wußte den Freund in Gefahr, und so gab's kein Zögern mehr für mich. Der Tag dämmerte schon herauf, und ein fahles, weißliches Licht vom fernen, klaren Himmelsrand begann die Wolken zu erhellen. Kein Hauch störte die Stille. Ich konnte gerade noch das Buschwerk und den Fluß am anderen Ende der Insel erken nen sowie das bleiche, sandige Ufer. In meiner Aufregung raste ich wie ein Irrer von der einen Seite zur andern, rief den Schweden beim Namen und schrie, so laut ich nur konnte, hinaus, was mir gerade in den Sinn kam. Aber die Weiden dämpften, das Summen erstickte mir die Stimme, so daß mein Geschrei nur wenige Schritte weit zu hören war. Ich stürzte mich ins Gesträuch, fiel der Länge nach hin, stolperte weiter über die Wurzeln, zerkratzte mir das Gesicht - aber ich bahnte mir einen Weg durch das widerspenstige Dickicht! Völlig unerwartet fand ich mich auf der Landzunge und er blickte vor mir eine Gestalt, die sich schattenhaft gegen das Wasser und den Himmel abhob. Es war der Gesuchte! Schon stand er mit dem einen Fuß im Strom! In der nächsten Sekunde würde er sich in die Fluten stürzen! 460
Ich warf mich auf ihn, schlug ihm die Arme um den Leib und zerrte ihn mit aller Kraft zurück aufs trockene Land. Er wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung, und das verdammte Summen schien jetzt schon aus ihm selbst hervorzubrechen, untermischt von den ungereimtesten, zornigsten Ausrufen, die ich nur zum Teil verstand, bloß als Fragmente, wie >eingehen zu ihnen< und >den Weg des Wassers und des Windes gehen« und weiß der Teufel, was sonst noch. Später konnte ich mich ihrer gar nicht mehr entsinnen, obschon sie mich jetzt bis zur Übelkeit mit Aufregung und Entsetzen erfüllten. Aber am Ende hatte ich den Freund doch wieder in der relativen Sicherheit des Zelts, warf ihn atemlos und fluchend auf seine Matratze und hielt ihn am Boden fest, bis der Anfall vorbei war. Ich glaube, das Merkwürdigste an dem ganzen Geschehen war die Plötzlichkeit, mit der alles vorüberging, die Abruptheit, mit der mein Gefährte wieder zu Sinnen kam, ganz in Entspre chung zu dem ebenso abrupten Verstummen der Schritte und des Gesummes rings um das Zelt. Er schlug die Lider auf, wandte mir sein zu Tode erschöpftes Gesicht zu, so daß durch den Zelteingang das fahle Dämmerlicht darauf fiel, und sagte mit einer Stimme, die aus einem verängstigten Kind zu kommen schien: »Du hast mir das Leben gerettet – alter Freund – ich verdank' dir mein Leben! Aber nun ist alles vorbei. Sie haben ein anderes Opfer gefunden!« Dann sank er auf sein Lager zurück und schlief mir buchstäblich unter den Händen ein. Die Sinne hatten ihn verlassen, und gleich darauf begann er so gesund zu schnarchen, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, ja, als hätte er niemals versucht, durch einen Sprung in den Strom sein eigenes Leben zum Opfer zu bringen. Und als ihn drei Stunden später das Licht der Sonne weckte – es waren Stunden ununterbrochenen Wachens für mich gewesen -, mußte ich 461
erkennen, daß er gar nicht mehr wußte, was er da zu tun versucht hatte. So schien es mir weiser, mit keinem Wort daran zu rühren und keinerlei verfängliche Fragen mehr zu stellen. Wie ich schon gesagt habe, war er ganz von allein erwacht, ohne jede Einwirkung von außen. Die Sonne stand schon hoch im windstillen, heißen Himmel, und der Schwede erhob sich sofort, um Feuer zu machen und alles fürs Frühstück vorzubereiten. Mit einiger Besorgnis folgte ich ihm zum morgendlichen Bad, aber er versuchte gar nicht erst, ins Wasser zu springen, sondern tauchte bloß den Kopf in die Fluten, wobei er deren außergewöhnliche Kälte erwähnte. »Na also, der Strom fällt jetzt wieder«, sagte er noch. »Dem Himmel sei Dank!« »Auch das Summen hat aufgehört«, bemerkte ich. Er streifte mich mit einem gelassenen Blick, der ganz wie sonst war.' Offenbar erinnerte er sich jeder Einzelheit – bis auf seinen Selbstmordversuch. »Alles hat aufgehört«, sagte er, »und zwar, weil . . .« Er verstummte. Ich aber spürte, daß er mit den letzten Worten auf jene Bemerkung kurz vor seiner Ohnmacht anspielte, und wollte wissen, was er damit gemeint hatte. »Du meinst wohl, >sie haben ein anderes Opfer gefunden« fragte ich mit erzwungenem Lachen. »So ist es«, versetzte er. »So und nicht anders! Ich spür' es so deutlich wie – wie – Mit einem Wort, ich fühle mich wieder völlig in Sicherheit.« Mit neu erwachter Wißbegier musterte er die Umgebung. Die Sonne brütete über dem sandigen Strand, und es herrschte absolute Windstille. Auch die Weiden standen regungslos. Langsam erhob sich der Schwede. »Komm«, sagte er, »ich glaube, wir brauchen uns gar nicht viel umzusehen, um ihn zu finden.« Er begann zu laufen, und ich folgte ihm. Es schien ihn nur das Ufer zu interessieren, denn er stocherte mit einem Ast in all 462
den sandigen Buchten, Unterwaschungen und vom Hochwasser verbliebenen Tümpeln herum. Die ganze Zeit hielt ich mich hinter ihm. »Aha!« rief er mit einem Mal. »Da haben wir's!« Irgend etwas in seiner Stimme erweckte in mir aufs neue das Entsetzen der vergangenen zwei Nächte. Eilends trat ich neben ihn. Er wies mit dem Ast auf einen großen, schwärzlichen Ge genstand, der halb im Wasser, halb auf dem sandigen Ufer lag. Das Ding schien sich unter Wasser im Geschlinge der Wurzeln verfangen zu haben, so daß die Strömung es nicht mit sich hatte fortreißen können. Vor ein paar Stunden mußte diese Stelle noch zur Gänze überflutet gewesen sein. »Schau her«, sagte er ruhig, »hier hast du das Opfer, dem wir unsere Rettung verdanken!« Ich spähte dem Freund über die Schulter und sah, daß er mit seinem improvisierten Stock nach dem Körper eines Mannes stieß. Er wandte den Toten um. Es war die Leiche eines Bauern. Sie lag mit dem Gesicht im Sand. Allem Anschein nach war der Mann erst vor wenigen Stunden ertrunken. Er mußte um die Morgendämmerung hier angetrieben sein - also genau zu der Zeit, als der Anfall abgeklungen war. »Eigentlich müßten wir ihn anständig begraben, meinst du nicht auch?« »Ich denke, ja«, erwiderte ich. Ein Schauder überlief mich. Irgendwie schien die Kälte des Ertrunkenen in mich herüberzu kriechen. Der Schwede warf mir einen prüfenden Blick zu. Über sein Gesicht huschte ein undeutbarer Ausdruck, und gleich darauf eilte er zum Wasser hinunter. Ich folgte ihm, ließ mir aber mehr Zeit als er. Wie ich sah, hatte die Strömung dem Ertrunkenen zum Teil schon die Kleider vom Körper gespült, so daß Hals und Brust entblößt zutage lagen. Auf halbem Weg zum Wasser hielt mein Gefährte plötzlich inne und hob warnend die Hand. Doch ob ich nun ausgeglitten 463
war oder schon zuviel Schwung hatte, jedenfalls rannte ich in ihn hinein, so daß er sich nur mehr durch einen Sprung vor dem Sturz ins Wasser retten konnte. Ineinander verkrallt, taumelten wir auf das trockene Ufer, und lediglich unsre Füße tauchten noch ins Wasser. Indes, ehe wir's hätten verhindern können, waren wir ziemlich unsanft gegen den Körper des Toten gestoßen. Der Schwede schrie auf, und auch ich sprang zurück, als war' ich auf ein giftiges Reptil getreten. In dem Augenblick nämlich, da wir den Leichnam berührten, hob sich ein gewaltiger, summender Laut von ihm – ein Ge summe von vielen Stimmen, das vor uns auffuhr in den Himmel wie der schwirrende Flügelschlag unzähliger Wesen und, schwächer und schwächer werdend, in den Lüften verklang, ersterbend im Schweigen der Ferne. Es war, als hätten wir irgendwelche lebende, wenngleich unsichtbare Wesen in ihrer Arbeit gestört. Mein Gefährte klammerte sich an mich, und ich glaube, daß auch ich ihn umklammert hielt. Indes, noch ehe wir uns von dem unerwarteten Schrecken erholt hatten, sahen wir, daß die Strömung mit einem plötzlichen Schwall den Leichnam bewegte, so daß er von dem Griff der Weidenwurzeln freikam. Unmittelbar danach drehte es ihn zur Gänze herum und sein erloschenes Gesicht starrte blicklos in den Himmel. Schon im nächsten Augenblick mußten die Wellen den Körper erfassen und mit sich davontragen. Der Schwede setzte zum Sprung an, um den Toten zu retten, stieß dabei etwas Unverständliches von einem >ehrlichen Be gräbnis< hervor - und ließ sich unvermittelt auf die Knie fallen, die Augen mit den Händen bedeckend. Sofort stand ich neben ihm. Ich sah, was er gesehen hatte. In dem Augenblick nämlich, da die Strömung den Körper herumrollte, wies er uns das Gesicht und die entblößte Brust. 464
Aber die Haut und das Fleisch schienen über und über zernagt, und seine winzigen, wunderbar regelmäßigen Wunden wiesen genau die Form jener Sandmulden auf, die wir über die ganze Insel verstreut gefunden hatten. »Ihr Zeichen!« murmelte mein Gefährte tonlos. »Ihr fürchterliches Zeichen!« Und als ich den Blick von seinem geisterbleichen Antlitz wandte und wieder auf den Fluß hinaussah, hatte die Strömung schon ihr Werk getan. Der Körper des Toten war wegge schwemmt worden und trieb nun schon draußen inmitten des Stroms, unserem Zugriff entzogen, ja fast schon den Blicken entrückt, weitergerollt von den rollenden Wogen, weiter und weiter stromab – und ward unsern Augen aufs neue zum jagen den Otter.
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Lord Dunsany Der Gibbelin-Hort Die Gibbelin sind, wie männiglich weiß, überaus wählerisch und mögen nichts andres goutieren denn Menschenfleisch. Ihr unheiliger Turm ist mit der Terra Cognita, mit dem uns bekannten Erdkreis, durch eine Brücke verbunden, und die in dem Turme gehorteten Schätze sind von so unermeßlichem Wert, daß sie sogar der menschlichen Habgier zu groß sind. Es gibt dort ein eignes Kellergewölbe nur für Saphire, und eine Grube, die ist bis zum Rande mit Gold angefüllt, und die Gibbelin graben es aus, wenn sie seiner bedürfen. Doch der einzige Zweck dieses lächerlich großen Reichtums ist das Herbeilocken von Vorrat für ihre Speisekammer. Und es ist berichtet von Zeiten des Hungers, da haben sie gar die Rubine verstreut, haben gepflastert mit ihnen den Pfad zu den Städten der Menschen – und alsbald war's wieder aufs beste bestellt um ihre Speisekammer. Ihr Turm erhebt sich am Gegenufer des Stroms, den auch schon Homer gekannt hat: Thalatta, das Meer, so nannte er ihn, denn er umgrenzt ja den Erdkreis. Und an seiner schmälsten Stelle, wo er durchwatbar ist, haben der Gibbelin schlemmerische Altvordern den Turm errichtet, denn sie erlabten sich gern an dem Anblick der Diebe, so da gerudert kamen zu den einladenden Stufen. Und der Boden enthielt einen Nährstoff, den gibt es nicht in gewöhnlicher Erde, und ihm verdankten die Bäume an beiden Ufern ihre gewaltige Größe. Dort also hausten die Gibbelin und nährten sich auf so schimpfliche Weise. Alderic, Ritter vom Orden der Stadt und des Sturms, erblich bestallter Bewahrer der Seelenruhe des Königs, ein Mann, der nicht unbekannt ist den Schöpfern der Mythen, hatte so lange gegiert nach dem Gibbelin-Hort, daß er sich nachgerade als 466
dessen Besitzer empfand. Doch weh, daß gesagt sein muß über so gräßliches Wagstück, dessen der strahlende Held sich er kühnte in dunkelster Nacht – weh, daß gesagt sein muß, ihn habe die nackteste Habsucht getrieben! Und Habsucht, das war's ja, worauf die Gibbelin bauten, damit's immer wohlbe stellt sei um ihre Speisekammer! In jedem hundertsten Jahr sandten sie Kundschafter aus nach den Städten der Menschen, sich heimlich zu überzeugen, wie's um die Habsucht bestellt sei: und jedesmal kehrten die Späher zurück in den Turm und sagten, es steh' um die Habsucht aufs beste. Nun sollte man meinen, mit dem Hingang der Zeit und über dem gräßlichen Ende, welches die Schatzsucher fanden am Fuß jenes Turms, hätten die Räuber sich abschrecken lassen, und dergestalt sei der Gibbelin Tafel recht kärglich gedeckt gewesen. Doch die Gibbelin schmausten wie eh und je. Nicht in der Torheit und Vorwitzigkeit seiner Jugend brach Alderic auf nach dem Turm: nein, jahrelang dachte er nach und prüfte voll Sorgfalt, auf welche Weise denn alle die Männer ereilt worden waren von ihrem Los auf der Suche nach jenem Schatz, den unser Held für sein Eigentum hielt. Und entdeckte am Ende, daß sie sämtlich durchs Tor eindringen gewollt! Und er pflog Rates mit allen, die da Rat geben mochten in solch gefährlichem Handel. Und schrieb nieder das läßlichste Wort und bezahlte freudig dafür, und beschloß, keinem einzigen Ratschlag zu folgen: denn was war schon geworden aus ihnen, die solchen Ratschlag befolgt? Ein Exempel der Feinschmeckerkunst allenfalls, und nichts denn ein halb schon vergessener Nachgeschmack eines Gelages! Und wie viele waren nicht einmal das? Die folgenden Hülfsmittel riet man ihm an: ein Streitroß, einen Nachen, ein Kettenhemd, und zumindest drei Reisige zum Geleit. Und der eine Ratgeber meinte: »Stoßt ins Horn vor dem Tore des Turms«, und der andere riet: »Laßt die Finger davon!« 467
