»PHANOMENOLOG IE DER PHANOMENOLOG IE«
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRUNDET VON H.t. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
166 SEBASTIAN LUFT
i> PHANOMENOLOGIE
DER PHANOMENOLOGIE«
SYSTEMATIK UND METHODOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE IN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN HUSSERL UND FINK
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SEBASTIAN LUFT
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»PHANOMENOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE« SYSTEMATIK UND METHODOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE IN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN HUSSERL UND FINK
KLUWER ACADEMIC PUBLISHERS DORDRECHT / BOSTON / LONDON
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ISBN
1-402o-o901-I
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He's a real nowhere man sitting in his nowhere land making up his nowhere plans Jor nobody. Doesn't have a point oj view knows not where he's going to isn't he a bit like you and me? (Lennon / McCartney, » Nowhere Man «)
Menschsein in der Menschheit auJ dem Boden der Welt hat sein natiirliches Recht und verliert es nicht in der Uberwindung der Positivitat. Und doch gewinnt alles, indem der Schleier der Transzendentalitat Jallt, alles einen neuen Sinn und seinen absoluten, der alle natiirliche Wahrheit zugleich iiberwindet und berechtigt, sie zugleich berechtigt und relativiert und begrenzt. VernunJt-» Kritik « im neuen Sinn und doch verwandt mit der kantischen: Kritik der VernunJt als positive WissenschaJt, Kritik der Welt, die verstanden ist als Geltungskorrelat, als Seinssinn, der von der transzendentalen Subjektivitat her konstituiert ist: In der Kritik kritisiert die transzendentale Subjektivitat sich selbst nach dieser im Stromen stets unvollkommenen und doch ein ontologisch umgreifbares Ziel vorzeichtlenden Leistung etc. Natiirlich ist dann die Frage: Was bedeutet diese KritikJiir das Leben, das doch nicht bloj3 wissenschciftliches und in der Phanomenologie nicht bloj3 phanomenologisierendes Leben ist? Wie verwandelt sich der unbandige, nie zu bandigende » Wille « zum Leben und sein Diener, der positive Intellekt, durch die Uberwindung der transzendentalen Naivitat? Was wird aus dem noch so hoch interpretierten ethischen Leben, was aus der Wohlfahrt etc.? Der Mensch bleibt doch Mensch, und menschliches Leben geht weiter und soll we iter erwiinschten, bifriedigenden Stil haben. Verwandlung der WissenschaJt, Verwandlung des Weltiebens, Verwandlung der Ethik etc. (Edmund Husserl, A v 20/5, wohl von November 1934)
INHALT
Abkiirzungsverzeichnis ........................................................
Xl
Einleitung .....................................................................
1
1.
2.
3. 4. 5. 6.
Einftihrung in das Problem von Methodik und Systematik und das Projekt einer phanomenologischen Selbstkritik ................................... . Husserls erster Versuch der Selbstkritik: die apodiktische Reduktion (1922123) Der neue Ansatz: » Phanomenologie der Phanomenologie« als Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers ............................................. Zum Verhaltnis von Husserl und Fink ...................................... Zum Forschungsstand ..................................................... Kapitellibersicht ..........................................................
8 15 22 27 29
Kapitel I. Die natiirliche Einstellung. Systematische Rekonstruktion in thematischer und methodischer Hinsicht .................................. 35 Die Moglichkeit und N otwendigkeit einer systematischen Theorie der natiirlichen Einstellung und der Begriff der Einstellung ..................... 1.2. Theorie der natiirlichen Einstellung in thematischer Hinsicht .............. 1.2.1. Der Schematismus Akt-Situation-Einstellung und die Korrelation von Einstellung und Welt ............................................. 1.2.2. Der Plural des Schemas Einstellung-Welt und das Phanomen der Verweisung .......................................................... 1.2.3. Sonderwelt-Sondereinstellung und die Pluralitat der Sondereinstellungen. Die Gespaltenheit von Heimwelt - Heimeinstellung ...... 1.2.4. Heim- und Fremdwelt. Natiirliche Einstellung und Lebenswelt ....... 1.3. Theorie der natiirlichen Einstellung in methodischer Hinsicht .............. 1.3.1. Natiirlichkeit ...................................................... 1.3.2. Naivitat ........................................................... I.3.3. Normalitat ........................................................ 1.4. Die Generalthesis als Ergebnis faktischer Variation. Natiirlich-naive und natiirlich-dogrnatische Einstellung und die Moglichkeit des Abschieds von der natiirlichen Einstellung ............................................... 1.1.
35 41 41 47 50 52 57 57 61 66
72
VIII
IN HALT
Kapitel 2. Die Motivation fUr die Reduktion und die Etablierung des »unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung. Die N otwendigkeit einer )) Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion« ................................................................ 79 Die Motivation flir die Reduktion ........................................ Das Problem der Motivation ........................................ 2. I.2. Das Grundgesetz der Motivation. Aktive und passive Motivation ...... 2. I.3. Ein Vorschlag Finks: Die Erfahrung von Fremdheit in der Heimwelt................................................................. 2.I.4. Husserls Alternative: Fremderfahrung als Motivation ................. 2.2. Die Etablierung des ))unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung ................................................................. 2.2. I. Die Reflexionsproblematik und die Ichspaltung. Leibliche Selbstthematisierung und natiirliche Reflexion ......................... Exkurs. )) Ichspaltung« als psychopathologisches Phanomen im Umkreis Husserls: Oesterreich und Jaspers ......................................... 2.3. Radikale (phanomenologische) Reflexion und die Etablierung des uninteressierten Zuschauers .............................................. 2.4. Die Naivitat des Zuschauers als Forschungshaltung. Der Zuschauer als »)unbewaltigter Rest« der Reduktion und die Forderung einer transzendentalen Selbstkritik .............................................. 2. I.
2. I. I.
79 79 84 89 97 104 107 119 126
134
Kapitel 3. Zur Architektonik des phanomenologischen Systems .............. 143 3. I. Zur Entstehungsgeschichte der VI. Meditation und zur Charakterisierung der Zusammenarbeit und des Verhaltnisses von Husserl und Fink ............ 3.2. Die Zusammengehorigkeit von Systematik und Methodologie und Husserls unausgesprochene Position hierzu ................................ 3.3. Finks Gliederung der phanomenologischen Systematik am Leitfaden der kantischen Architektonik ................................................. 3·4· Die weiteren Spaltungen in der Methodenlehre. Die vollsrandige Freilegung des Zuschauers ................................................ 3.4.1. Der Bruch zwischen konstituierendem und phanomenologisierendem Ich ......................................... 3.4.2. Hoherstufige Spaltung in der Iterabilirat ............................. 3-4.3. Ein vo&iufiges Fragen nach dem ))Konstituieren« des Zuschauers ..... 3.5. Phanomenologisieren in der Elementarlehre ............................... 3.5. I. Phanomenologisieren als Hegressives Analysieren« ................... 3.5.2. Phanomenologisieren als konstruktiver Aufbau ....................... 3.5.3. Phanomenologisieren als theoretisches Erfahren ...................... 3.5.4. Phanomenologisieren als ddeieren« .................................
143 154 161 170 170 177 180 182 183 187 195 201
INHALT
IX
Kapitel 4. Phanomenologische und natiirliche Einstellung: die Verweltlichung ............................................................ 207 4. I. Die Aufgabenstellung: Der Begriff der Verweltlichung ..................... 4.2. Die Pradikation als »Motivation ftir die Verweltlichung«. Finks und Husserls Bestimmung der phanomenologischen Sprache .................... 4.2.1. Fink: Pradikation als »katachretische« Appropriation ................. 4.2.2. Husserl: Pradikation als VerwandlunglIndikation .................... 4.3. Finks und Husserls Konzept der Verweltlichung als Riickkehr in die natiirliche Einstellung. Die VerhaItnisbestimmung von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung .......................................... 4.3.1. Finks Konzept der Verweltlichung .................................. 4.3. I. I. Verweltlichen als Verwissenschaftlichen. Der Wissenschaftscharakter der Phanomenologie. Die objektivierte Wissensgestalt und das »eigentliche Subjekt« des Phanomenologisierens. Primare Verweltlichung ................................................... 4.3.1.2. Die sekundare Verweltlichung in subjektiver Richtung: der Schein des phanomenologisierenden Menschen .................... 4.3 ·1.3 Die sekundare Verweltlichung in objektiver Richtung: der Schein der Phanomenologie - ein philosophisches Stonehenge ...... 4.3.2. Husserls Gegenkonzept ............................................ 4.3.2.1. Die Lokalisation des Transzendentalen in der Welt .............. 4.3.2.2. Geschichtsphilosophische Konsequenzen: das Konzept des Einstromens ..................................................... 4.4. Husserls und Finks Bestimmung des Absoluten und das System der Phanomenologie ........................................................ 4.5. Schluss und Ausblick: der Fortschritt von Philosophie und Wissenschaft und die Unauthebbarkeit der natiirlichen Einstellung .......................
207 209 211
219
230 235
236 245 259 264 266 279 288 304
Literaturverzeichnis ........................................................... 309 Werke Husserls ........................................................... I. I. Innerhalb der Husserliana ............................................. 1.2. AuBerhalb der Husserliana ............................................ 2. Weitere Literatur .......................................................... 3. Nachschlagewerke und Worterbiicher ...................................... I.
309 309 311 311
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EINLEITUNG
I.
EinJiihrung in das Problem von Methodik und Systematik und das Projekt einer phanomenologischen Selbstkritik
Vorliegende Arbeit beschaftigt sich mit dem Verhaltnis von Systematik und Methodologie in Edmund Husserls Philosophie. Diese Themen werden nach der Wende zur transzendentalen Phanomenologie ab den Ideen I und insbesondere im Spatwerk virulent. Hiermit zeichnen sich die Konturen und Fluchtlinien der Endgestalt der husserlschen Phanomenologie ab, einer, wie es Husserls Uberzeugung war, mach allen systematischen Hauptlinien vorgezeichneten Philosophie«.i Die literarische Ausgestaltung dieser Zusammenhange war Husserl das groBte Anliegen in dieser spaten Phase seines Denkens und das eingestandenermaBen fUr ihn »Schwierigste«.2 Der detailversessene Phanomenologe fUhlt sich letztlich dazu veranlasst, ja gedrangt, zu seinen bekanntermaBen subtilen Feinanalysen in Distanz zu treten und die groBen Linien seines Denkens zu iiberschauen, um dadurch seinem Werk eine systematische Form zu geben. Hierdurch soUte die Phanomenologie fUr die Zukunft, die er selbst nicht mehr wiirde direkt beeinflussen konnen, geriistet werden. Das »Systematische der Ph [anomenologie] « soUte den »notwendigen Entwurf der allgem[einen] >Landkarte< des tr[anszendentalen] Continents«3 ausfuhreno Das Motiv hierfur liegt auf der Hand: Nicht nur auf Grund der Erkenntnis, dass die systematische Ausgestaltung bis ins Letzte ihm selbst nicht mehr vergonnt sein wiirde, sondern auch, um einen systematischen Rahmen fUr alle zukiinftigen phanomenologischen Bemiihungen nach ihm vorzugeben, war es notig, einen systematischen Gesamtiiberblick iiber die» Felder« der transzendentalen Phanomenologie zu geben. Hierbei kann es aber nicht allein, im Bilde zu reden, um eine Topographie dieses Kontinents gehen, sondern es gilt, denselben unter systematischen Prinzipien der Forschung als ganzen in den Blick zu bringen. Das allen phanomenologischen Bemiihungen hinsichtlich ihrer Gebiete Gemeinsame ist hierbei die neuartige transzendental-phanomenologische Methode. Eine systematische Darstel-
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So Husser! am II.8.I920 an Bell, BW 3, I4. Vgl. Husser!s Brief an Albrecht vom 29.I2.I930 (BW 9, 76): »In dem letzten Jahr hat sich im minutiosen Uberdenken, in sorgsamster Endgestaltung und Erganzung alles glanzend bestatigt, aber noch bin ich mit den Vorbereitungen nicht ganz fertig, habe noch einiges Schwierige vor mir und vor allem das jetzt Schwierigste: die systematische Darstellung. {( So Husser! an Pannwitz am 28.129.2.I934, BW 7, 222.
S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
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EINLEITUNG
lung der Horizonte des phanomenologischen Projekts fordert also in besonderem MaBe eine methodologische Riflexion iiber das hierbei zu verwendende methodische Instrumentarium. Bine solche Reflexion auf das eigene philosophische Vorgehen in Hinblick auf das System der Phanomenologie stellt sich dar als eine Selbstkritik der Phiinomenologie beziiglich ihrer eigenen Voraussetzungen, Vorgehensweisen und Grenzen. Das ist - in aller Vorlaufigkeit - der Zusammenhang zwischen Methodik und Systematik aus der Perspektive der »hoherstufigen Kritik« oder Selbstkritik, einer, wie Husserl auch sagt, »Phanomenologie der Phanomenologie«. Einer weitverbreiteten Forschungsmeinung zufolge hat Husserl die Selbstkritik nie durchgefuhrt. Demgegeniiber geht es in der vorliegenden Untersuchung darum zu zeigen, dass Husserls spate Reflexionen im Zusammenhang mit der Methodik und Systematik der Phanomenologie nichts anderes als die auch von ihm selbst wiederholt geforderte Selbstkritik der Phanomenologie darstellen. Husserls Spatphilosophie, urn es pointiert zu sagen, hat die Selbstkritik - als methodologische Untersuchung ihres Selbstverstandnisses und ihres »Zwecksinnes«, ihrer Systematik - geradezu zum vorziiglichen Thema. Dieses Begriffspaar »Methodik« und »Systematik« meint hierbei keine getrennten Reflexionshinsichten, sondern wird in vielen AuBerungen des spaten Husserl in einem Atemzug genannt; hierin kristallisiert sich das Hauptanliegen sowohl von Husserls philosophischem Selbstverstandnis als auch der Selbstverstandigung der Phanomenologie iiber sich selbst. Stellvertretend sei folgendes Zitat von 193 I wiedergegeben: »Es ist eigentlich ein ganzes philosophisches System erwachsen, aber eines v611ig neuen Sinnes und Stiles, eben das System der Methodik und Problematik einer absoluten Wissenschaft als einer absolut begriindeten und auf das Absolute gerichteten, also nicht auf spekulative Konstruktion eines mystischen Absoluten, sondern des aus uns selbst in phanomenologischer Reduktion als Absolutes zu erkennenden und als Urgrund alles ftir uns Seienden.« (BW 9,79)4
Die verwendete Begrifflichkeit macht sogleich augenfallig, dass es hier urn Problemdimensionen geht, die weit iiber das von Husserl immer geforderte »Kleingeld« hinausgehen, sondern die groBen Perspektiven der Phanomenologie zu thematisieren bestrebt sind. So kann man zunachst ganz auBerlich Motive daftir anftihren, dass Husserl sich im Spatwerk mit diesen traditionell von der Phanomenologie (sowohl
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Husserl an Albrecht vom 22. 12.19JI; vgl. auch den Briefan Mahnkevom 24.1.1932 (BW 3, 479), wo er vom »Ailerwichtigste[n:J (Methode und Systematik)« spricht. Vgl. ferner den Brief an Grimme vom 3.2.1932 (BW 3, 93): »Ailes Lucken schliessen sich, und es ist, trotz der ausserordentlichen Ausdehnung der konkreten und der auf Methode und Systematik bezogenen Untersuchungen, die sichere Aussicht fUr das Fertigwerden [!J: d. i. fUr eine einheitliche mehrbandige systematische Grundlegung der konstitutiven Phanomenoiogie«. Vgl. auch den Brief an Landgrebe vom 1.10.1930 (BW 4, 270f.).
E1NLE1TUNG
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von den friihen phanomenologischen Schulen in Gottingen und Miinchen, als auch von Husserl selbst) sogar abgelehnten Themen so intensiv beschaftigte: Husserl wechselte im Jahre 1916 nach Freiburg in eine der Hochburgen des vorherrschenden Neukantianismus und iibernahm dort den Lehrstuhl des Neukantianers Heinrich Rickert. Rickert, der nach Heidelberg wechselte, schlug selbst ausdriicklich Husserl als seinen Nachfolger vor. Dass das Systembauen zum wichtigen, wenn nicht hauptsachlichen Anliegen der Neukantianer gehorte, bedarfkeiner besonderen Erwahnung. 5 Es ist verstandlich, dass sich Husserl hierdurch unter einem gewissen Zugzwang ftihlte und es ihm besonders wichtig war, die Phanomenologie, diese neue Disziplin, gegeniiber der v. a. in Deutschland vorherrschenden neukantianischen Philosophie als eigenstandige wissenschaftliche Philosophie zu profilieren, was eben nur durch die Gestaltung eines Systems der Phanomenologie moglich war. Husserl, fUr den (wie man konstatieren muss) diese Aufgabe nicht unmittelbar seinem philosophischen Naturell entsprach, blickte geradezu neidisch auf seine neukantianischen Kollegen, fUr die die systematische Philo sophie zum philosophischen Einmaleins gehorte. 6 Ohne ein »System«, urn es salopp zu formulieren, konnte man nicht beanspruchen, echter Philosoph zu sein. Husserls Phanomenologie, die als eine philosophische Disziplin mit dem Anspruch des ganzlich Neuen auftrat, konnte nur ernst genommen werden, wenn sie sich als System ausbilden und darstellen konnte. Das Gleiche galt auch mr die »phanomenologische Bewegung« ein Terminus, den Husserl selbst mit Vorliebe verwendete -, die nur als »Schule« ernstgenommen werden konnte, sofern sie eine inn ere systematische Einheitlich-
6
Neben Rickerts systematischen Arbeiten seien auch Cohens dreibandiges »System der Philosophie« (1902-12) sowie Natorps »Philosophische Systematik« von 1922123 erwahnt, die allerdings erst 1958 posthum veroffentlicht wurde. Ein Hauptorgan des Neukantianismus war die Zeitschrift »Archiv ftir Systematische Philosophie«. Vgl. den Brief an Rickert vom I I. Februar 1<)21: »Sie haben sich Ihr System erarbeitet, zu Ihrer Befriedigung eine geordnete Ableitung der Hauptstrome philosophischer Probleme aus den letzten Quellen der Einsicht vollzogen und den Grundril3 ftir eine idealistische Weltanschauung gewonnen. Was es bedeutet auf ein solches Ziel hinzustreben, ein ganzes Leben lang [!) hinstreben zu mlissen, weil3 ich aus eigener Erfahrung.« (BW 5, 185) Husser! wollte mitunter den Eindruck erwecken, als hatte sich ihm das System der Phanomenologie gewissermal3en »von selbst« eroffnct, wohl urn den Einfluss der Neukantianer auf sein eigenes Philosophieren, das sich in Husser!s Augen von allen traditionellen Denkfiguren radikal unterschied, herunterzuspielen. V gl. den Brief an Beck vom I. I I. 19JI (BW 2, 12), wo Husser! betont, dass »die tr[anszendentale) Reduction einen total neuen philosophierenden Sinn schafft, der die konstit[utiveJ Phanlomenologie) von allen Philosophien der Vergangenheit schroff abscheidet.« Ferner schreibt er an Bell am 22.9.1920: »Die Logik [gemeint ist die Vorlesung liber »Transzendentale Logik« vom ws 20/21) mochte ich in einem ganz neuen Geiste, als universalste formale Principienlehre der ganzen Philos[ophie), entwerfen. In den Hauptlinien komme ich zu einem - System.« (BW 3, 20). Gleichzeitig mochte er, wohl aus demselben Motiv, den Beginn seines Systemdenkens so frlih wie moglich (rlick)datieren. So schreibt er am 2I.12.1931 an Ingarden: »Mir liegt aber das systematische Grundwerk der Ph[anomenologie), das ich eigentlich seit einem Jahrzehnt inncrlich vorbereite u[ndJ jetzt ausarbeite, natlir!ich u. bei meinem Alter zunachst am Herzen.« (BW 3, 268 f.)
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EINLEITUNG
keit aufWies; verst:indlich, dass diese zu gestalten Husserl, als dem Begriinder dieser Bewegung, besonders am Herzen lag. Diese historisch-biographischen Tatsachen konnen aber lediglich das auBerliche Rahmenwerk fur das philosophische Problem bilden, das durch die geschichtliche Einbettung zwar eine gewisse und nicht zu unterschatzende Unterfutterung erhalt, aber keinesfalls dadurch erklart werden kann. In der Tat ist das Neue, was die Phanomenologie Husserl zufolge in erster Linie auszeichnet, die neuartige Methode der phanomenologischen Reduktion als Riickgang auf das universale weltkonstituierende Bewusstsein. 7 Erst auf ihrer Grundlage kann iiberhaupt dieser neue »Kontinent« zuganglich werden, hinsichtlich dessen die Systematik als »Landkarte« dieses Kontinents nicht nur erstmals in den Blick gerat, sondern auch gerade der Systemcharakter ein eigenes Problem darstellt; denn in nichts kann man in diesem prinzipiell neuen »Gebiet« an Bekanntes ankniipfen. Auch was »System« heiBen kann, wird selbst zum Problem. 8 Aus dieser Perspektive hangt es von der Methode ab, was fUr ein Gebiet, und wie es in den Blick gerat, und damit auch die Weise, wie man sich demselben systematisch nahern muss. Die Systematik hangt also unmittelbar mit der Methodik zusammen, oder anders gesagt: Die Art der Methodik erschlieBt erst den Charakter des Systems. Systematik und Methodik sind, gerade auf Grund des prinzipiell »Neuen« des phanomenologischen »Reichs«, in ihrer Ausgestaltung voneinander abhangig. In der transzendentalen Phanomenologie kann man beide Elemente nicht trennen, sofern das, was thematisch wird, erst durch die eigentiimliche Methode der phanomenologischen Reduktion zuganglich wird. Andererseits ist das Gebiet des transzendentalen Bewusstseins selbst nicht von der Methode der Reduktion abhangig - es »existiert«, wenn auch auf seine Weise, unabhangig von seiner Thematisierung -, und also muss sich das System an das zu Erforschende anmessen und die Leitung hiervon vorgeben lassen. In der transzendentalen Phanomenologie sind also Methodik und Systematik 7
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Vgl. den Briefan Ingarden vom 21.I2.I93I (BW 3,269), wo er sprichtvon der Phanomenologie »als universaler Philosophie, die voil ausgebildet aile Ontologien (aile aprior[ischenJ Wissenschaften) u. aile Wissenschaften iiberhaupt - in letzter Begriindung - umspannen wiirde. [... J Die erste u. vielleicht groBte Schwierigkeit liegt in der radikalen Vorurteilslosigkeit u. ihrer Methode der phanom[ enologischenJ Reduktion.« Zum Unterschied von System und Systematik vgl. Natorps Philosophische Systematik (Natorp 2000). Natorps Ausfuhrungen beginnen mit dem Unterschied von System und Systematik (I): »Ob ein System, ob das System, das endgiiltige, einzig giiltige [... J moglich ist, darf keinesfalls vor der Untersuchung als entschieden angenommen werden. Sondern genau das steht zur Frage: 1st ein System, ist das System moglich, so kann es nur das System der Kritik selbst sein.« »System« impliziert Voilstandigkeit, Abgeschlossenheit, was ein vollendetes Wissen darsteilen und alles Weisheitsstreben unmoglich mach en wiirde. Daher darf die Philosophie niemals ein System anstreben, sondern, eben, eine Systematik: »Also ist Philosophie wesenhaft - nicht System, aber die Frage nach dem System. Sie muss es nicht zum System, aber zur Systematik bringen,
EINLEITUNG
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nicht nur eng zueinander gehorig, sondern in wesentlichem Sinne voneinander abhangig, und wer meint, »geradehin« Phanomenologie bzw. phanomenologische Beschreibung vollziehen zu konnen, ohne deren Ergebnisse systematisch zu interpretieren, ist in hochstem MaBe naiv: Diese Einsicht Husserls richtet sich nicht nur gegen diejenigen, die die durch die phanomenologische Reduktion eingeleitete transzendentale Wende nicht mitzumachen gewillt waren und ihren Sinn nicht erkannten, sondern auch gegen seine eigenen friiheren Ansatze, die noch fur die Sphare der transzendentalen Subjektivitat blind waren bzw. in deren Beschreibung kein eigenes Problem erblickten. Die hoherstufige Selbstkritik ist in dies em Sinne auch als Kritik an Husserls friiherem Ansatz zu sehen. Was ist nun das Neue, das durch die phanomenologische Reduktion geleistet wird? Grundsatzlich gesagt: »Reduktion« wird fUr Husserl zunehmend zum Begriff fur das Eigentiirnliche seiner Methode und damit der Phanomenologie schlechthin. Die Methode der Reduktion eroffnet den Zugang zur Region der transzendentalen Subjektivitat als des Themas der Phanomenologie, aber das ist nur eine formale Vorzeichnung fur die Tatigkeit der transzendentalen Phanomenologie; denn es geht darum zu sehen, warum die Reduktion eingefUhrt wird und welchen Zweck sie verfolgt. Die verschiedenen Wege in die Phanomenologie, die Husserl entworfen hat, akzentuieren hierbei verschiedene Zugangsweisen und mit ihnen verbundene systematische Absichten. Je nachdem, wie die Reduktion motiviert, eingefuhrt und schlieBlich vollzogen wird, verfolgt Husserl damit jeweils andere Zielsetzungen, die sich nicht gegeneinander ausschlieBen (miissen), sondern gegenseitig komplementieren, auch wenn friihere Wege fUr Husserl spater nicht mehr an erster Stelle stehen und gegeniiber anderen in den Hintergrund treten. Je nach der Weise, wie die Reduktion methodisch eingefuhrt wird, ist aber auch eine andere Systemgestaltung zu erwarten, sofern (wie gesagt) Methodik und Systematik nicht unabhangig voneinander sein konnen. Die verschiedenen methodischen Wege und die darnit einhergehenden unterschiedlichen Systemkonzeptionen sind damit ihrerseits Thema einer methodologischen Reflexion. Es bedarf selbst einer, wie Husserl betont, »sehr hoch entwickelten« Phanomenologie, urn zu dieser Einsicht zu gelangen. Die Systematik hat dadurch auch eine gewisse Offenheit, wenn auch nicht Beliebigkeit. Oder anders gesagt: Es gibt nicht lediglich eine fest definierte phanomenologische Systematik, wohl aber nur ein phanomenologisches System. Es gibt, analog hierzu, mehrere Motive, die es fur Husserl notwendig machen, die transzendentale Wende zu vollziehen. Als ))Kandidaten« waren hier formalauBerlich zu nennen etwa die reine Erfassung von Bewusstseinsphanomenen im Rahmen einer phanomenologischen Psychologie, die letzte Begriindung der positiven Wissenschaften in einer universalen Mathesis oder die vollstandige Klarung des Wesens der Subjektivitat als transzendentaler in ihrer intentionalen Verfasstheit. Es geht jedoch bei all diesen Ansatzen letztlich urn die vollseitige, ))universale« Erfassung des weltkonstituierenden Bewusstseins, welches in dieser Universalitat
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EINLEITUNG
nur transzendentales sein kann. Sicherlich kommen auch in Husserls Konzept einer Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivitat mehrere Motive aus der philosophischen Tradition zusammen, etwa die Bewusstseinserforschung der englischen Empiristen und Kants kritische Transzendentalphilosophie, die wiederum aIle auf ihre Weise Husserls Entwicklung beeinftusst haben und je einen theoretischen Import mit hinzubringen, den es in einer rekonstruktiven Lekture auseinander zu halten und zu wurdigen gilt. In jedem Fall stellt Husserls Konzept der transzendentalen Subjektivitat eine geniale Kombination all dieser (und evtl. noch mehr) Elemente dar. Gerade deshalb kann das Problem der Methodik von verschiedenen Seiten angegangen werden, je nach dem Zweck, den man hierbei verfolgt. Diese Perspektiven sind aber nicht beliebig, sondern haben ihrerseits eine systematische Ordnung, der sich Husserl erst in zunehmender Reftexion auf die phanomenologische Methode bewusst wurde. Es sind v. a. zwei prinzipielle Elemente, die ftir die Aufgabenstellung der Methode der phanomenologischen Reduktion und damit des Zwecksinnes der transzendentalen Phanomenologie entscheidend sind und die im Begriff »transzendentale Subjektivitat« zusammenkommen: Der Begriff »Subjektivitat« akzentuiert den Aspekt der »Sphare«, »Region« subjektiver Erfahrung (und was dergleichen Metaphern mehr Husserl verwendet hat). Das subjektive »Thema« ist ein genuines Forschungsfeld und nicht ein punktformiges und damit inhaltsleeres, reines »Ich-denke~~. Das Bewusstseinsfeld kann in umfassender Weise nach seinen verschiedenen Regionen - etwa Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasie, urn nur die prominentesten phanomenologischen Forschungsgebiete zu nennen - beschrieben werden. Dies betont den Forschungscharakter der Phanomenologie und bezeichnet gleichzeitig die auszuftihrende und nie vollig abzuschlieBende faktische Arbeit »an den Phanomenen«, die Husserls Phanomenologie in ihrer unvergleichlichen Feinarbeit und Detailanalyse kenn- und auszeichnet. Bliebe man aber hierbei stehen, so betriebe man lediglich Bewusstseinsempirie - so wichtig diese zunachst ist -, ohne wirklich den »Sinn« dieser Forschung zu klaren. Das pure phanomenologische »Sehen« - so schwierig es ist, es in seiner eigentumlichen Charakteristik zu erlernen - sagt philosophisch noch uberhaupt nichts aus, wenn man unter Philosophie ein Fragen nach dem Warum und Wie, also nach Begriindung und Interpretation versteht. Reine Bewusstseinsbeschreibung bliebe auf dem Standpunkt positiver Wissenschaft stehen, die selbst ihre eigenen Voraussetzungen und Forschungsergebnisse per diifinitionem nicht hinterfragt. Phanomenologie auf diesem Standpunkt bliebe, mit dem hier zentralen Wort, »naiv«, wie Husserl erkannte. Diesem methodischen Manko begegnet die »transzendentale« Fragestellung, in der Husser! von Kant bzw. den Neukantianern beeinftusst wurde. Stichwort hierbei ist »Kritik«. Aufgabe einer wahrhaft philosophischen Besinnung ist, das Erforschte einer Kritik zu unterziehen, es also nach Sinn und Zweck zu hinterfragen und es mit der Absicht auf eine Metaphysik seinem Erkenntnissinn nach aus Prinzipien zu
EINLEITUNG
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rechtfertigen. 9 Die Gesamtheit aller transzendentalen » Leistungen« im Sinne von Formen bewusstseinsmaBigen Verhaltens bezeichnet Husserl auch als »Vernunft«. » Kritik der Vernunft« ist somit der Titel, den Husserl ebenfalls seiner Phanomenologie gibt, eindeutig an die kantische bzw. kantianisierende Problematik ankntipfend. Hierbei waren Kritik der Heinen« Vernunft, ebenso wie die der »praktischen«, »logischen«, »asthetischen« Vernunft etc., nur Aspekte einer umfassenden Vernunftkritik als Titel fur eine Untersuchung aller Arten von Bewusstseinsleistungen, durch die Welt fur ein Subjekt erfahrbar wird. Die Erforschung von Bewusstsein unter der transzendentalen Fragestellung bezeichnet Husserl so auch gelegentlich als »transzendentalen Empirismus« (vgl. VIII, 179), der als transzendentaler eo ipso kritisch verf
Vgl. KrV, A XII: »lch verstehe [unter einer Kritik der reinen Vernunft ... J die [KritikJ des Vernunftvermogens iiberhaupt, in Ansehung alier Erkenntnisse, zu denen sie, unabhangig von aller Eifahnmg, streben mag, rnithin die Entscheidung der Moglichkeit oder Unmoglichkeit einer Metaphysik iiberhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aus Prinzipien.« Vgl. auch B 789: »[ ... J Kritik der Vernunft, wodurch nicht bloB Schranken., sondern die bestimmten Gren.zen. derselben [... J aus Prinzipien bewiesen werden.«
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eines thematischen Abschlusses (der bekanntlich im Unendlichen liegt), sondern eines methodischen Oberblicks. Hierdurch zeichnet sich systematisch die Aufgabe vor, diese Kritik der transzendentalen Sphare ihrerseits einer Kritik zu unterwerfen, zumal das phanomenologische »Sehen« als reflexives wesenhaft selbstbeziiglich ist. Anders gesagt: Die Reflexion iiber das phanomenologisch Erfahrene, das bereits - sofern es sich nicht mehr auf dem Boden der »natiirlichen Einstellung« abspielt - eine kritische Einstellung voraussetzt, ist selbst zwar schon eine solche Kritik. Die Phanomenologie kann aber nur dann ihrer selbstgesetzten me tho dologischen Anforderung Geniige tun, wenn sie ihre Kritik des transzendentalen Bewusstseins selbst wieder einer Kritik unterwirft, also eine Kritik der Kritik oder (was das Gleiche besagt) eine Selbstkritik vollzieht. Diese Selbstkritik ist nicht ein methodologisches »Anhangsel« an die Phanomenologie, sondern steht unmittelbar im Dienste des Systemanspruchs, der nur durch eine solche Kritik geleistet, ja auch nur so in den Blick gerat. Nur die selbstkritische Methode kann den Horizont des Systems selbst in den Blick bekommen, und nur der Systemanspruch kann die methodologische Besinnung motivieren, in Gang setzen und »auf Linie halten«. Das war es, was oben andeutungsweise mit der gegenseitigen Abhangigkeit von Methode und System gemeint war. Die Selbstkritik leistet also letztendlich einen wesentlichen Beitrag zur Systematik des phanomenologischen Systems unter der Leitung des spezifisch phanomenologischen methodologischen Instrumentariums. Mit diesen Ausftihrungen wurde die eigentliche Zielsetzung der Selbstkritik noch im Formalen belassen. Wie gezeigt wurde, sind hier verschiedene Aufgabenstellungen moglich, die von der verfolgten Absicht einer solchen Selbstkritik abhangen. Husserl hat namlich in der Tat verschiedene Ziele verfolgt, die sich zunachst auBerlich an den verschiedenen, von Husserl beschrittenen Wegen in die Phanomenologie erkennen lassen. 1m nachsten Abschnitt sei Husserls erster Versuch einer phanomenologischen Selbstkritik vorgestellt. Wenn man die spatere Selbstkritik, die das eigendiche Thema dieser Untersuchung ist, verstehen will, muss man die erste zumindest zur Kenntnis nehmen, urn zu begreifen, was fUr Husser! spaterhin bedeutsam wurde. Abgesehen davon ist die erste Selbstkritik ftir Husserl nie als »falsch« oder obsolet beurteilt worden, sondern behielt ftir ihn ihr Recht, auch wenn Husserls Interessen in andere Richtungen gelenkt wurden.
2.
Husserls erster Versuch der Selbstkritik: die apodiktische Reduktion (1922123)
Husserls erster Versuch einer Selbstkritik findet sich explizit in der Vorlesung von 1922123 »Einleitung in die Philosophie«.l0 Diese Vorlesung ist der Vorlaufer des bekannten Kollegs »Erste Philosophie« von 1923124; zeitweise hatte Husserl den 10
Ich mochte an dieser Stelle meinem friiheren Kollegen Berndt Goossens, dem Herausgeber dieser als Husserliana xxxv edierten Vorlesung, herzlich danken fUr sein groBziigiges Zur-VerfUgung-
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Plan, beide » Fundamentalvorlesungen « gemeinsam in seinem Jahrbuch zu verOffentlichen; hierzu kam es jedoch nie, wohl weniger, weil Husserl mit dem in diesen Vorlesungen Geleisteten nicht mehr zufrieden war, sondern weil seine Aufmerksamkeit von anderem in Beschlag genommen wurde. In jener Vorlesung von 1922123 vollzieht Husserl die phanomenologische Selbstkritik unter dem Titel der »apodiktischen Reduktion« bzw. »apodiktischen Kritik der transzendentalen Erfahrung«. Die Vorlesung im Ganzen ist, wie er am 23.8.1923 an Ingarden schreibt, »ein prinzipieller Entwurf zu einem System der Philo sophie im Sinne der Phanomenologie« (BW 3, 217). Obwohl diese Kritik in der Forschung weitgehend ignoriert worden ist,ll hat sie doch fUr Husserl eine groBe Bedeutung, auch wenn er spater nicht mehr auf sie zuriickgekommen ist, wenn man einmal von einer Anmerkung in FTL absieht (XVII, 295, Anm.). Die gangige Meinung in der Husserlforschung ist, dass Husserl die Selbstkritik nie durchgeftihrt habe. Diese Einschatzung ist offenkundig falsch; Husserl betont selbst in jener Anmerkung, dass die detzte Kritik« (ebd.) sich in der genannten Vorlesung findet. Richtig dagegen ist, dass Husserl auf die Selbstkritik in Form der apodiktischen Reduktion spater nicht mehr rekurriert hat, was aber nicht bedeutet, dass Husserl die friihere Selbstkritik ftir falsch bzw., was schlimmer ware, sie ftir erledig gehalten und nicht statt des sen unter anderem Titel und mit anderer Zielsetzung, eben losgelost vom cartesianischen Motiv, doch durchgeftihrt hatte. Dies zu zeigen ist die Aufgabe dieser Monographie. Die Motive hierftir sind klar herauszustellen. Urn aber die Aufgabe der spateren Selbstkritik, die unter dem Titel einer »Phanomenologie der Phanomenologie« steht, zu verstehen, ist es notig, zunachst den friiheren Ansatz kurz vorzustellen und gleichzeitig die Griinde daftir anzugeben, weshalb Husserl m. E. spater nicht mehr auf diesen zuriickkam und ihn, wenn auch nicht als falsch, so doch nicht mehr als grundsatzlich ansah. Der Hauptgrund, urn es mit einem Schlagwort zu sagen, lag in Husserls Unzufriedenheit mit dem cartesianischen Weg, sofern er die phanomenologische Reduktion unter dem Hauptaspekt der Letztbegriindung einfUhrte, der fUr ihn spater nicht mehr der grundlegende war. Die Vorlesung des Wintersemesters 1922123 ging aus Husserls an Pfingsten 1922 gehaltenen Londoner Vortrdgen hervor. In ihnen hatte sich Husserl ausdriicklich
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Stellen eines Vorabdrucks dieser Manuskripte und ftir den Einblick in seine Forschung im Zusammenhang mit dieser Edition. Fur eine Darstellung dieser sowohl philosophischen wie philologischen Zusammcnhange vgl. auch seine ausftihrliche und informative Einleitung des Herausgebers zu dies em Band der Husserliana sowie seinen Beitrag in Goossens 2000 spezifisch zum Problem einer "Kritik der Kritib. Ober die Selbstkritik spricht Landgrebe in seinem klassischen Aufsatz »Husserls Abschied vom Cartesianismus« (Landgrebe 1978. 187, Erstdruck 1962), wobei Landgrebe, der als Assistent Husserls die Vorlesung von 1922/23 im Auftrag Husserls transkribierte, gut vierzig Jahre spater kurioserweise behauptet, die Selbstkritik sei nie durchgeftihrt worden! Dieser Meinung schlieBt sich Kern an, wenn er davon spricht, dass die Selbstkritik »ad calendas graecas« verschoben wurde (Kern 1964, 202).
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zum Ziel gesetzt, eine systematische Darstellung der Phanomenologie im Aufriss zu geben. 12 Es ist hervorzuheben, dass erst in dieser Phase von Husserls Denken der Systemanspruch mit dem der Selbstkritik zusammengefUhrt wird. Auch wenn in den Londoner Vortragen, die spater in den Vorlesungstext der Wintervorlesung eingearbeitet wurden, nicht explizit von Selbstkritik die Rede ist, so ist doch in ihnen bereits Husserls Zielsetzung eindeutig, unter deren Leitung auch die Einleitungsvorlesung steht: Es geht ihm hier urn die bereits bei Descartes formulierten »Grundforderungen [... J der vollkommensten Rechtfertigung und die der Universalitat (unter Hinweis auf die Einheit der Vernunft als der einheitlichen QueUe aller moglichen Erkenntnisse)« (LV, 202), urn »allseitige und letzte Erkenntnisrechtfertigung« (LV, 203) und »absolute Erkenntnisbegriindung«13 durch Riickgang auf das apodiktische, unbezweifelbare ego cagito. Der hier unter klarer Leitung des cartesianischen Motivs beschrittene Weg in die Phanomenologie steht also unter dem Zeichen der Letztbegrundung. Dieser Weg steht fUr ultimative Begriindung allen Wissens und alIer Erkenntnis, auch und v. a. der positiv-wissenschaftlichen, auf dem letzten Fundament des ego cogito. Die Selbstkritik, die in diesem Rahmen durchgefUhrt wird, besteht nun in einer Kritik der transzendentalen Erfahrung hinsichtlich ihrer letztgerechtfertigten, apodiktisch unzweifelhaften Erkenntniselemente. Ais solche ist sie Kritik der transzendentalen Erkenntnis: Erkenntniskritik oder -theorie. Husserl sagt hieriiber spater in einem Brief yom 10.11.1925 an Ingarden riickblickend: »Natiirlich geh6rt Erkenntnistheorie als Theorie der Vernunft ganz und gar in die Transzendentalphilosophie hinein. Aber so wie diese in den )Ideen< behandelt ist, verbleibt sie auf einer Stufe der )h6heren< Naivitat: die Evidenz des Ego cogito und damit die Evidenz des Bodens egologischer reiner M6glichkeiten ist eine naive Evidenz, die der Kritik bedarf. Daher meine Scheidung zwischen phanomenologischer Reduktion schlechthin und )apodiktischer< Reduktion, Reduktion auf das Apodiktische. Das ist der Bereich der echten Erkenntnistheorie als radikaler Erkenntniskritik, die nur in phanomenologischer Reduktion zu leisten ist, also nicht etwa denkbar ware vor der Phanomenologie. Der erste systematische Versuch einer Ausftihrung bildet den Gesamtinhalt meiner vierstiindigen Wintervorlesungen 1922123.«
(BW 3, 228)
Die Selbstkritik oder Kritik der »hoheren« Naivitat prasentiert sich also als Kritik der transzendentalen Erfahrung. Sofern, wie erwahnt, das Erreichen des transzendentalen Erfahrungsfeldes den Bruch mit der natiirlichen Einstellung, die von diesem »Reich« noch nichts weiB, impliziert, fungiert die Selbstkritik auch unter dem Titel einer »Kritik der Kritik« als Kritik der naiven Evidenz der Phanomenologie Vgl. die Zusammenstellung der diesbeziiglichen Briefzitate in der Einleitung des Herausgebers, Berndt Goossens, in LV, 183-199. 13 V gl. hierzu xxxv, Beilage III, 374 If 12
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selbst. Sie ist eine Kritik der transzendentalen Erfahrung hinsichtlich der in der transzendentalen Eifahrung gegebenen Evidenzen, die allein als apodiktische Begriindungsprinzipien der absoluten Wissenschaft in Anspruch genommen werden konnen. Die apodiktische Reduktion sucht also nach apodiktischen Evidenzen innerhalb der transzendentalen Erfahrungssphare, was umgekehrt impliziert, dass nicht aIle transzendentalen Evidenzen apodiktisch sind. Hier bahnt sich erstmals eine Unterscheidung im Evidenzbegriff an, der erst im Laufe der Vorlesung zur Deutlichkeit gelangt, und zwar in apodiktische und adaquate Evidenz. 14 Adaquate Evidenz gibt zwar ein Phanomen in Evidenz, die sich zwar zumeist bewahrt, die aber prinzipiell falsifizierbar ist. Ais solche kann sie nicht zur absoluten Erkenntnisbegriindung dienen, da hierftir die Forderung unumstoBlicher, absolut giiltiger Evidenzen, die allein als letzte Prinzipien gel ten konnen, besteht. Demgegeniiber ist apodiktische Evidenz eine solche, bei der man a priori wissen kann, dass sie nicht falsifiziert werden kann, eben zunachst die Evidenz des ego cogito, aber nicht nur sie allein, da man es hierbei genau genommen mit einer egologischen, in sich systematisch gegliederten Erfahrungssphare zu tun hat. Husserl formuliert es folgendermaBen: »Diese phanomenologische Wahrnehmung ist absolut unaufhebbar, die Tatsache, dass sie erfasst, erfasst sie als eine apodiktisch evidente [... J. SO Wahrgenommenes zu leugnen, ist apodiktisch unmoglich. [... J Aber nun breitet sich der Bereich dieser apodiktischen Erfahrung alsbald endlos aus.« (xxxv, 69f.) Die »Endlosigkeit« ist durchaus wortlich zu nehmen - sofern es urn den Gesamtbestand potentiell zuganglicher transzendentaler Erfahrung geht -, schrankt sich aber, wie Husserl spater einsieht, gerade in der apodiktischen Kritik dieser transzendentalen evidenten Erfahrungssphare wieder auf klein ere, absolut gewisse Einheiten ein, iiber die man »nicht urn eine Haaresbreite [... J hinausgehen« darf (ebd., 73). Eine solche Einschrankung der phanomenologischen Kritik auf apodiktische Bestande innerhalb der transzendentalen Sphare ware in Husserls friiheren Darstellungen der Aufgabenstellung der transzendentalen Phanomenologie noch nicht denkbar gewesen. Wie Husserl bereits im Brief an Ingarden schreibt, empfindet er die »erste« Darstellung der transzendentalen Erfahrungssphare (in den Ideen) als »naiv«, wobei aber diese Naivitat ihrerseits eine hoherstufige ist, sofern die »erste Naivitat« die der natiirlichen Einstellung ist. Dieses Motiv wird auch in Husserls spateren Reflexionen zur Selbstkritik wiederkehren. Diese Naivitat der Phanomenologie selbst aber wird gewissermaBen erst hier, durch die Unterscheidung von adaquater und I4 V gl. xxxv, 63.
Hier deutet sich die Unterscheidung der beiden Evidenztypen an. So spricht Husser! zunachst noch davon, dass »wir [... j jetzt ebenso gut von adaquater wie von apodiktische Evidenz sprechen [kiinnenj
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apodiktischer Evidenz, »entdeckt«, sofern ein noch undifferenzierter Evidenzbegriff nur eine unzureichende Basis ftir letztgerechtfertigte Erkenntnisbegriindung ware. Die apodiktische Reduktion als Selbstkritik ist also genauer eine Prinzipienfindung letzter Griinde, die der Forderung nach letzter Erkenntnisrechtfertigung standhalten, urn damit Naivitat in letzter Instanz zu tiberwinden. Erste Aufgabe in der phanomenologischen »Kritik« im Sinne eines ersten Oberblicks tiber das transzendentale »Reich« ist, es tiber das »rein« Egologische hinaus zu erweitern, hiermit bereits den cartesianischen Ansatz »umgestaltend«, sofern auf diesem Wege zu verbleiben »hoffnungslos« (ebd., 74) ware. Alles, was als cogitatum einer cogitatio erfahrbar wird, ist Bestandteil des transzendentalen Erfahrungsbereichs und als solches in die Betrachtung und Erforschung mit einzubeziehen: »Erfahrung, Denken, begriffiiches pradikatives Urteilen, SchlieBen usw., aber auch Ftihlen, asthetisch und ethisch Werten, Wtinschen, Begehren, Wollen« (ebd., 82) etc. In der bloB en Beschreibung dieser Tatsachenspharen bliebe man aber in jener »hoheren Naivitat« stecken, sofern die bloBe »Oberschau « tiber das transzendental Erfahrbare unbektimmert ist urn die Art der Evidenz, in der sich jeweils das Erfahrene prasentiert. Man hat zwar, wie Husserl in einer spateren, selbstkritischen Anmerkung konstatiert, ein »Universum der Erfahrung, aber keine apodiktische Erfahrung [... ]. Es ist aber ein Manko, dass nicht von vornherein zwischen transzendental und apodiktisch geschieden worden war.« (ebd., 94, Anm. I) Es ist also eine Einschrankung notig auf die in apodiktischer Evidenz gegebenen Erfahrungsbestande - »Kann ich nicht absolut gewiss sein, so darf ich es tiberhaupt nicht in Anspruch nehmen [... ]« (ebd., 97) -, und so scheidet Husserl nun transzendentale und apodiktische Reduktion: »Wir werden in der Tat den Begriff der Reduktion vervielfaltigen mussen. Zunachst scheiden wir I. transzendentale Reduktion schlechthin als Reduktion auf die transzendentale Subjektivitat uberhaupt; 2. die apodiktische Reduktion, d. i. die Reduktion auf die transzendentale Subjektivitat, aber unter Einschrankung auf festgestellte Apodiktizitat.« (ebd., 98)15
Die» Feststellung« der Apodiktizitat in allen Regionen des transzendentalen Lebens ist das Programm der apodiktischen Reduktion als phanomenologischer Selbstkritik. Die apodiktische Reduktion ist also, obzwar eine Einschrankung auf die apodiktische Evidenz des ego cogito, doch keine reine Beschrankung auf ein »armselig[es]«
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Hierbei ist die »hbehst bedeutsame Aufweisung des Vollbereiehs dieser [transzendentalen, Sc.] Empirie und Verbundenheit alIer transzendentalen Einzelsubjektivitaten als Glieder eines Iehalls fUr uns nur eine Vorstufe fur apodiktisehe Reduktionen« (xxxv, II4). Also erst naeh einer - wenn aueh oberflachliehen - Ubersehau tiber das Gesamtgebiet transzendentalen Lebens kann mit der apodiktischen Reduktion innerhalb der transzendentalen Reduktion begonnen werden. Sie kommt also der transzendentalen Reduktion zwar zeitlich, aber nicht logisch nach, sofern die apodiktische Kritik systematisch die »an sich erste« ist.
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(ebd., 322) Ego, sondern eine Reduktion auf die apodiktisch evidenten Erfahrungsbestande, die, sofern »unser Interesse [... ] absolute Rechtfertigung sein will« (ebd., 106), in bestimmten, wenn auch nicht allen Regionen transzendentaler Erfahrung anzutreffen sind. Die apodiktische Reduktion stellt sich so auch dar als »Reinigung« der transzendentalen Erfahrungsbestande von ihren lediglich adaquat, aber nicht apodiktisch evidenten Elementen. Diese apodiktische Evidenzsphare muss nun ihrerseits Gegenstand einer transzendentalen (»apodiktischen«) Kritik sein. Am Beispiel der Zeitbewusstseins verdeutlicht Husserl zunachst die Extension der apodiktisch ausweisbaren Evidenzen. Sofern Retention und Protention zur Urimpression notwendig gehoren und dadurch erst ein genuines Zeitbewusstsein moglich wird, gehoren sie mit apodiktischer Gewissheit zum wesentlichen Bestand des Gegenwartsbewusstseins. Nach der Ausschaltung der nichtapodiktischen Elemente - etwa der noematischen Gehalte - »bleibt aber das [zeitliche] Feld, solange es im Blick ist, ein solches moglicher apodiktischer Evidenz« (ebd., 126). Doch ist dieser Evidenz eine Grenze gesetzt: »Freilich wird sich die Evidenz nicht endlos erhalten und auf gleicher Hohe erhalten, weil sie ja davon abhangt, ob ich wirklich jedes einzeln Ergriffene einzeln fur sich und in gleicher Bestimmtheit erhalte. Der Griff pflegt sich zu lockern, das Ergriffene kann der packenden Hand entfallen [ ... j. Jedenfalls, in gehorigen Grenzen hat alles so Erfasste und Gesetzte apodiktische Evidenz, und eigentlicher ist von ihr nur in der Feststellung und identischen Festhaltung bzw. der wiederholenden Identifizierung die Rede.« (ebd., 128f.)
Das Gleiche gilt auch fUr andere Erlebnisfelder, etwa die Wiedererinnerung: »Dass aber [ ... j Wiedererinnerung auch apodiktische Gehalte hat, ist ebenso zweifellos: dass ich eben ein Tongebilde gehort, eine Landschaft gesehen habe, und dass ich das Tongebilde, das ich (in) Wiedererinnerung habe, nicht irrigerweise setze, wo vielmehr eine Landschaftswahrnehmung abgelaufen ist u. dgl., ist absolut evident, und absolut evident ist dabei, dass ich eine Vergangenheit, ein Individuelles, ein Zcitliches habe von cinem gewissen allgemeinen Charakter >Landschaft< u. dgl.« (ebd., 136, Kurs. erg.)
Das so angedeutete Programm apodiktischer Reduktionen soil also auf aBe Regionen transzendentaler Erfahrung angewandt werden. Was man so erreicht, ist ein Kernbestand apodiktischer Wahrheiten innerhalb des groBeren Zusammenhangs der transzendentalen Erlebniswelt. Das ist der Zielpunkt der apodiktischen Reduktion: Man erhalt apodiktische Evidenzen, die allein in Anspruch genommen werden konnen, um ein letztgerechtfertigtes und -begriindetes System der Wissenschaft zu bauen, und zwar durchaus nach dem cartesianischen Modell des Mutterbaums der Erkenntnis, von dem sich die Zweige der Einzelwisscnschaften abzweigen (vgl. LV, 248f.). Das Ziel dieser Selbstkritik als die Feststellung apodiktischer Evidenzen ist, wenn man will, eine »Reduktion der Reduktion« auf unumstoBliche Pfeiler, auf
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denen das Gebaude der Wissenschaft errichtet werden kann. - Obwohl man also nicht mehr streng in der Art Descartes' vorgeht im Sinne einer Bezweiflung alles Seienden auGer dem Ego, das zweifelt - das apodiktische Ego ist I. ein transzendentales und kein mundanes Ego und 2. ein transzendentales Erfahrungsfeld und kein inhaltsleerer reiner Ego-Pol-, bleibt doch dieser Weg prinzipiell dem cartesianischen Modell verhaftet, sofern es urn Letztbegriindung und letzte Grundlegung allen Wissens auf einem apodiktischen Fundament geht. Es ist wichtig zu betonen, dass Husserl noch im Schlusswort der Cartesianischen Meditationen von 193 I auf die Notwendigkeit der »weitere[n] und letzte[n] Problematik der Phanomenologie [... ], die Problematik ihrer Selbstkritik in Absicht auf die Bestimmung von Umfang und Grenzen, aber auch Modi der Apodiktizitat« (I, 177) hinweist. Auch wenn Husserl anscheinend noch bis in die spaten 20er Jahre hinein die Einleitungsvorlesung iiberarbeitet hat, fUhrt er jedoch die Selbstkritik hier und auch in den Umarbeitungsentwiirfen ftir die Cartesianischen Meditationen ab 1930 nicht (erneut) durch, und sie wird auch in den Forschungsmanuskripten der 30er Jahre nicht mehr behandelt. Dies scheint zwar merkwiirdig, wird aber doch etwas abgemildert, wenn man bedenkt, dass Husserl die Selbstkritik im Wesentlichen als fUr durchgefUhrt erachtet hat, wie aus der erwahnten Anmerkung in FTL von 1929 hervorgeht. Husserl ist also in der Tat auf die Selbstkritik nicht mehr »zuriickgekommen«, dass er sie aber ftir obsolet oder gar problematisch gehalten hatte, davon kann keine Rede sein. 1m Gegenteil muss die apodiktische Reduktion als eine der strengsten »BeweisfUhrungen« angesehen werden, die Husserl im Rahmen der transzendentalen Phanomenologie vorgelegt hat. Dennoch bleibt sie eine Episode in Husserls Spatwerk. Abgesehenjedoch von einer kritischen Einschatzung des cartesianischen Ansatzes, der fUr sich selbst nicht per se falsch sein muss und den Husserl bis zuletzt als »richtig« ansah, kann sich der Leser der Einleitungsvorlesung doch eines Verdachts nicht erwehren, der sich artikuliert in der einfachen Frage: »War das alles?« 1st die groGangekiindigte Selbstkritik am Ende nicht mehr als ein sublimierter Cartesianismus, auch wenn Husserl sich immer sogleich bemiiht zu betonen, dass sein Konzept des Ego nicht nur nichts mehr mit Descartes zu tun hat, sondern sogar »fast den ganzen bekannten Lehrgehalt der Cartesianischen Philosophie« ablehnt (I, 43) (wenn auch »gerade durch die radikale Entfaltung Cartesianischer Motive«, ebd.)? Wenn die apodiktische Reduktion als Selbstkritik nicht mehr als einen kleinen, wenn auch wichtigen, Erfahrungsbestand aus dem Reich der transzendentalen Erfahrung - und dieses eroffnet zu haben, rechnet sich Husserl ja immer besonders an - »herausschalt«, kann man sich zu Recht fragen, was der ganze AutWand solI und wozu er letztlich dienen kann, wenn nicht dazu, die urspriingliche Konzeption der Reduktion aus den Ideen zu zementieren. Das ganze, mit soviel AufWand eroffnete transzendentale Seinsall wird letztlich doch wieder aufkleinere Einheiten eingeschrankt und die eigentliche transzendentale Forschung in den Rang einer naiven transzendentalen Empirie zuriickversetzt. Zwar gibt sich Husserl nie mit
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dem Zustand einer transzendentalen Naivitat zufrieden, aber es fragt sich, ob nicht selbst nach der apodiktischen Kritik eine letzte, unaufgeklarte Naivitat ubrig bleibt. Die apodiktische Kritik kann anscheinend nicht das letzte Wort im Rahmen der Methodik der transzendentalen Phanomenologie sein. Moglicherweise hat Husserl das selbst gemerkt, ohne es sich offen einzugestehen. Husserls spatere Oberlegungen zur Selbstkritik sind keine Widerlegung der apodiktischen Kritik, sondern Ergebnis einer Veyschiebung seines InteYesses, was nicht aus einer Fehlerhaftigkeit oder gar Aporetik der apodiktischen Kritik motiviert ist, sondern aus der Einsicht in deren Begrenztheit und eingeschrankte Leistungsfahigkeit: Nicht ein integraler Fehler, sondern vielmehr die implizierte Vorzeichnung der Tragweite der so konzipierten »Kritik der Kritik« lasst bestimmte Elemente der Tatigkeit der Phanomenologie unthematisiert, und zwar aus wesenhaften Grunden. Wie Husserls spatere Selbstkritik als »Phanomenologie der Phanomenologie« konzipiert ist, wird im folgenden Abschnitt erlautert.
3. Dey neue Ansatz: »Phiinomenologie der Phiinomenologie « als Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers Wann genau Husserls Interesse sich von der apodiktischen Selbstkritik loste und anderem zuwandte, ist nicht genau zu datieren und auch sachlich fUr das Folgende nicht entscheidend. 16 Wichtiger ist es, auf die Auslassungen und den wesentlichen» blinden Fleck« im ersten Versuch einer Selbstkritik hinzuweisen. Hierbei ist wichtig, dass dieses nicht eigens thematisierte Element bereits in der Kritik an der
16 Womoglich stelIt die gescheiterte Zusammenarbeit mit Heidegger fUr den Encyclopedia Brittanica-
Artikel einen solchen Einschnitt dar. Aus Heideggers kritischen Bemerkungen wird noch zitiert werden. Es ist weiterhin zu betonen, dass die landgrebesche These vom »Abschied vom Cartesianismus«, welcher sich gewissermaBen hinter Husserls Riicken in der Vorlesung Erste Philosophie von 1923124 ereignet haben solI, als »Abschied von maBgeblichen Traditionen des neuzeitlichen Denkens und der Aufbruch auf einen neuen Boden denkender Besinnung« (Landgrebe 1978, 164), nur verstandlich ist vor dem Hintergrund des v. a. in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg vorherrschenden heideggerschen Denkcns und nicht den geringsten Anhalt in Husserls Texten hat. Vgl. hierzu den Bericht Gadamers iiber die Phanomenologie in der Nachkriegszeit (Gadamer 1995, II3): »Sie aile [die Heidegger-Schiiler Fink, Gurwitsch, Biemel, Landgrebe] versuchten, das Gemeinsame zwischen Husserl und Heidegger moglichst stark herauszuarbeiten und den Gegensatz, den man aus politischen Griinden furchtbar gem gesehen hatte, als solchen nicht fUr haltbar zu befinden. Und wie sie das taten! Nicht etwa indem sie zeigten, daB Heidegger ganz aufHusserl fuBe, sondern umgekehrt, daB Husserls philosophische Gedanken in seinen spateren Jahren doch ganz nah an Heidegger herangekommen seien. Es gibt einen Aufsatz von Ludwig Landgrebe, den ich noch selber in der 'Philosophischen Rundschau< gedruckt habe, der den Titel tragt: ,Abschied vom Cartesianismus< [sic!]. Da wolIte Landgrebe zeigen, daB Husserl in Wahrheit die cartesianische Ausgangsposition, die er immer wieder durch seinen Riickgang auf das transzendentale Ich betont hatte, am Ende, in der Konsequenz seines eigenen Denkens iiber Zeit und ZeitbewuBtscin, verlassen habe und in die gleiche Richtung des Denkens gegangen sei wie Heidegger.«
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hoheren Naivitat der Phanomenologie zur Sprache kommt - und auch erst hier zur Sprache kommen kann -, ohne aber eigens zum Thema der Untersuchung zu werden: Das ist der unbeteiligte Zuschauer se!bst. 17 Die erste transzendentale Forschung als Kritik des transzendentalen Erfahrungsfe!des weiB noch nichts von diesem Zuschauer bzw. macht ihn nicht zum Problem. Seine »Etablierung«, die sich bereits in der Einleitungsvorlesung ereignet,18 ist jedoch bereits ein Schritt tiber die transzendentale Naivitat hinaus, sofern das zunachst anonyme Forscher-Ich hier als »uninteressierter Zuschauer«, der sich das transzendentale Leben vorurteils- und interesse!os ansieht und vorstellig macht, auftritt. Wahrend die apodiktische Kritik die apodiktischen Bestande transzendentaler Erfahrung untersucht, bleibt j edoch dieser Zuschauer se!bst und sein ihm eigenes Erfahren unthematisiert. Es wurden bisher zwar die Erfahrungsgehalte (die adaquaten wie die apodiktischen) innerhalb der transzendentalen Sphare untersucht, nicht aber die Erfahrungsweisen derse!ben durch die erfahrende Instanz. Diese ist der notwendig blinde Fleck im transzendentalen Leben, da das thematisierende Ego immer notwendig fUr sich selbst unthematisch (»latent«) bleibt, sofern es seiner Forschung »geradehin« hingegeben ist. Diese Reflexion unter dem Tite! »Phanomenologie der Phanomenologie« (XXXIV, 176)19 steHt sich also dar als »Phanomenologie der hoheren Stufe, welche das phanomenologisierende Ich und sein Leben berticksichtigt.« (ebd.) Was kann das bedeuten? Die apodiktische Kritik war bereits eine Kritik an der ersten Naivitat der transzendentalen »Empirie«, da in dieser die Art der Erfahrung und dessen, was sich in ihr in Evidenz gibt, nicht eigens hinterfragt wurde. Die Kritik der naiven
17 Der »unbeteiligte Zuschauer« hat seine Herkunft aus der Denkfigur des »werdcnden Philosophen«, wie er erstmals in pointierter Weise in den Londoner Vortragen und der Einleitungsvorlesung zur Sprache kommt. Der werdende Philosoph ist derjenige, der die Selbst- und Letztverantwortungsidee der Philo sophie in sich selbst und seinen eigenen Evidenzen erkennt und hier zu rechtfertigen sucht und damit ein ethisches, genauer »erkenntnisethisches« Ideal verwirklicht. Vgl. hierzu xxxv, 341, sowie die Einleitung des Hrsg. zu den LV (LV, 186-189). Erst von hier ist die Genese des »unbeteiligten Zuschauers«, der im Spatwerk ein Eigenleben annimmt, zu verstehen. 18 Vgl. auch LV, 215, s. ebenso Anm. 5, 253. 19 Bisher ist man in der Forschungweitgehend davon ausgegangen, dass der Begriff»Phanomcnologie der Phanomenologie« eine von Fink in die husserlsche Phanomenologie hereingetragene, im Wcsentlichen unhusserlsche Konzeption ist. Das Zitat sowie der weiter unten zitierte Passus sollen verdeutlichen, dass der Begriff wie auch das Konzept sich auch bei Husserl findet und, wie man sehen kann, durchaus in Konsequenz mit seiner Konzeption einer Selbstkritik. Ob eine Beeinflussung durch Fink vorliegt, ist hierbei nicht ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich, da eine solehe Untersuchung bereits durch die »Kritik der Kritik« von 1922/23 vorgezeichnet ist. Vgl. auch den (undatierten) Entwurf einer Einleitung in die Phanomenologie in B I 38/170-171, wo Husser! als letzten (9.) Punkt dieses Gliederungsentwurfs »Phanomenologie der Phanomenologie« (B I 381r70b) nennt - wohlgemerkt nach Punkt 8, der die »Implikation der Monaden. Die h6herstufigen metaphysischen Probleme« (ebd.) behandelt. Wahrend also die apodiktische Sclbstkritik die »an sich erste Kritik« der transzendentalen Phanomenologie ist, so ist die »Phanomenologie der Phanomenologie« bei Husser! als abschlie13ende Metareflexion vorgesehen.
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Erfahrungsevidenzen im transzendentalen Bereich konnte bereits als Selbst-Kritik auftreten, sofern die naiv gewonnenen Evidenzen des Analytikers ihrerseits einer Kritik unterworfen wurden. Die Methode der Kritik, die als Kritik der phanomenologischen Erfahrung ihrerseits phanomenologisch vorgeht, sofern es immer noch urn Feststellung phanomenologischer (apodiktischer) Evidenzen geht, kann nun wiederum als naiv bezeichnet werden, sofern die Methode der Anschauung dieser Evidenz dUTCh den Phanomenologen selbst nicht kritisch hinterfragt wird. 20 Selbst bei der apodiktischen Kritik bleibt die phanomenologische Methode der Evidenz und des Zur-Evidenz-Bringens durch den phanomenologischen Blick unkritisch vorausgesetzt. Dieses Haben von Evidenz und der Vollzug des Evidentmachens ist aber die Tatigkeit des sog. unbeteiligten Zuschauers. Bei aller transzendentalen Erfahrungskritik blieb die Erfahrungsweise des Zuschauers selbst im Dunkeln. Zwar wurden bei jeglicher phanomenologischen Kritik die Erfahrungsbestande dieses Zuschauers thematisiert und einer Kritik unterzogen; dass die Erfahrungen aber die dieses Zuschauers sind und nur sein konnen, wurde als selbstverstandlich hingenommen. Auch sein Status als »unbeteiligter Zuschauer« und sein Verhaltnis zum Ich der natiidichen Einstellung blieb unberiicksichtigt. Hieraus ergibt sich also die Forderung einer Selbstkritik dieses Zuschauers, als Kritik der diesem Zuschauer eigenen Erfahrung, die nicht eo ipso unphanomenologisch vorzugehen braucht, aber die so beschriebene phanomenologische Erfahrungsart nicht unkritisch voraussetzen und verwenden darf. Die hoherstufige Selbstkritik als Kritik des unbeteiligten Zuschauers an sich selbst ist erst die eigentliche Selbstkritik der Phanomenologie, sofern hier die Methode und der Erkenntnisanspruch der Phanomenologie selbst zum Thema und weiterhin kritisch reflektiert (reflektierbar) werden. Erst indem (selbst-)kritisch iiber die durch die phanomenologische Methode gesetzten Grenzen hinausgegangen wird, kann man beanspruchen, die Phanomenologie und das von ihr Erforschte in einen wahrhaft kritischen Blick zu bekommen und wirkliche »letztgerechtfertigte« »Kritik der Vernunft« zu iiben. Dies ist nur moglich, indem man zur Phanomenologie und ihrer Methode eigens in Distanz tritt. Hussed hatte wohl selbst nicht gerne zugegeben, dass er jemals die Grenzen phanomenologischer Methode willentlich iiberschritten hatte, aber seine eigenen Denkanstrengungen, die ihn zuletzt in die Nahe spekulativer Philosophie ftihren, belehren nicht zuletzt ihn selbst eines Besseren. 21 Der Zuschauer und seine eigene Erfahrungs- und »Seins«-Art ist also das bei allem »Phanomenologisieren« Vorausgesetzte und wurcle als solches ein zunachst » blinder Fleck« cler Phanomenologie genannt. Es leuchtet unmittelbar ein, dass
20 Wenn Straker behauptet, »dass die KHirung und kritische Rechenschaftsablage auch ihrer eigenen Verfahrensweise mit phanomenologischen Mitteln zu leisten ist« (Straker 1978, 4), so macht sie genau diese Voraussetzung, die man als »transzendentale Naivitat« bezeichnen kannte. Vgl. hierzu auch Mertens 1996, 21 [If, insbes. 213, Anm. 60. 21 Vgl. hierzu meinen Beitrag in Luft 1999a.
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bei der eigenen Analyse seiner Erfahrungsart nicht eine absolute Erkenntnisbegriindung im Vordergrund steht; denn der Zuschauer, wenn er rur sich thematisch geworden ist, muss sich selbst in seiner Seins- und Erfahrungsweise nicht selbst noch einmal begriinden. Er steht vor dem Faktum seiner eigenen Existenz. Hat man dies hingenommen, kann es nur noch urn eine Frage der Auslegung, genauer der Selbst-Auslegung desjenigen gehen, der da Phanomenologie betreibt. Dies ist in keinster Weise eine Absage an das Programm der Letztbegriindung, sondern eine Fragestellung, die auf prinzipiell anderem Boden steht und ein anderes Ziel verfolgt. Erst durch die Selbstkritik des Zuschauers an sich selbst kann dieser Zuschauer das eigene Tun reflektieren und damit den Sinn und Zweck, aber auch die Grenzen seines vermeintlich lediglich theoretischen Tuns iiberschauen. 22 Diese Selbstkritik ist also nichts anderes als die systematische Konsequenz des Myov bLMvm als kritische Rechenschaftsabgabe des philosophischen Wissenschaftlers, worauf Husserl immer wieder gepocht hat. Sofern weiterhin die transzendentale Phanomenologie untrennbar mit ihrer Methode verkniipft ist, kann erst hierdurch eine Gesamtkonzeption der phanomenologischen Systematik gegeben werden, die nicht, als naiv verstandenes »System«, einfach einen Uberblick iiber die verschiedenen Forschungsregionen der Phanomenologie gibt (also bloB eine »Landkarte« erstellt), sondern die Phanomenologie selbst hinsichtlich ihrer Erkenntnis- und Wissensweise durch den Phanomenologen, aber auch beziiglich der wesentlichen Grenzen bzw. Schranken der Phanomenologie reflektiert. Es geht also, anders gesagt, nicht urn eine Systemgestaltung im Sinne der geographischen Metapher, sondern urn eine Reflexion auf den Systemcharakter, die Systematizitiit der Phanomenologie. Als solches kann die Analyse des Zuschauers durch sich selbst nichts anderes sein als eine Selbstauslegung, sofern der kritisch aufgekIarte Philosophierende prinzipiell aufkeine andere Instanz mehr angewiesen ist bzw. zuriickgreifen kann. Hier deutet sich eine, wenn man so will, hermeneutische Wende innerhalb der transzendentalen Phanomenologie an, sofern die Selbstkritik der Phanomenologie nicht in erster Linie das Ziel einer apodiktischen Erkenntnisbegriindung verfolgt, sondern, im allgemeinen Rahmen einer »Hermeneutik des Bewusstseinslebens« (XXVII, 177), wie Husserl die transzendentale Phanomenologie auch nennt, eine Auslegung auch derjenigen »Leistungen«, durch die die Phiinomenologie selbst »konstituiert« und eine Wissenschaft in der Welt wird, zum Ziel hat. So ist diese Selbstkritik auch eine Antwort auf die prinzipielle transzendentale Frage: »wie ist Phanomenologie als Wissenschaft moglich?«, anstatt der hiervon erst abgeleiteten (aber nicht abgetanen!) Frage, wie ihre Begriindung zu leisten ist und wo deren Fundamente zu suchen sind. 1st bereits die Formulierung »Hermeneutik des Bewusstseinslebens« deutlich eine Anspielung aufHeidegger,23 so kann man auch im Programm der Selbstkritik 22
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Vgl. XXXIV, 227, Z. 13 if Zur Erinnerung: Der Vortrag »Phanomenologie und Anthropologie« von 1931, den Husser! an
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des Zuschauers auf vermitteltem Wege den Einfluss Heideggers spiiren, welcher bekanntlich in der letzten philosophischen Auseinandersetzung mit Husserl mit groBem Nachdruck die Frage nach der »Existenzweise« der transzendentalen Subjektivitat und a fortiori des phanomenologischen Zuschauers stellte: »[ ... W]elches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich >Welt < konstituiert? [... J Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas u. seiend - obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen. [... J Welches ist die Seinsart dieses absoluten Ego - in welchem Sinne ist es dasselbe wie das je faktische Ich; in welchem Sinne nicht dasselbe?«24
Obwohl Husserl, soweit bekannt, auf diese Fragen zumindest unmittelbar keine Antworten hatte - Husserls »Antworten« auf Entgegnungen erfolgen meistens indirekt und aufUmwegen, zumal er sich wohl nicht immer die Tragweite der kritischen Einwande bewusst machte -, kann doch das Programm einer »Phanomenologie der Phanomenologie«, zumindest teilweise, als lange und vielfach gewundene Antwort auf diese kritischen Fragen aufgefasst werden, sofern hier der Zuschauer als Erfahrungsinstanz der transzendentalen Subjektivitat ausdriickliches Thema ist und seine eigentiirnliche »Seinsweise« gerechtfertigt werden solI. Dies wird umso deutlicher, als diese Fragen, wiederum auf verschlungenem Wege und auf vermittelte, teilweise bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Weise, von Husserls Assistent und Mitarbeiter Fink aufgegriffen und Husserl in den 30er Jahren erneut vorgelegt werden, was von diesem wohl nicht unbemerkt blieb. Das erklart die Vehemenz, mit der Husser! diese Fragen und Einwande zu widerlegen suchte, und sie konnen den Hintergrund erhellen, vor dem die Selbstkritik der Phanomenologie ftir Husserl in den 30er Jahren motiviert war. Diese Fragestellungen werden in Husserls Reflexionen dieser Zeit derrmach stets mit der Systematik der Phanomenologie verknupft. Es ist aber zu betonen - so sehr die heideggerschen Fragen ftir das Verstandnis des Programms der husserlschen Selbstkritik erhellend sind -, dass die Forderung nach einer Selbstkritik im Programm der Phanomenologie als kritischer und reflexiver Philosophie bereits bei Husser! immanent vorgezeichnet ist und eine Weiterentwicklung der kritisch-transzendentalen Fragestellung bedeutet, sofern die Phanomenologie mit der Forderung, auch ihre eigenen Voraussetzungen der Methode selbst zu hinterfragen, sich in der denkbar radikalsten Weise in Frage stellen und sich und ihre Grenzen reflektieren muss. Die Selbstkritik des phanomenologisierenden Zuschauers ist hierbei das nicht zu hintergehende Moment, urn jedwede Naivitat aufzuheben, indem die Phanomenologie kritisch hinterfragt und ihrerseits auf ihre mehreren Orten Deutschlands hielt und in dem die Wendung »Hermeneutik des Bewusstseinslebens« f:illt, war ausdriicklich als eine Entgegnung auf seine griiBten philosophischen »Antipoden« (vgl. BW III, 274) - Scheler und Heidegger - intendiert. 24 BW 4, I46, aus den Anlagen zum Brief Heideggers an Husser! vom 22.IO.I927.
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Vorurteile hin durchleuchtet wird. Naivitat ist daher ein Synonym fur Vorurteil. Ist es Ziel der transzendentalen Phanomenologie - wie dies in der Forderung nach der Epoche als Ausschaltung aller Vormeinungen und Voruberzeugungen zum Ausdruck kommt - alle Vorurteile zu uberwinden, so ist wiederum das Vorurteil der durch die Reduktion scheinbar erreichten absoluten Vorurteilslosigkeit kritisch zu refiektieren. Nicht auf die Aufweisung und Verabschiedung aller moglichen Vorurteile kommt es dabei an - das zu konnen, ist eben wiederum ein Vorurteil -, sondern darum, die Vorurteile als solche und was sie sind, und in ihrem »Recht«, zu durchschauen und zu verstehen und so eine groBtmogliche Selbsttransparenz hinsichtlich der noch unthematisierten (in Husserls Terminologie: »anonymen«) Elemente zu gewinnen. Dabei ist diese Tatigkeit des Phanomenologen nicht nur eine rein betrachtende, rezeptive, sondern sie ist durch die Radikalitat ihres Vorgehens eine »tatkraftige«, die eben aktiv dadurch eine Veranderung im Selbstverstandnis des aufgeklarten Bewusstseinslebens hervorruft. Diese »Veranderung« ist der eigentlich entscheidende »Import« der phanomenologischen Selbstkritik. Das ist, zunachst formal gesagt, das Programm einer »Phanomenologie der Phanomenologie«. In Husserls Worten: ii Ich als phiinomenologisierendes Ich bin das wissenschaftlich eingestelite, das wissenschaftlich denkende, theoretisierende, auf Grund einer Erfahrung, letztlich einer Wahrnehmung - eines wahrnehmenden Lebens in der Epoche. Und mein Thema bin wieder Ich in der Epoche - ich als Welt in Geltung habend, ich der Welt bewusst, in dem stromenden Weltwahrnehmen, Weltmeinen vielerlei Weise, und einheitlich in dem standig stromenden Gesamtbewusstsein, worin Welt fur mich ist, worin ich Mensch bin, als Mensch auf AuBenweit bezogen, in dieser Welt handelnd etc.
Dieses Ich ist das transzendentale Ich und es ist konkret als das im stromenden Bewusstseinsleben Seiende, stromend Welt bewusst Habende etc. - Aber dazu, zu der Konkretion dieses Ich und Ichlebens, gehort auch das phanomenologisierende Leben. Wenn ich als phanomenologisierender Zuschauer das konkrete transzendentale Ich thematisch machen und zunachst erfahrend, sogar apodiktisch erfahrend erkennen will, so miisste ich also wieder das phanomenologisierende Sein und Tun als Bestand meiner Transzendentalitat thematisch machen, und so in infinitum. Soli die transzendentale Phanomenologie einen >guten Sinn< haben, so muss dieser Regress seine Gutartigkeit erweisen und es muss moglich sein, in zwei Stufen der Methode Phanomenologie zu treiben. In der EinfUhrung der Epoche voliziehe ich eine reflektive Einsteliung, in der ich die transzendentalen Korrelata: ich als transzendentales Ego im Bewusstseinsleben, worin Welt bewusste ist, gewinne. Ich iibe nun naiv transzendentales Erfahren und Denken, und werde ich dessen selbst inne, so geschieht es, wie ich durch Reflexion sehe, in einer Reflexion hoherer Stufe, in der ich die Anonymitat des transzendentalen Zuschauers erfasse, in weiterer Reflexion diejenige des transzendentalen Zuschauers fUr diesen Zuschauer etc. Ich erkenne freilich, dass ich, ohne diese Anonymitat zu liiften, nicht das volikonkrete Ego gewinne, das ich in der Epoche
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bin. Schon die Einstellung der Epoche gehort mit dazu, sie wird selbst nicht in die Aufgabe der ersten Stufe eingestellt. Aber ich sehe zugleich, dass zur vollen Konkretion neben dem anonym Bleibenden das geradehin Erfasste gehort als fundierende Stufe, und dass durch alle phanomenologische Thematik der hoheren Stufe hindurchgeht die unterste Thematik des Weltbewusstseins geradehin. Ich sehe, dass dieses Hindurchgehen allerdings nicht eine ganz einfache Sache ist, dass jede Reflexion das Gesamtsein des Ego in seinem Leben modifiziert, aber dass diese Modifikation selbst thematisch werden kann als Modifikation und dazu notig ist, vorher das Unmodifizierte zu studieren, also die hoheren Reflexionen nicht ins Spiel zu setzen und ein mogliches Leben zu betrachten, ja zunachst es zu leben, in welchem ich nicht das Reflektieren iiber mein phanomenologisierendes Tun eingeftihrt habe. Im naiv-natiirlichen Leben und Mich-wissenschaftlich-Besinnen weiB ich, dass jedes solche Tun, ja jedes Handeln mein Leben andert und die Welt selbst andert, sofern von mir her, aus meiner Willkiir in der Welt etwas geworden ist, bzw. zugleich in me in em Leben (das ja auch in der Welt eine Tatsache ist), was vordem nicht da war. Phanomenologische Epoche iibend andere ich natiirlich mein eigenes Leben, zunachst gibt sich das als ein menschliches Tun wie ein anderes. Aber dann sehe ich, dass ich mein menschliches Sein und das Sein der Welt iiberstiegen habe und dass ich nun mein Weltbewusstsein als dasjenige erschaue, worin Welt ftir mich seiendgeltende ist mit all dem Inhalt, mit dem sie es jeweils ftir mich ist. Freilich ist die Einstellung der transzendentalen Epoche und die transzendentale Reduktion eine modifizierende. Ich sehe ja nicht mehr, lebe ja nicht mehr so in die vorgegebenen Welt hinein, wie ich es vordem tat. Aber es gilt die Evidenz zu erwecken, dass diese Umstellung nichts an der geltenden Welt andert und dass sie nur enthiillt, was in der Naivitat Annahme ist, aber standig gelebtes Leben, ohne das das Weltsein und (XXXIV, 176-78, von 1930) Weltleben nichts ware.«
Das Projekt einer Phanomenologie der Phanomenologie vorlaufig zusammenfassend kann man sagen, dass es hierbei urn die Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers hinsichtlich seiner ihm spezifischen Seins- und Funktionsweise geht, sofern er sich von dem abgelost hat, worin er sich immer schon befindet (dem »Unmodifizierten «): Das ist die natiirliche, vorphilosophische Welt in der Vollzugsweise der naturlichen Einstellung. So crgeben sich die beiden fundamentalen Lebensweisen der naturlichen und philosophischen (bzw. phiinomenologischen) Einstellung als die Brennpunkte, zwischen denen das Ich (im Sinne des Zickzack-Gangs) oszilliert. Inwiefern hierbei evtl. eine gewisse »dialektische« Struktur vorliegt, muss noch gezeigt werden. Hier kommen injedem Fall erstmals die Konturen einer phanomenologischen Systematik zum Vorschein; denn diese zu iiberschauen ist nur moglich durch die Kritik an der Tatigkeit dessen, der sein eigenes Tun und gleichzeitig seine eigenen Erkenntnisanspriiche und Erkenntnisinhalte reflektiert - im Verhaltnis zu dem, wovon er sich durch transzendentale Reduktion abgrenzt: Das ist die natiirliche Einstellung. 1m Reflektieren iiber die Weise, wie sich die phanomenologische
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mit der natiirlichen Einstellung in Beziehung setzt, ist letztlich auch die Reduktion vollendet; im Sinne des hermeneutischen Zirkels kommt die Besinnung wieder zu dem zurUck, wovon sie ausging, urn hierbei erneut das fundamentale Verhaltnis beider Seinsweisen aus einer hoheren Perspektive zu reflektieren. Sofern der Zuschauer ein mit Hilfe der phanomenologischen Methode erarbeitetes »Resultat« ist, leuchtet hier abermals die Verbindung zwischen Methodik und Systematik im Rahmen einer Selbstkritik ein. Anders gesagt: Das Projekt einer »Phanomenologie der Phanomenologie« muss nicht eo ipso wieder phanomenologisch im strengen Sinne des Wortes sein, sondern eroifnet erst die Moglichkeit, die phanomenologische Methode selbst wiederum selbstkritisch zu hinterfragen. Dass dies notwendig sein wiirde, urn die Phanomenologie erst eigentlich zu einer »Philosophie«, also ultimativ einer Metaphysik zu gestalten, war Husserl, wie aus seinen (wenigen) Systementwiirfen hervorgeht, selbst mehr als deutlich. Diese Aufgabe hatte fur ihn aber letztlich nicht die Absicht, die Phanomenologie zu iiberwinden, sondern sie erst zu einer wahrhaften Philosophie auszugestalten, die sich mit einem kritisch gelauterten methodologischen Instrumentarium erst eine allumfassende, universale philosophische Methode erarbeiten konnte. Durch diese Kritik soUte die Phanomenologie als phanomenologische Philosophie erst in ihrem Eigenrecht konsolidiert werden, indem sie und das, was sie wesenhaft nicht ist, gemeinsam mitreflektiert wird. Dass eine groBangelegte Systematik zu entwerfen und auszufuhren nicht zu seinen Starken gehorte, gab Husserl selbst zu. So ist es nicht iiberraschend, dass er sich hierzu jemanden zu Hilfe nahm, der fur diese Aufgabe in besonderem MaBe begabt schien: Dies war Husserls letzter Assistent Eugen Fink. Hatten schon die Mitarbeiter vor ihm - Stein und Landgrebe - die Aufgabe, Manuskripte des Meisters auszuarbeiten und systematisch zu ordnen, so stellt doch das Verhaltnis Husserls mit seinem letzten Assistenten eine Zusammenarbcit besonderer Art dar. Auf dieses solI hier nur kurz eingegangen werden. 25
4. Zum Verhaltnis von Husser! und Fink Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Fink fur Husserl mehr darsteUte als einen bloBen Arbeitsassistenten. In der Zeit des Naziregimes in Deutschland, die Husserls letzte Lebensjahre iiberschattete, war Fink einer der wenigen, die noch zum Philosophenjiidischer Herkunft hielten - und dadurch selbst unter Repressalien zu leiden hatte, die seine Karriere als Universitatsprofessor vorerst unmoglich machten. 26 Aber auch und v. a. philosophisch genoss Fink bei Husserl auBerordentlich 25 26
Naheres zum Verhaltnis von Husser! und Fink findet sich zu Beginn des 3. Kapitels, unten, 143 If. Fink schreibt in seinem Lebenslauf am 18. Dezember 1945 (im Rahmen seines Habilitationsverfahrens): »Von Husser! ermutigt und von innerster Neigung getrieben bereitete ich mich in
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groBe Wertschatzung. Sogleich nach seiner Promotion (mit einer preisgekronten, imJahrbuch veroffentlichten Arbeit) avancierte Fink zu Husserls personlichem Assistenten, wobei Husserl sehr schnell das philosophische Talent des Schiilers erkannte und ihn selbstandig an Projekten arbeiten lieB. Fink wurde, was die taglichen Gesprache anging, zum philosophischen Resonanzboden fUr Husserl, und dies zunehmend in der Zeit ab 1933, als Husserl zunehmend isoliert wurde. Husserls Wertschatzung fUr Fink nimmt, v. a. in Briefen an Dritte, mitunter geradezu hymnische Formen an, und Fink wird bald, sowohl was das tagliche Philosophieren als auch die Arbeiten am Projekt einer phanomenologischen Grundschrift anlangen, fUr Husserl unentbehrlich. Wahrend Husserls philosophisches Talent nicht in besonderem MaBe geeignet war zum groBen systematischen Uberblick, so lag hierin, wie Husserl bemerkte, Finks vorziigliche Begabung,27 Es nimmt also nicht Wunder, dass Husserl die Aufgabe, den Grundriss eines phanomenologischen Systems zu erarbeiten, an Fink iibertrug, da dieser nicht nur einen einzigartigen Uberblick iiber Husserls unveroffentlichtes Werk hatte, sondern auch durch den taglichen Umgang mit ihm iiber neuere Einsichten und Entwicklungen seines Denkens informiert war. Finks erste Assistenzaufgabe war etwa neb en erwahntem Systementwurf u. a. ein Einleitungsversuch ins groBe systematische Werk. Dazu kommt, dass in der Zeit, in der Fink Assistent bei Husserl wurde, dieser gerade zwischen zwei Projekten schwankte, die beide auf je ihre Weise dem Systemanspruch in publikatorischer Form geniige tun sollten: Neben dem »groBen systematischen Werb spielte Husserl auch mit dem Gedanken, die Cartesianischen Meditationen, die ja nur in franzosischer Sprache erschienen waren, umzuarbeiten und sie in wesentlich erweiterter Form dem deutschen Publikum, das bereits besser mit seiner Philosophie vertraut war, zu prasentieren. 28 1m Rahmen des letzteren Projekts ergab sich die nahe liegende Idee, die bestehenden ftinf Meditationen, in Analogie zu Descartes' Meditationes de prima philosophia, urn eine sechste Meditation zu erganzen, zumal die Cartesianischen Meditationen, wie zitiert, im Schlusswort mit der Forderung einer Selbstkritik der Phanomenologie endeten. Es bot sich also an, eine letzte, sechste Meditation dem Versuch einer umfassenden Systematik zu widmen, welche die Faden aufnimmt
dieser Zeit [der Zusammenarbeit mit Husser!, 1929-1938] auf die Habilitation vor. Die politische Entwicklung imJanuar 1933 machte allen meinen Planen und Hoffnungen einjahes Ende. Die als politisches Argernis betrachtete Zusammenarbeit mit dem wegen seiner jiidischen Abstammung verfemten Philosophen aufzugeben, war ich trotz mehrmaliger Aufforderung von amtlichen und Partei-Stellen nicht bereit. Die Folge war die Sperrung meines Stipendiums und die Verhinderung jeder sonstigen Erwerbstatigkeit und die mehrfach in Erscheinung getretene Uberwachung durch die Gestapo.« (Exemplar in Finks Personalakte in der Universitat Freiburg i.Br.) 27 Neben den Systementwiirfen zum Systematischen Werk (VI. cMh) lagern im Husser!-Archiv in Leuven noch weitere Systementwiirfe Finks zum »Zeitbuch« (unter der Signatur P I 3). 28 Zu Husser!s Publikationsplanen in den 30er Jahren vgl. die ausflihrliche Eriauterung dieser Vorgange in der Einleitung des Hrsg., Iso Kern, in xv.
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und zu einem systematischen Ganzen £licht. Auf diese Weise sollten die im Zuge der Arbeit an den Cartesianischen Meditationen begonnenen Vorarbeiten Husserls sowie Finks eigene Ideen zum systematischen Werk fruchtbar gemacht und fur die Publikation verwertet werden. Diese letzte Meditation sollte neben der phanomenologischen Selbstkritik also auch einen Durchblick durch die systematischen Horizonte leisten. Mit der Ausarbeitung dieser letzten Meditation wurde Fink ganz allein betraut. 29 1m Spatsommer 1932 verfasste Fink die sog. VI. Cartesianische Meditation, die er im Untertitel als »Entwurf einer transzendentalen Methodenlehre« bezeichnete, und legte sie sogleich Husserl zur Lektiire vor, welcher sie mehrmals aufmerksam las 30 und mit Z. T. umfangreichen Anmerkungen versah. In diesen Randbemerkungen, eingelegten N otizbIattern und im Anschluss an die Lektiire entstandenen Manuskripten artikuliert sich, wie Fink selbst - und, wie man nach Uberblick iiber Husserls Nachlassmanuskripte aus dieser Zeit sagen kann, zu Recht - betont, »das Prinzipiellste [... J, was Husserl iiber die Methodik und Systematik der Phanomenologie geauBert hat. «31 Fink hat diese Arbeit 1946 als Habilitationsschrift eingereicht, urn seine »kritische Ankniipfung« an Husserls Philosophie und den Willen, die »Husserltradition« in Freiburg zu wahren, zu dokumentieren. 32 Zu einer Veroffentlichung hat sich Fink jedoch nicht mehr zu Lebzeiten entschlieBen konnen, und so wurde dieses fur die Geschichte der Phanomenologie auBerordentlich wichtige Stiick philosophischer Selbstinterpretation und Zusammenarbeit erst 1988 veroffentlicht. Dabei zirkulierte die VI. Meditation bereits in den 30er Jahren unter einigen Schiilern Husserls und franzosischen Philosophen33 und wurde von allen als Dokument von groBter Bedeutung fUr das Verstandnis der husserlschen Philosophie und der Phanomenologie im Ganzen angesehen. Dass die VI. Meditation als Hauptdokument fUr die Verortung der phanomenologischen Selbstkritik angesehen wird, ist daher keine zufallige Wahl, sondern kann gerade fUr Husserls Stellungnahme zu diesem Problem als der zentrale Text gelten, - wenn auch zahlreiche weitere Nachlasstexte seine Position zwar unterstiitzen, aber doch keine eigentliche Ausarbeitung darstellen, auf die man eine Interpretation basieren konnte.
29 Zur Entstehungsgeschichte der
VI. CM
vgl. van Kerckhoven I989a sowie das Vorwort zur
VI. eM
(VI. eM, VI-XII).
30 Vgl. VI. eM, 225 f 3 I VI. eM, XI f., aus einem Brief Finks an Stephan Strasser, den Herausgeber der Cartesianischen Meditationen, vom I. I I. 1946. 32 V gl. den Brief an van Breda vom 26. 10.1946 (zitiert in VI. eM, XI): »Als Arbeit [= Habilitationsschrift] w:ihlte ich daher die von Husserl aufs Hochste autorisierte ['] >Sechste Meditation', obwohl ich bedelltendere Arbeiten liegen habe. Damit habe ich symbolisch zum Allsdruek gebracht, dass ich die Husserltradition allfnehmen will, nieht in orthodoxer Nachfolge, aber in der Fortftihrung der von Husser! empfangenen geistigen Impulse. « 33 Hierzu zahlen etwa G. Berger, M. Mer!eau-Ponty, A. Schiitz und D. Cairns.
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Wie ist nun die Zusammenarbeit von Husserl und Fink v. a. beziiglich der Arbeit an der VI. Meditation und iiberhaupt hinsichtlich der phanomenologischen Selbstkritik zu bewerten und interpretieren? Va. im Hinblick auf die friihere Selbstkritik ist auf den verbliiffenden Umstand hinzuweisen, dass weder Husserl noch Fink auf die apodiktische Reduktion rekurrieren. Abgesehen von Husserls besprochener Interessenverschiebung in Richtung auf eine Selbstkritik als Untersuchung des unbeteiligten Zuschauers ist es doch auffillig, dass auch bei Fink weder von der apodiktischen Reduktion noch von der Einleitungsvorlesung 1922123 in der VI. Meditation und an irgendeiner anderen Stelle die Rede ist. 34 Ober genauere Griinde hierftir kann man natiirlich nur spekulieren;35 so kCinnte man mutmaBen, dass Husserl seinen Assistenten anwies, die Selbstkritik in anderer Weise als bisher durchzuftihren - oder dass, umgekehrt, Fink Husserl ein anderes Vorgehen empfahl und bewusst die Eigeninitiative hierftir iibernehmen wollte. Fest steht jedoch, dass die als »transzendentale Methodenlehre« bezeichnete VI. Meditation im Vergleich mit friiheren methodologischen Reflexionen Husserls eine ganzlich andere Richtung einschIagt - ob nun mit oder gegen Husserls Einverstandnis. Dass etwas »ganz anderes« dabei herauskommt, ist hierbei jedoch das Entscheidende. Noch ohne eine Bewertung abzugeben, ist zu konstatieren, dass in der VI. Meditation ein neuer Zug in die Selbstkritik kommt und ein anderer Stil manifest wird, als man es aus Husserls bisherigen Analysen kennt. Die VI. Meditation ist inhaltlich eine genuine Schrift Finks, und die Differenz gegeniiber Husserl soli klar herausgestellt werden. Es ist bekannt, dass Finks spatere Entwicklung eine andere Richtung nahm. 36 Ohne in der VI. Meditation eine verborgene Antizipation der finkschen Spatphilosophie zu sehen - das herauszustellen ist Aufgabe der Fink-Experten -, muss man doch feststellen, dass sich mit dieser Schrift eine Differenz auftut, die mehr als nur einzelne Streitpunkte zwischen Husserl und seinem Assistenten betrifft. Sie artikulieren vielmehr eine ganze Phalanx von kritischen Einwanden und Fragen an die husserlsche Phanomenologie, deren sich Fink, der zu diesem Zeitpunkt noch
34 Dies gilt auch fur die in Finks Nachlass aufbewahrten Schriften dieser Zeit. Ich verdanke diese Information Frau Susanne Fink und Ronald Bruzina. 35 Dass Fink die friihere Selbstkritik nicht kannte, ist immerhin moglich, aber angesichts der Tatsache, dass Fink einen groBen Uberblick iiber Husseds unveroffentlichten Schriften hatte (zumindest was die Schriften iiber die Methode der phanol11enologischen Reduktion betra£) - und die Einleitungsvodesung lag z. T. sogar in maschinenschriftlicher Abschrift vor -, sehr unwahrscheinlich. 36 Vgl. Finks Brief an die Philosophische Fakultat in Freiburg yom I8.I2.I945 (zur Einleitung des Habilitationsverfahrens): »EinJahrzehnt engster wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Edmund Hussed bildet den Ausgang l11einer eigenen Forschungen, die sich unter starkel11 Einfluss der Gedankenwelt des Deutschen Idealisl11us und der ontologischen Fragestellung Martin Heideggers nm das Problem der l11etaphysischen Grundlegung der Wissenschaften bemiihen.« (Original in Finks Personalakte in der Universitat Freiburg) Mit diesen knappen Worten hat Fink sehr treffend seinen Entwicklungsgang beschrieben und den weiteren Gang seiner philosophischen Bemiihungen antizipiert.
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sehr jung war,37 moglicherweise selbst nicht immer im Klaren war. Neben dem bereits erwahnten Heidegger spielen sehr stark v. a. noch spekulative Gedankenfiguren in der Tradition des Deutschen Idealismus hinein, mit welchem sich Fink bereits damals intensiv beschaftigte. Wenn es auch offen bleiben so11, inwiefern sich in dieser fiiihen Schrift Finks spatere Entwicklung bereits (evtl. in noch dunkler Weise) abzeichnet, so heiBt das umgekehrt, dass in diesem Text seine philosophische Unreife - ungeachtet seiner genialen Einfa11e - deutlich zum Ausdruck kommt. Es ware daher geradezu unfair, wollte man diese Schrift fur eine starke, eigenstandige Position zu Grunde legen und sie gegen Husserl ins Feld fUhren; denn fUr einen eigenen philosophischen Standpunkt tragt die VI. Meditation nicht. Zu sehr ist sie durch den Charakter des Vorlaufigen bestimmt, zu haufig sind die Wiederholungen und die Verweise »ad calendas graecas«, den en man immer wieder ein »hie Rhodus, hie salta!« entgegenrufen mochte. Die VI. Meditation hat im Grunde genommen den Charakter eines ausformulierten Thesenpapiers. Es ergibt vielmehr Sinn - und diese methodische Maxime wird hier lei tend sein -, beziiglich der VI. Meditation von einerJruehtbaren Provokation gegeniiber der husserlschen transzendentalen Ph anomenologie zu sprechen, einer Herausforderung, die in vielen Punkten kreativ und inspirierend ist, aber letztlich doch mit vielen philosophischen Mangeln - bei gleichzeitiger Hochachtung vor dem groBen, wenn doch noch nicht voll entwickelten Talent ihres Autors - behaftet ist. Ihre Starke liegt in der Tatsache, dass sich Husserl hierdurch zu AuBerungen getrieben sah, die seine Position starker akzentuieren und profilieren, sei es, dass er sie durch Fink falsch dargestellt sieht und wieder behutsam zurechtriicken will, sei es, dass ihn provokante AuBerungen so zum Widerspruch reizen, dass er sich breiter dariiber auslasst, hierbei neue und iiberraschende Wendungen und Ergebnisse erzielend. Die VI. Meditation ist und bleibt damit ein »genialer« Text in der Doppeldeutigkeit des Wortes, die Husserl ihm selbst beizulegen pflegte. Aber nochmals sei betont, wie Fink es selbst klar erkannte: Die AuBerungen Husserls im Zusammenhang mit der VI. Meditation gehoren zum Wichtigsten, was Husserl iiber die hier zentralen Themen, Methodik und Systematik, im Hinblick auf eine phanomenologische Selbstkritik verfasst hat. Und man muss es sagen: Zu einem eigenen Entwurf einer solchen Selbstkritik hat es Husserl nicht gebracht, sondern sich immer wieder, sei es kritisch oder gelegentlich auch zustimmend, auf die VI. Meditation bezogen. Die Einbeziehung dieses Dokumentes und die Auseinandersetzung Husserls mit Fink ist in diesem Zusammenhang nicht nur nahe gelegt, sondern gefordert. Die Beschaftigung mit der finks chen VI. Meditation in der vorliegenden Monographie steht aber einzig im Dienste des Verstandnisses der Selbstkritik in Form von einer )) Phanomenologie der Phanomenologie« in der husserlschen Spatphilosophie.
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Fink wurde am
I1.I2.1905
geboren.
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5. Zum Forschungsstand Die starke Hervorhebung der Differenz zwischen Husser! und Fink formuliert gleichzeitig die Interpretationsmaxime dieser Untersuchung. Es ist zu betonen, dass sich diese Perspektive in den bisherigen Arbeiten zum Komplex »VI. Meditation« - soweit ich sehe - selten bis iiberhaupt nicht findet. In welcher Weise hat die Forschung auf dieses Dokument reagiert? Man kann hier einige Interpretationsrichtungen formulieren: 1. Die erste Gruppe, die sich mit dem Komplex » VI. Meditation «, bereits vor ihrem Erscheinen, auseinandergesetzt hat, kann man als »Finkianer« bezeichnen. Ohne hier von einer Orthodoxie reden zu wollen, so kann man doch sagen, dass ihr Interpretationsstandpunkt deljenige war, die VI. Meditation in erster Linie aus der Perspektive Finks zu lesen. Husserl fungiert hier lediglich als Grundlage fur die Entwicklung der fmkschen Philo sophie oder »der« Phanomenologie, sofern hiermit eine Disziplin gemeint ist, die weder Husserls noch Finks noch sonst jemandes ist. So verdienstvoll diese Arbeiten zum Verstandnis der finkschen Philosophie sind, so halten sie sich aber auch weitestgehend im Rahmen seines Denkens, ohne immer den Anhalt bei Husser! oder, z. T., an den Sachen selbst zu suchen, und geben sich mitunter einer etwas kritiklosen Begeisterung hin. Diese Lesart solI nicht weiter kritisiert werden und hat fur das Verstandnis des finks chen Denkens ihr eigenes Verdienst. Warum sie aber fur den vorstehenden Kontext eher zu vernachIassigen ist, liegt darin, dass die finksche Ausrichtung auch die erwahnte, wohl unvermeidliche Tendenz hat, diese fruhe Schrift aus der Position des spateren Fink zu lesen und in ihr Keime der spateren Philosophie zu finden. Hierbei wird mitunter iibersehen, dass die wichtigsten Voraussetzungen des finkschen Denkens urn 1930 von Husserl stammen. Dennoch sollen die hier relevanten Forschungsergebnisse an geeigneter Stelle zu Wort kommen.
Die zweite Gruppe, die die VI. Meditation in ihren Arbeiten rezipiert hat, kann man als »gemaBigte Husserlianer« bezeichnen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie anscheinend keine methodischen Probleme damit haben, die VI. Meditation, die ja immerhin eine genuin finksche Schrift ist, in Husserls Philo sophie zu integrieren und daraus zu zitieren, als sprache hierin der Meister selbst. Man kann sich hierfur auf viele AuBerungen Husserls stiitzen, worin er seinem Musterschiiler nicht nur ein philosophisches Giitesiegel ausstellt, sondern ihm auch attestiert, ganz in seinem Sinne reden zu konnen. In vielen Fallen, das sei betont, ist eine solche Lesart sinnvoll und richtig; viele Formulierungen Finks in der VI. Meditation und in anderen Schriften aus dieser Zeit sind im Sinne der husserlschen Position unproblematisch und zeichnen sich sogar durch eine pragnante, pointierte Formulierungsgabe aus, die Husserl selbst nicht immer besaB. Hierbei werden aber die Differenzen zwischen 2.
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Husserl und Fink, die sich nicht zuletzt am deutlichsten in der VI. Meditation manifestieren, schlichtweg iibersehen. 1m finks chen Text und in Husserls Reaktion darauf kommt es nicht selten geradezu zur Kollision. So erhellend manche FinkPas sagen fur die husserlsche Phanomenologie sind, so sehr sind diese auch mit Vorsicht zu genieBen, und wer die finkschen Ausfuhrungen unbesehen fur Husserls Position iibernimmt, macht sich von vornherein blind fUr Differenzen, die ein wachsames Auge erkennen muss. 3. Die dritte Gruppe kann man als die eigentlichen »Husserlianer« bezeichnen, die die VI. Meditation Finks weitgehend ignorieren oder, sofern doch eine Diskussion stattfand, sie fUr so misslungen und unhusserlsch halten, dass sie eigentlich keiner Diskussion fur wiirdig erachtet wird. So sehr auch, wie gesagt, die VI. Meditation darstellerische und sachliche Mangeln enthalt, so wiirde man ihr doch in dieser Hinsicht Unrecht tun; denn Husserl selbst erachtete sie fur wichtig und befand sie fur wert, sich mit ihr ausfUhrlich auseinander zu setzen. Und in der Tat liegt hierin auch ihre maBgebliche Qualitat: dass sie Husserl provozierte und in gewissen Fragen, wo er selbst eine gewisse Naivitat an den Tag legte, aufriittelte und ihn zu erneuten Oberlegungen anregte. Wer sich mit Husserls Spatphilosophie im Hinblick auf die Selbstkritik oder im weiteren Sinne Methodik beschaftigt, wird Husserls Auseinandersetzung mit Fink nicht ignorieren ki::innen. Diese Einteilung ist bewusst schematisch. Es versteht sich von selbst, dass hiermit keiner der verdienstvollen Arbeiten zu diesem Themenkomplex prinzipiell widersprochen werden soil, sofern sie aile aufihre Weise einen Beitrag zum systematischen Verstandnis der transzendentalen Phanomenologie leisten. Generell aber gilt: Die Arbeiten zum Komplex »Fink - VI. Meditation« sind nach wie vor in der Husserlforschung verhaltnismaBig sparlich. 38 Eine umfassende Wiirdigung der in der VI. Meditation behandelten Problematik aus der Perspektive Husserls, in Zusammenschau mit Husserls Nachlassmanuskripten zu diesem Thema, steht noch aus, und diese Monographie solI dazu beitragen, diese Forschungsliicke zu fUllen. Hierbei erwies sich die Betonung der Differenz beider als besonders hilfreich, urn Husserls Position im Kontrast zur finkschen Kritik herauszuarbeiten.
38 Hierzu zahlen hauptsachlich die Beitrage von Bernet, Kersten, Kuster, Mertens, Hart, Sepp, Zahavi und Waldenfels, die hier noch zu Wort kommen werden. V gl. neuerdings auch Crowell, der die VI. Meditation und den finkschen Ansatz eher kritisch beurteilt: » We should refuse Fink's dialectical absolute and steer clear of the transcendental illusion contained in moving beyond intuition to construction, even if that seems to condemn phenomenology to silence on questions of historical, cosmological, or psychological totalities.« (Crowell 2001, 263)
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6. Kapiteliibersicht Die einzelnen Kapitel seien kurz in Hinblick aufihre systematische SteHung im Rahmen der Aufgabenstellung der phanomenologischen Systematik und Selbstkritik iiberblickshaft dargestellt. Sofern die Selbstkritik den sog. unbeteiligten Zuschauer thematisiert hinsichtlich seines» Phanomenologisierens«, so setzt dies voraus, dass er sich von der ))Situation«, in der er als Mensch zunachst lebt, distanziert hat. In Husserls Terminologie: Die Etablierung der phanomenologischen Einstellung setzt einen Bruch mit der natiirlichen Einstellung voraus. Sofern spaterhin die phanomenologisierende Tatigkeit in ihrer spezifischen Eigentiimlichkeit untersucht werden solI, wird diese Bestimmung nicht anders moglich sein als durch eine Gegeniiberstellung und Kontrastierung mit dem, was sie wesenhaft nicht ist. Urn also den besonderen Charakter der phanomenologischen Einstellung fassen zu konnen, ist es hilfreich und gar geboten, zunachst das, was ihr Hadikal entgegengesetzt« ist, zu explizieren. 1m ersten Kapitel wird also eine systematische Rekonstruktion der natiirlichen Einstellung gegeben, die nach zwei Richtungen erfolgt: nach thematischer und methodischer Hinsicht. Hierbei wird Husserls reife Fassung der natiirlichen Einstellung zu Grunde gelegt, wie sie in genetischer und intersubjektiver Dimension zum Ausdruck kommt. Eine solche systematische Theorie der natiirlichen Einstellung ist m. W noch nicht unternommen worden, und sie wird hier auch nur in Grundziigen ausgefuhrt, urn aus ihr das methodische Problem der Notwendigkeit des Bruches mit ihr hervorgehen zu lassen. Eine solche urnfassende Darstellung steht noch aus, und sie ware ein notwendiges Bestandstiick einer von Husserl projektierten ))Ontologie der Lebenswelt«. Das zweite Kapitel beschaftigt sich zunachst mit dem Problem der ))Motivation fUr die Reduktion«. Dieses Thema iiberhaupt zum Problem gemacht zu haben, kann als Finks Verdienst angerechnet werden. Sofern Husserl, zumindest in seinen [ruhen Darstellungen der Reduktion, die Frage, ob die natiirliche Einstellung iiberhaupt verlassen werden kann, als Problem nicht einmal sieht, wirft die reife Konzeption der natiirlichen Einstellung selbst erstmals das Problem auf, dass die natiirliche Einstellung zu verlassen moglicherweise nicht so unproblematisch wie gedacht ist. Fink artikuliert erstmals dieses Dilemma und schlagt eine Moglichkeit vor, wie man aus der natiirlichen Einstellung als )) Ur- und Heimatsituation« herauskommen kann. Dieser Vorschlag wird von Husserl zuriickgewiesen, wobei Husserl selbst bei dieser Gelegenheit, gewissermaBen en passant, eine Moglichkeit formuliert, wie ein Bruch mit der ansonsten bruchlos erfahrenen natiirlichen Lebensweise moglich ist. Dieser Hinweis wird anhand von spateren Texten aus der Krisis-Zeit erlautert. Hierin wird erstmals die geschichtliche Perspektive eroffnet, die fur Husserls letzte Phase charakteristisch ist. Die weitere Diskussion motiviert und rekonstruiert den Weg zur phanomenologischen Selbstkritik anhand der Etablierung des unbeteiligten Zuschauers durch Hadikale« Reflexion. Als wesentlicher methodischer
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Vorgang hierbei wird die Ichspaltung aufgewiesen, die in verschiedenen Varianten auch im Rahmen der Selbstkritik wiederkehren wird. Hierbei unterscheidet Husserl die »natiirliche Reflexion« von der »radikalen «, phanomenologischen Reflexion, die das Ich in ein natiirliches und transzendentales Subjekt aufspaltet, hierbei, als »Spaltungsprodukt«, den unbeteiligten Zuschauer etablierend. Zum Ende des zweiten Kapitels wird gezeigt, wie das Problem der Ichspaltung zur vollen Etablierung des phanomenologisierenden Ich fUhrt und wie von dort die Forderung einer phanomenologischen Selbstkritik - als Kritik des Zuschauers an sich selbst und seinem eigenen Leisten - entsteht. Obwohl Husserl die Ichspaltung bereits urn 1923 im Kontext der transzendental-phanomenologischen Methode thematisiert, wird sie doch erst im Rahmen der spateren Selbstkritik wirklich ausgearbeitet. Wurden bis hierher - bis auf die kurze Passage im zweiten Kapitel - die Bemiihungen Finks nicht bemcksichtigt, so steht im dritten Kapitel die Architektonik der phanomenologischen Systematik im Zentrum, wie sie in der VI. Meditation ausgefUhrt wird. Vorgeschaltet ist eine methodische Betrachtung, worin die verschiedenen Interpretationsmaximen, wie Finks Arbeiten im Rahmen der husserlschen Philo sophie zu behandeln seien, diskutiert werden. Dieser kurze Methodenabschnitt erganzt und vertieft die Ausftihrungen unter Punkt 4 und 5 dieser Einleitung. Sofern Finks Arbeiten erst hier wirklich ins nahere Zentrum der Aufmerksamkeit mcken, ist es legitim, das philosophische Verhaltnis von Husserl und Fink erst an dieser Stelle sachlich zu diskutieren. Der erste wichtige )dmport« Finks im Rahmen der »transzendentalen Methodenlehre« ist der von ihm konstatierte Bruch im transzendentalen Leben selbst in das anonym fungierende transzendentale Leben und den sich hiervon abspaltenden »Zuschauer«. Hier wird an Husserls Analysen beziiglich der Ichspaltung, wie sie im zweiten Kapitel vorgestellt wurden, angekniipft. 1m Weiteren wird Finks Entwurf der Architektonik des phanomenologischen Systems - freilich stets mit Blick aufHusserls Reaktionen - nachverfolgt; hier orientiert sich Fink seinerseits an der Architektonik der kantischen Vernunftkritik. Die Triftigkeit dieser Architektonik und die Frage, inwiefern die husserlschen Fundamentaldisziplinen etwa unter dem Titel einer »transzendentalen Asthetik« und »transzendentalen Logik« etc. gefasst werden konnen, werden hier diskutiert. SchlieBlich geht es bereits hier urn die Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers, urn die »Phanomenologie der Phanomenologie«, sofern nicht die eigentlichen Disziplinen auf ihrer »Objektebene« im Zentrum stehen, sondern die Metaebene eingenommen und zugesehen wird, in welcher Weise der Zuschauer bei diesen Disziplinen, wie Fink sagt, »dabei ist«. Diese Diskussion miindet in die im nachsten Kapitel zu diskutierende Frage nach dem eigentiimlichen »Konstituieren« des Zuschauers gerade in seinem vermeintlich »unbeteiligten« Zusehen. 1m vierten und letzten Kapitel wird die »eigentliche« Selbstkritik in Form der transzendentalen Methodenlehre ausgefUhrt. Hier wird aus allen vorherigen Untersuchungen gewisserma13en die Konsequenz gezogen, sofern nun das »Phanomenologisieren « mit dem ihm wesentlich Anderen konfrontiert, also die phanomenolo-
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gische mit der natiirlichen Einstellung in Beziehung gesetzt wird, was freilich erst mi::iglich ist nach der Darstellung der natiirlichen und des Ubergangs zur transzendentalen Einstellung. Dieses Inbeziehungsetzen vollzieht sich unter dem Begriff der Verweltlichung. Diese ist der Kulminationspunkt der phanomenologischen Selbstkritik, insofern hier diskutiert wird, wie sich das philosophierende zum natiirlichen Ich, die doch beide in )) Personalunion« stehen sollen, verhalt. Die Interpretation des Verhaltnisses von Phanomenologie und natiirlichem Weltleben beansprucht gleichzeitig, eine Antwort auf die Frage nach dem Zwecksinn der Phanomenologie im Ganzen zu geben. In der Weise, wie sich die Phanomenologie dem matiirlichen Leben« mitteilen und sich wieder in die Welt ))einbiirgern« solI, wird deutlich, welche Intention die Phanomenologie eigentlich verfolgt. Hier ist es Fink, der in der VI. Meditation mit einer eigenen Theorie der sog. ))sekundaren Verweltlichung« aufwartet, die in der Konsequenz eine radikale Kritik an den Prinzipien und Zielen der husserlschen Phanomenologie iibt. Finks Kritik, die selbst quasi hinter vorgehaltener Hand vorgetragen und daher deutlich expliziert wird, zielt ins Herz der philosophischen Absichten Husserls. Fink leugnet, urn es kurz zu sagen, die Mitteilbarkeit der phanomenologischen ))Wahrheiten«, die sich als ))transzendentaler Schein« fUr die natiirlich Eingestellten wesentlich verhiillen. Husserl ist diese kritische Dimension nicht entgangen, und so versucht er seinerseits, in seinen eigenen philosophiegeschichtIichen und teleologischen Reflexionen eine eigene Theorie der Verweltlichung zu formulieren, die einerseits eine geschichtsphilosophische Einordnung seiner eigenen Phanomenologie leisten und andererseits die Bedeutung derselben fur die europaische Wissenschaft und Kultur darlegen solI. Das )) Einstri::imen« der transzendentalen ))Wahrheiten« ist nicht nur mi::iglich und immer schon im Gange, sondern zielt auch darauf, die Distanz zwischen philosophischer und natiirlicher Einstellung immer mehr zu verringern. Husserls Philo sophie erweist sich damit als radikal aujklarerisch. Mit den Worten Karl Schuhmanns: Es bleibt zunachst ))die Kluft eines Grundunterschieds zwischen Phanomenologen und Nicht-Phanomenologen allerdings bestehen. Ihn zum Verschwinden zu bringen ist daher die vordringlichste und nachste Aufgabe der Phanomenologie. «39 Hierbei bleibt aber ein bei Husserl immanenter und nicht aufgeli::ister Widerspruch bestehen, der abschlieBend aufgezeigt sei: Der Phanomenologe tappt in diesem Versuch der Vernichtung jenes Unterschieds, wenn er diesen AufkIarungsanspruch nicht selbst wieder kritisch reflektiert, in die gleiche Falle wie die von ihm kritisierten modernen positiven Wissenschaften. M. a. W, eine vollstandige Aufli::isung bzw. Aufhebung der natiirlichen Welt in die Phanomenologie ware mit dem gleichen Vorwurf der ldealisierung dey Lebenswelt zu begegnen. Es zeigt sich abschlieBend, dass Finks wie Husserls Positionen letztlich eine dialektische Antithese bilden. Wahrend die finksche Konzeption in Konsequenz die
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Schuhmann 1988, 173 f.
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Phanomenologie als maBgebliche Form des transzendentalen Idealismus im Wesentlichen unmoglich macht und sie zugunsten einer allgemeinen )) Me-Ontologie des absoluten Geistes« hinter sich lassen will, fUhrt dies aufhussedscher Seite zu einer kritischen Korrektur des phanomenologischen Systemanspruchs, welche die Ph anomenologie in ihrem systematischen Entwurf und Ausgriff zwar nicht verabschiedet, worin sie sich aber in kritischer, reflektierter Weise ihrer Grenzen bewusst wird, - auch wenn Hussed hierin in letzter Instanz schwankend blieb. Ware es zwar nicht im Sinne Husserls, von einem ))Abschied yom Cartesianismus« zu sprechen, so muss doch durch seine Einsicht in die unaufhebbare Bodenfunktion der Lebenswelt hinter seine philosophische Vision von der Phanomenologie als einer ins Unendliche fortgehenden strengen Wissenschaft in letzter Konsequenz ein Fragezeichen gesetzt werden.
Vorliegende Arbeit stellt die uberarbeitete Version einer im Wintersemester 1997/98 im Fachbereich 2 (Philosophie) der Bergischen Universitat-Gesamthochschule Wuppertal eingereichten Dissertation dar. Die Disputatio fand im Sommersemester 1998 statt. Seitdem wurde die Arbeit grundlegend umgearbeitet, gekurzt und mit Nachlass-Zitaten versehen, die sich groBenteils nunmehr auch im yom Verf. herausgegebenen Husserliana-Band XXXIV, Zur phanomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926-1935), finden. Urn den Grundcharakter der urspriinglichen Fassung beizubehalten, konnte sich die Oberarbeitung hauptsachlich auf darstellerische Veranderungen beziehen; in einigen Fallen jedoch wurden Teile komplett neu geschrieben. Fur neuere Versuche des Verf. sei der Leser auch auf die im Literaturverzeichnis aufgelisteten Veroffentlichungen hingewiesen. Mein Dank an dieser Stelle ist ein vielfacher: An erster Stelle ist es mir eine groBe Freude, Prof Dr. Klaus Held, memem ))Doktorvater«, zu danken. Er hat von Beginn meiner Dissertationszeit an meine philosophische Entwicklung mitverfolgt, streng, aber giitig mich zur Arbeit an den hier behandelten Themen ermutigt, gleichzeitig mir in meiner Arbeitsweise freie Hand gelassen und mir auch die philosophische Freiheit gegeben, meine Gedanken entwickeln zu konnen. Ein Stipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs ))Phanomenologie und Hermeneutik« der Universitaten Bochum und Wuppertal, dem ich von 1995 bis 1997 angehorte, hat die finanzielle Unterstutzung zur Abfassung der Dissertation gesichert. Ich danke hierftir den Leitern des Graduiertenkollegs, den Professoren Dr. Klaus Held und Dr. Bernhard Waldenfels, fUr Ihr Vertrauen in meine Arbeit. 1m Rahmen eines Austausches zwischen der Universitat Wuppertal und der State University of New York in Stony Brook konnte ich das akademische Jahr 1996/97 als Research Fellow in Stony Brook verbringen. Ich bin hierftir der State University of New York in Stony Brook, v. a. dem damaligen Geschafts-
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fUhrenden Direktor des Department of Philosophy, Prof. Dr. Edward S. Casey, zu Dank verpflichtet fur das Stipendium, das ich fur diese Zeit empfing, und fur die herzliche und unburokratische Aufuahme im Fachbereich. Insbesondere danke ich Prof. Dr. Donn Welton, mit dem ich die Thesen meiner Dissertation intensiv besprechen konnte. Ferner mochte ich Prof. Dr. Rudolf Bernet als dem Direktor des HusserlArehivs in Leuven danken. Durch meine Editionsarbeit in den Jahren 1998-2002 hatte ich die Gelegenheit, im Rahmen meines Projekts in unveroffentlichte Schriften Husserls Einsieht zu nehmen und aus ihnen zu zitieren. Fur die Freiheit und die zur Verfugung gestellten Mittel danke ieh ihm herzlich. Aueh danke ieh ihm als Direktor der Reihe Phaenomenologica sowie dem Herausgebergremium fUr die Aufnahme der vorliegenden Schrift in dieser Reihe. SchlieBlieh geht mein Dank an die Mitglieder des Graduiertenkollegs in Wuppertal und Bochum und an die Doktoranden in Stony Brook, mit denen ich meine Ideen diskutieren konnte. Auch die Mitarbeiter am Husserl-Archiv, Prof. Dr. Ullrich Melle, Dr. Paul Crowe, Dr. Berndt Goossens und Rochus Sowa, waren fur mich ein wertvolles Diskussionsforum. Prof. Dr. Ronald Bruzina und Prof. Dr. Guy van Kerekhoven waren in der Phase der Abfassung der Dissertation wichtige und hilfreiche Gespraehspartner. Ieh danke auch Frau Susanne Fink und Prof. Dr. Ronald Bruzina fUr die freieste Zur-Verftigung-~tellung von unveroffentlichten Schriften Finks und fUr die Erlaubnis, aus ihnen zitieren zu durfen. Fur philosophische Anregungen schulde ich auBerdem Prof. Dr. Laszl6 Tengelyi, Dr. Dominic Kaegi und Priv.-Doz. Dr. Dieter Lohmar Dank. Dr. Rebecca Paimann und Dr. Hans-Jurgen Seemann haben eine fiiihere Version dieses Textes gelesen und korrigiert. Typographica Academica Traiectina in Utrecht haben die elektronisehe Druckversion des Textes erstellt; hierfur sei insbesondere Johannes Rustenburg und Eveline van Beek gedankt. SchlieBlich danke ich meiner Familie und all meinen Freunden fUr die stetige Ermunterung und ihr Vertrauen. Diese Arbeit ist dem Andenken meiner GroBmutter, Ruth Westermann (geb. Theilaeker), gewidmet, die mich von fruh an mit dem Leben des Geistes vertraut machte. Brussel, im Juni 2002 Sebastian Luft
KAPITEL I
Die natiirliche Einstellung. Systematische Rekonstruktion in thematischer und methodischer Hinsicht »Wir
beginnen unsere Betrachtungen als Menschen des natiirlichen Lebens, vorstellend, urteilend, ftihlend, wollend )in naturlicher Einstellungu (mfr, 56)
1.1.
» Die Welt des praktischen Lebens, des auBerwissenschaftlichen, ist die praktisch relevante Umwelt (die Situation).« (A IV 13/5, urn 1930)
Die Moglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Theorie dey natUrlichen Einstellung und der BegrifJ der Einstellung
Der Versuch einer Theorie der natiirlichen Einstellung bedarf einer Vorbemerkung; denn das Vorhaben klingt zunachst merkwiirdig. Was sollte eine solche Theorie sein? 1st sie verwandt mit der von Husserl antizipierten »Ontologie der Lebenswelt« (VI, I76ff.)? Obwohl es Versuche gibt, mit wie auch ohne Husserl eine solche Ontologie der vorwissenschaftlichen Welt durchzufuhren,l so sucht man in der Husserlliteratur vergebens nach einer Theorie der natUrlichen Einstellung. Die Befremdlichkeit einer solchen Forderung nicht nur nach einer Beschreibung,2 sondern einer solchen phanomenologischen Theorie riihrt auch von einem sachlichen Grund her, der sich aus Husserls innersten wissenschaftlich-philosophischen Intentionen herleitet: 1st nicht sein ganzes philosophisches, am Ideal strenger Wissenschaft orientiertes Projekt, kein ungepriiftes Wissen gelten zu lassen, darauf angelegt, die natiirliche Einstellung zu aberwinden? Was ist diese naive erste Einstellung mehr als ein bloDes Durchgangsstadium auf dem Wege zur Phanomenologie, die alle vorwissenschaftlichen Vorurteile, eben die der natUrlichen Einstellung, auDer
2
Zu Bemuhungen urn eine an Hussed ankniipfende Ontologie waren in erster Linie die Arbeiten von Held zu nennen; vgl. auch Steinbock 1995. Zu Versuchen einer phanomenologisch inspirierten Theorie der Lebenswelt, jedoch ohne die transzendentale Wendung Husseds mitzumachen, gehort wohl am prominentesten die Philosophie Schutz'. Eine rudimentare Beschreibung gibt bereits Hussed in der Fundamentalbetrachtung der Phanomenologie, mfr, 56ff., die er im Riickblick als »nur in rohesten Ziigen umschrieben« bezeichnet, vgl. XXIX, 425.
S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
KAPITEL I
Geltung setzt? Selbst wenn eine solche Theorie moglich ist, wozu sollte das nutzen im Rahmen eines transzendental-philosophischen Projekts? Zugespitzt formuliert: In welcher Philosophie konnte eine Theorie dieser naiven Einstellung so wenig bedeutsam sein wie gerade in Husserls Phanomenologie? Diese Einwande lassen sich leicht entkraften mit Argumenten, die zeigen, dass eine solche Theorie bei Husserl nicht nur implicite vorliegt, sondern auch in der Tat fUr sein Projekt von Transzendentalphilosophie gifordert ist. Zunachst kann man rein entwicklungsgeschichtlich feststellen, dass der Begriff der naturlichen Einstellung, obwohl bereits en passant in den Logischen Untersuchungen zu finden,3 erst in der Spatphilosophie eine pragnante Bedeutung gewinnt und auch nur in diesem Sinne hier thematisiert werden soll. Fur die Durchfuhrung der Reduktion wachst ihr eine konstitutive Funktion zu. Aber auch im Zusammenhang einer Lebenswelt-Ontologie spielt sie eine entscheidende Rolle. 4 Hier bestehen natiirlich sachliche Zusammenhange. Ferner, v. a. im Rahmen der transzendentalen Methodenlehre ist die natiirliche Einstellung ein zentrales Phanomen und bleibt Problem. Ihre Thematisierung aus verschiedenen Blickwinkeln hat auch eine Vielfalt von nahezu synonymen Bezeichnungen zur Folge, die letztlich,je nach Kontext, eine eigene Akzentuierung erfahren 5 - hierin ahnlich der Entwicklung des Weltbegriffes, der schlieBlich in den (ebenso mehrdeutig gebliebenen)6 Lebensweltbegriff miindet. 7 Kann man zeigen, dass zwischen Lebenswelt und natiirlicher Einstellung ein »Korrelationsapriori« besteht, so kann man hieraus schlieBen, dass auch fur die natiirlichen Einstellung eine eigene Untersuchung vorgezeichnet ist. Die zu einer Ontologie der Lebenswelt korrelative Theorie des natiirlichen Weltlebens in dieser Lebenswelt lasst sich aus dem Spatwerk rekonstruieren, zumal Husserl das methodische Werkzeug hierfur hinterlassen hat. Letztlich steht aber fur vorstehende Thematik eine Theorie der natiirlichen Einstellung, wie des Einstellungsphanomens iiberhaupt, im Dienste der Methodologie. Was sind die sachlichen Motive fUr eine solche Untersuchung? 1st das vorwissenschaftliche Leben der »Boden« und das »Ursprungsgebiet« aller auf ihr aufbauenden menschlichen Verhaltensweisen, so kann sie nicht bloBes Durchgangsstadium
4
6 7
Vgl. XIX, 761; hier allerdings in einer Verbesserung der 2. Auflage von 1913. Hier bedeutet der Begriff schlicht die Einstellung auf die Wahrnehmungswelt, wenn Husserl von der "natiirlichen und erfahrungswissenschaftlichen Einstellung« gegeniiber der aufImmanentes gerichteten »phanomenologischen Einstellung« (ebd.) spricht. Hierfiir sei es namlich notwendig, die natiirliche Einstellung zu ))[estituieren<<. Vgl. VI, 176. Alternativbezeichnungen hierzu sind etwa »vorwissenschaftliches Leben «, »natiirliches Weltleben «, vgl. VI, 121, 152f., 156 u. O. Vgl. hierzu den einschlagigen Aufsatz Claesges' (Claesges 1972); die Zweideutigkeit besteht C. zufolge wesentlich in der »Boden-« und »Leiifaden-Funktion«, vgl. ebd., 86. Vgl., hierzu das spate Manuskript von 1937: "fn den Ideen war der Ausgang des Weges [in die PhanomenologieJ der ,natiirliche Weltbegriff<. Es ist der )Begriff< der Welt >natiirlicher Einstellung<, oder wie ich jetzt besser sage: Es ist die vor- und auBerwissenschaftliche Lebenswelt [... J.« (XXIX, 425).
DIE NATURLICHE EINSTELLUNG
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unterwegs zur Wissenschaft und trans zen den tal en Phanomenologie sein, sondern es muss ihr ein »Eigenrecht«8 zuerkannt werden; m. a. W sie ist nicht ein minderwertiges Stadium im Vergleich mit der hoheren Tatigkeit der Wissenschaft, sondern sie kann auch »ftir sich selbst« thematisiert werden, auch wenn der Zusatz »vorwissenschaftlich« bereits auf Wissenschaft vordeutet; als »vorwissenschaftliche« steht die natiirliche in Beziehung zur wissenschaftlichen Einstellung und vice versa. Man muss daher das ))Eigenrecht« der vorwissenschaftlichen Einstellung wiirdigen und ihren iiblichen Interpretationen gegeniiber (als minderwertige)) Doxa«) Epoche iiben; sie ist zwar ))minderwertig« hinsichtlich ihres Erkenntnisanspruchs, hat aber dadurch nicht weniger eine eigene, ))eigenrechtliche« Evidenz und ))Wahrheit«. Sie ist mehr als nur )) Ursprungsgebiet« ftir den Aufbau hoherstufiger Funktionen; sie ist auch, im ganz basalen Sinn, Heimatsituation einer Menschheit. - Diese Uberlegungen deuten an, dass es nicht nur moglich ist, die natiirliche Einstellung systematisch zu rekonstruieren, sondern dass es aus Sicht der Heifen« Philosophie Husserls auch gefordert ist. Es muss gezeigt werden, wie sich eine umfassende Theorie der natiirlichen Einstellung aufstellen Jasst, die die Horizonte der Spatphilosophie beriicksichtigt, gleichzeitig aber aus friiheren Ansatzen vorgezeichnet ist. In einem ersten Anhieb kann die Intentionalitatstheorie einen Leitfaden ftir eine Theorie der natiirlichen Einstellung bieten, als These, dass eine Einstellung-zu ein grundsatzlich intentionales Verhalten( -zu) voraussetzt. Es ist jedoch zunachst nicht klar, wie Husser! selbst bei der Behandlung des Einstellungsproblems in den Ideen I die Verbindung zur Intentionalitat gesehen hat, was aber selbst wieder einen sachlichen Grund hat: 1st die Analyse der Intentionalitat in ihren noetisch-noematischen Strukturen eine inhaltliche, thematisch-sachliche Beschreibung (des Bewusstseins), so ist die Problematik der natiirlichen Einstellung anders gelagert; sie taucht ftir Husserl erst im Zusammenhang mit der Ausschaltung ihrer Generalthesis in der methodologischen Reflexion beziiglich Epoche und Reduktion9 auf. Kann die erste, gerade auf die Sache hin ausgerichtete Analyse thematisch genannt werden, so soli die zweite Analysehinsicht methodisch genannt werden; beide konnen in einer rekonstruktiven Lektiire auseinander gehalten werden. Es mag artifiziell sein, diese beiden Hinsichten voneinander zu trennen; denn sie ))durchdringen« sich bei Husser! standig, insofern die intentionale Struktur des Bewusstseins nur durch die methodische (reflexive) Blickwendung enthiillt werden kann und gleichzeitig die methodische Einsicht in die Abwendung yom ))Geradehin«-Verschossensein auf die Dinge (eben 8
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Waldenfels 1971, 67ff. Trotz dieser Einsicht findet sich auch bei W keine eigene Theorie der natiirlichen Einstellung. Auch Fischer gibt in seiner Darstellung eine knappe Rekonstruktion der natiir!ichen Einstellung (Fischer 1985, 55-65), die aber lediglich die schrittweise Entdeckung der Lebenswelt zwischen Ideen I, Ideen II und Krisis behandelt. Vgl. mfr, 56ff. (Die phanomenologische Fundamentalbetrachtung). Den "ersten Durchbruch« zur phanomenologischen Reduktion datiert Husser! indessen auf 1907 zuriick; er fand seine Darstellung in der kurzen Vorlesungsreihe »Die Idee der Phanomenologie«, vgl. im Ganzen II, 15-76, sowie die Vorlesung vom ws 1906/07, veroffentlicht in XXIV.
