Nr. 292
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Nr. 292
Planet des Gerichts Atlan und Fartloon unter Todeskandidaten - in der Arena der Gerechtigkeit von Hans Kneifel
Das Geschehen im Großen Imperium der Arkoniden wird gegenwärtig durch innere Konflikte bestimmt – in höherem Maße jedenfalls als durch die Kämpfe gegen die Methans. Es gärt auf vielen Welten des Imperiums. Und schuld daran ist einzig und allein Orbanaschol, der Brudermörder und Usurpator, der in seiner Verblendung und Korruptheit einen politisch völlig falschen Weg beschritten hat. Die Tage Orbanaschols scheinen gezählt, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein wann die Gegenkräfte im Imperium stark genug sind, den Usurpator vom Thron zu stoßen. Kristallprinz Atlan, der eigentliche Thronfolger, und seine verschworenen Gefährten, die Orbanaschol bisher schwer zu schaffen machten, sind augenblicklich allerdings nicht in der Lage, gezielt einzugreifen. Kraumon, ihre geheime Stützpunktwelt, wurde von den Methans zerstört, und Atlan selbst weiß nichts Genaues über das weitere Schicksal seiner rund 15.000 Kampfgefährten. Der Kristallprinz versucht gemeinsam mit Fartuloon, seinem Lehrmeister, nach Arkon zu gelangen. Doch das Unternehmen schlägt fehl. Atlan und Fartuloon werden gefaßt und zusammen mit Hunderten von Deserteuren der Flotte und Männern der Fluchthilfsorganisation in die Arena der Gerechtigkeit gebracht. Ein Schauprozeß erwartet sie. Ort des Geschehens ist Celkar, der PLANET DES GERICHTS …
Planet des Gerichts
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Fartuloon - Der Kristallprinz und sein Lehrmeister auf dem Planeten des Gerichts. Ogor - Ein Mörder wider Willen. Rotnam Tema - Ogors Strafverteidiger. Kaarfux - Ein berühmter Anwalt. Ches Prinkmon und Aderlohn Dharr - Ein Reporter und sein Kameramann von Arkon-Vision.
1. Ches Prinkmon lehnte an der Bar der KALIMOUN und starrte den Bildschirm an, der das Empfangsgebäude des Raumhafens zeigte. Die Bauten lagen da wie eine niedrige Mauer, die den Gerichtsplaneten vor Neugierigen abschirmte. In der Abenddämmerung – das Schiff war soeben sanft gelandet – flammten die ersten Scheinwerfer auf. Hinter den Fenstern breitete sich Helligkeit aus. Ches hob das Glas und nickte einigen Gästen zu, die er während des Fluges flüchtig kennengelernt hatte; der bevorstehende Prozeß lockte eine gewaltige Masse von Interessierten an. Die Schiffsmaschinen waren abgeschaltet worden. Als Ches die Szenerie sah, die sich auf dem Bildschirm ausbreitete, fühlte er Erregung in sich aufsteigen. Der Prozeß auf Celkar konnte seine größte Chance werden. Ihm blieb nichts anderes mehr übrig, als von Bord zu gehen und auf sein leichtes Gepäck zu warten. Sobald er den Boden des Gerichtsplaneten betreten hatte, war er allein auf sich gestellt. Arkon-Vision war die härteste Schule für Journalismus, die es gab. Die zerschrammten Glasplatten fuhren asthmatisch zischend auseinander. Ein Mann kam aus dem beleuchteten Korridor in die Bar hinein. Ches erkannte den Ersten Offizier. Das runde Gesicht war gleichgültig, als der Offizier sagte: »Guten Abend, Prinkmon. In wenigen Minuten trennen sich unsere Wege.« Ches bewegte das Glas und hob fragend die Brauen. »Trinken Sie einen mit? Sie waren ein feiner Zechkumpan.«
»Danke, nein. Muß mich um den Start kümmern, Meister. Sie finden sich allein zurecht in der juristischen Wildnis?« Ches nickte. »Ja, ich denke schon«, sagte er, trank aus und stellte das Glas zurück. »Unsere Firma hat alles arrangiert.« »In Ordnung. Warten Sie auf den Summer und die Durchsage. Das Gepäck kriegen Sie dort drüben. Fliegen Sie mal wieder mit uns?« »Kann sein.« Sie wechselten einen flüchtigen Händedruck. Der Erste war einer der vielen Männer, die man traf und vergaß, ebenso wie das alte und klapprige Schiff, auf dem er flog. Mit geübtem Blick sah sich der Offizier in der fast leeren Bar um und entdeckte einen Passagier, der ebenfalls hier aussteigen sollte und schlafend in einer Ecke lehnte. Ches Prinkmon schob ein Trinkgeld über die Theke, gönnte der Barfrau ein kurzes Lächeln und ging langsam hinaus. Nach dem Flug folterte die Stille, die sich von Minute zu Minute verstärkte, innerhalb des Schiffes seine Nerven. Ches fand den Weg in seine Kabine, nahm seine Tasche und hängte sie sich über die Schulter. Er hatte nichts vergessen und nichts zurückgelassen. »Willkommen auf Celkar!« murmelte Ches ironisch und schloß die Kabinentür. Er betrat den Planeten des Monhor-Systems recht unvoreingenommen, denn es gab nur wenig, was er über Ogor wußte; angeblich die zentrale Figur im Prozeß des Jahres. Ches zwang sich zur Ruhe, während er über Rampen, schmale Korridore, breite Gänge und schließlich durch den Antigravschacht die alte KALIMOUN verließ. Würzige Luft schlug ihm entgegen, mit hoher Luftfeuchtigkeit, als er die breite Rampe hinunterging und auf den Raumhafentransporter zusteuer-
4 te. Ein nicht neues, aber sauber aussehendes Gefährt. Automatisch registrierte Ches jede Einzelheit und begann bereits zu formulieren, was er empfand. Celkar. Planet des Gerichts. Arena der Gerechtigkeit. Juristisches Zentrum der Imperiumswelten. Raumhafen Prozeßbezirk. Gleiter 24. Diese Schriftzüge umliefen in einem mehrfarbigen Band die langgestreckte Kabine. Ches setzte sich in einen der Sessel und wartete, zusammen mit anderen Gästen, bis das Gepäck verladen war und die letzten Passagiere das Schiff verlassen hatten. Ein leichter Wind wehte über die riesige Fläche des Raumhafens. Eine ununterbrochene Geschäftigkeit herrschte. Merkwürdig, dachte Prinkmon und schüttelte sich, seit zwei Jahren versuche ich, einen Auftrag wie diesen zu bekommen. »Gehen Sie nach Celkar! Berichten Sie über den Prozeß des Jahres oder machen Sie den Prozeß des Jahrzehnts daraus! Und finden Sie etwas Neues! Der Imperator wünscht, daß wir von der innenpolitischen Lage ablenken! Also, bemühen Sie sich, Ches, mein Lieber!« So oder ähnlich hatten sie es auf Arkon formuliert. Und jetzt, wo ich gelandet bin, scheue ich zurück. Es ist ganz sicher nicht Ogor, der mich so unsicher macht. Dieses … Ding! Ich weiß es nicht. Irgendeine verdammte Ahnung, dachte er. Zischend schlossen sich die Türen, der Gleiter schwebte langsam an und fuhr auf die Hafengebäude zu. Die warme Atmosphäre der Abfertigungshalle änderte für kurze Zeit die Gedanken und Überlegungen des Reporters. Ches Prinkmon war siebenundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, und seine Ausbildung als Televisionsjournalist war für ihn leicht gewesen, weil sein Interesse und seine Leidenschaften genau diesem Medium entsprachen. Jene harte Arbeit bedeutete für Ches ungeteiltes Vergnügen. Aufmerksam las er die Überschriften einiger lokaler Blätter. Hier auf Celkar, auf der kontinentgroßen äquatorialen Insel namens
Hans Kneifel Bassakutena, drehte sich buchstäblich alles um Richter und Angeklagte, um Ankläger und Verteidiger und sämtliche damit zusammenhängende Aktivitäten. Das Zentrum war die ARENA DER GERECHTIGKEIT, ein riesiger Komplex, in dem Recht gesprochen wurde. Und tatsächlich war es so: Das Ding Ogor beherrschte die Schlagzeilen. »Sämtliche Zutaten«, murmelte ein dicker Mann, der unverkennbar Anwaltssekretär sein mußte, »sind vorhanden. Meinen Sie nicht auch, junger Mann?« Höflich drehte sich Ches nach dem Sprecher um und nickte. »Es verspricht wirklich eine interessante Auseinandersetzung zu werden«, erklärte er leise. »Was sagen Sie da! Der Prozeß des Jahrhunderts wird das! Die Frage, ob man eine Semimaschine töten darf, wird juristisch entschieden werden. Ein zukunftsweisender Aspekt schwebt über allem.« »Zweifellos«, gab Prinkmon zu. »Indes, hier kommt mein Gepäck. Sie entschuldigen mein mangelndes Interesse?« »Gewiß doch. Jeder ist sich selbst der Nächste«, sagte der Mann. Ches Prinkmon griff nach den beiden mittelgroßen Koffern und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich um die Bänder drängte. Er durchquerte die Halle, rempelte ein gutaussehendes Mädchen an, wich einer Gruppe leicht betrunkener Raumsoldaten aus und trat auf das langsam laufende Band, das ihn nach einer Fahrt von vierhundert Schritten vor dem Anfang einer langen Reihe einheitlich golden lackierter Taxigleiter absetzte. Ein Wagen schwebte heran, die Mechanik klappte das Gepäckabteil auf und verschloß es wieder, dann setzte sich Ches neben den Piloten. »Wohin?« fragte der alte Mann mit zerknitterten Gesichtszügen und einer großen Augenklappe. »Zuerst zum ›Erfolgreichen Plädoyer‹, dann zum Stadtbüro von Arkon-Vision.«
Planet des Gerichts Der Gleiter schwebte los, beschleunigte mit heulenden Absorbern und reihte sich in einer Serie halsbrecherischer Manöver in den Verkehr der Hauptpiste ein. »Sie sind wegen Ogor hier.« »Warum glauben Sie das?« erkundigte sich Ches und lehnte sich zitternd zurück, nachdem der Gleiter zwei andere Fahrzeuge in waghalsiger Geschwindigkeit überholt und deren Fahrspur drastisch geschnitten hatte. »Alle kommen wegen Ogor. Oder wenigstens die meisten. Sie sehen aus wie ein junger Reporter, der auf die große Sache scharf ist, auf einen Knüller, der mindestens acht Tage die Überschriften füllt.« »Sie hätten Psychologe werden sollen«, knurrte Ches verblüfft. »Jeder Gleitertaxipilot ist nach einem Jahr ein ausgebildeter Psychotherapeut«, gab der andere ungerührt zurück. »Tatsächlich komme ich wegen Ogor«, bestätigte schließlich Ches Prinkmon. »Eine merkwürdige Figur!« behauptete der Fahrer. »Ein mehrfacher Mörder, hörte ich«, gab Ches zu bedenken. »Wie man's nimmt. Gerade das soll ja untersucht werden. Er leugnet nichts, aber er schiebt alles auf den Korratz.« »Wird Ogor mit dem Korratz-Einwand durchkommen?« »Die Wetten stehen fünfzig zu fünfzig. Ich denke, sie werden ihn verurteilen und schnell töten.« Ches erkundigte sich, um sein eigenes Bild abzurunden: »Was ist dieser Ogor eigentlich? Warum ist er so wichtig?« »Aus einigen Handvoll guten Gründen.« »Kennen Sie diese Gründe?« »Meine Fahrgäste kannten sie. Jetzt kenne ich sie auch.« »Kann ich sie erfahren?« Einige Chronners wechselten den Besitzer. Dann hörte Ches Prinkmon eine verblüffende Geschichte, von der er selbst etwa die Hälfte recherchiert hatte.
