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Vladimir Colin, 1921 in Bukarest geboren; nach dem Abitur Studium der Philosophie, danach Journalist, Chefredakteur der Kulturzeitschrift Viata romaneasca; 1947 Debüt als Lyriker, 1951 erster Prosaband, Nachdichter und Übersetzer (Majakowski, Béranger, Gide), Staatspreis 1953; schreibt vor allem Bücher für Jugendliche (u. a. Die Rückkehr der Möwe, 1959) und seit 1966 (Die zweite Zukunft) wis senschaftliche Phantastik, die ihm vorwiegend dazu dient, philosophi sche und ethisch-moralische Probleme zu erörtern.
Kompaß Bücherei Band 272
Sie kommen aus verschiedenen Welten, Ralt von der Erde, Idomar vom Mars und Or-alda von der Venus. Doch haben alle drei ein ge meinsames Ziel: den Planeten Babel, ein verbotener Planet, gewiß, doch für sie geht es um alles. Alle drei haben etwas erlebt, das sie see lisch tief getroffen, das sie psychisch krank gemacht hat. Hier auf Ba bel erhoffen sie sich Heilung von dem Wissenschaftler Scat Mor, dem Erfinder des „galaktischen Sprunges“. Denn Scat Mor kann alles – sogar die Verwirklichung des Unmöglichen. Doch die Hoffnung schlägt um in Enttäuschung, die Hilfe wird zur Qual. Scat Mor hat einen Teufelskreis des Illusionären geschaffen, in dem sie verloren zu sein scheinen. Was ist Realität, was Illusion? Die Antwort auf diese Frage ist für sie die letzte Hoffnung.
Vladimir Colin
Planet Babel
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des rumänischen Originals: „Babel“ Ins Deutsche übertragen von Valentin Lupescu Illustrationen von Peter Nagengast
© Verlag Neues Leben, Berlin 1980
Ralt Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, geriet er ins Schwanken. Mit vorgeneigtem Kopf sog er die Luft in die Brust. Die Tür erkannte ihn wieder und öffnete sich vor ihm; die Stimme rief, sobald das Licht von den Wänden auf ihn zustürzte: „Willkommen, Ralt!… Alles in Ordnung. Niemand hat angerufen.“ „Oh, sei still, still…“ Er schlug sich mit der Faust vor die Stirn, tat einen Schritt nach vorn. Die Tür glitt hinter ihm zu, er lehnte sich an die Füllung, die sich ihm anpaßte und die Form seiner Schultern an nahm. Alle Vasen waren mit frisch erzeugten Blumen geschmückt, der Fußboden glänzte. Er schloß die Augen und preßte die Zähne aufeinander, solange das Echo der Stimme noch zwischen den glatten Wänden verharrte. Un beweglich, den Kopf auf der Brust, wartete er. Damals beim Umzug hätte er sich für eine Wohnung weiblichen Ge schlechts entscheiden können, das aus der ersten Jugend heraus war, diskret und wirksam, oder für einen zuvorkommenden und unterwürfi gen Jüngling. Aber da sie beide jung waren, hatten sie sich für eine Wohnung entschieden, der die Persönlichkeit Fart Averols einge pflanzt war, des Moderators einer der populärsten Sendungen des kosmischen Fernsehens. Die häusliche Verwendung der Prominenten war der neueste Schrei gewesen. Sie hatten es übrigens nicht bedau ert, denn die gekünstelte Lebhaftigkeit, der Redeschwall und der Mangel an Humor standen in einem erfrischenden Kontrast zu den perfekten Dienstleistungen der Wohnung. Die Details gaben ihr eine besondere Note, und Arla und er hatten vor Lachen kaum an sich hal ten können, wenn sie mit dem dröhnenden „Willkommen“ Fart Ave rols empfangen worden waren, das seit Jahren auf den Kanälen des kosmischen Fernsehens ausgestrahlt wurde, vermischt mit Jovialität und einem verblüffend genau dosierten Wohlwollen, um die ge wünschte psychologische Wirkung zu erzielen; oder wenn die Woh
nung ihnen feierlich angeboten hatte, sich zwischen Wodka und Cock tail zu entscheiden, so als ob es darum ginge, zwischen der Präsident schaft der Behörde und der Annahme des Preises „Sol invictus“ (die unbesiegbare Sonne) zu wählen. Ralts Blick glitt über eine vergangene Zeit. Die Behörde hatte natür lich nicht direkt eingegriffen, die individuelle Freiheit respektiert und sich damit begnügt, das mitzuteilen, was in einer Epoche, die offiziell jenseits der Ära der Delikte lag, nur eine Unachtsamkeit gewesen sein konnte. Aber da sie den Tagesablauf der dreizehn Millionen Einwoh ner der Stadt kannte, tat sie das stündlich, zu Hause, im Kreis der Freunde, überall. Diskret (die Botschaft wurde nur von dem Betroffe nen verstanden), in höflicher Form (wir erlauben uns, Sie daran zu erinnern) und wirksam; einen Monat vorher, am Ende seiner Kräfte, hatte Ralt verlangt, daß Arlas Name aus dem Gedächtnis der Woh nung gestrichen würde. Ihr Tod war jetzt offiziell registriert. Damit wurde die Unwiederbringlichkeit offenbar; ihr Lächeln, ihre Gesten, ihr Schweigen, die sonnendurchfluteten Jahre waren ausgelöscht. Verschwunden der mitempfundene Schrecken, die kleinen Mitwisser schaften und die großen Hoffnungen. In die Zeit zurückgetragen, aus gelöscht, ohne jedwede Spur, hatte Arla nicht mehr das Recht, Erinne rungen zu hinterlassen. Folgerichtig sortierte die Wohnung Dinge und Bilder, die Arla be trafen, aus. Ralt fand die schwarze Kiste auf dem Treppenabsatz, be trachtete sie schweigend, und ohne sich im klaren zu sein, was er tat, drückte er sie an sich und schmiegte sein Gesicht an den Deckel. Beleidigt schloß die Wohnung die Tür, Ralt jedoch verbrachte die Nacht auf dem Flur, indem er Arlas Kleider betrachtete und der Zeit mit ihr nachtrauerte. Die Gesichter Arlas lächelten, wunderten sich. Vielleicht hatte sie ihren Tod nicht mehr gespürt. Aber er… Ralt sagte sich, daß alles so rasch vor sich gegangen sein mußte, daß Arla nicht gelitten hatte. Es war sein erster tröstender Gedanke nach einer lan gen Verzweiflung, so daß er sich an ihn klammerte, weil er die ober flächliche Schicht des Leidens betäubte; darunter blieb dennoch die Leere.
Obwohl er wußte, daß er damit die Reaktion der Behörde provozie ren würde, versuchte er trotzdem, den Verzicht auf jede Begrüßungs formel zu erreichen, die Wohnung vergaß jedoch nicht die Beleidi gung, die ihr angetan wurde, und beklagte sich bei dem Gebäude. Ralt wurde gebeten, in einen Raum hinabzusteigen, dessen Wände mit Zif ferblättern und Glühbirnen in allen Farben bedeckt waren, die im Le bensrhythmus der zweihundert Stockwerke der Wohnfabrik blinkten. „Sie haben bei Kenntnis der Dinge die Persönlichkeit der Wohnung optiert“, erinnerte das Gebäude mit der Stimme eines berühmten Ad vokaten, der erst salbungsvoll sprach, doch dann in einen Ton verfiel, der keinen Widerspruch duldete. „Können Sie sich bei Fart Averol vorstellen, daß er auf die traditio nelle Einleitung zu seiner Sendung verzichtet…? Ich wage zu behaup ten, daß ein solches Verlangen als moralische Grausamkeit betrachtet werden kann. Es käme einer Selbstverstümmelung gleich.“ „Könnte ich nicht umziehen?“ Alle Birnen blinkten gleichzeitig wie auf ein Signal hin oder wie bei einem Erdbeben auf. „Haben Sie eine Klage auf dem Herzen? Hat die Wohnung sich der Nichtbeachtung einer Vertragsklausel schuldig gemacht?“ „Nein, durchaus nicht, ich möchte nicht, daß du so etwas glaubst.1 Bloß zur Kenntnisnahme…“ „Sie müssen wissen, daß unsere Gesellschaft Launenhaftigkeit ver achtet“, sagte das Gebäude kaltschnäuzig. „Gestatten Sie der Woh nung, legal vorzugehen. Und vergessen Sie nicht: Die Veränderung der Persönlichkeit einer einzigen Wohneinheit kann das ganze Ge bäude durcheinanderbringen. Ich glaube nicht, daß Sie beabsichtigen, jemandem Unannehmlichkeiten zu bereiten.“ 1 In den Welten, die der Behörde unterstehen, war die Verwendung der zweiten
Person Singular seit Jahrhunderten üblich, einzig die Maschinen waren für den Gebrauch der alten zeremoniellen Formen programmiert; übrigens eine der wenigen Modalitäten zur Identifizierung androider Roboter.
Ralt gab sich geschlagen und schwieg. Aber er ging nur noch dann nach Hause, wenn ihm nach stundenlangem Umherirren alles gleich gültig wurde, so daß kein Signal von außen zu ihm drang und er in eine Leere verfiel, in der er sogar den Namen Arlas vergaß. Alles, was er bei dem kläglichen Dialog erreichte, war, daß die Kiste mit den Erinnerungen nicht zum Verbrennungsofen gebracht wurde („ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den außergewöhnlichen Charakter der Abweichung vom allgemeinen Usus lenken“, hatte das Gebäude bemerkt), sondern in einen der Verschläge des letzten unterirdischen Stockwerks. Das letzte Souterrain, zu dem kein Mieter Zutritt hatte, war den Maschinen vorbehalten. Er löste sich von der Türfüllung, taumelte ins Schlafzimmer und fiel in das breite Bett. Er konnte nicht hoffen, dort zu sterben, mit dem Kopf auf dem Kissen, auf dem nicht mehr Arlas Körpergeruch war (die Wohnung hätte eingegriffen und ihn natürlich wieder zum Leben erweckt); er wußte nicht mehr, worauf er hoffen konnte. Die Tür öffnete sich, und Arla erschien auf der Schwelle. „Um diese Zeit, Ralt?“ sagte sie. „Du hättest mich wenigstens verständigen kön nen.“ Er blickte sie vom Rande der Einsamkeit an, von sehr weit her. Arla war unruhig. Seine Arme streckten sich nach ihr aus, bevor er wußte, was er tat, bevor er begriff. Er spürte, wie sich der Knoten in seinem Hals löste, der ihn am Atmen hinderte, und klammerte sich mit beiden Händen an ihren Schultern fest, wie in der Schwebe zwischen Mißtrauen und Furcht. Er brach in Schluchzen aus und berührte mit den Lippen die zarte Haut zwischen Schulter und Hals. Er spürte Arlas Wärme und das Salz seiner eigenen Tränen und stammelte: „Aber du… bist ge storben.“ Er erkannte die Ungeheuerlichkeit seiner Worte, wußte, daß sie nicht wahr waren und er den Unfall nur geträumt hatte. Nichts hatte sich geändert. Er spürte ihre Finger, die in seinem Haar wühlten, at mete ihren Geruch und weinte vor lauter Glück, weil sie nicht gestor ben war, sondern sich hier befand, in seinen Armen, nicht begreifend,
wieso er sich so getäuscht hatte und glauben konnte, daß sie für im mer von ihm gegangen war. Er erinnerte sich, daß sie es ja auf gar keinen Fall wußte oder zu wissen brauchte, und bat sie flüsternd um Verzeihung. „Was für ein Idiot ich gewesen bin!“ Er erwachte auf dem tränennassen Kissen. „Willkommen, Ralt“, sagte die Wohnung. Auszug aus der Biographie Ralt Mogas Er befand sich nicht auf seiner ersten Reise und wollte nichts von dem wissen, was rings um ihn vorging. Er hatte die Vorhänge zugezogen. In die Kabine eingeschlossen, so wie er sich in sein Inneres verschloß (die beiden Besatzungsmitglieder blieben stumm, und er war ihnen dafür dankbar), ließ er sich immer wieder das absurde Gespräch durch den Kopf gehen und versuchte, aus den gesprochenen Worten und den Pausen zwischen den Sätzen, die er gegeneinander abwog, die Wahr heit zu erfahren. Aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte ihnen keinen Sinn mehr geben. Wer hatte zum Beispiel von einer letzten Hoffnung gesprochen, er oder der andere? Alles vermengte sich mit einander, die Worte verloren ihre Bedeutung, sanken zu einfachen Tönen herab und waren dann – verzerrt – nicht mehr als solche er kennbar, wurden zu einem Getöse, das sich in das Dröhnen der Moto ren einreihte, und er versank in einen alptraumhaften Schlaf. Es war kein Wunder, daß er die Zwischenlandung auf dem Mars nicht wahrnahm. Er sah weder die Lichter des kosmischen Flughafens, noch wunderte er sich über das Schweigen der Triebwerke, höchstens nahm er im Unterbewußtsein wahr (und ohne eine Schlußfolgerung daraus zu ziehen), daß die verzerrten Worte ihre Bedeutung behielten und nicht mehr mit dem Lärm verschmolzen, der ihn bis dahin für eine immer kürzer werdende Zwischenzeit beherrscht hatte. Der Mann war mager, von unbestimmtem Alter und trug einen schwarzen Overall. Er kam unbemerkt in die Kabine und nahm dort
Platz, betrachtete eingehend seine Hände, ließ die Gelenke der langen beweglichen Finger mit den gerade geschnittenen Nägeln knacken. „Ralt Moga?“ fragte er. Dabei blickte er nicht auf. Seine dünne Kinderstimme stand in selt samem Kontrast zu seinem starren Gesicht und war von dem anderen kaum zu Verstehen. „Kennst du mich?“ Der Neuankömmling spürte, daß die Frage ganz mechanisch kam. Er mußte sein Gegenüber erst aus der Versunkenheit zu sich kommen lassen. Es war unnütz, ihm zu sagen, daß der Mann von der Besatzung ihm seinen Namen genannt hatte. Er wartete ab. Und als er die ersten Zeichen der Neugier in dem erloschenen Blick bemerkte, stellte er sich vor: „Idomar av Olg su Saro.“ Und indem er seine weißen Schneidezähne entblößte, die schräg standen wie die Zähne eines Hamsters, fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu: „Von Beruf Mörder!“ Seine gläsernen blaßblauen Augen paßten nicht zu der Kinderstim me, stellte Ralt fest. Als er seinem Blick begegnete, rutschte er unru hig auf dem Sessel hin und her und sagte dann widerwillig: „Es heißt, daß es… auf dem Mars… ein Beruf ist, hm.“ (Es gelang ihm nicht, wie er es vorgehabt hatte, das Wort „achtbar“ hinzuzufü gen.) „Mit alten Traditionen“, nahm ihm Idomar das Wort aus dem Mund. „Aber ich bin nicht gekommen, um dich umzubringen.“ „Ist mir völlig egal…“, sagte Ralt, und achselzuckend dachte er: Was will er denn von mir? „Daß ich ein Mörder bin? Daß ich nicht gekommen bin, um dich umzubringen?“ „Alles“, sagte Ralt matt. Die alten Worte klebten unter seiner Stirn, verbargen weiter ihren Sinn. Ob der andere nicht merkte, daß ihm dessen Gegenwart lästig war?
Idomar lächelte jedoch, auf die gleiche Art wie vorher. Auch seine Zähne blitzten in der gleichen Art, und Ralt hatte den Eindruck, daß der Mörder nur über eine einzige Grimasse verfügte – sein Grinsen – hinter dem er all seine Gedanken verbarg. Sein Gesicht blieb dabei starr und teilnahmslos. „Ob man uns nur deswegen aus zwei Welten zusammengeführt hat? Gleichgültigkeit ist die erste Voraussetzung für einen Mörder.“ „Ich habe einen Beruf“, sagte Ralt. „Oder besser gesagt, ich hatte ei nen: Dichter!“ „Es heißt, daß dies auf der Erde… ein Beruf ist hm.“ „Mit alten Traditionen.“ Ralt lächelte matt, fühlte sich verpflichtet, höflich zu erscheinen, so wie der andere sein Lächeln akzentuierte. „Du taugst nicht zum Lehrling“, fuhr der Marsbewohner fort. „Viel leicht bist du gleichgültig, aber nicht frei genug.“ Das letzte Wort sprach er mit zusammengebissenen Zähnen und sichtlichem Mißvergnügen. „Du weißt ja recht viel von mir“, stellte Ralt verärgert fest, wobei er sich fragte, ob Idomar auch mit dem Verstand auf dem laufenden sei (Verstand? Wahnsinn. – verbesserte er sich selbst, aber nein, es war der Verstand), um dessentwillen er sich hier auf dem kleinen Raum schiff befand. „Du quälst dich umsonst. Du weißt es noch nicht. Es gibt keine Zu kunft und keine Vergangenheit…“ Idomar flüsterte jetzt. Ralt zuckte zusammen, wollte protestieren – Verstand, Wahnsinn, nenn es, wie du willst, aber ein Verstand oder ein Wahnsinn müssen ja existieren, denn sonst…, denn sonst? Er fand keine Antwort auf die Frage und kam nicht dazu, zu protestieren, denn die Kinderstimme aus dem pergamentenen Gesicht schien ihm plötzlich beängstigend. Er zog den Kopf ein und wartete. „Wir sind nur die Produkte einer immer wiederkehrenden Gegenwart, Erdbewohner, eine aneinandergereihte Unendlichkeit. In dem Maße, in dem wir menschlicher geworden sind, haben wir das vergessen. Wieviel Jahrtausende von Verdrängungen! Unser Schrecken war der Ausgangspunkt. Mit allen Mitteln, durch Tabus, Religionen, Staaten, haben wir uns von unseren Vettern ent
fernt. Sie waren behaart, wir haben alles darangesetzt, unsere Haut rein zu bekommen. Sie waren natürlich, wir haben uns bemüht, künst lich zu sein, haben uns tätowiert, gefärbt, bekleidet. Sie lebten in der steten Gegenwart, wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft erfunden. Sind wir deshalb glücklicher?“ Ralt wollte schreien, daß es für ihn sehr wohl die Dimension der Vergangenheit und Zukunft gäbe. Idomar jedoch ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Schweig…“ Er schien nicht verärgert. „Wir sind nicht glücklicher, Ralt! Weshalb? Weil wir nicht mehr frei sind. Die Vergangenheit und die Zukunft, das sind die Fesseln, die wir uns bewußt angelegt haben. Was mich betrifft…, in dem Augenblick, da ich es begriffen habe, bin ich wieder frei geworden.“ „Wie ein Tier“, entsetzte sich Ralt. „Ein Mörder bist du geworden!“ Die blauen Augen Idomars glänzten, aber der Marsbewohner blieb unbewegt. „Ich töte nicht zum Vergnügen und auch nicht aus persönlichen Mo tiven“, sagte er sanft. Die Worte drangen nur schwer in Ralts Gehirn. Aber er begriff plötzlich, daß Idomar ihn hätte töten können, so als vernehme er jetzt erst die Worte, die der andere gleich nach seinem Eintritt in die Kabi ne ausgesprochen und die er gleichgültig aufgenommen hatte. „Nicht jetzt“, flüsterte er, wich zurück und lehnte sich mit dem Rük ken an die Sessellehne. Nur durch Vergangenheit und Zukunft wurde die Gegenwart le benswert. Ein einfaches Übergangsstadium, aber wenn alle Verhei ßungen der Vergangenheit in der Zukunft Früchte tragen sollten… „Ich habe bloß gescherzt“, sagte der Marsbewohner. „Ich bin nicht hergekommen, um dich zu töten oder einen Mörder aus dir zu ma chen. Bei der Landung auf Babel werden wir wissen, was uns erwar tet.“ „Wo…?“ Idomar schüttelte den Kopf. „Hast du nicht einmal das begriffen?“
„Verzeih“, flüsterte Ralt. „Ich bin ein Dummkopf. Weißt du…, ich…“ Noch hatte er sich nicht an den Gedanken gewöhnt. Obgleich er den Entschluß bereits auf der Erde gefaßt hatte und sich den Kopf zer brach, um sich an jedes einzelne Wort zu erinnern, das er vor dem Abflug gewechselt hatte, war ihm letztlich die Konsequenz dieser Ent scheidung noch nicht bewußt geworden: Er mußte leben. Obwohl er sich daran gewöhnt hatte, die Gegenwart als bedrückend zu empfin den, mußte er sie doch akzeptieren. Der Marsbewohner und er hatten das gleiche Ziel. Das Auftauchen des Mörders war eine freudige Überraschung für Ralt. Seine Apathie (in der er sich gefiel) löste sich, jetzt schien ihm, daß die Gegenwart des anderen einen neuen Beginn bedeutete und die Qual des Zweifels aufschob. Ungeduldig fragte er: „Was weißt du von Babel?“ „Was alle Welt weiß! Ein kleiner Planet, dessen Lebensbedingungen denen auf der Erde ähneln. In der zweiten Phase der Kosmosfor schung entdeckt und kolonisiert, riß ihn die Familie Mor an sich. Un ter Alvar Mor, dem dritten oder vierten Vertreter der Dynastie, wurde er zum verbotenen Planeten erklärt. Die Behörde versuchte zu prote stieren, schickte dann ein Erkundungsraumschiff, das nie mehr zu rückkehrte. Warum, blieb ein Geheimnis. Die Verbindung zwischen der Behörde und Babel wurde unterbrochen und die Domäne Mor zum verbotenen Planeten erklärt. Seit mindestens vierhundert Jahren weiß niemand mehr, was auf Babel vor sich geht.“ „Wie ist das möglich gewesen?“ fragte Ralt. „Ein unbedeutender Planet, kaum größer als ein Asteroid“, sagte Idomar verächtlich. „Zudem in einem uninteressanten Punkt der Gala xis gelegen. Ich nehme an, daß die Behörde es nicht für notwendig gehalten hat, ihn einzugliedern.“ „Es ist trotzdem sonderbar, nicht wahr?“ Der Marsbewohner machte eine ausweichende Geste.
„Die Tatsache, daß wir auf Babel zufliegen, beweist vielleicht, daß die Brücken nur offiziell abgebrochen wurden. Auf jeden Fall werden wir es bald wissen.“ Keiner von ihnen hatte eine Landung auf der Venus erwartet, viel we niger das Auftauchen des dritten Passagiers, den sie auf dem kosmi schen Flughafen von Xu Tii an Bord nahmen. Da er jetzt in der Ge genwart lebte, trotz der Zweifel, die er aus der Substanz seiner Hoff nungen selbst nähren sollte, blieb Ralt nicht gleichgültig gegenüber der Aufregung, die auf einem der größten kosmischen Flughäfen der Behörde herrschte. Durch das Bullauge betrachtete er die in bestimmten Abständen voneinander stehenden glitzernden Türme der Raumschiffe, die die Gestalten der Roboter verkleinerten, verfolgte die Strecken der auto matischen, vielfarbigen Fließbänder, die sich auf mehreren Ebenen dahinschlängelten. Wie gewöhnlich war auf der Venus der Himmel wolkenverhangen, der Regen hatte jedoch aufgehört, und die riesigen Betonpisten glänzten. Die wenigen weißen Oasen ließen die von den Düsen der Raumschiffe geschwärzten Stellen noch stärker hervortre ten. Als die Frau die Kabine betrat, drehten sich die beiden verwundert um, denn die neue Passagierin war auf der entgegengesetzten Seite eingestiegen. „Gerhoa“, sagte sie zur Begrüßung und lächelte als Antwort auf die sichtliche Verwunderung der Männer. Dann fügte sie die galaktischen Worte mit dem unverkennbaren Akzent der Gerl2 hinzu: „Ich fürchte, daß meine Anwesenheit euch nicht vorher angekündigt worden ist.“ „In der Tat“, sagte Idomar mit seinem gefrorenen Lächeln. „Aber um so angenehmer.“ Ralt reagierte anders. Er erhob sich und blickte die Frau schweigend an. 2 Gerl (Sing. Gerla) – Bezeichnung für die autochthonen Venusbewohner
„Ich weiß nicht, ob das auch für deinen Freund zutrifft“, sagte des halb die Venusbewohnerin und fuhr sich mit den Fingern durch ihr blaues Haar. Idomar versetzte Ralt einen Rippenstoß und beeilte sich zu versi chern, daß beide natürlich begeistert seien. Ralt faßte sich rasch und übernahm die gegenseitige Vorstellung. Sie erfuhren, daß die neue Passagierin Or-alda hieß und eine Harfe der Großen Herrin war. (Um sie zu bitten, diese bizarren Bezeichnungen anzunehmen, blickte sie die beiden Männer nacheinander an und schenkte jedem ein Lächeln.) Die Tatsache, daß der Marsbewohner ein Mörder sei, ließ sie genauso unberührt wie die Mitteilung, daß Ralt Dichter sei. Sie nahm auf dem dritten Sessel Platz, zart, aber selbstsicher, und die Kabine wurde plötzlich ein lebendiger Raum. „Drei Sessel, drei Passagiere“, sagte Idomar. „Ich hätte mir das den ken können.“ „Ein altes irdisches Sprichwort behauptet, daß aller guten Dinge drei sind“, erinnerte sich nun auch Ralt. Es fiel ihm nicht leicht, aus der Isolierung, hinter der er sich ver schanzt hatte, herauszutreten. Ihm schien, als befände er sich in dop pelter Person hier auf dem kleinen Raumschiff: ein in sich selbst ver schlossener Ralt in der winzigen Welt des Schmerzes, der sich unru hig fragte, ob der Sprung ins Experiment einen Ausweg bedeuten könnte, und ein zweiter, äußerer Ralt, auf den er mit einer Mischung von Ärger und Neugier blickte, nur weil dem vor kurzem in einem Büro, dessen Wände mit Hologrammen bedeckt waren, ein Android einen hypothetischen Ausweg gezeigt hatte und es ihm deshalb jetzt gelang, fast gelöst zu sprechen, sich mitzuteilen und sogar den subti len Reiz der Venusbewohnerin in sich aufzunehmen. Voller Ironie, aber interessiert, verfolgte der im Kreis der Schatten eingeschlossene Ralt sein zweites Ich, das das längliche, von der Sonne gedunkelte Gesicht, die hervortretenden Backenknochen, die grün glänzenden Augen, die leicht gebogene Nase und den vielleicht zu großen Mund, die vollen Lippen Or-aldas betrachtete. Das blaue Haar, kurz über den Augenbrauen gestutzt, das die Schultern bedeckte und bis zur Mitte des Rückens reichte, verlieh der Frau die Härte einer Amazone; dieser
Eindruck wurde durch die Grazie des Körpers gemildert, der in die traditionelle grüne Tlaa gehüllt war, die ihren linken Arm verbarg, die rechte Schulter und den rechten Arm jedoch frei ließ, auf dem das breite, mit Hieroglyphen geschmückte Armband der Priesterinnen der Großen Herrin glänzte. Alles an Or-alda war doppelsinnig, ein Ge misch von Härte und Zartheit. Sie wirkte reif und gleichzeitig sehr jung, und die Sicherheit, mit der sie ein Glas ergriff, stand im Gegen satz zu der graziösen Art, mit der sie es an die Lippen führte. „Ich habe nur Freunde“, sagte sie jetzt. „Ich hoffe, daß auch wir uns verstehen werden.“ Idomars Lippen zuckten, sein Mund verzog sich zu der Grimasse, die bei ihm das Lächeln ersetzte. „Eine Harfe verfügt über besondere Talente“, setzte sie noch hinzu. „Soll das ein Anreiz zur Freundschaft sein? Ein Zauber? Eine Woge der Sympathie vielleicht?“ meinte Idomar. Or-alda betrachtete ihn lächelnd, saß aufrecht im Sessel, den Kopf leicht zu dem Marsbewohner geneigt, dessen kalte blaue Augen sie durchbohrten. „Ich bin auf der Venus gewesen“, antwortete er. Die Hamsterzähne glänzten in dem welken Gesicht. Die Frau warf ihren Kopf nach hinten und brach in ein unerwartetes Lachen aus. Idomars Lippen öffneten sich unmerklich. „Ich war auf der Venus“, wiederholte er mit unsicherer Stimme. „Und?“ „Ich bin zurückgekehrt.“ „Ah“, flüsterte Or-alda. Hierauf herrschte Schweigen, so, als ob beide alles gesagt hätten, was zu sagen war, um sich jetzt gegenseitig mit den Blicken abzuwä gen. „Worüber redet ihr?“ wunderte sich nach einer Weile Ralt, obwohl niemand mehr sprach.
„Über die Venus“, sagte die Frau flüsternd, als hätte sie ein Geheim nis enthüllt. Aber sie blickte weiterhin Idomar an. Es schien so, als ob sie ihm antwortete, obwohl der Marsbewohner unbeweglich wartete und geneigt schien, Tage, Wochen, ja notfalls ganze Monate zu war ten. „Ich verstehe nicht“, ärgerte sich Ralt, der das Schweigen nicht län ger ertragen konnte. „Ich bin nicht auf der Venus gewesen.“ „Das macht nichts“, antwortete Idomar, um dann – scheinbar ohne Zusammenhang – hinzuzufügen: „Die Mördergilde wurde auf dem Mars während der Epoche der Alkatanen, die mit dem irdischen Feu dalismus zu vergleichen wäre, gegründet. Ihre Statuten sind ständig vervollkommnet worden. Ich habe dir gesagt, daß der Mörder gleich gültig und frei sein muß, daß er nicht aus Lust oder aus persönlichen Gründen töten darf. Außerdem ist es ihm nicht gestattet, sein Opfer zu quälen.“ Er antwortete Ralt, blickte dabei aber zu Or-alda. „Wir wissen nicht, was uns auf Babel erwartet. Laßt uns Freunde sein!“ schlug sie erneut vor. Verwundert bemerkte Ralt, daß die Gerla zitterte. Hatte sie Furcht? Or-alda schien mit sich selbst zu kämpfen. Sie biß sich auf die Lippen, atmete tief und ließ ihre rechte Hand auf dem Tisch, mit der Fläche nach oben, liegen. Mit der linken umklammerte sie den Reif auf dem nackten Arm. Drei fingergroße Wesen erschienen in ihrer Handfläche; es war eine miniaturhafte Wiedergabe der drei Passagiere in der Kabi ne. „Idomar, nimm du Or-alda“, sagte die Gerla mit einem triumphie renden Ton in der Stimme. Schweigend ergriff der Marsbewohner die Wiedergabe und legte sie neben sich auf den Tisch. In der ausgestreckten Hand tauchte eine neue Or-alda auf. „Ralt!“ Erstaunt nahm Ralt das verkleinerte Ebenbild der sonderbaren Mit passagierin in die Hand, die dann die Miniaturen der beiden Männer für sich beiseite legte. Idomar und Ralt tauchten wieder in der Hand
der Frau auf. Ohne weitere Aufforderung eignete sich jeder des ande ren Ebenbild an, dann zog Or-alda ihre Hand zurück. Ihre Lippen wurden bleich, ihre grünen Augen verloren ihren Glanz, aber wenige Augenblicke genügten, damit ihr Organismus seine Lebensenergie wieder auflud. Ihr goldbraunes Gesicht spiegelte jetzt Ruhe wider. „Wir werden Freunde sein“, sagte Or-alda, und Ralt sah voller Er staunen, daß Idomar sich erhob und vor ihr verneigte. Dann setzte er sich wieder und sagte ruhig: „Wir werden Freunde sein.“ Ralt bemühte sich zu begreifen und blickte sie nacheinander an. Die Gerla hatte von Zauberei gesprochen. Oder hatte sie sich vor einer solchen Anschuldigung verteidigen wol len? „Die Erde ist eine vernünftige Welt“, sagte er plötzlich heftig und wunderte sich selbst, daß er sich beleidigt fühlte durch die Worte und Handlungen der beiden, die ihn aus ihren Gesprächen ausschlossen und in der Ungewißheit hielten, der er entgehen wollte. „Nicht nur die Erde“, sagte Or-alda sanft. „Auch das Irrationale ist vernünftig, wenn du es richtig zu begreifen verstehst. Bewahre unsere Ebenbilder, Ralt.“ „Warum?“ erwiderte er unwirsch. (Ihre Anspielung auf die Vernunft des Irrationalen hatte ihn getroffen. Was hatte er nur auf diesem klei nen Raumschiff zu suchen?) „Wozu soll das gut sein?“ „Du wirst es schon rechtzeitig erfahren“, antwortete Idomar. „Or alda?“ „O verzeih mir…“ Diesmal streckte sie die Hand auf dem Tisch aus, und in ihrer Hand fläche erschienen hintereinander drei längliche Schachteln (drei Särge, sagte sich Ralt). Ruhig steckte der Marsbewohner die beiden Abbilder in den ersten Sarg, der in der Tiefe einer der vielen Taschen seines Overalls verschwand. Or-alda tat das gleiche, und der zweite Sarg verschwand in der ziegelroten Tasche, mit der sie gekommen war. Unsicher und von dem unangenehmen Gefühl erfüllt, daß er gezwun gen war, an einem unwürdigen und gleichzeitig beunruhigenden Spiel teilzunehmen, streckte Ralt die Hand aus und ergriff das Ebenbild Or
aldas. Plötzlich stieß er einen Schrei aus und zuckte mit den Fingern zurück. Die Miniatur lebte. Wieso hatte er es nicht gleich bemerkt? Die win zigen Augen blickten ihn an, und ihre Arme umklammerten die Spitze seines Zeigefingers. „Selbstverständlich“, sagte Idomar, auf seine stumme Frage antwortend. Dann stopfte er ruhig die für Ralt bestimmten Miniaturen in die letz te längliche Schachtel und reichte sie ihm. „Du bist der beste von uns“, sagte Or-alda.
Obwohl er unter dem Eindruck stand, daß das Gespräch der beiden für ihn unerreichbar blieb und Dinge verbarg, die ihm fremd waren, ob wohl jede Anspielung auf die Biographie und das Geschick jedes ein zelnen von ihnen sorgfältig vermieden wurde, wurden sie rasch Freunde. Der Begriff einer solchen Freundschaft war neu für Ralt, der daran gewöhnt war, seine Freunde bis in alle Einzelheiten einer oft gemeinsamen Vergangenheit zu kennen. Von Idomar wußte er nur, daß er ein Mörder war, und schon die Erwähnung eines solchen „Be rufes“ hätte ihn früher abgestoßen! Or-alda war noch geheimnisvoller, und ihre bizarren Talente (von denen er eines kennengelernt hatte, an das er sich nur mit einem gewissen Unbehagen erinnerte) konnten nicht zum gegenseitigen Vertrauen beitragen, das zur Freundschaft gehört, so wie er sie verstand. Dennoch herrschte in der Kabine des Raumschiffes, das sich dem Ziel ihrer Reise näherte, eine recht herzli che Atmosphäre. Nach den Stunden der Ruhe in den engen individuel len Schlafstätten wollten sie sich so schnell wie möglich sehen, als hätten sie einander Wichtiges zu sagen. In Wirklichkeit gab es nichts zu sagen. Aber sie begannen sich miteinander wohl zu fühlen, und in geheimer Übereinstimmung, die durch die eigenartige Szene mit den Ebenbildern verstärkt wurde, wußten sie, daß sie einander in der fremden Welt, die sie entdecken sollten, helfen würden. Was trieb den gleichgültigen Marsbewohner, eine Maschine des Tö tens, dorthin? Und was suchte die Gerla dort, die sich als Harfe der Großen Herrin ausgab? Ralt fragte sich, wie jeder von den beiden rea gieren würde, wenn er ihnen sein hoffnungsloses Umherirren durch die Öde so vieler Tage und Nächte erzählen würde, an deren Ende er mit dem Kopf gegen die Scheibe der riesigen Vitrine gestoßen war. Jenseits des dicken Glases hatte Arla gestanden und gelächelt. Hatten ihn die Wochen, die er hinter sich her schleifte, nicht genügend verän dert, ihn nicht für den zweideutigen Zustand vorbereitet – den Zustand zwischen Schlaf und Traum, in dem er sich befand. Wie hypnotisiert hatte er damals das Gebäude, dessen Einzelheiten seinem Gedächtnis entschwunden waren, betreten und war in jenen Raum mit den von
Hologrammen bedeckten Wänden gelangt, wo ihn jemand freundlich begrüßt hatte: „Wir haben Euch erwartet, Ralt Moga.“ Die Anredeform hatte ihm gezeigt, daß er einen Androiden vor sich hatte. Idomar schien wohlwollend, und Or-alda blickte ihn mitleidig an. War er der einzige Unwissende unter ihnen? Er wußte, daß sie zu sammen auf den Planeten Babel zuflogen, und seine Gedanken kon zentrierten sich auf eine Frage, die er etwa so formulierte: Gab es auf anderen Welten, wenigstens auf dem Mars und der Venus, Büros der Art, das er aufgesucht hatte? Was hatten damals Idomar und Or-alda in den Vitrinen des Gebäudes gesehen, mit anderen Worten, was hatte sie bestimmt, die Reise zum Planeten Babel zu unternehmen? Daß sie sich zusammengefunden hatten, war sicher kein Zufall. Ralt erfuhr jedoch nichts, und die folgenden Tage verliefen monoton auf dem kleinen Raumschiff, in dem alle drei eine Freundschaft lernten, die jenseits von Vertraulichkeit lag, so als sei für die anderen beiden jeder einzelne erst bei seiner Ankunft an Bord geboren worden. Oder nur für mich? fragte sich Ralt. Babel wuchs im Schlitz des Bullauges, und nichts schien den verbo tenen Planeten von den unzähligen Welten zu unterscheiden, die im Dunkel des Weltalls kreisten.