Alderic aber beschloß, keinesfalls hoch zu Roß am Gestade des Stroms zu erscheinen, mitnichten in einem Nachen über das Wasser zu setzen, sondern ganz ohne Geleit zum Turm vorzudringen, und zwar durch den Undurchdringlichen Wald. Wie, so werdet ihr fragen, durchdringt man den Undurchdringlichen Wald? Doch Alderics Plan war dieser: er wußte von einem Drachen, der, dem Flehen der Bauern zufolge, verdiente, erschlagen zu werden. Doch nicht so sehr um der Jungfrauen willen, derer er sich erlabte in all seiner Grausamkeit, sondern weil er die Ernte verdarb. Er verwüstete sämtliche Äcker und suchte ein ganzes Herzogtum heim. So faßte denn Alderic den Beschluß, sich gegen besagten Drachen zu wenden. Und stieg auf sein Streitroß und gab ihm die Sporen, bis er den Drachen gefunden. Und der Drache kroch auf ihn zu und blies ihm stechenden Rauch ins Gesicht! Aber Alderic schrie ihn an und rief: »Wann hätt' schon ein säuischer Drach' ein'n wohlädlen Ritter erschlahn!?« Und der Drache wußt' nur zu gut, daß dergleichen noch niemals geschehen, und so ließ er sein Drachenhaupt hängen und schwieg mäuschenstill, denn sein Bauch war ihm schwer vom Blut. »Wohlan«, so sprach unser Ritter, »wann du noch je ein's Jungfräuleins Blut schmecken magst, so mußt als ein treues Schlachtroß mir dienen! Wo nit, ich schwor's bey mei'm Spieß, solltu mir schmecken das Loos deiner Brut, so da gesungen ist von jedem fahrenden Sänger!« Und der greuliche Drache schwieg mucksmäuschenstill und stürzte sich nicht auf den Ritter und spie auch kein Feuer aus seinem gräßlichen Maul. Denn er wußte gar wohl um das Los all der Drachen, welche dergleichen getan, und tat nach den Worten des Ritters und schwur ihm, er werde getreulich als Schlachtroß ihm dienen. Und so flog denn danach unser Held auf einem gesattelten Drachen über den Undurchdringlichen Wald. Und flog höher denn die Wipfel der riesigen Bäume reichen, dieser Kinder des 468
Wunders. Doch vorher noch hatt' er den listigen Plan ausgeson nen, der auf noch Tieferes bedacht war als auf die Vermeidung dessen, was vordem die andern getan. Und er gebot einem Hufschmied, und der Hufschmied schmiedete ihm eine Spitz hacke. Nun herrschte da eitel Freude, als Alderics Vorhaben ruchbar ward, denn man kannt' ihn als einen besonnenen Kriegsmann, und männiglich wähnte, er werde den Schatz schon erbeuten und also viel Reichtum bringen über die Welt. Und man rieb sich die Hände in den Städten der Menschen und dachte an Alderics Freigebigkeit. Und sonderlich groß war die Freude in Alderics eigenem Land, und einzig die Wucherer freuten sich mäßig, denn sie mußten ja fürchten, alsbald sich bezahlt zu sehen, auf Heller und Pfennig. Und außerdem herrschte da Freude landauf und landab bei dem Gedanken, überm Verlust ihres Horts würden die Gibbelin wohl ihre Brücke zerschlagen, die sie so hoch überm Wasser erbaut, und die goldenen Ketten zerbrechen, mit denen sie hingen am Rande der Welt, so daß sie hinwegtreiben würden zusamt ihrem Turme, hinweg und zurück auf den Mond, von dem sie vor Zeiten gekommen und zu dem sie rechtens gehörten! Denn keiner mochte die Gibbelin leiden, doch jedermann neidete ihnen den Hort. So riefen sie allesamt »Heil!« und jubelten Alderic zu an dem Tag der Besteigung des Drachens, und meinten schon, ihn als Erobrer heimkehren zu sehn. Doch was sie viel mehr noch erfreute denn alle erwartete Guttat, das war, daß sein Gold er verstreute aus vollen Händen bevor er hinwegritt, sagend, er brauche es nimmer, sobald er den Hort erst geborgen, und sagend, er brauch' es erst recht nicht, sobald er als Fleischgericht dampfe auf der Gibbelin Mittagstisch. Als aber die Leute vernahmen, er hab' allen Rat verworfen, der ihm geworden, erklärten die einen ihn für verrückt, doch die andern sahn für noch größer ihn an als den weisesten 469
Ratgeber. Doch keiner vermocht' zu erkennen den Wert von Alderics Plan. Unser Held nämlich sagte sich so: schon seit Jahrhunderten hatten die Männer sich Rates erholt und die listigsten Wege probiert. Doch den Gibbelin war's zur Gewohnheit geworden, nach den Booten Ausschau zu halten, wann immer die Speise kammer geleert war, und die Rudrer am Tor zu erwarten gleichwie man die Schnepfe erwartet im Sumpf. Wie aber, so sagte sich Alderic, wenn die Schnepfe im höchsten Baumwipfel säße -würd' man daselbst sie vermuten? Mitnichten, soviel war gewiß! Und so nahm sich Alderic vor, den Strom zu durchschwimmen und nicht vorm Tor zu erscheinen, sondern sich seinen Weg durch die Mauer zu hau'n. Und überdies wollt' er hinabgraben bis unters Wasser des Stroms, welcher (wie es Homer schon gewußt) den gesamten Erdkreis umgrenzt. Und war erst die Mauer durchbrochen, so würden die Wasser einschießen in mächtigem Schwall und die Kellergewölbe ersäufen, von denen es hieß, sie reichten wohl zwanzig Fuß in die Erde. Und Alderic würd' nach Smaragden tauchen, wie der Perlentaucher nach Perlen. Und an jenem Tage, von dem ich berichte, ritt im Galopp er hinweg von seiner Behausung, verstreute, ganz wie ich gesagt, all sein Gold mit verschwendrischer Hand und durchritt viele Königreiche. Und der gesattelte Drache schnappte nach jedweder Jungfrau auf seinem Weg, doch könnt' sie nimmer verspeisen ob der Kandare im Maul, und erhielt nichts Bessres dafür denn die Sporen ins eigene Fleisch, dort wo es am weichsten war! Und also gelangten sie bis an die schwärzlichen Gründe des Undurchdringlichen Walds. Und der Drache hob sich in die Lüfte auf knatternden Schwingen, und manch ein Bauer am Rande der Welt erblickte ihn oben im Abend als dünnen und schwarzen und wabernden Strich, und nahm ihn für einen Strich Gänse, vermeinend, sie flögen landeinwärts vom Meer, und lief in sein Haus und rieb sich voll Freude die 470
Hände und sagte, der Winter steh' vor der Tür und bald schon werde es schnei'n! Und alsbald verging auch das Zwielicht, und als sie anlangten am Rande der Welt, ward es Nacht, und der Mond stieg herauf. Und das Meer, jener uralte Strom, ward nun enge und seicht und strömte lautlos vorüber. Und ob nun die Gibbelin tafelten beim Gelage oder wachsam waren am Tor – auch sie gaben keinerlei Laut. Und Alderic saß ab von dem Drachen und nahm auch sein Kettenhemd ab und rief seine Dame an und warf sich hinein in die Flut und teilte gewaltigen Armes den Strom. Und hatte die Spitzhacke mit, und auch noch sein Schwert, aus Furcht vor den Wächtern der Gibbelin. Und am anderen Ufer begann er sogleich mit der Arbeit, und sie ging ihm gar wohl von der Hand. Sein Kopf zeigte sich in den Fenstern des Turms, doch waren sie sämtlich erleuchtet, so daß kein Späher ihn sehn hätte können in all dieser Finsternis. Das Hacken der Spitzhacke aber ward aufgeschluckt von den mächtigen Mauern. Die ganze Nacht hindurch grub unser Held, kein störender Laut ertönte, und bei Heraufkunft des Morgens gab auch der letzte Mauerstein Raum und stürzte ins Innre des Turms. Und die Wasser des Stroms schossen hinab durch die Bresche. Und Alderic nahm einen Stein und trat auf die unterste Stufe und warf den Stein an das Tor. Und hörte das Echo verhallen dort drinnen, und eilte zurück und tauchte hinab in den Turm. Es mußte wohl der Smaragdkeller sein. Kein Licht gab's in dem Gewölbe, doch nachdem er getaucht war die zwanzig Fuß, verspürte er körnigen Grund: und es waren nichts denn Sma ragde in offenen Kisten und Truhen! Noch das Wasser, es schimmerte grün im fahlen Licht eines Mondstrahls, und leicht ließ der Beutel sich füllen, und wieder hinauf ging's ins Freie. Und da standen die Gibbelin, Fackeln in Händen, schon bis zum Gürtel im Wasser! Und ohne ein Wort, ja ohne auch nur zu grinsen, hingen sie unsern Helden fein säuberlich an einen Haken der äußeren Mauer - und so wird dies eine von jenen 471
Geschichten, die kein gutes Ende nehmen.
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Bernd Ulbrich Ein Gott hat geweint Zum ersten Mal steuerte der Knabe das Raumschiff selbst. Da der Parselit der Ansicht war, er wäre reif genug, hatten die Eltern nichts dagegen. Langsam sank die Kugel auf den Ikarus. Die Hände auf dem Pult, beobachtete der Sohn die fehlerfreie Arbeit des Steuerpar seliten. Das Vertrauen des Automaten bedeutete hohe Anerken nung. Nichts im Gesicht des Knaben regte sich. Er war etwa zwölf, von schmalgliedriger Statur wie seine El tern. Er kannte die Sage von Ikarus und Dädalus. In einer theoretischen Arbeit hatte er die Handlungsweise des Ikarus verurteilt. Der Hypsychosator hatte die Abstraktion wohlwol lend aufgenommen. Die Bestätigung des vierzehnten Reifegra des durch den Parseliten war nur noch eine Formsache gewesen. Das grüne Leuchten der Wände zeigte das Aufsetzen des Raumschiffs auf dem Asteroiden an. »Das hast du gut gemacht«, sagte der Vater. Um seine brauenlosen Augen spann sich ein Kranz von Fältchen. Er nickte seiner Frau zu. Ihr Korallenmund lächelte, entblößte herrlich meerblaue Zähne. Sie strich ihrem Sohn über den Kopf. Seine weiche, glatte Haut nahm die Zärtlichkeit auf wie ein Dürstender den Trunk. Die Schönheit der Mutter faszinierte ihn, ihre Sanftheit, die grazile Form ihres dunklen Körpers, ihre Weiblichkeit. Er hatte nie einen Grund gesehen, sich andere Eltern zu suchen. Er bewunderte des Vaters ausgeprägte Züge, ihre Ruhe. Kein Muskel unter seiner Haut regte sich. Das Braun vertiefte jene Konturen, die dem Gesicht eine exotische Reinheit verliehen. Beide standen vor der Vollendung des fünfundzwanzigsten Reifegrades. Der Junge schätzte die Klugheit seiner Eltern. 473
Sein Blick umfaßte sie. »Ich vertraue euch!« Sie erröteten vor Freude über die höchste Formel der Zunei gung, senkten als Antwort leicht den Kopf. Die Bildwand nahm die Aufmerksamkeit des Knaben gefan gen. Seine Augen weiteten sich sekundenlang, als versuchten sie, etwas Unsichtbares zu erkennen. Doch war seiner Stimme keine Erregung anzumerken. »Wie werde ich mich draußen fühlen? Gehen wir noch heute hinaus?« Die Eltern lächelten ihm beruhigend zu. »Es ist ungewöhnlich. Wir sind so nah bei der Sonne.« »Wir richten uns nach dir«, sagte die Mutter. Des Vaters Hand strich über die Schulter der Frau. »Wenn er es will, nicht wahr, sollten wir es nicht aufschieben.« Fast unmerklich zuckten ihre Lider. Sie verbarg ihren Unwillen hinter der unbewegten Schönheit ihres Gesichts. Der Verdacht des Jungen zerflatterte wie ein Phantom. Er vertraute ihnen. Sie wollten sein Bestes. Der Mann registrierte die Spannung ihres Körpers; er kämpfte gegen seine Hilflosigkeit an. »Der Hypsychosator hat den Wert der Exkursion für seine Entwicklung unterstrichen. Der Parselit ist derselben Ansicht. Es wäre unlogisch, dem zu widersprechen.« Sie ließ die Schultern sinken. »Verzeih. Es war ein unkontrolliertes Gefühl, dumm. Ich sehe ein!« Der Mann nickte sanft. »Es ist gut!« Er öffnete den Schrank mit den Schutzanzügen. »Der Schmuck wird dir hinderlich sein. Du solltest ihn ablegen.« Die Frau hakte die filigranen, goldenen Brustgehänge los, in deren Mitte, gerahmt von winzigen Rubinen, runde, bräunliche Feueropale die Brustwarzen imitierten. Sie nahm die Ohrge schmeide mit den gelblichgrünen Chrysolithen ab und entfernte den dreieckigen Schild aus ziseliertem Gold unterhalb des Na bels. Die diamantbesetzten Fingerringe legte sie zu dem 474
