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Jürgen Habermas Philosophisch-politische Profile Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp Verlag
Dritte Auflage 1984 © Suhrk...
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SV
Jürgen Habermas Philosophisch-politische Profile Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp Verlag
Dritte Auflage 1984 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1981 Alle Rechte vorbehalten Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Printed in Germany
In Erinnerung an Theodor W. Adorno
Vorwort
Ich habe die Ausgabe von 1971 im wesentlichen um Beiträge aus den letzten zehn Jahren erweitert. Dadurch hat sich der Umfang ungefähr verdoppelt. Die chronologische Anordnung bemißt sich nach dem Erscheinungsdatum des jeweils ersten Artikels zu einem der behandelten Autoren. Die fünf im Anhang wiedergegebenen Rezensionen befassen sich mit Büchern, die den ideenpolitischen Hintergrund der deutschen Nachkriegsentwicklung, so oder so, beleuchten. Die Gründe, die mich zu einer erweiterten Ausgabe bewegt haben, decken sich nicht ganz mit den im Vorwort zur ersten Auflage erwähnten. Privatere Motive sind hinzugetreten. Es handelt sich ja um publizistische Nebenarbeiten, an denen ich hänge, weil sie ein für mich lebenswichtiges Geflecht intellektueller und persönlicher Beziehungen spiegeln. Autoren, die tot sind, oder Zeitgenossen, die, wie es ganz normal ist im Wissenschaftsbetrieb, anonym bleiben, kommen in die Fußnoten. Über Autoren aber, die noch antworten, und nicht nur so wie ein Text antworten können, schreibt man anders. Es sind Adressaten, Bezugspunkte des eigenen Bildungsprozesses. Über keinen dieser Autoren habe ich geschrieben, ohne daß er mir einen intellektuellen Anstoß gegeben hätte: von jedem könnte ich spontan genau den Gedanken nennen, der die Richtung meines Denkens bestimmt hat. Die behandelten Autoren gehören, wenn ich für Hannah Arendt, die streitbar ihren Mann gestanden hat, um Verständnis bitte - zur Generation der Väter. Natürlich, Wittgenstein, Benjamin und Alfred Schütz habe ich nicht mehr kennengelernt. Aber alle drei sind, während der 60er Jahre, intellektuell in den deutschen Sprachbereich zurückgekehrt; jeder hat, auf seine Weise, eine Welle der Rezeption ausgelöst - Benjamin die dramatischste, Wittgenstein die nachhaltigste. Heidegger, Jaspers und Gehlen gehören (wie auch Plessner) zu den während meiner Studienzeit einflußreichen, aus der Distanz wirkenden Gestalten. Heidegger bin ich nur einmal begegnet, als Zuschauer eines privaten Seminars in Gadamers Haus.
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Jaspers hat mir einmal, veranlaßt durch meinen Artikel in der FAZ, geschrieben, mit der Mischung aus Wohlwollen und Belehrung, die für ihn wohl nicht ganz untypisch war. Gehlen, den beunruhigendsten Intellekt, habe ich bei Schelsky getroffen. Mit den anderen verbinden mich vielfältige persönliche Beziehungen, sei es die durch sachlichen Umgang geprägte Beziehung des Respekts für den älteren Kollegen (Löwith, Plessner) oder die faszinierte Bewunderung für den wegweisenden Geist (Scholem, Hannah Arendt, Bloch); sei es die komplizierte Beziehung zum bedeutenden Vorgänger auf dem Lehrstuhl (Horkheimer) oder die der dankbaren Verehrung für Adorno, auch für Abendroth und Gadamer, die noch zu Lehrern geworden sind, als die Lehrzeit (bei Erich Rothacker und Oskar Becker) schon hinter mir lag; sei es schließlich die herzliche und vorbehaltlose Freundschaft mit Alexander Mitscherlich und Herbert Marcuse oder in letzter Zeit der freundlich-erinnerungsträchtige Umgang mit Leo Löwenthal. Wer sich diese Namen und Profile vergegenwärtigt, wird verstehen, warum ich den ad personam geschriebenen Artikeln meine frühe und vielleicht etwas naive Abhandlung über den deutschen Idealismus der jüdischen Philosophen vorangestellt habe. Ich bin in die unvergleichliche Produktivität dieser letzten Generation deutscher und jüdischer Philosophen wie in einen Sog hineingezogen worden. Über diese Emigranten, zu denen in gewisser Weise auch Mitscherlich gerechnet werden kann, läßt sich generalisierend eines sagen: Ordnungsdenker sind sie nicht. Ein Sinn für das, was bei den Leistungen sozialer und seelischer Integration, was in geschichtlichen und kulturellen Siegen auf der Strecke geblieben ist, macht sich, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe1, bei fast allen bemerkbar: in Benjamins Interesse an den Bruchstellen geschichtlicher Kontinuität; in Adornos Bekenntnis zum Fragment als Form der Erkenntnis; in Scholems Fahndung nach den innovativen Kräften des religiösen Untergrundes; in Blochs Geruch fürs Utopische noch in den banalsten Regungen; in Marcuses Hoffnungen auf die politische Produktivität von Randgruppen; in Plessners Gespür für das Exzentrische als die Stellung, die den Menschen anthropolo1 Im Vorwort zum Reclam-Band 9902, Stuttgart 1978.
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gisch auszeichnet; in Hannah Arendts Leidenschaft für jene seltenen Augenblicke, da die Masse, aus denen Institutionen geformt werden, noch flüssig ist. Der Sinn für die abgestoßenen, die unbeachteten Elemente der Geschichte, die der Rettung bedürfen, beflügelt kritisches Denken in praktischer Absicht. So ist Philosophie bei diesen Denkern nichts Reines und Unantastbares. Wenn ich an die Perspektive denke, aus der ich vor zehn Jahren die philosophisch-politischen Profile zusammengesetzt habe, stelle ich zwei Verschiebungen fest. Die eine betrifft den größer gewordenen Abstand zu der Tradition, in die ich während meiner Frankfurter Zeit hineingewachsen bin; die andere Verschiebung berührt den Blick auf Philosophie im ganzen. In der Zwischenzeit ist, sozusagen zwischen Martin Jay und David Held2, eine breite Literatur über das, was man im angelsächsischen Bereich Critical Theory nennt, entstanden. Soweit ich diese Dinge lese, gewöhnen sie mich an die objektivierenden, verfremdenden Blicke, die jäh auf etwas bislang eher intuitiv Gewußtes fallen. Dabei lerne ich Einzelheiten, von denen ich mir nichts habe träumen lassen. Sodann gibt es, aus der näheren Umgebung, scharfsinnige Analysen, die auf meine eigenen intellektuellen Abhängigkeiten, etwa meine Beziehung zu Adorno, Licht werfen und plötzliche Klarheiten schaffen - ich denke an Arbeiten von Albrecht Wellmer, Axel Honneth und Michael Theunissen. 3 Das erklärt, warum ich mich nun, wie an der Gedenkrede auf Marcuse oder an dem Bericht über Horkheimer und die Zeitschrift für Sozialforschung zu sehen ist, zur Frankfurter Tradition analytisch verhalten und die eigenen Intentionen auch als Rückkehr zur Formierungsperiode der kritischen Theorie begreifen kann. Auf diese Entstehungszeit hatte die »Dialektik der Aufklärung« lange den Blick verstellt.4 2 M. Jay, The Dialectical Imagination, Boston 1973 (dtsch.Ffm.1976) 3 D.Held, Introduction to Critical Theory, London 1980. 3 A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur sprachanalytischen Wende der Kritischen Theorie, in: U. Jaeggi, A. Honneth, Theorien des Historischen Materialismus, Ffm. 1977, 465-500. A. Honneth, Adorno und Habermas, Merkur 374, Juli 1979, 648-664; M. Theunissen, Laudatio aus Anlaß der Verleihung des Adorno-Preises 1980. 4 H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Ffm. 1978.
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Ein anderer Perspektivenwechsel findet in diesem Band noch keinen Ausdruck. In der Einleitung von 1971 habe ich einer Theorie der Wissenschaften in praktischer Absicht das Wort geredet. Es ging mir damals um den internen Zusammenhang »der Logik der Forschung mit der Logik willensbildender Kommunikationen«. Ich würde heute den Akzent etwas anders setzen. Einerseits traue ich der Philosophie innerhalb der Wissenschaften selbst, im Hinblick vor allem auf jene rekonstruktiven Wissenschaften, welche die Grundlagen der Rationalität von Erfahrung und Urteil, Handlung und Verständigung aufklären, eine aktivere Rolle zu: teils als Zuarbeiter zu einer Theorie der Rationalität, teils als Platzhalter für empirische Theorien mit starken, universalistischen Ansprüchen, die sich noch nicht haben durchsetzen können. Andererseits würde ich die Funktionen der Aufklärung nicht länger auf die Rolle der Vermittlung allein zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis zuspitzen. Das im Verlauf der 70er Jahre deutlicher ins Bewußtsein getretene Problem, das ein beredter Neukonservativismus um so hastiger verdrängen möchte, ist vielmehr: wie die unter jeweils einem abstrakten Geltungsanspruch spezialisierten Wissenskomplexe, wie die als Expertenkulturen eingekapselten Sphären der Wissenschaft, der Moral und der Kunst geöffnet und, ohne daß ihr zerbrechlicher Eigensinn verletzt würde, so an die verarmten Traditionen der Lebenswelt angeschlossen werden können, daß sich die auseinandergetretenen Momente der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis wieder zusammenfügen. Die der Lebenswelt zugewandte Interpretenrolle der Philosophie sehe ich heute eher so, daß sie dabei hilft, das stillgestellte Zusammenspiel des Kognitiv-Instrumentellen mit dem Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven wie ein Mobile, das sich verhakt hat, wieder in Bewegung zu setzen.5 Der Haken sitzt freilich ziemlich fest. Die Lebensformen kapitalistisch modernisierter Gesellschaften, und dazu bietet der bürokratische Sozialismus nur eine weniger attraktive Variante, werden zweifach entstellt: durch die unaufhaltsame Entwertung ihrer Traditionssubstanz und durch die Unterwerfung unter Imperative 5 Vgl. meine Rede: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: Kleine politische Schriften I-IV, Ffm. 1981.
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einer vereinseitigten, aufs Kognitiv-Instrumentelle beschränkten Rationalität. Die Philosophie, die im Inneren des Wissenschaftssystems den Platz für anspruchsvolle Theoriestrategien freihält, kann sich, nach außen gewendet, der Mission annehmen: die in ihre autonomen Bezirke zurückgezogene kulturelle Moderne geschmeidig zu machen, um sie einer Lebenspraxis zuzuführen, die doch gleichzeitig vor den Zumutungen eines unvermittelten Zugriffs der Experten behütet werden muß. Starnberg, im November 1980
J. H.
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Vorwort zur ersten Auflage
Die hier gesammelten Aufsätze, deren ältesten ich, unbeholfen genug, noch während meiner Studienzeit geschrieben habe, sind Ergebnis philosophischer Tagesschriftstellerei, und zwar einer recht bürgerlichen: überwiegend sind die Arbeiten aus Anlaß von Gedenktagen für philosophierende Zeitgenossen oder bei Gelegenheit gewichtiger philosophischer Veröffentlichungen entstanden. Einige frühe Aufsätze stehen noch in einem Kontext, der mir inzwischen selber fremd geworden ist. Das Interesse jedoch gilt dem politischen Einfluß von acht deutschen Philosophen; es richtet sich auf individuiertes Denken, das in einzelnen inkarniert ist; von deren Fleisch läßt es sich nicht ablösen. Ich habe den Eindruck, daß dieser Typus von Denken in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre eine Art Nachblüte gehabt hat - und nun sein Ende findet. Wenn dieser Eindruck nicht trügt, werden bestimmte typische Folgen des Philosophierens alsbald Vergangenheit sein. In der Einleitung zu diesem Bande untersuche ich die Frage, ob nicht auch und vielleicht gerade die politischen Folgen einer in großen Lehrern auftretenden Philosophie, auf die der Studentenprotest die Aufmerksamkeit einer argwöhnischen Öffentlichkeit wiederum gerichtet hat, einer bereits Geschichte gewordenen Gestalt der Philosophie zugehören. Andererseits wird Philosophie nicht einfach verschwinden (oder durch Methodologie ersetzt). Praktisch folgenreiche Interpretationen werden die Wissenschaften begleiten müssen, wenn wir nicht über dem Triumph der wissenschaftlichen Methode das Bewußtsein der dieser Methode auch eigentümlichen Bornierungen verlieren sollen. Marx hat die Philosophie totgesagt. Seitdem versucht das philosophische Denken in ein neues Element einzutreten. Im November 1970
J. H.
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Einleitung: Wozu noch Philosophie? (1971)
Vor fast neun Jahren hat Adorno die Frage: Wozu noch Philosophie? so beantwortet: »Philosophie, wie sie nach allem allein zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja, müßte den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element.«1 Nun ist dieser Widerspruch das Element der ernst zu nehmenden Philosophie schon seit Hegels Tod. Die von Adorno aufgenommene Frage entspringt nicht einem Einfall, sie hat seit dem Ende der großen Philosophie wie ein Schatten alles Philosophieren begleitet. Freilich haben, in diesem Schatten, vier, fünf Philosophengenerationen Marxens Dictum von der Aufhebung der Philosophie überlebt. Heute drängt sich die Frage auf, ob sich die Gestalt des philosophischen Geistes ein zweites Mal verändert hat. Wenn damals, was man retrospektiv so genannt hat, die »große« Philosophie ein Ende gefunden hat, so scheinen heute die großen Philosophen selber dieses Schicksal zu teilen. Auch nach der Preisgabe des systematischen Anspruchs auf eine Fortsetzung der philosophia perennis hatte sich ja in den letzten anderthalb Jahrhunderten der Typus der in wirkungsvollen Lehrern (und Schriftstellern) auftretenden Philosophie behauptet; nun mehren sich die Anzeichen, die dafür sprechen, daß der Typus dieses in einzelnen Philosophen verkörperten Denkens seine Kraft verliert. Heideggers 80. Geburtstag war nur noch ein privates Ereignis; Jaspers' Tod blieb spurenlos; für Bloch scheinen sich in erster Linie die Theologen zu interessieren; Adorno hinterläßt ein chaotisches Gelände; Gehlens jüngstes Buch hat fast nur noch biographischen Wert - das ist gewiß eine deutsche, eine provinzielle Perspektive. Aber wenn ich recht sehe, ist in den angelsächsischen Ländern und in Rußland Philosophie seit Jahrzehnten in das Stadium eingetre1 Th. W. Adorno, Eingriffe, Ffm. 1963, S. 14.
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ten, für welches der Titel der offiziellen Fachzeitschrift2 die Disziplin auch in Deutschland schon längst reklamiert, eben in das Stadium der Forschung, die wissenschaftlichen Fortschritt kollektiv organisiert. Ich möchte darüber keineswegs lamentieren, aber dieser Umstand rechtfertigt zunächst eine Konzentration auf das deutsche Beispiel. Hier scheint das Phänomen auffällig ausgebildet zu sein, das uns interessiert: die Transformation eines Geistes, der sich, sozusagen bis gestern, im Medium der alten Philosophie bewegt hat. Freilich verfolge ich diese Frage nicht um einer erbaulichen Retrospektive willen. Nicht ein Abgesang auf Philosophie ist Ziel dieser Überlegungen, sondern die Exploration der Aufgaben, die dem philosophischen Denken heute legitimerweise sich stellen, nachdem nicht nur die große Tradition an ein Ende gelangt ist, sondern, wie ich vermute, auch der an individuelle Gelehrsamkeit und persönliche Repräsentation gebundene philosophische Denkstil.
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Ich möchte von vier Beobachtungen ausgehen, die man angesichts der deutschen Philosophie des letzten halben Jahrhunderts gewinnen kann. Zunächst (a) drängt sich die erstaunliche Kontinuität der Schulen und der prinzipiellen Fragestellungen auf. In den zwanziger Jahren sind im deutschen Sprachraum bereits die theoretischen Ansätze entstanden, die die philosophische Diskussion noch in den 50er und 60er Jahren beherrscht haben. Damals haben sich gegen die imperiale Stellung des Neukantianismus, dessen Einfluß weit über die deutschen Grenzen hinausreichte, im wesentlichen fünf philosophische Impulse durchgesetzt: mit Husserl und Heidegger eine teils transzendentallogische, teils ontologisch gerichtete Phänomenologie; mit Jaspers, Litt und Spranger eine an Dilthey anknüpfende, teils existentialistisch, teils neuhegelianisch eingefärbte Lebensphilosophie; mit Scheler und Plessner (und in gewisser Weise auch mit 2 Zeitschrift für philosophische Forschung.
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Cassirer) die philosophische Anthropologie; mit Lukás, Bloch, Benjamin, Korsch und Horkheimer eine auf Marx und Hegel zurückgreifende kritische Sozialphilosophie; und schließlich mit Wittgenstein, Carnap und Popper der im Wiener Kreis zentrierende logische Positivismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg, also nach der Exilierung und der Unterdrückung des besseren Teiles der deutschen Philosophie, sind diese Traditionen nun keineswegs abgerissen; vielmehr kehren, in leicht veränderter Konstellation, vielfach in denselben Personen, dieselben Theorien und Schulen wieder. Eine Ausnahme macht nur der inzwischen ungewöhnlich fruchtbar entfaltete und differenzierte, in den angelsächsischen Ländern zur herrschenden Philosophie gewordene Neopositivismus, der in den 50er Jahren von außen nach Deutschland zurückgewirkt hat und hier in den philosophischen Seminaren eine große indirekte Wirksamkeit gewonnen hat: von den erfolgreichen »Wiener« Emigranten ist niemand zurückgekehrt. Aber alle zentralen Figuren, die in den letzten zwei Jahrzehnten die philosophische Szene in Deutschland bestimmt haben, lassen sich zwanglos im Traditionsmuster der 20er Jahre lokalisieren: Heidegger und Jaspers, Gehlen, Bloch und Adorno, Wittgenstein und Popper. Die Kontinuität der Entwicklung wird durch ein weiteres (b) Moment noch verstärkt: durch die ungebrochen personalistische Erscheinungsform des philosophischen Denkens. Es ist kein Zufall, daß sich die philosophischen Konstellationen ohne große Schwierigkeiten durch Namen charakterisieren lassen. Bis heute hat sich das philosophische Denken in einer Dimension bewegt, in der die Form der Darstellung dem philosophischen Gedanken nicht äußerlich bleibt. Die tatsächliche Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, die sich in dieser Art individuierten Denkens bisher ausgedrückt hat, fordert eine Kommunikation nicht nur auf der Ebene der propositionalen Gehalte, sondern zugleich auf der metakommunikativen Ebene interpersonaler Beziehungen. In dieser Hinsicht ist Philosophie nie Wissenschaft gewesen; stets blieb sie an die Person des philosophischen Lehrers (und Schriftstellers) gebunden. Daß sich Philosophie in Deutschland das rhetorische Element (übrigens auch bei denen, die im Namen einer szientisti-
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sehen Philosophie dagegen Sturm laufen3) bisher bewahrt hat, ist, wie der internationale Vergleich zeigt, per se ein auffälliger Umstand. Freilich zeichnet sich auch bei uns eine Depersonalisierung der Philosophie ab. Wahrscheinlich werden wir in wenigen Jahren jenen Gestus, der in den vergangenen Jahrzehnten noch selbstverständlich gewesen ist, als altmodisch empfinden; ich meine den rhetorischen Gestus, mit dem eben Heidegger und Jaspers, Gehlen, Bloch und Adorno als akademische Lehrer vor ihren Studenten, in der literarischen Öffentlichkeit, in der politischen Publizistik, sogar in den Massenmedien ihre Gedanken vertreten, geradezu exerziert und verbreitet haben. Wie das Beispiel Jaspers zeigt, bedarf es dazu keineswegs immer einer expressiven oder einer hoch stilisierten Sprache, obgleich die Wahl der philosophischen Schlüsselworte, wie trocken sonst das Kathederdeutsch sein mag, niemals nur terminologische Bedeutung, sondern auch Ausdrucksqualität für die Zwecke indirekter Mitteilung hat. Vielleicht wird bald, in der breiten Öffentlichkeit, an die Stelle einer in repräsentativen Personen auftretenden Philosophie das synthetische wissenschaftliche »Weltbild« treten, das entweder von den Popularisatoren unter den Einzelwissenschaftlern oder von nicht dilettantischen Wissenschaftsjournalisten in immer neuen Versionen entworfen wird. An der philosophischen Entwicklung in Deutschland ist ferner (c) die Fixierung an das zeitgeschichtliche Phänomen des Faschismus bemerkenswert. Die Gewalt dieses objektiven Vorgangs hat alle Lager polarisiert. Auch die Philosophen und die Philosophien der 20er und frühen 30er Jahre rücken zwangsläufig in die Perspektive der geistigen Vorgeschichte des Faschismus ein; sie können Indifferenz gegenüber dem, was gefolgt ist, nicht behaupten. Mit der Unschuld eines neutralistischen Selbstverständnisses ist es nach 1945 ohnehin vorbei. Die politische Lebensgeschichte trennt Exilierte (und Zurückkehrende) wie Bloch, Horkheimer, Adorno von den »inneren« Emigranten (vieler Schattierungen) wie Jaspers und Litt und von den intellektuellen Vorreitern oder temporären 3 Vgl. beispielsweise H. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, in: C. Grossner u.a. (Hrg.), Das 19. Jahrzehnt, Hamburg 1969, S. 277-305.
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Nothelfern des Regimes wie Heidegger, Freyer und Gehlen. Freilich hätte diese biographische Hypothek ihr Gewicht nicht über zwei Jahrzehnte behalten können, wenn nicht das Problem der mittelbaren intellektuellen Urheberschaft politischer Verbrechen, überhaupt der praktischen Folgen und Nebenfolgen des Philosophierens bestanden hätte und als systematische Frage doch zugleich unerledigt geblieben wäre. Trotz der von Jaspers angestoßenen und alsbald versickerten Diskussion über Schuld und kollektive Haftung hat keiner der Beteiligten die geistige Kausalität zwischen dem Gehalt einer philosophischen Lehre und ihren legitimierenden Funktionen für das Handeln anderer, die darauf sich berufen, auch nur an einem neutralen Beispiel wie Rousseau oder Nietzsche untersucht. Einerseits sind nicht-intendierte Folgen dem philosophischen Lehrer sowenig wie irgendeinem anderen Autor, wie man sagt: subjektiv zuzurechnen; und doch bleibt andererseits der objektive wirkungsgeschichtliche Zusammenhang einem philosophischen Werk sowenig wie irgendeinem anderen äußerlich. Das läßt sich mit Hegels Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit oder mit Marxens Kategorie des falschen Bewußtseins noch leidlich fassen. Wie aber, wenn das biographische Bewußtsein des Autors und das historiographische des Nachgeborenen nicht durch Zeit und soziale Rolle wohltuend getrennt sind, wie, wenn die Lehre und die Erfahrung der unbeabsichtigten politischen Folgen in der Selbstreflexion ein und derselben Person zusammenfallen und wiederum mit dem Blick auf künftige Praxis verarbeitet werden müssen? Wie sind radikales Denken und politisch folgenreiche Lehre möglich, aber so, daß der Philosoph weder seine Verantwortung moralisierend überdehnt (und im Erschrecken vor antizipierten Unbestimmtheiten erstarrt), noch einer objektiven Unverantwortlichkeit sich überläßt (und leichtfertig verfährt, sei es im Sinne des Aktionismus oder eines Rückzugs in Praxisabstinenz)? Erst eine befriedigende Antwort auf diese Frage würde die Chance eröffnen, Irrtümer, die das philosophische Denken auf der prekären Ebene der Wirkungsgeschichte begeht, zu identifizieren und das Irrtumsrisiko durch Lernen unter Kontrolle zu bringen. Bisher scheint Identitätsverlust die Strafe bereits für das Eingeständnis von Irrtümern zu sein- diese Erklärung jedenfalls legt das eigentümlich
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resistente Verhalten all derer nahe, welche einer Sache, die sie nicht gewollt haben, Sukkurs gegeben haben. Schließlich (d) ist das Philosophieren in Deutschland durch einen zeitkritischen Bezug ausgezeichnet, der eigentümlich in Widerspruch steht zu seinem Akademismus. Denn die Schulen, die sich der Schultradition verpflichtet fühlen und, sei es in Fortsetzung der Ontologie (wie die Neuscholastik oder Nicolai Hartmann), oder im Anschluß an die Reflexionsphilosophie (wie die Ausläufer des Neukantianismus), oder auf der Grundlage einer Kodifizierung der neueren analytischen Philosophie, so etwas wie »reine« Philosophie treiben wollen, haben, ungeachtet nützlicher Forschungen, Interpretationen von Rang und eigentlich produktive Geister nicht in gleichem Maße hervorgebracht wie die philosophischen Richtungen, die eine solche sublime Berührungsscheu nicht kultivieren. Die produktiveren Schulen haben mit dem Autonomieanspruch der auf Letztbegründung pochenden Ursprungsphilosophie gebrochen. Philosophische Anthropologie und, in einem geschichtsphilosophischen Zusammenhang, die kritische Sozialphilosophie versuchen, sich die materialen Gehalte der Humanwissenschaften zu integrieren. Hermeneutische Phänomenologie und Existentialismus sprengen auch da, wo sie explizit an Fragen der Tradition (etwa die Frage nach dem Sein des Seienden) anknüpfen, den Rahmen selbstgenügsamer theoretischer Philosophie. Sogar neopositivistische Wissenschaftstheorie und Sprachkritik haben, ihrem szientistischen Selbstverständnis zum Trotz, zunächst ein praktisches Interesse an Aufklärung und rationaler Lebensführung zum Ausdruck gebracht. Es gab daher keine nennenswerte philosophische Position, mit der nicht zugleich, wenigstens implizit, eine, wenn man das so nennen will, normative Theorie des gegenwärtigen Zeitalters verbunden gewesen wäre. Im Unterschied zum akademisch gezähmten philosophischen Lehrbetrieb in anderen Teilen der Welt haben die im Nachkriegsdeutschland dominierenden Lehrmeinungen (oft um den Preis analytischer Reinlichkeit) ein explosives zeitkritisches Potential enthalten, das vom autoritären Institutionalismus über seinsgeschichtlich stilisierte Kulturkritik und linken Kulturpessimismus bis zur radikalutopischen Gesellschaftskritik reichte.
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Diese Zeitkritik steht merkwürdig quer zu den objektiven Entwicklungstrends des Zeitalters: keine der genannten Philosophien verhält sich in ihren tieferen Intentionen zu der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung konform. Das gilt für die irrationalistischen Impulse Heideggers und Gehlens ebenso wie für die dialektische Kritik eines Bloch oder Adorno. Aber nicht nur dem rückwärts gewandten Eskapismus in die Unmittelbarkeit des Seins oder der großen Institutionen, nicht nur dem Transzendieren nach vorn und dem Denken in emanzipatorischer Absicht fehlt die Gelassenheit einer Philosophie, die sich entweder im juste milieu selbstsicher eingerichtet hat, die sich mit dem Fortschritt der Epoche eins weiß oder auf arbeitsteilige Forschung selbstzufrieden regrediert ist - auch dem liberalistischen Denken fehlen in unserem Lande solche Identifikationen. Das zeigt sich am untergründigen Jakobinertum eines Jaspers genauso wie an der abstrakt aufklärerischen Rigidität der von Popper Beeinflußten (wie Topitsch und Albert). Diese vierte Beobachtung (d) verweist, wie die vorangehende (c), auf den spezifisch deutschen Kontext, in dem während des vergangenen halben Jahrhunderts eine eigentümliche, andernorts schon zerfallene Gestalt des Geistes konserviert werden konnte. Dieses besondere Präparat aus Einsichtsfähigkeit und Autismus, Verstiegenheit und Sensibilität gehört in den Zusammenhang einer durch Retardierung und Ungleichzeitigkeit charakterisierten Entwicklung. Drei miteinander vereinbare Theorien der Ungleichzeitigkeit deuten dieselben als »typisch deutsch« klassifizierten Phänomene: die Theorie der zurückgebliebenen kapitalistischen Entwicklung4, die Theorie der verspäteten Nation5 und die Theorie der verzögerten Moderne.6 In diesen Rahmen fügen sich die speziellen Annahmen über soziale Herkunft und politische Stellung des deutschen Bildungsbürgertums, speziell des beamteten Geistes in Deutsch4 G. Lukács, Über einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, in: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 31-74. 5 H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959, vgl. unten S. 127. 6 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, vgl. unten S. 453.
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land ein.7 Schlüsselphänomene sind für alle diese Theorien: die Niederlage der Bauern, die Etablierung eines obrigkeitlich-landeskirchlichen Protestantismus, die territoriale Zersplitterung des Reiches und die Verspätung der nationalstaatlichen Einheit, die langsame Durchsetzung der neuen Produktionsweise, die verzögerte, dann aber explosive Entfaltung des industriellen Kapitalismus, der Klassenkompromiß zwischen einem politisch unselbständigen Bürgertum und einem in seinen sozialen Grundlagen und den bürokratisch-militärischen Herrschaftspositionen lange Zeit nicht erschütterten Adel, die ersatzreligiöse Heilsfunktion des Bildungshumanismus, radikalisierte, aber unpolitische Innerlichkeit, bürokratische Bindung des Geistes, Geistesaristokratismus und Staatsideologie, autoritär verfestigte Strukturen der bürgerlichen Kleinfamilien, gehemmte Urbanisierung usw., usw. Diese Liste mit oberflächlich charakterisierenden Stichworten ließe sich beliebig fortsetzen. Sie umschreibt einen Komplex von geschichtlichen Entwicklungen, die sich im Vergleich mit den Modernisierungsprozessen in England und Frankreich wie geologische Verwerfungen ausnehmen. Wenn die Theorien der Ungleichzeitigkeit, denen die parallelen Entwicklungen der Nachbarn als Normalvorbild dienen, zutreffen, läßt sich eine Ambivalenz einordnen, die Adorno pointiert so zum Ausdruck gebracht hat: »Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes - der Verbürgerlichung - in Deutschland nicht so eng gesponnen, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrten Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls. Sowenig darum Hitler als Schicksal dem deutschen Nationalcharakter zuzuschreiben ist, so wenig zufällig war doch, daß er in Deutschland hinaufgelangte. Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt und ohne den das Beste nicht wäre, hätte der Hitler nicht gedeihen können. In den westlichen Ländern, wo die Spielregeln der Gesellschaft den Massen tiefer eingesenkt sind, wäre er dem Lachen verfallen.«8 7 F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, Cambridge, Mass. 1969, vgl. unten S. 458ff. 8 Th. W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch?, in: Stichworte, Ffm. 1969, S. 106.
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Die gleiche Ambivalenz drückt sich im philosophischen Geiste aus. Die schiefe Stellung zu einem Prozeß der Vergesellschaftung, der selber abweichend vom normalen Gang der kapitalistischen Entwicklung, der Nationalstaatsbildung, der Modernisierung verläuft, macht diesen Geist sensibel für beides: für die Verluste an humaner Substanz, die die gewalttätig fortschreitende Rationalisierung einer in naturwüchsigen Antagonismen gleichwohl verharrenden Gesellschaft abverlangt, aber eben auch für die Notwendigkeit, diesen Fortschritt in einem zurückbleibenden Land zu forcieren, um die auf dem Hintergrund möglicher Rationalisierung erst recht hervortretende Barbarei der archaischen Lebensbereiche zu verringern. Die subtile Balance dieser gleichzeitig zu vollziehenden Einsichten, und das heißt: Einsicht in die Dialektik der Aufklärung, ist freilich gerade dort am schwierigsten, wo Philosophie sich selbst und ihre Stellung zum realen Prozeß nicht einzuschätzen vermag. Denn der Philosophie, die eines schlechthin Ersten mächtig zu sein wähnt und sich demiurgisch gebärdet, muß die Dialektik ihrer Einsicht entgleiten. Im Namen einer bloß evozierten Frühe oder Tiefe oder Ferne oder Stärke stemmt sie sich dann gegen den Zuwachs an Rationalität; oder sie opfert den Verstand im Namen einer überschwenglichen Vernunft den utopischen Gesichten - ein Rest von mystischer Verzückung auch dies. »Der heilige Ernst«, so schließt Adorno die erwähnte Überlegung, »kann übergehen in den tierischen, der mit Hybris sich buchstäblich als Absolutes aufwirft und gegen alles wütet, was seinem Anspruch nicht sich fügt.« 9 Diese Wut des philosophierenden Denkens war in Deutschland oft genug der Preis für eine Einsicht, die hier, eben aus jener schiefen Stellung, gewiß leichter zu gewinnen war als bei triumphierendem commonsense: daß nämlich der Absolutismus des Verstandes seinerseits die Methode zur Raserei macht. Wenn ein Zusammenhang zwischen den beobachteten Eigentümlichkeiten der deutschen Philosophie und jenen Eigentümlichkeiten der sozioökonomischen und politischen Entwicklung, die die Theorien der Ungleichzeitigkeit zu erklären beanspruchen, tatsächlich bestehen sollte, dann würde die Vermutung, daß es mit jenem 9 Ebda.
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Typus von Denken ein baldiges Ende haben wird, die Kraft einer Prognose erhalten. Denn inzwischen hat, ironischerweise vorbereitet durch sozialstrukturelle Umwälzungen unterm Naziregime, die Bundesrepublik während der Rekonstruktionsperiode die Ungleichzeitigkeiten ihrer Entwicklung wettgemacht: unter Bedingungen des administrativ geregelten Kapitalismus ist dieser Teil Deutschlands, zum erstenmal seit Jahrhunderten, zum Zeitgenossen des westlichen Europas geworden. Man hat immer noch eine magische Furcht es auszusprechen: wir leben heute in einem der sechs oder sieben liberalsten Staaten und in einem der sechs oder sieben Gesellschaftssysteme mit den geringsten inneren Konflikten (wie groß sie immer sein mögen). Was einmal spezifisch deutsche Konflikte waren, vergleichbar allenfalls mit denen Italiens, ist, trotz der neuen Spaltung der Nation, fast ganz verschwunden. Jene Konfliktspannungen, die einmal intellektuell produktiv gewesen, nämlich in Affektionen empfindsamer Sinne, in Stimulantien und geistige Provokationen umgesetzt worden sind, verlagern sich, im Zuge einer durchaus komfortablen Verschweizerung Europas, wie es scheint, nach Amerika — in den USA jedenfalls ist die Rede von einer kulturellen Europäisierung, sogar Germanisierung.10 Es wächst dort unter anderem ein kurioses Interesse an Fragestellungen und Traditionen, in denen wir philosophische Ansätze der 20er Jahre wiedererkennen können. Wenn jene Prognose stimmt, und mehr als eine gewisse Plausibilität können so locker gewebte Erwägungen gewiß nicht beanspruchen, stellt sich die Frage: Wozu noch Philosophie? von neuem und mit noch größerer Dringlichkeit. Wenn die Probleme des Entstehungs(und Konservierungs-)zusammenhangs einer spezifisch deutschen Denktradition entschärft sein sollten, könnte sich ein bloß kritisches Interesse mit der Aussicht begnügen: daß das Philosophieren in unserem Lande zugleich uninteressanter und ungefährlicher werden wird. Aber jenseits des guten Gefühls, sich nationaler Idiosynkrasien zu entledigen, bleibt unbefriedigt immer noch das beunruhigendere Interesse an der Frage: ob, nach dem Zusammenbruch der systematischen Philosophie und nun auch dem Zurück10 Z.B. C. E. Schorske, Weimar an the Intellectuals, The New York Review of Books, May 7, May 21, 1970.
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treten der Philosophen selber, Philosophieren überhaupt noch möglich ist, und wenn: zu welchem Ende Philosophieren nötig ist? Warum sollte nicht Philosophie, wie auch Kunst und Religion, dem weltgeschichtlichen Vorgang einer von Max Weber historisch beschriebenen, von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik begriffenen Rationalisierung anheimfallen? Warum sollte nicht Philosophie selbst auf der Schädelstätte eines Geistes verbleichen, der sich nicht mehr als absoluter behaupten und wissen kann? Wozu noch Philosophie - heute und morgen?
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Um wenigstens versuchsweise eine Antwort zu finden, sollten wir uns der strukturellen Veränderungen vergewissern, die im philosophischen Denken mit jenem durch Hegels Tod signalisierten, von Löwith (Von Hegel zu Nietzsche) und Marcuse (Reason and Revolution) untersuchten Traditionsbruch eingesetzt haben. Zu diesem Zwecke möchte ich vier sehr vereinfachende Behauptungen über Philosophie, und zwar über die Grundintentionen, denen sie von ihren Anfängen bis zu Hegel gefolgt ist, aufstellen und erläutern. Natürlich stützen sich diese Behauptungen auf die bekannte Interpretation, daß die griechische Philosophie gegenüber der mythischen Form der Weltauslegung erstmals »den Anspruch des Logos«, was immer das heißen mag, zur Geltung gebracht hat. Philosophie ist wie der Mythos ein Deutungssystem, das Natur und Menschenwelt zugleich erfaßt: sie begreift den Kosmos, das Seiende im ganzen. In dieser Hinsicht kann Philosophie den Mythos ersetzen. Freilich erzählt sie nicht naiv Geschichten, sondern fragt methodisch nach Gründen. Obgleich Philosophie die Züge soziomorpher Weltbilder (Topitsch) niemals ganz abgestreift hat, folgt aus ihrem theoretischen Anspruch notwendig eine Depersonalisierung der Weltauslegung. Die plausible Einordnung von erklärungsbedürftigen Phänomenen in Zusammenhänge der Interaktion zwischen handelnden und sprechenden, mit überlegenen Kräften ausgestatteten Quasipersonen genügt dem Erklärungsanspruch der Philosophie nicht mehr. Sodann muß die Philosophie auch die
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Verbindung der mythischen Erzählung mit rituellem Handeln preisgeben. Eine gewisse Kultpraxis lebt zwar in hoch sublimierten Formen sogar bis in den universitären Betrieb der Seminare hinein fort; aber sie darf nicht länger thematisch zugelassen werden. Philosophie kann deshalb den Mythos in seinen Stabilisierungsleistungen für die Lebenspraxis nicht ersetzen. Ihr eigenes Verhältnis zur Praxis soll vielmehr mittelbar durch Einübung in eine theoretische Lebensform gesichert werden. Ausgehend von diesen globalen Feststellungen, möchte ich die folgenden Behauptungen verteidigen: a) Die Einheit von Philosophie und Wissenschaft ist bis Hegel nicht prinzipiell in Frage gestellt worden. Mit den Anfängen philosophischen Denkens ist der Begriff des theoretischen Wissens, für dessen Geltung Gründe namhaft gemacht werden können, erst ausgebildet worden; Philosophie und Wissenschaft waren fraglos eins. Die einsetzende Spezialisierung einzelner Wissensgebiete hat sich bis zum ausgehenden Mittelalter als eine interne Differenzierung vollzogen; die Disziplinen blieben, soweit sie, wie Mathematik oder Physik, einen theoretischen Anspruch stellen konnten, Teil der Philosophie. Soweit die Wissenschaften einem bloß deskriptiven Anspruch folgten, wie Historiographie oder Geographie, waren sie in den Vorhof einer theorielosen Empirie verbannt, aber eben durch diese negative Beziehung zur Philosophie als der eigentlichen Wissenschaft definiert. Das ändert sich erst mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften, die sich zunächst noch als philosophia naturalis begreifen konnten. Aber auch ihnen gegenüber hat sich Philosophie nicht etwa auf formalwissenschaftliche Kompetenzen oder auf ergänzende Bereiche wie Ethik, Ästhetik, Psychologie zurückgezogen; zunächst hat sie den Letztbegründungsanspruch für alles theoretische Wissen, mit dem Metaphysik steht und fällt, behauptet: die Philosophie ist bis ins 19. Jahrhundert hinein Grundwissenschaft geblieben. b) Die Einheit von philosophischer Lehre und Tradition im Sinne herrschaftslegitimierender Überlieferung ist bis Hegel nicht prinzi-
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piell in Frage gestellt worden. Philosophie ist eine Gestalt des Geistes, die erst unter hochkulturellen Bedingungen, also in Gesellschaftssystemen mit staatlich zentralisierter Herrschaftsgewalt, entsteht; hier wird der Legitimationsbedarf des politischen Systems im allgemeinen durch Weltbilder mythologischer oder hochreligiöser Herkunft gedeckt. Obgleich der Wahrheitsanspruch der Philosophie mit dem Geltungsanspruch dieser Überlieferungen konkurriert, und obgleich bestimmte Philosophien immer wieder zu einzelnen Traditionsansprüchen auch öffentlich in Widerspruch geraten sind, ist doch philosophische Kritik niemals ganz aus dem Traditionszusammenhang herausgetreten. Solange Philosophie das Seiende im ganzen zu begreifen vorgibt, gestattet sie nämlich die Ableitung soziokosmischer Grundannahmen, die Funktionen der Herrschaftslegitimation übernehmen können. In der bürgerlichen Gesellschaft hat das rationale Naturrecht des 17. Jahrhunderts den christlichen Rechtfertigungen politischer Herrschaft den Rang streitig gemacht. c) Philosophie und Religion haben bis Hegel stets verschiedene Funktionen wahrzunehmen beansprucht. Seit der Spätantike ist das philosophische Denken genötigt, sein Verhältnis zur Heilswahrheit der jüdisch-christlichen Erlösungsreligion zu bestimmen. Die theoretischen Lösungen variieren von einer grundsätzlichen Kritik an der biblischen Überlieferung über Gleichgültigkeits- und Unvereinbarkeitserklärungen bis zu den großen Versuchen, die philosophische Erkenntnis mit Offenbarung oder Offenbarung mit philosophischer Erkenntnis zu identifizieren. Aber in keinem Fall, trotz Boetius, hat Philosophie, die ihren Anspruch ernst genommen hat, die Heilsgewißheit des religiösen Glaubens substituieren wollen. Sie hat niemals ein Erlösungsversprechen gegeben,Zuversicht verheißen oder Trost gespendet. Gewiß hat Montaigne mit der Behauptung, daß Philosophie studieren sterben lernen bedeute, nur einen alten Topos aufgenommen; aber die stoische Vorbereitung auf den eigenen Tod ist gerade Ausdruck der prinzipiellen Trostlosigkeit des philosophischen Denkens. d) Philosophie war Sache einer Bildungselite, sie hat niemals die Massen erreicht. Die Organisationsformen der philosophischen
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Lehre und die soziale Zusammensetzung ihrer Adressaten haben sich in der Geschichte der Philosophie gewandelt, aber faktisch, wie auch ihrem Selbstverständnis zufolge, ist Philosophie von Anbeginn jenen vorbehalten gewesen, die Muße hatten, d.h. von produktiver Arbeit freigesetzt waren. Das geistesaristokratische Vorurteil, daß die Vielen philosophischer Einsicht von Natur aus unfähig seien, hat die Philosophie bis Hegel begleitet. Es ist freilich im 18. Jahrhundert von den Repräsentanten der Aufklärungsphilosophie zeitweilig durchbrochen worden. Für deren Programmatik fehlte aber damals, ohne ein allgemeines Bildungssystem, die Grundlage. Was hat sich, wenn diese globalen Behauptungen zutreffen sollten, seit dem Tode des letzten systematischen Philosophen von unbestrittenem Rang geändert, welche strukturellen Veränderungen rechtfertigen die These vom Ende der »großen« Philosophie? Ich will versuchen, diese Frage durch Kommentare zu den vier genannten Behauptungen zu beantworten. ad a) Die Einheit von Philosophie und Wissenschaft ist inzwischen problematisch geworden. Die Philosophie mußte ihren Anspruch, Grundwissenschaft zu sein, gegenüber der Physik aufgeben, sobald sie eine Kosmologie nurmehr in Abhängigkeit von Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung und nicht mehr kraft eigener Kompetenz entwickeln und begründen konnte. Hegels Naturphilosophie blieb die letzte. In der Neuzeit hatte Philosophie ohnehin auf das Entstehen der modernen Wissenschaft in der Weise reagiert, daß sie ihren Letztbegründungsanspruch in die Form von Erkenntnistheorie kleidete. Aber nach Hegel ließ sich Ursprungsphilosophie auch in dieser Rückzugsposition nicht mehr verteidigen. Mit dem Positivismus resigniert Erkenntnistheorie zur Wissenschaftstheorie, also zur nachträglichen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Methode. ad b) Auch die Einheit der Philosophie mit der Überlieferung ist mittlerweile problematisch geworden. Nach der Freisetzung der Physik von Naturphilosophie und nach dem Zusammenbruch der
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Metaphysik bildete sich die theoretische Philosophie zur Wissenschaftstheorie zurück oder wurde selbst zur Formalwissenschaft. Dadurch verlor die praktische Philosophie ihre Bindung an die theoretische. Mit den Junghegelianern, mit den systematischen Motiven, die dann in Marxismus, Existentialismus und Historismus entfaltet worden sind, hat sich die praktische Philosophie verselbständigt. Sie entbehrt fortan der ontologischen Begründung, die für Politik und Ethik seit Plato beansprucht worden war; sie hat sich zudem des forschen theoretischen Anspruchs begeben, mit dem die Geschichtsphilosophie die Sphäre der menschlichen Angelegenheiten (anstelle der Natur) zum ausgezeichneten Gegenstandsbereich gemacht hatte (Vico). Damit verlor Philosophie die Möglichkeit, soziokosmische Weltbilder zu stützen; nun erst konnte sie zur radikalen Kritik werden. Die verselbständigte praktische Philosophie ist in die Frontenbildung des europäischen Bürgerkrieges hineingezogen worden. Seitdem kann es so etwas wie eine revolutionäre (und eine reaktionäre) Philosophie geben. ad c) Auch das komplexe und wechselvolle Verhältnis von philosophischem Denken und Religion hat sich inzwischen geändert. Dabei müssen zwei Momente berücksichtigt werden. Auf der einen Seite mußte eine Philosophie, die mit ihrem Letztbegründungsanspruch die Idee des Einen oder Absoluten aufgegeben hat, auch die in den Hochreligionen entfaltete Idee des Einen Gottes radikaler kritisieren, als es bis dahin eine Metaphysik getan hatte, die in der aussichtsreicheren Position gewesen war, die konkurrierende Form der Weltauslegung entweder zu substituieren oder aber auf ihren Begriff zu bringen (um sie sich zu integrieren). Das nachmetaphysische Denken bestreitet keine bestimmten theologischen Behauptungen, es behauptet vielmehr deren Sinnlosigkeit. Es will nachweisen, daß in dem grundbegrifflichen System, in dem die jüdisch-christliche Überlieferung dogmatisiert (und damit rationalisiert) worden ist, theologisch sinnvolle Behauptungen gar nicht aufgestellt werden können. Diese Kritik verhält sich zu ihrem Gegenstand nicht mehr immanent; sie greift an die Wurzeln der Religion und macht den Weg frei zu einer (im 19. Jahrhundert einsetzenden) historisch-kritischen Auflösung der dogmatischen
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Gehalte selber. Auf der anderen Seite hat die verselbständigte praktische Philosophie das Erbe der Erlösungsreligion dort angetreten, wo die Metaphysik niemals hatte Ersatz- oder Konkurrenzfunktionen beanspruchen können. Der ambivalente Zusammenhang zwischen der Tradition der Augustinischen und Joachimitischen Geschichtstheologie mit der im 18. Jahrhundert entstandenen bürgerlichen Geschichtsphilosophie hatte das Eindringen von Heilsansprüchen in die Philosophie vorbereitet. Aber erst nachdem sowohl die kosmologische wie die transzendentalphilosophische Grundlage für eine Einheit der praktischen Philosophie mit der theoretischen zerbrochen und an die Stelle der Letztbegründung die auf die Sphäre der Gattungsgeschichte eingeschränkte Selbstreflexion getreten war, nahm Philosophie mit einer bezeichnenden Wendung ins Utopische und Politische ein bis dahin religiös gedeutetes Interesse an Befreiung und Versöhnung in sich auf. ad d) In Philosophie war der Widerspruch zwischen dem Vernunftanspruch auf universale Geltung der Erkenntnis und der bildungselitären Einschränkung des Zugangs zum Philosophieren auf wenige von Anbeginn angelegt. Seit Plato ist dieser Widerspruch oft in einer politischen Philosophie zum Ausdruck gebracht worden, die für die privilegiert Einsichtsfähigen Macht fordert, um zugleich der etablierten Herrschaft philosophische Rechtfertigung und der philosophischen Erkenntnis dogmatische Allgemeinheit zu verschaffen. Das Motiv einer geistig begründeten Elitebildung ist, wie Untersuchungen mit Studenten gezeigt haben11, in den bildungshumanistisch geprägten Gesellschaftsbildern bis heute wirksam geblieben. Freilich ist dieser Befund selbst Indikator einer Entwicklung, die mit der Ausdehnung des höheren Bildungssystems im 19. Jahrhundert, prototypisch in Deutschland, eingesetzt hat. Über die gymnasiale Lehrerausbildung an den philosophischen Fakultäten der neuen, durch Humboldts Reformen bestimmten Universitäten hat die als Fach und Hintergrundideologie der entstehenden Geisteswissenschaften etablierte Philosophie eine große Verbreitung in den Teilen des bürgerlichen Publikums gewonnen, 11 Habermas, v. Friedeburg, Oehler, Weltz, Student und Politik, Neuwied 1961.
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die sich selber als Bildungsbürgertum verstanden. Ohne Revision des bildungselitären Selbstverständnisses setzte in dem Augenblick, als Philosophie ihren eigentlich systematischen Anspruch aufgegeben hat, eine institutionell gesicherte Diffusion der schulmäßigen Philosophie ein. Auf dieser Basis ist sie ein Ferment der bürgerlichen Ideologiebildung gewesen. Eine ganz andere Wirksamkeit erlangte Philosophie auf dem Wege über Marx in der Arbeiterbewegung. Hier endlich schienen die elitären Schranken zu fallen, durch die sich die Philosophie mit sich selbst in Widerspruch gesetzt hatte. Auch das hatte Marx wohl im Sinne bei seiner Behauptung, daß Philosophie, wenn sie verwirklicht werden solle, aufgehoben werden müsse. Das philosophische Denken ist nach Hegel in ein anderes Medium übergetreten. Eine Philosophie, die jene vier erwähnten strukturellen Veränderungen in ihr Bewußtsein aufnimmt, kann sich nicht länger als Philosophie begreifen, sie versteht sich als Kritik. Kritisch gegen Ursprungsphilosophie, verzichtet sie auf Letztbegründung und auf eine affirmative Deutung des Seienden im ganzen. Kritisch gegen die traditionelle Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, begreift sie sich als das reflexive Element gesellschaftlicher Tätigkeit. Kritisch gegen den Totalitätsanspruch von metaphysischer Erkenntnis und religiöser Weltauslegung gleichermaßen, ist sie mit ihrer radikalen Kritik der Religion die Grundlage für die Aufnahme der utopischen Gehalte auch der religiösen Überlieferung und des erkenntnisleitenden Interesses an Emanzipation. Kritisch schließlich gegen das elitäre Selbstverständnis der philosophischen Tradition, besteht sie auf universeller Aufklärung - auch über sich selber. Diese Selbstaufklärung haben Adorno und Horkheimer als »Dialektik der Aufklärung« verstanden; sie terminiert in Adornos »Negativer Dialektik«. An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage, ob nicht Philosophie, auf dem Wege zu Kritik und Selbstkritik, sich ihrer Gehalte beraubt hat und am Ende, entgegen dem Selbstverständnis einer kritischen Gesellschaftstheorie12, nurmehr das leere Exerzitium der Selbstreflexion darstellt, das an den 12 A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Ffm. 1969.
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Gegenständen der eigenen Tradition ansetzt, ohne selber noch eines systematischen Gedankens mächtig zu sein.13 Wozu, wenn es sich so verhielte, dann noch Philosophie?
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Philosophie hat in den letzten Jahrzehnten auf das öffentliche Bewußtsein einen politisch nachhaltigen Einfluß gewonnen, obgleich die Philosophen selbst in ihrem Auftreten und in ihrem Denken eher an die Traditionsgehalte und den Gestus als an den systematischen Anspruch der großen Philosophie gebunden waren. Das philosophische Denken hat im Stadium der Kritik, gleichviel, ob es sich seiner als Kritik inne war oder nicht, parasitär vom Erbe gezehrt. Gleichzeitig hat es jedoch der Bewegung des philosophischen Gedankens auch eine neue Dimension erschlossen: nämlich die einer materialen Wissenschaftskritik. Wie Philosophie ihr Verhältnis zur modernen Wissenschaft bestimmt hat, ist für die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie selbst entscheidend gewesen. Seit dem 17. Jahrhundert sind die systembildenden und -sprengenden Impulse im allgemeinen von erkenntnistheoretischen Fragen ausgegangen. Nachdem dann aber Ursprungsphilosophie auch in ihrer erkenntnistheoretischen Form zusammengebrochen ist, hat, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Wissenschaftstheorie den Platz der Erkenntnistheorie eingenommen. Unter Wissenschaftstheorie verstehe ich eine im szientistischen Selbstverständnis der Wissenschaften betriebene Methodologie. Dabei nenne ich Szientismus den Glauben der Wissenschaft an sich selbst, nämlich die Überzeugung, daß wir Wissenschaft nicht länger als eine Form möglicher Erkenntnis auffassen dürfen, sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren müssen.14 Szientistisch ist der Versuch, das Erkenntnismonopol der Wissenschaften 13 B. Willms, Theorie, Kritik, Dialektik, in: Über Th. W. Adorno, Ffm. 1968. S. 44ff., R. Bubner, Was ist Kritische Theorie?, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Ffm. 1971. 14 Vgl. Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1968.
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zu begründen und das metatheoretische Selbstverständnis der Wissenschaften selbst in diesem Sinne zu normieren; auf einer Ebene subtiler Argumentation setzen diesen Versuch heute diejenigen Schulen innerhalb der analytischen Philosophie fort, die nach wie vor den Grundintentionen des Wiener Kreises folgen. Nun durfte der Szientismus noch vor wenigen Jahrzehnten als eine interne akademische Angelegenheit gelten. Das hat sich geändert, seitdem den Wissenschaftlern, die technisch verwertbares Wissen erzeugen, bedeutende gesellschaftliche Funktionen zugewachsen sind. In den industriell fortgeschrittenen Systemen sind das wirtschaftliche Wachstum und die Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vom wissenschaftlichen und technischen Fortschritt weitgehend abhängig geworden. Im gleichen Maße wie »die Wissenschaft« zur wichtigsten Produktivkraft wird und wie den Subsystemen Forschung und Bildung vielleicht sogar der funktionale Primat bei der Steuerung der sozialen Evolution zukommt (Luhmann), erhalten die handlungsorientierenden Begriffe des theoretischen Wissens, der wissenschaftlichen Methode und des wissenschaftlichen Fortschritts, erhalten die technischen Verwendungs- und die praktischen Aufklärungszusammenhänge, überhaupt die Umsetzung wissenschaftlicher Informationen in die Lebenspraxis, erhält die Interpretation des Verhältnisses von Erfahrung, Theorie und willensbildendem Diskurs mittelbar eine politische Bedeutung. Politisch folgenreich sind daher gleichermaßen die szientistische Deutung der Wissenschaft und deren Kritik. Diese Kritik folgt zwei Gesichtspunkten. Einmal wird der Szientismus der Forschungspraxis der Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht gerecht. Solange für den Gegenstandsbereich kommunikativer Handlungssysteme noch kein theoretisch fruchtbares und operationalisierungsfähiges System von Grundbegriffen entwickelt ist, das mit den für den Objektbereich bewegter Körper und beobachtbarer Ereignisse etablierten Grundbegriffen vergleichbar ist, muß eine pseudonormative Wissenschaftstheorie, die eine differentielle Konstitution von Gegenstandsbereichen nicht einmal auf analytischer Ebene als Möglichkeit zuläßt, einen retardierenden Einfluß ausüben - jedenfalls auf die Entwicklung der Sozialwissen-
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Schäften, die kein technisch verwertbares, sondern handlungsorientierendes Wissen hervorbringen. Das ist gerade die Kategorie von Wissen, die für eine praktisch rationale Steuerung der Produktivkraft Wissenschaft samt ihren sozialen Folgen und Nebenfolgen funktional notwendig wäre. Zum anderen befestigt der Szientismus einen allgemeinen Begriff von Wissenschaft, der technokratische Steuerungsmechanismen rechtfertigt und rationale Verfahren zur Klärung praktischer Fragen ausschließt. Wenn aber praktische Fragen nicht mehr als wahrheitsfähig gelten und wenn die Entscheidung wahrheitsfähiger Fragen nur zu Informationen führen kann, die technisch verwertbar, d. h. der Orientierung zweckrationalen Handelns dienlich sind (wie es szientistischen Grundannahmen entspricht), dann ist der heute relevant gewordene Zusammenhang von wissenschaftlichtechnischem Fortschritt und gesellschaftlicher Praxis entweder eine Sache empirischer Analyse und technischer Kontrolle oder aber einer Rationalisierung überhaupt entzogen - und sei's willkürlicher Entscheidung oder naturwüchsiger Selbstregelung überlassen. Damit würde gerade der für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zentrale Fragenkomplex aus dem Bereich von Problemen, die einer diskursiven Klärung und rationalen Willensbildung zugänglich sind, herausgebrochen. Unvermeidlich wäre dann die Arbeitsteilung zwischen der technokratischen Planung der staatlichen Bürokratien und der Großorganisationen auf der einen und den mehr oder weniger autodidaktischen Bildungssynthesen einzelner Wissenschaftler oder Wissenschaftspublizisten auf der anderen Seite (die die Legitimationskraft eines szientistischen Wissenschaftsbegriffs aufrechterhalten müssen). Wenn hingegen demokratische Planung als Steuerungsmechanismus für entwickelte Gesellschaftssysteme nicht von vornherein ausgeschlossen werden soll, müßte eine Kritik, die das Erbe der Philosophie angetreten hat, (neben anderen) drei vordringliche Aufgaben übernehmen. Sie müßte das objektivistische Selbstverständnis der Wissenschaften und einen szientistischen Begriff von Wissenschaft und wissenschaftlichem Fortschritt kritisieren; sie müßte insbesondere Grundfragen einer sozialwissenschaftlichen Methodologie so behandeln, daß die Erarbeitung angemessener
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Grundbegriffe für kommunikative Handlungssysteme nicht gehemmt, sondern gefördert wird; sie müßte schließlich die Dimension klären, in der die Logik der Forschung und der technischen Entwicklung ihren Zusammenhang mit der Logik willensbildender Kommunikationen zu erkennen gibt. Eine solche Kritik würde sich also der Inhalte, die sie sich von den empirisch gehaltvollen Wissenschaften und den utopisch gehaltvollen Überlieferungen geben lassen muß, auf einer eigentümlichen Grundlage vergewissern müssen; sie wäre nach herkömmlichen Begriffen Theorie der Wissenschaften und praktische Philosophie in einem. Tatsächlich zeichnen sich gegenwärtig drei philosophische Ansätze ab, die durch diese Verbindung charakterisiert sind: der kritische Rationalismus Poppers, der aus einer Selbstkritik sowohl der empiristischen wie der sprachkonstruktivistischen Beschränkungen des logischen Positivismus hervorgegangen ist; sodann die methodische Philosophie P. Lorenzens und der Erlanger Schule, die im Anschluß an Motive H. Dinglers das praktisch-normative Fundament der Wissenschaften und einer rationalen Willensbildung freilegt; und schließlich, im Anschluß an Horkheimer, Marcuse und Adorno, die sogenannte Kritische Theorie, die das Programm einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie verfolgt. Wenn es eine Philosophie geben sollte, angesichts deren sich die Frage: Wozu noch Philosophie? nicht mehr stellt, würde es, unseren Überlegungen zufolge, heute eine nichtszientistische Wissenschaftsphilosophie sein müssen. Sie fände in dem schnell expandierenden Hochschulsystem, wenn sie mit den Wissenschaften und den Wissenschaftlern selber kommuniziert, eine breitere Basis der Wirksamkeit, als je eine Philosophie sie gehabt hat. Sie bedürfte nicht länger der Organisationsform der in einzelnen Philosophien auftretenden Lehre. Ihr fiele sogar, indem sie gegen die doppelte Irrationalität eines positivistisch beschränkten Selbstverständnisses der Wissenschaften und einer technokratisch von öffentlich diskursiver Willensbildung abgelösten Administration angeht, eine politisch folgenreiche Aufgabe zu. Gerade darum steht es aber nicht in der immanenten Kraft einer philosophischen Fachdiskussion, ob die heute erkennbaren Ansätze einer Theorie der Wissenschaften in
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praktischer Absicht sich zu praktischer Wirksamkeit entfalten werden. Eine Philosophie, die sich idealistisch diese Macht selber zutraute, hätte das Pensum vergessen, an dem sich die ins Stadium der Kritik eintretende Philosophie seit fast ein und einem halben Jahrhundert abgearbeitet hat. Das philosophische Denken sieht sich freilich nicht nur den Verfestigungen eines technokratischen Bewußtseins, sondern zugleich dem Zerfall des religiösen Bewußtseins konfrontiert. Erst heute zeigt sich, daß die bildungselitär beschränkte philosophische Weltauslegung auf die Koexistenz mit einer breitenwirksamen Religion geradezu angewiesen war. Philosophie ist, auch nachdem sie aus der jüdisch-christlichen Überlieferung die utopischen Impulse in sich aufgenommen hat, unfähig gewesen, die faktische Sinnlosigkeit des kontingenten Todes, des individuellen Leidens, des privaten Glücksverlustes, überhaupt die Negativität lebensgeschichtlicher Existenzrisiken durch Trost und Zuversicht so zu überspielen (oder zu bewältigen?), wie es die Erwartung des religiösen Heils vermocht hat. In den industriell entwickelten Gesellschaften beobachten wir heute zum ersten Mal den Verlust der, wenn schon nicht mehr kirchlich, so doch immer noch durch verinnerlichte Glaubenstraditionen abgestützten Erlösungshoffnung und Gnadenerwartung als ein allgemeines Phänomen; es ist zum erstenmal die Masse der Bevölkerung, die in den fundamentalen Schichten der Identitätssicherung erschüttert ist und, in Grenzsituationen, nicht aus einem vollständig säkularisierten Alltagsbewußtsein heraustreten und auf institutionalisierte oder doch tief internalisierte Gewißheiten zurückgreifen kann. Einige Indikatoren sprechen dafür, daß sich als Reaktion auf den massenhaften Verlust religiöser Heilsgewißheit ein neuer Hellenismus abzeichnet, also eine Regression hinter die in den monotheistischen Hochreligionen erreichte Stufe der in der Kommunikation mit dem Einen Gott gebildeten Identität. Die vielen kleinen subkulturellen Ersatzreligionen bilden sich in regional, inhaltlich und sozial außerordentlich differenzierten Randgruppen und Sekten aus. Sie reichen von transzendentaler Meditation über neue Kommunerituale, halbwissenschaftliche Trainingsprogramme, über die oft nur zum Scheine pragmatischen Zielsetzungen kollektiver Selbsthilfeorganisationen bis zur radika-
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len Ideologie kleiner aktionistischer Gruppen im Zeichen politischtheologischer, anarchistischer oder sexual-politischer Weltveränderung. Vielleicht sitzen alle diese Subkulturen einer ähnlichen Motivationsstruktur auf. In der Sicht der theologischen Tradition stellen sich die neuen Welt- und Existenzdeutungen als ein neues Heidentum dar, das sich in einem Pluralismus von Götzenanbetungen und Lokalmythologien Ausdruck verschafft. Solche rückwärts gewandten Vergleiche sind gefährlich. Sie treffen nicht die eigentümliche Ambivalenz, die überhaupt in den »neuen« Konfliktpotentialen steckt: ich meine die Zweideutigkeit von Motivationsentzug und Protest, die Zweideutigkeit von regressiver Entdifferenzierung und Innovation, die sich vermutlich auf der Ebene der Persönlichkeitsstrukturen ebenso wie auf der Ebene der gerade komplementäre Potentiale bindenden Gruppenstrukturen nachweisen ließen. Gegenüber diesen zwiespältigen Phänomenen des Zerfalls hochkulturell ausgebildeter Ich- und Gruppenidentitäten könnte ein in die Breite wirkendes philosophisches, mit den Wissenschaften kommunizierendes Denken nur die fragile Einheit der Vernunft, nämlich die in vernünftiger Rede sich herstellende Einheit der Identität und des Nicht-Identischen aufbieten.
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1. Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen (1961)
Der Jude kann überhaupt in nichts, was das deutsche Leben anbetrifft, weder im Guten noch im Bösen, eine schöpferische Rolle spielen. Dieser Satz Ernst Jüngers hat den Antisemitismus der KonservativRevolutionären, in dessen Namen er vor einem Menschenalter geschrieben wurde, überlebt. Ich habe die gleiche Behauptung noch vor wenigen Jahren im Philosophischen Seminar an einer unserer großen Universitäten gehört. Juden, so hieß es, bringen es bestenfalls zu Sternchen zweiter Ordnung. Damals, als Student, habe ich nicht darüber nachgedacht; ich muß zwar zu dieser Zeit mit der Lektüre von Husserl und Wittgenstein, von Scheler und Simmel befaßt gewesen sein - ohne jedoch um die Herkunft dieser Gelehrten zu wissen. Der renommierte Philosophieprofessor aber, der seinen jüdischen Kollegen Produktivität absprach, hat darum gewußt. Merkwürdig starr und unangefochten erhalten sich gerade die Bestandteile einer Ideologie, die von jedem Lexikon ihrer Unstimmigkeit überführt werden können. Wenn es anginge, eine Gestalt des Geistes, wie die der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts, in Stücke zu zerbrechen, nach Anteilen zu scheiden und auf Waagschalen zu legen, so müßte sich gerade in der, angeblich doch dem deutschen Tiefsinn vorbehaltenen Domäne das Übergewicht derjenigen herausstellen, die das gleiche Vorurteil als die bloß kritischen Talente in die Vorhöfe des Genialen verweisen möchte. Wir wollen für längst Erwiesenes nicht noch einmal den Beweis antreten. Viel eher verlangt ein anderer Sachverhalt nach Klärung. Erstaunlich bleibt nämlich, wie produktiv sich aus der Erfahrung der jüdischen Tradition zentrale Motive der wesentlich protestantisch bestimmten Philosophie des Deutschen Idealismus erschließen lassen. Weil schon in den Idealismus selber kabbalistisches Erbe eingeströmt und von ihm aufgesogen ist, scheint sich dessen Licht im Spektrum eines Geistes um so reicher zu brechen, in dem etwas
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vom Geist der jüdischen Mystik, wie immer sich selbst auch verborgen, noch fortlebt. Die so abgründige wie fruchtbare Verwandtschaft der Juden mit der deutschen Philosophie hat teil an dem gesellschaftlichen Schicksal, das einst die Tore des Gettos aufgestoßen hat. Denn Assimilation, die Aufnahme der Juden in die bürgerliche Gesellschaft, ist eigentlich nur für die Minderheit der jüdischen Intellektuellen Wirklichkeit geworden. Die breite Masse des jüdischen Volkes war trotz einer anderthalb Jahrhunderte fortschreitenden Emanzipation über die Formalien der Gleichberechtigung nicht hinausgekommen; und auf der anderen Seite wurden auch die Hofjuden, ihre Nachfolger, die jüdischen Staatsbankiers des 19. Jahrhunderts, jüdische Geschäftsleute überhaupt, niemals ganz gesellschaftsfähig. Ja, sie selbst haben nicht einmal ernsthaft daran gearbeitet, die Schranken ihres unsichtbaren Gettos zu durchbrechen; eine allgemeine Emanzipation mußte ihre Privilegien bedrohen. Die Assimilation hat um den fortwährenden Fremdkörper der Judenschaft nur hauchdünn eine osmotische Haut gespannt. Ihr Medium war die akademisch erworbene Bildung, ihr Siegel oft genug die sozial erzwungene Taufe. Mochten diese Bildungsjuden geistig der Kultur ebenso viel zurückgeben, wie sie selbst ihr verdankten, so blieb doch ihre gesellschaftliche Stellung bis in die zwanziger Jahre hinein so zweideutig, daß ein Ernst Jünger nicht nur ihre Produktion als »Feuilleton-Geschwätz der Zivilisation« herabsetzen, sondern den Prozeß der Assimilation als solchen in Frage stellen konnte: Im gleichen Maße, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für die Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden und wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.
Das war 1930. Man gab denen, die sich einer dubiosen Politik der Apartheid nicht würden fügen können, damals schon das drohende Versprechen, das in den Konzentrationslagern so grauenvoll eingelöst worden ist. So erwuchsen dem Judentum gerade aus den Randschichten, die sich am erfolgreichsten assimiliert hatten, die Wortführer einer
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Rückwendung zu den Ursprüngen der eigenen Tradition. Diese Bewegung fand politisch im Zionismus Ausdruck; philosophisch in jenem gleichsam antizipierten Existentialismus eines Martin Buber, der sich an die letzte Phase der jüdischen Mystik anschließt. Der polnische und ukrainische Chassidismus des 18. Jahrhunderts zieht zwar aus kabbalistischen Schriften seine Ideen; aber die Lehre tritt so weit hinter der Persönlichkeit der chassidischen Heiligen zurück, daß die überlieferte Idealfigur des gelehrten Rabbiners von der des volkstümlichen Zaddik verdrängt wird. Dessen Existenz ist die ganz und gar lebendig gewordene Thora. In Bubers Eifer gegen die rationalistisch stillgelegte Lehre der Rabbiner, in seiner Aneignung der von mythischen Mären und mystischen Gesichten erfüllten Religion des Volkes, entzündet sich ein neues Pathos existentiellen Philosophierens: Mit der Zerstörung des jüdischen Gemeinwesens wurde die Fruchtbarkeit des Geisteskampfes geschwächt. Die geistige Kraft sammelte sich nunmehr auf die Erhaltung des Volks gegen die äußeren Einflüsse, auf die strenge Umzäunung des eigenen Bereiches, um das Eindringen fremder Tendenzen zu verhüten, auf die Kodifizierung der Werte, um aller Verschiebung vorzubeugen, auf die unmißverständliche, unumdeutbare, also konsequent rationale Formulierung der Religion. An die Stelle des gotterfüllten, fordernden, schöpferischen Elements trat immer mehr das starre, nur erhaltende, nur fortsetzende, nur abwehrende Element des offiziellen Judentums; ja, es richtete sich immer mehr gegen das Schöpferische, das ihm durch seine Kühnheit und Freiheit den Bestand des Volkstums zu gefährden schien, es wurde verketzernd und lebensfeindlich.
Der chassidische Impuls findet freilich erst in dem Werk Franz Rosenzweigs eine philosophische Sprache. Rosenzweig, der mit dem befreundeten Buber die Bibel ins Deutsche übertrug, hatte als Schüler von Friedrich Meinecke über Hegels Staatsphilosophie gearbeitet. In seinem eigenen großen Entwurf versucht er, wie schon von weitem der Titel des dreibändigen Buches, »Der Stern der Erlösung«, bekundet, eine Interpretation des idealistischen Denkens aus Tiefen der jüdischen Mystik. Er knüpft nicht nur als einer der ersten an Kierkegaard an; er nimmt auch Motive des sogenannten Spätidealismus, vor allem aus Schellings letzter Philosophie, auf; und verrät so den Stammbaum der Existenzphiloso-
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phie, Jahrzehnte bevor er von der offiziellen Philosophiegeschichte mühsam wiederentdeckt worden ist. Die Grundfrage, an der das idealistische Selbstvertrauen auf die Kraft des Begriffes zerbricht, ist die: »wie die Welt zufällig sein kann, obwohl sie doch als notwendig gedacht werden muß«. Das Denken arbeitet sich vergeblich an der undurchdringlichen Tatsache ab, daß die Dinge so und nicht anders, eben schlechthin zufällig sind, daß die geschichtliche Existenz der Menschen so tief in rätselhafte Willkür getaucht ist: Indem aber die Philosophie diese dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit ... Wollte die Philosophie sich nicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzuschreibendes Etwas ist... Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas ... Wir wollen keine Philosophie, die über die währende Herrschaft des Todes uns durch den All- und Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen keine Täuschung. Die durchschaute Täuschung führt zu der Einsicht, daß die Welt, in der noch Lachen und Weinen ist, selber erst im Werden begriffen ist - die Erscheinungen suchen noch ihr Wesen. Im sichtbaren Geschehen der Natur entdeckt sich das Wachstum eines unsichtbaren Reiches, in dem Gott selber seiner Erlösung entgegensieht: Gott erlöst, in der Erlösung der Welt durch den Menschen, des Menschen an der Welt, sich selber.
Der Idealismus trat nur in Konkurrenz zur Theologie der Schöpfung; noch immer im Bann der griechischen Philosophie, blickte er nicht auf die unversöhnte Welt vom Standpunkt möglicher Erlösung. Seine Logik blieb an Vergangenheit haften: Wahre Dauerhaftigkeit ist stets in die Zukunft hinein. Nicht, was immer war, ist dauerhaft; nicht, was allzeit erneuert wird, sondern einzig, was kommt: das Reich. Dieser Sinn erschließt sich freilich nur einer Logik, die nicht, wie die idealistische, ihren sprachlichen Leib verleugnet; sie muß sich
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auf die in der Sprache niedergelegten Hintergedanken der Logik einlassen - Nachhall des alten kabbalistischen Gedankens, daß die Sprache Gott erreicht, weil sie von Gott ausgesandt ist. Der Idealismus verwarf die Sprache als Organon der Erkenntnis und erhob eine vergötterte Kunst zu ihrem Substitut. Ein Jude nahm Heidegger, dem philosophus teutonicus, diese eigentümliche Besinnung vorweg. Auf Feldpostbriefen schickte Rosenzweig gegen Ende des Ersten Weltkrieges das Manuskript dieses Buches nach Hause. Wie er damals an der Balkanfront den messianischen Beruf des jüdischen Exils begriff, bezeugt eine Stelle in einem dieser Briefe: Weil das jüdische Volk schon jenseits des Gegensatzes steht, der die eigentlich bewegende Kraft im Leben der Völker bildet, des Gegensatzes von Eigenart und Weltgeschichte, Heimat und Glaube, Erde und Himmel, so kennt es auch den Krieg nicht. Ein anderer jüdischer Philosoph hatte Weihnachten 1914 die ins Feld ziehenden Studenten im gleichen Sinne beschworen, daß der politische Ausdruck der messianischen Idee der ewige Friede sei: Da die Propheten als internationale Politiker das Böse nicht ausschließlich, noch vornehmlich in den Individuen erkannten, als vielmehr in den Völkern, so wurde ihnen das Verschwinden der Kriege, der ewige Friede unter den Völkern, zum Symbol der Sittlichkeit auf Erden. Hermann Cohen, der Kants Idee vom ewigen Frieden so eigentümlich ins Alte Testament zurücknimmt, steht allerdings in einem anderen Lager als Buber und Rosenzweig. Er repräsentiert die liberale Tradition der jüdischen Intellektuellen, die der deutschen Aufklärung innig verbunden waren und meinten, in ihrem Geiste mit der Nation sich überhaupt eins fühlen zu dürfen. Unmittelbar nach Kriegsausbruch hält Cohen in der Kantgesellschaft zu Berlin einen merkwürdigen Vortrag »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes«; mit ihm stellt er dem imperialistischen Deutschland Wilhelms II. und seinen Militärs das Ursprungszeugnis des deutschen Humanismus aus. Empört weist er das »schmähliche« Wort von sich, welches zwischen dem Volk der Dichter und Denker auf der einen, dem der Kämpfer und Staatenbildner auf der anderen Seite unterscheiden wolle:
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Deutschland ist und bleibt in der Kontinuität des 18. Jahrhunderts und seiner weltbürgerlichen Humanität. Weniger weltbürgerlich ist der Ton, in dem er seine Apologie vorträgt: in uns kämpft die Originalität einer Nation, mit der keine andere sich gleichstellen kann. Diese Art Loyalität gegenüber dem Staat hat später diejenigen, die sich in verblendetem Stolz Nationaldeutsche Juden nannten, der tragischen Ironie einer Identifikation mit ihren Angreifern ausgeliefert. Cohen war das Haupt der berühmten Marburger Schule. In ihr mündete die jüdische Gelehrsamkeit einer Generation, die im Kantischen Geiste philosophierte und die Lehre des Meisters in eine Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaften transformiert hatte. Schon Kant selbst, der übrigens Mendelssohns Sprachkraft so sehr bewunderte, daß er einmal gestand: »wenn sich die Muse der Philosophie eine Sprache erkiesen sollte, so würde sie diese wählen« - Kant also bestimmte zum Partner des akademischen Streitgesprächs über seine Habilitationsschrift ebenfalls einen Juden, den ehemaligen Arzt Marcus Herz. Wie Lazarus Bendavid in Wien, so setzte dieser Herz in Berlin alles daran, Kantische Philosophie zu verbreiten. Der erste, der sich darüber hinaus den neuen Kritizismus produktiv angeeignet und damals schon radikal über dessen eigene Voraussetzungen hinausgetrieben hat, ist der genialische, in seiner Jugend von Spinoza inspirierte Salomon Maimon; er brachte es vom Bettler und Landstreicher zum mäzenatisch protegierten Gelehrten, dem der gewiß nicht bescheidene Fichte neidlos Überlegenheit zugestand. Maimon habe die Kantische Philosophie, so schrieb Fichte an Reinhold, von Grund auf umgestoßen: Das alles hat er getan, ohne daß es jemand merkt. Ich denke, die künftigen Jahrhunderte werden unserer bitterlich spotten. Nun, die deutschen Historiker haben keinen Anstoß genommen. Diese erste Generation der jüdischen Kantianer geriet in Vergessenheit, wie Kant überhaupt.
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Erst die Kampfschrift eines anderen Juden, Otto Liebmanns Ruf »Es muß auf Kant zurückgegangen werden«, hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einem zweiten Kantianismus die Bahn gebrochen. Cohen konnte auf den von Maimon vorbereiteten Problemboden zurückkehren. Die Intention seines Lehrers hat der große Schüler Ernst Cassirer an Cohens Grab in die Worte zusammengefaßt: Der Vorrang der Aktivität vor der Passivität, des Selbständig-Geistigen vor dem Sinnlich-Dinglichen sollte rein und vollständig durchgeführt werden. Jede Berufung auf ein bloß Gegebenes sollte wegfallen: an Stelle aller angeblichen Grundlagen in den Dingen sollten die reinen Grundlegungen des Denkens, des Wollens, des künstlerischen und religiösen Bewußtseins treten. So wurde die Logik Cohens zur Logik des Ursprungs. Aber auch neben der direkten »Marburger Linie« hatten gerade jüdische Gelehrte wie Arthur Liebert, Richard Hönigswald, Emil Lask und Jonas Cohn an der kantisch gefärbten Erkenntnistheorie der Jahrhundertwende entscheidenden Anteil. Noch vom Marxismus entwickelten Max Adler und Otto Bauer eine Kantische Version. In diesem Klima gedieh üppig jener kommentierende und analysierende Scharfsinn, den ein ambivalentes Werturteil den Juden als Naturqualität beilegt - den übrigens auch ein Martin Buber der »abgelösten Geistigkeit« verdächtigt: eine von dem Wurzelgrund des natürlichen Lebens und von den Funktionen des echten Geisteskampfes abgelöste Geistigkeit, neutral, substanzlos, dialektisch, die sich an alle Gegenstände, auch an die indifferentesten hingeben konnte, um sie begrifflich zu zergliedern oder in Beziehung zueinander zu setzen, ohne auch nur einem wirklich schauend-triebhaft anzugehören. Nun mag erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Analyse, die sich geschichtsfremd und voraussetzungslos wähnt, den Neigungen jener Juden tatsächlich entgegengekommen sein, die einst die Freiheit des Gedankens durch Traditionsverzicht erringen mußten. Der Anschluß der dem Getto entwachsenden Generationen an den Stand einer aufgeklärten Kultur wurde mit dem Bruch althergebrachter Verpflichtung, mit einem Sprung in fremde Geschichte erkauft: Moses Mendelssohn mußte vor seinen Glaubensgenossen den Umgang mit deutscher Literatur geheimhalten! Vielleicht ist
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die Physiognomie des jüdischen Denkens auch dadurch geprägt worden, daß sich in ihm etwas von der Distanziertheit eines ursprünglich fremden Blicks erhalten hat. Wie dem Emigranten, der nach langer Zeit heimkehrt, das einst Vertraute nackter vor Augen steht; so ist auch dem Assimilierten eine besondere Scharfsichtigkeit eigen: ihm fehlt die Intimität mit jenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, die, zum Material seiner Aneignung erkaltet, ihre Strukturen um so unverhohlener preisgeben. Andererseits hat gerade die rabbinische und erst recht die kabbalistische Hermeneutik der Heiligen Schrift jüdisches Denken jahrhundertelang in den exegetischen Tugenden des Kommentierens und Analysierens geschult. Und von Erkenntnistheorie wird es womöglich darum angezogen, weil deren Methode einer längst gewohnten mystischen Fragerichtung die rationalisierte Gestalt gibt. Die Stadien der Theogonie, die Entwicklungsgeschichte der werdenden Gottheit gewinnt ja der Mystiker aus einer Umkehrung des Weges seiner Seele zu Gott; sein Wissen ist deshalb immer schon durch eine Art transzendentale Besinnung auf die Weise der eigenen Erfahrung vermittelt. Nicht zufällig gebraucht Simmeis Einführung in die Philosophie die Mystik des Meisters Eckart als Schlüssel zu Kants Kopernikanischer Wendung. Die Anziehung Kants auf den jüdischen Geist erklärt sich natürlich in erster Linie daher, daß sich, außer in Goethe, in ihm die freie Haltung vernunftgläubiger Kritik und weltbürgerlicher Humanität zur hellsichtigsten und wahrhaftigsten Gestalt entfaltet hat. Sein Humanismus prägte jenen geselligen Verkehr, in dem eine Assimilation ohne Kränkung ihren frühen und einmaligen Augenblick erlebte: in den Berliner Salons um die Wende zum 19. Jahrhundert. Der Kritizismus war zudem auch das Medium der jüdischen Emanzipation vom Judentum selber. Er sicherte nicht nur urbane Gesinnung und weltläufige Toleranz auf seiten der Christen; er bot das philosophische Handwerkszeug, mit dessen Hilfe die großartige Selbstbewegung des jüdischen Geistes sich seines religiösen und sozialen Schicksals zu bemächtigen suchte. Kritik ist jüdische Philosophie in allen ihren Versionen geblieben. Eine bruchlose Emanzipation läßt die Gesellschaft freilich nicht zu.
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Weil die Assimilation Formen der Unterwerfung annahm, wurden viele in ihrem Privatleben um so jüdischer, je weniger ihnen eine rigorose Identifikation mit Erwartungen der Umwelt es noch gestattete, sich öffentlich irgend anders denn als ein betont Deutscher zu geben. Dieser sozialpsychologisch so durchsichtigen Spannung entspringt wohl auch ein nachgelassenes Werk von Cohen, das er dem Andenken seines orthodoxen Vaters gewidmet hat. Es heißt »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«. Der kantische Rationalismus hatte in der Marburger Schule das spezifische Pathos abgestreift, das er seiner lutherischen Herkunft verdankte; die Theorie wurde sozusagen noch einmal säkularisiert. Aber schließlich bricht die Decke der »Zivilisation«, in die sich die Zivilisationsjuden, wie man sie nannte, so ganz entäußert zu haben schienen; den alternden Cohen treibt die Frage nach der Verbindlichkeit des mosaischen Gotteswortes an den Rand seines Systems. Soweit die Menschlichkeit der Völker zur Prägnanz einer durch Philosophie und Wissenschaft geläuterten Kultur gediehen ist, teilen sie zwar dieselbe Religion der Vernunft. Der Begriff der Vernunft jedoch, der im Bilde einer Urquelle veranschaulicht werden kann, wird geschichtlich zuerst in den Zeugnissen der jüdischen Propheten erhellt. Mit letzter Anstrengung versucht Cohen, die Autonomie der Vernunft gegenüber dieser Positivität der Offenbarung zu retten. Sein philosophisches Gewissen beruhigt sich endlich bei dem verschlungenen Gedanken: Wenn ich schon für den Begriff der Religion auf die literarischen Quellen der Propheten hingewiesen bin, so bleiben diese doch stumm und blind, wenn ich nicht, freilich von ihnen belehrt, aber nicht schlechthin von ihrer Autorität geleitet, mit einem Begriff an sie herangetreten bin, den ich der Belehrung durch sie selbst erst zugrunde gelegt habe. Nun ist die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unserer Gegenwart nicht etwa von Cohen, sondern von zwei anderen jüdischen Gelehrten bestimmt worden. Innerhalb Deutschlands hat sich weithin die Phänomenologie Edmund Husserls, international der von Ludwig Wittgenstein inaugurierte logische Positivismus durchgesetzt - in dieser Zeit die beiden erfolgreichsten philosophischen Theorien überhaupt.
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Im Todesjahr Hermann Cohens entsteht Wittgensteins berühmter Tractatus Logico-Philosophicus, der mit dem lapidaren Satz beginnt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Unter seinem Einfluß stand der sogenannte »Wiener Kreis«, in dem Juden wie Otto Neurath und Friedrich Waismann eine bedeutende Stellung einnahmen. Später haben jüdische Emigranten der neuen Lehre mit zu ihrem weltweiten Siege verholfen; in den USA wirkte vor allem Hans Reichenbach, in Großbritannien Wittgenstein selbst. Er führte in Cambridge das Leben eines zurückgezogenen Privatdozenten. Ohne etwas zu veröffentlichen, vollzog er hier, in der Stille seiner Colloquien mit einem kleinen Schülerkreis, die Wendung von der logischen zur linguistischen Analyse. Dieser geht es nicht mehr in erster Linie um Analyse und folgerichtige Ausbildung einer tatsachenabbildenden Universalsprache. Sie dient überhaupt nicht einem systematischen, sondern nur mehr dem therapeutischen Zweck, beliebige Formulierungen sprachanalytisch zu untersuchen und ihren Sinn in »vollständiger Klarheit« auszudrücken. Die philosophischen Antworten bescheiden sich zu Empfehlungen dieser oder jener sprachlichen Ausdrucksweise und enden in der Artistik von Sprachspielen, die ihr Genüge ausschließlich in sich selber finden. Als Wittgenstein nach einem Schweigen von zweieinhalb Jahrzehnten, kurz vor seinem Tode, dem Drängen von Freunden und Schülern nachgibt, ein zweites Buch, seine »Philosophischen Untersuchungen«, erscheinen zu lassen, schickt er ihm das resignierte Wort voran: Ich hatte bis vor kurzem den Gedanken an eine Veröffentlichung meiner Arbeit bei Lebzeiten eigentlich aufgegeben ... Ich übergebe meine Bemerkungen mit zweifelhaften Gefühlen der Öffentlichkeit. Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein solle, Licht in ein oder das andere Hirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich. Wittgenstein rühmt als seine eigentliche Entdeckung die, die uns fähig macht, das Philosophieren an beliebiger Stelle abzubrechen. Die Philosophie soll zur Ruhe kommen, so daß sie nicht mehr von Fragen selber in Frage gestellt werden kann. Schon im Tractatus hatte sich der tiefere Impuls in dem Satz verraten:
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Wir fühlen, daß selbst, wo alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langem Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand? Wittgenstein zögert nicht, diese Einsicht auch auf seine eigenen Reflexionen anzuwenden: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht,am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er hinaufgegangen ist ... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Ein solches Schweigen hat transitiven Sinn. Noch das Ausgesprochene muß in das gebrochene Schweigen wieder zurückgenommen werden. Wie ein Kommentar liest sich Rosenzweigs Bemerkung: Es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die Macht des Wortes und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens. Weil die eigene Sprache, das Hebräische, nicht die Sprache des Alltags, sondern als die heilige Sprache diesem entrückt war, ist dem Juden die letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit des Lebens, in seiner Qual zu sagen, was er leidet, genommen: Mit seinem Bruder kann er deshalb überhaupt nicht sprechen, mit ihm verständigt ihn der Blick besser als das Wort... Gerade im Schweigen und in den schweigenden Zeichen der Rede fühlt der Jude auch seinen Sprachalltag noch heimisch in der heiligen Sprache seiner Feierstunde. Die Kabbala zeigt gegenüber den mystischen Traditionen anderer Herkunft einen charakteristischen Unterschied: Die schriftliche Überlieferung ist dürftig, die mystische Autobiographie fehlt ganz. Gersbom Scholem, der Historiker der jüdischen Mystik, berichtet von der eigenartigen Selbstzensur der Kabbalisten, die zum Schweigen oder doch zu einer nur mündlichen Überlieferung verpflichtete; Handschriften wurden getilgt, und wo sie dennoch erhalten blieben, gelangten sie nur selten zum Druck. Von daher gesehen,
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erscheint Wittgensteins Sprachgebrauch, wenn er vom Mystischen spricht, durchaus streng: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Das zeigt sich, es ist das Mystische. Husserl hingegen versuchte, eben auf der strengen Beschreibung solcher Phänomene, die sich von sich »selbst« her zeigen, die intuitiv in unmittelbarer Evidenz »gegeben« sind, Philosophie als exakte Wissenschaft zu begründen. Die Absicht teilt die transzendentale Phänomenologie mit dem logischen Positivismus, nicht aber den Weg. Beide halten den Cartesischen Ansatz eines Zweifels fest, der niemals an sich selber verzweifelt; aber die »Sachen«, zu denen Husserl vordringen möchte, sind nicht die semantisch und syntaktisch analysierbaren Sätze der natürlichen oder wissenschaftlichen Sprachen, sondern Leistungen des Bewußtseins, aus denen sich die Sinnbezüge unserer Lebenswelt aufbauen. Diese Intentionen und ihre »Erfüllungen« wollte Husserl nicht ableiten, sondern von einem »denkbar letzten Erfahrungsstandpunkt« aus schlicht sehen lassen - darin unterschied er sich scharf von den Neukantianern, vom alten Idealismus überhaupt. Plessner begleitete eines Tages seinen Lehrer Husserl im Anschluß ans Seminar nach Hause: Als wir vor seiner Gartentür angelangt waren, kam sein tiefer Unmut zum Ausbruch: »Mir ist der ganze deutsche Idealismus immer zum Kotzen gewesen. Ich habe mein Leben lang« - und dabei zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den Türpfosten - »die Realität gesucht.« Unüberbietbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung. Husserl vereinsamte in seiner Freiburger Wohnung zusehends, als sich der politische Horizont verdüsterte. Seine Spätphilosophie — er starb 1937 - konnte er nur noch außerhalb der deutschen Grenzen, in Wien und Prag, öffentlich vortragen. Anders als Wittgenstein, nahm er den systematischen Anspruch nicht in die Selbstgenügsamkeit der linguistischen Glasperlenspiele oder gar in die Verschwiegenheit des mystisch Unaussprechlichen zurück. Er versuchte vielmehr noch einmal einen großen, einen letzten Entwurf, der die 5°
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Krisis der europäischen Wissenschaften als Krise des europäischen Menschentums begreifen und überwinden helfen sollte. Der Woge des faschistischen Irrationalismus wollte Husserl den Damm eines erneuerten Rationalismus entgegensetzen; denn: der Grund des Versagens einer rationalen Kultur liegt nicht im Wesen des Rationalismus selbst, sondern allein in seiner Veräußerlichung, in seiner Versponnenheit in Naturalismus und Objektivismus. Echt idealistisch glaubt er das Unheil wenden zu können, wenn es nur gelänge, die Geisteswissenschaften phänomenologisch exakt zu begründen. Ja, die Krisis schien geradezu darin zu wurzeln, daß ein veräußerlichter Rationalismus deren Begründung auf eine falsche und verhängnisvolle Weise versuchte; nämlich durch die naturwissenschaftliche Zurückführung aller geistigen Phänomene auf ihre physikalisch erklärbaren Unterlagen. Statt dessen soll nun der Geist in sich selber zurücksteigen und die ihm selbst verborgenen Leistungen des Bewußtseins aufklären. Husserl vertraut der weltbewegenden Kraft dieser »theoretischen Einstellung«: Das ist nicht nur eine neue Erkenntnishaltung. Vermöge der Forderung, die gesamte Empirie idealen Normen, nämlich denen der unbedingten Wahrheit, zu unterwerfen, ergibt sich daraus alsbald eine weitgehende Wandlung der gesamten Praxis des menschlichen Daseins, also des gesamten Kulturlebens. Mit einem fragwürdigen Wort möchte Husserl die Philosophen zu »Funktionären der Menschheit« berufen. Schon in früheren Werken hatte er ein Verfahren ausgearbeitet, mit dessen Hilfe sich die Phänomenologen der rechten Erkenntniseinstellung versicherten. Eine Art Entwirklichung der Wirklichkeit sollte die interessierte Verflochtenheit mit dem realen Lebensprozeß auflösen, um so reine Theorie zu ermöglichen. In dieser Enthaltsamkeit, der Epoche, wie er sie nannte, übte sich Husserl täglich in bewunderungswürdiger Askese; in ihr meditierte er Monate und Jahre; und aus den Stenogrammen solcher Meditationen stammen die Berge von nachgelassenen Forschungsmanuskripten, Zeugnisse einer Arbeitsphilosophie, die Husserl weder als Professor je vorgetragen noch als Autor veröffentlicht hat. - Worin er sich also übte, war eine
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methodische Veranstaltung. Ihr aber unterlegt der greise Philosoph, als die Politik ihn aus der Kontemplation herausreißt, einen geschichtsphilosophischen Sinn. Die auf dem Boden der Enthaltsamkeit von aller Praxis erwachsene Theorie soll am Ende die »neuartige Praxis« einer wissenschaftlich angeleiteten Politik ermöglichen: Eine Praxis, die darauf aus ist, durch die universale wissenschaftliche Vernunft die Menschheit nach Wahrheitsnormen aller Formen zu erziehen, sie zu einem von Grund aus neuen Menschentum zu verwandeln, befähigt zu einer Selbstverantwortung auf Grund absoluter theoretischer Einsichten. Das geschichtsphilosophische Mäntelchen war schon durchgescheuert, noch bevor Husserl es seiner im Kern unhistorischen Lehre überzog. Dennoch besticht seine Haltung: auf verlorenem Posten hält er am Pathos und an der Illusion reiner Theorie fest. Wie sehr dieser Posten verloren war, zeigte sich schon im Jahre 1929, als in Davos das berühmte Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger stattfand. Das Thema hieß: Kant; in Wahrheit stand das Ende einer Epoche zur Diskussion. Der Gegensatz der Schulen trat hinter dem der Generationen zurück: Cassirer repräsentierte die Welt, der auch Husserl zugehörte, gegen dessen großen Schüler; die gebildete Welt des europäischen Humanismus gegen einen auf Ursprünglichkeit des Denkens sich berufenden Dezisionismus; dessen Radikalität griff der Goethe-Kultur in der Tat an die Wurzel. Nicht zufällig ist der Goethe-Kult zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Salon der Rahel Varnhagen kreiert worden. Denn nach dem Vorbild des »Wilhelm Meister«, der »Bildung zur Persönlichkeit« so eigentümlich und so trügerisch als eine Assimilation des Bürgerlichen an den Edelmann verstand, hat wohl niemand mit solcher Intensität gestrebt wie eben jene Juden, die man denn auch »Ausnahmejuden der Bildung« genannt hat. Was sie von ihr erwarteten, hat Simmel ausgesprochen: Vielleicht hat niemand ein so symbolisches Leben gelebt wie Goethe, weil er jedem nur ein Stück und Seiten seiner Persönlichkeit gab und zugleich doch »allen das Ganze«. In dieser Weise symbolisch zu leben, ist die einzige Möglichkeit, nicht Komödiant und Maskenträger zu sein.
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Der verinnerlichte Goethe verhieß nicht nur den Weg zur Assimilation, sondern gleichzeitig auch die Erlösung von ihrer Qual - stets eine Rolle spielen zu müssen, ohne mit sich selbst identisch sein zu dürfen. In dieser doppelten Hinsicht war die Kultur der deutschen Klassik für die Juden gesellschaftlich eine Lebensnotwendigkeit. Vielleicht verdanken wir darum gerade ihnen die sensibelsten ästhetischen Reflexionen: von Rosenkranz und Simmel selbst, über Benjamin und Lukács zu Adorno. Während jenes Davoser Gesprächs stellte ein Student drei Fragen an Cassirer; jede seiner Antworten endete mit einem Goethe-Zitat. Heidegger aber polemisierte gegen den faulen Aspekt eines Menschen, der die Werke des Geistes bloß benutzte; er, Heidegger, wolle in die »Härte des Schicksals zurückwerfen«. Die Diskussion endete damit, daß Heidegger die ausgestreckte Hand seines Partners zurückwies. Wie eine Fortsetzung liest sich heute, was Heidegger vier Jahre später auf der Leipziger Wahlkundgebung der Deutschen Wissenschaft im Namen der Hitlerpartei verkündete: Wir haben uns losgesagt von der Vergötzung eines boden- und machtlosen Denkens. Wir sehen das Ende der ihm dienstbaren Philosophie ... Der ursprüngliche Mut, in der Auseinandersetzung mit dem Seienden an diesem entweder zu wachsen oder zu zerbrechen, ist der innerste Beweggrund des Fragens einer völkischen Wissenschaft. Denn der Mut lockt nach vorne, der Mut löst sich vom Bisherigen, der Mut wagt das Ungewohnte und Unberechenbare. Diesem Unberechenbaren mußte Cassirer im gleichen Augenblick weichen. Die Emigration führte ihn über Schweden und England schließlich in die USA. Dort schrieb er sein letztes Werk über den »Mythos des Staates«; dessen Schlußkapitel handelt von der Technik moderner politischer Mythen. Es endet mit dem Kommentar zu einer babylonischen Legende: Die Welt der menschlichen Kultur konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythos besiegt und überwunden war. Aber die mythischen Ungeheuer waren nicht endgültig vernichtet. Heideggers wie immer fragwürdiger Sieg über die humane Geistigkeit eines Cassirer gewinnt freilich Unerbittlichkeit erst dadurch, daß er die aufklärerische Position auch einer wirklichen Schwäche
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überführte: gegenüber dem als »radikal« proklamierten Denken reichen die Wurzeln des 18. Jahrhunderts nicht tief genug. Aber vor dem 18. Jahrhundert liegt kein jüdisches Abendland, liegt vielmehr das Mittelalter des Gettos. Ein Rückgang auf die Griechen, wo er von Juden versucht wurde, hat so immer etwas Kraftloses behalten - Kraft barg allein die Tiefe der eigenen Tradition, die Kabbala. Cabbalisten hatten über Jahrhunderte die Technik der allegorischen Auslegung ausgebildet, bevor Walter Benjamin die Allegorie als Schlüssel der Erkenntnis wiederentdeckte. Sie ist der Gegenbegriff zum Symbol. Als Welt der symbolischen Formen hatte Cassirer alle Gehalte des Mythos, der Philosophie, der Kunst und der Sprache begriffen, in deren objektivem Geist die Menschen miteinander kommunizieren, in dem sie überhaupt nur existieren können; denn in der symbolischen Form, so meinte Cassirer mit Goethe sagen zu dürfen, sei das Unbegreifliche getan, das Unaussprechliche zur Sprache, das Wesen zur Erscheinung gebracht. Aber Benjamin erinnert daran, daß sich die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Anbeginn hat, dem Ausdruck des Symbols und der Harmonie der klassischen Gestalt verschließt. Die Exposition der Weltgeschichte als Leidensgeschichte gelingt nur der allegorischen Darstellung. Allegorien sind nämlich im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge sind: Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis zu gewahren, war wesentlich dem Klassizismus versagt. Gerade diese aber bringt die Allegorien des Barocks, verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung hervor.
Vor dem allegorisch geschulten Blick verliert sich die Unschuld einer Philosophie der symbolischen Formen; vor ihm enthüllt sich die Brüchigkeit jenes von Kant und Goethe, wie es schien endgültig, gefestigten Bodens einer aufgeklärten Kultur der Schönheit. Nicht als hätte Benjamin deren Idee preisgegeben; aber er sah der Zwiespältigkeit jener »Bildungswerte« und »Kulturgüter« auf den Grund, die gerade Juden so naiv im Munde führten. In Wahrheit ist die Geschichte der Siegeszug der Herrschenden über die, die am Boden liegen:
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Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt man bezeichnet sie als die Kulturgüter ... Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.
Benjamin nahm sich 1940 das Leben, als ihn, nach einer Flucht durch Südfrankreich, die spanische Grenzbehörde an die Gestapo auszuliefern drohte. Er hat geschichtsphilosophische Thesen hinterlassen, eines der bewegendsten Zeugnisse jüdischen Geistes. In ihnen ist die Dialektik der Aufklärung, die im gebrochenen Fortschritt der noch unentschiedenen Geschichte waltet, als allegorische Deutung festgehalten. Die neunte These lautet: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette vor Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Aber nicht erst Benjamin durchbricht den Zirkel des auf Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie eingeschworenen jüdischen Denkens, das sich dann in der Ausmessung der geschichtsphilosophischen Dimensionen so kühn entfalten wird. Schon Simmel, der mit George und Rilke ebenso befreundet ist wie mit Bergson und Rodin, überschreitet die Grenzen der damals herrschenden Schulphilosophien: Drei Kategorien von Philosophen gibt es: die einen hören das Herz der Dinge klopfen, die anderen nur das der Menschen, die dritten nur das der Begriffe; und eine vierte (der Professoren der Philosophie), die nur das Herz der Literatur hören.
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In Simmels Nachlaß findet sich ein charakteristisches Fragment zur Schauspielkunst. Es verarbeitet jene typische Erfahrung der assimilierten Juden, die ihrer privaten Existenz so oft den Zug nervöser Dynamik verleiht. Hannah Arendt, die kluge Historikerin des Antisemitismus, hat am Beispiel des Pariser Fin du siecle beschrieben, wie gerade die philosemitischen Kreise gebildeten Juden mit dem merkwürdigen Kompliment Zutritt gewährten, daß man ihnen ihre Herkunft gar nicht mehr ansehe: sie sollten Juden, aber nicht wie Juden sein. In diesem zweideutigen Hin und Her wurde jedes der in Frage stehenden Individuen ein gelernter Schauspieler, nur daß der Vorhang, der dem Spiel ein Ende machen sollte, nie mehr heruntergelassen wurde, und die Menschen, die aus ihrem ganzen Leben eine theatralische Rolle gemacht hatten, auch in der Einsamkeit nicht mehr wußten, wer sie eigentlich waren. Kamen sie in Gesellschaft, so erspähten sie instinktiv diejenigen, die ihresgleichen waren, erkannten sich automatisch an der ungewöhnlichen Mischung von Hochmut und Angst, die jede ihrer Gebärden bestimmt und festgelegt hatte. Hieraus entsprang dann das von Proust so ausführlich besprochene Augurenlächeln der Clique, das ... nur geheimnisvoll anzeigte, was alle anderen Anwesenden längst wußten, nämlich daß in jeder Ecke des Salons der Gräfin Sowieso noch ein Jude saß, der es nie zugeben durfte und der ohne diese, an sich ja belanglose Tatsache verrückterweise auch nie in die ersehnte Ecke gekommen wäre.
Juden, denen man obendrein die Erbarmungslosigkeit ihrer Umgebung als eine »hintergründige Dämonie des Maskenwechsels« persönlich zur Last legte, mußten für den Rollencharakter menschlicher Existenz überhaupt empfindlich werden. Wenn ich mit dieser geschärften Sensibilität eine Einsicht Simmels in Zusammenhang bringe, zieht das ihre Geltung nicht in Zweifel. In jener Abhandlung heißt es nämlich: Wir tun nicht nur Dinge, zu denen uns die Kultur- und Schicksalsschläge äußerlich veranlassen, sondern wir stellen unvermeidlich etwas dar, was wir nicht eigentlich sind ... Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben. Dieses nun: daß der Mensch ein vorgezeichnetes
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Anderes als seine zentraleigene, sich selbst überlassene Entwicklung darlebe oder darstelle, damit er dennoch sein eigenes Sein nicht schlechthin verläßt, sondern das Andere mit diesem Sein selbst erfüllt und dessen Strömungen in jene vielfach geteilten Adern leitet, deren Wege, obgleich in einem vorgeschriebenen Flußbett verlaufend, das ganze innere Sein zur besonderen Gestaltung aufnimmt - das ist die Vorform der Schauspielkunst ... In eben dieser Bedeutung sind wir alle irgendwie Schauspieler.
Auch Helmuth Plessner entwickelte aus seiner »Anthropologie des Schauspielers« Anthropologie überhaupt. Der Mensch lebt nicht bloß wie das Tier im Zentrum seines Leibes, sondern fällt, ohne diese Zentrierung aufheben zu können, doch auch aus ihr heraus; er muß sich stets zu sich und anderen verhalten, ein selbstinszeniertes Leben nach den Regieanweisungen der Gesellschaft führen: Als das Verhältnis zu sich selbst ist der Schauspieler die Person einer Rolle, für sich und den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen zu sich und zueinander, die ihr tägliches Leben durchdringt ... Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolleverpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, ... die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unsrer selbst und der Welt die Welt als Szene sehen ...
Eine Anthropologie, die den Menschen aus seinem Zwang zum Rollenspiel versteht, findet bruchlos ihre Fortsetzung in der Soziologie. Simmel wie Plessner haben soziologisch gearbeitet, ebenso Max Scheler, der eigentliche Begründer der philosophischen Anthropologie. Während seiner letzten Jahre lehrte Scheler Soziologie an der Frankfurter Universität, die sich durch die Wirksamkeit Franz Oppenheimers und Gottfried Salomons, Carl Grünbergs und Karl Mannheims gerade als Stätte soziologischer Forschung Ruhm erworben hatte. Max Horkheimer verband sein philosophisches Ordinariat mit der Leitung des Instituts für Sozialforschung. Und selbst ein Martin Buber wurde hier zum Soziologen. Wie überhaupt jüdischer Geist in der deutschen Soziologie dominierte - von den Tagen eines Ludwig Gumplowicz an. Die Juden mußten Gesell-
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schaft als etwas, woran man sich stößt, so aufdringlich erfahren, daß sie einen soziologischen Blick sozusagen von Haus aus mitbekamen. Auch in den Nachbarwissenschaften waren sie es, die als erste ihren Gegenstand unter soziologischem Aspekt zu betrachten lernten. Eugen Ehrlich und Hugo Sinzheimer begründeten die Rechtssoziologie. Ludwig Goldscheid und Herbert Sultan waren die führenden Finanzsoziologen. An der Macht des Geldes entzündete sich freilich die Phantasie jüdischer Gelehrter überhaupt wofür Marx, insbesondere der junge, ein Beispiel ist. Dabei mag die intime Feindschaft der Bildungsjuden zu den Geldjuden ein Motiv gewesen sein, jener sublime innerjüdische Antisemitismus gegen die Schicht, deren Imago von den Rothschilds geprägt war. Simmel, selber Sohn eines Kaufmanns, schrieb gar eine »Philosophie des Geldes«. Bei Simmel taucht aber auch schon, neben dem soziologischen, das andere für Juden typische Interesse an einer mystisch inspirierten Naturphilosophie auf. Er notiert einmal in sein Tagebuch: Nicht nur jeden Menschen, sondern auch jedes Ding so behandeln, als wäre es ein Selbstzweck - das gäbe eine kosmische Ethik. Der mystische Zusammenhang von Moral und Physik begegnet hier noch in kantischer Terminologie. Ein Freund Simmels, Karl Joel, schrieb über den »Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik«. Und in den zwanziger Jahren unternahm es David Baumgardt, das sogenannte Unrecht an Baader, den ein positivistisches Zeitalter so ganz vergessen hatte, wiedergutzumachen. In dieser Untersuchung über »Franz von Baader und die philosophische Romantik« stößt ein Jude auf die Goldader jener naturphilosophisch trächtigen Weltalterspekulationen, die von Jakob Böhme über den schwäbischen Pietismus zu den Tübinger Stiftlern: Schelling, Hegel und Hölderlin, führt. Vorher hatte schon Richard Unger, in dem spannungsreichen Verhältnis Hamanns zur Aufklärung, den »realistischen Zug« der protestantischen Mystik erkannt, die sich mit der Annahme eines Naturgrundes in Gott von der spiritualistischen Mystik des Mittelalters abhebt. Einen gewissen Einschlag dieser Tradition zeigen selbst die naturphilosophischen Entwürfe Schelers und Plessners. Sie verraten bei
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all ihrer nüchternen Verarbeitung der einzelwissenschaftlichen Materialien doch einen spekulativen Zug, der aus Naturmystik stammt; zur Idee des werdenden Gottes kehrt Schelers Kosmologie sogar ausdrücklich zurück. Aber allen diesen jüdischen Gelehrten scheint nicht voll zum Bewußtsein gekommen zu sein, welch eigentümlicher Trieb sie auf die Fährte dieser (eigenartigen) Tradition gesetzt hatte. Sie haben vergessen, was am Ende des 17. Jahrhunderts noch allgemein bekannt war und woran Scholem erinnert: damals ist Johann Jakob Spaeth, ein Jünger der Böhmeschen Mystik, von der Übereinstimmung dieser Lehre mit der Theosophie des Isaac Luria überwältigt, zum Judentum übergetreten. Und als umgekehrt der protestantische Pfarrer Friedrich Christoph Oetinger, dessen Schriften Hegel und Schelling ebensogut wie Baader gelesen hatten, wenige Jahre später den Kabbalisten Koppel Hecht im Frankfurter Getto aufsuchte, um in die jüdische Mystik eingeweiht zu werden, erwiderte ihm dieser: Die Christen haben ein Buch, das von der Kabbala noch viel deutlicher redet als der Sohar. Gemeint war Jakob Böhme. Diese Art »Theologie« hatte wohl Walter Benjamin bei seiner listigen Bemerkung im Auge, daß der historische Materialismus es ohne weiteres mit jedem würde aufnehmen können, wenn er nur die Theologie in seinen Dienst nähme. Das ist durch Ernst Bloch geschehen. Bloch verbindet im Medium einer marxistisch angeeigneten jüdischen Mystik das soziologische mit dem naturphilosophischen Interesse zu einem System, das, wie heute kein anderes, vom großen Atem des deutschen Idealismus getragen ist. Im Sommer 1918 erschien »Der Geist der Utopie«, der dem ökonomisch befangenen Marxismus den Spiegel vorhält: er gleiche einer »Kritik der reinen Vernunft«, zu der die »Kritik der praktischen Vernunft« noch geschrieben werden müsse. Die Wirtschaft ist hier aufgehoben, aber die Seele, der Glaube fehlt, dem Platz gemacht werden sollte; der tätig kluge Blick hat alles zerstört, gewiß vieles mit Recht zerstört ... Auch wurde der allzu arkadische, der utopisch-rationale Sozialismus mit Grund desavouiert, wie er seit der
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Renaissance wiederauftauchte als säkularisierte Weise des tausendjährigen Reiches und oft nur als wesenlose Draperie, Ideologie höchst nüchterner Klassenziele und Wirtschaftsrevolutionen. Aber damit ist freilich weder die utopische Tendenz in all diesem begriffen, noch die Substanz ihrer Wunschbilder getroffen und gerichtet, noch gar der religiöse Urwunsch verabschiedet ..., sich göttlich zu verwesentlichen, sich chiliastisch in Güte, Freiheit, Licht des Telos endlich einzubauen.
In der Lurianischen Mystik wird die Vorstellung entwickelt, daß das Weltall durch einen Prozeß der Einschrumpfung und der Zusammenziehung entsteht; Gott verschränkt sich in sich, er tritt sozusagen ein Exil in sich selbst an. Daraus erklärt sich dann die uranfängliche Undurchdringlichkeit und Kraft der Materie, auch die Positivität des Bösen, das sich nicht mehr leichthin zu einer Abschattung des Guten verflüchtigen läßt. Andererseits bleibt dieser dunkle Grund doch auch eine Natur in Gott, bleibt die Natur Gottes, selber eine göttliche Potenz - die Weltseele oder natura naturans. In diese Tiefen reicht der Begriff, den Bloch seinem spekulativen Materialismus zugrunde legt. Die Materie bedarf der Erlösung; denn seit jener theologischen Katastrophe, die der Sohar im Bilde eines »Bruchs der Gefäße« beschreibt, tragen alle Dinge einen Bruch in sich, sind, wie Bloch es ausdrückt, Auszugsgestalten ihrer selbst. Freilich war der Prozeß der Wiederherstellung fast schon wieder vollendet, als Adams Fall von neuem die Welt von ihren Stufen herabgestürzt, Gott selbst ins Exil zurückgeworfen hat. Dieses neue Weltalter ist, mit dem alten Ziel der Erlösung der Menschheit und der Natur, ja des vom Throne gestoßenen Gottes, nun den Menschen selber überantwortet. Mystik wird zu einer Magie der Innerlichkeit; denn jetzt ist das Äußerlichste vom Innerlichsten abhängig - ein altes Wort des Sohar verbürgt die Erlösung, sobald nur eine einzige Gemeinde vollkommene Buße tut. Das Gebet wird zur geschichtsphilosophisch bedeutsamen Manipulation. Bei Bloch nimmt die Stelle dieser religiösen Praxis die politische ein. Das Kapitel über »Marx, Tod und Apokalypse« trägt noch den Untertitel: über die Weltwege, wie das Inwendige auswendig werden kann. In ihm findet sich der Satz:
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Eine Verlegenheit ist die Materie von alters her, nicht nur für den Erkennenden, sondern eine Verlegenheit an sich selber; sie ist das eingestürzte Haus, in dem der Mensch nicht vorkam, die Natur ist ein Schutthaufen von betrogenem, gestorbenem, verdorbenem, verwirrtem und umgekommenem Leben ... Nur der gute, eingedenke, schlüsselhaltende Mensch kann in dieser Nacht der Vernichtung den Morgen herbeiziehen, wenn anders die unrein Gebliebenen ihn nicht schwächen und wenn anders sein Rufen nach dem Messias erleuchtet genug ist, um die errettenden Hände zu erregen, um sich der Gnade des Anlangens genau zu versichern, um in Gott die uns und ihn selber herüberziehenden Kräfte, die atembringenden, gnadenreichen Kräfte des Sabbathreiches zu erwecken, mithin um das rohe, satanisch atemraubende Brandmoment der Apokalypse sogleich in den Sieg zu verschlingen und zu verwinden.
In seinem fünfteiligen Werk über das Prinzip der Hoffnung hat Bloch diese frühe Vision, die ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhang deutlicher verrät als alles Spätere, philosophisch geklärt. Den Schelling der »Weltalter« hat er nun im Marx der »Pariser Manuskripte« aufgehoben: Der menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt..., die wirkliche Genesis, ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten ausbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.
Weil Bloch auf Schelling zurückgeht; und Schelling aus dem Geiste der Romantik das Erbe der Kabbala in die protestantische Philosophie des Deutschen Idealismus einholt - sind, wenn anders solche Kategorien überhaupt einen Sinn haben, die jüdischen Elemente der Blochschen Philosophie zugleich die wahrhaft deutschen. Hohn sprechen sie dem Trachten nach einer solchen Unterscheidung überhaupt. Wie Bloch aus Schellingschem, Plessner aus Fichteschem Geist den deutschen Idealismus sich anverwandelt und dessen vorauseilenden Einsichten am gegenwärtigen Stand der Wissenschaften bewährt haben, so sind es wiederum jüdische Gelehrte, Freunde Walter
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Benjamins, gewesen, die Hegels Dialektik der Aufklärung soweit zu ihrem Ende gedacht haben, wie irgend der währende Anfang den Blick auf das noch ausstehende Ende frei gibt: Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse; ihnen ist der frühe Georg Lukács vorangegangen. Allein, wo das Philosophieren beginnt, schließt der bloße Bericht; und nur darin bestand meine Aufgabe. 1 Ich habe gezögert, sie zu übernehmen. Würde nicht dieses wie immer hochherzig geplante Unternehmen doch dazu führen müssen, den Ausgetriebenen und den Erschlagenen noch einmal einen Judenstern anzuheften? Mit 15 oder 16 Jahren hockten wir an den Radiogeräten und erfuhren, was vor dem Nürnberger Tribunal verhandelt wurde; als andere dann, statt vor dem Grauenhaften zu verstummen, anhuben, über die Rechtmäßigkeit des Gerichts, über Verfahrensfragen und Zuständigkeiten zu streiten, gab es wohl jenen ersten Riß, der immer noch klafft. Gewiß ist es nur das Verdienst eines empfindlichen und verletzbaren Lebensalters, daß wir uns damals der Tatsache der kollektiv verwirklichten Unmenschlichkeit nicht im selben Maße verschlossen haben wie die meisten der Älteren. Aus dem gleichen Grunde blieb für uns die sogenannte Judenfrage eine sehr gegenwärtige Vergangenheit, aber eben nicht ein selbst Gegenwärtiges. Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von NichtJuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewußt. Solche Naivität halte ich heute nicht mehr für angemessen. Vor kaum 25 Jahren konnte der klügste und bedeutendste deutsche Staatsrechtler, nicht ein beliebiger Nazi, sondern Carl Schmitt, eine wissenschaftliche Tagung mit der ungeheuerlichen Parole eröffnen : 1 Ich habe diese Arbeit für eine Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks über Portraits deutsch-jüdischer Geistesgeschichte geschrieben. Thilo Koch, auf dessen Initiative die Reihe zurückgeht, hatte alle Beteiligten gebeten, abschließend die Erfahrungen zu registrieren, die sie als Autoren bei der Bearbeitung ihres Themas gemacht haben.
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Wir müssen den deutschen Geist von allen jüdischen Fälschungen befreien, Fälschungen des Begriffes Geist, die es ermöglicht haben, daß jüdische Emigranten den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher als etwas Ungeistiges bezeichnen konnten. Ich unterstelle, daß man weiß, wer Julius Streicher war. Damals hat Hugo Sinzheimer aus seinem holländischen Exil mit einem Buch über die jüdischen Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft geantwortet. Im Schlußwort wendet er sich an eben diesen Carl Schmitt: Achtet man auf den Ursprung der wissenschaftlichen Tätigkeit der Juden in der Emanzipationszeit, so handelt es sich nicht um den Einfluß jüdischen Geistes auf deutsche wissenschaftliche Arbeit... Vielleicht nirgends in der Welt hat deutsches Geistesleben außerhalb des Ursprungs größere Triumphe gefeiert als gerade in dieser Zeit, da das Getto sich öffnete und die lange zurückgestauten geistigen Kräfte des Juden der damaligen Höhe der Kultur Deutschlands begegneten. Es ist deutscher Geist, der dem jüdischen Einfluß zugrunde liegt. Diese wahre Feststellung zu wiederholen und am Schicksal der jüdischen Philosophie noch einmal zu bewahrheiten, ist gewiß nicht unwichtig. Ihr liegt jedoch noch die Frage zugrunde, die der Gegner diktiert hat; unterdessen hat sich die Fragestellung des Antisemitismus selber erledigt - wir haben sie erledigt, durch physische Ausrottung. Darum kann es bei unserem Bemühen nicht mehr um Leben und Überleben von Juden gehen, um Einflüsse hin und her; es geht nur noch um uns selbst. Nämlich für das eigene Leben und Überleben ist das jüdische Erbe aus deutschem Geist unentbehrlich geworden. Im selben Augenblick, als deutsche Philosophen und Wissenschaftler es »auszumerzen« begannen, enthüllte sich die tiefe Zwiespältigkeit, die, als Gefahr der Barbarei für alle, den dunklen Grund des deutschen Geistes so unheimlich färbte - Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt sind Repräsentanten dieses Geistes in seiner Größe, aber eben auch in seiner Gefährlichkeit: daß sie 1930, 1933 und 1936 so gesprochen haben, ist kein Zufall. Und daß diese Einsicht überdies ein Vierteljahrhundert danach nicht vollzogen worden ist, beweist die Dringlichkeit eines sondierenden Denkens um so mehr ... Dieses muß mit jenem
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fatalen deutschen Geiste eins sein und doch in ihm so weit mit ihm entzweit, daß es ihm sein Orakel stellen kann: ein zweites Mal darf er den Rubikon nicht überschreiten. Gäbe es nicht eine deutschjüdische Tradition, wir müßten sie heute um unseretwillen finden. Nun gibt es sie; weil wir aber deren leibhafte Träger getötet oder gebrochen haben; und weil wir soeben dabei sind, im Klima einer unverbindlichen Versöhnlichkeit alles vergeben und auch vergessen sein zu lassen (um so zu erreichen, was Antisemitismus nicht besser erreichen könnte); nötigt uns nun geschichtliche Ironie, die Judenfrage ohne Juden doch wiederaufzunehmen. Der deutsche Idealismus der Juden produziert das Ferment einer kritischen Utopie; deren Absicht findet keinen genaueren, würdigeren und schöneren Ausdruck als in dem sehr kafkaesken, dem letzten Stück der »Minima Moralia«: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schrunde offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denkenden an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem, was ist, abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.
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2. Martin Heidegger a) Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935j1 (1953) Der Philosoph Martin Heidegger beschäftigt uns hier nicht als Philosoph, sondern in seiner politischen Ausstrahlung, in seiner Wirkung nicht auf die interne Diskussion der Gelehrten, sondern auf die Willensbildung entzündbarer und begeisterungsfähiger Studenten. Das Geniale ist zwielichtig, und vielleicht hat Hegel recht, daß sich weltgeschichtliche Individuen nicht mit moralischen Maßstäben messen lassen. Aber dort, wo das Zwielicht eine Ausdeutung des Genialen gewährt oder gar nährt, die politische Destruktion zur Folge hat, dort tritt die Wächterschaft der öffentlichen Kritik in ihre Rechte. Allein diese Kritik hat nicht mit dem zu rechten, was ihr unzugänglich bleibt: mit den Vorgängen im intimen Entscheidungsfeld privater Existenz, sie hat einfach die Bedingungen zu klären, unter denen öffentliche Störungen zustande kamen, Bedingungen also, die zu verändern sind, um dergleichen Störungen in Zukunft zu vermeiden. Seit 1945 ist von verschiedenen Seiten über Heideggers Faschismus verhandelt worden. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stand zumeist die Rektoratsrede von 1933, mit der Heidegger die »Umwälzung des deutschen Daseins« feiert. Daran die Kritik aufhängen heißt: simplifizieren. Bedenkenswert ist doch vielmehr, wie der Autor von »Sein und Zeit« (das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels »Phänomenologie«), wie also ein Denker dieses Ranges in einen so offenbaren Primitivismus verfallen konnte, als der sich die hektische Stillosigkeit jenes Aufrufs zur Selbstbehauptung der deutschen Universität bei nüchternem Zusehen erweist. Das Problem der faschistischen Intelligenz, das sich in diesem Vorgang verbirgt, wird um so schärfer und fordernder, wenn man bedenkt, daß es eine faschistische Intelligenz als solche nur darum 1 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953.
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nicht gab, weil die Mediokrität der faschistischen Führungsgarnitur das Angebot der Intellektuellen nicht akzeptieren konnte. Die Denkenden, deren Motive und deren Mentalität dem Trend der faschistischen Leitbilder entsprachen, waren ja da. Heute Namen zu nennen, würde zu Mißverständnissen führen. Diese Kräfte waren da. Nur das mindere Format der politischen Funktionäre hat sie in die Opposition gedrängt, so daß die »Bewegung« ohne die zurechnungsfähigen Träger des kulturellen Erbes den Eindruck erzeugen konnte: als sei der Nationalsozialismus Strandgut aus den allgemeinen Strömungen des Jahrhunderts, unverwurzelt und deutscher Tradition fremd und aufgepfropft. Daß er keine notwendige Entwicklungsfolge der deutschen Tradition ist, steht allemal außer Frage. Aber daraus ist nicht abzuleiten, daß alle Versuche falsch und verwerflich sind, die im Sinne des Faustusromans Thomas Manns gerade die Verwurzelung der faschistischen Motive im Kern der deutschen Überlieferung sondieren und die Dispositionen freilegen wollen, die dann in einer Verfallsperiode zum Faschismus führen konnten. Das Problem der faschistischen Intelligenz stellt sich als das Problem der Vorgeschichte des Faschismus. Die deutsche Situation seit 1945 ist durch das konstante Ausweichen vor diesem Problem gekennzeichnet. Für beides, für die Berechtigung des Problems und für das Ausweichen vor ihm, gibt es seit kurzem ein bedeutendes literarisches Zeugnis: Heidegger hat unter dem Titel »Einführung in die Metaphysik« Vorlesungen aus dem Jahre 1935 herausgegeben. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, sind die Zusätze in runden Klammern gleichzeitig geschrieben worden. Auf Seite 152 hat es Heidegger mit dem Nationalsozialismus zu tun, »mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) ...« Da diese Sätze 1953 ohne Anmerkung erstmals veröffentlicht wurden, darf unterstellt werden, daß sie unverändert Heideggers heutige Auffassung wiedergeben. Es wäre müßig, das Wort von der inneren Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus zu zitieren, wenn es sich nicht aus dem Zusammenhang der Vorlesung ergäbe. Heidegger bringt ausdrück-
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lich die Frage aller Fragen, die Frage nach dem Sein, mit der geschichtlichen Bewegung jener Tage zusammen. Bekanntlich steht für Heidegger die Gegenwart unter dem Geschick der Seinsvergessenheit. Die Völker haben zwar in ihren weitläufigen Umtrieben und Erzeugnissen ein Verhältnis zu den Gegenständen, sie sind aber aus dem Sein selbst schon längst herausgefallen. Daher »taumeln« wir, metaphysisch gesehen. Dieser Taumel manifestiert sich konkret in den Erscheinungen der Technik, wobei sich die Technik nicht überall gleich extensiv entfaltet hat. Vielmehr liegt Europa in einer großen Zange zwischen Rußland und Amerika, die in ihrem Wesen dasselbe sind: »Dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen«, für den Zeit nur noch Schnelligkeit bedeutet. Von beiden Seiten her legt sich über Europa die Verdüsterung der Welt, die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen und der Haß, der Verdacht gegen alles Schöpferische und Freie. Darum wird sich das Schicksal der Erde in Europa entscheiden, genauer: im Herzen des Volkes, das seine Mitte ausmacht und das »den schärfsten Zangendruck« erfährt: »das nachbarreichste Volk und so das gefährdetste Volk und in allem das metaphysische Volk«. Aber aus dieser Bestimmung wird es nur dann ein großes Schicksal schmieden, wenn es seine Überlieferung sich schöpferisch aneignet. Verstehen wir recht: in der politischen Situation von 1935, in der sich die Doppelfrontbildung Deutschlands gegen Ost und West abzeichnet, sieht Heidegger den Reflex einer seinsgeschichtlichen Lage, der sich seit über zweitausend Jahren vorbereitet hat und nun dem deutschen Volk eine weltgeschichtliche Mission überantwortet. Um die Physiognomie und daraus die eschatologische Strahlkraft der Vorlesung recht zu verstehen, gilt es, die Dialektik dessen, wogegen und wozu Heidegger seine Hörer von 1935 und seine Leser von 1953 aufruft, in den Griff zu bekommen. Er fordert die heroische Existenz gegen die fade Verfallenheit des Durchschnittlichen. Die eigentümliche Färbung dieses Postulats läßt sich nach drei Seiten hin skizzieren.