5 Zunächst einmal: Auf Celkar, meist in der Hauptstadt des Kontinents Bassakutena, fanden seit langer Zeit sehr viele gewöhnliche und ausnahmslos alle Sensationsprozesse statt. Von letzterer Gruppe bildeten die Auseinandersetzungen »das Imperium und der Imperator versus eine einzelne Person oder eine Gruppe« die hervorstechenden Punkte. Diese wahrhaft epochalen Verhandlungen, die in fünfundsiebzig von hundert Fällen mit öffentlichen Hinrichtungen endeten, zogen immer wieder gewaltige Mengen von Interessierten an, von denen das Hotel- und Dienstleistungsgewerbe von Kutenarynd gut lebte. Im Augenblick war es der Prozeß »Imperium versus Ogor«, der die Öffentlichkeit mobilisierte. Ogor selbst, jene schwer zu klassifizierende Mischung zwischen einem Arkoniden und einem Roboter, eine Art Baukasten-Cyborg, bildete zwar den Hauptgegenstand des bevorstehenden Verfahrens, aber er war eigentlich nichts anderes als ein mehrfacher Mörder unter vielen anderen, die hier verhandelt wurden. Vielmehr war die Kombination zwischen einem biologischen Körper und vollrobotischen Ersatzteilen das wahrhaft Aufsehenerregende. Der einäugige Taxipilot steuerte sein Vehikel so, als gäbe es weder Regeln noch Verkehrsüberwachung. Dabei schilderte er plastisch das, was er von plaudernden Anwälten, Verteidigern oder Schriftführern während vieler Fahrten aufgeschnappt hatte. Es waren nicht mehr als einige Morde, die mit scheinbar kalter Perfektion und ohne erkennbare Gemütsbewegung von Ogor begangen worden waren, die das Gericht ihm vorwarf, und die er im übrigen auch keineswegs ableugnete. Vor Beginn seiner verbrecherischen Karriere war Ogor einer der risikobewußtesten Geschwaderführer des Imperiums gewesen. Aber bevor er seine ersten Auszeichnungen einheimsen konnte, schlug der unheilbare Korratz zu. Es war eine der jüngsten und schrecklich-
6 sten Krankheiten des Imperiums. Es begann ganz harmlos damit, daß die Endglieder von Fingern innerhalb von Tagen verdorrten, sich stechend gelb färbten und dann, bei einer unachtsamen Bewegung, abfielen wie brechendes Glas. Die ersten zwei Tage eines Anfalls, der sich immer nur auf eine einzelne Stellen des Körpers konzentrierte, waren von grauenvollen Schmerzen begleitet. Dann spürte das Opfer nichts mehr. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein befallenes Glied ein zweites Mal heimgesucht wurde, stand bei drei zu eins. »Sagen Sie«, wandte sich der Gleiterpilot am Ende einer atemlos langen Erzählung an den Reporter, »Sie kommen doch ziemlich weit herum. Hat man noch nichts gegen den verdammten Korratz gefunden?« »Mir ist nichts bekannt«, erklärte Ches. »Hmm«, kommentierte der Pilot und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr zu, »miese Aussichten für Ogor. Übrigens, er hat diesen Primm. Ein höchst appetitliches Tierchen. Es bringt in die Berichte von weiblichen Journalisten eine so menschlichintensive Note.« »Diesen … wen?« fragte Ches. Davon wußte er nichts. »Primm. Ein hellblaues Ding, so groß wie eine Maus. Mit Fledermausflügeln, bewegt sich aber wie ein Kolibri. Primm hat einen beschränkten, aber wirkungsvollen Wortschatz. Flucht ausdauernd in macherlei kolonialen Dialekten.« Während der letzten Viertelstunde hatte Ches Prinkmon seinen winzigen Recorder mitlaufen lassen. Die breite Gleiterpiste verzweigte sich jetzt wie eine zehnfingrige Hand, deren einzelne Spinnenglieder in verschiedene Richtungen auseinanderstrebten. Soweit Prinkmon erkannte, raste der Taxipilot die richtige Abzweigung entlang. Kleine Parks tauchten auf, in denen schlanke Türme aus Glas und Stahl zu sehen waren. Der Belag der Piste glühte phosphorn zwischen den Hängen und dem Gebüsch. Es herrschte noch immer starker Verkehr in beiden Richtungen.
Hans Kneifel »Hat Ogor diesen … Primm schon lange?« »Seit er eingeliefert wurde.« »Verblüffend!« murmelte Prinkmon. »Tatsächlich habe ich nichts von Primm gewußt.« Der Pilot setzte ein zufriedenes Grinsen auf und erklärte: »Trösten Sie sich, junger Mann. Erst vor zwei Tagen durfte der erste Korrespondent in die Zelle. Das Ganze ist eine sehr traurige Sache, mein Junge. Ich hoffe, Sie sind keine der Sensationshyänen, die jede Information maßlos ausschlachten.« »Selbst wenn ich das wollte«, schränkte Ches voller Unbehagen ein, »könnte ich es nicht! Schließlich ist Arkon-Vision besonderen Richtlinien unterworfen.« »Wenn Sie so viele Arkoniden in allen Situationen erlebt hätten wie ich, mein Junge«, sagte der Pilot fast mitleidsvoll, »dann würden Sie sich nicht wundern, wie schnell sich der eine oder andere binnen Sekunden ändert und das Tier in sich hervorkriechen läßt. Ich wünsche Ihnen jedenfalls das Beste.« »Vielen Dank«, knurrte Ches säuerlich. Da waren sie wieder, jene Spannung und Nervosität, die ihn ergriffen hatten, als die KALIMOUN den Boden des Planeten berührt hatte. Der Gleiter hielt in der unterplanetarischen Zufahrt des Hotels an. Das Gepäck wurde entladen. Ches gab dem Einäugigen ein gutes Trinkgeld und ließ ihn sieben Minuten lang warten. Dann hinterlegte er seinen Schlüssel an der Rezeption und ließ sich zur Arkon-Vision-Redaktion bringen. Ein heilloses Durcheinander, Alkoholdunst und das hysterische Gelächter von Fimm Monhole, dem Bürochef, empfingen ihn. Augenscheinlich feierten sie eine Party. Kopfschüttelnd trat Ches Prinkmon näher. Er nahm einem jungen Mädchen einen Drink ab und blieb neben Aderlohn Dharr stehen, seinem älteren Kollegen. »Hier bin ich, Aderlohn«, sagte er. »Wo ist die Kamera?« Aderlohn starrte ihn wie einen Geist an.
Planet des Gerichts
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Dann brach er in dröhnendes Lachen aus. Er war betrunken, das war deutlich zu erkennen.
2. Die Schreie waren markerschütternd. Im Augenblick hallten sie von den weißgestrichenen Wänden des viereckigen Innenhofs wider; es waren unheilvolle Schwingungen, von denen alle übrigen Pflanzen beeinträchtigt wurden. Seit Lekos einmal mit einem Hieb seiner messerscharfen Schreibhand eine blutrot blühende Rolpe, eine der schönsten und planetengeschichtlich ältesten Pflanzen in diesem Garten, geköpft hatte, empfanden alle Zierpflanzen in diesem Viereck das Auftauchen des rostigen Körpers als mentale Bedrohung. Kaarfux mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks schaltete die verborgenen Lautsprecher aus, drehte an einem Regler und empfing einen Teil der osmotischen Musik jetzt nur über die winzigen Kristalle in seinen Ohrmuscheln. Langsam näherte er sich einem kugelrunden, fast unhörbar zitternden Zierstrauch und fuhr liebkosend mit beiden Handflächen über die Blätter. Langsam hörten die lanzettförmigen Blätter und die feinen, behaarten Stengel auf zu zittern und sich zu schütteln. Kaarfux drehte sich um, kippte mit dem Zeigefinger nacheinander eine Reihe von Schaltern herunter und regelte die Intensität der verstärkten und hörbar gemachten Schwingungen dieses Kugelbusches – Tanifera ragens – neu ein. Eine harmonische Musik erklang stereophon in seinen Ohren. »Sehr schön, mein kleiner Grüner!« murmelte er und fuhr damit fort, vorsichtig die halbmannshohe Pflanze zu streicheln. Vor zwei Stunden hatte er die vitaminreiche Nährflüssigkeit, mit dem abgemessenen Quantum Wasser vermischt, über die zierlichen Wurzeln versprüht. Die Pflanze schmiegte sich förmlich seinen streichelnden Fingern an. Er spürte die eigenständige Bewegung dieses lebenden, geheimnisvolle
chemoelektrische Schwingungen emittierenden Körpers. »Nur ruhig. Lekos wird euch nichts mehr tun. Niemals mehr.« Aber die meisten Pflanzen waren »intelligent« genug, um die versteckte Bedrohung zu erkennen, die in dem tonnenförmigen Körper von Lekos steckte. Lekos schwebte zwei Meter hinter seinem Herrn und Meister und starrte den ineinander verflochtenen, dschungelartigen Teil des Gartens entlang der drei weißen Mauern an. Riesige Bronzenägel unterbrachen die weißgrüne Fläche; einige Pflanzen klammerten sich an diese schimmernden Haltepunkte. Kaarfux konzentrierte sich auf Tanifera ragens. Osmotischer Druck und zwischen den Millionen Zellen flutendes Plasma mit all seinen chemischen Bestandteilen erzeugten in Verbindung mit den Nervenadern der Pflanze deutliche elektrische Schwingungen. Die der Wurzeln waren gänzlich anders als diejenige des Stammes oder jene, die in Ästchen und Blättern entstanden. Zusammengenommen bildeten sie eine Harmonie. Einige Dutzend Sensoren waren an und in den Pflanzen befestigt, vereinigten sich zu einem dünnen Kabel, das in einen modulierenden Verstärker mündete. Der Verstärker und diverse andere technische Einrichtungen transponierten die Schwingungen in einen für Arkoniden hörbaren Bereich hinunter und machten aus Schwingungen Töne. Diese Töne hörte Kaarfux, der alte Rechtsanwalt. Er war reich und jenseits von den gewöhnlichen Aufregungen eines handelsüblichen Strafprozesses. Mit Zivilklagen hatte er sich nicht mehr befaßt, seit er seine glanzvolle Ausbildung beendet hatte. Die Wirkung von Geschehnissen auf Pflanzen und die dadurch hervorgerufenen musikalischen Wirkungen waren seit fünfzehn Jahren sein Hobby. Von den dreihundert verschiedenen Pflanzen »sangen« zweihundertneunzig. Zehn andere bildeten den Humus für die Neukulturen; ihr kreatürliches Hintergrundbrummen
8 war für ihn ebenso indiskutabel wie ein gekaufter Zeuge oder das neueste Gerücht über geheimnisvolle Gänge unterhalb der Arena der Gerechtigkeit. »Schöne Musik, mein Grüner!« sagte er mit schläfriger Stimme. Die Pflanze belohnte diese liebevolle Zuwendung mit einer Melodienfolge, die an Mondnächte über einem stillen See erinnerte. »Wunderbar …«, murmelte Kaarfux und ging langsam rückwärts von der Pflanze weg. Er hörte die schrillen Schmerzenslaute nicht, die Grashalme und Moosbüschel unter seinen Sohlen ausstießen. Er grinste diabolisch. Mit den Pflanzen hatte er einen ganz bestimmten Versuch vor. Er interessierte ihn brennend, aber es war nur ein akademisches Problem für ihn. Mit Ogor hatte Kaarfux nichts zu tun – obwohl: hin und wieder zuckte es ihm in den Fingern, einzugreifen und die Macht seines geschliffenen Verstandes und die Summe der Erfahrungen aus fast sechzig Berufsjahren einzusetzen. Grimmig grinsend schüttelte er seinen kugelrunden, faltigen Kopf. Seine Augen strahlten auf, als er bemerkte, wie Lekos hinter ihm auswich und sich in Richtung auf den Wohnraum zurückzog. »Darum also sind die Kerlchen so aufgeregt«, stellte er fest »Zurück zum Pult, und schnell die letzten Informationen abrufen, Blechknecht!« Zwanzig Lichter auf der eindrucksvollen Leuchtfront des Apparats flackerten in einem bestimmten Rhythmus auf. Eines fernen Tages, dachte Kaarfux mit den 777 Tricks, werde ich auch das letzte Geheimnis meines Ratgebers lüften. Lekos gehorchte, verließ schwebend den Garten und summte durch die weit geöffneten Fenster in den Wohnraum zurück. Langsam wurde es dunkel. Hinter Kaarfux und Lekos spielte das unhörbare Riesenorchester seine unkoordinierten Melodien. Aber es erklangen, nachdem die rostige Maschine den Garten verlassen hatte, keine Schreckensschreie mehr. Seinen Spottnamen verdankte Kaarfux seiner cha-