anderen in eine Schale aus Lapislazuli. Während er sich den Schutzanzug überstreifte, beobachtete die Frau das Gesicht des Jungen. Seine Beherrschtheit dämpfte ihre Erregung; ihre Ängstlichkeit war grundlos. Die Automaten hatten den Reifegrad des Jungen bestätigt und anerkannt. Sich selbst beruhigend, lächelte sie. Der Asteroid erschreckte den Jungen einen Augenblick lang. Er hatte sich jedoch schnell wieder in der Gewalt. Sein Glaube gab ihm die Kraft: Die Entwicklung seines Sanftheits empfindens war notwendig. Er mußte die Begegnung mit dem Gegenschönen meistern. Er mußte an den Sinn der Konfrontation glauben. Sie sanken aus der Schleuse. Die Oberfläche des Asteroiden war von tausend winzigen Schatten zerschnitten. Über den zerklüfteten Felsen stand flammend das Zentralgestirn. Die Sonne füllte den schwarzen Himmel fast zur Hälfte. Ohne die visuelle Dämpfung waren die Widersprüche kaum zu ertragen. Das Bild war voller Schrecknis. Feindschaft, Bedrohung. Jetzt erst begriff der Junge das Wort Gegenschön in seinem ganzen Ausmaß, und sein bisheriges Unvermögen, das im hypnotischen Schlaf Erlernte auch zu empfinden, füllte sich plötzlich an mit Leben. Er schauerte zusammen. Sie traten aus dem Antigravitationsfeld. Die geringe Schwer kraft des Ikarus war ungewohnt. Die Eltern nahmen den Knaben in die Mitte. Die Mutter bemerkte voller Sorge seine Mühe, sich zu beherrschen. Er hielt den Atem an, als könnte er damit die Worte zurückhalten. Doch dann drängten sie um so hastiger hervor. »Wird mein ästhetisches Empfinden nicht darunter leiden?« »Du hast nichts zu befürchten«, antwortete die Mutter. »Der Hypnonder wird die gegenschönen Bilder korrigieren.« Sie warf ihrem Gatten einen vorwurfsvollen Blick zu und bemerkte leise: »Auch wir werden uns behandeln lassen müssen. Oder willst du dich dein Leben lang mit diesen Eindrücken 475
belasten?« Ihr Gesicht war bleich und starr, die vollen Lippen nur mehr ein Strich. Der Mann hob begütigend die Hände. »Du solltest mehr Ver trauen haben. Deine Haltung wirkt destruktiv auf dich, auf den Jungen, auf mich. Der Hypsychosator wir dich rügen. Er wird dir eine zusätzliche Lektion Vertrauen suggerieren.« Er lächelte. »Hast du deine eigene Entwicklung vergessen? War nicht alles gut, so wie es war?« Die Frau versenkte den Blick in seinen Augen. »Die vierzehnte Stufe fordert die Vollendung grundsätzlicher Fähigkeiten, dazu gehört die Vorstellung der kosmischen Gewalt.« Ihre Stimme war emotionslos, fast kalt. »Man darf sich selbst nicht vergessen«, sagte der Mann. »Auch unsere Entwicklung begann damit.« Nur bruchstückhaft vernahm der Junge das Gespräch der El tern. Nie geahnte Bilder drangen auf ihn ein. Die sonnendurch glühte Felswildnis des Ikarus vermischte sich mit Visionen von einer unbekannten Erde. Hier das Trümmerstück im All; tief in seinem Bewußtsein, jenseits der Realität, eine Erde, Menschen, Städte, die er nie gesehen. Es war die Erde! Er sah sie in einem Zustand, der ihn erschreckte: wilde Wälder, reißende Ströme, aufgewühlte Ozeane. Menschen kämpften inmitten der Elemente um ihr Leben. Ihre Todesangst war plötzlich in ihm. »Was hast du?« fragte besorgt die Mutter. »Es geht vorüber«, sagte der Vater. »Er muß es durchstehen, einmal in seinem Leben.« Der Knabe blickte zu den Eltern auf, lächelte hilflos. Die Bilder verwischten. Er fragte sich, woher diese Erinnerung kam. Woher wußte er, daß das nicht seine Erinnerung war? Was für eine Erde war das? So wie er sie kannte, war sie doch seit ewigen Zeiten! Riesigen Blasen gleich, erhoben sich die Städte aus dem flachen Land, blanke Kuppeln inmitten unendlichen, kunstvollen Grüns. Nichts störte die Harmonie des 476
synthetischen Grases. Die Städte waren in vollkommener Symmetrie über die Erd oberfläche verteilt. In ihnen war Gleichmaß und Schönheit. Ein unendlich tiefer Glücksstrom riß den Knaben mit sich fort. Er jauchzte befreit und begann leise zu singen. Es war eine leichte, heitere Melodie. Denn nie waren die Menschen glücklicher gewesen: Nie tobte ein Sturm in den freundlichen Metropolen, nie fiel Regen über sie, nie bedeckte Schnee die Mauern. Sonnenglut und Kälte waren draußen geblieben. Man mußte das Chaos der Natur hassen. Einmal mußte man ihm begegnen, ein einziges Mal. Als hätte der Vater seine Gedanken erraten, sagte er: »Nur, wenn man das Chaos haßt, kann man die achtundzwanzigste Stufe erreichen und seine Kraft dem Schönen widmen.« Der Sohn nickte ihm zu. Der Algorithmus war nicht anfecht bar. Nichts, was seine Eltern je getan, für ihn getan, unterlag dem geringsten Zweifel. »Ihr habt in meinem Interesse gehandelt. Ich danke euch!« Sicherer werdend, bewegten sie sich über die Oberfläche des Asteroiden. Die Eltern achteten darauf, daß der Sohn nicht zurückblieb. Sie wollten die Frist nicht unnötig verlängern. Doch das Zeitsignal des Parseliten war fern, sein Zwang ent rückt. Die Klüfte, Schluchten, die Geröllhalden gewannen wie in einem Traum eine unbegreifliche Schönheit. Die Sonne tanzte als ein helles Feuer auf der Spitze eines Berges, rhythmisch wie Lebewesen bewegten sich die Schatten. Sie hatten ja nichts zu befürchten. All diese gegenschönen Impressionen würde der Hypnonder wieder löschen. Lüstern erregt ergaben sich die Eltern dem Gegenschönen, der animalischen Faszination. Der Junge war zurückgeblieben. Mit gesenktem Kopf sah er umher. Auf dem Boden zwischen braungrauem Staub und Ge röll leuchteten mattweiße Flecken. Er bückte sich. Es waren 477
kleine kantige Trümmerstücke. »Was tust du da?« rief der Vater. »Komm!« Der Knabe erhob sich. Er hielt einen länglichen, hellen Gegenstand in der Hand. »Wirf das weg!« Er holte aus, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, bückte sich erneut, erhob sich, beide Hände um weißes Gestein geschlossen. »Ich bitte dich«, sagte die Mutter, »dieses rohe Zeug. Wie gegenschön.« Der Junge streckte beide Hände vor und ging langsam auf seine Eltern zu. »Laß ihn«, bemerkte der Vater. »Der Hypnonder wird die Schäden seines Tastsinns reparieren. Die Handschuhe halten ohnehin das meiste ab.« »Trotzdem«, beharrte sie, »es sind gegenschöne Formen. Seine Hände sind das nicht gewohnt.« Dicht vor ihnen verhielt der Junge. Die Steine in seinen Händen opalisierten in mildem Glanz. Wie hypnotisiert starrte er darauf. Mit flüchtigem Blick streiften es die Eltern. »Es ist gut«, sagte die Mutter. »Wirf es nun weg.« Der Junge reagierte nicht. Erst nach einer Weile sagte er versonnen: »Seht nur, dieser hier sieht aus wie eine Schraube, und das«, er öffnete die andere Hand, »gleicht einem Löffel, dies einer Klinke. Ist das nicht sonderbar?« »Ein Zufall, ein Spiel der Natur. Nun bitte, entferne es.« Der Knabe griff in die Tasche. »Und das hier?« Der Vater beugte sich vor. Er lächelte. Anders wußte er der ungewohnten Reaktion seines Sohnes nicht zu begegnen. »Es hat entfernte Ähnlichkeit mit einem - Reaktorschlüssel. Als die Raumschiffe noch mit Kernenergie angetrieben wurden, versiegelte man die aktiven Zellen mit solchen Spezialschlüsseln, um sie vor unbefugtem Eingriff zu schützen. Sie waren aus einer Speziallegierung, die einen magnetischen 478
oder einen Strahlungscode enthielt.« »Mein Zähler registriert eine schwache Strahlung.« »Das ist ein Stein, ein opalähnliches Mineral. Ein Zufall, wie ihn die Natur millionenfach hervorbringt.« Der Sohn hob ruckartig den Kopf. »Es sind Teile eines Raumschiffs.« Die Eltern tauschten einen besorgten Blick. »Laß uns gehen.« »Warum glaubt ihr mir nicht? Es ist hier abgestürzt.« »Du wirst im nächsten Monat in die fünfzehnte Stufe übernommen. Denke über dein Verhalten nach, sonst wirst du kaum die Weihe erhalten.« Des Vaters Augen schimmerten hinter dem Helmvisier. Beschämt senkte der Knabe den Kopf. Seine Arme wurden schlaff, und aus den Händen fielen langsam die Steine zu Boden. Er stand wie erstarrt, dann drehte er sich um und ging ohne ein Wort der Erklärung davon. Seine Schritte wurden schneller und schneller. Laufend umrundete er eine Felsenecke und verschwand. In den Kopfhörern hörten sie sein schnelles Atmen. Einem Reflex folgend, wollte die Mutter ihm nacheilen, doch rechtzeitig hielt sie inne, bemerkte: »Du siehst, was diese Exkursion anrichtet. Noch nie hat er so verworren gesprochen, derart impulsiv gehandelt.« »Der Hypnonder wird es korrigieren.« »Der Hypnonder, der Hypnonder«, sagte die Frau leise und erregt. Der Mann musterte sie verwundert. Sie murmelte hastig: »Meine Gedanken waren nicht mein. Verzeih meine Heftigkeit.« Die rituelle Formel besänftigte ihn. Trotzdem fühlte er sich gedrängt, es nicht wortlos hinzunehmen. »Alles, was wir sind, verdanken wir dem Hypnonder. Er hat uns von der Angst befreit.« 479
»Vorher waren die Menschen Tiere«, ergänzte sie. Hand in Hand gingen sie weiter. Als sie um den Felsen bogen, sahen sie ihren Sohn in einem Geröllfeld stehen. Zwischen das Braungrau mischte sich mattes Weiß, als wäre ein Spiegel in tausend Scherben zersprungen. Es handelte sich um leuchtend helle, kantige, matt opalisierende Bruchstücke. Den Kopf tief gesenkt, stand ihr Sohn dicht vor einem Brocken, dessen Form und Größe an einen sitzenden Menschen erinnerte. »Komm«, forderte die Mutter, »komm von diesem Stein fort. Er ist chaotisch, bedrohend, formlos.« Der Junge hob den Kopf und starrte den Stein an. Ohne den Blick zu wenden, sagte er: »Siehst du nicht, er ähnelt einem Menschen, der auf einem Stuhl sitzt.« »Komm«, wiederholte die Mutter. »Ich möchte nicht, daß du zweimal in den Hypnonder mußt.« »Komm«, sagte auch der Vater. »Als künftiger A-fünfzehn mußt du zwischen schön und gegenschön, zwischen künstlich und unsynthetisch selbständig unterscheiden können.« Der Sohn rührte sich nicht. Die Worte seiner Eltern waren ihm plötzlich unverständlich. Er bildete sich ein, er vernähme eine fremde und doch vertraute Stimme. Kam sie aus seinem Innern? Sie wollte ihm etwas mitteilen, etwas Ungeheuerliches. Er bemerkte nicht, wie seine Eltern ihn bestürzt betrachteten. In einem anderen Sein versinkend, glaubte er, Jahrzehnte zu durchleben, die ihm nicht gehörten. Doch es dauerte nur einen Augenblick. Er kehrte zurück. Sein Gesicht fühlte er wie eine harte, leblose Masse. Er meinte zu lächeln, doch seine Züge blieben unbewegt. Die Mutter eilte auf ihn zu, drängte ihn mit sich fort, als stünden sie am Rande eines brodelnden Kraters. Wie um ihre stille Flucht aufzuhalten, trat der Vater ihnen in den Weg, lachte. Doch der Sohn empfing keine Sicherheit daraus. Er machte sich frei, trat zurück. 480
»Sind das – Edelsteine?«
Der Vater zuckte mit den Schultern. »Es ist unrein wie alles
Natürliche.« »Warum suchten dann in der Vorzeit Menschen danach?« »Woher hast du so etwas erfahren?« fragte die Mutter. Unschlüssig schwieg der Sohn einen Moment lang. »Ich kann mich nicht erinnern.« Seine Stimme war schwerfällig. »Es fiel mir gerade ein.« »Es ist nicht nötig, so etwas zu wissen. Für jemanden deines Reifegrades ist es sogar schädlich. Diese Dinge liegen weit zu rück. Sie sind unwichtig für uns, denn sie waren der Menschen unwürdig. Sie sind lange bewältigt.« »Woher hast du es erfahren?« fragte der Vater. »Warum kommst du gerade jetzt darauf?« An seinem Helm schimmerte das rote Licht des Hypnonders. Der Sohn konnte ihm nicht entfliehen. Es flammte in suggestivem Rhythmus auf. »Er sagt es.«
»Wen meinst du?«
Der Junge blickte stumm und hilflos auf das rote, zuckende
Licht. »Warum sollte O'Skryllis lügen?« Die Mutter nahm ihn bei den Schultern. »Liebst du nicht meinen Schmuck, die künstlichen Edelsteine? Die Erde! Du liebst sie doch?« »O ja«, erwiderte der Knabe.
Ihr Arm wies gegen den Horizont. »Haßt du das?«
Der Sohn nickte.
