Science Fiction Nr. 204
Roger Demon
Planet auf Kollisionskurs
Plötzlich flogen sie durch die Luft und stürzten unsa...
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Science Fiction Nr. 204
Roger Demon
Planet auf Kollisionskurs
Plötzlich flogen sie durch die Luft und stürzten unsanft zu Boden. Fauchend fegte die Druckwelle über sie hinweg. Staub-, Sand- und Schneefahnen schossen in Vorhängen umher. Die unverhofft aufgerührte Atmosphäre bildete Wirbel und Wolken. Mehrere Wirbelschläuche tänzelten in alle Richtungen auseinander und verloren sich, ohne Schaden anzurichten. Hug Mansfield war zuerst wieder auf den Beinen. Er begriff so wenig wie Auk Norden und Garry Janner, was passiert war. Erst half er ihnen hoch und überzeugte sich, daß ihnen nichts passiert war. »Jilly, Roxer, meldet euch!« Hug rief über Funk. Das Mikrofon samt Sender waren Bestandteil des Zierrevers der Kombination. Die beiden gehörten zur gleichen geologischen Gruppe. Sie hatten die Bohrsalve angebracht, mit der sie nach Jupitan suchten. Das heißt, sie suchten es nicht mehr. Sie wußten, daß sie ein ausgedehntes Jupitanfeld unter den Füßen hatten. Dieses metallische Öl mußte gefördert werden. »Roxer, Jilly, bitte melden«, wiederholte Auk Norden unbehaglich. Außer ihren Worten war es augenblicklich beängstigend still. Kein Lüftchen regte sich mehr. Garry Janner warf beiden Männern besorgte Blicke zu. Es kam ihm auf einmal sinnlos vor, hier in der Einöde der schneesandigen Hügellandschaft herumzustehen. Der kurze Sturm hatte ihre Meßstangen davongeblasen. Trotz des nahen Horizonts, hervorgerufen durch die starke Kugelkrümmung Ganymeds, mußten Jilly und Roxer zu sehen sein. Das waren sie aber nicht. »Wir müssen hin«, sagte Auk rauh. Er war der Boß. »Hilft nichts, gehen wir zu Fuß!«
Es war hell genug. Man konnte bis zum Horizont alle Details erkennen. Die Atmosphäre war noch vor tausend Jahren giftig und dünn gewesen. Heute saugte sie das Licht der fernen, stecknadelkopfgroßen Sonne regelrecht an und mischte es mit dem des Jupiter, der gegenwärtig auf der abgewandten Seite stand. Sie trampten los. Dünner Schneestaub wedelte hinter ihnen her. Er verdeckte das schroffe Gestein, das diesen Jupitermond beherrschte. Es lag allerdings stellenweise metertief unter dem staubfeinen Schneesand. Und der verlieh der hügeligen Formation den scheinbar sanft geschwungenen Landschaftscharakter. Das war jedoch gefährlich. Der Schneesand, keineswegs weiß, war wie ein Sumpf. Die Unkenntnis, sich richtig darin zu bewegen, hatte häufig tödliche Folgen. Doch nur in Gebieten der Schneesandsümpfe war Jupitan zu finden. Geologen wußten natürlich, wie man in solch einem Gelände vorankam. Es war nie möglich gewesen, in Schneesandsümpfen Flora anzusiedeln. Pflanzen hätten erheblich dazu beitragen können, die Atmosphäre stabil zu halten. Lange Zeit rätselte man herum, aus welchem Grund der Boden keinerlei Sporen annahm, weshalb Samen darin nicht keimten und Setzlinge eingingen. Selbst Geologen vermieden es, in Sandsümpfen größere Strecken zu Fuß zu gehen. Sie benutzten gewöhnlich die Rollschweber, kurz »Ros« benannt. Solange man zurückdenken konnte, waren »Rösser« die bevorzugten Fortbewegungsmittel. Doch nun mußten sie laufen. Sie taten es mit der gebührenden Sorgfalt. Deshalb kamen sie trotz der geringen Schwerkraft nicht sehr schnell voran. Bis auf Garry Janner waren sie alle auf Ganymed geboren. Ganymed hatte etwa eine Million Bewohner. Sie lebten in
dem Dutzend ehrwürdiger alter Kuppelstädte. Der Begriff Stadt war allerdings nicht richtig. Es handelte sich um ausgedehnte Siedlungen im althergebrachten Bungiglu-Stil inmitten von Grünanlagen. Das heißt, man sagte Grünanlagen dazu, obwohl die Flora alles andere als grün aussah. Die Kuppeln hatten, seit die Atmosphäre genügend Druck besaß, atembar war und ausreichend Wärme spendete, ihre Bedeutung weitgehend verloren. Man hielt aber viel von Traditionen, und die Kuppeln waren ein Ausdruck dafür. Manchmal war man sogar froh, daß es die Kuppeln gab und daß sie auch funktionierten. »Da vorn ist ein Loch«, sagte Auk Norden auf einmal seltsam hohl. »Und was für ein Loch! Und – die Rösser sind weg!« Die hatten nämlich Roxer und Jilly benutzt, um Werkzeuge und Sprengsätze vor Ort zu transportieren, während Auk mit seiner Gruppe einen Kilometer entfernt den Meßplatz einrichtete. Daß die immer noch rätselhafte Druckwelle ihre Meßstangen fortgeblasen hatte, beunruhigte sie augenblicklich nicht. Nüchtern und trotz Schreck beherrscht genug, suchten sie zuerst nach Roxer und Jilly. »Das war vorher nicht da«, stellte Hug Mansfield fest. Er hatte die beabsichtigte Stelle für die Bohrsalve selber ausgesucht. Deshalb wußte er, wie es hier zuvor ausgesehen hatte. Das Loch war ein Trichter, etwa zehn Meter tief. Schon die veränderte Farbe des Schneesandes deutete auf eine Explosion hin, und zwar auf eine ungewöhnliche Explosion. Noch bevor sie anfingen zu untersuchen, waren sie sicher, daß Jilly und Roxer ihr zum Opfer gefallen sein mußten. Keiner verlor ein Wort über die schreckliche Vermutung. Die bewegte sie zutiefst, obwohl sie immer mit Zwischenfällen rechnen mußten. Die Meßgeräte, die sie bei sich trugen, genügten für erste Analysen.
»Radioaktiv!« Hug betrachtete verblüfft den blinkenden Stab. Sie waren noch mitten dabei, als sich Auk aufrichtete. »Mayday – Mayday – Expedjup-drei in Not!« Er hatte nur einen Knopf am Mikrofon – dem Zierstück des Revers – drücken müssen, um über Satellit die Expeditionszentrale anrufen zu können. Nachdem er ihre Position genannt hatte, gab er einen kurzen Lagebericht samt der makabren Vermutung. Kein Mensch wußte, weshalb jeder Notruf mit »Mayday« begann. Bei Signalgebern hatte man einen XR-Code dafür. Auf Sprechfunk hieß es nun einmal »Mayday«. »Expedjup-III von Exped-Cen Georgiacity: verstanden. Wir entsenden Entsatzros. Versucht inzwischen, Details und Verbleib Roxers und Jillys zu ermitteln. Halt – wartet: Soeben erste Grobanalyse des Computers nach Schilderung. Kleine Atomexplosion nicht ausgeschlossen. Erhöhte Vorsicht wegen Strahlung. Es kann ein Weilchen dauern, bis Ros eintrifft. Kurier ist noch unterwegs von Torontocity nach hier. Im Security-Obs ist irgendwas los. Security-Cen Ganymed hat auf Space Place Alarm ausgelöst. Wir halten euch auf dem laufenden. Roger.« Keiner von ihnen hatte viel Sinn für die Alarmspiele der Raumhafenbehörde. Ganymed besaß nur einen Raumhafen, den »Space Place Toronto«. Der interne Jupiter-Verkehr, ohnehin nur Personen- und Güter-Trafik zwischen den vier bewohnten Monden, bedurfte keiner Raumhäfen. Zu weiter entfernten Zielen wie Mars, Venus, Titan und Erdmond ging alle zehn Stunden ein Raumschiff im Direktverkehr. Der interstellare Verkehr lief über den Marsorbit, wobei die beiden Monde ideale Transfer-Stationen boten. Es dauerte einige Zeit, bis sie erste Trümmerstücke fanden. Die ließen keinen Zweifel mehr zu, daß es eine atomare Mini-
explosion gewesen war. Mit ihr war alles verglüht – bis auf die paar Trümmer. »Hug, schau mal!« Garry Janner hob Metallfragmente auf, die etwas entfernter vom Kraterrand im Schneesand lagen. Daß sie erst vor kurzem und gewaltsam dorthin geschleudert worden waren, bezeugten die scharfen Abdrücke. »Es ist also nicht alles in den Minigluten vergangen. Aber das hier ist kein Hellid, kein Hydrotan, das ist Aluminium! Hatten wir Instrumente aus Aluminium?« »Du bist lustig«, rief Auk von der anderen Seite. Auch er hatte undefinierbare Metallfragmente gefunden und aufgehoben. Er war aber kein Metallurg, der auf den ersten Blick erkennen konnte, was er in den Händen hielt. »Ist mal egal, was das für Zeug ist. Der Feuerball kann nicht groß gewesen sein. Oder hast du einen Lichtblitz bemerkt? Atomare Explosionen habe ich mir anders vorgestellt.« »Auf alle Fälle sind Roxer und Jilly darin umgekommen«, sagte Hug Mansfield, Er lief mit der Meßsonde herum, durch den Krater von beiden getrennt. Der Krater strahlte gefährlich, allerdings geradlinig nach oben. »Aber Garry hat recht. Ich registriere Spuren von Aluminium und purem Eisen.« Auk Norden richtete sich auf und schaute verblüfft zu Mansfield hinüber: Eisen war ein noch selteneres Metall als Aluminium. Auf Ganymed gab es kein Eisen. Es gab auf keinem Mond Eisen. Aluminium existierte nur in verarbeiteter Form, eingeführt von Mars und Erdmond. »Kommt mal alle her«, rief Garry. Er hielt ein dünnes Metallplättchen in der Hand. »›Boeing AC & SC Company Seattle Washington 1991, Space Craft Part IX, Serial Number 21 328 931‹. Der Rest ist nicht mehr zu lesen. Habt ihr eine Ahnung, was das sein soll?« Beide, Mansfield und Norden, eilten um den Trichter zu dem Metallurgen, um das bemerkenswerte
Objekt selber zu sehen. Es war dank der ständigen Funkverbindung zwischen ihnen eigentlich unnötig zu rufen. Die seit ewigen Zeiten überlieferte Technik hatte menschliche Gewohnheiten nicht beseitigt. In Städten war das PSG sogar überflüssig. Es gab noch eine ganze Reihe technischer Selbstverständlichkeiten, die zumindest in den Städten nicht benötigt wurden. Man benutzte sie dennoch – ein traditionelles Relikt aus den Jahrhunderten kosmonautischer Pionierzeit. Die lag schon Jahrtausende zurück. Im Bewußtsein der Menschheit verschwammen die Zeitbegriffe. Nur Experten vermochten sie mathematisch genau zu definieren. Im Zeitalter intergalaktischer Reisen war die Zeit als Meßwert relativ bedeutungslos geworden. Die Menschheit besaß andere Maßstäbe. Man rechnete mit 1,350 Millionen Stunden für ein Lebensalter. Alles übrige unterlag weitaus weniger konkreten Zeitbegriffen. Die Stunde, auf der Basis des Atomzerfalls, hatte 100 Minuten, jede Minute 100 Sekunden. »Ich werde euch sagen, was das ist«, meinte Garry grübelnd, nachdem die beiden Kollegen das dünne Plättchen genug bestaunt hatten. »Das ist ein Schild, ein Fabrikationsschild. In anderer Form hat jedes technische Produkt heutzutage so etwas auch. Das hier ist uralt.« »Wie kommst du darauf, Garry?« fragte Mansfield interessiert. »Es hat wirklich nicht die geringste Ähnlichkeit…« »Ich weiß zwar nicht, was das sein soll«, unterbrach Auk Norden skeptisch. »Was es auch immer bedeutet, ich sehe keinen Zusammenhang mit der rätselhaften Explosion.« »Doch, ich schon.« Garry nickte schwer, als kostete es ihn Mühe, in seinem Gedächtnis zu suchen und das Resultat in Worte zu kleiden. »Es ist ja nicht so, daß die alte Zeit restlos
vergessen ist! Mir erscheint es nur unglaublich, daß ich hier ein Requisit der Altzeit in der Hand halte. Seit dreitausend Jahren leben Menschen auf Ganymed. Und in dieser ganzen Zeit soll es nie jemand vor uns entdeckt haben?« »Garry, ich halte eine ganze Menge von dir«, erklärte Norden so skeptisch wie bisher, »aber was das angeht: du spinnst! Es gibt keinen Quadratmeter, der nicht bekannt ist.« Janner lachte lustlos. »Ich will dich nicht überzeugen, Auk, aber du wirst dem Exped-Cen erklären müssen, wie und warum Jilly und Roxer ums Leben gekommen sind.« »Du spinnst wirklich«, fing der hagere Mann wieder an. »Ich glaube nicht«, fiel Hug ihm ins Wort, der eine bessere Ausbildung besaß als Norden. »Ich bin zwar nicht so klug wie Garry, der ja auch Astronaut ist, aber mir dämmert etwas. Im Technikum lernt man, daß Raumschiffe früher, sehr viel früher, noch halbmanuell gefertigt wurden. Dazu bedurfte es riesiger Fabrikationsanlagen. Die wiederum hatten Namen. Boeing Aircraft and Spacecraft Company war so eine. Was Seattle ist, weiß ich nicht. Es gibt keinen Mond, keine Stadt mit diesem Namen im ganzen Planetensystem.« »Seattle war eine Stadt auf der Erde«, sagte Garry Janner mit bedeutsamer Stimme. »Vielleicht gibt es sie heute noch, wer weiß?« »Meinetwegen, aber einen Zusammenhang sehe ich trotzdem nicht«, beharrte Auk. »Zugegeben, das Schild und die bemerkenswerten Metallfragmente müssen irgendwann hierhergekommen sein. Die eine Frage ist: wann? Die andere: Was hat das mit der Explosion zu tun?« »Ich kann euch nur eine Spekulation anbieten«, erwiderte Janner nachdenklich. »1991 ist eine Jahreszahl. Wir haben heutzutage eine andere Zeitrechnung. Über den Daumen gepeilt liegt dieses 1991 mehr als dreitausend Jahre zurück. Zu
dieser Zeit kam dieses ›Space Craft‹ hierher, zu dem das Schild gehört.« »Was für einen Sinn hätte das haben sollen?« Auk Norden zweifelte immer noch. »Tja, die Erde ist nun mal die Wiege der Menschheit, Auk, das Paradies, auch wenn sich viele dessen nicht bewußt sind. Soviel ich aus der Galaxy-Historie behalten habe, betrat im Jahre 1969 zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Himmelskörper, nämlich den Erdmond. Zu den Planeten wurden unbemannte Sonden geschickt. Die Trümmer, die wir hier sehen, sind der Rest einer solchen.« »Na schön, soviel habe ich auch behalten, obwohl die trockene Materie der Historie nie mein Fall war«, gab Norden zu. »Hier ist vor Jahrtausenden so ein Ding abgestürzt. Wo ist da der Zusammenhang?« »Der ist reichlich bitter«, sagte Janner leise, denn irgendwie konnte er es sich zusammenreimen. »Viele Sonden wurden von Atomreaktoren gespeist. Die waren schon ziemlich betriebssicher. Die Wahrscheinlichkeit, daß einer nach Jahrtausenden noch aktiv sein könnte, war praktisch Null. Ob die Sonde hier abgestürzt oder geplant gelandet und im Laufe der Zeit zugeweht war, weil sie bisher niemand entdeckt hatte, lassen wir mal dahingestellt. Irgendwie mußten Jilly und Roxer das Ding angesprengt haben…« »Eine sehr gewagte Hypothese«, murrte Norden unzufrieden. Er hielt zwischendurch Ausschau nach dem angekündigten Ros. »Nach Jahrtausenden funktioniert kein Atomreaktor mehr…« »Darüber brauchen wir uns angesichts der makabren Tatsachen nicht zu streiten«, erwiderte Janner gelassen. »Ich bin kein Kernphysiker, um das unwahrscheinliche Phänomen erklären zu können. Fast genauso bedauerlich wie Jillys und Ro-
xers Tod ist der Verlust dieses mehr als dreitausend Jahre alten irdischen Space Craft, wie man das damals genannt hatte. Soviel ich weiß, gibt es in keinem Museum des Planetensystems ein solches antikes Wertstück.« Eine Staubwolke am Horizont, die scheinbar aus dem aufgehenden Jupiter herauskam, kündigte an, daß sich das erwartete Ros näherte. Diese Fortbewegungsmittel, Typen aller Größen und für alle möglichen Zwecke, schwebten und rollten je nach Geländebeschaffenheit vornehmlich nach Luftkissenprinzip mit Rückstoßantrieb. »Ein Ding von der Erde aus der Altzeit«, murmelte Norden, nun überzeugt und beeindruckt. Er hatte die Spur des Ros’ auch erblickt, hatte es aber nicht mehr eilig. »Das ist ’n Ding! Ich glaube, wir sollten das Gelände zum Sperrgebiet erklären, bis die Überreste geborgen sind.« »Gib es ans Exped-Cen durch«, sagte Hug Mansfield lapidar. »Dürfte die interessieren. Wenn sich bestätigt, was Garry sagt, ist das die Sensation des Jahrhunderts weit über den Jupiterbezirk hinaus. Möchte wirklich gern wissen, ob es auf der Erde so was gibt.« »Was?« Janner beobachtete intensiv das Ros, das hinter sich Schneestaubfahnen aufwirbelte. »Was – na alles!« Mansfield war am Gesicht abzulesen, daß er nachdachte. »Dort gibt’s bestimmt Museen – und alles so was. Ich möchte mal zur Erde, ins Paradies. Warst du schon mal dort, Garry? Du bist doch Astronaut!« »Nein, weiter als bis zum dritten Orbit kommt man nicht, und das ist schon weit.« Unwillkürlich schaute er zum Himmel, ob das Doppelgestirn Erde-Mond zu entdecken wäre. Vergebens. »Normalerweise ist am Erdmond Endstation. Wenn du viele Moneten hast, kannst du einen Urlaub dort verbringen, soviel ich weiß. Angeblich finden alle paar Jahre Fö-
derationskonferenzen auf der Erde statt. Ich muß aber zugeben, daß ich keinen kenne, der je den Fuß auf die Erde gesetzt hat. – He, Auk, was tust du denn?« »Hast du das nicht mitgekriegt?« Norden hatte sich ein paar Schritte entfernt, um ungestört sprechen zu können. »Ich habe, eurem Rat folgend, die Information in Stichworten ans ExpedCen durchgegeben. Kein Kommentar. Sie wollen es untersuchen. Mir scheint, da gibt es etwas anderes, über das sie sich zur Zeit den Kopf zerbrechen.« »Was?« Garry beobachtete den Aufgang des Jupiter intensiver. Wenn sich der rötlich und grau gestreifte Riese aus dem Horizont schob, und zwar weiter, als der gewöhnliche Blickwinkel des Menschen von einem Horizont zum anderen reichte, überlief ihn stets eine Gänsehaut. Auf dem Mars, woher er stammte, waren Sonnenaufgänge oft sehr malerisch. Aber die Sonne war ein Knopf, der sich aus dem Dunst hob. Jupiter dagegen war wie ein Ungeheuer. »Weiß ich nicht.« Im Augenblick interessierte es Norden auch nicht weiter. Denn die Kabine des Ros’ setzte nur hundert Meter entfernt relativ leise auf. Es wurde Zeit zu gehen. Kaum an Bord, wurden sie mit der Aufregung konfrontiert, die Ganymed erfaßt hatte. Der Pilot des Kurier-Ros’ mahnte zur Eile und fügte hinzu: »Wir fliegen zuerst nach Toronto. Mr. Janner wird im SecurityObs erwartet. Schnallen Sie sich an!« »Hee«, protestierte Norden. »Wir müssen sofort…« »Ich weiß, was Sie müssen, Mr. Norden«, fiel ihm der Pilot ins Wort. »Aber Mr. Janner muß nach Toronto, kapiert? Ich habe es selber erst kurz vor der Landung durchbekommen.« »Und warum?« fragte Janner gelassen. »Security-Obs« sagte ihm, daß eine Gefahr im Anzuge war, eine kosmische! Es wußte niemand, daß er zur Raumpatrouille, zur »kosmischen Feu-
erwehr« gehörte. Meistens ging es um Kometen, die einen Planeten oder bewohnten Mond oder eine der vielen ausgedehnten Raumstationen bedrohten, jedenfalls indirekt. Denn galaktische Feinde in Gestalt von Lebewesen gab es nicht. Nirgends in der Galaxis existierte anderes höheres Leben als die Menschheit. »Keine Ahnung, Sir.« Der Pilot startete – sofern dieser Begriff dafür zutraf, daß sich das Ros halb rollend, halb schwebend in Bewegung setzte. Flugzeuge waren auf Ganymed ausgeschlossen. Dazu war die Lufthülle zu dünn, abgesehen von den unteren paar hundert Metern. Janner fragte nicht weiter. Mansfield und Norden würden sich ohnehin wundern, daß er einfach abberufen und ein »Official Ros« mitten im Auftrag seinetwegen umdirigiert wurde. Damit endete für ihn zweifellos der indirekte Erholungsurlaub. Als Geologe, Metallurg und Astronaut wollte und sollte er einmal kennenlernen, wie das lebenswichtige Jupitan aufgespürt und gefördert wurde. Ganymed »lebte« schon seit vielen Jahrhunderten davon. Seit man es aber auch auf Io, Kallisto und dem winzigen Jupitermond Leda entdeckt hatte, rückte es ins wirtschaftliche Interesse des gesamten Planetensystems – somit auch in das der SAS: Space Administration Sol. Es war Janner gerade recht, daß Norden und Mansfield vor sich hin grübelten: zweifellos über den historischen Fund, so makaber er auch zustande gekommen war. Selber nachdenklich, betrachtete er die teilweise stupide Landschaft Ganymeds, die nun im hellrot-grauen Licht Jupiters lag. Nicht überall fand man den Schnee aus Hydriden, teilweise auch Methan, der trotz Wärmegrade der Luft selten auftaute. Große Strecken bedeckten auch Vulkanschlacken die Oberfläche des Mondes. Sie waren unter Einwirkung von Wasser, Ul-
trastrahlung und der Luftwärme am fruchtbarsten. Kamen sie in Sicht, folgten bald die Plantagen und Wälder, streckenweise sogar ganze Felder an Früchten. Voraus tauchte bald die hellerleuchtete Kuppelstadt TorontoCity auf. Die hauchfeine Folie der Kuppel erlaubte »irdische Verhältnisse«. So hieß es jedenfalls. Janner ging jede Wette ein, daß es keine hundert Bewohner gab, die die Erde von unten kannten und beurteilen konnten, ob das stimmte. Die Reise ging aber nicht in die Stadt, sondern zum Raumhafen. Er wurde vor dem muschelförmigen Zentralgebäude einfach abgesetzt. Das Ros kehrte sofort um. Norden und Mansfield verabschiedeten sich, als rechneten sie damit, ihn in den nächsten Stunden im Exped-Cen wiederzusehen. Janner wußte es besser. Zumindest ahnte er es. Nachdem das Ros davongeschwebt war, sah er sich kurz um auf dem Raumhafen. Ein einziges Raumschiff wurde für einen Start vorbereitet. Das besagte nichts. Wie harmonierte dieser Eindruck mit dem angeblichen Alarm? Im Space-Foyer herrschte auch kein Betrieb. Janner identifizierte sich am »ID-Rob«, konnte passieren und begab sich zum Observatorium. »Hallo – Garry!« John Steward, Chef der SAS auf Ganymed, reichte ihm flüchtig die Hand. »Tut mir leid, dich da herausreißen zu müssen. Die anderen sind schon da. Ich will nicht viel reden. Geh selber rein…« * Im Security-Observatorium hing es in der Luft, daß der ausgelöste Alarm echt war. Bei den häufigen Proben, an denen Garry Janner sowieso selten teilnahm, herrschte je nach »AlertStep« immer eine Aufregung, als würde sich eine ganze Arma-
da gegnerischer Riesenraumschiffe nähern, und ausgerechnet das einzige hier stationierte SAS-Raumschiff könnte sie abwehren. Wie viele SAS-Einheiten es im Planetensystem gab, wußte Janner nicht. Er wußte aber, daß es keine Feinde des Menschen gab, es sei denn der Mensch selbst. Im »Support Center« der Observatoriums-Section herrschte Grabesstille, als er eintrat. Janner trat natürlich nicht einfach ein. Er wurde über Rollband und mit Lift durch mehrere Identifikationsschleusen hineinbefördert. Sicherheit gegen unerwünschte Personen wurde großgeschrieben. Die Angst vor Feinden schien auch so ein Traditionsrelikt aus der Altzeit zu sein. Janner kannte es nicht anders, wenngleich er sich öfter darüber amüsierte. In den Sesseln der ersten Tische saßen Tilly und Erica, die beiden anderen Astronauten des Raumschiffs »Auldrin«. Sie trugen die SC mit blauem Emblem, die typische, leichte Bordkombination. Erica winkte flüchtig, ohne die Muscheln von den Ohren zu nehmen, und wies einladend zum dritten Sessel. An den drei anderen Tischrunden saßen die Einsatzleute, soweit sie bereits eingetroffen waren: Männer und Frauen von Ganymed, die in Raumdienst-Einsatz ausgebildet waren. Unter ihnen befanden sich sogar ein paar Piloten und RS-Ingenieure von Jupiterraumschiffen, die den Verkehr zwischen den Monden abwickelten. Die »Auldrin« befand sich, als Janner kam, noch im Hangar. Das war eine unter dem Boden liegende Plattform, die gehoben wurde, wenn ein Start bevorstand. Das fiel ihm ein, als er sich setzte. In dem Moment erst bemerkte Tilly ihn. Er winkte, grinste und klopfte hinweisend auf die Ohrmuscheln. Janner nickte, winkte beiden stumm zu, setzte sich die Dinger auf und schaute auf den großen, noch leeren Monitor an
der Stirnseite des Raumes. Gleich darauf rollte der Service-Rob zu ihm und bot Getränke und einen Imbiß an. In den ersten Minuten wurde er lediglich Ohrenzeuge von dechiffrierten Funkdepeschen zwischen den verschiedenen SAS-Einheiten, Security-Centers der Mondwelten und der Kommandozentrale der SAS-Raumpatrouille, die sich in Security am Erdmond befand. Es war ein langweiliges, wegen der Entfernungen sogar langwieriges Geschäft, aber notwendig. Von keinem Security-Cen war bisher zu erfahren gewesen, was eigentlich los war. Das deutete darauf hin, daß der Alarm von Ganymed ausgegangen war. Auf Venus und Mars hatte der Alarm noch nicht einmal angefangen, ins »B-Stadium« überzugehen. Für das manchmal direkt lächerliche, extreme Sicherheitsbedürfnis hatte Janner nur eine Erklärung, die er mit Tilly und Erica teilte. In ferner Vergangenheit schien es in der Menschheitsgeschichte einen dunklen Punkt zu geben, von dem keiner etwas wußte. In seiner Eigenart als Astronaut war ihm aufgefallen, daß sich jede Art von Abwehrstrategie auf die Erde richtete. Das bedeutete: Für den Fall, daß nichts mehr ging, mußte die Erde um jeden Preis wie ein letztes Bollwerk geschützt werden. In diesem Rahmen fehlten lediglich Evakuierungspläne für die Mondwelten. Die Bewohner von Mars und Venus ließen sich zudem nicht einmal zum kleinen Teil zur Erde evakuieren. Auf ihnen wohnten die meisten Menschen, jedenfalls im Sol-System. Allerdings knüpften sich an diese Strategie, die sich in mehr oder weniger ernsten Fällen bisher allein gegen Kometen und große Meteoriten richtete, ein bitterer Verdacht: Die Erde, Wiege der Menschheit, Paradies der Gegenwart, Zentralgewalt der »Galaktischen Welten-Konföderation«, beherbergte die Elite,
die Creme der Menschheit, die es in jedem Fall zu verteidigen galt. Das Bittere eines solchen Gedankengangs lag im Bewußtsein der Epoche begründet. Auf allen Welten dieses Sol-Systems: Venus, Erdmond, Mars, Ganymed, Kallisto, Europa, Io, Titan und Rhea, kannte man vom Lebensstil her kein Obrigkeitsdenken. Alle Menschen waren gleich! Mit welchem Recht also und aus welchem Grund beanspruchte die Erde, genaugenommen die GAWEKON, einen besonderen Schutz? Soweit Janner sie kannte, und das auch nur von Bildern und Filmprojektionen, war sie tatsächlich schön. Bereits das irdische Antlitz von außen, dieser blaue Planet mit braunen Kontinenten, weißen Polen und Wolkenfeldern, war einmalig. In der Zwischenzeit waren noch ein paar Einsatzleute eingetroffen. Sie widmeten sich alle, mehr oder weniger stark interessiert, den dechiffrierten Funkdepeschen über den Stand der Einsatzbereitschaft anderer »Security-Cen« und SAS-Einheiten. Sie wurden plötzlich unterbrochen. Auf dem Monitor erschienen Bildsymbole und Schriftzeichen. Sofort erwachte die Aufmerksamkeit aller. Nach der üblichen Einführung, die jeder kannte, flammte das Symbol auf für: Computeranalyse über Objekt X! Dann bildete sich silhouettenhaft ein kugliger Himmelskörper ab. Überraschend lief gleich darauf als Klartext vor der Silhouette über den Monitor: »WAHRSCHEINLICHER RADIUS CA 5000 KM, KEINE ATMOSPHÄRE FESTSTELLBAR. OBERFLÄCHE WAHRSCHEINLICH VEREIST. OBJEKT X, POSITION 1200 UHR SOL-ZEIT 81 GRAD NÖRDLICH PLANETENEBENE, 3 AE IN HÖHE ÜBER ASTEROIDENGÜRTEL, GESCHWINDIGKEIT 10.26 KMS MIT LEICHTER BESCHLEUNI-
GUNG. VORAUSBERECHNETER EINSTURZWINKEL 80 GRAD ZUR ERDBAHN IN DISTANZ 1/1000 AE 20 STUNDEN NACH PASSIEREN ERDE KOLLISIONSPUNKT. BEI SCHNEIDEN ERDBAHN AUS HYPOTHETISCHER NICHTABWEICHUNG DISTANZ ZUR ERDE CA 2 MILL KM ODER 0,07475 AE IN 201 TAGEN BEI GLEICHBLEIBENDEM BESCHLEUNIGUNGSWERT. WEITERE DATEN FEHLEN, DA OX OPTISCH NOCH NICHT ERFASST. DIES IST EIN COMPUTERBILD VON SECURITY-OBS GANYMED ANHAND RADIOASTRONOMISCHER EINGABEN.« Der Text wiederholte sich zweimal. Dann erlosch das Bild. Im Support-Cen herrschte eine noch angespanntere Stille als die ganze Zeit zuvor. Die Information vermochte noch keiner richtig zu erfassen. Und worauf alle warteten, flammte auf – gleichfalls ein Computerbild anhand der radioastronomischen Eingaben. Wiedergabe des Planetensystems bis Jupiter einschließlich der gegenwärtigen Positionen aus leicht schräger Sicht zur Planetenebene. Objekt X, als OX bezeichnet, leuchtete als roter Punkt weit über dem Asteroidengürtel. Nach einem Signalton setzten sich alle Planeten im Zeitraffertempo in Bewegung. Das tat das rote OX auch. Sein Kurs zeichnete sich von Anfang an als Parabel vor. Seine Geschwindigkeit vergrößerte sich im Verhältnis zu der der Planeten mit zunehmender Annäherung zur Sonne. Dann aber folgten die mathematisch-astrophysikalisch exakt errechneten und bildlich dargestellten Computer-Tricks. Die Erde, auf die OX zuzustürzen schien, wanderte dem vorstellbaren Schnittpunkt der Bahnen beider Himmelskörper nur haarscharf voraus. Auf einmal waren die Annäherungspositionen trotz noch beachtlicher Distanzen so gering, daß die beiderseitigen Gravita-
tionsfelder zu wirken begannen. Die Erde fing an, ihren gleichmäßigen Sonnenumlauf zu verzögern. OX dagegen wurde schneller. Dadurch verringerte sich die Distanz im Schnittpunkt der Bahnen um etwa ein Zehntel. Die Abweichungen beider Himmelskörper von den bisherigen Bahnen stieg etwa um den gleichen Wert. Der neu einsetzende Text, der über den Monitor mit der Graphik im Hintergrund lief, gab die Erklärung: »BEI HYPOTHETISCHER VORGABE VON MASSEWERTEN, DIE VORAUSSETZUNG DER SPEKULATIVEN GRAVITATIONSKONSTANTEN SIND, IM VERHÄLTNIS 6,3 ZU 5 ODER 1 ZU 0,79 ERFOLGT DIE BEGEGNUNG BEREITS IN 176 TAGEN BEI ANDERTHALBFACHER MONDENTFERNUNG. MASSEWERTE OX JEDOCH NICHT BEKANNT, BISHER GEORTETE MESSSTRECKE UND ZUNEHMENDER BESCHLEUNIGUNGSWERT ZU KURZ. PLANET OX AUF KOLLISIONSKURS ERDE. DIES IST EIN COMPUTERBILD VON SECURITY-OBS GANYMED ANHAND RADIOASTRONOMISCHER EINGABEN.« Das Trickbild wiederholte sich samt Text und erlosch anschließend. Gleich darauf hörten alle aus den Muscheln: »Nächste Computeranalyse von Security-Obs Ganymed in sechs Stunden. Ende.« Diesmal brach ein Seufzer des Entsetzens die Stille. Jeder nahm die Hörmuscheln vom Kopf und schaute seine Gegenüber am Tisch in irgendeiner Weise fassungslos an. Denn jeder wußte – aus Erfahrung oder weil es stets so gelehrt wurde: Der Computer irrte sich, wenn er mit den richtigen Daten gefüttert wurde, nie! Die vorliegenden Daten über OX waren noch ungenau, folglich war auch die Analyse ungenau. Sie war aber exakt genug,
um zu begreifen, daß der Erde, dem Paradies, der Wiege der Menschheit, eine tödliche Gefahr drohte. Was auch immer passieren mochte, wenn sich die beiden Himmelskörper einander annäherten: Es würde zumindest das halbe Planetensystem erschüttern und damit die Lebensbasis der Menschheit. Der erste Seufzer brach nun in lebhafte Diskussionen aus. Doch nur zwei Minuten später stand John Steward, der SASChef auf Ganymed, mitten im Raum und bat um Ruhe. Vorher hatte ihn niemand bemerkt. »Zuerst noch ein paar Informationen. Das Radioobservatorium Ganymed hat OX vor etwa neun Stunden aufgespürt. Nach der ersten Hochrechnung, die zwei Stunden später vorlag, wurden alle anderen Radioobservatorien alarmiert, die sich in relativ günstiger Position befinden, also die drei anderen des Jupiterbereichs, Mars, der als einziger innerer Planet günstig steht, und die zwei interplanetarischen Raumstationen ›omega‹ und ›zeta‹. Es war einfach nicht früher möglich, OX zu entdecken, zumal ja kein Mensch damit rechnete, daß solch ein riesiger Irrläufer ausgerechnet aus dieser Richtung kommt. Nach traditionellem Recht obliegt es der SAS-Einheit derjenigen Welt, die einen Gegner ausgemacht hat, als erster, ihn auszukundschaften und zu vernichten. Das sind also wir, ich meine SAS-Raumschiff ›Auldrin‹.« Er machte eine Pause – und Sekunden später schütteten sich Garry, Tilly und Erica aus vor Lachen. Sie bildeten die Stammbesatzung der »Auldrin«. Alle anderen gehörten nur als Reserve- und Einsatzpersonal dazu. »Was ist daran so erheiternd?« fragte der aufgeschossene, ergraute SAS-Chef verblüfft. »Mann, das ist doch nicht dein Ernst?« kicherte Tilly, der Pilot, noch immer. »Was wir da vor uns haben, ist kein Komet, kein Meteorit, das ist, würde er sich brav im Kreis um die Son-
ne drehen, ein ausgewachsener Planet!« »Ja, und?« Steward kapierte die scheinbare Heiterkeit, die unbehagliche Hilflosigkeit ausdrückte, völlig richtig. »Eine feindliche Raumschiff-Armada wäre höchst unangenehmer…« »Bleib doch fort mit deinem Schulbuch-Einmaleins für Kadetten der Raumpatrouille«, rief Janner, ärgerlich über die Bemerkung. »Daran glaubst du doch selber nicht. Das Problem OX, das da auf uns zustürzt, steht in keinem Lehrbuch.« »Garry!« rief Steward schroff. Er war, angesichts solcher Redewendungen, um die Disziplin der Reservemannschaft besorgt. »Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als geeignete Pläne auszuarbeiten, um diesem OX den Garaus zu machen…« »Du redest schon wieder Lehrbuch-Einmaleins«, tadelte Erica. Ihr rundes Gesicht, soeben noch von Heiterkeit gezeichnet, wurde todernst. »Wir müssen was tun, und zwar recht schnell. Der Computer hat nämlich leider vergessen mitzuteilen, von welchem Tag an die Gravitationsfelder beider Himmelskörper anfangen, gegeneinander Einfluß auszuüben. Uns bleiben also nicht einmal 176 Tage. Hast du schon mal einen ganzen Planeten vernichtet?« Die anderen blieben ruhig. Es war ohnehin zu erwarten gewesen, daß sich die Diskussionsrunde nur zwischen den vier abspielen würde. Bis auf die paar Raumschiffpiloten und Ingenieure der Reservemannschaft besaß vom Beruf her niemand großes Interesse an himmlischen Vorgängen, soweit sie nicht die eigene Sphäre berührten – wie der Jupiter. Steward besaß jedoch Fingerspitzengefühl genug, um wenigstens den Eindruck zu erwecken, er würde alle an dem Gespräch beteiligen. Er blieb nämlich mitten im Raum stehen, ohne sich auffällig dem Tisch zuzuwenden, an dem die Crew der »Auldrin« saß.