KAPITEL I
in natiirlicher Einste11ung) ihrerseits nur durch eine thematische Analyse der intentionalen Struktur des Bewusstseins erwachst. Beide Analyseweisen implizieren sich und Husserl trennt sie auch nicht, wenn er in den Ideen I daraufbeharrt, dass die Phanomenologie in erster Linie eine Methode vorurteilsfreien Beschreibens sein sol1.10 Dennoch ist es sinnvo11, beide Hinsichtnahmen zu trennen; denn sowohl die thematische (intentionale) als auch die methodische (reflexive) Hinsichtnahme ermoglichen eine systematische Rekonstruktion dieses komplexen Ph an omens »natiirliche Einstellung«. Freilich gehoren beide Hinsichtnahmen insofern zusammen, als es integraler Bestandteil der natiirliehen Einstellung ist, nur dureh methodisehe Reflexion zuganglich zu sein, wie es genauso zu ihr gehort, dass nur aus der intentionalen Struktur des Bewusstseins heraus verstandlich wird, dass sie selbst eine Form von Intentionalitat im Vollzug des Bewusstseinslebens ist. Ferner ist auch der Entwicklung des husserlschen Denkens Reehnung zu tragen; denn v. a. Themen des Spatwerks, etwa N ormalitat / Anomalitat und Heimwelt / Fremdwelt sind als Charakteristika des natiirliehen Weltlebens in diesem Rahmen zu berueksichtigen. Die Einbeziehung dieser Themen zieht eine Berucksichtigung der methodologischen Weiterentwieklungen - statisehe zur genetischen Phanomenologie, Intersubjektivitatnach sieh, was nieht heiBt, dass man methodisch nicht ebenso den umgekehrten Weg gehen und die natiirliehe Einstellung von ihrer vollentwickelten Gestalt her lesen konnte und sogleieh mit der Besehreibung der natiirliehen Einstellung als genetisch gewordener, intersubjektiv verfasster beginnen konnte. ll Dies wiirde die Genesis der phanomenologisehen Methode selbst verdeeken; die Darstellung darf also nieht die Theorie als fertige voraussetzen, sondern, in Husserls Worten, die Methode geht »von den N;ihen in die Fernen« (VIII, 342)12 und setzt fiiihere Theorienstiicke voraus. Man kann also einerseits so vorgehen, dass man von der Genesis zum »status quo« fortschreitet und dessen ZustandegekommenSein beschreibt, oder von hier ausgehend zunachst diesen beschreibt und in seinen wesentlichen Merkmalen auslegt und dann, »dahinter« zuruckgehend, seine Genesis erklart.13 SolI es aber urn eine allgemeine Beschreibung der Struktur dieses Phanomens gehen, so ist es fUr die folgende Untersuchung sinnvoller, zunachst eine statisehe Beschreibung der natiirliehen Einstellung zu geben, die sieh dann in die konstitutiven, genetisehen und intersubjektiven, Dimensionen ausweitet, wobei
Vgl. das "Prinzip alIer Prinzipien«, ml!, 51. Ein Beispiel hierftir ist etwa Natansons Darstellung der ,)Welt der nattirlichen Einstellung« (»world of the >natural attitude«(, Natanson 1973), die im Wesentlichen eine Diskussion der Intersubjektivitatstheorie der v. Cartesianischen Meditation ist. 12 Dieses Zitat wird nur aus dem Vorherigen verstandlich; die Methode geht den gleichen Weg wie die vorwissenschaftliche, praktisch-umweltliche Erfahrung, die ebenso von ihrer vertrauten Nahsphare ins Unendliche fortschreiten kann, dabei ihren bekannten Erfahrungsstil weiterhin ausdehnt. Vgl. auch tiber die Probleme von Anfang und Methode: Kuster 1996, 93 If. 13 Zu einer Methodenreflexion beztiglich des Verhaltnisses von statischer und genetischer Methode vgl. den gleichnamigen Text in XI, 336-45. 10
II
DIE NATURLICHE EINSTELLUNG
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aber Geschichtlichkeit und Intersubjektivitat selbst wesensmaBige Bestandteile der naturlichen Einstellung sind. Was die naturliche Einstellungjedoch in methodologischer Hinsicht bedeutet, kann erst nach der hoherstufigen Selbstkritik einsichtig werden. Zum Einstellungsphanomen eine kurze historische Darstellung. Der Begriff »Einstellung« kam bezeichnenderweise urn 1900 auf und kann sowohl fur das Probiemfeid wie die husserlsche Behandlungsart Hinweise geben. So ist auch die Konzeption des »unbeteihgten Zuschauers« ais AnaIysehaltung des Philosophen u. a. aus dies em Verstandnis von »Einstellung« zu klaren. Der Einstellungsbegriff hat seine Herkunft in der Psychologie des 19. Jahrhunderts, die Husserl gut kannte. 14 Auch wenn Husserl den Terminus weiterentwickelt, so kann er seine Herkunft aus diesem Umfeld nicht verleugnen, und auch Husserl verweist gelegentlich darauf. Die Tatsache, dass er den Begriff selbst so wenig problematisiert, Iasst vermuten, dass er ihm selbstverstandlich war und er auch bei seinen Lesern die Kenntnis dieses Phanomens und dessen Herkunft voraussetzt. 15 Es ist daher hilfreich, diesen Hintergrund kurz zu skizzieren. Die Herkunft des Begriffs stamrnt zunachst aus der Sprache der Photographie: 16 Die Einstellung ist hier die Position der Kamera zu dem zu photographierenden Objekt, einschlieBlich der genauen »Einstellung« als des In-StellungBringens der notwendigen Schalter und des Objektivs. Diese Bedeutung kommt der Sache, die Husserl im Blick hat, nahe, namlich als ein Sich-Einstellen auf etwas, wobei es der Kamera gleichguitig ist, was sie fotografiert. »Einstellung« bezeichnet die Stellung der Kamera zu einem Objekt in einer gewissen Distanz: Stellt man die Kamera auf diese ein, so biidet die Photographie alles in dieser Distanz »scharf« ab (es ist fur sie ))thematisch«), alies andere jedoch unscharf. In Ableitung dieses technischen Zusammenhangs gelangt der Begriff in die empiri14 Zu diesem Hintergrund vgl. Smith 1994. 15 Das Gleiche gilt fur das Phanomen der Ichspaltung; vgl. den Exkurs hierzu, unten, II9-I25. Husserl war zudem von der experimentellen Psychologie etwa Wundts und der Brentanoschule stark beeinflusst. Der spatere Einstellungsbegriff Husserls ist ohne dies en Hintergrund nicht zu verstehen. Husserl hat selbst bereits ca. ab demJahre 1898 eigene Uberlegungen zu Aufmerksamkeit und Interesse angestellt, die in vielen spateren Analysen zum interessegeleiteten Charakter der natiirlichen Einstellung nachklingen. 16 Broekman 1963,56, Anm. 2, der u.a. auf Adorno vcrweist (vgl. Adorno 1972, I98f.). Br. unterschlagt hier den gegen Husserl gerichteten polemischen Hintergrund Adornos: »Nicht umsonst ist der Ausdruck) Einstellung< Husserl mit dem biirgerlich-privaten Allerweltsrelativismus gemeinsam, der Verhaltensweisen und Meinungen weniger von verpflichtender Erkenntnis als yom zufa1ligen Sosein der urteilenden Person abhangig macht. Beide mogen das Wort von der Sprache der Photographie geborgt haben. [... J Gleich dem Photographen alteren Stils verhiillt sich der Phanomenologe mit dem schwarzen Tuch seiner epoche, beschwort die Objekte, sie mochten unverandert innehalten, und bringt schlieBlich passiv, ohne Spontaneitat des erkennenden Subjekts Familienbilder zustande von der Art jener Mutter, )die liebend auf ihre Kinderschar blickt<. « (ebd., 199). Letzteres Zitat stammt aus den Ideen I (mfr, 279), wo esjedoch nicht urn die Epoche geht; sondern urn ein Beispiel fur einen doxischen kollektiven Akt.
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KAPITEL 1
sche Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 17 Der Begriff »Einstellung« taucht in der experimentellen Psychologie bei Muller und Schumann im Jahre 1889 erstmals auf, und zwar in einer charakteristischen Weise: Es meint hier das motorische Sich-Einstellen der Versuchsperson auf das Heben eines Gewichtes: Hebt diese uber eine Zeit lang einen schweren Gegenstand und kurz darauf einen leichteren, so »fliegt« dieser in die Hohe, da man sich an das hohere Gewicht eingestellt i. S. v. »gewohnt« hat. 18 Ein weiteres Beispiel fUr die Verwendung des Einstellungsbegriffs in der experimentellen Psychologie der Jahrhundertwende ist das des Musikers, »der wahrend des Abspielens einer Partie einmal auf den Violinschlussel und dann plotzlich auf den Alt- oder Bass-Schlussel eingestellt sein muss«.19 Eine Einstellung hat es als gewohnheitsmaBige Disposition an sich, dass man sich so an sie gewohnt hat, dass sie uberhaupt nicht mehr als eine solche auffallt. Weil sie so unbewusst ist, kann man sich hierin »verfehlen« wie im Beispiel des Gewichthebens. Diese Struktur kann auf die Beschreibung des Bewusstseins ubertragen werden, das ebenso »einstellungshaft« funktioniert. Eine Einstellung hat sich ebenso im Bewusstseinsleben »sedimentiert« und ist insoweit einer Meinung zu vergleichen, als sie eine Haltung zu etwas bezeichnet, die nicht aktiv in jedem Moment neu zu betatigen ist, sondern als habitualisierte die Person stets, auch bei anderen Tatigkeiten, »mitbestimmt«. Die Einstellung kann inaktuell sein, aber doch weiterhin - in Inaktualitat - wirken. So besteht der einzelne Mensch, neben seinen unveranderlichen Charaktereigenschaften als Person, aus einem »Bundel« von habitualisierten Meinungen, die er in bestimmten Zusammenhangen betatigt und die daftir stets zur Disposition stehen. Neben der »Passivitat« der EinstellUng in diesem Sinn tritt ein zweites Merkmal zutage: Sie ist immer eine Einstellung zu etwas. Und noch ein Drittes kann herausgestellt werden, was beim Beispiel des Musizierens zum Vorschein kommt: Die »EinstellUng« gemaB Bass-Schlussel ist unabhangig von den N oten, die gemaB dem Bass-Schlussel zu spielen sind. Es gibt also, wie es scheint, zunachst drei konstitutive, Jormale Elemente des Phanomens der Einstellung: I. Sie ist eine passive Disposition, eine Art »Hintergrund«, nicht die Betatigung der Meinung selbst, die aus ihr hervorkommt, 2. sie ist ein Verhalten zu etwas, 3. sie ist ein Verhaltnis nicht zu einer konkreten Sache allein, sondern zu einem »Feld«, einem »Horizont« von (moglichen) Dingen. Vgl. Broekman, 571f., sowie Ritter Bd. 2, 4171f. (Art. Einstellung), wo die Geschichte des Begriffs in der Entwicklung der Psychologie des 19. Jahrhunderts dargestellt wird. Auch hier wird erwahnt, dass der BegriffEinstellung »aus der technischen Fachsprache und dem allgemeinen Sprachgebrauch« (ebd., 417) stammt. - Zu erwahnen ist auch, dass das reflexive Verb sich einstellen im Grimmschen Worterbuch Bd. 3 von 1862 noch die alleinige Bedeutung von »sich einfinden« (ebd., 3 II) hat. 18 Fischer, 3 If. 19 Brockman, 57. 17
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Aus dieser Bestimmung wird deutlich, dass Einstellung eine gewisse, noch zu bestimmende intentionale Struktur hat. Husserl erweitert sie zur formalen Bestimmung des allgemeinen Weltverhaltnisses des Menschen.
1.2.
Theorie der natiirlichen Einstellung in thematischer Hinsicht
GemaB der Unterteilung in thematische und methodische Betrachtungsweise soIl die Untersuchung der intentionalen Struktur der natiirlichen Einstellung thematisch genannt werden. »Thematisch« meint hier eine Auslegung der Geradehin-Struktur des intentionalen Lebens, ohne methodische Reflexionen auf die Bedeutung dieser intentionalen Verfasstheit fUr den Status der Natiirlichkeit und d. h. noch ohne zu erlautern, was »Natiirlichkeit«fiir den natiirlich Eingestellten bedeutet. »Natiirlichkeit« als eine positive Bestimmung der natiirlichen Einstellung ist daran anschlieBend zu analysieren gegeniiber der fundamental anderen, philosophischen Einstellung. 1.2.1. Der Schematismus Akt-Situation-Einstellung und die Korrelation von Einstellung und Welt
Die formale Relation »Einstellung-zu« findet sich zunachst auf der Stufe einzelner Akte. Die Struktur der Intentionalitat als »Bewusstsein von etwas« sei in Erinnerung gerufen, die sich in Aktvollzug und Aktinhalt unterteilt. 20 Ein Akt auf etwas hat einen korrelativen Aktinhalt, was Hussed in der allgemeinen Struktur des cogito cogitatum ausdriickt, wobei cogitata aIle Aktarten umfassen (vgl. I, 33 f.). Diese formal-wesentliche Struktur von Akten in ihrer Korrelation bildet ein Korrelationsapriori (mlI, 292; VI, 161 ff). Husserl bezeichnet die Herausstellung der grundsatzlichen Korrelation von Bewusstsein und Sein in der Krisis riickblickend als seine fundamentalste Entdeckung. 21 Aktvollzug und Aktinhalt ist ein »zwischen« erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt herrschendes intentionales Verhaltnis, auch als Noesis und Noema bezeichnet (vgl. mlI, 200ff.). Beim Noema handelt es sich urn den Gegenstand, wie er gegeben oder, korrelativ, intendiert ist; es ist der Gegenstand im Wie seiner Gegebenheitsweise als intentionaler Sinn. Kann man also von den Noesen, den Aktvollziigen, auf ein Ausstrahlzentrum der Akte schlieBen, auf das reine Ego oder einen Ichpol, so muss man ebenso korrelativ vom Noema als dem in den Aktvollziigen gemeinten Aktinhalt auf einen gemeinten
20 Die Intentionalitatstheorie wird erstmals in der v. Logischen Untersuchung ausftihrlich dargestellt (XIX/I, 352-529), sodann in den Ideen I (ml!, s. v. a. 20off.) weiter vertieft; vgl. hierzu die Arbeiten von Straker (Straker 1992, 34 If, sowie im Ganzen Straker 1987). 21 Vgl. VI, 169f., Anm. Husser! datiert seine »tief erschiitternde« Entdeckung auf 1898; in dieser Phase war er mit der Abfassung der Lo~ischen Untersuchungen beschaftigt.
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Sinn schlieBen konnen, ein Einstrahlungszentrum der Akte, einen Objektpol. Dieser wird in phanomenologischer Betrachtungsweise nur als intentionaler Sinn, als Phanomen, thematisch. Sieht Husserls Form von Transzendentalphilosophie vor, von transzendenten Dingen nur als durch die noetisch-noematische Korrelation »vermittelt« zu sprechen, kann man das zwischen erfahrendem Ich und erfahrenem Ding »eingeschobene« Korrelationsapriori von Noesis und Noema, wodurch sich das Ding fur uns »gibt« und in Akten »aufbaut«, als Schematismus bezeichnen. 22 Durch das noetisch-noematische Schema verhalt sich das Ich zur Welt bzw. manifestiert sich Welt fur das Ich. Diese Auffassung, die nicht die Existenz der Welt leugnet, aber sie nur als gegeben und d. h. »seiend« fur ein erfahrendes Bewusstsein nimmt, nennt Husserl auch »transzendentalen Idealismus«. Wenn hier von Transzendentalphilosophie in phanomenologischer Pragung gesprochen ist, ist diese idealistische Position gemeint. 23 Besteht die intentionale Verfasstheit des Ego darin, dass es auf der aktiven und wach-bewussten Stufe etwas intendiert und ihm etwas in dieser Intention gegeben wird, ist der nachste Schritt, dass Dinge nicht nur in formalen, neutralen Akten intendiert, sondern dass sie als etwas intendiert werden, oder dass, korrelativ, Dinge als etwas gegeben sind, d. h. mit Bedeutung behaftet. In der Erfahrung der Dinge in der Welt liegt eine Bedeutungsstruktur, die Struktur eines tL-Xata-tLvo£. Man sieht nie nur etwas (ein neutrales unbestimmtes x als pures Substrat), sondern dieses Etwas »ausgestattet« mit einer Bedeutung als etwas. Dieses Etwas-als-etwasAuffassen gehort wesensmaBig zur intentionalen Erfahrungsstruktur. Das betont bereits die» Fundamentalbetrachtung« der Ideen I: »Ohne weiteres finde ich die Dinge vor mir ausgestattet, wie mit Sachbeschaffenheiten, so mit Wertcharakteren, als schon und hasslich, als gefallig und missfillig, als angenehm und unangenehm u. dgl. Unmittelbar stehen Dinge als Gebrauchsobjekte da, def ,Tisch< mit seinen ,Biichern<, das ,Trinkglas<, die ,Vase<, das ,Klavier< usw.
22 Vgl. ml!, 352, wo Husser! von einem »sensuellen Schema« bei der Wahrnehmung eines »Seh-
dinges« spricht. Allerdings haben diese »Einheitssschichten« »hahere und niedere Ordnung« (ebd.); es hindert also nichts daran, das universale Korrelationsapriori als universalen »Schematismus« zu bezeichnen. 23 Zu Husser!s Bestimmung des transzendentalen Idealismus vgl. das »Nachwort« zu den Ideen von 1930, v, 149ff., wo Husser! die Fundamentalbetrachtung der Ideen I als »transzendentalphanomenologischen Idealismus« (ebd., 149 f.) bezeichnet, wenn auch die Darstellung »an U nvollkommenheiten leidet« (ebd., 150). Dieses riickwirkende »Hineinlesen« des Idealismus in die Ideen I !asst sich auch am erst bei Gerda Walther, spater bei Landgrebe in Auftrag Husserls aufgestellten Sachregister ablesen (vgl. die Darstellung bei Schuhmann 1972 in, 180-92, insbes. 189ff.): War es der miinchner Phanomenologin Walther noch darum zu tun, Stellen »pro« und »contra« Idealismus zusammenzutragen, hat Husser! diese Zweiteilung spater nicht mehr akzeptiert, da sich seiner Meinung nach keine Stellen »gegen« den Idealismus in den Ideen I finden. Husser! gibt dem »Idealismus« in seiner Spatphilosophic noch cine andere Bedeutung, auf die in den folgenden Kap. zuriickzukommen sein wird.
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Auch diese Wertcharaktere und praktischen Charaktere gehoren konstitutiv zu den )vorhandenen < Objekten als solchen, ob ich mich ihnen und den Objekten iiberhaupt (mil, 58) zuwende oder nicht.« Der von Husserl hervorgehobene Satzteil betont, dass diese »Als-etwas«-Charaktere zum Ding se/bst gehoren und ihm nicht »interpretierend eingelegt« werden. 1m natiirlich-praktischen Umgang - in matiirlicher Einstellung« - ist ein Ding immer als etwas, z. B. als Glas (zum Trinken etc.) gegeben, als »Zeug«, wobei hiermit nicht sein Sein erschopft ist. 24 Die Betonung der Gegebenheitsweise des Dings (als etwas) gegeniiber dem (als etwas) Intendieren des intentionalen Aktlebens macht deutlich, dass die Bedeutung eines Dinges-als-etwas zumeist nicht hie et nune »kreiert«, sondern durch Gewohnheit, Tradition etc. iibernommen wird - was darauf zuriickweist, dass eine Bedeutung von etwas-als-etwas irgendwann einmal ausdriicklich vollzogen ())urgestiftet«) wurde. Das Auffassen eines Dinges-als-etwas muss nicht vom jeweils Erfahrenden aktuell geleistet werden, urn dennoch im Rahmen der Konstitutionstheorie als ein Produkt von konstituierenden Akten aufgefasst zu sein. Dadurch wird umgekehrt deutlich, dass auch aus eigener Spontaneitat etwas-alsetwas intendiert werden kann. Dieses Intendieren von etwas-als-etwas ist Sache der personlichen Freiheit. Etwas als etwas zu intendieren hat aber eine bestimmte Motivation: Das Aktleben ist stets geleitet von einem bestimmten Interesse. 25 Je nach Interesse intendiert, ))sieht« man ein Ding als etwas anderes. Leben ist wesenhcift interessengeleitet; Leben schlechthin ist synonym mit Interesseleben. Wie das lateinische Wort besagt: inter-esse, es ist ein Inmitten-, Unter-den-Dingen-Sein: )) In jedem actus ist also das Ich kontinuierlich-bewusstseinsmaBig bei seinem Ziel als einem Telos und in all dem, was dazu evtl. im Gang der Bestimmung gehort. Inter est - in der Tat, wenn im weitesten Sinn von Interessiertsein, von Interesse gesprochen wird, so druckt sich damit unter einiger Erweiterung des normalen Wortsinnes das Grundwesen alier Akte aus; )das Ich ist fUr irgendetwas interessiert< - )es ist intentional darauf gerichtet< besagt dasselbe.« (IX, 4I2)
In seiner Entgegnung auf Heideggers Kritik betont Husserl, dass die Gegebenheit eines Dinges als »Zeug« immer nur ein Teil oder Aspekt der vollen Identitatsstruktur ist. Vgl. XXXIV, 313 (vom Mai 1931): »Was auch immcr erkannt wird, es wird Seiendes erkannt, und Seiendes ist ein Etwas, ein Identisches, immer wieder Identifizierbares und letztlich im subjektiven Zusammenhang offen moglicher Kommunikation fUr jedermann Identifizierbares, in seinem Seinszusammenhang, der freilich als vertrauter zumeist auBer Sieht bleibt. Aueh all das >Zeug< und seine Zeugeharaktere sind Seiendes dieses ersten Sinnes. Um ihr Sein zu verstehen, muss der ganze konkrete Seinszusammenhang hergestellt werden, - wie dasselbe gilt ftir all das sonstige, in der Lebenswelt verborgene und doeh in ihr tiberall >liegende< Sein wie das raumliche Sein, raumlieh im Sinn der theoretisch objektiven Betraehtung (aber nieht mathematisch idealisierenden).« 25 Vgl. Melle 1983, 97ff., der die Entwieklung des Phanomens des Interesses aus Husserls fruhen Wahrnehmungsuntersuchungen und deren Durehbruch in der Dingvorlesung von 1907 (XVI) systematisch rekonstruiert. 24
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Husserls paradigmatisches Beispiel ist das jeweilige Berufsinteresse. In einem Berufist man »unter« und »bei« den Dingen hinsichtlich ihresJiir den BerujSzweck relevanten Sinnes: Der Architekt »sieht« das Haus gemaB dem fUr ihn wesentlichen Sinn: als Ding zum Wohnen. Diese Interessenhaltung kann sogar exklusiv sein, so dass gewisse Dinge fur den Architekten in herausgehobenen Sinn wahrgenommen werden, andere jedoch iiberhaupt nicht, sie sind fur ihn nicht »augen-fallig«, weil er keinen »Blick« fur sie hat. Dieses Phanomen kann als »selektive Wahrnehmung« bezeichnet werden; man ist einer Sache so hingegeben, dass man voriibergehend »blind« wird fUr anderes, sich sonst Aufdrangendes. Husserl spricht hier auch von »Scheuklappenauffassung« (XXXIV, 75). Jedes Interesse an etwas hat als Kehrseite ein Nichtinteresse an anderem, fur diesen »Beruf« Irrelevantem. Das Als-etwas-Intendieren ist aber grundsatzlich Sache der personlichen Freiheit - trotz der GewohnheitsmaBigkeit sich abwechselnder Verhaltensweisen. Ein Interesse kann durch ein anderes abgelost werden. Hierbei konnen sich Interessen iiberschneiden oder schlichtweg verschieden sein bzw. sich sogar gegenseitig ausschlieBen, was man als Interessenskonflikt bezeichnet. Hierbei ist wichtig, dass jedes Intendieren-als-etwas ein durch dasjeweilige Interesse bestimmte »Optimum« hat. 26 Die jeweiligen Optima sind jedoch, da sie in einer »Ebene«, narnlich der des alltaglichen Weltlebens, existieren, relative Optima. Das verweist auf das »absolute« Optimum, welches erst durch ein yom Praktischen absehendes Erkenntnisstreben erlangt wird: das der Wissenschaft. Von hier ist eine Motivation vorgezeichnet, die natiirliche Einstellung als sich immer nur mit Relativem zufrieden gebendes Erkenntnisstreben zu durchbrechen. Jeder Aktus ist auf der Stufe der Bedeutung von einem Interesse geleitet. Dieses ist von einer gewissen »Exklusivitat« gekennzeichnet; man ist immer »an etwas« interessiert und an anderem gleichzeitig nicht. 27 Gleichzeitig steht es dem So-oderso-Interessierten frei, die Interessehinsicht zu wechseln; man sieht das Haus als Architekt, als Bewohner, etc. Dem potentiellen Interessenwechsel ist keine prinzipielle Grenze gesetzt. In jedem Fall wird das eine, identische Ding anders wahrgenommen. Das Interesse ist auch als Perspektive zu verstehen. Husserl verwendet fur diesen komplexen Sachverhalt den Terminus »Situation«28 und meint darnit die drei-
Vgl. XVI, 128: "Das natiirliche Interesse an einer Blume ist anders als das des Botanikers, und so sind beiderseits die besten Erscheinungen andere, und die volle Gegebenheit, in der sich das Interesse befriedigt, ist beiderseits eine sehr verschiedene.« 27 Man kann sich also nicht un-intentional, d. h. »uninteressiert« verhalten. Das fUhrt zu Problemen bei der Bestimmung von Phanomenen wie dem Schlaf. Auch der Schlaf als Entgleitenlassen allen Interesses hat in dem Sinn fUr Husserl "Interesse« an dies em interesselosen Zustand. Husser! bezeichnet das »EntgIeiteniassen« beim EinschIafen als ein eigenes »Stromen des Vonsich-selbst-Loskommens« (XXIX, 335), wobei das Einschlafen als "Ruhenlassen« des Interesselebens ein ,»Grenzfall«( (ebd., 336) ist und der »traumlose Schlaf« ein »aullerster Limes« (ebd., 26
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337)· »Natiirliches waches Leben ist Akte vollziehen - jeder Akt hat seine Situation, aktives Leben ist ein
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teilige Struktur: Akt mit Interesse (I) an etwas (2) als etwas bedeutungshaft Intendiertem (3). Ein Akt als Intendieren von etwas als etwas »erwaehst« SOinit aus einem Interesse; man kann formelhaft sagen: »Situation« bedeutet »Akt aus Interesse intendiert ein Ding-als-etwas«. Eine Situation ist aber noch keine Einstellung. Die personliehe »Freiheit« bei der Wahl des eine bestimmte Situation dominierenden Interesses zu betonen bedeutet, dass es dem Ieh freisteht, zahlreiehe Interessenhaltungen, also versehiedene Perspektiven auf den einen Gegenstand einzunehmen. Die Freiheit ist aber nieht nur auf die Wahl des Interesses besehrankt, sondern bezieht sieh aueh auf denjeweiligen Gegenstand, dem das reh einen spezifiseh interessierten Akt zuwendet. Der interessegeleiteten Aktzuwendung ist prinzipieil keine Grenze gesetzt. Es gibt einerseits eine Freiheit in der Mogliehkeit, versehiedene Perspektiven auf ein Ding einzunehmen, andererseits hat es die Perspektive an sieh, ihre Aktstrahlen auf aile mogliehen Dinge auszusenden. Die Einsieht, dass eine auf ein einzelnes Ding gerichtete Interessenhaltung (Situation) ausgedehnt werden kann, d. h. die in infinitum erweiterbare Ausdehnung der Akte einer Interessesituation aueh auf andere Dinge, ftihrt zum Einstellungsbegriff. Eine Einstellung ist eine Interessenbetatigung, die sieh auf potentiell aile Gegenstande, auf die sieh die Akte eines Interesses beziehen, ausdehnen kann. »Potentiell « bedeutet: Ein Interesse ist in Vermoglichkeit auf alles ausdehnbar; das Feld der Interessenbetatigung kann »in infinitum« erweitert werden. So kann die spezifisehe Einstellung potentiell alles aus ihrer Perspektive sehen. Um eine (wie sich zeigen wird, nieht unproblematisehe) Metapher zu gebrauehen: Eine spezifisehe Einstellung gleieht einer tingierten Brille, die alles Gesehene in der jeweiligen Farbung erscheinen lasst. Eine Einstellung ist gegeniiber einem einzelnen Akt in einer Situation eine prinzipielle, vennogliehe Offenheit gegeniiber allen moglichen Gegenstanden. Ebenso ist das Korrelat dieser Einstellung eine der bewusstseinsmaGigen Offenheit korrelierende Offenheit: Husserl nennt diese Offenheitsdimension Horizont. 29 Der Horizont ist ein offenes, unabgeschlossenes und prinzipiell unabsehlieGbares Feld moglicher Eifahrbarkeit. Er hat eine Grenze (grieeh. 6QL~ELV), aber diese ist stets erweiterbar; der Struktur des »etwas in einer Einstellung intendieren« kann prinzipiell keine Grenze gesetzt werden. Er ist ein Feld von thematischen Dingen, das von einem dunklen, noeh unenthiillten Horizont von Unthematisehem umgeben ist, der aber jederzeit dureh Interessezuwendung erhellt werden kann (etwa auf kinasthetisehe Weise dureh das Drehen des Kopfes etc.). Diese Interessezuwendung wird ermoglieht durch die sinnhafte Verweisungsstruktur des Horizontes, welcher seinerseits auf andere Horizonte verweist. 30 Die Verweisungsstruktur ist bestimmt
einheitliches Leben, ein von Situation in Situation Obergehen und in ihr Ziele haben, also von Zie! zu Ziel und im verwirklichenden Tun (Handeln im weitesten Sinn) von Erzielung, Verwirklichung zu ihren Zielen Ubergehen.« (Dok. nl2, 24, Anm. 70) 29 Vgl. I, 24, 46, u. o. Vgl. zur Horizontproblematik auch im Ganzen Held 1991b, insbes. 87ff. 30 S. I, 46 f.; vgl. auch Held 199Ib, 88: »lnjedem Erlebnis-von-etwas eroffnen sich Horizonte, aber
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bzw. »gegliedert« durch die Art der Interessezuwendung: Die asthetische Einstellung ist auf ihren Horizont gemaB asthetischem Interesse gerichtet, die Erlebnisweise ist grundsatzlich »asthetisch«. Der der Einstellung korrelierende Horizont als Zuwendungsfeld-fur eine Einstellung ist ein sinnhaft gegliederter Verweisungszusammenhang und als solcher eine »Welt« (vgl. VI, 29; xv, 147). Besteht zwischen Erfahrungs- und Gegebenheitsweisen ein Korrelationsapriori, so kann man eine ahnliche Korrelation feststellen, die jenes Apriori noch umfasst: die Korrelation von Einstellung und Welt. Das Verhaltnis von Intendieren und Intendiertem weitet sich aus hinsichtlich der umfassenden Korrelation, die das intendierende Ich und dessen Inhalt umgreift. Hier gilt fur das Verhaltnis von Ich und Einstellung: Zwar geht das Ich nicht darin auf, eine Einstellung zu sein, aber es lebt sich aus in Einstellungen. 31 Der Lebensstrom des Ich spielt sich immer in bestimmten interessegeleiteten Einstellungen ab, die sich auf einen jeweiligen Horizont bzw. eine »Welt« beziehen. Welt ist dem Ich immer gegeben durch den Schematismus der Einstellung, worin sich erst Einzelakte vollziehen konnen. Die Intentionalitat kann sich also immer nur innerhalb einer auf eine Welt bezogenen Einstellung abspielen, aus der heraus in einer konkreten Situation ein Akt etwas-als-etwas intendiert. Das formal-intentionale VerhaItnis eines Ego zu einem Gegenstand als intendiertem Sinn ist nur die »Schwundstufe« des normalen, sinnhaften Weltlebens. Die Betonung eines Welthorizontes ist zu erganzen durch dessen Korrelat: eine Einstellung. 1st Welt als »offenes Feld von Verweisungen« ein Horizont, so ist Einstellung als deren Korrelat ebenso ein offener Horizont als Vermoglichkeit von als-etwas-erfahrenden Akten. Eine Einstellung ist kein einzelner Akt, sondern ein Akthorizont, der »schlummern« kann, der aber der Horizont ist, aus dem sich ein bestimmter Akt nur vollziehen kann. Besteht eine Korrelation von Einstellung und Welt und ist Welt ein offener Horizont von Akteinstrahlungen, so ist korrelativ clazu eine Einstellung ein offener Horizont von vermoglichen Aktausstrahlungen, die gemaB ihrer Bedeutungs- bzw. Interesseperspektive ebenso aufeinander verweisen. Husserl hat dieses einem spezifischen Horizont korrelierende Verhalten auch als Horizontintentionalitiit bezeichnet, wobei er zumeist niederere Aktschichten im Blick hatte, die noch nicht mit Bedeutungshaftigkeit versehen waren. 32 Dies hat
diese Horizonte bestehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind im konkreten Erlebniszusammenhang durch Verweisungsverhaltnisse aufeinander beziehbar.« 3 1 Zu jedem lch-Akt gehort ein lch- und Selbstbewusstsein, das noch auf der vor-aktma13igen Ebene aufWeisbar sein muss, urn die Identitat des lch zu ermoglichen. Die Selbstbewusstseinsdebatte, die v. a. von der »Heidelberger Schule« diskutiert wurde, ist neuerdings auch auf fruchtbare Weise in die Phanomenologie eingeftihrt worden, anschlie13end an Versuche von M. Henry und anderen. Vgl. hierzu Zahavi 1999. J2 Vgl. I, § 19, 46ff, VI, 240, sowie XVII, 207. Husserl wendet diesen Begriff nur auf die passiven Modalisierungen des Zweifels, der Vermutung, etc. an. In FTL spricht er in Bezug auf ihre Auslegung von einer Auslegung des »gegenstandlichen Sinn[es] der nachsten Erfahrungsumgebung« (XVII, 207).
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ihn vermutlich zunachst zogern lassen, diese auf einen Horizont gerichtete Intentionalitat als »Einstellung« zu bezeichnen. Sofern aber bereits ein bedeutungshafter Akt als Situation bezeichnet wurde, die ihrerseits aus einem eigenen »Horizont« von vermoglichen Akten hervorgeht, ist die Rede von Horizontintentionalitat als bedeutungshcifter Einstellung berechtigt. Dass der Einstellungsbegriff sich erst im Laufe der 20er Jahre genauer prazisiert, mag dazu beigetragen haben, dass er nicht immer in pragnantem Sinne verwendet wird33 und ihm erst in seinen spaten Texten eine pragnante Bedeutung im Kontext der Opposition von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung zukommt. Der Stufung Akt-Situation-Einstellung auf noetischer Seite entspricht auf noematischer Seite die von Aktinhalt-Ding(-als-etwas)-Welt. Diese Struktur sei universales Korrelationsschema genannt, das das intentionale Korrelationsapriori nochmals umgreift. 1.2.2.
Der Plural des Schemas Einstellung- Welt und das Phiinomen der Venveisung
Eine Vertiefung der formalen Struktur von Einstellung und Welt ftihrt zum husserlschen Begriff der Sonderwelt, die urn das Korrelat »Sondereinstellung«34 zu erganzen ist. Das Ergebnis des vorigen Abschnittes war: Der Offenheit einer Welt entspricht die Offenheit einer Einstellung zu ihr. Dabei aber ist man noch nicht bei »der« Welt im Vollsinne von Lebenswelt. » Welt« ist hier ausschlieBlich als Horizont verstanden und zeigt gegeniiber »Horizont« an, dass sie als offener Horizont, in den man »hineinlebt«, sinnhaft gegliedert, d. h. ein sinnhaJter Venveisungszusammenhang ist. Gegeniiber der Welt als Konstitutionsprodukt soli nun ihr Korrelat untersucht werden. In welchem Sinne kann die der Welt korrelierende Einstellung als »Horizont« bezeichnet werden? Das Hauptmerkmal der Einstellung ist, dass sie gleich einer Perspektive nicht nur ein Einzelding in der betreffenden Einstellung, sondern aile moglichen (prinzipiell zuganglichen) Dinge intendieren kann. Der Horizont als stets erweiterbarer hat das Charakteristikum des» Und-so-weiter«. Dadurch wird sowohl der Welthorizont erweitert, sofern immer neue Dinge in den »Blick« kommen, als auch immer neue, diesen Dingen korrelierende Akte vollzogen werden; man »erweitert seinen Horizont« als rundumblickendes »Anschauungs«-Feld, und korrelativ zum »noematischen« erweitert sich der Horizont des thematischen Blicks als sich immer mehr ausweiternder Vermoglichkeitsspielraum. 33
Der Einstellungsbegriff kornmt bei Husser! in mehreren Bedeutungen vor. So spricht Husser! einerseits pauschal von der natiir!ichen Einstellung gegeniiber der wissenschaftlichen oder philosophischen Einstellung; dann aber wiederum von »naturalistischer« und "personalistischer Einstellung« (s. IV, 173 ff.), ferner ,)abstraktiver Einstellung« (VI, 242), »innenpsychologischer Einstellung« (V, 145) etc.; das Stellenindex Strakers (Straker 1992, 143 f.) weist etwas mehr als 30 Kombinationen mit ,) Einstellung« auf. 34 Dieser Begriff selbst taucht bei Husser! nicht auf, fungiert der Sache nach aber unter den Begriffen ,)Sonder-«, »PartikuJ:irinteresse« u. dgl.
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Die bisher besprochenen Einstellungen und deren Korrelate umfassen jeweils nur speziJtsche Interessenbereiche. Grundsiitzlich gilt: Diese Interessenssphare ist Thema fur diese Einstellung; im Sinne des Paradigma der Berufseinstellung: ihr korreliert als Thema die Welt des Berufs, der Einstellung des Botanikers die Welt der Botanik, etc. Jede jeweilige »kontextuelle« Lebensweise hat eine gewisse »Universalitat«: »Jedejener )Welten< hat ihre durch den Berufszweck bestimmte Universalitat, jede den unendlichen Horizont einer gewissen )Allheit<.« (VI, 460) Der Botaniker ist botanisch nicht nur auf die im strengen Sinn botanischen Dinge gerichtet, sondern er apperzipiert auch potentiell »alies andere« in dieser Einstellung. Seinganzes Botanikerleben ist von der botanischen Einstellung »tingiert«. Das heiBt freilich nicht, dass alles immer auf botanische Weise wahrgenommen wird - was absurd ware -, sondern dass diese Einstellung das ganze Leben so dominiert, dass es das zeitweilig bedeutendste Lebensinteresse ist und alle Konzentration absorbiert, was zur Folge hat, dass, was eben nicht im engeren Sinne in den» botanischen Blick« tritt, erst gar nicht thematisch wird. In einer Einstellung leben heiBt, ein Haupt-Thema zu haben, das zugleich andere Themen ausblendet. 1st diese Bestimmung dem Einstellungsphanomen angemessen? 1st ein solcher Horizont in infinitum erweiterbar, so ist es fraglich, ob man jemals aus ihm herauskommen kann; denn miisste nicht die endlose Erweiterbarkeit der Welt in einer Einstellung bedeuten, dass man, gerade weil der Erweiterbarkeit keine Grenzen gesetzt sind, auch nie aus dem Horizont herauskommt? Diese Konsequenz ergabe sich in der Tat und konnte die Tatsache, dass man sich stets schon in verschiedenen Einstellungen befindet, nicht erklaren. Es muss das Problem gelost werden, welches sich aus der Horizontmetapher ergibt, namlich dass die Horizonte jeweils abgeschlossene »Welten« und dadurch hermetisch abgeschlossene »Raume« sind, die man nicht verlassen konnte. 35 Die Briicke zwischen Einstellungen schlagt das Phanomen der Verweisung. »Verweisung« ist als einzelne Einstellungen bzw. Horizonte ubergreifende Sinnstruktur zu verstehen. Sie kann einmal »intra-horizontal« verstanden werden, aber auch im Sinne einer Verweisung zwischen Horizonten. In beiden Fallen hat der jeweilige Horizont eine gewisse Exklusivitat an sich (im Berufist es erforderlich, alle anderen Interessen auszublenden etc.), und doch verweisen die Horizonte und die jeweiligen Einstellungen aufeinander. Die Vorderseite eines Dinges verweist auf dessen Riickseite, wie der Beruf auf die Zeit »danach« verweist. Es ist gerade die Auszeichnung eines einheitlichen Ichbewusstseins, ein durch aIle Einstellungen hindurchgehendes »Kontinuitatsbewusstsein« zu haben. Husserl selbst verwendet den Ausdruck
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Nebenbei sei erwilint, dass von der Losung dieser Frage die Moglichkeit von »Horizontverschmelzung« abhangt. - Ferner darf diese Konzeption nicht so missverstanden werden, dass eine Einstellung gleich einer Rolle ist, die man spielt und die andere Rollen »ausschlieBt«. Die RollenMetapher ist auch deswegen unangemessen, da, nach dem trivialen Satz »Leben ist Rollenspiel«, dies die Moglichkeit enthielte, einmal »keine Rolle mehr zu spielen«, was hieBe, ein Leben ohne Einstellung zu leben.
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» Verweisung«
nicht in dieser Bedeutung;36 dennoch kann dieser, von Heidegger aufgegriffene Begriff37 verwendet werden, sofern Husserl hierftir »Motivationen« ansetzt, gemaB denen man sich potentialiter von einer zur anderen Interesseneinstellung begeben kann. »Verweisung« betont den Aspekt des Horizonts, von dem Verweisungen von einem zum anderen auslaufen; sofern aber der Horizontbegriffhier sowohl auf noetischer wie noematischer Seite verwendet wird, kann »Verweisung« auch auf das Einstellungsphanomen ubertragen werden. Das Beispiel des Berufs verdeutlicht, wie Verweisung zwischen Einstellungen zu verstehen ist: Man verIasst nicht die Berufseinstellung in dem Moment, wo man »das Buro verlasst«, wie man auch, umgekehrt, in seiner Berufseinstellung z. B. durch Larm auf der StraBe gestort werden kann. Die Einstellungshorizonte verweisen gerade so sehr aufeinander, dass man oftmals »gewaltsam« andere Einstellungen abblenden muss, urn sich einer Einstellung ganz »hinge ben « zu konnen. 1st die volle Einstellung auf einen bestimmten Horizont in dem Sinne eine Frage der Konzentration, so kann man dieses »Ausklammern« auch als partiale Epoche bezeichnen. Ais ein partiales Ausklammern ist sie strukturell nicht von der phanomenologischen Epoche verschieden. Die Einstellung auf etwas zuungunsten eines anderen ist immer eine partiale Epoche, in der man, urn in eine bestimmte Einstellung »hineinzukommen«, andere inhibiert. Interesseleben ist somit immer durch Einstellung-auf-etwas mit der Kehrseite von partialer Epoche-von-anderem charakterisiert; Thema impliziert ein Nicht-Thema. Gerade wei! Einstellungen aufeinander verweisen, ist diese partiale Epoche vonnoten; andernfalls ware der Mensch willenlos allen sich aufdrangenden Reizen hingegeben, ohne ein gesetztes Ziel verfolgen zu konnen. Das Ich konstituiert sich geradezu als reifes, und d. h. Willens-Ich, indem es sich im Chaos des sich aufdrangenden Seienden ein Ziel setzt und den Entschluss fasst, es zu verwirklichen und es unter Ablenkung alles sich diesem Entschluss Entgegensetzenden durchzusetzen. Es geht in vorstehender Diskussion urn eine Strukturbestimmung von Einzeleinstellungen. Die Welten fUr die jeweiligen Sonderinteressen der jeweiligen Einstellungen bezeichnet Husserl auch als »Sonderwelten«,38 sie sind damit die Horizonte gewisser partikularer Interessen, die in infinitum erweiterbar, damit aber nicht gegeneinander abgeschlossen sind, sondern gegenseitig aufeinander verweisen. Man kann diese also auch als Sondereinstellungen bezeichnen.
36 Vgl. I, 82, 112f. "Intentionale Verweisung« bezeichnet hier die Verweisung statischer Bewusstseinsphanomene auf ihre passiv-sedimentierte Genesis. 37 Vgl. sz, § 17, 76ff 38 Vgl. die bereits erwahnte Beilage in VI, 459ff, sowie die Ausftihrungen hierzu von Held I989b, 18.
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KAPITEL I
Sonderwelt-Sondereinstellung und die Pluralitiit der Sondereinstellungen. Die Gespaltenheit von Heimwelt - Heimeinstellung 1.2.3.
Die Person kann eine Vielzahl von Einstellungen durehleben, die jeweiligen Welten korrelieren. Die Horizontkorrelate konnen sieh gegenseitig aussehlieBen oder iibersehneiden; Paralleles gilt fur die jeweiligen Einstellungen. Sie haben jedoeh einen gemeinsamen Bezugs- bzw. Quellpunkt: das Ieh als Vollzieher von Einstellungen. Das Ieh ist gekennzeiehnet dureh ein dureh aIle Lebenssituationen hindurehgehendes »Einheitsbewusstsein« und ist dadureh eharakterisiert, dass es sieh als normales Vernunftsubjekt nieht in Einstellungen »verliert«, sondern sieh als identisehes in allen noeh so »einnehmenden« Einstellungsweisen erhalt. 39 Das Ieh ist so identiseh, obwohl es sieh in versehiedenen Lebenssituationen - versehiedenen Einstellungen mit ihren korrelierenden Welten - befindet. Es ist gerade das Erstaunliehe, dass sieh das Ieh in versehiedenen Existenzweisen stets als sich selbst weij3.40 Doeh muss dem Befund der versehiedenen Einstellungen, in denen das Ieh jeweils lebt, Reehnung getragen werden. Das Ieh ist eine Identitat im Sinne eines durehgehenden Kontinuitats- bzw. Einheitsbewusstseins mit einem identisehen Iehpol, aber es lebt sieh immer in einer bestimmten Einstellung aus. Dieses Immer-ineiner-bestimmten-Einstellung-Sein ist also keine Sehizophrenie oder Personliehkeitsspaltung; denn es ist ja immer das gleiche und sieh als gleiehes wissende Ich, das sieh bald so, bald anders auslebt. 41 Dennoeh lebt das identisehe Ieh stets in versehiedenen Einstellungen. Dieses fUr das Ieh konstitutive Phanomen ist also keine Ichspaltung, von der Husserl im Kontext der radikalen Reflexion sprieht (s. Kap. 2.2.), insofern die »Spaltung« hier die durehgehende Identitat des Ich nieht in Frage stellt. Die »Spaltung«, wenn man es iiberhaupt so nennen kann, bezieht sieh vielmehr auf die Pluralitat und Versehiedenheit der Einstellungen. Ebenso muss der Eindruek vermieden werden, als ware diese 39 Ein pathologiseher Grenzfall ist hier freilieh die Sehizophrenie oder das Multiple Personality Syndrome (MPS), demzufolge sieh in einem Ich mehrere Personalitaten »ausbilden«. Diese Krankheit geht anscheinend auf Misshandlung im Kindesalter zuriick, wo sich gewisse Personlichkeits»Ziige« abspaiten und als eigene Personen ausbilden. Vgl. hierzu Orban 1995. Diese »abnormalen« Phanomene konnen im obigen Zusammenhang, der vom husser!schen Paradigma der Normalitat erwaehsener Vernunftsubjekte ausgeht, nicht behandelt werden. Der Komplex Normalitat (Gesundheit)/ Anomalitat wurde beim spateren Husser! im Rahmen der Analyse der intersubjektiven Gemeinschaftlichkeit thematisiert; vgl. hierzu u. a. xv, Texte IO und II, sowie Beilage VII, 133 If Vgl. hierzu Steinbock 123 If Rolf interpretiert Normalitat bei Husser! im Sinne des jamessehen common sense (vgl. Rolf 1999, 135f.). 40 Zur Identitat des Ich vgl. auch IV, S. 971f (Das reine Ich). Vgl. auch Beilage II (ebd., 3II): »Das Ich bleibt solange unverandert, als es >bei seiner Uberzeugung, Meinung bleibt<; die Uberzeugung andern ist >sieh< andern. Aber in der Anderung und Unveranderung ist das Ieh identisch dasselbe eben als Pol.« 41 In dem Sinne konnte man Rollenspiel als willentlieh herbeigefiihrte Personlichkeitsspaltung bezeiehnen, insofern man hier eine Rolle annimmt, die sich von einer anderen oder der »wahren« Personlichkeit unterscheidet.
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Multiplizitat eine Spaltung einer urspriinglich einheitlichen Einstellung. »Spaltung« ist von ihrer Grundbedeutung her unangebracht, wenn auch nicht ganz falsch, denkt man an den Fall des gegenseitigen Ausschlusses von Einstellungen wie beim extremen Beispiel vom Richter und Freund in »Personalunion«. In diesem Fall ist die Rede, man sei »innerlich gespalten«, durchaus zutreffend. 1st das Ich also immer schon in verschiedene Einstellung ))verbreitet«, so sei hierfur der Begriff Gespaltenheit verwendet: Das ))eine«, einheitliche Ich ist immer schon in verschiedene Einstellungen aufgespalten. Das ist nichts Abnormales, sondern eine Deskription der normalen ichlichen Lebensweise. Das Ich lebt sich je in einer eigenen Einstellung aus, die je bezogen ist auf eine besondere Welt als eine Sonderwelt, der eine Sondereinstellung entspricht. 42 Die Pluralitat der Einstellungen widerspricht damit nicht der Identitat des Ich, sondern seine Identitat stellt sich im Gegenteil immer wieder her und bewahrt sich stets in der Gespaltenheit der Sondereinstellungen. Hier kann an die Struktur der Erfahrung erinnert werden, gemaB der nach einem ))Bruch« sich wieder eine Einstimmigkeit herstellt. Identitat kann sich immer nur durch Briiche hindurch bewahren. Neben der Identitat des fungierenden Ich, das durch alle Situationen hindurchgeht, eignet auch der Pluralitat von Sonderwelten bzw. Sondereinstellungen eine Einheitlichkeit oder Einstimmigkeit, die nur durch den Extremfall der widerspriichlichen Einstellungen zeitweilig zunichte gemacht werden kann. Die Frage ware, ob sich im Fall von Freund und Richter je eine hahere Einstimmigkeit herstellen lieBe oder ob die GesPaltenheit von der erlebten Extremsituation an fur die Zukunft dem Ich gewissermaBen ))eingebrannt« ist. Solche Phanomene sind bekannt, wenn Menschen durch auBerordentliche Ereignisse wie Krieg oder durch ein Trauma fur alle Zeit ))gezeichnet« sind. Moglicherweise versagt hier das aus der Wahrnehmungsanalyse entlehnte Schema. Wir lassen aber Extrembeispiele beiseite - und man kann das mit Verweis auf deren Abnormalitat, was sie aus der an der Normalitat orientierten phanomenologischen Analyse ausschlieBt - und wenden uns der Einheitlichkeit des Ich bzw. der Sonderwelten zu. Hier ist Einheitlichkeit durch das Phanomen der Verweisung zu explizieren: Besteht ein Verweisungszusammenhang nicht nur innerhalb eines Horizonts, sondern auch zwischen Horizonten, so dass sie aufeinander verweisen in der Weise der Beriihrung oder gar des gegenseitigen Ausschlusses, so besteht zwischen ihnen doch eine gewisse Zusarnmengeharigkeit, und zwar dadurch, dass es jeweils ein Ich ist, das sie durchlebt. Es sind seine Welten und ihm zugehorig (wenn auch nicht nur ihm). Sie gehoren zusammen als Welten eines Ich. Das heiBt, in diesen Welten fuhlt sich ein jeweiliges Ich heimatlich oder beheimatet; denn sie sind ihm vertraut, es kennt sich in ihnen - nach Typik und Stil43 - aus, auch wenn ein-
42 43
In der Beilage XVll zur Krisis (VI, 459ff.) spricht Husser! ausdriicklich von c1iesen »Sonderwelten« oder auch »Zweckwelten« (vgl. ebd., 460). Vgl. etwa XV, 197. Typik und Stil sind u. a. Konstituentien des Bekanntheitscharakters der Heimwelt.
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zelne Dinge oder Regionen unbekannt, aber nicht prinzipiell fremd sein konnen. Die aufeinander verweisende Einheitlichkeit der Sonderwelten als Welten eines lch bezeichnet Husserl als Heimwelt. 44 Diese Horizontdimension als Welt des Hineinlebens des Ich kann in noetischer Hinsieht durch den Begriff der Heimeinstellung erganzt werden. Die normale Lebensweise des Ich ist eharakterisiert durch eine Pluralitat von Sondereinstellungen, die in ihrer Funktionalitat aufeinander verweisen und dadurch die Einstellungen einer Person sind, welche mal so, mal so lebt. Alle diese Verhaltensweisen-in-Einstellungen gehoren zum normalen Sein dieser Person und sind ihr vertraut. »Heimeinstellung« ist so der Inbegriff45 aller wirklichen und potentiellen Sondereinstellungen eines leh, wie korrelativ die Heimwelt der Inbegriff aller wirklichen und (ver)moglichen Welten eines Ich ist, aber nicht nur eines leh. Die Einheit bzw. numerische Identitat des Ich lebt sich aus in einer »Heimeinstellung«, die unterteilt und aufgespalten ist in eine offene Multiplizitat von Sondereinstellungen mit ihren jeweiligen korrelierenden Sonderhorizonten. Die Einheit und Einstimmigkeit des »heimatlichen «, vertrauten Lebens ist nur auf dem Grund einer Vielheit von Einstellungen moglich, dureh die hindurch sich das Ich als identisches konstituiert und bewahrt. Bisher wurde die Genesis der Heimwelt - mit ihrer Erganzung durch die Heimeinstellung - aus der intentional en Perspektive aufgezeigt. Ein vertieftes Verstandnis der natiirlichen Einstellung ist nur aus dieser Blickweise verstandlich und bietet erst die Folie fUr das durch die phanomenologisehe Reduktion ermoglichte Verlassen der natiirlichen Einstellung und die Etablierung der phanomenologischen Einstellung. Der im Rahmen der bisherigen Rekonstruktion letzte Schritt zur natiirliehen Einstellung mit ihrem Korrelat Lebenswelt lauft iiber Husserls Bestimmung des Verhaltnisses von Heim- und Fremdwelt. 1.2.4.
Heim- und Fremdwelt. Natiirliche Einstellung und Lebenswelt
Die zahlreichen Untersuchungen zum Verhaltnis Heimwelt-Fremdwelt nur erwahnend,46 sollte zwar deutlich werden, dass zwischen Welt und Einstellung eine Korrelation besteht; sie ist deshalb bedeutsam, weil erst durch sie die volle Bedeutung und Tragweite der natiirlichen Einstellung deutlieh wird. Die aus Sonderwelten bestehende Heimwelt konstituiert eine Einheitlichkeit, insofern sie die Welt eines Ieh ist, welches sich seinerseits in einer Vielheit von Sondereinstellungen auslebt, die aber als Einstellungen einer Person in ihrer Einheitliehkeit die Heimeinstellung ausmaehen. So ist die Heimwelt ebenso wie das
44 Wiederurn ist auf zahlreiche Texte aus den Texten zur Intersubjektivitat zu verweisen. vgl. xv, Nr. 14, 196ff., sowie Beilage I I, 214ff. Zu cincr Diskussion von Heirnwelt vgl. Steinbock, 17off. 45 Zu diesern Begriff vgl. Claesges, 94f. 46 Neben den bereits zitierten Untersuchungen von Held und Steinbock sei auch verwiesen auf Waldenfels 1994, insbes. 215 ff., sowie Waldenfels 1995a, 51 ff. und aufLohrnar 1997·
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in sie hineinlebende Ich immer bereits eine in sich gespaltene Einheit. Korrelativ zu ihr gilt folglich: Die Heimeinstellung ist nicht die Summe aller Sondereinstellungen, sondern der Inbegriff aller »vermoglich« zu durchlebenden Einstellungen. Dass diese Heimwelt eine Tradition hat und immer schon die Welt einer Menschengruppe ist, wurde bisher ausgeblendet; der Begriff »Heimat« deutet das jedoch schon an. Husserl bezeichnet "die« jeweilige Menschheit einer Heimwelt in intersubjektiver Vergemeinschaftung als "Personalitat hoherer Ordnung«Y Diese intersubjektive und generative Personalitat ist in sich strukturell wie eine Einzelperson konstituiert, in die wiederum eine Vielzahl von Einstellungen eingeht. Diese hohere Personalitat weist ihrerseits auf die konkrete, primordiale Personalitat zuriick: "SO ist [... J auch die Kulturwelt ,orientiert< gegeben in Beziehung auf ein Nullglied, bzw. auf eine ,Personalitat<. Hier sind Ich und meine Kultur das Primordiale gegeniiber jeder ,fremden( Kultur.« (I, 137)
Aus der Vielzahl von Einstellungen - jeweiliger Personen - ergibt sich so pyramidenformig eine hohere Einheitlichkeit, die wieder Elemente einer hoheren Instanz bilden etc. bis zu einem Gipfelpunkt. Sofern Husserl die jeweilige Menschheitsgruppe als ein groBes Individuum ansieht, kann die Struktur von Einstellung und Welt auf eine Menschheitsgruppe gleich welchen Umfangs ausgedehnt werden. 48 Eine solche ist ebenso als eine - hoherstufige - Einheitlichkeit konstituiert, sei es durch gemeinsame Tradition (einer Familie, eines Stamms, einer Nation) oder durch eine Interessengemeinsamkeit (eines Vereins oder Berufsstands). Da diese Heimwelt somit eine eigene Einheitlichkeit als Welt eines Ich oder einer Gruppe mit ihrer Heimeinstellung, ihrem gewohnten Habitus und Stil, hat, muss es auch andere Heimwelten geben, die fur sich in gleichem Sinn in einem einheitlichen Stil konstituiert sind. 49 Dieser Stil kann dem meinen ahnlich (etwa bei zwei vertrauten Familien) oder auch radikal anders sein (bei zwei sich fremden Kulturen). Der andere Stil ist aber im Fall der extremen Andersheit nicht unbekannt in der Weise, wie mir Dinge in meiner Heimwelt unbekannt sein konnen, sondern auf radikalere Weisefremd. »Fremd« heiBt: Ich erkenne den fremden Stillediglich formal als Stil, d. h. mit seiner eigenen, mir aber unbekannten - und vorerst undurchschaubaren Einstimmigkeit. Der Stil des Fremden ist mir fremd, aber ich erkenne doch, dass er fur sich eine eigene Einstimmigkeit hat:
47 S. I, § 58, 135. Vgl. auch XIV, Text Nr. 9 (165 If.) und Nr. IO (1921f). 48 So ist die Gemeinschaft, trotz ihrer Einheitlichkeit auf Grund der Zughiirigkeit der Einzelnen zur Sozietat, von vornherein plural angelegt, vgl. Zahavi 1996, 53 If. Die Pluralitat ist sornit nicht erst
in intersubjektiver Gemeinschaft vorhanden, sondern bereits im Individuum, urn sich von dort in hiihere Personalitaten »fortzupflanzen<<. 49 Vgl. hierzu v.a. die Ausftihrungen bei Lohrnar 1997, insbes. 191 If
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KAPITEL I
»Ich und wir lernen Fremde als Subjekte einer fremden, in ihrem Gemeinschaftsleben einstimmig erfahrenen Welt kennen. Korrelativ zu dieser Welt, als praktische Lebenswelt und als Welt uberhaupt fUr sie geltend, sind sie Menschen anderer Erfahrungen, anderer Naturumgebung, anderer Lebensziele, anderer Uberzeugungen jeder Art, anderer Gewohnheiten, anderer praktischer Verhaltungsweisen, anderer Traditionen. Fur mich erweitert sich meine Welt (bzw. fUr meine Heimgenossenschaft) dadurch, dass es eine andere Heimgenossenschaft gibt, anders lebend, sich verhaltend, )die< Welt anders auffassend, aber in der Tat auch eine andere Kulturwelt habend als ihnen geltende, nicht uns." (XV,2I4) »Neben« der Heimwelt gibt es Fremdwelten, die aberJur sich wiederum im gleichen Sinne konstituiert sind ais eigene Heimwelten mit ihren Heimeinstellungen. Es ist die Frage, wie sich die verschiedenen Heimwelten bei ihrem Aufeinandertreffen verhalten und ob in der Tat eine allgemeine Horizontverschmelzung moglich ist, wie auch Husserl die Frage einer moglichen »Allsynthesis«so in der Schwebe las st. Dennoch sind aIle Heimeinstellungen auf je ihre Weise auf eine Welt, ihre Heimwelt, bezogen. Ihre Lebensumwelt oder» Nahwelt« (xv, 428) ist fur sie ihre und damit die zunachst einzige Welt. Die Heimwelt ist fUr sie ihre Lebenswelt. »Welt« darf in diesem Zusammenhang nicht ais »Territorium«sl neben anderen missverstanden werden. Verschiedene Einstellungen konnen ein und dasselbe Horizontkorrelat haben, auch wenn sie es aus verschiedenen Perspektiven betrachten. In diesem Sinne konnen sich auch die Welten verschiedener Heimeinstellungen »territorial« iiberschneiden. Entscheidend hierbei ist, dass verschiedene Heimeinstellungen zwar ihre je eigene Heimwelt haben, diese Heimwelt aber das Korrelat ihrer Blickweise auf die Welt ist. Welt als Horizont ist in infinitum erweiterbar. Aile Heimeinstellungen sind in dieser Weise unendlich erweiterbar und dehnen sich in der Erfahrung von Fremdwelten in ihrem heimweltlichen Sinn auch auf diese aus, und vice versa; Ietztlich sind aIle Heimeinstellungen auf die eine und selbe Welt ais »Endform« (xv, 218) gerichtet, die sie im Sinne ihrer eigenen Heimwelt verstehen. Damit iiberschneiden sie sich aber mit anderen Heimeinstellungen, die ihren Horizont ihrerseits in infinitum erweitern. »Die« Welt ais universaies Korrelat all dieser heimweltlichen Aktivitaten ist somit der Universalhorizont, »worin« all diese Einstellungsweisen terminieren, insofern sie aIle in die eine Welt hineinieben. Es gibt eine Vielzahl von Heimwelten, aber sie sind aIle zur einen Welt gehorig. So intendieren zwar die verschiedenen Heimeinstellungen ihr Weltkorrelat als je ihre Heimwelt, aber sie sind auf die eine und selbe Welt als den Universalhorizont aller Sonderhorizonte bezogen, wobei sie diesen Sonderhorizont nicht als solchen wahrnehmen. Sie sind aIle auf die eine Welt bezogen, die sie gemaB ihremjeweiligen heimweltlichen Verstandnis auslegen. Diese eine Welt ist erst der volle Sinn von xv, 2I7. Die kritischen Fragen an seine eigene Theorie in der Passage (2I7f.) zeigen, dass Husserls Uberlcgungen im Stadium der Fragwiirdigkeit verbleiben. 5 I Zu einem phanomenologischen Begriff von» Terrain« oder »Territorium« vgl. Steinbock, I67ff. 50
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Lebenswelt. Die Welt einer Heimeinsteliung ist zwar fur sie die ihr eigene Lebenswelt, aber vor dem Hintergrund der Vielheit von »Lebenswelten« zeigt sich, dass die partikulare Lebenswelt einer Heimeinstellung lediglich eine Heimwelt ist neben anderen, die aber aIle auf die eine Welt als Universalhorizont gerichtet sind. 52 Lebenswelt ist ein »singulare tantum«: »Auf der ersten Geltungsstufe der Intersubjektivitat und der intersubjektiven Lebenswelt habe ich einfach Welt in die offene Endlosigkeit von der Lebenswelt als der alIein interessanten, der Interessenumwelt aus sich erstreckend, nachher aber habe ich statt dieser Welt (mit dem ihr zugehorigen Korrelat des Wir, das aile Menschen besagt) vielmehr dieses Wir als eine Sondermenschheit und unsere Lebenswelt nicht mehr in alter Weise als die Lebenswelt. Sondern es hat sich konstituiert gegeniiber diesem Wir ein fremdes Wir, gegeniiber unserer Menschheit eine fremde Menschheit, jede sich vorfindend als in ihrer Umwelt, die nun nicht mehr die Welt iiberhaupt heiBt: im gewohnlichen Menschensinn (Lebenswelt). Es konstituiert sich von mir und uns aus eine erweiterte Menschheit und in weiterer Folge dann im selben zu iterierenden konstitutiven Prozess eine Vielheit von Volksmenschheiten, die eine einzige Menschheit bilden [... J und zu einer und derselben Welt gehoren, die in erster Weise Welt fur sie aile ist. « (xv, 2 I 5) »Die« Welt ais Lebenswelt ist der Inbegriff alier Heimwelten, die zwar fur die ihnen eigenen Heimeinstellungenje Lebenswelten als Lebensumwelten sind, die aber nach der Erfahrung von fremden Heimwelten als bloB partikulare Heimwelten erkannt werden. Die Lebenswelt ais singulare tantum ist die eine Welt, auf die alie Heimeinstellungen in je ihrem Vertrautheitsstil hinleben; sie ist nicht die Summe aller Heimwelten, sondern der Universalhorizont alier auf ihn bezogenen Partikularhorizonte. AIle Heimeinstellungen befinden sich immer schon »in« der Lebenswelt und sind bezogen auf sie, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Lebenswelt« ist somit sowohl der U niversalhorizont aller Sonderhorizonte, als auch der »Boden« im Sinne der universalen »Basis«, aus der alle »Heime« hervorgegangen sind. »Heimat« verweist jedoch auf »Fremde«. Heimeinstellung und -welt sind nur, was sie sind, im Gegensatz zur Fremdwelt, von der sie zunachst nichts wissen. Ob die jeweiligen Heimwelten in ihrem Aufeinandertreffen zu einer einheitlichen, neuen Heimwelt »verschmelzen« oder nicht - Tatsache ist, dass sich alle diese Einstellungsweisen auf die eine Welt beziehen, die als »allgemeinsame« die Lebenswelt ist. Mit der so bestimmten Lebenswelt ist das letzte Bindeglied zum vollen Begriff der natiirlichen Einsteliung aufgewiesen. Die natiirliche Einstellung als singulare tantum ist nichts anderes ais das Korrelat zur Lebenswelt als Universalhorizont. Was fur die 52 Held fLihrt aus, dass die Bestimmung der Lebenswelt als »Horizonts aller Horizonte« (vgl. Held 199Ia, 326f.) die logische Schwierigkeit enthalt, dass der Horizont aller Horizonte nur schwerlich selbst wieder als Horizont bezeichnet werden kann. Die Rede yom »Universalhorizont« verschleiert diese Schwierigkeit; denn man darf sich die Umgreifung der kleineren durch groBere Horizonte nicht als »Verschachtelung« vorstellen, was in einen infiniten Regress fLihren wiirde.
KAPITEL I
Lebenswelt gesagt wurde, gilt korrelativ fur die natiirliche Einstellung: Haben es die jeweiligen Heimeinstellungen an sich, jeweils Welt in ihrem Bekanntheitsstil zu intendieren, so tun sie dies in infinitum, ohne zunachst die Fremdheit der Fremdeinstellung zu erkennen. Die Fremdeinstellungen jeduch sind fur sich selbst wiederum Heimeinstellungen mit ihrem eigenen in infinitum erweiterbaren Bekanntheitsstil und haben ihre eigene Einheitlichkeit, sofern sie Einstellungen einer Person (bzw. einer Personalitat hoherer Ordnung) sind. Sie haben aIle gemeinsam, in sich differenzierte Einheitlichkeiten zu sein, die wiederum auf eine, in sich differenzierte, jedoch auf die eine Welt gerichtete Universaleinstellung zuriickverweisen. Aus der Sicht der einen Lebenswelt erweisen sich somit die Heimeinstellungen als Partikulareinstellungen, die jedoch var dem Einnehmen dieser Sichtweise als jeweilige, der partikularen Lebensumwelt korrelierende, einzig bekannte natiirliche Einstellungcn einer Heimat galten. So entspricht, nach dem Schema von Einstellung und Welt, der Heimwelt eine Heimeinstellung, die jedoch vor der Erfahrung von fremder Heimatlichkeit als fUr sich »normale« Lebenswelt und (einzig) natiirliche Einstellung gehalten wurde. Aus der erweiterten, das Fremde einbeziehenden Sicht wird das Korrelationsschema natiirliche Einstellung - Lebenswelt erst als universales sichtbar. 1st also die eine Welt das allen Mensch(heit)en Gemeinsame als »Ort« des Lebens, so gilt Analoges fur die natiirliche Einstellung. Sie ist die Universaleinstellung der Menschheit. Man kann diesen thematisch orientierten Abschnitt folgendermaBen zusammenfassen: Aus dem allgemeinen Korrelationsschema von Aktintention und Aktinhalt ergibt sich in bedeutungshafter Erweiterung da!Jenige von Akt-als-etwas und Inhalt-als-etwas (Situation), das wiederum in den erweiterten Rahmen von Einstellung und Horizont-Welt (als umfassendes Korrelationsschema) eingebettet ist. Die Vielheit der Korrelate von Einstellung-Welt (Sondereinstellungen-Sonderwelten) ist wiederum in die Einheit einer Heimat eingebettet mit ihrer Korrelation von Heimeinstellung und Heimwelt, die auf eine Fremde (Fremdeinstellung mit ihrer Fremdwelt) verweist, die wiederum fUr sich betrachtet eine Heimeinstellung mit ihrer Heimwelt ist. Diese »Heimaten« sind die Heime einer Menschheit in einer Welt. Umgreift »Heimat« den Einstellungs- wie Weltaspekt, so ist Husserls Redeweise von »natiirlichem Weltleben« ein adaquater Begriff fur das universale Korrelationsschema. Die universale Korrelation befasst aufhochster (oder, wenn man will, tiefster) Stufe natUrliche Einstellung und Lebenswelt. Soweit die thematische Bestimmung der natiirlichen Einstellung. Diese solI nun urn die methadische Analysehinsicht erweitert werden. Die methodische Untersuchung mit der ihr eigenen Systematik vervollstandigt die Theorie cler natiirlichen Einstellung. Sie ist Thema des nachsten Abschnitts.
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1.3. Theorie der natUrlichen Einstellung in methodischer Hinsicht Betrachtete die thematische Untersuchungsart die Weise, wie die natiirliche Einstellung (intentional) vollzogen wird, so fragt die methodische Analyse: Was bedeutet es, dass die natiirliche Einstellung so lebt, wie sie lebt? Was bedeutet diese »Existenzform« Jur die natiirliche Einstellung selbst und was bedeutet sie aJortiori fur das Projekt der transzendentalen Phanomenologie? 1st es Zufall, dass die EinfUhrung der Epoch€: in Ideen I mit einer Fundamentalbetrachtung anhebt, die als Erstes die natiirliche Einstellung thematisiert? Besteht die Phanomenologie als reflexives Unternehmen und als wissenschaftliche Disziplin in einer Abkehr von der natiirlichen Einstellung, dann ist es nicht nur sinnvoll, sondern methodisch geboten, das, wovon man sich kritisch abstoBt, zunachst in seinen wesentlichen Grundziigen auszulegen. In diesem Sinne griff der vorige thematische Abschnitt der methodischen Erorterung vor, indem er das methodische Problem, wie die natiirliche Einstellung iiberhaupt thematisch werden kann, iibersprang und so tat, als ware sie bereits thematisch und die Thematisierung selbst kein Problem. In Wahrheit ist die natiirliche Einstellung Jur sich jedoch nie thematisch. Dies ist aber kein »Defizit«, sondern ist als integrales Moment vielmehr positiv zu bestimmen. Es istJur die naturliche Einstellung konstitutiv, nicht Jur sich thematisch zu sein. Macht Husserls erste Darstellung in den Ideen I diese Einstellung ohne wei teres thematisch, ohne Reflexion darauf, wie dies solI moglich sein, muss man dieser Darstellung vorwerfen, das Problem der Unthematizitat der natiirlichen Einstellung iibersprungen zu haben. 53 Hat man die natiirliche Einstellung thematisch gemacht, so befindet man sich nicht mehr in ihr. Hier trifft das hegelianische Diktum zu: Sieht man den Horizont als Horizont, hat man ihn bereits iiberschritten. Dies ist von Bedeutung fUr die methodische Bestimmung der natiirlichen Einstellung. Die methodische Frage nach der natiirlichen Einstellung betrifft zunachst das Problem, wie sie iiberhaupt thematisch werden kann, sodann, was diese Unthematizitat positiv bedeutet. Die Leitfaden fur die methodische Rekonstruktion sind Naturlichkeit, Naivitat und Normalitat. 1. 3.1.
Naturlichkeit
Wenn »Natiirlichkeit«, als Bestandteil des Begriffs »natiirliche Einstellung«, mehr sein solI als ein neutraler Terminus, muss er positiv bestimmt werden konnen. Worin besteht die Naturlichkeit der natiirlichen Einstellung? Auch wenn man Natiirlichkeit noch ohne Blick auf die Einstellung der Phanomenologie thematisieren kann - die Husserl auch als ))Unnatiirlich« bezeichnet54 - , so erhalt sie doch nur in dieser 53 Husserl wirft sich dies im Ubrigen selbst vor in seinen kritischen Reflexionen auf seinen Weg in den Ideen. Vgl. auch v, 148ff. (aus dem "Nachwort« zu den Ideen). 54 Vgl. VIII, 120 If, sowie II, 58. Marbach hat die Charakterisierung der Phanomenologie als un- oder
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KAPITEL I
Spannung ihre eigentliche Bestimmung. Auch muss sie von »Naivitat« abgegrenzt werden. Es zeigt sich: Natiirlichkeit und Naivitat sind die Seiten einer Medaille, was auch dadurch indirekt bestatigt wird, dass beide auf die gleiche Wurzel lat. nasci zuruckgehen. Aus Grunden der Differenzierung sollen beide Begriffe getrennt behandelt werden, auch wenn sich Husserl evtl. ihres Unterschieds nicht bewusst war, etwa wenn er von der natiirlichen Einstellung als »naiv-natiirlicher« spricht (vgl. VI, 158, 213 u.o.). »Natiirlichkeit« kann von zwei Richtungen angegangen werden: von seiner sprachlichen Wurzel und vom Begriff der Natur. Nasci heiBt »geboren werden, entstehen, wachsen«. Was als »Verschossensein« auf Welt oder als »Geradehinleben« bezeichnet wurde, heiBt vom Aspekt der menschlichen Geburt und Entwicklung her: Der Mensch lebt geradehin in die Welt und intentional »verschossen« aufsie nicht ab einem bestimmten Moment, sondern prinzipiell, und zwar strenggenommen von Geburt an. Das In-die-Welt-Streben ist dem Menschen »eingeboren«. Das Kennenlernen von Welt und Seiendem beginnt von dem Moment an, wo ein Mensch »auf die Welt kommt«. Dieses »Hineingeraten« in die Welt ist »natiirlich«, sofern man sich nicht daftir oder dagegen entscheiden kann, sondern in sie »geworfen« wird. Dass dieser Prozess des Kennenlernens von Geburt an beginnt, besagt auch, dass die Welt in ihrem Gesamtstil bereits vorgegeben ist und ihn auch schon »vorher« hatte; gleichzeitig aber, dass man die eine Welt nicht sogleich in diesem Gesamtstil als ganze hat, sondern nach und nach fUr sich entdeckt. Dieses Entdecken vollzieht sich nicht nur im »territorialen« Sinne einer Ausdehnung des Bekanntheitshorizontes, sondern als ein Kennenlernen dieses Weltstils selbst. Die Umwelt hat »einen empirischen Gesamtstil« (VI, 28), der ais bereits existierender fortschreitend entdeckt und verstanden wird. Die Entwicklung eines Menschen vom Sauglingsalter bis zur Reife wird von Hussed im Rahmen der Konstitutionstheorie unter dem Aspekt der normalen Weltapperzeption eines erwachsenen Vernunftmenschen thematisiert. 55 Wird die Weltkonstitution »normalerweise« vom erwachsenen und d. h. normalen Vernunftsubjekt geleistet, miissen die »Anomalitatsformen« wie die Tiere, die Kinder im Stadium der »Friihkindlichkeit« (xv, 173) und auch die »Verriickten«56 aufihre Weise Teil an der Weltkonstitution haben innerhalb einer Stufenfolge von Konstitutionsschichten im Rahmen der »universalen Einheit der Weltkonstitution« (xv, 173). Hierbei werden die der noch nicht (im Falle von Tieren oder Kindern) oder nicht mehr (bei Verriickten oder Senilen) normalen Erfahrungsarten im Vergleich zu der des idealtypischen normalen Vernunftsubjekts als anomal betrachtet. Hier ist me thodisch vorgezeichnet, die Ganzheit der Leistungsarten aller »Konstitutionszustande«,
widernatiirliche Einstellung bis zu den LV zuriickverfolgt, vgl. Marbach 1974, 40f., insbes. 41, Anm.41. 55 Vgl. die Beilagen VIIl und IX in XV, 171 if, sowie Text Nr. 27 in XXIX, 317. Vgl. zum Problem der Normalitat auch Marbach, 329ft". 56 Zum Problem der Anomalitat bzw. Abnormalitat vgl. xv, 133 if und 148ft".
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also all dessen, was zwischen den Lebensklammern von Anfang und Ende fungiert, zu untersuchen, m. a. W die» Wesensbeziehung« von» Welt, Geburt und Tod (also Generativitat)« (xv, 171) im Rahmen der transzendentalen Konstitutionstheorie aufzuzeigen. Normalitat ist, was sie ist, in Abgrenzung gegen AnomalitatY Das »naturliche« Hineinleben in die Welt bedeutet positiv: Es vollzieht sich als ein unmittelbar fortschreitendes Erkennen und erweitert die zunachst verengte Sichtweise immer weiter, da man als normaler, noch unausgebildeter Vernunftmensch die Vermoglichkeit hat, seinen Horizont zu erweitern. Wie man den Erfahrungshorizont der thematischen Welt in infinitum erweitern kann, gilt dies auch in entwicklungsgenetischer Hinsicht: Die Welterfahrung setzt ein »irgendwann« und lebt »sogleich« in die Welt, die sich immer weiter ausdehnt, aber in ihrem Stil weiterhin im Sinne des »Geradehin-Verschossenseins« verbleibt. Der Stil des Horizonts selbst verandert sich - bei normaler Entwicklung - selbst nicht, wohl aber seine Weite. Dieser »Naturlichkeits-Stil« kann auch als Alltaglichkeit, in der man »zunachst und zumeist« lebt, bezeichnet werden. Man braucht keine Hermeneutik der Faktizitat, urn zu sehen, dass Husserls Darstellung der Welt der naturlichen Einstellung bereits in der »Fundamentalbetrachtung« der Ideen I darum bemuht ist, die durchschnittliche oder mnmittelbare« Lebensweise deskriptiv einzufangen, wenn er schreibt: »Ich bin mir [einer Welt] bewusst, das sagt vor allem: ich finde sie unmittelbar anschaulich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Horen usw., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind korperliche Dinge in irgendeiner raumlichen Verteilung fur mich einfach da, im wordichen oder bildlichen Sinne >vorhanden< [... ].« (mfr, 56)
Versteht man die naturliche Einstellung im Sinne einer naturhaften und naturlichen (bruchlosen) Entwicklung, so heiBt das ftir das Element der Naturlichkeit: Sie ist die alltagliche Weise, in der man nicht nur »durchschnittlich« lebt, sondern auch von Geburt an - und »normalerweise« bis zum Tode hin. Neben dieser etymologisch hergeleiteten Erklarung der Naturlichkeit von Geburt und menschlicher Entwicklung kann das Attribut »naturlich« auch aus einer anderen Perspektive erhellt werden, die im Phanomen der Geburt vorgezeichnet ist. Dieser Naturbegriffkommt dem griechischen »qJUOfL« nahe. Was hiermit gemeint ist, wird indirekt deutlich in der Redweise, dass jemandem etwas »zur zweiten Natur« wird. »Natur« meint hier einen Habitus. Kann etwas zur »zweiten Natu[\< werden, muss es eine »erste« Natur geben. Diese ist nichts anderes als der Charakter, der sich durch mannigfache Erfahrungen hindurch bildet, modifiziert oder gar »andert«,58 aber doch einen identischen Ichpol behalt: Die Person bleibt in der Veranderung 57 Normalitat kann so auch zur Normativitiit werden, so, wie •• man zu sein hat«; vgl. Steinbock, 138 If 58 Vgl. IV, 311. Die Entwicklung dieses Naturbegriffs aus den Arbeiten zur Konstitution in Idem II hat Sakakibara 1998 rekonstruiert.
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identisch. Dennoch bildet sich durch die Entwicklung hindurch ein charakterlicher Kern heraus, der im Lebensprozess Konturen gewinnt (sich »bewahrt«) und sich dabei normalerweise gleich bleibt. 59 Gleichgiiltig, wie man in die Welt im Sinne der natiirlichen Entwicklung des Erwachsenwerdens hineinlebt: es gibt einen identischen Ichpol, der zwar durch Erfahrungen gepragt, ihnen aber nicht »ausgeliefert« ist. Das Ich als Person ist mehr als die Summe seiner Erfahrungen und hat so eine durch die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen hindurchgehende »Natur«. Diese Einheitlichkeit der Person durch die Mannigfaltigkeit seiner stromenden Bewusstseinsweisen hindurch nennt Husserl auch Monade: 60 »Innerhalb eines monadischen absoluten Bewusstseinsstromes treten nun gewisse Einheitsbildungen auf, die aber von der intentionalen Einheit des realen Ich und seiner Eigenschaften durchaus verschieden sind. Dahin gehiiren solche Einheiten wie die bleibenden ) Meinungen <eines und desselben Subjekts. Man kann sie in gewissem Sinn) habituelle< nennen, es handelt sich aber nicht urn einen gewohnheitsmaBigen Habitus, als ob das empirische Subjekt reale Dispositionen, die da gewohnheitsmaBige heiBen, gewinnen wiirde. Der Habitus, urn den es sich hier handelt, gehiirt (IV, II I) nicht zum empirischen, sondern zum reinen leh.«
Natur als das sich durch Erfahrung bildende »Wesen« oder als Charakter meint die Weise, wie ein Mensch in der Welt lebt und sich zu ihr verhalt. Sie hat damit auch eine gewisse Pradiktabilitat: Man kann mit einer gewissen Sicherheit sagen, wie Person x sich in einer gewissen Situation verhalten wird. Der Charakter ist eine »variable Invarianz«, da es stets moglich ist, dass sich etwas Unvorhergesehenes ereignet, was eine ganz neue »Situation« schafft. - Hat der einzelne Mensch auf Grund seines Charakters in wechselnden Umstanden eine einheitliche Natur, dann ware die Frage, was eine solche Natiirlichkeit einer »Personalitat hoherer Ordnung« ware. Hat sich die Natiirlichkeit einer Person durch eine gewisse Entwicklung yom friihkindlichen Stadium aus gebildet, impliziert das, dass die Welt, in die sie hineingeboren wird, auch schon vor ihr existierte und dass ihre »Personalitat« (Familie etc.) ihrerseits schon eine natiirliche Lebensweise ausgebildet hat. Diese intersubjektive Naturlichkeit, die auf solipsistischer Stufe dem Charakter eines Einzelnen entsprache, kann als Tradition bezeichnet werden. Wie es zum Charakter einer Person gehort, ein gewisses »Wesen« zu haben, gehort es ebenso etwa zum »Charakter« einer Nation oder eines Volkes, eine gewisse Charaktertypik zu besitzen; diese hat eine Jaktische Tradition ausgebildet. Auch eine Personalitat hoherer Ordnung hat 59 Husser! hat allerdings auch Reflexionen zu einer moglichen Aufhebung der Person angestellt. In der These von einem ,)stehenden und bleibenden lch als Person« liegt, so Marbach, »keine absolute Notwendigkeit« (Marbach, 33 r). So erwagt Husserl den moglichen Fall des »personalen Selbstmordes« (A VI 30/ 52b), der aber keine Verriicktheit ist »nach Art der gewohnliehen Verriicktheit, die ein Naturvorkommnis der, wie wir sieher bleiben, exakten Natur ist« (F IV 3/ 57a). 60 Vgl. hierzu auch Husserls spatere Reflexionen im Zusammenhang eines »transzendentalen Monadenalls«, vgl. VIII, 497ff., insbes. 505 f., und I, §§ 56ff.
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eine - genetisch gewordene - Alkiglichkeit, die sich in ihrer Tradition manifestiert. In und aus einer solchen Tradition bildet sich erst der Charakter einer einzelnen Person, sofern Tradition die immer schon vertraute Lebensweise ihrer Vorfahren, ihrer Zeitgenossen und schlieBlich ihrer selbst ist. »Tradition«, welche Natiirlichkeit konstituiert, bedeutet also: Ein Kind, welches sich in einer Tradition entwickelt, » entscheidet (I sich nicht fur diese Lebensweise (es hat keine Alternative), es debt sie« schlicht und unhinterfragt vom Moment des Geborenwerdens, sofern es in sie hineingeboren wird, sie unbefragt an- und iibernimmt, die es aber mit zunehmendem Alter durchschauen, modifizieren oder gar ablegen kann. Dies impliziert der Begriff»Natiirlichkeit«; sie kann so auch als Unmittelbarkeit bezeichnet werden. 1.3.2.
Naivitiit
Naivitat ist die Kehrseite der Natiirlichkeit. Die Natiirlichkeit der natiirlichen Einstellung ist die Alltaglichkeit des Weltlebens in einer unhinterfragten und unreflektierten Unmittelbarkeit. 1st diese Unmittelbarkeit eine »immer scholl« vollzogene Lebensweise, so ist sie fUr sich unthematisch. Fiir den erwachsenen Vernunftmenschen ist diese Natiirlichkeit so natiirlich, dass sie iiberhaupt nie in Frage gestellt wird. Die natiirliche Einstellung ist fur sich verborgen und weiB nichts von sich als natiirliche Einstellung; denn wiisste sie von sich, ware sie keine natiirliche Einstellung mehr. Diesen Sachverhalt nennt Husserl auch Naivitiit, die in diesem methodischen Rahmen ein positiver Begriff ist: Es ist ein Konstitutivum der naturlichen Einstellung, nichts von sich zu wissen. Dieses Nichtwissen ist nicht ein Vorurteil im Sinne eines »schlechten« Vorurteils, welches durchschaut und abgeschafft werden miisste, sondern im »guten« Sinne, demgemaB immer »etwas« vorausgesetzt ist. 61 Spielen sich Vorurteile stets in natiirlicher Einstellung ab im Rahmen von Sondereinstellungen, kann man die natiirliche Einstellung auch als das »absolute Vorurteil« bezeichnen. 62 Ein Vorurteil kann als Vorurteil nicht durchschaut werden; wird es durchschaut, ist es nicht !anger ein Vorurteil.
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Vgl. XXXIV, Text Nr. 30 und die zugehiirige Beilage XXIV, wo Husser! die Reichweite der Epoche diskutiert als »Epoche von aller Tradition« (ebd., 441), wobei »Tradition« definiert wird als Inbegriff» aller Vorurteile« (ebd.). Vgl. das finksche Anfangsstiick zum Systematischen Werk von 1930. Hier spricht Fink von den »iebendigen und standig sich bewahrenden wesentlichen Vorurteilen, die unser natiirliches In-die-Welt-Hineinleben ausmachen« (v!. CMI2, 17). »Vorurteilen« verbessert Husser! in »Seinsvorgeltungen« (ebd., Anm. 32), was auf die Weltgeltung der Generalthesis der natiir!ichen Einstellung verweist. Grundsatzlich sind mit Vorurteilen solche Vor-Urteile gemeint, die ihr Recht haben und bestehen bleiben kbnnen und sogar miissen. Das gadamersche Diktum von der »Rehabilitierung des Vorurteils« durch die Hermeneutik trifft in dieser Hinsicht auch fUr den spat en Husser! zu.
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Dieser Begriff in seiner Positivitat hat (zunachst) nichts Pejoratives an sich wie im normalen Sprachgebrauch. Er bedeutet lediglich formal »Nichtwissen-um«. Die natiirliche Einstellung ist fur sich selbst betrachtet nicht »minderbemittelt« oder beschrankt, sondern ein noch undifferenzierter, neutraler Zustand, der noch nicht von sich als »dogmatisch« weiB, weil »6osa« erst im Gegensatz zu »fmOt~IlT]« Sinn ergibt. Das ist der positive Sinn von Naivitat. Insofern »naiv« etymologisch mit »natiirlich« zusammenhangt, leuchtet der Zusammenhang beider ein: da dieser Zustand der in der natiirlichen Entwicklung des Menschen zunachst auftretende ist, wovon er, sofern er sich nicht dafur »entschieden« hat, auch nicht als solchern weij3. In diesem Sinne spricht man auch von einem Menschen als »naiv«, wenn er nie iiber den eigenen Horizont hinausblickt und nur das unmittelbar Nachste kennt. Husser! thematisiert Naivitat selten im neutralen Sinn, sondern zumeist negativ im Sinne einer Struktur, die sich selbst auf hoherer Stufe fortsetzt (die Naivitat der Wissenschaften, ja der Phanomenologie selbst).63 Stets gilt die gleiche Grundstruktur von Naivitat als Nichtwissen urn sich selbst. Dieser Sinn von Naivitat kehrt im Rahmen der Selbstkritik der Phanomenologie wieder. Die Naivitat als ein solches Nichtwissen-um-sich-selbst hat jedoch auch eine negative Konnotation; in dieser Bestimmung wird sie zunachst auffallig, sofern Naivitat in der Tat eine Beschranktheit im schlechten Sinne ist. Dies wurde angedeutet in der Analyse der Sondereinstellungen innerhalb der natiirlichen Einstellung, welche ihre eigene »Logik« oder Funktionsweisen haben und in einem laxen Sinn als »Wahrheit« verstanden werden konnen: Die »Wahrheit« des Architekten ist verschieden von der des Kiinstlers etc. Der Grund, weshalb der Begriff» Wahrheit« hier vage ist, liegt im Verhaltnis dieser verschiedenen »Wahrheiten« zueinander: Gerade weil sie verschiedene »Wahrheiten« sind, sind sie doch nicht »die« Wahrheit. »Die« Wahrheit kann nur eine sein. Die» Wahrheit« des Architekten hat aber doch ihr Recht; denn sie ist wahr in Beziehung auf die Welt der Architektur. Die »Wahrheiten« der Sondereinstellungen sind demnach relative Wahrheiten - gegeniiber der einen, absoluten Wahrheit. Wissen aber die in sich abgegrenzten Sondereinstellungen nicht von sich - sind sie naiv -, so erkennen sie ihre Wahrheiten nicht als relative, was den negativen Sinn von Naivitat ausmacht: Wissen die Sondereinstellungen nicht von je ihrer Wahrheit als relativer, so sehen sie sie als die einzige an, m. a. W, sie setzen absolut, was in Wahrheit nur relativ ist. Nun durchlebt die Person immer verschiedene Einstellungen und damit auch verschiedene Wahrheiten und weiB dies auch. Man weiB immer schon, dass man eine relative Wahrheit nicht absolut setzen kann, ohne eine andere zu »verletzen«, die aber ihrerseits wieder relativ ist. Hat man jedoch den »Uberblick« iiber verschie-
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Naivitat wird fUr Husser! mit ihrem Gegenbegriff, der Skepsis, zu einem Begriffspaar, dem die moderne Philosophie je auf ihre Weise verfallen ist, vgl. VI, 12. Leugnet die Skepsis aile Wahrheit, stellt die Naivitat die Legitimitat derselben erst gar nicht in Frage, was auf dasselbe hinauslauft: Geringachtung der absoluten Wahrhcit.
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dene relative Wahrheiten gewonnen, indem man ihre gegenseitig »widerstreitenden Absolutheiten« erkannt hat, so ist klar, dass die absolute Wahrheit nicht eine weitere (noch unentdeckte) Wahrheit innerhalb dieser relativen Wahrheitensein kann, sondern nur eine einzige, von alier Relativitat abgehobene ist. Diese Erkenntnis ist der erste Schritt zur WissenschaJt als das Streben nach Irrelativem, irrelativer Wahrheit. 64 Der Beginn von Wissenschaft als einem urmenschlichen Bediirfnis nach gesichertem Wissen wird motiviert durch die Entdeckung der Relativitat verschiedener Wahrheiten, wodurch in das Alltagswissen erstmals eine produktive Unruhe kommt. Die Motivation fUr das Wissenwollen ist ein {}a'lJl-t(i~ELV, wenn nicht unbedingt sogleich iiber den ganzen x6of-to£, so doch iiber Unklarheiten oder Undeutlichkeiten innerhalb der Heimwelt mit ihren relativen Sonderwelten. Diese Unklarheiten sind Widerspriiche von Wahrheiten, seien dies etwa Widerspriiche in den Aussagen von Menschen oder in der sinnlichen Wahrnehmung (der Stab, der ))krumm« wird, wenn man ihn ins Wasser halt etc.) oder etwa der Lebensweisen (Personen leben je verschieden, beanspruchen aber ftir sich das Hechte Leben« etc.). Ein Widerspruch muss nicht ausdriicklich entdeckt sein, aber er blitzt dort auf, wo etwas ))anders« ist als erwartet, wo also die bekannte )) Wahrheit« enttauscht wird. Die Entdeckung der Relativitat weckt aber das Bediirfnis nach Absolutheit: Man mochte aus diesem Zustand der Relativitat herauskommen und wissen, wie es ))in Wahrheit« ist. In dieser Bemiihung begibt man sich auSerhalb dieser Relativitat in eine Position, die nicht selbst wieder eine neue Relativitat, sondern eine Absolutheit ist. Diese Absolutheit kann auch als objektiv bezeichnet werden gegeniiber der subjektrelativen Perspektivitat verschiedener Einzelwahrheiten. Diese objektive Einstellung ist das Bestreben der positiven Wissenschaft. Eine solche Einstellung kann nicht eine weitere Relativeinstellung wie die Sondereinstellungen innerhalb der natiirlichen Einstellung sein, sondern muss eine ))absolute« sein, die als ))absolute« keine eigene Perspektive ist. Andererseits aber kann der Mensch nicht anders als ))perspektivisch sein«. Die Paradoxie einer ))absoluten Einstellung« - eine Perspektive ohne Perspektive -, mag der Grund daftir sein, dass Husserls Paradigma fUr Wissenschaft par excellence stets die Mathematik oder die Geometrie 65 ist, die als Wissenschaft der reinen Zahlen und Zahlverhaltnissen Absolutheit beanspruchen kann, sofern es gleichgiiltig ist, wer diese Erkenntnisse hat. Da der Erkenntnisinhalt nicht mit dem Erkenntnisvollzug konfundiert werden darf, ist der Inhalt identisch derselbe, gleichgiiltig, wer ihn vollzieht. 66 Er ist 64 Husser! bezeichnet die Eutdeckung der Wissenschaft auch als Entdeckung der Unendlichkeitskategorie in der Endlichkeit der Heimwelt (vgl. etwa VI, 25, 30 u. 0.), die die Heimwelt auf andere Welten hin offnet. Mir scheint, dass oben das Gleiche mit anderen Worten gemeint ist, sofern die Vielzahl der »Wahrheiten" eine Beschrankung im Sinne einer Verendlichung der einen, absoluten Wahrheit ist, die durch ihre Absolutheit unendlich ist. 65 Dies bis hin zum spaten »Ursprung der Geometrie«-Aufsatz (VI, 365 If); vgl. hierzu die Kritik Bernets an diesem Paradigma Husserls (Bernet 1987, 23 If). 66 Dies ist bckanntlich das Kcrnargument gegen den Psychologismus. Vgl. XVII, I59If, insbes. 171 If.
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eine absolute Wahrheit, die keine Perspektivitat an sich haben kann. Anders ist es, wenn positive Wissenschaften (geleitet am mathematischen Ideal) eine Perspektive auf die Natur einnehmen; denn es gibt verschiedene wissenschciftliche Einstellungen. Eine wissenschaftliche Einstellung, etwa die biologische, bezieht sich auf die Welt der Biologie (als Natur); aber auch die Physik thematisiert die Natur auf ihre Weise. Also auch in der Wissenschaft konnen verschiedene wissenschaftliche Einstellungen dasselbe Korrelat haben: Die Biologie thematisiert die Natur hinsichtlich ihrer Lebendigkeit; die Physik hingegen hinsichtlich ihrer Physikalitat usw. Der Unterschied zwischen verschiedenen wissenschaftlichen »Einstellungen« (Disziplinen) und Sondereinstellungen innerhalb der Heimwelt ist, dass die wissenschaftlichen Disziplinen zwar verschiedene Hinsichtnahmen auf die eine Welt sind, aber darin doch zur einen, universalen Erkenntnis der Welt beitragen. Insofern rechtfertigt sich die Rede von »der« wissenschaftlichen Einstellung, die dadurch Homogenitat enthalt, dass sie zur absoluten Wahrheit beitragt, die, wie in den Beispielen von Biologie und Physik, die eine, aber in sich vielschichtige Wahrheit ist. Vielschichtigkeit ist von Relativitat grundverschieden. Die wissenschaftliche Einstellung ist gegeniiber den natiirlichen Sondereinstellungen hoherstufig. Sie ist zwar keine absolute Einstellung (dies hatte nur ein gottlicher Verstand), aber rechtfertigt sich doch dadurch, dass sie die Sondereinstellungen als relative qualifiziert, als hoherstufig. Sie weiG, dass dieses x weder nur ein Haus ist noch nur ein Kunstwerk; denn sie will das »wahre Sein« einer Sache kennen lernen gegeniiber den relativen Optima, die in gewissen Sonderkontexten zwar hinreichend, aber hinsichtlich des »vollen Seins« nur unvollstandig erkannt werden. Das wahre Sein eines Dings ist in der Tat ein Limes, auf den man sich im Zuge der wissenschaftlichen Forschung hinbewegt. Indem die wissenschaftliche Einstellung die Relativitat der Sondereinstellungen verlassen hat, bewegt sie sich auf das Absolute, das »wahre Sein« zu: »Das thematische Interesse, das in Wahrnehmungen sich auslebt, ist in unserem wissenschaftlichen Leben von praktischen Interessen geleitet, und das beruhigt sich, wenn gewisse fUr das jeweilige Interesse optimale Erscheinungen gewonnen sind, in denen das Ding so viel von seinem letzten Selbst zeigt, als dieses praktische Interesse fordert. Oder vielmehr es zeichnet als praktisches Interesse ein relatives Se1bst vor: Vas, was praktisch geniigt, gilt als das Selbst. So ist das Haus selbst und in seinem wahren Sein, und zwar hinsichtlich seiner puren Korperlichkeit, sehr bald optimal gegeben, also vollkommen erfahren von dem, der es als Kaufer oder Verkaufer betrachtet. Fiir den Physiker und Chemiker erschiene solche Erfahrungsweise vollig (XI, 23 f.) oberflachlich und vom wahren Sein noch himmelfern.« Bedeutet also Naivitat zunachst ein Nichtwissen urn sich selbst und ist so positives Bestimmungsstiick der natiirlichen Einstellung, stellt sie sich von der hoheren Einstellung aus als beschrankt dar, da sie das jeweils Relative der Sondereinstellungen verabsolutiert. Der Wissenschaft ist daran gelegen, die Naivitat zu iiberwinden, da
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sie relativ ist und insofern unertraglich fur den, der sie durchschaut hat. Sie hat zwar ihre relative Wahrheit und damit ein relatives, situatives Recht, aber hat hierin auch ihre Grenzen. Dies ist der Grund fUr Husserls negative Bewertung jeglicher Form von Naivitat - als Beschranktheit der »Wahrheitsextension«. Die Naivitat, die in natiirlicher Einstellung ihr Recht hat, wird aber dann geradezu gefahrlich, wenn sie sich hinterriicks einnistet dort, wo man sich gerade zum Ziel gesetzt hat, sie zu uberwinden, namlich in der Wissenschaft. 67 Das Schicksal der Wissenschaft wie der Philosophie ist, zu Husserls Bedauern,68 dass auch sie nicht ganz die Naivitat abstreifen kann, sondern ihr immer wieder aufs Neue erliegt. Mit der Moglichkeit der Einstellung hoherer Stufe geht das Schreckgespenst einer Naivitiit hdherer StuJe einher,69 die sich immer da einschleicht, wo man glaubt, eine Erkenntnis sei »die Wahrheit«, die bei wiederum hoherstufiger (»kritischer«) Betrachtungjedoch entweder falsifiziert wird oder sich nur als Teil der einen Wahrheit herausstellt: In beiden Fallen begeht man den Fehler, absolut zu setzen, was in Wahrheit relativ ist. Hat man jedoch cine Sondereinstellung als relativ erkannt, so kann man sie nie wieder absolut setzen: Die alte Naivitat kann nie wieder erlangt werden; es ist wie bei einem Vexierbild: Hat man einmal seine Doppelgesichtigkeit gesehen, kann man nicht wieder zur ersten »Eindeutigkeit« zuriickgehen. 70 Dabei ist die neutrale erste Bedeutungsnuance zu betonen: Dass natiirliche Einstellung nichts von sich weiB, kann ihr nicht I>zum Vorwuif gemacht« werden; sie hat ein in sich legitimiertes Eigenrecht, das zwar von der wissenschaftlichen Einstellung aus eine »Tieferstufigkeit« ist, aber von dieser Stufe selbst aus, die den Unterschied von tiefer und hoher noch gar nicht kennt, nicht als solche in den Blick kommen kann. Die Naivitat ist nur dann »gefahrlich«, wenn sie da sie auftritt, wo man sie gerade eliminieren wollte. Wissenschaft ist aus dieser Perspektive ein Jortschreitendes Eliminieren von Naivitiit. Sie wird als Erkenntnishaltung immer da »stutzig«, wo eine Wissensform sich mit 67 Es wird oft iibersehen, dass Naivitat nicht nur ein Attribut der Wissenschaften oder der traditionellen Philosophie ist, sondern schon in einer positiven oder neutral en Form ein wesentliches Kennzeichen der natiirlichen Einstellung ist. Naivitat schlagt aber erst in der Wissenschaft in ein Negativum um. Vgl. etwa Kuster, die Naivitat nur im Sinne von »Verantwortungslosigkeit im Sinne von theoretischer Naivitat« (26) versteht. 68 Vgl. hierzu »Philosophie als strenge Wissenschaft« (xxv, 3 £f). Bemerkenswert ist hier die Verwendung von »naiv«: Es sei »dies das herrschende Ethos der neuzeitlichen Philosophie, dass sie, statt sich naiv dem philosophischen Triebe hinzugeben, vielmehr durch das Medium kritischer Reflexion, in immer tiefer dringenden Forschungen tiber die Methode, sich als strenge Wissenschaft konstituieren will« (3, Kurs. erg.). Dies habe aber zu einer »Verselbststandigung der strengen Natur- und Geisteswissenschaften, sowie neuer rein mathematischer Disziplinen« (ebd.) geftihrt. Die sich von der naiven, sachhingegebenen Forschung abwendende kritische Einstellung ist dieser geradezu dadurch, dass sie die naive Sachhingegebenheit aufgab, zum Verhangnis geworden. 69 Held spricht hier auch von einer »nattir!ichen Einstellung zweiter Stufe« (Held 1991b, 91 f.). Vgl. xxxv, 406, wo Husser! in diesem Sinne von einer »zweiten, transzendentalen Generalthesis« spricht. 70 Diese auf das Verhaltnis von natiirlicher und geanderter Einstellung bezogene Beobachtung aus der Gestaltpsychologie stammt von Ihde 1986, 57f., sowie im Ganzen 67ff.
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einer einmal erreichten Erkenntnis zufrieden gibt. In diesem wei ten Sinn versteht auch Husserl seine Philosophie als Wissenschaft, ja als ffstrenge« Wissenschaft, die als soIche kritisch gegeniiber jeglicher Naivitat ist. So hat die Naivitat der natiirlichen Einstellung an sich selbst betrachtet ihr Eigenrecht und einen negativen Beiklang nur da, wo relative Wahrheiten zu schlechten Vorurteilen verkommen. Vor dieser Gefahr zu warnen, mag zwar nicht selbst wissenschaftlich sein, ist aber ein integraler Bestandteil eines auf absolute (Selbst)Verantwortung gehenden universalen Wissensanspruchs, der bemiiht ist, f>Zaune gegen Widersinn und Verirrung«71 aufzubauen. Das Eliminieren von Naivitat kann auch als Kritik bezeichnet werden. So enthalt die Philosophie als strenge Wissenschaft eine f>doppelte Bewegung«: f> Kritik der Verantwortungslosigkeit usurpierter und somit maBloser Anspriiche als ein In-die-Schranken-Weisen einerseits und Ordination des RechtmaSigen weil Angemessenen andererseits« 72. I.3.3. Normalitat
Das Phanomen der Normalitat riickt fUr Husserl erst spat in den Blickpunkt des Interesses.?3 Dennoch ergibt es sich aus dem Bisherigen und ist ein notwendiger Teil der methodischen Besinnung auf die natiirliche Einstellung. Normalitat solI nur insoweit thematisiert werden, als sie die Theorie der natiirlichen Einstellung zu einem Abschluss bringen kann. f>Abschluss« meint hier das Aufzeigen der Perspektive, wie die natiirliche Einstellung verlassen werden kann. Die natiirliche Einstellung als Fundament des Weltlebens kann vollstandig nur als das, was sie ist, im Vergleich zu einer fundamental anderen Einstellung thematisiert werden. Ihre Grenze aufzuzeigen heiSt somit gleichzeitig, einen Weg iiber diese Grenze hinauszuweisen. f>Abschluss« heiSt hier soviel wie f>Aufbruch« im doppelten Sinne des Wortes. Hier kann an die Analyse der Naivitat angekniipft werden; denn in der negativen Bestimmung von Naivitat wurde faktisch bereits iiber die natiirliche Einstellung hinausgegangen, noch ohne eine Motivation und Moglichkeit dafUr aufzuweisen. In der Hinsicht wurde das JtQWtOV 'ljJEubo~ von Husserls erster Darstellung der natiirlichen Einstellung in den Ideen I gewissermaSen wiederholt: Die natiirliche Einstellung thematisch zu machen, heiSt, sie bereits verlassen zu haben. Die Frage, wie dieses Verlassen erstmals geschieht und iiberhaupt geschehen kann, ist damit schon iibersprungen. Es muss sich zeigen lassen, wie es von der natiirlichen Einstellung aus moglich ist, sie zu verlassen, wenn man nicht bei der Feststellung bleiben will, die natiirliche Einstellung zu verlassen sei eben so paradox wie der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehende Miinchhausen. 74 Dass man in der Beschreibung der
Kuster, 27. Ebd. 73 Vgl. Marbach, S. 332; Husser! widmete sich diesem Problem vornehmlich in den 30er Jahren. 74 Auf diese scheinbare Paradoxie ist wiederholt hingewiesen worden. Vgl. zu einer Kritik an 71
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natiirlichen Einstellung diese bereits verlassen hat, muss man zunachst hinnehmen; die Analyse hat aber dann die Aufgabe, dieses Geschehen und dessen Moglichkeit retrospektiv zu rekonstruieren. Die Tat ist der Beschreibung immer schon vorweg. In dieser rekonstruktiven Betrachtung ist Normalitat das letzte Bindeglied vor dem Wechsel von natiirlicher zur »umgestellten« Einstellung. Es kann nun beiderseits an die unmittelbar in die Welt hineinlebende Natiirlichkeit und an die sich selbst absolut setzende Naivitat erinnert werden. In entwicklungsgenetischer Hinsicht ist fur Husserl stets die Entwicklung des Kindes hin zu einem bestimmten »reifen« Stadium, dem vollentwickelten Vernunftsubjekt, leitend. Dies gibt ais »Durchschnittsmensch« die Norm vor, wie »man« zu sein »hat«. Diese ist nichts anderes ais eine - wenn auch idealtypische75 - Normalitat: »Als Mensch normal ist, wer mit dem Wort >jedermann< sich konkret versteht, wer einer oifenen Menschengemeinschaft von Mitmenschen angehort, die dieselbe historische Lebenswelt haben, bestimmt durch dieselbe, allen vertraute, aber nicht ausgelegte Formstruktur.« (xv, 142)
Normalitat ist folglich eine Typik, bezogen auf meinen Erfahrungsstil in der Erfahrung der Anderen: »Jeder neu in meinen Kreis Eintretende wird nach meinem Ebenbild apperzipiert, und nun heiBt er normal, wenn die allgemeine Horizontvorzeichnung, die er mit dem Einsatz der wahrnehmungsmaBigen Einfuhlung ftir mich haben muss eben als meinesgleichen, im allgemeinen Wesensstil mit mir stimmt [... j.« (xv, 136)
In hochstem Sinn ergibt sich so die Idee einer »normalen Gemeinschaftswelt«: »das normale alltagliche Leben mit anderen Menschen in normaler Sitte, in der Normalitat der Staatsordnung, in der Normalitat des gemeinsamen Erfahrungsbodens, des Bodens der gemeinsamen Tradition, der gemeinsamen Urteils- und Bewertungsweise, der voraussichtlichen Weise der Reaktion in jeder jeweiligen typischen Situation.« (xv, 137)
Normalitat ist von vornherein eine intersubjektive Bestimmung, die fUr »jedermann« gilt; sie ist einerseits noetisch zu verstehen als normaler Stil der jeweiligen Erfahrung, der aber, noematisch, eine normale Welt zu erfahren erwartet. Der Erfahrungsstil ist so mit stets »prasumtiv«;76 es besteht eine bestandige Antizipation, Husser! etwa Landgrebe I978, 202, sowie Broekman, 63, sowie neuerdings Kuster, 97ff. Zur Miinchhausenmetapher vgl. nun auch LV, 243. 75 Vgl. xv, I4I: »Der normale Mensch im Sinn der Definition ist eine Idealisierung des reifen und dabei in einem anderen Sinne (einem zuerst bestimmenden) normalen Menschen.« 76 Vgl. XVII, 258: »Die reale Welt ist nur in der bestandig vorgezeichneten Prasumtion, dass die Erfahrung im gleichen konstitutiven Stil bestandig weiterlaufen werde.«
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dass man die Welt im normal en, vertrauten Sinn erfahren wird trotz modifizierender, aber die Einstimmigkeit nicht auflosender neuer Erfahrungen. Normalitat und Einstimmigkeit erganzen sich: Die Welt in prasumtiver Einstimmigkeit zu erfahren konstituiert ihre »Normalitat«. Gleichzeitig ist man normal, sofern man die Welt in dieser Prasumtivitat erfahrt. Versteht man den Stil der Lebenswelt auf Grund seiner Prasumtion als horizontale Erweiterbarkeit, so ist die Normalitat alier vermoglichen prasumtiven Welterfahrung in infinitum vorgezeichnet. »Jedermann« erfahrt die Welt im Modus der NormalWit. In gewissem Sinne kann man »Normalitat« gleich einer Klammer urn Natiirlichkeit und Naivitat legen: Normalitat bedeutet, dass man, erstens, immer schon und unmittelbar in die Welt hineinlebt, aber auch im Sinne einer Entwicklung, die ihre »Norm« bei der normalen, verniinftigen Maturitat erreicht hat. Zweitens bedeutet sie, dass man im Vollzug dieser Unmittelbarkeit, die man immer schon lebt und fur die man sich niemals entschieden hat, hiervon auch nichts weif3. Normalitat ist eben, weil sie das »Selbstverstandlichste« ist, nicht weiter problematisch. Dass sie fur sich selbst nicht auffdllig ist, das eben macht sie »normal«. Obzwar sie eine formale Beschreibung des menschlichen Lebensvollzugs und insofern die »grof3te Selbstverstandlichkeit« ist, bezeichnet Normalitat doch kein »Eidos« beziiglich der inhaltlichen Bestimmung ihres Stils. Der Mensch als durchschnittlicher »Jedermann« lebt zwar im Modus der - unmittelbaren, unthematischen - Normalitat, aber nichtjede Normalitat ist gleich. Hierzu kann an die Analyse von Heim- und Fremdwelt angekniipft werden: Obwohl eine Heimwelt es an sich hat, in infinitum erweiterbar zu sein, so ist sie eben dadurch, dass sie ihren Normalitatsstil auf alles in ihren Umkreis Eintretende ausweitet (ihm das Kleid dieses Normalitatsstils »iiberstiilpt«), beschrankt: Die jeweilige »Heimeinstellung« versteht alles vermoglich Erfahrbare im eigenen Normalitatsstil. Darin liegt zweifellos ein Problem; denn diese Einstellung macht es unmoglich, die Fremdheit der anderen Heimwelt als Fremdheit zu erfahren, sondern nur im Eigenheitsstil der je eigenen Heimwelt. 77 Dies ware der Fall eines kulturellen Kolonialismus, der seine eigene Normalitat absolut setzt, ohne zu sehen, dass es auch noch andere »Normalitaten« mit ihren eigenen Traditionen gibt. Der zwar auf seine Weise erweiterbare Horizont ware eben durch seine Verschlossenheit endlich und beschrankt anderen Horizonten gegeniiber. Mehreren Heimwelten entsprechen mehrere ihnen zugeordnete Normalitaten. Dabei ist die eigene Normalitat fUr sich nicht thematisch; aber im positiven Fall wird sie sich in der unvoreingenommenen Erfahrung von einer fremden Normalitat, die von der eigenen abweicht und als abweichende auch erfahren wird, bewusst. Dies hat zur Folge, dass die Normalitat der Fremdwelt in dieser Fremdheitserfahrung 77 Auf diese Gefahr hat Held hingewiesen vgl. Held I<)<)Ia, 318-24; diese [uhrt jedoch aus Helds Sicht nicht zur Aufgabe der Idee der einen Welt als »allgemeinsam« zu erfahrender, sondern zu einer neuen Auslegung ihrer Urstiftungsidee bei den Griechen, vgl. hierzu ebd., 324-36.
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als eigene, wenn auch Jremde Normalitat bewusst wird. Diese Widerspriichlichkeit von Normalitaten ist strukturell nicht verschieden von den Abweichungen von Wahrheiten innerhalb der Heimwelt. Statt dass eine andere Person in meiner Umwelt eine andere Meinung vertritt und mich zum erneuten Uberdenken meiner eigenen Ansicht motiviert, nehme ich in der Erfahrung einer Fremdwelt eine ganze Kultur wahr, die von meiner abweicht. Wichtig dabei ist, dass diese Kultur ftir sich selbst wiederum eine eigene Normalitat hat, die ich - zunachst - nicht durchschaue. Sie ist also nie eine absolute Fremdheit, sondern eine Fremd-Normalitat. Die Fremdheit der Fremdwelt erweist sich nie als absolute Fremdheit (man sieht Menschen und keine »Mondmenschen«, untereinander sprechend, gestikulierend78 etc.), sondern als eigene, von der eigenen abweichende N ormalitat mit ihrer eigenen Einstimmigkeit. Dadurch wird nicht nur die fremde Normalitat als Normalitat bewusst, sondern auch die eigene Normalitat als eine solche. Diese in der Fremderfahrung apperzipierte Fremdnormalitat ist aber wesentlich verschieden von Formen von Anomalitat oder Abnormalitat7 9 innerhalb einer Heimwelt. Diese betreffen Phanomene, die zwar als anomal oder abnormal erfahren werden, per diifinitionem aber eben dadurch nicht den Normalitatsstil der Heimwelt in Frage stellen, sondern geradezu eifullen oder bestatigen. »Die in einer Normalitat konstituierte Welt ist zugleich konstituiert als Anomalitaten in sich enthaltend.« (xv, ISS) Es gibt Menschen, die farbenblind 80 sind gegeniiber den »Normalsichtigen«; das macht diese Menschen nicht zu »Fremden« Sie sind anomal »hinsichtlich einer bestimmten Schichte von Merkmalen der normalen Gemeinwelt, wahrend sie in allem iibrigen in volliger Harmonie mit den Normalen erfahren, also im iibrigen selbst normal sind.« (xv, IS8) Normale Welt ist immer schon »durchsetzt« von Anomalitaten, die zum Stil der Normalitat gehoren. Schwieriger ist die Bestimmung der Abnormalitat in Abgrenzung gegen Anomalitat. 1st die Anomalitat auf eine »Schichte« bezogen, so legt sich nahe, die Abnormalitat als auf das ganze »Sein« einer Person bezogen zu begreifen. Auch wenn es schwierig wird, ein Beispiel ftir eine Anomalitatsschichte im psychischen Sein eines Menschen zu finden, so scheint 78 Lohmar hat daraufhingewiesen, dass diese erste Erfahrung der Fremdheit durchaus »1Jor-sprachlich« sein kann (vgl. Lohmar 1997, 204). Es ist eine Verstandigung, die •• die sprachliche Dimension [beriihrt], ohne selbst sprachlich zu sein« (ebd.). Als vorsprachliche Kommunikationsformen nennt L. »Lachen, Ernst und unaufgeregte N ormalitat « (ebd.). 79 In der Unterscheidung von anomal und abnormal, die bei Husser! nicht genau differenziert wird, folge ich der Interpretation von Steinbock (132): .)When we characterize something as discordant [... ], discordance has merely a descriptive or normatively insignificant quality. It is not yet normatively siginificant as 'abnormal(, but rather .anomalous«(. Die Erfahrung von Anomalitat ware also die einer Un-Einstimmigkeit im Gegensatz zu Abnormalitat als »Verriicktheit«. Der Unterschied beider ist also mehr als bloB der einer Intensitat. 1m Sinne der Etymologie ist wichtig zu betonen, dass beide Begriffe verschiedene Wurzeln haben. »Abnormal « kommt vom lat. ab + normalis, »der Norm entsprechend«, wohingegen »anomal« vom griech. av + o~aAoc;, »gleich, eben, glatt« stammt. 80 Das Beispiel stammt von Husserl selbst, vgl. xv, 159.
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es doch SO, dass Husserl Abnormale als »vollig Irrsinnige« ansieht, die eben nicht nur hinsichtlich einer Schichte, sondern »vollkommen« von der Normalitat abweichen. Sie haben also uberhaupt keine Einstimmigkeit mehr: Man kann sich nicht mit ihnen verstandigen. 81 Hierbei gibt es freilich ein Problem; denn auch wenn ein vermeintlich Abnormaler, Verriickter mit einem Normalen keine einstimmige Welterfahrung hat, da er in aHem so radikal von ihm verschieden ist, so heiBt das nicht, dass er auch fur sich abnormal ist und das heiBt, dass es doch moglich ist, dass er fur sich die Welt einstimmig erfahrt. Die Abnormalitat auf Grund von fehlender Einstimmigkeit kann nur zu einem bestimmten Grad durch »Einfuhlung« in den Anderen festgesteHt werden und heiBt noch nicht, dass er auchfur sich abnormal ist. Was »wir« ftir abnormal halten, muss ftir »ihn« noch lange nicht abnormal sein. 1m Gegenteil, der fur uns Verruckte kann vollkommen einstimmig in seiner »verkehrten (»vertierten«, xv, 158) Welt« leben und »uns alle« ftir verriickt halten. 82 In der Frage, wer verriickt ist und wer nicht, scheint die Antwort einfach: Die reine Quantitat gibt »uns, der Mehrzahl«, gegenuber dem einzelnen Verriickten recht. Aber auch hier gibt es ein Problem; denn es ist durchaus moglich, dass mehrere Verriickte unter sich eine Einstimmigkeit haben. Sie leben »in ihrer eigenen Welt«, die mit der der normalen Menschen wenig zu tun zu haben scheint. Ihre Einstimmigkeit kann nun wiederum so aussehen, dass sie die restlichen Menschen fur verriickt halten oder im Sinne des von ihnen beanspruchten »Mehrwissens« gegenuber ihnen: Sie sehen jene nicht als verruckt, sondern als in ihrem Horizont beschrankt an. Mit welchem Recht will man nun sagen, ihre Welt sei abnormal und unsere normal? In welchem Sinne ware die einstimmige Welt von »Abnormalen« verschieden von einer »echten« Fremdwelt? Kame man auf eine unbekannte Insel, die von einstimmig lebenden »Abnormalen« bewohnt ware, man konnte sie in keiner Weise von »eigentlichen« Fremden unterscheiden. Die Frage ware jedoch wieder, ob und bis zu welcher Reichweite es moglich ware, dass die in ihrer Einstimmigkeit lebenden Verriickten ihre Einstimmigkeit ausdehnen oder ob ihnen nicht diese Fahigkeit abginge.
Dies wird hier ex negativo deutlich: »Das Anomale wie die >Wahnsinnigen <, in ihren verschiedenen Auspragungen, die keine Menschen mehr sind und doch keine Tiere. Auch das Tier hat als normales Tier seiner Spezies sein in sich einheitliches und einstimmiges Dasein, und eben diese Einheitlichkeit, einstimmige Ganzheit gegeniiber dem Zerfall, dem radikal Abnormen, muss intentional verstandlich gemacht werden.« (xv, 159) 82 Wobei Husser! anzudeuten scheint, dass die Verriicktheit auch gerade in dieser bruchlosen Einstimmigkeit bestehen konnte. 1st Normalitat charakterisiert als »alle bis auf einzelne«, so ist es bereits abnormal, die Normalitat bruchlos zu erfahren. Zur Normalitatserfahrung gehort also der Bruch durch die Anomalen: »Wir erfahren [die abnormalen Mitsubjekte] evtl. als in sich moglicherweise Welt sinnlich erfahrend in Einstimmigkeit mit sich selbst und evtl. auch vollig darin iibereinstimmend mit einzelnen Anderen, aber so, dass sie, wie wir erfahren (>einftihlend< erfahren), nicht in der Lage sind, ihre private Erfahrungswelt nach allen Erfahrungsmcrkmalcn als Gcmeinwelt fUr >alle bis auf einzelne< zu erfahren, vielmehr eben nur als Gemeinwelt im einzelnen und nach
8I
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Husserl hat diese »Zwischenformen« nicht bedacht und meinte mit einem »Verriickten« offensichtlich einen voHig irre gewordenen, jeglicher Einstimmigkeit und Kommunikativitat baren Menschen, der damit sogar konstitutiv unterhalb des Tieres anzusiedeln ware; er steht damit noch tiefer deswegen, da auch Tiere ihre eigene Einstimmigkeit und ihre Umwelt haben. Begniigt man sich mit dieser Abnormalitatsdefinition, dann macht es auch keine Schwierigkeit, die gleiche Folgerung wie bei der Anomalitat zu akzeptieren: dass namlich unsere normale Welt ebenso von Abnormalen durchsetzt ist, die zur normalen Konstitution von Welt gehoren und Unterschichten der idealen Normalitat darsteHen. Die Abnormalitat bildet keine Fremd-Normalitat mit ihrer eigenen Normalitatstypik, sondern ist eine innerhalb der Normalitat auftretende, »normale« tiefere Schicht. Formelhaft: Die Abnormalitat ist nicht selbst normal, aber dass es sie gibt und geben muss, das ist normal. Jede Heimwelt ist also charakterisiert durch Normalitat ftir sich selbst gegeniiber anderen Fremd-Normalitaten fremder Heimwelten. Jede dieser Normalitaten enthalt als tiefere Schichten die der Anomalitat (als Abnormalitat einer Schicht) und die radikal »nicht normale« Schicht der Abnormalitat (als Abnormalitat aller Schichten). Da diese Ano- und Abnormalitatsformen ein integraler Bestandteil jeglicher Normalitat sind, sind sie radikal verschieden von der Fremdheit anderer Normalitaten anderer Heimwelten. Der Unterschied zwischen Abnormalitat und Fremdheit besteht darin, dass die Fremdwelt als Fremdnormalitat mit ihrer eigenen Einstimmigkeit erfahren wird, wahrend bei der Abnormalitat keine Einstimmigkeit ersichtlich ist. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden ware dann, dass der das »Andere« Erfahrende keine Einstimmigkeit bei dem von ihm Apperzipierten feststeHen kann. Von daher ware es idealiter vorgezeichnet, dass man eine fremde »Lebensform« auf einem anderen Planeten, die in keinem Sinne anthropomorph konstituiert ware, in der Tat nicht nur als abnormal, sondern als absolut fremd erfahren miisste. Fremderfahrung kann nur die Erfahrung von Fremdnormalitat sein. 83 Positiv: Die Erfahrung mit anderen fremden Normalitaten ist niemals eine Erfahrung von Abnormalitat, sondern von Normalitat im Modus der Fremdheit. Unter Menschen kann es absolute Fremdheit nicht geben. Das Begriffspaar Normalitat und Abnormalitat liefert den wesentlichen Aspekt ftir das weitere Vorgehen. Die Normalitat steHt somit den methodischen Schlusspunkt der Theorie der natiirlichen Einstellung dar. Es fehlt noch ein letzter Schritt in die-
83
einzelnen Merkmalen.« (xv, I 58). In dem Sinne ware der Verriickte strukturell nicht yom in einer Heim- oder Sonderwelt Befangenen verschieden, der seine Welt absolut setzt. Man kiinnte sich sogar den Fall konstruieren, dass man die Normalitat der fremden Kultur gerade durch deren Umgang mit ihren Abnormalen erkennt, d. h. wie sie mit Verriickten umgehen und sich ihnen gegeniiber »normal« verhalten. Eine andere Frage ware: Muss jede Sozialitat Abnormale oder Verriickte enthalten? Wie steht es mit sog. »primitiven« Kulturen, die keine »Verriickten« kennen, sondern sie als »Heilige«, »Propheten« verehrcn?
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KAPITEL I
ser Theorie, der einerseits eme Engfuhrung von thematischer und methodischer Betrachtungsweise ist, gleichzeitig aber den Ansatz fUr das Verlassen der natiirlichen Einstellung bietet. Dieses letzte Element der natiirlichen Einstellung ist die
Generalthesis. 84
1.4. Die Generalthesis als Ergebnis faktischer variation. Naturlich-naive und natUrlich-dogmatische Einstellung und die Moglichkeit des Abschieds von der naturiichen Einstellung Normalitaten sind zwar inhaltlich jeweils verschieden - sonst hatte es keinen Sinn, von Fremdheit zu reden -, aber nicht strukturell, d. i. ihrem Normalitatsstil nacho Das heiDt, dass jede Heimeinstellung und Heimwelt fUr sich in gleicher Weise, d. h. mit ihrer Natiirlichkeit, Naivitat und Normalitat, konstituiert ist, ailch wenn die 84 Eine kurze Zusammenfassung der hier vor!iegenden Rekonstruktion der natiirlichen Einstellung in ihrer thematischen wie methodischen Hinsicht habe ieh in Luft 1998b gegeben. Jene, wie die hier vor!iegende Darstellung gehen davon aus, dass Husser! eine solche Theorie im Einzelnen nicht systematisch durchgefUhrt hat, dies aber im Sinne seiner spateren Phanomenologie nicht nur vorgezeichnet, sondern sinnvoll und notwendig ist, da die natiir!iche Einstellung im Sinne der Spatphilosophie mehr als nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur transzendentalen Phanomenologie ist, sondern, wie Husser! mehrmals betont, ihr eigenes »Recht« hat. Zudem wird auch die Problematik der Lebenswelt sowie die Theorie der Verweltlichung (s. U., Kap. 4) nur verstandlich im Lichte einer voll ausgefuhrten Theorie der natiirlichen Einstellung. Insofern versteht sich diese Rekonstruktion als nicht mehr denn eine Zusammenfugung der verschiedenen Theorienstiicke, die von Husser! selbst nicht mehr in Geschlossenheit geleistet wurde. Brainard (Brainard 2002, 267f.), der sich ausschlieBlich an Husser!s »System der Phanomenologie« in den Idem I halt, behauptet gegen meine Darstellung, dass die rudimentare Analyse der natiir!ichen Einstellung in der »Fundamentalbetrachtung« der Ideen fur Husserls Zwecke ausreichend sei (»sufficient for his purposes«, ebd., 267): »insofar as it is his task to overcome the obstacles to entering into [phenomenology's] sphere. [ ... ] To accuse Husserl of shortcoming in these respects is to ignore his intention.« (ebd.) In dieser Kritik liegt m. E. ein doppeltes Missverstandnis: Erstens wird Husser! nicht des »shortcomings« in den Idem I kritisiert, sondern eine Theorie der natiir!ichen Einstellung wird als ein Desiderat explizit aus der Perspektive der Spittphilosophie dargestellt. Insofern kann die natiirliche Einstellung fUr Husser! von 1913 durchaus als ein »operativ verschatteter Begriff« bezeichnet werden, da Husser! ihn spater mit einer enormen, ihm um 1913 noch unbewussten Bedeutungsvielfalt versieht und dcnnoch stets den Titcl »natiirliche Einstellung« beibehaIt (das Gleiche gilt iibrigens auch fur den Weltbegrifl). Zweitens liegt in dieser Feststellung kein Vorwurf (accusation), sondern nur der Hinweis darauf, dass die Theorie der natiirlichen Einstellung, allgemeiner des natiir!ichen, vorphilosophischen Weltlebens fur Husser! spaterhin ein wichtiges Thema seiner Analysen sein wird, welches urn 1913 nicht in der Weise thematisiert wird und auch noch nicht werden kann. Insofern hat Br. recht, dass die natiirliche Einstellung in der »Fundamentalbetrachtung« nur zum Zwecke der Herausstellung der »Hindernisse« (obstacles) auf dem Wege zur transzendentalen Betraehtungsweise herausgestellt wird. Sie hat also hier lediglich methodische, nicht thematische Bedeutung. Die obige Darstellung hatte aber die Pointe, dass aus der Sieht der Spatphilosophie methodische und thematische Betrachtungsweise wesentlich zusammengehoren. Das heiEt, die rudimentare Darstellung von 1913 ist also spaterhin durchaus nicht mehr »sufficient for his purposes«.
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inhaltlichen Bestimmungen verschieden sind. Diese dreifache }) Struktur« ist allen gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit kann durch Variation bestimmt werden. Husserl hat diese Variation nicht selbst in Bezug auf die natiirliche Einstellung angewandt, obwohl sie doch aus dem Vorhergehenden vorgezeichnet ist. Man kann mutmaBen, weshalb nicht; denn es fehlt der Zusatz »eidetisch«. Das Variationsverfahren kommt fUr Husserl nur im Zusammenhang mit der Gewinnung eines Eidos zum Einsatz. Das durch Variation gewonnene Eidos ist notwendig gegeniiber der Zufiilligkeit der empirischen Einzelheiten (EU, 409). Ein Invariantes kann nur ein »allgemeines We sen [... J ein Eidos [seinl, die tOEa im platonischen Sinne, aber rein gefasst und frei von allen metaphysischen Interpretationen, also genau so genommen, wie es in der auf solchem Wege entspringenden Ideenschau uns unmittelbar intuitiv zur Gegebenheit kommt« (EU, 411).85 Was sich aber bei der Variation der jeweiligen Heimeinstellungen als Invariantes herausstellt, ist gerade kein Eidos, sondern im Gegenteil eine Faktizitiit, die durch eine )Jaktische variation« herausgestellt wird. Die Variation der verschiedenen Heimwelten und Heimeinstellungen ergibt, dass sie voneinander verschieden sind in Bezug auf die Art, wie sie ihre Welt sinnhaft intendieren. Die Unterschiede beziehen sich auf die jeweilige ))inhaltliche« Bestimmung, die als ))Kultur« oder )) Tradition« bezeichnet wurde. Die Frage nach der Variation sucht zu eruieren, was aIle Heimeinstellungen gemeinsam haben, in dem Sinne, was sie aile gleichermaBen voraussetzen. Sie haben gemeinsam, dass sie alle in gleicher Weise - natiirlich, naiv und normal - in die Welt hineinleben. Ihnen ist gemeinsam, dass sie geradehin leben, d. h. natiirlich eingestellt sind. Die natiirliche Einstellung ware somit die Invarianz aller Einstellungen. AIle Sondereinstellungen sind Teil des )) Inbegriffs« cler natiirlichen Einstellung. Der Inbegriff matiirliche Einstellung« ist das allen einzelnen Einstellungen Gemeinsame. SolI das nicht trivial sein, muss weitergefragt werden: Was ist es, was aIle Einstellungen als Korrelat voraussetzen, m. a. W gibt es ein noematisches Korrelat zum noetischen Phanomen des Inbegriffs ))natiirliche Einstellung«, etwas, was aIle Einstellungen in Invarianz intendieren? 1st alles Intendieren das Setzen von etwas, kann Husserl diese General-Intention der natiirlichen Einstellung als Generalthesis bezeichnen. Was ist also das in der Generalthesis in Invarianz stets (Voraus-)Gesetzte? Was ist der Inhalt dieser Thesis? 1m Sinne der universalen Korrelation von Einstellung und Welt ist der ))formale Gehalt« der natiirlichen Einstellung nichts ancleres als die Welt selbst. Hierbei meint )) Welt« als Universalhorizont aller Horizonte ))die« Welt als Inbegriff aller Sonderwelten. Die Generalthesis setzt also das Sein der Welt:
85
Zur Methode def eidetischen Variation vgl. im Ganzen
EU,
§87, 4IOff., sowie
IX,
§9, 72ff.
74
KAPITEL I
»Aile Bezweiflung und Verwerfung von Gegebenheiten der natiirlichen Welt andert nichts an der Generalthesis der natiirlichen Einstellung. )Die< Welt ist als Wirklichkeit immer da, sie ist h6chstens hier oder dort )anders< als ich vermeinte, das oder jenesist aus ihr unter den Titeln )Schein <, )Halluzination
Setzt die natiirliche Einstellung immer die Welt als existierende voraus, so ware der »Inhalt« dieser Thesis: »Die Welt ist« (VIII, 40). Diese sich stets in aller Prasumtivitat bewahrende Welt ist damit kein Eidos, sondern als stets vorausgesetzte Welt, »in der wir leben« und auf deren Boden wir stehen, eine absolute Faktizitat. Analog zum kantischen »Ieh denke «, das alle Vorstellungen muss begleiten kannen, kann man abwandeln: Dass die Welt ist, begleitet alle Lebenssituationen. Welt als Inhalt des in der Generalthesis Intendierten ist als universaler Glaubensinhalt das allem Leben Gemeinsame. Die sieh aus der Universalkorrelation von Einstellung und Horizont ergebende Generalthesis ist mehr als ein Korrelat eines intellektuellen »Ieh denke«, sondern als der Universalhorizont aller durehlebten Horizonte die universale, unthematisehe Voraus-Setzung sehleehthin. Den subjektiven Modus dieser Voraussetzung nennt Husserl Glaube oder Geltung. 86 Der subjektive Vollzug der Generalthesis ist demnaeh ein unthematisehes Bewussthaben des Bodens der Welt. Die Welt ist in Geltung fUr mieh, ieh »glaube« an ihr Sein. Geltung (der Welt fur mieh) und Glauben (an ihr Sein) sind Korrelate. Glaube ist zu verstehen im Sinne der grieehisehen Ml;a, was ein vortheoretisehes, nieht-pradikatives »Wissen «, eben das ungepriifte Meinen, ist, wie in der Wendung »ieh glaube (boXEL !lOL), dass dies so-oder-so ist.« Das Meinen kann modalisiert werden, hart aber nie auf, Meinen zu sein. In allen Meinungen, Einstellungsweisen und Stellungnahmen, selbst wenn sie negiert werden, geht der Glaube an das Sein der Welt als des unthematiseh vorausgesetzten Bodens nie verloren. »Boden« kann somit doppelt verstanden werden: Der Boden, auf dem ieh unmittelbar stehe, ist die Welt selbst, ganz basal verstanden als »Erdboden«. Gleiehzeitig aber ist das Korrelat, der Glaube an das Sein der Welt ein Glaubensboden aller einzelnen doxisehen Akte. Dieser universaleGlaube analog zur Generalthesis hat seine primare und unmittelbare, urspriingliehste Evidenz im Glauben an die Stimmigkeit der sinnlichen Wahrnehmung. Hier manifestiert sieh am leibhaftesten und unmittelbarsten der Seinsglaube; hier wird am deutliehsten, dass und warum man trotz aller Magliehkeit des Zweifels, der Tausehung und des Irrtums an ihm festhalt und festhalten muss, urn iiberhaupt ein handelndes Leben zu vollziehen. 87 Es kann also festgehalten werden, dass sieh die 86 Vgl. Held 199Ib, 86f., der diesen Glauben aus dem »Gegenstandsbezug« des Menschen rekonstruiert. 87 1st diese Erwartung jedoch eine bestandige Prasumtion, so ist sie nicht notwendig, sondern kontingent. Dies meint Husser! auch mit seinem Beispiel des »Weltzusammenbruchs«. Diese Prasumtion ist eine bestandige Bewahrung, die sich auch entwahren kann. V gl. hierzu Mertens
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naturliche Einstellung in der Weise des (inexpliziten, unthematischen) Glaubens an das (ebenso unthematische) Sein der Welt vollzieht und an der sinnlichen Wahrnehmung orientiert ist. Hierfur steht der Begriff der Geltung: Die Welt hat Geltung oder ist in Geltung fur mich, der ich an ihr Sein glaube. Weltsein und Seinsglaube sind Korrelate, die die natudiche Einstellung als subjektiven Vollzug des Lebens in der Welt kennzeichnen. 88 1st die Generalthesis der naturlichen Einstellung in dieser Universalihit eine »Grundbestimmung«89 des menschlichen Weltlebens schlechthin, ein unthematisches Voraussetzen der Weltgeltung, so liegt sie allen Vollzugsweisen des menschlichen Lebens zu Grunde. Sie fungiert folglich auch bei hoherstufigen, auf niederen fundierten Einstellungsweisen als unthematischer Boden. Trennt die basale Generalthesis der natudichen Einstellung und die hoherstufige Einstellung, im Bilde zu reden, ein oder mehrere »Stockwerke«, so gilt fur letztere auch die Generalthesis, obwohl sie in der Basalitat der natudichen Einstellung uberdeckt oder »verschuttet« ist. Dies wurde mit dem Begriff der Naivitat expliziert. Bedeutet der positive Begriff von Naivitat ein schlichtes Nichtwissen-um, so nimmt diese Naivitat eine negative Farbung an, wenn sie da auftaucht, wo sie gerade nicht auftauchen soIl. Diese negative Naivitat kann nur bei den positiven Wissenschaften, sofern sie sich ihre Vorurteile nicht bewusst machen, auftreten. Wissenschaften vollziehen sich in wissenschaftlicher Einstellung, die jedoch ebenso eine - wenn auch hoherstufige Einstellung auf dem Grund der Generalthesis ist. Ruhen die Wissenschaften auch auf der natudichen Einstellung, sofern sie als hoherstufige ihr »aufsitzen«, so besteht fUr sie die Gefahr, dass sie die gleichen naiyen Vorurteile, die die naturliche Einstellung voraussetzt, unbesehen ubernehmen. Damit wurde die positive Wissenschaft aber ihrem »Zwecksinn«, absolute Erkenntnis gegenuber der relativen der Alltagswelt zu edangen, zuwiderhandeln. Es mag sein, dass sie bestimmte Vorurteile durchschaut, ja ihr Antrieb zu forschen gerade darin besteht, diese zu uberwinden. Das setzt voraus, dass gewisse Vorteile bereits in natudicher Einstellung durchschaut werden. Aber die Wissenschaften ubernehmen das Vorurteil, wovon die naturliche Einstellung selbst nichts weiB: Diese naive und fur die natiirliche Einstellung nicht als »Vorurteil« thematisierbare U r-Doxa ist die Generalthesis der natiirlichen Einstellung. Wahrend also der natudichen Einstellung das »Vorurteil« der Nicht-Thematisierung des Weltglaubens und der Glaube an das An-sich-Sein der Welt nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, ist das gerade 1995,223: »Die Seinsgewissheit steht keineswegs von vornherein fest und kann nicht gegen allen Zweifel a priori abgesichert werden. Vielmehr muss sie prinzipiell gegeniiber der Moglichkeit einer totalen Aufiosung unseres Erfahrungszusammenhangs bewahrt werden. « 88 Ni hat dem Thema des Seinsglaubens in der Philo sophie Husserls eine Monographie gewidmet, vgl. Ni 1999. Natiirliche Einstellung und Welt sind Korrelate der universalen Korrelation und keineswegs sich widersprechende Gegensatze, wie etwa Aguirre meint. Vgl. Aguirre 1970, 12 AnlIl. 31, sowie 178f., Anm. 6. 89 Held 1991 b, 82.