Hans Kneifel rakterisierenden Fähigkeit, einen scheinbar verfahrenen Prozeß in buchstäblich letzter Minute zugunsten seines Klienten und seiner Einkünfte zu einer überraschenden, positiven Wendung zu führen. Er schaltete den Verstärker ab und zog die Kristalle aus seinen behaarten Ohrmuscheln. Er schaltete das Visiphon ein, genau rechtzeitig, bevor die stündlichen Nachrichten begannen. Ein weiterer Tastendruck aktivierte das Aufzeichnungsgerät. Vor dem Bildschirm, halb so groß wie eine Wand, baute sich das gestochen scharfe, farbig dreidimensionale Bild auf und schließlich begann der Sprecher: »Vor den Schranken der Arena der Gerechtigkeit wird in zwei Tagen eine denkwürdige Verhandlung ihren Anfang nehmen. Der Prozeß Imperium versus Ogor beginnt. Wie inzwischen bekannt wurde, ist Ogor von der Krankheit Korratz gezeichnet worden. Diese Krankheit ist ebenso gräßlich wie selten, und es gibt kein Mittel dagegen. Die durch den Schwund einzelner Körperteile hervorgerufenen Verstümmelungen wurden im Fall Ogors von Medizinern durch Prothesen verschiedener Größe und Feinheit ersetzt. Schließlich führte nach Aussagen des Angeklagten ein ganz bestimmtes kybernetisches Teil zu schwersten Persönlichkeitsänderungen. Ogor wurde nach Angaben des Untersuchungsrichters zum mehrfachen Mörder. Er ist geständig, aber er lehnt jede Verantwortung ab. Dieser Fall ist selbst in den sogenannten Ewigen Annalen der Arena noch nicht vermerkt. Der Prozeß nimmt mit Recht für sich in Anspruch, einmalig zu sein. Der Ausgang und das Urteil werden von richtungsweisender Tragweite für sämtliche Verbrechen sein, die unter dem Begriff Cyborg-Untaten zusammengefaßt werden können …« Es folgte ein kurzes Interview mit einem der Verteidiger Ogors. Aus reiner Schadenfreude und Verzweiflung hatte Ogor als Angehöriger der Arkon-Flotte auf einen Pflichtanwalt Anspruch erhoben, der vom
Planet des Gerichts Imperium bezahlt wurde. Er hatte einen der besten bekommen, die es auf dem Gebiet gab, bemerkte Kaarfux mit grimmigem Lachen. Auch dieses Interview schnitt er mit. Dann folgte – zum erstenmal für eine große Öffentlichkeit – ein kurzer Streifen. Er zeigte Ogor in seinen jungen Jahren, als Kadett der Flottenakademie, als breit grinsenden Risikopiloten, als müde und zerfurcht heimkehrenden Sieger erbitterter Kämpfe gegen die Methanatmer und schließlich als mehr und mehr verfallenden Patienten, der zwischen seinen vielen Operationen immer wieder für Arkon kämpfte. Der Bericht war von einer geradezu brutalen Deutlichkeit. Er zeigte den Weg eines Mannes vom Heranwachsenden zum roboterartigen Wrack auf eine lautlose, erschreckende Weise. Mit einem kurzen Blick in Ogors Zelle, in der er mit Primm spielte, endete auch der Bericht über dieses Thema. Außenpolitische Beiträge folgten. Kaarfux mit den 777 Tricks schaltete das Aufnahmegerät ab und nahm mit halbem Interesse den Rest der abendlichen Nachrichten zur Kenntnis. Weder die Lage des Imperiums noch die Aussichten Orbanaschols, noch lange am Leben zu bleiben, konnten positiv bewertet werden. »Es passiert nichts mehr!« rief Kaarfux. »Die Lage ist hoffnungslos, und nicht einmal der Imperator weiß, wie es weitergehen soll. Wohin sind die Tage des siegreichen Imperiums? Was ist aus dem Erbe Gonozals geworden? Ich brauche Aufregungen! Ich muß etwas tun! Mein Verstand rostet ein, und mich plagt die Eintönigkeit.« Der Lekos erwiderte blumig: »Einwände, die schon oft zu vernehmen waren. Aber von allen herausragenden Ereignissen ist lediglich der Ogor-Prozeß deiner würdig, Kaarfux. Aber vielleicht bietet sich dir schon bald eine Gelegenheit, aus der Glut längst erloschener Feuer eine heiße, lodernde Flamme werden zu lassen.« Seit der Zeit, in der Kaarfux beratender
9 Mitwirkender beim Bau der Arena der Gerechtigkeit gewesen war, schien sich nahezu alles geändert zu haben, was Innenpolitik und außenpolitische Erfolge des Imperiums betraf. Wie unzählige andere Arkoniden war auch Kaarfux zwar persönlich nicht von irgendwelchen Einschränkungen betroffen, aber er litt darunter. Er war sich völlig darüber im Klaren, daß er selbst nichts dagegen tun konnte; die Idee, als alter Mann sich etwa den Rebellen anzuschließen, war ebenso absurd wie undurchführbar. Aber er sehnte sich mit allen Fasern danach, etwas zu tun, das geeignet war, die frühere Größe und Macht wiederherzustellen. Jetzt, im leeren, dämmerigen Haus, wurde er sich abermals dieser Tatsache bewußt. Aber wohin er auch blickte – er sah keine geeignete Aufgabe. Ebenso deutlich wußte er, daß seine Versuche mit Pflanzen, Ziergräsern und Blumen nichts anderes als ein intellektueller Fluchtversuch waren. Trotzdem bewegten sich seine Finger und überspielten die aufgenommenen Bilder von Ogor auf ein anderes Band, das sie über den besonders konstruierten Wiedergabeschirm schicken würde. Der Grund dieser technischen Umsetzung war, daß jede Pflanze ihre »Informationen«, die natürlich auch nichts anderes waren als modulierte Auszüge aus dem breiten Spektrum sichtbaren und unsichtbaren Lichts, spürbarer und nicht spürbarer Schwingungen, auf gänzlich andere Weise aufnahm. Gleichzeitig schaltete er die Sensoren bestimmter Pflanzen auf getrennte Aufnahmekanäle. Dann schaltete er selbst sich in die »Musik« von Tanifera ragens ein und dirigierte den schwebenden Bildschirm hinaus in den nächtlichen Garten. »Lekos!« rief er und schob die Hörbohnen in die Ohren. »Hier bin ich. Welche Aufgabe soll ich wahrnehmen?« »Du sollst«, Kaarfux deutete mit einer gebieterischen Geste auf den Halbroboter, der vor ihm schwebte und mit den Frontleuchtfeldern blinkte, »auf deine dumme Art zusehen und zuhören, welche Wirkung Ogor auf
10 die Pflanzen hat. Denn aus einem von beruflicher Neugierde diktierten Grund habe ich diese seltsamen Versuche unternommen: So, wie der Angeklagte auf die Pflanzen wirkt, wirkt er auch auf die Richter. Damit meine ich nicht die logische Argumentation rechtlicher Begriffe von Unschuld und Schuld, sondern die direkte, einfache Wirkung. Von Herz zu Herz, unter direkter Umgehung der Vernunft und Logik. Kapiert?« »Da ich seit Unzeiten gewohnt bin, den verschlungenen Windungen der juristischen Sprache zu folgen«, gab Lekos mit seiner knarrenden Stimme zur Antwort, »wird es mir zweifelsohne leichtfallen, deine Intentionen, Meister, vorbildlich zu integrieren.« »Einverstanden. Es geht los.« Über dem Kontinent Bassakutena funkelten stechend klar die Sterne. Im Wohnhaus erlosch nach und nach jedes Licht. Nur die winzigen Leuchtfelder der elektronischen Instrumente waren zu erkennen. Lekos schaltete auch seine Signallichter ab. Sein Körper, etwa einen Meter hoch und geformt wie ein rostiges, zerbeultes Faß von rund einem halben Meter Durchmesser, verschmolz mit der Finsternis. Dann flammte der Bildschirm auf. Die Pflanzen, ihrer Natur nach sonnenorientiert, bewegten raschelnd ihre Staubgefäße, die Blüten und die Oberseiten der Blätter in die Richtung des Lichtes. Vor dem drei Quadratmeter großen schwebenden Bildschirm baute sich der dreidimensionale Eindruck einer räumlichen Szene auf. Die Tanifera ragens gab einen schwellenden Akkord der gespannten Aufmerksamkeit von sich. Abgesehen von den plötzlich ganz anders wirkenden Bildern, sie waren farbverändert und teilweise im Infrarotlicht sichtbar geworden, nahmen die Pflanzen natürlich weder die exakte Bedeutung des Kommentars auf noch sämtliche Einzelheiten des Bildes. Sie reagierten völlig kreatürlich. Sie erfaßten Eindrücke. Und wenigstens die Tanifera gab sie sofort wieder zurück. Als der junge Ogor zu sehen war, antwortete die kugelige Pfahlwurzelpflanze mit ei-
Hans Kneifel nem begehrlichen Girren. Jedenfalls deutete Kaarfux diese trillernde Lautfolge nicht anders. Der Arkonide gefiel ihr! Sie würde es gern sehen, wenn er sich in ihrem runden Schatten ausruhte. Aber von Bildfolge zu Bildfolge, die immer weniger erfreulich waren, änderte sich die Grundmelodie. Die Musik veränderte sich fast synchron mit den schroffen Eindrücken eines langsam absterbenden Körpers. Zwar waren die robotischen Hilfsglieder auf der Bildfolge nur als weniger warm strahlende Teile zu erkennen, aber von dem Arkoniden schien eine Aura aus Düsternis und beginnender Selbstzerstörung auszugehen, die für die Pflanzen immer drohender wirkte. Schließlich, während der letzten Bildfolge, konnte Kaarfux nur zwei ineinander vermischte Empfindungen heraushören: Mitleid und ratlosen Abscheu! Er schaltete nicht ab, sondern wartete, bis die Bilder ganz verschwunden und an ihre Stelle diejenige Helligkeit getreten war, die einen großen Teil des sonnenlichtähnlichen Spektrums enthielt. Es war, als ob Tanifera aufatmete, als ob Spannung und osmotischer Krampf aus den Wurzeln, holzigen Teilen und den Blättern wichen, als ob sich die Blüten in der Wärme dieses Lichtes begierig öffneten und der Hitze und Helligkeit des Tages entgegensähen. Dann erlosch das Licht. Auf den Bändern waren die Ausstrahlungen von einigen Handvoll anderen Pflanzen verzeichnet. Den Rest der Nacht verbrachte der Staranwalt damit, seinen ersten Eindruck zu vertiefen. Nahezu sämtliche Pflanzen – für sie waren die Bilder Geschehnisse wie Sturm, Regen, Trockenheit, wie das Messer oder die Säge des Gärtners, wie organischer Dünger oder Windbruch! – reagierten auf die halbwegs chronologisch exakte Bildfolge aus Ogors Leben in gleicher Weise. Mitleid, Abscheu, Abwehr vor Dingen, die das Verstehen überstiegen, deutliches Unbehagen bis hin zur Gegenwehr, dies waren die Reaktionen des kleinen, mit ausgesucht sinnlich agierenden Pflanzen bestück-
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ten Innengartens. Die ersten Sonnenstrahlen glänzten auf den stählernen Kuppeln der Arena, die sich wie eine Zitadelle über die Stadt Kutenarynd erhob, als Kaarfux seine Analyse fertig hatte. Jetzt würde er wetten können, wie der Prozeß ausging. Aber es gab niemanden, mit dem er hätte wetten können.