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Es ist die »Stärke«, die den aristokratischen Einzelnen den gewöhnlichen Vielen überhebt. Der Edle, der den Ruhm wählt, wird vom Rang und der Herrschaft geadelt, die zum Sein selbst gehören, während die Vielen, die nach dem beifällig zitierten Heraklit satt sind wie das Vieh, die Vielen sind die Hunde und die Esel. Das Rangmäßige ist das Stärkere, weshalb sich das Sein dem entzieht, der auf Ausgleich, Entspannung, Einebnung bedacht ist: »Das Wahre ist nicht für jedermann, sondern nur für den Starken.« Ferner ist es der »Geist«, der den Denkenden gegenüber dem Intellektuellen auszeichnet. Das verständige Rechnen orientiert sich an den Gegenständen und macht sie verfügbar. Alle Dinge geraten vor seinem nivellierenden Zugriff auf eine Ebene, Ausdehnung und Zahl sind die vorherrschenden Dimensionen. »Können« heißt diesem Denken nicht mehr Verschwendung aus hohem Überfluß, sondern das schwitzende Ausüben einer Routine. Dieses Denken, das den Gesetzen der herkömmlichen Logik folgt, kann die Frage nach dem Sein nicht verstehen und erst recht nicht entfalten, weil die Logik selbst in einer Antwort auf die Frage nach dem Seienden gründet, die das Sein von vornherein zustellt. Die Studenten erfahren, daß die Überlegung, Berechnung und Betrachtung der vorgegebenen Gegenstände eine Sache bloßer Begabung und Übung und massenhafter Verteilung ist. Oberflächlich und tief, leer und gehaltvoll, unverbindlich und zeugend, spielerisch und ernst sind die gegensätzlichen Attribute von Intelligenz und Geist, eines Geistes übrigens, den Heidegger nachdrücklich, das läßt sich nicht leugnen, gegen alle Schwärmerei verteidigt. Nur die Intelligenz, nicht der Geist, soll, mit einem Seitenblick auf die parteioffizielle Eugenik, der gesunden leiblichen Tüchtigkeit und dem Charakter untergeordnet sein, denn die Entartung des Denkens zur Intelligenz kann nur durch ursprünglicheres Denken überwunden werden. - Schließlich ergänzt der »Mut« das Starke und das Geistige, der zweideutige Mut, der auch vor Gewaltsamkeit und Irrtum nicht zurückschreckt. Schein, Trug, Täuschung und Irre sind Mächte, die vom Sein selbst ereignet werden, nur der alltägliche Verstand erfährt nicht mehr ihre numinose Kraft und degeneriert sie zu bloßem Irrtum. Der Mutige wiederholt den im vorplatonischen Griechentum gelebten Anfang unseres geistesge-
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schichtlichen Daseins mit dem Ja zu all dem Befremdlichen, Dunklen, Ungesicherten des wahren Anfangs. Schließlich entfaltet der heroische Einzelne als Wagender sein volles Wesen: er ist der Gewalttätige, der Schaffende, der das Sein bewältigt, indem er das Ungesagte in seine Rede, das Ungeschaute in seinen Blick und das Ungeschehene in seine Tat bannt. Wobei Gewalt nicht die Banalität einer »rohen Willkür« besagen soll. Andererseits ist es der Kleinmütige, der auf Verabredung, Kompromiß und gegenseitige Versorgung absieht und demnach Gewalt nur als Störung seines Lebens empfinden kann. »Deshalb kennt der Gewalt-Tätige nicht Güte und Begütigung (im gewöhnlichen Sinne), keine Beschwichtigung und Beruhigung durch Erfolge oder Geltung.« Er verachtet den Schein der Vollendung. Der Gewalttätige setzt gegen die durchschnittliche Besorgung den denkerischen Entwurf, das bauende Bilden, das staatsschaffende Handeln. Der Gewalttätige ist der Hochragende, der unheimliche Einsame, schließlich der Ausweglose, für den Nicht-Dasein als höchster Sieg über das Sein gilt, dem sich Existenz tragisch vollendet »im tiefsten und weitesten Ja zum Untergang«, der im Wollen des Unerhörten alle Hilfe wegwirft. Wir stellen an Heideggers Vorlesung die Frage, woran sie appelliert, wozu sie aufruft und wogegen sie Front macht. Und wir erkennen unschwer, daß Heidegger aus dem Erlebnis Hölderlins und Nietzsches mit dem exzessiven Pathos der 20er Jahre und dem unmäßigen Selbstbewußtsein einer persönlichen und einer nationalen Mission den starken Auserwählten gegen den Bourgeois, das ursprüngliche Denken gegen den Commonsense und das Todesmutige des Außerordentlichen gegen die Gewöhnlichkeit des Gefahrlosen ausspielt, das eine erhebend, das andere verdammend. Überflüssig zu bemerken, daß ein solcher Mann unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts als ideologischer Einpeitscher wirken mußte, unter den exaltierten Bedingungen von 1935 als Prophet. Die Weise unserer Betrachtung ist in dem Sinne un-sachlich, als sie nicht auf den sachlichen Zusammenhang, sondern auf die Physiognomie der Vorlesung zielt. Sie ist legitim, solange es um den willensbildenden Akt der politischen Prägung geht. Die Physiognomie der Aussage verändert Situationen unmittelbar, sie ist der Herd der Ansteckung. Denn Stil ist gelebte Haltung, von ihm
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springt der Funke spontaner Verhaltensbildung über, er ist die perennierende Geburt existentieller Motive, an ihm entzündet sich der Appell. Es ist für die bewußte Geschichtsgebundenheit des Heideggerschen Philosophierens bezeichnend, daß sich der Appell verändert, während die Sinnstrukturen über die Jahrzehnte seiner Entwicklung ihre Kontinuität wahren. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Stabilität der fundamentalen Kategorien von »Sein und Zeit« bis zum Humanismusbrief zu erweisen. Dagegen drängt sich die Variabilität der Appellqualität von selbst auf. So ist heute von Hut, von Andenken, von Wächterschaft, von Huld, von Liebe, von Vernehmen, von Ergeben die Rede immer dort, wo 1935 die Gewalttat gefordert wurde, während Heidegger noch acht Jahre vorher die quasi-religiöse Entscheidung der privaten, auf sich vereinzelten Existenz pries als die endliche Autonomie inmitten des Nichts der entgötterten Welt. Der Appell hat sich mindestens zweimal, entsprechend der politischen Situation, verfärbt, während die Denkfigur des Ausrufs zur Eigentlichkeit und der Polemik gegen die Verfallenheit stabil blieb. Die Vorlesung von 1935 demaskiert schonungslos die faschistische Färbung jener Zeit. Sie hat aber nicht etwa nur äußerliche Motive, sondern auch solche, die sich aus dem Zusammenhang der Sache ergeben. Der seinsgeschichtlichen Konzeption zufolge durchläuft die abendländische Philosophie von Plato bis Nietzsche eine Entwicklung fortschreitender Seinsvergessenheit. Sie ist markiert durch drei große Schübe: durch die Umwandlung des vorsokratischen in das platonisch-aristotelische, des griechischen in das römisch-christliche und schließlich des mittelalterlichen in das neuzeitliche Denken. Heidegger fragt radikal und erschließt Ursprüngliches, der entdeckte Zusammenhang ist faszinierend; trotzdem ist die Konzeption im ganzen einseitig. Diese Einseitigkeit gründet in einem doppelten Mangel. Heidegger berücksichtigt nicht, daß seine spezifische Fragestellung keineswegs originell ist, sondern im Zusammenhang jenes eigentümlich deutschen Denkens entstanden ist, das über Schelling, Hölderlin und Hegel auf Böhme zurückgeht; des weiteren möchte er seine theologische Herkunft nicht mehr wahrhaben, wahrhaben, daß die geschichtliche Existenz von »Sein und
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Zeit« einen Bereich spezifisch christlicher Erfahrungen ausgrenzt, die über Kierkegaard zu Augustin zurückreichen. Für unsern Zusammenhang ist wichtig, daß mit der Verdrängung dieser beiden Umstände zwei wichtige Kontrollinstanzen entfallen. Wenn sich das Christentum mit der Verfestigung der Zweiweltensicht in den abendländischen Degenerationsprozeß als eine bloße Stufe einordnet, dann kann auch die - noch für Hegel so zentrale - Idee der Gleichheit aller vor Gott und der Freiheit eines jeden kein wirksames Gegengewicht mehr bieten, weder das individuell egalitäre Gegengewicht gegen das naturwüchsige Privileg des Stärkeren noch das kosmopolitische Gegengewicht gegen das Motiv der geschichtlichen Auserwähltheit des deutschen Volkes. Und wenn zweitens nicht anerkannt wird, daß seit Descartes neben der Linie des rechnend verfügbar machenden Denkens die andere des sinnverstehend Vernehmenden einherläuft, dann kommt die dialektische Plastizität der neuzeitlichen Entwicklung nicht heraus, eine Dialektik, die jenem durch Vergegenständlichung auf Beherrschung abzielenden Denken seine schöpferische Legitimation gibt und somit vor einseitiger Identifikation mit dem durchschnittlichen Meinen bewahrt. Von dieser Seite fehlt also das praktisch-rationalistische Korrektiv. Die Nährung antichristlicher und antiwestlicher Affekte hätte allein genügt, die Psychose eines von Heidegger nicht gewollten Irrationalismus zu fördern. Hinzu kommt aber nun Heideggers elementare Täuschung darüber, daß er ja seine Einsichten, die zur Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen führen sollten, daß er diese Einsichten 1935 unter den noch und gerade gültigen Bedingungen eben dieser technisch bestimmten Situation vortrug und damit geradezu notwendig jenen Automatismus des Mißverstehens auslöste, der seine Absicht, das technifizierte Leben zu überwinden, in ihrer tatsächlichen Ausführung verfälschte. Schien sich doch dieser philosophische Appell an die Studenten zunächst mit dem zu decken, was von ihnen als Offizieren später verlangt wurde. Gewiß, an der Scheinbarkeit dieser Deckung wird auch dadurch nichts geändert, daß ihr der Initiator, Heidegger selbst, jahrelang erlag. Immerhin bleiben zum Schluß noch zwei Fragen stehen: Worin gründet diese, wenn auch nur scheinbare, Deckung? Sollte der Faschismus mit deutscher
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Überlieferung vielleicht doch mehr zu tun haben, als man gemeinhin gerne wahrhaben möchte? Und zweitens: Warum veröffentlicht Heidegger heute, 1953, seine Vorlesung ohne Einschränkung? Konsequent ist das allerdings nur für eine Haltung, die gerade nicht, wie Heidegger doch verlangt, die Vergangenheit als ein noch Bevorstehendes immer wieder in Frage stellt, die vielmehr im Repetieren steckenbleibt. Konsequent ist auch das für eine Einschätzung, die nicht nur den eigenen Irrtum, sondern an Stelle einer moralischen Klärung auch den »Irrtum« der nationalsozialistischen Führung seinsgeschichtlich begründet. Angesichts der Tatsache, daß heute wieder Studenten dem Mißverstehen jener Vorlesung ausgesetzt sind, schreiben wir ungern und selbst wiederum mißverstehbar diesen Aufsatz. Er dient allein der Frage: Läßt sich auch der planmäßige Mord an Millionen Menschen, um den wir heute alle wissen, als schicksalhafte Irre seinsgeschichtlich verständlich machen? Ist er nicht das faktische Verbrechen derer, die ihn zurechnungsfähig verübten - und das böse Gewissen eines ganzen Volkes? Hatten wir nicht acht Jahre Zeit seither, das Risiko der Auseinandersetzung mit dem, was war, was wir waren, einzugehen? Ist es nicht die vornehme Aufgabe der Besinnlichen, die verantwortlichen Taten der Vergangenheit zu klären und das Wissen darum wachzuhalten? — Statt dessen betreibt die Masse der Bevölkerung, voran die Verantwortlichen von einst und jetzt, die fortgesetzte Rehabilitation. - Statt dessen veröffentlicht Heidegger seine inzwischen achtzehn Jahre alt gewordenen Worte von der Größe und der inneren Wahrheit des Nationalsozialismus, Worte, die zu alt geworden sind und gewiß nicht zu denen gehören, deren Verständnis uns noch bevorsteht. Es scheint an der Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken.
b) Die große Wirkung (i959) »Die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlandes der verwüsteten Erde, die nur noch der Sicherung der Herrschaft des
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Menschen nützen soll...« Der Sprachgestus des Schriftstellers Heidegger verrät etwas Abweisendes: Wohl wird der Leser vom Autor beansprucht, wird gar hereingezwungen in den Blick, der über Weltalter hinstreicht; doch wird ihm eher Gefolgschaft auf unwegsamen Pfaden zugewiesen als eine Gemeinsamkeit des Gesprächs gewährt. In so eigentümlicher Reserve hält nicht ein großer Philosoph auf geziemenden Abstand, hier achtet der prophetische Denker auf einen Unterschied im Rang. Kommunikation gehört nicht zu den Grundworten dieser Philosophie. Wir nützen dieweil die Gunst, die auch der schwerer zugängliche Adressat uns beläßt, und sprechen, um ihm doch zu »entsprechen«, chronistisch beiseite; blicken von der Warte des Jubiläums zurück auf eine machtvolle Wirkungsgeschichte - im Rahmen der Universität die größte eines Philosophen seit Hegel. Gewiß ist Heideggers Wirkung nicht auf die Universitäten beschränkt; ja, die Anhänglichsten versammeln sich eher ante portas. Diese kleinen Kreise, zu Sekten manchmal zusammengeschlossen, sind im Lande verstreut und schwer zu überschauen. In einer Hinsicht passen sie zum Auftreten des Denkers, der die Kongresse der Fachkollegen meidet und sich lieber den Kollegien von Laienbrüdern stellt. Unter ihnen sind die auf Bühler Höhe Erholung suchenden Wirtschaftskapitäne bereits zum sprichwörtlichen Ruhme gelangt. Vielleicht zeigt sich im liebenswürdigen Versuch, Manager für »Feldwege« zu interessieren, die andere Seite von Heideggers Realitätskontakt, die dem Sein sozusagen gegenüberliegende - Böswillige sehen darin Mystik mit »Masche« verwoben. Zuverlässiger ist indessen die Schulwirkung abzusehen. Eine große Zahl von Ordinarien und solchen, die es werden wollen, beruft sich auf Heidegger als den Urheber ihres Philosophierens; viele haben seine Motive aufgenommen und verarbeitet; die meisten sind von seinen Impulsen überhaupt erfaßt und umgetrieben worden. Freilich weisen die Positionen der Aneignung weit auseinander. Etwa von dem Versuch, den Weg, den Heidegger als Jesuitenschüler einst von Thomas über Brentano zu Husserl gekommen ist, zu einer erneuerten christlichen Philosophie zurückzugehen (Max Müller), reichen die Positionen bis hin zu der wissenden Bescheidenheit, die
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vom Scheitel der Metaphysik zur Sohle einer zerbrechlichen, der antiken behutsam nachgespürten Skepsis herabsteigt (Oskar Bekker). Etwa von dem Beschluß, mit der Metaphysik das Philosophieren überhaupt als eine bloße Propädeutik für »Heideggers Mythologie« hinter sich zu lassen (Walter Bröcker), reichen sie bis hin zu dem Beginnen, Heideggers Philosophie in den Horizont der großen Tradition zurückzunehmen und mit ihr wiederum zu versöhnen (Eugen Finck). Einige sind im kosmologischen Vertrauen auf eine sich gleichbleibende Natur aus der Dialektik der Geschichte ganz herausgesprungen (Karl Löwith). Andere Wege führen mit einem gleichsam festgehaltenen Heidegger entschieden zu Hegel zurück (Bruno Liebrucks); ja, ältere Schüler haben, merkwürdig nur auf den ersten Blick, von »Sein und Zeit« den Zugang zu Marx gefunden, um dann freilich die Begriffe der Daseinsanalytik in die einer Geschichtsphilosophie der Triebe zu übersetzen (Herbert Marcuse). Solche Positionen markieren Heideggers Schulwirkung allerdings von den Rändern her; nicht minder prominent als die Außenseiter sind die eigentlichen Schüler, teils streitbare »Orthodoxe«, teils milder gestimmte »Pädagogen«, denen weniger die Lehre um ihrer Reinheit willen als das Lehren um der Anleitung zum Denken willen am Herzen zu liegen scheint. Aus diesem Kreis sind sensibel interpretierende Untersuchungen zur Problemgeschichte der Philosophie hervorgegangen. Oft kreisen sie um Plato oder Descartes, deren Hinterlassenschaften als Zäsuren in der Geschichte jenes bis auf unsere Tage so durchaus »vergessenen« Seins gelten; immer beziehen sie sich auf den Prozeß einer »Selbstbemächtigung des Subjekts«, worin das Unheil der Gegenwart beschlossen sein soll. Nach außen drangen Heideggers Lehren bis ins lateinische Amerika, bis Japan; vor allem in Paris sind ihre Impulse bekanntlich aufgenommen worden. Fast hätte die Rückwirkung von jenseits des Rheins Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Art Reimport werden lassen: damals gelangte »Sein und Zeit« zu den meisten Studenten auf dem Umweg über »Sein und Nichts«, über den Sartre der »Fliegen«. Eine Heidegger-Renaissance aus dem Geiste der Resistance - welche Quelle von Mißverständnissen!
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Nun fühlt sich freilich Heidegger inmitten der anschwellenden Literatur um ihn und über ihn ohnehin nicht eigentlich verstanden. Zu den bemerkenswerten Ausnahmen von dieser Regel gehört anscheinend eine in der Tat vorzügliche Arbeit des Tübinger Philosophen Walter Schulz. Bemerkenswert vor allem deshalb, weil sie den Gang des Heideggerschen Denkens in beinahe positivistischer Haltung als einen jedermann nachvollziehbaren Zusammenhang präzisiert. Nicht die Interpretation als solche, vielmehr ihr nüchtern untertreibender Duktus überrascht. Das existentielle Rankenwerk fällt. Denkfiguren treten reiner hervor. Ein gewisser Spielraum wird gewonnen für das Raffinement scholastischer Distinktionen - und damit für den von Heidegger sonst stets verpönten Scharfsinn des Verstandes eher als fürs bedächtige Andenken. Schulz analysiert etwa die wichtige Dialektik der »Entsprechung«: wir können das Sein nur in dem Maße denken und zur Sprache bringen, indem das Sein selber unser Denken ermöglicht und uns im Haus der Sprache wohnen läßt; mein mir nicht verfügbarer Seinssinn richtet mich erst in die Möglichkeit ein, in der ich ihm »entsprechen« kann. Formal betrachtet, findet sich indessen die gleiche Denkfigur auch in ganz anderen Konstellationen. So bei Marx, der Hegels Dialektik der Reflexion zu der von Theorie und Praxis über sich hinaustrieb. Diese Dialektik der Entsprechung sichert sich freilich durch den fortwährenden Bezug auf die Dialektik Hegels einen der Heideggerschen entgegengesetzten Sinn: die indirekte Gewalt der Gesellschaft über die Menschen soll aufgelöst, die des »Seins« hingegen im Menschen und durch ihn hindurch erst recht entbunden werden. Wie dem auch sei, an dieser Stelle soll der Hinweis nur ein Beispiel dafür sein, daß die bloßgelegten »Figuren« Heideggerschen Denkens sehr wohl die aus der Tradition vertrauten wiedererkennen lassen. Ihre Analyse vermittelt deshalb einen historisch distanzierten Nachvollzug dieses Denkens, der dessen totalem Anspruch merkwürdig entgleitet. In dem Maße, so scheint es, als Heidegger die gekonnte Entsprechung zum Sein wie ein Privileg handhabt, als er allein das Feld der seinsgeschichtlichen Erfahrung erweitert, die Autoren von Relevanz bezeichnet und die Schlüsselworte kreiert, werden sich die Nachgeborenen der epigo-
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nalen Zwangslage mit den Konsequenzen aus einem bereits angelegten Formalismus nur schwer entziehen können. Heidegger verknüpfte in »Sein und Zeit« die wesentlichen Motive Diltheys und Husserls: jener hatte historisch die Kulturen als Objektivationen eines immer aus dem Vorverständnis seiner Ganzheit zu begreifenden »Lebens« erfahren; dieser hatte im Rückgang auf die Leistungen des Bewußtseins die »Konstitution der Welt«, nämlich des Sinnes jeglicher Art von Seiendem, zum Thema reiner Deskription erhoben. Heidegger sucht nun das menschliche Dasein zugleich in seiner Geschichtlichkeit und in seiner Ganzheit aus ihm selber zu begründen. Es genießt den Vorzug, unter allem Seienden dasjenige zu sein, das sich auf den Sinn von Sein versteht: indem der Mensch arbeitend sich selbst erzeugt und erhält, bricht ihm das Seiende ringsum in seiner Bedeutsamkeit auf. Zu diesem Sein gelangt das Seiende nur in der Welt des Menschen; und dessen Wesen wiederum besteht darin, sich in einer Welt vorzufinden, die er gleichzeitig entwirft. Aus diesem Ansatz hat Heidegger mit bohrender Inständigkeit und wahrlich erschließendem Geschick in kraftvollen Spiralen die Analytik der Existenz herausgedrechselt. Sie ist der bislang letzte große Versuch der prima philosophia. Sie will sich mit der »Ganzheit des Daseins« eines ersten Anfangs versichern, aus dem das Sein alles Seienden sich begründen läßt; daher der Name der Fundamentalontologie. Seinen eigentlichen Erfolg erntet dieser Versuch jedoch erst - wenn diese plumpe Verkürzung gestattet ist — mit der Einsicht in den verschwiegenen Mißerfolg. Die zweite Hälfte von »Sein und Zeit« ist nie erschienen, weil die erste an eine doppelte Schranke stieß: das menschliche Dasein ist, jedenfalls so, wie es ist, der ontologischen Begründung seiner selbst gar nicht mächtig; darin enthüllt sich zugleich der durch und durch geschichtliche Charakter der Wahrheit, die als der offene Horizont aus der Welt des Menschen hervorgeht - die Wahrheit hat sozusagen einen Kern aus Zeit. So war denn Philosophie als Ursprungsphilosophie auch für Heidegger unmöglich geworden. An dieser Wegscheide, da Philosophie die Hinfälligkeit ihres ursprünglichen Anspruchs durchschaut und auf Selbstbegründung
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verzichtet, stellt sich folgenreich die Frage, woraus sie denn - wenn schon nicht aus sich selber - ihre Herkunft bestreitet. Heidegger hätte von den ontologisch festgestellten Strukturen des Daseins, den sogenannten Existentialien, zu den aus der konkreten Situation gezogenen faktischen Erfahrungen, zum sogenannten Existentiellen, zurückfragen können. Er hätte damit Philosophie ideologiekritisch mit der Geschichte dieser Situation, mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, in Beziehung bringen können. Statt dessen unternimmt er die berühmte »Kehre« zur Geschichte der Existentialien selber, zur Geschichte des Seins. Auf den ersten Blick gibt diese sich in einer Verfärbung der Sprache zu erkennen. »Sein und Zeit« war tief in das geistige Klima der zwanziger Jahre eingelassen, aus dem sich die flagrante Ansteckung dieser Philosophie weit über den Bereich der Philosophie hinaus erst verstehen läßt. So beispielsweise gesteht Carl Friedrich von Weizsäcker zu Heideggers 60. Geburtstag freimütig: »... >Sein und Zeit<, das kurz zuvor erschienen war, begann ich noch als Student zu lesen. Ich kann heute mit gutem Gewissen behaupten, daß ich damals strenggenommen nichts davon verstanden habe. Aber ich konnte dem Empfinden nicht entgehen und würde ihm auch heute recht geben, daß hier und nur hier diejenigen denkerischen Aufgaben angegriffen werden, die ich im Hintergrund der modernen theoretischen Physik ahnte.« Derlei vorphilosophische »Übertragungen« kamen eben, wie Paul Hühnerfeld jüngst in seiner Heidegger-Biographie dargestellt hat, im Hof eines Zeitgeistes zustande, der expressionistische Züge trug. Im übrigen fanden sich hier unterm Titel der alltäglichen Seinsweise des »Man« die gängigen Begriffe der Kulturkritik von Oswald Spengler bis Alfred Weber ontologisch habilitiert. Dem entsprach lutherische Radikalität im Entwurf des »eigentlichen« Daseins, das sich »vorlaufend zum Tode« seiner Ganzheit versichert. Dieser Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung weicht indes Anfang der dreißiger Jahre einem von Kierkegaard und den theologischen Resten gereinigten Dezisionismus, der in antiken Gewändern einherschreitet. Noch 1935 heißt es bei Gelegenheit einer Auslegung des Sophokles: »Der Gewalt-tätige, der Schaf-
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fende, der in das Un-gesagte ausrückt, in das Un-gedachte einbricht, der das Ungeschehene erzwingt und das Ungeschaute erscheinen macht, dieser Gewalt-tätige steht jederzeit im Wagnis.« Erfährt darin schon das Subjekt, das sich selber begründen will, seine Ohnmacht, so gewinnt seitdem das »Sein« vollends den Vorrang: aus seiner Hand muß das menschliche Dasein sich schicksalhaft empfangen. Des Menschen Name ist jetzt Hirte und Hüter des Seins, er darf in der Sprache als dem Haus des Seins wohnen, ist zur Wahrung des Sich-Gewährenden gerufen und so fort. Wenn man so an die »Kehre«, unter Anleitung der sich wandelnden Sprachqualitäten, von außen gleichsam, herantritt, zeigt sie sich als ein Vorgang, zu dem sich Parallelen in der geistigen Lebensgeschichte anderer Generationsgenossen geradezu aufdrängen. Gottfried Benn geht den Weg von der Züchtung des neuen deutschen Menschen zur Ausdruckswelt der Kunst als reiner Form - zur »Verneinung der Geschichte«; Ernst Jünger den von der totalen Mobilmachung des Arbeiters zur verborgenen Freiheit des Waldgängers, der sich unabhängig weiß »von den technisch-politischen Vordergründen und ihren Gruppierungen«. Selbst bei einem Carl Schmitt läßt sich eine ähnliche Zurücknahme aus dem Engagement, die Sublimierung ursprünglicher Positionen auf eine höhere und zugleich schwebendere Ebene, beobachten. Bei Heidegger geschieht diese Verinnerlichung im Namen einer »Überwindung der Metaphysik«. Dies ist auch der Titel von Aufzeichnungen aus den Jahren 1936 bis 1946, die das zeitgeschichtliche Motiv der »Kehre« vorzüglich bezeugen: nämlich die Enttäuschung an dem, was zunächst als deutscher Aufbruch den Einbruch des Gewalttätigen ins Ungedachte verhieß. Inzwischen hat sich eine andere Gewalttat, vor allem die Totalität des Weltkriegs in ihrem Gefolge, hat sich überhaupt die neue Ordnung als Komplice dessen entlarvt, was sie erst zu überwinden vorgab: »Man meint, die Führer hätten von sich aus, in der blinden Raserei einer selbstischen Eigensucht, alles sich angemaßt und nach ihrem Eigensinn sich ausgerichtet. In Wahrheit sind sie die notwendigen Folgen dessen, daß das Seiende in die Weise der Irrnis übergegangen ist, in der sich Leere ausbreitet ...«
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Sogar die Wandlung der eigenen Philosophie wäre mithin Anlaß gewesen, von jener nach »Sein und Zeit« erreichten Wegscheide aus die bis dahin immer noch leitende transzendentale Fragerichtung umzukehren. Die Fundamentalontologie hätte sodann aus der Geschichte des konkreten Lebenszusammenhangs, für den sie zuerst die Bedingungen der Möglichkeit beibringen sollte, ihrerseits verstanden und abgeleitet werden können. Heidegger relativiert indessen Philosophie und das ontologisch sich vergeblich begründende Subjekt in entgegengesetzter Richtung - auf die Hintergeschichte des waltenden Seinsgeschicks. Denkend soll dieses aus dem dichterischen Wort entbunden werden. Zu einer Zwiesprache des Denkers mit dem Dichter wendet sich Heidegger an Hölderlin. Über den Sterblichen (früher »Dasein« geheißen) tauchen die Götter auf, unter dem Himmel (früher »Welt« genannt) ruht jetzt die Erde; und »Ding« ist nun das in dieser »Vierung« aufgehende Seiende. Der Denker läßt sich auf die »einfachen Dinge« ein - so wirkt er, und ausschließlich so, dem »Subjektivismus« der gegenwärtigen Menschheit entgegen, ihrem verderblichen Willen zur Herrschaft, wie er sich in der »Technik« manifestiert. Mit der subjektivistischen Verhärtung des überkommenen Denkens läßt er freilich auch dessen Verbindlichkeit hinter sich. Die Evokation des Mythos legitimiert sich als Exerzitium; sein Denken will Heidegger »nie verbindlich als Aussage« verstanden wissen, »vielmehr nur als möglichen Anlaß, den Weg des Entsprechens zu gehen«. Einschränkend fügt er hinzu: »Das Denken des Seins ist als Entsprechen eine sehr irrige und eine sehr dürftige Sache.« Und doch dürfte selten der Anspruch eines Denkens höher gegriffen haben. In der Öffentlichkeit vollzieht sich das Schicksal der »vollendeten Metaphysik« als Technik (darunter sind vergegenständlichte Natur und verdinglichte Gesellschaft in einem begriffen). Im Verborgenen ist derweil unter den Denkenden die Metaphysik schon verwunden zum neuen Heil. Was für die einen ist, ist nicht für die andern. Griechische Tragödie mischt sich mit Breughels Höllensturz zur Vision: »Ehe das Sein sich in seiner anfänglichen Wahrheit ereignen kann, muß das Sein als der Wille gebrochen, muß die Welt zum Einsturz und die Erde in die Verwüstung und der Mensch zur
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bloßen Arbeit gezwungen werden. Erst nach diesem Untergang ereignet sich in langer Zeit die jähe Weile des Anfangs ... Der Untergang hat sich schon ereignet. Die Folgen dieses Ereignisses sind die Begebenheiten der Weltgeschichte dieses Jahrhunderts. Sie geben nur noch den Ablauf des schon Verendeten. Sein Verlauf wird im Sinne des letzten Stadiums der Metaphysik historischtechnisch geordnet.« Die Apokalypse trägt Zeichen der atomaren Katastrophe. »Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gemachte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte.« Seit dem 18. Jahrhundert wird gegen die Krise die Kraft der Kritik aufgeboten. Kritik wird auch der Metaphysik entgegengestellt. Und von Kant bis zu Husserl ist sie in der Philosophie ebenso wie auf dem Theater von Schiller bis zu Brecht bestimmend geblieben nach dem Modell des Gerichtshofs: im Streit der Parteien trennt sie das Wahre vom bloß Vermeinten. Heidegger jedoch nennt als Gegenhalt zur Krise ebenso wie als Gegenbegriff zur Metaphysik nicht die Kritik, sondern den Mythos. Kritisch ist sein Verhalten auch dem gegenüber nicht, woraus er alle Erfahrung schöpft. Sprachkritik bleibt ihm so fremd wie die Erkundigung des Karl Kraus: »Wäre eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel?« (Karl Korn hat diese Frage übrigens zum Motto einer Untersuchung gewählt, die Heideggers Sprache selber der Sprachkritik unterzieht.) Vielleicht läßt sich Heideggers Denken indirekt charakterisieren durch das, was es nicht leistet: sowenig, wie es sich in Verhältnis setzt zur gesellschaftlichen Praxis, sowenig versteht es sich zur Interpretation der Ergebnisse der Wissenschaften. Diesen vielmehr weist es die metaphysische Beschränktheit ihrer Grundlagen nach und überläßt sie, zusammen mit der »Technik« überhaupt, der »Irre«. Denn die Hirten wohnen außerhalb des Ödlands der verwüsteten Erde ... Eigentümlich bestellt ist es heute mit der Kategorie der Größe; ihre Brüchigkeit spiegelt sich in unsrer Unfähigkeit, Denkmäler zu setzen; nicht einmal dem wahrhaftigsten Affekt des Zeitalters will es, wie Reg Butlers Versuch des »Unbekannten politischen Gefan-
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genen« zeigt, gelingen. Groß ist die Geschichte von Heideggers Wirkung; und groß nennen die meisten das Wirken selbst. Vielleicht wird gerade an ihm verständlich, warum unser Verhältnis zur Größe ein gebrochenes ist.
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3. Karl Jaspers a) Karl Jaspers über Schelling (1955) Das Gedenken zu Schellings hundertstem Todestag im vergangenen Jahr blieb ein internes Fest, geräuschlos - Philosophen unter sich. Es erschienen Publikationen aller Art: Editionen, Bibliographien, Dissertationen, historische und systematische Würdigungen, hier und da mit einem Vorstoß in aktuelle Zentren, nicht unkritisch, aber stets achtungsvoll und alle zumal »konventionell« in dem Sinne, als sie sich nicht anmaßen, Schellings »Substanz«, die Wahrhaftigkeit seines Denkens und seiner Existenz anzufechten. Im erwähnten Sinne unkonventionell tritt nur einer auf, nicht irgendeiner, sondern ein Mann mit ebenso kunstvoller Argumentation wie wohlerworbener Autorität - Karl Jaspers. 1 Jakob Burckhardt notiert im Sommersemester 1842, als er in Berlin Schellings Vorlesung zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung hört: »Schelling ist Gnostiker im eigentlichen Sinn des Wortes. Daher das Unheimliche, Monströse, Gestaltlose...« Jaspers greift dieses Urteil auf. Auch ihm gilt Schelling als Gnostiker, wobei er unter Gnosis ein gegenständliches Erkennen des Ungegenständlichen, Übersinnlichen, eine anschauliche und zum Heil der Seele erzählte Geschichte des Seins selbst verstehen will. Er geht dabei von seiner bekannten Voraussetzung aus, daß das Wirkliche und die Wirklichkeit rational nur auf zwei Wegen angetroffen werden: auf dem Wege des wissenschaftlichen Erkennens, das sich methodisch auf Gegenstände richtet, und auf dem Wege des »metaphysischen« Erkennens, das die Subjekt-Objekt-Spaltung überschreitet. Dieses die Bezüge von »Existenz« und »Transzendenz« erhellende Denken »erkennt« jedoch nicht im strengen Sinne des Wortes: es kann nicht feststellen und beweisen, sondern erhellen und erwecken; wir erkennen nämlich nur in Kategorien, und Transzendenz liegt über alle Kategorien hinaus. Wenn der 1 Karl Jaspers, Schelling, Größe und Verhängnis, München 1955.
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Philosoph, davon unbeirrt, gleichwohl das Sein anspricht, so muß er das Bewußtsein seiner unangemessenen Denkmittel mit in sein Denken hineinnehmen - er muß den »logischen Einsturz« und das »Scheitern der Kategorien« im Denkgebilde mit zum Ausdruck bringen, wodurch diese zu Zeichen, zu transparenten Symbolen Jaspers sagt: zu »Chiffren« des Seins werden. Diese kurze Erinnerung an Grundsätzliches ist nötig, um Jaspers' Einwand gegen Schelling, samt seinen Grenzen, bestimmen zu können. Der Philosoph muß die Chiffren vom Sein selbst unterscheiden. Schelling nimmt das eine für das andere. Chiffren sind vieldeutig. Schelling beansprucht für seinen Seinsentwurf Eindeutigkeit. Das Chiffrenlesen fordert entschiedenes Ernstnehmen des erfahrenen Sinnes, denn jede Chiffre gibt uns Hinweise für mögliches Verhalten in neuen Situationen. Schelling jedoch versteht im Grunde unverbindlich, unbetroffen, »ästhetisch«. Schelling will auch noch im Bereich der Transzendenz »forschen«; er will mehr geben, als er mit philosophischer Redlichkeit geben kann - für Religion zuwenig, für Philosophie zuviel. Um die Gewaltsamkeit dieses Vorgehens zu kennzeichnen, spricht Jaspers vom »Erdenken« und »Ergrübeln des Seins«. Er glaubt in Schelling, der so nahe an die echte »Existenzerhellung« herankommt, um dann doch wieder in das gnostische Scheinwissen von Gott und der Geschichte Gottes abzulenken, er glaubt in ihm einen bestimmten Typ modernen Philosophierens wahrzunehmen, ja, er hält ihn geradezu für den Erfinder dessen, »was wie eine Analogie zu Zauberern und Magiern aussieht«. Spekulativer Tiefsinn vermischt sich mit willkürlicher Spielerei, Vernunft mit Unsinn, Genie mit Scharlatanerie. Jaspers ertappt Schelling bei jener sublimen Reflexivität, die um die Substanz der tieferen Dinge weiß, ohne sie zu besitzen. Ihre Gebärde ist die Prätention, die hinausschiebt, vorbereitet, verspricht, die eine Erwartung von Außerordentlichem weckt, mehr verkündend als überzeugend. Ein imperatorischer Wirkungswille verlangt Gefolge statt Gefährten. Das hochgeschraubte Bewußtsein einer Weltkrise geht mit dem Vertrauen, selbst die Zeitenwende herbeizuführen, Hand in Hand. Uneigentlichkeit, Sendungsbewußtsein und große Geste, verbunden mit einem Versäumen und Überspringen der nächsten Forderungen des Tages, so gibt sich das
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Denken, das die Grenze des philosophisch Erlaubten gnostisch überschreitet und das Ungegenständliche fälschlich objektiviert. Jaspers übt seine Kritik in der Einstellung eines Arztes zu seinem Patienten. Er nimmt die Denkgebilde als Symptome einer Existenz, um an Hand dieses Materials über die »Substanz« dieser Existenz geradeso wie über die Gesundheit eines Organismus zu befinden. Er reflektiert die philosophischen Inhalte am Duktus des Vortrags und am Habitus des Vortragenden selbst. Soll nämlich die Diagnose der philosophischen Substanzlosigkeit auf Schelling zutreffen, so muß sie sich an der existentiellen Folgenlosigkeit der Philosophie im Dasein der Philosophen bestätigen. Daher zieht Jaspers lebensgeschichtliche Daten herbei, um sie daraufhin zu befragen: die zweite Ehe mit Pauline Gotter, angesichts deren Jaspers Zweifel an der Substanz der ersten Ehe Schellings mit Caroline anmeldet; Schellings Polemiken gegen Fichte, Hegel, Jacobi und Eschenmayer, die nicht ohne gehässige Kleinlichkeit geführt werden; die unsichere und nicht selten irregehende Einstellung zu politischen Fragen der Zeit; die beiden prätentiösen Versuche Schellings, vom Katheder herab in großem Stile zu wirken, 1800 in Jena und 1841 in Berlin; sodann Schellings ständige Aufmerksamkeit auf seine Gesundheit, hypochondrische Verstimmungen, eine gewisse egoistische Note sogar in Akten der großen Liebe, pessimistische Trübungen, falsche Großartigkeit und Mangel an echten Brüchen und Konversionen - aus alledem glaubt Jaspers schließen zu dürfen, daß Schelling weder zu den großen Verzweifelten noch zu den großen Vertrauenden unter den Philosophen gehört, vielmehr neben seiner Philosophie und an ihr vorbei ein unruhiges, unerfülltes, egozentrisches Dasein geführt hat. Diese referierenden Hinweise spiegeln nicht entfernt die souveräne, vielschichtige und abwägende Interpretation, die Jaspers uns zudem in glänzender Formulierung vorlegt. Gleichwohl meldet sich gerade beim Lesen dieser Partien zuerst das Mißtrauen gegen die Legitimität eines solchen Verfahrens. Gewiß stimmt es, daß eine jede Philosophie eine offene Seite hat, an der sie durch das tatsächliche und alltägliche Dasein des Philosophen gleichsam ergänzt und bewährt werden muß. Wer indes gibt uns, gibt Jaspers den Maßstab und die Methode und den göttlichen Blick, um zu
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sagen, wer und was ein Mensch wirklich ist und in seiner Existenz ausdrückt? Jaspers selbst erwähnt beiläufig, daß über Wesen und Kern von Schellings Person ein Urteil nicht erfolgen könne und solle. Und doch sind Fragestellung und Vorgehen so angelegt, daß eben dieses Urteil tatsächlich fortgesetzt impliziert wird. Die Größe Schellings, die Jaspers gelten, betont gelten läßt, ist immer schon eingeklammert; es ist die Genialität des Zauberers, nicht des Philosophen. Des weiteren ist unbefriedigend, daß Jaspers ausdrücklich auf die »Geographie« der Schellingschen Seinsbilder verzichtet. Man gewinnt den Eindruck, daß ihn seine Methode hindert, die Texte schlicht und ohne Vorbehalt, ohne reduzierenden Seitenblick auf die Lebensgeschichte zu studieren. Wie sollten sonst einem so scharfen Diagnostiker die Perioden, die Brüche, die Kehren in Schellings Werk entgehen? So nimmt er das ganze Werk in einen Griff, fächert es nach Aspekten und Tendenzen auf und leugnet jede Entwicklung im Grundsätzlichen. Der Blick auf die dahinterstehende Existenz verführt dazu, Texte zu Symptomen zu entwerten. Sodann ist nicht einzusehen, warum die objektive Lage zwischen Aufklärung und Moderne, zwischen Kant und Kierkegaard, und die Probleme, die aus dieser Lage resultieren, samt den Lösungen, die sie nahelegen - warum dies alles Schelling persönlich und zumal als Kriterium seiner mangelnden Substanz soll zugerechnet werden können. Schelling philosophierte inmitten einer schon zerbrechenden Welt, aber er drang noch nicht wie Nietzsche »redlich und uneingeschränkt an alle Grenzen«, gehemmt von jenem merkwürdigen »Systemwillen« des deutschen Idealismus, den wir heute gewiß nicht mehr akzeptieren, der indes nicht schon im Prinzip über »Substanz« vorentscheiden kann. Jaspers trifft diese Vorentscheidung, wo er den Geist Lessings, Goethes, Kants, Humboldts gegen den »Geist der Zauberer«, gegen die Fichte, Hegel und Schelling beschwört. Eine andere Sache ist es, daß wir vielleicht gut daran tun, uns heute auf die wenigen liberalen Geister unserer Tradition zu besinnen. Immerhin gab es eine Zeit, da Schelling, lange vor Kierkegaard, die endliche Freiheit des geschichtlichen Menschen, ein ausgesprochen systemsprengendes Motiv, mit Konsequenz behauptete; und zwar nicht in seiner spätesten Philoso-
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phie, sondern zur Zeit der Freiheitsschrift, der Stuttgarter Privatvorlesungen und des ersten Weltalterentwurfs, der dann allerdings an dem Versuch scheiterte, die Vorstellung Gottes nach dem Modell dieses unidealistisch konzipierten Menschenbildes zu entwickeln. Schließlich ist es nicht einmal entschieden (und wohl auch nicht für alle Zeit entscheidbar), ob das, was über die gegenständliche Erkenntnis hinaus wesentlich ist, wirklich nur in Form der Existenzerhellung erreicht werden kann, ob wirklich »Existenzerhellung« und »Gnosis« eine vollständige Alternative stellen. Finden wir nicht gerade bei Schelling und Hegel mitunter Ansätze eines dritten, dialektischen Zugangs zur »Transzendenz«, mehr als nur »erhellend« und doch nicht »gnostisch« ? Gleichwohl halten wir Jaspers' Einspruch gegen Schelling für ein Ereignis, das einen breiten Schatten werfen sollte. Die Größe Schellings wird in der Tat ein Verhängnis für uns, sobald wir den Typ seines Denkens unter den Umständen des 20. Jahrhunderts zu verwirklichen suchen. Jaspers trifft weniger Schelling, als die Schelling-Nachfolge heute, oder jedenfalls eine ihrer Varianten. Ganze Abschnitte, ganze Seiten lesen sich wie polemische Kommentare zu Heidegger; womit ich nicht behaupte, daß Jaspers sie auch tatsächlich in diesem Sinne gemeint hat. Die Parallelität allein, ob gewollt oder nicht, rechtfertigt die Bedeutung des Jaspersschen Appells: uns nicht durch die Gedanken an die »Zukunft der Dinge«, so wichtig sie auch ist, beirren zu lassen, um nicht zu versäumen, was wir sein können - »was eigentlich ist, ist gegenwärtig«. »Das Wissen um Schellings Philosophie hilft, die Würde der Philosophie, die Verantwortung eines Lehrers in der Philosophie wiederherzustellen, der mit seiner ganzen Person haftet für den Ernst dessen, was, unlehrbar im Sinne bloßer Lernbarkeit, doch in Form der Lehre von ihm überliefert wird.« Dieser resümierende Hinweis erinnert an jene andere Bemerkung, die Jaspers an gewisse Bemühungen Schellings knüpft, seine späte Philosophie mit der politischen Restauration seiner Zeit in Zusammenhang zu bringen: »Es bleibt denkwürdig, wie tiefsinnige Spekulation zur Rechtfertigung einer bodenlosen Faktizität der Gewalt
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dienen konnte, in der Absicht, sie aus dem Grunde der Dinge zu legitimieren.« b) Die Gestalten der Wahrheit (1958) Wahrheit, so will es Jaspers, läßt sich nur mehr durch Tiefe, Echtheit und Rang ihrer existentiellen Darstellung ausweisen; philosophisch ist sie nicht rational eindeutig und für alle verbindlich festzustellen. Die Mannigfaltigkeit der Gestalten geschichtlicher Wahrheit ist unauflöslich; eine jede von ihnen unmittelbar zu Gott. Niemand kann an allen oder auch nur an mehreren gleichsam als deren geborener Repräsentant teilhaben, aber man kann sie als Möglichkeiten dulden und achten, in denen sich - anderen Wahrheit kundtut. Daraufhin glaubt Jaspers die Absicht vollkommener Toleranz sehr wohl mit der Stimmung unbedingter Entschiedenheit vereinigen zu können. Und wer mit »fremden« Wahrheiten nicht in dieser Haltung kommunizieren will, bestätigt nur die eigene Unwahrheit. So unterstehen alle philosophischen Gedanken als ihrem obersten Richtmaß der Frage, ob sie Kommunikation hemmen oder fördern. Die unfreiwillige Isolierung unterm Terror des Naziregimes verschärfte Erfahrungen schon aus früher Lebensgeschichte, denen zufolge Jaspers ein Abbruch der Kommunikation als das Böse schlechthin erscheint. Das gleichsam parlamentarische Verfahren, mit dem ein amerikanischer Philosophieprofessor, Paul Arthur Schilpp, »Die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts« - so der Titel seiner Buchreihe zur Rede stellt, könnte für diesen Philosophen der Kommunikation eigens erfunden sein. 24 Autoren diskutieren in kritischen Beiträgen die Lehre eines lebenden Philosophen, wenden ein, fragen, denken weiter - und am Ende hat dieser selbst Gelegenheit zur Antwort. Mit einer einleitenden Autobiographie wird dieses Symposium jeweils zu einem Band zusammengefaßt; neben Cassirer, Dewey, Einstein, Russell und anderen wurde auch Jaspers ein solcher Band gewidmet.2 Dieses amerikanische Unternehmen wird 2 Karl Jaspers, herausgegeben von Arthur Schilpp, Stuttgart 1957.
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von dem Impuls optimistisch beflügelt, daß sich die bewährten Methoden der parlamentarischen Diskussion auch in der philosophischen fruchtbar verwirklichen lassen. Gerade auf diesem Boden gibt Jaspers' Philosophieren ein eigentümliches Echo: es versucht sich, gegenüber dem traditionellen, in einem gleichsam historisch reflektierten Liberalismus, der in einer Welt totalitärer Ansprüche bürgerliche Humanität und Toleranz mit angemessenen Mitteln behaupten möchte. Dieser Liberalismus in höchster Defensive revidiert das klassische Modell eines Systems konkurrierender Individuen, die die Ratio des Ganzen garantieren, sofern sie nur ihrer eigenen Ratio folgen. An seine Stelle tritt ein Modell konkurrierender Mächte, die in ihren Repräsentanten je eine eigene geschichtliche Wahrheit bezeugen, ohne doch eine erkennbare Wahrheit des Ganzen zu erlauben. Die allgemeinen Fragen sind nicht mehr in rationaler Diskussion für alle verbindlich zu entscheiden. Hannah Arendt, die in ihrem Beitrag zu dem genannten Sammelband Jaspers als »Bürger der Welt« vorstellt, versucht, die politische Intention seiner Philosophie zu klären. Die technische und ökonomische Entwicklung hat, von Europa ausgehend, die Länder der Welt zur globalen Verkehrseinheit zusammengeschlossen. Zum erstenmal leben alle Völker in einer gemeinsamen Gegenwart. Ihr jedoch entspricht keine gemeinsame Vergangenheit. Nicht als ob der Pluralismus der Vergangenheiten an sich, als ob die verschiedenen sozialen, politischen, kulturellen Traditionen als solche der Solidarität der Menschheit im Wege stünden; wohl aber der ungeschlichtete Pluralismus: Traditionen, die isoliert sind, Vergangenheiten, die einander fremd bleiben. Die Einigung der Welt scheint durch selbstzerstörerische Zerrissenheit in ihrem innersten Bestände bedroht, solange nicht das Erbe der getrennten Schicksale, wechselseitig angeeignet, die gemeinsame Gegenwart verwirklichen hilft. Dem dient eine Kommunikation der weltgeschichtlichen Traditionen, die allemal in der sogenannten Achsenzeit, jede im Ursprungsland ihrer Zivilisation, zwischen 800 vor und 200 nach Christi Geburt, von großen Einzelnen begründet wurden: von Konfuzius und Laotse in China, von Buddha in Indien, von
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Zarathustra in Persien, den Propheten in Palästina, den griechischen Philosophen und Tragikern im Abendland. Was könnte nun dieser Aufgabe einer universellen Kommunikation besser gewachsen sein als ein Denken, das gewohnt ist, Philosophien als »Chiffren« zu lesen? Die dogmatischen Inhalte werden gleichsam hintergangen und doch das Herzstück der Wahrheit in allen möglichen, rational einander widersprechenden Metaphysiken gerettet: die metaphysischen Gedanken gelten nicht geradehin für wahr, wohl aber stehen sie für die Wahrheit eines je eigenen Glaubensraumes, sind wahr als »Gehalte existentiellen Aufschwungs«. Der zwangsgeeinten, gleichwohl in ihrer Tiefe uneinigen Menschheit kann darum eine Geschichte der Philosophie, die derart verfährt, das Losungswort der universellen Kommunikation geben und den Horizont öffnen, in dem die Menschheit die Chance ihrer fälligen Solidarität ergreifen kann. Jaspers hat inzwischen den ersten einer auf drei Bände berechneten Philosophiegeschichte vorgelegt.3 Er versteht sie in einem weiten Sinne politisch, nämlich als Medium der Versöhnung in Analogie zur »Weltphilosophie« des Hellenismus, zur völkervermittelnden eines Plotin und eines Boethius. Die Welt soll, wenn nicht an der Philosophie genesen, so doch unter ihrer Anleitung vernünftig sich erhalten lernen: die Solidarität der Menschheit soll aus der Anstrengung jedes einzelnen erwachsen, sich in der Haltung polemischer Toleranz zu vervollkommnen; diese beschränkt die Verbindlichkeit eigener Einsicht und Entscheidung zugunsten der Verbindlichkeiten anderer Herkunft. Sogleich stellt sich das Bedenken der Schwäche der Philosophie und der Ohnmacht des Geistes ein. Jaspers macht es zum stoischen Bestandteil seiner geschichtsphilosophischen Alternative. Aber selbst wenn es wundersam gelänge, durch eine weltläufige Philosophie der Kommunikation jenes Bewußtsein polemischer Toleranz kraftvoll zu verbreiten, bliebe der Zweifel: ob nicht die realen Gegensätze einer technisch-ökonomisch zusammengezwungenen Welt die verbindliche Einsicht in den einen und selben Grundzusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung eher fordern als 3 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Band I, München 1957.
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das von liebenswerter spätbürgerlicher Urbanität und Skepsis geprägte Bewußtsein einer polemischen Toleranz, die sich am Ende rationaler Verbindlichkeit doch entzieht. Jaspers behandelt die Geschichte der Philosophie als Geschichte der großen Philosophen. Was groß geschaffen wurde, geht auf einzelne zurück; so auch in der Philosophie. Das Dasein der Großen, so heißt es, ist wie eine Garantie gegen das Nichts. Eine Gegenwart, die sich nicht im Andenken ihrer vergangenen Großen spiegelt, bleibt in geschichtsloser Nichtigkeit befangen. Die Großen machen sich überall bemerkbar, wo gleichsam durch einen Sprung Neuesin die Geschichte eintritt; sie sind als Möglichkeit unausdenkbar, bevor sie nicht Wirklichkeit geworden sind. Noch in dem Allgemeinen, das sie repräsentieren, sind sie einzig und unersetzbar. Gewicht und Umfang ihres Daseins sprengen die Proportionen des geschichtlichen Lebenszusammenhanges. Sie sind in der Zeit über die Zeit, nicht freilich wie die großen Philosophen Hegels, die ihre Zeit in Gedanken fassen und damit auf eine höhere, immer noch zeitliche Stufe heben - die Gewänder ihrer Zeit sind den großen Denkern vielmehr äußerlich. Und wenn ein Denker durch historische Analyse allein bereits angemessen getroffen werden kann, gehört er nicht zu den Großen. Diese treten erst rein vor unsere Augen, wo sie aus der Verklammerung ihres geschichtlichen Augenblicks gelöst und zum ewigen Reich der Geister versammelt werden. Zeitgenossen der Ewigkeit, sind sie ewige Zeitgenossen für uns, die Sterblicheren. Das Ewige in Werk und Leben läßt den großen Mann - große Frauen sieht Jaspers nicht - zu einer Erscheinung werden, die grundsätzlich jederzeit und zu jedermann sprechen kann. Individuum kann Individuum über alle Geschichte hinweg »erwecken«. Diese raumzeitliche Universalität der Kontakte überrascht. Wird diese nicht, wenn sie heute wirklich bestehen sollte, in der gegenwärtigen Situation erst ermöglicht? Ob ich, in den Traditionen europäischer Geschichte stehend, mit der Tradition eines Konfuzius, eines Buddha etwas »anfangen« kann, ist von der geschichtlichen Lage, in der ich mich objektiv befinde, schwerlich zu trennen. Kommunikationschancen, auch die zu den Großen, sind offeni
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sichtlich nicht beliebig, sondern epochal, jeweils an den Lebenszusammenhang einer bestimmten geschichtlichen Verfassung gebunden. Nicht zufällig reagiert die eine Epoche nur auf einige bestimmte Epochen, in deren Vergangenheit sie ihre eigene Zukunft und die Kontinuität ihrer Geschichte begreifen kann; für alle anderen Epochen bleibt sie gewissermaßen blind. Auch bei Jaspers tritt unter dem Titel Geschichtlichkeit ein solches aktives Verhältnis auf. Aber wo es sich nur auf die verstreuten Existenzen in der Vereinzelung bezieht, wird es zu einer Geschichtlichkeit ohne Geschichte: Geschichte gilt dann als das Material unerschöpflicher Deutungen, jede Existenz interpretiert sich in ihm nach eigener Fasson. Und doch soll die Fasson nicht beliebig sein, soll verbindlich die spezifische Vergangenheit aneignen. Von wem anders wird sie aber bestimmt als wiederum vom objektiven Prozeß der Geschichte selber, der vor aller privaten Lebensgeschichte und durch sie hindurch allen Existenzen in der gleichen Situation gemeinsam ist? Merleau-Pontys Einwand gegen die Existenzphilosophie seines Freundes Sartre gilt für die eines Jaspers erst recht: sie ignoriert jenes milieu mixte, ni choses ni personnes, die Realität jenes objektiven Lebenszusammenhanges, der von Menschen gemacht wird und ihnen doch als eine fremde Gewalt gegenübersteht. Gewiß, auch Jaspers hält es nicht ganz für gleichgültig, ob die »soziologische Daseinsform« der Philosophen die von Adeligen, Rentnern, Literaten, Wanderpredigern oder Beamten ist; aber das Große an den Großen sprengt die geschichtliche Formation, der Kern der Ewigkeit die irdische Hülle. Wenn die Großen wirklich für jedermann jederzeit zugänglich werden, verlieren sie genau die Verbindlichkeit, die in ihrer Geschichtlichkeit beruht, nämlich: eigentümlicher Bestandteil einer bestimmten, unverwechselbaren Geschichte werden zu können. Allein, die Weltgeschichte der Philosophie löst ihre Großen nicht nur aus dem realen Zusammenhang heraus, sie führt sie in einem eigens reservierten Jenseits der Geschichte, im Reich der großen Geister, einer Art metaphysischer Gelehrtenrepublik, wieder zusammen; sie begegnen sich dort so, wie bei Raffael die Philosophen in der Schule von Athen. Zwar scheint kein Großersubsu-
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mierbar, weder unter Epochen noch unter Typen, gleichwohl werden sie nur in dem Maße »sprechend«, in dem sie »Mächte« repräsentieren; der Anklang an Rankes große Mächte kommt nicht von ungefähr. In dem zur Lektüre sehr empfohlenen Nachwort zur Neuauflage der dreibändigen »Philosophie«4 spricht Jaspers vom »Organismus der sich bekämpfenden ursprünglichen Wahrheitsmächte«. Sie gewinnen den Stellenwert von Ideen, nicht sowohl Kantischen als Platonischen Ideen. Und wenn Jaspers versucht, im Hinblick auf sie die großen Philosophen zu gruppieren, ein »schattenhaftes Abbild ewiger Ordnungen« zu geben, dann berührt sich hier merkwürdig der organische Platonismus des jüngeren Schelling mit einem historischen des älteren Jaspers. Der erste Typ umfaßt die »maßgebenden Menschen«: Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus. Sie haben, außer Konfuzius, nichts geschrieben und sind doch mit ihrer Lehre zum Ausgang gewaltiger Traditionen geworden. Philosophen im eigentlichen Sinne bezeichnet erst der zweite Typ der »fortzeugenden Gründer des Philosophierens«: Plato, Augustin und Kant. Sie stiften eher unerschöpfliche Gedankenmöglichkeiten als eine Überlieferung fertiger Gedanken. Unter den Metaphysikern folgen zunächst die, die in den Visionen ihrer Gedanken gleichsam zur Ruhe kommen: vor allen anderen Plotin und Spinoza; dann die Weltfrommen, wie Empedokles und Bruno; die Wahr- und Wahnträumer vom Schlage Böhmes und Schellings; endlich die Konstrukteure von der Art Fichtes, die freilich von den großen Systematikern, Aristoteles, Thomas und Hegel, peinlich unterschieden werden. Den »bohrenden Negativen«, wie Descartes und, merkwürdigerweise, Hume, stehen die »radikalen Erwecker« vom Typ eines Pascal oder Kierkegaard gegenüber. Die psychologisch und biographisch sensibel gehandhabten Instrumente bewähren sich am besten in der Darstellung jener maßgebenden Menschen, deren Leben und Lehre noch als eins erscheinen. Dem zweiten Typus fühlt sich der Autor offenbar sympathisch verbunden. Und doch entfaltet er nur die politisch-historischen Schriften Kants mit jener subtilen Souveränität, die dem Buch über Schelling einen in den übrigen Schriften 4 Heidelberg 1956.
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kaum wiederkehrenden Glanz mitteilte. Die Darstellung Kants macht besonders deutlich, wie sehr Jaspers' Existentialismus ein Neukantianismus ist - wenn diese eilige Zurechnung fürs erste erlaubt ist. Jaspers' Gegensatz zu Rickert hat vielleicht in dieser untergründigen Verbundenheit seine tiefere Wurzel. Auf der anderen Seite verrät die nervöse Empfänglichkeit gerade für einen Systematiker wie Spinoza die metaphysischen Intentionen einer Philosophie, die von Jaspers selbst in seinem Hauptwerk nach dem Muster der klassischen Themen der rationalen Kosmologie, Psychologie und Theologie als »Weltorientierung«, »Existenzerhellung« und »Metaphysik« organisiert worden ist. Eine Weltgeschichte der Philosophie als Geschichte großer Philosophen, »der« großen Philosophen, beansprucht einen untrüglichen Maßstab der Größe, wenn auch nicht derart, daß er eine vollständige Auslese garantiere. Bei allen Vorbehalten, die den gefällten Spruch über Größe oder deren Mangel wieder in »Schwebe« bringen sollen, besteht sie auf einer objektiven Rangordnung der Geister. Jaspers wehrt sich gegen den Vorwurf geistesaristokratischen Hochmuts, denn an dem, was in der Chiffrensprache die Gleichheit aller Menschen vor Gott heißt, an der Wirklichkeit des sittlichen Gewichts der vielen, werde nicht gerüttelt. Es bestehe zwischen Menschen kein absoluter Unterschied, »obgleich der Abstand so ungeheuer ist«. Fritz Kaufmann gibt jedoch in seinem Beitrag zu dem erwähnten Sammelband zu bedenken, daß die Betonung der Nachbarschaft selbstseiender Menschen auf den Höhen der Existenz Jaspers daran hindere, die Macht des Mitleids und der Liebe allen gegenüber ernst zu nehmen. Kaufmann setzt das aristokratische Ethos der Selbstverwirklichung in Beziehung zur protestantischen Innerlichkeit, zu jener »tief begründeten und alles andere absorbierenden Selbstbekümmerung, in Vergleich zu der auch die aufopferndste soziale Arbeit, alle die Arbeit für die äußere Wohlfahrt der Menschen leer und zweitrangig erscheinen muß. Diese Haltung hat Luthers Stellungnahme im Bauernkrieg bestimmt, ebenso Nietzsches Verständnis der Religion, und klingt in Thomas Manns Werk, vor allem in seinen Betrachtungen eines Unpoliti-
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schen<, nach.« Jaspers betont zwei Richtungen der Gerechtigkeit. Die eine ziele auf die Rettung der Wirksamkeit der Besten, die andere auf das Recht aller Menschen im Bestreben, die äußeren Lebensbedingungen zu bessern. Der bei Heidegger ontologisch geronnene Unterschied von Eigentlichkeit und Verfallenheit kehrt bei Jaspers wieder als der Unterschied zwischen der Freiheit des existentiellen Aufschwungs und dem bloßen Sosein, das nur dahinlebt. Entsprechend fallen die Wirkungsgeschichte der Großen und »die Prägung der Massen« auseinander. Mit dieser dichotomischen Auskunft wird freilich die Verlegenheit angesichts der Bestimmung großer Menschen nicht ausgeräumt. Die Philosophie einer polemischen Toleranz verliert ihr Bestes, wo sie insgeheim vollziehen muß, was sie vor sich nicht eingesteht: Gottes Gericht über Menschen. Jaspers beruhigt sich bei der Behauptung: Ich beurteile keine Gestalt total, ich dringe ein, aber ich überblicke nicht. Tatsächlich qualifiziert er jedoch mit dem Attribut der Größe Menschen eben nicht nur in dieser oder jener Hinsicht, sondern in ihrem innersten Kern. Beträfe Größe in seinem Sinne nur die Objektivation von Menschen, beträfe sie, was als Leistung schließlich von ihnen abzulösen wäre, beträfe sie Aspekte und nicht das verletzliche Zentrum selber - wäre über Größenordnung gar nicht zu rechten. Aber Jaspers bezieht Größe ausdrücklich auf die Rangordnung der Existenzen. Damit nicht genug. Wer Urteile über diese Art Größe nicht annimmt, muß sich von ihm Instinkte unterstellen lassen, die menschliches Format zugunsten von Zauberern, Übermenschen und totalitären Führern nivellieren möchten. Solche Alternativen, mehrfach formuliert, entspringen einem verständlichen konservativen Impuls der Ehrfurcht; aber es sind die gleichen, mit denen andere Faschismus und Demokratie auf einen Nenner bringen. Eine Philosophie, die den Geschichtsprozeß personalisiert, kann Leben und Werk des einzelnen so wenig voneinander trennen, daß jedes Urteil über den objektiven Sinn einer Leistung zum Richtspruch über Existenz wird. Sie wird nicht begreifen, daß gar ein Widerspruch zwischen Leben und Werk objektiv erzwungen sein kann. Obschon das in einer Lage, die die Menschen von sich selber entfremdet, geradezu das Normale sein würde - und vielleicht schon ist.
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Es muß Jaspers daran liegen, daß Größe in jedem Betracht etwas Positives ist. Darum ist ihm die Frage so wichtig, ob es womöglich eine Größe der Verwirrung und des Rausches, eine Größe des Scheins und der Verführung gibt. Ein Denken, dem Echtheit und Tiefe, letztlich auch Rang und Größe mit Wahrheit identisch sind, muß die Größe im Unwahren, im Bösen leugnen. Zwar bemerkt Jaspers sehr wohl so etwas wie den luziferischen Glanz an artifiziellen Gebilden aus dem Nichts; aber am Ende müssen diese sich stets als existenzlos, eben als Zauber entlarven lassen. Ähnlich wie Schelling bestimmt Jaspers das Böse als ein Losreißen des Geistes vom Boden der Existenz. Der isolierte Geist bezaubert; seine Unentschiedenheit zwischen Gut und Böse läßt als solche schon in das Böse gleiten. Größe indes birgt das Böse nur leihweise. In den Großen gibt es auch Elemente des Scheinhaften und Nichtigen, aber große Zauberer als solche, Größe im Bösen selber, Dämonie an sich - gibt es für Jaspers nicht. Und große Existenzen sind nicht als solche und ganze gut, wohl aber das in ihnen, was sie groß macht. Wie aber soll Gut und Böse im großen Einzelnen noch geschieden werden, wenn Größe ihn in seinem innersten Wesen bezeichnet? Der Große rechtfertigt sich, hat man ihn so erst einmal eingeführt, stets durch sich selbst. Wie soll da Parteinahme gegen verhängnisvolle Große und ihre verhängnisvolleren Folgen sinnvoll überhaupt angesonnen werden? Überdies kommen Zweifel an der Voraussetzung selber: haben wir nicht erfahren, daß sich Niederträchtiges groß, wahrhaft großartig, wenn auch nicht wahrhaftig, sagen läßt? Der Stil im Bösen zeigt nicht unbedingt Risse. Taugt am Ende die existentiell formulierte Wahrheit doch nicht für eine kritische Dimension in der Aneignung von Geschichte; läuft sie, wo sie an den Erscheinungsformen der Großen haftenbleibt, doch auf die apologetische Gleichsetzung des Wuchtigen mit dem Wichtigen und des Wichtigen mit dem Richtigen hinaus? Jaspers' Forderung: im Hinausstreben über alle doktrinalen Parteilichkeiten eine einzige große Parteilichkeit festzuhalten, die Parteilichkeit für Vernunft, Menschlichkeit, Wahrheit und Güte - diese Forderung bricht sich selbst die Spitze ab, wo sie die Auflage annimmt, ebenso wie an dieser Parteilichkeit an deren Unbestimmbarkeit festzuhalten. Nach Jaspers kann nur Wissenschaft Allgemeingültigkeit beanspru-
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chen. Philosophie dagegen appelliert statt an die Logik des allen gemeinsamen Bewußtseins durch diese hindurch an die Metalogik individueller Existenz. Sie muß gegenständlich vom Ungegenständlichen handeln, ohne es doch eigentlich zu dürfen. Und noch diese Spannung muß sie - bis zum »Einsturz der Logik« - in ihre Reflexion einbeziehen. Fragt sich nur, ob die Logik so schnell einstürzt, wie Jaspers mit der absoluten Differenz zwischen wissenschaftlichem Erkennen und philosophischem Glauben unterstellt.
c) Über den moralischen Notstand in der Bundesrepublik (1966) Im vergangenen Jahr hat sich das Plenum des Bundestages zweimal mit der Frage befaßt, ob die Strafverfolgung von Verbrechen des Naziterrors zwei Jahrzehnte nach Beendigung des letzten Krieges aufhören soll. Nach langem Hin und Her haben sich die Parteien damals auf einen Kompromiß geeinigt. Der Verjährungstermin ist einfach um vier Jahre hinausgeschoben worden: nicht schon 1965, aber 1969 werden alle Naziverbrecher, die bis dahin nicht entdeckt worden sind, aufatmen können. Der Bundestag hat diesen Beschluß offensichtlich auch mit Rücksicht auf eine empörte Weltöffentlichkeit gefaßt. In den Reden kam das weniger zum Ausdruck. Es gab langatmige Bekenntnisse. Die Presse lobte Niveau und Ernsthaftigkeit des Parlaments. Karl Jaspers, der seit 1949 in Basel lehrt, hatte unmittelbar nach dem Kriege Thesen zur Schuldfrage vorgetragen. Kern seines bewegenden Appells war die Forderung, daß für die politische Schuld eines verbrecherischen Staates alle Staatsangehörigen kollektiv haften. Kriminelle Schuld betrifft immer nur einzelne; mit ihr befaßt sich die Justiz. Moralische Schuld entzieht sich weltlicher Gerichtsbarkeit; sie verlangt individuelle Reue. Aber die politische Haftung betrifft alle, die politische Verbrechen nicht rechtzeitig erkannt, die später nicht gehandelt und nicht ihr Leben für den Widerstand riskiert haben. Jaspers hat damals gesehen, daß ohne ein Bewußtsein der politi-
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sehen Haftung die verhängnisvolle Kontinuität mit dem Staat, der Konzentrationslager eingerichtet hat, und mit der Gesellschaft, in der die Ermordung willkürlich definierter Minderheiten möglich geworden ist, nicht abreißen würde. Darin sieht sich Jaspers heute mit Erschrecken bestätigt: »Seit 1945 war die Frage: Wird jetzt ein deutscher Staat geboren aus einer Umkehr des politischen Bewußtseins der Staatsmänner und der Bevölkerung? Oder wird er ein äußerlich gefügtes Ordnungsgebilde sein, ohne Ursprung in den Herzen und Köpfen des Volkes, ohne eine neue politische Gesinnung?« Als Testfall für die Entscheidung dieser Frage betrachtet Jaspers die parlamentarischen Verhandlungen über die Verjährung der Naziverbrechen. Er gelangt zu einem negativen Urteil.5 Jaspers unterscheidet, einen Vorschlag seiner Schülerin Hannah Arendt aufnehmend, zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen die Menschheit. Der bürokratische Massenmord, der nicht nur Humanität in jedem einzelnen verletzt, sondern ohne Ansehen des einzelnen gegen Kollektive sich richtet, trifft die Menschheit als solche. Für diese Verbrechen fordert Jaspers schwerste Strafen, auch auf Grund rückwirkender Gesetze; eine Verjährung hält er für ausgeschlossen. Dem Bundestag ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß er sich dieser Argumentation oder einer ähnlichen nicht anschließt; bedenklicher ist schon, daß er sie gar nicht in Erwägung zieht. Aber das eigentliche Versagen, auf das Jaspers mit Recht aufmerksam macht, besteht in einer Haltung, die freilich niemanden, außer Jaspers, überraschen konnte. Der Bundestag hat im Hinblick auf die kriminelle Schuld von Naziverbrechern jede Radikalität vermissen lassen und die Verjährung im Prinzip anerkannt, weil man endlich »einen Schlußstrich« ziehen möchte. Das ist, wie wir wissen, eine verbreitete Stimmung in der Bevölkerung. In den Parteien findet diese Stimmung Resonanz, in der FDP mehr als in der CDU, in der CDU mehr als in der SPD, aber in allen zur Genüge. Wir dürfen überzeugt sein, daß niemand im Bundestag die kriminelle Schuld einigeln wollte, um künftigen Kaduks das Leben zu erleichtern. Aber für die Bevölkerung im ganzen und für die 5 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966.
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politisch belasteten Personen vom Typ Globke im besonderen wird eine problematische Erleichterung geschaffen, wenn sich nur noch Historiker mit unserer jüngsten Vergangenheit befassen - und einige Intellektuelle, die man dann um so besser als Querulanten abstempeln kann. Das Einfrieren der kriminellen Schuld einzelner dient der politischen Entlastung vieler. Die Stellungnahme des Bundestages zu der juristischen Verfolgung von Naziverbrechen hat nur noch einmal bestätigt, woran ja seit langem kein Zweifel mehr möglich ist: daß wir für jenen Staat, der doch einmal vom Jubel der Massen getragen und von prominenten einzelnen gedeckt war, politisch nicht haften wollen. Der Tenor nationaler Kränkung, den Strauß angibt und der inzwischen in den ersten Wahlerfolgen der Nationaldemokratischen Partei ein beunruhigendes Echo findet, spricht nur aus, was viele fühlen und wogegen im Parlament vorerst klare Stimmen sich nicht erheben - von der Regierung ohnehin zu schweigen. Ich halte es für ein großes Verdienst, daß Jaspers diesen Punkt in seinem jüngsten Buch unmißverständlich klarmacht. Es enthält ein Spiegel-Gespräch, das Jaspers mit dem Herausgeber Augstein vor jenen Verjährungsdebatten geführt hat. Im zweiten Teil des Buches gibt Jaspers eine genaue Analyse dieser Verhandlungen selbst. Oft gleitet diese Analyse auf die Ebene einer Korrektur von Schüleraufsätzen ab. Auch die Zensuren eines knöchernen Moralismus sind in dieser Ungebrochenheit nicht frei von Peinlichkeit. Ich kann mir nicht helfen: haben wir als Philosophieprofessoren wirklich ein Privileg für die Gewissenssprache moralischen Aburteilens? Gleichwohl trifft die Intention: mit Recht blamieren sich die, die in Gewissensfloskeln einen faulen Kompromiß gebaren, vor einer in diesem Fall höheren Instanz. Anstoß erregt freilich vor allem der dritte Teil des Buches. Hier geht Jaspers mit der Bundesrepublik ins Gericht. Erschüttert durch den Geist, den die Repräsentanten dieses Staates in jener Diskussion um die Verjährungsfrist offenbarten, fragt er sich, wie es denn überhaupt mit der deutschen Politik bestellt sei. Er gelangt zu einer ebenso pointierten wie unverhohlenen Prognose: die Bundesrepublik hat sich aus demokratischen Anfängen zu einer Parteienoligarchie entwickelt und steht nun vor dem weiteren Schritt zu einer
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Diktatur. Diese kommt zwar nicht durch eine Machtergreifung zustande. Die Fassaden bleiben bestehen, und die Strukturen wandeln sich langsam. Aber am Ende steht die Liquidierung des Rechtsstaates, die Repression des Volkswillens, die Militarisierung des Lebens. Jaspers scheut sich nicht, den gegenwärtigen Zustand mit dem vor der Machtergreifung Hitlers zu vergleichen. Er diagnostiziert unheimliche Entwicklungen, »die sich anbahnen, ohne daß einer es eigentlich will und über die viele entsetzt sein würden, wenn das Resultat einmal da ist - wie sie beim Sieg Hitlers 1933 ebenso entsetzt wie kleinlaut waren«. Ich halte diese These nicht für falsch; aber die Form, in der sie vorgetragen und begründet wird, ist ein wenig wunderlich. Jaspers präsentiert die Früchte eines intelligenten Zeitungslesers, der seit einigen Jahren bemerkt hat, daß innenpolitisch etwas faul ist, und dem nun sogar die Außenpolitik, die er über ein Jahrzehnt für richtig gehalten hatte, in einem anderen Licht erscheint. Wir werden an eine Reihe von Symptomen erinnert: an den Fall Hofstätter, an die Spiegel-Affäre, an den Fall Paetsch, an Hochhuth, den Starfighter und anderes. Wir werden auf die prinzipiellen Gefahren hingewiesen, die eine kommerzielle Regie allgemeiner Wahlen, eine verstummende Opposition, eine Minimalisierung der Grundrechte, Parteienfinanzierung, KPD-Verbot, Ehrenschutz und vieles andere heraufbeschwören. Bei alledem kann man sich dem Eindruck des déjà vu kaum entziehen; nur daß er diesmal nicht täuscht. Das Märchen von des Kaisers Kleidern erfährt eine überraschende Wendung: alle, die sehen können, haben sich an den unbedarften Anblick des Herrschers schon so gewöhnt, daß man stutzt, wenn einer kommt und den Splitternackten zum erstenmal entdeckt. Im übrigen klingt in der Kritik der Parteien noch ein Hauch von Ressentiment, das Jaspers ernstlich nicht meinen kann. Wenn Jaspers davon spricht, daß man das Volk nicht in den Parteien an die Kette legen und in eine manipulierbare Masse verwandeln dürfe, dann hat er sich von Kulturkritik noch nicht gelöst. Überhaupt hat sich das Bezugssystem jener berühmten Zeitkritik, die Jaspers 1931 vorgetragen hat, nicht in dem Maße gewandelt, wie es die politischen Erfahrungen der folgenden Jahrzehnte vielleicht doch erfor-
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derten. Da wölbt sich über den Niederungen der Parteipolitik der freie Himmel der großen Politik. Wir finden das Bild des patriarchalischen Unternehmers, der seinem Betrieb den sittlichen Impuls gibt. Das geistesaristokratische Vorurteil löst objektive Zusammenhänge in Fragen der Personalpolitik auf: das Schicksal hängt, so scheint es, an der Auslese der politischen Führer. Und im Rückblick auf den Anfang der fünfziger Jahre heißt es: »Wenn man damals die sozialdemokratischen Programme las, lief es einem kalt über den Rücken.« Auf diesem Hintergrund wird freilich die drastische Wendung, die Jaspers trotz allem vollzieht, in ihrem respektablen Ausmaß erst sichtbar. Er fragt: »Wollen wir durch die Notstandsgesetze die Revolte der Bevölkerung gegen den Krieg unmöglich machen? Wollen wir die Chance, daß vielleicht im äußeren Notstand die Völker überall sich sträuben, durch einen terroristischen Herrschaftsmechanismus ausschließen?« So haben wir Jaspers bisher nicht sprechen hören. Im gleichen Zusammenhang weist er gar auf die Meuterei der kaiserlichen Matrosen im Oktober 1918 als Vorbild hin. An die Stelle problematischer Regelungen für den sogenannten inneren Notstand tritt das Recht auf den politischen Streik: »Der innere Notstand existiert nur in der Fiktion derer, die entweder ihn benutzen wollen zur Konstituierung absoluter Macht, zur Beseitigung des Streikrechts im Interesse der Unternehmer, oder die Angst haben vor Auseinandersetzungen, die notwendig sind, um in der ständigen Unsicherheit die Freiheit zu behaupten gegen die Maßnahmen einer vernunftwidrigen, die Grundrechte und die Legalität nicht achtenden Regierung. Eine solche Regierung übt Gewalt, die ein Volk nicht dulden kann. Daher muß das Volk Mittel haben, sich zu wehren, Mittel, die ohne militärische Waffen der Gewalt widerstehen können. Daher muß es den politischen Streik geben dürfen.« Jaspers nennt die Notstandsgesetze ein Instrument der Versklavung. Er gehört nicht zu denen, die der professionellen Unruhestiftung verdächtig sind. Vielleicht hören die Politiker eines Volkes, das sich gern seiner Dichter und Denker rühmt, auf die Stimme der Vernunft eher, wenn sie sich der Sprache des Katheders bedient.
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4. Arnold Gehlen a) Der Zerfall der Institutionen
Dieses Buch1 gibt eine Philosophie der Institutionen. Seine beiden Hauptabschnitte sind am Leitfaden des rational-praktischen und des rituell-darstellenden Verhaltens entwickelt. Denn dies sind die beiden Handlungswurzeln der Institution. Ein letzter Abschnitt, von dem man die systematische Komposition der angeschlagenen Motive erwartet hätte, liefert eine Art nachträgliche Disposition. Er schließt mit dem Ausblick, daß ein ewiger Friede, falls er gelingt, über den Einzelnen eine »unmeßbare moralische Belastung« sowie »eine neue, noch nie dagewesene Form ganz tiefer Unfreiheit« verhängen und die also gespeicherten Spannungen in verschärfte ideologische Konflikte ableiten wird. Vor sechzehn Jahren hat Gehlen in seinem mit Recht berühmt gewordenen Werk den Menschen als ein instinktentbundenes, antriebsüberschüssiges und weltoffenes Wesen definiert. Wie kann ein solches Wesen, heißt jetzt die Ausgangsfrage, sein Dasein stabilisieren? Wie bringt es der Mensch fertig, der verführerischen Formlosigkeit seiner beliebig variablen Handlungen ebenso Herr zu werden wie der Anarchie seiner diffusen Antriebsenergien? Gehlens anthropologische Fragestellung zielt auf eine Mechanik des Überlebens in »biologisch hoffnungsloser« Lage. Der Mensch lernt, die Mängel seiner natürlichen Ausstattung kompensierend, »handeln«. Allein, das würde ihn nur für den Augenblick retten; ein Dasein, das sich nicht mehr auf die verläßlichen Anweisungen der Instinkte stützen kann, verlangt dauerhaftere Garantien, es verlangt Ersatz für das »verlorengegangene« Verhältnis von Instinkt und Auslöser, eine stabile »zweite Natur« auf der Ebene des erlernbaren Verhaltens. Und eben das gelingt mit der Institutionalisierung des Handelns, mit dessen Entlastung vom stets erneuten Aufwand improvisierter Motivfindung und Orientierung. So wird auch die 1 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956.
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Institution im Rahmen des Gehlenschen Modells ableitbar, wobei »ableiten« hier heißen müßte: als notwendig erweisen für das Überleben eines »von Natur aus« geschwächten oder gar lebensuntüchtigen Wesens. Was Gehlen als »anthropologische Kategorien« entdeckt, hat daher der Mensch selbst, was nicht heißen soll: mit Absicht, gemacht. Das trifft für die Kategorien der Natur nicht zu. Bereits Vico hat an diesen Unterschied wichtige erkenntnistheoretische Erwägungen geknüpft. Nicht so Gehlen. Er reklamiert für seine Methode (übrigens ganz im Sinne der Hartmannschen Kategorialanalyse) die in den Einzelwissenschaften geübte unreflektierte Einstellung auf den Gegenstand, die »intentio recta«. Das verleiht dieser Philosophie das Pathos empirischer Forschung. Freilich erkauft sie es durch eine gewisse erkenntnistheoretische Unschuld, die in so etwas wie der heftig angezettelten Polemik gegen die geisteswissenschaftliche Methode des »Verstehens«, des Auslegens, des Entzifferns von Texten und Werken zum Vorschein kommt. Ausgerechnet mit dem Hinweis auf die gerade durch verstehenden Vergleich als kultur- und epochenrelativ entlarvten »Selbstverständlichkeiten« unserer Zeit bestreitet Gehlen, daß die Werke und das in den Werken gespiegelte Verhalten fremder Kulturen und Epochen »verstehbar« sind. Statt dessen will er Kategorien des Verhaltens herausarbeiten »ohne die Möglichkeit, sie von innen her inhaltlich echt zu besetzen«. Was heißt hier »inhaltlich«? Als seien diese Kategorien (im Gegensatz zu den Kategorien der Natur) nicht ebenfalls »von innen« nachvollzogen und verstanden; als seien sie nicht ebenfalls auf unsere Situation bezogen und eben aus ihrem industriegesellschaftlich zugespitzten neuzeitlichen Horizont entworfen - der Mensch als das »handelnde« Wesen ist überhaupt nur in einer Tradition konzipierbar, die nicht erst seit Hegel und Marx den Menschen (qua Denken oder qua Arbeit) als das sich selbst erzeugende Wesen definiert. Im übrigen: wenn der Mensch vom Verstehenkönnen radikal abgeschnitten wäre, wenn er die Texte fremden Daseins prinzipiell nicht übersetzen könnte - wo bliebe da seine weitläufig proklamierte »Weltoffenheit«? Unberührt von solchem Einwand bleibt die kluge, erfindungsreiche und präzise Ableitung der Institution selbst. Institutionen entste-
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hen, wenigstens zum einen Teil, aus der schlichten Werkpraxis, aus der »Ökonomie«. Schon die primitive, ein Überleben erst ermöglichende Arbeit verläuft in Systemen stabilisierender und spezialisierender Gewohnheiten. So ist das einfache Steinwerkzeug eine Stütze, an der eine bestimmte, genau umschriebene Handlung »festgemacht« wird; mehr noch: es ist eine Art chronischer Aktualisator mit einer verhaltenen Auslöserwirkung. Wir selbst können diesen institutionellen Effekt der »Werkzeuge« täglich spüren, wenn wir morgens in unsere gewohnte Arbeitsumgebung treten und von daher schon auf das Gleis unseres spezialisierten Arbeitsverhaltens rangiert werden. »Institution« wird freilich ein Gerät und ein System von Geräten und geratenen Übungen erst dann, wenn deren ursprünglicher Zweck, die Befriedigung der primären Bedürfnisse, immer weiter herausgerückt, als Randbedingung in den Hintergrund geschoben oder schließlich ganz suspendiert und durch andere, untergeschobene Zwecke ersetzt wird. Dann treten Entstehungsmotiv und aktueller Zweck auseinander, die Institution ist übertragbar und damit eigentlich erst Institution geworden. Wo sich das habitualisierte Verhalten so von den ursprünglichen Zwecken emanzipiert, wo die zunächst zweckgesteuerten Instrumente in eine selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit umschlagen und sich verselbständigen, da lernt der Mensch, »von der Institution her« zu handeln. Die Antriebsmomente verlagern sich in den Gegenstand und besetzen die Institution mit normativen Gehalten. Die Wirkung ist eine doppelte. Das Herausschieben des ursprünglichen Zwecks macht das Handeln zu einer eigenwertgesättigten Gewohnheit und öffnet es gleichsam für die Anreicherung mit neuen Motivgruppen. Andererseits verliert das Verhalten, das sich nach unbefragten Verpflichtungen orientiert, an Rationalität und, wenn man so will, an »Freiheit«. Dies ist freilich ein Gesichtspunkt, der nur unter gewissen hochkulturellen Umständen Anwendung findet. Gehlen betont nur den einen, Marx nur den anderen. Denn Gehlen beschreibt ja mit der »Verselbständigung von Handlungsvollzügen« prinzipiell nichts anderes als der junge Marx mit der »Entfremdung der menschlichen Wesenskräfte«, die zur sachlichen Gewalt über uns gerinnen.
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Angesichts der Fülle der gefundenen Kategorien, die zum thematischen Hof der »Institution« gehören, angesichts der geistreichen und sensiblen Bemerkungen, die wie beiläufig eingestreut sind, machen wir immer wieder die erregende Erfahrung, daß in diesem Buch Wahrnehmungen mitgeteilt werden, und das ist mehr, als wir von den meisten Büchern erwarten dürfen. Ich erwähne die Kategorien der »Gegenseitigkeit« oder des Tauschs, der »Hintergrundserfüllung« und des Beisichbehaltens, der Bedürfnisorientierung sowie der »Umkehr der Antriebsrichtung« (die beispielsweise dann eintritt, wenn der Ritus instrumentalisiert wird, um die mit ihm verknüpften Zustände der rauschhaften Selbststeigerung künstlich hervorzurufen). Wir können diese Kategorien ebensowenig aufdröseln wie das im zweiten Teil untersuchte »darstellende Verhalten«, das Themenkreise wie Ritus, Mythos, Magie, Ekstase und Askese einschließt. Es bleibt freilich noch ein Thema zu behandeln; dazu nötigt uns schon die Dichotomie des Titels. Ich meine die durchgängige Brechung der frühen und frühesten kulturanthropologischen Vorgänge im Spiegel unserer stationär werdenden Spätkultur, stationär, aber nicht stabil - denn, so heißt die These, eine Kultur der Subjektivität ist überhaupt nicht stabilisierbar, »sie muß in einer massenhaften, ephemeren Überschußproduktion enden«. Nun ist zwar diese negative Utopie nicht neu, bemerkenswert aber ihre Fragestellung und Absicht. Wie sehr sich Gehlen auch souverän vom »Pädagogisch-Agitatorischen« absetzt, seine prononcierten Kommentare zur gegenwärtigen Lage sind nun einmal tendenziös und implizite auf eine Veränderung dieser Lage abgestellt. Wie sollte es auch anders sein bei einem Denken, das zwar auf wissenschaftlicher Neutralität besteht, aber die »Folgenlosigkeit der bloßen Vorstellung« vehement verachtet. Gehlen reflektiert die kulturschöpferische Bedeutung der Institution an einem Zustand, wo, wie er sagt, die Institutionen erschüttert, abgetragen oder verunsichert sind. In diese Lücke schießt dann der ungerichtete Strom des Seelischen, des Subjektiven ein, das die fällige Verlegenheit des Verhaltens überdies durch »leere Differenziertheit und Konfliktbereitschaft« steigert. In der Deckung einer chronischen Ichbetontheit wird die innere Natur ebenso wie die äußere neutralisiert und
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rationalisiert, Seelenleben und vorgestelltes Seelenleben fließen in eins. Überhaupt stellt sich die Vorstellung der Handlung in den Weg. Handelnde Erfahrung wird im Schnellerwerb der Vorstellungen durch Kenntnisnahmen ersetzt. Der Überfüllung des Vorstellungsraumes und der Überlastung der Entscheidungszentren entspricht eine Verarmung des Handlungsspielraums. Konfliktfreie Konsumfähigkeit wird oberster Maßstab der Lebensersatzhygiene. Die Flut der Ideen bleibt unverbindlich, sie werden diskutiert, nicht gelebt. Nun ist diese kritische Einschätzung der Lage nicht unzutreffend, fragwürdig aber ihre Herleitung aus dem Zerfall der Institutionen. Daraus ergäbe sich nämlich der therapeutische Wink von selbst, zumal Gehlen nicht versäumt, der vorherrschenden Verharmlosung der Macht ein agonales Ethos entgegenzustellen. An institutioneller Zwangssteuerung fehlt es ja heute, wie Gehlen selbst bestätigt, nicht. Eine formale Freiheit des einzelnen geht mit einer universellen gesellschaftlichen Kontrolle Hand in Hand. In der konkurrenzgesellschaftlich organisierten Angestelltenzivilisation degenerieren Individuen zu Umschlagplätzen institutioneller Anweisungen. Der Schematismus der Institutionen hat sich vervielfältigt und kompliziert. Erscheinungsform dieser gehäuften Gewalt ist die permanente Versagung, die sich in Überfluß maskiert. Denn die zugemutete Konsumsteigerung entzieht, indem sie gibt. Und sie entzieht so, daß sie zugleich den Schmerz retuschiert, an dem sich der Mensch asketisch entzünden könnte. Dies alles spricht nicht für die mangelnde institutionelle Bindung einer losgelassenen Subjektivität, die allerwegen über die Stränge schlägt. Mehr schon für ein Mißverhältnis der in die höheren Zentren des Einzelnen hineingetragenen institutionellen Zensuren zu diesem Einzelnen selbst. Gehlen stützt sich auf die Tatsache der »rollengemäßen Individualität«, die Tatsache, daß heutzutage jedermann gesellschaftlich genötigt wird, sich individuell zu geben, obschon eben diese gesellschaftlichen Bedingungen mehr als eine genormte Pseudoindividualität nicht erlauben. Was folgt daraus? Doch nur, daß die institutionell erfaßten sublimeren Schichten eines allerdings »freigesetzten« und differenzierteren Einzelnen auf diese Zwangsregulierung »falsch« reagieren. Sie lassen sich manipulieren, aber ohne
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das begleitende Bewußtsein, daß man sich »eigentlich« nicht manipulieren lassen darf, ganz unterdrücken zu können - daher die Flucht in die Individualität als Rolle. Gewiß, das »arbiträre Subjektive«, als der verarmte Protest gegen diesen Zustand falsch dimensionierter Institutionalisierung, läuft leer. Aber wenn schon dieser Zustand kritikwürdig ist, dann im Hinblick auf eine balancierte Vermittlung von Institution und Individuum, nicht in Richtung auf die Liquidation des einen durch das andere, auf die Renaissance des Institutionellen durch Regression des Individuellen. Wäre es wirklich so schlimm, wenn sich Individualität als »Rang ohne Ränge«, und eben nicht nur als die seltene Auszeichnung des großen Einzelnen, gesellschaftlich verwirklichen ließe; wenn sich Menschen »in ihrer bloßen Menschlichkeit« statt in der Rüstung mehr oder minder prominenter Statusabzeichen begegnen könnten? Gehlen adoptiert die rationalistischen Motive der Aufklärung und wendet sie gegen deren humanitäre Grundlagen. Es macht sich gut, und es zeugt obendrein von Wahrnehmung, wenn man den »Menschen im verkleinerten Maßstab«, den Menschen »im Stile Louis Philippes, habgierig und sanft«, wenn man die »Durchschnittskreatur unserer Tage« verächtlich macht. Immerhin - habgierig und sanft; als generös und brutal beschwor Nietzsche den Menschen einer Zukunft, die wir inzwischen - wer wollte noch sagen: im verkleinerten Maßstabe? quittiert haben. Dieses Buch trägt die Hypothek langfristig angestauter Ressentiments - neben tiefen Betrachtungen zum Wesen der Askese argumentarme Ressentiments gegen »die blutlosen Flunkereien« der abstrakten Malerei.
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b) Nachgeahmte Substantialität
Länger als ein Jahrzehnt hat Gehlen an seiner »Ethik« 2 gearbeitet. Natürlich hat er, der konsequenteste Denker eines gegenaufklärerischen Institutionalismus, Sperrgut produziert. »Urmensch und Spätkultur« hatte den Tenor festgelegt; gegen wen die moralphilosophischen Folgerungen seiner Anthropologie sich richten würden, war vorauszusehen. Angesichts des Stoffes, den die Kulturrevolution der letzten Jahre für eine Gehlensche Ethik eigens zuzubereiten schien, konnte einem sogar bange zumute werden. Nicht vorauszusehen war deshalb das Satyrspiel, das der Autor uns nun gewährt. Gehlen setzt unser Zeitalter zum Hellenismus oder zu dem Bild, das wir uns davon machen, in Parallele. Eine Zeitlang hatte Gehlen selbst mit der Rolle des Stoikers kokettiert. Inzwischen paßt ihm dieses Kleid nicht mehr. In seinem neuen Buch stellt er Antisthenes und Zenon als Vorläufer und Repräsentanten einer unpolitischen, das Staatsethos untergrabenden attischen Weltkultur vor. Sie geben ein Vorspiel des 18. Jahrhunderts, in dem die Intellektuellen wiederum sich anschicken, im Namen der Diffamierung von Herrschaft indirekt die Herrschaft zu ergreifen. Diese beiden ersten Kapitel sind übrigens im Stil der humanistischen Überlieferung geschrieben: die Topoi der Alten als Weisheitsstützen einer kontemplativen Lebenserfahrung. Die drei folgenden Kapitel entfalten den theoretischen Anspruch des Buches. In dem aus früheren Publikationen vertrauten Stil einer anthropologischen Abhandlung geben sie einen Überblick über die biologischen Wurzeln des moralischen Verhaltens. Aber mit dem sechsten Kapitel schiebt sich Zeitkritik in den Vordergrund und lenkt einen Gedankengang ab, der in immer kürzeren Abständen repetiert wird. Als Gegenstück zu den modischen Selbstverbrennungen übt Gehlen den Gestus der Selbstversteinerung. Der Haß gegen einen Humanitarismus, den Gehlen (obwohl das Wort dem 2 A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt 1969.
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in den Sprachschatz der Nazis übergegangenen Nietzsche-Jargon zugehört) keineswegs in Anführungsstriche setzt, beeinträchtigt peinvoll das Unterscheidungsvermögen eines bekanntermaßen differenzierten Geistes. Respektable Lebensweisheiten und theoretisch interessante Annahmen mischen sich mit dem politischen Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen, der den lebensgeschichtlichen Aporien seiner Rolle nicht mehr gewachsen ist. Um dieses Kapitel schmerzlos abzuschließen, beschränke ich mich auf die Wiedergabe einiger Lesefrüchte: Kollektivschuld der Nazis und ihrer Opfer: Nach dem Jahre 1933 ist die Integrität der Institution »Das Deutsche Reich« nicht nur verletzt, das Reich selbst ist von innen und außen her zerstört worden, sowohl von den Nationalsozialisten wie von ihren Gegnern. Folglich können sich diejenigen, die dabei aktiv mitwirkten, nicht entlasten, auch wenn ihnen das Unrechtsbewußtsein fehlte oder sie sogar im Bewußtsein eines höheren, etwa humanitären Rechts handelten. (99) Größe der Nation und deutsche Tragik: Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als eine verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den physischen und den moralischen Angriff auf sich unmöglich zu machen. (103) Die zwei oder drei Völker, in denen so etwas heute vor sich geht, werden frei sein, d.h. ihr Schicksal selbst bestimmen. (115) Moral der Sieger oder Reeducation: Napoleon, der Europa mit Gräbern, Tränen, Asche, Weltruhm bedeckte, wird unvergessen bleiben, aber Preußen wurde aus der Geschichte gestrichen. Die endgültig Geschlagenen müssen teuer bezahlen, ihnen wird moralische Krankenkost verordnet, das verkürzte Bewußtsein, künftig von Redakteuren verwaltet. (120) Der Begriff (der geistigen Integrität einer Gruppe) umfaßt natürlich die Traditionen und Überlieferungen eines Verbandes ebenso wie ihre (seine?) Ehre, und ein Volk gewaltsam von seiner Geschichte abzutrennen oder zu entehren, bedeutet dasselbe, wie es zu töten. Einige Amerikaner scheinen dies neuerdings zu begreifen und an dem Recht der gewaltsamen Auferlegung ihrer eigenen politischen Ideologie zu zweifeln. (185) Was heißt und zu welchem Ende führt »Gegnerschaftsunfähigkeit«?: In den Menschen, die sich gegnerschaftsunfähig machen und nur das bekommen wollen, was sie selbst gewähren, nämlich Schonung, bleibt etwas wie
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ein kleiner diabolischer Keim, der die Freude an der Vernichtung des Wehrlosen bedeutet, das Thema der echten Horrorfilme. Man kann die List der Tyche nicht genug bewundern, die dem total erschöpften und niedergeschlagenen Kontinent zwar noch die Chance des bloß physischen Überlebens zuspielt, eine Rolle, die man eifrig einstudiert, indem man mit geradezu angstvollem Eifer das geistig Haltende abräumt; die sich aber den Ausgang noch offenhält. Denn die anderen haben die Macht, und wer das Ethos der Macht ausleben will, von dem wir uns einreden, es existiere nicht, braucht Gegner, die er sorgsam auf Schlagdistanz halten muß. Diese können aber das Recht auf Dasein als einzige Karte nicht ausspielen, ohne sich in das Naturreich hineinzunivellieren - aber dort schlug es immer noch in das Recht des Stärkeren um. Wenn das hervortritt, können die Opfer sich überlegen, ob sie sich nicht auch der Vernichtung des Wehrlosen gefreut haben. (145 f.) Degout und Vorbild: Da scharfe Profilierungen, vor allem geistige, eo ipso Distanz schaffen und da man das nicht will, so wird das Aussprechbare randunscharf, und man muß sich in vagen Ideen aufhalten: Demokratisierung, repressive Strukturen, Hochschulreform usw. (147) Bald wird man nicht mehr verstehen, wie der alte Clemenceau sagen konnte: »Von Zeit zu Zeit muß man sich über den Abgrund beugen, um den Atem des Todes einzuatmen, dann kommt alles wieder ins Gleichgewicht.« (77) Die Verteufelung oder »ein ethischer Hüftschuß«: Teuflisch ist, wer das Recht der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. Dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellos Fresco in Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft.3
Ich will mich im folgenden auf die theoretischen Ansätze zu einer anthropologischen Ethik beschränken. Gehlen unterscheidet (S.47): \ 1. das aus der Gegenseitigkeit entwickelte Ethos; 3 Der Diabolische wird, wie es sich in einem nachempfundenen Weltbild gehört, nicht beim Namen genannt. Gemeint sind die großen Aufklärer und Intellektuellen, von Lessing und Lichtenberg bis Benjamin und Brecht, von Kant bis Popper und Adorno. Aber Gehlens Teufel bleibt hartnäckig anonym. Einmal allerdings wird Marx doch zitiert — nach einem 1919 erschienenen Buch von Hugo Ball.
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2. eine Mehrzahl instinktiver, verhaltensphysiologisch greifbarer Regulationen einschließlich der Ethik des Wohlbefindens und des Glücks (Eudaimonismus); 3. das familienbezogene ethische Verhalten samt den daraus ableitbaren Erweiterungen bis zum Humanitarismus und 4. das Ethos der Institutionen einschließlich des Staates. Gehlen behauptet, daß diese vier ethischen Programme unabhängige biologische Wurzeln haben. Die konkurrierenden Handlungsregulationen werden in den alltäglichen Verhaltensroutinen zum Ausgleich gebracht. Sobald ein Wertsystem auf Dauer dominierende Geltung beansprucht, wird es mit den übrigen Wertsystemen inkompatibel. Dann entstehen prinzipiell unlösbare Konflikte, nicht nur zwischen Gruppen und Individuen, sondern auch in der Brust des Einzelnen. Im übrigen erlaubt die Stilisierung und die einseitige Durchsetzung einer reinen Moral stets eine im Namen dieser Moral gerechtfertigte Abfuhr von Aggression. Die Anwendung dieser Thesen auf die gegenwärtige Situation führt Gehlen zu der Behauptung, daß das Institutionenethos durch eine verallgemeinerte Familienmoral verdrängt wird. Der durch eine Intellektuellenschicht aggressiv verbreitete »Humanitarismus« verstößt gegen das biologisch begründete metaethische Gleichgewicht der gleichursprünglichen Wertsysteme und zerstört, wie die Entartungserscheinungen des Subjektivismus zeigen, die anthropologische Gesundheit der Gattung. Aus dieser Prognose ergibt sich die handlungsorientierende »Feindmarkierung«. Es gilt, der Trägerschicht des Humanitarismus, den verantwortungslosen Intellektuellen, entgegenzutreten. Da diese ihre Macht indirekt, nämlich über die Massenmedien ausüben, kann ihnen nur durch Zensur das Handwerk gelegt werden: Das Wort Verantwortung hat nur da einen deutlichen Sinn, wo jemand die Folgen seines Handelns öffentlich abgerechnet bekommt und das weiß; so der Politiker am Erfolg, der Fabrikant am Markt, der Beamte an der Kritik der Vorgesetzten, der Arbeiter an der Kontrolle der Leistung usw. Wo eine solche Instanz nicht zu sehen ist oder ausdrücklich verpönt ist, wie im Art. 5 des Grundgesetzes (Pressefreiheit) die Zensur, dort ist man von der Verantwortung entlastet und kann sich mit vollem Herzen der Moral der anderen annehmen. (S. 151)
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Wer sich praktisch so weitreichende Schlußfolgerungen zutraut, muß sich seiner theoretischen Annahmen sehr sicher sein. Jedoch vermag das zentrale Argument, das die Ableitung des sogenannten Humanitarismus aus dem Sippenethos und die Begründung des Gegensatzes von Universalismus und Staatsethik tragen soll, nicht zu überzeugen. Gehlen entwickelt den folgenden Gedanken. Die »Familienethik« ist innerhalb der Großfamilie entstanden. Sie institutionalisiert Werte des friedlichen Zusammenlebens: reziproke Anerkennung, individuelle Fürsorge, Rücksichtnahme und Solidarität. Der »Humanitarismus« verdankt sich einer Erweiterung des Anwendungsbereichs dieser Ethik vom anschaulichen großfamilialen Verkehrskreis auf die abstrakte Menschheit. Das um Werte des Dienens, der Pflichterfüllung, der Opferbereitschaft kristallisierte »Staatsethos« geht hingegen auf eine andere Wurzel zurück. Die Heterogenität beider Wertsysteme begründet Gehlen phänomenologisch mit dem Gegensatz von privaten und öffentlichen, pazifistischen und kämpferischen Tugenden und historischsoziologisch mit dem vielfach belegten Konflikt zwischen Sippenund Staatsloyalität. Beide Hinweise sind irreführend. Die phänomenologische Unterscheidung gewinnt Gehlen dadurch, daß er das Sippenethos als eine Binnenmoral betrachtet und die zugehörigen Regulationen der Außenbeziehungen ausblendet, während er die Staatsethik gerade unter dem Außenaspekt der Selbstbehauptung gegen potentielle Feinde beschreibt. Selbst wenn wir für einen Augenblick davon absehen, daß das familiale »Ethos der Friedlichkeit und der Gefahrlosigkeit des Nahverhältnisses« stets mit handfester patriarchalischer Machtausübung verbunden war, so deckt jenes Ethos doch nur die Innenseite einer ethnozentrischen Kleingruppenmoral, die die Latenz gruppeninterner Konflikte durch die Übertragung von Aggressionen auf Fremdgruppen erkauft. Eine ständige und leicht reizbare Konfliktbereitschaft, mit polemischen Außenbeziehungen, ist deshalb die Kehrseite ethnozentrischer Gruppensolidarität. Gehlen zitiert zustimmend Bergson: »Die ursprüngliche und grundlegende moralische Struktur des Menschen ist für einfache und geschlossene Gesellschaften geschaffen, nämlich solche, die verlangen, daß zwar die Gruppe eng geeint sei, daß aber von
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Gruppe zu Gruppe eine virtuelle Feindschaft herrsche; man muß immer bereit sein, anzugreifen oder sich zu verteidigen.« (S. 169) Wenn es sich aber so verhält, dann ist das um Ehre, Disziplin, Opfermut und Risikobereitschaft kristallisierte Wertmuster ebenso Bestandteil des Sippenethos wie der Staatsethik: beide verlangen pazifistische Tugenden nach innen, polemische nach außen. Einer universalistischen Ethik steht die Familienmoral sogar ferner als die Staatsmoral. Mit der Stufe der Hochkultur wird das bis dahin herrschende Organisationsprinzip, nämlich die Differenzierung der Gesellschaft nach Verwandtschaftsstatus, durch ein neues abgelöst: das Verwandtschaftssystem wird durch das System staatlich zentralisierter Herrschaft und sozioökonomischer Klassen mediatisiert. Spuren dieses Übergangs zur Hochkultur, der nach der Etablierung von Ackerbaukulturen die Lebensverhältnisse der Menschengattung ein zweites Mal revolutioniert, sind in der Phase hochkultureller Entwicklung nie ganz verschwunden. In einem immer wieder aktualisierten Kampf zwischen Familienloyalitäten und staatlichen Wertsystemen spiegelt sich kein biologisch begründeter Antagonismus, sondern ein geschichtlicher Konflikt, der eben auf jene Verdrängung und Relativierung der - zunächst an der Primärrolle der Familie festgemachten - Kleingruppenmoral durch eine abstraktere Sittlichkeit der politisch organisierten Großgruppe (in Europa: der Polis, des Staates, der Nation) zurückgeht. Die beiden konkurrierenden Wertsysteme bezeichnen welthistorische Stufen des moralischen Bewußtseins, die übrigens beide durch eine Differenz des pazifistischen Innen- und des politischen Außenaspektes bestimmt sind.4 Anknüpfend an Durkheim, und in einer gewissen Übereinstimmung mit Freud, hat Piaget für die Ontogenese die Entwicklung des moralischen Bewußtseins als eine fortschreitende Universalisierung und Internalisierung von Wertsystemen begriffen. Unter diesen 4 Zudem ist es auch nach Gehlens eigenen Voraussetzungen ungereimt, zwei verschiedene Wurzeln zu behaupten. Die Familie ist in seinem Sinne ebenso Institution wie der Staat: Warum sollen die Wertsysteme staatlich organisierter Herrschaft Beispiele des Institutionenethos sein, das Sippenethos hingegen nicht? Hier ist mindestens der Sprachgebrauch unklar.
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Gesichtspunkten ist auch die Staatsethik gegenüber dem Sippenethos die »entwickeltere« Form. Sie ist »abstrakter«, weil der Geltungsbereich der aggressionskontrollierenden Binnenmoral über die Grenzen des Verwandtschaftssystems hinaus auf den Interaktionsbereich einer Großgruppe erweitert wird: nicht mehr der Familien-, Sippen- oder Stammesverwandte, sondern der Staatsbürger ist die moralisch verbindliche Bezugsperson. Und »abstrakter« ist die Staatsethik auch in dem weiteren Sinne eines höheren Grades der Internalisierung der geltenden Normen: Die Befolgung der Normen muß, wenn sich das moralisch relevante Handeln nicht mehr »unter den Augen« der sanktionierenden Instanzen, also der anschaulich präsenten Kleingruppenmitglieder abspielen kann, in höherem Maße von der Kontrolle äußerer Stimuli unabhängig sein. Gehlen bedient sich zwar der Kategorie der »Erweiterung« von Moralsystemen. Auf diese Weise leitet er den »Humanitarismus« aus einer erweiterten Familienethik ab. Aber er meint damit nicht einen Mechanismus der Erzeugung abstrakter Moralen in gesellschaftlichen Systemen mit wachsender Komplexität. Im Rahmen seiner anthropologischen Konstantenlehre heißt »Erweiterung« soviel wie Überdehnung und Überanstrengung eines auf die Nahoptik kleiner Gruppen eingestellten Normensystems, also ein Vorgang, der für das biologische Gleichgewicht dysfunktional ist. Dieses Vorurteil hindert Gehlen daran, zu sehen, daß die Staatsethik, und keineswegs nur der »Humanitarismus«, aus einer Erweiterung des Sippenethos entstanden ist. »Humanitarismus« ist die Agitationsformel für universalistische Moral. Was hat es damit auf sich? Das moralische Bewußtsein wird nicht nur ontogenetisch über die immer noch außengestützte Stufe der Pubertätsethik hinaus zu einer noch abstrakteren Form ausgebildet; eine Parallele ergibt sich dazu auch welthistorisch mit dem Übergang zur Moderne. Im Verlaufe dieses Prozesses, der sich mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zunächst im Rahmen einer, nämlich unserer Hochkultur, vollzogen hat, ist der Staatsethik eine Konkurrenz entstanden. Max Weber hat diese neue universalistische Moral in Gestalt der »protestantischen Ethik« untersucht.
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Bezeichnenderweise erwähnt Gehlen diesen Typus nicht. Kant hat diese Moral auf ihren Begriff gebracht. Jede geltende Norm ist dadurch ausgezeichnet, daß sie für alle Personen gleichermaßen und in gleicher Weise verbindlich sein muß; die bis dahin erhaltene Differenz von Binnen- und Außenmoral ist nun aufgehoben. Die universalistische Moral ist gleichzeitig durch einen extremen Grad der Internalisierung bestimmt. Die Kontrolle der Einhaltung von Normen ist von äußeren Sanktionen abgelöst und ganz nach innen genommen; die monotheistisch gestützte Gewissensinstanz ersetzt Kant durch eine praktische Vernunft, die sich nach universalistischem Prinzip ihre Gesetze selber gibt. Der bürgerliche Begriff der Autonomie sprengt die Schranken einer bereits abstrakten, aber immer noch partikular staatsbürgerlichen Moral. Er ist der zentrale Begriff der europäischen Aufklärung - für Gehlen der Kern des »Humanitarismus«.
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An diesem sehr provisorisch mit dem Namen Kant bezeichneten Punkt enthüllt sich die Logik der Entwicklung des moralischen Bewußtseins. Solange Universalisierung und Internalisierung noch nicht vollständig sind, bedarf es einer Natur und Gesellschaft umgreifenden Globalinterpretation, die sowohl den Geltungsbereich des Normensystems abgrenzt als auch die verhaltenskontrollierenden, nämlich von außen stützenden und sanktionierenden Instanzen festlegt und rechtfertigt. Diese beiden Funktionen werden überflüssig, sobald die Moral universalistisch geworden ist und ihrem Begriffe nach vollständige Internalisierung verlangt. Mit den beiden Funktionen erübrigen sich auch die moralbegründenden Weltbilder selber: das Normensystem wird nun ausschließlich auf die »Gesetzgebung der Vernunft« zurückgeführt. Damit stellt sich aber folgendes Problem. Einerseits entfällt mit den die Moralsysteme tragenden Weltinterpretationen die Möglichkeit, einzelne ausgezeichnete Normen zu ontologisieren: die Ethik wird notwendig formal. Andererseits wird gerade das Prinzip des Formalismus, das nun nur noch die universale Form der Geltung der
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Normen verlangt, fraglich: denn wenn die Normen nicht mehr durch eine ontologische Deutung in der Welt, sondern allein im handelnden Subjekt verankert werden können, verlieren sie ihre Verbindlichkeit. Den beliebigen individuellen Setzungen einer Vielzahl absoluter Einzelner kann universale Verbindlichkeit nicht mehr zukommen. Die Ethik wird notwendig subjektivistisch. Kant hat, um diesem Dilemma zu entgehen, das Ich selber ontologisiert (indem er das »intelligible« Ich vom empirischen unterscheidet). Diese seit Schiller und Schelling immer wieder kritisierte Lösung verschleiert die Aporien der auf den Begriff gebrachten universalistischen Moral. Die »höchste« Stufe des moralischen Bewußtseins verbindet die universale Geltung der Normen mit einer extremen Individuierung der Handelnden. Der Rest ontologischen Denkens, der auch noch in der Transzendentalphilosophie steckt, motiviert Kant, beide Momente in einer Art Subjekt zu vereinigen, das Subjekt ist und doch der empirischen Mannigfaltigkeit der Subjekte überhoben. Dieses transzendentale Über-Ich soll gleichzeitig Universalität und Individuierung sichern, nämlich die Transzendenz der Gesetzgebung des moralischen Ichs gegenüber dem empirischen, und zugleich die Unabhängigkeit dieses Ichs von jeder externen Gewalt. Aber auch die im Inneren aufgerichtete Gewalt des abstrakt Allgemeinen bleibt dem Individuum fremd. Denn Internalisierung allein — und das ist der blinde Fleck der bürgerlichen Ethik wie der Kantischen Moralphilosophie gleichermaßen - kann, wie Hegel gesehen hat, Individuierung, nämlich Versöhnung des Allgemeinen mit dem Besonderen, nicht leisten. Zwar bringt sie das Moment der Unabhängigkeit von äußerer Gewalt zu ihrem Recht; wenn aber die interne Autorität nicht wiederum blind, also autoritär, wirken soll, sondern vernünftig, dann darf sie nicht mit der quasi-ontologischen Würde eines intelligiblen, der tatsächlichen Kommunikation handelnder Subjekte übergeordneten Gesetzgebers ausgestattet werden. Jene beiden Momente, die in der universalistischen Moral in Einklang gebracht werden müssen, Individualität des Einzelnen und universale Geltung der Normen -, sie bedürfen der Vermittlung durch Diskurs, nämlich durch einen öffentlichen Prozeß der Wil-
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lensbildung, der an das Prinzip uneingeschränkter Kommunikation und herrschaftsfrei erzielten Konsensus gebunden ist. Die Verabsolutierung des verallgemeinerten, aber kommunikationslosen Privatismus bürgerlicher Subjektivität, die Kants transzendentalphilosophischer Begründung der Moral zugrunde liegt, ermöglicht zum letzten Mal ein Moralität rechtfertigendes »Weltbild«, obgleich es sich als Weltbild nicht mehr wahrhaben darf und darum die Form der Ontologie abgestreift hat. Wo diese letzte Hypostasierung eines »inneren Auslandes« (Freud) durchschaut ist und die universalistische Moral nicht länger an den paradoxen Bestimmungen des intelligiblen Ichs festgemacht werden kann5, wird die Struktur möglicher Rede, wird die Form der InterSubjektivität möglicher Verständigung als einziges Prinzip der Sittlichkeit erkennbar. Der weltgeschichtliche Vorgang der Universalisierung und gleichzeitigen Internalisierung der Handlungsnormen, also der Regeln und der Metaregeln umgangssprachlich gesteuerter Interaktion, sprengt nicht nur lokale Mythen und Hochreligionen, sondern am Ende auch noch den Begriff reiner praktischer Vernunft. Die im Begriff der Autonomie gedachte absolute Freisetzung von externem Zwang und die im kategorischen Imperativ geforderte uneingeschränkte und gleiche Geltung der Normen sind Bestimmungen, die der in die Struktur möglicher Rede eingebauten Ethik entnommen sind. Einerseits haben wir nach der Zerstörung des letzten moralbegründenden Weltbildes lernen müssen, daß eine absolute Rechtfertigung von Handlungsnormen unmöglich ist: alle Normen stehen grundsätzlich zur Diskussion. Andererseits wissen wir, daß alle Diskussionen, auch die wissenschaftlichen, unter empirischen Bedingungen stattfinden: jeder empirisch erzielte Konsensus steht daher grundsätzlich im Verdacht, den Zwang einer privilegierten Meinung zum Ausdruck zu bringen. Ein vernünftiger Willensbildungsprozeß, muß an die Kommunikation der Beteiligten gebunden werden, aber der Anspruch auf eine vernünftige Entscheidung praktischer Fragen kann mit umgangssprachlicher Kommunikation nur verknüpft werden, wenn diese ihrerseits auf die Prinzipien des uneingeschränkten Zugangs und der Zwanglosigkeit verpflichtet 5 Vgl. T. W. Adorno, Negative Dialektik (1967), darin: Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft, S. 2O9ff., bes. S. 277L
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wird. Die Bestimmungen des intelligiblen Ichs kehren so als Idealisierungen der Sprechsituation wieder, in der über praktische Fragen argumentiert wird. Diese Idealisierungen sind freilich in jeder noch so verzerrten Rede schon impliziert. Denn mit jeder Kommunikation, noch beim Versuch der Täuschung, beanspruchen wir, wahre von falschen Behauptungen zu unterscheiden. Die Idee der Wahrheit aber verlangt letzten Endes den Rekurs auf eine Übereinstimmung, die, um als index veri etfalsi gelten zu dürfen, so gedacht werden muß, als wäre sie unter den idealen Bedingungen einer uneingeschränkten und zwanglosen Diskussion erzielt worden.6 Der Status dieses unvermeidlichen Vorgriffs auf eine ideale Sprechsituation ist eigentümlich. Die Bedingungen der empirischen Rede sind mit der idealen Sprechsituation nicht identisch, und doch gehört es zur Struktur jeder möglichen Rede, daß wir diese Identifikation vornehmen und kontrafaktisch so tun, als sei der Vorgriff nicht bloße Fiktion - als Antizipation ist er eben auch wirklich. In dieser Struktur möglicher Rede ist das, was Gehlen mit Schelsky das Ethos der Gegenseitigkeit nennt, begründet. Die ihrer selbst bewußt gewordene universalistische Moral nimmt die Grundnormen der Rede, die faktisch immer schon gelten, explizit in Anspruch, indem sie darauf einen Legitimationszwang gründet und nur die Handlungsnormen für vernünftig erklärt, die in uneingeschränkter und zwangloser Diskussion einer (wiederholten) Rechtfertigung fähig sind.7 Das Ethos der Gegenseitigkeit, das in fundamentalen Symmetrien möglicher Redesituationen gleichsam steckt, ist, wenn man der oben bezeichneten Logik der Entwicklung des moralischen Bewußtseins folgen will, die einzige Wurzel der Ethik überhaupt und zwar keineswegs eine biologische Wurzel. Wenn Arbeit und 6 Vgl. meine Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der Kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Ffm. 1971. 7 Vgl. den interessanten Vorschlag für die Begründung einer reinen praktischen Philosophie von P. Lorenzen, Szientismus versus Dialektik, in: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik, Bd. I, Tbg. 1970, S. 57-72, und O. Schwemmer, Philosophie der Praxis, Ffm. 1971.
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Interaktion gleichursprünglich sind, ist das Gattungsleben gleichermaßen von den materiellen Bedingungen der Produktion wie von den ethischen Bedingungen der sozialen Organisation abhängig. Weil sich die Vergesellschaftung im Medium umgangssprachlicher Kommunikation vollzieht, muß die Identität des einzelnen außerhalb seines organischen Systems, nämlich in den symbolischen Beziehungen der interagierenden Einzelnen, in der Kommunikationsgemeinschaft festgemacht werden. Nicht in den biologischen Schwächen des Menschen, in den Mängeln der organischen Ausstattung des Neugeborenen und in den Gefährdungen einer überproportional langen Aufzuchtperiode, sondern in dem kompensatorisch aufgebauten kulturellen System selbst ist jene tiefe Verletzbarkeit angelegt, die als Gegenhalt eine ethische Verhaltensregulierung nötig macht. Das ethische Grundproblem ist die verhaltenswirksame Garantie der gegenseitigen Schonung und des Respekts; das ist der wahre Kern der Mitleidsethiken. Aber Mitleid im Sinne der Sensibilität für die Verletzbarkeit des anderen ist nur insoweit ethisches Grundmotiv, als es sich auf die spezifische Verletzbarkeit der Ich-Identität als solcher, also auf die chronisch anfällige und sozusagen konstitutionell gefährdete Integrität der Person (und erst mittelbar auf die verwundbare Integrität des Leibes) bezieht. Weil auf soziokultureller Stufe die Innen-Außen-Beziehung nicht organisch, sondern symbolisch, im Rahmen umgangssprachlich konstituierter Formen der Intersubjektivität hergestellt wird, bemessen sich die ethischen Leistungen eines Institutionensystems zunächst daran, in welchem Maße sie das Problem der Ausbildung von Identität sowie das der Vermeidung und der Abwehr von Identitätsbedrohungen lösen. Das kann auf allen Stufen der dem Institutionensystem einwohnenden »Repressivität« gelingen. Der Grad der Repressivität verändert sich, wie ich annehme, mit dem Stand der Produktivkräfte und der Organisation des Herrschaftssystems. Er drückt sich in der systematischen Einschränkung und Verzerrung der eingespielten Kommunikationen aus. Repressive Gesellschaften bedürfen a priori gesicherter Herrschaftslegitimationen mit verhältnismäßig dichten Kommunikationssperren, während liberalere Gesellschaften einen relativ großen Teil der Herrschaftslegitimationen öffentlicher Dis-
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kussion überlassen können. Je geringer die durch systematisch verzerrte Kommunikation gesicherte Repressivität ist, um so eher verbreiten sich eine universalistische Moral und damit Chancen fortschreitender Individuierung. Wenn diese empirischen Annahmen zutreffen sollten, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Repressionsgrad der Institutionen und den Formen der Intersubjektivität einerseits, der systematischen Verzerrung bzw. dem Toleranzspielraum der Kommunikation und den Stufen des moralischen Bewußtseins andererseits. Von diesem Zusammenhang wiederum hängen ab: die symbolische Organisation des Ichs, die der Einzelne in Sozialisationsprozessen erwirbt, und die Stärke der Ich-Identität, die ihm erlaubt, seine Integrität gegen Störungen, Belastungen und Verletzungen zu behaupten. Die Entfaltung des moralischen Bewußtseins korrespondiert dann aber einer mit dem Grad der Individuierung wachsenden Verletzbarkeit der Identität: die Reflexivität der Person wächst nämlich nur im Maße ihrer gleichzeitigen Entäußerung. Die Person wird immer weiter vorgeschoben in ein immer dichteres Netz reziproker Schutzlosigkeiten und exponierter Schutzbedürftigkeiten. Humanität läßt sich als die Anstrengung verstehen, dieses unwahrscheinliche Netz nicht reißen zu lassen. Humanität ist die Kühnheit, die uns am Ende übrigbleibt, nachdem wir eingesehen haben, daß den Gefährdungen einer universalen Zerbrechlichkeit allein das gefahrvolle Mittel zerbrechlicher Kommunikation selber widerstehen kann. Contra Deum nisi Deus ipse. Gehlen hingegen empfiehlt das Paradox eines absichtsvollen Rückschritts in der Humanität - die Rückkehr zum Ethos der großen und undurchsichtigen Institutionen. Revolution von rechts nannte man das zu einer Zeit, als man noch Illusionen hegen konnte über solche Empfehlungen.
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Meine Argumentation zielte bisher darauf ab, die Einheit des moralischen Bewußtseins nachzuweisen. Familienethik und Staatsethik gehen nicht auf verschiedene Wurzeln zurück; sie lassen sich
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als soziokulturelle Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins begreifen. Die als »Humanitarismus« abgewertete Form der universalistischen Moral steht am Ende eines Vorgangs der Universalisierung und Internalisierung. Die innere Logik dieses Vorgangs bringt schließlich das Ethos der Gegenseitigkeit, das in die Symmetriebeziehungen der idealen Sprechsituation eingebaut ist, als die Grundlage von Moral überhaupt zum Vorschein. Sie hat keine biologische Wurzel. Alle Ethiken hängen vielmehr an der der Rede immanenten Sittlichkeit. Wie verhält es sich dann aber mit den Wertsystemen, die sich wie der Hedonismus auf natürliche, wie immer residuale Antriebe berufen? Das Leben der Gattung organisiert sich in Formen der Intersubjektivität umgangssprachlicher Kommunikation; diese sind sittlich und unsittlich per se. In diese soziokulturelle Lebensform werden auch die naturgeschichtlich überlieferten Antriebspotentiale - insbesondere die gegenüber Imperativen der Selbsterhaltung dysfunktional verselbständigten Grundantriebe der Aggression und der Sexualität - aufgenommen. Gehlen spricht von einer Mehrzahl instinktiver, verhaltensphysiologisch greifbarer Regulationen als Wurzeln der Ethik, z.B. der des Wohlbefindens und des Glücks (Hedonismus). Es mag sein, daß einige Instinktreste, wie die vom Kindchen-Schema ausgelösten Fürsorgeimpulse oder libidinöse Antriebe überhaupt, leichter in die Form sozial erlaubter Motivationen umgesetzt werden können; es mag sein, daß sie der Ethik der Rede eher entgegenkommen als beispielsweise destruktive Antriebe. Aber Wurzeln der Ethik sind es darum noch nicht. Denn wie immer es um ihre Affinität zu den grundlegenden Symmetrien möglicher umgangssprachlicher Kommunikation bestellt ist; ethisch relevant ist nicht das naturgeschichtliche Potential als solches, sondern die Form seiner symbolischen Strukturierung. Diese anthropologische Unterscheidung ist in der Kantischen Distinktion von Pflicht und Neigung festgehalten. Gehlen führt den Eudaimonismus (besser: Hedonismus), die Lehre also, die Lust und privates Wohlergehen zur ethischen Norm erhebt, als eine biologisch verwurzelte Ethik zunächst ein, um dann den »Sozialeudämonismus« als dessen Verfallsform zu konstruieren.
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Es mag uns schwerfallen, wirklich zu akzeptieren, daß die Lehre vom Glücksvorgang eine Ethik hergeben kann, aber ohne diese Einsicht verstünde man nicht einmal den Sinn des Wortes »sozial«, das eben diese Zugänglichkeiten der materiellen Lebensgüter für alle als ethisches Postulat meint. (62) Der Bund vom Humanitarismus und Eudaimonismus war von den Intellektuellen der Aufklärungszeit vorentworfen worden, doch konnte er zu einer massiven, einverleibten Selbstverständlichkeit erst werden, als die Industrialisierung in Westeuropa und Amerika den Lebensstandard hoch heraufgedrückt hatte und als der umfassende, auch nachrichtentechnisch umfassende Weltverkehr den Kontrast zu der großen Zahl der noch Notleidenden unübersehbar heraushob, denen zu helfen sowohl die Menschlichkeit wie das Interesse an Warenkunden gleichermaßen empfahl. In keiner früheren Konstellation wäre dieses Ethos lebensfähig gewesen. (84)
In unserem Zusammenhang interessiert nicht die zitatenreiche Larmoyanz, mit der Gehlen angesichts des siegreichen »Sozialeudämonismus« die Klage des bürgerlichen Selbsthasses fortsetzt. Diese hat, wenn ich recht sehe, mit Ferguson und Montesquieu begonnen; von Hegel und Tocqueville ist sie in großem Stil fortgesetzt worden; nach Ortega, Carl Schmitt und den Neuromantikern der Rechten hat sie aber neue Gesichtspunkte nicht mehr produziert. Die Klage ist zur Litanei geworden. Das private Wohlergehen korrumpiert die Bereitschaft zum Risiko, der Vorrang des Sozialen die Politik der Größe, das gesellschaftliche Interesse die staatliche Substanz. Gehlen steuert aus seiner SpiegelLektüre noch einige rührende Fälle von Dekadenz bei, so den skandalösen Fall, daß »die Starfighter-Abstürze wie Straßenverkehrsunfälle nur unter der Schuldfrage diskutiert« wurden; da muß man in der Tat fürchten, daß »bei uns das Persönliche schon plausibler ist als die Nation«. (157) Erquickend sind auch die antifeministischen Zugaben. Nun läßt sich das Phänomen der Entpolitisierung der Massen im bürokratisierten Wohlfahrtsstaat kaum leugnen. Systematisch interessant sind die Schwierigkeiten, die Gehlen hat, um diesen ganzen Komplex zu analysieren. Der Sozialismus hat die Einsicht durchgesetzt, daß die Emanzipation der Erniedrigten und Beleidigten, die das rationale Naturrecht
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und die bürgerliche Revolution versprochen hatten, nicht ohne die ökonomische Befreiung der Mühseligen und Beladenen realisiert werden kann. Die zutreffende ökonomische Definition der Unfreiheit als Ausbeutung hat indessen zwischen dem Elend der Massen und ihrer politischen Unterdrückung einen falschen Zusammenhang hergestellt. Wenn nämlich jene unter den spezifischen Bedingungen des liberalen Kapitalismus anwendbare Definition der Unfreiheit unter den veränderten Bedingungen des staatsinterventionistisch geregelten Kapitalismus (wie auch in den industriell entwickelten staatssozialistischen Ländern) beibehalten wird, kann die Ausbeutung korrigiert und Unfreiheit gleichwohl konserviert werden, ohne daß aber diese Unfreiheit dann noch identifizierbar wäre. Die Herrschaft wird vielmehr nun damit legitimiert, daß die Abschaffung des Hungers schon die Realisierung der Freiheit, die Beseitigung der Massenarmut die Emanzipation der Massen darstelle. ' Marx hat gewiß ökonomische Entlastung nicht ohne die Befreiung von einer ökonomisch institutionalisierten Herrschaft für möglich gehalten; aber die Befriedigung des Hungers, sosehr sie als Bedingung der Freiheit eine moralische Forderung sein kann, ist nicht selber - wie die Errichtung der Freiheit - eine politisch-moralische Kategorie. Ernst Bloch hat das für die marxistische Tradition zum ersten Mal mit aller wünschenswerten Klarheit unterschieden. Biblisch gesprochen: einst waren die Mühseligen und die Beladenen auch die Erniedrigten und die Beleidigten; aber heute sind die Entlasteten und von Mühsal Freigesetzten nicht eo ipso auch schon die Aufgerichteten und die Versöhnten.8 Das ist nicht Wohlstandszynismus, sondern die Wiederherstellung einer vom »Sozialeudämonismus« in der Tat verstellten Distinktion. 9 Diese Verstellung mag sich historisch um so leichter festgesetzt haben, als sich der bürgerliche Aufklärungsbegriff der Emanzipation gegen die Abhängigkeiten einer Epoche richtete, in der die unmittelbar feudale Einheit von Unterdrückung und Armut, Herrschaft und Besitz Verfassungsprinzip gewesen ist. 8 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, 1961. 9 Unter anderen Gesichtspunkten insistiert Hannah Arendt auf der gleichen Unterscheidung, zuerst in: Vita Activa, 1957.
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Gehlen kann die verächtliche Kategorie des »Humanitarismus« nur erneuern, weil er jene Unterscheidung nicht trifft. Die zeitkritisch entblößten Phänomene eines neuen Wohlstandsprivatismus, die Adorno nicht minder kritisch sehen würde, rechnet Gehlen der universalistischen Moral zu, obgleich sie durch deren Neutralisierung und Entpolitisierung erst zustande kommen können. Gehlen wirft beides in den einen Topf des »Subjektivismus«, worunter er alles faßt, was den Glauben an die Institutionen erschüttert.