KAPITEL I
Husserls Kritik an den Wissenschaften: Dass auch sie unausdriicklich auf dem Boden der Welt stehen und selbst die Generalthesis unthematisch mit-vollziehen und damit die Selbstverstandlichkeit aller Selbstverstandlichkeiten iibernehmen. Daher sind die Wissenschaften im negativen Sinn naiv, da sie die Naivitat der natiirlichen Einstellung auf einer hoheren Ebene mitvollziehen und damit einer sich selbst nicht durchschauenden »Naivitat hoherer Stufe« verfallen. Das Verhaltnis von niederer und hoherer Naivitat kann mit dem Begriffspaar natarlich-naive und natarlich-dogmatische Einstellung ausgedriickt werden. 90 Wahrend die naiv-natiirliche Einstellung die des vorwissenschaftlichen Weltlebens ist und als solche ihr Eigenrecht hat, ist die natiirlich-dogmatische Einstellung die Einstellung der positiven Wissenschaften, die auch unbewusst, aber dogmatisch auf dem Boden der Weltgeltung stehen; sie sind im schlechten Sinn »dogmatisch«, weil sie ebenso und fur sich unthematisch auf der Ur-Doxa als der Generalthesis der natiirlichen Einstellung aufruhen, es sind »die WissenschaJten der dogmatischen Einstellung, den Sachen zugewendet, urn aile erkenntnistheoretische oder skeptische Problematik unbekiimmert. Von der primaren Gegebenheit gehen sie aus [ ... J und fragen, als was sich die Sachen unmittelbar geben, und was auf Grund dessen fur diese und fur Sachen des Gebiets iiberhaupt mittelbar erschlossen werden kann. « (Ill/ I, 54)
Nun kann auch dies einen positiven Sinn haben im Sinne der Erforschung der »im guten Sinne dogmatischen, das ist vorphilosophischen Forschungssphare, der alle Erfahrungswissenschaften (aber nicht nur sie) angehoren« (ebd.). »Positiv« an dieser Forschungsart ist also, dass sie »um alle erkenntnistheoretische oder skeptische Problematik unbekiimmert« »geradehin« in die Welt hineinforscht und in der Haltung der Naivitat des unbefangenen und »staunenden« Betrachtens verharrt, sich also »offen halt« fur das Sein in der Welt. Jedoch nimmt diese »Dogmatik« den negativen Sinn an, da sie die zu erforschende Erfahrungswelt verabsolutiert, also keinen Sinn fur erkenntnistheoretische Fragen hat. Als Erfahrungswissenschaft ist sie eben nicht philosophische Wissenschaft, die die Bedingungen der Moglichkeit der Erfahrungswelt thematisiert und keine unbefragten Vorurteile gelten lasst, sondern sich fur alle (wirklichen und moglichen) Urteile Rechenschaft ablegt. 1st dieses »naive« Forschen notwendig fur den Fortschritt der Wissenschaften, so wird es im negativen Sinn »dogmatisch«, wenn es den Erfahrungsboden, den es voraussetzt, nicht selbst wiederum hinterfragt. Die Verabsolutierung von etwas, was immer nur relativ auf anderes sein kann, nennt Husserl auch Skeptizismus. Verbleibt die positive Wissenschaft also im Stadium ihrer ersten Naivitat, so miindet sie 90 Vgl. hierzu im Ganzen m/r, §26, 53-55. Es ist wichtig, auf die Stellung dieser Paragraphen im Zusammenhang der Ideen hinzuweisen: Die vorphilosophischen Wissenschaften werden vor der Epoche diskutiert, die sogleich im nachsten Abschnitt (in der »Fundamentalbetrachtung«) cingcftihrt wird.
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eo ipso in den Skeptizismus. »Man braucht den Empiristen nur nach cler Quelle cler Geltung seiner allgemeinen Thesen [... ] zu fragen, und er verwickelt sich in nachweisbaren Widersinn.« (mfr, 43 f.) Die positiven Wissenschaften sind der Erganzung durch eine universale mathesis bediirftig; positive Wissenschaften sind notwendigerweise unvollstandig und bediirfen einer »Grundlagenforschung«.91 Diese betrifft die Grundlagen der Geltung der Welt fur ein Subjekt: Diese Forschung kann, wenn sie konsequent ihre Vorurteile hinterfragt, nur zur transzendentalen Wende fuhren. 1st also einerseits die positive Wissenschaft Vorstufe zur Philosophie, die ihrerseits die Naivitat der Wissenschaften zu eliminieren berufen ist, muss doch betont werden, class die positiven Wissenschaften fur sich selbst in einem schlechten Sinn Wissenschciften der natiirlichen Einstellung sind, sofern auch sie die Generalthesis der natiirlichen Einstellung unhinterfragt mitvollziehen. Steht die naiv-natiirliche Einstellung auf dem Boden der Welt, sie unthematisch voraussetzend, so gilt das a fortiori fur jede hohere Einstellung. Obzwar die naiv-natiirliche Einstellung fur sich selbst ihr Eigenrecht hat, gilt fur doch die natiirlich-dogmatische Einstellung: »Solange die natiirliche Einstellung nicht als Einstellung durchschaut wird, ist die grundlegende Haltung, auf der unser ganzes Leben beruht, noch nicht zu einer Sache der eigenen rechenschaftlich vollzogenen Entscheidung geworden; d. h. wir haben die letzte Verantwortung ftir unser Leben noch nicht iibernommen [ ... J. «92
Wenn die wissenschaftliche Einstellung also» lediglich « eine natiirliche Einstellung hoherer Stufe ist, kann dann dieser Weltboden iiberhaupt verlassen werden? Das ist die kritische Frage nach der Moglichkeit der Reduktion. Anders formuliert: Kann die philosophische Einstellung iiberhaupt etwas strukturell ancleres sein als eine wiederum hoherstufige Einstellung iiber der wissenschaftlichen? Miisste nicht auch sie notwendigerweise auf den Schultern der wissenschaftlichen Einstellung und damit wiederum auf dem Boden der natiirlichen Einstellung stehen? Wiirde diese Frage bejaht, so galte: Ware das Kriterium fur die philosophische Einstellung, die natiirliche Einstellung aufzuheben, dann ware sie in der Tat undurchfiihrbar und ein widersinniger »view from nowhere«. Dennoch ist es laut Husserl fur die philosophische Einstellung moglich, die natiirliche Einstellung zu verlassen. Dieses »Verlassen « geschieht dadurch, dass diese geanderte Einstellung die Generalthesis der natiirlichen Ein-
Dies sind bereits die Themen der Psyehologismuswiderlegung in den Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen. Vgl. hierzu Kap. II der Prolegomena (),Die Idee der reinen Logib), XVIII, 23off. Vgl. auch folgendes Zitat von 193 I: ),Die positive Wissensehaft nennen wir naiv und prinzipiell in einer Naivitat steeken bleibend, weil sie einen Boden unaufgeklarter, nie herausgestellter, unformulierter, daher nie in Frage gestellter Selbstverstandliehkeiten hat, einen Boden von Vorurteilen, die als nie in ihrer RechtmaBigkeit und deren Grenzen naeh erwogener es machen, dass sie mit all ihren Theorien sozusagen in der Luft steht.« (A IV 13/ 6b) 92 Held 199Ib, 83. 91
KAPITEL I
stellung, den Boden der Weltgeltung, explizit macht. Sie sieht den Horizont als Horizont und hat ihn dadurch bereits verlassen. Die Aufgabe der Phanomenologie kann nicht sein, die naturliche Einstellung ))abzuschaffen«, sondern sie explizit zu machen und in ihrem Zustandekommen zu verstehen. Sie ist eine kritische Einstellung, die versucht, alle Naivitat zu beseitigen, indem sie sie durchschaut und damit elirniniert. In diesem Sinn kann man sagen, dass sie eine )) hoherstufige Kritik« ist, aber sie ist nicht als wiederum uber der wissenschaftlichen Einstellung anzusiedelnde Hoherstufigkeit anzusehen. Sie fragt nicht uber die naturliche Einstellung hinaus, sondern in transzendentaler Ruckfrage in ihren Ursprung zuruck; sie entdeckt die Dimension, welche die Welt der naturlichen Einstellung ))zustande bringt«. Mit dem Explizieren der Generalthesis der naturlichen Einstellung ist nicht nur ihre faktische Invarianz, sondern gleichzeitig die Moglichkeit aufgezeigt, sie zu verlassen. Das Verfahren der Epoche ist die Methode, die Generalthesis der naturlichen Einstellung zeitweise auBer Kraft zu setzen. Dies ist jedoch nur moglich, nachdem die naturliche Einstellung selbst in ihrem Weltglauben explizit geworden ist. Fur sich selbst kann die naturliche Einstellung jedoch nicht thematisch werden, ohne sogleich nicht mehr naturlich eingestellt zu sein. Die Generalthesis als Ergebnis faktischer Variation weist erst die Einheitlichkeit der naturlichen Einstellung im Sinne eines singulare tantum auf. Hierin liegt die Perspektive beschlossen, die naturliche Einstellung zu verlassen durch eine radikal undogmatische, d. i. philosophische Einstellung. Die Thematisierung der Generalthesis nimmt jedoch bereits eine Position ein, die nicht mehr maturlich eingestellt« ist. Es ist aber noch nicht geklart, wie die naturliche Einstellung uberhaupt thematisch werden kann. Sind auch die positiven Wissenschaft noch in ihrem )) Bann «, konnte man meinen, dass die naturliche Einstellung ein undurchbrechbarer Kreis ist. Es muss im nachsten Kapitel geklart werden, wie es moglich sein soli, sie zu verlassen. Diese Frage fungiert unter dem Titel der Motivation jur die Reduktion.
KAPITEL 2
Die Motivation fUr die Reduktion und die Etablierung des »unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung. Die Notwendigkeit einer »Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion«
2.1.
2.1.1.
Die Motivationfur die Reduktion
Das Problem der Motivation
Der Komplex» Motivation zur phanomenologischen Reduktion« gehort zu einem der nie befriedigend gelosten Probleme Husserls, dem er auch betrachtliche Miihe widmete. Das Problem der Motivation fur die Reduktion ist nicht identisch mit den Wegen in die Reduktion. Diese konnen erst beschritten werden, wenn die natiirliche Einstellung iiberwunden worden ist. Wie dies moglich sein soll, ist das Problem der Motivation. Husserls Manuskripte zu diesem Thema sind zahlreich; es kann daher nicht erschopfend dargestellt werden, zumal diese Problematik im letzten Kapitel einer vertieften Darstellung unterzogen wird, die sich aus der finkschen Anregung ergeben wird. Es wird sich zeigen, class Husserl in seinen spaten Manuskripten im Umkreis der Krisis doch eine Perspektive aufzeigt, mit dem Problem zurande zu kommen, wobei sich hier wiederum neue Horizonte eroifnen, die iiber die Phanomenologie im strengen Sinne hinausftihren. Ob und inwiefern ein solches Hinausgehen iiber die Phanomenologie selbst notwendig wird, wird ein Teil des Disputs zwischen Husserl und Fink sein. Auch die Forschungsliteratur zum Problem des ))Anfangs« und der ))Motivation« zur Phanomenologie ist zahlreich. Kaum findet sich eine Darstellung zu Husserl, die nicht mindestens im Einleitungsteil Bemerkungen zur phanomenologischen Reduktion macht, vorzugsweise als ))Einleitungen« in die Phanomenologie selbst. 1 Dies ist auch nicht weiter iiberraschend; denn Husserl hat v. a. in seiner Spatzeit die
Aus cler Masse cler Publikationen seien zwei Einleitungswerke herausgegriffen: Lembeck I994, 23 ff., sowie Bernet / Kern / Marbach I 99 5. N aheZll j ecle Monographie zu H usserl befasst sich minclestens im Einleitungsteil mit cler Reduktion; als Beispiele seien wiederum nur herausgegriffen:
S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
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KAPITEL 2
Reduktion Ofters als das wichtigste Element seiner Philo sophie bezeichnet. 2 Hierbei gibt es zwei Haupttendenzen der Interpretation, die sich mit einem gewissen Recht auf Husserl zwar berufen, beide aber letztlich die Pointe verfehlen. In der Darstellung dieser Interpretationen aber wird das Problem der Motivation deutlich. Hiernach solI eine Perspektive zur Losung des Problems der Motivation aufgezeigt werden; diese solI anhand eines Vorschlags von Fink, der aber von Husserl als undurchfUhrbar kritisiert wird, diskutiert werden. In Husserls spaten Manuskripten deutet sich eine Losungsmoglichkeit an, die jedoch erst aus der geschichtsphilosophischen Einordnung der Phanomenologie plausibel wird. Es solI gezeigt werden, dass der auf den erst en Blick attraktiv scheinende Vorschlag Finks nicht im Sinne Husserls ist, dies aber (aus Husserls Sicht) mit gutem Grund. Hier kommt jedoch ein erster »Einschlag« Finks zur Sprache, dessen AusfUhrungen zum System der Phanomenologie im letzten Teil dieser Untersuchung diskutiert werden solI. Die beiden Interpretationsrichtungen der Motivation fur die Reduktion seien die » Freiheits-« und die» Paradoxiethese« genannt. Diese sind zumeist nicht eindeutig einem Autor zuzuordnen, sondern finden sich - iibrigens auch bei Husserl selber - vermischt und nicht genau voneinander differenziert. Dabei ist die zweite These eine Kritik an der ersten, aber bleibt dabei stehen, ein Paradox zu konstatieren, ohne eine Losung anzubieten. Hierfur sei an die Generalthesis der natiirlichen Einstellung erinnert. Demgegeniiber ist die Epoch€: die Ausschaltung dieser Generalthesis (vgl. mil, 61 ff.). Die Frage nach der Motivation kann wiederum zweifach verstanden werden - und wird in dieser Ambivalenz oft nich klar getrennt -: Erstens fragt sie nach dem Warum dieses Verfahrens. »Warum das Ganze?«, ganz elementar, »warum Philosophie?« Hier wird man sagen: Die Frage »Warum?« scheint auf den ersten Blick leicht zu beantworten; das Verfahren radikaler Selbstbesinnung wird durchgefuhrt im Rahmen eines umfassenden, radikalen Wissenschaftsprojekts und mit dem Zweck, eine Urwissenschaft fUr die positiven Wissenschaften zu schaffen, urn diese zu fundieren und urn Wissenschaft in vollig selbstgerechtfertigter Selbstbesinnung durchfuhren zu konnen. Wissenschaft ist die Erfullung der hochsten Idee der Menschheit 3 Das ware - fur Husserl zumindest - eine hinreichende Motivation fur die Epoch€: im Sinne der Begriindung einer strengen Wissenschaft. Diese Erkenntnis ware trivial und schon in der Motivation fUr die Wissenschaft als urmenschliches Bediirfnis nach Wissen und Erkenntnis zum Ausdruck gekommen. Aber das ist nicht das eigentliche Problem der Motivation.
Held 1966, Broekman 1963, sowie neuerdings Zahavi und Kuster, beide 1996, sowie Kaiser 1997, 1341f. 2
Vgl. Husserls Auflerung gegenliber Cairns vom 20.11.1931 (Cairns, 43): »it is his conviction that the most important thing about his whole philosophy is the transcendental reduction.« Dieses Motiv konunt v. a. in den Kaizo-Artikeln zum Tragen (vgl. XXVII, v. a. 43 If. und 591f.). Vgl. auch den I. LV (LV, 201-I2).
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
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Das Problem der Motivation ist vielmehr: Wie ist es uberhaupt moglich, die natiirliche Einstellung zu verlassen? Die Behauptung, dass es moglich ist, 4 hat diese Frage immer schon iibersprungen. Schon das Explizieren der natiirlichen Einstellung hat diese bereits iiberwunden, sofern ihre Naivitat schon durchbrochen wurde. Die Frage nach dem Wie der Epoche ist die nach der Bedingung ihrer Moglichkeit. Auf die Frage nach dem Wie der Einklammerung der Generalthesis antwortet die » Freiheitsthese « unter Berufung auf Husserl: Es ist eine Sache der personlichen Freiheit oder ein freier Willensentschluss. 5 Ich als mich selbst verantwortender radikaler Wissenschaftler, der die Grenzen der positiven Wissenschaft erkannt hat, beschlieBe, die Generalthesis der natiirlichen Einstellung in einem freiheitlichen Willensakt auBer Kraft zu setzen. Dabei ist weder die Frage, ob dies iiberhaupt moglich ist, noch, ob es in der Macht des Wissenschaftlers steht. Dieser Wille muss »lediglich« in seiner Moglichkeit erkannt und konsequent vollzogen werden, d. h. es ist darauf zu achten, dass die Epoche im rechten Sinn durchgeflihrt und gegen Missverstandnisse abgesichert wird: Man darf z. B. die Epoche nicht als Vernichtung der Welt begreifen. 6 Sie muss zudem positiv als Eroffnung der Sphare der transzendentalen Subjektivitat verstanden werden. Die Freiheitsthese beantwortet also die Frage nach dem Wie von Epoche und Reduktion mit dem Verweis auf die menschliche Freiheit, die die Vermoglichkeit der Einklammerung der Generalthesis hat. Die »Paradoxiethese« macht jedoch auf den paradoxen Charakter dieses Versuchs aufmerksam. Sie betont den Umstand, dass die Thematisierung der natiirlichen Einstellung diese bereits verlassen hat und fur das angesprochene Problem zu spat kommt. Die These von der Freiheit spricht bereits von der Perspektive der nicht-natiirlichen, philosophischen Einstellung; diese These ware also strenggenommen nur eine retrospektive Rekonstruktion, die aber nicht erklaren kann, wie cs in statu agendi moglich wurde, diesen Willen zu haben und zu aktivieren. Die Rede von der Motivation flir die Reduktion kommt der Tat der Reduktion immer schon zu spat. Ja, man muss sogar sagen, dass jedwede Erlauterung der Motivation der Reduktion dieser nachtraglich ist, da die natiirliche Einstellungper difinitionem keine solche Motivation enthalten kann. Damit ware aber noch nicht die Freiheitsthese widerlegt; denn es ist durchaus moglich, dass in der Tat ein freiheitlicher Willensakt die »Sprengung« der natiirlichen Einstellung vollbracht hat. Die Paradoxiethese
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Wie es Husser! in der Fundamentalbetrachtung lapidar behauptet: »Anstatt nun in dieser Einstellutlg zu l'erbleiben, wollen wir sie radikal iindern. Es gilt jetzt, sich von der prinzipiellen Moglichkeit dieser Anderungzu liberzeugen.« (mfr, 61) Die Betonung der personlichen Freiheit findet sich bei Husser! haufig, so etwa im bereits zitierten § 3 I der Ideen I: »Der universelle Zweifelsversuch gehort in das Reich unserer vollkommenen Freiheit [... J.« (mfr, 62) S. auch vm, 6 u. O. Einschlagig ftir diese Auffassung ist etwa Aguirre 1970 sowie van Breda 1973. Die »Freiheitsthese« ist von Kim wieder aufgegriffen worden (Kim 1995). Husser! kritisiert selbst in spateren Jahren seinen in den Ideen verwendeten Begriff vom Ego als »Residuum der Weltvernichtung«; vgl. u.a. VI. 81.
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fragt aber nun nach der Bedingung der Moglichkeit dieser Freiheit, wohingegen die Freiheitsthese diese Moglichkeit voraussetzt. 1st eine solche Freiheit des Verlassens der natiirlichen Einstellung iiberhaupt mi::iglich? Diese Frage wird von der Paradoxiethese verneint. Es gibt innerhalb der natiirlichen Einstellung keine Motivation, sie zu verlassen. Auch hierin kann man sich auf Husserl berufen, und Fink schlieBt sich dieser Auffassung - wenn auch mit anderer Konsequenz - an. 7 Die Frage ist, weshalb es keine Motivation fUr die Reduktion in natiirlicher Einstellung geben kann. Die Antwort muss lauten: Husserls eigene Konzeption der natiirlichen Einstellung macht dies unmoglich. Formales Anzeichen hierflir ist die Naivitat der natiirlichen Einstellung: 1st die natiirliche Einstellung dadurch de£lniert, dass sie als natiirliche Einstellung nichts von sich weiB, dann kann sie auch als natiirliche Einstellung keine Motive £lnden,fur sich thematisch zu werden. Dies ergibt sich auch aus der Perspektive des Horizonts als des Korrelats von Einstellung. N atiirlich hat der Mensch» Freiheit« im Sinne von freier Ausiibung von Akten im Rahmen seiner Vermoglichkeiten; sie driickt sich aus in der Erweiterbarkeit des Horizontes in infinitum. 1st er das aber, bleibt er bei aller Erweiterung durch Hemmung und Korrektur - immer noch derselbe Horizont. Diese Konzeption des Horizontes macht es unmoglich zu erkIaren, wie man aus einem Horizont hinauskommt, ihn gewissermaBen »sprengt«. Die Erweiterbarkeit des Horizonts in infinitum gleicht metaphorisch gesprochen einer »Blase«, die zwar unendlich dehnbar ist, aber nie zum »Platzen« gebracht werden kann. Genau besehen ist die These von der Verweisung der Sonderhorizonte aufeinander bereits in einer Heimwelt problematisch, und das Problem potenziert sich beziiglich der Erweiterbarkeit der Heimwelt als cler Welt einer solchen natiirlichen Einstellung selbst. Es zeigt sich, class das Phanomen der Venveisung eine unhinterfragte Behauptung ist. 1st eine Heimwelt in infinitum erweiterbar, wie kann es dann moglich sein, dass sie die Erfahrung einer Fremdwelt als Fremdwelt iiberhaupt mach en kann? Dieses Verstandnis von Horizont macht, dass die »Offnung« des Horizontes auf einen anderen Horizont hin, womoglich mit anschlieBender »Horizontverschmelzung«, nicht nur problematisch, sondern unmi::iglich ist. Die Paradoxiethese leugnet also nicht die Freiheit des Menschen, aber sie bezweifelt, dass diese Freiheit die Macht hat, den Horizont der natiirlichen Einstellung »aufzubrechen«. In und von der natiirlichen Einstellung aus kann man keine Motive £lnden, die Erweiterbarkeit des Horizonts zu »beenden«; man kommt nie an ein »Ende«. Sie aus eigener Kraft zu iiberwinden ist unmi::iglich. Das ganze
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Vgl. das Nachwort zu den Ideen von 1930: »BloB darin ist das naturliche Leben und seine naturliche Welthabe beschrankt, dass es, in seiner )Naturlichkeit< fortlebend, keine Motive hat, in die transzendentale Einstellung uberzugehen, also mittels der phanomenologischen Reduktion transzendentale Selbstbesinnung zu vollziehen.« (v, 153). Fink schreibt in der VI. Meditation: »Eine )zwingende< Motivation fur die phanomenologische Reduktion gibt es in der naturlichen Einstellung nicht - und zwar aus prinzipiellen Grunden. « (VI. eM, 35)
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Unternehmen der Reduktion ist somit ein Paradox; es gleicht dem Lugenbaron Munchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen versucht. 8 Welche Konsequenzen ergeben sich nun hieraus? Kann die naturliche Einstellung in Wahrheit uberhaupt nicht verlassen werden, so ist a fortiori das ganze Projekt der Phanomenologie als durch Reduktion begrundete Transzendentalphilosophie nicht durchftihrbar. Die Reduktion kann nicht nur nicht vollstandig, sie kann gar nicht vollzogen werden. 9 Dagegen stehtjedoch das »Faktum« der transzendentalen Wissenschaft. Diese ware, so die Konsequenz, eine Fiktion oder noch schlimmer, sofern diese Wissenschaft doch Plausibilitat hat, zumindest Etikettenschwindel: Was sich als transzendentale Forschung ausgibt, ware gar nicht transzendental. Einen »wahren Bereich« der Transzendentalitat gabe es nicht, oder wenn es ihn gabe, so ware er nicht zuganglich. Das ware die radikale Konsequenz einer solchen Kritik. Transzendentale Phanomenologie ware nichts anderes als »vcrkappte« Psychologie, eine Konsequenz, der sich Husserl sehr wohl bewusst war. Gesteht Husserl die Paradoxiethese damit implizit zu, so muss doch betont werden, dass er sie mit allen ihm zur Verftigung stehenden Mitteln aufzulosen trachtet. Transzendentale Wissenschaft ist moglich, es muss nur in methodisch streng ausweisbarem Sinn geklart werden, wie. Es muss ein konsequenter Weg aus der natiirlichen Einstellung gefunden werden; urn in einem einschlagigen Bild zu reden: Es muss gezeigt werden, wodurch es moglich wird, dass der Hohlenbewohner den Weg in das Licht antreten kann. Diese Moglichkeit kann aber nicht aus der naturlichen Einstellung selbst stammen. Diese Moglichkeit solI hier aufgezeigt werden, indem der Begriff der Motivation einer Untersuchung unterzogen wird. »Motivation ftir die Reduktion« wurde bisher mit »Bedingung der Moglichkeit ftir die Reduktion« paraphrasiert. Die Bedingung muss aber im Sinne einer Ermoglichung verstanden werden; denn die Reduktion selbst, wenn einmal in Gang gekommen, ist durchaus ein willentliches, freiheitliches Tun eines Menschen. Die Motivation kann daher auch metaphorisch 8
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Man konnte dies geradezu das Miinchhausen-Dilemma Husser!s nennen, ware der Begriff nicht schon verwendet durch eine Tradition von logischen Selbstbegriindungen etwa bei Schopenhauers Kritik am ontologischen Gottesbeweis Spinozas und Nietzsches radikaler Vernunftkritik, vgl. das Lemma »Miinchhausen-Trilemma« in: Ritter, Bd. 6, 223 f. Husser! verwendet selbst die Metapher in LV, 243. Auch Adorno spielt einmal polemisch auf die Miinchhausen-Situation der Phanomenologie an: "Die ertrinkende Phanomenologie sucht mit ihrem eigenen Wesenszopf sich aus dem Sumpf des verachteten bloGen Daseins herauszuziehen.« (Adorno 1972, 192) van Kerckhoven sieht hierin einen ersten Keirn zu Finks Husserlkritik, welche die Unmoglichkcit des phanomenologischen Unternehmens zur Konsequenz hat, vgl. van Kerckhoven 1996, 91: »Die Phanomenologie naherte sich [in der SelbstkritikJ somit dem Hohepunkt ihrer Lehre: der Einsicht in die Unmoglichkeit einer vollstandigen Reduktion.« Diese Kritik wurde bekanntlich bereits von Merleau-Ponty - unter dem Einfluss der Lektiire der VI. Meditation - formuliert, vgl. Merleau-Ponty 1966, II: "Alles Missverstandnis zwischen Husser! und seinen lnterpreten [ ... J kommt letztlich daher, dass ein Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt notwendig ist, sol! die Welt erblickt und ihr Paradox erfasst werden konnen, dieser Bruch aber nichts uns zu lehren hat als ihr unmotiviertes Entspringen. Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmoglichkeit der vollstiind(~en Reduktion. Waren wir absoluter Geist, so ware die Reduktion kein Problem.«
KAPITEL 2
als »Ziindfunke« bezeichnet werden, der den Prozess der Reduktion entfacht. Die Motivation muss im Sinne einer geistigen Disposition verstanden werden, die den Beginn der Phanomenologie » begriindet«, wenn auch nicht im Sinne von Kausalitat. Daher so11 zunachst das Gesetz der Motivation unter Beriicksichtigung des zum Verstandnis der Motivation der Reduktion Erforderlichen untersucht werden. 2. I.2.
Das Grundgesetz der Motivation. Aktive und passive Motivation
Motivation ist eine Wesensgesetzlichkeit des Bewusstseins, Husserl bezeichnet sie auch als das »Grundgesetz der geistigen Welt«.10 Dieses unterscheidet sich fundamental von der Gesetzlichkeit der »auBeren« Welt oder der Natur: der Kausalitat. Damit ist eine Beschreibung vorgezeichnet, die unmittelbar noch nichts mit der Motivation fUr die Reduktion zu tun hat. Dennoch kann die allgemeine Charakteristik der Motivation fur das Problem der Motivation fUr die phanomenologische Reduktion klarend sein. Hierbei geht es nur urn die charakteristischen Ziige dieses »Grundgesetzes«. Es wird von Bedeutung sein, dass die Motivation als aktives geistiges Gesetz auf einer passiven Stufe fundiert ist. Das urspriingliche Sein des Menschen in der Welt, im Vo11zug der natiirlichen Einste11ung, ist tatiges Verhalten. Aktivitat manifestiert sich in Ste11ungnahmen, die das Ich als Ausdruck seiner Freiheit tatigt: »Wir
finden also als das ursprungliche und spezijisch Subjektive das leh im eigentlichen Sinne, das Ich der )Freiheit<, das aufmerkende, betrachtende, vergleichende, unter-
scheidende, urteilende, wertende, angezogene, abgestoBene, zugeneigte, abgeneigte, wiinschende und wollende: das in jedem Sinne )aktive <, stellungnehmende leh.« (IV, 213)
Gegeniiber dem aktiven setzt Husserl ein passives Ich an: »Dem aktiven steht gegeniiber das passive Ich, und das Ich ist immerfort, wo es aktiv, zugleich passiv, sowohl im Sinne von affektiv als rezeptiv - was wohl nicht ausschlieBt, dass es auch bloB passiv sein kann; )Rezeptivitiit< ist wohl dem Sinne nach ein Ausdruck, der eine niedeyste Stufe dey Aktivitiit einsehlilj3t, wenn auch nicht die eigentliche Freiheit der tatigen Stellungnahme.« (ebd.) Dieses passive Ich ist nicht ein zweites Ich neb en dem eigentlichen aktiven, sondern eine tiefere Konstitutionsstufe desselben Ich (vgl. XI, 309). Insofern aber Rezeptivitat als »niederste Stufe der Aktivitat«, als Modus des nicht-agierenden Empfangens, verstanden wird, darf dieses »passive Ich« nicht als eine andere Seite des aktiven, IO
V gl. IV, §§ 54-61, 2 II-8o; hier findet sich eine ausftihrliche Analyse des Phanomens der Motivation. Eine eingehendc Darstellung dazu findet sich bei Holenstein 1972.
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
als Kehrseite einer Medaille aufgefasst werden. Aktive Stellungnahmen erwaehsen auf dem Boden dieser »gewahrenden« Passivitat, die strenggenommen kein Erleiden, sondern Voraussetzung fur aile Aktivitat ist und daher aueh Ur-Passivitat genannt wird. ll Husserl bezeiehnet diese Passivitat als ,» stoffiiche < Unterlage, auf der sieh dieses Verhalten rdes Stellungnehmens] aufbaut« (IV, 214). Diese Unterlage nennt Husserl aueh das ,deh der Tendenzen«, des Sieh-hingezogen- oder -angesproehen-Fuhlens, des Interessenehmens USW. 12 All dies als Verhalten des Ieh zu seiner Unwelt kann gefasst werden unter dem Titel »Intentionen«, so dass das »geistige oder personliehe reh« aueh als »Subjekt der Intentionalitat« (IV, 220) zu bezeiehnen ist. Die GesetzmaBigkeit hierfur nennt Husserl Motivation. Parallel zu aktivem und passivem Ieh unterseheidet Husserl aktive und passive Motivation. Die aktive Motivation als aktive Intention ist ein tatiges Verhalten, sieh selbst zu etwas zu motivieren. Es ist eine Motivation von »Stellungnahmen dureh Stellungnahmen« (IV, 220):13 Ein Vernunftsehluss motiviert zum naehsten. Es ist eine eigene Art von Kausalitat, die Husser! aueh »Motivationskausalitat« nennt, die damit von der Naturkausalitat 14 untersehieden ist. Dieses reh kann je aktiver genannt werden, je vernunfthafter es ist, d. h. nieht von Instinkten etc. durehsetzt ist, sondern sieh selbst motiviert, d. h. dureh vernunftige Selbstbestimmung. Deshalb ist diese aktive Motivation aueh »Vernunftmotivation«. »Die Vernunft kann nun reine Vernunft heiBen, wenn und sofern sie einsiehtig und durehaus einsiehtig motivierte ist.« (IV, 22 I) Kann sieh im idealen Fall die Vernunft nur dureh sieh selbst motivieren, so heiBt das negativ, dass sie zumeist nieht - und strenggenommen nie - »rein« motivierte ist. Die Aktivitat der unverfalsehten Selbstmotivation ist »durehmiseht«, und d. h. dureh eine Passivitat fundiert; denn aueh die Vernunftmotivation ist selbst motiviert15 und zwar durehfruhere Aktivitaten. Dabei ist das Ieh immer ein dureh Aktivitaten motiviertes. Ieh bin es, der zu etwas motiviert ist. Etwas motiviert mich, aueh wenn dieses Etwas friihere aktive Stellungnahmen sind. Haben sieh aber diese fiiiheren Aktivitaten bereits im personalen Ieh sedimentiert, so haben sie ihre ursprungliehe
Es ist wichtig zu betonen, dass mit dieser » Urpassivitat« keine »absolute Passivitat« im Sinne def Phanomenologie M. Henrys, als urpassive Auto-Affektion, gemeint ist. Versuche, diese Form von Passivitat bei Husser! zu finden oder sich in dieser Bestimmung auf diesen zu berufen (vgl. Kiihn 1998), iibersehen zumeist, dass »Urpassivitat« bei Husser! eigentlich ein Behelfsausdruck ist. Passivitat und Aktivitat sind bei Husser! Stufen im Sinne der durch phanomenologische Abbauanalyse aufgev,liesenen Schichtenstruktur des urspriinglich einhcitlichen !ch. 12 Die niederste Stufe dieser Urpassivitat sieht Husser! im Leib als hyletischer Unter!age fur darauf aufbauende Aktivitaten. Diese niedere Stufe hat jedoch auch wieder ihre Form von instinktmaBiger Intentionalitat, die Husser! auch als »Triebintentionalitat« bezeichnet. Vgl. hierzu Lee 1993. 13 Vgl. Ritter, Bd. 6, 221, wo die aktive Motivation paraphrasiert wird als »freie, verniinftige Stellungnahme des !ch,< (Art. verf. von Janssen). 14 Die Unterscheidung von Natur- und Motivationskausalitat ist analog zu der zweiseitigen phanomenologischen Deskription nach AuBen- und Innenbetrachtung, vgl. XI, 1 I7. 15 Vgl. IV, 221: »Motivation kann dabei den eigentlichsten Sinn haben, in dem das lell das Motivierte ist [ ... J.« I I
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Aktivitat verloren und sind zu »passiv aktiven« Motivationen geworden; dies ist die »Passivitat erster Stufe«. »Aktive Motivation« bedeutet hingegen eine gegenwartige, momentane Motivation meiner selbst durch mich selbst. Dieser Sinn von »passiv« meint also eine friihere Aktivitat. Woher bin ich aktiv motiviert? Auch eine aktive Motivation, etwas zu tun als ein Sich-selbst-Aufrufen, kann nicht erklaren, wie es dazu kommt, dass diese Aktivitat motiviert. Die eigentliche Motivation, die eine aktive Motivation hervorruft, ist passiv. Wenn aktiv verniinftig und passiv vernunftlos bedeutet, so ist ein urspriinglicherer Begriff von passiv vorausgesetzt, der hier aber bereits durch eine abgelei tete Passivitat iiberschritten ist: »sekundare« Passivitat als friihere, sedimentierte Aktivitat. Ein paradigmatisches Beispiel daftir ist die Assoziation. 16 Diese ist keine aktive Motivation von Stellungnahmen (zu erneuten Stellungnahmen), »sondern von Erlebnissen beliebiger Art« (IV, 222), wobei es darauf ankommt, dass diese Erlebnisse keine »Thesen« aktueUer, sondern vergangener Stellungnahmen sind. Sie miissen nicht vernunfthaften Stellungnahmen entsprungen sein, sondern konnen auch Willensstellungnahmen sein, oder sie sind sogar vollkommen »vernunftlos«. Sie sind») Niederschlage ( aus friiheren Vernunftakten, Vernunftleistungen [ ... ] oder [sie treten] nach )Analogie( von solchen als apperzeptive Einheiten [auf], ohne von der Vernunftaktion wirklich gebildet zu sein [ ... ].« (IV, 222) Als diese Niedersch!age befinden sie sich »im dunklen Untergrunde, [ ... sind] oft tief verborgen, aber durch )Psychoanalyse ( zutage zu fcirdern « (ebd.), konnen also jederzeit durch Erforschung des sedimentierten und latenten Seelenlebens offen gelegt werden. Der Unterschied der passiven und aktiven Motivationen scheint also einmal in einem zeitlichen Bruch zu bestehen: Wahrend aktive Motivationen es an sich haben, einander zu motivieren im aktuell-kontinuierlichen Bewusstseinsstrom, kann in der passiven Motivation ein zeitlicher Abstand zwischen Motivation und Aktivitat bestehen. Es kann eine friihere, !angst vergangene Meinung oder Stellungnahme sein, die michjetzt, assoziativ, zu etwas motiviert. Der Gedanke an ein friiheres Vorhaben motiviert mich nun qua plotzlich auftauchender Assoziation (einem »Einfall «) clazu, das damals Abgebrochene nun zu Ende zu ftihren. Damit befande man sich aber noch im Bereich der Vernunft bzw. der vernunfthaften Erlebnissphare; denn es gibt, wie angedeutet, auch solche Motivationen, die »vollig vernunftlos sind: die Sinnlichkeit, das sich Aufdrangende, Vorgegebene, das Getriebe in der Sphare der Passivitat« (IV, 222). Genau besehen sind aUe Motivationen auf solcher Passivitat fundiert; denn wie will man sonst erklaren, warum eine friihere Stellungnahme zu etwas aktiv motiviert? Gibt es eine GesetzmaJ3igkeit daftir, dass eine Assoziation auftaucht, die mich nun, da aktuell, zu etwas motiviert? 1st die Assoziation einmal »da«, so kann ich freilich sagen: sie ist es, die mich zu einer neuen Stellungnahme motiviert; aber das erklart nicht, wie und warum sie aus dem dunklen Untergrund 16 Vgl. hierzu XI, 3. Abschnitt: Assoziation, 1 17ff., wo diese wiederum als ein »Grundgesetz« der
Passivitat behandelt wird. V gl. auch
XVII, 281.
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der Passivitat »auftauchte«. Es ist gerade das Wesen der Assoziation, dass sie ohne einen »Grund« auftaucht; sie »drangt sich auf«, »f
Man kann zusammenfassend sagen: Aktive Motivation als das, was mich von einer Sache zur nachsten drangt, ruht auf einem »Untergrund« einer urspriinglichen Passivitat, die immer schon, gewissermaBen seit meiner Geburt, existiert, mir passiv zustoBt, immer schon zugestoBen ist und mich fortan als Lebensgrundlage begleitet. Eine Motivation ist entweder in mir immer schon, als Charaktermerkmal, angelegt, oder kommt iiber mich. Diese sind die Grundlage fUr die »Vernunftmotivationen «, die als aktive Intentionen »motivationskausal « erklart werden ki::innen. Der »Beginn « einer passiven Motivation ist selbst nie eine urspriingliche passive oder gar aktive Motivation, sondern immer schon passiv erlebt und somit ein gewisses - erlebtes, iibernommenes - »ZugestoBenes(<: Von Anfang an in eine bestimmten Zeit und bestimmten Kultur geboren, iibernimmt man die passive Motivationsgrundlage: die 17 Vgl. Xl, 117ff., sowie XXV, }2I; vgl. auch Rang 1973, II2ff. 18 Husser! iiber!egt, wie man diese »passive Kausalitat« der Assoziation nennen kiinnte und nennt sie einmal »wie unzureichend der Ausdruck auch ist, [... ] assoziative Kausalitat« (Xl, 386; vgl. im Ganzen die Beilage XI, 385 f.).
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Tradition. 1m gleichen Sinne ist z. B. ein physisches Ereignis wie ein schwerer Unfall eine Passivitat, die von nun an die passive Motivationsgrundlage fUr das kunftige Leben bildet. Passivitat bedeutet in beiden Fallen: Man hat diese Motivationsgrundlage nicht aktiv gewahlt, sondern sie kommt uber oder bestimmt einen immer schon. Geschieht sie in diesem Sinne »spontan«, so ist sie eine passiv erfahrene und nun nolens volens zu ubernehmende Urstiftung. 19 Kann diese Struktur nun auch fur die Motivation, die Reduktion zu vollziehen, fruchtbar gemacht werden? Wenn hier zu Recht von »Motivation« die Rede ist, muss sie das sogar. Wie gesagt, kann es in der naturlichen Einstellung keine Motive fur die Reduktion geben. 1m Sinne der Unterscheidung von aktiver und passiver Motivation kann man nun prazisieren: Es gibt keine aktive Motivation fur Reduktion in der Art, dass der naturlich Eingestellte sich selbst durch aktive Vernunftgrunde zu dies em Schritt motivieren konnte. 1st jedoch die Motivation lediglich der Zundfunke, der den Prozess der Reduktion entfacht, so ist zu fragen, ob dieses punctum saliens eine passive Motivation sein konnte. Kann es nicht sein, dass die aktive Motivation, mit der Epoche und dem Reduzieren zu beginnen, ebenso auf einem passiven Grund aufruht und motiviert ist durch eine Passivitat, ein naaxEtv im Sinne von »Erleidnis«? Dies wird der Losungsvorschlag von Fink und Husserl sein: Gibt es fUr den Beginn der Reduktion keine vernunfthaften, also aktiven Motivationsgrunde, kann sie nur ausgelost werden durch eine passive Erfahrung, welche die Motivationsgrundlage fur die Aktivitat des Reduzierens ist. Der Beginn der Philosophie als erstmaliges Oberwinden der naturlichen Einstellung ist somit keine aktive Entscheidung, sondern sie uberkommt den Menschen, sie ist eine Urstiftung, die den AnstoG zum kritischen Fragen gibt, das innerhalb des Horizonts der natiirlichen Einstellung - und auch der positiven Wissenschaft noch nicht moglich war und daher diesen ursprunglichen Horizont aufbricht. Auch wenn Wissenschaft und Philosophie - trotz der Radikalitat, in der Husserl sie versteht - verwandt sind hinsichtlich ihrer Form des systematisch ausgebildeten Strebens nach Wissen, so sind sie doch durch einen »Weltabgrund« voneinander getrennt. Die Frage der Motivation stellt sich also einzig fur die Philosophie, die im Sinne Husserls nicht mehr natiirlich eingestellt sein darf, wenn sie »echte«, d. h. transzendentale Philosophie ist. Husserl und Fink interpretieren nun die Art dieses Erfahrens der passiven Motivation auf verschiedene Weise. Fink macht einen Vorschlag, der von Husserl aus fUr ihn einleuchtenden Grunden nicht gebilligt wird. Daher solI zunachst Finks Vorschlag dargestellt werden, durch den Husserl sich veranlasst sieht, seine eigene Position zu iiberdenken und erneut zu befestigen.
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Der Begriff der Urstiftung taucht bei Husser! erstmals auf der Stufe der genetischen Dingkonstitution auf, vgl. I, I I 3.
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2.1.3.
Ein Vorschlag Finks: Die Eifahrung von Fremdheit in der Heimwelt
Das Problem der Unterscheidung von aktiver und passiver Motivation als allgemeiner Wesensgesetzlichkeit des geistigen Seins muss sich auch auf die Motivation fUr Epoche und Reduktion ubertragen lassen; denn die Tatigkeit der Reduktion, prinzipieller des einmal begonnenen Philosophierens ist immer auch die Tatigkeit eines Individuums, das, zu allen Zeiten, stets erneut fUr sich einen eigenen Anfang mach en muss,20 auch wenn damit naturlich die Philosophie nicht jedes Mal aufs Neue »erfunden« wird. Sie feiertjedoch »in« jedem Menschen, der sich ihr - oder dem sie sich - zuwendet, jedes Mal aufs Neue »Auferstehung«. Philo sophie ist zwar, wie jede tradierte Wissensform, ein generationenubergreifendes Unternehmen, wird aber stets wieder injeder Person »neu«. So ist zwar die Generativitat Teil der Philosophie selbst,21 aber bei jedem Menschen stellt sich die Frage des Anfangs erneut. Auch hier ist die aktive auf einer passive Motivation fundiert. Dies wird in Husserls Einleitungsschriften zur Phanomenologie - und im Grunde haben alle veroffentlichten Schriften ab den Ideen I Einleitungscharakter - nicht eigens problematisiert; denn in den EinfUhrungen in die Phanomenologie scheint das Problem der Oberwindung der naturlichen Einstellung lediglich in einer Radikalisierung der in der naturlichen EinstellUng schon statthabenden Selbstbesinnung zu bestehen. 22 Man muss nur innerhalb der naturlichen Einstellung die bereits vorhandene (Selbst-)Besinnung radikalisieren. Das hat aber die Anfangsschwierigkeit, dass nicht
Vgl. Husserls Brief an Pari Welch yom 17./21.6.1933: Es »muss doch von der Tradition und der naturlichen vor-wissenschaftlichen Erfahrung aus (in der jedermann vor der Phanomenologie steht) ein Motivationsweg beschritten werden, der zu der revolutionaren >phanomenologischen Reduktion< emporleitet, und es gehort eine ungewohnliche Konsequenz und Denkenergie dazu, festzubleiben, nicht wieder in die traditionellen Denkweisen zuruckzufallen, sich des Neuen wirklich zu bemachtigcn, ohne es durch solchc allzu versucherischen Ruckfalle zu verfalschen«. (BW 6, 457) Vgl. Husserl mundlich an Cairns am 20. I 1. 1931: »the phenomenological reduction is something which must be continually repeated in phenomenological work« (Cairns, 43) 21 Vgl. Steinbock, 257ff.; die Generativitat verbiirgt »the unfinished nature« (257) des Projekts der Phanomenologie. 22 Freilich gibt es hier bereits Vorformen der radikalisierten Reflexion, etwa die Alltagsklugheit (
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gezeigt ist, wie die natiirliche Einstellung sich aus ihrer Befangenheit in sich selbst, ihrer Naivitat, selbst soil befreien konnen, schon iibersprungen. 23 Dass diese Radikalitat auch nichts gerade Einfaches ist, zeigt sich schon darin, dass Husserl der philosophischen Tradition vorwirft, nie radikale Epoche geiibt zu haben. Radikale Selbstbesinnung ist auch fUr Philosophen nichts Selbstverstandliches. Die Naivitat der natiirlichen Einstellung wirkt gewissermaBen bei Husserls Einleitungsentwiirfen selbst fort, insofern ihr Verlassenkiinnen nicht selbst zum Problem wird und sie selbst keinen eigentlichen Bruch erleidet, also in der »Positivitat« verbleibt. Es ist aber das Problem, wie eine Motivation zum Verlassen der natiirlichen Einstellung gefunden werden kann, an der Stelle namlich, wo die Positivi tat der natiirlichen Einstellung in eine »Negativitat« umschlagt. Die Moglichkeit einer aktiven Motivation von Vernunftgriinden, die neue Vernunftaktivitaten motivieren, die schlieBlich zu einer »Sprengung« der natiirlichen Einstellung ftihren, ist dabei stets als Vermiiglichkeit vorhanden. Es muss jedoch gezeigt werden konnen, wie dieses radikale Fragen selbst innerhalb der natiirlichen Einstellung erwachst und seinerseits ermoglicht wird. Husserl selbst hat spater seinem erst en Ansatz in den Ideen I vorgeworfen, zu »spontan« gewesen und »mit einem Sprung« geschehen zu sein (vgl. VI, I57f.). Deshalb war es ihm in seinen spateren »EinfUhrungen« ein Anliegen, schrittweise und geradezu heuristischpadagogisch vorzugehen. Nicht nur kann man nicht mit einem plotzlichen (eben unmotivierten) Sprung in die vollstandige Epoche »geraten« (niemand »gerat« einfach in die Philosophie, wie Husserl auch sagt; VIII, 19), auch die Moglichkeit, sie zu vollziehen, muss schrittweise aufgezeigt werden, indem man aus der bereits vollzogenen Reduktion retrospektiv ihre Stufen rekonstruiert. In dieser Rekonstruktion ist aber die Reduktion immer schon geschehen und die Reflexion hierauf kommt der Tat immer zu spat. In diesem Sinne ist sie etwas Spontanes, woriiber man sich im Augenblick des Geschehens keine Rechenschaft geben kann.
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Fink bezeichnet die natiirliche Einstellung auch als »Weltbefangenheit«, zum Missfallen Husserls. Seine Unzufriedenheit diirfte wohl in erster Linie an der Einseitigkeit des Begriffes liegen; denn der Aspekt der »Befangenheit« betont lediglich den negativen Aspekt des Um-sich-selbstnicht-Wissens der natiirlichen Einstellung, ohne ihren »positiven« Aspekt, ihr »Eigenrecht«, zu beriicksichtigen. Vgl. auch aus Finks privaten Aufzeichnungen (z -XIII, von 1934, 2a): »Sehr wichtig die ausdriicklich von Husser! distanzierende Einftihrung des Begriffs >Weltbefangenheit<. Husserls Begriff der >natiirlichen Einstellung< ist exemplarisch an der Geradehin-Einstellung (der Einstellung der >Naivitat<) entwickelt. Ferner am doxischen Grundcharakter der Eifahnmg (also der Einstellung auf Seiendes). Das ftihrt dazu, dass der Ubergang in die philosophische Einstellung, die >Reduktion<, nicht radikal genug angesetzt werden kann. Wie 5011 die >Welt< ausgeschaltet werden, wenn sie noch nicht einmal zur Sicht gebracht worden ist? Die Naivitat der theoretischen und vortheoretischen Erfahrungshaltung ist Fixiertheit au] Seiendes, ist binnenweltliche Gerichtetheit. >Welt< bleibt hier unsichtig.« V gl. auch ebd., sa: »Der husserlsche Ausdruck natiirliche Einstellung ist missverstandlich und von ihm selbst in zweifacher Weise gebraucht: r) die unmittelbare Lebenseinstellung, die vortheoretische im Gegensatz zur theoretisch-reflektierenden; 2) Gegenbegriff zur transzendentalen Einstellung.«
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Die Unterscheidung der passiven Motivation in solehe der ))Urpassiven Motivationen« und der eigentlichen »Erleidnisse« als friiherer Aktivitaten muss nun auf die Motivation fur die Reduktion angewandt werden konnen. 1m Sinne der »Urpassivitat« miisste gezeigt werden konnen, dass es in der natiirlichen Einstellung schon »Keime« fur ihre Uberwindung gibt. Diese sind aber keine moglichen Aktivitaten, sondern als Ur-Passivitaten miissen sie als Dispositionen gedacht werden, die fur soleh eine Uberwindung, die selbst aktiv ist, empfanglich machen. Es muss demnach dispositionelle Moglichkeiten innerhalb des natiirlichen Weltlebens geben, die, wenn »aktiviert«, dazu befahigen, den Stil dieses natiirlichen Weltlebens zu unter- und damit aufzubrechen. Diese »Keime« sind als Bedingungen der Moglichkeit fur den Normalmenschen stets vorliegende Vermiiglichkeiten, die aber »schlummern« und nicht von selbst erwachen konnen. Ais solehe sind sie »urpassiv«. Die nachsthohere Stufe der passiven Motivation sind bestimmte Erleidnisse, die die urpassiven Vermoglichkeiten dazu »anregen«, reale Moglichkeiten zu werden; sie sind als passive Motivationen »Erleidnisse« durch auBere Einwirkungen, welehe das Infragestellen konkret veranlassen. Beide Motivationen sind Korrelate: Die Motivation» von auBen« muss gewissermaBen auf» fruchtbaren Boden« fallen. Der »regressive« Weg zur AufkIarung der Motivation fangt daher bei der Passivitat als konkretem, erlebten »Erleidnis« an, was aber im Sinne der Fundierungsreihenfolge nicht das Tiefste sein kann. Hierzu gibt es eine bemerkenswerte Passage in Finks, im Auftrag Husserls verfasstem Einleitungsentwurf zum geplanten »Systematischen Werk« von Dezember 1930 - Januar 1931.24 Fink griffhierfur auf Manuskripte Husserls zuriick, wohl in der Absicht, sie zu einem publizierbaren Text auszuarbeiten. 25 Die finksche Ausarbeitung zeigt jedoch beachtliche Abweichungen gegeniiber Husserls Entwiirfen. Diese Modifikationen sind charakteristisch fur Finks Position und lassen zugleich sehen, dass und warum Husserl inhaltlich an vielen Stellen mit dem finks chen Entwurf nicht einverstanden war und ihn im Ganzen letztlich fur »unbrauchbar« ansieht. Dennoch sind gerade die Randbemerkungen Husserls, die die Griinde fur diese Ablehnung artikulieren, auBerst erhellend. 26 Fink beginnt seine Einleitung in die phanomenologische Philosophie mit einer »Auslegung des natiirlichen Weltlebens«,27 hierbei einen Weg beschreitend, den Husserl selbst ab ca. Mitte der 20er Jahre ausgearbeitet hat. 28 Wahrend Husserls Darstellungen jedoch darum bemiiht sind, den natiirlichen Weltbegriff durch Riickgang 24 S. hierzu die Gliederung des Systematischen Werks im Ganzen: xv, XXXVI If., sowie VI. CMI2, 3 If. (hier mit den Randbemerkungen Husserls). 25 Es hande!t sich hier urn Texte dem Jahr 1926, die unter der Archivsignatur B II 9 archiviert sind. Die wichtigsten Manuskripte aus diesem Konvolut liegen nun vor in XXXIV, 3-109. 26 Der finksche Text sowie das husserlsche Original sind veriilfentlicht in Hua.-Dok. nlz, la-105 (Finks Text) und 299f. (Husserls Text). Vgl. auch XXXIV, 51Sff. 27 So der Tite! des § 5, s. VI. CMIz, 20. 28 Vgl. IX, Vorlesung »Phanomenologische Psychologie« von 1925, sowie die Vorlesung von
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auf die vorwissenschaftliche Erfahrungswelt (als Welt fUr ein Subjekt oder eine Subjektgemeinschaft) herauszustellen und diese vorurteilsfrei zu beschreiben, geht Fink anders vor, indem er von vornherein zu zeigen versucht, wie in diesem Leben in nattirlicher Einstellung »Motive aufspringen «, die den Menschen »auf das Problem der Welt stoBen.« (VI. CMI2, 30)29 Nicht eine wissenschaftstheoretische Reflexion fUhrt zum Problem der Welt, sondern gewisse, aufspringende Motive aus dieser Welt selbst. Die dadurch erfolgende Thematisierung der Welt »im Ganzen«, tiber die partikulare Heimwelt hinausgehend, ist bereits der erste Schritt zur Reduktion. Abgesehen von der Frage, die man Fink steIl en mtisste, wie das durch diese Motive vermittelte Oberwinden der Heimwelt sogleich zur weltkonstituierenden Subjektivitat fuhren soIl (was erst durch die Reduktion geleistet wird), geht es ihm primar darum, was fur Motive das sind und wie sie »aufspringen«. Ein Merkmal der nattirlichen Einstellung ist, dass sie als Vollzugsmodus des alltaglichen Lebens ihre Normalitat oder ))vertraute Gewohnheit« hat. Gibt es etwas, was diese Gewohnheit durchbrechen kann? 1m Sinne der passiven Motivation ist dieses Durchbrechen als durch sich selbst motiviert nicht moglich. Das aktive Durch-Brechen muss vielmehr durch einen Ein-Bruch von auBen ermoglicht werden. Dieser Bruch macht als Erstes die Gewohnheit thematisch. Die Gewohnheit wird, so Fink, durch ein Herausgerissenwerden 30 aus dieser Gewohnheitswelt explizit. Dieses Durchbrechen ist also genau besehen keine Aktivitat, sondern ein ))Erleidnis«, das den Menschen mitreiBt: ))Dies geschieht dann, wenn uns die Welt etwa durch das Erleben eines Schicksalsschlags, durch das plotzliche Wachwerden des sonst und gemeinhin heimlichen und verheimlichten Wissens urn die letzten Dinge, urn Tod und Verganglichkeit, durch die ratselhaften Stimmungen des Grauens und Entsetzens uns ganz unverstandlich wird, wenn sie so ihre alltagliche Vertrautheit und Wohnlichkeit verliert und zu (VI. CMh, 30)3\ einem bangen Ratsel wird.«
1926/27, »Einleitung in die Phanomenologie« (F I 33, z. T. veroffentlicht in XIV, 393 ff., und Beilagen IV, VI, IX-XI). 29 Hierzu Randbemerkung Husserls: »Motivation der universalen Selbstbesinnung« (ebd., Anm. 108). 30 Vgl. VI. cMh, 30, s. den Satz Z. Io-I2. 3 I Ein weiterer Grund fiir Husserls Unzufriedenheit mit diesem Text mag sein, dass ihn nicht so sehr die Weise, wie Fink das Konzept der Welt einftihrt, start, sondern ihre Thematisierung als aul3erphilosopische menschliche »Weltsituation« (Finks Formulierung, vgl. ebd., 24), anstatt als Korrelat zum transzendentalen Leben. Vgl. auch Husserls Randbemerkung 26, Anm. 80. Die Differenz beider an dieser Stelle wird an einer charakteristischen Abweichung deutlich: Fink will die Reduktion auf das Absolute durchfiihren, was fiir ihn die Welt ist. Fiir Husserl ist dieses Absolute aber das transzendentale Bewusstsein. Vgl. den Satz Finks VI.CMi2, 30£. und Husserls Randbemerkungdazu, ebd., 31, Anm. II3. IX,
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Dieses schroffe Herausgerissenwerden aus der Gewohnheit bringt diese gleichzeitig zum Zusammenbruch. Diese existenziellen Ereignisse sind solche, die die Gewohnheit der natiirlichen Einstellung nicht nur irgendwie explizit mach en als Abweichungen innerhalb des sonst einstimmigen Gewohnheitslebens, sondern sie selbst radikal in Frage stellen, so, dass die Gewohnheit selbst zum Zusammenbruch geftihrt wird. Ein solches Ereignis xaft' E~OX~V ist dasjenige, was das Menschenleben nicht nur in seiner Normalitat unterbricht, sondern im Ganzen auslascht: namlich der Tod (VI. CMI2, 30). Zwar ist er ein »normales« Ereignis im Menschenleben, aber doch ein solches, was die NormalitatJiir den Sterbenden zunichte macht. Nicht zufallig bringt Fink die aus solchen existenziellen Ereignissen hervorgebrachten Motivationen mit »religiasen Erlebnissem (vgl. VI. CMI2, 30) in Verbindung, insofern die Todesangst als Ausdruck des Nichtsterbenwollens den Glauben an ein Weiterleben nach dem physischen Tod motivieren kann. Doch ist, wiirde Husserl antworten, Tod (wie Geburt) Teil des normalen menschlichen Lebens. Wird der Tod jedoch im Zusammenhang mit anderen »Erleidnissen« wie Schicksalsschlagen thematisiert, so ist klar, dass es sich nicht urn den eigenen Tod handeln kann, sondern urn den eines Anderen als tiefgreifendes Ereignis im Leben eines Menschen. Der eigene Tod kann deswegen nicht dazu geeignet sein, die Normalitat zu durchbrechen, da ich meinen eigenen Tod strenggenommen nicht erleben kann: 1m Tod hart das Leben gerade auf und darnit auch die Maglichkeit normalen oder abnormalen Lebens. Tod oder Schicksalsschlage als auBere Erleidnisse hingegen sind solche Ereignisse, in denen die Gewohnheit der natiirlichen Ordnung des LebensJiir den Eifahrenden so durchbrochen wird, dass die Ordnung in solchen extremen Momenten im Durchbrechen ihres Stils selbst zusammenbricht. Das heiBt nicht, dass es keine Normalitat mehr gabe, sondern sie ist vorlaufig auBer Kraft gesetzt - eingeklammert! -, was gleichzeitig heiBt, dass man schon in einer neuen »Ordnung« steht, die man zunachst noch nicht kennt und ihrerseits einen Normalitatsstil ausbildet; das Leben »geht irgendwie weiter«, auch wenn man noch nicht weiB, wie. Solche Ereignisse - obwohl die Maglichkeit, sie zu erfahren, dispositionell im Menschen angelegt ist - kommen »unmotiviert« iiber mich, ergreifen und reiBen mich aus meiner natiirlichen und unhinterfragt selbstverstandlichen Heimwelt heraus. Diese Erfahrung ist eine tiefe »Erschiitterung« (VI. CMI2, 33). Diese ))existenziellen« Motive und die Thematisierung des Todes erinnern nicht zufallig an Heideggers Analysen iiber das Vorlaufen zum Tode in der Bemiihung urn ein eigenes Selbstsein; auch fallt Heideggers Name ausdriicklich im finkschen Text (vgl. 28 u. a.). Die Beziehung zwischen Finks bzw. Husserls Analyse des Sinns von Epoche und Reduktion mit Heideggers Begriff der Eigentlichkeit zu vergleichen, kann hier nicht die Aufgabe sein. 32 Husserl hat aber deutlich die heideggersche 32 Es mussjedoch betont werden, dass es bei Heidegger gerade und ausschlieBlich urn den eigenen Tod geht, der das uneigentliche Dasein vor den Anblick seiner m6glichen »eigentlichen Seinsweise« bring!. Das menschliche Dasein muss sich selbst aus seinem Zustand der je schon durchlebten
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Stimme durch Finks Text hindurch vernommen; anders ist es nicht zu erid:iren, dass er diese Analysen mit einer fur ihn ungewahnlichen Scharfe attackiert. Was ist nun die eigentliche Pointe bei der Erfahrung von Schicksalsschlagen, die die Gewohnheit der vertrauten Heimwelt zu einem »Zusammenbruch« fUhren? Wird die Gewohnheit durch diese unmotiviert zustoBende existenzielle Erfahrung durchbrochen, bricht sie gleichzeitig in sich zusammen. Ist die alte Ordnung auf diese Weise »destruiert«, hart sie auch auf, Ordnung zu sein. Sie wird statt dessen durch und durch fraglich und sogar »befremdlich«: »Durfen wir jetzt im Vollzug dieser Selbstbesinnung die Welt nur noch als universale Erlebtheit unseres Lebens, nur noch als in unserem Weltglauben geglaubte, in unserem Geltenlassen geltende betrachten, so konnen wir jetzt [nach dem erlebten Schicksalsschlag) auch nicht in der Weltgewohnheit und Weltvertrautheit naiv dahinleben, sondern mussen die ganze Befremdlichkeit dieser vertrautesten Gewohnheit (v!. CMI2, 33 f.) in uns wach werden lassen.« Das bedeutet, dass das Vertrauteste, namlich die Heimwelt selbst,Jremd wird, sie wird zu einem »Ratsek Das Bekannteste wird platzlich unbekannt. Im Herausgerissenwerden aus der Heimwelt durch ihren durch das existentielle Ereignis ausgelasten Zusamrnenbruch wird sie, zugespitzt formuliert, selbst zu einer Ii Fremdwelt«, sie verliert ihre Vertrautheit und wird ein Un-Vertrautes. Was fUr sich selbst nicht thematisch werden kann, eben weil es die Unthematizitit dazu »braucht«, urn vertraut und »normal« sein zu kannen, hart durch das Thematischwerden auf, vertraut zu sein. Die Welt ist damit nicht abnormal oder anomal; denn diese Phanomene konnen nur innerhalb der gewohnten Ordnung der Heimwelt vorkommen und sind gerade dadurch definiert, dass sie die Normalitat nicht in Frage stellen. Die durch einen Zusammenbruch erfahrene Fremdheit der Heimwelt bezieht sich aber nicht auf einzelne abnormale Dinge, sondern auf die Welt im Ganzen. Sie wird als ganze mit »elementarer Gewalt« (VI. CMi2, 30) fremd. Ich erlebe die eigene Heimwelt wie eine Fremdwelt, die selbst eine N ormalitat hat, der ich nicht (mehr) angehore. Das Entscheidende ist aber nun: Der Schicksalsschlag, obwohl er nicht einzelne Abnormalitatserfahrungen hervorruft, sondern die Heimwelt selbst in eine Fremdwelt »verwandelt«, kommt aus der Heimwelt selbst: Uneigentlichkeit erst herausreii3en, urn die Eigentlichkeit, das eigene Selbstsein, zu erlangen. Dies geschieht durch ein »Vorlaufen zum Tode«, was erst das Dasein in seiner Ganzheit erscheinen lasst (s. SZ, 244, sowie das ganze I. Kap. des 2. Abschnitts, 23 I-67): dm vorlaufenden Enthiillen dieses Seinkonnens erschliei3t sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner iui3ersten Moglichkeit. [... J Das Vorlaufen erweist sich als Moglichkeit des Verstehens des eigensten iui3ersten Seinkonnens, das heiBt als Moglichkeit e(~entlicher Existenz.« (ebd., 262 f.) Und noch deutlicher: ,>Das Vorlarifen enthullt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Moglichkeit [... J es selbst zu sein [ ... J.« (ebd., 266) Der so antizipierte Tad (das »Vorlaufen«) bringt erst mein Dasein zur Moglichkeit der Erfullung meines Seins; ich werde erst so ein sinnhaftes ,> Ganzes «. Zu einem Vergleich von phanomenologischer Reduktion und eigentlicher Existenz vgl. Bernet I994.
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»Die aus einer solchen Erschiitterung [... J aufspringende Unbekanntheit ist also nicht ein Einbruch von Fremdem in den engen Vertrautheitskreis der Heimwelt, sondern betrifft die Heimwelt selbst [... J.« (VI. CMI2, 33) Obwohl die Formulierung »betrifft die Heimwelt selbst« vage ist, sind doch Finks Beispiele sprechend: Es sind Erfahrungen wie der Tod eines Freundes o. a., die aus der Heimwelt aufspringen und diese von innen her autbrechen. Zwar kommen sie tiber mich als Individuum »von auBen«, aber sie entspringen meiner Heimwelt. Der Schicksalsschlag ist, im Bilde zu reden, eine Detonation innerhalb der in sich geschlossenen Heimwelt, die diese von innen heraus aufsprengt und mich zusammen mit der Explosion aus der Heimwelt heraus mitreiBt. Diese Detonation driickt sich in einer Stimmung aus bzw. ruft eine solche hervor; diese ist mehr als ein momentaner Affekt, etwa der Trauer oder des Entsetzens, sondern durchaus eine »Grundstimmung« im Sinne Heideggers; Fink spricht hier auch von »ratselhaften Stimmungen« (VI. CMI2, 30). Diese Stimmung bezeichnet Fink in Anspielung auf Platon als das Staunen, das {}aU!1a~fLV. 33 Sie hat es an sich, dass sie auf» das Ganze« gerichtet ist, sofern man in der Stimmung des Staunens nicht genau angeben kann, was »im Einzelnen« das Staunen erregt: Es ist eben »alles«. Das durch den Schicksalsschlag motivierte Staunen ist ein Staunen iiber die Welt im Ganzen. Das Einzelne verschwindet im Horizont des Ganzen, wahrend der Horizont selbst als Horizont erstmals thematisch wird. Dieses Staunen reiBt im radikalen Sinn aus dem Horizont des alltaglichen Lebens heraus, auch wenn es das normale Leben in seiner N ormalitat nicht notwendig zerstort, aber doch in der Weise explizit macht, dass der Horizont in seiner durch die Sprengung der Heimwelt erlebten ersten Unverstandlichkeit zur Abhebung kommt. Das Staunen ist ein genuines Staunen vor dem Fremden: Es macht aus einem Bekannten - dem normalen Leben in der vertrauten Welt - ein Unbekanntes, Fremdes. Das ist Finks Vorschlag fur die Motivation fur die Reduktion: Sie ist passiv motiviert, indem sie einen als »tragisches Ereignis« innerhalb dieser Heimwelt tiberkommt, und als solches macht es erstmals die Heimwelt als Heimwelt thematisch, indem ihre normale Gewohnheit zum Zusammenbruch gefuhrt und fremd wird, dadurch die Stimmung des Staunens generierend, die die Welt im Ganzen thematisiert. Diese so motivierte Besinnung auf die Welt ist fur Fink der Beginn der Philosophie. 34 Der Weg zur phanomenologischen Reduktion ist dabei freilich noch weit. Gegen diese plausibel scheinende Theorie muss aber die Frage gestellt werden, ob ein noch so radikaler Schicksalsschlag in der Tat diese urttirnIiche Macht zur Ver-Fremdung der Heimwelt haben kann. Damit steht und fallt Finks Vorschlag. 33 Fink 1966, 182, Fink 1976, 62. 34 Vgl. VI. cMh, im Ganzen §5 (2off.), insbes. 37ff. Hier thematisiert Fink zunachst einen ersten »Vorbegriff« von Welt als » Weltausschnitt« (37), der sodann zum eigentlichen Welthorizont erweitert werden kann. H usserl kritisiert den Begriff »Weltausschnitt« scharf; er findet ihn »bedenklich « (ebd., Anm. 138), spater sagar »ganz unzureichend« (39, Anm. 152).
KAPITEL 2
Finks Beispiel war der Tod eines nahestehenden Menschen. Konnte ein solcher tragischer Tod oder gar der eigene drohende Tod wirklich ein mogliches Motiv fUr den radikalen Zusammenbruch der alkiglichen Ordnung sein? Hierzu gibt es eine interessante Randnotiz Husserls zum finkschen Text. Husserl spielt darin verschiedene Moglichkeiten des normalen Lebens durch und versucht sich iiber die »Sprengkraft« (um in der Bildlichkeit zu bleiben) dieser Moglichkeiten klar zu werden: »Verschiedene Formen [sc. des Lebens]: das Leben in der h6chsten Todesgefahr - aber nicht einer zweckvoU gewoUten. Andererseits: der Tod im Horizont eines sch6nen voUen Lebens als standige M6g1ichkeit, der Tod im Horizont als bestandige M6glichkeit eines )gllicklichen< Alters, Leben, in dem die Person sich voUendet und im Status der Vollendung den Tod begehrt (die ideale Lebenssattheit der Patriarch en). Der Tod im Kampf, im hasserftillten Vernichtungswillen eines Feindes. Der Tod fUrs Vaterland. Das ist nicht Tod, den man vor sich im Horizont hat in der Form des Lebens in Hoffnungslosigkeit. Aber all das ausgesponnen, wie soUte es ein Motiv fUr die philosophische Epoche sein?« (Dok. nl2, 3r, Anm. II4) Die rhetorische Formulierung dieser Frage deutet an, dass Husserl die Moglichkeit, dass der Tod oder selbst ein »Leben in der Hoffnungslosigkeit« die Motivation fur die philosophische Epoche sein konnte, zuriickweist. Hier geht es um den eigenen drohenden Tod, der das Individuum in die »Grenzsituation« bringt. Der »Tod furs Vaterland« kann schon gar nicht ein Motiv hierfur sein, und zwar aus einleuchtendem Grund: Der Soldat, idealtypisch verstanden als patriotischer Kampfer, erlebt keinen Zusammenbruch seiner Ordnung: Sein Tod ist »sinnvoll«, denn er stirbt fUr sein Vaterland. Sein Tod steht im Dienst einer »sinnvollen«, hoheren Sache. Sein drohender Tod wird diese seine Ordnung nicht zum Einsturz bringen. Der Tod furs Vaterland ist in dieser Hinsicht nicht unterschieden yom gliicklichen Tod nach einem ausgefullten Leben jener idealen lebenssatten Patriarchen, in denen sich ihr Lebensziel vollendet; beide Lebensformen erstreben noch etwas, haben eine Teleologie. Diese Moglichkeiten sprengen die natiirliche Ordnung nicht, sondern eifullen sie gerade. Darin unterscheidet sich die Vollendung des Lebens des Soldaten im fur ihn sinnvollen Tod nicht yom Tod des in Zufriedenheit eifullten Lebens. Auch der Soldat kann in Zufriedenheit sterben (wenn auch nicht »in Frieden«). Hingegen erwahnt Husserl das »Leben in der Hoffnungslosigkeit<<: Das ist ein Leben, das, weil es keine Hoffnung, auch keine Ziele mehr hat und diese nicht mehr verfolgen kann oder will. Ein Leben in vollstandiger Sinnlosigkeit hat sich aus dem »alltaglichen Getriebe« des Ziele-Verfolgens, Handelns und Verwirklichens zuriickgezogen; es hat den eigentlichen »Sinn« des Lebens, in partikularen Interessen Ziele zu verfolgen, an sich selbst negiert. Leben bedeutet in erster Linie Aktivitat. Ein Leben in Passivitat gleicht dem Tod. Wie sollte das die Motivation fur die Reduktion sein, sofern der Beginn des Philosophierens fur Husserl gerade ein
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Akt hochster Aktivitat ist? Ein solches Leben in Hoffnungslosigkeit ist fUr nichts mehr empfanglich, es kann keinen Schicksalsschlag erleben, weil es uberhaupt nichts mehr zu hoffen hat. Fur ein solches Wesen hat die Welt ihre Bedeutung verloren, es hat keine Ziele und Traume (schon gar keinen Traum von strenger Wissenschaft) und hat die Moglichkeit eines sinnvollen Lebens im Ganzen aufgegeben. Wird der durch einen Schicksalsschlag passiv Motivierte aus der Heimwelt herausgerissen, so wird er durch das Staunen zum Befragen der Welt motiviert. Er will sich eine neue, umfassendere Ordnung schaffen, wohingegen der Hoffnungslose uberhaupt keinen Willen mehr hat. Damit haben zwar beide die Erfahrung des »Zusammenbruchs gesicherten Daseins« (Dok. n/2, 3 I, Anm. 114) gemeinsam, aber der Hoffnungslose wird durch nichts motiviert, sich aus diesem Zustand herauszudrangen, da es ihn im Ganzen nicht mehr »drangt«. Ein solcher Mensch mag zwar im biologischen Sinn noch leben, ist aber geistig, und damit als Mensch, tot. Husserls Kritik an der finkschen Konzeption ist also, dass diese Motivationen, die zwar durchaus tragisch sein konnen, entweder zur vollkommenen Hoffnungslosigkeit ftihren, die nichts mehr zu wunschen oder hoffen, geschweige denn zu tun ubrig !asst, oder nicht die Macht haben, die Heimwelt in der Tat zu sprengen und so etwas wie Reduktion als Beginn streng philosophischer Wissenschaft zu motivieren. In der husserlschen Entgegnung auf Finks Vorschlag muss daher zunachst geklart werden, weshalb Husserl selbst schweren Schicksalssch!agen diese Fahigkeit abspricht. 2. I
-4. Husserls Alternative: Fremdeifahrung als Motivation
Wie bereits aus den kritischen Tonen deutlich wurde, ist Husserl mit Finks Vorschlag nicht einverstanden, und man kann ganz auBerlich vermuten, weshalb: Es ist das in der Zeit der allgemeinen wirtschaftlichen wie kulturellen Krise herrschende »existentielle Pathos«, welches bei Husserl Unbehagen hervorruft, insofern es dem Ideal wissenschaftlich-ernsten Ethos' widerspricht. Die Klage der alteren Generation uber die unernste, unwissenschaftliche, nach »Weltanschauung« hungrige Jugend, ist v. a. in Akademikerkreisen ein Topos der 20er und 30er Jahre, der in Husserls Briefwechsel dieser Zeit - sowohl bei ihm selbst, als auch bei seinen Briefpartnern - haufig auftaucht. 35 Finks Rede von »schweren Schicksalssch!agen« kaschiert nur unzureichend, aus welch em Gedankenkreis er hier spricht. 36
35 Vgl. etwa Husserls Briefe an Pannwitz vom 21.2.1932 (BW 7, 218), die Phanomenologie sei »ein radical wissenschaftlicher, u. so unverlierbarer Anfang einer Philosophie neuen Sinnes, einer Philo sophie des Aufstiegs, gegeniibertretend den schwachherzigen Philosophien der Resignation (den Existenzphilosophien) [... ].« S. ail'Ch Husserls Brief an Masaryk, BW I, II2-I6, insbes. II4, ab Z. IS. 36 Wie gesagt, erinnert Finks Vorschlag hier deutlich an Heideggers Dichotomie von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, welche erst durch ein existentielles Erlebnis thematisch werden kann. Ferner sei erinnert an Jaspers' Theorie der »Grenzsituation«, die erst ein »Selbstergreifen« (oder einen »Selbstverlust«) ermoglicht. Diese Idee hat auf Heideggers Eigentlichkeitskonzept in sz
KAPITEL 2
Fiir den strengen Wissenschaftler Husserl sind solche, wenn auch nicht »trivialen«, so doch alIzumenschlichen Phanomene als Motivationen fur Wissenschaft vollkommen ungeeignet. Die Frage ist jedoch - abgesehen von Husserls Skepsis am Zeitgeist -, ob man fur diese Ablehnung Argumente finden kann. Die kritische Frage an den Ansatz Finks lautet: Weshalb konnen existenzielle Grenzsituationen nicht die Macht haben, die Normalitat der Heimwelt zu durchbrechen? Die Antwort ist aus Husserls Sicht denkbar einfach: wei! sie in der Normalitat des alItaglichen Lebens vorgezeichnet sindY Die Normalitat ist konstituiert u. a. durch Phanomene des Sterbens,38 tragischer UnfalIe, durch Leid, Trauerwie freilich ebenso durch »positive« Phanomene; sie sind kontingent. Sogleich fragt sich: Sind solche Extremsituationen vergleichbar mit Ano- oder Abnormalitaten, mit denen die Normalitat bereits immer schon durchsetzt ist? Angenommen, dies ware so, dann ware aus Husserls Sicht ganz klar, weshalb selbst Extremsituationen nicht die Normalitat durchbrechen konnen: da sie selbst integraler Bestandteil derselben sind und die Normalitat als Einstimmigkeit durch Korrektur immer wieder herstelIen. Genau besehen kann aber man selbst »extreme« Lebenssituationen keinesfalls als Abnormalitaten bezeichnen: Es ware widersinnig, den Tod - selbst den tragischen - als Abnormalitat zu verstehen. Der Tod ist keine Abweichung yom normalen Welts til, sondern nur ein bestimmter, letztlich sogar notwendiger Endpunkt des menschlichen Weltlebens. Wenn man Normalitat als Gewohnlichkeit versteht wie dies Fink tut -, so ist der Tod oder ein schwerer Unfall in der Tat etwas Un-gewohnliches. Aber in Husserls Sinn von Normalitat muss Ungewohnliches innerhalb der Gewohnlichkeit zumindest als Vermoglichkeit vorgezeichnet sein, insofern es durch Korrektur die Einstimmigkeit modifiziert, aber damit die Normalitat wieder herstellt. Das heiBt also, dass diese »Grenzsituationen« noch weniger als Ano- oder Abnormalitaten, sondern vorgezeichnete Vermoglichkeitsmodifikationen der Normalitat selbst sind. 39 Die Erfahrung des Tragischen, selbst die Erkenntnis »ach, es ist alles sinnlos«, sind Bestandteile des Menschenlebens. Sie haben noch niemanden mit Notwengewirkt; vgl. Heideggers Bemerkungen zu Jaspers' »Psychologie der Weltanschauungen «, in: Heidegger 1978, I If., zu »Grenzsituation« ebd., 71f. 37 Vgl. auch folgendes Zitat: »Es mag auch sein, dass diese Normalitat gelegentlich durchbrochen ist, aber den gesamten Gang der Welterkenntnis doch nicht sosehr stort, dass eine hinreichende Motivation von da ausgeht, urn die Voraussetzungen [d. i., dass die Welt verborgenermaBen aus transzendentalen Leistungen konstituiert ist] zu enthullen, oder dass diese Enthullung, ja schon das Klarmachen der Voraussetzungslage bei der festgelegten Habitualitaten allzu schwer ist, urn zu gelingen.« (XXXIV, 65, von 1926) 38 In diesem Sinne kann man das heideggersche Diktum ubernehmen: »Man stirbt.« (vgl. sz, 253). 39 Hierzu ist eine charakteristische Verbesserung Husserls im Text Finks interessant. 1m GliederungsentwurfFinks zum Systematischen Werk (aus dem Sommer 1930) schreibt Fink im Unterabschnitt des Ersten Buches, erster Abschnitt, Teil A. (»Die Philosophie in der Welt«), unter »g<<: »Die Anomalitat als Motivation der Skepsis der )Weltexistenz«< (VI, cMh, 5). Husser! verbessert hier »Anomalitat« in »Modalisierbarkeit ailer Einzelerfahrungen« (ebd., Anm. 6).
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digkeit zum Wissenschaftler gemacht. Sie mogen zwar zur Reflexion anregen und die Alltagsklugheit herausfordern. Aber diese Alltagsklugheit wird niemals Philosophie im Sinne von Transzendentalphilosophie werden konnen, die, statt tiber den Horizont der Erfahrung hinauszufragen, hinter die Erfahrung zuriickfragt; sie wird sich immer noch auf dem Boden der Welt bewegen und mit einem Wort Kants »allgemeine Weltweisheit«40 sein, niemals Transzendentalphilosophie. Die klassische Frage: » Wornit nirnrnt die WissenschaJt ihren AnJang?« ist damit fur Husserl nicht weniger virulent, und er versucht sie letztlich durch eine geschichtliche Besinnung auf den Anfang der Philosophie zu los en, aus der die Phanomenologie - wenn nicht mit Notwendigkeit, so doch mit Konsequenz - hervorgeht. Der Sinn dieser geschichtlichen Perspektive kann erst nach der hoherstufigen Selbstkritik der Phanomenologie einleuchten; dennoch sei Husserls Losungsvorschlag in einem ersten Durchblick vorgestellt. Es ist zunachst hervorzuheben, was Husserl mit Fink gerneinsarn hat: Auch fUr Husserl ist die Motivation zum Infragestellen der heimweltlichen Normalitat passiv. Sie ist etwas, was tiber den Menschen kommt, ein Erleidnis, oder wie Husserl sagt: Einbruch (vgl. XXIX, 83). Diese muss die Macht haben konnen, den Horizont der Heimwelt aufzubrechen. Das Erleidnis kann aber, das ist Husserls von Fink abweichende Pointe, nicht aus der Heirnwelt selbst kommen, da in ihr als abgeschlossenem Horizont alle Modifikationsmoglichkeiten bereits vorgezeichnet sind. Sie ist ein in sich geschlossener Horizont, der von innen heraus nicht »aufsprengbar« ist. Die Alternative hierzu leuchtet dann unmittelbar ein: Was den eigenen Horizont als in ihn ein-brechend auJ -brechen kann, kann nur ein anderer Horizont sein. Der Horizont der Heimwelt kann unmoglich aus sich selbst heraus aufgebrochen werden, sondern nur durch den Horizont einer Fremdwelt, die mit der Heimwelt zur Kollision kommt. Es kann nur ein Einbruch des Fremden in die eigene Heirnwelt sein, deren oQo~ dadurch aufgebrochen wird. Es ist die Fremdwelt selbst, die sich in ihrer Frerndheit auJdrangt. Wie sieht das konkret aus? Hierzu gibt ein spater Text Husserls einen Hinweis, der aber auch nicht mehr als eine wie beilaufig hingeworfene Idee ist.41 Doch ist zu betonen, dass dieses Ereignis aus der geschichtlichen Perspektive thematisiert wird und mit dem in der Krisis verfolgten Ansatz durchaus konsequent ist. Das Ereignis des Einbruchs einer Fremdwelt in eine konkret-geschichtliche Heimwelt geschah zum ersten, entscheidenden Mal im Anfang der europaischen Philosophie bei den milesischen Griechen. Hier wird erstmalig die Normalitat der eigenen Heimwelt durchbrochen, und zwar durch die Erfahrung des Fremden einer Jrernden Kultur: »Eben diese Normalitat wird erst durchbrochen, wo der Mensch aus seinem nationalen
40 Vgl. Kant, GrundleJiung zur Metaphysik der Sitten, 390. 41 Es handelt sich hier urn das Manuskript »Teleologie in der Philosophiegeschichte« aus denJahren 1936/37; es ist laut Hrsg., R. N. Srnid, das »letzte (genau) datierbare philosophische Manuskript Husserls« (XXIX, 517) und ist abgedruckt ebd., 362-420.
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Lebensraum in den einer fremden Nation eintritt.« (XXIX, 338) Dies geschah bei den Griechen als »Verkehr« (XXIX, 387) und Handel, da sie in besonderem MaBe ein »Handels- und Seefahrervolk« waren. 1m Zuge des durch den Handelsverkehr notwendig gemachten Bereisens fremder Volker und Lander wird der eigene Horizont durchbrochen. 42 Damit ist das Wesenscharakteristikum der antiken Griechen angesprochen: ihre »angeborene« philosophische Neugier, die das Fremde nicht sogleich »kolonialisieren« will, sondern sich fur es, es in seiner Eigenheit kennen lernend, offnet. Das Bereisen ist somit nur scheinbar ein eigenstandiges Durchbrechen der Heimwelt; denn als fUr das Fremde verschlossene Erweiterung bliebe es noch der Heimwelt verhaftet. Vielmehr geschieht im Reisen der Einbruch des Fremden. Die Erfahrung von Fremdheit als zunachst unbekannter, aber schrittweise bekannt werdender Fremd-Normalitat macht die eigene Normalitat erst thematisch: » Ieh
haIte mieh an das bei einer Welthandelsnation wie der grieehisehen Naehstliegende: Die vielen fremden Volker kennen lernend und vom friiheren Interesse fUr die eigene Gesehiehte aus auf die der umgebenden fremden Volker zuriiekgefuhrt, erwaehst ein eigenes Interesse an dem Selbstverstandliehen des eigenen nationalen Daseins gegeniiber den Eigenheiten der Fremden«. (XXIX, 388)
Erst die Erfahrung des Fremden als Fremden weckt das Interesse am Eigenen als Eigenen. Das ist die genu in »passiv« erfahrene Motivation fUr die Sprengung des eigenen Horizonts und der Beginn der Philosophie bei den Griechen, insofern die urspriingliche Wissbegierde unternimmt, das den Relativitaten verschiedener Heimwelten Gemeinsame zu entdecken. 43 Husser! spricht in diesem Zusammenhang vom {tau~a~£Lv als einer »universalen Neugier«, die »alle naive traditionale Gebundenheit hinter sich Iasst« (XXIX, 389).44 Wird der Horizont der Heimwelt durch das Einbrechen des Fremden durchbrochen, so ist die Frage, ob damit, wie 42 Man konnte einwenden, dass das Bereisen doch eine Aktivitat ist. Dennoch ist hervorzuheben, dass Husser! immer vom Durchbrochen-Werden und »Einbruch « spricht und weniger von einem aktiven Durchbrechen. Man kann seinen Horizont durchaus in il!finitum erweitern und doeh nirgendwo »Fremdes« entdecken: Das waren fur Husser! die »Barbaren« (vgl. XXIX, 387), die sieh eben dadurch von den hoherentwickelten Kulturen unterscheiden, dass sie diese Fremdheitserfahrung nieht mach en (konnen). Husser! spricht auch vom Historisehen als »Einbruch«: »Einbruch eines Neuen, eine Motivation wird wirksam, die eine neue Einstellung, Blickrichtung schafft« (XXIX, 83). 43 Zu einer Rekonstruktion des Beginns von Philo sophie und Wissenschaft bei den Griechen vgl. im Ganzen Held 1980a. Dieses Buch kann auch als der Versuch angesehen werden, das lediglich als Programm antizipierte Projekt Husser!s durchzufuhren. 44 Auch der Phanomenologe kennt dieses Staunen, das jedoch ein abgeleitetes und nicht mehr naiv erlebtes ist. So Husser! miindlich an Cairns: »Insight into the nature of phenomenology, constitution, fills us with wonder, yet not vulgar wonder, since we have insight. The phenomenological problems present themselves as riddles, but it is the essence of a riddle to have the clue to its answer in itself. No impossible riddles.« (Cairns, 16, Anm., Gesprach vom 17.8.1931)
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
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im finkschen Szenario, die Heimwelt in ihrer Ordnung zusammenbricht. Fiihrt das Durchbrochenwerden des heimweltlichen Horizonts zu einem »breakdown« der Heimwelt? Auch dies lehnt Husserl abo Die jeweilige Heimwelt wird sich vielmehr als eine »Weltanschauung« unter anderen und d. h. in ihrer Relativitat gegeniiber fremden Heimwelten bewusst. Die verschiedenen Relativitaten sind jedoch in ihrer Relativitat auf bestimmte Gemeinsamkeiten, letztlich auf ein Irrelatiyes bezogen. So kann sich der antike Grieche in der Erfahrung fremder Kulturen »dessen innewerden, dass bei allen Verschiedenheiten der eigenen und der fremden (der agyptischen, persischen u. dgl.) Mythologeme, doch immer auch ein auBermythologischer, aber in sie eingehender Kern identischer Sachlichkeit abzuheben sei als das Identische, das in diesen verschiedenen V61kern und Mythologien nur verschieden apperzipiert wird. Es ist doch dieselbe Sonne, derselbe Mond, dieselbe Erde, dasselbe Meer USW., das so verschieden mythologisiert wird in den verschiedenen Volkern gemaB je ihrer Traditionalitat.« (XXIX, 387)45 Das, was alle relativen Heimwelten gemeinsam haben als identischen Bezugspunkt, ist nichts anderes als die eine identische Welt als das Korrelat aller Heimeinstellungen. Sie ist das Invariante, Irrelative bei allen »mannigfaltigen subjektiven Auffassungsweisen oder Erscheinungsweisen« (XXIX, 388). Das Aufbrechen der Heimwelten in Richtung auf die eine Welt ist somit eine erste Urstiftung, die auch als absolute Urstiftung bezeichnet werden kann. 46 Diese sprengt die spezifische (griechische) Heimwelt auf zunachst hinsichtlich einer fremden Heimwelt, was zur Anerkenntnis der jeweiligen Relativitaten der Heimwelten fohrt. Dies aber zieht die weitere Einsicht nach sich, dass all diese Relativitaten jeweils relativ auf ein Irrelatives, Absolutes sind. Diese Invarianz ist die eine Welt als universale Lebenswelt. Wurde bereits im vorigen Kapitel der Weg zur Wissenschaft beschrieben als Loslosung von den relativen Situationswahrheiten der Heimwelten und als Erforschung der irrelativen Wahrheit gegeniiber den Situationswahrheiten, so ist der Weg zu der einen Welt die korrelative Betrachtungsweise hierzu: Diese »absolute« Wissenschaft (eigentlich eine Tautologie) ist nichts als die Wissenschaft von der einen Lebenswelt. Die revolutionare Idee der Griechen ist somit die Entdeckung der einen Welt als des wohlgeordneten und vernunfthaft erkennbaren XOO[.LOC; als das Gemeinsame und Irrelative aller Heimwelten und damit als des Themas der universalen Wissenschaft, in der sich Philo sophie und Einzelwissenschaften noch nicht voneinander geschieden haben. Die Motivation zu dieser einen universalen Wissenschaft von der einen 45 Die Frage hierbci ware, ob das Beispiel der »Mythologeme« zufallig ist. Man konnte hier beispielsweise an den Mythos als eine, wesentliche menschliche Wahrheiten aussprechende symbolische Form im Sinne Cassirers denken. 46 So im Manuskript »Die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Urstiftung« vom Sommer 1937 (XXIX, 421-23).
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KAPITEL 2
universalen Lebenswelt ist die durch eine Fremdwelt sich »aufdrangende« Fremderfahrung, die erstmals sowohl die fremde, wie aueh die eigene Heimwelt in ihrer
Reiativitdt enthallt. 1st dies die Motivation fUr das erste Aufsprengen der begrenzten Heimwelt, so wird man mit Recht fragen, ob dies bereits die Motivation ftir die phanomenologische Reduktion sein kann. Das ist sie nattirlich nicht, zwischen beiden »Anfangen« liegt eine Spanne von ca. zweitausend Jahren. Aber die erste Urstiftung ist als erste und absolute der erste Aufbruch des Menschen einer Heimwelt in Richtung auf die wissenschaftlich-philosophische Erforschung der einen identischen Welt. Die geschichtliche Perspektive deutet sich hier bereits an. )) Auf den Schultern« dieser ersten Urstiftung steht somit auch die Phanomenologie, die relativ auf den ))ersten Anfang« istY So ist die Motivation ftir die phanomenologische Reduktion nieht bereits die Fremdeifahrung als abstrakte Erfahrungsfigur (wie dies in Finks Darstellung klingt), aber ihre Motivationifundierung ist auf den historischen Anfang von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen zuriickverwiesen. Zwischen dem Anfang bei den Griechen und der Anfangsproblematik der Phanomenologie besteht so freilich ftir jetzt ein )) Vakuum«, das aber durch die geschichtliche Besinnung, die zwischen beiden ))Enden« eine Teleologie - das Wesensmerkmal der europaischen Geistesgeschichte - spannt, gefUllt werden kann. Ob eine solche Bemtihung noch phanomenologisch ist, sei vorerst dahingestellt. Auch wenn die Frage, wie man vom Anfang von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen zur Phdnomen%gie kommt, erst mit dem Einnehmen der geschichtlichen Perspektive einleuchten kann, ist doch so viel klar: Auch die Phanomenologie kann, entgegen Husserls friiherer Uberzeugung, nicht ))aus dem Stand« beginnen, sondern hat eine historische Entwicklung hinter sich, auch wenn sie sich von ihr ausdriicklich durch Epoche abgrenzt. Aber diese radikale Abgrenzung ergibt erst auf dem Hintergrund einer in der Neuzeit fehlgeleiteten Entwicklung Sinn. Die Epoche ist somit, wie Husserl auch sagt, eine ))Epoche von allen Traditionen«, auf die sie sich trotz aHem, wenn auch in Abgrenzung, nicht anders als zuriickbeziehen kann. Die Moglichkeit dieses radikalen Neubeginns durch die Phanomenologie ist damit nicht widerlegt, sondern gerade aus friiheren Vorgangen aus der Geschichte des europaischen Denkens in ihrer Moglichkeit ))begriindet«. Zusammenfassend kann festgehalten werden: In der Heimwelt gibt es ))an sich« keine (aktive) Motivation ftir ihr Durchbrechen; jedoch steht man vor dem Faktum, dass die ))milesischen Griechen« diesen Schritt vor tiber zweitausend Jahren taten. In der historisch (idealisierenden) Rekonstruktion kann man sagen, dass dieses Durchbrechen der heimweltlichen Schranken in Hinblick auf das Fremde nur durch
47 Held hat die Keime zur transzendentalen Konstitutionstheorie aus der griechischen Urstiftungsidee zu rekonstruieren versucht, vgl. Held 1980a und 1989a. Die geniale Gedanke der antiken Griechen ist der Unterschied zwischen einem identischen Ansichsein und seinen mannigfaltigen Gegebenheitsweisen als Gegebenheiten-fUr ein Subjekt.
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die passiv motivierte Fremderfahrung bei den antiken Griechen geschehen konnte. Diese neue Erfahrung ist der Ziindfunke, urn mit dem wissenschaftlichen Fragen zu beginnen. Dieses ist, einmal angestoBen, gewissermaBen ein Selbstlaufer, aus dem sich die europaische Philosophie und Wissenschaft entwickeln. Es ging in diesem Kapitel lediglich darum aufzuweisen, wie der erste AnstoB ermoglicht wird, und das heiBt: wie er erstmals vor iiber zweitausend Jahren ermoglicht wurde. Nachdem er sich in einer historischen Situation erstmals ereignet hat, soll im Folgenden untersucht werden, wie der Weg von der natiirlichen zur phanomenologischen Einstellung und damit in die Phanomenologie selbst verlauft; diese Frage setzt die bereits geschehene Motivation voraus und geschieht nicht aus dem Nichts. Dennoch vollzieht sich die Philosophie immer wieder aufs Neue und ist somit immer wieder das personliche Motiv eines einzelnen Menschen, der sich zur Philosophie entscheidet. Der Wille zur Philo sophie ist eine Entscheidung, gewissermaBen eine personliche Urstiftung und wird so zu einem in Entschiedenheit ergriffenen Beruf, zu dem man berufen ist. Der Philosoph »bedarf notwendig eines
eigenen, ihn als Philosophen iiberhaupt erst und urspriinglich schaffenden Entschlusses, sozusagen einer Urstiftung, die urspriingliche Selbstschop(VIII, 19)48 fung ist. Niemand kann in die Philo sophie hineingeraten.( Die Spannung besteht freilich zwischen der personlichen Urstiftung, die ein Individuum veranlasst, sich der Philosophie zuzuwenden, und der geschichtlichen Urstiftung, welche die Disposition daftir schafft, dass Individuen in einer konkreten Heimwelt und einem konkreten historischen Augenblick iiberhaupt in die Situation geraten konnten, in der ein Infragestellen der heimweltlichen Gewohnheit angeregt wurde. Die geschichtliche Urstiftung ist ftir die personliche fundierend. Das Problem in Finks Einleitung von 1930/31 ist also, dass sie lediglich die personliche Urstiftung des Individuums betont, ohne die geschichtliche Situation, in der in einem Individuum sich eine Urstiftung ereignen kann, zu bedenken. 49 Das, und die bei Fink in Anschlag gebrachten existentiellen Motive machen es Husserl unmoglich, einen solchen Ansatz zu akzeptieren. Anders gesagt zeigt die historische Perspektive, die Husserl zur Bestimmung des Anfangs der Phanomenologie einnimmt, dass und warum ihm der von Fink vertretene Ansatz, der als eine Variante des cartesian is chen Motivs angesehen werden kann - ein Individuum entscheidet 48 Dies setzt natiir!ich ein Angegangenwerden, ein Gerufenwerden schon voraus; wenige Seiten zuvor (r6f.) spricht Husser! von dem »sich fur die Philosophie Entscheidenden, [dem] wahren Philosoph en, der nur wahrer ist, wenn er einem Rufe folgt, dem Ruf, der ihm von der Idee einer sapientia universalis entgegentbnt. « 49 Gerechterweise miisste man auch sagen, class diese Schwierigkeit sich durch den Weg iiber die Lebenswelt ergibt. Husser! hat sich darum bemiiht, das Problem der Motivation fUr die Reduktion auf dem geschichtlichen Weg zu Ibsen. Der Fehler Finks lag also, so gesehen, darin, nach einer persbnlichen Motivation ZUill Philosophieren in der Thematisierung der Lebenswelt zu suchen.
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KAPITEL 2
sich »persi::inlich« zur Philosophie, und auch das cartesische »semel in vita«so hat einen existentiellen Unterton -, ftir eine triftige Begriindung der Phanomenologie nicht mehr hinreichend erscheint, sondern einer »Unterftitterung« durch die geschichtliche Betrachtungsweise bedarf. Das erweist den cartesianischen Ansatz nicht als »falsch«, sondern zeigt nur, dass es einen »prinzipielleren« Weg gibt, der jenem ersten Weg erst eigentlich zu seinem Recht verhilft. Der nachste Abschnitt wird sich nun der »persi::inlichen« Dimension zuwenden und die Konstitution des philosophierenden reh nachzeichnen. Der hierbei erforderliche Bruch mit der nattirlichen Einstellung und die gleichzeitig statthabende »Etablierung« dieses )>neuartigen« Ich verlauft tiber den zentralen Schritt der Ichspaltung. Auch wird gezeigt, wie sich im Zuge dieses Weges die Notwendigkeit einer phanomenologischen Selbstkritik ergibt, welche das eigentliche Thema der methodologischen Auseinandersetzung zwischen Husserl und Fink ist.
2.2.
Die Etablierung des »unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung
Auf Grund der Einsicht in die problematische Darstellung der Reduktion in den Ideen I war es Husserl ein Anliegen, nach der Vcri::iffcntlichung dieser Programmschrift den Weg in die Phanomenologie in stets neuansetzenden Methodenreflexionen zu vertiefen. Dies geschah u. a. in Einleitungsvorlesungen, die systematisch mit der Darstellung der Verfahren von Epoche und Reduktion begannen. 51 Doch auch in vielen Forschungsnotizen blieben die Ideen Husserls Bezugspunkt. Va. in diesen privaten Aufzeichnungen greift Husserl selbstkritisch auf seine friihere Darstellung - die einzige gro13e Schrift zwischen den Logischen Untersuchungen und Formale und transzendentale Logik, in der erstmals die transzendental-))idealistische« Wendung vollzogen wird - zurtick und nimmt sie zum Anlass fUr weitergehende Eri::irterungen. Inhaltlich war Husserl im Jahrzehnt nach der Veri::iffentlichung der Ideen tiber diesen Standpunkt weit hinausgekommen. 52 Dies wird wohl am deutlichsten greifbar in seiner erneuten Behandlung der Zeitproblematik in den Jahren I9I7/ 18 (XXXlll), die sich in der wohl sachlich wichtigsten Weiterentwicklung in Husserls Spatphilosophie, der genetischen Methode, niederschlagt. 53 1m zunehmenden
Vgl. LV, 204, sowie 253, Anm. 4. Von diesen ist die Vorlesung Erste Philosophic Yom Wintersemester 1923/24 die bekannteste (und gehort zu den wichtigsten). Einleitungen in die Phanomenologie las Husserl schon vor der Veroffentlichung der Ideen. In Freiburg war Husser! im Rahmen seines Lehrstuhls verpflichtet, hin und wieder »Einleitungen« zu lesen. Uber Husser!s Einleitungsvor!esungen in der Freiburger Zeit vgl. die Einleitung des Herausgebers Goossens zu den LV, 1831f. 52 Vgl. auch das ,)Nachwort« zu den Ideen von 1930 (v, 138-62), wo Husser! einen Uberblick iiber die wichtigsten Neuerungen seiner Phanomenologie als auch iiber die Versaumnisse der Idem gibt. 53 Vgl. Husser!s Brief an Bell Yom 19.12.1921, BW 3, 33: »Mir geht's gut, immer in voller Arbeit, und
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Bewusstsein der Bedeutung seines philosophischen Werkes ergab sich fur Husserl damit der Anlass zu einer Selbstinterpretation des zuriickgelegten Denkweges und des Versuches einer Einordnung der Phanomenologie in die europaische Philosophiegeschichte. Diese Einreihung in die Tradition der abendlandischen Philosophie musste fUr Husserl zur Folge haben, die Phanomenologie zu einem System zu gestalten. Husserls Berufung auf das Ordinariat Rickerts im Jahre 1916 nach Freiburg, einer der Urstatten des Neukantianismus, mogen das Ihre dazu beigetragen haben, dass Husserl sich veranlasst sah, ein philosophisches System zu gestalten, was ein Oberdenken auch des Weges in die Phanomenologie einschloss. Husserls Systemwille steigert sich in seinen letzten Jahren zunebmend und wird zum Brennpunkt seiner philosophischen Bemiihungen. Eine wichtige Station auf diesem Weg ist die Vorlesung Erste Philosophie von 1923/24, die als »kritische Ideengeschichte« - so in der ersten Halfte - beginnt, als eine rekonstruktive Lektiire der Philosophiegeschichte also, an deren Endpunkt die Phanomenologie steht. 54 Die thematische Weiterentwicklung macht parallel dazu eine »Generaliiberholung« des methodischen Instrumentariums notig, was Husserl im zweiten Teil der genannten Vorlesung unter dem Titel einer »Theorie der phanomenologischen Reduktion «55 unternimmt. Dieser Teil der Vorlesung hat fUr Husserls Neubesinnung hinsichtlich der Reduktion paradigmatische Bedeutung. Hierbei wird nicht nur das mogliche Verlassen der naturlichen Einstellung - und damit auch diese selbst - zum Problem. Auch die rechte Zugangsweise zur Sphare der »Transzendentalitat« wird erneut Thema. 1st bereits die Epoche als ein AuBergeltungsetzen des natiirlichen Weltglaubens ein komplexes methodisches Verfahren, so kann man erwarten, den erstrebten Standpunkt nach diesem methodischen Schritt nicht mit einem Sprung zu erreichen - zumindest keinem einfachen. die )Ideen< sind schon in Manchem tiberholt. Genetische Phanomenologie steht im Zentrum.« Zu einer Rekonstruktion von Husserls Weg von statischer zu genetischer Phanomenologie vgl. auch van Kerckhoven 1985 sowie Welton 2001. Vgl. hierzu v. a. die Vorlesung tiber transzendentale Logik, erstmals 1920/21 gehalten: Hua. XI, XVII und XXXI (vgl. auch den Oberblick tiber die ursprtingliche Gestalt dieser Vorlesung, XXXI, 141 f.). 54 Hierbei ist Husser! jedoch noch weit von der spateren Position, die die Phanomenologie sdbst als geschichtliches Produkt (namlich einer transzendentalen Geschichte) sieht, entfernt, sondern die ideengeschichtliche Einleitung versteht sich als systematische Einleitung in die Phanomenologie. Hierbei stellt sich ftir Husser! die Philosophiegeschichte als andauernder Kampf wissenschaftlicher Philosophie gegen den Skeptizismus dar, wobei erst die Phanomenologie in der Aufdeckung des letzten Wissensfundaments den Skeptizismus erfolgreich iiberwinden kann: »Die historische Entwicklung vermochte diese Idee [der Philosophie als »absolut rechtfertigender Wissenschaf1:«] nicht zu realisieren, und der Index dieser Sachlage war der fortgehende Entwicklungsstrom eines bald offenen, bald versteckten Skeptizismus. Wir verfolgten den Gang der Entwicklung unter bestandiger radikaler Kritik und machten uns sachlich klar: alle Rechtfertigungen haben ihre letzte Quelle und ihre Einheit in der Einheit der erkennenden und in transzendentaler Reinheit zu fassenden Subjektivitat.« (VIII, 3 f.) 55 Die entsprechenden Kapitei, in denen diese Theorie niher dargestellt sind, wurden vom Hrsg. (Boehm) mit dem Tite! »Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion« versehen.
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Vollzieht sich die ErschlieBung des fur die Phanomenologie zu thematisierenden Bereichs nur schrittweise, so steht dies nicht im Widerspruch zu der Radikalitat, die an einer Stelle doch einen, wenn auch nicht unmotivierten, Sprung machen muss. Dieser vollzieht sich im Rahmen der Reflexionsproblematik, genauer in der radikalen Ichspaltung, die eine ahnliche Gewaltsamkeit wie der }}Bruch« mit der natiirlichen Einstellung an sich hat. So stellt sich korrelativ zur Frage der rechten Zugangsart zur phanomenologischen Sphare die nach dem Vollzugs-Ich dieses Verfahrens. Die Frage nach dem Wer ist nur scheinbar leicht zu beantworten: Es ist jeweils ein Ich, und zwar das gleiche, das }}vorher« auBerwissenschaftlich oder positiv-wissenschaftlich }}lebte« und nun in einem Akt personlicher Freiheit fur sich selbst, an sich selbst, die Aufklarung von ungepriiften Urteilen vollziehen will, indem es sich auf sich selbst zuriickbezieht und in sich selbst ein Fundament gesicherten Wissens sucht. Kann aber ein Mensch als natiirlich Eingestellter nicht von sich aus diese Naivitat ablegen, sondern ist das Durchbrechen der Naivitat ein radikales }}Aufbrechen« ihres beschrankten Horizonts, stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Einheit dieses Ich. Wird mit dem Aufbrechen und Verlassen des urspriinglichen Horizonts moglicherweise auch dieses Ich selbst in seiner urspriinglichen Einheitlichkeit aufgebrochen und in seiner Einheit }}gesprengt«? Gibt es iiberhaupt diese selbstverstandlich angenommene }} Einheitlichkeit «, und welcher Art ware sie? So wird die Frage nach dem Ich des Philosophen zu einem eigenen Problem, das auch Auswirkungen auf die Weise hat, wie das Ich der natiirlichen Einstellung zu fassen ist. Wie kann man die phanomenologische Einstellung ernsthaft erlangen, die nicht doch nur wieder eine weitere Sondereinstellung innerhalb der natiirlichen Einstellung, sondern ihr radikal entgegengesetzt sein solI? Was fur eine Art }}Einstellung« ist das dann, wenn sonst der Einstellungsbegriff, wie bisher, den Weltglauben zu implizieren schien? Antwort auf diese Fragen versucht Husserl mit der Etablierung des sogenannten }} unbeteiligten Zuschauers« zu geben. Mit der Thematisierung dieser }} Instanz« geht Husserl bereits iiber den Standpunkt der Ideen hinaus, sofern mit der Etablierung einer eigenen Erfahrungssphare dieses Zuschauers eine gegeniiber der }}naiven« transzendentalen Erfahrungssphare neue Reflexionsebene eingeftihrt wird, welche in ihrer Selbstkritik eben Thema der }} Phanomenologie der Phanomenologie« sein wird. Nicht die verschiedenen Wege in die Phanomenologie sind dabei Thema, sondern, wie sich in diesen Wegen dieser Zuschauer })etabliert«. Das ist zunachst Thema der }}Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion«. Fiir die methodologische Orientierung von Husserls Spatphilosophie ist die Frage nach diesem Zuschauer zentral. Von seiner Etablierung hangt die rechte Thematisierbarkeit der phanomenologischen Sphare abo Die }}Konstitution« des unbeteiligten Zuschauers vollzieht sich in Husserls Lehre von der Ichspaltung.
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
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Die Riflexionsproblematik und die [chspaltung. Leibliche Selbstthematisierung und natUriiche Riflexion
2.2.1.
Wodurch ist philosophisches Denken gegeniiber anderem (positiv-)wissenschaftlichen Denken ausgezeichnet? Es ist gegeniiber dem Denken der Wissenschaft durch radikale Selbstbesinnung56 charakterisiert. Hierdurch realisiert sich fUr Husserl das Ideal einer philosophischen Existenz, die ihr Tun vor sich selbst rechtfertigen und verantworten will. Diese Selbstbesinnung ist als Selbstthematisierung eine Ruckbeziehung auf sich selbSt. 57 In der Sprache des Intentionalitatsschemas ego-cogito-cogitatum: Sie ist keine Thematisierung der Inhalte der cogitata, sondern der cogitationes dieser cogitata als Tatigkeiten eines ego cogito. Die Selbstthematisierung muss sich also auf das eigene cogito mit seinen cogitationes beziehen. Die philosophische Tradition hat dieser Selbstthematisierung u. a. den Titel Riflexion gegeben. Das heiBt gleichzeitig, dass Reflexion als phanomen%gische Besinnung eine besondere Form theoretischer Selbstthematisierung ist und gegen »natiirliche« Reflexion abgegrenzt werden muss. 1m alltaglichen Sinn bedeutet »Selbstthematisierung« zumeist eine Vergegenwartigung bestimmter cogitata als »innerer Erfahrungen«. Hat auch das philosophische Denken seine Basis in natiirlicher Einstellung, so miissen sich in dieser schon bestimrnte Merkmale der Reflexion aufWeisen lassen. Es ist aber von Bedeutung fUr das rechte Verstandnis des phanomenologischen Reflexionsbegriffs, den genauen Unterschied zwischen natiirlicher und phanomenologischer Reflexion zu sehen; denn war es ein Charakteristikum der natiirlichen Einstellung, dass man in ihr von sich selbst aus nicht iiber sie hinaussteigen kann, so gilt dies a fortiori auch fur die Riflexion in naturlicher Einstellung. Von der Klarung des Unterschieds von natiirlicher und philosophischer Reflexion hangt nichts Geringeres ab als die Mog/ichkeit, in die Phanomenologie zu gelangen. Es soll zunachst die natiirliche Reflexion einer Analyse unterzogen werden, urn einerseits ihre Grenze, damit aber die Moglichkeit phanomenologischer Reflexion aufzuweisen, die die Etablierung der phanomenologischen Einstellung des unbeteiligten Zuschauers ermoglicht. Als Einleitung in die Moglichkeit der Reflexion seien zunachst vorreflexive Selbstthematisierungen erortert. Die »primitivsten« Formen von Reflexion - sonst konnte die Analogie zur optischen Sphare nicht standhalten - kann man als leibliche Selbstthematisierungen bezeichnen, die als Kontrast zur eigentlichen Reflexion dienen sollen. Reflexion bedeutet wortlich eine Riickbeziehung auf sich selbst, im Sinne der Metapher eine Re-flexion gleich einem Blick in den Spiegel, der mir mein Spiegelbild zuriick-
56 Vgl. VII, 7f., wo Husser! v. a. Sokrates und Descartes als Urvater der Philosophie als »absolute[r) und vollig reine[r] Selbsterkenntnis (ebd., 8) nennt. 57 Vgl. auch Waldenfels 1995a, 69: »[Es] gehort eine bestimmte Form des Selbstbezugs zur Philosophie, solange es sie gibt. Dies gilt auch fur die phanomenologische Weise des Philosophierens. [ ... S]ie muss sich selbst als Phanomenologie hervorbringen.«
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KAPITEL 2
wirft, also eine gebrochene Sicht im Gegensatz zu einer »durchgangigen« Wahrnehmung, die »geradehin« auf etwas hin blickt. 58 Der Gegenbegriff zu ))feflexiv« ist »geradehin«. In der Brechung des Blicks in den Spiegel wird jener in seiner Geradehin-Tendenz gebrochen und dem »Aussender« zuriickgeworfen. Der Blick sieht also nicht das geradehin Intendierte, sondern sich selbst »Auge in Auge «. Voraussetzung dafur ist, dass der Aussender des Blickes diesen im Zuriickgeworfenwerden auch erkennt. Optische Reflexion ist das Paradigma introspektiver Rd/exion. Sie ist damit eine Auszeichnung des Menschen und haherer Primaten; denn Tiere erkennen sich in einem Spiegel nicht; auch ist der Mensch nicht schon bei seiner Geburt dazu befihigt, sondern entwickelt diese Fahigkeit erst in einem bestimmten Stadium der Kindheit. 59 Setzt das Wiedererkennen des eigenen Spiegelbildes noch keine explizite Abstraktion oder »Reflexion« voraus, ist dennoch zu betonen, dass sie eine Fahigkeit des Menschen ist. Sie schafft zwar noch kein Selbstbewusstsein im Sinne eines ausdrucklichen Wissens urn sich selbst, ist aber doch der Beginn des Bewusstseins der Selbstheit. Reflexion ist also, bereits im optischen Kontext, eo ipso selbstbeziiglich. Der Grund, weshalb das optische Phanomen Paradigma fUr introspektive Reflexion sein kann, liegt in der mensch lichen Fiihigkeit des Sich-imSpiegel-Erkennens. Das Motiv dafur, dass man umgekehrt sagt, Tiere hatten kein Selbstbewusstsein, liegt in ihrer Unfahigkeit zur Reflexion. 60 Es ist nun zu klaren, was Reflexion als »inspectio sui« bedeutet. Hierzu so11 zunachst die optische Reflexion in ihrer Relevanz fur das Selbstbewusstsein untersucht werden. Was geht beim Blick in den Spiegel vor sich? Sehe ich mich im Spiegel an, macht mein Spiegelbild aile Bewegungen »mit« (ahnlich wie der Schatten), nur eben spiegel-verkehrt. Das ist der Grund, warum ich mich mit meinem Spiegelbild identifizieren kann: weil es eben zeitgleich das gleiche »tut« wie ich. Ich spiire sozusagen mein karperliches Fungieren in der Unmittelbarkeit meines 58 V gl. lat. }leclere, »biegen, beugen «, woraus re-:flectere entstand. Das eingedeutschte Verb »refiektieren« existiert seit dem 17. Jahrhundert und ist bezeichnenderweise urspriinglich im Bereich der Optik beheimatet, vgl. Duden Etymologie, 557. 1m Grimmschen Worterbuch, Bd. 14 (R-Schiefe) aus demJahr 1893 kommt das Wort iiberhaupt nicht vor, obwohl es als philosophischer Terminus seit dem 17. Jahrhundert in der Philo sophie bezeugt ist und ab dem spaten 19. Jahrhundert in die Alltagssprache Einzug hielt, vgl. Ritter, Bd. 8,396-405. 59 Lacan hat in seinem beriihmten Essay iiber das »Spiegel-Stadium« dieses Stadium friihkindlicher Entwicklung als den Ursprung des Selbstbewusstseins interpretiert; erst in diesem Stadium (ab etwa sechs Monaten) entwickle der Mensch die Fahigkeit, einzelne seiner Korperteile als zu einem Ganzen zugehorig zu erkennen. Vgl. Laean 1966. Zahavi (1999), der eine phanomenologische Rekonstruktion des Selbstbewusstseins gibt, geht allerdings auf dies en einschlagigen Text nicht em. (\0 Wobei jedoch Tiere durchaus eigene Organisationsformen und eine eigene Einstimmigkeit und instinkthafte Kommunikation haben. Dies hat Husser! ausdriicklich betont, vgl. xv, (\1 I f. und 622-27. Auch ist zu betonen, dass in den letzten Jahren durch neue Untersuchungen an Tieren hinsichtlieh ihres vermeintlichen Selbstbewusstseins das Verstandnis des Selbstbewusstseins als menschlicher Fakultat wieder in Fluss gekommen ist.
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DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
Spiegelbilds. 1m Spiegel weiB ieh immer sofort und unmittelbar, dass ieh selbst es bin, den ieh sehe - anders etwa als auf einem Photo, das mieh gerade immer so zeigt, wie ieh mieh selbst nie sehen kann, namlieh »objektiv«, so wie rnieh Andere sehen. So gilt aueh umgekehrt: So wie ieh mieh sehe, kann rnieh niemand sehen. A.hnliehes gilt fur das Horen. Ieh weiB, dass ieh es bin, der sprieht, weil ieh das Gesproehene unmittelbar hore; denn meine Stimme hore ieh selbst immer »dureh meinen eigenen Leib« hindureh, der die Stimme dureh den in Sehwingungen versetzten Sehadelknoehen ete. fur mieh verfalseht. Ich kann mieh also ebenso nie »objektiv« horen, d. i. wie mieh die Anderen horen, es sei denn auf einem Tonband. Weitaus verrnittelter sind diese Erfahrungen bei den Nahsinnen (Rieehen, Sehmeeken oder Tasten).61 Ieh kann mieh nieht selbst »errieehen« oder »ersehmeeken«; hingegen hat der Tastsinn einen besonderen Status, da ieh mieh strenggenommen immer »irgendwie« beriihre. Ein Heraustreten aus dieser »Immanenzsphare« wie bei den Fernsinnen, die immer sehon »drauBen« sind, ist unmoglieh. Diese Selbstbezugliehkeit in der Wahrnehmung bedeutet immer auf eine bestimmte Weise ein gleiehzeitiges Siehselbstwahrnehmen, die eine eigene Form der Selbstidentifikation, geradezu Selbstvergewisserung ist: Naeh einem Unfail etwa beriihrt man sieh, urn sieh zu versiehern, dass »noeh alles dran ist« etc. Der unmittelbarste Fall der Selbstwahrnehmung ist aber die optisehe Selbstwahrnehmung; nur sie verdient es, als »Reflexion« bezeiehnet zu werden. Gerade in dieser Unmittelbarkeit ist sie eine Verdoppelung eines Ieh in zwei, spiegelverkehrte »Ieh«. Nur im Medium des Sehens ist diese Unrnittelbarkeit anzutreffen, die es ermoglieht, sieh mit sieh selbst »aktiv« zu identifizieren. Aile andere Selbstwahrnehmung verlauft auf passiv-habitueller Ebene; das Sieh-selbst-beim-Spreehen-Horen gehort gewissermaJ3en zum Spreehen (wie zum Horen); man »beriihrt sieh« immer irgendwie selbst. Nur der Bliek auf sieh selbst hat die Fahigkeit, sieh selbst in einer sonst unbekannten Weise zu thematisieren. Charakteristiseh fur das Spiegelbild und die mit ihm gegebene Identifizierbarkeit ist also Unmittelbarkeit und, in eins darnit, die Simultaneitat der vor dem Spiegel vollzogenen Handlungen mit dem im Spiegel reflektierten Bild. Aber genau hier hort die Analogie zur Reflexion ais »denkeriseher« Form von Selbstbezugliehkeit auf. Wie ist nun Reflexion als Form des Denkens zu bestimmen? Reflexion ist, in Analogie zur optisehen Reflexion, das Zuriiekbeugen eines Gedankens auf den Aussender. Damit wird das Denken selbstbezuglich. Naiv verstanden bedeutet Reflexion ein Naehdenken iiber sieh selbst: Ieh iiberlege, ob eine Entseheidung riehtig oder falseh war - d. h. ieh fuge eine Stellungnahme zum geradehin gedaehten Aktvorgang an - oder denke iiber den Sinn meiner Existenz naeh etc. Ieh nehme Stellung zu friiheren, kiinftigen, imaginierten, ertraumten, fingierten Akten, Meinungen, UrteiIen, Geftihlen u. dgl. Gegenstand der cogitationes 61
Vgl. zu einer Analyse des Sich-selbst-Betastens IV, Zweiter Abschnitt, Drittes Kapitel, l47ff., wo das Sich-Betasten mit dem Sich-Sehen kontrastiert wird.
V.
a. § 37,
lIO
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ist also das Ich selbst in gewissen Modis: des Frtiher oder des Ktinftig, verschiedener geistiger »Regionen« (Meinungen, Urteile etc.). Der formale Begriff von Reflexion ist eine Reflexion-auf, d. h. ein Nachdenken tiber eine cogitatio, also ein Nachdenken uher ein Nachdenken - im Gegensatz zu einem geradehin-aktuellen Nachdenken tiber eine intendierte Sache: Dies ware das Denken des weltzugewandten Wissenschaftlers, der nicht die »Ichseite«, sondern das Gegentiber bedenkt: »Alles dem Subjekt originiir Eigene ist einig im Ich und gehart somit zur Ichseite. Alles andere ist ihm gegentiber.« (IV, 3IS) Reflexion ist als cogitatio ein aktuelles Nachdenken tiber einen zeitlich zUrUckliegenden oder ktinftigen Akt oder eine Meinung, Stellungnahme etc., welche als cogitationes selbst der Aktivitat einer (inaktuellen) Stellungnahme entspringen. Zwischen Reflexion und Reflektiertem besteht somit eine zeitliche Verschiehung - gegentiber einer aktuellen geradehin-cogitatio, die als Intendiertes unmittelbar einen »cogitierten« Inhalt hat. Reflexion ist in diesem Sinne immer nachgewahrend, immer der »normalen« Aktualitat des GeradehinAktlebens nachkommend. Anders gesagt: Das Bewusstsein ist sich immer schon selbst »vorweg«, wenn es auf sich zu reflektieren versucht. 62 Der Reflexionsakt kommt dem Gegenwartsstrom des kontinuierlichen Aktlebens immer zu spat. In welchem Verhaltnis der normale zum Reflexions-Aktstrom steht, ist das zentrale Problem. Das Denken tiber eine andere cogitatio kann nicht das ursprtinglich Gedachte mitdenken als Mit-Vollzug dieser cogitatio. Es kann nicht zur gleichen Zeit den geradehin vollzogenen Gedanken nach-vollziehen und simultan uher ihn reflektieren. Ich kann nicht an meine gestern ausgefUhrten Gedanken denken im Sinn des naiven Geradehin-Akts und zur gleichen Zeit dartiber Reflexionen anstellen; denn es gehart zum Wesen des menschlichen Bewusstseins, nur einen Gedankenstrom actualiter durchleben zu kannen. Reflexion heiSt also nicht, dass es eine Simultaneitiit zweier Akte oder Aktreihen gibt; denn ich bin bei der Reflexion tiber einen frtiheren Akt mir selbst immer schon vorweg. Eine Reflexion ist ein Nachgewahren des normalen Aktlebens; damit hat aber die Reflexion ihr eigenes Aktleben und ihre eigene Verlaufszeit. Dennoch, wahrend ich tiber eine Aktreihe, etwa das Wahrnehmen eines Hauses, reflektiere, hart damit diese erste Aktreihe nicht auf, weiterhin zu verlaufen, aber - und das ist das Entscheidende - sie wird nicht von mir aktuell durchleht in der Reflexion darauf; die erste Aktreihe schlummert in In-Aktivitat. »Ein Haus, das ich wahrnehme, hart doch, wenn ich in die transzendentale Einstellung iibergehe und mein Ich-nehme-wahr aIs das transzendentale Erlebnis erfasse, nicht auf, in diesem Wahrnehmen Wahrgenommenes zu sein, in ihm Geglaubtes, in ihm in Gewissheit, da zu stehen, so und so seiend, mit diesem roten Dach usw. « (VIII, 87)
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Vgl. Held 1966, 79ff., insbes. 8r.
III
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
In der Reflexion iiber eine bestimmte Aktreihe hat die Reflexion, die selbst eine eigene Aktreihe ist, diese erste Aktreihe thematisch, die beide, und das ist das Selbstbeziigliche daran, Akte eines und desselben Ich sind. SolI Reflexion als Riickbeziehung auf sich selbst iiberhaupt ein Thema haben, so ist das nur so moglich, indem sie thematisch macht, was bei Geradehin-Akten nie thematisch werden kann: das Ich als Austrahlungs-Pol dieser Akte. Dieses Ich kann sich selbst nur thematisch werden, indem es das, was sonst nie Thema ist, ausdriicklich thematisiert. Reflexion ist eine Verobjektivierung des eigenen Subjekts: »Das Ich ist [in der Reflexion] sich selbst gegeniiber, es ist fUr sich selbst, in sich selbst konstituiert.« (IV, 3 18) Husserl spricht ausdriicklich von »zweierlei Bedeutungen von Ich« (VIII, 71), sofern sich das Ich selbst thematisiert und dadurch in Subjekt und Objekt auseinander tritt: deh bin ein Objekt meiner mundanen Erfahrung unter anderen. Muss ieh davon nieht scheiden dasjenige Ich, das hierbei das Subjekt der Erfahrung ist, das Ichsubjekt fUr das Ichobjekt?« (ebd.)63 Wie man sich im Blick in den Spiegel gleichsam »verdoppelt«, so verdoppelt sich das Ich, das cogito, in Ichsubjekt und Ichobjekt. Aber es gehort wesenhaft zum Ego, nur je einen aktuellen Bewusstseinsstrom durchleben zu konnen. Wie ist dann die Selbstobjektivierung des eigenen Ego moglich, wenn es stimmt, dass in der Reflexion auf eine Aktreihe diese nicht auiliort, weiter zu verlaufen? Und wenn sie moglich ist, so muss man fragen, wie Husserl dann von einem, identischen Ich »in notwendiger Selbstdeckung« (VIII, 41 I) sprechen kann. Wie ist diese »Deckung« zu verstehen? Mit welchem Recht kann Husserl die Einheit des Ieh postulieren, wenn er sagt: »Im Obergang des betraehtenden Bliekes vom Ich-Subjekt zum Ich-Objekt und umgekehrt muss ieh in apodiktiseher Evidenz anerkennen, dass Ieh, das Subjekt der Erfahrung, mit dem im Mensehen objektiv gewordenen Ieh identiseh sei.« (VIII, 7I)
-?
Wie ist diese Verobjektivierung des eigenen Subjekts bei gleichzeitiger Beibehaltung seiner Einheitlichkeit moglich? Die Losung versucht Husserl mit seiner Lehre von der Ichspaltung zu geben. 64 Sie ist die Konsequenz aus der Reflexionsproblematik 63
Broekman hat die Reflexionsproblematik bei Husserl von der Vorlesung »Idee der Phanomenologie« von I907 tiber Ideen II bis hin zur Vorlesung tiber Erste Philosophie II nachgezeichnet, vgl. Broekman, I I 8 If 64 Bereits im natiirliehen Leben kann es zu einer »Iehspaltung« kommen, die aber noch nichts mit der Reflexionsproblematik zu tun hat, sondern eher als »Gewissenskonflikt« bezeichnet werden kann. Vgl. folgendes Zitat: »Der moralisehe Mensch ist der nieht naiv einstimmige, sondern cler durch den kategorischen Willen zwiespaltige Mensch, der mit sich selbst ringende. Ein Mensch ist moralisches Wesen nur so weit und solange, als der stiftende Wille wirksamer ist, und positiv moraliseh nur so weit, als das gestiftete Vernunft-Ieh im Ieh des Lebens widerstreitslos leben kann.
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und der Versuch, mit dem in ihr angelegten Paradox zurande zu kommen. Dabei ist sie keine Erfindung Husseds, sondern taucht urn die Jahrhundertwende im Rahmen der klinischen Psychologie, sowie auch in den erst en zwei Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende sagar in phanomenologischen Arbeiten und im von der Phanomenologie beeinflussten philosophischen Umfeld auf. 65 Es ist unzweifelhaft, dass Hussed von dem Phanomen, als )) Thema seiner Zeit« (Broekmann), wusste. 66 Es gilt nun zu sehen, wie sie sich im Rahmen der ))natiirlichen Reflexion« ergibt und wie sie in der Diskussion urn den Weg in die Phanomenologie radikalisiert wird. Die Spaltung, die auch Fink in der VI. Meditation und den Vorarbeiten dazu 67 thematisiert, ist fUr die Frage nach der Etablierung des unbeteiligten Zuschauers von zentraler Bedeutung. Wenn Husseds behauptet, dass die ))in der Ichspaltung aufeinander bezogenen Ichsubjekte zu derselben stromenden Gegenwart gehoren« (VIII, 89), so fragt sich, was gespalten wird und mit welchem Recht hier von Spaltung gesprochen werden kann. Der Plural ()) Ichs«), den Husser! selbst benutzt, deutet selbst auf eine Spaltung des urspriinglich einheitlichen Ich hin. Was besagt dann Einheit? Hussed macht sich selbst den Einwand: )) Warum sprechen wir aber von demselben Ich, das sich auf sich selbst zuriickbezieht, seiner selbst in der )Selbstwahrnehmung< inne wird und seines Aktus: wo doch evident ist, dass verschiedene Akte sich iibereinander schichten und dass jeder Akt sein gesondertes lch, sozusagen als seinen gesonderten Aktpol hat -?« (VJII, 90) Auf dieser Ebene kann noch nicht von Spaltung die Rede sein; sie entsteht erst in der Spaltung des geradehin lebenden und des reflektierenden leh. Die Einheit des Ich ist auf der reflexiven Stufe gerade garantiert durch die reflexive Selbstbeziiglichkeit: ))UJede Selbstbeziehung [setzt] eine Selbstdifferenz voraus. [... ] Schon die Identifikation steHt eine Synthesis dar. Identisch ist etwas, was sich von sich selbst abhebt, worauf ich immer wieder und worauf ich nur zuriickkommen kann. «68 Wenn Einheit Selbstentzweiung voraussetzt, welcher Art ist diese Entzweiung? Denn man konnte entgegnen, eine Reflexion iiber eine vorangegangene cogitatio und die cogitatio selbst lieBen sich in ihrem Gehalt nicht voneinander trennen, wie auch die
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Der vollkommen moralische Mensch ware der Heilige. Bei ihm ware der Widerstreit konsequcnt aufgehobcn, der Wille (ware) irn Leben selbst rein und konsequent rein betatigter Wille. Die Erbsiinde: Auch der Heilige hat sein 5innenleben, sein Tier in sich, seine Affektivitat, auch er bedarfbestandig des ewigen Nein.« (F 1 28/ 204b, aus der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« von 1<)20/24) Vgl. hierzu den Exkurs, 1I9ff. V gl. Broekman, I I 8 f., Anm. 3. Broekman verweist, neben Oesterreich und Jaspers, weiterhin auf Publikationen von Plessner und Lipps, weiterhin von Miihlethaler, Bircher, 0. Janssen, Eissler, Dessoir. 50 v. a. im Anfangsstiick zurn Systematischen Werk, vgl. VI. cMh, 71 f. Waldenfels 1995a, 71.
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Reflexion tiber die gerade verlaufende Hauswahrnehmung diese Wahrnehmung selbst nicht aufhebt. In der Reflexion kniipft man an die vergangenen Gedanken, zustimmend, ablehnend usw., an. Dadurch werden die alten cogitationes mitvollzogen und somit alte und neue in der Reflexion synthetisiert, d. h. zur Deckung gebracht. Die wiederholend-nachgewahrende Reflexion »iibermalt« gewissermaBen die alten cogitationes. An den friiheren Aktstrom wird durch das »Wecken« seiner in der neu anhebenden Erinnerung angekniipft und dieser ))Gedanke weitergedacht« und evtl. mit einer neuen Qualitat ))versehen«. Natiirhch muss eine Aktreihe im kontinuierlich verlaufenden lebendigen Bewusstseinsstrom irgendwann unterbrochen werden: etwa im Schlaf. So entsteht beim Auf:\vachen aus der unterbrochenen Aktreihe im neu )) anhebenden« Bewusstseinsstrom eine neue Reihe. 69 So scheint es unproblematisch, dass ))die in der Ichspaltung aufeinander bezogenen Ichsubjekte zu derselben stromenden Gegenwart gehoren« (VIII, 89). 1st die Ichspaltung somit tiberhaupt ein ftir die Analyse der Reflexion relevantes Phanomen? Ihre besondere Bedeutung muss erst motiviert werden. Was wird in der Ichspaltung wovon abgespalten? Die natiirliche Einstellung hat es an sich, geradehin-naiv Seiendem hingegeben zu sein; sie hat insofern einen kontinuierlichen Verlauf durch ihren Zeitstrom hindurch; in diesem Sinne ist das Ich ein einheitlicher, wenngleich durch Schlafphasen unterbrochener Bewusstseinsstrom. Man kann in natiirlicher Einstellung iiber Einzelnes reflektieren, aber es verbleibt innerhalb des einheitlichen zeitlich ungebrochenen Flusses. Dieser einheithche Bewusstseinsstrom ist nichts anderes als der Verlauf des Ichlebens in natiirlicher Einstellung, sie vollzieht sich in diesem Bewusstseinsstrom. Was geschieht aber nun, wenn ein Akt der Reflexion, sich auf vergangene cogitationes beziehend, auftaucht? In der Reflexion macht sich das Ich selbst zum Objekt, jedoch nur in Bezug auf einen bestimmten Akt (als Erinnerung an etwas, etc.). Dieses Selbstobjektivieren Iasst damit aber erst das Subjekt dieses reflexiven Aktvollzuges entstehen. 1st die Reflexion auf einen Akt ein auf diesem bereits vollzogenen Akt ))aufbauender« Akt, so spricht Husserl auch von einer )) Wahrnehmung hoherer Stufe« (VIII, 88). Diese Hoherstufigkeit meint das Gewahrwerden meiner selbst als des in der ))direkten« Wahrnehmung unthematischen Ausstrahlungspols der Akte. )dn der Selbstwahrnehmung [geschieht) offenbar dies, dass ich mich als Ich der Riflexion uber den Aktus des ,Ich IJehme wahr, erhebe, tiber jenen Aktus, in dessen Vollzug aufgehend ich seiner und meiner als des vollziehenden Subjekts nicht gewahr wurde.« (ebd.)
1st der mormale« Akt also eine intentionale Beziehung zu etwas Externem, so geht der reflexive Akt gewissermaBen den entgegengesetzten Weg des ))nach drauBen« 69 Eine eigenes Problem hierbei ist cler Traum, cler auch eine Weise von Bewusstseinsleben ist; vgl. hierzu Husserls Dberlegungen in XXIX, 335-38.