3. Sein rechtes Auge und das System von Photozellen, Linsen und Selektoren – es sah aus wie sein linkes Auge, war aber eine kybernetisch gesteuerte Apparatur – bemerkten den golden leuchtenden Lichtfleck an der Zellendecke. Die ersten Zeichen des Morgens befanden sich genau diesseits und jenseits des Knicks, den Mauer und Decke bildeten. Der leuchtende Fleck wanderte unmerklich langsam tiefer, je mehr sich die Sonne über den Horizont des Inselkontinents Bassakutena schob. Ogor schloß beide Augen, zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich zur Seite. »Verdammter Planet«, murmelte er und wußte, ohne daß er nachsah, daß Primm auf einer der Querstangen des massiven Gitters aus Arkonstahl hing, den Kopf nach unten, die Augen ebenfalls geschlossen, noch nicht genügend von der Sonne erwärmt, um richtig lebendig zu werden. Erst die pfeifenden Worte der morgendlichen Diskussion würden ihn, Ogor, dazu veranlassen, aufzustehen. Er hatte genügend Zeit zu verschenken. Allerdings fühlte er, daß sein kybernetisches Selbst einer neuen, dramatischen Entscheidung entgegensteuerte. Es gab nicht die geringste Wahrscheinlichkeit dafür, daß es jemals jemandem gelingen würde, die Fehlströme zu diagnostizieren, aber seine gesunden Hirnzellen schienen es dennoch zu merken. Eine neue Minusphase baute sich auf. Der kybernetische Teil seines Kopfes besaß in diesem Zusammenhang die Eigenschaft ei-
nes Kondensators. Wenn die Ladung eine genügend große Stärke erreicht hatte, wurde sie abgegeben, ohne die geringste Rücksicht auf Ort, Zeit und Gelegenheit. Sie verpuffte binnen weniger Minuten und übernahm durch die Kraft ihrer aufgestauten Ladung die ausschließliche Kontrolle über sämtliche grobmotorischen und feinmotorischen Nervensteuerungen. Ogor würde dann wieder einmal ein willenloses Opfer sein. Zwar beobachtete und fühlte er alles, was er tat und unternahm, aber er befand sich in der wenig beneidenswerten Lage eines Hypnotisierten. Er reagierte wie ferngesteuert. Ehe er jedoch diese furchtbare Vision wieder einmal nachvollzog und schweißgebadet und zitternd auffuhr, wechselte die Natur seiner Empfindungen. Er schlief noch einmal eine Stunde. Als er wieder aufwachte, loderte das Sonnenlicht von dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken zurück, und Primm schwirrte direkt über seinem Gesicht. »Wachen auf, schnell-schnell. Sonne sein heiß, blöder Grompf!« kreischte mit seiner piepsigen Stimme der Kleine. »Reg dich nicht auf, du Segelflieger!« murmelte Ogor. »Gleich werde ich dich in meiner Frühstücksmilch ersäufen.« »Blödian! Immer lustig sein werden. Bald Hinrichtung sein werden. Dämlicher Ogor. Turnen-turnen, schnell-schnell!« schrie der Vogel und schwirrte davon, ehe sich der halbrobotische Arm mit den neun robotischen Fingergliedern heben und um den Wicht schließen konnte. Die Bewegung des fliegenden Nagetiers vollzog sich in einer Folge von blitzschnellen Richtungsänderungen in allen drei Ebenen, so daß selbst Präzisionsschützen Primm nur zufällig treffen würden. »Heute habe ich keine Lust zum Turnen!« verkündete Ogor träge und schwang seine Beine auf den Boden. Die glatten Kacheln waren kühl und ließen ihn zurückschrecken wie jeden Morgen. Während des Anflugs unter schärfster Bewachung hatte der ehemalige Kommandant und Pilot den riesigen,
12 ringförmigen Gefängniskomplex von Celkar gesehen. Er wollte keineswegs ausbrechen, aber er hatte erkennen müssen, daß die mehrfach gestaffelten Sicherheitssysteme jeden Ausbruchsversuch vereiteln würden, wenn er nicht gerade mit Hilfe von Raumlandetruppen stattfand. »Geschmeidiger sein werden vor dem Prozeß, Ogor!« schrie Primm und starrte sein Ebenbild in dem strahlenden Spiegel an. Ogor antwortete mit einem gräßlichen Fluch. Primm strich mit den beiden Vorderpfoten sein blauschimmerndes Fell glatt und leckte dann mit der langen Insektenfangzunge seine Arme ab. »Es dem Richter zeigen wollen, diesem alten Idiotensack!« »Hör endlich auf, meine letzten Chancen zu zerstören!« rief Ogor und gähnte. »Vielleicht wird die Zelle abgehört.« »Ich nicht zu sein wollen!« kreischte Primm. »Dämlicher Gorgh!« Er kannte tatsächlich nahezu alle Schimpfwörter und Flüche von mehreren Dutzend Kolonialwelten. Ogor holte tief Luft und stand auf. Er wußte, was auf ihn wartete. Es gab keinerlei Illusionen mehr. Mit einiger Sicherheit war der Planet Celkar die letzte Welt, auf der er gelandet war. Es würde keinen Start mehr geben. »Selbst ein Gorgh.« Er zwang sich, die zwei Drittel seines Gesichts zu waschen und zu rasieren, die noch arkonidisch waren. Sein Körper war ein Stückwerk, ein Puzzle aus arkonidischem Knochenbau, Fleisch und Organen und aus Bauteilen, die man ihm nach den Anfällen des Korratz eingesetzt hatte. Nur er selbst wußte wirklich, was er gelitten hatte, und daß ihn diese verheerende Krankheit in ein körperliches und geistigseelisches Wrack verwandelt hatte. Und an den neun Morden war nicht er schuldig, sondern der Mikrocomputer! Ogor stand auf, reckte sich und ging die wenigen Schritte hinüber bis zu dem winzigen Toilettenraum. Die Instrumente und Ge-
Hans Kneifel räte, alle jene winzigen Dinge aus perfekter Mikrotechnik und geheimnisvoller Biomechanik, die knapp die Hälfte seines Körpers ausmachten, spürte er nicht. Sie waren vollintegrierter Bestandteil seines Körpers. Vielleicht, dachte er mit bitterem Humor, kam bis zum Ende der Verhandlung noch ein Teil dazu. Vielleicht die Milz oder eine Zehe, eine der wenigen, die er noch hatte. Auch der Minicomputer in seinem Kopf, geformt wie ein Ausschnitt der Hirnschale, war perfekter als die natürlichen Zellen seines Gehirns. Dieser künstliche Verstand aber besaß keinerlei Moralempfinden, und wenn er das Übergewicht des Einflusses hatte, dann mordete er. Er, der fremde Teilverstand, mordete. Er zwang den gesamten Körper, so zu handeln, wie er es befahl. Und gerade die kybernetischen Teile der mikrobiologischen Prothesen gehorchten besonders schnell. Zwiespältige Gefühle, gemischt aus endgültiger Resignation und vorsichtigem Optimismus, beherrschten ihn. Das Empfinden, ausgeliefert zu sein, war das stärkste. Er war ausgeliefert an dieses Stück Maschine. Neunmal hatte er die Macht des Minicomputers so stark gespürt, daß er keinen Widerstand mehr aufbringen konnte. Ogor kam aus der Duschkabine, zog sich an und entnahm einem Klappfach das Frühstück. Er wußte, daß seine Portionen besser waren als diejenigen der vielen tausend Gefangenen in dem riesigen Komplex des planetaren Gefängnisses. Bedächtig begann er zu essen und zu trinken. »Ich auch haben wollen, Ogor!« summte die Maus mit den Kolibrischwingen, schwebte im Zickzack heran und landete neben dem Teller. »Meinetwegen. Wahrscheinlich wird heute wieder mein Anwalt kommen. Und diese blöden Reporter«, sagte er mehr zu sich selbst. Er ahnte, daß die Art seines Prozesses und die Verteidigung eine Menge Interessierter beschäftigen würden. Daß sein Prozeß außerhalb der Gefängnismauern und Sperren bereits jetzt eine Sensation darstell-
Planet des Gerichts te, wußten weder Ogor noch Primm. Eine Stunde nach dem Frühstück ertönte der Summer. Die Stimme eines unsichtbaren Lautsprechers sagte leise: »Hier spricht Doomyh Kiln, der Leiter Ihrer Abteilung. In kurzer Zeit wird Ihr Verteidiger in Begleitung eines Korrespondenten von Arkon-Vision zu Ihnen kommen. Sie haben sich bisher als besonnener Gefangener gezeigt, so daß wir nur die minimale Überwachung einschalten. Halten Sie sich bereit.« »Schon gut«, erklärte Ogor. Jetzt war er wieder ein wenig mehr überzeugt, diesen Planeten lebend verlassen zu können. Der Primm wischte sich die Schnauze ab und schrie mit seinem pfeifend-wimmernden Stimmchen: »Verteidiger auch nur Blödsinn reden-reden. Aussichtslosige Lage, Ogor.« Ein gräßlicher Fluch folgte. Mit funkelnden Knopfaugen starrte Primm den Untersuchungsgefangenen an. Ogor streckte die Hand aus und streichelte mit dem Zeigefinger den Rücken der Flugmaus zwischen den zusammengelegten Schwingen. Primm seufzte begeistert auf und streckte sich. Dann machte er einen zehn Zentimeter weiten Satz, packte ein dünnes Stück Schinken und rollte es zwischen den Vorderpfoten blitzschnell zusammen. »Was du tun werden, wenn ich anderen Herrn suchen, schnell-schnell?« »Ich werde mich ärgern und traurig sein«, erklärte Ogor. »Willst du mich verlassen?« Vorsichtig breitete Primm die hauchdünnen Flügel aus und kicherte meckernd, stieß einen schrillen Pfiff aus und erhob sich senkrecht zwischen der Tasse und dem Vorratsgefäß. Vor Ogors Gesicht hielt er in der Luft an, umklammerte den Schinken und rief: »Ich warte ab. Wenn du überleben, ich bleiben. Wenn du tot-tot, ich davonfliegen zu anderem.« Fassungslos blickte Ogor dem Kleinen nach, der im Zickzackflug davonsurrte und seine Beute im hellen Sonnenlicht verspei-
13 ste, das auf der Brüstung des vergitterten Zellenfensters lag. Nach einer Weile stapelte Ogor Teller, Becher und Besteck auf das Tablett, schob es zurück in die Öffnung des winzigen Wandschranks und holte sein Schreibzeug hervor. Er hatte während der vergangenen Wochen seine Verteidigung entworfen, oder wenigstens das getan, was er für das richtige Mittel hielt, die Richter zu überzeugen. Nur jetzt gab er sich den Anschein der Ruhe; innerlich schwankte er nach wie vor zwischen den beiden Aussichten: Freispruch oder Tod. An die dritte Lösung – seine Lösung! – dachte er im Augenblick nicht. Der Anwalt kam zwanzig Minuten später. Zwei bewaffnete Wächter blieben auf dem Korridor stehen, während Doomyh Kiln das komplizierte Schloß öffnete. Aufmerksam betrachteten die beiden Augen des Gefangenen die beiden Männer in der Zellentür. Die Linsensysteme des Kunstauges akommodierten sich und vergrößerten die Gesichter der Männer. Der junge Mann neben Rotnam Tema machte einen unruhigen, gespannten Eindruck. Der Verteidiger schüttelte die Hand Ogors und erklärte: »Das ist Ches Prinkmon, Korrespondent von Arkon-Vision. Er wird einen Teil der Berichterstattung über Ihren Prozeß übernehmen, Ogor.« Ogor schob seinen Stuhl zurück und stand langsam auf. Er war einen halben Kopf größer als die beiden Männer. Er hatte lernen müssen, daß es meist besser war, weniger oder nichts zu sprechen. Er entsann sich der Phasen nach den einzelnen Schocks, in denen er aus der Kontrolle des Minicomputers erwacht war und festgestellt hatte, daß er ein Mörder geworden war und flüchten mußte. »Ich verstehe«, sagte er halblaut. »Soll das eine Empfehlung sein, Tema?« »Gewissermaßen. Der Umstand, daß Arkon-Vision sozusagen imperiumsweit über Ihren Prozeß berichtet, kann außerordentlich günstig sein. Ches, sagen Sie ihm, was Sie vorhaben.« Ches bohrte seinen Blick förmlich in das
14 Gesicht des Gefangenen. Er versuchte, eine deutliche Grenze zwischen Prothesen und natürlichen Partien zu erkennen. Ches war fasziniert. Hier sah er zum erstenmal einen Mann, den der Korratz verkrüppelt hatte, und der dennoch wirkte, als ob er gesund wäre. Er versuchte, die innere Lage Ogors zu erraten oder zu erfühlen, aber in den ersten Sekunden war er vollkommen verwirrt. »Ich habe … nun, Sie können auf eine faire Berichterstattung rechnen. Ich bemühe mich, vollkommen neutral zu sein. Im Moment sehe ich noch nicht ganz klar.« »Das zeichnet uns alle aus«, brummte der Verteidiger. »Ist Ihnen etwas Neues eingefallen, Ogor? In zwei Tagen beginnt die Verhandlung. Ich habe heute früh den Termin erfahren.« »Nichts Entscheidendes, Verteidiger. Sie haben die Kopien aller Niederschriften.« »Habe ich. Trotzdem bin ich besorgt, Ogor.« »Ich bin besorgter als Sie, Rotnam!« gab Ogor zurück. »Aus gutem Grund. Keiner weiß, was aus der Arena der Gerechtigkeit auf uns zukommt. Kennen Sie den Richter bereits?« Der Imperiumsverteidiger war ein integrer Mann. Rotnam Tema würde alles tun, um einen Freispruch für seinen Mandanten zu erreichen. Sein unerreichbares Vorbild Kaarfux würde sicherlich mehr erreichen und mit einem seiner gefürchteten Tricks arbeiten. Und er würde sicherlich, schneller etwas erreichen. Aber beide Versuche Temas waren von Kaarfux mit einem mürrischen Lächeln abgeschmettert worden. »Ja. Ich kenne ihn. Ein guter Mann. Thorm von Daccsnor.« »Das klingt nicht schlecht«, erwiderte Ogor. »Ich habe seinen Namen schon oft gehört.« Ches Prinkmon lehnte an der Wand der Zelle. Er betrachtete schweigend und konzentriert den Primm, den Angeklagten und seinen Verteidiger. Er wußte, daß er ein außergewöhnlich scharfer Beobachter war. Die Ergebnisse dieses Umsetzungsvorgangs bil-
Hans Kneifel deten sein persönliches Geheimnis: Er rief die gespeicherten Informationen ebenfalls unwillkürlich ab und ließ sie jeweils an den besten Stellen in die Berichterstattung einfließen. Diese Fähigkeit kennzeichnete ihn, seine Vorgesetzten hatten dies erkannt, und dies konnte anläßlich des Prozesses seine große persönliche Chance sein. »Er hat einen Ruf, der Ihnen nur nützen kann, Ogor«, sagte der junge Reporter endlich. »Auf Arkon wird er teils geschätzt, teilweise mißtrauisch betrachtet. Der Imperator liebt seine ausgeprägte Gerechtigkeit und Gesetztestreue nicht.« »Mir scheint, sie geben sich meinetwegen ziemlich viel Mühe in der Arena!« murmelte Ogor niedergeschlagen. »Das ist sicher. Die Arkon-Flotte ist nicht korrumpiert. Wenigstens ihre besten Teile sind ehrlich. Unter diesem Zeichen, denke ich, wird der Prozeß geführt. Haben Sie neue Argumente, Ogor?« wollte der Reporter wissen. »Keine mehr, die etwas ändern. Sie haben alles, Tema.« »Ich komme morgen wieder, Ogor«, bemerkte der Verteidiger ruhig. »Ich versuche zu tun, was ich kann. Sind Sie überzeugt, daß Sie einen fairen Prozeß bekommen, Ogor?« »Was Sie betrifft, Tema, bin ich überzeugt. Vielleicht auch von dem jungen Mann hier. Aber was den Rest betrifft, diese Antwort muß ich vorläufig offenlassen. Wir sehen uns morgen?« »Ja, natürlich. Etwa um dieselbe Zeit. Und übermorgen sehen wir uns in der Arena der Gerechtigkeit. Lesen Sie Ihre Aufzeichnungen noch genau durch, Ogor, und suchen Sie nach Argumenten. Außerdem brauche ich noch einige Daten über die ersten Operationen.« »Sie werden Ihnen morgen vorliegen«, versprach Ogor und schüttelte mit seiner Dreiviertelprothese die Hände der Männer. Primm schwirrte vom Fenster heran, flog einige beängstigende Kreise um Prinkmons Kopf und schwebte zitternd vor seiner Nase.