5 Als Probe auf die Subjektivismus-These hätten sich die Erscheinungen anarchistischer Untergrund- und Gegenkulturen angeboten wie sich immer deutlicher herausstellt, sind diese ja der institutionelle Kern der flüchtigeren Protestbewegung. Erstaunlicherweise geht Gehlen an jenen Phänomenen vorbei. Der neue Kulturanarchismus scheint sich dadurch auszuzeichnen, daß seine Repräsentanten sehr genau zwischen dem privatistischen Ziel des gesicherten Lebensstandards und dem eigentlich politischen Ziel der Emanzipation unterscheiden. Sie stützen sich, vorsätzlich parasitär, auf die sozialschichtenspezifischen Erfahrungen privaten Wohlstandes, von dem sie sich distanzieren können, weil er grundsätzlich verfügbar ist. Sie forcieren die Kräfte der Spontaneität und der unmittelbaren Interaktion und machen drogengestützte Experimente mit Formen, wenn nicht des guten, so doch des besseren Lebens. Im Medium der Dauerkommunikation wird die Abschaffung tiefsitzender Normen erprobt, werden die Bedingungen eines repressionsfreien Umgangs getestet. Gehlen hätte die Frage stellen können, ob mit diesen neuen subkulturellen Lebensformen nicht ein Modell für jene in die Struktur möglicher Rede eingebaute Ethik geschaffen wird, in der die Entfaltung des moralischen Bewußtseins angeblich terminiert. Und er hätte die Frage anschließen können, ob nicht dieses Beispiel seine Subjektivismus-These aufs vorzüglichste belege: daß die zu sich selbst gekommene Ethik der Gegenseitigkeit, die die steifen Institutionen zerstört, in selbstzerstörerischer Irrationalität enden muß. Er
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könnte »Acid« zur Hand nehmen und auf einige eigentümliche Phänomene hinweisen, die Leslie A. Fiedlers Rede vom neuen Irrationalismus rechtfertigen. Diese Erscheinungen sprechen tatsächlich für eine auf den ersten Blick widersinnige Abwertung des Prinzips vernünftiger Rede gerade in den Gruppen, die zum ersten Mal, wie es scheint, radikal alle Handlungsnormen in Dauerkommunikation verflüssigen. Und sie kulminieren, wie Fiedler richtig beobachtet, in der Idealisierung eines Naturzustandes, der die Organisationsform soziokulturellen Lebens mit dem Verlangen unterläuft, »den letzten Sprung in der Evolution zu wagen und das Erwachsensein völlig abzustreifen, zumindest im Bereich des Sexuellen«.10 Wenn die neue Lebensform jedoch hinter die Entfaltung des moralischen Bewußtseins als solche zurückgreifen soll, dann kann von umgangssprachlicher Kommunikation bloß eine Hülse zurückbleiben, die der moralischen Infrastruktur der Rede beraubt ist und nur mehr privatsprachlichen Expressionen zu dienen vermöchte. Würde man den Impuls einer solchen Lebensform zu Ende denken, dann müßte sie sich die paradoxe Leistung einer intentionalen Rückkehr zur Stufe vorsprachlicher Symbolorganisation zutrauen. Ihre Produktivität bestünde in der künstlichen Erzeugung von Paläosymbolen (Arieti). Nicht ohne eine gewisse Konsequenz tritt denn auch an die Stelle der Liebe zur Weisheit die Sympathie mit dem Wahnsinn. Indem ich die Konstruktion bis zu diesem Punkt fortführe, versuche ich, die hypothetisch Gehlen zugeschobene Frage zu beantworten. Der Kulturanarchismus belehrt uns über eine unvorhergesehene Möglichkeit. Er löst die moralisch-politische Kategorie der Befreiung und des individuierten Lebens aus ihrer Verfilzung mit Kategorien der Sättigung und des administrativ entlasteten Lebens; und doch ersetzt er den alten Privatismus nur durch einen neuen: Fiedler nennt das die Wendung von der Polis zum Tbiasos. Auch die subkulturellen Gegenwelten sind von der Ernstsituation öffentlicher Kommunikation abgeschnitten; sie bestätigen eine Entpolitisierung, die unterirdisch der des dominierenden Wohlstandsprivatismus entspricht. Die kulturanarchistische Gewalt ist einer 10 L. A. Fiedler, Die neuen Mutanten, in: Brinkmann, Rygulla (Hrsg.), Acid, Darmstadt 1969.
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vernünftigen Veränderung von Normen gerade nicht mächtig; sie kann eine Erosion von Normen einleiten, die, einfach, weil es Normen sind, den Abschaffungsparolen verfallen. Das Ergebnis ist unpolitisch und nur in Form neuer Moden verallgemeinerungsfähig - denn der Modus der Entscheidung bleibt davon unberührt. Darum halte ich es nicht für unwahrscheinlich, daß die Gegenkulturen auch im Falle ihrer Ausbreitung ohne größeren Widerstand zu subjektivistischen Freizeitkulturen umstilisiert und arbeitsteilig in das bestehende System aufgesogen werden können. Im übrigen werden den grauen Zonen einer neuen Sozialpathologie, die sich den alten Definitionen von Krankheit und Kriminalität entziehen, sozialstaatliche Verwaltungen nachwachsen. Sie könnten alsbald zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten der künftigen Megalopolis gehören. Eine politische Reaktion wird nur dann eintreten müssen, wenn die subkulturell gestützten Einstellungen das systemnotwendige Minimum an Folgebereitschaft und Arbeitsmoral durch Motivationsentzug gefährden sollten. Dann allerdings könnte der neue Subjektivismus massenwirksam im Sinne einer Gehlenschen Institutionenethik gedeutet werden und zur Legitimation einer von Gehlen heute schon nahegelegten Einschränkung der formalen Demokratie dienen. Gehlen verkleidet seine Empfehlung in euphemistischen Hinweisen auf die Verdienste des Stalinismus: Ahnlich (wie die universalattische Intellektuellenkultur) verbreitet heute die Kultur der Massenmedien die liberalhumanitäre Mentalität unter Geschäftsleuten, Studenten, Soldaten usw., wogegen sich die Staaten des Ostens wehren. (29) Deshalb war es so einschneidend, als die Russen im August 1968 in der Tschechoslowakei diese Art Freiheit, nämlich eine von der Kultur her aufgebaute Nebenregierung ausschlössen, noch weit entfernt von dem kaum nachvollziehbaren chinesischen Entschluß, die Intellektuellen periodisch in Landarbeiter zu verwandeln. (117) Die drastische Ablehnung dieser Art Freiheit durch die Sowjets im August 1968 war ein Ereignis ersten Ranges und setzte ein Trauma. (154) - Durch wessen Panzer sollen wir eigentlich traumatisiert werden?
Einmal haben wir in unserem Lande erfahren, was eine Politik der nachgeahmten Ursprünglichkeit in einer technisch entwickelten Zivilisation bewirkt. Kann Gehlen sich darüber täuschen, welche
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Folgen eine Politik der künstlich erneuerten Substantialität gewalthabender Institutionen auf der Grundlage unserer technisch noch entwickelteren Zivilisation haben würde? Ein im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen entwickelter Institutionalismus könnte leicht das Maß an Breitenglaubwürdigkeit erhalten, das kollektiven Vorurteilen genügt, um virulente Aggressivität zu entbinden und gegen innere Feinde, mangels äußerer, zu richten. Deshalb halte ich es für angebracht, bereits in Zeiten relativer Liberalität das unglückliche Bewußtsein der intellektuellen Rechten ernst zu nehmen, um es mit Hilfe des einen Mittels, über das linke Intellektuelle entgegen der Gehlenschen Verschwörungsvision allein verfügen, auf ihre ganz und gar historischen Wurzeln zurückzuführen - eben durch Analyse.
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Helmuth Plessner a) Die verspätete Nation (1959) Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Auflage erscheint die zweite - erweitert, unter verändertem Titel, auf vollends verwandelter Weltbühne und in einer neuen, damals wohl kaum vorausgesehenen Rolle. Ob das Buch 1 die Rolle, zu der es sein Autor heute bestimmen möchte, auch zu spielen vermag, wird am wenigsten von ihm selber abhängen; denn der philosophische Geist, von dessen Schicksal der alte Titel noch unterm Verfallsaspekt mit einem gewissen Stolz sprach (»Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche«), traut in der Phase der Resignation kaum mehr dem eigenen Anspruch (soweit sich Philosophie nicht ohnehin zum spezialistischen Anspruch von Dogmengeschichte oder Sprachanalyse beschieden hat). Plessner wiederholt die Frage nach der Genealogie des Faschismus. Von zwei Beobachtungen geht er aus: einmal stießen gerade in der Schicht der Gebildeten, in der geistigen Elite, als die sie sich verstand, nationalsozialistische Ideologie und Politik auf eine verhältnismäßig breite Resonanz; zum andern ist nicht zu verkennen, daß in jenes finstere Amalgam aus pangermanistischem Mythos und Antisemitismus, Rassenbiologie und Dezisionismus doch auch, solange nicht eine nur zu konsequente Brutalisierung diese Obertöne erstickte, etwas von den großen Traditionen der Herder, Schelling, Nietzsche einging. Jedenfalls blieb von dem, was Lukács mit wahrem Instinkt, aber geringer Distinktion als den deutschen Irrationalismus analysiert hat, so viel erhalten, daß helle Scharen unter den Gebildeten im Gesicht des Nationalsozialismus ihr eigenes entziffert zu finden glaubten. Noch die Grenze, die uns heute davon trennt, ist mithin eine Grenze »in uns«. Solches wohl vor Augen, hatte Thomas Mann schon 1945 sich und den Deutschen zugerufen, was das Motto seines Faustus-Romans hätte sein 1 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959.
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können: »daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eins, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug«. Die Sentenz wurde zum Motto von Plessners Untersuchung. Jene Teufelslist, die sich im Roman als eine des Charakters spiegeln muß, versucht die wissenschaftliche Analyse freilich im Gang der Geschichte, ihrer Entscheidungen und ihrer Verdrängungen aufzuspüren - was die Völkerpsychologie als Nationalcharakter in projektiver Unmittelbarkeit festhält, ist »umgedrehte Geschichte«. Der therapeutische Effekt wächst, in der historisch-politischen Neurosenbehandlung nicht anders als in der psychologischen, je tiefer die Analyse bis zu den verschütteten Anfängen vordringt. Gewiß stößt auch die Zeitgeschichte auf Widerstände; aber sie rückt doch in dem Maße aus dem Bereich der Empfindlichkeiten, damit aber auch der Heilsamkeiten heraus, in dem eben die Zeitgenossen aussterben, die sich davon betroffen fühlen könnten. Erst wenn das Stück NS-Geschichte aus dem Zusammenhang der nationalen Tradition begriffen ist, wird die Gefahr zu bannen sein, die fast schon mehr ist als bloß das: denn ebenso fatal wie die Version des weit- oder gar seinsgeschichtlichen Verhängnisses ist die geläufigere vom Faschismus als einer geschichtlichen Panne; aus Schuld wird Unfall, aus Zufall bald das, was immer und überall geschieht. Auf »unwissenschaftliche« Kategorien dieser Art wird politische Geschichtsschreibung (das, was Plessner so vorzüglich als »Geistesgeschichte im politischen und sozialen Horizont« vorführt) nicht verzichten können; anderseits sie aber auch nur verwenden dürfen, wenn »Schuld«, statt in fragwürdigen Zurechnungen, in ihrem geschichtlichen Sinn für die Gegenwart aufgeht. Indem eine solche Geschichtsschreibung das Verständnis, »wie es gewesen ist«, entfaltet, will sie gleichzeitig historisch legitimierte Motive und Maßstäbe zu einer rationalen Orientierung im Risikobereich der Zukunft beibringen. In einer dem alten Text vorangestellten Einleitung bedenkt Plessner die Situation, in die er sein Unternehmen heute hineinstellt. Ihm entgeht nicht die vordergründig-nützliche Funktion, die die Reste eines Bewußtseins zwischen Schuld und Abwehr als Material für die psychologische Kriegführung gewinnen; der Antikommunismus
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findet festen Boden in den zurückgebliebenen Schichten einer Ideologie, die noch den Sieg des Bolschewismus posthum in eine Rechtfertigung der eigenen Rolle zu verkehren vermag: Mit diesem Faktum der nachträglich im Rückstoß erfolgten scheinbaren Rehabilitierung der nationalsozialistischen Ideologie ist heute die Frage nach ihrer Herkunft für uns belastet, wie dieses Faktum denn auch erklärt, daß diese Frage in dem kapitalistisch gebliebenen Westdeutschland trotz ihm verbliebener Freiheit der Diskussion, bisher jedenfalls, nur zögernd und zur Hauptsache im Horizont der Zeitgeschichte erörtert wird. Der Ost-West-Gegensatz überschattet alles auch hier, weil er die Diskussion dem Abwehrinteresse unterordnet und sie, wie auch immer, in die Richtung auf eine Gegenideologie zum Marxismus drängt, als welche schon der Hitlerismus sich empfahl und in der er seine Stoßkraft entfaltete. Er hat zwar abgewirtschaftet, ihn verdrängt man, teils aus Unvermögen, mit eigener Schuld konfrontiert zu werden oder kollektive Schuld zu erkennen, teils in dem Bewußtsein einer voraus beglichenen Rechnung für die Naphthabomben auf die eigenen Frauen und Kinder, die Massendeportationen, Demontagen und die russische Politik nach 45. Aber das Resultat dieser vom wirtschaftlichen Aufschwung beflügelten und überdeckten Kultivierung des nationalen Gedächtnisverlustes ist ein restauratives Klima ohne echtes Geschichtsbewußtsein, eine Stabilisierung der Unentschiedenheit zwischen gestern und morgen, in der sich das politische Interim spiegelt, ohne den Mut, sich seine Vorläufigkeit einzugestehen und sich über sich selbst klarzuwerden. Plessner zieht zunächst zwei große Entwicklungslinien aus, die in einer »Großmacht ohne Staatsidee« zusammenlaufen; damals wurde das eben gegründete Deutsche Reich den Auswirkungen der industriellen Revolution in ganzer Breite ausgesetzt, ohne daß man diese im Rahmen der Aufklärung nach dem westlichen Ideal der Vervollkommnung der menschlichen Zustände noch hätte interpretieren können. Die beiden Motive nationaler Unsicherheit, die erst im Bismarck-Reich politisch recht eigentlich »zünden«, reichen ins 16./17. Jahrhundert zurück. In der Zeit der Frühaufklärung, in der sich die Völker des Westens als Nationalstaaten etablieren, zerfällt das Reich langsam vor sich hin und treibt das entstehende Bündel von Territorialstaaten in den Konflikt zwischen Reichstradition und Nationalstaatlichkeit hinein. Zum andern entfaltet sich hier
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anstelle der rein innerweltlichen Aufklärung aus den Bestandteilen des säkularisierten Protestantismus eine Art Weltfrömmigkeit, die fortan der Kultur religiöse Ersatzfunktionen abverlangt. Die Untergründigkeit von Worten wie »Geist«, »Leben« und »Volk« tragen die Aura lutherischer Innerlichkeit noch in ihrer ganz und gar weltlichen Gestalt, die sie im romantischen Ursprung der Geisteswissenschaften schließlich erhielten. Das Bedürfnis nach religiösem Halt, frühzeitig von der Kirche emanzipiert, hat die Geltung der Religion überlebt. Plessner leitet wohl nicht zu Unrecht das Autoritätsverlangen, das die Obrigkeitsmentalität der Deutschen so anschaulich geprägt hat, aus einer nachhaltigen Erschütterung der vieldeutigen und zugleich unvereinbaren Traditionen ab: »Die wesentlichen Elemente des sogenannten volksbiologischen Aufbruches lassen sich als Konsequenzen des Autoritätszerfalls verstehen.« Die verspätet und dann nur teilweise zum neuen Kaiserreich geeinte Nation findet, im vollen Durchbruch des industriellen Kapitalismus, keinen Anschluß mehr an die bürgerlichen Fortschrittsideologien und Menschheitsutopien. Das aus innerer Unsicherheit verstärkte Rechtfertigungsbedürfnis der tragenden Schicht wendet sich nicht mehr an die Religion, fordert aber religiöse Sanktionen von den innerweltlichen Autoritäten der Philosophie und der Wissenschaft. Als Legitimationsbasis bieten sich weder der Traum vom alten Reich noch der taghelle Behelf des neuen Staates; bloß jene Größe gibt es, mit der die Deutschen seit Herder die territoriale, Staats- und verfassungsrechtliche, konfessionelle und traditionelle Zerrissenheit zu kompensieren suchen: die Idee des Volkes. Diese wird am Ende jenes Zerfalls innerweltlicher Autoritäten, in dem die Historie die Philosophie, die Soziologie die Historie und die Biologie schließlich die Soziologie kritisch jeweils überbietet, mit dem nackten Faktum der Rasse identisch. »Die überweltliche Heilsordnung weicht der Vernunft, diese der Geschichte, diese wiederum der Ökonomie und Gesellschaft, und ihre Stelle nimmt schließlich das Blut ein.« Dieser Prozeß ist das eigentliche Thema der Untersuchung: - der transparent entworfene und souverän begriffene Weg einer Selbstzerfleischung des Geistes, der bloßem Fleisch und seiner Fetischisierung das Feld, bald ein Schlachtfeld
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überläßt. Die vorletzte Phase markiert der Historismus; er hat die Autorität der Vernunft in der Geschichte, die bis auf Marx ihre Gültigkeit behielt, erschüttert. Die historischen Wissenschaften wollen auch noch von den Vernunft- und Freiheits-, den Entwicklungs- und Fortschrittskategorien des eigenen Wertsystems Abstand nehmen; jedes Wertsystem, jede Welt überhaupt erscheint ihnen gleichursprünglich, wahres und falsches Bewußtsein zugleich. Alle Objektivationen: Religion und Wissenschaften, Politik und Wirtschaftsordnungen, Moral und Künste, Überbau und Basis gleichermaßen, gelten der historischen Reduktion als »Ideologie«, besser: als Ausdruckswelten eines selber ungreifbaren Lebensprozesses. Soweit war bereits Dilthey gekommen. Bei ihm blieb indessen »Leben« idealistischer Rest des objektiven Geistes, bei ihm behielt es noch etwas vom Sinn eben jener Sinngebilde, in denen es sich produziert. Plessner zeigt nun, wie die Nachfolger, in der Flucht vor jeder womöglich selber noch ideologischen Geprägtheit, die Basis ihrer ideologischen Rückführung ganz aus der historischen Dimension hinausdrängen - in die Ebene der bloßen Vitalität: »als ideologisches, Symbole produzierendes Tier ist in dieser Perspektive der Mensch weder geschichtliches noch gesellschaftliches Wesen«. So rückt die Biologie zur Grundwissenschaft vom Menschen auf. Aber als Objekt einer reinen Naturwissenschaft würde der Mensch selber noch vergegenständlicht; er selbst ist er nur in seiner vitalen Existenz, in der Behauptung seines Lebens und zugleich der Lebensinteressen seines Volkes. So erhält denn noch die Grundwissenschaft der Biologie aus der Dimension von Blut und Boden ihr oberstes Regulativ: wahr ist ihr, was als Mittel zur Selbsterhaltung von Volk und Rasse, zur Darstellung ihrer Überlegenheit taugt. Konsequenz und Kehrseite ist ein Dezisionismus : wo der Mensch in seiner Eigentlichkeit als Naturwesen gilt, fallen für sein Handeln alle Rechtfertigungen aus Theorie dahin. Die normlos gewordene Entscheidung kennt und anerkennt nur noch die konkrete Lage, und in ihr die konkrete Rasse, das Volk; mit dem einzigen Interesse, Leben zu erhalten und zu steigern. Im Verhältnis des Bewußtseins zur Tat schiebt der totale Ideologieverdacht dieser die Führung zu. Sie aber richtet sich nur mehr nach
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Imperativen aus der bestimmenden Schicht der Natur, die als die letzte und eigentliche Schicht der wahre »Unterbau« ist - das Blut, mit seiner Aura letzte Vokabel einer damit freilich endgültig aufgezehrten Weltfrömmigkeit. Allein, nicht ideengeschichtlich beschließt Plessner seine beklemmende Ableitung des Faschismus aus dem Historismus, sondern soziologisch: Das Bürgertum fürchtet sich vor Marx. Aber massive Gegengründe, welche auf die Phantasie der Massen wirken, hat es nicht finden können. Es konnte seine Lehre relativieren und zur Ideologie der Industriearbeiterschaft und ihrer Parteifunktionäre erklären. Es konnte in seiner Polemik den politisch-ökonomischen Unterbau immer weiter abtragen, die geschichtliche Zeitbindung und ihren revolutionären Epochenbegriff kritisch auf bestimmte lebensphilosophische Axiome zurückführen. Bis schließlich ein imaginäres Leben in seinen Händen zurückblieb, das spielerisch wie Blasen Welten treibt, bunte fensterlose Kulturmonaden, jede eine schöne Totalität mit voller Wechselbezüglichkeit aller ihrer Elemente, stilvolle, aber im Grunde unverbindliche Ausgeburten seiner schöpferischen Kraft. Das Bürgertum konnte in seinem Raffinement eine Autorität nach der anderen, eine Zuflucht nach der anderen zerstören, weil der Genuß eines Lebens aus eigener Kraft über jede andere Rücksicht triumphieren sollte. Eine große politische Vision hervorzubringen war es außerstande. Ist es dann ein Wunder, wenn der Antimarxismus sich biologischer Vorstellungen bedient, um den Materialismus der Massen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen? Subjekt des letzten Satzes ist das »Bürgertum«; die Ideengeschichte seines »Antimarxismus« hat Plessner im Rahmen der nationalen Tradition glänzend durchsichtig gemacht; die Interessenlage jedoch, aus der heraus die politisch folgenreiche Umsetzung jener Ideen erst verständlich wird, weist mit der Kategorie des Bürgertums über diesen Rahmen hinaus. Schon in der Einleitung fällt im Vorbeigehen ein Licht auf die Harzburger Front, die als Ausdruck jenes Bündnisses zwischen dem Großkapital und den antiproletarischen Kräften der entwurzelten mittelständischen Schichten gedeutet wird. Eine sozialökonomische Definition des Faschismus, die ihn etwa im Gefolge der Imperialismustheorie am Konflikt gesellschaftlicher Triebkräfte dingfest machen will, sprengt die nationalen Schranken und sieht ihn als universelles Problem, als immanen-
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tes Risiko der kapitalistisch fortgeschrittenen Industriegesellschaft überhaupt. Freilich könnte der Nationalsozialismus in seiner spezifischen Gestalt auf dieser Allgemeinheitsstufe gar nicht auftauchen. Eine universell angelegte Analyse des Faschismus erübrigt also nicht etwa die Analyse derjenigen Züge, die am Faschismus deutscher Spielart auch aus dem Schicksal nur der deutschen Tradition begriffen werden können. Einem gegenüber wird sie uns allerdings zur Vorsicht gemahnen: die am Leitfaden der »verspäteten Nation« verfolgte Vorgeschichte des Nationalsozialismus zeigt nämlich eine Reihe von Spannungen und Schwierigkeiten auf, die inzwischen überholt sind und darum für das Selbstverständnis der Gegenwart, »bloß historischen« Wert behalten; nicht weil sie ausgetragen wären, sondern weil sie abgeschnitten worden sind. Spätestens mit der Niederlage von 1945 ist etwa der in den zwanziger Jahren noch virulente Konflikt der beiden Reichstraditionen schlicht »erledigt«. Wo es dergleichen nicht ausspricht oder nicht wahrhaben will, ist Plessners Buch seiner Entstehungszeit verhaftet; ja einige wenige, aber auffällige Worte wie etwa »tropisch« und »faustisch«, »artgemäß« und »volkhaft« erinnern an den Verschleiß, den sie in der Zeit zwischen erster Niederschrift und heutigem Erscheinen erfahren haben, - an ihnen selbst spiegelt sich das Thema, auf das sie sich beziehen. Plessner ist freilich der allererste, der seinem Buch diese Frage vorgelegt hat; nicht ohne eine gewisse Beunruhigung zitiert er das Wort Golo Manns: »Die Frage, was Deutschland sei, und was es mit sich anfangen solle, war vor hundert Jahren eine unausweichliche. Aber die Zeit hat sehr schnell gearbeitet... Was der Mensch sei, und was der Mensch mit sich anfangen solle: das ist die Frage der Zukunft.« Vom Pathos der Humanität zehrt auch Plessners Kritik einer in Faschismus endenden Selbstauflösung der Philosophie. Aber er stellt die historische Vorbereitung dieses Endes nicht nur in ihrer immanenten Logik dar, sondern läßt sich auch selber von ihr imponieren. Plessners Position erscheint so nicht ohne Ambivalenz. Er will den verlorenen Glauben an den Fortschritt und die westlichen Ideale nicht durch einen neuen Glauben ersetzt wissen
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(der seine revolutionären Anweisungen von Marx, Kierkegaard oder Nietzsche beziehen müsse), sondern »stoisch ertragen«; zugleich soll dieser Verlust jedoch »im Sinne der letzten Philosophen aus humanistischer Tradition umgewertet« werden, mithin trotz seiner theoretischen Notwendigkeit praktisch rückgängig gemacht oder doch in seiner nihilistischen Auswirkung gezügelt werden. Der Humanismus, auch der politische der westlichen Welt, soll bloß als Postulat ethisch weiterhin seine Kraft behalten: »Rationalität, Humanität, Universalität stehen heute unter Ideologieverdacht und fordern mehr den je den Mut von Bekennern, um nicht auf das Niveau bloßer politischer Fiktionen herunterzusinken.« Die Praxis soll an der innerweltlichen Autorität der Vernunft festhalten, obschon die Theorie deren Geltung, selbst die einer in der Geschichte waltenden Vernunft, historistisch suspendierte. Am Ende wäre der biologische Sündenfall bloß darin beschlossen, daß er praktisch nicht rechtzeitig vor einer theoretisch-konsequent durchgespielten (aber nur als Spiel ernst zu nehmenden) Selbstzerstörung der Vernunft haltgemacht und Vernunft noch über Vernunft hinaus hat walten lassen. Von hier aus gesehen, gewinnt indessen das Motto, es habe nur ein Deutschland gegeben, dem eben seines Bestes zum Bösen ausgeschlagen sei, noch mehr an Zwiespältigkeit. Muß nicht die Grenze zum Faschismus, ohnehin eine Grenze »in uns«, nun ganz zu einer Demarkationslinie aus gutem Willen dahinschrumpfen? Bei aller Bewunderung für das persönlich Noble dieser Haltung will uns fraglich scheinen, ob sie sich in ihrer würdevollen Zerbrechlichkeit, wenn nicht Hilflosigkeit, aus der Historismusproblematik mit Notwendigkeit ergibt. Die These von der Entstehung des Faschismus aus dem Autoritätszerfall hieß so: Das 19. Jahrhundert hatte den Unglauben an Gott der Öffentlichkeit zum Bewußtsein gebracht, ihren Glauben an den Menschen aber noch nicht zu erschüttern vermocht. Das 20. Jahrhundert hat sogar noch diesen Glauben, den Humanismus im öffentlichen Bewußtsein getötet und das Leben ohne jede metaphysische, geschichtliche oder natürliche Autorität und Verheißung nicht nur unausweichlich gemacht, sondern zum praktischen, ja politischen Postulat erhoben. Nur dieses Maß der Entgötterung und Entmenschung macht es begreiflich, daß gerade hochzivilisierte Nationen
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zur Selbsthilfe einer künstlichen autoritären Bindung im Politischen greifen, um die elementaren Daseinsinstinkte vor den nihilistischen und defätistischen Schlußfolgerungen der Intelligenz zu schützen. Zu einem Postulat gleichsam wider besseres Wissen wird darum die Wiederherstellung der Autorität: Wer heute auf die überweltliche Autorität oder die innerweltlichen Autoritäten der Vernunft und der Geschichte zurückgreifen will, muß die Kraft aufbringen, gegen ihre Entwurzelung im aufgeklärten Bewußtsein, gegen all das, was zu ihrer Zerstörung unternommen worden ist, die eigene Glaubensgewißheit wiederzugewinnen. Doch wenn jede der Autoritäten aus dem Zerfall der vorhergehenden entsprungen ist, fehlt der Entscheidung für diese oder jene die Legitimation. Warum sollte man sich etwa für die urbane Aufklärungsautorität des politischen Humanismus entscheiden, da sie sich doch der Auflösung der monotheistischen Autorität des Christentums verdankt? Offenbar nicht, um damit wiederum Bindungen herzustellen, wiederum Autoritäten auf den Schild zu heben, sondern höchstens deshalb, weil sie nur dem Namen nach eine Autorität, der Sache nach deren Gegenteil ist; weil sie in ihrer politischen Verwirklichung nicht zur Befestigung nackter Herrschaft beiträgt: ihr Zwang besteht, der eigenen Idee zufolge, einzig in dem der »zwingenden Einsicht«. Auch Plessner optiert für diese Autorität, will uns dünken, weil sie am wenigsten eine ist. Und er könnte es mit besserem Grunde, als mit dem des bloßen »Bekennermutes«, des ethischen Imperativs per se. Die Konsequenzen aus dem historistisch verallgemeinerten Ideologieverdacht sind nämlich, obschon die tatsächliche Geistesgeschichte sie so gezogen hat, systematisch keineswegs überzeugend. Ein Vergleich der geschichtlich variablen Stile, Normen, Institutionen, ganzer Kulturen, in denen die vergesellschafteten Menschen ihr Leben jeweils anders und mit anderen Mitteln erhalten, es aber stets mit dem gleichen Anspruch ausschließlicher Gültigkeit deuten, erlaubt nicht schon den Rückschluß auf eine in ihren Strukturen (biologisch, psychologisch oder anthropologisch) konstante Naturbasis des menschlichen Lebens, »das spielerisch wie Blasen Welten treibt«. Erst einmal ernstgenommen, wird diese Erkenntnis
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viel eher jede zur Natur erklärte Invariante (seien es die sozialdarwinistischen Kategorien, seien es ontologische Existenzialien) als falsche Verdinglichung eines geschichtlichen und damit »aufhebbaren« Verhältnisses kritisieren können. Die Konsequenz des Historismus ist nicht Verwurzelung des Geschichtlichen im vorgeschichtlichen Substrat, sondern die Schwebe eines jeden scheinbar Substanziellen im aufgestoßenen Horizont objektiver Möglichkeiten: Geschichte gewinnt sich wissenschaftlich eine utopische Dimension zurück, in der auch die hartnäckigsten Konstanzen schließlich ihren historischen Kern offenbaren, und mit ihrer geschichtlichen Herkunft auch ihre mögliche Hinfälligkeit. Ebenso dogmatisch wie der biologistische Übergang aus dieser Dimension in die einer fiktiv zugrunde gelegten Natur ist der erkenntnistheoretische Anspruch: nämlich die eigene Welt sich verfremden und so wie alle übrigen Welten betrachten zu können; die »natürlichen« Strukturen sollen auf der Ebene historistischer Selbstrelativierung sodann als das Gemeinsame aus dem Vergleich herausspringen. Wir verstehen jedoch andere Epochen und fremde Kulturen nur in dem Maße, in dem wir uns von den Perspektiven der eigenen Situation leiten lassen. Von der Nabelschnur ihrer Interessen wird sich historische Erkenntnis niemals ganz abbinden lassen; nur gilt es eben, diese Interessen selber in ihrer »Objektivität« aus dem geschichtlichen Prozeß zu legitimieren. Auch die zentralen Institutionen unserer industriellen Gesellschaft haben mit den zugehörigen Interessenlagen so etwas wie einen objektiven Sinn in ihre Gestalt mit aufgenommen: der Zuwachs an Macht, den sie im Austausch der Menschen mit der Natur gewähren, enthält auch eine Anweisung auf einen Zuwachs an Freiheit im Verkehr der Menschen untereinander; die Rationalisierung der Betriebsmittel und Anstalten, gleich auf welchem Gebiete, enthält auch eine Anweisung auf die Rationalität der Zwecke, denen sie dienen sollen. Und zwar läßt sich ein solcher »Sinn« verbindlich und ohne alle Willkür feststellen, sobald der Nachweis gelingt: daß die Institutionen, nur wenn sie ihn verwirklichen, die Reproduktion der Gesellschaft auf die Dauer sichern können. Aus den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung selber, so scheint es, lassen sich die Imperative des politischen Humanismus als
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praktische Notwendigkeiten herleiten. Sie verbürgen keineswegs schon deren Verwirklichung, etwa nach dem spekulativen Schema, daß sich die Geschichte nur Aufgaben stellt, die sie auch löst. Der Gang der Geschichte ist nicht nach immanenten Gesetzen rational; aber die Einrichtungen unserer Gesellschaft nötigen uns geradezu, seine Irrationalitäten nach Maßgabe der sozialen Triebkräfte und der mit ihnen objektiv gesetzten Möglichkeiten immer weiter einzuschränken. Wenn auch die Geschichte keinen Sinn »hat«, so fordert sie uns doch praktisch zu dem Versuch heraus, ihr den Weg einer fortschreitenden Eliminierung von Unsinn vorzuschreiben. Der Historismus, zu Ende gedacht, hat dieser Aufgabe die historische Legitimation nicht entzogen, sondern überhaupt erst ermöglicht. Plessner hat einmal die Soziologie als institutionalisierte Dauerkontrolle einer gefährdeten Gesellschaft bezeichnet. Mit seinem ingeniösen Beitrag zur Herkunft des Faschismus übt er als Soziologe, Historiker und Philosoph zugleich eine Kontrolle dieser Art am Gefahrenherd selber.
b) Aus einem Brief (1972) Ihre Grundintention, verehrter Herr Plessner, zielt auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur, besonders der biologischen Grundlagen des menschlichen Lebens. Nun ist es heute so ungewöhnlich nicht mehr, die Menschengattung als ein Stück Natur zu betrachten. Sie jedoch vollziehen sehr energisch die naturalistische Wendung, ohne dafür den Preis eines philosophischen Naturalismus zu entrichten. Im Bewußtsein der politischen Folgen, die Sie am eigenen Leibe spüren mußten, sind Sie gegen den Biologismus alter, sozialdarwinistischer und neuer, humanethologischer Prägung ebenso immun wie gegenüber dem Behaviorismus angesichts seiner erkenntniskritischen Ungereimtheiten. Sie bringen, wenn ich das ä la Nicolai Hartmann sagen darf, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem Recht, ohne dabei die soziokulturelle Lebensform so tief anzusetzen, daß das erkennende Subjekt (und
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erst recht das lachende) sich selbst nicht mehr ernst nehmen darf. Diese Perspektive ist, wie ich meine, typisch für Aufklärungsphilosophien: sie können die idealistischen Nebelbildungen durchdringen, weil ihnen nicht alle Ideen gleich nebelhaft sind. An Ihren großen Untersuchungen zur politischen Philosophie und zur Geschichte sehe ich das bestätigt. Eine nicht-empiristische, gleichsam Feuerbachsche Parteinahme für das Sinnliche, Widerständige, Äußere, das gleichwohl mit der Sphäre des Sinns, des immer schon Zugänglichen, Inwendigen verwoben ist, verbindet Ihre Position mit der des Marxschen Materialismus. Gleichwohl rücken Sie Marx, wie auch Freud, in eine Reihe mit den Liquidatoren der Vernunft. Beide erscheinen als Strategen des Reduktionismus, die, wie immer unfreiwillig, »der Selbstentwertung des Menschen in die Hände arbeiten«. Diese Interpretation wäre im Augenblick kein Grund zum Streiten, wenn sie sich nicht konsequent aus einer sehr bemerkenswerten Abwehr des Evolutionismus ergäbe - und darauf bezieht sich meine erste Frage: Der naive Evolutionismus um 1900 ist für Sie zum Schlüssel geworden für die barbarischen Implikationen einer im Namen der Wissenschaft auftretenden Zerstörung der Vernunft. Nun trifft aber die gut marxistische Kritik, die Sie am Darwinismus anbringen (»die Überzeugung von der Macht der Konkurrenz und dem Wert der Industrie«), den Sozialdarwinismus, jedoch kaum die Theorie der natürlichen Evolution. Und nicht jede Theorie der gesellschaftlichen Evolution, auch nicht die Marxsche, setzt sich Einwänden aus, die mit Recht gegen Überdehnungen der biologischen (heute der biokybernetischen) Begrifflichkeit gemacht werden können. Die Absage des Historismus an den Fortschrittsgedanken, an evolutionistische Deutungsschemata überhaupt, hat Ihre philosophischen Überzeugungen geprägt. Ich habe den Eindruck, daß sich dabei der Entwicklungsgedanke mit dem empiristisch gewendeten Evolutionismus der Jahrhundertwende so eng verknüpft hat, daß sich Ihnen die Universalgeschichte in antirevolutionistischer Perspektive darstellen mußte: semper aliter, semper idem. Gehen Sie darum nicht doch wohl zu unbedenklich von der Annahme aus, daß ein humaner Begriff der menschlichen Natur- und damit die Optik einer erneuten Aufklärungsphilosophie - nur mit einem histori-
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sehen Begriff von Geschichte und Kultur vereinbar sei? Woher nehmen Sie, lieber Herr Plessner, die Sicherheit, daß ein Bildungsprozeß der Gattung nicht stattfindet? Meine andere Frage bezieht sich auf den Kern Ihrer Anthropologie - auf die kategoriale Abgrenzung der soziokulturellen von der tierischen und pflanzlichen Organisationsform des Lebens. Ihr Begriff der exzentrischen Position hat sich als überaus fruchtbar erwiesen. Die geniale Deutung von Lachen und Weinen bestätigt die Modellvorstellung, daß der Mensch unter dem Zwang steht, zwischen dem Leib-Sein und dem Körper-Haben immer wieder einen Ausgleich herbeizuführen; er muß den Abstand zwischen zuständlicher Leibexistenz und gegenständlicher Körperexistenz überwinden. Gelingt das in extremen Lagen nicht, kann der Körper in den eigentümlichen Ausdrucksfunktionen des Lachens und des Weinens stellvertretend für die Person, die ihren Leib nicht mehr beherrscht, die Antwort übernehmen - wir lachen und weinen über etwas! Was immer uns Ethologen über lachende und weinende Tiere berichten werden - 50, nämlich propositional, können sie gar nicht lachen und weinen. Oder sollten jene kalifornischen Schimpansen, die soeben dabei sind, eine Taubstummensprache, d.h. grammatische Äußerungen zu lernen, eines Tages so ins Lachen geraten oder so ins Weinen verfallen, daß ihr Verhalten mit Plessners Theorie angemessen beschrieben werden kann? Ich führe dieses Gedankenexperiment ein wenig hinterhältig ein. Denn verhielte es sich so, dann wäre der Erwerb der Sprache für die Menschwerdung unseres Schimpansen der wichtigste Umstand. Sie, lieber Herr Plessner, haben hingegen die Sprache für eines unter mehreren menschlichen Monopolen, die einen Zusammenhang bilden und ihrerseits aus der zugrundeliegenden Leib-KörperStruktur erklärt werden müssen: nicht die Struktur der sprachlichen Kommunikation, in welche die naturgeschichtlichen Potentiale eingearbeitet sind, erklärt die besonderen Kompetenzen des Menschen, sondern seine exzentrische Position. Mit George Herbert Mead, dem Geistesverwandten, der in seinen Chicagoer Vorlesungen ungefähr zur gleichen Zeit wie Sie eine Anthropologie entwickelt hat, sehen Sie das Besondere der menschlichen Sozialbeziehungen in »der Reziprozität der Perspektiven«.
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Die Verschränkung der Perspektiven zwischen Ich und alter ego ist für jene Intersubjektivität wesentlich, in der sprach- und handlungsfähige Subjekte einander begegnen. Intersubjektivität leiten Sie nun nicht aus Sprache, sondern aus der exzentrischen Position der menschlichen Natur ab. Darum legen Sie dem Spiegelbild eine entscheidende Bedeutung bei. Indem ich mich im Spiegel sehe, erfahre ich mich über den im Spiegel gegenständlich gewordenen Leib, meinen Körper. Ich kann, mein Spiegelbild identifizierend, im Gegenüber derselbe bleiben - diese Struktur, die in der Spiegelung nur aufgedeckt wird, soll auch der intersubjektiven Beziehung zum Anderen, in dessen Blick ich mich spiegele, zugrunde liegen. Wäre es statt dessen nicht plausibler, die Struktur des Spiegel-Ichs (Cooley hat so das looking-glass »I« schon 1902 in die Diskussion eingeführt) unmittelbar aus der Struktur der sprachlichen Kommunikation abzuleiten - und die Bildung der Ich-Identität aus dem Erwerb der Sprachkompetenz, insbesondere aus der Einübung in das System der Personalpronomina? Dann würde sich in dem Doppelaspekt von Leib und Körper die Doppelstruktur der Sprache bloß abbilden. Diese besteht darin, daß sich Sprecher und Handelnde auf intersubjektiver Ebene nur begegnen, wenn sie zugleich über Gegenstände oder Sachverhalte kommunizieren, und daß sie umgekehrt propositionale Gehalte nur austauschen können, wenn sie zugleich eine intersubjektive, d.h. nicht vergegenständlichte Beziehung zueinander aufnehmen. Ich weiß, lieber Herr Plessner, daß Sie gute Gründe haben, gegen modische Überlagerungen der Anthropologie durch Sprachtheorie mißtrauisch zu sein. Gerade in Ihrer jüngsten Arbeit über die Anthropologie der Sinne haben Sie wiederum jene sprachlosen Räume begangen, die dem Menschen sehr wohl zugehören und doch einer, gegenüber dem nicht-sprachlichen Ausdruck blinden Hermeneutik verschlossen bleiben müssen. Ich bin in dieser Hinsicht durch Ihre aufregenden Untersuchungen zur Ästhesiologie des Hörens belehrt. Ihre Theorie der Musik, deren Nichtsprachlichkeit gleichwohl von einem inneren Bezug zur Sprache lebt,widerlegt einleuchtend jenen philologischen Imperialismus, dem zufolge alles, was Sinn hat, auch sprachlich soll ausgedrückt werden können.
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6. Ernst Bloch Ein marxistischer Schelling (1960) Wäre man nicht von Blochs freigebigem Gebrauch des Mottos ein wenig verschreckt, möchten wir wohl das folgende gewählt haben: »Die Vernunft kann nicht blühen ohne Hoffnung, die Hoffnung nicht sprechen ohne Vernunft, beides in marxistischer Einheit andere Wissenschaft hat keine Zukunft, andere Zukunft keine Wissenschaft.« Dies eins der wenigen Epigramme des epischen Denkers, der seine Stärke - den Spuren und seinen eigenen Neigungen zum Trotz - nicht immer in der kleinen Form, in Aphorismus und Parabel beweist. Bloch läßt sich von der Fülle des Gedankens in Breiten der Erzählung treiben. Das voluminöse Kompendium des Leipziger Philosophen, in den USA geschrieben, in der östlichen Hälfte unseres Landes durchgesehen und ergänzt, in dessen westlicher Hälfte zuerst vollständig vorgelegt1, spiegelt so schon in der äußeren Geschichte seine innere - die Odyssee eines Geistes vom Geist des Exodus. Erfahrend und irrfahrend brütet der Gedanke, der sich des von Jakob Böhme bezeichneten »Brütens« im dunklen Grunde der Welt annimmt. »Das Nichts hungert nach dem Etwas«, heißt es bei diesem, »und der Hunger ist die Begierde als das erste Verbum Fiat.« Demselben Motiv folgt Bloch, wenn er Hunger als den fundamentalen Trieb gegen Freuds Libido ausspielt. Der sich stets erneuernde Hunger treibt die Menschen um, bestimmt Selbsterhaltung zu Selbsterweiterung; und verwandelt sich in seiner aufgeklärten Gestalt zur Sprengkraft gegen die Gefängnisse der Entbehrung überhaupt. Der belehrte Hunger, eine andere Form der docta spes, entfaltet sich zum Entschluß, alle Verhältnisse aufzuheben, unter denen Menschen als verschollene Wesen dahinleben. Hunger erscheint als elementare Energie der Hoffnung. An dem Werk selbst, das Bloch der Hoffnung widmet, haftet etwas von Hunger - von einer grandiosen Systematisierung aufgegriffener Hoffnungen ist es zum intendierten System der begriffenen Hoffnung noch auf dem Weg. 1 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959.
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Daß die Vernunft begreifen solle, wird auch der Einwand des Positivisten sein, wenn er hört, daß Vernunft ohne Hoffnung nicht soll blühen können. Bloch indessen eignet sich eigentümlich positiv an, was vor dem Spruch des Positivismus angeblich in den Schein falsch gestellter Fragen zerfällt. Gleich jenem kritisiert auch er zwar die Mythen, Religionen und Philosophien als Schein, aber als Vorschein auf ein künftig Herzustellendes nimmt er sie ernst. Er behält das, einer Unterscheidung der modernen Wissenschaftslogik zufolge, von den Fakten gleichsam abgeschöpfte Normative ein, aber nicht als ontologischen Bestand, sondern als den Hof intentionaler Erfahrungen, die aus dem Bestehenden über es hinausdrängen. Nicht ihren Mut zum Transzendieren legt Bloch der bisherigen Philosophie zur Last, sondern ihr falsches Bewußtsein davon: als erschließe sie sich transzendierend ein einstmals oder immer schon Gewesenes. So verstand Aristoteles die Wesenheit als eine Gewesenheit, so versteht noch Heidegger das abwesende Anwesen des Seins als die bevorstehende Wiederkunft eines im Ursprung schon Gewesenen. Das Erkennen, das von Piatos Anamnesis bis zu Freuds Analyse dem Zug einer erinnernden Rückkehr zu folgen scheint, bezieht sich doch in Wahrheit auch auf ein Ankommendes, objektiv erst Mögliches. Dieses bezeichnet die Umrisse der Verite ä faire, einer zu verwirklichenden Wahrheit, die »nirgendwo« schon wirklich, und insofern utopisch ist. Allerdings hat sich Utopie seit jenen Tagen, da Thomas Morus de nova insula utopia meditierend ihr den Namen gab, zur konkreten Utopie nur in dem Maße entfalten können, wie die Analyse der geschichtlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Triebkräfte die Bedingungen einer möglichen Verwirklichung aufzudecken begann. Mit solcher Analyse befaßt Bloch sich nicht; er unterstellt sie schlicht als erbracht, nämlich vom Historischen Materialismus. Die größere Gefahr, daß im eigenen Lager »Schematiker mit Zitatenschatz« und »Praktizisten aus der hohlen Hand« die Utopie über dem Geschäft ihrer Realisierung verraten, scheint ihm die größere Anstrengung zu erfordern: die Dimensionen der Utopie selbst zu fassen und für die Nachgeborenen unverlierbar festzuhalten.2 2 Dieser Aufsatz ist geschrieben worden, bevor Bloch seinen Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegte.
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Bloch will dem Sozialismus, der von der Kritik der Tradition lebt, die Tradition des Kritisierten erhalten. Gegenüber dem unhistorischen Verfahren einer Idologiekritik a la Feuerbach, die dem Hegelschen »Aufheben« die Hälfte seines Sinnes nahm, beim tollere unter Verzicht aufs elevare es bewenden ließ - will Bloch den Ideologien ihre Ideen abgewinnen, im falschen Bewußtsein das wahre retten. »Alle bisherige große Kultur ist Vorschein eines Gelungenen, sofern es immerhin in Bildern und Gedanken auf der fernsichtreichen Höhe der Zeit angebaut werden konnte.« Selbst die Religionskritik, die Marx in den Thesen über Feuerbach resümiert, erfährt so ihre Rückdeutung. Gott ist tot, aber sein »Ort« hat ihn überlebt; der Raum, in den die Menschheit Gott und die Götter hineinimaginiert hat, bleibt nach dem Zerfall dieser Hypostasen gleichsam als ein Hohlraum zurück; dessen »Tiefenabmessungen«, nämlich die des endlich begriffenen Atheismus, verraten den Grundriß eines künftigen Reichs der Freiheit. Den »kulturellen Überschuß«, die verschlüsselte Wahrheit noch in den Mythologemen, ringt Bloch dem Ökonomismus eines auf Diamat abgerichteten Marx augenzwinkernd mit einer Variation auf den - seinerseits Locke variierenden - Leibniz ab: nichts sei im Überbau, was nicht auch in der Basis angelegt ist - mit Ausnahme des Überbaus selber. Eine salomonische Orthodoxie, hier wie überhaupt. Nicht jedoch ein Rückgang, wie es scheinen möchte, von Marx zu Hegel. Die Phänomenologie der Hoffnung verfolgt nicht wie die des Geistes dessen alt gewordene Gestalten. Für Bloch ziehen vielmehr die Gestalten des Geistes die Objektivität ihres Scheins aus der »experimentierenden Geltung« eines im voraus entworfenen Neuen. Die Philosophie hat bislang ihr Inkognito, die objektive Möglichkeit eines Reichs der Freiheit nicht gelüftet: »Es war immer wieder die Decke der Platonischen Anamnesis über dem dialektischoffenenEros,welchedie bisherige Philosophieeinschließlich Hegels ... kontemplativ-antiquarisch abgeschlossen hat.« Antiquarisch - eben wegen der Verkleidung eines Zukünftigen im längst Vergangenen; kontemplativ - weil eine derart vom noch ausstehenden Ende in den Anfang projizierte Genesis fälschlich der theoretischen Abbildung vorbehält, was nach kritischer Vorbereitung allein durch verantwortliche Praxis vollzogen werden müßte.
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Widerstände gegen Utopie, literarische und psychologische Die Kurse geben einer Konjunktur in Utopie vorerst wenig Chance. Seit Karl Mannheim vor Jahrzehnten den utopischen Impuls wissenssoziologisch auf moribund diagnostiziert hat, häufen sich die bestätigenden Symptome. Je langfristiger die militärischen Planungen werden, um so dichter schirmt die westliche Welt sich politisch gegen die Zukunft ab. In Westdeutschland feiert postum die zerborstene Revolution von rechts über die von links literarische Erfolge. Aus Nietzsche lassen sich die Argumente gegen das geschichtsphilosophische »Wunschdenken« mobilisieren; Hegel, der ja gegen bloßes Meinen besonders streng ist, hält es hingegen selbst mit dem Fortschritt, sei es auch mit dem leicht subjektivierbaren im Bewußtsein der Freiheit. Im Feldzug gegen die Utopie zeichnen sich zwei strategische Linien ab.3 Einerseits eine Art direkter Verneinung der Geschichte. Darauf läuft jener anthropologische Platonismus hinaus, der für die optimalen Bedingungen des Überlebens, eines in sich gesteigerten oder aus sich entarteten Lebens die konstanten Maßstäbe vorgibt. Er findet sich darin mit dem wie zur Ergänzung geschaffenen ästhetischen Piatonismus, der den von großen Einzelnen in glücklichen Augenblicken ausgeformten Kristallen in einer Welt der reinen Formen Ewigkeit verspricht. Beidemal trocknen die Sümpfe der Geschichte aus; was an ihr Sinnverwirklichung scheint, verdampft im sinnlosen Kreisen der Natur. - Offenbar drängt nun aber die Weltgeschichte zu epochalen Zäsuren; vor ihnen schrumpft die Unveränderlichkeit einer zugrunde gelegten Menschennatur ebenso zur Fiktion wie die Leugnung eines möglichen Sinnes der Geschichte vor der Dialektik fortschreitender Rationalisierung. Die andere Linie der Argumentation stellt darum auch auf diesen Sachverhalt ab: anstelle der direkten Verneinung tritt indirekt eine Art Überrundung der Geschichte. Das eschatologische Denken setzt auf die Wiederkunft eines mythologischen Zeitalters, gleichviel ob es diese durch die andächtige Evokation eines Seinsgeschicks 3 [Zusatz 1977: Mit den folgenden Bemerkungen sollte Blochs Position gegen die Ende der fünfziger Jahre herrschenden Positionen von Gehlen und Benn auf der einen, Heidegger und Jünger auf der anderen Seite abgegrenzt werden.]
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oder durch eine botanisierende Philosophie der Erdgeschichte beschleunigen möchte. Geschichtsphilosophie wird metahistorisch überboten; und die historisch überschaubare Situation braucht sich der rationalen Erörterung ihrer objektiven Möglichkeiten nicht mehr zu stellen. Solches Denken bedient sich eines mit Kriseneffekten aufgeladenen Bewußtseins bloß, um Geschichte im ganzen den Zyklen einer Übergeschichte zu integrieren; es lenkt den offenen historischen Prozeß von möglicher Selbstbestimmung ab und in die erhaltenen Proportionen eines naturhaften Geschehens zurück: das Buch der Geschichte wird im Buch einer Gesteinskunde der Weltalter rückübersetzt. Der konservative Satz von Erhaltung und Gleichgewicht der Energie, der Physik und Moral metaphysisch auf einen Nenner bringt, schließt Neuerung, schließt möglichen Fortschritt zum Besseren aus, noch in seiner geringsten Dosis - der des Tagtraums etwa. Bloch notiert hingegen dessen flüchtigste Regungen als die Zellen eines großen Traums nach vorn, als Kern jener Hoffnung, deren Prinzip die Menschheit »in die Angeln« heben soll. Ernst Jünger hat für dergleichen, und damit repräsentiert er wohl ein ganzes Lager, nur eine Geste übrig: »So hört man heute selbst Denker sagen: >Wenn das und das nicht wäre, würde alles in Ordnung sein.< Vermutlich würden, wenn das und das nicht wäre, die Dinge sich noch fürchterlicher darstellen - ganz abgesehen davon, daß, wenn ein Schreckensbild verraucht ist, sich sogleich ein neues an seine Stelle schiebt. Solche und ähnliche Thesen speisen sich aus der Gleichsetzung von Vernunft und Moral. Die Welt ist von Vernünftigen erfüllt, die sich gegenseitig ihre Unvernunft vorwerfen. Die Dinge nehmen trotzdem ihren Gang, und zwar offensichtlich einen ganz anderen, als alle beabsichtigten. Wer ihn beobachtet, ist näher an den Quellen, als wenn er den Parteien zugehört, gleichviel ob sie die Lage in ihren Fraktionen oder in pleno abhandeln.« Bloch würde darin die Sprache der Türhüter wiedererkennen, die, womöglich mit dem Recht des Augenscheins, die Offenheit der Welt - als eine verwaltete mehr und mehr abgeschlossen ohnehin - noch einmal schließen. Er könnte gegen die neue Romantik deren ehrbaren Ahnherrn, Franz Baader, ins Feld führen: »Es ist ein Grundvorurteil der Menschen, zu glauben, daß das, was sie eine künftige Welt nennen, ein für den Menschen
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geschaffenes und vollendetes Ding sei, und ohne ihn bestehend wie ein gebautes Haus, in welches dieser Mensch nur einzugehen braucht, während doch vielmehr jene Welt ein Gebäude ist, dessen Erbauer dieser nämliche Mensch ist, und welches nur mit ihm erwächst.«4 Nietzsche erfand von neuem den alten Gedanken der ewigen Wiederkehr, um den »Augenblick« zu heiligen. Im Amor fati erreicht der gipfelstürmende Wille zur Macht den Scheitel des hohen Mittags; wenn noch dem zerbrechlichsten Moment im ruhelosen Umtrieb der endlichen Lebensenergien eine Wiederkehr, und damit Ewigkeit, Schwere der Bedeutung, sozusagen Unverlierbarkeit in der Flucht der Erscheinungen, und ein Wertgleichgewicht mit allen übrigen Momenten garantiert ist, dann, und erst dann kann sich dem desillusionierten Bewußtsein das ganze Glück des Augenblicks, das Glück des ganzen Augenblicks erschließen. Die Anstrengung des letzten Willens streicht nämlich den eigenen Entwurf in die Zukunft durch, nimmt jeweils die Gegenwart, wie sie ist, nicht nur hin, sondern bejaht sie auch in ihrer Tiefe. Vom gleichen Motiv läßt Bloch sich leiten: »Der letzte Wille ist der, wahrhaft gegenwärtig zu sein. Der Mensch will endlich als er selber in das Jetzt und Hier, will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben.« Aber sein lösendes Wort, Hoffnung, ist dem von der ewigen Wiederkehr entgegengesetzt. Das Dunkel des gelebten Augenblicks würde ja mit einer bloßen Reform des moralischen Bewußtseins, einer Umwertung, die das Umgewertete noch dazu befestigt, nur um so undurchdringlicher. Darum muß eben die Kette der ewigen Wiederkehr aufgesprengt, der Ausgang ins unbeschrittene Offene utopisch gewonnen werden: »... und das Drängen hat daran nicht nur den Auslauf oder das Freie, wo noch gegangen, noch gewählt, noch geschieden, Weg eingeschlagen, Weg gelegt werden kann, sondern außer dem Weg ist im objektiv Möglichen ein uns möglicherweise Entsprechendes, woran das Drängen nicht endlos ungesättigt weitergeht.« Das Carpe diem wird erst wirklich, wo das Siegel des Amor fati gelöst - eben die Decke der Platonischen Anamnesis über dem dialektisch-offenen 4 Franz Baader, Sämtliche Werke, Neudr. der Ausg. Leipzig 1851 bis 1860, Bd. 7, Aalen 1963, S. ijt.
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Eros gebrochen wird. Dieses Verhältnis zu Nietzsche macht Bloch auch zum Antipoden jener Gegenaufklärer, die je auf ihre Weise von Nietzsche sich herleiten - und den Segeln der Utopie den Wind nehmen möchten. Von solchen Widerständen einmal abgesehen, dürfte indessen die Aufnahme des Werks auch durch dessen eigenen Habitus beeinträchtigt werden. Wofür etwa Benn in der Literatur, in der Malerei Schmidt-Rottluff stehen mag, gewinnt nun durch Bloch auch in der Philosophie einen Repräsentanten - der Spätexpressionismus, der durchgehaltene Stil der ersten Jahrzehnte unseres Säkulums bis in dessen Mitte, ein Altersstil mit Zeichen der Klärung, aber auch der Entspannung. Die versprengten Brocken einer Bindestrich-Terminologie, der quellende Wildwuchs pleonastischer Wendungen, das bruststarke Atemholen dithyrambischer Klänge, eine Wahl der Metaphern, die zuweilen an Böcklin eher als an Benjamin erinnernverraten gewiß immer noch Kraft und großen Zug, aber sie sind über ihre Zeit hinaus. - Zudem färbt sich der utopische Strahl im Spektrum von Generationserfahrungen, die ihre Evidenz heute weithin eingebüßt haben. Jugendbewegung kann nicht auf eben die seriöse Art eines Biedermeiers altmodisch werden. Der Ausbruch in die freie Natur und die Sehnsucht nach dem schweifenden Leben der fahrenden Leute, Sentimentalität gegenüber Zirkus und Prostitution haben einen Prozeß des Veraltens durchgemacht, der nicht einmal mit dem Altern des Neuen im Bannkreis der Moderne spezifisch etwas zu tun hat. Die Jugendpsychologie des Wandervogels zieht »Spuren« auch im Begriff der Hoffnung. Der heutigen Jugend aber hat man das Attribut einer skeptischen nicht ganz ohne Grund gegeben; und es fragt sich, ob darin nicht andere, der Pfadfinderromantik entwachsene Generationserfahrungen legitim ihren Niederschlag finden, Erfahrungen, die nicht mit Utopie, aber mit Blochs Einführung in Utopie zusammenprallen.
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Das Erbe der jüdischen Mystik Bloch ist unter dem Bonner Himmelsstrich unerwartet aufgetaucht und hat die gewohnte Topographie durcheinandergebracht. Wo sich der Marxismus die europäische Philosophie aneignet, ohne sie im Tiegel transzendenter Kritik einzuschmelzen, schafft er, soweit Bloch daran beteiligt ist, eine verblüffende Vermittlung der bislang konfessionell geschiedenen Traditionen innerhalb der Philosophie selber, zumal der deutschen. Das jüdische Organ im Marxismus macht nämlich für bestimmte, einst von Kabbala und Mystik gehütete Perspektiven empfindlich; auch für die der immer wieder abgerissenen, nur selten zum Niveau der offiziellen Philosophie geläuterten pythagoreischen und hermetischen Traditionen. Das hellenistische Knäuel ist ja während des Mittelalters von der christlichen Philosophie nicht eigentlich aufgedröselt worden. Unter der Etikette des Neuplatonismus ist in der Renaissance, gerade auch der deutschen mit Paracelsus im Schnittpunkt ihrer weiten Verzweigungen, diese alte Tradition der neuen Zeit, wie immer getrübt, ins Bewußtsein getreten. Bei Böhme lebendig, durch Oetingers schwäbischen Pietismus an die Tübinger Stiftler Hegel, Schelling und Hölderlin vermittelt, ist sie, nachdem sie in Leibniz' Monadologie schon gewisse Färbungen hinterlassen hatte, eigentlich erst mit Schellings Naturphilosophie, auf ganzer Breite mit seiner Lehre der Weltalter, über die Schwelle der hohen Spekulation getreten. Bereits die Namen einer Philosophie der »Natur« und der »Weltalter« deuten an, wie das Denken jener Herkunft elliptisch um die beiden Zentren von Materie und historischem Prozeß kreist - insgesamt eine apokryphe Tradition von Historischem Materialismus, an die Marx tatsächlich einmal, mit ausdrücklichem Bezug auf Jakob Böhme, und zwar bei Gelegenheit einer Polemik gegen den mechanischen Materialismus des englischen 17. und des französischen 18. Jahrhunderts angeknüpft hat; die Stelle findet sich in der »Heiligen Familie«.6 6 »Unter den der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie« (Marx/Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S.135).
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Wenn man sich vergegenwärtigt, wie in Deutschland einerseits Philosophie so durchaus vom protestantischen Geiste lebt, daß Katholiken, um zu philosophieren, fast zu Protestanten werden müssen; während andererseits das katholische Denken aus dem Elfenbeinturm des Thomismus nie recht herausgekommen ist, es sei denn in nicht-philosophischer Gestalt; dann tritt die Folie hervor, auf der Blochs Philosophie (die übrigens Christus sehr alttestamentarisch als Propheten eines Reiches dieser Welt versteht) eigentümliche Vermittlungsfunktionen im traditionellen Bereich der Philosophie selber zuwachsen. Das durch Gehör und Gehorsam vermittelte Vernehmen des göttlichen Logos in der Geschichte hat die protestantische Philosophie ebenso von der Natur entfremdet wie die durchs Auge vermittelte Anschauung des göttlichen Logos in der Natur das katholische Denken von der Geschichte; ein auch soziologisch leicht zu erklärender Tatbestand. In jener Tradition hingegen konvergieren von Anbeginn beide Ideen: die selbsttätige Befreiung des Menschengeschlechts im Laufe der Geschichte mit der Wiederherstellung einer gefallenen Natur. In den Pariser Manuskripten findet Bloch die Formel für eine rationale Auflösung dieser noch im Mythos verstrickten Utopie: der Sozialismus verspricht mit der Naturalisierung des Menschen zugleich eine Humanisierung der Natur. Die endgültig entfaltete Natur liegt zusammen mit der endgültig hergestellten Geschichte im Horizont der Zukunft, »daher bleibt die Natur, die unvergangene, uns rings umschließende und überwölbende mit soviel Brüten, Unabgeschlossenheit und Chiffre in sich, statt Vorbei vielmehr Morgenland«. Die im Satz anklingenden Obertöne verweisen schon auf die in Schellings Philosophie vorgespielte Melodie.7 Blochs Grunderfahrung ist das Dunkle, Unaufgeschlossene, Sehnende des gelebten Augenblicks, jenes nach dem Etwas hungernde Nichts der Mystiker, dessen abstrakter Abglanz noch im Beginn der Hegeischen Logik widerscheint. In diesem ursprünglichen Hunger drängt der Weltknoten nach Auflösung und wirft, ungelöst, das Leben in jedem Augenblick auf seine Anfänge zurück: »Jeder gelebte Augen7 Vgl. meinen Aufsatz über Karl Löwith; in diesem Band, S. 195.
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blick wäre mithin, wenn er Augen hätte, Zeuge des Weltanfangs, der in ihm immer wieder geschieht; jeder Augenblick ist, als unhervorgetreten, im Jahr Null des Weltanfangs.« Das ist eine Bestimmung, die Schellings erstem Fragment der »Weltalter«, nämlich den dort vorgetragenen Untersuchungen der »ganzen Zeit«, abgehört sein könnte. Auch der folgende Satz klingt danach: »Das Nicht als Noch-Nicht zieht quer durchs Gewordensein und darüber hinaus; der Hunger wird zur Produktionskraft an der immer wieder aufbrechenden Front einer unfertigen Welt. Daher ist die Welt als Prozeß selber die riesige Probe aufs Exempel ihrer gesättigten Lösung, das ist: auf das Reich ihrer Sättigung.« Und wie das »Bewußtlose« in Schellings »System des transzendentalen Idealismus« die doppelte Bedeutung annimmt: die eines triebhaft Unterbewußten auf dem »dunklen Grund der Natur«, aber auch die eines beflügelnd Überbewußten aus der »freiwilligen Gunst einer höheren Natur« - so trennt Bloch das Bewußtlose des Nachttraums von dem des Tagtraums, das aus der Vergangenheit aufsteigende Nicht-mehr-Bewußte von dem zukunftweisenden Noch-Nicht-Bewußten. Das romantische Pathos archaisierender Betrachtungsweise verfehlt, dieser Ansicht zufolge, eine ganze Sphäre von Chiffren, Symbolen, von mythischen Elementen nicht nur im Mythos, sondern in Natur- und Kunstanschauung, in Träumen und Gesichten, in Poesie und Philosophie. Bloch unterzieht diese Elemente einer »utopischen Behandlung«, soweit in ihnen ein noch Unabgegoltenes sein Wesen treibt und sie sich daher als Embleme der Zukunft deuten lassen.8 Allemal scheint sich aus dem antizipierenden Bewußtsein, für das selbst die umgestülpten »Archetypen« Jungs und Klages' diluviale »Bilder« eingehandelt werden, als der Kern jenes Reich der Freiheit herauszuschälen, in dem die Menschheit der Selbstentfremdung ledig wird und in Freiheit ihre Geschicke lenkt. Erst durch die Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen soll es, eben sozialistisch, hergestellt werden können; denn erst dann braucht das Glück der einen nicht mehr aus dem Unglück der anderen zu 8 Vgl. etwa die großartige Interpretation der Lehre Bachofens in: Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a. M. 1961, S. 115 ff. 150
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entstehen, erst dann braucht jenes an diesem sich nicht mehr zu messen.
Materie als Weltseele und Technik ohne Gewalt Nun wäre aber jeder Traum vom besseren Leben auf eine »innere, ja ganz rätselhaft vereinsamte Enklave beschränkt«, wenn nicht, zunächst in der Geschichte, seiner Antizipation ein Potential entgegenkäme. Bloch überspringt die soziologisch-historische Untersuchung der aus dem gesellschaftlichen Prozeß dialektisch hervorgetriebenen objektiven Möglichkeiten, bezieht sich vielmehr sogleich auf deren allgemeines Substrat im Weltprozeß selbst - auf die Materie; denn »reale Möglichkeit ist nichts anderes als dialektische Materie«. Das schon in Aristoteles' Begriff der Materie mitgemeinte Moment der »Potenz« hat sich, bis Schelling diesen Titel aufnimmt, in den unterirdischen Strömen des Neuplatonismus zu einem trächtigen Begriff angereichert. Die Materie, oder Natura naturans, bedarf der Form-Entelechien nicht mehr; als das Ein und Alles erzeugt und gebiert sie die Gestalten ihrer Fruchtbarkeit aus sich.9 Sie ist das In-Möglichkeit-Seiende, freilich so, daß die Geschichte der Natur auf die Geschichte der Menschheit »angelegt«, daß sie auf die Menschheit selber »angewiesen« ist. In dieser nämlich ist das Vermögen eines Tunkönnens und eines AndersTunkönnens gespeichert, das im Austausch mit der Natur dort ein Werdenkönnen und ein Anders-Werdenkönnen entbindet. Das subjektive Potential reagiert aufs objektive, ist jedoch nicht beliebig, sondern stets vermittelt: zunächst durch die objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung; sodann durch das, was die, freilich noch unabgeschlossene Natur möglich, was sie unmöglich macht. Das Eigentliche in der Welt steht noch aus, wartet »in der Furcht, vereitelt zu werden, in der Hoffnung zu gelingen«, auf seine Verwirklichung durch die Arbeit der vergesellschafteten Menschen - durch ihrer Hände Arbeit im buchstäblichen Sinne. 9 Vgl. Blochs Untersuchung über Avicenna und die Aristotelische Linke, Frankfurt a. M. 1963.
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Schellings Potenzenlehre in marxistischer Interpretation: »Die subjektive Potenz fällt zusammen nicht nur mit dem Werdenden, sondern mit dem Realisierenden in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die Menschen bewußte Hersteller ihrer Geschichte werden. Die objektive Potentialität fällt zusammen nicht nur mit dem Veränderbaren, sondern mit dem Realisierbaren in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die vom Menschen unabhängige Außenwelt ebenso eine wachsend mit ihm vermittelte ist.« Im utopisch entworfenen Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt glaubt diese neue Philosophie das Echo einer alten Identität zu enträtseln. Bloch scheut sich nicht vor dem durch Schelling naturphilosophisch erweiterten Gebrauch der Kantischen Urteilskraft. Zusammen mit der Entfremdung der vergesellschafteten Menschen ist auch Natur »verschollen« und verlangt, beim gescheiterten Entwurf ihres verborgenen »Subjekts« genommen, als Natura naturans gedeutet und durch Menschenhand nun zu ihrem Ziele gebracht zu werden. Die »mechanische« Betrachtungsart, die in der technischen Verfügung über die Naturkräfte mündet, verfehlt Natur als eine der Heimkehr bedürftige. Erst wenn die »teleologische« Betrachtungsart die Dinge gleichsam als Auszugsgestalten ihrer selbst begreift, hängen die subjektiven Zweckreihen der menschlichen Veranstaltungen nicht länger ins Leere, finden sie vielmehr Anschluß an eine in der Natur selbst objektiv angelegte Zweckmäßigkeit. Bloch nimmt Goethes Streit mit Newton wieder auf und hält, aus dem tieferen Erbe pythagoreischer Zahlensymbolik, kabbalistischer Signaturenlehre, hermetischer Physiognomik, Alchimie und Astrologie schöpfend, den Wissenschaften der Natur eine Ausdruckslehre von der Natur, als eines sympathetischen Gestaltzusammenhangs, entgegen. Aber einzig der, wiederum Schelling nachgedachte Hinweis auf die Erkenntnisart erfahrener Naturschönheit, auf eine Art Naturerkenntnis in Kunstwerken selber, verkleidet notdürftig die Verlegenheit, daß eine methodische Anleitung zur »Ausdruckslehre der Natur« eben fehlt; alle die früheren Versuche stützten sich ja auf eine unbrauchbare Übertragung, auf
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die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, Mensch und Weltall. Immerhin stößt Bloch bei diesen Überlegungen auf die denkwürdige Frage einer »Technik ohne Vergewaltigung«. Naturwissenschaftliche Theorien und deren technische Anwendung sind in der Tat »naturfremd«. Beide verfügen über Natur nach den festgestellten Gesetzen ihres Verhaltens »für uns«. Die in den Gesetzen festgehaltenen Funktionszusammenhänge lassen, was Natur »an sich« sein mag, in produktiver Ignoranz gegenüber ihrem »Wesen«, auf sich beruhen. Der Technik, die nach solchen Gesetzen verfahren muß, mangelt darum der »Anschluß« an eine Gunst der Natur, »an die alte gewachsene Welt«. Bloch sieht ihren Mangel an Erdverbundenheit ebenso in einer überzogenen Künstlichkeit wie im spezifischen Elend und einer spezifischen Häßlichkeit der »bürgerlichen Maschinenwelt«. Das strapazierte Epitheton »bürgerlich« taucht an dieser Stelle auf, weil die Technik im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht nur entstanden, sondern von diesen auch entstellt worden sei. Wie im Warenverkehr die abstrakten Beziehungen der Tauschwerte dem konkreten Gebrauchswert äußerlich blieben, so in den Naturwissenschaften die abstrakten Gesetze dem Natursubstrat. Diese mit leichter Hand berührte Analogie, von Lukäcs vor Jahrzehnten in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt, ermutigt Bloch zu der Erwartung, daß die technischen Produktivkräfte unterm Sozialismus ihre abstrakte Gestalt abstreifen und konkret auf eine »Mitproduktivität der Natur« sich einpendeln könnten. Die gesellschaftspolitisch errungene Freiheit werde sich naturpolitisch fortsetzen: »Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd.« Marx' ursprünglicher Konzeption zufolge blieben die Produktivkräfte, auch die technischen, die eigentlichen Träger des gesellschaftlichen Reichtums; sie wurden durch eine Revolutionierung 153
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der jeweils alt und eng gewordenen Produktionsverhältnisse bloß in Freiheit gesetzt. Ja, die Irrationalität einer Ordnung, die einen objektiv möglichen Fortschritt zur höheren Entwicklungsstufe hemmt, wird diesen Verhältnissen allein zur Last gelegt. Wenn Bloch hingegen die geschichtsphilosophisch garantierte Unschuld der Produktivkräfte antastet, so sieht er sich offenbar durch bestimmte Erfahrungen dazu genötigt. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß sich die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West über den aufrechterhaltenen Konflikt hinweg tendenziell auf eine gemeinsame mittlere Ebene einspielen. Jedenfalls nehmen hüben wie drüben solche Erscheinungen zu, die sich einer soziologischen Interpretation unter dem gemeinsamen Titel der »industriellen Gesellschaft« anbieten. Diese Blickrichtung hat im Westen allerdings manchen dazu verführt, divergierende Trends, die sich aus den verschiedenen Eigentumsordnungen immerhin ergeben, gefährlich zu vernachlässigen. Aber die technischen Entwicklungen scheinen doch per se einen organisatorischen Rahmen hervorzubringen, der in größerem Maße von den Produktionsverhältnissen unabhängig ist, als Marxisten je es angenommen haben. Und dennoch entfalten auch diese technikspezifischen Institutionen zunnächst keine geringere »Macht der Entfremdung« als die dem Kapitalismus spezifische. Bloch erhält die Utopie, indem er nicht nur dem Kapitalismus, sondern auch der von ihm hervorgebrachten Technik eine sozialistische Auferstehung verheißt. Die sozusagen kapitalistische Natur der in sozialistischen Ländern verwandten technischen Mittel und ihre gesellschaftlichen Organisationsformen erklären sich dann bloß als eine Art cultural lag.
Überschwenglichkeit der Utopie und Melancholie der Erfüllung Dieser Gedanke sollte mit dem Affekt, der sich darein mischt, nicht verwechselt werden. Dieser läßt uns freilich das kulturkritische Ressentiment, läßt, gleichsam wider besseres Wissen, Sozialromantik fühlen. Deutlich verrät er sich etwa in der Polemik gegen Gropius und Le Corbusier, gegen die Ingenieurskunst der Betonarchitekten, g egen Stahlmöbel und flache Dächer; der Fluch der abstrak-
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ten Technik teile sich den architektonischen Linien mit: »Der Effekt ist desto erkältender, als sie nichts Schlupfwinkliges, sondern nur Lichtkitsch an sich haben.« Überhaupt übt Bloch mit Lukäcs den Affront gegen moderne Kunst nicht nur aus Pflichtschuldigkeit: Affinität zur klassizistischen Ästhetik klingt im Applaus für den »Realismus« nach. Wie bei Hegel wird Kunst nach dem Muster des Symbolischen gedeutet. Im schönen Schein bildet sich der Schein ab, den die Dinge und Gestalten auf das vorauswerfen, was sie einst sein könnten - vorscheinende Materie anstelle der erscheinenden Idee. Diese Ästhetik verhält sich zu der Adornos bezeichnend komplementär: Kunst soll ihre Wahrheit nicht am bestehenden Widerspruch demonstrieren. Das ästhetische Problem bringt uns auf das politische wieder zurück - Bloch ist Bürger einer anderen Republik.10 Sein Denken ist an andere Adressaten gerichtet; so, wenn er den zugleich dogmatisch und empiristisch gefrorenen Diamant unter der Sonne seines utopischen Ursprungs zum Schmelzen bringen möchte. Seine Schriftstellerei ist an andere Konventionen gebunden; so, wenn er das Soll in Jargon erfüllt, gegen Heideggers animalisch-kleinbürgerliche Erlebnisphänomenologie zu Felde zieht, Klages als kompletten Tarzanphilosophen beschimpft und H. D. Lawrence als sentimentalen Penisdichter abtut- die Unscharfe daran ist noch das Ärgerlichste. Ähnliche Invektiven gegen Jaspers erklären sich wohl als Abwehr jener albernen Floskel, die Bloch gedankenlos zum »Jaspers des Ostens« ernennt; der Vergleich richtet sich selbst. Immerhin teilt Bloch Polemik in einer Münze aus, in der ihm hierzulande manches Feuilleton, nun mit einem Schein von Recht, heimzahlen konnte. Er scheut nicht die Ebene, auf der ihm selbst wiederum ein ortsüblicher Antikommunismus die Rechnung präsentiert. Aber weder die tagespolitische Denunziation noch der komplementäre Versuch, Bloch, den Gnostiker, in theologische Ferne zu entrücken, sollten daran irremachen, die Dimension zu suchen, in der diese Philosophie ihre politischen Wurzeln schlägt: Bloch gibt jenem intimen Verhältnis der leninistischen Strategie zur Gewalt bloß eine gotische Verkleidung. »Nicht grundlos lebt im 10 Vgl. Anm. 2.
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Marxismus außer dem gleichsam Toleranten, das sich im Reich der Freiheit ausdrückt, auch das gleichsam Kathedralische, das eben im Reich der Freiheit, der Freiheit als einem Reich sich ausdrückt. Die Wege dazu sind gleichfalls nicht liberal; sie sind Eroberung der Macht im Staat, sind Disziplin, Autorität, zentrale Planung, Generallinie, Orthodoxie ... gerade totale Freiheit verliert sich nicht in einen Haufen hüpfender Beliebigkeit und in die substanzlose Verzweiflung, die an deren Ende steht, sondern siegt einzig im Willen zur Orthodoxie.« Hier darf sich der Gedanke mit tiefen Traditionen der deutschen Philosophie eins wissen, und dennoch erfährt im selben Atemzug das »Reichshafte«, das »Wesen der Ordnung« eine Heiligung, die, bei allem Respekt, an Totalitäres grenzt — »Ordnung in allen möglichen Feldern und Sphären, von Sauberkeit und Pünktlichkeit bis zum Überblick des Männlichen und des Meisterlichen, vom Zeremoniell bis zum Baustil, von der Zahlrenreihe bis zur philosophischen Systematik«. Die praktische Gewaltsamkeit der Mittel überzieht deren Zweck noch in der Trübung seiner theoretischen Vorwegnahme. Bloch weiß freilich sehr gut von der »Melancholie der Erfüllung«, spricht von einem Stück Nicht-Ankunft auch im Advent, vom bitteren Rest im Realisieren. Denn vom Verwirklichen kann die Tat der Verwirklicher nicht abgezogen werden, weil diese im Verwirklichen ihrer Sache sich schrittweise selber erst verwirklichen können. Der Zirkel, den das Problem der Erziehung der Erzieher aufgibt, kehrt wieder auf dem utopischen Niveau. Aber auch dafür steht in der Formel der wachsenden Selbstvermittlung von Mensch und Natur verführerisch eine Lösung parat. Eine Utopie, die die Dialektik der eigenen Realisierung wiederum utopisch faßt, ist so konkret, wie sie es vorgibt, eben doch nicht. Vielleicht verdankt das Bild vom Reich der Freiheit jene Erstarrung seiner Züge im »Reichshaften« der Überschwenglichkeit seines anfänglichen Entwurfs. Diese wiederum könnte ihren Grund in der Art spekulativen Materialismus haben, der Spekulation selber vom Materialismus ausnimmt. Marx begründet einmal den berühmten Satz, daß man die Philosophie nicht verwirklichen könne, ohne sie aufzuheben, in einer Polemik gegen die Philosophie der Junghegeuaner folgendermaßen: Diese ziehe nur den kritischen Kampf der
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Philosophie mit der Welt in Betracht, ohne zu bedenken, »daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle Ergänzung ist«.11 Bloch schließt daraus, daß sich die Negation der Philosophie auf die »seitherige« beziehe, »nicht auf jede mögliche und künftige überhaupt«. Marx behauptet jedoch unmißverständlich das Gegenteil. Er fährt nämlich an der gleichen Stelle fort: die junghegelianische Philosophie verhalte sich unkritisch zu sich selbst, »indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten stehenblieb ..., obgleich dieselben - ihre Berechtigung vorausgesetzt - im Gegenteil nur durch die Voraussetzungen der seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind«. Zu den Voraussetzungen der Philosophie gehört das Bewußtsein ihrer Autonomie: daß der philosophierende Geist sich selber begründen könne. Die ihren Voraussetzungen gegenüber kritische, in Kritik überführte Philosophie begreift sich hingegen als Teil des Kritisierens selber, als ein Ausdruck der Entfremdung - und deren Überschreiten zumal. Erst im Maße ihrer praktischen Aufhebung, die sie als ihre Verwirklichung begreifen muß, wird Philosophie sich selbst über die Schulter sehen können, wird Erkenntnis derart möglich sein, wie Spekulation sie immer schon zu besitzen wähnt. Blochs Interpretationsfehler ist mehr als das: er durchstreicht die bloß experimentierende Geltung auch von Utopie. Darum bleibt auch das Verhältnis der philosophischen Kritik zu den Wissenschaften, wie im Diamat überhaupt, ungeklärt. Wenn Utopie aus der Erfahrung der bestehenden Widersprüche die praktische Notwendigkeit ihrer Aufhebung theoretisch erfassen will, muß sie ihr erkenntnisleitendes Interesse wissenschaftlich in doppelter Hinsicht legitimieren lassen: nämlich als ein wirklich objektives Bedürfnis und als eins, dessen Erfüllung objektiv möglich ist. Die hypothetische Bescheidenheit des utopischen Denkens unterscheidet sich vom Autonomiebewußtsein des spekulativen. Jenes hält den philosophischen Entwurf durch die wissenschaftliche Analyse der Bedingungen möglicher Verwirklichung widerlegbar, ohne umgell Marx/Engels, Werke, Bd. i, Berlin 1957, S. 384.
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kehrt von ihr je endgültig den Beweis zu erwarten - denn die revolutionäre Praxis übersteigt auch die antizipierende Theorie. Dieses hingegen, das spekulative Denken, glaubt Philosophie durch Forschung fortsetzen, glaubt, durch sie nur bewiesen, nicht widerlegt werden zu können. Bloch untersucht ein Drittes; er will die beibehaltene Spekulation utopisch variieren. Die Heilsgarantie entfällt, aber die Antizipation des Heils bewahrt sich die Sicherheit: so oder gar nicht wird es gehen, alles oder nichts wird erreicht, die endlich erfüllte Hoffnung gemäß den vorweggenommenen Bildern der Erfüllung - oder Chaos. Wenn Utopie aus jener Erfahrung, daß sich die scheinbar natürlichen Grenzen geschichtlich immer wieder als aufhebbar erwiesen haben, die Kraft ihres Bewußtseins zieht, müßte sie, ebenso streng gegen sich, ein Grenzbewußtsein auch von sich selber ausbilden. Gewiß kann eine dialektische Analyse, die nicht mit bloßer Annäherung an Totalitäten, sondern aus einem Vorgriff auf diese selbst operiert, nicht sinnvoll auf eine differentielle Analyse, kann der Begriff der Utopie nicht auf den Inbegriff regulativer Ideen herabgeschraubt werden. Dennoch muß sie sich das Bewußtsein der Möglichkeit solcher Veränderungen erhalten, von denen unvorhersehbar auch sie selber verschlungen werden könnte. Aus einer in Realisierung untergehenden Utopie könnte eine Situation auftauchen, die sich der utopischen Voraussicht kategorial entzieht: neue Hemmungen, neue Schwierigkeiten, neue Belastungen könnten auftreten, die, allerdings toto coelo von allen bisherigen verschieden, sich der heute gültigen Problemstruktur so wenig fügen, daß sie, von der Warte eines noch so utopischen Bewußtseins aus, nicht einmal als problematisch überhaupt avisiert würden. Die verwirklichte Utopie wäre »anders«. Dieses Grenzbewußtsein hebt freilich nicht ihr Bewußtsein auf, rechtfertigt nicht den Verzicht der Gegenaufklärung auf Utopie als solche. Die Propaganda gegen die jakobinischen Folgen der utopischen Anfänge, die umfunktionierte Predigt gegen den Schrecken der Moralität erhöht nur die Gefahren, gegen die sie blind macht. Blochs Materialismus bleibt spekulativ, seine Dialektik der Aufklärung schreitet über Dialektik hinaus zur Potenzenlehre fort. Metaphorisch gesprochen - und an Utopie bleibt ein Rest von Metapho-
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rik immer -, orientiert Bloch sein Denken eher an der Entwicklung einer generell vermuteten Trächtigkeit der Welt als an der Lösung vom gesellschaftlichen Bann existierender Widersprüche. Die Philosophie der Natur wird zur Natur seiner Philosophie. Für die Philosophen der europäischen Resttradition, die heute zwischen angelsächsischem Positivismus und sowjetischem Materialismus auf engerem Raum zusammenrücken, bleibt es dennoch ein irritierender Tatbestand, daß ihnen von jenseits der Elbe eine Philosophie entgegentritt, die sich - freilich um den Preis eines gleichsam übersprungenen Kant, in gewisser Weise vorkritisch vom großen Atem des deutschen Idealismus tragen läßt. Der Gedanke breitet seine Schwingen aus; und er muß es wohl, auch wenn die Zeit der Auspizien vorüber ist.
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7. Theodor W. Adorno a) Ein philosophierender Intellektueller (1963) Einen »Nach-Sokratiker« nennt Adorno den Intellektuellen, der sich heute zu leisten vornimmt, was einmal Philosophie geheißen hat. Die mokante Prägung läßt die Anspielung auf verheideggerte Vorsokratiker so wenig überhören wie den Anspruch, daß, nach dem Ausgang der großen Philosophie, des Sokrates Erbe in der aufklärenden Rhetorik unverbesserlicher Sophisten getreuer aufgehoben ist als bei den platonischen Schülern. Vor kaum einem Jahr hielt Adorno einen Vortrag vor der versammelten Schulphilosophie. Ich erinnere daraus vor allem ein Zitat des von Karl Kraus edierten Peter Altenberg, der an Pferdemißhandlung Humanität demonstriert: Solche Mißhandlung »wird nicht aufhören, bis die Passanten so irritabel dekadent sein werden, daß sie, ihrer selbst nicht mächtig, in solchen Fällen tobsüchtig und verzweifelt Verbrechen begehen werden und den hündisch-feigen Kutscher niederschießen werden - Pferdemißhandlung nicht mehr mit ansehen können ist die Tat des dekadenten, nervenschwachen Zukunftsmenschen! Bisher haben sie eben die Kraft gehabt, sich um solche fremde Angelegenheiten nicht zu kümmern.« Damals berief sich Adorno auf diese Stelle, um die Idee des Fortschritts von der Verwechslung mit den Fortschritten in der technischen Beherrschung der Natur zu reinigen. Denn selbst im Zwang des technischen Fortschritts lebt noch der ungebrochene mythische Bann, mit dem die rationalisierten Naturgewalten gegenüber ihren neuen Herren trotz allem die alte Herrschaft behaupten. Demgegenüber wäre Fortschritt im emphatischen Sinne erst möglich, wenn die Menschheit dieser eigenen Naturwüchsigkeit, wo sie ihr technisch am weitesten entronnen zu sein scheint, inne wird; wenn sie etwa, statt durch weltpolitische Konflikte getrieben zu sein, vernünftig abwägen könnte, ob die astronautische Eroberung von Weltraum wirklich dringlicher ist als die elementare Befriedigung hungernder Erdteile. Die Intention eines solchen Fortschreitens, das der unre-
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flektierte Fortschritt bloß hemmt, entschlüsselt Adorno eben im Begriff der Dekadenz. Altenbergs »Nervenschwäche« bezeichnet in der Tat eine Form extremer Individuation, die heute allein den Platz freihalten kann für eine einst zur Humanität fortgeschrittene Menschheit. Man darf ruhig den naheliegenden Einwand hinzunehmen. In unseren Breiten sind ja die Pferdemißhandlungen inzwischen vergangen, und zwar nicht durch »Fortschritt« der Sensibilität, sondern durch fortschreitende Technik; aber im Autoverkehr, dem die Fuhrwerke zum Opfer fielen, ist die Robustheit der Kutscher aufgehoben und allgemein geworden. Noch die Dialektik des veralteten Beispiels legitimiert die Sache, für die es stand. Das genannte Zitat ist mir in der Erinnerung so deutlich haftengeblieben, weil an jenem Abend kein anderes Wort den Geist Adornos besser charakterisiert und ihn zugleich von den Professorenkollegen tiefer getrennt hätte. Ein Schriftsteller unter Beamten. Schriftsteller unter den Philosophen, auch in dem spezifischen Sinne, hat es selbst in Deutschland gegeben; Adorno ist nicht der erste. Das spannungsreiche Verhältnis der Intellektuellen zur organisierten Lehre ist so alt wie die Universität selbst. Nach Hegels Tod besetzten Schriftsteller sogar die Plätze der großen Philosophen. Kierkegaard nannte sich einen religiösen Schriftsteller, einen philosophischen Nietzsche. Der eine schrieb Traktate, der andere Aphorismen. Walter Benjamin, selber von diesem Geiste und für Adorno von nachhaltigstem Einfluß, hat einmal den Traktat, der arabischer Herkunft ist, mit der Architektur des Islams verglichen: die gegliederte Struktur erschließe sich erst von innen: »die Fläche seiner Deliberationen ist nicht malerisch belebt, vielmehr mit den Netzen des Ornaments, das sich bruchlos fortschlingt, bedeckt. In der ornamentalen Dichtigkeit dieser Darstellung entfällt der Unterschied von thematischen und exkursiven Ausführungen.« Mit diesem Code lassen sich viele Aufsätze Adornos, und gerade die verschlossensten und tiefsten, als heimliche Traktate entziffern. Sie gleichen Labyrinthen, die, um einer inwendigen Klarsicht willen, nach außen gestülpt sind. Aphoristische Form haben hingegen die zugespitzten Gedanken, die ihre Kraft so sehr aus dem Individuierten, aus dem Nichtintegrierten ziehen, daß sich ihr Gehalt der systematischen Form widersetzt.
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Wenn Adorno keine eigentlich systematischen Untersuchungen anstellt, so ist das der genaue Ausdruck nicht nur seiner Auffassung vom Philosophieren, sondern einer bestimmten philosophischen Einsicht. Mit Hegel ist er der Überzeugung, daß die Allgemeinheit der logischen Form dem Individuellen unrecht tut. Aber auch das dialektische Denken, als der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln aufzubrechen, führt im System zu einem Übergang von der reflektierenden Vereinzelung zur verherrlichten Totalität, der in der Geschichte selber so blutig ist wie in Hegels Logik der Geschichte fragwürdig. Adorno bemerkt einmal, daß systematisches Denken immer etwas von dem behalte, was Pariser Künstler >le genre chef d'ceuvre< nennten; sein Widerstand gegen Systemzwang und Hierarchie des Gedankens spiegelt sich in einem Affekt gegen das Hauptwerk. Diesem Affekt hat Adorno ein würdiges Denkmal gesetzt mit den Minima Moralia; denn es ehrt ihn, was die, die ihn mißverstehen, für eine Kränkung halten könnten: Sein Hauptwerk ist eine Sammlung von Aphorismen. Sie darf getrost, als sei sie eine Summe, studiert werden. Adorno macht gegen die starre Logik des deduktiven Zusammenhangs Front; er fordert, daß in einem philosophischen Text alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen sollen, und bringt damit alte hermeneutische Einsichten zu ihrem dialektischen Recht. Denn Texte, die jeden Schritt nach Vorschrift der formalen Logik und der analytischen Methodologie ausweisen würden, wären in der Tat banal oder verwandelten sich aus Texten in Instrumente des wissenschaftlichen Betriebs. In der philosophischen Tradition hat es sie nie gegeben. Der Gedanke, der in eine Sache gerade darum eindringt, weil er den Resonanzboden des Subjekts, von dem er ausgeht, in seine Schwingungen mitaufnimmt, kann die eigene logische Genesis nicht regelrecht nachweisen. Adorno hat diese Einsicht in zwei eigentümlichen Wendungen ausgedrückt. Er plädiert für die »Lücke des Gedankens« und trotzt seiner »advokatorischen Gebärde«. Der triftige Gedanke, heißt es an der einen Stelle, breche das Versprechen, das mit der Form des Urteils selber gesetzt ist - »Diese Unzulänglichkeit gleicht der Linie des Lebens, die verbogen, abgelenkt, enttäuschend gegenüber den Prämissen des
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Lebens verläuft und doch einzig in diesem Verlauf unter den gegebenen Bedingungen der Existenz eine unreglementierte zu vertreten vermag.« Diesem Verzicht auf die lückenlose Beweisführung entspricht der auf das zwingende Rechtbehaltenwollen. In dem Stück, das den Nachsokratikern gewidmet ist, wird dem kalkulierenden Denken ein anderes entgegengehalten, das von Dialog und Dialektik mehr gelernt hat als die Verpflichtung, jede Diskussion schlüssig zu beenden: »Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind ~ solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus -, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. Damit wird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Aufstellen willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von These und Argument. Dialektisch denken heißt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten.« Mit Entrüstung lehnt Adorno stets das Ansinnen ab, seine Vorträge, einem wissenschaftlichen Usus folgend, am Ende noch einmal in Thesenform zusammenzufassen. Thesen sind nicht als ein Abhub legitim, sondern allein, wenn sie die Hauptsache präsentieren, eben ihre Gründe schon enthalten. Adorno mag bei dieser Forderung Marxens Thesen über Feuerbach vor Augen gehabt haben oder auch die geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins - nach dem theologisch-politischen Fragment wohl das philosophisch Bedeutendste, was uns von Benjamin erhalten ist. In einer seiner Thesen ist mit Bezug auf Fouriers Natur-Utopien auch von einer Form der Arbeit die Rede, die imstande sei, die Natur, statt sie auszubeuten, von den Schöpfungen zu entbinden, die als Möglichkeiten in deren Schöße schlummern. Damit ist ein Thema benannt, an dem sich Benjamin, überhaupt das Denken jenes Kreises, in dessen Mitte Adorno der Jüngste ist, entzündet hat. Bloch, Horkheimer, Herbert Marcuse und Gershom Scholem, auch der eher ökonomisch gerichtete Friedrich Pollock - sie alle sind von der Frage in Anspruch genommen: wie Versöhnung der Zivilisation mit der Natur möglich sei. Die Frage ist so in der Form
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des 18. Jahrhunderts gestellt, aber nachmarxisch wird sie aufgefaßt und durch Freud hindurch artikuliert, ohne daß ihr mystisches Potential, welches einst bei Schelling mit dem romantischen zusammenströmte, unterschlagen wäre. Bestimmend bleibt der alte Topos, daß die Menschen ohne Resurrektion der gefallenen, ohne Rückkehr der ebenfalls ins Exil geschickten Natur auf die eigene Emanzipation nicht hoffen dürfen. Die Begriffe, zwischen denen Adorno und Horkheimer das Netz ihrer Dialektik der Aufklärung ausspannen, Ich und Natur, haben den Namen und ihre nächste Bedeutung vom deutschen Idealismus geerbt; aber die gewohnten Pflöcke sind in fremde Erde getrieben. Die Natur zeigt ein furchtbares Gesicht und ein freundliches; über die Natur als befreundeter und lockender liegt jedoch ein eigentümlicher Schatten von Ambivalenz. Diese ist die Unruhe im Uhrwerk des Adornoschen Opus. Furchtbare Züge, wie sie in Mythen festgehalten sind, trägt die Natur, soweit die menschliche Gattung ihr mangelhaftes Dasein daran abarbeiten, gegen sie ein gefährdetes Leben behaupten muß. Im weltgeschichtlichen Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit wächst die technische Verfügungsgewalt über Natur; der animistische Aberglaube an deren Schrecken und die magische Einpassung in ihre Gewalten werden darin Schritt um Schritt entzaubert. Unter dem absoluten Lebenszweck der Unterwerfung der äußeren wie der eigenen Natur wird diese zum Material für die Tätigkeit eines auf unterdrückten Trieben etablierten Ichs. In diesen Zusammenhängen erscheint das identische Ich, an das Aufklärung doch die Hoffnung der Mündigkeit heftet, nur als ein verstocktes Zentrum der Gewalt und der Versagung. Das mit ihm zugleich ausgebildete System des Wissens und der Wissenschaft, samt dem Gestänge der formalen Logik, kann deshalb, wie überhaupt die Intelligenz im Banne physischer Selbsterhaltung, am Ende wieder als ein Organ der Natur selbst aufgefaßt werden. Vernunft spielt hier die Rolle des bloßen Anpassungsinstrumentes statt eines Hebels zur Emanzipation. Zu »immer weiter reichenden Bestien« macht sie die Menschen, und die Zivilisation bleibt selber eine Protuberanz der Natur, indem sie von ihr als der furchtbaren sich losmachen will.
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Erst die mit der Natur versöhnte Zivilisation wäre von solcher Naturwüchsigkeit frei. Erst ihr kehrte die Natur das freundliche Gesicht zu. Dazu bedürfte es freilich der Selbsterkenntnis des Geistes, der sich als eine mit sich entzweite Natur durchschaut - als »Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird«. Dabei verlöre sich die Vernunft nicht etwa an ihr Gegenteil. Die unter den Repressionen der puren Selbsterhaltung erarbeitete Identität des Ichs wird von der Selbstreflexion nicht ausgelöscht. Eine vollendete Individuation hätte nur die verhärtete Kruste abgestreift, die in der bürgerlichen Gesellschaft am Idol der Persönlichkeit haftet. Auch in der einzigen humanen Leidenschaft, der Liebe, in der ein mimetisches Verhältnis zur Natur, eine hingebende Angleichung und Einpassung, die Stelle technischer Naturbeherrschung einnimmt, ist die extreme Individualität gerettet, ist das Ich mit Natur versöhnt, ohne ihr anheimzufallen. Die ganz vom Besitzenwollen gelöste Hingabe ist übrigens die einzige Vokabel, mit der Adorno das Tabu über dem erhofften Zustand verletzt. Für die Utopie gilt das Bilderverbot so streng wie für die messianische Zukunft der Juden. Diesen Kordon einer durchgängig negativen Philosophie durchbricht er an dieser einzigen Stelle. Zärtlichkeit erweckt also in der Hingabe die verlernte Kraft der Mimesis. Sie ist auf dem Niveau der entwickelten Gesellschaft ein Modell der möglichen Versöhnung mit Natur. Glück verspricht aber in der Zivilisation die Natur nicht nur in solchen Antizipationen des eigentlichen Fortschritts, sondern auch in der Euphorie des Rausches, der das Selbst suspendiert. Im Gesang der Sirenen lockt eine amorphe Natur den Menschen zur unvermittelten Rückkehr, bietet ihm ein Entrinnen aus der Zivilisation an, die Erleichterung, sich seiner Identität zu entledigen. Gelegentlich will es scheinen, als ob Adorno selbst diesem Gesang erliege. An ihren schwärzesten Stellen verzweifelt nämlich die Dialektik der Aufklärung an ihrem letzten Umschwung; sie resigniert dann vor der These der Gegenaufklärung, daß sich nicht der Schrecken abschaffen und doch die Zivilisation übrigbehalten lasse, hadernd überläßt sie sich dem destruktiven Sog des Todestriebs. Von Schopenhauer und den Versuchen des Selbst, sich in der Preisgabe an die Natur selber zu überleben, fühlt sich der ältere
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Freund Horkheimer ohnehin eigentümlich angezogen. Der gleiche Topos eines an Natur zurückfallenden Ichs hat bei Adorno eher sexual-utopische und anarchistische Züge. Zuweilen läßt er die Utopie einer mit Zivilisation versöhnten Natur, aus Verzweiflung an deren Möglichkeit, fast unmerklich zurückscheinen und schließlich verschwimmen mit dem Traum jener lockenden Natur, die sich ihre Wohltaten mit der Preisgabe der Individuierung bezahlen läßt. Diese erscheint dann, irritierend genug, nur als ein Fluch, und Mündigkeit als dessen Echo. Adorno bleibt in letzter Instanz unentschieden gegenüber der Ambivalenz, die er im Gesicht der freundlichen Natur wahrnimmt. Damit hängt jene »Lebensfrage des Intellektuellen« zusammen, die er in der »schmählichen Alternative« gestellt sieht: auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben. Gewiß beschränken die Spuren der Anstrengung, durch die Autonomie erworben wird, den Blick: und ein Stück Infantilität macht auch sehend, verbürgt jedenfalls Glück. Nicht zufällig gilt ja die Erwachsenheit, die ihre Kindheit festzuhalten vermag, als das Geheimnis des Genies. Wo aber dieses Ingenium selbst zur Utopie gehört; wo objektive Verhältnisse es verhindern, im Erwachsenen das Kind zu erhalten, während doch beides zusammenzubringen nach wie vor gefordert ist, kann vielleicht erst eine beschwichtigende Regression die Barrieren der beschränkten Mündigkeit, um einer erhärteten Autonomie willen, überwinden. Die Forderung nach der Einheit von Werk und Lebensgeschichte, die in liberalem Geiste Jaspers erhebt und gar den großen Philosophen als Maßstab anlegt, bleibt unter solchen Umständen abstrakt. Wenn es der Zustand der Welt nötig machte, die Unbefangenheit der Theorie durch biographische Gefangenschaft, Mündigkeit durch Regression zu erkaufen, fiele etwas vom Risiko alter Mysterien auf die Philosophie gerade des Intellektuellen zurück. Adorno jedenfalls hat Kafka und Proust seine beiden besten Essays gewidmet. Manche Züge an Adorno, die seine Verehrer und die ihn lieben, am schmerzlichsten treffen, gewinnen in diesem Zusammenhang wohl auch ein Recht. Wenn die Kraft analytischer Einsichten dem Leiden gleich ist, aus dessen Erfahrung sie stammen, dann ist das Maß der Verletzbarkeit und der Verletztheit Adornos philosophisches Potential.
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b) Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung (1969) Beim letzten Zusammensein, vor wenigen Wochen, erzählte Adorno eine Geschichte von Chaplins unnachahmlichem Talent. Es war nach dem Kriege, in Hollywood, auf einer Party für den Hauptdarsteller des Films »Die besten Jahre unseres Lebens«, einen Kriegsverletzten, der beide Hände verloren hatte. Adorno, als einziger ahnungslos, gab dem gefeierten Helden die Hand und zuckte zusammen, als er - statt ihrer - die metallene Klaue der Unterarmprothese fühlte. Chaplin muß in diesem Augenblick blitzschnell reagiert und Adornos leibgewordenes Entsetzen ebenso wie den hoffnungslosen Versuch, es zu überspielen, in Pantomime übersetzt haben. Natürlich ist diese Geschichte über Chaplin eine über Adorno. Er hat die Kälte das Prinzip der bürgerlichen Subjektivität genannt, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Er hat noch in der unverdächtigsten Normalität erkaltete Lebendigkeit dechiffriert. In diesem zur Virtuosität ausgebildeten Spürsinn bekundet sich nicht, wie Bloch vermutet hat, der böse Blick des erfahrenen Misanthropen, sondern ein Stück nicht entäußerter, stets aufstörbarer und immer wieder betroffener Naivität. Inmitten der Geselligkeit, die doch für den Anblick des unbeseelten Körperteils eigens veranstaltet war, hatte die Kälte des Metalls Adorno unvorbereitet getroffen. Was die sprachlose Mimesis des großen Clowns für jenen flüchtigen Augenblick vermocht hat, nämlich die Spannung des Erschauernden und des nach Fassung Suchenden aufzulösen, das mag ein Motiv für die Sprache Adornos und für seine beschwörenden Analysen geblieben sein. In Adornos letztem philosophischem Werk, der »Negativen Dialektik«, findet sich ein schwieriger Satz, der den Zentralgedanken der »Dialektik der Aufklärung« in einem Atemzug zusammenrafft: »Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und
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der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr redigiert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur, einzig als deren Reflexion wäre sie Übernatur.« Adorno hat die Odyssee benützt, um fast verlorene Spuren einer Urgeschichte der Subjektivität zu sichern. Die Episoden der Irrfahrt des im doppelten Sinne Verschlagenen enthüllen die Krisen, die das Selbst im Prozeß der Bildung der eigenen Identität an sich und mit sich erfährt. Der listige Odysseus entzieht sich den animistischen Zaubern und den mythischen Gewalten, er entrinnt den rituell geforderten Opfern, indem er sich ihnen zum Scheine unterwirft. Der einsichtsvolle Betrug an jenen Institutionen, die den Zusammenhang zwischen der übermächtigen Natur mit einem mimetisch sich anschmiegenden, noch diffusen Selbst zunächst erhalten, ist ursprüngliche Aufklärung. Mit diesem Akt bildet sich ein identisch beharrendes Ich und gewinnt dadurch Gewalt über eine entseelte Natur. Das Ich erwirbt seine innere Organisationsform in dem Maße, als es, um die äußere Natur zu bezwingen, das Amorphe in sich, die innere Natur, bezwingt. Auf dieses Verhältnis von Autonomie und Naturbeherrschung pocht das triumphierende Selbstbewußtsein der Aufklärung. Deren undialektische Selbstgewißheit stellt Adorno in Frage. Wenn die Unterjochung der äußeren Natur nur im Maße der Unterdrückung der eigenen gelingt, schlägt die wachsende technische Verfügungsgewalt auch auf die Subjektivität zurück, die sich in diesen Eroberungen formiert. Schon die ursprüngliche Konstituierung eines sich dauerhaft mit sich selbst identifizierenden Ich resultiert, nach Adornos Vermutung, aus der Auflösung jenes zerfließend sympathetischen (wie zugleich mörderischen) Zusammenhangs mit Natur, den die im Ritual festgehaltene Opferung des Selbst zu erhalten versprach. Die Geschichte der Zivilisation entspringt dann aber einem Akt der Gewalt, der Menschen und Natur gleichermaßen widerfährt. Der Siegeszug des instrumentalen Geistes ist die Geschichte der Introversion des Opfers, also der
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Entsagung, nicht weniger als die Geschichte der Entfaltung der Produktivkräfte. In der Metapher der Beherrschung von Natur klingt diese Verkuppelung von technischer Verfügungsgewalt und institutionalisierter Herrschaft noch an: Naturbeherrschung ist an die introjizierte Gewalt von Menschen über Menschen, an die des Subjektes über seine eigene Natur gekettet. So ist auch das Vertrauen, das Marx in die Entfaltung der Produktivkräfte als solche gesetzt hat, voreilig. Der Freiheitsspielraum der wachsenden technischen Verfügungsgewalt kann für die Revolutionierung der gesellschaftlichen Verkehrsformen nicht mehr ausgeschöpft werden, wenn unterdessen die Subjekte durch eben den instrumentalen Geist selber verstümmelt worden sind, der das Potential der Befreiung geschaffen hat. Darin besteht die Irrationalität einer Aufklärung, die sich nicht reflektiert: »Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.« Im positivistischen Gemeinbewußtsein spiegelt sich heute der Unwille und die Unfähigkeit, die Dimension überhaupt wahrzunehmen, in der sich Subjektivität geschichtlich verändert: als seien die Subjekte in den Höhlen von Altamira und in der Mondkapsel die gleichen. Die spezifische Sprachlosigkeit derer, die zur Versinnlichung eines gigantisch nach außen gerichteten Unternehmens schließlich den Mond betreten haben, und das ebenso sprachlose Echo der Zuschauenden könnten eines angezeigt haben: daß stillgestellt ist, was Hegel einst Erfahrung des Bewußtseins genannt hat. Astronauten, und wir mit ihnen, gehören nicht in die Reihe der Nachfahren des Odysseus. Dessen naturwüchsiges Schicksal setzt sich freilich fort, solange die Reproduktion des Lebens den Bann bloßer Selbstbehauptung, erst recht dort, wo Selbstbehauptung luxuriert, nicht bricht. Die neue Transzendenz gegenüber kommunizierbaren Bedürfnissen verselbständigten wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist »verwilderte Selbstbehauptung«. Wenn die Diagnose, die Adorno und Horkheimer dem Zeitalter mit Berufung auf Dialektik der Aufklärung stellen, stimmt, ergibt sich allerdings die Frage nach dem Privileg der Erfahrung, das die Autoren gegenüber der verkümmerten zeitgenössischen Subjektivi-
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tat in Anspruch nehmen müssen. In der Einleitung zu den »Minima Moralia«, die sich ohne Ironie als Lehre des richtigen Lebens verstehen, hat Adorno eine Antwort zu geben versucht. Die individuelle Erfahrung stütze sich notwendig auf das alte Subjekt, das historisch bereits verurteilt ist - »das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich«. Wenn wir mit Hegel das Verschwindende selbst als wesentlich betrachten wollen, dann ist die im Verschwinden begriffene bürgerliche Subjektivität das Wesen, das seine zerfaserte Substanz heute im Leiden an einer überwältigenden Objektivität gesellschaftlichen Zwangs erfährt. Psychologisch, mit dem Blick auf Adornos Person, ist diese Auskunft überzeugend. Etwas von der schiefen und gebrechlichen Stellung eines noch für sich, aber nicht mehr an sich seienden Subjekts hat die unvergleichlich glanzvolle Genialität Adornos stets auch durchscheinen lassen. Adorno hat die Alternative von Kindbleiben oder Erwachsenwerden nie akzeptiert; er hat weder Infantilismus in Kauf nehmen, noch den Preis einer starren Abschirmung gegen Regression, und sei's eine im »Dienste des Ich«, zahlen wollen. In ihm ist eine Schicht früher Erfahrungen und Einstellungen lebendig geblieben. Dieser Resonanzboden hat auf die widerständige Realität überempfindlich reagiert: enthüllend für das Grelle, Einschneidende, Verletzende der Realität selber. Dieser Komplex von Primärem war gelegentlich abgekapselt wirksam im Verhalten, stets aber befand er sich in freier Kommunikation mit dem Denken, gleichsam zum Intellekt hin geöffnet. Die Verletzbarkeit der Sinne und die Unerschrockenheit des angstfreien Denkens gehörten zusammen. Diese Gunst, die nicht einfach Begabung gewesen ist, hat trotz allem ihren Tribut verlangt. Schutzlos war Adorno nicht, weil er von einem besonders bitteren Schicksal verfolgt gewesen wäre. Das sagt sich nicht leicht angesichts einer sehr realen Vertreibung des antisemitisch Geächteten aus der Heimat und einer gewiß lastenden Zeit der Emigration. Aber jenes nicht abgeschnittene Primäre hat nur unter Bedingungen relativer Schonung gedeihen können, in einem befriedeten Raum, den erst Mutter und Tante, später Gretl, seine Frau und seine Mitarbeiterin, gehütet haben. Schutzlos war Adorno aus einem anderen Grunde: Gegenüber »Teddie« konnte man umstandslos
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die Rolle des »richtigen« Erwachsenen ausspielen; denn dessen realitätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungsstrategien sich anzueignen ist Adorno nie imstande gewesen. In allen Institutionen ist er ein Fremdling gewesen - nicht, als hätte er das gewollt. Seiner Universität, wenn diese Verallgemeinerung erlaubt ist, war der ungewöhnliche Kollege nie recht geheuer, wenn nicht gar suspekt. Die Schulphilosophie, wenn dieses Wort hier zureicht, hat den ungewöhnlichen Intellektuellen nicht eigentlich anerkannt. Und selbst in der literarischen Öffentlichkeit, die er anderthalb Jahrzehnte wie kaum ein zweiter bestimmte, hat Adorno keinen der offiziellen Preise erhalten. So war denn seine Freude unverhältnismäßig, als ihn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu ihrem Vorsitzenden machte. Schutzlos war Adorno unter ungebrochenen Erwachsenen, in Situationen also, in denen die Routinierten seine Schwächen ausnutzten, weil sie nicht wußten oder nicht wahrhaben wollten, daß Adornos spezifische Schwächen zutiefst mit seinen eminenten Qualitäten verknüpft waren. Solche Routiniers gab es eben auch unter seinen Studenten. Freilich hat in letzter Zeit auf Adorno vieles andere gelastet, auch Kränkungen, die mit wenigen Sätzen zu entwaffnen gewesen wären. Ich erwähne nur die von mehreren Seiten vorgetragene Kritik an Adornos Benjamin-Ausgabe. Sie zielt dahin, daß Adorno den materialistischen, den marxistisch Partei ergreifenden Benjamin unterdrückt habe. Der Vorwurf gründet sich insbesondere darauf, daß Adorno seinerzeit eine dreiteilige Arbeit Benjamins über Baudelaire kritisiert und zurückgewiesen hat. Die von Benjamin daraufhin umgearbeitete Fassung des mittleren Teils ist 1940 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht und später in die zweibändige Auswahlausgabe aufgenommen worden. Die ursprüngliche Fassung des »Baudelaire« erscheint übrigens in diesem Herbst. Nun bestätigen aber die Briefe, die in dieser Angelegenheit zwischen Benjamin und Adorno im November/Dezember 1938 gewechselt worden sind, jedem unbefangenen Leser, was er ohnehin erwarten darf und Benjamin selbst nie bestritten hätte: daß Adorno auch in dieser Streitfrage der theoretisch Reflektiertere und vor allem der kenntnisreichere und sattelfestere Marxist gewesen ist. Gerade unter marxistischen Voraussetzungen ist seine Argu-
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mentation zwingend. Wie immer man sonst die Argumente bewerten will, der Vorwurf der antimarxistischen Benjamin-Verfälschung gehört auf die Ebene schlichter und überdies schlechter Agitation. Benjamin hat, nach Scholem, vor allem Adorno nahegestanden; Adorno hat mit ihm kommuniziert, von ihm gelernt und auch ihn wiederum angeregt. Mit der Benjamin-Ausgabe und seinen Benjamin-Interpretationen, mehr noch mit dem unermüdlichen Rekurs auf Benjaminsche Motive in seinen eigenen Schriften, hat erst Adorno, und er allein, das Denken des Freundes zu einem unverfälschten und unverlierbaren Bestandteil der deutschen Diskussion gemacht. Darum hat ihn die ridiküle Polemik derer, die Benjamin durch ihn kennengelernt haben, so betroffen gemacht. Einer von Adornos Schülern hat dem Lehrer ins offene Grab nachgerufen: er habe am bürgerlichen Individuum unwiderstehlich Kritik geübt und sei doch selbst in dessen Ruine gebannt geblieben. Das ist wohl wahr. Daraufhin aber mit dem wohlvertrauten Gestus »Was fällt, soll man stoßen« zu fordern, Adorno hätte eben auch die Kraft haben sollen, die letzte Hülle »radikalisierter Bürgerlichkeit« abzustreifen (und den Aktionisten die Fahne voranzutragen), beweist nicht nur, was uns hier nicht beschäftigt, politische (und psychologische) Torheit, sondern zunächst einmal philosophisches Unverständnis. Denn die historisch gewordene Gestalt des bürgerlichen Individuums wäre mit Willen und gutem Gewissen, und nicht nur mit Trauer, erst dann zurückzulassen, wenn aus der Auflösung des alten Subjekts schon ein neues entsprungen wäre. Nun hätte sich Adorno das Fabulieren über ein »neues Subjekt« nie angemaßt. Aber eines war ihm gewiß: daß Freiheit, die das polemische Gegenbild zum Leiden unter gesellschaftlichen Zwängen wäre, nicht nur die Repressivität des Ich-Prinzips aufheben, sondern auch dessen Widerstandskraft gegen ein Zerfließen ins Amorphe der eigenen Natur wie des Kollektivs bewahren müßte. In einem Text, der übrigens den üblichen Standards der Schulphilosophie weiß Gott genügt, hat Adorno die Zusammengehörigkeit der beiden Momente gezeigt. Dort entfaltet er die Aporien des Kantischen Begriffs des intelligiblen Charakters und bestimmt »Freiheit« folgendermaßen: »Frei sind die Subjekte, nach Kantischem Modell, so weit, wie sie ihrer selbst bewußt, mit sich
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identisch sind; und in solcher Identität auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren. Unfrei sind sie als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen, auch des Zwangscharakters der Identität ledig werden. Die Aporie hat den Grund, daß Wahrheit jenseits des Identitätszwangs nicht dessen schlechthin anderes wäre, sondern durch ihn vermittelt.« Dieser Satz spricht das Recht aus, das die unwahre bürgerliche Subjektivität noch in ihrem Verschwinden gegenüber dessen falscher Negation behält. Das hat Adorno gewußt und ist deshalb nicht über seinen Schatten gesprungen. Den Impetus, von dem die »Dialektik der Aufklärung« getragen war, hat Adorno in der »Negativen Dialektik«, die nun sein philosophisches Testament geworden ist, wiederaufgenommen: zu retten, was der identifizierende Geist am Objekt abschneiden muß - das Nichtidentische. Der Begriff des Nichtidentischen ist in der Deutung des Odysseus vorgebildet. Er zielte dort auf das vorgeschichtlich amorphe Selbst, das der Disziplinierung eines mit sich identischen und darum des identifizierenden Denkens fähigen Ichs verfällt. Nun aber steht Nichtidentität für alles, »was an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird ... Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« Damit ist die von Hegel einst entfaltete Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen aufgenommen. Sie ist am Modell der umgangssprachlichen Kommunikationen gewonnen worden und kann daran auch plausibel gemacht werden. Daß wir konkrete Gegenstände in expliziter Rede niemals vollständig beschreiben können, ist eine triviale Einsicht. Indem wir über ein Besonderes, eben ein Ding, ein Ereignis oder eine Person eine Aussage machen, wird es jeweils im Hinblick auf eine allgemeine Bestimmung erfaßt; dabei läßt sich die Bedeutung des Besonderen durch fortgesetztes Subsumieren unter solche Allgemeinheiten nicht »erschöpfen«. Sobald aber Subjekte miteinander (und nicht nur über objektivierte Sachverhalte) sprechen, treten sie sich mit dem Anspruch gegenüber, als unvertretbare Individuen in ihrer absoluten Bestimmtheit anerkannt zu werden. Diese Anerkennung
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verlangt die paradoxe Leistung, mit Hilfe prinzipiell allgemeiner Bestimmungen und gleichsam durch diese hindurch, die volle Konkretion desjenigen, der mit diesen Allgemeinheiten gerade nicht identisch ist, zu fassen. Dieses Moment Nichtidentität in den unvermeidlichen Identifizierungen wendet Adorno gegen den Zwang der formalen Logik, welche das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem undialektisch bestimmen muß. Insoweit erneuert er nur Hegels Kritik an den Schranken des Verstandesdenkens, ohne die freilich Denken prinzipiell unmöglich wäre. Adorno kehrt aber diese Kritik noch einmal gegen Hegel selber. Auch Hegels Dialektik erweist sich am Ende als gleichgültig gegenüber dem Eigengewicht des individuierten Einzelnen. Hegel begreift nämlich Totalität, beispielsweise eine Gesellschaft, die das Besondere, die miteinander verkehrenden Individuen, durch Allgemeines, durch die Kategorien der gesellschaftlichen Arbeit, der politischen Herrschaft und deren Legitimationen, vermittelt, keineswegs als einen Zwangszusammenhang. Er hat deshalb nicht gesehen, daß die rekonstruierende Kraft der Dialektik nur solche Beziehungen aufschließen kann, die sich erst aus der Unterdrükkung zwangloser Kommunikation ergeben: nämlich die Gewaltverhältnisse systematisch verzerrter Kommunikation, unter denen die Individuen einander nicht als die erkennen, wozu ein objektiver Zusammenhang sie macht. Gesellschaft ist, nach einem Wort Adornos, ebenso ein Inbegriff von Subjekten wie deren Negationwäre sie es nicht mehr, dann wäre auch der Zwangszusammenhang zerfallen, dessen Dialektik sich inwendig bemächtigt, um ihn zu lösen. In diesem Sinne gilt Adorno das Ganze, das dialektisches Denken zu entschlüsseln trachtet, als das »Unwahre« - obgleich dann Hegels Kategorie der Unwahrheit nur mehr ironisch gegen Hegel gedacht sein kann. Das Schlüsselwort der Negativen Dialektik ist der »Vorrang des Objektiven«. Mit ihm verbindet Adorno einen vierfachen Sinn. Zunächst bezeichnet Objektivität das Zwingende eines welthistorischen Zusammenhangs, der unter der Kausalität des Schicksals steht. Er kann durch Selbstreflexion aufgebrochen werden und ist im ganzen kontingent. Vorrang des Objektiven meint sodann das Leiden an dem, was auf den Subjekten lastet. Erkenntnis des
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objektiven Zusammenhangs entspringt daher dem Interesse an der Abwendung des Leidens. Weiter meint das Wort die Priorität der Natur vor aller Subjektivität, die sie aus sich heraussetzt. Das reine Ich, kantisch gesprochen, ist durchs empirische vermittelt. Dieser materialistische Vorrang des Objektiven ist schließlich unvereinbar mit einem absolutistischen Erkenntnisanspruch. Selbstreflexion, und gerade sie, ist eine endliche Kraft, denn sie gehört dem objektiven Zusammenhang, den sie durchdringt, selber an. Diese prinzipielle Fehlbarkeit veranlaßt Adorno, für einen »Zusatz von Milde« zu plädieren: »Auch der Kritischste wäre im Stande der Freiheit ein ganz anderer gleich denen, die er verändert wünscht. Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie. Das sollte dem Bewußtsein des Intellektuellen, der nicht mit dem Weltgeist sympathisiert, inmitten seines Widerstands ein Quentchen Toleranz beimischen.« Auch das Vermögen des Erkennens ist der Hinfälligkeit des Subjektes und dessen Beschädigung nicht enthoben. Wenn es sich so verhält, kehrt aber die Frage wieder, wie kritisches Denken selber zu rechtfertigen sei. Unsere psychologische Antwort genügt dieser Frage nicht; sie verlangt, daß wir die Rechtsgründe der Kritik namhaft machen. Adorno hat sich hartnäckig geweigert, eine affirmative Antwort zu geben. Er hat auch bestritten, daß der Hinweis auf die Negation des erfahrenen Leides solche Rechtsgründe enthalte. Dieser Hinweis, ohnehin das Äußerste, habe keine Implikate im Sinne einer bestimmten Negation. Und doch untersteht Adorno dem systematischen Zwang, immer wieder die Idee der Versöhnung in Anspruch zu nehmen. Dem kann Adorno sich nicht entziehen. Sobald nämlich Leiden sublimiert ist über den unmittelbar physischen Schmerz hinaus, läßt es sich nur negieren, wenn zugleich ausgesprochen wird, was denn das unter der Objektivität des gesellschaftlichen Zwanges Unterdrückte sei. Das hat Adorno einmal anknüpfend an Eichendorffs Wort von der »Schönen Fremde«, das sich über das sentimentalische Leiden an der Entfremdung, über Romantik erhebt, getan: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein
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Glück daran, daß das Fremde in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« Wer sich auf diesen Satz besinnt, wird gewahr, daß der umschriebene Zustand, obgleich nie real, uns doch der nächste und bekannteste ist. Er hat die Struktur des Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation. Und ein solches antizipieren wir notwendig, seiner Form nach, jedesmal dann, wenn wir Wahres sagen wollen. Die Idee der Wahrheit, die im ersten gesprochenen Satz schon impliziert war, läßt sich nämlich allein am Vorbild der idealisierten, in herrschaftsfreier Kommunikation erzielten Übereinstimmung bilden. Insofern ist die Wahrheit von Aussagen an die Intention eines wahren Lebens gebunden. Nicht mehr als dieses in alltäglicher Rede Implizierte, aber auch nicht weniger nimmt Kritik ausdrücklich in Anspruch. Nicht mehr und nicht weniger als diese formale Antizipation richtigen Lebens muß auch Adorno unterstellen, wenn er mit Hegel das identifizierende Denken des Verstandes und an Hegel wiederum den Identitätszwang der idealistischen Vernunft kritisiert. Gleichwohl hätte Adorno dieser Konsequenz nicht zugestimmt und darauf beharrt, daß die Metapher der Versöhnung das einzige ist, was sich sagen läßt, und auch das nur, weil diese Metapher dem Bilderverbot genügt und sich selbst gleichsam durchstreicht. Das ganz andere läßt sich nur in unbestimmter Negation bezeichnen, nicht erkennen. Diese Inkonsequenz, die Adornos Philosophie einem vermeidbaren Einwand aussetzt, hat ein tiefliegendes Motiv. Wenn die Idee der Versöhnung in der Idee der Mündigkeit, des Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation »aufginge« und in Form einer noch ausstehenden Logik der Umgangssprache sich entfalten ließe, dann wäre diese Versöhnung nicht universal.1 Sie enthielte nicht die Forderung, daß Natur die Augen aufschlägt - daß wir im versöhnten Zustand mit Tieren, Pflanzen und Steinen reden. Im Namen einer Humanisierung der Natur hat auch Marx an dieser Idee festgehalten. Wie er hegte Adorno, und hegen mit ihm ein Kreis von Denkern: Benjamin, Horkheimer, Marcuse, natürlich Bloch, 1 Vgl. jetzt meinen Ansatz zu einer Theorie der sprachlichen Kommunikation, in: J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Ffm. 1971.
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Zweifel, ob Emanzipation der Menschen ohne Resurrektion der Natur möglich sei. Könnten die Menschen ohne Unterdrückung und angstfrei miteinander sprechen, ohne daß sie zugleich mit der sie umgebenden Natur geschwisterlich umgingen? Die »Dialektik der Aufklärung« bleibt im Tiefsten unentschieden darin, ob nicht mit jenem ersten Akt der gewaltsamen Selbstbehauptung, der zugleich technische Verfügung über die äußere Natur und Repression der eigenen bedeutet, ein sympathetischer Zusammenhang zerrissen ist, den Versöhnung wiederherstellen müßte; oder ob universale Versöhnung nicht vielmehr eine überschwengliche Idee ist. Vielleicht kann man sagen, daß wir Natur, in der methodischen Einstellung von Wissenschaft und Technik, gewissermaßen »unterdrücken«, weil wir sie nur im Verhältnis unserer eigenen Imperative »zu Wort kommen« lassen - statt sie von ihr selber her aufzufassen und zu behandeln. Der Schmerz darüber ist von einer Jahrtausende währenden jüdisch-christlichen Überlieferung verschüttet worden, wenn auch nicht ohne Spuren in deren apokryphem Untergrund. Ungekränkt machen wir uns die Erde und nun ein geheimnisloses Universum, Untertan. Dagegen kann »Dialektik der Aufklärung« geltend machen, daß wir uns der so nachhaltig verdrängten Trauer über das, was wir einer technisch beherrschten Natur antun, erinnern müssen, um der Repression der eigenen Natur, und das heißt der Entstellungen der Subjektivität innezuwerden. Offensichtlich können wir aber um der Aufhebung vermeidbarer gesellschaftlicher Repressionen willen auf die lebensnotwendige Ausbeutung der externen Natur nicht verzichten. Der Begriff einer kategorial anderen Wissenschaft und Technik ist so leer wie die Idee der universalen Versöhnung grundlos. Diese hat ihren Grund vielmehr in einem anderen: im Bedürfnis der Tröstung und der Zuversicht angesichts des Todes, das die inständigste Kritik nicht erfüllen kann. Dieser Schmerz ist ohne Theologie untröstlich, obgleich nicht einmal er indifferent sein dürfte gegenüber einer Gesellschaft, deren Reproduktion der Ausbeutung unserer unterdrückten Ängste nicht mehr bedürfte. Adorno, ganz unbeirrt atheistisch, hat gleichwohl gezögert, die Idee der Versöhnung zu der der Mündigkeit zu mildern. Er hätte
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gefürchtet, das Licht der Aufklärung zu trüben, denn »kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene«. Damit mag des weiteren zusammenhängen, daß Adorno, dem theoretische Anstrengung zweite Natur war, den Ansprüchen regelrechter Theorie mißtraut hat. Adorno hat sich mit »Modellen« absichtlich beschieden. Ein junger Kritiker, der seines Hegel noch sicher ist, hat ihm einmal vorgehalten, daß die Theorie, die das Ganze der Gesellschaft als das Unwahre begreife, eigentlich eine Theorie der Unmöglichkeit von Theorie sei. Verhältnismäßig mager sei denn auch der materielle Gehalt der Theorie der Gesellschaft: eine Reprise der Marxschen Lehre. Das wird man nach Adornos Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologenkongreß über »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft« so nicht aufrechterhalten können. Aber ein Punkt ist doch berührt. Adorno war überzeugt, daß das Identitätsprinzip in dem Maße zur universalen Herrschaft gelangt ist, als die bürgerliche Gesellschaft dem Organisationsprinzip des Tausches unterworfen worden ist: »Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Aubeutung des (Tausch)prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.« Der Tausch vollzieht die abstrahierende Operation handgreiflich real. In dieser »Urverwandtschaft« zwischen identifizierendem Denken und Tauschprinzip hat Adorno das Bindeglied zwischen der Kritik des instrumentellen Geistes und der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft gesehen. Die Verbindung als solche hat ihm genügt, um für diese Theorie dann ein wenig zu rasch die von Marx überlieferten Analysen einzusetzen. Mit politischer Ökonomie hat Adorno sich nicht befaßt. Albrecht Wellmer hat in seinem jüngst erschienenen Buch über »Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus« auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die eintritt, wenn die Dialektik der Aufklärung als eine geschichtsphilosophische Verallgemeinerung der Kritik der politischen Ökonomie mißverstanden und stillschweigend an deren Stelle gesetzt wird. Dann nämlich kann die Kritik des instrumenteilen Geistes als Schlüssel zu einer Ideologie-
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kritik, zu einer an beliebigen Objektivationen des beschädigten Lebens ansetzenden Tiefenhermeneutik dienen, die sich selbst genug ist und der empirischen Fortbildung der Gesellschaftstheorie nicht mehr bedarf. Adorno hat sich dieses Mißverständnis natürlich niemals zuschulden kommen lassen. Aber der Aktionismus einiger Schüler läßt vermuten, daß sie die ideologiekritische Entschlüsselung des objektiven Geistes, an die Adorno in seinen materialen Arbeiten bewunderungswürdig alle Energie gewendet hat, mit einer Theorie der spätkapitalistischen Gesellschaft schlicht verwechseln. Daß Praxis mißlingt, läßt sich nicht allein dem geschichtlichen Augenblick zurechnen. Dazu mag auch der Umstand beitragen, daß die ungeduldigen Praktiker von der Unvollkommenheit der Theorie keinen rechten Begriff haben. Sie wissen nicht, was alles, beim gegenwärtigen Stand, sie gar nicht wissen können. Bei diesem Stand war Adornos Hilfe unentbehrlich. Sie ist uns durch seinen Tod genommen. Für sie ist kein Ersatz, kein noch so schmächtiger.
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8. Alexander Mitscherlich a) Eine psychoanalytische Konstruktion des Fortschritts (1963) Zu Beginn der dreißiger Jahre konnten die großangelegten Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung noch unter dem Titel Autorität und Familie zusammengefaßt werden; noch vor einer Generation also hatten sich die gesellschaftlichen Strukturen nicht grundsätzlich geändert im Vergleich zu den Verhältnissen um die Jahrhundertwende, unter denen die Patienten Sigmund Freuds aufgewachsen waren und ihre Konflikte ausgebildet und ausgetragen hatten. Die Autorität des Vaters war bis dahin in den bürgerlichen Kleinfamilien nicht erschüttert; diese durften nach wie vor als Agenturen einer vorwiegend paternistischen Gesellschaft aufgefaßt werden. Sozialpsychologisch waren die Beziehungen von Befehl und Gehorsam auch in den außerfamilialen Bereichen, in der Berufssphäre und im politischen Leben, nach dem Vater-SohnModell eingeübt. Heinrich Mann hat die spezifischen Züge der wilhelminischen Vatergesellschaft vor allem im Habitus der bürgerlichen Akademiker, im Schneid und in den Ängsten von Reserveoffizieren, Gymnasialprofessoren und Juristen festgehalten. Vom Konflikt der Söhne mit den Vätern lebte das ganze expressionistische Theater. Inzwischen muß gerade eine Sozialpsychologie, die von den Erfahrungen der Psychoanalyse belehrt ist, Wandlungen der Vater-Autorität, der gesellschaftlichen Autoritätsverhältnisse insgesamt feststellen. Mitscherlich faßt diesen Strukturwandel mit dem eigentümlich dialektischen Begriff der »Vaterlosigkeit«.1 Er knüpft dabei an zwei Tatbestände an. Die Stellung des Vaters wird in demselben Maße, in dem der wachsenden Schicht der abhängig Arbeitenden ökonomische Selbständigkeit und freie Dispositionsbefugnisse versagt sind, auch innerhalb der Familie geschwächt. Zudem verschwindet der Vater, soweit er sich beruflich produziert und sein Können demonstriert, 1 Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963.