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gerichteten normalen Aktes, »stromaufWarts«. Da dieser reflexive Akt aber selbst ein Akt ist, so wird mit ihm, auch wenn er sein eigenes Ausstrahlungszentrum thematisiert, wiederum ein neues Ausstrahlungszentrum etabliert, das seinerseits unthematisch ist. Das Ich »verdoppelt« sich also; »in der lebendigen Gegenwart habe ich in Koexistenz das verdoppelte Ich und den verdoppelten Ichaktus« (VIII, 89). Diese Koexistenz ist gerade das Problem: Wenn es nur einen Lebensstrom der lebendigen Gegenwart geben kann, wie kann es dann ein verdoppeltes, in sich gespaltenes Ich geben? Wie kann, bzw. kann sich iiberhaupt das Ich in dieser Form selbst thematisieren? Die Moglichkeit eines verdoppelten bzw. gespaltenen 70 Ich hangt ab von der Einheitlichkeit des Bewusstseinsstromes. Es wurde gesagt, dass es zum Wesen des normalen Menschen gehort, nur einen Bewusstseinsstrom aktuel1 durchleben zu konnen.7 1 Existiert diese Einheitlichkeit nicht (oder nicht immer), spricht man z. B. von Schizophrenie. 72 Man kann vermuten, dass diese Form der Ichspaltung in einer Unterbrechung des Kontinuitatsbewusstseins des Ich besteht: Seine Kontinuitat wird unterbrochen und durch einen anderen Bewusstseinszustand abgelost. Der Bewusstseinsstrom wird also in seiner Verlaufsform gebrochen, d. h. in seiner Richtung oder sogar in seinem Verlaufsstil verandert; denn der Bewusstseinsstrom verlauJt nach wie vor. Der Strom wird, im Bilde zu reden, umgeleitet. Es ist widersinnig, von einem gespaltenen Strom zu sprechen, weil es zur Wesensform dieses Stroms gehort, einer zu sein. Wahrend eines Storungszustandes, in dem der normale Stromverlauf unterbrochen wird und anders weiterlauft, kann auch nicht davon die Rede sein, dass der alte Strom in Inaktualitat weiterlauft, sondern (wiederum im Bilde) er hat sein Flussbett verlassen und lauft »woanders« weiter, urn hernach wieder ins alte Bett zuriickzukehren. Das Verlassen des Flussbettes bzw. das Wiedereintreten in ihn muss aber nicht in einem kontinuierlichen Obergang geschehen, sondern kann abrupt und in einem Bruch geschehen. Man spricht daher auch von einem »switch«, einem spontanen Umschalten.7 3
70 Husser! ist hier in der Terminologie schwankend; mal verwendet er »Verdoppelung«, mal »Spaltung«, die keineswegs dasselbe implizieren. Zwar weist er darauf hin, dass Spaltung nicht mit Zerspaltung verwechselt werden darf: Spaltung sei nicht »ein Zerspaltensein in zwei getrennt nebeneinander liegende Stucke« (vm, 90). Verdoppelung hingegen meint eine Spaltung in zwei identische Teile, was eine inhaltliche Vorentscheidung uber den Charakter der »Spaltung« enthalt. In spateren Schriften (vgl. I, 73) setzt sich der Begriff der Spaltung jedoch durch. Zu Finks Verwendung dieser Begriffiichkeit vgl. Tengelyi 1996, 76f. 71 Zur Einheit des Bewusstseinsstromes vgl. ml!, I85f.; dort bezeichnet Husser! auch die nach allen Seiten enthullbare Stromeinheit eine »Idee im Kantischen Sinne«. Vgl. auch Held 1966, 86f. 72 So bezeichnet Fink einmal die Reduktion als eine »Art Schizophrenie«. 73 Vgl. Orban 1996, 55, der das Multiple Personality Syndrome (MPS) analysiert. Dasjeweils »fungierende« Ich bei Mps-Kranken ist gegenuber den anderen, inaktiven, auf dem »Spot«, vgl. ebd., 42. Bei MPS kommen verschiedene, ganz unterschiedliche Personen in einem Karper jeweils »auf den spot«, die als als Personalititen ausdifferenzierte Persanlichkeitsaspekte interpretiert werden. MPS ist insofern von der Schizophrenie zu unterscheiden, weil bei dieser zumeist nur zwei »Personalitaten«
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Die Ichspaltung in der Reflexion hat mit Phanomenen wie der Schizophrenie eine Gemeinsamkeit, sofern sie ein gegenuber dem »normalen«, unreflexiv verlaufenden Lebensstromgeanderter Strom ist: Die Reflexion ist nicht auf etwas (anderes), sondern (unnatiirlicherweise) auf sich selbst rUckbezogen; der Unterschied zur Schizophrenie ist hierbei freilich, dass Reflexion als bewusste methodische Operation durchgeftihrt wird. Wahrend der reflexive Akt verlauft, ist das Strombett der naiven Geradehin-Akte »trocken« (wenn auch nicht »leer«). Gegenstand der Reflexionsakte sind hingegen wiederum Akte, die aber bereits verlaufen sind und wieder vergegenwartigt werden (also nicht aktuell im Flussbett verlaufen). In Husserls Beispiel: im Reflexionsakt »Ich denke, dass ich das Haus sehe« habe ich als Gegenstand den Akt der Hauswahrnehmung; nur so ist zu verstehen, dass der Reflexionsakt »uber« dem direkten Akt verlauft: Er verlauft auf dem Grund des bereits verlatifenen Wahrnehmungsaktes, und zwar nachgewahrend. Die Spaltung bezieht sich also auf die Situation des aktuellen Aktsstroms: Der rtfiexive Akt, der trotz der Reflexivitat einen intentionalen »Strahl« aussendet, geht yom Ichzentrum aus, hat aber dieses Zentrum zum ausdrucklichen Thema. Er »bricht sich« gewissermaBen am Einstrahlungspol (der Hauswahrnehmung) und lauft wieder zum Ausstrahlungspol zuruck. Hierbei ist aber der Spaltung in der Selbstthematisierung keine Grenze gesetzt. Das »Ich denke, dass ich das Haus wahrnehme« kann erneut thematisiert werden als »Ich denke, dass ich denke, dass ich das Haus wahrnehme« etc. in infinitum. Der Reflexion erster Stufe kann eine zweiter, dritter etc. Stufe folgen. Dies bringt jeweils »ein neues Ich als Vollzugssubjekt [... ] zum Auftritt« (VIII, 89). Diese Vermoglichkeit des Immer-wieder der Reflexion bezeichnet Husserl als lterationJ4 »Immer wieder ist also ein uneifasstes >Ich denke ( da, und somit auch das Ich dieses Ich-denke, so wie es darin Pol ist.« (VIII, 412) Die reflexive Iteration kann verglichen werden mit dem Blick in den Spiegel mit einem zweiten Spiegel im Riieken: man sieht sieh »in infinitum«. Husserl fasst diesen Saehverhalt auch in der Unterseheidung von »latentem« und »patentem Ieh«. Dasjeweils aktuell fungierende Ich hat ein patentes Ieh thematisch, ist aber damit sich nicht selbst thematisch, also ftir sich latent, kann aber wiederum
auf den spot treten, wobei eine der beiden auf die Umwelt hysteriseh reagiert, die andere hingegen nieht. Vgl. hierzu Orban, 42ff. Man sprieht bei MPS von einer »Kernpersonliehkeit« oder einem »host«, sie »verbringt die meiste Zeit auf dem )Spot<. Sie ist es aber aueh, welche die )verlorene Zeit< aufWeist und die - zumeist - am wenigsten tiber die )anderen< Inneren weiB.« (42) Oass der host »seine« verlorene Zeit bemerkt (er waeht z.B. Tage spater an einem unbekannten Ort auf) ist ein indirekter Beweis dafur, dass es nur einen Bewusstseinsstrom geben kann. 74 Vgl. VIII, 133, 439. Insbes. in seinen Randbemerkungen und Forschungsmanuskripten zur VI. eM wird der Begriffhaufig verwendet, vgl. etwa Ook. !III, 19, Anm. 31, sowie ebd., 203ff., insbes. 205. Die Reflexionsiteration wird insbesondere fUr die sich selbst immer wieder erneuernde Infragestellung in der phanomenologischen Methodenlehre wichtig. Vgl. Husserls Bemerkung in Dok. ulr, 37, Anm. 87.
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in einer hoherstufigen Reflexion patent gemaeht werden, welche aber wiederum fUr sieh latent ist etc.: 75 »Patent wird ein leh, ein waehes, ein Vollzugs-leh eines Aktus, und patent wird ein Aktus selbst nur dureh Auftritt eines darauf reflektierenden leh, das seinerseits latent ist. Ferner: Solcher Art Patentwerden ist fUr jedes latente leh, also aueh das jeder Reflexion moglieh. Es besteht darin, dass das reflektierende leh vollziehendes eines Aktus ist, der das vordem latente zum Objekt des Aktus, zum intentionalen Gegenstand maeht.« (VIII, 90)
In dieser hoherstufigeren iterativen Reflexion ergibt sieh aber nichts Neues; es tritt je ein neues deh denke, dass({ als neuer Ichpol auf, aber nieht mehr, wie ja aueh in der Betraehtung meiner selbst im Spiegel mit einem Spiegel im Riieken auBer der VervieWiltigung niehts hinzukommt. Insofern ist diese Iteration durehaus ein »infiniter Regress«, der aber nieht zu »ftirehten« ist,76 sofern er zwar in infinitum betatigt werden kann, dadureh aber ins Leere lauft und niehts Neues bringt. Er ist unproblematiseh, sofern es sieh hier nieht urn einen Begrandungszusammenhang handelt. Bei aller Iteration ist das leh selbst ein »Undurchstreichbares«. 77 1st die Iteration somit die VervieWiltigung eines Selben, Identisehen,78 leuehtet ein, weshalb diese Form von Reflexion noeh zur natarlichen Reflexion zahlt: Die Reflexionsiteration fordert nichts wesentlich Neues zutage; sie verlauft gewissermaBen in der »Horizontale« undfahrt nicht aber die natiirliche Einstellung hinaus.79 Die natiirliehe Reflexion, daher ihr Name, verbleibt in natiirlieher Einstellung, und obzwar sie das natiirlieh eingestellte Ieh in infinitum spahet, hebt sie doeh die Einheit dieses Ieh nieht auf. Dennoeh liegt der Befund der Iehspaltung vor. In der Analyse der natiirlichen Einstellung kam bereits ein Spaltungsphanomen zur Spraehe. Die sieh in einer konkreten Heimeinstellung auslebende natiirliehe Einstellung ist immer schon gespalten in Sondereinstellungen. Erwies sieh die natiirliehe Einstellung so bereits als eine »Gespaltenheit« in Sondereinstellungen, muss nun das Verhaltnis dieser Gespaltenheit zur Iehspaltung in der Reflexion geklart werden. Bei beiden liegt ein Spaltungs-» Ereignis« vor: »Ieh sehe, dass Ichleben in Aktivitat durehaus niehts anderes ist als ein Sich-immeifort-in-tatigem- Verhalten-spalten [... J« (VIII, 9 I). Das Ieh, sowohl 75 Die Latenz, dasjenige im Bcwusstsein, was sich selbst noch nicht bewusst, patent, geworden ist, bezeichnet Husser! auch als das Unbewusste. Vgl. XXXIV, 364, Anm. (von 1931): »Die Latenz des Unbewusstseins, die Nacht, in der aile Kiihe schwarz sind.« 76 Dies zu betonen ist Husser! wichtig, vgl. VIII, 409. Die Iteration ist »eine Unendlichkeit durch eine intentionale Implikation, die keinen Widersinn fordert«. Vgl. auch Fink, in VI. eM, 19. 77 Vgl. VIII, 413. Vgl. auch im Ganzen Beilage XVII, ebd., 4IOff. 78 Husser! betont wiederholt, »dass die >vielen< Aktpole in sich evide11t dasselbe Ich sind« (VIII, 90f.). 79 Vgl. VIII, 439: »Sowie [das fungierende Erkenntnisleben] patent wird (wieder in neuen Erkenntnisfunktionen), wird es erfahrend vorgefunden als Psychisches meiner oder der sonstigen mit in Erfahrung stehenden Leiblichkeit.«
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natiirlich reflektierend, als auch sich auslebend in Sondereinstellungen, ist stets in einem Spaltungsprozess, genauer gesagt im Zustand der Gespaltenheit begriffen. Was ist nun das Verhaltnis von Ich zu Einstellung? Das Ich lebt sich aus in Einstellungen, geht aber nicht darin auf, eine Einstellung zu sein. Konnte man zeigen, dass die Reflexionsspaltung eine dieser Spaltungen in eine Sondereinstellung ware, ware das dazu Ausgeftihrte nahtlos an die Analyse der Sondereinstellungen anzuschlieBen: Es miisste gezeigt werden, dass die Reflexion nichts anderes als eine Einstellung ist. Ware auch die Ichspaltung in der Reflexion eine weitere Abspaltung in eine Einstellung, so ware die Reflexion eine weitere Sondereinstellung unter den bereits aufgewiesenen. Aber genau dies ist nicht der Fall. Mit Bedacht wurde daher die Reflexion als eine Situation und nicht als Einstellung bezeichnet. Weshalb kann natiirliche Reflexion keine Einstellung sein? 1st eine Reflexion ein iiber dem geradehin flieBenden Akt fungierender, auf ihn reflektierender Akt, so hat er als Thema auch nichts anderes als jenen Akt. Der reflexive Akt intendiert nachgewahrend den vorhergehenden Akt mit einem gewissen Interesse, namentlich der Selbsterkenntnis. Das war die Definition von Situation (Akt-als-etwas intendiert Inhalt-als-etwas). Aber die Situation der Riflexion ist aus zwei Griinden nicht in eine Einstellung »eingebettet«: Erstens ist ihr Korrelat keine Welt im Sinne eines Horizonts; das Korrelat ist vielmehr ein Akt oder eine Aktreihe; von einer Erweiterbarkeit in infinitum kann hier keine Rede sein. Uberdies verlauft ein flieBender Aktstrom nicht nach dem Gesetz der kausalen Sukzession, wo man die Aktreihe gleich einer Perlenkette Perle urn Perle in infinitum zuriickverfolgen konnte. Zweitens kann die Freiheit des reflexiven »Ich kann« nicht auf beliebiges Seiendes bezogen werden, sondern ist per difrnitionem auf den eigenen, ebenfalls nicht als Horizont zu bezeichnenden Aktstrom gerichtet. Die Reflexion ist immer nur ein singuidrer, auf ein jeweils patentes Ich gerichteter Akt eines wiederum latenten Ich, welches das friihere latente Ich patent macht. Die Metapher des »iiber« in der Rede von der »Reflexion iiber das natiirliche Aktleben« muss also als singularer und d. h. auch zeitlich begrenzter, iiber den natiirlich-geradehin verlaufenden Aktstrom hinausgehendender Uberstieg bezeichnet werden. Natiirliche Reflexion ist einem »Flohsprung« vergleichbar, der sogleich wieder auf den »Boden der Tatsachen« zuriickkehrt. Wenn es stimmen soll, dass natiirliche Reflexion per difrnitionem nicht iiber die natiirliche Einstellung hinausftihrt,80 so ist der Grund daftir: Sie kann dies nicht, da sie keine Einstellung ist; sie kann auch keine Sondereinstellung »neben« anderen sein, weil sie sich uber einer jeweiligen Situation einer Einstellung befindet, und dies wiederum nur in einer singularen Situation. Befindet sich die Gespaltenheit der Sondereinstellungen in einer Ebene, so kann sich die Reflexion nicht auf derselben Stufe wie das, worauf sie reflektiert, befinden.
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Vgl. auch Hua. VIII, 120: Die natiirliche Refiexion »kann ein Wissen von der reinen Subjektivitat nie ergeben, eine solche nieht einmal ahnen lassen.« Vgl. auch I, §I5: »Natiirliche und transzendentale Refiexion«.
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KAPITEL 2
Die natiirliche Reflexion ist dem wissenschaftlichen Denken insofern ahnlich, als sie nicht mehr naiv-natiirlich eingestellt ist; aber verschieden von ihm ist sie, sofern sie keine eigene (habituelle) Einstellung, sondern nur eine selbstbeziigliche Reflexionssituation iiber einer Aktreihe ist. Daher steht die natiirliche Reflexion noch mittelbar auf dem Boden der Weltgeltung der natiirlichen Einstellung. Die natiirliche Reflexion hat mit der wissenschaftlichen Einstellung weiterhin gemein, dass auch sie sich von der situationsgebundenen Relativitat einer naiv-natiirlichen Sondereinstellung zu lasen und eine »allgemeine« (wenn auch nicht unbedingt »absolute«) Wahrheit zu erlangen sucht. So ist die natiirliche Reflexion eine Art »Alltagsklugheit« oder Besonnenheit, die, im Sinne des alltaglichen Wortgebrauchs, das eigene Tun reflektiert. Allerdings kann es auch eine Reflexion auf die wissenschciftliche Einstellung geben; das ware der Fall, wenn der Wissenschaftler sich und sein eigenes Tun reflektiert und kurzzeitig aufhart, »naiv« seinen Sachen hingegeben zu sein. Hier gilt: »In ihrem wissenschaftlichen Abhandlungen sprechen die Geometer nicht selten von sich und ihrem Forschen; aber das mathematisierende Subjekt gehort nicht mit {mlr, 137)81 in den eidetischen Gehalt der mathematischen Satze selbst.« Sofern die natiirliche Reflexion nur eine voriibergehende Handlung des ansonsten natiirlich eingestellten, praktisch interessierten Menschen ist, ist der Kontrast zwischen natiirlicher und »echter« Reflexion auch zu fassen als der Unterschied zwischen einer nur kurzzeitigen gegeniiber einer habituell gewordenen Denk-Haltung, die ihre eigene Gewohnheit ausgebildet und somit eine, wenn auch eigene, Form von Natiirlichkeit angenommen hat. 82
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Dieses Zitat stammt aus der Passage iiber die »Selbst-Ausschaltung des Phanomenologen«, und Husser! wahnt hier (noch), dass das Gleiche ftir den Wissenschaftler und den Phanomenologen gilt. V gl. auch XXXIV, 42 (von 1926): » Wir miissen aber unterscheiden Aktualitat und Habitualitat oder deutlicher die bleibende thematische Richtung der Persiinlichkeit und die Akte, in denen sie den habituellen Willen, durch den sie ihre bleibende thematische Sphare hat, auswirkt, bzw. in denen sie aktuelle Sonderthemata dieser Sphare in der beabsichtigten Weise verwirklicht, denkend, wertend, auGer!ich handelnd etc. nach Pausen immer wieder und in evtl. festgeordneten, mit abgesehenen Folgen. Dann gehiirt die Ichspaltung selbst hierher: Wir haben dann zu unterscheiden die einzelnen Akte der Ichspaltung und die Habitualitat der Einstellung auf immer neu zu aktualisierende solche Spaltungen. Zu mir als Phanomenologen (sei es zunachst als psychologischen oder als transzendentalen) gehiirt die bleibende Willensrichtung (Einstellung) auf die phanomenologische Thematik und damit die bleibende Richtung auf den Vollzug von Akten der Ichspaltung und der Forschung in dieser zugehiirigen Art phanomenologischer Epoche, - durch aile Storungen hindurch, aber auch durch Unterbrechungen, die in meinem Aktleben motiviert sind und evtl. von Seiten anderer ebenfalls habitueller Willenseinstellungen, deren jede ihre Zeit, ihre Umstinde hat, auf die sie abgestimmt ist.«
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Damit ist der natiirlichen Reflexion nicht ihre existenzielle Bedeutung abgesprochen; aber sie verbleibt im Rahmen der natiirlichen Einstellung, wie ja auch ein existenzieller Zusammenbruch der heimweltlichen Ordnung zwar eine existenzielle Gefahrdung eines Individuums bedeuten, aber schwerlich die Motivation fur die Reduktion sein kann. Es gilt daher zu zeigen, wie Reflexion vollzogen werden muss, wenn sie die Eihigkeit haben solI, erfolgreich iiber die natiirliche Einstellung hinauszutreiben oder, was das Gleiche besagt, eine neue Einstellung habituell zu etablieren. Es muss die Maglichkeit gekIart werden, wie aus der natiirlichen Reflexion eine reflexive Einstellung wird. Erst die Erlangung der reflexiven Einstellung macht das Reflexions-Ich zum Zuschauer im eigentlichen Sinn.
Exkurs. »Ichspaltung« als psychopathologisches Phdnomen im Umkreis Husserls: Oesterreich und Jaspers Es £alit auf, dass Husserl von »Ichspaltung«, dem Begriff als auch dessen Bedeutung, merkwiirdig selbstverstandlich Gebrauch macht (vgl. VIII, 92). Er wird weder in irgend einer Weise methodisch eingefuhrt oder motiviert, noch problematisiert. Husserl scheint die Bedeutung und ihren Hintergrund bei seinen Harem vorauszusetzen. Ein Grund dafur diirfte sein, dass die Ichspaltung in der Psychologie seiner Zeit ein bekanntes und vieldiskutiertes Phanomen war. Prominente Autoren und wichtige Figuren in dieser Hinsicht diirften fur Husserl Oesterreich und Jaspers gewesen sein. Husserl hat ihre Schriften z. T. ausftihrlich gelesen. Seine eigene Diskussion der Ichspaltung wird vor dem Hintergrund dieser Denker deutlicher. Da es, soweit ich sehe, keine Diskussion dieser Vorgeschichte in der Forschungsliteratur gibt,83 solI dieser kurze Exkurs dazu beitragen, diese Liicke zu fullen. Der Philosoph und Psychologe Konstantin Oesterreich,84 den man heute wohl als eher blasse Figur am Rande der neukantianischen Bewegung ansehen wird, kommt auch im husserlschen Textkorpus nur einige Male vor.85 Dennoch hat Hus83 Abgesehen von dem erwahnten Bueh Broekmans, der diesen Hintergrund lediglieh erwahnt. 84 Neben seinen psychologischen Studien ist Oesterreich in erster Linie als Chronist des Neukantianismus bekannt durch den von ihm verfassten vierten Teil (von I9I6) des von Ueberweg herausgegebenen Kompendiums »Die deutsche Philo sophie des I9. Jahrhunderts und der Gegenwart«; vgl. hierzu Pascher 1997, 34 und, ausftihrlicher, Kohnke 1986, 302-06. 85 Vgl. etwa IX, Beilage XII, 414ff.; hier setzt sich Husser! mit dem Problem der Einheit des !eh auseinander. Seine Bestimmung dieser Einheit ist gewissermaBen Praliminarium ftir die Diskussion der leh-Spaltung als Teilung dieser urspriingliehen Einheit. Husser!s Ausftihrungen in dieser Beilage sind fast als Replik aufOesterreiehs Ausftihrungen in seinem »Die Phanomenologie des !eh«, 7f. (Husser! hat diese Seiten mit Bleistift angestriehen) aufzufassen. Hier schreibt Oesterreich: » [ ••• J es gibt ein nicht weiter reduzierbares leh-Moment« - namlich das Selbstbewusstsein (S. 7 am Rand hat Husser! einen abwarts gerichteten Pfeil an den Rand notiert). AufS. 418 der erwahnten Beilage in Hua. IX schreibt Husser! zusammenfassend: »Die Einheit der Person ist aber eine objektive, als zur objektiven Zeit gehorige konstitutive Einheit. [... ] Und Person mit all ihrem Subjektiven
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serl zahlreiche Werke von ihm in seiner Bibliothek,B6 von denen er v. a. dasjenige mit dem einschlagigen Titel »Die Phanomenologie des Ich in ihren Grundproblemen«, 1. Band: »Das Ich und das Selbstbewusstsein. Die scheinbare Spaltung des Ich« (Leipzig 1910), wie aus seinen zahlreichen Anstreichungen und Lesespuren hervorgeht, ausftihrlich gelesen hat. B7 Es muss vorausgeschickt werden, dass sich Oesterreich in diesem Werk mit pathologischen psychischen Phanomenen auseinandersetzt. Hierbei wird der Begriff »Phanomenologie« ganz im Sinne von »deskriptiver Psychologie« der Logischen Untersuchungen (1. Auff.) verwendet, wobei eben schlicht das beschrieben wird, was ein Individuum, und zwar ein abnormales oder in irgendeiner Weise von der Norm abweichendes, empfindet und erlebt, ohne es abwertend abzuurteilen. So ist die Ichspaltung wie andere Storungsphanomene etwas Abnormales, was man sagar ktinstlich herbeifUhren kann zum Zwecke eigener Erfahrung, bzw. zum Selbstexperiment. Neben der »suggestiven Methode« (he ute wiirde man wohl sagen »Autohypnose«) zur Erlangung dieses Zustands schlagt Oesterreich auch ein handfestes Mittel vor: Haschisch (503). Die Gewahrsleute ftir diese eigenartigen Selbsterfahrungen, ftir die fUr ihn die kiinstlerische Erfahrung paradigmatisch ist, sind solche Schriftsteller, die heute in der Phanomenologie wieder vermehrt rezipiert werden, BB Maine de Biran, Theresa von Avila, Augustin u. a., aber auch einer der Erfinder experimenteller Psychologie: Goethe, sowie einschlagige, anscheinend tiber psychische Abnormalitatserfahrungen verftigende Dichter wie Rimbaud, Baudelaire, Amiel etc. B9 Der Aufbau dieses skurrilen, zwischen psychologischer Beschreibung und philosophischen Sentenzen schwankenden Werks mit einem riesigen Zitatenschatz aus
lasst sich so )reduzieren(, sie kann in sich selbst solehe Reduktion uben [... J.« Ansonsten taucht der Name Oesterreichs nur noch zweimal im husserlschen Korpus auf, vgl. Schuhmann, Index Nominum zum Nachlqf3 von Edmund Husserl (Leuven 1975, unveroff), 77. 86 Abgesehen vom ueberwegschen Grundriss noch 10 Werke (Bucher und Sonderdrucke). 87 Es ist in Husserls Bibliothek unter der Signatur BQ 186 aufbewahrt und tragt die Widmung: »Herrn Prof. Dr. E. Husserl mit dem Ausdruck tiefster Verehrung ganz ergeben uberreicht vom Verf.« (III). Das Buch ist Bd. 1 eines im Ganzen zweibandigen Werks. Der zweite Band erschien 1928 und tragt den Untertitel: »Die Vergottungsexstasen. Ein religionsphilosophischer Versuch«. Ferner befindet sich in dieser Bibliothek unter der Signatur BP 188 der Sondcrdruck »Die Probleme der Einheit und der Spaltung des lch «, Stuttgart 1928 (als erstes Heft der von Oesterreich herausgegebenen »Beitrage zur Philosophie und Psychologie«). Das Buchlein von 39 Seiten tragt keine Widmung und nur sparliche Lesespuren (Husserls?). Der Band ging aus Vortragen in Groningen und Paris hervor und bringt eine knappe Zusammenfassung der Thesen des obigen Buches. 88 Vgl. etwa Henry 1997, sowie neuerdings, auf Henry Bezug nehmend, Depraz 1999, Steinbock 1999· 89 Hier wird Oesterreich allerdings mitunter zu nationalistischen Klischees hingerissen. So behauptet er (a. a. 0., 344): »Allerdings schein en hier erhebliche Unterschiede zwischen den Rassen und Nationalitaten zu bestehen. Die lebhafte Betonung der Variabilitat des Ich in der franzosischen Psychologie und umgekehrt die Hervorhebung der Konstanz der Personlichkeit in der deutschen Philosophie scheinen mir darauf hinzuweisen, dass das nervose franzosische Temperament viel haufiger zu Schwankungen des Selbst ftihrt als die germanische Natur.«
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(u.a.) dichterischen Oeuvres ist zweiteilig. Der erste Teil behandelt »Das Ich und das Selbstbewusstsein« und der zweite in vager Analogie zum ersten »Die scheinbare Spaltung des Ich«, wobei beide Teile sich als Diskussionen pathologischer Phanomene verstehen, die im Wesentlichen unter der Rubrik »Depersonalisation« stehen. 90 Das Adjektiv »scheinbar« deutet daraufhin, dass die beschriebenen Phanomene durch die entsprechende Theorie (Oesterreichs) »eingefangen« werden konnen und keine »wilden«, unerklarlichen Vorkommnisse sind. Immerhin werden die Erlebnisse groBer Dichter hierfur bemiiht. Die Kapitel, die hier von Interesse sind, 11-17 des zweiten Teils, versuchen die moglichen Ichspaltungen nach Hauptgruppen zu unterscheiden; diese sind die »sukzessive« (11. Kap.) und die »simultane« Spaltung (12. Kap.) , dazu kommen die hierbei auftretenden Zwangsprozesse wie kompulsives Verhalten (13. Kap.). Kapitel 14 beschreibt die »Grundstruktur der Spaltung des Ich« und die hiermit zusammenhangenden Ichphanomene wie das »Personlichkeitsgefuhl« (Kap. 15) und das Personlichkeitsbewusstsein (Kap. 16). Wo immer die Diskussion ans Grundsatzliche geht, v. a. Kapitel 14, wird Oesterreich aufi'allig vage und knapp (es ist mit 25 Seiten eines der kiirzesten Kap.), und seine AusfUhrungen sind argumentativ verhaltnismaBig schwach. Er fUhlt sich deutlich am wohlsten in der Zitierung und Kommentierung von Erlebnisberichten groBer Denker, und Husserl hat das Buch evtl. deshalb interessiert. Insbesondere die Kapitel II, 13 und 14 hat Husserl intensiv gelesen; wann, ist nicht zu sagen. Was nun die eigentlichen Analysen Oesterreichs betrifft, so ist es augenfallig, dass die hier beschriebenen Phanomene strukturell aufbemerkenswerte Weise mit Husserls Analysen der lchspaltung in der Reftexion iibereinkommen. 1m Auge ist dabei zu behalten, dass Husserl sie einer ausdriicklich pathologisch ausgerichteten psychologischen Untersuchung entlehnt fur seine eigene Analyse gewisser Strukturen der lchspaltung in der Reftexion. Hierbei ist aber auch fUr Oesterreich die normale Person der Bezugs- und Abgrenzungspunkt seiner Analysen; denn hier ist festzustellen, »dass ein gewisses Grundphanomen sich iiberall [gleich bleibt].« (342) Dieser »Kern des Lebensgeftihls« (ebd.)91 ist die »Personlichkeit«, die, gleichsam »angeboren «, bei allen Verhaltensweisen und allen Lebensphasen durch Veranderungen hindurch sich gleich bleibt. Demgegeniiber gibt es - etwa durch Krisen hervorgerufene - Lebensphasen, in denen das Individuum das Gefuhl hat, »ein Anderer« oder »sich selbst fremd« zu sein. Solche Spaltungserlebnisse haben es an sich, dass man sich selbst »wie als Zuschauer« (346) gegeniibersteht, da das aktuell fungierende Ich eine Art »out ofbody«-Erlebnis hat und das »alte«
90 Siehe auch das Vorwort, v f, wo Oesterreich einen Oberblick tiber sein bis dahin geleistetes
Gesamtwerk gibt, das eine »Fortsetzung der Untersuchungen, die ich mit den Publikationen )Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychasthenie. Ein Beitrag zur Geftihlspsychologie< [... ] begonnen habe.« (v). Das von 1906/07 stammende Buch befindet sich ebenfalls in Husserls Bibliothek. 91 Diese Passage ist von Husser! am Rand angestrichen.
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wie von einer Zuschauerwarte aus betrachtet. Man sieht nicht nur die Welt mit »anderen Augen«, sondern steht auch sich selbst als ein Anderer gegeniiber. Vor dem Hintergrund der Metaphern, mit denen Hussed die Wirkung der phanomenologischen Reduktion vergleicht, muss man dafUr hellhorig werden, welches Spaltungsphanomen Oesterreich xuW E;OX~V anftihrt: »Der starksten und nicht selten sehr plotzlichen Veranderung des Personlichkeitsbewusstseins begegnen wir in den religiosen Bekehrungsprozessen.« (344) Diese Form von plotzlicher Anderung des Ichbewusstseins diskutiert Oesterreich in groBem Detail. Hier wird zwischen zwei Hauptformen unterschieden (wobei der zweiten groBere Radikalitat zugeschrieben wird): einmal der aktiven, in der das Ich sich selbst bekehren will, und sodann der passiven Bekehrung, die »spontaner Natur« (370) ist und bei der die religiose Erfahrung das Ich gewissermaBen iibermannt. Ihr Hauptmerkmal liegt darin, »dass das Individuum nicht uberlegt, es konfrontiert nicht das Fur und Wider, bis endlich die Entscheidung falit, sondern es geht in ihm eine voliig passive Revolution seines ganzen Charakters vor sich. Das reh steht der ungeheuren Veranderung, die sich mit ihm volizieht, wie als Zuschauer gegenuber.« (346)
Diese Passage wurde von Hussed angestrichen. Wenn Hussed in der Krisis von der phanomenologischen Reduktion als einer »volligen personalen Wandlung« spricht, »die zu vergleichen ware zunachst mit einer religiosen Umkehrung« (VI, 140), so solI zwar nicht behauptet werden, dass Hussed diesen Gedanken von Oesterreich iibernimmt, aber es verdient doch angesichts der radikalen Bedeutung, die Hussed der Reduktion zuschreibt, besondere Aufmerksamkeit. Noch eine weitere Charakteristik der einmal geschehenen Bekehrung ist fUr Hussed, wie aus seinen Lesespuren hervorgeht, wichtig: »Die Person hat noch eine abstrakte Erinnerung an ihren friiheren Zustand, aber wirklich vorstellen kann sie ihn sich gar nicht mehr.« (352) Auch diese Gedankenfigur des Nicht-mehr-in-den-friiherenZustand-Zuriickgehen-Konnens wird bei Hussed wiederkehren, und zwar in der Analyse der Verweltlichung. All diese Phanomene fungieren jedoch wohlgemerkt »als hochst deutlicher Beweis, wie tief sich der Selbstbewusstseinszustand [bei der religiosen Bekehrung, sc.] von dem normalen unterscheidet«. (365) Eine weitere, prinzipiell von der bisher besprochenen Ichspaltung verschiedene Bewusstseinsstorung ist die Art von »Alteration [dergestalt], dass das Subjekt sich nicht mehr als eine vollige Einheit ansieht. Es ist ihm, als sei sein Ieh geteilt, gespalten oder gar verdoppelt, als habe es zwei Iche im Bewusstsein, als sei es eine Doppelpersonliehkeit.« (379, Kurs. im Original) Wahrend die erste, durch die religiose Bekehrung illustrierte Bewusstseinsalteration vor aHem auf Grund ihrer Intensitat bedeutsam ist, ist es bei dieser »simultanen Spaltung« die Art des Spaltungsvorgangs selbst, die fUr den vorstehenden Zusammenhang von Interesse ist. Ahnelt er doch in der Art des Vollzugs und bis in die verwendeten Metaphern hinein der Ichspaltung
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in der Reflexionsproblematik. Das Hauptmerkmal ist hier der Gedanke der Verdoppelung, insofern die Metapher der Doppelung zwei selbstdndig verlaufende Ich bzw. Ichstrome impliziert. Das betroffene Individuum lasst verlauten: »Es ist noch ein anderes Ich in mir, ich bestehe aus zwei Ichen, ich bin doppelt.« (383) Beide Ich scheinen eine eigene Personlichkeit zu haben, die getrennt von der anderen verlauft und je zu gewissen Zeiten (entsprechend der Art der Storung und der Weise, wie sie hervorgerufen wird) die Biihne des aktuellen Bewusstseins betritt, also auf dem »spot« ist. Hier kann es Intensitatsunterschiede geben; es kann eine »mildere« Form geben, sowie eine »radikale«, »dass es sich nicht willkiirlich sofort unterdriicken lasst [... ], dass das Subjekt sie gegen seinen Willen vollzieht« (392 f.). Intensiv oder radikal sind diese Spaltungen deshalb, weil Iche aufzutreten scheinen, »die man nicht kennt« (vgl. 394) und die daher beangstigend wirken, da sie das Einheitsgeftihl bedrohen. Hierbei kann es vorkommen - und auch das scheint mir fUr Husserls eigene AusfUhrungen folgenreich zu sein -, dass diese Doppelung sich in »zwei sich bekampfenden Gedankenreihen« (424) vollzieht; man ist versucht, »Gedankenreihen« durch »Bewusstseinsstrome« zu substituieren. Dies wird auch durch Oesterreichs Versuch deutlich, diese Phanomene auf den Begriff zu bringen: »Es handeit sich in ihnen [den Spaitungen, sc.] also um zwei Gedankenketten, von denen die eine automatisch resp. zwangsmi!f3ig neben der normalen her/iilif!. Es liegen also keineswegs
wirklich zwei Iche vor oder eine Spaltung des Subjekts, sondern es bestehen eben lediglich zwei verschiedene Funktionsreihen, wo das normale Individuum nur eine hat. « (426) Hauptgegner Oesterreichs ist, Wle er immer wieder deutlich macht, die materialistische Weltauffassung, die sich v. a. im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Psychologie ausgebreitet habe. Was, genau gesagt, fehlt, ist eine echte Theorie des Subjekts, »wo seit 1900 die Funktionen des Denkens, die Willens- und die Geftihlsvorgange in das Zentrum der Forschung geriickt sind« (501). Als wichtige Figuren auf dem Wege zu einer solchen, den Phanomenen angemessenen Forschung sieht Oesterreich »Husserl und Meinong, Lipps, Maier, Ach u.a.« (ebd.) an. Nur die »phanomenologische« »Subjektstheorie [seiJ imstande, diese Zustande hinreichend zu analysieren und die Widerspriiche [... J aufzuhellen und verstandlich zu machen.« (500) »Phanomenologisch« im husserlschen Sinne ist die oesterreichische Bemiihung, diese Phanomene im Bereich des Pathologischen zu thematisieren, und sie konnen als wegweisend fur eine transzendentale Bewusstseinstheorie gelesen werden, die, wie gezeigt, »Normalitat« zum Paradigma wahlt. Auch Jaspers diskutiert die Ichspaltung im Rahmen einer »allgemeinen Psychopathologie«, so der Titel seines Werks von 1913 (zweite Auflage 1920), welches Husserl gekannt hat.92 Wahrend Oesterreichs Buch philosophisch daherkommt 92
Das Werk befindet sich in Husserls Bibliothek unter der Signatur
BP 112.
Es weist allerdings
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und bei naherer Betrachtung in dieser Hinsicht enttauscht, ist das Gegenteil in der »Allgemeinen Psychopathologie« der Fall: 1st es als psychopathologisches Kompendium fur Studenten »getarnt«, erweist es sich bei genauerem Hinsehen als von ungleich haherem Niveau; und das nicht nur zu Beginn, wo Jaspers den Begriff der Krankheit gegeniiber Gesundheit, die selbst ein auBerst labiler Zustand ist, zu definieren sucht - wobei es aber auch so etwas wie (im Anschluss an Nietzsche) eine »Neurose der Gesundheit« (4) geben kann -, sondern auch durchweg in den Definitionen und Analysen der jeweils in Rede stehenden Phanomene. »Ichspaltung« wird also im Kontext von Krankheitsphanomenen thematisiert, wobei auch Jaspers sich des Begriffs »Phanomenologie« bedient, urn sein Vorgehen, zumindest in bestimmter Hinsicht, zu charakterisieren. Konkret meint er damit: »Die Phanomenologie hat die Aufgabe, die seelischen Zustande, die die Kranken wirklich erleben, uns anschaulich zu vergegenwiirtigen, nach ihren Verwandtschaftsverhaltnissen zu betrachten, sie moglichst scharf zu begrenzen, zu unterscheiden und mit festen Terminis zu belegen.« (3I)93
»Phanomene« sind also soviel wie die »subjektiven Erscheinungen des kranken Seelenlebens« (so der Titel des I. Kap.) gegeniiber den »objektiven Symptomen und Leistungen des Seelenlebens« (Kap. 2), wofUr die »objektive Psychopathologie« zustandig ist. Die Ichspaltung wird im »phanomenologischen« ersten Kapitel behandelt, im Abschnitt iiber »Ichbewusstsein«. Das Anschauungsmaterial schapft Jaspers hauptsachlich yom oben diskutierten Buch Oesterreichs als auch vom franzasischen Psychopathologen Pierre Janet. 94 Gegeniiber dem normalen 1chbewusstsein, das durch 1chbewusstsein, Tatigkeitsgefuhl, 1dentitat und Einfachheit (vgl. 68) gekennzeichnet ist und was unter dem Oberbegriff»Personalisation« (69) fungiert, so kann man alle Zustande des 1ch, bei denen eines oder mehrere der genannten vier Kriterien fehlt, als »Depersonalisation« bezeichnen. Eine Form der Depersonalisation ist die 1chspaltung, die Jaspers genauer als »Verdoppelung der Persanlichkeit« (ebd.) versteht. Dies ist dann vorhanden, nur sparliche Lesespuren (Husserls?) auf. Vgl. auch die Korrcspondenz beider in: BW VI, 199Ferner hatte Husserl folgende Bucher Jaspers < in seinem Besitz: Descartes und die Philosoph ie, Berlin/ Leipzig 1937 (ohne Lesespuren); Philosophic, Bd. 1-3, Berlin 1932 (Bd. 1 weist wenige Lesespuren auf), Psychologic der Weltanschauungen, Berlin 1919 (mit Lesespuren, scheint ganz gelesen). 93 Interessanterweise thematisiert Jaspers hier sogleich das Problem, fremdes Seelenleben nie »direkt wahrnehmen zu konnen« (ebd.), sondern nur durch »Einftihlen, Anschauen, Verstehen« (ebd.), was auf die besondere Eihigkeit des Psychiaters, sich in das fremde Bewusstseinsleben einzuftihlen, verweist. Charakteristischerweise ist hierftir hilfreich, wenn nicht erforderlich: »Wer selbst erlebte, findet am ehesten die treffende Schilderung. Oer nur beobachtende Psychiater wurde sich vergebens zu formulieren bemiihen, was der kranke Mensch von seinen Erlebnissen sagen kann.« (ebd.) 94 Jaspers zitiert hauptsachlich Les Obsessions et la Psychasthenie, Paris 1908 (2. Aufl.); auch Oesterreich beruft sich wiederholt auf mehrere Werke Janets. 201.
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»wenn beide Reihen seelischer Vorgange gleichzeitig nebeneinander so entwickelt sind, dass man von Personlichkeiten reden kann, dass beide in eigenartiger Weise erleben, dass auf beiden Seiten Geftihlszusammenhange bestehen, die nicht mit denen der anderen Seite zusammenflieBen, vielmehr sich gegenseitig fremd gegeniiberstehen [... J«. (7 0 ) Hieran ist »merkwiirdig«: »Das eine Ich erlebt sich dappelt und ist doch eines, es lebt in beiden Geftihlszusammenhangen, die getrennt bleiben, und doch weij3 es von beiden. Die Tatsache der Verdoppelung ist nicht zu bestreiten.« (ebd.) Diesen Abschnitt zusammenfassend, betont Jaspers die bei all diesen psychotischen Storungsphanomenen drohende »Labilitat des Personlichkeitsbewusstseins« (72), das auch beim »Normalen« nicht fUr selbstverstandlich genommen werden darf, sondern ein instabiler, sich durch »Briiche« hindurch wiederherstellender Zustand ist. Ichspaltung ist somit eine bedrohliche, immer im Rahmen psychischer Moglichkeiten vorhandene Gefahr. Man kann sagen (ohne sich hier auf eine philosophische Diskussion dieser Ansatze einzulassen), dass die Schilderung dieser Phanomene im Rahmen von Psychopathologien mit Sicherheit fur Hussed wichtig gewesen ist fur seine eigene Lehre von der Ichspaltung. Dies wird in der Art, wie Husserl das Phanomen beschreibt, deutlich; seine Beschreibungen stimmen teilweise bis ins Detail mit den Beschreibungen bei Oesterreich und Jaspers iiberein. Seine eigene Lehre von der Ichspaltung kann also erst vor dem Hintergrund dieser Figuren, wenn nicht sachlich restlos verstandlich, so doch in ihrer Bedeutung bereichert werden. Aber auch die Provokanz von Husserls Ausfuhrungen leuchtet so erst ein, insofern er ein aus der Psychopathologie stammendes Phanomen fur die Reflexionsproblematik iibernimmt, die ein methodisch operativer Schritt ist innerhalb eines reflexionsphilosophischen Kontexts, der alles andere als »pathologisch« ist, sondern sich gerade fur jeden Schritt dieser Operation kritisch Rechenschaft ablegen muss. Auch wenn die phanomenologische Einstellung, wie Husserl immer wieder in verschiedenen Variationen betont, ein »hochst merkwiirdiger« Geisteszustand ist, so geht es in der methodologischen Reflexion doch darum, diese Zustandlichkeit theoretischreflexiv einzuholen. Andererseits kann man an der von Husserl durchaus ernst gemeinten Analogie zu diesen abnormalen, pathologischen Phanomenen ermessen, wie radikal und im wortlichen Sinne un-gewohnlich fur ihn der Anspruch des phanomenologischen Denkens und des sen Zustandlichkeit gegeniiber der der natiirlichen Einstellung gemeint ist. Bei aller scheinbar selbstverstandlichen Verwendung des Begriffs der Ichspaltung darf seine Radikalitat nicht unter den Tisch fallen.
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2.3. Radikale (phanomenologische) Rllexion und die
Etablierung des uninteressierten Zuschauers Die Aufgabe, aus der Situation der Reflexion eine eigene Einstellung zu machen, ist (wie gesagt) gleichbedeutend mit deJjenigen, dieser Reflexions-»Haltung« ein Horizontkorrelat zuzuweisen. Der gesuchte Horizont ist aber in der natiirlichen Reflexion nicht vollkommen unthematisiert (bzw. nicht als Horizont thematisiert) und ist von ihr schon in erster Naivitat erfasst, aber lediglich in einer »Schwundstufe«, namlich der des reinen, jedoch inhaltsleeren, reflexiv iterierbaren Ego cogito. Jedoch gilt fUr die radikale Reflexion gegeniiber der natiirlichen, dass sie keine ganzlich andere Gegenstandlichkeit haben kann, sondern die prinzipiell gleiche, wenn auch in einem universaleren Sinn. Phanomenologie ist im grundsatzlichen Sinn Selbstbesinnung, Introspektion. Die von ihr zu thematisierende Sphare ist die der transzendentalen Subjektivitat in ihrer universalen Dimension (als Intersubjektivitat). Der zuriickzulegende Weg kann auch so bezeichnet werden: Wie gelangt man yom reinen Reflexions-Ego zum transzendentalen Subjekt und von da zur transzendentalen Subjektivitat? Welcher Status kommt dabei dem reflektierenden Ego zu und ist es geradewegs mit der transzendentalen Subjektivitat zu identifizieren? Die Beantwortung dieser Fragen legt den Grund fUr die Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers. Radikalisierte Reflexion impliziert, wenn sie den Namen verdient, auch eine Reflexion auf das Reflexions-Ich selbst und solI als solche universale Selbstbefragung sein. Sofern die natiirliche Reflexion als Gegenstand nur eine einzelne Aktreihe hatte, eine einzelne cogitatio auf eine friihere cogitatio, hat demgegeniiber die radikale Reflexion den ichlichen Lebensstrom im Ganzen zum Thema. Hier stellt sich die Frage nach dem Umfang dieses Lebens. Der Grund, weshalb umgekehrt die Einzelreflexion in der natiirlichen Einstellung befangen bleibt, liegt in ihrem spezifischen »Uber« der jeweiligen Aktreihe. Weil sie sich lediglich sprunghiift iiber diese erhebt, bleibt sie hiermit noch in ihrer »Gravitationskraft«, d. h. noch auf dem Boden der natiirlichen Einstellung, weil sie den Grundmodus ihres intentionalen Lebens, das Interessenehmen mitmacht: »[I]m aIlgemeinen wird die Stellung des reflektierenden Ich, mag es sich in der Stellungnahme des Glaubens von dem reflektiv erfassten Ich getrennt haben oder (VIII, 95) nicht, doch an dem Sein des Gegenstandes [... ] interessierte (sein).«
Insofern Reflektieren eine Form des Urteilens ist, gilt: »Speziell als Urteilender bin ich auf Seinsgewissheit und Seinshabe und Vollkommenheit dieser Habe gerichtet, und in diesem Sinn bin ich als Aktsubjekt interessiert am Sein; und so bin ich es im aIlgemeinen noch in der Einstellung der Reflexion, und zwar als das Ich der Reflexion. « (VIII, 96)
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Um sieh radikal zu Ibsen von dieser Befangenheit im Interesseleben, muss das Reflexions-Ieh inhibieren, was alle Verhaltensweisen in jeweiligen Sondereinstellungen gemeinsam haben: Die Generalthesis der natiirliehen Einstellung vollziehend, sind sie so alle per diifinitionem »interessiert« am Sein. Die radikalisierte Reflexion inhibiert demgegeniiber alles Interesse am Sein. Erst die Haltung der vollkommenen Uninteressiertheit maeht aus der phanomenologisehen Deskription eine »Methode der universalen Riflexion«,95 und aus dieser Universalitat kann erst eine eigene Einstellung erwachsen. Im Sinne der aristotelisehen Bestimmung der Philosophie als »reinen Betraehtens«, als 'frEwQla,96 ist aueh Husserl an diesem Ideal orientiert, wobei dieses Betraehten sich einzig auf die methodiseh fixierte Introspektion bezieht. Der Weg ftihrt also ins Innere, um das Auj3en erst riehtig zu verstehen. 97 Oer Gegenstand dieser Reflexion, der der uninteressierten Einstellung korrelierend ein Horizont eigentiimlieher Erfahrung sein muss, wird erst so zum Thema. In der Abspaltung des radikal Reflektierenden von der natiirliehen Einstellung stellt sieh erneut die Frage naeh der Einheit des Ieh. Aueh in der radikalen Reflexion betont Husserl, dass das Ich »numerisch identisch dasselbe ist« (VIII, 412). Freilich spaltet sieh das Ieh nieht auf in zwei separate Identitaten; aueh bei der radikalen Reflexion muss eine »Deekungssynthesis« jederzeit mbglieh sein. Aber wie das Ieh nur in jeweils einem Bewusstseinsstrom fungiert, kann es sieh aueh nur in je einer Einstellung befinden, und die reflexive Einstellung kann keine dem naiv Seiendem hingegebene thematisehe Sondereinstellung in der »Horizontale« sein, weil die reflexive Einstellung auf diese Horizontalitat im Ganzen geriehtet ist. Als uninteressierte Einstellung maeht sie das Interessiertsein selbst zum Thema. Sie ist »interessiert« an der Interessiertheit - in einem modifizierten Sinn von (natiirliehem) Interesse. Die reflexive Einstellung hat somit thematiseh, was fUr die natiirliehe Einstellung nie thematisch wird: namlieh deren NatUrlichkeit selbst. Oas maeht sie zur ftir die natiirliehe Einstellung »unnatiirlichen« Einstellung. 98 Die sieh hier vollziehende Spaltung ist eine in zwei prinzipiell verschiedene Einstellungen. Damit wird der einheitliehe Bewusstseinsstrom nieht auseinandergerissen, aber doeh in seinem Verlaufsstil geandert: Der Strom flieBt sieh selbst stromaufwarts entgegen. Er
95 Landgrebe 1978, 32· 96 Vgl. Met. I, 2, 982 b 7ff. 97 An dies em Ideal des Zuschauers wurde, wie Landgrebe gezeigt hat, v. a. von Husser!s giittinger
Schiilern, sowie von anderen Phanomenologen Kritik geiibt. Sofern es dieser Heine Blick« ist, der hier im Kreuzfeuer der Kritik steht, »so liegt darin ein Angriff au] den Kerngedanken deT Phiinomen%gie Husser/s, und zwar auf denjenigen, der den Anspruch seiner Methode darauf, einen universalen Zugangsweg zu allen philosophischen Problemen zu verbiirgen, begriindet« (Landgrebe 1978, 32). 98 Vgl. VIII, 120 f., insbes. 121: »Es handelt sich also in der Tat urn eine ganz >unnatiirliche < Einstellung und eine ganz unnatiirliche Weltbetrachtung.« Ebd., 92, bezeichnet Husser! diese Einstellung als »Anomales«,
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tut in der phanomenologischen Reflexion das fur ihn Unnatiirlichste, er wendet sich gegen sich selbst. Die natiirliche Einstellung wurde als 1nbegriff der Einzeleinstellungen bezeichnet. Diese Gespaltenheit in einzeine Einstellungen ist keine radikale Spaltung, sofern das 1ch hier immer schon gespalten ist und in dieser Gespaitenheit gerade seine 1dentitat konstituiert, indem es sich qua Synthesis des Selbstbewusstseins ais 1dentitat all dieser Sondereinstellungen weij3. Die 1dentitat ist gerade als Deckungssynthesis ein immer wieder Herzustellendes. Diese Aufspaltung ist eine immer schon gelebte Gespaltenheit. Radikal wird SpaItung erst als aktive Ab-Spaltung von der in sich gespaitenen Einheit »der« natiirlichen Einstellung als singulare tantum. Es besteht also der Unterschied zwischen GespaItensein als deskriptivem Befund des immer schon vollzogenen Lebens in Aktivitat (»Sich-immerfort-in-tatigemVerhalten-spalten «) und radikaler lchspaltung ais Abspaltung von der in sich gespaltenen Einheit der natiirlichen Einstellung. 1st also GespaItenheit der natiirlichen Zustand und Reflexionsspaltung demgegeniiber bereits eine »Radikalitat«, wird diese IchspaItung erst universal vollzogen in einer Ab-SpaItung von der natiirlichen Einstellung im Ganzen, wodurch erst eine bleibende Habitualitat, oder, was das Gleiche besagt, eine Einstellung etabliert wird. Wie gelangt man nun von der Reflexionsiteration zur reflexiven Einstellung? Insofern diese eine Radikalisierung der natiirlichen Reflexion ist, muss es in der Iteration auch Anhaltspunkte fur ihre Radikalisierung geben: Die einzelnen Reflexions-»Spriinge« reichen bereits, um ihre Leistung unwissend, in den erst systematisch auszulegenden Bereich hinein. Die natiirliche Reflexion thematisiert das jeweilige intendierende Akt-Ich selbst, in der Wahrnehmung das Ich des Wahrnehmens etc. 99 Fiir das geradehin durchlebte Aktleben aber gilt: AIle Wahrnehmung ist relativ auf das wahrnehmende Ich. 100 Das war der Sinn von Husserls Frage nach dem apodiktischen Boden der Erkenntnis, derzufolge der Satz »die Welt ist« als Korrelat der Generalthesis der Klammer verfallen muss. 101 Die Suche nach einem »archimedischen Punkt« (VIII, 69) eines apodiktisch gewissen Erkenntnisbodens ist hier noch durchaus cartesisch motiviert. Das »Ich nehme wahr« kann wiederum thematisiert werden im reflexiven Akt »Ich denke, dass ich wahrnehme ... «, welches wiederum iteriert werden kann in infinitum. Auch wenn diese Iteration nichts inhaltlich Neues hinzubringt, zeigt sich hier doch, dass ein» Undurchstreichbares« ver-
99 Vgl. VIII, 78f.: "Jeder reife und wache Mensch findet sich selbst als Menschen mit Menschen-Ich und menschlichem Seelenleben vor, er iibt natiirliche Selbsterfahrungin der natiirlichen Reflcxion, die er so oft vollzieht, als er sagt: Ich nehme wahr, erinnere mich, ich habe Gefallen an dem und jenem, ich begehre, ich will u. dgl. « roo Vgl. VIII, 408 (Beilage xv: Alles Sein setzt Subjektivitat voraus). ror Vgl. VIII, 68, sowie 37. Vorlesung, 69ff. Die Moglichkeit des Nichtseins der Welt schlieBt nicht aus, sondern fordert gerade, dass sie sich immer wieder bewahren muss. Vgl. hierzu Mertens 224: »Gegeniiber der Moglichkeit seiner [des Sejns der Welt] Auflosung in ein chaotisches Gewiihl ist der Horizont der Welt grundsatzlich zu bewahren.« S. ebenso ebd., 224ff.
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bleibt, das Ich selbst, das die Eihigkeit des Immer-wieder der Reflexion hat. Was so als Undurchstreichbares verbleibt und somit nicht der Epoche verfallt, ist das reine cogito, das als Ich-denke »alle meine Vorstellungen muss begleiten konnen«. Aber die apodiktische Kritik ist hier nicht das Entscheidende. Obschon die Iteration nicht selbst iiber die natiirliche Einstellung hinaustreibt, so ist das dabei undurchstreichbare cogito ein transzendentaies Subjekt, »weil ich ais Subjekt der gesamten Weiterkenntnis nicht zur erkannten Welt gehore« (VIII, 75). Befindet sich natiirliche Reflexion »iiber« dem natiirlichen Lebensstrom, so setzt sie ihn fur die Dauer dieser Reflexion auBer Kraft. In diesem Sinne iibt bereits die natiirliche Reflexion eine Art von Epoche. Aber was das iterativ reflektierende Ego thematisiert, ist nur eine singulare Aktreihe. Die Welthabe des natiirlich eingestellten Ich (mit dem universalen Korrelat )) Welt«) bleibt flir den natiirlich Reftektierenden noch in Geltung; er verfolgt noch ein weltliches Interesse und vollzieht damit noch die Generalthesis mit. Die Epoche ist unvollstandig, weil sie das Interesseleben selbst nicht aufgibt. Uberhaupt ist hier die Metapher von der Klammer mit ihrer Bildlichkeit von Ein- und Ausklammern unzureichend, urn die Epoche zu begreifen, als was sie sein solI: die Eroffnung eines neuen Horizonts flir die reflexive Einstellung. Mit dies em Schritt aber ist man bereits iiber die cartesianische Forderung einer apodiktischen Erkenntnissphare hinausgegangen. Die radikalisierte Reftexion kann nicht anders als in der Weise vollzogen werden, dass die Epoche universal wird und das ganze welthabende subjektive Aktleben thematisiert, das als transzendentales nicht mehr weltlich ist. In den thematischen Blick muss also das Ganze der mundanen Eifahrung des erfahrenden cogito kommen: ))Die mundane Erfahrung und ihre Leistung, ein fUr mich subjektiv und bleibend geltendes Feld, ein offen unendliches raum-zeitliches Feld seiender und miteinander real in Bezug stehender Realitaten zu schaffen, schafft mir damit ein standig bereites Urteilsfeld und Feld moglicher pradikativer Erkenntnis bzw. Feld eines )in infinitum< moglichen Wahrheitsstrebens.« (VIII,415)
WeiB die natiirliche Reflexion nichts von einem transzendentalen Subjekt, insofern sie noch nicht die Iterabilitat ais Undurchstreichharkeit des fungierenden Ich erkannt hat, besteht die erste Aufgabe der phanomenologischen Analyse darin, dieses cogito systematisch in seinen Wesensstrukturen auszulegen. Das jeweilige eigene Subjekt ist dabei ein ))gleichgiiltiges Ausgangsexempek 102 Die natiirliche Reflexion handelt von faktischen (vergangenen, kiinftigen, fiktiven) Bewusstseinsstrukturen, die phanomenologische hingegen von eidetischen, die aber als solche nicht Strukturen der faktischen, weltzugehorigen, sondern weltkonstituierenden, transzendentalen Subjektivitat sind. 1st dieses cogito ))Bedingung der Moglichkeit« aller Erfahrung, so ist es in seiner universalen Welthabe mehr als ein bloB formal bestimmtes Apriori, son102
Landgrebe 1978, 34.
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KAPITEL 2
dem enthalt als welthabendes Ego auch deren Korrelat: Es ist ein materiales Apriori und als solches ein genuines Erfahrungsfeld, ein Feld transzendentaler Eifahrung. 103 1st das Horizontkorrelat der natiirlichen Einstellung die Welt, so ist dasjenige der transzendentalen Einstellung die Welthabe des transzendentalen Subjekts. Dies ist das universale Thema der Phanomenologie aIs eidetischer Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivitat. Wird die Welt zum Phanomen fur ein cogito, eroffnet sich gleichzeitig die gesamte Welthabe dieses cogito, das universale cogitatum jeder moglichen cogitatio. Diese Welthabe aufzukIaren ist Aufgabe der transzendentalen Konstitutionstheorie. Die AufkIarung dieses Konstitutionsprozesses aber vollzieht sich durch den I) transzendentalen Zuschauer« als Vollzugs-Ich dieser Einstellung, der die eigene Welthabe in rtfiexiver Einstellung thematisiert. Nur durch dieses Etablieren des Zuschauers kann sich das transzendentale Leben als Horizont, der notwendig Horizont-fur einen Betrachter ist, eroffnen. Die phanomenologische Ref1exion thematisiert ihr eigenes, gesamtes Bewusstseinsleben, indem die Ref1exion eine eigene Einstellung eines »Ich« ist. Sofem sich die Ref1exion zur eigenen Einstellung mit ihrem Horizontkorrelat, das »sie selbst« ist, ausbildet, kann man auch sagen, der uninteressierte Zuschauer konstituiert sich selbst, indem das Ich die in ihm angelegte (latente) Vermoglichkeit, Phanomenologe zu sein, ergreift: 104 »Statt als reflektierendes Ich an einzelnen Akten und Aktzusammenhangen die beschriebene Reduktion auszuftihren, und in Richtung auf das, was jeder dieser Akte als einzelner als geltend setzt, konstituiere ich mich selbst als transzendentalphanomenologisches Ich, und zwar in Form des Subjekts, das transzendental-phanomenologische Reduktion iibt und zunachst seine eigene transzendentale Subjektivitat zum offen endlosen Feld seiner phanomenologischen Erfahrung und Forschung iiberhaupt macht. [ ... ] Ich werde zu diesem transzendentalen Betrachter und meine epoche selbst wird zur transzendentalen, dadurch dass sie [ ... ] universal umspannend und radikal ist [ ... ].« (VIII, 128 f.)
In dieser Radikalisierung der Epoche vollzieht sich »eme gewisse Erweiterung der epoche [ ... , zu einer] weiter reichenden [... J, als wir sie auf dem cartesianischem Weg zunachst gewonnen haben«. (VIII, 129) Durch sie wird die gesamte Welthabe zum Phanomen des Ref1ektierenden. Dem Welthorizont korreliert eine ebenso horizonthafte Offenheit des Ich, das sich potentialiter allem im Horizont »Seienden« thematisch zuwenden kann. Sofem das ref1ektierende Ich genau dies en Offenheitshorizont der naturlichen Einstellung thematisch macht - also das schlechthin
103 Zu Husserls Konzept der •• transzendentalen Erfahrung« vgl. Trappe 1996. 104 Fink wird in diesern Zusarnrnenhang auch von einern Sich-selbst-Hervorbringen oder einer
»Selbst-Produktion« des Zuschauers sprechen. Diese Forrnulierung ist aus Husserls Sicht schief. Das Zuschauer-Werden ist irn Ich dispositionell angelegt, ahnlich wie die Fahigkeit zur Sprache und zurn logischen Denken.
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Unthematische thematisiert -, ist der Horizont gefunden, der aus der Reflexionssituation eine Einstellung macht. Dieser Horizont kann fur die natiirliche Einstellung nie als Horizont thematisch werden, weil sie eben fur sich Einstellung und gerade nicht Horizont ist. Die transzendentale Einstellung vollbringt genau dieses »Unnatiirliche«, die natiirliche Einstellung selbst zum HorizontJur sich zu machen, d. i. sich dem zuzuwenden, welches sich immer nur anderem zuwendend verhalten kann. Gehort es zur natiirlichen Einstellung, jeweils bestimmtes Interesseleben zu haben, so ist die Epoche nun universale Interesseninhibierung, die den Zuschauer zum Vorschein bringt. 105 Wahrend die Darstellung der Epoche in den Ideen I den Eindruck erweckte, man konne mit einem Sprung ein punktuelles Ich als weltloses »Residuum« erreichen, von dem aus die transzendentale Betrachtungsweise beginnt, zeigt die neue Darstellung, dass der Gegenstand der thematischen Befragung die universale Welthabe natiirlicher Einstellung in ihrem Zustandekommen in transzendentalen Leistungen und kein bloB formal bestimmbares transzendentales Subjekt ist. Ferner, ist die natiirliche Einstellung nicht die eines solipsistischen Ego, sondern in seinem weitesten Horizont einer geschichtlichen Menschheit, lasst sich ahnen, inwieweit dieser Begriff des Transzendentalen iiber den traditionellen Begriff hinausgeht. Der thematische Horizont des uninteressierten Zuschauers ist nichts anderes als das transzendentale Monadenall. Die Sphare der transzendentalen Subjektivitat erweist sich als transzendentale Intersubjektivitat in ihrer historischen Dimension. 106 Die durch radikale Reflexion ermoglichte phanomenologische Reduktion ist kein Wegstreichen, sondem im Gegenteil eine, Faktisches aufTranszendentales riick-ftihrende, Eroffnung des universalen Horizonts transzendentalen Lebens. Hierbei geht es nicht primar urn apodiktische Evidenz des ego cogito, sondem urn die yom Zuschauer schrittweise zu enthiillende Absolutheit des transzendentalen Lebens. 107 Das Enthiillen vollzieht sich schrittweise deshalb, weil der Umfang des transzendentalen Lebens we iter als die eigene Subjektivitat ist:
IOS
Vgl. VIII, 92: »[I]ch kann mich auch in meiner Freiheit dies em natiirlichen Mitglauben der [natiir!ichen, sc.] Reflexion versagen. Ich kann es so tun, dass ich mich rein verhalte als ein an dem Dasein und Sosein des wahrgenommenen Hauses und an dem Dasein der Welt iiberhaupt uninteressierter
Zuschauer. « I06 Die Einbeziehung der Intersubjektivitat ist somit kein Anhangsel an die Konstitutionstheorie, sondern hat den Zweck, »die konstitutionstheoretischen Analysen zu vollenden. Eine Vollendung, die eben in der Einsicht gipfelt, dass die intersubjektiv-transzendentale Sozialitat der Boden ist, auf demalleWahrheitundalIeswahrhafteSeinihreintentionaleQueliehaben«(ZahaviI996.I I). ZU einem Vergleich Leibnizens und Husser!s beziiglich des Gedankens der »Monade« vgl. auch Mertens 2000. I07 Zum »Absoluten« im transzendentalphilosophischen Sinne vgl. Landgrebe I978, 7I: »Dass das Absolute nicht in einer )Hinterwelt ( an sich seiender Substanzen gesucht werden darf, nicht auBerhalb der Subjektivitat, das ist eine Feststellung, von der seit dem Idealismus nicht wieder abgegangen werden darf. « Zu einer AufEicherung der Bedeutungen des Absoluten bei Husser! vgl. Boehm I959.
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KAPITEL 2 » Denn nicht nur ich, der ich Subjekt des phanomenologischen Reduzierens bin, gewinne auf dies em Wege mich selbst als transzendentales Ich - ich gewinne, auch die fremde Subjektivitat in die Methode einbeziehend, die transzendentale Intersubjektivitiit oder, wie wir auch sagen konnen, das transzendentale Ichall, als transzendentale Gemeinschaft transzendental gefasster Einzeliche.«
(VIII, 129)
Was bedeutet dies fUr den uninteressierten Zuschauer? Seine Einstellung ist ebenso wie die natiirliche eine Universaleinstellung, mit dem Unterschied, dass sie thematisiert, was fur die natiirliche Einstellung prinzipiell unthematisch ist. Gegeniiber der Gespaltenheit der verschiedenen Interessenrichtungen ist die Einstellung des unbeteiligten Zuschauers eine radikale Spaltung, weil sie eine eigene, uninteressierte Einstellung des konsequenten Nicht-Beteiligtseins etabliert, welches gerade als habituelle Erkenntnishaltung fUr das natiirliche Leben das Unnatiirliche schlechthin ist. »Also im konsequenten Vollzug der phanomenologischen Reduktion verbleibt uns noetisch das offen endlose reine Bewusstseinsleben und auf seiten seines noematischen Korrelats die vermeinte Welt rein als solche. So kann das phanomenologisch meditierende Ich nicht nur in Einzelheiten, sondern in Universalitiit unbeteiligter Zuschauer seiner selbst werden, und darin beschlossen aller Objektivitat, die fUr es ist, und so wie sie fUr es ist.« (1,75, Kurs. erg.) Der Zuschauer ist ein Betrachter seiner selbst, d. i. seiner eigenen transzendentalen Leistungen. Die Analyserichtung geht aber vom Gegebenen ausgehend rUckfragend in die konstitutivcn Schichten: »Ein erstes theoretisches Eindringen - sozusagen in die Intimitaten der phanomenologisch rein en Subjektivitat - kann nicht anders als sehr schwierig sein, und gerade weil es sich urn das aktuell gelebte Leben handelt, in seinem Fiirsichsein und Insichsem.« (VIII, 120) Da die transzendentale Subjektivitat nichts anderes als das natiirliche Ich selbst in seinem fur sich anonymen Leisten (der natiirlichen Einstellung) ist, wird sie zuganglich als das zunachst auf sich selbst reduzierte Ego, dieses aber verstanden als bereits konstituiert und lebend im Modus der natiirlichen Einstellung. »Ich als natiirlich eingestelltes Ich bin auch und immer transzendentales Ich, aber ich weiB darum erst durch Vollzug der phanomenologischen Reduktion.« (1, 76) 1m gleichen Mafie aber, wie sich diese Erfahrungssphare dem Zuschauer erst schrittweise eroffnet, kann sich auch der Zuschauer nur schrittweise etablieren. Die Etablierung aber wird erst durch die Epoche von der natiirlichen Einstellung im Ganzen »urgestiftet«. Das Erste in der Etablierung ist also nicht die Habitualisierung der reflexiven Einstellung in der Art, wie sich der positive Wissenschaftler an seine eigentiimliche Erkenntnishaltung gewohnt. Vielmehr ist das Entscheidende die radikale Eroffnung der transzenden-
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talen Sphare als Sphare von Eifahrung, als Horizont, von dessen »Regionen« man zunachst nichts weiB. Es ist dies das Radikale der phanomenologischen Reduktion, dass sie den Zuschauer »mitreiBt« in eine Sphare, die fremd und doch von wesenhaft gleicher Gestalt als er selbst ist. Gegeniiber aller normalen Einstellung, die sich durch Habitualisierung erst bildet, ist der Fall hier umgekehrt. Die Etablierung der Reflexion als eigener Einstellung mit einem Horizontkorrelat durch Ichspaltung ist die Bedingung der Moglichkeit fur die Habitualisierung, im Laufe derer das zuschauende Ich mehr und mehr von dieser Sphare erkennt, urn schlieBlich die Sphare der transzendentalen Subjektivitat iiber die eigene Subjektivitat zu erweitern.108 So »erarbeitet« sich die Phanomenologie ihre eigene Welt: eine »phanomenologische Erfahrungswelt, die in phanomenologischer Einstellung frei iiberschaubare und in ihrer Typik wohlvertraute Welt der phanomenologischen Subjektivitat« (VIII, 123). Dadurch wird die erstmals in cartesischem Geist geiibte »naive« zur ))systematische[n] Epoche« (ebd.). So schafft sich der transzendentale Zuschauer eine ))absolute« Position, die keinc Absolutheit einer gottlichen Intelligenz oder ein ))view from nowhere« ist, sondern ))absolut« ist derart, dass sie, indem sie ))alIe moglichen Einstellungen vollzogen« (Dok. nil, 126, Anm. 396) hat, die Relativitaten der Sondereinstellungen als Relativitaten durchschaut hat. Sofern sich der uninteressierte Zuschauer als reiner Betrachter etabliert, kann er eigentlich nicht ))uninteressiert« genannt werden; denn er ist ja eminent ))interessiert« daran, das verborgene transzendentale Leben zu erhellen. Er ist kein ))weltfremder Theoretiker«, sondern in universaler Neugier interessiert an dem, ))was ihn nichts angeht«109 - ))Angehen« im Sinne eines praktischen Zweckes innerhalb eines Zweckzusammenhangs. Die Art des Interesses des Zuschauers ist verschieden von allem ))natiirlichen« Interesse; es ist ein ))feines ro8 Vgl. auch folgendes Zitat (wohl von urn 1929): »Auch als in der Menschlichkeit lebendes Ich habe ich jeweils ein Reich des Anonymen, aber es ist immer schon in meincm Welthorizont implicite einbegriffen innerhalb seiner Form der iterativen Reflexion unter psychischer Realisierung. Die Anonymitat meines absoluten, des transzendentalen Seins ist aber cine ganz andere. Dureh die transzendentale Epoche erfahre und erkenne ieh mein absolutes Sein, zudem alles, was fur mich als Weltall ist, bloB relativ is!. Ich erkenne, dass mein Sein als Mensch und Sein als In-der-Welt-Sein, in die Welt erfahrende, denkende, wertende, handelnde Hineinleben eine besondere Weise meines absoluten Seins und Lebens ist, die Weise konsequent weltlieh Seiendes in meinen Apperzeptionen zur Geltung (zu) bringen, von diesem fur mich Seienden mieh affizieren und zu mannigfachen Tatigkeiten bestimmen (zu) lassen und dabei mich selbst und mein leistendes Leben selbst in gewisser, psyehiseher Weise zu apperzipieren und so als Psychisches in Seinsgeltung (zu) haben und halten.« (B II 4/82). I09 Vgl. XXXIV, 260, vom Mai 1931: »)Es gehoren besondere Motive dazu, urn theoretisehe Einstellung moglich zu machen, und gegeniiber Heidegger will es mir seheinen, dass ein urspriingliches Motiv liege, fUr Wissenschaft wie fur Kunst, in def Notwendigkeit des Spieles und speziell in der Motivation einer spieler is chen, d. i. nieht aus Lebensnotdurft, nicht aus Beruf, aus Zweckzusammenhang der Selbsterhaltung entspringenden )theoretisehen Neugier<. die sieh die Dinge ansehen, sie kennen lernen will, Dinge, die sie niehts angehen. Und nieht )defiziente< Praxis soil hier vorliegen.«
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Interesse am subjektiven Sein« (VIII, lOS). Der uninteressierte Zuschauer ist als am Sein uninteressierter an der Konstitution des Seins der Dinge nicht beteiligt, sofern die Art des Interesses an der Konstitution des Dings (als etwas) Teil hat; wohl aber ist er an seinem konstitutiven Zustandekommen interessiert. Der adaquate Name fUr den Zuschauer ist somit unbeteiligter Zuschauer, sofern er an der Konstitution des Seins der Dinge nicht beteiligt ist. Hingegen in der transzendentalen Forschung ist der Zuschauer ftir sich zunachst wiederum nicht thematisch; auch er forscht gewissermaBen naiv, urn sich selbst »vergessen«, und wird erst durch weitere reflexive Schritte ftir sich thematisch. Nach der Reduktion weiB der Zuschauer eigentlich noch gar nicht, »wo« er steht und was ihn als solchen ausmacht; so ist auch die Phanomenologie in ihrer ersten Form »naiv«. Fur die Analyse seines eigenen Tuns ist eine hoherstufige Reflexion auf dieses erforderlich.
2.4. Die Naivitat des Zuschauers als Forschungshaltung. Der Zuschauer als »unbewaltigter Rest« der Reduktion und die Forderung einer transzendentalen Selbstkritik Es wurde der Weg in die Phanomenologie als Abspaltung von der naturlichen Einstellung in radikaler Reflexion dargestellt. Hierbei ging es urn die Etablierung einer eigenen, reflexiven Habitualitat, die als Thematisierung der weltkonstituierenden Leistung der transzendentalen Subjektivitat eine transzendentale bzw. phanomenologische Einstellung genannt werden kann, sofern sie die das transzendentale Leben als Forschungs-Feld zum Thema hat bzw. macht. Erst die Etablierung des unbeteiligten Zuschauers ist die konsequent vollzogene Ichspaltung als »vertikale« Abspaltung von der naturlichen Einstellung. Hierbei zeigt sich, dass das thematische Forschen des transzendentalen Zuschauers seinerseits mit einer gewissen Naivitat behaftet ist, da es als thematisierend selbst ftir sich unthematisch ist. Weshalb ist das am Anfang der phanomenologischen Forschung »notwendig«? Nach der Epoche weiB der Zuschauer zunachst weder, »wo« er sich befindet, noch, welchen Status er selbst hat. Husser! gebraucht hierftir ein einpragsames Bild: »In Bezug auf die Welten
der reinen Subjektivitat, d. i. aber in Bezug auf unser reines ursprungliches Leben, durch das alles naturliche Sein und Gelten seine Selbstverstandlichkeit hat, sind wir zu Anfang in einer ahnIichen Lage wie der Blindgeborene, dem der Star gestochen ist, und cler nun regelrecht anfangen muss, sehen zu ler(VIII, 122) nen.«
Dieses Sehen erwachst mit dem schrittweisen Kennenlernen der transzendentalen Sphare. Das sich bildende Auskennen hat in seinem Horizont potentiell alles darin »Vorfindliche« und d. h. auch a fortiori das Sich-selbst-Erkennen, vorgezeichnet, sofern das transzendentale Feld und das forschende Ich prinzipiell von gleicher »Seinsart« sind. Es ist also im Sinne der systematischen Vollstandigkeit
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und Abgeschlossenheit der transzendentalen Forschung vorgezeichnet, dass das Forscher-Ich sich selbst zum Thema wird, d. h. dass der Zuschauer dahin gelangt, eine gegeniiber seinem »llormalen« Forschen hoherstufige Selbstkritik durchzuftihren. Doch muss zunachst die Forderung nach einer eigenen Analyse dieser »phanomenologisierenden Einstellung« motiviert werden. Die Aufgabe der Analyse des unbeteiligten Zuschauers soll in einer ersten Bestimmung angezeigt werden, damit die Forderung nach einer radikalisierten phanomenologischen Selbstkritik in Richtung auf eine »Phanomenologie der Phanomenologie« einleuchten kann. Was bedeutet die Aufgabe einer eigenen Untersuchung dieses unbeteiligten Zuschauers? Was gibt es hier zu untersuchen? 1st, und inwiefern ist sein »Sein« iiberhaupt ein Tun? Sein »Sein« wurde gerade als »Zuschauen« dem »Tun« des natiirlich eingestellten Menschen gegeniibergestellt. Es stellt sich also die Frage nach der »Seinsweise« und der Art des Fungierens des Zuschauers. Abgesehen von der konstitutionstheoretischen Bedeutung von Interesse hat die Interesseinhibierung auch einen konkreten Sinn, der ftir jeden Wissenschaftler gilt: Epoche ist generell auch als Unterdriickung des bloB meinungshaften Dahinlebens zu verstehen, als das abwagende Sich-Versagen j eglicher voreiliger Stellungnahme zum Erforschten. In dies em Sinne ist ein solcher »distanzierter Zuschauer« schon in der natiirlichen Einstellung eine sinnvolle Haltung: Der Besonnene wird sich erst, z. B. bei einer Meinungsverschiedenheit, alle Meinungen anhoren, abwagen und dann seine Entscheidung fallen.110 Die phanomenologische Epoche hat ihre Basis in der A1ltagsklugheit, dem common sense (bzw. der CPQ6VT]OL~). Aber dies ist auch nicht mehr als eine »Protoform«. Zwar ist fUr den Zuschauer das Motiv, radikale Epoche zu iiben, in gewisser Weise parallel: Er will die Sache vorurteilsfrei in den Blick bekommen, und urn das zu tun, desengagiert er sich yom meinungshciften Umgang mit dem Seienden, urn es so erst richtig zu verstehen. Aber wahrend ftir den klugen Beobachter das Ziel seines beobachtenden Zuschauens gerade die rechte Meinungsbi/dung ist, die als Meinung wieder relativ auf bestimmte Situationen (wenn auch groBerer Allgemeinheit) ist, gilt es ftir den unbeteiligten Zuschauer, absolute Einsicht zu erlangen; sein Ziel ist absolute, irrelative Wahrheit. Das philosophische Verstehen ist keine M~a, sondern eben btLo't~!!T] als absolute (irrelative) Wahrheit gegeniiber einer relativen Situationswahrheit. Die philosophische Haltung hat es an sich, nicht nur Einzelnes, sondern ))das Ganze« in universalem Umgriff verstehen zu wollen. Daher ist der phanomenologische Erkenntnisanspruch gegeniiber der immer nur partikularen Alltagsklugheit universal, urn das Ganze, den gesamten Welthorizont, unter einem methodischen Maxime - als konstituiert durch die transzendentale Subjektivitat - in den Blick zu bekommen. Erst in dieser konsequenten Haltung des unbeteiligten Zuschauens kann die natiirliche Einstellung des meinungshaften Lebens durchschaut und d. h. verstanden werden. Ein Durchhellen der natiirlichen
I IO
Dieses Beispiel stammt von Husserl selbst, vgl. Cairns,
12.
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KAPITEL 2
Einstellung, deren Charaktermerkmal es ist, Stellungnahmen zu vollziehen, d. i. Meinungen zu haben, kann nicht selbst wieder eine »hohere Meinung« sein, sondem muss ein Verstandnis ermoglichen, das aIle Meinungen umgreift. Insofem ist der Anspruch des phanomenologischen Zuschauers fUr Husserl eine Instantiierung der Idee philosophischen Forschens. Es gehort zur Idee der Philosophie, allgemeine, universale, von allen situationshaften Meinungen unabhangige Wahrheiten zu suchen. Meinungen und Stellungnahmen in natiirlicher Einstellung sind jedoch notwendig; die natiirliche Einstellung ist im positiven Sinn naiv. Damit ist »positive Naivitat« eine Bestimmung, die der natiirlichen Einstellung von der Warte des unbeteiligten Zuschauers aus erteilt wird. Aber man kann die umgekehrte Perspektive einnehmen und fragen: Wie stellt sich der unbeteiligte Zuschauer von der Warte der naturlichen Einstellung aus dar? Der Zuschauer, sich in der Haltung universaler Epoche befindend, versagt seine Meinung zu allem, er hat keine Meinung - seine »Erkenntnisse« haben keinen »doxischen« Charakter. Aus der Perspektive der natiirlichen Einstellung aber ist ein Mensch ohne Meinung h<1fnungslos naiv. Bereits die methodische Haltung, jede Meinung zu priifen und zunachst als gleichberechtigt neben anderen zuzulassen, ware fUr den natiirlich Eingestellten vollkommen naiv. Ein Mensch ohne Meinungen ist noch weniger als »dumm«, er ist gewissermaBen ein »Mann ohne Eigenschaften«, der aus dem gewohnlichen Spektrum von toricht iiber klug bis intelligent im Ganzen herausfallt. Der unbeteiligte Zuschauer muss also aus der Perspektive des natiirlich Eingestell ten als naiv bezeichnet werden. Ein Mensch ohne Meinungen ist gleich einem Kind, das noch keine feste SteHung in der Welt gefasst hat. Fiir den Zuschauer aber gilt: Er durchschaut die Meinungen der natiirlichen Einstellung und erkennt ihre jeweilig relativen Interessen. Da er erkannt hat, dass die natiirliche Einstellung im Stellungnahme- und Meinung-Vollziehen besteht, erhebt er gerade die Naivitiit der Meinungslosigkeit zu Bewusstheit; und doch ist seine Naivitat grundsatzlich von deljenigen der natiirlichen Einstellung verschieden: Wahrend diese darin besteht, von sich nichts zu wissen, verlegt sich der unbeteiligte Zuschauer gerade absichtlich in eine meinungslose Naivitat, um erst 50 in die Per5pektive eines unverstellten Sehen5 zu kommen. Er begibt sich also in eine »uneigentliche« (kiinstliche) Naivitat, urn die »eigentliche« Naivitat zu durchbrechen. Dass seine Einstellung von der naturlichen Einstellung aU5 als Naivitat angesehen wird, spricht gerade fUr ihre radikale Andersartigkeit. Doch bleibt er trotz seiner »kritischen« Haltung in bestimmter Hinsicht auch in der positiven Bedeutung von Naivitat naiv: Er nimmt in transzendentaler Einstellung alles hin, wie und als was es sich ihm gibt (aber nur in den Grenzen, in denen es sich gibt). Der Zuschauer ist ebenfalls seinen »Sachen« »geradehin« hingegeben. Die Naivitat des Zuschauers ist eine absichtliche, methodisch riflektierte Naivitat als bewusste Forschungshaltung, die sich ganz den »Sachen selbst« widmet. Diese Art von Naivitat daif er nicht iiberwinden, wenn er unbeteiligter Zuschauer bleiben will; sie ist gerade die Auszeichnung der Phanomenologie. »Naivitat« heiBt
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hier so viel als »frei von Scheuklappen«. 1m Anfang muss der Phanomenologe so naiv wie moglich sein, urn diese Naivitat ihrerseits spater wiederm reflektiv einzuholenY 1 Doch gibt es auch beim phanomenologischen Zuschauer eine negative Form von Naivitat, die ihrerseits iiberwunden werden muss: die Naivitat im Sinne eines beschrankten, unvollstiindigen Wissens urn sich selbst. Es zeigt sich, dass die Naivitat des Zuschauers nicht nur aus der Perspektive der natiirlichen Einstellung begriindet ist, sondern von ihm selbst her, sofern er noch - wie der mundane Wissenschaftler - an dieser negativen Naivitat haften bleibt. Dies kam in der erst en Reduktion auf das transzendentale Leben zutage; denn die erste Darstellung der Reduktion war fur Husser! in der Retrospektive naiv, und zwar »apodiktisch naiv« (vgl. I, 178), insofern sie zwar in einer ersten Radikalitat den transzendentalen ForschungsBereich eroffnete und auch erforschte, ohne ihn aber wiederum selbstkritisch zu reflektieren; die Naivitat bestand gerade darin, das zu tun, was der "pure Phanomenologe« tun muss: das Gegebene schlicht hinzunehmen, als wie es sich gibt, zunachst ohne diese Tatsache selbst kritisch zu hinterfragen. Diese Naivitat des erst en Anfangs der Forschung ist notwendig, da zunachst eine erste "Ahnung« des Transzendentalen eroffnet werden musste; diese erste Forschung kann nicht anders, als um die auf den zweiten Blick auftauchenden Probleme unbekiimmert zu sein. Sofern der Zuschauer seinerseits in seiner Forschung eine naive Hingegebenheit an seine "Sache« hat, setzt sich die negative Art von Naivitat fort in der Gestalt der "transzendentalen Naivitat«.112 Diese betrifft die noch offene Frage nach diesem Zuschauer selbst hinsichtlich seiner Erkenntnisweise; sie ist der entscheidende Schritt zur
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V gl. auch folgendes Zitat von 1926: » Der prinzipielle Sinn der transzendentalen Epoche und Reduktion ist immer derselbe, und doch hat die Epoch£: im Beginn der Phanomenologie einen andcrcn Charakter als nach ihrer Ausbildung der allgemeinen Strukturlehre von der objektiven Vernunft und transzendentalen Konstitution des Transzendenten als Welt. Wesensma13ig dazugehort, dass im Anfang der Phanomenologie die im phanomenologisierenden Subjekt stattfindende Ichspaltung den Charakter hat einer Spaltung in unteres natiirlich eingestelltes und eingestellt bleibendes Ich und oberes in der Epoche und im rein subjektiven Forschen lebendes Ich. Aber naehdem wir fortschreitend die Lehre von der Konstitution ausgebildet haben, haben wir zwar noeh die Ichspaltung; aber als unteres Ich nicht mehr ein natiirliehes Ich in natiirlich thematischer Einstellung; oder wir haben es nur als vergangenes natiirliches Ich. Vielmehr nach der Erkenntnis der transzendentalen Idealitat der Welt ist die natiirlichc Einstellung oder korrelativ die naive Verabsolutierung der Welt (die aus der Unwissenheit der transzendentalen Relativitat der Welt und evtl. wissensehaftlich aus ihrem Missverstandnis) endgiiltig aufgegeben, und wenn ich geradehin iiber Weltliches urteile, und mich wie immer theoretisch und praktisch in der Welt betatige, hat die Welt aufgehort fur mieh absolut zu ge1ten und absolut thematische Sphare zu sein. Nur dass ich dann doch die Aufgaben der konkreten Enthiillung der transzendentalen Seite alIer geraden Feststellungen habe, da ich zwar in unbestimmt allgemeiner Weise schon wei13. dass sie da sein muss oder vielmehr dass sie in jeder au13engewendeten Erfahrung und hoheren Thematik ihre Rolle spielt als Stiick meines verborgenen Lebens - aber sie eben erst enthiillen muss. « (XXXIV. 59£.) Vgl. hierzu die Einleitung, oben. 4ff.; s. auch FTL, XVII, 270. Vgl. ebenso VI. eM, 5.
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phanomenologischen Selbstkritik als Teil der phanomenologischen Systematik. Die dem Zuschauer eigene Naivitat des Sich-selbst-nicht-vollstandig-Durchsichtigseins muss iiberwunden werden, was aber nur wieder durch ihn selbst moglich ist. Der unbeteiligte Zuschauer ist selbst wieder einer Selbstkritik zu unterziehen, urn die letzten, unerkannten »Reste« der Naivitat »auszutreiben«. Ohne diese Selbstkritik bliebe auch der die Naivitat der naturlichen Einstellung iiberwindende Zuschauer letztlich naiv. 1st die selbstgesetzte Aufgabe der Phanomenologie, das transzendentale Seinsall zu erforschen, so ist die Kehrseite dieser Aufgabe die (evtl. im Unendlichen liegende) Eliminierung der Naivitat aufSeiten des Forschenden. Die hoherstufige Kritik der transzendentalen Erfahrung zieht in Konsequenz eine methodologische Besinnung beziiglich des gesamten Projektes der Phanomenologie in Form einer Selbstkritik des Zuschauers nach sich, die zum vorlaufigen Ergebnis kommt, dass der unbeteiligte Zuschauer selbst ein »unbewaltigter Rest«113 der Reduktion ist. Wahrend die thematische Uberwindung der Naivitat in einer Kritik am naiv erofineten transzendentalen Forschungshorizont besteht, also in einer Kritik an der nur unzureichend thematisierten Sphare selbst, sofern sie noch nicht hinsichtlich ihrer universalen intersubjektiven Dimension thematisiert wurde, ist die methodische Kritik eine Kritik des Zuschauers an sich selbst: Was also beiderseits fehlt, urn die Uberwindung der Naivitat ins Werk zu setzen, ist eine Kritik der Kritik selbst. Die Elirninierung der methodischen Naivitat geschieht dadurch, dass die Vollzugsinstanz der phanomenologischen Forschung einsieht, dass sie selbst nichts fertig Vorliegendes ist, sondern »sich selbst als Phanomenologie hervorbringen«114 muss. Das bedeutet >>nicht lediglich, dass ein neuer Themenbereich erschlossen, sondern dass eine Operation auf sich selbst angewandt wird, und dies im Sinne einer Schau der Schau, eines Denkens des Denkens, eines Thematisierens des Thematisierens, einer Interpretation der Interpretation, oder aber es bedeutet, dass der Operator die betreffende Operation an sich selbst vollzieht, so wenn der >transzendentale Zuschauer< als Subjekt und Thema zugleich auftritt.«115
Dieses Selbst-Thematisieren ist aber keine bloB hoherstufige Iteration (die »llichts Neues« hinzubringt), sondern selbst wiederum Ergebnis in methodischer Notwendigkeit. Dass sie mehr als nur eine sich selbst vervieWiltigende Reflexionsiteration ist: das zu zeigen gehort selbst zur Aufgabe dieser Selbstthematisierung. Die Problematik des Zuschauers unter dem Titel »Phanomenologie der Phanomenologie« bedeutet eine Standortbestimmung der Phanomenologie selbst. Diese Selbstkritik kann Vgl. VI. CM, 13: »Es bleibt also im Felde der >Transzendentalitat< ein noch Unbegriffenes: eben der phanomenologisch-theoretisierende >Zuschauer<. « 114 Waldenfels 1995a, 69. Unterbleibt diese Selbstkritik, so lauft die Phanomenologie als Uberwindung der natiirlichen Einstellung Gefahr, dass »die erste Natiirlichkeit der natiirlichen Einstellung nur gegen eine zweite Natiirlichkeit der phanomenologisch Einstellung vertauscht« wiirde (ebd., 70). lIS Ebd., 71. 113
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erst nach einem erst en konstitutionstheoretischen Uberblick iiber die Horizonte der Transzendentalitat, nach einer »Elementarforschung«, angegangen werden, und durch sie wird das Projekt »Phanomenologie« zu einem systematischen Abschluss gebracht. Sie kann die Phanomenologie iiberhaupt erst einer Systematik zufuhren, sofern in der Selbstkritik der Zuschauer gleichzeitig den Sinn dessen, was er treibt, reftektiert. Dies kann nur in hoherstufiger Reftexion geschehen; »gerade« Phanomenologie als konkrete Forschung muss geradezu urn Systematik unbekiimmert sein. 116 Ein konstruktives oder gar konstruierendes »System« ist der Phanomenologie auf dieser Stufe fremd. Dazu steht jedoch nur scheinbar in Widerspruch, dass sich Husserl in seinem Spatwerk ausdriicklich urn ein phanomenologisches System bemiihte. Es ist daher von groBer Bedeutung, den Systemcharakter dieses System zu analysieren; diese Analyse kann aber nicht in »gerader« Weise vollzogen werden. Die Frage nach der phanomenologischen Systematik, womit die Phanomenologie zu einem Abschluss kommt, ist der Fluchtpunkt, auf den Husserls Philosophie zutreibt. Diese Aufgabe geht aus dem methodologischen Defizit der »Elementarlehre« hervor, die sich als Elementarlehre nicht selbst thematisieren, d. h. methodologisch reftektieren kann. Fink spricht hier zu Recht von einer » Offenheit der phanomenologischen Systematik, [einem] Stufencharakter der phanomenologischen Theoriebildungen« (VI. eM, 8). Die Systematik ist demnach keine lediglich nachkommende undjeglicher systematischer Notwendigkeit entbehrende Spekulation, sondern notwendig fur die Bedingung der Moglichkeit des Projektes »Phanomenologie« im Ganzen. Husserl umschreibt die Selbstkritik des Phanomenologie so: »Aile transzendentale Erkenntnistheorie als Erkenntniskritik ftihrt zuletzt auf die Kritik der transzendendentalphanomenologischen Erkenntnis (zunachst der transzendentalen Erkenntnis) zurUck, und bei der wesensmaBigen Riickbeziehung der Phanomenoiogie aufsich selbst fordert auch diese Kritik eine Kritik.« (ebd.) Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Selbstkritik des Zuschauers ist ein notwendiger erster, vorlaufiger systematischer Abschluss der thematischen Arbeit.1 17 Die thematische Arbeit, die als Erforschung der transzendentalen Erfahrung eo ipso Dber die Entwicklung seiner Phanomenologie zu einem System zeigt sich Husserl mitunter geradezu iiberrascht. V gl. den Brief an Albrecht: »Es ist eigentlich ein ganzes philosophisches System erwachsen, aber eines vollig neuen Sinnes und Stiles, eben das System der Methodik und Problematik einer absoluten Wissenschaft als einer absolut begriindeten und auf das Absolute gerichteten, also nicht auf spekulative Konstruktion eines mystischen Absoluten, sondern des aus uns selbst in phanomenologischer Reduktion als Absolutes zu erkennenden und als Urgrund alles ftir uns Seienden.« (BW 9,79, yom 22.I2.I93I) IT 7 Dass Husserls Uberdenken der Intersubjektivitatsproblematik die erwahnte Selbstkritik obsolet machte, ist Zahavis These: »uns scheint es, dass gerade die Einbeziehung der transzendentalen Intersubjektivitat, d. h. seine intersubjektive Transformation der Phanomenologie, als eine solche hiiherstufige Kritik der naiv geraden Phanomenologie [... ] angesehen werden muss« (Zahavi I996, 99). Oem widerspricht, dass Husser! nach wie vor eine phanomenologische Selbstkritik ftir niitig erachtet hat, und auch Fink weist wiederholt darauf hin, dass die VI. Meditation nur ein
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KAPITEL 2
Erfahrungs-Kritik ist, verweist ihrerseits auf eine methodische Kritik als Selbstkritik, insofern erst von ihr aus Fragen nach System und Systemcharakter der Phanomenologie gestellt werden konnen. Erst nach dieser Standortbestimmung kann eine volle Systematik in Form einer phanomenologischen Ontologie und Metaphysik entworfen werden. Husserl stellt einmal den Weg der phanomenologischen Systematik so dar: »Das ist also der Weg: zu einer stufenweisen )Rechtfertigung{ der universalen objektiven Erfahrung und Erfahrungserkenntnis durch eine stufenweise apodiktische )Ontologie{ und Kritik ihrer Moglichkeit durch eine hoherstufige universale Ontologie der transzendentalen Subjektivitat, deren Selbstkritik die Tragweite alier Apodiktizitat, also die Tragweite alier Stufen der Ontologie (der weltlichen Ontologie und naiven Ontologie der transzendentalen Subjektivitat) in sich birgt. Es ist eine Theorie der transzendentalen Vernunft, der Vernunft, die letztberechtigte transzendentale Erkenntnis - philosophische Erkenntnis - moglich macht. [... J SO miindet die transzendentale Philosophie in das platonische, ins Transzendentale zu iibersetzende Ideal der )Republik<. In ersichtlicher Weise aber ftihren diese hochsten und letzten Fragen, und philosophisch auch die letzten im System der philosophischen Arbeit, auf die transzendentalen Probleme der Religion.« (B I 34 / 32, von 1926)
Die methodische Selbstkritik ist somit das notwendige Durchgangsstadium der Phanomenologie auf dem Wege zum systematischen Abschluss ihres Projektes, das die bisherige Philosophie und Metaphysik in phanomenologischer Methode vo11enden solI. Die Selbstkritik prasentiert sich als »Phanomenologie der Phanomenologie«, sofern in ihr der letzte Rest methodischer Naivitat durchhe11t, verstanden und iiberwunden werden solI. Diese ist eine Analyse des unbeteiligten Zuschauers durch sich selbst, also » Phanomenologie der hoheren Stufe, welche das phiinomenologisierende rch und sein Leben beriicksichtigt« (XXXIV, 176).118 Da innerhalb der konkreten Entwurf sei, der erst in seiner vollen intersubjektiven Dimension erschlossen werden muss, vgl. VI. CM, I34ff. Also auch die Methodenlehre muss intersubjektiv »eingeholt« werden; es ist dadurch gerade ausgeschlossen, dass sie durch die Einbeziehung der Intersubjektivitat uberflussig wurde, was Z. im Ubrigen auch nicht weiter begrundet. Dass die intersubjektive »Transformation« der Phanomenologie Auswirkungen auf das System hat, soil nicht bestritten werden; abef gerade eine solche Transformation macht eine Methodenreflexion auf den Systemcharakter umso dringlicher. I I 8 Miiglicherweise wurde Husser! in dieser Formulierung auch von Diltheys Begriff einer »Philosophie der Philosophie« angeregt. V gl. Diltheys Schriften VIII, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Leipzig/Berlin I93I (in Husserls Bibliothek). Die Kapitel uber »Philosophie der Philosophie<{ hat Husser! gelesen. Diese Disziplin hat fiir Dilthey nicht unmittelbar die Funktion einer hiiherstufigen Kritik. Vielmehr handelt es sich urn einen Vergleich der verschiedenen philosophischen Systeme, die je auf ihre Weise »dieselbige Welt zur Erkenntnis bringen« (206). Vgl. die Passage in der Einleitung des Herausgebers (Groethuysen), die Husser! angestrichen hat (VIII): »)Jedes System ist aus einer Bewegung der Ideen zu erkIaren, nicht wie etwas Fertiges hinzunehmen.< Es ware die Aufgabe einer neuen Kritik def reinen Vernunft, die >Bewegung des Geistes nach Einheit der Welt, nach Notwendigkeit des inneren und aufleren
DIE MOTIVATION FUR DIE REDUKTION
Forschung erster Stufe eine Selbstkritik nicht vorgesehen ist, bleibt der Zuschauer fur sich selbst ein »blinder Fleck«, er ist das Unbegriffene in der »ersten« Phanomenologie als geradehin dem transzendentalen Leben hingegebener Konstitutionsforschung. In Finks Worten: » Nichts anderes als eben dieser Zuschauer ist das Thema der transzendentalen Methodenlehre, die damit die phanomenologische Wissenschaft vom Phanomenologisieren, die Phanomenologie der Phanomenologie ist.« (VI. eM, 13)119
Der systematische Ansatz der transzendentalen Phanomenologie steuert von selbst auf die Problematik des Analytikers der Forschung zu. Ober die Architektonik des Systems und den Charakter der Selbstkritik berichten die nachsten Kapitel.
Geschehens, nach Gleichartigkeit des urspriinglich gesetzten Zweckes usw.
KAPITEL
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Zur Architektonik des phanomenologischen Systems
3.1. Zur Entstehungsgeschichte der VI. Meditation und zur Charakterisierung der Zusammenarbeit und des Verhdltnisses von Husser! und Fink Die VI. Cartesianische Meditation ist bekanntlich keine Schrift Husserls, sondern wurde - trotz anfangs andersmeinender Stimmen 1 - von Fink angefertigt. Spatestens an dieser Stelle der vorliegenden Untersuchung muss nach der Art der Zusammenarbeit beider gefragt und dieser letzten Cartesianischen Meditation2 ein Status im Rahmen der husserlschen Systematik - oder evtl. tiber dieselbe hinausgehend - zugewiesen werden. Den genauen Stellenwert kann erst die Detailanalyse ermitteln; zunachst geht es darum, die Art dieser philosophischen Zusammenarbeit zu charakterisieren und daraus eine Interpretationsmaxime zu formulieren. Generell solI die Zusammenarbeit von Husserl und Fink in einem methodischen Gleichgewicht bewertet, also nicht z. B. als vordeutende, aber noch verborgene Antizipation der Gedankenentwicklung Finks gelesen werden. Dies war die bisher maBgebliche Interpretationsmaxime nicht nur der Vertreter der finkschen Philosophie. Die vorliegende Untersuchung wird sich hingegen in einer methodisch unvermeidlichen Beschrankung im Rahmen der husserlschen Transzendentalphanomenologie halten. Auch solI die Entstehungsgeschichte nur im Zusammenhang mit den Arbeiten am ))Systematischen Werk« kurz behandelt werden. 3 Wie muss die Zusammenarbeit der beiden, und damit die VI. Meditation selbst, interpretiert
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v. a. unter den franzosischen Phanomenologen der ersten Generation galt die VI. Meditation als eine Schrift Husserls; dieser Ansicht waren etwa Berger und Merleau-Ponty, vgl. van Kerckhoven 1989a, 81-84, sowie van Kerckhoven 1996, 92f. Hierzu sei nur soviel gesagt, dass nur ein in der deutschen Sprache ungeiibter Leser def Meinung sein kann, den finkschen mit dem husserlschen Stil zu identifizieren. Die VI. Meditation ist allein in der Diktion so gravierend anders als Husserls, dass jegliche Ubereinstimmung von vornherein ausgeschlossen ist. Es war auch zeitweilig eine VII. Meditation geplant; vgl. hierzu Bruzina 1989a. Uber die blol3e Planung ist sie wohl nicht hinausgekommen. Insbesondere ist hinzuweisen auf die ersten wegweisenden Untersuchungen zum Komplex »VI. Meditation« vom Hrsg. der Husserliana-Dokumente Bd. 2, van Kerckhoven; des Weiteren v. a. auf die zahlreichen Schriften von Bruzina. Weitere einzelne Beitrage liegen vor von Waldenfels 1995a, Bernet 1989, Richir 1993 und Sepp 1993. Vgl. neuerdings auch van Kerckhoven 1998 und die Arbeiten von Scherbel.
S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
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KAP1TEL
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werden? Aus zahlreichen Briefpassagen Husserls wird deutlich, dass Fink mehr als ein bloBer Sekretar Husserls war, er war, urn eine Aussage Husserls aufzugreifen, »mein Mitarbeiter und zudem mein Seminar, meine Lehrtatigkeit«,4 also ein eigener Kopf, der, wenn auch in »jugendlichem Eifer« - Fink war, als er Husserls Assistent wurde, noch nicht einmal 25 Jahre alt -, doch in Eigenstandigkeit zu denken vermochte und von Husserl mit einer nahezu einzigartigen philosophischen Wertschatzung und personlichen Achtung bedacht wurde. Auf der anderen Seite war Finks Bindung an seinen Mentor jiidischer Herkunft so eng, dass diese ihm die Habilitation und die Hochschullaufbahn - zumindest vorerst - unmoglich machte. Zusammenarbeit aber bedeutet gleichzeitig ein Auseinander zweier Denker. Warum also die Differenz der beiden so stark machen? Als Assistent Husserls war Finks Arbeitsweise in wei ten Teilen nicht verschieden von den Assistenten vor ihm, Stein und Landgrebe. Die Aufgabe der husserlschen Assistenten bestand - neben der reinen Schreibarbeit - im Wesentlichen darin, die Manuskripte, die spatestens ab der Freiburger Zeit in ihrer Masse uniiberschaubar geworden waren, zu transkribieren und nach Themenkomplexen geordnet in eine systematische Form zu bringen; so entstanden Ideen II, das Edith Stein aus Manuskriptmaterial Husserls kompilierte, sowie das durch Landgrebe zusammengestellte, erst nach Husserls Tod herausgegebene Eifahrung und UrteiP So manches begonnene, aber abgebrochene Projekt ruht im Nachlass, das zu veroffentlichen sich Husserl nie entschlieBen konnte. 6 Hierzu zahlte auch die VI. Cartesianische Meditation. Auf Grund des Umfangs der Manuskripte, Projekte und nicht zuletzt des vorgeriickten Alters Husserls war er sich der Notwendigkeit der Delegation verschiedener Projekte bewusst. Hierbei suchte er z. T. verzweifelt nach Mitarbeitern fur die Herausgabe von Texten; die Geschichte der Bernauer Manuskripte ist soleh eine Geschichte - erfolgloser - Herausgeberrekrutierung. 7 Dabei sollten die Assistenten zumeist Manuskriptmaterial
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BW 4, 93; hierbei handelt es sich allerdings urn einen Brief an Fink, der dazu gedacht war, den einer Depression verfallenen Assistenten wieder etwas aufzurichten. V gl. auch Spiegelbergs Bericht (Spiegelberg 1982, 242): »As Fink told me once personally, Husser! wanted him also to act as his devil's advocate in the discussion of his new ideas.(' Vgl. hierzu die detaillierte Rekonstruktion bei Lohmar (Lohmar 1996). So sollte auch ein »Zeitbuch(, entstehen, das Fink aus den Bernauer Zeitmanuskripten von 1917/18 kompilieren sollte, woran er jedoch scheiterte. AuBerungen in einem Brief Husserls an Fink lassen darauf schlieBen, dass Fink mit dieser Aufgabe nicht »zurande« kam. So kritisiert Husser! seincn Assistcntcn: »ihre Verschlossenheit, und dass Sie nicht genug Mut hatten, mir einfach zu sagen: lch habe noch Schwierigkeiten und bin gar nicht gewiB, ob und wann ich durchkomme.« (BW 4, 91) Hierzu gehoren u. a. die von Stein bearbeiteten Studien »Phanomenologie und Erkenntnistheorie(, (veroffentlicht in Hua. xxv), sowie die von Landgrebe bearbeiteten »Studien zur Struktur des Bewusstseins«. Nachdem Husser! vergeblich versucht hatte, Roman Ingarden, Edith Stein und Heidegger zu gewinnen, war es schlieBlich Fink, der dieses Projekt iibernahm. Sie liegen inzwischen vor in Hua. XXXIll.
ZUR ARCHITEKTONIK DES PHANOMENOLOGISCHEN SYSTEMS
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transkribieren und in eine lesbare und gegliederte Form bringen. Der jeweilige Arbeitsstand wurde sodann besprochen, wobei die alteren Manuskripte, die Husserls neueren Erkenntnissen noch keine Rechnung trugen, diesen angepasst werden sollten. Auch wenn zu soleh einer Aufgabe durchaus philosophisches Talent gehorte, genoss Fink als Assistent doch einen Sonderstatus. Husserl traute seinem Assistenten philosophisch sehr viel zu, was wohl auch am taglichen Austausch beider lag. Hierbei sah Husserl in Finks Jugend durchaus eine Starke, da er ihn ganz in seinem Sinne »heranziehen« konnte. Fink reprasentierte nach Husserls Meinung seine eigene Philosophie so gut, dass Husserl wahnte, Fink konne sogar z. T. einen besseren Oberblick uber die Verastelungen seiner Philosophie als er selbst haben. Die ausgezeichnete Bildung Finks und sein auBergewohnliches Talent mochte Husserl auch in der falschen Gewissheit wiegen, dass Fink nicht selbsttatig eigene philosophische Ansatze verfolgt hatte. Diese positive Einschatzung jedenfalls veranlasste Husserl dazu, Fink in seine bedeutendste Arbeit am phanomenologischen System einzuweihen, wozu Fink durch seine besondere »spekulative« Begabung besonders geeignet schien, und er sollte selbstandig in der Lage sein, ganz im husserlschen Geiste zu arbeiten. Gab es schon von Husserl selbst ab dem Beginn der 20er Jahre Ansatze zum System und der Selbstkritik der transzendentalen Phanomenologie, bot es sich an, bei diesem Projekt - das ihn am meisten Muhe kostete - seinem Assistenten die Mitarbeit anzubieten. Das bei weitem wichtigste Dokument der Zusammenarbeit beider hinsichtlich der phanomenologischen Methodik und Systematik war die VI. Meditation. Ware die Tatsache, dass Husserl in dieser Sache mit Fink eng kollaborierte, nicht umso mehr ein Grund anzunehmen, dass Fink, Husserl zufolge, diese Aufgabe in besonders mustergiiltiger Weise ausftihren konne? Welehen Sinn kann es haben, hier eine Differenz zu konstatieren? Dieser Sinn liegt in der schlichten Tatsache, dass es eine Differenz gibt, welche bedeutende Konsequenzen hat. Dies und ihre Tragweite aufzuzeigen, ist im Folgenden Aufgabe dieser Untersuchung; diese Interpretationsmaxime ist in den bisherigen Analysen zur VI. Meditation kaum berucksichtigt worden. Die beste Vorgehensweise, urn das Verhaltnis von Husserl und Fink, das in der VI. CM und den husserlschen Anmerkungen dazu kulminiert,8 zu bestimmen, ist, ihr mogliches Verhaltnis zu kategorisieren. Die Bewertung dieser Einteilung hangt aber von inhaltlichen Fragen und Problemen ab, die an dieser Stelle noch nicht in die Untersuchung eingebracht wurden; die Einteilungskategorien konnen also erst im Nachhinein an den Analysen »verifiziert« werden. Sie konnen aber als generelle Richtlinien gelten, gemaB denen die bisherigen Forschungen zu diesem Thema vorgegangen sind. 8
Nicht zu vergessen sind die Schriften Finks im Umkreis der VI. CM. Hierzu ist besonders hinzuwei sen auf den Kantstudienaufsatz, sowie seinen Beitrag in der » Thatwelt<<. Beide Texte haben aber bei weitem nicht die Bedeutung der VI. CM.
KAPITEL
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Es seien drei Interpretationsgruppen eroffnet, und sie konnen folgendermaBen erIautert werden: a. Die VI. Meditation ist eine Husserl nicht nur ebenbiirtige Schrift, sie ist inhaltlich nicht vom Meister unterscheidbar und hatte genauso gut von Husserl stammen konnen; jegliche Trennung von Husserl und Fink ist sinnlos. Die VI. eM ist eine Schrift voilkommen »im Geiste« Husserls. b. Die Arbeit Finks ist als eine der husserlschen zwar ebenburtige,jedoch eigenstandige Arbeit anzusehen. Die VI. Meditation passt folglich harmonisch in das husserlsche »Systemkorpus«, trotz gelegentlicher nicht zu iibersehender Differenzen zu Husserl, wie an seinen Randbemerkungen zur VI. Meditation zweifellos zu erkennen ist; sie halt sich aber im GroBen und Ganzen im Horizont des urspriinglichen husserlschen Ansatzes und arbeitet in Husserls »Stil« weiter, moglicherweise unter systematischer Weiterentwicklung auch dieses Stiles. c. Die VI. Meditation ist im Wesentlichen eine Kritik Finks an Husserl; sie erwachst zwar aus dem Horizont der husserlschen Systematik, schlagt aber alsbald eine eigene Richtung ein und kommt zu Schlussfolgerungen, die den Rahmen dieses urspriinglichen Horizontes verlassen, oder, radikaler gesagt, zu sprengen geeignet sind und tatsachlich sprengen. Als »extreme« Position konnte man noch eme Ansicht formulieren, gemaB der Finks Arbeit einganz anderes Projekt verfolgt und eigentlich nicht mehr (transzendental-)phanomenologisch zu nennen ist. Diese Position ist zwar denkbar, soIl aber von vornherein der Unhaltbarkeit wegen ausscheiden. Eine solche konnte nur der vertreten, der Finks Entwicklung vom Ende her liest und diese friihe Arbeit als eine, wenn auch dunkle, Antizipation der Spatphilosophie versteht. 9 Die drei Positionen soilen etwas naher dargestellt und in ihrer »Leistungsfahigkeit« bewertet werden. a) Die These von der Ebenbiirtigkeit und Ununterscheidbarkeit von Husserl und Fink wurde v. a. von den franzosischen Phanomenologen der ersten Stunde, etwa Berger und Merleau-Ponty, vertreten und kehrt in jiingster Zeit wieder.lO Diese These ist implizit und muss nicht erst zusatzlich formuliert oder begriindet werden: Titel, Aufgabensteilung und Themen der VI. Meditation passen eindeutig in 9
Diese Auffassung nahrt Fink mithin selbst, etwa wenn er in einem (undatierten) Vorwort zur VI. Meditation schreibt: »Die Exposition des Problems einer transzendentalen Methodenlehre ist hier bei alier Nahe zu Husserls Philosophie durch den Vorblick auf eine meontische Philo sophie des absoluten Geistes bestimmt.« (VI. eM, 183). 10 Z.B. bei Richir, Zahavi, Kuster und Scherbel Vgl. Kuster, insbes. 93ff. und 108ff., vgl. auch 100, Anm. 19. Vgl. auch Zahavi 1996, 62f. Vgl. dagegen Zahavi 1994, wo er ausdriicklich die finksche Interpretation der letzten Stufe des transzendentalen Seins als eines einheitlichen Ur-Seins ablehnt und demgegeniiber Husserls Position verteidigt.
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den Rahmen der hussedschen Ubedegungen, wenn auch (quod erit demonstrandum) Durchftihrung und Ergebnisse vom Original abweichen mogen. Diese Abweichungen sind aber keine Kritik an Hussed, sondern notwendige Modifikationen und Verbesserungen, zu denen Hussed wohl selbst, hatte er sich mit diesen Problemen intensiver beschaftigt, gekommen ware. Die VI. Meditation Finks ftillt also Lucken im System, die Hussed wohl ganz genau so »geftiIlt« hatte. Diese Position ist aber unhaltbar, im Wesentlichen aus zwei »komplementaren« Grunden: sowohl von Hussed als auch von Fink her. Die VI. Meditation enthalt eindeutig kritische Randbemerkungen Husseds, die mehr als nur einzelne Punkte, sondern Kernideen und -konzepte der VI. Meditation betreffen. »Dagegen straube ich mich!«, schreibt Hussed einmal energisch, und ahnliche Formulierungen tauchen haufiger auf. Angesichts soIcher klaren Worte kann aus der Perspektive Husseds von einem »zustimmenden Urteil«, wie es Fink selbst nachtraglich formuliert (VI. CM, 183), keine Rede sein, daftir sind die kritischen Tone Husseds einfach zu deutlich.ll Es sei auch in Erinnerung gerufen, dass die VI. Meditation es nie zur Veroffentlichung brachte, was sichedich nicht nur auf einen Dissens bezuglich der Veroffentlichungsart zuruckzuftihren ist, sondern darstellerische wie inhaltliche Grunde hatte. 12 Differenzen zu Fink und Sorge urn dessen Arbeitsweise - im Sinne eines Assistenten im »traditioneIlen« Sinn - melden sich auch verhalten in Briefen Husseds. 1934, nachdem Fink seinem Arbeitgeber einmal mehr uber seine angekundigte, aber nicht vollendete Arbeit Beichte ablegt, schreibt Hussed an seinen Jugendfreund Albrecht: »Fink ist als Mitdenker auBerordentlich, als Assistent unbrauchbar und in seiner seelischen Struktur sehr labil. Es gibt da oft groBe Sorgen.« (BW 9, 105) Dieses Zitat belegt Husseds voIlkommen realistische Einschatzung Finks: Er ist ein eigener, eigenstandiger Denker, aber kein »Assistent«, m. a. W kein orthodoxer Nach-Denker, der mechanisch eine vom Meister aufgetragene Arbeit routinemaBig ausftihren wiirde. Daran lag ftir Hussed gleichzeitig der Wert und die Gefahr Finks. Auch blieb Hussed nicht ganz verborgen, dass Fink anderen, »modischen« Einfiussen der Zeit ausgesetzt war - am »gefahdichsten« wohl dem Heideggers -, die, wenn auch versteckt, in seiner Arbeit ihren Niederschlag fanden. Dass Fink also eine andere Linie als er selbst verfolgte, war Hussed bewusst, und er war bemuht, Fink wenigstens in Bezug auf die ftir ihn angefertigten Arbeiten »linientreu« zu halten.
Vgl. auch Waldenfels 199sa, 79: »Dort, wo Husser! von den Versuchen seines Musterschiilers abriickt, zeigt er ein deutliches Gespiir dafur, dass die Vollendung der Phanomenologie auch ihr Ende bedeuten miiBte. « 12 Dber die Art, wie die deutsche Version der Cartesianischem Meditationen letztlich aussehen sollten, anderte Husser! mehrmals seine Plane. Allein hinsichtlich der Lange hatte die VI. eM sicher!ich den Rahmen gesprengt. Zwischenzeitlich gab es die Idee, die Cartesianischen Meditationen unter Koautorschaft zu veriiffentlichen. SchlieBlich nahm Husser! von diesem Projekt im Ganzen Abschied,
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Dass andererseits aus der Perspektive Finks dieser eine dem Meister genehme Schrift modeln wollte, ist pure Unterstellung. Dass einige Formulierungen in der VI. Meditation bei Hussed AnstoB erregen wiirden, war sichedich beabsichtigt; schlieBlich handelte es sich bei dieser Schrift nicht urn einen fertigen Drucktext, sondern zunachst urn ein »Arbeitspapier« als Grundlage fUr weitere Diskussionen. Fink selbst beklagt sich in seinen privaten Notizen der gleichen Zeit iiber die Rolle, die ihm Hussed offenbar zugedacht hatte: »Das Zerrbild des >Philosophen<: der >gute Jiinger<, der im Wahne einer Dienstidee lebt und so sein Leben iiberschlagt. (Beispiel: Husseds Auffassung eines guten Nachfolgers; eine Rolle, die mir zugedacht ist!) «13 Nicht dass Fink eine bissige Kritik am Meister iiben wollte - dies wurde bereits ausgeraumt -, aber es ging ihm auch keinesfalls darum, Hussed nach dem Munde zu reden, sein Sprachrohr oder ein »Spiegelaffe«14 zu sein. Dass er Husseds Assistent und immerhin auch materiell von ihm abhangig war, erklart, weshalb er seine Kritik moderat und verdeckt vorbringen musste. Daher ist es die Intention der vodiegenden Arbeit, die Dissonanzen voll zum Schwingen zu bringen. Dagegen steht immer noch die Hochschatzung fUr seinen Assistenten, die Hussed gegeniiber Dritten zum Ausdruck brachte; eine Vielzahl von Briefen v. a. aus der Zeit ab 1933 empfehlen die Lektiire des finks chen Kantstudienaufsatzes (auch wegen des Hussed aufedegten Publikationsverbots). AuBerdem gibt es da noch das oft zitierte Vorwort Husseds zu diesem Aufsatz, gemaB dem »kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen zueigne, den ich nicht ausdriicklich als meine eigene Uberzeugung anerkennen konnte«.15 Urn dieses iiberschwangliche und, gerade in Bezug auf den Kantstudienaufsatz, sicherlich unberechtigte Urteil einzuordnen, kann ein Blick auf die politische Lage weiterhelfen: Mit der Heraufkunft der Naziherrschaft in Deutschland ab 1933 hatte der aus jiidischer Herkunft stammende Hussed unter zahlreichen Repressalien zu leiden. 16 Hussed ftirchtete - zu Recht, wie sich zeigen sollte - den Niedergang des abendlandischen Geistes der Humanitas in seinem Heimatland und mit ihm der Errungenschaften »seiner« Phanomenologie. Nachdem sich sein hoffnungsvollster Schiiler nicht nur philosophisch von ihm abgewendet, sondern sich sogar an die Spitze der universitaren Nazibewegung in Freiburg gesetzt hatte (mit hochsten Ambitionen, »den Fiihrer zu fUhren«), war Hussed verzweifelt darum bemiiht, neue Schiiler zu gewinnen, die die Fackel in der Dunkelheit weiterzutragen bereit waren. Dergleichen gab es seiner Ansicht nach wenige, und von diesen Wenigen stand ihm Fink zweifellos am nachsten.
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nichtjedoch, ohne Fink die Mogiichkeit einer eigenen Veroffentlichung zuzubilligen, was zu den Thatwelt- und Kantstudien-Artikeln flihrte. Zitiert bei Bruzina 1989b, F3, Anm. 30. So Fink in einer anderen privaten Aufzeichnung, vgl. Bruzina j()89b, 313, Anm. 31. Zitiert bei Fink 1966, VIII, wiederabgedruckt in: XXVII, 182f. Vgl. hierzu den detaillierten Bericht bei Schuhmann 1994, 9ff.
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Aus dieser Perspektive ist das exorbitante und vorbehaltlose Lob seines Schiilers verstandlich: eine uneingeschrankte Zustimmung, die iiber vergleichsweise kleine Differenzen in den Verastelungen phanomenologischer Detailfragen angesichts der welthistorischen Situation hinwegzusehen gewillt war. AuGerdem war Fink!7 der einzige, der in diesem MaGe iiber den Nachlass Husserls Uberblick hatte, den, wenn es auch Husserl - wie ihm klar wurde - nicht gelingen wiirde, in eine systematische und publizierbare Form zu gieBen, immerhin seine »Nachkommen suchen«!8 wiirden. Dass Fink fur Husserl, so Bruzina, philosophisch gesehen »a very decidedly other >himself(<
Hieraus ergibt sich, dass diese »Reife« auch erst durch Finks Einfluss erreicht wurde. Was Finks Systementwiirfe fur das Systematische Werk anbelangt, ist diese Einschatzung akzeptabel, sofern Fink hierin eine besondere spekulative Kraft bewies. Sieht man sich jedoch die Detailanalysen Husser!s an, wird man feststellen, dass es keine einzige thematische Einsicht gibt, die nicht schon bei Husser! zu finden ist. Aile wesentlichen Einsichten waren schon vor Finks Assistenzzeit bei Husser! vorhanden. Hochstens wurden diese durch Finks Talent zum systematischen Uberblick 17 Neben Landgrebe, der aber bereits nicht mehr in Freiburg weilte, sondern sich in Prag habilitierte. 18 Diese Formulierung taucht in Husserls Briefen ab den spaten 20er Jahren auf. Vgl. Schuhmann
1994,44· 19 Bruzina 1995, 20 Ebd., XXVIII.
XXXII.
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von ihm in emen systematischen Plan eingeordnet,21 - ein Verdienst immerhin, aber das eigentliche Verdienst Finks liegt woanders. Wenn aber Bruzina die doch deutlichen Differenzen in der VI. Meditation so interpretiert: »Husserl saw these differences as differences that had their identity and their force within a larger encompassing whole cif common agreement«22, so macht er doch die letztlich unbegriindete Annahme, dass es dieses allumfassende Ganze einer gemeinsamen Obereinstimmung iiberhaupt gibt. Wiederum solI nicht behauptet werden, dass ein solehes Rahmenwerk toto genere nicht existiert - ein solehes ist zumindest zu Anfang ihrer Zusammenarbeit gegeben23 -, aber hier greift die prinzipiell gleiche Kritik wie bei Punkt a): Ein soleh kategorisches Ansetzen eines gemeinsamen Rahmens macht sich blind nicht nur fur echte Differenzen und die Anerkennung und Wiirdigung dieser, sondern auch dafUr, dass gewisse Differenzen sich nicht einfach mit dem Verweis auf Husserls »grundsatzliches Einverstandnis« beiseite schieben lassen, sondern radikale Keime in sich bergen, die in Konsequenz den Rahmen sprengen, bzw. den Horizont, der immer auch eine Grenze markiert, iiberschreiten konnen - im Positiven wie Negativen. Freilich iibersieht Bruzina nicht die Differenzen und Neuansatze Finks. Aber er interpretiert diese als »re-casting«, »re-opening« oder »re-interpretation«24 der husserlschen Ansatze, gleichsam als ob Husserl in der Mitte seiner Analysen »stecken geblieben« ware. Fink wirkte gewissermaBen als Katalysator fUr das Zustandebringen »der« Phanomenologie: »In den Freiburger Jahren wird das >mehr< der phanomenologischen Selbstkritik durch die Arbeit Finks fUr und mit Husserl zu voller Bestimmtheit gebracht. «25 Die Frage aber ist, nochmals anders gestellt: Warum sollte Fink iiberhaupt daran gelegen sein, im Rahmen des husserlschen Ansatzes zu verbleiben? Wieso kann man nicht anerkennen, dass Finks Ansatz ein genuin eigener, jedoch weitgehend verdeckter - oder dem damals unter DreiBigjahrigen unbewusster - ist, urn so mehr, als auch Husserl ihn als einen eigenstandigen Denker ansieht? Bruzina antwortet hierauf mit dem eingangs erwahnten Hinweis, dass es zur Phanomenologie gehore, dialektische Elemente zu vereinen: Detailanalyse 21 Ein Beispiel hierftir: Urn die Problemkornplexe der Konstitution (statisch, genetisch) in eine systernatische Ordnung zu bringen, kreiert Fink hierftir zwei phanornenologische Fundarnentaldisziplinen, d. i. die regressive und progressive Phanornenologie. Innerhalb der progressiven Phanomenologie findet sich unter Punkt B die» Phanomenologie der Urintcntionalitat. (Phanornenologie der >lnstinkte<) «. (VI. CM/2, 8), Untersuchungen also, die hauptsachlich aus den 20er Jahren stammen und auf die Fink also als »fertige« zuriickgreifen konnte. 22 Bruzina 1995, XXXI. 23 Finks Dissertation »Vergegenwartigung und Bild« halt sich noch ganz in den Grenzen der husserlschen Uberlegungen; die impliziten Differenzen zu Husserls v. a. in Hua. XXIII veroffentlichten Analysen zu Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung hat Tengelyi herausgearbeitet, vgl. Tengelyi 1996. 24 V g1. auch Bruzina 1996a. Dort bezeichnet er das methodische Verfahren Finks als eines der »Kritik und Neuinterpretation« (48). Vgl. auch Bruzina 1996b. 25 Bruzina 1996a, 42.
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und Spekulation, welche Aufgaben von Husser! und Fink arbeitsteilig iibernommen werden. 26 Dieser Ansicht soll nicht prinzipiell widersprochen werden, und dass Husser! Spekulation prinzipiell skeptisch gegeniiberstand, ist auch richtig. Aber nochmals, was dieser Interpretationsansatz unmoglich macht, ist dies: Sieht man die finkschen Differenzen gegeniiber Husser! als bloBe Neuinterpretationen der im Wesentlichen richtigen, aber moglicherweise verdeckten, verzerrten, nicht voll zur Geltung gebrachten husserlschen Einsichten, so wird dabei die eigentliche potentie11e Leistung der finks chen Differenzen iibersehen: narnlich dass sie dazu ftihren konnten, den urspriinglichen Horizont zu verlassen, ja gar zu sprengen. Der Vorwurf, dass der als b) formulierte Ansatz sich allzu leicht blind macht fUr wahre Kritik, muss also erweitert werden mit dem Hinweis, dass er in seiner These von der finks chen »Neuinterpretation« der husser!schen »Ergebnisse « allzu harmonisierend verfihrt. Es besteht kein Zweifel, dass die finks chen Ansatze aus dem Horizont der husserlschen Phanomenologie kommen, - dass sie jedoch darin bleiben, bzw. diesen Horizont verschieben oder erweitern - und damit noch darin verbleiben -, ist pure Unterste11ungY c) Der dritte Interpretationsansatz, der - das wird nun nicht mehr verwunderlich sein - hier vertreten werden soli, nimmt die von friih an von van Breda geauBerte These 28 auf, der deutlich sah, dass die VI. Meditation im Wesentlichen eine Kritik an Husserls Denken ist. 29 In welchem Sinne eine Kritik, muss noch ermittelt werden. Wie begriindet sie sich zunachst?
26 Vgl. auch Bruzina 1997, 2]2 f( Hier macht er dies en Punkt zu einer maBgeblichen Leistung Finks schlechthin: »The nature ofHusserl's )system , has to be recognized, precisely in the interplay between guiding general insights and phenomenological analysis of details.« (ebd., 235) 27 Es versteht sich von selbst, dass mit diesen kritischen Bemerkungen keinesfalls das au Berst ver-
dienstvolle Werk Bruzinas im Ganzen kritisiert werden soli, ohne welches diese Arbeit nicht denkbar gewesen ware. 28 van Breda schrieb im Jahre 1945 an Merleau-Ponty, aus Anlass der Lektiire der Phenomenologie de la Perception: »Es scheint mir, dass Ihre Arbeit zu stark von der VI. Meditation beeinflusst worden ist. Diese hat Eugen Fink und nicht etwa Husser! redigiert. Dieser Text, sowie auch Finks Aufsatz in den Kant-Studien, ist im Grunde eine Kritik der Grundlagen des Husserlschen Denkens selbst, obwohl der Autor seine Opposition gut zu verbergen wusste und Husser!, in seiner glanzenden Naivitat, es nicht gemerkt hat, wenigstens nicht was den Kant-Studienaufsatz anbeiangt.« (zitiert bei van Kerckhoven 1996, 92) In einem anderen Briefbezeichnet er die VI. Meditation als eine »sehr tiefgriindige Kritik [... j. Fink wollte nicht, dass diese Redaktion Verbreitung findet, weil seine Kritik im Grunde sehr hart war.« (ebd., 92f.) S. auch das Vorwort zur Phdnomenologie der Wahrnehmung, 3, Anm. 2. 29 Vgl. auch Spiegelbergs Urteil (Spiegelberg 243): »Nevertheless, and especially in view of Fink's later criticisms ofHusserl's philosophy, the nature of Fink's collaboration will require careful study. How far did he at the time merely try to sharpen Husser!'s position with regard to such matters as the phenomenological reduction, the doctrine of the ego and idealism in order to test and precipitate Husserl's views without sharing them? Apparently many of Fink's formulations went considerably beyond what has been found thus far in Husserl's own texts.«
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3
Es besteht kein Zweifel, dass sich der friihe Fink ganz im Rahmen der husserlschen Phanomenologie hielt und innerhalb derselben eine wegweisende Untersuchung anfertigte, und dies zu so voller Zufriedenheit Husserls, dass er sie in einem von ihm ausgerichteten Wettbewerb preiskronte und Fink zum Dr. phil. und privaten Assistenten promovierte. Aber schon in seiner ersten eigentlichen Assistenzarbeit, seinem ca. hundertseitigen Anfangsstiick zur Einleitung in das systematische Werk aus dem darauffolgenden Jahr (1930) werden von Husserl abweichende Tendenzen laut. 30 Ein Beispiel hierfur wurde schon im Kontext der Motivation fur die Reduktion gegeben. Vollends die VI. Meditation bringt Thesen und daraus folgende Konklusionen, mit denen Husserl nicht einverstanden sein konnte. Hier werden die Differenzen offensichtlich, auch wenn Fink sie, mit van Breda zu reden, »gut zu verbergen« wusste und sie Husserl in seiner »glanzenden Naivitat« wenn nicht ganz verborgen blieben, so ihn doch nicht ernsthaft aufriittelten. Auch war Fink ja noch kein ausgewachsener Philosoph, wie etwa Heidegger, dem seine philosophische Aberration Husserl viel weniger zu verzeihen gewillt war und die in diesem Fall sogar zum personlichen Bruch fuhrte. Husserl sah Finks Abweichungen von der rechten Lehre eher als Missverstandnisse an, iiber die er ihn glaubte aufzuklaren zu miissen, denn als tiefgreifende Kritik an seinen eigenen Grundlagen. So ist es zu verstehen, dass seine Antworten auf kritische Einwande fast nie Auseinandersetzungen mit deren Inhalt sind, sondern geduldige Nacherzahlungen des schon Bekannten und ihm Unzweifelhaften. Beziiglich Fink war er einfach nicht bereit, die eigenen philosophischen Ansatze seines Schiilers wahrzunehmen, sondern sah sie als unreife Ziige seines »genialen« Assistenten an, ohne zu sehen, dass er sich mit genau dies em ihm vertrauten Schuler - philosophisch gesehen - gleich einem trojanischen pferd3 ! den Feind ins eigene Haus holte. Es ist hierbei irrelevant, ob sich Fink, zumindest in dieser Phase, iiber seine Kritik bzw. deren Radikalitat im Klaren war. 32 Hier liegt genau der Reiz der VI. Meditation; denn offensichtlich ist ihr Anliegen, im Zuge des AbschlieBens der phanomenologischen Systematik unartikulierte Probleme im bisherigen »System«, was ja faktisch keines war, zum Austrag zu bringen, »unbewaltigte Reste« gliicklich aufgehen zu lassen. Dies beriihrte Probleme oder Problemdimensionen, mit denen sich Husserl, moglicherweise unbewusst absichtlich, nicht auseinandergesetzt hatte. Das Interessante ist nun, dass Fink, zunachst ganz orthodox in diesem Horizont
30 Veroffentlicht in
VI. CMI2, 10-105. Dieses Anfangsstlick wurde von Husserl gelesen und ebenso mit zahlreichen kritischen Anmerkungen versehen. 1m Ganzen halt er das Einleitungsstlick ftir »unbrauchbar«; so etwa 100, Anm. 361: »Unklare Darstellung«, 58, Anm. 244: )>llicht hinreichend verstandlich!«, 47, Anm. 183: »Diese ganze Darstellung ist unbefriedigend«, Anm. 26, Anm. 80: »Das ist so nicht brauchbar als Darstellung. « 31 So Fink liber Lowith, in dem Text: »Karl Liiwith und die Phanomenologie«, Vorschlag ftir E. Husser! am 23. I. 1937 (im Husserl-Archiv unter der Signatur P II 2/ 89f.). 32 Es ist eine Lehre der Hermeneutik, dass sich der Kritiker einer anderen Position nicht unbedingt liber die Voraussetzungen seiner eigenen Position im Klaren scin muss.
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verbleibend und, aus ihm heraus philosophierend, zu Ergebnissen kommt, die den Horizont der husserlschen Fragestellung sprengen, gerade indem er unausgesprochene Probleme artikuliert und - seiner Auffassung nach - konsequent zuende denkt. Die VI. Meditation »dreht sich« urn die eigene Achse gewissermaBen aus dem abgesteckten Bereich heraus. Dies tut sie allerdings nicht aus eigener Kraft. Fink war in den friihen 30erJahren wichtigen philosophischen Einfliissen neben Husserl ausgesetzt: Er kannte Sein und Zeit und besuchte Heideggers Vorlesungen. 33 1m Wintersemester 1931/32 horte er des sen Vorlesung iiber Hegels Phiinomenologie des Geistes; sowohl heideggersche wie auch schellingsche und hegelsche Tone sind in der VI. Meditation uniiberhorbar. Finks spatere ausftihrliche Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus deutet sich hier bereits an. Dass also (Husserl-)fremde Tone hinzukommen, muss bei der Interpretation in Rechnung gestellt werden; aber auch hier ist genau darauf zu achten, inwiefern Fink eigenstandig heideggersche und hegelsche Motive in kritischer Weise aufnimmt, so kritisch, dass sie sogar an manchen Stellen als Heidegger-, bzw. Hegelkritik aus der husserlschen Perspektive gelesen werden konnen. Also schon dass Fink anderen Einfliisse ausgesetzt war als der ab 1933 weitgehend isoliert arbeitende Husserl, ist zu beriicksichtigen. Was ftir ein Gemisch ergibt sich aus diesen Einfliissen in dem durchaus mit dem Zeitgeist » up to date« seienden Fink, der gleichzeitig einen unvergleichlichen Einblick in die Forschungsmanuskripte Husserls hatte? 1st Fink nun »papstlicher als der Papst« oder Haretiker, gar »Feind«?34 Die paradox anmutende Antwort lautet: Er ist beides zugleich. Fink kommt eindeutig aus dem husserlschen Fragehorizont als zunachst orthodoxer Husserlianer. Gleichzeitig aber beschaftigten ihn Probleme, die Husserl zwar antizipierte, aber nicht selbst bearbeitete, und die gerade dadurch den ursprunglichen Horizont aujbrechen. In diesem Sinne ist Fink in der Tat »the other Husserl«, gerade indem er mehr Husserl als Husserl selbst ist - und dadurch die groBtmogliche Distanz zu ihm einnimmt. Ferner brachte Fink die Beschaftigung mit den in den spekulativen Systemen der Idealisten verhandelten Problemen auf Ideen, die Husserl so nicht hatte und aus seiner - wie man durchaus sagen kann: festgefahrenen - Perspektive auch nicht haben konnte. In der Interpretation solI also genau herausgearbeitet werden, inwiefern Fink genuin husserlsche Probleme aufnimmt, entwickelt und zuende denkt und wo er iiber ihn hinausgeht. Dass dieses Hinausgehen die Konsequenz aus dem »Zuendedenken« der urspriinglichen Fragen sein konnte, steht dazu nicht in Widerspruch. Es wird sich zeigen, dass Fink ausgerechnet in der letzten Zielstellung der Phanomenologie, am letzten Punkt in der Systematik, von Husserl nicht nur abweicht, sondern die kontriire Position zu ihm einnimmt: in der Verhaltnisbestimmung von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung. Fink ist also mehr als nur ein 33 34
Fink horte bei Heidegger ab dem Zeitpunkt von dessen Riickkehr aus Marburg imJahre 1928. Dies ein Ausspruch Husserls selbst, vgl. van Kerckhoven 1996, 93.