»Das ist deine Pflicht. Sonst wäre alles sinnlos, was die
Menschen je vor dir erschaffen, wofür sie gelebt und gekämpft haben. Würdest du das wollen?« Der Knabe schüttelte den Kopf, kindlich und heftig. »Diesen Haß mußt du entwickeln, sonst wird der Hypnonder unzufrieden sein mit dir.« »Wer oder was ist O'Skryllis?« fragte der Vater. Vertrauensvoll blickte der Sohn in sein lächelndes Gesicht. 481
»Er ist schon lange hier, sehr lange.« »Was heißt das?« »Vielleicht dreihundert Jahre oder etwas länger.« »Was wollte er hier?« »Er suchte Edelsteine.« »Wie entsetzlich!« riefen die Eltern. »Er ist hoffentlich hier umgekommen.« »Nein.« »Er lebt und ist hier?« fragten voller Unverständnis die Erwachsenen. »Ich weiß nicht.« Die Eltern waren sich einig. »Der Hypnonder wird es herausbekommen«, sagte der Vater. »Hab keine Angst, dieser O'Skryllis kann dir nichts tun.« »Hast du eins dieser alten Bücher in die Finger genommen?« fragte die Mutter. »Wie konntest du das vor dem Hypnonder verbergen?« Der Sohn reagierte nicht auf die Rüge. Er ließ sich von den Eltern an die Hand nehmen und lauschte, während sie sich über die Oberfläche des Ikarus bewegten, den Erklärungen des Vaters über die vormenschliche Zeit, da noch die Angst existierte und die Unvollkommenheit: Die Angst beschränkte den Verstand der Vormenschen und ließ sie vor der Vollkommenheit erschauern. Die Überlegenheit des Vaters beruhigte den Jungen. Wie ge wohnt, empfand er ein Gefühl tiefer Zuneigung für ihn. Nichts Schöneres konnte er sich vorstellen als die Erde in ihrer kunst vollen Ordnung, vollkommen wie ein synthetischer Stein. Nie mand hatte diese Entwicklung aufhalten können; sie war Gesetz. Sollte er O'Skryllis verachten? War O'Skryllis nicht ein Teil von ihm geworden? Wo mußte er ihn suchen? Er mußte ihn finden, denn er war der einzige, der O'Skryllis helfen konnte. Der Gedanke an das, was er tun mußte, ließ ihn 482
zusammenfahren. Sein Gesicht verschloß sich. Der Vater, unsicher, ob seine Erklärungen genügten, wollte einen Schlußpunkt setzen. »Es ist fast ein Wunder, daß unser Geschlecht die vormenschliche Ära überstand, ohne auszuster ben oder in völligen Atavismus zurückzufallen. Wir erst haben den Menschheitsbegriff verwirklicht. Wir haben den Hypnon der geschaffen und den Hypsychosator. Angstfrei leben wir, dürfen Schönes schaffen.« Die Mutter, das Zittern seiner Hand wahrnehmend, sagte: »Es gibt nichts Logischeres, als dem Hypnonder zu vertrauen, nichts Schöneres.« Ihre Stimme schmeichelte. »Ich bin sicher, du wirst die Überprüfung glänzend bestehen. Du bist ein guter Junge.« Der Blick des Sohnes schweifte in die Ferne. Das Licht der Sonne drängte gegen Schatten. Hin und her wogte der Kampf wie zwischen gleichstarken, störrischen Gegnern, und nur der Tod des einen konnte der Welt die Ruhe bringen. Kampf! Vernichtung! Sieg! Angewidert wandte er sich ab. Seine Füße stießen gegen Steine und Geröll. Eine zähe Masse hing an seinen Beinen. Nicht mehr weitergehen, keinen Schritt mehr. Doch das Licht der Sonne lockte. Schatten zuckten zurück. Sie gingen weiter durch die nach einem wilden Sturm erstarrte Landschaft, und nur die Steine hemmten seinen Schritt. Plötzlich war er wieder da. Der Ruf! Vorwärts, Schritt für Schritt, Steine beiseite stoßen. Wo bist du, O'Skryllis? Wie um sich seiner zu erwehren, flüsterte der Knabe leidenschaftlich: »Ich hasse alle rohen Dinge, ich hasse die Unreinheit der Natur. Pfui!« »Mein Lieber«, sagte die Mutter, »beruhige dich. Ich will dir meine Wangenplättchen aus rotem Opal schenken.« Und schel misch: »Ich weiß, du magst sie.« 483
Der Junge entzog sich seinen Eltern. Sie ließen es geschehen. Nach einigen Schritten drehten sie sich um und winkten ihm mit leichter, fröhlicher Geste. Zögernd setzte der Sohn einen Fuß vor und verharrte. »Hört ihr nicht?« fragte er leise. »Was?« Qualvoll, ängstlich, bittend rief der Fremde. »Nein«, raunte der Knabe, »nein, nein, ich kann es nicht.« »Sagtest du etwas?« fragte die Mutter. Der Sohn hob lauschend den Kopf. Jetzt hörte er die Stimme ganz deutlich. Sie flehte, forderte, wurde Befehl tief in seinem Innern. Eine unbekannte Furcht setzte seine Füße in Bewe gung. Ehe die Eltern begriffen, was geschah, war er zwischen den Felsen verschwunden. Ihr Ruf erreichte ihn nicht. Er hastete durch die Dunkelheit der Ikarusnacht jenem glimmenden Licht entgegen, von dem die Stimme ausging. Gleich einem heftig atmenden Menschen, schien der Stein zu pulsieren. In seinem weißen Innern trieben Schatten ihr Spiel, umwoben von schillernden Schlieren. Langsam aus der Tiefe steigend, formte sich ein Gesicht, leidvolle Augen, eingeschlossen in den Stein. Sie hatten die unbekannte Erde gesehen, mit ihren fremden Städten, den längst vergangenen Menschen, sie hatten jene Welten gesehen, in deren Düsternis und Einsamkeit sich das Geheimnis des Lebens verbarg und die Schönheit und die Gefahr. Längst war die Gier in den Augen erloschen. Die Eltern sahen im Ungewissen Licht der Sterne ihren Sohn vor jenem länglichen Stein stehen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem hockenden Menschenwesen hatte. Der Knabe hob die Arme hoch über den Kopf. Die Hände umklammerten einen dunklen Felsbrocken. Der Vater eilte vorwärts. Sich streckend, spannte der Junge seinen Körper und schleu 484
derte den Felsen, indem er einen spitzen Schrei ausstieß, mit verblüffender Gewalt gegen das hellschimmernde Ding. Wäh rend der Stein unter der Wucht des Geschosses zerbarst, brach der Knabe zusammen. Als er zu sich kam, lag er, weich in ein kräftigendes Energiefeld gebettet, im Hypnoraum des Schiffes. Über ihn beugten sich die Gesichter seiner Eltern. Sie zerstörten das Antlitz O'Skryllis'. Er haßte sie dafür. »Strengt es dich an zu sprechen?« Der Knabe schwieg. Für ihn antwortete der Hypsychosator. »Er will nicht sprechen, er will eine Sperre aufbauen. Ich werde sie verhindern.« »Noch nicht.« Die Stimme des Vaters war sanft, geheimnisvoll schwebend. »Warum hast du das getan? Du hast einem zerstörenden Trieb gehorcht, archaisch, tierisch, spontan. Warum?« »Ich begreife es nicht«, sagte die Mutter. »Hat sich der Hypsychosator geirrt? Er hat doch die Exkursion zugelassen und befürwortet.« »Er kann sich nicht geirrt haben. Das ist unmöglich«, entgegnete der Vater ratlos. »Natürlich«, murmelte die Frau. »Es muß etwas von außen gekommen sein.« »Etwas Überraschendes?« »Gibt es etwas, was den Hypsychosator überraschen könnte?« »Nein.« »Er sieht alles voraus!« »Trifft uns die Schuld?« Ihr Blick forschte ängstlich in seinen Zügen. »Der Hypsychosator wird die Antwort finden.« Bevor er sich dem Knaben zuwandte, glättete der Vater sein Gesicht. »Kannst du dein Verhalten logisch herleiten?« Der Sohn antwortete nicht. Seine Augen blickten durch die 485
Eltern hindurch. Er genoß eine merkwürdige, unbekannte Lust. Noch nie hatte er so deutlich sich selbst empfunden. Es war ein tiefes, intimes Gefühl, und er haßte jede Störung. Wo war O'Skryllis? Vor ihm hatte sich ein fremdes Leben ausgebreitet, eine fremde Zeit, und irgendwo da drinnen mußte O'Skryllis zu finden sein. Der Vater fuhr ihm zärtlich über die Stirn. »Bist du dir klar darüber, wie gefährlich solche Affektionen für deine Entwick lung zur endgültigen Sanftheit sind?« »Du weißt, daß Schädigungen der Hautsensibilität schwer zu korrigieren sind«, sagte die Mutter. Sie streichelte seine Hand. Die Blicke des Jungen irrten zwischen seinen Eltern hin und her. Die Worte um ihn drängten sich zusammen zu hallenden Wänden. Er hörte Echos, die O'Skryllis' Stimme übertönten. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln. Sie konnten ihm nichts mehr nehmen, nichts. »Es fällt mir schwer«, die Stimme seiner Mutter dröhnte leise, »aber du mußt in den Hypnonder zur DoppeltintensivBehandlung. Mit diesen Erinnerungen belastet, erreichst du nie die höchste Stufe.« »Ich will nicht«, sagte der Knabe. »Es ist zu deinem Besten. Der Hypnonder wird dir dein Verhalten analysieren und verzeihen.« »Ich mußte es tun . . . Ich will es nicht vergessen . . . Ich will es nicht analysieren lassen . . .« Seine Stimme war klar, ohne kindlichen Trotz. »Warum mußtest du es tun?« Um den Mund des Knaben zuckte es. »Ich – hatte Mitleid.« Die Eltern wechselten einen Blick. »Mitleid? Mit einem Stein?« »Mit einem Stein!« schrie der Knabe. Höhnisches Gelächter schüttelte ihn. »Ja, mit einem Stein.« Er schloß die Augen, flüsterte nochmals: »Mit einem Stein.« 486
Als wollte sie ihm eine dumme Lüge verzeihen, fragte die Mutter mit unbeirrter Zärtlichkeit: »Also, was war es?« »Ich habe O'Skryllis getötet.« Die Hand der Mutter ruhte schwer auf seiner Stirn. »Getötet?« »Ich habe ihn erlöst.« Der Vater gab dem Automaten den Befehl, und augenblicklich schlief der Knabe ein. »Er muß bis zur Ankunft auf der Erde schlafen. Vielleicht erweist sich der Einfluß des Hypsychosators als ausreichend.« Die Frau nickte wehmütig. »Das wäre die einzige Möglichkeit, ihm den Hypnonder zu ersparen. Man fühlt sich in den Tagen danach so leblos.« »Aber er hilft.« Sie blickte aus dem Fenster auf den entschwindenden Asteroiden. »Was hat er nur erlebt? Was ging dort mit ihm vor?« Der Mann nahm sie in die Arme. »Er wird es vergessen.« Sie machte sich frei, überraschend, nachdem sie einen Moment erschlafft gegen ihn gelehnt hatte. »Ich will es wissen.« Er schüttelte den Kopf. »Warum willst du dich mit den gefährlichen Erinnerungen eines anderen belasten? Er wird es vergesssen. »Es gab dort etwas, was unser Leben bedrohte, nicht nur hier und in diesem Augenblick, nicht unser persönliches Leben, sondern überhaupt.« Er strich mit dem Mund über die Falte an ihrer Nasenwurzel. »Ist das wirklich wichtig? Nichts kann unser Leben bedrohen!« »Es ist einmalig und unerhört: Ein Mensch verweigert sich dem Hypnonder, um mit seinen schädlichen Erinnerungen zu leben. Er muß krank sein.« »Vielleicht. Der Hypsychosator wird es . . .« »Aber dann«, fuhr die Frau beharrlich fort, »müßte die 487
Ursache der Krankheit außerhalb zu suchen sein. Ich meine, das kam von außen, plötzlich. Es hat sich nicht in ihm entwickelt.« Der Mann küßte ihre heißen Wangen. »Du solltest ein wenig ruhen.« Sie klammerte sich an ihn, ihre Augen waren weit. »Der Hypsychosator muß mich koppeln.« »Wenn seine Erinnerungen nicht nützlich für dich sind, wird er sein Bewußtsein für dich sperren.« »Ich werde die Sperre annullieren.« Der Mann löste sich von ihr. »Das ist verboten! Es kann deine Vollöschung zur Folge haben. Aber ich möchte dich so behalten, wie du bist. Mir liegt nichts an irgendeiner synthetischen Person mit deinem Äußeren, an die ich mich erst gewöhnen müßte.« Sie lächelte schwach. »Es ist lieb von dir.« Ihr Mund leuchtete groß und ernst aus dem schönen Antlitz. »Ich muß wissen, was in dem Jungen vorgeht.« Ihre Starrköpfigkeit verletzte ihn. Steif sagte er: »Du bist zweiundvierzig, du hast fast den sechsundzwanzigsten Reife grad. Du kannst verantwortlich entscheiden. Mir bist du keine Rechenschaft schuldig. Aber was willst du dem Hypsychosator sagen? Ich wäre nicht glücklich, wenn er dich konvertierte.« »Du kannst mich begleiten.« Der Vorschlag traf ihn wie ein Schlag, beschämte ihn maßlos. Er stammelte, versuchte seiner Verwirrung Herr zu werden, äußerte kurzatmig Unverständliches, das er mit zerfahrenen Gesten zu ordnen versuchte. Wann jemals hätte ein Mensch einem anderen einen solchen Vorschlag gemacht? War es nicht rücksichtslos von ihr, ihn in Gefahr zu bringen? Seine Arme sanken herab, er schwieg. Sein Mund öffnete sich. »Ich begleite dich.« Sie schmiegte sich an ihn, küßte ihn, erregend in ihrer Hingabe. 488
Sie lagen reglos in den unsichtbaren Kissen aus Energie. An der Wand summte der Hypno-Konverter des Hypsychosators. In gleichmäßigen Wellen umkreiste eine Lichtspirale sein Facettenauge. Die Wände glühten in tiefem Rot, öffneten sich dunkelstrahlend, den Blick in die Unendlichkeit lockend. Die Dimension des Raums entflog. Niemandsland zwischen zwei Welten. Sie sahen nicht mehr mit eigenen Augen, hörten nicht mehr mit eigenen Ohren, fühlten, rochen, schmeckten mit fremden Sinnen. Ehe sie gänzlich in das andere Bewußtsein eindrangen, durchfloß sie wie ein kühler Schauer ein letzter, eigener Ge danke: Das ist nicht unser Sohn. Unbekanntes sog sie auf. Es hatte von ihnen Besitz ergriffen. Dieses andere dachte an etwas, was ihnen ungeheuerlich er schien, es empfand mit furchtbarer, explosiver Intensität. Einen Moment lang versuchten sie, an die Oberfläche ihres Bewußtseins zu gelangen. Doch schon hatte der Unbekannte sie erfaßt. Er beherrschte ihre Gedanken, löschte sie aus. Ihre Furcht vor ihm war nicht stark genug. Wie ein Orgasmus über schwemmte Neugier sie. Der Hypsychosator sah keinen Grund, den Vorgang zu unterbrechen. Es gab kein Zurück mehr. Immer tiefer sanken sie in das Wesen ein, das den sonderbaren Namen O'Skryllis trug und in ihrem Sohn wohnte. O'Skryllis war zufrieden mit dem Tag. Er hatte eine Glücks strähne wie selten in seinem Leben, und es war nicht arm daran gewesen. Schon als er den Asteroiden anflog, hatte ihm eine Ahnung gesagt, das da ist ein Opalasteroid. Als die Analysendaten es bestätigten, fand er es irrsinnig komisch. Er überlegte, ob er es als Glück bezeichnen sollte oder als Intuition. Sein Spiegelbild auf dem Sichtschirm zwinkerte ihm zu: deine Nase, alter 489