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auch aus dem Gesichtskreis der Familie. Statt dessen wächst die Bedeutung anderer Mittelspersonen, etwa der Lehrer. Über das Schulsystem und die Massenmedien wirkt die Gesellschaft immer häufiger über den Kopf des Vaters hinweg auf die Heranwachsenden unmittelbar. An dieser Form der unvermittelten Sozialisierung der Einzelnen durch außerfamiliale Instanzen zeigt sich die Kehrseite des Abbaus väterlicher Autorität. Einst hatte sie ja die Normen und Sanktionen der Gesellschaft nicht nur umgesetzt, sondern in der Familie als einem privaten Bereich auch gebrochen. Schon Herbert Marcuse hat darauf hingewiesen, daß die Familie, solange sie einen intakten Privatbereich sicherte, nicht nur das Realitätsprinzip verkörperte, sondern auch die Individuen in ihrer Fähigkeit zur Resistenz gegen die öffentliche Macht gestärkt hat. Die erschütterte Autorität innerhalb der Familie setzt deshalb nicht nur Möglichkeiten der Emanzipation frei; zugleich räumt sie auch einer ungebrochenen Sozialisierung der Kinder im Interesse der öffentlichen Macht das Feld erst ein. Mitscherlich macht diese ambivalenten Folgen an den Konfliktlagen der Kinder deutlich, deren Wachstumskrisen sich dadurch verschärfen und verlängern, daß ihr früher Identifikationshunger nicht mehr angemessen gestillt wird: sie erfahren den Vater in seinen Stimmungen, nicht aber in seinen Leistungen, und sind daher weithin vom identifizierenden Beobachten und Lernen ausgeschlossen. Vorzügliche Traumanalysen (S. 24/ff.) überzeugen von einer generationstypischen Verschleppung der Ödipusproblematik, die unaufgearbeitet fortdauert: gerade der unsichtbare, der tote Vater, der nicht eigentlich mehr getötet zu werden braucht, bleibt im unbewußten Erlebnis eine bedrohliche Macht. Die Rede von der vaterlosen Gesellschaft spielt deshalb ebenso auf den Verlust erster Beziehungspersonen an wie andrerseits auch auf die Notwendigkeit, dem unsichtbar gewordenen Vater im Ernst zu entwachsen und damit eine neue Stufe in der Evolution zum Bewußtsein, in der Emanzipation der ganzen Gesellschaft zu erreichen. Die gleiche Dialektik enthüllt uns der andere Tatbestand: die erschütterte Vaterautorität in den Bereichen der Politik. Kein identifizierbarer Einzelner, keine physiognomisch anschauliche Gruppe von Einzelnen hält die politische Herrschaft mehr in
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Händen; damit ist prinzipiell der Weg zu einer »Geschwistergesellschaft« gewiesen, die sich nicht mehr in erster Linie hierarchisch, sondern horizontal, also zwischen Gleichberechtigten organisiert. Den Terminus »vaterlose Gesellschaft« hat Paul Federn 1919 mit dem Blick auf die Versuche, ein Rätesystem zu etablieren, geprägt. Freilich genügt diese Erinnerung, um uns zu warnen, die Demokratisierung der Formen, und eine wachsende Anonymität der Ausübung politischer Herrschaft mit dem tatsächlichen Abbau repressiver Gewalt zu verwechseln. Hier wie in der Familie ist vielmehr der Schritt zur Vaterlosigkeit um so vieles mehr mit regressiven Ängsten statt mit kritischer Einsicht besetzt, daß die angstbereite und vorurteilsgesteuerte Reaktionsbereitschaft der großen Massen alte Abhängigkeiten unter den neuen Verhältnissen allenfalls homogenisiert. Mitscherlich glaubt, in der unpolitischen Forderungshaltung gegenüber dem sozialen Fürsorgestaat die rivalisierende Bettelhaltung gegenüber der fütternden Elternfigur zu erkennen. Nach dem Rückzug aus der Vaterwelt der artikulierten Leistungen und ihrer Risiken blieben nur orale Bedürfnisse und eine infantile Gestimmtheit, die sich von überlebten Erziehungsmethoden für die unmündige Integration in Zwangskollektive nutzen lassen: »Was wir zu unseren Lebzeiten beobachten konnten war doch, daß neue Herrschaftsordnungen, die Freiheiten zu bringen versprachen ..., sofort ein Gleichgewicht zu ihren Gunsten herzustellen suchten. Die prätendierte Unfehlbarkeit, die die Sicherheit der Väter übertrumpfen will, ist in Wahrheit eine Reaktionsbildung auf die tatsächliche Unsicherheit der Lage. Auch ein anderes Zeichen beweist das: die ins Paranoische gesteigerte Angst vor Verfolgern. Um ihnen zu entgehen, wird sogleich ein externalisiertes Gewissen etwa in Form einer unfehlbaren Partei und ihrer geheimen, alles wissenden Polizei etabliert ... Die Kunst solcher Staatsführung besteht dann darin, die libidinösen Zuwendungen zur Idealisierung der Favoriten auszunützen und die aggressiven Impulse auf Sündenböcke zu übertragen.« Mitscherlich sieht daher Grund genug, die Frage offenzulassen, »ob die Partialsozialisierung des Menschen, wie sie im Äon der Vaterherrschaft sich vollzogen hat, mächtig genug ist, die aggressiven Triebüberschüsse, die sich in den gegenwärtigen Kulturformen bilden, rechtzeitig zu neutralisieren«.
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Die großartige Leistung dieses Buches ist es, diese Frage, wenn schon nicht zu beantworten, so doch präzise zu stellen. In Kenntnis der Genealogie herrschender Moralen (die allemal durch repressive, das heißt unversöhnte Triebverzichte erzwungen sind und daher vom Kulturzwang zur bösen Tat, dem mythischen Wiederholungszwang noch in den fortgeschrittensten Gesellschaften, nicht loskommen) entfaltet diese Untersuchung den Widerspruch zwischen der objektiv geforderten Stärkung des kritischen Bewußtseins und den Erziehungs- wie Herrschaftspraktiken einer substantiell schon ausgehöhlten Vatergesellschaft. Es geht um den Nachweis, »daß eine Moral, die zu einem Anwachsen der Verantwortung im Ich statt zu einem Verharren unter Geboten im Über-Ich erzieht, vom soziogenetischen Prozeß der Evolution gefordert ist«. Dieser Nachweis gelingt mit Mitteln einer analytisch orientierten Sozialpsychologie zweiter Stufe; sie nimmt nämlich den historischen Zusammenhang der Freudschen Lehre mit der letzten Gestalt einer paternistischen Gesellschaft in ihre Reflexion mit auf und bewährt gerade darum die alten Kategorien in Anwendung auf die gewandelten gesellschaftlichen Strukturen und die ihnen entsprechenden triebdynamischen Konfliktmuster der individuellen Entwicklung. Wie eine Probe aufs Exempel erscheint mir die Ungezwungenheit, mit der sich die Erkenntnisse der neueren Anthropologie den Theorien analytischer Herkunft einfügen lassen. Mir ist bei der Lektüre dieses Buches zum ersten Mal klargeworden, daß die zentralen Thesen von Bolk, Portmann und Gehlen, die sich auf die artspezifische Unreife und eine mangelnde biologische Ausstattung des gleichsam zu früh geborenen Menschen beziehen, in der Konsequenz genau mit der psychoanalytischen Beobachtung der lebensbestimmenden Relevanz früher Kindheitsentwicklungen zusammenstimmen. Im Rahmen einer genetischen Betrachtungsweise verlieren freilich die anthropologischen Lehrstücke ihre ontologische Starre. Sie können nicht länger zur Rechtfertigung jenes einzigen Regulationsprinzips dienen, das in Stadien nackter Not und einer stets bedrohten Selbstbehauptung gegen eine übermächtige Natur die gleichfalls naturwüchsige Sozialisierung der Menschengattung beherrscht hat: eben die an das Faktum, Vorbild und Symbol der Vaterautorität
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gebundene Gewalt. Die historische Entwicklung des Typus Mensch ist nämlich durch ein Erstarken von Bewußtseinsleistungen gekennzeichnet, welche die Gewaltverhältnisse relativieren. Die Energien eines erstarkenden Ichs summieren sich in gewiß sehr langsamen Prozessen, ermöglichen aber schließlich eine technische Ausrüstung, die eine allgemeine und dauerhafte Befriedigung der primären Bedürfnisse in Aussicht stellt - was umgekehrt zur wichtigsten Voraussetzung dafür wird, daß das kritische Ich weitere Triebenergien binden kann. Allerdings kann die wachsende technische Verfügungsgewalt auch als Potential ichfremder Triebregungen dem kritischen Bewußtsein entgleiten - »das ist politisch in den Methoden von Drohung und Abschreckung allzu deutlich«. Die Dialektik einer Evolution zum Bewußtsein vollendet sich erst in jener Ambivalenz der Vaterlosigkeit, die zugleich den Verlust der ersten Beziehungspersonen meint und die Aufgabe, sich auch des unsichtbaren, aber unbewußt fortlebenden Vaters zu entledigen. Die Prozesse wachsender technischer Verfügung und gesellschaftlicher Organisation, die psychologisch mit einer Zunahme an bewußten Kontrollen des Ichs zusammengehen, bringen geschichtlich immer häufiger Situationen von der Art hervor, die nicht nach dem Muster der Vorbild-Verinnerlichung und der unveränderten Vorbild-Wiederholung, also autoritär bewältigt werden können. Sie entziehen der Väterkultur die objektive Grundlage, aber zugleich den Subjekten auch die Voraussetzungen für eine gelingende Identität, d.h. für eine Realisierung von Mündigkeit als des guten Potentials einer heute noch riskanten Vaterlosigkeit. Immerhin verbietet die einmal gewonnene Einsicht in diese Dialektik die Rückkehr zu einem bloß anthropologischen Standpunkt, auf dem die vermeintliche Konstanz der Menschennatur und ihrer Konflikte herhalten muß, um die Reproduktion der ältesten Gewalten zu sanktionieren - so, als müsse der alte Adam allzeit durch feste Verhaltensschablonen, strenge Normen, blinde Institutionen und eingeschliffene Reflexe vor sich selbst geschützt werden. Mitscherlichs psychoanalytische Konstruktion des Fortschritts lehrt vielmehr, in den kollektiven Veränderungen der Triebkonstellationen und Konfliktlagen den historischen Stand möglicher Lösungen zu begreifen -: »Die Konsequenz ist also, wie die Menschheit ohne
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Projektion ihrer gruppenspezifischen Sozialordnungen - zum Beispiel ihrer Familienstruktur mit einer unbestrittenen väterlichen Autorität - auf die Maßstäbe der Weltordnung auskommen wird. Wie wird eine in diesem Sinne vaterlose Gesellschaft aussehen, eine Gesellschaft, die nicht von einem mythischen Vater und seinen irdischen Stellvertretern kontrolliert wird?«
b) Arzt und Intellektueller (1978)
Alexander Mitscherlich gehört zu denen, die die geistigen Orientierungen unseres Landes in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten bestimmt haben. Aus dem Kreis der Wissenschaftler sind nicht viele hervorgetreten, die sich eine so breite öffentliche Autorität erworben und diese so unmißverständlich für Positionen einer selbstkritischen Aufklärung eingesetzt haben. Wer Mitscherlich in seinem ärztlichen Tun, in der akademischen Lehre, der psychoanalytischen Forschung, in den Massenmedien beobachtet hat, wer ihn als Arzt, Professor, Volkspädagogen kennt, sieht den Wunsch, der ihn beseelt. Mitscherlich möchte die Kräfte des Ich, der autonomen Willensbildung stärken, er möchte helfen, die Selbstverborgenheit, die uns der eigenen, subjektiven Natur entfremdet, aufzuhellen. Für ihn bedeutet jedes noch so unscheinbare Stück Verständnis, das der Flucht ins Vergessen und in die Unverantwortlichkeit abgerungen werden kann, einen Sieg - freilich einen ohne Gewalt und Opfer, denn bezwungen wird das Unbewußte allein durch die lösende Kraft der Erinnerung. Mitscherlichs Werk hat in unserer Republik eine reinigende moralische Wirkung gehabt. Diese kommt in vollem Umfang erst heute zu Bewußtsein, da ein Umschwung der Orientierungen eingesetzt hat. Heute besteht geistige Hygiene weithin darin, Vorurteile zu enthemmen, im Zeichen eines scheinheiligen Traditionalismus Mut zu machen zur Entsublimierung, Freibriefe auszustellen für Denunziationen, von denen auch Mitscherlich nicht verschont geblieben ist. Je deutlicher die Konturen einer durch Selbstbesinnung geprägten Mentalität zerfallen, um so erschreckender treten Kontinuitäten
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des deutschen Geisteslebens hervor, mit denen wir dank solcher Einsichten, für die Mitscherlichs Denken repräsentativ ist, gebrochen zu haben glaubten. Im Hinblick auf die Stellung der psychoanalytischen Medizin hat Mitscherlich einmal bemerkt, daß Außenseiterpositionen nicht nur Helden und Dulder, sondern eben auch Außenseiter anziehen; er selbst ist Zeit seines Lebens in Oppositionsrollen gedrängt worden, ein Außenseiter ist er darüber nicht geworden. Opposition zieht sich als roter Faden durch Mitscherlichs Biographie. Sie beginnt, als der Historiker Joachimsen 1932 stirbt und der Nachfolger sich weigert, die von seinem jüdischen Vorgänger betreute Dissertation anzunehmen. Mitscherlich bricht sein Studium ab, kommt vorübergehend in Haft, eröffnet eine Buchhandlung, die 1935 von der SA geschlossen wird, emigriert in die Schweiz und nimmt dort sein Medizinstudium auf. Bei einer illegalen Fahrt durch Deutschland wird er 1937 von der Gestapo verhaftet und nach acht Monaten gegen Auflagen entlassen. Unter diesen Bedingungen schließt er seine medizinische Ausbildung ab, nimmt als Neurologe die ärztliche Praxis auf.
Freiheitlicher Sozialismus Das befreiende Ende des Krieges, der Naziherrschaft bedeutet den Beginn eines neuen Lebensabschnittes - für den Arzt und Wissenschaftler wie für den politisch engagierten Intellektuellen. Das zeigen die ersten Publikationen. Neben der Habilitationsschrift erscheint eine programmatische Untersuchung über »Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit«, die Grundgedanken einer psychosomatischen Medizin entwickelt und damit das Thema anschlägt, das die wissenschaftliche Arbeit von nun an bestimmen wird. Nach Kriegsende ist Mitscherlich ein halbes Jahr lang Minister. 1946 veröffentlicht er zusammen mit Alfred Weber das Buch »Freiheitlicher Sozialismus«, aus dem Hellmut Becker (im Septemberheft des »Merkur«) lange Passagen mit der Bemerkung zitiert: »Das Aufregende ist, daß diese Worte heute, nach über dreißig Jahren, genauso geschrieben sein könnten.« Das Buch liest sich wie der Kommentar
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eines Radikalliberalen zur Wahlkampfparole »Freiheit oder Sozialismus«. Damit ist schon gesagt, daß die Hoffnung zerschlagen wird, die Mitscherlich damals, als die Zeichen auf wissenschaftlichen und politischen Neubeginn standen, hegen durfte. An die Stelle alter Oppositionen treten neue, oder nicht einmal ganz so neue.
Freud ernstgenommen Mitscherlich arbeitet sich durch die Akten des Nürnberger Ärzteprozesses, der die Menschenversuche zum Gegenstand hatte, hindurch und kommentiert »Untaten von so ungezügelter und zugleich bürokratisch-sachlich organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, daß niemand sie ohne tiefste Scham zu lesen vermag«. Damit macht Mitscherlich sich unter den Ärzten nicht ausschließlich Freunde. Dann fordert er die konventionelle Medizin, in erster Linie die Psychiatrie heraus; er verhilft der Psychoanalyse zum erstenmal in Deutschland akademisch zum Durchbruch. Das Pensum, das Mitscherlich bewältigt, damit Freud endlich ernstgenommen wird, seine Schriften gelesen und diskutiert werden, damit die psychoanalytische Forschung des Auslandes, vor allem aus den USA und England, rezipiert wird, damit sich eine fachwissenschaftliche Öffentlichkeit bildet, Zeitschriften, Standesorganisationen, Ausbildungsstätten entstehen, schließlich Lehrstühle, sogar in medizinischen Fakultäten, eingerichtet werden dieses Pensum ist heute kaum noch zu ermessen. Ich erinnere mich an die große Freud-Veranstaltung aus Anlaß des ioo. Geburtstags, als Mitscherlich, zusammen mit Horkheimer, die internationale Prominenz des Faches, Franz Alexander, Michael Balint, Gustav Bally, Ludwig Binswanger, H. E. Erikson, Rene Spitz (übrigens auch Herbert Marcuse) zu einer glanzvollen Vorlesungsreihe in Heidelberg und Frankfurt versammelt. Ich hatte Psychologie studiert, etwas von »Tiefenpsychologie« gehört; daß aber Freud als seriöser Wissenschaftler zählte, gar eine systematisch fruchtbare und lebendige Forschungstradition geschaffen hatte, das ging mir erst damals, 1956, auf. Ein ganzer Kontinent der Wissenschaft war
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auf deutschen Universitäten nicht zur Kenntnis genommen, uns Studenten jedenfalls nicht zur Kenntnis gebracht worden. Heute bedarf es schon solcher Anekdoten, um Jüngeren klarzumachen, wie sehr sich die Szene verändert hat. Mitscherhch ist in seiner Mission erfolgreich. Erfolgreicher, als er selbst es wahrhaben will, aber die Widerstände hat er zu spüren bekommen. Seine medizinischen Kollegen gewähren ihm ein Extraordinariat nicht vor dem 50. Lebensjahr, Ordentlicher Professor wird er acht Jahre später - mit sanfter Nachhilfe des Ministeriums - an einer philosophischen Fakultät. Das SigmundFreud-Institut kann dank der hessischen Landesregierung (und der tatkräftigen Unterstützung durch Helene v. Bila) wenigstens neben der Universität entstehen. Es wird zum erfolgreichen Ausbildungszentrum; die Anforderungen der Ausbildungspraxis drängen freilich die Forschungsarbeit etwas mehr in den Hintergrund, als es dem Direktor lieb ist. Mitscherlich, der im Institut immer einen weißen Kittel trug, hat den »Betten«, die er in Heidelberg zurücklassen mußte, das heißt der Klinik mit ihrem unmittelbaren Zugang zur psychosomatischen Forschung lange nachgetrauert. Aber was wird aus dem Oppositionellen Mitscherlich, als er sich, seit Mitte der sechziger Jahre, mit der wachsenden Publizität seiner Lehren, seiner aktuellen Kommentare, seiner Bücher - »Über die Unwirtlichkeit def Städte« (1965), »Über die Unfähigkeit zu trauern« (1967), »Über die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität« (1969) - Ansehen und Einfluß auch in der großen Öffentlichkeit erwirbt? In dieser Phase einer, wie es scheint, kaum noch angreifbaren Autorität werden in Wahrheit die Fronten nur komplizierter. Mitscherlich stellt sich dem Protest der Studenten mit dem Verständnis des sympathisierenden Lehrers, mit dem sondierenden Blick des Analytikers, aber auch mit der Kritik des unbeirrten Liberalen. Er geht den unvermeidlichen Konflikten nicht aus dem Wege - intern ein Scheißliberaler, in der Öffentlichkeit um Verständnis für die Revolte werbend. Hierher gehören die erhellenden Aufsätze, die in einem Band über Toleranz (1974) gesammelt sind, genau die Arbeiten, die Mitscherlich schließlich zum Reizobjekt einer trüben Tendenzliteratur gemacht haben. In diesen letzten 10 bis 15 Jahren hat sich das gebildet, was man ein
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Image nennt; ich bin nicht sicher, ob das verfestigte Image die wesentlichen Züge dieses Arztintellektuellen trifft. Ich meine nicht in erster Linie die privaten Züge eines erstaunlich schüchternen, oft liebenswert naiven, immer lernbereiten Mannes, eines Sammlers und Kunstliebhabers im altmodischen Sinne, eines ornithologisch Interessierten, der sich morgens um fünf mit einem Kumpan aufmacht, um an den Ufern des Altrheins Vögel zu beobachten, eines Freundes, der auch die Ambivalenzen des Nahestehenden erträgt, aufnimmt, umformt. Ich meine vielmehr die Züge des innovativen Wissenschaftlers und eines ganz unorthodoxen Geistes. Das Herzstück seiner wissenschaftlichen Arbeit hat Mitscherlich in drei eher unscheinbaren Bändchen, in den »Studien zur psychosomatischen Medizin« veröffentlicht. Das große Lehrbuch zur Psychosomatik blieb ungeschrieben. Es gibt Fälle wo ungeschriebene, in der Planung und in der Lebensgeschichte des Autors steckengebliebene Lehrbücher für eine Disziplin weitreichende Folgen haben - hier, wie übrigens auch im Falle der ungeschriebenen Staatslehre von Wolfgang Abendroth (die, solange Zeitgeist und Verfassungsschutz es noch zuließen, ein zweiter Heller hätte werden können). In seinen »Studien« hat Mitscherlich, im Anschluß an Franz Alexander, einen neuen Begriff der psychosomatischen Krankheit ausgearbeitet, in dem er auf den lebensgeschichtlichen Sinn rekurriert, den eine Krankheit verwirklicht. Die Psychoanalyse hat für seelische und geistige Symptome, für Äußerungen der Hysterie, des Zwanges, der Phobie, des Wahns, der Depression und so weiter ein Erklärungsmuster entwickelt, das von der Überforderung der Integrationsleistungen des Ich ausgeht und die kompromißhafte Erfüllung abgespaltener Triebregungen im Symptom auf die Abwehr angstvoll erlebter Konflikte zurückführt. Mitscherlich erweitert dieses Erklärungsmuster mit dem Konzept der zweiphasigen Abwehr so, daß es auch auf organische Krankheiten, auf funktionelle Störungen, auf Veränderungen am Substrat angewendet werden kann. Die Symptome treten erst auf der Endstrecke eines psychodynamisch in Gang gesetzten Geschehens an Organleistungen oder an Organen auf. Sie sind Abkömmlinge eines leib-seelischen Erregungsvorganges, »dessen Repräsentanz im
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Bewußtsein verlorengegangen ist, so daß nur noch ein Fragment dem Bewußtsein zugänglich bleibt, nämlich das Symptom, das körperliche Fehlverhalten«.
Radikales Denken Mitscherlich hat dieses Krankheitskonzept zunächst in einem Rahmen entwickelt, der mit Psychoanalyse wenig zu tun hat. In seinem ersten Buch (jetzt als Band 3 der »Studien« wiederaufgelegt) wird Freud, wenn ich recht sehe, nur einmal zitiert. Mitscherlich bewegte sich damals in der Welt der anthropologischen Medizin, in die ihn sein Lehrer Viktor von Weizsäcker eingeführt hat, in der Welt der biologischen und der philosophischen Anthropologie, die von Konrad Lorenz und Portmann, über Plessner und Gehlen bis zu Jaspers und Ortega y Gasset reicht. Die psychosomatische Krankheit erscheint hier als Beeinträchtigung einer spezifisch menschlichen Existenzweise. Sie bedeutet den selbstverschuldeten Verlust an Freiheit, mit dem der Patient für eine durch Selbstverbergung erreichte Vermeidung von Leiden bezahlt: Im Krankwerden begibt sich der Patient eines Stückes seiner Freiheit. Das Buch endet mit den erstaunlichen Sätzen: »Die Anstrengung der Selbsterkenntnis wird oft belohnt durch wirkliches Gesunden und Heilen. Dazu gehört aber unabdingbar ein Hinnehmen des der menschlichen Existenz mitgegebenen Leides. So erreicht (die Therapie) oft nicht mehr als die Verwandlung von Krankheit in Leid, aber in ein Leid, das den Rang des Homo sapiens erhöht, weil es seine Freiheit nicht vernichtet.« Dieser philosophische Hintergrund wird blasser, als Mitscherlich, nun erst, sich einer Analyse unterzieht, sich Freud und die psychoanalytische Forschung in ganzer Breite aneignet, auch Kulturanthropologie, überhaupt die Sozialwissenschaften studiert. Aber jenes spekulative Motiv, daß Heilung Rückgewinnung von Freiheit bedeutet, durchdringt auch das Verständnis der Psychoanalyse. Das ist nirgends so deutlich zu sehen wie an jenem »Versuch einer Erweiterung des Freiheitsbegriffs, der unbewußte Entscheidungen einschließt«, der sich in einer für Mitscherlichs Entwicklung auf-
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schlußreichen Abhandlung findet; ich meine die für den ersten Band der »Studien« vorgenommene Bearbeitung eines zunächst 1951 publizierten Aufsatzes über die »wechselseitige Beeinflussung des Freiheits- und Krankheitsbegriffs«. Auch als Freudianer, gerade als Freudianer hält Mitscherlich an dem Credo fest: »Bei Beseitigung eines Leidens kommt Freiheit zutage, die bisher kaschiert war.« In dem Bild, das sich die breitere Öffentlichkeit von Alexander Mitscherlich macht, kommt nicht nur der innovative Forscher zu kurz, sondern auch seine bemerkenswert unorthodoxe Geisteshaltung. Mitscherlich denkt radikal, aber an den Extremen, die er durchdenkt, bleibt er nicht hängen. Dafür gibt es viele Beispiele. Die Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff der konventionellen Medizin läßt ihn sehr früh ein Phänomen erkennen, das in den methodologischen Diskussionen der fünfziger und sechziger Jahre eine große Rolle gespielt hat: die positivistische Verengung des Wissenschaftsverständnisses. Aber die Kritik an einem solchen Szientismus hat Mitscherlich nie davon abgehalten, im Kreise von Sozialwissenschaftlern den Part des Naturwissenschaftlers zu spielen. Ferner hat Mitscherlich das klassische Konzept der Geisteskrankheiten scharf kritisiert, lange bevor Foucault, Laing und andere dieses Thema aufgegriffen haben; er hat Jahre, bevor Basaglia die Psychiatrien öffnete, das Beispiel von Benedetti beschworen, der die Bereitwilligkeit des Arztes praktiziert hat, »dem Kranken in seinen Wahn zu folgen«. Dennoch ist Mitscherlich zurückhaltend geblieben gegenüber einer Antipsychiatrie, die das Kind mit dem Bade ausschüttet. Mitscherlich war auch einer der ersten, der die Psychoanalyse als Sozialwissenschaft betrachtet hat; gleichwohl konnte er der eilfertigen Soziologisierung des Faches, die dann auf breiter Front eingesetzt hat, nichts abgewinnen. Schließlich ist Mitscherlich immer davon überzeugt gewesen, daß sich Krankheiten, die in zwischenmenschlichen Beziehungen wurzeln, nicht »im Stile von Vertilgungskampagnen« heilen lassen, sondern nur auf dem Wege einer dechiffrierenden Sprachanalyse. Und doch hat er über Versuchen, die Metapsychologie in die Begriffe einer Kommunikationstheorie umzusetzen, (freundschaftliche) Skepsis bewahrt. Das ist Mitscherlich - »orthodox« eigentlich
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nur dort, wo ihn allerlei modischer Firlefanz und entstellende Popularisierungen dazu veranlassen, zunächst einmal die exakte Kenntnis der Freudschen Theorie und ihrer Entwicklungen zu verlangen. Orthodox verhält er sich auch im Bereich der Ausbildung der analytischen Ärzte, weil er weiß, daß nur die sorgfältigsten professionellen Kontrollen vor den Gefahren einer Methode schützen, die Beziehungen persönlicher Abhängigkeit - mit dem Ziel ihrer Aufhebung - systematisch nutzen muß. Ein »Antiautoritärer« war Mitscherlich nie.
Gegen die Neukonservativen Natürlich hat der Autor der »Vaterlosen Gesellschaft«, des groß angelegten zeitdiagnostischen Versuchs, das Zusammenspiel zwischen Strukturen der Gesellschaft und individuellen Formen der Konfliktverarbeitung im Auge. Er spricht sogar von »sozialen Krankheiten«. Eine Gesellschaft nimmt pathologische Züge an, wenn sie ihren Mitgliedern kommunikative Lebensformen verwehrt, in denen diese eine den gesellschaftlichen Imperativen angemessene Ich-Identität ausbilden könnten: »Soziale Krankheit entsteht, wenn die soziale Matrix zu schwach geworden ist, um die Sozialisierung des einzelnen in verbindlicher Weise zu fordern, den Einzelnen also ohne Anleitung in vielen Lebenslagen sich selbst überläßt und damit unbewußte mehr als bewußte Angst erweckt. Soziale Krankheit entsteht am anderen Ende des Spektrums, wenn der Anspruch der Gesellschaft so terroristisch in das Individuum hinein vorgetragen wird, daß Abweichungen von den Geboten und Verhaltensnormen permanente, intensive Angst erwecken und damit die spontane Rückäußerung des Individuums auf die gesellschaftlichen Zustände gelähmt erscheint. Beide Zustände gefährden die Gesellschaft in jedem einzelnen ihrer Mitglieder und veranlassen pathologische Verhaltensweisen.« Mit seiner Analyse der Ursachen »sozialer Krankheiten« stellt sich MitscherÜch nicht in die Traditionslinie der Freudschen Linken, die mit Bernstein, Reich und Fromm an Marx angeknüpft hatte. In jenem ersten Buch, das ein Jahr vor Horkheimers und Adornos
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»Dialektik der Aufklärung« erscheint, entwickelt Mitscherlich vielmehr einen Gedanken, der sich auf verblüffende Weise mit einer »Kritik der instrumenteilen Vernunft« berührt. Er behauptet einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der technischen Produktivkräfte, die den Menschen von körperlicher Arbeit entlasten, ihm ersparen, seinen Körper als Instrument einzusetzen, und einer anderen »Ausschaltung des Körpers«. Der Mensch benütze, so meint er, seinen Körper nicht nur als Werkzeug, sondern auch als spontanes leibliches Ausdrucksmittel für seelische Erregungen immer weniger; und solche Erregungen, »die sich nicht an den Partner wenden dürfen«, müssen dann »zurückbehalten«, eben in psychosomatische Krankheiten oder Neurosen umgesetzt werden. Diesen Gedanken erweitert Mitscherlich in späteren Arbeiten zu einer Theorie, die ihn eher als Freudo-Weberianer denn als FreudoMarxisten ausweist. Im Zuge der durchgreifenden Rationalisierung unserer Lebensverhältnisse werden zunehmend die Ausdrucksund Kommunikationsmöglichkeiten zerstört, in denen die Individuen lernen könnten, sich selbst zu finden, mit ihren eigenen Konflikten umzugehen und die gesellschaftlichen rational zu lösen. Statt dessen wachsen die sozialpsychologischen Nebenkosten des ökonomischen Wachstums und der Bürokratisierung, ohne daß ihre gesellschaftlichen Ursachen identifiziert würden. Im Vordergrund der Diskussion stehen heute Phänomene wie Leistungsdruck und Bürokratismus, Zerstörung der urbanen Umwelt und der ökologischen Gleichgewichte, Motivations- und Erziehungsprobleme, überhaupt das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Lebensbereiche, wo die Spielräume für gelungenen kommunikativen Umgang, expressive Selbstdarstellung, moralisch-praktische Willensbildung, für ästhetische Befriedigung und Spontaneität schrumpfen, wo Anregungen zu kritischer Erinnerung, zur Erneuerung von Traditionen, zum Entwurf von Perspektiven immer schwächer werden. Es sind dieselben Phänomene, die bereits Mitscherlich zum Ausgangspunkt für seine Erforschung zeittypischer Konflikte gemacht hat. Hinzugetreten ist in der letzten Zeit eine wachsende Sensibilität für diese Belastungen, wie sie sich in den neopopulistischen Strömungen ausdrückt. Dieser Protest hat inzwischen eine Ideologiepolitik
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auf den Plan gerufen, welche die neuen Reaktionsbereitschaften ins Fahrwasser eines unverbindlichen Traditionalismus lenken soll. Unsere Neukonservativen erklären die Gegenwart zur »Nachaufklärung«. Sie möchten szientistische Positionen mit der Rückwendung zu Traditionen versöhnen, die nicht etwa systematisch angezeigt und damit erneuert, sondern als »Vorgegebenheiten« akzeptabel gemacht werden. Dabei verschweigen sie, daß nur solche Traditionen der Beschwörung bedürfen, die der Bestätigung durch gute Gründe ermangeln. Dieser jüngsten Arbeitsteilung von Positivismus und Obskurantismus fügt sich Mitscherlichs Denken nicht ein. Statt die Aufklärung zu verabschieden, folgt er den Spuren ihres dialektischen Ganges, indem er versucht, das immer deutlichere Unbehagen an den Aporien der Moderne als eine zunächst unbewußte Antwort auf den eingeschränkten Charakter der vorherrschenden Form von Rationalisierung zu begreifen.
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9. Karl Löwith Stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein (1963)
Jene beiden gewichtigen Bücher1, die dem Schriftsteller Löwith eine der Kunst des Wortes ebenso wie der Trefflichkeit und Weite des Gedankens angemessene Publizität erworben haben, sind dem Philosophen Löwith nicht gleichermaßen zugute gekommen. So verbreitet wie die Schriften selbst waren auch zwei folgenreiche Mißverständnisse: als hätte der Autor den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts zwischen Hegel und Nietzsche geistesgeschichtlich minuziös und zugleich großartig stilisierend nur deshalb untersucht, weil er sich mit dessen historischer Notwendigkeit identifizieren, sich womöglich selbst als ein noch einmal verjüngter Junghegelianer decouvrieren wollte; und weiter: als hätte derselbe Autor die im 18. Jahrhundert entstandene Geschichtsphilosophie in einer zwingend montierten Rückblende auf die halb verschwiegenen, halb vergessenen theologischen Voraussetzungen der biblischen Heilsgeschichte nur deshalb zurückgeführt, weil er die Säkularisierung des jüdisch-christlichen Glaubens als solche kritisieren und sich selbst gar durch die Derivate hindurch auf eine Kierkegaardsche Ursprünglichkeit zurückziehen wollte. Dabei waren doch beide Bücher in ihrer Tendenz unverkennbar gezeichnet, nämlich auf die Positionen hin angelegt, die Löwith schon während der dreißiger Jahre in Studien über Nietzsche und Burckhardt geklärt hatte - ihrerseits Ausarbeitungen von Kollegs, die Löwith in Marburg vor seiner Emigration gelesen hatte. Aus den komplementären Motiven jener beiden Denker zusammengenommen erzeugt Löwith den gewaltigen Kreis einer Drehscheibe, mit deren Hilfe er den anspruchsvollen Kulissenwechsel von der Moderne zur Antike inszenieren möchte. Er deutet Nietzsches 1 Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart, 4. Aufl. 1958; Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart, 4. Aufl. 1961.
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Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen als den ersten und bis heute tragenden Versuch, auf der Spitze der weltverlorenen Modernität zur kosmologischen Weltansicht der Griechen zurückzukehren. Weil aber Nietzsche diese Rückkehr dialektisch vollzieht, immer noch als ein Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft, bleibt ihm unruhiger Entwurf und Postulat, was nur in der Theorie, in der unscheinbaren Stille der Besinnung unverstellt sich darbieten kann: die Welt im ganzen als der eherne Kreislauf der Natur. Darum ist für Löwith erst der Dialog zwischen dem der christlichen Erfahrung immer noch verhafteten Antichristen und dem bürgerlich etablierten, spätbürgerlich resignierten Burckhardt zum Schlüssel geworden; ein Dialog, aus dem er besonders jene eine Stelle gern zu zitieren pflegt: er, Nietzsche, sei nicht einfach und still genug gewesen; statt Basler Professor zu bleiben, sei ihm keine andere Wahl geblieben, als sich als ein Narr und Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu opfern. Löwith möchte die Wahrheit Nietzsches aus Nietzsches eigenem Horizont der Entrückung und Verzückung einer Metaphysik des Willens lösen; er spiegelt diese echauffierte Wahrheit in der urbanen Verhaltenheit des Jakob Burckhardt, um aus der gelösten historischen Bildung dieses der Antike so zugewandten Gelehrten mit der einen Hälfte des festgehaltenen Nietzsche den Absprung zu finden von den Klippen des historischen Bewußtseins überhaupt. Das Zwiegespräch Nietzsche-Burckhardt, in das auch die beiden großen Untersuchungen Löwiths eingefaßt sind, hätte eigentlich keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen an deren Absicht: mit der Reduktion der Geschichtsphilosophie auf ihre theologischen Voraussetzungen hinter die jüdisch-christliche Tradition im ganzen zurückzuführen; und durch die Analyse der nachhegelischen Kritik an Hegel (und den ontologischen Voraussetzungen der Philosophie) eine Metakritik des von langer Hand theologisch vorbereiteten, erst im 19. Jahrhundert atheistisch zur Herrschaft gelangten historischen Bewußtseins als solchen einzuleiten. Soweit Zweifel daran gleichwohl bestanden haben, hat Löwith sie inzwischen unmißverständlich aufgeklärt: durch vier, unter dem Titel »Wissen, Glaube und Skepsis« zusammengefaßte Essays2, die die Unverein2 Wissen, Glaube, Skepsis, Göttingen, 2. Aufl. 1958.
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barkeit philosophischen Untersuchens und christlichen Glaubens dartun möchten; und durch eine Reihe von Abhandlungen 3, deren wichtigste auf den gemeinsamen Nenner einer Kritik der »geschichtlichen Existenz«, wir würden es vorziehen zu sagen: des historischen Bewußtseins, gebracht werden können. Ihr Leitmotiv ist nämlich durch die wiederholte Berufung auf ein Fragment aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert charakterisiert: »Einst wird aus Überdruß der Menschen der Kosmos weder bewundert werden noch anbetungswürdig erscheinen. Dieses größte Gut in seiner Gesamtheit, das Beste, was jemals gewesen ist, und ist, und zu schauen sein wird, es wird in Gefahr geraten ...« Nicht zufällig knüpft Löwith an die Stoa an, zumal an die stoische Klage über den Verlust einer selbstverständlichen Ansicht vom Kosmos; denn schon damals konnte in der Weite des römischen Imperiums der Logos der Natur nur noch abstrakt gefaßt und privatim festgehalten werden: er war nicht mehr im lebendigen Spiegel der Polis augenscheinlich und unmittelbar allen, die eines freien Blickes fähig waren, gegenwärtig. Ein gesammelt-versunkenes »theorein« mußte, wie die ironische Wahrheitssuche und die skeptische Urteilsenthaltung, damals schon in der Disziplin des privatisierten Weisen zwangshaft gesichert, in Übungen der Ataraxie veranstaltet werden. Diese gebrochene Erhaltung der klassischen Weltansicht im Widerstreit mit dem heraufziehenden Christentum ist der Boden, auf dem Löwith, um ihrer nachchristlichen Wiederherstellung willen, wieder Fuß fassen möchte. Er möchte den griechischen Anblick des Kosmos als eines anfangs- und endlosen, ewigen Ganzen, er möchte die Erfahrung der Physis als des Einen und Ganzen von Natur aus Seienden wieder zur Geltung bringen. So schlicht diese These ist, so deutlich sind die Befürchtungen, die Löwith dazu motivieren: durch die fortschreitende Historisierung eines schließlich nur noch »zeitgeschichtlich auf gespreizten« Bewußtseins wird, so scheint es, der Blick von den Variablen der Entwicklung und vom bloß Aktuellen des Geschehens, vom Flüchtigen und Relativen hypnotisch gefesselt. Gleichzeitig verstrickt sich das Bewußtsein in die Passionen seiner Bedürftigkeit; es 3 Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart i960.
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läßt sich von dem praktisch Notwendigen in Anspruch nehmen und verliert die theoretische Unbefangenheit einer nur kontemplativ ermöglichten Erkenntnis um des Erkennens willen. In diesem gleichermaßen praktisch wie historisch beschränkten Horizont einer auf das Allzumenschliche zusammengeschrumpften »Welt« (der weltgeschichtlich bedrängenden Ereignisse) ist das Umgreifende der natürlichen Welt, ist der Kosmos als die eigentlich haltende und erhaltende Lebensordnung verstellt. Die von sich selbst seiende, auch uns umfassende und tragende Naturwelt ist verhängnisvoll in einer Welt-für-uns aufgesogen worden. Damit verlieren aber die Menschen, und für den Menschen alle irdischen Lebewesen, ihren bestimmten Ort im lebendigen Ganzen des Kosmos - der Unfug der Menschenwelt kann sich der Ordnung von Himmel und Erde nicht mehr fügen. Wie aber läßt sich dieser großartig konservative Affekt aus der Affektlosigkeit einer repristinierten stoischen Weltansicht rechtfertigen; wie läßt sich überhaupt die Bewältigung des historisch diagnostizierten Verhängnisses aus dem unhistorischen Selbstverständnis griechischer Kosmologie begründen? Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: gerade aus der eminent praktischen Erfahrung jenes (wie es scheint) mit dem modernen Bewußtsein gesetzten Risikos will Löwith zu der im klassischen Sinne theoretischen Welteinstellung zurückfinden, weil sie der Praxis überhoben und von den Schranken des pragmatisierten Bewußtseins frei ist; und gerade durch die historische Analyse der Entstehungsgeschichte des modernen Bewußtseins als einer Verfallsgeschichte kosmologischen Denkens will er sich den Weg zurück zur antiken Weltauffassung bahnen, weil sie der Historie überhoben und von den Schranken des historisierten Bewußtseins frei ist. Löwith will die Rückkehr von der Moderne zur Antike in Szene setzen; aber die Rekonstruktion der natürlichen Weltansicht kann der Drehscheibe Nietzsches und Burckhardts, kann eben der technischen Hilfe des Welttheaters, dessen christlichen Bannkreis sie doch brechen muß, nicht entbehren.
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Wenn man die Abhandlungen, die nun gesammelt vorliegen, in einem Zuge liest und zur Ergänzung noch einige Veröffentlichungen aus der jüngsten Zeit hinzuzieht4, dann wird man mit Bewunderung, aber auch nicht ohne ein gewisses Erstaunen den kühnen historischen Zusammenhang erkennen, der sich aus den einzelnen, ebenso subtilen wie suggestiven Interpretationen von Anaxagoras bis Aristoteles, von Augustin bis Pascal, Descartes bis Kant, Kierkegaard bis Heidegger wie von selbst herstellt. Zwanglos bilden sich die großen Epochen einer Verfallsgeschichte: Zunächst die biblische Verkehrung des griechisch-römischen Kosmosbegriffs durch Paulus und Johannes, die von Augustin mit philosophischen Mitteln so nachhaltig bekräftigt wird; die Welt, die von Natur aus ist und in sich selber steht und vergeht und von neuem sich bildet, wird, eingespannt in ein Heilsgeschehen, zur vergänglichen Schöpfung depotenziert, die um den Menschen statt um ihrer selbst willen geschieht. Die sichtbare Schönheit des Kosmos wird dem Hören auf Gottes unsichtbar gewordenen Logos geopfert; die Theorie zur Neugier herabgesetzt; die Gegenwart der Physis zugunsten der Vergewisserung künftigen Heils suspendiert. Die Schrumpfung der Welt zur Menschenwelt, des Seienden zum Gemachten, der Wahrheit zur Gewißheit - das sind die christlich theologischen Voraussetzungen, die sodann seit Bacon, Descartes und Galilei in säkularisierter Gestalt die Wissenschaften begründen. Diese zweite Epoche des Verfalls kosmologischen Denkens endet mit Hegel, der noch einmal Logik als Ontologie und Wahrheit als immerseiend und stets gegenwärtig rechtfertigt, der aber auch als erster Historie zum Range der Philosophie ernsthaft erhebt. Die Konsequenzen dieses Ansatzes werden schließlich im radikalen und definitiven Bruch des geschichtlichen Denkens mit der natürlichen Weltansicht entfaltet: Historismus, Pragmatismus und Existenzphilosophie sind nur die 4 Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Universitätsverlag Heidelberg 1960; Der philosophische Begriff des Besten und Bösen, in: Studien aus dem C. G. Jung-Institut, Zürich, Bd. XIII, S. 211-236; Nietzsches antichristliche Bergpredigt, in: Heidelb. Jahrbuch VI, 1962, S. 39 ff.
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weltanschaulichen Derivate dieser gründlichen, von Marx und Kierkegaard philosophisch vollzogenen Revolution der Denkungsart, der die Philosophie selbst zum Opfer fällt - am Ende steht das Diktum: es gibt keine Philosophen mehr, die noch das gute Gewissen zur Betrachtung des Weltalls haben. Wie in jeder rechten Verfallsgeschichte erscheinen die einzelnen Posten in doppelter Buchführung, je nachdem, ob sie auf der Seite des »Noch nicht« oder des »Schon« registriert sind: einerseits beginnt die folgenreiche Konkurrenz des gläubigen mit dem natürlichen Denken, der herbstliche Einbruch des heilsgeschichtlichen Bewußtseins in die Unschuld der weisen Naturanschauung schon mit dem Judentum; andererseits hat die mosaische Gesetzreligion vor der christlichen Berufung auf den historischen Augenblick des Erlösertodes bis auf den heutigen Tag den Vorzug, in der kontinuierlichen Regeneration des jüdischen Volkes die Ewigkeit des biblischen Gottes als ein sichtbar Immerwährendes zu bezeugen. So steht es auch mit dem Christentum selbst, das einerseits den Kosmos der Griechen schicksalsschwer entheiligt, aber andererseits gegenüber den Epochen des säkularisierten Glaubens den Vorzug hat, eine Brücke zur Antike zu schlagen - im theologischen Horizont blieb die Erfahrung der Geschichte gebunden und geordnet. Und selbst das von Descartes und Galilei, von Vico und Voltaire repräsentierte, im natürlichen System der Geisteswissenschaften noch eingefaßte Denken hat, sosehr es sich von den griechischen Anfängen entfernt, immerhin die Schwelle der nachhegelisch, durch Hegel selbst erst ermöglichten Historisierung noch nicht überschritten. fe mehr uns dieser vom großen Atem der abendländischen Metaphysik inspirierte Entwurf einer progressiven Entweltlichung der natürlichen Welt imponiert, um so mehr wird in den Respekt auch Verwunderung, ja Erstaunen einfließen, wenn wir uns der Absicht erinnern, dem er dienen soll. Mit jedem geistesgeschichtlichen Faden, der das Gewebe eines Verfalls des antiken und der Entstelung des modernen Bewußtseins dichter zieht, wird doch das Gespinst im ganzen unzerreißbarer, muß der historische Zusammenhang objektiver erscheinen, aus dem Löwith gerade, als einem Verblendungszusammenhang des historischen Bewußtseins, hin-
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ausführen möchte. Er reflektiert auf sein eigenes Vorgehen folgendermaßen: »Wir fragen nun: wie kam es zu dieser modernen Verirrung, welche den einen physischen Kosmos in eine Vielheil geschichtlicher Welten und die immer gleiche Natur des Menschen in eine Mannigfaltigkeit geschichtlicher Existenzweisen aufgelöst hat? Diese Frage läßt sich nur durch eine historische Besinnung beantworten, welche jedoch den Zweck hat, die Konstruktionen des historischen Bewußtseins abzubauen.«5 In diesem »Jedoch« steckt die uneingestandene Schwierigkeit: Löwiths eigene Konstruktion ist so sehr einer seit Hegel verbindlichen Logik dei geschichtlichen Entwicklung selbst unterworfen, daß nicht recht plausibel wird, wie ihre singuläre Auszeichnung legitimiert werden könnte — eine Auszeichnung, die darin zu bestehen hätte: mit Hilfe des Anspruchs, Geschichte vernünftig begriffen zu haben, den Anspruch historischen Begreifens als solchen zu entkräften. »Die Voraussetzung alles geistesgeschichtlichen Denkens: daß sich di< sachlichen Fragen der Philosophie nur historisch behandeln lassen stammt aus einer Denkweise, die erst vor hundertfünfzig Jahrer entstand und die darum auch wieder vergehen kann.«6 An diesei charakteristischen Stelle macht sich Löwith eine Denkfigui zunutze, mit der er seinen kritischen Ansatz überhaupt rechtfertigen möchte: weil das historische Denken selbst historisch entstanden ist, kann es auch wieder vergehen. Aber noch diese Form dei Argumentation muß Löwith seinem schärfsten Widersacher entlehnen; sie diente bekanntlich in der marxistischen Kritik nicht etwa zur Wiedergewinnung eines Horizonts ewiger Wahrheiten, sondern dazu, alle Konstantenlehren prinzipiell in Frage zu stellen. Ja. die Hoffnung als Prinzip kann sich einzig auf dieses Argument berufen: daß mit dem geschichtlichen Ursprung bestehender Verhältnisse, wie sehr sie sich die ontologische Geltung eines Immerwährenden vindizieren mögen, zugleich ihre mögliche Hinfälligkeit nachgewiesen wird. Auch im konträren Zusammenhang einet rückwärts gewandten Kritik suspendiert dieses Argument nicht von den Voraussetzungen historischen Denkens, auf denen es beruht. Denn, so gehandhabt, führt es zu der immer noch aus der Zukunft 5 Abhandlungen, a.a.O., S. 164. 6 Ebd., S. 153.
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gedachten Wiederherstellung eines »Anfangs« oder einer »Frühe«, wobei der Ursprung selbst der Ideologisierung verfällt. Ein Anfang vermag nämlich den anderen zu überbieten: die Kosmologie die Logik, der Mythos die Kosmologie, die Magie den Mythos und so fort. Deshalb muß der Anfang, der als der erste gelten soll, auch dann noch aus der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung deklariert und am Ende durch die bloße Aura einer unvordenklichen Ursprünglichkeit legitimiert werden, wenn er als das anfangund endlose, aber begrenzte Kreisen eines immerwährenden Wachsens und Vergehens, eben im griechischen Sinne der Physis gedacht - und in der griechischen Philosophie festgemacht werden soll. In nüchterner Sprache und ohne das Spectaculum einer philosophischen Etymologie führt denn auch Löwiths »Überwindung« des historischen Bewußtseins in die größte, und ihm gewiß unbequeme Nähe zu Heideggers prätentiöser »Verwindung« des metaphysischen Denkens. Physis ist, wie wir hören, Hervorgang ans Licht, sie ist das Offenbarste und zugleich Verborgenste, ist Entstehen und Vergehen in einem. Löwith teilt mit Heidegger das Bedürfnis einer Rekonstruktion der Ontologie, eine Geschichte der Seinsvergessenheit konstruiert auch er mit der Entweltlichung der Welt. Die Zäsuren des Verfalls, gewiß, decken sich in den Versionen der beiden Denker nicht. Löwith behauptet gegen Heideggers ontologische Auszeichnung der Vorsokratiker die griechisch-römische Einheit des kosmologischen Denkens bis auf Plinius. Löwith sieht in der Einheit des christlichen und des säkularisierten Glaubens die eigentliche metaphysische Verstellung, während Heidegger mit dem eschatologischen Bewußtsein kokettiert. Und an Nietzsche (an seinem Stellenwert eher als an ihm selber) scheiden sich beider Geister - wenn sie auch gleichermaßen der fremdgewordenen Faszination unterworfen sind, mit der Nietzsche jene Generation des Ersten Weltkrieges bezaubert und beirrt hat. Mir scheinen indessen diese Unterschiede nicht gar so gewichtig, wenn man bedenkt, daß Löwith mit Heidegger das Verhängnis der abendländischen Entwicklung von zweitausend Jahren buchstäblich auf die Hintergeschichte eines philosophisch und theologisch maßgebenden Weltverständnisses zurückführt, daß beide auf eine Rückkehr zu einer rechtverstandenen Ontologie (oder auf deren »Wiederho-
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lung«) setzen: ob nun die metaphysische Verstellung des Seins im exaltierten Andenken oder die Entheiligung des Kosmos durch skeptische Weisheit sei's beschworen, sei's bezwungen werden soll. In der Sache bleibt der einzig gravierende Punkt der Differenz die von Heidegger durchgehaltene Bindung der Wahrheit (auch der wahren Ansicht des Kosmos und der Gegenwart seines Logos) an die geschichtliche Welt der Menschen. Und ich muß gestehen, daß auch Löwith mich nicht davon hat überzeugen können, daß sich der im Kern historische Charakter einer wie immer begriffenen dialektischen Vermittlung von Natur und Menschenwelt stringent bestreiten ließe - erst recht nicht auf dem Wege einer Logik der Geschichte des ontologischen Verständnisses von Welt. Darin erschöpft sich denn auch Löwiths Auskunft nicht.
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Wie er Nietzsches Rückwendung zur natürlichen Weltansicht von der ewigen Wiederkehr des Gleichen mißtraut, weil sie noch dialektisch vermittelt ist durch das geschichtlich anknüpfende Denken des Willens zur Macht; so müßte Löwith seinem eigenen Unternehmen mißtrauen, soweit es darin besteht, den Bannkreis des historischen Bewußtseins mit Zaubersprüchen zu sprengen, die er von diesem selbst gelernt hat. Er müßte sich, strenggenommen, um der Unmittelbarkeit der kosmologischen Anschauung willen, der Künste historischen Vermitteins, die er nur zu virtuos beherrscht, entschlagen. So macht er denn auch immer wieder den Versuch, durch schlichte Affirmation den naiven Blick auf die Welt als Physis zu lenken, oder besser: mit der deiktischen Geste des erfahrenen Phänomenologen den Kosmos unvermittelt vorzustellen. Die Sonne Homers scheint auch uns; unsere Auffassungen von der Natur haben sich geändert, aber die Natur selbst ist stets, was sie ist. Die griechische Ansicht von der Natur ist die einzig wahre Einsicht, daß die Natur alles lebendige Sein aus sich hervor- und aufgehen und wieder zurück- und vergehen läßt: »Das Wort Kosmos entspricht zwar einer eigentümlich griechischen Erfahrung der Welt, aber wer könnte so ohne weiteres behaupten, daß wir
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nicht mehr in einem Kosmos leben ... Setzt denn nicht auch jeder moderne Biologe noch immer voraus und findet seine Voraussetzung immer neu bestätigt, daß die natürliche Welt eine wunderbar geordnete und erstaunlich vernünftige ist und daß sie den Menschen miteinschließt und er nur deshalb sich aus ihr herauszusetzen vermag?«7 Erst einmal auf diesen Begriff von Kosmos verpflichtet, genügen zur Erläuterung triviale und tautologische Sätze (»Die Welt der Natur ist immer sie selbst«). Alle späteren Auffassungen bemessen sich daran wie die perspektivisch verkürzten Deutungen an der Substanz der Sache selbst. Die Argumentation hat an solchen Stellen mutatis mutandis eine unfreiwillige Ähnlichkeit mit jenem »realistischen« Durchbruch eines Nicolai Hartmann, der die autistisch gebrochenen Reflexionen müde gewordener Erkenntnistheorie durch den frischen »ontologischen« Zugriff auf reales und ideales Sein unmittelbar abschneiden konnte. Löwith beruft sich sowohl auf die Alltagserfahrung in der natürlichen Lebenswelt, auf die Verläßlichkeit von Tag und Nacht, Himmel und Erde, Frühling und Herbst; als auch auf jene morphologisch und ökologisch registrierten Erscheinungen, die den deskriptiven Naturforschern seit je das teleologische Bild eines einstimmigen Naturganzen suggeriert haben. Löwith, der erst nach anfänglichem Zögern sein Studium der Biologie zugunsten der Philosophie aufgegeben hat, gelangt auf diesem direkten Wege in die durch Goethes Naturanschauung und romantische Naturphilosophie vertraute Dimension: griechische Physis wandelt sich unterderhand zur Naturgestalt des Neuhumanismus; der Kosmos erhält die durch unsere eigene Bildungstradition geprägte Physiognomie. Freilich hören wir auch, daß die Natur nicht nur natürlich ist, wenn sie wachsen und gedeihen läßt, sondern ebensosehr, wenn sie zerstört, die Erde erbeben, das Meer tosen und Vulkane ausbrechen läßt. Um so riskanter ist es, diese Natur zur Totalität des Seienden im ganzen zu deklarieren, ihr auch den Menschen mit dem Hinweis, er sei wesentlich Menschcngewächs, zu integrieren; riskant, meine ich, müßte ein in Eranosjahrbüchern erneuertes Bild vom 7 Wissen, Glaube und Skepsis, a. a. O., S. 76.
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kosmisch einbehaltenen Menschen gerade dem überlegen humanistischen Geist erscheinen, der gegenüber den Verkehrungen stoischer Naturgläubigkeit in weltanschaulichen Biologismus so hoch sensibel ist. Von hier erhält, wenn ich recht sehe, der wichtige Aufsatz über »Natur und Humanität des Menschen« seinen strategischen Sinn. Löwith kennt natürlich die ertragreichen Bemühungen der philosophischen Anthropologie, die Sonderstellung des Menschen in der Natur zu charakterisieren; er verwechselt das aufrecht gehende, handelnd sein Leben führende, gesellschaftlich sein Leben erhaltende Wesen, den sprechenden und schweigenden, den fragenden und antwortenden Menschen nicht mit Pflanze und Tier. Aber er besteht darauf, daß der Mensch noch in seinen Extremen des Selbstmordes und der Selbstvollendung innerhalb des organischen Zirkels der Natur gehalten ist. Der Mensch ist wachstümlich von Natur aus, was er ist; seine Weltoffenheit überschreitet Natur nicht grundsätzlich. »Das Überschreiten, welches den Menschen und seine Sprache vom Tier unterscheidet, könnte sich noch immer im unüberschreitbaren Umkreis der Natur vollziehen.«8 Humanität erweist sich demnach in der Bildung des Menschen zu einem »naturgemäßen Transzendieren«; dieses übersteigt wiederum Natur nur in Richtung auf die immanente Vernunft, den sprachlosen Logos der Natur selbst, sei es beschaulich im staunenden Verharren der Theorie, sei es handelnd im Leben der Polis. Auch das Zusammenleben der Menschen in einer Polis kann nicht in Ordnung sein, wenn es nicht in der Art des Kosmos verfaßt ist. Wo rigorose Türhüter die Dimension der Geschichte vor einer zur Totalität erhobenen Natur schließen, ist eine durch Arbeit errungene, in der Sprache gewahrte und zugleich geforderte Bildung des Menschen zur Menschlichkeit, ist Humanität bedroht. Löwith, in dieser Hinsicht gewiß der Empfindlichste, versucht die Integration des Menschen in Natur gleichwohl durch eine humanistische Verklärung der Natur selbst zu sichern. Politisch bedeutet das die Rückkehr zum klassischen Naturrecht, wenn auch Löwith darauf merkwürdigerweise nirgends rekurriert. Es bleibt bei gelegentli8 Abhandlungen, a.a.O., S. 205.
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chen Hinweisen auf die politische Anthropologie der alten Historiker, die ihre Geschichten noch unbeirrt vom Pathos der Geschichtlichkeit erzählen konnten. Erwähnt wird die Überzeugung des Thukydides, daß der wechselvolle Kampf um die Herrschaft der Regierenden in der unveränderlichen Natur des Menschen wurzelt und daher stets gleichförmig sich wiederholen muß; erinnert wird an die Lehre des Polybios, daß aus dem gleichen Grunde der Umlauf im Wechsel der Verfassungen, der Umschlag von Sieg in Niederlage, von Unterwerfung in Herrschaft einer natürlichen Regel unterliegt. Löwith reproduziert diese Ansichten affirmativ als unverrückbare Einsichten und entzieht sich dadurch dem zeitgeschichtlichen Problemdruck. Inzwischen haben sich ja nicht nur die Formen der Herrschaft in ihrer Struktur, und sogar Herrschaft selber in ihrer Substanz gegenüber der Epoche des Polybios, gegenüber selbst der des Machiavell verändert; inzwischen ist die Eliminierung des Krieges zum Gegenstand laufender diplomatischer Verhandlungen geworden und die Abschaffung der Todesstrafe in manchen Ländern zur Verfassungsnorm erhoben. Dies ein Beispiel für eine bis in anthropologisch tiefe Schichten wirksame Veränderung der Organisation von Herrschaft und Gewaltausübung; jenes ein Beispiel für die praktische Notwendigkeit, Verhältnisse künftig zu verändern, die man bis heute für anthropologisch konstant gehalten hat. Als Löwith vor kurzem aufgefordert wurde, in einer Sendereihe zum Problem der Todesstrafe vorzutragen, reagierte er auf bezeichnende Weise: er überschrieb seinen Beitrag »Töten, Mord und Selbstmord« und erklärte in wenigen Worten den Unterschied zwischen Töten im Kriegszustand und Morden unter Gesetzen des bürgerlichen Lebens; ohne Seitenblick auf die Todesstrafe, aber auch ohne Seitenblick auf die Versuche, die eine geängstigte Welt in Atem halten, eben die, unter Atompilzen den Naturzustand zwischen den Staaten zu beenden, also den bezeichneten Unterschied zwischen Töten und Morden gerade aufzuheben, wandte er sich dann ausschließlich dem stoischen Topos des Selbstmordes zu, dem Signum der Freiheit eines philosophisch beherrschten Lebens. Allein, bleibt es noch Weisheit, wenn man sie um den Preis einer solchen Beschränkung des Blickes behaupten muß?
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Sowenig es eine moderne Natur gibt, wohl aber eine moderne Naturwissenschaft, behauptet Löwith, sowenig gibt es eine moderne Menschennatur, wohl aber zeitgemäße und antiquierte Anthropologien. Gegen diese These gilt es zu bedenken, ob nicht das Selbstverständnis des Menschen zu dem, was er natürlicherweise ist, wesentlich hinzugehört; ob nicht auch das, was er von sich hält, bestimmend dafür ist, wie er sich hält. Ist nicht die Natur des Menschen notwendig vermittelt durch die zweite Natur, die nur in den geschichtlich ausgebildeten Formen seiner Arbeit, den geschichtlich erworbenen und entworfenen Regeln des Zusammenlebens, Befehlens und Gehorchens, in den geschichtlich entdeckten, sprachlich festgehaltenen, vorangetriebenen oder auch verworfenen, verlorenen Weisen des Erfahrens, Deutens und Verfügens, die deshalb auch in den Bildern, welche bestimmte Gesellschaften zu bestimmten Zeiten von sich selber haben, buchstabiert ist? Wir finden uns in einer Lage, in der die Bedingungen des Überlebens so maßlos, nämlich so unverträglich mit Lebensformen geworden sind, die durch Jahrtausende der Bewährung den verführerischen Schein der Naturwüchsigkeit angesetzt haben; in einer solchen Lage der analysierbaren Alternativen zwischen tödlichen Gefahren und einer Veränderung eben in solchen naturwüchsigen Lebensformen sollten die historischen Erfahrungen mit der Plastizität der menschlichen Natur nicht unter den Tabus der Konstantenlehren zugedeckt werden. Skeptischer Haltung entspricht es eher, wenn wir auf die praktische Notwendigkeit einer Kontrolle tiefgreifender Veränderungen mit theoretischen Entwürfen antworten, die heuristisch unter dem Grundsatz einer breiten Variabilität der menschlichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Hinfälligkeiten stehen. Wie ein Glaubenssatz liest sich demgegenüber die These: »Auch der Unterschied von Kultur und Barbarei offenbart unter verschiedenen Bedingungen dieselbe Natur des Menschen, der am Anfang der Geschichte nicht weniger Mensch war, als er es am Ende sein wird.«9 Selbst wenn die Geltung dieses Satzes entscheidbar und seine Wahrheit entschieden wäre, so ließe er immer noch die Frage offen: ob nicht auf der Zivilisationsstufe der industriell fortgeschrit9 Abhandlungen, a.a.O., S. 160.
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tenen Gesellschaft die Menschlichkeit der Menschen nur unter extremen Bedingungen zu wahren ist, wobei die substantiellen Veränderungen der Kategorien gesellschaftlichen Verkehrs womöglich bis in die Antriebsstrukturen und die Formen der Rationalität, bis in die Konstellation von Befriedigung und Enthaltsamkeit, bis in die Färbung der Emotionalität, die Art der Sublimierung und den Mechanismus der Selbstaufstufung des Geistes hineinreichen müssen. Wenn einmal die Gattung an einem fingierten Ende der Geschichte »nicht weniger Mensch« sein sollte, als sie es am Anfang ihrer hochkulturellen Entwicklung war, weil sich die menschliche Natur wandeln konnte.
Doch gehören solche Argumente zu einem Denken, das sich von dem, was not tut, praktisch in Anspruch nehmen läßt. In bezug auf das unum necessarium gibt es aber, so entgegnet Löwith, nur Heilswahrheit - »was hat ein solches Bekennen noch mit Erkenntnis zu tun«?10 Wenn Erkennen hier in dem theoretisch anspruchsvollen Sinne einer auf das Seiende im ganzen gerichteten Ontologie verstanden ist, besteht Löwiths Bedenken zu Recht. Denn es ist nicht einzusehen, warum das praktisch beanspruchte historische Bewußtsein die engagierte Frage nach einem in diagnostizierter Lage praktisch Notwendigen gleichsetzen sollte mit der ontologischen Frage nach der Welt im ganzen. In der Tat läßt sich bezweifeln, »ob eine geschichtliche Not, wie groß und bedrängend auch immer sie sein mag, der wesentliche Beweggrund einer philosophischen Besinnung auf das Wesen des Seins und der Wahrheit sein kann«.11 Deshalb scheint es mir nicht ganz befriedigend, wenn eine gewisse Fixierung an den Lehrer Heidegger Löwith immer wieder dazu drängt, den Verfasser von »Sein und Zeit« als Extrem eines radikalen geschichtlichen Denkens auszuzeichnen: entschlossener als er könne man die Ewigkeit nicht preisgeben. Immerhin denkt Heidegger aber aus dem Horizont der 10 Wissen, Glaube und Skepsis, a.a.O., S. 17. 11 Abhandlungen, a.a.O., S. 176f.
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Zeit das Sein. Ontologie als solche gibt er nicht preis, Geschichte bezieht er auf die Struktur der Geschichtlichkeit zurück. Das setzt ihn dem erwähnten Monitum aus, zeigt jedoch zugleich, wie wenig er es ist, der die inkriminierte Verfallsgeschichte einer Historisierung und Pragmatisierung des Bewußtseins vollendet hat. Das war nämlich längst geschehen durch jenen revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, dessen Konsequenzen Löwith jüngst in einer brillanten Einleitung zu Texten der Junghegelianer noch einmal mit aller wünschenswerten Klarheit analysiert hat. 12 An dieser Schwelle hat Philosophie, die ihr eigenes unvermeidliches Interesse noch in die Reflexion selbst aufnimmt, dem klassischen Anspruch ganz entsagt, hat sie sich aus Ontologie in Kritik ganz zurückgenommen. Löwith ist ein hellsichtiger Gegner: er findet in diesen Linkshegelianern strengere Widersacher und gleichwohl einen verwandteren Geist als in Heidegger: »Die prinzipielle und revolutionäre Bedeutung von Marx beschränkt sich nicht darauf, daß er Hegel vom >Kopf< auf die >Füße< stellte und den metaphysischen Historismus in historischen Materialismus verkehrte; sie liegt vielmehr darin, daß Marx die Philosophie als solche >aufhob<, indem er sie >verwirklichen< wollte. Diese Aufhebung erfolgte zwar programmatisch durch Marx, aber vorbereitet und sekundiert von L. Feuerbach und M. Stirner, A. Rüge und M. Hess, B. Bauer und S. Kierkegaard ... Zwar nennen sich die Linkshegelianer noch selbst Philosophen, sie sind aber nicht mehr Liebhaber der Weisheit und der sich selbst genügenden Einsicht. Sie glauben nicht mehr an die philosophische >Theoria< als der höchsten, weil freiesten menschlichen Tätigkeit und an deren Begründung aus dem Bedürfnis der Bedürfnislosigkeit<. Der Ausgangspunkt der >letzten Philosophen< ist das praktische Bedürfnis der sozialen und politischen, überhaupt der zeitgeschichtlichen Verhältnisse. Sie denken nicht an das Immerseiende und sich Gleichbleibende, sondern an die wechselnden Erfordernisse der Zeit. Der Geist wird ihnen zum >Zeitgeist<. Sie philosophieren noch, aber gegen die reine Kontemplation und im praktischen Dienst der geschichtlichen Bewegung. Die >Welt< wird für sie zur >Menschenwelt<, die >Weltweisheit< zur 12 Die Hegelsche Linke, a.a.O., S. 7-38.
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Erkenntnis der geschichtlichen >Weltbewegung<, und die Wahrheit ihrer Erkenntnis bewährt sich ihnen deshalb aus ihrer Zeitgemäßheit.«13 Und weiter: »Durch diese ihm eigene praktisch-geschichtliche Tendenz ist der Marxismus ein radikaler Widersacher der Philosophie und zugleich die extremste und darum lehrreichste Form eines radikal geschichtlichen Denkens. Wenn dieser Widerstreit von Marxismus und Philosophie nicht immer oder nur aus nicht-philosophischen, praktisch-politischen Gründet als ein Widerstreit von Philosophie und Unphilosophie empfunden wird, so liegt der Grund für diese Unklarheit darin, daß die Philosophie ihrerseits, mit der Preisgabe des Unterschieds von Praxis und Theorie und des Vorrangs der letzteren das gute Gewissen zu sich selber verloren hat.«14 Vergewissern wir uns noch einmal des Zusammenhangs» aus dem Löwith diese Historisierung und Pragmatisierung des philosophischen Bewußtseins kritisiert. Von Aristoteles bis Hegel h»1 Theorie das Relative, und wäre es auch das Beziehungsreichste gewesen, das Flüchtige, und wäre es das Aktuellste gewesen, das Kontingente, und wäre es das Bedrängendste gewesen, aus ihrem wesentlichen Interesse ausgeschlossen. Die junghegelianische Kritik hingegen läßt sich gerade dadurch praktisch in Anspruch nehmen und an die Reflexion des unveräußerlichen historischen Standorts binden, gerade in der Erfahrung der absoluten Relevanz des Relativsten, des Temporären und Kontingenten. Löwith hinwiederum kritisiert diese Erfahrung als eine dogmatische Voraussetzung. Und zwar in der Weise, daß er geistesgeschichtlich den Zusammenhang zwischen dem christlichen Schöpfungsglauben und dem Begriff der Existenz in seiner Zuspitzung von Pascal, über Kant, Kierkegaard, Nietzsche bis zu Heidegger und Sartre nachweist. Wenn die Welt, die von Natur aus immerwährend ist, was sie ist, nicht mehr als Kosmos begriffen wird, sondern als eine vergängliche Schöpfung aus dem Nichts, dann wird die Existenz alles Seienden nur durch den Glauben an eine faktische Schöpfung einer faktischen Welt gewiß - und in dem Maße, in dem dieser Glaube selbst der Säkularisierung anheimfällt, zur blindesten und fragwürdigsten 13 Ebd., S. 9f. 14 Ebd., S. 37.
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Tatsache. »Existenz« behauptet dann zugleich die Aufdringlichkeit und Fragwürdigkeit des Faktischen, sie meint die unbewältigte Relevanz eines Relativen, das nicht mehr aus seiner Relation zum Absoluten gerechtfertigt werden kann, obschon es das Bedürfnis der Rechtfertigung nach wie vor wachhält. Von daher bezieht die neuzeitliche Philosophie den Antrieb für die begründen sollende Reflexion und die nachhegelische Kritik den Impuls für ihren Anspruch, praktisch zu vollziehen, woran die Macht der bloßen Reflexion scheitert - beide, so argumentiert Löwith, beziehen ihr Motiv, ihnen unbewußt und deshalb dogmatisch, aus jenem verdrängten christlichen Zweifel an der Selbständigkeit der Natur, aus dem Mißtrauen in die Verläßlichkeit einer nicht in ihr selbst ruhenden Welt. Damit mag es nun geistesgeschichtlich bestellt sein wie immer, treffen kann das Argument nur unter Löwiths eigenen, sehr wohl selbst dogmatischen Voraussetzungen: erstens, daß sich die Geschichte wesentlich nach Maßgabe des herrschenden ontologischen Weltverständnisses bestimmt und wandelt; zweitens, daß sie sich nach romantischem Muster als ein Verfall vom wahren Anfang zu einem fortschreitend sich verdüsternden Ende vollzieht; und drittens, daß durch die bloße Reflexion des nachgriechischen Weltverständnisses geschichtliche Tradition als solche ihrer Substanzlosigkeit und Geschichte im ganzen ihrer Hinfälligkeit überführt werden kann. Könnte sich demgegenüber der aufgewiesene Zusammenhang des christlichen Schöpfungsglaubens mit dem kritischen Selbstverständnis eines praktisch beanspruchten historischen Bewußtseins nicht umgekehrt darin bewähren, daß gerade die Säkularisierung, und das heißt Entmythologisierung, der Glaubenssätze das Moment Wahrheit im Mythos hervorkehrt? Wenn die natürliche Welt, in der die menschliche Gattung ihr Leben erhält und führt, als ganze kontingent ist und ihren Logos nicht sprachlos in sich selber hegt, ist die Geschichte in der Tat der Prozeß einer nachgeholten Schöpfung: auf dem Boden der Natur, in der natürlichen Welt über sie hinaus ist sie die Bildung der Menschenwelt durch die Hand des Menschen selbst. Der dechiffrierte Schöpfungsmythos wäre dann nicht einmal unvereinbar mit dem heidnischen Naturalismus. Die menschliche Gattung müßte als ein Bestandteil der Natur ebenso
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kontingent gedacht werden wie die Natur selbst - und als Naturgeschichte die Geschichte. Diese würde freilich in dem Maße ihre Kontingenz einbüßen, in dem sich eine fortschreitende Rationalisierung aus dem ziellosen Wachstum der technischen Verfügung über verdinglichte Natur und Gesellschaft selbstkritisch einholen ließe durch die vernünftige Kommunikation der Menschen über die praktische Beherrschung ihrer Geschicke. Ich deute den Schattenriß dieser utopischen Version nur an, um daran zu demonstrieren, daß ihr gegenüber der Hinweis auf »theologische Voraussetzungen« seine Kraft verliert. Säkularisierung ist dann nämlich eingestandenermaßen die fortgesetzte kritische Aneignung von Traditionen, aus denen der Logos einer durch geschichtliche Vermittlung der Natur mit der Menschenwelt zu verwirklichenden Humanität einzig gewonnen werden kann; einzig aus ihnen, wenn es ernst sein soll mit der Kontingenz der Welt im ganzen und infolgedessen mit der Notwendigkeit der Hervorbringung des Logos durch die weltgeschichtliche Arbeit der Reproduktion menschlichen Lebens. Vielleicht wohnt dieser Lebenserhaltung von Natur aus eine Art logos spermatikos, allerdings auch der maßlose Anspruch inne, daß das Leben der menschlichen Gattung nur als ein humanes auf die Dauer erhalten bleiben kann. Wenn es in der Geschichte ein Immerwährendes gibt, dann ist es allenfalls ein Wissen von dieser anthropologischen Maßlosigkeit, ein Wissen von der elementaren Unabdingbarkeit des Luxuriösen im Menschen, dessen Natur Zivilisation ist. Ein solches Wissen stammt aus den primitivsten und den nacktesten, den sublimsten und den abenteuerlichsten Erfahrungen, aus der alltäglichen Praxis und den außerordentlichen Momenten und ist mit den übrigen Spuren der historisch sedimentierten Gattungserfahrung in die Mythen, Religionen, Philosophien, in die Gestalten des objektiven Geistes eingegangen; von ihm wissen wir abstrakt nur, daß es abstrakt nicht zu wissen ist. Auch von daher mag die Gewalt des geschichtlichen Traditionszusammenhanges rühren; wir können sie nicht einmal dann hintergehen, wenn die Anstrengung gerade darin besteht, uns in der Helle historischer Selbstreflexion von der Irrationalität der puren Geltung von Traditionen, eben von Geschichte als Naturgeschichte zu lösen. Demgegenüber kommt Löwith ironischerweise mit der
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junghegelianischen Religionskritik darin überein, daß die nachchristliche Epoche das Christentum schlicht streichen: die Tradition des heilsgeschichtlichen Denkens und den vernünftigen Anspruch seiner säkularisierten Motive in einem Satz überspringen und damit die hermeneutische Basis unseres Selbstverständnisses im Sinne der einfachen Negation aufheben könne. Ja, Löwiths Kritik an dem junghegelianisch entfalteten Bewußtsein der historischen Dialektik enthüllt sich zugleich selber als eine Radikalisierung der junghegelianischen Religionskritik15; und seine Apologie der natürlichen Weltansicht wäre Feuerbachs kosmologisch noch einmal reflektierte Anthropologie - wenn nur Feuerbach philosophisch gedacht hätte.
5 Eine kritische Auseinandersetzung mit Löwith stößt, jenseits der Hemmungen, die sich ohnehin gegenüber dem überlegenen Geiste einstellen, auf eine spezifische Schwierigkeit. Bevor noch ein Argument ins Treffen geführt ist, fühlt man sich irritiert von dem unruhigen Bewußtsein, ob Löwith es nicht schon im voraus analysiert und sehr viel besser formuliert hat. Seine Kritiker stehen auf einem von ihm selbst bereiteten Boden. Ich möchte dafür ein Beispiel nennen. Das Festhalten an dem klassischen Begriff der Philosophie und an der kosmologischen Weltansicht der Antike, so bemerkt er einmal, erscheine unserem historischen Bewußtsein als ein unmöglicher Rückgriff auf eine vergangene griechische Welt, in der es noch Sklaven und Freie, Banausen und Philosophen gab. Während meines Löwith-Studiums habe ich gelernt, daß es in einem solchen Fall angemessener ist, den Vorwurf der Banausie auf sich zu laden und ohne Eleganz eine rhetorisch gestellte Frage regelwidrig zu bejahen. Wie kaum ein anderer hat Löwith die Künste des historischen Bewußtseins und dessen Finessen aufgespürt - freilich nur, um sie zu entkräften; er hat sie selber handhaben gelernt, freilich so, wie man sich eine Fingerfertigkeit 15 Charakteristisch ist dafür die Untersuchung: Hegels Aufhebung der christlichen Religion, in: Festschrift für Gerhard Krüger, Frankfurt 1962.
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statt um des Spiels um des Überspielens eines Gegners willen aneignet. Wenn er aber die Positionen des praktisch in Anspruch genommenen historischen Bewußtseins so genau kennt, daß man auf der Hut sein muß, die Metakritik mit längst antizipierten Gegenargumenten zu bestreiten, wird der stoische Rückzug vom historischen Bewußtsein, die ebenso beharrliche wie unvermittelte Rückkehr zur Antike, um so erstaunlicher. Eine Regression lebt von unbewußten Ängsten und nicht aus der kritischen Vertrautheit mit dem negierten Stadium. Deshalb schiene es mir unbillig, doch noch einen Affekt gegen die Moderne dingfest und verantwortlich zu machen für eine Reaktion, die man sich anders nicht erklären kann. Obwohl die dezidierte Wahlverwandtschaft mit Burckhardt immerhin ein Fingerzeig auf den begrenzten zeitkritischen Horizont der Ablehnung einer Gegenwart sein mag, in der »es keine Philosophen mehr gibt«; ein Hinweis vielleicht auf die bildungshumanistische Verachtung des maßlosen 19., die geistesaristokratische Furcht vor einem gewalttätigen 20. Jahrhundert. Legitimer erscheint mir aber ein anderer Hinweis. Als ich die kunstvolle Autobiographie des Gelehrten Löwith, seine Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften las16, war ich von der stillen Logik dieses philosophischen Lebenslaufs fasziniert: wie war es möglich, daß das äußerlich von politischen Katastrophen so umgetriebene Lebensschicksal eines über Rom nach Tokio, vom Osten nach Westen (und muß man hinzufügen: aus den USA nach Deutschland?) Emigrierten gleichwohl innerlich nicht nur die Identität der Person, nicht nur die Kontinuität eines Philosophierens überhaupt ermöglicht hat, daß in einer solchen Schale frühe Keime zur Frucht des entfalteten Gedankens - in einer fast zyklisch reifenden Evolution ausgetragen worden sind? Auch wenn man die Tendenz zur Selbststilisierung, die bei einem großen Schriftsteller um so verführerischer ist, berücksichtigt, verlangt doch wohl dieses gleißende und tief berührende Mißverhältnis ein stärkeres Motiv, ein Motiv der Lebensgeschichte selbst - vielleicht jene privatistische Abkehr von der politischen Welt, die unnachahmlich schon in dem einen 16 In: Jahresheft der Heidelb. Akad. d. Wiss. 1958/59, S. 23ff.
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Satz ausgesprochen ist: »Die Unruhen der Münchener Räterepublik hatten mich nach Freiburg vertrieben, wo ich die strenge phänomenologische Schulung durch E. Husserl genoß.« Eine klassische Wendung. In dieser yl&wendung kann Löwith Herausforderungen von Situationen nicht wahrnehmen, und er darf sie als solche nicht wahrhaben. Er nimmt nicht zur Kenntnis, daß eine Distanzierung von unseren Pragmata in der reinen Kontemplation objektiv nicht mehr so möglich ist, wie sie zu Zeiten und unter Verhältnissen eines Heraklit, noch eines Aristoteles möglich war. Von jenem unmittelbaren Handeln in einem beschränkten und überschaubaren Umkreis mochte Besinnung sich lösen können, damit sich wiederum Handeln, wenn schon nicht durch die Besinnung selbst, durch Besonnenheit bestimmen ließ. Heute ist Handeln bis in den Alltag hinein durch eine zur praktischen Gewalt gediehene, ihrerseits wissenschaftlich angeleitete Technik vermittelt; Handeln hat seine relative Folgenlosigkeit eingebüßt und beansprucht deshalb auch das philosophische Bewußtsein praktisch, zwingt es zur zeitgeschichtlichen Reflexion. Gewiß haben hundert Jahre engagiertes Denken die Dialektik des Engagements erschreckend enthüllt, aber ein Dispens vom historischen Bewußtsein ist damit nicht erwirkt. Löwith ignoriert die auf Technik angelegten Wissenschaften in ihren praktischen Folgen. Er begnügt sich damit, die philosophischen Voraussetzungen ihres wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses in einen Verblendungszusammenhang der Pragmatisierung und Historisierung des natürlichen Weltverständnisses einzureihen, weil er prinzipiell nicht anerkennen kann, daß sich das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie umgekehrt hat; daß sich Philosophie den praktischen Aufgaben der objektiven Folgen einer gesellschaftlich effektiv gewordenen verwissenschaftlichten Technik stellen oder als Philosophie sich verabschieden muß. Die einzige Folge der modernen Wissenschaft, für die Löwith ein gewisses Interesse zeigt, ist das Vordringen in den Weltraum; Löwith erscheint das exorbitant nicht nur im buchstäblichen Sinne, weil dadurch jenes an die Erde zentrisch gebundene Bild der natürlichen Weltansicht objektiv aus den Angeln gehoben wird.
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Aber wird nicht in diesem Stadium eine Veränderung nur manifest, die sich unaufdringlich immer schon vollzogen hat, seit überhaupt Menschen durch ihrer Hände Arbeit sich am Leben erhalten ? Marx hat einmal gegen Feuerbach eingewandt, und Löwith kennt diese Stelle sehr gut: »Er sieht nicht, wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt... des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie in jeder geschichtlichen Epoche das Resultat, Produkt der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen ist, deren jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte.«
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10. Ludwig Wittgenstein Wittgensteins Rückkehr (1965) Als 1960 der Suhrkamp Verlag einen ersten Band mit Wittgensteins Philosophischen Schriften vorlegte, ließ sich der Erfolg wohl kaum voraussehen. Heute ist Wittgenstein Mode. Es bedurfte nur des verlegerischen Anstoßes - und schon verbreiteten sich die Sprachspiele, deren Habitus doch so eigentümlich dem englischen Klima verhaftet zu sein schien, auch in Deutschland. Ein unterkühltes Disengagement kommt auf seine Kosten. Wir entledigen uns sprachanalytisch des Tiefsinns nicht ganz ohne Sinn für Tiefe. Wir genießen die Vorzüge eines Positivismus, ohne die empiristische Grobschlächtigkeit zu teilen. Wir sind auf die gelassenste Weise radikal; denn wir brauchen für den Schick der Avantgarde diesmal nicht allzuviel Schicksal zu opfern. Eine Entlastungsphilosophie für die 60er Jahre? Jener erste Band enthielt, außer frühen Tagebüchern, die beiden Hauptwerke Wittgensteins: den 1921 erschienenen Tractatus, der von der älteren Generation des logischen Positivismus als eine Art Programmschrift aufgenommen worden war; und die 1958 in England veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen, deren Hauptteil noch von Wittgenstein zum Druck vorbereitet worden ist. Dieses spätere Werk ist zum Grundbuch der neueren Sprachanalyse geworden. Es bricht mit den positivistischen Auffassungen des Tractatus. Über diese Wendung zur linguistischen Philosophie, die Wittgenstein zu Beginn der 30er Jahre in seinem Cambridger Schülerkreis vollzogen hat, unterrichteten bisher nur Vorlesungsdiktate aus den Jahren 1933 bis 1935. Erst jetzt liegt aus den Jahren 1929/1930 ein authentisches Zeugnis vor: die Philosophischen Bemerkungen, die Wittgenstein damals aus Notizheften zu einem Maschinenskript zusammengestellt hatte.1 Der zweite Band der Schriften enthält, neben anderen Aufzeichnungen, diesen Text. Der 1 Ludwig Wittgenstein, Schriften, Band 2: Philosophische Bemerkungen, Frankfurt am Main 1964.
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englische Herausgeber kündigt ein weiteres Nachlaßmanuskript aus dem Jahre 1932 an. Beide Male hat Wittgenstein den anfänglich gehegten Plan, zu publizieren, wieder fallengelassen. Noch das Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen aus dem Jahre 1945 spiegelt sein Zögern, philosophische Brocken zu veröffentlichen. Aber gerade die fragmentarische Form der Notizbucheintragung bringt Wittgensteins Auffassung von Philosophie zum Ausdruck: weil Philosophie keine Lehre ist, sondern eine Tätigkeit, besteht ein philosophisches Werk wesentlich aus Erläuterungen. Wittgenstein hat zeitlebens an dem Grundsatz, daß Philosophie Sprachkritik ist, festgehalten: ihr Ziel ist die logische Klärung der vorgefundenen Gedanken. Der systematischen Entfaltung eines eigenen Gedankens ist sie nicht fähig. Während die Philosophie bisher immer wieder neue Theorien aufgestellt hat, um ihre Probleme zu lösen, gelangt sie nun zum Bewußtsein ihrer selbst: sie durchschaut ihre Probleme als Verwirrungen, die durch ein Leerlaufen der Sprache erst entstehen. Sie wird deshalb versuchen, ihre Probleme, statt sie zu lösen, zum Verschwinden zu bringen. Freilich verfolgt Wittgenstein mit diesem alten Programm der Sprachkritik keineswegs das Ziel einer abstrakten Austreibung der Metaphysik. Das, wovon die Metaphysik gesprochen hat, läßt sich nicht sagen; aber deshalb ist, worüber der Philosoph schweigen muß, nicht etwa nichts. Sprachlos zeigt sich vielmehr das Wesen der Welt demjenigen, der die Sprache selber bei ihrer Arbeit, in ihrer Anwendung verfolgt: »Was zum Wesen der Welt gehört, läßt sich nicht sagen. Und die Philosophie, wenn sie etwas sagen könnte, müßte das Wesen der Welt beschreiben. Das Wesen der Sprache aber ist ein Bild des Wesens der Welt; und die Philosophie als Verwalterin der Grammatik kann tatsächlich das Wesen der Welt erfassen, nur nicht in Sätzen der Sprache, sondern in Regeln für diese Sprache, die unsinnige Zeichenverbindungen ausschließen.« Dieser Satz aus den Philosophischen Bemerkungen spricht die Intention aus, die das Vorwort, ohne sich vor dem Verdacht der Sinnlosigkeit zu genieren, anmeldet. Der von Wittgenstein reklamierte Geist, der sich vom Fortschritt der europäischen und amerikanischen Zivilisation absetzt, will die Welt nicht »durch ihre Peripherie in ihrer Mannigfaltigkeit erfassen, sondern in ihrem
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Zentrum - ihrem Wesen«. Die Mystik des Einen und des Wesentlichen, das sich dem Verstummenden zeigt, ist das deklarierte Ziel der Sprachanalyse. In ihm treffen sich die sonst weit auseinanderführenden Wege Wittgensteins und Heideggers. Allerdings hat die sprachanalytische Tätigkeit beim frühen Wittgenstein einen anderen Stellenwert als beim späteren. Der Tmctatus läßt sich noch vom kritischen Mißtrauen gegen die Umgangssprache leiten. Die Umgangssprache verkleidet die Struktur des Gedankens, »weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen«. Die Absicht der Sprachanalyse ist deshalb umstürzlerisch; sie will alle Sätze als sinnlos eliminieren, die sich nicht der einzigen tatsachenabbildenden Universalsprache strenger Wissenschaft einfügen lassen. Auf dieser Grundlage konnte das Programm der Einheitswissenschaft entwickelt werden. Als dann die Annahme einer vorgegebenen Universalsprache, in der wir transzendental immer schon verständigt sind, problematisch wurde, hat der Neopositivismus die Sprachanalyse durch Sprachkonstruktion, durch den Entwurf idealer Sprachen fortgesetzt. Diese Art Sprachanalyse, die zur Hilfswissenschaft der Methodologie wird, löst sich vom naturwüchsigen Sprachgebrauch ganz: sie rekonstruiert die ungenauen Ausdrücke in einem linguistischen Rahmen, den sie selbst jeweils festlegt. Wittgenstein ist Carnap auf diesem Wege zur konstruktiven Semantik, den er doch selbst gebahnt hatte, nicht gefolgt. Das Notizbuch von 1929/30 hält das Bedenken fest, das ihn gerade angesichts dieser Konsequenzen dazu bringt, seinen früheren Ansatz zu revidieren: »Wie seltsam, wenn sich die Logik mit einer idealen Sprache befaßt und nicht mit unserer. Denn was sollte diese ideale Sprache ausdrücken? Doch wohl das, was wir jetzt in unserer gewöhnlichen Sprache ausdrücken; dann muß die Logik also diese untersuchen. Oder etwas anderes: aber wie soll ich dann überhaupt wissen, was das ist? Die logische Analyse ist die Analyse von etwas, was wir haben, nicht von etwas, was wir nicht haben. Sie ist also die Analyse der Sätze, wie sie sind.« Im Tractatus hatte Wittgenstein es noch für »menschenunmöglich« erklärt, die Sprachlogik aus der Umgangssprache unmittelbar zu entnehmen; genau dies ist von nun an sein
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Programm. Freilich erkauft er die alte hermeneutische Einsicht, daß die konkrete Umgangssprache die letzte, nicht mehr zu hintergehende Metasprache, eine Art transzendentale Schranke ist, um einen hohen Preis: die Sprachkritik verliert ihren kritischen Stachel. Weil sie weder auf den starren Maßstab einer Universalsprache zurückgreifen kann, noch die Maßstäbe idealer Sprachen selbst herstellen will, glaubt Wittgenstein, sich und der Philosophie verbieten zu müssen, den tatsächlichen Gebrauch der Sprache anzutasten - Philosophie läßt am Ende alles, wie es ist. Am Schluß des Tractatus hieß es noch, daß es Sätze der Ethik nicht geben kann. Unsere Aussagen sollten nur Tatsachen, die in der Welt sind, abbilden, aber nicht Forderungen ausdrücken können, denen in der Welt keine Tatsachen entsprechen. Gäbe es so etwas wie Ethik, dann könnte sie sich nicht auf Innerweltliches beziehen, sondern nur auf die Grenzen der Welt selber - sie wäre transzendental: »Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muß dann überhaupt eine andere werden.« Mit dieser einst hypothetischen Erwägung macht der späte Wittgenstein Ernst. Er sieht jetzt, daß sich in der Grammatik jeder konkreten Sprache eine bestimmte Ethik ausspricht. Er entdeckt in der Logik der Sprachspiele den dogmatischen Kern sozialer Lebensformen. Mit ihnen bildet sich erst die Plattform der Intersubjektivität, auf der Tatsachen zur Sprache kommen können. Allerdings bleibt Wittgenstein die Reflexion auf den Zusammenhang der Lebensformen und der Sprachspiele untereinander schuldig. Immer noch Positivist genug, betritt Wittgenstein die Dimension der Geschichte, in der sich jener Zusammenhang konstituiert, nicht. So begibt er sich des kritischen Begriffs, den seine vergleichende Analyse doch stillschweigend voraussetzt. Die Ethnographie der Sprachspiele, in die Sprachanalyse einmündet, müßte sich selbst ein Rätsel bleiben, wenn sie nicht ohnehin als eine bloß therapeutische Tätigkeit jeden theoretischen Anspruch von sich wiese. In den Philosophischen Bemerkungen ist von Sprachspielen noch nicht die Rede: Wittgenstein hat hier die Intersubjektivität der
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Regeln, denen wir in der umgangssprachlichen Kommunikation folgen, noch nicht herausgearbeitet. Die wichtigsten Probleme hingegen, die die Wendung zur Linguistik angestoßen haben, sind entfaltet. Wittgenstein entdeckt die Intentionalität der Sprache. Er gibt den Atomismus der tatsachenabbildenden Elementarsätze preis. Er erkennt die transzendentale Rolle der Umgangssprache. Gleichwohl wird die Abbildfunktion der Sprache noch nicht ausdrücklich kritisiert. Und es scheint so, als ob die physikalische Sprache der Wissenschaft noch eine Sonderstellung behält gegenüber allen nicht formalisierten Sprachen, auf die sich nun die Arbeit der Sprachanalyse beschränkt. Wir dürfen beruhigt sein: genügend Dissertationen werden sich der Fragen bemächtigen, die eine Rekonstruktion der Spätphilosophie im Lichte des jetzt veröffentlichten Manuskripts aufwirft. Die Publikation aus dem Nachlaß wird in Deutschland den Eindruck einer gewissen Verwandtschaft der Linguistik mit einheimischen phänomenologischen Traditionen noch verstärken. Das Pathos der reinen Beschreibung und die Intention auf ein Letztes, das sich von selber zeigt, haben Wittgenstein damals sogar veranlaßt, das Wort Phänomenologie in Anspruch zu nehmen. Auffälliger sind inhaltliche Übereinstimmungen; etwa beim Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sinn verstehen. Ferner kann sich die philosophische Hermeneutik, die sich von Dilthey herleitet, durch einen Wittgenstein bestätigt fühlen, der gegen die monologische Eindeutigkeit der konstruierten Sprachen die unüberbietbare Genauigkeit der Undefinierten, aber intersubjektiv eingespielten Sprachtradition ins Recht setzt. Schließlich erlaubt die Linguistik einer jüngeren Generation von Forschern, die vom Historismus übernommene ästhetische Einstellung unauffällig beizubehalten: an Stelle der Ideengeschichte tritt die gewiß elegantere Sprachanalyse überlieferter Texte. So versichert uns der in den deutschen Sprachbereich zurückgekehrte Wittgenstein dessen, was wir schon gewußt und immer schon getan haben - hier darf er noch konservativer werden, als er ohnehin ist. Demgegenüber hat die Kritik, in der sich etwa der Empirismus des witzigen Ernest Gellner mit der historisch gerichteten Dialektik eines Herbert Marcuse zusammenfindet, ein schwaches Echo.
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Regeln, denen wir in der umgangssprachlichen Kommunikation folgen, noch nicht herausgearbeitet. Die wichtigsten Probleme hingegen, die die Wendung zur Linguistik angestoßen haben, sind entfaltet. Wittgenstein entdeckt die Intentionalität der Sprache. Er gibt den Atomismus der tatsachenabbildenden Elementarsätze preis. Er erkennt die transzendentale Rolle der Umgangssprache. Gleichwohl wird die Abbildfunktion der Sprache noch nicht ausdrücklich kritisiert. Und es scheint so, als ob die physikalische Sprache der Wissenschaft noch eine Sonderstellung behält gegenüber allen nicht formalisierten Sprachen, auf die sich nun die Arbeit der Sprachanalyse beschränkt. Wir dürfen beruhigt sein: genügend Dissertationen werden sich der Fragen bemächtigen, die eine Rekonstruktion der Spätphilosophie im Lichte des jetzt veröffentlichten Manuskripts aufwirft. Die Publikation aus dem Nachlaß wird in Deutschland den Eindruck einer gewissen Verwandtschaft der Linguistik mit einheimischen phänomenologischen Traditionen noch verstärken. Das Pathos der reinen Beschreibung und die Intention auf ein Letztes, das sich von selber zeigt, haben Wittgenstein damals sogar veranlaßt, das Wort Phänomenologie in Anspruch zu nehmen. Auffälliger sind inhaltliche Übereinstimmungen; etwa beim Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sinn verstehen. Ferner kann sich die philosophische Hermeneutik, die sich von Dilthey herleitet, durch einen Wittgenstein bestätigt fühlen, der gegen die monologische Eindeutigkeit der konstruierten Sprachen die unüberbietbare Genauigkeit der Undefinierten, aber intersubjektiv eingespielten Sprachtradition ins Recht setzt. Schließlich erlaubt die Linguistik einer jüngeren Generation von Forschern, die vom Historismus übernommene ästhetische Einstellung unauffällig beizubehalten: an Stelle der Ideengeschichte tritt die gewiß elegantere Sprachanalyse überlieferter Texte. So versichert uns der in den deutschen Sprachbereich zurückgekehrte Wittgenstein dessen, was wir schon gewußt und immer schon getan haben - hier darf er noch konservativer werden, als er ohnehin ist. Demgegenüber hat die Kritik, in der sich etwa der Empirismus des witzigen Ernest Gellner mit der historisch gerichteten Dialektik eines Herbert Marcuse zusammenfindet, ein schwaches Echo.
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Diese Kritik besteht mit Recht darauf, daß die Arbeit der Wissenschaften und die kritische Reflexion der Philosophen auf ihre Weise die Kraft haben, die Dimension eingelebter Sprachspiele, in der sie wurzeln, auch zu überschreiten. Sonst wäre der Rechtstitel auf Vernunft verwirkt.
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tion sind voneinander abhängig geworden; in der Phase des Weltbürgerkrieges sind ihre Grenzen oft bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Heute behalten diejenigen die Oberhand, »die verstehen, was eine Revolution ist, was sie vermag und was sie nicht vermag, während alle die, welche auf die Karte der reinen Machtpolitik setzen und daher auf der Fortexistenz des Krieges als der ultima ratio aller Außenpolitik bestehen, in einer nicht zu entfernten Zukunft entdecken dürften, daß ihr Handwerk veraltet ist...« Der Vietnamkrieg ist eine blutige Probe auf dieses Exempel. Allein, das Interesse, das Hannah Arendt an dem Phänomen der Revolution bekundet, ist eigentümlich beschränkt. Sie begreift die Revolution als Gründung einer Konstitution der Freiheit, wobei Freiheit schlicht die Teilnahme der Bürger an den Geschäften einer Polis meint. Sie nimmt den Vorgang der Revolution in den klassischen Rahmen einer Rotation der Staatsformen zurück und löst genau den Zusammenhang auf, der die Revolutionen der Neuzeit zu dem macht, was sie sind: die systematische Beziehung zwischen politischen Umwälzungen und der Emanzipation gesellschaftlicher Klassen. Natürlich kann Hannah Arendt die Tatsachen nicht leugnen. Aber sie macht die spezifische Verschränkung der Revolution mit dem, was sie im Wortschatz des neunzehnten Jahrhunderts bürgerlich distanziert und zugleich karitativ herablassend »die soziale Frage« nennt, zum Kriterium der Verunreinigung eines rein politischen Vorgangs. Die Institutionalisierung der öffentlichen Freiheit darf mit Konflikten der gesellschaftlichen Arbeit nicht belastet werden, politische Fragen dürfen mit sozialökonomischen nicht vermengt werden. So meinte es Aristoteles, gewiß, und so steht es in den Lehrbüchern der alten Politik. Um uns nun zu überzeugen, daß diese Grundsätze nicht nur historisch geheiligt, sondern der menschlichen Natur gemäß sind, erfindet die Autorin ihre Geschichte von den beiden Revolutionen: einer guten und einer bösen Revolution. Die gute Revolution fand in Amerika statt. Sie ging hervor aus einem Kampf um politische Freiheit und nicht aus einem Affekt gegen Ausbeutung und soziale Unterdrückung. Ihr Resultat war daher eine brauchbare politische Verfassung. Leider geriet sie in Vergessenheit. Statt dessen ist die böse Revolution, nämlich die
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Französische, zum Muster aller späteren geworden. Sie hatte von Anbeginn die pauperisierten Massen auf die politische Bühne geschleudert und den politischen Freiheitskampf in einen sozialen Klassenkampf umfunktioniert. Ihr Mittel war der Terror und das Ergebnis die Gegenrevolution. Die permanente Bewegung des Mißtrauens kam nicht in Institutionen der öffentlichen Freiheit zur Ruhe. Nun sind in der Tat die Unterschiede der beiden Revolutionen unverkennbar, ja, die amerikanische ist eigentlich erst nachträglich als eine Revolution verstanden worden. Hegel liegt der Gedanke an eine amerikanische Revolution überhaupt fern. Mit dem Hinweis auf das Ventil der inneren Kolonisation, durch das in den USA alle Unzufriedenheit abfließe, erklärt er: hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre die Französische Revolution nicht ins Leben getreten. Während die Französische Revolution für Hegel der Schlüssel zum philosophischen Begriff der Weltgeschichte wurde, schließt er Nordamerika als ein bloßes Land der Zukunft von philosophischer Betrachtung aus. Den Amerikanern selbst war erst im Spiegel des französischen Bürgerkriegs das Revolutionäre ihrer Staatsgründung ernstlich zu Bewußtsein gekommen. Zwar berufen sich Amerikaner wie Franzosen gleichermaßen auf Prinzipien des modernen Naturrechts. Die amerikanischen Kolonisten wollten jedoch mit dem Rekurs auf Menschenrechte ihre Unabhängigkeit vom britischen Empire legitimieren; die Franzosen einen Umsturz des ancien regime.Die amerikanischen bills of rights inventarisierten im wesentlichen den bestehenden Rechtsbesitz britischer Bürger. Die Form ihrer universal-naturrechtlichen Begründung war nur im Hinblick auf die Emanzipation vom Mutterland notwendig. Die französische Deklaration sollte hingegen prinzipiell neues Recht erst zu positiver Geltung bringen. Der revolutionäre Sinn der Deklaration ist in Frankreich die Begründung einer neuen Verfassung, in Amerika nur die der Unabhängigkeit, in deren Folge allerdings eine neue Verfassung nötig wurde. Hannah Arendt interpretiert diese Tatsachen eigenwillig. Sie behauptet, daß die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte nur in der Französischen Revolution eine entscheidende Rolle gespielt habe, weil hier der gesellschaftliche Status der Privatleute durch vorpoliti-
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sehe Rechte gegenüber der Staatsgewalt gesichert werden mußte, während sich in Amerika die Konstruktion des Staates und die revolutionäre Anstrengung auf das politische Problem der Gewaltenteilung gerichtet hätten. Hier ging es um die Konstituierung der Freiheit, dort bloß um die Lösung gesellschaftlicher Konflikte. Das ist eine Version, die die Dinge auf den Kopf stellt. Gerade in Amerika fand die Revolution im Selbstverständnis eines auf Locke zurückgehenden liberalen Naturrechts statt, das den Staat aus Funktionen der Gesellschaft begriff. Paine kann die natürlichen Rechte des Menschen mit den natürlichen Gesetzen des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit geradezu identifizieren. Die revolutionäre Verfassung hatte in Amerika einzig den Sinn, die spontanen Kräfte des arbeitsteiligen Systems der Privatleute vor despotischen Eingriffen der Regierung zu bewahren. Deshalb kann Marx eine Generation später mit Recht sagen: »Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden ... Das vollendetste Beispiel des modernen Staates ist Nordamerika.« Mehr als in Europa ist in Amerika die politische Freiheit von Anbeginn als Ergebnis einer Emanzipation von Naturzwang durch gesellschaftliche Arbeit begriffen worden - die Alternative von Freiheit oder Wohlstand hat in der Tradition, die das Amerika Jeffersons bestimmt, nie bestanden. Es geht nicht an, Revolutionsziele alternativ auf Frankreich und Amerika so zu verteilen, als sei der Zusammenhang gesellschaftlicher Interessen und politischer Bewegungen, der sich in den bürgerlichen Verfassungen sinnfällig objektiviert hat, durch die Mobilisierung französischen Elends erst gestiftet worden - statt durch einen Kapitalismus, der bei Hannah Arendt nicht vorkommt. Sie möchte uns glauben machen, »daß Europas Armut sich gerächt hat in der Prosperität der amerikanischen Massengesellschaft, welche den gesamten politischen Bereich zu überwuchern und zu verwüsten droht«. Die böse Revolution hat am Ende auch die gute verschlungen. Zunächst gelang in Amerika die Gründung der Freiheit, weil die soziale Frage nicht im Wege stand; aber die politische Freiheit konnte sich nicht halten, weil die gesamte übrige Welt von dem Elend der Massen beherrscht blieb.
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Wir können die Bedingungen politischer Freiheit sinnvoll nur im Zusammenhang einer Emanzipation von Herrschaft diskutieren. Diese Kategorie von Herrschaft darf politische Gewalt und soziale Macht nicht trennen, sondern muß sie als das zeigen, was beide sind: als Repression. Unter Bedingungen sozialer Abhängigkeit bleibt das beste Recht auf politische Freiheit Ideologie. Andererseits insistiert Hannah Arendt mit gutem Grund darauf, daß die Realisierung von Wohlstand mit der Emanzipation von Herrschaft nicht zusammenfällt. Gerade der älteste Begriff der politischen Freiheit, der sich nur in der aktiven Teilhabe der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten verwirklicht, schärft den Blick für die aktuellste Gefahr: für die nämlich, daß die Revolution über ihren scheinbaren Erfolgen die eigentliche Intention verrät. Im Westen wie im Osten erschöpft sich der anfängliche Impuls in den Zielen der technisch erfolgreichen Bewältigung des Elends und der administrativen Erhaltung eines von gesellschaflichen Konflikten entspannten Systems wirtschaftlichen Wachstums. Solche Systeme können als Massendemokratien verfaßt sein, ohne auch nur ein Minimum an politischer Freiheit zu garantieren: »Trotz aller Meinungsbefragungen sind die Meinungen des Volkes schlechterdings unergründlich, aus dem einfachen Grund, weil es sie nicht gibt. Meinungen kommen nur in einem Prozeß öffentlicher Diskussion zustande, sie sind das Ergebnis lebhaften Meinungsaustausches, und wo es keinen Raum für einen solchen Meinungsaustausch gibt, da gibt es zwar Stimmungen aller Art, aber keine Meinungen.« Solange die politische Willensbildung nicht an das Prinzip allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion gebunden ist, bleibt Befreiung von Repression, das politische Ziel aller Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert, eine Schimäre. Deshalb beklagt Hannah Arendt, daß die Revolution für alles Institutionen gefunden hat, nur nicht für den Geist, der in ihr selbst sich manifestiert. Sie stößt auf die Aporie, »daß das Prinzip öffentlicher Freiheit und öffentlichen Glücks, ohne das keine Revolution auch nur denkbar ist, das Privileg der Gründergeneration bleiben könnte ...« Freilich hat es immer wieder Ansätze zur Institutionalisierung der unmittelbaren Demokratie gegeben: in den societes populaires zwischen 1789 und 1793, in den Sektionen der Pariser Kommune
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1871, in den Sowjets 1905 und 1917, in den Revolutionsräten 1918. Diese Formen des Rätesystems sind die eigentlichen Verfassungen des revolutionären Geistes. Hannah Arendt ist konsequent genug, in ihnen die wahre Konstitution der Freiheit wiederzuerkennen. Dabei entzieht sie sich allerdings der Frage, warum regelmäßig Revolutionen des »bösen« Typs Räteorganisationen, wenn auch nur vorübergehend, hervorgebracht haben, während die amerikanische Revolution in den radikal demokratischen Plänen Jeffersons ein System von Räten bloß geträumt hat. Das schmälert indessen nicht das große Verdienst dieses Buches, das den amerikanischen Traum vom privaten Wohlstand mit Jeffersons Traum der amerikanischen Revolution unnachgiebig konfrontiert: »Immerhin hatte Jefferson eine Ahnung davon, wie gefährlich es sein könnte, dem Volk nicht mehr Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen als die Wahlurne. Er erkannte die tödliche Gefahr, die darin lag, daß die Verfassung einerseits alle Macht dem Volk gegeben hatte, ohne doch die Möglichkeiten zu bestimmen, in deren Rahmen dieses Volk nun auch sich als Bürger einer Republik betätigen und bewähren konnte. Das konnte nur darauf hinauslaufen, einem Volk von Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger kaum eine Funktion hatten.« Das ist schon der erste Schritt über das Bewußtsein der bürgerlichen Revolution hinaus. Jefferson hätte ihn nicht tun können ohne Inspiration durch den Geist der Revolution, die, radikaler als in Amerika, eine neue Ordnung für Staat und Gesellschaft zumal hervorbringen sollte - und sich dann mit dem Code Napoleon zufriedengab. b) Hannah Arendts Begriff der Macht (1976) Max Weber hat Macht als die Möglichkeit definiert, den jeweils eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen. Hannah Arendt hingegen versteht Macht als die Fähigkeit, sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen. Beide stellen Macht als eine Potenz vor, die sich in Handlungen aktualisiert; aber jeder legt ein anderes Handlungsmodell zugrunde.
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»Macht« bei Max Weber, Talcott Parsons und Hannah Arendt Max Weber geht vom ideologischen Handlungsmodell aus: ein einzelnes Subjekt (oder eine Gruppe, die wie ein Einzelner betrachtet werden kann) hat sich einen Zweck gesetzt und wählt die geeigneten Mittel, um ihn zu realisieren. Der Handlungserfolg besteht darin, einen Zustand in der Welt herbeizuführen, der den gesetzten Zweck erfüllt. Soweit dieser Erfolg vom Verhalten eines anderen Subjektes abhängt, muß der Handelnde über Mittel verfügen, die den anderen zu dem gewünschten Verhalten veranlassen. Diese Verfügungsgewalt über Mittel, die die Einflußnahme auf den Willen eines anderen gestatten, nennt Max Weber Macht. Hannah Arendt reserviert dafür den Begriff der Gewalt. Denn der zweckrational Handelnde, der ausschließlich am Erfolg seiner Handlung interessiert ist, muß über Mittel verfügen, mit denen er ein entscheidungsfähiges Subjekt, sei es durch Androhung von Sanktionen, durch Überredung oder durch eine geschickte Manipulation der Handlungsalternativen, zwingen kann: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.«1 Einzige Alternative zum Zwang ist freiwillige Verständigung der beteiligten Subjekte untereinander. Das teleologische Handlungsmodell sieht jedoch nur Handelnde vor, die am jeweils eigenen Erfolg und nicht an Verständigung orientiert sind. Verständigungsprozesse läßt es nur soweit zu, wie sie den Beteiligten für den eigenen Erfolg als funktional notwendig erscheinen. Aber eine solche Verständigung, die einseitig, unter dem Vorbehalt der Instrumentalisierung für den eigenen Erfolg angestrebt wird, ist nicht ernst gemeint: sie erfüllt nicht die Bedingungen eines zwanglos herbeigeführten Konsenses. Hannah Arendt geht von einem anderen, dem kommunikativen Handlungsmodell aus: »Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit 1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. i, Kap. t, § 16, und Bd. 2, Kap. 9, §1. Talcott Parsons unterscheidet vier Sorten von Machtausübung: persuasion, activation of commitments, inducement, coercion. Vgl. On the Concept of Power, in: T. P., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 310L
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anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.«2 Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation. Das könnte freilich so verstanden werden, als ob »Macht« und »Gewalt« nur zwei verschiedene Aspekte derselben Ausübung politischer Herrschaft bezeichneten. »Macht« hieße dann die für kollektive Ziele mobilisierte Zustimmung der Mitglieder, also deren Bereitschaft, die politische Führung zu unterstützen; während »Gewalt« Verfügung über die Ressourcen und Zwangsmittel bedeuten würde, kraft deren eine politische Führung bindende Entscheidungen trifft und durchsetzt, um kollektive Ziele zu verwirklichen. Diese Vorstellung hat tatsächlich den systemtheoretischen Begriff der Macht inspiriert. Talcott Parsons versteht unter Macht die allgemeine Fähigkeit eines sozialen Systems, »to get things done in the interest of collective goals«.3 Die Mobilisierung von Zustimmung erzeugt die Macht, die unter Ausnutzung der gesellschaftlichen Ressourcen in bindende Entscheidungen transformiert wird. Parsons kann die beiden Phänomene, die Hannah Arendt als Macht und Gewalt einander kontrastiert, in einem vereinheitlichten Konzept von Macht unterbringen, weil er »Macht« als Eigenschaft eines Systems versteht, das sich gegenüber den eigenen Bestandteilen nach demselben Schema verhält, wie das zweckrational handelnde Subjekt gegenüber der Außenwelt: »I have defined power as the capacity of a social System to mobilize ressources to attain collective goals.« Er wiederholt auf der Ebene der systemtheoretischen Begriffsbildung dieselbe teleologische Vorstellung der Macht (Macht als Potential zur Verwirklichung von Zwecken), der Max Weber auf der Ebene der Handlungstheorie gefolgt ist. In beiden Fällen geht das Spezifische verloren, das die Macht der einigenden Rede von instrumentell ausgeübter Gewalt trennt. Die konsenserzielende Kraft der auf Verständigung gerichteten Kommunikation ist dieser Gewalt entgegengesetzt, weil 2 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 45. 3 Talcott Parsons, Authority, Legitimation and Political Action, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, New York i960, S. 181.
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ernstgemeinte Verständigung ein Selbstzweck ist und nicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden kann. Die Verständigung derer, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln - »die Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben«4 -, bedeutet Macht, soweit sie auf Überzeugung und damit auf jenem eigentümlich zwanglosen Zwang beruht, mit dem sich Einsichten durchsetzen. Versuchen wir, uns das klarzumachen. Die Tragfähigkeit eines in zwangloser Kommunikation herbeigeführten Konsenses bemißt sich nicht an irgendeinem Erfolg, sondern an dem der Rede immanenten Anspruch auf vernünftige Geltung. Gewiß kann auch eine in Rede und Gegenrede öffentlich gebildete Überzeugung manipuliert werden: aber noch die erfolgreiche Manipulation muß Vernunftansprüchen Rechnung tragen. Überzeugen lassen wir uns von der Wahrheit einer Aussage, der Richtigkeit einer Norm, der Wahrhaftigkeit einer Äußerung; die Authentizität unserer Überzeugung steht und fällt mit dem Bewußtsein, daß die Anerkennung dieser Geltungsansprüche rational, also durch Gründe motiviert ist. Überzeugungen sind manipulierbar, nicht der Vernunftanspruch, aus dem sie subjektiv ihre Kraft ziehen. Kurzum: die kommunikativ erzeugte Macht gemeinsamer Überzeugungen geht darauf zurück, daß sich die Beteiligten an Verständigung orientieren, und nicht am jeweils eigenen Erfolg. Dabei benutzen sie die Sprache nicht »perlokutiv«, also nicht dazu, andere Subjekte zu einem erwünschten Verhalten bloß zu veranlassen, sondern »illokutiv«, d.h. zur gewaltlosen Aufnahme intersubjektiver Beziehungen. Hannah Arendt löst den Begriff der Macht vom teleologischen Handlungsmodell: Macht bildet sich im kommunikativen Handeln, sie ist ein Gruppeneffekt der Rede, in der für alle Beteiligten Verständigung Selbstzweck ist. Wenn aber Macht nicht mehr als Potential für die Verwirklichung von Zwecken gedacht wird, wenn sie sich nicht in zweckrationalen Handlungen aktualisiert - worin äußert sie sich dann, und wozu kann sie dienen? Die Entfaltung von Macht betrachtet Hannah Arendt als Selbstzweck. Macht dient der Erhaltung der Praxis, aus der sie selbst 4 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, S. 96.
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hervorgeht. Zu politischer Macht verdichtet sie sich in Institutionen, welche Lebensformen sichern, die in reziproker Rede zentriert sind. Macht manifestiert sich a) in Ordnungen, die die politische Freiheit schützen; b) im Widerstand gegen Kräfte, die die politische Freiheit von außen oder innen bedrohen; und c) in jenen revolutionären Akten, die neue Institutionen der Freiheit begründen: »Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat ... Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt. Dies ist, was Madison meinte, wenn er sagte, daß alle Regierungen letztlich auf >Meinung< beruhen.«5 Spätestens hier wird klar, daß der Kommunikationsbegriff der Macht auch einen normativen Gehalt hat. Ist ein solches Konzept wissenschaftlich brauchbar, eignet es sich überhaupt für deskriptive Zwecke? Ich will versuchen, diese Frage schrittweise zu beantworten. Ich werde zunächst zeigen, wie Hannah Arendt ihr Konzept einführt und begründet. Dann möchte ich daran erinnern, wie sie das Konzept anwendet. Schließlich will ich einige Schwächen des Konzepts behandeln: diese sehe ich weniger in seinem normativen Status als darin, daß Hannah Arendt der historischen und begrifflichen Konstellation des aristotelischen Denkens verhaftet bleibt.
Die Strukturen unversehrter Intersubjektivität Hannah Arendts philosophisches Hauptwerk (The Human Condition, 1958) dient der systematischen Erneuerung des Aristotelischen Begriffs von Praxis. Die Autorin verläßt sich nicht auf die Exegese klassischer Texte, sie entwirft eine Anthropologie des sprachlichen Handelns - ein Gegenstück zu Arnold Gehlens Anthropologie des zwecktätigen Handelns (Der Mensch, 1940/ 5 Arendt, Macht und Gewalt, S. 42.
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1950). Während Gehlen den Funktionskreis instrumenteilen Handelns als den wichtigsten Reproduktionsmechanismus der Gattung untersucht, analysiert Hannah Arendt die in der Praxis der Rede erzeugte Form der Intersubjektivität als Grundzug des kulturell reproduzierten Lebens. Kommunikatives Handeln ist das Medium, in dem sich die intersubjektiv geteilte Lebenswelt bildet. Diese ist der »Erscheinungsraum«, in dem die Handelnden auftreten, einander begegnen, gesehen und gehört werden. Die räumliche Dimension der Lebenswelt ist durch das »Faktum menschlicher Pluralität« bestimmt: jede Interaktion vereinigt die mannigfaltigen Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven der Anwesenden, die als Individuen einen unverwechselbaren Standort einnehmen. Die zeitliche Dimension der Lebenswelt ist durch das »Faktum der menschlichen Natalität« bestimmt: die Geburt jedes Individuums bedeutet die Möglichkeit eines neuen Anfangs; Handeln heißt, eine Initiative ergreifen und etwas Unvorhergesehenes tun können. Im übrigen ist die Lebenswelt durch die Aufgabe bestimmt, die Identität von Einzelnen und Gruppen im sozialen Raum und in der historischen Zeit zu sichern. Im kommunikativen Handeln treten die Einzelnen als einzigartige Wesen aktiv in Erscheinung und enthüllen sich in ihrer Subjekivität. Gleichzeitig müssen sie einander als zurechnungsfähige, d.h. intersubjektiver Verständigung fähige Wesen anerkennen - der der Rede innewohnende Vernunftanspruch begründet eine radikale Gleichheit. Schließlich ist die Lebenswelt selbst sozusagen mit Praxis, mit dem »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« erfüllt; das sind die Geschichten, in die die Handelnden sich in Tun und Leiden verstricken. Man mag die phänomenologische Methode, mit der diese Praxisphilosophie durchgeführt wird, für unzulänglich halten; klar ist aber deren Intention: an den formalen Eigenschaften von kommunikativem Handeln oder Praxis will sie die allgemeinen Strukturen einer unbeschädigten Intersubjektivität ablesen. Diese Strukturen legen die Bedingungen der Normalität menschlicher und zugleich menschenwürdiger Existenz fest. Wegen seines innovatorischen Potentials ist der Bereich der Praxis in hohem Maße instabil und schutzbedürftig. Dafür sorgen in staatlich organisierten Gesellschaften die politischen Institutionen. Sie werden von der Macht,
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die aus unversehrten Intersubjektivitätsstrukturen hervorgeht, gespeist; und sie müssen ihrerseits die anfälligen Intersubjektivitätsstrukturen gegen Verformungen schützen, wenn sie nicht selbst verfallen sollen. Daraus ergibt sich die zentrale Hypothese, die Hannah Arendt unermüdlich wiederholt: Keine politische Führung kann ungestraft Macht durch Gewalt ersetzen; und Macht kann sie einzig aus einer nicht deformierten Öffentlichkeit gewinnen. Die politische Öffentlichkeit wird nicht nur von Hannah Arendt als Generator wenn nicht der Macht, so doch der Legitimierung von Macht begriffen; aber Hannah Arendt besteht darauf, daß eine politische Öffentlichkeit nur so lange legitime Macht erzeugen kann, wie sie Strukturen einer nicht verzerrten Kommunikation zum Ausdruck bringt: »Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht. Der Vorgang selbst ist ungreifbar, weil das Machtpotential, im Unterschied zu den Mitteln der Gewalt, die aufgespeichert werden können, um dann im Notfall intakt eingesetzt zu werden, überhaupt nur in dem Maße existiert, als es realisiert wird. Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, daß kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag.« (Vita Activa, Stuttgart 1960, S. 193)
Einige Anwendungen des Kommunikationsbegriffs der Macht An Beispielen des Untergangs großer Imperien hat Hannah Arendt ihre Hypothese nicht überprüft. Ihre historischen Untersuchungen kreisen vielmehr um zwei Extremfälle: die Vernichtung politischer Freiheit unter totalitärer Herrschaft und die revolutionäre Begründung der politischen Freiheit. Ihre beiden Untersuchungen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) und Über die Revolution (i960) wenden den Kommunikationsbegriff der Macht an, und zwar so, daß dabei die Deformationen westlicher Massendemokratien von entgegengesetzten Seiten beleuchtet werden.
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Zur Gewaltherrschaft degeneriert jede staatliche Ordnung, die die Bürger durch Mißtrauen voreinander isoliert und den öffentlichen Austausch ihrer Meinungen unterbindet. Sie zerstört die kommunikativen Strukturen, in denen Macht allein entstehen kann. Die zum Terror gesteigerte Furcht zwingt jedermann, sich gegen jedermann abzuschließen; zugleich vernichtet sie die Distanzen zwischen den Einzelnen. Sie nimmt ihnen die Kraft zur Initiative und beraubt ihre sprachliche Interaktion der Kraft zur spontanen Einigung des Getrennten: »Zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert.«6 Freilich ist die totalitäre Herrschaft, die Hannah Arendt am Beispiel des Naziregimes und des Stalinismus untersucht, nicht nur eine moderne Form der Tyrannis. Sonst würde sie die kommunikative Bewegung der politischen Öffentlichkeit lediglich stillstellen. Ihre spezifische Leistung ist gerade die Mobilisierung der entpolitisierten Massen. Der totale Staat »zerstört einerseits alle nach Fortfall der politischöffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, daß die völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischen Handeln) wieder eingesetzt werden können ...« (ebd., S. 749) Nur typologisch läßt sich die totalitäre Herrschaft des Naziregimes als eine Steigerungsform der Tyrannis begreifen; historisch ist sie auf dem Boden einer Massendemokratie entstanden. Dieser Umstand veranlaßt Hannah Arendt zu einer heftigen Kritik an dem in modernen Gesellschaften angelegten Privatismus. Während die Theoretiker der demokratischen Eliteherrschaft (in der Nachfolge Schumpeters) repräsentative Regierung und Parteien preisen, weil diese die politische Teilnahme einer entpolitisierten Bevölkerung eng kanalisieren, sieht Hannah Arendt gerade darin die Gefahr. Die Mediatisierung der Bevölkerung durch hochbürokratisierte öffentliche Verwaltungen, Parteien, Verbände und Parlamente ergänzt und befestigt die privatistischen Lebensformen, die eine Mobilisierung der Unpolitischen, und das heißt eine totalitäre Herrschaft 6 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955 S. 745.
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sozialspsychologisch erst möglich machen.7 Bereits Jefferson, der radikale Demokrat unter den Vätern der amerikanischen Verfassung, hatte »eine Ahnung davon, wie gefährlich es sein könnte, dem Volk nicht mehr Platz in der Öffentlichkeit einzuräumen als die Wahlurne und kaum mehr Gelegenheit zu geben, seiner Stimme in 7 Auf diese Einsicht stützt sich die These von der »Banalität des Bösen«, die Hannah Arendt an Eichmann exemplifiziert hat (Eichmann in Jerusalem, München 1964). Sie findet sich bereits in einem 1944 geschriebenen und unmittelbar nach dem Kriege in der Wandlung veröffentlichten Essay über Organisierte Schuld: »Heinrich Himmler gehört nicht zu jenen Intellektuellen, welche aus dem dunklen Niemandsland zwischen Boheme- und Fünfgroschenjungen-Existenz stammen und auf deren Bedeutung für die Bildung der Nazielite in neuerer Zeit wiederholt hingewiesen ist. Er ist weder ein Bohemien wie Goebbels noch ein Sexualverbrecher wie Streicher, noch ein pervertierter Fanatiker wie Hitler, noch ein Abenteurer wie Göring. Er ist ein Spießer mit allem Anschein der Respektabilität, mit allen Gewohnheiten des guten Familienvaters, der seine Frau nicht betrügt und für seine Kinder eine anständige Zukunft sichern will. Und er hat seine neueste, das gesamte Land umfassende Terrororganisation bewußt auf der Annahme aufgebaut, daß die meisten Menschen nicht Bohemiens, nicht Fanatiker, nicht Abenteurer, nicht Sexualverbrecher und nicht Sadisten sind, sondern in erster Linie >jobholders< und gute Familienväter. Es war, glaube ich, Peguy, der den Familienvater den >grand aventurier du 2oe siecle< genannt hat; er ist zu früh gestorben, um in ihm noch den großen Verbrecher des Jahrhunderts zu erleben. Wir sind so gewohnt gewesen, in dem Familienvater die gutmütige Besorgtheit, die ernste Konzentriertheit auf das Wohl der Familie, die feierliche Entschlossenheit, Frau und Kindern das Leben zu weihen, zu bewundern oder zu belächeln, daß wir kaum gewahr wurden, wie der treusorgende Hausvater, der um nichts so besorgt war wie Sekurität, sich unter dem Druck der chaotischen ökonomischen Bedingungen unserer Zeit in einen Abenteurer wider Willen verwandelte, der bei aller Sorge des nächsten Tages nie sicher sein konnte. Seine Gefügigkeit war in den Gleichschaltungen zu Beginn des Regimes bereits bewiesen worden. Es hatte sich herausgestellt, daß er durchaus bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben.« (Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 4O f.) Es ist diese Einsicht, die beide, Hannah Arendt wie auch ihren Lehrer Karl Jaspers, bei unverkennbar elitärer Mentalität zu unerschrockenen Radikaldemokraten gemacht hat. Wie sich Hannah Arendt die eigentümliche Verbindung von partizipatorischer Demokratie mit den von ihr für notwendig gehaltenen elitären Strukturen vorstellt, gibt sie an der folgenden Stelle preis: »Wer mit Kant meint, daß es >süß ist, sich Staatsverfassungen auszudenken^ wird nicht der Versuchung widerstehen, sich diese Staatsform [H. A. meint die Räteverfassung], die wir immer nur in statu nascendi kennengelernt haben, weiter auszumalen. Aber es dürfte klüger sein, mit Jefferson zu sagen: >Man mache mit [den Elementarrepubliken] nur erst einen
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der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, als den anonymen Stimmzettel. Er erkannte die tödliche Gefahr, die darin lag, daß die Verfassung einerseits alle Macht dem Volke gegeben hatte, ohne die Möglichkeit zu bestimmen, in deren Rahmen dieses Volk nun auch sich als Bürger und Bürger einer Republik betätigen und bewähren konnte. Dies konnte nur darauf hinauslaufen, einem Volk von Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger kaum eine Funktion hatten.« (Über die Revolution, S. 324) Hier kommt das Motiv zur Sprache, das Hannah Arendt zu ihren Untersuchungen über die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, über den ungarischen Aufstand 1956, auch über den zivilen Ungehorsam und die studentische Protestbewegung in den sechziger Jahren inspiriert hat. An emanzipatorischen Bewegungen interessiert sie die Macht der gemeinsamen Überzeugung: die Aufkündigung des Gehorsams gegenüber Institutionen, die ihre Anfang für gleich welchen Zweck, es wird sich bald herausstellen, für welche anderen Zwecke sie sich am besten eignen< — in unserer Zeit z.B. für das Zerschlagen der Massengesellschaft und der ihr inhärenten gefährlichen Tendenz, pseudopolitische Massenbewegungen mitsamt den ihnen zugehörigen Eliteformationen zu erzeugen, die niemand gewählt hat und die sich auch nicht selbst konstituiert haben. Öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und die Verantwortlichkeit für öffentliche Angelegenheiten würden dann den wenigen zufallen, die in allen Gesellschafts- und Berufsschichten daran Geschmack finden. Sie sind ohnehin die politische Elite eines Landes, und kein Staat kann behaupten, seine Aufgabe zu erfüllen, keine Staatsform den Anspruch stellen, eine wirkliche Republik zu sein, die sich ihrer nicht bedient und ihr nicht den ihr gehörigen öffentlichen Raum zur Verfügung stellt. Vielleicht würde eine solche im wahrsten Sinne des Wortes >aristokratische< Staatsform dann nicht mehr zu dem Mittel der allgemeinen Wahlen greifen, denn nur diejenigen, die freiwillige Mitglieder einer >Elementarrepublik< sind, hätten den Beweis dafür erbracht, daß es ihnen um anderes und vielleicht um mehr geht als um ihr privates Wohlbefinden und um ihre legitimen Privatinteressen. Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt. Von der Politik ausgeschlossen zu sein, brauchte keineswegs eine Schande zu bedeuten wie heute die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte; wenn diejenigen, die teilhaben, sich selbst selektiert haben, dann haben diejenigen, die ausgeschlossen sind, auch sich selbst ausgeschlossen. Ein solches geregeltes Fernbleiben von öffentlichen Geschäften würde in Wahrheit einer der wesentlichen negativen Freiheiten Substanz und Realität verleihen, nämlich der Freiheit von Politik, die wir seit dem Ende der antiken Welt kennen, die in Rom und Athen unbekannt war und die vielleicht der politisch bedeutsamste Teil unserer christlichen Erbschaft ist.« (Über die Revolution, S. 359f.)