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3
Kopist von Husserl, wie Punkt a) annimmt - er ist mehr Husserl als Husserl. Noch ist er gemaB b) ein kritischer Husserlianer, der im Rahmen von Husserl verbleibtdafur ist er zu kritisch. Er ist der orthodoxeste Husserlianer in dem Sinne, dass er, aus der husserlschen Phanomenologie kommend, sie selbst ad absurdum fuhrt, ihre immanente »Aporie« (VI. eM, 184) aufWeist. Die folgenden Analysen mussen diese Andeutungen freilich erst einlosen. Auch die Frage, ob Fink damit im Recht war oder ob sich nicht doch in letzter Instanz Husserl gegen diese Kritik behauptet, wird diskutiert werden. Es solI also zunachst die Architektonik des phanomenologischen Systems von der Perspektive der transzendentalen Methodenlehre untersucht werden, die noch weitgehend Husserl-konform bleibt. Spatestens aber in der Problematik der Verweltlichung des Phanomenologisierens wird Fink zunehmend kritisch und bildet einen eigenstandigen Gedankengang heraus; dies muss gegen Husserl abgegrenzt werden. Es kann sogar gezeigt werden, dass Husser! Alternativkonzepte gegen die finkschen Abweichungen entwickelt. Der Scheideweg zwischen beiden eroffnet sich mit aller Deutlichkeit im Problem der Verweltlichung des Phanomenologisierens. Bei a11er kritischen Einschatzung der Bedeutung und der Uberzeugungskraft der finks chen Ideen muss betont werden, dass es in der Tat die finksche fruchtbare Provokation war, die Husser! zu den pointiertesten, klarsten und schlagkraftigsten Formulierungen trieb, die er wohl je in Bezug auf den Status und die Bedeutung der Phanomenologie machte. Viele Nachlasspassagen lesen sich, als waren sie direkt aus Diskussionen mit Fink entstanden als eine abwagende und wohluber!egte Replik auf kritische Einwande. Die wichtigsten Pas sagen dieser Manuskripte sol1en daher auch zitiert werden.
3.2. Die Zusammengehorigkeit von Systematik und Methodologie
und Husserls unausgesprochene Position hierzu An dieser Stelle ergibt sich eine methodische Schwierigkeit: Wenn Fink gewisse Probleme und Frageste11ungen entwickelt haben solI, zu denen Husserl nur wenige Andeutungen gemacht hat, wie solI man dann Husserl mit Fink kontrastieren konnen? HieBe das nicht, Schattengefechte auszufechten? Es besteht der merkwurdige Befund, dass Husser! sich zum Problem cler Systematik, cl. i. zum Systemcharakter des Systems im Rahmen der Methodenlehre, nur selten auBert. Aber gerade in Bezug auf eine phiinomenologische Systematik ste11t sich die Frage, wie ein solches System auszusehen hat und auszufuhren sei. Es ste11t sich die sachliche Frage: Wenn es Phanomenologie einerseits mit Untersuchungen der »Sachen selbst« zu tun hat, wenn cler Sinn cler Epoche - unter anclerem - darin besteht, aIle und v. a. aIle metaphysischen Vorurteile auszuschalten, und wenn andererseits ein System per se metaphysischen Beiklang hat, also etwas ist, wovon die Epoche gerade befreien solI, wenn schon cler BegriffSystementwuif impliziert, class da etwas noch ohne konkrete
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analytische Ausweisung, die offenbar dem Entwurf»nachhinkt«, entworfen werden soIl: ware dann nicht zu schlieBen, dass jeglicher Systemgedanke der Phanomenologie prinzipiell fremd sein miisste? 1st nicht das Inbeziehungsetzen von Phanomenologie und Systematik etwas der Phanomenologie AuBerliches, ein ltQiDtov 1jJl,u60~? Wenn dem so ware, dann muss sich aus Husserls hartnackiger Forderung nach einem phanomenologischen System35 ableiten lassen, dass der Systemcharakter eines Systems der Phanomenologie eine eigene Qualitat haben miisste. Sucht man auf diese Fragen Antwort, wird man bei Husserl selbst enttauscht. Selten finden sich Reflexion auf die Systematizitat dieses Systems. Trotz der standigen Betonung der Bedeutung des Systems und der Notwendigkeit, die Phanomenologie in einem (mehrbandigen) »groBen systematischen Werk« darzustellen, finden sich nur wenige explizite Reflexionen auf den spezifisch phanomenologischen Systemcharakter. Dies kann phanomenologisch so begriindet werden, class jegliche methodische Oberlegung zu diesem Systemcharakter eben nicht konkret ausweisbare Analyse ist, ja nicht sein kann; denn ein Entwurf zur Systematik enthalt eo ipso spekulative Elemente, die das Gegenstiick zu phanomenologischen Detailanalysen sind. Spekulation vertragt sich nicht mit Untersuchung der »Sachen selbst«. Zieht man Husserls durchweg pejorative Einschatzung der Systeme des Deutschen Idealismus hinzu, lasst sich daraus eine prinzipiell negative Haltung Husserls gegeniiber einem spekulativ »aufgebauten« System ableiten. Husserl scheute sich vor derartigen Oberlegungen, trotz seines ausdriicklichen »Systemwillens«, und hierin lag auch nicht sein eigentliches philosophisches Talent. Dabei geht sein Widerwillen nicht gegen ein System per se, sondern gegen eine spekulative, »von oben« kommende Darstellung desselben (wie dies ihm zufolge bei den Neukantianern zu beobachten ist),36 die sich nicht »von unten« aufbauend den Sachen selbst anmisst. Seinem eigenen Anspruch aber nach geht es Husserl darum, die wahren philosophischen Intentionen der idealistischen Systemphilosophie - wie aller Philosophie iiberhaupt - unter erneuerten methodischen Voraussetzungen wahr zu machen. 37
35 Der Wunsch nach einem phanomenologischen System taucht schon friih bei Hussed auf, zunachst 1906 (vgl. XXIV, S. 445-7), dann aber verstarkt in den 20er Jahren (vgl. XIV, Einleitung des Hrsg. Kern, XVII ff.), urn dann spater immer mehr Dringlichkeit anzunehmen. In den Gesprachen mit Cairns sagt Hussed einmal, dass er es in seiner Phanomenologie letztlich auf ein System und cine Metaphysik abgesehen habe. Vgl. Cairns, 5I f. (Konversation vom 25. II. 193 I). 36 Vgl. Husseds Brief an Ingarden (BW 3, 289, vom 16.10.1932), sein Idealismus sei »kein >Idealism< des ilist{orischen) Sinnes [... ], auch kein >Transzen{dent)alism< (M{ar)b{urg)) [ ... J.« 37 Vgl. Husserls Briefan den miinchner Phanomenologen M. Beck (BW 2,12, vom I.I1.1931), worin er sich beklagt, dass jener den »Sinn der transzendental-idealistischen Philosophie« »ganz und gar nicht« verstanden habe. Er sehe nicht, »daB dieser Transzen{den)talismus u. Idealism{us) durch Abgriinde des Sinnes von allem historischen getrennt ist, bzw. daB die tr{anszendentale) Reduction einen total neuen philosophierenden Sinn schafft, der die konstit{utive) Phan(omenologie) von allen Philosophien der Vergangenheit schroff abscheidet.« V gl. auch Husserls Brief an Marcuse vom 14. I. 1932 (BW 4,401), ihm flir sein Hegel-Buch dankend: allein die Phanomenologie erreiche den »Boden des Absoluten« (ebd.). »Sie wiirden von der constit(utitven) Phanomenologie her [... J
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Die Tatsache jedoch, dass Husserl keine ausdriickliche Methodenreflexion zum Systemcharakter der Phanomenologie anstellt, heiBt nicht, dass er nicht implizit doch Stellung dazu bezieht. Wie zu zeigen ist, tut er dies sogar emphatisch, wo es darum geht, den »Gesamtsinn« der Phanomenologie zu bestimmen und wo der Anspruch des »Systems« der Phanomenologie zur Debatte steht. Dies geschieht vornehrnlich durch die Lekttire der VI. Meditation, die ihn zu eigenen AuBerungen drangt, die, wie Fink betont »das Prinzipiellste enthalten, was Husserl tiber die Methodik und Systematik der Phanomenologie geauBert hat« (VI. eM, XII). Dass Husserl zu diesen AuBerungen durch die Anregung Finks kommt, ist aber irrelevant hinsichtlich der Frage nach einer vermeintlich fehlenden Systembestimmung Husserls. Seine verstreuten AuBerungen lassen sich als eine Position rekonstruieren. Man kann hieraus dennoch hinsichtlich Husserls impliziter Auffassung eines Systems schlieBen: Die Systematik ergibt sich - gewissermaBen »von selbst« -, sobald die thematische Forschung »von unten« aufbauend, die »Hohen« erreicht und damit abgeschlossen ist. 38 Das System ist die Summe der Einzelanalysen, metaphorisch gesprochen das auf gesicherten Fundamenten stehende vollendete Haus, worin jedes erforschte »Ergebnis« seine Stelle hat; dies legt auch schon die Metapher von den »Schichten« der Konstitution nahe. Jegliche Meta-Reflexion auf die Systematizitat des Systems ist damit von vornherein, eben als »von oben« kommend, als unmoglich erklart. - Es ist hingegen eine Grundeinsicht Finks, dass dieses Verfahren methodologisch naiv ist; denn zunachst ist zu sagen, dass Husserl selbst begriff, dass dieses transzendental-phanomenologische Projekt zu vollenden ihm selbst oder einer bestimmten Person in einem Menschenleben nicht moglich sein wiirde. Ihm selbst kam dabei nur die Aufgabe zu, den Grundstein eines ein fUr alle Mal gesicherten Systems des Wissens zu legen. Allein der Versuch, ein solches iibermenschliches Werk zu vollenden, ware von vornherein aporetisch. Husserl hatte sich im Wissen urn diese Unmoglichkeit mit Einzelanalysen begniigen mussen, was er nicht tat, im Gegenteil: Die Unfahigkeit, ein System zu gestalten und auszufuhren, war ihm auf schmerzvolle Weise bewusst. Notwendig fUr den Entwurf eines Systems ist also eine Rtiflexion auf dessen Systemcharakter.39 Die damit implizierte »metaphysischen Spekulation« war fUr Husserl
sofort bemerken, dass Hegel u(nter) d(em) T(itel) das )Absolute< wohl auf dasselbe hinmeint, was die constit(utive) Phan(omenologie) zu directer Aufweisung u. methodischer Analyse bringt. Doch ich kenne Hegel nicht hinreichcnd, um bei Hcgelintcrpretationcn ernstlich mitrcden zu konnen.« 38 Vgl. hierzu den SystementwurfHusserls in Hua. xv, XXXVI. 39 Dass diese Methodenreflexion ftir Fink nicht ganz zu Anfang, sondern gewissermaBen in der »Mitte«, nach einigen schon geleisteten thematischen Forschungen, stehen muss, spiegelt sich in der Position der VI. Meditation, d. i. nach dem in den vorausgehenden ftinf Meditationen geleisteten schematischen Uberblick. Diese ftinfMeditationen prasentieren lediglich »die Idee der konstitutiven Aufklarung« (VI. eM, 3) und gehen »nicht tiber eine ganz voridujis; und ai(~el1lein gehaltene Charakteristik hinaus« (ebd.).
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aus genannten Grunden unmoglich, auch wenn sie sich ihm »unter der Hand« in seinen Analysen wieder aufdrangte. Man kann sich ihnen aber nicht gut entziehen, wenn man sich urn so etwas wie ein System bemuht. Die husserlsche Phanomenologie ftir diese Probleme empfanglich zu machen, ist u. a. Finks Verdienst. 40 Seine grundlegende Einsicht ist, dass es die Phanomenologie nicht unterlassen kann, Reflexionen zu ihrem System charakter anzusteilen, die nolens volens spekulative Elemente enthalten. Riflexionen auf den Charakter eines Systems und ein Entwuif eines Systems selbst sind jedoch zu unterscheiden: Wahrend die Frage nach dem Systemcharakter das System als gegeben voraussetzt und ,>letzte« Fragen nach Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens steHt, ist die Aufgabe des SystementwuifS, einen Vorausblick auf die Gesamtform oder Gestalt der Einzelanalysen in ihrer Totalitat und ihrem Zusammenhang, womoglich nach einem leitenden Prinzip, zu geben. Zur Frage des Entwurfs: Lehrt ein auch nur yager Uberblick uber das "gelobte Land« (v, 161) der Phanomenologie, dass (mit Heraklit zu reden) aile Pfade zu durchschreiten unmoglich ist, ist ein antizipierender Uberblick iiber diese Region, will man eine "Idee« von dessen Totalitat erreichen, unumganglich. Ein solcher entwerfender Ober-Blick aber ist nichts anderes als, wortlich verstanden, Spekulation. Fink ist iiberzeugt, dass phanomenologische Analyse nicht ohne Spekulation auskommt, ja dass sich beide erganzen. 41 Die Weise, die Systematik zu gestalten, liegt also in einer wechselseitigen Tatigkeit von Analyse einerseits, die ein neuerschlossenes Gebiet konkret bearbeitet, und Spekulation andererseits, die das Gebiet in seiner Ganzheit antizipierend durchIauft und ruckblickend das Erforschte in dieses Gebiet systematisierend einordnet. So ist das System der Phanomenologie prinzipieH offen, da es fUr immer neue Erweiterungen empfanglich sein muss. In dieser Hinsicht Zu Finks Verstandnis der husserlschen Phanomenologie vgl. das zutreffende Urtei! von Husserls friiherer Assistentin Edith Stein: »Bei der Interpretation der Phanomenologie durch Dr. Fink ist zu bedenken, dass er Husserls Einwirkung erst in den letzten Jahren erfahren hat, nachdem das Idealis~ musproblem zentral geworden war; dass er selbst auch durch Heideggers Schule hindurchgegangen ist, ausserdem durch Fichtesche und Hegelsche Ideen bestimmt. die Husserls urspriinglichen Inten~ tionen fernlagen.« Dieses Zitat findet sich im Tagungsband La Phenomenologie,Juvisy, I2 septembre I932, hg. von der Societe Thomiste, Journees d'Etudes de la Societe Thomiste !OJ (in Husserls Bibliothek). 4I Fink notiert sich in privaten Notizen aus dem Jahre I930: ),Das Eigentiimliche der Arbeitsweise E. Husserls ist, dass aile systematischen Entwiirfe keiner konkreter Forschung vorausgehende Kon~ struktionen sind, sondern [sie] wachsert in den Analysen. Aber die Ermoglichung der erftillenden Analysen sprengt wieder den systematischen Entwurf, der somit den Charakter der Beweglichkeit hat. Dies ist ein fundamentaler Grundcharakter der Phanomenologie: trotz aller Strenge das offene System.« (zitiert bei Bruzina I996, 46f.) Dieses offene System ist aber nicht erweiterbar ohne »systematische Vorblicke«. In einer anderen Notiz heiBt es: »Das Verhaltnis von Einzelanalyse und System: [... ] bei Husserl: sein System aus den Einzelanalysen herallsgewachsen. Die paradoxe Situa~ tion, dass die Konkretion der phanomenologischen Philo sophie in den Manuskripten liegt, die aber erst die allgemeinen systematischen Entwiirfe ermoglichen. Andererseits konnen erst im Lichte dieser Entwiirfe die allgemeineren Relevanzen dieser Analysen eingesehen werden.« (ebd., 47) 40
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tragt Fink dem phanomenologischen Prinzip aller Prinzipien, sich von nichts in der Analyse der Sac hen selbst abhalten zu lassen darf, durchaus Rechnung. Ein phanomenologisches System muss eine »flexible Architektonik« haben. Dennoch aber bleibt es ein philosophisches System in dem Sinne, class es sich zur Aufgabe setzt, die Totalitat des »Seins« deskriptiv-sprachlich abzubilden oder unter Begriffe zu subsumieren. Das methodische Vorgehen der sich ablosenden Tatigkeiten von Analyse und Spekulation ist vergleichbar mit dem hermeneutischen Zirkel: Jedes Wissen setzt ein Vorwissen voraus und ist auch von einem Vorblick geleitet. 42 In heideggerscher Diktion formuliert Fink: »Setzt nicht jedes Suchen nach ... bereits schon ein Wissen urn das Gesuchte voraus?« (v!. eM, 41), und Husser! sekundiert, indem er »Wissen« durch » Vorwissen« ersetzt (ebd., Anm. 104). Husser! anerkennt also diese Erganzung Finks, der hier subtil eine hermeneutische Position in die Reflexion zur Systematik einarbeitet. 43 Einzelanalyse und Systemspekulation wechseln einander ab, indem die Einzelanalyse, in ihrem Forschen von einem unbewussten Vorwissen geleitet, ein gewisses Gebiet erschlieBt, welches von einer nachtraglichen Systemreflexion expliziert wird, welche ihrerseits spekulativ einen Systementwurf fur zukiinftige Forschung entwirft, der wieder vom dZleingeld« der Einzelanalyse eingelost wird. Der Systementwurf ist (mit einer beliebten Metapher Husser!s) eine »Abschlagszahlung« einer Rechnung, die durch Einzelanalyse in kleinen Miinzen beglichen werden muss. Man kann bereits hier eine Kritik Finks am Forschungscharakter der Phanomenologie sehen: Eine Reflexion auf die Phanomenologie, ausgeftihrt als eine »Phanomenologie der Phanomenologie«, kann nicht selbst wieder phiinomenologisch - oder nicht nur phanomenologisch - veifahren. Eine hoherstufige Reflexion auf die Phanomenologie ist nur zu einem Tei! phanomenologisch, zum anderen spekulativ, sie vereint demnach urspriinglich entgegengesetzte Disziplinen auf einer hoheren Ebene. Analyse und Spekulation sind die beiden Elemente einer selbstkritischen Phanomenologie. Die bisherige Phanomenologie ware so in einer ersten Stufe steckengeblieben, die eine zu iiberwindende »Naivitat hoherer Stufe«44 ist. Die Einsicht findet sich bereits bei Husser!, aber erst Fink zieht hieraus wirklich die
42 V gl. sz, §]2: Verstehen und Auslegung. Auf S. 42 der VI. CM spricht Fink auch vom »Zirkel des Verstehens«. 43 Sowohl Husser! wie auch Fink formulieren jedoch eine Kritik an dieser Konzeption hinsichtlich der Applizierbarkeit auf die transzendentale Sphare. Beide bestehen darauf, dass der hermeneutische Zirkel nur in natiirlichcr Einstellung gelte und keinen Vorentwurf der transzendentalen Sphare leisten kann. Fink schreibt: »Der )Zirkel des Verstehens< ist aber lediglich die formale Grundstruktur des Verstehens iiberhaupt, solange man in der natiirlichen Einstellung verbleibt.« (VI. eM, 41 f.) Ahnlich Husser!: »Das beschriebene Verhaltnis von Frage und Fragesituation gilt aber nur in der natiirlichen Einstellung.« (ebd., Anm. 107) 44 Vgl. VI. CM, 5: »Wir stehenjetzt nach der Uberwindung der Weltnaivitdt in einer neuen, in einer
transzendentalen Naivitdt. «
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Konsequenz: Eine »kritische« Phanomenologie volIzieht sich in standigem Wechsel von Einzelanalyse und Spekulation. 1st das System als Ganzes eine im Unendlichen liegende Limesidee,45 so ist die Aufgabe, ein Veifahren zur Gestaltung dieses Systems als Wechseltatigkeit von Einzelanalyse und Spekulation zu entwickeln, ebenfalls eine solche Limesidee. Der zweite Teil der genannten Forderung betrifft den Systemcharakter des phanomenologischen Systems. Husserls unartikulierte Position scheint hierzu zu sein, dass das System im Wesentlichen die Summe aller Analysen ist, eine naive Abbi/dung der »Sachen «.46 Es ist »vollendet«, sobaid die konkrete Forschung abgeschlossen ist: eine im Unendlichen liegende Aufgabe. Das Ganze des phanomenologischen Systems ist aber mehr ais die Summe der Teile. Hier kann an das Ende des vorigen Kapitels angekniipft werden, demzufoige die phanomenologische Methode ohne eine Reflexion auf ihr Verfahren, ohne eine »Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion«, noch naiv ist. Naivitat kann jeweils nur durch eine erneute, selbstkritische Reflexion aufgehoben werden. Eliminierung von Naivitat ist somit das Ziel von Wissenschaft iiberhaupt; dies kann jedoch von positiver Wissenschaft nicht geleistet werden. Daher weist die notwendige UnvolIkommenheit jeder »geraden« Wissenschaft eo ipso auf kritisch-reflexive Analyse, die sich selbstkritisch reflektiert. Urn es mit dem Begriffspaar thematisch-methodisch auszudriicken: Thematische Forschung, sofern sie thematisch bleibt, ist solange naiv, ais sie nicht in methodische Reflexion iibergegangen ist. Phanomenologie ist somit im emphatischen Sinn »Reflexionsphilosophie«,47 welche die thematische Forschung,
45
Vgl. hierzu Mertens' Analyse der husserlschen Systematik unter dem Blickpunkt einer sich bewahrenden, im Unendlichenliegendenregulativen Idee (Mertens, 279-84). Den Gedanken der Bewahrung kann man genau auf dieses Verhaltnis von Einzelanalyse und Spekulation applizieren, ins ofern sich beide Elemente gegeneinander bewahren miissen in ihrem kritischen In-Beziehung-Setzen, was nichts anderes ist als ein Bewerten der Einzelanalyse im Hinblick auf das System und die Bewertung des Systems in Verhaltnis zu den Einzelanalysen. 46 Aus einem anderen, nicht ganz unverwandten Zusammenhang kann man eine Kritik Baudrillards an dieser Idee erwahnen: 1m Anschluss an eine Novelle von Borges, nach der der Versuch einer originalgetreuen Nachbildung der Topographie des Landes zu einer Landkarte ftihrt, die so groB ist, dass sie dasselbe iiberdeckt, verwendet Baudrillard diese Geschichte zur Explikation seiner These von der »Simulation« der Wirklichkeit, vgl. Baudrillard 1981, 9f. Die Narration von der Wirklichkeit wird so dominant, dass sie die »wahre« Wirklichkeit iiberdeckt und diese ersetzt. In husserlscher Sprache: Die vollige Explikation der Welt wiirde zu einer vollkommenen Idealisierung ftihren, in der die Lebenswelt nicht mehr zu erkennen ware. Eine vollstandige phanomenologische Aufklarung der Welt ware also nicht nur unmoglich, sondern auch gar nicht wiinschenswert. 47 Diesen Begriffhat Gadamer im Sinne Hegels auch aufHusserl angewendet, wobei dieser Begriffftir ihn eine kritische Grenze markiert, insofern sie idealisierend die Geschichtlichkeit der Erfahrung nicht einholen kann, da sie »ihre Geschichte in sich aufhebt und dadurch ausloscht« (Gadamer 1990, 353). Sein Urteil ist gewiss richtig, wenn es bei der Etikettierung »Refiexionsphilosophie« urn den allgemeinen Denkstil der Phanomenologie geht. Insofern aber die husserlsche Thematisierung der Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament genau diese Refiexivitat wiederum an das faktische Sinnesfundament riickbinden will, ist diese Bezeichnung unangemessen.
r60
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gerade ihre eigene, reflektiert. Phanomenologische Reflexion ist aber eine Riickbeziehung auf sich selbst, die durch radikale Ichspaltung eine neue Forschungsebene etabliert. Diese wird selbst wiederum Gegenstand der thematischen Forschung, die selbst wieder methodisch hinterfragt werden muss. Die Iterabilitat der hoherstufigen Reflexion ist der Grund fur die anscheinend unausrottbare Naivitat, die sich auf jeder reflexiv etablierten thematischen Stufe erneut einstellt, insofern jede einmal erreichte Objektebene wiederum eine Metaebene impliziert. Die die phanomenologische »Elementarlehre« iiberschauende »Lehre« ist somit nicht eine Reflexion auf weitere Ausdehnungen des Systems auf der Objektebene, sondern auf sich selbst. Systematisch kommt die Phanomenologie nur durch eine Selbstkritik zum Abschluss, die aber keine leere hoherstufige Iteration ist, sondern laut Fink eine eigene thematische Untersuchung bedeutet. 48 Eine Bestimmung des Systemcharakters bedeutet nicht eine Vollendung des antizipierenden Systementwurfs - was auf Grund des Limescharakters des Systems unmoglich ist -, sondern die Systemreflexion vollendet sich in einer Autonfiexion des Philosophierenden, dessen Reflexion zugleich eine Reflexion auf den Systemcharakter ist. In diesem Sinne miindet eine Systemreflexion von selbst in eine Methodologie, oder die Methodologie vollendet das System, indem in ihr die Art des Systems bestimmt wird. Die Riickbeziehung der Phanomenologie auf sich selbst in der transzendentalen Methodenlehre ist die radikale Konsequenz aus der Systemforderung, insofern erstens das Verfahren des Systementwurfs in Einzelanalyse und Spekulation nichts iiber die Art des Systems sagen kann - diese Untersuchungsart ware thematisch orientiert - und, zweitens, da jegliche systematische Vollstandigkeit nie durch thematische, sondern nur methodische Analyse, d. h. nur durch selbstbezugliche Riflexion geleistet werden kann. 1st selbst die Reduktion lediglich die » Grundlegung der Moglichkeit zu Philosophieren« (VI. CM, 4), aber noch nicht selbst Methodenlehre, so fordert die Grundlegung der Philosophie die Frage nach der Moglichkeit des Philosophierens, und diese ist Reflexion auf das Tun desjenigen, der philosophiert. In diesem Sinn verlangt die Etablierung des phanomenologisierenden Zuschauers eine Riickbeziehung auf sich selbst, eine Reflexion »des« Zuschauers selbst. Eine Autoreflexion auf das eigene Tun ist per se eine Methodologie. Reflexion nicht auf das System selbst, sondern auf dessen Systematizitat ist identisch mit einer Methodenlehre. Eine Methodenlehre als Autoreflexion des phanomenologisierenden Zuschauers ist, in Finks Worten, eine »transzendentale Selbstverstandigung uber sich selbst« (VI. CM, 9). 48
Fink sagt hierzu: »Haben wir also in der >Methodenlehre< die Selbstvergegenstandlichung eines bereits schon reflektierenden reh, also eine Riiflexion )hiiherer Stufe Zwar trifft auch das in einem ganz formalen Sinne zu, doch miissen wir uns vor Augen halten, dass die transzendentale Reflexion nieht mit einer Reflexion schlechthin verglichen werden kann, als einer blossen Umwendung einer Geradehineinstellung, dass sie keine Reflexion in einem vorbekannten und vorgegebenen Sinne darstellt, also auch nicht mit den Verstandnismitteln des weltlichen Strukturwissens um Reflexion und Reflexionsiterabilitat begriffen werden kann.« (VI, eM, 15)
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Entgegen dem Verfahren der positiven Wissenschaften, das lediglich der Forschung »nachkommt« und »registriert« (ebd.), ist die phanomenologische Reflexionstatigkeit nicht nachhinkend (wie in der natiirlichen Reflexion), sondern produktiv: Die phiinomenologischen Reflexionen »erschlitifJen allererst die Dimension und Stufen konkreter phanomenologischer Forschungen« (ebd.). Der Zuschauer ist nicht ein bloB weiteres Thema der »geraden« phanomenologischen Forschung,49 sondern ein in der thematischen Forschung unthematisierbarer Rest. "Es bleibt also illl Felde der )Transzendentalitat< ein noch Unbegriffenes: eben der phanoillenologisch-theoretisierende >Zuschauer <. Nichts anderes als eben dieser Zuschauer ist das Thema der transzendentalen Methodenlehre.« (VI. eM, 13)
Auch wenn Husserl diese Aufgabe unter dem Titel »Phanomenologie der Phanomenologie« antizipiert, so bleibt er doch weitgehend in Andeutungen stecken, die erst von Fink breiter ausgefUhrt werden, - wenn auch nicht mit voller Zustimmung Husserls.
3.3. Finks Gliederung der phiinomenologischen Systematik am Leiifaden der kantischen Architektonik Es wurde bereits die Schwierigkeit deutlich, in Bezug auf die phanomenologische Forschungsart zwischen methodischer und thematischer Forschung zu unterscheiden; denn die transzendentale Phanomenologie erwachst gerade aus der reflexiven Selbstthematisierung des je eigenen Ich. Die Konstitutionstheorie ist nichts als eine Reflexionen auf die eigenen Leistungen bei der Interaktion eines Subjekts mit der Welt. Versteht man unter »methodisch« eine Reflexion auf die eigene Vorgehensweise und ist die phanomenologische Forschung eo ipso eine Selbstauslegung der »eigenen« transzendentalen Subjektivitat, so konnte man schlieBen, dass diese Unterscheidung fUr die Phanomenologie keinen Sinn hat. Das, was geschieht (die Konstitution von Welt) und wie es geschieht (durch konstitutives Leisten), ist untrennbar. Husserls Begriff des Apriori zeichnet sich aber dadurch aus, dass mit der Reduktion ein eigenes Untersuchungsfeld transzendentaler Erfahrung eroffnet ist, das konkrete Untersuchung fUr den unbeteiligten Zuschauer ermoglicht. Insofern ist die Untersuchung doch thematisch, wenn damit gemeint ist, dass es ein zu untersuchendes Thema gibt: die transzendentalc Subjektivitat.
49 Die Frage nach dem phanomenologisierenden Zuschauer ist etwas vollkommen anderes als die nach der Seinsweise der transzendentalen Subjektivitat, die Thema der thematischen »Elementarlehre« ist: »So ist das unmittelbar und erst Gegebene in der phanomenologischen Reduktion die transzendentale Existenz des egologischen Lebensstromes in der vollen Konkretion seiner lebendigen Gegenwaru (v!. eM, 6)
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»Thematisch« und »methodisch« betonen hier die Kehrseiten einer Medaille: Die Untersuchung ist thematisch beziiglich der konkreten phanomenorientierten Forschung, methodisch, insofern dieser Aspekt eine Selbstthematisierung der eigenen Subjektivitat (in eidetischer Allgemeinheit) bedeutet. Dieses Leisten der transzendentalen Subjektivitat ist aber etwas sich »vor« der mundanen Erfahrung Abspielendes, es ist ein anonym fungierendes, passiv gewordenes Leisten, das erst durch die transzendentale Riickfrage zu Bewusstheit kommt. Die Selbstbefragung, die in phanomenologischer Auslegung vor sich geht, ist insofern kein Sichunmittelbar-Nachgewahren, wie sich die natiirliche Reflexion immer »vorweg« ist. Der unbeteiligte »Zuschauer« selbst ist es, der dieses Leisten und die Weltkonstitution, die immer schon in der Welt »terminiert« ist, beschreibt. Dieses Beschreiben ist also methodisch-thematisch in der beschriebenen Weise. Dennoch aber kann man nicht sagen, dass das methodische, d. i. selbstbeziigliche Element in dieser Forschungsweise ein unmittelbar Gegebenes ist, so wie man in der natiirlichen Einstellung unmittelbar auf eine bereits vorliegende Aktreihe reflektieren kann; in der natiirlichen Reflexion kann das Reflexions-Ich gewissermaBen nie »Abstand« zu sich gewinnen. Den gewinnt der Zuschauer aber durch die Etablierung seiner eigenen Perspektive, durch Abspaltung von der natiirlichen Einstellung im Ganzen. Er beschreibt dann nicht ein aktuelles »Denken im Werden«, sondern den immer schon abgeschlossenen Prozess der Weltkonstitution. Er forscht in dieser Hinsicht nicht anders, als ein Biologe etwa den embryonalen Wachstumsprozess eines Menschen untersucht: Fiir seine Forschung ist es ebenso bedeutungslos, dass auch er einmal ein Fotus gewesen ist. Der Zuschauer hat also ein weites Feld vor sich: die Welt konstituierende transzendentale Subjektivitat; das Gleiche besagt: Es ist ein genuines »Erfahrungsthema« als Sphare der zunachst thematischen transzendentalen Subjektivitat. Diese Forschung, auch wenn sie methodisch-thematisch im beschriebenen Sinn ist, kann jedoch nie die Systematik vollenden, sondern bleibt ihrem Thema verhaftet; diese Vollendung kann nur durch eine kritische Autoreflexion geschehen. Diese sei hier methodologisch genannt. Die der Phanomenologie immanente Reflexivitat, die thematisch und methodisch zugleich ist, muss deutlich von einer methodologischen Reflexion auf den» Vollzieher« dieser Reflexivitat abgehoben werden. Urn diesen Unterschied zu verdeutlichen, greift Fink auf die kantische Unterscheidung von Elementar- und Methodenlehre zuriick. 50 Es ist zu betonen, dass eine solche Terminologie bei Husserl nirgends verwendet wird, und auch vom kantischen Gesichtspunkt aus mag es zweifelhaft sein, diese Architektonik auf das phanomenologische System zu iibertragen. 51 Es bleibe vorerst offen, ob Fink der husserlschen Phano-
50 V gl. Kants Definition von Methodenlehre in der KrV: » Ich verstehe also unter der transzendentalen
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Methodenlehre die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollstandigen Systems der reinen Vernunft.« (A 708/B 736) Das Motiv hierzu konnte von Husser! selbst gekommen sein; in FTL spricht er von einer ersten
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menologie nicht allzu viel Gewalt antut mit dieser »Adaptation«. Was bedeutet die Unterscheidung von Elementar- und Methodenlehre im Rahmen des phanomenologischen Systems? Dies wird durch die »Aufgabenzuteilung« der Elementarlehre deutlich: Diese ist nichts anderes als die thematische Forschung selbst. So ist also das Thema der Elementarlehre die »transzendentale Weltkonstitution in den Synthesen und Einheitsbildungen, Habitualitaten und Potentialitaten des transzendentalen Lebens, das als solches die Einheit einer sich im Konstitutionsprozess vergemeinschaftenden Monadenintersubjektivitat darstellt. Das konstitutive Werden, die transzendentale Kosmogonie, die weltschopferische Aktivitat des Monadenalls ist das durchgangige Thema der transzendentalen Elementarlehre.« (VI. CM, II) Elementarlehre aber fordert systematisch Methodenlehre, das ist die Pointe aus der Kant-Anleihe. Was im Zitat als Forschungsthemen genannt wird, ist also »lediglich« Elementarlehre, die, wenn sie nicht durch eine Methodenlehre erganzt wird, einer (hoherstufigen) Naivitat erliegt. Diese Naivitat wiederum zu eliminieren ist Aufgabe der Methodenlehre - auch wenn diese letztlich moglicherweise diejenige Naivitat verabschiedet, die glaubt, aile Naivitat eliminieren zu konnen. Elimination von Naivitat als philosophisches Programm schlechthin kann also auch heiBen, diesem Eliminationsbestreben Grenzen zu setzen. 52 Im finkschen »Aufriss der phanomenologischen Problematik« ist aber die Etablierung des Zuschauers weder Teil der Methoden- noch der Elementarlehre, sondern diesen beiden Disziplinen in der erneuten Darstellung sogar noch vorgeordnet. So sieht der schematische Plan der ersten beiden Abschnitte (von insgesamt vier) wie folgt aus: »I.
Selbstbesinnung des Menschen, radikalisiert zur
Phanomenologischen Reduktion: anfangliches scheinbares Subjekt derselben der Mensch; im Vollzug Einklammerung des Menschen, beschlossen in der Welteinklammerung, verwandelt in den transzendentalen Zuschauer [... ].«
II.
(VI. CM, 13)
Auch wenn mit einer Besinnung tiber den Sinn der phanomenologischen Reduktion methodologische Fragen im pragnanteren Sinne bereits bertihrt sind, so ist damit noch nicht gesagt, dass von der Ordnungsreihenfolge des methodischen Vorthematischen »Grundstufe« der Phanomenologie, »die in einem neuen Sinne )transzendentale Asthetik< (so genannt vermoge einer leicht fassbaren Beziehung zur engumgrenzten Kantischen)« (XVII, 297). Diese »Beziehung« wird aber nicht weiter vertieft. Als Nkhstes folgt hier eine »idealisierend-logifizierende Wissenschaft« (ebd.). 52 So konnte man etwa das Selbstverstandms der Hermeneutik beschreiben, der es darum geht, das Vorurteil der Vorurteilslosigkeit seinerseits als vorurteilsvoll zu enthiillen und die aufklarerische Diskreditierung des Vorurteils riickgangig zu machen. Gadamer spricht hier auch von einer »Rehabilitierung des Vorurteils«, vgl. Gadamer I990, 28r.
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gehens her der Zuschauer erst etabliert werden muss, ehe iiberhaupt mit der Forschung begonnen werden kann. Faktisch muss also der Zuschauer schon etabliert gewesen sein; die ersten Analysen wurden gewissermaBen »blind« durchgefuhrt. Diese »Blindheit« ist nach Fink die hoherstufige Naivitat. Sieht man aber das phanomenologische System »vom Ende her«, von der vollzogenen Methodenlehre aus, ist kIar, dass vor der Elementarlehre strenggenommen eine eigene Etablierung des Zuschauers erst stattfinden musste, wollte man bereits im Systemaujbau jeglicher methodologischer Naivitat entrinnen. 53 Fink optiert also dafUr, dass vor der thematischen Forschung die Methodologie des Zuschauers an erster Stelle stehen miisse, die sich nicht in einer kurzen »Fundamentalbetrachtung« erschopfen kann; dadurch dreht er Husserls Vorgehen geradezu urn, insofern schon am Beginn des ganzen Projektes methodologische Prinzipieniiberlegungen stehen mussen, die das thematische Vorgehen erst ermoglichen. Es ware also naiv zu glauben, man konne ohne methodologische Vorbereitungen zu den Analysen selbst »springen«, wohingegen bei Husserl die thematische Forschung erst spater, nach »getaner Arbeit«, durch eine nachkommende Selbstkritik vollendet werden solI. Dies wird auch durch Husserls Plan fur das »groBe systematisches Werk« aus demJahre 1930 bestatigt, in dessen auffunfBande angelegter Gliederung die Probleme der hoherstufigen Kritik und des unbeteiligten Zuschauers uberhaupt nicht auftauchen: Der I. Band enthalt die »Grundlegung zur egologischen Bewusstseinslehre (allgemeine Theorie der Intentionalitat in ihren wesensallgemeinen Gestalten und Modifikationen)« (xv, XXXVI). Die Bande II-IV befassen sich mit den kIassis chen Themen der husserlschen Phanomenologie (Konstitution von Raum und Zeit, Selbstkonstitution, Intersubjektivitat); der v. Band schlieBt, nach den Problemen der Generativitat, mit den »teleologische[n] und Gottesprobleme[n].« (ebd.) Die Methodenreflexion kommt, wenn iiberhaupt, anscheinend erst danach und ist nicht im eigentlichen Sinn Teil des Systems. Allerdings kann die Einsicht, dass vor der Elementarlehre noch eine zumindest vorlaufige Methodenreflexion stehen muss, erst dann erwachsen, wenn man die eigentliche, der transzendentalen Elementarlehre nachkommende Methodenlehre durchlaufen hat. Das ist ein Echo der Denkfigur, gemaB der man von der natiirlichen Einstellung nur sprechen kann, wenn man sie bereits verlassen hat.
53 Es ist also die Frage, ob es im methodologisch »gelauterten« phanomenologischen System noch eine »notwendige« Naivitat geben muss (wie es in Finks Kantstudienaufsatz heiBt). Die Plane sowohl des Systermtischen Werkes von I930 als auch der der VI. Meditation scheinen darauf hin zu deuten, dass diese erste Naivitat in der ersten Darstellung durch eine sich vollkommen durchsichtige Neudarstellung im vollstandig ausgearbeiteten phanomenologischen System ersetzt werden muss. So J;isst sich auch Finks wiederholte Mahnung verstehen, nach der die VI. Meditation lediglich der Entwurf oder die »Idee« einer Methodenlehre sei. So ware die Naivitat nur notwendig in der »aller«-ersten Durchfuhrung und konnte wie die beriihmte Leiter, auf def man emporsteigt, weggeworfen werden.
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Bereits hier zeigen sich Differenzen zwischen Husserl und Fink in der Auffassung des Systembeginns bzw. der Einleitung in das System. Finks Beharren auf dem Andie-Spitze-Stellen der Etablierung des Zuschauers hangt zusammen mit seinem Bevorzugen des cartesianischen Weges, der von Husserl spatestens ab 1923/24 nur noch als ein Weg neben anderen angesehen wird. So ist auf ein Problem des finkschen Einleitungsversuchs hinzuweisen. Dieses liegt in der Auslassung im oben Zitierten aus den ersten zwei Hauptpunkten des Systems, die Passage lautet vollstandig: »n. [... J anfangliches scheinbares Subjekt derselben der Mensch; im Vollzug Einklammerung des Menschen, beschlossen in der Welteinklammerung, verwandelt in den transzendentalen Zuschauer, dieser reduziert auf das transzendentale Weltkonstituieren.« (VI. eM, 13) Die Einsicht in diese Form der Einleitung kann erst nach dem Durchlaufen der Elementarlehre erfolgen. Wichtigstes Ergebnis aber dieser bei Husserl ist, dass sieh die Sphare der transzendentalen Subjektivitat zur transzendentalen Intersubjektivitat erweitert. 54 Miisste dies nicht dazu ftihren, auch die Einleitung, sowie die gesamte Elementar- und Methodenlehre von vornherein intersubjektiv darzustellen? In der Tat ist die moglichst friihzeitige Einfuhrung der Intersubjektivitatsproblematik ein Anliegen in Husserls Umarbeitungsversuchen cler CM. 55 Wenn nun Fink den Zuschauer in seiner »Einzigkeit«56 auf das »transzendentale Weltkonstituieren« recluziert, wird es schwierig, auch in der Elementarlehre iiber den solipsistischen Status hinauskommen. Das Problem hierbei ist, dass Fink selbst dem cartesianischen Weg verhaftet bleibt. Fink wird sich dessen an zahlreichen Stellen in der VI. Meditation bewusst, wo er darauf hinweist, dass diese Schrift lediglich der »Entwurf« einer Methodenlehre sei und die ganze Untersuchung auf der intersubjektiven Stufe wiederholt werden miisse (vgl. VI. CM, 6). Dass die Methodenlehre nach Finks Auffassung schlieBlich in eine intersubjektive Dimension »miindet«, ist kein Widerspruch zu dieser kritischen Feststellung; aber da die Methodenlehre bereits die hoherstufige Darstellung ist, die immerhin als VI. Meditation die ftinf vorherigen und also 54 Vgl. eM, insbes. §§40f., sowie Zahavi 1996, II if. 55 Vgl. B I 38/158-59 (vom Oktober 1929), wo Husser! sogleich die Intersubjektivitat auf den »mitphanomenologisierenden Anderen« ausdehnt, bzw. die Leistung des Anderen in Anschlag bringt fur das eigene Verstandnis seiner selbst: »Um zu verstehen, wie ich, als transzendentales Ego und mich selbst als transzendentales Ego erfahrend, auch andere transzendentale Egos erfahre, und wie ich das Phanomen Welt nur habe, Einheit einer Welt nur konstituieren kann dadurch, dass ich schon mitfungierende Alter Egos habe, also sie fUr mich als wirklich mitseiende, und zwar transzendental mitseiende konstituiert habe, muss ich oifenbar die Auslegung durchftihren, die ich als transzendentale Theorie der Intersubjektivitat ausgeftihrt habe. « (B 1 38/ 159b) 56 Die Betonung der »Einzigkeit« des Menschen in seiner »Weltsituation«, die ihn zum Zuschauer »verwandelt«, wird besonders deutlich im finkschen Anfangsstiick aus demJahre 1930, in VI. CMh, II-I05·
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die Intersubjektivitatsthematik voraussetzt, hatte die Darstellung nicht mehr dem J1:QWlOV 'lj}lovbol:,; der methodischen Einschrankung verfallen durfen. Es soIl nun im Folgenden die Aufgabe der Methodenlehre umrissen werden, die bisher noch reichlich vage war. Die Aufgabe ist, wie aus dem Systementwurf in der VI. Meditation hervorgeht, eine doppelte. Zunachst geht die Architektonik des Systems uber die »gerade« Phanomenologie (die Elementarlehre) hinaus. Also noch vor der Selbstkritik des Zuschauers in der »eigentlichen« Methodenlehre soIl ein systematischer Uberblick uber das System selbst gegeben werden. Diese Aufgabe ist wieder zweifach unterteilt: erstens in die systematische Einteilung der thematischen Forschung, die sodann, zweitens, von einer »konstruktiven Phanomenologie« gefolgt wird. Die Einteilung der Elementarlehre, die von der Perspektive der Methodenlehre aus unternommen wird, ist selbst methodologisch, d. h. nach der Untersuchungsweise des Zuschauers selbst ausgerichtet. Die Einteilung der Elementarlehre durch den Zuschauer ist also nicht »objektiv«, nach dem thematischen Sachgebiet, sondern »subjektiv« gerichtet: Es geht nicht urn die Regionen der Untersuchung, sondern urn die Untersuchungsart derselben durch den Zuschauer. In diesem Sinne sind die Untersuchungsweisen korrelativ: Die Systematik der Elementarlehre teilt die Welt ein in Regionen (»Elemente«), die der Methodenlehre teilt jene Regionen ein in die jeweilige der Region korre/ative Untersuchungsart. Es geht also in der Methodenlehre urn die Frage, was der Zuschauer in der jeweiligen Disziplin der Elementarlehre »tut«. Hierbei halt sich Fink weiterhin das kantische Grundgerust. Die Elementarlehre teilt sich in transzendentale Asthetik und Analytik, sowie Dialektik. Es ist nun die Frage, welche der phanomenologischen Disziplinen jeweils mit diesen Begriffen gemeint sind, bzw. genauer: welche Disziplinen in der Elementarlehre ihnen entsprechen; denn diese bezeichnen nicht die »geraden« Disziplinen, sondern die Weise, wie der Zuschauer sie aujuhrt: »[Die transzendentale Elementarlehre Jist zunachst >transzendentale Asthetik <: d. h. die Auslegung des )Weltphanomens<, Auslegung der cogitata als cogitata und ihrer Universalstrukturen, Deskription der Geltungen und der Geltungseinheiten rein als solcher, der Strukturtypik und wesensmaBigen Formen [... J. Zum zweiten ist die transzendentale Elementarlehre regressive Phanomenologie (die wir nur nach ihrer ersten Stufe entfaltet haben):57 Riickfrage von den Lebenseinheiten der transzendentalen Welterfahrung, den Akten, in die konstituierenden Tiefenschichten des transzendentalen Lebens. (Diese konnen wir auch als die )transzendentale Analytik< bezeichnen.)« (VI. eM, II f.) 57 Fink bezieht sich hier auf die Leistung der vorangegangenen ftinf Meditationen: die Methode der genetischen Phanomenologie ist in den eM lediglich angedeutet. So sagt Husser! etwa zu Beginn des § 34: » Mit der Lehre vom Ich als Pol seiner Akte und als Substrat von Habitualitaten haben wir schon, und in einem bedeutsamen Punkt, die Problematik der phanomenologischen Genesis beriihrt, und damit die Stufe der genetischen Phanomenologie.« (I, 103)
ZUR ARCHITEKTONIK DES PHANOMENOLOGISCHEN SYSTEMS
Es ist leicht zu sehen, dass mit der der transzendentalen Asthetik in der Elementarlehre die statische Phanomenologie gemeint ist. 58 Die der transzendentalen Asthetik entsprechende Tatigkeit des Zuschauers ist aber »Auslegung« dieser statischen Phanomene: Es geht auf dieser hoheren Stufe der Analyse also nicht urn ~)das eidetische Problem einer moglichen Welt uberhaupt als Welt >reiner Eifahrung«( (FTL, 297), sondern urn die Wahrnehmung des Zuschauers bei diesem statischen Analysieren. Dementsprechend ist mit der »transzendentalen Analytib als »Ruckfrage in die konstituierenden Tiefenschichten« die der genetischen Methode entsprechende Disziplin auf methodologischer Seite gemeint. Genetische Phanomenologie als Methode der Elementarlehre im Sinne der genetischen Konstitutionsforschung entspricht der transzendentalen Analytik als der Untersuchungsart des Zuschauers bei dieser Analyse. Sie beschaftigt sich nicht mit den thematischen Analysen der Elementarlehre, sondern mit der Art, in der der Zuschauer diese Analysen vollzieht, sie fragt nach der Art seines »Dabeiseins«. Diese beiden Disziplinen subsumiert Fink unter den Titel »regressive Phanomenologie«,59 die erst in Kontrast zur zweiten Hauptdisziplin der Elementarlehre, der ~)konstruktiven Phanomenologie«, Sinn erhalt. 60 Mit der regressiven Methode ist der ~)Regress« in die konstitutiven bzw. konstituierenden Tiefenschichten der transzendentalen Subjektivitat gemeint als Ruckgang von der »fertigen« Welt in die konstitutiven Schichten und, gleichzeitig, der Ruckgang von der naturlichen zur phanomenologischen Einstellung. Es geht also urn einen »Abbau«,61 der dann von einem »Autbau« gefolgt wird als Aufgabe der konstruktiven Phanomenologie. Dabei darf man sich das Verhaltnis von Ab- und Autbauanalyse nicht so vorstellen, als wenn eine Konstruktion erst demontiert und wie ein Bausatz sodann wieder zusammengesetzt wurde. Vielmehr meint die konstruktive Phanomenologie von der Warte der Methodenlehre aus anscheinend das, was bei Husserl unter dem Titel einer phanomenologischen »Metaphysik« fungieren wurde. Fink bezeichnet sie als:
58 Auch Husserl verwendet den kantischen Terminus »transzendentale Asthetik« als Element der transzendentalen Logik. Vgl. den Passus in FTL, XVII, 297, auf den sich Fink hier zu beziehen scheint. 59 In der zitierten Stelle formuliert es Fink so, als ob nur die transzendentale Analytik die regressive Phanomenologie sei. Der Plan auf VI. eM, I3 lasst aber erkennen, dass beide Disziplinen zusammengenommen unter diese Kategorie fallen. Dort teilt sich die transzendentale Elementarlehre auf in a) regressive und b) konstruktive Phanomenologie; a) wiederum teilt sich in transzendentale Asthetik und Analytik. 60 1m Entwurf des Anfangsstiicks von I930 bezeichnet Fink diese noch als »progressive Phanomenologie<<. Dass er spater »progressiv« durch »konstruktiv« ersetzt, mag wohl daran liegen, dass er die regressive und konstruktive Phanomenologie nicht als zwei gleiche oder analoge, nur in der »Richtung« verschiedene Disziplinen verstanden haben moehte. 6I Vgl. etwa VI. eM, 55 (im §6. Das Phanomenologisierenals regressivesAnalysieren): »Gehen wir z.B. in die in der transzendentalen Welterfahrung implizierten, tieferen Schichten des konstituierenden Lebens zuriick, bauen wir die im aktuellen Striimen >jertiJ(e< Subjektivitat ab [... J.«
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»die Gesamtheit aller die reduktive Gegebenheit des transzendentalen Lebens in motivierten Konstruktionen iibersteigenden phanomenologischen Theorien. Hat die regressive Phanomenologie das konstitutive Werden der Welt zum Thema, soweit es durch die Methode der intentionalen Konstitutionsanalyse als gegenwiirtiges und vergangenes Werden in dem durch die Reduktion gegebenen Bestande des transzendentalen Monadenalls zur Ausweisung kommt, so hat dagegen die konstruktive Phanomenologie u. a. die transzendentalen Fragen nach >Anfang ( und >Ende ( der egologischen sowie der intersubjektiven Weltkonstitution aufzuwerfen und zu (VI. eM, 12) beantworten.«
Soweit Finks Gliederung der »Elementarlehre« aus der Perspektive der Methodenlehre. Wahrend die Elementarlehre zur Aufgabe hat, die thematische Forschung »gerade« auszufUhren ohne Reflexion auf den Vollzieher derselben, geht es in der Methodenlehre darum, das »Tun« und »Dabeisein« des Zuschauers hierbei, sein »Phanomenologisieren «, zu untersuchen. Die Doppelheit der auf die Elementarlehre beziiglichen Methodenlehre ist also: erstens die Gestaltung des Systems der thematischen Forschung als »Elementarlehre«, eine Charakterisierung, die der »geraden« Forschung erst nachkommt; zweitens die Bestimmung der der thematischen Forschung »korrelativen« Disziplinen auf der Stufe der Methodenlehre. So ist das »Thema« der Elementarlehre, so Fink, die »Weltkonstitution«, das »Subjekt« (VI. eM, 13) als Vollzieher derselben der Zuschauer; dementsprechend ist die Aufgabe eine doppelte, namlich die Analyse des Themas durch dieses Subjekt und diejenige des Subjekts in seiner Tatigkeit des Thematisierens. Was ist nun mit der »eigentlichen« Methodenlehre gemeint? Wahrend es die Untersuchung der Methodenlehre beziiglich der Elementarlehre mit der Art des Dabeiseins des Zuschauers bei dieser thematischen Forschung zu tun hat, geht es der »eigentlichen« Methodenlehre urn den Zuschauer selbst. Dies setzt voraus, dass er sich selbst voll durchsichtig geworden ist. Urn eine terminologische Feinheit aufzugreifen, kann man sagen, dass das Tun des Zuschauers in der Elementarlehre in phanomenologischer Einstellung geschieht. Sofern aber dieses Tun sich wiederum selbst reflektiert, wird die phanomenologische zur phanomenologisierenden Einstellung. Der gespreizt klingende Begriff »das Phanomenologisieren« weist auf diese methodologische Ebene hin. Wahrend also in der Elementarlehre das »Thema« des Zuschauers die »Weltkonstitution« ist, ist sein Thema in der Methodenlehre er selbst;62 Subjekt und Thema sind identisch. Was kann hiermit gemeint sein? Womit kann sich die Methodenlehre noch beschaftigen, wenn sie hinsichtlich der Elementarlehre schon das Phanomenologisieren in dessen moglichen Anwendungsarten untersucht? 1st» Selbstthematisieren« nicht ein leerer BegrifI? Man kann sich die Zielsetzung der Methodenlehre folgendermaBen klarmachen: Geht es in ihr in Bezug auf die Elementarlehre darum, das phanomenologische Tun bei seiner Forschungstatigkeit zu beobachten, handelt die 62
Vgl. das Schema
VI. eM, 13.
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Methodenlehre vom Tun des Zuschauers ohne Bezugnahme auf sein Forschen, sondern von dies em Tun selbst in seiner ihm eigenen »Existenzweise«. Es geht also urn den ontologischen Status des transzendentalen Subjekts, das als unbeteiligter Zuschauer sich selbst thematisch wird. Dieser Status Iasst sich nur begreifen in Abgrenzung von dem, wovon sich das Phanomenologisieren entfernt hat, von der natiirlichen Einstellung: Die Methodenlehre thematisiert die phanomenologisierende Einstellung in ihrem Verhaltnis zur natiirlichen Einstellung. In diesem Sinn besteht eine wesentliche Beziehung zwischen beiden Einstellungen, sofern der Vollzieher dieser Gedankenbewegung, von der natiirlichen in eine »unnatiirliche« Einstellung iibergehend, ein und derselbe Mensch ist. 1m Zuge dieser radikalen Selbstthematisierung richtet er sich auf sich selbst, er vergegenstandlicht sich also. Die Methodenlehre »ist SOlnit nichts anderes als der Prozess seiner Selbstvergegenstandlichung. Der transzendentale Zuschauer richtet sich erkennend auf sich selbst, tritt in die Haltung der Reflexion ein. [ ... J Die Rcflexion der transzendentalen Methodenlehre macht das unthematische Sichselbstwissen des phanomenologisch-thematisierenden Ich zu einer ausdriicklichen Selbstthematik.« (v!. eM [ 4) Husser! erganzt: »In diesem Sinne vorgegeben, unthematisch schon bereit ist alles, was der Zuschauer entdecken mag.« (ebd., Anm. IS)
Wahrend also die Elementarlehre mit der Weltkonstitution zu tun hat und dementsprechend die hieraufbezogene Methodenlehre vom Beobachten dieses Vorgangs handelt, geht es in der Methodenlehre nicht urn Konstitution: Alles »ist schon bereit« und »vorgegeben«, und nun kann der Zuschauer sich auf sich selbst in seinem von der natiirlichen Einstellung radikal unterschiedenen Tun richten. Die »eigentliche« Methodenlehre handelt demnach vom Verhaltnis beider fundamentaler Einstellungen zueinander und von der »Denkbewegung«, die das konkrete reflektierende Subjekt, der sich aus der natiirlichen Einstellung erhebende und philosophisch zu sich selbst kommende Mensch, vollzieht. 1st die Architektonik des Systems der Phanomenologie in seiner Gliederung in Elementar- und Methodenlehre im Aufriss dargestellt, stellt sich im Ausgang der nun zu behandelnden Methodenlehre die Frage, wie sich der phanomenologisierende Zuschauer selbst thematisch wird. Wie bereits gezeigt, ist der Zuschauer nach der Epoche nicht mit einem Schlage »da«, sondern bildet zunachst seinen thematischen Bereich, und sich selbst a fortiori, erst schrittweise heraus. Als die Moglichkeit, erstmals die natiirliche Einstellung zu verlassen, wurde die radikale Ichspaltung aufgewiesen. Urn den »phanomenologisierenden« Zuschauer hervortreten zu lassen, sind im transzendentalen Bereich selbst weitere Spaltungen notig.
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3 -4. Die weiteren Spaltungen in der Methodenlehre. Die vollstiindige Freilegung des Zuschauers
3·4· I. Der Bruch zwischen konstituierendem und phiinomenologisierendem Ich »Etablierung des unbeteiligten Zuschauers« handelt yom Zustandekommen und der »Seinsweise« dieses Zuschauers. Fink kritisiert damit, dass ftir Husserl mit dem Akt der Welteinklammerung der Zuschauer anscheinend »mit einem Schlage« (VI, 242) da ist. Allerdings vermag erst die Ichspaltung die Abspaltung von der natiirlichen Einstellung zu bewirken. Insofern die transzendentale Subjektivitat mehr umfasst als ein pures cogito, bleibt auf der Seite des Analytikers nach der Epoche ebenfalls mehr als ein pures zuschauendes »transzendentales Ego« iibrig. 1st die transzendentale Subjektivitat ein genuines Feld der Forschung, so muss sie mehr sein als bloB ein sich selbst thematisierender >>unbeteiligter Zuschauer«. Das Problem bei Husserls erster Durchftihrung der Reduktion kann auch so formuliert werden: Er macht nach der Reduktion keinen expliziten Unterschied zwischen transzendentaler Subjektivitat und dem diese beschreibenden Zuschauer. Das ware ftir Husserl auch nicht unbedingt notig; denn der Zuschauer beschreibt sich ja selbst in seinem fungierenden konstitutiven Leisten. Die »Gehalte« der transzendentalen Selbsterfahrung »sind« nichts anderes als die Strukturen der transzendentalen Subjektivitat (vgl. VIII, 82ff.). In der Analyse der transzendentalen Subjektivitat beschreibt der Zuschauer den Prozess der Konstitution, die aber Konstitution von Welt ist. 1st Welt etwas, das schon vor jeder individuellen Existenz vorhanden war und Horizonte enthalt, die nicht von mir selbst konstituiert worden sein konnen, so kann man die Tragweite des Konstitutionsprojektes ermessen: Ist Welt als TotalbegriffGegenstand von Konstitution, dann ist das Konstituierende - was nur unangemessen »transzendentale Subjektivitat« heiBt - mehr, als der Name suggeriert: Sie ist eine genetisch verfasste transzendentale Inter-Subjektivitat. 63 Ein »Zuschauer« hingegen kann nur ein Individuum sein, das sich zwar von der natiirlichen Einstellung abspaltet, damit aber nicht seine Individualitat abstreift und ins Intersubjektive »verstromt«. Gegeniiber der Ausweitung der transzendental-subjektiven Sphare in die intersubjektive in der thematischen Konstitutionsforschung muss gerade die Einzigkeit des Zuschauers als das »absolut einzige ego« (VI, 260) betont werden. 64 Doch »terminiert« die weltkonstituierende transzendentale Intersubjektivitat immer schon in der Welt, somit
63 Vgl. xv, 74ff. Vgl. hierzu auch Zahavi 1996, 53. 64 Vgl. Zahavi 1996, 54: "Es muss somit differenziert werden: Einerseits die transzendental-phanomenologisierende Subjektivitat, andererseits die transzendentale Subjektivitat schlechthin, und diese letzte erweist sich dann als die transzendentale Intersubjektivitat.«
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ist auch das Ich der natiirlichen Einstellung a1s welthaftes oder »weltbefangenes«65 Produkt einer Konstitution. Demgegeniiber ist die phanomeno10gische Methode ein »regressives« Verfahren, das den immer schon terminierten Prozess »rUckwarts« geht (»abbaut«). Somit ist sowoh1 das Ich der natiirlichen wie der phanomeno10gisierenden Einstellung durch eine Doppelheit charakterisiert: Man kann vom Ich sprechen einerseits a1s Konstitutionsprodukt, andererseits a1s in einer Einstellung befangen, insofern es zum Ich gehort, immer in einer Einstellung zu 1eben. 66 Das Ich 1ebt sich aus in einer Einstellung, aber diese Einstellung ist, wie alles Weltliche, konstituiert. Also muss auch die phanomeno10gisierende Einstellung, a1s Einstellung eines Menschen, konstituiert sein, obg1eich er a1s an der We1tkonstitution unbeteiligter Zuschauer in Erscheinung tritt und insofern nicht mehr natiirlich eingestellt ist. Konstitution ist aber Thema der E1ementarlehre. Man kann also, gewissermaBen a1s Umkehrsch1uss, fo1gern, dass es die Methoden1ehre mit dem Einstellungsphanomen zu tun hat, was der Begriff» Phanomeno10gisieren« a1s Tatigkeit des Zuschauers nahe 1egt. Es geht also nicht urn die Konstitution von Ich; denn die Konstitution des Ich a1s phanomeno10gisierenden fillt unter die Konstitution von Ich iiberhaupt. Welche Einstellung das Ich einnimmt, ist fur dessen Konstitution nicht entscheidend. 67 Andererseits bedeutet die Rede vom Ich als Einstellungsphanomen, dieses a1s bereits konstituiertes aufzufassen. Auch wenn Husserl zunachst vom »phanomeno10gischen Ich« redet und damit die Selbstthematisierung des Ich als transzendenta1 Leistenden meint, wodurch die Differenz beider Thematisierungsweisen verwischt wird, nimmt ihn Fink hier gewissermaBen beim Wort, wenn er die Unmoglichkeit betont, den Zuschauer mit dem »transzendenta1en Ich1eben« zu
65 Bruzina schtigt daher im Sinne Finks vor, den Begriff »naturliche Einstellung« durch »Weltbefangenheit« zu ersetzen. S. Bruzina 1995, LII: »[ ... ] because )natural attitude, was too ambiguous a term, Fink replaced it in his own thinking with the one used regularly in the Sixth Meditation: )captivation in/by/to the world, [Weltbifangenheit].« Dieser Begriff scheint mir jedoch zu eng, da »Weltbefangenheit« lediglich den methodischen Aspekt des naiven Befangenseins in der Welt betont. 66 Von daher ist auch nicht nachvollziehbar, weshalb Fink, nach Bruzinas Auffassung, das Menschsein (» human being«) mit der naturlichen Einstellung identifizieren soli: »Here is where Fink goes further than Husser! had [ ... ] in identifying human being with the >natural attitude, [ ... ].« (Bruzina 1995, Lll) Das Ich ist als »egologische[r] Lebensstrom in der vollen Konkretion seine lebendigen Gcgcnwart« (v!. eM, 6) nicht identisch mit dem Ich als Einstellungsphanomen und als solcher egologische Lebensstrom fur Fink Thema der Elementarlehre. In der Methodenlehre freilich wird das Ich thematisiert in Hinblick auf seine Einstellung, aber es ware schief, den »Menschen« in seiner Konkretion mit der naturlichen Einstellung zu identifizieren. 67 In diesem Sinn hat auch das phanomenologisierende Ich etwa ein Zeitbewusstsein und sich formende Habitualitaten, die einen Sril herausbilden wie jeder andere »Beruf« auch. Vgl. VI, 140: »Es hat gute Grunde, warum ich das Berufsartige auch der Einstellung des )Phanomenologen, so scharf hervorgehoben habe. Es ist ein Erstes der Beschreibung der hier fraglichen Epoche, dass sie eine habituelle Vollzugsepoche ist, die ihre Zeiten hat, in denen sie sich in Arbeit auswirkt, wahrend andere Zeiten irgendwelchen anderen Arbeits- oder Spielinteressen gewidmet sind [... ]. «
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identifizieren - welches rechtverstanden intersubjektiv ist -, und statt dessen den »Dualismus des transzendentalen Leben« (VI. CM, 24) hervorhebt. Neben die »primare« Ichspaltung als Abspaltung von der natiirlichen Einstellung tritt also eine radikalere Spaltung: zwischen dem phanomenologisierenden Ich und der transzendentalen Subjektivitat. Diese Unterscheidung ist jedoch eine andere als die zwischen einer Sondereinstellung innerhalb der natiirlichen Einstellung und der phanomenologischen Einstellung einer- und dem Ich als konstituiertem Phanomen andererseits; denn der Zuschauer hat sich bereits von der natiirlichen Einstellung abgespalten und halt sich in der transzendentalen »Sphare« als Horizont seines Interesses. Er ist in der »Abbauanalyse« »hinter« die Endgestalt der terminierten Konstitution zuruckgegangen. Die zweite Spaltung ist also nicht nur die in konstituierende transzendentale Subjektivitat und einstellungshaftes (»einstellungsverhqfietes«) Ich, sondern eine Spaltung zwischen transzendentaler Subjektivitat und phanomenologisierendem lch in der Sphare der Transzendentalitat. Diese Spaltung kann sich hier ereignen, wenn das Ich sich erst auf dieser Stufe seiner selbst als einstellungshaft bewusst wird und ferner des Unterschieds seiner selbst von der transzendentalen Subjektivitat. In diesem Dualismus »grundet die Problematik der transzendentalen Selbstbezogenheit« (VI. CM, 24). So ist also diese Spaltung eine im doppelten Sinne hoherstufige: Erstens setzt sie die Abspaltung des Zuschauers von der natiirlichen Einstellung voraus. Zweitens geht ihr die Spaltung zwischen beiden IchbegriffenIch als Einstellung-iiberhaupt und als transzendental Konstituierendes - vorweg. Die hoherstufige Spaltung innerhalb des transzendentalen Bereichs wird zwar durch die friiheren Spaltungen vorbereitet, kommt aber erst hier zu Bewusstsein: » Wohl steht [das phanomenologisierende Ich1 in einer )Personalunion < mit dem ihm thematischen transzendentalen Ichleben. Aber mit dem Vollzug der phanomenologischen Reduktion hat sich innerhalb des transzendentalen Seins cine radikale Spaltung vollzogen. Das phanomenologisierende Reflexions-Ich steht in einem tieferen Kontrast zu dem transzendentalen Leben, das es in seinet'8 weltkonstituierenden Bewegung thematisch macht, als je ein Reflexions-Ich in der natiirlichen Einstellung zu dem reflektiv erfassten Ichleben.« (VI. eM, I2)69
Husserl verbessert »seiner« vollig richtig zu »dessen« (ebd., Anm. 12), weil »seiner« den Bezug zu »Refiexions-Ich« suggerieren konnte. Nur hinsichtlich des transzendentalen Lebens kann von »Weltkonstitution« die Rede sein, wohingegcn der Zuschauer gerade durch sein Unbeteiligtsein an der Konstitution definiert ist. 69 Vgl. auch aus Finks privaten Aufzeichnungen (z -IV, urn 1928-29, II3a/b): »Transzendentale und naturliche Einstellung verhalten sich zueinander in einem gegenseitigen Umgriff: die )transzendentale Einstellung< ist ein Vorkommnis in der naturlichen Welt und andererseits ist die naturliche Einstellung eine notwendige (keine zufallige) Weise der Selbstapperzeption der transzendentalen Subjektivitat. Die restlose Aufklarung dieser eigenartigen Ruckbezuglichkeiten und Verschlungenheiten aber ist allererst in der transzendentalen Einstellung moglich, in ihr wird transzendental verstandlich, wie die >transzendentale Einstellung< als )Phanomenologie< selbst mundanisiert und damit verendlicht und relativiert wird.« 68
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Fiir dieses hoherstufige Spaltungsphanomen soll der Begriff Bruch verwendet werden. Strenggenommen impliziert Spaltung ein Auseinander eines Selben, was im Rahmen der Ichspaltung als Spaltung von Einstellungen Sinn ergab: Sowohl die Spaltungen innerhalb der natiirlichen Einstellung als auch die Abspaltung von ihr ergeben Einstellungen. Hier aber bricht der transzendentale Bereich selbst auseinander in zwei vollig verschiedene »Seins«-Arten. Die transzendentale Subjektivitat als weltkonstituierende kann bei ihrer intersubjektiven Ausweitung letztlich nicht mehr als »ichlich« bezeichnet werden; sie ist als das der Welt als Totalitat des Konstituierten absolut Entgegengesetzte selbst das Absolute, da sie die Welt selbst auch noch umfasst,7° bzw. sich die Welt als »Endstufe« eines umfassenderen konstitutiven Prozesses erweist. Demgegeniiber ist das Phanomenologisieren »nur« eine Einstellung eines Menschen, der sich aus der natiirlichen Einstellung befreit und den Konstitutionsprozess beschreibt, sich damit aber nicht »de-konstituiert«, sondern lediglich als an der Konstitution unbeteiligter Zuschauer transzendentale Forschung treibt. Das provoziert die Frage nach dem Verhaltnis von Zuschauer und natiirlichem Ich, wenn der Zuschauer letztlich ein Mensch ist. Der Zuschauer ist transzendental eingestellt, gleichzeitig aber steht er immer noch als Mensch mit» einem Bein« in der Welt. Es weist aber von der natiirlichen Einstellung kein »automatischer« Weg in die Reduktion, und wo keine Motivation existiert, kann es auch kein Vorwissen yom zu Erforschenden geben. M. a. W, der Bruch zwischen transzendentaler Subjektivitat und Zuschauer kann sich erst im transzendentalen Bereich ereignen und ist nicht ein Bruch zwischen Ich-Sein und Ich-Einstellung schlechthin. Der Zuschauer kann sich erst voll etablieren und d. h. sich als philosophierendes Subjekt »hervorbringen «, wenn er bereits im transzendentalen Bereich steht. »Produktion« des Zuschauers, wie Fink nicht ganz gliicklich sagt, heiBt Bruch bzw. Ab-Brechen yom anonym fungierenden transzendentalen Bereich. So bezeichnet Fink den Zuschauer auch als »Exponenten« oder »Auswurf« (z.B. VI. CM, 44) der transzendentalen Subjektivitat. So ist das Konzept des transzendentalen, phanomenologisch erhellten »Seins« ein Dualismus gegeniiber dem »Monismus« des empirischen psychischen Seins (vgl. VI. CM, 24); denn die Psyche als Thema einer positiven Wissenschaft ist Thema nur durch eine Selbstthematisierung, welche ihrerseits der Ichspaltung im ersten Sinn bedarf, wahrend der Bruch im transzendentalen Sein zwei »vollig verschiedene« Dimensionen eroffnet. Dualismus meint nicht Doppelheit zweier identischer Halften, sondern ein Aufbrechen in zwei ungleiche Teile. 1st das Weltkonstituierende das »Absolute«, das immer schon und immerzu anonym im Vollzug des Konstituierens steht, »braucht« dieser anonyme Prozess gewissermaBen den Zuschauer, urn zu Bewusstsein seiner selbst zu kommen. Fink kehrt somit das Verhaltnis von natiir-
70
Vgl.
VI. eM,
r63. Das Absolute ist die »synthetische Einheit von Konstitution und Welt«.
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licher und phanomenologischer Einstellung um, wenn er die natiirliche Einstellung im Sinne der Konstitutionstheorie ais Endprodukt des konstitutiven Leistungsstroms deutet: »Im Vollzug der phanomenologischen Reduktion tritt das transzendentale Leben, im Produzieren des >Zuschauers<, auJ3er sich, spaltet sich selbst, entzweit sich. Diese Entzweiung aber ist die Bedingung der Moglichkeit des Zu-sich-selbst-Kommens der transzendentalen Subjektivitat. Solange das transzendentale Leben in der undifferenzierten Einheit verlauft, nur weltkonstituierendes Tun ist, solange ist es auch prinzipiell seiner selbst nicht bewusst: Es geschieht im Modus cler natiirlichen Einstellung.« (VI. eM, 26)
An dieser Stelle eine Bemerkung zu den uniiberhorbaren hegelschen Tonen. Was hat diese Ausdrucksweise hier zu bedeuten und ist sie berechtigt? Denn auch wenn die Terminologie entschieden von Husserl abweicht, kann Fink damit sachlich durchaus das Richtige treffen. Es falit auf, dass Fink die transzendentale Subjektivitat mehr oder weniger unkritisch mit dem hegelschen Absoluten oder absoluten Geist identifiziert, der eine Bewegung vom AuBersichsein und Ansichsein zum Zusichselbstkommen und Fiirsichwerden vollzieht.71 Ob Fink damit richtig liegt, kann erst in der Detailanalyse geklart werden. Fiir jetzt aber kann man als Erklarung fUr diesen Sprachgebrauch anfUhren, class diese »Konstruktion« es Fink ermoglicht, die Rede von der »Produktion« des Zuschauers zu konkretisieren und damit der Gefahr zu entgehen, nach der Reduktion gewissermaBen vor einer »tabula rasa« zu stehen, die lediglich sich selbst als »Residuum der Weltvernichtung« iibrig behalt. In Finks Darstellung ist nach der Reduktion bereits die volle Konkretion des transzendentalen Bereichs gegeben, von deren »welifinaler Lebenstendenz« (VI. eM, 26) sich der Zuschauer abspaltet und ihr regressiv zuwiderEiuft, um sich selbst in der in der Welt terminierenden Tendenz als natiirliche Einstellung zu begreifen, in deren Modus er immer schon lebt, ohne es zu wissen. Man kann es auch so ausdriicken, dass das ltQat£Qov ltQo£ ~!!a£ die natiirliche Einstellung ist; das ltQat£Qov tn
Das wird noch ganz deutlich in § 12 (Die »Phanomenoiogie« als transzendentaler Idealismus) der VI. Meditation, der von Husser! allerdings gar nicht annotiert wurde.
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tlvltat« ist fur Husserl ein Titel fur das, was das philosophierende Ich an sich selbst beschreibt und kein von ihm losgelCistes Geschehen. Die Differenz zu Husserl benennt Fink selbst, wenn er von der »Einschrankung« spricht, »die Husserls zustimmendes [!] Urteil zu dieser Arbeit [der VI. CM] macht: Husserl findet den Gegensatz zwischen dem konstituierenden und dem phanomenologisierenden Ich zu stark betont [... ].«72 Andererseits kann man sagen, dass Husserls Verfahren der Selbst-Beschreibung insofern naiv ist, als nach der Reduktion der Zuschauer nicht mit einem Schlage »da« sein kann, was der auch von Husserl anerkannten Schwierigkeit entspricht, wie man vor der Reduktion Wissen vom Transzendentalen haben kann. Husserls Gespur fur diese Naivitat an dieser Stelle gescharft zu haben, geht vielleicht auf Finks uberspitzte Formulierungen in den entsprechenden Passagen der VI. Meditation zuruck. Andererseits muss auf ein Problem bei der finkschen These vom Bruch im transzendentalen Bereich hingewiesen werden: Was kann bei diesem radikalen Bruch noch »Personalunion« besagen? Die »Selbstentgegensetzung« wird namlich gewissermaBen aufgewogen in Finks Behauptung, diese Spaltung oder Entzweiung sei dennoch eine »Identitat in der Verschiedenheit« (VI. CM, 25 f.). »Die Selbstentzweiung des transzendentalen Lebens [... ] hebt aber die uber diese innere Selbstentgegensetzung hinubergreifende Einheit desselben nicht auf.« (VI. CM, 26) Auch wenn Fink zugibt, dass hier »schwierige und noch dunkle Probleme« liegen, muss doch kritisch eingewandt werden, dass von Einheit zu sprechen hier auBerst fragwurdig ist, und zwar aus prinzipiellem Grund: Erkennt auch Fink an, dass die transzendentale Subjektivitat nur die erste Stufe einer sich intersubjektiv erweiternden Transzendentalitat ist, dann kann nicht sinnvoll von einer »Einheit« von solipsistisch Phanomenologisierendem und transzendentaler Intersubjektivitat gesprochen werden. Wenn es ein »Korrelat« zur transzendentalen Intersubjektivitat gibt, dann kann es nicht ein einzelnes phanomenologisierendes Subjekt, sondern muss eine - genetisch gewordene und untereinander kommunizierende, sich fortstiftende - Forschergemeinschaft sein; ein Punkt rnithin, den Husserl vermehrt dem in der VI. Meditation solipsistisch konzipierten Zuschauer entgegensetzt.13
Aus dem (undatierten) »Entwurf eines Vorwortes« (VI. eM, 183). Es ist ironisch, wenn Fink in der Liste der Punkte, in denen Husser! nicht mit ihm ubcrcinstimmt, fortfahrt: » Husser! [... ] findet die Schwierigkeiten der transzendentalen Pradikation ubertrieben, verteidigt den individuellen Begriff des philosophierenden Subjekts gegen die in dieser Schrift allerdings unausdrucklich gemachte Reduktion des als individueller Geist beginnenden philosophierenden Subjekts in die vor aller Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten Geistes.« Diese Aufzahlung umfasst alle wichtigen Themen der VI. Meditation, was die Rede von einem »zustimmenden Urteil« fragwurdig scheinen \asst. 73 Vgl. Dok. niI, 93, Anm. 286: »Wissenschaft ist ein in subjektiven erwerbenden Tatigkeiten entsprungenes Erzeugnis, das nunmehr fur )jedermann< da ist [... ].« Zur finkschen Analyse der Pradikation schreibt er: »Problematisch ist hierbei einerseits die Pradikation des denkend Redenden in der egologischen Sphare, andererseits die Mi:iglichkeit intersubjektiver Pradikation 72
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Wenn also Fink von »drei Iche[n]« spricht: »natiirlich eingestelltes Menschenich, transzendental-konstituierendes Ich und transzendental-phanomenologisierendes Ich« (VI. CM, 43), so unterschlagt er die intersubjektive Ausweitung des trans zendentalen Bereichs, die diese Einheitskonzeption sprengt. Aus dieser Sicht ist es auch nicht begreiflich, weshalb eine »iibergreifende Einheit« oder »Identitat in der Differenz« iiberhaupt notwendig oder auch nur gewiinscht sein konnte. Moglicherweise ist es eine Identitat im »Absoluten«, in dem sich letztlichalles aufhebt (die Nacht, in der alle Kiihe schwarz sind), aber sicherlich nicht eine Einheit von solipsis tisch konzipierten Ichen. Doch selbst diese These einer absoluten »Ur-Einheit« auf der tiefsten Fundierungsschicht im Absoluten kann bezweifelt werden. Zahavi hat hinsichtlich der Frage von Einheit oder Pluralitat im »Absoluten« gezeigt, dass die These von einer allumfassenden Einheit zutiefst un-husserlsch ist; denn dies widerspricht der wesenhaft intersubjektiven Dimension der Transzendentalitat: •• Finks Husserl-Interpretation gemaB ist das absolut Letztfungierende also vor-egologisch, vor jeder Individuation und folglich auch vor jeder Pluralitat. [... J Diese absolute Verschiedenheit (bzw. Transzendenz) kann nicht aufrechterhalten werden, wenn die Pluralitat ihren Grund in der Selbst-Pluralisierung eines vor-individuierten Absoluten hat. «74
Es muss vielmehr, mit Husserl, der Gedanke einer urspriinglichen Pluralitat aufrechterhalten werden . •• Die Verschiedenheit, Differenz und Pluralitat der Subjekte sind eben eine Moglichkeitsbedingung jeder Gemeinschaft, denn Verschmelzung und Einssein wiirden die Auflosung der Inter-Subjektivitat mit sich ftihren.«75
Ein solcher Einheitsgedanke im Absoluten ist, so fasst Zahavi zusammen, »dem husserlschen Ansatz grundfremd und riihrte wahrscheinlich yom Einfluss Finks hef«.7 6 Der Grund fUr dieses Festhalten an der Einheit ist m. E. Finks Festhalten am cartesianischen Weg, der auf ein absolutes Ego reduziert und selbst nach dem Eindringen in die intersubjektive Dimension wieder auf eine Ur-Einheit rekurrieren zu miissen glaubt. Fink gibt dies indirekt zu, wenn er wiederholt in der VI. Meditation darauf hinweist, dass die ganze Methodenlehre auf intersubjektiver Ebene wiederholt werden miisste und nur vorIaufigen Charakter hat, gleichzeitig aber die Methodenlehre mit einer Bestimmung der Phanomenologie als »Philosophie des Absoluten« (vgl. VI. CM, 169) ausklingen Iasst. und des intersubjektiven Seins der wissenschaftlichen Wahrheiten (als Gebilde) fur jedermann [... J.« (ebd., 94, Anm. 287). - Vgl. auch Beilage xv, ebd., 216. 74 Zahavi 1996, 56. 75 Ebd., 62. 76 Ebd.
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Dieses Problem in Finks Husserlinterpretation soIl aber nicht davon abhalten, den in der VI. Meditation beschrittenen Weg einer Selbstkritik des Zuschauers weiterzuverfolgen; denn auch der Nachweis un-husserlscher» Elemente« heiBt nicht automatisch, dass sie falsch sein miissen. 1m Gegenteil: Fink hat gerade in diesem unorthodoxen Hinausgehen iiber Husserllatent gebliebene Probleme artikuliert. 3 -4. 2 . Hoherstufige Spaltung in der Iterabilitiit
Es wurden bisher mehrere Spaltungsphanomene aufgewiesen: Wahrend es innerhalb der natiirlichen Einstellung bereits zahlreiche Sondereinstellungen gibt, die aber nicht erst ausdriicklich als Spaltungen vollzogen werden - weshalb von einer immer schon vollzogenen Gespaltenheit gesprochen wurde -, ist hingegen, urn die natiirliche Einstellung im Ganzen zu iiberwinden, eine explizite Ab-Spaltung notig, die den Zuschauer erstmals, aber als fur sich latentes Reflexions-Ich, etabliert. Die Abspaltung von der natiirlichen Einstellung ist somit mehr als eine sich immer nachgewahrende natiirliche Reflexion. Die radikale Ichspaltung in Epoche und Reduktion eroffnet aber lediglich den transzendentalen Bereich und ist noch keine eigentliche »Selbstproduktion« des unbeteiligten Zuschauers. Dies geschieht im als Bruch bezeichneten Auseinandertreten von konstituierender Subjektivitat und phanomenologisierender Einstellung. Auch wenn die finksche These vom Bruch im transzendentalen Bereich aus der Sicht Husserls problematisch erscheint, solI doch weitergefragt werden, wie der Zuschauer, einmal etabliert, sich selbst wiederum thematisch wird. Hierfur ist eine erneut hoherstufige Ichspaltung notwendig. Wenn sowohl Thema als auch Subjekt der Methodenlehre der Zuschauer ist, so kann sich dementsprechend der Zuschauer nur durch eine wiederum von sich selbst distanzierende Ichspaltung thematisch werden. Ist eine solche Spaltung verschieden von der Reflexionsspaltung innerhalb der natiirlichen Einstellung oder ist diese Spaltung nichts anderes als eine hoherstufige »natiirliche Reflexion«? Sie ist in gewissem Sinne beides. Einerseits hat die hoherstufige Ichspaltung eine eindeutige Analogie zur »ersten« Ichspaltung, insofern das phanomenologisierende Ich ein Einstellungs-Ich ist, das sich selbst thematisch macht und damit ein neues Reflexions-Ich einer wiederum hoherstufigen Stufe etabliert. Es kann also mit Recht von einer Ichspaltung im ersten Sinn gesprochen werden. Diese hohere, der natiirlichen Einstellung analoge Ichspaltung sei hier hoherstufige Iteration genannt. In diesem Sinne ist auch sie ins Unendliche iterierbar, und es kann auch hier zum infiniten Regress kommen; aber hier wiederholt Fink das Argument gegen diese Gefahr: »Wir brauchen den Regress keineswegs ins Unendliche zu gehen, weil ja die hoheren Iterationsstufen nichts prinzipiell N eues mehr bringen konnen, sondern nur Jak tisch es, soeben in Funktion gewesenes Thematisieren vergegenstandli-
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chen.« (VI. eM, 29)77 Also auch im transzendentalen Bereich kann sich der etablierte Zuschauer stets aufs Neue vergegenstandlichen und ein latentes Ich patent machen, etc. Dabei thematisiert er ein Thematisieren als Tatigkeit des Zuschauers, und insofem ist das einzige, was sich dabei als Invariante herausstellt, eine Kenntnis der Thematisierungsweise des Zuschauers. Das ist einerseits notwendig, urn iiberhaupt die Methodenlehre zu vollziehen: ohne Ichspaltung keine Selbstthematisierung. Andererseits aber ist eine stets neue Iteration philosophisch unfruchtbar, da man nicht sinnvoll in der transzendentalen Sphare, die bereits »absolut« sein solI, von einer hoherstufigen Einstellung sprechen kann. Aber es gibt doch einen Unterschied zur natiirlichen Ichspaltung. Diese hat es an sich, dass sich das reftektierende Ich von seinem naiv dahinftieBenden Ichleben abspaltet, aber in dieser Spaltung etwas thematisiert, wovon es bereits ein Vorwissen hat. 1m Bereich der natiirlichen Einstellung ist der »hermeneutische Zirkel« in Geltung. Urn es mit dem Schema »Einstellung-Horizont« zu sagen: Das einstellungshafte Ich hat in natiirlicher Einstellung einen Horizont, der, wenn nicht im Einzelnen vertraut, doch als prasumtiv-typisch vorgezeichnet ist. Urn das Ich zum Thema zu machen, muss es implizit schon ein (Vor-)Wissen davon haben, was es ist. Das gilt aber nicht fUr die phanomenologisierende Einste11ung; denn hier soIl es ja gerade so sein, dass das Ich nach der Reduktion zunachst nichts vorgegeben hat, nicht einmal im Modus des Leerbewusstseins. Diese neue» Einste11ung« ist zunachst, widersinnigerweise, horizontlos. Sie ist anfangs noch gar keine »Einste11ung«, sondem lediglich ein »weltloses« Ich. So sagt Husserl, ganz im Sinne dieser finks chen Analyse: »In der radikal und universal geanderten Einstellung tritt in die Sicht das transzendentale, das letztlich Welt und situationshaft modale Welt als Seinssinn habende und konstituierende Ich und sein transzendentales Leben. Aber dieses neue Horizontbewusstsein hat nicht etwa die universale und jeweils besonderte Form der menschlichen Welt mit ihrer durchgangigen Bekanntheitsstruktur. Es ist nicht von neuem eine Welt, nur eine transzendentale Welt vorgegeben, in einem ahnlichen Sinn vorgegeben wie die Welt im natiirlichen Sinn. Selbstverstandlich ist die transzendentale Sphare nicht unbekannt und verborgen in einem natiirlichen Wortsinn - in dem ja ailes Unbekannte seine Vorgegebenheitsform, seine typische Bekanntheit haben muss. In keinem natiirlichen Sinn ist die transzendentale Welt an sich da, nur verborgen.« (Dok. nlI, 4I, Anm. I07)
77 Am Rande sei auch eine von Husser! abweichende Auffassung von der »Leistung« der Iterabilitat notiert; denn das Zitat f:ihrt fort: »Aber an demjeweilig faktisch-momentanen Fungieren hat die Methodenlehre aIs eine auf allgemeine Erkenntnisse abzielende Wissenschaft kein Interesse.« (ebd.) Dazu bemerkt Husser!: »Und das Allgemeine. das in der Feststellung des individuellen Fungierens aIs immer wieder durch Erinnerung zu identifizierenden liegt?« (ebd., Anm. 62) Durch Erinnerung an das faktisch Fungierende gelangt man durch Deckung des zu Identifizierenden zu allgemeinen GesetzmaBigkeiten. Anders gesagt: Natiir!ich hat die Methodenlehre als Wissenschaft kein Interesse am Faktischen, aber man kann zu aIlgemeinen Erkenntnissen nur durch Variation des Faktischen
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In dieser Passage formuliert Husserl das Problem, liefert aber zugleich eine Lasung. Die Schwierigkeit liegt darin, wie man von einer phanomenologisierenden Einstellung sprechen kann, ohne sogleich einen Horizont im Sinne einer »Welt« als eines thematischen Korrelats vorgegeben zu haben. So kann man nur uneigentlich von einer »transzendentalen Welt« sprechen, da dieser Horizont zunachst nicht vorgegeben und zudem nichts Konstituiertes ist, was der Begriff» Welt« impliziert. Die transzendentale »Sphare«, wie Husserl daher richtiger sagt, ist nicht vorgegeben, sondern verborgen. Das heiBt, sie kann enthiillt werden, aber nur durch eine Selbstthematisierung. Der Sinn der hoherstufigen Ichspaltung ist also, sich selbst erst zum Thema zu machen, was aber keine Objektivierung eines schon im Modus des Leerbewusstseins Bekannten, sondern eine Selbstthematisierung ist, die das, was thematisiert werden soli, in diesem Thematisieren erstmals hervorbringt und d. h. aus der Verborgenheit kebt. In diesem Sinne leuchtet die Rede ein, derzufolge die Methodenlehre sich selbst hervorbringt, indem sie »durch« den Zuschauer Methodenlehre betreibt und in diesem Vollzug ihr Forschungsfeld erst schafft. Das meint auch Fink, wenn er sagt: »Die transzendentale Methodenlehre setzt sich selbst voraus, wir konnen nur ihren Begriff gewinnen, wenn wir sie schon in einem gewissen Sinne betatigen.« (VI. CM, 309) Das konkrete Vorgehen der Methodenlehre erweist sich demnach als inhaltlich unantizipierte Horizont-Erschlit1Jung durch iterative Selbstthematisierung. Wohl hat der Zuschauer durch die Elementarlehre eine gewisse Antizipation als vages Vorwissen yom transzendentalen Bereich und yom neuen Forschungsstil,78 aber damit noch nicht automatisch von sich selbst, was erst durch eine hoherstufige Selbstspaltung gelingt, die ihn erst thematisch macht. Der hierbei zu erschlieBende Horizont ist nicht deljenige des in der Elementarlehre thematischen transzendentalen Bereichs, sondern das Phanomenologisieren selbst in seiner »allgemeinsten Funktionsweise als theoretisch erfahrendes, ideierendes, explizierendes, wissenschaftstreibendes« (VI. CM, 31).79 Diese hoherstufige Ichspaltung hat mit der ersten Ichspaltung gemeinsam, dass sie eine Selbstthematisierung im Sinne einer Reflexionsiteration ist; ferner, dass sie auch als Spaltung die jeweils eingenommene Einstellung nicht verlasst. Eine Einstel-
kommen. Husser! ftihrt hier also die eidetische Variation als "Sinn« dieser Iteration ins Feld, was Fink vollig iibersieht. 78 Vgl. VI. eM, 30: "Idee und Problem der transzendentalen Methodenlehre konnten wir aus der phanomenologischen Reduktion herausholen, wenn auch nur in einer anvisierenden allgemeinen Vorstellung.« Husser! verbessert den Nebensatz in: »wenn auch nur in einer antizipierenden, unbestimmt anvisierenden allgemeinen Vorstellung und Vorgewissheit.« (ebd., Anm. 63) Husser! mochte also diese Trennung zwischen Elementar- und Methodenlehre nicht so stark betont Wlssen. 79 Husser! merkt dazu an, dass diese »Enthiillung« des »aktuellen und habitualisierten Lebens« eine auf dem in der Elementar!ehre vollzogenen Phanomenologie-Treiben »fundierte Leistung« ist (ebd., Anm. 66).
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lung iiber der phanomenologisierenden Einstellung ist schlechthin nicht denkbar. Die Iterabilitat aber ist die Bedingung der Moglichkeit des Selbstthematisierens auch des hoherstufigen phanomenologisierenden Zuschauers. - Unterschieden ist die hoherstufige Iteration von der »unteren« insofern, als der in der hoherstufigen Iteration zu thematisierende Horizont nicht vorgegeben ist, sondern sich erst schrittweise eroffnet, wenn der Zuschauer seine Tatigkeit ausiibt und sich iterierend dabei zusieht. Das Phanomenologisieren bringt sich somit selbst hervor als Methodenlehre. 3-4·3· Ein vorlaufiges Fragen nach dem Ii Konstituieren « des Zuschauers
1st nun der Zuschauer umfassend etabliert und durch Iteration hervorgebracht, stel1t sich folgendes, an die Problematik des Bruchs zwischen transzendentalem »Sein « und Phanomenologisieren ankniipfende Problem. Es geht hierbei darum, wie stark dieser Bruch ist, bzw. wie heterogen beide Instanzen sind. 1st die transzendentale Intersubjektivitat, als Inbegriff des transzendentalen Lebens, dadurch gekennzeichnet, dass sie die Welt konstituiert, und wird andererseits der Zuschauer in seiner »Seinsweise« von Fink als »Exponent« bezeichnet, der sich von dem transzendentalen Leisten zwar abgespalten, aber doch eine - wenn auch noch dunkle - Verwandtschaft zu diesem Leisten haben muss, kann man fragen, ob auch sinnvoll von einem Leisten oder Konstituieren des Zuschauers zu sprechen ist; in Finks Worten: »)Konstituiert< iiberhaupt noch der transzendentale, an der Weltkonstitution unbeteiligte Zuschauer? Und wenn - welch en Sinn hat dann iiberhaupt noch )Konstitution« (VI. eM, 13) Man kann noch zuspitzen: Vollzieht sich Konstitution stets durch Akte, seien sie auch anonym und urpassiv fungierend, ja, konstituiert sich das Ich selbst auf seiner untersten Stufe als letztfungierendes durch Selbstapperzeption in reflexiven Akten der Selbstgegenwartigung,80 muss man dann nicht auch die Akte des Zuschauers als Konstitution bezeichnen, sofern allgemein gesprochenjeder Aktvollzug »konstituiert«? Da der Zuschauer hinsichtlich seiner eigenen Konstitution die gleiche Konstitutionsweise hat wie das Ich-Sein schlechthin, unabhangig von der Frage nach einer spezifischen Einstellung, muss per dqinitionem das ihm eigene Aktleben ein Konstituieren »eigener Art« sein. 1m Sinne des Schemas von cogito-cogitatum miisste folglich das Phanomenologisieren als intentionaler
CMI2, 232, Finks Entwurf eines in § 30 denv. Meditation einzuschiebendes Textstiick iiber die doppelte Richtung der konstituierenden Weltverwirklichung: » Die konstituierende Weltverwirklichung hat aber [... J die doppelte Richtung: Konstitution objektiver Gegenstande und Konstitution der Erlebnisse als menschlicher, also Konstitution des Weltcharakters des subjektiven Lebens. [ ... J Jedes transzendental-konstituierende Erlebnis ist nicht nur Konstitution eines weltlichen Gegenstandes, sondern in eins damit >Selbstkonstitution <, d. i. Konstitution des weltlichen menschlichen >Selbst<, also eines Selbst, das keineswegs in die transzendentale Immanenz des egologischen Lebens reell hineingehiirt, sondern diesem transzendent ist und ein blosses Korrelat darstellt.«
80 Vgl. Held 1966, 79ff. Vgl. auch VI.
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Aktvollzug ebenfalls als Konstitution aufgefasst werden. Vo11zieht sich die Konstitution eines Seienden durch ein transzendental-leistendes Sinngeschehen,81 so muss auch die »Titigkeit« des Zuschauers als ein Hervorbringen von etwas (Weldichern) bezeichnet werden, sein Tun miisste ebenfa11s in einer noch unbestimmten Weise als konstituierend aufgefasst werden. Dies ist fUr Fink genau das Problem des gesamten Projekts: »Die transzendentale Andersheit des phanomenologisierenden Ichs - im Gegensatz zum konstituierenden - ist [... ] gerade der Grund des Problems der Methodenlehre.« (VI. CM, 57) Die »Andersheit« des Zuschauers istjedoch auch hinsichdich der natarlichen Einstellung zu betonen. Zuschauen ist Erfahren; die Frage nach dem eigentiimlichen »Konstituieren« des Zuschauers muss also iiber den Gegensatz zwischen trans zendentalem und mundanem Erfahrungsbegriff beantwortet werden. Ein Bestandteil der natiirlichen Einste11ung ist der Glaube an die Unabhangigkeit der Weltexistenz vom erfahrenden Subjekt. Die Konstitutionsanalyse aber zeigt, dass alles Seiende Produkt einer Konstitution ist. »Sein« heiBt Konstituiert-Sein aus der Sicht des unbeteiligten Zuschauers. Alles Erfahren konstituiert demnach das Erfahrene fUr sich; das muss auch fUr den Zuschauer gelten. Fink fragt daher, ob man »das phanomenologisierende Erkennen als )Konstitution< auffassen [konne]? Werden die thematischen Gegenstande der phanomenologisierenden Erfahrung erst in dieser Erfahrung konstitutiv produziert?« (VI. CM, 57) Aber gleichzeitig sol1 ein doppeltes Missverstandnis ausgeraumt werden: » Weder vom natiirlich naiven Erfahrungsbegriff noch vom transzendental-konstitutivem her lasst sich das Eigentiimliche der phanomenologisierenden Erfahrung des transzendentalen Zuschauers begreifen.« (ebd.) Das ist auch plausibel; denn die natiirliche Einste11ung weiB nichts von Konstitution, und der transzendentale Konstitutionsprozess ist nicht selbst eine Erfahrung, sondem ein anonymes Leisten. Aber auch dem Zuschauer muss ein gewisses »Material« der Erfahrung vorliegen, das durch sein Erfahren erst fUr ihn »hervorgebracht« wird. Hierauf pocht Husserl in einer Anmerkung hierzu: »Auch die phanomenologische Erfahrung setzt fUr den transzendental Erfahrenden voraus, dass das Erfahrene ihm als da vorgegeben ist. Nur was ihm vorgegeben ist, auf das kann er hinsehen, es rezipierend. Nur indem er es rezipiert, kann er es in seinen Washeiten, seinen Beschaffenheiten, Relationen etc. explizieren.« (Dok. nil, 57, Anm. r60)
Das ihm Vorliegende ist das als Erfahrungsfeld vorgegebene transzendentale Leben, aber er bringt es erst durch erfahrende »Explikation« fUr sich selbst zu Bewusstsein. So gesehen »produziert« oder »konstituiert« das phanomenologisierende Erfahren doch etwas: nichts anderes als die Phanomenologie selbst als Wissenschcift. Ohne den 8r Vgl. VI. eM, 49: »Nicht ist die transzendentale Subjektivitat hier und die Welt dart, [... ] sondern das Werden der Konstitution ist die Selbstverwirklichung der konstituierenden Subjektivitat in der vveltverwirklichunJi. «
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Zuschauer bliebe die Erfahrung gewissermaBen »anonym« oder »stumm«; erst das Erfahren des Zuschauers vom transzendentalen Bereich bringt dieses als Wissensgestalt fUr ihn hervor, wenn vom konstitutionstheoretischen Standpunkt gesagt werden kann, dass )) erfahrende Rezeptivitat« eigentlich )) konstituierende Produktivitat« ist (VI. eM, 56£.). Wenn die Frage nach dem Phanomenologisieren als Konstituieren bejaht werden kann, was ))konstituiert« dann das Phanomenologisieren in seiner Selbstthematisierung? Die Antwort ist zunachst so einfach wie auf den zweiten Blick dunkel. Das Selbsterfahren des Zuschauers ))konstituiert« sich selbst, das Erfahren seiner selbst bringt ihn selbst als Zuschauer hervor, insofern das Erfahren erst schrittweise seinen ihm thematischen Bereich erschlieBt. Was der Zuschauer noch nicht von sich erfahren hat, ist demnach auch noch nicht ))konstituiert«. Dieses Ergebnis ware nicht weiter provo kant, ware damit nicht ein Problem impliziert, welches das Grundthema der VI. Meditation und gleichzeitig eine Kritik an Husserl ist: namlich die allgemeine, zunachst auf den Zuschauer bezogene These, dass Konstituieren Konstitution von Sein ist. Sein aber ist fUr Fink Weltlich-Sein. Das Konstituieren des Zuschauers fUr sich selbst ware also ein Sichselbsthervorbringen in der Welt, ein Ver-weltlichen. In seinem sich selbst thematisierenden Hervorbringen ))ontifiziert« sich der Zuschauer als weltlich Seiendes. Freilich muss in Bezug auf diese Tatigkeit von Konstitution in einer noch zu bestimmenden Weise gesprochen werden. Dieses Konstituieren ist aber kein anonym fungierender, immer schon in der Welt terminierter Prozess, sondern als ein aktives ) Hervorbringen« zu verstehen, beziiglich der thematischen Konstitution als Produktion einer Wissenschaft - der Phanomenologie -, beziiglich der Selbstkonstitution als Etablierung des Zuschauers, der sich als Forscher in die Welt ))zumcklegt«. 1st Konstitution von Welt ein immer schon in dey Welt ))terminierter« Prozess, so ist sie hinsichtlich des konstituierenden Produzierens des Zuschauers ein Prozess, der sich in statu nascendi zusieht. Husserl ist die Problematik einer solchen Konstruktion nicht verborgen geblieben, und sein Tadel an diesem Versuch seines Assistenten zielt darauf, diese schiefe Darstellung zurecht zu mcken, urn ihr sodann eine Alternative entgegenzusetzen.
3.5. Phiinomenologisieren in der Elementarlehre Nachdem gezeigt wurde, wie der Zuschauer aus den mannigfachen Spaltungsphanomen en erzeugt wurde bzw. sich selbst produziert, soil nun auf das Phanomenologisieren selbst eingegangen werden. Die Methodenlehre in Bezug auf die Elementarlehre thematisiert den Zuschauer in seiner Analyse der Weltkonstitution, in der Weise seines ))Dabeiseins« hierbei. 1st Thema der Elementarlehre die Weltkonstitution und das Subjekt derselben der Zuschauer, so ist das Thema der aber dieser stehenden Methodenlehre der Zuschauer, thematisiert vom Subjekt der Methodenlehre - wiederum dem Zuschauer. GemaB den Disziplinen innerhalb
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der Elementarlehre sind die fur die Methodenlehre analogen Untersuchungshinsichten das Phanomenologisieren als Hegressives Analysieren« und »Konstruieren«, schlieBlich generell als »theoretisches Erfahren« und schlieBlich als »Ideieren«. Man kann bei dieser Gliederung Finks kritisch fragen, ob er hier den husserlschen Disziplinen gerecht wird und ob die Reihenfolge, wie Fink sie in den §§ 6-9 der VI. Meditation erfolgt, plausibel ist, weshalb etwa das »Ideieren « erst an letzter Stelle untersucht wird. 1st mit »konstruktiver« Phanomenologie bereits phanomenologische »Metaphysik« gemeint, so miisste das Verfahren der eidetischen Variation - eine phanomenologische Fundamentaldisziplin82 - , eigentlich in die Hegressive« Phanomenologie gehoren. Finks Darstellung solI also kritisch gepriift werden. 3.5. I. Phiinomenologisieren als »regressives Analysieren«
Zunachst ist zu betonen, dass mit ))regressivem Analysieren« nicht die Reduktion gemeint ist; diese ist zwar Teil der Regressionsanalyse, insofern die Wege in die Phanomenologie selbst schon phanomenologisierend verfahren. Aber die Reduktion ist ein methodologisches Problem, wohingegen mit Elementaranalyse thematische Forschung im Sinne von Konstitutionsforschung gemeint ist. ))Regress« meint primar den Riickgang in die transzendentale Subjektivitat als Schritt ))zurUck« von der immer schon ))fertigen« Weltlichkeit in den stromenden Konstitutionsprozess: ))Als erste Aufgabe ergab sich die intentionale Auslegung dieses stromenden Lebens, das analytische Studium der Verflechtungen und Synthesen der Einheitsbildungen und Differenzierungen in der lebendigen Stromzeit meiner transzendentalen Welterfahrung.« (v!. eM, 54)83
Dies ist also die Konstitutionsforschung auf der Stufe der statischen Analyse; diese erweitert sich alsbald in die genetische Dimension. Was Fink als Hegressive Analyse« bezeichnet, ist nichts anderes als der Oberbegriff fur diese beiden Forschungshinsichten der konstitutiven Phanomenologie. Das zu bestimmen ist aber nicht die eigentliche Aufgabe der hierauf reflektierenden Methodenlehre: ))Nicht die Kritik der transzendentalen Ergebnisse und Habitualitaten, in denen sich eine transzendentale Vergangenheit bekundet, sondern die Kritik des in einer
Vgl. XVII, 296: »)Es ist in unseren Zusammenhangen schon ersichtlich geworden, dass [die mundane Ontologie, d. i. eine Ontologie der LebensweltJ das universale Apriori einer in reinem Sinne moglichen Welt iiberhaupt entfaltet, die als Eidos durch die Methode der eidetischen Variation von der uns faktisch gegebenen Welt aus [... J konkret entspringen muss.« Vgl. auch EU, §87, 4IOff. 83 Husser! verbessert »lebendige Stromzeit« in »lebendig stromende Zeitlichkeit« (ebd., Anm. ISO).
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solchen Kritikfungierenden Tuns ist u. a. die Aufgabe der Methodenlehre, soweit diese, auf die regressive Phanomenologie bezogen, die Thematisierung des regressiven Phanomenologisierens ist.« (VI. eM 55)
Diese Kritik fragt nach der Art des »Dabeiseins« des Zuschauers, welches yom Dabeisein eines positiven Wissenschaftler bei seinem Thema verschieden ist; dieser entdeckt lediglich bereits typisch bekanntes (wenn auch individuell unbekanntes) Seiendes. 84 Die Antworten jedoch, die Fink im vorliegenden Abschnitt auf diese Frage gibt, sind unbefriedigend; denn er listet lediglich einen Fragekatalog auf, der erst nach dem vollstandigen Durchlaufen der Elementarlehre beantwortet werden kann. 85 Nicht nur enttauscht der standige Verweis ad calendas graecas, auch steht der Verweis auf die erst vollstandig durchgifuhrte Elementarlehre, die erst eine Methodenlehre ermoglichen solI, in Widerspruch zur finkschen Auffassung des methodologischen Vorgehens, das aus einer Dialektik von Einzelanalyse und Spekulation besteht. Ware erst die Elementarlehre in der Totalitat aller Einzelanalysen zu vollenden, bevor irgendetwas N eues auch nur in Angriff genommen werden kann, dann ware es von vornherein unmoglich, die Idee einer Methodenlehre zu entwerfen und umzusetzen: Die Methodenlehre wiirde sich damit selbst den sie ermoglichenden Boden unter den EiBen wegziehen. Die Ausftihrungen in den §§ 6--9 haben offensichtlich die Funktion, die Problematik der Methodenlehre vorzubereiten, indem sie ein Verstandnis fUr die darin zu bearbeitenden Probleme anbahnen. Allein mit der Aussage, in der regressiven Analyse gehe es urn statische und genetische Phanomenologie, urn »Abbauanalyse«, ist indessen nicht viel gesagt. WoraufFink hingegen immer wieder hinweist, ist die »Andersartigkeit« der phanomenologisierenden Tatigkeit, die nicht mit einer Tatigkeit natiirlicher Einstellung verwechselt werden darf. Auch die Art des AnalyseTreibens (und nicht bloB das Thema) der phanomenologisierenden Einstellung ist von jeglicher Theoretisierung in natiirlicher Einstellung verschieden. Dabei gibt es jedoch eine gewisse Analogie, die aber selbst wieder nur »analog« zu einer »natiirlichen« Analogie verstanden werden darf, eine »Analogie der Analogie« (vgl. VI. eM, 82) gewissermaBen.
84 V gl. in diesem Sinne folgendes Zitat Husserls: »Die Naivitat der positiven Welterkenntnis besteht darin, dass die Subjektivitat, und zwar die schon wissenschaftlich schopferische und immer weiter schopferisch forschende Subjektivitat immerfort die Welt als vorgegebenc hat und dem noch nicht genugtun kann, dass sie sie nur als Sinngehalt und Setzungs- bzw. Bewahrungsgehalt ihres eigenen verborgenen Leistens hat, oder dass die Gegebenheit der Welt vor der wissenschaftlichen Erkenntnis und als des Substrat(s) ihrer wissenschaftlichen Bestimmungen einer subjektiven sinngebenden Leistung entspringt.« (XXXIV, 70f., von Oktober 1926) 85 Vgl. VI. eM, 58: »Mehr konnen wir zunachst nicht tun. Die Methodenlehre, auf die regressive Phanomenologie bezogen, konnte doch offenbar nur dann in ihren allgemeinsten sachlichen Problemstellungen skizziert werden, wenn wir in der Elementarlehre die regressive Phanomenologie wirklich durchgefuhrt hatten und nicht schon in der ersten Stufe stehen geblieben waren. «
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Der Zuschauer ist also in einer bestimmten Weise bei seinen Analysen ))dabei«, die zwar dem Dabeisein etwa eines Wissenschaftlers bei seinen Experimenten ganz generell vergleichbar ist;86 aber Fink fragt, ob die Weise des Dabeiseins in allen phdnomenologischen Disziplinen die gleiche ist. Die Frage wird negativ beantwortet; die Weise des Dabeiseins ist in der intersubjektiven Erweiterung der Phanomenologie eine andere als im ersten, in der VI. Meditation vorgelegten solipsistischen Ansatz: )) Wissen wir jetzt auch noch nicht, wie z. B. in der primordialen Analytik das Dabeisein des Zuschauers bestimmt werden muss, so kCinnen wir doch uns offen halten ftir die Moglichkeit, dass in der phanomenologischen Auslegung der Intersubjektivitiit dieses Dabeisein einen anderen Sinn von) Voraussetzung< annehmen kann. « (VI. eM, 60)
Abgesehen von dem formalen Hinweis auf die radikale Andersheit des phanomenologisierenden Zuschauers von allen ))weltlichen« Forschern87 kann auf die Entwicklung in der finks chen Systemkonzeption hingewiesen werden. Der erste Systementwurf aus dem Jahre 1930 sah nach einem Anfangssttick tiber ))Anfang und Prinzip der Philosophie« ebenso einen Abschnitt tiber ))[egressive« Phanomenologie vor (vgl. VI. CM/2, 6f.), allerdings mit einem feinen Unterschied: Die regressive Phanomenologie sollte lediglich statische Analyse sein. ))Zunachst Auslegung in der Gegenwart« (ebd., 6), notiert Fink als Stichwort der in diesem Abschnitt zu enthaltenden Analyse. Demgegentiber ist der nachste Abschnitt mit )) Progressive Phanomenologie« betitelt, die einen )) Angriff auf die Peifektivitdt des transzendentalen Lebens« (VI. CMI2, 7) enthalten sollte. Hierzu erlautert Fink: ))Regressive Analyse als Abbau-Analyse; progressive als Aufbau-Analyse.« (ebd.) Die progressive Analyse ist jedoch - obwohl die regressive statisch orientiert ist nicht mit genetischer Phanomenologie zu identifizieren: )) Die progressive Ana86 V gl. auch ml!, 137: "Soweit es sich um individuelles Dasein handelt, verfahrt der Phanomenologe nicht anders als jeder Eidetiker, z. B. der Geometer. In ihren wissenschaftlichen Abhandlungen sprechen die Geometer nicht selten von sich und ihrem Forschen; aber das mathematisierende Subjekt gehort nicht mit in den eidetischen Gehalt der mathematischen Satze selbst.« All dies bedeutet fiir Husserljedoch »keine Schwierigkeit« (ebd., 138). 87 Ein weiterer Hinweis soli hier iibergangen werden - und auch Fink deutet lediglich darauf hin -, und zwar der hinsichtlich der Andersartigkeit der Zeitigung des phanomenologisierenden Erlebnisstromes yom ichlichen Strom der »lebendigen Gegenwart«, vgl. VI. eM, 58. Fink sollte, wie erwahnt, fiir Husserl ein »Zeitbuch« (mit dem Tite! "Zeit und Zeitigung«) redigieren, das die spateren Zeitanalysen Husserls versammeln sollte. Fink arbeitcte nach der Abfassung der VI. Meditation an diesem Projekt, scheiterte jedoch daran und vernichtete angeblich das Erarbeitete. Bruzina teilt einiges von dem, was sich aus seinen noch erhaltenen Notizen rekonstruieren lasst, mit (vgl. Bruzina 1989a). Ob das Zeitbuch also auch Untersuchungen zur Zeitigung des Zuschauers enthielt, ist nicht zu sagen. Auch die bei Bruzina mitgeteilten Stellen geben keinen Hinweis darauf. Die Arbeiten Bruzinas (Bruzina 1993/1994), die sich explizit mit der finks chen Uberarbeitung der Bernauer Zeitmanuskripte befassen, geben ebenfalls keinen Hinweis auf eine Analyse der spezifischen Zeitlichkeit des Zuschauers.
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lyse weder >genetisch( noch verweisend auf >Bedingungen der Moglichkeit(: AIle >Genesis( setzt die immanente Zeit voraus. (Genetische Phanomenologie ist die Theorie von Urstiftung und Habitualitat.)« (ebd.) Demgegenuber ist die progressive Analyse, obwohl sie »konstruktiven « Charakter hat, nicht mit der konstruktiven Phanomenologie der VI. Meditation zu verwechseln. Sie ist die der Abbauanalyse entsprechende Aufbauanalyse. Demgegenuber werden die »Grundzuge einer phanomenologischen Metaphysik« in den vierten Abschnitt des erst en Teiles (von insgesamt zwei Teilen) verwiesen. Diese Unterschiede weisen auf eine sachliche Korrektur hin. Die erste Systemgliederung Finks hat narnlich keine rechte Stelle fur die genetische Phanomenologie. Weder kommt sie in der statischen regressiven noch in der progressiven Phanomenologie vor. Diesem Defizit liegt ein problematisches Verstandnis von genetischer Phanomenologie zugrunde. »Theorie von Urstiftung und Habitualitat« als lediglich bezogen auf die primordiale Subjektivitat ist ein zu enges Verstandnis dieser Disziplin, die ins Intersubjektive erweitert werden muss und so den Blick auf die Geschichte 88 und auf eine phanomenologische Metaphysik eroffnet, die nach »Anfang und Ende des transzendentalen Lebens« fragt. Auch ist nicht deutlich, was mit der Disziplin der progressiven Phanomenologie eigentlich gemeint sein solI. Was heiBt »Angriff auf die Perfektivitat des transzendentalen Lebens«? Evtl. meint Fink damit die Weise, wie die Welt durch transzendentale Leistungen »zustande gebracht« wird; progressive Phanomenologie ware also Nachvollzug des »Progresses« der Weltverwirklichung. Fink scheint anzunehmen, dass die regressive Analytik lediglich die Freilegung des transzendentalen Bereichs, die progressive Analyse hingegen die Darstellung des Konstitutionsprozesses ist. Diese Charakterisierung ist aber problematisch; denn die regressive Analyse ist bereits die Freilegung der transzendentalen Subjektivitat in ihrem Leisten, ebenso ist diese »Freilegung« bereits Konstitutionsanalyse, sofern transzendentale Schichten eo ipso Konstitutionsschichten sind. Diese Interpretation wird auch durch die Metapher von Ab- und Aufbau nahe gelegt, als ob die Analyse zunachst eine Konstruktion »Stein urn Stein« zerlegt, urn sie hernach wieder zusammenzusetzen. Auch wenn Abbauanalyse fUr die Untersuchung der konstitutiven Tiefenschichten steht, ist nicht deutlich, weshalb daraufhin dann der ganze Prozess in umgekehrter Richtung, in Tendenz auf die »Weltfinalitat«, riickgangig gemacht werden solI. Fink hat wohl die Schwierigkeit dieser Einteilung und auch der unklaren Aufgabenstellung der »progressiven« Disziplin eingesehen und sie daher in der VI. Meditation modifiziert, insofern die genetische Analyse ausdriicklich in die Elementarlehre einbezogen wird und die »progressive Phanomenologie« ganz wegfallt; auch die Ab- und Aufbau-Metapher 88 In dieser Interpretation der genetischen Phanornenologie folge ich Steinbock 1995, 171 f., der die genetische zusarnrnen mit der intersubjektiven Erweiterung der Phanornenologie als »generative Phanornenologie« begreift. Vgl. hierzu auch hierzu Zahavi 1996, 79f.
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kommt nur noch an untergeordneter Stelle vor. Interessant ist hingegen, dass die im ersten Entwurfim Rahmen einer »phanomenologischen Metaphysik« vorkommenden Probleme etwa eines phanomenologischen Idealismus (vgl. VI. cMIz, 8) nun in der VI. Meditation innerhalb der Methodenlehre vorkommen. 89 Es entspricht auch dem Ergebnis der methodologischen Reflexionen,9o dass der Abschluss des Systems ein methodologisches Problem ist und nicht eines der thematischen Forschung, die »irgendwann« an ihr Ende kommt. 3.5.2. Phanomenologisieren als konstruktiver Aujbau
Oas erste Thema der auf die »konstruktive Phanomenologie« bezogenen Methodenlehre muss sein, den Sinn dieser »Oisziplin« zu klaren, beY~r die Weise des »Oabeiseins« des Zuschauers zur Sprache kommen kann. Oa der Begriff »Konstruktion« bei Hussed fast ausschlieBlich in negativer Bedeutung vorkommt,91 bedarf sein Gebrauch einer Rechtfertigung. 1st mit dieser Oisziplin ein zu bearbeitender »Gegenstands«-Bereich gemeint oder eher eine neue Methode, die sich auf den gleichen Themenbereich wie den der regressiven Phanomenologie bezieht? »Regressive Phanomenologie« meint ja beides: Sie enthalt die beiden methodischen Fundamentaldisziplinen der statischen und genetischen Phanomenologie, bezogen auf den thematischen Bereich: die transzendentale Sphare. Oer Begriff »Konstruktion« aber legt schon nahe, dass da etwas konstruiert, in einem noch zu bestimmenden Sinne hergestellt wird, was noch nicht als Feld vodiegt, wie dies nach der Freilegung der transzendentalen Subjektivitat der Fall ist. Mit »Konstruktion« muss also in erster Linie eine Methode gemeint sein, die keinen im Vorhinein definierten Gegenstandsbereich hat. »Konstruktive« Phanomenologie »ist iiberhaupt keine >inhaldiche< Bezeichnung, sondern ein Methodenbegriff fUr transzendentale Erkenntnisse eigentiimlicher Art. Wenn die regressive Phanomenologie das Ganze von primordialer und intersubjektiver Auslegung der reduktiv eroffneten transzendentalen Subjektivitat ist, so gibt es nicht noch daneben einen
89 Der § 12, »Die Phanomenologie als transzendentaler Idealismus« bildet den Abschluss der Methodenlehre, auch wenn man mit dieser »Themastellung [... j offenbar aus der Problematik der transzendentalen Methodenlehre heraus« kommt (VI. eM, 170). Ihr Ende findet die Methodenlehre im Versuch, »den Begriff der absoluten Wissenschaft anzuzeigen« (ebd.). Sie ist somit nicht selbst die phanomenologische Metaphysik, aber doch gewissermaBen ihre Eingangspforte. Die »Metaphysik« selbst sollte im Rahmen der geplanten VII. Meditation durchgeftihrt werden. V gl. Finks Notiz, zitiert bei Bruzina 1989a, IDS: »VII. Meditation: will einen Ausblick auf die kiinftige Metaphysik der Phanomenologie geben - resp. auf die phanomenologische Verwandlung der traditionellen Idee der Metaphysik (wobei Metaphysik mehr als Ontologie heiBen solI - eben das Ganze der letzten und hochsten Fragen der Rechtfertigung) [... j. « 90 Vgl. oben, Kap. 3.2, IS4ff. 91 Die Begriffe »Konstruktion« oder gar »metaphysische Konstruktion« sind ftir Husser! immer polemische Gegenbegriffe zur phanomenologischen Methode, vgl. z.B. mfr, I I 9.
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neuen Bezirk des reduktiv gegebenen transzendentalen Lebens, der nun das Thema fur eine konstruktive Phanomenologie abgeben soli. Vielmehr fassen wir unter dem Begriff der konstruktiven Phanomenologie die methodische Einheit aller durch >Konstruktion< - im phanomenologischen Sinne! - zuganglichen transzendentalen (v!. eM, 62) Erkenntnisse, die als solehe inhaItlich heterogen sein konnen.«
Wieder betont Fink, dass unter »Konstruktion« etwas anderes als ein analog scheinendes Verfahren in den positiven Wissenschaften verstanden werden muss; etwa muss der Eindruck fern gehalten werden, es handele sich urn wissenschaftliche »Hypothesenbildung« (ebd.). Fink ist bemtiht, den Begriff der Konstruktion oder den zu konstruierenden »Gegenstands«-Bereich ex negativo gegentiber dem fUr die regressive Disziplin bereits gegebenen Bereich zu bestimmen. Was heiBt also »Gegebenheit« der transzendentalen Subjektivitat im Rahmen der regressiven Phanomenologie? Sicherlich nicht, dass mit einem Schlage »alles« vorliege; »Gegebenheit« hier heiBt »mogliche Zugiinglichkeit« (VI. CM, 64) des transzendentalen Bereichs fUr den Zuschauer. Sie ist das noematische Korrelat zur Vermoglichkeit des Zuschauers als des jenen Bereich Erfahrenden. Der »Bereich« der konstruktiven Analyse ist hingegen zunachst nicht gegeben, sondern meint den »Inbegriff aller tiber die reduktive Gegebenheit des transzendentalen Lebens hinausgehenden Problems tellungen« (VI. CM, 66). Diese tiber die als Vermoglichkeit zugangliche Gegebenheit des transzendentalen Lebens hinausliegcnde Un-Gegebenheit des konstruktiven »Bereichs« muss eine eigene, prinzipielle »Un-Gegebenheit« sein, die erst konstruiert werden muss. Wenn das transzendentale Leben ein standig auf Welt gerichteter Prozess ist, so ist sein »Sein« dieser stromende Vorgang selbst. Als Moglichkeit ware daher zu konstruieren, dass er irgendwann an sein Ende kame, bzw. irgendwann begonnen haben konnte. Sofern der Prozess in beiden Fallen nicht mehr bzw. noch nicht »sein« wtirde, konnte folglich sein Nicht-Sein auch nicht zur Gegebenheit kommen. Die konstruktive Phanomenologie fragt also nach Atifang und Ende des konstitutiven Prozesses selbst. An dieser Stelle manifestieren sich erneut hegelsche sowie heideggersche EinBusse, die diesem Problem eine originelle Wendung geben. Es ist aber zu betonen, dass sich die Motive fUr diese Thematik durchaus in Husserls Oberlegungen zu Teleologie und Metaphysik finden.92 Husserl weitet hierbei seine Oberlegungen auch auf die Geschichte des transzendentalen Seins aus. Es liegt also im Sinne der transzendentalen Geschichtlichkeit, das ganze transzendentale Leben, d. h. hinsichtlich Teleologie und »Archaologie«, in die Oberlegungen miteinzubeziehen 92
Husserls Reflexionen zu den genannten Themen liegen V. a. in der Nachlassgruppe E III, aus denen viele Texte noch nicht ediert sind. Vgl. auch die V. a. im Anhang zu Hua. VIII verCiffentlichten Texte hierzu. Texte zur Metaphysik bei Husser! reichen bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zuruck; vgl. das Konvolut B I 8 mit Texten von 1908/09 (z. T. verCiffentlicht in XIII, Beilagen v -VI). Zu diesen Themen sind v. a. die spaten Arbeiten Landgrebes einschlagig; vgl. auch Held 1966, 173-84, insbes. 178 f.
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und nach »Anfang und Ende« zu fragen. In diesem Sinne beschaftigt sich die konstruktive Phanomenologie mit einer umfassenden transzendentalen Geschichtsphilosophie als »Historie« des transzendentalen Lebens. Von diesem Ansatz muss der finksche von vornherein abgegrenzt werden. 93 Die »Motivation« fUr eine solche spekulative Konstruktion, eine innere Teleologie des transzendentalen Lebens zu (re-)konstruieren, stammt fur Fink aus dem konkreten menschlichen Geborenwerden und Sterben: »Die Motivation empfangt eine solche Fragestellung durch den Hinblick auf einen besonderen Gehalt des) Weltphanomens<, hier z. B. auf die mundane Zeitganzheit der menschlichen Subjektivitat.« (VI. VM, 67 f.)94 Vermutlich schwingt hier Heideggers Analyse des »Vorlaufens zum Tode« mit, die bei diesem jedoch das konkrete faktische Dasein des Menschen betrifft. Finks Ansatz ist durchaus originell, da auch in der entgegengesetzten Richtung auf ein »Zuriickgehen zur Geburt« zuruckgefragt werden kann. Bei beiden Phanomenen ist der Analytiker in zweifacher Weise »nicht dabei«,95 einerseits im Sinne seiner gegenwartigen Untersuchungssituation, andererseits im Sinne seines Nicht-Erleben-Konnens von Geburt als noch nicht bewusstem Beginn und Tod als nicht mehr bewusstem Vergehen des ichlichen Bewusstseins. Andererseits gelangt man erst durch eine solche »Konstruktion« - Antizipation des eigenen Todes und Rekonstruktion (Nachgewahren) der Geburt - zu einer »Ganzheit« des menschlichen Lebens, wie ja auch bei Heidegger das Vorlaufen zum Tode den systematischen Sinn hat, das »Dasein« in seiner »Ganzheit« in den Blick zu bekommen. 96 93
Uber Finks »Hegelianisierung« Husserls vg!. Gomer, 293: »But any such attempt seems to me doomed to failure. Though he admired Fichte, Husserl had little time for Hegel, and no time at all for Schelling. There is, however, a sense in which he saw his own phenomenology as putting the transcendental strivings of German Idealism on a )scientific< footing. But despite the best efforts of Fink in this direction it can be argued that phenomenology of the Husserlian kind is methodically incapable of taking on such a role. There would seem to be no way in which a method of )seeing<, )showing<, )exhibiting< can encompass the infinite, absolute subject of speculative idealism. It is significant that Fink himself eventually abandoned phenomenology as this was understood by Husser!'« Die »methodische Unfahigkeit« ruhrt fUr G. von Husserls Interpretation der transzendentalen Subjektivitat als Intersubjektivitat her. In Wahrheit ist Husserls Philosophie »neutral with respect to realism and idealism«. »Bur the transcendental subjects which make up this communiry are individuals, so the introduction of the intersubjective dimension does not fundamentally alter the nature of Husserl's idealism.« (ebd.) 94 Husscrl verbcssert »der menschlichen Subjektivitat« in »jeder einzel-menschlichen Subjektivitat«, ebd., Anm. 196. Es ist iiberdies zu bezweifeln, ob fur Husser! die Fragen nach Anfang und Ende des transzendentalen Seins aus der Analogie zum biologischen Leben motiviert sind. Mussen einerseits menschliches Leben und Sterben wie aIle menschliche Phanomene (so auch Schlaf etc.) transzendental interpretiert werden, spielt sich doch die Frage nach Anfang und Ende des transzendentalen Lebens auf einer anderen Ebene abo V gl. hierzu auch Kap. 4. 95 Vg!. Hua. XXIX, 332 (von 1936): »Den Tod kann niemand an sich erfahren [... j.« In dies em Punkt widerspricht Husser! Heidegger vehement; denn letzterer betont gerade das dem Dasein eigene » Wissen um den Tod«. Husserl weiter: »Die blendenden, tiefsinnigen Weisen, in denen Heidegger mit dem Tode umspringt, wird sich der Tod schwerlich gefallen lassen.« (ebd.) 96 Allerdings weist auch Heidegger daraufhin, dass das Vorlaufen zum Tode »einseitig« war und durch
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Finks Originalitat in Richtung auf eine konstruktive Phanomenologie im Rahmen des konstitutionstheoretischen Ansatzes besteht darin, diese Struktur des spekulativ-konstruktiv gewonnen Ganzheitscharakters des Menschseins auf das transzendentale Sein zu ubertragen. Damit ist nicht gemeint, dass Tod und Geburt konstitutiv aufgeklart werden sollen. Als Vorkommnisse in der Welt sind sie konstituierte Phanomene, die somit Thema der Konstitutionsforschung, d. i. der regressiven Phanomenologie sind: » [Es]
mag uns dabei doch deutlich werden, dass wir die mit den weltlich gegebenen Phanomenen<: Geburt und Tod, indizierten transzendentalen Probleme in einer Weise in Angriff nehmen mussen, die von Grund auf verschieden ist von dem in der regressiven Phanomenologie geubten Vorgehen.« (VI. eM, 69) >
Es ist die Frage, ob das heideggersche Motiv der Ganzheitsstruktur des menschlichen Seins, das, auf das transzendentale Leben iibertragen, eine eigene »Geburt«, »Genesis« und »Sterben« dieses Lebens im Sinne eines hegelschen Modells als Werden des absoluten Geistes ergabe, sachlich dem husserlschen »transzendentalen Leben« angemessen ist; es konnte ja sein, dass Fink trotz seiner unorthodoxen Auslegung der »Transzendentalitat« sachlich rechtgegeben werden muss. Aus dieser Perspektive ist ein spaterer Text Husserls aufschlussreich, worin diese Frage wiederkehrt. Ein Text von 1936 beschaftigt sich u. a. mit Leben und Sterben der menschlichen und transzendentalen Subjektivitat (XXIX, 327-38). Hierin ftihrt Husserl in groben Linien eine Konstitutionsanalyse der menschlichen generativen Phanomene Geburt, Wachstum, Schlaf und Tod durch. Es geht ihm hier darum, den Unterschied von menschlicher und transzendentaler Subjektivitat zu verdeutlichen. Der Mensch wird wie jedes Lebewesen geboren und stirbt. Kann es aber Sinn haben, von Geborenwerden oder Sterben der transzendentalen Subjektivitat zu sprechen? »Der Mensch kann nicht unsterblich sein. Der Mensch stirbt notwendig. Der Mensch hat keine weltliche Praexistenz, in der zeit-raumlichen Welt war er fruher nichts, und wird er nachher nichts sein. Aber das transzendentale urtumliche Leben
eine Analyse der Geburt erganzt werden miisste, vgl. sz, 372f.: »Die auf die Ganzheit des Daseins bezogene Fragestellung mag ihre genuine ontologische Eindeutigkeit besitzen. Die Frage selbst mag sogar mit Riicksicht auf das Sein zum Ende ihre Antwort gefunden haben. Allein der Tod ist doch nur das >Ende< des Daseins, formal genommen nur das eine Ende, das die Daseinsganzheit umschlieBt. Das andere >Ende< aber ist der >Anfang<, die >Geburt<. [... J Sonach blieb die bisherige Orientierung der Analytik bei aller Tendenz auf das existierende Ganzsein und trotz der genuinen Explikation des eigentlichen und uneigentlichen Seins zum Tode >einseitig<.« van Kerckhoven (1996, 105) sieht in der Endlichkeit als Erkenntnis der Unerschiitterlichkeit des »Faktums des Daseins der Welt« »durch die mutmaBliche Moglichkeit unserer Abwesenheit« (ebd.) hier ein anderes, durch Heidegger angeregtes Motiv bei Fink.
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und dessen letztes Ich kann nicht aus dem Nichts werden und ins Nichts iibergehen, es ist )unsterblich<, weil das Sterben daftir keinen Sinn hat etc.« (XXIX, 338)97
Entsprechend ist es widersinnig, generative Kategorien auf etwas Ungeborenes und Unsterbliches anzuwenden. Wenn zeitliche Kategorien nicht auf das transzendentale Leben applizierbar sind, so konnte man vermuten, dass mit transzendentalen »Sachverhalten« eidetische Allgemeinheiten gemeint seien, wie es auch keinen Sinn hat, von Sterben oder Geburt der Farbe »Rot« zu sprechen. Ebenso ist es sinnlos, von »Geburt« und »Tod« des Eidos »transzendentales Leben« zu sprechen. 98 Aber auch wenn Geborenwerden und Sterben im menschlichen Sinn nicht auf das transzendentale Leben angewendet werden konnen, gibt es doch einen »geschichtlichen« Prozesses innerhalb des transzendentalen Lebens, anders ware die Idee einer Teleologie widersinnig. Husserl meint mit »Geschichte« hier jedoch nicht die faktischen »res gestae«, sondern das transzendentale Apriori der Geschichtlichkeit99 oder einfach das »historische Apriori«.100 Noch urspriinglicher aber hat das Ich in seiner transzendentalen Entwicklung eine eigene Geschichte, die die Moglichkeitsbedingung fUr das erweiterte, intersubjektive Geschichtsverstandnis ist.1°1 Husserls Weg
97 Vgl. auch ebd., 334: »Leben stirbt nicht, weil Leben nur ist in einer Universalitat und inneren Einheit des Lebens.« Ob hier ein Einfiuss von Seiten der diltheyschen Lebensphilosophie vorliegt, sei nur zu Bedenken gegeben. Dennoch ist mit »Leben« ftir Husser! in erster Lime das »transzendentale Leben« gemeint. So schreibt Husser! in einem Brief an Dilthey aus dem Jahre 1911: »Phanomenologische Theorie [... ] fordert also, bzw. ist einem Hauptteile nach, genau das, was Sie immer wieder fordern, Ruckgang auf das innere Leben, auf die im Nacher!eben der innerlichen Motivationen allererst zu wirklichem Verstandnis kommenden )Lebensformen<.« (BW 6, 49) Husser! hatte das 1929 erschienene Buch des Diltheyschulers Misch »Lebensphilosophie und Phanomenologie« gelesen; vgl. seine Randbemerkungen hierzu in: van Kerckhoven 1999/2000. 98 Dennoch ware es ein Missverstandnis, die transzendentale Subjektivitat als Eidos zu verstehen, ein Missverstandnis jedoch, woftir Husser! selbst verantwortlich zu mach en ist und das auch von ihm nie vollstandig aufgelost wurde. Zum Problem der Unterscheidung von Phanomenologie als transzendentale und/oder eidetische Wissenschaft vgl. Mertens, 244ff. M. weist hier nach, dass Husser! selbst diesen Unterschied mitunter nicht streng durchgehalten hat. Das ftihrte auch dazu, dass manche Interpreten das Gewicht allzu stark auf den eidetischen Aspekt legten und den transzendentalen Charakter ubersahen. Ein solches Beispielliegt etwa in Stegmullers Darstellung vor, vgl. ebd., 244, Anm. 96. M.' Interpretation betont, dass das Konzept der eidetischen Variation diese Schwierigkeit uberwindet, s. ebd., 249ff. 99 Vgl. Mertens, 272, wie auch Landgrebe 1982, 38-57. 100 S. VI, 380. Jedoch bleibt Husserls Teleologiebegriffletztlich ambivalent. Teleologie heiBt sowohl eine von der teleologischen Struktur der transzendentalen Subjektivitat »konstituierte« Einheitlichkeit und Zielgerichtetheit der faktischen Geschichte, als auch eine eigene Geschichte der transzendentalen Subjektivitat selbst. S. Landgrebe 1982, 55 f.: »Nach Husserls Darstellung scheint es so, als ob die Teleologie der Geschichte ohne weiteres aus der eidetischen Einsicht in die teieologische Grundstruktur der Subjektivitat ableitbar ware.« 101 Vgl. Husserls Text von 1921, »Statische und genetische phanomenologische Methode« (XI, 336ff.), worin man die systematische Entwicklung dieser Auffassung gut nachvollziehen kann. In der Aufzahlung unter dem Tite! der »erklarenden«, d. i. genetischen Phanomenologie Iistet Husser!