Bevor er jedoch antworten konnte, schmetterte Tilly die Frage in den Raum: »Ist die GAWEKON-Zentrale überhaupt schon benachrichtigt? Es geht schließlich um deren Hals, nicht um unseren.« Der SAS-Chef winkte ab, als wollte er es verharmlosen. »Ihr habt die Bereitschaftsdepeschen besser mithören können als ich. Es ist ein alter Hut, daß im Notfall zuerst die SAS-Zentrale in Selencity einspringt. Daß das Hauptquartier der Raumpatrouille informiert ist, geht schon daraus hervor, daß sich das Erdmond-Observatorium eingeschaltet hat.« »Red doch nicht um den heißen Brei, Mann«, polterte Tilly. »Wir wissen, wo die Erde steht und folgerichtig das ErdmondObs und wo sich OX befindet. Zwischen beiden ist die Sonne, auch wenn OX mit achtzig Grad von Norden einfällt. Bis das Erdmond-Obs von selbst zu brauchbaren Resultaten kommt, vergeht ein Vierteljahr. Bis dahin muß längst was passiert sein!« Dem Argument konnte sich Steward schlecht entziehen. »Ich habe keine Befugnis, mich eigenmächtig an die GAWEKONCen zu wenden. Eigenmächtig können wir lediglich OX unter die Lupe nehmen. Dafür wiederum liegt die ›zeta‹-Basis OX näher.« »Was soll dann der ganze Alarm-Zirkus, wenn uns die Hände gebunden sind, John?« fragte Janner gelassen. »Du glaubst doch nicht, daß ich hier ein Vierteljahr in Bereitschaft herumsitze, bis das SAS-Headquarter fähig ist, eine Entscheidung zu treffen.« »Ich bin wirklich mal neugierig«, fügte Tilly zynisch hinzu, »was für ein Kompetenzstreit in der Raumpatrouille entbrennt, bevor die erste Salve abgefeuert wird, wenn wirklich mal ein feindliches Raumschiffgeschwader auftaucht. Es braucht auch nur von jenseits der Sonne zu kommen in Relati-
on zum Erdmond. Ob wir dann auch alle so gemütlich herumsitzen und palavern?« Überraschend piepte das Signal, und der Monitor flammte auf. Die Nachricht kam in Klartext: »HQ SAS SELENCITY AN CO, SAS GANYMED: CO UND PERS SECURITY-STEP II SECRET IN KOMMUNIKATIONSZENTRALE SECURITY-OBS GANYMED IN 10 MINUTEN – 9 MINUTEN 90 SEKUNDEN – 80 SEKUNDEN…« Einen Augenblick lang lasen alle verblüfft mit. Dann erhoben sich fünf Leute der Reservemannschaft, Piloten und Ingenieure, darunter zwei Frauen, und die RS-»Auldrin«-Besatzung. Es tat sich also etwas, schneller als erwartet. Jede weitere Diskussion, um eine eigene Entscheidung herbeizuführen, wurde sinnlos. Die acht Astronauten folgten Steward schweigend hinaus und durch Gänge und Lift zur Kom-Zen des Observatoriums. Dabei sahen sie, einige von ihnen zum ersten Mal, die gigantischen Parabolspiegel unter der Schutzkuppel, die – mit Sicherheit – auf OX gerichtet waren, solange der noch über dem Horizont stand. Es lief, wie nicht anders zu erwarten, alles vollautomatisch. Die Signale, der Lichtgeschwindigkeit unterworfen, fütterten die Computer, die selbständig Programme für den ZentralComputer zusammenstellten, aus denen der alle wesentlichen Daten über OX ständig neu errechnete und auch neue Wahrscheinlichkeitskurven zeichnete. Mit Hilfe technischer Tricks wesentlich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit wurden die Resultate ständig an die anderen SAS-Obs und nach Selencity weitergegeben. Es würde trotzdem noch vierzehn Tage dauern, bis einigermaßen verläßliche Vorausberechnungen vorlagen. Denn Ganymed, der als erster Entdecker des gefährlichen Himmelskörpers traditionell
fürs erste die zentrale Leitung der »Operation OX« besaß, brauchte eben sieben Tage und drei Stunden für eine Jupiterumkreisung. OX verschwand zwischendurch also zweimal aus dem Ortungsbereich. So lange konnte die Raumpatrouille nicht warten. Das hatte man nach Empfang schon der ersten, noch hypothetischen Resultate im HQ SAS auf dem Erdmond begriffen. Denen in Selencity blieb vorläufig gar nichts anderes übrig, als Ganymed die Leitung der Operation zu überlassen. Es verging noch wenigstens ein Monat, bevor die Radio-Obs des SAS-Headquarters OX selbst anpeilen konnte. Die zugebilligten zehn Minuten für Steward und die acht Astronauten mit Sicherheitsprüfung, Stufe 2, war kein freundliches Entgegenkommen, sondern technisch bedingt, um die »Überlicht-Funkbrücke« zwischen dem Erdmond und Ganymed aufzubauen. Nur durch sie war eine sinnvolle Direktunterhaltung möglich. Es dauerte deshalb auch zwölf Minuten, ehe der Monitor in der Kom-Zen ein Bild gab. Das an einen Komplex grenzende Sicherheitsbedürfnis war so groß, daß hier drei Funker des SAS die Verbindungen herstellten und überwachten, nicht etwa abhör- und störanfällige Computer. Es war ein Gesicht, ein weibliches mit langem Haar, das erschien. Die Augen verrieten, daß ihre Inhaberin selber auf ein Bild wartete, ein Bild von Ganymed. Das kam dann wohl, denn ihr Gesicht zuckte. »Commodore Steward? Hier spricht General Diamond. Diese Verbindung unterliegt ›Geheim-Stufe 2‹. Sie hören mich?« Zwischen Ton und Lippenbewegungen klaffte eine ganze Sekunde. Bei rein computergesteuerten Kontakten kam das nicht vor. Unwillkürlich grinsten alle. »Hallo, General«, sagte Steward schmunzelnd. »Ich wußte ja
gar nicht, daß Sie avanciert sind, Gina?« Die zwangsläufige Verzögerung reichte für eine ironische Bemerkung Janners: »Hört, hört: Ich wußte gar nicht, daß du Commodore bist, John. Als ich auf Ganymed in die Wüste ging nach Jupitan, warst du noch Captain!« Die nicht gerade schöne Frau ging nicht darauf ein. »Hören Sie zu, Commodore. Diese Anweisung kann nur ich selbst geben, und Sie sorgen dafür, daß kein Computersignal darüber gesendet wird. Die Publikationsnachrichtendienste haben schon Wind von der Sache OX bekommen.« »Ja, ich höre.« Stewards Stimme verriet, daß er angestochen war über das Verhalten der Lady General: Gebt dem Menschen ein Amt, und er trägt zumindest die Nase höher! »Gut: RS ›Auldrin‹ von Ganymed, Stammbesatzung und drei Reservisten, Stufe 2, RS ›Glenn‹ von Kallisto, Stammbesatzung und drei Reservisten, sowie RS ›Oberth‹ von Basis Mars-H, Stammbesatzung und drei Reservisten, erhalten Einflugerlaubnis direkt zur Erde, Position 29.30 Nord, 95.30 West. Das ist kein Rekonvaleszenz-Center. Ich werde selber dort sein. Bitte Bestätigung!« »Was?« Garry, Erica und Tilly starrten sich verblüfft an. Auf Stewards Bestätigung achteten sie gar nicht. Und wie aus einem Munde, halb begeistert, aber auch skeptisch: »Zur Erde – Landeerlaubnis – wir?« »Ich wiederhole: keine automatische Depesche«, fuhr die Lady General fort. »Ich will es kurz begründen, denn das müssen Sie auf Kallisto und Mars auch, Commodore: Ich sagte schon, wir haben bereits die Nachrichtenbüros am Hals. Wenn die Öffentlichkeit vorzeitig die Analysen erfährt, bricht ein Chaos los. Schließlich ist nicht nur die Erde gefährdet. In erster Linie sind es auch Mond und Venus. Sekundäre Gefahr besteht für Mars und womöglich den Jupiterbereich. Die Situation ist
wohl eindeutig. Das HQ SAS hat für alle denkbaren Probleme Abwehrprogramme, die sich modifizieren lassen. Für den Fall, daß ein ganzer Planet auf die Erde fällt, gibt es keins. Das ist die Lage. Noch Fragen?« »Fragen nicht, aber eine Idee«, sagte Steward. Er fühlte sich ganz einfach angestochen von der schnoddrigen Art der Gina Diamond, die er schließlich ganz anders kannte. »Bitte?« »Erkundungsflug zu OX, dann wissen wir früher als durch Radiogramme, woran wir sind.« »Die Situation ist derart einmalig und brisant, John«, sagte die Diamond auf einmal ausgesprochen zutraulich, »daß ich allein keine Entscheidung treffen kann. Das wagt nicht einmal die GAWEKON-Zentrale. Uns allen wäre viel wohler, wenn wir es mit einem intelligenten Feind zu tun hätten, auf den eine abwehrbereite Raumpatrouille seit über tausend Jahren wartet. Nein, es muß ein ganzer Planet sein, vielleicht eine erkaltete Sonne, die uns wie ein Stein auf den Kopf fällt. Einfälle haben wir genug. Aber wie sind sie zu realisieren? Wir brauchten die Feuerkraft einer ganzen Schlachtflotte, um einen Himmelskörper dieser Größenordnung zu atomisieren. Haben wir eine? Nein…« Garry, Tilly und Erica, aber auch die anderen fünf hörten der Diskussion der beiden nicht mehr zu. Sie kannten ihren Auftrag nun, und der war geheim. Problematisch war es lediglich für die fünf Reservisten. Immerhin durften sie zur Erde. Zur Erde: aufs große Sperrgebiet, dem Sitz der Galaktischen Welten-Konföderation, dem Paradies und Reiseziel von Auserwählten, um Urlaub zu machen. In Anbetracht dieser Aussicht vergaßen sie einen Moment den Grund dazu. Sie sahen es und sprachen darüber: weite,
weiße Strände unter Palmen an blauem Meer, Luxusleben in Traumhäusern, natürliche Früchte der Paradieswelt, Fröhlichkeit und Tanz, Museen, Theater und natürlich für die Männer: hübsche weiße Mädchen! Menschen mit weißer Hautfarbe: Inbegriff der sauberen, irdischen Schönheit. Denn alle übrigen Menschen waren braun, manche heller, manche dunkler. Aber die Archive sprachen davon und bildeten ab, daß es auf der Erde Weiße gibt. »Woran denkst du, Garry?« fragte Erica, immerhin Kommandant und Bordingenieur von RS »Auldrin«, skeptisch. Sie träumte keineswegs von hübschen Weißen. Janner wußte das. Er grinste. »Wie merkwürdig die Zufälle im Leben spielen, Erica. Auf unserer Expedition wurden zwei Techniker durch eine Explosion zerrissen. Sie wurde von einem jahrtausendealten Atomreaktor ausgelöst, der zu einem Space Craft gehörte, das vor Beginn der großen Pionierzeit von der Erde direkt auf Ganymed geschossen wurde. Stell dir vor, ich hatte Gegenstände in der Hand, die eindeutig von der Erde stammten. Und plötzlich haben wir die Chance, sie zu besuchen, sie zu betreten!« »Deine Begeisterung hat eine Lücke, mein Lieber!« sagte sie ironisch. »Du hast außer acht gelassen, warum! Und bis jetzt haben wir keine Starterlaubnis…« * Der Anblick des blauen Planeten war geeignet, einen Astronauten, der Auge und Sinn für die Naturschönheiten der Galaxis besaß, in einen Taumel der Begeisterung zu versetzen. Garry Janner durfte sich glücklich schätzen, einer Raumschiffbesatzung anzugehören, die als Gruppe und jeder für sich allein ein ausgesprochen ästhetisches Gefühl dafür hatte.
SAS-RS »Auldrin« hatte mit dieser Besatzung schon zweimal am Erdmond und viermal im 3. Orbit angelegt. Erica, Garry und Tilly kannten daher das Bild des Paradieses von oben aus eigener Anschauung. Die drei Reservisten von Ganymed hatten es zum erstenmal vor Augen. Der Dienst an Bord ließ ihnen Zeit genug, jede Phase der Annäherung genau zu verfolgen. Sie verlief zum Schluß allerdings so schnell, begleitet vom starken Andruck, daß sie sich auf den Beschleunigungssitzen anschnallen mußten und gar nichts mehr sahen. Der letzte Teil des Kurses war für Tilly, den kleinen, kräuselköpfigen Piloten, Erica, die besonders dunkelhäutige Mulattin mit kurzen Silberlöckchen und leuchtenden Kulleraugen, und Garry, dem athletischen Typ mit seltener Hakennase und braunem Wellhaar, auch neu. Den 3. Orbit, eine Kette von Raumstationen außerhalb des Strahlungsgürtels, berührten sie gar nicht. Die Flottille wurde von dieser Distanz an einfach ferngesteuert und durch den strahlungsfreien Trichter über der Antarktis in die Höhe des 1. Orbits eingeschleust. Der lag mit einem weiteren Ring aus Raumstationen etwa zweihundert Kilometer über der Oberfläche. Die eingehenden Funksignale dienten ausschließlich der Fernsteuerung und Navigation. Funkverkehr untereinander und zu Raumstationen oder anderen Raumschiffen war untersagt. Denn die Informationsdienste und Nachrichtenbüros, die über eigene planetenweite Kommunikations- und Ortungsanlagen verfügten, saßen dem HQ SAS förmlich im Nacken. So mußten die drei Besatzungen der SAS-Raumschiffe vollkommen und blind auf die Fernsteuerung vertrauen. Sie durften vor Beginn der letzten Phase der Landung nicht einmal die bordeigenen Ortungs- und Navigationssysteme benutzen, so-
weit die elektromagnetisch arbeiteten. Infrarot und Fotografie liefen natürlich auf vollen Touren, schon aus reiner Neugierde. Im 1. Orbit fanden sie kurze Zeit Ruhe. Die drei schlanken, wendigen Raumschiffe – vom Typ her schnelle Aufklärer und Zerstörer – glitten zumindest optisch geschmeidig und schwerelos dicht oberhalb der Stratosphäre in nordöstlicher Richtung. Mit gewissem Unmut aber registrierten sie, daß sich unter ihnen nur Wasser befand, nachdem sie den Kontinent des ewigen Eises überquert hatten. Natürlich wußten sie, daß es sich anfangs um das südliche Eismeer und später um den pazifischen Ozean handelte. Den Australischen Kontinent bekamen sie nicht einmal am Rande zu sehen. Die Tatsache, sich bereits in der unmittelbaren Sphäre der Erde zu befinden, milderte den Unwillen darüber, daß man sie ausgerechnet über die Ozeane hinweg einschleuste, wo es nichts zu sehen gab außer Wolkenfeldern. Garry und Erica waren wohl nicht die einzigen, denen auf einmal bewußt wurde und die darüber sprachen, daß noch kein Besucher der Erde je über beeindruckende Ansichten aus dem Orbit auf Städte und Wälder berichtet hatte. Es handelte sich bei ihnen zumeist um ausgewählte Urlauber, denen es ihr Reichtum erlaubte, kurze Zeit auf der Erde zu sein. Reisen zu Privat- und Geschäftsbesuchen gingen immer über den 3. und 1. Orbit mit kurzen Quarantäneaufenthalten in einer Raumstation in jedem Orbit. Der 2. Orbit, der zwischen beiden Strahlungsringen lag, war Sperrzone und Abwehrgürtel. Kein Raumschiff konnte ihn ohne Genehmigung durchdringen. Die Flottille hatte jedoch die drei Orbite passiert, ohne behelligt zu werden. Es bestand kein Zweifel, daß sie geortet und
identifiziert worden waren. Doch kein Anruf oder Bestätigungssignal hatte es ihnen verraten. Das Sicherheitsbedürfnis grenzte, jedenfalls in den Augen Garrys und Ericas, ans Absurde. Nun aber kam das Signal: Anschnallen! Im nächsten Moment zündeten, wieder nur ferngesteuert, die Bremstriebwerke, die für eine Landung in starken Atmosphären geeignet waren. Es wurde Zeit für Garry, die Landekarten einzupeilen. Beim letzten Teil der Reise mußte er die Navigation selber übernehmen. Ihre Befehle waren klar umrissen: 29° 30’ Nord, 95° 30’ West. Da 0°, Anflugwinkel und Weltzeit bekannt waren, genügte in den ersten Minuten simple Sternnavigation. »Wir nahem uns dem Isthmus von Tehuantepec«, machte Garry zum erstenmal seit langem den Mund auf, bevor der Andruck zu stark wurde. »An Steuerbord unter Wolken. Unser Kurs geht quer über Mexiko. Wenn wir Glück haben, können wir an Backbord Mexicocity sehen – das auf der Erde!« Denn auf Kallisto gab es auch ein Mexicocity. Aber sie sahen nichts als Wolken. Nicht einmal so berühmte Berge wie Popocatepetl und Citlatepetl stießen ihre Fünfeinhalbtausend-Meter-Kegel durch die Wolkendecke. Als die Triebwerke ihren Betrieb einstellten und der Andruck nachließ, erkannten sie unter sich und beiderseits das Meer. Links tauchte unter Wolken ein Küstenstreifen auf. »Golf von Mexiko«, sagte Garry. Er konnte schlecht verheimlichen, daß ihn diese Tatsache rein psychisch ungeheuer bewegte. Wie bescheiden man doch in solchen erhebenden Augenblicken war, glücklich, einen winzigen Uferstreifen am Horizont von einer so genialen Welt mit bloßem Auge zu erkennen – obwohl man Planeten und Monde in- und auswendig kannte.
Kurz darauf kam das Signal: manuelle Steuerung! »Es ist soweit«, sagte Tilly. Er spürte sofort, daß die Fernsteuerung aufgehört hatte. Im Augenblick befanden sie sich über einem wolkenlosen Gebiet. »Höhe fünfzehntausend Meter, Geschwindigkeit zweieinhalbtausend kmh. Liegen wir auf Kurs Garry?« »Genau!« Janner begann, die Richtigkeit der Behauptung zu überprüfen, Die Order lautete, bei Signal »manuell« sämtliche üblichen Ortungsgeräte in Betrieb zu nehmen. Innerhalb der Erdatmosphäre waren sie vor ungebetenen »Ohren« sicher. Die Einflugschneise auf den Zero-Punkt aus acht Richtungen war elektronisch markiert. Inzwischen verlor das Raumschiff an Geschwindigkeit. Die beiden anderen folgten im Abstand von je zwei Minuten. Unter ihnen, nun einwandfrei mit bloßem Auge zu erkennen, blieb die Küste zurück. Sie befanden sich über Landgebiet. Von Städten und Verkehrswegen keine Spur. »Scheint ziemlich trostlos da unten zu sein«, bemerkte Clarissa, eine der beiden Frauen der Reservisten, enttäuscht. »Keine Wälder, da und dort ein paar Seen, nur braungraue Öde. Das Hauptquartier aller Sterngewalten hat sich nicht gerade einen einladenden Platz ausgesucht.« »Abwarten«, bemerkte Janner lapidar. Er, Erica und Tilly waren augenblicklich viel zu sehr mit dem Anflug beschäftigt. Wer landete schon noch manuell, dazu in völlig fremdem Gebiet, das eigentlich mit Elektronik vollgepfropft sein mußte – wie sie sich das vorstellten. Das Bild änderte sich dann auch in den letzten zwei Minuten. Jenseits des Ufers eines breiten Flusses, den sie in kaum noch tausend Metern Höhe überflogen, wurde die Welt malerisch. Palmen, Parkanlagen, Wege, Seen, weit verstreut weiße Bungiglus, wie sie sie aus den Kuppelstädten kannten. Sofern
sie bei der hohen Geschwindigkeit nicht alles täuschte, liefen da und dort sogar Menschen spazieren: Bewohner des Paradieses! Dann aber tauchte die Rollbahn auf. Tilly schaltete, um die Flossen zu Tragflächen zu vergrößern, mit denen allein er segeln und bremsen konnte. »Wie hoch darf die Geschwindigkeit sein, wenn wir aufsetzen?« »Nicht geringer als 230, nicht höher als 400«, sagte Erica. »Ich sehe selber, daß wir noch zu schnell sind. Vergiß nicht, Tilly, unsere Sternschnuppe hat Landeklappen! Die brauchst du sonst nur auf Mars und Venus, und dahin kommen wir sowieso nie!« Mit 360 Kilometern pro Stunde setzte der Gigant – jedenfalls für irdische Flugverhältnisse – hart auf. Die Rollbahn sah endlos aus. Vorsichtshalber schoß Tilly ein paar Bremsraketen ab. Die Bremsen der Fahrwerke kamen fast zum Glühen, bevor die Geschwindigkeit gering genug war, um gefahrlos die Richtung zu ändern. Als der ausgedehnte Komplex an Muschelbauten auftauchte, die Raumhafenzentrale, erlebten sie auf den Ortungsmonitoren bereits die Landung von SAS-RS »Oberth« mit. Tilly brachte das Raumschiff hundert Meter vor den ersten Bauten zum Stehen. Schon Sekunden später koppelte ein Robotführer elektronisch an und zog die »Auldrin« zu ihrem Standort nahe der Halle III. Das stand weithin sichtbar an der fensterlosen Muschel. Nirgends waren ein anderes Raumschiff, eine Orbitlandefähre oder sonstige Flugmaschinen zu sehen. Nicht sehr weit hinter dem Komplex bogen sich Palmen im Wind. Unmittelbar nach Ankoppelung des Robotführers ertönte vom bildlosen Monitor: »Willkommen auf der Erde, Besatzung von RS ›Auldrin‹, Ganymed. Hier spricht der Raumhafenleiter
von Houston. Houston ist der älteste noch existierende Raumhafen des Universums, 3421 Jahre alt, das Jahr gerechnet am Sonnenumlauf des Planeten Erde. Befolgen Sie bitte unsere Anweisungen. Nach Stillstand des Raumschiffs verlassen Sie es durch Halle drei. Dort erwartet Sie ein Robcar, das Sie zu Ihren Quartieren befördert. Sie finden dort alle Annehmlichkeiten der Galaxis, die die Erde zu bieten hat. Warten Sie dort bitte ab, bis Sie weitere Anweisungen erhalten. Nehmen Sie alles persönliche Gepäck mit, das Ihnen wichtig erscheint. Das Raumschiff wird während Ihrer Abwesenheit gewartet, betankt und startklar gemacht. Sie brauchen sich nicht unnötig zu beeilen. RS ›Oberth‹ ist soeben gelandet, RS ›Glenn‹ befindet sich im Anflug. Es steht Ihnen frei, im Foyer der Halle drei auf die anderen Besatzungen zu warten. Roger.« Im stillen hatte Janner auf einen Empfang gehofft, wie ihn in der Altzeit, den Archiven zufolge, Touristen auf exotischen Ferieninseln erlebt hatten. Aber sie waren hier keine wohlhabenden Touristen, die sich einen Urlaubsaufenthalt auf der Erde leisten konnten. Das einzige, was sie mit diesen Leuten gemeinsam hatten, war die Sondergenehmigung, die Erde betreten zu dürfen. Nun waren sie da. Sie wußten nicht recht, was sie empfinden durften. »Wir nehmen alle persönlichen Dinge mit«, entschied die Kommandantin, »auch die Raumanzüge. Man kann nie wissen.« Erica hatte keinen Augenblick vergessen, daß sie sich dienstlich hier befanden. Es war Gepflogenheit, bei längerem Verlassen des Raumschiffs während eines Einsatzes auch den Raumanzug mitzunehmen. Andererseits konnte auch sie sich nicht gegen das erhebende Gefühl wehren, die Ursprungswelt der Menschheit zu betreten. Sie verzichtete auch nicht auf das An-
recht, es als erste zu tun. RS »Oberth« rollte schon langsam heran, als sie die Halle III betraten. Sie war für den Empfang monetenschwerer Touristen ausgelegt. Bunte, sich bewegende Bilder vermittelten erste herrliche Eindrücke des Paradieses. Rollbänder und Gepäckrobs brachten sie zum Abfertigungsfoyer. Doch nirgends war ein Mensch zu sehen. Alles lief automatisch ab, wie von Geisterhand. Sie entschlossen sich, nicht auf die Besatzung der »Oberth« zu warten. Fürs erste lockte das verheißungsvolle luxuriöse Quartier. Auf der anderen Seite der Halle traten sie ins Freie auf einen riesigen Vorplatz unter wedelnden Palmen zwischen duftenden Blumen. Ein omnibusgroßes Robcar rollte heran. Die Service-Robs, die offenbar zum Raumhafenpersonal gehörten, beförderten ihr Gepäck, boten Erfrischungen an und verluden ihre Sachen in das Robcar. Seine Automatik wußte sehr gut Bescheid, wen es da fuhr. Die Fahrt ging über leere Straßen durch Parks und Grünanlagen, vorbei an einzelnen Bungiglus, die sich meist hinter immerblühenden Büschen verbargen. Manchmal stand am Straßenrand ein Fahrzeug, das den bekannten »Rössern« ähnlich sah, jedoch wesentlich komfortabler war. Sie deuteten wenigstens darauf hin, daß die Welt nicht ausgestorben war. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Jeder ließ die so ungewohnte Landschaft auf sich einwirken. Das Robcar war natürlich vollklimatisiert. »Ladies und Gentlemen«, meldete sich während der Fahrt eine automatische Stimme, »wir begeben uns in die Siedlung ›alpha‹. Sie befindet sich am Ufer des Lake Liberty. Auf der anderen Seite des Sees beginnt die Wildnis. Aus Sicherheitsgründen wird es nicht gern gesehen, daß allein Exkursionen dorthin unternommen werden. Sie können dazu die Robboote be-
nutzen und sie auch selbst steuern. Lassen Sie sich stets von einem Sicherheitsrob begleiten. Am besten ist jedoch, Sie bleiben diesseits. Alle Einrichtungen für Spiel, Sport und Vergnügen der Siedlung ›alpha‹ stehen Ihnen zur Verfügung. Sie finden in Ihrem Haus genaue Anleitungen über alle Details. Rechnen Sie damit, daß Sie morgen gegen fünfzehn Uhr zur GAWEKONZentrale abgeholt werden. Sollte es sich verzögern, werden Sie informiert. Entscheiden Sie sich bitte vor Ankunft in der Siedlung, ob Sie zu zweit, dritt oder viert oder allein ein Haus bewohnen möchten. Wählen Sie auf dem Schaltpult vor Ihrem Sitz Ihre persönliche Kennziffer, dann Strich und die Zahl. Ist sie höher als eins, geben Sie anschließend die persönliche Kennziffer des gewünschten Partners ein. Im übrigen liegen alle Häuser, die Sie während der vier Tage bewohnen, zwar individuell abgeschirmt, aber nahe genug beieinander, um sich gegenseitig binnen weniger Minuten zu Fuß oder schneller mit einem Robcar besuchen zu können. Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt auf der Erde. Danke fürs Zuhören. Roger.« Sie hatten sich so sehr auf die Anweisungen konzentriert, daß sie erst jetzt bemerkten, wo die Strecke entlangführte. Den Palmengartencharakter hatte die Landschaft keinen Augenblick verloren. Die Straße führte nun aber an einem See entlang, der schon wie ein kleines Meer aussah. Am Horizont war jedenfalls das andere Ufer nicht zu sehen. Zum erstenmal sahen sie Menschen, Menschen wie sie selber. Vereinzelte tummelten sich am Strand, im Wasser, andere hielten sich im Schatten ihrer Parks. Fast alle waren unbekleidet – zumindest für Bewohner der Mondwelten völlig ungewohnt. Auf dem See blinkten weiße Segel. Ein paar schnelle, schnittige Robboote zogen Wasserskiläufer hinter sich her. Es bestand kein Zweifel mehr: Sie befanden sich im »Paradies«. Die einzigen von ihnen, die ein Haus zusammen bewohnen
wollten, waren die beiden Frauen der Reservisten, Clarissa und Nora. Das Haus neben ihnen bekam Erica. Dann durfte Garry aussteigen. Ein bereitstehender Servicerob nahm sein Gepäck und führte ihn quer über den prächtigen Rasen, den schönsten, den er je gesehen hatte, unter Palmen zwischen Blütenbüschen hindurch zu dem oben weißen, rundheraus sonst gläsernen Muschelbau. Bevor Garry eintrat – geöffnete Glasportale luden dazu ein –, lief er auf der überdachten, schattigen Terrasse zur anderen Seite. Rasen, Palmen und blühende Sträucher setzten sich fort bis zum Sandstrand. An einem simplen Holzsteg schaukelten ein schnittiges Robboot und eine Segeljolle. Die benachbarten Häuser waren nur zu ahnen, weil strandauf- und abwärts in einiger Distanz gleichfalls Stege mit Booten zu sehen waren. Er nickte zufrieden und ging ins Haus. Die luxuriöse und geräumige, sehr geschmackvolle Einrichtung war auf Mondwelten, soviel er wußte, nicht einmal bei Kapitalisten zu finden. 3D-Video, Kamin, eine ganze Bücherwand versprachen Abwechslung für einen Individualisten. »Herzlich willkommen im Casa del Merry«, sagte plötzlich eine sanfte Stimme. Garry, im Begriff, zum Schlafraum zu gehen, wirbelte erschrocken herum. Da saß auf einer der luxuriösen Couches ein braunes, bildhübsches Mädchen mit langem, blauschwarzem Haar. Es verhüllte einen unerhört schönen, wohlgeformten Körper in einem weißen, etwas transparenten Gewand, das bis zu den Füßen reichte. »Hallo«, sagte er, mächtig angetan von dem erfreulichen Bild. »Sind Sie echt oder ein perfekter Roboter?« Sie lachte klingend, erhob sich graziös und kam auf ihn zu. »Ich bin Gloria, aus Fleisch und Blut und viel Gefühl. Ich
möchte Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten, bin immer für Sie da und sorge dafür, daß alle Ihre Wünsche erfüllt werden.« Garry schmunzelte. Keinen Moment lang fiel ihm ein, daß die Menschen auf der Erde angeblich weiß sein sollten. »Tun Sie es persönlich oder sorgen Sie nur dafür, Gloria?« Sie streckte die Arme aus, legte die Hände auf seine Schultern und strahlte ihn an. »Wie Sie wollen, Garry!« Was konnte ein Mann bei soviel reizvoller Hilfsbereitschaft schon wollen? Sie gab sich so, wie er es wollte, zeigte ihm alle Details, segelte mit ihm und badete mit ihm im See und fuhr abends mit ihm zum Joy-Center. Bei Tanz und Amüsement sah er dort zum ersten Mal ein paar der anderen wieder. Sie hatten ähnliche Einladungen genausowenig ausgeschlagen. Das glückliche, unbeschwerte Leben wurde erst anderntags am Nachmittag unterbrochen, als das Robcar sie abholte. Es gab keine gigantischen intergalaktischen Antennen, keine auffälligen Sicherungsanlagen, die die Nähe des Zentrums aller Sterngewalt verrieten. Die Anlage lag unterirdisch und war nicht einmal sonderlich groß. Und nirgends war außer ihnen ein Mensch zu sehen. In einem fast schon spartanisch eingerichteten Konferenzsaal fanden sie sich alle wieder. Hier lernten sie die Lady General und ein paar Experten aus dem HQ SAS, dem Astrophysikalischen Main Center und Einsatzstrategen der Raumpatrouille kennen. Es ging alles zwanglos vor sich, und man setzte sich in bunter Mischung in die bereitstehenden Sessel. Robs sorgten für Bequemlichkeit und Erfrischungen. Auf ein Signal hin ging es auch sofort los. Anfangs ein akustisches Frage- und Antwortspiel, ein sich gegenseitiges Anregen zum Nachdenken, wobei dieses mysteriöse GAWEKONCen praktisch ein Spiel spielte: einer gegen alle. Jeder sprach
Ideen und Gedanken aus, und der elektronische »Herrscher« antwortete prompt, auch wenn die Fragen durcheinanderschwirrten. Garry war enttäuscht, und nicht nur er allein. Niemand wußte genau, was er erwartet hatte. Ein technisches Instrumentarium, mit dem man Schach spielen konnte, nicht. Es war trotz überragender Intelligenz, ja schöpferischen Intellekts, nichts Menschliches an ihm. Und so ein Heliumelektronikum »beherrschte« die von Menschen bewohnten Welten der Galaxis! »Ladies und Gentlemen«, sagte dieses Supergehirn nach zweistündiger Diskussion schließlich, »das Problem ist erkannt, die notwendige Eile akzeptiert, sämtliche Lösungsvorschläge sind gespeichert. GAWEKON-Cen wird nicht allein fähig sein, die Entscheidung für eine optimale Lösung zu treffen. Die Exekutive dieser Entscheidung obliegt schon wegen der Größe des bedrohenden OX allein Ihnen selbst, denn kein von GAWEKON-Cen dirigierter Automat wäre schnell genug imstande, programmierte Entscheidungen auf größtmöglichen Nutzeffekt zu kontrollieren und nötigenfalls zu korrigieren. GAWEKON-Cen wird Ihnen binnen vierzig Stunden wenigstens eine optimale Lösung unterbreiten, die sich aus eigeninitiativer Denkkapazität und Ihren Vorschlägen zusammensetzt. Es zeichnet sich allerdings bereits ab, daß das Problem nur unter massivem Einsatz von Kern- und Gravitationskräften gelöst werden kann. Der Einsatz solcher Vernichtungswaffen in der benötigten Größenordnung ist aus als bekannt vorausgesetzten Gründen der alleinigen menschlichen Entscheidungsbefugnis entzogen. Wir werden nach Ablauf der vierzig Stunden, wenn die optimale Lösung von der Mehrheit akzeptiert werden sollte, gemeinsam darüber beraten. Es sei daran erinnert, daß GAWEKON-Cen ein Vetorecht hat, das auch nicht durch Störung oder sogar Vernichtung des GAWEKON-Cen
durchbrochen oder aufgehoben werden kann. Roger.« Nach den hitzigen Debatten verspürte niemand große Lust, sich sofort in die individuellen, paradiesischen Gefilde zurückzuziehen. 24 Stunden Paradies hatten fast allen vergessen gemacht, weshalb sie überhaupt hier waren. Während die Wissenschaftler sofort in ihre Stützpunkte, zumeist im 2. Orbit, zurückkehrten, ließen sich General Diamond und ihr Adjutant bewegen, in der menschenleeren Cafeteria des Raumhafens noch kurze Zeit den drei Besatzungen Gesellschaft zu leisten. Der Abschiedskommentar des Supergehirns, über dessen Existenz bisher keiner von ihnen etwas gewußt hatte, ließ bereits darauf schließen, in welche Richtung die zu erwartende »optimale Lösung« zielte: Vernichtung des kosmischen Irrläufers. »Das glaube ich kaum«, widersprach General Diamond. »So groß sind die Energievorräte an Vernichtungsmaterial im gesamten Planetensystem gar nicht. Um eine solche Lösung zu finden, würden wir das GAWEKON-Cen nicht brauchen…« »Ich fürchte: Doch!« hielt ihr der Kommandant des RS »Oberth« entgegen. »Ohne die Einwilligung und somit Freigabe der – zweifellos atomaren – Zerstörungswerkzeuge durch das GAWEKON-Cen kommen wir gar nicht an die Arsenale heran, wenn ich richtig verstanden habe.« »Ich habe nicht einmal gewußt, daß es so etwas gibt«, sagte Erica bitter. »Gesetzt den Fall, daß wir wirklich mal von einer feindlichen Armada heimgesucht werden, müssen wir erst ein seelenloses Elektronenmonstrum fragen, ob wir uns mit allen Mitteln verteidigen dürfen, ob es uns gnädigst gestattet, ein paar…« »Warum denn so zynisch, Commander?« unterbrach sie die Diamond. »Ganz so seelenlos ist GAWEKON-Cen nun auch
nicht. Ohne seine oft treffenden Leitsätze hätte sich unser Planetensystem im Verlauf der Jahrtausende womöglich auch schon in Bruderkriegen…« »Soll das heißen, daß es andere getan haben?« warf der Bordingenieur des RS »Glenn« ein. »Solche Meldungen wurden doch nie konkret bestätigt.« »Aber auch nicht dementiert«, erinnerte Clarissa, die hellblonde Reservistin vom Ganymed. »Mir ist, offen gestanden, gar nicht wohl, daß ich plötzlich erfahren muß, daß auf der stets so angehimmelten Erde ein elektronisches Monster die Geschicke der Menschheit leitet – um nicht zu sagen: diktiert!« »Wir zerreden die Problematik«, warnte die Diamond. »Im System Sol herrscht seit dem Ende der turbulenten Pionierzeit echter, ewiger Friede, nicht zuletzt dank des GAWEKON-Cen, und in den meisten anderen Systemen ist es genauso. Aber lenken wir nicht ab. Wie die Empfehlung im Detail auch immer lauten mag: Ihre drei Raumschiffe sind die ersten im Einsatz. Ob der dann von Ganymed geleitet wird, ist eine andere Frage.« »Eine andere Frage, General, ist«, sagte Janner gelassen, »was das GAWEKON-Cen mit dem Satz gemeint hat: Der Einsatz solcher Vernichtungswaffen in der benötigten Größenordnung ist aus als bekannt vorausgesetzten Gründen der alleinigen menschlichen Entscheidungsbefugnis entzogen. Ganz zu schweigen vom erwähnten Vetorecht. Was sind das für Gründe? Ich kenne sie nicht. Ich neige dazu, mich Ericas und Clarissas Unbehagen anzuschließen. Ich beherrsche gern eine Maschine, ich lasse mich von ihr aber nicht beherrschen. Also was sind das für Gründe?« Die Diamond wurde unsicher. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Lieutenant!« »Sie wissen es genau, General«, polterte der kleine Tilly.