Idomar Die Edle Gilde der Mörder Orialat Arit Durch Hohes und Unwiderrufliches Dekret Ferunadar wird Asp av Tald su Arit seinem Schicksal in die Augen sehen. Das Antlitz des Schicksals wird für ihn das Schweigen des Bruders Idomar av Olg su Saro annehmen. Idomars Gesichtszüge veränderten sich nicht, als er die Mitteilung vor sich auf den Tisch legte. Auch seine Hand zitterte nicht. Stille herrsch te in dem kleinen Raum, er hörte nicht einmal das Summen der von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne angezogenen Fliege, die wütend gegen die Scheiben stieß. Und ebenso nahm er nicht das Schweigen in sich auf, als sich die Fliege dann im Dunkeln beruhigte. Er machte kein Licht. Regungslos starrte er weiter auf das rechteckige gelbe Blatt Papier vor sich, die Benachrichtigung. Es war nicht die erste ihrer Art, sicherlich! In dem kleinen Wand fach, dessen Schlüssel er immer bei sich trug, häuften sich die Mittei lungen, die all jene betrafen, für die das Schweigen das Antlitz des Schicksals annahm. Sie waren sorgfältig nach Farben in chronologi scher Folge geordnet. Jede Farbe bedeutete eine Information: schwarz in einer Frist von sechs Monaten, rot nach drei Monaten, grün nach zwei, blau nach einem Monat, violett nach zwei Wochen und gelb sofort. In dem Wandfach befanden sich Namen von Frauen und Männern, von Jungen und Alten, sogar der Name eines Kindes. Jetzt kam der Name Asp hinzu – sofort! Er fragte sich nicht, weshalb. Wie immer war es besser, nichts zu wissen; man hatte ihm beigebracht, sich von der Biographie desjeni gen fernzuhalten, der für ihn ein einfacher Name bleiben sollte, die
Motive zu ignorieren, die die Grundlage für das Hohe und Unwider rufliche Dekret Ferunadar bildeten. Asp hatte sich bemüht, Gleichgül tigkeit an den Tag zu legen, die unerläßliche Vorbedingung, um dem Geschick standhalten zu können. Asp, sofort! Und wenn… Er erinnerte sich an Sirat av Lir, der sich geweigert hatte, das Antlitz des Geschicks für die geliebte Frau anzunehmen, an Ozar av Jelt, der es vorzog, das Antlitz des Geschicks für sich selbst anzunehmen, als es einem verfemten Dichter aufzuerlegen, an den sich niemand mehr erinnerte. Die Hohen und Unwiderruflichen De krete Ferunadar wurden von zwei anderen Brüdern zur Erfüllung ge bracht, und natürlich erweckte der Name der Unfähigen Abscheu bei den Mitgliedern der Edlen Gilde. Aber was haben sie sich bloß dabei gedacht? fragte sich Idomar, verwundert darüber, daß er sich noch niemals diese Frage gestellt hatte. Mechanisch schloß und öffnete er die Faust zu einer der vorgeschriebenen vorbereitenden automati schen Bewegungen. Hatte nicht Sirat beim Auftauchen des dafür be stimmten Mörders geseufzt: „Endlich!“ Ein Beweis, daß er sich selbst zuwider war. Beunruhigt entdeckte Idomar, daß es nicht die einzige mögliche Interpretation war. Als er dann vom Tisch aufstand und den Schrank öffnete, sein Waf fengestell musterte und den ihm von Asp geschenkten roten Revolver auswählte, öffneten sich seine Lippen zu einem toten Lächeln. Genau so hatte er damals gelächelt, als er das Geschenk empfing. „Niemals konnte ich so lächeln“, hatte Asp gesagt. „Du wirst es weit bringen.“ Er kontrollierte die Waffe und schob sie in die vorschriftsmäßige Tasche seines schwarzen Overalls, vergaß aber die Mitteilung auf dem Tisch. Er würde später versuchen, sich den Abend wieder ins Gedächtnis zu rufen, sich an die Handgriffe, Töne oder wenigstens an den Weg zu erinnern, den er eingeschlagen hatte, jetzt sah er unwei gerlich nur den Augenblick vor sich, als Asp ihm die Tür geöffnet hat te, ohne Verwunderung oder Freude zu zeigen. Er hielt ein Glas in der Hand und hob es zur Begrüßung hoch.
„Tritt ein“, sagte er. „Ein Glas findet sich noch, und ich habe zwei Flaschen Poral.“ „Du weißt, daß ich nicht trinke. Und ich habe dir schon einmal ge sagt, daß du zuviel trinkst.“ Wie er erwartet hatte, herrschte eine wüste Unordnung in der klei nen Wohnung. Zu Boden und über die Stühle geworfene Kleidungs stücke, leere Flaschen, die über die Tonbänder in den Regalen gelegt worden waren; mit Aufzeichnungen bedeckte Blätter aus Magneton plast lagen zusammengeknüllt dort, wo Asp sie vor Wochen hingewor fen hatte, überall sah man Staub und Zigarettenstummel zwischen Resten von Packpapier. „Setz dich!“ forderte ihn Asp auf und fegte einen Strumpf, zwei Tonbänder und ein Messer mit gekrümmter, schimmernder Klinge von einem niedrigen Stuhl. Dann ließ er seinen plumpen Körper wieder auf den Stuhl fallen, von dem er sich wahrscheinlich erhoben hatte, um ihm zu öffnen. Ein niedriger Tisch stand zwischen ihnen. Asp führte das Glas zum Mund, unterbrach aber die Bewegung und sagte, mit dem Glas in der Hand: „Bist du gekommen, um zu schweigen?… Auch gut.“ Er trank. Dann stellte er das Glas wieder auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand über den Bart, in dem mehr weiße Haare waren als dunkle. „Ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen“, sagte Idomar. „Du hast es mir niemals gesagt. Weshalb bist du in die Gilde eingetreten?“ „Aus Ekel! Aber nicht nur vor den anderen, auch vor mir selbst.“ Schweißtropfen, die der verlegene Idomar nicht übersehen konnte, traten Asp auf die Stirn. „Weshalb hast du mir das nie gesagt?“ fragte Idomar schüchtern. In diesem Augenblick klang ihm seine eigene Kinderstimme, als höre er sie zum erstenmal. „Wahrscheinlich hast du mich nie danach gefragt“, antwortete Asp achselzuckend. „Du solltest das auch nicht tun, es ist besser so.“ „Ist es schlecht, daß ich frage?“
Asp füllte sein Glas. Seine Augen im fleischigen Gesicht verengten sich, die violetten Tränensäcke waren deutlich zu sehen. „Die Nabelschnur zwischen uns ist seit langem durchschnitten wor den“, erinnerte er sich. „Und du lächelst, wie ich es nie fertigge bracht habe.“ Die Worte von damals! Idomar blickte ihn forschend an. Irgendwo, jenseits der Wand oder vielleicht jenseits vieler Wände, hämmerte jemand leise und langsam. „Warum hast du mich in die Gilde aufgenommen, Asp?“ „Ziemlich viele Fragen für jemanden, der schweigen möchte.“ „Warum, Asp?“ Der Bärtige betrachtete das Glas, das er in der Hand hielt. Er trank, stellte es dann auf den Tisch und machte die vorgeschriebenen Fin gerübungen, um das lebendige Werkzeug nicht einrosten zu lassen. Plötzlich hörte das Hämmern auf. „Warum?“ flüsterte er, die Augen auf seine dicken Finger gerichtet. „Weil du schwach warst, vor der Zukunft Angst hattest und ich Mitleid mit dir hatte… oder weil ich dich haßte. Dir kann das doch egal sein.“ Idomar sah seinen Blick nicht, war aber sicher, daß er sich ver schleierte. „Mitleid, Haß“, sagte auch er, gleichfalls im Flüsterton. „Asp av Tald su Arit, der perfekte Mörder. Gleichgültig und frei.“ Alles war Lüge. Das während vieler Jahre sorgsam errichtete Ge bäude brach zusammen. „Ich habe dich gelehrt, nicht zu fragen.“ Asps Stimme klang träge, voll fremdartiger Sanftmut. Idomar zog den roten Revolver und schoß. Der große Körper vor ihm zuckte. „Endlich!“ röchelte Asp. Idomar erinnerte sich an den alten Ausruf Sirats; der letzte Blick des Sterbenden war wie eine letzte verzweifelte Botschaft, daß die edlen Grundsätze ihrer Gilde eine Lüge waren.
„Du wußtest es!“ rief er, wobei er den Stuhl umwarf, als er auf sprang. Der Revolver fiel ihm aus der Hand, er klammerte sich mit beiden Händen am Revers von Asps Hausrock fest, schüttelte den un förmigen Körper und schrie voller Verzweiflung: „Deshalb also? Du wolltest mir helfen, so ist es doch?… Sag schon!“ Asp antwortete nicht mehr, und als Idomars Hände sich langsam lö sten, glitt der Körper des Mannes, der seinem Schicksal ins Antlitz sah, zur Seite und begrub den roten Revolver, den er seinem Lehrling vor Jahren geschenkt hatte, unter sich. Auszug aus der Biographie Idomar av Olg su Saros Die erste Sache, die ihm beim Ausstieg auf Babel auffiel, war das un gewöhnliche Gebäude des kosmischen Flughafens, das einer – durchs Mikroskop betrachteten – Bakterienkultur glich. Von einem massiven Fundament erhoben sich eine Menge zylindrischer Türme verschiede ner Größe und Dicke, alle mit abgeschrägter Spitze. Jeder Turm hatte eine andere Farbe, und die Abenddämmerung spiegelte sich purpurn oder golden in den Scheiben zahlloser runder, dreieckiger oder qua dratischer Fenster. Über dem zentralen Turm, der sich aufrecht über alle anderen erhob, drehte sich eine Kugel, die ihre Farben bei jeder Drehung wechselte. Unter ihr versicherten zwei Buchstabenreihen: „SCAT MOR KANN ALLES“. „Ich möchte ihm aufs Wort glauben“, sagte Idomar, wobei er die Hamsterzähne zu seinem stereotypen Lächeln entblößte. Ralt begnügte sich zu nicken. „Kein anderes Raumschiff auf der Landepiste“, bemerkte Or-alda. Die beiden Besatzungsmitglieder, die Ralt nicht angesprochen hatte und die sich in hartnäckiges Schweigen hüllten, sogar dann, als Or alda und Idomar versuchten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, öff neten den Ausstieg. Frische Luft mit dem betäubenden Duft einer un
bekannten Blume drang in die Kabine, dann rollte ein Transportband aus den dreieckigen Öffnungen des Hauptturmes auf den Ausstieg des Raumschiffes zu. Aus den weißen Seitenteilen des Bandes wuchsen zwei niedrige Geländer, und sobald Or-alda mit ihrem Fuß das rote Band zwischen ihnen berührte, setzte sich das Trottoir in Bewegung. Die Gerla glitt zu dem sonderbaren Gebäude des kosmischen Flugha fens. Ein schwarzer Koffer tauchte neben den Beinen Idomars auf. Schweigend legten Idomar und Ralt ebenfalls die Strecke zwischen dem Raumschiff und dem dreieckigen Tor zurück, wobei sie versuch ten, sich zu orientieren, aber ein bläulicher Nebel verhüllte alles, und das Gebäude, auf das sie zugingen, hinderte sie daran, zu sehen, was dahinter lag. Außerdem wurde es dunkel, und die Lichter, die plötz lich in allen Fenstern aufflammten, vertieften die Nacht. Sie befanden sich nun in einem großen Saal mit leuchtenden Wän den, in dessen Mitte sie ein anderes Band von grüner Farbe zu erwar ten schien. Sie waren die einzigen Passagiere, der dreieckige Eingang schloß sich hinter ihnen, sogar die beiden stummen Besatzungsmit glieder waren verschwunden. Achselzuckend stellte Idomar seinen Koffer auf das grüne Band. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel, nur Ralt wandte den Kopf und warf einen Blick zu den runden Fenstern, die das dreieckige Tor umrahmten. Ein anderes Tor in der Farbe der Wand öffnete sich vor ihnen, und die drei glitten in einen Aufzug, der schnell abwärts fuhr und sie ans Ende eines Ganges brachte, der wie ein Tunnel in das schwarze Ge stein der Wände gehauen schien. Ein einziges grünes Licht brannte etwa in der Mitte des Ganges und wies auf einen Verschlag, der in denselben schwarzen Stein gehauen schien. Das Transportband hielt vor dem Verschlag. „Willkommen!“ begrüßte sie die verkrampfte Stimme Fart Averols. „Willkommen auf Babel. Alles in Ordnung. Zollkontrolle!“ Während Ralt die Fäuste ballte, wechselten Or-alda und Idomar un schlüssige Blicke. „Was bedeutet Zollkontrolle?“ fragte der Marsbewohner.
„Eine kleine Formalität, nichts weiter“, zwitscherte Averol. „Ihr Ge päck wurde bereits überprüft. Sie haben jetzt Gelegenheit, die Gegen stände registrieren zu lassen, mit denen Sie gelandet sind, und Ihr Handgepäck zu öffnen.“ „Aber das gibt es doch seit wer weiß wie vielen hundert Jahren nicht mehr, auf keiner Welt“, sagte Idomar empört. Fart Averol lachte herzlich und schnitt ihm das Wort ab: „Auf dieser schon.“ „Ich weigere mich“, sagte Or-alda. In diesem Augenblick ging das Licht aus. Es herrschte absolutes Dunkel, so daß Ralt nicht einmal die Gesichter seiner Weggefährten erkennen konnte. Unfähig zu denken, wiederholte er innerlich nur immer: Fart Averol, Fart Averol, und die Dunkelheit rings um ihn schien nicht mehr die der Welt, in die er gerade gekommen war, son dern die der Wohnung zu sein, aus der er entronnen zu sein glaubte. Da hörte er Idomars Fluch, und aus dem Geräusch des Sturzes begriff er, daß er vergeblich versucht hatte, zum Eingang des Tunnels zurück zukehren. Das Transportband hatte sich in Bewegung gesetzt und ihn umgeworfen. „Kein ‚besonderes Talent’“, zischte der Marsbewohner. „Mehrere“, flüsterte Or-alda, „jedoch unwirksam im vorliegenden Fall. Ich begreife es nicht. Die Örtlichkeit hat sich verändert.“ Unsicher zitterte Ralts Stimme im Dunkeln: „Was willst du damit sagen?“ Weshalb Fart Averol? dachte er. „Der Tunnel hat keinen Ausgang mehr. Oder man hat ihn an beiden Seiten einfach blockiert.“ „Sie haben die Tore geschlossen.“ „Eine Falle?“ fragte Idomar. „Nein, Idomar, es gibt keine Tore mehr. Soweit ich feststellen konn te, sind die Wände undurchlässig geworden, so, als befänden wir uns im Herzen eines Berges“, sagte die Gerla. „Also dann…“, antwortete er ergeben. „He, Averol!“ rief Ralt.
Das grüne Licht flammte auf. Die gekünstelt lebhafte Stimme er klang von neuem: „Willkommen. Willkommen auf Babel. Alles in Ordnung. Zollkon trolle!“ „Was haben wir zu tun?“ fragte Idomar gedehnt. „Betretet hintereinander den Verschlag.“ Die drei wechselten einen Blick, dann trat Idomar einen Schritt vor. Die Wände des Verschlages begannen zu vibrieren. „Nichts Illegales“, stellte Fart Averol fest, „plus zwei lebendige Ge genstände, die durch keinerlei Verfügung untersagt sind. Öffnen Sie bitte den Koffer.“ Der Marsbewohner schwankte einen Augenblick, dann beugte er sich vor, und seine Finger berührten den bioelektrischen Verschluß. „Ein vollständiges Waffenarsenal“, schnarrte Averol, „Atomkern spalter, paralysierende Pistolen, hypnotische Mittel, Giftkapseln, Vi ruskapseln, Messer. Ich bedauere, laut Vorschrift ist Ihnen nur der Besitz des letzteren gestattet.“ „Es sind Arbeitswerkzeuge“, sagte Idomar düster. „Es sind Messer und demnach Waffen. Der nächste!“ Idomar verlor die Geduld, und wer weiß, was er angestellt hätte, doch da wurde die Hinterwand des Verschlages von so starken Blitzen durchzuckt, daß alle drei geblendet ihre Augen bedeckten. Als die Blitze verschwunden waren und sie ihre Hände von den Augen nah men, sahen sie, daß die verbotenen Waffen aus dem Koffer eliminiert worden waren. „Der nächste!“ wiederholte Fart Averol. Und lächelnd, wie nur er es verstand, bückte sich Idomar, schloß den Koffer und machte Or-alda Platz, die ihre Tasche öffnete. „Die gleichen beiden lebenden Objekte. Sonst nichts Illegales, außer der untersuchten Person selbst. Dennoch hat sie die Genehmigung erhalten, auf Babel zu landen. Konfuse Situation, wie man sieht. Un vorhergesehen. Überschreitet die Befugnis der Zollbehörde…“ Ave
rols Stimme erlosch kläglich, um jedoch darauf mit derselben gekün stelten Lebhaftigkeit zu rufen: „Der nächste bitte!“ Ralt betrat den Verschlag. Seine Bewegungen waren erstarrt, und wie ihm schien, auch seine Gedanken. „Die gleichen beiden…“, begann Averol, hielt inne und fuhr dann fort: „Bei der ganzen Gruppe zeigt sich eine sonderbare Vorliebe für beseelte Objekte. Ich habe nicht illegal gesagt, ich habe sonderbar gesagt. Eine rein persönliche Bemerkung, die meine Kontrollvoll machten überschreitet. Nicht registrieren. Bitte um Entschuldigung.“ „Kennst du mich?“ fragte Ralt mit erstickter Stimme, doch Averol antwortete prompt: „Ich kenne niemanden, alle kennen mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf Babel.“ Das grüne Licht erlosch, ein anderes ging gleichzeitig am Ende des entgegengesetzten Ganges an, und das Transportband trug sie wieder zwischen die dunklen Wände. Dort, wo das Gestein genauso massiv schien wie im übrigen Tunnel, gähnte ein neuer dreieckiger Ausgang. „Bezaubernd“, sagte Or-alda, und Ralt war sich nicht im klaren, ob das ironisch gemeint war. In Wirklichkeit war sie erschrocken. Ich habe den Ausgang nicht ge spürt. Große Herrin, erbarme dich, dachte sie. Aber sie hatte nicht das Recht, sich an diejenige zu wenden, die sie beleidigt hatte, noch weni ger, sich eine Würde anzumaßen, die sie verloren hatte. Sie verdrängte den Gedanken daran und begnügte sich, gemeinsam mit den beiden Männern die Feuer zu betrachten, die in einer Art Tiegel brannten. Sie standen auf Dreifüßen, die in gleichen Abständen einen kreisförmigen, von Bäumen bestandenen Platz umgaben, deren Stämme und Blätter blaß wie Wachs waren. Jenseits des Kreises sah man nichts. Am Himmel standen sonderbare Sternbilder, jedoch kein Mond. Idomar erkannte den Duft wieder, der ihm beim ersten Kontakt mit der Luft des verbotenen Planeten aufgefallen war, und begriff, daß er nicht von einer unbekannten Blume, sondern von diesen Feuern her rührte. Nur ihr schwacher Rauch, der blutrote Reflexe warf und die
blassen Blätter rauschen ließ, war vernehmbar, so als ob die Gerla und die beiden Männer die einzigen Lebewesen auf Babel seien. Deshalb zuckten sie zusammen und wandten ihre Köpfe wie auf ein Zeichen nach links, als von dort Gepolter zu vernehmen war. Es blieb ihnen keine Zeit, Vermutungen über dessen Ursprung anzustellen, als auch schon eine von zwei Einhörnern gezogene prächtige Kutsche auftauchte, auf deren Tür der Buchstabe M glänzte, und vor ihnen hielt. Sie tauchte so unerwartet aus der Dunkelheit auf, daß Or-alda nur mühsam einen Schrei unterdrückte und sich hinter den Männern duck te. „Scat Mor kann alles“, sagte Idomar mit unbewegtem Gesicht, aber seine Stimme klang heiser. Die Einhörner schüttelten ruhig ihre Mähne. Or-alda lächelte plötz lich, obwohl es Idomar schien, daß sie sich für den Bruchteil einer Sekunde an ihn lehnte, um bei ihm Schutz zu suchen. Aber er war seiner Sache nicht sicher. Schweigend betrachtete er die glatten Hör ner auf den Stirnen der beiden Schimmel, die ihnen ein würdiges Aus sehen verliehen. Die Silberbeschläge auf der Kalesche ließen das Ge fährt wie eine ungewöhnliche Truhe erscheinen, dazu bestimmt, einen gigantischen Schmuck zu beherbergen. Etwa eine Jungfrau? dachte Idomar und schielte zur Gerla, die noch immer lächelte. Der Kutscher sprang vom Bock. Silberne Gewässer erglänzten auf seiner weißseidenen Livree, die mit Tressen geschmückt war. Auf der Brust sah man das unvermeidliche große M. Er war jung, aber Ralt sagte sich, daß ihn sein Bart und die blonden Locken sowie seine kla ren Gesichtszüge an eine uralte, vorzeitliche Ikone erinnerten. Schweigend öffnete der Mann die Tür der Kalesche und forderte sie zum Einsteigen auf. „Wohin?“ fragte Idomar. Und wieder wollten sie ihren Ohren nicht trauen, als der himmlische Kutscher mit rauher Baßstimme antwortete: „Als ob ihr das nicht wüßtet. Zum Teufel, steigt schon ein und haltet mich nicht länger auf!“
Der Marsbewohner wollte vor Wut platzen, aber Or-alda legte ihm die Hand auf den Arm, und auch Ralt beeilte sich, ihm einen freund schaftlichen Stoß in den Rücken zu versetzen. Sie stiegen also alle drei ein und nahmen auf den makellosen Kissen Platz, während der Kutscher die Tür schloß. Dann sprang er auf den Bock, schnalzte mit der Zunge, und die Einhörner bogen nach links ein, in den Weg, den sie gekommen waren. Ralt wandte den Kopf und sah, daß die Feuer auf dem Platz gelöscht worden waren. Am Himmel leuchteten kaum Sterne. Die Finsternis schien die Ge heimnisse des Planeten bewahren zu wollen, oder der Weg führte nur durch Einöden. Der Kutscher brauchte die Einhörner nicht anzutrei ben. Wie Phantome jagten sie dahin. Wie ein Phantom wirkte auch der Kutscher, in dessen Händen die Zügel blaß schimmerten. Die Reise in dem archaischen Gefährt und die Feuer auf dem Platz standen in zu starkem Gegensatz zu dem modernen Raumflughafen, als daß Or-alda, Ralt und Idomar sich ein Bild von dem machen konn ten, was sie auf Babel erwartete. „Zauberhaft. Alles ist zauberhaft“, wiederholte die Gerla, „am mei sten beeindrucken mich jedoch die Einhörner.“ Ralt lächelte. „Sie haben dich nicht angegriffen“, scherzte Idomar, wobei er an ei ne alte Legende dachte, die von den Beziehungen zwischen dem Ein horn und den sündigen Evatöchtern handelte. Weshalb hatte er das wohl gesagt? Or-alda drehte sich nach ihm um. „Scat Mor scheint nicht nur alles zu können, sondern auch alles zu wissen“, erwiderte sie. „Ich frage mich, ob die Einhörner eine Ehrung oder ein einfaches Kontrollmittel sein sollen“, meinte Idomar. „Hat man dir das auch auf der Venus gesagt?“ zischte Or-alda. Und nun erfuhr Ralt, daß die irdische Legende ihr reales Gegenstück in der Welt der Gerl hatte, wo die Einhörner auf den Wiesen überlebt hatten, die den Harfen der Großen Herrin gehörten. Jede Harfe hatte
besondere mentale Talente, solange sie Jungfrau blieb. Aussehen, Blicke und sogar das Benehmen Or-aldas schienen Ralt im Gegensatz zu ihrer Keuschheit zu stehen, aber er sagte sich, daß die Einhörner wahrscheinlich erfahrenere Richter seien als er, der die Sitten und Bräuche auf der Venus nicht kannte. Übrigens hatte die Gerla bereits zweimal unter Beweis gestellt, daß sie ungewöhnliche Eigenschaften besaß. Werde auch ich geprüft werden? fragte er sich und dachte an Fart Averol, den er nicht vergessen konnte. Er hielt es für angebracht, seine Gefährten über Fart Averol aufzuklären. „Er scheint dich nicht zu kennen“, bemerkte Idomar. „Entweder war die Prüfung nicht aufschlußreich, oder er hat es nicht für nötig gehal ten, sich zu verraten.“ „Willst du damit sagen, daß ich nicht weiß, wer ich bin?“ erwiderte Ralt. Auf seine aufgeregten Worte antwortete der Mörder mit einem dün nen Lächeln. „Idomar ist geprüft worden“, erinnerte sie Or-alda. Und auch ich bin es, fügte sie in Gedanken hinzu. Die Augenblicke, die sie in dem dunklen Tunnel verbracht hatten, quälten sie. Sie wußte, daß dort etwas geschehen war, was für sie alle entscheidend sein konnte, aber sie wußte nicht, was. Auf einmal wur de ihr ganz leicht zumute. Sie hätte singen mögen, beherrschte sich aber. Idomar murmelte etwas. „Wenn man sich nicht einmal mehr die Mittel aussuchen kann. Mes ser, wie in der Eisenzeit!“ „Vielleicht bist du beim Examen durchgefallen“, sagte Ralt, wobei er eine Unschuldsmiene aufsetzte. „Vielleicht hat man festgestellt, daß du nicht du bist, und deshalb hat man dir die Waffen weggenommen, mit denen du dich als Idomar ausgeben wolltest.“ Wußte er etwas? Was wußte er? Zusammenzuckend durchbohrte ihn Idomar mit den Blicken. Aber Or-alda begann zu lachen. „Es scheint, daß ich allein von allen Zweifeln frei bin.“
Ist es möglich? dachte sie. Ja, es ist möglich! Die Worte sangen, machten Sprünge und schlugen Purzelbäume; die Große Herrin be trachtete sie demnach mit Nachsicht. In diesem Augenblick hielt die Kutsche an. Plötzlich flammten in den Vorderfenstern des Gebäudes, das aus der Dunkelheit auftauchte, Lichter auf. Wenn man auch Einzelheiten nicht erkennen konnte, so war es doch klar, daß die Einhörner vor einem Gebäude von großen Ausmaßen hielten. Die altertümliche Laterne, die über dem Eingangstor hing, warf ihr rötliches Licht über die dunklen Stufen einer monumentalen Treppe. Unmöglich zu erkennen, ob man sich in einer Parkallee befand oder ob die erste Stufe direkt zur Straße führte. Man sah weder die Parkve getation noch die Allee und nicht einmal die Straße, das Licht fiel wie abgeschnitten auf die erste Treppenstufe. Nur das vermutete Aussehen des Gebäudes, das in seinen Umrissen erkennbar war, vermittelte die Vorstellung von einem Park. Ralt dachte kurz daran, wie sonderbar das alles war, begnügte sich aber, es im stillen zu verzeichnen, so, als hätten die vielen bizarren Dinge ihm die Fähigkeit genommen, sich noch zu wundern. In der Tat schien das Gebäude aus dem Nichts ge kommen zu sein und im Nichts zu schweben. Hätte er nicht gewußt, daß ein wenn auch jetzt in der Finsternis verborgener Weg das Ge bäude mit dem kosmischen Flughafen verband, so hätte er schwören können, daß der verbotene Planet nur eine riesige Einöde, eine Einbil dung sei. Da stieg der himmlische Kutscher mit der Stimme eines Trunken bolds vom Bock und öffnete die Tür, wobei er die Stirn senkte und mit dem linken Arm eine einladende Geste machte. Respektvoll half er zuerst Or-alda auszusteigen, dann streckte er Idomar seine rechte Hand entgegen. Dieser aber übersah sie. Ralt hingegen ließ sich einen Moment helfen, obwohl ihm die Berührung mit der rauhen Hand des Kutschers unangenehm war. Der Mann spuckte aus, sprang auf den Kutschbock, ergriff die Zügel, schnalzte mit der Zunge, und die Tiere setzten sich in Bewegung. Das Klappern der Hufe war nur den Bruch teil einer Sekunde zu hören, gleich darauf waren die drei allein. „Kannst du das Tor sondieren?“ fragte Idomar.
„Das habe ich schon getan“, antwortete Or-alda. Or-alda stieg die schwarzen, mit roten Strahlen getünchten Treppen hinauf. Die Gesichter der drei hatten sie mit purpurnen Masken be deckt, und ihre Hände schienen wie in Blut getaucht. Sie brauchten keine Bewegung zu machen, die beiden mit einer Vielzahl von Köp fen geschmückten Türflügel, in deren Mitte sich das große M rankte, öffneten sich von selbst zu einem großen Saal, der mit weißen und roten Fliesen ausgelegt war. Der Raum enthielt Fahnen aus allen Zeit altern, von allen Planeten, deren verblichene Farben sich zu riesigen Schmetterlingsflügeln an den Wänden vereinigten. Andere Fahnen mit großen Quasten hingen über dem Geländer der Galerie, die den Saal umzog; im Hintergrund, zu beiden Seiten einer roten Marmortreppe, die sich in zwei aufwärts führende Flügel teilte, wachte je eine Ritter gestalt, die Lanze in der Rechten und die Linke in die Hüfte gestützt. Ein riesiger vielarmiger Kandelaber aus Menschenarmen, die vierrei hig standen und in deren Händen rote und schwarze Kerzen brannten, beleuchtete den Saal. Die Kerzen strömten jenen Wohlgeruch aus, der an den Duft einer unbekannten Blume erinnerte. Seit sie vor dem Gebäude gehalten hatten, fühlte Ralt Hoffnung und Furcht in sich. Arla. Dort oben ist Arla. Sie erwartet mich. Arla erwar tet mich. Er versuchte, sich die Illusion auszureden. (Es ist unmöglich, du weißt nur zu gut, daß Arla sich nicht dort befinden kann. Du hast dich zu einer absurden Reise verleiten lassen. Mach dir keine Illusio nen.) Kalter Schweiß brach ihm aus, und er fühlte sich erneut am Rande dieses dunklen Nichts, dem Unvermeidlichen gegenüber. „Steigen wir hinauf?“ fragte er, wobei er sich zwang, das Zittern seiner Knie zu beherrschen. „Ja, wir steigen hinauf“, stimmte Or-alda zu. Von der Galerie gingen Türen ab, die sie vergeblich zu öffnen such ten. Nur eine einzige öffnete sich von selbst, noch ehe Idomar an das vergoldete, rotgemaserte Holz klopfte, das wie alter Brokat wirkte. Ralt schien, daß die Fackeln an den Wänden des Raumes, den sie be treten hatten, sich im Bruchteil einer Sekunde nach dem Öffnen der Tür entzündet hatten, es blieb ihm aber keine Zeit, sich über den son
derbaren Eindruck klarzuwerden. Seine Aufmerksamkeit war von den anscheinend ungewissen Umrissen des Raumes angezogen, und er sagte sich zuerst, daß das Fackellicht die Wände zittern ließ. Sie nä herten und entfernten sich, als ob der Raum schwankte. Dennoch gewann er recht schnell an Form, und Ralt schritt voran, nahm die Gegenwart von Möbeln mit ungewöhnlich abgerundeten Formen wahr, die erstarrten Raubtieren glichen. Das Holz wurde dort rötlich, wo die Rundungen glänzten. Der Raum war länglich, ab der Tür reihten sich Tische und Truhen aneinander, Regale mit goldenen und silbernen Gefäßen wechselten mit Schränken und dickbäuchigen Büfetts. Ein riesiger Teppich verschluckte den Lärm der Schritte. Im Hintergrund, auf einem Armsessel von den Ausmaßen eines Thrones (es war wirklich einer, warum habe ich nicht von Anfang an den roten Baldachin und das Podium mit den drei Stufen gesehen? fragte sich Ralt) wartete ein alter Mann. Auf dem archaischen Sessel, dessen Arme nach alter irdischer Tradi tion von zwei Löwen mit offenen Mäulern geschmückt waren, wirkte sein schmächtiger Körper ungewöhnlich klein. Ein vergoldeter Pelz mantel, der an der Brust mit ein paar Haken geschlossen war, die matt glänzten, verbarg ihn fast ganz. Nur sein Kopf ragte aus dem weiten Kragen heraus, und Ralt betrachtete lange sein Gesicht mit den einge fallenen Wangen und die runzlige Haut, die wie gemeißelt wirkenden Schläfen, die feine Nase und die dunklen, trüben Augen unter den buschigen weißen Augenbrauen, bis zu denen eine Pelzmütze aus dem gleichen, Material wie der Mantel herabreichte. Der Alte blieb regungslos. In seinen starren Augen konnte man nicht sehen, ob er die drei überhaupt beachtete. „Ob das wohl Scat Mor ist?“ flüsterte Ralt. „Herr Scat Mor“, ertönte eine zitternde, schnarrende Stimme, die trotz des Alters noch hart klang, eine starrsinnige, grausame Stimme, so wie sich die Alten die Stimme des Todes vorstellten. „Hier auf Ba bel achten wir noch auf Höflichkeitsformen“, fuhr die Stimme fort. „Seid also auf meinem Planeten willkommen. Ja, meine kleine Begrü ßungsrede ist aufgezeichnet worden. Vor Euch seht Ihr nur ein Trug
bild, aber mein Antlitz ist mit Sorgfalt reproduziert worden. So sieht Scat Mor heute aus… Das ist alles, was ich Euch vorläufig zu sagen habe. Drei Zimmer sind für Euch hergerichtet worden. Vielleicht wer den wir uns morgen länger unterhalten, aber es ist nicht notwendig, daß Ihr auf meine Botschaft wartet, ich weiß, wo ich Euch finden kann. Gute Nacht, mein Fräulein. Gute Nacht, meine Herren!“ Obwohl die Stimme zu schnarren aufgehört hatte, betrachteten die drei weiterhin die pelzbekleidete Puppe, die Scat Mor darstellte. Nachdem die Audienz beendet war, begannen die Fackeln in den Wandbehältern nacheinander zu erlöschen. Der Vorhang der Finster nis senkte sich über das Abbild des Herrn auf dem verbotenen Plane ten. Schweigend kehrten sie zur Galerie zurück, zu der alle Türen führ ten, und sie sagten auch nichts, als sie sahen, daß drei von ihnen jetzt geöffnet waren. Ein Blick von der Schwelle genügte, um zu erkennen, daß sich die Räume völlig glichen. Sie trennten sich, jeder war mit seinen Zweifeln und Hoffnungen allein. Der Palast war schweigsam wie ein Mausoleum.