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zur »inneren Geschichte« wird aus diesem Blickwinkel deutlich: Hatjedes Subjekt eine eigene geschichtliche Entwicklung, die konstitutiv aufzuklaren ist, und ist diese Stufe von Transzendentalitat nur die noch nicht voll entfaltete der transzendentalen Intersubjektivitat,102 so muss auch die generative Intersubjektivitat eine - trans zendentale - Geschichte haben, welche die faktisch-geschichtliche Welt konstituiert. Aber auch hier geht das Transzendentale dem Mundanen logisch vorher, und dieses kann nur durch das Transzendentale aufgeklart werden, nicht vice versa. Also nicht etwa, weil das transzendentale Leben kein Eidos ist, kann die Teleologie nicht aus der faktischen Welt stammen, sondern deshalb, weil alle faktische Zeitlichkeit erst ihre innere Teleologie und Sinnhaftigkeit aus dem transzendentalen Leben empfangt. Teleologie kann nur als transzendentaler Sinnprozess manifest werden, da der »Sinn der Geschichte« nicht in der Geschichte selbst liegt. Wenn aber Intersubjektivitat und Genesis notwendige Erweiterungen und erst die eigentliche Gestalt des transzendentalen Lebens sind, so folgt hieraus, dass eine historische Teleologie innerhalb des transzendentalen Lebens anzunehmen (zu »konstruieren«) sachlich angemessen ist. Hinsichtlich der Genesis des Ich ist daher bereits eine innere Teleologie wirksam: » [D]ie Tendenz auf Herstellung von Standigkeit [impliziert] zugleich das Bewusstsein, dass die QueUe und der MaBstab der angestrebten Standigkeit, das anonyme nunc stans selbst, in sich stromende Vergemeinschaftung ist und somit von vorneherein keine AbschlieBbarkeit der Forschung zulasst. «103
Der »Abschluss« der Forschung ist eine im Unendlichen liegende Idee. Bezieht man diese auf die intersubjektive Geschichte, so ergibt sich auch hier die Idee eines unendlichen Limes, auf den die philosophische Forschung zulauft. Der von Husserl emphatisch vorgetragene Gedanke der »Teleologie in der Philosophiegeschichte« (vgl. XXIX, 362-420) wird nur so verstandlich. Nicht nur kommt die Reflexion unter Punkt 4 auf (342): »Sind alie Arten der Genesis und ihre Gesetze gewonnen, so fragt sich, inwiefern man etwas aussagen kann tiber die Individualitat einer Monade, tiber die Einheit ihrer )Entwicklung(, tiber die Gesetzmafligkeit, welche allen einzelnen Genesen wesensmaflig Einheit gibt zur einen Monade, welche Typen von individuellen Monaden a priori moglich und konstruierbar sind.« Der nachste Punkt 5) erweitert diese einzelmonadische Genesis ins Intersubjektive: » U nd mit all dem haben wir verbunden die Fragen, in welchem Sinn die Genesis einer Monade in die einer anderen hineingreifen und eine Einheit der Genesis eine Vielheit von Monaden gesetzIich verbinden kann [... j. Also die Betrachtung der Individualitat der Monade ftihrt auf die Frage der Individualitat einer Vielheit koexistierender und miteinander genetisch verbundener Monaden - hinsichtlich )unserer< Welt auf die Frage der monadologischen Verstandlichmachung der nattirlichen psycho-physischen Welt und Gemeinschaftswelt. « (342 f.) Etwas spater ftihrt Husser! dann fUr diese Genesis den Begriff »)Geschichte«( (345) ein. Zum Zusammenhang von Selbstkonstitution und Konstitution von Geschichte anhand des Problems der narrativen Identitat vgl. Tengelyi 1996 ! 97· 102 Vgl. Zahavi 1996, 80-84, s. auch xv, 199. 103 Held 1966, 174.
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nie an ihr Ende, auch die Philo sophie als historische Kulturgestalt wird nie abgeschlossen sein, obschon sie sich, wenn sie ihres inneren Sinnes bewusst ist, idealiter an den Limes annahert. Aber genau wie der ichliche Urinstinkt der Neugier l04 der unendlichen Reftexivitat (Iteration) als Ausdruck der teleologischen Tendenz der transzendentalen Subjektivitat nie zur Ruhe kommt, so kann es auch keinen Sinn haben, von einem Ende des trans zen dental en Prozesses der Annaherung an die» Polidee der absoluten Alleinheit«'os zu sprechen. Dieses Absolute kann in der Endlichkeit nie erreicht werden, ein »Abschluss« des trans zen dental en Lebens ist als im Unendlichen liegend widersinnig. Das Gleiche gilt auch fUr einen solchen AnJang; denn auch der Beginn eines solchen nach dem Unendlichen ausgerichteten Prozesses kann nicht anders als aus dem Unendlichen kommen. Also auch eine von Husserl vertretene »dynamische« Auffassung des transzendentalen Lebens spricht gegen sein »Geborenwerden« und »Sterben «, sofern man auf eine spekulative »Urkreation« rekurrieren miisste, die den Ubergang von Nichts zu Etwas erkiaren miisste, und das gleiche Problem stellt sich bei einer analogen »Urvernichtung«. So wird Husserls Zuriickweisung eines »Sterbens« des »transzendentalen urtiimlichen Lebens« verstandlich: nicht, weil dieses Leben ein Eidos und daher etwas Uber- oder Allzeitliches ware, sondern im Gegenteil hat es gerade einen geschichtlichen Prozess, der jedoch als zeitlicher in in beide Richtungen unendliche Horizonte eingestellt ist. Die »Konstruktionen« von moglichem Anfang und Ende des transzendentalen Lebens als Analogien zum menschlichen Leben sind also schief. Wohl aber ist die Idee einer Teleologie innerhalb des transzendentalen Lebens - wie auch eine Teleologie innerhalb der Geschichte - »konstruktiv«, allein schon aus dem Grund, da von einer originaren Gegebenheit eines nicht-aktuellen Seins nicht gesprochen werden kann. Es ist aber eine Konstruktion, die im Rahmen einer Teleologie vertreten werden kann, ohne der Gefahr einer puren Spekulation zu verfallen. Eine Parallelisierung von transzendentalem »Leben« im husserlschen Sinn und einem hegelschen »Geist« ist also bereits an dieser Stelle fragwiirdig, da das husserlsche transzendentale Leben kein letztes Zu-sich-selbst-Kommen haben kann, worin es sich vollendet. Es galt hier, die Motive offen zu legen, die Fink motivierten, hegelsche Elemente in das husserlsche System »einzuschleusen«, wobei sich Fink allerdings an entscheidender Stelle von Hegel abgrenzen wird. Hegels wie auch Husserls Spekulationen an dieser Stelle sind» konstruktiv«. Dass der Geist in sich zuriickkehrt wie auch die Idee, dass die Geschichte der Vernunft sich auf dem Weg zu einer strengen, sich selbst verantwortenden absoluten Wissenschaft befindet: beide »Konstruktionen« haben es an sich, dass sie erst am Verlauf der Geschichte selbst in ihrer Richtigkeit bestatigt oder falsifiziert werden konnen. I06 I04 Ebd., I73. I05 Ebd., 176. I06 Janssen hat den Versuch eines Vergleichs zwischen Hegel und Husser! unternommen, vgl. Janssen
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Eine »konstruktive« Phanomenologie hat es dagegen Fink zufolge mit Anfang und Ende des transzendentalen Lebens selbst zu tun. Wieder bekommt man den Eindruck, dass Fink die Probleme an dieser Stelle auch nur angeschnitten hat; dass bei der Bemiihung, diese Fragen zu durchdenken, Probleme auftauchen konnten, deutet er selbst an: »Wenn auch am Ende diese Fragestellungen als transzendental unzulassig nachgewiesen werden sollten, so muss doch schon der Nachweis ihrer eventuellen Unzulanglichkeit sich in einer Problemdimension bewegen, die prinzipiell >aujJerhalb< der regressiven Phanomenologie liegt.« (VI. eM, 67)
Es steHt sich wiederum die Frage, in welcher Weise der Zuschauer bei dieser Forschungsart »dabei« ist. Wenn er in der regressiven Analyse in der Weise eines Bruchs der Identitat des transzendentalen Lebens »dabei« ist und so eine »Identitat in der Verschiedenheit« etabliert, kann die Weise des »Dabeiseins« bei der konstruktiven Phanomenologie in Analogie zum mundanen Menschenleben beschrieben werden: Ebenso wenig wie der »im Leben« stehende Mensch bei seinem Anfang und seinem Ende »nicht dabei« ist, ist der Zuschauer, der im jeweiligen Jetzt phanomenologisiert, bei dem »Anfang« und dem »Ende« des transzendentalen Lebens »dabei«; das gilt auch, wenn es diese »Extrempunkte« letztendlich gar nicht als solche gibt: Der Zuschauer kann nicht als in »lebendiger Gegenwart« Philosophierender bei diesen Polen »sein«, er muss sie im beschriebenen Sinn von »Konstruktion« entwerfen, auch wenn sich die Konstruktion fUr Husserl letztlich als ungeniigend erweist. Ferner ist zu betonen, dass das transzendentale Leben im Sinne der intersubjektiven Erweiterung nicht das transzendentale Leben »des « Zuschauers oder iiberhaupt eines Individuums ist, was Fink stillschweigend unterstellt, sondern das eines Monadenalls. Der Zuschauer kann dies em Leben zwar »zusehen« im wortlichen Sinn von speculari, aber auch das hat seine Grenze etwa in der Einftihlung in fremdes Seelenleben. Fink war sich wohl selbst unsicher, was mit dieser Methode gemeint sein konnte; das zeigt sich, dass er daraufhinweist, dass »Konstruktion« oder konstruktive »Methode« lediglich ein Oberbegriff ist, der eine »innere Mannigfaltigkeit der Methoden, eine Vielfalt heterogener Problemkomplexe« (VI. eM, 71) unter 1970, 202-35; hierbei auGert er sich aber kritisch gegeniiber Husserls Konzept von Teleologie (123): »Husserls Teleologie vermag aufgrund ihrer spezifischen Durehftihrung im Rahmen der Anfangsproblematik keine positiv begriindende Antwort mehr auf die Frage nach der Ursache der sinnvollen Entwicklungseinheit der Geschichte des Denkens zu geben. [ ... J Hegel entgeht dieser Gefahr, da er die Geschichte des Denkens als positiven Bestand so ins eigene Werk aufhebt, dass die Philosophie iiberhaupt keine zukiinftige Wesensaufgabe mehr hat.« - Wie zu zeigen sein wird (5. u., 4.3.), ist diese Einschatzung der husserlschen Teleologiekonzeption im Lichte seiner Spatphilosophie nicht haltbar. Husserls eigene Uberlegungen zur Teleologie sind gerade daran interessiert, dieser hegelschen Konsequenz zu entgehen, gemaG der das Denken, bei sich selbst angelangt, zur Ruhe und in seiner Wahrheitssuche an ein Ende komrnt.
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sich subsumiert. Gleichgiiltig, in welchem Sinne die nichtgegenwartigen Pole der Transzendentalitat bestimmt werden miissen, sie sind wesentlich nicht ))gegeben«: )) Die Gegebenheit des Themas fur das Phanomenologisieren ist bei der konstruktiven Phanomenologie eine Un-Gegebenheit; das Dabeisein des theoretisierenden Ich eigentlich ein Nichtdabeisein.« (VI. CM, 72) Es gibt hier zwischen transzendentalem Ichleben und phanomenologisierenden Zuschauer keine ))Identitatsdeckung« (ebd.); wobei schon die Rede von )ddentitat« des in sich gebrochenen transzendentalen )) Bereichs« auBerst problematisch war. Das Fungieren des Zuschauers wird aber dadurch zu einer ))Episode« im Gesamtprozess des transzendentalen Lebens, das sich selbst nicht transzendieren, sondern das hochstens spekulativ die Distanz zwischen seinem aktuellen Fungieren und seinen fiiiheren oder kommenden )) Epochen« iiberbriicken kann. 107 Das prinzipiell Ungegebene kann niemals gegeben werden. Insofern ist auch der Zuschauer nicht verschieden vom natiirlichen Ich, sofern beide den Zeitstrom nicht riickgangig machen oder ))beschleunigen«, sondern dessen Pole nur )) konstruieren« konnen. Hier gewinnt nun Konstruktion einen konkreten Sinn. Wenn der Zuschauer an diesem systematischen Ort strenggenommen nichts Anschauliches haben kann, so muss er sich etwas Anschauliches ))konstruieren«, und d. h. anschaubar machen: )) [... ] das un-gegebene transzendentale Leben kann nur )zu sich selbst komrnen< im Zuschauer desgegebenen transzendentalen Lebens.« (VI. CM, 73) Dieses Zu-sich-selbst-Kommen wird durch ein produktives Zuschauen geleistet. Wo der Zuschauer iiber sein ihm aktuell gegebenes transzendentales Sein hinausblickt, wird sein Blick eo ipso produktiv. Sein ))theoretisches Erfahren« produziert dieses Erfahrbare Jur sich; das Zu-sich-selbst-Kommen ist ein Fiir-ihn-anschaulichWerden durch das Erfahren selbst. An dieser Stelle kann die Frage nach dem ))Konstituieren« des Zuschauers erneut aufgegriffen werden.
3.5.3. Phanomenologisieren als theoretisches Eifahren Die Analyse des Erfahrungsbegriffs des Zuschauers bezieht sich auf ))das Phanomenologisieren im Allgemeinen, d. h. unter Abstraktion von demjeweiligen besonderen Funktionsmodus« (VI. CM, 74). Damit ist ein Schritt in Richtung auf die ))feine« Methodenlehre getan, insofern es urn das Fungieren des Zuschauers selbst geht. Aus dieser Sicht ist der Aufbau der VI. Meditation, die nach diesem Abschnitt wieder auf das Problem der )) Ideation« zuriickschwenkt, zunachst unplausibel. Dennoch kann hier an das Problem der Produktivitat des Zuschauers angekniipft werden. Die erste Frage fur Fink ist wiederum die Vergleichbarkeit mit dem in der natiirlichen Einstellung vollzogenen Erfahren und dem darauf aufbauenden Theoretisieren und I07 Fiir Husser! war eher die Frage der Kontinuitat des transzendentalen Lebens durch Unterbrechungen
hindurch ein Problem. Dies war der Grund, das Phanomen des Schlafs zu thematisieren und transzendental zu interpretieren. Vgl. hierzu den bereits erwahnten Text (XXIX, 335f.)
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Wissenschaft-Bilden. Auch der Phanomenologisierende kann freilich nicht aus dem Stand beginnen, sondern kennt das Vermogen, Wissenschaft zu treiben und sie auf Begriffe zu bringen, bereits aus der natiirlichen Einstellung; es ist ja immer ein mundan existierender »Mensch«, der Philosophie treibt. Aber das Problem seiner ihm eigenen Erfahrung taucht spates tens an der Stelle auf, wo die radikale Einklammerung des Mundanen auf die Schwierigkeit stoBt, neben allen Seinssetzungen auch aile mundanen Fahigkeiten und Disziplinen einzuklammern. So heiBt es schon in den Ideen r: » Die
formale Logik und die ganze Mathesis iiberhaupt konnen wir also in die ausdriicklich ausschaltende Epoche einbeziehen und in dieser Hinsicht der RechtmaBigkeit der Norm gewiss sein, der wir als Phanomenologen folgen wollen: Nichts in Anspruch zu nehmen als was wir am Bewusstsein selbst, in reiner Immanenz uns wesensmiiJ3ig einsichtig machen kiinnen. Wir bringen uns damit zugleich zu expliziter Erkenntnis, dass eine deskriptive Phanomenologie von all jenen Disziplinen prinzipiell unabhangig ist. « (m/I, 127)
So sagt auch Fink, im Wesentlichen iibereinstimmend: »SO gewiss auch die menschlichen theoretischen Vermogen durch die phanomenologische Reduktion enthiillt werden als im tiefsten Grunde transzendentale Vermiigen und Habitualitaten des transzendentalen Ego, so diirfen sie doch nicht ohne weiteres in der Auslegung der transzendentalen Subjektivitat fruktifiziert werden. Das hat seinen Grund in der die ganze Problematik der transzendentalen Methodenlehre beherrschenden >Andersartigkeit< des phanomenologisierenden Zuschauers. Die transzendentale Vernunft und die transzendentale Logik und alle die theoretischen habituellen Dispositionen des Ego sind ja letzten Endes nichts anderes als die reduzierte weltlich-menschliche Vernunft, die weltliche Logik usw.« (VI. eM, 77f.)
Das Problem, wie nach der Reduktion dann doch Wissenschcift getrieben werden kann, obwohl alles Mundane, auch die formalen Disziplinen der Logik etc., eingeklammert sind, sieht Husser! zwar,108 aber er hat sich nicht eigentlich urn eine Losung bemiiht. Der Verweis auf die rein intuitiv aufzuweisenden phanomenologischen Sachverhalte, die keiner »Logik« bediirfen, schafft das Problem nicht aus der Welt; denn dann miisste der Phanomenologe auf jegliches Argumentieren, ja auf aIle Sprache iiberhaupt verzichten. Die Frage, wie iiberhaupt Wissenschaft nach der Reduktion moglich ist, bleibt zunachst unlosbar. Praziser: Durch die urspriingliche 108 Bezuglich der »Andersartigkeit« der »transzendentalen Logik«, vgl. Husserls Notiz: »Das Problem
einer Logik des Transzendentalen in )Analogie< zur mundanen, naturlichen Logik, die Frage nach einer supra-formalen Logik, die nach dem supra-formalen Gemeinsamen der beiden Logiken fragt - dergleichen Fragen.« (Dok. n/r., 76, Anm. 222)
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Konzeption der Epoche selbst wird ein Problem kreiert, das Husserl weder lost, noch auch als iiberhaupt problematisch ansieht.1°9 Die Frage ist also eine doppelte: Was ist theoretisches Erfahren nach der Reduktion und, zuvor noch, wie ist es
moglich? In der Untersuchung des Theoretisierens des Zuschauers im Gegensatz zum wissenschaftlichen Tun in natiirlicher Einstellung fUhrt Fink eine Thematik ein, die zu den originellsten Einfallen der VI. Meditation zahlt: die »Reduktion der Seinsidee« (VI. CM, 80). Dieser Punkt ist es auch, der Husserl zum energischen Widerspruch herausfordert. Der Grundgedanke Finks besteht in der Identifikation vom Lebensbereich der natiirlichen Einstellung, der Welt, mit Sein. Das Argument lautet in Kiirze: Alles Sein ist Mundan-Sein ist Sein-in-der-Welt und damit als Weltliches konstituiert. Hierin ist Fink in gewissem Sinne Heidegger verpflichtet, geht aber einen Schritt weiter;110 denn das »Sein«, von dem Heidegger spricht, muss selbst konstitutiv aufgeklart werden und kann nicht erschopfend im Rahmen einer Hermeneutik des faktischen Daseins beschrieben werden. Wenn aber Sein im Sinne Husserls gleichbedeutend mit Konstituiert-Sein ist, so kann, dies die Konsequenz Finks, das Konstituierende selbst nicht »seiend« genannt werden. Dabei geht es nicht urn die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem im heideggerschen Sinne (»Das Sein des Seienden )ist< nicht selbst ein Seiendes.« [sz, 6]), sondern das Sein, auch wenn es ontologisch von seienden Entitaten verschieden ist, ist selbst noch einmal konstituiertes Produkt. Fink greift zwar das durch Heidegger angeregte Seinsproblem auf, verwendet es jedoch fUr zwei Themenstellungen innerhalb der Methodenlehre: einmal hinsichtlich der thematischen Erweiterung des Seins in Richtung auf seinen konstitutiven Ursprung und das andere Mal beziiglich der methodologischen Problematik der Eifahrbarkeit dieses Bereichs durch den Zuschauer. Die heideggersche Kritik: »Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend - obzwar nicht im Sinne des Positiven« (IX, 602), wird von Fink nochmals radikalisiert, insofern das Konstituierende selbst nicht als seiend in welchem Sinne auch immer angesprochen werden kann. 109 Die gleiche Aulfassung vertritt Husser! bis zu seinem Lebensende im Wesentlichen in unveranderter Form. Vgl. hierzu den bekannten »Ursprung der Geometrie«-Text in VI, 365 If. I IO Vgl. Bruzina 1995, L: »There is no doubt that Fink was indebted to Heidegger for his appreciation
of the importance of the question of being for philosophy. [... J Coming after several years of working over the question in his own notes, what Fink does in the Sixth Meditation is something Heidegger could not do, namely, raise the issue in such a away as to make it both accessible to Husser! and appreciated by him (even ifhe might not agree entirely with Fink's way of treating it).« Br. weist zurecht auf den letzten philosophischen Disput zwischen Husser! und Heidegger in der Zusammenarbeit bezugJich des Encyr/opedia Britannica-Artikels hin, wo Heidegger auf das Problem der »Seinsart« des Konstituierenden den Finger legt. Fink las sz im Jahre 1927 (vgl. Bruzina 1995, LXXXVIII, Anm. 181); ob er die heideggerschen Anmerkungen und Umarbeitungsvorschlige zum Lexikonartikel kannte, kann nicht mit Sicherheit ausgemacht werden. Vgl. auch Biemels klassischen Aufsatz: Biemel 1973, insbes. 308-15, der die Dilferenzen zwischen Husser! und Heidegger deutlich herausstellt.
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Fink ftihrt hierftir den Begriff des Vor-Seins oder des Meontischen ein. 111 1st die Welt gleichbedeutend mit Konstituiertsein und damit Sein iiberhaupt, so kann dieses Sein selbst nur durch Reduktion und Konstitutionsanalyse aufgekEirt werden. 112 Der Konstitutionsprozess des Seins kann nicht selbst seiend sein.1\3 Aus diesem Blickwinkel wird das Paradox des theoretischen Erfahrens des phanomenologisierenden Zuschauers deutlich: Taucht das Problem seines Erfahrens im Rahmen der konstruktiven Phanomenologie zunachst auf in der Frage, ob der Zuschauer aktueiles Erfahren vom vergangenen und kiinftigen transzendentalen Leben als unerreichbaren » Polen« haben kann, wird nun radikaler gefragt, ob er iiberhaupt vom momentan gegenwartigen transzendentalen Leben eine »Erfahrung« haben kann; denn »alle Erfahrung ist Erfahrung von Seiendem. Sein und Erkenntnis: dieses sind die beiden untrennbaren Komponenten der Erkenntnisrelation.« (VI. eM, 79) Die Frage ist also: Wie ist Erfahrung von Transzendentalem moglich, wenn Erfahrung immer Erfahrung von Seiendem ist und Transzendentales per difmitionem nicht Seiendes ist? Die Methodenreflexion kann die Herkunft dieses Paradoxes aufklaren, wenn auch nicht aus der Welt schaffen. Dieses besteht in der hoherstufigen Naivitat, welche aile Erfahrung immer schon als Erfahrung von Seiendem interpretiert: »In [die mundanen Seinsidee] verstrickt interpretieren wir das, was uns durch die phanomenologische Reduktion zur )Gegebenheit< kam, im Lichte des allerdings formalisierten Seinsbegriffes, namlich als eine Sphare )transzendentalen Seins<.« (VI. eM, 81)114
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Vgl. VI. CM, 89. S. auch die Selb&tanzeige im Entwurf des Vorwortes, ebd., 183. »Die Exposition des Problems einer transzendentalen Methodenlehre ist hier bei alier Nahe zu Husserls Philosophie durch den Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt.« V gl. hierzu kritisch Gorner, 291 f.: »I must confess I find little if any illumination is to be gained by the coining of such an expression [VorseinJ. If the constituting activities of transcendental subjectivity can in any intelligible sense be experienced by the phenomenological observer then surely they must be. Their mode of existence may not be that of a substance, but this is quite different from saying that they do not exist. [... J Noemata and noeses are entities (they are seiend). [... J. It is not an answer to this criticism [of the Neo-KantiansJ to say that noemata and noeses are not entities but are fore-existent (vorseiend). « Es ist hier wiederum die Frage, ob Fink Heideggers Seinsidee gerecht wird, wenn er es mit Mundanitat uberhaupt gleichsetzt. Dass die seienden Dinge als solche weltlich sind, ist nicht weiter problematisch (vgl. VI. CM, 81 oben); aber dass Welt selbst als Horizontbegriff mit Sein vergleichbar ist, ist doch nicht selbstverstandlich. Es ist fraglich, ob die heideggersche Idee der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem gleichbedeutend oder auch nur vergleichbar ist mit der Differenz von weltlich Seiendem und Welt selbst als Horizontphanomen. - Und auch nicht »werdend« im mundanen Sinn von Werden, vgl. Husserls Randbemerkung ebd., 82, Anm. 239. Husserl unterscheidet hier zwei Arten von Naivitat; einmal die "Naivitat der Interpretation in der vergleichenden Reflexion, vergleichend naturlich und transzendental Seiendes«, andererseits die» Naivitat, in der wir phanomenologisch aussagend, theoretisierend die naturliche Sprache [... J gebrauchen [ ... J.« (ebd., Anm. 236)
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Hat man jedoch diese Naivitat durchschaut in hoherstufiger Reflexion, wird klar, dass bereits der Begriff »transzendentale Erfahrung« widerspriichlich ist. Wie ist es aber zu erklaren, dass da dennoch etwas »erfahren« wird? Pointiert formuliert: Etwas wird zwar eifahren, aber es ist kein »Etwas«. Dass da etwas eifahren werden muss, ist aber nicht zu umgehen; der Zuschauer hatja »etwas« thematisch, das vor der Reduktion nicht thematisch war und nun in seinem Erfahrungsleben thematisch gemacht wird. In diesem Sinne ist das Zuschauen produktiv, insofern es fUr sich das wesenhaft Nichtseiende in seinem Erfahrungsprozess zum Eifahrbaren macht; die »Phanomene« der Phanomenologie erschlieBen sich erst in der phanomenologisierenden Einstellung. Das Theoretisieren ontifiziert also immer das von ihm Erfahrene. »M. a. W die theoretische Erfahrung des phanomenologischen Zuschauers ontifiziert die ) vorseienden ( Lebensvorgiinge der transzendentalen Subjektivitiit und ist in keinem mit einer weltlich vorgegebenen Weise von Produktivitat vergleichbaren - Sinne >produktivu (VI. CM, 85 f.)
1st EinstellungJormaliter immer Einstellung korrelativ zu einem Horizont, so ist die Frage, was fur einen Horizont das Phanomenologisieren hat und inwiefern dieser als »Einstel/ung« bezeichnet werden kann. Aus Finks Sicht muss auch das Erfahren des Zuschauers als Einstellung bezeichnet werden konnen, sonst ware das Phanomenologisieren ein bloB hoherstufiges Anhangsel an die natiirliche Reflexion. Die konstituierende Produktivitat des Zuschauers muss also erweitert werden. Sie ist nicht nur Produktion im Sinne von Ontifikation von »einzelnen« transzendentalen Phanomenen in der transzendentalen Erfahrung, sondern auch von einer »transzendentalen Welt«. Hierzu gibt es eine sehr aufschlussreiche Randbemerkung von Husserl. Zu Finks Satz: »[Die phanomenologisierende ErfahrungJ holt die konstituierenden Aufbauprozesse aus dem ihnen eigenen Zustand des) Vorseins< heraus und objektiviert [EinJugung Husserls: ein neues thematisches Seinsuniversum konstituierend (produktiv)J sie in (VI. CM, 85) einem gewissen Sinne allererst.«
- bemerkt Husserl: »SO im Ansatz der Reduktion. So wie aber Ontifizierung in Gang kommt, ist nicht alsbald der offene Horizont und universale Horizont von transzendental Seiendem mitproduziert. Weltphanomen als Leitfaden besagt alsbald Wendung zum Universum der weltkonstituierenden, konstitutiven Leistungen im Ego - das noch nicht Seiendes ist. Die Produktion schafft aber erst Seiendes im neuen transzendentalen Universum, das Monadenall in seiner monadischen Zeitgemeinschaft, darin alles subjektiv und empirisch Konstituierte. [... J In der thematischen Umstellung erwachst )von selbst< ein thematischer Horizont als Potentialitat durch Verwandlung. Aber durch produktive Ausbildung von Seienden als immer wieder Erfahrbaren und
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theoretisch Bestimmbaren fUr jedermann konstituiert sich das transzendentale Universum als Universum von transzendental Seienden - die Welt des Transzendentalen, worin die menschliche Welt Phanomen ist. >Seiendes< hat nur Sinn als Seiendes in einer Welt - auch das transzendental Seiende.« (ebd., Anm. 257)115 Die transzendentale Einstellung, das Transzendentale durch erfahrende Ontifikation produzierend, ist also auch in diesem »Bereich« erst im Vollsinne eine Einstellung, sofern sie diesen als thematischen Horizont konstituiert. Dies vollzieht sich nicht etwa so, wie jede natiirliche Erfahrung immer schon von einer Einstellung mit einem Horizontkorrelat umschlossen ist. Der transzendentale Horizont kann nie vorgegeben sein, wie Welt immer schon fUr aile Vermoglichkeiten innerhalb der natiirlichen Einstellung vorgegeben sein muss, sondern wird durch das fortschreitende Erfahren erst »konstituiert«. Der Horizont ist in diesem Sinne, noetisch gesprochen, offen als unendliche Vermoglichkeit transzendentaler Erfahrung. So kann strenggenommen nicht davon gesprochen werden, dass es eine Welt des Transzendentalen »gibt«, sondern diese wird erst in Erfahrung zuganglich und durch sie erweitert. Eine eigenartige »Welt« ist dies also, aber nichtsdestoweniger etwas und nicht nichts. Das Phanomenologisieren wird also erst dann zu einer vollstandigen Einstellung, wenn sie ein »Welt«-Korrelat hat, das sie fur sich erst herstellen muss durch ein fortschreitendes Erfahren. Erst der von aller Naivitat befreite Zuschauer konstituiert sich selbst als Einstellung, indem er den Horizont der »transzendentalen Welt« konstituiert. Selbstkonstitution durch Spaltung und Bruch und Konstitution des fUr die Phanomenologie thematischen Horizonts sind die Elemente eines Prozesses. Wenn Konstitution prinzipiell Konstitution von Sein meint, so kann zu Recht von einem Produzieren des Zuschauers gesprochen werden, insofern er sein Erfahrungskorrelat »ontifizierend« herstellt; aber auch dieses Produzieren ist immer schon geschehen, sobald der Z uschauer einen transzendentalen »Sach «-Verhalt fur sich thematisch macht und d. h. aus dem dunklen Vor-Sein ins Licht seines Erfahrens stellt. Dabei muss der selbstkritische Zuschauer vorsichtig sein, dass er bei diesem notwendigen Ontifizieren nicht naiv die gleiche Seinsauffassung des bereits konstituierten Seins auf den transzendentalen Bereich iibertragt, also die vor-reduzierte Seinsidee auf das transzendentale Sein appliziert. Natiirliches und transzendentales »Sein« stehen somit, so Fink, in einem Analogieverhaltnis, einer »analogia propositionalis«, wobei das tertium comparationis die Erfahrbarkeit beider ist: »So wie theoretische Erfahrung gemeinhin auf Seiendes bezogen ist, so sind wir phanomenologisierend analog bezogen auf die >an sich< nicht seiende, aber auch nicht nichtseiende Weltkonstitution.« (VI. eM, 82) Der auf die »transzendentale Welt« bezogene Seinsbegriff darf also nicht yom Seinsbegriff der natiirlichen Einstellung her (miss)verstanden werden, sondern aus einer
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5 Ebd., Anm. 257. Ubrigens spricht Husser! hicr und spater noch von transzendental Seiendem, ohne es in Anftihrungsstriche zu setzen; die Rede vom »Meontischen « ist ihm zutiefst suspekt.
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Analogie hinsichtlich der »Proposition«, d. i. der Weise, wie »Sein ausgesagt wird«. Urn einen »transzendentalen Seinsbegriff« zu gewinnen, ist eine Reduktion des vermeintlich naiven Seinsbegriffs natig. Die Frage nach dem ontologischen Status des Transzendentalen wird, unter Einbeziehung der husserlschen Sicht, im folgenden Kapitel erneut aufgegriffen.
3.5.4. Phanomenologisieren als »Ideieren (I Das )ddeieren« als phanomenologisierende Tatigkeit der Methode der Ideation gehart eigentlich in die Analyse der regressiven 2hanomenologie. Aus dem letzten Abschnitt jedoch lasst sich schlieBen, class es als Lasung der Frage konzipiert scheint, wie die Seinsidee reduziert werden kann, urn einen transzendentalen »Seins «-Begriff zu erhalten, der nicht in der philosophischen Naivitat stecken bleibt, den transzendentalen Bereich naiv mit den Begriffen des »mundanen Seins« zu explizieren. Der Vorwurf der notwendigen, aber falschen »Ontifikation« ist damit nicht aus der Welt geschaffen, im Gegenteil; es muss nun ein adaquater »Seins«Begriff gefunden werden,116 und zwar durch eine eigene, dem transzendentalen »Sein« adaquate Ideierung. Was damit gemeint sein kann, ergibt sich erst aus der Abgrenzung gegeniiber der ))llormalen« Eidetik. Ob Fink hierin Husserl gerecht wird - der Aspekt der Variation etwa wird von Fink iiberhaupt nicht behandelt117 - , kann hier nicht entschieden werden. Die Methode der Ideation wird von Fink definiert als »CtVa[tVl]OL£«, »als eine »thematische Zueignung eines Wissens, das wir schon haben« (VI. CM, 91).118 Fink rekurriert hier nicht auf die faktische Herstellung dieses Wissens durch die eidetische Vctriation, sondern auf das Vor-Wissen, das man fUr die Variation als »Material« immer schon vorgegeben haben muss. Fink betont gleichsam den noematischen Aspekt dieses Verfahrens, welches noetisch ein explizites Herstellen von Eide als allzeitlichen, inexplizit gewussten Invarianzen ist. Das Eidos »Rot« muss schon vorausgesetzt werden sowohl bei aller faktischen Identifizierungen aller roten Dinge, als auch bei der expliziten Tatigkeit des Variierens roter Dinge, die das Eidos »Rot« »tragen«Y9 I I6 Die naive Ubertragung des naiven Seinsbegriffes auf die Transzendentalitat kann als eine umgekehrte Idealisierung bezeichnet werden. Wahrend die ldealisierung der neuzeitlichen Wissenschaft nach Husserl darin bcsteht, dem natiirlichen Weltleben ein »ldeenkleid« iiberzustiilpen (vgl. VI, §9), ist die Ubertragung des Seinsbegriffes auf das Transzendentale eine umgekehrte Ubertragung eines Konzepts vom naiven auf den philosophischen Bereich. II7 Er spricht zwar vom »variativen Umdenken unter Festhaltung einer invarianten ldentitat als [der] Methodik der Herauserfassnng des Wesens« (VI. eM, 92), geht hierauf aber nicht weiter ein. I I 8 Husser! verbessert: »eines Wissens, das wir als vorseiendes, als passiv konstituiertes Apriori schon haben, ist gleichsam anamnesis« (ebd., Anm. 28 I). Der Zusatz »passiv konstituiertes Apriori« scheint mir wichtig zu sein; denn obwohl ein Eidos Produkt einer Variation ist, hantieren wir immer schon mit dies em Wissen als passiv konstituiertem in natiirlicher Einstellung. II9 Vgl. auch Dok. uiI, 206ff., insbes. 209: »lndem das in die Erfahrung tretende Ding nur Seinssinn
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Dieses Vorwissen ist die Mog/ichkeitsbedingung ftir den Vollzug der Variation; aber dieses Apriori ist bei Fink das des abgeschlossenen Konstitutionsprozesses ais der in der Welt terminierenden Totalitat aller Weltgeltungen. Dementsprechend ist es ein Apriori »der« Welt im Sinne des genitivus possessivus; Fink nennt es daher auch ein ~)mundanes Apriori«; die phanomenologische Eidetik ist somit »die Gesamtheit der transzendentalen Au£klarungen, die sich auf das weltliche Eidos beziehen«. (VI. CM, 87) Das Eidos als welt/iches - wobei Fink nicht zwischen individuellen Eide (etwa Rot, Blau etc.) und Eide als »Regionen der idealen Wesenheiten formaler und materialer Natur« (ebd.) unterscheidet - ist sornit ein Wesen, welches durch eidetische Variation innerhalb der natiirlichen Einstellung aufgewiesen werden kann; einen »Beleg« sieht Fink darin, dass die Variation bei Husserl immer geschieht in »faktischer Wahrnehmung, sofern jedes Faktum ais bIoSes Exempel einer reinen Moglichkeit zu denken ist« (r, 105). Fink scheint die Faktizitat der Wahrnehmung und der darauf fundierten Tatigkeit des Variierens ais Tatigkeiten in natiirlicher Einstellung anzusehen, sofern sie ein »Faktum«, ein Gemachtes, ist. Faktizitat, so ware die finksche Gieichung, ist Gemachtes, Gemachtes aber ist Konstituiertes und ais solches in der Welt, Iebend im Modus natiirlicher Einstellung. Entsprechend ist das Eidos ein nach faktischem Variationsvollzug produziertes und d. h. in der Welt vorkommendes »Seiendes«. Aus der Sicht Husserls ist dieser Schritt gewiss zu voreilig, insofern auch beim Zuschauer durchaus von einer ihm eigenen Jaktischen Situation des Phanomenologisierens gesprochen werden muss. Trotz dessen Faktizitat ist das Verfahren der eidetischen Variation selbstverstandlich eine phanomenologische Disziplin, die das sich immer schon vollziehende Ideieren explizit macht: ~) Ihre Schwierigkeit liegt uberall darin, dass wir zwar immerfort geistig tatig sind, aber es erst muhsam lernen mussen, auf dieses Tatigsein zu reflektieren und es uns greifbar zu Gesicht zu bringen. Nur die schrittweisen Ergebnisse sind im Vollzug des tatigen Lebens in unserem erfassenden Blick.« (IX, 87)
Demgegeniiber betont Fink: »Das Eidos ist in der natiirlichen Einstellung uns immer )apriori< gegeben.« (VI. CM, 92) Entsprechend bezieht sich das eidetische Variieren ais Tatigkeit in natiirlicher Einstellung - was, wie gesagt, fragwiirdig ist120 - immer auch hat als das eines jeweiligen Innenhorizontes, wahrend von ihm in faktische und eigentliche Kenntnis nur ein Kern von Washeiten getreten ist, hat das Ding, hat jedes Reale iiberhaupt als Erfahrbares sein >allgemeines Apriori <, eine Vorbekanntheit, als unbestimmte, aber als standig selbige identifizierbare Allgemeinheit, einen apriorischen Typus, zugehorig einem Spielraum apriorischer Moglichkeiten.« (Kurs. erg.) I20 SO mochte Fink die eidetische Variation als auf derselben Stufe wie das »Ideieren des weltlichen Wissenschaftlers« (VI. eM, 87) angesiedelt wissen. Dies scheint auf einem Missverstandnis des »faktischen« Charakters der Erfahrung zu beruhen. Hiergegen ware die Problematik der Identifikation von Faktum und Wesen beim spaten Husser! ins Feld zu ftihren. Vgl. zu dieser Problematik Landgrebe I982, 38ff., sowie I02ff., wie auch Mertens, 244ff.
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auf weltliches Sein. Die Problematik der derart aufgefassten eidetischen Variation einmal dahingestellt, ist sie fur die Diskussion der Seinsidee von untergeordneter Bedeutung; denn die Pointe in diesem Abschnitt ist nicht - was zu erwarten ware -, dass dieses Eidos ais konstituiertes wiederum auf dessen Konstitution zuriickgefuhrt (also reduziert) werden muss. Vielmehr ist das Provokante dasjenige, was Fink ais Eidos ansieht. 1st die Ideation nur die (faktische) Explizierung des (apriorischen) impliziten »Vor-Wissens« in natiirlicher Einstellung, so ist das Eidos dieses Wissens nichts anderes ais die Invarianz all dieser Wissensarten. In Kapitel I wurde ais diese Invarianz die natarliche Einstellung aufgewiesen; sofern diese die Welt zum Korrelat hat, ist die Welt ais Eidos das Korrelat dieser Variation. Das Eidos Welt ais »mundanes Apriori« ist somit das umfassende Eidos schiechthin, als eidetische Invariante aller mundanen Eide. Das in der phanomenologischen Eidetik herauszustellende Eidos ist nichts anderes ais das Eidos der Welt. 121 Die Welt ist also nicht selbst das Eidos, aber im Verfahren der Eidetik geht es Ietztlich urn ihr Eidos ais das aller einzelnen oder regionalen Eide. 122 Die Konsequenz hieraus ist Finks Idee einer transzendentalen Eidetik, die das »transzendentale Sein« zum Gegenstand hat. Transzendentale Eidetik aber ist auf »mundane« Eidetik angewiesen, die ihrerseits das »Wesen« der Welt durch die Methode der eidetischen Variation herausprapariert. Das mundane Eidos (das der Mundanitat schlechthin) ist Ergebnis einer »hoherstufigen« eidetischen Variation, welche die »konkreten ii mundanen Eide auf ihr Gemeinsames hin variiert. Dieses letzte Eidos ware der Oberbegriff all dessen, was in der Welt ist. 1st die Invarianz der natiirlichen Einstellung die Generalthesis als Glaube an das Sein der Welt, so ware sie in Bezug auf die Welt das eidetische »Korrelati( zur Generalthesis: Die eidetische Invarianz ist nichts anderes als Sein selbst. Das ware der Weg zum Ietzten Eidos »Sein« als dem mundanen Apriori schiechthin. Als Ietztes Eidos ist aber auch es konstituiert. Aus dieser Perspektive wird die Originalitat der Idee der »Reduktion der Seinsidee« sichtbar und gieichzeitig klar, was mit ihr und einer »transzendentalen Eidetik« gemeint ist: narnlich eine »tranzendental-eidetische Variation«, die in Analogie zur mundanen Eidetik ein »transzendentales Eidos« herausprapariert, also eine eidetische Variation des transzendentalen Lebens selbst vollzieht. Dieses transzendentale Eidos nennt Fink »Vor-Sein«; es ist also nicht ein »Negativ« des mundanen Eidos »Sein«, sondern muss als Titel fur die Invarianz dieses konstituierenden Stroms verstanden I21 Hussed sprieht aueh einmal von der »Welt als Eidos«, die nach der Epoche von der Welt als
Faktum nieht der Ausschaltung verfillt und somit als Residuum flir die phanomenologische Analyse iibrigbleibt. Vgl. ml!, 67. Vgl. auch IX, § 10, 87ff. Dort fasst Husser! die Aufgabenstellung der eidetischen Methode zusammen, der es darum geht, den »natiidichen Weltbegriff« als invariante Strukturtypik zu ermitteln, letztlich urn eine »Gesamtanschauung von deT Welt« (ebd., 88). 122 Vgl. auch Dok. nl!, 92, Anm. 284: »Das [mundane] Eidos hat die Aprioritat des Erzeugnisses, aber die Erzeugung setzt ein tieferes Apriori voraus, das in der stromenden Welterfahrung selbst liefernde Apriori, die notwendig vorangehende regionale Struktur der Welt etc.«
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werden, die so wenig mit dem mundanen Eidos vergleichbar ist wie der konstituierende Lebensstrom mit dem konstituierten Leben selbst. Die transzendentale Variation erbringt erst die Einsicht in die eigene »Seins«-Weise des transzendentalen Lebens. Auch wenn faktisches und transzendentales Eidos von Fink als »Sein« bzw. »Vor-Sein« bezeichnet werden, so sind sie doch schlechthin unvergleichlich. Mit der Idee des transzendentalen Eidos geht Fink tiber Husserl hinaus, wobei auch sie aber nur angedeutet wird; es ist die Frage, wie ein »Eidos des transzendentalen Apriori« aussehen konnte.123 Die Durchftihrung bleibt Fink in diesem Abschnitt schuldig; ebenso, wie die Methode der »transzendental-eidetischen Variation« konkret aussehen konnte. »Reduktion des Seinsbegriffes« muss also recht verstanden werden; sie ist Au£k:larung der Konstitution des nur scheinbar Letzten. Weiterhin geht es urn eine Herbeiftihrung eines reduktiven »Seins«-Begriffes durch die Anwendung des eidetischen Verfahrens auf den transzendentalen Bereich. In Hinblick auf das Variieren kann nun auch die Art der Produktivitat des Zuschauers naher erlautert werden. 1st eidetische Variation in nattirlicher Einstellung ein Explizieren eines unthematisch fungierenden Vorwissens, so kann von einer »Produktivitat« des Variierenden strenggenommen nicht gesprochen werden; sie ist, wie Fink nicht unrichtig sagt, »Wiedererinnerung« (aVCtflv1']OLl:;). Sie ist nur in einem laxen Sinne »Produktion«, und »eignet« als solche »jeder intellektuellen Spontaneitat, hat also mit dem uns hier beschaftigenden Problem nicht das geringste zu tun.« (VI. eM, 91) Die Produktivitat des Zuschauers besteht also darin, ein Eidos zu produzieren, von dem er kein Vorwissen haben kann, da das transzendentale Leben nicht wie Welt vorgegeben ist. 124 Die Produktivitat des Zuschauers bezeichnet die im Grunde paradoxe Situation, ein Eidos zu explizieren, von dem es kein implizites Vorwissen geben kann. Fink lost das Problem auf bekannte Weise: Das Eidos wird »produziert« im Zuge der Erfahrung selbst. Die Produktivitat meint dann nicht nur ein Hervorbringen eines wesenhtift im Vorhinein Ungegebenen, sondern auch als ein theoretisierendes Hervorbringen ein eigenes Ontijizieren: Das Vorseiende wird als Seiendes verstanden, anders ware es nicht thematisierbar. Thematisieren heiBt immer als-seiend-auffassen. Die Tatigkeit des Zuschauers ist also von vornherein paradox: Man kann Nicht-Seiendes eigentlich nicht zum Phanomen (d. h. seiend) machen, sondern die »Phanomenalisierung« des wesenhaft
123 Hier waren evtl. die Arbeiten Richirs (vgl. Richir 1992 und 1993) zu erwahnen, der hier seinen
Ausgang nimmt in Richtung auf »vorphanomenale« Ontologien. 124 Vgl. VI. eM, 92: »Die Produktivitat, die der theoretischen Erfahrung des phanomenologisierenden
Zuschauers zukommt als dem Ansetzen von solchem als seiend (transzendental seiend), was die konstitutive Natur des Vor-Seins hat, - diese Produktivitat eignet auch der diese theoretische Erfahrunglogifizierenden transzendentalen Ideation. Sie ontifiziert die )reinen Mbglichkeiten< des Vorseienden zu den Geltungsgebilden einer transzendentalen Eidetik.« V gl. dagegen Husser!: »Wie ist nun die transzendentale Subjektivitat seiend, auch schon ehe sie iiberhaupt je zur Apperzeption gekommen ist? Das transzendentale Sein ist nicht im Voraus vorgedeutet, und doch wird es nicht eigentlich mit der Stiftung der Apperzeption geschaffen.« (B II 9/ 26a, ohne Datierung)
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»U nphanomenalisierbaren « ist immer schon ontifizierend und wird daher dem Sein-Konstituierenden nie gerecht. Diese das Phanomenologisieren durchziehende Aporie ist fur Fink auch nicht auflosbar. Aber diese Paradoxalitat ergibt sich erst aus der »Ontologisierung« der Welt als einem konstituierten Sein. Gilt die Gleichung: Welt gleich Sein gleich Konstituiertsein, kann die Konstruktion des Vorseins und seiner Erfahr- und Pradizierbarkeit erst zum Problem werden. Auch wenn sich bei Husserl gelegentlich die Begriffe »Vorsein« oder »Vorseiendes«125 finden, so ist die Idee einer »ontologischen Irrealitat der transzendentalen Subjektivitat«126 durchaus neu und muss als Kritik Finks an Husserls vermeintlich naivem Verstandnis des transzendentalen Seins als etwas ohne wei teres Thematisierbaren verstanden werden: »Wenn innerhalb der VI. Meditation eine Kritik an Husserls Phanomenologie laut wird, so besteht sie an erster Stelle darin, in subtiler Weise einen Spalt einzuftihren, durch den die Idee des )Seins< von der der moglichen Selbstgebung getrennt wird.«127
Die bis hierher untersuchten neun Paragraphen der VI. Meditation sollten em Verstandnis fur die Fragestellung und die Problematik der Methodenlehre wecken. Nicht nur hatte die Methodenlehre in Bezug auf die Elementarlehre die Absicht, letztere systematisch zu gliedern, sondern auch zu zeigen, wiefern die Problematik einer Methodenlehre ein von der Elementarlehre unterschiedenes Projekt darstellt. Dies darzulegen ist aber nur moglich, indem in und aus der Elementarlehre heraus die Genesis der methodologischen Problematik dargestellt wird. Insofern beginnt die eigentliche Methodenlehre bzw. Selbstkritik erst hier.
125 Vgl. etwa xv, 613, Anm.
I, aus demJahre 1933. Allerdings benutzt Husser! die Begriffe in anderer Bedeutung. Wahrend bei Fink Vor-Sein pauschal den Bereich des konstituierenden Lebens meint, spricht Husser! hier von der »als seiend vorgegebenen Weltkonstitution, wobei das Vorseiende nicht in den Blick tritt« (ebd.) als Aufgabe einer »Ersten Phanomenologie«. Diese wird von einer »tieferen Schichte der Phanomenologie« gefolgt, »die die Konstitution des Vorseienden betrifft«. »Vorseiend« charakterisiert hier offenbar Phanomene, die noch nicht in der Welt als seiend sind, etwa vor der Geburt. Hier fragt sich Husser! selbst, »stossen wir da nicht auf das Vorsein?« Da Sein bei Husser! immer den Aspekt der Erfahrbarkeit enth:ilt, ist Vor-Sein ftir ihn all das, was noch nicht in den Bereich der Erfahrung getreten ist, aber prinzipiell erfahrbar sein muss. V gl. hierzu auch das folgende Kapitel. 126 Dies eine Formulierung van Kerckhovens (van Kerckhoven 1996, IOO). 127 Ebd. Wie van Kerckhoven in Erinnerung ruft, komrnt die These von der »ontologischen Undurchsichtigkeit« des transzendentalen Lebens bereits in Finks Dissertation zur Sprache (vgl. ebd., lOI).
KAPITEL
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Phanomenologische und natiirliche Einstellung: die Verweltlichung Dich im Unendlichen zu finden, Musst erst trennen, dann verbinden.
(Goethe)
Das Letztkonstituierende ist nicht konstituiert. Aber das Problem ist freilich, wie der Phanomenologisierende in der Methode der Riickfrage nach dem Letztkonstituierten dieses Vorsein zu einem Seienden konstituiert aus einem neuen Vorsein, wie er die entsprechenden Apperzeptionen, in denen Seele, Seelenleben, Welt, seelisches Bewusstsein von und in der Welt das Apperzipierende ist, sclbst zu Gegenstanden macht, schaffend Apperzeptionen hoherer Stufe, und andererseits, wie er dazu kommt, sie dem naiv sich als Menschen und menschliches Seelenleben lebenden Wissenden, der nicht Phanomenologe war, unterzulegen, sie ihm zuzusprechen in der Form » letztes apperzipierendes Leben «, das nicht gegenstandlich bewusst, nicht phanomenologisierend konstituiert war, vor-seiend und nicht seiend im Sinn der weltlich Seienden, und wieder, wie es kommt, dass er doch sagen darf und muss: Das verborgene letztlich konstituierende Leben als das des Menschen ist, nachdem es einma! entdeckt ist, in das Seelenleben einzuordnen und so abermals das verborgene Leben, das seinerseits als phanomenologisierendes vergegenstandlicht wird. (B I 14/ 13Sb, wohl von 1934)
4. I. Die Aufgabenstellung: Der Begriff der Verweltlichung
Die Phanomenologie wurde bisher grundsatzlich hinsichtlich ihres Vollzuges, des »Phanomenologisierens«, thematisiert; als solches ist sie vom Lebensvollzug der natiirlichen Einste11ung »radikal« verschieden. Die prinzipielle Problematik des Phanomenologisierens aber hat sich schon zum Ende des letzten Kapitels angedeutet; denn so radikal verschieden es auch von der natiirlichen Einste11ung hinsichtlich seines Erkenntnisstils und seiner »Seins«-Weise sein so11, ist es ihr doch in einem entscheidenden Punkt notwendig gleich: 1st das Erfahren und Theoretisieren des unbeteiligten Zuschauers ein wesenhaft unangemessenes, aber notwendiges Ontifizieren, so heiBt das, dass er dadurch, dass er noch in mundanen »Netzen verstrickt« ist, in seiner Erfahrung immer ontifiziert und damit den Absprung aus der natiirlichen Einstellung nicht recht schaffen kann: Er ware dann kein Mensch me hr. Vielmehr »holt« er seine Erfahrungen und die darin gewonnenen Einsichten »zuriick« in die Welt durch sein Ontifizieren der wesenhaft nicht-seienden S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
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KAPITEL
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Erfahrungsinhalte. Der Zuschauer muss seine Einsichten wieder »verweltlichen«.l Das Verweltlichen ist ebenso ein notwendiger Bestandteil seiner - notwendig ontifizierenden - Tatigkeit. Das ist der Fokus der »eigentlichen« Methodenlehre in den letzten drei Paragraphen der VI. Meditation. Hier stellen sich der Motivation fur die Reduktion als »Ent-Weltlichung« analoge Fragen der Ver-Weltlichung. Dies wird durch Finks Rede yom »dialektischen« Verhaltnis von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung nahe gelegt. Die Verweltlichung ist die Gegenbewegung zur Reduktion. Die Frage lautet demgemaB: Warum muss diese Verweltlichung geschehen? Zuvor muss erortert werden, wie sie vor sich gehen kann und was ihr Moglichkeitsgrund - oder besser Notwendigkeitsgrund - ist. Der Verweis auf die Gegenlaufigkeit zur Ent-Weltlichung der Reduktion ist zunachst nur formal. An dieser Stelle manifestiert sich die groBte sachliche Differenz zwischen Husserl und Fink. Die Annotationen Husserls in den §§ 10 und I I der VI. Meditation nehmen gegeniiber den vorherigen Paragraphen erheblich zu und artikulieren wesentliche Differenzen zu Finks AusfUhrungen. Wahrend bisher Differenzen zwar vorhanden waren, die jedoch nicht den thematischen Untersuchungsrahmen sprengten, so gabelt sich doch hier der Weg entschieden. Den von Fink eingeschlagenen ist Husserl nicht mitzumachen gewillt. Die Ablehnung der finkschen AusfUhrungen, wie sie in Husserls kritischen Notizen sowie in weiteren Texten der 30er Jahre zum Vorschein kommt, wird zur Priifung und Bewahrung fUr Husserls eigene Position, die mehr als nur eine Zurechtriickung oder eine Kritik an Fink ist. Husserl pocht hier energisch aufUrstiftungssinn und -absicht der Phanomenologie, welche er durch Fink verwassert oder gar negiert sieht. Wichtig fUr das Verstandnis von» Verweltlichung« ist, dass, obwohl der Begriff bereits ab Mitte der 20er Jahre von Husserl verwendet wird, Fink diesen Vorgang wiederum unterteilt; und zwar in primare und sekundare Verweltlichung. Was Fink mit der primaren Verweltlichung meint, wird durch Hinweis auf den Konstitutionsprozess deutlich: Das konstituierende transzendentale Leben konstituiert das weltliche Sein, jenes wird damit selbst weltlich, »verweltlicht« sich. Das mundane Sein wird in der phanomenologischen Einstellung durchschaubar als konstituiertes Ergebnis und als relativ auf das absolute Leben. Die Welt ist verweltlichtes transzendentales Leben in »Endgeltung«. Dieses Leben ist als anonym fungierender »Leistungsstrom« die sog. »primare Verweltlichung«. Demgegeniiber aber hat sich durch den Bruch im transzendentalen Leben der unbeteiligte Zuschauer etabliert, der diesem konstituierenden Leistungsprozess zusieht. Dieses Zusehen ist ein eigen-
Inwiefern Husser! bzw. Fink sich des theologischen Beiklangs in diesem Begriff - das Wort, das Fleisch wird - bewusst waren, muss offen bleiben. Zur »Religiositat« des husserlschen Denkens vgl. Held 1966, I79 ff. , sowie Husserls eigene AUl3erungen in Cairns, 14, insbes. 46f.: »The ethical-religious questions are the last questions of phenomenological constitution.« (ebd., S. 47) Zu Husserls theologischen Reflexionen vgl. auch die Arbeiten von Hart.
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tumliches Erfahren, insofern es hierdurch das Erfahrene thematisiert und d. h. Jur sich konstituiert. Dieses Produzieren bedeutet ein Erfahrbar-Machen von etwas, das wesenhaft nicht ist, aber Sein konstituiert. Dies wurde als Ontifikation bezeichnet und ist ebenfalIs eine Art Venveltlichen, insofern das Vorseiende zu einem Seienden gemacht wird. Damit ist es aber nur auBerlich mit dem »primaren« Verweltlichen analogisierbar, insofern dieses ein anonymer und urpassiv vor sich gehender Prozess ist. Demgegenuber ist das Verweltlichen des Zuschauers ein aktives, produktives Erfahren. Fink nennt es auch sekundare oder auch »uneigentliche« Verweltlichung (VI. CM, 108).
Dass das Erfahren und Theoretisieren des Zuschauers »ontifizierend« ist, war bisher nur die Vorzeichnung einer Problematik, bei der die Weise dieses Ontifizierens noch im Dunkel blieb. Dieses Ontifizieren volIzieht sich durch die Sprache. Die »originale Sprache des radikalen Phanomenologen«2 zu bestimmen, ist Finks Antwort auf das Problem des Ontifizierens der sekundaren Verweltlichung.
4.2. Die Priidikation als !)MotivationJur die Venveltlichung«. Finks und Husserls Bestimmung dey phiinomenologischen Sprache
Zunachst solI das Problem einer phanomenologischen Sprache auf- und ihm !) in« der Phiinomenologie ein systematischer Ort zugewiesen werden. Es war Finks Verdienst, Husserl in dieser Sache bedrangt und zu einer eigenen Beschaftigung mit diesem Phanomen angeregt zu haben; denn Sprache stelIte fUr den Mathematiker Husserl kein ernstes oder auch nur eigentliches Problem dar.3 Sprache ware ein Problem wie jedes andere, das prinzipielI unter die Konstitutionstheorie falIt. Welcher Art aber ist die Sprache, die der Phanomenologe selbst gebraucht, urn seine Erkenntnisse zu artikulieren? Verwendet er nicht ein Instrument, was als konstituiertes mundan ist, und wie kann etwas Mundanes etwas wesenhaft Nicht-Mundanes ausdriicken? Was ist eigentlich eine »phanomenologische Sprache« - gibt es sie uberhaupt? Die Differenz zwischen Husserl und Fink kann, vorausblickend, so charakterisiert werden, dass Husserl diese Frage bejaht, wahrend Fink sie verneint. Ohne eine Vorentscheidung uber die Richtigkeit einer der Positionen zu treffen, ist zu konstatieren, dass
2
So Husser!s Formulierung (B 1 5/ 2a). Husser! beschaftigte sich gelegentlich mit der Sprache des Philosophierenden, ohne hierauf naher einzugehen oder auch nur Probleme zu sehen, vgL etwa mfr, <) bzw. 140. Husserls Stellung zum Problem der philosophischen Sprache ist von den Logischen Untersuchungen bis ins Spatwerk im Wesentlichen gleich geblieben. A1lerdings erkennt Husserl in der Krisis an, dass die Sprache ein Problem ist, das wie alle anderen »die transzendentale Phanomenologie auf ihrem Wege einmal erreichen miisste« (VI, 192). Auch wenn er mit Finks Bestimmungder Sprache der Phanomenologie nicht einverstanden ist, so hat er doch keine explizite »Theorie« der phanomenologischen Sprache mehr aufgestellt, was auch daran liegen mag, dass er seine Position durch Finks Ausftihrungen nicht eigentlich gefahrdet sah.
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Fink hier einen scharferen Blick als Husserl hat, der dieser Frage keinen besonderen Stellenwert zumaB. 1m Rahmen der Methodenlehre geht es freilich nicht urn die Frage nach der Konstitution von Sprache. Wie sich diese konstituiert, als entstanden aus alltaglichlebensweltlichem Benennen, Vergleichen, Kolligieren vorpradikativer Erfahrung, ware im Rahmen einer genetischen Logik zu thematisieren. 4 Das kann aber nicht Thema einer Methodenuntersuchung der philosophischen Sprache sein; denn der Philosoph, wie jeder Redende, iibernimmt Sprache schon als ein vorliegendes System, in das er hineingeboren wurde und das er sich als »Muttersprachler« angeeignet hat. Die Sprache ist Teil der Gewohnheit der natiirlichen Einstellung mit ihrer eigenen Relativitat und Kontextualitat. Als solche ist die »natiirliche Sprache,', deren sich jeder zunachst bedient, mit einer wesentlichen Unbestimmtheit behaftet. Die Rede von »der« Alltagssprache rechtfertigt sich nur dadurch, dass sie notwendige Aquivokationen enthalt. Welche Bedeutung ich jeweils mit einem Wort meine, hangt zumeist von dem Kontext ab, worin ich es verwende. In der Regel ist das nicht erklarungsbediirftig, weil der jeweilige Zusammenhang durch eine gewisse Kommunikationssituation gepragt ist. Die Alltagssprache ist alltaglich gerade dadurch, class sie wesenhaft unbestimmt (aber deswegen nicht beliebig) ist. Demgegeniiber strebt wissenschaftliche Sprache nach Eindeutigkeit. Die wissenschaftlichen Einsichten diirfen nicht mit Aquivokationen behaftet bleiben, sondern miissen clare et distincte gefasst werden. Gegeniiber der Relativitat der Alltagssprache strebt die wissenschaftliche Sprache nach Exaktheit und Eindeutigkeit. Der am mathematischen Ideal orientierte Husserl versteht Sprache allein in diesem Sinne, weshalb das Problem einer philosophischen Sprache kein von jeglicher wissenschciftlicher Sprache abgelostes, eigenes Problem darstellt: Der (wissenschaftliche) Philosoph muss sich wie jeder Wissenschaftler darum bemiihen, in seinem Sprachgebrauch Aquivokationen zu vermeiden, und muss sich vor der »Verfuhrung der Sprache« (VI, 372) hiiten. Das ist aber nicht das Problem der Pradikation des phanomenologisierenden Zuschauers, wie es Fink stellt. Der Zuschauer iibernimmt, sofern er spricht, bereits die vorgegebene Sprache: Sie ist ein schon vorliegendes Instrument fur die Artikulation seiner Gedanken, und insofern iibernimmt er sie aus der bereits konstituierten Welt, in der er immer schon natiirlich eingestellt lebt; sie »ist erwachsen in der natiirlichen Einstellung, istje nach der empirischen Konkretion des Sprechenden durch seine jeweilige Partizipation an einer Sprachgemeinschaft eine primitive oder entwickelte, eine vorwiegend rationale oder affektive Sprache u. a. mehr. « (VI. eM, 94)
4
Vgl.
EU,
insbes.
I.
Abschn., 73 If, sowie
XXXI,
26-83.
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Da der Zuschauer, obwohl nicht mehr natiirlich eingestellt, dennoch ein konstituierter Mensch ist, iibernimmt er nolens volens, und zunachst unbewusst, seine konstituierten mundanen Vermogen. Der Philosoph spricht die Sprache der natiirlichen Einstellung, hat aber ein wesentlich anderes Thema. Die Frage, die Finks Denken ins Rollen bringt, ist, was bei dieser Ubernahme und diesem unbewussten Gebrauch der natiirlichen Sprache durch den Zuschauer geschieht. Er spricht die natiirliche Sprache, aber er spricht iiber etwas ganzlich Un-Natiirliches. Wie ist dies moglich? Bleibt er damit nicht »mit einem Bein« in der natiirlichen Einstellung? 1st am Ende das radikale Verlassen der natiirlichen Einstellung aus diesem Grund gar nicht vollkommen moglich und somit die Reduktion nicht vollstandig zu vollziehen? Ware das die Konsequenz, so Iage hierin eine fundamentale Kritik am husserlschen Programm. Der Hinweis auf die wesentliche Unmoglichkeit der Reduktion kann auch eine erste Antwort auf die Frage geben, warum sich das Phanomenologisieren iiberhaupt wieder in die Welt zuriickbegeben solI, eine Antwort, die analog zur Frage nach der Motivation fUr die Reduktion ware; hier galt: Es gibt in der natiirlichen Einstellung keine Motivation, sie zu verlassen. Hat man sie aber einmal verlassen, gibt es auch keine Moglichkeit, wieder in sie zuriickzukehren. Umso dringlicher wird dann die Frage, wie sich das Verweltlichen vollziehen solI bzw. ob es sich iiberhaupt vollziehen kann. Man konnte mutmaBen, dass auch diese Frage falsch gestellt ist; denn das Verweltlichen vollzieht sich immer schon, sobald der Phanomenologe spricht. Aber muss er denn sprechen? Kann er nicht schweigen, was ))immer eine veritable Moglichkeit«5 ware (auch wenn die Forderung hiernach meist sehr wortreich vorgetragen wird)? Diese Frage ist letztlich genauso wenig zu beantworten wie die, weshalb der aus der HoWe Befreite wieder dahin zuriickkehrt. Zunachst solI wiederum Finks Konzept der Pradikation vorgestellt werden; dagegen wird sodann das husserlsche (Gegen-)Konzept gestellt. Die Notwendigkeit, den Schritt zuriick in die Welt zu tun, wird auch von Husserl anerkannt, jedoch in grundlegend verschiedener Weise vollzogen. Die Frage der Verweltlichung erweist sich als Austragungsort der philosophischen Differenz beider. 4.2.1.
Fink: Priidikation als »katachretische« Appropriation
Die Ausftihrung iiber das Phanomenologisieren als theoretisches Erfahren hatte u. a. den Sinn, einen Unterschied einzuftihren, der bei Husserl nicht vorgesehen ist. Phanomenologisches Erfahren und Versprachlichung dieser Erfahrung sind bei diesem untrennbar. Zwischen Erfahren und Auf-Begriffe-Bringen kann nicht eigentlich unterschieden werden, weil sich das wissenschaftlich-explizite Erfahren - gegeniiber der vorpradikativen lebensweltlichen Erfahrung - unmittelbar in Begriffen
Kuster,
I I I .
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vollzieht. Fink zieht eine Linie zwischen beiden geistigen »Titigkeiten«. Dennoch gibt es eine Parallele. Der wesentliche Vorgang des theoretischen Erfahrens war die Ontifikation: Als bloB erfahrend-stummes muss es »zur Aussprache seines eigenen Sinnes« gebracht werden. Damit das moglich wird, darf es strenggenommen nicht »stumm« sein; es ist eher schweigsam - wobei das »stumm« doch den Kern des Problems trifft: Die Erfahrung ist wesenhqft stumm, weil sie nicht auf Begriffe zu bringen ist. Und doch tut die Pradikation eben dies. Wie also die Ontifikation etwas Nicht-Seiendes zu einem Seienden macht, bringt die Pradikation etwas zur Sprache, was wesenhaft nicht pradizierbar ist. 1st die theoretische Erfahrung ontifizierend, so ist die Pradikation logijizierend. Wie vollzieht sich Logifikation? Grundlage dieser Uberlegungen ist Finks dogmatisch vorausgesetzte Auffassung, dass Sprache ein »Produkt« der natiirlichen Einstellung ist und ausschlieBlich in ihr vorkommt. Das folgt aus der These, dass alles welthafte Sein Konstituiertsein ist. Nicht nur sind die besprochenen Themen seiend und damit konstituiert, sondern auch das Sprechen als Tatigkeit des Menschen ist, da auch dieser konstituiert ist, wiederum konstituiert. Sprache bezieht sich auf Sein und ist als Eigenschaft sprechender Menschen selbst seiend. Daraus folgt, »dass alle Begriffe Seinsbegriffe sind« (VI. eM, 94). 1st Sprache ein solches - bereits intersubjektiv6 - konstituiertes Phanomen, kann auch der natiirlich eingestellte Mensch als beginnender Philosoph nicht anders, als zunachst diese Sprache zu verwenden. Nach der Reduktion bleibt ihm, nun als unbeteiligtem Zuschauer, die Sprache erhalten. Auch wenn sie eine andere Bedeutungsfunktion angenommen hat, da sie sich auf einen neuen Bedeutungsbereich bezieht, erhalt sie sich doch mit ihrer Grammatik etc. 7 Dies ist durchaus im Sinn der Reduktion, die sich zwar »mit einem Schlage« vollzieht, deren konkrete Forschung und Sinn sich aber schrittweise dem selbstkritischen Zuschauer erschlieBt. In diesem stufenweisen Fortschreiten wird immer von Sprache als Pradikation des jeweils Erforschten Gebrauch gemacht. Dass mit einem Schlage eine phanomenologische Sprache »da« ware, ware ebenso unplausibel, wie wenn nach der Epoche der Zuschauer plotzlich »da« ware. Ob das die These von der Unmoglichkeit einer phanomenologischen Sprache rechtfertigt, steht vorerst dahin. Dies ist fUr Fink schon daher unstrittig, da Sprache ein mundanes Phanomen ist, das sich nur auf Mundanes beziehen kann, wahrend die transzendentale Sphare wesentlich vor- oder unseiend und daher nicht sprachlich - wenn Sprache Onti- und d. h. Logifikation bedeutet - fassbar ist. Hierin liegt das Paradox. Wie f;ihrt Fink von diesem status quo aus fort? Stichwort der phanomenologischen Logifikation ist die» Ubernahme«. Der Zuschauer, ebenso wie er in seinem Erfahren ontifiziert, logifiziert seine Erkennt-
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Vgl. VI. CM, 95: Es gibt bei der Sprache »eine bestirnrnte Vorgangigkeit prirnar intersubjektiver Konstitution vor der egologischen Nachkonstitution der Aneignung einer tradierten Sprache. « Vgl. VI. CM, 95: »Bleibt zwar die Sprache als Habitualitat durch die Epoche hindurch erhalten, so verliert sie aber nicht den einzig au] Seiendes bezogenen Ausdruckscharakter. «
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nisse in der Weise der Ubernahme der Sprache aus der natiirlichen Einstellung. Darin fallt er, ob er will oder nicht, aus seiner Haltung des Unbeteiligtseins heraus und »muss die Habitualitat der Sprache vom konstituierenden lch ubernehmen, sich an dessen konstitutivem Leben, entgegen seinem Unbeteiligtseinwollen, beteiligen. Aber diese Beteiligung ist eine bloB scheinbare, sofern der phanomenologisierende Zuschauer den natiirlich auf Seiendes bezogenen Sinn der Sprache verwandelt in der Obernahme.« (VI. eM, 95)8 Die Paradoxie wird aber erst in der Herausbildung einer Terminologie, die notwendigerweise unangemessen ist, virulent. Dem Erfahren bleibt es gewissermaBen unbenommen, zu ontifizieren, erst im Versprachlichen kommt es zu einer problematischen »Explizitat«. Die Paradoxie wirkt sich darin aus, dass dieses Pradizieren zwar stattfindet, aber darin »Gewalt« ausiibt, und das in zweierlei Hinsicht: Sowohl wird der Sprache Gewalt angetan, da sie fUr den transzendentalen Bedeutungsbereich wesenhaft ungeeignet ist, als auch diesem Bereich selbst, da er eine ihm wesentlich unangemessene, logifizierende » Oberfremdung« erfahrt. Die Wortbedeutungen werden zwar verwandelt in dem Sinn, wie auch eine Metapher eine Sinnverwandlung des urspriinglichen Wortes bewirkt, aber dennoch reichen sie prinzipiell nicht an den intendierten Bereich heran. So handelt es sich nicht um eine blof3e Analogie, sondern eine hoherstufige Analogie bzw. Metapher. Die Parallele von Phanomenologie und Psychologie kann dies verdeutlichen: Spricht der Psychologe von seinen Phanomenen, so gebraucht er u. a. Metaphern, etwa in der Rede von » Gebieten« oder » Regionen« der Seele. Eine Landes- und eine Seelenregion sind freilich nur unangemessen analogisierbar; fUr die psychische »Sphare« fehlt nun einmal das richtige Wort. Spricht nun der Phanomenoioge von der Psychologie analogen, aber durch einen »Seinsgegensatz« von dieser getrennten Phanomenen, so benutzt auch er die gleichen Metaphern wie der Psychologe, auch er redet von einem »Feld« des reinen Bewusstseins, von »Schichten« etc. Aber bereits in der Psychologie ist die Rede vom » Feld« des Bewusstseins strenggenommen falsch; denn sie impliziert, dass es neben einem Feld noch ein anderes Feld geben konnte, was allein als Moglichkeit hinsichtlich der Psyche widersinnig ist. Dieser implizite Widerspruch setzt sich beim phanomenologisierenden Pradizieren auf h6herer Ebene fort. Letztlich ist auch die Rede vom transzendentalen »Leben« eine solche hoherstufige Metapher. Diese Begriffe sind gerade nicht »operativ verschattet«, um eine Kritik des spateren Fink aufzugreifen;9 denn es geht ja in der phanomenologischen Beschreibung gerade um eine intensive Beschafti-
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VI. eM, S. 95. Husser! bemerkt hierzu: »Schon der Ausdruck )Ubernahme< irrefUhrend.« (ebd., Anm.294) Wenn ein thematischer Sachverhalt etwa auf Grund seiner Komplexitat nicht terminologisch gefasst werden kann, trotz der expliziten Beschaftigung mit ihm, so kann er nicht operativ
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gung mit der rechten Bestimmung der thematischen Phanomene. Statt dessen versucht der finksche Phanomenologe, diese vorseienden »Phanomene« durch stets andere, neue Bilder auszudriicken und der Wahrheit naher zu kommen. Die transzendentalen vor-seienden Phanomene sind deskriptive Limesgestalten, denen man sich nur terminologisch annahern, die man aber nie adaquat erreichen kann. Terminologische Schwankungen bei Hussed selbst bezeugen diese Bemiihung, den thematischen Bereich sprachlich adaquat zu fassen. Entsprechend ist die Begriffsbildung als Bestandteil des forschenden Vollzuges auch kein »Fest-Stellen « einer einmal bestimmten Bedeutung, sondern ist als Annaherung an einen Limes stets im Fluss: »Es besteht kein ruhendes, gleichsam statisches Verhaltnis zwischen dem Ausdrucksleib (der Verlautbarung) und der zugeordneten Bedeutung, sondern ein Verhaltnis schwer zu charakterisierender Gegenbewegungen. « (VI. eM, 97) Dies setzt jedoch ein Wissen urn die notwendige Inadaquatheit der jeweils verwendeten Termini voraus. Von einer »terminologischen Fixierung« kann keine Rede sein; die phanomenologisierende Pradikation daif sich nicht mit einer einmal erreichten Bedeutung zufrieden geben; denn das hieBe, dass sie scheinbar ihr Ziel erreicht hatte, was sie aber in Wahrheit notwendig verfehlt. Wohl kann es sein, dass fur einen Sachverhalt kein adaquaterer Begriff gefunden werden kann bzw. es keinen gibt, der sich so weit mmdefinieren « lieBe, dass er auch nur annahernd adaquat ware. In dem Fall muss sich der Zuschauer dariiber im Klaren sein, dass der gewahlte Begriff nur eine vage »Anzeige fur einen transzendentalen Wortsinn« (VI, CM, 96f.) ist, die aber nicht passgenau auf den gemeinten Sinn verweist, sondern »in einer lebendig analogisierenden Affinitat« (VI, CM, 97) zu ihm steht. Die formale Anzeige eines unausdriickbaren Sachverhalts sind etwa die Anfuhrungszeichen, die indizieren, dass man etwas zwar »meint«, aber eben nur »uneigentlich«. Das wissenschaftliche Sprachideal der optimalen Adaquation ohne ungeklarte »Reste« ist also hinsichtlich der phanomenologischen Sprache nicht applikabel. Zwar besteht eine »Affinitat«, die ihrerseits eine hoherstufige Metaphorik ist, sofern bereits die Wissenschaft yom Bewusstsein, die Psychologie, Metaphern verwendet, welche sodann in der Phanomenologie in ihrem Seinssinn reduziert werden. Die Analogisierbarkeit erstreckt sich so weit, wie man Psychologie und Phanomenologie parallelisieren kann. Die Absage an die wissenschaftliche Adaquation aber muss nicht die Preisgabe der strengen Begriffsbildung bedeuten, sondern ftihrt zur hoherstufigen Erkenntnis, gemaB der die vermutete Adaquation immer nur analogisch aufzufassen ist. Der finksche Begriff »Anzeige« impliziert, dass ein Terminus den genannt werden, sondern er ist nicht adaquat thematisierbar; dass hierbei wiederum andere Begriffe verwendet werden, die ihrerseits operativ verschattet sind, ist nicht ausgeschlossen.
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gemeinten Sachverhalt lediglich indiziert, aber nie genau trifft. »Anzeige« ist der Gegenbegriff zu Adaquation. Die Anzeige ist notwendigerweise ein Wort aus der natiirlichen Einstellung - diese These einmal zugestanden lO - , das der Zuschauer in der Ubernahme und Aneignung fur die Artikulation der erfahrenen Konstitutionsprozesse verwendet. Der transzendentale Sinn aber »protestiert« gegen diese fest-stellende, ontifizierende Logifikation. Er ))febelliert« gegen den ihm zugefugten »Zwang«: »Somit haben alie transzendentalen Exphkationen eine eigentiimliehe Inadaquatheit, alie Begriffe und Satze tragen irgendwie zu kurz, versagen in einem bestimmten Sinne vor der Forderung, die, wie es seheint, an jede (vor aHem aber wissensehaft(VI. CM, 98) liehe) Pradikation zu stelien ist.«
Diese Inadaquatheit wird aber erst yom Zuschauer, der sein eigenes Tun reflektiert, bemerkt. Ist sein Reden als Metasprache ein Anzeigen, dessen Objektebene die geradehin verweisende Rede in natiirlicher Einstellung ist, so spielt sich die Verweisung zwischen Wort und Sache auch zunachst auf dieser Objektebene abo Dies gilt fur die direkt verweisende Rede wie fur die Metapher, die »hoherstufige Verweisung« genannt werden kann. Demgegeniiber ist die Anzeige eines transzendentalen Sinnes nochmals hoherstufig: Nicht nur verweist Z. B. »Region « auf ein konkretes Seiendes, sondern metaphorisch auf eine »Seelenregion« »innerhalb« der menschlichen Psyche,jerner aber auf einen mit dem psychischen nur unzureichend analogisierbaren Bereich transzendentalen Lebens, welches u. a. das Psychische immer schon konstituiert hat. Die hoherstufige setzt also die »mundane« Metaphorik voraus, geht gleichzeitig aber iiber sie hinaus: »Die >transzendentale Analogie des Bedeutens<, die die gesamte phanomenologisehe pradikative Exphkation beherrseht, ist also keine innerhalb der natiirliehen Rede moghehe Analogie, sondern eine dureh die phanomenologische Reduktion ermoglichte Analogie zur Analogie innerhalb der natiirlichen Rede.« (VI. CM, 100)
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Husser! weist daraufhin, dass » Vokabeln menschlich-Ieibliches Erzeugnis und als Worte Idealisierungen sind« (Dok. nlr, 96, Anm. 303). Dass also bereits hier eine Idealisierung, die inadaquat sein kann, vorliegt, muss schon auf der Ebene der ersten Sprachbildung beriicksichtigt werden. Husserls Voraussetzung hierbei ist immer Sprache als Artikulation lebensweldicher vorpradikativer Erfahrung. Die dabei leitende Auffassung, nach der es offensichtlich zunachst stumme Erfahrung gibt, die dann versprachlicht wird, ist sicherlich eine problematische Konstruktion; bereits bei vielen Tieren kann man beobachten, dass schon bei der Geburt kommunikativ-»sprachliche« Verhaltensweisen vorliegen. Auch liegt bei Husserl das Gewicht eher auf dem Aspekt des Ausdrucks (einer Erkenntnis), also der im weitesten Sinne wissenschaftlichen Sprache, und nicht so sehr auf dem der Kommunikation. In den LV etwa wird der Aspekt der Sprache als Kommunikation nur beiJaufig im Rahmen der nichtobjektivierenden Akte als scheinbarer Bedeutungserfiillungen behandelt, vgl. VI. LV, 9. Kap. (X1X/2, 734ff., insbes. 746-9). 1m Rahmen der Intersubjektivitatsthematik hingegen ist zwar von Kommunikation vie! die Redc, jedoch nimmt dabei die Sprache keine besondere Rolle ein. Als »sprachliche Mitteilung« ist sie lediglich »beteiligt am Bau des Erfahrungssinnes der Welt,
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Die Ina&iquatheit der Analogie liegt im Vergleichen von Seiendem mit Nichtseiendem, was ein radikalerer Unterschied ist gegeniiber einem inadaquaten Vergleichen innerhalb der natiirlichen Rede, die zwar unangemessen sein kann, aber sich immer auf der grundsatzlich gleichen, ontischen Ebene abspielt. Diese Inadaquatheit in der phanomenologischen Sprache kann aber nicht beseitigt, sondern allenfalls durchschaut werden, was Aufgabe der hoherstufigen Kritik ist. Wird diese notwendige Inadaquatheit nicht bewusst gemacht, droht die Gefahr, dass die Satze des Phanomenologen missverstanden werden - wiederum in doppelter Weise. Der Phanomenologe darf sich erstens nicht dariiber betriigen, dass seine Satze lediglich anzeigenden Charakter haben (vgl. VI. CM, ror), und sich immer wieder diese Inadaquatheit vor Augen halten, und gleichzeitig aufpassen, dass er nicht durch laxen Sprachgebrauch wieder in die natiirliche Einstellung zuriick-, d. h. aus der phanomenologischen Einstellung herausfallt. Noch groBer ist die »Gefahr« fUr Nichtphanomenologen; denn jemand, der von der Phanomenologie nichts weiB und in natiirlicher Einstellung phanomenologische Texte vernimmt, wird sie notwendig falsch verstehen, da er sie, nichts vom »Vorsein« wissend, als Satze iiber Seiendes grundsatzlich missversteht, ja nicht einmal von seiner Befangenheit innerhalb der natiirlichen Einstellung weiB. Voraussetzung fUr das Verstandnis ist der eigene Vollzug der phanomenologischen Reduktion. »Wer das unterlasst«, so Fink, »liest gar nicht phanomenologische Satze, sondern liest absonderliche Satze der natiirlichen Sprache [... J und betriigt sich.« (VI. CM, lOr) Er mag vielleicht die Syntax verstehen und die darin vorkommende Worter, aber eben nicht den darin angezeigten »Sinn«. Diese rigide Trennung von Phanomenologen und Nicht-Phanomenologen hat jedoch fatale Konsequenzen, die in einer ersten Einschatzung ausgeftihrt seien: Ware ein Verstandnis von phanomenologischen Texten durch den Nicht-Phanomenologen unmoglich, so ware jeder Versuch der Einleitung in die Phanomenologie sinnlos, sofern diese auch nur durch Sprache geschehen kann. Die Phanomenologen waren eine eingeweihte Gruppe und alle ihre Wissensformen (Schriften etc.) nur ftir sie bestimmt. Sie redeten in »transzendentaler Zungenrede«. Selbst »padagogische« Texte konnten den Weg zur Phanomenologie nicht bereiten; der Leser bliebe in einem lediglich »analogen« Verstandnis stecken: Er wiirde die Texte bestenfalls als psychologische verstehen. GemaB der finkschen Auffassung von der Motivation fUr die Reduktion konnte nur der Phanomenologe werden, der in sich selbst die Bedingung der Moglichkeit dafUr schafft, bzw. in dem sich diese Bedingungen ereignen. Es wiirde bedeuten, dass nur deIjenige, der »den Zusammenbruch gesicherten Daseins« und seiner Heimwelt erleidet, jemals den Zugang zur Pha-
in der wir handelnd leben, in der wir im besonderen im Handeln des theoretischen Interesses, im wissenschaftlichen, Wissensgebilde besonderer Art erzeugen, die wir da wissenschaftliche Aussagen, )Satze<, Grundsatze, Schlussatze, wissenschaftliche )Erfahrungstatsachen< und dgl. nennen« (xv,
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nomenologie finden ki::innte. Er wiirde in sich selbst zum Verlassen der natiirlichen Einsteilung kommen und nur so zu phanomenologischem Verstandnis. Dies wiirde jeglichen didaktischen Anspruch der Phanomenologie negieren. Wie sich zeigen wird, ist gerade diese Verstandnis-Unmi::iglichkeit fur Fink die Motivation fur die »transzendental-piidagogischen Impulse« (VI. CM, II 0) der Phanomenologie, die sie zur Verweltlichung veranlassen. Aber Phanomenologe ki::innte nur der werden, der krisengeschiittelt Katastrophen durchlebt hat und nach einem radikalen Zusammenbruch seiner gewohnten Ordnung im wi::irtlichen Sinn vor dem »Nichts« steht. Dieser Ansatz iibersieht, dass die Phanomenologie ein bereits in einer Tradition stehendes kultureHes Gebilde ist, das zwar einen Schritt iiber diese hinaus tut - wie auch die groBen Figuren der Philosophiegeschichte solche neuen Schritte taten l1 - , aber dadurch seine Zugehi::irigkeit zu ihr bestatigt. In der Auffassung der phanomenologischen Pradikation ist Fink zwar konsequent mit seiner Interpretation der Motivation fur die Reduktion und der (me-)ontologischen Auslegung des transzendentalen Lebens, begeht aber damit gewissermaBen einen Folgefehler, wodurch auch hier die erwahnte Beschranktheit des finkschen Ansatzes zum Vorschein kommt: Die Weise, wie Fink das Problem der Pradikation steilt, zeigt, dass er auch in dieser Hinsicht die intersubjektiv-kommunikative Dimension, worin der Phanomenologe als Wissenschaftler unter anderen steht, nicht mitberucksichtigt. Die phanomenologische Sprache als »Anzeige« ftir den transzendentalen Sinn kann auch von der anderen Seite her beleuchtet werden. Es gibt keine phanomenologische Sprache, aile Sprache ist »mundan«, da sie sich notwendig auf Seiendes bezieht. 12 Fink vertritt also eine Art »Sprachmonismus«. Die Anzeige ftir transzendentalen Sinn ist hi::ichstens in analogem Sinn zur Analogie analogisierbar, der selbstkritische Zuschauer iibernimmt die inadaquaten Begriffe zum Zwecke des Ausdrucks im Wissen um diese Inadaquatheit. In der Obernahme eignet er sie sich ftir seinen thematischen Sinn in Approximation an. Da diese Appropriation und Approximation aber notwendig »falsch« ist, aber dennoch in einer »Affinitatsrelatioll« (VI. CM, 105) im Sinne einer »Analogie zur Analogie« steht, m. a. W ihr doch cum grano salis eine gewisse, hi::iherstufige Metaphorik untersteHt werden kann, soH die pradizierende Tatigkeit des Zuschauers (mit einem Begriff I I
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Diese geschichtsphilosophische Einordnung der Phanomenologie in die westliche Kulturgeschichte ist der letzte Schritt der Selbstinterpretation Husser!s, die zwischen dem Anspruch auf Einzigartigkeit der Phanomenologie und der faktischen Zugehorigkeit zur Tradition vermitteln solI. Vgl. v. a. den Text »Teleologie in der Philosophiegeschichte«, XXIX, 362ff. Descartes und Kant sind es, die Husser! in der Neuzeit hauptsachlich als »Umbruchsstellen der Geschichte« ansieht, s. ebd., 420. Vgl. VI. CM, lOT »Die Idee einer transzendentalen Sprache, die nicht einmal der Vermittlung der natiirlichen Sprache bediirfte, ist in sich widersinnig. « Sieht man einmal von der schematischen Einteilung Sein =Konstituiertsein ab und der daraus folgenden Konsequenz, so muss man sagen, dass die Pramisse bereits problematisch ist und die »Folge« eigentlich nie begriindet, sondern nur deklariert wird. Dass man eine eigene Sprache fUr das Phanomenologisieren schaffen kiinnte, wird bei Fink nicht erwogen.
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aus der Rhetorik) katachretische Appropriation oder Approximation genannt werden.13 Dabei ist nicht entscheidend, ob die terminologische Annaherung an den gemeinten Sinn immer metaphorisch bleibt; der Begriff »Analogie« legt nahe, class die Ahnlichkeit eine gewisse Konkretion erreichen kann; denn selbstverstandlich sind nicht aile Abstrakta metaphorisch. Der Zuschauer ist also eine Art »Nowhere Man«, der sich in der Grauzone zwischen phanomenologisierender und natiirlicher Einstellung aufhalt und zwischen beiden oszilliert. Er forscht als Zuschauer des transzendentalen Lebens und versucht, diesem Geschehen Ausdruck zu verleihen; zu diesem Zweck geht er in die natiirliche Einstellung zurUck, sucht nach passenden Begriffen und appliziert diese im Wissen urn deren Inadaquatheit auf die neu erfahrenen Sinnbestande. Zunachst geht dies jedoch unbewusst vor sich; denn sogleich nach der Reduktion wird mit der Logifikation begonnen. Sie kann auf der Ebene der Elementarlehre hochstens dadurch auffailig werden, dass erkannt wird, dass ein Begriff nicht das Gemeinte trifft und man ihn daher modifiziert oder zugunsten eines besseren verwirft.14 Weder kann er also - und zwar allein aus diesem Grund - die Reduktion vollstandig vollziehen und d. h. die natiirliche Einstellung ganz verlassen, weil er durch Sprache immer auf sie zUrUckbezogen bleibt, noch voll und ganz in der phanomenologisierenden Einsteilung verbleiben, sondern er muss durch den standigen Riickgang auf
Der Begriff Katachrese kommt aus der Rhetorik und geht sachlich auf die aristotelische Metapherntheorie zuruck. Er bezeichnet m. E. sehr gut den hier gemeinten Sachverhalt. Nach Aristoteles gibt es vier Kategorien von Metaphern. Vgl. hierzu Poetik, Kap. 2I (I457bff.). Eine Metapher wird von A. bestimmt als eine Uber-Tragung (IlE'W!pOQU), die in vierfacher Hinsicht geschehen kann: von der Gattung auf die Art (c'mo wi) yivov<; tnL ELOO<;) oder von der Art auf die Gattung (uno wi) ELbo<; EnL'w yivor,) oder von der Art auf die Art (uno wi) ELOO<; EnL ELbor,) oder schlieBlich gemaB der Analogie (xa~a ~o avuAoyoV). Bei dieser vierten Kategorie (A.s Beispiel: das Alter verhalt sich zum Leben wie der Abend zum Tag) kann es vorkommen, dass eine Bezeichnung fehlt, die die Analogie vollstandig machen wiirde. Dennoch aber verwendet man diese Art Metapher. Statt »Abend des Lebens« sagt man z.B. (wieder A.s Beispiel) »Saen des Lichts«, weil es den vierten Bestandteil der Analogie - Samen: aussaen - Licht: ? - anscheinend nicht gibt. Man benutzt also die analogische Metapher, obwohl die Analogie nicht zu vervollstandigen ist. Diese uneigentliche Metapher wird in der Rhetorik Katachrese genannt, sie wird verwendet als »notwendige Metapher zur Ausftillung einer sprachlichen Lucke« (von Wilpert, 443). Es gibt keinen treffenden Ausdruck, aber man benutzt dennoch einen Verlegenheitsbegriff im Wissen darum, dass es keinen entsprechenden gibt. 14 Das einsetzende Pradizieren sogleich nach der Reduktion ist damit nicht »sprachlos«, wie Fink (VI. eM, I04f.) vermutet, sondern beginnt in einer gewissen Unbeholfenheit, vgl. Husserls Randbemerkung hierzu (ebd., 105, Anm. 334): »Nicht ganz sprachlos. Ich sage sogleich: das da, wie soll ich es nennen, oder ich sage sogleich: Wahrnehmung, dann Erinnerung, in der Erinnerung )liegt< Verwandlung, etc., ich unterscheide und muss Terminologie schaffen, die verschiedenen )Modifikationen
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die natiirliche Sprache zwischen beiden schweben, gleichzeitig aber die Grenzen wahren; er kann sich nicht vollig der Macht der natiirlichen Einstellung entziehen, sondern bleibt ihr verhaftet, sobald er »den Mund auftut«. Die Konsequenz fur eine gelingende Phanomenologie ware also, dass der Zuschauer schweigen muss. Das kann er aber nicht, - er ware kein Phanomenologe mehr, sondern wiederum etwas ganz anderes - vielleicht ein stummer Weiser oder ein Heiliger. 4.2.2. Husserl: Pradikation als Verwandlung Ilndikation
Erst jetzt solI Husserls Position, sein Bestehen auf der Moglichkeit der phanomenologischen Sprache zum Zuge kommen. An dieser Kritik entziindet sich die Differenz zwischen Husserl und Fink. Bildlich gesprochen, beginnt hier der Riss, der sich immer mehr ausweitet und schlieBlich Husserl und Fink wie einen Abgrund voneinander trennt. Dieser markiert letztlich die Konsequenz aus der Verhaltnisbestimmung von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung, die sich erstmals in der Auffassung von Moglichkeit oder Unmoglichkeit phanomenologischer Sprache andeutet. Erneut ist zu betonen, dass eine phanomenologische Sprache fur Husserl kein eigenes Problem darstellt. Sprache als solche - als Ausdruck von Bedeutungen - ist Thema einer phanomenologischen Bedeutungslehre, mit der sich Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen auseinandersetzt. Sprache ist grundsatzlich, wie auch mathematische oder logische Formalisierung, Idealisierung von urspriinglicher lebensweltlicher Erfahrung. Als solche ist sie Thema einer konstitutiven Analyse. 15 Das Sprechen des Phanomenologen ist ebenso wie das idealisierende des Wissenschaftlers idealisierende Abstraktion konkreter Erfahrung. Der positive Wissenschaftler, der seine Erfahrungen sprachlich fasst, hat das gleiche Problem wie der Phanomenologe: Seine Termini diirfen nicht mit dem urspriinglichen, naiven Sprachsinn verwechselt werden. Hat Wissenschaft grundsatzlich auch die Elimination von Naivitat zum Ziel, gilt dies auch fUr jegliche sprachliche Naivitat. Es gibt kein eigenes Problem fUr die Sprache des Philosophen. Jeder Wissenschaftler, so auch der Philosoph, hat gegen Aquivokationen und begriffiiche Ungenauigkeiten anzukampfen. Sprache ist vieldeutig, ihr prinzipieller Mehrdeutigkeitscharakter
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Vgl. XVII, 22ff. Husserl nimmt hier den Ausgang von der urspriinglichen Wortbedeutung von Logos als konkreter, sinnlicher Rede. Vgl. das bereits erwahllte Zitat, Dok. nlr, 96, Anm. 303. Zu Sprache bei Husserl vgl. im Ganzen Hiilsmann 1964, der versucht hat, die Sprache als "Einheit des husserlschen Fragens und Denkens« (20) auszulegen, und zwar hinsichtlich der »Konstitutionsproblematik«, die »zu der Frage nach der Genese der Sprache ftihr[t]« (ebd.). Hierbei ist H.s Interpretation sehr vom heideggerschen Blick auf die Sprache bestimmt, wenn er die Zielstellung einer phanomenologischen Sprache so bestimmt, sie sei »genau dieser Versuch, die Sprache zum reinen und transparenten Ort des Logos, des Geistes werden zu lassen« (16), und in diesem Zusammenhang das heideggersche Denken als Beleg nennt, in dem »die Sprache, das Denken iiber die Sprache einen Hohepunkt erreicht« (IS).
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Jasst sich nicht aus der Welt schaffen, und so gilt es, sich als Wissenschaftler im Allgemeinen vor ihrer )) Verfuhrung« zu bewahren. 16 Dennoch muss zumindest die Reflexion angestellt werden, ob ein Begriff der jeweiligen Sache angemessen ist oder nicht; also auch dem ))Logos« der Phanomenologie muss Gerechtigkeit widerfahren. So heiBt es bereits in der Einleitung zum zweiten Teil der Logischen Untersuchungen: ))Gilt uns das Denken als ein allererst zu Khrendes, so ist der unkritische Gebrauch der fraglichen Begriffe, bzw. Termini, in der klarenden Darstellung selbst unzulassig. Nun ist aber zuvorderst nicht zu erwarten, dass die kritische Analyse der betreffenden Begriffe erst dann notwendig wiirde, bis der sachliche Zusammenhang der logischen (xlxlI, 22)17 Materien zu diesen Begriffen hingeftihrt habe.«
Dem ist nichts hinzuzufugen, da Husserl im Wesentlichen bei dieser Auffassung bleibt. Was ist aber nun das spezifisch phanomenologische Problem der Sprache vor dem Hintergrund der Methodenlehre? Die Parallelitat von Psychologie und Phanomenologie ist die Moglichkeitsbedingung fur die phanomenologische Sprache; erst auf ihrem Grund kann iiberhaupt hinsichtlich der phanomenologischen Sachverhalte die normale Sprache verwendet werden. Man kann einwenden: Wie kann es eine solche Sprache iiberhaupt geben? In der Darstellung der Epoche in Ideen I wurde alle vorgegebene Theorie und Logik und damit auch die natiirliche Sprache in die Klammer gesetzt. Die Parallele von Psychologie und Phanomenologie einmal dahingestellt, wie ist es moglich, eine bereits bestehende Sprache fur letztere zu iibernehmen? Fiir die Sprache gilt grundsatzlich das Gleiche wie fur aile anderen Dispositionen, die nach der Epoche in einer ))verwandelten« Weise weiterverwendet werden. Wie das Ich in der Epoche sich spaltet und zwei analoge Ich etabliert, geschieht dies auch bei der Sprache als einer Disposition neben anderen. Auch sie wird in gewissem Sinn gespalten. Wir fahren fort, ))ruhig [... ] so zu sprechen, wie wir als natiirliche Menschen zu sprechen haben« (nrlr, 137). Die schrittweise Erforschung des neuen Terrains voilzieht sich mit Hilfe der alten Begriffe, deren urspriingliche Bedeutung eingeklammert ist und die in einer vagen Analogie oder Affinitat zum urspriinglich Gemeinten stehen. 18 So kann auch in 161m Zusammenhang der Idee einer reinlogischen Grammatik in der IV. LU erwahnt Husser! auch einmal die kantische Forderung, »dass es nicht eine Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften sei, wenn man ihre Grenzen ineinander!aufen lasse« (XIX/i, 346). Dieses Ineinander!aufen ware auch gegeben, wenn die wissenschaftliche Sprache nicht exakt definiert ware. n Husser! spricht in diesem Zusammenhang bereits von dem methodischen »)Zickzack«, der von einem erreichten Standpunkt aus wieder an den Anfang zuriickgeht und diesen im Sinne des nun erreichten Standpunkts aus iiberarbeitet, wobei wieder neues Licht auf den spateren scheint, etc. Vgl. hierzu auch Martin Santos (0.].), der diesen »zigzag fenomenologico« als Dialektik interpretiert, »un zigzag mucho mas vigoroso qu el de Hegel« (ebd., 95). 18 Diese Gespaltenheit in der Bedeutung der verwendeten Begriffe wird, so Hiilsmann, »in der
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paralleler Weise davon gesprochen werden, dass nach der Epoch€: eine neue Sprache etabliert wird, wie jede neue Wissenschaft ihre eigene »Sprache« ausbildet. Wie also der Zuschauer durch sein Unbeteiligtsein nicht aufhort, Mensch zu sein, sondern eine Einstellungsumstellung vollzieht, so hort er auch nicht auf, zu sprechen und das in direkter Intuition Erfahrene auszudriicken. 19 In diesem Sinn geht die Sprache mit dem Zuschauer mit. Er benutzt, zunachst in naiver Evidenz, seine alte Sprache, driickt in ihr das neu Erforschte aus und bringt es auf den adaquaten Begriff. Hierbei besteht zunachst keine Schwierigkeit; diese ergibt sich jedoch, wenn der Zuschauer auf sein eigenes Tun reflektiert. Die Reflexion macht deutlich, dass die naive Obernahme der mundanen Begriffe zumindest problematisch ist. Dies gibt Husserl auch zu. 20 Die »alte« Sprache kann zwar zunachst iibernommen, darf aber nicht naiv iibernommen werden, sie muss sich erst in einer neuen Weise etablieren. Das Phanomenologisieren muss eine neue Sprache bilden - mit Hilfe der alten. Die urspriingliche Sprache erfahrt damit eine Verwandlung. 21 M. a. W: So wie alle natiirlichen Vermogen des Menschen in der Epoch€: in modifizierter Weise (in der Klammer) weiterbestehen, nur eben auf ihre transzendentalen Sinnbestande reduziert, so wird auch die Sprache mit-reduziert und so weiterverwendet, zunachst allerdings in »egologischer« Weise: » 1m Riickgang auf die absolute subjektive Sphare als diejenige fur alles Meinen und Begriinden erwachst sie als Feld der Erfahrung und deskriptiven Forschung. Damit ist aber gegeben, dass pradikative Wahrheit, sei es auch deskriptiv faktische oder Wesenswahrheit, gesucht und ausgesprochen wird. Hier dient also die Sprache mit ihren Bedeutungen, aber die Sprache wird egologisch reduziert, und die Worte und Satze werden zu bloB egologischen Symbolen, die vom Ego frei tatig ihren Bedeutungsgehalt empfangen, einen Gehalt, der vermoge der Einklammerung ein rein egologischer oder nach der Ingeltungssetzung der transzendentalen Anderen ein transzendentaler, dem Ego als transzendental zuganglicher, frei tatig den Symbolen (B 15/2, von 1930) beigelegt wird.«
Sprache selbst sichtbar, sofern wir immer wieder darauf treffen, dass Husser! in der Sprache, bis in den sichtbaren Text hinein, versucht, Indices und Modi zu suchen (Sperrungen, Anftihrungsstriche, Formalisierungen mannigfacher Art), mit denen eben diese Unterschiedenheit deutlich gemacht werden soll.« (Hiilsmann, 31). 19 Vgl. Husser!s Bemerkung, Dok. nil, 105, Anm. 335. 20 Vgl. Husserls Bemerkung, Dok. nir, roo, Anm. 316. 2 I Husser! verwendet diesen Begriff nur zogerlich, er wird aber zunehmend zum zcntralen Tcrntinus ftir seine Bestimmung der phanomenologischen Sprache. Husser! erkennt anscheinend erst im Laufe der Lektiire des § ro, dass die Pradikation ein eigenes Problem der transzendentalen Methodenlehre ist. So fragt er sich in der ersten Randbemerkung zu dies em Abschnitt noch: » Wiefern bietet die transzendentale Pradikation ein be sonde res Problem der transzendentalen Methodenlehre? Handelte es sich urn den bloss zweckmassigen (von Aquivokationen freien) Ausdruck?« (Dok. nil, 93, Anm. 286) Wie zu zeigen sein wird, ist es insbesondere die konkrete sinnliche Ausdrucksseite, die »Entausserung« und »Ausser!ichkeit« (ebd.), die ftir ihn problematisch wird.
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Damit ist die Moglichkeit gegeben, eine phanomenologische Sprache zu etablieren. Es kann eine Verwandlung der Alltagssprache geben, auch wenn sie durchaus etwas »Wunderbares « ist: » Das Wunder der Verwandlung des Mundanen in Vorseiendes - das eben ist Problem und ein wirklich losbares. Eine phanomenologische Sprache hat prinzipiell nur Sinn, nur Moglichkeit als verwandelte natiirliche Sprache, so wie das transzendentale Phanomen Welt nur Sinn hat als verwandelter Seinssinn Welt.« (Dok. nil, 96, Anm. 295)
Als eine solche Verwandlung ist sie aber eine im Menschen, wenn auch anonym, angelegte Vermoglichkeit. So stellt sich Hussed die Frage und gibt sich sogleich eine Antwort: »Erfordert die Urstiftung der Phanomenologie nicht auBer Reduktion der Welt auf das Phanomen noch eine besondere Reduktion meines phanomenologisierenden Sprechens (als phanomenologisierendes Ich)? Oder ist hier nicht die Stelle der Urstiftung der Verwandlung der Sprache - der fungierenden, nicht der an sprechenden Menschen thematischen in der Welt -; muss sie dann weiter erst eingeiibt werden? Aber doch nur so, wie die Reduktion geiibt werden muss. Die Verwandlung als die der natiirlichen Sprache, als Vermogen, deutsch etc. zu sprechen, geht kontinuierlich mit.« (Dok. nil, 97, Anm. 305)
In diesem Sinne geht auch die Habitualitat des vorhandenen »Sprachfundus« des natiirlichen Ich mitZZ - der Zuschauer erleidet ja keine Generalamnesie - und wird von diesem iibernommen, aber er bildet in Verwandlung, gleichzeitig in Ankniipfung an seine weltliche Ursprungssituation eine eigene Habitualitat aus: »Die menschliche Habitualitat (das Seiende in der Welt) wandelt ihren Seinssinn zur Habitualitat des transzendentalen Ego - [... J immer spreche ich die natiirliche (Dok. nil, 95, Anm. 293) Sprache, aber in transzendental geandertem Sinn.« Gegen Finks Konzept der Obernahme steht Husseds Konzept der Venvandlung dieser urspriinglichen Sprache. 23 Auch Hussed besteht hier auf »Affinitatsrelation-
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Dieser ist freilich ein bereits intersubjektiv konstituiertcs Produkt, vg!. Husserls Bemerkung, Dok. nlr, 94, Anm. 287. Hier besteht das Problem der »Antizipation«, d.h. der vorausweisenden MitBedeutung von Worten. Auch hier darf sich der Philosoph nicht von Vormeinungen leiten lassen, sondern muss Epoche hinsichtlich der Mehrdeutigkeit der Sprache iiben, vg!. ebd., I04, Anm. 332: »Bei a&iquater phanomenologischer Beschreibung darf ich keine zu den Worten gehorigen Antizipationen verwenden, ich muss eine neue Sprache bilden aufgrund des zunachst naiven und als phanomenologisch verwandelten Sprechens.« Auch Fink verwendet einmal beilaufig den Begritf »Verwandlung«; vgl. VI. eM, 96. Aber die Tatsache, dass er ihn in Anftihrungsstriche setzt und uneigentlich verwendet, zeigt die Ditferenz zu Husser!' In gewissem Sinn ist die Wandlung eines Wortes von einer direkten Benennung zu einer
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en«,24 das bestatigt auch die Parallele von Psychologie und Phanomenologie. Husserls Vorschlag klart auch die Moglichkeit, wie nach der Epoche weitergesprochen werden kann. Sein Stichwort Iautet Indikation. 25 Husserl betont stets, dass mit der Epoche nichts verloren geht, sondern alles in der Klammer erhalten bleibt. Doch ist das Eingeklammerte doppelsinnig: Es verbIeibt ais in der Klammer befindliches An-sich-Sein im Sinne der natiirlichen Einstellung (die Generalthesis glaubt an das subjektunabhangige Sein der Dinge) und es ist fur den auJ3erhalb der Klammer befindlichen Zuschauer zum Phanomen verwandelt (Sein-fur-mich im Sinne der transzendentalen Wende). Das Eingeklammerte ist An-sich-Sein und Fiir-michSein zugleich - je nach Standpunkt vor oder nach Vollzug der Epoche, und kann yom Zuschauer in doppeltem Sinn betrachtet werden. Ein Wahrnehmungsobjekt ist demnach aus der Sicht der natiirlichen Einstellung ein von mir unabhangig seiendes Ding, aus der Sicht des transzendentalen Zuschauers ein konstituiertes Produkt. Das sind keine zwei nebenher existierenden »Wahrheiten«, sondern eine Perspektivenalternative, die sich erst fur den Zuschauer ergibt, der von seinem neuem Standpunkt aus auf seinen alten reflektieren und sich wieder in ihn »versetzen« kann. Dies lasst sich auf die Sprache iibertragen. Ist sie ein mundanes Phanomen, so verfalit auch sie der Klammer. Aber der Zuschauer spricht weiter - wie er nach der Epoche auch nicht aufhort, Ieibliche Kinasthesen zu vollziehen -, d. h. er benutzt die eingeklammerte Sprache weiter, aber als eingeklammerte und nur scheinbar an sich seiende, in Wahrheit aber konstituierte Sprache. Auch die Sprache ist in diesem Sinne »gespalten « und doppelsinnig. Die Doppeldeutigkeit ist zunachst fur den
bloGen Anzeigefunktion eine »Verwandlung«, aber Husser! moniert zu Recht die unscharfe Rede von der Anzeige; denn ist ein Begriffin seiner Bedeutung verwandelt, kann im Sinne Husserls nicht mehr von Anzeige gesprochen werden, der Begriffhat vielmehr die neue Bedeutung angenommen. So streicht Husserl den Begriff»Anzeige« im finkschen Text durch und schreibt dazu: »als Anzeige? Dann stande ich noch in der Welt. Die im Weltphanomen auftretcnden Reden, die crwachsen aus den natiirlichen Reden als Leitfaden. Aber nicht die des Zuschauers.« (ebd., 96, Anm. 304) Der Anzeigestatus verharrt also nur flir denjenigen, der noch nicht die Reduktion vollzogen hat. Aber er kann die Anzeige als Leitfaden fUr eine eigene Transformation des Standpunktes nehmen. - Husserls Konzept der Verwandlung ist auch eine Absage an die Idee einer •• Reduktion der Sprache«, von der Fink (s. 103) spricht; es ist eine Verwandlung der natiirlichen Sprache selbst und keine Reduktion auf eine •• transzendentale Sprache«; die Rede yom Index bestatigt gerade das Beharren auf dem Recht der natiirlichen Sprache, vgl. Husser!s Randbe111erkung hierzu, ebd., Anm. 327: •• Es ist auch nicht angangig, von einer Reduktion der Sprache zu sprechen. Der natiirliche Sprachsinn ist nicht durch eine darin zu iibende Reduktion ins Transzcndentale iiberzuleiten. « 24 - Die freilich auf der ersten Stufe der geraden Beschreibung nicht explizit werden. So kom111entiert Husser! diesen Begriff •• ftir die Reflexion hoherer Stufe! Die naiv-gerade Phan0111enologie spricht wirklich phanomenologisch Geschautes aus und braucht zunachst die Zweideutigkeit nicht zu merken und zu prasentieren!« (Dok. nlr, lO5, Anm. 335) 25 Der Terminus taucht erst zogerlich, sodann mit scharferer terminologischer U111rissenheit auf, vgl. erstmals Dok. nlI, 97, Anm. 306, sodann ab Anm. 334 (lOS) haufiger.
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naiven Forscher unmerklich; er redet fort ohne Reflexion auf den Status seines Redens, wie er auch nicht auihort, logisch zu argumentieren, obwohl auch Logik eingeklammert ist. Er benutzt die Sprache nicht als »Sprache an sich«, sondern als »Sprache fur ihn (selbst)« (also zunachst »egologisch«, ohne intersubjektiv bewahrbaren Sinn).26 Die Doppeldeutigkeit besteht darin, dass Sprache weiterverwendet wird, aber (grundsatzlich) anderes bezeichnet. Der eingeklammerten, aber noch weiterverwendeten Sprache wird eine gewisse hohere »Potenz« vediehen, ahnlich wie man in der Mathematik einer Klammer eine Potenz erteilt, wobei das in der Klammer Stehende unverandert bleibt. Hussed mag an Derartiges gedacht haben, wenn er davon spricht, dass der Sprache hierbei ein dndex« erteilt wird. Die sprachliche Verwandlung vollzieht sich zunachst via Verwandiung in Doppeldeutigkeit durch die )dndikation«: »Durch das phanomenologische Tun selbst von der Reduktion an wird jedes natiirlich Seiende zum Index fur sein konstitutives System. - Es vollzieht sich notwendig und verstandlich die Ausbildung einer )Beziehungs<-Eigenschaft des Ontischen auf sein zu thematischer Erfahrung gebrachtes bzw. horizonthaft zu bringendes Mannigfaltiges (apperzeptive Obertragung). Dabei wird auch der natiirliche sprachliche Ausdruck zum Index fUr die transzendentale Beschreibung. Hinterher die Aufklarung der Doppeldeutigkeit, die zunachst unmerklich ist.« (Dok. uir, 97, Anm. 306) Der naiv forschende Phanomenologe sucht nach dem richtigen Ausdruck; dies tut er aber auf der »naiven« Ebene der sprachlichen Bedeutung selbst, noch ohne Wissen urn die Verwandiung der Sprache und urn ihre prinzipielle Inadaquatheit. Hat er den passenden Ausdruck gefunden, verwendet er ihn, eben durch die (unwissentliche) Obertragung aufTranszendentales, auf doppeldeutige Weise. Es vollzieht sich eine Spaltung innerhalb des Wortes zwischen natiidichem und transzendentalem Wortsinn; dies hat aber keinen Einfluss auf die nach wie vor bestehende Forderung nach Adaquation. Wenn mit Fink yom »treffenden Begriff« als einer nie erreichbaren Limesidee gesprochen wurde, so meint Hussed Ahnliches, wenn er ihn ais eine »Adaquation und Identifikation« mit dem Gemeinten versteht und den Vorgang des Pradizierens normativ fasst:
26 Die zitierte Nachlassstelle (s. a., B I 5/2) fahrt fart: ,)Ich reduziere rnich auf das transzendentale. Als transzendentales Ega kann ich Symbale bilden, transzendentale Symbale, selbst seiend in meiner transzendentalen Sphare, die dann intersubjektiv ,erfahrbar< sind in ihrem transzendentalintersubjektiven Sein, symbalisierend transzendentale Tatsachen als Bedeutungen. Mittels ihrer sind dann iiberhaupt transzendentale Wahrheiten zu fixieren, zunachst deskriptiv fUr meine primardiale Sphare, dann fur meine egalagisch arientierte Intersubjektivitat, fur die Erfahrungswelt in transzendentaler Fassung in allen Stufen, darauf eventuell rnittelbar transzendentale Erkenntnis zu griinden. ,Transzendentale Lagik<, die Lagik der pradikativen Wahrheiten als transzendentaler, Lagas des Transzendentalen.«
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»Es ist also das Problem: Wie sieht die erste Sprache nach urstiftendem Einsatz der Reduktion als verwandelte natiirliche aus, und wie steht es mit der Intention auf Wissenschaft, die selbst verwandelte natiirliche Intention (ist), indem sie motiviert zur Bildung einer terminologisch fixierenden Sprache aus A&iquation und Identifikation des a&iquat Erfassten. Die Sollens-Identifikation dann: dieses sei bleibender (Dok. nlr, lOS, Anm. 334) Name fur dieses Selbe, etc.« Der Begriff des Sollens konnte nahe legen, dass es urn eine unerreichbare Ad:iquation im Sinne einer regulativen Idee geht; die Rede von einer »Identifikation« oder die Forderung, dass ein Begriff ein »bleibender Name« fUr etwas sei, scheintjedoch zu implizieren, dass die Begriffe doch volle Ad:iquation erreichen konnen und dass der Sollens-Imperativ sich eher auf die dauerhafte Fixierung einer einmal gestifteten Begriffs- und Phanomenidentifikation bezieht, so dass hierbei eine eigene SprachHabitualitat etabliert wirdY Die Frage ist, ob die sprachliche Fixierung bestimmter Phanomene diesen in ihrem flieBenden Charakter - schlieBlich handelt es sich urn Phanomene im Bewusstseinsstrom - angemessen ist. 1m Sinne einer Forschung, die sich an den »Sachen selbst« immer erneut bewahren muss, darf strenggenommen auch nicht an einem einmal festgelegten Begriff festgehalten werden, sondern der »flieBende Charakter« und die ))Flexibilitat« der Begriffsbildung, auf die Fink pocht, diirfen dabei nicht vergessen werden. 28 1st jedoch einmal ein adaquater Begriff gefunden, so ist die Adaquation keine ))direkte«, sondern kann als ))Adaquation per analogiam« bezeichnet werden. Der Zuschauer bemerkt die Doppelheit erst nicht. Umgekehrt ist aber die Adaquation des naturlichen Begriffs an den natiirlichen Sachverhalt ein Indiz fur die Korrektheit der Begriffsbildung; der Index, mit dem die natiirliche Sprache versehen wird, kann nur dann ein solcher sein, wenn er bereits in seiner urspriinglichen Verwendung eine ausgewiesene Identifikation mit dem gemeinten Sinn hat. Natiirlicher Ausdruck und Sinn miissen sich analog zu trans zen dental em Ausdruek und Sinn verhalten. Die Indizierung funktioniert nur durch eine ))Deckung« oder eine ))apperzeptive Obertragung« von ))Ontische[m] auf sein zu thematischer Erfahrung gebraehtes bzw. horizonthaft zu bringendes Mannigfaltiges« (Dok. ulr, 97, Anm. 306): ))Impliziert in ihr [sc. der phanomenologischen Sprache] ist das Verwandeltsein aus natiirlicher Sprache, sie ist eine intentionale Modifikation der natiirliehen; in ihrem Seinssinn liegt, dass sie als Erzeugnis in der Reduktion wie diese iiberhaupt )verweist< auf das natiirlich eingestellte Leben. In der Einstellungsanderung (unter Fundierung der transzendentalen Einstellung durch natiirliche) liegt eine )Deckung< (Analogie), zunaehst zwischen Welt sehlechthin und Weltphanomen, subjektiv genommen.« (ebd., Anm. 308) 27
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Vgl. Dok. nlr, ro6, Anm. 336: »Schwierigkeiten, das transzendentale Leben wirklich in reiner Transzendentalitat zu halten, in der Einheit einer standig das natiir!iche gewohnheitliche Leben iiberwindenden neuen Gewohnheit und Gewohnheitsbildung. {( V gl. hierzu VI. eM, 102, wo Husser! zum finkschen Satz »Vielmehr bringt es gerade die eigentiim-
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Die Verweisung ist eine doppelte: Wort verweist aufSache auf der ersten Ebene, sodann verweist Wortindex auf transzendentale Sache, und zwischen beiden Ebenen muss eine Affinitat oder Analogie herrschen. Das Wort ist sornit ein verwandeltes, dem man aber in naturlicher Einstellung sein Verwandeltsein nicht ansieht, es ist verwandelt und ist es auch nicht, es bleibt in der Verwandlung »eins und doppelt«. Darnit stehen die beiden gespaltenen Sprachregionen doch in einer Spannung zueinander; denn der verwandelte Sprachsinn »verweist«ja auf den naturhchen, wie auch umgekehrt - jedoch erst nach Vollzug der Reduktion. Vor der Reduktion ist die Adaquation eine »direkte«, ohne Verweis auf einen verwandelten Wortsinn. 29 So steht die verwandelte Wortbedeutung in einem Spannungsverhaltnis zum ausgedruckten transzendentalen Sinn. Er kann zwar adaquat erfasst werden, aber nur, wenn die Sprache in ihrer verwandelten Form verstanden wird. Dies markiert Husserl mit einer bedeutsamen Verbesserung im Text Finks. Dieser lehnte die adaquate Ausdruckbarkeit toto genere ab zugunsten der einzigen sprachlichen Moglichkeit der affinen, aber notwendigen Katachrese. Hier geschieht eine »Rebellion«, wobei es der auszudruckende transzendentale Sinn ist, der gegen die »Ausdrucksform« protestiert; dieser sei, so Fink, »in standiger Rebellion gegen den ihm durch die Fassung in naturlichen Worten und Satzen angetanen Zwang« (VI. eM, 98). Abgesehen davon, dass Husserl die Begriffe »Rebellion« und »Zwang« ftir zu stark halt und sie heber durch das Wort »Spannung« ersetzt sehen mochte,30 setzt er den Akzent anders: Es ist nicht der transzendentale Sinn, der gegen sein Ausgedrucktwerden rebelliert; ihm kann durch eine rechtverstandene Verwandlung der Worter Gerechtigkeit widerfahren. Es ist vielmehr die naturliche Einstellung und die in ihr »beheimatete« Sprache, die gegen die» Un-Naturlichkeit« des Phanomenologisierens Einspruch erhebt. Diese neue Einstellung des Phanomenologen ist etwas Un-Naturliches. Husserl bemerkt hierzu: »Worin besteht die Rebellion? [... J Die Epoche inhibiert diese universale Tendenz [Sc. des natiirliehen GewohnheitsverlaufsJ und verwandelt das Weltleben als intentionale Modifikation - selbst eine Tendenz, nur willentlieh, die der natiirliehen zuwider standig auf sie bezogen ist, ein neues Leben yom Willens-Ieh her stiftet aber als standiges Wider-die-Natiirliehkeit, urn sie transzendental (zu) phanomenologisieren. liehe Inadaquatheit aIler phanomenologischen Pradikation mit sich, dass aile Begriffiichkeit seltsalll fliessend und offen ist«, anlllerkt (ebd., Anm. 324): »Das gehiirt in ein ganz anderes Kapitel.« 29 Jedoch ist hiermit nicht eine absolute Trennung und Unverbundenheit beider Bercichc gemeint, wic Fink annimmt und Husser! stark kritisiert. Die »Grauzone«, in der der Ubergang in die Verwandlung geschieht, ist gerade der in erster Naivitat forschende, um sich selbst unwissende Zuschauer, der die unmittelbar erfahrene Evidenz ausdriickt und dadurch noch nichts von der Verwandlung weiB. Er ist in seinelll Forschen sich selbst vorweg. Die Doppeldeutigkeit und die Verwandlung kiinnen erst in nachfolgender Reflexion festgestellt werden. Husser! betont dementsprechend auch die Bedeutung der Iteration fUr die Phanomenologie der phanomenologischen Sprache, vgl. Dok. nlr, 97, Anm. 308. 30 Vgl. auch Husser!s Verbesserung 98, Allin. 313.
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Die natiirliche Gewohnheit ist in standiger >Rebellion< gegen das Phanomenologisieren, sosehr auch das Gewohnheit stiftet und gewohnheitsmaBig dann verlauft; auch die Gewohnheit des Phanomenologen, sein allgemeiner Lebensmodus ist in bestandiger Spannung gegen die natiirliche Gewohnheit. Letztlich ist das auch ftir die transzendentale Sprache entscheidend.« (Dok. III!, Anm. 310) Es ist also, gegeniiber Fink, nicht der transzendentale Sinn, der rebelliert - ihm kann es gewissermaBen »gleichgiiltig« sein, ob und wie er ausgedriickt wird -, sondern es ist vielmehr die Sprache, die zu ihrer »Zweckentfremdung« in einem Spannungsverhaltnis steht, wie auch die phanomenologische gegeniiber der natiirlichen Einstellung »unnatiirlich« ist. In Husserls Fassung des Problems ist der Begriff »Spannung« angemessener; denn diese herrscht zwischen heiden Ebenen in ihrem gegenseitigen Bezug: Sowohl die natiirliche Einstellung steht gegeniiber der transzendentalen in einem Spannungsverhaltnis, wie auch letztere jene in ihrem vertrauten Stil durchbricht. Das gilt auch ftir die Sprache: Sie wird in einer gegeniiber ihrem normalen Gebrauch verwandelten Weise in Anspruch genommen und steht in einer Spannung, gleichzeitig immer noch in Parallelitat, zur natiirlichen Bedeutungshaftigkeit. Demgegenuher herrscht auch eine Spannung von Seiten des Phanomenologen, insofern dieser in der Ausbildung seines eigenen Erkenntnisstils eine ihm eigene Habitualitat etabliert, die fur ihn einen Gewohnheitsstil und d. h. eine »Natiirlichkeit« annimmt. Das gilt ebenso ftir seine Sprache: Er merkt nach einer gewissen Zeit nicht mehr, dass sie verwandelt ist, und nimmt diese Bedeutungssphare fUr die »eigentliche« unter Vernachlassigung der »ersten«, aus der er sein urspriingliches »Sprachmaterial« bezog. Dieses Spannungsverhaltnis erklart letztlich auch, wie es moglich ist, dass der Phanomenologe nach der Epoche weiterreden kann. Er redet weiter »unter Vorzeichen «, das er zunachst nicht, dann aber wohl in einer kritischen Reflexion sieht. Er geht also thematisch bereits iiber das methodische Wissen urn die Weise seines Artikulierens hinaus, das zwar mitgeht und auch schon implicite verwandelt, aber in dieser Verwandlung noch nicht begriffen wurde. So hinkt der Phanomenologe seinem eigenen Tun hinterher, das sich schon dem transzendentalen Leben angepasst hat, was die Bedingung ftir die hoherstufige Kritik ist. Die Verwandlung vollzieht sich also nicht als hewusste Leistung, sondern hat sich immer schon vollzogen, sobald Epoche geschehen ist. Aufgabe der Methodenlehre ist es, diese Verwandlung nachtraglich zu explizieren; denn wenn sie nicht ausdriicklich in Erinnerung gehalten wird, droht die Gefahr des Abrutschens in die natiirliche Einstellung oder des »Vermengens« der Wissensgebiete. Husserls Konzept von Sprache ist, zusammenfassend, nur uneigentlich als solches zu bezeichnen. 1m Wesentlichen geht er nicht iiber seine bereits im Wesentlichen bekannte Idee des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs hinaus. Die hier zitierten Passagen dokumentieren im Grunde nur ein etwas verstandnisloses Pochen auf seiner urspriinglichen Position, die an sich nicht weiter provokant ist: Die Phanome-
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nologie hat die mit den positiven Wissenschaften prinzipieil gemeinsame Schwierigkeit zu uberwinden, der Alltagssprache das rechte »Rustzeug
31 Vgl. auch Husserls Bemerkung, Dok. III!, I07, Anm. 339: »Auch wenn der Phanomenologe eine neue Sprache erfinden wollte, bediirfte er dazu der natiirlich-aquivoken Sprache als erstem Ausdruck seiner phanomenologischen Feststellungen, als ihren direktesten. Und die indirekte neue Sprache ware eben dadurch selbst wieder aquivok definiert. « 32 Vgl. xv, 613 (von 1933), sowie Husserls Bemerkung in Dok. III 1,96, Anm. 295 (u. b.). 33 Mbglicherweise liegt Finks» Heideggerianisierung« Husserls darin, Husserls mit mit Heideggers
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schlieBt, dass dann das Konstituierende nicht selbst seiend ist und folglich auch nicht mit »Seinsmitteln« ausgedriickt werden kann. Hier ist Fink in der Tat »mehr Husserl als Husserl selbst«. Ob er damit recht behalt, kann fuglich bezweifelt werden; denn man mtisste, wenn man Fink beim Wort nehmen wtirde, aus der These vom Vorsein schlieBen, dass dieser Bereich nicht nur nicht pradizier-, sondern auch nicht eifahrbar ware. Das transzendentale Leben ware dann nicht nur eine »black box«, tiber deren Inhalt man nichts aussagen konnte, man konnte uberhaupt auch nichts von ihrer Existenz wissen. Doch auch Fink leugnet nicht die Eifahrbarkeit des transzendentalen Bereichs. So kann man beider SteHung zum Problem des »Vorseins« auch so formulieren: Kann es Eifahrung vom Vorsein geben, ist auch der ontologische Status des »Vorseins« kein weiteres Problem (Husserl); »Vorsein« ware keine ontologisiernde Hypostasierung, sondern lediglich einer der (verwandelten) Begriffe fur diesen »Bereich« (neb en »Leben«, »Sphare«, »Region« u. dgl.).34 Fur Fink hingegen ist genau dies das Problem; er leugnet nicht die Erfahrbarkeit, aber sie bleibt fur ihn ein auf Grund der Ontologisierung des »Mundanen« ein unaufhebbares Paradox, wahrend es fur Husserl wohl ein »Wunder«, aber »ein wirklich losbares« ist. In der Sache sind sich beide also einig, nicht jedoch in der Interpretation derselben. Die gesamte finksche Meditation ist von einer konsequenten Problematisierung dieses Unterschieds, von einer radikalen (Me-))Ontologisierung« des Verhaltnisses von Welt und Transzendentalem geleitet. Man mag Fink hierin eine verborgene Nahe zu Heidegger vorwerfen, aber man machte es sich zu einfach, Finks Entwurf das Etikett »Heidegger« aufzukleben. Eine »Heideggerianisierung« Husserls durch Fink ist sogar sachlich falsch, da Finks Bestimmung des Vorseins tiber Heideggers Seinsbegriff hinausgeht - sofern dieser wieder reduziert werden muss -, und auch der Begriff des Vorseins schwerlich mit dem des Nichts identifiziert werden kann; ein »me-on« ist zwar nicht etwas, aber damit auch noch nicht nichts. Es ist »ein Seiendes, das eigentlich kein Seiendes ist«.35 Genau das ist die Paradoxie, die es
Sein zu identifizieren. Aus der Sieht des spateren Heidegger ware dieser Schritt nicht plausibel, vgl. hierzu Heideggers spaten Text »Zeit und Sein« von 1969. Hier reflektiert Heidegger auf die systematische Stelle Husser!s in der westlichen Philosophiegeschichte. Hierin haben Husser! wie auch Hegel die selbe "Sache« im Blick, »wenngleich sie aufversehiedene Weise erfahren wird« (Heidegger 1969, 71): das Bewusstsein. Das transzendentale Bewusstsein ist somit fur Husser! »das einzige absolute Seiende« (Heidegger zitiert hier FTL [XVII, 278]); das Produkt der Konstitution bei Husser! nennt Heideggcr nicht »Welt«, sondern »Objektivitat der Objekte« (ebd.). Heideggers Kritik an Husser! ist hier, dass er die transzendentale Subjektivitat fur das eigentliche, wahrhajte Sein nimmt und damit dem Subjektivitatsparadigma verhaftet und fur das Sein »selbst« blind bleibt. 34 Vgl. aus Finks privatenAufzeiehnungen (z -IV, I10a, urn 1929):» WennHusserl das )reine Bewusstsein ( bestimmt als das absolute Sein, so ist erst auszumaehen, was >absolut( hier allein heiBen kann. Offenbar hat es zunachst den vulgaren Sinn des am meisten Seienden (ontisch das starkste) (ov'[w<; ov). [ ... J Dies ist zweifellos eine Hypostasierung. - Husser! allerdings hat diese Hypostasierung nicht vollzogen.« 35 Z -IV, 112a.
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fur Husserl nicht gibt. Fiir ihn ist der ontologische Status des Transzendentalen deshalb kein Problem, weil die Phanomenologie dank der Epoche allen ontologischen Stellungnahmen gegeniiber neutral ist, was ftir Husserl gerade die Starke seiner Philosophie ist.
4.3. Finks und Husserls Konzept der Verweltlichung als Ruckkehr in die naturliche Einstellung. Die Verhaltnisbestimmung von natUrlicher und phanomenologischer Einstellung Hat man einmal die Naivitat der natiirlichen Einstellung, sie durchschauend, abgelegt, so kann man sie nie wieder erlangen. Sieht man den Horizont als Horizont, hat man ihn bereits iiberschritten. 1st nicht aus dieser Perspektive von vornherein eine Riickkehr in die Naivitat der natiirlichen Einstellung unmoglich, ja als Vorhaben widersinnig? Kann, und wie kann ein solches Verweltlichen geschehen? Ging es im Verlassen der natiirlichen Einstellung, neb en der ErschlieBung eines neuen Wissen(schaft)sgebietes (der transzendentalen Subjektivitat), urn eine philosophische Selbstverstandigung, urn eine radikale Selbstbesinnung im Geiste strenger Wissenschaft, kann bei der Riickkehr in den alten Zustand doch nicht von einer abermaligen Radikalisierung gesprochen werden. Oder bedeutet der Riickgang Preisgabe des einmal erlangten Wissens? Aber man kann den einmal erlangten Standpunkt nicht wieder riickgangig machen. - Hier stellen sich Fragen, die beantwortet werden mussen, wenn die Phanomenologie den Anspruch auf systematischen Abschluss erheben will. Dieser Abschluss kann im Rahmen der Methodenlehre nur heiBen, dass die phanomenologisierende Einstellung, wieder mit dem in Beziehung gesetzt wird, wovon sie sich abgestoBen hat. Der formale Abschluss des Systems bildet eine Art Kreisgang, der dahin zuriickgeht, wovon er ausging. Die »Ruckkehr « ist eine Verhaltnisbestimmung von phanomenologischer und natUrlicher Einstel/ung, an der sich der Sinn der Phanomenologie als transzendentaler projiliert und bewahren muss. Husserl und Fink vertreten in dies em Punkt radikal verschiedene Auffassungen. Urn einen kurzen Hinweis zu geben: Man konnte Finks Beharren auf dem »Seinscharakter« des Zuschauers und seinem Thema (in seiner Sprache), das zur Kritik an der Moglichkeit der vollstandigen Reduktion ftihrt, dahin interpretieren, dass das Problem des Verweltlichens obsolet geworden sei. Wo es kein eigentliches Verlassen gibt, ist auch die Rede von Zuriickkehren sinnlos. Dies widersprache jedoch ganz auBerlich der Tatsache, dass Fink selbst das Verweltlichen zum Problem macht, wenn auch, urn daran die Paradoxie der Reduktion aufzuzeigen. Selbst wenn die Reduktion nie vollstandig sein kann, so ist der Zuschauer doch ein »Zwitter« und ein ewiger Vagabund zwischen zwei »Welten«. Damit wird die Frage nach der Mitteilbarkeit seiner Erkenntnisse nur umso dringlicher. Benutzt er zu dieser Mitteilung die natiirliche, aber ))falsch« verwendete Sprache, wie wird
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dann die Mitteilung an Andere mit Hilfe dieser selben Sprache aussehen? Wird sie nicht unverstandlich bleiben miissen?36 Bei Husserl ist das Problem komplexer, insofern er in seiner Auffassung hinsichtlich des Verhaltnisses von natiirlicher und phanomenologischer Einsteilung eine Zweideutigkeit hinterlasst, die er nicht befriedigend auflost. Sie lasst sich an den zwei von ihm gebrauchten widerstrebenden Metaphern festmachen, mit denen er das Verhaltnis von natiirlicher und phanomenologischer Einsteilung beschreibt: die des Berufes und der religiosen Bekehrung. 37 Die phanomenologische verhalt sich einmal zur natiirlichen Einsteilung wie ein Beruf zur auBerberuflichen Zeit: So wie ich einen Berufbetreibe und nach beendeter Arbeitszeit wieder in die auBerberufliche Einstellung zuriickkehre, gehe ich auch zur »philosophischen Arbeit« als Berufsphilosoph und kehre danach wieder in mein Alltagsleben zuriick. Diese Redeweise gebraucht Husserl im Zusammenhang seines Beharrens auf der Wissenschaftlichkeit der Phanomenologie und ihres Arbeitscharakters. 38 Die andere Metapher ist der bekannte Vergleich der phanomenologischen Reduktion mit einer religiosen Be- oder Umkehrung. Wie eine religiose Bekehrung idealiter eine Umwalzung des gesamten Lebensstils in all seinen Dimensionen bewirkt, hat auch der Vollzug der Reduktion Wirkung auf das ganze Leben eines Individuums. Es wandelt sich und ist schlieBlich als Ganzes verwandelt. - Diese beiden Auffassungen stehen aber in einem Widerspruch zueinander, den sich Husserl wohl nicht in dieser Scharfe klargemacht hat; man kann nicht zeitweise religios sein, das widersprache dem Wesen der Religiositat. Die Metapher von der religiosen Bekehrung meint gerade, dass sie einen »Totalangriff« auf den gesamten Lebensstil bedeutet. Das schlieBt schlechterdings aus, dass man »nach« ihr wieder in das friihere Leben zuriickkehrt, sondern meint, mit einer biblischem Metapher zu reden, dass man »den alten Adam« abgelegt hat, und zwar ein fur aile Mal. Also auch bei Husserl ist ein »Zuriickkehren« in den alten, »natiirlichen« Zustand problematisch. Wie also das Verhaltnis von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung und damit das Verweltlichen des Phanomenologisierens zu verstehen ist, ist bei Husserl, zumindest mit Blick auf seine bekannten AuBerungen, unklar geblieben. Die Krisis bleibt hier lediglich in Andeutungen stecken, die aber unter Zuhilfenahme von Manuskripten aus Husserls letzter Arbeitsphase ein zwar koharenteres, wenn auch letztlich problematisches Bild ergeben. Die Moglichkeit der »Riickkehr« in die vorphanomenologische Welt fragt nach der Verhaltnisbestimmung von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung. Es
36 Vgl. zum Problem des Verwelt1ichens auch im Ganzen Bruzina 1986 und van Kerckhoven I989b, insbes. 361 If, sowie Kuster, 108 If. 37 Vgl. VI, 140, bzw. 154. 38 Vgl. auch Husserls Gesprach mit Cairns vom 2. Juni 1932 (Cairns, 8of), wo Husser! die Wissenschaftlichkeit der Phanomenologie betont und sich in diesem Zusammenhang auch gegen Finks Einleitungsvorschlag iiber den Begrilf der Philo sophie (s. VI. cMh, ro61f.) ausspricht.