»Also heraus mit der Sprache! Und wenn Sie es wirklich nicht wissen, dann sind Sie fehl am Platz!« »Ich muß doch sehr bitten!« Die Diamond fuhr hoch wie von einer Tarantel gestochen, knallrot im Gesicht. »Ich erinnere Sie an Ihre Geheimhaltungspflicht. Das gilt auch gegenüber Ihren Gesellschaftern hier. Wir sehen uns in zwei Tagen im GAWEKON-Cen!« Verblüfft starrten ihr alle nach, wie sie hinausrauschte. Minuten später startete draußen lautstark die Mondfähre. Der Eklat störte die einsetzende kameradschaftliche Stimmung. Teils verärgert, teils belustigt machten sie sich auf die Rückfahrt, in der Absicht, den Rest der Nacht im Vergnügungspark ihres Bezirks zu verbringen, wo sich auch Touristen amüsierten. Janner hatte seine Frage, die zu der Mißstimmung geführt hatte, nicht ohne Grund gestellt. Er, der sich in Geschichte recht gut auskannte und keine Minute vergaß, was er kurz vor seiner Abberufung auf Ganymed in Händen hatte, ahnte, dem »dunklen Punkt« auf der Spur zu sein. Der war der Schlüssel zu allem »Glück und Frieden« im Planetensystem, über den erschreckenderweise ein selbstdenkender Computer wachte. »Wir haben morgen den ganzen Tag Zeit, Erica«, sprach er aus, womit er sich beschäftigte. »Ich beabsichtige, den See zu überqueren und mir die Wildnis anzusehen.« »Warum?« fragte sie verständnislos. Ihr gefiel es im »Paradies« weitaus besser. »Weil ich wissen möchte, was auf dieser Welt tatsächlich los ist«, sagte er leise. »Denn das, was wir hier sehen und erleben dürfen, mag paradiesisch sein, ist aber nicht das Paradies, von dem Milliarden in den Sternen träumen. Kommt ihr auch mit, Tilly – Clarissa…?«
* Sie waren von Beruf und aus Leidenschaft Raumschiffpiloten, Bordingenieure und Astronavigatoren. Sie waren, wenn auch mit Hilfe der Elektronik, imstande, sich in den endlosen Planetenräumen zurechtzufinden, ihr technisches Instrumentarium zu beherrschen und ein Gefühl für bevorstehende, ungewöhnliche Ereignisse zu entwickeln. Wie sollte es ihnen daher schwerfallen, sich auch auf der Erde zurechtzufinden, das ihnen verfügbare Instrumentarium zu beherrschen und auf den gleichen sechsten Sinn zu vertrauen, sobald sie erst einmal von der Idee dazu durchdrungen waren? Sie waren alle angesteckt von Skepsis, ja Mißtrauen, das durch die so abrupt geendete Unterhaltung mit der Lady General nur noch geschürt worden war. Deshalb hatte Janner leichtes Spiel gehabt, Tilly, Erica und die blonde Clarissa für seine Idee zu erwärmen. Eine Reihe von Raumeinsätzen zu Planetoiden hatte sie geschult, wie sie vorzugehen hatten, um unbekannte Aspekte ausfindig zu machen, ohne ein verantwortliches Maß an Sicherheit für Besatzung und Schiff außer acht zu lassen. Noch vor Sonnenaufgang waren sie unterwegs. Garry und Clarissa preschten mit einem Robboot über den See, bevor die Touristen in dem irdischen Paradies überhaupt wach wurden. Erica und Tilly benutzten, jeder für sich, ein Ros, um so nahe wie möglich am Ufer entlangzufahren. Obwohl sie den großen See von den vorhandenen Landkarten nur ungenau kannten, hatten sie einen Treffpunkt vereinbart, der an der Nordostküste liegen mußte. Die Genauigkeit der Karte beschränkte sich naturgemäß auf das sehr ausgedehnte Gebiet des »Paradieses«, das sich im Süden sogar bis
zum Ozean, dem Golf von Mexiko erstreckte. Der Raumhafen lag eigenartigerweise am Rande im Nordwesten. Und das mußte etwas bedeuten. Falls es in der zur Verfügung stehenden Zeit also überhaupt etwas zu entdecken gab, dann bestimmt nicht in gewissem Umkreis des Raumhafens, der von Nordwesten über West und Süd bis Südosten elektronisch markierte Einflugschneisen hatte. Die Landschaft, die sie beim Anflug überflogen hatten, sah alles andere aus als ein Paradies. Das war ein Hinweis. Betrachteten sie die übrigen Einflugschneisen auf der Karte, die einen langen, geradlinigen Anflug in größerer Höhe voraussetzten, so führten sie alle über Meer oder Hochgebirge hinweg. Von Nordwest über Nord bis Südost führte keine Schneise. Zweifellos gab es dafür astrogatorisch-aerodynamische Gründe. Schon im Hinblick auf die Erdrotation. Nachdem sie sich in dem heiteren Trubel des Festivals im Joy-Center ungestört und unbelauscht über die Absichten einig geworden waren, gingen sie noch einen Schritt weiter: Das GAWEKON-Cen hatte deutlich genug wissen lassen, daß es, auf welche Art auch immer, alle robotgesteuerten Automaten im Planetensystem zumindest kontrollierte. Weil der Mensch auf diese Technik angewiesen war, kontrollierte es auf diesem Umweg auch den Menschen. Schaltete man also die Robotautomatik aus und steuerte manuell, verlor das GAWEKON-Cen die Kontrolle. Die Forderung, die ihnen unterwegs zur Siedlung im Robcar nahegelegt worden war, bei Verlassen der Paradieszone einen Sicherheitsrobot mitzunehmen, sahen sie nun als Beweis für eine Überwachung an. Folglich nahmen sie keinen mit. Sie wechselten unterwegs nicht einmal ein Wort, sondern verständigten sich, wenn es nötig war, durch Zeichensprache.
Garry und Clarissa hatten im Boot damit weniger Schwierigkeiten als Erica und Tilly mit ihren Rössern. Der Palmengarten ging nämlich allmählich in Steppe über, in der die Straße einfach aufhörte. Erica in ihrer verantwortungsbewußten Eigenschaft als Kommandantin war noch einen Schritt weitergegangen. Bei Verlassen des Raumschiffs hatte sie instinktiv gefordert, alles Persönliche mitzunehmen. Dazu gehörten die Raumanzüge. Und die hatten sie und Tilly in den Fahrzeugen. Denn im Boot war zu wenig Platz. So weit hinaus auf den See wagte sich von den Touristen normalerweise niemand. Abenteuerlustige Leute hatten selten das Bedürfnis, bis zum anderen Ufer vorzustoßen. Denn Öde kannten sie von den Heimatwelten zur Genüge. Viel weniger kam einer von ihnen auf die Idee, darüber nachzudenken, wieso es die auf der so paradiesischen Erde auch gab. Der spätabendliche Besuch im Joy-Center hatte sie, nicht ohne Absicht, mit ein paar solcher Abenteurer zusammengebracht. Die hatten den See überquert, nicht ohne Sicherheitsrobs natürlich, und waren einige Kilometer weit, beschwerliche Kilometer, ins öde Land jenseits eingedrungen. Natürlich waren sie enttäuscht. Steine, Gestrüpp, sengende Hitze und ein paar wilde Tiere, die sie schießen durften, waren das ganze Vergnügen. Die Sicherheitsrobs erwiesen sich als hervorragende Fremdenführer. Schon von Anfang an rieten sie davon ab, nördliche Richtungen einzuschlagen. Die Uferregion wäre dort hoffnungslos versumpft, von Moskitos ganz zu schweigen. Die Information stimmte. Frühmorgens schliefen die Moskitos allerdings noch. Garry und Clarissa hatten genug zu tun, das Boot durch sich bietende winzige Fahrrinnen zu steuern. Der Strand tauchte überraschend auf. Dahinter dehnte sich
eine trostlose Steppe, so weit das Auge reichte. Da und dort bot sich ein Hügel an, steinig, ohne Flora. »Haben Sie den Kompaß, Clarissa?« Seine Frage war überflüssig. Er sah, daß sie sich bereits orientierte. »Dort!« Sie wies präzise in eine Richtung, wo sie sich mit Erica und Tilly treffen wollten. »Das können Sie eigentlich viel besser!« Er zuckte nur die Schultern und marschierte los. Sein Interesse galt von Beginn an den so seltsam verschlackt aussehenden Gesteinen, die verstreut in der trockenen Steppe umherlagen. Sie näherten sich bereits dem vereinbarten Treffpunkt, als es ihm auffiel. »Beachten Sie mal die Stellen, wo die Steine liegen, Clarissa! Bemerken Sie etwas?« Der Marsch war noch nicht anstrengend. Deshalb machte sie sich die Mühe. »Tja – ich wurde sagen, die meisten liegen ziemlich einsam. Ich meine, in begrenztem Umkreis zu ihrem Platz ist keine Flora zu sehen, die ja sowieso reichlich dürftig ist. Wieso?« Ihr Treffpunkt entpuppte sich zufällig als einer der wenigen Hügel weit und breit. Das war natürlich ideal, um die erwarteten Rösser auf eine weite Entfernung ausmachen zu können und Signal zu geben. Sie waren aber noch nicht in Sicht. »Beobachten Sie, Clarissa. Sie müssen von Nordwesten kommen, und zwar bestimmt nicht ohne Staubwolke. Mir kommt da ein Verdacht, und dem will ich nachgehen. Ich bin gleich wieder da.« Natürlich hatten sie ihre Strahlungsmeßgeräte bei sich. Ohne sie war ein Astronaut im Kosmos wehr- und hilflos allen unsichtbaren Naturgewalten ausgeliefert. Es war daher reine Gewohnheitssache. Garry lief herum wie ein Wünschelrutengänger. Überall, wo
er die kleinen Schlackensteine fand, näherte er sich vorsichtig, die Sonde in der Hand. Er brauchte sie nur ständig umzuschalten, um differenziert messen zu können. Dann wußte er, woran er war. Reichlich betroffen erklomm er den Hügel und setzte sich neben die blonde Frau. »Wollen Sie wissen, was los ist? Dieses Paradies ist, jedenfalls auf dieser Seite, radioaktiv verseucht. Nicht mehr lebensgefährlich, aber doch gehörig und auf Dauer durchaus riskant. Cäsium, Cobalt, Carbon, aber auch Uran und Plutonium. Jedes für sich allein wäre sicherlich nicht tragisch. Aber alle zusammen?« »Was wollen Sie damit sagen?« rief Clarissa erschrocken. »Hm, ich weiß noch nicht.« Janner stand grübelnd auf. In diesem Moment erblickte er die erwartete Staubwolke und begann heftig zu winken. »Sie kommen. Wir sollten vorsichtshalber die Raumanzüge anziehen, bevor wir weiter ins Landinnere vordringen. Ich bewundere immer wieder Ericas ausgezeichneten Instinkt!« Auch Clarissa erhob sich. Ihr hellblondes Haar, das im Wind wehte, fiel weithin auf. Das war aber nicht mehr nötig. Erica und Tilly hatten die zwei schon gesehen und hielten darauf zu. »In dieser Steppe lebt irgendwas«, behauptete die Kommandantin, als sie aus dem Ros sprang. »Etwas, das Wild jagt und die Knochen abknabbert, nachdem es das Wildbret fachmännisch zerlegt hat.« »Das heißt, ihr habt welche gefunden«, folgerte Clarissa, die etwas von Zoologie verstand. »Würde mich interessieren.« »Sie liegen in Tillys Ros.« Erica bemerkte das aktionsbereite Strahlungsmeßgerät bei Garry. »Was ist los?« »Wir sollten uns klar werden, ob wir wagen, weiter nach Osten zu fahren. Dann aber nicht ohne Raumanzüge. Hier gibt’s
für meinen Geschmack ein bißchen zuviel Strahlung.« »Ach, so ist das!« Ericas Lächeln sah unglücklich aus. »Komisch, wie bin ich bloß darauf gekommen?« Sie halfen sich gegenseitig in die etwas unförmigen Anzüge, verzichteten sogar auf die Atemfilter und benutzten, bevor sie in den beiden Rössern weiterfuhren, die anzugeigene Atemluft. Die reichte maximal 24 Stunden. Damit waren ihrem Aktionsradius Grenzen gesetzt, die auch durch höhere Geschwindigkeit nicht wesentlich ausgedehnt werden konnten. Der Charakter der Landschaft, eine wahre Todessteppe, änderte sich vorerst nicht. Um zu vermeiden, daß jemand auf sie aufmerksam wurde, verzichteten sie auf Unterhaltung, die wegen der dichten Helme über Funk ablaufen mußte. Sie verständigten sich wieder durch Zeichensprache. Allmählich wurde die Landschaft grüner. In gleichem Maße ließ die ständig gemessene Radioaktivität nach, hörte jedoch nie auf. Die Strahlung ging besonders von den Schlackengesteinen aus, hing aber auch von Staubdichte und Windrichtung ab. Da tauchte in der Ferne ein Fluß auf. Im selben Moment entdeckten sie eine alte Feuerstelle. Fußspuren, Sitzstellen und Knochen waren nicht zu übersehen.. Die Crew des RS »Auldrin« harmonierte so gut, daß niemand ein Kommando zu geben brauchte. Sie hielten, stiegen aus, registrierten die differente Radioaktivität, sammelten Proben ein und fuhren, nun erst recht neugierig geworden, weiter, bis sie am Flußufer standen. Selbst die zum Teil blühende, tropische Flora strahlte, wenn auch schwach. Sie wagten nicht, die Helme abzunehmen, um sich zu verständigen, um Eindrücke und Gedanken über die entdeckten Phänomene auszutauschen. Die Zeit erlaubte den Versuch, den Fluß zu überqueren. Es
wurde zwar allmählich beschwerlich, sich in den Raumanzügen bewegen zu müssen, doch das hatte auch einen Vorteil: Die Klimatisierung des Raumanzugs bewahrte sie vor der sengenden Hitze, in der die Landschaft flimmerte. Rösser waren überall so konstruiert, daß sie auch Gewässer überqueren konnten. Das Luftkissenprinzip kam voll zur Wirkung, wenngleich das Wasser nur so spritzte. Der Fluß selbst war völlig strahlungsfrei. Minuten später rollten sie eine sandige Böschung hinauf. Plötzlich hagelte es Steine. Vor Schreck gaben sie Vollgas, blieben nach hundert Metern stehen und versuchten, die Ursache zu ergründen… Da kamen sie aus Erdlöchern und hinter Büschen hervor: wild aussehende Gestalten, bärtig und mit langen Mähnen. Menschen! Manche in Lendenschurzen, andere in Fellen und auch Hemden, die eindeutig der gegenwärtigen Hochzivilisation entstammten. In den Händen hielten sie Steine, Äxte, Stöcke und Lanzen. Das war ein Novum für die vier. Sie blieben stehen, obwohl sie keine Waffen bei sich hatten. Garry stieg sogar aus. Instinktiv zeigte er seine leeren Hände. Er hielt sie im nächsten Moment abwehrend ausgestreckt vor sich als Zeichen, die anderen sollten nicht näher kommen. Die anderen blieben wirklich stehen. Es waren rund zwei Dutzend. Ihre Haltung, zwar nicht drohend, war zumindest abwehrbereit. Man musterte sich gegenseitig, ohne daß etwas geschah. Das war eine ganz verzwickte Situation. Garry unterdrückte es, darüber nachzudenken und vor allem, die sich anbietenden Konsequenzen zu ziehen. Er winkte Tilly und Clarissa, ebenfalls auszusteigen und seine Geste nachzuahmen. Erica blieb vorsichtshalber im Fahrzeug.