Junge. Bist ein echter Diamantenschnüffler. In solchen Augenblicken war er froh, nie der Versuchung erlegen zu sein auszusteigen, einen anderen Beruf zu suchen, bequemer zu leben, Menschen um sich zu haben. Nein, nichts konnte ihm das ersetzen. Er besaß das Gespür eines Wünschelrutengängers. In der Nähe fündiger Asteroiden bebten ihm die Nasenflügel. Es war eine sonderbare Fähigkeit. Niemand konnte sagen, wie sie entstand. Vielleicht war sein Dasein, fern vom Leben, geeignet, längst vergessene Instinkte wieder zu erwecken. Er war sicher, daß er sich nie würde an ein anderes Leben gewöhnen können. Er brauchte den erbarmungslosen Wettstreit seiner selbst mit all den Geräten, die ihn umgaben und seine Arbeit erleichtern sollten. Jedesmal freute er sich wie ein Kind, wenn es ihm gelang, eine Nasenlänge voraus zu sein. Diamantenjäger? Sein Spiegelbild zuckte mit den Schultern. Er lächelte ihm zu. Du hast recht. Es ist eine Gier in mir. Sie treibt mich vorwärts. Eines Tages finde ich den millionenkarä tigen Diamanten, Saphir oder Opal. Du wirst es sehen! Der Asteroid übertraf alle seine Erwartungen. Die Steine lagen an der Oberfläche. Opale von nie gesehener Schönheit. Man brauchte sich nur zu bücken. Mit kräftigen Schritten strebte er zum Raumschiff zurück. Übermütig stieß er sich ab, stieg hoch hinauf, schwebte über den Felsen. Die Sonne glitt über den dunklen Grund, Schatten wanderten. Hinter einer Felsnadel entdeckte er einen leuchtenden Fleck. Es dauerte unendlich lange, bis er den Asteroiden wieder unter den Füßen spürte. Kaum eingeschlossen von taubem Gestein, lag der Opal am Grunde eines Talkessels. Er hatte die Größe eines menschlichen Gehirns. Ehrfürchtig, als beträte er ein Heiligtum, näherte sich O'Skryllis. Er kniete nieder und löste ihn mit behutsamer Geste aus dem Schutt. 490
Es war ein makelloses Stück, voll irisierender Reflexe, reinweiß mit einem tief verborgenen roten Feuer, von kantig kristalliner Form, doch in sich geschlossen: ein unvollendeter Tropfen aus dem Auge eines Gottes, verloren und vergessen. Milchige Schlieren durchfluteten ihn, als atmeten in seinem Innern geisterhafte Schatten. Der Stein in seiner Hand schimmerte in mildem Feuer. Aus seiner Tiefe drang es brandrot glosend, versteckt hinter weißen Nebeln. Ein Schwingen stieg wie sehnsuchtsvolles Raunen um ihn auf. Er versuchte, den Blick hinter die Grenzen der unbe kannten Welt dringen zu lassen. Sie entzog sich seinem Zugriff durch feste Nebelmauern. Doch malte seine Phantasie ihm märchenhafte Universen aus, die sich da drin verbargen. Es erfaßte ihn wie eine Sucht. Der Verzweiflung nahe, nahm er nichts mehr um sich wahr. Er wollte da hinein, in jene geheimnisvolle, unvergängliche Welt. Wieviel Zeit war vergangen? Endlich erhob er sich, atmete schwer. Auf der Stirn standen kalte Schweißtropfen. Seine Hände umschlossen den Stein. Er lachte, doch seine Augen blieben ernst. Zärtlich, als trüge er etwas Verletzliches, schaffte er ihn ins Raumschiff. In der Kabine legte er ihn auf die mit grünem Samt überzogene Platte und versank im Anblick des schimmernden Kristalls. Das unbekannte Universum lockte halbverhüllt, ließ seinen Blick eindringen, und er mußte seiner unheilvollen Neugier folgen. Nebel wallten um ihn auf, Dünste aus unendlichen Tie fen, die ihn, den Unvorsichtigen, umwebten mit dichtem, un durchdringlichem Gespinst, bis er blind und taub sich im Kreise bewegte und den Ausgang aus dem Labyrinth der kalten Feuer nicht mehr fand. Doch da flammten sie wieder durch den kalten Hauch, gelbgolden, rötlichbraun, mattblau: Irrlichter. Gefährlich war der Eintritt in das Zauberreich. Aufatmend lächelte O'Skryllis. Welch eine Schönheit hatte er geschaut, gewachsen aus Glut der Unterwelt, einschließend 491
in sich alle Geheimnisse des Alls von seinem Anfang an. Er strich sich über die Stirn, fühlte sich befreit und glücklich durch den festen Druck seiner Hand. Von einem Stein zum andern glitt sein Blick, umkreiste scheu das unvollendete Oval des letzten Fundes, kehrte zu ihm zurück, flatterte wie ein müder Vogel, um sich wiederum auf ihn zu senken wie auf einen Ruheplatz nach langem Flug. Als er in die Zentrale ging, nahm er den Stein mit. Er legte ihn auf den Tisch des Kommandantenstandes und bereitete den Start vor. Hin und wieder zwischen den Verrichtungen fiel sein Blick auf ihn.Der Stein schien sich auszudehnen. Er lächelte über seine Einbildung, seine kindliche Hingabe. Nicht zum ersten Mal fand er einen ungewöhnlich schönen Stein. Doch diesmal war es ihm, als wäre er etwas Langersehn tem begegnet, einer Zufluchtstätte in der Welt der künstlichen Opale, Chrysopase, Amethyste, Turmaline, Diamanten. Das Heer der künstlichen Kristalle war fehlerlos, gigantisch, ein Optimum an Härte, Glanz und Farbe. Er ahnte hinter sich ein Meer von Masken. Er scheute sich zurückzusehen. Vorwärts, nur vorwärts. Nach dem Start hatte er Muße, seinen Findling noch einmal liebevoll zu mustern. Er schien im Licht des Raumes zu pulsie ren. Das Spiel der Schlieren in seinem Innern wogte in regelmäßigem Rhythmus. Er streckte dem Stein die Hand entgegen. Die Kanten und Wölbungen schmiegten sich an, als wäre der Kristall ein Teil von ihm. O'Skryllis zog die Hand zurück, fuhr sich übers Gesicht. Doch ertasteten die Fingerspitzen nichts als ein merkwürdig hartes Relief. Verwirrt ließ er sich in den Sessel sinken. Der samtige Bezug der Lehnen war keine Täuschung. Zögernd wich seine Erregung. Die Stunden flössen hin. O'Skryllis' Raumschiff befand sich 492
noch in der Zone der Asteroiden. Im Kommandantensessel sit zend, lauschte er einem Konzert. Hinter halbgeschlossenen Lidern betrachtete er seinen Opal. Noch nie hatte er Musik so direkt vernommen. Mit bildhafter Deutlichkeit drangen die Töne in sein Bewußtsein, füllten den Raum in ihm und um ihn. Der Stein warf einen hellen Schatten, als sei der Tisch mit Staub bestreut. Aber es war wohl eine Täuschung seiner Augen. Eine seltsam träge Spannung umfing seine Glieder, schmerzliche Taubheit kroch über sein Gesicht. Der Blick versank in der kristallenen Tiefe, das Sein löste sich auf. Er empfand nichts mehr. Er vergaß die Welt der Menschen. Ihre durchlebten Jahrmillionen flössen in einem Augenblick zusammen; alles Zukünftige wurde gemessen nach der Schwingungsdauer eines Moleküls; die Dimension des Universums wurde ein fühlbares Gebilde. Nichts Schöneres gab es in der Unendlichkeit der Zeit als diesen Augenblick. Die Zeit gerann zum Punkt. Er war unsterblich in dem ewigen Kristall. Um ihn waren die Gesichter der anderen. Waren es Menschen oder war es sein Traum von ihnen? Ihr Willkommensgruß entflammte die Dunstigkeit um ihn blutrot. Doch nichts berührte ihn, weder ihre Samariterhände noch das Grauen hinter ihm, die Masken. Sein Körper war gefühllos und sein Geist gefangen ... Als er die Augen aufschlug, war es still um ihn. Kein Laut war zu vernehmen. Eine Traumwelt schloß ihn ein. Wohin er schaute, waren alle Gegenstände wie von einer Reifschicht überzogen, in mattes Weiß getaucht. Er schauerte zusammen, doch es war nicht kalt. Sein Blick fiel auf den Fleck, wo der Opal gelegen hatte. Er war verschwunden. Sein Kopf ruckte herum. Da waren die vertrauten Formen, gerade noch erkennbar: der Bildschirm, die Reaktoreinheit, der Kybernet, die übrigen Kommandostellen. 493
Es dauerte sekundenlang, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. Er ahnte dumpf, was jenes Grauen während seines Traumes zu bedeuten hatte. Lahmte die Angst seine Glieder? Ungläubig hetzte sein Blick durch den Raum, kreiste in immer engeren Spiralen um ihn selbst. Bis unters Knie waren seine Beine ein weißer, glitzernder Block. Wie ein dünner Faden riß sein Atem, er würgte, röchelte, erstarrte. Die Lippen zitterten im Krampf, er schluchzte. Dann schrie er auf wie ein gefangenes Tier. Er konnte seine Beine nicht mehr fühlen. Er kratzte an dem steinernen Belag, bis die Haut der Finger riß und Blut hervor quoll. Einen Atemzug lang beruhigte es ihn, den Schmerz zu empfinden und das warme Rinnsal Blut. Was war mit ihm geschehen? Woher war das gekommen? Der Opal! Was für eine fürchterliche Eigenschaft verbarg er in sich? Was hatte sie aktiviert? Brauchte das die Energie des Raumschiffs, um zu wachsen, sich auszudehnen? In wilder Verzweiflung schüttelte O'Skryllis den Kopf. Er riß sich wieder hoch, warf sich nach vorn. Doch erreichte er das Pult nicht mehr. Es war mitsamt der Funkanlage unter dem steinernen Reif verschwunden. Zwei Stunden später schimmerten seine Beine bis über die Knie in opalisierendem Glanz. Die Gelenke waren steif gewor den. Weit in den Sessel zurückgedrängt, beobachtete er seine fort schreitende Versteinerung voller Ekel, wie ein aufwärts krie chendes Insekt. Vor Angst und Abscheu riß er krampfhaft seinen Oberkörper hin und her, schrie in Abständen leise wimmernd auf. Mit nicht sehr hoher Fahrt bewegte sich das Raumschiff in die Asteroidenzone hinein. Seine Bahnelemente entsprachen etwa denen einer stark exzentrischen Planetoidenbahn. Ein halbes Jahr lang näherte es sich der Sonne, dann entfernte es sich wieder von ihr. Stellenweise brach durch die Außenhaut weißfleckiger Grind. 494
Als es zwei Jahre später in die Nähe des Merkur gelangte, war es über und über weiß. Die Oberfläche wirkte kantig aufgebrochen, doch war die breite, ellipsoide Form des Raumschiffs noch gut erkennbar. O'Skryllis sah den Mars entschwinden und die Sonne. Er be wegte sich hinaus in die Tiefe des Kosmos, kehrte wieder, kreiste auf einer ewigen Bahn. Sein Schicksal war furchtbarer als das der Kosmonauten, die steuerlos in die Unendlichkeit abtrieben, verhungernd, erstickend. Nicht lebend und nicht tot, befand er sich in einem namenlosen Raum, von dem er ungewiß nur wußte, daß er da war. Alles körperliche Sein war erloschen. Nur die Gedanken drehten sich im Kreis. Menschen tauchten auf und Dinge, denen seine Liebe einst gehörte. Um sie und das verlorene Jenseits trauerte er. Jetzt begriff er ihre wehmutsvollen Mienen. Sie galten ihm. Stumm zogen sie vorüber. Sein Ruf erreichte sie nicht mehr. Es war zu spät. Hätte er geschrien, als er noch eine Stimme hatte, hätte er gehaßt, als er noch fühlen konnte. Vielleicht hätte es das Meer der Masken nie gegeben. Nichts war nachholbar. Was nützt jetzt noch seine Trauer um sich selbst. Sie hatte ihn immer begleitet, sein Leben lang. Trauer. Resignation. Tod! Er wünschte sich, tot zu sein. Einhundertfünfundzwanzig Jahre später stürzte das Raum schiff auf den Asteroiden Ikarus und zerschellte. Wie zum Hohn blieb er unversehrt. Hätte er doch weinen können. Dreihundertsiebenundvierzig Jahre lang zog die Undurch dringlichkeit des Alls an seinem Blick vorüber, die Sonne schwoll und verblaßte wieder. Irgendwann senkte sich sacht ein kugelförmiges Raumschiff auf den Asteroiden. Ihm entstiegen zwei Erwachsene und ein Kind. Der Mann und die Frau waren stumm. Doch die Gedan 495
ken des Kindes konnte er vernehmen. Aus seiner Lethargie aufschreckend, beschwor er den Knaben, ihn zu töten. Die Frau erwachte zuerst. Sie blieb reglos liegen. Was sie erfahren hatte, schien ihr eine kaum noch vorstellbare Entartung. Damit belastet, konnte kein Mensch leben. Sie durfte es nicht zulassen, daß dieses Bild den Jungen prägte. Es würde ihn hemmen, ihn schließlich nach Dingen suchen lassen, die ihn krank machten. Da war die Gefahr, daß er vom Weg abkam, sich in Empfindungen verstrickte, die von den Parseliten schon vor langer Zeit verworfen worden waren. Er würde nie die achtundzwanzigste Stufe erreichen, seine Entwicklung zur absoluten Sanftheit war bedroht. Die Angst trieb sie hoch. Sie taumelte ein wenig, fing sich jedoch wieder. »Es war grauenvoll.« Er richtete sich auf. »Es hat mich eher amüsiert. Aber es muß damals schon Menschen gegeben haben, die Sanftheit suchten. Vom Ziel, der schönen, künstlerischen Ausgeglichenheit, waren sie allerdings noch weit entfernt. Der Weg war falsch. Wer sich dem Natürlichen preisgibt, geht zugrunde. Doch eine positive Richtung schien sich abgezeichnet zu haben.« »Entschuldigst du diesen - O'Skryllis, diesen Vormenschen? Das waren doch diejenigen, welche die Entwicklung hemmten. Willst du ihnen das nachsehen?« »Wir haben es mit einem Phänomen zu tun. Was immer diesem Vormenschen begegnet sein mag, er war sanft. Er wollte keine rohe Auseinandersetzung. Seine Anbetung des Natürlichen war ein Relikt, nichts weiter. Noch hatte er nicht erkannt, daß es nur einen Weg gibt: das Menschliche, die künstliche Synthese.« »Das ist ein Aspekt«, entgegnete die Frau sanft. »Doch sein Weg war töricht, frevlerisch. Mit welchem Recht wandte er sich gegen die Vollkommenheit künstlicher Steine, gegen den Fortschritt. Er haßte alles Absolute, weil es ihn an die eigene 496
Unzulänglichkeit gemahnte. Sein Haß war nichts als Schwäche!« Der Mann stimmte ihr wortlos zu. Als er sprach, hatte seine Stimme einen Klang wie die ihre. »Ein Irrweg bleibt ein unentschuldbarer Fehler. Ich wollte ihn nicht entschuldigen. Verzeih, wenn ich es nicht klar formulierte. Wir sind einer Meinung!« Ihr Gesicht glättete sich. »Wir müssen das gespeicherte Be wußtsein löschen. Es könnte sonst im Parseliten weiterexistie ren.« Wieder nickte der Mann. »Wir müssen den Jungen vorher wecken. Die Löschung wird bei ihm bereits vollzogen sein.« Der Automat reagierte auf den Befehl, die Lichtspirale hörte auf zu kreisen. Der Junge erwachte. Er erhob sich elastisch, lächelte. Die Eltern atmeten auf. »Nun«, sagte die Mutter, »wie fühlst du dich?« »Es geht mir ausgezeichnet«, erwiderte der Sohn. »Meine Gedanken sind mein.« Die Formel beruhigte die Eltern vollends. »Es ist nichts zurückgeblieben?« fragte der Vater. »Was meinst du?« »Nichts, nichts«, beeilten sich die Eltern zu sagen. »Wir wollen nicht darüber sprechen. Es wäre gegengut.« »Ihr meint O'Skryllis?« Die Eltern nickten schweigend. Sie wollten ihm nicht mehr mitteilen, als er vielleicht noch wußte. Eine minimale Nachbe handlung würde auch den Rest löschen. »Ich habe mich gegen den Parseliten aufgelehnt und gegen den Hypsychosator.« Der Knabe lächelte. »Ich habe mir die Erinnerung an O'Skryllis nicht nehmen lassen.« Die Mutter wollte auf ihn zueilen, doch der Mann hielt sie mit einer Handbewegung auf. Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle. »Er lebt in dir weiter. Du mußt ihn in dir abtöten, sonst 497
wirst du er, ein lebendes Fossil.« »Es wäre dein Untergang«, sagte der Vater. »Geh in den Hypnonder.« »Begreift doch«, rief der Knabe heftig, »ich will ich bleiben!« Die Frau flüchtete in die Arme ihres Gatten. Sie betrachtete den Sohn wie einen Toten.