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geht urn die Frage, wie sich das philosophische zum normalen Leben verhalt und damit urn die alte Frage nach dem Sinn und Zweck des Projekts »Philosophie« im Ganzen. Diese Frage ist letztlich die Grundfrage von Philosophie schlechthin. Gerade fur Hussed, fur den Philosophie ein eminent existenzielles Anliegen bedeutete, war diese Frage von zentraler Bedeutung. 39 Hat man diesen grundsatzlichen Anspruch im Auge, wird verstandlich, weshalb die Differenz zwischen Hussed und Fink hier als so bedeutend herausgestellt wird und letztlich nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass Hussed und Fink an demselben philosophischen Projekt arbeiten. Die Differenz wird in der genannten Frage manifest. Vielleicht hat van Breda diese Differenz gespiirt, als er, ohne dies freilich zu begriinden, von der »harten Kritik« Finks an Hussed sprach. Er hat m.E. mit dieser kurzen Bemerkung ins Schwarze getroffen. Diesen Sachverhalt deutlich herauszustellen, ist Aufgabe des letzten Abschnittes. Wenn es prinzipiell unmoglich ist, wieder das alte Gewand der Naivitat anzulegen, muss »Riickkehr« etwas anderes bedeuten. Es ist daraufhinzuweisen, dass das Motiv fur die Einfuhrung dieses Problems bei Fink aus »transzendental-piidagogischen Impulsen« herriihrt. Mit dieser Antwart iiberspringt Fink zunachst die Frage nach dem Warum; denn der padagogische Impuls wird zunachst vorausgesetzt im Rahmen einer Idee von Wissenschaft, die aufWeitervermittlung angelegt ist. 40 In der Mitteilung an Andere edangt die Methodenlehre eine intersubjektive Dimension. Das Problem der Verweltlichung betrifft die Intersubjektivitiit der Phiinomenologie selbst als Wissens- und Wissenschaftsgestalt. Nahert man sich aus dieser Richtung dem Problem des Verweltlichens, so stellt es sich folgendermal3en dar: Wie kann der Zuschauer den anderen Menschcn, die noch im Horizont der natiirlichen Einstellung bifangen sind, phanomenologische »Wahrheiten« mitteilen? Die transzendentale Wissensvermittlung kann offensichtlich nur so geschehen, dass der Phanomenologe wie jeder gute Padagoge sich ihnen verstandlich macht. Verweltlichen ais »Riickkehren« in die natiirliche Einstellung ist nicht ein »Riickgangigmachen« oder »Vergessen« der phanomenologischen Einstellung, sondern ein Riickgang in die natiidiche Einstellung ais den Zustand derer, die noch in ihr befangen sind. Der aus dem Tageslicht in die »Hohle« Zuriickkehrende sieht nach Platons Gleichnis unmittelbar nach seiner Riickkehr in der Dunkelheit nichts, gewohnt jedoch seine Augen wieder daran und tut den Hohlenbewohnern gegeniiber Kunde yom Gesehenen. Das muss nun phanomenologisch interpretiert werden. 39 Letztlich ist dies nichts anderes als die Frage nach der Selbstverantwortung des Philosophen; vgl. hierzu im Ganzen Kuster. Vgl. zum VerantwortungsbegriffHusserls auch Held I989a und b, der den Bezug zum griechischen Ideal des 'l..6yov [n/)Qvm betont. 40 Fink betont ausdrucklich, dass »Verwissenschaftlichung« der Phanomenologie »keineswegs eine Steigerung der Erkenntnisdignitat der transzendentalen Erfahrungen und Kenntnisnahmen« bedeute (VI. CM, I IO), sondern dass sich sich auch in die allgemeine Bestimmung von Wissenschaft einfugen musse, auch wenn ihre »konstitutiven Merkmale« (vgl. im Ganzen § II a, II 1-16) anders zu bestimmen sind.
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Dennoch halt Fink an der Unmoglichkeit einer solchen Riickkehr 41 fest; was kann die mythische Rede vom »Zuriickkehren in die Hohle« eigentlich besagen? Sofern man Verwe!tlichen als Riickkehr des Phanomenologen in die natiirliche Einstellung zum Zwecke der lehrenden Mitteilung auffasst, muss von vornherein der problematische Charakter dieses Verfahrens betont werden. Das Verweltlichen vollzieht sich durch das »transzendental-padagogisch« motivierte Mitteilen des Phanomenologen an seine Mitmenschen. Die Frage des § I I der VI. Meditation ist demnach, wie dies, wenn es moglich ist, vor sich gehen soli. Der Tite! nennt als Leitbegriff fur Verweltlichen »Verwissenschaftlichen «. Die Art, wie sich Phanomenologie als WissenschaJt etabliert, ist das Thema des Verwe!tlichens als »Riickkehr in die natiirliche Einstellung«. Wiederum scheint es so, als ob die Gestaltung der Phanomenologie als Wissenschaft ftir Husserl kein besonderes Problem darstellt. 42 Der von Fink ausgehende AnstoB wirkt sichjedoch bei Husserl indirekt aus, insofern er erneut eine Reihe von Reflexionen auslost, die ihn zu Vertiefungen und einer Verteidigung des urspriinglichen Entwurfs gegeniiber Fink herausfordern; insbesondere Husserls Konzept des »Einstromens« ist ein solches, gegen Finks Idee der »transzendentalen Erscheinung« gerichtetes Konzept. Letztlich sind weder Finks noch Husserls Konzepte widerspruchsfrei durchftihrbar, sondern beider Idee erweist sich an entscheidenden Teilen phanomenologisch nicht in letzter Konsequenz befriedigend. Finks Vorgehen hierbei ist originell, sofern seine »Methode« darin besteht, das Problem des Verwe!tlichens und des sen Konsequenzen in spekulativen Termini als »Fiir-sich-Sein«, »Zu-sich-se!bst-Kommen« - auszudriicken. Aber nicht nur seine eigene Position driickt er spekulativ aus, sondern auch diejenige Husserls, wobei in Wahrheit natiirlich niemals explizit ein Unterschied gemacht wird. Dieser Schritt darf nicht per se als falsch bezeichnet werden, aber er verkompliziert die Lage erheblich, zumal wenn gezeigt werden kann, dass Fink in gewisser Weise den Nagel auf den Kopf trifft. Was Fink unternimmt, ist eine Einkleidung der husserlschen Phanomenologie in spekulativ-hegelsche Termini. Daher muss man in dieser Lesart der husserlschen Phanomenologie vorsichtig sein; denn bereits hier ist Fink - was ihm selbst evtl. noch nicht in voller Scharfe bewusst war - von auBer-
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Auch Husserl ist skeptisch hinsichtlich der Idee der Riickkehr die natiirliche Einstellung. Zum Satz Finks: »Dcr Prozcss des )Fiirsichwerdcns< des transzendentalen Lcbens muss nicht nur notwcndig ausgehen von der natiirlichen Einstellung, sondern muss auch in sie zuriickkehren [... j.« (VI. eM, 109) notiert Husser!: dst das wirklich )zuriickkehren Auch diese Riickkehr hat ihre Sinnesabwandlung erfahren.« (ebd., Anm. 344) 42 Die Art, wie die phanomenologischen Erkenntnisse »verwissenschaftlicht« werden und sich gerade dadurch verweltlichen, hat fur Husser! kein Problem dargestellt. Solange man nur in der Reduktion verbleibt und getreu beschreibt, gibt es keine Probleme. In Bezug auf die Verwissenschaftlichung und ihre »Gefahren« schreibt Husserl (Dok. uir, 148, Anm. 492): »Nichts kann gef:ihrlich sein fUr den, der wirklich Reduktion lebt und theoretisiert - er muss nur konsequent sein.« Vgl. hierzu auch van Kerckhoven I<)89b, 364f.
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husserlschen Einflussen geleitet, die ihn selbst zu einer »meontischen Philosophie des absoluten Geistes« ftihren werden. 43 1m September 1932 berichtet Cairns: »Fink has long [!1 been working on a Hegel interpretation, particularly of the youthful works, couched in Fichtean-Schellingian language but with a new content. «44 Finks eigenes Interesse an einer Hegelinterpretation muss also mitberiicksichtigt werden, wenn er seine eigene Position wie auch die Husserls aus der Sicht Hegels darstellt. Es gilt aber, bei aller Vorsicht, Finks Vorgehen nicht von vornherein als unphanomenologisch zu verwerfen. Zunachst soli wiederum Finks Position dargestellt werden. Seine Analyse der Verwe!tlichung kulminiert in der Auffassung von der Phanomenologie als transzendentalem Schein. - Dieses Konzept evoziert den scharfsten Widerspruch Husserls. Dessen Antwort auf die Verwe!tlichung des Phanomenologisierens ist im Begriff der »Lokalisation« zu sehen. Dieses mundet in die daraus folgenden philosophiegeschichtlichen Konsequenzen unter dem Tite! »Einstromen«. - Nach Darstellung der finkschen Analyse soli Husser! zu Wort kommen. Zum Verweltlichen hat sich Husser! v. a. in seinen Manuskripten geauBert; viele dieser Passagen lesen sich wie implizite Entgegnungen auf Fink und werden auch nur als solche verstandlich. Es ist anzunehmen, dass die geschichtlich-spekulative Interpretation der Phanomenologie durch Fink zumindest angeregt wurde, bzw. Husserl zu erneutem Dberdenken von Ansatzen bewegte, die ihn spatestens seit den fruhen 20er Jahren beschaftigten. 45 1m letzten Unterabschnitt soilen die Konsequenzen fUr die Systematik der PhaVgl. auch Finks Gesuch um Zulassung zur Habilitation vom I8. Dezember I945: »EinJahrzehnt engster wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Edmund Husserl bildet den Ausgang meiner eigenen Forschungen, die sich unter starkem Einfluss der Gedankenwelt des Deutschen Idealismus und der ontologischen Fragesteilung Martin Heideggers um das Problem der metaphysischen Grundlegung der Wissenschaften bemiihen.« (Original in Finks Personalakte der Universitat Freiburg.) 44 Cairns, 96. Das Gesprach fand ohne Beisein Husserls statt. 1m folgenden Abschnitt (97) formuliert Fink seine These beziiglich Hegel, die aber genau die zentrale These der VI. Meditation darsteilt. Es ist fraglich, inwiefern er von Hegel in der Gestaltung einer Methodenlehre fur Husserl abstrahieren konnte. Zudem horte Fink eineinhalb Jahre zuvor Heideggers Vorlesung iiber die »Phanomenologie des Geistes«. In der genannten Vorlesung spart Heidegger auch nicht mit Polemik gegen Husserl (vgl. Heidegger I988, 40) und betont, dass Hegels und Husserls Verstandnis von Phanomenologie »nichts« (ebd.) miteinander zu tun hatten. Vgl. dagegen Heideggers AuBerung noch von I925 / 26: »Die heutige Phanomenologie hat, mit gewissen Kautelen, sehr viel mit Hegel zu tun, nicht mit der Phanomenologie [des Geistes], sondern mit dem, was Hegel als Logik bezeichnete. Diese ist mit gewissen Vorbehalten mit der heutigen phanomenologischen Forschung zu identifizieren. « (Heidegger I976, 32) 45 Vgl. Natorps »Bauch«-Rezension von I9I8 (Natorp I9I8, 428): »Es ist iibrigens, nicht im Vulgarsinn des Wortes )merkwiirdig<, aber darum nicht weniger bemerkenswert und bisher zu wenig bemerkt, wie die neueren Richtungen systematischer Philo sophie in Deutschland fast aile, von zum Teil weit auseinanderliegenden Ausgangspunkten her, nahezu in den gleichen letzten Problemstellungen sich begegnen. Aile, und gerade die vordringendsten, mogen sie von Dilthey oder Eucken, Windelband, Rickert, oder von Husserl, Riehl, Lipps, von der )Marburger Schule< oder wo sonst herkommen, sehen sich auf nahezu die gleichen letzten Systemfragen gefuhrt.«
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nomenologie gezogen werden. Hierbei ist aber das bisher gewahlte Vorgehen, zunachst Fink, dann Husserl darzustellen, methodisch ungangbar; denn es besteht die Schwierigkeit, dass Fink sowohl seine eigene, wie auch die Position Husserls in hegelsche BegrifHichkeit einkleidet. In Finks Einschatzung der husserlschen Position (es solI »Synthesis-Mode11« genannt werden) wird er m. E. aber Husserl, wenn auch auf unorthodoxe Weise, gerecht. Auch wenn Husserls geschichtsphilosophische Einordnung der Phanomenologie in die europaische Tradition philosophisch reifer ist, so bleibt er doch letztlich einer Naivitat verhaftet, die Fink klar gesehen hat und der er durch seine eigene Ausfuhrungen entgehen will (es wird »SynthemaModell« genannt werden). Jedoch hat auch Finks EntwurfGrenzen. Zum Ende solI versucht werden, in einer kritischen Beurteilung beider einen Entwurf einer phanomenologischen Systematik, welche die Aporien Husserls und Finks vermeidet, zu skizzieren.
4.3.1. Finks Konzept der Verweltlichung Finks Ausfuhrungen halten sich im Rahmen einer »transzendentalen padagogik«. Fiir ihn ist die Sphare der Intersubjektivitat des Phanomenologisierens erst hier erreicht. Die Analyse des unbeteiligten Zuschauers ist zunachst eine vollkommen solipsistische »Denkveranstaltung«, die die intersubjektive Dimension in der Epoche ausblendet. Dabei ist es Fink selbst, der auf der (wenn auch »katachretischen«) Obernahme der Sprache aus der natiirlichen Einstellung beharrt. Sprache istjedoch immer ein bereits intersubjektives Phanomen, das zwar jeder spricht, die aber niemandem »gehort«. Zu allem Anfang ist die intersubjektive Verfasstheit des Weltlebens, dem man in der Reduktion nicht vollkommen entrinnen kann, zu beriicksichtigen. Diese gilt auch dann, wenn man auf der Einzigkeit bzw. der »Undeklinierbarkeit« des letztfungierenden Ich besteht. Die phanomenologischen Erkenntnisse konnen, sofern sie den Anspruch auf Wahrheit (fUr »jedermann«) erheben, nur schlecht eine vollige Unabhangigkeit yom tradierten Sinngeschehen der geschichtlichen Lebenswelt meinen. Es ist aus dieser Pcrspektive merkwiirdig, dass Fink erst an dieser Stelle eine Reflexion iiber den Wissenschaftscharakter der Phanomenologie anstellt; denn einerseits ist Wissenschaft eo ipso ein intersubjektiv konstituiertes Phanomen gemeinsam forschender Menschen; andererseits steht bei Fink bereits ein unhinterfragtes mundanes Wissenschaftsideal im Hintergrund, das sich in seiner Behandlung der Phanomenologie als »Elementarlehre« manifestiert. Es geht Fink hier nicht um ein Eidos »Wissenschaft«, sondern darum, wie es moglich ist, dass sich die Phanomenologie »verwissenschaftlicht«, d. h. als Wissenschaft in der Welt ausbildet. Der transzendentale Zuschauer hat letztlich gar keine Wahl als sich zu »verendlichen« in der Welt, er wird »mitgerissen« in der allgemeinen »weltfinalen« Tendenz des Konstituierens.
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4.3.1.1. Venveltlichen als Venvissenschaftlichen. Der Wissenschriftscharakter der Phanomenologie. Die objektivierte Wissensgestalt und das »eigentliche Subjekt« des Phanomenologisierens. Primare Venveltlichung Wissenschaft ist mehr als nur ein objektives (objektiviertes) Wissensgebilde; sie hat auch einen subjektiven Charakter. Diese »korrelative« Betrachtungsweise ist fur Finks Bestimmung der phanomenologischen »Wissenschaft« lei tend. Dabei ist seine Voraussetzung: Wissenschaft ist, wie Sprache auch, ein mundanes und d. h. konstituiertes Phanomen. Wie sich positiv-wissenschaftliche Forschung in wissenschaftlichen Satzen, Lehrbiichern, Veranstaltungen usw. niederschIagt, so bildet sich auch die Phanomenologie als eine soIche »Organisation« aus. Der Unterschied ist, dass es bei positiver Wissenschaft kein prinzipielles Problem gibt, Vorliegendes und zur Evidenz Gebrachtes in Satzen zu formulieren und Wissenschaft zu etablieren, wahrend bei der Phanomenologie die Schwierigkeit besteht, Vorseiendes durch Versprachlichung in Seiendes zu verwandeln. Nun wird das Problem jedoch noch verscharft dadurch, dass es nun nicht urn einzelne Worter oder Satze geht, sondern urn die - freilich als Limes im Unendlichen liegende - gesamte Darstellung des transzendentalen Erfahrungsfeldes als koharente Wissenschaft. Erst als ein soIches institutionalisiertes Gebilde kann es sich an die mitweltlichen Anderen »adressieren«. Das Problem der Wissenschaftlichkeit der Phanomenologie ist demnach nicht ihre koharente Ausbildung als Wissensform, sondern die » Mitteilung und Verkundung transzendentaler Erkenntnis in der J#lt, in der natiirlichen Einstellung« (VI. eM, 1 IO). 46 Durch diese Verweltlichung in der Adressierung an die noch in natiirlicher Einstellung befangenen Anderen verandert die Phanomenologie ihre »Wissenschaftsnatur« (ebd., 1I 1)47 und wird zu einer Wissenschaft in der Welt wie andere Wissenschaften auch, zu der man sich als natiidich Eingestellter verhalten kann. Dieses Resultat der »Verwandlung« in ein mundanes Phanomen bezeichnet Fink als »Philosophem« (ebd., 110);4B es handelt sich urn ihre »weltliche« Gestalt als fur potentiell aile zugangliches, »objektiviertes« Wissen. Als soIches ist es in der Welt vorhanden und materiell vorliegend. So eroffnet sich eine doppelte Perspektive, namlich die aufWissenschaft als objektives Wissensgebilde - woraufbei Hussed der Schwerpunkt liegt49 - und, dies die Tendenz Finks, nach ihrer »subjektiven« Seite.
Husser! erganzt hier: »- zum weiteren Zweck einer Herstellung einer im transzendentalen Forschen sich vergemeinschaftenden Menschheit« (ebd., III, Anm. 347). 47 1st Wissenschaft eo ipso ein mundanes Phanomen, so ist die Existenz eines »transzendentale[n] Wissen[s] rein als solche[s] unabhangig von aller weltlichen >Lokalisation<<< (III) allerdings in Zweifel zu ziehen. 48 Vgl. hierzu auch Bruzina 1995, LIX, sowie XCII, Anm. 212. 49 Vgl. Husser!s Korrekturen in Dok. II/I, 112, Anm. 349, 350. Was die »existenzielle Funktion« der Phanomenologie betrifft, so auBert sich Husser! hierzu unmissverstandlich; sie sei lediglich »nachkommend«. Vgl. die lange Bemerkung 143, Anm. 469. 46
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Wissenschaft muss auch als subjektives Phanomen, als menschliche Verhaltensweise betrachtet werden. So ist Wissenschaft nicht nur und nicht primar dieses objektive Wissensgebilde, sondern »eine theoretische Praxis des menschlichen Daseins, die in Wahrheiten als den Ergebnissen dieser Praxis terminiert. Wissenschaft ist so eine freie Moglichkeit des Menschen, ftir die er sich entscheiden, die er aber auch ablehnen kann.« (VI. CM, II2)50
Die Frage geht nach dem Wer dieses Subjekts der Wissenschaft, genauer nach dem mundanen Wer, sodann aber nach dem Konstituierenden dieser Mundanitat. Dies ist aber eine Frageste11ung im Rahmen der Methodenlehre, sofern sie nach der Konstitution des verweltlichten Subjekts der Wissenschaft fragt - und nicht nur nach deren mundanisierter objektiver Form als Institution. Das Subjekt der Wissenschaft von »auBen« betrachtet ist ein konkreter Mensch je ftir sich, aber doch nicht a11eine. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben es an sich, dass sie zwar von einer konkreten Person entdeckt, aber fUr jedermann nachvollziehbar sein mussen. Wer ist dieser »Jedermann«, sofern es nicht ein negativ besetztes, anonymes »Man« ist?51 Dieser Jedermann ist die verweltlichte Form des Subjekts der Wissenschaft und ist als solcher ihre notwendige subjektive Bedingung, die keine ))Pramisse«, sondern eine ))ontische Bedingung« sein so11: ))Das )Subjekt< der Wissenschaft ist der )Mensch<, aber nicht der individuell Eine, sondern der in der Einheit einer Kulturtradition stehende historisch-generative (VI. CM, II3)S2 Lebenszusammenhang.«
Dieses ))Subjekt« kann nur cum grano salis als ein solches bezeichnet werden, da es kein zeitlich-endliches Individuum ist. Umgekehrt kann jedes Individuum dazu ))werden«, indem es sich in wissenschaftliche Einstellung begibt. Wissenschaftliche Vgl. wiederum sz. §4, II: "Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch).« Aus der Sicht Finks allerdings ist diese existenziale Dimension wieder nur die »verweltlichte« Version eines transzendentalen Geschehens. 51 Husser! erwahnt selbst einmal das »Man« als »Subjekt« der »gemeinsamen Sitten«, eine »gemeinsame Norm, die des lebendigen traditionalen Sollens,( (XXIX, 42). Dagegen erwagt Husser! hier das »Verhalten der Vernunft«, das eine eigene Sitte hat bzw. ausbildet (cbd., Anm.). Wenn man eine terminologische Grenze ziehen wollte, konnte man sagen, das »Man'( meint eine durch Tradition gepragte Sitte oder eine Norm des vorwissenschaftliehen Lebens. Das »Jedermann« dagegen meint ein wissenschaftliches, abstraktes Vernunftsubjekt, das sich gerade von der vorwissenschaftlichen »Sitte'( unterscheidet. »Man'( handelt so und so. - Dagegen: eine wissenschaftliche Wahrheitfiir jedermann. 52 Husser! erganzt: »und in ihm der engere Zusammenhang der offenen wissenschaftlichen Gemeinschaft,( (ebd., Anm. 352); in diesem Sinne verbessert er auch im folgenden Satz Finks »Menschengeschlecht(, zu »durch die Zeiten sich erstreckende Forschergemeinschaft innerhalb ihrer Menschheit,( (ebd., Anm. 353). Husser!liegt also daran, die fur Wissenschaft »zustandige(, Menschheit einzuschranken auf eine Forschergemeinschaft innerhalb derselben. 50
VI. eM, II2.
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Satze gelten so fur »jedermann«; jeder Mensch hat als Mensch die Vermoglichkeit, dieser »Jedermann« zu werden. Der Begriff »Jedermann« ist, obzwar ein Singular, eine intersubjektive Kategorie, die nicht einen »alltaglichen Durchschnitt« bezeichnet, sondern das objektiv eingestellte Wissenschaftssubjekt, das aile Individualitat abgestreift hat. Solange es forscht, ist seine Personlichkeit gleichgiiltig. In diesem Sinne gehort es zu jedem Forscher, eine gewisse Epoche von seiner Individualitat zu vollziehen. Fink geht aber in dieser Bestimmung des wissenschaftlichen »Subjekts« noch weiter, indem er es nicht als einen allgemeinen und als solchen uberzeitlichen »Jedermann« ansieht, sondern es in einen historisch-generativen Prozess hineinstellt. >)) Wissenschaft< ist so eine intersubjektive, historisch sich tradierende Willenshabitualitat des Menschengeschlechts, in die der Einzelne sich einftigt als Funktionar, als Glied in der Kette.« (VI. eM, II3)
Wohlgemerkt gilt diese Bestimmung fUr Wissenschaft schlechthin. Und doeh lasst sieh diese Struktur nieht passgenau auf die Phanomenologie als bestimmte historisehe Gestalt der Philosophie iibertragen. Das Subjekt des wissensehaftlichen Tuns an sieh ist ein Mensch - und doeh wieder nicht; als Forscher ist er ein konkreter Mensch, der aber in seinem Forschen an friihere Forscher ankniipft, ihre Ergebnisse iibernehmend, verbessernd, etc. Der konkrete Forscher steht so »auf den Schultern von Riesen«, ohne an deren fur ihn vorliegende Erkenntnisse anzukniipfen er nicht forschen konnte. Niemand kann beanspruchen, nach einer jahrtausendealten Wissensehaftstradition »aus dem Stand« zu beginnen, aueh wenn sieh noch so groBe Briiehe oder »Paradigmenweehsel« ereignen mogen. So »konstituiert« sich eine Tradition von Forsehern einer Wissensehaft. Was sich so »subjektiv« durch diese Tradierung konstituiert, ist eine Generationenfolge von Forsehern, die gerade dadurch Wissenschaftler sind, dass sie ihre Individualitat abgelegt haben und zu wissenschaftlichen »Jedermanns« geworden sind. »Jedermann« aber ist ein singulare tantum. Das »Subjekt« dieses gesamten Prozesses ist ein iiberindividuelles »Ieh «, das sich durch Themenkonstanz und Kontinuitat in seinem wissenschaftlichen Forsehungsstil auszeichnet und somit einen »historisch-generativen Lebenszusammenhang« konstituiert. Es ist fraglieh, ob ein solches »Uberindividuum« sinnvoll als Subjekt bezeichnet werden kann; man kann mutmaBen, was Fink hierrnit im Sinn hat: Dieses Subjekt ware nichts anderes als ein iiberindividueller und in der Gesehichte der Wissensehaft herrsehender Geist. 53 Dieses »Ubersubjekt« ist kein phanomenologiseh ausweisbares Phanomen: Es kann 53
Fink verwendet auch Begriffe wie "Lebenszusammenhang«, aber spater auch "Absolutes« oder auch ,)absoluter Geist« (gegeniiber »individuellem Geist« des Philosophierenden), s. VI. eM, 183. Auch Husser! ist mit dieser Bestimmung des geschichtlichen Prozesses als Tradierung und der »Einheit eines vermittelten Konnexes« einverstanden, mochte jedoch die Wissenschaft nur als Spezialfall des gesamten geschichtlichen Prozesses verstanden wissen, vgl. ebd., 114, Anm. 364.
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nicht ais »Subjekt« wie ein konkreter Menschen erfahr- und ausweisbar werden. Es ist vielmehr ein spekulatives Konstrukt, eine Abstraktion aus konkret in ihrer Zeit forschenden Subjekten in ihrer Totalitat. Damit ist dieses Subjekt ein aller Individualitat entkleidetes »Uber-lch« und kein transzendentales Subjekt - ebenso wenig wie ein durch Variation gewonnenes Eidos. Es ist ein aberindividuelles I) Forscher-Ich «, ein »empirisch-allgemeiner«, ein »vulgarhegelianischer« Geist. Damit ist dieser ein in der Wissenschaft einheitlich »Waitendes«, insofern er die Norm fUr ein konkretes Forscher-lch, das seine Individualitat abgestreift hat, vorgibt. Diese Vorgabe ist normativ in Form von Objektivationen in der Welt, d. h. in Form von »Satzen, in Forschungsberichten, in Lehrbtichern« (VI. CM, II3), an die sich das Individuum halten muss. Diese Objektivation ist die notwendige Bedingung dafur, dass das Wissen fUr konkrete Menschen vorliegt und sie anleitet, selbst Forscher zu werden. Der Geist muss gewissermaBen »Fleisch werden«,54 im doppeiten Sinn: Er objektiviert sich einerseits in Form von konkreten Wissensgestalten und Iiegt damit andererseits vor fur konkrete Menschen, die zu Wissenschaftlern werden, bzw. von der Seite des meta-historischen »Ubersubjekts« betrachtet: Es sind Menschen, in denen sich dieser Wissenschafts-Geist objektiviert (»inkarniert«) und die dieses Subjekt in sich etablieren, damit die »Jedermanns-Subjektivitat« tibernehmen und weitertragen. Sie gehen so »in die Geschichte ein«, nicht ais Individuen, sondern ais in einer Tradition stehende Forscher-» Personlichkeiten «, fUr die als Wissenschaftler ihre Herkunft, Sprache, etc. gleichgiiItig sind. Voraussetzung fUr die »Anwerbung« neuer Individuen ist aber die konkrete Objektivation »Wissenschaft« in Manifestationen »objektiver« Art: »Erst durch die )AuBerung< der individuellen Erkenntnisprozesse in den dariiber aussagenden Satzen wird so etwas wie eine intersubjektive Objektivitat der Wissenschaft moglich [.. .).« (VI. CM, II 4) Die Tradierung vollzieht sich »via« Sprache. Dies ist nur durch eine objektive Manifestationsform moglich; denn dieses Uber-Ich hat zwar ein tiber die individuelle Lebensspanne der Forscher hinausgehendes Leben, das aber an die begrenzte Lebensspanne der Forscher gebunden ist. Damit nicht eine wissenschaftliche »Wahrheit« mit dem sie entdeckenden Forscher zugrunde geht, muss sie sich objektivieren in dauerhaft »haltbaren« Formen. Die aus zeitlos giiItigen Wahrheiten bestehende Wissenschaft kann sich nur so ais objektivierte Wissensgestalt erhalten, wenn sie feste Objektivationsformen ausbiidet (Lehrbticher etc.). Durch diese Objektivierung wird das Wissen »relativ unverganglich« (ebd.), d.i. in Relation zur begrenzten Lebenszeit eines Menschen. Je weiter eine solche tibergreifende Objektivationsform konstituiert wird, desto mehr hat sie einen in beide zeitliche Richtungen reichenden Unendlichkeitshorizont:
54 Diese Wendung taucht in einem Gesprach Finks mit Cairns auf, vgl. Cairns, 25: »It is not [so Fink] the transcendental ego pure and simple that has the world, but the ego as venveltlicht (secularized, made worldly). (The word made flesh, God's son made Man.) This fact is not seen by the traditional idealistic schools. «
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»Die Wissenschaft kann nur unendlich sein (d. h. sich durch aile Endlichkeiten der kiinftigen Forschergenerationen hindurcherstrecken), weil eben die Objektiviertheit der Erkenntnisse die Weitergabe (Tradierung) von Generation zu Generation ermoglicht.« (v!. eM, I 14 f.)55 Urn nun die Problematik der Verwissenschaftlichung der Phanomenologie zu verstehen, war es notig, die Objektivation der Wissenschaft voranzuschicken. »Wissenschaft« ist ein mundanes Phanomen; hier gilt das Gleiche fur die Phanomenologie wie jede Philosophie, die auftritt als »Philosophem«. Die Frage nach dem eigentlichen Subjekt der Phanomenologie fuhrt aber zum Zentrum der finkschen Uberlegungen. Fink ist hauptsachlich am Subjekt des Wissenschaftsvollzuges als eines iiber-historischen Uber-Ichs interessiert. So sind fUr ihn die wesentlichen Charakteristika von Wissenschaft, dass das Subjekt derselben ein konkreter Mensch ist, dass sie eine Vermoglichkeit des Menschen ist und schlieBlich intersubjektiv verfasst ist (als Wahrheit fur Jedermann).56 Dies gilt formal fUr jede Wissenschaft. Nun aber geht es urn die Frage nach dem Subjekt der Phanomenologie als Wissenschaft. Freilich unterscheidet sich die objektivierte Form dieses Subjekts nicht von der jeder anderen Wissenschaft: Es ist ein Individuum. Was aber ist die vor-objektivierte Form dieses Subjekts? Mit dieser Frage gelangt man in die transzendentale Dimension. Finks Antwort ist so einfach wie schwierig: 1st das Subjekt der mundanen Wissenschaft ein »mundanes Ubersubjekt«, so ist das Subjekt der transzendentalen Wissenschaft nichts anderes als die transzendentale Subjektivitat selbst. Das gilt es zu verstehen. 1st das transzendentale Leben dasjenige, was Welt konstituiert, so ist seine »Objektivationsform« die Welt selbst. Es verweltlicht sich selbst als Welt. 1st hingegen die Phanomenologie als Wissenschaft wie alles andere Seiende ein in der Welt auftretendes Phanomen, so ist auch sie als Konstitutionsprodukt eine Objektivationsform des transzendentalen Lebens. Die subjektive Manifestationsform der Phanomenologie ist nichts anderes als der Phanomenologe selbst, sofern er verweltlicht als Forscher unter anderen auftritt. Das in ihm Waltende, an das er als Wissenschaftler ankniipft, ist das transzendentale Leben selbst. War das vorobjektivierte Subjekt der mundanen Wissenschaften ein allgemein-mundanes Ubersubjekt, so kann man durchaus sagen, dass das, was Fink hier im Auge hat, mit dem hegelschen Geist vergleichbar ist: ein transzendentales »Subjekt«, das kein Individuum ist, sondern ein transzendentales, weltkonstituierendes »All-Leben« als das transzendentale Korrelat zum mundanen historisch-generativen Lebenszusammenhang. Zur Zeit der Abfassung der VI. Meditation (23.9.1932) sagt Fink dies explizit in einem Gesprach mit Cairns (in Husserls Abwesenheit). Zunachst kritisiert er Husserls Analogie von Phanomenologie und Psychologie: » The transcendental ego is 55 In diesem Sinne ftigt Husser! hinzu: »Ebenso in der offenen unendlichen Koexistenz - aber soweit Moglichkeit des Konnexes reicht. Auch das ist Geschichte - geschichdiche Gegenwart.« (Ook. n/r, I I 5, Anl11. 365) 56 Vgl. zu dieser Einteilung VI. eM, I I 5 f.
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not to be interpreted too uncritically on the analogy of the psychological ego. «, und fugt hinzu: »Perhaps the transcendental consciousness is pure Geist. «57 Es wird deutlich, inwiefern Hegel hier als Folie fur die finksche Obedegung fungiert. Der Geist objektiviert sich in der VIk/t: Das ist Finks »idealistische« Version der Konstitutionstheorie. Wie verhalt sich dies aber zu seiner Auffassung vom phanomenologisierenden Ich, das sich gerade durch Bruch vom transzendentalen Leben als unbeteiligter Zuschauer etabliert? Inwiefern kann Fink behaupten, das »eigentliche« Subjekt des Phanomenologisierens sei das transzendentale Leben selbst? Fiir Fink besteht hierin kein Widerspruch, sondern beide Betrachtungsweisen sind die Seiten einer Medaille. Aus der Perspektive des sich objektivierenden transzendentalen Lebens wird ein neues Licht auf den » Bruch« im transzendentalen Leben geworfen, der erst die volle Freilegung des Zuschauers ermoglichte. Was dieser bedeutet, kann man nun von der Seite des transzendentalen Lebens her beleuchten: Der Bruch unterteilte das transzendentale Leben selbst, und zwar etablierte er den Dualismus des Ichs ais Einstellungs- und als Konstitutionsphanomen, dadurch erstmais den Blick auf das konstituierende Leben selbt freilegend. Von diesem aus betrachtet, stellt sich dieser Vorgang in anderem Licht dar; der Bruch teilt das transzendentale Leben in konstituierende Transzendentalitat und phanomenologisierendes Reflexions- leh, welche »Teilung« eher ais Ab-Bruch des Ietzteren zu verstehen ist: »Das Subjekt des Phanomenologisierens, d. i. der Phanomenologisierende, ist das transzendentale Ego, oder genauer gesagt, das sich im Lebenszusammenhang der transzendentalen Subjektivitat durch eine eigentiimliche immanente Selbstentzweiung (VI, eM, I21)58 bildende Refiexions-Ich.« Die Rede vom Zuschauer ais »Exponenten« des transzendentalen Lebens kann nun konkretisiert werden. 1st die natiirliche Einstellung fiir die natiirlich eingestellten Menschen das JtQi)1;EQOV JtQoc:; ~[!iic:;, so ist das transzendentale Leben das JtQatEQov tfi cpVGEL. 59 Hat man vor der Reduktion noch keine Kenntnis vom transzendentalen Leben, das sich erst fiir den Zuschauer enthiillt, so erkennt der Zuschauer, dass das transzendentale Leben, ais Welt-konstituierend, dem Endprodukt logisch vorhergeht. In natiirlicher Einstellung befangen weiB man davon nichts; die Verborgenheit des
57 Cairns, 95. In diesem Gesprachszusammenhang fallt auch der Begriff des» Absoluten «. Auch wenn
es sehr schematisch wirkt, so kiinnte man sagen, dass Finks Heideggereinfluss in der Identifizierung von Welt=Sein besteht, sein Hegeleinfluss dagegen in derjenigen von Vorsein=Geist; beide »Spharen« zusammengenommen fasst er unter dem Begriff des »Absoluten«. 58 Zu "Selbstentzweiung« bemerkt Husser!: »des Aktlebens« (ebd., Anm. 385). Genau das aber meint Fink nicht: Das transzendentale Leben ais weltkonstituierendes ist kein »Aktleben«, sondern ein anonym fungierendes Leisten, das sich erst »zu Bewusstsein konunt« durch den Zuschauer; erst bei ihm kann sinnvoll von einem Aktleben gesprochen werden. 59 Fink verwendet diese Formulierung ausdriicklich in seinen privaten Aufzeichnungen (z IV, I I2b, urn 1929).
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transzendentalen Lebens ftir den natiirlich Eingestellten ist »weltalt« (VI. eM, 26).60 Hat der Zuschauer aber ein, wenn auch zunachst noch unvollstandiges, Wissen von diesem transzendentalen Leben, so erkennt er seine eigene »Nachtraglichkeit« sowie die Nachtraglichkeit der Welt gegeniiber einem Prozess, der schon vor der eigenen Menschwerdung im Gange war - und auch danach noch im Gange sein wird: »Das transzendentale Leben stirbt nicht.« Das transzendentale Leben aber konstituiert die Welt, »worin« sich unter anderem auch Phanomenologen befinden; es ware aber absurd, die Konstitution des Menschen, der da phanomenologisiert, als primares Konstitutionsprodukt aufzufassen; der Mensch als Phanomenologe ist zwar auch ein Konstitutionsprodukt, jedoch ein hoherstufiges. 1m Sinne dieser» Hierarchie« ftihrt Fink eine Unterscheidung ein, die man bei Husserl so nicht findet, und zwar unterteilt er den Konstitutionsprozess in primare und sekundare Verweltlichung. 61 »Alles Konstituieren ist, wie wir bereits wissen, Konstituieren von Seiendem im Universalzusammenhang der Welt. Der konstitutive Prozess terminiert in der Welt als dem Inbegriff alier konstituierten Endprodukte. Dies nennen wir die eigentliche oder primare Verweltlichung.« (VI. eM, 108) 1st die primare Verweltlichung die Objektivierung des Geistes in der Welt, so ist diese in ihrem konstitutiven Werden der Gegenstand der phanomenologischen Wissenschaft. Die Welt ist die Objektivierung des transzendentalen Lebens. Ais dieses Geschehen ist es anonym und hat kein Bewusstsein von sich, ist also nicht »ftir« oder »bei sich«. Der phanomenologisierende Zuschauer hingegen ist die objektivierte Form des Subjekts der Phanomenologie; aber erst durch den Bruch im transzendentalen Leben selbst konstituiert sich die vorobjektivierte, und das heiBt jetzt: transzendentale Gestalt des Zuschauers. Das »transzendentale Ego« ist also nicht eine primordiale »Schwundstufe« des transzendentalen Lebens, sondern ein ))Exponent« oder ein ))Auswurf« des transzendentalen Lebens selbst. Welchen Sinn hat diese Spekulation? Spinnt man diesen ))Hegelianismus« weiter, ergibt sich: 1st dieses primare Verweltlichen ein anonym fungierendes, )) blindes « Leisten, so kann es keine Bewusstheit seiner selbst erlangen. 1st aber ein )) Um-sich-selbstWissen« erklartes Ziel kritischer Wissenschaft, so muss dieses blinde Leben selbst die Tendenz haben, sich zu erhellen und ))zu sich selbst zu kommen«. Hegelsch gesprochen: Der Geist ist zunachst zwar ))an sich«, aber nicht ))ftir sich«, hat aber den Drang, zu sich zu kommen und ))an und ftir sich« zu werden. Daftir ))braucht« er den Menschen, der sich zum transzendentalen Zuschauer erhebt und 60
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Charakteristischerweise korrigiert Husser! ))weltalt« in ))welthaft«, ebd., Anm. 48. Die Begriffe ))primare« und ))sekundare Verweldichung« fuhrt Fink bereits en passant in § IO, ro8 ein. Obwohl Husser! hier wie auch an spateren Stellen nichts gegen diese Unterscheidung einzuwenden hat, verwendet er sie doch zumindest nicht selbst, vgl. Husser!s Beilagen III und IV, ebd., r89f.
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damit gleichzeitig sich selbst in der Welt objektiviert in Form eines konkreten Menschen, in dem er sich als Subjekt »inkarniert« und damit sich Bewusstheit verschafft: »Nur weil der >Zuschauer( nicht teilnimmt an der auf weltliches Sein teleologisch abzielenden Konstitution, kann in seinem und durch sein Erfahrungsleben das >Zusich-selbst-Kommen( des sonst immer von sich weg und auf die Welt hin lebenden kosmogonischen Konstitutionsprozesses sich vollziehen, kann das transzendentale >Fiir-sich- Werden ( geschehen. [... I]st doch der >Zuschauer< letzten Endes nur ein vom konstituierenden Leben (allerdings nicht konstitutiv) ausgeworfenes Reflexionsleh. « (v!. eM, II 8 f.)62
Das Phanomenologisieren ist demgegeniiber eine »gegenIaufige« Tendenz, insofern es dem Strom des »blinden« Konstituierens »entgegen« geht und dessen Schichten fUr sich erhellt. Dieser Vorgang wird unter dem Titel »sekundare Verweltlichung« behandelt. Hierfur muss zunachst die "Verweltlichung des konstituierenden Ich zum Menschen in der Welt« (VI. CM, 119) geklart werden. Erst dann kann davon gesprochen werden, dass sich ein bereits konstituierter Mensch als "Phanomenologe« etabliert. Aber auch fur diese egologische Konstitution ist bereits der besagte Bruch im transzendentalen Leben vonnoten, wenn zwischen primarer und sekundarer Verweltlichung eine Parallele herrschen solI. Erst durch den Bruch im transzendental en Leben kann sich der "blinde Geist« zu einem Ich individuieren und eine "Bewusstseinsform« als weltliches Ich erlangen. Den Vorgang der Selbstkonstitution des vom blinden Geist abgebrochenen "Ich« zum Ich als mundan Seiendem - in der Welt in der natiirlichen Einstellung - nennt Fink »Selbstapperzeption«. Dies ist die Folie, auf der sich die sekundiire Verweltlichung abspielt. Hinsichtlich der Lehre von der Selbstapperzeption kniipft Fink an Husserl an. Parallel zur Weltkonstitution vollzieht sich die Selbstkonstitution des Ego, mit dem Unterschied, dass nach Fink das Weltkonstituierende eben nicht als >>lch« bezeichnet werden kann, sondern ein noch nicht individuierter Geist ist. Auch bei Husserl ist klar, dass das transzendentale >,Ego« in seinen intersubjektiven und genetischen Dimensionen nur uneigentlich "Ich« genannt werden kann. In den Cartesianischen Meditationen heiBt es jedoch: »lndem ich als dieses Ego [das »lch aller Konstitution«] die fUr mich seiende Welt als Phanomen (als Korrelat) konstituiert habe und fortgehend weiter konstituiere, habe 62
Zu »Reflexions-Ich« erganzt Husser!: »ais Zentrum der neuen sozusagen weltabgewendeten Aktivitat« (119, Anm. 377). Nicht ganz kiar ist, was Fink mit dem in der Klammer Stehenden meint. Eine interpretierende Verbesserung nimmt Husser! vor, wenn er korrigiert: » (allerdings nicht konstituiert)« (ebd., Anm. 376). Das konnte meinen, dass das Reflexions-Ich nicht selbst konstituiert ist (im Sinne der primaren Verweltlichung), sondern als transzendentales »ausgeworfen « ist vom transzendentalen Leben, also sich im Sinne der sekun&iren Verweltlichung zu Bewusstsein kommt.
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ich unter dem Titel Ich, im gewohnlichen Sinne des menschlich-personalen Ich, innerhalb der gesamten konstituierten Welt eine verweldichende Selbstapperzeption in entsprechenden konstitutiven Synthesen voilzogen und halte sie in bestandiger (I, 130)63 Fortgeltung und Fortbildung.«
Gleichzeitig sagt Husserl von der Selbstapperzeption des Ego als weltlichen riickblickend auf das »erste« transzendentale Ego: »The transcendental ego, when stripped of its self-apperception, is not a subject, but sui generis ) the< subject. «64 Bedingung fUr diese Selbstkonstitution ist, dass sich im transzendentalen Bereich bereits ein Bruch vollzogen hat und sich eine transzendentale »Egoitat« gebildet hat; aus dieser konstituiert sich das Ich aIs verweltlichte Objektivation. Diese Konstitution ist nach Fink gegeniiber dem »blinden Leisten« des »Geistes« eine »Aktivitat; das konstituierende Ich mundanisiert sich durch eigene aktive Konstitutionsleistungen.« (VI. eM, 119) Man kann fragen, weshalb dieser Bruch einzig die transzendentale Egoitat, gewissermaBen als »Satelliten«, von sich absondert. Die Frage ware, ob nicht das gesamte transzendentale Leben in sich gespalten und in jeweils eigene Einheiten aufgeteilt ware, die sich in Aktivitat eigener Art mundanisieren, dem konstitutiven Leisten als intersubjektivem Geschehen Rechnung tragend. Weshalb soIl es bloB das eigene, primordiale transzendentale Ego sein, das ein Bewusstsein produziert, welches eine Selbsterhellung des »Geistes« leistet? Miisste man nicht auch anderen »Bewusstseinsformen« niederer Stufe, etwa Tieren, eine solche Leistung zuerkennen? Diesen Einwand formuliert Husserl selbst, wenn er zum Begriff »aktive Konstitutionsleistungen« bemerkt: »Das ist eine bedenkliche Ausdrucksweise. Gegeniiber welchen sonstigen Konstitutionen? Alles Reale ist intersubjektiv konstituiert, aile mundane Konstitution beruht auf der Aktivitat, die primordiale Natur schafft und als einftihlende fremde Subjek(Dok. uiI, 119, Anm. 380) tivitat konstituiert [ ... J.«
Husserl sieht also den gesamten Konstitutionsprozess und nicht bloB das aktive selbstapperzeptive Sich-Konstituieren als eine Aktivitat an;65 denn Konstitution ist stets intersubjektiv, also auch afortiori die des einzelnen Ego. Die Vorstellung einer »passiven« Konstitution hatte sonst in Bezug aufintersubjektive Konstitution keinen Sinn mehr. Realisierende Selbstapperzeption als Ab-Bruch yom transzendentalen Leben ist demnach von vornherein als intersubjektives Geschehen anzusehen, da
63
Vgl. hierzu auch Held 1966, 79ff, insbes. 83 f., wo die Selbstkonstitution hinsichtlich ihrer Selbstzeitigung rekonstruiert wird. 64 So Husser! im Gesprach mit Fink und Cairns (Cairns, 59). 65 Entsprechend sieht Husser! auch die Konstitution des phanomenologisierenden Ego als Teil der Selbstapperzeption an und mochte nicht,wie Fink, eine zweite Stufe einftihren: »Zu diesem Thema Ego gehort auch das phanomenologisierende Tun und eventuell seine Iterationen in der dem Ego eigenen Reflexivitat.« (Dok. uir, 188)
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»die konstituierende Subjektivitat verweltlicht konstituiert ist als Menschheit, als eine in offener endloser Vermittlung miteinander lebender, ftireinander daseiender, miteinander erfahrender, denkender, handelnder Menschen Allheit.« (Dok. nir, lIS, Anm. 374) Phanomenologisch ausweisbar sind lediglich gewisse »1chzentren« (ebd.), wovon ich eines an mir wahrnehme, aber sogleich in anderen apprasentativ iibertragend erkenne: »Nur so kann das Ego als welthabendes in menschlicher Gestalt, als Ich-Mensch, als Ich-Person mit seelischem Sein in der Welt Dasein haben, class im Ego die Scheidung des konstituierende Seins und Lebens als urmodal primordiales und als fremdes, anderes sich vollzogen hat und standig vollzieht, dass im Ego eine transzendentale Intersubjektivitat, ein Monadenall konstituiert ist, das seinerseits in Bezug auf die Welt konstituierend ist.« (ebd.) Auch wenn man immer nur yom eigenen Ich ausgehen kann, so ist doch demgegeniiber die These Finks, dass sich im transzendentalen Leben lediglich ein Bruch ereignet, der ein 1ch zum Bewusstsein seiner selbst und damit zum Sich-selbstWissen des »Geistes« leitet, fragwiirdig. Husserl vermeidet dieses JtQW10V '\jJEU()O~, indem die »erste« Verweltlichung bereits im Ansatz intersubjektiv ist, wahrend diese Dimension fUr Fink ein »Afterthought« ist. Gerade die von ihm betonte radikale »Einzigkeit« des Phanomenologen ist fur Husserl von vornherein durch eine intersubjektive Ausrichtung zu ersetzen. Husserls kritische Bemerkungen zum finks chen »Entwurf« einer Methodenlehre zeigen, dass man von vornherein einen intersubjektiven Ansatz vertreten muss. 66 Trotz dieser Fragwiirdigkeit wird erst aus dieser Perspektive die sekundiire Verweltlichung verstandlich, zu der man nun iibergehen kann, nachdem die primare Verweltlichung in ihrer Doppelheit von Welt- und 1chkonstitution vorgestellt wurde. Fink verwendet das gleiche Schema beziiglich der Phanomenologie als Wissenschaft, die ebenfalls ihre objektiven wie subjektiven Objektivationsformen hat, die ihrerseits auf transzendentale, »vormanifeste« Formen verweisen. 4.3.1.2. Die sekundiire Venveltlichung in subjektiver Richtung: der Schein des phiinomenologisierenden Menschen
1st einmal die Welt mit Menschen konstituiert, »greift« das bekannte Reduktionsverfahren: Durch 1chspaltung spaltet sich das natiirlich eingestellte 1ch von seiner »Heimatsituation« ab und tritt in den transzendentalen Bereich ein, wo es sich als an 66 Moglicherweise gibt es hierftir auch einen weiteren, bereits erwahnten Grund, und zwar die
finksche Auffassung, dass "hinter« oder »vor« der intersubjektiven »Ausdifferenzierung« des Transzendentalen nochmals eine »Ur-Einheit«, ein Geist eben, steht. Die Monadengemeinschaft ist »selbst noch eine konstituierte Schicht iIll konstitutiven Weltwerden« (VI. eM, 160).
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der Konstitution unbeteiligter Zuschauer etabliert. Der Zuschauer kniipft gewissermaBen an die bereits vollzogene Selbstapperzeption der primaren Verweltlichung an, indem er die primare Konstitution, diese »stumme Erfahrung«, ))zum Sprechen bringt«. Die sekundare Verweltlichung ist also ein explizierender Nachvollzug der primaren Konstitution und als diese Explikation nichts anderes als phanomenologische Deskription. Sofern diese aber notwendig Versprach- und d. h. Verwissenschaftlichung ist, wird klar, dass mit sekundarer Verweltlichung genau diese VerwissenschaHIichung in Form von mundaner Wissenschaft gemeint ist. Das Phanomenologisieren degt sich« in die Welt ))zurUck« (vgL VI. eM, 120). Dieses so erfolgende Bewusstwerden des transzendentalen Lebens tritt in die Welt ein ais Phanomenologie, bzw., sofern sie ais Wissenschaft eo ipso eine mundane Erscheinung ist, ais ))Philosophem«. Fink betont den spekulativen Charakter der Phanomenologie; sie ist ))eine Erscheinungsweise des Absoluten in der Welt«Y Die Phanomenologie ist die Erscheinung des Geistes in der Welt ais Wissenschaft. Riickblickend auf den katachretischen Charakter der phanomenologischen Sprache wird deutlich, weshalb Fink dieses sekundare Verweltlichen auch ))uneigentliches« nennt: Anders als bei der ))mundanen« Wissenschaft ist die Versprachlichung des transzendentalen Wissens in der sekundaren Verweltlichung gerade Problem; denn obwohl Fink die Objektivation als der mundanen Wissenschaft und Phanomenologie gemeinsames Charakteristikum fUr die Produktion des Wissens als Wissenschaft ansieht, ist die Objektivation eines wesenhaft Nicht-Objektivierbaren der Grund fur die Paradoxie der phanomenologischen Objektivation. Die sekundare Verweltlichung ist ))uneigentlich«, weil sie Objektivation eines Vor-Seienden ist und ihm dadurch ))Gewalt« antut. Sie besteht als Katachrese darin, dass es in ein Medium ))verwandelt« wird, welches dem Inhalt nie gerecht werden kann. Aber doch steht der transzendentale )){nhalt« ))da« in der Welt - als Erscheinung. Dies ist das ))Resultat« des Katachrese: )) Das Phanomenologisieren wird zur )Erscheinung<. Als Transzendieren der Welt fillt es jetzt - scheinbar, d. i. nach der Erscheinung beurteilt - wieder in die Welt zuruck, wird zu einem in der Welt versuchten Transzendieren; als )Entmenschung< der Reduktion wird es jetzt vermenscht; das Phanomenologisieren wird zu einer Wissenschaft in der Weit.« (VI. eM, II9f.) Als solches ist es eine mundane ))Erscheinung« im doppelten Sinn: Es wird zum Phanomen, d. h. es erscheint als konstituiert in der Welt, als Erscheinung-fUr den Menschen, der sich dieses Wissen ))scheinbar« zueigen macht. Sodann aber, und das ist Finks eigentliches Absehen, ist es gleichzeitig eine Erscheinung im Sinne eines blrYJen Scheins; denn die Versprach- und Verwissenschaftlichung ist eine katachretische Einkleidung eines unartikulierbaren Sinnes. In dieser Ambiguitat 67 Zitiert bei Bruzina 1989a, 108.
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steht der Titel »transzendentaler Schein« ftir die phanomenologische Wissenschaft. 68 Inwiefern er zutreffend ist, wird noch zu zeigen sein, v. a. dort, wo dieser Schein eine Dialektik hervorruft, die sich, wie Kant sagt, damit ),begniigen [muss], den Schein transzendentaler Urteile aufzudecken, und zugleich zu verhiiten, dass er nicht betriige; dass er aber auch verschwinde, und ein Schein zu sein aufhore, das kann sie niemals bewerkstelligen. Denn wir haben es mit einer naturlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun [... ].«69
Die sekundare Verweltlichung als Schein muss sich also, analog der Verwissenschaftlie hung, in 5ubjektiver wie objektiver Weise vollziehen. Die subjektive Manifestationsform der sekundaren Verweltlichung ist nicht der Mensch schlechthin, sondern als Phanomenologe. Es ist zu fragen, wer dieses Subjekt eigentlich ist; denn nun hat man es nicht, wie in der mundanen Wissenschaft, mit einem faktischen Individuum und auch nicht mit einem hoherstufigen »empirischen« historisch-generativen Lebensprozess zu tun, sondern mit dessen transzendentaler Gestalt. Dieser ist, wenn nicht der Geist selbst - dieser ware das vor-individuierte konstituierende Leben -, so doch eine individuierte transzendentale Egoitat. Man kann fragen, was deren Verhaltnis zum mundanen wissenschaftlichen Ober-Ich ist. Gibt es, ebenso wie in der Wissenschaft, ein allgemeines Wissenschafts-Ich, ein »Philosophen-Ober-Ich«, und ware dieses als mundan oder transzendental zu bezeichnen - oder am Ende beides zugleich? 1st dieses transzendentale Uber-Ich nur ein philosophisches »Negativ« des mundanen? Es scheint, als ware hier wiederum eine hohere Reflexionsebene einzuftihren; denn man konnte zunachst mit gleichem Recht wie bei den mundanen Wissenschaften ein philosophisches »Obersubjekt« empirischer Art annehmen, insofern die europaische Philosophiegeschichte eine gewisse Kontinuitat aufweist, die erst berechtigt, von »der« europaischen Philosophie zu sprechen. In diesem Sinne kann man sagen, dass sich ein allgemeiner Wissenschafts-Geist »inkarniert« hat in wesentlichen Denkern, so dass die Generationenfolge dieser Personlichkeiten ein soIches »Subjekt« konstituiert. Es ist aber problematisch, eine philosophische Wissenschaftsteleologie zu konstruieren; denn Philosophie hat keine festen und unumstoBlichen »Forschungsergebnisse« wie am mathematischen Modell orientierte positive 68 Vgl. hierzu van Kerckhoven 1989b, 364f. Bei der finkschen Verwendung des Begriffs muss man gegeniiber der kantischen Bedeutung allerclings vorsichtig sein; denn Fink spricht haufiger vom transzendentalen Schein als »undurchschaubar«, was ftir Kant gerade nicht der Fall ist: Er ist ftir Kant sehr wohl durchschaubar, aber deshalb gerade nicht und nie aufhhebbar. 69 KrV, B 354. Auch Husser! verwendet den Begriff des transzendentalen Scheins, und zwar beziiglich des Paralogismus der Satze: »Die Welt ist« und »Die Welt ist nicht«: »Dass die Welt, die soeben leibhaft Gegebene ein Schein, ein transzendentaler Schein sei, ist eine standig offene Miiglichkeit. Aber hier gehiirt zu dem Schein, den wir transzendental nannten, dass nach einer Korrektur durch eine entsprechende Wahrheit zu suchen bzw. nach einem wahren Sein zu fragen, das anstalt, an Stelle c1ieser nicht seienden Welt zu setzen sei, viillig sinnlos ware.« (VIII, 53 f.)
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Wissenschaften; ebenso hat es keinen Sinn zu sagen, dass ein Denker an die fertigen »Ergebnisse« seiner Vorganger ankniipft. Die Philosophiegeschichte ist durch »Haretiker« und verschiedene Traditionslinien, durch radikale Briiche und Paradigmenwechsel gekennzeichnet; von einer thematischen Einheitlichkeit im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung zu sprechen, ist hinsichtlich der Philosophiegeschichte nicht sinnvoll. Und doch redet man von »der« europaischen Philosophie. Die Kontinuitat ist nicht auf ein »Thema«, allenfalls auf einen Wissensstil zu reduzieren, im Sinne Husserls etwa auf die Wissenschqftlichkeit der Philosophie. Dieses Stilideal ist subjektiv wie objektiv, impliziert es doch auf der Seite des Forschenden die Forderung nach einer Epoche von den Vorurteilen der natiirlichen Einstellung, wie auf »objektiver« Seite eine Wissenschaftlichkeit hinsichtlich der Verwahrung dieses Wissens in objektiv (fur »Jedermann«) nachpriifbaren Gestalten (Biichern, etc.). Europaische Philosophie ist, was sie ist, dadurch, dass sie das Kriterium strenger Wissenschaftlichkeit erfullen muss. Wer sich diesem Ideal verpflichtet, kniipft an ihre Tradition an und tragt bei zu der Konstitution dieses wissenschaftlichen »Ubersubjekts«. Dieses Ubersubjekt stiftet eine Einheitlichkeit fUr die Philo sophie, die durch Briiche hindurch ihre Einstimmigkeit und Einheitlichkeit bewahrt. Diese Einheitlichkeit ist vergleichbar mit der sich durchhaltenden Normalitat des natiirlichen Weltlebens. So gilt also auch fur »die« Philosophie: »Diese Normalitat ist aber flieBend und hat auch ihre revolutionaren Briiche, die in eine neue Normalitat iiberftihren, die eine neue und doch durch erhaltene Tradition mit der alten verbundene ist.« (Dok. nlI, 202)10
Aus dieser Perspektive hat auch die Philo sophie als mundanisierte (damit aber nicht positive) Wissenschaft »ein« empirisches Subjekt. Dieses ist bei Fink immer schon das empirisch-kollektive Ubersubjekt als Philosophieren in der Welt. 1st dies die verweltlichte Form des unbeteiligten Zuschauers, muss sie aufihr transzendentales Korrelat befragt werden konnen, und zwar ist das transzendentale Ego die vorobjektivierte Form des Zuschauers als Phanomenologen in der Welt. Dieser »Phanomenologe« ist aber gerade nicht der konkrete Mensch, sondern jenes mundane Ubersubjekt. Daher spricht Fink auch zumeist unpersonlich von »dem Phanomenologisieren« als Aktleben des phanomenologisierenden »Jedermann«. Das »Reflexions-Ich«71 des Phanomenologisierens ist der mundane »Jedermann«, das mundane »Ubersubjekt« der Phanomenologie als Wissenschaft: 70 Diese AuBerung steht im Zusammenhang einer Reflexion auf wissenschaftliche » Wahrheit ftir )jedermann«< (ebd., 199). 71 Vgl. die bereits zitierte Stelle aufS. 121 der VI. eM (»Das Subjekt des Phanomenologisierens ... «). Aus dieser Perspektive wird Finks Ablehnung einer »existenziellen« Betrachtung des Zuschauers verstancllich, da es nicht urn ein Individuum geht, sondern urn die Menschheit im Ganzen, die »auf dem Spiel steht«, s. ebd., 122 f., sowie Husserls ausftihrliche Randbemerkung, 143, Anm. 469. Dessen Kritik an existentiellen Motiven ist allerdings anders motiviert: Das phanomenologische
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»Durch die Mundanisierung wird das Phanomenologisieren gerade in die Situation der natUrlichen Einstellung zuriickgestellt,fur die es sich ausspricht.« (VI. eM, 120)
Die natiirliche Einsteliung ist eben nicht die Situation eines Einzelnen, sondern die allgemeine Lebenssituation eines jeden Menschen, des »Man«, das die Vermoglichkeit hat, sich zum wissenschaftlichen »Jedermann« zu erheben. Er muss hierfur eine gewisse Epoche vollziehen, fur mundane Wissenschaft eine partikuIare, fur Phanomenologie die phanomenologische Epoche von der natiirlichen Einstellung im Ganzen. Die Objektivierung des philosophierenden »Jedermann« zum konkreten Menschen ware also wiederum eine abgeleitete Objektivation, die sich nicht strukturell von der Objektivation des mundanen Wissenschaftssubjekts zum konkreten Menschen unterscheidet. Die Verweltlichung des Phanomenologisierens zum weltlichen Menschen ist eine mittelbare; sie verlauft iiber die »Schnittstelle« des phanomenologisierenden »Jedermann« als des mundanen Obersubjekts des durch Selbstapperzeption gebildeten transzendentalen Ego. So miisste die Verweltlichung des transzendentalen Ego iiber das phanomenologisierende Ober-Ich hin zum konkreten Menschen strenggenommen als tertiiire Verweltlichung bezeichnet werden. Diese »mittelbare« sekundare Verweltlichung zum phanomenologisierenden Menschen in der Welt ist nichts anderes als der transzendentale Schein hinsichtlich der subjektiven Manifestationsform der Phanomenologie: Es ist ein mundaner Schein, dass der Mensch phanomenologisiert; in Wirklichkeit ist es das konstituierende Leben, das sich aber »verauBerlicht« hat als Tatigkeit eines Menschen.72 Fink interessiert in erster Linie das transzendentale »Wer« der Phanomenologie: das transzendentale Leben in seinem Fiir-sich-Werden durch den phanomenologisierenden Zuschauer. Soli aber diese vormanifeste Form des phanomenologisierenden »Jedermann« nicht ein solipsistisch gedachtes transzendentales Ego sein, so konnte man vermuten, dass ihn Fink, entgegen dem kritisierten Anschein, doch intersubjektiv denkt. Das transzendentale Ober-Ich als Korrelat des mundanen wissenschaftlichen Ober-Ichs ist selbst schon ein geschichtliches Phanomen. Es ergibt sich hierdurch eine Perspektive, die ein neues Licht auf die philosophiegeschichtliche Stellung der Phanomenologie wirft. 1st das empirische phanomenologisierende Absehen, zu einem »neuen, hoheren Menschentum« (cbd.) zu fuhren, ist fur ihn keine existentielle Frage, bzw. sie ware, wenn nur existentiell behandelt, vie! zu eng umgrenzt. 72 Vgl. VI. eM, 123: »[Die existentielle Kritik] setzt gewissermassen als bewiesen voraus, dass das Phanomenologisieren nichts anderes ist als eine menschliche Handlung.« - Aber (124): »Der Vollzug der Reduktion erbringt die eindeutige, sichere und unverlierbare Gewissheit, dass das eigentliche (letztwirkliche) Subjekt des Phanomenologisierens der transzendentale Zuschauer ist.« Dies ist auch, wie Fink bewusst war, Husserls Kritik hieran; so schreibt er im undatierten Entwurf des Vorworts (ebd., 183): »Husserl bestreitet, dass nur )scheinbar< der Mensch philosophiere, weil das transzendentale Ego ja selbst der >Mensch< sei (allerdings durch selbstapperzeptive Konstitution).<' In der Klammer hat Fink sehr elegant seine Kritik an dieser Auffassung eingebracht; denn wenn sich der Mensch erst durch selbstapperzeptive Konstitution bildet, so kann er nicht mit dem transzendentalen Ego identisch sein.
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Ubersubjekt des transzendentalen Ego ein historisch geschichteter »Jedermann«, so folgt daraus, dass auch die Phanomenologie, als historisch zu einem gewissen Zeitpunkt auftretende Philosophiegestalt, »auf den Schultern« der vorigen Philosophie steht. Dies widerspricht der Selbstauffassung Husserls von der Phanomenologie als etwas absolut »Neuem«, das lediglich naiv-philosophische Vorformen hatte. Ais dieses »ganz Neue« setzt sie gerade einen radikalen Bruch mit dem bisherigen »Ubersubjekt« voraus, so dass sich zunachst keine Einstimmigkeit wiederherstellen kann. Dieser Punkt wird auch von Fink aufgenommen, sofern er alle vorherige Philosophie als »befangen in der natiirlichen Einstellung« auf einen vorphanomenologischen Rang verweist. 73 Die Frage ist, wie sich der Absolutheitsanspruch der Phanomenologie und ihre »Abhangigkeit« von vorphanomenologischen Philosophemen miteinander vertragen. Man kann den Widerspruch mit Fink so auflosen, indem man alle vorphanomenologische Philosophie trotz ihrer Naivitat fur Vorformen der Phanomenologie erklart, die zwar keine phanomenologische Reduktion vollzogen, aber dennoch genuine »Vorgestalten« der Phanomenologie darstellten, in »Religion, Weisheit und in der ethischen Echtheit des Weltlebens« (VI. cMIz, 8). 1m Sinne Goethes konnte man sagen: Dey Geist, in seinem dunklen Drange, war sich des rechten Weges wohl bewusst, als er schlieBlich bei der Phanomenologie ankam. Das hatte aber zm Konsequenz, dass man das »Einzigartige« der Phanomenologie herabsetzen miisste, da es doch eine Kontinuitat gegeben haben muss, die der Phanomenologie den Weg ebnete. Das provoziert wiederum die Frage, weshalb es nie fmher, sondern erst zu einem bestimmten Augenblick im »Drama der Weltkonstitution« (VI. CM, 125) dazu kam, dass sich der »Geist« zu sich selbst erhob. Motive oder Griinde, weshalb dieser Prozess sich so und zu diesem Zeitpunkt abgespielt hat, konnen unmoglich gegeben werden, wenn Fink schreibt: » [Die phanomenologische ReduktionJ bedeutet ein Urereignis im Leben der transzendentalen Subjektivitat, sie kommt zu sich selbst, sie >erwacht< - urn im Gleichnis zu reden - aus dem weltalten ,Schlaf< des AuJ3ersichseins; sie geht aus dem Stadium des blossen ,An-sich-Seins< tiber in das Stadium des >Fiir-sich-Seins<.« (VI. eM, I24f.)
Diese hegelianische Spekulation kann nm schwer phanomenologisch eingeholt werden; nicht nm wird ein geschichtlicher Prozess als »Zusichkommen« deklariert, auch werden keine Motive und Gmnde dafur angefuhrt. Ein solcher Prozess wird »von oben her« deduziert. 1m Sinne einer phanomenologischen Aufklarung aber muss man sagen, dass historische Motivationsverhaltnisse Gegenstand einer genetischen Analyse sind und nicht nm in ihrem Zustandekommen »festgestellt« 73
Vgl. VI. CM, 144: »Alle bisherigen Philosophien stehen grunclsatzlich im Horizont cler natiirlichen Einstellung [... j. « S. auch Finks Einschatzung cler vorphanomenologischen Philosophie im Entwurf zum systematischen Werk (VI. CMI2, 4f.).
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werden durfen. Ist ferner ein mundanes philosophisches Ubersubjekt in Analogie zum wissenschaftlichen Ubersubjekt auch nur schwer akzeptierbar, so gibt ein transzendental-philosophisches All-Subjekt als eigentliches Subjekt der Phanomenologie vOllends jeden Anspruch auf phanomenologische Ausweisbarkeit preis, insofern hier nur noch ein »in-sich-kreisender«74 Geist verktindet wird. Ein auch nur vager Blick auf die Philosophiegeschichte aber lehrt, dass ein solches Ubersubjekt gewaltsam ist, sofern es nur eine gewisse »Linie« der Philosophie als solche anerkennen wurde unter Ausschluss all derjenigen, die als »Haretiker« diese Tradition in Frage stellten oder andere Wege gingen. Der »Geist«, wenn man so reden kann, muss vielmehr von Beginn an intersubjektiv und d. h. plural, gedacht werden; er ist von vornherein in sich gespalten und hat zahlreiche Objektivationsformen, die den Boden bereiten, auf dem sich erst so etwas wie eine kopernikanische Umwendung oder eine phanomenologische Reduktion ereignen kann. Obwohl Finks These von der subjektiven Manifestationsform in der sekundaren Verweltlichung als mundan-philosophisches Uber-Ich in einem allgemeinen, unpersonlichen »Phanomenologisieren« einer kritischen Betrachtung nicht standhalt, so wurde sie doch aus dem Grund etwas eingehender dargestellt, weil dabei ein wichtiger Nebenetfekt eintritt; denn erst die konstruktiv-spekulative Idee der sich objektivierenden philosophischen Subjektivitat ermoglicht die Blickweise tiber das solipsistisch phanomenologisierende Einzel-Ich hinaus auf die Geschichtlichkeit der Philosophie selbst. Diese Geschichte weist wiederum zuruck auf ein transzendentales Sinngeschehen. Man muss dieses Geschehen jedoch nicht notwendig als zu sich selbst kommenden Geist interpretieren; Finks Fehler kann auch so ausgedruckt werden: Sein Schritt, den wissenschaftlichen Jedermann als ein geschichtlich Konstituiertes aufzufassen, ist von vornherein problematisch; denn der Begritf »]edermann« hat es gerade an sich, dass wissenschaftliche Wahrheiten allgemein zu jeder Zeit und injeder Kultur muss en gelten konnen. 75 Fink verwechselt also historische Schichtung wissenschaftlich aufeinander aufbauender Wahrheiten mit einer historischen Aufeinanderschichtung des Jedermann selbst. Er »noetisiert« den histor is chen Prozess. Die Geschichtlichkeit der Wissenschaft besteht darin, dass die Entdeckungsreihenfolge einen historischen Verlaufhat; aber die Ergebnisse selbst sind nicht zeitlich determiniert, sondern »allzeitlich«. Genau diese Konstruktion aber
74 Dies Finks Formulierung beziiglich der »)Geschichte< des weltkonstituierenden Lebens« (VI. eM, 12 5). 7 5 Erinnert sei hier an den Sklaven in Platons Menon. V gl. auch Husserls Bemerkung in Dok. III I, 13 I, Anm. 408. Wie ein» Primitivenkind« in unsere Welt versetzt unsere Sprache, Sitten etc. annehmen konnte, ist das auch umgekehrt moglich fur einen »Europaer«, der in die »Primitivenwelt« versetzt wiirde: Der »Arzt« wiirde »Medizinmann {< etc. Husser! betont also den zeitunabhangigen Charakter dieses Jedermann. Aber dank der Tatsache, dass fUr aile Menschen der Welthorizont derselbe ist (vgl. ebd.), kann ich mich in jeden erdenklichen Anderen hineinfingieren und er sich in mich. Dieser »Jedermann« ist fUr Husser! gewissermaf)en ein durch Variation gewonnenes menschliches Vernunfteidos. fur Fink dagegen ein geschichtlich gebildetes Konstrukt.
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lasst sich nicht auf die Philosophiegeschichte anwenden, wenn man sie, wie Fink, nicht als Entdeckung allzeitlicher Wahrheiten ansieht, sondern als Stationen auf dem Wege zum in der Phanomenologie sich vollendenden transzendentalen Leben. Die Auffassung der Philosophiegeschichte als Teleologie gegen einen in offener Zukunft liegenden Limes letztgiiltiger Wahrheit widerspricht einem allgemeinen iiberzeitlichen Jedermann. Was ist nun der transzendentale Schein im Rahmen der subjektiven Manifestationsform des Phanomenologisierens und wie kommt er zustande? 1st das »eigentlich« phanomenologisierende Subjekt ein yom transzendentalen Leben abgebrochenes Ego, die primordiale transzendentale Subjektivitat, so ist seine Verweltlichung ein uneigentliches Geschehen, da dieses Leben als Sein konstituierender Prozess selbst nicht sein kann. Sie bedeutet eine uneigentliche Verwandlung in ein weltlich Seiendes. Verweltlicht sich das Phanomenologisieren aber zunachst in einem philosophischen »Jedermann«, so wurde die Verweltlichung zum philosophierenden Individuum als »tertiare« Verweltlichung bezeichnet. Implizierten die Bezeichnungen primar, sekundar eine Hierarchie der »Echtheit«, so hat die tertiiire Verweltlichung das hochste MaB an Scheinhaftigkeit. Die natiirliche Einstellung als Naivitat hinsichtlich des Wissens urn das transzendentale Leben heiBt nun, von Seiten des Transzendentalen: Das natiirlich eingestellte Ich ist immer schon transzendentales Konstitutionsprodukt, aber es weijJ nichts davon; es lebt gewissermaBen von sich weg, intentional »verschossen« auf die Welt, unwissend urn den »transzendentalen Schweif« »vor« dem in der Welt terrninierten Sein. Das gilt nicht fUr das philosophierende Ich, es weijJ urn dieses transzendentale Leben (urn den »Schweif«), mehr noch: Es ist ausgezeichnetes Thema seiner Wissenschaft. Nicht nur also ist das natiirlich eingestellte Ich immer schon auch transzendentales Ich, auch das philosophierende konkrete Ich als Mensch ist immer schon ein sich durch transzendentale Selbstapperzeption bildendes transzendentales Ich, nur weiB es darum. Die Naivitat der natiirlichen Einstellung besteht aus der Perspektive des transzendental aufgeklarten Ich in einem »transzendentalen Schlummer«.76 Der philosophierende Mensch ist also nur scheinbar bloJ3 ein Mensch, sondern weiB von seinem »transzendentalen Schweif« und damit von seinem »Mehr-Sein«. So sagt Fink: »Der )Mensch ( ist das Subjekt der Erscheinung des Phanomeno\ogisierens, d. h. der Mensch ist das in der natiirlichen Einstellung erscheinende: scheinbare Subjekt.« (VI. eM, I25 f.) Eine »mundane« Interpretation des Philosophierens triige also immer zu kurz, da sie es in der Naivitat der natiirlichen Einstellung auslegte. Dennoch kann es mundane Auslegungen des Philosophierens geben, und es gibt sie zuhauf: Gesehiehten wie die thrakische Magd sind so alt wie die Philosophie selbst. Doch auch philosophisch 76 Fink verwendet hierflir auch die Metapher des »Schlafs« (VI. eM, 124).
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ist eine soIche Analyse nicht trivial: Auch Philosophieren ist eine Verhaltensweise des konkreten Menschen und in seiner Faktizitat auszulegen. Eine soIche Interpretation hatte nach Fink zwar ihr »existenziales« Recht, ware aber einseitig und wurde falschlicherweise diese Einseitigkeit verabsolutieren. Das Philosophieren ist also von beiden »dialektischen« Seiten zu behandeln. Es gibt somit einen Unterschied zwischen beiden Wahrheiten: 77 Wahrend der natiirlich Eingestellte nur seine »Wahrheit« kennt, so ist es doch demgegeniiber nicht so, dass das philosophierende Ego nur seinerseits seine Wahrheit kennte, sondern es hat »alle moglichen Einstellungen vollzogen«78 und kennt und versteht daher beide fundamental voneinander unterschiedenen »Wahrheiten «: »Der phanomenologische Transzendentalphilosoph dagegen verkennt zwar nicht, dass augenscheinlich der >Mensch < philosophiert, aber fUr ihn ist dieser >Augenschein < jederzeit durchsichtig auf die hinter ihm liegende transzendentale Wahrheit.« (VI. eM, 125)19
Die natiirliche Einstellung ist mit einem »transzendentalen Horizont« (Dok. nil, 126, Anm. 396) versehen worden. Aus der Perspektive des Phanomenologen aber ist dies kein »neuer« Horizont, der an den alten »angehangt« wiirde, sondern eine Entsehrankung des aus seiner Sieht verengten natiirlichen Horizonts. 80 Das hat Konsequenzen; denn die philosophierende »Instanz«, neutral gesagt, ist weder ausschlieBlich Mensch noeh ausschlieBlich transzendentales Ego, sondern beides zusammen; Fink nennt es das »vollseitige Subjekt des Phanomenologisierens [... als] in der Welt - durch uneigentliche Verweltlichung - >erseheinende < transzendentale Subjektivitat« (VI. CM, I27). SO ist das Verhaltnis beider eine »>dialektische Einheit< zwischen den Spharen des Transzendentalen und des Mundanen, die den >konkreten< Begriff des >phanomenologisierenden Subjektes< ausmacht« (ebd.). Die Scheinhaftigkeit der sekundaren Verweltlichung besteht also einzig auf der mundanen Seite, insofern lediglich der natiirlich eingestellte Mensch den Schein nicht durchschaut. Die Naivitat ist korrelativ »verschuldet« durch ein Sich-selbst-Verhiillen des Transzendentalen. 81 77 Fink spricht hier von der »Erscheinungswahrheit« und der »transzendentalen Wahrheit«, vgl. z.B. VI. CM, 133 (wobei Husser! hier bemerkt: »Wahrheiten vor und nach der Reduktion« [ebd., Anm. 423)).
78 So Husser! in Dok. ulr, 126, Anm. 396. 79 Vgl. hierzu Husserls kritische Randbemerkung ebd., Anm. 396. 80 V gl. auch aus Finks privaten Notizen: »Transzendentale und natiirliche Einstellung verhalten sich zueinander in einem gegenseitigen Umgriff: die >transzendentale Einstellung< ist ein Vorkommnis in der natiirlichen Welt und andererseits ist die natiir!iche Einstellung eine notwendige [ ... J Weise der Selbstapperzeption der transzendentalen Subjektivitat. Die restlose A ujkldrung dieser eigenartigen Riickbeziiglichkeiten und Verschlungenheiten aber ist allererst in der transzendentalen Einstellung moglich [... J.« (z IV, I 13a, um 1929, Kurs. erg.) 8 I Es sei, so Fink, nicht nur der Konstitutionsprozess, der sich fUr die natiir!iche Einstellung verhiillt, sondern auch der Prozess cler Mundanisierung selbst (vgl. VI. eM, 128).
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Der transzendentale Schein ist fur Fink ganz im Sinne Kants 82 unaufhebbar; er kann nicht »zunichte«, sondern nur als solcher, allerdings nur fur den Phanomenologen, »durchschaubar« gemacht werden; beide »Wahrheiten«83 »gelten«, weil sie »gar nicht auf derselben Wahrheitsebene liegen« (VI. eM, 129). Die »Wahrheiten« der natiirlichen Einstellung sind fUr den natiirlich Eingestellten »absolut« wahr, fUr den transzendental Eingestellten nur scheinbar, und d. h. relativ auf ihren eigenen Horizont. Der Philosophierende durchschaut deren Scheinhaftigkeit und sieht sie als Index eines transzendentalen System. Der natiirlich Eingestellte kann verglichen werden mit jemandem, der eine rot gefarbte Brille tragt und daher griine Dinge (also die Mischung der Komplementarfarben) nicht sehen kann, da beide Farben sich gegeneinander »aufheben«. Der transzendental Eingestellte hingegen sieht beide Zustande, nur unverstellt und daher ein »Mehr«. Insofern besteht kein Widerspruch zwischen beiden Wahrheiten, weil die »natiirliche Wahrheit« nur »Endstufe« der umfassenden ist, die den transzendentalen Schweif »mittragt«: Der natiirlich Eingestellte sieht z. B. ein Ding als Gegenstand mit einem praktischen Nutzen, wahrend der transzendental Eingestellte diese »Wahrheit« zwar in ihrer relativen Optimalitat anerkennt, das Ding gleichzeitig aber als Endprodukt eines konstitutiven Systems sieht. Besteht die transzendentale Einstellung darin, gegeniiber der natiirlichen yom transzendentalen Schweif zu wissen, so ist jene »Wahrheit« umfassender als diese, sie »umgreifi:« die Wahrheit der natiirlichen Einstellung. Der transzendentale Schein ist dialektisch, und so kann man sagen, dass sich beide Seiten gegeneinander aujheben; allerdings nur fur den, der den Schein durchschaut hat: »In der transzendentalen Selbstauslegung des Phanomenologisierenden werden die aufihn und sein theoretisches Tun bezogenen Erscheinungswahrheiten >aujgehoben <: d. i. vernichtet, sofern sie in ihrer Beschranktheit und )dogmatischen< Geltungssituation einsichtig werden, und bewahrt, sofern gerade sie selbst nicht )durchstrichen<, sondern in ihrer transzendentalen Konstitution erhellt werden. « (VI. eM, 129)
Aufhebung der Erscheinungswahrheiten der natiirlichen EinstellUng heiBt nun nicht, dass die natiirliche Einstellung im Vollsinne »aufgehoben« wiirde, sondern in ihrer Relativitat ans Licht kommt. In diesem Wortgebrauch fehlt wohlgemerkt ein 82 Vgl. allerdings aus Finks privaten Aufzeichnungen: »Der >transzendentale Schein< entspringt aus der Notwendigkeit, die meontische Natur der absoluten Subjektivitat mit ontischen Begriffen zu explizieren. Wenn nach Kant die >transzendentale Dialektik< die notwendige Verstrickung der menschlichen Vernunft in unliisbare Widerspriiche infolge der Anwendung der Bestimmungen der Erscheinungen auf Dinge an sich [... J ist, so ist umgekehrt, phanomenologisch gesprochen, der >transzendentale Schein< gegriindet in der Unangemessenheit ontischer Begriffiichkeit [... J ftir die Explikation der >Dinge an sich< (>transzendentale Subjektivitat<).« (z XI, 78a von I932-1. Hilfte 1933) 83 Dabei sind aber beide Begriffe ftir den Phanomenologen wiederum zweideutig. Vgl. Husserls Bemerkung Dok. nil, 167, Anm. 527.
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Element: 1m hegelschen Verstandnis von »aufheben« hat dieses Wort wesentlich drei charakteristische Bedeutungen, wovon Fink lediglich zwei verwendet; neben vernichten (tollere) und bewahren (conservare) fehlt die dritte Bedeutung des Hinaujhebens (elevare). Dass diese Bestimmung sicherlich nicht zufaJlig fehlt, bedeutet fur das dialektische Verhaltnis von natiirlicher und transzendentaler Einstellung: Die relative Wahrheit der natiirlichen Einstellung wird in der umfassenderen Wahrheit zwar »negiert«, damit aber auch bewahrt: Ihre Relativitat ist Teil der absoluten Wahrheit (sie ist ein Endpunkt »ohne Schweif«). Damit wird der relativen Wahrheit aber ein Platz angewiesen, der sie in ihrer niederen Evidenz beliisst: D. h. sie wird nicht mit der absoluten Wahrheit emporgehoben, sondern behalt ihr - relatives - »Recht« gegeniiber dem Absoluten, welches erst »dank« dem Relativen ist, was es ist. Das natiirliche Leben wird also nicht emporgehoben, sondern behalt seine »niedere und relative Evidenz«.84 Es wird nicht zur phanomenologischen Einstellung, sondern bleibt es selbst, freilich fur diejenigen, die urspriinglich in ihm leben. »Die« natiirliche Einstellung ist hier verstanden als die »Heimatsituation« der Menschheit im Ganzen. Es muss also unterschieden werden - was Fink nicht ausdriicklich tut - zwischen natiirlicher Einstellung als einer individuellen Existenzweise eines Menschen und als intersubjektiver »Weltsituation« der Menschheit. Dass der transzendentale Schein nicht restlos aufgehoben wird, bedeutet fUr »die« natiirliche Einstellung, dass sie als natiirliche Einstellung diesen »transzendentalen Schweifii niemals sehen kann. Dies meint Fink mit der »dialektischen Einheit« von phanomenologisierender und natiirlicher Einstellung: Der transzendentale Schein besteht deswegen, weil er zwar fUr den phanomenologisch Eingestellten durchschaubar wird, aber nicht fur den natiirlich Eingestellten. Das urspriinglich natiirlich eingestellte Individuum, das sich von seiner Ursituation durch Reduktion gelost hat, kann fur sich nie wieder die alte Naivitat erlangen. 85 Aber »die« natiirliche Einstellung bleibt ja bestehen als Weltsituation all derer, die nicht die phanomenologische Reduktion vollzogen haben. Vernichtet wird die natiirliche Einstellung fur den Phanomenologisierenden in seiner »mundanen Individualitat«, der nie wieder in die alte Einstellung zuriickgehen kann; bewahrt wird sie hingegen fur die Anderen, die noch nicht die Reduktion vollzogen haben - und sie vielleicht nie vollziehen werden. Die »sekundare Verweltlichung« als Riickkehr in die natiirliche Einstellung kann nun konkretisiert werden. Aus dieser Perspektive gewinnt das Problem der »transzendentalen Piidagogik« Konturen: 1st das Verhaltnis beider Einstellungsweisen ein dialektisches, so kann das Verweltlichen auch von Seiten der natiirlichen Ein-
84 Dies ist eine Formulierung aus Husserls Brief an Kuhn, vgl. BW 6, S. 247. 85 V gl. auch aus Finks privaten Aufzeichnungen: » Die phanomenologische Reduktion ftihrt aus der Befangenheit in die Unbefangenheit. Die >Einklammerungi als das Sichfreimachen, als der Schmerz des Erwachens, als das Weh, das sich der absolute Geist selbst antut.i< (z XI, 77a, von 1932-1. Hilfte 1933)
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stellung betrachtet werden, fUr die das Phanomenologisieren »erscheint«. Fiir den Phanomenologen bedeutet die natiirliche Einstellung eine verengte Endstufe, die in ihrer Absolutheit fur ihn vernichtet und d. h. relativiert wird. »Die« natiirliche Einstellung aber wird Jur sich bewahrt. Die Riickkehr des Phanomenologisierens in die Welt der natiirlichen Einstellung kann folglich von dieser iiberhaupt nicht bemerkt werden; sie bleibt ein Schein und fUr die natiirliche Einstellung undurchschaubar. Das Phanomenologisieren ist, wie Fink »unbedingt festhalten« mochte, »uberhaupt keine Menschenmoglichkeit« (VI. eM, 132). Wie kann dann iiberhaupt der Schein fur die natiirliche Einstellung durchschaubar (gemacht) werden? Die Frage ist gleichbedeutend mit der, was eigentlich geschieht, wenn sich das Phanomenologisieren an die natiirlich eingestellten Menschen adressiert. Es ist also festzuhalten, dass Fink mit zwei Bedeutungen von natiirlicher Einstellung operiert, einer primordialen und einer intersubjektiven. Der »primordiale« Sinn betrifft die Or-Situation des Phanomenologen (als eines urspriinglichen Menschen), der erstmals, und damit ein fUr allemal, die natiirliche Einstellung verlassen hat. Intersubjektiv verstanden aber bedeutet die natiirliche Einstellung die »Normalsituation« der Menschheit, die fUr sich bestehen bleibt, auch wenn ein Einzelner sie verlasst. Foiglich ware das Verweltlichen primordial und intersubjektiv zu behandeln, wahrend fur Fink lediglich die intersubjektive Dimension interessant ist. Finks Konzentration auf das Phanomenologisieren als Tatigkeit des» Geistes« freilich kann keinen Blick fur den konkret Philosophierenden haben; hier ist es Husserl, der darauf pocht, dass »das transzendentale Ego ja selbst der )Mensch ( sei« (Dok. III I, 183). Die Riickkehr in die natiirliche Einstellung ist fUr Fink »intersubjektiv adressiert« und dadurch »transzendental-padagogisch« motiviert. Diesbeziiglich hat der Philosophierende auch keine Wahl; denn sob aid er spricht, adressiert er sich an seine Mitmenschen, er wird im Konstitutionsprozess »mitgerissen« und muss sich mitteilen. Dies vollzieht sich mittels Sprache, die immer schon intersubjektiv ist: »Durch die Verweltlichung des phanomenologischen Erkennens, d. i. durch das Eingestelltwerden desselben in die natiirliche Einstellung86 und die damit gegebene Moglichkeit, vermittels der Objektivation der transzendentalen Erkenntnisse im Medium der natiirlichen Sprache sich an die in der Weltbefangenheit lebenden Mitmenschen zu adressieren und ihnen selbst die phanomenologischen Erkenntnisse zu libermitteln, urn damit in ihnen das Phanomenologisieren in Gang zu setzen, bildet sich allererst so etwas wie eine transzendel1tale 1l1tersubjektivitiit. « (VI. eM, 135 f.)
Doch wie ist es moglich, dass der Phanomenologe in die natiirliche Einstellung zuriickkehrt? Er kannja seine erweiterte Perspektive nicht wieder »verengen«. Er kann sich vergegenwartigend wieder in Erinnerung rufen, wie es »vormals war«, 86 Hierzu bemerkt Husser!: »nicht einfach in die natiirliche Einstellung - sie ist transzendental verwandelt« (ebd., I36, Anm. 434).
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auch wenn er die alte Einstellung nicht wieder »leben« kann. Wie Husserl sagt: Er kann sich den neuen Horizont »abstraktiv abblenden« (Dok. nil, 191), urn sich wieder in den alten Zustand hineinzuversetzen. Dieses »abstraktive Abblenden« kann wiederum als eine Epoche, als Riickkehr in die natiirliche Einstellung als »mundane « Epoche bezeichnet werden. Das heiBt nicht, dass der Phanomenologe selbst wieder natiirlich eingestellt ist, sondern dass er sich in den Zustand derjenigen versetzt, die noch darin leben. Er »blendet« seinen erweiterten Horizont »aus«. Wie ein guter Padagoge muss er so mit den »Schiilern« umgehen, dass sie ihn verstehen. Diese mundane Epoche ist aber fur Fink prinzipiell unmoglich. Wie wirkt sich aber dann der »transzendental-padagogische Impuls« im Umgang mit den natiirlich Eingestellten aus, wie macht sich der finksche phanomenologische Padagoge verstandlich? Offenbar dadurch, dass er katachretisch ihre Sprache verwendet zu dem Zweck, transzendentale Erkenntnisse mitzuteilen. Jedoch: Er weiB davon, die Anderen nicht. Redet der Phanomenologe, sieht er im von ihm verwendeten Wort den transzendentalen »Schweif«, der sich nur f;ilschlich an die mit dem Wort bezeichnete Sache »anhangt«; die Anderen werden diese Worte folglich nur in ihrer mundanen Bedeutung verstehen; ihnen bleibt der eigentliche Sinn verborgen: » [ .•. D]ie Dokumentation des Phanomenologisierens in der naturlichen Einstellung, in der es selbst als menschlicher Erkenntnisvorgang erscheint, erscheint nun auch selbst in der naturlichen Einstellung als ein bloB zwischen einem menschlichen Erkennen und seiner Ausdriicklichkeit spielender Objektivierungsprozess. D. h. die Erscheinungswahrheit, die die Objektivation des Phanomenologisierens selbst betrifft, dringt gar nicht bis zu den transzendental-analogisierenden Bedeutungsfunktionen als dem eigentlichen und inneren Wesen der phanomenologischen Objektivation vor, sondem bleibt in der Erscheinung desselben: in den mundanen Bedeutungen (die als solche gar keinen >phanomenologischen< Sinn mehr enthalten) stecken.«
(VI. eM, 140)
Aus der transzendentalen Perspektive fallt das Phanomenologisieren also nur scheinbar zuriick in die Welt, es wird zur bloBen Erscheinungfur die in ihr Lebenden. Von der natiirlichen Einstellung aus wirkt der Schein in der Weise, dass er gar nicht als Schein erkannt werden kann: Da redet ein Mensch zu Anderen, aber sie verstehen ihn nicht, genauer: sie verstehen ihn nicht als zur gleichen Zeit Phanomenologisierenden. Auch wenn der Phanomenologe dieses Defizit ausdriicklich thematisieren wiirde, so muss selbst es prinzipiell unverstanden bleiben. Das ware die Konsequenz des sekundaren Verweltlichens und des Verhaltnisses von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung, welches fur Fink »aporetisch« ist. Das Phanomenologisieren als verweltlichter Ausdruck des Phanomenologen kann nie in eigentlichem Sinn eine weltliche Disziplin werden, es wird wesenhqft unverstanden bleiben. Die natiirliche Einstellung kann als natiirliche Einstellung Transzendentales nicht verstehen; Transzendentales kann nie in Begriffen, die eo ipso Seinsbegriffe sind, adaquat
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ausgedriickt werden. Der Phanomenologisierende weiB zwar urn sein Mehrwissen gegeniiber dem beschrankten Horizont der natiirlichen Einstellung, kann dies aber den natiirlichen Eingestellten nicht vermitteln. Der Phanomenologisierende ist dazu verdammt, ein Sprechender zu sein, der ewig missverstanden wird; er wird in einer Weise verstanden, die »eingeengt« gegeniiber seinem freien Blick ist, aber er kann den Anderen diese »Einengung« nicht verstandlich machen, weil sie diesen Versuch des Verstandlichmachens wiederum eingeengt verstehen wiirden etc. Der finksche Phanomenologe ist also der beriichtigte Prophet im eigenen Land, der nie verstanden wird und sich nicht, trotz aller Bemiihung, auch nicht verstandlich machen kann. Ais solcher hat er zwar »padagogische« Intentionen, aber diese Bemiihung ist umsonst; er redet von etwas, was immer nur eingeschrankt und katachretisch verstanden werden kann; selbst die Thematisierung dieses Ungenugens muss unverstandlich bleiben. Natiirliche und phanomenologische Einstellung sind durch einen unuberbriickbaren Spalt voneinander getrennt. Diese Spaltung macht sich in einer Weise geltend, dass sie, einmal geschehen, nie wieder riickgangig gemacht werden kann, sie ist eine »Wunde«, die nie mehr »verheilt«. Die riickwarts gewendete, sich in die Welt »zurucklegende« »mundane Epoche« versucht diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen: Urn diesen Sprung »zuriick« zu tun, ist es vonnoten, wieder in den alten Zustand in einer ebenso radikalen Abblendung des »vollen« Horizonts hinein zu springen. 1st dies wiederum eine Ichspaltung - oder vielleicht eher eine »Heilung« der Wunde, eine »Verbindung«, die »im Unendlichen sich findet«? Lage sie dergestalt »im Unendlichen«, so ware diese Verbindung, als eine im Unendlichen liegende Idee, ein philosophischer Traum, eine Utopie, vergleichbar mit einem marxistischen Traum einer wahrhaft »kommunistischen« Gesellschaft. Fur Fink ist diese sekundare Verweltlichung aber ein Abfallen von einem einmal erreichten hoheren Zustand. In religiosen Begriffen: Das sekundare Verweltlichen gleicht einem »Hollensturz«,87 der wieder, wenn auch uneigentlich, in den alten Zustand zuriickversetzt. Gibt es fUr die naturliche Einstellung keine Motivation, sie zu verlassen, so scheint Fink umgekehrt anzudeuten, dass es korrelativ fUr die Verweltlichung auch keine Motivation gibt; denn der Phanomenologisierende wird in primarer Verweltlichung passiv mitgerissen, es geschieht ihm gleichsam, wie auch die Reduktion ihm zustoBt. Das primare Verweltlichen als Weltkonstituieren, etwas ftir den transzendentalen Zuschauer »AuBerliches« - der Zuschauer heiBt )>unbeteiligter« deswegen, weil er nicht an Konstitution beteiligt ist -, »stoBt« dem riickgewendet reflektierenden Zuschauer »zu« und nimmt ihn nolens volens in die Welt zuriick. 88 Auch diese »mundane Epoche« ist nicht antizipierbar; sie £alit in die Welt zuriick, indem auch sie iiber diesen in Wahrheit uniiberbruckbaren 87 Diese Metapher gebraucht, in diesem Zusammenhang m. E. vollkommen zu Recht, Kuster, IIO. 88 S. VI. eM, 127. Fink spricht hier von einem »passiven Mitgenommenwerden«, das sich aber »doch radikal von der Verweltlichung des konstituierenden Lebens [... J unterscheidet«.
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Graben in umgekehrter Richtung hinwegspringt. Der Zuschauer befindet sich wieder in natiirlicher Einstellung als der Existenzweise der »Normalen«, ohne es selbst im Grunde zu merken: sobald er spricht, ist er bereits hinter seinem Riicken wieder mundanisiert. Er weij] dies erst durch Selbstkritik. Zwar kann er mundane Epoch€: ohne jegliche padagogische Absicht iiben und sich wieder in die natiirliche Einstellung zUrUckzuversetzen (als Vater, Biirger etc.), aber selbst wenn ihm das gelange (was fraglich ist), ware er wieder nur ein Mensch unter Menschen. Er gliche dem in die Welt und zu den Seinen zUrUckgekehrten Messias, von denen es heiBt: sie erkannten ihn nicht; sie konnen nur verstehen, sofern sie selbst das gottliche Licht empfangen, aber nicht aus eigener Kraft. Wie steHt sich nun die Phanomenologie als Wissenschaft in der Welt dar? 4.3. I.3 Die sekundiire Verweltlichung in objektiver Richtung: der Schein der
Phiinomenologie - ein philosophisches Stonehenge Das Problem der objektiven Verweltlichung des Phanomenologisierens betrifft die Frage, wie sich das Phanomenologisieren in der natiirlichen Einstellung als Wissenschiift manifestiert, bzw., wie es sich »in und fur die natiirliche Einstellung« »ausspricht« (VI. CM, 145). Die Frage ist nicht nur, wie sich das Phanomenologisieren in die Welt der natiirlichen Einstellung »hineinstellt« (als Schein), sondern es geht um die Explikation dessen, dass die Phanomenologie nur erhellen kann, was die natiirliche Einstellung »im Innersten« immer schon ist, wovon sie aber nichts weiR. Der Phanomenologe hingegen weiR um das transzendentale Leben. Er ist einem Vormund vergleichbar, der fUr »Unmiindige« spricht, die aber auch nie miindig werden konnen, jedenfalls nicht durch Hilfestellung des Phanomenologen, sondern nur dadurch, dass sie - je fUr sich - den Zusammenbruch ihrer heimatlichen Ordnung an sich selbst erfahren. Finks Betonung der radikalen Einzigkeit des menschlichen Individuums meint genau dies, dass das Phanomenologisieren als radikaler Einstellungswechsel nicht durch Andere »beigebracht«, sondern sich nur im je Einzelnen ereignen kann. Ein Vormund ist ein Fiirsprecher, kein Aufklarer desjenigen, fur den gesprochen wird. Als Vormund »der« natiirlichen Einstellung ist er »Funktionar«, der das Mehrwissen fUr die restliche Menschheit in sich tragt. Er »verkorpert« gewissermaBen das Wissen, das die Anderen latent in sich tragen. Er ist nicht deswegen Funktionar, urn die Anderen aus ihrer Unmiindigkeit heraus zu fuhren, sondern er hat dieses Wissen, weil sich in ihm der Geist »inkarniert«, welches er artikulieren muss und immer schon artikuliert hat, da er im Strom des Konstituierens mit in die Welt zUrUckgerissen wird. Funktionar fur Fink bedeutet so etwas wie »Verwalter« ganz im Sinne eines hegelschen »Verwalters« des Weltgeistes. Diese Bestimmung widerspricht jedoch dem »transzendentalen Padagogen«: Der Funktionar ist ein schlechter Padagoge, weil er selbst im Versuch, sein Wissen mitzuteilen, notwendig unverstanden bleiben miisste. Aus Finks Analyse ergibt sich die Konsequenz: »Lehrer« zu sein bleibt ein frommer Wunsch fUr das Projekt der Phanomenologie.
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Dieser Befund kommt deutlich in Finks Analyse der objektiven Verweltlichung der Phanomenologie, des» Verwissenschaftlichens «, zum Ausdruck; auch ist dies der Ort, wo er die scharfste Kritik an Husserl formuliert,89 mit der Konsequenz, dass das Phanomenologisieren unmoglich »intersubjektiv« mitgeteilt werden kann. Die Phanomenologie ist als mundanes Phanomen ein »Philosophem«, ein objektiviertes Gebilde, aber fUr die natiirlich Eingestellten ohne lebendigen Geist, oder wie Fink einmal notiert: »Texte sind Leichname des lebendigen Geistes. «90 Gerade weil sich auch die Phanomenologie als Wissenschaft wie jede andere Wissenschaft verhalt, konnen beide auch in Beziehung gesetzt werden, mit dem Unterschied freilich, dass die Phanomenologie das transzendentale Leben zum Thema hat und daher in sekundarer Verweltlichung einen transzendentalen Schein »ausdriickt«. Diese »Aporie« istjedoch ein »integrales Element« (VI. eM, 147) der Phanomenologie als Wissenschcift. Die Scharfe dieser These wird durch eine Randbemerkung Husserls deutlich, worin sich sein Widerspruch artikuliert: »Die Verweltlichung aller transzendentalen Erkenntnis und transzendental Seienden, z. B. auch der Monaden (nicht der Seelen) ist in dies em Sinn uneigentliche Verweltlichung, namlich sie ergibt nichts weltlich Seiendes.« (Dok. nil, 147, Anm. 488, zum Anfang des Abschnittes »c« von § II) Finks Punkt ist dagegen, dass das transzendental »Seiende« gerade ein weltlich Seiendes »ergibt« - als Schein. Freilich ist dieser Prozess »uneigentlich«, aber doch immer schon vollzogen; der Prozess ist ein Einkleiden in ein »Gewand«, welches dem transzendentalen Sinn nie »passt«. Finks phanomenologische Wissenschaftsbestimmung zeichnet sich aus durch diese Doppelheit von eigentlichem Sinn einer- und uneigentlicher Verweltlichung andererseits, sie ist eine »synthetische Einheit antithetischer Bestimmungen« (VI. eM, 147). Beide »Wahrheiten« bestehen als antithetische Relate eines Absoluten,91 ohne dass sie miteinander in Konflikt traten, obwohl die mundane Wahrheit von der transzendentalen umfasst wird. Weder kann die mundane Wahrheit als bloBe »Endform« der trans zen dental en aufgefasst werden, da sie diese damit »beschneiden« wiirde; noch kann die transzendentale Wahrheit als »Vorform« der mundanen interpretiert werden, da dies bedeutete, dass sich die transzendentale in der mundanen »vollendet« und sich »auihebt«. Auch davon kann nicht gesprochen werden, dass die mundane Wahrheit von der umfassenderen Stufe aus gesehen gleichberechtigt neben der transzendentalen stiinde, sondern sie »ist letzten Endes eine - allerdings selbst auf transzendentalen Sinngebungen beruhende - Scheinwahrheit, die fUr den Philosophenjederzeit )durchsichtig< ist.« (VI. eM, 147) Also auch der mundane Schein ist selbst etwas Konstituiertes.
89 Husserl »straubt sich« hier ausdriicklich. Vgl. Dok. niI, 147, Anm. 489. 90 Aus einer Notiz wohl um 1929, zitiert bei Bruzina 1989b, 313. 91 Zu Finks Bestimmung des Absoluten vgl. insbes. VI. eM, 163-69.
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1st das sekund:ire Verweltlichen in objektiver Richtung ein Einstellen der transzendentalen Wahrheit in die natiirliche Welt als undurchschaubarer Schein und aIs solches »integraler Bestandteil« des Phanomenologisierens, so ist die Frage, warum dieses Einstellen als Schein iiberhaupt geschehen muss. 1st der »transzendentale Bildungsauftrag« schon im Ansatz gescheitert, so kann die Frage nach dem Sinn des sekundaren Verweltlichens nur vom phanomenologisch Eingestellten her beantwortet werden: Die Frage »cui bono?« wird also nicht zugunsten der - nicht erziehbaren - Menschen, sondern des Phanomenologisierenden entschieden. Der »integrale Bestandteil«, den das sekundare Verweltlichen darstellt, bedeutet, dass das phanomenologische System - als vollendete Verhaltnisbestimmung beider antithetischer Lebensweisen - nicht abgeschlossen ist, bis sich das Phanomenologisieren wieder in die T#lt der naturlichen Einstellung zuruckbegeben hat, als Situation, die fur den Phanomenologen »transzendental durchhellt« (VI. CM, 151) ist. Die Riickkehr ist letztlich bei Fink doch primordial konzipiert. Das phanomenologisierende Ich muss sich aIs einzelnes wieder in die Welt einstellen, um aus der Anonymitat seines transzendentalen Lebens zu Bewusstsein seiner selbst zu gelangen - in transzendental durchhellter naturlicher Einstellung. Dies tut es, indem es nicht nur sich selbst als Phanomenologen verweltlicht, sondern v. a., indem es seinem Wissen objektive Form verleiht: Er verobjektiviert sein Wissen in einer konkreten »Wissensform«, etwa als Buch in der Bibliothek neben anderen Buchern, das er selbst und andere »transzendental Durchhellte« verstehen konnen, aber niemand sonst. Die Phanomenologisierenden gleichen also fensterlosen Monaden, in die nichts von auBen hineinkommen kann. Dass dem Erkannten objektiver Ausdruck verliehen wird, ist Voraussetzung daftir, dass es aus der Anonymitat des (fur sich) unartikulierten Wissens heraustreten und in weltlicher Form individuiert werden kann. Damit kehrt das Phanomenologisieren als menschliche T:itigkeit wieder in den ursprunglichen Zustand zuruck, auch wenn es darin nicht als solches auftreten konnte. Die hoherstufige reflexive Besinnung aber erkennt, dass der fruhere Zustand ein um sein eigentliches Sein unwissender war: »Zunachst ist einmal die natiirliche Einstellung die Voraussetzung alles phiinomenologischen Wissens, sofern die phanomenologische Erkenntnis erst moglich ist, wenn bereits schon Weltkonstitution - eben im )Zustand der Selbstvergessenheit< - geschehen ist. M. a. W. das Zusichselbstkommen der transzendentalen Subjektivitat setzt ein vorgiingiges >Ausser-sich-Sein< derselben voraus.{(
(VI. eM, 149)
Dieses »AuBer-sich-Sein« ist doppeldeutig: Einmal ist die naturliche Einstellung auBer sich, sofern sie noch nicht fur sich transzendental erhellt wurde; aber dies gilt auch fur die transzendentale Einstellung, sofern sie noch nicht aus der Anonymitat ihres Objektiviertseins herausgetreten und zu sich selbst gekommen ist, was aber als aktives Bewusstwerden nur in einem individuell inkarnierten Bewusstsein geschehen kann. Der sich des transzendentalen Wissens bewusstwerdende Mensch kann dieses
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Bewusstsein fur sich selbst nur als ein bereits konstituierter erlangen. Das Wissen muss, korrelativ, ebenso faktisch werden, damit es fUr ihn verfugbar in der Welt existieren kann. Daher gilt: »Alie transzendentale Selbsterkenntnis, die sich in der Riickfrage in die Konstitution realisiert, geht nicht nur bloB aus von der natiirlichen Einstellung [Husserls Einftigung: »(als historische Situation)« (ebd., Anm. 495)), sondern bleibt auch auf sie zuriickbezogen.« (VI. CM, 149) 1st der urspriinglich natiirlich Eingestellte (noch) nicht transzendental fUr sich erhellt, tragt aber dieses Mehrwissen unbewusst in sich, gleicht er einem Schlafwandler, der zwar »intuitiv« etwas »tut«, jedoch ohne »erwacht«, d. i. fUr sich selbst transzendental durchhellt zu sein. Er »schlaft« zwar, ist aber nicht passiv-tatenlos, sondern lebt in einer von seinem »wahren Wesen« abgewandten Weise.92 Er gleicht im heraklitischen Sinn den Schlafenden, die noch nicht zur eigentlichen Selbsterkenntnis »erwacht« sind. Finks Interesse liegt also iiberhaupt nicht bei den Konsequenzen der Verweltlichung fUr die »urspriingliche« natiirliche Einstellung, sondern beim Zuschauer und dessen Wissensobjektivation, die vollzogen werden muss, damit das transzendentale Wissen als Wissenschtift zu sich kommt. Dabei bringt die sekundare Verweltlichung eine Dynamik in das zunachst statische Verhaltnis von natiirlicher und transzenden taler Einstellung als dialektischer Relate eines umfassenden Absoluten. 1st die natiirliche Einstellung vor der Reduktion ein »transzendentaler Schlaf«, aber damit doch ein An-sich-Sein, und die transzendentale Einstellung ebenso, jedoch ein transzendental »erwachtes« An-sich-Sein, kann das Fiir-sich-Sein nur durch ein Fiir-sich- Werden erreicht werden, das dieses dialektische Verhaltnis uberbriickt. 93 Aus schlafendem wird erwachtes Bewusstsein und schlieBlich zu sich selbst gekommenes »Selbstbewusstsein «: »Das )Selbstbewusstsein < der transzendentalen Subjektivitat ist prinzipiell nicht moglich als ein Bei-sich-Sein des konstituierenden Lebens auf den tiefsten Konstitutionsstufen, sondern geschieht in der transzendentalen Schicht der Endkonstituiertheit, m. a. W: das Fiir-sich-Werden der transzendentalen Subjektivitat spielt sich ab in der konstitutiven Dimension des - allerdings transzendental durchhellten >Auflersichseins<.« (VI. CM, 151) Weil diese »Uberbriickung« beider in Wahrheit transzendentaler Zustande keine »Synthesis« ist, kann sie kein Emporheben im Sinne des elevare sein, sondern ist ein Die Metaphern Schlaf flir »blosses )Ansichsein<<< und Erwachtheit flir »Fiirsichsein« verwendet Fink ausdriicklich auf S. 148 f. der VI. CM. 93 Vgl. VI. CM, 138: »Die transzendentale Ausserung ist eine Briicke, welche die transzendentale Erkenntnis selbst schlagt zur natiirlichen Einstellung, fur die es sich aussprechen will.«
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Zuriickkommen in den urspriinglichen Zustand, auf den auch der Phanomenologe zuriickbezogen bleibt, ein Zustand, der sich aber fur ihn unwiederbringlich verandert hat. Die Riickbeziehung auf die Ursprungssituation ist notwendig, damit der transzendentale Prozess zu sich kommt in einem schon konstituierten Menschen, der ftir sich seine Ursprungssituation erhellt. Der sich verweltlichende Zuschauer Finks vollzieht gerade keine »mundane Epoche«, die notig ware, urn sich Anderen mitzuteilen; vielmehr ist das Riickkehren nur fur ihn als Fur-sich- Werden bedeutsam. In dies em Wieder-sich-Einstellen in die natiirliche Einstellung schafft der Zuschauer Wissenschaft als sichtbares Zeichen seiner Aktivitat. Diese ist notig als Objektivationsform des transzendentalen Prozesses des Zu-sich-selbst-Kommens in der natiirlichen Einstellung, gewissermaBen »Beweis« ftir sein transzendentales Wissen, das aber als transzendentales keine eigentliche Objektivation erfahrt, sondern eine uneigentliche »VerauBerlichung« erleidet. Das Produkt dieser Wissenschaft ist nie ein intersubjektives Wissen ftir Jedermann, sondern nur fUr einen jeweils »Einzigen«, der die Radikalitat des Sich-Vereinzelns durch Reduktion vollzogen hat. Es ist fUr die phanomenologische Wissenschaft a priori widersinnig, eine intersubjektive Gestalt wie Wissenschaft sonst »in der Welt« zu haben: Jeder kann der Vermoglichkeit nach als normales Vernunftsubjekt Physiker werden, sofern er den »physikalischenJedermann« in sich etabliert hat. Aus diesem »commercium« (VI. CM, I56) bildet sich erst eine ftirjedermann zugangliche Objektivationsform: eine Institution wie etwa eine Universitat. Aber es sei an die hier geiibte Kritik erinnert, ein solches Wissenschaftsmodell auf die Philosophie zu iibertragen. Auch wenn Fink einen phanomenologischen Jedermann als menschliche Vermoglichkeit ftir unmoglich halt - das Phanomenologisieren ist gerade keine menschliche Vermoglichkeit -, so halt er doch an einem Jedermann als objektivierter historischer Kategorie fest. Aber dieser historische Jedermann ist eben »lediglich« eine empirische Objektivierung und kein eigentlich philosophischer (und d. h. transzendentaler) Jedermann. Denn ist das Phanomenologisieren in der Welt eine Objektivierung des transzendentalen Prozesses eines Zu-sich-selbst-Kommens als maskierter Schein, ist es von vornherein widersinnig, eine »Wissenschaft« im intersubjektiven Sinn - einem Sinn, den der Begriff Wissenschaft impliziert - zu schaffen. Die phanomenologische Wissenschaft ist in der Welt als etwas zwar Materielles, steht aber in ihr unverstanden gleich den Obelisken von Stonehenge, von denen niemand weiB, wofUr sie stehen und was sie bedeuten: Es sind sichtbare Zeichen eines Sinnes, der nicht dechiffriert werden kann. Ebenso stehen die materiellen Zeichen der phanomenologischen Wissenschaft in der Welt wie Monolithen, die von Anderen zwar gesehen, aber nicht verstanden werden und so als undurchschaubarer Schein unter »lins allen« stehen, wohl aber als durchschaubare Zeichen ftir die »Eingeweihten«, diejenigen, die nach Finks Darstellung die natiirliche Einstellung verlassen haben: So »konstituiert« sich ein Geisterreich miteinander im privaten commercium stehender Geister, ein phanomenologischer Jedermann, der sich durch geschichtlichen Wandel hindurch als Einer konstituiert und an den jeder, der Reduktion voll-
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zogen hat, ankniipfen kann. Jeder fUr sich transzendental Erhellte kann an dem »Gipfelgesprach« teilnehmen und seinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Philosophie leisten. So ist Finks Interpretation der Phanomenologie durchaus eli tar, wie es eine marxistisch-Ieninistische Darstellung konstatieren muss. 94 Der Phanomenologe ist entgegen dem Anschein transzendental-padagogischer Pratention nicht daran interessiert, sich Anderen mitzuteilen, sie auf sein Wissensniveau zu bringen (also kein elevare). Er vollzieht Epoche, um am iiber die Jahrhunderte wahrenden philosophischen Gesprach teilzunehmen, was er nur dadurch tun kann, dass er sich moglichst weit von seiner Ursprungssituation, der naiv-natiirlichen Einstellung, entfernt. Dennoch ist die Verweltlichung sekundarer Art in der Form objektiven Wissens notwendig, um ein materielles Zeichen, ein »Denk-Mal« zu hinterlassen ftir aIle, die in eigener Initiative an dem durch materielle Indizien belegten und dadurch weitergetragenen unendlichen philosophischen Gesprach teilnehmen. Die Moglichkeitsbedingung daftir, dass es eine Weiterentwicklung in der Philosophie und damit eine Teleologie in ihrer Geschichte gibt, sind sichtbare »Spuren« dieses Gesprachs; denn sonst wiirde jeder »Selbstdenker« fUr sich immer nur wieder von vorne anfangen. Es ware so eine Kontinuitat nicht moglich. Insofern ist die Objektivierung als Wissenschaft die Moglichkeitsbedingung ftir eine Teleologie in der Philosophiegeschichte. Das aber hebt nicht die Scheinhaftigkeit dieser Objektivierung auf, sondern bestatigt sie gerade, indem sie nicht jeden zu diesem Gesprach zulasst, sondern nur denjenigen, der, indem er die natiirliche Einstellung verlassen hat, in sich den transzendentalen Zuschauer etabliert und damit die Eingangspforte zur philosophia perennis passiert hat. Hat er das, kann sodann mit dem Lernen begonnen werden. Aber einfuhren in die Philosophie kann niemand und nichts auBer man selbst. Sowohl der Phanomenologisierende in der Welt wie auch seine objektive Verweltlichungsform als Wissenschaft bilden einen Schein, eine ftir die natiirliche Einstellung wesenhaft undurchschaubare Erscheinung. Als ein notwendiger Schein gibt es auch keinen Weg, diesen Schein in »Sein« umzuwandeln; allenfalls kann der als Mundanes auffillige oder widerstandige Schein als Schein durchschaubar werden; damit wird er nicht als Schein vernichtet, sondern ist erkannter Schein. Er ist ein Wissen, das sich zwar andeutet, indiziert, aber dadurch gleichzeitig verhiillt. 4.3.2. Husserls Gegenkonzept
Finks Konzept der sekundaren Verweltlichung endet in der Aporie, dass sich das Phanomenologisieren zwar in die Welt »zurUcklegt«, aber uneigentlich, mit der Folge, dass es in der Welt als undurchschaubarer Schein steht. Es steht gewisserma94 Vgl. Kosing im »Worterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie« (401): »Die P[hanomenologie] vertritt eine irrationalistische, antiwissenschaftliche Erkenntnisauffassung, die ausgesprochen aristokratische Ziige tragt, da sie nur Auserwahltcn zuganglich ist.«
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Ben »quer« zu den mundanen Wahrheiten. Damit ist die Forderung einer Vermittlung transzendentalen »Wissens« nicht nur in letzter Instanz unmoglich, sondern der Versuch selbst ist in sich widersinnig. Es mag zwar wohlgemeinte transzendentalpadogische Impulse geben, aber sie sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine »Wissenschaft«, die sich nicht weitervermitteln lasst und einer elitaren Gruppe vorbehalten bleibt, kann dem Anspruch und der Idee von Wissenschaft, die fur jedermann zuganglich sein muss, keinesfalls Geniige tun. Husserl verwahrt sich heftig gegen eine soIche Konsequenz. Seine vehementen, z. T. polemischen Kommentare auf diesen Seiten der VI. Meditation sowie weitere Texte dokumentieren damit mehr als bloB eine intuitive Ablehnung, sondern konturieren wiederum eine eigene Theorie der Verweltlichung mit bedeutenden Konsequenzen, etwa dem Konzept des »Einstromens«. Husserls Idee des Einstromens ist ein bewusst gegen Fink gerichtetes Konzept. Es kann keine Rede davon sein, dass Husserl Finks Darstellung lediglich »korrigiert«;95 Husserls eigene Position ist sachlich und in der Konsequenz so grundsatzlich verschieden von der seines Schiilers, dass sich die Rede von »Gegenkonzept« rechtfertigen wird. 96 Die Theorie des Einstromens miindet in eine eigene Verhaltnisbestimmung von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung. Letztlich kann die Idee der Unhintergehbarkeit der Lebenswelt als letzten Sinnesfundaments als eine gewisse »Konzession« an die Betonung der Unaufhebbarkeit (im Sinne des elevare) des Lebens der natiirlichen Einstellung verstanden werden. Damit aber bleibt ein unaufgelOster Widerspruch zwischen Husserls Auffassung der fundierenden Rolle der Lebenswelt und der Aufgabe der Phanomenologie in ihrer Funktion ftir das »Heil der Menschheit« bestehen. In der Aufdeckung dieses Widerspruchs ist schlieBlich die Perspektive eroffnet, eine Systematik »der« Phanomenologie im Versuch einer Auflosung dieses Widerspruchs anzudeuten. Das kann Freilich nicht besagen, dass man das grundsatzliche Problem der methodologischen Reflexion als Abschluss des phanomenologischen Systems in der »Beantwortung« der Frage, was der Sinn von Philosophie sei, ad acta legen konnte. Die hier vorgelegte Antwort ist eine phanomenologische, die sich im Rahmen der husserlschen Phanomenologie halt; sie kann schon aus dem Grund nicht vollstandig und endgiiltig sein, da ein phanomenologischer Blick auf die Geschichte der Philosophie sowie eine teleologische Betrachtung hier nicht mehr verfolgt wird. 97
95 So etwa Kuster, IIO und Waldenfels (r995a, 77), der von »VeranderungsvorschE:igen« spricht. 96 Kusters Interpretation in Kap. VI ihrer Untersuchung (roSff.) kann damit im Ganzen nicht zugestimmt werden; denn sie unterscheidet hier nicht zwischen Husserls und Finks Position, was sie dazu ftihrt, dass sie die Theorie der sekundaren Verweltlichung und die des Einstromens miteinander identijiziert: »Diese >sekundare Mundanisierung<, auch >sekundare Verweltlichung< genannt, ist besser bekannt unter dem in der Krisis gepragten Begriff des >Einstromens<.« (Kuster, TT r) 97 Dabei ist nicht gesagt, dass Husserls Analysen zur Geschichte und Teleologie der Plausibilitat entbehren. In jedem Fall kann Boehm nicht zugestimmt werden, der behauptet, dass Husser!
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Kann man Bruzina zustimmen, dass »die« Phanomenologie weder die Husserls noch Finks ist,98 muss gleichzeitig betont werden, dass sie nicht »jenseits« von beiden liegt, sondern genau in ihrer Mitte als einer Mitte zwischen zwei Extremen. Letztlich geht Finks Bestimmung der Phanomenologie uber Husserls Verstandnis derselben hinaus. Fink befindet sich bereits, wie er im Ruckblick betont, unterwegs zu einer »meontischen Philosophie des absoluten Geistes«.99 Aber auch Husserls OberIegungen zur Teleologie in der Philosophiegeschichte munden - trotz alIer anderslautenden Beteuerungen - in eine letztlich phanomenologisch nicht mehr ausweisbare »Eschatologie« .100 4.3.2.1. Die Lokalisation des Transzendentalen in der Welt
Husserls Konzept gegenuber dem des transzendentalen Scheins lasst sich mit dem Begriff Lokalisation bezeichnen. Auch Fink verwendet diesen Terminus,101 jedoch weitgehend synonym mit »Erscheinung«. Es wird aber im Laufe der husserlschen Texteingriffe in Finks Text, »Lokalisation« in »Erscheinung« verbessernd,102 deutlich, dass Husserl etwas anderes intendiert, so dass Lokalisation in der Tat der bessere Begriff fUr Husserls Zwecke ist. Es ist zu erwahnen, dass Husserls Analyse der Verweltlichung in seinen Forschungsnotizen einen breiten Raum einnimmt; dagegen sind seine Aufzeichnungen zum Problem des Einstromens relativ sparlich.103 Der Hauptunterschied zwischen beiden wurde schon im letzten Abschnitt deutlich: Fur Hussed ist die Rede von einer »transzendentalen Padagogik« als einer radikalen Auflclarung der Menschheit durch die Phanomenologie vollkommen ernst gemeint. 104 Die Idee eines prinzipiell fur die naturliche Einstellung undurchschaubaren Scheins ist fur ihn inakzeptabel. Insofern wird der Begriff »Lokalisation« im Gegenzug zu »Erscheinung« verstandlich: Die Phanomenologie lokalisiert sich »wirklich« in der Welt und nicht bloB scheinhaft.
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»Spatestens in der Krisis-Abhandlung in ein geschichtliches Denken eintrat, in dem er sich der Epoche selbst enthielt [!] und sich ohne Enthebung vom Boden unserer Lebenswelt auf die Krisis des europaischen Menschentums und die Frage nach ihren geschichtlichen Grunden einlieB« (Boehm 1979, 31). Die Geschichte, die Husserl im Sinn hat, ist im Gegenteil erst durch die transzendentale Betrachtungsweise enthullbar. Vgl. Bruzina 1995, XXVII. Vgl. den »Entwurf eines Vorwortes«, VI. eM, 183. So, vollig zu Recht, Lembeck 1994, 42. V gl. etwa VI. eM, II I; dort allerdings setzt er das Wort in Anftihrungszeichen. Vgl. etwa VI. eM, 128 und Husserls Verbesserung ebd. Anm. 402. Neben § 59 der Krisis (VI, 212, vgl. auch 267) und kurzen Texte aus dem Anhang, ebd., 359 und 466f., ware zu nennen der Text aus dem Jahre 1935 mit dem Tite! »Einstromen«, s. XXIX, 77ff. In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass dieses Konzept ein sehr spates, jedoch aus Husserls fruheren Uberlegungen vorgezeichnetes ist. Dies zeigen schon die Kaizo-Artikel aus den 20er Jahren; die »formalen Typen der Menschheitsentwicklung« munden geradewegs in die neuzeitliche Wissenschaft und Philo sophie und damit schlieBlich in die Phanomenologie. Vgl. hierzu insbes. den ftinften Kaizo-Artikel (XXVII, 59ff.).
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Das eigentliche Problem der finkschen Analyse ist fUr Husserl die Unterscheidung in primare und sekundare Verweltlichung. 1os Argument dafur ist die einfache Feststellung, dass es nur einen Konstitutionsprozess geben kann. Was konstituiert wird, ist imrner schon und nur eine »Allheit« (Dok. nil, rr8, Anm. II8). Wird primare Verweltlichung also mit der immer schon vor sich gehenden, stromenden, intersubjektiven Weltkonstitution identifiziert, so ist die Frage, was auJ3er dieser »eigentlichen« Verweltlichung noch zu konstituieren ))iibrig« bleiben kann. AuBer der spekulativen Auskunft, in der sekundaren Verweltlichung komme ein noch anonymes Fungieren zum Fiir-sich-bewusst-Werden seiner selbst, besteht kein phanomenologischer Grund, hier noch eine zweite Instanz einzufuhren. Dennoch ist zwischen beiden )Phanomenen« ein gewisser Unterschied, der bei Husserl zu einer anderen Auslegung ihres Verhaltnisses ftihrt. Obwohl Fink nie genau das Verhaltnis von primarer und sekundarer Verweltlichung diskutiert, legt sich doch nahe, zwischen beiden eine zeitliche Differenz anzunehmen; eine sekundare Verweltlichung kann sich erst nach der bereits vollzogenen Weltkonstitution ereignen. Auch eine Hierarchie liegt hierin, insofern die sekundare Verweltlichung eine hoherstufige reflexive Tendenz bedeutet, die erst in einer phanomenologischen Selbstkritik thematisch wird. Was setzt Husserl dagegen? Weltkonstitution als standig verlaufender stromender Prozess - unter dem Titel )Metakosmologie«, wie Husserl einmal sagt l06 - konstituiert Welt mit aHem Seienden, darunter Menschen, Wissenschaftlern und letztlich auch Philosophen. Der Konstitutionsprozess ist nach Husserl ein Stufenbau von Natur bis hin zu h6herer )) Geistigkeit«, von der geistlosen Materie zum Geist. I07 Die Metapher des Stufenbaus impliziert ein Fundierungsverhaltnis. In diesem Sinne ist auch der Phanomenologe ein hoherstufiges Konstitutionsprodukt; dass der zum Phanomenologen werdende Mensch hierftir die natiirliche Einstellung verlassen muss, spielt fur die Frage seiner Konstitution keine Rolle. Auch als neuartig Eingestellter ist der Phanomenologe ein leiblicher Mensch. Welche Einstellung der Mensch einnimrnt, hat nichts mit seiner Konstitution zu tun, wie auch die Welt des Menschen als Konstitutionsprodukt nicht mit der natiirlichen Einstellung zu identifizieren ist, wie Fink vermutete. 1st alles )Weltliche« konstituiert, so kann Konstitution als ein ))Weltlich-Machen« verstanden werden. Durch Konstitution wird Transzendentales )in die Welt hineingeholt« und das heiBt: in seiner Welthaftigkeit enthullt. Seiendes ist weltlich »dank« seiner Konstitution. Konstitution kann daher auch als ein Enthullen bezeichnet werden, das aber ein Enthiillen-fur den Menschen ist. 108 Seiendes wird durch Konstitution 105 Auch Husser! verwendet en passant diese Begriife, ohne aber das Gleiche wie Fink zu meinen. Vgl. etwa die ganze Anm. 380 (Dok. IIIr, 119) sowie ebd., 134, Anm. 427 und 428. 106 A III 4/ 2b (wohl aus den 30er Jahren). 107 Vgl. IV, V if.; zu Husserls spateren Dberlegungen liber Natur und Geist vgl. v. a. Hua. XXXII. 108 Vgl. auch folgende Passage: B II 4, 48a-b (undatiert, wohl von 1933): »Wiefern kann nun die in unserem Leben erfahrene und sonst wie bewusstwerdende und immer im wachen Leben bewusst seiende Welt einen verhiillten Sinn haben, einen Sinn, der durch alle solche Erfahrungen nie ent-
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enthiillt als Erscheinung fiir den Menschen. Korrelativ zu einem Erscheinen-fur ist das Eifahren der Phanomene durch den Menschen: Dem Sich-Enthiillen als Erscheinung korreliert ein Eifahren dieser Erscheinung. Dieser Korrelation tragt der Begriff Leistung Rechnung: Das transzendentale Leben leistet den »welt-machenden« Konstitutionsprozess, gleichzeitig ist das Erfahren dieses Enthiillens eine Leistung des erfahrenden mundanen Ego. Durch Erfahrung konstituiere ich eine Welt fur mich, die aber korrelativ auch schon sich selbst vor meiner Erfahrung konstituiert hat. In diesem Sinne ist Eifahren selbst ein Enthiillen: und als Enthiillen der Erscheinungfur-sich ein Konstituieren. Aus diesem Blickwinkel ist es gerechtfertigt, von einem einheitlichen Konstitutionsprozess zu sprechen: »Die Konstitution der Welt ist eine bei allem Wandel von Einzelleistungen durchaus einheitliche Leistung des absoluten Ego, in der die Weltgeltung immer schon Weltgeltung ist, und nicht erst Geltung von einzelnen Realen, aus deren Sonderkonstitution sich die der Welt irgendwie zusammenbaut.« (Dok. !III, 191)
Generell entspricht allem Konstituieren als Weltlich-Machen korrelativ ein erfahrendes Enthiillen; es ist damit auch ein weitergehendes Zuganglichmachen eines zunachst noch nicht vall Enthiillten, wie es aus der paradigmatischen Wahrnehmungsanalyse bekannt ist: Ein Wahrnehmungsding ist uns immer in gewissen Abschattungen enthiillt, die auf noch unenthiillte Seiten verweisen. Die Wahrnehmungsanalyse selbst jedoch enthiillt auf einer hoheren Ebene die Einsicht, dass Dinge immer nur in Abschattungen gesehen werden konnen. Diese Analyse enthiillt also nicht, was die schlichte Erfahrung enthiillen wiirde (die Riickseite), sondern den phanomenologisch geklarten Umstand, dass Dinge fur uns prinzipiell in Abschattung begegnen. Die Enthiillung erweitert also den Erfahrungs- und Wissenshorizont. Alles Erfahren ist grundsatzlich ein Enthiillen des immer anonym schon vor sich gehenden Konstitutionsprozesses; ist dieser aber ein einheitliches Geschehen, so gilt das auch fur den es enthiillenden korrelativen Eifahrungsprozess. So unterscheiden hiillt wird? Sehen kann ieh das nieht, solange ieh in dies em Kreis mieh bewege, solange ieh waehes Bewusstsein als erfahrender vollziehe, als in der Erfahrungsgeltung und damit in der Positivi tat lebender. Ieh trete aus dies em Kreis aus, indem ich transzendentale Epoehe iibe und nun zuerst mir als des transzendentalen Ieh und meines transzendentalen Lebens innewerde: Nun eroffnet sich mir die Einsieht, dass die Welt ein Gebilde ist der von mcinem transzendcntalen Ieh und meiner transzendentalen Erfahrungsgeltungen zur Seingeltung kommenden, absoluten Intersubjektivitat, und dass unser aller natiirlich-mensehliches Erfahren und Weltleben in seiner )realen Welt< einen universalen thematisehen Horizont (thematisehen Horizont v.fur Seinshorizont) hat, dass es immer fort und uniibersehreitbar geriehtet ist (so fur jedes natiirlieh eingestellte Ieh) auf dieses in intersubjektiver Synthesis konstituierte Gebilde-Universum, derart, dass darin auehjedes transzendentale !eh dureh ein Selbstgebilde. dureh die intersubjektiv apperzipierte und apperzipierbare (erfahrbare) Bildung Ieh-Menseh vertreten ist. ( ... ) Andererseits es bleibt verborgen, dass Welt selbst und nicht bloB )Weltvorstellung< eine Gebilde der transzendentalen Intersubjektivitat ist und dass diese Subjektivitat es ist, die allen Seinssinn sehaffend aueh sieh selbst in einem Sinn auffasst und objektiviert, der als Mensch in der Welt seine Stelle hat.«
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sich Erfahrungen in natiirlicher Einstellung und solche in wissenschaftlicher, philosophischer, ja auch phanomenologischer Einstellung nicht in der Hinsicht, dass sie konstituiertes Seiendes als Erscheinung-fur den jeweiligen Eifahrenden enthiillen. Es gibt kein eigenes, von einem »primaren« unterschiedenes »sekun&ires« Verweltlichen des Phanomenologen, sondern alles Eifahren ist ein Enthullen eines vordem verhullten, aber prinzipiell Zuganglichen, auch wenn dies ftir das vor-phanomenologische Erfahren unwissend verlauft. Zwischen den verschiedenen Erfahrungsmodis besteht ein Fundierungsverhaltnis im Sinne des Stufenbaus der Konstitution. Die in Erfahrung naturlicher Einstellung vor sich gehende Weltkonstitution ist gegeniiber der hoherstufigen Erfahrung des Phanomenologisierenden eine »darunter liegende, durch phanomenologisierendes Tun enthiillte WeItkonstitution« (Dok. ulr, 188). So ware es geradezu widersinnig, den Konstitutionsprozess zu unterteilen. Auch der phanomenologisierende Zuschauer kann sich - ais »un-natiirlich« Eingestellter - nicht anders ais eifahrend-enthullend verhalten. Enthiillen ist ein Zuganglich-Machen eines bisher Unenthiillten, aber prinzipiell Enthiillbaren. 109 Auch wenn das Thema der Phanomenologie - das transzendentale Leben - nicht ein Unenthiilltes im Sinne eines mundan Unthematischen ist, so ist doch das Erfahren des Phanomenologen gIeichermaBen ein Enthiillen ais ein Zuganglichmachen eines bisher Unzuganglichen, obschon das Zuganglichmachen eine eigene Methode, die Reduktion, erfordert. So wird Husserls wichtige Selbstkorrektur des Begriffs »unbeteiligter Zuschauer« verstandlich: » Ich bin der transzendentale >Zuschauer< - das ist kein zureichender Ausdruck -; ich bin der Phanomenologisierende, der alles, was ich selbst bin, enthiillt und dadurch zum wahrhaften, zum erkenntnismaBig Seienden macht.« (Dok. nil, 192)
Der Phanomenologisierende ist zwar nach wie vor Zuschauer in dem Sinne, dass das der Konstitution zuschauende Erfahren seine (habituelle) Hauptbeschaftigung ist, aber von einem NichtbeteiIigtsein im Sinne von »unbeteiligt an der Konstitution« kann eben keine Rede seinYO Der phanomenologische Erfahrungsbegriff ais Enthiillen von etwas Verhiilltem hat Konsequenzen ftir das Verhaltnis von natiirlicher und »hoherstufiger« Erfah109 Vgl. auch folgendes Nachlasszitat: »Aber das blol3e Striimen wird eben erst durch das Betrachten etc. gegenstandlich und durch die Vermiiglichkeit des Immer-wieder. Das >Vor-Sein< des striimenden Seins ist eben >jederzeit< gegenstandlich zu mach en und ist nur so transzendental zu beschreiben.« (c 16/ 59a, urn September 1931) [[0 Diese Eigentiimlichkeit des unbeteiligten Zuschauers kommt bereits in charakteristischer Weise in folgender Passage zum Ausdruck: »Wir selbst, d. h. jeder reduziert als das phanomenologisch forschende Ich, verwandeln uns zunachst sozusagen in rein augenhafte Subjekte, oder, wie wir auch sagen kiinnen, in radikal unbeteiligte Zuschauer der f#lt [... ]. Auch er kann nicht injedem Sinne uninteressiert sein, und in der Tat, er will ja eben forschen, wissenschaftlich forschen, also theoretisch bestimmen, was ihm durch eine Anschauungsart gegeben ist, gegeben als seiend. (F 1 40, 90b-!)la, aus der Vorlesung »Natur und Geist« von 1920).