Trotz der Radioaktivität nahm er seinen Helm ab und bedeutete den beiden, es auch zu tun. »Könnt ihr mich verstehen?« Es dauerte einen Moment. In manchen der zum Teil häßlichen, entstellten Gesichtern spiegelte sich Erstaunen wider. Dann rief ein blonder Hüne: »Ja, wir verstehen dich. Wer bist du und was tust du hier?« Janner atmete auf. Wer miteinander reden konnte, hatte die Chance, sich zu verständigen. »Ich bin Garry Janner, komme von Ganymed und untersuche die Gegend auf ihre Gefährlichkeit. Das sind meine Gefährten. Und wer bist du?« »Folkmaster. Wir leben hier – ein Stück weiter. Wie geht es an, daß du unsere Sprache sprichst?« Darüber staunte er einen Moment lang selber. »Alle Menschen sprechen diese Sprache. Ihr seid doch Menschen? Hat noch niemand mit euch gesprochen?« »Nein. Es ist selten, daß jemand von drüben hier auftaucht. Wenn sie uns sehen, feuern sie mit Todesstrahlen. Ihr seid Wesen von den Sternen. Ihr habt nichts zu suchen auf unserer Welt. Eines Tages werden wir stark sein und alle vertreiben, die unser Land…« »Stop, Folkmaster«, rief Garry freundlich, aber bestimmt. »Ich weiß nicht, ob du und deine Leute alles begreift, was ich dagegen sagen muß. Ich habe nicht gewußt, daß es euch gibt. Ich bin auch nicht sicher, wie ihr leben müßt und was ihr alles wißt. Laß dir sagen, und es ist die Wahrheit: Wir kommen zwar von den Sternen, aber wir sind keine Wesen von den Sternen, sondern Menschen wie ihr. Unsere Ahnen stammen von hier, von der Erde. Ich wünschte, daß wir sehr viel mehr Zeit hätten, um miteinander zu sprechen. Aber wir haben keine. Wir sind hier, weil wir verhindern müssen, daß ein riesengroßer Stern auf die Erde fällt und alle tötet und alles vernichtet. Verstehst du das?«
Der blonde Hüne schaute seine kampfbereiten Gefährten an, denen es offensichtlich auch ein Novum war, mit den »anderen« zu sprechen. Dann musterte er Clarissa, deren blondes Haar aussah wie sein eigenes. »Warum wollt ihr das tun?« fragte er schließlich dumpf. »Weil diese Welt eure und unsere Wiege ist, Folkmaster.« Garry holte tief Luft. »Warum seid ihr so, wie ihr seid?« Es war unglaublich: Der andere legte seine Lanze weg, ließ den Stein fallen und schritt langsam heran, die Hand ausgestreckt. »Ich weiß es nicht, Garry Janner. Hundert Legenden widersprechen sich. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube dir!« Garry blieb gar nichts anderes übrig, als die dargebotene Hand zu ergreifen. Er zog dazu den Handschuh aus. Natürlich bemerkte er, wie aufgeregt das Meßgerät blinkte. »Wenn der Mond viermal voll war, Folkmaster, wirst du einen sehr hellen Stern um Mitternacht sehen…« »Den Jupiter, Garry Janner?« unterbrach er ihn. Garry unterdrückte es zu zeigen, wie überrascht er war. »Ja. Er hat viele Monde. Vier kann man sehen, wenn die Nacht dunkel genug ist. Auf einem davon wohnen wir. Unsere Vorfahren sind auch eure Vorfahren. Unsere Vorfahren sind nach dorthin ausgewandert…« »Dann ist es also wahr?« redete der Hüne dazwischen. »Was ist wahr?« »Kennst du die Legende nicht, nach der die Vorväter unserer Vorväter zu den Sternen ausgewandert sein sollen? Danach jagte der Tod über die Erde, und nur wenige haben überlebt. Viele der wenigen waren krank. Wir verstehen das nur nicht. Begreifst du das?« Garrys vage Vermutungen verdichteten sich fast zur Gewißheit. »Ich glaube, ja. Ihr selbst, Folkmaster, tragt diese schreck-
liche Krankheit auch noch in euch. Hier, wo ihr steht, strahlt unsichtbar der Tod. Am Flußufer zwar weitaus weniger als in der Steppe da drüben…« »Das wissen wir, Garry Janner. Wir wissen aber nicht, warum Leute von drüben auf uns schießen mit Feuerstrahlen wie wir mit Lanzen auf Wild, als wären wir Wild. Und warum habt ihr es nicht getan?« »Wir schießen niemals auf Menschen, Folkmaster«, sagte Garry ernst. »Niemals! Das tun nur ein paar Verrückte, Leute, die geistig krank sind. Sie schießen, weil sie Angst haben, weil manche von euch, so glaube ich, durch die schleichende Krankheit etwas anders aussehen. Geht ihnen aus dem Weg und zeigt euch nicht. Ich bin froh, euch getroffen zu haben. Wie viele seid ihr?« »Rund dreihundert«, sagte der Hüne. »Frauen und Kinder mitgezählt. Warum?« »Erica, haben wir Antiradiokalzium?« »Immer, im Raumanzug. Warum fragst du?« An die Pillen, die jeder Raumanzug barg, hatte er im Moment nicht gedacht. Er holte seinen Vorrat heraus. »Gebt mir eure, alle! Hör zu, Folkmaster. Das sind Tabletten. Sie schmecken ekelhaft. Jeder von euch schluckt jetzt eine und in drei Tagen wieder eine. Sie verlangsamen die Krankheit Der Rest ist für eure Kinder. Sie müssen jeden dritten Tag eine nehmen, bis sie alle sind. Vielleicht erkranken eure Kinder dann gar nicht erst. Du mußt mir vertrauen, Folkmaster, du mußt! Wir haben keine Zeit, euch alles genau zu erklären. Wenn ihr tut, was ich sage, haben wir alle eine Chance. Und wir werden irgendwann wiederkommen, um euch mehr zu bringen. Wie viele Kinder habt ihr?« »Zwanzig. Wozu sollen diese gelben Kugeln gut sein?« »Ich sagte es: gegen die Krankheit. Du hast sie schon, auch
wenn du noch nichts davon spürst. Das sagt der blinkende Stab. Eine Pille hilft nicht viel. Euren Kindern aber helfen sie. Willst du mir vertrauen?« Inzwischen hatten Tilly, Clarissa und Erica ihren Vorrat herausgegeben. »Ich will dem Altenrat berichten«, sagte der andere zögernd. »Ich selbst versuche, dir zu vertrauen. Was soll geschehen?« »Wenn es uns gelingt, Folkmaster, zu verhindern, daß der Stern herunterfällt und alles vernichtet, bleiben eure Kinder vielleicht gesund. Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen, bevor der Mond das zwölfte Mal voll ist.« »Ich auch!« Der Hüne nahm die Pillen, gab jedem seiner Gefährten eine, die jedes Wort verstanden hatten, und steckte den Rest ein. Sie verzogen die sowieso häßlichen Gesichter unter dem sauerscharfen Geschmack… Die Rösser kehrten unbehelligt um. Noch bevor der Abend anbrach, waren sie wieder im »Paradies«. Gegenüber der Todeslandschaft schon wenige Kilometer weiter war es wirklich ein Paradies. »Ich muß dir eingestehen, Garry«, sagte Erica schließlich, »du bist über dich hinausgewachsen. Ich hätte die Nerven dazu nicht gehabt. Die meisten von ihnen sehen doch verdammt entstellt aus.« »Na ja, ich wundere mich selber«, gab Garry zu. »Ich habe einfach getan, was mir einfiel. Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, würde ich Himmel und Hölle aufrühren für eine Missionsarbeit zugunsten dieser armen Menschen…« »Damit würdest du einen Gott vom Thron stoßen«, warnte Clarissa, »würdest einen galaxisweiten Nimbus zerstören und dadurch das Ordnungsgefüge zum Einsturz bringen…« »Das von einer Maschine aufrechterhalten wird«, fügte Erica voll Bitterkeit hinzu. »Ich möchte gern wissen, ob das GAWEKON-Cen überhaupt eine Ahnung davon hat. Denn diese
Menschen haben schließlich keine Robots.« »Ich empfehle, das stellen wir zurück«, sagte Tilly, »bis Problem OX gelöst ist.« »Und ich empfehle«, sagte Erica, »wir bringen zuerst einmal die Proben an Bord. Die haben wir ja mitgenommen, um sie zu analysieren. Wohin unsere Reise von hier aus auch immer gehen mag: Unterwegs haben wir Zeit für die Analysen.« Das taten sie auch. Niemand hinderte sie, an Bord des Raumschiffs zu gehen. Es war bereits startklar. Weil sie die Neugierde plagte, fingen sie mit ersten Analysen, die nicht allzuviel Zeit in Anspruch nahmen, gleich an und verbrachten damit die halbe Nacht. Es war eigentlich weniger Neugier als eher psychologischer Drang, um die innere Erschütterung zu überwinden, die sie durch die unverhoffte Entdeckung auf der Welt des »Paradieses« erlitten hatten. Garry suchte und fand aus dem gleichen Grund bei Gloria Trost und Vergessen über die Ungeheuerlichkeit. Clarissa stürzte sich deswegen in der Nacht von einem Abenteuer ins andere. Als sie sich tags darauf im unterirdischen Konferenzsaal des GAWEKON-Cen gegenübersaßen hatten sie, jeder auf seine Weise, den Schock zumindest verkraftet. Das Supergehirn kam auch gleich zur Sache: »Die Analysen von Ganymed scheinen sich zu bewahrheiten. Bevor wir zu letzten Entscheidungsempfehlungen kommen, wird sofortiger Start der Flottille nach OX empfohlen mit dem Ziel, die Beschaffenheit des Himmelskörpers festzustellen. Um jede vermeidbare Erschütterung des planetarischen Gefüges auszuschließen, sollten sich die Forschungen in erster Linie darauf konzentrieren, ob, wie schnell und mit welchen Mitteln OX aus seiner gegenwärtigen Bahn geworfen werden kann. Dadurch gewinnen wir Zeit für eine spätere Vernichtung, so-
fern er dann noch eine Gefahr für Sol darstellen sollte. Wir bitten um Stellungnahme und Gegenvorschläge.« Es gab keine. Der Vorschlag war ein salomonisches Urteil. Nach kurzer Diskussion erklärte General Diamond, sie übernähme die Kommandogewalt und wünschte als Flaggschiff RS »Auldrin«. »Wir heißen die Entscheidung gut«, antwortete das GAWEKON-Cen. »Wegen der vorläufig enormen Entfernung sollte nach wie vor jeder Funkverkehr vermieden werden, dessen Inhalt sich auf OX bezieht, um die Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen. Notwendige Entscheidungen müssen an Bord des RS ›Auldrin‹ mit Mehrheit beschlossen werden. Bei Abschluß der Analysen beraten wir gemeinsam neu.« »Solche Vollmachten sind zu begrenzt, wenn jeder Funkverkehr unterbleiben soll«, rief Erica, der es gar nicht paßte, daß die Diamond an Bord kommen sollte. »An Ort und Stelle könnten sich Situationen ergeben, die unverzügliche Entscheidungen und Aktionen erfordern, und zwar in der gleichen Weise, als ob wir lediglich einen Kometen zu bekämpfen haben.« »Korrektur«, meldete sich das GAWEKON-Cen prompt. »Entscheidungsvollmacht wird ausgedehnt auf alle Aktionen, die die mitgeführten Bordmittel zulassen.« Das gefiel auch der Diamond besser. »Darüber hinaus sollten sämtliche verfügbaren Einheiten der Raumpatrouille einsatzbereit sein, um Nachschub und Kernsprengmaterial nach OX zu transportieren. Ein unverfängliches Signal genügt dafür.« »Akzeptiert«, kam die Antwort. »Die drei Schiffe der Flottille werden gegenwärtig mit Kernsprengsätzen, die zur totalen Zerstörung eines Kontinents ausreichen würden, und je drei Gravitationsbomben beladen, die zusammen Energie genug entwickeln, um Himmelskörper von Mondgröße aus der Bahn
zu reißen. Ergibt die Analyse der Masse- und Strukturverhältnisse, daß eine größere Druckwirkung notwendig ist, sind Raumschiffe der Raumpatrouille anzufordern. Start ist 0600 Uhr Ortszeit. Roger…« * Gleich nach dem Start stand fest, daß die Flottille »Operation OX« im gesamten Planetensystem Narrenfreiheit hatte. Die automatische Starthilfe hatte die Raumschiffe sofort auf Direktkurs nach OX geschleudert, quer durch alle Orbite und Strahlungsgürtel. Vorhandene Sperren, die jede für sich in irgendeiner Weise elektronisch reagierende Raumschiffe unweigerlich abblockten und in einen anderen Kurs zwangen, waren für die drei Schiffe neutralisiert. Darüber wunderte sich sogar General Diamond, die sich nach der langen Andrucksphase sogar weiblich gab, indem sie ihre schmucke Uniform gegen bequeme zivile Kleider tauschte. Wenngleich der übliche Gravitationsantrieb für planetarische Exkursionen stark und auch schnell genug war, steigerten die atomaren Triebwerke die Geschwindigkeit unablässig. Die Flottille brauchte trotzdem fünf Tage, bis der nicht einmal mehr »dunkle« Irrläufer nahe genug war, um fortan stundenlang die Bremstriebwerke auf Vollast schalten zu müssen, damit sie in einen niederen Orbit gerieten. Der extravagante Planet befand sich bereits über dem Raum zwischen dem Asteroidengürtel und der Marsbahn. Sehr zu General Diamonds Erstaunen verbrachte die sechsköpfige Besatzung des RS »Auldrin« ihre Zeit bis dahin keineswegs mit astronautenüblichen Spielen. Erst nach drei Tagen kam sie darauf, daß in den drei Bordlaboratorien Hochbe-
trieb herrschte. In Erinnerung an die heikle Konversation in der Cafeteria des Raumhafens, während der sie beleidigt davongesprungen war, vermied sie alles, was zur Konfrontation mit der Stammbesatzung führen konnte. Die Neugierde plagte sie dann aber doch. »Was wollen Sie wissen, General«, erwiderte Garry, der gerade Wache in der Kommandozentrale hatte, denn wer nicht schlief, war in den Labors. »Daß unsere geliebte Erde vor rund dreitausend Jahren einen radioaktiven Feuersturm erlebt hat?« »Daß die Erde – was?« fragte sie verblüfft, denn mit solcher Aussage rechnete sie nicht. »Haben Sie das nicht gewußt?« meinte er schnippisch, dann aber versöhnlicher: »Zu Ihrer Beruhigung, wir auch nicht. Wir sollten das GAWEKON-Cen einmal fragen. Das existiert ja angeblich schon solange.« Sie setzte sich voller Unbehagen auf den Sessel des Bordingenieurs. »Wissen Sie eigentlich, was für eine Ungeheuerlichkeit Sie da behaupten?« »Gewiß. Ungeheuerlich daran ist nur, daß wir es auch beweisen können.« »Hm.« Sie wurde nachdenklich. »Zugegeben, jeder gebildete Mensch weiß natürlich, daß die Völkerwanderung zu den Sternen ursächlich an der Übervölkerung der Erde lag und dadurch unausbleibliche Spannungen ausgelöst wurden. Aber ein – wie sagen Sie: Feuersturm?« »Ein Atomkrieg, wenn Sie es deutlicher hören wollen, General«, sagte Garry gelassen. »Der Mittelwert ergibt 3100 Jahre. Die Fehlerquelle der Radiokarbonmethode liegt bei sieben Prozent. Das heißt, zwischen 2880 und 3220 Jahren! Zu der Zeit, behauptet jedenfalls die Historie, war die Völkerwanderung weitgehend beendet. Bloß: Unter dem neuen Aspekt sehe ich
den Begriff ›Völkerwanderung‹ etwas anders.« »Woher wissen Sie das überhaupt?« Die Diamond war starr geworden. Garry erzählte es ihr und fügte hinzu: »Wie gesagt, jenseits des imaginären Paradieses ist die Erde immer noch verseucht. Die Aktivität des Urans 238 ist ungebrochen. Diese Tatsache wird schon von der Alphastrahlung bewiesen, die in der Luft fast drei Zentimeter weit dringt. Die deutlichsten Anhaltspunkte bieten die Rückstände von Plutonium 239. Danach sind es 3040 Jahre her. Das harmoniert recht genau mit dem Resultat der C-14 Methode.« »Sie haben unerlaubt das Paradies verlassen!« keuchte sie auf einmal, als wäre ihr die Erinnerung an die Kommandogewalt das Wichtigste. »Sie haben vielleicht Kummer, Miß Diamond«, sagte Garry respektlos und hart. »Im Übrigen ist ›unerlaubt‹ das falsche Wort. Wir haben lediglich Automatik, Programmsteuerung und Sender der Rösser ausgeschaltet. Sie muten Astronauten sicherlich zu, daß sie allein mit Karte, Kompaß und Sextant jeden gewünschten Ort auf der Erde finden.« »Ihnen ist anscheinend gar nicht bewußt, in was für eine Gefahr Sie sich begeben haben?« wich sie aus, fassungslos über soviel Eigeninitiative, wo doch alles im Leben bestens automatisiert war. »Unsere Rechnung ging jedenfalls auf«, blieb er beim Thema. »Das letzte Interview mit GAWEKON-Cen hat es bewiesen. Wir konnten uns jeglicher Kontrolle entziehen. Das GAWEKON-Cen hat keine blasse Ahnung, obwohl es sonst alles weiß, sogar, was auf dem Pluto geschieht.« »Das ist doch Unsinn, Mr. Janner«, erklärte sie, zitternd vor Aufregung. »Angesichts des brisanten OX-Problems bestand nicht die geringste Veranlassung, ein anderes Thema anzurei-
ßen.« »Das bezweifle ich. GAWEKON-Cen reagiert bekanntlich auf jedes Signal aller Robots im Planetensystem, von der Küchenmaschine bis zum Raumschiff. Die seltenen Besucher der Zone jenseits des Sees werden immer von Sicherheitsrobs begleitet und gezielt in eine relativ harmlose Steppe geführt. Diese bevorzugte Zone haben wir bewußt gemieden. Denn da ist nichts zu finden, nicht einmal für die mutierten Nachkommen jener Menschen, die die Katastrophe vor dreitausend Jahren überlebt haben…« »Wie bitte? Menschen – auf der Erde?« Sie starrte ihn fassungslos an. »Woher wollen Sie das wissen?« Garry erwiderte den Blick auf einmal voller Skepsis. »Mag sein, daß Sie es nicht glauben, Miß Diamond. Mir scheint, Sie kennen die wahren Verhältnisse auf der Erde besser, als Sie zugeben.« »Ist doch Unsinn, Mr. Janner«, widersprach sie, sichtlich unsicher. »Sie wissen durch Ihren Alleingang mehr als ich. Außer in dem halben Dutzend Rekonvaleszenzzentren, zu denen Sie spöttisch Paradies sagen, lebt kein Mensch auf der Erde. Natürlich ist es denkbar, daß damals ein paar Stämme abgeschieden lebender Wilder übrigblieben. Geortet, gesichtet wurde nie jemand.« »Sie bestätigen mir zum zweiten Mal, was ich behauptet habe«, sagte er hart. »Vorhin sprachen Sie von einer Gefahr, in die wir uns begeben hätten! Woher wissen Sie, daß außerhalb der Paradieszonen Gefahren lauern? Sie behaupten, es gäbe keinen Menschen, und deuten in einem Atemzug an, daß damals ›Wilde‹ übriggeblieben sein können. Außerdem geben Sie zu, daß die Erde unter ständiger Beobachtung steht. Wozu, frage ich Sie, wenn es keine Bedrohung gibt?« »Das habe ich nicht behauptet«, entgegnete sie mit Absicht
zweideutig. Sie fühlte sich in die Enge getrieben und war nahe daran aufzubegehren wie kürzlich in der Cafeteria. »Es sind aber keine Wilden«, fuhr Garry fort. »Es sind intelligente Menschen, lediglich von Radioaktivität gezeichnet und wahrscheinlich schon bei Geburt für einen frühen Tod vorprogrammiert. Sie sprechen sogar die gleiche Sprache wie wir. Ich will gar nicht darüber spekulieren, wie sie überleben konnten. Wenn Sie bestätigen, daß der angeblich unbewohnte Teil der Erde überwacht wird, komme ich zu dem Schluß, daß das GAWEKON-Cen sehr gut über die Existenz dieser hilfsbedürftigen Menschen informiert ist.« »Das ist Ihre Version«, murrte sie. »Sicherlich. Wenn das allmächtige GAWEKON-Cen es aber weiß, so muß ich fragen, weshalb es dreitausend Jahre lang nichts veranlaßt hat, um den Überlebenden auf der Erde zu helfen. In meinen Augen ist diese Unterlassung geradezu verbrecherisch.« »Sie sind nicht gerade fein in Ihrer Wortwahl!« »Wie sollte ich, nachdem wir erst dank dieses OX dahintergekommen sind, daß es eine Maschine ist, die alles Geschehen zumindest in diesem Planetensystem dirigiert, um nicht zu sagen: diktiert!« »Das ist ja nicht wahr«, wurde sie heftig. »Sie haben selber erlebt, daß diese geniale Denkmaschine lediglich Vorschläge und Empfehlungen unterbreitet.« »Uns, gewiß, aber alle Robots kontrolliert und steuert sie, und wir sind auf sie angewiesen. Ist ja auch so schön bequem! Sie selber haben neulich den Begriff vom ewigen Frieden dank GAWEKON-Cen geprägt.« »Wenn ich Ihrem Gedankengang folgen wollte«, zog sie unwillig Schlüsse, »wäre ja die ganze menschliche Geschichte falsch!«
»Die ganze nicht, nein.« Garry schüttelte den Kopf. »Nur die Geschichte von der Völkerwanderung in die Sterne ist dummes Zeug. Besonders aus der Zeit dieser paar Jahrhunderte, die als Pionierzeit bekannt ist, fallen einem die dunklen Punkte förmlich ins Auge.« »Ach, Mr. Janner, Sie dichten sich anhand ein paar mysteriöser Funde etwas zusammen…« »Die Verseuchung durch Radioaktivität ist Tatsache, keine Dichtung. Gehen Sie ins Bordlabor! Die mutierten Menschen sind eine Realität, kein Phantasieprodukt. Begleiten Sie uns zu ihnen, wenn wir zur Erde zurück sind.« »Und wie, meinen Sie, ist die Geschichte jener Zeit richtig?« fragte sie ironisch. »Wer sollte je interessiert daran gewesen sein, die Erde auf so mörderische Weise umzubringen? In der Galaxis gibt es keine Intelligenzen außer uns…« »Der Mensch selber, wer sonst«, sagte er lapidar. »Es war ein Atomkrieg, und zwar ein totaler. Warum, weiß ich nicht. Warum streiten sich die Menschen entfernter Planetensysteme? Als es passierte, war die Raumfahrt in vollem Gange. Überall, wo heute Menschen leben, gab es bereits Stationen. Wer von diesen Leuten hätte wohl zur toten Erde zurückkehren wollen? Was man Pionierzeit nennt, waren Tändeleien zwischen den Stationen, wenn Sie unter diesem Blickwinkel mal zwischen den Zeilen lesen! Das bedeutet, die sich bekriegenden Interessengruppen saßen auch in den Außenstationen. Aber sie waren in erster Linie Techniker, Wissenschaftler, und sie haben schnell eingesehen, daß niemand überlebt, wenn sie den Krieg in den Sternen fortsetzen. Überlegen Sie doch mal logisch: Weshalb sollte bei einer imaginären Völkerwanderung die gesamte Erdbevölkerung auswandern?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Fähigkeit zu denken, war dafür scheinbar nicht reif. »Sie haben eine blühende Phantasie,
Mr. Janner. Sie glauben doch auch, daß sich die Menschheit nicht drei Jahrtausende lang an der Nase herumführen ließe…« »Wenigstens ein Jahrtausend dürfte sie erst einmal gebraucht haben, um sich in den Sternen zu etablieren«, behauptete er gelassen. »Die Lebensverhältnisse selbst auf Planeten wie Mars und Venus sind heute noch nicht vergleichbar mit denen im Paradies der Erde. Die Menschheit hat ganz andere Sorgen, als sich über Geschichtskorrekturen aufzuregen.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte sie schnippisch, »ganz gleich, ob Sie recht haben oder nicht. Dank des GAWEKONCen lebt die Menschheit jedenfalls in Frieden. Und es ändert nichts daran, daß der Erde ein Planet auf den Kopf zu fallen droht. Deswegen sind wir unterwegs, nicht wegen irgendwelcher Zustände.« Garry war klar, daß sie die Diskussion abbrach, weil sie gegen seine Theorien keine Argumente mehr hatte. Mittlerweile wurde es sowieso Zeit, sich mit dem fatalen Himmelskörper zu beschäftigen. Wenn es ihnen nicht gelang, ihn auf eine andere Bahn zu bringen, würde er das vollenden, was die Menschheit vor drei Jahrtausenden offensichtlich nicht geschafft hatte. OX stand als eine zu drei Vierteln beleuchtete Scheibe auf allen Monitoren. Bei der enormen Geschwindigkeit der Flottille waren aus Sicherheitsgründen die Fensterluken geschlossen. Die Annäherungsmanöver während der Abbremsphase basierten auf den vorläufigen Berechnungen des Security-Observatoriums Ganymed. Danach betrug die angenommene Dichte 4,4. Die ließ, auf seine Größe von 10 000 km Durchmesser berechnet, ausgehend von der Endgeschwindigkeit der Flottille, eine günstige Umlaufbahn zu. Sämtliche Ortungs- und Meßgeräte liefen auch während der
starken Bremsmanöver auf vollen Touren. Die automatischen Kartografen zeichneten bereits Mehrfachlandkarten von der sichtbaren Oberflächenstruktur. Optische Fotografien in vielen Spektralbereichen lieferten erste analytische Anhaltspunkte. »Sieht ganz danach aus«, erklärte Erica, »daß die Dichte größer ist als angenommen, viel größer.« »Dann brauchen wir entweder eine andere Orbithöhe oder eine größere Einschußbeschleunigung«, forderte Tilly. »Wir steuern manuell!« Auf den ersten Blick sah der Himmelskörper aus, als wäre er mit Puderzucker bestreut. Nur an wenigen Stellen durchbrachen finstere, kantige Gipfel die weiße Pracht. Unter dem Eis, denn darum handelte es sich, verrieten die durchdringenden Ortungsstrahlen jedoch Gebirgszüge und Ebenen. »Der Planet hatte einst eine Atmosphäre«, identifizierte Garry die elektromagnetischen Spektralanalysen. »Es sieht so aus, als ob die Sonneneinwirkung schon stark genug ist, sie wieder aufzubauen. Jedenfalls liegt eine Gasschicht über dem Schnee.« »Ich möchte zwar nicht in den Verdacht geraten zu phantasieren«, sagte Clarissa von ihrem Ortungspult. »Aber wenn ihr eure Aufmerksamkeit mal auf die Ebene unterm Eis richtet, etwa zwei Drittel vom scheinbaren Äquator zum Nordpol an der Tag- und Nachtgrenze…« »Tatsächlich«, rief die Diamond, die sich an der Arbeit beteiligte. »Ein komplex geometrisch exaktes Muster, als wenn…« Das sprach sie nicht aus. Es klänge zu phantastisch. Nach der Diskussion mit Garry, der sehr viel konkretere Beweise anzubieten hatte, bezogen auf die Erde, konnte sie sich nicht erlauben, Hypothesen aufzustellen. Trotzdem existierte unter dem Eis etwas, das wie eine flächenmaßige Anhäufung zahlloser Quadrate und Rechtecke
aussah. Der Komplex wurde lediglich von unregelmäßigen Rissen durchzogen, die eine Reihe der Formationen zueinander verschoben hatten. Inzwischen waren sie so nahe, daß das Gebilde hinter dem Horizont verschwand. Wenig später kam der vorausberechnete Augenblick, um die Triebwerke abzuschalten. Unmittelbar darauf tauchten sie auf die Nachtseite. Tilly registrierte es sofort: »Der Orbit ist zu niedrig. Die Schwerkraft ist größer als erwartet, viel größer! Ich schalte die Korrekturtriebwerke. Garry, gib’s durch an RS ›Glenn‹ und RS ›Oberth‹!« »Kein Funkverkehr«, brauste die Diamond auf. »Dann gehen Sie zu Fuß rüber«, polterte Tilly. »Wollen wir eine Kollision riskieren? Auf UKW hört uns sonst kein Mensch.« Garry hatte sich sowieso über die Anweisung der Diamond hinweggesetzt. Die Besatzungen der Begleitschiffe hatten das Phänomen auch bemerkt. Sie waren dankbar für die Nennwerte des Schubs. Fortan entwickelte sich ein lebhafter Sprechfunkverkehr. Die anderen hatten ermittelt, daß sich der Planet ohne Sonne um sich selbst drehte. Die Größenordnung war infolge der Eigenbewegung der Schiffe noch nicht bekannt. Er besaß zudem ein Magnetfeld, das kaum schwächer war als das der Erde. Das ließ auf einen beachtlichen glutflüssigen Kern und somit auf Labilität der Kruste schließen. Außerdem war OX im Begriff, Strahlungsgürtel aufzubauen. »Und wenn wir uns nicht beeilen, ein paar geeignete Landeplätze zu suchen, wo wir unsere Gravitationsbomben loswerden«, rief der Kommandant der »Oberth« herüber, »ist es zu spät. Das Eis taut unter dem Einfluß der Sonne rasch auf und bildet eine Atmosphäre. Ist die erst einmal so stark wie die der
Erde, brauchen wir eine Landebahn!« »Himmel – ja«, stimmte die Diamond zu. »Wir werden die Funkstille brechen müssen. Bei einer derartig starken Dichte und Gravitation richten wir mit unseren paar Bomben wenig aus. Doch zuerst landen wir, möglichst auf der Tagseite. Ist die exakte Größenordnung von Schwerkraft und Dichte schon bekannt?« Das war nach der ersten Umkreisung noch unmöglich. Denn die Schiffe mußten alle halbe Stunde Korrekturmanöver durchführen, um den richtigen Orbit auszubalancieren. Erst dann standen die Werte fest. Aber die Annäherungswerte waren bereits verblüffend: Die ermittelte Fallbeschleunigung lag bei 10, die Dichte, soweit sie elektromagnetisch durchs Eis an der Oberfläche meßbar war, bei 3, insgesamt mit Sicherheit höher als 5. Die »Empfehlungen« des GAWEKON-Cen waren vergessen. Nahezu einstimmig beschlossen sie, an der Tag- und Nachtgrenze am Rande einer Gebirgszone zu landen. Während das geschah, gab General Diamond persönlich das Freigabesignal an das SAS HQ durch: Sie brauchten dringend Verstärkung an Gravitationsbomben. Nach der Landung in der Eiswüste ermittelten sie sehr schnell, wie der Himmelskörper um sich selbst rotierte: 20 Stunden, 35 Minuten. Sie hatten zwei Tage und zwei Nächte lang ununterbrochen zu tun, um die schrecklichen, schrankgroßen Gravitationsbomben in die Täler zu verfrachten. Sie ließen sie einfach mitsamt den Rössern stehen. Inzwischen postierten und justierten sie die notwendigen Meßgeräte. Denn nur mit deren Hilfe konnten sie die Wirkung feststellen. Jede einzelne dieser fürchterlichen Waffen war stark genug, einem Kometen den Garaus zu machen. Die Gebirgsmas-
sive unterm Eis besaßen für sich jedoch schon weitaus mehr Masse. Es wurde also kritisch. Als die drei Schiffe wieder starteten, traf die Bestätigung ein: Drei Geschwader der Raumpatrouille übernahmen G-Bomben und bereiteten den Start vor. Bis sie bei OX eintrafen, vergingen mindestens sechs Tage. Die Zeitzünder waren so justiert, daß die Detonation gleich nach 12 Uhr mittags Ortszeit erfolgte. Das hieß: nach dem Zenitdurchgang der Sonne. Die Flottille befand sich zu diesem Zeitpunkt vorsichtshalber über der Nachtseite… * »Wir werden geortet«, rief Garry plötzlich. »Einfaches Radar.« »Wir werden – was?« General Diamond fuhr herum. Alle fuhren herum, und Erica schaltete auf Reflektor. »Wer – woher?« Da schoß ein schwacher Lichthauch um den Globus. Die GBomben waren detoniert. Der Lichthauch war ein Zeichen, daß sich die Atmosphäre schneller bildete als erwartet. Eine andere Wirkung war fürs erste nicht meßbar. »Ich habe keine Ortung«, rief die Diamond. Sie warf Garry skeptische Blicke zu. Garry registrierte auch nichts mehr. Er war sicher, keiner Täuschung erlegen zu sein, beließ es aber dabei. Im Moment war es wichtiger, die Wirkung der ersten drei G-Bomben zu analysieren. Die ungeheure Sprengkraft kratzte diesen Schwergewichtler unter kosmischen Irrläufern nicht einmal an. Darüber waren sie sich im klaren. Es gab nur ein zu erwartendes Ergebnis: Die Dreifachdetonation konnte die Bahngeschwindigkeit zur Sonne bis zur Größenordnung einer Minute pro Tag verlangsamt
haben. Genau wußten sie das aber erst nach vier Wochen. »Doch eine Wirkung«, meldete Clarissa, die die Meßgeräte kontrollierte, die auf dem Planeten stationiert worden waren. »Beben, verheerende Beben! Da unten möchte ich jetzt nicht sein!« Auf den übrigen Kontrollinstrumenten zeigte sich davon nicht viel. An einigen wenigen Stellen verschob sich geringfügig die Oberflächenstruktur, allerdings unter dem Eis. »Ist der eigentlich vulkanisch?« fragte Erica, denn auch sie verfolgte die Aufnahmen und Diagramme. »Unterm Eis gibt es eine ganze Reihe Vulkane«, bestätigte Clarissa. »Ich weiß, was du meinst: Den Linien nach zu urteilen, ist er streckenweise hohl, jedenfalls hat er nicht weit von der Oberfläche Hohlräume. Schlote und Kamine von Vulkanen.« »Erde und Venus sind ähnlich aufgebaut«, meinte Garry, der ja der Experte war. »Hat tatsächlich glutflüssigen Kern.« »Sobald die Beben aufgehört haben«, sagte die Diamond, »landen wir im zweiten Bereich. Jedes Schiff hat jetzt noch zwei G-Bomben. Bis die Geschwader eintreffen, müssen wir konkrete Zielergebnisse haben. Wir müssen uns beeilen.« »Bis auf ein paar kleinere Nachbeben an den Antipoden keine mehr feststellbar«, sagte Clarissa. »Wir sind bereits über dem zweiten Bereich«, meldete Garry, dem auch die Navigation oblag. »Hochliegende, ausgedehnte Täler.« »Wunderbar.« Lady General geriet in Eifer. »Können wir die Landung bei Nacht wagen?« Das war an Tilly gerichtet. Er schüttelte den Kopf. »Nicht manuell. Sie können es sogar bei Nacht erkennen, General, wie das Eis dampft.« Das war allerdings übertrieben. Inzwischen waren die Fens-
terverschlüsse geöffnet worden. Mit bloßem Auge war nichts zu erkennen. Um so deutlicher zeichneten es die Detektoren im Infrarotbereich ab. Der Planet erwärmte sich. Das überwiegend aus Stickstoff und seinen Verbindungen bestehende Eis fing an zu verdampfen. Die Temperatur lag demnach schon höher als minus 195 Grad. Als dann die Sonne hinter der Kugel hervorblitzte, verzerrte eine zwar hauchdünne, aber schon über fünfzig Kilometer hohe Luftglocke das Licht. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Flottille nur noch wenige Kilometer über dem ausgesuchten Landeplatz. »Ich könnte wetten, daß dort weit vorn in den Bergen Lichter aufblitzen«, sagte Tilly verblüfft. Er steuerte bereits auf Sicht, obwohl der Morgen unter ihnen noch nicht angebrochen war. »Jetzt fängt der auch noch an zu phantasieren«, murrte die Diamond. »Doch«, bestätigten Erica und Nora von ihren Instrumenten. »Zumindest winzige Wärmequellen.« Die Diamond bemühte sich zum zweiten Cockpitfenster. Unterdessen war die Sonne höher gestiegen, die Schiffe hatten sich im gleichen Tempo tiefer gesenkt. »Eine an sich schöne Eislandschaft«, sagte sie dumpf. »Eure Gespensterlichter sind Reflexionen der Sonne in den Eisspitzen und Graten.« Der Kommandant von RS »Glenn« meldete Radarreflexionen, allerdings unendlich schwache. Sie hörten ganz auf, als sie nur noch zweitausend Meter über dem Landeplatz waren. Dafür machte sich die Atmosphäre bemerkbar. Mit den Gravitationsausgleichsaggregaten allein kamen sie auf einmal nicht mehr zurecht. Sie schalteten die atomaren Bremstriebwerke ein, um unerwünschte Kursabweichungen
zu vermeiden. Es war an sich gar nicht nötig. Die Meldungen über Irrlichter und Irreflexionen machten sie nervös. Auch General Diamond wurde unruhig. »Wir landen trotzdem«, entschloß sie sich. »Wenn die zweite Serie detoniert ist, haben wir immer noch Zeit für Messungen. Ich schlage vor, wir verteilen die Rollen wie beim ersten Mal.« Das bedeutete: Nach Verladen der G-Bombe würden Erica und Egbert, der Reservist, sie mit zwei Rössern ins Tal hinaufbefördern. Von den beiden anderen Schiffen wurde es ähnlich eingeteilt. Tilly als Pilot blieb im Schiff. General Diamond leitete die Aktion über Funk. Garry und Clarissa bauten die Meßinstrumente auf, die später alle wichtigen Informationen übermitteln sollten. Nora beschäftigte sich mit Bohrungen, dem Zustand von Eis und Atmosphäre. Kurz nach der Landung ging die Sonne auf, für sie zum zweitenmal. Das vorher relativ stabile Eis war unter den Gluten der Triebwerke weggeschmolzen. Diese Tatsache schuf neue Probleme. Es wurde schwierig, die G-Bomben zu verladen und hinaufzubefördern: Die Schiffe standen auf einmal in ausgeschmolzenen Mulden. Oberhalb der spiegelglatten Böschung mußten sie eine provisorische Sendeanlage einrichten, um mit den Rössern Verbindung zu halten. Mit dem Empfang klappte es einigermaßen. Später als geplant, rollten und schwebten die sechs Fahrzeuge davon, je zwei in eine andere Richtung. Aus unerfindlichen Gründen war ihnen jede Lust auf eine Konversation vergangen. Keiner sprach mehr, als er mußte. Sogar die Diamond blieb weitgehend stumm. Garry und Clarissa legten mit Hilfe von drei Leuten der anderen Schiffe die Batterien, Kabel, Meßgeräte und Sender aus. Es war längst so hell, daß die inzwischen fernen Rösser gut
als dunkle Punkte in der weißen Berglandschaft zu erkennen waren. Es dauerte dennoch eine Weile, bis auch ihre Mannschaften sich meldeten. »Zielpunkt C erreicht«, gab Egbert über Funk durch. Minuten darauf trafen auch die Meldungen der anderen ein. »Wunderbar«, erwiderte die Diamond. »Das ging schneller als erwartet. Vielleicht holen wir die Zeit wieder ein. Wenn ihr euch beeilt, können wir doch noch mittags zünden.« »Immer mit der Ruhe«, dämpfte Erica den Eifer. »Wir müssen zuerst den Sonnenauslöser justieren. Ich steige jetzt auch aus.« Plötzlich gellten zwei markerschütternde Schreie durch die Helmmuscheln. Danach folgte ein dumpfer Schlag. Nicht alle hatten auf der Frequenz der Helmempfänger mitgehört. Garry jedoch hatte! Erica war schließlich Commander und Boß von RS »Auldrin«. Er richtete sich erstaunt hoch und schaute in die Ferne. Zu erkennen war natürlich nichts. Und die Diamond kam gar nicht dazu zurückzufragen. Nur Sekunden später brüllte Egbert: »Wir werden angegriffen. Oben in den Eiszinnen sitzen sie. Erica liegt am Boden. Kann nicht zu ihr… ach…« Dann Stille. General Diamond wurde lebendig. Sie rief und rief. Keine Antwort. Erst nach Minuten meldete sich die Expedition von RS »Glenn«. »Drüben muß der Teufel los sein. Wir sind zu weit weg. Expedition ›Oberth‹ gibt keine Antwort. Von ›Auldrin‹ nur Orientierungssignal. Eine große Anzahl schwarzer Punkte im Schnee. Bewegen sich schnell…« »Das gibt es nicht«, keuchte die Diamond. Obwohl sie es sagte, glaubte sie es doch. »Hier kann niemand leben. ›Glenn‹, sofort zurück! Kontakt vermeiden…«
Inzwischen wußten sie es alle: Überfall auf die Expeditionen. Das war so unglaublich, so ungeheuerlich, daß keiner so recht wußte, was er tun sollte. Einige standen sinnlos herum. Andere liefen zu den Raumschiffen. Garry und Clarissa ließen alles stehen und liegen, rutschten die eisglatte Böschung hinab und kehrten ins Schiff zurück. Sie trafen eine völlig aufgelöste Diamond vor, um die sich Tilly kümmern mußte. Garry drückte kurz entschlossen die Taste von Emergency-Radio: »An alle: Hier spricht Garry Janner. Das Kommando übernehme vorläufig ich. General Diamond hat einen Nervenzusammenbruch. Je RS ein Ros ausladen. Je Ros zwei Mann voll bewaffnet. RS ›Auldrin‹ schickt zusätzlich ein Sani-Ros. Energiepistolen und Vorsatzgranaten mit T-Sprengsatz. Keine Neutronenschocker. Wir wissen noch nicht, mit wem wir es zu tun haben. Den Einsatz leite ich. Expedition ›Glenn‹ schnellstens zurück! Bestätigung!« Die erste Bestätigung kam von der Expedition. Die beiden Fahrzeuge rollten und schwebten mit Höchstgeschwindigkeit zum Landeplatz. Sie hatten mit den beiden anderen keinen Kontakt. Sie sahen auch nichts, weil sie sich auf den Rückzug konzentrieren mußten. Ausbooten und Formierung der drei Rösser kostete Zeit, wertvolle Zeit. Tilly blieb an den Radiogeräten. Endlich rollte der Konvoi in die Eiswüste. Die beiden Fahrzeuge des RS »Glenn« kamen ihnen schon entgegen. Garry rief hinüber, sie sollten sich auf Abruf bereithalten. Das Ros mit der G-Bombe mußte in Sicherheit gebracht werden. Sie hatten die Dächer zurückgerollt. Raumanzüge mußten sie sowieso tragen. Zuerst nahmen sie Kurs auf die Fahrzeuge der »Auldrin«, woher der Hilferuf gekommen war. »Was es auch immer ist, das da geschossen hat«, meldete sich
Garry über Funk, »wir greifen unsererseits nicht an. Wenn wir uns wehren müssen, dann nur versuchen, dieses Etwas auszuschalten, ohne es zu vernichten.« »Machst du dir und uns vielleicht doch etwas vor?« fragte Clarissa auf der Frequenz ihres beidseitigen Helmradios. »Du hattest Radarortung festgestellt, und nicht nur du allein, und bei der Landung haben wir Lichtpunkte bemerkt, die sich bewegten. Etwa in dem Gebiet, wo der Zwischenfall passiert ist.« Inzwischen kamen die beiden Fahrzeuge Ericas und Egberts näher. Schnee und Eis rundherum sahen, zumindest durch Ferngläser betrachtet, zerwühlt aus. Die Rümpfe hatten unzählige kleine Löcher. »Egbert hatte gesagt, Erica würde am Boden liegen«, erinnerte sich Garry. »Anscheinend hat er sie doch bergen können. Dort liegt nichts. Warum aber, zum Teufel, melden…« »Da – daa…!« schrie Clarissa plötzlich. Sie deutete zum Eisgrat schräg vor ihnen. Da spritzten Schneefahnen unter Geschoßsalven direkt neben ihnen hoch. Clarissa änderte geistesgegenwärtig die Richtung. Am Eisgrat blitzte es in schneller Folge ununterbrochen auf. Garry blieb ganz ruhig. »Granaten – dicht vor deren Nasen!« Im Moment vergaß er die Ungeheuerlichkeit, daß sie auf einer leblosen Welt attackiert wurden – zum ersten Mal in der dreitausendjährigen Raumfahrtgeschichte! Er steckte die erste Granate auf und schoß – zweimal, dreimal. Auch aus den beiden anderen Fahrzeugen hinter ihnen wurden Granaten abgefeuert. Droben am Hang blitzten Feuersäulen auf. Schnee- und Rauchfahnen sprühten umher. Minutenlang stoppte die Schießerei von dort oben. Die Zeit reichte aus, um an die beiden Fahrzeuge heranzukommen. Garry sprang hinaus und hinüber, gefolgt von Jin Pockat, dem Navigator des RS »Glenn«. Fast im selben Augen-
blick ging die Knallerei wieder los. Das heißt, zu hören war nichts, aber zu sehen. Der Transporter mit der G-Bombe an Bord bot beiden Deckung. Der Konvoi wartete sowieso im Schußschatten der beschädigten Fahrzeuge. Daß sie beschädigt, regelrecht durchlöchert waren, sahen die beiden Männer sofort. Von Erica und Egbert dagegen keine Spur, auch nicht in den Fahrzeugen. »Doch eine Spur!« Jin deutete zum durchlöcherten Fenster hinaus: Blutspuren! Sie verloren sich den Hang hinauf. »Auch das noch«, knurrte Garry. »Man hat sie verschleppt. Also gut: wenn die Ballermänner ihren Krieg haben wollen, sollen sie ihn haben. Granatfeuer frei, gezielt auf den Grat. Wir müssen zu den Fahrzeugen der ›Oberth‹ quer über den Berg!« Wohl war ihm bei diesem Befehl nicht. Zum ersten Mal traf die Menschheit auf andere Intelligenzen, und schon ließ sie sich in Kampfhandlungen verwickeln! Einen Moment wartete er im beschädigten Ros und beobachtete die Wirkung. Die Granaten, mit zwar einfachem, aber hochbrisantem Sprengstoff geladen, waren natürlich mit elektronischen Zielsuchern ausgerüstet. Sie trafen, wenn nötig, jedes Ziel aus Metall. Ein paar Minuten lang tobte dort droben die Hölle, eine Hölle aus Feuer, Splittern, Detonationsdruck und Eisfetzen. »Kommen Sie, Jin!« Mit einem Gefühl, als hätte er Steine im Bauch, kletterte Garry hinaus und zurück ins Ros, das Clarissa steuerte. »Auf, fahren wir. Weiter hinten scheint ein günstiger Übergang ins Nebental zu sein. Während der Fahrt ständig Feuer!« Der Konvoi befand sich schon auf halber Höhe des Schneehangs. Da spritzte es dicht vor und neben ihnen aus anderer Richtung. Die Mündungsfeuer waren deutlich zu erkennen. Aus dem Ros von RS »Oberth« gellten Schreie. Die Maschine sackte nach vorn ins Eis.