Oralda „Ist das wahr?“ fragte Ter-li, richtete sich halb auf und blickte sie an. Von der Liebe und der Sonne ermattet, blieb Or-alda mit geschlos senen Augen auf dem Rücken liegen. Ihr schien, daß das blaue Gras zusammen mit dem warmen Boden ihren Körper sanft wiegte. Ihre Beine waren leicht, Schultern und Kopf versanken immer tiefer in ein Nebelpolster. Dann begannen Rumpf und Kopf zu schweben, ihre Bei ne entfernten sich von ihrem Körper, als ob eine unbekannte Macht sie in den Sommertag davontragen wollte. Glücklich öffnete sie die Augen. Sie legte den Zeigefinger auf Ter-lis Lippen und bat ihn zu schweigen. Ob es wahr ist? Du Dummkopf von der Venus… Ein blauer Vogel ließ sich blitzschnell auf dem von Was ser umgebenen Stein nieder, tauchte seinen Schnabel in die Wellen und flog genauso rasch wieder davon, mit den Flügeln rauschend, bevor er zwischen dem roten Laub verschwand. Im hohen blauen Gras, in dem fleischige, fast schwarze Blumen blühten, hörte man ein melodisches Rascheln. Die Schlange, sagte sie sich, sie ist immer da bei. Die Große Herrin wurde von keinerlei Gewissensbissen geplagt. In bin eine Harfe, auf der man lange gespielt hat. Ich ruhe mich aus. Ter-lis Gesicht näherte sich langsam und verdeckte den Himmel, heiße Lippen auf beiden Augen. Or-alda schlang ihre Arme um seinen Hals, sein warmer Körper preßte sich an ihre Brust. „Es ist wahr“, flüsterte sie. Der Jüngling richtete sich jäh auf. „Willst du damit sagen, daß sie uns bestrafen werden?“ Sie spürte das Glück bis in die letzten Fasern ihres Körpers, dehnte und reckte sich und rezitierte mit ruhigem Trotz: „Unsere Flügel blühen weit, auf den Gipfel kamen wir zu zweit, zwei Schritte vor dem Leben,
einen Schritt vor dem Tod.“ Die Verse stammten von No-cli. „Ja“, sagte Ter-li, „aber… bist du dir darüber im klaren?“ Sie hatte tatsächlich Angst, ihre Lippen zitterten vor Furcht. Alle Farben hätten erlöschen und alle Bäume schreien müssen, die Wiese blieb jedoch dieselbe, auch der Himmel. „Hab keine Angst“, sagte Or-alda ein wenig verächtlich. „Nur ich bin dafür verantwortlich.“ In Gedanken fügte sie hinzu: Mir selbst gegenüber. „Nur du…? Wie stellst du dir das vor? Glaubst du, ich würde dich im Stich lassen…, wenn für mich…?“ „Ter-li! Meine Liebe…“ Ihre Augen weiteten sich, der Geliebte war auf einmal unendlich fern. Er wich Or-aldas Blick aus und murmelte: „Ihr Gerl macht Probleme aus allem.“ „Es wird dir trotzdem angenehm sein, dich vor deinen Venusfreun den zu rühmen, daß dich eine Harfe liebte“, sagte sie verführerisch. Sein Lächeln, das sofort von seinen Lippen schwand, entging ihr nicht. „Wenn du mich unbedingt beleidigen willst.“ Er stand auf. Auf dem Rücken liegend, schloß Or-alda die Augen. Sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Sie fühlte den seeli schen Schmerz fast körperlich. „Or-alda…“ Noch zögerte sie. Als ob sie tot sei, ging es ihm plötzlich durch den Kopf, als er sie so unbeweglich daliegen sah. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und warf unruhige Blicke zu den Baumstämmen, die die Lichtung abschlossen. Zwischen den Wimpern sah Or-alda, wie er sich entfernte. Sein orangefarbenes Hemd wehte in dem Raum zwischen zwei Bäumen und verschwand dann. Ein Vogel zwitscherte schrill.
Der Schmerz war nicht mehr so schneidend, verbreitete sich aber in ihrem ganzen Körper. In Or-alda war ein großes Staunen: So rasch konnte alles vorbei sein? Sie begann die unbewegte Natur ringsum zu hassen: das Gras und die Bäume, den Himmel und die Vögel, die gleichgültig piepsten. Dann drehte sie sich im Gras um, richtete sich halb auf, nahm ihr Gesicht in die Hände und mühte sich, das Gehirn Ter-lis zu sondieren. Aus einem Skrupel, der ihr jetzt stupid erschien, hatte sie in der kurzen Zeit ihres Beisammenseins davon abgesehen, seine Gefühle zu analy sieren. Ihn zu sondieren hätte bedeutet, seinen Worten zu mißtrauen, die sie erobert hatten, sowie den vielen winzigen Gesten, mit denen er ihr seine Liebe bewies. Angespannt wartete sie auf die Herstellung des Kontaktes. Bald darauf sank sie mit dem Gesicht ins Gras. Es war eingetreten, was sie befürchtet hatte: Sie hatte ihre mentalen Fähigkeiten verloren. Auszug aus der Biographie Or-aldas Sie erwachten zur selben Stunde. Wie die Fenster im Gebäude des Raumflughafens waren auch die Fenster in den Räumen, in denen sie geschlafen hatten, undurchsichtig und ließen sich nicht einmal öffnen. In den Zimmern wurde es gleichzeitig hell, aber nicht die Fackeln erleuchteten sie, sondern das Licht kam von draußen, und nicht all mählich, sondern ganz plötzlich. Da jeder Raum ein kleines Apparte ment war, mit allem nötigen Zubehör, hatten sie sich über nichts zu beklagen. Ausgeruht fanden sie sich in der Galerie wieder, die die Etage umgab. Eine neue Tür wurde geöffnet, neben dem Raum aus vergoldetem Holz mit der roten Maserung, in der das Ebenbild Scat Mors sie emp fangen hatte. Der neue Saal, den sie betraten, war ein Eßzimmer. Gro ße Büfetts aus einem unbekannten schillernden Holz, in deren Mitte ein riesiges Auge zwinkerte, bedeckten die Wände bis zur Decke. Zwischen den Büfetts und aus demselben durchsichtigen Material gemeißelt, reihten sich Statuen von Jünglingen, die goldene Tabletts
in den Händen trugen. Auf einem langen Tisch, der mit einem gelben Leinentuch bedeckt war, dampfte Kaffee in drei Tassen. Noch ofen warme Brötchen lagen in einem Körbchen. Auch Honig und trockener Kuchen mit und ohne Rosinen und glasierten Früchten standen auf dem Tisch. Keine Menschenseele war zu sehen. „Wie in Tausendundeiner Nacht“, sagte Ralt. Zuversichtlich dachte er, daß die Begegnung mit Arla nur auf dem Planeten Babel stattfinden konnte, wo alles möglich schien. „Scat Mor“, sagte Or-alda. „Eine Welt, über die wir uns unterhalten müßten“, meinte Idomar, und sie schaute ihn verwundert an. Vorläufig aber aßen sie mit Heißhunger, erfreut darüber, daß Scat Mor nicht vergessen hatte, seine Gäste zu bewirten. Das ständige Blinzeln der sie umgebenden Augen war ihnen dabei trotzdem lästig. Das Gefühl, überwacht zu werden, hinderte sie am Reden, andererseits lastete das unnatürliche, demütigende Schweigen auf ihnen, das in dem öden Palast herrschte. „Seid ihr fertig?“ polterte Idomar plötzlich los. Sein Mangel an Selbstbeherrschung schien Or-alda sonderbar. Aber sie sagte nichts. Dann erhoben sich alle drei vom Tisch und betraten die Galerie. „Ich sehe nicht ein, weshalb wir uns voreinander hüten sollten“, sag te Ralt. „Ja, ich bin zu einem bestimmten Zweck hergekommen. Und ich vermute, daß jeder von euch seine Gründe hat.“ „Schweig“, sagte Idomar zähneknirschend. Asp. Der Blutfaden zwischen den Bartfäden. Wollte er mir helfen? Wußte er es? „Ich…, verzeih mir“, stammelte Ralt. „Ich wollte nicht…“ „Was mich betrifft“, kam ihm Or-alda zu Hilfe, „so habe ich nichts zu verbergen. Und ich will nichts mehr. Scat Mor kann alles.“
Der Gedanke kam ihr plötzlich, die beiden zu sondieren, sie wußte aber, daß sie sich nicht entschließen würde, das Versprechen zu bre chen, das sie im Raumschiff gegeben hatte. Beide waren ihre Freunde. „Ich dachte nur“, erklärte Ralt verlegen, „daß es keinen Zweck hat, hierzubleiben…, eingesperrt. Ich wollte den Planeten kennenlernen und… Arla. Eine Verrücktheit, ich weiß. Aber wenn Scat Mor wirk lich alles kann?“ „Den Planeten?“ zischte Idomar. Und lächelnd fügte er hinzu: „Gut.“ Schweigend stiegen sie die roten Marmorstufen hinab und gelangten in den fahnengeschmückten großen Saal. Die Tür ging von selbst auf, und alle drei blieben auf den dunklen Treppen stehen. Sie hörten das Geräusch, mit dem die beiden Türflügel hinter ihnen zuschlugen, wandten aber nicht den Kopf. Verblüfft blickten sie auf den großen Platz, in dessen Mitte ein Brunnen plätscherte. Dreistöckige Häuser mit schmalen Fassaden und drei, zwei oder so gar nur einem Fenster umgaben den Platz, über den Frauen mit so lan gen Kleidern gingen, daß ihre Rocksäume das Straßenpflaster fegten, Frauen mit hohen, kegelförmigen Hüten, von denen durchsichtige Schleier herabhingen, und Männer in kurzen Pluderhosen; ihre Beine steckten in farbigen Strümpfen. Dazu trugen sie ein enges Wams mit weiten Ärmeln, durch die sie besonders breitschultrig schienen. Auf dem Kopf hatten sie mit Federn geschmückte winzige Hüte aus Samt oder Pelz, die ihnen ein stolzes Aussehen verliehen, das noch durch die Säbel und Dolche verstärkt wurde, die sie an ziselierten Schnallen am Gürtel trugen. Ebenso wie bei den Frauen waren auch die Gewän der der Männer bunt, so daß der ganze Platz eine Folge von wechseln den Bildern schien, durch ein riesiges Kaleidoskop gesehen. Ralt hatte keine Augen für das, was sich vor ihm abspielte. Bleich starrte er zum Brunnen, aus dem sich eine Bronzestatue erhob. Sie stellte Arla dar. Eine ruhige, lächelnde Arla, die einen Bronzekrug senkte, aus dem Wasser floß. Ohne sich darüber im klaren zu sein, was er tat, stieg er die dunklen Treppen hinunter. Wie aus einer anderen Welt hörte er hinter sich die
aufgeregten Stimmen Or-aldas und Idomars. Sie waren beide oben auf der Treppe stehengeblieben. Seine Gedanken verwirrten sich, bedeute te es, daß dennoch… Ada lebte. Auf dem Pflaster des Platzes angelangt, näherte er sich dem Brun nen. Da spürte er ein Beben. Er bemühte sich, das Gleichgewicht zu bewahren, alles tanzte vor seinen Augen; die Menschen wurden zu weißen Schatten. Die Fassaden der Häuser bebten, als ob der Himmel in Flammen stehe. Dann begannen sie wegzugleiten, das Bild lief wie bei einem kaputten Fernseher, Farben und Umrisse wurden zu einfa chen Strichen, es regnete und gewitterte, unter seinen Füßen versank das Straßenpflaster. Vielleicht scheint es mir nur so, dachte er, und der Platz ist an Ort und Stelle, nur ich stürze um. Er spürte in der Brust eine Schwäche wie im abwärts fahrenden Fahrstuhl, aber als alles zu Ende war und das Bild sich festigte, fand er sich auf dem Platz einer anderen Zeit wieder. Der Brunnen war verschwunden. „Und jetzt?“ fragte Idomar und wandte sich zu Or-alda, wobei er sein gewohntes verzerrtes Lächeln zeigte. Ralt war vor ihren Augen verschwunden, nach den wenigen Schrit ten auf den Pflastersteinen des Platzes, die ihn bis in die Nähe des Brunnens geführt hatten. Sein Körper hatte die Farbe verloren (Idomar mußte an eine sehr alte, der Sonne ausgesetzte Fotografie denken), worauf sein Bild noch für den Bruchteil einer Sekunde auf der Netz haut haften blieb. Auf dem Platz ging alles ohne Unterbrechung wei ter, so, als ob niemand etwas bemerkt hätte. Wahrscheinlich sehen sie uns nicht einmal, sagte sich Idomar. Wir existieren nicht für sie, viel leicht sind wir nur auf dem Hintergrund des Platzes projiziert, oder vielleicht ist der Palast Scat Mors… Er führte seinen Gedanken nicht zu Ende, denn Or-alda sagte etwas. „… verlassen“. Er hörte nur das Ende des Satzes und fühlte plötzlich Wut in sich.
„Gleichgültig und frei.“ Es war seine eigene Stimme, eine Kinderstimme. Er war drauf und dran zu sagen: Ich verlasse meine Freunde nicht. „Idomar“, sagte Or-alda und sah ihn lange an, „ich sagte, daß wir ihn nicht verlassen können.“ „Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht“, bekannte er. „Kehren wir um“, schlug die Gerla vor und faßte ihn am Arm. Ido mar zögerte auf der Treppe, die Augen auf die bronzene Frau auf dem Brunnen gerichtet. Mit den Gedanken anderswo, sagte er: „Ich würde ihm nachgehen.“ „Nicht bevor man weiß, was geschehen ist.“ Sie hatte recht, und Idomar schien es sich zu überlegen. Er kannte natürlich Or-aldas Absicht. „Er ist hilflos“, sagte er, als die beiden Türflügel sich erneut vor ih nen öffneten. Aber das war keine Erklärung. Verzweifelt preßte er die Zähne zu sammen. Er war völlig durcheinander. Ohne es zu bemerken, war er in dem Gebäude in der unbekannten Straße von Arit angelangt; Asp blickte ihn an und hob das Glas, so wie er es damals getan hatte, als er ihm die Tür öffnete. Alles war genauso wie damals, es war spät am Abend. Farben, Treppen, Türen, die anonyme Folge von Einzelheiten, die das Gedächtnis wiederfand, ohne imstande zu sein, etwas festzu halten, dann der Raum mit den Hologrammen und dem Androiden, der freundlich sagte: „Ich habe Euch erwartet, Idomar av Olg su Saro.“ Sie betraten den großen Saal. Or-alda setzte sich auf eine Holzbank, deren Beine in Krallenpfoten endeten. Idomar versuchte, die ihn be drängenden Gedanken zu verjagen und alles auf sich zukommen zu lassen. Hartnäckig betrachtete er die alten Fahnen. Waren es echte Fahnen, oder waren sie ebenso falsch wie der Palast, in den Scat Mor sie hatte bringen lassen. Dies war eine Eingebung, die durch die me chanische Gleichgültigkeit der Menschen auf dem Platz hervorgerufen
war: eine Spur Willkürlichkeit – zugegeben – mochte in dieser Ver mutung liegen. Im Grunde hatte er keine der Figuren auf dem Platz berührt, um sich von ihrem Vorhandensein zu überzeugen, während hier im Palast alles unbestreitbar solide war; der Marmor, das Metall, das Holz. Wenn es sich um eine Projektion handelte, dann waren eher die Männer und Frauen in ihren eigenartigen altmodischen Gewändern irreal. „Meine sind oben“, sagte Or-alda und streckte die Hand aus. Idomar schaute sie fragend an. Aber er erinnerte sich sofort, weshalb sie in den schweigsamen Pa last zurückgekehrt waren, und zog die längliche Schachtel aus der Tasche des Overalls. Aufmerksam öffnete die Gerla das, was Ralt einen Sarg genannt hatte. Gellend schrie sie auf. Die Schachtel fiel zu Boden, aber Idomar machte keine Bewegung, um sie aufzuheben, beugte sich nicht einmal über die roten Fliesen. Fasziniert betrachtete er Or-aldas Gesicht, das plötzlich verzerrt aussah. Die goldfarbene Haut war aschgrau gewor den; ihre Lippen spannten sich, so daß man die zusammengepreßten Zähne sah, ihr Atem ging stoßweise und heftig, ihre Augen wurden glanzlos und starr. Auf der Stirn stand ihr der Schweiß, floß ihr wie Tränen über die Wangen. Plötzlich sprang Or-alda auf und stürzte zur Treppe. Langsam nahm Idomar ihren Platz auf der Bank ein, bückte sich und hob den Minia tursarg auf, in dem Ralt und Or-alda nur noch zwei winzige Leichna me waren. Weshalb an Bord des Raumschiffes? fragte sich Or-alda immer wie der. Weshalb die Einhörner? War alles nicht nur ein großer, ununter brochener Betrug gewesen: seit der Liebe Ter-lis, an der sie nicht zweifelte, bis zu ihrem Spiegelbild in einer Vitrine in der unbekannten Straße im alten Xu Tii und allem, was darauf folgte. (Sie erinnerte sich nicht an alles, nur an das Büro mit den Hologrammen, in dem der Android ihr freundlich gesagt hatte: „Ich habe Euch erwartet, Or alda“, wie sie sich an Bord des Raumschiffes wiederfand, der Mangel
an Reaktion bei den Einhörnern, die Qual der Lügen… Weshalb an Bord des Raumschiffes? Weshalb die Einhörner? Sie ahnte die Ant wort. Nur die Tatsache, daß sie eine der Harfen der Großen Herrin gewesen war, hatte sie daran gehindert, sie gleich zu Beginn zu fin den, schon in der Kindheit…) „Scat Mor kann vielleicht alles“, flüsterte Idomar. „Aber er zieht es vor, Wracks zu sammeln.“ In der Kinderstimme lag so viel Trauer, daß sich Or-alda nicht wun derte, daß der Mörder sich selbst in die Reihe der Gescheiterten ein reihte. Ja, ja, ein Wrack, ein psychisch Kranker! Eine zerbrochene Harfe! Die Große Herrin hat ihr Antlitz von mir abgewandt. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und näherte sich Idomar, spürte das Bedürfnis, seine harte Schulter neben der ihren zu fühlen. Erst dann, als ob die Berührung ihr Mut gemacht hätte, flüsterte sie: „Auch du…?“ „Auch Ralt, unzweifelhaft.“ „Weshalb?“ „Ich weiß nicht.“ Sie sprachen im Flüsterton, ohne sich dabei anzu sehen. „Die Strafe“, sagte sie. „Die rote und schwarze Wissenschaft.“ Und sie bekannte ihm, daß die Gerl sich darauf verstehen, ihre Opfer zu foltern, das Leiden Tropfen um Tropfen, wie ein Elixier, ihrem Körper zu entreißen. Die rote und schwarze Wissenschaft war wäh rend der archaischen Zeit entstanden. „Die Strafe?“ wiederholte Idomar. „Wer gibt Scat Mor das Recht zu strafen? Und wofür?“ Asp. Selbst wenn er nicht mehr dazu gekommen war, zu antworten. Scat Mor kann alles. Sogar sich das Recht anmaßen, ihn in allen Wel ten, die der Behörde unterstanden, zu bestrafen? Wieso war dann Ba bel der verbotene Planet? Ein riesiges Gefängnis. Und Scat Mor war der Chefkerkermeister. Mit Billigung der Behörde. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde, und schluckte ein paarmal unwillkürlich, um den Gaumen zu befeuchten.
„Ich weiß nicht“, seufzte Or-alda. Aber Idomar sah keine Verbin dung zu seinen Worten und begriff nicht, daß sie auf seine Frage ant wortete. „Ein riesiges Gefängnis“, sagte Or-alda langsam und nachdrücklich. „Babel ist ein künstlicher Planet. Ich habe das vom ersten Augenblick an begriffen. Wenn auch viel kleiner als jede unserer Welten. Man hat auf ihm künstlich Schwerkraft, Atmosphäre und ein erträgliches Kli ma geschaffen.“ „Und wir werden der roten und schwarzen Wissenschaft zur Beute fallen.“ Immer wieder klangen diese Worte wie ein finsterer Kehrreim in ih ren Ohren. Die Augen Or-aldas blieben starr. Die Harfe der Großen Herrin war nur ein verwundbares Wesen, durch die Liebe, in die sie sich selbst verbannt hatte. „Es ist immer nützlich, die Wahrheit zu kennen“, versicherte Idomar und versuchte, sich zu konzentrieren; dann fügte er übergangslos hin zu: „Ich will Ralt finden.“ „Verstehst du denn nicht, daß wir absichtlich getrennt wurden?“ „Ich frage mich“, fuhr der Marsbewohner fort, wobei er Or-aldas Frage überhörte, „ob die auf dem Platz…, kann man denn auf einem künstlichen Planeten einfach alles schaffen? Ungeheuer, Naturkata strophen, einen Raum und die dazugehörige Zeit oder das Nebenein ander verschiedener Dimensionen von Raum und Zeit…, ich frage mich, ob die auf dem Platz einer anderen Zeit angehören?“ „Nein“, gab Or-alda zu. Sie kauerte sich nieder, kreuzte die Arme auf der Brust und bedeckte ihre Schultern mit den Händen. Das tote Lächeln zuckte auf Idomars Lippen. „Ich habe dir gesagt, daß ich auf der Venus…, bei den Gerl war. Ich bin zurückgekehrt. Sie haben mein Gesicht gebrandmarkt, aber ich bin zurückgekehrt.“ Eine Frau, die das Antlitz des Geschicks nehmen sollte, war vom Mars geflüchtet und hatte in einer der verwitterten Burgen der Gerl
Zuflucht gefunden. Der Mörder fand ihre Spur, doch die Gerl hatten ihn an dem Abend, als er nach Xu Tii aufbrechen wollte, umzingelt. Er hätte sich seinen Weg durch das schweigsame Meer der Leiber bahnen können, die sich aus den Falltüren und Kanalöffnungen ergos sen, hinter halbverfallenen Mauern oder in den Fenstern auftauchten – die Waffe aus dem schwarzen Koffer war imstande, eine Armee in die Flucht zu jagen, das heißt die eventuellen Überlebenden, aber Idomar, Mörder der Edlen Gilde, darauf vorbereitet, jederzeit das Antlitz des Geschicks anzunehmen, konnte nicht töten, um sein eigenes Leben zu retten. Selbst wenn die Statuten dies nicht ausdrücklich untersagt hät ten, würde er sich nicht so weit erniedrigt haben. Die Gleichgültigkeit, die ihm zur zweiten Natur geworden war, betraf auch ihn selbst. Ge fangengenommen, wurde er aus der Festung in den Dschungel ge schleppt. Die rote und die schwarze Wissenschaft, in der Unendlich keit von drei schwarzen Tagen und drei roten Nächten… Er sprang auf. „Kommst du mit mir?“ Schreck- und schamerfüllt blickte ihn Or-alda an. Sie haben sein Ge sicht gebrandmarkt. Die Unsrigen. Ich hätte es wissen müssen. Aber man hatte ihr erspart, zu sehen und zu hören, was im Dschungel vor sich ging; sie war eine Harfe, und das ganze alte Volk verteidigte ihre Unbeflecktheit. Nur Gerüchte drangen manchmal zu ihr, nur das ha stige Geflüster einer anderen Harfe. Sie wußten fast nichts. Es war ihnen untersagt, das Unsondierbare zu sondieren, die kleinste Be schmutzung konnte ihre Macht verringern. Deshalb habe ich es nicht von Anfang an erkannt. Ich habe Schuld auf mich geladen, man hat mich belogen. Ter-li und Babel. In mir ist der Tod, alles ist tot. „Ich bin eine zertrümmerte Harfe“, bekannte sie und berührte mit den Fingerspitzen das gebrandmarkte Gesicht Idomars, als ob sie ihn um Vergebung bitten wollte. „Ich bin ein zertrümmerter Mörder“, grinste der Marsbewohner. „Ich habe es dir schon gesagt, Scat Mor sammelt schuldig Gewordene. Wohlan, gehen wir den dritten Kranken suchen.“
Aber die Tür vor ihnen ging nicht auf. Idomar gewahrte erst jetzt das Fehlen von Klinken und Schlössern. „Guten Tag, meine Dame. Guten Tag, mein Herr.“ „Meine Dame?“ Die unerwartete Stimme klang unpersönlich. Sie kam von überall her, von den Fahnen an den Wänden und den Quasten, die über ihren Köpfen hingen, den beiden Rüstungen und den weißen und roten Flie sen. „Herr Scat Mor gewährt Euch eine Audienz. Bitte, kommt herauf!“ Es klang wie eine Einladung, aber Or-alda und Idomar zweifelten nicht daran, daß es ein Befehl war. Schweigend stiegen sie die Mar mortreppe hinauf. Alle Türen, die zur Galerie führten, waren verschlossen, außer der rotgemaserten vergoldeten Holztür, jenseits der das Abbild thronte, das Scat Mor verkörperte. Im großen Empfangssaal hatte sich nichts geändert. Genau wie beim letztenmal ertönte die alte Stimme in dem Augenblick, als sie vor dem Thron standen. „Ich freue mich, daß ich mir einbilde, Euch zu sehen! Ich hoffe, daß Ihr Euch über meine Gastfreundschaft nicht zu beklagen hattet. Be fragt mich nicht über das Schicksal von Herrn Ralt Moga, denn ich bin nicht in der Lage, Eure Fragen zu hören. Das Ziel dieser kurzen Unterredung besteht übrigens darin, Euch einige Anweisungen zu ge ben. Ihr werdet jetzt den Raum betreten, dessen Tür sich vor Euch öffnen wird, gleich nachdem Ihr mich verlassen habt. Das heißt sofort. In den nächsten Tagen werde ich das Vergnügen haben, von neuem mit Euch zu reden. Auf bald, meine Dame! Auf Wiedersehen, mein Herr!“ „Man trennt uns nicht“, flüsterte Or-alda und ergriff Idomars Hand, der sie gedankenlos drückte, während er weiter das Abbild des Alten musterte. Ekelhafter Zwerg, beschimpfte er ihn in Gedanken. Machtgierige Mißgeburten deiner Art haben zu allen Zeiten, in allen Welten Men
schen gedemütigt und gequält, obwohl deren Leben tausendmal nütz licher war als ihr eigenes launenhaftes, mißtrauisches, grausames, skrupelloses Dasein. „Was tust du?“ erschrak Or-alda, als sie spürte, daß seine Hand über der ihren sich zur Faust ballte und wieder öffnete. „Eine Übung“, sagte er, die Augen auf das Abbild gerichtet, das Scat Mor verkörperte. Er lächelte wie ein Roboter. „Gehen wir“, sagte er. Sie gingen zwischen den unförmigen Möbeln hindurch und gelang ten wieder in die Galerie. Die Tür schloß sich lautlos hinter ihnen, und erneut umgab sie Schweigen. Kein Gebäude könnte so schweigsam sein, dachte Or-alda und suchte mit den Augen die offene Tür des Zimmers, das sie erwartete. Sie fanden es auf der anderen Seite der Galerie. Es war ein einfacher Raum mit gekalkten Wänden, in dem sich nichts weiter befand als ein großer Spiegel auf der linken Seite und ein Tisch an der rechten. Or alda bemerkte noch auf der Schwelle die Harfe, die in die linke Ecke des Spiegels gemalt war. Idomar entdeckte in der Mitte des runden Tisches einen Knopf, auf dem er. das Antlitz Asps erkannte. Ohne zu überlegen, drückte er auf ihn, als er vor dem Spiegel stand. Der Spiegel strahlte nichts zurück. Das Glas schien leer wie eine Leinwand. Dann löste sich sein oberer Rand, entfernte sich von der Wand, und der ganze Spiegel drehte sich, beschrieb einen Bogen, als sei der untere Rand in einem Scharnier eingelassen, und die glänzende Masse stürzte über sie. Nichts Hartes, keinerlei Schmerz. Eine durchsichtige Woge, aus der sie mühelos herausfand, als ob ihre greifbare Substanz bei der Berüh rung schmolz, das ununterbrochene Fließen und das Gefühl, daß sie in die Höhe schwebte. Sommerfäden in der Luft, flüssige Spitzen, Eis blumen, die wie erhitztes Wachs flossen – und das Entzücken ver schwand unerwartet. Der Raum war verschwunden. Or-alda stand allein in der Sonne, am Strand eines Meeres, dessen Wellen bis zu ihren Füßen schlugen. Himmel und Meer waren weiß wie Gips, mit undurchdringlichen Tie
fen, und das Meer war nicht etwa weiß, weil es den Himmel wider spiegelte. Or-alda hatte ein wenig Wasser in die hohle Hand genom men; das Wasser war weiß wie Milch. Ein Fleck in einer unbefleckten Welt, zitterte die Gerla und dachte nicht an den grünen Fleck ihrer traditionellen Tlaa, die man von wei tem sah. Aber wer würde sie sehen? Die unberührte Wüste dehnte sich bis ins Unendliche; unter dem weißen Himmel und neben dem weißen Meer sah man nur Dünen, die aus zerstampftem Elfenbein zu bestehen schienen. Sogar die Sonne war weiß. Ein weißes Pferd tauchte auf der Spitze einer Düne auf. Aus seiner Stirn wuchs ein armlanges Horn, spitz wie ein Pfahl. Mein weißer Tod – dieser Gedanke, der auch weiß war, versöhnte sie. Sie fühlte die Lust, sich auf dem Sand aus Elfenbein auszustrecken, damit das Ein horn sie für immer an der Küste des weißen Meeres festnagle; ihre Knochen würden in der Sonne bleichen, eine wiedererlangte Unbe flecktheit, und alles würde wie ein Freikauf sein, als ob die Große Herrin sie freisprechen und von neuem ihren Blick auf sie richten würde. Auf dem Gipfel der Düne wieherte das Einhorn, seine Mähne wogte wie das weiße Wasser, seine Hufe wirbelten den Sand auf, wenn es sich bewegte, und Or-alda schrie, begann zu rennen. Ihre Fußsohlen versanken im Sand, hinterließen eine Spur am Strand. Als sie den Kopf wandte, sah Or-alda die weiße Mähne und den weißen Schweif in der Staubwolke wehen, das weiße Horn hob und senkte sich im Rhythmus der Hufe, der weiße Tod galoppierte auf sie zu, wirbelte den weißen Sand auf, und die Entfernung reduzierte sich schrecklich rasch. Das Gesicht im Sand, das blaue Haar über den Sand ausgebreitet, schluchzte Or-alda; das dumpfe Dröhnen der Hufe – ta-ra-ram, ta-ra ram, ta-ra-ram – vermischte sich mit den Schlägen ihres Herzens, das in der Brust zu zerspringen drohte, alles war ein rhythmisches Dröh nen – ram – und – plötzlich Stille. Schlag zu! stöhnte sie in Gedanken, aber nichts ereignete sich. Ver wirrt hob Or-alda den Blick.
Das Einhorn stand neben ihr. Sein weißes Fell zuckte an der Hüfte, weißer Schaum stand ihm vor den Nüstern. Es beugte seinen Nacken und schnaubte kurz, wobei es den Sand aufwirbelte und mit dem rech ten Huf scharrte. Noch ungläubig richtete sich Or-alda halb auf, trocknete ihre Tränen mit der Handfläche und streckte zitternd ihre Hand aus. Sie streichelte die Mähne. Überrascht entdeckte sie unerwartete weiche Stellen, lan ge, dünne, seidige Haarsträhnen. Sie erhob sich auf die Knie, packte mit beiden Händen die Mähne und verbarg ihr Gesicht in dem weißen Dickicht, das nach Pferd und Basilikum roch. Erschöpft sank Or-alda auf den Sand. Das Einhorn beugte die Knie und legte sich neben sie. Or-alda atmete tief auf, so tief, daß es wie ein Seufzer klang, und streichelte das harte Horn, samtweich an der Wurzel und dann ge schliffen glatt. Aber dann (und alles zitterte in ihr, noch ungläubig von Hoffnung, Bitte und Furcht), also dann habe ich meine mentalen Kräf te nicht verloren, dachte sie. Und sie schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand Ralt schwankend vor ihr. „Warum?“ rief er und schlug sich mit der Faust vor die Stirn, um dann in den elfenbeinfarbenen Sand zu sinken. Und der weiße Himmel verzehnfachte den Schrei, trug ihn über die Wellen des Meeres und der Dünen bis jenseits des weißen Horizonts.
Die Edle Gilde der Mörder Die blutige Epoche der Alkatanen wurde von zwei fast legendären Gestalten beherrscht: von Dral av Les su Arit, dem Venach, und Scov av Dal su Sef, seinem Mörder. Noch heute können wir nur schwer begreifen, wie vor der Kulisse der unaufhörlichen Streitigkeiten zwischen den halbbarbarischen, habgierigen, gewalttätigen und grausamen Alkatanen, den absoluten Herren der befestigten Städte und der landwirtschaftlichen Domänen, die von ihnen abhingen, Dral av Les vom einfachen Orial von Arit zur Würde des Venachen aufsteigen konnte. Die Legenden haben die Bio graphie eines Mannes, der seinen Zeitgenossen zweifellos voraus war, derart ausgeschmückt, daß man die Wahrheit nur mühsam unter dem Netz von Wundern erraten kann, das man um ihn gewoben hat. Auch wenn wir daran zweifeln, daß die Festungen der Alkatanen nachein ander ihre Tore vor ihm geöffnet haben, „weil weder der Stein noch das Holz, noch das Eisen seinem Lächeln widerstehen konnten“, wie es in einer der Legenden heißt, so stimmen die Dokumente, die uns erhalten geblieben sind, darin überein, daß er die Alkanate mit fried lichen Mitteln zu einem einzigen Venachat vereinigt hat, obwohl das in völligem Widerspruch zu den Sitten der Zeit stand. Man hat von der Ausstrahlung des Venachen gesprochen (und ein naives, sicher authentisches Porträt Drals beeindruckt uns noch heu te, trotz der linkischen künstlerischen Mittel, mit denen es gemalt wurde; der anonyme Maler zeigt uns das Antlitz eines Mannes in der Blüte seiner Jahre, mit harmonischen Gesichtszügen und herrischem Kinn, dem Blick eines Dichters und dem Lächeln eines Verliebten), von der Tatsache, daß er der Sohn Ravs war, des Gottes der For schung (eine späte Auslegung sieht deshalb in Dral einen Nichtmars bewohner, dessen Ursprung in fünf Planeten zu suchen ist), seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten, die der Zauberei zugeschrieben werden (unter anderem auf dem Gebiet der Hypnose und Telepathie). Tatsa
che ist, daß Dral die Unzahl der Alkanate vereinigte und ihre früheren Herrscher in eine Art Gouverneure verwandelte, die verpflichtet wa ren, ihm die Probleme ihrer alten Besitzungen vorzulegen und ihre Beschlüsse von ihm gutheißen zu lassen. Die Gesetzessammlung, die wir unter dem Namen Dralva kennen, trägt den Stempel der offenen Denkungsart des ersten Venachen und blieb die Grundlage aller Ge setzgebungen bis zur Annahme des vollständigen Gesetzbuches, das gleichzeitig mit der Gründung der Behörde in Kraft trat. Natürlich betrachteten die ehemaligen Alkatanen die Abschaffung ihrer Privilegien mit scheelen Augen. Nur die Furcht vor dem Mißlin gen einer unpopulären Aktion hielt sie davon ab, den Sturz des Vena chen zu versuchen. Dennoch versammelten sie sich heimlich von Zeit zu Zeit. Ihr Haß gegen Dral blieb unverändert stark. Sieben Jahre nach der Vereinigung des Venachats stießen sie Scov auf die Szene der Geschichte. Scov av Dal su Sef, eine sonderbare und widersprüchliche Figur, ist uns nur durch die Legende erhalten geblieben. Durch die Jahrhunder te, die uns von ihm trennen, hat sich kein authentisches Bild von ihm erhalten, das uns die Züge desjenigen, der das Vorbild der Edlen Gil de der Mörder werden sollte, überliefert. Während die Legenden über Dral Früchte der Volksphantasie sind, wurde Scov von anonymen Schreibern im Dienst der Alkatanen ideali siert; ihre Fälschungen dienten als Vorlage der kunstvollen Balladen, die auf den Gastmählern der mächtigen Feinde Drals gesungen wur den. In den Lobpreisungen der Schreiber wird Scov als ein Erleuchte ter dargestellt, der nach langer Askese zu sich gefunden habe. (Sie wurden vor allem deswegen geglaubt, weil es kein Dokument gibt, das dem widerspricht.) Die Tradition stellt ihn als Wundertäter dar, und zweifellos hat Scov seine Zeitgenossen durch seine Bedürfnislosigkeit beeindruckt, die auch die eifrigsten Anhänger Drals niemals in Zwei fel gestellt haben. „Wo er auftauchte, fielen alle auf die Knie“, sagt eine alte Ballade. Dies bezog sich wahrscheinlich auf die Überein stimmung zwischen dem beeindruckenden Aussehen des Mannes und allem, was man über seine Lebensweise wußte.