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Legitimation eingebüßt haben; die Konfrontation der durch freien Zusammenschluß erzeugten Macht mit den physischen Zwangsmitteln eines gewaltsamen, aber ohnmächtigen Staatsapparates; der Entstehungsakt einer neuen politischen Ordnung und der Versuch, das Pathos des neuen Anfangs, die revolutionäre Ausgangssituation festzuhalten, die kommunikative Erzeugung der Macht institutionell auf Dauer zu stellen. Es ist faszinierend zu sehen, wie Hannah Arendt immer wieder dasselbe Phänomen aufspürt. Wenn Revolutionäre die Macht ergreifen, die auf den Straßen liegt; wenn die zum passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung fremden Panzern mit bloßen Händen entgegentritt; wenn überzeugte Minderheiten bestehenden Gesetzen die Legitimität bestreiten und den zivilen Ungehorsam organisieren; wenn sich in der Protestbewegung der Studenten »pure Lust am Handeln« manifestiert - immer wieder scheint sich zu bestätigen: »Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.« (Vita Activa, S. 194) Dieser emphatische Begriff der Praxis ist eher marxistisch als aristotelisch; Marx nannte das »kritisch-revolutionäre Tätigkeit«.
Grenzen der Klassischen Theorie Ansätze zur Institutionalisierung der unmittelbaren Demokratie hat es gegeben: in den amerikanischen Townhall meetings um 1776, in den Societes populaires in Paris zwischen 1789 und 1793, in den Sektionen der Pariser Kommune 1871, in den Sowjets in Rußland 1905 und 1917, und in den Revolutionsräten in Deutschland 1918. In diesen verschiedenen Formen des Rätesystems sieht Hannah Arendt die einzigen Versuche zu einer Konstitution der Freiheit unter Bedingungen der modernen Massengesellschaft. Das Scheitern dieser Versuche im 19. und 20. Jahrhundert führt sie auf die politischen Niederlagen der revolutionären Arbeiterbewegung zurück und auf den ökonomistischen Erfolg der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien: »Denn heutzutage, da ein garantiertes Jahreseinkommen sehr bald an die Stelle des Tages- oder Wochen-
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lohns treten wird, stehen die Arbeiter nicht mehr außerhalb der Gesellschaft; sie sind nicht nur vollberechtigte Bürger, sondern auch bereits auf dem Wege, vollberechtigte Mitglieder der Gesellschaft und damit Jobholders zu werden wie alle anderen auch. Damit verliert die Arbeiterbewegung notwendigerweise ihre politische Bedeutung und wird zu einer der Pressure-Gruppen, die diese Gesellschaft regulieren.« (ebd., S. 213) Diese These liest sich in dem Kontext, in dem sie steht, ein bißchen zu glatt; sie ist nicht ein Resultat wohlerwogener Untersuchungen, sie ergibt sich aus einer philosophischen Konstruktion. Weil Hannah Arendt das Bild, das sie sich von der griechischen Polis gemacht hat, zum Wesen des Politischen überhaupt stilisiert, bildet sie starre begriffliche Dichotomien zwischen »öffentlich« und »privat«, Staat und Ökonomie, Freiheit und Wohlfahrt, politisch-praktischer Tätigkeit und Produktion, denen sich die moderne bürgerliche Gesellschaft und der moderne Staat entziehen. So gilt schon die bloße Tatsache, daß sich mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise ein charakteristisch neues, ein komplementäres Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie herstellt, als Anzeichen einer Pathologie, eines schädlichen Durcheinanders: »Diese Funktionalisierung des Politischen macht es natürlich unmöglich, den Abstand, der das Politische vom Gesellschaftlichen trennt, auch nur zu bemerken.« (ebd., S. 34f.) Hannah Arendt beharrt zu Recht darauf, daß die technischökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch-politische Sicherung der öffentlichen Freiheit bedeutet. Aber sie wird Opfer eines auf moderne Verhältnisse unanwendbaren Politikbegriffs, wenn sie behauptet, daß die »Invasion sozialer und ökonomischer Angelegenheiten in den politischen Raum« und daß »die Verwandlung der Regierung in einen Verwaltungsapparat, in welchem persönliche Herrschaft durch bürokratische, anonyme Maßnahmen und Gesetze durch Verordnungen abgelöst werden« (Über die Revolution, S. 115 f.), jeden Ansatz zu einer politischaktiven Öffentlichkeit und zu radikaler Demokratie zunichte machen müssen. In diesem trüben Lichte hat sie auch die Französische Revolution gesehen; während in Amerika die Gründung der Freiheit zunächst gelungen sei, weil »die politisch unlösbare soziale
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Frage nicht im Wege stand« (ebd., S. 85). Ich kann auf diese Interpretation hier nicht eingehen8; ich will nur an die eigentümliche Perspektive erinnern, von der Hannah Arendt sich leiten läßt: ein Staat, der von der administrativen Bearbeitung gesellschaftlicher Materien entlastet ist; eine Politik, die von Fragen der Gesellschaftspolitik gereinigt ist; eine Institutionalisierung öffentlicher Freiheit, die von der Organisation der Wohlfahrt unabhängig ist; eine radikale demokratische Willensbildung, die vor gesellschaftlicher Repression haltmacht - das ist kein denkbarer Weg für irgendeine moderne Gesellschaft. So stehen wir vor einem Dilemma. Auf der einen Seite erschließt der Kommunikationsbegriff der Macht moderne Grenzphänomene, für die die politische Wissenschaft weithin unsensibel geworden ist; andererseits begründet er eine Auffassung des Politischen, die, wenn man mit ihr an moderne Gesellschaften herantritt, zu Ungereimtheiten führt. Kehren wir deshalb noch einmal zur Analyse des Machtbegriffs zurück. Der von Hannah Arendt entwickelte Begriff der kommunikativ erzeugten Macht kann nur dadurch zu einem scharfen Instrument gemacht werden, daß wir ihn aus der Verklammerung mit einer aristotelisch inspirierten Handlungstheorie lösen. Hannah Arendt kann politische Macht ausschließlich auf Praxis, auf das Miteinandersprechen und Zusammenhandeln von Individuen zurückführen, weil sie Praxis gegen die unpolitischen Tätigkeiten des Hersteilens und Arbeitens einerseits, des Denkens andererseits abgrenzt. Gegenüber der Produktion von Gegenständen und gegenüber theoretischer Erkenntnis muß kommunikatives Handeln als die einzige politische Kategorie erscheinen. Diese grundbegriffliche Einengung des Politischen auf das Praktische erlaubt leuchtende Kontrasteffekte zu der heute sichtbaren Eliminierung wesentlich praktischer Gehalte aus dem politischen Prozeß. Dafür entrichtet Hannah Arendt aber den Preis, daß sie (1) alle strategischen Elemente als »Gewalt« aus der Politik ausblendet; daß sie (2) die Politik aus den Bezügen zu ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Umwelt, in die sie über das administrative System eingebettet 8 Vgl. meine Rezension des Buches »Über die Revolution«, oben S. 223 ff.
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ist, herausnimmt; und daß sie (3) Erscheinungen struktureller Gewalt nicht fassen kann.
Strategischer Wettbewerb um politische Macht Die Kriegführung ist das klassische Muster strategischen Handelns. Sie war für die Griechen eine Sache, die außerhalb der Stadtmauern stattfand. Auch für Hannah Arendt ist strategisches Handeln wesentlich unpolitisch, eine Sache der Experten. Dieses Beispiel ist natürlich geeignet, um den Gegensatz von politischer Macht und Gewalt zu demonstrieren. Beim Kriegshandwerk geht es sinnfällig um den kalkulierten Einsatz von Gewaltmitteln, sei es zum Zweck der Drohung oder zur physischen Überwältigung des Gegners. Die Akkumulation von Vernichtungsmitteln macht aber die Supermächte nicht mächtiger - militärische Stärke ist oft genug (wie der Vietnam-Krieg gezeigt hat) das Gegenstück zu innerer Ohnmacht. Außerdem ist das Beispiel der Strategie dazu angetan, strategisches Handeln unter instrumentelles Handeln zu subsumieren. In der Vita Activa sind neben dem kommunikativen Handeln nur die wesentlich nicht-sozialen Tätigkeiten des Herstellens und Arbeitens vorgesehen. Und da die zweckrationale Verwendung militärischer Mittel dieselbe Struktur zu haben scheint wie die Handhabung von Instrumenten bei der Herstellung von Gegenständen oder der Bearbeitung der Natur, setzt Hannah Arendt strategisches Handeln kurzerhand mit dem instrumenteilen gleich. An der Kriegführung zeigt sie: strategisches Handeln ist sowohl gewaltsam wie instrumenteil; ein Handeln dieses Typs steht außerhalb des Bereichs des Politischen. Anders stellt sich freilich die Sache dar, wenn wir das strategische Handeln zwischen konkurrierenden Gegenspielern dem kommunikativen Handeln als eine andere, freilich nicht an Verständigung, sondern an Erfolg orientierte Form der sozialen Interaktion an die Seite stellen; und wenn wir es vom instrumentellen Handeln, das auch ein einsames Subjekt ausführen kann, als einem nicht-sozialen Handeln abheben. Dann wird klar, daß strategisches Handeln auch innerhalb der Stadtmauern stattgefunden hat - so bei Machtkämp-
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fen, beim Wettbewerb um die Positionen, an die die Ausübung legitimer Macht gebunden war. Den Erwerb und die Behauptung politischer Macht müssen wir von Herrschaft, der Ausübung politischer Macht, ebenso unterscheiden wie von der Erzeugung politischer Macht. In diesem letzten Fall, aber auch nur hier, kommt uns der Praxisbegriff zu Hilfe. Kein Inhaber von Herrschaftspositionen kann Macht ausüben, und kein anderer kann ihm seine politische Macht streitig machen, wenn nicht die Positionen selbst in Gesetzen und politischen Institutionen verankert sind, deren Bestand letztlich auf gemeinsamen Überzeugungen beruht, auf der Meinung, »auf die sich viele öffentlich geeinigt haben«. Zweifellos haben in modernen Gesellschaften die Elemente strategischen Handelns an Umfang und Gewicht zugenommen. Dieser Handlungstypus, der in vormodernen Gesellschaften vor allem die Außenbeziehungen dominiert hat, wird mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise auch im Inneren als der Normalfall für den Wirtschaftsverkehr zugelassen. Das moderne Privatrecht räumt allen Warenbesitzern formal gleiche Bereiche strategischen Handelns ein. Im modernen Staat, der diese Wirtschaftsgesellschaft ergänzt, wird überdies der Kampf um politische Macht durch Institutionalisierung strategischen Handelns (durch Zulassung einer Opposition, durch Konkurrenz von Parteien und Verbänden, durch die Legalisierung von Arbeitskämpfen usw.) normalisiert. Diese Phänomene des Erwerbs und der Behauptung von Macht haben politische Theoretiker von Hobbes bis Schumpeter dazu verleitet, Macht mit einem Potential für erfolgreiches strategisches Handeln zu verwechseln. Gegen diese Tradition, in der auch Max Weber steht, kann Hannah Arendt mit Recht geltend machen, daß die strategischen Auseinandersetzungen um politische Macht doch die Institutionen, in denen sie verankert ist, weder hervorgerufen haben noch aufrechterhalten. Nicht von Gewalt leben politische Institutionen, sondern von Anerkennung. Gleichwohl können wir das Element strategischen Handelns aus dem Begriff des Politischen nicht ausschließen. Wir wollen die über strategisches Handeln ausgeübte Gewalt als die Fähigkeit verstehen, andere Individuen oder Gruppen daran zu hindern, ihre
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Interessen wahrzunehmen.9 In diesem Sinne hat Gewalt immer zu den Mitteln des Machterwerbs und der Behauptung eines Machtbesitzes gehört. Dieser Kampf um politische Macht ist im modernen Staat sogar institutionalisiert worden; er wird dadurch zum normalen Bestandteil des politischen Systems. Es leuchtet andererseits nicht ein, daß jemand, nur weil er in der Lage ist, andere an der Wahrnehmung ihrer Interessen zu hindern, legitime Macht sollte hervorbringen können. Legitime Macht entsteht nur unter denen, die in zwangloser Kommunikation gemeinsame Überzeugungen bilden.
Verwendung der Macht im politischen System Die kommunikative Erzeugung von Macht und der strategische Wettbewerb um politische Macht lassen sich handlungstheoretisch erfassen; aber für die Ausübung legitimer Macht sind die Handlungsstrukturen, über die das geschieht, nicht wesentlich. Legitime Macht erlaubt den Inhabern von Herrschaftspositionen, bindende Entscheidungen zu treffen. Diese Verwendung der Macht interessiert eher unter systemtheoretischen als unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten. Worauf sich die Organisationsleistungen des Staates beziehen und welche Funktionen sie für die verschiedenen Umwelten des politischen Systems haben - solche Fragen können in dem von Talcott Parsons entwickelten Rahmen gut formuliert und untersucht werden. Hannah Arendt sträubt sich freilich, aus ihrem handlungstheoretischen Rahmen herauszutreten, um eine funktionalistische Analyse in ihn einzufügen. Die Sphäre der menschlichen Angelegenheiten soll nicht nach Maßstäben des sozialwissenschaftlichen Objektivismus verfremdet werden, weil Erkenntnisse, die in dieser Einstellung gewonnen werden, nicht in die Praxis der Betroffenen zurückfließen können. In dieser Hinsicht würde Hannah Arendt zwischen Hegel und Parsons 9 Vgl. zu diesem Konzept meine Ausführungen in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 250-257.
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keinen Unterschied machen: beide untersuchen Geschichts- und Gesellschaftsprozesse, die über die Köpfe der Beteiligten hinweggehen.10 Sie selbst versucht, diesen Prozeßaspekt des gesellschaftlichen Lebens wiederum in eine Handlungskategorie einzufangen, indem sie beim instrumentellen Handeln zwischen Herstellen und Arbeit differenziert. Arbeit unterscheidet sich von Herstellen nicht eigentlich in den Strukturen des Handelns, sondern darin, daß der Begriff »Arbeit« die produktive Tätigkeit als eine Verausgabung reproduzierbarer Arbeitskraft vorstellt und so in den funktionalen Zusammenhang von Produktion, Konsumtion und Reproduktion einordnet. Mit ihren Vorbehalten und ihrer handlungstheoretisch eingeengten Begrifflichkeit handelt sich Hannah Arendt unnötigerweise Nachteile gegenüber den heute üblichen Systemanalysen ein. Andererseits ist ihr Mißtrauen nur zu berechtigt, sobald sich nun ihrerseits die System- gegenüber der Handlungstheorie verselbständigt. Das zeigt sich bei Parsons etwa dort, wo er sich mit C. W. Mills Nullsummenbegriff der Macht auseinandersetzt. Parsons möchte Macht wie Kredit oder Kaufkraft als ein vermehrtes Gut verstanden wissen. Wenn die eine Seite politische Macht gewinnt, braucht die andere keine einzubüßen. Ein Nullsummenspiel ergibt sich nur, wenn verschiedene Parteien um den Erwerb vorhandener Machtpositionen ringen, aber nicht unter dem Aspekt der Entstehung und des Verfalls der Macht politischer Institutionen. Darin stimmen Parsons und Hannah Arendt überein. Aber beide haben ziemlich abweichende Vorstellungen vom Prozeß der Machterweiterung (enhancement of power). Parsons betrachtet diesen Vorgang als eine Steigerung des Aktivitätsniveaus, die sich ungefähr folgendermaßen skizzieren läßt: Damit der Ausstoß an staatlichen Organisationsleistungen wachsen kann, muß der »Handlungsspielraum« des administrativen Systems erweitert werden. Dies wiederum macht einen verstärkten Zufluß von unspezifischer Unterstützung oder Massenloyalität erforderlich. Daher setzt der Prozeß der Machterweiterung auf der Eingabeseite ein. Die politischen Führer müssen bei ihren Wählern neue Bedürfnisse wecken, damit wachsende 10 Arendt, Über die Revolution, S. 63 ff.
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Forderungen entstehen, die nur durch gesteigerte staatliche Aktivitäten eingelöst werden können.11 Aus systemtheoretischer Perspektive erscheint also Machterzeugung als ein Problem, welches dadurch gelöst werden kann, daß die politische Führung auf den Willen der Bevölkerung verstärkt Einfluß nimmt. Soweit das mit Mitteln psychischen Zwangs, mit Überredung und Manipulation geschieht, handelt es sich, in Hannah Arendts Begriffen, um eine Steigerung von Gewalt, aber nicht um einen Machtzuwachs des politischen Systems. Denn Macht kann, nach ihrer Hypothese, nur in Strukturen zwangloser Kommunikation entstehen; sie kann nicht »von oben« generiert werden. Parsons müßte diese Hypothese bestreiten; bei gegebenen kulturellen Werten kann es für ihn strukturelle Grenzen der Machterzeugung nicht geben. Andererseits möchte Parsons angesichts konkreter Fälle von Machtinflation und Machtdeflation ganz gerne zwischen seriösen und unseriösen Machtkrediten unterscheiden: »There is a fine line between solid, responsible and constructive political leadership which in fact commits the collectivity beyond its capacities for instantaneous fulfillment of all obligations, and reckless overextendedness, just as there is a fine line between responsible banking and >wildcatting<.« (ebd., S. 342) Nur ist schwer zu sehen, wie sich diese »feine Grenze« in systemtheoretischen Begriffen fassen ließe. Genau für diese Aufgabe bietet Hannah Arendt eine Lösung an. Sie versucht, aus den Strukturen unversehrter Intersubjektivität die Bedingungen politischer Öffentlichkeit abzuleiten, die erfüllt sein müssen, damit Macht kommunikativ erzeugt oder erweitert werden kann.
Kommunikative Erzeugung von Macht - eine Variante Fassen wir unsere Überlegungen zusammen. Der Begriff des Politischen muß sich auch auf den strategischen Wettbewerb um politische Macht und auf die Verwendung der Macht im politischen System erstrecken. Politik kann nicht, wie bei Hannah Arendt, mit 11 Vgl. Parsons, On the Concept of Power, S. 340.
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der Praxis derer, die miteinander reden, um gemeinschaftlich zu handeln, identisch sein. Umgekehrt engt die herrschende Theorie diesen Begriff auf Phänomene der Machtkonkurrenz und der Machtallokation ein und wird dem eigentümlichen Phänomen der Machterzeugung nicht gerecht. Hier wird die Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt trennscharf. Sie macht sichtbar, daß das politische System nicht beliebig über Macht verfügen kann. Macht ist ein Gut, um das politische Gruppen wetteifern und mit dem eine politische Führung wirtschaftet; aber beide finden dieses Gut in gewisser Weise vor; sie produzieren es nicht. Das ist die Ohnmacht der Mächtigen - sie müssen ihre Macht von den Erzeugern der Macht entlehnen. Das ist Hannah Arendts Credo. Der Einwand liegt auf der Hand. Selbst wenn in modernen Demokratien die Führung genötigt ist, sich periodisch Legitimation zu beschaffen, so hält doch die Geschichte überwältigende Evidenzen parat, die zeigen, daß politische Herrschaft anders funktioniert haben muß und anders funktioniert, als Hannah Arendt behauptet. Für ihre These spricht gewiß der Umstand, daß politische Herrschaft nur dauern kann, solange sie als legitim anerkannt wird; gegen sie spricht die Erfahrung, daß die Verhältnisse, die durch politische Herrschaft stabilisiert werden, nur in seltenen Fällen Ausdruck einer Meinung sein dürften, »auf die sich viele öffentlich geeinigt haben«. Jedenfalls dann, wenn man, wie Hannah Arendt, einen anspruchsvollen Begriff der Öffentlichkeit hat. Die beiden Tatsachen lassen sich nur auf einen Nenner bringen, wenn man annimmt, daß in politische Institutionen (und nicht nur in diese) strukturelle Gewalt eingebaut ist. Strukturelle Gewalt manifestiert sich nicht als Gewalt, sie blockiert vielmehr unbemerkt jene Kommunikationen, in denen sich legitimationswirksame Überzeugungen bilden und fortpflanzen. Eine solche Hypothese über unauffällig wirksame Kommunikationssperren kann die Bildung von Ideologien erklären; sie kann plausibel machen, wie sich Überzeugungen bilden, mit denen sich die Subjekte über sich und ihre Lage täuschen. Illusionen, die mit der Macht gemeinsamer Überzeugungen ausgestattet sind, nennen wir ja Ideologien. Dieser Vorschlag versucht, der kommunikativen Erzeugung von Macht eine realistische Version zu geben. In systematisch einge-
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schränkten Kommunikationen bilden die Beteiligten subjektiv zwanglos Überzeugungen, die aber illusionär sind; damit erzeugen sie kommunikativ eine Macht, die, sobald sie institutionalisiert wird, auch gegen die Beteiligten selbst gewendet werden kann. Wenn wir diesen Vorschlag akzeptieren wollten, müßten wir freilich einen Maßstab der Kritik anlegen und zwischen illusionären und nicht-illusionären Überzeugungen unterscheiden können. Eben diese Möglichkeit bestreitet Hannah Arendt. Sie hält an der klassischen Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis fest Praxis stützt sich auf Meinungen und Überzeugungen, die nicht im strikten Sinne wahrheitsfähig sind: »No opinion is self-evident. In matters of opinion, but not in matters of truth, our thinking is truly discursive, running as it were, from place to place, from one part of the world to the other through all kinds of conflicting views, until it finally ascends from all these particularities to some impartial generality.«12 Ein heute überholter Begriff von theoretischer Erkenntnis, der auf letzte Evidenz baut, hält Hannah Arendt davon ab, die Verständigung über praktische Fragen als rationale Willensbildung aufzufassen. Wenn hingegen das »repräsentative Denken« in ihrem Sinne13, das die Verallgemeinerungsfähigkeit von prakti12 Hannah Arendt, Truth and Politics, in: P. Laslett/W. G. Runciman, Philosophy Politics and Society, Bd. 3, Oxford 1969, S. 115f. 13 »Political thought is representative. I form an opinion by considering a given issue from different viewpoints, by making present to my mind the Standpoints of those who are absent, that is, I represent them. This process of representation does not blindly adopt the actual views of those who stand somewhere eise and hence look upon the world from a different perspective; this is a question neither of empathy, as though I tried to be or to feel like somebody eise, nor of counting noses and joining a majority, but of being and thinking in my own identity where actually I am not. The more people's Standpoints I have present in my mind while pondering a given issue and the better I can imagine how I would feel and think if I were in their place, the stronger will be my capacity for representative thinking and the more valid my final conclusions, my opinion. (It is this capacity for an >enlarged mentality< that enables men to judge; as such, it was discovered by Kant — in the first part of his Cnüque of Judgement—who, however, did not recognize the political and moral implications of his discovery.) The very process of opinion-formation is determined by those in whose places somebody thinks and uses his own mind, and the only condition for this exertion of imagination is disinterestedness, the liberation from one's own private interests. Hence, even if I shun all Company or am completely isolated while forming an opinion, I am not simply together only with myself in the solitude of
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sehen Gesichtspunkten, und das heißt: die Richtigkeit von Normen prüft, nicht von Argumentation durch einen Abgrund getrennt ist, läßt sich auch für die Macht gemeinsamer Überzeugungen eine kognitive Grundlage in Anspruch nehmen. Dann ist Macht in der faktischen Anerkennung diskursiv einlösbarer und grundsätzlich kritisierbarer Geltungsansprüche verankert. Hannah Arendt sieht aber zwischen Erkenntnis und Meinung einen Abgrund klaffen, der durch Argumente nicht geschlossen werden kann. Sie sucht nach einer anderen Grundlage für die Macht der Meinung- und findet sie in dem Vermögen sprach- und handlungsfähiger Subjekte, Versprechen zu geben und zu halten: »Wir erwähnten bereits, daß Macht überall da entsteht, wo Menschen sich versammeln und zusammen handeln, und daß sie immer dann verschwindet, wenn sie sich wieder zerstreuen. Die Kraft, die diese Versammelten zusammenhält... ist die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen, die sich schließlich in dem Vertrag niederschlägt.« {Vita Activa, S. 240) Als Basis der Macht betrachtet sie den unter Freien und Gleichen abgeschlossenen Vertrag, mit dem sich die Parteien gegenseitig verpflichten. Um den normativen Kern einer ursprünglichen Äquivalenz zwischen Macht und Freiheit zu sichern, vertraut sie am Ende der ehrwürdigen Figur des Vertrages mehr als ihrem eigenen Begriff einer kommunikativen Praxis. So tritt sie in die Tradition des Naturrechts zurück.
Philosophie thought; I remain in this world of mutual interdependence where I can make myself the representative of everybody eise. To be sure, I can refuse to do this and form an opinion that takes only my own interest, or the interests of the group to which I belong, into aecount; nothing indeed is more common, even among highly sophisticated people, than this blind obstinaey which becomes manifest in lack of imagination and failure to judge. But the very quality of an opinion as of a judgment depends upon its degree of impartiality.« (ebd., S. 115)
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12. Wolfgang Abendroth Der Partisanenprofessor (1966) An Universitäten wie Belgrad oder Zagreb kann man, wie gelegentlich auch in Frankreich, Professoren treffen, deren Herkunft und Typus deutschen Traditionen fremd ist. Auch wir haben politisch engagierte Hochschullehrer, und ein unakademischer Habitus wird nachgerade schon zu einer zweifelhaften Tugend. Aber jene Professoren denken nicht nur auf eine selbstverständliche Weise politisch, ihnen fehlen nicht nur Züge des akademischen Beamtentums - sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. Sie sind unprätentiös und eigentümlich unberührt von professioneller Eitelkeit, Prestigedenken oder privatem Ehrgeiz. Vor allem sind sie naiv, und darum von entwaffnender Unerschrockenheit gegenüber institutioneller Autorität. Wer nur einen Abend unter ihnen sitzt, begreift, daß in der eher sensiblen als rauhen Kameradschaftlichkeit ihres Umgangs ein Moment festgehalten ist, das alle diese Qualitäten erklärt und glaubhaft macht, weil es sie aus dem Bereich persönlicher Anständigkeit heraushebt. Diese Leute haben als Partisanen in den Bergen gesessen und waren einmal darauf angewiesen, solidarisch zu handeln. Darum können sie es, ohne ein Verdienst daraus zu machen, in Situationen der Gefahr auch heute noch. Ich habe erst vor wenigen Jahren solche Partisanenprofessoren kennengelernt. Der einzige unter uns, an den sie mich erinnerten, war Wolfgang Abendroth. In unserem Lande war angesichts der eigenen Regierung Wohlverhalten oder Widerstand die Alternative, Partisanen im eigentlichen Sinn konnte es nicht geben. Wenn sich gleichwohl das fremde Muster als einziger Typus anbietet, um Abendroth zu charakterisieren, so spiegelt sich darin schon ein gutes Stück unserer Nachkriegsgeschichte. Der 20. Juli hat es zu akademischen Gedenkfeiern gebracht, die linke Illegalität bestenfalls zum akademischen Ärgernis. Abendroth stammt aus Elberfeld, aus einem Landstrich pietistischer Erweckungsbewegungen, aus der Stadt Friedrich Engels'.
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Schon der Großvater, ein Handwerksmeister, wurde auf Grund des Sozialistengesetzes verhaftet. Trotz starker naturwissenschaftlicher Neigungen studiert der junge Abendroth Jurisprudenz und Nationalökonomie an der Frankfurter Universität, die damals noch, in den zwanziger Jahren, so viele wissenschaftlich prominente und zugleich politisch wache Geister vereinigte. 1933 wird der angehende Gerichtsassessor kurz vor Abschluß der Prüfung aus dem Justizdienst entlassen. Zwei Jahre später promoviert er in Bern. Abendroth wählt nicht die beruflichen Chancen, die ihm die glanzvollen Examina in der Schweiz eröffnen. Er kehrt nach Deutschland in den Untergrund zurück. Die illegale Tätigkeit wird von politischen Verbindungen bestimmt, die Abendroth während seines Studiums geknüpft hatte. Er war »Neubeginnen«, einer kleinen Gruppe sozialistischer Intellektueller, beigetreten; ihr hatten zur gleichen Zeit Leute wie Erler, Richard Löwenthal, Schöttle und von Knoeringen angehört. 1937 geht die Sache schief. Abendroth kommt für vier Jahre ins Zuchthaus. Nach der Entlassung ist es freilich mit der erzwungenen Symbiose von politischen und kriminellen Häftlingen noch nicht vorbei. Der »Wehrunwürdige« muß in der Strafdivision 999 dienen. Über Griechenland gerät er in englische Kriegsgefangenschaft. Dort wendet sich das Blatt keineswegs. Erst Ende 1946 können Freunde seine Entlassung erreichen. In der sowjetischen Besatzungszone, wo die Eltern lebten, kann sich Abendroth habilitieren. Er wird Professor für Öffentliches Recht, erst in Leipzig und dann in Jena. Während dieser Zeit hält er an seiner Zugehörigkeit zur verbotenen SPD fest. Halb und halb erneuert sich die Illegalität. Im Dezember 1948 kann Abendroth sich dem Zugriff des NKWD in letzter Minute entziehen. Einen Ruf an die Freie Universität Berlin lehnt er ab und geht nach Wilhelmshaven an die Hochschule für Sozialwissenschaften. Diese dürftigen Daten einer Lebensgeschichte, auf deren Folie wohl mancher die eigene Vergangenheit schonungsloser zu Bewußtsein bringen könnte, als es die Konvention heute verlangt, sind nur indirekt zu erfahren. Abendroth will davon nichts wissen. Auf bürgerliche Ehrungen aus Anlaß eines 60. Geburtstages, ich sehe ihn vor mir, wird er kopfschüttelnd, mit freundlich-verlegenem Unverständnis reagieren. Ich versuche gar nicht erst, eine Laudatio
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an ihn zu richten. Aber uns selbst möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß unter den Professoren der Bundesrepublik kaum ein zweiter so viel guten und überzeugenden Anlaß gibt, politisch hoffähig gewordene Vorurteile zu berichtigen. Der Wissenschaftler und Gelehrte Abendroth macht sowenig wie der Politiker ein Hehl daraus, wieviel er Marx verdankt. Gerade darum aber stemmt er sich gegen Dogmatismus. Für wenige ist das Prinzip herrschaftsfreier Diskussion so sehr zu einer Lebensfrage geworden. Abendroth selbst diskutiert leidenschaftlich. Jeden Donnerstagabend beginnt sein Oberseminar stets mit dem gleichen Ritual: Aus dem Kreis der Teilnehmer wird ein Diskussionsleiter gewählt, der auch den Professor in die Schranken weisen kann. Während der anderthalb Jahrzehnte, die Abendroth nun in Marburg lehrt, ist in diesen Seminaren ein äußerst wacher und intelligenter Nachwuchs groß geworden. Viele sind inzwischen avanciert. Alle erinnern sich an die bewegten Diskussionen, auch wenn manche es heute für besser halten, nicht mehr davon zu sprechen. Wir verdanken Abendroth wichtige Studien zur Geschichte der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften. Aus diesen Arbeiten ist eine Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung hervorgegangen. Von Abendroth stammt auch der bisher gründlichste Beitrag zum Problem der innerparteilichen Demokratie. Ein schmerzliches Stück lebensgeschichtlicher Erfahrung wird darin wissenschaftlich verarbeitet: Unter dem Einfluß Wehners hatte die Sozialdemokratische Partei 1961 ihre sozialistischen Studenten und deren Förderer, darunter Abendroth, ausgeschlossen. Trotz der produktiven Forschungen auf politikwissenschaftlichen Gebieten ist Abendroth immer Staatsrechtler geblieben. Sein Herz gehört der Jurisprudenz. Seine glänzende Interpretation des Grundgesetzes, vor allem die konsequente Auslegung der sogenannten Sozialstaatsklausel, die er auf einer Staatsrechtslehrertagung gegen Forsthoff verteidigt hat, mußte den Widerspruch der Kollegen hervorrufen. Manchmal mag Abendroth selbst es bedauert haben, daß seine Arbeitskraft durch einen Lehrstuhl für Politik gebunden ist und nicht voll auf eine Kritik der heute wieder herrschenden Staatsrechtsauffassungen verwendet werden kann.
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Oft genügt die Sonde einer präzisen Erinnerung: Abendroth lebt in einem Bewußtsein, das Vergangenes unbarmherzig vergegenwärtigt. Für ihn gibt es keine Schranke zwischen heute und gestern; er lebt mit den Ereignissen der zwanziger und dreißiger Jahre wie mit Vorgängen, über die die Zeitungen eben berichten. Ein solches Bewußtsein ist in einer Epoche, die von ihren Verdrängungen lebt, eo ipso beunruhigend. Man wirft Abendroth Utopismus vor. Aber er, der übrigens die Theologie Karl Barths gründlich studiert hat, ist viel zu protestantisch, als daß er ein Schwärmer sein könnte. Wie immer auch die Kritik an Schwarmgeisterei als solche fragwürdig ist, Abendroth kann diesem selber dubiosen Zweifel nicht ausgesetzt werden. Am Ende eines Aufsatzes über die Verwirklichung der sozialen Demokratie gesteht er: »Diese kritischen Überlegungen geben kein Endziel an, das, einmal verwirklicht, ein vollendetes Paradies auf Erden schaffen könnte.«
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13. Herbert Marcuse
a) Einleitung zu einer Antifestschrift (1968) Günther Busch hat mich vorsorglich schon vor mehr als einem Jahr auf Herbert Marcuses bevorstehenden 70. Geburtstag aufmerksam gemacht. Er hatte so frühzeitig die Initiative in der richtigen Annahme ergriffen, daß alle die, die Herbert Marcuse kennen, eine Weile brauchen würden, um sich auf ein so unglaubwürdiges Datum vorzubereiten: biblisches Alter hatten wir ihm, bei aller Verehrung, noch nicht recht zugetraut. Nun hat nach dem Zeugnis, wenn nicht des Augenscheins, so doch der Urkunden, Herbert Marcuse Anspruch darauf, zu einem veritablen 70. Geburtstag geehrt zu werden. Aber wie soll man einen Herbert Marcuse »ehren«, wenn diese Kategorie auf ihn überhaupt Anwendung finden kann? Eine Festschrift tut es nicht, und eine Antifestschrift was ist das? Kurzum, ich habe keine Kollegen gebeten, keine Schüler aufgefordert, keine Etablierten eingeladen, nicht an Freunde mich gewandt - so ist niemand von denen repräsentiert, die nach einem guten Brauche und gewiß gerne dem Lehrer und dem Kollegen, dem Freunde Dank abgestattet hätten. Das soll niemanden kränken. Herbert Marcuse wird daran interessiert sein, zu erfahren, wie seine Gedanken unter den Jüngeren kritisch aufgenommen, diskutiert und, sei es noch im Widerspruch, fortgeführt werden. Deshalb enthält dieses Bändchen Beiträge jüngerer Philosophen und Soziologen, für die Herbert Marcuses Schriften ein Stachel gewesen sind: sie alle sind nicht zur Feier, sondern zur Kritik eingeladen worden, und niemand hat sich geziert. Allein Metakritik kann einem Philosophen der Kritik zur Ehre gereichen. Marcuse (mit Ludwig verwechselt ihn heute niemand mehr) hat in Deutschland nie gelehrt. Die eminente Wirkung, die er heute ausübt, ist allein literarisch begründet - und noch nicht sehr alt. Die intellektuelle Rückkehr Marcuses, der 1933 mit dem Institut für Sozialforschung über Genf und Paris nach New York emigriert ist,
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kann man auf 1956 datieren. Damals hat er die internationalen Freud-Vorlesungen in Frankfurt am Main mit zwei glanzvollen Vorträgen, die die Theorie des eindimensionalen Menschen in nuce schon enthielten, abgeschlossen. Aber noch fehlte die breite Resonanz; die Übersetzung von Eros and Civilization blieb damals fast unbemerkt. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren. Viele Studenten hatten ihn schon gelesen, als Marcuse 1964 auf dem Heidelberger Soziologentag seine Polemik gegen Max Weber vortrug. Im Sommer 1967 betrat Marcuse die Berliner Szene als gefeierter Lehrer der Neuen Linken: das Bändchen Kritik der reinen Toleranz, eine Abrechnung mit dem Liberalismus, ist inzwischen zu einer, wenn auch nicht ganz unmißverstandenen, Fibel geworden. Die relativ späte und dann sehr schnelle Rezeption hat ein Bild von Marcuse entstehen lassen, dem etwas Unhistorisches anhaftet: es läßt die älteren Schichten nicht erkennen. Marcuses erstes, 1932 erschienenes Buch über Hegels Ontologie ist so gut wie unbekannt. Ich vermute, daß sich unter Marcuses heutigen Lesern nur wenige finden, die, wenn sie in jenem Buch auf den letzten Satz der Einleitung träfen, nicht völlig überrascht wären: »Was diese Arbeit etwa zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen Arbeit Martin Heideggers.« Was Marcuse heute darüber denkt, weiß ich nicht; wir haben nie darüber gesprochen. Aber ich finde, daß jene Phase seiner Entwicklung nicht einfach eine Marotte war; und vor allem meine ich, daß man den Marcuse von heute ohne den von damals nicht richtig versteht. Wer in den Kategorien der Freudschen Trieblehre, aus denen Marcuse eine marxistische Geschichtskonstruktion entwickelt hat, wer in seiner neuerdings wieder hervorgekehrten Anthropologie die überlagerten Kategorien von Sein und Zeit nicht einmal mehr ahnt, ist vor handfesten Mißverständnissen nicht sicher. Marcuses ältere Arbeiten, die vor seiner Emigration in der Zeitschrift Die Gesellschaft, in den Philosophischen Heften und im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen sind, repräsentieren den ersten originellen Versuch eines phänomenologisch gerichteten Marxismus; zumal die damals entdeckten Pariser
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Manuskripte gaben den unerwarteten Anknüpfungspunkt, um Sein und Zeit in eine materialistische »Daseinsanalytik« umzustülpen. Sartre ist sehr viel später auf diesen Weg, als Marcuse ihn längst verlassen hatte, gestoßen. Die linken Existentialisten in Paris und die Praxis-Philosophen in Prag und Zagreb konnten nach dem Kriege die Lebensweltanalysen des späten Husserl an die Stelle der Heideggerschen Daseinsanalyse setzen, aber beide »Schulen« stützen sich auf die phänomenologische Grundlage eines Marxismus, der von Herbert Marcuse eigentümlich antizipiert worden ist. Marcuse seinerseits hat in den letzten Jahren auf wichtige Begriffe der Sartreschen Philosophie zurückgegriffen; und im One-Dimensional Man erinnern Husserl- und Heidegger-Zitate an den phänomenologischen Ursprung seiner Kritik an Wissenschaft und Technik. Seitdem Marcuse dem Institut für Sozialforschung angehörte und einer der brillantesten Mitarbeiter der Zeitschrift für Sozialforschung wurde, hat ein neuer, durch die kritische Gesellschaftstheorie bestimmter Begriff von Philosophie das Erbe der Phänomenologie abgelöst. Aber mit der phänomenologischen Vorgeschichte hängt eine gewisse Sonderstellung zusammen, die Marcuse im Kreis der Frankfurter Philosophen eingenommen hat - und einnimmt. Im Vergleich zu Horkheimer und Adorno, in deren Schatten Marcuse lange gestanden hat, fällt der stärkere Zusammenhang mit der Schulphilosophie auf. Die radikale Entfernung Horkheimers und Adornos von der zeitgenössischen Philosophie, nicht nur der angelsächsischen, sondern auch der europäischen, erklärt sich daraus, daß beide gegen philosophische Traditionen des 20. Jahrhunderts, sieht man vom Einfluß des jüngeren Lukács ab, sich völlig resistent verhalten haben: die chronologisch letzten Anknüpfungspunkte sind Schopenhauer, Nietzsche, und vielleicht Bergson. Marcuse hingegen ist vom Freiburg der zwanziger Jahre geprägt worden. Er übernimmt unbedenklicher die systematische Intention, der die philosophische Überlieferung fast immer gefolgt ist. So ist das letzte Werk, der One-Dimensional Man, das einzige Zeugnis eines Versuchs, jene Analysen der spätkapitalistischen Gesellschaft, die dem spezifischen Ansatz der Frankfurter Soziolo-
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gie folgen, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und, wie vorläufig immer, eine »Theorie« zu geben. Dem entspricht ein zugreifender Duktus des Gedankens, der sich gegenüber dem Horkheimers und Adornos durch Direktheit auszeichnet. Wenn Marcuse zu wählen hätte zwischen dem Risiko, das damit verbunden ist, eine Intention auch um den Preis möglicher Mißverständnisse geradewegs zu formulieren, und jenen Skrupeln, die der indirekten wie der verschlungenen Rede aus Sorge, Subtiles sonst zu zerbrechen, den Vorzug geben - wenn dies die Wahl wäre, dann ginge Marcuse lieber das Risiko ein und entschlüge sich der Skrupel. Er spricht aus, was andere in der Schwebe lassen. Seine Skrupel scheinen heute eher die zu sein, daß eine Philosophie in praktischer Absicht praktisch folgenreich vertreten werden muß. Das existentialistische Moment, das in Marcuses Theorie lebendig geblieben ist, macht es möglich, jener resignativen Enthaltsamkeit gegenüber Praxis zu entgehen, die aus der Analyse zunächst sich anzubieten scheint. Marcuses Analyse des Spätkapitalismus ist unorthodox. Ein fortgeschrittener Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung erlaubt beides: die Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems auf der Grundlage der Kapitalverwertung in privater Form und zugleich die Legitimation der dadurch aufrechterhaltenen Herrschaftsbeziehungen. Die Integration ergreift auch den einst designierten Träger der Revolution, und sie verhindert die Konstituierung eines neuen. Gleichwohl soll an die Stelle des revolutionären Klassensubjekts nicht die eingestandene Ohnmacht einer auf sich selbst verwiesenen Kritik treten, sondern der spontane Protest der Einzelnen an den Rändern des Systems. Diese können sich mit den Entrechteten und den Pauperisierten innerhalb wie außerhalb des Systems verbünden; allein, da die Entrechtung und die Pauperisierung nicht mehr ohne weiteres mit Ausbeutung zusammengeht, ziehen auch diese ihre revolutionäre Zuversicht nicht mehr aus einer geschichtlichen Dynamik. Was bleibt, ist, auf der Grundlage eines überschießenden technologischen Potentials, der Wille und das Bewußtsein der Sensibelsten und der Einsichtigsten - die subjektive Weigerung. Die Theorie schreibt den Verhältnissen so viel unerschütterliche Objektivität zu, daß sie mit der
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Praxis nicht zu vermitteln ist, es sei denn subjektivistisch. Das erklärt einerseits die Wendung zur Anthropologie, die rechtfertigen muß, was das Potential der Geschichte nicht mehr herzugeben scheint; und andererseits eine gewisse Rückwendung zum Existentialismus, der Wissenschaft und Technik in ihrer gegenwärtigen Form zu einem historisch überholbaren »Entwurf« degradiert. So ist Herbert Marcuse zum Philosophen der Jugendrevolte geworden, mit Recht. Verständlicherweise, aber nicht ganz zu Recht, benutzen manche der jungen Revolutionäre seine Schriften als Legitimation für die unbestimmte Negation des Bestehenden. Die »große Weigerung« ist Metapher für eine Einstellung, aber nicht per se eine Einsicht. Marcuse hat eines mit dem anderen gewiß nicht verwechselt; gelegentlich aber muß er für eine solche Verwechslung herhalten. Das mag damit zusammenhängen, daß Marcuses Untersuchungen den Subkulturen des Protests vorausgegangen sind und nicht nachträglich auf diese reflektieren konnten. Marcuse hat die Analyse der Entstehung eines unerträglichen Zustandes und die kritische Anleitung zu seiner bestimmten Negation verbinden müssen mit der Expression der Unerträglichkeit dieses Zustandes, gegen den niemand protestierte. Was eine Subkultur des Protestes in Einstellungen und in Lebensformen verkörpern kann, verlangt einen anderen literarischen Ausdruck als die Analyse dieser Tatbestände. Wenn die Empörung allgemein ist, bedarf das Unerträgliche keiner Diskussion; wenn es aber nicht gefühlt wird, bedarf es der Expression, um die Tatbestände überhaupt sichtbar zu machen. Der Protest muß die Augen erst öffnen für das, was die Analyse fassen soll. Marcuses Untersuchungen hatten beide Funktionen zu übernehmen; auf die Arbeitsteilung zwischen dem Protest, der die Sinne schärft, und der Kritik, die begreifen macht, konnten sie sich nicht stützen. Das mag ein Grund sein, warum Marcuse denen, die ihm folgen, auch Anlaß zu Mißverständnissen gibt, nämlich dazu: die Artikulation einer Erfahrung mit der Analyse des Erfahrenen zu verwechseln - und die Attitüde der Weigerung mit bestimmer Negation. Ich habe den Eindruck, daß die Kritik, die sehr herbe Kritik an Marcuse zuweilen auf solche Mißverständnisse eher sich bezieht als
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auf Marcuses Argumente selber. Die Grundthese, die Marcuse seit Mitte der fünfziger Jahre immer wieder zu explizieren versucht und auf die der Entwurf seiner Theorie des Spätkapitalismus zurückgeht, ist: daß Technik und Wissenschaft in den industriell fortgeschrittensten Ländern nicht nur zur ersten Produktivkraft geworden sind, die das Potential für eine befriedete und befriedigte Existenz bereitstellt, sondern auch zu einer neuen Form von Ideologie, die eine von den Massen abgeschnittene administrative Gewalt legitimiert.1 Seit Herbert Marcuse in unserem Lande eine in die Breite wirkende Resonanz gefunden hat und sich die Massenmedien seiner als eines Idols der jungen Linken bemächtigt haben, verfestigt sich ein Bild, das von der Person und ihren wahren Intentionen sich immer weiter entfernt. Ich erkenne darin nicht mehr den aufrechten und mutigen Mann, dessen Immunität gegen falschen Beifall ich bewundere; ich erkenne darin nicht mehr die Züge des eigentümlichen, ein wenig altmodischen und fast schüchternen Charmes, der Herbert Marcuse unendlich liebenswert macht; und ich erkenne darin nicht mehr den Philosophen, der in Santa Barbara, an einem für europäische Augen spätsommerlichen Vorweihnachtstage, auf die suggestive Weite des ruhenden Ozeans zeigt, als wolle er das Element zum Zeugen anrufen: »Wie kann es da immer noch Leute geben, die die Existenz von Ideen leugnen?« Seit einem knappen Jahr stiftet der meistzitierte Satz Marcuses einige Verwirrung. Am Ende seines Aufsatzes Repressive Toleranz spricht Marcuse in Anführungsstrichen von einem »Naturrecht« auf Widerstand für unterdrückte und überwältigte Minderheiten: »Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.« Ich würde wünschen, daß Marcuse diesen Satz noch einmal erläuterte. Er hat ihn 1965 in den USA geschrieben; und er hatte 1 Ich habe diese These in einem Aufsatz untersucht, vgl. Technik und Wissenschaft als Ideologie, edition suhrkamp 287.
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wohl jene Studenten vor Augen, die in den Südstaaten Seite an Seite mit den Negern für die verweigerten Bürgerrechte einer unterdrückten rassischen Minorität gekämpft und unter den Knüppeln einer brutalen Polizei geblutet haben. Diese Aktionen zogen ihr Recht aus dem manifesten Unrecht eines zerrissenen sittlichen Zusammenhangs; die Empörung der Unterdrückten war ihre Basis. Wo aber das Unrecht nicht manifest, die Empörung keine Reaktion von Massen ist, wo die Aufklärung den Parolen noch vorangehen und das Unerträgliche auf Definition noch warten muß, wo also, mit einem Wort, der Begriff die Realität noch nicht durchdrungen hat, dort, scheint mir, bleibt Gewaltanwendung subjektiv und verfällt den Maßstäben der Moral - die Dimension der Sittlichkeit kann sie sich nur vindizieren. Gewalt kann legitim nur in dem Maße gewollt und emanzipatorisch wirksam werden, in dem sie durch die drückende Gewalt einer als unerträglich allgemein ins Bewußtsein tretenden Situation erzwungen wird. Nur diese Gewalt ist revolutionär; die das ignorieren, tragen zu Unrecht das Bild Rosa Luxemburgs zu ihren Häupten.
b) Über Kunst und Revolution (1973) Herbert Marcuses vorletztes Buch Über die Befreiung ist erschienen, als die Protestbewegung soeben ihren Höhepunkt überschritten hatte: 1968 in USA und ein Jahr darauf in deutscher Übersetzung. Der paradoxe Titel des neuen Buches2 spiegelt die gründlich veränderte Situation; darin ist von >Revolte< die Rede, weil Marcuse heute die kommende Revolution in der Zeitspanne von Generationen mißt, während die massive Gegenbewegung die ironische Form einer vorbeugenden Konterrevolution anzunehmen scheint. Selbst in der Bundesrepublik, auf die dieses Bild trotz des »Radikalenerlasses« so recht nicht zu passen scheint, kann man auch Bestätigungen für diese Diagnose finden: so etwa läßt sich die rührende Eilfertigkeit verstehen, mit der Opposition und Regierung ein 2 Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt 1973.
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Grüppchen, das sich zur machtvollen Kaderpartei aufbläst, beim Wort nehmen - eine kraftmeiernde Selbststilisierung wird vorbeugend zur Realität gestempelt. Marcuses Buch ist in den Jahren 70/71 entstanden, bereits in der Flaute der Protestbewegung. Es enthält eine scharfe Kritik an der pseudomarxistischen Orthodoxie, die auch in den Reihen der Neuen Linken wieder aufgelebt sei. Sie drücke sich in einer ritualisierten Begrifflichkeit aus und führe zu einer Fetischisierung der Arbeiterklasse - wofür Marcuse nur die trockene Bemerkung übrig hat: ein neuer Aspekt des Warenfetischismus. Auf der anderen Seite richtet sich die Kritik aber auch gegen Clownerie und Sichgehenlassen, gegen die Gewaltspielerei des »revolutionären Selbstmordes« — dieser Appell an die Selbstkontrolle der Militanten ist ein neuer Ton. Aber nicht diese taktischen Bemerkungen machen das Thema des Buches aus. Seit den 30er Jahren hat Marcuse ein Problem nicht mehr losgelassen, das nun freilich durch die Erfahrungen der 60er Jahre in ein anderes Licht rückt - das Verhältnis von Kunst und Revolution, genauer: die Rolle, welche Kunst für die Revolutionierung einer abgestumpften Sinnlichkeit und der repressiven Triebstruktur spielen kann. Weil die bestehende Gesellschaft nicht nur im Bewußtsein der Menschen reproduziert wird, sondern auch in ihren Sinnen, muß die Emanzipation des Bewußtseins mit der der Sinne einhergehen - muß »die repressive Vertrautheit mit der gegebenen Objektwelt« aufgelöst werden. Nicht zufällig bedient sich der einstige Heideggerschüler der Sprache der Phänomenologie, wenn er eine radikale Veränderung für die »vorbewußte Konstitution der erfahrenen Welt« postuliert. Dahinter steht eine empirische Annahme. Gerade die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus, die beispiellose Dynamik einer Wohlstands- und konsumorientierten Gesellschaft, wird die »transzendendierenden«, die nicht-materiellen Bedürfnisse hervorbringen, die der Spätkapitalismus selbst nicht befriedigen kann. Die neuen Bedürfnisse manifestieren sich in den Werten und Verhaltensweisen subversiver Gegenkulturen, in denen das Potential der Kunst und der ästhetischen Erfahrungen zur politischen Kraft entbunden wird. Neu gegenüber diesen Thesen ist der Nachdruck, mit dem Marcuse dennoch die Spannung zwischen Kunst und Revolution betont.
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Wir lernen einen Marcuse kennen, der vor den Folgen einer Entdifferenzierung von Kunst und Leben erschreckt. Die Kunst darf nicht den surrealistischen Imperativ vollziehen und entsublimiert ins Leben übertreten. Nur als Kunst kann sie ihr radikales Potential ausdrücken. Die subversive Wahrheit der Kunst erscheint einzig in der Transformation der Wirklichkeit in Schein. Hatte Marcuse bisher den affirmativen Charakter des schönen Scheins als das Ideologische an der bürgerlichen Kunst kritisiert, so sieht er nun in der affirmativen Kraft eines vom Leben abgehobenen symbolischen Universums auch die Quelle der Negation des Bestehenden. Im Anblick einer Antikunst, die sich auf Marcuses frühere Thesen von der Aufhebung der Kunst berufen könnte, revoziert Marcuse seine Anklage: »Wenn wir einem Zerfall der bürgerlichen Kultur gegenüberstehen, der aus der inneren Dynamik des zeitgenössischen Kapitalismus und der Anpassung der Kultur an seine Erfordernisse resultiert, stimmt dann die Kulturrevolution, sofern sie darauf abzielt, die bürgerliche Kultur zu zerstören, nicht mit der kapitalistischen Anpassung und Neubestimmung der Kultur überein?« Marcuse ist den Grundpositionen der Adornoschen Ästhetik sehr nahe. Er setzt sich mit den seinerzeit im »Kursbuch« verbreiteten Thesen vom Ende der Kunst auseinander; auch im Sozialismus müßte die Kunst ihre Transzendenz behalten: »Ein Ende der Kunst ist nur vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Gegenwärtig und Zukünftig zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation« - Marcuse wiederholt hier Alpträume von Vico und Nietzsche. In dieser Wendung gegen den Kulturanarchismus mag auch ein Stück unaufgelösten Antimodernismus stecken. Ich bin nicht sicher, ob Marcuse der experimentellen Logik jener künstlerischen Avantgarde ernstlich gerecht wird, die in der Nachfolge des Surrealismus mit extremen Mitteln, bis hin zum demonstrativen Verstummen, die versteinerten Sprach- und Verkehrsformen entblößt, d. h. bis an die Schwelle der Selbstnegation der Kunst negiert. Wie ungebrochen Marcuses Sensibilität in Traditionen der deutschen Romantik wurzelt, zeigt der Vergleich mit Geistern wie
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Benjamin und Adorno, die, bei allem Antiklassizismus, davon auch nicht ganz unberührt waren. Gleichwohl wäre es eine Fehleinschätzung, wenn man die Warnung vor einer Destruktion der Kunst als eigenständigen Universums bloß einem Rückfall in kulturkonservative Gesinnungen zuschieben wollte. Auf eine verständnisvolle Rezeption darf Marcuse heute in der Bundesrepublik kaum rechnen, ohnehin nicht bei seinen Gegnern, aber auch nicht bei denen, die seine Gegner geworden sind oder gleichgültig von ihm sich abgewendet haben. Die unorganisierten Reste der Neuen Linken, bei denen Resonanz möglich ist, haben keinen großen Handlungsspielraum mehr. Für die Szene, die Marcuse und die Protestbewegung hinterlassen haben, sind, wenn man von den parteitreuen Kommunisten und den zwischen Mao und Stalin angesiedelten Militanten absieht, zwei neue Kraftfelder charakteristisch. Auf der einen Seite haben sich diffuse und eher unpolitische Jugendkulturen gebildet, deren schon wieder kommerzialisierte Stimmung mit dem Modewort Nostalgie belegt wird. Ein neuer Historismus durchmustert die schnell gealterte Moderne nach Reizen und Dekorationen, die sich für den Privatgenuß von Gegenwerten und Komplementärerfahrungen zum Alltag der Leistungsgesellschaft eignen. Nachdem der Jugendstil, wahrlich eine Schatzkammer, geplündert worden ist, geht die Suche nach vorwärts in die 20er und 30er Jahre und nach rückwärts in Viscontis Spätromantik. Auf der anderen Seite haben die Jusos eine taktisch erfolgreiche Opposition geschaffen, die zum erstenmal in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine politisch folgenreiche Auseinandersetzung mit sozialistischen Gesellschaftsanalysen erzwungen hat. Marcuse glaubt nicht, daß die bestehende Konkurrenzdemokratie ein geeignetes Operationsfeld für den Übergang zu einem demokratischen Sozialismus darstellt. Demgegenüber versuchen die Jungsozialisten, dem Parteiestablishment klarzumachen, daß die Leistungsfähigkeit des spätkapitalistischen Wirtschaftssystems im Hinblick auf politisch gesetzte Prioritäten auf die Probe, und im (erwarteten) negativen Fall auch zur Disposition gestellt werden muß; und sie sehen, daß radikale Reformen nicht begonnen werden dürfen, bevor nicht der demokratische Staat über die gesetzlichen Mittel verfügt, um einer vorhersehbaren Obstruk-
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tionspolitik entgegenzutreten, die die Investitionsfreiheit der privaten Großunternehmen präventiv ausnützt. Was hingegen die Jusos mit Marcuse verbindet, kommt in ihrer erklärten »Doppelstrategie« zum Ausdruck: Erfolge innerhalb der bestehenden Institutionen werden nur dann nicht bürokratisch versickern, wenn eine gleichzeitige Politisierung des Bewußtseins großer Bevölkerungsteile jene neuen Bedürfnisse schafft, die veränderte gesellschaftliche Prioritäten allein rechtfertigen, durchsetzen und tragen können. Die Reste der nicht-organisierten Neuen Linken, eingeklemmt zwischen nostalgischen Kulturkomsum und erfolgreiche Jusokonkurrenz wenn das hierzulande die Szene ist, auf die Marcuses neues Buch auftrifft, dann ist Resonanz nicht wahrscheinlich, aber die Essenz des Marcuseschen Gedankens tritt auf diesem Hintergrund klar hervor. Seit der Entstehung des modernen Staates wird die politische Sphäre durch Staaten- und Bürgerkriege eingegrenzt und durch die Routinen der öffentlichen Bürokratien ausgefüllt. Gegen diesen Begriff von Politik, der sich auf Probleme der Machtverteilung und der administrativen Bearbeitung von gesellschaftlichen Materien beschränkt, haben Marcuse und die Neue Linke den Begriff einer stetigen und umfassenden Politisierung gesetzt, welche das Bewußtsein und die Sinnlichkeit der Subjekte selber ergreifen und die Wertstrukturen der Gesellschaft verändern soll. Das bedeutet eine kategoriale Verschiebung des politischen Handelns. Sobald die nicht-materiellen Bedürfnisse nach neuen solidarischen Beziehungen zwischen den Gruppen, den Generationen und den Geschlechtern, zwischen den Subjekten und der Natur, in die kollektive Willensbildung einbezogen werden, müßten Politik und Lebenspraxis in eine neue Konstellation treten. Diese Entstaatlichung der Politik bahnt sich beispielsweise in den öffentlichen Planungsprozessen an. Eine solche Entdifferenzierung bisher getrennter Medien stellt sich immer als Zerstörung eines relativ autonomen Bereichs dar. Nun hat die kulturrevolutionäre Bewegung das Ineinandergreifen verschiedener Entdifferenzierungsprozesse zu Bewußtsein gebracht: die wohl definierten Grenzen zwischen Krankheit und Normalität, zwischen Kunst und Leben, zwischen Politik und Kunst, zwischen privaten und öffentlichen Konflikten, zwischen
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Anpassung und Kriminalität haben sich gleichzeitig verschoben. Für staatliche Politik und Wissenschaftssystem zeichnet sich ab, was in anderen Bereichen schon in vollem Gange ist. Peter Gorsen hat in seinem Beitrag zum soeben erschienenen 4. Band der (von Gadamer herausgegebenen) Neuen Anthropologie zwei dieser Medienverschiebungen instruktiv behandelt: die Entästhetisierung der Kunst durch Aktions- und Abreaktionsspiele, Mixed Media, Concept Art, Land Art, durch Happening und Science-Fiction, durch Angleichung von Kitsch und Literatur usw.; und die Entpathologisierung des Kranken durch die neue Bewegung der Antipsychiatrie (Basaglia, Cooper), durch die Erschütterung der zwanghaften Autonomie bürgerlicher Normalität gegenüber dem Wahnsinn (Foucault) und durch die politische Umwertung des schizophrenen Rückzugs in eine konstruktive Ablösung von repressiven Lebensverhältnissen (Laing). Marcuse hat als einer der ersten die fragwürdige Autonomie des schönen Scheins analysiert; er hat zündende Argumente für eine neue, die Dimension der Sinnlichkeit, der Phantasie, der Wünsche einbeziehende politische Praxis entwickelt: davon handelt abermals das Kapitel über Natur und Revolution. Auf diesem Hintergrund gewinnt aber Marcuses neuerliche Wendung gegen die Zerstörung der Transzendenz des Schönen und gegen die Auflösung politischen Handelns in Aktionismus ihr besonderes Gewicht. Marcuse pocht darauf, daß die Entdifferenzierung der alten kulturellen Gliederungen nicht zur Entsublimierung der leidenschaftlichen Vernunft und der Kreativität führen darf. Die Konstellationen der bürgerlichen Kultur, die für drei oder vier Jahrhunderte selbstverständlich waren, sind in Bewegung geraten; aber diese Bewegung könnte sich nur um den Preis der Humanität selber darüber hinwegsetzen, daß auch in einem neuen gesellschaftlichen Universum Kunst, Politik und Lebenspraxis gegeneinander differenziert bleiben. Diese defensive Botschaft steht auf den ersten Blick in Widerspruch zur ungebrochenen revolutionären Rhetorik. Nach wie vor verteidigt Marcuse die Rebellion gegen »das Ganze«, den qualitativen Sprung, den Bruch mit dem Kontinuum der bisherigen Geschichte. Nach wie vor ist die Rede affirmativ; ihr theoretischer Gehalt ist
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eher etwas mager. Das Buch enthält nur die eine Hypothese, daß die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Bedürfnisse neuer Art schafft, die der Spätkapitalismus nicht befriedigen kann. Und mit Recht ließe sich sagen, daß diese Hypothese nicht begründet, sondern in ihrer Geltung vorausgesetzt wird. Aber Einwände auf dieser Ebene würde ich für verfehlt halten. Denn nicht die Untersuchung sozialwissenschaftlicher Hypothesen ist das Ziel. Marcuses Argumente müssen vielmehr als Teil eines großen praktischen Diskurses verstanden werden, in dem es nicht um die Überprüfung empirischer Behauptungen, sondern um die Identifizierung und Rechtfertigung von verallgemeinerungsfähigen Interessen geht: um die radikale Neuinterpretation von Bedürfnissen und um die diagnostische Frage, ob die Masse der Bevölkerung in diesen Interpretationen das, was sie wirklich will, erkennen, ob sie sich darin wiedererkennen könnte.
c) Gespräch mit Herbert Marcuse (i977) I Habermas: Herbert, wir haben ja vor neun Jahren zu Ihrem 70. Geburtstag eine kleine Antifestschrift zusammengestellt, von Marcuse-Anhängern und Marcuse-Kritikern. Das war in einem Kontext, der sehr viel politischer war als der heutige. Deswegen gab es damals auch scharfe Töne wie in jeder politischen Auseinandersetzung. Ich finde, daß im allgemeinen der heutige Kontext, verglichen mit dem damaligen, zu bedauern, aber für Zwecke unseres Gesprächs wiederum auch nicht so unangenehm ist: wir können hier sommerlich entspannt einen Schritt zurücktreten und ... Marcuse: Da möchte ich doch protestieren. Habermas: Gut, gut. Marcuse: Ja, ich meine, wir sollten uns nicht einreden, daß wir heute von der Politik absehen oder die Politik aufs Nebengeleis stellen könnten, bis wir wieder mal Laune oder Zeit finden für ein politisches Gespräch.
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Habermas: Ich denke, daß wir heute ein politisches Gespräch, eine politische Diskussion führen werden ... Marcuse: Ja. Habermas: Aber eine, die nicht von unmittelbaren Konstellationen dieser oder jener Fraktionskämpfe bestimmt sein muß. Marcuse: Das sicher nicht. Habermas: Das hat ja auch einen Vorzug. Wir haben z. B. Zeit, mit einem kleinen biographischen Rückblick anzufangen. Dann würde ich ganz gern auf zwei, drei philosophisch-theoretische Fragen kommen, um erst am Schluß im engeren Sinne politisch zu diskutieren. Sie wissen, daß mich (schon wegen biographischer Ähnlichkeiten) immer Ihr Übergang von Heidegger zu Horkheimer, wenn ich das so sagen darf, interessiert hat. Lassen Sie mich anfangen mit einigen Fragen, die Ihre Freiburger Zeit betreffen, überhaupt die Jahre nach 1918. Zunächst einmal, 1932 ist Ihre Habilitationsschrift über Hegels Ontologie erschienen, das ist eine Untersuchung, die bis in den Titel hinein von Heideggerschen Problemstellungen geprägt gewesen ist. Im selben Jahr haben Sie in der Zeitschrift Die Gesellschaft die damals wiederentdeckten Marx-Texte über Nationalökonomie und Philosophie kommentiert, und ein Jahr später ist im Archiv für Sozialwissenschaft der Aufsatz über die »philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs« erschienen. Das sind beides, so würden wir es wohl auch heute noch sehen, marxistische Arbeiten. Wie hat sich das miteinander vertragen, die Heideggersche Gedankenwelt und der Marxismus ? Marcuse: Ich glaube, daß der Übergang von dem, was Sie Heideggersche Gedankenwelt nennen, zum Marxismus kein persönliches Problem war, sondern ein Generationenproblem. Entscheidend war das Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich eigentlich schon 1921, wenn nicht sogar noch früher, mit der Ermordung von Karl und Rosa erlebt haben. Es schien nichts da zu sein, womit man sich hätte identifizieren können. Da kam der Heidegger, 1927 erschien Sein und Zeit. Ich hatte damals mein erstes Studium beendet, 1922 den Doktor gemacht, hatte eine Zeitlang in einem Antiquariat und Verlag in Berlin gearbeitet, war aber immer noch auf der Suche. Was geschieht nach dem Scheitern
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der Revolution? Eine Frage, die für uns ganz entscheidend war. Philosophie wurde damals durchaus gelehrt, die akademische Szene war beherrscht vom Neukantianismus, Neuhegelianismus, und da plötzlich erschien Sein und Zeit als eine wirklich konkrete Philosophie. Da war die Rede vom »Dasein«, von »Existenz«, vom »Man«, vom »Tode«, von der »Sorge«. Das schien uns anzugehen. Das dauerte bis ungefähr 1932. Dann haben wir allmählich gemerkt und ich sage »wir«, weil es eben wirklich nicht nur eine persönliche Entwicklung war-, daß diese Konkretion ziemlich falsch war. Das, was Heidegger getan hat, war im wesentlichen, die Husserlschen Transzendentalkategorien zu ersetzen durch seine eigenen. Anscheinend so konkrete Begriffe wie Existenz, Sorge wurden wieder verflüchtigt zu schlecht abstrakten Begriffen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon Marx gelesen und habe fortgefahren, Marx zu lesen, und dann kam das Erscheinen der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Das war wahrscheinlich die Wende. Hier war in einem gewissen Sinne ein neuer Marx, der wirklich konkret war und gleichzeitig über den erstarrten praktischen und theoretischen Marxismus der Parteien hinausging. Und von da ab war das Problem Heidegger versus Marx für mich eigentlich kein Problem mehr. Habermas: Sie sagen, Heidegger erschien, als er mit Sein und Zeit auftrat, als jemand, der eine konkrete Philosophie angeboten hat. Marcuse: Ja. Habermas: Gerade wenn man aus einem marxistischen Interessenspektrum auf Heidegger sieht, fällt doch eher auf, daß hier ein transzendentales oder quasi-transzendentales, eben fundamentalontologisches Begriffssystem entwickelt wird für die Bedingung von Geschichte, für Geschichtlichkeit, aber gerade nicht für das Begreifen eines materiellen Geschichtsprozesses. Marcuse: Ja, bei Heidegger. In der Beschäftigung mit der Geschichtlichkeit verflüchtigt sich die Geschichte. Habermas: Trotzdem haben Sie damals an diese Fundamentalontologie angeknüpft und haben auch in diesen frühen Schriften, in den Philosophischen Heften und dann in den beiden erwähnten Aufsätzen, versucht, den ontologischen Rahmen in der Weise zu mobilisieren, daß Sie entfremdete Arbeit versus nicht-entfremdete Arbeit in diesen Begriffen formuliert haben.
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Marcuse: Ja, aber das war nicht mehr Heidegger. Das war eine Ontologie, die ich bei Marx selbst entdecken zu können glaubte. Habermas: War es so, daß Ihre politischen Grundpositionen festlagen seit 1918 und daß die eigentlich philosophischen Impulse erst nach und nach integriert worden sind mit politischen Auffassungen, oder ist das eher ein dialektischer Prozeß gewesen? Sie waren doch sogar in der Rätebewegung aktiv? Marcuse: Ich war involviert eine kurze Zeit, ich war Mitglied des Soldatenrats in Berlin-Reinickendorf 1918, ich bin sehr schnell aus diesem Soldatenrat wieder ausgetreten, als man dazu überging, ehemalige Offiziere hineinzuwählen, und habe dann eine ganz kurze Zeit der SPD angehört, bin da aber auch nach dem Januar 1919 wieder ausgetreten. Ich meine, daß meine politische Haltung in dieser Zeit festgelegt war in dem Sinne, daß sie kompromißlos gegen die Politik der SPD gerichtet, also in diesem Sinne revolutionär war. Habermas: Welche Rolle haben der Lukács von Geschichte und Klassenbewußtsein und der Korsch von Marxismus und Philosophie für Sie gespielt? Das müssen Sie vor Heidegger kennengelernt haben. Marcuse: Lukács habe ich vor Heidegger gelesen und kennengelernt, ja, Korsch, glaube ich, auch. Beide sind Beispiele dafür, im Marxismus mehr zu sehen als eine politische Strategie und eine politische Zielsetzung; bei beiden gibt es das, was Sie Ontologie genannt haben, die auf eine mehr oder weniger implizite ontologische Grundlage im Werk von Marx zurückweist. Habermas: Wie sind Sie ans Institut gekommen? Marcuse: Zufall. Durch Kurt Riezler, der damals Kurator der Frankfurter Universität und ein Freund von Horkheimer war. Ich weiß nicht mehr, wie ich Riezler kennengelernt habe, jedenfalls hat er die Verbindung zwischen dem Institut und mir vermittelt. Das war Ende 1932. Er war selbst ein Heideggerfreund. Habermas: Ah, das wußte ich nicht. Marcuse: Ja, er hat ein Buch über Parmenides geschrieben, das ganz heideggerisch ist. Er hat in seiner Person und in seinem Werk die Verbindung zwischen Institut auf der einen Seite und Heidegger auf der anderen Seite hergestellt; sonst war da keine Verbindung.
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Habermas: Kannten Sie das Institut, was wußten Sie vom Institut 1932? Marcuse: 1932 war vom Institut nur erschienen der erste Band der Zeitschrift für Sozialforschung. Das war das einzige, was ich wußte. Ich wollte dringend ans Institut gehen wegen der politischen Situation. Es war ganz klar, Ende 1932, daß ich mich niemals unter dem Nazi-Regime würde habilitieren können. Und das Institut hatte damals schon Vorbereitungen getroffen zu emigrieren, mit der Bibliothek usw. Habermas: Sie haben Horkheimer damals getroffen? Marcuse: Ich war Ende 1932 in Frankfurt, habe aber nur Leo Löwenthal getroffen, nicht Horkheimer, und Löwenthal hat dann sozusagen die Vermittlerrolle gespielt zwischen mir und Horkheimer. Habermas: Sie haben Horkheimer überhaupt erst ... Marcuse: ... ich glaube in Genf, 1933, kennengelernt. Habermas: Und dann kam es zu einer Zusammenarbeit nicht vor New York? Marcuse: Zu einer richtigen Zusammenarbeit ist es nicht vor New York gekommen. Habermas: Können Sie sagen, was in dieser für Sie doch neuen theoretischen Umgebung damals intellektuell der stärkste Anstoß war zu einer Umorientierung und Fortentwicklung Ihrer Gedanken? Marcuse: Ja. Erstens: die immerhin weitgehend unabhängige Erörterung des Marxismus, der Marxschen Theorie. Zweitens: die ausgezeichnete Analyse der politischen Situation. Niemand im Institut hat z. B. daran gezweifelt, daß Hitler an die Macht kommen würde und daß er, wenn er einmal an der Macht wäre, unvorhersehbare Zeit auch an der Macht bleiben würde. Und drittens: die Psychoanalyse. Ich hatte Freud schon vorher gelesen, aber meine systematische Beschäftigung mit Freud begann erst im Institut. Habermas: Welche Rolle spielte Fromm in dem Zusammenhang? Marcuse: Sie wissen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung, daß die Organisation des Instituts einigermaßen hierarchisch war und autoritär. Habermas: Ich kann das bestätigen.
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Marcuse: Ich gehörte damals zu den marginalen Erscheinungen im Institut und wurde zu den wichtigen, großen Beratungen nicht hinzugezogen, also konnte ich die Interna nur indirekt erschließen. Der wirkliche Grund für Fromms Entfernung vom Institut war seine Entmannung der Freudschen Theorie, besonders die Revision des Freudschen Begriffs der Triebstruktur. Ob persönliche Dinge mitgespielt haben, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, ich weiß es nicht. Habermas: Für Sie hat also erst in dieser Zeit Freud in dem Sinn eine Rolle gespielt, daß eine marxistische Sozialpsychologie als eine Möglichkeit ... Marcuse: ... als eine Notwendigkeit empfunden wurde, als eine Notwendigkeit. Was hinter all diesen Arbeiten stand, war die Wirklichkeit des Faschismus. Und die Wirklichkeit des Faschismus mußte erklärt werden in Begriffen der Marxschen Theorie, nicht ad hoc zurechtgemacht, sondern aus der Marxschen Theorie selbst entwickelt. Und dazu schien eben in der Psychoanalyse eine ganze Tiefenschicht menschlichen Verhaltens aufgedeckt, die vielleicht einen Schlüssel liefern konnte zur Beantwortung der Frage, warum es 1918/19 schiefgegangen war. Warum wurde das geschichtlich außerordentliche Revolutionspotential damals nicht nur nicht genutzt, sondern für Jahrzehnte verschüttet, ja geradezu vernichtet? Die Psychoanalyse, besonders Freuds Metapsychologie, schien da bei der Klärung der Ursachen zu helfen. Lubasz: Warum war eigentlich das Institut dem Revisionismus von Erich Fromm so abhold? D. h. warum hat man damals vermutet, daß durch das Abgehen von einer strikten triebstrukturellen Interpretation der Psychoanalyse etwas verlorengehen würde? Marcuse: Der zentrale Punkt war und ist der explosive Inhalt der Freudschen Theorie der Instinkte - also nicht die Rückverwandlung, sondern die Verengung der Psychoanalyse zur Praxis unter Aufopferung der entscheidenden Theorieimpulse. Fromm war meiner Meinung nach einer der ersten, der die explosiven Elemente der Freudschen Theorie ausgeschaltet hat. Habermas: Ich wüßte ganz gern, ob Sie nicht retrospektiv dem Beitrag unrecht tun, den Fromm für die Entstehung der Kritischen Theorie geleistet hat.
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Marcuse: Ich fürchte, Sie haben recht - was den »frühen« Fromm betrifft. Habermas: War nicht das Programm einer marxistischen Sozialpsychologie von Fromm überhaupt in das Institut eingebracht worden, Ende der 20er Jahre schon? Sie waren damals nicht in Frankfurt, ich kann also nur fragen nach den Eindrücken, die sich für Sie ergaben in der ersten New Yorker Zeit. War es nicht, gewiß von Horkheimer herausgefordert, doch Fromm, der in einer eigenen und für die Kritische Theorie entscheidenden Variante eine Vermittlung von Marx und Freud versucht hat, d. h. klargemacht hat, daß der subjektive Faktor nicht mit einigen trivialpsychologischen Annahmen bestimmt werden kann, sondern eine, wie soll ich sagen, Integration Grundbegrifflichkeiten der Psychoanalyse und des Marxismus verlangt? Ist nicht das Fromm-Bild stark geprägt von der späteren Auseinandersetzung mit dem Revisionisten Fromm und kommt aber der Beitrag, den er in der Formationsperiode der Kritischen Theorie geleistet hat, nicht zu kurz? Marcuse: Ja, ich gebe das ohne weiteres zu. Und die Beschreibung, die ich gegeben habe, war, wie Sie ja gesagt haben, von der Position des späten Fromm eingefärbt. Der frühe Fromm, also, sagen wir mal, bis - wann ist das Buch Flucht vor der Freiheit erschienen? Lubasz: 1940. Marcuse: Wann? Nein, das Buch haben wir schon sehr scharf kritisiert. Aber die frühen Arbeiten von Fromm, besonders über das Christusdogma, und dann die ersten Aufsätze in der Zeitschrift, die sind aufgenommen worden als eine radikale marxistische Sozialpsychologie. Das ist richtig. Habermas: Können wir, da das jetzt ein aktuelles Thema zu werden scheint, noch ein bißchen auf die Arbeitsweise des Instituts in der New Yorker Zeit eingehen? Es gibt eine Gruppe hier in München um Herrn Dubiel, die sich mit dieser Phase der Institutsarbeit beschäftigt, und zwar unter Gesichtspunkten der Wissenschaftsorganisation. Vielleicht lese ich mal ein paar Sätze vor. Die These, die Herr Dubiel in seiner Arbeit Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Fallstudien zur Struktur und Geschichte der frühen Kritischen Theorie aufstellt, ist kurz die folgende: »Die Unterscheidung von Forschung und Darstellung« - Dubiel bezieht sich hier
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auf Bemerkungen, die Marx über den Aufbau des Kapital gemacht und die Horkheimer aufgenommen hat in seiner Antrittsrede, als er 1930 von Grünberg das Institut übernahm -, »die Horkheimer mit der Unterscheidung von fachwissenschaftlicher Analyse und philosophischer Konstruktion identifizierte, bildete die forschungsorganisatorische Substruktur der wissenschaftlichen Arbeit von Horkheimers Mitarbeiterkreis. Diese Substruktur bestand in der Differenzierung von kognitiven Rollen nach Maßgabe der Funktion von Forschung und Darstellung und einer spezifischen Verkettung dieser Funktionen im Forschungsprozeß selbst. Diese forschungsorganisatorische Struktur läßt sich in der Struktur des Kreises leicht identifizieren. Horkheimer beanspruchte die Funktion der Darstellung systematisch für sich, während seine Mitarbeiter auf die darauf bezogene Funktion fachwissenschaftlicher Dienstleistungen verpflichtet wurden.« Marcuse: Nein, also das ist eine unzulässige Trennung, eine völlig undialektische Trennung von Forschung und Darstellung, die im Institut wirklich nicht geübt worden ist. Es ist keineswegs so, daß Horkheimer die philosophische Anregung und Integrierung leistete und die Mitarbeiter sozusagen auf die Darstellung seiner Gedanken verwiesen wurden. Keineswegs. Jeder der Mitarbeiter hat gleichzeitig den hier für Horkheimer reservierten Bereich ebenfalls genutzt. Habermas: Dubiel sagt, Horkheimer habe von der diktatorischen Kompetenz des Institutsdirektors, auf die er explizit Wert legte, in folgender Weise Gebrauch gemacht. Er habe die philosophischpolitischen Fragestellungen, die aus einer Reflexion der geschichtlichen Situation stammten, entwickelt und festgelegt, über welche Themen gearbeitet werden sollte, ungefähr in welcher Interpretationsperspektive darüber gearbeitet werden sollte. Zweiter Schritt dann ... Marcuse: Er hat sie vorgeschlagen, nicht festgelegt. Habermas: Das ist schon eine wichtige Modifikation. Marcuse: Er hat dabei natürlich aufgrund seiner Stellung eine gewisse Übermacht gehabt. Aber die Sachen wurden, bevor man an die Ausarbeitung ging, selbstverständlich diskutiert. Wollen mal sehen, ob mir ein Beispiel einfällt.
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Habermas: Sie haben damals den Aufsatz über ... Marcuse: ... den liberalen und den totalitären Staat ... Habermas: ... ja, da war doch eine ... Marcuse: ... eine Rede Hitlers, die Rede vor dem Düsseldorfer Industrieklub, die wurde bekannt, und dann hat Horkheimer die Mitarbeiter zusammengerufen und auf Zeitungsartikel hingewiesen und die Frage gestellt, ob etwas und was an dieser Rede so bedeutsam sei, daß man es zum Gegenstand einer mehr oder weniger selbständigen Untersuchung und Darstellung machen sollte. Das wurde diskutiert und dann die Entscheidung gefällt. Horkheimer hat nicht diktatorisch gesagt: Jetzt wird darüber gearbeitet. Habermas: Man konnte Pollock und Grossman als Ökonomen betrachten, Fromm als Psychologen, Löwenthal als Literaturtheoretiker, Adorno und Marcuse als Ideologiekritiker usw. Hat eine Arbeitsteilung zwischen diesen Fachwissenschaftlern und Horkheimer bestanden, der die philosophische Generalperspektive entworfen und vorgeschlagen und später auch wieder in der Darstellung der Ergebnisse zur Geltung gebracht hat? Dubiel sagt, man müsse nur die einzelnen Nummern der Zeitschrift für Sozialforschung anschauen: alle Nummern sind von Horkheimer eingeleitet worden, und Horkheimer hat sogar Kommentare gegeben, etwa zu Pollocks Aufsätzen ... Marcuse: Pollock hat ja den Aufsatz geschrieben über den Staatskapitalismus, der meiner Meinung nach einer der allerersten Versuche war zu zeigen, daß der Spätkapitalismus aus inneren Gründen, aus rein ökonomischen Gründen nicht zusammenbrechen wird. Aber die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist eben keine Einzelwissenschaft, man kann sie nicht als Einzelwissenschaft der philosophischen Integrierung gegenüberstellen, was immer das auch sein mag. Habermas: Das gilt ... Marcuse: ... genauso später für Neumann und Kirchheimer. Was sie betrieben, war nicht Einzelwissenschaft im Sinne der empirischen und in Bereiche abgegrenzten Forschung. Habermas: Mir scheint auch, daß Dubiel und seine Mitarbeiter einen zu scharfen Schnitt legen zwischen den integrativen Per-
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spektiven des Philosophen Horkheimer und den sogenannten Einzelwissenschaftlern. Sie meinen also, bereits die sogenannten Einzelwissenschaftler haben eine marxistisch inspirierte Sozialwissenschaft betrieben... Marcuse: Ja . .. Habermas: ... die von sich aus auf die Integration der verschiedenen Aspekte, der sozialpsychologischen, ökonomischen und staatstheoretischen Aspekte, angelegt war. Marcuse: Genau, ich meine, daß bis zum Ende die Marxsche Theorie selbst die integrierende Kraft war, die verhindert hat, daß z.B. ökonomische Probleme nur als einzelwissenschaftliche Probleme behandelt und erörtert wurden. Habermas: Vielleicht könnten wir an dieser Stelle einmal kurz betrachten, wie damals im Institut zusammengearbeitet wurde. Was heißt überhaupt »Institut«, das waren zwei Räume in der Columbia University? Marcuse: Das war ein ganzes Haus in der 117. Straße. Das Haus gehörte der Columbia University und wurde dem Institut zur Verfügung gestellt. Habermas: Und wie sah die Arbeit aus, ich meine die Zusammenarbeit? Wie muß man sich die vorstellen? Marcuse: Daß mehr oder weniger die Probleme und die Auswahl von Beiträgen von den Mitarbeitern für die Zeitschrift diskutiert wurden in Horkheimers Büro. Es beteiligte sich, wer gerade da war, Pollock, Löwenthal, die waren beide immer da, später kam Adorno hinzu, auch ich. Und, ja, da setzte sich schon die hierarchische Gliederung durch. Es bestand definitiv eine Kluft - auf der einen Seite Neumann, Kirchheimer, Grossmann und auf der anderen Seite die, die ich eben aufgezählt habe. Das war eine nicht von der Sache geforderte, sondern von der mehr oder weniger persönlichen Organisation ausgehende Diskriminierung. Habermas: Man könnte sagen, daß der engere Kreis zusammenfällt mit dem Kreis der Leute, die Horkheimers Intentionen am nächsten standen, seinen theoretischen Intentionen? Marcuse: Ja, das kann man sagen. Habermas: Wie spielte sich das nun ab? Die Zeitschrift war der organisatorische Mittelpunkt?
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Marcuse: Definitiv, ja. Habermas: So daß sich eigentlich alles in Form von Redaktionssitzungen abspielte? Marcuse: Allerdings. Die Manuskripte wurden vorgelegt, zuerst Löwenthal, dann gingen sie zu Horkheimer und wurden dann noch mal diskutiert. Habermas: Gab es Seminare? Marcuse: Regelmäßig? Nein. Seminare gab es, aber sie waren nicht beschränkt auf das interne Institut. Sie fanden im Rahmen von Abendvorlesungen statt, die an der Columbia University gehalten wurden. Habermas: Und da kamen auch Gäste? Marcuse: Da kamen auch Studenten von der Columbia University. Habermas: Und als Vortragende nur Institutsmitglieder? Marcuse: Ich glaube, ja. Habermas: Und das diente eher den Public relations, ich meine der Außendarstellung, um zu zeigen, daß Sie da waren. Marcuse: Ja. Habermas: Hat sich das Institut jemals, sagen wir, lokalisiert im Verhältnis zu stärker politisch organisierten Gruppen der Emigration? Marcuse: Das war streng untersagt. Horkheimer hat von Anfang an darauf bestanden, daß wir Gäste der Columbia University sind, Philosophen und Wissenschaftler. Irgendeine organisatorische Bindung konnte die prekäre administrative Grundlage des Instituts erschüttern. Also, von solchen Zusammenhängen konnte keine Rede sein. Habermas: In welche Perspektive haben Sie denn in der zweiten Hälfte der 30er Jahre gearbeitet? Die Zeitschrift erschien auf deutsch, bis 1940, glaube ich. Offensichtlich hatten Sie nicht das Ziel, in Amerika wirksam zu werden mit Ihrer Theorie. Hatten Sie bereits die Perspektive auf ein Deutschland nach dem Zusammenbruch des Faschismus? Marcuse: Ich habe mir die Frage nie vorgelegt. Ich möchte jetzt antworten: nein, diese Perspektive gab es nicht. Die Perspektive war: Wir werden hier in Amerika, hoffentlich, bleiben können für
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absehbare Zeit, wir müssen uns darauf einrichten. Der Gedanke, daß eine Rückkehr nach einem nichtfaschistischen Deutschland sozusagen vor der Tür stand, wurde nicht gedacht. Lubasz: Wie hat man sich zu jener Zeit die Verbindung zwischen der sich im Aufbau befindenden Theorie und einer möglichen Praxis vorgestellt, oder wurde das ausgeklammert? Marcuse: Wieder dieselbe Antwort: Wenn mit Praxis politische Betätigung in einer Organisation oder für eine Organisation gemeint ist: nein, es war nicht davon die Rede, daß man sich mit Gruppen identifizieren konnte, die politisch aktiv waren. Niemand im Institut hat z.B. jemals angenommen, daß nach dem Faschismus, wenn die SPD oder eine andere bürgerliche Partei zur Macht käme, die Sache wesentlich anders würde, daß dann eine revolutionäre Situation entstehen würde. Das Problem »Philosophie und Praxis«, wie es 1968 dann explodierte, war damals suspendiert. Habermas: Können Sie sagen, warum das Institut sich aufgelöst hat, warum Horkheimer und Adorno nach Kalifornien gegangen sind? Hatte das auch innere Gründe, hatte das Gründe, die in der Theorieentwicklung lagen, war man an ein Ende gekommen? Marcuse: In gewissem Sinne war man an ein Ende gelangt, und man war zugleich an einen Anfang gekommen. Das ist ein sehr interessantes Phänomen. Das Ende war, daß sich weder Horkheimer noch Adorno, um die beiden Hauptfiguren zu nennen, jemals mit dem amerikanischen Wissenschaftsbetrieb wirklich befreunden konnten. Das war für sie alles mehr oder weniger Positivismus, Psychologismus usw. Andererseits ist es immerhin aufschlußreich, daß Horkheimer und Adorno Amerika genau zu dem Zeitpunkt verließen, als das Institut, seine Theorie und seine Arbeit in Amerika Erfolg hatten und gewürdigt wurden, nämlich nach dem Erscheinen von Authoritarian Personality. Auf einmal, über Nacht, war die Arbeit des Instituts ein unentbehrlicher Bestandteil des amerikanischen Wissenschaftsbetriebs. Und da sind sie weggegangen. Habermas: Nun kann man allerdings sagen, daß die Diskussion über die A-Scale und die F-Scale nicht eigentlich eine Diskussion über Kritische Theorie war. Marcuse: Nein, aber das Buch hat ja, wenn ich mich recht erinnere, auch eine lange Einleitung von Adorno.
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Habermas: Nochmal zurück zu 1940/41. Warum hörte das in Columbia auf? Warum gingen die beiden nach Kalifornien? Das war doch der Verzicht auf die Fortsetzung der Zeitschrift, nicht? Warum? Marcuse: Ich glaube, Horkheimer hatte, wenn ich mich nicht täusche, politische Ängste, daß selbst in Amerika der faschistische Trend so stark würde, daß das Institut als solches gefährdet würde. Habermas: Können Sie, da es darüber in den Jahren nach 1968 Gerüchte gegeben hat, etwas über Ihre Tätigkeit unmittelbar nach dem Ende des Krieges, als Sie als Offizier der US-Armee nach Deutschland zurückkamen, berichten? Marcuse: Ich war zuerst in der Politischen Abteilung der OSS und dann in der Division of Research and Intelligence of the State Department. Meine Hauptarbeit war die Identifizierung von Gruppen in Deutschland, mit denen man nach dem Kriege zur Rekonstruktion zusammenarbeiten konnte; und die Identifizierung von Gruppen, die als Nazis zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Es gab da ein großes Entnazifizierungsprogramm. Es wurden Listen aufgestellt, basierend auf exakter Forschung, Berichten und Lektüre der Presse und was immer sonst noch, von denen, die als Nazis nach dem Kriege zur Verantwortung gezogen werden sollten. Es hieß später, ich sei ein CIA-Agent gewesen. Habermas: Ja, ja. Marcuse: Was Blödsinn ist, denn die OSS durfte noch nicht mal in die Nähe des CIA. Beide haben sich immer wie Gegner bekämpft. Habermas: Meine Frage hat ja nicht nur den Sinn, diesen Blödsinn vom Tisch zu bringen, sondern auch den, politisch zu klären, was denn eigentlich aus Ihren Vorschlägen geworden ist. Haben Sie den Eindruck, daß das, was Sie da getan haben, irgendeine Folge hatte? Marcuse: Das Gegenteil. Diejenigen, die wir z.B. als »ökonomische Kriegsverbrecher« an der ersten Stelle der Liste hatten, waren sehr bald wieder in den entscheidenden verantwortlichen Positionen der deutschen Wirtschaft wiederzufinden. Hier Namen zu nennen ist sehr leicht.
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Habermas: Vielleicht schließen wir diesen Teil unserer Diskussion ab. Nur noch eine Frage: Ich habe mir überlegt, wer denn außerhalb des Frankfurter Einzugsbereichs für Sie eine Figur gewesen sein könnte, die zu intellektueller Auseinandersetzung gereizt hat. Ich bin da nur auf Sartre gestoßen. Marcuse: Richtig. Habermas: Welche Bedeutung hat Sartre für Sie gehabt? Die Spuren sind ja bis zum Eindimensionalen Menschen zu sehen. Marcuse: Das ist eine späte oder verspätete Beschäftigung mit einer wirklich konkreten, nicht nur scheinkonkreten Ontologie. Das kann man ganz spezifisch zeigen. Bei Heidegger ist das Dasein neutral, d. h. ein abstrakter Begriff. Bei Sartre ist das Dasein z. B. in zwei Geschlechter gespalten - ein ganzer Bereich, der bei Heidegger überhaupt nicht vorkommt. In L'Etre et le Neant gibt es z.B. eine wirklich charmante Phänomenologie des Popos. Das hat mir gefallen. Habermas: Ja, auch Leute, die blicken können, müssen mindestens Augen haben. Marcuse: Bei Sartre gibt es wirklich eine konkrete Philosophie. Das hat sich dann auch bewahrheitet, denn der Weg von L'Etre et le Neant zu dem >politischen< Sartre ist ja ein sehr kurzer. Habermas: Sie betonen, daß das, was Sie von Freud gelernt haben, hier auf anderem Wege auch in eine linke Heidegger-Tradition Einzug gehalten hat, etwa bei Sartre. Ich habe diese Sache immer ein wenig anders gesehen. Ich glaube, daß Sie wirklich den Sartre, und zwar den Sartre von Marxismus und Existentialismus, in entscheidenden Dingen vorweggenommen haben in den frühen 30er Jahren. Ihr Versuch eines marxistischen Gebrauchs der Heideggerschen Fundamentalontologie ähnelt in Grundzügen dem, was Sartre im Übergang von L'Etre et le Neant zu marxistischen Positionen in den 50er Jahren dann - sicherlich ohne Ihre Arbeiten zu kennennachvollzogen hat. Marcuse: Ja, sicher. Habermas: Halten Sie es für falsch, das so zu sehen? Sie haben das dann natürlich in den 50er Jahren alles nicht mehr ernst genommen. Marcuse: Das stimmt nicht.
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Habermas: Doch, dann begann ja erst die marxistische Rezeption des späten Husserl und sogar Heideggers in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien. Marcuse: Da zeigt sich, daß vielleicht doch ein innerer begrifflicher Zusammenhang besteht in dem, was wirklich gut ist an Husserl und vielleicht sogar an Heidegger, denn dieser späte Husserlaufsatz über die Krisis der europäischen Wissenschaft ist ja, verglichen mit den vorhergehenden Transzendentalarbeiten, wirklich ein Neubeginn.
II Habermas: Ich würde ganz gern über ein paar theoretische Fragen mit Ihnen sprechen, Herbert, erstens über anthropologische Grundlagen der Gesellschaftstheorie bei Ihnen, dann über den Stellenwert, den die ästhetische Theorie hat, über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft, über Ihre theoretische Einschätzung der politischen Demokratie, überhaupt des Liberalismus, und schließlich über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Das wird uns dann ja unmittelbar zu politischen Fragen bringen. Vielleicht sollte ich noch sagen, aus welcher Perspektive ich meine Fragen stelle. Neben Adorno haben Sie mit Ihren Arbeiten auf mich persönlich den größten unmittelbaren Einfluß gehabt, und die Übereinstimmungen sind so groß, daß mir nur noch die Schwierigkeiten auffallen, die in dieser Theorie vielleicht auch drinstecken und auf die man stößt, wenn man das Interesse hat, diese Dinge weiterzutreiben. Das ist also der Geist, aus dem ich ein paar Fragen stellen möchte. Ich glaube, daß ich ab und zu einfach mal ein paar Stellen vorlese aus Ihren Sachen, dann wissen wir, worüber wir genau reden. Zuerst aus den Neuen Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus. Da findet sich eine Stelle, von der ich meine, daß sie ein Motiv in Ihrem Denken klarmacht, das bis heute, bis zu dem Buch Die Permanenz der Kunst, konstant geblieben ist, ein Motiv, das Sie übrigens von Horkheimer und Adorno trennt. Es heißt in diesem frühen Aufsatz von 1932:
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Gerade der unbeirrbare Blick auf das Wesen des Menschen wird zum unerbittlichen Antrieb der Begründung der radikalen Revolution. Daß es sich in der faktischen Situation des Kapitalismus eben nicht nur um eine ökonomische oder politische Krise handelt, sondern um eine Katastrophe des menschlichen Wesens, diese Einsicht verurteilt jede bloße ökonomische oder politische Reform von vornherein zum Scheitern und fordert unbedingt die katastrophische Aufhebung des faktischen Zustandes durch die totale Revolution. Erst auf der so gesicherten Grundlage, deren Festigkeit durch keine nur ökonomischen oder politischen Argumente erschüttert werden kann, erwächst die Frage nach den geschichtlichen Bedingungen und Trägern der Revolution. Jede Kritik, die sich nur mit dieser Theorie beschäftigt, also mit Klassenkampf und Diktatur des Proletariats, ohne sich mit ihrem eigentlichen Fundament auseinanderzusetzen, verfehlt ihren Gegenstand. Marcuse: Das ist aus den Beiträgen zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus? Habermas: Nein, aus Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, also dem Kommentar zu den Ökonomischphilosophischen Manuskripten. Das ist 1932. Marcuse: Ja. Habermas: Selbst wenn ich einen Hauch von expressionistischen Vokabeln (wie »totale Revolution«) abziehe, steckt hier ein Gedankenmotiv drin, das sich durchgehalten hat. Sie haben damals noch einen ontologischen Ansatz. Wenn Sie von »Fundament« sprechen, vom »Wesen des Menschen«, dann denken Sie immer noch daran, sich fundamentalontologische Perspektiven marxistisch anzueignen. Von diesem Begriffsrahmen haben Sie sich abgelöst. Andererseits hat man den Eindruck, daß später die Freudsche Metapsychologie die Rolle der Heideggerschen Existentialontologie übernommen hat. Ihr Marxismus hat bis heute einen stark anthropologischen Einschlag, wenn ich das so locker sagen darf. Marcuse: »Anthropologisch« meinen Sie jetzt im Sinne der philosophischen Anthropologie, nicht der Ethnologie? Habermas: Ja. Um vielleicht klarer zu machen, was ich meine, im Versuch über die Befreiung heißt es S. 25: Wir hätten dann diesseits aller Werte ein trieb-psychologisches Fundament für Solidarität unter den Menschen, eine Solidarität, die gemäß den
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Erfordernissen der Klassengesellschaft wirksam unterdrückt wurde, nunmehr aber als Vorbedingung von Befreiung erscheint.
Marcuse: Ja. Habermas: In diesem Sinne sprechen Sie sogar von den »biologischen Grundlagen« des Sozialismus, auch wenn Sie ein Fragezeichen dahintersetzen. Ganz deutlich hier in Ihrem letzten Buch, Permanenz der Kunst, noch einmal S. 25: »Die Verstrickung von Glück und Unglück, Heil und Unheil, Eros und Thanatos, kann nicht in Probleme des Klassenkampfs aufgelöst werden, die Geschichte hat einen naturhaften Boden« - das meine ich mit Anthropologie. »Der Mensch als Gattungswesen diesseits von allen Klassengegensätzen ist eine Bedingung der Möglichkeit der klassenlosen Gesellschaft. Die Menschheit als Realität, als die Gemeinschaft freier Individuen setzt eine Veränderung der organischen Entwicklung innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen voraus.« Diese Veränderung der organischen Entwicklung konzipieren Sie auch aus der Perspektive einer Rückkehr zu einem naturhaften Boden - jedenfalls zu einem anthropologisch angelegten Potential. Marcuse: Aber keine Rückkehr. Jede Bedeutung, jede Erklärung in Begriffen von >Zurück zur Natur< würde ich kompromißlos ablehnen. Auch hier ist Natur etwas, das es erst herzustellen gilt. Habermas: Sie sprechen von einem naturhaften Boden, Sie sprechen auch von einer Triebstruktur, die zwar eine historische Dynamik entwickelt, aber doch zugleich der Boden ist für die vernünftige Organisation frei assoziierter Produzenten in einer künftigen Gesellschaft. Man fragt sich, wie solche starken anthropologischen Annahmen mit dem Historischen Materialismus, also schlicht mit der These der Veränderbarkeit der menschlichen Natur, vereinbar sind. Marcuse: Daß der Mensch einen Körper hat und daß der Mensch das hat, was der Freud Triebe nennt, und daß es im Menschen primäre Triebe gibt, heißt nicht, daß sie nicht veränderbar sind. Wenn ich von menschlicher Natur spreche, meine ich immer eine Natur, die den Menschen als ganzen verändern kann. Wenn die Triebstruktur in dem Sinne invariant ist, daß immer der Konflikt
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zwischen Eros und Thanatos zugrunde liegt, dann heißt das nicht, daß die Formen, in denen dieser Konflikt sich entwickelt, nicht geschichtlich und gesellschaftlich veränderbar sind. Es steht schon bei Freud, daß es Grade gibt, zu denen destruktive Energie erotischer Energie unterworfen werden kann. Das ist ja Veränderung der Triebstruktur, das hab ich ja nicht hinzugesetzt. Also ist es nicht richtig zu sagen, daß Freud eine unveränderliche menschliche Natur zugrunde lege, oder jedenfalls nur sehr bedingt richtig. Habermas: Was ich provisorisch anthropologische Grundlagen der Gesellschaftstheorie genannt habe, hat ja zwei Seiten, wie man an den Zitaten sieht. Auf der einen Seite dienen sie zur Begründung einer Radikalisierung des Revolutionsbegriffs oder einer radikalen Fassung des Revolutionsbegriffs. Sie sagen, es kann bei der Abschaffung des Kapitalismus gar nicht nur um die Überwindung einer bestimmten Gesellschaftsformation gehen, vielmehr würden die Veränderungen, die eine solche Abschaffung mit sich bringen würde, eine Umwälzung bedeuten, die tief in die vitale Struktur der einzelnen Persönlichkeit eingreift, in ihr Verhältnis zur Natur, in das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Es kann sich also nicht nur um, sagen wir mal, eine Auswechslung von gesellschaftlichen Organisationsprinzipien handeln. Marcuse: Anders formuliert - und um Hegel sein Recht zu geben -: um eine radikale Veränderung des Systems der Bedürfnisse. Habermas: Aber das System der Bedürfnisse war einfach ein Wort für die bürgerliche Gesellschaft und für eine Organisationsform der gesellschaftlichen Beziehungen, während Sie die Psychoanalyse hier als eine anthropologische Theorie benutzen. Schwingt nicht doch etwas mit vom Pathos des neuen Menschen, das in den 20er Jahren von vielen Seiten ... Marcuse: Ja, wozu brauchen wir eine Revolution, wenn wir keinen neuen Menschen kriegen? Das habe ich nie eingesehen. Wozu? Natürlich ein neuer Mensch. Das ist der Sinn der Revolution, wie sie Marx gesehen hat; es ist nicht der Sinn der bürgerlichen Revolution. In der bürgerlichen Revolution handelt es sich wirklich noch um die Etablierung der Herrschaft einer Klasse gegen eine untergehende Klasse. Dazu braucht man allerdings auch schon ein neues System der Bedürfnisse, aber nicht wirklich radikal einen
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neuen Menschen. Erst auf der geschichtlichen Stufe des Spätkapitalismus ist diese Forderung nach einem neuen Menschen als Hauptinhalt der Revolution akut geworden, weil erst jetzt - und das ist etwas, was man diskutieren sollte, ob es stimmt - das Potential da ist, das gesellschaftliche und natürliche und technische Potential, daß dieser neue Mensch hervortreten und verwirklicht werden kann. Spengler: Die Chinesen würden das sehr ungern hören, weil das Problem des neuen Menschen das einzige ist, das Marcuse und Mao auf einen Begriff bringt. Marcuse: Um so schlimmer für Mao. Es ist ein gefährlicher Begriff, und ich gebrauche ihn auch nicht, ich spreche nicht vom neuen Menschen. Lubasz: Was heißt das: ein neuer Mensch? Was kann man darunter verstehen? Marcuse: In Freudschen Begriffen: eine Veränderung der Triebstruktur, nach der destruktive Energie mehr und mehr in den Dienst erotischer Energie tritt, bis Quantität in Qualität umschlägt und die menschlichen Beziehungen (untereinander und zur Natur) befriedet und für Glück offen werden. Habermas: Warum haben Sie es eigentlich nötig, das Neue, das durch eine Revolutionierung der kapitalistischen Gesellschaftsform erreicht werden soll, in terms der Psychoanalyse zu formulieren? Marcuse: Warum? Habermas: Dem marxistischen »approach« liegt es doch näher, neue Persönlichkeitsstrukturen oder veränderte Persönlichkeitsstrukturen von außen nach innen zu begreifen, d.h. von neuen Organisationsformen des gesellschaftlichen Verkehrs her. Marcuse: Organisiert von Menschen, wie Sie eben gesagt haben. Eine neue Persönlichkeitsstruktur ist eine Vorbedingung radikaler Veränderung, des qualitativen Sprungs. Habermas: Aber man würde sagen, wenn eine Organisationsform des gesellschaftlichen Verkehrs möglich ist, in der die Spaltung zwischen privatistischer Existenz sowohl in der Arbeit wie auch im politischen Bereich aufgehoben wird, wenn es gelingt ... Marcuse: Erklären Sie: Was wird aufgehoben? Habermas:... wenn es gelingt, die Produktion und, entsprechend,
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die politische Willensbildung so zu organisieren, daß das, was nötig ist, abhängig gemacht werden kann von Entscheidungen, die aus einem gemeinsamen und zwanglos gebildeten Willen hervorgehen, d.h. wenn eine Gesellschaft radikal demokratisiert wird, dann entfallen überflüssige soziale Zwänge. Damit wird auch die Deformation der Persönlichkeitsstrukturen überflüssig. Das ist zumindest die übliche marxistische Perspektive, über eine Transformation von Persönlichkeitsstrukturen zu sprechen. Aber Sie wählen in Eros and Civilization den umgekehrten Weg. Marcuse: Wieso umgekehrt? Habermas: Sie wählen zunächst psychologische Grundbegriffe und sagen, wir wollen jetzt mal erklären, wie die Persönlichkeitsstrukturen aussehen unter der Herrschaft des Leistungsprinzips, und dann rekurrieren Sie auf den psychischen Apparat und setzen im Grunde auf eine Dynamik, die vorhistorisch ist, die natürlich historisch vermittelt ist ... Marcuse: Nein, ich frage: Wie ist es dazu gekommen, daß die psychische Struktur der Menschen die mögliche Revolution immer wieder entweder verhindert oder versaut hat. Und das ist eine geschichtliche Frage, nämlich wie die Gesellschaft, die Klassengesellschaft, die Triebstruktur manipuliert - nebenbei gesagt, erst ganz indirekt und dann mit dem Fortschritt der Technik und der Psychologie immer direkter und wirksamer. Habermas: Sie meinen also, dieser psychologisch-anthropologische Ansatz wird historisch in dem Augenblick überhaupt erst nötig, wo die Konfliktpotentiale in spätkapitalistischen Gesellschaften eher nach einer sozialpsychologischen als nach einer unmittelbar politisch-ökonomischen Analyse verlangen. Marcuse: Weil für die Ausbeutung und Unterdrückung in der spätkapitalistischen Gesellschaft die Manipulation der Triebstruktur einer der wichtigsten Hebel ist. Habermas: Der Vergesellschaftungsprozeß ist im Spätkapitalismus so integral geworden, daß er sozusagen natürliche Substrate angreift, die im liberalen Kapitalismus noch im Schutz der bürgerlichen Familie unangetastet geblieben sind. Marcuse: Z.B. die systematische Überaktivierung des Destruktionsbetriebs, die systematische Indoktrinierung von Gewalt, die
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systematische Abschaffung der Privatsphäre, neue Formen, viel wirksamere Formen der sozialen Kontrolle. Spengler: Wenn das so explizit auf den Spätkapitalismus bezogen wird, wie unterscheidet sich das dann z. B. von den Formen sozialer Kontrolle, die in der Sowjetunion praktiziert werden? Marcuse: Dort sind sie noch nicht in dieser Weise notwendig, weil dort, soweit ich es sehen kann, die Macht der herrschenden Bürokratie noch nicht in dieser allgemeinen Weise ein Legitimationsproblem geworden ist. Da geht es noch um eine Verbesserung des Lebensstandards, die ja die Bürokratie vorläufig noch leistet. Habermas: Um auf das anthropologische Element zurückzukommen. Sie sagen, Eros and Civilization hätten Sie geschrieben in Reaktion auf eine historische Lage, in der die Konflikte gerade bis in den psychischen Apparat hinein analysiert werden müssen. Marcuse: Das ist selbst ein historisches Phänomen. Habermas: Gut. Ich vermute allerdings, daß der Gebrauch, den Sie von der Freudschen Theorie machen, noch andere Gründe hat. Ich glaube, daß Sie in Triebstruktur und Gesellschaft die Freudsche Triebtheorie gebrauchen, um eine materialistische Version des Vernunftbegriffs zu gewinnen. Wenn das stimmt, dann frage ich: Kann man eigentlich Vernunft auf diesem Wege naturalistisch begründen? Vielleicht darf ich diese Frage anhand eines Zitats noch mal kurz erläutern. Also, in Triebstruktur und Gesellschaft stellen Sie einander gegenüber die Logik der Herrschaft und die Logik der Entfremdung, also das, was Horkheimer instrumentelle Vernunft nennt. Marcuse: Max Weber. Habermas: Ist das schon ein Max Weberscher term? Marcuse: Ich glaube, ja. Habermas: Ich glaub's nicht, aber ich will's nicht ausschließen. Das liest sich also hier auf S. 220 so: In dem Maße, in dem der Kampf ums Dasein der freien Entwicklung und Erfüllung individueller Bedürfnisse zu dienen beginnt, weicht die repressive Vernunft einer neuen Vernünftigkeit der Befriedigung, in der Vernunft und Glück zusammentreffen. Dann auf derselben Seite unten weiter:
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Wenn die private Existenz erst einmal nicht mehr abseits von und gegen das öffentliche Dasein geführt werden muß, dann könnten die Freiheit des Einzelnen und die der Gesamtheit vielleicht durch einen allgemeinen Willen in Einklang geraten, der sich in Einrichtungen zugunsten der individuellen Bedürfnisse äußern könnte. Die Triebverzichte und Verzögerungen der Erfüllung, die der allgemeine Wille fordert, müssen durchaus nicht düster und unmenschlich und ihre Vernunft nicht autoritär sein. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wie kann die Zivilisation ungehemmt die Freiheit hervorbringen, wenn die Unfreiheit zum Anteil und zum Kernstück des psychischen Apparats geworden ist. Und wenn nicht, wer hat das Recht, objektive Wertmaßstäbe aufzustellen und sie durchzusetzen? Diese Frage hätte die Antwort nahegelegt, daß die Menschen selbst, natürlich nur dann, wenn sie als freie und gleiche in einer ungezwungenen Willensbildung zusammentreten, einen solchen allgemeinen Willen bilden können - und nur die Menschen selbst. Marcuse: Ja. Habermas: Also das Prinzip der, sagen wir, gewaltlosen Intersubjektivität der Verständigung, das Prinzip der Sprache, der sozusagen die Intention auf eine solche zwanglose Verständigung innewohnt, wäre wohl das Prinzip, auf das man hier rekurrieren müßte, wenn es darauf ankommt zu sagen, was denn eigentlich das Vernünftige an einer solchen neuen gesellschaftlichen Beziehung ist. Sie jedoch rekurrieren nicht auf das Prinzip einer vernünftigen Einigung, das, wenn es politisch verkörpert wird, einfach das Prinzip der Demokratie ist, sondern Sie rekurrieren an dieser Stelle auf das Prinzip der Erziehungsdiktatur. Sie sagen hier: »von Plato bis Rousseau besteht die einzige ehrliche Antwort in der Idee einer erzieherischen Diktatur, die von denen ausgeübt wird, denen man zutrauen könnte, daß sie das Wissen um das wirklich Gute erworben haben.« Nun frage ich mich, ob dieser Rekurs auf die Erziehungsdiktatur nur deshalb stattfindet, weil Sie meinen, das der Vernunft via Sprache innewohnende Telos zwangloser Einigung ist etwas, das historisch erst einmal hergestellt werden muß, und solange das nicht der Fall ist, muß man u. a. auch auf Mittel der Erziehungsdiktatur zurückgreifen. Oder hat Ihr Rekurs auf die Erziehungsdiktatur einen anderen Grund? Vielleicht den, daß Sie
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die Vernunft überhaupt nicht in Sprache oder in vernünftiger Einigung, in einer allgemeinen zwanglosen Willensbildung verankern, sondern eben sehr viel tiefer verankern - in einer Triebnatur, die sich in gewisser Weise als etwas der Vernunft Äußerliches zur Geltung bringt. Sie sehen, ich habe Schwierigkeiten mit Ihrem Versuch, Vernünftigkeit als etwas, das sich gegen instrumentell verkürzte Vernunft zur Geltung bringen läßt, auf dem Wege einer Triebtheorie zu begründen. Und ich habe den Verdacht, daß Sie auf Erziehungsdiktatur zurückgreifen, weil Sie eine naturalistische Begründung der Vernunft vornehmen. Marcuse: Ich würde heute nicht einfach von Erziehungsdiktatur sprechen. Die Stelle, die Sie zitiert haben, ist absichtlich provokativ formuliert. Vielleicht noch Erziehungsdiktatur innerhalb der Demokratie, aber nicht Erziehungsdiktatur schlechthin. Aber das ist nicht die Hauptfrage. In der Hauptfrage, der naturalistischen Begründung der Vernunft, würde ich allerdings wagen zu behaupten: ja, genau das scheint mir notwendig. Ich habe fast immer, wenn ich über diese Dinge in Vorlesungen gesprochen habe, deutlich gemacht: Was ich sage, beruht auf zwei Werturteilen, die selbst nicht wieder reduzierbar sind, nämlich: i. Es ist besser zu leben als nicht zu leben; 2. Es ist besser, ein gutes Leben zu haben als ein schlechtes. Das sind Werturteile, die irreduzibel sind. Wenn einer das nicht akzeptiert, dann ist er kein Diskussionspartner. Auf dem Boden dieser beiden Werturteile ergibt sich meiner Meinung nach die Möglichkeit einer Bestimmung des Vernunftbegriffs, nämlich: vernünftig ist diejenige Repression (denn der Vernunftbegriff ist ein repressiver Begriff, da ist meiner Meinung nach nicht der geringste Zweifel möglich), die in demonstrierbarer Weise die Chancen eines besseren Lebens in einer besseren Gesellschaft befördert. Habermas: Wer bestimmt, was das bessere Leben ist? Marcuse: Genau auf diese Frage würde ich die Antwort verweigern. Wenn jemand noch nicht weiß, was ein besseres Leben ist, ist er hoffnungslos. Habermas: Nein, das Problem ist ja, daß alle Leute ziemlich genau wissen, was ein besseres Leben ist, aber in diesen Auffassungen hie et nunc nicht übereinstimmen. Mit Herrn Dregger möchte ich auch keine Vorstellung vom guten Leben gemeinsam haben.
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Marcuse: Wem? Habermas: Herrn Dregger, nun, das ist eine ... Spengler: ... politisch unerfreuliche Erscheinung ... Habermas: ... eine CDU-Größe, die heute eine national-konservative Politik a la Strauß stützt und beispielsweise Werte der Sicherheit, Werte von »law and order«, Werte sozusagen eines sauberen Zusammenlebens, d.h. im Grunde Werte vertritt, von denen man in psychoanalytischer Perspektive sagen könnte, daß sich in ihnen eine Unterdrückung der Triebnatur spiegelt. Marcuse: Man kann zeigen, daß das, was der Mann sagt, falsch ist, daß das nicht zu einer besseren Gesellschaft führt, sondern zu einer Stabilisierung der bestehenden. Habermas: Nein. Die Wertmaßstäbe, von denen in dem Zitat die Rede ist, gewinnen Sie nicht aus den beiden Fundamentalwerturteilen, die Sie soeben angeführt haben. Das sind Leerformeln, die die Leute nach Belieben ausfüllen können. Wertmaßstäbe kriegt man nicht naturrechtlich vom Himmel, abstrakt und ein für alle Mal, sondern Wertmaßstäbe sind, sobald sie einen materiellen Gehalt haben, nicht unabhängig von den Problemen, die in einer konkreten historischen Situation gelöst werden müssen. Welches dann die vernünftigerweise zu verfolgenden und akzeptablen Werte sind, findet man doch eigentlich nur heraus ... Marcuse: ... durch Analyse der Bedingungen der Veränderung. Habermas:... wenn man plausibel machen kann, was alle in dieser Situation wollen könnten ... Marcuse: Ja, genau das. Habermas: Aber dann ist Vernunft etwas, das nicht in den Trieben sitzt, sondern dann ist Vernunft etwas, um es plakativ zu sagen, das in der Sprache sitzt; dann sitzt die Vernunft in den Bedingungen einer zwanglosen Willensbildung. Marcuse: Wir können einen allgemeinen Willen bilden nur auf der Grundlage der Vernunft und nie umgekehrt, und die Vernunft oder die Vernünftigkeit steckt in der Tat in den Trieben, nämlich in dem Drang erotischer Energie, die Destruktion aufzuhalten. Genau das würde ich als Vernunft definieren: Schutz des Lebens, Bereicherung des Lebens, Verschönerung des Lebens. Und das ist nach Freud in der Triebstruktur selbst angelegt.
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Habermas: In der Triebstruktur ist angelegt, was wir am Ende als unsere wirklichen Bedürfnisse erkennen. Die Schwierigkeit ist doch, daß sich diese wirklichen Bedürfnisse immer in einem historischen Medium darstellen, d.h. angesichts konkreter Probleme. Natürlich ist da auch etwas Allgemeines, was sich durchsetzt, und das können wir dann Eros nennen. Aber gestritten wird immer nur in bestimmten historischen Situationen, wo man genau sagen muß, was uns glücklicher macht, was die Umgebung schöner macht, was das Leben lebenswert macht. Marcuse: Aber das weiß man doch. Habermas: Da spricht der alte Philosoph aus Ihnen: »Das weiß man doch.« Marcuse: Es weiß doch jeder Mensch, daß die Natur schöner aussieht, wenn ich an den Ufern des Sees nicht ein sechzigstöckiges Gebäude hinstelle. Dazu gehört doch keine Philosophie, um das zu wissen. Das ist ein Appell an die Triebstruktur. Es sieht zweifellos schöner aus, es ist befriedigender, es ist beruhigender. Dasselbe gilt im Hinblick auf diese Scheißkernkraftwerke. Habermas: Wenn das so einfach wäre, dann hätten wir ja nicht die Scheiße, in der wir sitzen. Marcuse: Doch, das ist uns aufoktroyiert. Spengler: Der Faschismus in Deutschland ist historisch nicht so leicht abzutun. Marcuse: Na und? Spengler: Was machst Du in dem Fall, wo Menschen sich ein schöneres Leben in einer besseren Gesellschaft nur in einer faschistischen Gesellschaft vorstellen können? Marcuse: Eine faschistische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, die selbst auf Aktivierung und Superaktivierung von aggressiver und destruktiver Energie beruht, kann keine bessere Gesellschaft sein. Habermas: Sie haben zwei Anker für die Demonstration dessen, was vernünftig ist. Auf der einen Seite sagen Sie, es ist etwas intuitiv Zugängliches, es ist geradezu gesunder Menschenverstand zu wissen, was man eigentlich möchte. Marcuse: Menschenverstand und Menschentrieb. Habermas: Menschentrieb. Das ist der eine Anker. Und der andere
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Anker ist die Theorie. Sie sagen, wenn dann das, was selbstverständlich ist, so weit verdunkelt wird, und zwar durch analysierbare gesellschaftliche Zwänge, daß die Menschen das, was auf der Hand liegt, nicht mehr erkennen können, dann muß theoretisch untersucht werden, wie es zu dieser Verleugnung, dieser Illusionierung kommt, und dann sind es die Wenigen, die zu theoretischer Einsicht gelangen können. Mein Einwand geht dahin, daß Sie einerseits das, was Vernunft und vernünftig ist, seiner Struktur nach von Hegel haben. Sie entwickeln das in allen Ihren Büchern, selbst in Triebstruktur und Gesellschaft in einem Zwischenkapitel anhand der Phänomenologie des Geistes. Andererseits schieben Sie, wohl wissend, daß man die Hegelsche Logik nicht mehr einfach akzeptieren kann, den Hegel beiseite. Der Vernunftbegriff wird sozusagen anonym, verleugnet seine idealistische Herkunft und wird transplantiert in den Kontext der Freudschen Triebtheorie. Die Schwierigkeiten kamen eben heraus, als Sie sagten: Was vernünftig ist, das steckt insofern in den Trieben oder im Eros, als ja jedermann mit Händen greifen kann, was für ihn und für alle das Bessere ist. Marcuse: Nein, das ist zu flink. Der Vernunftbegriff steckt in der Triebstruktur insofern, als Eros identisch ist mit dem Streben, destruktive Energie zu bändigen. Habermas: In jeder konkreten Situation gibt es verschiedene Definitionen dessen, was unser gemeinsames oder gar das verallgemeinerungsfähige Interesse ist. Marcuse: Das ist der wichtigste Punkt. Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht, daß es in einer gegebenen Situation unmöglich ist, zu bestimmen, generell zu bestimmen, was das allgemeine Interesse ist. Ich halte das für Ideologie der herrschenden Klasse. Mir scheint, daß es sehr wohl möglich ist zu bestimmen, was das Allgemeininteresse ist. Habermas: Wir haben allgemeine Wahlen, und man sieht, welche Parteien und welche Programme allgemein konsentiert werden, und das sind offensichtlich nicht die Parteien und die Programme, von denen Sie erwarten, daß sie das allgemeine Interesse ... Marcuse: ... Augenblick mal, wir haben allgemeine Wahlen, von denen im Grunde jedermann weiß, daß sie falsch sind. Was nötig ist, ist die Anstrengung der Theorie, die Demonstration der Kräfte,
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so daß wirklich jedem klar ist, was das Allgemeininteresse ist. Es ist ja selbst wieder eine Form der Repression, darauf zu bestehen, daß das Allgemeininteresse nicht allgemein bestimmbar sei. Ich finde, es wird immer leichter, es zu bestimmen. Habermas: Sie sagen, es muß theoretisch bestimmt werden. Marcuse: Es muß theoretisch demonstriert werden. Habermas: Was ist daran so einfach, wenn sich genau diese Theorie nicht etwa allgemeiner Anerkennung erfreut, sondern im Wissenschaftsbetrieb eher marginal ist? Und was ist denn das, worauf Sie sich berufen, wenn Sie sagen: Ich, Herbert Marcuse, kann sehr leicht zeigen heute, was im allgemeinen Interesse ist? Marcuse: Ich sage das nicht. Ich sage, mir und jedem anderen, der der Sprache fähig ist, kann gezeigt und dargelegt werden, was das allgemeine Interesse heute ist. Und daß es zweifelsfrei nicht bestimmbar ist durch das Pentagon. Habermas: Dieser Behauptung steht doch eine historische Evidenz entgegen. Marcuse: Nämlich? Habermas: Nämlich die Evidenz, daß heute nicht einmal mehr politisch organisierte Gruppen in den entwickeltsten Ländern identifiziert werden können, an deren Selbstverständnis diese Gesellschaftstheorie anknüpfen kann. Es ist doch konstitutiv für die Kritische Theorie gewesen, daß sie ihren Adressaten verloren hatte, ihren historischen Adressaten, zunächst mal in den 30er, 40er Jahren. In der klassischen Periode dessen, was heute Kritische Theorie heißt, ist die Einschätzung die gewesen, daß nur noch vereinzelte Individuen überhaupt in der Lage sind zu erkennen, worin das Unheil besteht. Und dem widersprechen Sie jetzt. Marcuse: Ich würde diese These nicht mehr gutheißen. Ich würde heute sagen, daß im Grunde jeder weiß, was nötig ist, daß das Allgemeininteresse an einer besseren Gesellschaft und die Möglichkeiten ihrer Realisierung demonstrierbar sind, und daß diese Gewißheit verdrängt wird. Und das hat im Grunde auch die Kritische Theorie immer gesagt oder gemeint: nicht nur einzelne Individuen - vielleicht können es nur einzelne unmittelbar artikulieren, aber an sich: jeder. Im übrigen haben radikale Veränderungen in der Geschichte nie mit Massenbewegungen angefangen.
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Habermas: Lassen Sie mich mal aus dem One-dimensional Man, den ich leider nur auf englisch hier habe, ein paar Stellen vorlesen, aus denen klar wird, wie Sie die Begriffe ansetzen, mit denen man das, was vernünftig ist, erkennen kann. Da geht es also um Allgemeinbegriffe, um Universalien, um die Art von Begriffen, denen ein kritisches Potential innewohnt. Auf Seite 211 heißt es: »[...] Universals are primary elements of experience - universals not as philosophic concepts but as the very qualities of the world with which one is daily confronted.« Das ist ungefähr das, was Sie eben auch gesagt haben: Jedermann kann im Grunde wissen, was schön und gut ist. Hier sprechen Sie von den »Substantive universals of duty, justice, happiness and their contraries«. It seems that the persistence of these untranslatable universals as nodal points of thought reflects the unhappy consciousness of a divided world in which that which is falls short off, and even denies that which can be. The irreducible difference between the universal and its particles seems to be rooted in the primary experience of the inconquerable difference between potentiality and actuality, between two dimensions of the one experienced world. The universal comprehends in one idea the possibilities which are realized and at the same time arrested in reality. Marcuse: Das ist orthodoxer Aristoteles. Habermas: Ja, das ist mit einem leichten Hegelschen Blick Aristoteles wiederbelebt, allerdings in einer fast phänomenologischen Sprache. Sie sagen hier, in »everyday life«, schon in der Lebenswelt, finden wir die Begriffe vor, mit denen wir unsere Werturteile formulieren - diese haben den Charakter, der von Hegel dahingehend analysiert worden ist, daß sie in gewisser Weise das, was ist, selbstkritisch übersteigen und mit dem konfrontieren, was die Sache sein könnte und sein sollte. Das ist philosophisch eher unbefriedigend, weil Sie ja die philosophischen Theorien, aus denen diese Begrifflichkeit stammt, systematisch nicht mehr verteidigen. Sie sind weder systematisch Aristoteliker, noch sind Sie systematisch Hegelianer. Wenn das aber so ist, dann müssen wir philosophisch auf eine andere Weise sagen, wie wir zu den normativen Grundlagen unserer Theorie kommen, um es mal ganz simpel auszudrücken. Und Sie versuchen das mit Freud. Sie sagen: Realitätsprinzip und Lustprinzip.
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Marcuse: Ja. Habermas: Sie charakterisieren die Prinzipien, unter denen die Triebstruktur gebildet wird, und sagen: Das, was diese beiden Prinzipien vereinigt, ist das, was vernünftig ist. Marcuse: Nicht nur vereinigt. Habermas: Oder versöhnt, ja? Marcuse: Wenn die Dynamik der beiden Prinzipien zur Emanzipation der erotischen Energie strebt. Habermas: Ja, gut, aber dann kann man doch auf der Ebene der Anwendung dieser Theorie zeigen, daß das zu allgemein ist, um wirklich jeweils zu identifizieren, was das Gute oder das Bessere oder das Wünschbare ist, oder gar das verallgemeinerungsfähige Interesse. Schauen Sie, Sie haben diese beiden Pole. Sie sagen auf der einen Seite, die Alltagswelt legt sich in einer Begrifflichkeit aus, die so ähnlich funktioniert, wie der Hegel das vom Begriff gesagt hat; deshalb ist die letzte Instanz, an die wir appellieren können (das glaube ich ja auch), das Selbstverständnis der Betroffenen selber. Marcuse: So wie sie sind. Habermas: Aber diese Betroffenen müßten sich, wenn wir das in der Sprache der bürgerlichen Sozialphilosophie sagen wollen, als freie und gleiche, als autonome Individuen an einem zwanglosen Prozeß der Willensbildung beteiligen können; dann könnten sie ihr Erfahrungspotential einbringen. Marcuse: Ja, da stimme ich mit Ihnen überein. Habermas: Gut, aber dann steckt das Vernünftige nicht so sehr in dieser Art alltäglicher Begrifflichkeit, sondern dann steckt die Vernünftigkeit in der Organisation einer zwanglosen, allgemeinen Willensbildung, d.h. im Telos einer gewaltfreien Intersubjektivität der Verständigung, und das Vernünftige steckt nicht per se in, sagen wir, einer Interessenstruktur, die nun in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen unterdrückt, deformiert oder freigesetzt wird. Marcuse: Die Vernünftigkeit kann nicht in einer Organisation als solcher bestehen, sondern nur in einer Organisation, die von Menschen geschaffen worden ist oder geschaffen wird, die dieser Vernünftigkeit folgen. Sie drehen die Sache um. Habermas: Nein, in der Idee, die wir alle davon haben, und die im
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Grunde tatsächlich jeder hat, soweit er überhaupt mit einem anderen je ein Wort gewechselt hat, um sich mit ihm zu verständigen. Marcuse: Ja. Habermas: In dieser Dimension steckt sozusagen unser intuitiver Begriff von Vernünftigkeit, aber nicht in unseren Interessenstrukturen. In der Triebstruktur steckt in der Tat der materielle Gehalt und das, worauf es dann in der konkreten Situation ankommt. Marcuse: Da steckt aber auch drin, wie dieses Was möglich ist, da steckt drin, wie Ihre herrschaftsfreie Organisation möglich ist, auf welcher Grundlage. Und in diesem Zusammenhang möchte ich doch auf den Begriff der Solidarität zu sprechen kommen. Die Solidarität an sich ist in keiner Weise ein Wert. Unter dem Naziregime gab es wirkliche Solidarität bis zum bitteren Ende. Solidarität an sich taugt nichts. Es gibt die Solidarität der Mafia, es gibt alle möglichen Solidaritäten. Solidarität muß begründet sein wiederum in einer Struktur, die die Menschen erotisch binden kann, d.h. einer klassenlosen Gesellschaft. Sie muß eine Wurzel haben in der Triebstruktur selbst. Die faschistische Solidarität ist offenbar gegründet auf Solidarität in Aggression und nicht auf Solidarität im Eros, nicht auf den Schutz des Anderen, auf die Pflege des Anderen, auf die Liebe zum Anderen, was es auch immer sei. Also, ich finde, ohne den Begriff der Solidarität kommt man nicht aus. Ihre allgemeine Willensbildung setzt ja Solidarität voraus. Eine allgemeine Willensbildung von Menschen, deren vitale Interessen einander entgegengesetzt sind, funktioniert nicht. Habermas: Wir können ja durchaus davon ausgehen, daß auch in allen künftigen Gesellschaften Interessengegensätze fortbestehen; es kommt doch darauf an, das, was in jeder Gesellschaft allgemein geregelt wird, so zu regeln, daß alle diesen Regeln mögen zustimmen können. Marcuse: Voraussetzung muß sein eine Übereinstimmung, eine mögliche Übereinstimmung der Interessen, die die Interessenkonflikte auf friedlichem Wege zu lösen erlaubt in einer sozialistischen Gesellschaft. Habermas: Vielleicht lassen wir das Vernunftthema jetzt einmal beiseite ...