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»Auch er nicht helfen können!« schrillte die Kolibrimaus aufgeregt. »Das wissen wir alle«, meinte Ches ruhig. »Aber auch ich kann zumindest dafür sorgen, daß Milliarden von Arkoniden von dem Schicksal Ogors erfahren.« »Tun Sie's!« pflichtete ihm Ogor ohne erkennbare Gemütsbewegung bei. Die Wachen erkannten, daß die Besprechung zu Ende war. Die Männer verließen die Zelle, Primm klammerte sich an dem Türgriff fest und starrte schweigend in die Öffnungen des Schlosses hinein. Ogor senkte den Kopf, dann drehte er sich herum und blickte zum kleinen Fenster hinaus. Vor ihm und unter ihm lagen die mehrfach gestaffelten Sicherheitssysteme. Das Fenster befand sich in einer Höhe von nicht weniger als hundert Metern als Unterbrechung einer vollkommen glatten Wand aus Arkonstahlplatten. Unterhalb der glatten Mauer breitete sich die dünne Schicht aus vergiftetem, sandkorngroßem Mineral aus, über einer massiven Platte aus Stahlbeton. Immer wieder unterbrachen Induktionssperren und Energiezäune die künstlich angelegte Ebene. Noch niemals war aus diesem Gefängnis jemand entkommen, und auch nicht aus dem langen Verbindungsgang, der unterirdisch zwischen dem Gefängniskomplex und der Arena verlief. Ruhig starrte Ogor hinaus auf die Fläche, hinter der sich die Waldzone ausbreitete, jenseits der wiederum die Stadtgrenze Kutenarynds begann. Diesmal waren Ogors Gedanken klar und eindeutig. Er schien zu wissen, daß man ihn verurteilen und hinrichten würde. Jetzt, in den Stunden zwischen Morgen und Mittag, wußte er, daß er hingerichtet werden würde. Sein arkonidischer Körper ebenso wie alle die perfekten Prothesen und der Minicomputer. Sie würden im Feuer der Strahlenkammer vergehen. »Verdammter Korratz. Die Unschuldigen werden bestraft, nachdem sie acht Jahre lang gelitten haben.«
4.
Nur einen kurzen Moment blickte Rotnam Tema, Ogors Verteidiger, aus dem Fenster und in den flammenden Sonnenuntergang hinein. Immer wieder hatte er die einzelnen Züge seiner Verteidigung durchgearbeitet, hatte mit dem Gerichtscomputer und seinen Helfern gearbeitet und versucht, die Gegenzüge des Anklägers zu erkennen. Nebenher hatten die vier Bildschirme, auf die Nachrichtenagenturen geschaltet, unaufhörlich Meldungen durchgegeben. Der Verteidiger hatte es noch einmal versucht, Kaarfux zu überreden. Auch dieses Mal hätte er sich den Anruf sparen können, obwohl er bei Kaarfux Spuren von Interesse zu erkennen glaubte. Tema zuckte zusammen, als er eine plötzliche Dringend-Nachricht hörte und entsprechende Bilder sah. Augenblicklich drosselte er die Lautstärke der drei anderen Kommunikationsgeräte. »Soeben befindet sich ein Gefangenentransport im Anflug auf den Raumhafen des Kontinents Bassakutena. Der Name des Transporters wird mit JERRAWON angegeben. Eine Meldung der Untersuchungsbehörden wird in Kürze erwartet. Wie gerüchtweise verlautet, sollen einige hundert gefangene Deserteure und Verräter an Bord sein. Man will sie in Serrogat gefaßt haben. Man sagt, daß es Fälle für das Imperiumskriegsgericht oder das Standgericht wären, aber vermutlich wird die Verhandlung mit Rücksicht auf den Ogor-Prozeß später angesetzt. Wir melden uns in dieser Sache wieder, sobald mehr Informationen vorliegen.« Tema pfiff leise durch die Zähne. Aber auch diese neue Entwicklung würde seine Arbeit keineswegs erleichtern. Er schaltete die vier Kommunikatoren wieder auf gleiche Lautstärke und fuhr fort, an seiner Verteidigung zu arbeiten. Immerhin hatte er einige wesentliche Fakten herausarbeiten können, die alle in eine Richtung zielten: Nach der schwierigsten Operation – es war die achte oder neunte – in der Ogor der
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Mikroprozessor eingepflanzt worden war, konnte niemand Ogor für seine schrecklichen Morde verantwortlich machen. Und noch etwas: die Morde hatten ausnahmslos auf Planeten stattgefunden, die Monde von beträchtlicher Größe und in regelmäßigen Umlaufbahnen besaßen. Jedesmal, wenn Neumond war, tötete Ogor … oder der Mikrocomputer.
* Einige zwanzig Stockwerke oberhalb der Ebene, in der die Anwaltsbüros lagen, bewegte sich der hagere Mann mit dem kurzen, weißen Arkonidenhaar die wenigen Schritte bis zu einem Wandbrett, öffnete dort eine Flasche und goß vom Inhalt drei Finger hoch in ein massives Glas. Der Geruch des kostbaren Getränks breitete sich sofort in dem kleinen Büro aus. »Wir werden es schwer mit der Wahrheitsfindung haben, Blascal«, sagte er mit müder, aber fester Stimme. Sein Assistent hob den Kopf und sah in die großen Augen des alten Richters. »Das ahnten Sie schon, Richter, als man Ihnen den Fall übertrug. Die Wahrheit wird womöglich niemals genau bekannt werden. Allein unsere Akten enthalten eine Anzahl einander widersprechender Fakten. Keine Vermutungen, sondern Beweise. Belegbare und datierte Aussagen, Informationen und Erklärungen. Das einzige, das feststeht, ist …« Richter Thorm von Daccsnor trank das Glas leer und beendete den Satz. »… der Umstand, daß Ogor neunmal gemordet hat und in jedem Punkt geständig ist. Daran besteht bei niemandem ein Zweifel.« Sie hörten die aufgeregte zweite Meldung der Pressestelle des Raumhafens, die diesmal über die interne Dienstleitung kam. »Die Laderäume der JERRAWON sind voller Deserteure. Acht Schiffe, von Arkon alarmiert, haben mit ihren Landetruppen die Deserteure und Verräter nach verlustreichen Kämpfen gefangengenommen. Der Einsatz
geschah auf Befehl von Orbanaschol III.« Der Richter und der Assistent warfen sich einen langen Blick zu. Der Zwischenfall schien doch mehr zu sein als nur eine der unzähligen Pannen in der Phase, unter der das Imperium im Augenblick erzitterte. »Klingt mehr als aufregend!« stellte Blascal fest, ein junger Mann mit adlerartigen Gesichtszügen und einem blitzschnell funktionierenden Sachverstand. »Abwarten!« kommentierte der erfahrene Richter. Die Nachrichtenredaktion setzte den Textbeitrag fort. Mit mühsam gedrosselter Erregung fuhr der Sprecher fort: »Offensichtlich hat ein arkonidischer Edelmann, dessen Namen von dem Leiter der Einsatzkommandos mit Helcaar Zunth angegeben wird, auf Serrogat eine Privatarmee von abrufbereiten Söldnern aufbauen wollen. Das Depot wurde gefunden und zerstört. Die TUUMAC schien von den wirklichen Vorgängen unterhalb eines ihrer offiziellen Depots nichts zu ahnen; das Depot wurde in Mitleidenschaft gezogen. Der Imperator hat daraufhin angeordnet, daß auf dem schnellsten Weg in der Arena der Gerechtigkeit ein Standgericht zusammentreten und die Verräter verurteilen soll. Die Urteile sind auf Anordnung von Arkon ebenfalls unmittelbar nach dem Urteilsspruch zu vollziehen. Der Kristallpalast wünscht, daß in Zeiten der nachlassenden Kampfmoral ein Schauprozeß durchgeführt wird. Sonnenträger Twellzock, der Kommandant der JERRAWON, hat angeboten, Mitglieder der eigenen Kommandoeinheiten als Bewachungspersonal zu stellen. Das Schiff ist gelandet. Sämtliche Gefangenen werden schwerstens bewacht nach Celkars Gefängniskomplex gebracht. Weitere Meldungen folgen.« Endlich sagte der Richter leise: »Die Öffentlichkeit wird diese Meldungen vermutlich noch heute nacht, spätestens morgen früh erfahren, einen Tag vor Prozeßbeginn.«
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»Trotzdem bin ich sicher, daß der Schauprozeß unsere Vorbereitungen nicht unterbrechen wird. Die Institution, selbst wenn sie so hervorragend funktioniert wie die Organisation dieses Hauses, braucht einige Zeit. Das beginnt mit der Feststellung der Namen.« »Sie haben recht. Machen wir weiter.« Beiden Männern wäre auch ohne ihre langjährige Erfahrung und ohne juristischen Instinkt klargeworden, daß keiner der Hunderte von Verrätern den nächsten Monat überleben würde. In solchen Dingen tobte sich der Imperator aus, und er brauchte einen solchen Schauprozeß, der seine schwindende Macht festigen konnte.
* GEDANKENPROTOKOLL ATLAN: Ich konnte mich ebenso wenig rühren wie die anderen dreißig Insassen dieses gepanzerten Gleiters. Das Fahrzeug bewegte sich, von einigen Beibooten des Schiffes geschützt und eskortiert, in rasender Geschwindigkeit etwa dreihundert Meter über dem Boden des Planeten dahin. Ihr wißt, wohin man euch bringt! sagte der Logiksektor warnend. Twellzock hatte mit kalter Stimme über Lautsprecher mitgeteilt, daß der Gefängniskomplex von Celkar für uns der Vorhof des Todes sein würde. Dort vorn tauchte das Gefängnis auf. Es war eindeutig als abstoßender Fremdkörper in der Landschaft konzipiert worden. Schon äußerlich wirkte er wie eine uneinnehmbare stählerne Festung; ein Rundkegel in einer graugelb funkelnden Ebene, die wie von den Mauern eines Labyrinths durchzogen aussah. Fartuloon, noch immer unerkannt wie ich, saß mehrere Reihen hinter mir. Im Augenblick war es sinnlos, mit ihm in Verbindung treten zu wollen, denn dadurch würde nichts sich ändern. Das letzte Sonnenlicht funkelte auf den Mauern der Festung. Sie schienen aus Stahl
zu sein oder waren zumindest mit Stahl beschichtet. Das Gefängnis war mindestens zweihundert Meter hoch, die Mauern zogen sich schräg und völlig glatt zurück, wie der Fuß eines gigantischen, waagrecht abgeschnittenen Kegels. Viele Reihen kleiner Fenster zogen sich rund um den Komplex. Als sich der Gleiter näherte, erkannten diejenigen von uns, die noch nicht apathisch geworden waren oder schliefen, daß es einen ebenso tiefen Innenhof zu geben schien, auch wieder mit schrägen, völlig glatten Stahlwänden. Einige Panzerkuppeln und die Markierungen für Gleiterlandeplätze unterbrachen den dunkelgrauen Kreisring, der das Dach dieses Komplexes bildete. Der Versuch, von dort auszubrechen, schien absolut hoffnungslos zu sein. Auch Fartuloon oder Premcest mußte dies in diesen Sekunden erkennen. Natürlich beschäftigten sich unsere Gedanken ununterbrochen mit den verschwindend wenigen Möglichkeiten, unerkannt zu entkommen. Und: wir hatten niemanden, der uns von außen helfen konnte. Denkst du an eine Revolte? erkundigte sich der Extrasinn. Gedanken oder Überlegungen dieser Art lagen nahe. Ich wußte, daß es zwischen innen und außen, zwischen der scheinbaren Uneinnehmbarkeit dieses stählernen Gefangenenforts und den Korridoren, Gängen, Räumen und den zahllosen Winkeln einen Unterschied gab. Er konnte sich letzten Endes zu unseren Gunsten auswirken. Erst einmal mußten wir diese Möglichkeiten kennen … Der Gleiter ging tiefer, verringerte seine Geschwindigkeit und steuerte auf einen Begrenzungsmast zu, dessen Signallichter blinkten. Die Beiboote der JERRAWON kamen bedrohlich näher. Wir konnten erkennen, daß die Schutzklappen vor den Geschützprojektoren zurückgefahren waren. Sie gingen wirklich kein Risiko ein, ebenso wie während der mehr als hundert Lichtjahre des Fluges hierher. Vorsichtig steuerte der Gleiter die Lande-
18 markierung an. Wir konnten die Stimme des Piloten hören, der sich mit der Kontrollmannschaft des Turmes unterhielt. Dann landeten wir. Die Türen öffneten sich, die schweigenden Wächter sprangen heraus und entsicherten ihre Waffen. Aus dem glatten Boden des Daches schoben sich drei würfelförmige Metallkäfige heraus. Nachdem die schweren Türen zur Seite gefahren waren, erkannten wir, daß es Lifts waren. »Herauskommen. Jeweils zehn Männer in einen Lift!« sagte der Pilot über Lautsprecher. »Fluchtversuche sind sinnlos. Es gibt nur diese Einstiege.« Er hatte recht. Das kreisringförmige Dach war flach und eben. Es gab nicht einmal ein Geländer oder eine Brüstung. Entweder verdursten oder verhungern oder vorher der Absturz über die glatten Wände. Andere Chancen gab es nicht. Wir schoben uns aus dem Gleiter heraus und auf die Lifts zu. Fartuloon und ich – oder Lothor und Premcest – bewegten uns so geschickt, daß wir die ersten im dritten Lift waren. Die Kabine raste wie ein Geschoß fauchend in die Tiefe. Wir zählten mit und rechneten. Vermutlich waren wir, als die Kabine mit starker negativer Beschleunigung abbremste, etwa auf dem Niveau des Bodens angelangt. Wir befanden uns in einem schmalen Gang, der voller robotischer Einrichtungen war. Stimmen ertönten, Lichtpfeile flammten auf, Absperrgitter und Strahlenschirme trieben die einzelnen Gruppen in verschiedene Richtungen. Zusammen mit acht anderen Männern kamen Premcest und ich in eine große, saubere Zelle, in der es sogar Kommunikationsschirme gab, hinter dicken Panzerglasscheiben vor Zerstörung geschützt. Die schmalen Pritschen waren mit sauberer Einwegwäsche überzogen. Wir setzten uns schweigend und sahen alle gleichzeitig zu der massiven Tür hin, die sich geräuschlos schloß. »Aus dieser Festung, Freunde, kommen wir nur dann wieder hinaus, wenn es die an-
Hans Kneifel deren erlauben. Und nach allem, was wir wissen, wird es niemand erlauben.« »Keine Vollstreckung ohne Urteil!« brummte ein anderer Gefangener. Aus der Ecke lachte jemand sarkastisch. »Sie werden uns verurteilt haben, noch ehe wir uns hier häuslich eingerichtet haben«, sagte ich. »Unsere einzige Chance, eine Änderung unserer Lage herbeizuführen, liegt vor den Schranken des Gerichts.« Wir mußten als sicher annehmen, daß dieser Raum beobachtet und schärfstens abgehört wurde. Auf keinen Fall durften wir unsere vorläufige Verkleidung preisgeben. Wir waren nichts anderes als zwei Gefangene aus der großen Schar. »Meinst du«, erkundigte sich Premcest spöttisch, »daß sie übergroße Milde walten lassen werden?« Ein Summer ertönte, dann knarrte eine Roboterstimme und unterbrach die Unterhaltung der zehn Gefangenen. »Sie finden neben der Tür zehn nummerierte Fächer. Sie öffnen sich auf Knopfdruck. In den Fächern findet sich Essen und alles Nötige für die nächsten Tage. Rechts und links der Zelle führen die schmalen Türen in die Hygieneräume. Die Gefangenen behalten die kennzeichnenden Nummern für die Dauer des Aufenthaltes. Die Fächer sind öffnungsbereit.« Gleichzeitig leuchteten Zahlen von eins bis zehn auf. Premcest und ich nahmen die Nummern sechs und sieben. Die Fächer enthielten in Einwegverpackung die angekündigten Dinge. Leise sagte Premcest: »Wir haben mindestens ein paar Tage Ruhe. Vielleicht fällt uns etwas ein, das unsere Chancen verbessert.« Ich bezweifelte es.