Obwohl er sehr mager war, schien Scov außerordentliche Kräfte zu besitzen. Nur wenige waren in der Lage, seinem violetten Blick stand zuhalten, und seine feierliche Stimme drang bis unter die Haut. Wie viele Erleuchtete, die nicht zum Einsiedler geworden waren, sondern weiter unter den Menschen lebten, war Scov ein Fanatiker. Nie ge neigt, die Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt war, in Zweifel zu stellen, lehnte er alles ab, was nicht mit seinen Ansichten überein stimmte. Er war nicht nur ein Anhänger der Tradition, sondern auch ein Feind jeder Veränderung. Der Name des Alkatanen, der als erster daran dachte, ihn gegen Dral auszuspielen, ist nicht bekannt, aber wir wissen, daß eine Abordnung von Alkatanen ihn aufgesucht hat, und können mutmaßen, daß die Rächermission, die sie ihm vorschlugen, dem Wunsche Scovs entsprach, alte Zustände wieder einzuführen. Seine asketische Strenge ertrug nicht die Liberalisierung, die durch die verständnisvolle Weisheit des Venachen erreicht worden war. In den Balladen der Schreiber wird behauptet, Scov hätte Dral auf dem großen Marktplatz von Arit getroffen und seinen gefürchteten violetten Blick auf ihn gerichtet. Wie von einem Pfeil getroffen wäre Dral zusammengebrochen. Die Volkslegenden sprechen hingegen von einem Aufeinanderprallen zwischen dem Lächeln des Venachen und dem Blick des Asketen, die beide gleich stark waren, so daß der Kampf unentschieden blieb. Das Lächeln und der Blick materialisier ten sich dann (Schild und Schwert, Taube und Habicht, Quelle und Kelch, Fisch und Netz), um schließlich zu den Lippen und in die Au gen der Kämpfer zurückzukehren. Aber das Lächeln verfehlte sein Ziel, und durch die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen Dral und seinem Sohn getäuscht, landete es auf den Lippen desselben. Scov richtete seine tödlichen Blicke auf den Venachen, der zusammenbrach (also infolge eines Irrtums, denn die Volkssage konnte die Niederlage des Helden nicht hinnehmen). In Wirklichkeit wird Scov seinen Gegner Dral auf dem Marktplatz von Arit erdolcht haben, während der Venach den Platz überquerte. Auf dem Wappen der Edlen Gilde sind deswegen ein Dolch und die violetten Augen des ersten Mörders abgebildet. Denn nicht nur die Alkatanen, sondern auch die Anhänger des Venachen hatten Achtung
vor ihm. Seine Autorität blieb unbestritten, so daß niemand wagte, ihn zu verurteilen. Dral wurde zwar unter großer Trauer des Volkes zu Grabe getragen, aber keine Äußerung des Protestes, keinerlei Anklage erhob sich gegen Scov, der unbeteiligt an der Beerdigung teilnahm. Drals Sohn sprach den denkwürdigen Satz, der zum Ausführungsbe fehl der nach kurzer Zeit gegründeten Edlen Gilde werden sollte: „Das Antlitz des Geschicks hat für Dral das Schweigen Scovs ange nommen.“ Auszug aus der Geschichte der Edlen Gilde der Mörder von Asp av Tald su Arit Idomar drückte auf den Knopf. Wie bei einem Szenenwechsel hoben sich die Wände, hinter ihnen tauchten andere auf, der Tisch versank, während neue Möbel an die Stelle der alten traten, und der Mörder fand sich in Asps Wohnung wieder, vor dem Stuhl, auf dem der un förmige Körper erstarrt war. Alles war genauso, wie er es in Erinne rung behalten hatte, sogar dieselbe Unordnung, die in Asps letzter Nacht geherrscht hatte: die leeren Flaschen über Tonbänder und Bü cher geworfen, der rote Revolver, der Idomar aus der Hand geglitten war, der umgeworfene Stuhl. Auch Haß und Verzweiflung stiegen von neuem in ihm hoch. Idomar krallte seine Hände in die Revers von Asps Jackett und rief wie damals: „Sag schon!“ Der gestaltlose Körper begrub den roten Revolver unter sich. „Wenn ich will, sag ich’s“, murmelte Asp. „Es war nicht nötig, mich umzubringen…“ Er blickte Idomar von unter her mit seinen dunklen Augen an, die nicht mehr verschleiert schienen. „Mann“, sagte Idomar, „du…“ Aber er begriff nicht. Wie eine Zwangsvorstellung hämmerten in ihm die Worte: Scat Mor kann alles, Asp. Ich habe es so gewollt. „Mein Mund ist voller Blut. Wie lange willst du mich hier noch so liegen lassen?“ fuhr ihn dieser an.
Verwirrt – wobei er vermied, die verklebten Bartsträhnen zu be trachten – reichte ihm Idomar die Hand, und Asp erhob sich schwer fällig. Mit wenigen Schritten war er aus dem Zimmer, und Idomar hörte, wie er nebenan Wasser laufen ließ. Dann sah er den roten Re volver, den der tote Körper (tot, tot, er war doch tot) des anderen ver deckt hatte, auf dem Boden liegen und bückte sich, um ihn einzustek ken. Asp wusch sich lange, schnaubte, gurgelte, und Idomar sagte sich, daß er auf Babel sei, wo alles möglich war, sogar Asps Auferste hung, und nicht auf dem Mars in Asps Wohnung, wo nichts mehr möglich war. Die vertraute Umgebung entstellte alles. Nur schwer konnte er sich an die Tatsache gewöhnen, daß Asp das Blut abwusch, welches er, Idomar, vergossen hatte. Wie oft hatte der Koloß seinen Kopf unter den Wasserstrahl gesteckt, wenn er zuviel Poral getrunken hatte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Jetzt tat er das gleiche. Nichts. Das gleiche, aber die Überreste des Schreckens ver gifteten die große Freude. Warum? Wir sind nur Gegenwart. Der Au genblick erweitert sich. „Ich habe nachgedacht“, sagte Asp bei seiner Rückkehr in das Zim mer. „Junge, du bist ein Dummkopf.“ Idomar blickte auf Asps nassen Bart. Das Blut war verschwunden. „Warum?“ Er lächelte, und Asp wandte kopfschüttelnd den Blick ab. „Weil du nichts begriffen hast. Du wirst mich wieder töten. Trink.“ „Ich trinke“, wiederholte Idomar einfältig, verschluckte sich aber und begann zu husten. Er fragte: „Weißt du, wo wir uns befinden?“ „Die ersten vernünftigen Worte“, sagte Asp zustimmend. „Also, wir sind nicht hier?“ Seine Blicke wanderten durch den Raum. Er erkannte jede Einzel heit und blickte unschlüssig zu Idomar. „Öffne das Fenster“, verlangte dieser. Asp schien den Vorschlag in Gedanken abzuwägen, erhob sich äch zend und ging zum Fenster. „Hm, es läßt sich nicht öffnen“, murmelte er. „Und draußen sieht man nichts.“ Er lehnte einen Augenblick seine Stirn an das undurch
dringliche Glas und drehte sich dann um. „Na, red schon“, sagte er und fiel von neuen) auf den Stuhl, der unter seinem Gewicht krachte. Stoßweise erzählte Idomar alles. (Die Vitrine, das Büro mit den Ho logrammen, Babel, Scat Mor, das integrierte Gefängnis, Or-alda, Ralt.) „Verstehst du? Hier brauche ich dich nicht mehr zu töten“, schloß er triumphierend. „Hm“, sagte Asp wieder. Er trank und versuchte, im Kopf alle Daten zu ordnen, aber Idomar hatte ihm gegenüber den Vorteil, daß ihm Zeit zum Überlegen blieb. Die Geschichte war dadurch verwickelt, daß er gestorben und wieder zum Leben erwacht war…, Er erinnerte sich nur noch an den kurzen Schmerz in der Brust, dann hatte sich alles verdunkelt, und die Töne waren abgeschnitten. – Nichts. „Weißt du“, flüsterte er, „der, für den ich…, für den ich das Antlitz des Geschickes angenommen habe… Du kannst beruhigt sein. Jenseits ist kein Schweigen mehr. Nichts.“ „Auch du bist jenseits“, erinnerte ihn Idomar. Schweigend blickten sie sich an. „Komm an die frische Luft“, sagte Asp heftig, wobei er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Gläser klirrten. „Wenn man es uns erlaubt…“ Die Tür öffnete sich vor ihnen, und von der Galerie herab bewunder te Asp den fahnengeschmückten Saal. Idomar sagte sich, daß der Pa last Asps Wohnung in Arit verschluckt habe (oder sie wiedergeschaf fen habe, so wie ihren Besitzer, was ihn noch mehr verwirrte). Dann fiel ihm ein, daß ihm nicht einmal Zeit geblieben war, sich zu fragen, was aus Or-alda geworden war. Ralt war verschwunden. Um ihn zu finden, hatte er einen Anhaltspunkt, den Brunnen auf dem Platz; aber er wußte nicht, wie er etwas über Or-aldas Schicksal in Erfahrung bringen könnte. Von Asps Wohnung führte kein Weg dorthin. Neben dem wieder zum Leben erweckten Koloß stieg er also nach denklich die roten Marmortreppen herunter. Asp grüßte die beiden
Ritterfiguren, und als er an der Wand die Fahne des Venachen Dral av Les erkannte, zeigte er sie Idomar, der sich mit einem Achselzucken begnügte. „Woher weißt du, daß es die echte ist? Niemand erwacht von neuem zum Leben. Nicht einmal auf Babel. Alles ist Lüge, bis in die klein sten Einzelheiten imitiert, Asp. Die Wohnung, die Fahnen, alles.“ „Ich habe mich mit Geschichte befaßt“, antwortete Asp. „Es ist Drals Fahne. Und es ist nicht die einzige, die vom Mars hergebracht wurde. Auch von der Venus und von der Erde sind Fahnen da sowie andere, die ich nie gesehen habe. Diese Sammlung ist von unschätzba rem Wert.“ Ohne ihm zuzuhören, hing Idomar seinen Gedanken nach, wobei er versuchte, die neue Wahrheit mit der vorher entdeckten in Verbindung zu bringen. Es war nicht schwer. Wenn Babel ein integrierter Kerker und alles dort imitiert war, so ergab sich die Schlußfolgerung von selbst. Die Imitationen konnten nur erfinderische Mittel sein, die dem Leiter des Gefängnisses zur Verfügung gestellt (oder von ihm ausge heckt) worden waren, um ein Urteil der Behörde zu vollstrecken. „Fühlst du dich nicht wohl?“ fragte Asp. „Du bist kreidebleich.“ „Ein Schwindelanfall“, sagte Idomar. „Es wird schon vorbeigehen.“ Ein Glied fehlt in der Kette. Ich weiß nicht, welches, dachte er. Die Gegenwart. Eine Illusion? Die Illusion der Gegenwart. Und wenn die Gegenwart nur eine Illusion ist? Der Gedanke widersprach allem, was er sich zu sein bemühte, ein freier, gleichgültiger Mensch. Aber was war von seiner Identität übriggeblieben, nachdem er das Antlitz des Geschickes für Asp angenommen hatte? Angesichts von Ralt, in dem Raumschiff, das sie nach Babel brachte, hatte er die auswendig gelern ten Formeln wiederholt. Er begriff jetzt, daß er vor allem gesprochen hatte, um sich selbst zu überzeugen. Bereits damals war er sich nicht mehr sicher gewesen. „Die Edle Gilde“, sagte er verächtlich. „Ein Mythos.“ „Bist du endlich daraufgekommen?“ Asp schien plötzlich traurig.
„Ich habe laut gedacht.“ Idomar setzte zur Antwort an, doch da gelangten sie vor das Tor, dessen beide Flügel sich öffneten. Der Platz war verschwunden. Die dunklen Treppen waren geblieben, aber anstelle des Platzes befand sich ein riesiger Saal vor ihnen, und die Treppen endeten auf seinem schwarzen Fußboden, in dessen Mitte zwei weiße Augen gemalt wa ren, von einem Dolch getrennt. „Der Mythos ist dennoch lebendig“, sagte Asp und strich über sei nen Bart. Hinter ihnen schloß sich das Tor, und als er den Kopf wandte, er kannte Idomar den schwarzen Saal des Orialats von Arit. Die Wahr zeichen der Edlen Gilde, die Augen und der Dolch, denen man die traditionelle Farbe gegeben hatte, waren in die Wand gemeißelt. Die Augen waren violett wie Scovs Augen, die Klinge des Dolches rot und der Griff weiß (Blut und Reinheit), der grüne Hintergrund symboli sierte die Ewigkeit. Eine steinerne Wand ersetzte die Fassade des Pa lastes. Als sie die Treppen herabgestiegen waren, blieben sie vor den bei den weißen Augen stehen. Eine Tür öffnete sich, und drei Gestalten in weißen Mänteln, auf deren Brust die unsterblichen Augen Scovs mit violetten Seidenfäden gestickt waren, nahmen an dem Tisch aus schwarzem Stein Platz, der wie eine Kanzel erhöht stand. Ihre Gesich ter waren von weißen Kapuzen verdeckt, die nur Schlitze für die Au gen frei ließen. „Wir, Ferunadari von Arit“, sagte die Gestalt in der Mitte, „fragen dich, Idomar av Olg su Saro, hat dein Schweigen das Antlitz des Ge schickes für Asp av Tald su Arit angenommen?“ „Ja.“ „Deine Antwort wundert uns. Asp av Tald su Arit ist zusammen mit dir vorgeladen worden.“ „Auf Babel“, sagte Idomar zähneknirschend. „Gilt das Urteil des Orialats nicht für alle Welten?“
„Dummkopf“, flüsterte Asp. „Ich habe es dir gesagt, du wirst mich wieder töten.“ Scat Mor. Die Strafe. Ist das die Strafe? dachte Idomar. Er weigerte sich jedoch, sich geschlagen zu geben. „Das Urteil wurde vollstreckt. Wenn etwas nicht real ist, so ist es diese Welt.“ „In Scovs Augen unterscheidet sich diese Welt nicht von allen ande ren. Wir, Ferunadari von Arit, haben beschlossen.“ Der Redner zog einen Dolch aus dem Ärmel und legte ihn auf den Tisch. „Jetzt? Hier?“ fragte Idomar. „Es ist das übliche Verfahren.“ Asp lachte. „Wer von uns beiden ist schneller.“ „Das Schicksal hat viele Antlitze und schaut nicht nur in eine Rich tung“, sagte der Mann am Tisch zustimmend. Worte und Stille. „Verstehst du“, fuhr Asp fort. „Wenn ich für dich das Antlitz des Geschickes annehme, werde ich wieder Bruder Asp, und alles…“ „Willst du damit sagen…, daß die Edle Gilde dich freispricht?“ „Das will ich.“ Mit einem Satz sprang Asp zum Tisch und ergriff den Dolch. Idomar schaute gelassen zu. So ist es gut. Or-alda, Ralt? Auch sie werden dem Schicksal begegnen. Unbeweglich erwartete er Asp. Der Wiederauferstandene näherte sich langsam mit elastischen Schritten, wobei seine schwarzen Augen auf Idomar blickten. Die drei Ferunada ri in ihren Kapuzenmänteln blieben unbewegt und gleichgültig. „Weißt du, daß du lächelst?“ fragte Asp, indem er den Dolch hob. Sein Arm zuckte kurz vor und zurück. Mit der Präzision einer alten Erfahrung bohrte sich der Dolch in die Brust des Fefunadars, der den Vorsitz des Gerichts führte.
Die beiden anderen sprangen auf und schlugen ihre Mäntel zurück, um an die Waffen in ihrem Gürtel zu gelangen, aber der rote Revolver tauchte in Idomars Hand auf. „Lächle ich noch?“ fragte er, als zwei rote Blumen ihre Blütenblätter auf den weißen Mänteln der Ferunadari entfalteten. „Ich frage mich, was du tun wirst“, sagte Asp. Idomar betrachtete die Waffe, die ihm Asp geschenkt hatte, und dachte daran, daß er dies nicht wußte. Alles war zu rasch gegangen, es war ein Reflex gewesen, bevor sein Gehirn eine Entscheidung fassen konnte. Nur eine große Ruhe ergriff ihn. „Asp“, sagte er mit Wärme, „Asp.“ „Und jetzt?“ Ein blauer Nebel, eine Wolke von Teilchen, aus denen dunkle Blitze zuckten, hüllte den schwarzen steinernen Tisch mit den drei wunderli chen Gestalten ein. Idomar erinnerte sich erst jetzt, daß er Asp noch nicht gefragt hatte, ob er damals, am Abend in der anderen Welt ge wußt hatte, daß die Edle Gilde zu einer Verbrecherclique geworden war, die wahllos tötete. Aber es hatte keinen Sinn mehr, ihn noch zu fragen. Die Wolke löste sich auf, verließ den schwarzen Stein, und die Kör per der drei Ferunadari verschwanden gemeinsam mit ihr. Ein Wogen an der Decke, dann nichts mehr. „Eine perfekte Abdeckerei.“ Asp grinste, aber die Tür vor ihnen öff nete sich, und drei Gestalten in weißen Mänteln, auf deren Brust keine rote Blume, sondern nur die unsterblichen Augen Scovs mit violettem Seidenfaden gestickt waren, nahmen an dem steinernen schwarzen Tisch, der wie eine Kanzel erhöht stand, Platz. Ihre Gesichter waren mit weißen Kapuzen verhüllt, die nur Schlitze für die Augen frei ließen. „Wir, Ferunadari von Arit“, sagte die Gestalt in der Mitte mit der gleichen Stimme, die vorhin im schwarzen Saal erklungen war, „fra gen dich, Idomar av Olg su Saro, hat dein Schweigen das Antlitz des Geschickes für Asp av Tald su Arit angenommen?“
Idomar schwankte. Er hielt noch den roten Revolver in der Hand. „Ich befürchte, du wirst mich immer wieder töten müssen“, sagte Asp neben ihm, im Schweigen des dunklen Saales des Orialats. Im Schweigen des verbotenen Planeten. Der Ewigkeit.
Scat Mor Mor, Scat, geboren im Jahre 2553 in Göttingen, Vereinigte Staaten von Europa. Zweideutige Persönlichkeit, hätte die Ära der Transga laktischen Reisen nach seiner Entdeckung des Prinzips des „galakti schen Sprunges“ eröffnen können. Aber er weigerte sich, es anderen mitzuteilen, und zog es vor, sich das ausschließliche Recht der „Qua siaugenblicksreisen“ außerhalb der Grenzen der Galaxis zu reservie ren. Das Prinzip des „galaktischen Sprunges“ soll im Testament von Scat Mor niedergeschrieben sein, das an einem unbekannten Ort auf dem Mond verborgen wurde, wobei von dem Entdecker alle Maßnah men ergriffen wurden, damit es gleich nach der offiziellen Feststellung seines Todes durch die Kosmovision öffentlich bekanntgemacht wer den soll. Nur wenige biographische Angaben sind bekannt. Nach der Beendi gung des Studiums am Institut für Kosmische Navigation in Genf, das er mit summa cum laude abschloß, war er einige Male verheiratet (seine Biographen verzeichnen zwei Ehen auf der Erde, eine auf dem Mars, eine auf Ganymed, wobei die Liste wahrscheinlich nicht voll ständig ist) und hat dann sein ganzes Leben im Kosmos verbracht. Er veröffentlichte mehrere Werke („Die Transgalaxis“, „Kurze Ge schichte der außergalaktischen Zivilisationen“, „Der Mensch und seine kosmischen Nachbarn“, „Die Zukunft der Menschheit“ und an dere), die begeisterte Anhänger, aber auch viele Gegner fanden und die berühmte „galaktische Polemik“ zwischen den Anhängern Scat Mors und denen auslösten, die in seinem Werk nur eine Mystifikation sahen und das Prinzip des „galaktischen Sprunges“ selbst in Frage stellten. Da man ihn tatsächlich seit langer Zeit nicht in der Öffentlichkeit gesehen hat, er keine Besucher empfangen hat und sein letztes Werk im Jahre 2623 erschienen ist („Merkzeichen im Raum“), kann man nicht einmal wissen, ob er noch am Leben ist. Auf jeden Fall ist sein
Testament (falls es wirklich ein solches gibt) der Behörde nicht be kannt. Held oder Abenteurer, Gelehrter, der von den Folgen seiner Entdek kung erschreckt war, oder simpler Betrüger, wurde Scat Mor dank seiner berühmten Folge von Tonbändern („Der neue Odysseus“) und der zahllosen Biographien und Abhandlungen, die ihm gewidmet wur den (von Forschern wie Arnos Graldi, Per Manal, Torq Worsira und anderen), zu einer legendären Figur. Die „außergalaktischen Objek te“, die angeblich Scat Mor von seinen Expeditionen mitgebracht hat, sind im Museum von Göttingen ausgestellt, das von dem Gründer ge stiftet wurde, und nähren weiter die Auseinandersetzungen um eine der rätselhaftesten Persönlichkeiten unserer Zeit. Auszug aus Who’s Who, Auflage des Jahres 2634 Der Springbrunnen war verschwunden. Die Sonne blendete plötzlich stärker, und Ralt fühlte, daß unangenehme Gerüche (heiß gewordenes Wasser, Mist, ranziges Öl) in seine Nase stiegen, gemischt mit der Ausdünstung von wohlriechenden Gewürzen und unbekannten Par füms. Der Wind brachte Wolken von Staub, das Straßenpflaster war zusammen mit dem Brunnen verschwunden, und er befand sich auf dem festgestampften Boden des neuen Platzes, auf dem es von Män nern in kurzärmligen Tuniken wimmelte, die bis über ihre Knie reich ten. Die meisten trugen gestutzte Bärte und Haarflechten, die unter farbigen Turbanen herabfielen; fast alle hielten Stöcke in der Hand; deren geschnitzte Griffe Stierköpfe, Habichte oder Blumen darstellten. Als er den Kopf wandte, sah er, daß auch der Palast Scat Mors ver schwunden war, samt seinen schwarzen Treppen, auf denen sich noch einen Augenblick vorher Or-alda und Idomar unterhalten hatten. Eine endlose gekalkte Wand war an ihre Stelle getreten. Entsetzt berührte er mit den Händen die rauhe, von der Sonne erhitzte Fläche, schlug mit den Fäusten darauf und stieß mit dem ganzen Körper dagegen, aber die Wand war keine Illusion.
„Nabus Frieden sei mit dir und um dich“, hörte er da eine Stimme, und Ralt bemerkte den Alten, der im Schatten der Mauer neben einem vollen Korb kauerte. „Was für ein böser Geist quält dich, Fremder? Ob du ihn nun kennst oder dir sein Name verborgen bleibt, ich kenne einen Aschipu, der imstande ist, ihn zu verjagen.“ Verwirrt hockte sich auch Ralt hin, wobei er den Rücken an die Wand lehnte. „Wo befinde ich mich?“ fragte er, und erst als er die sonderbaren Laute hörte, die er aussprach, wurde ihm bewußt, daß der Alte sich in einer Sprache an ihn gewandt hatte, die nichts mit der Galaxis gemein hatte, und er ihm in derselben Sprache antwortete. „Ich hole den Aschipu“, sagte der Alte entschlossen und machte An stalten, sich zu erheben. „Galle des Sonnengottes, Utukku oder Edimmu, haltet euch fern von mir!“ „Wartet noch einen Moment“, bat ihn Ralt. In seinem Gehirn drehte sich alles, und plötzlich – wobei er sich selbst über die Leichtigkeit wunderte, mit der ihm die Worte aus dem Munde kamen – begann er zu stottern: „Banditen haben mich entführt. Mit verbundenen Augen. Ich weiß nicht, wie viele Tage und Nächte ich unterwegs war, bis sie mir die Binde von den Augen nahmen und mich frei ließen…, das heißt, es mir gelang, zu fliehen. Ich nutzte einen Augenblick der Un achtsamkeit meines Wächters aus. Ich weiß nicht, wo ich mich befin de, und bitte dich, mein Vater, mir die Augen zu öffnen.“ „Bel-Marduk selbst hat deine Schritte gelenkt“, antwortete der Alte, der mit überraschender Gutgläubigkeit von Ralts Lügen überzeugt war, und nahm von neuem Platz. „Was mich angeht“, und er wies da bei auf den gefüllten Korb, der an der Wand lehnte, „so bin ich der alte Nabu-ballit, der berühmte Händler religiöser und weltlicher Lie der, die in allen vier Gebieten bekannt sind, und ich habe keinen leb hafteren Wunsch, als daß du mir ein Lied abkaufst. Ich kann dir zum Kauf folgendes anbieten: ‚O Herr, Deine Liebe ist wie der Zedernduft’ oder ‚Es kommt der Gott der Schlachten, der alles verwüstet’, aber wenn es dein Herz wünscht, so habe ich auch: ‚Auf der Straße sah ich zwei Kurtisanen’ oder ‚Ach, wie köstlich ist dein Leib’! Entschließe
dich also, Fremder, damit du bei deiner Rückkehr in dein Vaterland dich rühmen kannst, alles mitzubringen, was es an Neuem und Be rühmtem in der gelobten Stadt gibt, die man nicht umsonst das Tor Gottes, Bab-ili, nennt.“ „Bab-ili?“ rief Ralt. Aber das ist ja Wahnsinn. Babel. Babylon. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ich sitze im Schatten einer Mauer von Babylon. Ich spreche Babylonisch mit einem Babylonier, und an mir gehen andere Babylonier vorbei. Arla, Scat Mor, Or-alda und Idomar sind nur noch als Namen in meiner Erinnerung. „Du bist vermutlich durch das Ischtartor hereingekommen“, sagte Nabu-ballit feierlich, „und befindest dich auf der Prozessionsstraße, die kein Feind betreten soll. Vor dir, Fremder, erhebt sich der Tempel Esagila, daneben befindet sich der Tempel des Berges Ekur und die Grundmauer des Tempels des Himmels und der Erde Etemenanki mit seinen sieben Stockwerken, die – schau her – wunderbar weiß, schwarz, rot und wieder weiß, orangefarben, silbern und golden an der Spitze, gemalt sind, dort, wo das Bett mit den reichen Decken des Gottes und sein goldener Tisch stehen. Jenseits der Esagila fließt der Euphrat. Öffne deine Augen, Fremder, und denke daran, daß nirgend wo großartigere Stätten zu Ehren der Götter errichtet worden sind. Aber das ist noch nicht alles. In der glorreichen hunderttorigen Stadt Bab-ili gibt es dreiundfünfzig Tempel der großen Götter, fünfundfünf zig Heiligtümer Marduks, dreihundert Heiligtümer für die irdischen Gottheiten, sechshundert für die himmlischen, einhundertachtzig Altä re für die Göttin Ischtar, einhundertachtzig für die Götter Nergal und Adad und zwölf Altäre für die anderen Götter. Deswegen ist Bab-ili der Nabel der Welt, und deshalb blicken die Götter Igigi und Anunaki wohlwollend auf sie herab. Möge Nabu, Marduks Sohn, mit gleichem Wohlwollen auf uns herabblicken.“ Begeistert strich sich Nabu-ballit über seinen grauen, krausen Bart und schielte zu dem Fremden, der von dem Gehörten so überwältigt war, daß es ihm die Sprache verschlug. Sichtlich maß er den Abstand zwischen dem des Volkes mit den dunklen Köpfen und dem dürftigen Leben der Obdachlosen, der Amoriten, Huriten, Lulubei, Kassiten
oder Elamiten, aus deren Reihen er wohl hervorgegangen war. Aber der Alte mußte an seinen Handel denken und ließ den Fremden nicht allzulange in der Bewunderung für Bab-ili und Marduk erstarren, die wohl schmeichelhaft war, aber einem armseligen Muschkinu, der vom Verkauf einiger Lieder lebte, die vor vielen Jahren in Mode waren, wenig Nutzen brachte. „Wie ich dir bereits gesagt habe, Fremder“, begann er deshalb von neuem, „ich möchte dich durch den Verkauf eines Liedes, das dir ge fällt, fröhlich machen, damit du es derjenigen schenkst, für die du zur Göttin Ischtar betest. Soll ich dir also das Lied ‚O Gärtner der Begier den’ geben und von dir dafür nur eine Handvoll Gerste verlangen?“ Er wühlte in seinem Korb, entdeckte das Lied und reichte Ralt ein flaches Tongefäß mit eigenartigen Zeichen. Ohne Unterlaß summten Fliegen um sie. Auf den Mauern und dem glattgestampften Boden des Marktplatzes bildeten Schatten und Lichtflecke einen solchen Gegen satz, als seien sie künstlich aufgesetzt. „Ich denke selbst Worte zu Liedern aus“, sagte Ralt mit abwesender Miene, wobei er sich fragte, ob er sich von der Wand entfernen sollte, die die Fassade des Palastes von Scat Mor gewesen war, seine einzige Verbindung zu der Welt, aus der er kam. „Goldene Worte“, rief der Alte. „Unsere Begegnung gehört zu den nützlichen und verkündet Tage des Lebens. Wie heißt du, von deinen Göttern auf Marduks Geheiß verlassener Fremder?“ „Ralt.“ „Ra-lit? Ra oder Re ist der Name, den der Pharao dem glorreichen Schamasch, dem Sonnengott, gegeben hat! Bei seinem Namen, erzähl bloß nicht, daß du ausgerechnet aus dem Gebiet des schwarzen Schlamms kommst und daß dich die Räuber die ganze öde Fläche des jammervollen Amurru mit sich geschleppt haben.“ „Ich komme von sehr weit her, Nabu-ballit“, seufzte Ralt. Verwundert schüttelte der Alte den Kopf und verjagte so den Mük kenschwarm, den das Öl angezogen hatte, mit dem seine Haarflechten eingerieben waren. Ob der Fremde wohl ein entflohener Sklave war, überlegte er, aber sein Kopf war nicht geschoren, und er schien auch
keine Kennzeichen zu tragen. Man konnte von Nabu-ballit nicht ver langen, daß er wußte, wie der Pharao seine Sklaven kennzeichnete, und es bekümmerte ihn auch wenig. Marduk hatte die Schritte des Flüchtigen gelenkt. Die Gelegenheit mußte beim Schopf ergriffen werden, und so entschloß er sich auf der Stelle. „Jedes Herz hat seine Geheimnisse“, sagte er deshalb. „Ich werde dir trotzdem das meinige öffnen, sonderbarer Ra-lit. Siehst du, selbst wenn ich meine Ware nach dem weisen Gesetz der Händler lobe, sind meine Lieder nicht mehr sehr gefragt. Die Leute haben sie so oft ge hört und sie überbekommen… Aber ich habe lange gelebt und bin in den reichen Häusern von Bab-ili bekannt. Es genügt, daß ich am Tor auftauche und rufe: Der berühmte Nabu-ballit ist gekommen, mit sei nem Korb voll heiliger und weltlicher Lieder, und schon erscheint ein dickbäuchiger Eunuch, und häufig werde ich zu vornehmen Damen hereingebeten. ‚Immer noch haben Nergal und Ereschkigal dich nicht ins Arralu gerufen?’ fragen sie mich scherzhaft, und dann verlangen sie von mir, ihnen neue Lieder zu zeigen. Aber woher welche neh men? Der Schreiber Kidinnu kopiert mir immer dieselben Worte, seit ich ihn kenne. Jetzt aber hat dich der Sonnengott mir selbst über den Weg gebracht, Schöpfer neuer Worte, und aus unserer Zusammenar beit wird Milch und Honig fließen. Finde mir neue Worte, Gesegneter, und ich werde sie mit meiner Händlerkunst verkaufen, in der mich keiner übertrifft, und wir werden uns die Früchte teilen. Weder Gerste noch Bier, weder Öl noch Zwiebel oder Wolle werden uns fehlen. Kidinnu wird uns den Vertrag schreiben, und der Sonnengott und Na bu werden voller Wohlwollen auf uns herabschauen, denn wir werden nicht davor zurückscheuen, ihnen ein Zicklein zu opfern, wenn wir ein billiges finden werden, woran ich nicht zweifle. Du freust dich doch darüber? Und dankst sicher in Gedanken deinen Göttern, daß sie dich mit dem einzigen Menschen, dessen du bedurftest, zusammengebracht haben? Nicht wahr?“ Ralt hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, aber bei dem Geschwätz des Alten begriff er, daß sein Vorschlag ihm die Möglichkeit geben wür de, in der uralten Stadt, in die ihn eine Laune Scat Mors verstoßen hatte, zu überleben. Er konnte nicht auf die Dauer neben dem Erdwall
bleiben und darauf warten, daß der Palast wieder auftauchte. Er zwei felte übrigens nicht daran, daß Scat Mor schon wüßte, wie er handeln würde, wenn er ihn aus der Zeit, in die er ihn verstoßen hatte, zurück rufen wollte. Er konnte tatsächlich alles. Warum hielt er aber nicht sein Wort? Die Bronzestatue Arlas war ein Zeichen, daß der Android aus dem Büro mit den Hologrammen nicht gelogen hatte. Würde er ihr wohl auf den Straßen Babylons begegnen? Ich befinde mich in Baby lon, sagte er sich. Der imposante Mann, der gerade vorbeigeht, ist ein Babylonier, wiederholte er und betrachtete seinen reckteckigen Bart, seine weiße Tunika aus Leinwand, die ihm bis zu den Knöcheln reich te und über der er ein zweites Gewand mit Fransen und roten Sticke reien trug. Die Sehnsucht nach Arla verschleierte seinen Blick, und er schloß die Augen. „Wo flattern deine Gedanken hin, Ra-lit?“ fragte unruhig der alte Händler, der auf Antwort wartete. „Ich bin bei dir, fürchte dich nicht. Und ich werde dir neue Worte finden“, versprach ihm Ralt, wobei er sich fragte, was für eine Art Gedichte wohl den vornehmen Kundinnen Nabu-ballits gefallen wür den. „Gesegnet sei der Sonnengott. Von diesem Augenblick an, mein Sohn, bist du ein reicher Mann. Aber da du der Jüngere von uns bei den bist, so nimm du den Korb mit den Täfelchen, damit mein Kopf, unbeschwert von jeder Last, nutzbringend arbeiten kann.“ Nabu-ballit steckte also das Täfelchen mit dem Gesang „O Gärtner der Begierden“ in den Korb, erhob sich ächzend und ergriff den Stock, während Ralt den Korb hochnahm. Er erinnerte sich an das, was er auf der Erde von Babylon gehört hatte. „Die hängenden Gärten… Gibt es die wohl noch?“ „Was hast du mich aufgehalten?“ zankte ihn der Alte aus und wand te den Kopf. „Natürlich existieren sie! Neben dem Palast des Königs, in der Nähe des Ischtartors. Aber jetzt müssen wir uns auf den Weg machen, um den Dupscharru, den Schreiber Kidinnu, zu suchen. Und jedermann weiß, daß er bei Eli-erischa, der Schwankwirtin, zu finden ist.“
Sie verließen also die Prozessionsstraße, und durch Seitengassen, die gewundenen Tunneln ähnelten, gingen sie zwischen dunklen Rück wänden (alle Häuser hatten ihre Vorderfront zu den Gärten oder In nenhöfen gekehrt), traten über Müll und erschreckte hagere Hunde, die sich um ihn stritten, bis sie zum Euphratufer gelangten. Die schlammigen Gewässer flossen träge dahin, und ein Sumpfge ruch nach feuchter Erde und feuchtem Gras stieg aus ihnen empor. Hier und da drehten sich Wasserstrudel, ein Fisch sprang aus den Wel len und platschte wieder hinein. Ralt wunderte sich über die Menge der Boote, Kufe (große runde Körbe aus geflochtenem Rohr, deren Böden mit Häuten bedeckt waren, die mit Lehm oder Pech vermisch ten Wollresten kalfatert waren) und Kaleke (Flöße aus Schilfrohr, un ter denen sich mit Luft gefüllte Bälge wiegten), die den Fluß abwärts fuhren, obwohl die Bootsleute sich zum Steuern nur der Stangen und hier und da eines Ruders bedienten. Ihre Hauptsorge war, soweit er es wahrnehmen konnte, die runden Kufe darin zu hindern, sich um ihre eigene Achse zu drehen. Etwas weiter unten, vor den Tempeln, die Nabu-ballit ihm gezeigt hatte, war der Kai mit großen platten Ziegeln, die mit Pech miteinan der verbunden waren, verstärkt, und an der Stelle, wo sie ans Ufer gelangten, wiegten sich Enten auf dem Wasser, die Schilfstücke im Schnabel trugen. Zwei Männer stampften mit Stroh vermischten Lehm mit den Füßen, und daneben trockneten in der Sonne braune Ziegel steine. Ein Blinder hockte da und wiegte seinen Turban im Rhythmus der Melodie, die er seiner Flöte entlockte, Männer gingen mit Netzen vorbei, in denen Fische zappelten, Früchte und Geflügel wurden aus den Kufen entladen, fliegende Händler priesen im Singsang ihre Ware an: rundes, ungesäuertes Brot aus Gerstenmehl, Sesamkuchen oder Süßigkeiten, die sie vor den Fliegen verteidigten. Barbiere stutzten Bärte und Haarflechten, einer zog gerade einen Zahn, und der Patient schrie wie am Spieß, die Wächter drohten mit dem Stock, Kinder jag ten sich zwischen den Beinen der Passanten. Alle sprachen mit lauter Stimme, schrien, fluchten, scherzten und fuchtelten mit den Händen. Ein wahres Babylon, dachte Ralt, unwillkürlich angezogen vom Leben und Treiben einer Zeit, von der ihn Jahrtausende trennten. Ein weißer
Esel kam an ihnen vorbei. Ralt stieß an einen der beiden Körbe, die das Tier trug, und der Treiber fluchte obszön. Nabu-ballit blieb schließlich vor einem Tor stehen, an dem eine Lehmplatte hing, auf der eine Gazelle abgebildet war, das Wahrzei chen der Schankwirtin, denn das Wort Zabitu bedeutete beides: so wohl Gazelle als auch Schankwirtin. Sie betraten einen Hof, der zu drei Räumen führte, mit Wänden aus ungebrannten großen Ziegelstei nen, die mit Matten bedeckt waren. Überall Lehmfußböden. Lehm blöcke, über die man Schilfmatten gelegt hatte, ersetzten Stühle und Tische, Pfosten aus Dattelpalmenholz stützten die gekalkten Decken, die von dem Schilfdach im Hof geschützt waren. Im Hof stand, an eine Wand geklebt, ein Lehmofen ohne Schornstein. Der Rauch, der von ihm ausströmte, schien niemanden zu stören. Das Brennmaterial bestand aus Schilfrohr und getrocknetem Dung. Ein paar Männer tranken und flüsterten miteinander, wobei sich ihre Bärte über den Lehmkannen einander näherten, und im Hof schöpfte eine kräftige Frau Bier aus einem großen irdenen Krug, der fast bis zum Rand ein gegraben war. Andere Krüge, die auch eingegraben, aber mit ungefü gen Deckeln verschlossen waren, standen längs der Wände. „Tauch mal deine Lippen in den Krug, damit du zu dir kommst“, sagte die Frau und reichte ihn einem Jüngling mit verschlafenen Au gen, dem kaum Flaum sproß. Ralt erfuhr, daß es der Sohn der Schankwirtin Eli-erischa war. „Friede den lebenspendenden Krügen und ihrer Herrin“, sagte Nabu ballit und näherte sich. Eli-erischa richtete sich auf und lächelte ihm zu, wobei man ihre Zahnlücken sah. Sie hatte ein rundes, gebräuntes und fettiges Gesicht, in dem lebhaf te dunkle Augen glänzten, deren Weiß wie altes Elfenbein schimmer te. „Sei willkommen, Vater der Lieder. Möchtest du Bier, Sesam- oder Palmwein, süß oder gegoren? Ich habe einen Wein, der siebenmal besser ist und von dem jetzt auch Kidinnu trinkt.“ „Ihn suche ich. Der heutige Tag ist für uns ein Tag des Lebens. Gib uns also von dem siebenmal besseren Wein, ohne siebenmal schlech
teres Wasser hineinzugießen, nach der Gewohnheit der Schankwirtin nen, von denen Schamasch sein Antlitz abwendet.“ Eli-erischa lachte, und Nabu-ballit begab sich mit Ralt in den winzi gen Raum, in dem ein dicker Mann mittleren Alters allein vor einem Krug und einem Becher saß. Bei ihrer Annäherung rührte er sich nicht, um so zu beweisen, daß er etwas Besseres sei. „Der Friede Nabus sei über dir, Dupscharru mit den großen Ohren“, sagte der alte Händler honigsüß. In Wirklichkeit waren Kidinnus Ohren, soweit sie unter dem stolzen Turban, der seine Stirn verbarg, überhaupt sichtbar waren, ungewöhn lich klein, aber da große Ohren als Zeichen der Weisheit galten, wußte Nabu-ballit, daß er ihm nicht widersprechen würde. „Ich habe von keinen neuen Liedern gehört“, antwortete der Schrei ber, ohne seinen Blick von der leeren Kanne zu heben, „und glaube auch nicht, daß du die alten inzwischen verkauft hast.“ „Niemand kauft sie mehr“, seufzte der Alte. „Doch hat Bel-Marduk selbst die Schritte dieses Ra-lit nach Bab-ili gelenkt, und neue Lieder werden von seinen Lippen schweben. Ich bin also zu dir mit der Bitte gekommen, uns einen Vertrag zu schreiben, Quellen zahlreicher Ge winne.“ „Der Segen liegt auf allen Verträgen, die ich schreibe“, sagte der Dicke mechanisch. Dann fragte er: „Ra-lit? Aus dem Gebiet des schwarzen Schlammes?“ Er schien angewidert und verkrampfte seine roten sinnlichen Lippen zwischen den schwarzen Fäden von Bart und Schnurrbart, die von dem siebenmal besseren Wein der Schankwirtin feucht waren. „Er spricht die Sprache derer mit den dunklen Köpfen genauso gut wie du und ich“, sagte der Alte. „Wie hat er sie gelernt?“ fragte der überhebliche Schreiber herablas send. „Der Gott mit den strahlenden Augen kann alles“, antwortete dies mal Ralt, wobei er ein Lächeln unterdrückte.