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Nachwort Die Anthologie »Phantastische Träume« ist der Jubiläumsband 100 der »Phantastischen Bibliothek«; er soll einen Querschnitt durch die dort veröffentlichte phantastische Literatur geben, d. h. die kürzeren Erzählungen darunter. Historisch ist die »Phantastische Bibliothek« aus dem Zusammenschluß, in Taschenbuchform, der seinerzeitigen gebundenen Reihen »Bi bliothek des Hauses« (26 Bände, 1969-1975, herausgegeben von Kalju Kirde, die sich vornehmlich der unheimlich phantastischen Literatur widmete) und »Science Fiction der Welt« (15 Bände zwischen 1971 und 1975, herausgegeben von Franz Rottensteiner) entstanden. Science-fiction und unheimliche Phantastik werden von den Theoretikern streng geschieden, in der Verlagspraxis und der Rezeption des Publikums gehen sie aber häufig zusammen und werden unter dem Oberbegriff einer sehr weit gezogenen »Phantastischen Literatur« zusammengefaßt. Das entspricht zwar der Alltagssprache, doch wenden sich dagegen nicht selten die Puristen der phantastischen Literatur im engeren Sinne. Man muß der Alltagssprache jedoch recht geben, denn tatsächlich handelt es sich ja bei der Science-fiction und der phantastischen Literatur im engeren Sinne, also einer Literatur, deren kennzeichnendes Merkmal der Konflikt zweier Weltord nungen ist, einer natürlichen und einer übernatürlichen, um zwei Seiten einer Medaille. Beide, Science-fiction wie unheimliche Phantastik beschäftigen sich zwar mit Dingen, die es nicht gibt, doch ist die SF im idealtypischen Sinn, d. h. also in dem, den es, boshaft gesagt, in der Alltagswirklichkeit kaum gibt (das Verhältnis zwischen den beiden Arten von SF ist etwa das zwischen Sozialismus und dem »realen Sozialismus« der kommunistischen Staaten) eine Literatur rationaler Spekulation, die im längeren Gedankenexperiment mit Logik und Phantasie Modellwelten entwirft und Denkmögliches 499
analytisch beschreibt; die Phantastik hingegen widmet sich der dunkleren Seite der menschlichen Natur und den Abgründen der menschlichen Seele. Wo die Science-fiction rational ist, ist die Phantastik emotional, sie verkörpert eine in sich zerrissene Welt, die den Wurzeln der menschlichen Psyche entspringt, den Ängsten, Sehnsüchten, kaum eingestandenen dunklen Impulsen des Menschen. Ihre Wahrheit ist eine psychologische; darin liegt ihre historisch-literarische Bedeutung und Rechtfertigung, was zum Beispiel auch erklärt, warum so viele Autoren der Weltliteratur die eine oder andere phantastische Erzählung geschrieben haben. Die SF entspringt natürlich auch, wie es anders nicht sein kann, psychischen Wurzeln der Autoren und spricht psychische Bedürfnisse der Leser an – und zwar häufig nicht die vorgeblichen intellektuellen, sondern kindischen Wunschträume, aber ihren ganzen Grundlagen nach beschäftigt sich die SF weit mehr mit objektiven Gegebenheiten der Welt als mit inneren Zuständen. Somit ist die in der »Phantastischen Bibliothek« vorgelegte Literatur durchaus ganz verschiedener, dualer Natur, was ich keineswegs für einen Mangel halte, auch wenn ich selbst klare intellektuelle Unterscheidungen bevorzuge, und »Phantastik« ist nun einmal der übliche und keineswegs unglückliche Oberbegriff für beide Arten. Bei der Lektüre sollte man sich nur klar vor Augen halten, was jeweils die Intentionen des Autors sind; was insofern keine Schwierigkeiten bereiten sollte, als auch in der SF wie der Phantastik im engeren Sinne die Autoren die grundverschiedensten Absichten verfolgen, und was für die einen eine Methode ist, ist für andere ein Inhalt. Theoretische Unterscheidungen aber sind, so sehr sie das Herz der Literaturtheoretiker erfreuen, für die Leser, wenn überhaupt, nur von zweitrangiger Bedeutung, und auch die Edition »Phantastische Bibliothek« ist nicht dem einen oder anderen Phantastikbegriff verpflichtet, sondern in erster Linie den originellen und begabten Schöpfern; Gattungs 500
bestimmungen können nicht mehr sein als grobe Richtschnur, für die Theorie wesentlich, aber für die kreativen Autoren nur dazu da, um durchbrochen zu werden, wobei sie sich um so weniger um starre Grenzen kümmern, je talentierter sie sind. Daher werden in der »Phantastischen Bibliothek« Autoren wie Stanislaw Lern, H. P. Lovecraft, Herbert W. Franke, J. G. Ballard, Johanna Braun und Günter Braun, Arkadi und Boris Strugatzki und Algernon Blackwood betreut. Jeder dieser Autoren hat eine sehr distinktive Stimme, sie alle werden bewundert oder abgelehnt, sie sind so verschieden, wie Schriftsteller nur sein können, aber sie vertreten, jeder auf seine Art, eine eigenständige, schöpferische und individuelle Literatur- und Weltauffassung. Stanislaw Lem ist wohl das Ideal, was SF in intellektueller Hinsicht, beim Ausdenken genuin neuer Möglichkeiten, die keine lediglich verkleideten Situationen der Vergangenheit sind, wirklich leisten kann, ohne deswegen zu bloßer Didaktik zu werden. Lems Werk entspricht einem Ideal gedanklicher Tiefgründigkeit, die sich auch in literarisch ungemein reizvollen und vielseitigen Texten niederschlägt; seine Spannweite reicht von Texten von nahezu wissenschaftlicher Strenge, die eine Mischform zwischen Erzählung und Essay sind, bis hin zu überbordenden Märchen, Fabeln und Satiren. Zu den erfolgreichsten Büchern dieses Autors zählen die Sterntagebücher mit den Abenteuern seines kosmischen Münchhausens oder Gullivers Ijon Tichy; diese Gestalt hat in Lems literarischem Universum inzwischen eine dominierende Stellung erlangt, denn abgesehen von den Sterntagebüchern tritt Tichy auch in den Romanen Der futurologische Kongreß und Lokaltermin (Wizja Lokalna, bis her unübersetzt) auf, und derzeit schreibt Lern an einem neuen Tichy-Roman, von dem die »Verdoppelung«, wenngleich in sich geschlossen, das erste Kapitel ist. J. B. Ballard, Arkadi und Boris Strugatzki, Herbert W. Franke, H. P. Lovecraft oder Johanna und Günter Braun 501
können sich an Vielseitigkeit mit Lern nicht messen, aber sie alle haben ihre unverkennbare und wertvolle Eigenart. Bei den Gebrüdern Strugatzki etwa ist es die Sozialkritik, eine satirisch-groteske Haltung, die sich ebenso aus der russischen Tradition grotesker Literatur von Gogol an ergibt wie aus den Lebensumständen in der Sowjetunion; ähnlich kritisch und gegenwartsbezogen ist das skurril-versponnene, der deutschen Romantik und Autoren wie Jean Paul verpflichtete Werk des Ehepaars Braun, die vielleicht die talentiertesten Schriftsteller in der SF des deutschen Sprachraums sind. J. G. Ballard wiederum gehört zu den obsessiven Schriftstellern, für ihn ist die SF wohl, wie für die Brauns auch, eine Methode, die Gegenwart und ihre Entwicklungen in den Griff zu bekommen und zu verstehen, und er tut das auf eine ungemein dichte, symbolhafte Weise, die sich bei aller Konzentration auf ständig wiederkehrende Symbole dennoch nicht in bloßer Wiederholung erschöpft, sondern immer wieder neue überraschende Facetten aufweist. Ein ähnlich besessener Schriftsteller ist, so überraschend dieser Vergleich viele berühren mag, H. P. Lovecraft, ein philosophischer Materialist, der sich wie Ballard auf die Wissenschaft beruft, aber von seinen inneren Ängsten mehr angetrieben wird als von der objektiven Naturwissenschaft. Als Schriftsteller ist Lovecraft nicht unumstritten; neben überschwenglichem Lob schlägt ihm auch beißender Spott, Geringschätzung und sogar Haß entgegen, und er wird zuweilen bloß als psychisch kranker Sonderling abgetan – und manche halten ihn für schlechtweg langweilig und einen immens schlechten Schriftsteller. Schwerlich leugnen läßt sich jedoch, daß Lovecraft eine völlig neue Art kosmischen Grauens in die Literatur eingeführt hat, die durch ihre systematische Art und Totalität ungemein modern (wenn auch mit sehr altmodischen Zügen) wirkt, was die Beliebtheit dieses den Leser aufwühlenden Autors teilweise erklären mag. 502
Der Wissenschaft verpflichtet ist auch Herbert W. Franke, ein didaktisch denkender Autor, dem es weniger auf die literarisch raffinierte Art der Darstellung als auf den übermittelten Problemgehalt selbst ankommt, und der die SF deswegen schätzt, weil sie es ihm ermöglicht, jene Probleme darzustellen, die er in unserer Zeit und in Zukunft für wichtig hält. Aus der Selbstbeschränkung des Stils hat Franke eine darstellerische Tugend gemacht, und die Konsequenz, mit der er seinem Programm spannender Problemliteratur treu bleibt, verdient Achtung und Anerkennung (und hat sie auch gefunden). Die genannten Schriftsteller haben bei aller Verschiedenheit gemeinsam, daß bei ihnen die Probleme gleichberechtigt neben dem rein Schriftstellerischen zu finden sind und daß der Gehalt immer eine Rolle spielt: sie wollen nicht einfach nur etwas erzählen. Meine Sympathie gehört durchaus jenen Schriftstel lern, die sich nicht nur bemühen, das etwas besser zu schreiben, was von anderen in der Science-fiction, die ein von literarischen Wiederkäuern beherrschtes Genre ist, schon Dutzende Male geschrieben worden ist. Es gibt genügend Science-fiction, die keine Spur eines neuen Gedankens enthält. Vom reinen Schund abgesehen, der zahlreich genug ist, muß man der Masse der SF vorwerfen, daß es sich bei ihr um bestenfalls routiniert geschriebene Erzeugnisse handelt, in denen flüssig von Pseudoproblemen oder gar nichts geschwätzt wird; eine Literatur, in der, um mit Dieter Hasselblatt zu sprechen, der »Gänsemarsch des Gängigen« vorherrscht. Im Zweifelsfalle gebührt der Vorzug immer dem Autor, der zwar vielleicht (noch) weniger gewandt schreibt, aber sich mit Dingen beschäftigt, die etwas zu bedeuten haben. Lem, die Strugatzkis, die Brauns, Franke, Ballard und Love craft bilden sozusagen das Rückgrat der »Phantastischen Bibliothek«; die Werke dieser Autoren erscheinen so vollständig als möglich. Ergänzt werden sie durch 503
Anthologien, kritische Abhandlungen (vor allem in den Almanachen Polaris und Phatcon), bemerkenswerten Schriftstellern und Werken der Vergangenheit (wie Jerzy Zulawski oder Villiers de l'Isle-Adam), herausragenden Einzel werken und vielversprechenden jüngeren Autoren wie etwa Peter Schattschneider und Michael Weisser. Dieser Band vereint einige Erstveröffentlichungen von Stammautoren mit einem Spektrum der »Phantastischen Bibliothek«, Beispielen der verschiedensten Spielarten phantastischer Literatur. Diese Erzählungen sind die Art von Literatur, die mir vorschwebt; das breite Angebot sieht anders aus. Der derzeitige Erfolg der Science-fiction legt den Gedanken nahe, daß er etwa auf ein gestiegenes Niveau der angebotenen Texte zurückzuführen sei; was sich aber geändert hat, ist weniger die SF selbst als vielmehr der Markterfolg. Zwar ist eine gewisse Tendenz zu stilistischer Verbesserung in der SF unverkennbar, aber diese beschränkt sich auf die konsumgerechte Aufbereitung als Unterhaltungsliteratur; entscheidender ist jedoch eine vermehrte Hinwendung zu Wunscherfüllungsphantasien, oberflächlich modernisierten Sagen und Märchen und pseudowissenschaftlichen Mystifikationen. In der »Phantastischen Bibliothek« steht zwar Rationales und Irrationales literarisch gleichberechtigt neben einander, aber die Art von Phantastik, die Genregrenzen nicht so sehr überwindet als vielmehr ignoriert, wird der Leser hier nicht finden. Texte abseits der üblichen Science-fiction, die Verbindung von Gedanke mit literarischem Anspruch, die originelle schriftstellerische Aussage – das sind die Ziele der »Phantastischen Bibliothek«; hier sollen auch Autoren zu Wort kommen, die in weniger zugänglichen Sprachen als das Englische schreiben und weniger bekannt sind, aber es verdienen, als Schöpfer phantastischer Literatur bekannt zuwerden. Franz Rottensteiner 504
Quellen- und Übersetzungshinweise Stanislaw Lem: »Die Verdoppelung« (Podwojenie). Copyright © 1983 by Stanislaw Lem. Aus dem Polnischen von Edda Werfel. J. G. Ballard: »Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter«
(Memories of the Space Age, in: Interzone, Vol. i, No. z,
Summer 1982.). Copyright ©Interzone 1981. Aus dem
Englischen von Maria Gridling.
J. Braun, G. Braun: »Limbdisten«. Copyright ©1983 byj. und
G. Braun. H. W. Franke: »Der Atem der Sonne«. Copyright © 1983 by H.
W. Franke. Peter Schattschneider: »Die Jez'r Fragmente«. Copyright ©
1983 by Peter Schattschneider.
Cordwainer Smith: »Das ausgebrannte Gehirn« (The Burning
of the Brain, in: Cordwainer Smith, Sternträumer, Insel Verlag
1975). Copyright 1958 by Quinn Publishing Co. Aus dem
Amerikanischen von Rudolf Hermstein.
Vladimir Colin: »Die letzte Verwandlung des Tristan«
(Ultimul avatar al lui Tristan, in: Franz Rottensteiner, Hrsg.,
Die Ratte im Labyrinth, Insel Verlag 1971). Copyright ©1966
by Vladimir Colin. Aus dem Rumänischen von Marie Therese
Kerschbaumer.
H. P. Lovecraft: »Die Farbe aus dem All« (The Colour Out of
Space, in: H. P. Lovecraft, Das Ding auf der Schwelle, Insel
Verlag 1969). Copyright © 192.7 by Experimenter Publishing
Co. for Atnazing Stories. Aus dem Amerikanischen von Rudolf
Hermstein.