* In dem dunklen Raum herrschten Ruhe und Dämmerlicht; beides waren Faktoren, die Axton brauchte, um sich konzentrieren zu können. Er lag scheinbar entspannt in sei-
Planet des Gerichts nem Spezialsessel und hielt in den Fingern die Fernsteuerung für mehrere seiner Nachrichtengeräte. Aber er betätigte keinen der vielen Regler, denn der Text, den er seit einigen Minuten las, war mehr als erregend. Heute, am Vorabend des Prozeßbeginns, waren die Informationen über den unglücklichen Kommandanten Ogor einigermaßen vollständig. Auf dem Bildschirm wechselten Aufnahmen, kurze Filmberichte und Schriftzeilen einander ab. Mit ungeteilter Aufmerksamkeit studierte Lebo Axton die Fakten und Informationen. Er war erregt; das Problem Ogors war fast sein eigenes, nur daß er keine Morde begangen hatte. In seiner realen Zeit lebte er selbst in einem Robotkörper, und es gab vermutlich innerhalb des Imperiums keinen zweiten, der die Probleme Ogors besser beurteilen konnte als er selbst, Lebo Axton. »Es ist grotesk!« flüsterte er. Er kannte den Namen und den Ruf des Richters. Er hatte ein Dossier über den Hauptverteidiger gelesen, und er war überzeugt, daß selbst Orbanaschol einen fairen Prozeß gegen Ogor nicht verhindern konnte. Der Mann tat ihm leid; er suchte nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen. Im Augenblick verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf die Aussagen der verschiedenen Teilnehmer. Schließlich sah er auch die Angehörigen des kleinen Teams von Arkon-Vision, die über diesen Prozeß berichten würden. Auch diese Leute schienen ihm weitgehend neutral zu sein. Die Organisation hatte diese Informationen zusammengestellt. Sie gingen weit über das hinaus, was die Allgemeinheit erfuhr. Als Axton auch das letzte Datum und die geringste Information verarbeitet hatte, tippte er auf einen Schalter in der Armlehne seines Sessels und sagte kurz: »Diktat – Aufnahme. Schnellste Übermittlung über Dienstleitungen nach Celkar, an den Obersten Richter und die Gnadenkammer. Auf meine Verant-
19 wortung und mit sämtlichen Qualifikationen. Kopie an Richter Thorm von Daccsnor. Text: Hiermit reiche ich ein Gesuch um Begnadigung in der Strafsache Imperium versus Ogor ein. Wie sämtliche Erfahrungen unserer Behörde ergeben haben, sind Prothesen der geschilderten Art und erst recht ein Mikroprozessor in engster Verzahnung mit der Gehirnsubstanz des Angeklagten durchaus dafür verantwortlich zu machen, daß er ohne sein Wollen, als Abhängiger von kybernetischen Prozessen, schuldig wurde. Begründung: siehe Anlage. Ich stehe jederzeit uneingeschränkt zur Verfügung, um für den Angeklagten einzutreten. Trotz meiner chronischen Überbeschäftigung nähme ich auch als vorgeladener Zeuge an dem Prozeß teil …« Mit äußerster Akribie schilderte er das unlösbare Dilemma, das Ogor zum mehrfachen Mörder gemacht hatte. Er ließ sich die Zeilen mehrfach vorlesen, korrigierte das Gnadengesuch mehrmals und überspielte dann den gesamten Text in sein Büro. Axton wußte, daß das Gnadengesuch binnen weniger Minuten unterwegs in die Arena der Gerechtigkeit sein würde. Sein Wort bedeutete viel und wog schwer – aber würde dieses Gesuch an der voraussichtlichen Verurteilung des Pseudocyborgs etwas ändern können? Lebo Axton wandte seine Aufmerksamkeit schlagartig einem anderen Problem zu. Er gab die gesamten Informationen zurück in die gesicherten Speicher seiner Dienststelle und schaltete eine Geheimleitung ein. Ein Arkonide tauchte auf; ein Mann mit ruhigem Gesicht und voller Gelassenheit. »Wessalock«, murmelte Axton. »Sie sind Majordomus des sogenannten Gartenpavillons des Imperators. Was gibt es Neues?« »Nichts Neues, Axton. Wir verwalten ein leeres Haus. Orbanaschol igelt sich im Kristallpalast ein. Er hat seinen Landsitz seit langer Zeit nicht betreten. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
20 Lebo Axton blickte in das schmale Gesicht und nickte wohlwollend. »Ich danke Ihnen. Ich kann mich weiterhin auf Sie verlassen?« »Selbstverständlich. Ich melde mich – verfügen Sie in entsprechender Weise über mich.« »Das werde ich tun, aber nur im Notfall. Leben Sie wohl, Majordomus Wessalock.« »Leben Sie wohl, Axton.« Der Bildschirm wurde wieder dunkel. Lebo Axton entspannte sich für wenige Augenblicke und verfluchte den Imperator, der nichts anderes war als ein Tyrann, der in seinen letzten Zügen wild und unbeherrscht um sich schlug. Der Saal war nicht sonderlich groß, aber jeder der zweihundertfünfzig Zuschauersitze war besetzt. Richter von Daccsnor thronte jenseits der leicht erhöhten Barriere. Er trug eine hochgeschlossene helle Uniform, und sein Gesicht wirkte ebenso streng wie die rechtwinklig geschnittene Jacke. Alle wichtigen Personen warteten schweigend auf den Angeklagten und seinen Verteidiger, und Ches Prinkmon fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er befand sich in einer der schalldichten Kanzeln und konnte ebenso gut jedes Gesicht der Zuschauer erkennen, wie er die Reihe der Richter, Beisitzer und Assistenten mustern konnte. Rotlicht! Die Kamera schwang herum. Im Kopfhörer von Ches Prinkmons Ausrüstung flüsterte die Stimme des Chefs: »In fünfzehn Sekunden gehen wir direkt auf Sendung, Ches!« Ches flüsterte in sein Mikrophon, das am federnden Bügel vor seinen Lippen zitterte: »In Ordnung. Ich fange mit Daccsnoran.« »Los!« Auf dem Kontrollmonitor konnte Ches die Bilder der noch handgesteuerten Kamera sehen. Die Zeitnahme lief am rechten Bildrand mit. Aderlohn Dharr war ein Könner in der Bildführung; er zog den Zoom so langsam, daß gerade, als Ches zu sprechen anfangen konnte, das würdevoll beherrschte
Hans Kneifel Gesicht des Richters und Gerichts-Vorsitzenden in perfektester Vergrößerung das Bild ausfüllte. Plötzlich befiel eine tröstliche Ruhe den jungen Reporter, und er sagte ebenso ruhig: »Dieser Mann, Richter Thorm von Daccsnor, wird in den nächsten Tagen die Szene beherrschen. Von ihm hängt jede Minute die Führung einer der wichtigsten und aufregendsten Verhandlungen ab, die je in diesem Haus geführt worden sind. Wir befinden uns kurz vor Beginn des Prozesses. Das Imperium versus Ogor.« Die Kamera schwenkte langsam über die Gesichter der Zuhörer, verweilte hier und dort auf einem Assistenten, einer kybernetischen Einrichtung oder einem Beisitzer. Nacheinander gab Ches kurze, charakterisierende Bemerkungen über die einzelnen Männer und Frauen, die im Prozeßverlauf wichtig werden würden. Dann leuchtete neben einer Panzertür ein flackerndes Rotlicht auf. »Die Kamera zeigt das Signal. In wenigen Sekunden wird sich die Tür öffnen, und der unglückliche Angeklagte betritt neben seinem Anwalt, dem bekannten Rotnam Tema, einem Strafverteidiger, der schon die Prozesse Imperium versus Sonnenträger Waales und die Revision der Verhandlung Kolonialplaneten gegen Administration gewinnen konnte. Als ich vor kurzer Zeit mit Tema über die Aussichten sprach, meinte er, skeptische Vorsicht sei die beste Antwort.« »Hier sind sie.« Ogor kam herein, nachdem sich die Panzerplatte in die Decke zurückgezogen hatte. Er trug die Flottenkombination ohne jede Verzierung oder Auszeichnung. Er wirkte auf etwas maskenhafte Weise starr und überhaupt nicht vom Korratz gezeichnet. Auch als er sich mit Hilfe seiner vielen unsichtbaren Prothesen auf seinen Platz zubewegte, konnte keiner der Anwesenden erkennen, daß er zu einem großen Teil nicht aus Gewebe, Knochen, Muskeln und Organen bestand. Ein großer, schlanker, fast hager wirken-
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der Mann mit eingefallenen Wangen und tiefen Kerben zwischen Augen und Kinn. Kurzes, silbernes Haar, an zwei Stellen ersetzt oder gefärbt, denn da waren es dunkle Bahnen, die sich bis zum Nacken hinzogen. Er hatte sehr lange Finger, die sich unruhig bewegten, als er den Richter mit einer Verbeugung begrüßte und die Lehnen des Sessels umklammerte, in den er sich hineinfallen ließ. Schräg vor ihm nahm der Anwalt Platz. »Die Kamera zeigte Ihnen Kommandant Ogor. Bevor seine persönliche Tragödie, deren vorläufiger Endpunkt sich hier und jetzt zeigt, ihren Verlauf nahm, war er ein angesehener Kommandant. Seine wagemutigen Einsätze waren Vorbild für einige Jahrgänge der Kadettenakademie. Er hat neun Morde gestanden. Täuschen Sie sich nicht, meine Damen und Herren. Auch die beste Kamera von Arkon-Vision kann Ihnen nicht zeigen, daß dieser Mann dort unten aus mehr als einem Drittel Prothesen besteht. Finger und Zehen, Handgelenke, Schienbeine und Knie, Ellbogengelenke und Teile der Wirbelsäule sind Prothesen, täuschend nachgeahmt, ein Triumph unserer Biomechaniker. Und sein Gehirn, sein Verstand – sie sind zu einem bestimmten Teil nichts anderes als ein winziger Computer, ein Mikroprozessor, also ein Gerät, wie es Ihre Gleiter auf einer Schnellpiste steuert oder die Temperatur Ihrer Wohnung. Das ist die eigentliche Tragödie. Wir werden im Verlauf der nächsten Tage, womöglich Wochen, jeden einzelnen Punkt dieser erstaunlichen Wahrheit erörtern. Ich werde versuchen, Sie durch das verwirrende Geschehen zu begleiten.« Dharr schwenkte die Kamera herum und richtete wieder die Linsensätze auf den Richter. Thorm stand auf und sagte: »Hiermit eröffne ich die Verhandlung. Der Prozeß das Imperium versus Kommandant Ogor beginnt.«