In der Welt, aus der er kam, nannte sich der Gott Scat Mor, aber Ki dinnu und Nabu-ballit beugten ihr Haupt, denn der Sonnengott, der über den Westen herrschte, der flüssige Abgrund, über dem die Welt schwebte, war der Gott der Wissenschaften, dessen Augen vor Weis heit glänzten. Der Sohn der Schwankwirtin brachte einen neuen Krug und zwei Lehmkannen. „Eli-erischa läßt fragen, ob ihr nicht Brot und Zwiebeln möchtet. Wir haben Linsen, Fisch und frisch gebratene Heuschrecken.“ „Der heutige Tag ist ein Tag des Lebens“, wiederholte Nabu-ballit und rieb sich die Hände. „Mit den gebratenen Heuschrecken wird uns der Wein nicht sieben-, sondern neunmal besser munden.“ Als er dann sah, daß der grämliche Dupscharru sich mit der Zunge über die gierigen Lippen fuhr, nahm er am Tisch Platz und bedeutete auch Ralt, sich neben ihn zu setzen. „Der Wein und alles andere bezahlen Kidinnus Arbeit“, erinnerte der Schreiber, und der Alte stimmte eilfertig zu. „Möge sein Schilfrohr noch viele Hunderte von Täfelchen bepinseln, die sorgfältig in Schamaschs Tempel aufbewahrt werden.“ „Die Worte dieses Ra-lit“, fuhr Kidinnu fort, „werden den bekannten Melodien angepaßt. Sie werden sorgfältig geschrieben werden müs sen, damit die Zeichen nicht übereinandergeraten und die Reihen so stehen, daß sie dem Auge gefallen und leicht zu lesen sind. Es ist eine schwere Arbeit, und ein Drittel des Gewinns wird kaum genügen, um die Mühe des Schreibers zu entlohnen.“ „Das ist zuviel“, erschrak der Alte. „Denk daran, daß Nabu alles sieht und weiß. Ein so hervorragender Dupscharru lebt nicht nur vom Aufzeichnen der Lieder, aber ein alter Liederhändler hat kein anderes Mittel zum Lebensunterhalt. Ein Fünftel.“ Kidinnu verzog das Gesicht. „Wenig“, sagte er. „Um Schreiber zu werden, gebührt es sich, bei Sonnenaufgang aufzustehen. Nabu und Taschmetum müssen dir große Ohren verleihen, um keines der über dreihundert Zeichen zu vergessen, die du in jahrelangem Bemühen im
Haus der Täfelchen lernst, wo mein älterer Bruder die Peitsche schwingt. Ein Drittel.“ Der Palmwein war stark, und Ralt hörte wie im Traum das Feilschen der beiden und verfolgte, wie die Schankwirtin und ihr Sohn über den sonnenüberfluteten Hof gingen. Die Mischung von Naivität und Ver schlagenheit bei Nabu-ballit und Kidinnu erfüllten ihn mit Erstaunen: Keiner von beiden bezweifelte das Talent des anderen und verlangte einen Beweis dafür. Ebenso, wie der Alte ihm aufs Wort geglaubt hat te, daß er von Räubern entführt worden sei. Andererseits redeten sie in einer blumenreichen Sprache und verstanden es, ihre Interessen weit besser zu verteidigen als er selbst, Tausende von Jahren später. Dann fragte er sich unruhig, was für eine Art Verse er liefern müßte, aber selbst seine Unruhe war irreal, alles schien ein Scherz, ein Traum, trotz der Gerüche, der Wärme, trotz des Weines. War es denkbar, daß Arla ihn in einem der bescheidenen Häuser dieses Babylon erwartete? Er schloß die Augen, sah die Geste, wie sie sich die Locken aus der Stirn strich, und sein Herz zog sich zusammen, eine Welle von Zärt lichkeit, Trauer und Sehnsucht überfiel ihn. Die beiden einigten sich schließlich auf ein Viertel, und als er die Augen öffnete, sah Ralt, daß auch der Schreiber einen Korb zu seinen Füßen stehen hatte. Er schob einen feuchten Lappen beiseite, nahm aus dem Korb einen Klumpen weichen Lehms und ein an der Spitze abgeschnittenes Schilfrohr. Er knetete den Lehm und gab ihm die Form eines kleinen rechteckigen Brotes, glättete die Oberfläche und drehte dann das Täfelchen in der Hand, um die Nägelchen nach den verschiedenen vorgeschriebenen Winkeln eindrücken zu können, drückte die Spitze des Schilfrohres ein, bis Reihen senkrechter und paralleler Zeichen erschienen. Er arbeitete rasch, mit halbgeschlosse nen Augen, seine Zungenspitze zuckte unmerklich im Mundwinkel. Aufmerksam folgte Nabu-ballit seinen Bewegungen; sein Gesicht drückte tiefe Sammlung aus. „So“, sagte Kidinnu zufrieden, „seht mal: ‚Nabu-ballit, Kidinnu und Ra-lit haben sich zusammengetan, damit der erste die Lieder verkauft, die von dem zweiten geschrieben werden und von dem dritten gefun den sind. Die Übereinkunft lautet folgendermaßen: ‚Nabu-ballit erhält
die Hälfte vom Gewinn, Kidinnu und Ra-lit je ein Viertel. Keiner der Brüder wird sich gegen den anderen erheben. Das haben sie bei Schamasch, dem Sonnengott, und Nabu geschworen: als Zeugen Eli erischa und Schapik-zer. Ruft die Zeugen.“ Ralt protestierte nicht, weil ihm alles ein Spiel schien. Nabu-ballit ging die Schankwirtin und ihren Sohn holen, während Kidinnu drei weitere Täfelchen mit demselben Text vorbereitete. In Gegenwart der Zeugen wurde der Vertrag erneut verlesen, alle hoben die rechte Hand, schworen und drückten dann die Siegelringe unter den Vertrag. Ralt zeichnete einen Kopf mit Haarflechten, und Nabu-ballit ver sprach, daß er ihm vom ersten Gewinn einen Siegelring kaufen würde. Schließlich wurden die vier Täfelchen zum Trocknen in die Sonne gestellt, und jeder der drei sollte eins bekommen, während Kidinnu die Aufgabe übernahm, das vierte im Archiv des Schamaschtempels zu hinterlegen. Über das zu opfernde Zicklein wurde nicht mehr ge sprochen, hingegen aßen und tranken alle drei auf Kredit, dessen sich Nabu-ballit erfreute. Es wurde Abend, oder, wie Nabu-ballit sagte, die Göttin Gula näherte sich. Es begann kühler zu werden. Vom Euphrat wehte eine feuchte Brise, und die Babylonier stiegen auf die flachen Dächer der Gebäude, um freier atmen zu können. Hier und da hörte man das Murmeln der Harfen und das Wehklagen der Flöten. Bald tauchten die ersten fak keltragenden Sklaven auf, die den Weg der Herren beleuchteten. Die Straßen leerten sich. Hunde bellten. Sie brachten Kidinnu nach Hause, denn er schwankte und sang „Deine Brüste, dürstende Lämmer“, was Nabu-ballit dermaßen freute, daß er wagte, ihn auf beide Wangen zu küssen. Der siebenmal bessere Wein hatte dem Schreiber einen Streich gespielt, so daß er sein eige nes Ansehen vergaß. Er begann sogar zu erzählen, was sich eine Wo che zuvor, beim Neujahrsfest Akitu, ereignet hatte, als bekanntlich der König selbst Marduk wurde und von neuem die Schlacht der Anfänge schlug und Tiamat tötete, deren Leib zerteilte, wobei er aus der einen Hälfte den Himmel und aus der anderen die Erde machte.
„Alles ist unsicher, nichts ist ewig“, unterbrach ihn voll Bitterkeit Nabu-ballit, der das Bedürfnis fühlte, Ralt zu erklären, daß die Schlacht der Anfänge und die Schöpfung jedes Jahr erneuert werden müßten, damit die Welt dauere und die Jahreszeiten ihrem Lauf folgen könnten und das Leben jedes Gottes und jedes Menschen noch ein weiteres Jahr auf den Tafeln des Schicksals verzeichnet werden könn ten. Verärgert über die Unterbrechung, drohte Kidinnu damit, nicht wei terzuerzählen, und der alte Händler sah sich genötigt, ihn zu bitten und ihm zu schmeicheln, um ihn zu versöhnen. Unsicher auf den Beinen, enthüllte dann der Schreiber, daß der Hohepriester Urigallu dem Kö nig auf dem Hof des Tempels mit erhobenem Haupt entgegengetreten war. Gemäß dem Brauch, denn mit dem Ende des Jahres war der Kö nig ein Niemand, hatte er ihn der Zeichen seines Ranges, des Zepters, des Diadems, der Harfe und der Tiara entkleidet und sie auf einen Stuhl vor der Statue Bel-Marduks niedergelegt. Hierauf hatte er den König, wie es Brauch war, geohrfeigt, ihn an den Ohren gezogen und gezwungen, vor dem Gott niederzuknien, um zu beichten. (Hier zitier te Kidinnu den Text der vorgeschriebenen Beichte, zwinkerte bedeu tungsvoll, zog eine Grimasse und rupfte sich den Bart: „Ich habe nicht gesündigt, Herrin der Gebiete, ich war nicht gleich gültig zu Dir, Ich habe Bab-ili nicht zerstört, nicht befohlen, es zu schleifen, Ich habe Esagila nicht erschüttert, nicht die Bräuche verletzt, Die Untertanen nicht geschlagen, nicht gedemütigt, Mein Gedanke galt Bab-ili, ich habe nicht seine Mauern zerstört.“) Aber dem König war es nicht gelungen, zu weinen, ein schlechtes Zeichen, denn, wie jedes Kind weiß, ist es ein Zeichen, daß der Gott wütend ist, ein Zeichen, daß sich die Feinde erheben und daß es mit der Herrschaft zu Ende ist. „Marduk schütze uns!“ Erschreckt rang Nabu-ballit die Hände. „Warum hat der König nicht geweint?“
„Urigalla wird ihn zu sanft angefaßt haben.“ Kidinnu lachte und schluckte. „Glaubst du, daß man nicht weint, wenn dir einer eine tüch tige Ohrfeige versetzt…? Aber Sin-iddinam, der Aschipu, der mir die Begebenheit erzählt hat, lag auf der Lauer.“ „Auf der Lauer, wenn es niemandem gestattet ist, dabei anwesend zu sein?“ Kidinnu spuckte aus, und sein Antlitz gewann für einen Augenblick die Würde wieder. „Du bist ein Dummkopf, Alter“, sagte er verächtlich. „Sin-iddinam hat die Welt erlöst.“ Hierauf erklärte er pfiffig: „Es genügte, daß der Urigallu ein Stück Zwiebel in die Hand bekam, welches er dem König in die Augen rieb, und alles fand sein gutes Ende. Aber das Schicksal der Götter, der Welt und jedes einzelnen von uns dreien hing von der Zwiebel eines Aschipu ab.“ „Pechtage!“ schrie Nabu-ballit und flüsterte dann Ralt erschüttert zu: „Schreckliche Zeiten, mein Sohn, wenn der König und der Urigallu betrügen.“ Er fragte Kidinnu: „Und Marduk hat sich betrügen lassen? Hat er den König seine Hand fassen lassen und ihn für ein weiteres Jahr bestätigt?“ „Jedermann betrügt.“ Der Schreiber kicherte. „Wie hat sich Marduk über die anderen Götter erhoben? Wie hat Adapa ihre Unsterblichkeit verloren?“ Nabu-ballit hielt sich die Ohren zu, sprach rasch eine Zauberformel und beeilte sich, von dem Schreiber loszukommen, von dessen roten Lippen Schimpfworte flossen. Neben Ralt stolperte er durch die Stra ßenlöcher, während Kidinnus höhnische Stimme mit dem Lied „Der Zedernduft ist deine Liebe, Herrin!“ hinter ihnen herdröhnte. „Heute lebend, und tot vor dem morgigen Tag“, flüsterte Nabu-ballit die Worte eines Sprichwortes. „Verrückt und sündig, wie er ist, bildet er sich ein, daß die Götter noch Leben zum Leben hinzufügen wer den… Ra-lit, mein Sohn, aus der Tiefe meines alten Herzens bitte ich dich: Glaube nichts von dem, was du gehört hast, denn nicht Kidinnu, sondern der siebenmal bessere Wein, siebenmal sei er verflucht, hat
aus seinem Munde gesprochen. Die Götter sehen und wägen es ab, aber du, unwissender Fremder, sollst es verstehen…“ Ralt fand es nicht angemessen, seine Aufmerksamkeit darauf zu len ken, daß er sich widersprach, indem er den Schreiber im Namen der Götter verurteilte und ihn gleichzeitig in ihrem Namen freisprach. Aber Nabu-ballit fuhr fort zu jammern, indem er den Verfall der Sitten beklagte und andächtig seine Furcht vor den mächtigen Igigi bekann te, den Göttern, die den Menschen aus Schlamm und dem Blut Kingus geformt hatten, damit der Mensch ihnen diene und Opfer bringe. „Das erinnert mich daran, daß auch wir Schamasch ein Zicklein hät ten opfern sollen, sündig, wie wir sind“, stöhnte der Alte. „Schau, mein Sohn, wir hüllen uns in die Sünde wie in einen Mantel aus wei cher Wolle! Und ich würde mich nicht wundern, wenn die Götter uns eine neue Sintflut von der Art, wie sie Ischtar über uns gebracht hat, schicken würden. Ich frage mich nur, wo wir einen neuen Um napischti finden werden, der würdig ist, eine Arche zu lenken.“ Nabu-ballit schwatzte fortwährend, aber Ralt zog es vor, sich umzu schauen. Obwohl sie auf eine breitere Straße gelangt waren, schritten sie weiterhin zwischen zwei Reihen gekalkter fensterloser Wände, deren Eintönigkeit nur durch Holztore und ein paar gleichförmige Ni schen unterbrochen wurden, die jetzt, wo der Vollmond über der ural ten Stadt glänzte, Licht und Schatten warfen. Von Zeit zu Zeit stand in einer tiefen Nische die Statue eines Gottes. Er sah zwei- und dreistök kige Häuser, von deren flachen Dächern Flöten und Trommeln ertön ten. Zweimal mußte er beiseite treten, um Sänften Platz zu machen, die von je vier Sklaven mit glattrasierten Köpfen getragen wurden, die am Scheitel mit roten Eisen gebrandmarkt waren. Fackelträger schrit ten vor den Sänften, deren Vorhänge zugezogen waren, so daß man nicht sehen konnte, wer drinnen saß. Sie gelangten zu einem großen Tor, dessen Doppelflügel weit offen standen. Fackeln erhellten den Hof, und Ralt blieb einen Moment ste hen, verwundert über das Menschengewimmel.
„Du tust gut daran, innezuhalten, mein Sohn“, sagte der fromme Na bu-ballit. „Du bist jung, und es gebührt sich, der Göttin Ischtar ein Opfer zu bringen.“ Ralt begriff nicht, wo sie sich befanden, trat aber ein. Erst jetzt be merkte er, daß der ganze Hof durch Seile in viele gewundene Korrido re unterteilt war, in denen Männer herumliefen. In anderen Abgren zungen sah er vereinzelte Frauen. Alle waren mit Stricken gegürtet und hatten eine Art Tonschüsseln neben sich stehen, die voll glühen der Kohlen waren, in die sie von Zeit zu Zeit einen kleinen Gegen stand warfen, der bei der Berührung mit der Glut knallte und so die Aufmerksamkeit derer auf sich lenkte, die in den Abgrenzungen zwi schen den Seilen auf und ab spazierten. „Wo befinden wir uns hier?“ fragte Ralt, und Nabu-ballit sagte ihm, daß sie sich in der Umfriedung des Ischtartempels befänden. „Schau, die heiligen Harimate“, fuhr er fort, „für die die Göttin Isch tar den Mann aufbewahrt hat, den sie ihren Händen zur Beute über gibt. Wie du siehst, werfen sie Olivenkerne ins Feuer und verbrennen sie zu Ehren der Göttin. Es genügt, daß auch du deiner Auserwählten soviel Kerne in den Schoß wirfst, wie du für richtig hältst, und dabei die Worte sprichst: Ich rufe in dir die Göttin Ischtar, und jede der Ha rimate wird dich ins Liebesbett begleiten. Fürchte dich nicht, daß du zuwenig schenkst, die Gabe ist heilig, und keine Harimatu wird sie verachten, denn für das Liebesopfer befindet sie sich hier, zum Ruhm der Göttin Ischtar.“ Und tatsächlich, wie um seine Worte zu bestätigen, erfüllte ein fei ster Mann, dessen Körper den angenehmen Duft des Zedernöls aus strömte, mit dem er gesalbt war, neben Ralt das vorgeschriebene Ritu al, und die Auserwählte erhob sich rasch, wobei sie triumphierende Blicke auf die beiden anderen warf, die neben ihr noch warteten. Ver ärgert warfen diese ein paar Kerne ins Feuer, um dann, wenn das Ge räusch die Blicke auf sie lenkte, mit graziösen Gesten ihre Tuniken in Ordnung zu bringen. Ralt konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Beeile dich nicht, mein Sohn“, riet ihm Nabu-ballit und zog ihn weiter. „Du hast Zeit, mit Überlegung zu wählen. Obwohl es sich um
ein Opfer handelt, hindert dich die Göttin Ischtar nicht daran, es so angenehm wie möglich zu machen.“ Gemeinsam mit den anderen fuhren sie also fort, zwischen den Sei len auf und ab zu gehen. Alles spielte sich dezent beim Fackellicht ab, die Gesten und Worte der Harimate aller Altersstufen und, wie ihre Kleidung zeigte, aller sozialen Schichten waren dem Charakter der Weihestätte angepaßt. Auch die kurzfristigen Paare entfernten sich taktvoll, um sich in den Räumen rings um den Tempel zu verlieren. Ralt durchschritt den ganzen Hof und näherte sich jetzt einer der Wände des heiligen Gebäudes, als es ihm kalt den Rücken herunter lief. Der Schmerz war so heftig, daß es ihm den Atem benahm und er in Schweiß gebadet war. Er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Jemand stieß ihn in den Rücken. Er stöhnte und begann zu keuchen, schwankte. „Ra-lit“, sagte der Alte und packte ihn beim Arm. Dort, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, stand Arla. Mit einem Strick gegürtet, in einem Seilgehege wie alle anderen Harimate iso liert, warf sie gerade einen Kern in das Gefäß mit der Kohlenglut. Der Schmerz ging so plötzlich vorüber, wie er gekommen war, noch bevor Ralt die Frau erkannt hatte. Sein Herz schlug im Rhythmus des Glücks, oder war es Verzweiflung? Arla! Scat Mor, Scat Mor, Un glaube und Furcht und erneut Verzweiflung und Glück erfüllten ihn, während er Nabu-ballits Hand zurückschob und auf Arla zuschritt wie so oft im Traum, aber er träumte nicht mehr. Arla befand sich wirklich hier. (Wirklich? In Babylon?) Er schwankte zwischen Furcht und Hoffnung, daß sie es sei, Arla, der Brunnen, die Statue, Arla. Er spürte nicht die Tränen, die über sein Gesicht flossen, bemerkte nicht, wie die Männer ihre bärtigen Köpfe unter den bunten Turbanen nach ihm umdrehten, und hörte nicht die Worte, die Nabu-ballit stammelte. Zit ternd, unfähig, ein Wort herauszubringen, näherte er sich Arla und ergriff mit beiden Händen das Seil. „Willst du mit mir opfern, Fremder?“ Die Stimme, die Bewegungen, Arla.
„Arla!“ rief er und schüttelte das Seil, das sie trennte. „Blick her zu mir, ich bin es, Ralt.“ Er sah, wie sie erschrocken die Arme hob, so, als wolle sie einen Schlag abwehren. „Beruhige dich“, sagte Nabu-ballit, „es ist eine etwas magere Hari matu, die Göttin Ischtar möge uns verzeihen… Ruft einen Aschipu, liebe Leute. Noch heute früh.“ Da zog Ralt das Seil hoch und stürzte in die Abzäunung, während Arla schrie und ihr Gesicht verdeckte. „Du fürchtest dich? Vor mir? Arla…“ Schluchzend fiel er auf die Knie und berührte mit den Fingerspitzen den Arm der Frau, den sie schützend vor sich hielt. Sie wich zurück und schrie: „Legt denn niemand Hand an den Verrückten, der den Tempel der Göttin Ischtar entweiht?“ Viele Arme streckten sich nach der Abzäunung, und Ralt fühlte sich am Kragen, an den Schultern, am Haar gepackt. „Ra-lit… Aschipu…, liebe Leute…“ Dann erstarrte alles für den Bruchteil einer Sekunde, aber er sah es nicht, weil nur Arlas Bild vor seinen Augen schwebte, Arla, die am Fuß der Wand kauerte, Arla, die mit offenem Mund schrie. Es blieb ihm keine Zeit mehr, sich zu wundern, daß er diesen Schrei nicht hör te, denn mit einemmal wurde alles blendend weiß, und er brach auf einem elfenbeinfarbenen Sand zusammen, weit weg von Arla. Ihm war, als explodiere sein Schrei unter dem weißen Himmel.
Kosmospekt Außerdem erlauben wir uns, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß wir mangels eines Präzedenzfalles jede Verantwortung für die eventuellen Folgen dieser Initiative ablehnen, die wir nur als bedauer lich bezeichnen können. Da sie den Bestimmungen des Vertrages wi derspricht, enthebt sie uns natürlich jeder späteren juristischen Haf tung. Gleichfalls halten wir es für notwendig, zu betonen, daß in Überein stimmung mit den Gepflogenheiten alle Ihre Gespräche mit unserem Bevollmächtigten registriert wurden, so daß wir in der Lage sind, je derzeit den Beweis zu erbringen, daß Sie sich mehrfach mit der Art zufrieden erklärt haben, in der wir unseren Verpflichtungen nachge kommen sind. Selbstverständlich werden wir auch in Zukunft den Vertragsklauseln Typ 512, wie sie von unseren zuständigen Ressorts ausgearbeitet wur den, treu bleiben. Mit vorzüglicher Hochachtung (Unterschrift) Auszug aus der Kopie der Bekanntmachung, die dem Dossier Nr. 43 des Archivs Kosmospekt beigefügt wurde. Die drei Ferunadari warteten auf Antwort. „Ja.“ „Die Antwort verwundert uns. Asp av Tald su Arit ist gemeinsam mit dir vorgeladen worden.“ „Auf Babel“, sagte Idomar mechanisch und suchte vergeblich einen Ausweg aus der Falle. „Ist das Urteil des Orialats nicht für alle Welten gültig?“
„Nun wohl?“ flüsterte Asp, und Idomar sagte zu seiner eigenen Überraschung: „Das Urteil ist vollstreckt worden. Wenn etwas nicht real ist, dann ist es diese Welt.“ Er mußte Zeit gewinnen, für beide! „Erscheint die Wolke auch bei uns auf dem Mars?“ fragte er halb laut. „Soviel ich weiß, nicht“, antwortete Asp im gleichen Tonfall. „In den Augen Scovs unterscheidet sich diese Welt nicht von allen anderen. Wir, Ferunadari von Arit, haben beschlossen.“ Der Mann im weißen Mantel zog einen Dolch aus dem Ärmel und legte ihn auf den Tisch. Aber Idomar fragte nicht weiter. „Diesmal weißt du es“, sagte Asp. Nebeneinander stehend betrachteten sie den Dolch. „Jetzt! Hier!“ befahl der Mann im weißen Mantel. Und Idomar fühlte von neuem das bedrückende Schweigen. Er zuck te die Achseln, schob den Revolver in die Tasche und kreuzte die Ar me: Und er brauchte nicht zu Asp zu schielen, um zu wissen, daß der Wiederauferstandene das gleiche tat. Doch er hörte ihn flüstern: „Nicht das ist die Lösung, mein Junge.“ Welche also dann? Wenn er sie gefunden hätte, würde Asp nicht ge zögert haben. Der Ferunadar zur Linken erhob sich und ergriff den Dolch. Ruhig schritt er um den schwarzen Tisch, stieg die Treppen herunter und kam auf sie zu, die Hand mit dem Dolch auf dem Herzen. „Ich frage mich, ob auch dies eine Lösung ist?“ meinte Asp nach denklich. Den Kopf zur Seite geneigt, blickte er auf die Schlitze in der weißen Kapuze. Idomar spürte, wie seine Hände feucht und sein Mund trok ken wurden. „Scheint es dir nicht…“, begann Asp erneut, aber der Ferunadar war bei ihnen angelangt, und der Dolch blitzte auf.
Die Gesichtszüge des Wiederauferstandenen verkrampften sich. Sei ne Hände umklammerten den weißen Griff, und als er sich nach vorn beugte, schien es Idomar, daß Asp sich selbst den Dolch in die Brust bohrte. Idomar senkte langsam die Knie und stützte den fallenden Körper. Die Schweißtropfen auf Asps Stirn waren nicht mehr das Ergebnis des Porals. Idomar streichelte die heiße Stirn mit einer unbewußten Geste. Asps Atem wurde zum Röcheln, rosa Schaum trat ihm auf die Lippen. „Zum zweitenmal! Zum zweitenmal vor meinen Augen!“ Die Worte wiederholten sich, verdrängten alle anderen, die er schreiend oder schluchzend sagen wollte, und in Idomar herrschte nur noch Leere, in der die Worte ihren Sinn verloren. Ihm wurde erst bewußt, daß Asp gestorben war, als er dem gläsernen Blick begegnete, der ihn schon in seiner Wohnung auf dem Mars ver folgt hatte. Diesmal streckte er den Zeigefinger aus und schloß ihm die Augenlider. Nach einer Weile hob er erschöpft den Blick und entdeckte die auf rechte Gestalt des Ferunadars neben sich, weiß und aufrecht. Dieser führte langsam die Hand zu seiner weißen Kapuze, zog sie dann mit einer raschen Bewegung nach oben, enthüllte sein Antlitz. Idomar sah sich selbst. Ihm wurde bewußt, daß er noch einmal Asps Mörder gewesen war. Lange betrachtete er sich wie in einem Spiegel, obwohl der andere aufrecht stand. Ich bin es. Ich. Asps Mörder. Immer wieder. Ich weiß, daß ich nicht ich bin, sondern die Lüge Scat Mors. Er fühlte seine Au gen brennen, zwei trockene Kerne. Alles in ihm war vertrocknet. Das Herz, die Lungen, zwei Feuerschwämme. Und er betrachtete sich un bewegt in dem anderen, schweigsam in dem großen Schweigen. Er sah dann, daß sein Doppelgänger wie im Nebel verschwand, sei ne Gesichtszüge verloren sich, sogar die Umrisse seines Körpers wur den undeutlich. Er war jetzt ein einfacher weißer Schatten, ein Fleck, der sich auflöste.