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Spengler: Es ist ein bißchen inkonklusiv ausgelaufen. Habermas: Ja, wir kommen darauf zurück, wenn wir nun über ästhetische Theorie sprechen. Lubasz: Dann möchte ich nur noch sagen, bevor wir von dem Thema abkommen, ich habe das Gefühl, daß wir über Rousseau nicht hinausgekommen sind. Wir können einerseits sagen, daß das gesellschaftlich Vernünftige darin besteht, daß eine herrschaftsfreie Willensbildung möglich ist. Andererseits gibt es die Frage, wie es möglich ist, daß die Einzelnen, die sich an diesem Prozeß beteiligen, auch das Gute, das, was für die Allgemeinheit gut ist, wählen. Und da gibt es natürlich die großen zwei Rousseauschen Tricks erstens gibt es die >educational dictatorship<, mehr oder weniger, zweitens gibt es den >trick to be forced to be free<, denn der, der's nicht einsieht, der hat sich geirrt, den müssen wir eben dazu zwingen, das Gute wahrzunehmen. Darüber sind wir nicht hinausgekommen. Marcuse: Aber, mein lieber Heinz, erstens sind wir darüber hinausgekommen, weil bei Rousseau die ganze Dimension fehlt, die der Freud eingeführt hat, und zweitens ist es ja durchaus möglich, daß der Rousseau etwas Vernünftiges gesagt hat. Lubasz: Ja, allerdings. Marcuse: Worüber man nicht hinausgehen muß. Lubasz: Wenn man das sagt, dann muß man auch das entscheidende Urteil von Rousseau über sich selbst teilen: So schaut die Freiheit aus. Wenn die Tatsachen diesen Bedingungen nicht entsprechen, dann ist es auch keine freie Gesellschaft. Marcuse: Bei Rousseau ist das Problem der allgemeinen Willensbildung eigentlich nicht artikuliert. Der citoyen ist ja schon der Mensch, der aufgrund seiner Vernunft, seiner Triebstruktur fähig ist, nicht nur zwischen Allgemeininteresse und unmittelbarem, privatem Interesse zu unterscheiden, sondern gegebenenfalls auch gegen das private Interesse zu handeln. Die citoyen ist ja nicht mehr jeder beliebige, citoyens sind die Menschen, die bereits anders geworden sind. Lubasz: Die müssen in der Mehrzahl sein. Habermas: Im Prinzip alle. Lubasz: Ja.
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Marcuse: Nein, nicht alle. Lubasz: Doch, im Prinzip alle. Spengler: Wir kreiseln. Habermas: Wir kreiseln. Ich finde, wir sollten zur ästhetischen Theorie übergehen ... Spengler: Ich schlage vor, etwas zu essen. Habermas: Ja. Marcuse: Das gehört auch zur Ästhetik. Lubasz: Erst das Essen, dann die Moral ... Spengler: Und dann die Ästhetik. Das ist eine ganz neue Definition von Geschichte. III Habermas: Also, lieber Herbert, nachdem wir uns an Tafelspitz und Wiener Schnitzeln gestärkt haben, gehen wir zur Ästhetik über. Marcuse: Freut mich. Habermas: Warum hat die Ästhetik bei Adorno und bei Ihnen einen so hohen Rang? Hat das damit zu tun, daß sich das Verhältnis von Kunst und Philosophie, so wie es Hegel bestimmt hat, bei Ihnen beiden in gewisser Weise umkehrt? Nicht mehr die Philosophie bringt das sinnliche Scheinen der Idee auf den Begriff, sondern es ist nunmehr die Kunst, die die Evidenz schafft für Begriffe von einem besseren Leben. Ist es so, daß die kognitive Funktion der Kunst sogar in gewisser Weise der der Philosophie überlegen ist, nämlich gerade auf dem Gebiet sozusagen der Entdeckung dessen, was sein soll? Marcuse: Wenn es in Hegels Sprache ausgedrückt werden muß, ziehe ich es vor zu sagen: Die Kunst bringt den Begriff zum sinnlichen Scheinen. Die Wirklichkeit als zu verändernde wird sinnlich erfahren, erlitten, erträumt. Das geschieht ganz konkret in der Repräsentation der Individuen, der Dinge, der Natur. Sie werden mit einer ihnen eigenen Wahrheit und Wirklichkeit dargestellt, die in der gegebenen Wahrheit und Wirklichkeit nicht aufgehen - und die auch in keinem anderen Medium dargestellt werden können.
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Die Kunst hält dieses Privileg, weil schon ihre Sprache den Bruch mit der (alltäglichen) Wirklichkeit bedeutet. Die Sprache der Kunst betreibt die Subversion der alltäglichen Erfahrung: eine Entfremdung von der »Normalität« - Subversion des Bewußtseins und des Unbewußten. Damit wird eine tabuierte Dimension der Realität aufgebrochen. In ihr werden die Menschen und Dinge von dem bestehenden Realitätsprinzip emanzipiert; dessen Normen werden in Frage gestellt. Paradoxerweise haben wir es also in der Kunst mit Entsublimierungsprozessen zu tun - in einem fiktiven Bereich, der allerdings mit Realität gesättigt ist. Habermas: Ihre ästhetischen Auffassungen haben Sie geändert, wenn ich das recht sehe. Wenn man den ersten großen Aufsatz ... Marcuse: ... Über den affirmativen Charakter der Kultur? Habermas:.. .ja. Über den affirmativen Charakter der Kultur sich anschaut, dort haben Sie, allerdings in sehr vorsichtigen Formulierungen, die Aufhebung der Kunst für möglich gehalten. Sie hatten damals ein positiveres Verhältnis zu der surrealistischen Grundkonzeption, daß die Kunst wieder ins Leben übertreten muß oder daß jedenfalls die Kunst in den materiellen Lebensprozeß eingegliedert werden kann, wenn sie ihren affirmativen Schein abstreift. Vielleicht sollte ich hier aus dem alten Aufsatz die entsprechende Stelle einmal zitieren: Die Schönheit wird eine andere Verkörperung finden, wenn sie nicht mehr als realer Schein dargestellt werden, sondern die Realität und die Freude an ihr ausdrücken soll. Nur aus der anspruchslosen Schaustellung mancher griechischer Statuen, aus der Musik Mozarts und des alten Beethoven läßt sich eine Vorahnung solcher Möglichkeiten gewinnen. Vielleicht wird aber die Schönheit und ihr Genuß überhaupt nicht mehr der Kunst anheimfallen, vielleicht wird die Kunst als solche gegenstandslos werden. Das war 1935/36. Marcuse: Ja. Habermas: Und im Versuch über die Befreiung, wo Sie über die Graffiti im Pariser Mai schreiben, haben Sie grundsätzlich an dieser Auffassung noch festgehalten. Hingegen in dem letzten Buch Die Permanenz der Kunst ...
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Marcuse: Ja, ich habe das stark abgeschwächt. Habermas: Dort heißt es auf Seite 37: Die Rede vom Ende der Kunst gehört heute zum ideologischen Arsenal und zu den Möglichkeiten der Gegenrevolution. Ihr mag es gelingen, durch die wissenschaftliche Totalisierung der Kontrollen die Menschen den Unterschied von Gut und Böse, Krieg und Frieden, Schön und Häßlich vergessen zu lassen. Das Ende der Kunst wäre dann das Ende der Künstler und der Konsumenten von Kunst, Resultat einer immer effizienteren Verwaltung von Bedürfnissen und Befriedigungen, von Vergnügen und Aggression. Welche Erfahrungen haben Sie dazu bewogen, Ihre früheren Thesen zu revidieren? Marcuse: Z.B. die Erfahrung, daß es gerade eine der Anstrengungen der Kultur des Spätkapitalismus ist, die Kunst wieder in das Leben einzuordnen oder Kunst und Leben zu versöhnen, in den Bestrebungen, die ästhetische Form zu zerschlagen, die Meisterwerke zu zerstören (alles Parolen, die denen der Bücherverbrennung sehr nahe kommen). Dies hat mich auf den Gedanken gebracht, daß selbst in einer freien Gesellschaft die Kunst, obwohl wir nicht wissen, in welcher Form, bestehen bleiben wird, weil sie zu den geschichtlichen Invarianten gehört. Die Konflikte, die in der Kunst zur Sprache kommen, zur Lösung kommen oder zur Unterdrückung kommen, liegen unterhalb des Bodens einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Spengler: Kann man das an Beispielen festmachen? Wenn das Wort Kunst fällt, dann wird meist eine Totalität von Kunst aufgeblättert. Das kann durchgehen für die Malerei, für die Musik, fürs Theater, für die Skulpturen. Marcuse: Ich habe das kleine Buch beschränkt auf die Literatur, aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nicht qualifiziert fühle, über die anderen Künste zu reden. Wie weit das übertragbar ist, kann ich nicht beurteilen. Habermas: Ist denn diese These plausibel angesichts der Tatsache, daß sich eine Sphäre autonomer Kunst erst in der bürgerlichen Gesellschaft gebildet hat, daß also Kunst nichts Ewiges ist? Marcuse: Autonomie der Kunst - nicht erst die bürgerliche Kunst, sondern jede Kunst, auch die griechische Kunst stellt den vorhin
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erwähnten Bruch mit der alltäglichen Realität dar. Und das ist es, worauf es ankommt: daß das Kunstwerk nicht den Normen des bestehenden Realitätsprinzips gehorcht, sondern seine eigene Gesetzmäßigkeit hat. Diese Autonomie der Kunst geht lange der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Die mittelalterliche Kathedrale z.B. stellt einen solchen Bruch mit der Alltagswelt dar. Ganz gleich, wer da reingeht, er betritt eine Sphäre, die nicht die der Alltagswelt ist. Habermas: Aber die Schwelle zwischen Profanität und Sakralität war anders, eben nicht profan definiert. Marcuse: Richtig. Um Karl Kraus zu paraphrasieren: Die Kunst wäre am Ende, wenn die Menschen nicht mehr unterscheiden könnten zwischen einem Nachttopf und einer Urne. Dann allerdings kann man vom Ende der Kunst reden. Spengler: Ich habe den Eindruck, daß das, wogegen Du mit dieser Gleichsetzung von Bilderstürmerei mit modernem Kunstbetrieb zielst, ein Phänomen ist, das man auch anders interpretieren kann. In der Musik und in der bildenden Kunst, jedenfalls in den letzten 20 Jahren, ist die künstlerische Auseinandersetzung stärker eine Auseinandersetzung mit dem Medium selbst geworden, also eine Infragestellung des Mediums. Aber - Du hast einmal Warhol erwähnt -, warum soll, wenn die Kunst sich selbst thematisiert, das in irgendeiner Weise das Ende der Kunst signalisieren? Marcuse: Weil das keine Selbstthematisierung der Kunst ist. Die Kunst thematisiert sich selber nur im Kunstwerk und in keiner anderen Weise. Spengler: Von dieser Definition aus hat der Nachttopf dieselbe Legitimität wie die Urne. Marcuse: Nein, denn der Nachttopf stellt die alltägliche, besser: allnächtliche Realität dar, die die Urne nicht darstellt. Das gilt schon für Duchamps Nachttopf, den er signiert und ins Museum gestellt hat. Dadurch ändert sich absolut nichts am Charakter des Geräts, außer daß es zu einer privilegierten Ware wird. Spengler: Würde man dann der Kunst ästhetische Inhalte vorschreiben können nach Deinem Begriff? Marcuse: Nach meinem Begriff ist die Kunst nur Ästhetisierung von Inhalten. Wenn man die ästhetische Form aufgibt, hat man die
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Kunst selbst aufgegeben. Der reine Ortswechsel vom Atelier des Duchamp ins Museum ändert nichts am Gegenstand. Habermas: Wie kommt es, Herbert, daß in Ihren ästhetischen Arbeiten die avantgardistische Kunst, die man vielleicht mit dem Symbolismus, mit Baudelaire, Mallarme anfangen lassen kann, nicht als solche zum Thema wird? Das historische Bezugssystem, an dem Sie Ihre ästhetischen Thesen, sagen wir, exemplifizieren, reicht, auch innerhalb der Literatur, von der Klassik, der Romantik über den Realismus bis, sagen wir, Kafka und Brecht. Marcuse: Und Beckett. Habermas: Ich habe keine Stelle in Erinnerung, wo Sie an Beckett etwas spezifisch erläutern. Außerdem betonen Sie die Kontinuitäten, während Benjamins und dann vor allem Adornos Kunsttheorie im wesentlichen darauf abzielt, diesen eigentümlichen Reflexionsprozeß zu fassen, in dem die moderne Kunst - wie Spengler eben sagte - als moderne Kunst dadurch hervortritt, daß sie ihren Konstruktionsvorgang, ihre Medien als solche thematisiert. Dieser Prozeß, der in der Malerei etwa mit Kandinsky beginnt und heute praktisch zu einer Auflösung der Kategorie des Kunstwerks ... Marcuse: geführt hat ... Habermas: ... dieser Prozeß hat im Zentrum der Theorie von Adorno gestanden. Bei Ihnen wird er nicht analysiert. Bei Ihnen bleibt als pauschale Kategorie erhalten, was Sie schon in dem frühen Aufsatz, aus dem wir zitiert haben, entwickelt haben, nämlich die Kunst als die Repräsentationsform für das vom alltäglichen Leben Abgespaltene, für das im Lebensprozeß nicht zu verwirklichende Andere. Diese Auffassung resultiert aus einer strengen Anwendung des Marxschen Ideologiebegriffs auf die Kunst. Sie paßt auf die klassischen Werke der bürgerlichen Kunst. Aber paßt sie auf den Prozeß von Kafka oder auf ein Bild von Pollock oder auf Schönberg? Marcuse: Was paßt nicht? Habermas: Dieser an der bürgerlichen Kunst entwickelte Begriff, den Sie unter dem Titel des affirmativen Charakters der Kunst entwickelt haben. Das ist ja eine durchaus dialektische Kategorie. Sie wollen damit sagen, daß die emanzipativen Erfahrungspotentiale sowohl neutralisiert und abgespalten als auch aufgehoben werden und erinnerungsfähig bleiben.
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Marcuse: Das ist bei Kafka sicher der Fall im Prozeß. Es ist schwächer, verzweifelter geworden, aber das Bild ist noch da. Also auch ein Rest von Affirmation. Habermas: Affirmativ ist daran eigentlich nichts mehr. Marcuse: Wenn ich den Aufsatz aus den 30er Jahren heute schreiben sollte, würde ich den affirmativen Charakter der Kunst abschwächen und mehr ihren kritisch-kommunikativen Charakter betonen, und genau der ist, meiner Meinung nach, in der sogenannten Avantgarde zugrunde gegangen. Lubasz: Du hast von Kommunikation durch die Kunst gesprochen und vor einer Weile von der Wahrheit, die in einem Kunstwerk enthalten ist. Inwiefern unterscheidet sich die Wahrheit theoretischer Ausdrücke von der Wahrheit ästhetischer Ausdrücke? Marcuse: Theoretische und ästhetische Wahrheit können sich nicht decken, so wie es der Theorie nicht möglich ist, sich selbst eine ästhetische Form zu geben. Die Wahrheit der Kunst liegt meiner These nach weder in der Form als solcher noch im Inhalt als solchem, sondern in dem Form gewordenen Inhalt: in der ästhetischen Form. Die Theorie bringt die Wirklichkeit auf ihren Begriff; die Kunst ist Versinnlichung des Begriffs, das bedeutet: verändernde Entwirklichung der gegebenen Realität. Jedes Kunstwerk ist der Realität gegenüber Dichtung, Imagination, Erfindung. Die Versinnlichung des Begriffs in der Kunst (Funktion der produktiven Einbildungskraft) terminiert nicht in der »normalen« Sinnlichkeit, sondern in deren Transformation: in einem neuen Sehen, Hören etc., die ihrerseits wieder zu einem neuen Erkennen führen. Zu alledem kommt in der Kunst die Erinnerung als schöpferische Kraft: Erinnerung an das vergangene Glück und die vergangene Trauer — nicht nur als rückwärtsgewandte Klage, sondern auch als Antrieb zur Verwirklichung der »konkreten Utopie« (Ernst Bloch), als regulative Idee einer zukünftigen Praxis. Lubasz: Du hast unter den großen Kunstwerken die späten Quartette von Beethoven erwähnt. Nehmen wir die Große Fuge meinetwegen. Was ist der Wahrheitsgehalt der Großen Fuge? Das frage ich mit einem ganz bestimmten Hintergedanken. Ich vermute, daß Du, wenn Du diese Vorstellung weiterführst, darauf kommen wirst, daß die ästhetische Wahrheit mit dem Erostrieb zu tun hat.
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Marcuse: Die Große Fuge ist eine der unendlich vielen Formen, genau das auszudrücken: die Befreiung von dem bestehenden Realitätsprinzip durch die Gestaltung einer Dynamik, in der in dem Kampf zwischen Eros und Thanatos Eros am Ende siegt. Sicherlich hat die Wahrheit der Kunst etwas mit Eros zu tun: sie ist von der im Eros wirkenden Energie der Lebenstriebe getragen und leiht dieser Energie Wort, Bild und Ton. Das geschieht im Medium des Schönen. (Ich glaube immer noch, daß die Idee des Schönen die Kategorie der Kunst ist. Daß bereits Schiller und Hegel das gesagt haben, macht es nicht falsch oder schlecht.) Und aus der inneren Verbindung von Eros und Schönheit im Kunstwerk kommt die Wahrheit der Kunst, der Imperativ: »Es soll (muß) Friede sein, Erfüllung, Glück.« Das normative »soll« ist hier nicht von außen oder oben oktroyiert, sondern ist die (sublimierte) Triebnotwendigkeit und der »natürliche« Gegenstand des Eros. Das Schöne ist Qualität nicht des Gegenstandes der Kunst, sondern der ästhetischen Form, in der der Gegenstand re-präsentiert ist. Sicher ist auch das Häßliche Gegenstand der Kunst (Goyas Caprichos, Daumiers Bourgeois, Picassos Frauen; in der Literatur all die unzähligen angeblichen und wirklichen Bösewichte, Übeltäter, »Unreinen«), aber in der ästhetischen Repräsentation ist es »aufgehoben«; in der ästhetischen Form nimmt es am Schönen teil. Habermas: Heißt das, daß die prominente Stellung der ästhetischen Theorie bei Marcuse mit der Naturalisierung des Vernunftbegriffs zu tun hat, über die wir vorhin gesprochen haben? Marcuse: Ja. Habermas: Weil die Vernunft ihre eigenen normativen Begriffe wie Gerechtigkeit, Schönheit, Menschlichkeit nicht mehr rechtfertigen kann, ist sie auf Evidenzen angewiesen, die in einem Medium wie der Kunst, d. h. in einem Medium provoziert werden, das eine von Theorie unabhängige Wurzel hat, die Wurzel des Erotischen oder der Triebnatur. Marcuse: Sie sagen, die Vernunft kann Begriffe wie Gerechtigkeit, Schönheit usw. nicht mehr rechtfertigen. Habermas: Nicht mehr theoretisch rechtfertigen, nicht mehr, sagen wir, platonisch oder hegelisch — mit einem Rekurs auf die Verfassung des Seins oder die Struktur des Begriffs -, sondern sie ist darauf
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angewiesen, sich diese Normativität vorgeben zu lassen durch Erfahrung. Ich meine eine Art von Erfahrung, die (mit dem Schelling von 1800) das Kunstwerk als Organon der intellektuellen Anschauung ermöglicht. Marcuse: In der Tat sollte man sich Schellings Kunstphilosophie sehr ernsthaft ansehen. Sie kommt dem sehr nahe, was ich sagen möchte. Ich bin nicht der Meinung, daß die Vernunft die Begriffe nicht rechtfertigen kann. Was soll das heißen? Sie können eine relativ einsichtige Analyse dessen geben, was Gerechtigkeit ist, was schön ist, was Schönheit ist, in Begriffen wie Harmonie z.B.; ich weiß, das ist geschehen, das kann man machen. Also: Begriffsdefinitionen sind möglich. Habermas: Ja, Begriffsdefinitionen, aber doch keine Begründung normativer Inhalte. Marcuse: Begründung normativer Inhalte? Habermas: Ja. Marcuse: Die normativen Inhalte wären dann in der Natur des Eros begründet, in den Gegebenheiten des Triebes, in seiner Dynamik. Andererseits meine ich durchaus nicht, daß die Kunst an die Stelle der abdankenden Vernunft tritt, als Hüterin der Normen. Die Vernunft wird ihre bürgerliche Erscheinungsform überleben. Die Theorie arbeitet weiter. So wie Theorie und Kunst auf dieselbe Wahrheit zielen, so sind sie auch derselben Vernunft verpflichtet einer Vernunft, die nicht die bürgerliche ist. Spengler: Vielleicht hab ich das falsch verstanden ... Marcuse: Ich weiß nicht, wie ich das klären kann, da fehlt noch etwas ganz Fundamentales. Nehmen wir mal den Begriff der Gerechtigkeit. Das Wesen der Gerechtigkeit kommt zum Ausdruck in Michael Kohlhaas. Die Wahrheit der Gerechtigkeit ist gestaltet in Michael Kohlhaas. Was Schönheit ist, kann ich nicht erkennen durch Begriffsdefinition, das kann ich erkennen, wenn ich einen der authentischen großen Romane lese oder ein Gedicht von Baudelaire oder Mallarme. Es ist eine andere Dimension als die der theoretischen Begrifflichkeit und gleichwohl eine Dimension der Erkenntnis. Habermas: Gut, aber unser Problem ist doch, ob nicht Ihre Verankerung der Vernunft in der Triebnatur des Menschen die
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Ästhetik verlangt als diejenige Disziplin, die uns darüber aufklärt, daß wir nur anhand authentischer Kunstwerke noch Normatives überhaupt plausibel machen können. Marcuse: Nicht Normativität überhaupt, sondern eine Normativität der Freiheit, die einem anderen Realitätsprinzip angehört. Das kann natürlich die Marxsche Theorie auch, in der Tat. Die Frage für mich ist: Worin liegt die Differenz zwischen der Wahrheit eines authentischen Kunstwerks und der Wahrheit der Marxschen Theorie? Was steuert die Kunst zu der Wahrheit der letzteren bei, wenn überhaupt etwas, oder was fehlt in der letzteren, was in der Kunst da ist? In der Kunst ist eine Tiefendimension erreicht, die auch zu einer Umwertung der Marxschen Begriffe führen müßte. Sonst ist alles zu einfach, alles zu eindimensional. Habermas: Ich sehe das anders. Auch die Marxsche Theorie hat eine normative Grundlage. Sie konnte damals außerordentlich einfach sein. Wenn das kapitalistische Wirtschaftssystem die Funktionen, für die es da ist, nicht erfüllt, genügt die immanente Kritik, um zu zeigen, daß der Kapitalismus unzureichend ist. Heute ist die Sache anders. Wir haben die historische Erfahrung gemacht, daß kein anderes Wirtschaftssystem die Produktivkräfte so ungeheuerlich entfaltet hat wie der Kapitalismus und daß im übrigen das Nicht-Funktionieren dieses Gesellschaftssystems nicht mehr trivial identifiziert werden kann, etwa in terms von wachsender Verelendung. Gewiß, weltweit ist die Armut nach wie vor ein existentes und vielleicht sogar ein noch gravierenderes Problem. Wenn man den Blick mal einen Augenblick auf die entwickelten Gesellschaften allein richtet, dann sieht man aber, warum heute die Kritik dieser Gesellschaftsform einer sehr viel differenzierteren normativen Grundlage bedarf. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind die bürgerlichen Ideale, an denen Marx den bürgerlichen Staat noch messen konnte, in einem zynischen Gemeinbewußtsein eingezogen worden. Marcuse: Ich würde das Verhältnis der Ästhetik zur Marxschen Theorie, wenn ich's ganz kurz bezeichnen soll, so fassen, daß die Kunst aufbewahrt, was in der Idee des Sozialismus zu kurz gekommen ist. Habermas: Immer schon?
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Marcuse: In der Entwicklung des Marxismus, und zwar positiv wie negativ. Positiv: die Emanzipation der Subjektivität, die auch Emanzipation der Sinnlichkeit ist, und die selbst in dem besten Sozialismus nicht aufhebbaren Invarianten, also das, was an Tragödie noch übrigbleibt, wenn die Klassengesellschaft abgeschafft ist, und das, was an notwendiger Hoffnung noch übrigbleibt, wenn die Klassengesellschaft abgeschafft ist. Lubasz: Fällt nicht eine wichtige Dimension weg dadurch, daß man sich auf das Ästhetische versteift? Marcuse: Nein, die beiden sind aufeinander angewiesen; die Theorie demonstriert die geschichtlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten und Grenzen der Emanzipation. Das tut die Kunst nicht. Lubasz: Nein, aber ich denke an den anderen Punkt. Was man theoretisch nicht mehr begründen kann, kann ästhetisch aufgezeigt werden. In einem gewissen Sinn bedeutet das Sich-versteifen auf die Authentizität des Kunstwerks das Aufgeben von sozialer Kommunikation. Marcuse: Wieso? Es ist nicht nur eine Sache des »Einfühlens«, sondern des Erkennens. Und das Erkannte ist kommunizierbar. Habermas: Es ist die Begründung der Vernunft in einem ihr fremden Medium. Kann man es so sagen? Lubasz: Ja, gut, aber diese Begründung kann nur eine private sein. Habermas: Kann über die Authentizität von Kunstwerken diskutiert werden und ist durch Diskussion zu entscheiden, ob sie authentisch sind? Marcuse: Ja, natürlich kann darüber diskutiert werden, und ich habe ja auch in dem Buch versucht, beinahe sogar eine Definition von »authentisch« zu geben in terms des wirklichen Bruchs mit dem Realitätsprinzip, in terms der Vollendung der ästhetischen Form, in terms der Anwesenheit von Bildern der Befreiung usw. Spengler: Das ist ein reduzierter Begriff von Kunst, das ist ein literarischer Begriff von Kunst. Marcuse: Ich vermute, daß vieles davon übertragbar ist auf die bildenden Künste und die Musik. Habermas: Wenn Sie das tun, müssen Sie dann nicht zu einer Einschätzung der gegenwärtigen Kunst kommen, die sich mit dem
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konservativen Diktum vom Ende der Avantgarde deckt? Aus dieser Perspektive scheint sich das Bild zu ergeben, daß gerade die Kategorien, die konstitutiv waren für die moderne Kunst, z.B. das Neue, das Experimentelle, das Konstruktive, zu einem geradezu selbstdestruktiven Prozeß eines beschleunigten Alterns der Moderne geführt haben, der nun versandet, versickert. Im Feuilleton der FAZ, aber nicht nur dort, wird das auf die Formel vom Ende der Avantgarde gebracht. Würden Sie dem zustimmen? Marcuse: Ich würde dem nur insoweit zustimmen, als das, was diese Avantgarde macht, nichts mehr mit Kunst zu tun hat. Habermas: Sie werden mit Gehlen in einen Topf geworfen. Marcuse: Das stört mich nicht. IV Habermas: Können wir kurz auf das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft zu sprechen kommen? Es scheint so zu sein, daß Horkheimer und das ganze Institut in den frühen 30er Jahren die Rolle der Einzelwissenschaften positiver eingeschätzt haben als dann seit den 40er Jahren. Sie haben freilich in dem Aufsatz Philosophie und kritische Theorie bereits starke Einschränkungen im Hinblick auf Erkenntnisfunktionen der Einzelwissenschaften gemacht. Sie schreiben da S. 124: Die kritische Theorie der Gesellschaft war zunächst der Ansicht, daß für die Philosophie nur die Verarbeitung der allgemeinsten Resultate der Wissenschaften übrigbleibe. Auch sie ging davon aus, daß die Wissenschaften zur Genüge ihre Fähigkeit gezeigt hätten, der Entfaltung der Produktivkräfte zu dienen, neue Möglichkeiten eines reicheren Daseins zu erschließen. Aber dann: Wissenschaftlichkeit als solche ist niemals schon eine Garantie für Wahrheit und erst recht nicht in einer Situation, wo die Wahrheit so sehr gegen die Tatsachen spricht und hinter den Tatsachen liegt wie heute. Das klingt bereits nach einer, wie soll ich sagen, Wiederaufwertung der philosophischen Form von Erkenntnis gegenüber den Einzelwissenschaften. Wie stehen Sie dazu heute?
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Marcuse: Gemeint ist hier, daß selbst eine vollendete wissenschaftliche Methode noch keineswegs eine Garantie für Wahrheit ist. Habermas: Halten Sie eine Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft nach wie vor für sinnvoll? Und wenn ja, was ist dann das, was Sie betreiben, ist es eher Philosophie oder eher Wissenschaft? Marcuse: Die kritische Gesellschaftstheorie hat niemals behauptet, daß die Wahrheitskriterien und Wissenschaftskriterien, wie sie in den Naturwissenschaften gelten, für die Philosophie und die Sozialwissenschaften Geltung haben. Habermas: Aber bleiben wir mal bei den Sozialwissenschaften. Marcuse: Einverstanden. Habermas: Bei Linguistik, Psychologie, Politikwissenschaften. Marcuse: Eine Beweisführung, wie sie in der Physik und Mathematik üblich und geboten ist, ist hier nicht möglich. Habermas: Ich glaube, Herbert, das ist noch nicht unser Problem. Ich habe es noch nicht genau genug erklärt. Sie haben in den frühen 30er Jahren für sich die Psychoanalyse entdeckt. Das war zunächst einmal ein von Medizinern abgestecktes, ein spezielles Gebiet mit der Neurosenlehre als Kern. Von dieser Theorie haben Sie ja zweifellos gelernt, Sie zehren davon bis auf den heutigen Tag. Halten Sie es grundsätzlich für möglich, daß es auch heute Sozialwissenschaften gibt, wie die Wirtschaftstheorie oder Piagets Entwicklungspsychologie, von der Sie auf die gleiche Weise lernen könnten, wie Sie von der Psychoanalyse gelernt haben? Ich sehe ein Wechselverhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und Einzelwissenschaften. Marcuse: In dem Felde, in dem ich theoretisch arbeite, bringt z.B. die Erfindung der Neutronenbombe qualitativ nichts Neues. Habermas: Aber ich spreche von den Sozialwissenschaften. Marcuse: Von den Sozialwissenschaften, gut. Die Neutronenbombe trägt nichts bei zu einem besseren Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft. Habermas: Doch, zur Unterscheidung der Gewalt gegen Menschen von der Gewalt gegen Sachen trägt sie eine ziemlich ironische Illusion bei. Marcuse: Diese Unterscheidung ist ja nicht neu.
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Spengler: Aber die Frage würde sich ja stellen z.B. auf dem Gebiet der Psychoanalyse. Wie weit werden Veränderungen auf dem Gebiet der Psychoanalyse reflektiert aufgenommen in Gesellschaftstheorie? Marcuse: Ich kann ohne Freuds Metapsychologie nicht verstehen, was heute vorgeht - wenn ich nicht den Freudschen Begriff des Destruktionstriebes zur Erklärung, als Hypothese zugrunde lege: die Intensivierung dieses Triebes ist heute für die Machthaber eine politische Notwendigkeit. Ohne diese Hypothese müßte ich glauben, daß die ganze Welt verrückt geworden ist und daß wir von Irrsinnigen oder von Verbrechern oder von Idioten regiert werden und daß wir uns das alle gefallen lassen. Habermas: Herbert, lassen Sie es mich noch einmal auf eine andere Weise versuchen. Sie weichen immer aus. Marcuse: Natürlich, das ist mein Lebenstrieb. Habermas: Wenn man eine Befragung unter Wissenschaftlern machte, dann würde man wohl mehr oder weniger die folgenden Vorstellungen verbreitet finden: daß mit dieser Wissenschaft, die auf organisierte Diskussion und methodisch zugerichtete Erfahrung angewiesen ist, ein »self-propelling mechanism« angelegt ist, der garantiert, jedenfalls »in the long run«, daß ein Wachstum an theoretischem Wissen herauskommt. Marcuse: Wer sagt das? Habermas: Das ist die herrschende Auffassung von Wissenschaft. Zu dieser Auffassung gehört u. a. Vertrauen darauf, daß die Wissenschaft zwar immer wieder ideologische Funktionen übernehmen kann, daß sie aber stets einer Selbstkorrektur fähig ist, die auf längere Sicht gewährleistet, daß das Ganze nicht in bloßer Ideologieproduktion endet. Nach dieser Vorstellung organisiert das Wissenschaftssystem Lernprozesse, die uns der Wahrheit näher bringen. Wenn man diese Auffassung teilte, dann fiele es schwer, noch eine Autonomie des philosophischen Denkens gegenüber dem wissenschaftlichen Denken zu behaupten. Man müßte, wie der Horkheimer von 1930 davon ausgehen, daß die Entwicklung der Gesellschaftstheorie letzten Endes an den Fortschritt der Einzelwissenschaften gebunden ist. Marcuse: In einem nicht sehr tiefen und durchgreifenden Maße.
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Philosophie z.B. ist auf die Einzelwissenschaften angewiesen und von ihnen abhängig. Es wäre heute unmöglich, die Summa des Thomas von Aquin zu schreiben, die Welt darzustellen als Schöpfung Gottes usw. usw. In diesem Sinne, in der Tat, zieht die Wissenschaft der Philosophie bestimmte und unüberschreitbare Grenzen. V Habermas: Ich würde jetzt ganz gern zu dem Themenbereich Theorie und Praxis, Revolution und Reformismus übergehen. Marx hat ja in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern noch die Ideen der bürgerlichen Revolution als Maßstab für eine immanente Kritik sowohl an der Hegelschen Staatsphilosophie als auch an den existierenden Staaten seiner Zeit gebraucht. Später interessiert er sich eigentlich für den Staat nur noch als Überbau-Phänomen, d. h. im Zusammenhang mit den funktionalen Erfordernissen des Akkumulationsprozesses. Er analysiert den bürgerlichen Staat nicht mehr immanent, kritisiert ihn nicht mehr anhand der eigenen Ideen usw. Damit mag es zu tun haben, daß das Erbe der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, soweit es in den Verfassungsideen der bürgerlichen Staaten, der nichtfaschistischen bürgerlichen Staaten verkörpert ist, nicht ungeteilt von der Arbeiterbewegung und erst recht nicht vom bürokratischen Sozialismus aufgenommen worden ist. Sonst könnte Carter, aus welchen instrumentellen Gründen auch immer, die Menschenrechte heute nicht zu einem Thema machen, das kritische Funktionen gegenüber den etablierten sozialistischen Staaten hat. Nun habe ich den Eindruck, daß sich eine bereits bei Marx angelegte Unterschätzung der freiheitsverbürgenden Funktionen des bürgerlichen oder des formalen Rechtes auch in der älteren Frankfurter Theorie fortgesetzt hat. Das war insofern verständlich, als sich damals die Staatstheorie in Auseinandersetzung mit der Weimarer Demokratie bereits aus der Perspektive des heraufziehenden und dann des zur Herrschaft gelangten Faschismus entwickelt hat. Und die Grundthese war ja damals, daß der Faschismus schließlich die dem Monopolkapitalismus angemessene Form des bürgerlichen Staates sei.
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Marcuse: Augenblick mal, mit sehr großen Einschränkungen. Z.B. haben wir in den Vereinigten Staaten Monopolkapitalismus, keinen Faschismus. Man kann nicht sagen, daß das eine zurückgebliebene Form der monopolkapitalistischen Entwicklung sei. Die These, wenn sie damals vom Institut vertreten wurde, war wesentlich ausgerichtet auf die spezifischen Bedingungen der Weimarer Republik. Habermas: Waren Sie nicht damals im Kielwasser des Aufsatzes von Pollock über den Staatskapitalismus doch der Meinung, daß der Faschismus einfach die bürgerliche Welt verändert, auch in dem Sinne verändert, daß nach dem Faschismus alle bürgerlichen Staaten mehr oder weniger faschistisch sein würden? Marcuse: Ja, ja. Genauer, daß die nichtfaschistischen bürgerlichen Staaten die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie allmählich abzubauen gezwungen wären. Das war mein Begriff der präventiven Gegenrevolution. Habermas: Nun haben wir in den drei Nachkriegsjahrzehnten in den westlichen Gesellschaften und sogar in der Bundesrepublik und in Japan politische Systeme, die auf Parteienkonkurrenz beruhen und in denen die Grundrechte so weit gesichert sind, wie das weder für den Faschismus noch (ohne daß ich da Parallelen unmittelbarer Art herstellen möchte) für den bürokratischen Sozialismus gilt. Muß man das nicht als den Kern sozusagen der Wahrheit des Reformismus ansehen? Marcuse: Die Wahrheit des Reformismus ist, daß die bürgerliche Demokratie immerhin unendlich viel besser ist als der Faschismus. Das ändert nichts an der Tatsache, daß die reformistischen Parteien die Stabilisierung des bestehenden Systems besorgen. Es ist wohl beides der Fall. Die bürgerliche Demokratie, wenn sie nach dem Faschismus überhaupt möglich ist, ist erstrebenswert gegenüber der Gefahr des Faschismus. Aber es sieht so aus, als ob genau diese bürgerliche Demokratie von der Bourgeoisie, vom Großkapital selbst dauernd abgebaut und verstümmelt wird. Wenn ich mich umsehe, nicht nur in der Bundesrepublik, erkenne ich in den Parteienkonkurrenz-Demokratien keine sonderlich große Anstrengung, z.B. die Willkür der Polizei einzuschränken. Und was die Kampagne mit den Menschenrechten angeht, so scheint
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mir, daß Herrn Carters Begriff von Menschenrechten überaus deutlich geographisch und strategisch definiert ist. Habermas: Er gibt sich ja mit Südamerika immerhin Mühe. Marcuse: Und der Iran? Und Brasilien? Und Südafrika, vor allem Südafrika und Rhodesien? Es ist ein merkwürdiger Begriff. Ich meine, überspitzt formuliert, was notwendig erscheint, ist eine zweite bürgerliche Revolution, weil die Bourgeoisie unter dem Regiment des Großkapitals ihre eigenen Errungenschaften angetastet oder preiszugeben begonnen hat und weil die Arbeiterklasse in zunehmendem Maße bürgerlich geworden ist. Also mag die Vorstufe der Veränderung sehr wohl als eine neue bürgerliche Revolution erscheinen. Habermas: Dubiel, den ich vorhin erwähnt habe, hat die zweite Hälfte seines Buches über das Frankfurter Institut in New York überschrieben mit dem Titel Die Integration des Proletariats und die Einsamkeit der Intelligenz. Marcuse: Gott, bin ich einsam. Habermas: Das bezieht sich auf den Umstand, daß die Kritische Theorie ihren ursprünglichen Adressaten verloren hat mit der Integration des Proletariats, eine empirische Hypothese, die Sie ja bis heute, ich auch, aufrechterhalten haben. Marcuse: Was? Habermas: Die Integration des Proletariats in das kapitalistische System. Das ist ein empirischer Vorgang ... Marcuse: ... aber nicht die Schuld der Kritischen Theorie. Habermas: Nein, aber eine empirische These, die Sie aufrechterhalten und die ein Problem für jede marxistische Theorie bildet. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist von dem frühen Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein etwa so stilisiert worden: die Theorie ist nur die Reflexionsform eines Klassenbewußtseins, das in gewissen Formen und Vorformen empirisch identifiziert werden können muß. Diese Version haben Sie und Horkheimer und Adorno niemals akzeptiert. Wenn ich recht sehe, haben die Frankfurter immer eine Doppelstellung eingenommen. Sie haben einerseits gegen die traditionelle Theorie, d.h. die herkömmliche Philosophie, und andererseits gegen die philosophisch bewußtlosen Einzelwissenschaften Stellung bezogen und zur Geltung gebracht,
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daß eine auch gegenüber sich selbst kritische Theorie aus der Reflexion des historischen Zusammenhangs hervorgehen muß, in dem sie selber steht. In seinem berühmten Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie hat Horkheimer das als Zusammenhang der wissenschaftlichen Aktivität mit dem gesellschaftlichen Arbeitsprozeß begriffen. Marcuse: Ja. Habermas: Das ist die eine Frontstellung; die andere Frontstellung richtete sich gegen die Verzerrungen der marxistischen Theorie, sei es durch den Dogmatismus des Diamat, sei es durch den Revisionismus der Zweiten und Dritten Internationale. Die Kritische Theorie wollte der Intention der Marxschen Theorie in einer veränderten Realität treu bleiben. Marcuse: Hm. Habermas: Diese Theorie hat doch die eigentliche, nämlich die im 20. Jahrhundert fortgeführte Marxsche Theorie sein wollen? Marcuse: Richtig. Habermas: Dann muß sich mit der zu Recht diagnostizierten politischen Integration des Proletariats in das bürgerliche System doch ein Problem ergeben. Ich will das kurz in den Worten von Dubiel wiedergeben, weil mir das im wesentlichen richtig zu sein scheint. Er sagt: In den politischen Deutungsschemata des Frankfurter Kreises in den 40er Jahren sind das Klassenbewußtsein des Proletariats und die wissenschaftliche Arbeit an einer kritischen Gesellschaftstheorie in keiner Weise mehr miteinander zu vermitteln. Die innergesellschaftlichen Machtverhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistisch beherrschten Kontinentaleuropa nötigten darüber hinaus zu Zweifeln, ob unter den gegebenen politisch-historischen Bedingungen das Proletariat überhaupt noch als Adressat revolutionärer Theoriebildung in Frage kommen würde. 1944 dann, in der »Dialektik der Aufklärung«, bekennen Horkheimer und Adorno offen, daß ihre Theorie, die einmal in programmatischer Selbstdeutung als theoretische Unterstützung des proletarischen Kampfes begonnen hatte, ihren Adressaten vollends verloren hatte. Jetzt folgt ein Zitat aus der Dialektik der Aufklärung: Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher
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ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht. Sie kennen diese Formulierungen. Wie sehen Sie das heute? Oder hat sich Ihnen in den 40er Jahren die Sache anders dargestellt als Horkheimer und Adorno? Marcuse: Dieser Formulierung kann ich nicht zustimmen. Die Sache mit dem Adressaten: das sieht so aus, als ob es irgendwo auf der Erde oder nicht auf der Erde einen Agenten gibt, eine Klasse, Gruppe, an die man sich wenden kann. Das läuft genau auf eine Verdinglichung des Klassenbegriffs hinaus. Daß das Proletariat integriert ist, ist nicht mehr der richtige Ausdruck für den Tatbestand. Man muß viel weiter gehen. Heute, im Spätkapitalismus, ist in der Arbeiterklasse das Marxsche Proletariat, sofern es überhaupt noch existiert, nur eine Minorität. Die Arbeiterklasse selbst ist in ihrem Bewußtsein und in ihrer Praxis zum großen Teil verbürgerlicht. Und deshalb kann man die verdinglicht festgehaltenen Marxschen Begriffe nicht unmittelbar und rigide auf die gegenwärtige Situation anwenden. Die erweiterte Arbeiterklasse, die heute 90% der Bevölkerung ausmacht und die große Majorität der »Whitecollar-workers«, der »service workers« einschließt, mit anderen Worten: fast alles, was Marx als produktive Arbeiter bezeichnet hat, diese Arbeiterklasse bleibt zwar der potentielle Agent, das Subjekt der Revolution; aber die Revolution selbst wird ein ganz anderes Projekt sein, als es für Marx gewesen ist. Man wird mit Gruppen zu rechnen haben, die in der ursprünglichen Marxschen Theorie so gut wie keine Bedeutung hatten und nicht zu haben brauchten, z.B. mit den berühmten marginalen Gruppen wie den Studenten, den unterdrückten rassischen und nationalen Minoritäten, den Frauen, die keine Minorität sind, sondern eher eine Majorität, den Bürgerinitiativen usw. Das heißt nun freilich nicht, daß dies die Ersatzgruppen sind, die die neuen Subjekte der Revolution werden. Es sind dies, wie ich es genannt habe, antizipierende Gruppen, die als Katalysatoren wirken können, aber nicht mehr. Spengler: Wie wirken die Gruppen auf die Theorieformulierung zurück? Marcuse: Worauf?
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Spengler: Auf die Formulierung der Theorie. Marcuse: Die Theorie muß umformuliert werden, aber nicht nur deshalb, weil diese Gruppen ins Spiel gekommen sind, sondern vor allem wegen der völlig neuen Zusammensetzung und des gewandelten Bewußtseins der Arbeiterklasse, und weil es dem Kapitalismus gelungen ist, sich zu stabilisieren. Das läuft letzten Endes, meiner Meinung nach, darauf hinaus, daß wir uns ein Revisionsmodell suchen müssen, nach dem die Revolution nicht aufgrund von Verelendung usw. ausbricht, sondern auf der Basis der sogenannten Konsumgesellschaft. Die Revolution im Kontext der Konsumgesellschaft ist heute das Problem. Spengler: Das erscheint mir widersprüchlich. Die marginalen Gruppen, die Du erwähnt hast, sind ja durch ihre ökonomische Lage definiert. Ich komme nochmal auf die Frage zurück: Wie entwickelt sich die Theorie, die zum einen die durchaus noch bestehenden sozialen Mißstände der klassischen Art, der materiellen Not, inkorporiert und zum anderen auf ein ganz anderes Phänomen wie z.B. das der Unterdrückung der Frauen rekurriert? Marcuse: Das Kriterium ist die Unterdrückung. Ob die Unterdrükkung nun mit dem früheren Begriff der Situation des Kleinbürgertums und des Proletariats zu fassen ist oder nicht, das ist eine andere Frage. Wie ich eben gesagt habe, ungefähr 90% der Bevölkerung sind heute abhängig vom Kapital und verkaufen ihre Arbeitskraft, weil sie nichts anderes zu verkaufen haben und keinerlei Verantwortung oder Partizipation haben in der Kontrolle des Produktionsprozesses. Alle diese Kriterien entsprechen dem Marxschen Begriff der Arbeiterklasse. Die Frauen befinden sich in einer besonderen Lage, weil für sie zu der Unterdrückung, die sie mit den Männern teilen als Arbeiterinnen, im Büro oder in der Fabrik, die Unterdrückung in der Privatsphäre hinzukommt. Diese doppelte Unterdrückung hat eine lange Geschichte, die nicht nur eine psychische, ökonomische und politische, sondern auch eine kulturelle Seite hat. Habermas: Sie haben die Formel vom abhanden gekommenen Adressaten ein bißchen mit der linken Hand abgetan. Eine kritische Gesellschaftstheorie, die sich als Organ der Selbstaufklärung eines historischen Prozesses versteht, muß nach Indikatoren suchen, wo
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im historischen Prozeß selbst ein Bewußtsein entsteht, das von dieser Theorie explizit gemacht werden kann. Und nun findet man diese Indikatoren nach der eigenen Diagnose nicht mehr in den Kernschichten des Proletariats, sondern nur noch dort, wo a) Marx sie nicht vermutet hat und wo b) auch der Träger eines Umwälzungsprozesses nicht primär lokalisiert werden kann, nämlich z. B. in den Randschichten und bei den Frauen. Ich frage mich, ob das nicht doch eine stärkere Revision der Theorie zur Folge haben müßte, als Sie das im Augenblick andeuten. Marcuse: Es wird mir zunehmend fraglich, ob man von den Studenten heute überhaupt als einer Randgruppe sprechen kann. In den Vereinigten Staaten gibt es über 10 Millionen Studenten. Die Studenten werden mit der Intellektualisierung des Arbeitsprozesses immer wichtigere Agenten im Produktionsprozeß selbst. Schon deshalb ist mir die Formulierung »Randgruppe« zu ideologisch. Von der Tätigkeit her gesehen, befinden sich die Studenten in der Vorfront eines Emanzipationskampfes, jedenfalls nicht mehr im Ghetto einer Randgruppe. Habermas: Stimmt das? Marcuse: Das stimmt überall. Es stimmt in Lateinamerika, es stimmt in Asien, und es stimmt sogar in Afrika. Lubasz: Nur nicht in Europa. Marcuse: Doch, auch in Europa, ja sogar in dem höchstentwickelten Land der Welt, in den USA. Habermas: Jetzt kommen wir zur Einschätzung der Studentenbewegung. Inwieweit kann man heute noch ähnliche Erwartungen an die Studenten als organisationsfähige Gruppen knüpfen, wie wir das alle 1967/69 getan haben? Ist das empirisch noch zu halten? Marcuse: Haben wir das alle getan? Haben Sie und habe ich angenommen, daß das die Revolution war? Habermas: Nein, weiß Gott nicht. Marcuse: Na also. Habermas: Aber wir haben gesagt - und Sie haben das als erster auf den Begriff gebracht -, in diesen Sektoren bildeten sich kritische Potentiale, bildeten sich Erfahrungen (Sie haben das unter das Stichwort der »neuen Sensibilität« gebracht), die systemkritischer Natur sind, die gewiß nicht unmittelbar umwälzende Folgen
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haben, aber immerhin ein Anzeichen für eine spontan erzeugte Bewußtseinsformation sind. Marcuse: Das sage ich heute noch. Die Studentenbewegung hat diejenigen Bilder realer Möglichkeiten bewußtgemacht, die im traditionellen Marxismus tabuiert oder niedergehalten wurden. Sie war die erste Bewegung, die die sozialistische Revolution wieder als eine qualitative Differenz und den Aufbau des Sozialismus als eine qualitativ andere Gesellschaft gedacht hat, weitab von dem Fetischismus der Produktivkräfte. Die Produktivkräfte sind in den kapitalistischen Ländern längst hinreichend entwickelt, wenn nicht überentwickelt. Worum es ging und worum es immer noch geht, ist ein neues Realitätsprinzip. Das wird bei Marx nicht thematisch; es ist zwar als Spur da, besonders in den Jugendschriften, aber verschwindet dann. Habermas: Was kann man denn heute empirisch sagen über die politische Relevanz der progressiveren Gruppen innerhalb der Studentenschaft? Die Studentenbewegung ist als Bewegung zerfallen. Marcuse: Das ist richtig, und es ist dies die logische Folge des Gegenschlags, der nach 1968 eingesetzt hat. Wie immer hat die herrschende Klasse ein viel besseres und genaueres Bewußtsein von der Bedeutung der Oppositionsbewegung gehabt als die Bewegung selbst; sie hat nämlich gesehen, daß hier wirklich Gefahr im Verzüge war, und den Explosivstoff dann rasch zugeschüttet. Unter dem Druck verschärfter Repression in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und in der Bundesrepublik ist die Bewegung zerfallen; aber im Zerfall haben sich die Ideen der Bewegung verbreitet und sind übergegangen auf andere Schichten der Bevölkerung. Ich habe mehrfach darauf hingewiesen und will es ganz kurz wiederholen: Wir konstatieren einen Kollaps der sogenannten Arbeitsethik. »Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen« — wer dekretiert dieses Sollen? Habermas: Unsere Kultusministerien versuchen, die protestantische Arbeitsethik wieder auf administrativem Wege zu etablieren. Marcuse: Das ändert nichts an der Tatsache, daß die Qualität der Waren sich dauernd verschlechtert, daß in den USA die Akte der
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anonymen Sabotage zunehmen, daß der Absentismus heute größer ist als je zuvor usw. Wie viele Millionen von Automobilen hat die amerikanische Automobilindustrie in den letzten Jahren zurückrufen müssen, weil gravierende Bearbeitungsmängel hervorgetreten waren? Gleichzeitig aber beobachten wir die erfolgreiche Eingliederung, repressive Eingliederung des Gewerkschaftsapparates in das System. Die Allianz zwischen Kapital und Arbeit funktioniert, weil mit der anhaltenden Arbeitslosigkeit Anpassung immer wichtiger für Arbeiter wird, wenn sie leben und überleben wollen. Habermas: Seit 1973 ist das doch zum ersten Mal als ein Massenphänomen aufgetaucht, daß Arbeitslosigkeit per se diszipliniert. Marcuse: War das nicht immer so? Spengler: Das ist eine alte Geschichte. Das ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts genauso belegbar. Marcuse: Ich glaube, das war immer so. Ich meine das nicht nur im Sinne der Disziplinierung der Arbeitsmoral, sondern auch der politischen Disziplinierung. Lubasz: Nein, man kann umgekehrt sagen, daß dann, wenn eine Krise schon so groß ist, daß es massenhaft Arbeitslosigkeit gibt, der Radikalismus dadurch verstärkt wird, daß man von Politik und Wirtschaft verlangt, Arbeitsplätze zu schaffen. Dann kommt es zu solchen Erscheinungen wie Massenstreiks, so z.B. zum Generalstreik in England 1926. Solange aber die Chance besteht, daß die meisten weiterarbeiten können, und solange die Arbeitslosigkeit marginal ist, dominiert die Anpassung an das System, weil man ja die Hoffnung hegt, einen Posten, einen Job zu finden. Marcuse: Die Frage ist, und darin liegt meiner Meinung nach der wirkliche Beweispunkt der Marxschen Theorie: Wie lange dauert die Stabilisierung des Spätkapitalismus? Werden sich die inneren Gegensätze, welcher Art sie auch sein mögen - ich glaube nicht, daß es nur die sind, die Marx formuliert hat-, wirklich verschärfen oder wird es dem Kapitalismus gelingen, für absehbare Zeit sich zu befestigen auf der Basis eines verstärkten ökonomischen und politischen Imperialismus, vielleicht sogar mit China und UdSSR als Markt? Wenn das eintreten sollte, dann können die Herrschenden für einige hundert Jahre ruhig schlafen. Dann wird es keine Revolution geben.
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Spengler: Das ist eine Rechtfertigung der Flaschenpost. Habermas: Ist der Eurokommunismus das neue Modell, von dem Sie gesprochen haben? Marcu.se: Der Eurokommunismus ist kein Revolutionsmodell. Der Eurokommunismus, soweit wir das heute beurteilen können, ist der treue Reflex der bestehenden Machtverhältnisse auf der einen Seite, der inneren und äußerlichen Verbürgerlichung der Arbeiterklasse auf der anderen Seite. Habermas: Eine zweite Generation Sozialdemokratismus? Marcuse: Es ist zu früh, das mit Bestimmtheit zu sagen; es mag sehr wohl sein, daß z.B. in Frankreich das linke Kartell noch vor den Wahlen zerfällt. Dann würde sich natürlich die Politik der Kommunistischen Partei abermals ändern. Da fallen Prognosen schwer. Habermas: Welches Modell einer Umwälzung ist denn realistisch vorzustellen heute? Marcuse: Was ich mir vorstellen kann, ist: eine Zuspitzung des Protestes, örtlich und regional organisiert, das Ausbrechen einzelner Betriebe aus dem System, Radikalisierung der Selbstverwaltung - eine diffuse Desintegration, die sozusagen ansteckend wirkt. Der spezifische Anlaß ist nicht vorhersehbar. Habermas: Also Spätkapitalismus als indeterministisches System systemgefährdende Konflikte können kontingenterweise überall ausbrechen? Eine andere Frage: Was bedeuten die neuen populistischen Strömungen? Eine Allianz von konservativ gesonnenem Mittelstand, radikalen Studenten, anderen Teilen der Intelligenz, die sich in Bürgerinitiativen zusammenfinden, etwa jetzt gegen Kernenergie. Das sind Einrichtungen, die in der Bundesrepublik, in Frankreich seit einiger Zeit zu beobachten sind. Spengler: Kann man vielleicht vorher klären, warum Sie den Ausdruck »populistisch« gebrauchen? Habermas: Populistisch, weil ... Marcuse: ... in Amerika wird es so genannt ... Habermas:... erstens, weil es keine klare Zurechnung zu sozialen Gruppen gibt, und zweitens, weil die politischen Orientierungen im wesentlichen negativ bestimmt sind durch die Abwehr von anonymen bürokratischen Strukturen, durch die Abwehr dessen,
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was subjektiv als Gefahr des technischen Fortschritts erfahren wird, durch die Abwehr von nicht sehr präzise analysierten Gefahren schlechthin. Solche Gruppen werden nicht durch eine gemeinsame politische Zielperspektive zusammengehalten. Ist das nicht auch dem traditionellen Populismus eigen? Marcuse: Ja, in der Tat. Lubasz: Darf ich dazu etwas sagen. In der Marxschen Theorie gilt die Annahme, daß die Weiterentwicklung der Produktivkräfte etwas Gutes, daß sie wünschenswert sei. Marx sieht nicht voraus, daß der Punkt kommen könnte, an dem die Entwicklung der Produktivkräfte negative Folgen haben könnte. Das Interessante bei diesen Kombinationen von radikalen Studenten, Bauern, Bürgern usw. ist, daß sie eben dagegen sich wehren, daß die Produktivkräfte immer weiter entfaltet werden, und das Paradoxe im Sinne der Marxschen Theorie könnte man darin sehen, daß z.B. sehr starke Unterstützung für den Aufbau von Atomkraftwerken ausgerechnet von den Gewerkschaften kommt. Marcuse: Das hat weniger mit Theorie als mit Job zu tun. Lubasz: Ja, aber das widerspricht der theoretischen Annahme, wenn ich das nicht falsch verstanden habe. Marcuse: In der Theorie selbst ist es durchaus enthalten - in der Diagnose, daß mit der Weiterentwicklung des Kapitalismus die Produktion von Verschwendung und Luxus sowie die Destruktion zunehmen werden. Das ist ja einer der Hauptsätze. Habermas: Lieber Herbert, schönen Dank für Ihre Geduld. d) Psychischer Thermidor und die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität (1980)3
Uns allen ist gegenwärtig, was Herbert Marcuse unablässig als die Übel unserer Zeit anklagte: den blinden Existenzkampf, die rücksichtslose Konkurrenz, die verschwendende Produktivität, die verlogene Unterdrückung, die falsche Männlichkeit, die Brutalität. 3 Aus dem Englischen von Max Looser.
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Immer wenn er die Notwendigkeit spürte, als Lehrer und als Philosoph zu sprechen, trat er ein für die Negation des Leistungsprinzips, des Besitzindividualismus, der Entfremdung in Arbeitsverhältnissen wie in Liebesbeziehungen. Die Negation des Leidens war für ihn jedoch bloß ein Anfang. Zweifellos war seinem Anspruch zufolge die Negation das Wesen des Denkens selbst—wie auch für Adorno und Horkheimer —, aber die treibende Kraft der Kritik, des Widerstands und des Kampfes führte ihn weit über die Grenzen einer bloßen Anklage gegen unnötiges Leiden hinaus. Marcuse ging weiter. Er zögerte nicht, in affirmativer Weise für die Erfüllung von menschlichen Bedürfnissen einzutreten: das Bedürfnis nach unverdientem Glück, das Bedürfnis nach Schönheit, nach Frieden, nach Ruhe und Alleinsein. Gewiß war Marcuse kein affirmativer Denker; gleichwohl war er von denjenigen, die die Negativität priesen, der affirmativste. Bei ihm behielt das negative Denken die dialektische Kraft der bestimmten Negation und der Erschließung positiver Alternativen. Im Gegensatz zu Adorno beschränkte Marcuse sich nicht nur darauf, das Unaussprechliche einzukreisen, sondern er bezog sich direkt auf zukünftige Alternativen. Ich möchte hier diesen affirmativen Zug im negativen Denken von Herbert Marcuse herausstellen. Was ich mit »affirmativem Zug« meine, möchte ich zunächst mit dem Hinweis auf eine eher persönliche Erinnerung verdeutlichen. Vor kurzem habe ich die beiden Vorträge wieder gelesen, die Marcuse zu der Zeit hielt, als ich ihn kennenlernte. Für uns war es damals ein ganz anderer, überraschend neuer Ton, als wir die folgenden Sätze hörten: Die Werthierarchie eines nichtrepressiven Fortschrittsprinzips läßt sich in beinahe allen Stücken im Gegenzug gegen die des repressiven bestimmen: Grunderfahrung wäre nicht länger die des Lebens als Kampf ums Dasein, sondern die seines Genusses. Die entfremdete Arbeit verwandelte sich in das freie Spiel menschlicher Fähigkeiten und Kräfte. Die Folge wäre eine Stillegung allen inhaltslosen Transzendierens, die Freiheit wäre nicht länger ewig scheiterndes Projekt. Die Produktivität bestimmte sich an der Rezeptivität, die Existenz würde nicht als ständig sich steigerndes und unerfülltes Werden erlebt, sondern als Da-Sein mit dem, was ist und sein kann. Die Zeit erschiene nicht mehr als lineare, als ewige Linie oder ewig
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aufsteigende Kurve, sondern als Kreislauf, als Wiederkehr, wie sie zuletzt noch von Nietzsche als die »Ewigkeit der Lust« gedacht wurde.4 Das Zitat stammt nicht etwa vom Marcuse des Jahres 1967, der nach Berlin gekommen war, um intensiv über Gewalt und das erwartete Ende der Utopie zu diskutieren und der damals von den protestierenden Studenten als der inspirierende intellektuelle Anführer gefeiert wurde, und ebensowenig ist es ein Zitat jenes Marcuse von 1964, der zur Feier des 100. Geburtstags von Max Weber nach Heidelberg gekommen war, dort seinen akademischen Auftritt als bedeutender Gesellschaftstheoretiker der Emigration hatte und sofort heftige Diskussionen in Gang setzte. Ich spreche vom Marcuse des Jahres 1956, der zu einer anderen Hundertjahrfeier nach Frankfurt gekommen war. Die Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud war das Datum von Marcuses erster akademischer Rückkehr nach Deutschland. An dieser Stelle wäre hinzuzufügen, daß der internationale Kongreß über »Freud in der Gegenwart«, auf dem Marcuse neben so bedeutenden Analytikern wie Franz Alexander, Michael Balint, Erik Erikson und Rene Spitz las, für junge deutsche Hochschulangehörige die erste Gelegenheit war, um die schlichte Tatsache zu lernen, daß Sigmund Freud der Begründer einer lebendigen wissenschaftlichen und intellektuellen Tradition war. In diesem Kontext eröffnete Herbert Marcuse seine erste Vorlesung mit Sätzen, die zu der Zeit, als Freud und Marx wie »tote Hunde« behandelt wurden und an deutschen Universitäten praktisch unbekannt waren, fremdartig und radikal tönten: Es handelt sich nicht darum, psychologische Begriffe in die politische Wissenschaft einzuführen, politische Vorgänge psychologisch zu erklären. Das hieße, das Fundierende durch das von ihm Fundierte erklären. Vielmehr muß sich die Psychologie selbst als politisch enthüllen; nicht nur so, daß die Psyche immer unmittelbarer als ein Stück des GesellschaftlichAllgemeinen erscheint - so daß Vereinzelung beinahe gleichbedeutend mit Teilnahmslosigkeit, sogar mit Schuld, aber auch mit dem Prinzip der Negation, der möglichen Revolution ist; sondern auch so, daß das 4
Herbert Marcuse, Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a.M.: Europäische
Verlagsanstalt (1968), S. 50.
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Allgemeine, dessen Stück die Psyche ist, immer weniger »die Gesellschaft« und immer mehr »die Politik«, das heißt die der Herrschaft verfallene und mit ihr identifizierte Gesellschaft ist.5 Für uns Forschungsassistenten am Institut von Horkheimer und Adorno war dies der Augenblick, in dem wir zum ersten Mal der Verkörperung und dem lebendigen Ausdruck des politischen Geistes der alten Frankfurter Schule gegenüberstanden. Als Schule war sie nur während einiger Jahre des amerikanischen Exils lebendig gewesen. Wenn es überhaupt je eine Frankfurter Schule gegeben hat, dann bestand sie nicht in Frankfurt - weder vor noch nach der Nazi-Zeit -, sondern in New York in den dreißiger Jahren. An diesen Umstand wurde ich erinnert, als Marcuse kurz vor seinem Tod in Starnberg war und - wegen eines Schlaganfalls im Sprechen leicht behindert - sich nicht in seiner Muttersprache ausdrückte: die Sprache seiner letzten Tage war Englisch. Ich möchte aber auf meine erste Begegnung zurückkommen. Was 1956 einen verblüffenden Eindruck machte, war die vorbehaltlose Art von Marcuses Denken und Auftreten. Herbert Marcuses gesprochenes Englisch verlor nie ganz die Spuren eines Berliner Akzents, und sein geschriebenes Englisch löste sich nie ganz von der Umständlichkeit der ihm zugrundeliegenden deutschen Grammatik. Mit seinem Deutsch war es genau umgekehrt. Gemessen am Jargon deutscher Philosophen sprach Marcuse eine direkte, affirmative und leichtverständliche Sprache, ohne die rhetorischen Schlupflöcher, in denen die anstößigen Folgen eines dialektischen Arguments sich hätten verbergen können. Obwohl er ein eher scheuer Mensch war, fürchtete er sich niemals davor, freimütig zu sprechen und die Verantwortung für das Gesagte zu übernehmen, selbst auf die Gefahr einer Übervereinfachung hin, wenn es scheinbar keinen anderen Weg gab, um auf ein wichtiges Thema einzugehen. Als ich dann in den folgenden Jahren Herbert Marcuse näher kennenlernte und mehr über die erste Generation der kritischen Theoretiker erfuhr, wurde jener affirmative Zug, der mir von Anfang an aufgefallen war, immer deutlicher. Im Vergleich zu Horkheimer, Löwenthal und Adorno, mit denen zusammen er den inneren Kreis gebildet hatte, stellte Marcuse eine einzigartige Verbindung dar. 5 Ebd., S. 5 f.
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Seit seinem Eintritt in das Institut schrieb Marcuse die vergleichsweise orthodoxesten Beiträge zur kritischen Theorie. Dies gilt sowohl für seine Aufsätze in der Zeitschrift für Sozialforschung, für die Marcuse zum Beispiel den Artikel »Philosophie und kritische Theorie« - das Gegenstück zu Horkheimers berühmt gewordenem Positionspapier »Traditionelle und kritische Theorie« - zu schreiben hatte, sondern auch für seine späteren Schriften, einschließlich der letzten. In Vernunft und Revolution, im Eindimensionalen Menschen und in Die Permanenz der Kunst bearbeitete Marcuse Themen und Argumente und verfolgte Gedankenlinien, die im großen und ganzen von der gesamten Gruppe geteilt wurden. Diese Orthodoxie ist jedoch nur eine Seite seines Werks. Auf der anderen Seite bringt sein Werk völlig andere Merkmale zum Ausdruck, die es vom Traditionshintergrund abgrenzen: - Marcuse erhielt seine philosophische Ausbildung bei Heidegger in Freiburg, und er gab den Kontakt mit der existentialistischen Phänomenologie nie ganz auf; - unter seinen Kollegen war Marcuse seiner Einstellung nach am stärksten akademisch geprägt; seine Hauptwerke Vernunft und Revolution, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus und Triebstruktur und Gesellschaft fügen sich alle in den Kontext der entsprechenden Fachdisziplinen ein und sie verkörpern einen beinahe konventionellen Typus systematisch-akademischer Darstellung. Marcuses Lebensgeschichte nahm im Vergleich zu den Biographien der übrigen Gruppenangehörigen, einschließlich Neumanns und Kirchheimers, einen fast völlig entgegengesetzten Verlauf. Er, der aus einer konservativen Theorieposition heraus begonnen hatte, wurde im Lauf seines Lebens immer radikaler. Zudem war er der einzige, der eine direkte politische Rolle übernahm. Unterstützt von seiner Frau Inge, wählte er diese Rolle bewußt und spielte sie zuweilen mit einem beachtlichen Gespür für die Unwägbarkeiten des politischen Aktivismus. Um nur ein Beispiel zu geben: als Marcuse 1967 über sein Verhältnis zu den Helden der Dritten Welt gefragt wurde, gab er in seiner unnachahmlichen Art folgende Antwort:
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Ich hätte nicht so sehr Fanon und Guevara erwähnt als eine kleine Nachricht, die ich in einem Bericht über Nordvietnam gelesen habe und die, da ich ein absolut unverbesserlicher und sentimentaler Romantiker bin, mich ungeheuer beeindruckt hat. Es war ein sehr detaillierter Bericht, in dem unter anderem gezeigt wurde, daß in den Parks in Hanoi die Bänke nur so groß gemacht worden sind, daß zwei, und nur zwei Personen darauf Platz haben, daß jeder andere Störende überhaupt nicht die technische Möglichkeit hat, zu stören.6 Auch hier stoßen wir wiederum auf etwas sehr Affirmatives. Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, wie Adorno in einer solchen Situation eine vergleichbare Intention hätte ausdrücken wollen. Vermutlich hätte er einen bedeutsamen Hinweis auf ein Gedicht von Eichendorff gegeben, und dabei antizipiert, was wir heute, nach der vietnamesischen Invasion in Kambodscha, alle denken, daß nämlich die nackten Tatsachen jeden als unverbesserlichen Romantiker entlarven, der versucht, eine Utopie in Form von einzelnen Beispielen affirmativ auszusprechen, wie Marcuse dies getan hatte. Was ich als affirmativen Zug bezeichnete, dokumentiert sich in diesem eingestandenen Romantizismus, der sowohl bei Horkheimer und Adorno als auch Benjamin fehlt. Ich möchte nun der Frage nachgehen, ob dieser eigentümliche Zug bloß als eine Eigenheit der Person Marcuses aufzufassen ist, oder ob er auf eine Theorieposition zurückgeht, die ihn von seinen engen Freunden trennt. Da unter den Angehörigen des inneren Kreises weitgehende Übereinstimmung herrschte, neigen wir heute zur Ansicht, der affirmative Zug im negativen Denken Marcuses deute eher auf einen Stil- und Charakterunterschied hin als auf eine Theoriedifferenz. Wie könnten wir sonst den Umstand erklären, daß der Verfasser des tief pessimistischen Buches Der eindimensionale Mensch — das mit dem Benjamin-Zitat endet: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.« -, daß dieser Mann kaum ein Jahr später mit seiner Hoffnung die Studentenbe6 Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967. Erstmals erschienen - herausgegeben von Horst Kurnitzky und Hansmartin Kuhn - Berlin: Maikowski (1967); Neuausgabe Frankfurt a.M.: Neue Kritik (1980), S. 43 (alle Verweise auf diese Vorträge und Diskussionen beziehen sich auf die Neuausgabe von 1980). 324
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wegung inspirierte? Ich glaube, daß es dafür eine andere Erklärung gibt. In Marcuses Fassung der kritischen Theorie finden wir eine Argumentverschiebung vor, die sehr wohl zu erklären vermag, warum Marcuse anders war. Um diese Verschiebung kenntlich zu machen, werde ich kurz die Hauptstufen im Denken Marcuses skizzieren. Beginnen möchte ich (A) mit dem Übergang von Heidegger zu Horkheimer, dann (B) die klassische Position der kritischen Theorie in der Mitte der dreißiger Jahre und die anschließende Verlagerung angeben, die durch die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno gekennzeichnet ist. Aus dieser Perspektive werden wir dann (C) den Weg erkennen, den Marcuse als Ausweg aus jenem Dilemma nahm, das mit der Totalisierung der instrumentellen Vernunft entstanden war. Diesen Weg entdeckte er in seinem Buch Triebstruktur und Gesellschaft, das unter dem Titel Eros und Kultur 1957 in deutscher Sprache erschien (englische Originalausgabe 1955) und dessen Substanz in den beiden Freud-Vorlesungen enthalten ist, die Marcuse 1956 in Frankfurt hielt. (A) Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit erschien 1932 und war als Habilitationsschrift geplant gewesen. Die angestrebte Habilitation ließ sich nicht mehr verwirklichen. Heidegger sollte bald einer der Nazi-Rektoren der ersten Stunde werden. Dieses Hegel-Buch schrieb einer der brillantesten Schüler Heideggers; es dokumentiert den Versuch, dialektisches Denken unter einem eigentümlich Heideggerschen Gesichtspunkt zu interpretieren. Hegel wird darin als ein Ontologe dargestellt, der das Sein als Wesen des Werdens - Sein als Bewegtheit — faßte. Heidegger hatte auf Marcuse einen bleibenden Einfluß ausgeübt - sowohl im Sinne einer persönlichen Loyalität, die den politischen Abgrund zwischen ihnen überbrückte, als auch im Sinne bestimmter philosophischer Motive. Heidegger blieb für Marcuse der Philosoph von Sein und Zeit; der Autor, dessen Daseinsanalyse als radikalisierter transzendentaler Ansatz aufgefaßt wurde. Freilich bewegten sich nach der Ära von Sein und Zeit sowohl Heidegger als auch Marcuse in entgegengesetzter Richtung weiter. Während Heidegger das Dasein, die abstrakten Strukturen der menschlichen Welt unter ein übergeschichtliches Schicksal, ein
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noch abstrakteres Sein oder Seinsgeschick stellte, versuchte Marcuse seinerseits, die ontologischen Strukturen der Lebenswelt mit den ontischen, d.h. den kontingenten und konkreten Prozessen von Gesellschaft und Geschichte zu verbinden. Was er anstrebte, war eine Entdifferenzierung der ontologischen Differenz. Es war kein Zufall, daß Marcuse in dieser Übergangsperiode sich von Heidegger nicht mittels einer Heidegger-Kritik absetzte. Für die Vorbereitung dieses Vortrags hat Leo Löwenthal mir sein Exemplar von Marcuses Hegel-Buch ausgeliehen, und in diesem alten Exemplar fand ich einen vergilbten Ausschnitt aus dem Feuilleton der Vossischen Zeitung mit einer langen und eingehenden Besprechung der drei Bände Philosophie von Karl Jaspers. Der Artikel ist mit den Initialen H. M. unterzeichnet und datiert vom 14. Dezember 1933. In dieser Kritik an Jaspers findet sich eine Passage, die - zwar noch in Klammern - Marcuses Distanzierung von Heidegger anzeigt. Marcuse insistiert an dieser Stelle darauf, daß die formalen Eigenschaften der Geschichtlichkeit die Substanz der Geschichte eher verbergen als aufdecken. Er stellt die Frage, ob es nicht so sei, daß partikulare und kontingente Situationen die Authentizität der menschlichen Existenz zerstören, die Freiheit aufheben oder sie in bloße Täuschung verwandeln können. Alles Reden von Geschichtlichkeit, so fährt er fort, müsse solange abstrakt und unverbindlich bleiben, als die Analyse sich nicht auf die konkrete, »materielle« Situation beziehe. Der Ausdruck »materiell« ist in Anführungsstriche gesetzt und verweist somit unauffällig auf einen früheren Artikel desselben Autors über kürzlich entdeckte Pariser Manuskripte, und zwar nicht von Karl Jaspers, sondern von Karl Marx. Dieser Artikel zeigt, wie der junge Marcuse den jungen Marx aus der Perspektive der existentialistischen Phänomenologie aneignete und dabei gerade die Begriffe >Praxis< und >Lebenswelt< als Richtlinien für den Gedanken der Befreiung von entfremdeter Arbeit nahm. Marcuse war der erste Heidegger-Marxist und nahm somit den späteren phänomenologischen Marxismus von Jean Paul Sartre, Karel Kosik, Enzo Paci und den jugoslawischen Praxis-Philosophen vorweg. (B) Inzwischen hatte Marcuse sich dem Frankfurter Institut ange-
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schlossen, das sich auf dem Weg in die USA befand. In seinem berühmten Aufsatz »Philosophie und kritische Theorie«, erschienen 1937, stellt Marcuse sich selbst als zum Kern der Frankfurter Tradition gehörend dar. Die Leerstelle des Daseins und der Geschichtlichkeit, der abstrakten Strukturen des Lebens, ist nun mit einer geschichtlich situierten Vernunft besetzt: Vernunft ist die Grundkategorie philosophischen Denkens, die einzige, wodurch es sich mit dem Schicksal der Menschheit verbunden hält.7 Der abstrakte, ungeschichtliche Vernunftbegriff im Kern der idealistischen Philosophie bietet sich für alle Formen der Ideologie an. Die bürgerlichen Ideale, die des kognitiven und moralischen Universalismus einerseits und die des expressiven Subjektivismus andererseits, führen jedoch auch einen utopischen Gehalt mit sich, der über die Schranken des falschen Bewußtseins hinausgeht. Für die kritische Theorie sind diese Ideale ausschließlich Möglichkeiten der konkreten gesellschaftlichen Situation: sie werden nur als ökonomische und politische Fragen relevant und betreffen als solche die Beziehungen der Menschen im Produktionsprozeß, die Verwendung des Produkts der gesellschaftlichen Arbeit, die aktive Teilnahme der Menschen an der ökonomischen und politischen Verwaltung des Ganzen.8 In der Forderung der Vernunft klingt nichts anderes an als eine alte Wahrheit, nämlich die Forderung nach der Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Individuen nach ihren Bedürfnissen gemeinsam ihr Leben regeln.9 Als Marcuse dies schrieb, war er sich bereits der Tatsache bewußt und bezog sich auch ausdrücklich auf sie, daß die Geschichte mit dem Faschismus und auch mit dem Stalinismus einen Verlauf genommen hatte, der den Voraussagen der Marxschen Theorie völlig entgegengesetzt war. Deshalb betont er gegenüber der de7 Philosophische und kritische Theorie (1937), in: Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1965) (= edition suhrkamp 101), S. 102127, Zitat S. 103. 8 Ebd.,S. 110. 9 Ebd., S. 109.
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skriptiven und der explanatorischen Rolle dieser Theorie ihre konstruktive Rolle, wobei er einräumt: Die kritische Theorie hat es in einem bisher nicht gekannten Maße mit der Vergangenheit zu tun.10 Marcuse stellte jedoch die revolutionäre Rolle der Dynamik der Produktivkraftentwicklung im Schoß des Kapitalismus noch nicht in Frage. Die Unterdrückung des Proletariats und dessen Mangel an revolutionärem Bewußtsein werden nach wie vor entsprechend dem alten Modell erklärt: Die Fesselung der produktiven Kräfte und die Niederhaltung des Lebensstandards kennzeichnen selbst die ökonomisch fortgeschrittensten Länder.11 In den folgenden Jahren entwickelte Marcuse die klassische Position der kritischen Theorie in sorgfältigen Untersuchungen über Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Zur gleichen Zeit hatten Horkheimer und Adorno, die nach Kalifornien umgezogen waren, bereits eine etwas andere Richtung eingeschlagen. Mit der Dialektik der Aufklärung verloren sie endgültig das Vertrauen in die revolutionäre Produktivkraftentwicklung und in den praktischen Einfluß des negativen Denkens. Sowohl die Produktivkräfte als auch das negative Denken wurden in der Perspektive ihrer Verschmelzung mit den Gegensätzen gesehen: mit den Kräften der Herrschaft. Im Laufe ihrer Entwicklung regredieren sie zusehends und werden den Imperativen einer instrumenteilen Vernunft untergeordnet, die nicht länger der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient, sondern die Autonomie eines Zwecks an sich erreicht. Die Totalität der instrumentellen Vernunft findet ihren Ausdruck in der totalitären Gesellschaft. Auf die Einzelheiten dieser düsteren Darstellung, die Marcuse sehr bald übernahm, möchte ich mich hier nicht einlassen. Im Vorwort zu einer englischen Übersetzung seiner vor drei Jahrzehnten in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsätze erklärte Marcuse den Bruch innerhalb seines Denkens so: 10 Ebd., S. 126. 11 Ebd., S. 126t.
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daß das Vorliegende vor der Zeit von Auschwitz geschrieben wurde, trennt es zutiefst von der Gegenwart. Das Konkrete darin ist seither vielleicht nicht falsch, aber doch zu etwas Vergangenem geworden: Erinnerung an etwas, das an einem bestimmten Punkt seine Wirklichkeit verloren hatte und wieder aufgenommen werden mußte (...). Das Ende einer Geschichtsperiode und die Schrecken einer zukünftigen kündigten sich an in der Gleichzeitigkeit des spanischen Bürgerkriegs und der Moskauer Prozesse.12 Marcuse beschrieb diese neue Periode als Totalisierung der instrumenteilen Vernunft, das heißt, im Lichte seiner eigenen Untersuchung in Der eindimensionale Mensch: Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft.13 Daran anschließend stellt er sich die zentrale Frage, ob das Fehlen einer Vermittlung die Theorie widerlege. Adorno beantwortete diese Frage mit einem eingeschränkten Nein und erklärte seine Antwort im Rahmen seiner Negativen Dialektik. Marcuse hingegen hielt an einer affirmativen Antwort fest; ihm zufolge hatte die frühere Theorie mit ihrem Begriff einer freien und vernünftigen Gesellschaft nur einen Fehler begangen: sie hatte nicht zuviel versprochen, sondern zuwenig. (C) Die Gründe, weshalb Herbert Marcuse an beidem zugleich festhalten konnte, nämlich an der Kritik der instrumentellen Vernunft von Horkheimer und Adorno und an der politischen Intention der frühen Kritischen Theorie, werden in Triebstruktur und Gesellschaft dargelegt; dem für Marcuse wohl typischsten Buch. Lassen Sie mich zunächst die Ausgangsfrage darstellen. Mit Horkheimer und Adorno stimmte Marcuse in der Annahme überein, daß der Entwurf der instrumenteilen Vernunft mit der Ausdehnung des Kapitalismus das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Kultur »modeln« würde: 12 Herbert Marcuse, Negations: Essays in Critical Theory. Boston: Beacon Press (1968), S. XV. 13 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Neuwied und Berlin: Luchterhand (1967), (1968), S. 15.
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Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt.14 Andererseits hält Marcuse immer noch daran fest, daß derselbe Entwurf die Stabilität einer Herrschaft untergrabe, welche Technik und praktische Vernunft verschmelzen läßt, da dieprogressive Reduktion physischer Arbeitskraft (im materiellen Produktionsprozeß (tendenziell) zu einer möglichen »Befreiung von entfremdeter Arbeit« führt.15 Wenn diese objektiven Möglichkeiten überhaupt einen Gehalt haben, dann müssen wir uns jedoch auf eine Subjektivität verlassen, die einem utopischen Horizont immer noch zugänglich ist. Die Frage lautet also: wie konnte Marcuse an die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität glauben, wenn er das erste der beiden Argumente akzeptiert hatte, das im Grund das Hauptargument der Dialektik der Aufklärung war: daß nämlich mit jedem Sieg über die äußere Natur die innere Natur jener, die immer neue Siege erringen, noch stärker versklavt wird? Gerade an dieser Stelle hat Marcuse große Vorbehalte, die auf seiner charakteristischen Lesart von Freuds Trieblehre in ihrer spätesten Fassung beruhen. Das Argument läßt sich in Kürze so darstellen: selbst wenn das Individuum, der einzige Träger der Vernunft, von einer totalitären Gesellschaft immer stärker aufgesogen wird und selbst wenn diese Reduzierung des Ich ohne Grenzen ist, dürfen wir immer noch auf die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität aus einer Natur heraus hoffen, die älter ist als Individuierung und Vernunft und unterhalb dieser Ebene entsteht. Marcuse hat ein chiliastisches Vertrauen in eine erneuernde Dynamik der Triebe, die sich durch die Geschichte hindurcharbeitet, mit der Geschichte schließlich bricht und am Ende zurücklassen wird, was dann als Vorgeschichte erscheinen wird. Erinnern wir uns, wie er Freuds Theorie des Vatermordes interpretierte: 14 Ebd., S. 19. 15 Psychoanalyse und Politik, a.a.O., S. 74. 33°
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Die Dynamik der Herrschaft, die mit der Aufrichtung des Despotismus anhebt, zur Revolution führt und nach dem Versuch der ersten Befreiung mit der Wiedereinsetzung des Vaters in verinnerlichter und verallgemeinerter, das heißt vernünftiger Form endet, wiederholt sich, nach Freud, während der gesamten Geschichte der Kultur und Zivilisation, wenn auch in abgeschwächter Form, nämlich als Rebellion aller Söhne gegen alle Väter in der Pubertät, als Zurücknahme dieser Rebellion nach Überwindung der Pubertät und endlich als Einordnung der Söhne in den gesellschaftlichen Zusammenhang in freiwilliger Unterwerfung unter die gesellschaftlich geforderten Triebverzichte, wodurch die Söhne selbst Väter werden. Diese psychologische Wiederholung der Dynamik der Herrschaft in der Kultur findet ihren weltgeschichtlichen Ausdruck in der immer wiederkehrenden Dynamik der Revolutionen der Vergangenheit. Diese Revolutionen zeigen eine beinahe schematische Entwicklung. Der Aufruhr gelingt, und bestimmte Kräfte versuchen, die Revolution auf ihren extremsten Punkt zu treiben, auf dem, von dem aus vielleicht der Übergang in neue, nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschiedene Verhältnisse gelänge - und an diesem Punkt wird die Revolution gewöhnlich besiegt und die Herrschaft auf höherer Stufe verinnerlicht, wieder aufgerichtet und weitergeführt. Wenn die Freudsche Hypothese wirklich zu Recht besteht, dann können wir die Frage wagen, ob es neben dem geschichtlich-gesellschaftlichen Thermidor, der in allen Revolutionen der Vergangenheit nachzuweisen ist, nicht auch einen psychischen Thermidor gibt; werden die Revolutionen vielleicht nicht nur von außen besiegt, umgekehrt und zurückgenommen, ist nicht vielleicht in den Individuen selbst schon eine Dynamik wirksam, die eine mögliche Befreiung und Befriedigung innerlich verneint und die Individuen nicht nur äußerlich sich der Verneinung beugen läßt?16
Auf den ersten Blick ist diese Überlegung nichts anderes als eine Übersetzung dessen, was die Dialektik der instrumenteilen Vernunft bedeutet, in die Sprache Freuds. Bei genauerer Lektüre tritt jedoch die Differenz in den Vordergrund: sie liegt in der Bewegung, welche die inneren oder triebgebundenen Kräfte von den äußeren oder gesellschaftlichen Kräften zu trennen versucht. Wenn der psychische Thermidor im Verhältnis zum geschichtlich-gesellschaftlichen Thermidor eine eigene Dynamik erlangt, dann kann die Gesellschaftstheorie nicht mehr allein den Schlüssel liefern, sondern nur zusammen mit der Trieblehre. Die Frage, ob der 16 Ebd., S. 47.
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psychische Thermidor stets von neuem wiederholt werden müsse, gewinnt eine beinahe existentialistische Würde, da die Antwort auf diese Frage nicht länger davon abhängt, ob der Spätkapitalismus als ökonomisches und politisches System seine inneren Konflikte in Schach zu halten vermag oder nicht. Im Hinblick auf die Vorgeschichte der Triebe hält Marcuse zwei zusammenhängende Thesen aufrecht: 1. Es gibt keinen endgültigen Gegensatz zwischen Eros und Thanatos; trotz ihres Antagonismus sind beide ihrer Natur nach konservativ, beide streben nach Befriedigung, beide sind unproduktiv und in ähnlicher Weise gegen einen unnachgiebigen Existenzkampf gerichtet. 2. Sobald der Fortschritt der Zivilisation, der auf der repressiven Veränderung der Triebe beruht, ein Mehrprodukt steigert, das nicht zu individueller Befriedigung führt, stehen sowohl Eros als auch Thanatos vor einer Herausforderung. Wenn nämlich die Triebunterdrückung ihre Funktion zur notwendigen Selbsterhaltung verliert, werden die beiden konservativen Kräfte sich hinter der Bühne der Zivilisation verbünden und den Abzug von Energien aus der entfremdeten Arbeit fordern. Diese Theorie leidet an der Schwäche, daß sie ihre eigene Möglichkeit nicht zu erklären vermag. Wenn die rebellische Subjektivität ihre Wiedergeburt einer Herkunft zu verdanken hätte, die jenseits einer allzu korrumpierten Vernunft liegt, ist schwerlich zu erklären, weshalb einige unter uns überhaupt in der Lage sein sollten, diese Tatsache zu erkennen und Gründe für ihre Verteidigung anzugeben. In dieser Hinsicht war Adorno der konsequentere Denker. So unplausibel das Argument auch erscheinen mag, es hatte doch die Funktion, eines der bewundernswertesten Merkmale von Herbert Marcuse festzuhalten: daß er nicht dem Defätismus anheimfiel. Die Suche nach einer »Trieb«-Basis des Sozialismus hat jedoch noch einen wichtigeren Aspekt. Immerhin ist diese Bemühung das Resultat einer wahrhaft philosophischen Intention. Marcuse wollte nicht in den Existentialismus zurückfallen, er wollte nicht bloß an die vitalen Freiheitsbedürfnisse appellieren oder bloß das Pathos der Emanzipation beschwören. Er empfand eine Verpflichtung
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dazu, theoretische Erklärungen zu geben, um damit das Handeln auf Vernunft zu gründen. Überdies war Marcuse einer der wenigen Philosophen, die in strenger und dramatischer Weise auf die Ernsthaftigkeit ihrer philosophischen Einstellung hin geprüft wurden. Im Sommer 1967 war Marcuse an der Freien Universität Berlin einer Situation ausgesetzt, in der er wußte, daß jedes einzelne Wort unwiderrufliche Folgen haben konnte. Er war eingeladen worden, um über das Problem der Gewalt in der Opposition zu sprechen und hatte die Einheit von moralischer, sexueller und politischer Rebellion behauptet, als er mit Fragen über das Zweifelhafte von moralischen Rechtfertigungen konfrontiert wurde. Einige dieser Fragen deuteten auf eine bei den Studenten damals weitverbreitete Neigung hin, den politischen Aktivismus von den mühsamen Hemmungen moralisch-praktischer Überlegungen zu befreien. Ein Student beklagte sich über die Schwierigkeiten, die er in Diskussionen mit Arbeitern erlebt hatte: Es ist manchmal komisch gewesen in den letzten Wochen bei den Diskussionen auf dem Kurfürstendamm, wenn die Studenten den Angestellten und Arbeitern klarmachen wollten, was ihnen fehle, daß der Arbeiter dann antwortete: »Ich verstehe nicht - mir geht es doch gut.« Versuchen Sie einmal, einem Arbeiter klarzumachen, was ihn Vietnam angeht, gerade in Amerika, wo der Arbeiter daran verdient, daß in Vietnam Krieg gemacht wird. Was also ist der Haken, an dem die studentische Opposition sich aufhängt? Die Dritte Welt. Wir hängen unseren Protest, unsere Emotionen daran auf, daß dort Menschen verbrannt werden. Mir scheint es aber unzulässig, auf humanitärer Basis zu argumentieren, wenn der Terror aus der Humanität hervorgegangen ist. 17
Der Student bezog sich, wenn auch in einer elliptischen und irreführenden Weise, offensichtlich auf den Kernpunkt in der Kritik der instrumentellen Vernunft. Marcuse ließ sich jedoch keineswegs beirren: Ich halte es für eine äußerst gefährliche Argumentation, daß man mit humanitären Argumenten heute nicht mehr operieren kann. (...) Wenn ich wirklich radikal humanitäre Argumente ausschalte, auf welcher Basis kann 17
Das Ende der Utopie, a.a.O., S. 60f.
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ich dann dem spätkapitalistischen System entgegenarbeiten? (...) Wir müssen endlich einmal wieder lernen, was wir während der faschistischen Periode vergessen haben oder Sie, die ja erst nach der ersten faschistischen Periode geboren wurden, noch nicht ganz sich zum Bewußtsein gebracht haben - daß humanitäre und moralische Argumente nicht bloß verlogene Ideologie sind, sondern zentrale gesellschaftliche Kräfte werden können und werden müssen.18
Ein anderer Student entgegnete auf diese direkte Antwort mit einer moralischen Skepsis, die hierzulande oft den starken Einfluß von Carl Schmitt sogar auf die Linke deutlich macht: Votum in bezug auf das Widerstandsrecht. Dieses Widerstandsrecht haben Sie in Ihrem Toleranz-Essay in Anführungszeichen gebracht, jetzt haben Sie es ein wenig verändert, nämlich interpretiert als ein altes Prinzip. Was bedeutet Widerstandsrecht? Worauf gründet es sich? Worauf bezieht es sich? Ist das eine überhistorische Menschheitskonvention? Ist das ein romantisches Relikt des Naturrechts ? Oder ist es ein selbstgesetztes Recht als Ausfluß einer neuen Anthropologie? (...) Wie kann sich die Negation, sofern sie eine Aktion selbst ist, zugleich Position ist, auf etwas berufen, was sie selbst erst hervorbringen müßte?19
In diesem Augenblick entschied sich Marcuse dafür, lieber inkonsequent als unverantwortlich zu sein. Er schob seine eigenen Zweifel an einer korrumpierten praktischen Vernunft, die angeblich von der Totalität der instrumenteilen Vernunft aufgesogen worden sei, beiseite. Seine Antwort war klar und unmißverständlich: Die Lehre vom Widerstandsrecht hat immer behauptet, daß die Berufung auf das Widerstandsrecht die Berufung auf ein höheres Recht ist, das allgemeine Gültigkeit hat, das heißt das über das selbst definierte Recht und Privileg einer bestimmten Gruppe hinausgeht. Und es besteht wirklich eine enge Verbindung zwischen dem Widerstandsrecht und dem Naturrecht. Nun, Sie werden sagen, daß es ein solches allgemeines höheres Recht eben nicht gibt. Ich glaube, das gibt es. Wir nennen es heute nicht mehr Naturrecht, aber ich glaube, wenn wir heute sagen: das, was uns zum Widerstand gegen das System berechtigt, ist mehr als das relative Interesse einer spezifischen Gruppe, ist mehr als etwas, das wir selbst definiert 18 Ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 74.
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haben, so können wir das demonstrieren. Wenn wir uns berufen auf das Recht der Humanität auf Frieden, auf das Recht der Humanität, die Ausbeutung und Unterdrückung abzuschaffen, dann sind das nicht selbstdefinierte spezielle Gruppeninteressen, sondern in der Tat Interessen, die als allgemeines Recht demonstrierbar sind. Deswegen können wir auch heute noch das Widerstandsrecht als ein mehr als relatives Recht in Anspruch nehmen und sollten es in Anspruch nehmen.20
Vor seinem achtzigsten Geburtstag, bei der Vorbereitung eines Interviews zu diesem Anlaß, führten Herbert Marcuse und ich ein langes Gespräch darüber, wie wir die normative Basis der kritischen Theorie erklären könnten und sollten. Als ich ihn im letzten Sommer wiedersah, lag Herbert Marcuse auf der Intensivstation eines Frankfurter Krankenhauses, umgeben von Apparaten auf beiden Seiten des Bettes. Keiner wußte, daß dies der Anfang vom Ende war. Bei dieser Gelegenheit, die tatsächlich unsere letzte philosophische Begegnung war, stellte Herbert Marcuse die Verbindung zu unserer Kontroverse vor zwei Jahren her, indem er zu mir sagte: Siehst Du, jetzt weiß ich, worin unsere elementarsten Werturteile gründen - im Mitleid, in unserem Gefühl für das Leiden anderer.
20 Ebd., s. 80.
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Auch in einem trivialen Sinne ist Benjamin aktuell: an ihm scheiden sich heute die Geister. Die Fronten, die sich seit dem Erscheinen der »Schriften« Benjamins1 während der kurzen, fast eruptiven Wirkungsgeschichte in der Bundesrepublik abzeichnen, sind in der Biographie Benjamins vorgezeichnet. Für Benjamins Lebensgeschichte ist die Konstellation Scholem, Adorno und Brecht bestimmend gewesen, auch die jugendliche Abhängigkeit von Gustav Wyneken, dem Schulreformer, und später die Nähe zu den Surrealisten. Scholem, der nächste Freund und Mentor, ist heute durch Scholem vertreten, durch den unpolemischen, überlegenen und ganz unnachgiebigen Anwalt des Bezirks in Benjamin, der von Überlieferungen der Jüdischen Mystik eingenommen war. 2 Adorno, Erbe, kritischer Partner und Wegbereiter in einer Person, hat die erste Welle der posthumen Benjaminrezeption nicht nur eingeleitet, sondern auch geprägt 3; nach dem Tode Peter Szondis (der ohne Zweifel hier und heute an meiner Stelle gestanden hätte) wird Adornos Position vor allem durch Benjamins Herausgeber, Tiedemann und Schweppenhäuser, gewahrt.4 Brecht hat Benjamin,
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für den er eine Art Realitätsprinzip gewesen sein muß, dazu gebracht, mit der Esoterik des Stils und des Gedankens zu brechen; im Gefolge Brechts können marxistische Kunsttheoretiker, wie H. Brenner, Lethen und Scharang, heute Benjamins Spätwerk entschieden in die Perspektive des Klassenkampfes einrücken. 5 Gustav Wyneken, von dessen Vorbild sich der in der Freien Schulgemeinde aktive Benjamin während seiner Studienzeit losgesagt hat6, signalisiert fortbestehende Bindungen und Impulse; dieses Jungkonservative in Benjamin hat heute in Hannah Arendt, die den suggestiblen, verletzbaren Ästheten, Sammler und Privatgelehrten Benjamin gegen die ideologischen Ansprüche der marxistischen und zionistischen Freunde in Schutz nehmen möchte, eine intelligente und streitbare Apologetin gefunden. 7 Benjamins Nähe zum Surrealismus schließlich ist mit der zweiten Welle der Benjaminrezeption, die ihre Anstöße durch die studentische Revolte erhalten hat, wieder bewußt geworden; das belegen unter anderem die Arbeiten von Bohrer und Bürger. 8 Zwischen diesen Fronten entsteht eine Benjaminphilologie, die sich zu ihrem Gegenstand gelehrt verhält und dem Unvorsichtigen respektabel anzeigt, daß dieses kein unbetretenes Terrain mehr ist.9 Zum Streit der Parteien, in dem das
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Bild Benjamins nahezu zersplittert, bietet die akademische Behandlung der Sache womöglich ein Korrektiv, aber sicher keine Alternative. Zudem sind die konkurrierenden Interpretationen Benjamin nicht übergestülpt; es ist wohl nicht bloß Geheimniskrämerei, die, wie Adorno berichtet, Benjamin veranlaßt hat, seine Freunde voneinander fernzuhalten: nur als surrealistische Szene vollziehbar wäre etwa die Vorstellung, Scholem, Adorno und Brecht zum friedlichen Symposion am runden Tisch, unter dem Breton oder Aragon hocken, während Wyneken an der Tür steht, versammelt zu sehen, sagen wir zu einem Disput über den »Geist der Utopie« oder gar den »Geist als Widersacher der Seele«. Benjamins intellektueller Existenz hat soviel Surreales angehaftet, daß man sie nicht mit unbilligen Konsistenzforderungen konfrontieren sollte. Benjamin hat auseinanderstrebende Motive verknüpft, aber nicht eigentlich vereinigt; und hätte er sie vereinigt, dann in so vielen Einheiten, wie es Momente gibt, in denen ein interessierter Blick nachgeborener Interpreten die Kruste durchbohrt und dorthin vordringt, wo das Gestein noch lebt. Benjamin gehört zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist; diese Autoren treffen wir immer nur an in der aufblitzenden Aktualität eines für historische Sekunden die Herrschaft antretenden Gedankens. Was Aktualität sei, pflegte Benjamin anhand der talmudischen Legende zu erläutern, derzufolge »die Engel - neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen - geschaffen (sind), um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen.« (A. S. Bd. 2, S. 374) Ich möchte ausgehen von einem Satz, den Benjamin einmal gegen das Verfahren der Kulturgeschichte gewendet hat: »Sie (die Kulturgeschichte) vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen.« (ebd., S. 312) Eben darin sieht Benjamin die Aufgabe der Kritik. Nicht unter dem historischen Gesichtspunkt der aufgespeicherten Kulturgüter betrachtet Benjamin die Dokumente der Kultur, die 1971), dann Aufsätze von B. Lindner, L. Wiesenthal, P. Krumme und eine kommentierte Bibliographie (S. 8 5 ff.) mit Hinweisen auf Dissertationen über Benjamin, die in Arbeit sind.
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zugleich solche der Barbarei sind, sondern unter dem kritischen Gesichtspunkt, wie er sich steif ausdrückt, des Zerfalls der Kultur »in Güter, die der Menschheit ein Objekt des Besitzes« werden können. Von »Aufhebung der Kultur« spricht Benjamin freilich nicht. I Von Aufhebung der Kultur spricht Herbert Marcuse 1937 in einem Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur. 10 An der klassischen bürgerlichen Kunst kritisiert er den Doppelcharakter einer Welt des schönen Scheins, die sich autonom, d. h. jenseits des bürgerlichen Konkurrenzkampfes und der gesellschaftlichen Arbeit etabliert hat. Diese Autonomie ist scheinhaft, weil die Kunst den Glücksanspruch der Individuen nur im Bereich der Fiktion gelten läßt und die Glücklosigkeit der täglichen Realität verschleiert; zugleich ist an der Autonomie der Kunst auch etwas Wahres, weil das Ideal des Schönen die Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben, nach der im Alltag vorenthaltenen Humanität, Freundlichkeit und Solidarität auch zum Ausdruck bringt und damit das Bestehende transzendiert: »Die affirmative Kultur war die geschichtliche Form, in der die über die materielle Reproduktion des Daseins hinausgehenden Bedürfnisse der Menschen aufbewahrt blieben, und insofern gilt von ihr wie von der Form der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sie zugehört: das Recht ist auch auf ihrer Seite. Sie hat zwar die >äußeren Verhältnisse< von der Verantwortung für die Bestimmung des Menschen< entlastet - so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit -, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist.« (ebd., S. 88) Dieser Kunst gegenüber bringt Marcuse den ideologischen Anspruch zur Geltung, die Wahrheit, die in den bürgerlichen Idealen ausgesprochen, aber der Sphäre des schönen Scheins vorbehalten ist, beim Wort zu nehmen, und das heißt: Kunst als eine von der Realität abgespaltene Sphäre aufzuheben. 10 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965, S. 56-101.
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Wenn der schöne Schein das Medium ist, in dem die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Ideale zwar ausdrückt, aber deren Suspendierung zugleich verschleiert, dann führt die Ideologiekritik der Kunst zur Forderung, autonome Kunst aufzuheben, Kultur überhaupt in den materiellen Lebensprozeß zurückzunehmen. Die Revolutionierung der bürgerlichen Lebensverhältnisse bedeutet Aufhebung der Kultur: »Insoweit die Kultur die erfüllbaren aber faktisch unerfüllten Sehnsüchte und Triebe der Menschen gestaltet hat, wird sie ihren Gegenstand verlieren ... Die Schönheit wird eine andere Verkörperung finden, wenn sie nicht mehr als realer Schein dargestellt werden, sondern die Realität und die Freude an ihr ausdrücken soll.« (ebd., S. 98 f.) Marcuse hat sich damals, im Anblick der faschistischen Massenkunst, über die Möglichkeit einer falschen Aufhebung der Kultur nicht täuschen können. Ihr hat er eine andere Politisierung der Kunst entgegengehalten, die dreißig Jahre später, auf den blumengeschmückten Barrikaden der Pariser Studenten, für einen Augenblick konkrete Gestalt anzunehmen schien. In seinem Essay über Befreiung hat Marcuse die surrealistische Praxis der Jugendrevolte als die Aufhebung der Kultur gedeutet, mit der die Kunst ins Leben übertritt.11 Ein Jahr vor Marcuses Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur war am gleichen Ort, in der Zeitschrift für Sozialforschung, Benjamins Abhandlung über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschienen. (A. S. Bd. 2, S. 148185) Es scheint so, als habe Marcuse die subtileren Beobachtungen Benjamins nur auf den ideologiekritischen Begriff gebracht. Thema ist wiederum die Aufhebung der autonomen Kunst. Der profane Schönheitsdienst hat sich erst mit der Renaissance herausgebildet, um für dreihundert Jahre in Geltung zu bleiben, (ebd., S. 155) In dem Maße, wie die Kunst von ihrem kultischen Fundament abge-
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löst wird, erlischt der Schein ihrer Autonomie, (ebd., S. 159) Benjamin begründet seine These, »daß die Kunst aus dem Bereich des >schönen Scheins< entwichen ist«, mit dem veränderten Status des Kunstwerks und einer veränderten Rezeptionsweise. Mit der Zertrümmerung der Aura verschiebt sich die innerste symbolische Struktur des Kunstwerks derart, daß die dem materiellen Lebensprozeß enthobene und ihm gegenübertretende Sphäre zerfällt. Das Kunstwerk zieht seinen ambivalenten Anspruch auf gebieterische Echtheit und Unantastbarkeit ein. Es gibt sowohl historische Zeugenschaft wie auch das kultische Gefälle zum Kunstbetrachter preis. Schon 1927 hatte Benjamin notiert: »Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt.« (A. S. Bd. 2, S. 160) Das banalisierte Kunstwerk gewinnt auf Kosten seines Kulturwertes Ausstellungswert.12 Der veränderten Struktur des Kunstwerks entspricht eine veränderte Organisation der Wahrnehmung und der Rezeption von Kunst. Als autonome ist Kunst auf individuellen Kunstgenuß angelegt, nach dem Verlust ihrer Aura auf Massenrezeption. Der Kontemplation des vereinzelten kunstbetrachtenden Individuums stellt Benjamin die reizstimulierte Zerstreuung im Kollektiv gegenüber: »Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart des sozialen Verhaltens gegenüber.« (A. S. Bd. 1, S. 171) In der Kollektivrezeption sieht Benjamin zudem einen Kunstgenuß, der instruktiv und kritisch zugleich ist. Den nicht ganz konsistenten Äußerungen meine ich den Begriff einer Rezeptionsweise entnehmen zu können, den Benjamin an den Reaktionen eines entspannten und doch geistesgegenwärtigen Filmpublikums gewonnen hat: »Man vergleiche die Leinwand, auf welcher der Film abrollt, mit der Leinwand, auf welcher sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlas12 »Gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstausübungen aus dem Schöße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.« (A. S. Bd. 1,
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sen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht... In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese (Film)bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chokwirkung des Films, die, wie jede Chokwirkung, durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chokwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit.« (ebd., S. 171 f.) Das entauratisierte Kunstwerk setzt in einer diskreten Folge von Choks Erfahrungen frei, die bisher im esoterischen Stil eingeschlossen waren. An der geistesgegenwärtigen Verarbeitung dieser Choks beobachtet Benjamin die exoterische Auflösung jenes kultischen Bannes, mit dem die bürgerliche Kultur den einsamen Betrachter kraft ihres affirmativen Charakters belegt. Benjamin begreift den Funktionswandel der Kunst, der im Augenblick der Emanzipation des Kunstwerks »von seinem parasitären Dasein am Ritual« eintritt, als Politisierung der Kunst: »An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.« (ebd., S. 156) Freilich sieht Benjamin wie Marcuse im Anblick der faschistischen Massenkunst, die mit dem Anspruch einer politischen auftritt, die Gefahr einer falschen Aufhebung autonomer Kunst. Diese Propagandakunst der Nazis vollstreckt zwar die Liquidierung der Kunst als eines autonomen Bereichs, aber hinter dem Schleier der Politisierung dient sie in Wahrheit der Ästhetisierung nackter politischer Gewalt. Sie ersetzt den zerstörten Kultwert der bürgerlichen Kunst durch den manipulativ hergestellten. Der kultische Bann wird nur gebrochen, um synthetisch erneuert zu werden: die Massenrezeption wird zur Massensuggestion.13 Benjamins Kunsttheorie entfaltet anscheinend den ideologiekritischen Begriff von Kultur, an den Marcuse ein Jahr später anknüpfen 13 »Die faschistische Kunst wird nicht nur für Massen, sondern auch von Massen exekutiert ... (Sie) versetzt die Exekutierenden ebenso wie die Rezipierenden in einen Bann, unter dem sie sich selber monumental, d.h. unfähig zu wohlüberlegten und selbständigen Aktionen erscheinen müssen ... Mit der Haltung, die der Bann ihnen auferlegt, kommen, so lehrt der Faschismus, die Massen überhaupt erst zu ihrem Ausdruck.« (A. S. Bd. 2, S. 509f)
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wird. Allein, die Parallelen täuschen. Ich sehe vier wesentliche Unterschiede. a.) Marcuse verfährt mit den exemplarischen Gestalten der bürgerlichen Kunst ideologiekritisch, indem er den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit feststellt; aus dieser Kritik ergibt sich die Aufhebung der autonomen Kunst nur als die Konsequenz eines Gedankens. Benjamin hingegen erhebt nicht kritische Forderungen gegen eine in ihrer Substanz noch unerschütterte Kultur. Er beschreibt vielmehr den tatsächlichen Prozeß des Zerfalls der Aura, auf die die bürgerliche Kunst den Schein ihrer Autonomie gründet. Er verfährt deskriptiv. Er beobachtet einen Funktionswandel der Kunst, den Marcuse erst für den Augenblick der Revolutionierung der Lebensverhältnisse antizipiert. b.) Auffällig ist sodann, daß sich Marcuse, wie die idealistische Ästhetik überhaupt, auf die im bürgerlichen Bewußtsein selbst als klassisch anerkannten Perioden beschränkt. Er orientiert sich an einem Begriff des Kunstschönen, der am Symbolischen, worin das Wesen zur Erscheinung kommt, gewonnen ist. Die klassischen Kunstwerke - in der Literatur sind es insbesondere der Roman und das bürgerliche Trauerspiel - eignen sich wie im Bereich der politischen Philosophie das rationale Naturrecht, eben wegen ihres affirmativen Charakters als Gegenstände der Ideologiekritik. Benjamins Interesse aber gilt den nicht-affirmativen Formen der Kunst; in der Untersuchung über das barocke Trauerspiel hat er am Allegorischen einen Kontrastbegriff zur individuellen Totalität des verklärenden Kunstwerks gewonnen. 14 Die Allegorie, die die Erfahrung des Leidvollen, Unterdrückten, Unversöhnten und Verfehlten, die Erfahrung des Negativen ausdrückt, widerstreitet einer positiv Glück, Freiheit, Versöhnung und Erfüllung vorspiegelnden und vorschießenden symbolischen Kunst. Während diese der Ideologiekritik zur Entschlüsselung und Überwindung bedarf, ist jene 14 »Während im Symbol mit der Verklärung des Untergangs das transfigurierte Antlitz im Lichte der Erlösung sich flüchtig offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratia der Geschichte als erstarrte Urlandschaft vor Augen ... Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist diese nur in den Stationen ihres Verfalls.« (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 182f.)
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selber Kritik - oder vielmehr auf Kritik verweisend: »Was dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet. Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Wesen dieser mehr als jeder anderen Produktion entgegen.« (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 202) c.) In diesem Zusammenhang ist ferner bemerkenswert, daß Marcuse die avantgardistischen Transformationen der bürgerlichen Kunst, die sich dem direkten Zugriff der Ideologiekritik entziehen, ausspart, während Benjamin den Prozeß der Aufhebung autonomer Kunst an der Geschichte der Moderne nachweist. Benjamin, der das Auftreten der großstädtischen Massen als eine Matrix ansieht, »aus der alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht« (A. S. Bd. 1, S. 172), entdeckt die Berührung mit diesem Phänomen gerade in den Werken, die sich ihm gegenüber hermetisch zu verschließen scheinen: »Die Masse ist Baudelaire derart innerlich, daß man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht.« (Ch. Baudelaire, Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, S. 128)15 Benjamin folgt den Spuren der Moderne, weil sie zu dem Punkt führen, wo »der Bereich der Dichtung von innen gesprengt wird«. (A. S. Bd. 2, S. 201) Die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung autonomer Kunst entspringt der Rekonstruktion dessen, was die avantgardistische Kunst, indem sie die bürgerliche transformiert, von dieser preisgibt. d.) Schließlich besteht die entscheidende Differenz zu Marcuse darin, daß Benjamin die Auflösung der autonomen Kunst als Ergebnis einer Umwälzung in den Reproduktionstechniken begreift. Am Vergleich der Funktionen von Malerei und Photographie zeigt Benjamin exemplarisch die Folgen der mit dem 19. Jahrhundert vordringenden neuen Techniken, die gegenüber den traditionellen Abdruckverfahren des Gießens, Prägens und Holz15 Darum wendet sich Benjamin gegen das oberflächliche Verständnis des l'art pour l'art: »Es wäre der Augenblick, an ein Werk zu gehen, das wie kein anderes die Krisis der Künste, von der wir Zeuge sind, erhellen würde: eine Geschichte der esoterischen Dichtung ... Auf ihrem letzten Blatt müßte man das Röntgenbild des Surrealismus finden.« (A. S. Bd. 2. S. 207)
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Schneidens, des Kupferstichs und des Steindrucks eine neue, allenfalls mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbare Stufe darstellen. Zu seiner Zeit konnte Benjamin an Schallplatte, Film und Rundfunk eine Entwicklung beobachten, die sich mit den elektronischen Medien beschleunigt fortgesetzt hat. Die Reproduktionstechniken greifen in die innere Struktur der Kunstwerke ein. Das Werk büßt einerseits eine raumzeitliche Individualität ein, andererseits gewinnt es an dokumentarischer Authentizität. Die Zeitstruktur von Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit, die die fürs autonome Kunstwerk typische Zeitstruktur von Einzigkeit und Dauer ersetzt, zerstört die Aura, »die einmalige Erscheinung einer Ferne« und schärft den »Sinn für das Gleichartige in der Welt«. Die ihrer Aura entkleideten Dinge rücken zudem den Massen dadurch näher, daß das technische Medium, das sich zwischen die selektiven Sinnesorgane und den Gegenstand schiebt, diesen genauer und realistischer abbildet. Die Authentizität der Sache verlangt freilich einen konstruktiven Einsatz der abbildrealistischen Mittel, also Montage und literarische Interpretation (Beschriftung der Photographie).16
II Benjamin läßt sich, wie diese Unterschiede zeigen, nicht von einem ideologischen Begriff der Kunst leiten; er hat mit der Auflösung autonomer Kunst etwas anderes im Sinn als Marcuse mit seiner Forderung nach Aufhebung der Kultur. Während Marcuse Ideal und Wirklichkeit konfrontiert und den unbewußten Gehalt der bürgerlichen Kunst, welche die bürgerliche Realität zugleich recht16 Auch hier sieht Benjamin den Dadaismus als einen Vorläufer der technischen Künste mit anderen Mitteln: »Die revolutionäre Stärke des Dadaismus bestand darin, die Kunst auf ihre Authentizität zu prüfen. Man stellte Stilleben aus Billets, Garnrollen, Zigarettenstummeln zusammen, die mit malerischen Elementen verbunden waren. Man tat das ganze in einen Rahmen. Und damit zeigte man dem Publikum: Seht, Euer Bilderrahmen sprengt die Zeit; das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens sagt mehr als die Malerei. So wie der blutige Fingerabdruck eines Mörders auf einer Buchseite mehr sagt als der Text. Von diesen revolutionären Gehalten hat sich vieles in die Photomontage hineingerettet.« (Versuche über Brecht, S. 206)
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fertigt und wider Willen denunziert, ins Bewußtsein hebt, verzichtet Benjamins Analyse auf die Form der Selbstreflexion. Während Marcuse durch die analytische Zersetzung eines objektiven Scheins die Veränderung der entschleierten materiellen Lebensverhältnisse vorbereiten und die Aufhebung der Kultur, in der diese Lebensverhältnisse sich stabilisieren, einleiten möchte, kann Benjamin seine Aufgabe nicht in der Attacke gegen eine Kunst sehen, die schon in Auflösung begriffen ist. Seine Kunstkritik verhält sich zu ihren Gegenständen konservativ, gleichviel ob es sich ums barokke Trauerspiel, um Goethes Wahlverwandtschaften, Baudelaires Fleurs du Mal oder den sowjetischen Film der frühen zwanziger Jahre handelt; sie zielt zwar auf »die Mortifikation der Werke« {Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 202), aber die Kritik verübt am Kunstwerk eine Abtötung nur, um das Wissenswürdige aus dem Medium des Schönen ins Medium des Wahren zu transportieren — und dadurch zu retten. Den Impuls zur Rettung erklärt Benjamins eigentümliche Konzeption der Geschichte.17 In der Geschichte waltet eine mystische Kausalität derart, daß »eine geheime Verabredung (besteht) zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem ... Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.« (Geschichtsphilosophische Thesen, A. S. Bd. 1, S. 269) Dieser Anspruch kann nur durch eine immer wieder erneuerte kritische Anstrengung des historischen Blicks auf eine erlösungsbedürftige Vergangenheit erfüllt werden; und diese Anstrengung ist im eminenten Sinne konservativ, »denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte«, (ebd., S. 270) Wird der Anspruch verfehlt, dann droht Gefahr »sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern«.18 17 Tiedemann, Studien, a.a.O., S. 103ff.; H. D. Kittsteiner, Die Geschichtsphilosophischen Thesen, in: Alternative H. 55/56, S. 243-251. 18 Die rettende Kraft der zurückdenkenden Kritik ist freilich nicht mit der Einfühlung und dem Nacherleben zu verwechseln, das der Historismus von der Romantik übernommen hat: »Mit der Romantik setzt die Jagd nach dem falschen Reichtum ein, nach der Einverleibung jeder Vergangenheit, nicht durch die fort-
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Das Kontinuum der Geschichte besteht für Benjamin in de Permanenz des Unerträglichen; Fortschritt ist die ewige Wieder kehr der Katastrophe: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Ide der Katastrophe zu fundieren«, notiert Benjamin in einem Entwui zur Baudelaire-Arbeit, »daß >es so weiter geht<, ist die Katastro phe«. Darum muß sich »die Rettung an den kleinen Sprung in de Katastrophe« halten. (A. S. Bd. i, S. 260) Der Begriff eine Gegenwart, in der die Zeit anhält und zum Stillstand kommt gehört zu Benjamins ältesten Einsichten. In den geschichtsphiloso phischen Thesen, kurz vor seinem Tode, steht der zentrale Satz »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Or nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mi Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum de Geschichte heraussprengte.« (A. S. Bd. 1, S. 276) Eine der frühe sten Abhandlungen, die über »Das Leben der Studenten«, beginn im gleichen Sinne: »Es gibt eine Geschichtsauffassung, die in Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo de Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam au der Bahn des Fortschritts dahinrollen ... Die folgende Betrachtun; geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie al in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in dei utopischen Bildern der Denker. Die Elemente des Endzustande liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenzen zutage, sonden sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen um Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.« (ebd., S. 9) Gewiß hat sich seit der Ideenlehre des Trauerspielbuchs die Inter pretation des rettenden Eingriffs in eine Vergangenheit verschoben Der retrospektiv gewendete Blick sollte damals das gerettete Phä nomen, indem es dem Werden und Vergehen entspringt, in schreitende Emanzipation des Menschengeschlechts, kraft deren es seiner eigene) Geschichte immer geistesgegenwärtiger in das Auge sieht und immer neue Winke ih abgewinnt, sondern durch die Nachahmung, das Ergattern aller Werke aus abgeleb ten Völkerkreisen und Weltepochen.« (A. S. Bd. 2, S. 360 f.) Dieser Hinweis is andererseits keine Empfehlung, die Geschichte hermeneutisch als ein wirkungsge schichtliches Kontinuum aufzufassen oder als einen Bildungsprozeß der Gattung zi rekonstruieren. Dem steht die zutiefst antievolutionistische Geschichtskonzeptioi entgegen.
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Gehege der Ideenwelt einsammeln: mit dem Eintritt in die Sphäre des Ewigen streift das ursprüngliche Ereignis seine virtuell gewordene Vor- und Nachgeschichte wie ein naturhistorisches Gewand ab. (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 28-33) Diese Konstellation von Naturgeschichte und Ewigkeit weicht später der Konstellation von Geschichte und Jetztzeit: den Ort des Ursprungs nimmt die messianische Stillstellung des Geschehens ein.19 Der Feind jedoch, von dem, wenn die rettende Kritik ausbleibt und Vergessen Platz greift, die Toten so bedroht sind wie die Lebendigen, der Feind ist derselbe geblieben, nämlich die Herrschaft des mythischen Schicksals. Der Mythos zeichnet das seiner Bestimmung zum guten und gerechten Leben hoffnungslos depravierte Menschengeschlecht, das in den Kreislauf der Reproduktion des bloßen Lebens und Überlebens gebannt ist.20 Das mythische Schicksal kann immer nur für einen hinfälligen Moment stillgestellt werden. Die Bruchstücke der Erfahrung, die in solchen Momenten dem Schicksal, dem Kontinuum der leeren Zeit für die Aktualität der Jetztzeit abgerungen werden, bilden den Bestand der gefährdeten Tradition; zu ihr gehört die Geschichte der Kunst. Tiedemann zitiert aus dem Passagen werk den Satz: »In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich darein versetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.« (Tiedemann, Studien, S. 103 f.) In diesem Zusammenhang steht auch Benjamins nur in Bruchstükken ausgeführter Plan einer Urgeschichte der Moderne. Baudelaire ist für Benjamin zentral geworden, weil seine Dichtung »das Neue am Immerwiedergleichen und das Immerwiedergleiche am Neuen« in Erscheinung bringt. (Zentralpark, Schriften I, S. 482.) 19 B. Lindner, Natur-Geschichte - eine Geschichtsphilosophie und Welterfahrung in Benjamins Schriften, in: Text und Kritik, a.a.O., S. 56. 20 In diesem Sinne konzipieren aufgeklärte Wissenschaften wie Systemtheorie und verhaltenswissenschaftliche Psychologie den Menschen als »mythisches« Wesen.
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Benjamins Kritik deckt in den voranhastenden Prozessen des Veraltens, die sich selbst als Fortschritt verstehen und mißverstehen, die Koinzidenz mit dem Unvordenklichen auf. Sie identifiziert in der von den Produktivkräften angetriebenen Modernisierung der Lebensformen den unterm Kapitalismus sich gleichwohl durchsetzenden mythischen Wiederholungszwang - das Immerwiedergleiche am Neuen. Aber indem sie das tut, zielt diese Kritik, und das unterscheidet sie von Ideologiekritik, auf die Rettung einer mit Jetztzeit geladenen Vergangenheit; sie vergewissert sich der Momente, in denen die künstlerische Sensibilität dem als Fortschritt drapierten Schicksal Einhalt gebietet und die utopische Erfahrung im dialektischen Bild verschlüsselt - das Neue am Immerwiedergleichen. Der Umschlag der Moderne in Urgeschichte hat bei Benjamin einen zweideutigen Sinn. Urgeschichtlich ist der Mythos ebenso wie der Gehalt der Bilder, die allein aus dem Mythos herausgebrochen werden können, und die, damit sie als Tradition für den wahren Fortschritt aufbewahrt bleiben, in einer anderen, gleichsam erwarteten Gegenwart kritisch erneuert und zur »Lesbarkeit« gebracht werden müssen.21 Benjamins antievolutionistische Geschichtskonzeption, derzufolge die Jetztzeit quersteht zum naturgeschichtlichen Kontinuum, macht sich nicht vollends blind gegen Fortschritte in der Emanzipation des Menschengeschlechts. Aber tief pessimistisch beurteilt sie die Chance, daß die punktuellen Durchbrüche, die das Immerwiedergleiche unterminieren, zu einer Tradition sich verbinden und nicht der Vergessenheit anheimfallen. Daneben kennt Benjamin freilich eine Kontinuität, die den Kreislauf der Naturgeschichte in linearem Fortschritt durchbricht und dabei doch den Traditionsbestand gefährdet. Das ist die Kontinuität der Entzauberung, als deren letztes Stadium Benjamin den Verlust der Aura diagnostiziert: »Wie in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster 21 »Und zwar ist dieses zur Lesbarkeit Gelangen ein bestimmter kritischer Punkt in ihrem (der dialektischen Bilder) Inneren. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.« (zit. nach Tiedemann, Studien, S. 310)
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Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.« (A. S. Bd. i, S. 157) Benjamin erklärt diese Entritualisierung der Kunst nicht; man muß sie wohl als Teil jenes weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses verstehen, den mit den Umwälzungen der Produktionsweise die Entwicklungschübe der Produktivkräfte in den sozialen Lebensformen bewirken - auch Max Weber verwendet den Terminus »Entzauberung«. Autonome Kunst etabliert sich erst in dem Maße, als, mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische und das politische System vom kulturellen abgekoppelt werden und die traditionalistischen, durch die Basisideologie des gerechten Tausches unterwanderten Weltbilder die Künste aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen.22 Dem Warencharakter verdankt die Kunst zunächst ihre Freisetzung für den privaten Genuß des im 17. und 18. Jahrhundert sich konstituierenden bürgerlichen Lese- und Theater-, Ausstellungs- und Konzertpublikums.23 Die Fortsetzung desselben Prozesses, dem die Kunst ihre Autonomie verdankt, führt auch zu deren Liquidierung. Schon im 19. Jahrhundert zeichnet sich ab, daß das Publikum der bürgerlichen Privatleute den großstädtischen Kollektiven der arbeitenden Bevölkerung weicht. Deshalb konzentriert sich Benjamin auf Paris als die Großstadt par excellence und auf die Phänomene der Massenkunst, denn - so schließt Benjamin den soeben zitierten Passus über die Entritualisierung der Kunst, »soviel ist sicher, daß gegenwärtig die Photographie und weiter der Film die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis geben«, (ebd.) 22 »Autonomie« bezeichnet hier die Selbständigkeit der Kunstwerke gegenüber kunstexternen Verwendungsansprüchen; die Autonomie der Kunstproduktion konnte sich bereits früher, nämlich innerhalb mäzenatischer Formen der Alimentierung entfalten. 23 A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst, 2 Bde., München 1953. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Aufl., Neuwied 1971, S. 46ff.
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III An keiner Stelle hat Adorno Benjamin so energisch widersprochen wie an dieser. Adorno begreift die mit den neuen Reproduktionstechniken entstehende Massenkunst als eine Degeneration von Kunst. Der Markt, der die Autonomie der bürgerlichen Kunst zunächst ermöglicht hat, läßt eine Kulturindustrie entstehen, die in die Poren des Kunstwerks selber eindringt und mit dem Warencharakter der Kunst dem Betrachter die Einstellungsmuster eines Konsumenten aufdrängt. Adorno hat diese Kritik zuerst 1938, am Beispiel des Jazz, in seinem Aufsatz über den »Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (Adorno, Dissonanzen, S. 9-45) entfaltet. Die seither an einer Fülle von Gegenständen durchgeführte Kritik hat Adorno in dem nachgelassenen Band über Ästhetische Theorie (Ges. Schriften Bd. 7) unter dem Titel >Entkunstung der Kunst< generalisiert und zusammengefaßt: »Von der Autonomie der Kunstwerke, welche die Kulturkunden zur Empörung darüber aufreizt, daß man sie für etwas Besseres hält, ist nichts übrig als der Fetischcharakter der Ware ... Als tabula rasa subjektiver Projektionen wird das Kunstwerk entqualifiziert. Die Pole seiner Entkunstung sind, daß es sowohl zum Ding unter Dingen wird wie zum Vehikel der Psychologie des Betrachters. Was die verdinglichten Kunstwerke nicht mehr sagen, ersetzt der Betrachter durch das standardisierte Echo seiner selbst, das er aus ihnen vernimmt. Diesen Mechanismus setzt die Kulturindustrie in Gang und exploitiert ihn.« (ebd., S. 33) Die historische Erfahrung, die in diese Kritik der Kulturindustrie eingeht, ist Enttäuschung nicht sowohl über die Verfallsgeschichte von Kunst, Religion und Philosophie als vielmehr über die Geschichte der Parodien ihrer Aufhebung. Die Konstellation der bürgerlichen Kultur im Zeitalter ihrer klassischen Entfaltung war, wenn eine grobe Andeutung gestattet ist, gekennzeichnet durch die Auflösung traditionalistischer Weltbilder, also einmal durch den Rückzug der Religion in den Bezirk privatisierter Glaubensmächte, sodann durch das Bündnis einer empiristischen und einer rationalistischen Philosophie mit der neuen Physik, und schließlich durch eine autonom gewordene Kunst, die komplementär Auffangstel-
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lungen für die Opfer der bürgerlichen Rationalisierung einnimmt. Die Kunst ist das Reservat für eine, sei es auch nur virtuelle Befriedigung jener Bedürfnisse, die im materiellen Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam illegal werden: ich meine das Bedürfnis nach einem mimetischen Umgang mit Natur, der äußeren ebenso wie der des eigenen Leibes; das Bedürfnis nach solidarischem Zusammenleben, überhaupt nach dem Glück einer kommunikativen Erfahrung, die den Imperativen der Zweckrationalität enthoben ist und der Phantasie ebenso Spielraum läßt wie der Spontaneität des Verhaltens. Diese Konstellation der bürgerlichen Kultur war keineswegs stabil; sie währte, wie der Liberalismus selber, sozusagen nur einen Moment und verfiel dann der Dialektik der Aufklärung (oder vielmehr dem Kapitalismus als deren unwiderstehlichem Vehikel). Schon Hegel verkündet in seinen Vorlesungen über die Ästhetik24 den Verlust der Aura der Kunst. Indem er Kunst und Religion als beschränkte Formen des absoluten Wissens, welche die Philosophie als das freie Denken des absoluten Geistes durchdringt, begreift, setzt er die Dialektik einer »Aufhebung« in Gang, die alsbald die Grenzen der Hegelschen Logik überschreitet. Hegels Schüler vollziehen eine profane Kritik erst der Religion und dann der Philosophie, um schließlich die Aufhebung der Philosophie und deren Verwirklichung in der Aufhebung der politischen Gewalt terminieren zu lassen: das ist die Geburtsstunde der Marxschen Ideologiekritik. Was in der Hegelschen Konstruktion noch verschleiert war, tritt nun hervor: die Sonderstellung, die die Kunst unter den Gestalten des absoluten Geistes insofern einnimmt, als sie nicht, wie die subjektivierte Religion und eine szientifizierte Phi24 »Die Kunst in ihren Anfängen läßt noch Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig ... Ist aber der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solche eine Zeit ist die unsere. Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen - es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.« (Theorie Werkausgabe, Bd. 13, S. 142)
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losophie, Aufgaben für das ökonomische und das politische System übernimmt, sondern residuale Bedürfnisse, die im »System der Bedürfnisse«, eben der bürgerlichen Gesellschaft, nicht befriedigt werden können, auffängt. Deshalb blieb die Sphäre der Kunst von Ideologiekritik eigentümlich verschont - bis in unser Jahrhundert. Als auch sie schließlich der Ideologiekritik verfiel, stand die ironische Aufhebung von Religion und Philosophie bereits vor Augen. Die Religion ist heute nicht einmal mehr Privatsache; aber im Atheismus der Massen sind auch die utopischen Gehalte der Überlieferung untergegangen. Die Philosophie ist ihres metaphysischen Anspruchs entkleidet, aber im herrschenden Szientismus sind auch die Konstruktionen zerfallen, vor denen eine schlechte Realität sich rechtfertigen mußte. Inzwischen steht gar eine »Aufhebung« der Wissenschaft vor der Tür, die zwar den Schein der Autonomie zerstört, aber weniger um diskursiver Steuerung, als vielmehr einer Funktionalisierung des Wissenschaftssystems für naturwüchsige Interessen zu weichen.25 In diesem Zusammenhang steht auch Adornos Kritik einer falschen Aufhebung der Kunst, welche zwar die Aura zerstört, aber mit der herrschaftlichen Organisation des Kunstwerks zugleich dessen Wahrheitsanspruch liquidiert. Die Enttäuschung an der falschen Aufhebung, sei es der Religion, der Philosophie oder der Kunst, kann eine Reaktion des Innehaltens, wenn nicht des Zögerns derart hervorrufen, daß man eher gegen das Praktischwerden des absoluten Geistes überhaupt mißtrauisch wird als seiner Liquidierung zustimmt. Damit verbindet sich eine Option für die esoterische Rettung der wahren Momente. Das unterscheidet Adorno von Benjamin, welcher darauf besteht, daß die wahren Momente der Überlieferung für den messianischen Zustand entweder exoterisch oder gar nicht gerettet werden. Gegen die falsche Aufhebung der Religion setzt Adorno, atheistisch wie Benjamin (wenn auch nicht in der gleichen Weise), die Einbringung der utopischen Gehalte als Ferment eines unnachgiebigen kritischen Denkens, aber eben nicht in der Form einer verallgemei25 Diese These haben G. Böhme, W. van den Daele und W. Krohn in ihren Arbeiten zur Finalisierung der Wissenschaft entwickelt.