5. Auf eine ganz bestimmte Weise waren die
ersten zwei Stunden die wichtigsten der gesamten Verhandlung. Thorm von Daccsnor schlug eine Akte auf und bat den Angeklagten, seine Identität zu bescheinigen und zu erzählen, wie es nach seiner Auffassung zu den Morden gekommen wäre. Atemlose Spannung herrschte, als Ogor mit einer Gelassenheit, die von allen mit Verwunderung aufgenommen wurde, seinen Lebensweg schilderte. Schließlich sagte er: »Immer wieder, wenn mich der Korratz befiel, habe ich gedacht, daß ich das Schlimmste bereits hinter mir hätte. Die rasenden Schmerzen, die mich in ein willenloses Bündel aus Schreien, unkontrollierten Bewegungen und dem Wunsch verwandelten, mich selbst umzubringen, steigerten sich aber. Niemals hatte ich das Gefühl, daß die vorhergehenden Schmerzen geringer gewesen wären. Ich litt unbeschreiblich.« An dieser Stelle hob Richter Thorm von Daccsnor die Hand, gleichzeitig stand der Verteidiger Tema auf. Thorm lächelte dem Verteidiger knapp zu und sagte: »Ich nehme an, Herr Verteidiger, daß Sie das Gutachten des Obersten Flottenarztes zitieren wollen?« »Genau das hatten wir vor, Euer Ehren!« bestätigte Tema. Ches benutzte die entstehende kurze Pause und sagte: »Wir kennen den Inhalt dieses Gutachtens nicht. Aber jeder, der sich auch nur kurz mit dem langen und einzigartigen Leidensweg des Kommandanten Ogor befaßt hat, wird zu Recht erwarten, daß dieses Gutachten bescheinigt: nur wenige Arten von Schmerzen sind nachweislich so folternd und so wahnsinnserzeugend wie die Schmerzempfindungen, die in den ersten Tagen eines neuen Korratz-Anfalls den Betroffenen heimsuchen.« Die Kamera schwenkte zwischen Ogor, Daccsnor und dem Verteidiger hin und her und richtete sich dann auf einen Assistenten, der das lange Gutachten vorlas. Zweifellos hätte man auch ein Band ab-
22 spielen oder einen Multimediaprojektor einschalten können, aber bei Gerichtsverfahren dieser Wichtigkeit galten die alten, fast archaischen Regeln des Imperiums. Sozusagen Handarbeit, ehrlichste und direkteste Vermittlung von Fakten und Informationen, die allerdings dazu geeignet waren, die Wahrheit zumindest zu betonen, zu unterstreichen, und scheinbar unwichtige Fakten in ihrer wirklichen Bedeutung zu mindern oder zu mildern. Für den Angeklagten bedeutete dieser altertümliche Verhandlungsstil, daß er keine maschinenhafte Urteilsbegründung erhielt; seine Chancen standen und fielen mit der Geschicklichkeit des Verteidigers beziehungsweise des Anklägers, der bemerkenswerterweise noch kein einziges lautes Wort von sich gegeben hatte. Jeder der am Prozeß Interessierten innerhalb dieses Saales kannte den Namen Tharndrafts, aber niemand – außer Richter Daccsnor – hatte ihn jemals persönlich in Aktion erlebt. Ches hatte sich informiert: Tharndraft war ein Anhänger der alten Zeiten, konservativ, aber dem Naturrecht stärker verhaftet als der moderneren, computergestützten Mechanistik des modernen Justizapparats. Wenigstens Ches rechnete sich auch durch diesen Umstand mehr und bessere Chancen für Ogor aus. Er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, daß er einen Freispruch oder wenigstens ein formelles, aber mildes Urteil erwartet. Ganz sicher wünschte er dies. Aber er ließ sich durch seinen Wunsch nicht beeinflussen und schilderte so objektiv wie möglich, was vor und unter ihm geschah. Nach knapp zwei Stunden hielt der Chef, Fimm Monhole, einen Zettel hoch: Einschaltquote 72 stand darauf. Es bedeutete, daß von theoretischen hundert Visiphonen zweiundsiebzig eingeschaltet und auf diesem Programm waren. Für das Team von Arkon-Vision eine Warnung und eine Auszeichnung gleichermaßen: allerdings hatte sich auch Celkar-TV an diese Berichterstattung angehängt und auf eigene
Hans Kneifel Korrespondenten im Gerichtssaal verzichtet. Dafür übernahmen die mobilen Teams der planetaren Station alle Berichte von außerhalb der »Arena«. Kurz drehte sich Ches herum und hielt die Hand mit nach oben gestrecktem Daumen den grinsenden Kollegen entgegen. Das Gutachten war in einer Zeit von fünfundzwanzig Minuten verlesen worden. Darin bestätigte immerhin ein Arzt, der sicherlich kein Interesse daran hatte, daß Mörder in der Imperiumsflotte die Schlachtschiffe lenkten, die Schilderung des Angeklagten: es gab objektiv keinen Schmerz, der grausamer war als derjenige eines KorratzAnfalls. »Danke«, sagte der Richter. »Der Ankläger hat das Wort.« Tharndraft stand auf. Es war ein alter, breitschultriger Mann, wuchtig und massig. Sein Kopf war fast kahl, einige Narben machten sein Gesicht zu einer Maske, und als er zu sprechen begann, drang seine Stimme ohne die Hilfe von Mikrophonen und Verstärkern in die hinterste Ecke des Raumes. Er hatte einen heiseren Baß. »Ich vertrete die Anklage, und die Anklage gegen diesen Mann lautet auf neunfachen Mord. Unbestritten ist, daß Ogor jeden Mord zugegeben hat. Die Einzelheiten seines Geständnisses, das weder widerrufen noch modifiziert wurde und in völlig freier Schilderung vorliegt, ohne nachdrückliche Befragung oder gar Folter abgegeben und bestätigt wurde, sind durch die Fakten der Ermittlungen in jedem Punkt bestätigt und gesichert. Mit Betroffenheit habe ich die Schilderung des Lebens von Kommandant Ogor gehört. Ich anerkenne jedes Wort des ersten Gutachtens. Trotzdem erhebt sich für die Anklage die Frage, wo der schwierige und schmerzvolle Prozeß, den wir ›Korratz und Folgen‹ nennen wollen, aufhört. Und noch mehr interessiert mich, wie dieser leidgeprüfte Mann zum neunfachen Mörder werden konnte.« Tema hob die Hand und fuhr nach einem
Planet des Gerichts Nicken des Richters fort: »Ich stelle fest, daß bis zu diesem Punkt kein Einspruch von Seiten der Anklage erfolgt ist.« »Die Anklage steht nicht an, alles bisher Vorgebrachte als belegbare und durch Fakten zu bestätigende Wahrheit anzusehen.« »Der Verteidigung liegt jetzt ein Schriftstück der Imperiumsklinik auf Iacupos III vor. Dieses Schriftstück, von den dortigen Behörden beeidigt und bestätigt und per Kurier hierherverbracht, schildert die unzähligen Operationen. Sie wurden fast immer von denselben Spezialisten ausgeführt, die jedesmal einen anderen Körperteil des Angeklagten operierten und durch eine Prothese ersetzten.« Tharndraft entgegnete: »Eine Kopie dieses Schriftstücks liegt der Anklage vor.« »Anerkennt die Anklage«, fragte der Assistent Temas, »die Richtigkeit der in diesem Dossier geschilderten Informationen?« »Die Anklage hat im Augenblick keinerlei Möglichkeit, über Richtigkeit oder das Gegenteil zu entscheiden. Aber wir beziehen uns auf die Bestätigung der Behörden. Wir melden keinen Zweifel an. Zweifel bezüglich der Daten, an denen die erwähnten und im einzelnen geschilderten Operationen durchgeführt wurden, sowie die Natur der einzelnen Operationen. Erhärtet wird diese Schilderung dadurch, daß die Rehabilitationsärzte angaben, welche Zeit und welche Art von Übungen benötigt wurden, um die Prothesen in den Körper des Angeklagten zu integrieren.« Tema sagte schnell: »Die Anklage meldet keinerlei Bedenken an, dieses Schriftstück betreffend? Dazu gehört ein Filmstreifen. Dazu gehört ferner eine Folge von Aufnahmen, die sich ausnahmslos auf ersetzte Glieder, Hautstücke, Gewebeflächen und innere Organe beziehen?« »Keinerlei Bedenken. Wir akzeptieren die Aussage der zitierten Behörden und der zitierten ausführenden Mikrochirurgen.«
23 »Die Verteidigung dankt der Anklage!« Tema setzte sich wieder. »Durch dieses einigermaßen verwirrende Wortgefecht, das uns allen bestätigte, daß sowohl Verteidigung als auch Anklage den Tatbestand nicht in Zweifel ziehen, ergibt sich folgende Situation: Lebensweg, Infektion mit Korratz, dieser Körpersubstanz vernichtenden Krankheit, die rasenden, sich steigernden Schmerzen der einzelnen Anfälle, die Operationen und das Training mit den neuen Prothesen – das alles wird von der Verteidigung und erst recht von der Anklage als Wahrheit, als erwiesene Tatsachen angenommen. Dies bedeutet für Ogor, daß an seiner Schilderung der Umstände keinerlei Zweifel besteht. Niemand wird ihm beispielsweise im Fortgang des Prozesses vorwerfen, daß er sich vor der Ansteckung hätte schützen können oder daß er hätte vermeiden können, daß dieses oder jenes Körperteil schließlich verdorrte und abfiel. Die bisher vorgelesenen Tatsachen werden von beiden Parteien als wahr befunden. Darüber wird während des gesamten Prozesses nicht mehr gesprochen oder verhandelt. Aber es kann sein, daß sich sowohl Verteidigung als auch Anklage auf einzelne Punkte beziehen, um etwas abzustreiten oder zu bestätigen. Schon jetzt, liebe Zuschauer, läßt sich erkennen, daß sich die Auseinandersetzung auf einen einzigen Punkt konzentrieren wird. Dies kann nur im Sinn der Verteidigung sein. Der Punkt ist, ob Ogor oder der Computerverstand stärker waren. Es geht, um es noch einmal zu unterstreichen, um die Verantwortlichkeit. Und um neun Morde. Ein Detail am Rand. Von den neun Opfern waren drei jüngere Frauen. Wir werden im Lauf der Verhandlung erfahren, wie die einzelnen Morde geschahen, wo sie geschahen, und wie die näheren Umstände dieser Verbrechen waren. Die ersten Züge dieses Spiels der Gerechtigkeit haben wir alle miterlebt.