„Idomar av Olg su Sari. Dein Schweigen hat das Antlitz des Ge schicks für Asp av Tald su Arit angenommen“, hörte er jetzt die Stimme des Ferunadars, und als er sein Gesicht dem schwarzen Tisch zuwandte, sah Idomar, daß es wieder drei Miniaturen waren. „Scovs Frieden sei mit dir, Bruder.“ Und Asp? Sein bärtiger Kopf ruhte auf seinen Knien. Die Wolke mit den dunklen Blitzen über seinem Kopf senkte sich sacht herab. Ihr unterer Rand berührte den riesigen Körper. Auf den schwarzen Dielen sitzend, spürte Idomar, wie ihm Asps Kopf von den Knien glitt. Der Körper desjenigen, der Asp av Tald gewesen war, existierte nicht mehr. „Eine vollkommene Abdeckerei“, hatte er kurz vorher sarkastisch bemerkt, ohne zu ahnen, daß die Wolke sich auch mit ihm befassen würde. Ein großer Hohn. Eine sadistische Ironie. Seufzend erhob sich Idomar. Die Ferunadari waren verschwunden. Ich war es nicht, es war auch nicht Asp. Wenn tatsächlich alles auf dem verbotenen Planeten eine Lüge war, nachgebildet, so wie Asp nachgebildet worden war, dann konnte Asp immer wieder erscheinen. Vielleicht mußte er ihn nochmals töten, doch durfte sich Idomar die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Asps Anwesenheit auszunutzen, um alles in Erfahrung zu bringen, was dieser ihm nicht mehr sagen konnte oder wollte. Er fragte sich, ob er einem wiederauferstandenen Asp Glauben schenken könnte, der vielleicht nur deswegen wieder zum Leben erwacht war, um die Hauptrolle in dem komplizierten Stück zu spielen, das der Folterknecht Scat Mor inszenierte. Um so authentischer Asp war, um so mehr litt Idomar. Illusion. Die Gegenwart ist zur Illusion geworden, dachte er, also ist die Strafe real. Aber er zuckte die Achseln. Hatte der alte Streit noch irgendwelche Bedeutung? Die Vergangenheit war ein für allemal er starrt, und die Zukunft hatte aufgehört, eine konkrete Utopie zu sein, an der die Gegenwart gemessen wurde. Habe ich jemals meine Indivi dualität gespürt? fragte er sich. Stimmte sein Wille tatsächlich mit dem Willen der Edlen Gilde überein, was die Freiheit des Handelns betraf, oder wurde er nicht eher von der Gilde gelenkt?
Nachdenklich ging er zu den schwarzen Treppen, die zur Tür führ ten, über der noch das Wappen mit den violetten Augen hing. Er betrat den großen Saal mit den Fahnen. Todmüde stieg er langsam die roten Marmortreppen hinauf. Als er auf der Galerie angelangt war, stellte er fest, daß seine Vorahnung ihn nicht getrogen hatte: Die vergoldete Tür mit roter Maserung stand offen. Ohne sich zu beeilen, überschritt er die Schwelle und ging auf den Thron zu, auf dem ihn das Abbild Scat Mors erwartete. Vor dem Thron angelangt, streckte er die Arme aus und packte die Gliederpup pe. Sie war nicht schwer. Die Pelzkappe fiel herunter und enthüllte einen kahlen Schädel mit schmutziggelber Haut. Die langen Finger Idomars suchten den gebrechlichen Hals, der in dem weichen Kragen des goldverbrämten Pelzes steckte; er spürte dessen Wärme. Mit einer Wollust, wie er sie noch nie gespürt hatte und die den asketischen Nachfolgern Scovs untersagt war – dabei sich des kindischen Charak ters der Rache bewußt, aber unfähig, sich zu beherrschen –, preßten sich seine Finger um den Hals Scat Mors, drückten seine Daumen auf den Adamsapfel. Der Kopf mit der wie gegerbten runzligen Haut löste sich vom Hals und kullerte die Treppen, die zum Thron führten, hinab. In seinen goldverbrämten Pelz gehüllt, sank der kopflose Körper zur Seite. „Schade“, ertönte die schnarrende Stimme Scat Mors, „es war ein so vollkommenes Abbild. Aber ich bedarf seiner nicht mehr, Herr Ido mar av Olg su Sari.“ Der Mörder atmete stoßweise. Vom Parkett her blickte ihn Scat Mors Kopf an. Waren die Blicke aus seinen dunklen Augen erlosche ner als vorher? Eine neue Illusion, wie die dünnen Lippen, die hä misch zu lächeln schienen. Ruhig stieß Idomar mit der Spitze seines Schuhes gegen den Kopf Scat Mors. Der Kopf flog wie ein scheußlicher Ball durch die Luft und blieb in dem geöffneten Rachen des namenlosen Raubtiers stek ken, der aus der Tür eines Büfetts auftauchte. Das unfrohe tote Lä cheln erschien dabei auf den Lippen des Mörders und entblößte seine Hamsterzähne.
„Bemerken Sie nichts Ungewöhnliches?“ fragte eine zittrige, asth matische Stimme, die sich mit aller Gewalt anstrengte, die Worte zu Sätzen zu verbinden. „Nichts. Nichts Ungewöhnliches“, sagte Idomar mit dem Blick auf den Kopf im Holzrachen. Ein hartes Lachen ertönte, von Hustenanfällen unterbrochen. Idomars Muskeln strafften sich. Angewidert erinnerte er sich an die Lust, mit der er den Hals aus Plastmaterial zugedrückt hatte. Erst jetzt wurde er gewahr, daß die schnarrende Stimme von nirgends her ertön te, sondern daß er ein Selbstgespräch führte. „Und so wird es von jetzt an immer sein“, fuhr Scat Mor fort, und Idomar bedeckte entsetzt sein Gesicht mit den Händen. – Über Ralts Körper gebeugt, versuchte Or-alda zu begreifen. Babylon war für sie nur ein Name, aber sie wußte, daß es sich um eine uralte Stadt handelte, die längst zu Staub zerfallen war. Aus einem Tempel hof dieses Babylon hatte sie Ralt losgerissen, im Glauben, ihn aus einer Gefahr zu retten. (War er doch vor ihren und Idomars Augen auf dem Platz vor dem Palast Scat Mors verschwunden.) Und nun war Ralt verzweifelt und wiederholte immerzu den Namen der Langge suchten und vor Tausenden von Jahren Wiedergefundenen. Or-alda, die bisher davon Abstand genommen hatte, ihn zu sondieren, ent schloß sich nun dazu. So erfuhr sie, was Ralt auf den verbotenen Planeten geführt hatte. Sie ließ ihre Blicke über die makellos weiße Sandfläche gleiten, die sich am Horizont verlor. Das Einhorn, das neben ihr lag, schnaubte. Warum nicht? Die Gerla konzentrierte sich und flüsterte: „Arla… Ich sehe sie, weiß, schlank, ihre schwarzen Haarflechten schüttelnd.“ Ralt bedeckte seine Augen mit den Händen. Bei Or-aldas Worten tauchte Arlas – Gestalt vor seinen geschlossenen Augenlidern auf. „Warum hast du mich von ihr weggerissen? Schick mich zurück, Or alda.“
Da streckte sie die rechte Hand aus, genau, wie sie es schon einmal in der Kabine des kleinen Raumschiffes getan hatte, und faßte sich mit der Linken an das Armband auf dem nackten Arm. Ein Schrei. Ralt öffnete die Augen. „Was sagt sie?“ fragte Or-alda. Verblüfft blickte sie auf die erschreckte Frau, die schrie und mit den Händen fuchtelte. Wie ein Mondsüchtiger streckte Ralt die Arme aus. Hoffentlich habe ich mich nicht getäuscht, dachte sie, aber es war das Gesicht, das sie in Ralts Gehirn gelesen hatte. Er stammelte: „Arla, Arla“, weinte und lachte zugleich und näherte sich mit schwankenden Schritten der Frau, die zurückwich und unbekannte Worte in einer harten, fremden Sprache sprach. „Arla“, flüsterte Ralt, „schau her… Arla, ich bin es. Warum? Die Qual hat ein Ende, Arla, wir sind wieder zusammen…, wir zwei…, Arla.“ Arla jedoch stieß ihn zurück, floh vor ihm, wobei sie unverständli che Worte ausstieß. Dann brach sie zusammen, verneigte sich tief wie vor einem Götterbild, wobei sie mit der Stirn den weißen Sand berühr te. Neben ihr fuhr sich der verzweifelte Ralt mit den Händen übers Gesicht; diese Welt mit ihren verrückten Gesetzen überstieg sein Fas sungsvermögen und seine Widerstandskraft. „Was sagt sie?“ fragte Or-alda erneut. „Ich Weiß nicht. Es ist Babylonisch, und ich verstehe es nicht mehr, und Arla versteht mich nicht… Warum? Es ist •Arla, und sie kommt wie eine Fremde und erkennt mich nicht mehr. Aber ich… Für unsere Erinnerungen, Arla, ich bitte dich.“ „Ich werde sie einschläfern“, beschloß Or-alda, und Arla, die noch niederkniete, führte ihre Verneigungen nicht zu Ende, sondern ließ sich langsam in den Sand gleiten. „Sie schläft“, flüsterte Ralt mit einer Zartheit, die in Or-alda einen Unwillen gegen die auf dem Sand kauernde Frau erweckte. (Sie sah das Bild Ter-lis, den orangefarbenen Flecken seines flatternden Hem des zwischen den roten Bäumen der Waldlichtung, in der sie sich ge liebt hatten, um sich so rasch wieder zu trennen.) „Sie lebt. Arla lebt.
Or-alda, sie hat nur die galaktische Sprache vergessen. Und wenn schon? Ich werde sie es lehren. Galaktisch erlernt sich rasch. Ist sie nicht schön?“ „Sehr schön, Ralt.“ Sie umfaßte mit der Linken das grüne Armband am rechten Arm und brachte so Idomar neben sich. „Wie hast du das fertiggebracht…?“ Verwundert glitt Idomars Blick über die ruhige Landschaft. „Ich weiß noch nicht… Hier (sie wies dabei auf das Einhorn, das zu ihren Füßen lag), hier bin ich wieder…“ Lächelnd sagte sie sich, daß es wohl keinen Grund gab, deswegen ihren Blick zu senken. „Leiser“, bat sie Ralt und bedeutete dann Idomar, sich zu nähern. Ralt wunderte sich nicht einmal, ihn hier zu sehen, und sagte ein fach: „Arla. Ihretwegen bin ich auf Babel gekommen.“ „Gut, laß sie schlafen.“ Idomar drehte sich zu Or-alda um. „Du hast recht gehabt“, sagte sie rasch und teilte ihm alles mit, was sie von Ralt erfahren hatte. „Rote und schwarze Magie. Das ist alles. Alles Lüge, auch Arla, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, es ihm zu sagen.“ „Seit wir getrennt wurden, habe ich dreimal eine Lüge getötet“, stimmte Idomar zu. „Zweimal… ist es meine eigene Angelegenheit gewesen, dieselbe Lüge gleich zweimal. Das drittemal war es Scat Mor.“ Und er erzählte. Jetzt wußte jeder vom anderen den Grund, weshalb er in dem mit Ho logrammen geschmückten Büro mit den anderen übereingekommen war, nach Babel zu reisen. Ralt hatte sich nicht so leicht überzeugen lassen. Arla, die er in dem Hof des Ischtartempels getroffen hatte und die von Or-alda durch die Zeiten und Räume hierher auf den weißen
Strand verpflanzt worden war, war die Arla, die er gekannt hatte. Da sie schlief, konnte er den anderen ein Muttermal zeigen, dann erinner te er sich, daß sie sich vor Jahren am Zeigefinger der linken Hand ge schnitten hatte, und entdeckte die kaum noch sichtbare weiße Narbe. „Auch Asp war Asp, ohne es gewesen zu sein“, erinnerte sich Ido mar. „Erinnerst du dich?“ fügte Or-alda hinzu. „Noch auf dem Schiff ha be ich dir gesagt, daß du der Beste von uns bist. Ich… habe die Große Herrin der Gerl beleidigt, Idomar hat Blut vergossen, nur du bist nicht schuldig geworden. Wenn hier jemand nicht an seinem Platz ist, dann bist du es, als einziger von uns.“ „Nein“, sagte Idomar, „alle sind wir hier an unserem Platz, denn wir sind alle Gescheiterte.“ „Schon wieder!“ seufzte Or-alda. „Und selbst wenn es so wäre, seit wann ist das eine Schuld?“ „Ich weiß nicht. Ich stelle nur fest, daß man uns hierhergelockt hat. Freiwillig sind wir hierhergekommen, obwohl – abgesehen von dir – keiner von uns schuldig wurde. Ja, ja, unterbrich mich nicht. Ralt hat Arla verloren, und ich habe Asp getötet, Arla jedoch ist durch einen Unfall umgekommen, und Asp wurde von der Edlen Gilde verurteilt. Nach der Logik unserer Welten kann man uns nichts vorwerfen. Du allein hast dich schuldig gemacht, aber auch du hast gebüßt nach der Logik deiner Welt, indem du deine übersinnlichen Fähigkeiten einge büßt hast.“ „Interessant“, mischte sich da Scat Mor als innere Stimme in Ralt und Idomar ein. „Fahren Sie fort, Herr Idomar av Olg su Sari. Verzei hen Sie mir, kann ich Sie Herr Idomar nennen? Sie haben einen un gewöhnlich langen Namen.“ „Nein“, sagte Idomar zähneknirschend. „Wie Sie wünschen. Nochmals, verzeihen Sie die Unterbrechung. Ich höre zu.“ „Arla“, flüsterte Ralt. „Herr Scat Mor, ich bitte Sie. Nicht wahr, es ist doch Arla?“
Or-alda mußte sich konzentrieren, um im, Gehirn der Männer das trockene Lachen zu hören, das wie ein Husten klang. „Er wird dir nicht antworten“, sagte Idomar mit düsterer Miene. „Aber er kann uns nicht daran hindern, zu denken. Das ist alles, was uns geblieben ist.“ „Ich höre ihn nicht“, flüsterte Or-alda. Einen Augenblick lang er schrak sie, dann erhellte sich ihr Gesicht. „Er fürchtet sich“, rief sie. „Vor mir fürchtet er sich!“ Nachdenklich streichelte sie die Mähne des Einhorns. In der weißen Welt war sie wieder eine Harfe der Großen Herrin geworden, die alte Furcht trat in den Hintergrund, und die Tatsache, daß Scat Mor ihr auswich, gab ihr ein neues Selbstgefühl. „Es ist eine andere Logik, begreift ihr? Man hat uns nicht verurteilt, wir haben es selbst getan… Schuldgefühle…“ „Also siehst du nicht, warum wir alle Gescheiterte sind?“ Idomar lä chelte höhnisch. „Ich werde es dir sagen und mit mir beginnen… Es fiel mir nicht leicht, das Antlitz des Schweigens für Asp anzunehmen, aber ich habe es getan, bin über alles hinweggegangen, was uns ver bindet, weil ich mich frei glaubte so wie auch ihn, denn meine Freiheit stammt von der Edlen Gilde. Ich habe entdeckt, daß Asp etwas wußte, etwas in Erfahrung gebracht hatte, eine Wahrheit, die ihn vernichtete. Der Geschichtsschreiber der Edlen Gilde konnte kein Mörder mehr sein und wollte deshalb Schluß machen. Er half mir, das Hohe und Unwiderrufliche Dekret Ferunadar zur Erfüllung zu bringen, um mich vor seinem Schicksal zu bewahren, um nicht auch aus mir einen Ge scheiterten zu machen, der unfähig ist, in den Reihen der Gilde zu bleiben. Es ist ihm nicht gelungen“, sagte Idomar, und plötzlich lä chelte er mit einem Lächeln, das Or-alda und Ralt faszinierte, weil es ein ungewohnter Anblick war, in seinem toten Gesicht ein lebendiges, offenes Lächeln zu sehen. „Ich habe meinerseits das entdeckt, was Asp entdeckt hatte, und bin dabei ein Zweifler geworden. Klar?“ Schweigend stimmten Or-alda und Ralt zu und beugten ihre Köpfe, obwohl ihnen nicht alles in den Worten des anderen klar erschien. „Muß ich noch weiter reden?“ fragte Idomar.
Schweigend bedeuteten sie ihm, daß es nicht nötig sei. Arlas Tod hatte Ralt psychisch krank gemacht, und das Verschwinden der Ga ben, die an ihre Eigenschaft als Harfe der Großen Herrin gebunden waren, hatte die gleiche Wirkung auf Or-alda gehabt. Aber es blieben noch genügend Unklarheiten und vor allem Ungewißheiten in Zu sammenhang mit dem, was sie zu tun hatten. Wenn Ralt seiner Natur gemäß zur Resignation neigte, so lagen die Dinge bei Idomar, der eine aktive Natur war, anders; ebenso bei Or-alda. Alle hätten sie also ge wünscht, weiter von dem zu sprechen, was sie erwarteten, und von der Art, wie sie den Angriffen Scat Mors entgegentreten könnten, selbst Ralt, für den die Worte oft die Taten ersetzten. Aber die mutmaßliche Gegenwart des Herrn des verbotenen Planeten hemmte sie. Jetzt, wo Ralt und Idomar wußten, daß er ein Teil ihres Selbst war, schien ih nen, daß er eher noch gefährlicher geworden war. „Ich befürchte, Idomar, daß du dich getäuscht hast“, sagte deshalb Ralt, der rasch begriffen hatte. „Wenn es wahr ist, daß Babel ein per fektioniertes Gefängnis ist, dann ist uns nichts Eigenes mehr geblie ben. Nicht einmal Gedanken.“ In dem weißen, schweigsamen Raum blickten sich die drei an. Ihre Gesichter waren genauso weiß wie der Sand, der Himmel und das Meer. „Und dennoch werde ich mich nicht geschlagen geben“, schrie nach einer Weile Ralt. (Sein Ausbruch war so ungewöhnlich, daß Or-alda und Idomar ihm gegenüber nicht gleichgültig bleiben konnten.) „Ver stehst du, Or-alda, die Erinnerungen… Du hast mir Arla von Babylon gebracht, lies in mir meine wirkliche Arla und bring sie mir.“ Betrübt senkte Or-alda die Stirn. „Versuch die Wahrheit zu begreifen“, sagte Idomar an ihrer Stelle. „Deine Arla existiert nicht mehr, Ralt. Or-alda hat dir die Babylonie rin gebracht, denn nur sie allein… lebt.“ „Tausende von Jahren vor Arla.“ Verwirrt packte Ralt ihn am Ärmel und schüttelte ihn. „Sie ist Tausende von Jahren vor meiner Arla ge storben, ist dir das nicht klar? Wie kann gerade sie wieder zum Leben
erweckt werden und nicht meine Arla, die… vor knapp einem Mo nat…“ Er drehte ihnen den Rücken zu und bemühte sich, sein Schluchzen zu unterdrücken. „Ich kann nicht in die Zeit zurückkehren“, sagte Or-alda sanft. „Die Babylonierin habe ich im Leben angetroffen. Nicht ich habe sie wie der zum Leben erweckt, Ralt, so wie ich auch nicht die längst ver schwundene Stadt wiederauferstehen ließ, in der du herumspaziert bist. Verlang nicht von mir, es dir zu erklären. Vielleicht war dein Babylon eine Illusion, aber es existiert als Illusion, und meine Macht ist imstande, der Illusion eine reale Dimension zu verleihen. Das Le ben ist ein aufgeschobener Tod. Deine Arla kann ich jedoch nicht mehr so antreffen…, wie du sie jetzt kennst.“ Die letzten Worte sprach sie im Flüsterton. Auf dem weißen Sand richteten alle drei ihre Blicke auf die Eingeschlafene, deren aufgelö stes Haar sich im Sand ausbreitete und die entspannt atmete. Sie ist es, und doch ist sie eine andere, dachte Ralt. Zwischen uns stehen ihre Erinnerungen, meine Erinnerungen… Soll ich ihr Erinne rungen geben, Or-alda? Die Kleider, die Hologramme Arlas… Ralt ergriff Or-aldas Hand und rief: „Die schwarze Truhe! Lies in mir, Or alda.“ Und die Harfe der Großen Herrin, die ihre Freunde ohne deren Zu stimmung nicht sondieren wollte, schenkte ihm Gehör. Mühelos las sie in Ralt das letzte unterirdische Stockwerk des Gebäudes, in dem die Truhe hinterlegt war. Sie las die Truhe. Mit der linken Hand um faßte sie das grüne Armband. Und die Truhe tauchte neben ihr auf, tiefschwarz auf dem weißen Sand. „Sie ist es“, flüsterte Ralt zitternd. „Ich erkenne sie.“ Die Nacht, die er auf dem Treppenabsatz verbracht hatte, das Ge spräch mit dem Gebäude… Alles lag so weit entfernt, daß er an der Realität zu zweifeln begann, in der es stattgefunden hatte, obwohl er ebenfalls an der Wirklichkeit des verbotenen Planeten zweifelte. Hatte nicht Idomar gesagt, daß in der Welt Scat Mors alles Lüge war? Un ruhig blickte er auf die eingeschlafene Arla.
„Öffne die Truhe“, forderte ihn Or-alda auf, und er streckte seine Hand aus, voller Furcht, daß die Dinge drinnen verändert sein könn ten. Über den Kleidern lagen Armringe und Nichtigkeiten. „Arla. In Ägypten. Die Sphinx.“ Ralts Augen glänzten. Wie damals erinnerte er sich an die Sonne, die Wärme, den Geruch des Sandes. „Wieviel Tau sende von Jahren blicken Sie von der Höhe dieser Pyramide an!“ hatte Doktor Orbik gerufen, den sie in Kairo kennengelernt hatten, und Arla hatte gelacht, was bei ihr so selten vorkam, und Ralt beeilte sich, das Bild festzuhalten, das sich zu einem Dreieck aus plastischem Material verdichtete und aus den Sandwüsten Ägyptens jetzt auf dem irrealen Sand des verbotenen Planeten auftauchte. Or-alda nahm das Hologramm, betrachtete es lange und reichte es dann Idomar. Sie saßen nebeneinander auf der schwarzen Truhe. Auf Ralts Bitte hin, der eines der Kleider Arlas, ein Paar Schuhe, Schmuck und alles, was sonst noch vonnöten war, herausgenommen hatte, entkleidete Or alda die Schlafende und zog ihr Arlas Kleider an, genau wie in den Erinnerungen Ralts. Arla schlief ruhig am Strand. „Weck sie auf“, flüsterte Ralt. „Wenn du es dahin bringen könntest, daß ich noch einmal Babylonisch verstehe…“ „Ich habe dir gesagt, daß ich in dir nur lesen kann, was du weißt.“ Auf dem Sand drehte sich Arla um und öffnete die Augen. Ihr Ge sicht drückte große Verwunderung aus. Ungläubig glitten ihre Finger über das weiße Kleid mit dem metallischen Schimmer, dann zog sie die Knie an und berührte die Schuhe. Das goldene Armband faszinier te sie, und sie betastete es, während ein noch erschrecktes Lächeln ihre Lippen umspielte. Langsam, mit unsicheren Bewegungen, näherte sich ihr Ralt und hockte sich nieder. Die Frau duckte sich, als ob sie aufspringen wollte, aber der Ausdruck seines Gesichts (Schmerz und Hoffnung, Bewun derung und Furcht) überzeugte sie wahrscheinlich, daß sie wenigstens unmittelbar von keiner Gefahr bedroht war. Sie flüsterte einige Worte,
von denen Ralt glaubte, den Namen der Göttin aus dem Tempel zu verstehen, aus dem sie geraubt wurde. „Ischtar“, wiederholte er langsam. War es nicht der Name der Liebesgöttin? Beglückt sah er, daß Arlas Gesichtszüge sich entspannten. „Arla“, fügte er hinzu und wies auf sie, sie schüttelte jedoch den Kopf und sagte mit einem neuen, verlegenen, scheinbar schuldbewuß ten Lächeln: „Bel-Schalti-Nanna…“ „Arla.“ Ralt lächelte von neuem, trunken vor Glück und Schmerz. Da hob sie die Schultern mit Arlas Grazie und wiederholte gehor sam: „Ar-la…“ Dann wischte sie ihm mit dem Finger die Tränen aus dem Gesicht und berührte seine beiden Wangen. Ralt führte ihre Hand an die Lip pen. „Ralt“, flüsterte sie heiser, wobei sie auf ihn wies. „Ra-lit?“ „Wir haben ein gutes Werk getan“, sagte Or-alda, aber Idomar schüttelte den Kopf. „Noch haben wir nicht gelernt zu tun, was wir wollen“, sagte er. „Glaubst du, daß…?“ (Sie unterbrach sich, denn ein dunkler Fleck tauchte in der Ferne auf.) „Jemand kommt.“ Angespannt verfolgten die beiden das Näherkommen der Silhouette, die auf dem feuchten Sandstreifen am Meeresufer immer größer wur de. Bei Ralts Lachen zuckten sie zusammen. „Armer Ralt“, flüsterte Idomar. Er nahm eine Handvoll Sand und ließ sie durch die Finger rinnen. Als er sprach, klang seine Kinderstimme leidenschaftlich: „Lange Zeit war ich der Meinung, daß nur der Augenblick existiert und es keine Vergangenheit und Zukunft gibt. Hüte dich, Or-alda. So bin ich zum Mörder geworden.“
Die Gerla näherte ihr Gesicht der Mähne des Einhorns und seufzte.
„Du verallgemeinerst, Idomar.“
„Vielleicht. Schon immer wollte ich ein ganzer Mensch sein.“
„Und bist du es jemals gewesen?… Hast du dich gefragt, was dich
schließlich in die Reihen der Edlen Gilde geführt hat?“ „Was weiß ich! Aber wer, das ja“, antwortete er und zeigte auf den Mann, der sich rasch näherte. Von riesiger Gestalt, bärtig, schwarz in der weißen Welt, schwenkte Asp av Tald su Arit seinen Arm zum Zeichen des Grußes.
Gnomon Die Hoffnung
Meine Gedanken schweben wie Luftblasen, mit denen ich jongliere, bis ich nicht mehr weiß, in welcher Reihenfolge sie sich zur Decke mit ihren beiden entgegengesetzten Rissen erheben, auch nicht, welcher von ihnen sich über den anderen erhebt und ungehört explodieren soll, um die winzig kleine Menge von Sauerstoff freizusetzen, in der der Fötus Hoffnung lebt. Auf dem Rücken liegend, betrachte ich das ununterbrochene Gleiten der kleinen Wesen, die durch das Fenster den rollenden Gehsteig draußen an der Decke widerspiegeln. Vielleicht würden die Folgen den in einer der Ritzen verschwinden. Unheilbar
Auch die Vormittage sind immer weißer. Im Nebelbad sind die Eiszap fen naiv erstarrt (arktische Bäume, wie mit Mehl bestäubt, Glasrake ten), so als sei die Welt eine riesige Gipskindheit, über der eine sil berne Sonne strahlt, aber die Sirenen zerbrechen die unsichtbare Luft schicht (wer hat es nicht erfahren und wieso hat er es noch nicht er fahren?), und die Scherben sind wieder bespritzt, und der ganze trü gerische Gips zerbricht im grämlichen Tag, saugt die Schärpen des Nebels auf, wenn die Bäume nur noch trauernde Überreste sind, feuchte Gerippe eines von der reifen Sonne in Brand gesetzten Uni versums. Guten Morgen, Ralt! Auszüge aus „Gnomon“, Gedichte in Prosa von Ralt Moga
Ein Windstoß. Das Meer kräuselt sich, und die Spitzen der Dünen scheinen zu rauchen. Unruhig scharrt das Einhorn im Sand, stößt rhythmisch mit dem rechten Huf auf und spitzt die Ohren, ein bedroh liches Sausen erhebt sich in der weißen Sandwelt. „Das Freundschaftstreffen geht zu Ende“, sagte Asp. Seit er ihn auf dem Strand auftauchen sah, hatte sich Idomar gefragt, ob er wußte, daß er zum zweitenmal getötet worden war, jedoch nichts im Verhalten und den Worten des Wiederauferstandenen verschaffte ihm Klarheit darüber. Deshalb blickte er ihn jetzt lange an und ver suchte, seinen Worten einen Sinn abzugewinnen. Er wußte nicht ein mal, ob der andere sich an seinen ersten Tod auf dem Mars erinnerte. Den beiden Frauen gegenüber verhielt er sich gleichgültig, auch für Ralt legte er kein besonderes Interesse an den Tag, und wenn er auch Idomar wiedererkannte, so bewahrte er doch ihm gegenüber eine Re serve, die von der Herzlichkeit bei ihrer früheren Begegnung abstach. Nur das Einhorn schien seine Neugier zu erregen. Aber die Tatsa che, daß er nicht das Bedürfnis fühlte, Fragen zu stellen, und seine Gegenwart in einer Landschaft, die auf keinen Fall die des Mars sein konnte, mit Gelassenheit hinnahm, gab zu denken. Idomar, der sich wieder daran erinnerte, wie nahe er sich ihm anläßlich seines letzten Auftauchens gefühlt hatte, schloß daraus, daß dem neuen Asp eine neue Rolle in dem ungewöhnlichen Foltersystem Scat Mors zufiel. Verärgert erkannte er in dem Unterschied zwischen Asps zurückhal tender Art und seinem Wunsch, ihn so wiederzufinden, wie er ihn in Erinnerung hatte, die ersten, noch gutartigen Zeichen der künftigen Qual. „Hier sind wir auf Babel“, stellte er in der Hoffnung fest, daß Asp sich verraten würde, aber der Bärtige bestätigte es: „Ja, auf Babel, natürlich auf Babel.“ Gelangweilt zertrat er eine weiße Muschel. Er wußte also, daß er sich auf Babel befand. Ratlos beschloß Ido mar, sich nicht weiter zu quälen. Übrigens, ohne daß er hätte sagen können, warum, entlud sich ein Alarmzeichen in seinem Gehirn. Er
war sich nicht klar darüber, worin es bestand, es war eine Mischung von Furcht und Widerwillen, so, als sei plötzlich ein Schatten auf ihn gefallen, der eine innere Sonne verdeckte, deren Macht er sich nicht bewußt war, aber deren Wirklichkeit sich ihm jetzt durch ihre Abwe senheit enthüllte. Ein schwankender, ungewisser Schatten, gegen den sich sein ganzes Wesen auflehnte. Ein fremder Schatten, der eine kaum merkliche Kälte verbreitete. Die Windstöße verstärkten sich plötzlich, Or-alda packte ihn an der Hand, wobei sie versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. Unruhig wandte das Einhorn den Kopf. Seine Nüstern bebten. Den Arm um Arlas Schultern geschlungen, näherte sich der mit den Wellen kämp fende Ralt. Da löste sich vor ihren Augen – wie von einer ungestümen Kraft ge stoßen – eine Düne. Sie sahen, wie sie sich zum Land hin bewegte, das hinter anderen Sandhügeln versteckt lag; plötzlich spritzten hohe Sandfontänen aus der weißen Masse und zerstoben am Himmel. Hin tereinander explodierten die Dünen und wurden zu Staub. Der Strand schwankt» unter ihren Füßen. Die Schreie Arlas waren nicht mehr zu hören. Das wild gewordene Einhorn galoppierte mit dem Wind im Rücken davon und verschwand. Als er für einen Moment den Blick hob, sah Idomar, wie der Him mel barst. Wie Blitze zuckten dunkle Linien über den Himmel, zerteil ten ihn, breiteten sich im Zickzack aus, wurden zu Klüften. Bald be gannen Stücke von ihm ins Wasser zu fallen, dann stießen die durch scheinenden Massen auf den Strand, ließen Risse mit unregelmäßigen Rändern hinter sich, Löcher von einem glänzenden Schwarz, das so intensiv war, daß es viel härter erschien als das Weiß der zusammen stürzenden Massen. Die Wellen wuchsen bedrohlich. Jetzt erhob sich das ganze weißschäumende Meer wie eine riesige Wand. Die flüssige Wand schwankte, aber da brach der Sand unter den Füßen der fünf zusammen; ein großer Trichter gähnte, in den sie hineinstürzten. Sie purzelten übereinander, stießen aneinander, verkrampften sich mitein ander in einem Wirbel von sausendem und knirschendem Sand. Das Getöse hörte plötzlich auf, sie fielen wohl noch, schienen aber alle betäubt. Dann herrschte Schweigen, und die weiße Wand, an der sie
sich rieben, war jetzt samtweich wie Ruß, der Sand hatte kleinen ela stischen Kugeln Platz gemacht. Ihre Fußsohlen hielten auf einer glat ten, harten Oberfläche inne; sie befanden sich in dem Raum, in dem Idomar den Tisch wiedererkannte, von dem der Knopf mit dem Ant litz Asps verschwunden war, Or-alda vermißte den Spiegel, der das Zeichen der Harfe in einer Ecke trug. Alle fünf blickten sich verstört an. „Zwischenlandung“, sagte Asp, aber keiner von ihnen schien geneigt zu lächeln. Erschöpft, mit zerfetzten Kleidern, Blutspuren an den Händen und im Gesicht, schwankten sie. Ralt, der Arlas Körper so fest in den Ar men hielt, daß er sich anstrengen mußte, um sich von ihm zu lösen, merkte erst jetzt, daß sie ihr Bewußtsein verloren hatte. Sie glitt auf das Parkett, kam aber gleich wieder zu sich, als er ihre Stirn berührte. „Ich freue mich, daß ihr zurückgekehrt seid“, sagte Scat Mor. „Hör auf, in unseren Gehirnen herumzuwühlen“, zischte Idomar. „Also, dann nehmt meine Worte für nicht gesagt“, erwiderte Scat Mor. „Aber, Herr Idomar…, Sie sollten wissen, daß ich keinen Man gel an Höflichkeit ertrage. Ich bin an die Sitten einer anderen Zeit ge wöhnt.“ „Warum quälen Sie uns?“ rief Ralt. Entsetzt blickte Arla von einem zum anderen. „Ich hoffe, Sie werden es niemals erfahren“, antwortete Scat Mor höflich. „Ach ja, verzeihen Sie, daß ich Ihnen Willkommen gewünscht habe, aber ich freue mich wirklich, Sie von neuem hier zu haben.“ „Zu wem sprechen Sie?“ fragte Asp. Das goldbraune Antlitz Or-aldas war jetzt unter den Sand- und Blut flecken grau geworden, denn die Stimme des Kerkermeisters war auch unter ihre Stirn gedrungen. Niedergeschlagen sagte sie: „Du wirst es nicht glauben.“ Und fügte hinzu: „Auf jeden Fall ist es Zeit, die Spuren der Reise zu beseitigen.“ Hierauf verließ sie als erste den Raum. Die anderen folgten ihr in die Galerie. Or-alda, Idomar und Ralt begaben sich mechanisch zu den
Räumen, in denen sie bereits geschlafen hatten. Arla trennte sich nicht von Ralt. Auch Asp fand ein vorbereitetes Zimmer. – Tag und Nacht wechselten im Palast Scat Mors miteinander ab, das Licht erschien unerwartet in den Fenstern, die sich nicht öffnen ließen und keinen Blick nach draußen gestatteten. Die Nacht kam genauso plötzlich und wurde nur durch das Flackern der Kerzen und der Fak keln, die von selbst anzugehen schienen, erhellt. Die Veränderungen des Dekors trugen zur Relativität der Zeit bei, die desto ungewisser wurde, je mehr die Ursprungswelten der Neuankömmlinge auf Babel sich in eine Vergangenheit entfernten, deren Dauer immer schwerer abzuschätzen war. Wie lange befinde ich mich hier? fragte sich Ralt, der dem Geräusch des Wassers lauschte, das Arla in die Wanne laufen ließ. Sein Verstand sagte ihm, daß es nur ein paar Tage sein konnten, aber (er erinnerte sich plötzlich der Worte eines alten französischen Forschers, die ihm in der Jugend aufgefallen waren: „Der Mensch kann in der Wirklichkeit nur das entdecken, was er sich vorher einge bildet oder erfunden hat“) er war unfähig, eine Zeitdauer einzuschät zen, in dem die Ereignisse unabhängig von ihm aufeinanderfolgten und in dem das Unvorhergesehene Gesetz zu sein schien. Er sah sich genötigt, Arla die Art des Funktionierens der Wasser hähne zu erklären (im Palast Scat Mors gab es weder Strahlenduschen noch eine automatische Wasseranlage), aber nachdem die erste Ver blüffung überwunden war, stammelte Arla einige Worte, in denen ein unbekannter Name auftauchte („das Haus des Wassers, der Herr über Apsu, der flüssige Abgrund, über dem die Welt schwebt“, erinnerte sich Ralt), worauf sie begeistert mit den beiden Wasserhähnen spielte, die Dusche in Bewegung setzte und die blaue Fayence der Wände und das Mosaik des Fußbodens bespritzte. Sie freute sich wie ein Kind, und Ralt betrachtete mit einer Mischung von Rührung und Bitterkeit das Bild seiner Arla, von den naiven Reaktionen der anderen Arla beseelt. Ist es Arla? Oder ist ihre Vorfahrin so weit entfernt, daß sich selbst die Erinnerung an ihre Erinnerung verloren hat? Er zwang sich, den Gedanken zu verjagen, daß er Arla mit einer identischen, anderen Arla betrog, die aus ihrem Raum und ihrer Zeit
herausgenommen worden war; die babylonische Arla war zur Materie einer Idee geworden, die nur in ihm und den toten Dingen der schwar zen Truhe lebte. „Eine Illusion“, hatte Or-alda gesagt. Es ist also kein anderes Wesen, keine Frau, die vor Jahrtausenden wirklich selbst ge lebt hat, sondern ein Phantom, ein Trugbild, ein Abbild Arlas, ausge stattet mit der Mentalität einer Babylonierin, damit alles noch verwirr ter und seine Qual um so größer sei. Und wenn sie lebt, lebst du. Lachend begann Arla ihn mit Wasser zu bespritzen, um ihn aus dem Badezimmer zu verjagen, und Ralt ging hinaus und schloß die Tür. Die Tatsache, daß er sie dort neben sich wußte, gab ihm ein Gefühl der Ruhe. Alles war unzusammenhängend. (Und er zweifelte nicht daran, daß dies Absicht war.) Obwohl die Aufklärung der verrückten Situation, die die boshafte Phantasie Scat Mors geschaffen hatte, mit Sicherheit nichts Gutes versprach, mußte er sich darüber klarwerden, warum und wie er nach Babel gekommen war. Der Beginn mußte zweifellos in dem Büro gefunden werden, dessen Wände mit Holo grammen bedeckt waren, dort, wo ihm die Reise nach Babel als einzi ge Hoffnung vorgegaukelt wurde, um Arla nochmals zu begegnen. Zum erstenmal fragte er sich, was die Hologramme bedeuteten, und versuchte, sich daran zu erinnern. Es gelang ihm aber nicht, als ob die Bilder von seiner Netzhaut nicht festgehalten würden und er nur die Erinnerung an ihre Existenz bewahrt hätte, ohne sie wirklich gesehen zu haben. „Aber Arla…“ „Wir haben damit gerechnet“, hatte der Android gesagt und dabei zugegeben, daß er ihn erwartet hatte. (Ralt wurde mit einemmal klar, daß er in eine Falle gegangen war, die nur für ihn vorbereitet worden war, so wie sie auf der Venus nur Or-alda und auf dem Mars nur Ido mar gestellt wurde.) „Unser Geheimnis besteht gerade in der Verwirk lichung des Unmöglichen. Ich fühle mich dennoch verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Operation sich noch im Vor bereitungsstadium befindet und wir nur Freiwillige verwenden kön nen.“ Er hatte die leeren Worte über.