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nerten profanen Erleuchtung. Gegen die falsche Aufhebung der Philosophie setzt Adorno, antipositivistisch wie Benjamin, die Einbringung des transzendierenden Impetus in eine Kritik, die in gewisser Weise autark ist, aber eben nicht in die positiven Wissenschaften eindringt, um in Form einer Selbstreflexion der Wissenschaften allgemein zu werden. Gegen die falsche Aufhebung der autonomen Kunst setzt Adorno Kafka und Schönberg, die hermetische Moderne, aber eben nicht die Massenkunst, welche die auratisch eingekapselten Erfahrungen öffentlich macht. Nach der Lektüre des Manuskripts zum Kunstwerkaufsatz wendet Adorno (in einem Brief vom 18. März 1936: Adorno, Über Walter Benjamin, S. 126-134) gegen Benjamin ein, »daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die mythische Seite gehört ... So dialektisch Ihre Arbeit auch ist, sie ist es nicht beim autonomen Kunstwerk selbst; sie sieht vorbei an der elementaren und mir in der eigenen musikalischen Erfahrung täglich evidenteren Erfahrung, daß gerade die äußerste Konsequenz in der Befolgung des technologischen Gesetzes von autonomer Kunst diese verändert und sie anstelle der Tabuierung und Fetischisierung dem Stand der Freiheit, des bewußt Herstellbaren, zu Machenden annähert.« (ebd., S. 127 f.) Nur das den Massen unzugängliche formalistische Kunstwerk widersteht, nach dem Zerfall der Aura, den Zwängen der Assimilation an die vom Markt bestimmten Bedürfnisse und Einstellungen der Konsumenten. Adorno verfolgt eine Strategie des Überwinterns, deren Schwäche ersichtlich in ihrem defensiven Charakter liegt. Interessanterweise läßt sich Adornos These mit Beispielen aus Literatur und Musik belegen, soweit diese von Reproduktionstechniken abhängig bleiben, die einsame Lektüre und kontemplatives Hören, also den Königsweg bürgerlicher Individuierung vorschreiben. Für die kollektiv rezipierten Künste - Architektur, Theater, Malerei - zeichnet sich hingegen ebenso wie für die Gebrauchsliteratur und -musik, die von den elektronischen Medien abhängig geworden ist, eine Entwicklung ab, die über bloße Kulturindustrie hinausweist und Benjamins Hoffnung auf eine verallgemeinerte profane Erleuchtung nicht a fortiori entkräftet. Freilich behält die Entritualisierung der Kunst auch für Benjamin
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einen zweideutigen Sinn. Es ist, als befürchte Benjamin eine Tilgung des Mythos ohne eintretende Befreiung - so als würde der Mythos sich am Ende geschlagen geben müssen, aber seine Gehalte der Umsetzung in Tradition gleichwohl vorenthalten können, um noch in der Niederlage zu triumphieren. Die Bilder, welche die Tradition allein dem Innersten des Mythos abjagen kann, drohen, nachdem der Mythos das Gewand des Fortschritts angelegt hat, zu Boden zu fallen und der rettenden Kritik auf immer verlorenzugehen. Der in der Moderne nistende Mythos, der sich im Fortschrittsglauben des Positivismus ausdrückt, ist der Feind, dem Benjamin das ganze Pathos der Rettung entgegengesetzt. Die Entritualisierung, weit davon entfernt, ein Garant der Befreiung zu sein, droht mit einem spezifischen Verlust an Erfahrung.
IV Benjamin hat sich gegenüber dem Verlust der Aura stets ambivalent verhalten.26 In der Aura des Kunstwerkes ist nämlich die der Erneuerung bedürftige historische Erfahrung einer vergangenen Jetztzeit eingeschlossen; der undialektische Zerfall der Aura wäre ein Verlust jener Erfahrung. Schon zu einer Zeit, als Benjamin, der Student, sich noch zutraute, das Programm der kommenden Philosophie zu entwerfen (A. S. Bd. 2, S. 27-41), steht der Begriff einer unverstümmelten Erfahrung im Zentrum der Überlegungen. Benjamin polemisiert damals gegen die »gleichsam auf den Nullpunkt, das Minimum von Bedeutung reduzierte Erfahrung«, d.h. gegen die Erfahrung physikalischer Objekte, an der Kant paradigmatisch seinen Versuch der Analyse der Bedingungen möglicher Erfahrung orientiert hatte. Benjamin verteidigt demgegenüber die komplexeren Erfahrungsarten der Naturvölker und der Wahnsinnigen, der Hellseher und der Künstler. Damals verspricht er sich noch von der Metaphysik die Wiederherstellung eines systematischen Erfahrungskontinuums. Später hat er der Kunstkritik diese Aufgabe 26 »Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts wirkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.« (A. S. Bd. i, S. 158)
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zugemutet; sie soll das Schöne ins Medium des Wahren transponieren, wobei »Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird«. (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 12) Die Stelle des schönen Scheins als der notwendigen Hülle nimmt schließlich der Begriff der Aura ein, die, indem sie zerfällt, das Geheimnis der komplexen Erfahrung offenbart: »Die Erfahrung der Aura beruht auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« (Baudelaire, S. 157) Die auratische Erscheinung kann nur im intersubjektiven Verhältnis des Ichs zu seinem Gegenüber, dem alter ego, eintreten. Wo die Natur so »belehnt« wird, daß sie die Augen aufschlägt, verwandelt sich der Gegenstand in ein Gegenüber. Universale Beseelung der Natur ist das Zeichen magischer Weltbilder, in denen die Trennung zwischen der Sphäre des Objektivierten, über das wir manipulativ verfügen, und dem Bereich des Intersubjektiven, in dem wir einander kommunizierend begegnen, noch nicht vollzogen ist. Statt dessen ist die Welt nach Analogien und Entsprechungen organisiert, wofür die totemistischen Klassifikationen ein Beispiel geben. Ein subjektivistischer Rest der Wahrnehmung solcher Korrespondenzen sind die synästhetischen Verbindungen. 27 An der auratischen Erscheinung entwickelt Benjamin den emphatischen Begriff einer Erfahrung, die der kritischen Bewahrung und Aktualisierung bedarf, wenn anders das messianische Versprechen des Glücks je soll eingelöst werden können; andererseits handelt er aber affirmativ vom Verlust der Aura. Diese Zweideutigkeit drückt 27 »Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zueigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den Fleurs du Mal aufgenommen hat.« (Ebd., S. 147) »Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sagen möchte, daß ihnen das Vermögen, zu blicken, verloren gegangen ist.« (Ebd., S. 158)
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sich auch darin aus, daß Benjamin an autonomer Kunst genau jene Leistungen hervorhebt, die auch das entritualisierte Kunstwerk auszeichnen. Auch die des Kultischen vollends entkleidete Kunst, exemplarisch die surrealistische (deren Vertreter Baudelaires Begriff der correspondances wieder aufgenommen haben), zielt auf dasselbe wie die autonome Kunst, nämlich darauf: Gegenstände im Netz der wiederentdeckten Korrespondenzen als beglückendes Gegenüber zu erfahren: »Die correspondances stellen die Instanz dar, vor der der Gegenstand der Kunst als ein treulich abzubildender, dadurch allerdings durch und durch aporetischer, vorgefunden wird. Wollte man versuchen, im Material der Sprache selbst diese Aporie nachzubilden, so käme man dahin, das Schöne zu bestimmen als den Gegenstand der Erfahrung im Stande des Ähnlichseins.« (ebd., S. 148 Anm.) Die Zweideutigkeit läßt sich nur auflösen, wenn wir die kultischen Momente im Begriff der auratischen Erscheinung von den allgemeinen Momenten trennen. Mit der Aufhebung der autonomen Kunst und dem Verfall der Aura verschwinden der esoterische Zugang zum Kunstwerk und dessen kultischer Abstand vom Betrachter, damit auch die Kontemplation des einsamen Kunstgenusses; aber jene Erfahrung, welche die zerborstene Hülle der Aura freigibt, war in der Erfahrung der Aura auch schon enthalten: nämlich die Verwandlung des Gegenstandes in ein Gegenüber. Dadurch öffnet sich ein Hof überraschender Korrespondenzen der belebten Natur mit der unbelebten, worin uns auch die Dinge in den Strukturen verletzbarer Intersubjektivität begegnen. In solchen Strukturen entzieht sich das erscheinende Wesen dem distanzlosen Zugriff auf Unmittelbares; die in der Ferne gebrochene Nähe des Anderen ist die Signatur möglicher Erfüllung und eines wechselseitigen Glücks.28 Benjamins Intention zielt auf einen Zustand, in dem die esoterischen Erfahrungen des Glücks öffentlich und allgemein geworden sind. Denn erst in einem Kommunikationszusammenhang, in den Natur geschwisterlich, als wäre sie wieder aufgerichtet, einbezogen ist, können auch die Subjekte ihren Blick aufschlagen. 28 Zu Adornos insbesondere in den Minima Moralia (Frankfurt 1951) vorgetragenen Spekulationen über Naturversöhnung vgl. meine beiden Essays in diesem Band, S. 160 ff.
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Die Entritualisierung der Kunst birgt das Risiko, daß das Kunstwerk mit seiner Aura auch den Erfahrungsgehalt preisgibt und nur noch banal ist; der Aurazerfall eröffnet andererseits erst die Chance der Verallgemeinerung und der Verstetigung der Glückserfahrung. Die Hüllenlosigkeit des exoterisch gewordenen Glücks, das der auratischen Brechung entbehrt, begründet eine Verwandtschaft mit der Erfahrung des Mystikers, der im Zustand der Ergriffenheit mehr an der Aktualität der Nähe und der fühlbaren Präsenz Gottes als an Gott selber interessiert ist. Allein der Mystiker schließt die Augen und ist einsam; seine Erfahrung ist so esoterisch wie deren Überlieferung. Genau dieses Moment trennt die Glückserfahrung, der Benjamins rettende Kritik gilt, von der religiösen. Profan nennt deshalb Benjamin die Erleuchtung, die er an der Wirkung surrealistischer Werke erläutert, welche nicht mehr Kunst sind, im Sinne der autonomen, sondern Manifestation, Parole, Dokument, Bluff und Fälschung. Solche Werke bringen uns zu Bewußtsein, daß »wir das Geheimnis nur in dem Grade durchdringen, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt«. (A. S. Bd. 2, S. 213) Profan ist diese Erfahrung, weil sie exoterisch ist.29 Keine noch so inständig um die Seele des Freundes ringende Interpretation, von der Scholems Beitrag zu dem Band Zur Aktualität Walter Benjamins ein faszinierendes Beispiel ist30, kann Benjamins Bruch mit der Esoterik hinwegreden. Politische Einsichten nötigen Benjamin, angesichts des heraufziehenden Faschismus, mit jener Esoterik des Wahren zu brechen, für welche der junge Benjamin den dogmatischen Begriff der Lehre reserviert hatte.31 29 Dies ist auch der Grund, warum Benjamin den privaten Haschischrausch nicht als Modell dieser Erfahrung akzeptiert: »Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur, sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. Und sind profanere.« (Ebd., S. 213) 30 Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin herausgegeben von Siegfried Unseld, st 150, Frankfurt 1972. 31 »Und damit läßt sich die Forderung an die kommende Philosophie endlich in die Worte fassen: aufgrund des Kantischen Systems einen Erkenntnisbegriff zu schaffen, der dem Begriff einer Erfahrung korrespondiert, von der die Erkenntnis Lehre ist.« (A. S. Bd. 2, S. 39)
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Benjamin schreibt einmal an Adorno, »daß die Spekulation ihren notwendig kühnen Flug nur dann mit einiger Aussicht auf Gelingen antritt, wenn sie, statt die wächsernen Schwingen der Esoterik anzulegen, ihre Kraftquelle allein in der Konstruktion sieht«. (Briefe 2, S. 793) Ebenso entschieden wendet sich Benjamin gegen die Esoterik der Erfüllung und des Glücks. Benjamin will, und das klingt wie eine Absage an Scholem, »die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung ... Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration«, zu der der einsame Rausch allenfalls die Vorschule abgeben kann. (A. S. Bd. 2, S. 202) Wenn wir von hier aus auf Benjamins These von der Aufhebung der autonomen Kunst zurückschauen, sehen wir, warum sie eine ideologiekritische These nicht sein kann: Benjamins Theorie der Kunst ist eine Theorie der Erfahrung (aber nicht der Erfahrung der Reflexion).32 Die Erfahrung der Aura hat in den Formen der profanen Erleuchtung die auratische Hülle gesprengt und ist exoterisch geworden. Sie verdankt sich nicht einer Analyse, die Verdrängtes ans Licht hebt, ein Reprimiertes freisetzt. Sie wird auf andere Weise gewonnen als Reflexion es vermöchte: nämlich durch das Wiederaufnehmen einer Semantik, die Stück für Stück aus dem Inneren des Mythos herausgelöst und in den Werken der großen Kunst messianisch, d.h. für den Gebrauch der Emanzipation freigesetzt und zugleich aufbewahrt worden ist. Unerklärlich in dieser Konzeption ist freilich der eigentümliche Sog, gegen den eine rettende Kritik sich stemmen muß: ohne deren permanente Anstrengung müßten, so ist die Vorstellung, die tradierten Zeugnisse punktueller Befreiungen vom Mythos und die ihm abgerungenen semantischen Gehalte ins Leere fallen; die Gehalte der Tradition verfielen einem spurenlosen Vergessen. Warum? Benjamin war offensichtlich der Meinung, daß Sinn kein vermehrbares Gut ist und daß Erfahrungen des ungekränkten Umgangs mit Natur, mit den Anderen und mit dem eigenen Ich nicht beliebig erzeugt werden können. Benjamin hat wohl eher daran gedacht, daß das 32 »Es wäre nachzuweisen, daß die Theorie der Erfahrung das keineswegs geheime Zentrum aller Konzeptionen Benjamins darstellt.« P. Krumme, Zur Konzeption der dialektischen Bilder, in: Text und Kritik, a.a.O., S. 80 Anm. 5.
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semantische Potential, aus dem die Menschen schöpfen, um die Welt mit Sinn zu belehnen und erfahrbar zu machen, zunächst im Mythos niedergelegt ist und von diesem entbunden werden muß daß aber dieses Potential nicht erweitert, sondern immer nur transformiert werden kann. Benjamin befürchtet, daß während dieser Transformation die semantischen Energien entweichen und der Menschheit verlorengehen könnten. Anhaltspunkte für diese verfallsgeschichtliche Perspektive gibt Benjamins Sprachphilosophie; in ihr ist die Theorie der Erfahrung fundiert.33 V
Benjamin hat zeitlebens an einer mimetischen Theorie der Sprache festgehalten. Auch in den späteren Arbeiten kommt er auf den onomatopoetischen Charakter der einzelnen Worte, sogar der Sprache im ganzen zurück. Unvorstellbar ist ihm, daß sich das Wort zur Sache zufällig verhalte. Worte begreift Benjamin als Namen; indem jedoch der Mensch den Dingen Namen gibt, kann er deren Wesen treffen oder verfehlen: die Benennung ist eine Art Übersetzung des Namenlosen in den Namen, die Übersetzung aus der unvollkommeneren Sprache der Natur in die Sprache des Menschen. Benjamin hat das Eigentümliche der Menschensprache nicht in ihrer syntaktischen Organisation (für die er sich nicht interessierte), noch in der Darstellungsfunktion gesehen (die er gegenüber der Ausdrucksfunktion für untergeordnet hält34). Nicht die humanspezifischen Eigenschaften der Sprache interessieren Benjamin, sondern die Funktion, die sie mit den Tiersprachen verbindet: die expressive Sprache, so meint er, ist nur eine Form 33 Schon im Programm der kommenden Philosophie findet sich der Hinweis: »Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von (Philosophie) wird einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen, der auch Gebiete, deren wahrhafte systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen wird.« (A. S. Bd. 2, S. 38 f.) Das habe zu Lebzeiten Kants schon Hamann versucht. 34 »Das Wort soll etwas mitteilen. Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mitteilbaren Wortes.« (A. S. Bd. 2, S. 22)
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jenes animalischen Instinktes, der sich in den Ausdrucksbewegungen manifestiere. Diese wiederum bringt Benjamin mit dem mimetischen Vermögen zusammen, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu reproduzieren. Ein Beispiel ist der Tanz, in dem Expression und Mimesis verschmelzen. Er zitiert einen Satz von Mallarme: »Die Tänzerin ist nicht eine Frau, sondern eine Metapher, die aus den elementaren Formen unseres Daseins einen Aspekt zum Ausdruck bringen kann: Schwert, Becher, Blume oder andere.« (A. S. Bd. 2, S. 91) Die ursprüngliche Mimesis ist Abbildung der Korrespondenzen: »Bekanntlich war der Lebenskreis, der ehemals vom Gesetz der Änlichkeit durchwaltet schien, umfassend; im Mikrokosmos wie im Makrokosmos regierte sie. Jene natürlichen Korrespondenzen erhalten erst ihr eigentümliches Gewicht in der Erkenntnis, daß sie samt und sonders Stimulanten und Erwecker des mimetischen Vermögens sind, welches im Menschen ihnen Antwort gibt.« Was sich in der sprachlichen Physiognomik wie in den Ausdrucksgebärden überhaupt äußert, ist nicht ein bloß subjektiver Zustand, sondern durch diesen hindurch der noch nicht unterbrochene Zusammenhang des menschlichen Organismus mit der umgebenden Natur: die expressiven Bewegungen sind mit den auslösenden Qualitäten der Umgebung systematisch verknüpft. So abenteuerlich diese mimetische Theorie der Sprache klingt, recht hat Benjamin mit der Vermutung, daß die älteste semantische Schicht die der Expressionen ist. Der expressive Reichtum der Primatensprache ist gut erforscht, und »soweit Sprache lautgebender emotionaler Ausdruck ist, besteht kein grundsätzlicher Unterschied zum vokalen Ausdrucksvermögen der nichtmenschlichen Primatenfamilie«.35 Man könnte spekulieren, daß ein semantischer Grundbestand aus den subhumanen Formen der Kommunikation in die Menschensprache eingegangen ist und ein nicht vermehrbares Potential an Bedeutungen darstellt, mit denen die Menschen die Welt im Lichte 35 D. Ploog, Kommunikation in Affengesellschaften und deren Bedeutung für die Verständigungsweisen des Menschen, in: H.-G. Gadamer u. P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 141 f. Zu Benjamins Sprachphilosophie, die in der bisherigen Diskussion eher vernachlässigt worden ist, vgl. H. H. Holz, Prismatisches Denken, in: Über W. Benjamin, a.a.O., S. 62-110.
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ihrer Bedürfnisse interpretieren und dadurch ein Netz von Korrespondenzen erzeugen. Wie dem auch sei, Benjamin rechnet mit einem solchen mimetischen Vermögen, mit dem die Gattung an der Schwelle zur Menschwerdung, bevor sie in den Prozeß ihrer Selbsterzeugung eintritt, ausgestattet war. Es gehört zu Benjamins (unmarxistischen) Grundüberzeugungen, daß Sinn nicht wie Wert durch Arbeit produziert, sondern allenfalls in Abhängigkeit vom Produktionsprozeß umgeformt werden kann.36 Die geschichtlieh sich wandelnde Interpretation der Bedürfnisse schöpft aus einem Potential, mit dem die Gattung haushalten muß, weil sie es wohl transformieren, aber nicht bereichern kann: »Dabei ist zu bedenken, daß weder die mimetischen Kräfte, noch die mimetischen Objekte oder Gegenstände, (die, könnte man hinzufügen, etwas von den Auslöserqualitäten des Zwingenden und des Prägnanten behalten haben) im Laufe der Jahrtausende die gleichen blieben. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Gabe, Ähnlichkeiten hervorzubringen - zum Beispiel in den Tänzen, deren älteste Funktion das ist - und daher auch die Gabe, solche zu erkennen, sich im Wandel der Geschichte verändert hat. Die Richtung dieser Änderung scheint durch die wachsende Hinfälligkeit des mimetischen Vermögens bestimmt zu sein.« (ebd., S. 96L) Dieser Vorgang hat eine ambivalente Bedeutung. In dem mimetischen Vermögen sieht Benjamin nicht nur die Quelle des Bedeutungsreichtums, den die in der soziokulturellen Lebensform entbundenen Bedürfnisse in der Sprache über eine dadurch erst humanisierte Welt ausgießen; er sieht in der Gabe, Ähnlichkeiten wahrzunehmen, auch das Rudiment des einst gewaltigen Zwangs, ähnlich zu werden, d. h. zur Adaptation gezwungen zu sein - das animalische Erbe also. Insofern ist das mimetische Vermögen auch die Signatur einer ursprünglichen Abhängigkeit von den Gewalten der Natur: sie spricht sich in den magischen Praktiken aus, lebt in der Urangst animistischer Weltbilder fort, bleibt im Mythos erhalten. Die Bestimmung der Menschengattung ist es dann, jene Abhängigkeit zu liquidieren, ohne 36 Die These, »daß Sinn, Bedeutung usw. - marxistisch — nur durch die weltgeschichtlichen Arbeitsprozesse der Menschengattung — in denen diese sich selbst produziert - erzeugt wird, hat Benjamin sich nicht zu eigen gemacht«. B. Lindner, a.a.O., S. 55.
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daß die Kräfte der Mimesis und die Ströme der semantischen Energien versiegen; denn damit würde die poetische Fähigkeit, die Welt im Lichte menschlicher Bedürfnisse zu interpretieren, versagen. Dies ist der profane Inhalt der messianischen Verheißung. Benjamin hat die Geschichte der Kunst, vom kultischen bis zum nachauratischen Kunstwerk, als Geschichte der Versuche begriffen, jene unsinnlichen Ähnlichkeiten oder Korrespondenzen abzubilden, aber gleichzeitig den Bann zu lösen, der einst auf dieser Mimesis ruhte. Göttlich nannte Benjamin diese Versuche, weil sie den Mythos brechen und dessen Reichtum gleichwohl erhalten und freisetzen. Wenn wir Benjamin bis hierher folgen, stellt sich die Frage, woher denn jene göttlichen Kräfte rühren, die zugleich bewahren und befreien. Auch die Kritik, auf deren konservativ-revolutionäre Kraft Benjamin setzt, muß sich ja retrospektiv auf vergangene Jetztzeiten richten; sie findet die Gebilde, in denen die dem Mythos abgejagten Gehalte abgelagert sind, also die Dokumente vergangener Befreiungstaten vor. Wer bringt diese Dokumente hervor, wer sind ihre Verfasser? Offensichtlich wollte Benjamin nicht idealistisch einer unableitbaren Erleuchtung großer Autoren, also einer ganz und gar nicht profanen Quelle vertrauen. Wohl war er der idealistischen Beantwortung der Frage nahe genug; denn eine Theorie der Erfahrung, die in einer mimetischen Theorie der Sprache begründet ist, erlaubt keine andere. Dem aber standen Benjamins politische Einsichten entgegen. Benjamin, der an Bachofen die Vorwelt entdeckt hat, der Schuler kannte, Klages studierte und schätzte, mit Carl Schmitt korrespondierte, dieser Benjamin konnte als jüdischer Intellektueller im Berlin der zwanziger Jahre dennoch nicht ignorieren, wo seine (und unsere) Feinde standen. Dieses Bewußtsein hat ihn zu einer materialistischen Antwort genötigt. Das ist der Hintergrund der Rezeption des Historischen Materialismus, den Benjamin freilich mit der am Modell der rettenden Kritik entwickelten messianischen Geschichtsauffassung vereinigen mußte. Dieser gezähmte Historische Materialismus sollte auf die offene Frage nach dem Subjekt der Kunst- und Kulturgeschichte eine zugleich materialistische und doch mit Benjamins eigener
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Theorie der Erfahrung kompatible Antwort geben. Daß dies gelungen sei, war Benjamins Irrtum - und der Wunsch seiner marxistischen Freunde. Der ideologiekritische Begriff der Kultur hat den Vorzug, die kulturelle Überlieferung methodisch als einen Teil der sozialen Evolution einzuführen und einer materialistischen Erklärung zugänglich zu machen. Benjamin ist hinter diesen Begriff zurückgegangen, weil sich diejenige Kritik, die die Geschichte der Kunst unter dem Aspekt der Rettung messianischer Augenblicke und der Bewahrung eines gefährdeten semantischen Potentials aneignet, nicht als Reflexion eines Bildungsprozesses, sondern als Identifikation und Wiederholen von emphatischen Erfahrungen und utopischen Gehalten verstehen muß. Benjamin hat auch die Philosophie der Geschichte als Theorie der Erfahrung konzipiert.37 In diesem Rahmen ist aber eine materialistische Erklärung der Geschichte der Kunst, auf die Benjamin aus politischen Gründen nicht verzichten will, unmittelbar nicht möglich. Darum versucht er eine Integration dieser Lehre mit Grundannahmen des Historischen Materialismus. Seine Absicht spricht er in der ersten geschichtsphilosophischen These aus: der bucklige Zwerg Theologie soll die Puppe Historischen Materialismus in Dienst nehmen. Dieser Versuch muß scheitern, weil er der anarchistischen Konzeption der Jetztzeiten, die das Schicksal intermittierend gleichsam von oben durchschlagen, die materialistische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung nicht einfach eingefügt werden kann. Dem Historischen Materialismus, der mit Fortschritten in der Dimension nicht nur der Produktivkräfte, sondern auch der Herrschaft rechnet, kann eine antievolutionistische Geschichtskonzeption nicht wie eine Mönchskapuze übergestülpt werden. Meine These ist, daß Benjamin seine Intention, Aufklärung und Mystik zu vereinigen, nicht eingelöst hat, weil der Theologe in ihm sich nicht dazu verstehen konnte, die messianische Theorie der Erfahrung für den Histori37 Das belegt u.a. die 14. Geschichtsphilosophische These; Benjamin interessiert eher der Erfahrungsgehalt der Französischen Revolution als die objektiven Veränderungen, zu denen sie geführt hat: »Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so, wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert.«
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sehen Materialismus dienstbar zu machen. Soviel, meine ich, ist Scholem zuzugeben. Auf zwei der Mißlichkeiten möchte ich eingehen: auf die merkwürdige Adaptierung der Marxschen Ideologiekritik und auf die Idee einer politisierten Kunst. VI Benjamin hat 1935 auf Wunsch des Instituts für Sozialforschung ein Expose angefertigt, in dem er zum ersten Mal Motive der Passagenarbeit vorstellt (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts). Rückblickend auf die lange Entstehungsgeschichte spricht Benjamin in einem Brief an Adorno von einem Umschmelzungsprozeß, »der die ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Gedankenmasse einem Aggregatzustand entgegengeführt hat, in dem die Welt der dialektischen Bilder gegen Einreden gesichert ist, welche die Metaphysik provoziert«. (Briefe 2, S. 664) Er verweist dabei auf »die neuen und eingreifenden soziologischen Perspektiven, die den gesicherten Rahmen der interpretativen Verspannungen hergeben«, (ebd., S. 665) Adornos Antwort auf dieses Expose und seine Kritik an der ersten Baudelairestudie, die Benjamin drei Jahre darauf der »Zeitschrift für Sozialforschung« anbietet, reflektieren, wie ich meine, sehr genau die Art, wie sich Benjamin marxistische Kategorien anverwandelt, - und zwar sowohl durch das, was Adorno versteht, als auch durch das, was er mißversteht. 38 Adornos Eindruck ist, daß sich Benjamin in der Passagenarbeit Gewalt antue, um dem Marxismus Tribute zu zollen, die weder diesem noch Benjamin selber zum Guten ausschlagen. Er moniert das Verfahren, »einzelne sinnfällige Züge aus dem Bereich des Überbaus materialistisch zu wenden, indem man sie zu entsprechenden Zügen des Unterbaus unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung 38 Ich beziehe mich auf die beiden Briefe Adornos an Benjamin vom 2. August 1935 und vom 10. November 1938 ( Briefe, Bd. I, S. 671 ff. und S. /82ff.) Dazu die Antwort Benjamins ebd., S. 79off. Zu diesem Komplex vgl. auch: J. Taubes, Kultur und Ideologie, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Stuttgart 1969, S. 117-138.
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setzt«, (ebd., S. 705) Insbesondere bezieht er sich auf den bloß metaphorischen Gebrauch der Kategorie des Warenfetischs, von dem Benjamin in einem Brief an Scholem angekündigt hatte, er stünde in derselben Weise im Zentrum der neuen Arbeit wie der Begriff des Trauerspiels im Mittelpunkt seines Barockbuches. Adorno spießt die vordergründig materialistische Tendenz auf, die »Inhalte Baudelaires unmittelbar auf benachbarte Züge der Sozialgeschichte seiner Zeit, und zwar möglichst solche ökonomischer Art, zu beziehen«. Dabei mache Benjamin den Eindruck eines Schwimmers, »der mit mächtiger Gänsehaut ins kalte Wasser sich stürzt«. Dieses scharfsichtige Urteil, das auch dann nichts an Triftigkeit verliert, wenn man Adornos Rivalität zu Brecht in Rechnung stellt, kontrastiert nun eigentümlich mit dem uneinsichtigen Insistieren darauf, daß der Freund die »ausgesparte Theorie« und die »fehlende Interpretation« nachholen möge, damit die dialektische Vermittlung zwischen den kulturellen Charakteren und dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß sichtbar werde. Adorno hat niemals erkennbar gezögert, Benjamin genau die ideologiekritische Intention zu unterstellen, der seine eigenen Arbeiten folgen zu Unrecht. Das zeigt sich exemplarisch an den Einwänden, die Benjamin bewegen sollten, den für die Theorie der Erfahrung zentralen Begriff des dialektischen Bildes zu revidieren - damit »eine Bereinigung der Theorie selbst gelingen könne«, (ebd., S. 672) Adorno sieht nicht, wie legitim es ist, das Vorhaben einer Urgeschichte der Moderne, die ja auf die Entschlüsselung einer verschütteten und vom Vergessen bedrohten Semantik abzielt, mit hermeneutischen Mitteln, eben durch die Deutung dialektischer Bilder, bewältigen zu wollen. Für Benjamin lösen sich unter den Anstoß des Neuen, in dem sich die Kontinuität des Immergleichen durchsetzt, Bildphantasien des Urvergangenen ab, sie »erzeugen, in Durchdringung mit dem Neuen, die Utopie«. Benjamin spricht, in seinem Expose, von dem kollektiven Unbewußten, in dem die Erfahrungen ihr Depot haben. An diesem Sprachgebrauch stößt sich Adorno mit Recht. Aber zu Unrecht meint er, daß die Entzauberung des dialektischen Bildes in ungebrochen mythisches Denken zurückführen müsse; denn die Archaik in der Moderne, in der Adorno eher die Hölle als
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das goldene Zeitalter sehen möchte, enthält eben jene Erfahrungspotentiale, die auf den utopischen Zustand der befreiten Gesellschaft hinweisen. Modell ist der Rückgriff der Französischen Revolution auf die römische Antike. Hier benützt Benjamin den Vergleich mit der Verwertung der Traumelemente beim Erwachen, die ja im Surrealismus zu einer Technik ausgebildet worden ist und die Benjamin, irreführend genug, einen Schulfall dialektischen Denkens nennt. Adorno nimmt dieses Wort zu wörtlich. Das dialektische Bild als Traum ins Bewußtsein zu verlegen, erscheint ihm der bare Subjektivismus. Der Fetischcharakter der Ware, so hält er Benjamin entgegen, ist keine Tatsache des Bewußtseins, sondern dialektisch in dem eminenten Sinn, daß er Bewußtsein produziert, nämlich archaische Bilder in den bürgerlich entfremdeten Individuen. Aber Benjamin braucht sich diesem ideologiekritischen Anspruch nicht zu stellen; Benjamin will nicht hinter die Bewußtseinsformation zurückgreifen auf die Objektivität eines Verwertungsprozesses, durch den der Warenfetisch Gewalt gewinnt über das Bewußtsein der Individuen. Benjamin will und braucht in der Tat nur »die Auffassungsweise des Fetischcharakters im Kollektivbewußtsein« zu untersuchen, weil die dialektischen Bilder Bewußtseinsphänomene sind, und nicht- wie Adorno meint - ins Bewußtsein verlegt werden. Freilich hat sich auch Benjamin selbst über die Differenz getäuscht, die zwischen seiner Verfahrungsweise und der marxistischen Ideologiekritik besteht. In den nachgelassenen Manuskripten zur Passagenarbeit heißt es einmal: »Wenn der Unterbau gewissermaßen im Denk- und Erfahrungsmaterial den Überbau bestimmt, diese Bestimmung aber nicht die des einfachen Abspiegelns ist, wie ist sie dann, ganz abgesehen von ihrer Entstehungsursache (!), zu charakterisieren? Als deren Ausdruck. Der Überbau ist der Ausdruck des Unterbaus. Die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft existiert, kommen im Überbau zum Ausdruck.« (zit. nach Tiedemann, a.a.O., S. 106) Ausdruck ist eine Kategorie der Benjaminschen Theorie der Erfahrung; sie bezieht sich auf jene unsinnlichen Korrespondenzen zwischen belebter und unbelebter Natur, auf denen der physiognomische Blick sowohl des Kindes wie des Künstlers liegt. Ausdruck ist für Benjamin eine
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semantische Kategorie, die dem, was Kassner, selbst Klages intendiert haben, eher gerecht wird als dem Basis-Überbau-Theorem. Dasselbe Mißverständnis zeigt sich gegenüber der Ideologiekritik, wie Adorno sie geübt hat, wenn Benjamin zu Kapiteln des späteren Wagnerbuches bemerkt: »Eine Tendenz dieser Arbeit (hat mich) besonders interessiert: das Physiognomische unmittelbar, fast ohne psychologische Vermittlung, im gesellschaftlichen Raum anzusiedeln.« (Briefe 2, S. 741) In der Tat hatte Benjamin Psychologie nicht im Sinn, aber ebensowenig eine Kritik des notwendig falschen Bewußtseins. Seine Kritik galt den kollektiven, in den Ausdruckscharakteren des täglichen Lebens wie in Literatur und Kunst sich niederschlagenden Bildphantasien, die der geheimen Kommunikation des ältesten Bedeutungspotentials menschlicher Bedürfnisse mit den kapitalistisch erzeugten Lebensbedingungen entspringen. Adorno appelliert im Briefwechsel über die Passagenarbeit an das Ziel, »deretwillen Sie das Opfer der Theologie bringen«. (Briefe 2, S. 672) Benjamin hat zwar dieses Opfer gebracht, indem er die mystische Erleuchtung nur mehr als profane, d. h. verallgemeinerbare, exoterische Erfahrung akzeptierte. Aber Adorno, der gegenüber Benjamin gewiß der bessere Marxist gewesen ist, hat nicht gesehen, daß der Freund insofern das theologische Erbe preiszugeben niemals bereit gewesen ist, als er seine mimetische Theorie der Sprache, seine messianische Theorie der Geschichte und sein konservativ-revolutionäres Verständnis von Kritik gegen Einwendungen des Historischen Materialismus, soweit diese Puppe nicht einfach in Regie zu nehmen war, immer immun gehalten hat. Das zeigt sich auch dort, wo sich Benjamin als engagierter Kommunist bekannte: in seiner Zustimmung zur instrumentellen Politisierung der Kunst. Ich verstehe diese Zustimmung, die in dem Vortrag »Der Autor als Produzent« (Versuche über Brecht, S. 95-116) am deutlichsten wird, als eine Verlegenheit, die daraus resultiert, daß aus der rettenden Kritik keineswegs, wie aus der bewußtmachenden, eine immanente Beziehung zur politischen Praxis zu gewinnen ist. Ideologiekritik ist, wenn sie im scheinbar allgemeinen Interesse das partikulare der Herrschenden aufdeckt, eine politische Kraft.
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Soweit sie die normativen Strukturen, die das Bewußtsein der Unterdrückten gefangenhalten, erschüttert und in politischem Handeln terminiert, zielt Ideologiekritik auf die Entbindung der in die Institution eingelassenen strukturellen Gewalt. Sie ist auf die partizipatorische Tilgung der freigesetzten Gewalt gerichtet. Strukturelle Gewalt kann auch präventiv oder reaktiv von oben entbunden werden. Dann hat sie die Form der faschistischen Teilmobilisierung von Massen, die die freigesetzte Gewalt nicht tilgen, sondern diffus »ausagieren«. Ich habe gezeigt, daß in diesem ideologiekritischen Bezugsrahmen der von Benjamin entwickelte Typus von Kritik keinen Platz findet. Eine Kritik, die zum Sprung in vergangene Jetztzeiten ansetzt, um semantische Potentiale zu retten, hat eine höchst vermittelte Stellung zur politischen Praxis. Darüber hat Benjamin hinreichend Klarheit sich nicht verschafft. In dem frühen Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« unterscheidet er die rechtssetzende von der rechtserhaltenden Gewalt: diese ist die legitime Gewalt, die von den Organen des Staates ausgeübt wird; jene ist die in Krieg und Bürgerkrieg freigesetzte strukturelle Gewalt, die latent in allen Institutionen anwesend ist. 39 Die rechtsetzende Gewalt hat nicht, wie die rechtserhaltende, instrumentellen Charakter, sie vielmehr »manifestiert« sich. Und zwar manifestiert sie die in Deutungen und Institutionen verkörperte strukturelle Gewalt in jener Sphäre, die Benjamin wie Hegel dem Schicksal vorbehält: In Kriegs- und Familienschicksalen. Freilich, Veränderungen in dieser Sphäre der Naturgeschichte verändern nichts: »Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtssetzender und rechtserhaltender zu gewähren ... Dies währt solange, bis 39 In diesem Zusammenhang übt Benjamin am Parlamentarismus eine Kritik, die Carl Schmitts Bewunderung gefunden hat: »Sie (die Parlamente) bieten das bekannte jammervolle Schauspiel, weil sie sich der revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken, nicht bewußt geblieben sind. In Deutschland insbesondere ist denn auch die letzte Manifestation solcher Gewalten für die Parlamente folgenlos verlaufen. Ihnen fehlt der Sinn für die rechtssetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist; kein Wunder, daß sie zu Beschlüssen, die dieser Gewalt würdig wären, nicht gelangen, sondern im Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angelegenheiten pflegen.« (A. S. Bd. 2, S. 53 f.)
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entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtssetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen.« (ebd., S. 65) Wir begegnen wiederum der Benjaminschen Schicksalskonzeption, die ein naturgeschichtliches Kontinuum des Immergleichen behauptet und kumulative Veränderungen in den Strukturen der Herrschaft ausschließt. Hier setzt die Figur der rettenden Kritik an; und nach dieser Figur bildet Benjamin damals den Begriff der revolutionären Gewalt: er belehnt gleichsam den Akt der Interpretation, die aus dem vergangenen Kunstwerk den punktuellen Durchbruch durchs naturgeschichtliche Kontinuum herausholt und für die Gegenwart aktualisiert, mit den Insignien der Praxis. Das ist dann die »reine« oder die »göttliche« Gewalt, die auf die »Durchbrechung des Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen« (ebd.) abzielt. Benjamin konzeptualisiert die »reine« Gewalt im Rahmen seiner Theorie der Erfahrung; darum muß er sie der Attribute zweckrationalen Handelns entkleiden: die revolutionäre Gewalt ist ebenso wie die mythische eine, die sich manifestiert - sie ist die »höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen«, (ebd., S. 66) Konsequenterweise bezieht sich Benjamin auf Sorels Mythos vom Generalstreik und auf eine anarchistische Praxis, die sich dadurch auszeichnet, daß sie den instrumenteilen Charakter des Handelns aus dem Bereich der politischen Praxis verbannt und Zweckrationalität zugunsten einer »Politik der reinen Mittel« negiert: »Über die Gewaltsamkeit (einer solchen Praxis darf) ebensowenig nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken, sondern allein nach dem Gesetz ihrer Mittel geurteilt werden.« (ebd., S. 58) Das war 1920. Neun Jahre später schreibt Benjamin seinen berühmten Aufsatz über die surrealistische Bewegung, mit der Baudelaires Idee einer Verschwisterung von Traum und Tat inzwischen Macht gewonnen hatte. Was Benjamin als reine Gewalt konzipiert hattein der surrealistischen Provokation hatte es überraschend Gestalt angenommen - in den surrealistischen Unsinnsakten war Kunst in expressives Handeln überführt, die Trennung zwischen poetischem und politischem Handeln aufgehoben worden. So hat Benjamin im Surrealismus die Bestätigung seiner Kunsttheorie sehen können. Dennoch fanden die Illustrationen der reinen Gewalt, die der
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Surrealismus gegeben hat, in Benjamin einen ambivalenten Zuschauer. Politik als Darstellung oder gar dichterische Politik-als Benjamin diese Realisation sah, mochte er sich den prinzipiellen Unterschieden zwischen politischem Handeln und Manifestation denn doch nicht verschließen: »das hieße, die methodische und disziplinäre Vorbereitung der Revolution völlig zugunsten einer zwischen Übung und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen.« (A. S. Bd. 2, S. 212) Benjamin hat sich daher, gefördert durch den Kontakt mit Brecht, von seinen früheren anarchistischen Neigungen gelöst und das Verhältnis von Kunst und politischer Praxis dann vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen und propagandistischen Verwertbarkeit der Kunst für den Klassenkampf gesehen. Die entschlossene Politisierung der Kunst ist ein Konzept, das Benjamin vorfand. Er mag gute Gründe gehabt haben, dieses Konzept aufzugreifen - allein, eine systematische Beziehung zu seiner eigenen Theorie der Kunst und der Geschichte hatte es nicht. Indem Benjamin es umstandslos akzeptiert, gesteht er stillschweigend ein, daß aus seiner Theorie der Erfahrung eine immanente Beziehung zu politischer Praxis nicht sich gewinnen läßt: die Erfahrung des Choks ist keine Handlung, und die profane Erleuchtung keine revolutionäre Tat.40 Den Historischen Materialismus »in den Dienst zu nehmen« für die Theorie der Erfahrung war Benjamins Absicht; aber sie mußte zu einer Identifizierung von Rausch und Politik führen, die Benjamin nicht wollen konnte. Die Entbindung der kulturellen Überlieferung von den semantischen Potentialen, die dem messianischen Zustand nicht verlorengehen dürfen, ist nicht dasselbe wie die Entbindung der politischen Herrschaft von struktureller Gewalt. In einer Theologie der Revolution liegt Benjamins Aktualität nicht.41 Seine Aktualität vielmehr zeigt sich, wenn wir nun versuchen, Benjamins Theorie der Erfahrung umgekehrt für den Historischen Materialismus »in Dienst zu nehmen«. 40 Vgl. dazu K. H. Bohrer, Die gefährdete Phantasie ..., a.a.O., insbes. S. 53£f. Ferner: B. Lypp, Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Frankfurt 1972. 41 Vgl. H. Salzinger, W. Benjamin - Theologe der Revolution, in: Kürbiskern, Jg. 1969, S. 629-647.
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VII Eine dialektische Theorie des Fortschritts, die der Historische Materialismus zu sein beansprucht, ist auf der Hut: was sich als Fortschritt präsentiert, kann sich bald als die Perpetuierung des vermeintlich Überwundenen zu erkennen geben. Immer mehr Theoreme der Gegenaufklärung sind deshalb der Dialektik der Aufklärung, immer mehr Elemente der Fortschrittskritik der Theorie des Fortschritts einverleibt worden - um einer Idee des Fortschritts willen, die subtil und unnachgiebig genug ist, um sich nicht blenden zu lassen vom bloßen Schein der Emanzipation. Einem freilich muß sie widersprechen: der These nämlich, daß die Emanzipation selbst verzaubert.42 Im Begriff der Ausbeutung, der die Marxsche Kritik bestimmt hat, waren Armut und Herrschaft noch eins. Die Entwicklung des Kapitalismus hat uns inzwischen gelehrt, zwischen Hunger und Unterdrückung zu differenzieren. Die Entbehrungen, denen durch die Vermehrung des Wohlstandes begegnet werden kann, sind andere als die, denen ein Wachstum nicht des gesellschaftlichen Reichtums, sondern der Freiheit abhelfen kann. Bloch hat in »Naturrecht und menschliche Würde« diese Unterscheidungen eingeführt - Differenzierungen im Begriff des Fortschritts, zu denen der Erfolg der unterm Kapitalismus entfalteten Produktivkräfte nötigt.43 Je mehr in den entwickelten Gesellschaften die Möglichkeit sich abzeichnet, Repression mit Wohlstand zu vereinbaren, also Forderungen, die sich ans ökonomische System richten, zu erfüllen, ohne daß die genuin politischen Forderungen eingelöst sein müßten, um so mehr verschiebt sich hier der Akzent von der Abschaffung des Hungers auf Emanzipation. Nun war Benjamin in der auf Marx zurückgehenden Tradition einer 42 In dieser Perspektive wird die Kritische Theorie als »moderne Sophistik« gesehen, beispielsweise bei R. Bubner, Was ist Kritische Theorie?, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971. 43 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1961: »Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören, das Naturrecht konstruierte Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören.« ebd., S. 13.
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der ersten, der ein weiteres Moment im Begriff der Ausbeutung und dem des Fortschritts herausgehoben hat: neben Hunger und Unterdrückung Versagung, neben Wohlstand und Freiheit - Glück. Benjamin sah die Glückserfahrung, die er profane Erleuchtung nannte, gebunden an die Rettung der Tradition. Der Glücksanspruch kann nur eingelöst werden, wenn die Quelle jener semantischen Potentiale nicht versiegt, die wir zur Interpretation der Welt im Lichte unserer Bedürfnisse brauchen. Die Kulturgüter sind die Beute, die die Herrschenden im Triumphzug mit sich führen; darum muß der Prozeß der Überlieferung dem Mythos entwunden werden. Nun ist zwar die Entbindung der Kultur nicht möglich ohne die Überwindung der in den Institutionen verankerten Repression; aber für einen Moment drängt sich der Verdacht auf: ob vielleicht eine glücklose und unerfüllte Emanzipation ebenso möglich sei wie der relative Wohlstand ohne Aufhebung der Repression? Keine ungefährliche, aber auch keine ganz und gar müßige Frage an der Schwelle des posthistoire, wo die symbolischen Strukturen verbraucht und durchgescheuert, ihrer imperativen Funktionen entkleidet sind. Benjamin hätte jene Frage nicht gestellt. Er hat auf dem zugleich spirituellsten und sinnlichsten Glück als einer massenhaften Erfahrung bestanden; ja, er war von der Aussicht auf die Möglichkeit des definitiven Verlustes dieser Erfahrung geradezu terrorisiert, weil er, mit einem starren Blick auf den messianischen Zustand, beobachtete, wie der Fortschritt durch den Fortschritt sukzessive um seine Erfüllung betrogen wurde. Kritik an der kautskyanischen Lesart des Fortschritts ist darum der politische Inhalt der geschichtsphilosophischen Thesen. Auch wenn man nicht für jede einzelne der drei Dimensionen geltend macht, daß Fortschritte in der Vermehrung des Wohlstands, der Erweiterung der Freiheit und der Beförderung des Glücks keine Fortschritte darstellen, solange Wohlstand, Freiheit und Glück nicht allgemein geworden sind, läßt sich für die Hierarchie der drei Dimensionen jedenfalls glaubhaft machen, daß Wohlstand ohne Freiheit kein Wohlstand und Freiheit ohne Glück keine Freiheit sind. Benjamin war tief davon durchdrungen: auch der partiellen Fortschritte können wir vor dem Jüngsten Tage nicht sicher sein. Diese emphatische Einsicht hat
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Benjamin freilich in jene Schicksalskonzeption eingewoben, derzufolge geschichtliche Veränderungen keine Veränderungen bewirken, es sei denn, sie reflektierten sich in den Ordnungen des Glücks: »Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks.« In dieser totalisierenden Perspektive werden die kumulative Entfaltung der Produktivkräfte und die gerichtete Veränderung in den Strukturen der Interaktion zu einer ununterscheidbaren Reproduktion des Immergleichen zurückgespult. Vor dem manichäischen Blick Benjamins, der Fortschritt allein an den Protuberanzen des Glücks wahrzunehmen vermochte, breitet sich die Geschichte aus wie das Kreisen eines ausgeglühten Planeten, auf den Blitze herniederzucken dann und wann. Das nötigt zur Deutung des ökonomischen und des politischen Systems in Begriffen, die eigentlich nur den kulturellen Prozessen angemenssen wären: in der Ubiquität des Schuldzusammenhangs tauchen unerkennbar jene Evolutionen unter, die, bei all ihrer fragwürdigen Partialität, nicht nur in der Dimension der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums statthaben, sondern sogar in der Dimension, in der die Unterscheidungen angesichts der Wucht der Repression unendlich schwierig sind: ich meine Fortschritte, gewiß prekäre und vom Rückfall permanent bedrohte, in den Produkten der Legalität, wenn nicht gar in den formalen Strukturen der Moralität. In der Melancholie der Erinnerung an das Versagte und in der Beschwörung der verlöschenden Momente des Glücks droht der historische Sinn für die profanen Fortschritte zu verkümmern. Wohl erzeugen diese Fortschritte ihre Regressionen, aber an diesen setzt ja das politische Handeln an. Benjamins Kritik des leeren Fortschritts zielt gegen einen freudlosen Reformismus, dessen Sensorium längst abgestumpft ist gegen die Differenz zwischen der verbesserten Reproduktion des Lebens und einem erfüllten Leben, sagen wir eher: einem Leben, das nicht verfehlt ist. Aber scharf wird diese Kritik nur, wenn es gelingt, jene Differenz sichtbar zu machen an den unverächtlichen Meliorisierungen des Lebens. Diese schaffen keine neuen Erinnerungen, aber sie lösen alte und verhängnisvolle auf. Die Schritt für Schritt vorgenommenen Negationen der Armut und selbst der Unterdrükkung sind, das ist zuzugeben, eigentümlich spurenlos: sie erleich-
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tern, aber sie erfüllen nicht, denn nur die erinnerte Erleichterung wäre Vorstufe zur Erfüllung. Angesichts dieses Umstandes gibt es indessen zwei überanstrengte Positionen. Die auf pessimistische Anthropologien gestützte Gegenaufklärung gibt zu wissen vor, daß die utopischen Bilder der Erfüllung lebensdienliche Fiktionen einer endlichen Kreatur sind, die ihr bloßes Leben zum guten niemals wird transzendieren können. Die dialektische Theorie des Fortschritts andererseits ist sich der Prognose sehr sicher, daß eine gelingende Emanzipation auch Erfüllung bedeutet. Benjamins Theorie der Erfahrung könnte, wenn sie nicht Kutte, sondern Kern des Historischen Materialismus wäre, der einen Position begründete Hoffnung, der anderen einen prophylaktischen Zweifel entgegensetzen. Hier ist die Rede nur vom Zweifel, von dem Zweifel, den Benjamins semantischer Materialismus nahelegt: dürfen wir die Möglichkeit einer bedeutungslosen Emanzipation ausschließen? Emanzipation heißt in den komplexen Gesellschaften partizipatorische Umformung administrativer Entscheidungsstrukturen. Könnte eines Tages ein emanzipiertes Menschengeschlecht in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung sich gegenübertreten und doch des Lichtes beraubt sein, in dem es sein Leben als ein gutes zu interpretieren fähig ist? Die Rache einer für die Legitimation von Herrschaft über die Jahrtausende ausgebeuteten Kultur bestünde dann, im Augenblick der Überwindung uralter Repressionen, darin, daß sie keine Gewalt, aber auch keinen Gehalt mehr hätte; ohne die Zufuhr jener semantischen Energien, denen Benjamins rettende Kritik galt, müßten die endlich folgenreich durchgesetzten Strukturen des praktischen Diskurses veröden. Benjamin ist nahe daran, der Gegenaufklärung auch noch den Vorwurf der leeren Reflexion für eine Theorie des Fortschritts zu entwinden. Wer darin Benjamins Aktualität sucht, setzt sich freilich dem Einwand aus, daß den emanzipatorischen Anstrengungen im Anblick einer unerschütterten politischen Realität nicht leichtfertig weitere Hypotheken, und seien sie noch so sublim, aufgebürdet werden sollten - first things first. Ich meine freilich, daß ein differenzierter Begriff des Fortschritts eine Perspektive schafft, die nicht einfach den Mut hemmt, sondern das politische Handeln
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treffsicherer machen kann. Denn unter historischen Umständen, die den Gedanken an Revolution verbieten und die Erwartung lange anhaltender umwälzender Prozesse nahelegen, muß sich auch die Vorstellung von der Revolution als dem Bildungsprozeß einer neuen Subjektivität wandeln. Dazu mag Benjamins konservativrevolutionäre Hermeneutik, die die Geschichte der Kultur unter dem Aspekt der Rettung für den Umsturz entziffert, einen Weg weisen. Eine Theorie der sprachlichen Kommunikation, die Benjamins Einsichten in eine materialistische Theorie der sozialen Evolution zurückbringt, müßte zwei Sätze Benjamins zusammendenken. Ich meine die Behauptung, »daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der Verständigung, die Sprache«. (A. S. Bd. 2, S. 55) Und ich meine die Warnung, die dazugehört: »Pessimismus auf der ganzen Linie! Jawohl und durchaus ... vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in I. G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe.« (ebd., S. 214)
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15. Gershom Scholem Die verkleidete Tora (1978) Lieber, hochverehrter Herr Scholem, auf Einladung der deutschen Botschaft kommen wir, Bürger der Bundesrepublik Deutschland, nach Israel, um Sie zu feiern. Auch wenn wir uns auf das freundliche Einverständnis des Jubilars stützen dürfen, können wir der delikaten Frage nicht ausweichen, was uns zu diesem Schritt eigentlich berechtigt. Wer würde auf den Gedanken kommen, ein ähnliches Aufgebot, sagen wir: zum 80. Geburtstag von Jean-Paul Sartre nach Paris zu entsenden? Wenn wir in Scholems Fall, ohne Anmaßung, ein Gratulationsrecht besonderer Art in Anspruch nehmen, dann kann sich das nur auf eine einfache Tatsache gründen. Heute besitzen wir, ich scheue nicht die possessive Wendung, neun Bücher, die Scholem in deutscher Sprache geschrieben hat; die Meisterschaft der makellosen wissenschaftlichen Prosa beweist, daß ihr Autor in diese Sprache hineingeboren worden ist. Eine einfache Tatsache wäre dies freilich nur, wenn die Gemeinsamkeit der Muttersprache bedeuten würde, daß wir dieselbe Kultur teilen, dieselben Traditionen und dieselben historischen Erfahrungen. Nun hatten Juden und Deutsche ein Stück Geschichte gemeinsam. Aber sie haben die Risiken, den Schmerz und die Opfer weniger geteilt als aufgeteilt, aufgeteilt in sehr ungleicher Weise, und dies schon lange bevor die physische Gewalt der einen gegen die anderen jeden Gedanken an Gemeinsamkeit ausgelöscht hat. Das haben Sie, Herr Scholem, mir, das haben Sie uns klargemacht. Lassen Sie mich einen Augenblick von »uns«, d.h. von der Generation sprechen, deren geistige Entwicklung nach dem Kriege mit der Erinnerung an die Katastrophe eingesetzt hat. Für uns war Ihre Rede von 1966, in der Sie die tiefen Asymmetrien in den deutsch-jüdischen Beziehungen aufgedeckt haben, ein Schock. Hatten wir nicht soeben in den besten Traditionen, den einzigen,
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die die Korruption überdauerten, Ströme jüdischer Produktivität erkannt, hatten wir diese nicht zum ersten Mal ohne Vorbehalte anerkannt? Standen wir nicht unter dem intellektuell beherrschenden Einfluß eines Marx, Freud, Kafka? Waren wir nicht von denen als Schüler akzeptiert worden, die wie Bloch, Horkheimer, Adorno, Plessner und Löwith aus der Emigration zurückgekehrt waren? Hatten wir nicht, dank Adornos, dank Ihrer Hilfe Walter Benjamin entdeckt? Und das war nur der dramatischste Fall. Andere Linien führten zu Hannah Arendt, Norbert Elias, Erik H. Erikson, Herbert Marcuse, Alfred Schütz, führten zurück zu Karl Kraus, zu Franz Rosenzweig, zu Georg Simmel, zu den FreudoMarxisten der zwanziger Jahre. Mir war, zu alledem, ein merkwürdiges Buch über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik1 in die Hände gefallen, das mich mit Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der Theosophie Jakob Böhmes und der Lehre eines Mannes namens Isaak Luria überraschte. Hinter Schellings Weltaltern und Hegels Logik, hinter Baader standen also nicht nur, wie wir es gelernt hatten, die schwäbischen Geistesahnen, nicht nur Pietismus und protestantische Mystik, sondern, vermittelt durch Knorr von Rosenroth, jene Version der Kabbala, in deren antinomistischen Konsequenzen deutlicher als irgendwo sonst die Denkfiguren und Antriebe der großen dialektischen Philosophie vorausgedacht worden waren. Scholem hieß der Autor, der mir diese Einsichten eröffnet hat2; und von diesem Scholem lasen wir dann einige Jahre später, daß die Assimilation der Juden an die deutsche Kultur, der wir doch das alles zu verdanken hatten, ein »von Anbeginn falscher Start« gewesen sei: »Die Emanzipation brachte die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners in [der deutsch-jüdischen] Auseinandersetzung mit sich, eine Verleugnung, die ebensosehr von den Deutschen gefordert wie von der Avantgarde der Juden ... zugestanden wurde.«3 1 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, Frankfurt a. M. 1967. 2 Vgl. meinen Aufsatz über Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Kontraktion Gottes, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, S. 172227. 3 Gershom Scholem, Judaica II, Frankfurt a. M. 1970, S. 25.
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Bei dieser Wahrheit verspüre ich noch heute eine Reaktion der Abwehr, aber es ist eine Wahrheit, und zwar die historische Wahrheit, aus der Ihr Lebenswerk seine Berechtigung zieht. Heute glaube ich, beide Seiten zu sehen. Nachdem alles vorüber war, ist eine letzte Generation von jüdischen Gelehrten, Philosophen, Schriftstellern, Künstlern zurückgekehrt und hat eine intellektuelle Wirkung in Deutschland entfaltet wie kaum je zuvor. Auf diese deutsch-jüdischen Traditionen erwerben wir, auch und gerade nach Auschwitz, in dem Maße ein Recht, wie es uns gelingt, sie produktiv fortzusetzen, sie so zu benützen, daß wir den an Marx, an Freud, an Kafka geschulten Blick der Exilierten auf uns selber richten, um die entfremdeten, die verdrängten, die erstarrten Anteile als etwas vom Leben Abgespaltenes zu identifizieren. Dies ist die Zukunft der zur Vergangenheit gewordenen Assimilation des deutsch-jüdischen Geistes. Die Zukunft aber, für die Sie, Herr Scholem, einstehen, ist eine andere. In Johann Peter Hebel finden Sie die große Ausnahme, denjenigen, der den Juden als Juden gelten ließ, der »am Juden gesehen [hat], was er zu geben und nicht, was er aufzugeben hatte«.4 Es gehört zu Ihren tiefsten Überzeugungen, daß die Symmetrie von Geben und Nehmen allein hergestellt werden konnte durch die Rückwendung des jüdischen Geistes und der jüdischen Nation zur eigenen Geschichte. So haben Sie alles darangesetzt, daß heute die Welt der jüdischen Mystik, Schätze also, die die Juden aus Eigenem zu vergeben haben, aus dunklen Quellen geborgen sind und vor aller Augen ausgebreitet daliegen. Damit haben Sie die Situation des Gebens und des Nehmens geklärt. Meine Aufgabe ist es darum, nicht, wie das Protokoll es vorsieht, eine Lobrede zu halten, sondern eine Rede des Dankes. Wer Dank sagt, muß sagen können, wofür er sich bedankt. Das will ich versuchen, aber die Aufgabe ist gar nicht so einfach. Die Transparenz von Scholems gelehrter Rede ist nämlich durchsichtig nur auf den ersten Blick; seine historisch-philologische Darstellung hat viele Schichten. Ich bin unfähig, den Philologen und Historiker Scholem zu würdigen; aber wer sich in Scholems Schriften vertieft, bemerkt hinter dem Wissenschaftler andere Sorten von Philologen: 4 Scholem, Judaica II, S. 40.
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den Liebhaber, den Entdecker, den kämpferischen Zionisten, und schließlich den Philologen, der über seinem Gegenstand zum Theoretiker wird. Man muß Sie nicht, Herr Scholem, zu Ackermann begleitet haben, zu dem Antiquariat, an dem seit mehr als fünfzig Jahren keiner Ihrer Besuche in München vorbeiführt, um in Ihnen den philologischen Liebhaber zu erkennen. Aus dem achtzigjährigen Scholem spricht der schiere Büchernarr, wenn er sich daran erinnert, wie er als Siebzehnjähriger an einem Karren neben der Berliner Universität Lichtenbergs Satire auf Lavaters Bekehrungsversuch an Moses Mendelssohn für fünfzig Pfennig erstanden hat, um schmunzelnd hinzuzufügen: im vergangenen Jahr sei ein Exemplar dieser Schrift für fünfzehnhundert DM angeboten worden. 5 Ferner bricht die Leidenschaft des philologischen Entdeckers durch, wenn Scholem sich an jenen Handschriftenfund des Jahres 1938 im New Yorker jüdisch-theologischen Seminar erinnert, mit dem er ein generationenaltes Rätsel der Reuchlin-Forschung aufklären konnte: »Es war eine wahre Feierstunde für mich, als ich auf diese Blätter blickte, die so gut wie sämtliche Zitate in Reuchlins Werk in sich schlössen.«6 Man hatte bis dahin nicht gewußt, wie Reuchlin an die vielen, oft falsch zitierten Kabbala-Quellen herangekommen war. Damit Scholem in der Tradition der Wissenschaft vom Judentum zum Entdecker, zum vorurteilslosen Erforscher der Symbolwelt der jüdischen Mystik werden konnte, bedurfte es allerdings eines weiteren Impulses. In der unermüdlichen Anstrengung dieses großen Philologen stekken der intellektuelle Antrieb, die historische Erfahrung und die Sensibilität der jugendbewegten Generation vor dem Ersten Weltkrieg. Die Wendung, die Scholem der Kabbala-Forschung gegeben hat, ist von dem Bewußtsein, welches die zionistische Bewegung in ihm geweckt hat, inspiriert. Er selbst sieht die Erschließung der jüdischen Mystik als Teil dieser »auf die Wiedergeburt des jüdischen Volkes ... gerichteten Bewegung, durch die auch eine neue Sicht der jüdischen Geschichte möglich wurde«.7 5 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt a. M. 1977, S. 69. 6 Gershom Scholem, Judaica III, Frankfurt a. M. 1973, S. 252. 7 Scholem, Judaica III, S. 261.
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Noch mehr als der unbestechliche Wissenschaftler, der närrische Liebhaber, der leidenschaftliche Entdecker, mehr als der geschichtsbewußte Volkserzieher fasziniert mich aber der Theoretiker, der Scholem gar nicht sein will und der sich hinter vielen philologischen Mauern verschanzt. Philologen müssen auch die Gegenstände, von denen ein Text handelt, verstehen, sonst können sie ihren Text nicht verständlich machen. Je mehr diese Gegenstände dem Alltagsbewußtsein entrückt sind, um so weniger kann das philologische Handwerk bloß instrumentell ausgeübt werden, um so mehr muß der Philologe auch ein Experte seines Gegenstandsbereichs werden. So sind die großen Philologen und Historiker der Geisteswissenschaften immer auch ein Stück Jurist, Theologe oder Philosoph geworden. Wie aber verhält sich der Philologe, der es mit mystischen Texten zu tun hat? Er muß eine doppelte Distanz überbrücken. Schon die Texte selbst drücken ja eine Art Ironie aus, auf die die Romantiker, bis hin zu Kierkegaard, reflektiert haben: diese Texte sollen das Unaussprechliche aussprechen, sollen mitteilen, was als nicht mitteilbar gilt. Diese Distanz ließe sich noch überwinden, wenn der Interpret dieser indirekten Mitteilungen zum religiösen Experten, wenn er zum Mystiker werden könnte. Aber das steht nicht zu seiner Disposition, auch Scholem ist nicht selber Mystiker. Darum muß sich hier der Philologe dem Gegenstand über eine Theorie des Gegenstandes nähern. Die theoretische Aneignung des Gehaltes mystischer Überlieferungen ist die einzige Brücke, über die die Philologie der Mystik, wenn sie irgend etwas verstehen und verständlich machen will, gehen muß. Soweit ich seine Schriften überblicke, hat Scholem freilich nur ein einziges Mal als Theoretiker gesprochen, unter einem Titel übrigens, der das schlechte historisch-philologische Gewissen verrät; ich meine die »Zehn unhistorischen Sätze über Kabbala«.8 Dieser kurze Text unterscheidet sich von Scholems anderen Schriften dadurch, daß die cartesische Klarheit der Sprache dialektischer Begrifflichkeit, fast dialektischen Bildern weicht. Scholem bedient sich an dieser einen Stelle jener Diktion enthüllender Rätselhaftig8 Scholem, Judaica III, S. 264 ff.
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keit, die er an seinem Freund Benjamin bewundert hat. Der Text beginnt mit dem Hinweis auf das Ironische, das der Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala anhaftet: »Bleibt in ihm, dem Philologen, sichtbar etwas vom Gesetz der Sache selbst oder verschwindet gerade das Wesentliche in dieser Projektion des Historischen?« Die Antwort ist zweideutig. Erst eine verfallende Tradition kann zum Gegenstand der Philologie werden und bedarf ihrer; aber auch die Größe einer Tradition wird erst durch das Medium der vergegenständlichenden Aneignung sichtbar - »echte Tradition bleibt verborgen«. In den neun Abschnitten, die auf diesen ersten folgen, nennt Scholem alle theoretischen Motive, die man in seinen materialen Arbeiten als systematische Gelenke der Interpretation wiederfindet. Lassen Sie mich wenigstens zwei dieser Motive, ein erkenntnistheoretisches und ein geschichtsphilosophisches, hervorheben. Das erste Motiv wird durch die Begriffe Offenbarung, Tradition, Lehre umschrieben. Einen Ausgangspunkt bietet die rabbinische Parabel, daß die heiligen Schriften einem großen Haus mit vielen Gemächern gleichen, und vor jedem Gemach liegt ein Schlüssel aber es ist nicht der richtige. Alle Schlüssel sind vertauscht. 9 Tradition wird hier in ein kafkaeskes Licht getaucht. Denn was heißt Tradition? Zunächst einmal: Lehre. Die Lehre des prophetischen Wortes ist jenes Medium der Wissensvermittlung, das mit den großen Weltreligionen entstanden ist. Das rabbinische Judentum hat die Praxis der Lehre, die Exegese heiliger Schriften zu einer Hochform stilisiert. In dieser Form hatte sie noch der sechzigjährige Scholem kennengelernt, als er bei dem Rabbiner Isaak Bleichrode seine hebräischen Studien aufnahm und »den Talmud lernte«.10 Aber war das noch Lehre, noch Tradition in einem ungebrochenen Sinne? Im 19. Jahrhundert hatten sich die Geisteswissenschaften entwikkelt. Ein zweideutiges Produkt der Aufklärung, bildeten sie die modernen Schleusen, durch die die Ströme der Tradition gebrochen wurden. Die Struktur der Überlieferung war hermeneutisch zu 9 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S.22. 10 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 63. 382
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Bewußtsein gebracht, Tradition und Lehre war als dogmatische Form des Denkens durchschaut worden. Andererseits lag es im Interesse der Geisteswissenschaften, daß sich jene Traditionen, die sie wie immer reflexiv doch auch fortsetzten, nicht in pure Meinungen auflösten. So bewegten sie sich in jener merkwürdigen Ambivalenz zwischen der Erhellung von Dokumenten, aus denen wir noch Lebenswichtiges lernen können, und der Entzauberung ihres dogmatischen Geltungsanspruches. Diese Ambivalenz beunruhigt eine an ihren Gegenständen Anteil nehmende Philologie bis auf den heutigen Tag. Von Schleiermacher bis Gadamer versucht die philosophische Hermeneutik damit fertig zu werden, indem sie das, was die geisteswissenschaftliche Methodik zugleich ermöglicht und vernichtet, nämlich die Aneignung von Tradition, zusammenhalten möchte!11 Dieses selbe Problem stellt sich auch für Scholem; aber er zeigt sich nicht beunruhigt. Er nämlich kann dem Problem des Historismus, von dem ich hier spreche, mit einem an der Kabbala geschulten und geschärften Begriff der Tradition begegnen. Lassen Sie mich das erklären. Der Mystiker, der sich auf Erleuchtungen, und das heißt auf einen unmittelbaren, intuitiven Zugang zum göttlichen Lebensprozeß beruft, ist der geborene Konkurrent zu den bestellten Verwaltern des authentischen göttlichen Wortes, zur Priesterschaft - auch wenn die jüdische Mystik bis ins 17. Jahrhundert als rechtgläubig aufgetreten und überwiegend als konservative Kraft wirksam gewesen ist. Die Kabbalisten haben ein natürliches Interesse daran, die mündliche Tora gegenüber der Bibel aufzuwerten; sie verleihen den Kommentaren, mit denen sich jede Generation von neuem die Offenbarung aneignet, einen hohen Rang. Sie identifizieren die Offenbarung nicht länger mit der schriftlichen Tora. Für sie ist die Wahrheit nicht fixiert, nicht in einer wohlumschriebenen Menge von Aussagen positiv ausgedrückt, so daß sich Überlieferung in einer möglichst getreuen Reproduktion erschöpfen könnte. Als Offenbarung gilt vielmehr der Prozeß der Überlieferung selber, die Offenbarung ist auf den schöpferischen Kommentar angewiesen. Die schriftliche Tora wird durch die mündliche erst vollständig; die 11 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960.
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Stimme Gottes spricht durch den Interpretationsstreit der Schriftgelehrten aller Generationen, bis zum Jüngsten Tage.12 Mit diesem Streit würde die göttliche Quelle selbst versiegen. Später wird diese kabbalistische Auffassung noch einmal radikalisiert. Schon die schriftliche Tora gilt nun als eine Übersetzung des göttlichen Wortes in die Sprache der Menschen, schon sie ist eine bloße und bestreitbare Interpretation. Alles ist mündliche Tora; die schriftliche ist ein mystischer Begriff, der auf den messianischen Zustand einer künftigen Erkenntnis verweist.13 Wir wissen von der Offenbarung, aber alle Schlüssel zu ihr sind vertauscht. Um diesen Punkt, den die jüdische Mystik unter vielen Symbolen und Gleichnissen variiert, kreist Scholems Denken beharrlich. 14 Hier scheint er die Auflösung für das Problem zu suchen, wie die Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis, wie die historische Vielfalt der Interpretationen mit dem unbedingten und universalen Anspruch auf Wahrheit vereinbart werden kann. Die Tora wendet in der überquellenden Fülle ihres Sinns jeder Generation, sogar jedem Einzelnen ein anderes Gesicht zu und ist doch dieselbe. Die Tora vom Baume der Erkenntnis ist eine verhüllte Tora. Sie wechselt ihre Kleider, und diese Kleider sind die Tradition. Erst im Stande der Erlösung, wenn Theorie und Praxis, der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens vereinigt sind, tritt die Tora unverhüllt ans Licht. Erst in diesem Licht wird die Mannigfaltigkeit der widerstreitenden Interpretationen ihre verborgene Einheit zu erkennen geben. Der mystische Begriff der Tradition deckt also einen messianischen Begriff der Wahrheit, der sich dem Historismus gewachsen zeigt. Die Dimension der Zeit, die Jahrhunderte, über die das Lehrgespräch nicht abreißt, und die auf den Fluchtpunkt eines schließlich erzielten Konsensus gerichtet sind (»in the long run« heiß die säkularisierte Formel bei Peirce), erlaubt es, die Fehlbarkeit des Erkenntnis^roze5ses mit der Aussicht auf Unbedingtheit der Erkenntnis selbst zu versöhnen. 12 Gershom Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 9off. 13 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 71 ff. 14 Judaica III, S. 67ff., S. i87ff., S. 265 t; Grundbegriffe, S. 90-120; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 46ff., S. 5off.
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Aus dieser Perspektive verlieren auch die objektivierenden Geisteswissenschaften den Schrecken der Relativierung aller Geltungsansprüche. Wie menschliche Erkenntnis überhaupt, so teilen auch sie mit den Traditionen, die sie aneignen, den zwiespältigen Status einer verkleideten Tora, welche die Funken der Wahrheit birgt, ohne das Licht der Gewißheit zu gewähren, bevor der Jüngste Tag anbricht. Freilich rechnet diese Theorie der Wahrheit mit einem nicht nur rückwärts gewandten Begriff von Tradition. Tradition gilt nicht mehr als die Fortschreibung und Erneuerung des alten Wahren; wie in der mystischen Erleuchtung kann die Wahrheit in die Tradition einbrechen und die Kontinuität der Überlieferung aufsprengen. Tradition gründet nicht in einer unzweideutig offenbaren Erkenntnis, sondern in einer Idee des Erkennens, deren messianische Einlösung noch aussteht; deshalb lebt sie von der Spannung ihrer konservativen und ihrer utopischen Gehalte. Dieser Traditionsbegriff nimmt Revolutionen nicht weniger in sich auf als Restaurationen; er streift dem, was wir einmal Tradition genannt haben, den dogmatischen Charakter ab. Hier greifen das erkenntnistheoretische und das geschichtsphilosophische Motiv ineinander. Wie der Komplex Erkenntnis, Tradition, Lehre, so kann der Gedanke von der schöpferischen Kraft der Negation, der Selbstnegation Gottes als ein weiteres Beispiel für den systematischen Ertrag einer »unhistorischen« Lesart der Kabbala dienen. Unter Scholems »Zehn unhistorischen Sätzen« findet sich auch der folgende: »Die materialistische Sprache der Lurianischen Kabbala, besonders in ihrer Deduktion des Zimzum (der Selbstverschränkung Gottes), legt den Gedanken nahe, ob die Symbolik, die sich solcher Bilder und Reden bedient, nicht etwa auch die Sache selbst sein könnte.«15 Während Schöpfungsvorgänge im Bereich des mythischen, aber auch des metaphysischen Denkens stets als eine Schöpfung aus Etwas, aus dem Chaos oder aus einer der schöpferischen Prinzipien vorausliegenden Materie gedacht worden sind, kommt mit der jüdisch-christlichen Formel von der Creatio ex nihilo ein radikal 15 Scholem, Judaica III, S. 266.
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neuer Gedanke zum Zuge: das Nichts, aus dem der absolute Wille die Welt schafft, darf nicht länger als eine Potenz außerhalb der Schöpfermacht vorgestellt werden. Gerade das mystische Denken, das sich in den göttlichen Lebensprozeß versenkt, beißt sich an dieser Formel fest.16 An das Konzept, daß Gott in seine eigenen Urgründe hinabsteigt, um sich selber aus ihnen zu schaffen, kann Isaak Luria (wie auch Jakob Böhme) anknüpfen, um die Schöpfung aus dem Nichts nach dem dialektischen Bild eines Gottes zu denken, der sich zusammenzieht oder kontrahiert, womit er in sich selbst einen Abgrund erzeugt, in den er herabsteigt, in den er sich zurückzieht und so den Raum erst freigibt, den die Kreaturen einnehmen werden. Der erste Akt der Schöpfung ist eine Selbstnegation, durch die Gott sozusagen das Nichts hervorruft - eine Lehre, die sich in strikten Gegensatz zu den aus dem Neuplatonismus stammenden Emanationsvorstellungen setzt. Dieses Modell bietet die einzig konsequente Lösung des Theodizeeproblems: »Eine vollkommene Welt kann nicht erschaffen werden, weil sie dann Gott selber wäre, der sich nicht verdoppeln, sondern eben nur einschränken kann. Die Naivität, die von Gott erwartet, sich selbst zu wiederholen, liegt dem Kabbalisten fern. Gerade weil Gott sich niemals wiederholen kann, muß eine Schöpfung dieser - ich möchte hegelisch sagen - Entfremdung unterliegen, in der sie, um sie selber zu sein, das Böse aus sich herausstellen muß.«17 Die Selbstverschränkung Gottes ist die archetypische Form des Exils, der Selbstverbannung, die erklärt, »warum alles Sein von jenem Urakt an ein Sein im Exil ist und der Rückführung und Erlösung bedarf«.18 Von dieser Konzeption des Abgrundes oder der Materie oder des Zorns, wohinein ein Gott sich in seinem wörtlich verstandenen Egoismus zurückzieht, führen verschiedene Linien über Schelling und Hegel zu Marx. Eine erste Linie endet in der materialistischen Naturdialektik: denn schon für den lurianischen Mystiker bedeutet die immerwährende Schöpfung, daß sich die Kontraktion Gottes in jedem Naturvorgang erneuert, daß sich 16 Scholem, Grundbegriffe, S. 5 3 ff. 17 Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Frankfurt a. M. 1977, S. 79. 18 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 151.
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in jedem Lebensprozeß die Berührung mit dem Nichts wiederholt. Eine weitere Linie führt zur revolutionären Geschichtstheorie, eine dritte zum Nihilismus einer nachrevolutionären Aufklärung. Mit diesen beiden letzten Motiven hat sich Scholem intensiv beschäftigt.19 Es liegt auf der Hand, daß ein Gott, der sich selbst verbannt, die historischen Erfahrungen des Exils mit schwerer Bedeutung auflädt. Und zwar mit einer apokalyptischen Bedeutung dort, wo die Gewalt des Negativen, das Leiden an den Katastrophen der Vertreibung, der Unterdrückung und der Isolierung, schon als Anzeichen für die schöpferische Kraft des Negativen, für eine Wende zum Guten gedeutet wurden. Das Hölderlinsche Wort von der größten Gefahr, in der das Rettende wächst, ist hier vorweggenommen. Wenn sogar die Schöpfung mit einer Selbstexilierung Gottes beginnt, dann bedeutet der Augenblick der größten Katastrophe einen Hinweis auf die Chance der Erlösung: »Wenn Ihr auf die unterste Stufe gesunken seid, in der Stunde erlöse ich Euch.«20 Freilich hat die Gedankenwelt des Isaak Luria weniger die apokalyptischen Vorstellungen der Spontaneität und Unberechenbarkeit der Erlösung gestützt als vielmehr den Messianismus derer, die die Erlösung »bedrängen« wollten. Der Akt der Selbstverbannung bedeutet ja auch, daß sich Gott zurückzieht und anderen einen Bereich der Freiheit und der Verantwortung einräumt. Sein Rückzug ist die Bedingung für die Katastrophen, die mit dem »Bruch der Gefäße« schon im göttlichen Lebensprozeß selber einsetzen, und die sich, mit Adams Fall, erst recht in der Geschichte der Völker wiederholen. Ja, Gott hat sich so weit zurückgezogen, daß die Rückführung der Dinge an ihren ursprünglichen Ort dem Menschen überantwortet ist. Wie jede Sünde den Urvorgang der göttlichen Selbstverbannung wiederholt, so trägt jede gute Tat zur Heimführung der Verbannten bei: »Das Kommen des Messias bedeutet für Luria nicht mehr als die Unterschrift unter ein Dokument, das wir selber schreiben.«21 Der Mystik war der 19 Grundbegriffe, S. 84ff.; Judaica III, S. 198-217; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 135ff.; Von der mystischen Gestak der Gottheit, S. 77ff. 20 Scholem, Grundbegriffe, S. 135. 21 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 156f.
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Gedanke einer magischen Kraft der Kontemplation, welche Bewegungen im Herzen der Gottheit erzwingen und im Innersten der Welt den Prozeß der Wiederaufrichtung der gefallenen Natur vorbereiten kann, immer schon vertraut. Die spätere Kabbala wendet diese innere Bewegung ins Äußere, in einen messianischen Aktionismus, der schließlich den profaneren Sinn einer politischen Befreiung aus dem Exil erhält. Vom frühen Marx bis zu Bloch und dem späten Benjamin heißt es dann: keine Resurrektion der Natur ohne Revolutionierung der Gesellschaft. Sabbatai Zwi und Nathan Gaza, sein Prophet, haben nun aber von diesen Ideen nicht nur einen messianischen, sondern einen antinomistischen Gebrauch gemacht.22 Sabbatei Zwi wurde vom Sultan vor die Wahl gestellt, das Martyrium zu erleiden oder zum Islam überzutreten. Er entschloß sich zur Apostasie, und dieser Abfall des Messias wurde, nach dem Vorbild des Zimzum, als schöpferischer Akt des Abstiegs ins Dunkle verstanden und gerechtfertigt. Der Abfall ist tragischer Bestandteil der Mission, die die Macht des Widergöttlichen aus dessen innerstem Bereich heraus überwinden soll. Scholem hat die nihilistischen Konsequenzen dieser Lehre an den frankistischen Sekten studiert. Er hat die Erscheinungen des religiösen Nihilismus durch die Geschichte der Ketzer über Taboriten und Adamiten, über Beginen und Begarden, die Brüder und Schwestern vom freien Geist bis zu frühen gnostischen Sekten zurückverfolgt.23 Sie alle wollten durch eine gesetzesbrecherische Praxis den wahren, messianischen Sinn des Gesetzes erfüllen. Das Modell vom Abstieg Gottes in den Abgrund deckte im häretischen Messianismus der Sabbatianer ungeheure Visionen von der erlösenden Kraft des Subversiven, deckte die zugehörigen Rituale, die die Kraft der Negation im Vollzug von gleichzeitig zerstörerischen und befreienden Handlungen manifestieren sollten. Wenn man Scholems Darstellung des religiösen Nihilismus im 18. Jahrhundert heute liest, drängen sich Parallelen auf, die man freilich nur sehr vorsichtig ziehen darf. Scholem betont und belegt an biographischen Beispielen die Tendenz zum Umschlagen der 22 Scholem, Hauptströmungen, S. 315-355. 23 Gershom Scholem, Der Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Eranos-Jahrbuch 1974, Leiden 1977, S. 1-50.
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Mystik in Aufklärung. Der Nihilismus eines Jakob Frank scheint die jüdische Mystik auf einen Punkt zu treiben, wo die religiöse Hülle von innen aufgesprengt wird, so daß sich die tieferen Impulse mit den neuen Ideen der Französischen Revolution verbinden können. Diese Umsetzung religiöser Gehalte in politische ist freilich so oft ohne spezifische Vermittlung zustande gekommen, daß man sich fragt, ob nicht der Antinomismus seinerseits schon auf den Verfall des Religiösen reagiert, ähnlich wie der Surrealismus auf den Verfall der auratischen Kunst in der Moderne. Wir kennen Benjamins Interesse für den Surrealismus; gab es Parallelen zu Scholems Interesse für den Antinomismus? Die Fälle des religiösen und, wenn man so will, des künstlerischen Nihilismus ähneln sich darin, daß der eigentliche Gehalt der Religion, der eigentliche Gehalt der Kunst, die Substanz dieser Wertsphären (wie Max Weber sagte) im Augenblick ihres Zerfalls durch radikale Aufhebung oder Destruktion gerettet werden sollte. Das erklärt den Showcharakter der sich selbst konsumierenden Handlungen und den Schock, auf den sie abzielten. Ähnliche Züge zeigt übrigens eine aktuelle Spielart des Terrorismus, der, von den Beteiligten aus gesehen, darauf gerichtet sein könnte, den wahren Gehalt der Revolution durch schockierende Schaustellungen purer Destruktion in dem Augenblick zu retten, wo in den entwickelten Ländern Revolution kaum noch möglich ist, wo der moderne Staat und diejenige revolutionäre Praxis, die ihm entspricht, zerfallen, jedenfalls einer schwer abzuschätzenden Transformation unterliegen. Ich habe nur diese beiden Motive, das erkenntnistheoretische und das geschichtsphilosophische, aus Scholems verzweigtem Denken herausgezogen. Beide wirken sich aus auf seine Einschätzung des Zionismus und des Judentums heute. Die politische und geistige Energie von vielen Generationen jüdischer Intellektueller hat sich niedergeschlagen in den universalistischen Werten der Emanzipationsbewegungen, der bürgerlichen wie der sozialistischen. Demgegenüber besteht Scholem darauf, daß dieser Universalismus einer Verkörperung bedarf. Er preist am Zionismus, daß er keine messianische Bewegung ist, sondern mit den Beschränkungen der histo-
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risch-politischen Existenz rechnet. Andererseits identifiziert Scholem das Judentum ebensowenig mit der politischen Gestalt Israels wie mit der Traditionsgestalt seiner religiösen Überlieferung. Er sieht in ihm in erster Linie ein moralisches Anliegen, ein geschichtliches Projekt, das nicht ein für allemal definiert werden kann. Das Judentum ist ein spirituelles Unternehmen; es lebt aus religiösen Ursprüngen, aber es vermag auch deren Säkularisierung zu überleben. Dieser Begriff des Judentums ist vage. Er bezieht sich auf eine geschichtliche Partikularität. Und doch drückt sich darin ein allgemeineres Problem aus: Wie kann, unter Bedingungen der Moderne, ein Volk seine Identität wahren? Sie sind, Herr Scholem, 1970 in einem Interview nach der Bedeutung gefragt worden, die das kabbalistische Denken für das Judentum heute haben könne. Seinerzeit haben Sie bezweifelt, daß die Kabbala noch eine vitale Antwort auf unsere Situation findet. Gleichzeitig haben Sie sich aber in Ihrer Antwort einer kabbalistischen Denkfigur bedient: »Good will appear as non-God. All the divine and symbolic things can also appear in the garb of atheistic mysticism.« Nachdem die Autorität der Stimme, die da sagt: »Ich bin der Herr, Dein Gott« nicht mehr fraglos gilt, bleibt allein eine ihrem Begriffe nach verwandelte Tradition, die kein Verbrechen kennt außer einem: ein Verbrechen begeht, wer das lebendige Band zwischen den Generationen zerschneidet. Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferung in die Bezirke der Profanität einbringen kann, auch die Substanz des Humanen retten können. Für das Judentum, für Israel stellt Scholem die Frage der Identität so: »Die brennende Landschaft der Erlösung hat den historischen Blick des Judentums wie in einem Brennpunkt auf sich gesammelt. Es ist kein Wunder, daß die Bereitschaft zum unwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehr vertrösten will, eine aus Grauen und Untergang geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst in unserer Generation gefunden hat, als sie den utopischen Rückzug auf Zion antrat, von Obertönen des Messianismus begleitet ist, ohne doch - der Geschichte selber und nicht einer Metageschichte verschworen - sich ihm verschreiben zu
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können. Ob sie diesen Einsatz aushält, ohne in der Krise des messianischen Anspruchs, den sie damit mindestens virtuell heraufbeschwört, unterzugehen - das ist die Frage, die aus der großen und gefährlichen Vergangenheit heraus der Jude dieser Zeit an seine Gegenwart und seine Zukunft hat.«24
24 Scholem, Grundbegriffe, S. 167.
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16. Hans Georg Gadamer Urbanisierung der Heideggerseben Provinz (1979) 1. Pfingsten 1940 hat Gadamer in Weimar eine Hegeltagung mit einem Vortrag über >Hegel und die antike Dialektik< eröffnet. Die Reaktion, die der Außenseiter im Kreise der Hegelforscher damals ausgelöst hat, muß, wenn man der immer noch halb erschrockenen Reminiszenz des 77jährigen glauben darf, nicht allzu freundlich gewesen sein: »Nun zählte ich nicht zu den Hegelianern. Aber schließlich war es nicht verboten, trotzdem etwas von Hegel zu verstehen, oder doch? ... Ich erholte mich von dieser seelischen Strapaze durch einen Besuch bei den Gräbern unserer großen Dichter auf dem Weimarer Friedhof.«1 Inzwischen ist Gadamer immer noch kein Hegelianer; aber er ist es, der in den 60er Jahren die Deutsche Hegel-Vereinigung ins Leben gerufen hat; er hat wichtige internationale Tagungen angeregt, auf denen Hegelspezialisten ihre Arbeiten diskutierten; und auf seine Initiative ging der Stuttgarter Hegelkongreß im Jubiläumsjahr 1970 zurück. Jener Vortrag, der bei seiner Premiere, wohl weil er Hegel zu nahe an Plato herangerückt hatte, auf Ablehnung gestoßen war, eröffnet übrigens heute ein Buch, das Gadamers Hegelstudien zusammenfaßt2; das Buch schließt mit einer Abhandlung über »Hegel und Heidegger«. Und dies sind nun in der Tat die beiden Gestirne, die Gadamers Denkweg erleuchtet haben. Als sich die Stadt Stuttgart entschloß, einen Hegel-Preis zu stiften, hat Gadamer, dessen Initiative auch hier unverkennbar war, seinen Einfluß geltend gemacht, um zu erreichen, daß Heidegger als erster den Preis erhielte. Der erste Preisträger hieß dann Bruno Snell. Diese Vorgeschichte wird das Kuratorium bedacht haben, als es dieses Mal den Preis, im Wechselspiel mit bedeutenden Geisteswissenschaftlern, wieder an einen Philosophen verliehen hat, und zwar an diesen Philosophen, der sich selbst mit der Bemerkung zu 1 H. G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt 1977, S. 115 f. 2 Hegels Dialektik, Bonn 1971.
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charakterisieren pflegt, er sei Heideggerschüler und habe das Handwerk der klassischen Philologie erlernt. Keiner könnte heute überzeugender als er den größer gewordenen Abstand zwischen Philosophie und Geisteswissenschaften überbrücken. Das Brückenschlagen kennzeichnet Mentalität und Denkstil dieses Gelehrten überhaupt: »Distinguendum, gewiß, aber mehr noch: man muß zusammensehen.«3 Diese Maxime stammt aus Gadamers Mund, aber, noch Gadamerscher formuliert, müßte sie heißen: man muß überbrücken. Nicht nur den Abstand zwischen Disziplinen, die sich voneinander entfernt haben, sondern vor allem den Zeitabstand, der die Nachgeborenen von überlieferten Texten trennt, den Abstand zwischen verschiedenen Sprachen, der die Kunst des Interpreten herausfordert, und jenen Abstand, den die Gewaltsamkeit radikalen Denkens erzeugt. Nun war Heidegger ein solcher radikaler Denker, der um sich herum eine Kluft aufgerissen hat. Gadamers große philosophische Leistung sehe ich darin, daß er diese Kluft überbrückt. Das Bild der Brücke legt freilich falsche Konnotationen nahe, erweckt den Eindruck, als gebe hier jemand pädagogische Hilfestellung beim Versuch, sich einem unzugänglichen Ort zu nähern. So meine ich es nicht. Ich würde daher lieber sagen: Gadamer urbanisiert die Heideggersche Provinz. Freilich müßte man dabei im Sinne behalten, daß wir mit >Provinz<, zumal im Deutschen, nicht nur das Einschränkende assoziieren, sondern auch das Dickschädelig-Eigensinnige und Ursprüngliche. Gadamer selbst sieht das gewiß ganz anders. Er meinte einmal, Heidegger bedürfe eines Karl Marx, der sich seinerzeit, selbst ein Gegner Hegels, dagegen verwahrt hat, daß man Hegel wie einen toten Hund behandele. Wenn ich die späten 70er Jahre richtig deute, hat Heidegger seinen Marx nicht nötig: schon brechen die subkulturellen Wanderer auf ins Geviert und ins Verstiegene. Um so nötiger ist einer, der Wege bahnt, über die Heidegger aus einer selbstgewählten Isolierung zurückkehren kann. Das kann nur einer sein, der Heidegger zwar mit Distanz, aber weit genug folgt, um seine Gedanken produktiv, und auf festem Boden, fortzusetzen. Von dieser Art ist, meine ich, Gadamers Produktivität. 3 Lehrjahre, 23.
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2. Gadamers Verhältnis zu Heidegger ist durch die Distanz geprägt, die schon die äußeren Umstände mit sich brachten: den nur elf Jahre älteren lernte Gadamer erst kennen, nachdem er in der Welt des Marburger Neukantianismus Fuß gefaßt und bereits promoviert hatte, ein Schüler Natorps, befreundet mit Nicolai Hartmann, dem älteren Kollegen. In seiner Autobiographie, mit dem zweideutigen Titel »Lehrjahre«, hat Gadamer die Welt geschildert, in die Heidegger damals einbrach: er schildert den Kreis um den Kunsthistoriker Richard Hamann, Stefan Georges Ausstrahlung auf die jungen Gemüter, die Spaziergänge mit E. R. Curtius, die Diskussionsschlachten der Evangelischen Theologen, und dann die privaten Kreise, die sich regelmäßig zur Lektüre zusammenfanden, den Kreis um Rudolf Bultmann, wo man griechische Klassiker las, jeden Donnerstagabend, oder jenen, wo Gerhard Krüger aus großen Werken der Weltliteratur vorlas, und dies über mehr als fünfzehn Jahre, wie durch eine Glaswand getrennt von dem politischen Geschehen der Weimarer Republik. In diese Welt also muß Heidegger wie ein Blitz eingeschlagen sein. Der alte Gadamer erinnert sich: »Man kann sich Heideggers Auftreten in Marburg gar nicht dramatisch genug vorstellen.« Wenn man sich aus biographischer Perspektive fragt, worin denn dessen Bedeutung für Gadamer bestanden haben mag, so kann man vielleicht von der Beobachtung ausgehen, daß Gadamer sich selbst durch eine Folge von Abgrenzungen charakterisiert. Gadamer stammt aus Schlesien, einer preußischen Provinz, und man hat ihm als Jungen eine Offizierslaufbahn vorausgesagt - aber Gadamer ist nichts weniger als Preuße, und ganz sicher ein Zivilist. Gadamer stammt aus einem naturwissenschaftlich geprägten Akademikerhaus, der Vater war ein selbstbewußter Chemiker - aber schon im ersten Semester hat Gadamer sich von schöngeistigen Interessen ins Feld der Geisteswissenschaften ziehen lassen. Dann also Marburg, damals Ort einer Philosophie mit Weltgeltung und reges Zentrum der Geisteswissenschaften und der Theologie - auch gegen diese Welt der Schulphilosophie und eines selbstgewissen Humanismus grenzt sich Gadamer noch einmal ab, und dies offenbar dank des Anstoßes, den er von Heidegger empfängt. Bis dahin hatte er die abendländische Tradition mit den Augen des historistischen 19.
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Jahrhunderts gesehen; dann kam Heidegger und hat diese Tradition, im jähen Rückgriff auf deren Anfänge, auf eine radikalere Weise vergegenwärtigt. Gadamer beschwört diese Tradition, aber fortan will er über »die bürgerliche Bildungsreligion, in der sie nachlebte«, hinauskommen. 4 Dies ist wohl der Grundantrieb, der hinter dem in Jahrzehnten gereiften philosophischen Hauptwerk steht, der Antrieb, sich und anderen klarzumachen, was die Begegnung mit eminenten Texten bedeutet, was es mit der Verbindlichkeit des Klassischen auf sich hat, wobei Gadamer weiß, daß er nicht länger auf einen Kanon zurückgreifen kann, sondern hinter jeden Kanon zurückgehen muß, um die wirkungsgeschichtlichen Bedingungen zu klären, unter denen überhaupt einem Werk klassische Bedeutung zuwachsen kann: »Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens ... von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann. Das naive Selbstgefühl der Gegenwart mag sich dagegen aufbäumen ... Sicher ist es aber eine noch viel größere Schwäche des philosophischen Gedankens, wenn einer sich einer solchen Erprobung seiner selbst nicht stellt und es vorzieht, den Narren auf eigene Faust zu spielen. Daß im Verstehen der Texte jener großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre, muß man sich eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt widerspricht.« 3. Dieser Satz stammt aus der Einleitung zu »Wahrheit und Methode«, dem Buch, mit dem sich der sechzigjährige Gadamer verhältnismäßig spät, nach langen Jahren einflußreicher Lehrtätigkeit in Leipzig, in Frankfurt und vor allem auf dem Lehrstuhl von Jaspers in Heidelberg, literarisch zur Geltung bringt und internationale Anerkennung erwirbt. Übrigens kann man dem diskursiven Stil dieses Textes den mündlichen Kontext der Lehre, aus dem das Geschriebene stammt, noch anmerken. Die philosophische Hermeneutik, die Gadamer entwirft, ist nicht als Methodenlehre 4 Lehrjahre, 181.
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gemeint, sondern als der Versuch, nach Hegel, also nach dem zweideutigen Ende der Metaphysik, den Wahrheitsanspruch der Philosophie zu erneuern. Die philosophische Hermeneutik stellt sich damit die kühne Aufgabe, die Kontinuität dieses Wahrheitsanspruches über einen dreifachen Traditionsbruch hinweg wiederherzustellen, jene drei Abgründe zu überbrücken, die sich zwischen uns und der Philosophie der Griechen auf getan haben: ich meine den Bruch, den im 19. Jahrhundert der Historismus, im 17. Jahrhundert die Physik und zu Beginn der Neuzeit der Übergang zum modernen Weltverständnis herbeigeführt haben. Den ersten Brückenschlag führt Gadamer in Form einer Kritik an Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften durch. Er überbrückt den vermeintlichen Gegensatz zwischen bloß historischer Vergegenwärtigung und systematischer Erkenntnis. Der Stoß richtet sich gegen ein historisches Bewußtsein, das die Traditionen, indem es sie aneignet, ins Museum sperrt und ihrer Überzeugungskraft beraubt. Gegenüber diesem Objektivismus vertritt Gadamer die These, »daß das wirkungsgeschichtliche Moment in allem Verstehen von Überlieferung wirksam bleibt, auch wo die Methodik der modernen historischen Wissenschaften Platz gegriffen hat und das ... geschichtlich Überlieferte zum Objekt macht«.5 Den zweiten Brückenschlag führt Gadamer in Form einer Rekonstruktion der humanistischen, an Urteilskraft appellierenden Denktradition durch. Er überbrückt den vermeintlichen Gegensatz zwischen methodisch strenger Wissenschaft und praktischer Vernunft. Der Stoß richtet sich hier gegen einen Begriff von objektiver Erkenntnis und Methode, der den modernen Erfahrungswissenschaften ein Monopol auf die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten reservieren soll. Demgegenüber will Gadamer die Legitimität eines Verstehens zur Geltung bringen, das dem objektivierenden Denken vorausliegt und die Erfahrungsweisen der kommunikativen Alltagspraxis mit der Erfahrung der Kunst, der Philosophie, der Geisteswissenschaften und der Historie verbindet. Schließlich verspricht Gadamer die Rehabilitierung des sachlichen Gehalts der Philosophie Platos und Hegels. Damit will er den, wie 5 Wahrheit und Methode, XV.
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er meint, falschen Gegensatz zwischen metaphysischem und modernem Weltverständnis überbrücken. Die Alternativen, die die Lager in der berühmten quereile des anciens et des modernes getrennt haben, sollen als Scheinalternativen enthüllt werden. Dabei bedient sich Gadamer eines Schachzuges, der auf ironische Weise an Wittgensteins Überwindung philosophischer Scheinprobleme erinnert: Wenn wir das Faktum unserer Abhängigkeit von geschichtlichen Überlieferungen nur streng genug analysieren, stoßen wir auf den Grund für unser beinahe naturwüchsiges Interesse an diesen Überlieferungen: die Tradition hat uns etwas zu sagen, was wir aus Eigenem nicht erkennen können. Das Argument steckt in der folgenden Frage: »Ist das Gespräch mit dem Ganzen unserer philosophischen Überlieferung, in dem wir stehen und das wir als Philosophierende sind, grundlos? Bedarf es (noch) einer Begründung dessen, was uns immer schon trägt?«6 Wie sich Wittgenstein auf die Tatsache des Funktionierens unserer Alltagssprache beruft, so Gadamer auf die Erfahrung, daß wir den sachlichen Gehalt eminenter Texte nicht erschöpfen können. Auf der Autorität dieser Erfahrung beharrt Gadamer wie ein Positivist auf der der Sinneswahrnehmung. 4. Diese Auffassung kontrastiert auf das Merkwürdigste mit Heideggers herrischer Destruktion des abendländischen Denkens, mit jenem Entwurf, der die Philosophiegeschichte von Plato über Thomas bis Descartes und Hegel als ein Drama zunehmender Seinsvergessenheit entwertet. Läßt sich ein stärkerer Kontrast vorstellen, als der zwischen dieser seinsmystischen Abkehr von allen artikulierten Gestalten der Tradition und Gadamers Versuch, den Humanismus von Plato bis zur Renaissance, von Vico über die schottische Moralphilosophie bis zu den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts in Grundbegriffen wie >Bildung<, >Gemeinsinn<, >Urteilskraft<, >Geschmack< usw. zu erneuern? Einen Humanismus, der dem Erfahrungszusammenhang von Stadtbürgern entsprungen ist und dessen Bedrohung stets mit dem Zerfall von Urbanität zu tun hatte. 6 Vorwort zur 2. Auflage von > Wahrheit und Methoden XXIII.
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Gadamer ist Heidegger weiter gefolgt als die meisten; er hat die >Kehre< mitvollzogen, mit der Heidegger das transzendentale Selbstverständnis von »Sein und Zeit« revidiert hat. Hier nun ist der kurze Bericht über einen Disput aufschlußreich, den Gadamer mit Löwith hatte, als sie während der 50er Jahre ein gemeinsames Seminar über Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit« abhielten. Löwith »hatte den jungen Heidegger für sich entdeckt und selbstverständlich auch den Rang von >Sein und Zeit< nicht verkannt. Aber die >Kehre< und die Rede vom Sein, das nicht das Sein des Seienden sein soll - das hielt er für Mythologie oder Pseudopoesie. Aber« - so verteidigt nun Gadamer den Lehrer - »es ist nicht Mythologie und nicht Poesie, sondern Denken, auch wenn die poetisierende Gleichnisrede oder gar der dichterische Versuch von der Sprachnot des neuen Denkens ein oft verwirrendes Zeugnis ablegen. Ich habe versucht, mir auf meine Weise durch Heideggers Denken gleichwohl weiterhelfen zu lassen.«7 Wenn ich recht sehe, kann Gadamer das Andenken, das die Sprachlosigkeit des Mystikers auszeichnet, nur darum so emphatisch als Denken verteidigen, weil er sich das Sein als Tradition zurechtlegt, weil er sich dem gestaltlosen Sog des schwerelosen Seins nicht überläßt, sondern, den Blick zu Hegel zurückwendend, dem massiven Traditionsstrom der objektiv gewordenen, der konkreten, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit tatsächlich gesprochenen Worte Rechnung trägt. Ob hier ein produktives Mißverständnis vorliegt, ist vielleicht nicht so wichtig; wie könnte eine Tradition lebendig bleiben, wenn sie sich nicht über Mißverständnisse fortpflanzte? Immerhin hat den Autor von »Wahrheit und Methode«, wie das Nachwort zur dritten Auflage zeigt, ein Umstand nachdenklich gestimmt. Gadamer hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die philosophische Hermeneutik nicht zur Wissenschaftstheorie verkürzt werden dürfte, daß das Phänomen des Verstehens die Weltbezüge einer kommunikativ verfaßten Lebensform vor aller Wissenschaft charakterisiert. Tatsächlich hat aber die Wirkungsgeschichte seines Buches tiefe Spuren in der Theorie der Wissenschaften und in den Sozial- und Geisteswissenschaften selbst hinterlassen. Die an 7 Lehrjahre, 177.
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dieses Buch anschließende Diskussion hat nicht so sehr die Wissenschaften am Erfahrungsbereich von Philosophie und Kunst relativiert als vielmehr die hermeneutische Dimension innerhalb der Wissenschaften, vor allem innerhalb der Sozial- und Naturwissenschaften freigelegt. Die philosophische Hermemeutik hat in den letzten Jahren, gefördert durch die englische Übersetzung von »Wahrheit und Methode«, gefördert auch durch des Autors vielfältige Gastaufenthalte an amerikanischen Universitäten, nachhaltig auf die angelsächsische Diskussion eingewirkt. Ihr Einfluß ist nicht auf die Divinity Schools beschränkt geblieben. Sie hat sich mit Impulsen verbunden, die durch die Protestbewegung freigesetzt worden sind. Man hat Gemeinsamkeiten gesehen, mit der Sprachanalyse des späten Wittgenstein, mit Thomas Kuhns postempiristischer Wissenschaftstheorie, sie ist mit phänomenologischen, mit interaktionistischen und ethnomethodologischen Ansätzen der verstehenden Soziologie verschmolzen worden. Diese Wirkung kehrt keineswegs den polemischen Sinn hervor, der in dem Titel »Wahrheit und Methode« angelegt ist; sie zeigt im Gegenteil, daß die Hermeneutik gerade zur Selbstaufklärung des methodischen Denkens beigetragen hat, zur Liberalisierung des Wissenschaftsverständnisses und sogar zur Differenzierung der Forschungspraxis. 5. Zugegeben ist gewiß, daß die Hermeneutik weder ihre Absichten noch ihre Wirkungen in diesem Horizont eines gewandelten Selbstverständnisses moderner Wissenschaften erschöpft. Wie die Phänomenologie und die Sprachanalyse rückt sie alltägliche Lebensverhältnisse in den Vordergrund und fördert die Aufklärung über tiefliegende Strukturen der Lebenswelt. In der Tradition der Humboldtschen Sprachphilosophie, und in gewisser Weise parallel zu dem durch Hegel belehrten Pragmatismus eines Peirce, eines Royce, eines George Herbert Mead, hebt die Gadamersche Hermeneutik die sprachliche Intersubjektivität hervor, die die kommunikativ vergesellschafteten Individuen vorgängig verbindet. Sie verfolgt mit Hartnäckigkeit die Frage nach der Form und dem Inhalt »der Solidarität, die alle Sprecher einer Sprache eint«.8 8 H. G. Gadamer, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt 1976, 10.
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Diese Frage gewinnt hohe Aktualität gerade in unseren Tagen, da sich einem sensibilisierten Alltagsbewußtsein die Gefährdungen historischer Lebensformen aufdrängen, Gefahren einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums, durch bürokratische Eingriffe, durch die externen Kosten der verrechtlichten, förmlich organisierten Bereiche unserer Gesellschaft. Gadamer scheut sich nicht, Heideggers Kritik an dem »sich selber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit« auf die gesellschaftliche Realität auszudehnen. Er beobachtet die Verselbständigung von gesellschaftlichen Subsystemen, »deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damit stärker ... an das in Regelkreisen organisierte Leben denken lassen«, um warnend hinzuzufügen: »Es wäre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zu verkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Beherrschung von Natur und Gesellschaft seinen Ausdruck geschaffen hat.«9 Hier berührt sich die Technikkritik Heideggerscher Provenienz mit einer aus anderen Quellen gespeisten Kritik der instrumenteilen Vernunft. Beide kommen darin überein, daß der Gewalt und Ausschließlichkeit des objektivierenden Denkens die philosophische Auszeichnung der Subjektivität entspricht. Und beide verstehen unter Subjektivität ein steif gewordenes Selbstbewußtsein, eine verhärtete Autonomie, die für Zwecke der Selbstbehauptung instrumentalisiert worden ist. Hier stellt sich Gadamer in eine sehr deutsche Tradition. Er folgt einer Selbstauslegung der Moderne, gegen die von anderer Seite im Namen der Legitimität der Neuzeit Bedenken vorgetragen worden sind. Wenn ich Gadamers philosophische Wirkung im politischen Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte lokalisieren sollte, so würde ich als bedeutendstes Element, als reinigendes Element hervorheben: die großartige Vergegenwärtigung der humanistischen, auf die Bildung des freien Geistes gerichteten Tradition, die sich als geheime Konkurrenz und als Ergänzung zur prägenden Kraft moderner Wissenschaft durch die Neuzeit hindurchzieht. Aber Gadamer selbst weist darauf hin, daß in Deutschland, das aus eigener Kraft keine Revolutionen zuwege gebracht hat, der ästheti9 Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 24.
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sehe Humanismus stets stärker ausgeprägt war als der politische. Wenn man im Blick hält, daß in den Nationen Westeuropas mehr politisches Bewußtsein in die Humaniora eingegangen ist10, legt sich in unserem Kontext die Frage nahe, worin die größere Gefahr liegt: darin, die Tradition der Griechen zu einer Vorgestalt der Moderne herabzuwürdigen, oder darin, die Würde der Moderne selbst zu verkennen. Am Ende würde Gadamer diese Alternative zurückweisen zugunsten der Würde der Tradition, gewiß nicht von Tradition überhaupt, sondern der Traditionen, deren Macht in ihrer Vernünftigkeit begründet ist. »In Wahrheit beruht Tradition, die nicht die Verteidigung des Herkömmlichen, sondern die Fortgestaltung des sittlich-sozialen Lebens überhaupt ist, stets auf Bewußtmachung, die in Freiheit übernimmt.«11 Allerdings, in Freiheit übernehmen wir Traditionen nur dann, wenn wir beides, ja und nein, sagen können. Ich meine, daß man gerade die Aufklärung, das universalistische 18. Jahrhundert nicht aus der humanistischen Tradition ausblenden darf. Mit diesem Zusatz will ich aber nicht das letzte Wort behalten. Gadamer ist der erste, der die Offenheit des Gesprächs betont. Von ihm können wir alle die hermeneutische Grundweisheit lernen, daß es eine Illusion ist, zu meinen, man könne das letzte Wort behalten.
10 Vorwort zur z. Aufl. von >Wahrheit und Methoden XIV. 11 Nachwort zur 3. Aufl. von >Wahrheit und Methoden 533 f.
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18. Alfred Schütz Die Graduate Faculty der New School of Social Research (1980)
Zum ersten Mal kam ich im Winter 1967-1968 nach New York, um an der New School zu lehren. An diesem Ort zu lehren und in dieser Stadt zu leben erwiesen sich als zwei zwar zusammenhängende Unternehmungen, aber doch als zwei verschiedene Arten von aufregenden Erfahrungen. Als damals die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Aufstände in den schwarzen Ghettos einen Höhepunkt erreichten, als viele Studenten sich entschlossen, nach Kanada zu gehen, Präsident Johnson seinen Rücktritt erklärte, das East Village sich in das blühende und leidende Zentrum der Gegenkultur verwandelte, während die Upper West Side bei jedermann den Eindruck erweckte, sie befinde sich am Rande eines unaufhaltsamen Zerfalls, und als die Shakespeare Company »Hair«, jenes leidenschaftliche und stürmische Musical aufzuführen begann, das bald danach ein weltberühmtes Stück wurde, da zeigte die Stadt eine seltsame Mischung aus hellenistischem Charme, aus Verzweiflung und Rebellion. Wie anders war doch die New School! Nicht daß sie von dieser Unruhe unberührt geblieben wäre - im Gegenteil. Für mich war die New School aber nicht bloß Teil oder Bruchstück eines fremden Landes, in dem ich mich zufällig aufhielt. Als jemandem, der im Kontext der deutschen Nachkriegsuniversität und in der Tradition der deutschen Philosophie erzogen worden war, erschien mir die New School gleichsam extramural, als eine Welt für sich, mit einer besonderen Bedeutung. Lassen Sie mich daran erinnern, daß viele von jenen, die damals an der Graduate Faculty lehrten, die Kontinuität dessen repräsentierten, was Alwin Johnson einst begründet hatte. Hans Staudinger, Adolf Löwe, Arnold Brecht und Erich Hula stellten immer noch eine direkte Verbindung zur University in Exile her, zu jener frühen Periode, als Emil Lederer, Eduard Heimann, Max Wertheimer, Hans Speier, Albert Salomon und alle die anderen das unverwech-
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seibare Bild der New School geprägt hatten. In den 6oer Jahren bildeten zudem Aaron Gurvitch, Hans Jonas und Hannah Arendt jene einmalige Dreierallianz, die das philosophische Profil der New School bestimmte. Und schließlich waren im Fachbereich für Soziologie der Geist und die Theorie von Alfred Schütz noch sehr lebendig - dank der einflußreichen Lehrtätigkeit von einem seiner einstigen Schüler, Peter Berger. Schon ganz zu Anfang konnte ich feststellen, daß die Uhren an diesem Ort etwas anders gingen. Ich erinnere mich an den Empfang nach meiner Ankunft im Hause des Präsidenten Everett. Während dieser ersten Begegnungen fühlte ich mich durch eine, wenn auch geringfügige Zurückhaltung meiner Person gegenüber irritiert. Erst später, als ich von jedermann warmherzig aufgenommen worden war, erkannte ich eine unauffällige Generationsverschiebung: ich war aus Frankfurt gekommen, aus dem Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno, und der Schatten des Mißtrauens galt nicht mir persönlich, sondern galt einer ambivalenten Vergangenheit, die in einer lebendigen Erinnerung immer noch präsent war. Meine Frau und ich erlebten dieses Zeitmaschinenphänomen an vielen gastfreundlichen Abenden auch auf andere Weise, als nämlich der Zeitenabstand, der eine Generation von der anderen trennt, aufgehoben wurde und als wir uns in die intellektuelle Szene der späten zwanziger und dreißiger Jahre zurückversetzt fühlten. Diese Aufnahme, auf die ich sehr stolz bin, war wie das Öffnen einer Tür. Als ich eintrat, fand ich einen überraschenden Weg zurück zu vertrauten Traditionen, bekannten intellektuellen Einstellungen und Motiven, die, wie ich erst dann bemerkte, in einem anderen Zusammenhang erhalten geblieben waren als dem, in dem ich sie kennengelernt hatte. Hier im Exil hatten die tiefsten deutschen Traditionen ihre moralische Integrität und damit auch jenes Element des ungebrochenen Selbstvertrauens bewahrt, ohne das Ideen ihre Kraft verlieren. Ich kann der New School nicht zurückgeben, was ich ihr schulde; und auch für die bescheidenere Absicht, zumindest die Art der Schuld zu erläutern, die ich abtragen müßte, werden persönliche Erinnerungen nicht ausreichen. Abgesehen vom allgemeinen Ein-
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fluß, den das Leben im akademischen Rahmen der Schule auf mich ausübte, habe ich viel aus den Werken einiger ihrer hervorragendsten Angehörigen gelernt, und lerne daraus immer noch. Sicherlich ist es nicht überraschend, daß ich im Bereich der Gesellschaftstheorie am meisten von Alfred Schütz und von Hannah Arendt gelernt habe. Lassen Sie mich drei Leistungen von grundlegender Bedeutung erwähnen: die Rekonstruktion eines aristotelischen Begriffs der »Praxis« für die politische Theorie, die Einführung eines Husserlschen Begriffs der »Lebenswelt« in die Gesellschaftstheorie, und die Wiederentdeckung von Kants Kritik der Urteilskraft für eine Theorie der Rationalität. 1. Als Hannah Arendt in ihrem Buch The Human Condition (deutsch: Vita Activa, Stuttgart 1960), das ich immer noch für ihre bedeutendste philosophische Arbeit halte, die ehrwürdige Unterscheidung zwischen poiesis und praxis wieder aufnahm, war sie nicht in erster Linie an einer Erneuerung der aristotelischen Theorie interessiert. Ihre unmittelbare Absicht war eine systematische und keine philologische: die elementaren Begriffsverwirrungen aufzulösen, die aus der spezifisch modernen Versuchung resultierten, die politische Praxis der Bürger auf eine Art des instrumenteilen Handelns oder der strategischen Interaktion zu reduzieren. Das Ergebnis ihrer Kritik ist ein Begriff des Handelns als »Praxis«, der die historischen Erfahrungen und die normativen Perspektiven dessen artikuliert, was wir heute partizipatorische Demokratie nennen; dieser Begriff ist nicht weniger modern, sondern nur adäquater als die meisten Handlungstheorien von heute, die auf Hobbes, Bentham oder Marx zurückgehen. Hannah Arendt hebt vor allem drei Momente hervor: das Faktum der menschlichen Pluralität, die symbolische Natur der menschlichen Beziehungen, und das Faktum der menschlichen Natalität, als Gegensatz zur Mortalität (oder Sterblichkeit, in dem Sinne, der Lebewesen voraussetzt, die wissen, daß sie sterben müssen). Die Analyse des ersten Merkmals (Pluralität) richtet sich auf die Intersubjektivität des gemeinsamen Handelns, in der die vielfachen Perspektiven der Beteiligten, die notwendigerweise verschiedene Standpunkte einnehmen, wechselseitig verbunden sind. Die vereinigende Kraft der Intersubjektivität wahrt die Pluralität der
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individuellen Perspektiven; selbst im Falle einer gewaltsamen Unterdrückung kann Intersubjektivität nicht durch eine höherstufige Subjektivität ersetzt werden. Die Analyse des zweiten Merkmals richtet sich auf die Sprache als Mechanismus zur Abstimmung verschiedener Handlungen aufeinander. In der Kommunikation treten die Individuen aktiv als einzigartige Lebewesen auf; gleichzeitig müssen sie einander in ihrer Verantwortung, d.h. in ihrer Fähigkeit, ja und nein sagen zu können, letztlich als gleich anerkennen. Solange wie Menschen in der Absicht miteinander sprechen, einen Konsensus zu erzielen, begründet die Idee eines gemeinsamen Verständnisses, die in Sprache eingelassen ist, Ansprüche auf eine radikale Gleichheit, die zwar zeitweise suspendiert, aber nicht für immer unterdrückt werden kann. Die Analyse des dritten Merkmals (Natalität) enthüllt das Phänomen des freien Willens im Handelnden. Die Geburt jedes Einzelwesens ist das Versprechen eines neuen Anfangs; Handeln heißt fähig zu sein, die Initiative zu ergreifen und das Nichtantizipierte zu tun. Gerade dieses innovative Potential macht den Bereich der Praxis verletzbar und von schützenden Institutionen abhängig. Erst wenn diese Institutionen aus der Kraft gemeinsamer Überzeugungen derjenigen hervorgehen, die in Übereinstimmung handeln, nehmen sie die Form einer »Konstitution der Freiheit« an; und Freiheit kann nur solange erhalten werden, als die politischen Institutionen wiederum jene Quelle unbeschädigter Intersubjektivität schützen, aus der eine kommunikativ erzeugte Macht entspringt. Von Hannah Arendt habe ich gelernt, wie eine Theorie des kommunikativen Handelns anzugehen ist; was ich nicht zu sehen vermag, ist, daß dieser Zugang im Widerspruch stehen soll zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Vielmehr finde ich darin ein präzises analytisches Instrument, um die marxistische Tradition vor ihren eigenen produktivistischen Verirrungen zu bewahren. Was Marx als kritisch-praktische Tätigkeit, als revolutionäre Praxis im allgemeinsten Sinne bezeichnete, könnte nicht treffender erläutert werden, als Hannah Arendt dies in ihrem Kapitel »Der Abgrund der Freiheit und der novus ordo saeclorum« tat, wo sie die emanzipatorische Freiheit, als Ergebnis einer Befreiung, mit der
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kreativen Freiheit verbindet, die sich aus der Spontaneität eines Neubeginns ergibt. 1 2. Hannah Arendt lokalisiert Praxis im »Raum der Erscheinung«, in den die Handelnden eintreten, wo sie sich begegnen, wo sie gesehen und gehört und jeden Tag herausgefordert werden. Als politische Theoretikerin war sie in erster Linie an der normativen Frage interessiert, wie dieser Raum als öffentlicher Bereich institutionalisiert werden sollte. Der Sozialwissenschaftler muß sich hingegen mit der deskriptiven Frage befassen, wie dieser Raum der Erscheinung, der den Horizont des Alltagslebens bildet, tatsächlich funktioniert. Alfred Schütz widmete sein Leben der Antwort auf diese Frage. Zu diesem Zweck benutzte und transformierte er Husserls Begriff der »Lebenswelt«. Lassen Sie mich nur einen zentralen Gedanken erwähnen, dessen Implikationen bisher dunkel geblieben sind. Vielleicht war Schütz mit seinen eigenen Klärungsversuchen nicht ganz zufrieden. Er kam immer wieder auf die Anfänge seines Entwurfs zurück, analysierte die Lebenswelt vom selben Ausgangspunkt her immer wieder von neuem. Dieser Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen dem »Problematischen« und dem »Selbstverständlichen«. Schütz faßte die Lebenswelt als den ungeprüften Boden der Alltagspraxis auf. Deshalb bemühte er sich zunächst um die Erklärung, was es heißt, etwas als selbstverständlich, als bis auf weiteres »fraglos Gegebenes« aufzufassen. Lassen Sie mich den Sachverhalt in meinen eigenen Worten ausdrücken. Im kommunikativen Handeln können die Beteiligten ihre verschiedenen Pläne nur unter der Bedingung aufeinander abstimmen, daß sie eine gemeinsame Definition jener Situation erzielen, mit der sie sich zu befassen haben. Sie bieten verschiedene Interpretationen an und versuchen zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Bei diesen Interpretationsleistungen bezieht jeder Handelnde sich auf einen gemeinsamen Wissensbestand, der von einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung bereitgestellt wird. Eben dieses Hintergrundwissen repräsentiert den Kontext der Lebenswelt, und in dieses 1 Hannah Arendt, The Life of Mind. New York 1978, Bd. 2, S. 195 ff.; deutsch: Das Leben des Geistes. München 1979, Bd. 2, S. 185-202.
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Wissen ist auch das kommunikative Handeln eingebettet. Die entscheidende Frage heißt nun: in welchem Sinne dürfen wir diese Hintergrundannahmen und Gewohnheiten der Alltagskommunikation als Wissen auffassen? Es gibt zwei verschiedene Aspekte. Einerseits ist denjenigen, die in Übereinstimmung handeln, die Lebenswelt im Modus einer impliziten Gewißheit als Hintergrund gegeben; wir haben dieses Wissen, ohne von ihm zu wissen. Diese Gewißheit steht in einem scharfen Kontrast zu der jedes einzelnen Wissenselements, das in einer Äußerung ausgedrückt wird. Jede solche Äußerung kann zurückgewiesen werden. Alter kann den Geltungsanspruch, den Ego mit seiner Äußerung erhebt, mit Nein beantworten. Wenn es aber andererseits ein wesentliches Merkmal des Wissens ist, daß es eine interne Beziehung zu Geltungsansprüchen und zur Kritik hat und daß es somit problematisch werden kann, dann haben jene Hintergrundannahmen und Gewohnheiten, die stets für selbstverständlich gehalten werden, gerade nicht die elementare Eigenschaft des Wissens. Was außer jedem Zweifel steht, erscheint so, als ob es niemals problematisch werden könnte; es kann höchstens zusammenbrechen. Die Annahme, daß die Lebenswelt für selbstverständlich gehalten wird, erweist sich somit als paradox. Das Hintergrundwissen, das in Form der Gewißheit des Alltagslebens wirkt, ist Paradigma für das, was wir mit Gewißheit wissen; gleichzeitig fehlt ihm aber die Eigenschaft des wahren Wissens - aufgrund seiner eigentümlichen Gewißheit kann es nicht in jene Dimension eingehen, in der seine Geltung intentional in Frage gestellt und bewußt akzeptiert werden könnte. Nur unter dem kontingenten Zwang einer problematischen Situation kommt es vor, daß relevante Stücke des Hintergrundwissens zutage treten. Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir die Festigkeit des Bodens für etwas Selbstverständliches hielten. Und selbst in so problematischen Situationen steht uns nur jener Teil unseres Hintergrundwissens zur Verfügung, der aus seiner Einschließung in kulturelle Überlieferungen, gesellschaftliche Institutionen, in Fertigkeiten und Kompetenzen, die im Modus eines selbstverständlichen, intuitiven Know how präsent sind, freigesetzt wird. Das Hintergrundwissen wird erst dann zum
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expliziten Wissen, wenn es Stück für Stück in semantische Gehalte der Rede derjenigen umgewandelt wird, die gemeinsam handeln. Daraus ergibt sich eine wichtige methodologische Konsequenz. Kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Sozialisation sind drei verschiedene Funktionen ein und desselben Prozesses der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt, der durch das Medium kommunikativen Handelns kanalisiert wird. In dem Maße, wie die Sozialwissenschaften sich mit diesem Prozeß befassen, stehen sie vor der Aufgabe, einen Hintergrund zu analysieren, der für selbstverständlich gehalten wird. Die einzige verfügbare Methode ist eine, die zur Hauptsache von Philosophen betrieben wird: die rationale Rekonstruktion des vortheoretischen, impliziten Know how kompetenter Subjekte. A. Schütz erkannte, daß die Sozialwissenschaften von einer philosophischen Methode einen empirischen Gebrauch machen mußten. Was er nicht erkannte, war das Problem, daß es nicht einfach von der Wahl einer theoretischen Einstellung abhängt, ob der Wissenschaftler tatsächlich den Zugang zur Lebenswelt findet. Ebensowenig steht ihm die Totalität des für eine Lebenswelt konstitutiven Hintergrundwissens zur Verfügung, es sei denn, daß eine Herausforderung auftritt, angesichts deren die Lebenswelt als ganze problematisch wird. Die Analyse der Lebenswelt ist ein selbstrückbezügliches Unternehmen. Der Wissenschaftler könnte gar nicht die Hoffnung haben, sie zu erfassen, gäbe es nicht die provokative Bedrohung der symbolischen Strukturen jener Lebenssphären, deren Reproduktion vom kommunikativen Handeln abhängig ist. Heute besteht eine solche Bedrohung. Sie geht zurück auf die immer umfassenderen Prozesse des Zur-Ware-Werdens und der Bürokratisierung, auf die zunehmende Autonomie der ökonomischen und administrativen Subsysteme, die die Lebenswelt mit Imperativen der instrumentellen Rationalität konfrontieren und damit nicht nur die traditionellen Lebensformen untergraben, sondern auch in die kommunikative Infrastruktur gerade jener Sphären eindringen, in denen die Menschen immer noch gemeinsam handeln müssen. Ich glaube aber nicht, daß wir die heute so deutlich gewordene Verdinglichung der Lebenswelt erfolgreich analysieren können,
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wenn wir uns nicht auf eine ihr selbst entstammende normative Perspektive stützen. Im Gegensatz zu Alfred Schütz verfügte Hannah Arendt mit der Idee einer unbeschädigten Intersubjektivität über eine solche Perspektive. 3. Hannah Arendt brachte den dritten Teil ihres postumen Werks, Das Leben des Geistes, nicht zum Abschluß. Sie wollte darin das Vermögen der Urteilskraft analysieren, das sie als Kern der rationalen Orientierungen in der Vita Activa betrachtete. Sie wollte die moralischen und politischen Implikationen in jener spezifischen »Erweiterung der Denkungsart« herausarbeiten, die Kant zufolge den Menschen erlauben, zu urteilen. Diese Erweiterung ergibt sich daraus, »>daß man sein Urteil an die Urteile anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt< [KU § 40] (...) Kritisches Denken (...) vergegenwärtigt die anderen und bewegt sich damit potentiell in einem öffentlichen, nach allen Seiten offenen Raum (.. .)«.2 Dies ist eine erste Annäherung an einen Begriff kommunikativer Rationalität, der in Sprache und Handeln selber eingelassen ist. Unter diesem Gesichtspunkt erinnert Hannah Arendts Interpretation von Kants Kritik der Urteilskraft an die Interpretation, die G. H. Mead von Kants Kritik der praktischen Vernunft gegeben hat. Beide konvergieren im Entwurf einer Ethik der Kommunikation, welche die praktische Vernunft an die Idee eines universalen Diskurses bindet. Es war gerade das Werk von G. H. Mead, das, nebenbei gesagt, Alfred Schütz herausforderte, als er zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten kam, um das deutsche Erbe von Husserl und Max Weber mit der großen Tradition des amerikanischen Pragmatismus zu verbinden. Das gibt mir die Gelegenheit zu einer letzten Bemerkung. Letztes Jahr veröffentlichte Hans Jonas ein wichtiges Buch über Ethik in der technischen Zivilisation: Das Prinzip Verantwortung3 Ich war überrascht zu sehen, daß er dieses Buch nach so vielen anderen, englisch abgefaßten Büchern, in deutscher Sprache geschrieben hatte. Jonas erklärt diesen Entschluß im Vorwort: wenn er das Argument in seiner erworbenen Sprache hätte formu2 Ebd., S. 257; deutsche Ausgabe S. 210. 3 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M. 1979.