Jeder Befehl war überflüssig. Sekunden später pflügten Granaten Eiszinnen und Felsgrate um, zwischen denen heraus sie beschossen wurden. Garry ließ anhalten. Er rannte hinüber zum beschädigten Fahrzeug. Die beiden Insassen waren schwer verletzt. Solange sie Raumanzüge trugen, konnte Garry nicht helfen. Er schaltete auf Emergency-Radio: »Nora, hierher, beeilt euch. Präpariert schon eure Operations-Instrumente. Es sind kleine Vollmantelgeschosse wie von antiken Gewehren. Schnell, sonst verbluten sie.« Im Augenblick wurden sie nicht beschossen. Die beiden Fahrzeuge rollten weiter bergwärts. Garry überzeugte sich, daß Noras Ros Kurs auf das beschädigte Fahrzeug nahm. Dann stoppten sie direkt am Grat. Direkt vor ihnen am Grat lag ein ganzes Dutzend zerrissener Metallfragmente im Schatten herum und kleine, zertrümmerte Schnellfeuerwaffen. Sie ließen sich ohne Phantasie als Maschinengewehre interpretieren. Die Granaten hatten volle Arbeit geleistet. Aber ihnen verging jedes Gefühl eines Triumphes. »Blut, überall Blut«, ächzte Jin, der mit ausgestiegen war. Und das wurde auch in den Raumschiffen mitgehört. »Lebewesen in Metallhülsen. Alle tot! Keine Roboter!« Garry wurde es nahezu übel. »Wir müssen uns beeilen. Wenn mich nicht alles täuscht, stehen dort hinten im Tal die Fahrzeuge des RS ›Oberth‹. Mit Volldampf – vorwärts! Anschließend suchen wir Erica und Egbert.« Bergab ging es auf Luftkissen schneller. Die Größenordnung des benötigten Drucks ließ Rückschlüsse zu, daß die Atmosphäre von Stunde zu Stunde anwuchs. Doch auch dazu hatten sie keine Zeit. Mitten in die rasante Fahrt platzte die Diamond: »Lieutenant Janner, brechen Sie das Unternehmen sofort ab, kehren Sie um
und geben Sie von unterwegs kompletten Lagebericht.« »Warum denn das?« fragte er verblüfft zurück. »Weil ich es befehle, was sonst! Sobald Sie zurück sind, starten wir und werden das Tal atomisieren. Wir haben keine Zeit zu verlieren, bis die Geschwader eintreffen!« »Scheint Ihnen wieder ganz gutzugehen, Miß Diamond«, antwortete er respektlos. »Den Teufel werden wir tun, im Gegenteil. Ros RS ›Glenn‹, das mit G-Bombe zurückgekehrt ist, wird verladen, das Begleit-Ros setzt sich mit drei Mann, voll bewaffnet, in Bewegung hierher, und zwar sofort. Bringt neue Munition und Neutronenschocker mit, auch für uns…« »Das werde ich nicht zulassen«, rief sie schneidend. »Falls Sie nicht sofort umkehren, erkläre ich Sie für suspendiert und bringe Sie…« »Halten Sie mal die Luft an, General«, mischte sich der Kommandant des RS »Glenn« ein. »Den Nervenzusammenbruch hatten Sie, nicht Janner. Bevor Sie der Arzt nicht für gesund erklärt, und das kann erst einer in der Basis, weil wir keinen bei uns haben, sind Sie es, die suspendiert ist. Glauben Sie vielleicht an Ihre große Stunde als General, damit die Raumpatrouille nach tausend Jahren ihrer Existenz endlich Krieg spielen darf?« »Commander, das ist glatte Befehlsverweigerung…« »Hier Ros 5 RS ›Glenn‹«, kam es dazwischen. »Wir verladen und sind gleich unterwegs wie befohlen. Bitten um Peilsignal!« Clarissa schaltete es sofort ein. Minuten später erreichten sie unangefochten die beiden Fahrzeuge. Sie waren unversehrt, aber offen und verlassen. Von den beiden Insassen fehlte jede Spur. Das heißt, nicht jede Spur: Der Schnee war umgewühlt. Ein Kampf hatte offenbar nicht stattgefunden. Erst ein Stück weiter entdeckten sie flache, breite Spuren ähnlich Kufen oder Ski-
ern. Sie verloren sich ziemlich geradlinig ins Tal hinauf zu dunklen Felsen. Dunkel allein war jedoch nur der Schatten, in dem die Felswand lag. Durchs Fernglas waren Lichtpunkte zu erkennen. Lichtpunkte, die sich bewegten. »Hier spricht Tilly«, meldete sich der Pilot. »Unser General spielt verrückt. Sie will Verbindung mit dem SAS HQ. Ich habe es verweigert.« »Laß sie nur, falls sie es alleine kann«, gab Janner zurück. »Bevor wir die vier Vermißten nicht haben, kehren wir nicht um. Wir warten hier nur, bis Ros 5 mit den stärkeren Waffen eingetroffen ist. Das Ziel haben wir ausgemacht, und da braut sich was zusammen. Laß dir was einfallen, um Kampfhandlungen zu verhindern.« »Guter Rat teuer. Sind es menschliche Wesen?« »Wenn wir das wüßten. Auf alle Fälle Intelligenzen mit Blut. Sieht so aus, als ob sie in den Felsen hausen. Warum bloß, zum Teufel, greifen sie uns an, dazu ohne jede Warnung?« Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Ros in Sicht kam. In Wahrheit war es nur eine halbe Stunde gewesen. Sie nahmen sofort Sprechfunkverbindung auf über »Bordkanal«, um der Diamond die Möglichkeit zu nehmen mitzuhören. Plötzlich bebte der Boden. Feuer, Blitze, Splitter, schwarze Detonationswolken pflügten hinter ihnen die Eiswüste. »Bloß weg! Ihr nach rechts, wir nach links«, befahl Garry. Er verständigte das herannahende Ros, und Clarissa steuerte schnell vorwärts und dann schräg den Hang hinauf. »Scheint lange her zu sein, daß die zum letzten Mal Zielübungen abgehalten haben«, foppte Jin über Funk. Er spottete zu früh: Die nächste Seriensalve zerfetzte die beiden Fahrzeuge der »Oberth« mit der G-Bombe an Bord, neben denen sie soeben noch standen. Sie konnten von Glück sagen,
daß Waffen wie G-Bomben darauf nicht reagierten. Garry befahl den Rückzug, schon um zu erfahren, wie weit diese vorsintflutliche Artillerie reichte. Clarissa wechselte sowieso ständig Richtung und Geschwindigkeit. Das Entsatz-Ros hatte von selbst gestoppt. Sie hielten darauf zu, verfolgt von Fontänen aus Feuer und Eis. Das Tal beschrieb eine Bodenwelle. Die schwarze Felswand geriet außer Sichtweite. Ros 5 wartete jenseits der Bodenwelle. Das war der Grund, weshalb es nicht beschossen wurde. Es befand sich nicht im Blickfeld der schießwütigen Gegner. Das ließ Rückschlüsse auf die Technik der anderen zu. Das Artilleriefeuer verfolgte ihre alte Spur auch über die Bodenwelle hinweg. Die Einschläge setzten sich jedoch weit rechts und links fort. Die anderen vermuteten demnach eine geradlinige Flucht. »Dann bleiben wir mal eine Weile hier«, sprach Garry aus, was alle dachten. Von den drei Fahrzeugen blieben nur die Piloten an Bord. Die anderen krochen durch den Schnee zur Bodenwelle. Keine einfache Sache in den Raumanzügen. »Wirklich simple Sprengstoff-Artillerie«, identifizierte der Kommandant des RS »Glenn«. »Ein Glück für uns, daß ihre Geschosse keine Zielelektronik haben. Trotzdem höchst unangenehm, muß ich zugeben.« Die Unterhaltung endete, noch nicht richtig begonnen, abrupt. Verblüfft schauten sie den metallenen, weißgetarnten Ungetümen von Fahrzeugen entgegen, die sich aus dem leichten Nebel schälten, der über dem allmählich flüssigen Schnee schwebte. Breit, scheinbar plump mit flachem Turm auf dem Rumpf, rollten sie auf dicken Raupenketten heran. Zwei Rohre, die aus dem Turm ragten, blitzten in kurzen Abständen auf. Sekunden später sprühten weit hinter ihnen Feuer, Eis und Rauchwolken. Diese rollende Artillerie schoß blind, praktisch
auf Verdacht der Fluchtroute. Das würde sie aber nicht mehr lange tun. Sobald sie die Bodenwelle erreichen würden… »Was sind das denn für Ungeheuer?« brachte Jin endlich heraus. »Die entstammen ja einem Horror-TV!« »Ich fürchte, wir haben nicht viel Zeit, uns zu wundern«, sagte Garry verbissen. »Es ist wohl offensichtlich, daß sie uns nicht mögen. Tut mir leid, falls intelligente Lebewesen darin sein sollten. Viele Neutronenladungen auf alle fünf gleichzeitig. Falls sie weiterballern, müssen wir sie mit Granaten erledigen, am besten in die Raupenketten. Ich nehme den in der Mitte!« Die Reichweite ihrer Handwaffen war begrenzt. Deshalb mußten sie warten, bis die Ungeheuer auf zweihundert Meter heran waren. Die hatten sie noch nicht bemerkt, stellten aber das Feuer ein. Wahrscheinlich wollten sie die Bodenwelle abwarten, um die Wirkung ihrer Kanonade zu begutachten, ehe sie sie fortsetzten. Dazu kamen sie nicht mehr. Die vier Männer im Schnee drückten gleichzeitig ab. Auf das fünfte Ungetüm zielte Jin anschließend. Mehr als ein schwaches, weißes Flimmern war nicht zu sehen. Und zuerst zeigte sich gar keine Wirkung. Auf einmal blieben erst zwei, dann noch zwei der Kettenkanonen abrupt stehen. Das fünfte weit außen änderte die Richtung und rollte ziellos quer den Schneehang hinauf. Es rammte einen Felsen, mahlte sich fest und kippte um. Das war alles. Sie waren sich ihrer Sache so sicher, daß sie zu zweit ohne Deckung auf die Ungetüme zugingen. Es passierte nichts. Unangefochten kletterten sie zum Turm. Wie erwartet, obwohl sie es nicht gewußt hatten, fanden sie obenauf als Einstieg einen simplen Schraubdeckel. »Verdammt, geht nicht auf!« Jin schraubte das Drehrad vergeblich.
»Tut mir leid, wir müssen sprengen«, entschied der Commander. »Es bleibt nur eine Erklärung: Da drin ist Luft, somit Druck, und der hält den Deckel fest.« Mit einigen Schwierigkeiten sprengten sie die Verschlüsse. Noch schwieriger wurde es, mit den Raumanzügen in den engen Schacht einzusteigen. Und dann packte sie das Grauen. »Es sind Menschen«, ächzte Garry entsetzt. »Weißhäutig, bärtig – und tot. O mein Gott, das ist schlimmer, als ich befürchtete.« Doch allmählich drängte die Zeit. Die Sonne stand im Zenit. Wäre es nach dem Willen der Diamond gegangen, würden jetzt die G-Bomben detonieren. Daraus wurde nun nichts mehr, nun nicht mehr! Es kostete sie unerhörte, verbissene Überwindung, um die Leichen erst einmal hinauszubefördern. Sonst hatten sie selber darin keinen Platz. Eine solche Begegnung mit Intelligenzen des Universums hatte man sich nicht einmal vor drei Jahrtausenden gewünscht. Die Bedienung der manuellen Steuerung war leicht durchschaubar. Schneller und trotzdem später als erwartet, setzten sie drei der Ungetüme in Bewegung – rückwärts der Spur nach auf die finstere Felswand zu, gefolgt von ihren drei Rössern. Niemand und nichts befand sich im Freien. Unversehens öffnete sich die Felswand zu einer innen hellerleuchteten, riesigen Luftschleuse. Wenn jetzt etwas schiefginge… * Lähmendes Entsetzen lastete in dem Gewölbe jenseits der Schleuse. Hunderte von Menschen, Männer, Frauen und Kin-
der, alte und junge, manche solide in Uniformen, einige ziviler in losen Gewändern, viele reichlich zerlumpt und eine Reihe halb oder ganz nackt, standen starr. Das helle Neonlicht ließ Gesichter und Haut noch bleicher aussehen. Es war erstaunlich, ja unglaublich, daß keiner dieser Menschen die Nerven verlor. Denn manche waren bewaffnet. Für sie mußten die sieben Wesen in kompakten Raumanzügen, die Waffen gezückt, wie Boten des Todes erscheinen. Garry und seine Leute, fünf Männer und zwei Frauen, hatten nicht wissen können, was sie erwartete. Nach den blutigen Gefechten an den Eisgraten mußten sie mit einem heißen Empfang rechnen, sobald die anderen kapierten, daß sie ein trojanisches Pferd eingelassen hatten. Statt dessen trafen sie Schweigen an und märtyrerhafte Angst. Und ein unterirdisches Höhlensystem, das schon auf den ersten Blick alles andere als primitiv aussah. Es waren die sieben von der Flottille, denen es an die Nerven ging. Ausgerechnet Clarissa durchschlug den gordischen Knoten. Sie begriff als erste, daß hier normale Luft- und Druckverhältnisse herrschten. Instinktiv nahm sie den Helm ab, schüttelte ihr langes Blondhaar heraus, steckte die Waffe weg, hob beide Hände und rief laut: »Wir grüßen euch!« »… grüßen euch… ßen euch… euch«, hallte es aus den Gewölben wider. Laute Seufzer der Erleichterung, leise Schreie klangen aus der Menge vor ihnen. Man begriff, daß kein Feind vor ihnen stand. Es dauerte kurze Zeit. Einer nach dem anderen kniete langsam nieder. In irgendeinem Winkel fing es an. Die Menschen sangen. Sie sangen feierlich, hingebungsvoll, dankbar. Es mußte ein sakrales Lied sein, ein Glaubensbekenntnis, ein Gottesdienst. Die Feierlichkeit scholl aus den Gewölben zurück. Obwohl
kein Wort zu verstehen war, so waren Melodie und Inbrunst zu begreifen. Selber ergriffen, steckte einer nach dem anderen die Waffen weg. Einer nach dem anderen nahm den Helm ab. Es fiel ihnen schwer, sich nicht mitreißen zu lassen. Das seit dreitausend Jahren Erhoffte, Erwünschte, schon frühzeitig unmöglich Gehaltene war eingetreten: In der Galaxis begegnete eine Menschheit einer anderen! Eine mit irdisch denkenden Maßstäben nicht mehr begreifbare Ironie des Schicksals: Nirgends in der Galaxis fand man sie. Diese andere Menschheit kam zu ihnen in ihr eigenes Planetensystem – und das unter den denkbar ungünstigsten Umständen. Die Heimatwelten der beiden Menschheiten waren im Begriff, sich gegenseitig zu zerstören… Als der Gesang endlich erstarb, hob Garry die Hand. »Könnt ihr uns verstehen?« Das konnte niemand. Man begriff lediglich, was er wollte. Ein greiser Uniformierter löste sich aus der Menge. Er blieb in respektvoller Distanz stehen, ahmte die Geste nach und rief seinerseits etwas. Die vielen Menschen, durchweg etwas kleiner als sie, verstanden es. Sie brachen in Rufe aus, die »hoch« oder »hallo« oder irgendeinen Beifall ausdrücken sollten. Dann machte er eine Geste, die Ruhe bedeutete. Denn Rufe und Gemurmel hörten auf. Eine neue Geste, zu den sieben der Flottille, bedeutete so etwas wie: Bitte folgt mir! Garry besaß immer noch das Kommando. »Commander, Clarissa und ich… Keine Ahnung, was er will, aber wir gehen mit. Jin, versuche, ob die Funkverbindung mit den Schiffen klappt. Ich sehe allerdings schwarz. Bleibt hier, vorsichtshalber. Auf, wir drei gehen!« Er selber ging zuerst einmal auf den Weißhaarigen zu und streckte die Hand aus in Erwartung, daß der blasse Greis be-
griff. Der andere blickte auf die Hand, sah Garry ins Gesicht und kapierte. Zwei intelligente Wesen, die gleichermaßen Menschen waren, reichten sie die Hände. Beide konnten ihre Bewegung nicht verbergen. Von den paar hundert Menschen hier im Gewölbe abgesehen, fand der größte Moment aller Zeiten unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Der andere pflegte selbstredend andere Sitten. Die wollte er seinerseits demonstrieren. Er ergriff Garrys Unterarme, zog ihn zu sich und umarmte ihn. Garry mußte die Geste wiederholen. Kein Wort fiel. Das Volk bahnte bereits eine Gasse. Der Greis schritt – ein bißchen theatralisch – voran. Der Weg in die gekrümmten Katakomben wurde zur Ewigkeit. Zwei Steinschienen verrieten Beförderungsmittel. Das Spalier wollte kein Ende nehmen. Nicht Hunderte, sondern Tausende warteten! Garry beachtete sehr genau die abzweigenden Nebenstollen vom Hauptgang. Irgendwo mußten diese Menschen wohnen. Und endlich führte sie der Mann in einen dieser Nebenstollen. Überall patrouillierten Bewaffnete, wenn auch diskret im Hintergrund. Eine Art Polizei brauchten diese Leute also auch. Daran gemessen, bestand keine Aussicht auf eine »bedingungslose Kapitulation«. Im Gegenteil. Trotz gewisser Armut – oder auch nur eines spartanischen Lebensstils – ging von den stumm wartenden Menschen ein spürbares Selbstbewußtsein aus. Ihr Marsch endete in einer Domhalle. Der erste Eindruck sprach zumindest von einer technischen Zentrale. Der große Raum war bis auf drei Frauen leer, die an Geräten herumhantierten und manchmal kurze Anweisungen in Mikrofone sprachen. Ein Komplex voller Computerrollen und farbig blinkenden Signallichtern füllte eine ganze Wand. Ihr
greiser Führer trat zu ihr, schaltete, sagte etwas und schaltete erneut. Da plärrte die Maschine gebrochen: »Willkom aufs Xwecha, Fremde.« Die drei musterten den alten Mann erstaunt und nickten beifällig. Clarissa durchschaute als erste, daß sie einen »Interpreter« vor sich hatten. Der Zweck, weshalb man sie hierhergeführt hatte, war somit eindeutig. »Diese Leute haben demnach damit gerechnet, auf galaktische Intelligenzen zu stoßen, die eine auf Linguistik basierende Kommunikation benutzen. Wer weiß, wie lange schon. Wir sollten zuerst einmal darauf eingehen.« »Übernimm du das!« Janner nickte. Auch der Commander war einverstanden. »Wir haben solche Dinger ja selber, allerdings erheblich handlicher. Sprich aber erst einmal. Unsere Gastgeber warten!« Bevor Clarissa dazu kam, weil sie sich zuerst die Worte zurechtlegen wollte, begann der Interpreter, weniger laut zu reden. Er übersetzte den Dialog in die Xwechasprache. Blick und Gesichtsausdruck des Weißhaarigen bezeugten Einverständnis mit der Absicht der drei. Er bot ihnen auf Kissen am Boden Platz an, dirigierte eine der Frauen her, die dann später Getränke brachte, und gab Clarissa ein Zeichen, sie möge beginnen. Inzwischen betraten mehr und mehr Leute diesen Dom. Sie verhielten sich still und auffallend diszipliniert. Kleidung und Benehmen ließen auf aussortiertes Publikum schließen, womöglich die Elite dieser Menschheit. Clarissa beschränkte sich unterdessen darauf zu sagen, wer sie waren, woher sie kamen und warum. Das Ding übersetzte. Leises Geraune verriet, daß man verstanden hatte. Der Weißhaarige nahm den Faden sofort auf. Er
nannte sich Karolch 245 und war der »Älteste« dieses Bereichs. Ältester hieß soviel wie Wahlkönig oder Präsident, jedenfalls war er der, der hier das Sagen hatte. Er wußte und alle wußten, und das waren in diesem »Bereich« anderthalb Millionen, daß ihr Planet Xwecha in ein Sonnensystem eindrang. Damit erfüllte sich die – prophezeite – Hoffnung nach Jahrzehntausenden. Für den Zeitwert hatten sie lediglich andere Begriffe. Die Prophezeiung war an sich nicht besseres als eine vage Legende, eine von vielen. Die Übersetzung war miserabel. Die drei bemerkten sofort, daß der geringe Wortschatz sehr schnell zu Mißverständnissen führen mußte. Fatale Erlebnisse hatten sie mit diesen Xwechamenschen schon genug. Garry bat den Commander – und der Interpreter übersetzte es dem »Ältesten« –, zur Flotte zurückzukehren, die eigenen, bisher noch nie in realer Praxis benutzten Interpreter und auch General Diamond mitzubringen. Bei allen Verständigungsbemühungen brannte ihnen die Zeit auf den Fingern. Karolch 245 war sofort bereit. Er beorderte eine Eskorte für den Commander, und der ließ durchblicken, seine Schutztruppe und Jin mit zu den Raumschiffen zu nehmen. Er hoffte, damit unnötiges Palaver der Diamond von vornherein abzuwürgen. Das Gerät übersetzte nun unablässig jedes in unmittelbarer Nähe gesprochene Wort. Nach und nach »lernte« es hinzu. Aussprache und Worte verbesserten sich. Deshalb sah Garry den Augenblick für gekommen, nach Erica und den drei anderen Vermißten zu fragen. Das bisher so weise Gesicht verdüsterte sich. Die Haltung der anderen wurde steif. Im Dom baute sieh auf einmal eine gespannte Atmosphäre auf. Mit Erstaunen registrierten Clarissa und Garry, daß sie offenbar einen wunden Punkt getroffen hatten.