Jean Ray: »Der Friedhofswächter« (Le gardien du cimetiere,
in: Jean Ray, Die Gasse der Finsternis, Insel Verlag 1972.).
Copyright ©1961 Editions Gerard & Co. Aus dem
Französischen von Willy Thaler.
E.A.Poe: »> William Wilson« (William Wilson.in: E. A. Poe,
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Der Fall des Hauses Ascher, Insel Verlag 1972.. Aus dem Amerikanischen von Arno Schmidt. Die Nutzung der Übersetzung erfolgt mit Genehmigung des Walter Verlages, Ölten. Ambrose Bierce: »Einer von den Vermißten« (One of the Missing, in: Ambrose Bierce, Das Spukhaus, Insel Verlag 1969). Aus dem Amerikanischen von Anneliese Strauß. Josef Nesvadba: »Die zweite Insel des Doktor Moreau« (Druhy ostrov Doktora Moreau, in: Josef Nesvadba, Die absolute Maschine, Artia 1966). Copyright ©1966 by Artia Prague. Aus dem Tschechischen von Erich Bertleff. Stefan Grabinski: »Das Gebiet« (Dziedzina, in: Stefan Grabinski, Dunst, Insel Verlag 1974). Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. Fitz-James O'Brien: »Die Diamantlinse« (The Diamond Lense, in: Kalju Kirde, Hrsg., Das unsichtbare Auge, Suhrkamp Verlag 1979). Aus dem Amerikanischen von Michael Walter. Algernon Blackwood: »Die Weiden« (The Willows, in: Algernon Black-wood, Das leere Haus, Insel Verlag 1969). Copyright ©E. Nash 1910. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Lord Dunsany: »Der Gibbelin-Hort« (The Hoard of the Gibbelins, in: Lord Dunsany, Das Fenster zur anderen Welt, Insel Verlag 1971). Copyright ©William Heinemann. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Bernd Ulbrich: »Ein Gott hat geweint« (in: Bernd Ulbrich, Der unsichtbare Kreis, Suhrkamp Verlag 1981). Copyright © 1977 Das Neue Berlin.
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Über die Autoren Stanisiaw Lem (geb. 1921) ist der erfolgreichste Vertreter der modernen polnischen Literatur und der wichtigste lebende SFAutor. In der »Phantastischen Bibliothek« erschienen bislang 16 seiner Bücher. J. G. -Ballard (geb. 1930) ist ein ungemein dichter, sogar obsessiver symbolischer Schriftsteller und der führende SFAutor Englands. Nach und nach erscheinen fast alle seiner Bücher in der »Phantastischen Bibliothek«, einige liegen bereits vor, darunter Billenium, Kristallwelt und Der ewige Tag. Johanna Braun (geb. 1929) und Günter Braun (geb. 1928) schreiben ihre Erzählungen und Romane stets gemeinsam. Sie sind die führenden Phantastik-Autoren der DDR, ihr Gesamtwerk erscheint bei Suhrkamp, darunter auch einige in der DDR nicht veröffentlichte Texte. In der »PhB« liegen bisher vor: Der Irrtum des Großen Zauberers, Unheimliche Erscheinungsformen auf Omega Kl, Der Fehlfaktor, Conviva ludibundus, Der Utofant und Das kugeltranszendentale Vor haben. Herbert W. Franke (geb. 1927) studierte Physik, Mathematik, Chemie, Psychologie und Philosophie. Er ist Autor zahlreicher Fach-, Sach-und Science-fiction-Bücher. Als SF-Autor zählt er zu den Stützen der »PhB«, seine neuen SFBücher erscheinen laufend bei Suhrkamp. Der SF-Almanach Polaris 6 ist ganz seinem Schaffen gewidmet. Peter Schattschneider (geb. 1950) ist Physiker von Beruf, derzeit arbeitet er als Assistent an der Technischen Universität Wien an seiner Habilitation. In der »PhB« liegt seine Kurzgeschichtensammlung Zeitstopp vor; ein weiteres Buch befindet sich in Vorbereitung. Cordwainer Smith (1913-1966), mit wirklichem Namen Paul Myron Anthony Linebarger, war Professor an der John 507
Hopkins-Universität, China-Kenner und Spezialist für psychologische Kriegführung. Zwei Bände seiner eigenwilligen, mythisch-sagenhaften Erzählungen erschienen im Insel Verlag und werden in der »PhB« neu aufgelegt: Herren im All und Sternträumer: Vladimir Colin (geb. 1921) ist Redakteur der rumänischen Literaturzeitschrift Viata romäneascä und wohl der beste Phantastikautor seines Landes. Er schrieb Gedichte, Theaterstücke, Kindermärchen, mehrere phantastische Romane und viele SF-Erzählungen. H. P. Lovecraft (1890-1937) ist der bedeutendste amerikanische Autor unheimlicher Erzählungen im 2o. Jahrhundert. Sein Werk hat begeisterte Anhänger gefunden, wenn ihm Erfolg und literarische Anerkennung auch erst nach dem Tode zuteil wurden. Zu Lebzeiten erschienen die meisten seiner Erzählungen nur in billigen phantastischen Zeitschriften, viele wurden überhaupt erst posthum veröffentlicht. Sein Werk erscheint durchgehend in der »Phantastischen Bibliothek«. Jean Ray (1887-1964), eigentlich Raymundus Johannes Maria de Kremer, eine legendenumwobene Gestalt, schrieb eine Unmenge unheimlicher Geschichten, die von Kennern wie H. C. Artmann zu den besten der Gattung gezählt werden. In der von Kalju Kirde herausgegebenen »Bibliothek des Hauses Usher« im Insel Verlag erschien die Kurzgeschichten sammlung Die Gasse der Finsternis und der Roman Malper tuis. E. A. Poe (1809-1849) ist der unübertroffene amerikanische Meister des Grauens, ein unstrittiger Angehöriger der Weltliteratur. Arno Schmidt hat einige Erzählungen Poes kongenial ins Deutsche übertragen. Ambrose Bierce (1841 – Todesdatum unbekannt) ist nach Poe der wichtigste amerikanische Autor unheimlicher Erzählungen. Seine Geschichten zeichnen sich durch scharfe Beobachtungsgabe, Zynismus und schwarzen Humor aus. 508
Josef Nesvadba (geb. 1926) ist Arzt in Prag und schrieb zahlreiche phantastische Erzählungen, die ihn als würdigen Nachfolger Karel Capeks ausweisen. Hinter der heiteren Oberfläche seiner Erzählungen verbirgt sich manche Hintergründigkeit. Eine Auswahl der besten Erzählungen Nesvadbas erscheint unter dem Titel Die absolute Maschine bei Suhrkamp. Stefan Grabinski (1887-1936) war ein polnischer Autor unheimlicher Erzählungen, den Kalju Kirde in den beiden Auswahlbänden Das Abstellgleis und Dunst in der »Bibliothek des Hauses Usher« präsentierte. Grabinski besaß besonderes Geschick bei der Evozierung unheimlicher Orte. Fitz-James O'Brien (1818-1862) wanderte 1851 aus Irland nach den Vereinigten Staaten aus, wo er zahlreiche Erzählungen für Zeitschriften schrieb. Einige seiner Geschichten, darunter »Die Diamantlinse« (1858), gelten als Klassiker der phantastischen Literatur. Algernon Blackwood (1869-1951) war der wohl beste Vertreter der echt britischen Gespenstergeschichte in diesem Jahrhundert. Er schrieb viele Kurzgeschichten, von denen die besten in vier Auswahlbänden in der »Phantastischen Bibliothek« vorliegen. Lord Dunsany (1878-1957) war eine exzentrische Abenteurergestalt; seine Geschichten schrieb er noch mit dem Gänsekiel. Er schuf eine ironisch-verspielte Phantastik von purer Märchenhaftigkeit, in denen moralisch keineswegs makellosen Helden zumeist ein schreckliches Geschick zustößt. Bernd Ulbrich (geb. 1943) war ursprünglich Chemiker, lebt jetzt aber als freier Schriftsteller in der DDR. Das mit seiner ersten Sammlung von SF-Erzählungen, Der unsichtbare Kreis, abgegebene Versprechen hielt der spätere Band Störgröße M leider nicht.
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Zur Phantastischen Bibliothek Einerseits klassische Gespenstergeschichten, phantastische und unheimliche Erzählungen, andererseits utopische und futuristische Konstrukte und Science-fiction: Die Phantastische Bibliothek umfaßt zwei durchaus verschiedene Arten von Literatur, wie sie seinerzeit in den beiden separaten Reihen »Bibliothek des Hauses Usher« und »Science Fiction der Welt« gepflegt wurden. Hier stehen rationelles Kalkül und poetische Vision gleichrangig nebeneinander. Oberste Richtschnur für die Auswahl ist der literarische Text selbst, ohne Unterschied, aus welchem Teil der Welt oder aus welcher Sprache ein Werk kommt; internationale Vielseitigkeit wird angestrebt. Einige Autoren, die alle auf ihre jeweilige, durchaus grundverschiedene Weise für die Gattung exemplarisch sind, für die vielfältige Weise, wie man Science-fiction oder Phantastik schreiben und wie man sie auffassen kann, bilden die Grundpfeiler: J. G. Ballard, Johanna und Günter Braun, Herbert W. Franke, Stanislaw Lem, H. P. Lovecraft und Arkadi und Boris Strugatzki. Ein Engländer, ein Autorenehepaar aus der DDR, ein Österreicher, der in der Bundesrepublik lebt, eine Pole, ein Amerikaner und ein sowjetisches Brüderpaar, das seine Bücher stets gemeinsam schreibt. Daneben stehen beachtenswerte Werke origineller Autoren, repräsentative Anthologien, Ausgrabungen klassischer Utopien, die Werke vielversprechender junger deutscher Autoren und wesentliche kritische Abhandlungen zur Gattung, sowohl in den beiden Almanachreihen Phaicon und Polaris wie in Büchern wie denen von M. G. Becher, Stanislaw Lern oder Darko Suvin. J. G. Ballard (geb. 1921), als Science-fiction-Autor keineswegs unumstritten, gilt heute dennoch als der weitaus originellste SF-Autor Englands. Er hat allerdings mehr Anerkennung außerhalb der Science-fiction als unter typischen 510
SF-Lesern gefunden, darunter von so bemerkenswerten Schriftstellern wie Graham Greene, Anthony Burgess oder Susan Sontag. Seine Romane zeigen einen Zug zur Katastro phe, zur Apokalypse, und speziell seine Erzählungen haben die mythische Kraft von Fabeln und Parabeln und zeichnen sich durch eine eindrucksvolle Bildhaftigkeit aus. Seine Gestalten sind von der Bildsymbolik der Landschaften geprägt, in denen sie sich bewegen. Häufig vorkommende Symbole sind Wasser, Sand, Kristall und Beton. Ballards Landschaften sind meistens menschenleer, aber übersät mit den Relikten menschlichen Tuns. Die Geschichten des obsessiv wirkenden Schriftstellers haben vielleicht nicht die Vielfalt der Texte eines Lern; Ballards Denken und Fühlen kreist um einen begrenzteren Themenkreis, aber er ist ein sehr intensiver Schriftsteller, dessen Bilder eine Bedeutung erahnen lassen, die hinter der Oberfläche der geschilderten Dinge liegt; eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, eine wahre Natur der Welt, die anders ist, als man sie sich gemeinhin vorstellt. J. G. Ballard in der »Phantastischen Bibliothek«: Der ewige Tag und andere Science-fiction-Erzählungen. Deutsch von Michael Walter. 1981.178 S. Phantastische Bibliothek Band 56. st 727 Kristallwelt. Roman. Aus dem Englischen von Margarete Bormann. 1982. 176 S. Phantastische Bibliothek Band 75. st 818 Die Tausend Träume von Stellavista und andere Vermilion-Sands-Stories. Aus dem Englischen von Alfred Scholz. 1982.202 S. Phantastische Bibliothek Band 79. st 833 Billenium. Science-fiction-Erzählungen. Aus dem Englischen von Alfred Scholz und Michael Walter. 1983. ca. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 96. st 896 Hallo Amerika! Science-fiction-Roman. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein. 1983. ca. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 95. st 895 511
Das Katastrophengebiet. Science-fiction-Erzählungen. Aus dem Englischen von Alfred Scholz und Charlotte Franke. 1983. ca. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 103. st 924 Der tote Astronaut. Science-fiction-Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter. 1983. ca. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 107. st 940 Die Dürre. Roman. Aus dem Englischen von Maria Gridling. 1984. ca. 220 S. Phantastische Bibliothek Band 116. st 975 Johanna und Günter Braun, ein Ehepaar, leben in der DDR, aber ihre Werke sind keiner bestimmten Ideologie, sondern der Menschlichkeit, einem überall gültigen Humanismus verpflichtet; sie sind wahrhaft systemüberschreitend und systemüberwindend, jenseits der Forderungen der Tagespolitik. Ihre an Autoren wie E. T. A. Hoffmann und Jean Paul geschulte Erzählweise ist zugleich liebenswürdig romantisch, verträumt und beißend satirisch und entlarvend. Die utopische Methode der Brauns rückt die Dinge in die Entfernung, um sie vom größeren Horizont aus schärfer ausmachen zu können. Ihre Stimme ist die Stimme der Vernunft, die sich vernehmlich Gehör schaffen will. Der literarische Stil der Brauns ist unverkennbar ihr eigener, mit nichts in der Science-fiction vergleichbar. Ihre Helden lehnen sich nicht selten gegen die Machtapparate von Politik, Wissenschaft und Technik und deren Verknüpfungen auf, das scheinbar naive Vorgehen unbekümmerter, jugendlich anmutender Helden fördert manche unbequeme Wahrheit nicht so sehr über die Zukunft als über die Gegenwart und unsere Welt zutage. »Zentrale wiederkehrende Anliegen der Brauns sind die Warnung vor einem unreflektierten Vertrauen in den technischen Fortschritt, die Problematisierung inhumaner Autoritäten und Konventionen, das Plädoyer für selbständiges Denken und mehr Menschlichkeit.« (Horst Heidtmann, NDR III) 512