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rung: 1st natiirliche Einstellung durch Naivitat charakterisiert und hat Wissenschaft dagegen die Eliminierung von Naivitat zum Ziel, so bedeutet dieses Eliminieren ein Aufheben der verengten Sichtweise der natiirlichen Einstellung, indem Wissenschaft bisher Verborgenes enthiillt. Die Naivitat der natiirlichen Einstellung besteht somit in einer nur teilweisen, von Verhiillungen, Verdeckungen etc. eingeschrankten Enthiilltheit. Etwas wird immer erfahren. Demgegeniiber besteht die wissenschaftliche Forschung als Eliminierung von Naivitat in einer fortschreitenden Enthiillung: Der Biologe z. B. enthiillt das noch unbekannte Reich der belebten Natur. 1njeglichem Sinn erweitert Wissenschaft das Wissen der Menschheit, indem es neue »Wahrheiten« nicht etwa erfindet, sondern entdeckt: Sie enthiillt vordem Unenthiilltes, ist also in der urspriinglichen Wortbedeutung von UAlj1'tfUfLV ein Wahr-Machen als Offenbarmachen. Die Ausweitung des verengten Horizonts der natiirlichen Einstellung ist nichts anderes als die normale Tatigkeit der Wissenschaft, indem sie neues Wissen oder gar neue Phanomenbereiche (etwa die nur im mikroskopischen Blick »zugangliche« Welt) enthiillt. Es ist also die natiirliche Einstellung selbst, die in ihrer verengten Naivitat erweitert wird, sofern die wissenschaftliche Einstellung als hoherstufige Erfahrung aus der Fundamentalschicht natiirlicher Erfahrung erwachst. Beide Einstellungsweisen sind Erfahrungen, und genau deswegen kann die Erfahrung der Wissenschaft die Erfahrung eines Jedermann in Vermoglichkeit werden und ist keiner Elite vorbehalten. So wird und wurde die Erfahrung der natiirlichen Einstellung immer schon durch wissenschaftlich enthiillende Erfahrung erweitert; ware dem nicht so, wiirde man heute immer noch glauben, die Erde sei eine Scheibe (etc.). Fiir Husserl ist dies der Ursinn von Wissenschaft als Ema't~!!l], die die M~a iiber ihre falschen und vorurteilsvollen Meinungen aufkIart. Wie steht es nun mit der Phanomenologie? Wiefern tragt sie bei zur Enthiillung unenthiillter »Regionen«? Enthiillt die »mundane« Wissenschaft noch unenthiilltes »Mundanes«, forscht gewissermaBen »horizontal «, so enthiillt die transzendentale Phanomenologie den transzendentalen »Schweif«, die, wie Husserl auch sagt, »transzendentale Tiefendimension«. Sofern das transzendentale Leben zum Erfahrungsgegenstand fur den Phanomenologen wird, enthiillt er dieses wiederum in einer Erweiterung seines Erfahrungshorizontes: Seiendes wird mit einem konstitutiven Schweif »versehen«. Der Phanomenologe forscht gewissermaBen vertikal, indem er »an« das bereits vorgefundene Seiende ein es konstituierendes System »anbringt«. Er erweitert damit die Welt selbstYl So wird dieser »Schweif«
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V gl. folgende Passage aus dem Zusammenhang der Charakterisierung der lebendigen Gegenwart: »Hier also werden das Ich und seine Modi der Ichaktivitat und die in ihnen entspringenden und sich immanent verzeitigenden Icherlebnisse thematisch. Hier ist das Reich der Aufklarung der in der Form der Erlebnisstromung sich vollziehenden Schopfung der objektiven Zeitraumlichkeit, der Welt aus der Konstitution der Welt (der Weltzeitigung als intentionaler ichlicher Leistung) und der Weise, wie Welt als jeweils schon gezeitigte oder konstituierte thematisches Feld ist ftir
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ein Erfahrungsgegenstand - fUr den Phanomenologen - und damit enthiillt. Die Erfahrung selbst wird immer mehr erweitert: An die horizontale Erweiterung wird eine Tiefendimension »angehangt«, und somit wird die »allheitliche« Erfahrung im Ganzen erweitert. Wahrend Fink bei der natiirlichen Einstellung ihre »Weltbefangenheit« betont und ihre »Enge« gegeniiber dem befreiten Blick des Philosophen, so ist Husserls Ansatz umgekehrt: Die natiirliche Einstellung wird kontinuierlich von ihren »Scheuklappen«112 befreit, indem mehr und mehr ftir sie enthiillt wird, anstatt dass sie in ihrer Beschranktheit unabanderlich »festsitzt«. Die natiirliche Erfahrung erweitert sich selbst bzw. wird durch den enthiillenden Wissenschaftler, sei er positiver oder transzendentaler, erweitert, indem er neue Erfahrung macht und damit N eues enthiillt.ll3 Reprasentativ ftir viele steht folgende Passage: »In jener Selbstauslegung der Fundierungen, in denen das naturliche Weltbewusstsein zustande kommt, wird dieses, wird die vorphanomenologische Naturlichkeit menschlichen Daseins als eine besondere transzendentale Einstellung verstanden, als in welcher das Transzendentale verhiillt bleibt durch eine ausschlieBlich naive Hingegebenheit an das als Welt Konstituierte oder an ein ausschlieBliches Leben im Vollzug der vorgebildeten und immer fortgebildeten Seinsgeltung der Welt. Mit der phanomenologischen Reduktion beginnt die Enthullung der Transzendentalitat, und damit vollzieht sich die Sinnumwandlung des Begriffs )Sinn der Welt< und der Aufgabe, den )Sinn der Welt zu begrunden<. Der positiven Wissenschaft als der den vorgegebenen Weltsinn bestimmenden tritt gegenuber die transzendentale Wissenschaft, die Wissenschaft yom Transzendentalen oder Absoluten. Das an sich erste Absolute ist meine transzendentale Subjektivitat und ihr in Weltkonstitution begriffenes Leben. In sich findet es - die fundierenden Seinskonstitutionen durchlaufend, die in die Weltkonstitution munden - die Stufe (der) Primordialitat, welche die Reichweite des )eigenen< transzendentalen Seins umgrenzt, die darauf gebaute Stufe der transzendentalen Anderen mit ihren transzendentalen Primor-
immer neue Aktivitaten. Thematisch-Leben ist Wach-Leben als Ich; Thema ist immer schon Konstituiertes, fur das Ich Seiendes - daher ist der Urstrom als solcher, das Stromen in seiner Weise des edebnismaDigen >Seins< immer auDerthematisch, auDer fur den Phanomenologen, der eben damit aus diesem Vorsein Sein schafft und somit allein die transzendentale Subjektivitat, die er selbst ist (und die der Anderen) nach ihrem erfahrbaren Sein als seiend hat; er bildet transzendentale Apperzeptionen, durch die das transzendentale Ich mit allem, was es in sich ist, Stromform etc., transzendental apperzipiert und somit vorgegeben ist; er konstituiert die >transzendentale Welt<.« (XXXIV, 182f., von 1932) Il2 So Hussed in Dok. nl!, 126, Anm. 396. Vgl. auch XXXIV, 23 (vom Herbst 1926), wo Hussed den Begriff ebenfalls verwendet, ihn aber selbst problematisch findet: »Der Ausdruck >Scheuklappenauffassung< [als die Auffassung der natiidichen Einstellung) ist bedenklich. Es bedarf ja sehr schwieriger Prozeduren, um den absoluten Boden zu gewinnen und ihn als absoluten zu verstehen. Schon die naive reine Innenwendung ist schwer konsequent innezuhalten, und soweit sie gelingt, ist sie doch bedroht durch Missverstand.« I I 3 In diesem Sinne ist der Phanomenologe, wie Husser! auch betont, »Fortsetzer« der Weltkonstitution, indem er Neues erfahrend zuganglich macht; vgl. Dok. nl!, 118, Anm. 375.
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dialitaten usw., (und so) entdeeke ieh mein absolutes leh und alles ihm in seiner Absolutheit zugehorige, ieh entdeeke das transzendentale Sein.« (B II 4/ 8I-82, wohl von I929)114 Dieses Enthiillen ist aber die Erweiterung des vordem verengten, d. h. eines und desselben Horizonts. 1st Welt in »Allheit« konstituiert, so ist die Erweiterung ihres Horizontes eine Erweiterung ihres Seins selbst. Der Phanomenologe betreibt durch seine Erfahrungsleistung eine »Fortkonstitution der Welt«: ,) Die transzendentale Subjektivitat ist in einer unendliehen Reflexivitat, m emer iterativen Unendliehkeit der wirkliehen und mogliehen Reflexion, und ist dabei in der Art standig Welt [!] konstituierend, dass sie all ihre durch reine und absolute Selbstbesinnung sieh entfaltenden (konstituierenden Vollziige) in die immerfort schon konstituierte und sich fortkonstituierende Welt hineinprojiziert. Das aber im entsprechend zuwaehsenden Sinn: denn jedes solches Projizieren ist selbst sinngebende Leistung. [... Der Phanomenologe ist] sich transzendental fortkonstituierend und in sich der Welt durch Einlegen des Enthiillten ins Psychische neuen Sinn gebend.« (Dok. III I, 2I3 f) Durch die HinzufUgung des» Mehr« an Erfahrung yom enthiillten Sein erhalt dieses als Wissen einen Ort in der nunmehr erweiterten Welt, einen locus, ganz materiell: Es bekommt seinen Ort »in der Welt« in einem Lehrbuch, in der wissenschaftlichen Institution etc. Dieser Sachverhalt fungiert unter dem Begriff der Lokalisation115 und bedeutet die Einstellung eines neuenthiillten Wissens in den nunmehr erweiterten II4 Vgl. ebenso: »In der Thematik der phanomenologischen Einstellung 'reduziere< ich diese Welt geradehin auf die transzendentale Subjektivitat, in der dieses Geradehin sich versteht, in der Seinssinn Welt eben seine ,Sinngebung<, seine Statte Sinn und Sein dieses Sinnes konstituierenden Leistung besitzt. Ich urteile also, wenn ich iiber die konkrete transzendentale Subjektivitat urteile, also auch iiber ihre Leistungsgebilde, wiederum iiber die Welt, ich urteile iiber sie transzendental, und darin urteile ich trans zen dental iiber die natiirliche Einstellung und den Menschen, der natiirlich eingestellt ist. Das natiirliche Sein, die natiirliche Einstellung tritt selbst in das Feld der phanomenologischen Erfahrung, und so die natiirliche Welt als Korrelat ihrer Intentionalitat. Ich darf sogar von der transzendentalen Erfahrung der Welt gegcniiber dcr natiirlichcn Erfahrung der Welt sprechen. Die natiirliche Erfahrung wird zur transzendentalen Erfahrung, wenn ich in transzendentaler Epoche und Reduktion in den universalen transzendentalen Zusammenhang trete und sie in diesem Zusammenhang, im Ubergang in die transzendentale Reflexion von ihrer Stelle aus erschaue. Jede anschauliche Enthiillung transzendentaler Zusammenhange ist dann transzendentale Erfahrung, und so auch die Enthiillung der transzendentalen Konstitution der Welt. Die natiir!iche Einstellung auf die Welt, und zwar insbesondere die natiirlich erfahrende als transzendentales Vorkommnis gesehen, macht sie und macht die Welt selbst in der Einheit des konstituierenden Gesamtzusammenhangs zur Gegebenheit transzendentaler Erfahrung. (B II 15/ I2ir-13a, urn 1930 oder spater) lI5 Obwohl auch Fink diescn Begriff verwendet, wird die Differenz zu Husser! in der Anm. 49I (I48) deur!ich, wo Husserl zu Finks Ausftihrung iiber die Erscheinung des Transzendentalen als »vern,eltlichende[rJ Maskierung« (ebd.) bemerkt: »Lokalisierung, scheinbar Realisierung - wenn man nicht 3ufpasst«.
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Horizont der Welt. Das Wissen erweitert den Horizont und stellt sich gleichzeitig selbst in ihn ein. Es macht neues Land urbar und bevolkert es zugleich. Das muss hinsichtlich der Erfahrungen des Phanomenologen richtig verstanden werden: Es darf nicht heiBen, dass transzendentale Sachverhalte auf falschliche Weise mundanisiert wiirden. Verfallt Hussed damit in das Paradox des Ausdriickens eines Unausdriickbaren? Nein; denn auch Hussed besteht auf der fundamentalen Andersartigkeit der transzendentalen Wahrheiten gegeniiber den »natiidichen«. Aber beide Wahrheiten sind Gegenstand einer Eifahrung. Auch fUr den Phanomenologisierenden besteht sein Forschen in einem freilegenden Enthiillen (zunachst fUr ihn selbst). Der Konstitutionsprozess ist fUr den Phanomenologen, wie Hussed Finks AusfUhrungen erganzt, »nun freilich enthiillt« (Dok. III I, 125, Anm. 39 I) also in einer gewissen Weise auch lokalisiert; aber wo, wenn der Konstitutionsprozess selbst nicht welthaft ist? In der Enthiillung ist fUr den Phanomenologen die Welt urn das »transzendentale Mehr« erganzt, ihr Horizont ist fUr ihn nun hinsichtlich ihrer Tiifendimension entschrankt; die natiirliche Einstellung und die Welt selbst sind dadurch ftir ihn »transzendental verstanden« (ebd., 138, Anm. 448).116 Die Enge der natiirlichen Einstellung erweitert sich also nicht automatisch sogleich fUr alle Menschen, sondern zunachst in der enthiillenden Erfahrung des Phiinomenologen selbst. Damit erhalt dieses Mehrwissen aber doch einen bestimmten Ort, die phanomenologischen Erkenntnisse »erscheinen lokahsiert im Menschen« (ebd., 139, Anm. 454). »Der Mensch verwandelt sich damit auch, in seine Seele tritt eo ipso alles transzendental-phanomenologisierende Geschehen ein.« (ebd., 136, Anm. 433) Die Welt ist damit als Endstufe eines umfassenderen Prozesses enthiillt. Jedoch weiB der mit diesen »Mehrwissen« Ausgestattete auch, dass sein Horizont zunachst nur fUr ihn selbst erweitert ist: "In der Welt, die immerzu eine Schichte von ,Seienden< (ist), welche in ihrem Sein ursprunglich bezogen (ist) auf naturliche Naivitat - auch nachdem diese transzendental verstandigt ist -, hat die konstitutive Erkenntnis, hat auch die Welt als aufgeHirtes Ph:inomen nichts zu suchen.« (Dok. nlr, 147, Anm. 488)117 II6 An anderer Stelle sagt Husser! auch ),transzendental verwandelt« (ebd., 136, Anm. 434). Vgl.
auch folgende Passage: ),Nun gewinnt die Welt aus der neuen transzendentalen Erfahrung und konstitutiven Aufklarung her einen neuen, einen transzendentalen Sinn, ihr geht seinsmaBig voran die transzendentale Subjektivitat, die absolute, als die menschliche und die Welt des Menschen (ftir ihn das Seinsall) konstituierende. Sie hat nun einen universalen und somit nach allem und jedem Was in ihr und was sic ist, den Sinn einer intentionalen Geltungsleistung bzw. einer intentionalen Einheit als in transzendentaler Subjektivitat sich bewahrend und zu bewahrend. Sie ist transzendental-subjektives ,Gebilde<. Sie ist, was sie ist, in dieser Relativitat, die eine Art Immanenz bedeutet, eine Immanenz, die aber erst verstandlich werden muss. Die Welt hat ihren eigenen Sinn. sie ist in ihr geschlossene Eigenheit, zu der allch gehort, dass sie im Menschen, in menschlichem Gemeinsamsein als Geltungssinn psychisches Leben derselben allftritt, dass (sie) aber selbst in diesen Sinn rnithineingehort. Aber dieser Sinn Welt hat sein ganzes Sein nur als Seinssinngebilde der transzendentalen Subjektivitat.« (B II 4/ 8of., wohl von 1929). II7 Vgl. auch Dok. uir, IF, Anm. 408: ),Eben darin [in dem ),aussersten Horizont menschlicher
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Insofern »transzendiert« der transzendentale Sinn immer schon den natiirlichen, sofern auch durch Lokalisierung des Transzendentalen im Phanomenologen der Unterschied zwischen mundan Konstituiertem und transzendental Konstituierendem nicht aufgehoben wird. Der Horizont erweitert sich zwar fUr den Phanomenologen, aber er weiB auch, dass er nicht bruchlos erweitert ist. Er sieht den transzendentalen Schweihani( der Welt, aber erkennt gleichzeitig, dass sich dieses Mehr nicht im Sinne eines horizontal en Enthiillens »nahtlos« erweitert, sondern eben eine vertikale, in der Horizontalitat »unsichtigeii Tiefendimension zur planen Weltoberflache hinzubringt. Gleichzeitig besteht zwischen beiden •• Wahrheiten« kein Widerspruch oder eine dialektische Spannung, wie es Fink gerne hatte; sondern es ist ein Verhaltnis von kleinerem und groBerem Umfang gleich einer groBeren, eine kleinere Menge enthaltende Menge. Man mag hierbei auch - Freilich nur cum grano salis - an die freudsche Metapher yom Eisberg denken, von dem bekanntlich der groBte Teil unter der Wasseroberflache ist. 1st der Welthorizont ftir den Phanomenologen durch den transzendentalen Schweif, der eine •• dritte Dimensionii zur •• zweidimensionalen Weltoberflacheii 118 hinzubringt, erweitert, so stellt sich ebenso die Frage, wie dieses neue Wissen mitgeteilt werden, sich nun •• ins Intersubjektive ausweitenii kann; denn noch ist es ein Privatwissen eines Phanomenologen, und die Lokalisation findet lediglich •• in seinem Kopfii statt. Bleibt nicht das gleiche Problem wie bei Fink bestehen, dass diese transzendentale Enthiillung, die zwar fUr den Phanomenologen durchschaubar ist, ftir die Anderen ein undurchschaubarer Schein bleibt? Gegen diese Folgerung wendet sich Husserl vehement, wenn er zur finks chen Ausftihrung iiber die phanomenologische Wahrheit als •• Scheinwahrheit« schreibt: ,.Dagegen straube ich mich! Raumzeitliche Lokalisation, die kein Schein ist, aber einen Sinn hat, der alie weltliche Lokalisation, die des weltlich Seienden, transzendiert.ii (Dok. n/I, 145)
Es ist einzig der Sachverhalt der Mitteilbarkeit der transzendentalen Wahrheiten, den Husserl als Verweltlichung versteht und weshalb er auch die Unterteilung in primare und sekundare Verweltlichung ablehnt. 1st alles Erfahren, auch das des Phanomenologen, eo ipso ein Konstituieren, betrifft die Verweltlichung allein die Mitteilung an Andere. Wie bringt es also der Phanomenologe zuwege, das von ihm Erfahrene fur Andere erfahrbar zu mach en? Er hat mit allen Menschen gemeinsam, sich wesenhaft erfahrend zu verhalten; ebenso besteht ftir aUe die (Ver-) Moglichkeiten als Erdenklichkeiten menschlichen Daseins, menschlicher Leistungsgebilde etc.« ebd.] kann keine Phanomenologie vorkommen.« IlS Die Metapher der zwei- bzw. dreifachen Dimension stammt der Sache nach - in der Rede von .. Oberftichen- und Tiefendimension« - von Husser!, wird aber explizit aufgenornrnen von Kern (Kern 1962, 328): .. Die Einstellungsanderung ist zu vergleichen mit einem Ubergang von der zweiten in die dritte Dimension des Raumes, die die zweite Dimension in sich schlieBt.«
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Moglichkeit, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern. Dieses Erfahrbar-Machen geschieht durch das Vor-Erfahren dieser Erfahrung durch den Phanomenologen: 119 durch Mitteilung. Hier kann an die husserlsche Auffassung von Pradikation angekniipft werden. 1st die phanomenologische Erfahrung qua Erfahrung auch fur alle anderen Erfahrenden potentiell zuganglich, so geht es in der Verweltlichung des Phanomenologisierens darum, durch sprachliche Vermittlung eine Erfahrens-Anleitung zu geben, da nur jeder fUr sich selbst erfahren kann. Dem Phanomenologen ist klar, dass Sprache keine direkte Abbildung des Erfahrenen ist; es ist eben »nur« Sprache, die triigerisch sein kann; sie ist nur ein zeichenhaftes Indikationssystem fur die gemeinte Sache und kann deswegen auch den gemeinten Sinn verfehlen. Sie ist nur indirekte Erfahrungsvermittlung und kann nicht an die Stelle originaler Eifahrung treten, sondern sie nur indizieren; sie hat die Forderung der »Sollensidentifikation«, die Worte mit einem transzendentalen Index versehend. Sprachliche Kommunikation ist somit der einzige Weg, wodurch hinsichtlich einer Verstehensvermittlung die Briicke zu Anderen geschlagen werden kann. Die Briicke fuhrt aber nicht direkt »iiber« die kommunizierenden Menschen, sondern durch die Welt der Alltagsbedeutung hindurch. 1m Grunde hat die Sprache schon in ihrem alltaglichsten Gebrauch dieses inharente »Gebrechen«; als intersubjektives, vermittelndes Phanomen ist sie wie die einfUhlende Fremderfahrung angelegt: Ihre Grenze ist da erreicht, wo man zwar Zorn oder Angst an den Gesichtsziigen des Anderen »ablesen«, aber niemals seinen Zorn oder seine Angst selbst erfahren kann. 120 Sprache ist wie jede menschliche Kommunikationsform ein Geistigkeit vermittelndes Medium, das schon auf der untersten Stufe zu Missverstandnissen fUhren kann. Es besteht stets das Problem der Sollensidentifikation, demgemass ein Lautphanomen etwas bezeichnen soll, was sich nur unpassend sprachlich ausdriicken lasst. Bei cler Mitteilung von phanomenologischen Erkenntnissen besteht clas strukturell gleiche Problem: 1st das transzendental Erfahrene durch das Erfahren des Phanomenologen fur ihn und »in« ihm lokalisiert, so ist die Artikulation des Erfahrenen nicht anders als die irgend einer anderen »besonderen« Erfahrung. Das Problem der Verweltlichung ist aber dann, als was das Ausgesprochene explikabel wird; denn die bereits geschehene Erweiterung seines Horizonts ist keine »naht- und bruchlose« Aus-, sondern eine
II9 So kann auch mit Husser! davon gesprochen werden, dass der Phanomenologe fUr die Anderen
phanomenologisiert und sich damit »ftir sie ausspricht«, wobei sich in dem »ftir« die Differenz artikuliert: Das »ftir« Finks ist ein »pro«: an Stelle von; das »ftir« Husser!s dagegen ein »vor« i. S. V. »)vormachen«.
120 Vgl. hierzu Zahavi 1996, 137ff., der das Primat der Sprache als intersubjektiver Vermittlung in der
Sprachpragmatik Apels und Habermas' kritisiert und darauf hinweist, dass die Phanomenologie auch andere Formen der Intersubjektivitat aufWeist, etwa in der Leiblichkeit und Temporalitat (vgl. 1]2). Die obige Betonung der Sprache bezieht sich auf eine explizite Wissensvermittlung eines hiiherstufigen Systems (Wissenschaft).
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Erweiterung urn jene »dritte« Dimension. Nicht nur hat der Phanomenologe das Problem, transzendentale Sachverhalte mit dem Vorzeichen einer Sollensidentifikation auszudrucken, sondern auch, dass der transzendentale Sinn zwar als erfahrener lokalisiert, aber deswegen kein mundaner Sinn wird. Er wird lokalisiert »in« der Welt, sofern er als in Worte gekleideter in der Welt »steht«, aber die Welt gleichzeitig »transzendiert«, sofern die Worte auf den nicht-mundanen Sinn verweisen, der aber doch dem mundanen Horizont zu- (wenn auch nicht an-)gehort als dessen dritte Dimension. Transzendentales wird vielmehr als Psychologisches verweltlicht, aber »wirklich psychologisch« ist es nie; denn tritt transzendentaler Sinn in der Welt lokalisiert auf, so ist er verweltlicht als Psychisches, sofern es sich prinzipiell urn Bewusstseinsstrukturen handelt. Die gleichen Phanomene der Phanomenologie konnen auch die Themen einer mundanen Psychologie werden - und sind es auch, obwohl diese keine transzendentale Umstellung vollzogen hat. Die Verweltlichung des transzendentalen Sinnes in der Versprachlichung ftihrt dazu, dass dieser als weltlicher lokalisiert und »psychisiert« wird. Der Sinn steht nun zwar wirklich in der Welt - als psychologischer -, aber verweist gleichzeitig auf seinen eigentlichen, die Welt »transzendierenden« Sinn. »Gehe ich [... J >zuriick< in die natiirliche Einstellung, so habe ich das Weltkonstituierende verweltlicht als Psychisches und positiv wissenschaftlich in Forschung als Psychologisches. Als psychologisch gibt sich dann auch das Phanomenologisieren. Aber ich weiB, dass eine universale weltliche Psychologie in Wahrheit unmoglich ist und ihre Universalitat sich aufhebt in der Phanomenologie.« (Dol. !III, I20, Anm. 384)
Eine solche universale Psychologie ist unmoglich deswegen, weil sie als etwas in der Welt Seiendes nicht die Konstitution des Seienden im Ganzen, dessen Teil sie ist, aufkJaren kann. 121 Sie weiB nichts yom »Paradox der Subjektivitat«. Fallt Husserl damit nicht doch wieder zurUck in einen transzendentalen Schein? Konnte man nicht mit Fink einwenden, dass sich die Phanomenologie als Psychologie maskiert und letztlich doch scheinhaft ist? In dem Sinn konzediert Husserl, dass diese Mundanitat der als Psychologie verweltlichten Phanomenologie lediglich »pseudo-mundan« ist:
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Auf den Problemkomplex des Verhaltnisses von Phanomenologie und Psychologie kann hier nicht eingegangen werden. Daneben erwahnt Husser! hier auch spezifische Probleme, etwa die Frage, ob ein bloB passiv-rezeptives Horen von Phanomenologie ausdriickender psychologischer Rede ein Verstandnis ermoglicht: »Ein eigene Problem ist es, wie weit ein Nachverstehen moglich ist ohne wirklich rnitgehenden Vollzug der Reduktion.« (Dok. nlr, I27, Anm. 396) Ein anderes Problem ist das der » transzendentalen Missverstandnisse, z. B. der Leser transzendentaler Schriften, die gar nicht in transzendentaler Einstellung stehen, aber auch derjenigen, die schon >etwas verstanden haben<, aber es >nicht festzuhalten< wissen (hier die eigentlichen Fragen)« (ebd., I43, Anm·469)·
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»[Alber die sekundare Verweltlichung ist eine notwendige >Lokalisierung< des Transzendentalen in der Welt und insofern eben nicht scheinbar in der Welt seiend und andererseits doch nicht in der Welt in dem natiirlichen Sinn, also doch pseudomundan«. (Dok. nil, 134, Anm. 428)
Husserl optiert also fUr eine Lokalisation des Transzendentalen als Sein mit Index anstatt ftir eine sekun&ire Verweltlichung als undurchschaubaren Schein. Die Lokalisation ist durchschaubar und d. h. die Indikation als bloBe sprachliche Einkleidung identifizierbar, da sie bloBe Anleitung ftir eigenes Erfahren ist. Ist die Sprache als indikatives Zeichensystem nur die Einkleidung einer Erfahrung, die wesenhaft nicht als Erfahrung mitgeteilt werden kann, so ist die Mitteilung an die Anderen in der Tat Sache einer »transzendentalen Padagogik«; denn nach wie vor besteht das Problem, dass der Phanomenologe gegenuber den Anderen die Lokalisation als Psychologie durchschaut, sofern er uber den erweiterten Horizont verftigt. Er hat also die Aufgabe, ihren Horizont zu erweitern, indem er sie anleitet, diese Erfahrung an sich selbst (nach-) zu vollziehen. Er ist ein »transzendentaler Animateur«, der moglichst effektiv die Anderen zum Selbstdenken anregen solI. Die Frage, wie dies am »wirkungsvollsten« zu geschehen hat, ware Sache einer Didaktik (als positiver Wissenschaft). GewissermaBen »Grundzuge« wurden hierzu bereits erortert im Begriff der »mundanen Epoche«. Hierin unterscheidet sich der »transzendentale« nicht vonjedem anderen Padagogen, der Nicht-Wissende in ein neues Wissensgebiet einftihren will: Er muss sein erweitertes Wissen »abstraktiv abblenden«, wenn er mit ihnen redet, sonst wurde er wie jeder Lehrer, der bei seinen SchUlern zuviel voraussetzt, unverstanden bleiben. Hierbei ftihrt er auch neue Begriffe ein und kann gleichzeitig die Problematik der Termini thematisieren. Auf diese Weise fUhrt er sie an das neue Wissen heran, indem er sie zum Selbstdenken animiert: »Die Phanomenologen im Verkehr mit den Nicht-Phiinomenologen, sie zur phanomenologischen Reduktion und zum Nachverstehen der Phanomenologie anleitend. Von Seiten des Phanomenologen: das Verstehen der natiirlichen Einstellung, der natiirlich naiven Welt, deren Naivitat er doch nur durch Abstraktion (eine ganz andere als die Blindheit des Naiven) haben kann, desgleichen das Verstehen der nicht verstehenden Mitmenschen, und dass sie ihn und seinen Anspruch einer weltiibedegenen Weisheit fur eine Narrheit halten.« (Dok. nil, 143, Anm. 469)
Es bleibtjedoch die Frage, wie es ftir die Nicht-Phanomenologen moglich sein soll, diese »neuartigen« Wahrheiten zu verstehen. Auch der Verweis auf die allen gemeinsame Erfahrung lost das Problem nicht, wie die »unnaturlichen« Erkenntnisse verstanden werden konnen. Husserls Modell konnte zur Konsequenz haben, dass, wenn alle als normale Vernunftsubjekte potentiell zu diesen Erfahrungen befahigt sind, die Grenzen verschwimmen und die Erfahrung phanomenologischer Sachverhalte gleichberechtigt neben Alltagserfahrungen erscheint. Es muss aber betont werden, dass, obwohl die phanomenologische Erfahrung als Eifahrung neben ande-
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ren Erfahrungen steht, sie doch einen Gegenstand hoherer » Erkenntnisdignitat« hat und doch nicht unverstanden bleibt. Nochmals: Warum ist es fUr die natiirlich Eingestellten moglich, transzendentale Wahrheiten zu verstehen? Man kann hieraus nur die Konsequenz ziehen, dass die natiirliche Einstellung gar nicht so naiv ist, wie immer (auch von Husserl) behauptet wird. Das Problem der Mitteilung phanomenologischer Erkenntnisse wurde bisher von Seiten des Phanomenologen als Verweltlichung dargestellt, aber es ist auch umgekehrt so, dass diesem Mitteilungsversuch schon ein gewisses Verstandnis entgegenkommen muss. Von vornherein ist es unplausibel, dass Phanomenologie den ganz »Naiven« mitgeteilt wird. Wie bei alier hoheren Erkenntnismitteilung muss dieser seitens des Schiilers eine gewisse Bildung vorausgehen, an die sich ankniipfen !asst. Diese hat sich zumeist immer schon in der natiirlichen Einstellung »eingenistet« und zahlt zum Repertoire eines normalen Vernunftsubjekts in seiner Zeit. Zur vermeintlichen »Naivitat« der vorwissenschaftlichen Einstellung gehort also durchaus Wissenschaft, obwohl sie nicht als Wissenschaft bewusst ist und stets eine Distanz zwischen Naivitat und Wissenschaft verbleibt: »Ich, der Mensch meiner Umwelt, der Mensch der in ihr lebende, seiner als das bewusste Ich, der seine verstreuten, aber auch seine organisierten Zwecke, schlieBlich seine )Lebenszwecke< hat, ich, der von Wissenschaft nichts weiB, trete in eine neuartige Modifikation, durch die mir die aile sonstigen Lebenszwecke iibersteigende und vollig neuartige Zweckidee )Wissenschaft< erwiichst. Doch ich bin schon in einer Umwelt, die Wissenschaft enthiilt und schon in der Erziehung Wissenschaft verarbeitet, geworden. Aber es ist doch klar, dass selbst da stets ein vorwissenschaftliches Leben erforderlich ist, urn wissenschaftliches zu ermoglichen, und dass diese Spanne zwischen beidem immerfort besteht. Wieder ist es klar, dass Wissenschaft in der Menschheit nur erstehen konnte in einer unwissenschaftlich praktisch lebenden Menschheit und dass sie so erstehen musste, bzw. dass eine Menschheit nicht als wissenschaftliche sein konnte ohne eine vorwissenschaftliche Vorzeit. « (XXXIV, 342, von Dezember 1931)122
Es fehit also noch der letzte Mosaikstein zur husserlschen Theorie der Verweltlichung; die Lokalisation wurde bisher lediglich statisch, ahistorisch erortert; unter-
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Die unbewusste »Wissenschaftsgeladenheit« gilt auch fur die Sprache: »Die Sitte, die Sprache etc. ist keine )Realitat< in dem Sinn, wie Welt aus Realitaten besteht. Aber Sprache, Sitte, etc. kann in Arbeit genommen werden, besproehen, beurteilt, iiberlegt, auf Ideenziele hin orientiert und zweckmaBig umgestaltet werden. Die lebendige Spraehe ist aber immer Sprache, die Zwecktatigkeit erwirkt sekundarer Sitte. So geht auch Wissenschaft wieder in das allgemeine soziale Meinen, in die allgemeine Weisheit, in das individuelle )Wissen< ein, in eine Vorgegebenheit, die nieht mehr zur Wissenschaft gehort, obschon aus dieser entsprungen ist. « (A v 4/ 14, aus den 30er Jahren)
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zieht man sie jedoch einer historischen Betrachtungsweise, ergeben sich hieraus geschichtsphilosophische Konsequenzen, die unter dem Begriff des »Einstromens« fungieren. 4.3.2.2. Geschichtsphilosophische Konsequenzen: das Konzept des Einstromens
Die Lokalisation als »Einstellung« eines Wissens in die Welt durch Weitervermittlung an Andere ist immer bereits geschehen: Wissenschaft ist grundsatzlich immer schon - seit ihrer griechischen »Urstiftung« - betrieben worden und wurde immer bereits in der Welt lokalisiert und weitervermittelt durch die sie betreibenden Wissenschaftler, die aber immer noch als positive der natiirlich-dogmatischen Einstellung angehoren. Hieraus folgt, dass die natiirliche Einstellung gar nicht so naiv ist, wie pratendiert, oder, was das Gleiche besagt: »Die« natiirliche Einstellung gibt es gar nicht; ist sie immer schon gespalten in Sondereinstellungen naiver Art auf »horizontaler« Ebene, ist sie auch »vertikal« wesenhaft zweigeteilt. Sofern auch die wissenschqftliche Einstellung immer noch dem geltenden Weltboden verhaftet ist, ist die natiirliche Einstellung gespalten in naiv natiirliche und wissenschqftlich natiirliche Einstellung. Hinsichtlich des Problems der Wissensvermittlung hoherstufigen Wissens ware es von vornherein eine unrealistische Beschreibung, dass dieses hoherstufige Wissen einem »naiven« natiirlich Eingestellten mitgeteilt wiirde, sondern sie richtet sich immer an einen in bestimmter Weise Vorgebildeten. Dies gilt umso mehr fur das Mitteilen phanomenologischer Erkenntnisse. Zwischen naiv natiirlicher und phanomenologischer Einstellung muss eine Zwischeninstanz angesetzt werden: Das sind, so Husserl, diejenigen, »die schon etwas wissen«, die Vorgebildeten, die bereits die naiv-natiirliche Einstellung iiberwunden und sich bereits auf die wissenschaftliche Einstellung zubewegt haben. Diese Zwischeninstanz kann mit einem modernen Wort als scientific community123 bezeichnet werden. Zwar hat auch der naiv-natiirlich Eingestellte als normales Vernunftwesen die Vermoglichkeit der Erfahrung phanomenologischen Wissens, faktisch aber ware diese Darstellung naiv; genauso naiv, wie zu meinen, der Phanomenologe richte sich unmittelbar an die »normalen Menschen« wie einst Sokrates auf der Agora in Athen. Die »Intersubjektivitat«, in die sich das Phanomenologisieren ausweitet, meint also nie in erster Linie die naiv-natiirlichen Menschen, sondern zunachst eine Gruppe »vergemeinschafteter Wissenschaftler«, die nicht hermetisch abgeschlossen, sondern offen ist fur jeden, der sich seiner naiven Einschrankung enthebt. Insofern besteht keine grundsatzliche »Hemmung«, dieser scientific community beizutreten, aber sie ist dennoch gegeniiber der naiv-natiirlichen Einstellung hoherstufig. Die Differenz zu Fink wird in charakteristischen Verbesserungen Husserls in Finks Text deutlich. In Finks Bestimmung
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!eh verwende diesen Begriffhier als singulare tantum, obwohl faktisch die Wissenschaften in scientific communities zersplittert ist, die miteinander z. T. wenig zu tun haben. Dass dies so ist, ware fur Husser! allerdings ein Symptom def neuzeitlichcn Krise der Wissenschaften.
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von Wissenschaft als »theoretische[r] Praxis des menschlichen Daseins, die in Wahrheiten als den Ergebnissen terminiert. Wissenschaft ist so eine freie Moglichkeit des Menschen [oo.]« (VI, CM, 112), verbessert Husserl (hier kursiviert): Wissenschaft sei vielmehr »eine theoretische Praxis des menschlichen sozialen Daseins, die in Wahrheiten als den Ergebnissen dieser Praxis - als deT vergemeinschafteter Wissenschaftler - terminiert. Wissenschaft ist so eine freie Moglichkeit des Menschen als Gliedes einer £?fJenen wissenschaftlichen Gemeinschaft [oo .].« (ebd., Anm. 351)
Finks Satz iiber das »Problem der Verlautbarung der transzendentalen Wissenserwerbe, also das Problem der Mitteilung und Verkiindung transzendentaler Erkenntnis in dey Welt, in der natiirlichen Einstellung« (VI, CM, IIO f.), erganzt Husserl weiterhin: »- zum weiteren Zweck einer Herstellung einer im transzendentalen Forschen sich vergemeinschafteten Menschheit« (ebd., I I I, Anm. 347). Diese Forschergemeinschaft ist so eine »Forschergemeinschaft innerhalb der Menschheit« (Dok. nlr, I 13, Anm. 353), die sich immer schon durch eine hohere Wissensdignitat von der urspriinglich vorwissenschaftlichen Menschheit abgehoben hat. Daher war auch die Motivation zur Reduktion fUr Husserl ein Problem, das sich erst ftir den Menschen auf einer bereits wissenschqftlich vorgepriigten Wissensstufe stellt. Das korrelative Problem der Verweltlichung spielt sich dann ebenso nicht zwischen phanomenologischer und naiv-natiirlicher Einstellung ab, sondern ist immer schon an Genossen der scientific community adressiert. Der Phanomenologe richtet sich zwar an die natiirliche Einstellung, aber hierin an die Teilnehmer der scientific community. Aber auch wenn die natiirlich-dogmatische Einstellung fUr Husserl die Zwischeninstanz zwischen natiirlicher und phanomenologischer Einstellung darstellt, ist die urspriingliche Trennung von »naiv« und »schon in gewisser Weise aufgeklart, aber immer noch philosophisch naiv« flieBend, sofern die Erziehung zur scientific community schon von Kindesbeinen an beginnt. Die genaue Abgrenzung zwischen »naiv« und »aufgeklart« sollte bewusst in der Schwebe gelassen werden, da die Grenze zwischen »vorwissenschaftlichem« Leben (was erst aus von der Perspektive der Wissenschaft als soIches bezeichnet werden kann) und Wissenschaft in der Tat schwer zu ziehen und in Wahrheit eine Grauzone ist: Gehoren der Satz des Pythagoras, das Kleine Einmaleins, die Beherrschung der Orthographie und die geographische Kenntnis der Erde - urn klassische Bildungstopoi zu verwenden noch in die Wissenschaft oder sind sie schon Bestandteil des Alltagswissens? Wo und wann tritt ein individueller Mensch in die scientific community ein: wenn er die Universitat besucht - oder erst, wenn er selbst wissenschaftlich forscht? Die Frage stellt sich erneut: Wie naiv ist die vorwissenschqftliche Einstellung? Hier eroifnet sich die Perspektive auf die historische Betrachtung. Die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen naiv-natiirlicher und wissenschaftlich-natiirlicher Einstellung verdeutlicht, dass Wissenschaft immer schon ein historisch tradierter, sedimentierter
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Prozess ist, was fur sich genommen trivial ist. Aber es geht nun darum, diese Geschichtlichkeit im Werden der scientific community selbst zu verstehen. Hierzu sei an Husserls Ausfuhrungen iiber die Geschichte der Philosophie und der europaischen Wissenschaft angekniipft. Der Vorgang der Lokalisation in ihrer historischen Dimension bezeichnet Husserl als Einstromen. Lokalisation ist, allgemein gesprochen, die Ein-Stellung wissenschaftlichen Wissens in die Welt der natiirlichen Einstellung. Dieser Prozess muss jedoch als historischer verstanden und somit in systematischer Riickfrage nach seinem Anfang und in seiner Genesis enthiillt werden. Dieser Anfang wird durch eine Urstiftung geleistet. Die erste, griechische Urstiftung von Wissenschaft durch die Erfahrung fremder Normalitat ist zunachst iiberhaupt nichts Wissenschaftliches, aber sie stoBt einer heimweltlichen Normalitat zu, der der Griechen durch ihr »Seefahrertum«, das sie mit fremden Kulturen in Kontakt brachte. In diesem Sinne ist Urstiftungimmer »Einbruch« eines Neuen in das heimweltliche Bekannte: »Das Historische ist immer Einbruch« (XXIX, 83). 1st dieser einmal geschehen und Wissenschaft erstmals urgestiftet, so erweitert sie den Horizont der Welterfahrung fur die natiirlich Eingestellten, indem diese neue Erfahrung und Erkenntnis den Anderen mitgeteilt wird. 124 Dabei geschieht das Merkwiirdige, dass sich zwar der Horizont der Erfahrungswelt hinsichtlich des in ihr Erfahrenen erweitert, aber dadurch in seinem Gesamtstil nicht andert. Die sich durch Briiche hindurch immer wieder herstellende Einstimmigkeit des Erfahrungsstils wird durch die Erweiterung des neu entdeckten Horizonts nicht zunichte gemacht. So verandert die Welt zwar ihren bisher gekannten Sinn durch eine erweiterte Erfahrung, aber bleibt doch Welt: »Die Sinnverwandlung der )alten Welt<, dessen, was wir schlechthin Welt nennen und was in der naiv-natiirlichen Einstellung einen abgeschlossenen Horizont hatte, durchbricht dies en Horizont. Aber sie schafft doch wieder aus Welt Welt, namlich ideal-kategorial-ontologische Strukturen oder auch: in allen Verwandlungen andert sich nichts daran, dass die stromende und doch sinnhaft einheitliche Lebenswelt ihre lebensweltliche Struktur behalt [... J.« (XXIX, 79)
Die Erweiterung des Welthorizonts durch »Sinnesverwandlung« heiBt aber, dass sich das neue Wissen in die Welt einstellt, lokalisiert; so wird eine Wissenschaft etabliert, die sich in ihrem weiteren Verlauf in institutionalisierter Gestalt manifestiert, sich wiederum an die naiv natiirlichen Menschen richtet und sie aufldirt. So stromt I24
Es sei angemerkt, dass diese Geschichtsdarstellung aus Riickfrage von der Gegenwart aus idealtypisch ist und einzig dem Zweck client, Aufschluss iiber die Gegenwart zu erhalten, »in der Hoffnung, dass uns dadurch schlieBlich Sinn, Methode und Anfang der Philosophie zu eigen werden kiinnen, der einen Philosophie, der unser Leben gelten will und soll« (VI, S. 365). Ausdriicklich betont Husser! daher auch, dass »wir von den ersten Schiipfern nichts wissen und auch gar nicht danach fragen« (ebd., S. 366).
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also wissenschaftliches Wissen immer schon in die Welt ein und erweitert ihren einheitlichen Horizont. Die Lokalisation als Verweltlichung neuen Wissens ist immer schon ein historischer Prozess, der zwar einmal in einem idealtypisch »postzipierten « Anfang begonnen hat, seitdem aber stetig im Gange ist. Dabei eroffnet die sich weiter differenzierende Wissenschaft neue Horizonte, die sie durch Weitervermittlung in die Welt der naiv-natiirlich Eingesteilten einflieBen Iasst. Stromt dieses neue Wissen immer schon in die Welt ein, so ist die naiv-natiirliche Einstellung zwar naiv gegeniiber der eigendich wissenschaftlichen, aber dadurch in ihrer Naivitat selbst geschichtetes Phanomen: Die Naivitat, obgleich sie als Naivitiit bestehen bleibt, schichtet sich selbst in ihrem Wissen, das zwar standig gegeniiber ihrer ursprUnglichen Naivitat wachst, aber eine, wenn auch hoherstufige, Naivitat bleibt. Die Naivitat des Renaissancemenschen ist nicht die des antiken Griechen oder des Menschen des 2 I. Jahrhunderts - und doch sind sie aile naiv in der Abgrenzung gegen die Wissenschcift, die immer wieder in die Welt einstromt und den Horizont der Naivitat erweitert, aber nicht die Naivitiit selbst aufhebt. »Die« natiirliche Einsteilung wird also nie zu existieren authoren, jedoch was an ihr naiv ist, andert sich. Die vorwissenschafdiche Welt des 2 I. Jahrhunderts ist durchtrankt von wissenschafdichen Errungenschaften, die aber nicht als wissenschaftliche, d. i. ihrem urspriinglichen »Zwecksinn « nach, durchschaut und doch in der vorwissenschciftlichen Welt verwendet werden. Die oft beschriebene Tatsache des Einzugs der Technik in den Alltag ist nichts anderes als die neuzeitliche Gestalt des Einstromens wissenschaftlicher Erkenntnisse in die naiv-natiirliche Welt. Man benutzt Computer, Autos, etc., ohne dass sie die Naivitat der vorwissenschaftlichen Welt autheben wiirden; aber jede Technologie fuBt auf einer Tradition von Technologie(n) etc.125 1st die Welt als »ens a se« (XXIX, 80) einheitlich, andert sie sich doch hinsichtlich ihrer sich durch Wissenschaft stiindig erweiternden Horizonte, was aber nicht zu ihrer Einheitlichkeit als einstimmige Welt im Widerspruch steht: »Aber wie sehr die Einheit der Tradition und in der historischen Rekonstruktion Einheit einer lebenden fortwirkenden und tiber die Zeiten immer hinaus motivierten Tradition durch die Geschichte und historisch erschlossene Welt hindurchgeht, Einheit einer in historischem Konnex lebenden Menschheit und historische Einheit einer Welt dieser Menschheit konstituiert, so ist doch die konkrete Welt jederzeit eine andere.« (Dok. nil, 202)
Es ist aber immer die eine Welt, die sich andert. 1st sie als vorwissenschaftliche das Korrelat der naiv-natiirlichen vorwissenschafdichen Einstellung, so ist auch sie durch Normalitat charakterisiert, die durch Briiche hindurch weiterexistiert. 126 U. a. in diesem Sinne ist auch die Aussage gemeint: »In einer Unzahl von Traditionen bewegt sich unser menschliches Dasein.« (VI, 366) 126 » Diese Normalitat ist aber flieilend und hat auch ihre revolutionaren Briiche, die in eine neue
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Diese die Normalitat und damit die Tradition nicht aufhebenden Briiche innerhalb einer Wissenschaft konnte man als Paradigrnenwechsel bezeichnen. »Tradition« aber impliziert, dass sich Briiche nur auf einem bereits bestehenden Boden ereignen konnen, der ein geschichtlicher ist, sofern sich seit dem Anfang der Wissenschaft neue Erkenntnisse aufihm sedimentiert haben und ihn stetig »anreichern«. Dieser Boden ist Boden der Tradition dadurch, dass er sich als solcher bewahrt. Auf ihm und in der Modifikation seiner erfolgt die systematische Erweiterung der wissenschaftlichen Erfahrung, diese stromt wiederum in die vorwissenschaftliche Welt ein. So wird die naiv-natiirliche Einstellung immer »wissenschaftlichef
Tat die der absolut ersten Urstiftung sein wiirde, in der Philo sophie als eine Aufgabe (ebd.,423) der Menschheit konzipiert worden ist.«
Normalitat iiberfuhren, die eine neue und doch durch erhaltene Tradition mit der aiten verbundene ist.« (Dok. nil, 202). 127 Es konnte sein, dass diese naiv-naturliche Einstellung letztlich nur noch bei sog. »primitiven«, von Wissenschaft unwissenden Volkern anzutreifen ist, was einerseits den Ubergang von »primitiv« zu »aufgeklart« nur umso mehr problematisiert und andererseits die den »Primitiven« eigene »Logik« zum Thema einer phanomenologischen Analyse macht. Husserls Interesse an der »Kuitur« der Primitiven und der Arbeit von Levy-Bruhl ruhrt hierher, vgl. seinen Brief Yom 11.3.1935 (BW 7, 161 if.); vgl. hierzu auch Luft 1998a.
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Husserl findet diese Erkenntnis »ungeheuerlich« (ebd.), und es ist auch !dar, weshalb; denn durch die Ankniipfung an die erste Urstiftung verlieren die relative Urstiftung durch Descartes und die sich daran anschlieBende Husserls selbst ihren Ausnahmestatus. Die Konsequenz ist bedeutend: Obwohl jede Urstiftung lediglich durch einen unantizipierbaren »Einbruch« zu verstehen ist, stehen sie aile auf dem Boden einer Tradition, also auch Husserls eigene Phanomenologie, die er zur Zeit der Entdeckung der Reduktion als so voilkommen neuartig wahnte. Husserls Phanomenologie ist als ebensolcher Einbruch eines Neuen (der Reduktion) ihrerseits relativ auf die cartesianische Urstiftung. Diese Einsicht stellt letztlich die Phanomenologie selbst in die europaische Philosophiegeschichte ein, indem auch sie ein Auslaufer jener urspriinglichen, absoluten Urstiftung der Griechen und von ihr abhangig ist und, das ist das Entscheidende, ihre wahren Intentionen erfullt. Bestand die erste Urstiftung in der Inauguration der sich von der naiv-natiirlichen Einstellung abhebenden Wissenschaft, die den urspriinglich beschrankten heimweltlichen Horizont in infinitum erweitert,128 so besteht die neuzeitlich-relative Urstiftung in der Stiftung von »Philosophie« als Transzendentalphilosophie; m. a. W die auf die absolute Urstiftung relative Urstiftung bei Descartes besteht in einem Einbruch der Transzendentahtat in den Welthorizont, dies en hinsichtlich der transzendentalen Tiefendimension erweiternd. Erst an dieser Stelle wird das Phanomen des Einstromens fur Husserl in seiner geschichtlichen Situation virulent. Wissenschaft ist seit ihrem Beginn immer schon in die Welt eingestromt (historisch lokalisiert) und erweiterte die vorwissenschaftliche Welt selbst, die zwar fur die vorwissenschafthche Menschheit ihren vorwissenschaftlichen Charakter behalt, in Wahrheit aber zunehmend von Wissenschaft »durchtrankt« wird. Obwohl die Welt durch Briiche hindurch ihren Einstimrnigkeitsstil behalt, verwandelt sich insgeheim ihr Seinssinn, aber nur hinsichtlich des noch zweidimensionalen Horizonts. Sodann aber »ereignet sich« der zweite Einbruch der relativen Urstiftung durch die Entdeckung des Transzendentalen. Die phanomenologische Reduktion aber ist demgegeniiber wiederum ein Einbruch, der auf der vorhergehenden Urstiftung fuBt und erneut einen Wandel im Seinssinn der Welt vollzieht: »Der Seinssinn cler Welt wanclelt sich mit (clem) Einbruch cler phanomenologischen Recluktion. >Seiencles< gewinnt einen neuen Sinn, aber in merkwiircliger Weise; auch nachher gilt cler alte Sinn fort, sinnhaft eingeschlossen, intentional mitenthalten in clem neuen, >erweitert< clurch neue Sinnbestande, aber Sinnbestancle von einer (XXIX, 77) den Horizont cler alten vollig iibergreifenden Kategorie [... J.« Dieser Einbruch erweitert aufs Neue den Welthorizont - aber urn die transzendentale Tiefendimension, wodurch der alte Horizont nicht weiterhin entschrankt, 128 In diesem Sinne bezeichnet Husser! auch die Leistung der ersten Urstiftung als die Entdeckung der Unendlichkeitskategorie in der endlichen Heimwelt, vgl. Dok. III!, 200f.
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sondern »vertieft« wird. Die Welt »nimmt« damit »in verweltlichter Form ailes Transzendentale aller transzendentaler Moglichkeiten in sich auf« (ebd., 81). Damit aber erhalten auch alle bisherigen Weltphanomene sowie alles zukiinftig zu Entdeckende ihren »transzendentalen Index«: dm Fortschreiten gewinnt das jeweils Evidente, jeweils als es selbst rechtmaBig Gesetzte nicht nur einen Zukunftshorizont, sondern (auch) alles schon als seiend Gesetzte der Vergangenheit nimmt in sich mit auf die ihm zugehorigen Sinnerganzungen und durch diese Riickiibertragung auch die neu zugehorigen Horizonte. Durch diese riickiibertragende Apperzeption mit ihrer Evidenz der zeitmodalen Geltung erhalt die natiirlich-naive Welt nach ihrer ganzen Zeitlichkeit, nach allen Zeitmodalitaten und -inhalten (auch Inhaltshorizonten) immer neuen Seinssinn von (ebd.,82) den transzendentalen Entdeckungen aus.« 1st jede Horizonterweiterung dadurch charakterisiert, dass das bisher Entdeckte und zukunftig zu Entdeckende in den erweiterten Horizont eingesteilt wird, gilt dies auch fUr die durch die phanomenologische Reduktion eingebrochene Sinnesverwandlung als »Fortbildung des Ego als phanomenologisierend die menschliche Monadenwelt in Historizitat aufsteigend zur phanomenologisierenden« (K III 5/9b, von 1935)· Aber diese Sinnesverwandlung durch die Reduktion stromt wiederum in die Welt ein; Transzendentales verweltlicht sich, indem es in den in allen Dimensionen entdeckten Welthorizont eingestellt wird und dies en erweitert. Das Einstromen erweitert die natiirlich-naive, die vorwissenschaftliche Welt selbst durch Transzendentales. Dabei greift die Phanomenologie als Wissenschaft dieses Transzendentalen aufbereits Wissenschaftliches zurUck und »phanomenologisiert« es; denn dieses ist Produkt der bisherigen Urstiftungen, und insofern fuBt die neue Urstiftung auf ihnen. Die der Phanomenologie parallele Wissenschaft ist die Psychologie, die, noch vor-transzendental, nun von ihren »mundanen« Scheuklappen befreit ist. Daher ist die Psychologie das »wahre Feld dey Entscheidungen« (VI, 212), da sie nicht nur vorphanomenologische Parallele der Phanomenologie ist, sondern auch nach der Reduktion nicht aufhort, Psychologie zu sein, nur dass sie danach mit einem transzendentalen Index versehen ist. Dabei aber ist die Psychologie als Wissenschaft ihrerseits schon in die Lebenswelt eingestromt: »Die Psychologie ist so wie jede objektive Wissenschaft gebunden an den Bereich des vorwissenschaftlichen Vorgegebenen, also an das, was in der allgemeinen Sprache nennbar, aussagbar, beschreibbar ist; in unserem Faile an das in der Sprache unserer Sprachgemeinschaft (weitest gefasst: der europaischen) ausdriickbare Psychische. Denn die Lebenswelt - die )Welt fur uns aile' - ist identisch mit der allgemein zu beredenden. Jede neue Apperzeption fuhrt durch apperzeptive Obertragung wesensmaBig zu einer Nennung, welche alsbald in die allgemeine Sprache einstromt.« (ebd., 21 3)
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Das Transzendentale verweltlicht sich also dadurch, dass es an eine bereits etablierte und im Zuge einer vorherigen Urstiftung (der der Renaissance, diese wiederum fuBend auf der ersten, etc.) konstituierte Wissenschaft ankniipft, indem sie sie mit dem transzendentalen Index versieht, sie »phanomenologisiert«. Dies geschieht durch den Phanomenoiogen, der, in die natiirliche Einstellung zuriickkehrend, sich verweltlicht. So kann auch eine Antwort auf die Problematik der zwei scheinbar widerspruchlichen Metaphern gegeben werden, mit denen Husserl den Sinn der Reduktion beschreibt; bekanntlich verwendet Husserl fUr das »Ereignis« der Reduktion sowohl das Bild der religiosen Bekehrung wie das der Berufseinstellung, aus der man wieder in die »Normalzeit« zuruckkehrt. Fiir den Phanomenologen bedeutet die »solipsistische« Riickkehr in die natiirliche Einstellung, dass er zwar seinen erweiterten Horizont »abstraktiv abblenden« kann, aber doch nicht ganz: »[I]ch kann wieder wie sonst als Familienvater, als Burger, als Beamter, als )guter Europaer< usw. in Aktion sein, eben als Mensch in meiner Menschheit, in meiner Welt. Wie sonst - und doch nicht ganz wie sonst. Denn die alte Naivitat kann ich (VI,214)129 nie mehr erlangen, ich kann sie nur verstehen.« Obwohl also die phanomenologische Einstellung einer Berufseinstellung vergleichbar ist, so ist ein Riickkehren in den alten Zustand eben nur teilweise moglich, ahnlich einer religiosen Bekehrung: Kehrt man nach der religiosen Konversion wieder in die natiirliche Welt zuruck, so hat sie sich natiirlich nicht geandert, aber man sieht sie anders; sie ist die selbe und ist es doch nicht; sie ist in einem hoheren Sinn verstanden; alles ist gleich geblieben, aber in eine neue Dimension eingeriickt. Das neue Wissen ist fur den Religiosen in die Welt eingestromt und erweitert ihren Horizont. Gleichzeitig muss man aber, wenn auch widerwillig, die phanomenologische Einstellung irgendwann verlassen - auch der Phanomenologe ist ein endlicher Mensch -, aber das geht nur bedingt, insofern man den »transzendentalen Schweif« nie mehr vergessen kann. Phanomenologie ist ein Beruf im Sinne einer »Lebensentscheidung«: »Man ist nicht Phanomenologe, wenn man einmal, etwa urn ein voriibergehendes, durch die neue phanomenologische Literatur gewecktes Interesse zu befriedigen, ein wenig mitmacht, eine Weile phanomenologische Reduktion betatigt und einige intentionale Analysen kennen lernt oder selbsttatig-ursprunglich durchflihrt. Aber man ist es, wenn man in dieser Hinsicht eine personale Lebensentscheidung getroffen hat, wie im Fall der Entscheidung ftir eine positive Wissenschaft, der Entscheidung Mathematiker sein, der Mathematik )sich< widmen zu wollen u. dgl. Das bedeutet ftir das weitere Leben eine Lebensmethode in immer wieder (durch Unterbrechun129
Vgl. auch: »Es handelt sich aber darum, die Welt als Weit, die im Leben Sinn hat und aus ihm se1bst her immer neuen Sinn annimmt, als Welt dieses Lebens zu verstehen in ihren konkreten Wesensnotwendigkeiten, die ihr eigenes, das Weltliche mit dem Konstituierenden in eins setzen und allein konkretes Verstandnis, und letztes, absolutes, ermoglichen.« (XXXIV, lIB)
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gen hindurch) zu betatigende Ichspaltung, Epoche, Forschungsrichtung auf die phanomenologische Sphare. Man ist aber auch noch anders interessiert, hat seine verschiedenen sonstigen Willenseinstellungen als Mensch in der Welt. Man vollzieht dann keinen Aktus der phanomenologischen Einstellung oder deutlicher, man (XXXIV, 44, von 1926) aktualisiert nicht die auch unbetatigt bestehende.« Wurde zunachst ein Widerspruch in Husserls Metaphern von Beruf und religioser Bekehrung aufi'allig, so lost er ihn dadurch auf, dass er den Sinn von Beruf als Berufung interpretiert: »Ist Berufung ein leeres Wort? 1st je ein Philosoph - der urbildlichen Art, die an jedem groBen Philosophen in Evidenz nach zu verstehen ist, ein >echter< Philosoph je gewesen ohne die Damonie der Berufenheit? 1st ftir den echten Philosophen Philosophie wie ein beliebiger sogenannter Lebensberuf, ist sie ftir ihn nicht das Schicksal, das fUr ihn tiber Sein und Nicht-Sein entschieden hat?« (XXIX, 353)\30
Indem Philosophie fur den Philosophen eine Berufung darstellt, ist sie fur ihn durchaus mit einer religiosen Bekehrung vergleichbar, aber gleichzeitig ist sie praktisch nur ausfuhrbar als ein Beruf, der notwendig rekreative Pausen erfordert. Aber auch in diesen Pausen weiB der Philosoph von seinem erweiterten Horizont, ohne ihn aber actualiter zu »leben«. Der weitere Horizont schlummert gewissermaBen und kann jederzeit durch erne ute Reduktion reaktualisiert werden. Aber auch dieses Wissen stromt wiederum in die Welt ein, so dass die Distanz von Berufs- und Freizeit immer geringer wird. Wie jeder von seiner Berufung Uberzeugte, sei er Wissenschaftler oder Religioser, hat nun auch der Philosoph mach urbildlicher Art« die Intention, sein Wissen Anderen mitzuteilen. Dies aber nicht in der naiven Weise, dass sich der Philosoph an die naiv-naturlichen Menschen richtet. Sofern die durch Wissenschaft erweiterte Erfahrung immer schon in die Welt eingestromt ist, ist auch die »intersubjektive« Adressierung fur Husserl kein Problem; der Philosoph wie jeder andere Wissenschaftler verweltlicht sein Wissen durch Mitteilung. Das ist ganz selbstverstandlich und nicht eigens zu betonen; denn es ist ebenso klar, dass auch z. B. wissenschaftliche Bucher ausschlieBlich von anderen Teilnehmern einer scient[fic community verstanden werden und ihr Inhalt dadurch in die durch einzelne Wissenschaftler weitertradierte eine wissenschaftliche Welt einstromt. Der neuzeitliche Philosoph, der nach der modernen Neustiftung nur Transzendentalphilosoph sein kann, richtet sich demnach nicht an die »vollkommen Unwissenden«, sondern an die, die ihn verstehen konnen. Durch das seit dem Anbeginn der europaischen Philosophie und Wissenschaft geschehene Einstromen wissenschaftlicher Erfahrung in die Lebenswelt aber ist die ihr korrelierende Einstellung nicht so naiv, wie der 130
Aus den Randbernerkungen zu Husserls Handexernplar des veroffentlichten ersten Teils der Krisis; die Anrnerkung bezieht sich auf V!, 15, Z. 21 und starnmt von Anfang 1937.
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Begriff »naiv-natiirlich« suggeriert. Der Philosoph richtet sich zwar an die in einer wissenschaftlichen Vergemeinschaftung befindlichen »Genossen«, aber die Kluft zwischen Wissenschaft und vorwissenschaftlichem Leben wird durch die in Tradition geschichtete Einstromung wissenschaftlichen Wissens in die Welt immer geringer. Es ist also gerade nicht so, dass das transzendentale Wissen direkt in die naiv-natiirliche Welt einstromt, sondern es stromt ein in die wissenschaJtliche Welt, die aber ihrerseits durch Einstromen in die vorwissenschaftliche Welt die Kluft zwischen wissenschaftlicher und vorwissenschaftlicher Welt verringert. Die Zwischeninstanz besteht also nach wie vor, deren Wissen aber stromt wiederum in die naiv natiirliche Welt ein. Einstromen von Transzendentalem in die Lebenswelt geschieht also nie direkt, sondern mittelbar, sofern bereits die naiv-natiidiche Einstellung ein geschichtlich durch eine »Unzahl« von Traditionen vermitteltes Phanomen ist. Die Folge ware, dass die »natiirliche« Einstellung selbst in ihrer Geschichtlichkeit immer mehr von ihrer Naivitat ablegt und zunehmend verwissenschaftlicht und letztlich, insofern Wissenschaft selbst ins Transzendentale erweitert wurde, phanomenologisiert wird. Lauft Husseds Projekt daraufhinaus und ist diese Konsequenz wirklich in seinem Sinne?
4.4. Husserls und Finks Bestimmung des Absoluten und das System der Phanomenologie Hussed, der in seinen letzten Lebensjahren ohne den geringsten ironischen Beiklang von der »Mission« seiner Phanomenologie spricht,!31 meint es mit dieser Einschatzung todernst; dieser »missionarische Eifer« ist mehr als nur ein kompensatorisches Verhalten eines im Alter an seiner Zeit Verzweifelten - wozu er nach I933 allen Grund gehabt hatte 132 - , sondern die Konsequenz seines geschichtsphilosophischen Denkens, welches einem standig erweiterbaren Horizont des Wissens Rechnung tragen will. Diese Konsequenz hat Fink klar erkannt und auf subtile Weise kritisiert. Seine Kritik zielt auf die letzten Intentionen der hussedschen Phanomenologie und ist insofern nicht nur Kritik an gewissen Differenzpunkten im Rahmen einer grundsatzlichen Ubereinstimmung, sondern eine radikale, auf Husseds letzte philosophische Absichten zielende. Es muss abschlieBend die Frage gestellt werden, weshalb diese Philosophie - und vielleicht nicht nur aus Finks Perspektive - zu kritisieren ist und ob und weshalb dieses so groBartig angelegte Programm Husseds, moglicherweise aus tiefsten Pramissen, undurchftihrbar ist. Eine Auseinandersetzung beider Standpunkte ist Gegenstand dieses letzten Abschnittes.
13 J Vgl. hierzu die Sammlung von Stellen in Husserls Briefen bei Schuhmann 1994, 9ff. Sch. betont
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zwar gleichzeitig, dass diese Redeweise fur die Zeit nicht untypisch sei (so sprachen u. a. auch Dilthey und Natorp von ihrer »Mission«), aber bei wenigen Philosophen ist sie wohl in dieser Art integraler Bestandteil seines ganzen philosophischen Denkens. Vgl. hierzu Boehm 1991.
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Husserl hat bekanndich das aus der Mathematik stammende Modell eines im Unendlichen liegenden Limes auf die Geschichte der Wissenschaften und Philosophie selbst angewandt. 133 Das Motiv fUr die Krisis ist letzdich Husserls Besorgnis urn die Situation der Wissenschaften, die ihre vorgezeichnete Bahn verlassen und die Idee einer asymptotisch, durch strenge Forschung idealiter erreichbaren, absoluten Wahrheit aufgegeben, oder schlimmer, vergessen haben.134 Nach Husserl wird die Wissenschaft von Urstiftung zu neuer Urstiftung (»Neustiftung«) zu hoherer und umfassender Wahrheit getrieben, hat aber evtl. in gewissen Krisen diesen stringenten Weg verlassen. Husserl vertrat diese Uberzeugung leidenschaftlich. Auch wenn eine differenzierte historische Betrachtungsweise dieses Modell widerlegen mag, muss betont werden, dass es sich hier urn ein idealtypisches ErHirungsschema handelt, das weniger deskriptiv als eher normativ aufzufassen ist. Der Anspruch auf Normativitat kann freilich nur mit Schwierigkeiten hinsichtlich der Geschichte erhoben werden,135 wohl aber beziiglich der Zukunft. 1m vorigen Abschnitt wurde Husserls Konzeption der Verweltlichung als historische Lokalisierung von Wissen, d. i. als Einstromen dargestellt. Es wurde deutlich, dass die Verweltlichung von Wissenschaft nicht erst mit der Phanomenologie, sondem bereits zu Beginn der europaischen Wissenschaft bei den Griechen geschah. 1st die Philosophie in der neuzeitlichen Urstiftung durch den Einbruch des Transzendentalen charakterisiert, so flieBt dieses nun in den Welthorizont ein, ihn urn seine Tiefendimension erweitemd. 1st die naiv-natiirliche Einstellung aber immer 133 Dies fungiert bei Husser! unter dem Begriff der Teleologie in der Philosophiegeschichte. Dieses Motiv wird zu Beginn der Krisis deutlich ausgesprochen, vgl. VI, 1-17. Hier spricht Husser! auch von einer »Entelechie im Menschentum« (ebd., 13), die das europaische Menschentum im
Ganzen in sich tragt und als ihren Zwecksinn erfullen muss. Vgl. auch VI, 386. Zu einer Kritik an diesem» historischen Apriori« vgl. Mertens, 273-84, der diese Konstruktion zwar nicht im Ganzen ablehnt, aber die »Starrheit« der letzten Realisierung dieser »universalen Teleologie der Vemunft« wiederum einer Bewahrung unterordnen will .•• Die Beziehung der Geschichte auf die regulative Idee hat demgegeniiber den Charakter einer Entscheidung fur die Moglichkeit einer grundsatzlich am Gedanken moglichen Fortschritts orientierten kritischen Philosophie. Diese Entscheidung ist angesichts ihrer Gegenmoglichkeit in der Ausfuhrung kritischer Arbeit allenfalls zu bestatigen.« (277)
134 Von daher ist es unzutreffend zu behaupten, Husser! operiere mit einer »unausgesprochenen Trennung von Stiftung und Verfallsgeschichte« (Kuster, 92), sofem selbst Verfall sich nur im Rahmen einer allgemeinen Teleologie abspielen kann, bzw. sofem ohne eine zugrunde liegende Teleologie ein »Abfall« iiberhaupt nicht auffalligwerden konnte. Ohnehin gibt es fur Husser! auch nur eine Krise der europaischen Wissenschaften, und zwar die neuzeitliche Krisis, die jedoch schon »seit Jahrhunderten« (VI, 3) in der Psychologie vorherrscht. 135 Wie man sich selbst durch retrospektive Narration eine Identitat ver!eihen kann, kann dies evtl. auch beziiglich der Narration einer allgemeinen historischen Gestalt wie der Wissenschaft zur Reflektierung des historischen Selbstverstandnisses geschehen. Die Forderung, eine solche Aneinanderreihung von res gestae in ihrer Narration als eine einheitliche Bewegung aufzufassen, kann so auch als Postulat, als von einem Normwillen gepragt, aufgefasst werden. Zu der Beziehung von personaler Identitat und universaler Teleologie beziiglich der »selbstkonstitutiven« Narration vgl. Tengelyi 1996/7, v.a. 163 ff.
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schon dem Einstromen wissenschaftlicher Erfahrung ausgesetzt, so ist sie immer weniger »naiv« oder - umgekehrt - verfiigt sie uber einen immer reicher werdenden, durch mannigfache Traditionslinien verrnittelten Erfahrungsschatz, wobei die Schicht wissenschaftlichen Wissens immer durch tiefere fundiert ist. Ware dem nicht so, gliche das Unternehmen Wissenschaft dem eines Architekten, der ein Haus ohne Fundament herstellen wollte. Gleichzeitig aber ist sie der Endpunkt des gesamten Prozesses einer zivilisierten, vernunftigen Menschheit. Hier ist an den eigentlichen, von Husserl immer wieder betonten Zwecksinn von Wissenschaft zu erinnern, ein einheitliches, sich selbst verantwortendes »hoheres« Menschentum zu schaffen. Wissenschaft ist mehr als nur die Herstellung neuen Wissens, sondern das Instrument zur Schaffung ciner hoheren, sich stets selbst verantwortenden Lebensgemeinschaft in einer humanen Welt. Es ist diese )) Urstiftungsidee« und dieses eigentliche Telos der europaischen Wissenschaftsidee, die Husserl wieder aufgreifen mochte, anknupfend an die in der Antike urgestiftete Idee der Verantwortung und Rechenschaftsablegung, des AOYOV llLMvm. Wissenschaft und Philosophie erhalten damit einen ethischen Zwecksinn. 136 Die ))Neustiftung« in der Renaissance greift diesen Ursprungssinn unter veranderten Zeitumstanden, aber mit der im Kern identischen Intention wieder auf. Nach dem Einbruch des Transzendentalen markiert die phanomenologische Reduktion einen erneuten, hiervon abgeleiteten Einbruch. Die Urstiftungsidee wird durch die Phanomenologie als radikalisierte wissenschaftliche Einstellung nach der neuen Urstiftung durch die Reduktion ubernommen; und dies ist der Grund fUr ihre Verweltlichung, ihre Mitteilungsnotwendigkeit: Phanomenologie will die Menschheit radikal auf/daren. 1st die vorwissenschaftliche Menschheit jedoch schon von Wissenschaft durchtrankt, so kann sie auch in weiter fortschreitender Verweltlichung von Wissenschaft qua Phanomenologie immer weiter aufgeklart werden, das Unternehmen ist also weder unmoglich noch hoffnungslos, sondern bereits im Gange. Autklarung ist keine Illusion, sondern in Teilen schon realisiert und weiter durchzufUhren. Sie besteht letztlich darin, die naturliche Einstellung immer mehr an die wissenschaftliche anzunahern, oder was das Gleiche besagt, die Grenze zwischen wissenschaJtlicher und naturlicher Einstellung auJzuheben. Husserls )) Heilsformel« lautet schlicht: ein hoheres Menschentum durch Phanomenologie, die die Fackel des wahren Sinns von Wissenschaft und damit aufgeklarten, vernunftigen Menschentums ubernimmt und weitertragt. Dies kann nur die Phanomenologie als die wahre Entdeckerin des Wesens der Subjektivitat, und Vernunft ist die Essenz der menschlichen Subjektivitat, die nur durch phanomenologische Reflexion zu Selbstbewusstsein gelangt:
I36 Diese Themen beschaftigen Husser! v. a. ab dem Beginn der 20er Jahre, vgl. hierzu die einschIagigen Kaizo-Artikcl (xxvn), sowie das umfangreiche »ethische« Konvolut B I 2I, sowie B I IO iiber die »idee der Wissenschaft«.
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»Der Mensch ist >Vernunftwesen<, sich >entwickelnd< m der Geschichte semer Menschheit - und bloB das? Die verborgene, die absolute Vernunft, patent im Menschen, wird menschliche Vernunft, die in ihm verborgen ist. In der menschlichen Vernunft patent werdend menschliche Vernunfttriebe, aber im phanomenologisierenden Ich wird die absolute Vernunft als solche und als patentwerdende patent, es versteht in der phanomenologischen Aktivitat sein implizites standiges Telos als absoluten Trieb.« (A v 2ol2a, von 1935) Es ist genau diese Konsequenz, die Fink erkannt und radikal kritisiert hat. Der Rekurs auf die in der VI. Meditation verwendeten Hegelianismen, die Finks Kritik in gewisser Weise kaschieren, kann dies verdeutlichen. Obwohl Finks Modell ais spekulativ und unhistorisch kritisiert wurde, so zielt seine Kritik auf eben diese Konsequenz von Husserls Projekt. In Wahrheit ist jedoch auch Husserl dahingehend spekulativ, als auch bei ihm eine gewisse Unaufktirbarkeit der Urstiftungen zuriickbleibt; sie sind »Einbriiche«, die weder antizipiert, noch in ihrem »Kommen« erklart werden konnen. Sie konnen Iediglich im Nachhinein verstanden werden. Dies ist letztlich genauso »metaphysisch«, wie wenn man von einem sich in der Welt manifestierendem Geist spricht, der »weht, wo er will«. Auch wenn die finksche These von der Unmitteilbarkeit des Transzendentalen nicht plausibel ist, sei doch an seine These von der dialektischen Struktur des Verhaltnisses von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung angekniipft. Fink interpretiert dieses Verhaltnis als dialektische Einheit. 1st die natiirliche Einstellung ein fUr sich undurchschaubares An-sich- und noch kein erhelltes Fiir-sich-Sein, wird diese Stufe von der phanomenologischen Einstellung erreicht, die sich aber in ihrer sekundaren Verweltlichung, zu der sie passiv mitgerissen wird, nur scheinhaft in die Welt wieder einstellt. 1st das Verhaltnis beider Einstellungen somit eine »inbegriffiiche Einheit« und als soIche in sich »gegenlaufig« und »gespalten«, konnen sie aber, so Finks Folgerung, auch nicht synthetisiert werden. Beide sind zwar eine synthetische Einheit, insofern erst beide zusammengenommen das Absolute darstellen, aber: »Diese Entzweiung zwischen konstituierendem und phanomenologisierendem Leben determiniert jetzt den Begriff des Absoluten: Es ist die synthetische Einheit antithetischer Momente.« (VI. CM, 157) Das wird auch durch die Interpretation der sekundaren Verweltlichung gestiitzt, derzufolge sich das Phanomenologisieren nur uneigentlich in die Welt einstellt und sich nicht in ihr - oder sie sich in ihm - »aufiost«. Finks Verstandnis von »Aufheben« impliziert also das Vernichten und Bewahren des Urspriinglichen, aber nicht das Emporheben. Die natiirliche Einstellung wird durch die erweiterte Erfahrung des transzendentalen Philosophen als verengter Horizont erkannt, gleichzeitig aber nicht in den erweiterten Horizont eingestellt; es sind zwei getrennte, unvermittelbare Horizonte: Die natiirliche Einstellung wird in ihrer »niederen Evidenz berechtigt«, also nicht emporgehoben, d. h. zur phanomenologischen gemacht. Das Aufheben, von dem Fink spricht, heiBt demnach nicht
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Synthesis, wenn Synthesis im Vollsinne ihrer drei Bedeutungen ein Emporheben der niedrigeren auf eine hohere Stufe impliziert. Dem entspricht auch, dass die Phanomenologie als »Philosophem« ein Schein ist, der von der natiirlichen Einstellung wesenhaft nicht durchschaut werden kann. Die Synthesis ist also strenggenommen keine volle Autbebung, obzwar ein In-Beziehung-Setzen beider Einstellungen, das einseitig bleibt; denn der Phanomenologe durchschaut dies gegeniiber dem natiirlich Eingestellten. Daher kann das finksche Modell auch »elitaristisch« oder »antiauillarerisch« genannt werden - im Gegensatz zu Husserls radikal-auJkliirerischer Position. Finks AusfUhrungen in der VI. Meditation kulminieren in einer bedeutenden Begriffspragung, die seine gegeniiber Husserl kontrare Position pragnant zum Ausdruck bringt. Das Verhaltnis von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung ist keine Synthesis, sondern bleibt ein »Synthema« von natiirlicher Einstellung, die als mundane konstituiert ist, und phanomenologischer Einstellung, die die gegenlaufige transzendentale Tendenz bedeutet. Nur so ist der schwer verstandliche Satz zu interpretieren: ,) Das Thema der absoluten Wissenschaft ist das Absolute, und zwar als das Synthema der konstitutiven und ) transzendentalen < Tendenz.« (VI. eM, r65)137 Finks Kritik bleibt unausgesprochen; aber sie ist ex negativo deutlich, wenn man erganzt, was ungesagt bleibt: Das Verhiiltnis von phiinomenologischer und naturlicher Einstellung ist und kann keine Synthesis sein. Genau das ist aber ultimativ Husserls Position. Der Phanomenologe beabsichtigt fUr Husserl, in seinem vergemeinschafteten Forschen und der verweltlichenden Lokalisierung seiner Erfahrung der iibrigen Menschheit die »mundanen Scheuklappen« abzunehmen und sie aus ihrer niedrigeren Einstellung zur wahren Menschheit emporzuheben. Nicht nur ist es dem Phanomenologen moglich, Transzendentales mitzuteilen - durch bereits eingestromtes Wissen kann er daran ankniipfen -, es ist geradezu ethisches Postulat: »[Es1 hat dieses leistende Tun der Phanomenologie seine Adresse an eventuelle Mit-Phanomenologen und einen Horizont von Monaden und Menschensubjekten, die dogmatisch naiv sind. Sie konnen aber genommen werden als Subjekte, die phanomenologisieren und ihre dogmatischen Scheuklappen abheben konnten, und es kann Wissenschaft vorweg betrieben werden mit der Absicht, der Menschheit 137 "Syntherna« ist eine in der griechischen Sprache rnogliche Substantivbildung, wie etwa auch Praxis und Pragma, wobei die Endung ,,-sis« eine Prozessualitat bedeutet (bei Pra!l-sis der Akt des Handelns), »-rna« hingegen eher das fertige Resultat (Pragma als das Gernachte). Husser! ist hier skeptisch. Eine Seite vorher notiert Husser! zu Finks Satz: »Sowohl die konstitutive wie auch die gegenlaufige , transzendentale < - wie gebrauchen jetzt das Wort in seinern urspriinglichen Richtungssinn - Tendenz rnachen in ihrern gegenspielenden ) Zusammen < gerade die synthetische Einheit des Absoluten aus.« (ebd., 164): »Das ist aber eine bcdcnklichc Ausdruckswcisc. Was fur ,Synthesis« (ebd., Anm. 526)
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allmahlich die Augen zu 6tfnen etc. In diesem Sinn ist also die Phanomenologie selbst und in gutem Sinn in der Welt und analog in ihren Intentionen der Adresse etc. wie eine positive Wissenschaft.« (Dok. nlr, 126, Anm. 396)138
Noch deutlicher wird diese Position in folgendem Zitat: »Nun werden sie [die verweltliehten Phanomenologisierenden] aber als phanomenologisierende Mensehen auf ihre Mitmensehheit wirken k6nnen, immer neue Mitmensehen zur Phanomenologie erziehend und dann von der Phanomenologie her dem mensehliehen Dasein iiberhaupt (stets mit dem weiten Horizont der NiehtPhanomenologen vor siehl Normen auferlegend und naeh ihnen dahin strebend, sie zu einem neuen Mensehentum zu erziehen.« (Dok. nlr, 216)
Die Synthesis von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung ist fUr Husserl geradezu die Definition der transzendentalen Phanomenologie als »tranSZeDdentalen Idealismus«, »sofern in den beiden sieh durchsetzenden Lebensformen [Sc. natiirliehe und phanomenologisehe Einstellung] zwei fundamentale Einstellungen miteinander abwechseln und jede Thematik dureh die Unterbrechungen hindurch fortgilt, aber freilich nur solange, als ich nicht bemerkt habe, dass die transzendentale Phanomenologie Ingerenz [Einfluss] iibt auf den Sinn der natiirlichen Weltbetrachtung. In dem Moment, wo ich zur transzendentalen Interpretation der natiirlichen Lebensart iiberhaupt und ihrer Welt gekommen bin, zum transzendentalen Idealismus, hat jedes weitere natiirliche Leben, wenn auch im Hintergrund, seine transzendentale Apperzeption, wenn auch nicht aktuell vom lch her vollzogen in aktueller Epoche und Reflexion. Notwendig muss sich eine Synthesis der naturlichen und transzendentalen Weltbetrachtung vollziehen, und ihr Vollzug ist eben> transzendentaler Jdealismus <.« (XXXIV, 16f. von 1926, Kurs. erg.)
Hinsichtlich des »Werdens der phanomenologischen Wissenschaft als expliziter Wahrheitserkenntnis des Absoluten von sich selbst« (Dok. nil, 216) gilt: »Die fortschreitende Entwieklung einer phanomenologisierenden Gemeinsehaft durch Erweckung von Nicht-Phanomenologen zu Phanomenologen und in Gang Setzen einer gelingenden Aktivitat im Absoluten, und zwar konstituiert als gelingend. Die Aktivitat der jeweilig schon konstituierten >Wir Phanomenologen <, einer >Bekehrung< immer neuer Mitsubjekte zum Vollzug der phanomenologischen Reduktion und zur transzendental wachen Vergemeinschaftung als mitforschender und danach iiberhaupt lebender. Also der Weg zur Ausbildung einer ins Unendliche sich erweiternden Lebensgemeinschaft von transzendental erwachten Subjekten bzw.
138 Vgl. hierzu auch XXIX. I4f. und die kritische ErIauterung bei Schuhmann 1988, 175-80.
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einer Forschergemeinschaft als subjektivem Quellgrund einer in infinitum sich erweiternden und in infinitum transzendental konstituiert seienden transzendentalen Wissenschaft.« (ebd.) Husserl gibt die Zwischeninstanz der scientij1c community zwar nicht auf, aber sie soli »in infinitum« erweitert werden, was darauf hinauslauft, die Menschheit radikal
aujzuklaren und d. h. sie zu Phanomenologen zu machen. Diese Pas sagen machen hinreichend deutlich, dass es Husserl mit dem »Synthesis-Modeli« ernst meint und die natiirliche Einstellung zur phanomenologischen emporheben will durch eine gemeinschaftlich-wissenschaftliche Anstrengung. Dies ist kein leeres Pathos, sondern konsequent aus Husserls ureigensten philosophischen Intentionen. Die Menschheit solI phanomenologisiert werden! Um sich »im Unendlichen zu finden«, die letzte Erfuliung der menschheitlichen Entelechie zu erlangen, muss man (um an Goethe anzukniipfen) in der Tat »erst trennen, dann verbinden«, jedoch auf hoherer Ebene. Der Riss im »Leben der europaischen Menschheit« muss wieder in hoherer Wahrheit verheilen. In mythischer Rede: Der Garten Eden wird zwar fUr immer verschlossen bleiben, aber es gibt ein hoheres Paradies, dem man als im Unendlichen liegende regulative Idee zustreben kann. Husserl ist hierin ein radikaler AufkIarer, der fest an das Heil der Menschheit aus radikal selbstverantworteter Vernunft in Form von Wissenschaft glaubt. Man kann diese Uberzeugung als das Relikt eines naiven und iiberkommenen Vernunftglaubens abtun, oder versuchen, hieran eine sachliche Kritik zu formulieren, worauf Finks »Synthema-Modell«, trotz aller Vorbehalte gegen die hierin enthaltenen Probleme, zielt. Sieht man einmal von diesen ab, so kann man ihnen doch ein fruchtbares Motiv abgewinnen, das Husserl (vorsichtig gesagt) »iibernimmt«. Moglicherweise gibt es eine Alternative oder einen Mittelweg zwischen den unvereinbaren Positionen von Synthesis und Synthema. Der Versuch, alle Menschen zu Philosophen zu machen, sollte nicht sogleich mit dem Vorwurf des »Naiven« oder Undurchfuhrbaren abgetan werden. Dennoch kann man fUr dieses intuitive Unbehagen, das den modernen Leser bei Husserls Position beschleicht, auch ein philosophisches Argument finden, ohne sogleich in eine allgemeine Vernunftkritik zu verfallen. 1st die natiirliche Einstellung in ihrer vorwissenschaftlichen Naivitat zwar eingeschrankt gegeniiber der Entschranktheit des Phanomenologen, bleibt sie doch die Ausgangsbasis fur jegliche wissenschaftliche Bemiihung. Aber die vorwissenschaftliche Lebenswelt als Welt der vorwissenschaftlichen, natiirlichen Einstellung wird durch Wissenschaft nicht in ihrer Vorwissenschaftlichkeit aufgehoben; sie ist der »Wurzelgrund und die Heimatstatte« aller menschlichen Aktivitaten. »Synthema« als dialektische, aber unaufhebbare Einheit beider fundamentalen Einstellungen besagt also, dass diese synthetische Vereinigung beider Wissensweise faktisch undurchfuhrbar ist. Selbst wenn es noch so viel Wissenschaft und Wissenschaftler in der Welt gabe, wenn noch so viel an Wissenschaft in sie eingestromt ware und
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weiter einstromen wurde, wurde doch die vorwissenschaftliche Welt nicht aufhoren, vorwissenschaftlich zu sein. Nicht nur ist eine Synthesis anscheinend faktisch undurchftihrbar, mehr noch: Sie ist auch gar nicht wunschenswert - aus folgendem Grund: 1st die natlirliche Einstellung die Basis und der Ursprung aller darauf aufbauenden Aktivitaten, so kann sie auch gar nicht aufgehoben werden, sondern wird Basis bleiben mussen. Wurde die naturliche Einstellung aufgehoben, so wurde sich die Wissenschcift den Boden entziehen, auf dem sie selbst steht. 139 Die Aufhebung ware eine »Vernichtung«, mehr noch: eine Selbstvernichtung des Bodens, auf dem auch der Wissenschaftler und der Philosoph stehen. Das Synthesis-Modell Husserls aber hat genau diese Konsequenz. Man kann diese Kritik mit einer Terminologie formulieren, die Hussed selbst als Kritik an den Wissenschaften verwendet und die nungegen sein eigenes Projekt eingewandt werden kann: Bestunde die Aufhebung der naturlichen Einstellung im Versuch, aIle Menschen zu Phanomenologen zu machen, darin, die Menschheit aus ihrer niederen Lebensweise emporzuheben unter Preisgabe dieses ursprunglichen Bodens, dann machte sich die Phanomenologie, als die neugestiftete Vertreterin der ursprunglichen Urstiftungsidee, des gleichen Vorwurfs schuldig wie die neuzeitliche Wissenschaft: Die Phanomenologie wurde die Lebenswelt idealisieren, sie wiirde ihr ein Ideenkleid uberstUlpen, das den urspriinglichen »Leib« verdecken und in Vergessenheit bringen wurde. Hierbei ist nicht die Idealisierung per se problematisch, sondern die »Reperspektivierung« in der Ruckkehr in die natudiche Einstellung, die eben, sofern hier eine Synthesis moglich ware, die ursprungliche Lebensweise durch phanomenologische Sinnbestande uberdeckte (also gerade keine echte Re-Perspektivierung ware), anstatt sie in ihrem Eigenrecht zu belassen. Husseds Thematisierung der Lebenswelt in ihrer unaufhebbaren Boden- und Basisfunktion kann als eine Selbstkorrektur dieser Konsequenz angesehen werden. 140 1st die Lebenswelt die Welt der natudich eingestellten Menschen, gilt die Unaufhebbarkeit der naturlichen Einstellung in gleichem Mafie fur die Lebenswelt. In gewissem Sinn kann die Hinwendung zur Lebenswelt, die in ihrer Vorwissenschaftlichkeit Thema einer »merkwurdigen« (VI, I 58) Ontologie werden solI, als eine gewisse »Konzession« an die Unaujhebbarkeit der natUrlichen Einstellung und der 139 Dieses Argument stammt von Held, vgl. Held 198oa, 28: »Wiirde es nun der Transzendentalphilosophie gelingen, die natiirliche Befangenheit in Seinsvorurteilen vollstandig in Gedanken aufzuheben, so ware damit die Differenz zwischen der )Gedankenlosigkeit<, dem zu Erklarenden, und dem Gedanken, der Erklarung, beseitigt. Die Kritik entzoge sich nicht nur dem natiirlichen Bewusstsein, sondern zugleich sich selbst den Boden. Die Philosophie ist angewiesen auf das von ihr unterschiedene naive Leben, das ihr zur ErHirung vorgegeben und aufgegeben ist. Wiirde die Allfgabe vollig gelost, so ware sie damit als Allfgabe beseitigt. Das vorgegebene Leben muss Aufgabe bleiben.« 140 Dem widerspricht nicht, dass dieses Konzept der Lebenswelt Ergebnis einer Entwicklungslinie in Hllsserls Spatphilosophie ist, die erst in der letzten Phase seines Denkens, zusammen mit dem Konzept des Horizonts, in den einen Begriff der Lebenswelt eingeflossen ist. Diese Lesart muss der obigen nicht widersprechen; man konnte sie auch so verstehen, dass die im Lebensweltbegriff angelegte Doppeldelltigkeit in Husserls letzter Phase zugunsten der Bodenfunktion verlagert wird.
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vonvissenschaJtlichen Welt gelesen werden. So wird eine Wissenschaft von der vorwissenschaftlichen Lebenswelt in natiirlicher Einstellung gefordert, die aber damit die Basisfunktion der Lebenswelt nicht nur anerkennt, sondern gerade in diesem vorwissenschaftlichen Charakter thematisiert, folglich nicht durch idealisierende Wissenschaft iiberdeckt und aufhebt. Sie ist eine Wissenschaft »von der verachteten M~a, die auf einmal die Wiirde eines Fundamentes fur die Wissenschaft, die EJtlat~f!l1 beanspruchen soli« (ebd.). 1st die Lebenswelt das Fundament alIer wissenschaftlichen Bemiihungen, ist sie gerade in ihrer »niederen Evidcnz« Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, so kann ihre Fundamentalitat auch nicht aufgehoben werden, sondern sie wird in ihrem Recht anerkannt und belassen werden miissen.141 Aber es ist deutlich zu sagen: Die Einsicht in die unaufhebbare Basisfunktion der Lebenswelt steht im Widerspruch zum von Husserl nie aufgegebenen SynthesisModell, das zum Ziel hatte (aggressiv formuliert), die vorwissenschaftliche Welt und vorwissenschaftliche Menschheit ihrer Vorwissenschaftlichkeit zu berauben, eine Konsequenz, die ein im Unendlichen liegender Limes sein mag, aber darum nicht weniger Ziel des Phanomenologen ist. Die fundamentale Rolle der Lebenswelt in Husserls Spatphilosophie kann nicht dariiber hinwegtauschen, dass Husserl diesen Widerspruch, worin der konkrete Sinn und Zweck dieses philosophischen Projekts (und mit ihm der europaischen Wissenschaft) zur Debatte steht, zu li::isen in letzter Instanz nicht imstande war. Die Synthesis von phanomenologischer (wissenschaJtlicher) und natiirlicher (vonvissenschciftlicher) Einstellung widerspricht der Anerkenntnis der unauf hebbaren Basiifunktion der vorwissenschciftlichen Welt und vonvissenschciftlichen Einstellung. Was bedeutet dies aber nun fur die methodologische Frage nach dem System der Phanomenologie, als dem Zielpunkt des phanomenologischen Projekts? Dies Iasst sich wiederum in der Differenz zwischen Fink und Husserl hinsichtlich ihrer Interpretation des zentralen Begriffs des Absoluten festmachen. Sieht Fink das Verhaltnis von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung als ein unaufhebbares Synthema, so ist auch dem Umfassenden dieser dialektischen Elemente diese Zweiheit zuzuerkennen. Insofern Fink die konstituierte Welt mit Sein identifiziert, die konstituierende Transzendentalitat mit Vorsein, so verbietet sich fUr ihn der Begriff »absolutes Sein«, sondern er bezeichnet die dialektische, »gegenIaufige« Einheit zusammengenommen als »das« Absolute. So ist »das >ansichseiende< Absolute die Einheit von >Sein< und (konstituierendem) >VorSein(<< (VI. eM, 167)142 DemgemaB ist das System dieses Absoluten die Einheit 141
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Allerdings darf nicht vergessen werden, dass diese Lebenswelt in ihrer Vorwissenschaftlichkeit erst durch die Enthullung des transzendentalen Korrelationsapriori zuganglich werden kann. So sehr man also die transzendentale Phanornenologie braucht, urn die so thematisierte Lebenswelt zu Gesicht zu bekommen, darf man doch nicht der gewissermaBen »naturlichen Tendenz« der Phanomenologie, die Lebenswelt mit transzendentalen Sinninterpretationen zu »uberdecken«, folgen. Vgl. auch aus den privatcn Aufzeichnungcn: »Das )absolute Sein< ist ja keineswegs ein Seiendes, das neben oder auBerhalb des Seienden fur sich vorkame. Sondern es ist uberhaupt nur zuganglich
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zweier antithetischer Momente, und die entsprechende »Erkenntnisweise der absoluten Wissenschaft [... J ist selbst absolut.« (ebd.) 1st das Absolute selbst eine in sich zweigeteilte Einheit, gilt dies auch fUr die Wissenschaft von diesem Absoluten: 1st die Elementarlehre der Phanomenologie eine noch naive, d. h. noch nicht fur sich erhellte Disziplin, erhellt die Methodenlehre hingegen diese Naivitat, und daher besteht auch zwischen Elementar- und Methodenlehre ein antithetisches Verhaltnis, das jedoch im Durchlaufen dieser Selbstkritik synthetisiert wird: In der »absoluten Wissenschaft [... J vollendet sich der Entwuif der Idee einer transzendentalen Methodenlehre, die sich nun selbst im Begriff der absoluten Wissenschaft in einer gewissen Weise aujhebt, sofern die antithetische Unterscheidung von trans zendentaler Elementarlehre und Methodenlehre in der letzten Synthesis des absoluten (VI, eM, 169) Wissens verschwindet.«
So wird der haufige Verweis auf die Vorlaufigkeit dieser Untersuchung verstandlich, sofern auch die ganze Elementarlehre mit dem durch die Methodenlehre erweiterten Horizont wiederholt werden muss. 1st dieses philosophische Projekt ein »Sichselbstbegreifen des Absoluten« (VI. CM, I70), kommt man, wie Fink betont, »offenbar aus der Problematik der transzendentalen Methodenlehre heraus« (ebd.) und hat den Vorblick, iiber die Phanomenologie hinausgehend,143 auf eine »meontische Philosophie des absoluten Geistes« (ebd., I83) geaffnet. Das System der Phanomenologie kommt zum Abschluss, indem man durch sie hindurchgehend, ihre Horizonte durchlaufend, ihre Grenzen erkennend und diese transzendierend, sich aus ihr herausdreht und zu etwas vordringt, was nicht mehr Phanomenologie ist. Das System der Phanomenologie vollendet sich, indem sie selbst als niedere Stufe auf dem Weg zur absoluten Selbsterkenntnis des Absoluten in ihrer miederen Evidenz« erkannt, aber im Prozess des nie zur Ruhe kommenden Bestrebens des absoluten Wissens (im doppelten Sinne des genitivus subiectivus und obiectivus) verlassen wird. So ist Finks Modell von Philosophie - wenn auch auf der Ebene der »wahren« Philosophie - letztlich doch ein Synthesis-Modell, aber Synthesis jeweils haherer Wissensformen, nicht hinsichtlich des nie aufzuhebenden Relats »natiirliche Einstellung«. 1st das Absolute die dialektische Einheit antithetischer Momente, so ist es nur das eine Relat, das sich in immer haherer Selbsterkenntnis zu hbherem Wissen synthetisiert, dem aber immer der unaufhebbare »Ursprung« der natiirlichen Einstellung gegeniibersteht. Finks Bestimmung des Systems der Philosophie
vom Ontischen aus. Es ist in gewisser Weise das Ontische selbst, aber so radikal befragt, dass es das Ontische ist, gewissermaBen vor seinem dvm. - Die Beziehung des ,Absoluten< zum Ontischen nennen wir ,Ursprung<., Ursprung< ist nicht ein innerweltlicher Anfang, sondern ist innerweltlich gesehen immer nach dem, dessen Ursprung er eben ist. )Ursprung< hat eine Vorgangigkeit <jlUOEl, nicht JtQ6o~!1ii<;.« (z IV, II2b, von 1928-29) 143 Vgl. ebd., 184: Die Untersuchung ,,[tihrt auch dariiber [d. i. die Fragestellung der Cartesianischen Meditationen] hinaus«.
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Eisst auf dem Weg zum Absoluten letztlich auch die Phanomenologie hinter sich, ohne darnit aber die Basis preiszugeben, auch wenn letztere noch so problematisch konzipiert ist. 1st die natiirliche Einstellung noch so »weltbefangen«: Sie kann ihre Weltbefangenheit nicht abstreifen, ohne auch ihren Status als natiirliche Einstellung aufzugeben. Andererseits ist es aber erst die transzendental-phanomenologische Besinnung, die die natiirliche Einstellung als solche enthiillt. Damit wird bei Fink die Phanomenologie in ein umfassenderes spekulatives Wissenssystem nach Vorbild der groBen idealistischen Systeme eingestellt. Die Phanomenologie ist so selbst lediglich eine Stufe auf dem Weg zum Sichselbstbegreifen des Absoluten, eine zwar notwendig zu durchlaufende, dann aber in hoherem Wissen aufzuhebende. Was Fink indessen anstrebt, ist keine Phanomenologie mehr, sondern unterwegs zu etwas anderem. Das bedeutet aber, dass die Phanomenologie ihrer selbstgesetzten Aufgabe, sich auch in ihrer hoherstufigen Selbstkritik theoretisch-kritisch geniige zu tun, wesenhaft nicht gerecht werden kann. Ob dieser Weg nicht letztlich doch gegangen werden muss nach Durchmustern der phanomenologischen Arbeitshorizonte, ob Fink nicht genau in dieser Radikalitat konsequenter als Husserl war, muss hier offen bleiben. Die» Vision« Finks aber bleibt kritisch gebrochen durch die in der VI. Meditation zu Tage tretende Aporie, derzufolge dieses Wissen der Mitteilung prinzipiell unfahig ist. Ein Vergleich mit den groBen Systemen des Deutschen Idealismus kann hier nicht geleistet werden, der aber mit Husserl einer gesunden Skepsis phanomenologischen Arbeitsstils unterworfen werden miisste. Es gibt Griinde, doch bei der Phanomenologie zu bleiben, die nicht zuletzt durch die noch offenen und keineswegs zur Befriedigung durchforschten Horizonte auf der Ebene der Elementarlehre motiviert sind. Gegeniiber einem Abschluss (bzw. AbschlieBbarkeit) des Systems der Phanomenologie pocht Husserl immer wieder auf dem Anfangscharakter und der Offenheit der phanomenologischen Systematik gegeniiber festen Systemkonstruktionen und betont wiederholt, dass er immer nur auf rechte Weise den Anfang machen wollte und sich im hochsten Fall rechtmaBig »Anfanger« nennen durfte. Bestimmt Fink das Absolute als dialektische Einheit zweier Relate, so leuchtet unmittelbar die Differenz zu Husserl ein, fur den vielmehr das transzendentale Sein das Absolute ist. 144 1st alles Weltliche aus transzendentalem Leben konstituiert, so ist das »Sein« dieser konstitutive Prozess selbst, der zwar in der Welt als Konstitutionsprodukt terminiert, dadurch aber das Umfassende des gesamten Prozesses selbst, also im eigentlichen Sinn» Entelechie« ist. Dieses Absolute kommt in radikaler Selbstbesinnung der Phanomenologie zum Vorschein (zu Bewusstsein), und so ist die Enthiillung dieses Absoluten ein Enthiillen der urspriinglich verborgenen Horizonte und somit eine in infinitum zu erweiternde Horizontentschrankung. Das I44 Vgl. hierzu im Ganzen XVII, § !O3, 278. S. hierzu auch die Arbeiten Landgrebes in Landgrebe I982, insbes. 38ff. sowie !o2ff., sowie Boehm I959.
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Absolute ist demnach eine Einheit, bzw. als transzendentales Leben wird es als Einheit von Welt und deren Tiefendimensionen aufgewiesen, wobei die konstituierte Welt lediglich »End-« oder »Schwundstufe« innerhalb des absoluten Seins ist. 145 Hieraus folgt: »Absolut Seiendes ist seiend in Form eines intentionalen Lebens, das, was immer es sonst in sich bewusst haben mag, zugleich Bewusstsein seiner selbst ist. Eben darum kann es [... J wesensmaBig jederzeit auf sich selbst nach allen seinen, ihm abgehobenen Gestalten riflektieren, sich selbst thematisch machen, auf sich selbst bezogene Urteile und Evidenzen erzeugen. Zu seinem Wesen gehort die Moglichkeit der ) Selbstbesinnung (, einer Selbstbesinnung, die von vagen Meinungen durch Enthiillung zuruckgeht auf das originale Selbst.« (XVII, 279 f.)
Die vorwissenschaftliche Welt ist nicht eine der transzendentalen Welt gegenuberstehende Antithese, sondern: »lm transzendentalen Totalfeld des im absoluten Sinn Seienden tritt die natiirlichnaive Welt, die der (der) Transzendentalitat noch nicht bewusst gewordenen Menschen, als Korrelat auf, sie ist mit diesem ihr zugewachsenen Seinssinn selbst Moment im Absoluten.« (Dok. III!, 215)146
145 Vgl. auch folgendes Zitat wohl von 1929: »Das >Aul3er-Geltung<-Setzen der ftir mich als seiend vorgegebenen Welt, das Sie-aus-dem-Urteilsfeld-Ausschalten in dieser Vorgegebenheit, lenkt den Blick auf diese Vorgegebenheit selbst, auf mich und mein Bewusstseinsdasein, wodurch ich tiberhaupt zu einer Welthabe komme, und darunter zu meinem Mich-als-weltlich-Reales-Erfahren komme, also zu meiner Selbsthabe als Mensch. Dieses Ichsein und Ichleben, in dem und durch dessen besondere Leistung und Leistungsstruktur )Welt< als ftir mich es seiend und mit ihrem ganzen Sinngehalt sich konstituiert, ist nicht selbst weltlich Reales, es ist an sich frtiher als Welt tiberhaupt und alles einzelnen weltlichen Seienden. Andererseits ist diese Welt als aus seiner Leistung Seinssinn empfangend nichts von ihm, dem absoluten Ich und Ichleben Getrenntes, nicht etwas neben ihm und zu ihm Beziehung Habendes. Es hat zu ihm Beziehung als in ihm Konstituiertes zum Konstituierenden, und diese Beziehung Iiegt ganz und gar innerhalb der absoluten, der transzendentalen Subjektivitat.« (B II 4/82). 146 Vgl. auch das folgende Zitat: »Die Subjektivitat, als die transzendentalleistende, ist Thenla der transzendental-phanomenologischen Erkenntnis und ihres transzendental-phanomenologisierenden Subjekts. Dieses wird selbst, was es ist, in der transzendentalen Erkenntnisleistung, in ihrem SieVollziehen, und ist zugleich dieselbe, die ihr transzendentales Thema ist, insofern als sie, welche vor dem Einsetzen naiv-transzendentale, namlich die nattirliche Subjektivitat ist, und die nun die neue Einstellung und die neuen transzendental-phanomenologischen Aktionen vollziehend, was sie war, in sich birgt als ihr eigenes frtiheres Sein und Leben. Zudem geht dieses Leben und Leisten auch fort, nur so, dass es immer wieder transzendental thematisch wird in immer neuer Reflexion, und so erwachst ein Leben, das zugleich nattirliches Leben und in Strecken ausschlieBlich das ist, und transzendental-reflektierendes Leben und daraus entspringende Sinnbildung, die nun standig sich dem nattirlichen Leben auflegt und einen Horizont schafft, in dem dieses, wo immer es ansetzt, im Voraus transzendentalen Horizontsinn empfangt. Aber das transzendental-phanomenologisierende Leben, die ganze zugehiirige Aktivitat und Habitualitat kommt auch ins Thema in seiner Einheit mit dem enthtillten nattirlichen!eh und seiner Transzendentalitat, in den entsprechenden iterierten Reflexionen und in der Aktivitat der Iteration, die selbst reflexiv zuganglich ist. Das ftihrt auf eine
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Was bedeutet dies fUr das System der Phanomenologie? Auch wenn Husserl zu einem abschlieBenden Ergebnis nicht mehr gekommen sein mag, kann es doch in seinem Geiste ausformuliert werden. Die Wissenschaft als die hochste kulturelle Errungenschaft Europas 147 strebt seit Anbeginn einem im Unendlichen liegenden Limes der absoluten Selbstverwirklichung, der hochsten Selbstverantwortung, Selbstrechtfertigung und Autonomie der Vernunft zu. Auf diesem Wege kann sie zwar Krisen durchlaufen, die sie zeitweilig yom rechten Pfad abbringen; aber gerade diese Krisen sind besondere Anlasse der Erinnerung und des Gedenkens an die Urstiftungsidee. Va. durch historische Besinnung wird sie riickerinnert, in einer Re-Aktualisierung der urspriinglichen, im Wesen der Wissenschaft liegenden Idee. Die Erlangung absoluten Wissens in einem absoluten Menschentum durch Phanomenologie bedeutet aber fUr das urspriinglich naive, vorwissenschaftliche Menschentum, dass es selbst in seiner Naivitat aufgehoben wird. Dieser Prozess ist jedoch durch das eingestromte Wissen immer schon im Gange und verringert die Naivitat der Horizontbeschranktheit mehr und mehr. Korrelativ zum wissenschaftlichen Weiterschreiten auf der ins Unendliche gerichteten Asymptote wird die naiv-natiirliche Einstellung immer weiter mit nach oben »gezogen«. Wiirde man diesen zweiseitigen Prozess graphisch darstellen, so ware unterhalb der dem Unendlichen zustrebenden Linie eine zweite, ebenso dem Limes zustrebende Asymptote zu zeichnen. 1m Unendlichen selbst miissten beide Linien idealiter zusammenJallen. Ziel ist, die Differenz beider in einem absoluten Wissen aufzuheben. Oder urn es mit einer anderen Formulierung Husserls 148 zu sagen: Faktum und Idee Jallen zusammen. Es gibt nur noch ein Faktum, das als das Absolute absolut enthiillt ist. Das Absolute ist als vollkommen enthiilltes nichts als absolute Faktizitdt. Was bedeutet das nun fUr den konkreten Menschen, der fur sich dieses Absolute enthiillt? Die vollkommene Aufhebung der natiirlichen Einstellung als Einstellung der vorwissenschaftlichen Menschheit ist ein im Unendlichen liegender Prozess. Der Philosoph hat diese Einsicht fur sich bereits vollzogen und hat eingesehen, dass der Riss wieder auf einer hoheren Ebene, der des absoluten Wissens, geschlossen werden muss. Er kann zwar nicht wieder zuriick in den »paradiesischen« Zustand
hochste Stufe der Problematik: Erst da wird die transzendentale Universalitat und in gewissem Sinn der transzendentalen Konkretion erreicht.« (B 1 8/ 13a, von 23.7.1932). Vgl. auch den Brief an Marcuse vom 14.1.1932 (BW 4, 401). 147 Vgl. etwa: "Die in [der wissenschaftlichen Kultur] sich auslebende Menschheit und dieses Leben selbst haben eine besondere und axiologisch hochst zu bewertende Form, mit der diese Menschheit die hochste fur sie als Menschheit iiberhaupt geforderte Stufe erklimmt, die Stufe einer sich selbst und ihre Umwelt rein aus autonomer Vernunft und naher aus wissenschaftlicher Vernunft gestaltenden Kulturmenschheit. [... ] Nimmt man den BegriffWissenschaft und den urspriinglich damit sich deckenden Begriff der Philosophie im strengeren Sinn, so sind die alten die Griechen die Schopfer dcr Philosophic bzw. der Wissenschaft.« (XXVII, 73) 148 Vgl. hierzu den bekannten Text "Phanomenologische Reduktion und absolute Rechtfertigung«, (VIII, 497ff., insbes. 505 f.).
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der alten Naivitat, aber er hat nun eine »hohere Normalitat« (vgl. Dok. nir, 202) erreicht: eine Normalitat ohne Naivitat. 1st diese vollkommene Verheilung des Risses eine im Unendlichen liegende Idee, die dem endlichen Menschen unerreichbar ist, so driickt sich diese unerreichbare Unendlichkeit fur ihn konkret aus als regulative Idee. 149 Sie fordert nun nicht einen kategorischen Imperativ im Sinne einer konkreten Handlungsmaxime, aber als Erkenntnis »des{{ Absoluten postuliert sie doch etwas. 1st das Absolute eine hohere Einheit ohne Widerspriiche, ohne Antithesen, so fordert die regulative Idee vom Philosophen nichts anderes als die Herbeifiihrung dieser Einheit. Was ist das fur eine Einheit? Der Riss ist eine Trennung zwischen natiirlicher und philosophischer Einstellung. Die regulative Idee fordert nichts anderes als eine Einheit der Einstellung. Die Vie/heit der Einstellungen ist insofern lamentabel, als diese einer Vielzahl von Interessen verschiedener Maximen und Prinzipien folgen, ohne eine einheitliche, sie reflektierende und damit rechtfertigende »Einstellung« als Grund zu haben. 1st die natiirliche Einstellung in eine Vielzahl von Sonderinteressen und Sondereinstellungen zersplittert, die keinen einheitlichen Willen erkennen lassen, konnte man meinen, dass diese Einheit der Sondereinstellungen (im gemeinsamen Glauben an die Weltgeltung) durch die Epoche vollends zersplittert ist. 1st eine Einstellung wesenhaft durch ein Interesse oder einen Willen, im Falle des Philosophen einen Erkenntniswillen charakterisiert, so fordert die regulative Idee den Philosophen dazu auf, eine Einheitlichkeit des Willens im Absoluten zu haben. 1SO Sie fordert dazu auf, nicht mehr Einzelinteressen ohne die Leitung eines einheitlichen Willens zu folgen, sondern in allen Verhaltenszusammenhangen diesen einheitlichen Willen zu realisieren. Das heiBt natiirlich nicht, dass man nicht weiterhin in verschiedenen Zusammenhangen lebt - daran kann und will die Philosophie nichts andern -, aber sie sollen in einem einheitlichen Willen, der absoluten Einstellung, die aIle Verhaltensweisen selbstgerechifertigt niflektiv durchhellt, durchlebt werden. lSI Diese Forderung einer Einheit aller Einstellungen, wirklicher wie (ver)moglicher, innerhalb der Person, die durch die Reduktion das absolute Leben in sich entdeckt hat, kristallisiert sich schlieBlich im Begriff der absoluten oder »tranzendentalen Person« als deljenigen, die aIle ihre Lebensmoglichkeiten entdeckt und a fortiori unter die Einheit eines einheitlichen Willens und verniinftigen Lebensziels
149 Dicses Motiv der ethischen Erneuerung kommt ausdriicklich in den Kaizo-Artikeln zur Sprache, wo Husserl an die kantische Ethik ankniipft. Dieses Motiv kommt insbes. im funften Kaizo-Artikel iiber »Formale Typen der Kultur in der Menschheitsentwicklung« vor, s. XXVII, 59ff. Vgl. auch ebd., 41: »Uberhaupt ist offenbar der )kategorische Imperativ<, obschon selbst Imperativ, doch nur eine bedeutsame, aber inhaltlich leere Form fUr alle moglicherweise giiltigen individuellen Imperative von bestimmten Inhalt. « Das Neue in Husserls letzter Phase ist, dass dieses ethisch-formale Motiv nun auf die Phanomenologie selbst appliziert wird. ISO Die Begriffe »Einheit«, »Einheit einer Kultur« und »Willenseinheit« sind fur Husserl zentrale Begriffe in den Kaizo-Artikeln, vgl. insbes. XXVII, 53. lSI Vgl. auch XXXIV, 364.
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gebracht hat. Der Begriff der »transzendentalen Person(( kommt im Nachlass nur wenige Male vor, was ftir die zogerliche ZUrUckhaltung spricht, mit der Husserl ihn verwendet. Dennoch ist sie der Kulminationspunkt seiner Auffassung yom »Sinn der Reduktion( und seines transzendental-philosophischen Projekts. Alle weiteren Besinnungen auf eine transzendental-phanomenologisch fundierte Ethik miissen dieses Konzept zur Grundlage machen: »Das transzendentale leh, konkret verstanden als transzendentale Subjektivitat, ist eben die enthiillte Konkretion, die das natiirliehe mensehliehe Subjekt und darin die mensehliehe Person in ihrer Abstraktion mit befasst und dureh transzendentale Reduktion in dieser Konkretion siehtlieh gemaeht hat. Das transzendentale leh als Pol und als Substrat der Allheit der Vermogen ist sozusagen die transzendentale Person, die dureh die phanomenologisehe Reduktion zur Urstiftung kommt, die in die Universalitat des konkreten Transzendentalen eintretend sieh das voll umfassende, das alle Vermogliehkeiten ins Spiel bringende Leben zueignet und alle nun moglichen Modi, Selbsterhaltung zu iiben, zur Ausbildung bringen kann. Hierbei zeigt sieh, dass das natiirlich personale Sein und Leben nur eine transzendentale Sonderform des in allen anderen vermoglichen Wandlungen doch identisch verbleibenden Lebens (ist), namlich derselben wirklichen und moglichen Einheit des Lebens, zentriert durch denselben, in allen diesen vermoglichen Wandlungen identisehen Ichpol. Nur dass dieser Ichpol, sieh auf versehiedentliehe Spharen von Selbsterhaltungen einschrankend, dadureh versehiedene >personale( Charaktere sieh zueignet, die aber alle in zu erforschender Weise innerlich zusammenhangen.« (XXXIV, 200 f., yom Sommer 1930).152
Wollte man also mit Husserl einen kategorischen Imperativ formulieren, so miisste er lauten: Handle stets 50, dass die Maxime Deines Willens immer die Eine ist, oder: handle 50, dass Dein Wille in allen Deinen Handlungen der Eine ist.153 1st dies der Fall, so konnte die Maxime dieses Willens (einheitlich im Sinne des hoheren Willens zu sein) auch zur allgemeinen Gesetzgebung tauglich sein. Eine solche Gesetzgebung ist aber insofern nicht notig, als das ganze, dieses Handeln bewirkende philosophische Projekt von vornherein mit dem Anspruch auf Autonomie und radikaler Selbstverantwortung aus Vernunft aufgetreten ist. AuBerdem soll dieser Einheitswille eben nicht nur ftir ein Individuum, sondern ftir eine ganze Kultur V gl. auch folgende Passage: »Das transzendentale Ich ist nichts anderes als die absolute menschliche Person, die als solche objektiv erscheint, aber in dieser objektivierten Weise die Wesensmoglichkeit transzendentaler Selbstenthiillung durch die phanomenologische Reduktion in sich birgt.« (XXXIV, 246) I 53 Die Einheit der Person betont Husser! auch in seinen ethischen Reflexionen; vgl. folgende Passage aus der Vorlesung »Einleitung in die Ethik« von 1920: »Die Einheit der Zielgebung, die in der ethischen Gestalt absoluter Sollensforderung durch die Einheit eines Menschenlebens hindurchgeht, hat ja wesentlich Beziehung zur Einheit der Personlichkeit, sofern die Personlichkeit es ist, die im Wollen will, im Handeln handelt und sofern ihre Charaktereigenschaften die Willensrichtung offenbar und erfahrungsmaJ3ig mitbedingen.« (F I 28/ I4a) - Diese Bemerkungen werden also durch den Begriff der »transzendentalen Person« gewissermaJ3en transzendental untermauert.
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gelten, die in ihren Sonderinteressen und Sonderwelten fUr Husserl als Personalitat hoherer Ordnung gefasst wird. Folgende Stelle sei stellvertretend zitiert: » Die transzendentale Epoche ist also diejenige totale Umstellung des Ich als standig in seinem Aktleben lebenden, in welcher das Ich des geradehin auf dem Weltboden Lebens einen neuen Lebenswillen fasst, anstatt aufgrund dessen, was es schon in sich als seinen Willensbestand in seine Habe aufgenommen hat, und so auf dem Grunde !angst erworbener Habe weitere Haben und neue Haben zu wollen, vielmehr den Willen, sich selbst in seinem ganzen bisherigen und von da als kunftig vorgezeichneten Sein [... J kennen zu lernen: gegeniiber dem mich im gewohnlichen Sinn von Ich als menschliche Person kennenlernen Wollen, das den Horizont Welt als seiend geltende Welt als Boden hat, steht das transzendentale Mich-Kennenlernen, mich, das letztlich und wahrhaft konkrete ego. [... J Das ist wirkliche, echte, letzte, absolute Selbsterkenntnis als unendliche Aufgabe; sehr bald ftihrt sie in ihrer rein immanenten Ausftihrung zur Scheidung transzendentaler Anderer als im ego implizierter von mir als sich von ihnen unterscheidendem und mit ihnen dabei vergemeinschafteten Ich, und damit wird Selbsterkenntnis bald zur absoluten Wir-Erkenntnis, zur Erkenntnis der absoluten Allsubjektivitat, in deren Konkretion sich die Welt als Welt ftir alle, als allgemeine Habe konstituiert.« (VI,472)
Diese »ethische« Interpretation der transzendentalen Phanomenologie kann aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass Husserls Projekt in Hinsicht auf eine gesamtgeschichtliche Teleologie nicht nur unrealisierbar - was durch die Betonung der im Unendlichen liegenden Idee immerhin noch »abgefedert« wird -, sondern auch im Ganzen widersinnig ist, insofern sie in immer weiter fortschreitender Idealisierung die natiirliche, vorwissenschaftliche Einstellung authobe und sich dadurch selbst den Boden entzoge - und damit allen weiteren wissenschaftlichen Bemiihungen. Auch fur eine Obertragung der teleologischen Struktur vom Individuum auf die Gesellschaft (wobei die implizit vorausgesetzte Bestimmung als »Mensch im GroBen« in sich selbst problematisch ist) kann kein phanomenologisches Argument geliefert werden. Dieser Schluss ware Spekulation, iiber deren Wahrheit allein die Geschichte entscheiden kann. Wenn man also Finks und Husserls Position gegeneinander halt, so zeigt sich, class beide in der radikalen Konsequenz ihres Ansatzes wiederum eine Antithese bilden, sofern der eine proklamiert, die natiirliche Einstellung konne nicht aufgehob en werden, der andere, sie konne und miisse sogar aufgehoben werden. Muss man nun bei der Anerkenntnis dieser unauthebbaren Antithese stehen bleiben oder kann man noch einmal versuchen, hier eine Vermittlung herzustellen? Dieser Frage sei ein kurzer Ausblick gewidmet.
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4.5. 5chluss und Ausblick: der Fortschritt von Philosophie und Wissenschajt und die Unaujhebbarkeit der natUrlichen Einstellung Die Untersuchung ging aus von der natiirlichen Einstellung. Diese erweist sich als Heimat- und Ursituation der normalen, und das heiBt natiirlichen, naiven und normalen Menschheit. Der Versuch, sie zu verlassen, Husserls urspriingliche Frage nach dem Wie der Reduktion, ftihrt zuriick zur Urstiftung der Wissenschaft durch die antiken Griechen. Hier ist ein erstes Aufbrechen der heimweltlichen Beschranktheit erstmals zu erkennen. Erst in hoherer, auf die absolute Urstiftung relativer Neustiftung ist die Reduktion auf die transzendentale Subjektivitat moglich, die aber schon ihre ersten Durchbriiche in der philosophischen Tradition in Descartes< ego dubito eJgo cogito, in der Transzendentalphilosophie Kants und den Bewusstseinsanalysen der englischen Empiristen - hatte. Treten Wissenschaft und Philosophie aber ihrem Wesen nach auf mit dem Anspruch nach einer universalen, umfassenden Welt- und Selbsterkenntnis, so muss auch die Phanomenologie - diese Urstiftungsidee iibernehmend, neuformulierend und weitertragend - den missionarischen Anspruch eines vollendeten, absoluten Wissens auf die restliche Menschheit ausweiten; dies ist »erkenntnis-ethisches« Postulat. Die Mitteilung geschieht zunachst an die Mitglieder der wissenschaftlichen Zunft, sodann aber durch das in die natiirliche Einstellung eingestromte Wissen an die restliche Menschheit. Aber der Kritik Finks folgend, muss man feststellen, dass es in sich widersinnig ist, die natiirliche Einstellung zur philosoph is chen (absoluten) zu machen. Dennoch bleibt der Befund Husserls festzuhalten, dass immer schon wissenschaftliches Wissen in die natiirliche Einstellung eingestromt ist und sich in ihr als verftigbare Habe sedimentiert hat (auch wenn man dem Einstromen transzendentalen Erfahrungserwerbes in die Welt skeptisch gegeniiberstehen mag). Also kann man doch in der Tat eine gewisse »Emporhebung« »unserer« natiirlichen Einstellung, d. h. der der europaisierten Menschheit im 21. Jahrhundert konstatieren; unsere Welt ist nicht mehr die der Griechen oder neuerer Zeiten, sondern weitaus komplexer, technisierter, organisierter, etc., mit einem Wort wissenschajtlicher. Mit den Kulturen entwickeln sich Moral-, religiose und wissenschaftliche Vorstellungen und Ideale. 1st die Entwicklung teleologisch, also doch die eines Aufhebens - oder nur Emporhebens? Es ist in der Tat ein Emporheben, das, in weit in die Zukunft schauender Antizipation, ein Verwissenschaftlichen oder eine Technisierung der Menschheit bedeuten wiirde, sei dies nun erwiinscht oder nicht. Die Normalitat der natiirlichen Einstellung strebt einer hoheren Normalitat zu, die sich als im Unendlichen liegende Idee mit dem wissenschaftlichen Leben einmal decken konnte. Jedoch besteht die Menschheit als offene, in infinitem Konnex befindliche Generationenfolge immer wieder aus Menschen, die geboren werden und in ihrer ))weltkindhaften Naivitat« in die Welt hineinleben, zu normalen Vernunftsubjekten heranwachsen
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und in der ihnen vertrauten Heimwelt leben, ohne Wissenschaftler oder Philosophen zu werden, gleichzeitig aber in einer mehr und mehr von Wissenschaft durchtrankten Lebenswelt leben. Keine Heimwelt - zumindest in den Landern des» Westens« - ist heutzutage mehr eine vorindustrielle Idylle. Anders gesagt: 1st es die Normalitat der natiirlichen Einstellung, die in weiterem erkenntnismal3igen Fortschreiten immer hohere Stufen erklimmt, so kann doch die Kehrseite dieser Normalitiit, die Naivitiit, nie aufgehoben werden. Sie geht bei aller noch so rasanten Entwicklung immer mit. Naivitat in der ersten Bedeutung des Nichtwissens-um kann nie vollstandig aufgehoben werden, auch wenn Individuen diese Naivitat fUr sich durchschauen und damit durchbrechen und als Individuen nie wieder erlangen konnen, sondern in hoherstufiger Reflexion eine hohere Normalitat fUr sich etablieren. Die Naivitat der natiirlichen Einstellung als ursprungliche, unmittelbare Einstellung fur aile unci aller ist das unaufhebbare »Synthema«, auch wenn ihre prominente »Vorderseite«, die Normalitat, immer weiter fortschreitet. Die Basisfunktion der Lebenswelt, ihre unmittelbare und unvermittelte Natiirlichkeit im Sinne des In-sie-Hineingeborenseins, kann nie aufgehoben, nur durchschaut werden, und es ist gerade die Aufgabe der Philosophie, diese Basalitat in Erinnerung zu halten und nicht zu idealisieren bzw., was das Gleiche bedeutet, als trivial zu (v)erachten. Dabei darf diese Erinnerung an die Basalitat der Lebenswelt nicht als ein (neo- oder pseudo-)romantischer Ruf zu einem vorwissenschaftlichen paradiesischen Zustand verstanden werden, wenn »vorwissenschaftlich« bedeutet: frei von Wissenschaft, sondern als ein Verweis auf ein vorwissenschaftliches Leben, das weder davon weiB, dass es wissenschaftlich oder auch nur vorwissenschaJtlich ist, auch wenn es in Wahrheit von Wissenschaft durchtrankt ist. Es ist die Aufgabe der transzendentalen Phanomenologie, diese vorwissenschaftliche Welt freizulegen und d. h. von den sie iiberformenden Sinnschichten zu befreien, und sie als ausdriicklichen Forschungsgegenstand zu thematisieren. Nur eine so formulierte Transzendentalphilosophie kann dieser Basalitat gerecht werden; erst die Phanomenologie kann daher die eigentliche Aufgabe der Philosophie erfullen, die Welt als das, was sie vor aller verzerrenden Interpretation ist, zu enthiillen. Somit ist das eigentliche Thema der husserlschen Philo sophie nichts anderes als die so verstandene Welt. In der transzendental-phanomenologischen Enthiillung dieser vorwissenschaftlichen Welt in ihrer Konstitution bleibt die Phanomenologie beschreibend und bar aller metaphysischen oder spekulativen Konstruktionen, auch wenn die Freilegung der immer unthematischen Lebenswelt, die der natiirlichen Einstellung vorgegeben ist, ihrerseits »theoriegeladen« sein mag und daher immer wieder reflektiert werden muss. Fiir die Leistung der Phanomenologie gilt aber: »Insbesondere tut sie hinsichtlich der objektiven Welt der Realitaten [oo.J nichts anderes - das kann nicht oft genug eingescharft werden - als den Sinn auslegen, den diese Welt ftir uns aIle vor jedem Philosophieren hat und offenbar nur aus unserer
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Erfahrung hat, ein Sinn, der philosophisch enthullt, aber nie geandert werden kann und der nur aus Wesensnotwendigkeit, und nicht aus unserer Schwache, in jeder aktuellen Erfahrung Horizonte mit sich ftihrt, die der prinzipiellen Klarung bediirfen.« (1, 177, Kurs. erg.)
Was bedeutet das fur das System der Phanomenologie? Es gehort zum Wesen der Phanomenologie, dass sie in der standigen Spannung leben muss zwischen der wissenschaftlichen Klarung der unendlich offenen, unenthtillten Horizonte einerseits und andererseits der Anerkenntnis und standigen mahnenden Erinnerung (auch fur sich selbst!) an die Basalitat der Lebenswelt, die sie zwar immer tiefer erkennt, die damit aber die Bedeutung der vertrauten Welt fur uns aile nicht verlieren darf. Das System kommt zum Abschluss, indem es seine UnabschlieBbarkeit erkennt und sich auf Basisarbeit zuriickverwiesen sieht. Diese Erkenntnis ist aber ihrerseits Ergebnis einer spekulativen Reflexion auf die Horizonte der transzendentalen Phanomenologie, einer »Phanomenologie der Phanomenologie«. Wer Phanomenologe ist und bleiben will, muss sich damit abfinden, nie tiber diese Stufe hinauszukommen. Inwiefern es daher philosophisch redlich, geboten oder gar notwendig ist, die Phanomenologie hinter sich zu lassen, ist eine Frage, die - als vom Phiinomenologen unbeantwortbar - offengelassen werden muss.
Die methodologische Reflexion, die phanomenologische Selbstkritik, wie sie hier mit Hussed nachvollzogen wurde, vollendet das System, indem es nicht nur der konkreten Vollendung in Form eines noch so viele Bande umfassenden Systems eine Absage erteilt - eine Erkenntnis, die Hussed wohl nur widerwillig gelten lieBe -, sondern auch mit Hilfe des methodischen Instrumentariums die Moglichkeit schafft, die Grenzen der transzendentalen Phanomenologie zu reflektieren und sich selbst im Lichte dieser Kritik zu beschranken, aber auch zu verantworten und zu behaupten. Die fruchtbare Provokation Finks - und als mehr kann sie jedenfalls in dieser Phase seiner philosophischen Entwicklung nicht bezeichnet werden - liegt in erster Linie darin, Hussed auf diesc Grenzen gestoBen und gleichzeitig deutlich gemacht zu haben, dass man sich, wenn man einen ausgepragten Systemanspruch, wie Hussed, hegt, von spekulativem Denken nicht dispensieren kann. Die Konsequenzen eines solchen spekulativen Ansatzes fur eine Philosophie im Stile der hussedschen Phanomenologie soil ten hier ausformuliert werden. Vielleicht gilt letztlich doch Husserls eigenes Bekenntnis, das, im Jahre 1933 evtl. in einem Anflug von Resignation ausgesprochen, gleichzeitig Anspruch wie Grenzen seiner Philosophie andeutet:
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»Meine Philosophie, bitte ich Sie, nicht ein >System < zu nennen. Denn es ist gerade ihr Absehen, alle >Systeme< fUr immer unmoglich zu machen. Sie will strenge Wissenschaft sein, die in unendlichem Progress systematisch ihre Probleme, Methoden und Theorien erarbeitet.«154
154 Husser! an Welch am 9.5.1933,
BW
6,456.
Literaturverzeichnis Zur Zitierweise: Schriften Husserls werden nach der romischen Bandnummerierung der Husserliana und arabischer Seitenzahl (z. B. I, 3 = Hua. I, S. 3), Passagen aus dem Nachlass nach der archivinternen Signatur im Husserl-Archiv zitiert (z. B. B I 51 12a, mit Datierung, sofern vorhanden). Philosophische Klassiker werden mit iiblicher Abkiirzung gemaB der gangigen Ausgabe angegeben (s. Abkiirzungsverzeichnis, S. XI). Die VI. Cartesianische Meditation wird nicht unter dem missverstandlichen, Husser! als Verfasser suggerierenden Tite! »Hua.-Dokumente III! bzw. 2«, sondern als »VI. eM« zitiert, sofern der Text Finks gemeint ist. Die von Husser! stammenden Randbemerkungen, Verbesserungen und Erganzungen zum finkschen Text werden als »Dok. III! bzw. III2« zitiert. Ubrige Literatur wird zitiert unter Angabe des Verfassers, des Erscheinungsjahres plus Seitenzahl (z. B. Bernet 1989, 3), mit nur einem Tite! vertretene Autoren bei Mehrfachzitierung ohne Jahrgang (z. B. Marbach, 4). Titel derjenigen Autoren, die in einem Jahr mehrere Tite! aufweisen, werden mit einem kleinen Buchstaben nach der Jahreszahl zitiert (z.B. He!d 1980b, 2). Titel eines Autors werden alphabetisch aufgelistet. Als Hervorhebung wird einheitlich die Kursivierung benutzt. 1m Text wird die neue deutsche Rechtschreibung nach der seit dem I. August 1998 giiltigen, neuen »amtlichen Rege!ung der deutschen Rechtschreibung«, soweit moglich und der philosophischen Bedeutung nach sinnvoll, verwendet.
I.
1. 1.
Werke
HUSSERLS
Innerhalb der Husserliana
Edmund: Gesammelte Werke, Husserliana (Hua.), Den Haag/Dordrecht 1950if., ab 1987 If Dordrecht I Boston I London. I: Cartesianische Meditationen und Pariser Vortriige (1931). Hrsg. v. Strasser, Stephan, 1950. II: Die Idee der Phiinomenologie. Funf Vorlesungen (1907). Hrsg. v. Biemel, Walter, 1950. ml!: Ideen zu einer reinen Phiinomenologie und phiinomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Einftihrung in die reine Phanomenologie (1913), neu hrsg. v. Schuhmann, Karl, 1976. ml2: Ideen zu ciner reincn Phiinomcnologie und phiinomcnologischcn Philosophie. 2. Halbband: Erganzende Texte (1912-29), neu hrsg. v. Schuhmann, Karl, 1976. IV: Ideen zu einer reinen Phiinomenologic und phiinomcnologischcn Philosophic. Zweites Buch: Phanomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952. v: Ideen zu einer reinen Phiinomenologie und phiinomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Phanomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952. VI: Die Krisis der europiiischen Wissenschqften und die transzendentale Phiinomenologie. Eine Einleitung in die phanomenologische Philosophie. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1954. VII: Erste Philosophie. Erster Teil: Kritische Ideengeschichte (1923/24). Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1956. HUSSERL,
3 10
LITERATURVERZEICHNIS
VIII: Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phanomenologischen Reduktion (1923/24). Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1959. IX: Phiinomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1962. X: Zur Phiinomenologie des inneren Zeitbewt1f3tseins (1893-17). Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1966. XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanusripten 1918-26. Hrsg. v. Fleischer, Margot, 1966. XII: Philosophie der Arithmetik. Mit erganzenden Texten (1890-190 I). Hrsg. v. Eley, Lothar, 1970. XIII: Zur Phiinomenologie der Intersubjektivitiit. Texte aus dem Nachlass (1905-20). Hrsg. v. Kern, Iso, 1973. XIV: Zur Phiinomenologie der Intersubjektivitiit. Texte aus dem Nachlass (1921-28). Hrsg. v. Kern, Iso, 1973. XV: Zur Phiinomenologie der Intersubjektivitiit. Texte aus dem Nachlass (1929-35). Hrsg. v. Kern, Iso, 1973. XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hrsg. v. Claesges, Ulrich, 1973. XVII: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Hrsg. v. Janssen, Paul, 1974. XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Hrsg. v. Holenstein, Elmar, 1975. XIX/r: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. I. Tei!. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1984. XIXI2: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. II. Tei!. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1984. XXIII: Phantasie, Bi!dbewusstsein, Erinnerung. Zur Phanomenologie der anschaulichen Vergegenwartigungen. Texte aus dem Nachlass (1898-1925). Hrsg. v. Marbach, Eduard, 1980. XXIV: Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07. Hrsg. v. Melle, Ullrich, 1984. xxv: AujSiitze und Vortriige (1911-21). Hrsg. v. Nenon, Thomas und Sepp, Hans Reiner, 1987. XXVII: AujSiitze und Vortriige (1922-37). Hrsg. v. Nenon, Thomas und Sepp, Hans Reiner, 1989. XXIX: Die Krisis der europiiischen Wissenschciften und die transzendentale Phiinomenologie. Erganzungsband. Texte aus dem NachlaB 1934-37. Hrsg. v. Smid, Reinhold N., 1993. xxx: Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen 1917/18, mit erganzenden Texten aus der ersten Fassung 19101 I I. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1996. XXXI: Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung » Transzendentale Logik « 1920121. Erganzungsband zu »Analysen zur passiven Synthesis<<- Hrsg. v. Breeur, Roland, 2000. XXXII: Natur und Geist. Vorlesungen 1927. Hrsg. v. Weiler, Michael, 2001. XXXIII: Die Bernauer Manuskripte aber das Zeitbewusstsein (1917118). Hrsg. v. Bernet, Rudolf und Lohmar, Dieter, 2001. XXXIV: Zur phiinomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926--35). Hrsg. v. Luft, Sebastian, 2002. XXXV: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23, hrsg. v. Goossens, Berndt, 2002. Husserliana-DokumenteI: Karl Schuhmann: Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag 1977. Husserliana-Dokumente II: VI. Cartesianische Meditation (s. u. unter Fink) Husserliana-Dokumente III, Briifwechsel. In Verbindung mit Elisabeth Schuhmann hrsg. v. Schuhmann, Karl, Dordrecht I Boston 1 Lancaster 1994 (Bd.e l-g mit einem Erganzungs- und Registerband [so u. unter Schuhmann]).
LITERATURVERZEICHNIS
1.2.
3I I
AuJ3erhalb der Husserliana
Eifahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Redigiert und hrsg. v. Landgrebe, Ludwig. Hamburg 3 1964. Phiinomenologische Methode und phiinomenologische Philosophie. (Londoner Vortrage 1922). Hrsg. v. Goossens, Berndt, in: Husser! Studies 16 (3), 1999, S. 183-254.
2.
Weitere Literatur
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