Karolch 245 wahrte Beherrschung, und der Interpreter neutralisierte die Schroffheit der Antwort. »Es ist nicht gut, wenn wir über Dinge sprechen, die Feindschaft zwischen uns säen. Die Erinnerung an sie bedeutet Tod und Vernichtung. Ihr könnt das nicht wissen. Deshalb sage ich es. Es gibt Tabus in unserm Leben, die zu durchbrechen eine Katastrophe heraufbeschwört.« Garry wurde frostig. »Hören Sie gut zu, Karolch 245. Mit verbohrten Tabus nähern wir uns keinen Schritt. Es ist nicht unsere Existenz, die auf dem Spiel steht, sondern Ihre. Ich habe nicht die Absicht, Gegensätze mit Waffengewalt zu beseitigen. Ich habe aber auch nicht die Absicht, einen einzigen Gedanken über Ihrer aller Existenz zu verschwenden, bevor ich nichts über das Schicksal unserer vier Gefährten erfahre. Sie haben einen für uns lebenswichtigen Auftrag ausgeführt, wie Ihre schießwütigen Leute und die Panzer einen für Sie offenbar lebenswichtigen Auftrag ausgeführt haben. Die Frage, ob die Aufträge gut oder schlecht waren, stellt sich nicht. Sie steht jedenfalls nicht zur Debatte. Und ich hoffe, daß dieses Unikum von Interpreter auch alles richtig übersetzt.« Das tat er offensichtlich, zumal Garry langsam und in kleinen Absätzen gesprochen hatte. Das Gesicht des Weisen lockerte sich etwas. Er stand sogar auf. »Ihre Worte klingen vernünftig, Garry Janner. Ihre damit erhobene Forderung durchbricht jedoch alle Gesetze, die unser Leben hier regeln. Wer den Boden von Xwecha berührt, hat sich ihnen zu unterwerfen. Weil Sie Fremde sind, will ich es Ihnen demonstrieren. Anschließend können wir uns hier weiter unterhalten. Wenn Sie Verständigung mit uns suchen, wie Sie behaupten, versuchen Sie nicht, sich hier einzumischen. Es ist uns bewußt, daß Sie uns technisch, vor allem waffentechnisch, haushoch überlegen sind. Deuten Sie den Empfang vorhin
nicht als Kapitulation. Wir wünschen aber den Frieden. Folgen Sie mir jetzt bitte.« Clarissa und Garry erhoben sich nun. Die Spannung wich etwas, als sie ihm folgten. Man ging zu Fuß, obwohl die Schienen auf Beförderungsmittel hindeuteten. Hinter ihnen folgten schweigend einige der Leute, die im Dom der Konferenz beigewohnt hatten. Wenn Haupt- und Nebeneingänge und größere Hallen als Straßen zu verstehen waren, spielten sich Leben und kleineres Handwerk für den Lebensbedarf auf der Straße ab. Handel war unbekannt und unnötig. Irgendwo gab es größere Industrieanlagen, Versorgungs- und Energieeinrichtungen. Und es gab so etwas wie eine Leichenhalle und ein Gefängnis. Man pflegte Sitten, die von der Erde stammen konnten. Anscheinend besaßen Menschen die gleiche Verhaltensnormbasis. Garry konnte sich nicht halten. Er stürzte auf die beiden geschlossenen Raumanzüge zu. »Erica – Egbert!« Clarissa traten Tränen in die Augen. Sie half ihm, die Helme abzunehmen. »Tot – mein Gott…« Die bisher stummen Beobachter wurden unruhig. Sie ließen die beiden gewähren. Das Gesicht von Karolch 245 drückte offene Betroffenheit aus, etwa als hätte niemand gewußt, daß sich Menschen darin verbargen. Ein Widerspruch in sich selbst, denn sie selber besaßen gleichfalls Schutzkleidung, wenngleich die anders aussah. Garry und Clarissa drückten den Toten ergriffen die Augen zu. Mehr blieb ihnen nicht zu tun. Die Geste beeindruckte die anderen. Sie schlugen mit den Armen Kreise und Kreuze und murmelten vor sich hin, als ob sie beteten. Karolch 245 ging das verhängnisvolle Mißverständnis offenbar an die Nieren. Er signalisierte, ihm zu folgen. Minuten spä-
ter betraten sie eine wahre Kerkerzelle. Licht flammte erst auf, als sie hineingingen. Gerold und Marn, die Besatzung des Ros’ der »Oberth«! Sie regten sich nicht. Garry und Clarissa sprangen hinzu. Sie stellten fest, warum: Ihr Atemluftvorrat war zu Ende. Sie öffneten die Helme, prüften, ob sie noch lebten. Ohne sich um die verdutzten, teils unwilligen Gesichter zu kümmern, zogen sie ihnen die schweren Anzüge aus und begannen mit Wiederbelebungsversuchen. Bis sie regelrecht zurückgerissen wurden. Garry machte schon Miene, sich energisch zu wehren. Da sah er, daß Leute ihrer Gastgeber die Arbeit übernahmen. Sie hatten zu diesem Zweck sogar Instrumente bei sich. Clarissa signalisierte ihm, denen das Feld zu überlassen und Karolch 245 zurück in den Dom zu folgen, denn der Greis wurde ungeduldig. Seitens ihrer Gastgeber war die Spannung gewichen. Garry dagegen haderte mit sich und dem Schicksal über den sinnlosen Tod der Commander. Es brach einfach aus ihm heraus, und Clarissa mußte ihm ins Wort fallen, um seine heftigen Vorwürfe zu bremsen. Ein Glück vielleicht, daß der Interpreter nicht alles übersetzen konnte. Karolch 245 war trotzdem ernst, fast finster, obwohl er bat, wieder Platz zu nehmen. »Ich akzeptiere Ihre Erregung, Garry Janner. Wir haben wahrscheinlich ein anderes Verhältnis zu Leben und Tod. Niemand wird Ihnen je vorwerfen, daß fünfzehn Männer und sieben Frauen durch die Kämpfe ihr Leben verloren haben. Wenn wir anfangen wollten, Opfer gegeneinander aufzuwiegen, gibt es nie eine Verständigung. Oder sehen Sie das anders?« So schnell kam Garry nicht darüber hinweg, zumal feststand, daß Erica und Egbert, Gerold und Marn nicht einen einzigen Schuß hatten abgeben können, weil sie unbewaffnet waren. Deshalb klang seine Stimme verbittert: »Warum haben Sie
überhaupt geschossen, dazu praktisch aus dem Hinterhalt?« Genauso bitter klang die Stimme des Alten: »Warum haben Sie versucht, unsere Welt zu zerstören? Die Beben waren entsetzlich. Ihre Gravitationserupter haben auf der anderen Seite ganze Bereiche zertrümmert. Die Zahl der Opfer geht in die Hunderttausende, von den Nachfolgewirkungen ganz zu schweigen, die durch Zerstörung lebenswichtiger Installationen eintreten. Kann jemand erwarten, daß wir uns das widerstandslos bieten lassen?« »Mann«, stöhnte Clarissa erschüttert. »Hunderttausende? Das haben wir nicht gewußt. Wer kann auch nur ahnen, daß auf diesem kosmischen Irrläufer Menschen leben?« Der Alte nickte brütend. »Das ist wahr. Warum aber wollten Sie den Planeten überhaupt zerstören?« »Karolch 245, haben Sie das vorhin nicht begriffen?« fragte Garry mit einer Stimme, als müßte er jeden Moment weinen. »Vernichten können wir Xwecha nicht, niemand kann das. Wir müssen ihn von seiner Bahn reißen. Uns ist jetzt bewußt, daß das einer Zerstörung gleichkommt. Xwecha stürzt genau auf den Planeten Erde zu, und die Erde ist u n s e r e Heimat!« Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann die Sprache wiederfand. »Das ist eine schlimme Nachricht. Wir haben bisher vier große Planeten und einen kleineren ausgemacht. Keiner bewegt sich in der Bahn, die Xwecha beschreibt, wenn er von dieser Sonne eingefangen wird.« »Erstaunlich, daß es Ihnen gelingt, schon soviel festzustellen«, sagte Garry rauh. »Es ist aber Tatsache, was ich sagte. Wir haben nicht mehr viel Spielraum. Immerhin ist noch genügend Zeit, daß Sie und eine Abordnung uns begleiten können, um sich zu überzeugen.« »Eine Reise durch das Weltall – ein faszinierender Gedanke«, sagte er dumpf, schüttelte aber den Kopf. »Unser ganzer Pla-
net ist ein Raumschiff, als er vor Zehntausenden von Jahren aus dem Heimatsystem gerissen wurde, Garry Janner.« »Leider aber eins ohne eigenen Antrieb«, erwiderte Clarissa. »Ich fürchte, Sie werden sehr viele Tabus brechen müssen, wenn wir Ihnen und Sie uns helfen wollen, um die Folgen des Unvermeidlichen so gering wie möglich zu halten. Wie viele Einwohner hat Xwecha?« Er schaute sie überrascht an. Er entnahm ihren Worten mehr, als sie hineingelegt hatte. »Viele Bereiche bis zu anderthalb Millionen. Die Lebensbereiche, es sind 25, liegen in weitgehend bebensicheren Zonen und sind untereinander verbunden. Aber was Sie da andeuten, ist ausgeschlossen. Zweifellos gibt es Millionen, die diesem Katakombenleben lieber heute als morgen entkommen wollen, obwohl niemand etwas anderes kennt. Die Mehrheit aber lebt und stirbt in der angestammten Heimat.« »Wenn ich Sie so anhöre, Karolch 245«, antwortete Garry schwer, »sollte man glauben, die Menschen dieser Eiswelt könnten Menschen der Erde sein.« »Diese Eiswelt hört gerade auf, eine zu sein«, sagte der Alte nüchtern. »Das ewige Eis schmilzt. Die Atmosphäre baut sich auf. Die ewige Nacht weicht. Es gibt wieder Tag. Genauso, wie es die Legenden berichten, mit denen Tausende von Generationen gelebt haben. Denken Sie, daß ein Mensch bereit sein wird, Xwecha zu verlassen, wo die prophetische Legende anfängt, sich zu erfüllen und zur Wahrheit wird? Das sehen Millionen!« »Wir eilen den Ereignissen voraus«, warnte Garry. »Trotzdem bleibt nicht viel Zeit für Entschlüsse und noch weniger, sie in die Tat umzusetzen…« Noch während er sprach, wurden sie unterbrochen. Der Interpreter meldete die Ankunft General Diamonds. Gleich dar-
auf wurden sie in den Dom geführt. Die Diamond hatte sich herausgeputzt wie ein Pfau, was auch prompt Eindruck macht. Die handlichen Interpreter hatten ihnen unterwegs schon gute Dienste erwiesen. Elektroniker der Xwechamenschen erkannten sehr schnell das System. In erstaunlich kurzer Zeit gelang es ihnen, einen Tascheninterpreter mit dem eigenen Gerät zu justieren und parallel zu schalten. Dadurch vergrößerten beide ihre Kapazitäten. Karolch 245 ließ sich von der Äußerlichkeit der Diamond nicht blenden. Er akzeptierte ihre Befehlsgewalt über die irdische Flotte. So etwas kannten sie nicht. Das »Sagen-haben« wie er und Befehlsgewalt waren zwei grundverschiedene Dinge. Er machte ihr klar, daß sie alle Gäste dieses Bereichs wären, solange sie wollten, daß als Gesprächs- und Verhandlungspartner für ihn jedoch nur das Trio Garry Janner, Clarissa und der Commander in Frage käme. Wie er die Lage bereits beurteilte, hatten sie viele Probleme zu bewältigen, bevor überhaupt eine einzige Entscheidung fallen konnte. »Ihre Einstellung ist ja interessant, Karolch 245«, sagte sie säuerlich. Immerhin durchschaute sie, wovon die Rede war. »Ich bin kein Psychologe. Ich bin nur Organisator. In dieser Eigenschaft hatte ich mir bereits erlaubt, als ich zum ersten Mal davon hörte, über das SAS HQ alle verfügbaren Flotteneinheiten hierher zu beordern. Vermutlich wird das SAS binnen kurzem alle Raumschiffe requirieren, die es gibt. Auch die privaten und die der großen Gesellschaften.« »Befürchten Sie nicht, daß da das GAWEKON-Cen ein Wort mitzusprechen hat, General?« fragte Garry mißmutig. Sie schaute ihn finster an. »Ja, das befürchte ich. Das ist aber mein Problem. Ihr Problem, Lieutenant Janner, ist wohl die
Verständigung mit Karolch 245 und den Millionen dieses Planeten!« »Ich lade Sie jetzt zu einem Gemeinschaftsessen ein«, brach der »Älteste« in die sich anbahnende Diskussion ein, »wie es bei uns üblich ist. Genießen Sie auch die Annehmlichkeiten unserer Heimat, bevor wir wieder zur Tagesordnung übergehen!« * Wenige Stunden nach dem Start fingen sie die ersten kommerziellen Nachrichten auf. Bis dahin hatten sie die Geräte für Funktionsmeldungen, Kursfestlegung und Kommunikation mit HQ SAS Selencity und den beteiligten Security-Cen auf den Monden benötigt. Eine sachliche Berichterstattung genügte natürlich nicht. Sie hatte seit Existenz der Menschheit nie ausgereicht. Halbwahrheiten wurden hinzugefügt und Wahrheiten verdreht. Man scheute sich nicht vor Lügen, um das bevorstehende Naturereignis auch sensationell genug zu würzen. Brandneue Berichte wußten, daß der fremde Himmelskörper bewohnt war. Einfallsreiche Reporter dichteten eine drohende Invasion hinzu. Sogar gewissenhafte Nachrichtenorgane stellten unterschwellig die Frage, wo denn die SAS-Raumpatrouille bliebe. Das war alles so unerhört peinlich, daß selbst General Diamond versuchte, es ihren Reisegästen weitgehend vorzuenthalten. Der greise Karolch 245 und elf Älteste anderer Bereiche begleiteten die Expedition in fast schon blindem Vertrauen zur Erde. General Diamond hatte es aus eigener tiefer Gläubigkeit an die Unfehlbarkeit des GAWEKON-Cen verstanden, die geisti-
gen Köpfe der Xwecha-Zivilisation von der alles überragenden Intelligenz des GAWEKON-Cen zu überzeugen, das bisher alle galaktischen Probleme gelöst hatte. Sie sah nichts anderes und wußte es eben nicht besser. Es hatte Tage gedauert, wertvolle Tage. Inzwischen waren die angeforderten zwei Geschwader mit G-Bomben eingetroffen. Sie warteten im Orbit. Die letzten Befehle der Diamond waren so widersprüchlich, daß es die Geschwader-Commodores vorzogen, sich ihre Befehlsgewalt bestätigen zu lassen. Vor dem Interview mit dem GAWEKON-Cen war damit nicht zu rechnen. Wer wußte schon, daß die »Galaktische Welten-Konföderation« nur eine computerhafte Denkmaschine war? Trotz des gewissen Vertrauens darauf, dem aus Rücksicht auf vielerlei Aspekte selbst Janner nicht zu widersprechen wagte, blieb Karolch 245 skeptisch. Er hörte auf Clarissa. Sie hatte ihm empfohlen, eine wirkungsvolle psychologische Kampagne in Gang zu setzen. Die Bevölkerung sollte auf die Eventualität zumindest vorbereitet werden, nach der die »Erfüllung der Prophezeihung« darin begründet lag, auf einen anderen, wirklich paradiesischen Planeten auszuwandern. Ihm gefiel die Idee trotzdem nicht. Er war allerdings weise genug, um die Überlebenschancen abzuwägen, wenn es zu der berechneten Begegnung mit dem Planeten Erde käme. Allein aus dieser Einsicht besprach er sich mit vertrauten Beamten, die psychologisch genug geschult waren. Aus dem gleichen Grunde blieb Clarissa auf OX-Xwecha zurück, mit ihr drei andere der Flottille, darunter Gerold, der wie auch Marn seinerzeit sofort aus dem Kerker entlassen worden war. Offiziell galten sie als Repräsentanten der Raumpatrouille, als Botschafter der zweiten Menschheit. *
Für das GAWEKON-Cen besaß die Flottille und an ihrer Spitze General Diamond unverändert die Generalvollmacht für »Operation OX«. Die vorübergehende Erkrankung der Diamond hatte es gar nicht registriert – schließlich war sie kein Roboter. Es erhob nicht einmal Einspruch gegen ihren Befehl der Alarmbereitschaft aller Einheiten der Raumpatrouille. Wozu auch? Die Notwendigkeit dazu stand im Bereich des Möglichen im Rahmen des Unternehmens. Die Diamond mochte manchmal exzentrisch sein. Aber sie war intelligent und klug genug. Sie ordnete an, jeden Funkspruch zu ignorieren, der nicht vom HQ SAS oder den beteiligten Security-Obs kam. Antworten auf deren Informationsbedürfnis mußten verschlüsselt werden. Denn es hagelte geradezu Nachfragen von allen Nachrichtenbüros, die inzwischen wußten, daß sich die Flottille unter ihrem Oberbefehl auf OX aufgehalten hatte. Andererseits war sie exzentrisch genug, um kein Wort mit Janner zu wechseln. Die »Befehlsverweigerung« auf Xwecha trug sie ihm nach. Aber diese persönlichen Querelen waren angesichts der Gefahren und Probleme selbst ihr lächerlich. Sie war froh, als sie endlich auf der Erde landeten. Das erste Interview mit dem GAWEKON-Cen war bereits auf morgen festgesetzt. Unmittelbar nach der Landung verflüchtigte sich General Diamond in ihr Privatquartier, das weit südlich am Meer, am Golf von Mexiko lag. Sie gehörte schließlich zur aussortierten Führungselite, die solche Privilegien besaß. Am Raumhafen gab es nur ein Empfangskomitee: die Sicherheitsrobs. Den zwölf Männern von Xwecha bedeutete die Unterlassung, die wegen der Geheimhaltung ihres Besuchs erfolgte, glücklicherweise nichts. Etikette dieser Art war ihnen
unbekannt. Aber die Kommandanten der Raumschiffe stießen sich daran. Denn die Diamond überließ es Garry, Tilly und Jin, sich um die Gäste zu kümmern. Den »Ältesten« war das nur angenehm, weil sie mit den Besatzungen der Raumschiffe inzwischen vertraut waren. Jeder Pomp hätte sie zweifellos verwirrt. Das GAWEKON-Cen, das mit Hilfe der kontrollierten Robs alles Geschehen lenkte, besaß wiederum kein Verhältnis für diesen historischen Augenblick, als fremde Intelligenzen, dazu richtige Menschen aus der Galaxis, zum ersten Mal irdischen Boden betraten. Es reagierte genauso, als handelte es sich um ausgezeichnete Besucher von anderen Sternen, die der irdischen Menschheit entstammten. Deshalb erhielten sie ihre Quartiere zugewiesen wie die Besatzungen auch. Sie durften alle Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen, die die Siedlung zu bieten hatte, wie jeder Besucher. Natürlich erfreuten sich nur die Jüngeren der »Bereichs-Ältesten« von Xwecha der braunen Schönheiten, die sie in den Bungiglus erwarteten. Für sie war es freilich ebenso eine befriedigende Genugtuung wie Tage vorher für die Besatzungen auf Xwecha, in persönlichem Kontakt zu erfahren, daß es wirklich Frauen, Menschen waren. Es trug später dazu bei, Entscheidungen über mögliche Notwendigkeiten der Auswanderung zu treffen. Zuerst einmal aber standen sie alle fassungslos am Ufer des Sees unter Palmen in bunt blühenden Parks. Die alten Männer wie Karolch 245 weinten vor Freude und Glück, daß sie in ihrem Leben den Vorzug genießen durften so etwas zu sehen und zu genießen. Sie fühlten sich stärker denn je mit ihren Ahnen, Hunderte von Generationen zurück, verbunden. Um die Zeit des Sonnenuntergangs hatten sich alle im Park
des Hauses versammelt, das Garry in Gesellschaft der bildhübschen Gloria bewohnte. Die Xwecha-Männer hatten ihre Gesellschafterinnen, soweit sie sie in Anspruch nahmen, auch mitgebracht. Als die Sonne goldrot hinter Palmen versank, den Himmel purpurn und die vorher weißen Wölkchen rosa färbte, stießen sie Jubelrufe aus. Das Hochgefühl ihres Glücks wollte kein Ende nehmen. Die sie begleitenden irdischen Mädchen besaßen Anstand und Bildung genug, um darüber nicht zu lachen. Garry und Tilly, aber auch Karolch 245 und die paar wirklich Alten der »Ältesten« waren allerdings weniger froh gestimmt über die Art und Weise der anderen, wie sie anschließend ihre Lebensfreude zum Ausdruck brachten. Sie hatten inzwischen bemerkt, daß die Menschheit, bei der sie zu Gast waren, trotz aller Toleranzen ganz andere sittliche Werte pflegte, wenngleich sehr vieles einander sehr ähnelte. »Begraben Sie Ihren Unmut, Karolch 245«, bat Garry nachsichtig, »ich kann es begreifen. Sie werden nicht mehr viel Zeit und Möglichkeit haben, das Leben zu genießen.« Die fünf Alten starrten genauso gebannt ins lodernde Kaminfeuer wie vorher in die Abendsonne. Gloria und die Damen Tillys und Jins hielten sich schweigend im Hintergrund und tauchten nur auf, voller Anmut und dezent, um die Gläser mit Wein nachzufüllen. Genüsse, die den Gästen unbekannt waren, ihnen natürlich vorzüglich mundeten. »Sie sind junge Männer«, gab einer der Alten zu, »jung sogar gegen unsere Gefährten, die sich jetzt so benehmen, als wären sie es. Nichts ist bedauerlicher als die Tatsache, daß wir nicht mehr dazu kommen auszuprobieren, ob Xwecha je zum gleichen Leben erwachen kann.« »Das würde der Planet nie mehr«, behauptete Jin, der als Astronavigator des RS »Glenn« genügend astrophysikalische
Kenntnisse besaß. »Sie würden sich etwas vormachen, falls Sie das glaubten. Nie mehr können sich Flüsse und Meere bilden wie in der Urzeit. Sie aber sind Voraussetzung für eine stabile Atmosphäre mit genügend Sauerstoff.« »Zu diesem Resultat sind unsere Wissenschaftler leider auch gekommen«, pflichtete Karolch 245 bei. »Vor langer, langer Zeit schon. Es wurde stets geheimgehalten, aus psychologischen Gründen, wie Sie sich denken können. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, ist es womöglich ein Glück, daß es so kommt, wie es kommt.« »Es wird trotzdem eine maßlose Tragödie, Karolch 245«, sagte Garry nüchtern. »Wenn viel Zeit bleibt, sind es hundert Tage. Wie groß muß die Kapazität unserer Raumflotten sein, um dreißig Millionen Menschen zu evakuieren, ganz zu schweigen von der Frage: wohin?« Der Alte musterte ihn verblüfft. Darüber hatte er nämlich noch gar nicht nachgedacht. Xwecha besaß keine Raumschiffe. Niemand hatte, wie es schien, darüber nachgedacht »Was heißt – wohin?« Garry las ihm vom Gesicht ab, daß er an die Erde dachte. Wie sollte er ihm, nachdem er im stillen wenigstens die Notwendigkeit der Räumung von Xwecha akzeptierte, erklären, daß die Erde »tabu« war, ja daß weite Teile radioaktiv verseucht waren? »Tja, wissen Sie, Karolch 245«, nahm Tilly ihm die Antwort ab, »solange Menschen auf Xwecha sind, können wir den Planeten nicht mit G-Bomben von seiner Bahn verdrängen. Folglich kommt er der Erde gefährlich nahe. Wie, meinen Sie, reagiert die Erde darauf?« »Das ist ja katastrophal«, stöhnte einer der anderen entsetzt. »Dieses wunderbare Paradies – wir können unmöglich dulden, daß solch ein kosmisches Paradies zerstört wird. Niemals – um
keinen Preis…« »Warten wir ab, was für Lösungen das GAWEKON-Cen anzubieten hat«, erwiderte Garry gepreßt. Sollte er ihnen sagen, daß er bereits alle Hoffnungen begrub? Daß sie auf den Monden im Prinzip nicht wesentlich besser lebten als die dreißig Millionen auf Xwecha? Daß Venus und Mars bei weitem nicht genügend Lebenssphären aufwiesen, um dreißig Millionen zu beherbergen? »Ja, warten wir ab«, stimmte Karolch 245 hoffnungsvoll zu. »Ich bin sicher, es wird eine Lösung geben!« Falls die zwölf »Ältesten« vom GAWEKON-Cen enttäuscht waren, zeigten sie es nicht. Garry durchschaute schon beim ersten Interview, daß dieses Supergehirn gar nicht begriff, daß es die Tatsache gar nicht verarbeiten konnte, in den Gästen Menschen vor sich zu haben, die auch nicht über tausend Vorfahren hinweg von der Erde stammten. In Nebengesprächen vor dem Konferenzraum zeigte sich allerdings zu Garrys Überraschung, daß es zumindest einen Menschen gab, der sich um die vorhandenen Kapazitäten für eine schnelle Evakuierung den Kopf zerbrochen hatte: General Diamond! Sie war immer noch die Kommandogewaltige über die »Operation OX«. In dieser Rolle war sie von Anfang an die Wortführerin mit GAWEKON-Cen. Sie ließ sich und besonders den Gästen alle inzwischen erweiterten Daten über die drohende Begegnung wiederholen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die bisher detonierten G-Bomben hatten kaum eine Wirkung gezeigt. OX hatte die bereits eingeschlagene Parabel um die Sonne nur um Sekunden pro Tag verzögert. Es müßten wenigstens dreihundert solcher Bomben gezündet werden, um die Begegnungsdistanz zur Erde auf wenigstens eine Million
Kilometer zu erweitern. »Das geht nicht«, rief sie, selber erschrocken. »Die Raumpatrouille verfügt ja gar nicht über dreihundert!« »Diese Tatsache ist bekannt«, antwortete die Denkmaschine gefühllos. »Die Berechnung basiert auf einem Zeitpunkt der Detonation innerhalb 96 Stunden. Mit zunehmender Annäherung beschleunigt OX. Somit steigt die Größenordnung der erforderlichen Bremskraft der Detonation.« »Das ist doch heller Unfug«, polterte Tilly unbeherrscht los. »Um OX zu erreichen, brauchen wir ja schon 120 Stunden!« »Die Tatsache ist bekannt«, antwortete das Unikum monoton. »Die Problematik der Durchführbarkeit ist erkannt. Eine sofortige Lösung übersteigt unsere Kapazität. Wir benötigen neue Daten und setzen die Konferenz morgen…« »Mit anderen Worten, es gibt überhaupt keine Lösung?« rief Karolch 245 fassungslos dazwischen, allerdings in seiner Sprache, auf die das GAWEKON-Cen noch nicht justiert war. General Diamond verhinderte die Beendigung der Audienz: »Wie viele Raumschiffe außer denen der SAS sind im System Sol registriert und wie viele können innerhalb fünfzig Tagen OX erreichen?« Es stimmt nicht, daß ein Computer, ein Elektronengehirn, nicht verblüfft sein konnte. Eine plötzlich veränderte, dazwischengeworfene Programmeingabe brachte so ein Ding des Triumphes der Technik schon seit jeher in »seelische Schwierigkeiten«. Das GAWEKON-Cen, der stille Diktator des Planetensystems, mußte jäh »umdenken«, mußte Erinnerungsspeicher aktivieren, und wie es seine Gewohnheit war, die gestellte Frage analysieren. Das dauerte überraschenderweise ein paar Minuten. Garry durchschaute die doppelte Absicht der exzentrischen
und zugleich resoluten Frau. Ein Mensch mit anderen, mit »normalen« Eigenschaften wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Er war nahe daran, sie zu bewundern. Denn sie zwang die Denkmaschine, die die Audienz beenden wollte, was üblicherweise unwiderruflich war, zur inneren Komplikation. Weil das GAWEKON-Cen noch immer keine Beziehung zu der »Fremdhaftigkeit« der Gäste hatte, erkannte es zu guter Letzt keinen Zusammenhang zwischen dem unlösbaren Problem und der Frage und gab die Zahl bekannt. Sie war nicht gerade überwältigend. »Danke«, sagte die Diamond gelassen. »Ich gehe davon aus, daß die seinerzeit ausgedehnte Entscheidungsvollmacht hinsichtlich OX bestehen bleibt, bis das Problem OX nicht mehr besteht. Ich gehe ferner davon aus, daß in diesem Sinne alle Einheiten und Einrichtungen der Raumpatrouille weiterhin meinem Befehl unterstehen. Oder erging dahingehend eine Korrektur?« »Keine Korrektur«, schnarrte das Supergehirn. »Sämtliche Automaten sind darauf programmiert, soweit es Problem OX betrifft.« »Danke«, sagte sie erneut. »Die augenblickliche Unlösbarkeit des Problems OX kann bei unverändertem Zustand zur totalen Vernichtung der Erde führen. Oder irre ich mich?« »Kein Irrtum«, bestätigte das Unikum. »Auch die letzte Analyse der neuesten Daten ergibt eine Wahrscheinlichkeit in Höhe von 75 Prozent.« »Ist es noch gültig«, fragte die Diamond mit unterdrückter Erregung, und damit spielte sie auf die erste Audienz an, die sie damals hatten, »daß GAWEKON-Cen allein nicht fähig sein wird, die Entscheidung für eine optimale Lösung zu treffen und die Exekutive jeder Entscheidung schon wegen der Größenordnung des drohenden Problems OX uns obliegt, weil
kein von GAWEKON-Cen dirigierter Automat schnell genug imstande wäre, programmierte Entscheidungen auf größtmöglichen Nutzwert zu kontrollieren und nötigenfalls zu korrigieren?« »Keine Korrektur«, antwortete es leidenschaftslos. »Das bedeutet höchster Notstand für Planet Erde und somit Ausnahmezustand für den Einflußbereich der SAS«, folgerte General Diamond. »Akzeptiert«, kam es prompt. »Sämtliche mit Automaten bestückten Raumschiffe, die binnen fünfzig Tagen OX erreichen können, werden innerhalb der nächsten zehn Stunden auf üblichem Notsignal ›emergency‹ programmiert und unterstehen der direkten Weisungsgewalt der SAS ohne Zwischenschaltungen. Das Signal verläßt soeben GAWEKON-Cen. GAWEKONCen steht zur Fortsetzung der Konferenz zur Lösung des Problems OX morgen um zwölf Uhr zur Verfügung. Roger.« Damit war die Audienz beendet. Die angekündigte Programmierung innerhalb der nächsten zehn Stunden war lediglich eine Frage der Entfernung zu den betreffenden Raumschiffen, zu denen Signale eben nur mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs waren. Die Gäste von Xwecha, die überhaupt nicht zu Wort gekommen waren, verstanden gar nichts. General Diamond schob sie alle hinaus, so schnell es ging. »Zum Raumhafen!« »Mein Kompliment, General«, bekannte Garry unterwegs. »Sie haben das GAWEKON-Cen praktisch aufs Kreuz gelegt! Das hätte ich Ihnen nicht zugemutet, wo Sie es doch als Nonplusultra, wenn nicht gar als Gott angesehen haben.« Die alles andere als schöne Frau lächelte zum ersten Mal. »Es ist ein Fehler der Männer, Commander Janner, seit es Menschen gibt, daß sie Frauen oft unterschätzen. Mag sein, daß wir etwas weniger Gehirnmasse haben als ihr. Zumindest manch-
mal aber wissen wir damit mehr anzufangen. Eine Frau hat den Vorteil, irgendwann im Leben zwischen Verstand und Gefühlsleben zu entscheiden, Männer nicht.« »Was haben Sie jetzt vor?« wollte er wissen. Sie musterte ihn skeptisch. »Wenn Sie das wirklich nicht wissen, sind Sie dümmer, als ich Sie eingeschätzt habe. Eine Frau entscheidet sich immer für das Leben, Commander, um welchen Preis und mit welchen Mitteln auch immer.« »Davon bin ich überzeugt«, gab er zu. »Die nächsten fünfzehn Stunden ist das GAWEKON-Cen mit der Analyse beschäftigt. Vor Ablauf dieser Zeit muß alles gelaufen sein, stimmt’s?« Ihr Blick wurde noch kritischer. »Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, sind Sie härter als ich!« Er hatte auf der Zunge zu sagen: aber nicht so exzentrisch. Er nickte nur. »Und wie bringen wir es unseren Gästen bei, daß Sie bereits entschieden haben?« »Verzeihen Sie, Garry, aber das ist mir egal«, erwiderte sie leise und versöhnlich. »Es sind Menschen, über dreißig Millionen, und sie haben ein Anrecht zu leben wie wir. Bringen S i e es ihnen bei.« Garry registrierte mit Genugtuung, daß sie ihn mit Vornamen ansprach. Er schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, daß Clarissa Ihnen die Arbeit schon abgenommen hat. Ich selber habe noch etwas anderes zu tun.« »Was meinen Sie?« fragte sie verblüfft. »Sie, General, und in wenigen Stunden die ganze Öffentlichkeit,, sprechen nur noch davon, die zweite Menschheit zu retten, die uns unversehens und katastrophal ins Haus segelt«, sagte er gelassen. »Ich habe, wenn ich es so nennen darf, ein paar Freunde in der Nähe. Wir beide sprachen schon über sie. Auch sie sind Menschen, Nachkommen unserer eigenen Vor-
fahren. Wer rettet die?« Die Diamond runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht. Was meinen Sie damit?« »Was, glauben Sie, passiert, wenn OX tatsächlich in nur anderthalbfacher Mondentfernung hinter der Erde vorbeirauscht? Es hebt die Erde aus den Angeln. Oder meinen Sie nicht?« Sie schloß einen Moment die Augen vor Bestürzung. Alles konzentrierte sich auf die zweite Menschheit. Die Folgen auf der Erde hatte noch keiner mathematisch durchgespielt, im blinden Vertrauen darauf, OX rechtzeitig abzudrängen. »Ich verstehe. Ich lasse im HQ SAS von einem unabhängigen Computer, manuell programmiert, modellieren, was alles eintreten kann. Nach dem Interview morgen Mittag mit GAWEKON-Cen gebe ich Ihnen 24 Stunden Zeit. Ich weiß beim besten Willen nicht, wohin sich diese Menschen in Sicherheit bringen können.« »Danke.« Er lächelte auch. »Sie haben wenigstens noch etwa 120 Tage, um hochgelegene und erdbebenschwache Gebiete aufzusuchen. Nachdem Sie alle Vollmachten besitzen, General, und das wissen die Geschwader-Commodores im Orbit OX inzwischen auch, lassen Sie vom Mond aus die geheimnisvollen Beobachtungsflotten starten, die die Erde kontrollieren und bisher angeblich nie etwas entdeckt haben wollen. Ich wette, daß eine ganze Reihe Siedlungsplätze bekannt sind. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, diesen Menschen behilflich zu sein. Soviel wir von der Sintflutgeschichte wissen, hatte es auch jemanden gegeben, der die Menschen gewarnt hat.« Sie nickte nur stumm, denn sie erreichten den Raumhafen. Als sie den Kontrollturm betraten, setzte ein Touristenraumschiff zur Landung an. General Diamond wurde sofort aktiv. Sie wandte sich an den
Einsatzleiter. »Captain, lassen Sie niemanden von Bord. Das Schiff nimmt Energie auf und startet unverzüglich. Ab sofort sind sämtliche Raumhafen der Erde für alle zivilen Schiffe gesperrt. Kein Schiff passiert mehr den dritten Orbit!« »Wie kommen Sie dazu, General?« brauste der Mann auf. »Zivile…« »Sir«, meldete der Cheffunker. »Emergency-Order vom GAWEKON-Cen! Ist soeben durchgekommen.« Sie musterte ihn ironisch. »Sonst noch Fragen, Captain? Nein? Also. Geben Sie mir direkte Kanäle zum zweiten Orbit und HQ SAS. Unverschlüsselt!« Das dauerte einen Moment, weil die Kanäle koordiniert werden mußten. Inzwischen hatten die Männer vom Xwecha Zeit, staunend mit anzusehen, wie so ein Raumriese landete, manövriert wurde und später wieder startete. »Hier spricht General Diamond, Kommandeur ›Operation OX‹!« Sie war sich bewußt, daß eine ganze Reihe kommerzieller Nachrichtendienste im ganzen Planetensystem mithörten. »Es besteht Ausnahmezustand und Emergency-Order. Alle Raumschiffe steuern den nächst erreichbaren Space Place an oder kehren um, sofern das näher liegt. Nach Wartung und Energieaufnahme, was nicht länger als 24 Stunden dauern darf, nehmen alle Raumschiffe mit einem Minimum an Besatzung Kurs auf OX, Position ist bekannt. Bei Eintreffen im Orbit OX weitere Anweisungen abwarten. Die Steuerautomaten sind bereits programmiert. Roger.« Der Flugleiter war keineswegs einverstanden. Er protestierte energisch und verlangte Rechenschaft. Soviel er wußte, hatte Weisungen bei Emergency-Order stets GAWEKON-Cen selbst gegeben, wenngleich die letzte zwei Generationen zurücklag. »Hören Sie, Captain«, sagte sie, gar nicht froh darüber, »veranlassen Sie, das alle Rekonvaleszenzzentren, alle, Captain,
binnen drei Wochen geräumt sind, restlos geräumt, auch vom Betreuungspersonal. SAS stellt dafür sechs Raumtransporter zur Verfügung, für jeden Space Place einen. Nach Beendigung der Aktion stehen die Transporter dem Space Place-Personal zur Verfügung. Nach dem ersten Erdbeben, das allerdings kaum vor Ablauf von achtzehn oder neunzehn Wochen zu erwarten ist, verlassen sämtliche Besatzungen die Erde.« »Warum?« »Ich habe vergessen, Ihnen die Herren vorzustellen. Sie sind zwölf von fünfundzwanzig Stadtkönigen, wenn Sie so wollen, des Planeten Xwecha, den wir OX nennen. Es ist kein Gerücht, daß OX von Menschen bewohnt wird. Menschen wie wir, keinen Deut anders…« »Aber…?« »Aber es ist weitaus schwieriger, sie davon zu überzeugen, daß sie ihre Heimat sofort räumen müssen, wenn sie überleben wollen, als es Ihnen dank der Emergency-Order zu befehlen. Und es grenzt an Wahnsinn, zumindest übersteigt es unser Leistungsvermögen, dreißig Millionen Menschen zu evakuieren.« »General Diamond, ich bitte Sie!« mischte sich fassungslos Karolch 245 ein. Dank der Interpreter hörte er die ganze Zeit schon verblüfft zu. »GAWEKON-Cen hat doch gar keine Lösung…?« »Aber ich habe eine«, sagte sie müde. »Sie, Karolch 245, greifen auf Xwecha zu halbwegs diktatorischen Maßnahmen, wenn es nicht mehr anders geht. Leben, menschliches Leben, steht uns über allem anderen! Nach dem Interview morgen mit GAWEKON-Cen kehren Sie und zumindest die älteren Ihrer ›Ältesten‹ mit RS ›Glenn‹ nach Xwecha zurück, um alles Notwendige einzuleiten. Sie haben selbst behauptet, es gibt Millionen, die am liebsten sofort dem Katakombendasein den
Rücken kehren würden. Die Geschwader im Orbit von Xwecha haben Landeerlaubnis und Order, Freiwillige an Bord zu nehmen. Die paar Millionen starten zuerst. Alles andere bleibt Ihnen überlassen. Pro Person ein Kubikmeter Gepäck! Für die anderen nach den Freiwilligen bleibt nicht einmal Raum für Gepäck. Die erste Phase dauert Tage, viele Tage. In 110 Tagen von heute, Karolch 245, zünden wir dreihundert G-Bomben auf einmal, ganz gleich, was dann passiert. Mehr können wir nicht für Sie tun. Versuchen Sie, die Bevölkerung Ihrer Heimat zu überzeugen.« * Bei Rückkehr zum Raumhafen aus der radioaktiven Steppe jenseits des »Paradieses« wartete die neue Bordingenieurin auf sie, Marga Smit, silberblond, schlank, jung, hübsch. Garry kannte sie sehr gut uns seiner Zeit in Selencity. »Hey, Baby, du bist schon Commander?« Er umarmte sie begeistert. »Wie kommt die Diamond dazu, ausgerechnet dich auf RS ›Auldrin‹ zu kommandieren?« Sie lächelte impertinent. »Dreimal darfst du raten. Kurz nach deiner Abreise vom HQ SAS bekam ich das Kommando für den Raumtransporter, den ich jetzt hierhergebracht habe. Dann wird man ganz einfach Commander.« Der Klotz von Raumschiff parkte vor Halle V. Damit begann die Räumung des »Paradieses« von Houston. Raumtransporter dieser Größenordnung waren relativ langsam. »Ich glaube, daß du den Grund kennst«, erwiderte er traurig, »nachdem dich die exzentrische Lady General persönlich zu mir geschickt hat.« »Ja, und dann kennst du ihre Beweggründe dafür«, erwiderte sie leise. »Sie hält große Stücke von dir. Aber lassen wir das.