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lieren wollen, dann hätte ihn dies zwei- bis dreimal soviel Zeit gekostet. Wir haben von Mary McCarthy erfahren, daß Hannah Arendt bis zuletzt ähnliche Zweifel hegte. Diese Fakten sind erwähnenswert, weil sie nur die Kehrseite einer Medaille sind: sie geben uns einen Eindruck von den enormen Anstrengungen, die in die Verpflanzung von Gedanken deutscher Herkunft in den objektiven Geist dieses Landes eingingen, wobei auch deutlich wird, wie tief die Affinitäten zwischen amerikanischen und deutschen philosophischen Überlieferungen seit Ch. S. Peirce sind. Im Hinblick auf die bewundernswerten Leistungen möchte ich der New School dafür Dank sagen, daß sie ein so seltener Ort der wechselseitigen Befruchtung und der intensivsten deutsch-jüdisch-amerikanischen Assimilation des Geistes ist. [Aus dem Englischen übersetzt von Max Looser.]
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18. Max Horkheimer Die Frankfurter Schule in New York (1980) Vor zehn Jahren hat der Kösel-Verlag die neun Bände der zwischen 1932 und 1941 erschienenen »Zeitschrift für Sozialforschung«, ergänzt um eine Einleitung von Alfred Schmidt und ein Gesamtregister, nachgedruckt. In einer hellblauen Kassette macht der Deutsche Taschenbuch Verlag diesen Reprint nun auch einer breiteren Schicht von Käufern zugänglich. Auf den ersten Blick mag das nicht so ungewöhnlich sein. Immerhin enthält die Zeitschrift die klassischen Texte der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, das 1933 über Genf nach New York emigrieren mußte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Zeitschrift weiterhin in deutscher Sprache von einem Pariser Verlag veröffentlicht; die letzten vier Hefte erschienen in New York, nunmehr auf englisch. Für jene Gruppe von Emigranten, die die Öffentlichkeit rückblickend, eigentlich erst seit dem Ende der sechziger Jahre, mit dem Namen der Kritischen Theorie in Verbindung bringt, war die Zeitschrift für Sozialforschung lebenswichtig. Sie bildete den organisatorischen Kern und das geistige Zentrum ihrer Arbeit. Wissenschaftliche Diskussionen fanden meist in der Form von Redaktionssitzungen statt, Forschungsaufgaben hingen eng mit Publikationsplänen zusammen. Die Zeitschrift war mehr als nur das Organ einer Gruppe von Wissenschaftlern, sie war konstitutiv für eine Schule. Daran hat Horkheimer, der Herausgeber, seine Leser nie im Zweifel gelassen. Die Auswahl der Hauptaufsätze begründet er im Vorwort zum sechsten Jahrgang unverblümt: »Wir haben uns entschlossen, auch insofern eine philosophische Tradition fortzusetzen, als neben der wissenschaftlichen Zulänglichkeit vor allem Denkart und Richtung des Interesses bei der Auswahl der Aufsätze entscheiden. Die tragenden Artikel auf den verschiedenen Gebieten sollen eine gemeinsame philosophische Ansicht entwickeln und zur Anwendung bringen. Wenn schon auf anderen Lebensgebieten die Gleichgültigkeit gegenüber allgemeinen menschlichen Angelegen-
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heiten und der Verzicht auf vernünftige Entscheidung Platz greifen und der Relativismus gerade unter den Aufrichtigen zur eingestandenen geistigen Haltung wird, so darf die Wissenschaft selbst um so weniger darauf verzichten, bestimmte Gedanken durchzuhalten.« (Jg. 6,1) Aus diesen Worten spricht keineswegs Dogmatismus, sondern die entschiedene Präferenz für Forschungsinteressen, die sich schon in den Themen des allerersten Heftes ausgedrückt hatten. Die theoretischen Schwerpunkte Die Nr. 1 hatte Horkheimer mit einem Aufsatz über »Wissenschaft und Krise« eröffnet. Er entwickelt dort die Grundzüge einer Wissenschaftskritik, in der sich die bis in den Positivismusstreit der 6oer Jahre reichende Doppelfront abzeichnet: die Stellung gegen Szientismus und Metaphysik. Diese beiden entgegengesetzten Varianten eines in denselben Traditionen wurzelnden Theorieverständnisses bilden den Hintergrund, vor dem Horkheimer in den folgenden Jahren, zusammen mit Herbert Marcuse, den Ansatz zu einer kritischen Gesellschaftstheorie ausarbeiten wird. Ähnlich wie Husserl in seiner Untersuchung zur »Krisis der europäischen Wissenschaften« will Horkheimer durch das objektivistische Selbstverständnis der empirischen Wissenschaften hindurchgreifen, um den lebensweltlichen Kontext der Forschung, die Fäden, die aus der gesellschaftlichen Praxis bis in die Methodologie hineinreichen, bloßzulegen. Auch die anderen Abhandlungen jenes ersten, noch in Frankfurt erscheinenden Heftes bilden charakteristische Ausgangspunkte für die spätere Theorieentwicklung. Erich Fromm schreibt über die Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, Löwenthal und Adorno über Literatur- und Musiksoziologie, Friedrich Pollock und Henryk Großmann über Kapitalismus, Wirtschaftskrise und die »Aussichten auf eine planwirtschaftliche Neuerung«. Erich Fromm konzipiert mit wenigen energischen Annahmen Grundlagen für eine fruchtbare marxistische Aneignung der Psychoanalyse. Die ausgebliebene Revolution, der Erfolg der faschistischen Diktatur in Deutschland, die bürokratische Entstellung des
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Sozialismus im stalinisierten Rußland - das waren zeitgeschichtliche Ereignisse, die den Sinn für die psychischen Vermittlungen zwischen Bewußtseinswandel und sozialökonomischen Veränderungen geschärft hatten. Nun soll die Psychoanalyse zeigen, wie sich der Druck ökonomischer Situationen über die Triebstruktur in Handlungsweisen und Ideologien umsetzt. Eine ähnlich folgenreiche Integration der Freudschen Entwicklungspsychologie in die Gesellschaftstheorie hat später nur noch Talcott Parsons zustande gebracht. Im Frankfurter Institut haben sich alsbald alle Mitarbeiter des engeren Kreises dieses von Fromm geschaffenen Instrumentariums bedient. Das gilt auch für die Kulturtheorie, für die die Arbeiten von Löwenthal, Adorno und Benjamin repräsentativ sind. Löwenthal beklagt schon in jenem ersten Aufsatz »das schiefe Verhältnis« der Literaturwissenschaft zu Psychoanalyse, Geschichte und Soziologie, die Neigung, ihre Gegenstände metaphysisch zu verzaubern. Andererseits soll der »Zusammenhang zwischen kulturellen und wirtschaftlichen Vorgängen« keineswegs empiristisch, etwa im Sinne einer Bindestrich-Soziologie untersucht werden. Die Frankfurter setzen ihre Analysen werkimmanent an, radikalisieren aber die Untersuchung der ästhetischen Form so weit, daß das gesellschaftliche Getriebe, die im Ökonomischen wurzelnde Psychodynamik aus den scheinbar entferntesten, esoterischsten, verschlossensten Chiffren des Kunstwerkes entschlüsselt werden kann. Löwenthals ideologiekritische Untersuchungen im Umkreis der Roman- und Dramenliteratur des europäischen Bürgertums haben den Weg gebahnt, auf dem sich inzwischen Generationen von Germanistikstudenten wie selbstverständlich bewegen. Löwenthal setzt ebenso hartnäckig an formalen Elementen, z.B. Rahmenerzählung und Dialogführung, wie an der Organisation des Stoffes und der Motivwahl an. Die Methode einer fast detektivischen Fahndung nach dem gesellschaftlichen Gehalt der ästhetischen Form tritt noch prononcierter hervor in Adornos Studien zu Schönberg und Wagner oder in Benjamins Aufsatz über Baudelaire, faszinierende Zeugnisse einer als Gesellschaftstheorie durchgeführten Ästhetik, zu der sich allenfalls in den Arbeiten von Lukács Parallelen finden.
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Die konventionellsten unter den theoretisch tonangebenden Arbeiten sind die Beiträge zu dem vierten Thema, das zunächst durch Aufsätze von Pollock und Großmann angeschlagen wird. Sonst bildet in einer marxistisch orientierten Zeitschrift die Politische Ökonomie das Herzstück. Tatsächlich gehören Übersichten zur planwirtschaftlichen Literatur (von Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer) zum festen Bestand der Zeitschrift; und über Themen der Arbeiterbewegung informiert ein Rezensionsteil, der unter dem Stichwort »Soziale Bewegung und Sozialpolitik« geführt wird. Aber die ökonomische Theorie wird nicht eigentlich weiter entwikkelt; Pollocks interessante Thesen zum Staatskapitalismus (und Wittfogels berühmte Untersuchungen zum orientalischen Despotismus) sind eher eine Bestätigung für den symptomatischen Wechsel der theoretischen Perspektive. Aufmerksamkeit finden weniger die konflikterzeugenden Mechanismen des Wirtschaftssystems als vielmehr die den Krisen nachgewachsenen Auffangmechanismen der staatlichen Konfliktverarbeitung und der kulturellen Integration. Auf dieser Linie liegen auch die politikwissenschaftlichen und rechtstheoretischen Arbeiten von Franz Neumann und Otto Kirchheimer; diese beiden Juristen, die erst in der Emigration zu den Mitgliedern des Instituts gestoßen sind und mit ihrer sozialdemokratischen Orientierung etwas am Rande des engeren Kreises bleiben, haben originelle Ansätze zu einer bis heute aktuell gebliebenen Demokratietheorie entwickelt. Die großen Aufsätze spiegeln die unvergleichliche Produktivität eines kleinen Kreises von Gelehrten, die sich in der Emigration auf enger gewordenem Raum um das Banner der Zeitschrift scharen. Die Zeitschrift war so etwas wie ein Fokus - wenn es je, datierbar und lokalisierbar, eine Frankfurter Schule gegeben hat, dann hier in New York, zwischen 1933 und 1941, in jenem von der Columbia University zur Verfügung gestellten Haus 429 auf der Westseite der 117. Straße.
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Was die Zeitschrift zu einem Dokument macht Gerade der Hauptteil der Zeitschrift, von dem bisher die Rede war, ist nun freilich arg geplündert worden. 1970, als der Reprint zuerst erschien, waren bereits alle wichtigen Aufsätze von Marcuse, Adorno und Benjamin, von Löwenthal und Fromm, von Neumann und Kirchheimer in Einzelausgaben veröffentlicht worden. Endlich hatte sogar Horkheimer, nach jahrelangem Zögern, einem Nachdruck seiner Aufsätze aus der Zeitschrift zugestimmt; den beiden 1968 erschienenen Bänden schickt er ein distanzierendes Vorwort voraus. Er will die »ökonomischen und politischen Vorstellungen«, die in den 30er Jahren den Horizont seiner Überlegungen gebildet hatten, für die Gegenwart nicht mehr gelten lassen; die Studenten warnt er: »Unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchte den Prozeß, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen.« (Kritische Theorie, Bd. I, S. IX, Frankfurt 1969.) Wenn nun aber, derart an den rechten Platz gerückt, alles Wichtige schon veröffentlicht war, warum dann noch ein Nachdruck der Zeitschrift mit allem Drum und Dran? Zufälligerweise hat mich Horkheimer selbst in die glückliche Lage versetzt, eine Antwort darauf geben zu können. Während meiner Assistentenzeit am Frankfurter Institut, in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, waren es nämlich die eben erwähnten Bedenken, die ihn veranlaßten, uns von der Lektüre der Zeitschrift abzuhalten. Ein vollständiges Exemplar blieb wohlverwahrt in einer zugenagelten Kiste im Keller des Instituts, unserem Zugriff entzogen. So kam es, daß ich damals nur einzelne Hefte kennenlernte und die Zeitschrift als ganze erst zu einem Zeitpunkt in die Hand bekam, als die substantiellen Teile schon andernorts publiziert worden waren. Ich ging davon aus, daß ich alles Wesentliche kannte, und war deshalb überrascht, als ich entdeckte, was es mit jenen »umfangreichen Besprechungsteilen« auf sich hatte, die auf der Rückseite der einzelnen Hefte angekündigt waren: eine Zeitschrift ist dann doch etwas anderes als die theoretisch tonangebenden Abhandlungen, die sie enthält. Bücher haben ihre Schicksale. Sie können verlorengehen, vergessen
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werden, wieder auftauchen. Selbst Bücher, die für eine Zeit präsent bleiben, haben ihre Schicksale. Neuauflagen sind wie Ränder, an denen sich mit jeder veränderten Situation, jeder neuen Generation von Lesern eine weitere Schicht von unvorhergesehenen Reaktionen absetzt. Anders verhält es sich mit periodischen Veröffentlichungen; sie stellen sich einer solchen Wirkungsgeschichte selber in den Weg. Zeitschriften begrenzen mit dem Rhythmus ihres Erscheinens die eigene Aktualität. Jede neue Nummer entwertet die vorangehende; und mit der letzten Nummer wandert eine Zeitschrift ins Archiv. Periodika sind ihrem Erscheinungsraum inniger verhaftet als Monographien der Jahreszahl ihres Erstdruckes. Freilich haben sie eine andere Chance: sie können, wenn sie nur genug vom Geist einer Zeit absorbiert haben, zu einem Dokument werden. Und manchmal haben auch Dokumente Schicksale. Vielleicht ist das ein Schlüssel für die Analyse der Wirkung dieser Zeitschrift für Sozialforschung. In ihr nehmen Aufsätze, die die Positionen der Schule definieren, weniger als die Hälfte eines Heftes ein. Der Besprechungsteil erfordert weit mehr als ein Drittel des Platzes. Und da die Redaktion auf äußerst konzentrierten, kurzen Besprechungen besteht, werden jährlich mehr als 350 Publikationen behandelt - im Laufe der Jahre fast dreieinhalbtausend Titel. Zu den Richtlinien der Redaktionspolitik, die Horkheimer in dem erwähnten Vorwort erläutert, gehört nicht nur der Ausbau einer theoretischen Position: »Wenn angesichts der intellektuellen Ratlosigkeit die unbeirrte Verfolgung bestimmter Ideen auf den verschiedenen Gebieten der Gesellschaftstheorie besonders notwendig ist, so bedarf doch jede Art philosophischen Denkens einer fortwährenden Beobachtung der einzelwissenschaftlichen Arbeit. Diese Orientierung soll für den Leser unserer Zeitschrift vor allem durch die Besprechungen erleichtert werden. Wir versuchen, auf jede für die Theorie der Gesellschaft, auch auf abgelegenen Fachgebieten nur irgend wichtige Publikation wenigstens hinzuweisen. Der Aufsatzteil selbst ist durch solche Studien von Spezialisten erweitert, die mit Fragen der Sozialwissenschaft zusammenhängen. Unterschiede der theoretischen Einstellung treten hier ganz hinter die Klärung einzelner Sachverhalte zurück. Die Kritik an der positivistischen Schule
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hindert uns nicht, ihre fachlichen Leistungen anzuerkennen und zu fördern.« Jg. 6,2) Im gleichen Heft stehen neben Arbeiten von Horkheimer, Marcuse und Fromm Abhandlungen von Otto Neurath ud Paul Lazarsfeld: der eine stammt aus dem Wiener Kreis, der andere ist auf Sozialerhebungen, auf Techniken der Sozialforschung spezialisiert. Der untertreibende Hinweis auf »die fortwährende Beobachtung der einzelwissenschaftlichen Arbeit« zielt aber vor allem auf den Rezensionsteil; dahinter verbirgt sich die imponierende Leistung von Leo Löwenthal, in dessen Händen die Fäden der redaktionellen Arbeit zusammenliefen. Ohne ihn, ohne den von ihm betreuten Rezensionsteil hätte die Idee nicht verwirklicht werden können, die Horkheimer im Vorwort zum ersten Heft unter dem Stichwort »Sozialforschung« entworfen hatte - die Idee einer auf die gegenwärtige Epoche gerichteten Theorie der Gesellschaft, die sich dem Urteil der empirischen Forschung in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen unterwirft. Die Einheit der Sozialwissenschaften Die Hintergrundphilosophie der Deutschen Historischen Schule hatte für zwei, drei Generationen der Geisteswissenschaften eine einheitsstiftende Kraft entfaltet, die von Dilthey auf den Begriff gebracht worden war. Etwas Ähnliches gelingt Horkheimer mit dieser Zeitschrift für die Sozialwissenschaften, wenn auch nur für die Spanne eines knappen Jahrzehnts. Die im Besprechungsteil ausgebreitete und verarbeitete Literatur liefert das spröde Material, das sich fast zwanglos in den theoretischen Rahmen fügt; an ihm bewährt sich die organisierende Kraft der zentralen Forschungsinteressen. Der Besprechungsteil gliedert sich in die Gebiete Philosophie, allgemeine Soziologie, Psychologie, Geschichte, Soziale Bewegung und Sozialpolitik, Spezielle Soziologie und Ökonomie; bei der »Speziellen Soziologie« sind auch politische Wissenschaft, Kulturanthropologie und Rechtstheorie untergebracht. Nie wieder sind gleichzeitig disziplinäre und nationale Entfernungen in den Sozialwissenschaften auf so einleuchtende Weise überbrückt wor-
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den, nie wieder hat sich die Einheit der Sozialwissenschaften so überzeugend dargestellt wie hier, aus der Perspektive eines unorthodox fortentwickelten, eines, wie Merleau-Ponty sagt, »westlichen« Marxismus, welcher das Erbe der Deutschen Philosophie von Kant bis Hegel mit der Tradition der Gesellschaftstheorie von Marx bis Durkheim und Max Weber verschmilzt. Dabei spielt die innermarxistische Diskussion kaum eine Rolle. Gewiß, da schreiben Lukács oder Borkenau über die alte MarxEngels-Gesamtausgabe, Korsch über Lenin, Paul Mattik über den frühen Sidney Hook, Marcuse über Cornu und Marxologisches aus Frankreich. Labriola wird rezensiert oder die bekannte krisentheoretische Abhandlung von Natalie Moszkowska. Das alles bleibt aber frei von den Akzenten des sonst üblichen Meinungskampfes zwischen den Fraktionen. Karl Korsch beispielsweise interessiert sich mehr für Donoso Cortes, für den Aufbau der Staatsgewalt im faschistischen Italien, für die Sorelstudien von Michael Freund, für die lehrreichen Ambivalenzen in dem Buch eines jungkonservativen Autors wie Wilhelm Eschmann (über die »Revolution« von I933). Horkheimer und Löwenthal hätten ihre ehrgeizigen redaktionspolitischen Ziele nicht verwirklichen können, wenn sie nicht international bekannte Fachvertreter, beispielsweise Alexandre Koyre, Maurice Halbwachs, Raymond Aron und George Friedmann aus Paris, Moris Ginsberg und T. H. Marshall aus England, Charles A. Beard, Margaret Mead, Harold D. Laswell und Otto Lipmann aus den USA, zur Mitarbeit gewonnen hätten. Die Zeitschrift verfügt über beneidenswerte Ressourcen; sie kann viele aus dem Kreis der deutschen Emigranten zur Mitarbeit heranziehen. Natürlich gibt es charakteristische Lücken; es fehlen Ernst Bloch und Hannah Arendt, auch Hans Morgenthau. Aus dem Kreis der New School sind nur Adolf Löwe und Hans Speier dabei. Aber immerhin gehören zu den Rezensenten Ernst von Aster, Otto Fenichel, P. Honigsheim, Karl Landauer, Karl Löwith (erst aus Rom, dann aus Japan), Ernst Manheim, Siegfried Marck, Paul Massing, Hans Mayer, F. Neumark (aus Istanbul), Arthur Rosenberg, Ernst Schachtel und Günther Stern. Vereinzelte Beiträge schreiben Ossip Flechtheim, Hans Gerth, Bernhard Groet-
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huysen, A. R. Gurland, Herta Herzog, Ernst Krenek, Frieda Reichmann und Paul Tillich. Die Redaktion kann diesen Reichtum an Experten nutzen, um die verschiedensten Forschungsrichtungen sorgfältig zu beobachten. Die Zeitschrift kann das deutsche Publikum mit neueren ausländischen Strömungen bekanntmachen, so mit der funktionalistischen Schule der amerikanischen Kulturanthropologie (Malinowski, M. Mead, R. Benedict), mit soziologischen Entwicklungen, sei es in der Durkheimschule oder in der Chicagoer Schule, mit A. C. Pigou und den Anfängen der Wohlfahrtsökonomie, mit dem Pragmatismus von G. H. Mead und Dewey, mit den großen historischen Arbeiten von Pirenne oder Toynbee. Vor allem kann die Zeitschrift kritisch auf theoretische Neuerungen reagieren: auf Kurt Lewins Feldtheorie, auf die Anfänge der analytischen IchPsychologie, auf das umwälzende Werk von Keynes und die Arbeiten Joan Robinsons oder auf die Bewegung der Unified Science, die aus dem logischen Empirismus hervorgeht. Das sind einige Beispiele für die Integrationskraft und die Reaktionsfähigkeit eines ungewöhnlichen Instruments; sie illustrieren auch die Bandbreite intellektueller Reize, für die die Zeitschrift ein mit Genauigkeit unterscheidendes Sensorium bereithält. Hätte sie nur dies geleistet: mit philosophischer Inspiration die Einheit der Sozialwissenschaft für einen historischen Augenblick zu vergegenwärtigen, die Zeitschrift wäre dadurch allein zu einem wirkungsträchtigen Dokument geworden. Aber ich bezweifle, daß diese Leistung zustande gekommen wäre ohne den zeitgeschichtlichen Antrieb. Helmut Dubiel hat in einer vorbildlichen Untersuchung (in seinen 1978 bei Suhrkamp erschienenen »Studien zur frühen Kritischen Theorie«) verfolgt, wie die historisch-politischen Erfahrungen mit dem Ende der revolutionären Arbeiterbewegung, mit dem Naziregime und dem Stalinismus tief in die Entwicklung der Kritischen Theorie selbst eingegriffen, wie sie die Hoffnungen, die am Anfang des Projektes gestanden hatten, nach und nach erdrückt und den inneren Kreis zu jener negativ-dialektischen Spielart von Totalitarismustheorie gedrängt haben, mit der dann Horkheimer und Adorno, nur noch die Kritik der instrumentellen Vernunft in Händen, nach Deutschland zurückgekehrt sind.
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Der zeitgeschichtliche Antrieb Das Vorwort, das Horkheimer im Juli 1940 zum ersten englischsprachigen Heft schreibt, verrät die Motive, von denen die Zeitschrift bis dahin gelebt hatte: »Wir haben bisher die Zeitschrift hauptsächlich deshalb nicht in Amerika veröffentlicht, weil in den vergangenen acht Jahren die meisten unserer Leser Europäer waren. Indem fast alle Beiträge auf deutsch erschienen, konnte sie ihren eigentlichen Zweck erfüllen; philosophische und wissenschaftliche Traditionen, die in Deutschland nicht länger verfolgt werden konnten, wurden hier in der Muttersprache fortgesetzt. Die Sprache, in der Artikel geschrieben werden, bleibt nicht ohne Einfluß auf den Gedanken. Aber diese Überlegung muß nun hinter unserem Wunsch zurücktreten, unsere Arbeit, sogar ihrer äußeren Form nach, in den Dienst des amerikanischen Gesellschaftslebens zu stellen. Philosophie, Kunst und Wissenschaft haben in fast allen Teilen Europas ihre Heimat verloren.« (Jg. 8,321) Wer sich den Besprechungsteil der vier Hefte anschaut, die dann noch in englischer Sprache erschienen sind, sieht, woran die Zeitschrift zugrunde gegangen ist - die Nabelschnur zur wissenschaftlichen Kultur des Heimatlandes war zerschnitten. Bis dahin hatten die Emigranten nach Deutschland geblickt, mit jenem eigentümlichen Blick, in dem sich Liebe, ja Abhängigkeit mit Trauer, Bitterkeit und Schrecken mischten. In den vielen aufgeschreckten Blicken ist etwas eingefangen worden, was die Lektüre der Besprechungen bis auf den heutigen Tag für jeden, dem die Namen noch etwas sagen, zu einer beklemmenden Erfahrung macht: In diesem Teil der Zeitschrift spiegelt sich die Dekomposition des Geistes auf deutschen Universitäten. Die ersten, aus Frankfurt publizierten Hefte leben noch ganz in der akademischen Welt der 20er Jahre. Die Fülle der Kurzbesprechungen schafft Überblick über ein vertrautes Gelände. Da sind die bekannten Sozialwissenschaftler wie Vierkandt, Tönnies und Thurnwald, Karl Mannheim, Alfred Weber, Emil Lederer, Robert Michels, Theodor Geiger oder A. v. Martin. Noch werden im gleichen Atemzug besprochen C. G. Jung neben Freud, Hans Freyer neben Neurath, Ludwig von Mises neben Lenin, Kurt
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Breysig neben Franz Mehring. Der Bogen reicht von Eugen Rosenstock bis Nicolai Hartmann, von Lujo von Brentano bis Kautsky, von Alfred Schütz und Eduard Heimann bis Kuczynski, von Malinowski über Bergson bis Croce. In dieser friedlichschiedlichen Runde sind nur wenige scharfe Töne zu vernehmen. Adorno spricht von Spenglers polternd generösem Pathos, der junge Dolf Sternberger hat ein unbeirrtes politisches Gespür für Othmar Spanns zeitsymptomatischen Stellenwert. Kritisch ist auch Richard Löwenthal: Damals noch marxistisch, nimmt er genau die von Schumpeter und Weber angeregte Demokratietheorie auseinander, auf die er sich selbst später zurückziehen wird. Aber noch betont Karl Korsch die Stärken der Theorie von Carl Schmitt; und Hans Speier meldet erst vorsichtig Bedenken gegen die Reduktion des Politischen auf Freund-Feind-Verhältnisse an. Im übernächsten Heft hat sich die Atmosphäre mit einem Schlage verändert: Als dasselbe Buch, Carl Schmitts »Begriff des Politischen«, in dritter Auflage erscheint, kann sich Marcuse darauf beschränken, die teils opportunistischen, teils scharfmacherischen Textänderungen schlicht aufzuzählen, die der Autor nach dem 30. Januar 1933 stillschweigend vorzunehmen für nötig gehalten hatte. Zur gleichen Zeit warnt allerdings Horkheimer vor pauschalen Urteilen, indem er auf »die gegenwärtig in Deutschland maßgebenden, soziologisch äußerst komplizierten intellektuellen Strömungen« hinweist. Aus den Rezensionen der deutschsprachigen Publikationen ergibt sich tatsächlich ein kompliziertes Bild. Natürlich verfolgt die Zeitschrift die Werke der Emigranten, auch derjenigen, mit denen ein persönlicher Kontakt nicht zu bestehen scheint, etwa die Arbeiten von Karl Mannheim, Ernst Heller, Helmuth Plessner, Leo Strauss, E. Voegelin, W. Hallgarten oder Gotthard Günther. Das Hauptaugenmerk richtet sich aber auf die Autoren, die deutsche Wissenschaftstraditionen in Deutschland fortsetzen können: auf Jaspers, Litt, Nicolai Hartmann in der Philosophie oder auf Franz Schnabel, Friedrich Meinecke, Erich Kahler, Hermann Oncken unter den Historikern. Das Fortschreiten von Editionen (Hegel, Dilthey) wird ebenso sorgfältig registriert wie die schwer überschaubaren politischen Differenzierungen innerhalb bekannter schulen (wie der Heideggerschen in Freiburg oder der von Felix
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Krüger in Leipzig). Mit Marcuse, Löwith und Günther Stern (der nach dem Kriege unter dem Pseudonym Günther Anders bekannt geworden ist) verfügt die Zeitschrift über drei Philosophen, die im Freiburg Husserls und Heideggers intellektuell aufgewachsen sind. Nicht ohne Aufatmen beginnt Marcuse Ende 1936 eine Sammelrezension mit der Feststellung, daß einige Arbeiten aus dem Umkreis Heideggers, obwohl sie nicht in den Aufgabenkreis einer Zeitschrift für Sozialforschung gehörten, eine Besprechung verdienen, weil sie sich ohne Anpassung an die herrschende Ideologie »um eine sachliche Behandlung ihres Gegenstandes bemühen«. Man bemerkt die Anstrengung, aus der Ferne die verwischten Konturen doch noch zu erkennen. Nicht untypisch ist, was Adorno über »Die Schichten der Persönlichkeit« von Erich Rothacker schreibt, dasselbe Buch, das wir als Rothackerschüler nach dem Kriege fürs Psychologiestudium ohne die scharfsichtigen Unterscheidungen des New Yorker Beobachters aus dem Jahre 1938 benutzt haben: »Das Buch zeigt die Gelehrsamkeit der Diltheyschule und ist geschickt organisiert. Auffallend die politische Zurückhaltung. Die übliche Nutzanwendung der organisch geschichteten Persönlichkeit unterbleibt. Das Kapitel über Völkerpsychologie kann wegen seiner Betonung historischer Momente gegenüber den Invarianten als versteckte Polemik wider die Rassedoktrin gelten. Die Namen von Autoren wie Bergson, Koffka, W. Stern, Geiger, Kurt Goldstein sind genannt. Freilich nicht der Freuds. Man vermißt ihn um so mehr, als die einzige Idee, die über den Rahmen des Lehrbuchs hinausgeht, die von den >Schichten< der Person und ihrem Verhältnis, in der Freudschen Theorie der >Systeme< Unbewußt, Vorbewußt und Bewußt und in seinen Ausführungen über ihre topologische und dynamische Interpretation unmittelbar angelegt ist.« (Jg. 7,423) Auf einem anderen Blatt stehen Günther Sterns bittere Bemerkungen über C. G. Jungs ebenfalls 1936 veröffentlichte amerikanische Vorlesungen, worin dieser sich behutsamer ausgedrückt hatte als »rasch nach der Neuordnung« in Deutschland: »Es wäre ungerecht, Jungs Begabung für geographische Variationen unter den Scheffel zu stellen.« Auf einem anderen Blatt erst recht stehen Erich Triers Berichte aus Frankfurt über die neuesten Entwicklungen in der
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Evangelischen Theologie (Barth, Gogarten, Müller) oder gar Hugo Marxens und Hans Mayers Berichte aus Zürich über jenes todtrauriee Satyrspiel, das Carl Schmitt und seine Schüler, das Leute wie Ernst Anrieh, E. R. Huber, Ernst Forsthoff, Otto Koellreutter, Herbert Krüger und Karl Larenz im deutschen Staatsrecht damals in Szene setzten. In diesem Kontext steht die Abhandlung von Herbert Marcuse über den »Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«- Erst mit dieser Arbeit löst sich Marcuse von seinem Lehrer Heidegger, dessen Rektoratsrede und dessen Artikel in der Freiburger Studentenzeitung vom 10. November 1933 auch unter seinen exilierten Schülern sofort die Runde gemacht hatten. Marcuse löst sich von Heidegger freilich mit einem Kunstgriff. Carl Schmitts Dezisionismus gilt als das aufgelöste Rätsel einer abstrakten, vom gesellschaftlichen Lebenszusammenhang sich abwendenden Existentialontologie: »Der Existentialismus bricht zusammen in dem Augenblick, da sich seine politische Theorie verwirklicht.« Und mit ironischer Zustimmung zu Carl Schmitt, der verkündet hatte, am Tage der Machtergreifung sei »Hegel gestorben«, heißt es: »Der Existentialismus hat die größte geistige Erbschaft der deutschen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tod, sondern jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen Philosophie.« Jg., 3,194) Ein Ende mit zwei Fortsetzungen Diese Stimmung hat sich im Laufe der Jahre verdichtet. Sie hat die normativen Grundlagen der kritischen Theorie selbst angegriffen und damit das Ende der Zeitschrift herbeigeführt. Martin Jay erwähnt in seiner umfassenden historischen Darstellung der Frankfurter Schule (Dialektische Phantasie, Frankfurt 1973, 203) die finanziellen Schwierigkeiten, die es unmöglich machten, alle Institutsprogramme weiterzuführen. Aber die Zeitschrift ging zu Ende, weil eine innere Uhr abgelaufen war. Der Entschluß zur Umstellung der Zeitschrift auf eine amerikanische Leserschaft brachte vordergründig den Willen zum Ausdruck,
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das Institut stärker in der empirischen Forschung zu engagieren und ins Wissenschaftssystem an Ort und Stelle zu integrieren. Der Radio-research der Gruppe um Paul Lazarsfeld bietet den Anknüpfungspunkt; ein Heft der Zeitschrift wird Problemen der Massenkommunikation gewidmet. Aufschlußreicher sind aber Horkheimers »Notizen« im selben Heft. Sie offenbaren nicht nur eine gewisse Hilflosigkeit, sondern vor allem Halbherzigkeit bei dem erklärten Versuch, die kritischen Gehalte theoretischer Begriffe wie heimliche Sprengsätze in Erhebungstechniken einzubauen. Dieser Versuch kam zu spät, nämlich zu einem Zeitpunkt, als die kritische Theorie den Boden unter ihren Füßen bereits verloren und sich dem Sog einer die Vernunft und den Glauben an die Vernunft aufzehrenden Dialektik der Aufklärung überlassen hatte. Zu weit war die Resignation 1941 fortgeschritten. Im vorletzten Heft veröffentlicht Horkheimer seinen Aufsatz über »Das Ende der Vernunft«, der in nuce die »Kritik der instrumenteilen Vernunft« vorwegnimmt. Verlorengegangen war das Vertrauen in die Kraft der philosophischen Tradition, in die utopischen Gehalte der bürgerlichen Ideale, in jenes Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur also, das unter dem Druck der entwickelten Produktivkräfte in sozialen Bewegungen freigesetzt werden würde. Ausgehöhlt war der rationalistische Kern der kritischen Theorie, die sich zugetraut hatte, auf dem Wege einer immanent ansetzenden Kritik an den Gestalten des objektiven Geistes zu unterscheiden »zwischen dem, was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind«. (Jg. 5,23) Mit Recht hatte Marcuse diese Unterscheidung den »zentralen Hebel der Theorie« genannt. Nun aber schien alle Vernunft aus der Realität entwichen zu sein. Die Produktivkräfte hatten sich in die Destruktivkräfte der Kriegsmaschinerie verkehrt; und wo war die soziale Bewegung, das »Subjekt« geblieben, das die Theorie »tragen« sollte - »das Bewußtsein bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftige Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen«? Übrig bleibt, seit 1941, die Diagnose eines Selbstzerstörungsprozesses der Vernunft, welche alle wichtigen Motive der in den 70er Jahren erneuerten Fortschrittskritik vorwegnimmt - freilich ohne die pausbäckige Forschheit derer, die heute die Dialektik der
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Aufklärung in eine schlichte Philosophie der Nachaufklärung umsetzen. Zwei Linien führen von diesem Punkt aus, wo die Zeitschrift zu existieren aufhörte, wo mit ihr die klassische Gestalt der Theorie zerfiel, in die späten sechziger Jahre. Adorno und Marcuse haben aus der »Dialektik der Aufklärung« entgegengesetzte Konsequenzen gezogen. Während Marcuse den historisch verdunkelten Anspruch der Vernunft triebtheoretisch unter die Schwelle der Kultur zurückverlegt, setzt Adorno seine entleerte Hoffnung auf das einsame Exerzitium der sich selbst verneinenden Philosophie. Eine dritte Möglichkeit verkörpert Leo Löwenthal, auf den der Schatten der beiden anderen gefallen ist: Man kann gegen die anklagende These vom Ende der Vernunft Einspruch erheben, ohne zwischen Metaphysik einerseits und einer der modischen, der wissenschaftlich avancierten Formen einer Liquidierung der Vernunft andererseits wählen zu müssen. Die philosophische Erschöpfung, die heute die intellektuelle Szene, nicht nur in der Bundesrepublik, lähmt, macht wieder neugierig auf Versuche der kritischen Theorie, die Anfang der 40er Jahre abgebrochen worden sind. Vielleicht erklärt sich der Abbruch des Unternehmens auch daraus, daß selbst die, die dem Marxismus das Pseudonym der kritischen Theorie verliehen haben, noch nicht unorthodox genug verfahren sind. Weil sie, was Marx »Produktivkräfte« genannt hatte, zu traditionell verstanden haben, mußten sie alsbald feststellen, daß das Anwachsen der Kräfte kognitiv-instrumenteller Rationalität nicht schon menschenwürdige Lebensformen verbürgt. Vielleicht sind ja die eigentlich produktiven Kräfte, die vernünftigen Potentiale, eher in den Verständigungs- als in den Arbeitsverhältnissen angelegt.
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19. Leo Löwenthal Ein Glückwunsch (1980)
Vor wenigen Tagen hat Leo Löwenthal in unserem Starnberger Institut einen Vortrag gehalten; es war ein souveräner Rückblick auf die eigenen literatursoziologischen Arbeiten. Dabei ist mir klar geworden, daß die breite Rezeption der Frankfurter Theorie nur die allgemeinsten Züge dieses imponierenden Lebenswerkes erfaßt hat. Von dem Namen »Frankfurter Schule« pflegt sich Löwenthal ohnehin mit der Bemerkung zu distanzieren, das klinge ja eher nach einer Taxiadresse. Der Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit hat die Details eines Werkes, das sich mit den kunstsoziologischen Arbeiten von Lukács, Kracauer und Adorno messen kann, am Rande liegen lassen; und die Einzelheiten sind es doch, in denen diese Studien die Eigenart ihres Autors enthüllen, Studien, die die literarischen Zeugnisse des bürgerlichen Zeitalters als »Nachrufe auf die Sozialisationsmuster vergangener Jahrhunderte« entziffern. Die Gesammelten Schriften, deren ersten Band der Verleger heute vorlegt, werden die Gelegenheit und den Anreiz dafür bieten, Leo Löwenthals intellektuelle Physiognomie von dem Hintergrund des Kreises um Horkheimer, dem er sich mit seiner Produktivität selbstlos eingeordnet hat, stärker als bisher abzuheben. Ein kurzer Glückwunsch kann sich diese Aufgabe, die ernstere Anstrengungen erfordert, nicht zum Ziel setzen; an Ort und Stelle möchte ich nur den Wunsch zum Ausdruck bringen, daß sich alsbald ein Kundiger finden möge, der sich einer solchen gleichermaßen reizvollen wie rühmlichen Aufgabe mit dem rechten Augenmaß anzunehmen die Fähigkeit hat. Ich selbst möchte, lieber Leo, auf einen Zug eingehen, den Du mit Deinen Freunden teilst, der eine Mentalität kennzeichnet, die Dich, die Euch nicht nur von der amerikanischen Umgebung, sondern auch von den nach dem Kriege in Deutschland aufgewachsenen Generationen trennt. Ich meine jene charakteristische Unbeirrbarkeit, mit der Ihr Euch traut und zutraut, Werturteile in theoreti-
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scher Einstellung zu fällen. Dazu fehlt heute Sozialwissenschaftlern und Philosophen nicht nur der Mut, sondern auch das gute Gewissen. Seid Ihr nun die Dogmatiker, oder sind die anderen die Defaitisten? Zuletzt ist Dir in Starnberg begegnet, was Du immer wieder erlebst. In Deinem Vortrag hast Du, wie stets, mit großer Selbstverständlichkeit das Recht beansprucht, beispielsweise zwischen Literatur als Kunst und jener Trivialliteratur zu unterscheiden, die nur zum Konsumgut, zur Ware, zum Mittel der Manipulation taugt. Deine literatursoziologischen Forschungen gehen von der Prämisse aus, daß der Wissenschaftler erkennen kann, wann ein Kunstwerk etwas zu sagen hat, wann es einen kognitiven Gehalt hat, und wann es zur Massenkultur gehört, bloß Symptom für etwas anderes ist, das sich in ihm einen ideologischen Ausdruck verschafft. Wieder hat man Dir in der Diskussion den Vorwurf des Elitismus gemacht, und natürlich hast Du in gespielter Unschuld zurückgefragt: »Was, bitte, ist so schlecht an Eliten, wenn sie über ein geschultes Urteilsvermögen verfügen?« Übrigens unterstelle ich, daß Du tatsächlich unschuldig bist in einer Hinsicht: die jüngsten bundesrepublikanischen Versuche, den ideologisch verbrauchten Begriff der Elite wieder aufzupäppeln, wären Dir, wenn Du sie kennen würdest, keine erwünschte Nachbarschaft. Es geht ja auch um etwas anderes. Wenn man überlegten, theoretisch folgenreichen Werturteilen den kognitiven Status nicht schlechthin absprechen will, zeigt sich an der Haltung, die Du so eindrucksvoll verkörperst, ein Problem, dessen man sich nur mit positivistischer Naivität entschlagen könnte. Bei allem methodisch gebotenen Fallibilismus - ist nicht die Sicherheit des wertenden Urteils auch eine Funktion der begründeten Selbstsicherheit derjenigen, die es fällen? Für diese Mentalität der Selbstsicherheit finden sich übrigens viele Beispiele in den Gesprächen, die Leo Löwenthal mit Helmut Dubiel geführt hat: »Nicht wir haben die Praxis verlassen, die Praxis hat uns verlassen.«1 Und an anderer Stelle heißt es: »Im Grunde, wenn ich das arrogant ausdrücken darf, ich habe nicht die 1 Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, Ffm. 1980, 79.
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Politik und die Revolution verlassen, die Revolution hat mich verlassen.«2 Das ist die Linie, auf der sich auch Horkheimer, Marcuse und Adorno immer dagegen gewehrt haben, daß die Theorie durch eine schlechte Wirklichkeit, der sie doch den Spiegel vorhalten will, umstandslos sollte falsifiziert werden können. Das klingt fatal in den Ohren anständiger Wissenschaftler und ist doch eine Selbstverständlichkeit für eine Theorie, die neben den deskriptiven eben auch normative Gehalte hat. Es geht eher um die Art der normativen Gewißheiten, die Art der Vergewisserung des Normativen, die sich unnachahmlich in dem folgenden Bekenntnis ausdrückt: »Die ersten Jahre im Institut waren auch eine Art vorweggenommener Utopie, wir waren anders und wußten es besser.«3 Ich sehe schon die Kritiker, die das aufspießen, die das als dogmatische Besserwisserei abtun und der Attitüde der deutschen Mandarine in die Schuhe schieben. Auch wenn ich selbst diese Haltung einer Mentalität zugeschrieben habe - so einfach läßt sich eine ernste Sache nicht auf bloß Psychologisches reduzieren. Gewiß, nicht ganz und gar abwegig ist die Vermutung, daß das ehrwürdige deutsche Gymnasium die Folie bildet für jene Werturteile, die den Heutigen nicht mehr schlechthin evident erscheinen wollen. Der beinahe 8ojährige Löwenthal scheint nur eine Autorität vorbehaltlos anzuerkennen, und zwar die seiner Lehrer am Frankfurter Goethegymnasium von 1918: »Sie waren so gut, daß sie zum Teil Honorarprofessoren an der Universität wurden«.4 Und heute noch wird Löwenthal von dem Verdacht geplagt, er habe sich bleibende Bildungsschäden, bis ins hohe Alter, zugezogen, weil er vor Abschluß der Oberprima nach Hanau zum Militär einrücken mußte. Trotzdem - der Mentalität »Wir waren anders, wir wußten es besser« kommt man mit solchen Reminiszenzen nicht bei. Etwas aufschlußreicher ist schon jene Situation im New York der dreißiger Jahre, als sich die Gruppe um Horkheimer entschloß, die Zeitschrift für Sozialforschung in deutscher Sprache fortzuführen, dies in der Überzeugung, die »deutsche Sprache sei im kleinen Kreis 2 Ebd., 226. 3 Ebd., 75. 4 L. Löwenthal, a.a.O., 71.
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des Instituts besser aufgehoben als im Dritten Reich«.5 Dieser Entschluß war nicht selbstverständlich. Er bedeutete die Abgrenzung gegenüber amerikanischer Wissenschaft, gegenüber der Kultur der nächsten Umgebung, und er war nur möglich dank einer für Emigranten einzigartigen wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Diese Selbstbehauptung einer an deutsche Traditionen geknüpften Identität mag die Gewißheit in fundamentalen Wertentscheidungen ebenso erfordert wie ihrerseits bekräftigt haben. Allein, Werturteile in theoretischer Einstellung müssen am Ende brüchig werden, müssen in starren Dogmatismus übergehen, wenn sich ihre Gültigkeit nicht an der in ihrem Lichte durchgeführten Kritik auch bewährte. Eben das war der Fall. Hatten Horkheimer, Pollock und Löwenthal nicht schon 1930 die Katastrophe von 1933 kommen sehen? Hatte Löwenthal nicht schon 1937 aus Hamsuns Werk eben den Charakter herausgelesen, der sich 1940 an Hamsuns Verhalten bestätigen sollte? Wer die Schwierigkeiten sozialwissenschaftlicher Prognosen kennt, wird einer Theorie, die sich auf solche Leistungen berufen kann, analytische Kraft nicht ganz absprechen wollen. Damit haben wir aber die Versuche, einen bestimmten Zug in der Mentalität der Frankfurter, der sie des Dogmatismus verdächtig macht, auf kontingente Umstände zurückzuführen, hinter uns gelassen. Vielmehr drängt sich nun die Frage auf, ob die ältere Schule mit ihren Werturteilen nicht vielleicht auch recht haben könnte. Lassen Sie mich kurz zu dem Beispiel, von dem ich ausgegangen bin, zurückkehren. Wenn sich Löwenthal gegen alle surrealistischen und nachsurrealistischen Einebnungen, entgegen den modischen Aufwertungen des Trivialen und des Kitschigen zutraut, Literatur als Kunst von Literatur als Massenkultur zu unterscheiden, bewegt er sich nicht auf gängigen Bahnen der Kulturkritik, sondern läßt sich von einer präzisen Intuition leiten. In der Kunst sucht Löwenthal die Botschaft des gesellschaftlich Unerlösten: »Kunst ist in der Tat das große Reservoir des geformten Protestes gegen das gesellschaftliche Unglück, der die Möglichkeit des gesellschaftlichen Glücks durch5 M. Horkheimer, Kritische Theorie, Ffm. 1968, Bd. I, Vonv. XVI.
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schimmern läßt.«6 Wenn sich aber im Kunstwerk die beharrlich protestierende Stimme der Verlierer, der am Rande Verharrenden, über die die Weltgeschichte hinweggegangen ist, meldet, läßt sich auch identifizieren, was nicht zur Kunst gehört. Massenkultur ist, wo alles beim alten bleibt: »Bei Hamsun zum Beispiel sind selbst die Randfiguren Schweinehunde, da gibt es überhaupt kein Erlösungsphänomen, da wird nirgends angekündigt, daß es auch anders sein könnte und müßte. Und das ist für mich der Prüfstein gewesen zu unterscheiden, was ein echtes Kunstwerk ist und was nicht.«7 In Deinem Interesse an der Geschichte der Verlierer, lieber Leo, drückt sich eine Parteinahme aus, die Du mit großer Objektivität wahrnimmst. Ein Werturteil verdankt die analytisch erhellende Kraft einer Objektivität. So hat mich stets beeindruckt, was Du über Franz von Baader sagst, dem Du Deine Dissertation gewidmet hast: auch Baader sei ein Verlierer, weil es in Deutschland eine wirkliche Restaurationsphilosophie ebensowenig gegeben habe wie eine politisch emanzipierte Aufklärung. Ich habe mir nur darum erlaubt, auf einen charakteristischen Zug in der Mentalität der älteren Frankfurter Generation einzugehen, weil Leo mit dieser gelegentlich irritierenden Unbeirrbarkeit einen ganz anderen Zug verbindet, der ihn von seinen Freunden unterscheidet: Leo verfügt so sehr über den Charme derer, die sich selbst in Frage zu stellen bereit sind, er ist von so großer, so selbstverständlicher Bescheidenheit, daß er, im Kreise seiner Freunde, eigentlich der einzige ist, der sich jene methodisch gemeinte Arroganz des Urteils gestatten kann, ohne mißverstanden zu werden. Dieser unendlich liebenswerte Zug seiner Person mag auch erklären, warum sich Leo Löwenthal seiner amerikanischen Umgebung, der empirischen Forschung und der analytischen Denkweise am weitesten geöffnet hat; warum er als einziger von den älteren Frankfurtern der großen Philosophie Amerikas, ohne Pragmatismus von Peirce bis George Herbert Mead seinen Respekt nicht versagt hat; warum er seit einem Vierteljahrhundert mit außerordentlichem Erfolg einen Lehrstuhl an einem der führenden soziologischen Departements in den USA innehat; warum schließlich er es gewesen ist, der in den 6 L. Löwenthal, a.a.O., 175. 7 Ebd. 176!
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entscheidenden Jahren im Institut für Sozialforschung die Geschäfte geführt, der die Zeitschrift für Sozialforschung nicht nur redigiert, sondern vor allem die Regie für einen Rezensionsteil übernommen hat, welcher historische Bedeutung erlangt hat. Daß Hans Mayer diese Leistungen eines geschäftsführenden Herausgebers der Zeitschrift für Sozialforschung noch vor wenigen Tagen 8 als die eines »Redaktionssekretärs« kennzeichnen und verkennen konnte, sagt eher etwas aus über den unaufdringlichen Stil des Mannes, den wir heute feiern.
8 In: Die Zeit vom i. Nov. 1980.
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Anhang: Zur Deutschen Ideologie
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2O.
Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie (1960)
Reinhart Koselleck und Hanno Kesting begreifen die gegenwärtige Weltkrise als Ausbreitung der mit der Französischen Revolution ausbrechenden Krise des europäischen Bürgerkrieges über den ganzen Erdball. Der Ost-West-Konflikt gewinnt im utopischen Selbstverständnis konkurrierender Geschichtsphilosophien Gestalt. Diese haben in der Kritik, die sich Aufklärung nannte, ihre gemeinsame Wurzel. Derart erscheinen Kritik und Krise einander zugeordnet. Im 18. Jahrhundert trete die Geschichte über die Ufer der Tradition, beginne die »utopische Moderne«, die im 20. Jahrhundert ihr Ende finden soll; mit ihr verliere die Deutung der Gegenwart aus dem Horizont möglichen Fortschritts, mit ihr Geschichtsphilosophie als solche ihr Recht. Und zwar stellt sich ihnen dieser Vorgang so dar, als schriebe die kritisierte Geschichte selber die Metakritik der Geschichtsphilosophie. Koselleck1 begreift die Aufklärung aus einer Dialektik von Politik und Moral, die in der Ausgangsstellung der bürgerlichen Intelligenz im absolutistischen Staat vorgezeichnet ist. Unter dem Absolutismus wird der konfessionelle Bürgerkrieg stillgestellt. Der Monarch erfüllt den Auftrag der Friedensstiftung durch Monopolisierung der öffentlichen Gewalt und eine Privatisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Staatsinteresse ist der Kompetenz des Gewissens entzogen und der Souveränität des Fürsten ausschließlich überantwortet. Die Gesinnungen bleiben, wie in Hobbes' Staatslehre, für die Regierung folgenlos. Politische und moralische Gesetzlichkeit sind streng getrennt. Die Staatsraison verlangt vom Fürsten ein Verhalten nach Regeln der Klugheit; die privatisierte Religion von den Untertanen ein Verhalten nach Regeln der Sittlichkeit. Bevor Kant am Ende des folgenden Jahrhunderts die Übereinstimmung des einen mit dem anderen, die Konvergenz von Politik und Moral K. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959
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selbstverständlich als ein Postulat der Rechtslehre aufstellen kann, vollzieht sich jener Prozeß der Kritik, der die bürgerliche Gewalt selber zur öffentlichen erhebt. Der zuvor private Raum der Innenwelt weitet sich zur Öffentlichkeit aus, und die Kraft der Öffentlichkeit durchdringt den Staat. Die bürgerlichen Privatleute schließen sich zum Publikum zusammen; ihr Raisonnement schafft eine indirekte Gewalt; in den Salons, den Klubs und den Logen, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften findet eine moralische Gerichtsbarkeit, die schließlich auch den Fürsten vor ihr Forum zitiert, ihre frühen Institutionen. Koselleck untersucht an exemplarischen Zeugnissen der Geistesgeschichte die Etappen der Politisierung, von der humanistischen Bibelkritik angefangen, über die unpolitische Kritik der Gelehrtenrepublik, die indirekt politische Kritik der Literaten bis zur Anwendung der Gesetze reiner und praktischer Vernunft auf die Gesetze von Staat und Gesellschaft Turgot und Kant. Die kritische Annektion der öffentlichen Gewalt durch die Privatsphäre scheint vor allem darum so »kritisch«, weil sie sich nicht als ein politischer Akt versteht: »das heißt die Krise war nur deshalb eine solche, weil sie als politische Krise im Grunde verdeckt blieb.« Noch deutlicher: »Die Moralisierung der Politik war um so mehr eine Entfesselung des Bürgerkriegs, als in dem Umsturz, in der >Revolution<, gerade kein Bürgerkrieg erblickt wurde, sondern eben die Erfüllung moralischer Postulate.« Das Argument, das die Symptome auf ihre Ursache zurückbringt, wird erst im Zusammenhang politischer Anthropologie ganz durchsichtig. Weder ist nämlich, auf den ersten Blick, einzusehen, warum der »Bürgerkrieg« - im Gegensatz zum Krieg der Staaten untereinander - als das schlechthin Böse erscheinen soll; noch wird es klar, warum die »Verdeckung des Politischen« — zuerst die literarische Kritik der fürstlichen Befehle nach Maßstäben der Humanität, später die Bindung des Souveräns an die vom Parlament gesetzten generellen Normen - eo ipso im Terror des Bürgerkriegs ersticken muß. Kurzum, die These des Buches, daß die als indirekte politische Gewalt etablierte Kritik notwendig die Krise auslöst, ist, für sich genommen, nicht eigentlich überzeugend. »Die alles erfassende Kritik weitet sich zwar auf die Politik aus, verzichtet
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aber nicht auf ihren eigenen unpolitischen, das heißt auf ihren vernünftigen, natürlichen oder moralischen, das Vorrecht der Wahrheit garantierenden Anspruch.« Die Formulierung des inkriminierten Tatbestandes verrät den Maßstab der Diskriminierung. Das »politische Element« ist, frei nach Carl Schmitt, die rational unauflösbare Substanz eines herrscherlichen Willens, der sich einzig durch die nackte Existenz der Herrschenden selber legitimiert; andererseits ist die menschliche Natur, frei nach Arnold Gehlen, so beschaffen, daß sie dieses politischen Elements, nämlich der Abstützung der vagierenden Antriebe und des plastischen Verhaltens durch autoritär verfestigte Institutionen bedarf. Wenn Kritik an deren irrationalen Kern rührt, das dezisionistische Risiko nicht dahingestellt sein läßt, sondern Autorität zu rationaler Legitimation auffordert; wenn sie »immer neue Gründe findet, um der souveränen Aktion zuvorzukommen, für die es im eigentlichen Sinne des Wortes keinen Grund gibt« - dann zerstört sie die Bedingungen menschlicher Existenz. Ausdruck dieser Zerstörung ist politisch die Anarchie des Bürgerkrieges, anthropologisch die der Triebe. Diese politische Anthropologie wird in der Untersuchung nirgends thematisch; aber sie bestimmt die Fragen und verstellt manche Antworten. So faßt Koselleck nicht zufällig die Entstehung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, und die Rückbeziehung des Staates aufs Raisonnement der zum Publikum versammelten Privatleute, unter dem einseitigen Aspekt einer Dialektik von Politik und Moral. Diese wird freilich im 18. Jahrhundert, bis in den Bedeutungshorizont des damals so eigentümlich betonten Wortes »social« hinein, stets mit »Natur« und »Vernunft« zusammengedacht. Aber das, was die Öffentlichkeit nach Maßgabe des ordre naturel in öffentlicher Diskussion ermitteln sollte, das Vernünftige, zugleich Richtige und Rechte, ist nicht etwa darum schon den privaten moralischen Gesinnungen gleichzusetzen. Das entspricht weder dem Selbstverständnis der gens de letteres noch dem, was mit der Anwendung des öffentlichen Raisonnements der Privatleute auf die politische Gewalt tatächlich geschah. Die privaten Ansichten werden ja, durch Öffentlichkeit zur öffentlichen Meinung vermittelt, in ihrer Substanz verändert. Lockes Law of Private Censure
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beruft sich allerdings auf die opinions der Bürger, nicht schon auf so etwas wie public opinion; Koselleck setzt eins mit dem andern gleich. Noch Rousseaus volonte generale entspringt eher den bloßen opinions als einer opinion publique, nämlich jener durch Diskussion bereits filtrierten Meinung des von ihm denunzierten public eclaire. Indem Koselleck einerseits private Gesinnungen mit öffentlicher Meinung identifiziert, andererseits das Prinzip der öffentlichen Diskussion als eins des Bürgerkriegs diskreditiert, muß er die objektive Intention der Öffentlichkeit verkennen, die sich auf der Basis einer vom Staat sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft zuerst in England, dann in Frankreich als die neue Sphäre ausbildet. Ihrer eigenen Idee zufolge sollte Publizität der politischen Entscheidungen es ermöglichen, den Grundsatz auctoritas non veritas facit legem umzukehren: nämlich die Tätigkeit des Staates durch öffentliches Raisonnement mit dem Interesse der Nation, faktisch mit dem bürgerlichen Klasseninteresse in Übereinstimmung zu bringen. Nicht Moralisierung der Politik als solche, sondern ihre durch das Prinzip der Öffentlichkeit vermittelte Rationalisierung war die Absicht; sie fand später widerspruchsvoll in der Gestalt des bürgerlichen Rechtsstaates ihre Erfüllung, sobald die Öffentlichkeit im Parlament als Staatsorgan institutionalisiert wurde. Zugleich steckt in jener Absicht, wie sehr auch ihrer Funktion nach bloße Ideologie, die Idee, daß politische Autorität im Medium einer solchen Öffentlichkeit in rationale sich auflösen, Herrschaft in ihrem Aggregatzustand sich wandeln würde. 2 Die von Koselleck bloßgelegte Ambivalenz der Aufklärung, die proportional zum Erfolg ihrer Entlarvungsarbeit »politisch verblinde«, zeigt vielmehr die Dialektik ihres durchaus politischen Sinnes an: sie will das »politische Element«, hegelisch gesprochen das substantielle Moment der Autorität, in Reflexion aufheben. Der kritische Prozeß, den das Bürgertum gegen den absolutistischen Staat angestrengt hat, endet in der Forderung des Kommunistischen Manifestes, daß die politische Gewalt in »öffentliche« Gewalt zu überführen sei. Mit diesem einen Attribut der Öffent2 Erst Engels wird das, im Anschluß an ein Wort von Saint Simon, in die berühmte Parole übersetzen: »An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen.«
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lichkeit zieht das 19. Jahrhundert die Konsequenz aus dem im 18. entstandenen Prinzip. Weil es eine geschichtliche Bewegung antizipiert, ist es zugleich Prinzip einer Geschichtsphilosophie, deren erste Autoren und Adressaten wir, wie Kesting beobachtet, in denselben societes de pensees finden, die die Sphäre der Öffentlichkeit institutionell begründen. Das politische Motiv einer durch Publizität vermittelten Rationalisierung der Staatstätigkeit ist mit dem geschichtsphilosophischen Motiv einer revolutionär auf ihre natürliche Ordnung zurückgebrachten bürgerlichen Gesellschaft, Kritik ist mit Utopie in ihrem Ursprung eins. Was die feudale Verfassung als naturwüchsig hatte erscheinen lassen, erwies sich nun des Zugriffs der avancierten Bourgeoisie nicht nur fähig, sondern mit der kapitalistischen Erweiterung der Tauschverhältnisse auch bedürftig. Eine dem Marktverkehr innewohnende »Rationalität« schien von den Menschen geradewegs zu verlangen, die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Existenz, und damit den geschichtlichen Prozeß, selbst in die Hand zu nehmen. Geschichtsphilosophie, nämlich die Idee der machbaren Geschichte, wird von dieser selbst erst hervorgebracht. Aus diesem Zusammenhang der sozialen Triebkräfte gelöst, verliert das Verhältnis von Kritik und Krise, wie es Koselleck sich darstellt, über die Fragwürdigkeit der anthropologischen Prämissen hinaus, an Glaubwürdigkeit. Gleichwohl hält Hanno Kesting daran fest; er interpretiert es als das von Geschichtsphilosophie und Weltbürgertum3 Thematisch eine direkte Fortsetzung, weicht Kestings von Kosellecks Untersuchung in den Modalitäten ab. Über weite Strecken informativ referierend, in den Konturen allerdings weniger ausgeprägt, fördert die Fragestellung dennoch eine ähnliche Fruchtbarkeit, fast eine gleiche Fülle geistesgeschichtlicher Aspekte und politischer Einsichten. Kesting entdeckt die geschichtliche Pointe jener von Koselleck untersuchten »Geschehenseinheit der Aufklärung« im gleichsam posthumen Siegeszug der Geschichtsphilosophie: 1917. Global setzt sie sich nämlich erst mit der Russischen Revolution und dem Kriegseintritt Amerikas durch. Im Gegensatz zur bürgerlichen 3 Heidelberg 1959.
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übersetzt freilich die weltbürgerliche Utopie ihre Kritik unmittelbar in die Praxis: »Die Prognostiker verwandeln sich in Planer, und ihre Planungen werden um so unfehlbarer, je mehr sie die Erfüllung ihrer Planziele durchsetzen und erzwingen können.« Während im Osten die leninistische Version des Marxismus aus der Verschmelzung der proletarischen Revolution mit der antikolonialen und nationalen Bewegung der Kolonialvölker ihre Kraft zieht, verarbeitet in Amerika der adventistische Mythos puritanischer Herkunft die Erfahrung des »offenen Westens« zum Glauben an die Überlegenheit der »Neuen Welt«. Hier bedarf die Praxis von socialcontrol und social engineering nicht, wie die im Zeichen von »Einholen und Überholen« diktatorisch betriebene Industrialisierung des agrarischen Rußlands, der ausdrücklich formulierten und propagandistisch verbreiteten »Geschichtsphilosophie«; der angelsächsische Meliorismus hat sie mehr oder weniger stillschweigend und gemeinplätzig zur Voraussetzung. Gemeinsam bleibt beiden Weltmächten die geschichtsphilosophische Perspektive überhaupt. Die Positionen der mit 1789 auf den Plan gerufenen europäischen Bürgerkriegs-Parteien werden damit zu Positionen der großen Staaten selber. Wie die geschichtsphilosophische Deutung damals den Klassenkämpfen im Inneren diente, so übersetzt sie nun die äußeren Kampfhandlungen ins Bürgerkriegsformat. Kesting demonstriert das am Beispiel des Zweiten Weltkriegs: »Es zeigt sich, daß die diskriminierende Aufspaltungskraft des amerikanischen Fortschritts- und Sendungsbewußtseins kaum weniger stark ist als die des Bolschewismus, so verschiedenartig beide im übrigen sein mögen. Beide verwandeln den Krieg in einen Kreuzzug und in einen Bürgerkrieg, die Bolschewisten bewußt, die Amerikaner unbewußt. Beide appellieren an das Volk gegen die Regierung, denn beide vertreten die Partei des >Menschen< gegen die des >Unmenschen<, womit sie, wie aus der Geschichte des europäischen Bürgerkriegs hinlänglich bekannt, die Unterscheidung von Feind und Verbrecher aufheben und die Auseinandersetzung vergiften. Im Westen wie im Osten wird die Geschichtsphilosophie des europäischen Bürgerkrieges aufgegriffen, weitergeführt und in die praktische Politik eingebracht.« Die Gegenpartei, der Faschismus, wird von Kesting freilich ausge-
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spart. Sie wird nur teichoskopisch vorgeführt, dient sozusagen als die Kulisse, vor der »die antifaschistische Front« als die eigentliche Aktion des Bürgerkriegs sich deutlich abheben kann. Die Rolle der Alliierten als Bannerträger einer »Geschichtsphilosophie«, die den Gegner im gleichen Maße diabolisch erscheinen läßt, wie sie die eigenen Ziele für humanitäre ausgibt - diese Rolle hätte wohl eine das Konzept störende Rechtfertigung erfahren, wenn nicht Kesting dem »diabolischen Gegner« selber den Auftritt erspart hätte. So erfährt man nur, daß Faschismus, Nationalsozialismus und Falangismus die mit dem Ost-West-Konflikt etablierte Bürgerkriegssituation um drei Jahrzehnte verzögert haben; daß sie die guten Ansätze einer konservativen Revolution korrumpiert und kompromittiert haben; daß sie mit ihrer Niederlage einer dem europäischen Konservatismus entsprechenden Macht die Grundlage entzogen haben. Diese hätte sonst, nach dem Zerbrechen der »antifaschistischen Illusion«, den offenen Gegensatz zwischen Kapitalismus und Bolschewismus wohltätig temperieren können. Deutschland hat die Chance der »dritten Position« verspielt, hat sie den Neutralen von Bandung in die Hände gespielt. Wie man sieht, greift Kesting über Kosellecks Untersuchung nicht nur chronologisch, in Anbetracht des behandelten Zeitraums, sondern auch systematisch hinaus: er geht von der Kritik der Geschichtsphilosophie zu deren Alternative über. Ja, recht betrachtet, dient ihm die Entwicklung der Geschichtsphilosophie über Saint Simon und Comte, Hegel und Marx, über den Historismus und die Imperialismustheorien bis hin zu Jaspers und Toynbee vor allem zur Einführung in die gegenaufklärerischen Thesen selbst. Kesting zeigt den Zusammenhang des katholischen Konservatismus der de Bonald und de Maistre mit der politischen Theologie eines Donoso Cortes, der gegen die Diktatur des Dolches die des Säbels ausrief; sein Erbe hat bekanntlich Carl Schmitt in den Präfaschismus der zwanziger Jahre eingebracht. Dieser wird unter dem Titel einer Revolution von Rechts, über den sehr nachsichtig dargebotenen Spengler, von Nietzsche hergeleitet; er wird mit einem »eschatologischen Geschichtsdenken« zusammengebracht, das allein der Utopie wirksamen Widerpart bieten können soll. Solch eschatologisches Denken scheint allerdings, als das Gegen-
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über der Geschichtsphilosophie, dieser selbst noch zuzugehören; denn Kesting nennt den Ursprung der Gegenaufklärung bei de Maistre eine Position innerhalb des europäischen Bürgerkrieges; und von deren gegenwärtiger Gestalt verspricht er sich eine dialektische Aufhebung der zur Antithese erstarrten »Geschichtsphilosophien« in Ost und West - ihrerseits eine geschichtsphilosophische Denkfigur. Eschatologie, an deren »Esoterik« Kesting nicht rühren möchte, sei eine politisch und historisch konzipierte Negation der Aufklärung, die statt der Autonomie des Menschen seine »Ontonomie« berücksichtigt. Dem Fortschritt, der die Wirklichkeit überspielen will, setze sie ein Bewußtsein der Providenz entgegen, das sich der geschichtlichen Wirklichkeit fügt. Der Allianz einer sogenannten Eschatologie mit dem spezialistischen Wissenschaftsbetrieb ist durch Personalunion die Verbindung mit dem konservativrevolutionären Denken gesichert: als repräsentativ gelten Carl Schmitt, Hans Freyer und Arnold Gehlen. Sollte indessen in dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Bürgerkrieg nicht dieser das problematischere Element sein? Der Begriff des Bürgerkriegs bezieht seinen polemischen Sinn aus dem Gegenspiel zu einer Herrschaftsordnung, wie sie sich in der europäischen Geschichte zuerst unter dem Absolutismus ausgebildet hat: der Bürgerkrieg stellt das Funktionieren eines in gewisser Weise von der Gesellschaft getrennten, eines »neutralen« Staatsapparats in Frage. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg jedoch zerfällt diese Gestalt des Staates. Im gleichen Maße, wie die Epoche des europäischen Staatensystems zu Ende geht, wird die Kategorie des Bürgerkriegs selber unanwendbar. Sie bestimmt sich negativ an einer Organisation politischer Herrschaft, die in der Person des absoluten Monarchen ihren Idealtypus fand; gleichzeitig unterstellt sie die Wiederherstellung der gestörten Ordnung als wünschenswert. Wir wissen aber, daß unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen eine solche Ordnung nur in Form des totalitären Staates möglich ist. Carl Schmitt, dem wir die maßgebende Formulierung des Bürgerkriegs-Topos verdanken, hat diese Konsequenz auch mit großer Klarheit und selbst Entschiedenheit gezogen. 4 Vgl. die Darstellung Jürgen Fijalkowskis in den ersten beiden Abschnitten seines Buches Die Wendung zum Führerstaat, Köln-Opladen 1952.
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Wenn unsere Situation sinnvoll als Zustand eines latenten Weltbürgerkrieges beschrieben werden kann, dann nicht mit der Bedeutung eines Bürgerkrieges im Weltmaßstab, sondern im Sinne eines Krieges zwischen Weltbürgern. Damit ist allerdings die von der geschichtsphilosophischen Fragestellung antizipierte Einheit der Welt ebenso angenommen wie die Wünschbarkeit einer dauerhaften Friedensordnung. Aber ist denn beides so unrealistisch, wie die »Realisten« es den Geschichtsphilosophien nachsagen? Der heute sich abzeichnende Pluralismus der Regionen, Nationen und Kulturen zwingt erst recht dazu, die bestehende technische Einheit der Welt und des Menschengeschlechts in der Form verbürgter Gleichberechtigung politisch zu realisieren. Es sei denn, eine Anthropologie wolle der Herrschaft von Eliten und Elitennationen mit dem Argument ihrer naturwüchsigen und unaufhebbaren Überlegenheit das Wort reden. Ebenso scheint uns das strategische Patt der atomaren Waffen dazu zu nötigen, diese technische Garantie des Friedens durch Abrüstungsvereinbarungen und internationale Institutionen politisch zu realisieren. Es sei denn, eine Anthropologie würde der Abschaffung des Krieges mit dem Argument der Naturnotwendigkeit aggressiver Triebstauungen begegnen und Entlastungsräume, womöglich eine Art Naturschutzpark für kriegerische Aktionen, verlangen. Es scheint mir fraglich, ob sich das, was geschichtlich unmöglich ist, vom objektiv Möglichen zuverlässig durch anthropologische Argumente überhaupt wird unterscheiden lassen. Die historisch-soziologischen Argumente halten manches in der Schwebe, was vorschneller Rekurs auf die »Natur« des Menschen abschneidet. Gewiß führt ein nach Maßen der geschichtsphilosophischen Deutung unternommener Versuch, dem latenten Bürgerkrieg eine stabile weltbürgerliche Ordnung abzugewinnen, auch zu gefährlichen Fiktionen: Gewiß führt dieser Versuch in die Versuchung, Kriege, die es noch sind, in Polizeimaßnahmen zu verwandeln, Feinde wie Verbrecher zu behandeln. Allein in dem Maße, in dem die Maximen jener Ordnung sich als die geschichtlich fälligen im Bewußtsein der Menschen und in ihren Einrichtungen durchsetzen, hören sie auf, Fiktionen zu sein. Es spricht manches dafür, daß die luee einer Rationalisierung des »politischen Elements«, daß Mach-
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barkeit der Geschichte - wenn nicht der Geschichte selber, so doch der geschichtlichen Prozesse, die uns, wenn wir sie nicht meistern, auf diese oder jene Weise aufreiben würden - von der Geschichte selbst in ihrer drohendsten Gestalt nicht als lebensfremde Utopie vorgegaukelt, sondern als eine Praxis des Überlebens einzig offengelassen wird.
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Von der Schwierigkeit, Nein zu sagen (1964)
Protestieren hatte in der Sprache des römischen Prozeßrechtes den strategischen Sinn: vor Zeugen ein Schweigen zu brechen, das sonst als Einverständnis mit der vorgetragenen Interpretation mißdeutet werden könnte. Die protestierende Einrede setzt sich gegen die Verstrickung in lautlose Konformität zur Wehr. Der eigentümliche und tiefreichende Konformismus, der sich in der Bundesrepublik lähmend ausgebreitet hat, hat Proteste und gelegentlich ein protestierendes Denken hervorgerufen. Es richtet sich gegen jene Indifferenz, der nicht anzusehen ist, wem sie sich mehr verdankt: einer Identifikation mit allem und jedem oder der Flucht vor Identifikation überhaupt. Einen Kommentar zur Erfahrung dieser Indifferenz gibt Klaus Heinrich mit seinem Versuch über die Schwierigkeit, Nein zu sagen. Das Nachdenken über die Schwierigkeiten der protestierenden Rede, die sich am falsch gerichteten ebenso wie am unterlassenen Protest zeigen, geht nicht auf eine Analyse zeitgenössischer Beispiele aus; es löst sich vom leicht durchschaubaren biographischen Anlaß, nämlich der Schwierigkeit, in dieser Bundesrepublik als Intellektueller zu leben. Man könnte dieses Buch als eine Kritik des falschen Bewußtseins der Ontologie und des Positivismus anzeigen, wäre es überhaupt unter Wissenschaft zu registrieren. Heinrich philosophiert nach Regeln der Kunst, aber das Resultat seiner Kunstfertigkeit ist nicht eigentlich eine philosophische Untersuchung. Protestieren begreift Heinrich als Widerspruch gegen Prozesse der Selbstzerstörung. Dabei hat er jene sublimen Zerstörungen im Blick, die der psychoanalytisch Geschulte in den Verknotungen individueller Lebensgeschichten ebenso entdeckt wie in den Schwankungen kollektiver Bewußtseinszustände;Zerstörungen 1 K.Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit, Nein zu sagen, Frankfurt/Main 1964.
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also und Selbstzerstörungen, die nicht unmittelbar das physische Leben angreifen. Heinrich befaßt sich nicht mit den Risiken materieller Lebenserhaltung, die ökonomisch in den ausgehungerten Gebieten unserer Erde und politisch-militärisch auch in den fortgeschrittensten Ländern gefährdet ist; er befaßt sich nicht mit Nahrungsspielraum und Bevölkerungsexplosion, mit Erbsubstanz und Strahlungsschäden, mit den Bedingungen des technischen Fortschritts und des ökonomischen Wachstums, mit dem Zusammenhang von Vernichtungs- und Verteidigungsstrategien, mit dem internationalisierten Bürgerkrieg und dem atomaren Zwang zur friedlichen Koexistenz. Die Dimension der Selbstzerstörungen, die Heinrich zur Diskussion stellt, erinnert vielmehr an eine Tatsache, die unser positivistisches Zeitalter gerne verleugnet: daran nämlich, daß die Reproduktion der Menschengattung nur in den anspruchsvolleren Gestalten eines historischen Überlebens gesichert ist. Die vergesellschafteten Individuen können offensichtlich ihre Existenz durch organisierte Anpassungsprozesse an die natürliche Umgebung und durch Rückanpassung an das gesellschaftliche System der Arbeit selber nur in dem Maße sichern, in dem sie diesen organischen Stoffwechsel mit der Natur durch ein äußerst prekäres Gleichgewicht der Individuen untereinander vermitteln. Die materiellen Bedingungen des Überlebens sind also mit den sublimsten aufs innigste verknüpft, das organische Gleichgewicht mit jener verletzlichen Balance zwischen Trennung und Vereinigung gekoppelt, in der sich, durch die Kommunikation mit den anderen, die Identität eines jeden Ich einspielen muß. Die mißlingende Identität der sich selbst Behauptenden und die verfehlte Kommunikation der miteinander Sprechenden sind Selbstzerstörungen, die sich am Ende auch physisch auswirken. Im individuellen Bereich sind sie als psychosomatische Störungen bekannt; aber zerrissene Lebensgeschichten reflektieren die zerrissene Wirklichkeit der Institutionen. Die mühsamen Prozesse des Immer-wiederneu-sich-Identifizierens kennen wir aus Hegels Phänomenologie des Geistes wie aus Freuds Psychoanalyse: das Problem einer Identität, die nur durch Identifikationen, und das heißt doch gerade durch Entäußerungen der Identität hindurch hergestellt werden kann, ist zugleich das Problem einer Kommunikation, die die
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rettende Balance zwischen sprachlosem Einssein und sprachloser Entfremdung, zwischen der Aufopferung der Individualität und der Isolierung des abstrakt Vereinzelten ermöglicht. Jene Balance muß auf jeder Stufe der Entwicklung von neuem errungen, auf jeder kann sie erstmals verfehlt werden. Erfahrungen des drohenden Identitätsverlustes und des Versandens sprachlicher Kommunikation wiederholt jeder in den Krisen seiner Lebensgeschichte; aber diese sind nicht wirklicher als die kollektiven Erfahrungen der Gattungsgeschichte, die die gesamtgesellschaftlichen Subjekte in der Auseinandersetzung mit der Natur zugleich an sich selber machen. Die protestierende Rede, deren Schwierigkeiten Heinrich untersucht, wendet sich gegen untergründige Selbstzerstörungsprozesse einer Gesellschaft, die auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand ihren Mitgliedern die Möglichkeit gewähren muß, inmitten der Gefahren der Verdinglichung auf der einen und der Gestaltlosigkeit auf der anderen Seite ihre zerbrechliche Identität auszubilden und in der Nichtidentität einer gelingenden Kommunikation zu bewahren. Aussagen über die Mündigkeit der Individuen beziehen sich daher zugleich auf die Autonomie der Gesellschaft: »Das Ich-Selbst ist niemals es selbst oder nicht es selbst, weder Identität noch Nichtidentität, sondern erst die Herstellung einer Identität von beidem. Neinsagend gegen die Zerreißung zwischen diesen beiden ist sein erstes Nein das erste Wort der Sprache. Doch es richtet sich nicht nur gegen Zerreißung, sondern gegen eine zerrissene Wirklichkeit. Und es sucht in ihr nach den Modellen der Balance. Es braucht das Gegenüber, auf das es sich stützen und: gegen das es sich richten kann.« Die beiden zentralen Kapitel stellen die Schwierigkeit des Protestes gegen die Selbstzerstörung einer in Indifferenz zurücksinkenden Gesellschaft dar: es geht um das Problem der Identität unter der Drohung des Identitätsverlustes und um das Problem der Kommunikation im Zustand habitualisierter Sprachlosigkeit. Nun haben sich die Menschen seit je Krisen ihres inneren Gleichgewichtes in Mythen, Religionen und Philosophien verständlich gemacht; ihre in der mühsamen Formation des gattungsgeschichtlichen Subjekts gemachten Erfahrungen sind darin ausgesprochen. i
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Heinrich, der von Haus aus Religionswissenschaftler ist, kann mithin seine jüngsten Affekte ungezwungen an den ältesten Traditionen klären. So entdeckt er in den Weltreligionen verschiedene Modelle einer »standhaltenden Identifikation« und gelangt auf diesem Wege zu einer überraschenden Interpretation des Satzes der Identität, von dem ausgehend Fichte schon einmal die Dialektik einer Identitätsphilosophie in Gang gebracht hat. Jetzt ist Dialektik freilich als die sprachliche Kommunikation gefaßt, welche die sokratische Gegenseitigkeit des zwanglosen Dialogs mündiger Menschen den repressiven Verhältnissen der Naturgeschichte erst abringen muß. Dialektik ist die Gegenwehr der in Situationen der Herrschaft noch nicht entbundenen Mündigkeit gegen die Unterdrückung des Dialogs. Neinsagen oder Protestieren ist am Ende nur die Aufforderung - dialektisch zu denken. Den Anspruch der Dialektik entfaltet Heinrich - und das ist die eigentlich philosophische Intention seiner Arbeit- in Auseinandersetzung mit dem Anspruch des ontologischen Denkens, das die Mächte des Ursprungs, die die Humanität mit Zerstörung bedrohen, nicht aufsucht und überwindet, sondern bloß unterdrückt. Ontologie erscheint als ein vergeblicher Versuch, die Positivität des bedrohlichen Nichtseins in die schlichte Negation eines gereinigten Seins, eines vom Uneigentlichen geschiedenen Eigentlichen, eines vom Falschen und Bösen und Gefährlichen peinlich abgeschiedenen Wahren, Rechten und Gewissen zu verwandeln. Damit verschleiert freilich Ontologie nur eine zwiespältige Wirklichkeit. Gegen Parmenides erläutert Heinrich den Anspruch dialektischen Denkens am alttestamentarischen Topos der Bundesgenossenschaft. Die Propheten Israels begreifen den lebensstiftenden und lebenerhaltenden Zusammenhang nicht wie die Philosophen Griechenlands als eine aus dem Nichtigen, Flüchtigen und Scheinhaften herausgehobene Sphäre der geglückten Vereinigung aller Lebensgestalten in einem ursprünglichen und vollkommenen Sein - nicht als Kosmos also begreifen sie ihn, sondern als ein universelles Bündnis, dessen Kraft sich einzig in der Kommunikation der Verräter durch die Geschichte der gesellschaftlichen Menschheit hindurch bewähren muß. Noch die verratene Bundesgenossenschaft hält die zerrissene Welt zusammen, nämlich als Schuldzusammenhang. Solange
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dieser als Schuldzusammenhang nicht verdrängt ist und eine bewegende Kraft bleibt, hält er an Gerechtigkeit, der Idee der geglückten Vereinigung, wenn auch nur spiegelbildlich, fest. Die Stelle, die von Ontologen der Seinsvergessenheit zugewiesen wird, nimmt in dieser Tradition, die im Erstorbenen die Spuren des Lebendigen, im Zerrissenen die Einheit sucht, eine andere Kategorie ein: der selbstzerstörerische Verrat. Dieser Verrat, der noch den Verräter darüber hinwegtäuscht, daß er selbst sich dabei verrät und verkauft, wird in zwei Figuren vorgeführt: in Gestalt des Identitätsverlustes, der das in und an der Welt gebildete Ich auslöscht, und in Gestalt des Kommunikationsabbruchs, der den Sprechenden nicht etwa schweigen läßt, sondern sprachlos macht. Die Kritik an diesen Gestalten unwahren Lebens, die ihrer Unwahrheit nicht mehr inne sind, bemißt sich nicht, wie Ontologie, an einem vom Nichtsein gereinigten Sein, einem Eigentlichen, an dem es teilzuhaben, auf das es zu hören gälte. Die Kritik kehrt nicht zum Ursprung der Mächte, die dem Menschen mit Ichverlust drohen und ihm die Sprache nehmen, zurück; sie will vielmehr deren Macht brechen, »dem Ursprung entspringen«, will mit der gelungenen Identität des aus Konflikten geborenen Ichs jene Gefahren bannen, die in den individuellen Neurosen genauso wie in den kollektiven Katastrophen die Kontinuität der Geschichte vernichten und historisches Leben ins Chaos zurückziehen. Wo sich individuelles Bewußtsein in der Balance zwischen Verschmelzung und Vereinzelung finden und erhalten kann, ist die Kommunikation der Sprechenden die einzige Macht, in der die Mächte des Ursprungs bezwungen sind: ihr verdanken die Subjekte eben ihre »Mündigkeit«. Heinrich selbst formuliert seine These so: »Wir kennen zwei Antworten auf die Bedrohung durch ein zweideutiges Schicksal: eine, die unter Verzicht auf die Welt deren zweideutige Verkörperungen zu übersteigen und sich im Anschauen eines ewigen Schicksals mit diesem zu einen sucht; eine andere, die in einer Welt zweideutiger Verkörperungen den Kampf gegen die Zweideutigkeit der Welt als ihr eigenes Schicksal erkennt und auf sich nimmt. Die eine Antwort geben die Philosophen Griechenlands, die andere die Propheten Israels. Während jene sich über die zweideutigen Ver-
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körperungen der Welt erheben und ihre >Überhebung< (das philosophische Gegenstück zur hybris des tragischen Helden) sie doch vor der >Buße< nicht retten kann, brechen diese die Herrschaftsmacht der verschlingenden Räume und einer verschlingenden Zeit. In ihrem Kampf gegen die Baale protestieren sie gegen die ungebrochenen Mächte des Ursprungs. Sie stellen ihnen die eine Macht entgegen, die verzerrt auch in ihnen ist.« Gegen den ontologischen Schein reiner Theorie setzen die Dialektiker ein Erkennen, das durch Interesse hindurch seine Intention erfüllt. Die protestierende Parteinahme für die gelingende Identität und die glückende Kommunikation ist dialektisch, ja, Dialektik besteht geradezu in dem Neinsagen, dessen Schwierigkeiten Heinrich verhandelt, weil in den versöhnten Lebenszusammenhang die dämonischen Mächte selbst mit eingehen müßten und nicht zugunsten eines aparten Bereichs der reinen Einheit negiert werden können: ihnen selber muß die Macht des lösenden Wortes, dem sie dann verfallen, entrungen werden. Die Verräter können und müssen daran erinnert werden, daß sie sich selber verraten. Proteste gewinnen Kraft nur in dem Maße, in dem sie sich mit dem, wogegen sie sich richten, erst einmal identifizieren. In diesem Sinne wird Eulenspiegel als ein Konformist gedeutet, der durch pointiertes Mitmachen die Wahrheit über den Konformismus an den Tag bringt. Techniken dieses listigen Widerstandes verfolgt die Untersuchung auch an Odysseus und dem listenreichen Brecht, an den Inversionen der Tierfabeln und der Dreigroschenoper. Unter dem von Heinrich entfalteten Gesichtspunkt zeigt sich schließlich die Zusammengehörigkeit von ontologischem und positivistischem Bewußtsein. Beide verfallen dem suggestiven Schein reiner Theorie, beide teilen die Intention, eine in Dämonenfurcht lebende Welt durch abstrakte Trennungen zu entdämonisieren. Sei es, daß Vernunft zu regloser Kontemplation des Ewigen sich erhebt, sei es, daß sie zum Instrument der Bearbeitung des Verfügbaren herabgesetzt wird - der Wiederkehr der bloß verdrängten Mächte stehen Ontologie und Positivismus gleichermaßen hilflos gegenüber. Denn der Aufstieg zur indifferenten Ursprungsmacht des einen unaussprechlichen Seins macht ebenso unfähig zur Reflexion der Widerstände und zur protestierenden Rede wie die
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Austreibung empiristisch sinnloser Sätze unter dem Zwang restringierter Erfahrung. Die letzte Gestalt, die Heidegger der Ontologie gegeben hat, ist Kehrseite der gleichen Münze, welcher der Positivismus seinen Stempel der Sprachlosigkeit aufgedrückt hat. Jene Ontologie macht die Worte zum Fetisch, betet ihre Wurzeln an, glaubt sie nur an den verehrten Ursprüngen rein zu haben; unterdessen macht der Positivismus die Worte nominalistisch zu Zeichen, mit denen er beliebig verfährt, er entleert die Sprache und widerruft ihre vereinigende Macht. Mit dem Hinweis auf diesen richtigen Zusammenhang zwischen dem Wortfetischismus Heideggers und dem Zeichennominalismus der strikten Erfahrungswissenschaften dürften wir es freilich nicht bewenden lassen. Immerhin hat sich die organisierte Forschung zu einer Produktivkraft der industriellen Gesellschaft entfaltet; die technische Verwertung ihrer sprachlosen Informationen hält uns am Leben, auch wenn sie zugleich auf der Ebene, die Heinrich einzig im Auge hat, an der Zerstörung desselben Lebens arbeitet, solange die dialektische Aufgabe des »Übersetzens« nicht gelingt. Gewiß geht es darum, einen praktisch folgenreichen Wissensstand nicht nur in die Verfügungsgewalt der technisch hantierenden Menschen weiterzugeben, sondern auch in den Sprachbesitz der kommunizierenden Gesellschaft zurückzuholen - es geht um eine Rückübersetzung wissenschaftlicher Resultate in den Horizont der Lebenswelt. Aber könnten wir den positivistisch betriebenen Forschungsprozeß mit gleichem Erfolg oder der gleichen tröstlichen Folgenlosigkeit aufheben, die wir wohl erwarten dürfen, wenn einst die Spuren der letzten Ontologien verweht sind? Das Übersetzen, das erweckende Aussprechen gilt als Schlüssel zur Versöhnung. Für Heinrich wird Lebendigkeit mit Teilhabe an Sprache synonym, Wirklichkeit mit sprachlicher Wirklichkeit identisch. Das scheint mir von Tillichs Theologie der Verkörperung her verständlich, aber im Zuge einer durch Walter Benjamin inspirierten Auseinandersetzung mit der Ontologie nicht ganz konsequent. Wenn Heinrich der positivistischen Gestalt der Sprachlosigkeit (der Operationellen Zeichenverwendung in formalisierten Sprachen) oder auch dem eigentümlichen Zwang der formalen Logik zur Eindeutigkeit, gegen die er die Zweideutigkeit des
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dialektischen Neinsagens aufbietet, im Ernst nachgegangen wäre, so würde er in diesem »Verrat«, von dem die modernen Wissenschaften geradezu leben, das System gesellschaftlicher Arbeit entdeckt haben. Mir will scheinen, daß Heinrich infolge eines religionsphilosophischen Ansatzes seinen Blickwinkel auf den Ursprung jenes Prozesses einschränkt, in dessen Verlauf die menschliche Gattung den »Mächten« Mündigkeit abringt. So werden die mythischen Anfänge nicht eigentlich auf die Kategorien der entwickelten Gesellschaft, um deren Sprachlosigkeit es dem Verfasser doch geht, bezogen; Sprache wird nicht in ihrer Vermittlung durch Arbeit begriffen. Damit mag es zusammenhängen, daß Heinrich am Ende glaubt, seine Einsichten unter dem Titel eines neuen Existentials resümieren zu können: der Angst der Fundamentalontologen stellt er den »Sog« gegenüber - ein merkwürdiger Rückfall in dieselbe Ontologie, die doch der eigenen Kritik anheimfiel.
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Die verzögerte Moderne (1965)
Einst war es selbstverständlich, daß Soziologen ihren höchsten Ehrgeiz darein setzten, ihre Gegenwart als Geschichte zu begreifen. Zusammen mit dem Erbe der Geschichtsphilosophie sind die historisch gerichteten Gegenwartsanalysen heute, jedenfalls unter Fachkollegen, in Verruf geraten. Der Königsweg der älteren Soziologie ist von engherzigen Methodologen nur zu erfolgreich als ein Holzweg verurteilt worden. Fast gehört schon Mut dazu, das in der deutschen Tradition freilich nie ganz abgerissene Band zwischen engagierter Wissenschaft und politischer Schriftstellerei wieder enger zu knüpfen. Direkter Einfluß unter dem Deckmantel der Expertise ist allemal gefahrloser. Dahrendorf geht das Risiko ein; er rückt mit einer Handvoll globaler Annahmen und informierter Vereinfachungen der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen im Deutschland der letzten hundert Jahre zu Leibe.1 Dabei fallen Späne. Aber Dahrendorf führt den Hobel nicht ohne Kunst und nicht ziellos. Er fragt nach den Ursachen für die Hemmungen der liberalen Demokratie in Deutschland. Er fragt in politischer Absicht: Was muß geschehen, damit auch Deutschland ein Land liberaler Demokratie werden kann? Ich gestehe, daß mir Deutschlandbücher ein Greuel sind. Oft sind sie selber nur Ausdruck des Problems, das sie lösen wollen. Sie sind einer Perspektive verhaftet, die Dahrendorf glücklicherweise schon auf der ersten Seite ironisch zusammenklappt: Deutsche Sorgen sind nicht sozial, sondern national. Als die Freien Demokraten im Koalitionshandel Justiz- und Wissenschaftsministerium ohne Zögern für ein Ressort opferten, an das sich gesamtdeutsche Imaginationen und nationale Sonntagsreden knüpfen lassen, haben sich die deutschen Liberalen wieder einmal 1 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.
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dafür entschieden, die nationalen Sorgen wichtiger zu nehmen als den Schutz des rechtlichen und des sozialen Status der Bürger. Wir nennen den biederen republikanischen Geist, der bis zur mißlungenen Revolution im Jahre 1848 von Beschwernissen der Identitätssuche noch nicht gekrümmt und zu nationalliberaler Anpassung noch nicht genötigt war, altliberal. Entsprechend darf die Perspektive dieses Buches jungliberal heißen. Daß sie heute nur auf dem Umwege einer eigentümlich angelsächsischen Verfremdung hergestellt werden kann, ist selbst ein Symptom. In unserem Lande kann ein abstrakter Liberalismus nicht ohne Gewaltsamkeit, nicht ohne den fingierten Blick des Emigranten überhaupt zur Geltung gebracht werden. Übrigens verdankt Dahrendorf einem wirklichen Emigranten, dem heute in London lehrenden Philosophen K. R. Popper, die Programmatik der offenen Gesellschaft. Dahrendorf verzichtet darauf, die deutschen Traditionen von innen zu kritisieren. Während der letzte vergleichbare Versuch eines Soziologen, Helmuth Plessners Analyse der verspäteten Nation, noch an das Selbstverständnis Kants und Diltheys zwanglos angeknüpft hatte, müssen wir uns nun mit den Augen eines soziologisch belehrten Locke und Burke betrachten. Die Verbindung mit Tocqueville, die der Titel, nicht eben bescheiden, herstellen möchte, leuchtet mir weniger ein. »Demokratie in Deutschland« ist politischer Traktat, Einführungsvorlesung und Theorie der Demokratie in einem. Dahrendorf behandelt sein Thema auf drei Ebenen: Er beschreibt kritische Tatbestände, er versucht Erklärungen unter theoretischen Gesichtspunkten, und er entwickelt programmatisch die Grundsätze einer politischen Verfassung der Freiheit. Die Tatbestände arrangiert Dahrendorf mit pädagogischem Geschick. Er zerstört die Legende von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und bringt die Schranke zwischen den Sozialschichten zu Bewußtsein, die unsere Gesellschaft immer noch in zwei mehr oder weniger streng separierte Hälften teilt. Er belegt noch einmal die drastische Ungleichheit der Bildungschancen. Er macht auf die mangelnde Autonomie der Schule gegenüber dem Elternhaus aufmerksam und zeigt die politisch fragwürdigen Fol-
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gen einer derart familienorientierten Erziehung. Die Randexistenz von Gastarbeitern, Geisteskranken und Gefangenen, das soziale Verhalten gegenüber Kindern, Kranken und Alten macht Dahrendorf zum Zeugen für jene achtlose Brutalität, die die Spuren von Auschwitz erkennen läßt: So schält sich eine »Normalrolle« heraus: der Nicht-Gastarbeiter, NichtAbnorme, der erwachsene Mann, der weder zu jung noch zu alt ist, kein Gebrechen hat und das Natürliche liebt, der gedankenlos-kräftige junge Mann also zwischen fünfundzwanzig und vierzig oder vielleicht zwanzig und fünfunddreißig Jahren. Die Enge der sozialen Perspektive, die aus diesem Institution gewordenen Bild des Menschen spricht, die Reduktion menschlicher Vielfalt gleichsam auf den Wehrdienstfähigen ist das Brutale am Konformitätsdruck der deutschen Gesellschaft. Solche Beobachtungen und Kommentare tragen die Steine zusammen, aus denen das Mosaik der deutschen Gesellschaftsstruktur entsteht. Den theoretischen Gesichtspunkt liefert der Begriff der Moderne. Die Entwicklungstendenz von der Herkunftsgesellschaft zur Leistungsgesellschaft bezeichnet den Weg der Modernität. In dem Maße, wie die traditionellen Lebensformen zerfallen, wachsen für jeden die Chancen, sich seine Positionen aus eigener Kraft zu erwerben. Gewiß fördern Industrialisierung und Urbanisierung diese Freiheit, aber erst die politische Verfassung der Freiheit begründet eine moderne Gesellschaft dauerhaft. Mit einer verspätet einsetzenden, aber beschleunigten Industrialisierung ist in Deutschland der Unterbau der Moderne im Kaiserreich geschaffen worden; gleichwohl hat sich eine politische Verfassung nach dem liberalen Muster der angelsächsischen Länder nicht durchgesetzt. Nicht die verspätete Nation, sondern die verzögerte Moderne ist mithin die Ebene, auf der Dahrendorf die deutsche Frage diskutiert. Die Antworten, die er findet, sind nicht überraschend. Wenn man die deutsche Entwicklung am englischen Modellfall mißt, zeigen sich Abweichungen, die sich alle als Hemmnis für die Entfaltung einer bürgerlichen Demokratie auswirken konnten. Zunächst bleiben die Garantien der staatsbürgerlichen Gleichheit unvollständig oder haben nur eine formale Geltung. In ihrer
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modernisierten Welt leben die Deutschen als unmoderne Menschen. Sodann sind die institutionellen Ordnungen eher darauf angelegt, Konflikte zu unterdrücken als die offene Konkurrenz von Interessen zu regeln. Das soziale Muster des Parteienkampfes und der Auseinandersetzung von Regierung und Opposition findet in anderen Bereichen keine Entsprechung. Ferner hat sich nach dem Ende des Kaiserreichs keine sozial einheitliche und selbstbewußte Führungsschicht etabliert. Die gleichsam gestaltlos gewordene Elite wird seither durch ein Kartell der Angst zusammengehalten. Schließlich vermittelt die deutsche Familie ein Wertsystem, das die intimitätsbezogene Innerlichkeit gegenüber den öffentlichen Tugenden prämiiert. Sie verankert das politisch wirksame Potential einer unpolitischen Haltung. Diese vier Feststellungen hätten sich leicht in das bekannte Schema eines schwachen und politisch unselbständigen Bürgertums einfügen lassen: In Deutschland hat der industrielle Kapitalismus spät und heftig in einem politischen Rahmen eingesetzt, der nicht in bürgerlichen Revolutionen gezimmert worden ist. Dahrendorf macht davon keinen Gebrauch - nicht weil ihm das Schema zu grob wäre, sondern weil er die Entwicklung zur »Moderne« von den Interessengegensätzen, die das 19. Jahrhundert beherrscht haben, loslöst. Er vermeidet nicht den Eindruck, als seien die Massendemokratien ohne den Druck der organisierten Massen selber entstanden. Die politischen und erst recht die sozialen Rechte, die den vollen Status aller Bürger sichern, scheinen sich zwanglos als ein Nebenprodukt der kapitalistischen Entwicklung zu ergeben. Unverkennbar und wohl kaum vermeidbar hat die Arbeiterbewegung während des Kaiserreichs auch autoritäre Züge ihres Gegners übernommen. Jedoch entwirft Dahrendorf von Sozialdemokratie und Gewerkschaften so einseitig ein Porträt roter Preußen, daß man versucht ist, ihre historische Rolle zu vergessen - schließlich waren sie Triebkraft für die Realisierung der Gleichheitsrechte. Dahrendorf neigt zu der Annahme, daß Institutionen marktwirtschaftlicher und politischer Freiheit stets einander stützen. Der
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Weg der Moderne, den die Deutschen in den letzten hundert Jahren zögernd und mit vielen Unterbrechungen gehen, scheint nur durch Schutthalden von Traditionen verlegt zu sein, die in der Nazizeit dann endlich abgeräumt wurden. Dieses Bild ist merkwürdig flächig. In ihm sind alle Kategorien von Freiheitsbedrohung ausgespart, die der kapitalistische Weg zur Moderne doch auch selber erzeugt hat. Aus diesem programmatisch eingeengten Blickwinkel stellt sich das Kaiserreich als autoritärer Wohlfahrtsstaat dar, während die in der Bundesrepublik angesammelte Macht einer organisierten Wirtschaft unter dem liberalen Glanz des privatisierenden Volkswagenwerks dahinzuschmelzen scheint. Dahrendorf stellt Marktrationalität und Planrationalität so gegenüber, als sei in dem einen Prinzip der Heilige Geist, im anderen der Beelzebub verkörpert. Sind nicht Markt und Plan Organisationsformen, die sich nur im Hinblick auf bestimmte Ziele unter bestimmten Umständen und in bestimmten Anwendungsbereichen als rational erweisen können? Auch die Parallele zwischen wirtschaftlicher Konkurrenz und einer politischen Willensbildung durch den Streit von Parteien darf uns nicht zu der Annahme verleiten, als seien die Konflikte auf dem Markt und auf der politischen Bühne im Ernst nach dem gleichen Prinzip geregelt. Auf dem Markt gibt es keine Diskussion, sondern nur die zweckrationale Wahl angemessener Strategien. Demokratischen Entscheidungen hingegen geht eine Diskussion voraus, die sich nicht nur auf die Organisation von Mitteln, sondern auch auf die Wahl von Standards der Beurteilung und der Bewertung erstreckt. Dort werden Interessen nur durchgesetzt, hier müssen sie begründet, hier können sie durchschaut werden. Dahrendorf schließt mit einer kühnen Interpretation der deutschen Nachkriegsentwicklung. Er hegt keine Illusionen und nährt keine. Am Urteil über die DDR, auch an der nüchternen Einschätzung des 20. Juli, zeigt sich noch einmal die Unbefangenheit des Autors und die ironische Stellung des liberalen Geistes in unserem Lande. Er, der auf Traditionen des 17. Jahrhunderts zurückgeht, hieße in England vermutlich konservativ, in Amerika sicher republikanisch - hier aber bringt er mühelos alles Bestehende gegen sich auf.
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Im Juni 1924 hat Carl Grünberg, Professor der Staatswissenschaften an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt, zur Einweihung des soeben gegründeten Instituts für Sozialforschung, dessen erster Direktor er war, eine Festrede gehalten. Grünberg rechtfertigte damals die Einrichtung eines Forschungsinstituts mit dem Hinweis auf die Massenausbildung an deutschen Universitäten: »Diese sind, ihrer ursprünglichen, rein wissenschaftlichen Widmung entgegen, zu MandarinenAusbildungsanstalten geworden. Wenn ich das Wort >Mandarin< hier verwende, so nur wegen seiner Prägnanz ... Das Mandarinat, d. h. die Gesamtheit der an den Hochschulen fachlich ausgebildeten Gesellschaftsfunktionäre: der Richter, Anwälte, Verwaltungsbeamten, Handelskammersyndici, Mittelschullehrer, Ärzte usw. ist für den normalen Ablauf des Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtslebens eine nicht wegzudenkende Voraussetzung.«2 Sosehr Grünberg sich bemüht, den pejorativen Klang des >Mandarins< zu überspielen - er gebraucht den abwertenden Terminus, um den Verfall der deutschen Universität, die sich nicht mehr den wissenschaftlichen Studien allein widmen könne, sondern immer mehr von Bedürfnissen der >Mandarinenausbildung< in Anspruch genommen werde, zu charakterisieren. Eben diese Perspektive nennt freilich Fritz K. Ringer typisch für die »deutschen Mandarine«.1 Er seinerseits reserviert das Wort gerade für die Statthalter der alten Universität, die Grünberg im Schwinden begriffen sieht. Gemessen an dem geistesaristokratischen Selbstverständnis der Repräsentanten einer bildungshumanistischen Überlieferung jener Art, wie sie in Deutschland die Philosophischen Fakultäten und 1 F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890-1933, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1969. 2 Frankfurter Universitätsreden, Bd. XX, 1924.
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auch die Gymnasien geprägt hat, ist das Wort so schlecht nicht gewählt. Ringer rekonstruiert eine Welt, die keineswegs, wie er glaubt, 1933 untergegangen ist. Ich kenne die Lebensgeschichte des noch in Deutschland geborenen Autors nicht; man gewinnt den Eindruck, daß er sich durch die Perspektive derer (vielleicht seiner Lehrer?) bestimmen läßt, die 1933 aus Deutschland vertrieben wurden-und für die dieses Datum zugleich das Ende einer ganzen Tradition bedeuten mußte. Jedoch gelangen erst heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, jene Tendenzen, deren Einsetzen Ringer in der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet, zu einem definitiven Ende. Dafür gibt es handfeste Indikatoren. Erst heute, in den 70er Jahren, erzwingen neue Hochschulgesetze die Aufgliederung der Philosophischen Fakultät in Fachbereiche und damit die Auflösung des institutionellen Kerns der Ideologie des deutschen Bildungshumanismus. Dahinter verbirgt sich die Umwandlung einer Fakultät, die sich (neben der aus ihrem Schoß hervorgegangenen naturwissenschaftlichen Fakultät) als die einzig »wissenschaftliche« verstanden hatte, in eine Institution für Lehrerbildung. Mit dieser Umstellung auf Funktionen der Massenausbildung wird ein Alptraum, der an Philosophischen Fakultäten seit über 100 Jahren geträumt worden ist, zur Realität. Ringer verfolgt, vor allem gestützt auf Friedrich Paulsens ehrwürdige »Geschichte des gelehrten Unterrichts«, den Kampf, den die »Mandarine« seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegen die Imperative der Modernisierung ausgefochten haben. Diese Abwehr drückt sich im Verhältnis der akademischen Lehre zur Berufsausbildung, im Verhältnis der Universitäten zu den Technischen Hochschulen, im Verhältnis der Gymnasien zu den Mittelschulen mit nicht-humanistischen Lehrplänen (Realgymnasien, Oberrealschulen), sie drückt sich schließlich in der Kluft zwischen Volks- und Sekundärschulen aus. Erst heute werden die Technischen Hochschulen, die sich seit einigen Jahren, ergänzt um einige geisteswissenschaftliche Lehrstühle, »Technische Universitäten« nennen durften, in eine Gesamthochschule integriert. Erst heute gehen die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen daran, das dreigliedrige Schulsystem (Volksschule, Realschule, Gymnasium) abzubauen und
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durch eine differenzierte Einheitsschule zu ersetzen. Erst heute befaßt sich die Konferenz der Kultusminister mit einer entsprechenden Integration der Lehrerausbildung aller Stufen. Erst heute bahnt sich ein Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft an.3 Erst heute, mit der Studentenrevolte, ändert sich das politische Bewußtsein der Studenten.4 Die Zeitperspektive, die Ringer mit dem Blick auf 1933 leitet, ist deshalb verschoben: Ringer versucht eine Welt zu rekonstruieren, in der ich mich noch während meines Studiums in den frühen 50er Jahren ganz selbstverständlich bewegt habe. Freilich begreift er sie nicht in denselben Kategorien, in denen wir uns von der Tradition unserer Lehrer inzwischen gelöst haben. Ringers Konstruktion des »Mandarinen« lehnt sich an Max Webers Analyse der chinesischen Beamtengelehrten nur metaphorisch an. Sie bezieht sich auf die spezifisch deutsche Ausprägung des akademisch gebildeten Bürgertums. Diese Schicht differenziert sich zwar mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in allen europäischen Ländern und in Amerika seit dem 18. Jahrhundert gegenüber den kapitalbesitzenden und gewerbetreibenden Repräsentanten des Bürgertums; sie gewinnt eine relative Distanz zu den Klassen, die unmittelbar in den Produktions- und Distributionsprozeß einbezogen sind. Aber in Deutschland wird diese Gruppe, die man bis heute »die Akademiker« nennt, nicht von den Angehörigen der freien Berufe, wie Ärzten und Rechtsanwälten, eben von den »Professionals« geprägt, sondern von den beamteten Akademikern, von Pfarrern, Gymnasiallehrern und vor allem: von Professoren. Diese Gruppe ist in ihrem Stil durch die dreifache Herkunft aus dem evangelischen, oft pietistisch bestimmten Pfarrhaus, aus den Kreisen der höheren juristisch geschulten Beamten der monarchischen Verwaltung und schließlich der Welt der humanistischen Gelehrsamkeit bestimmt. In Deutschland charakterisieren die Standes3 1929 stammten 2%, bis Anfang der 60er Jahre immer noch erst 5% der Studenten aus Arbeiterfamilien. Inzwischen ist der Anteil auf 8% gestiegen. 4 Noch 1957 war das politische Bewußtsein von mehr als der Hälfte eines Samples Frankfurter Studenten durch die Ideologie des Bildungshumanismus geprägt. Vgl. J. Habermas, L. v. Friedeburg, Ch. Oehler, F. Weltz, Student und Politik, Neuwied, 3. Aufl. 1969.
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merkmale des beamteten Geistes ein Bildungsbürgertum, das sich selbst gerne durch den Gegensatz zum »Besitzbürgertum« definiert hat. Dieses »akademische« Selbstverständnis gewinnt im Deutschland des 19. Jahrhunderts objektive Anerkennung. Es begründet ein Sozialprestige, das übrigens bis heute den Universitätsprofessoren vor Ärzten, Ministern und Unternehmern die Spitze der Statuspyramide sichert: »In democratic and highly industrialized societies, a university degree or position competes with several other measures of social value and esteem, the most important among them being political and economic in origin. In Germany before 1890, by contrast, academic values bore the stamp of public and official recognition ... University professors, the mandarin intellectuals, spoke for this distinctive elite and represented its values.«5 Voreilig ist freilich Ringers Schluß vom Prestige auf die tatsächliche Machtposition: »The nonentrepreneural upper middle-class, the mandarin aristocracy, had become the functional ruling class of the nation.«6 Natürlich ist die akademische Elite niemals eine herrschende Klasse gewesen. Ein Indiz dafür ist bereits die Ideologie, die Ringer doch untersucht - das bildungshumanistische Gesellschaftsbild war von Anbeginn eine Defensivideologie. Die deutschen Mandarine hatten mit dem staatlichen Monopol für das höhere Bildungswesen, dessen Selbstverwaltungsautonomie sie durch geschickte Rechts- und Kulturstaatstheorien gegen eine voroder halbkonstitutionelle Monarchie absichern konnten, gewiß auch zentrale gesellschaftliche Funktionen inne. Aber die Qualitäten, die in Deutschland ihr »Mandarinentum« begründeten, können nicht aus diesen Funktionen abgeleitet werden. Die deutschen Mandarine haben als Beamte immer nur über delegierte Macht verfügt; sie waren stets abhängig von einer monarchischen Staatsgewalt, die bis 1918 auf einem Klassenkompromiß zwischen ökonomisch herrschendem Bürgertum und politisch (wie auch militärisch und diplomatisch) einflußreichem Agraradel beruht hat. Für diese Herrschaft hatten die Mandarine allerdings eine unentbehrliche Legitimationsfunktion: sie stützten das Bild einer neutralen Staats5 S. 38. 6 Ebd.
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gewalt und rechtfertigten die apolitische Rolle der Bürger in einem autoritären Gemeinwesen. Ringer sieht zu Recht, daß die »Herrschaft« der Mandarine nur in einer Zwischenphase der kapitalistischen Entwicklung 7 möglich war, und zwar nur in einem Lande, in dem die ökonomisch sich durchsetzende Klasse politisch zunächst nicht zur Herrschaft gelangt ist. Auch die Periodisierung, die Ringer vornimmt, ist plausibel: nach der schnell einsetzenden Konzentrationsbewegung des Kapitals und einer hastigen Industrialisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts werden politische Spannungen manifest, die sich nach 1890 immer deutlicher in der geisteselitären Abwehr gegen das »Maschinen- und Massenzeitalter« reflektieren. Ringer beschreibt die Periode zwischen 1890 und 1919 als Zeit des Ursprungs der kulturellen Krise. Die Krise selbst beherrscht dann, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, die Zeit von 1918 bis 19,33,m der ein traditionalistisch nur noch verbrämter Irrationalismus die Oberhand gewinnt. Allein, in Bedrängnis geraten die Mandarine nicht weil ihre »Herrschaft«, sondern weil die Basis der Herrschaft zusammengebrochen ist, für deren Legitimation der beamtete Geist bis dahin nützliche Dienste geleistet hatte: die bürgerliche Demokratie der Weimarer Zeit hatte für die untertanenwirksamen Bekenntnisse der Unpolitischen keinen Bedarf mehr. Die reaktiv in einen Politisierungsprozeß hereingezogenen Mandarine, die sich nicht mehr länger mit dem Staat eins fühlen durften, gerieten in eine Identitätskrise, die unbeabsichtigt mit den Phasen einer von anderen, mächtigeren Kräften ausgelösten Staatskrise synchron verlief. Die jämmerliche Rolle der deutschen Universitäten im Jahre 1933 und unterm Naziregime ist ohne die anhaltende Demoralisierung vor 1933 gar nicht zu begreifen. Ringers Untersuchung hat das Verdienst, die Struktur der Vorgeschichte einer Zerstörung der akademischen Vernunft deutlich gemacht zu haben. Freilich hätte er gut daran getan, seine Mandarinenkonstruktion in einen größeren theoretischen Rahmen einzuordnen. Ringer nimmt von den drei Ansätzen zu einer Theorie der Ungleichzeitigkeit, die jene als »typisch deutsch« klassifizierten 7 S. 6 ff.
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Phänomene erklären will, keine Notiz. Gerade die Funktionen des deutschen Bildungsbürgertums und speziell der beamteten Geisteselite lassen sich in der Theorie der zurückgebliebenen kapitalistischen Entwicklung8, in der Theorie der verspäteten Nation9 und in der bei Ringer wenigstens angedeuteten Theorie der verzögerten Moderne10 plausibel ableiten. Bei der Ausführung seiner Konstruktion kann sich Ringer als ein offensichtlich von der Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung stark beeinflußter Historiker auf große Fertigkeiten stützen. Den Vorzügen des wissenssoziologischen Ansatzes entspricht allerdings eine gewisse Blickverengung. Ringer konzentriert sich auf die Geschichte der wissenschaftlichen Lehrmeinungen vor allem in Pädagogik, Soziologie, Ökonomie und Psychologie. Auf diesen Gebieten ist der Autor zu Hause; hier differenziert er überzeugend zwischen den beiden Flügeln: den »Modernisten« auf der einen Seite, die, wie Max Weber, an Grundüberzeugungen der Mandarinenüberlieferungen festhalten und doch, wenn auch nicht ohne Melancholie, dem Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft nüchtern Rechnung tragen; und den »Orthodoxen« auf der anderen Seite, die den harten Kern der Mandarine darstellen und in den 20er Jahren in affektive Reaktionen und weltanschaulichen Irrationalismus abgleiten. Hier, in den Traditionen der deutschen Sozialwissenschaften, ist Ringer sicher, auch wenn seine Darstellung gelegentlich in textbook-Stil verfällt und nicht mehr klar auf die Hypothesen bezogen bleibt.11 Aber die deutschen Sozialwissenschaften, die für die Ideologie des Bildungshumanismus gewiß auch charakteristisch sind, nehmen doch im Vergleich mit den philologisch-historischen Wissenschaften eine eher periphere Stellung ein. Germanisten, Historiker, Juristen und Theologen tauchen bei Ringer nur am Rande auf, obgleich diese die Kernfächer der deutschen Historischen Schule repräsentieren. Bereits im zweiten Kapitel, das einem globalen Rückblick auf die Mandarinentraditio8 G. Lukács, Über einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, in: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 31-74. 9 H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959. 10 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 11 Merkwürdigerweise wird Oppenheimer nicht erwähnt.
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nen dienen soll, wäre die Rekonstruktion der gut ausgebildeten Hintergrundphilosophie der Gründergeneration der deutschen Historischen Schule, also der Niebuhr, Savigny, Ranke, der Brüder Schlegel, Grimm und Humboldt nützlich gewesen. 12 Dilthey nimmt diese Überlieferung gewiß auf, aber die organizistische Theorie der Volksgeister, die bis auf Herder und Moser zurückgeht, hat bei ihm ihre Unschuld schon eingebüßt. Statt im Brockhaus unter »Geist« und »Bildung« nachzuschlagen, hätte sich Ringer besser an Hildebrandts berühmte Artikel im Grimmschen Wörterbuch gehalten. Nun würde die Verengung des Spektrums der Geisteswissenschaften auf die sozialwissenschaftlichen Disziplinen (auf Diltheys »systematische Geisteswissenschaften«) nicht so sehr ins Gewicht fallen, wenn nicht ein anderes Handicap hinzukäme: ohne eine wirkliche Kenntnis der Philosophie läßt sich das breite Material unter dem Gesichtspunkt der politisch folgenreichen Ideologie des Bildungshumanismus nicht überzeugend strukturieren. Ringer geht nur auf die philosophischen Diskussionen ein, die auf die Soziologie der 20er Jahre unmittelbar Einfluß gehabt haben: auf Dilthey, auf den Neukantianismus, auf die Historismus-Diskussion. Phänomenologie (Husserl, Heidegger), Existentialismus (Jaspers) und philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner) werden kaum erwähnt, und die marxistische Linke (Lukäcs, Bloch, Korsch) wird ebenso ausgespart wie die konservativ-revolutionäre Rechte (E. Jünger, Freyer, C. Schmitt). Wichtig für die geistige Konstellation jener Jahre war vor allem der Einfluß, den Nietzsche auf eine höchst dialektische und zugleich vertrackte Weise auf alle Lager ausgeübt hat. Professor Nietzsche, daran darf man im Zusammenhang mit Ringers Thema erinnern, hat in Basel klassische Philologie gelehrt. Kurzum, mit dem begrifflichen Instrumentarium der zeitgenössischen Philosophie hätte Ringer die geologischen Verwerfungen in der geistigen Landschaft der Weimarer Republik genauer abbilden können. Er hätte beispielsweise an den philosophisch motivierten Antworten auf die Rationalisierungs12 Vgl. die Arbeiten zu Geschichte und Theorie der Historischen Schule in: E. Rothacker, Mensch und Geschichte, Bonn 1950; ders., Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1947.
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these Max Webers, die so verschiedene Autoren wie Landshut, Kracauer, Löwith und Freyer in heute noch faszinierenden Untersuchungen gegeben haben, nachweisen können, daß sich damals die divergierenden Standpunkte gerade in der Kritik der Moderne getroffen haben. Oder mit der exemplarischen Analyse einer Schrift wie der von Jaspers zur geistigen Situation der Zeit (1931) (die schon im Inhaltsverzeichnis von technischer Massenordnung, nivellierter Bildung, von den anonymen Mächten und der Herrschaft des Apparates spricht), hätte Ringer zeigen können, daß noch die Klarsichtigsten den Mandarinenjargon und das geisteselitäre Bezugssystem mit Spengler und Jünger und dem damals einflußreichen Ortega y Gasset geteilt haben. Gleichwohl gelingt Ringer gerade in den Schlußpartien des Buches eine sehr überzeugende Darstellung der Ambivalenz, die das Verhältnis der Mandarine zum heraufziehenden Faschismus bestimmt haben. Ringer sieht genau, daß eine Affinität eher auf der Ebene von Attitüden und tiefsitzenden Ressentiments als auf der Ebene theoretischer Überzeugungen bestanden hat. Der antimodernistische Affekt, die Verachtung der Massen, das Mißtrauen gegen deklarierte Interessen, eine verblasene Überparteilichkeit, die soziologisch schlicht unbrauchbare Begrifflichkeit der Mandarinenkultur und eine Geistigkeit, die von Anbeginn den Umstand kompensieren mußte, daß jeweils die anderen es waren, die die Macht hattendas alles hat die Sprangers nicht zu Kriecks und Bäumlers gemacht, aber es hat sie gegenüber den Nazis wehrlos gemacht. Bis 1933 schien der Gegensatz zwischen unseren Geistesaristokraten und den Rechtsradikalen eher eine Sache der Manieren und des Tones zu sein - wenn die Mandarine den nationalistischen Studenten etwas vorzuwerfen hatten, dann die »Politisierung« der Hochschule. Den Kern der nationalen Bewegung hielten sie für »echt«. Wäre der Ungeist nicht in Stiefeln aufgetreten, hätte man ihn vollends als Geist vom eigenen Geiste verstehen (und mißverstehen) können. Ringer macht die Verfallsgeschichte der Mandarinenkultur, obwohl er sie auf dieses traurige Ende hin komponiert, nicht zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Er begreift die politischen Laster des deutschen Bildungshumanismus als Kehrseite seiner lugenden - der eminenten wissenschaftlichen Produktivität und
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der weittragenden geistigen Impulse, die von deutschen Universitäten, bis in die dreißiger Jahre, ausgegangen sind. Ringers Respekt gegenüber dem Gegenstand verrät bei der Behandlung Max Webers und Karl Mannheims gar die Identifikation des Schülers mit dem Lehrer. Diese behutsame, gelegentlich liebevolle Objektivität läßt Stärken hervortreten, die andererseits auch Fragen provozieren: ich meine die Frage, ob es vergleichbare Theoreme nicht auch in anderen Ländern gegeben hat; und dann die Frage, ob die Mandarine nicht auch recht gehabt haben. Tönnies' Kategorienpaar »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« mag ein kulturkritisches Potential enthalten, aber analoge Begriffsbindungen finden sich auch bei Durkheim (mechanische und organische Solidarität), bei Cooley (Primärgruppe und Sekundärgruppe) und bei Redfield (ländliche und städtische Gemeinschaft). An vielen Stellen hätte erst der internationale Vergleich die spezifische Nuance herausgebracht, die die deutschen Geisteswissenschaften von den westlichen Wissenschaftstraditionen getrennt und auf eine höchst fragwürdige Weise exploitierbar gemacht hat. Dabei muß freilich auch die Frage erlaubt sein, ob es nur die Bornierungen sind, die deutsche von westlichen Traditionen lange Zeit geschieden haben. Ringer macht den kategorialen Rahmen der eigenen Interpretationen und Bewertungen nicht explizit. Es ist aber unschwer zu sehen, daß er politische Systeme in entwickelten industriellen Gesellschaften an dem beispielsweise von Lipset, Kornhauser und Bendix verwendeten neoliberalen Deutungsmuster repräsentativer Regierungssysteme mißt; und daß er methodologisch die Grundüberzeugungen eines moderierten, eher von Max Weber oder Parsons als von Hempel und Feigl bestimmten Empirismus teilt. Darin ist Ringer unerschüttert; ihm liegt der Gedanke fern, daß in dem kulturkonservativen Bezugssystem der deutschen Mandarine auch Erfahrungen verarbeitet und Problemstellungen verdeckt sein könnten, die in einem angemessenen Bezugssystem neu formuliert werden und heute noch systematisches Interesse beanspruchen könnten. Diesen Gedanken hätte er sich nicht so einfach vom Leibe halten können, wenn er nicht einen in der deutschen Tradition tief verwurzelten, nämlich auf Hegel und Marx zurückgehenden Argu-
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mentationszusammenhang vollständig ausgeblendet hätte. Einsicht in die Dialektik der Aufklärung13 ist noch nicht Antimodernismus. Die eigentümliche Melancholie, die mit den unvermeidlichen, aber akzeptierten Fortschritten jenes von Max Weber untersuchten Rationalisierungsprozesses auch die Erinnerung an die Opfer und die nicht eingelösten utopischen Gehalte der bürgerlichen Emanzipation in sich aufnimmt, ist noch nicht Kulturpessimismus. Die Kritik am objektivistischen Selbstverständnis einer Sozialwissenschaft, die sich über den Umstand der symbolischen Vorstrukturierung ihres Gegenstandsbereichs methodologisch nur unzureichend Rechenschaft gibt, ist noch nicht Wissenschaftsfeindschaft. Und Opposition gegen einen Szientismus, der den Zusammenhang zwischen Wissenschaftstheorie und Grundfragen der praktischen Philosophie leugnet, ist noch nicht Obskurantismus. 14 Ringer hat sein Buch offensichtlich fertiggestellt, bevor ihn die von der studentischen Revolte ausgehenden intellektuellen Impulse erreichten. Ich habe den Eindruck, daß die Konfliktpotentiale, die die amerikanischen Intellektuellen heute verarbeiten müssen, einen Wandel der Perspektive herbeiführen. Man beginnt die Potentiale einer abweichenden Entwicklung nicht mehr nur mit den Augen des Orthopäden, sondern mit den krisengeschärften Sinnen eines Beteiligten wahrzunehmen. Ich lese in der New York Review of Books vom 7. Mai 1970: »Confronting Germany as an alien entity and as an external threat, the American intellectual's task was to explain why Germany was different. Today American interest in Weimar has an opposite premise: a sense of kinship. Caught in a crisis ourselves, we turn to Weimar because its tragic experience of dissolution - political, social, and cultural - seems to promise understanding of our own Situation. It is not the abhorrent strangeness of Weimar society that strikes us now, but our affinity 13 Horkheimer und Adorno, Amsterdam 1947. 14 Diese denunziatorischen Gleichsetzungen werden im deutschen Sprachbereich von denen vorgenommen, die die berechtigte Kritik an der Ideologie des deutschen Bildungshumanismus unzulässigerweise, wie mir scheint, auf Traditionen ausdehnen möchten, die bei Ringer ausgespart sind: auf die marxistisch inspirierte Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus. Ein militantes Beispiel gibt H. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, in: C. Grossner et al. (Hg.), Das 198. Jahrzehnt, Hamburg 1969, S. 277ff.
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with it.«15 Ich wage über die Triftigkeit dieser Einschätzung nicht zu urteilen. Aber Ringers vorzügliches Buch gehört gewiß noch zu denen, die es sich zur Aufgabe machen, zu erklären, »why Germany was different«.
15 C. E. Schorske, Weimar and the Intellectuals, 1. c, p. 22.
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Jürgen Habermas Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1 Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung Bd. 2 Kommunikative vs. funktionalistische Vernunft Die Theorie des kommunikativen Handelns dient der Klärung der Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Auf einer ersten Ebene versteht sie sich als Beitrag zur soziologischen Handlungstheorie. Indem sie theoriegeschichtliche Rekonstruktion mit Begriffsanalyse verbindet, schließt sich die Untersuchung auch in methodischer Hinsicht an Parsons' Werk von 1937 (The Structure of Social Action) an. Allerdings geht sie nicht mehr von der Struktur der Zwecktätigkeit aus, sondern konzentriert sich auf die Verständigungsleistungen, durch die Aktoren ihre Handlungen koordinieren. Der Grundbegriff des kommunikativen Handelns erschließt den Zugang zu drei Themenkomplexen, die miteinander verschränkt sind: zum Begriff der kommunikativen Rationalität, zu einem zweistufigen, die Paradigmen von Handlung und System verknüpfenden Gesellschaftskonzept, und zu einem theoretischen Ansatz, der die Paradoxien der Moderne mit Hilfe einer Unterordnung der kommunikativ strukturierten Lebenswelt unter die Imperative verselbständigter formal organisierter Handlungssysteme erklärt. In der Einleitung wird die These begründet, daß die Rationalitätsproblematik nicht von außen auf die Soziologie zukommt, sondern von innen aufbricht. Für jede Soziologie mit gesellschaftstheoretischem Ehrgeiz stellt sich das Problem der Verwendung eines normativ gehaltvollen Rationalitätsbegriffs auf drei Ebenen gleichzeitig. Sie kann dem Zusammenhang zwischen (a) der metatheoretischen Frage nach den Rationalitätsimplikationen der grundlegenden Handlungsbegriffe, (b) der methodologischen Frage nach den Rationalitätsimplikationen eines sinnverstehenden Zugangs zum Objektbereich und (c) der empirischen Frage, in welchem Sinn die Modernisierung einer Gesellschaft als Rationalisierung beschrieben werden kann, nicht ausweichen. Diese drei Fragen bieten den Leitfaden für eine systematische Aneignung der Theoriegeschichte.
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Max Webers Theorie der Rationalisierung erstreckt sich einerseits auf den Strukturwandel religiöser Weltbilder und das kognitive Potential der ausdifferenzierten Wertsphäre Wissenschaft, Moral und Kunst, andererseits auf das selektive Muster der kapitalistischen Modernisierung (Kapitel II). An dem aporetischen Gang der marxistischen Rezeption der Weberschen Rationalisierungsthese von Lukäcs bis Horkheimer und Adorno zeigen sich die Grenzen des bewußtseinstheoretischen Ansatzes und die Gründe zu einem Paradigmenwechsel von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln (Kapitel IV). In diesem Lichte fügen sich G. H. Meads kommunikationstheoretische Grundlegung der Sozialwissenschaften und E. Durkheims Religionssoziologie so zusammen, daß das Konzept der sprachlich vermittelten normengeleiteten Interaktion im Sinne einer begrifflichen Genese erklärt werden kann. Die Idee der Versprachlichung des Sakralen bietet im übrigen den Gesichtspunkt, unter dem Meads und Durkheims Annahmen zur Rationalisierung der Lebenswelt konvergieren (Kapitel V). Anhand der Theorieentwicklung von T. Parsons läßt sich das Problem der Verknüpfung von System- und handlungstheoretischen Grundbegrifflichkeiten gut analysieren. Dabei werden die Ergebnisse der, systematischen Fragen gewidmeten, Zwischenbetrachtungen aufgenommen (Kapitel VII). Die erste Zwischenbetrachtung nimmt Max Webers Handlungstheorie zum Ausgangspunkt, um den formal pragmatischen Ansatz einer Theorie des kommunikativen Handelns darzustellen (Kapitel III). Die zweite Zwischenbetrachtung entwickelt zunächst das Konzept der Lebenswelt und verfolgt dann den evolutionären Trend zur Entkoppelung von System und Lebenswelt so weit, daß Max Webers Rationalisierungsthese umformuliert und auf gegenwärtige Verhältnisse angewendet werden kann (Kapitel VI). Die Schlußbetrachtung führt die theoriegeschichtlichen und die systematischen Untersuchungen zusammen; sie soll einerseits die vorgeschlagene Interpretation der Moderne an Verrechtlichungstendenzen und neuen Konfliktpotentialen einer Überprüfung zugänglich machen und andererseits die Aufgaben präzisieren, die sich heute einer kritischen Gesellschaftstheorie stellen (Kapitel VIII).
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Inhalt Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik: 2. Rationalität - eine vorläufige Begriffsbestimmung; 2. Einige Merkmale des mythischen und des modernen Weltverständnisses; 3. Weltbezüge und Rationalität, Aspekte des Handelns in vier soziologischen Handlungsbegriffen; 4. Die Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften II. Webers Theorie der Rationalisierung: 1. Okzidentaler Rationalismus; 2. Die Entzauberung religiösmetaphysischer Weltbilder und die Entstehung moderner Bewußtseinsstrukturen; 3. Modernisierung als gesellschaftliche Rationalisierung: die Rolle der protestantischen Ethik; Rationalisierung des Rechts und Gegenwartsdiagnose III. Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation: 1. Aspekte der Rationalität des Handelns; 2. Formale und empirische Pragmatik IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung: 1. Max Weber in der Tradition des westlichen Marxismus; 2. Die Kritik der instrumentellen Vernunft Bd. 2: Kommunikative vs. funktionalistische Vernunft V. Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln: 1. Zur kommunikationstheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften; 2. Die Autorität des Heiligen und der normative Hintergrund kommunikativen Handelns; 3. Die rationale Struktur der Versprachlichung des Sakralen
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VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt: 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie; 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie: 1. Von der normativistischen Theorie des Handelns zur Systemtheorie der Gesellschaft; 2. Die Wendung zur Systemtheorie; 3'. Theorie der Moderne VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx: 1. Ein Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne; 2. Marx und die These der inneren Kolonialisierung; 3. Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie Literaturverzeichnis Namensverzeichnis
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