Johanna Braun und Günter Braun in den »suhrkamp taschenbüchern«: Unheimliche Erscheinungsformen auf Omega XI. Utopischer Roman.1981. 239 S. Phantastische Bibliothek Band 45. st 646 Der Fehlfaktor. Utopisch phantastische Erzählungen. 1981. 194 S. Phantastische Bibliothek Band 51. st 687 Conviva Ludibundus. Utopischer Roman. 1982. 192 S. Phantastische Bibliothek Band 63. st 748 Der Irrtum des Großen Zauberers. Ein phantastischer Roman. 1982. 196 S. Phantastische Bibliothek Band 74. st 807 Der unhandliche Philosoph. Berichte zur Biografie des Sokrates. 1983. 171 S. st 870 Der Utofant. In der Zukunft aufgefundene Journale aus dem Jahrtausend Ul. 1983. 220 S. Phantastische Bibliothek Band 92. st 881 Das kugeltranszendentale Vorhaben. Phantastischer Roman. 1983. ca. 216 S. Phantastische Bibliothek Band 109. st 948 Die unhörbaren Töne. Utopisch-phantastische Erzählungen. 1984. ca. 240 S. Phantastische Bibliothek Band 119. st 983 Herbert W. Franke (geb. 1927) gilt als der unumstritten wichtigste Science-fiction-Autor der Bundesrepublik Deutschland. Sein mittlerweile umfangreiches erzählerisches Werk ist gekennzeichnet durch eine ausgesprochen naturwissenschaftlich-technische Orientierung, den Vorrang der Problembezogenheit vor literarisch-sprachlichen Experimenten. Franke schreibt klar und prägant, sein Stil ist der Thematik untergeordnet. »Man hat immer wieder darauf hingewiesen, daß Herbert W. Franke eine recht einfache, vielleicht sogar karge Sprache gebraucht. Für ihn allerdings ist diese Darstellungsarbeit ein Stilmittel, um bestimmte psychologische Situationen, beispielsweise die Isolation des Menschen in einer technischen 513
Welt, adäquat darzustellen. Ganz abgesehen davon verabscheut er alle Art von Wortschwulst und folgt dem Prinzip, bei jeder Beschreibung auf die kürzestmögliche und prägnanteste Art auszukommen. Das bedeutet allerdings nicht, daß ihm die Sprache nichts bedeutet – im Gegenteil: Er vertritt die Meinung, daß aus den Bereichen der Wissenschaft und der Technik, der Fachterminologie und der Computersprache durchaus neue Impulse für sprachlichen Ausdruck kommen könnten, und damit auch eine Bereicherung literarischer Prosa.« (Susanne Päch in Polaris 6) Die renommierte ZEIT hat besonders den Kurzgeschichten Frankes Anerkennung gezollt. »Fortschritt und Verarmung, Programmierung und Leidenschaft, Funktionieren und Denken, Wissenschaft als Steuerungsinstrument und als Religion. Auf solchen Gegensatzpaaren, dialektisch miteinander verbunden, sind fast alle Geschichten aufgebaut. Lösungen bieten sie nicht an, es sei denn, daß sie dem Leser den qualitativen Sprung suggerieren, der die Gegensätze auf einer anderen Ebene aufheben würde.« Herbert W. Franke in der »Phantastischen Bibliothek«: Ypsilon minus. Mit einem Nachwort von Franz Rottensteiner. 1976 168 S. Phantastische Bibliothek Band 3. st 358 Zarathustra kehrt zurück. Science-fiction-Erzählungen. 1977. 216 S. Phantastische Bibliothek Band 9. st 419 Sirius Transit. 1979. 170 S. Phantastische Bibliothek Band 30. st 535 Zone Null. Roman. 1980. 190 S. Phantastische Bibliothek Band 35. st 585 Einsteins Erben. Science-fiction-Geschichten. 1980. 166 S. Phantastische Bibliothek Band 41. st 603 Schule für Übermenschen. 1980.160 S. Phantastische Bibliothek Band 58. st 730 Paradies 3000. Science-fiction-Erzählungen. 1981. 148 S. 514
Phantastische Bibliothek Band 48. st 664 Keine Spur von Leben . . . Hörspiele. 1982. 231 S. Phantastische Bibliothek Band 69. st 772 Transpluto. Science-fiction-Roman.1982. 194 S. Phantastische Bibliothek Band 81. st 841 Die Kälte des Weltraums. Science-fiction-Roman. 1984. ca. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 121. st 990 Polaris 6. Ein Science-Fiction-Almanach. Herbert W. Franke gewidmet. Herausgegeben von Franz Rottensteiner. 1982. 332 S. Phantastische Bibliothek Band 82. st 842 [Enthält Texte von und über Herbert W. Franke.] Stanislaw Lem (geb. 1921) ist der unstrittig erfolgreichste Science-fiction-Autor im deutschen Sprachraum, sowohl was die Auflagenzahlen (rund 1,5 Millionen in der BRD, 2,5 Millionen in der DDR) angeht als auch die literarische Rezeption. In Lems Werk ist die Science-fiction zur Weltliteratur geworden, was von der Literaturkritik durchaus anerkannt wird. Auch international ist Lem höchst erfolgreich, im englischen Sprachraum erscheinen seine Texte z. B. regelmäßig im anspruchsvollen New Yorker und werden ausführlich in Publikationen wie The New York Times, Time und Newsweek rezensiert. Sein ungemein vielseitiges und umfangreiches Werk verbindet wissenschaftliche Rigorosität mit unerschöpflicher Einfallskraft; kühnes Denken bis an die Grenzen des Möglichen mit moralischer Verantwortung über die Dilemmata, die die Entwicklung der Welt in Zukunft aufwerfen wird. »Lem ist es vornehmlich um vernunftmäßige Erkenntnis und die verzehrende Leidenschaft zu tun, die sie erzeugenkann. Sie sind im weitesten Sinn das Hauptthema seiner meisten, auch der parodistischen oder sonstwie unernsten erzählenden und dramatischen Werke. Man kann sogar sagen, seine belletristischen Schriften seien gleichsam selbst nichts anderes 515
als das, wovon sie handeln, nämlich eine Form der brennenden theoretischen Vernunft.« (Pierre Lachat in Über Stanislaw Lem) »Das von unserer Zivilisation geschaffene Ideal der moralischen Ordnung, das sowohl für den einzelnen wie für ganze menschliche Gesellschaften verpflichtend ist, betrachtet er als ein übergeordnetes Gut, mit dem man nicht leichtsinnig spielen darf. Seine Abneigung gegenüber allen extremistischen Ideologien, die so beflissen die »Aberglauben der Vergangenheit< verurteilen, beweist, daß die literarische Phantasie Lems, durchdrungen mit Rationalismus und Humanismus, zugleich den Rigorosen strengen schriftstellerischen Verantwortungsbewußtseins untergeordnet ist.« (Jan Jozef Szczepariski in »Erstaunlicher Stanislaw Lem«) Stanislaw Lem in der »Phantastischen Bibliothek«: Solaris.
Roman. Aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim.
1975. 238 S. Phantastische Bibliothek Band 11. st 226.
Vergriffen Die Jagd. Neue Geschichten des Piloten Pirx. Aus
dem Polnischen von Roswitha Buschmann, Kurt Keim und
Barbara Sparing. 1976. 261 S.
Phantastische Bibliothek Band 18. st 302
Transfer. Roman. Aus dem Polnischen von Maria Kurecka.
1976. 253 S. Phantastische Bibliothek Band 7. st 324.
Vergriffen Nacht und Schimmel. Erzählungen. Aus dem
Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim. 1976. 290 S.
Phantastische Bibliothek Band 1. st 356
Die Untersuchung. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von
Jens Reuter und Hans Juergen Mayer. 1978. 241 S.
Phantastische Bibliothek Band 14. st 435
Die Astronauten. Aus dem Polnischen von Rudolf Pabel. 1978.
284 S. Phantastische Bibliothek Band 16. st 441
Sterntagebücher. Aus dem Polnischen von Caesar
Rymarowicz. 1978. 478 S. Phantastische Bibliothek Band 20.
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st 459 Memoiren, gefunden in der Badewanne. Aus dem Polnischen von Walter Tiel. 1979. 285 S. Phantastische Bibliothek Band 25. st 508 Der futurologische Kongreß. Aus Ijon Tichys Erinnerungen. 1979. 138 S. Phantastische Bibliothek Band 29. st 534 Der Schnupfen. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. 1979. 210 S. Phantastische Bibliothek Band 33. st 570 Imaginäre Größe. Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz und Jens Reuter. 1981. 204 S. Phantastische Bibliothek 47. st 658 Mondnacht. Hör- und Fernsehspiele. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler, Charlotte Eckert, Jutta Janke und I. ZimmermannGöllheim. 1980. 270 S. Phantastische Bibliothek Band 57. st 729 Terminus und andere Geschichten des Piloten Pirx. Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz. 1981.210 S. Phantastische Bibliothek Band 61. st 740 Die Ratte im Labyrinth. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler, Caesar Rymarowicz, Jens Reuter und Roswitha Buschmann. 1982. 272S. Phantastische Bibliothek Band 73. st 806 Robotermärchen. Aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim. 1982. 148 S. Phantastische Bibliothek Band 85. st 856 Die Stimme des Herrn. Roman. Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann. 1983. 280 S. Phantastische Bibliothek Band 97. st 907 Eine Minute der Menschheit. Eine Momentaufnahme. Aus dem Polnischen von Edda Werfel. 1983. 112 S. Phantastische Bibliothek Band 110. st 955 Phantastik und Futurologie I. Aus dem Polnischen von Beate Sorger und Wiktor Szacki. 1984. 478 S. Phantastische Bibliothek Band 122. st 996 Über Stanislaw Lern. Herausgegeben von Werner Berthel. 1981.246 S. Phantastische Bibliothek Band 36. st 586 H. P. Lovecraft (1890-1937), der »Einsiedler von Providence«, zu Lebzeiten ein nicht einmal verkannter als vielmehr 517
unbekannter Außenseiter, dessen Erzählungen nur in Zeitschriften zweifelhaften Charakters erschienen, errang nach seinem Tode literarischen Weltruhm als logischer Nachfolger E. A. Poes und der wohl beste Genre-Autor des Unheimlichen im 20. Jahrhundert. Auch im deutschen Sprachraum hat dieser Meister des Grauens mittlerweile eine treue Lesergemeinde gefunden. Fehlentwicklungen der Evolution, Dekadenz, vor allem aber der Eingriff jenseitiger kosmischer Mächte in das Weltgeschehen - dadurch zeichnen sich Lovecrafts Erzählungen aus. Kein anderer Autor hat mit solch penibler Akribie, unter Verwendung echten und erfundenen dokumen tarischen Materials in einer geradezu wissenschaftlich zu nennenden Erzählmanier ein System kosmischen Grauens ersonnen, das archetypische Zeitlosigkeit mit aktueller Mo dernität verbindet. » Die vordergründige Erzählung des mit knapper Mühe gebannten absoluten Grauens liest sich zugleich wie eine Allegorie, in der banale Details, triviale Versatzstücke aus dem Vorrat der Gruselliteratur zu einer Figur zusammengetreten sind, die besagt, daß die Welt vielleicht auf nicht ganz geheuren Fundamenten ruht, daß die Angst, das Böse könnte einmal überhandnehmen, gar nicht so unbegründet ist.« (Jörg Drews) H. P. Lovecraft in der »Phantastischen Bibliothek«:
Cthulhu. Geistergeschichten. Deutsch von H. C. Artmann.
Vorwort von Giorgio Manganelli. 1972. 242 S. Phantastische
Bibliothek Band
19. st 29 Berge des Wahnsinns. Zwei Horrorgeschichten. Deutsch von
Rudolf Hermstein. 1975. 216 S. Phantastische Bibliothek Band
24. st 220 Das Ding auf der Schwelle. Unheimliche Geschichten. Deutsch
von Rudolf Hermstein. Mit einem Nachwort von Kalju Kirde.
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1976.212 S. Phantastische Bibliothek Band 2. st 357 Der Fall Charles Dexter Ward. Zwei Horrorgeschichten. Deutsch von Rudolf Hermstein. Mit einem Nachwort von Marek Wydmuch. 1977. 246 S. Phantastische Bibliothek Band 8. st 391 Die Katzen von Ulthar und andere Erzählungen. Herausgegeben von Kalju Kirde. Deutsch von Michael Walter. 1980. 202 S. Phantastische Bibliothek Band 43. st 625 Stadt ohne Namen. Horrorgeschichten. Aus dem Amerikanischen von Charlotte Gräfin v. Klinckowstroem. Mit einem Nachwort von Dirk W. Mosig. 1981. 320 S. Phantastische Bibliothek Band 52. st 694 In der Gruft und andere makabre Geschichten. Deutsch von Michael Walter. 1982. 215 S. Phantastische Bibliothek Band 71. st 779 Die Brüder Arkadi (geb. 1925) und Boris Strugatzki (geb. 1933), die ihre utopischen Erzählungen stets gemeinsam schreiben, sind die wichtigsten Vertreter der russischen »wissenschaftlichen Phantastik« oder Science-fiction, und, nach Stanisfaw Lem, die wichtigsten SF-Autoren in ganz Osteuropa. Wie Lem haben die Strugatzkis eine ungemein fruchtbare und groteske Phantasie, doch sind ihre Erzählungen weniger allgemein-philosophisch und abstrakt auf Erkenntnis ausgerichtet als die Lems, sondern stärker in der konkreten Geschichte und der sozialen Situation Rußlands verwurzelt, die allerdings häufig - in der Tradition von russischen Sozialkritikern wie Gogol oder Bulga-kow - mit stark märchenhaften Zügen auftritt. Die Strugatzkis schreiben eine literarisch anspruchsvolle, metaphorisch verschlüsselte Literatur, in der keineswegs idealisierte Helden in einer beängstigenden, von Spießbürgern und Bürokratenseelen bevölkerten Wirklichkeit um die historisch richtige 519
Entscheidung ringen. »Literatur ohne Kritik an der gegenwärtigen Wirklichkeit gibt es nicht. Jeder Autor fängt doch gerade deshalb an zu schreiben, weil er irgendwelche Dinge kritisiert. Und folglich kritisiert auch jeder Autor phantastischer Literatur wohl oder übel, aber dennoch zwingend die existente Wirklichkeit.« (Arkadi Strugatzki in einem Interview) Arkadi und Boris Strugatzki in der »Phantastischen Bibliothek«: Die Schnecke am Hang. Aus dem Russischen von H. Földeak. Mit einem Nachwort von Darko Suvin. 1978. 276 S. Phantastische Bibliothek Band 13. st 434 Picknick am Wegesrand. Utopische Erzählung. Aus dem Russischen von Aljonna Möckel. Mit einem Nachwort von Stanislaw Lern. 1981. 214 S. Phantastische Bibliothek Band 49. st 670 Montag beginnt am Samstag. Utopisch phantastischer Roman. Aus dem Russischen von Hermann Buchner. 1982. 271 S. Phantastische Bibliothek Band 72. st 780 Die gierigen Dinge des Jahrhunderts. Phantastischer Roman. Aus dem Russischen von Heinz Kübart. 1982. 200 S. Phantastische Bibliothek Band 78. st 827 Fluchtversuch. Science-fiction-Roman. Aus dem Russischen von Dieter Pommerenke. 1983. 116 S. Phantastische Bibliothek Band 89. st 872 Der ferne Regenbogen. Science-fiction-Roman. Aus dem Russischen von Aljonna Möckel. 1983.144 S. Phantastische Bibliothek Band 111. st 956
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