Wie war der Erfolg in der Steppe?« »Davon weißt du auch?« staunte er. »Tilly und ich haben sie nach stundenlangem Suchen gefunden. Eine Karawane, dreihundert Frauen, Männer und Kinder, marschiert nach Nordwesten. Folkmaster behauptet, bis in hundert Tagen erreichen sie ein Gebiet, das sie Edwards Plateau nennen und das sicher ist. Ich fürchte, daß es nicht alle durchstehen. Die Älteren sind so vollgepumpt von Strahlung, daß es ein Wunder ist, daß sie überhaupt noch leben. Wir haben ihnen Pakete mit Pillen gegen Radioaktivität…« »Ja, das weiß ich auch«, unterbrach sie ihn. »Was glaubst du wohl, was die Kontrollen seit Jahrhunderten tun? Es sind lediglich stets Robs gewesen, und zu denen haben diese Leute nicht gerade viel Zutrauen. Wie kommt dein Freund Folkmaster aber dazu, plötzlich nach Nordwesten auszuwandern?« »Irgendein Instinkt, wie er es nannte. Außerdem wußte er von mir, was bevorsteht. Inzwischen ist OX mit bloßem Auge zu erkennen, jedenfalls vor Sonnenaufgang. Habe ich dich richtig verstanden, daß die Existenz der Menschen auf der Erde seit Jahrhunderten bekannt ist?« »Geheimstufe I«, sagte sie lapidar. »Kannst du dir die Reaktion der Öffentlichkeit vorstellen, wenn sie erfahren hätte, daß es in der Wildnis der Erde Menschen gibt – Menschen zudem, die radioaktiv verseucht und dadurch von Geburt an verurteilt sind zu Krüppeln und frühem Tod. Diese Menschen nehmen aber keine Robs an. Folglich besaß das GAWEKON-Cen nie Kontrolle über sie. Deshalb konnte man nicht wirkungsvoll helfen. Außerdem hätte man eingestehen müssen, daß die Erde, das Paradies, verseucht ist und was es mit der angeblichen Völkerwanderung zu den Sternen wirklich auf sich hatte.« »Du hast Geheimstufe I?« fragte er skeptisch.
»Sonst wüßte ich es nicht«, gestand sie ein. Er nickte brütend. »Die Diamond hat es nicht eingestehen wollen, hat es allerdings auch nicht geleugnet, wenn ich jetzt über unser Gespräch damals an Bord so richtig nachdenke.« »Es sind nicht viele Menschen«, fügte Marga hinzu, »die wir registriert haben. Sie entziehen sich jeder Beobachtung. Ein paar hunderttausend sind bekannt. General Diamond hat – nach deinem geglückten Privatexperiment hier – Anweisung gegeben, fortan persönlichen Kontakt mit ihnen zu suchen. Wahrscheinlich reagieren viele wie dein Folkmaster-Völkchen.« »Dann ist auch bekannt, welche Regionen mehr und weniger stark radioaktiv verseucht sind?« »Ziemlich. Bis auf einige weiße Flecken, wie beispielsweise um Houston, sind alle Ebenen stark verseucht. Die Strahlung kommt aus dem Erdboden. Aber wasche mal Millionen von Quadratkilometern aus! Trage mal die radioaktiv strahlende Schicht ab! In den Hochgebirgen ist die Strahlung ungefährlich.« »Das hätte man früher tun müssen«, murrte er, als sie endlich an Bord gingen. »Ich selber habe eben nur Stufe II.« »Ein Projekt, um die Erde zu entstrahlen, ist technisch undurchführbar. Die Erde, wie sie ist, als Nimbus der Menschheitswiege, Sperrgebiet, streng geschützt, war dreitausend Jahre Garant für Frieden und Humanität, wenn auch ein bißchen diktatorisch vom GAWEKON-Cen.« »Ohne OX wäre es wohl ewig so geblieben«, sagte Garry unbehaglich. »Und jetzt geht die Erde wahrscheinlich völlig zum Teufel.« »Vielleicht auch nicht«, erwiderte sie. »Retten wir wenigstens von den Dreißig Millionen soviel wie möglich. Ich bin neugierig, wie es auf OX aussieht. In den paar Tagen hat sich ja schon
die gesamte Flotte der Raumpatrouille dort versammelt.« Darauf war Garry selber gespannt. Sein Interesse richtete sich allerdings weniger auf die Geschwader. In seiner Eigenschaft als Geologe erwartete er sichtbare Veränderungen der Planetenoberfläche. Denn die Organisation der Flotten leitete, überwachte und kontrollierte das GAWEKON-Cen. Diese Erkenntnis war ihre große Überraschung bei der letzten Konferenz gewesen. Das Supergehirn hatte die Notwendigkeit der Evakuierung von dreißig Millionen Menschen binnen hundert Tagen völlig begriffen. Daß es Menschen waren, die keinerlei Beziehung zur Erde hatten, begriff es nie. Ein Mensch, auch ein Team, wäre nie imstande, ein solches Mammutunternehmen durchzuführen. GAWEKON-Cen hatte die Organisation über die Automaten völlig im Griff, die Schwierigkeiten, die durch die Menschen selber auftraten, allerdings nicht. Es hatte ihnen eiskalt die Mathematik um die Ohren geschlagen. Im Durchschnitt mußten stündlich 12 500 Menschen starten. Von jedem Stadtbereich mußten jede Minute fünfzig Leute an Bord gehen. Jedes der eingesetzten 2651 Raumschiffe mußte bei jedem Einsatz, die im Durchschnitt auf fünf kalkuliert waren, 2264 Menschen befördern. Das schafften nicht einmal die Transporter der Raumpatrouille, von denen sowieso nur fünfzehn im Einsatz waren. Weil sie so langsam waren, würden sie innerhalb der Frist auch keine fünf Einsätze schaffen. Die schnellen Einheiten der Raumpatrouille wiederum, die OX wenigstens theoretisch neunmal erreichen konnten, hatten kaum genügend Raum für 150 Passagiere. Außerdem gab es nur 140 SAS-Raumschiffe. Die auftretenden Probleme der ersten Tage waren noch geringfügig. Nicht erst durch Clarissas raffiniert geführte, psy-
chologische Legendenkampagne fanden sich auf Anhieb über drei Millionen bereit, Xwecha sofort zu verlassen. Von der ersten Stunde an standen sie an den Luftschleusen Schlange. Es ging nur nicht so schnell, wie es die nüchterne Mathematik vorschrieb. Sie mußten mit Luft- und drucksicheren Waggons, Panzern und Rössern zu den Raumschiffen gebracht werden. Als RS »Auldrin« im Orbit eintrat, war die Aktion mit den Freiwilligen in vollem Gange. Vorerst startete alle fünfzig Minuten ein Raumschiff. Die wendigen Schiffe der Raumpatrouille konnten bis dicht an die Stadtausgänge manövrieren, von denen jeder Bereich acht bis zwölf hatte. Die großen, zivilen Schiffe konnten das nicht. Ihnen drohten auch als ersten Schwierigkeiten mit der dichter anwachsenden Atmosphäre. Bisher gab es keine Probleme mit der Verpflegung. In den Städten wurde jedoch bereits damit begonnen, wenigstens zuerst den Auswanderungswilligen Reiseproviant für mehrere Tage auszuhändigen. Nachdem General Diamond so spontan die Öffentlichkeit unterrichtet hatte, fanden sich auf den Mondwelten, Mars und Venus ebenso spontan Millionen bereit, Evakuierte bei sich aufzunehmen. Das GAWEKON-Cen beherrschte die technische Organisation vollkommen. Für jedes eintreffende Raumschiff bestimmte es Orbithöhe, Wartezeit und Landeroute. Sobald es wieder gestartet war, programmierte es den Kurs, womit eine sinnvolle und gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge gewährleistet wurde. Nur die Zeit, bis ein Raumschiff besetzt war, hing von den Menschen selbst ab. Die Schnelligkeit, mit der die Leute an Bord kamen, war ausschlaggebend für die Freigabe zum Start. In der ersten Phase handelte es sich auch nur um ein Zehntel der Bevölkerung. RS »Auldrin« wartete keine Stunde im Orbit.
Commander Janner erhielt bevorzugt Landeerlaubnis. Er wurde zum Landeplatz dirigiert, der zum Bereich Karolchs 245 gehörte. Das Flaggschiff General Diamonds befand sich bereits dort. »Hier spricht Diamond«, meldete sie sich persönlich. »Kommen Sie und Ihre Crew zu mir an Bord, sobald RS ›Auldrin‹ angelegt hat.« Vier Schiffe der Raumpatrouille lagen in dem nicht gerade breiten Nebental nahe der Luftschleuse, als RS »Auldrin« als fünftes hineinglitt. Die Landschaft hatte sich bereits beachtlich verändert. Stickstoff- und Kohlenstoffschnee tauten schnell ab. Was übrig blieb und weiß aussah, waren gefrorene Wasserverbindungen. Die leicht bläuliche Färbung des gefrorenen Sauerstoffs war längst verschwunden. Vom Eis befreit waren schon viele Felsen. Sie standen schwarz im weißen Kontrast des Schnees. Tauchten sie am Talboden auf, waren Start und Landung gefährdet. Die Dichte der Atmosphäre war noch nicht gefährlich. Wie das in hundert Tagen aussah, wußte kein Computer, viel weniger ein Mensch. Immerhin war sie schon dicht genug, um schwach Tageslicht zu erzeugen und vor allem die Schatten zu dämpfen. Bei Verlassen des Raumschiffs beobachteten sie die lebhafte Aktivität. Hier war der erste Tunnel schon fertig. Er beschleunigte die Einschiffung auf Minuten. Das nächste Raumschiff landete bereits, als das besetzte senkrecht abhob. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Garry!« Die Diamond reichte ihm und seiner Crew die Hand. »Sie sehen sogar ein bißchen glücklich aus.« »Wenn das eine Frage ist: Daran sind Sie selber schuld, Gina«, erwiderte er genauso vertraulich, obwohl er wußte, daß die Diamond seine Mutter sein konnte. »Sie wußten ja wohl, wie Marga und ich damals zueinander standen.«
»Und jetzt wieder stehen«, fügte die Silberblonde sofort hinzu. »Das will ich hoffen.« Sie lächelte und ging voran in die Kommandozentrale, die größer war und anders aussah als in den üblichen SAS-Raumschiffen. »Kommen wir zur Sache. Karolch 245 will Sie sehen, Garry. Mich mag er wohl nicht. Er fühlt sich brüskiert, weil wir ihn in mehrfacher Hinsicht überfahren haben.« »Das kann ich mir vorstellen. Er wollte zwar zum gleichen Ergebnis kommen, das aber mit der traditionellen Methode der Xwechas.« Garry nickte verständnisvoll. »Die hatten früher immer sehr viel Zeit für Entscheidungen.« »Er steht nicht allein mit seiner konservativen Haltung«, fuhr sie fort. »Clarissa, Gerold und die anderen mit Unterstützung progressiver Kräfte, sowieso meist nur junge Leute, haben während der Zeit unserer Reise zur Erde ganze Arbeit geleistet. Neunzig Prozent dieser Bereiche wollen sofort auswandern. In anderen Bereichen dagegen, wo die Ältesten hiergeblieben waren, ist der Anteil fast Null.« »Sie denken an die Kapazität des Einschiffens?« »Das weniger, denn das schaffen wir schon. Bringen Sie ihm bei, daß ich die G-Bomben zum Zeitpunkt, den auch er kennt, zünden werde. Gegen die Mehrheit seines eigenen Stadtbereichs und einiger anderer kommt er nicht mehr an und grollt deshalb. Um so mehr Erfolg hat er in Stadtbereichen, in denen die Leute konservativ sind, vielleicht, weil sie besser leben als hier. Wir haben Schwierigkeiten genug, da brauchen wir nicht noch deren.« »Und Sie hoffen, daß ich es fertigbringe, ihn umzustimmen?« Er war skeptisch. »Ich hoffe es, mehr nicht«, gab sie zu. »Sie, Garry, und Clarissa besitzen das meiste Vertrauen, und das inzwischen auch bei
den vielen Millionen, die Sie noch nie gesehen haben. Machen Sie ihm klar, daß Sie selber die G-Bomben auf den Planeten postieren werden.« »Was soll ich?« rief er verblüfft. »Das habe ich soeben gesagt. In dieses Geschäft mischt sich unser verehrungswürdiges GAWEKON-Cen seltsamerweise nicht ein. Darum geht es aber nicht. Der Rat der ›Ältesten‹ hat im geheimen beschlossen, das ausgewählte Areal für die GBomben mit allen militärischen Mitteln zu vernichten, noch während die Bomben eingerichtet werden.« »Das kann doch nicht ihr Ernst sein?« rief Marga erschrocken. »Leider, aber es ist menschlich verständlich«, sagte die Diamond bekümmert. »Wir wissen es von Xwechas, die dagegen sind. Ihr Volk ist in drei Teile gespalten. Die mehr als drei Millionen Auswanderungswilligen wachsen stündlich an. Die meisten hängen an ihrer angestammten Heimat, auch wenn die noch so unwirtlich und primitiv ist. Würden wir das etwa nicht? Der Anteil negativ und vor allem desinteressiert eingestellter Leute ist nur wenig kleiner.« »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Gina«, sagte Garry grübelnd, »droht hier zu guter Letzt ein Bürgerkrieg.« Sie nickte. »Das kann man auch ohne Computer errechnen. Diese Menschen sind haargenau wie wir. Aber vergessen wir die faszinierenden Philosophien darüber. Dieser Bürgerkrieg bricht spätestens dann aus, wenn die Freiwilligen weg sind und die Unschlüssigen einsehen, daß die Konversativen sie verdummen. Die Konservativen glauben an ein Neuerblühen ihres Planeten. Dafür werden sie kämpfen. Sobald sie uns angreifen, und das bleibt nicht aus, schlagen wir mit aller Härte zurück. Bis dahin retten wir alle, die gerettet werden wollen. Das ist aber nicht Ihr Problem.«
»Sondern?« »Die Raumpatrouille startet nicht ohne Grund als erste mit Auswanderern und läßt die Zivilraumschiffe warten. Ich brauche ihre Kampfkraft, wenn es hier losgeht. Bei Rückkehr bringen die SAS-Schiffe die restlichen G-Bomben mit, und Sie, Garry, justieren sie.« »Das habe ich bereits verstanden. Dreißig Tage also!« »Richtig. Zeit genug für den Versuch, Karolch 245 umzustimmen. Die sieben jüngeren der ›Ältesten‹, die ja einen Tag länger auf der Erde blieben als die anderen, stehen voll hinter der Rettungsaktion. Es herrscht also jede Menge Politik und Polemik in den Felshöhlenstädten.« »Und nach diesen dreißig Tagen?« »Folgt der schwierigste Teil für Sie. Bis dahin ist nämlich die Aufnahmekapazität unserer Mondwelten und von Mars und Venus erschöpft. Die zivilen Raumschiffe werden dann Schwierigkeiten bekommen, ihre Passagiere loszuwerden. Sie wissen es bloß noch nicht. Die SAS-Raumschiffe dagegen haben freien Einflug zur Erde!« Er starrte sie fassungslos an. »Das ist nicht Ihr Ernst, Gina?!« »Mein voller Ernst, Garry. Die RS ›Auldrin‹, ›Oberth‹ und ›Glenn‹ sind nach wie vor die ausgewählten Führungsschiffe, die den zweiten Orbit ungehindert passieren können. In ihrem Gefolge kommen die Geschwader. Ich weiß, was Sie einwenden: Die Erde ist verseucht. Richtig, aber es gibt weiße Flecken. Marga hat es Ihnen sicherlich schon gesagt.« »Das habe ich«, mischte sie sich ein. »Es gibt mehr als nur die sechs Rekonvaleszenzzentren.« Die Diamond nickte. »Sie können die Positionen von Selencity anfordern, sobald Sie gestartet sind. Infolge der Verzögerung für die Zündung der G-Bomben, das haben wir mit Computern bereits durchgerechnet, berühren sich die Schwerkraft-
felder der beiden Planeten früher. Nach dem ersten Erdbeben werden die Raumhäfen der Erde geräumt. Dann landen Sie. Eine andere Chance bleibt nicht Dreißig Millionen zu retten, ist eine Farce. Wir besprechen die Einzelheiten ein andermal. Besuchen Sie erst einmal Karolch 245.« Auch das wurde eine Farce. Der alte Mann ließ ihn in TV und Radio – in irdische Begriffe übersetzt – als Retter und Held feiern. Anschließend überfiel er ihn aber auch gegen den Protest seiner Beamten mit heftigen Vorwürfen. Er hielt ihm böswillige Täuschung und die Macht des Stärkeren vor. Nur die Gegenwart der hübschen Marga dämpfte seine Zornesausbrüche. Bevor es dazu kam, wurden Marga, Tilly und Garry aber tatsächlich als Helden und Retter begrüßt. In den Haupttunnels zur Luftschleuse warteten die auswanderungswilligen Leute geduldig mit Frauen und Kindern in langen Schlangen, bis sie der Reihe waren. Niemand hatte den historischen Augenblick vergessen, als die Besatzung der »Auldrin« zum ersten Mal hier auftauchte. Sie mußten Hände schütteln und immer wieder bestätigen, daß es wahr war, was Clarissa prophezeite und sogar Karolch mit Bildern belegt hatte. Die Legende erfüllte sich. Alle waren stolz darauf, diejenige Generation zu sein, die es erleben durfte. Viele hatten sich bemüht, inzwischen ein paar Brocken der solarischen Sprache zu erlernen. Und schließlich stimmten sie ihre Hymne an. Für Garry, Marga und Tilly wurde es ein Triumphmarsch… Die Begegnungen mit Karolch 245 und anderen »Ältesten« brachten dagegen so gut wie nichts. Politiker waren anscheinend alle dieselben Typen. Der Alte war vor allem verbittert, obwohl er eigentlich dasselbe wollte. Sie wurden trotzdem von Bereich zu Bereich, wie man auf
Xwecha die unterirdischen Städte nannte, als Freunde herumgereicht. Clarissa und Gerold, als prophetische Propagandisten anerkannt, begleiteten sie. Sogar die Konservativen zollten ihnen Beifall, obwohl gerade sie bei ihrer Ansicht blieben und die Evakuierungskampagne bekämpften. Die Spannungen unter der generationenlang friedfertigen Bevölkerung aber waren überall spürbar. Es entstand der Eindruck, als ob nur die Anwesenheit der fünf »verehrten Erfüllungsgehilfen der legendären Prophezeihung« den offenen Ausbruch von Feindseligkeiten untereinander verhinderte. Wo sie auch immer erschienen, erwies man ihnen alle Ehren. Ihr Auftritt wurde zum Volksfest mit kulturellen Darbietungen, als hätten sie keine anderen Sorgen. Die Crew wurde plötzlich abberufen. Gerold und Clarissa schlossen sich an. Sie nahmen auch ihre Begleiter aus dem Volk der Xwecha mit. Die warteten sogar darauf, dem drohenden Hexenkessel auf diese Weise entfliehen zu können. Solche menschlichen Verbindungen hatte General Diamond verhindern wollen. Deshalb hatte sie alle Einladungen an die Besatzungen abgelehnt. Die Astronauten durften nicht weiter als bis zu den Luftschleusen. Die waren auch am wenigsten gefährdet, wenn der innere Aufruhr losbrach. Aber was bedeuteten schon zwei hübsche Mädchen und ein junger Mann gegenüber 30 Millionen? »Es ist soweit, Garry«, empfing sie die Diamond im Flaggschiff. »Es dauert ja nicht so lange, die drei ausgewählten Zentren einzurichten wie damals bei den drei ersten G-Bomben. Dummerweise fallen uns dadurch wenigstens neun Raumschiffe aus, die nach Lage der Dinge die Zentren bewachen müssen. Die ersten Panzerkolonnen sind nämlich schon unterwegs.« »Wenn wir sie vernichten, dürfte es schnell zu offenen Feind-
seligkeiten kommen«, folgerte er düster. »Daß die unsere Bemühungen behindern, dürfte wohl keine Frage sein.« »Ich kann es nicht ändern. Menschen sind so. In den vierzehn Tagen, die wir hier sind, befinden sich knapp zwei Millionen auf der Reise. Rechnen Sie sich aus, was wir in den verbleibenden 85 Tagen schaffen können. Ich darf mir kein Gewissen leisten, sonst werde ich verrückt.« Beim Start des RS »Auldrin« gab es in der Luftschleuse einige turbulente Szenen. Die Leute befürchteten, die Flotten würden sie im Stich lassen. Allmählich sprach es sich herum, wie die Stimmung »pro und contra« in den einzelnen Bereichen auszuarten drohte. Die Aufgabe, die Detonationszentren einzurichten, hätte auch jeder andere ausführen können. General Diamond spekulierte mit einem psychologischen Schachzug: Solange bekannt war, daß sich die Besatzungen der drei Raumschiffe auf Xwecha befanden, stagnierten die Feindseligkeiten. Allerdings wußte sie, daß sich das änderte, sobald sie gezwungen waren, die anrückenden Panzerbrigaden zu vernichten. Die evakuierungswilligen Verbündeten waren unbewaffnete Zivilisten und in der Minderzahl. Garry Janner brauchte zehn Tage, um die Installationen zu leiten. Es gelang ihm mit Hilfe technischer Tricks, sogar zwei der noch entfernten Panzerkolonnen vorübergehend in die Irre zu führen. Dadurch wurde der offene Kampf hinausgezögert. Er kalkulierte richtig: Die Besatzungen waren schon erschöpft. Denn seit sie ihre Stützpunkte verließen, kamen sie nicht mehr aus den engen Fahrzeugen heraus. Die Atmosphäre war noch zu dünn und besaß keinen atembaren Sauerstoff. »Wir müssen von nun an auf alles gefaßt sein, Garry«, sagte die Diamond niedergeschlagen. Ihr Flaggschiff kreiste inzwischen im Orbit. Dadurch konnte sie sich genauer über die Si-
tuationen an möglichst vielen Stadtausgängen ständig informieren. »Unsere Aufnahmekapazität erreicht bald die kritische Grenze. Auf Mars und Venus werden Lager gebaut. Überlassen wir die den zivilen Raumschiffen.« »Wir sollen also auf der Erde landen?« zog Garry den Schluß. »Nein, noch nicht«, entschied sie. »RS ›Auldrin‹, ›Oberth‹ und ›Glenn‹ bilden die Flaggschiffe von drei SAS-Geschwadern. Die Aufnahmekapazität der Raumstationen im 3. Orbit reicht für zehntausend Menschen. Das bedeutet drei Flüge…« »Und wie steht es um die Versorgung?« erinnerte er. »Wird knapp, ich weiß«, gab sie zu. »Security-Commander Hell ist unterrichtet. Ich spekuliere allerdings damit, daß der Zeitpunkt kommt, von dem an das GAWEKON-Cen Landefähren aus dem 3. Orbit nicht stoppen kann. Die übrigen SASGeschwader bringen die Flüchtlinge in Erdmondstationen.« »Das ist gegen SAS-Security«, sagte er. »Das weiß ich auch. Kennen Sie eine bessere Lösung? Das GAWEKON-Cen weiß nur logische Mathematik anzubieten, aber keine menschliche. Leben Sie wohl.« Bei Rückkehr vom dritten Flug sahen sie sich jedoch zwangsläufig noch einmal wieder. Ein Teil der Rettungsflotten konnte nicht landen. Für die großen Raumschiffe bot sich keine Startpiste mehr an, weil der Schnee zu weich geworden war. Und der befürchtete Bürgerkrieg in den unterirdischen Städten war in vollem Gange. An schwachen Stellen war er bis zu den rettenden Luftschleusen vorgedrungen. Die Flüchtlinge überrannten unter blutigen Opfern die aufgeputschten Gruppen, die sie hindern wollten. Standen bewaffnete Ordnungskräfte auf seiten der Flüchtlinge, gab es unter den Konservativen ein Blutbad. Dann drängten die Sieger in chaotischer Tollheit zu Verbindungstunnels in Bereiche, in
denen Luftschleusen und Einschiffung noch geordnet funktionierten. Es war für viele ein Glück, daß der Planet so groß war und die Bereiche zum Teil recht weit voneinander entfernt lagen. Der Bereich Karolch 245 gehörte dazu. Die Einwohner der Stadt waren weitgehend evakuiert. Die noch wartenden Schlangen kamen aus anderen Bereichen, bevor dort das Chaos ausgebrochen war. Garry war erschrocken, als er die Diamond wiedersah. Sie war grau und eingefallen. Die Last der Verantwortung zermürbte sie. Ihr Einsatz war ein langgesuchter Beweis, daß das GAWEKON-Cen eben doch nicht alles konnte. »Keine Diskussionen weiter, Commander«, erklärte sie kühl, als wären sie Fremde. »Lassen Sie die Geschwader landen. Für die Großraumschiffe ist sogar die Atmosphäre bereits zu dicht. Nehmen Sie an Bord, soviel Sie können, und lassen Sie sich hier nie wieder blicken. Die hundert Tage sind vorbei. Der Countdown hat begonnen. Es war die größte und einzig wahre Völkerwanderung in die Sterne. Binnen zwei Tagen müssen Sie verschwunden sein. Das GAWEKON-Cen hat bereits die Rückkehrprogramme nach Xwecha überall gestoppt Noch Fragen?« »Nein, leben Sie wohl, Gina!« Er umarmte die alt gewordene Frau bewegt. Auch Marga tat es. Sie ahnten, daß sie einander nie wiedersehen würden. Während die drei Geschwader landeten, starteten die letzten Zubringerfähren für die Raumtransporter, die im Orbit warten mußten. Die Landung der 39 Raumschiffe verhinderte eine Panik unter denen, die noch warteten. Garry, begleitet von Clarissa, ging noch einmal in die unterirdische Stadt. Die Tatsache nährte das Vertrauen der paar tausend Menschen. Sie waren die letzten, denen die Flucht hier-
her gelungen war. Radikale Konservative hatten ganz einfach die Verbindungstunnel gesprengt. Die beiden eilten durch die menschenleeren »Straßen«. Überall lag Gepäck herum, das nicht hatte mitgenommen werden dürfen. Sie betraten den Dom, die »Bereichszentrale«. Wie erwartet fanden sie den alten Karolch 245 mit drei jungen Frauen an den Kommandogeräten. Über die verfolgten sie die Situationen in anderen Bereichen. »Hallo, Karolch, es ist soweit, kommen Sie!« Garry trat auf ihn zu. »Hier bleibt nichts mehr für Sie zu tun.« Der alte Mann schaute ihn traurig an. »Ich habe meine Pflicht der Menschheit gegenüber getan, Garry Janner. Es ist mir gelungen, bis zuletzt Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Wissen Sie, wie viele evakuiert worden sind?« »Die anderthalb Millionen Ihrer Stadt bestimmt. Sagen Sie den Frauen, sie sollen zur Luftschleuse gehen, schnell!« Der Alte tat es. »Es fehlen ein paar tausend an zwölf Millionen, Garry Janner. Das sind knapp vierzig Prozent. Wir sind Ihnen allen sehr zu Dank verpflichtet.« »Ja ja, sicher, aber jetzt kommen Sie. Die Zeit ist knapp.« »Wozu?« Er schüttelte müde den Kopf. »Ich bin ein alter Mann. Ich habe meinen Teil getan, um die Prophezeiung zu erfüllen, wenn sie auch anders aussieht, als es geschrieben steht. Unser Volk ist jetzt auf zehn Sterne verstreut. Es wird in Ihrer Menschheit aufgehen und…« »Das stimmt nicht ganz, Karolch. Wir landen auf der Erde! Ihr Volk wird dann zuerst eine anerkannte Autorität brauchen. Jeder weiß, daß Sie gegen allen Widerstand, sogar Ihren eigenen, weitgehend alle Fäden in der Hand hielten. Jeder wird auf Sie hören, damit auch nachher Ordnung und Disziplin erhalten bleiben.« »Wie meinen Sie das?« fragte der Alte verständnislos.