„Gibt es wirklich eine Chance?“ „Eine?“ hatte der Android protestiert. „Wie können Sie sich vorstel len, daß ich für eine einzige Chance das Leben derjenigen riskieren würde, die sich uns anvertrauen wollen? Die Ergebnisse unserer Er fahrungen lassen uns praktisch keinen Zweifel, in dreiundneunzig Prozent der Fälle bestätigen sie unsere Methode. Nur der negative Faktor von sieben Prozent zwingt uns, noch an Freiwillige zu appellie ren, und wir werden Ihnen unsere Entdeckung zur Verfügung stellen, ohne irgendeinen finanziellen Beitrag abzuverlangen (gestatten Sie mir, diese Seite des Problems nicht außer acht zu lassen, weil – ne benbei gesagt – von dem Moment an, wo wir die Verwirklichung des Unmöglichen kommerzialisieren werden, der Wert unserer Dienstlei stungen dem Preis einer Reise bis zur Grenze unseres Sonnensystems entsprechen wird); in Ihrem Fall ist dieser Vorschlag eine Geste reiner Humanität. Sie sind an der äußersten Grenze Ihrer psychischen Bela stung angelangt, und – verzeihen Sie mir die Offenheit – ohne unsere Hilfe sind Sie ein Wrack.“ Das Wort Wrack hatte bei ihm eine Kettenreaktion ausgelöst. Wieso hatte er sich nicht daran erinnert? Idomar hatte also recht gehabt. Aber dann hatte er keinen Grund, vor Furcht zusammenzuzucken, und in dem Zustand, in dem er sich befand, schien es ihm keineswegs merk würdig, daß ein Roboter zu ihm in einem solchen Ton reden konnte. Unruhig hatte er nur gefragt: „Was geschieht mit den sieben Prozent?“ „Sie gelangen nicht zum Bestimmungsort. Wie Sie sehen, kann man nicht einmal von einem Risiko sprechen. Sie werden jedoch begreifen, daß wir nicht noch einen Vorgang kommerzialisieren können, dessen Mangel an Wirksamkeit, seien es auch nur sieben Prozent, zur Zah lung von legitimem Schadenersatz führen und gleichzeitig eine Ent deckung von vitalem Interesse kompromittieren könnte. Das ist also in der gegenwärtigen Phase die Rechtfertigung der Verwendung von Freiwilligen, der Sinn des Vorschlages, aufgrund dessen Sie dreiund neunzig Prozent Chancen haben, alles zu gewinnen, und sieben Pro zent, nichts zu verlieren.“
„Außer der letzten Hoffnung.“
„Haben Sie noch irgendeine Hoffnung?“
Er hatte ihn lange angeblickt. Der Android hatte selbstsicher gelä chelt. Ein Selbstmord wie jeder andere. Und wenn, immerhin. Die Verwirklichung des Unmöglichen. „Ich nehme an.“ „Das ist die logische Schlußfolgerung. Ich danke.“ Dann hatte er aus der Schreibtischschublade einen Bogen Magneto plast hervorgezogen, auf dem ein Text eingeritzt war, ihn Ralt zuge schoben und hinzugefügt: „Eine letzte Formalität. Die Bestätigung der Tatsache, daß Sie sich freiwillig zum Versuch anbieten.“ Er hatte ihm den magnetischen Füllfederhalter hingehalten, und Ralt hatte unterschrieben, ohne recht auf den Text zu schauen, der in ob skuren juristischen Begriffen abgefaßt war. Es ist dennoch sonderbar, daß ich mich an jedes einzelne Wort erin nere, ohne mir das Bild eines einzigen Hologramms in Erinnerung rufen zu können, sagte er sich. Tatsächlich hatte er an das Hologramm nicht allzu sehr gedacht. Aber eigenartig war auch die Tatsache, daß er sich nur noch daran erinnerte, wie der Roboter sich von dem Schreib tisch erhoben und ihn zu einer anderen Tür begleitet hatte als die, durch die er hereingekommen war. Alles, was danach geschehen war, als er das Büro verließ und sich in der Kabine des Raumschiffes wie derfand, das nach Babel flog, war endgültig aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Ob wohl bei Or-alda und Idomar das gleiche geschehen war? dachte Ralt. Andererseits fiel ihm zum erstenmal die Tatsache auf, daß der An droid das Wort Wrack mit Bezug auf ihn, Ralt, verwendet hatte. Hatte Idomar tatsächlich recht gehabt? Er war sich nicht darüber im klaren: Hatte man Babylon wieder zum Leben erweckt, oder war er Tausende von Jahren zurückgeschickt worden, oder war er tatsächlich bloß einer Illusion zum Opfer gefallen? Weswegen jedoch hatte der Roboter ihn in das Gefängnis Scat Mors geschickt? Weil er ein Wrack war? Er erkannte plötzlich, daß Idomars Hypothese alle Chancen hatte, wahr zu sein, wenn man davon ausging, daß die Behörde auf diese Weise
versuchte, die Gescheiterten, die psychisch Kranken, zu isolieren, aber auch nach Möglichkeiten suchte, sie wieder sozial einzugliedern. Zur Erreichung eines solchen Zieles wurde auch das Unmögliche verwirk licht (deshalb hatte ihn der Roboter nach Babel geschickt); eine einzi ge Korrektur mußte Idomars Hypothese zugefügt werden: Scat Mors Gefängnis mußte eher als Erziehungszentrum angesehen werden. Ralt war nicht in der Lage, die Art zu würdigen, in der auf Babel die Um erziehung der Wracks versucht wurde, so bizarr die angewandten Me thoden auch scheinen mochten. Das erklärte wohl auch, weshalb der künstliche Planet ein verbotener Planet war. Es blieben jedoch genü gend dunkle Punkte, und Ralt hätte gern weiter darüber nachgedacht, aber die Tür des Bades öffnete sich, und Arla erschien auf der Schwel le. Sie hatte die Vorhänge heruntergerissen, die das blinde Fenster des Badezimmers verschlossen, und sich in das Gewebe mit großen blau en Blumen auf grauem Grund gehüllt. Arla verharrte einen Augen blick in einer priesterlichen Haltung, aufrecht, mit erhobenem Kinn und mit der linken Hand den um die rechte Schulter geschlungenen Vorhang haltend. Ralt sprang auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Ra-lit?“ fragte Arla lachend, hob die Arme und ließ den Vorhang mit den blauen Blumen zu Boden gleiten. „Ich rufe in dir die Erscheinung der Göttin Ischtar“, flüsterte er, oh ne sich darüber klar zu sein, daß er auf galaktisch die uralte Formel wiederholte, die er von Nabu-ballit gelernt hatte. Die Augenbrauen Arlas wölbten sich, und ihr Gesicht nahm einen träumerischen und ernsten Ausdruck an. Langsam schritt sie auf Ralt zu. „Guten Abend“, sagte Arla später auf galaktisch, während sie gemein sam mit Ralt das Eßzimmer mit den schillernden Möbeln betrat, auf denen die riesigen farbigen Augen abwechselnd zwinkerten. Alle anderen befanden sich rings um den mit der tadellosen gelben Leinendecke bedeckten Tisch, auf dem bereits angerichtet war. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie Arla in einem langen mattblauen
eleganten Abendkleid mit glitzernden Fäden sahen, das sie in einem der Schränke des Raumes gefunden hatte, den sie mit Ralt teilte. Be geistert stürzte Or-alda auf Arla zu und umarmte sie, überhäufte sie mit einer Fülle von Fragen, aber Ralt dämpfte ihren Enthusiasmus: „Ich habe euch eine Überraschung bereitet, meine Freunde“, sagte er. „Es ist jedoch kein Wunder geschehen, Arla kann euch nicht ver stehen.“ „Ich glaube, du täuschst dich“, sagte Idomar. „Das Kleid wurde spe ziell für Arla angefertigt, und dies ist ein kleines Wunder…, das uns jedoch nicht wundern dürfte. An Wundern herrscht hier offenbar kein Mangel.“ Obwohl sie von einem Lächeln begleitet wurden, das immer weniger seiner alten Grimasse ähnelte, brachten Idomars Worte alle in die la stende Umwelt zurück. Arla und Ralt setzten sich. „Ich bin sicher, daß sich das Kleid letztes Mal nicht im Schrank be fand, ich meine, in der ersten Nacht, als ich dort schlief“, gab Ralt zu. Seine Stimme hatte viel von der Sicherheit verloren, mit der er vor hin geantwortet hatte. „Wir werden weiterhin manipuliert“, erklärte Idomar achselzuckend. Asp jedoch, der bis jetzt geschwiegen hatte, sagte gelassen: „Solange es so aussieht, habe ich nichts dagegen, manipuliert zu werden.“ Er hob das Glas und fügte hinzu: „Poral, von der besten Sor te. Auf eure Gesundheit!“ Wer bist du, Asp? fragte sich Idomar. Unruhig ließ Arla ihre Blicke von einem zum anderen wandern, spürte die veränderte Atmosphäre, begriff aber nicht, was vorging, Ralt streichelte ihre Hand und zeigte ihr dann lächelnd, wie sie das Besteck handhaben mußte. „Ich nehme an, daß die besonderen Talente verschwunden sind“; sagte Idomar, wobei er es vermied, seinen Worten einen fragenden Charakter zu geben. Or-aldas Lippen zitterten. „Unterwerfen wir uns nicht Scat Mor“, sagte sie und fuhr sich mit der Hand durch die blauen Haarflechten. „Wäre es nicht besser, wir
unterhielten uns so, als sei nichts geschehen, als hätten wir uns in ei ner unserer Welten im Freundeskreis zu einem Gespräch versam melt?“ Ihre Stimme brach, und außer Asp und Arla erblaßten alle. Der trok kene Husten und das Lachen Asps bohrten sich in ihre Gehirne. „Einverstanden“, antwortete er, „vor allem, weil ich nicht einsehe, weshalb uns stören sollte, daß Arla ein Kleid geschenkt bekommen hat und ich etwas Poral.“ Or-alda und Ralt warfen ihm ungläubige Blicke zu, und Idomar sag te sich blitzartig, daß jener Asp, der ihm am Tisch gegenübersaß, aus einer Zeit kam, in der der wahre Asp noch nicht entdeckt hatte, was das Hohe und Unwiderrufliche Dekret Ferunadar über ihn bestimmen sollte, eine Zeit, in der Asp noch mit sich selbst im reinen war. Seine Reaktionen waren also vorauszusehen. Bald werden ihm Schweißtrop fen auf die Stirn treten. Und indem er sich an den anderen Asp erin nerte, mit dem er durch Enttäuschungen und Blut verbunden war, spürte er eine unerwartete Abneigung gegen den, der jetzt gelassen seinen Poral schlürfte. „Eine einzige Frage noch“, warf Ralt ein. „Erinnert ihr euch, was die Hologramme im Büro bedeuteten? Wißt ihr, woran ich denke?“ Und er wunderte sich nicht, als Or-alda und Idomar bekannten, daß sie es vergessen hatten. Der Zufall hatte keinen Platz in ihrem Aben teuer, selbst die Anwesenheit Arlas an jenem Abend war vorgesehen; man hatte ihr ein Kleid nach Maß angefertigt, so wie man für Asp eine Flasche Poral vorbereitet hatte. „Wir werden weiterhin manipuliert“, hatte Idomar gesagt. Tatsächlich waren sie von Anfang an manipuliert worden. Und nicht nur wir, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Ge fängnis oder Umerziehungszentrum, es war wenig wahrscheinlich, daß ein Planet nur für ein paar Gescheiterte hergerichtet worden war, die man auf drei der zehn integrierten Welten aufgesammelt hatte. Sollten sie die einzigen Kranken des Systems sein? Sollte das experi mentelle Stadium, das man ihnen in dem Büro mit den vergessenen Hologrammen erläutert hatte, bedeuten, daß man an ihnen experimen tierte, daß sie vorläufig die ersten Pensionäre des verbotenen Planeten
waren und die Verallgemeinerung der Methode von den in ihrem Fall erzielten Resultaten abhing? Er erinnerte sich der Leute in den son derbaren Kleidern, die auf dem Platz neben dem Brunnen spazieren gingen, von dem er nach Babylon überstellt wurde, an Nabu-ballit und Kidinnu. Verwirrt wandte er seine Aufmerksamkeit den anderen am Tisch zu. „Niemals“, sagte Asp nachdrücklich, und Ralt wurde gewahr, daß er gedankenverloren den Anfang des Satzes oder der Sätze des bärtigen Freundes Idomars vergessen hätte. Er bemühte sich, den Faden wieder aufzugreifen, hörte aber nur: „Deshalb sagte ich euch, daß ich nichts dagegen habe, manipuliert zu werden, aufgrund dessen wir ein Kleid, ein Abendessen und etwas Poral bekommen. Freut euch wie ich des geschenkten Augenblicks, frei von der toten Vergangenheit und gleichgültig gegenüber der nichtexistierenden Zukunft. Und trinkt“, schloß er seine Worte, wobei er die ersten Schweißtropfen von der Stirn wischte. Schweigend blickten ihn die anderen an. Unaufhörlich zwinkerten ihnen die riesigen Augen rings um sie zu und erinnerten sie an eine Gegenwart, die sie auf keinen Fall ignorieren konnten. Ralt erwachte spät. Da er die Vorhänge vor dem Schlafengehen zuge zogen hatte, lag der Raum im Halbschatten eines sanften Abends. Er spürte an seiner Hüfte den Körper Arlas und lauschte, da er erwartete, Fart Averols Stimme würde ihnen „Guten Morgen!“ wünschen, aber Schweigen fiel von den Wänden über ihn her, stieg aus dem Parkett herauf, kam von der Decke herab, ein Schweigen, das sich von dem in der Wohnung unterschied und eine so kompakte Unruhe ausströmte, als sei die Luft eine dichte, farblose Materie geworden, durch die nicht einmal die Erinnerung eines Tones dringen konnte. Das ungewohnte Schweigen beschleunigte seine Herzschläge, brachte ihn in den Palast Scat Mors. Und eine heiße Welle durchdrang ihn bis in seine Finger spitzen, als Arlas Gegenwart Bedeutung annahm. Er schloß die Augen und wiederholte andächtig die Worte: „Arla ist wieder hier!“ Und jede Faser seines Herzens wurde zu einer Blume, die ihre Blütenblätter öffnete, und sein Blut wurde das rote Wasser, in dem Arla schwamm.
Lächelnd drehte er sich um, um sie zu betrachten. Arla schlief auf dem Rücken; zuerst begriff er nicht, was sie auf der Brust hatte. Dann begann er zu zittern. Er streckte die Hand aus. Die Kälte des Dolches entriß ihm ein Stöhnen. Zähneklappernd sprang er aus dem Bett und zog die Vor hänge beiseite. Gleich einem Schlangenkopf ragte der gebogene Griff des Dolches aus Arlas Brust. Ralt stürzte sich auf ihn, um ihn heraus zureißen, aber tausend Sirenen wurden entfesselt, tausend Nächte ex plodierten in seinen Augen, und alle Muskeln zogen sich zusammen, als das Blut sich in ein starres, unvorstellbar schweres Delta verwan delte. Der Dolch mit dem weißen Griff und der roten Klinge hatte das Herz durchstoßen. Auf Arlas Brust war kein Tropfen Blut zu sehen. Früher hätte Idomar die Geschicklichkeit desjenigen bewundert, der den Dolch auf solche Weise hineingestoßen hatte, daß er kein Leiden ver ursachte: Arla war im Schlaf gestorben, mit geschlossenen Augen. Jetzt jedoch, angesichts eines Ralt, der – nachdem er wieder zu sich kam – kein Wort herausbrachte und seine Blicke nicht von dem Ant litz derjenigen löste, die er zum zweitenmal verloren hatte, waren Idomars Gedanken nicht mehr die eines Mörders. Er erkannte natürlich den Dolch und zweifelte nicht daran, daß Asp eine Benachrichtigung in der Tasche hatte, wahrscheinlich eine solche in gelber Farbe, die das Hohe und Unwiderrufliche Dekret Ferunadar enthielt, durch das er berufen war, das Antlitz des Geschicks für Arla anzunehmen. Scat Mor respektierte die Konventionen, und wenn er sich dieses Mal entschlossen hatte, Arla mit Hilfe der Edlen Gilde zu beseitigen und sie nur wiederzubeleben, damit sie getötet werden konnte, so war der Asp jener Zeit das ideale Werkzeug dafür, imstan de, in voller Gemütsruhe sowohl Ralt als auch Idomar zu treffen. Der Sinn seiner Anwesenheit (er wußte nicht, daß er getötet worden war, wußte aber, daß er sich auf Babel befand, um ein Hohes und Unwider rufliches Dekret Ferunadar zur Durchführung zu bringen, und verhielt sich gemäß den Anweisungen) wurde Idomar erst jetzt klar, wo er nichts mehr daran ändern konnte. Aber hätte ich etwas tun können,
fragte er sich. Alles, was er plante, wurde genauso verwirklicht und vermehrte die Leiden derer, die ihm anvertraut wurden. Aber bis wo hin? Die menschliche Natur setzte Grenzen, und Idomar genügte es, Ralt anzublicken, um sich zu sagen, daß es eine Schwelle gab, jenseits derer alles nichtig war. Sogar die Folter durch Hoffnung? Er erinnerte sich an die schwarze und die rote Wissenschaft. Unentschlossen blick te er zu Or-alda. „Wo mag bloß Asp sein?“ fragte sie. „Er ist verschwunden.“ Da Or-alda keine Verbindung zwischen dem Auftauchen Asps und dem Tod Arlas fand, spürte Idomar kein Bedürfnis, ihr die Augen zu öffnen. Wie jeder erfahrene Mörder blieb Asp nach der Durchführung seiner Mission unsichtbar, aber Idomar zweifelte daran, daß er wirk lich abgereist sein könnte. Konnte man übrigens von Babel so einfach abreisen? Glaubhafter war, daß man ihn von der Bühne zurückgezo gen hatte. Und wenn er hier im Palast geblieben wäre? Die Antwort kam prompt: „Ich hätte ihn getötet.“ Das vergessene Grinsen erschien auf seinen Lippen, als er sich sag te, daß Scat Mor nun nicht mehr sehen würde, wie er Asp zum drit tenmal tötete. Es war ein erquickendes Gefühl, und für einen Augen blick freute er sich, als er eine Lücke in der Beweisführung des Chef kerkermeisters entdeckte, verbesserte sich aber dann beunruhigt. Scat Mor hatte sich auch dieses Mal nicht geirrt. Asp war nur ein wieder hergestelltes Werkzeug, eine Illusion. Es hatte keinen Zweck, ihn zu töten, und letzten Endes hätte er ihn auch nicht getötet. Scat Mor hatte dies erkannt und nicht versucht, eine unnütze Konfrontation zu provo zieren. Das letzte Auftauchen Asps war ausschließlich dazu bestimmt, Ralt zu quälen. Wie um Idomars Mutmaßung zu bestätigen, betraten jetzt zwei Männer in Trauerkleidung den Raum. Sie schleppten einen Gegen stand, den die, die am Totenbett Arlas wachten, voller Schrecken be trachteten, denn der Sarg gehörte seit Hunderten von Jahren nicht mehr zu den Begräbnisrequisiten der integrierten Welten. Dort, im Palast Scat Mors jedoch, wo alles an das achtzehnte Jahrhundert auf
der Erde erinnerte (mit Ausnahme der sanitären Einrichtungen, die dem zwanzigsten Jahrhundert entliehen waren, und einiger Gegen stände ohne genauen Zweck, die augenscheinlich einer jüngeren Technik angehörten), hätte man erwarten müssen, daß Arla im Lauf einer barbarischen Zeremonie beerdigt würde, die vor Jahrtausenden festgelegt wurde, um eine möglichst zerstörende Wirkung auf diejeni gen auszuüben, denen ein teures Wesen geraubt wurde. Während Ralt eine abwesende Miene aufsetzte, erhob sich Or-alda, als ob sie sich widersetzen wollte. Da tauchte jedoch eine neue Gestalt auf, und die Gerla blickte fasziniert auf seine Priestergewänder, auf denen sie das uralte Zeichen einer der irdischen Religionen erkannte: das Kreuz. Die beiden Totengräber nahmen Arlas Körper und legten ihn in den Sarg. Verwunderung zeichnete sich auf Ralts Gesicht ab. Da begann der Priester mit dem Gottesdienst, und keinem der Anwe senden wurde bewußt, wie eigenartig die Worte in galaktischer Spra che klangen (einer Sprache, in der noch niemals eine Leichenfeier abgehalten worden war). Die Totengräber schlossen den Deckel, hoben den Sarg auf die Schultern und schritten, gefolgt von dem Priester, zur Tür. „Dupscharru Kidinnu“, flüsterte Ralt, der erst jetzt in dem Priester, der die Gewänder einer anderen Zeit trug, den vergessenen Schreiber aus Babylon erkannte. Als der Priester sich anschickte, hinter dem Sarg herzuschreiten, stürzte sich Ralt auf die, die ihm Arla raubten. „Beruhige dich“, bat ihn Idomar und packte ihn am Arm. „Aber Arla!“ schrie er, „siehst du denn nicht…? Sie haben sie einge schlossen, nehmen sie mir… und bringen sie weg…, wohin?“ Der schweigende Palast Scat Mors ertönte von dem Gesang des Priesters. „Komm“, seufzte Idomar. Or-alda ging auf die andere Seite und nahm Ralt am Arm. „Kidinnu, sie haben meine Arla getötet… Du glaubst es nicht, aber es ist Arla. Kidinnu, Nabu-ballit weiß es…“
Er schwieg, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Idomar und Or-alda mußten ihn fast tragen. Ununterbrochen flossen seine Tränen. Auch Or-alda begann zu weinen, Idomar knirschte mit den Zähnen und blickte vor sich hin. So schritten sie die roten Marmor treppen hinunter, kamen durch den großen, fahnengeschmückten Saal. Das Tor öffnete sich vor ihnen, und Idomar wunderte sich nicht, als er sah, daß die schwarzen Treppen diesmal auf der Allee eines Friedhofs endeten, wie sie sich auch nicht wunderten, als sie in ihrem Gehirn die Gegenwart Scat Mors wahrnahmen. Die Gruft war vorbereitet. Die Totengräber ließen den Sarg hinunter und hoben von neuem den Deckel. Der Priester psalmodierte unge rührt, seine Worte schwebten über den Kreuzen mit den vergessenen Namen (erfunden? fragte sich Idomar) und über den Blumen, die die Gräber schmückten. Ein Vogel sang. Die Totengräber gingen vom Grab weg, wobei sie Ralt aufhoben, der sich sträubte und weinend immer leiser Arlas Namen rief. Er befand sich am Ende seiner Kräfte und war nur noch imstande zu stöhnen, als die beiden ihn Or-alda und Idomar übergaben. Der Vogel sang noch immer. Und als ob das Zwit schern ein Signal bedeutet hätte, begann es zu regnen.
Die Gerla Die Gerl, die ersten Bewohner des Planeten Venus, scheinen neben den Marsbewohnern (Taskalen) die ersten Menschen zu sein, die die Entwicklung der Arten viele Jahrtausende vor den Erdbewohnern in unserem Sonnensystem hervorgebracht hat. Während die ursprüngli che Rasse des roten Planeten seit langem verschwunden ist, haben die Gerl eine erstaunliche Überlebensfähigkeit an den Tag gelegt, ohne dabei, was noch erstaunlicher ist, irgendeine ihrer Grundeigenschaf ten einzubüßen. Als friedliches Volk haben sie keinen Versuch zum Widerstand gemacht, als die Raumschiffe der Behörde auf der Venus landeten, und auch später keine Aggressionsabsichten bekundet. Im Gegenteil, gemäß einer uralten Tradition der Gastfreundschaft, die sie den Neuankömmlingen, die davon begeistert waren, bewiesen, schick ten sie zahlreiche Jungfrauen zu ihrer Begrüßung, die sich bemühten, ihnen die Eingewöhnung zu erleichtern. Die Venusianer, aus der Vermischung der Einheimischen mit den Vertretern aller integrierten Welten hervorgegangen, schufen auf dem Planeten der Liebe eine raffinierte Zivilisation. Im Innern des blauen Hügelkranzes, der das fruchtbare As-Lagal-Tal umgibt, entfaltet die neue Stadt Xu Tii ihre kosmopolitische Pracht: vielfarbige Gebäude, die durch Luftbrücken miteinander verbunden sind; Parks mit klin genden Bäumen und verschiedenfarbigen Bassins; bewegliche Amphi theater; personifizierte Theatersäle und kosmische Kaufhallen mit einem überreichen Warenangebot. Als der Bevölkerungszuwachs zur Gründung neuer Städte auf dem Planeten führte, wo städtisches Leben unbekannt war (das alte Xu Tii war weit davon entfernt, im Sinne der Behörde eine Stadt zu sein), zögerten die Gerl nicht, auf einige andere wunderbare Plätze hinzu weisen, die für den Bau neuer Städte geeignet waren. Dessenungeach tet existierte das alte Xu Tii jenseits der blauen Hügel weiterhin und breitete sich bis in die unsterblichen Dschungel aus, in deren Wald
pfaden die labyrinthartigen Straßen der Stadt endeten. Keiner weiß, wieviel Vertreter der alten Rasse die alte Hauptstadt beherbergt. Seit einigen Generationen bilden die Venusianer eine besondere Rasse. Nur in wenigen Fällen ist der Erbanteil der Gerlvorfahren ein deutig zu ermitteln. Nicht wenige Forscher behaupten, daß die Gerl (keine Volkszählung hat sich als real erwiesen) weiterhin eine über wältigende zahlenmäßige Überlegenheit bewahren. Eine seriöse Hypothese versichert sogar, daß die relativ kleine Bevölkerung der Venusianer von den Gerl beherrscht wird; mit anderen Worten, daß diese bewußt das Auftauchen der neuen Rasse provoziert hätten, um so die Bevölkerungsentwicklung beherrschen zu können. Zur Unter stützung dieser These wird die Tatsache zitiert, daß praktisch neue Kreuzungen zwischen Venusianern und Gerl nur noch in Ausnahme fällen stattfinden und fast immer auf Initiative der Gerl. Falls die erwähnte Hypothese sich bestätigen sollte, muß man den Gerl eine besondere Fähigkeit der Voraussicht und eine Weisheit zu erkennen, die das Alter ihrer Zivilisation rechtfertigen würde. Nicht nur daß das Auftauchen der Kolonisten keineswegs die Zerstörung ihrer Zivilisation bedeutet hätte, wie es leider öfters vorgekommen ist (zum Beispiel auf Triton, Ganymed und in einem gewissen Maße so gar auf Thule), es gelang ihnen auch, die Bevölkerungsentwicklung unter Kontrolle zu halten und, auf einer einmaligen genetischen Er fahrung fußend, eine städtische Zivilisation zu schaffen, die sich auf einige prachtvolle Enklaven beschränkte. (Was den Gerl die fast völli ge Kontrolle des Planeten sicherte; ihre Zivilisation war von Anfang an und blieb durch ihre ganze Entwicklung eine Naturzivilisation, die unlösbar mit der Wirklichkeit des Dschungels verbunden war.) Die Geschichte der Gerl und ihrer Zivilisation ist heute kein Ge heimnis mehr, da die Gerl selbst alle nötigen Daten für die Forschung zur Verfügung stellten und alle gewünschten Informationen gaben. Dennoch verweisen wir auf die Meinung von Vend Kadal, des bedeu tendsten einheimischen Historikers dieser bemerkenswerten Zivilisati on, der annimmt, daß die in den integrierten Welten veröffentlichten Geschichten der Gerl nicht den realen Geschehnissen entsprechen, die auf der Venus vor sich gegangen sind. Ohne die Gutgläubigkeit
der Forscher in Zweifel zu ziehen, vermutet Kadal, daß die von ihnen redigierte Geschichte nur Elemente eines großen Mythos sind, mit anderen Worten, erfundene Geschichten, dazu bestimmt, die Gerl so darzustellen, wie sie selbst vor den Augen der Menschheit der Plane ten zu erscheinen wünschen. Zur Unterstützung seiner paradoxen Theorie, die er gegen Ende sei nes Lebens ausgearbeitet hat, als er einmütig als bedeutendster Venusforscher aller Zeiten anerkannt wurde, versichert Vend Kadal, daß die Denkweise der Gerl ihm völlig fremd geblieben ist, ein unvorstellbarer Umstand für den Fall, daß die ihm von den Gerl selbst zur Verfügung gestellten Daten der Wirklichkeit entsprochen hätten. Wir erinnern hier an ein einziges von Kadal zitiertes Beispiel: die rätselhafte Figur der Großen Herrin, ohne deren Enträtselung die Zivilisation der Gerl ein Torso bliebe. Kadal bekennt, daß es ihm am Ende einer fünfzigjährigen Tätigkeit, die er dem Studium dieser Zivilisation gewidmet hat (die zu ihrer vollen Blüte gelangte, als noch die großen Saurier die Erde be herrschten, und ohne Beispiel im ganzen Sonnensystem ist), nicht ge glückt ist, zu belegen, ob die Große Herrin der Gerl eine Göttin ist oder ihr politischer Führer, eine Symbolvorstellung oder ein Begriff, dem die integrierte Menschheit nichts Gleichwertiges gegenüberzustellen hat. Um die Schlußworte seines monumentalen Werkes „Die (hypothetische) Geschichte der Zivilisation der Gerl“ zu zitieren: „Wir stehen also vor dem verwirrendsten Rätsel der Geschichte, vor dem Geheimnis einer Zivilisation, deren Überreste (Ruinen, Werkzeuge, Kunstwerke und Do kumente) fiktiv erscheinen und angesichts derer sich der Historiker trotz der Analysen, die ihre Echtheit garantierten, für unkompetent er klären muß. Am Ende seiner langen Bemühungen muß er bekennen, daß die Geschichte der Gerl neu geschrieben werden muß, von Gerüchten, Eindrücken und Intuitionen ausgehend. Ist das ein Bankrott der Wis senschaft? Im Gegenteil. Wir müssen eingestehen, daß unsere Wissen schaft unfähig ist, das zu entziffern, was ihre Wissenschaft uns zu ver bergen beschlossen hat.“ Auszug aus der Enzyklopädie der integrierten Welten, offizielle Ausgabe, Upsala
Der Zutritt blieb verschlossen. Or-alda ging Dutzende von Malen auf die Galerie hinaus oder spazierte stundenlang vor den identischen Tü ren auf und ab (die goldgelbe Tür öffnete sich nicht mehr), während Idomar Ralt Gesellschaft leistete. Die Gleichgültigkeit, zu der sich der Marsbewohner zwang und in der er eine Form von Freiheit sah, nämlich eine nur in der Gegenwart stattfindende Existenz, war jetzt nur noch eine Erinnerung. Mit ironi scher Abgeklärtheit, in der das Bedauern für die in den Reihen der Edlen Gilde vergeudeten Jahre mitschwang, sah er die seelische Ver wundbarkeit des Menschen in der Eigenschaft begründet, seine Blicke aus der Gegenwart in seine eigene Vergangenheit zu wenden, bevor er in die Zukunft blickte. Die Menschen lebten nur durch ihr Gedächtnis. Idomar wußte jetzt, daß das Wiederauftauchen Asps und die kurze Existenz Arlas auf dem verbotenen Planeten sowie ihre Ermordung und Beerdigung nur Illusionen waren, von der Phantasie Scat Mors ausgeheckt. In der Tatsache, daß er selbst in einer Scheinwelt existier te, sah er nur eine zusätzliche Ironie. Die Verwundbarkeit der mensch lichen Gattung schien seine Ironie zu bestätigen. War es nicht unter diesen Umständen höchste Ironie, daß dieselbe Verwundbarkeit zum Triumph über die von der Natur viel besser ausgestatteten Arten ge führt hatte? Das schwächste Meerestier, von allen anderen gejagt und verfolgt, hatte sich eines Tages dorthin geflüchtet, wohin es seine Feinde nicht mehr verfolgten: auf die Erde, die noch nicht völlig trok ken war, aber viel weniger für das Leben der Wassertiere geeignet als die riesige Meeresfläche. Das mikroskopisch kleine, verwundbare Lebewesen sah sich genötigt, sich abzuquälen und verschiedene Er scheinungen anzunehmen, um der Sonne, der Luft und den Jahreszei ten zu widerstehen, aber seine selbstsicheren Feinde blieben über Jahr tausende hinweg Krustentiere, Mollusken und Fische. Und später? Ihrer Unverwundbarkeit sicher, waren die riesigen Saurier, die Mam muttiere und Säbelzahntiger verschwunden. Der Mensch wagte sich in den Kosmos. Und die Schlußfolgerung? Der unverwundbare Mensch oder der, der sich als solcher betrachtete, stellte sich außerhalb der menschlichen Bestimmung, wurde zum Raubtier, zum Folterer oder…
Mörder. Und blieb – früher oder später – verurteilt. Auf Babel war die Menschheit trotz allem äußeren Anschein durch drei verwundbare Wesen vertreten, die durch die Liebe, das Gewissen und ihre Würde gequält wurden. Abwesend hörte Ralt Idomar die Verwundbarkeit loben. Er hatte nicht die Kraft, ihm zu sagen, daß er sich an Arlas Seite wie ein gan zer Mensch fühlte, der nicht nach den Tugenden der Schwäche strebte. Ihr Verschwinden stieß ihn in die schwarze Leere, wo er aufhörte, er selbst zu sein. „Schweig, du kannst nicht begreifen…“ „Im Gegenteil, Ralt. Erst jetzt begreife ich.“ Seine Kinderstimme klang schmerzhaft, und Ralt entdeckte, daß er sie jetzt ohne Aversionen anhören konnte. Er fand Trost in ihrer einfa chen Musik. Die Bilder zogen an seinen Augen vorüber, Arla bewegte sich, blickte ihn nachdenklich an, seine Arla oder die aus Babylon, die fragend lächelte und Ra-lit murmelte, beide jedoch verschmolzen mit einander zu einer einzigen Arla mit den Eigenschaften beider Erschei nungen. Manchmal erstarrte Arla, ihre Augenlider sanken herab, und Ralt beeilte sich, sie ihr wieder zu öffnen, während Idomar immerzu sprach und seine Stimme die Brücke bildete, auf der Arla kam oder sich entfernte. Die Gegenwart Scat Mors in den Gehirnen Ralts und Idomars hin derte den ersteren nicht, zu träumen, und den zweiten nicht, seine Ar gumente zu entfalten. Ralt kam nicht aus seiner schläfrigen Betroffen heit heraus, in die ihn das zweite Verschwinden Arlas gestoßen hatte, und Idomar fand eine bösartige Befriedigung in der Darlegung einiger Theorien, deren Schlußfolgerung ihn zur Verurteilung desjenigen führte, der in den Gehirnen seiner Gefangenen auf der Lauer lag, ohne zu versuchen, einen Dialog anzuknüpfen. „Er läßt uns wieder zu sich kommen“, sagte Idomar, ohne aber mit lauter Stimme hinzuzufügen: Damit wir dem standhalten können, was uns erwartet. In diesem Augenblick wurde ihm schwindlig, und er sah, daß Ralt seine Hand zur Stirn führte.