»Das erkläre ich Ihnen an Bord!« Bei Sonnenuntergang starteten die drei Geschwader zum letzten Mal. Zurück blieb ein unsichtbares, unterirdisches Chaos. Garry sorgte dafür, daß an Bord aller Raumschiffe die Anwesenheit Karolchs bekannt wurde. Es hob die Moral. Das Flaggschiff General Diamonds gab nur das Signal »verstanden«. Sie meldete sich nicht mehr. Die Distanz zwischen Xwecha und Erde war mittlerweile so sehr geschrumpft, daß die Reise keine drei Tage dauerte. Noch bevor sie die Mondbahn passierten, traf die Nachricht vom Start der letzten SAS-Raumtransporter aus den Rekonvaleszenzzentren ein: Die Erde hatte auf die Annäherung des Planeten Xwecha zum ersten Mal reagiert. Der Befehl lautete: Start nach dem ersten Erdbeben! Eine Stunde später flammte eine neue Sonne auf: Dreihundert Gravitationsbomben hatten gezündet. Die Wucht riß Xwecha aus seiner verhängnisvollen Bahn. Um wieviel, würden die nächsten Stunden zeigen. Garry wartete vergeblich auf eine erste Berechnung des GAWEKON-Cen. Selencity teilte mit, das GAWEKON-Cen gebe keine Antwort. * RS »Auldrin« landete als erstes und bei strahlender Morgensonne. Tilly, der Pilot, und Marga, Bordingenieur, hatten alle Hände voll zu tun, das vollbesetzte Raumschiff sicher hinabzubringen. Zu ihrer Überraschung sprach die Landeautomatik gar nicht an. Sie mußten schleunigst auf manuelle Steuerung umschalten. Die bordeigene Funkautomatik setzte alle wichtigen Landedaten sofort an die in Linie folgenden, anderen
Schiffe ab. »He, Garry, Risse in den Rollbahnen«, rief Tilly in letzter Minute vor dem Aufsetzen. »Die gab’s damals nicht.« »Du lieber Himmel!« Garry riskierte einen Blick zu den Cockpitfenstern hinaus. Er zuckte die Schultern. »Wenn der Raumriese gestartet ist, dürften wir auch heil runterkommen.« Tilly blieb sowieso nichts anderes übrig. Das Schiff setzte hart auf. Die Fahrwerke röhrten regelrecht. Zum Glück war die Piste stabil und elastisch genug konstruiert. Die Schäden beeinträchtigten den Landevorgang nur unwesentlich. An den Abfertigungshallen und am Kontrollturm sahen die Risse schon gefährlicher aus. »Das Erdbeben war anscheinend heftiger als vermutet«, grübelte Garry laut, der davon am meisten verstand, während die Passagiere das Raumschiff verließen. »Aber wenn das alles war, was die gute alte Erde über die Begegnung mit Xwecha von sich gab, können wir zufrieden sein.« »Das wird die Zukunft zeigen«, erinnerte Marga. »Die Security-Obs von Ganymed, Mars und Selencity arbeiten noch fieberhaft an der Bahnbestimmung. Du weißt ja, wie lange das dauert. Wir sollten den Kontrollturm wieder in Betrieb nehmen, damit wir ständig informiert sind.« »Gewiß, aber nicht du.« entschied Garry. »Wir müssen uns zuerst wohl oder übel um die Flüchtlinge kümmern. Tilly, du führst unsere Passagiere in die Wartehallen.« »In Ordnung, aber Daydin bleibt bei mir!« Das weiße, hübsche Xwecha-Mädchen, das langes, blauschwarzes Haar hatte, war ihm sowieso selten von der Seite gewichen. Es beherrschte sogar schon recht gut die solarische Sprache und diente als Dolmetscher. Das tat der alte Karolch auch. »Sie haben sicherlich nichts dagegen, Garry, wenn ich in Ihrer Gesellschaft auf die anderen
warte.« »Nein. Machen Sie Ihren Leuten klar, daß sie sich im Schatten, am besten in den Wartehallen, aufhalten sollen. Sie vertragen die Sonne nicht. Ich empfehle ihnen auch Sonnenbrillen. Das wissen Sie sicherlich von Ihrem Aufenthalt damals hier selber.« Die Anwesenheit des Alten hob die Stimmung. Die Reise und erst recht die ruppige Landung war vielen nicht gerade gut bekommen. Die 150 Männer, Frauen und Kinder hörten Karolchs kurzer Ansprache aufmerksam zu und folgten dann Tilly ins Abfertigungsgebäude. Der Pilot tauchte aber sofort wieder auf. »He, Garry, nichts funktioniert! Keine Klimaanlage, keine Laufbahn…« Garry lachte. »Wozu auch? Das Raumhafenpersonal dürfte die Anlagen abgeschaltet haben, bevor es abgereist ist. Mach dir kein Kopfzerbrechen. Am Parkplatz stehen die Robcars…« Es stellte sich heraus, daß auch die nicht funktionierten, jedenfalls nicht automatisch. Sie mußten manuell gesteuert werden. Das war nicht verwunderlich: Sie wurden weder erwartet, noch waren sie offiziell angemeldet. Daß sich auch die Sicherheits-Robs nicht rührten, fiel vorläufig keinem auf. Garry hatte gar keine Zeit dafür. Alle fünf Minuten landete nun ein Raumschiff nach dem anderen. Solange der Kontrollturm unbesetzt war, mußte er die Maschinen selber einweisen. Karolch wartete geduldig, daß er den Leuten seines Volkes eine kurze Ansprache halten konnte: ein Willkommensgruß auf der Erde. Er mußte sechsundzwanzigmal dasselbe sagen. Inzwischen versuchten die Techniker der Raumschiffbesatzungen, die Automaten des Kontrollturms in Betrieb zu nehmen. Sie funktionierten nicht. Garry wies sie an, über Funk Kontakt mit dem 3. Orbit und Selencity aufzunehmen. Bei späteren Landungen mußten sie Raumfähren und Raumschiffe
eben über Funk einweisen. Zum Glück standen genügend Robcars zur Verfügung, um dreieinhalbtausend Menschen zu befördern. Leere, verlassene Luxus-Bungiglus gab es genug. Mit Karolchs Hilfe bezog jede Familie einen: Die Höhlenbewohner von Xwecha besiedelten das Paradies. So kam es ihnen auch vor. Aus reiner Angewohnheit quartierte er sich mit Marga im gleichen Haus am See ein, in dem er schon zweimal gewohnt hatte. Diesmal erwartete ihn allerdings keine bronzehäutige Gloria. Marga kannte sich aus und stellte sofort fest: »Die automatischen Versorgungsanlagen funktionieren nicht, Garry!« Er wurde zum ersten Mal skeptisch. »Meinst du damit die Verpflegungslieferanten?« »In erster Linie.« Sie machte sich, dem Klima angemessen, luftig und kam auf die Terrasse, von der Garry Funkkontakt zum Kontrollturm suchte. »Magazin und Kühlschrank sind halbvoll. Aber der Vorrat reicht nicht ewig. Wasser- und Stromversorgung sind bloß deshalb intakt, weil jeder Bungiglu eigene, unabhängige Einrichtungen dafür hat.« »Du deutest damit an, daß die gesamte, zentralgesteuerte Automatik im Rekon-Zen abgeschaltet ist?« »Ich würde sagen: zusammengebrochen, Garry«, erwiderte sie besorgt. »Es läßt sich leider nicht alles auf manuellen Betrieb umschalten. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Störung zu suchen und zu beheben, sonst braucht keine Fähre aus dem Orbit zu landen.« Er nickte grübelnd. »Morgen früh sehen wir uns erst einmal nach dem Zentralmagazin um, sonst verhungern wir noch im Paradies. Ich sage denen im Kontrollturm Bescheid, sie sollen zum 3. Orbit weitergeben, daß Fähren in Houston nicht landen, bevor wir die Störung behoben haben. Geh schon immer
vor ins Wasser, Nacktfrosch. Ich komme gleich nach.« Die Techniker im Kontrollturm hatten inzwischen ganz andere Schäden entdeckt. Die Energiezentrale war tot. Das beutete: kein Strom für das komplizierte System des gesamten Raumhafens. Das GAWEKON-Cen gab nicht einfach nur keine Antwort, sondern die Funktionskontrollen, die ein eigenes System besaßen, gaben trotz Energie kein Bereitschaftssignal. »Ich fürchte, das müssen wir morgen früh als erstes nachprüfen«, erwiderte er ahnungsvoll. »Soviel ich weiß, funktioniert das GAWEKON-Cen seit dreitausend Jahren störungsfrei. Das hat noch nie jemand lahmlegen können. Habt ihr Verbindung mit Selencity?« »Einwandfrei. Die erste, noch ungenaue Kursberechnung Xwechas ergab, daß der Planet die Erdbahn nicht berührt. Seine Abweichung ist gelungen, um wieviel, soll bis morgen früh feststehen.« »Wieviel Raumschiffe sind denn noch unterwegs?« »Etwa dreihundert. Seit der Gravitationseruption ist der Kontakt zu rund einhundert aber abgebrochen. Auch das Flaggschiff meldet sich nicht mehr.« »General Diamond?« Er holte tief Luft. »Wo befand es sich zur Zeit Zero?« »Im Orbit Xwecha.« Garry würgte es im Hals. Er folgte Marga ins Wasser. Die Nachricht über Gina Diamond erschütterte beide zu sehr, um viel Sinn für eine Turtelei aufzubringen. Sie blieben trotzdem so, wie sie gebadet hatten. Schließlich befanden sie sich im Paradies, wenn auch in einem technisch gestörten. Für den Abend bat er Tilly und einige RS-Kommandanten, Karolch und ein paar Männer und Frauen seines Volkes zu sich, die er für Führungsaufgaben würdig hielt. Eine stimmungsvolle Party, wie Karolch sie von damals hier
in Erinnerung hatte, wurde es nicht. Garry machte ihnen klar, was ihnen an Arbeit bevorstand, um sich hier wenigstens vorübergehend zu etablieren. Für die Leute von Xwecha bedeutete die kolossale Lebensumstellung – bei aller Begeisterung über das für sie fremdartige Luxusleben – zweifellos die meisten Schwierigkeiten. Für sie, die keine natürliche Luft, viel weniger Sonnenschein gewohnt waren, konnte es bei nicht genügender Vorsicht sogar lebensgefährlich werden. Der einzige, der sichtlich aufblühte, war der alte Karolch. Er registrierte, daß man ihn dringend brauchte. Der einst zum »Ältesten« gewählte Mann hatte eine konkrete Aufgabe zugunsten seines Volkes. Sie kamen überein, daß sie kurz nach Sonnenaufgang ans Werk gingen. Karolch oblag die Schulungsaufgabe für die dreieinhalbtausend Leute. Womöglich kamen bald noch mehr dazu. Im 3. Orbit warteten zehntausend. Sobald man am Mond herausfand, daß es hier klappte, schickte man die Leute von dort auch hierher. Garry, Tilly, Clarissa, Jin und Marga wollten zuerst das GAWEKON-Cen aufsuchen. Bis auf Marga waren sie dort bekannt. Ausgerechnet jetzt, nachdem es überlistet worden war, wollten sie auf die überragende Intelligenz des Supergehirns am wenigsten verzichten. Ein Teil der RS-Besatzungen hielt sich ständig in Bereitschaft. Der Kontrollturm, die einzige Verbindung zur Außenwelt, mußte rund um die Uhr besetzt bleiben. Die übrigen Besatzungsmitglieder, die alle Techniker waren, mußten die Störquellen der Automatiken aufspüren und die Vorratslager suchen, von denen das Rekon-Zen bei Vollfunktion versorgt wurde. Als sie sich vor Mitternacht trennten, schauten sie betroffen zum Nachthimmel. Ein brauner Ball, halb so groß wie der
Vollmond, hing zwischen den Sternen: Xwecha. Sein Anblick war bedrohlich. Soviel sie aber wußten, war die größte Gefahr gebannt. »Bis morgen früh wissen wir mehr«, murmelte Garry beim Abschied unbehaglich. Er wurde schon kurz vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf gerissen. »Hier Kontrollturm, Commander: Der 3. Orbit will wissen, wann die Landefähren kommen dürfen. Die Verpflegung wird ihnen knapp…« »Mann, wir müssen hier ja dasselbe Problem lösen. Haben Sie denen das nicht gesagt?« »Doch, Sir, am schlimmsten sieht es mit Trinkwasser aus.« »Ich hoffe, daß wir unser Problem heute bereinigen. Was noch?« »Die Daten der Bahnverschiebung von Xwecha liegen vor. Sie sind nicht überwältigend. Aber es wird mit Sicherheit nicht dazu kommen, daß die Erde den Planeten einfängt oder umgekehrt.« »Kommen Sie zur Sache!« »OX bleibt jenseits der Erdbahn, etwa in anderthalb Mondentfernung. Zum Glück steht der Mond über der Erdtagesseite und somit im Gravitationsschatten der Erde. Die größte Annäherung ist nicht geringer als eine Million Kilometer.« Garry atmete auf. »Danke. Die erste angenehme Nachricht seit Wochen. Ich habe das Sprechfunkgerät immer bei mir. Unser erster Weg führt zum GAWEKON-Cen um zu sehen, was da los ist« Sein erster Weg aber führte ins Wasser zum erfrischenden Morgenbad. Marga begleitete ihn natürlich. Als sie wieder ans Ufer zurückkehrten, fiel es ihr auf. »Haben Seen Ebbe und Flut, sag mal?« »Nein, wieso?« Da sah er es selbst: Der Wasserspiegel hatte
nachts die Grasnarbe am Ufer völlig überspült. Augenblicklich war der See so weit zurückgewichen, daß er den Grund freilegte, wenn auch nicht sehr weit. Tilly und seine Xwecha-Freundin Daydin kamen bereits, bevor das Paar ins Haus gehen konnte. Der Pilot grinste, weil ihm der »Boß« einmal unbekleidet über den Weg lief. »Wir wollten keine Minute unnötig vergehen lassen, Garry.« »Das tut ihr ja auch nicht.« Garry genierte sein und Margas Aufzug wenig. »Ihr könnt mit uns frühstücken. Clarissa und Jin haben es nicht so eilig.« »Macht nichts, wir haben schon gefrühstückt«, erwiderte Tilly, und mit einem Blick zum Himmel: »Irgendwie herrscht Ruhe vor dem Sturm.« Garry beeilte sich, Marga ins Haus zu folgen. »Das wäre unangenehm. Habe schon gehört, daß hier manchmal fürchterliche Tornados toben.« »Das meine ich nicht.« Der Pilot schüttelte ernst den Kopf. »Ich erinnere mich, daß damals, als wir hier gewohnt haben, morgens vor Sonnenaufgang die Vögel gezwitschert haben. Heute früh war es totenstill. Gestern abend waren die beiden Katzen noch da, die damals schon zum Hausinventar gehörten. Morgens mauzten sie immer so lange, bis sie ihre Milch bekamen. Heute sind sie spurlos verschwunden.« »Und was soll das bedeuten?« fragte Garry skeptisch. Tilly zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich habe mal eine uralte Legende gelesen. Da ist ein Vulkan ausgebrochen, der als erloschen galt. Er hieß Vesuv. Einen Tag vorher waren Katzen, Vögel, Hunde und was weiß ich verschwunden. Kein Mensch hat was geahnt, und plötzlich brach er aus.« Garry lachte. »Hier gibt es weit und breit keinen Vulkan, auch keinen erloschenen. Wir haben doch beim Anflug im Orbit gesehen, daß nahezu sämtliche Vulkane der Erde in Tätig-
keit sind, und das ja auch nicht erst seit gestern. Ich sehe keinen Zusammenhang.« »Trotzdem, es liegt was in der Luft. Ich glaube… He, was war das?« Unter ihren Füßen polterte und grollte es einen Moment dumpf. Gläser erzitterten. Die Vorhänge wehten leicht, obwohl kein Wind blies. Dann war es wieder vorbei. »Nichts«, sagte Garry unsicher. »Frühstücken wir. Setzt euch wenigstens.« Bis Jin, Clarissa und ihr junger Freund vom Xwecha erschienen, waren sie gerade fertig. Jin, Navigator des RS »Glenn«, rümpfte die Nase. »Ich habe heute morgen mitgehört, als dich der Kontrollturm anrief, Garry. Sie haben vergessen zu sagen, wann und in welchem Winkel OX den erdnächsten Punkt berührt.« »Ist das wichtig bei dieser Entfernung?« »Der Gravitationsbereich der Erde reicht Millionen von Kilometern spürbar in den Raum. Er breitet sich aber nicht geradlinig aus. Als Astronavigator solltest du das wissen«, sagte er mit gelindem Vorwurf. »Zum Mond hin beschreibt er mehr oder weniger kräftige Gravitationstrichter, richtige Wirbel, besonders wenn er auf der Nachtseite steht. OX steht auf der Nachtseite!« »Sicher, aber zweieinhalbmal so weit oder noch weiter entfernt.« »Gewiß, aber mit einer Dichte größer als die der Erde, einer Schwerkraft, die sechsunddreißigmal größer ist als die des Mondes…« »Die im Quadrat zur Entfernung abnimmt, in Richtung zur Sonne noch mehr. Zugegeben, OX erzeugt im See sogar Ebbe und Flut, wenn auch gering.« »Ich hoffe, du hast recht, Garry«, sagte Jin mißmutig. »Infor-
miere Karolch. Er muß seine Leute warnen. Das war ein kleines Erdbeben vorhin. Das ist dir hoffentlich klar!« Janner gab keine Antwort. Es war ihm nämlich nicht klar gewesen. Er benachrichtigte sofort Karolch. Minuten später brachen sie auf. Sie mußten die Rösser manuell steuern. Unterwegs wurden sie informiert, daß im Kontrollturm die Wachablösung stattfand. Es gab keine Neuigkeiten. Jedenfalls war es nicht beunruhigend, daß sich, zweifellos als Auswirkung der G-Bomben vor 24 Stunden, die Umlaufbahnen aller Raumstationen um einige Kilometer verschoben hatten. Korrekturmanöver waren kein Problem. Dann standen sie vor dem Zugang des GAWEKON-Cen. Das Einfahrtportal war zusammengebrochen. Auf Erdbebensicherheit war nicht gebaut worden. Hier gab es bisher nur Wirbelstürme. »Tja, wenn das so aussieht«, murmelte Garry betroffen, »brauchen wir mit dem GAWEKON-Cen wohl nicht mehr zu rechnen. Sehen wir uns das mal von nahem an.« Aber da gab es nicht mehr viel zu sehen. Die Tunnels waren teilweise völlig verschüttet. Ihre atombombensichere Konstruktion hatte gegen Erdbeben nichts genutzt. Die Energieanlage, soviel konnten sie feststellen, hatte sich im Augenblick der Gefahr selbständig ausgeschaltet – zum ersten Mal seit drei Jahrtausenden. Damit war das GAWEKON-Cen, das kluge Supergehirn, das die Geschicke der »Galaktischen WeltenKonföderation« geleitet, gelenkt, sicherlich auch diktiert hatte, tot. Bis zum Konferenzsaal konnten sie gar nicht vordringen. Garry entschied, den Versuch dazu abzubrechen. Für den Augenblick drängten andere, lebenswichtigere Probleme. Es wurde Nachmittag, bis sie zurückgeklettert waren und in die Rösser stiegen.
Die andere Gruppe hatte das Versorgungsarsenal gefunden. Es befand sich in der Nähe des Raumhafens. Warum aber die Verteilerautomatik versagte, die zumindest technisch in Ordnung war, blieb unklar. Garry und seinen Begleitern war es nun kein Rätsel mehr: Das GAWEKON-Cen, das zumindest im Planetensystem alle Robs und Automatiken überwachte, kontrollierte und lenkte, war tot. Er gab die erschreckende Tatsache noch nicht bekannt, sagte aber zu, sofort zum Raumhafen zu kommen. Sie mußten unverzüglich untersuchen, wie sie am besten den Inhalt der Magazine selber verwalteten und verteilten. Die Sonne knallte unbarmherzig vom Himmel. Der Wind, der gerade nachmittags meistens auffrischte und etwas Kühlung verschaffte, hatte sich gelegt. Über den Straßen flimmerte die Hitze. Keine Palme, kein Strauch bewegte sich. Das Paradies hatte also auch so seine Tücken. Sie befanden sich noch unterwegs zum Raumhafen, als die Nachricht eintraf, man könnte im 3. Orbit nicht länger warten. Denn von den anderen, inzwischen besetzten Rekonvaleszenzzentren hörte man dasselbe wie von Houston. Die Raumfähren würden in wenigen Minuten starten, fünf von ihnen nach Houston. Weil überall die automatischen Steuerungen versagten, brauchten sie die Anflugdaten über Radio. »Auch das noch, die sind ja verrückt«, polterte Garry ärgerlich. Es behagte ihm gar nicht, ungewollt in eine Rolle gedrängt zu werden, in der ausgerechnet er alle Fäden hielt. Es war aber nicht zu ändern. »Ich bitte dich, Marga, übernimm du das. Die Männer im Kontrollturm kennen sich überhaupt nicht aus.« »Ungern, aber meinetwegen.« Sie ließ sich vor dem Zentralgebäude des Space Place absetzen. Im gleichen Moment, als sie ausstieg, schaukelten die Fahrzeuge. Aus dem Boden drang
ein dumpfes Grollen und Stöhnen. Zwei der stupide herumstehenden Sicherheits-Robs fielen einfach um und blieben liegen. Diesmal zweifelte keiner mehr daran, daß es ein Erdbeben war. »Stop mal, Garry«, rief Tilly besorgt. »Marga, warte! Ich empfehle, daß wir die Raumschiffe sofort starten. Das Gepolter macht mich nervös.« »Meinst du, es läßt nach, wenn die Raumschiffe weg sind?« foppte Jin. »Außerdem hat es schon wieder aufgehört.« »Ach, Unsinn«, murrte der Pilot. »An den Raumstationen da oben sind sie sicherer aufgehoben. Mit den Landefähren können wir sie jederzeit wieder abholen. Das Beben soeben war stärker als heute morgen. Wie wird das nächste sein?« »Du hast recht«, stimmte Garry zu. Er griff zum Sprechfunkgerät. »Die Piloten können die Maschinen allein starten, oder?« Marga ging auf den Kontrollturm. Der Start bedurfte einiger Vorbereitungen. Janner alarmierte die übrigen Piloten. Es dauerte einige Zeit, bis alle zur Stelle waren und die Raumschiffe startklar machen konnten. Auch Tilly gehörte dazu. Er nahm natürlich seine Daydin mit. Sie war der einzige Passagier von zwei kompletten Geschwadern. Inzwischen kamen die anderen vom Magazin herüber. Sie blieben gemeinsam so lange am Raumhafen, bis die leeren Giganten nacheinander abhoben und im Spätnachmittagshimmel verschwanden. »Garry, hier Marga«, meldete sie sich kurz darauf. »Die im 3. Orbit spielen verrückt. Alle anderen Fähren sind unterwegs, nur die nach Houston nicht. Soll ich sie herunter dirigieren?« »Verdammt, weiß ich auch nicht.« Er biß die Zähne zusammen und blieb stehen, während die anderen schon den Vor-
platz überquerten, um zum Magazin zu fahren. »Halte sie im 1. Orbit fest, bis ich nachher zu dir hinaufkomme. Rufe die Piloten an. Sie sollen die Schiffe im 1. Orbit lassen und mit den Fähren zurückkehren. Ich will nur schnell zu den Magazinen hinüber, damit sie dort weitermachen können.« Garry schaltete ab und setzte zum Laufschritt an. Die anderen waren mit den Robcars hinübergefahren, die sie bereits verließen. Ihm fiel plötzlich auf, daß ein seltsames Singen in der Luft zu hängen schien. Die Sonne glühte, obwohl sie keine vier Stunden mehr bis zum Horizont hatte. Es war völlig windstill. Keine Grille zirpte. Alles wirkte auf einmal drohend. Er blieb stehen. Sein Funkgerät gab Signal. »Hier Jin. Ich habe ein ungutes Gefühl, Garry. Da braut sich was zusammen.« Unwillkürlich blickte er nach Osten. Dort stand, schon einiges über dem Horizont, der hier durch die Flora ohnehin höher lag, ein gefährlich anmutende rostbrauner Ball am Himmel: Xwecha! Die Perspektive stimmte, fiel ihm auf. OX blieb der Erde auf der sonnenabgewandten Seite zurück. Folglich musste er spätnachmittags aufgehen. Es war dasselbe unbehagliche Gefühl, das ihn veranlaßte, den Rufkanal zum Kontrollturm einzustellen. »Hallo, Marga…« Plötzlich war die Hölle los… Der Erdboden wölbte sich und brach zusammen. Die Erde kreischte, schrie, brüllte, bebte fürchterlich stark. Es geschah alles auf einmal. Palmen, Büsche, Rösser, Betonbrocken, Robs, Menschen flogen durch die Luft. Dichte, schwarze Wolken rasten aus dem Nichts am Himmel dahin. Mit Getöse krachten die Muschelbauten des Raumhafens zu-
sammen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, flog wie Pfeile in eine Richtung. Der Kontrollturm schwebte, wie von Geisterhand versetzt, ganz woanders und brach in sich selbst ein. Wie ein Faustschlag schoß der Orkan über alles hinweg, riß es hoch und schleuderte es weit entfernt wieder zu Boden. Und der rollte und grollte immer noch. Schlag, Sturz, Flug, wieder Sturz und Luftschock wirbelten Garry Janner herum. Der höllische Lärm des Infernos machte ihn taub. Er verlor keinen Augenblick das Bewußtsein. Er umklammerte mit aller Kraft den Stumpf der abgebrochenen Palme, neben dem er auf einmal im Rasen lag. Der hob und senkte sich wie eine Schaukel auf dem Jahrmarkt. Der fürchterliche Sturm nahm ihm den Atem. Er konnte nicht denken. Er konnte kaum sehen. Er hatte keine Ahnung, wie er dahin, mitten in einen Gartenpark, gekommen war. Das mächtige Erdbeben hörte plötzlich auf. Das ohrenbetäubende Kreischen der Erde verstummte. Der übrige Höllenlärm blieb. Der Orkan brüllte und tobte noch minutenlang. Garry registrierte das Ende des Erdbebens. Er hörte es durch das Tosen des Sturms rauschen… Plötzlich erschütteten sich ganze Kaskaden an Wasser und Gischt über ihn. Sämtliche Schleusen des Himmels öffneten sich. Glitschige, zappelnde Leiber hüpften und schlüpften über ihn hin. Ebenso plötzlich hörte es auf. Rauchend und sprudelnd schoß das Wasser in alle Richtungen, die bergab führten. Dazwischen hüpften Fische… Danach ließ auch der Sturm schnell nach. Garry kroch auf allen vieren und richtete sich auf. Er kam sich vor, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt – zwischen tausend sterben-
den Fischen. Noch wurde er sich ihrer nicht einmal bewußt. Wie geistesabwesend, völlig durchnäßt, schaute er sich um. Zuerst bemerkte er, daß er das Sprechfunkgerät noch am Arm hatte. Wieso, was wollte er damit? Wo kamen die schwarzen Wolken her? Was war passiert? Soeben herrschte doch noch strahlender Sonnenschein! Hinter ihm lagen Trümmer, auf ihnen zuckten sterbende Fische. Überall Trümmer. Wo waren die Bäume, Sträucher, Blumen? Wer hatte Robcars in den Park geschleudert? Lebte er in einem surrealistischen Traum? Wo war eigentlich der Kontrollturm? Die Erinnerung kam blitzartig. Er brüllte ins Sprechfunkgerät: »Marga – Marga – melde dich!« Aber was sollte das? Das Gerät war hin! »Hee – Garry!« Jin erhob sich mühselig aus einem Haufen Erdreich, umgeben von zappelnden Fischen. Er winkte und humpelte. »Warte doch…« »Ist dein Sprechfunk intakt?« Garry lief ihm entgegen. »Marga muß ich rufen – der Kontrollturm – Marga…« »Mann, siehst du einen? Ich komme mit.« Es war ein Chaos, das sie überquerten. Es grenzte an ein Wunder, daß noch ein paar Palmen standen. Das Land, einst von den stolzen Muschelbauten des Raumhafens architektonisch geziert, war nahezu eben, übersät von Trümmern, zwischen denen das Wasser ablief. Da und dort lag, ja stand sogar noch ein Ros, allerdings an ganz anderer Stelle als vorher. Hier und da kletterte einer aus den Trümmern. In der Ferne schrie jemand markerschütternd: eine makabre Beruhigung, daß noch jemand lebte. Aber in den Ruinenhaufen, einst stolze Gebäude des Raumhafens Houston, lebte niemand mehr. Vom Kontrollturm war keine Spur zu finden. Garry zitterte am ganzen Körper. Er gab
nicht auf. Er überlegte fieberhaft, wo er anfangen sollte. Sie waren noch sieben, die sich relativ unverletzt wiederfanden. Mit denen am Startfeld, im Kontrollturm und am Magazin waren sie vierundzwanzig gewesen. Sieben, darunter drei Frauen, aber nicht Clarissa. Sie suchten, wühlten in Trümmern, bis die Dunkelheit anbrach. Niemand sprach. Zwei der Robcars und eine ganze Reihe einfacher Rösser funktionierten. Sie brauchten sie nur aufzurichten. Garry war rein psychisch nicht fähig, eins zu steuern. In seinem Kopf gärte nur ein Wort: Marga. Jin übernahm einen Robcar. Wer den anderen fuhr, war ihm egal. Marga war verschwunden. Der Schmerz war schlimmer als alles in seinem Leben. Zweifellos war sie tot, lag irgendwo unter Trümmern begraben. Clarissa war es auch. Sie fanden die blonde Frau, zerschmettert von geborstenen Betonsäulen. »Fahren wir durch die Siedlung«, sagte Jin rauh, als sie abfuhren. Wenn sie nur wüßten, wohin. »Wenn die Überlebenden Licht sehen, kommen sie schon.« »Was ist eigentlich passiert?« fragte eine der Frauen zwischen Tränen. »Das war kein normales Erdbeben!« »Nein, bestimmt nicht.« Jin atmete auf. Wenn endlich ein Gespräch aufkam, vier Stunden nach der Katastrophe, löste das den Schock allmählich, unter dem sie standen. »Was dann?« »Die Schwerkraftfelder der beiden Planeten sind sich empfindlich ins Gehege gekommen«, sagte Jin mit einem Anflug von Galgenhumor. »Der kritische Punkt! Wären sie einander näher gewesen, wie ursprünglich vorgesehen, hätten sie sich gegenseitig eingefangen. Dann wäre Feierabend gewesen.« »Ist es das jetzt nicht?« »Wir leben doch! Ihr werdet sehen, wie viele noch da sind.«
»Es hätte die Erde zerreißen können.« »So schnell zerreißt die gute alte Erde nicht. Ich denke, sie ist durch den Gravitationsschock nur mal eben für Sekundenbruchteile in ihrer Rotation um sich selbst stehengeblieben.« »Das war das Erdbeben?« »Auch. Aber der mitrotierende, glutflüssige Kern hatte Schwung genug, auch den festen Mantel, diese berühmte Apfelsinenschale, wieder mitzureißen. Das war in erster Linie Ursache für die Beben.« »Und woher kam das Wasser?« »Was denkt ihr, wie die Ozeane reagieren, die die Erddrehung ja auch mitmachen, und die Atmosphäre, wenn der Untergrund plötzlich stehenbleibt? Die drehen sich erst einmal munter weiter. Sie erschütten sich über Ufer und Hinterland, womöglich Hunderte von Kilometern weit. Das haben sie getan, und die Atmosphäre auch. Woher kommen wohl die vielen Fische? Ein Glück, daß der Golf von Mexiko nicht in direkter Rotationsrichtung liegt! Dann wäre der Rückstau für uns nicht minder verheerend geworden.« Es war, wie Jin vorausgesagt hatte. Erst einzeln, dann mehr und mehr tauchten Überlebende auf, die die Lichter sahen. Menschen von Xwecha. Die Busse waren bald überfüllt. Sie hatten die besseren Chancen gehabt, obwohl hier mehr als irgendwo anders Tote herumlagen. Nicht ein einziges Haus hatte die Katastrophe unversehrt überstanden. Die meisten waren regelrecht abrasiert, die meisten Bäume entwurzelt, viele abgebrochen. In der Nähe des Ufers saß Karolch. Er schüttelte immer nur den Kopf. Sprechen konnte er nicht. Offensichtlich begriff er erst jetzt richtig, wieviel größer die Katastrophe ohne den Einsatz der G-Bomben geworden wäre. Der See war weit zurückgewichen. Ein Zeichen, daß sein
Wasser drüben die Steppe weggeschwemmt haben mußte. Der Fluß, der ihn speiste, bahnte sich erst noch ein neues Bett. Bei Dunkelheit sehen sie das nur nicht. Die Wolkendecke bewahrte sie vor dem Anblick des rostbraunen Balls am Himmel, des diabolischen Boten des Todes, dessen Hieb mit der Sense dank menschlicher Intelligenz das Ziel verfehlte, der aber auch die Heimat nahezu aller Menschen gewesen war, die nun hier um die Lagerfeuer saßen. Viele schluchzten vor sich hin. Manche litten noch an hysterischen, andere an depressiven Anfällen. Allein die Gegenwart Karolchs, des weisen alten Mannes, vermochte Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die meisten konnten in dieser Nacht nicht schlafen. Garry Janner konnte es. Nervenanspannung, Schock und der seelische Schmerz über den Verlust Margas »schalteten« ihn einfach ab. Bei Sonnenaufgang lief er, wie in Trance, den weiten Weg zum Wasser. Das erfrischende Bad gab ihm neuen Lebensmut. Er bekam sogar Gesellschaft. Die meisten Leute von Xwecha konnten allerdings nicht schwimmen. So manche Frau machte sich Hoffnungen auf ihn. Niemand hatte vergessen, daß er in ihrer Heimat als Erfüller der Prophezeiung gefeiert worden war. Sie geleiteten ihn wie in einem Triumphzug zum Lager zurück. Karolch kam ihnen entgegen. Es amüsierte den alten Mann, daß die Frauen Garry verehrten und um ihn scharwenzelten. »Ich bin sicher, das ist ein gutes Zeichen. Frauen haben einen Instinkt dafür…« Garry lächelte traurig. »Wissen Sie schon, wie viele überlebt haben?« Karolch war der alte »Älteste« geblieben, keinen Moment untätig. »Rund achthundert Männer, elfhundertfünfzig Frauen und dreihundertfünfzig Kinder.«
Und die spielten und tobten schon wieder umher, als gäbe es das Chaos nicht. »Dann teilen Sie sie ein«, wurde Garry wieder sachlich. »Die Bauteile der zerstörten Häuser lassen sich verwenden, um wenigstens notdürftige Unterkünfte zu errichten. Ein Teil der Leute muß wohl oder übel die Toten begraben…« »Nach unserer Sitte wurden Tote verbrannt«, warf Karolch ein. »Auch einverstanden. Zusammengetragen werden müssen sie aber. Eine ganze Reihe Ihrer Leute sprechen schon einigermaßen unsere Sprache. In einen Robcar passen fünfzig Leute. Geben Sie mir die mit. Wir müssen um jeden Preis die Magazine freilegen und Vorräte bergen. Bis der Tag um ist, muß einiges geschafft sein. Es gibt keinen Zweifel, daß Hilfe kommt. Die Frage ist nur: wann!« Sie kam am späten Nachmittag. Es war ihnen bis dahin gelungen, in die zum Teil unterirdisch angelegten und erheblich störten Lager einzudringen. Viele der wohlverpackten Vorräte waren tatsächlich zu gebrauchen. Fünf Raumfähren senkten sich vorsichtig aus dem Himmel herab. Sie brauchten nicht unbedingt eine Piste, weil sie wie Hubschrauber landen konnten. An Bord waren Tilly und alle Piloten der Geschwader. Er umarmte Garry und Jin nur stumm und bewegt. »Was ihr tut, ist vorläufig die einzige Lösung«, erklärte er. »Die anderen sind nicht so gut dran. In den Raumstationen gibt es keine Vorräte mehr. Die vom 2. Orbit liefern schon an die beiden anderen aus. Auf dem Mond geraten sie selber in Bedrängnis.« »Das sind ja großartige Aussichten«, murrte Garry unzufrieden. »Machen wir uns nichts vor, Garry«, sagte Tilly ernst. »Auf
Mars, Venus und den Mondwelten ist es nicht besser. Zwölf Millionen Flüchtlinge müssen versorgt werden. Das einzige, was wir hier sehr schnell erwarten dürfen, sind Baumaschinen. Dazu müssen aber die Raumschiffe landen können. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zuerst die Start- und Landebahnen auszubessern.« »Wir sind rund zweieinhalbtausend Menschen. Wir brauchen Dächer über den Köpfen…« »Dem HQ SAS, das provisorisch erst einmal Aufgaben des GAWEKON-Cen übernommen hat, ist die Notwendigkeit bewußt. Man ist zu dem Schluß gekommen, daß ein sinnvoller Aufbau des Rekon-Zen vorläufig ausgeschlossen ist« »Daß das Paradies vorbei ist, sieht man ja. Wo sonst aber soll gebaut werden?« »Das Gebiet des Rekon-Zen soll jedenfalls geräumt werden. Wir können die Zelte, die wir dabeihaben, überall errichten. Ich persönlich dachte da an die Steppe im Süden des Sees, wo früher mal diese Gecken ihre Wildnisabenteuer gesucht haben. Die Radioaktivität war dort am geringsten.« Jeden Abend loderten die Totenfeuer. Drei Nächte danach hatten alle ein Dach über dem Kopf, auch wenn es nur ein Zelt war. Die Raumfähren waren ständig im Pendelverkehr unterwegs, um Baumaterial heranzuschaffen, damit zuerst die Rollbahnen ausgebessert werden konnten. Erst Tage später, als die Leute unter Karolchs autoritärem Kommando weitgehend selbständig arbeiteten, kamen Garry, Jin und Tilly dazu, das Land jenseits des »Paradieses« zu besichtigen. Wie damals fuhren sie mit zwei Rössern, bewaffnet mit Meßgeräten, nördlich um den See herum. Denn im Süden hatte sich die Gestalt des Gewässers enorm verändert. Zu ihrer Überraschung grünte es überall. Dabei hatte es seit
der Katastrophe nicht geregnet. »Die Strahlung ist fast völlig verschwunden«, stellte Tilly verblüfft fest. »Die unendlich vielen Schlacken übrigens auch. Was ist passiert?« Das Wunder veranlaßte sie, tiefer in die grünende Steppe vorzudringen als beabsichtigt. Es war überall dasselbe. »Es gibt nur eine Erklärung«, sagte Jin, der das Gelände nicht kannte. »Das zurückflutende Meerwasser hat Steine und radioaktive Erdschichten abgetragen und mitgerissen.« »Dann bleibt nachträglich zu hoffen, daß die großen Ozeane bei dem Erdbeben recht viele und große Gebiete überschwemmt haben«, sinnierte Tilly. »Das wird sich ja bald herausstellen.« Garry schaute verloren in die Ferne. »Nach jeder Sintflut geht es wieder aufwärts. Demnach gibt es Siedlungsgebiete genug, jedenfalls für zwölf Millionen. Eines Tages in naher Zukunft stimmt es also, was man sich draußen in den Sternen von der Erde erzählt: Im Paradies haben die Menschen eine weiße Hautfarbe, Inbegriff menschlicher Schönheit. Na ja, meinetwegen. In hundert Jahren denkt niemand mehr daran, daß es auf der Erde die zweite Menschheit ist.« Am Abendhimmel stand noch immer der rostbraune, kosmische Irrläufer, von dem sie stammte. Für die Kinder seiner früheren Bewohner würde er eines Tages nur noch Legende sein. ENDE