Or-alda war wie verwandelt. Ihre Augen weiteten sich, als ob sie vor Übererregung Funken sprühten. Lächelnd trat sie ihnen an der Küste des weißen Meeres entgegen, in einer makellosen Welt, zu der sie unaufhörlich Zugang suchten. Geraume Zeit danach öffnete sich end lich die ständig geschlossene Tür auf der Galerie des Palastes von Scat Mor. Die Zähne zusammenpressend, zwang sich Or-alda, jeden Ge danken zu verjagen, der imstande war, das Mißtrauen desjenigen zu erwecken, dessen Aufmerksamkeit sie spürte. Der blinde Spiegel be fand sich dort an der linken Wand. Als sie vor ihm Platz nahm, preßte sich ihr Herz nochmals zusammen, aber der Spiegel drehte sich um seinen unteren Rahmen, und Or-alda konnte einen Triumphschrei nicht unterdrücken, als die weißen Wellen sie bedeckten, und sie spür te, wie sie auf dem Wasser trieb. Selbst in diesem Augenblick hatte sie die Kraft, ihre Gedanken zu kontrollieren. Hierauf… Verwundert hob Idomar den Blick. Der Himmel war heiter. Vor dem Meer hatten die Dünen wieder ihren Platz eingenommen, der Strand dehnte sich aus, soweit das Auge reichte, und der einzige dunkle Fleck in der wiederhergestellten Landschaft war die schwarze Truhe, die sich an der Stelle befand, wo sie sie gelassen hatten. (Or-alda trug ein makellos weißes Kleid zur Schau, das sich sogar von der weißen Landschaft abhob.) Ralt, der unter der Last der beiden vergangenen Geschehnisse wankte, schritt dorthin, wo er seine letzten Schätze hin terlegt hatte. „Es ist uns gelungen“, sagte Or-alda nachdrücklich. Ihre Nasenflügel bebten, und Idomar entdeckte plötzlich, wie schön sie war. „Nicht nur, daß wir auf die weiße Welt gelangt sind, auf die weiße Anhöhe des Planeten oder auf diese weiße Illusion; alles, was du siehst, ist unzer störbar geworden. Jetzt existiert es, begreifst du, Idomar?“ „Nein…“ „Die Gerl kennen nicht nur die rote und schwarze Wissenschaft, von der die Harfen immer ferngehalten wurden.“ „Eine andere Wissenschaft?“ „Die weiße Wissenschaft.“ „Davon habe ich noch nie gehört…“
„Auch nicht alle Gerl kennen sie, obwohl nur sie es ihnen ermög licht hat zu überleben. Aber die Große Herrin…“ Or-aldas Gesicht erstarrte plötzlich, ihre Hand umfaßte die grüne Spange auf dem nackten Arm. Idomar sah, wie Ralt sich der Länge nach neben der schwarzen Truhe ausstreckte, und im selben Augen blick hörte er in Gedanken Scat Mors Schrei. „Laß ihn nicht entkommen“, verlangte Or-alda. Ihre Miene war jetzt finster, und ihre Augen waren wie versteinert. Auch das welke Gesicht Idomars spiegelte die Anstrengung und das Leid wider, als er seine Hände zum Kopf führte. Unter seiner Stirn zappelte etwas. Ein Fisch am Angelhaken, dachte er, als er die Zuk kungen des Wesens spürte, das kämpfte, um sein Gehirn zu verlassen. Wie ein Tintenfisch verspritzte es Mißtrauen, dann Furcht und Wut, und Idomar sah seine Reaktionen, die einer farbigen Explosion gli chen (grünes Mißtrauen, gelbe Furcht, purpurne Wut). Er durchlebte sie, indem er ihnen seinen eigenen Haß entgegenstellte. Hartnäckig wiederholte er: „Scat Mor, Scat Mor“, um sich auf dessen Anwesen heit zu konzentrieren (einfacher Gedanke oder psychische Struktur, die in ihm festsaß) und auf das unerwartete Eingreifen Or-aldas. Der Kopf schmerzte ihm, und er preßte seine Finger gegen die Schläfen. Er hörte sein Keuchen. (Oder war es das Keuchen des anderen?) Dann begannen ihm die Ohren zu sausen. Aus weiter Ferne, durch die Ne bengeräusche hindurch, die immer schriller tönten, hörte er Or-aldas Ermunterung: „Leiste Widerstand, Idomar. Ich beginne, ihn zu sehen.“ Immer leiser hörte man das Röcheln Scat Mors. „Laß mich frei. Ich lasse Euch…, ich verspreche es.“ Der Rausch des Triumphs. Blaue Ebbe und Flut. Die Verbissenheit Idomars erreichte eine neue Stufe: „Jetzt bist du an der Reihe, zu bit ten!“ Zähneknirschend zwang er sich, alle Ausgänge zu verschließen, den kleinsten Riß zu verstopfen, durch den der Folterer sich hinaus schlängeln konnte, obwohl er nicht wußte, wie ein solcher Ausgang aussah, und die Existenz von Rissen nicht mutmaßte. Die Anstren gung, die er machte, war so gewaltig, daß ihm schien, ein Energieschirm sei über sein Gehirn gefallen und er sehe die beiden Hirnhälf
ten, aber nicht nur die Gehirnwindungen, sondern gleichzeitig auch ihre Substanz, als ob die Blicke eine eigenartige Schärfe oder die Kraft von Strahlen bekommen hätten. „Alles“, röchelte Scat Mor. „Ich gebe Euch alles, hört auf…“ Idomar hörte sich nicht brüllen. Die Spannung erreichte die Grenze des Erträglichen, mit seiner letzten Kraft konzentrierte er sich auf den Schirm, der sein Gehirn bedeckte und von dem verzweifelten Willen Scat Mors durchbohrt war. Blind, taub und zitternd, als hätte er einen elektrischen Schlag erlitten, sank er auf den weißen Sand, ohne die Hände von der Stirn zu lösen und ohne aufzuhören zu brüllen, mit einer Stimme, die nicht mehr die seine war, sondern die rote und schwarze Stimme des Blutes und der Nerven. Als plötzlich die Qual ein Ende hatte, verwirrte ihn der Übergang vom höchsten Leid zur Sorglosigkeit dermaßen, daß es Idomar schien, er zerspringe wie eine große ausgerenkte Puppe. Or-alda begnügte sich, seine Stirn zu berühren und auf seinen plötzlich friedlichen Atem zu horchen. Dann wandte sie sich ruhig Scat Mor zu. Der kleine Körper, der auf dem weißen Sand lag, schien der der Puppe zu sein, die sie zu Füßen des Thrones in dem Raum mit der vergoldeten Tür und der roten Maserung zusammengerufen hatte. Aber der Alte, der kaum noch atmete und von dem man durch den Spalt der faltigen und wimpernlosen Lider nur das Weiß der hervor quellenden Augen sah, trug ein einfaches Hausjackett und an den Fü ßen ein Paar pelzgefütterte Hausschuhe, so, als hätte man ihn aus der häuslichen Ruhe fortgeholt. Er schien viel älter als das Abbild, das er ihnen geboten hatte, und indem sie sich unruhig fragte, wie lange er noch werde widerstehen können, konzentrierte sich Or-alda darauf, ihn zu sondieren. Hierzu brauchte sie nur den Bruchteil einer Sekunde. Aber für jeden Fall rief sie erst Arla und Asp an den Strand zurück und versenkte sie in Schlaf. Dann befaßte sich die Harfe der Großen Herrin mit Scat Mor. Als sie alles begriffen hatte, schickte sie ihn in seine Welt.
Es war die Arla aus Babylon, aber eine Arla, die nicht vergessen hatte. Als ihre Augen auf Ralt fielen, flüsterte sie Ra-lit und führte ihre Hand zur Brust, auf der keine Spur einer Wunde mehr zu sehen war. Asp erkannte sie nicht, wie auch er weder Or-alda noch Ralt erkannte, denn es war jener Asp, der zweimal auf Befehl der Edlen Gilde getötet worden war und den Scat Mor für einen dritten Auftritt vorbereitet hatte. Scat Mor blieb verschwunden. Zu ihrer großen Verwunderung erwachten Ralt, Idomar und Asp (Arla lebte in ständiger Verwunderung) in einem unbekannten Raum. Alles war weiß, von den Wänden bis zu den Sesseln, auf denen sie sich wiederfanden. Ein riesiges weißes Fell bedeckte die gleichfalls weißen Dielen, der Tisch war weiß, die Vase auf dem Tisch und die Blume darin. „Wo soll ich beginnen?“ fragte Or-alda. „Ich müßte euch vielleicht um Verzeihung bitten.“ „Du?“ rief Ralt aus. Er hielt Arlas Hand in seinen Händen. Arla trug eins von Adas Klei dern und um den Hals einen Anhänger, den ihr Or-alda geschenkt hat te. Er stellte ein Einhorn aus weißem Gold dar, das an einem Kettchen hing, dessen Glieder Schlangen waren, die sich in ihre Schwänze bis sen. „Alles hätte bereits voriges Mal beendet sein können, ich will sagen, bei unserem ersten Kontakt mit der weißen Welt. Richtig ist, daß wir einige Probleme mit Asp gehabt hätten“, die Gerla lächelte, „aber auch sie hätten gelöst werden können. Oh, verzeih mir“, fügte sie hin zu, als sie sah, daß Asp die rechte Hand zum Gruß erhob. „Die Tatsache, daß sich Scat Mor auf der weißen Welt vor dem psy chischen Kontakt mit mir scheute, ist bedeutungsvoll“, sagte Or-alda weiter. „Ich mußte erneut hierhergelangen. Im Palast Scat Mors habe ich sorgfältig meine Gedanken analysiert, mehr noch, es ist mir gelun gen, meine mentalen Fähigkeiten wiederzuerlangen. Der Weg durch den Spiegel lag offen vor mir.“ Hier machte Or-alda eine Pause. Dann fuhr sie fort: „Ich möchte Idomar danken, ihr müßt ihm alle danken.
Ohne ihn hätte ich nichts machen können… Da Scat Mor den Kontakt mit mir ablehnte, habe ich Idomars Gehirn als Köder benutzt.“ Idomar zog eine Grimasse, sagte, er erinnere sich nicht, und führte seine Hand zur Stirn. „Ich muß euch etwas über den Mann sagen, dessen Opfer wir ge worden sind“, fuhr Or-alda fort. „Ihr erinnert euch, daß Idomar im Planeten Babel ein riesiges Gefängnis sah und in der Bestimmung dieser Welt den Grund, weswegen sie zum verbotenen Planeten pro klamiert wurde…“ „Und habe ich nicht recht gehabt?“ unterbrach sie Idomar. „Mit deiner Hilfe habe ich Scat Mor hierhergebracht und sondiert. Die Dinge haben sich als einfacher erwiesen und gleichzeitig als kom plizierter. Deine Hypothese erklärt nicht die Folter, der eine kleine Gruppe von Wracks – um bei dem von dir eingeführten Begriff zu bleiben – auf Babel unterworfen wurde, während das von Ralt ge brauchte Korrektiv den Vorteil hatte, logischer zu sein, und sich den noch von der Wahrheit entfernte. Laßt mich über Scat Mor spre chen… Ich glaube, er war anfangs ein außergewöhnlich begabter Wis senschaftler, den die Erforschung des Unbekannten begeisterte. Er hat wirklich das Prinzip des ‚galaktischen Sprunges’ entdeckt, das den Gerl seit langem bekannt ist und dank dem wir übrigens hier sind, wonach…“ „Einen Moment“, unterbrach sie Idomar. „Von wem redest du? Scat Mor, mit dem wir zu tun gehabt haben, ist der letzte Vertreter der Dy nastie, die sich auf Babel festgesetzt hat. Vor mehr als vierhundert Jahren hat sein Vorfahr Alvar Mor die Beziehungen zur Behörde ab gebrochen. Diese elementaren Daten kann man in jedem Lehrbuch der kosmischen Geographie finden.“ Or-alda schüttelte den Kopf; ihre blauen Haarflechten flatterten auf der weißen Rückenlehne des Sessels. „Nein, Idomar“, sagte sie entschieden. „Kein Lehrbuch verzeichnet solche Daten. Gestatte mir, fortzufahren: Scat Mor hat also das Ge heimnis der ‚Quasiaugenblicksreisen’ außerhalb des Milchstraßensy stems entdeckt, es aber an niemanden weitergegeben. Sein Leben war
ein ständiges Hin und Her zwischen den Sternen. Ich weiß, daß er neben toten Welten auch solche gefunden hat, wo das Leben vorstell bare Formen angenommen hatte. Ich habe in ihm die krankhafte Fas zination gelesen, die die Androginen auf Ul auf ihn ausübten, seine Abneigung gegenüber den monströsen Mimikrywesen auf Wrg, sein Bedauern über die ermüdenden Umarmungen der Blumenwesen auf Fejxas. Scat Mor hat intensiver gelebt als jeder andere Mensch der integrierten Welten, ist durch alle möglichen Erfahrungen hindurch gegangen…, das hat ihn zerstört. Ich nehme an, daß der ‚galaktische Sprung’, von dem er mit einem unvorstellbaren Egoismus Gebrauch machte, ihn verdorben hat. Er hatte die Möglichkeit, alle vorstellbaren Sensationen zu erleben, ohne von denen reden zu wollen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Scat Mor war ein Vergifteter, ein unheilbarer und lasterhafter Jäger von außergewöhnlichen Ereignis sen. Die Tatsache, daß er der Menschheit eine Entdeckung von den Proportionen der ‚Quasiaugenblicksreisen’ außerhalb der Galaxis vor enthielt, muß ihm ein Machtgefühl besonderer Art gegeben haben und hat ihn von den Menschen der integrierten Welten isoliert. Zu den erprobten Sensationen gehört auch die der Unfehlbarkeit. Erinnert ihr euch? ‚Scat Mor kann alles!’“ „Ich habe es geahnt“, sagte Idomar und wechselte einen Blick mit Ralt. „Raubtier, Folterknecht oder Mörder.“ „Alles ging gut bis zu dem Augenblick, als er die Altersschwelle überschritt. Ohnmächtig, an den Sessel gefesselt, sah er sich nicht mehr in der Lage, sein Laster zu befriedigen, obwohl sein ständig neues Bedürfnis nach Sensationen genauso akut blieb…“ Or-alda blickte der Reihe nach die Gesichter der gespannt Zuhörenden an; als ob sie sich von der Wirklichkeit des weißen Zimmers überzeugen wollte, ließ sie ihre Blicke durch den Raum gleiten. Dann sprach sie ruhig weiter: „Auf drei Planeten der integrierten Welt schuf er das Institut Kosmospekt. Ich nehme an, daß der Ruf des Mannes, der das Geheimnis des ‚galaktischen Sprungs’ gelöst hatte, die Behörde über zeugte, da alles legal vor sich ging. Und durch die Androiden, aus denen sich das Personal ausschließlich zusammensetzte, begann Scat Mor… Wracks, psychisch Kranke, zu suchen, verzweifelte, zer
schmetterte Wesen, die geeignet waren, sich an den Strohhalm zu klammern, den er ihnen hinhielt: Die Verwirklichung des Unmögli chen… In dem Zustand, in dem wir uns befanden, haben wir den Kö der geschluckt. Der Gipfel der Gemeinheit war, daß – um einer even tuellen Entdeckung der unmenschlichen und demnach illegalen Akti vität des Instituts vorzubeugen – jeder von uns eine Erklärung unter schrieben hat, durch die er bestätigte, daß er sich freiwillig einem Ver such unterwarf, von dem er nichts erfuhr, oder besser gesagt, mit dem er betrogen wurde.“ „Aber Arial“ protestierte Ralt. „Und selbst Asp…“ „Hast du vergessen, unter welchen Bedingungen? Arla wurde nur wieder zum Leben erweckt, um erneut getötet zu werden. (Ich lasse hier die Tatsache beiseite, daß man absichtlich eine Formel gesucht hat, damit sie es sei und doch nicht sie.) Asp wurde gleichfalls wieder zum Leben erweckt, um erneut getötet zu werden oder um zu töten. Was mich betrifft, aber das wißt ihr ja alles. Und Idomar wurde ge zwungen, wieder das zu werden, was er nicht mehr sein konnte, ein Mörder. Jede der ‚verwirklichten Unmöglichkeiten’ war dazu be stimmt, uns die Illusion zu geben, daß wir nicht betrogen wurden. Oh ne es zu wissen, waren wir Scat Mors Clowns, seine Seiltänzer ge worden. Damit ihr begreift“, präzisierte Or-alda, „jeder von uns dreien befindet sich weiterhin in dem Raum, in den er gelangt ist, nachdem er das mit Hologrammen geschmückte Büro verlassen hat, wo er von einem eigens dafür programmierten Androiden erwartet wurde.“ Schweigend blickten sich Ralt und Idomar an. Während Arla dem langen Gespräch nicht folgen konnte und Asp ungerührt zuhörte, alarmierte der gleiche Gedanke alle drei. Aber sie hatten übersehen, daß die Frau, die ihnen gegenübersaß, Or-alda war. „Fürchtet euch nicht“, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, „ich habe meinen Verstand nicht verloren. Erinnert euch daran, daß wir uns fragten, weswegen keiner von uns sich daran erinnerte, was die Holo gramme bedeuteten, und auch nicht, was geschah, nachdem er das Büro verließ, in dem er erwartet worden war. Weil man uns erwartet hatte, wurden wir identifiziert, und für jeden von uns war in einer Vi trine das Abbild vorbereitet worden, das jeden einzelnen notwendi
gerweise anziehen mußte. Die Tatsache, daß jeweils nur einer aus un seren Welten gewählt wurde, stellt eine zusätzliche Vorsichtsmaß nahme dar. Das gleichzeitige Verschwinden dreier Personen hätte zu denken gegeben, während die Abwesenheit nur einer unausgegliche nen Persönlichkeit alle Chancen hatte, als Selbstmord zu gelten. Für den Fall einer ernsthaften Untersuchung, die bis zu den Büros des Kosmospektinstitutes geführt hätte, wären schließlich Maßnahmen zu unserer Beseitigung vorgesehen worden, zumal die von uns unter schriebenen Erklärungen das Institut gegen jede strafrechtliche Ver folgung abgesichert hätten. Babel existiert nicht. So wie es niemals eine Dynastie Mor und einen verbotenen Planeten gegeben hat. Konsequenterweise heißt das, daß unter solchen Bedingungen auch wir hier nicht existieren können.“ „Ich habe es gewußt“, sagte Idomar heftig. „Es gibt keine Auferste hung. Alles war Einbildung, selbst Drals Fahne.“ „Alles wurde uns suggeriert“, präzisierte Or-alda. „Nachdem wir das Büro mit den Hologrammen verlassen hatten, betraten wir jeder einen Raum, wo wir hypnotisiert wurden, um uns ‚die Rolle’ ins Bewußtsein einzupflanzen, die wir in unserem Leben auf dem imaginären Planeten Babel spielen sollten. Ich habe mich nicht bemüht, die Namen der Drehbuchautoren, Regisseure und Bühnenbildner in Erfahrung zu bringen, denen die Abfassung des Psychodramas anvertraut wurde, ich nehme übrigens an, daß es gleichfalls Androiden waren. Jedoch alles, was wir erlebt haben, und der Rahmen, in dem es stattfand, war bis in die kleinsten Einzelheiten vorausbestimmt worden. Wie bei allen Schauspielern war uns die Interpretation und das Erlebnis eigen, aber wir hielten die Rollen, die wir zu spielen hatten, für echte Lebensvor gänge.“ „Und all das zur Befriedigung eines einzigen Zuschauers“, flüsterte Ralt. „Eines Zuschauers, der sich in ständigem psychischem Kontakt mit den Schauspielern befand, denn Scat Mor interessierten weder die Worte noch das Spiel, das sich in Bewegungen und Gesten umsetzt, er verfolgte das innere Spiel seiner Schauspieler, genoß ihre Unruhe und
Hoffnungen, ihre Ungewißheit und Selbstzerfleischung. Das Dreh buch sah Veränderungen von Situationen vor, Hauptsache, seine Sen sationsgier wurde befriedigt.“ „Ein Vampir.“ Asp zog eine Grimasse. „Der schließlich von seinen Opfern vernichtet wurde. Ein Fehler üb rigens, der nicht ins Drehbuch gehört. Scat Mor stand in ständigem Kontakt mit uns, nur sollten wir es nicht wissen. Sorgfältig hatte der Drehbuchautor alle Vorsichtsmaßnahmen für den Fall einer wenn auch unwahrscheinlichen psychischen Aggression seitens eines zur Verzweiflung getriebenen Opfers ergriffen und vorgesehen, daß alle Anordnungen Mors registriert wurden. Aber das Laster erwies sich als stärker, und Scat Mor konnte nicht auf direkte Eingriffe in das Gehirn seiner Schauspieler verzichten. Er begriff die Gefahr und scheute sich, mit mir dann in Kontakt zu treten, wenn er mich im Vollbesitz meiner Kräfte wußte, hier auf der weißen Welt, hat aber nicht vorausgesehen, daß ich indirekt, durch Idomars Gehirn, zu ihm gelangen könnte; oder aber er hat beschlossen, der Gefahr zu trotzen, eine im Drehbuch un vorhergesehene Sensation“, sagte Or-alda. „Aber das vorhergesehene Finale?“ fragte Idomar. „Ich nehme an, daß wir, wenn das Stück sich bis zum Ende abge spielt hätte, schließlich preisgegeben worden wären. Entweder hätten einige von uns den Verstand verloren, oder man hätte uns laufenlas sen, nachdem man vorher aus unserem Gedächtnis die Episode Kos mospekt gestrichen hätte. (Nebenbei gesagt, der Begriff bedeutet nicht Kosmosinspektion, wie man es der Behörde mitteilte, sondern kosmi sches Schauspiel.) Dann wären wir wirklich zu menschlichem Strand gut geworden, das keinerlei Gefahr mehr für Scat Mor darstellte.“ In dem nun einsetzenden Schweigen hörten sie alle überdeutlich das Rauschen der weißen Wellen. Sie entspannten sich in ihren Sesseln und lauschten mit verschleierten Blicken den Enthüllungen Or-aldas, wobei sie sich an Einzelheiten der Rolle erinnerten, die sie auf Babel spielten, und dabei feststellten, daß sie in ein einheitliches Ganzes paßten, dem sie zum Opfer gefallen waren. In dem weißen Raum des
Zimmers schien ihnen jedoch alles weit entfernt, Bilder einer abge schlossenen Vergangenheit, die sie vergessen wollten. „Du hast gesagt, daß wir noch… dort sind“, sagte Idomar nach einer Weile erschrocken. Or-alda blickte ihn lange an, bevor sie antwortete. „Ja, alle drei befinden wir uns noch dort. Erinnert ihr euch, daß ich euch auf dem Raumschiff, das uns angeblich nach Babel brachte, ver sprochen habe, daß wir Freunde sein werden? So war es, und ich fühle mich euch durch alles, was wir gemeinsam erduldet haben, verbun den…“ Hier machte Or-alda eine Pause. Ihr goldbraunes Gesicht wur de noch ernster. „Jetzt… ist es Zeit zu wählen. Unser Verstand kann sich einbilden, was nicht existiert. Das Wort Schöpfung figuriert in allen Sprachen vernunftbegabter Wesen, und vom ersten Werkzeug bis zum Kunstwerk oder der gesellschaftlichen Organisationen haben die Menschen zuerst Vorstellungen gehabt und sie dann verwirklicht. Viele Vorstellungen bleiben dennoch im Stadium des Traums oder des Alptraums, ohne Wirklichkeit zu werden. Im ersten Fall ist es schade, im zweiten ist es ein Glück… Die weiße Wissenschaft der Gerl hat seit langem entdeckt, daß die Illusion, das Bild konkret werden kann, weil es auch nur eine Form umsetzbarer Energie ist. Babel war eine einfache Vorstellung, die in die Gehirne einiger hypnotisierter Wesen verpflanzt wurde, ebenso wie Arla und Asp. Jetzt jedoch existieren Babel, Arla und Asp ebenso wie wir drei, Ralt, Idomar und ich, leib haftig existieren, obwohl wir auf Babel nur eine Illusion waren, die in unsere eigenen, auf drei verschiedenen Welten manipulierten Gehirne eingepflanzt worden war. Aber nun existieren wir zweimal, hier und in den Laboratorien des Kosmospekts… Die Erfahrung ist ungewöhn lich, und ich weiß nicht, was aus unserer Verdoppelung resultieren kann. Vielleicht nichts, was uns, die auf Babel, angeht. Aber es ist mir auch nicht gleichgültig, was mit Or-alda auf der Venus geschieht. Wahnsinn oder Deklassierung? Andererseits ist die psychische Ver bindung zwischen uns nicht völlig unterbunden; die psychischen Wunden Or-aldas, sobald sie das Laboratorium verlassen hat, könnten unerwünschte Echos in mir, der Or-alda auf Babel, wecken. Ich sage, sie könnten… Ich habe die Dinge abgewogen und mich entschieden. Ich bleibe hier und opfere die, mit der ich nicht mehr identisch sein
will. Daß ich erneut vor die Wahl gestellt bin, kann Gefahren beinhal ten; ich weiß nicht, wie ich auf den Schock reagieren werde, den mir ein Tod auf der Venus verursachen wird. Ich habe mich trotzdem ent schlossen, das Risiko einzugehen, und wenn ich euch meinen Fall schilderte, so deshalb, um mich zu erleichtern. Schätzt selber ein, in wieweit sich unsere Probleme ähneln oder unterscheiden, und wählt in voller Freiheit zwischen der Existenz auf Babel oder der Rückkehr in die Welt, von der ihr kamt.“ „Ohne Arla!“ rief Ralt. „Ich habe seit langem gewählt, Or-alda.“ Die Gerla lächelte. Dann wurde sie wieder ernst und wandte ihre Blicke zu Idomar. „Ich muß noch mit Asp sprechen, ihm noch ein paar Fragen stellen, wozu ich bisher nicht kam“, sagte dieser. „Dann“, und dabei lächelte er lebhaft, so wie er es seit kurzer Zeit gelernt hatte, „dann bleibe ich bei dir, Or-alda.“ „Das habe ich gehofft“, bekannte sie. „Ich habe euch nicht beein flussen wollen, jedoch gehofft, daß wir zusammen bleiben. Was Asps Entscheidung angeht…“ „Vergeßt nicht“, schnitt dieser ihr das Wort ab, „daß ich dank Bru der Idomar der einzige von euch bin, der sehr gut Bescheid weiß, wie es auf dem Mars aussieht. Und wenn schließlich derjenige, der sich bemüht hat, dich zum Schweigen zu bringen, den Dialog wieder auf nehmen will, ziemt es sich nicht, es ihm zu verweigern.“ Bei diesen Worten legte Asp seine Hand auf Idomars Knie. „Arla kann ich nicht fragen“, sagte Or-alda, doch Ralt flüsterte: „Schau sie an.“ Arla bettete ihr Gesicht in seine Hand. Und als alle schweigend zu ihr blickten, hörten sie wieder das Rauschen des Meeres: ein ruhiges Versprechen einer friedlichen Zeit. „Entspannt euch“, verlangte Or-alda. Dann schloß sie die Augen und umfaßte den grünen Armreif. Ihr Körper krümmte sich auf dem Sessel genau wie der Ralts und Idomars, als der glühende Stahl ihre Schläfen durchbohrte. Jeder von
ihnen fand sich angeschnallt auf einem Tisch wieder; ihre Glieder zuckten, sie wanden sich hin und her, zerrissen ihre Fesseln und erho ben sich mit verzerrtem Gesicht und weitgeöffneten Augen. Um sie herum tönte es. Wie vom Blitz getroffen brachen sie plötzlich zusam men, während ihre Ebenbilder auf Babel ihre Gehirne brennen fühlten. Alles spielte sich zu rasch für Asp und Arla ab. Sie waren von ihren Sesseln aufgesprungen und hatten sich bemüht, die drei wieder zu sich zu bringen. Das Todesecho der verurteilten Körper kam verzerrt bei seinen Empfängern in dem weißen Raum an. Für eine unerträglich lange Dauer verfielen sie in Agonie. Or-alda öffnete als erste die Augen. Ralt und Idomar stöhnten, ihre Köpfe waren auf die Brust gesunken. Da tauchte, weiß auf dem Hintergrund des Himmels, der Kopf des Einhorns im Fensterrahmen auf. Das weiße Horn war auf Or-alda ge richtet, die erschöpft lächelte. Das Einhorn wieherte leicht und schüt telte seine Mähne, als ob es die biegsame und unbefleckte Fahne der neuen Welt, die Hoffnung hieß, flattern lassen wollte. Auf ihr Weiß konnte man alles schreiben.
Epilog Vom Schicksal des berühmten Wissenschaftlers und Weltraumfor schers Scat Mor hatte man schon seit langem nichts mehr gehört, als heute die in einer seiner Wohnungen aufgestellten Apparate in alle integrierten Welten ausstrahlten, daß um sechzehn Uhr drei Ortszeit im Alter von achtundneunzig Jahren der Mann aus dem Leben ge schieden ist, dessen Name in der Geschichte als Entdecker des „ga laktischen Sprungs“ weiterleben wird. Der große Verblichene hat sein Versprechen gehalten. Sein an einer Stelle des Mondes verstecktes Testament, dessen Lage von der Woh nung auf der Erde präzisiert wurde, ist der Behörde zur Kenntnis ge bracht worden. Als Zeichen höchster Originalität war der Wohnung die Persönlichkeit Scat Mors selbst immanent, so daß sogar die Stim me des Verblichenen die Koordinaten des Verstecks lieferte, das sich auf dem unsichtbaren Teil des Mondes, im Meer des Traumes, befand. Das Testament umfaßt unter anderem die detaillierte Schilderung des Prinzips der „Quasiaugenblicksreisen“. Somit nimmt der heftige „Ga laxienstreit“ ein Ende, werden die außergalaktischen Gegenstände im Museum Mor in Göttingen authentisch und post mortem die Verdien ste eines der großen Söhne der Erde anerkannt, des Wegbereiters der außergalaktischen Reisen, des Mannes, der uns den Schlüssel zum Weltall überreicht hat. Sicher werden Mutmaßungen über die Motive nicht ausbleiben, die Scat Mor veranlaßt haben, erst nach seinem Tode der Menschheit das sensationelle Ergebnis seiner Forschungen zur Verfügung zu stellen. Was uns betrifft, so sind wir der Überzeugung, daß der Genius des Verstorbenen die möglichen Gefahren seiner Entdeckungen vorausge ahnt hat und uns vor den Risiken warnen wollte, denen eine ungenü gend vorbereitete Menschheit beim großen Sprung jenseits der Gren zen der Galaxis, bei der Konfrontation mit den rätselhaften außerga laktischen Zivilisationen, die wir aus den Werken des Gelehrten ken
nen, ausgesetzt sein würde. Wir sehen darin den letzten und höchsten Beweis von Verantwortungsbewußtsein des Mannes, der sein ganzes Leben der Wissenschaft geweiht hat, die letzte und höchste Bekundung der Liebe und Fürsorge des Wissenschaftlers gegenüber der Mensch heit. Scat Mor wird im Pantheon der integrierten Welten neben den gro ßen Wohltätern der Menschheit beigesetzt werden. Zu Ehren seines Andenkens hat die Behörde einen Trauertag angeordnet. Auszug aus der Fernsehzeitung Integral, 13. Juli 2651 Das Observatorium auf dem Himalaja verzeichnet die Erscheinung eines neuen Planeten rings um die Proxima Centauri. Das unerklärli che Phänomen wird im Mittelpunkt der Beratungen des nächsten astronomischen Kongresses von Kopenhagen stehen. Auszug aus dem Amtsblatt der Behörde, 13. Juli 2651 Durch ein eigenartiges Zusammentreffen wurde das Ableben des be rühmten Wissenschaftlers Scat Mor von drei starken Explosionen be gleitet, die die Büros der Institute Kosmospekt auf der Erde, der Ve nus und dem Mars zerstört haben. Nach ersten Untersuchungen sind die Katastrophen Kettenreaktionen zuzuschreiben. Obwohl die Unfäl le nach Büroschluß stattfanden, haben die Behörden die Überreste je einer Person in jedem der zerstörten Büros entdeckt. Die Untersu chungen dauern an. Auszug aus dem Amtsblatt der Behörde, 13. Juli 2651 Und jetzt? „Guten Morgen, Arla und Ralt.“ „Guten Morgen, Or-alda und Idomar.“
Ich bin am Schluß.
Der alte Asp av Tald su Arit hat euch diese Geschichte erzählt. Wir
sind klüger und vielleicht besser geworden. „Ist das viel?“ „Ist das wenig?“ „Es genügt.“
Lizenz Nr. 303 (305/91/80)
LSV 7713
Einband: Peter Nagengast
Typografie: Ingo Scheffler
Schrift: 9p Times
Gesamtherstellung: GG Völkerfreundschaft Dresden
Bestell-Nr. 6429654
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