24 Ich persönlich rechne mit mindestens fünfzehn Sitzungen, ehe das Urteil verkündet wird. Es gibt keine Einspruchs- oder Revisionsmöglichkeit mehr, wenn die Verhandlung vor diesem Gremium stattfindet. Aber jetzt wird der Richter etwas sagen, und wir sollten uns alle auf ihn und seinen Einwand konzentrieren.« Bisher, das wußte Ches Prinkmon, war die Reportage in allen Teilen perfekt geworden. Die einzelnen Beteiligten waren vorgestellt. Viele von ihnen hatten charakteristisch agiert, so daß die Persönlichkeiten den Zuschauern im Gedächtnis bleiben würden. Er selbst hatte mit bisher unbekannten Informationen die Personen schärfer gezeichnet und plastischer herausgebracht. Das Publikum hatte jetzt sowohl Identifikationsmöglichkeiten, und es konnte auch Sympathien oder Antipathien für den eigenen Standpunkt suchen und finden. Tharndraft, der Ankläger des Imperiums, meldete sich zu Wort. Der Richter erteilte ihm Sprecherlaubnis. Der wuchtige Mann sagte dröhnend: »Langsam nähern wir uns dem Kernproblem. Die Anklage behauptet, daß es für den Angeklagten in jeder Sekunde der Versuchung möglich war, mit freiem Willen zu entscheiden.« »Die Verteidigung hat Beweise, daß exakt das Gegenteil der Fall war!« rief augenblicklich der Verteidiger und sprang wieder auf. Murmelnd kommentierten die Zuschauer und Prozeßbeobachter diese überraschende Wendung der Anklage. »Beweise?« fragte Tharndraft nicht ohne Sarkasmus. »Dem Gericht liegt das Gutachten der Obersten Behörde für Kybernetik und Nachrichtenwesen vor.« »Sie meinen sicher Beweisstück Nulldrei?« erkundigte sich ein Assistent. Tema nickte und rief: »Genau dies meine ich. Diese Abhandlung schildert die Abhängigkeit biologischer Strukturen eines Cyborg-Systems von dem
Hans Kneifel Diktat der angeschlossenen oder integrierten Rechenmaschinen.« »Dieses Beweisstück liegt auch der Anklage vor?« fragte der Richter unbewegt. Ogor saß scheinbar völlig ungerührt in seinem Sessel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte einmal dorthin, einmal dahin. Er tat, als gehe ihn dies alles absolut nichts an. Aber als ihn Ches näher ins Auge faßte und kurz darauf die Vergrößerung auf seinem Monitor in Ruhe studieren konnte, begann er zu ahnen, daß diese Beherrschtheit zur Hälfte auf die regungslose Gesichtsplastik zurückzuführen war und nur im geringen Maß auf die Seeelenruhe des Angeklagten. Man näherte sich tatsächlich dem entscheidenden Punkt. Wer war verantwortlich? Der Minicomputer? Das durch Korratz geschädigte Hirn, der Sitz von Verstand, Erziehung und letztlich von Moral? Oder die Kombination von beidem? »Die Abhandlung liegt auch der Anklage vor. Aber die Anklage betrachtet dieses Bündel von Papier nicht als Beweis.« Tharndraft war völlig kalt als er diesen Satz aussprach. »Die Auseinandersetzung tritt offensichtlich in ein entscheidendes Stadium ein«, erklärte der Richter. »Gehen wir empirisch vor«, rief Rotnam Tema. »Ich rufe Ogor auf. Er soll uns berichten – siehe dazu das Beweisstück Nullacht – wie einer der Korratz-Anfälle seine Hirnsubstanz angriff und zum Teil zerstörte.« Der Richter hob ein weiteres Bündel zusammengehefteter Schriftstücke hoch und sagte laut: »Fakten und Daten sind hier enthalten. Ich bitte die beiden Parteien, während der Erzählung die bestätigten Fakten herauszuarbeiten.« »Wir werden diese Aufforderung beherzigen!« bekräftigte Tharndraft. »Da dieser Punkt einer der vielen entscheidenden Faktoren der Verteidigungsstrategie ist, haben wir uns der Wichtigkeit und der Nachprüfbarkeit dieser Informationen
Planet des Gerichts versichert. Ogor, würden Sie uns schildern, was am …«, er schlug nach und nannte ein Datum, »… wirklich passierte?« »Dient dieser Bericht der Wahrheitsfindung?« fragte Ogor. »Unbedingt. Ich würde Sie sonst nicht um diesen Bericht bitten«, bestätigte Tema unruhig, aber mit unverkennbarem Optimismus. »Einverstanden. Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren …«, begann Ogor. Er erhob sich langsam und gab mit ruhiger Stimme seinen Bericht ab. Die verzweifelte Ruhe stand in krassem Gegensatz zu den Informationen und Fakten, die jeder im Saal und jeder der Fernsehzuschauer hören konnte. Eine gräßliche, niederschmetternde Erzählung. Eine krude Horrorgeschichte, die den verzweifelten Vorzug hatte, der Wahrheit zu entsprechen und keinerlei phantastische Elemente zu beinhalten. Ogor schilderte, wie ihn der Schmerz überfallen hatte, als er gerade mit seinem Zerstörer einen Angriff gegen eine zahlenmäßig stärkere, aber schwerfällig operierende Methanatmerflotte geflogen hatte. Plötzlich überfiel ihn wieder der Schmerz, obwohl er vor wenigen Tagen erst aus der Flottenklinik entlassen worden war und ihm die Ärzte versichert hatten, er habe nun mindestens ein halbes Jahr absolute Ruhe vor dem Korratz. Der Anfall verwandelte ihn abermals in einen hilflosen Organismus, der nur noch schrie und sich wie ein Rasender gebärdete in dem Versuch, den Schmerz durch Selbstvernichtung zu stoppen. Trotzdem hatte er den Angriff geflogen, war durch den Pulk der Maahks hindurchgerast, während seine Feuerleitoffiziere ihre Projektoren abfeuerten und dem Feind schwere und schwerste Verluste zufügten. Man hatte ihn blutend, mit einigen gebrochenen Knochen und aufgerissener Haut aus dem Pilotensessel herausgezerrt, mit einer Schockwaffe betäubt und nach Ende des Kampfes den Medizinern übergeben. Rasend vor Schmerz hatte er miterlebt, wie man ihm die Hirnschale aufschnitt, wie
25 man ihn einschläferte und abwartete, bis die betreffende Zone des Gewebes abstarb und vertrocknete, und dann pflanzten sie ihm diesen Mikrocomputer ein, schlossen ihn an die Ganglien des Hirns an, stülpten den Knochen wieder darüber und vernähten die Kopfschwarte. Sie verpflanzten sogar das Haar und warteten hundert Tage, bis sich das Hirn an die Rechenmaschine und der Computer an die Abläufe der gedanklichen Prozesse gewöhnt hatte. Sie ignorierten die Wünsche, die Bitten und die Befehle des Kommandanten, ihn von diesem Terror zu befreien und zu töten. Sie wollten ihn nicht erlösen, obwohl er um den Tod bettelte. Er wurde irgendwann als »geheilt« entlassen, äußerlich völlig normal, aber von den Gezeiten eines mechanischen Geräts abhängig. Dies ging, unterbrochen von drei vergleichsweise harmlosen Operationen (Fingerendglieder und einige Hautflecken), ein Jahr lang gut. Dann ging in einer mondlosen Nacht auf einem Planeten, auf dem das Schiff aufgetankt und einer schnellen Überholung unterzogen wurde, Kommandant Ogor in die Richtung des Raumhafengebäudes. An diesem Punkt der Erzählung herrschte eine geradezu überirdische Spannung im Auditorium. Die Kamera war fixiert auf das Gesicht des Erzählenden. Er sprach leise weiter: In einer Bar hatte er ein Mädchen getroffen. Trotz seiner abwehrenden Haltung war sie an ihm interessiert. Sie sprachen lange miteinander, und er vergaß lange Zeit seinen Zustand. Sie tranken ein wenig, und eine wortlose, heitere Ruhe erfüllte sie. Das Mädchen lud ihn ein, die Nacht mit ihm zu verbringen. Er nahm ihre Hand und war froh, jemanden getroffen zu haben, der ihn trotz seiner Prothesen mochte. In dem kleinen Apartment liebten sie sich und freuten sich, daß sie sich getroffen hatten. Um die Schultern eine Decke, trat Ogor nach Mitternacht auf die kleine Terrasse der
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Wohnung hinaus, sah die Sterne an und bemerkte, daß Neumond herrschte – der Schatten des Planeten bedeckte die Oberfläche des Trabanten. Dann: Panik. Raserei. Bewußtlosigkeit. Und die Erkenntnis, daß er etwas tat, das er nicht wollte, aber er sah sich selbst, wie er Dinge tat, die ihm wesensfremd waren. Wieder das schwindende Zeitgefühl, die Überzeugung, daß nur Sekunden vergangen waren, und das unausgesprochene Wissen, daß es in Wirklichkeit Stunden waren. Und daraufhin der Anblick der Leiche: nackt, blutüberströmt, fremd und dennoch vertraut. Der Morgen, der ihn flüchtend sah, der nächste Tag, der den Start des Schiffes brachte und das Vergessen. »Der Mikrorechner unter meinen Kunsthaaren zwang mich mehrere Monate lang, alles zu vergessen. Und immer dann, wenn ich meine Not und mein Wissen einem Freund im Schiff erklären und schildern wollte, lähmte der Computer meinen Kehlkopf. Und er lähmte sogar meine Finger, als ich es niederschreiben wollte.« Die Frage war häßlich und arrogant, aber sie war berechtigt. Nicht einmal Ogor nahm sie als Angriff; er hatte deshalb damit gerechnet, weil er sie sich selbst schon so oft gestellt hatte. Tharndraft erkundigte sich leise: »Haben Sie eine Erklärung dafür, Ogor, warum der Mikrocomputer sich jetzt nicht ebenso verhält, wie Sie es geschildert haben? Warum blockiert er jetzt nicht Ihre Geständnisfreudigkeit?« Wahrheitsgemäß erwiderte Ogor: »Ich weiß es nicht, Herr Ankläger. Mir wäre wohler, wenn ich es wüßte. Erst vor wenigen Tagen habe ich herausgefunden, wie ich den Computer beherrschen kann. Ich habe dadurch einige verblüffende Möglichkeiten entdeckt.« Nicht einmal Ches Prinkmon ahnte zu diesem Zeitpunkt, was diese Aussage oder Eröffnung wirklich bedeutete.
6.
Ich kauerte auf dem Rand meiner Pritsche, blickte in die Gesichter des Richters, und des Verteidigers und hörte der Verhandlung zu. Sie wurde direkt aus einem kleineren Sitzungssaal der Arena der Gerechtigkeit übertragen; sollte der Umstand, daß wir Gefängnisinsassen diese Verhandlung ansehen durften, abschreckend auf uns wirken? Ich hatte vom Korratz gehört, jener furchtbaren Krankheit. Aber bisher hatten wir angenommen, daß die Opfer in der Ruhe eines Krankenhauses dahinsiechten und schließlich starben. Grimmig warf Premcest ein: »Mir tut der Kommandant leid. Aber wer hat auch den wahnwitzigen Einfall gehabt, ihm einen Mikrocomputer unter die Schädeldecke zu schieben?« »Die Ärzte«, sagte ich. »Es wird ein langer, quälender Prozeß. Ogor hält sich ausgezeichnet.« »Sie werden ihn ebenso umbringen wie uns!« knurrte einer der Gefangenen und begann die Zellentür zu untersuchen. Es gab für uns keine Chancen, diesen Raum zu verlassen, wenn er nicht von außen geöffnet wurde. Die Verhandlung ging weiter. Der Richter versuchte, objektiv zu bleiben. Er machte trotz seiner Erfahrung auf uns den Eindruck, als sei er unsicher. Der Verteidiger und seine Helfer bemühten sich, das gesamte Auditorium auf einen bestimmten Punkt der Verteidigungsstrategie vorzubereiten. Sie waren entschlossen, die Verteidigung darauf aufzubauen, daß Ogor in den Phasen, in denen er mordete, ein Gefangener seines Mikrorechners gewesen war. Der Vertreter der Anklage arbeitete daran, zu beweisen, daß Ogor den Mikrocomputer abschalten oder seine Wirkung mindern konnte, und der Beweis für ihn war, daß sich die Maschine nicht im geringsten gewehrt hatte, ein Geständnis zu ermöglichen, nachdem man den neunfachen Mörder durch Indizien endlich hatte überführen können. Schließlich, gegen Abend, kam der Verteidiger zum wichtigen Punkt. Alle Anwe-
Planet des Gerichts senden zeigten Zeichen der Ermüdung und starken Konzentrationsmangel. Der ausgezeichnet arbeitende Reporter hatte die Fernsehzuschauer vorbereitet. Sie ahnten, was kommen würde. Rotnam Tema stand auf und sagte mit erhobener Stimme: »Hohes Gericht, meine Damen und Herren! Unsere Recherchen haben einen verblüffenden Tatbestand ergeben. Die neun Morde geschahen auf neun verschiedenen Planeten. Jeder dieser Planeten besitzt einen einzelnen, großen Trabanten. In den neun fraglichen Nächten herrschte Neumond, was bedeutet, daß der Mond entweder nicht sichtbar oder nur als haarfeiner Kreisring zu sehen war. Ich werde in den nächsten Verhandlungstagen zu beweisen versuchen, daß diese kosmogonischen Verhältnisse an den Morden schuldig, beziehungsweise daß die Monde den Minicomputer beeinflußt haben.« Ich zuckte zurück und tauschte mit Premcest einen verblüfften Blick. Entweder war der Anwalt ein Scharlatan, oder es stimmte wirklich. Einfluß der Gestirne auf Minicomputer? Oder nur neun wirklich wunderbare Zufälle nacheinander? Ich war jetzt sicher, daß der Verteidiger diese These würde exakt belegen lassen; jede planetare Verwaltung würde ihm die betreffenden Daten binnen kürzester Zeit beschaffen können. Die Reaktion im Gerichtssaal war ebenfalls deutlich. Die Kamera zeigte es, der Reporter blieb beherrscht, obwohl auch er überrascht war. Das Publikum sprach erregt miteinander, der Ankläger zeigte ein ungläubiges und verblüfftes Gesicht. Nur der Richter blieb gemessen und erwiderte in den immer stärker werdenden Tumult hinein: »Es wird sicherlich schwer sein, diese Zusammenhänge dem Gericht zu beweisen. Es ist spät, meine Damen und Herren, die Sitzung ist für heute beendet, wir beginnen morgen zur selben Zeit.« Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Ein Bote kam herein und reichte Thorm von Daccsnor einen Umschlag. Der Richter riß ihn auf, las
27 den Text und schwieg dann einige Sekunden lang wie betäubt. Schließlich raffte er sich auf und hob den Arm. »Soeben ist eine dringende Botschaft von Orbanaschol dem Dritten eingetroffen. Er befürchtet, daß sich der Prozeß gegen Ogor noch längere Zeit hinzieht; eine Befürchtung, die vermutlich zutreffen wird. Daher stellt das Imperium offiziell den Antrag, den Prozeß zu vertagen, bis die Verräter und Meuterer von Serrogat abgeurteilt sind. Da der Imperator das Imperium vertritt, muß diesem Antrag stattgegeben werden. Ich stelle also folgendes fest: Der Prozeß Imperium versus Ogor wird unterbrochen. Morgen früh beginnen die Ermittlungsverhandlungen gegen die sogenannten Serrogat-Verräter. Ich verspreche Ihnen, Angeklagter, daß wir Ihren Prozeß so schnell wie möglich wieder aufnehmen werden. Entschuldigen Sie mich.« Er kochte vor Wut, als er den Saal durch die kleine Tür verließ, aber auch er beherrschte sich mustergültig. Er wußte jetzt, daß Orbanaschol zumindest große Teile dieses ersten Verhandlungstages mitangesehen hatte. Die Tür schloß sich. Ein überraschtes Auditorium blieb zurück. Zwei Wachen kamen heran und führten Ogor ab; man würde ihn durch den unterirdischen Gang in den Gefängniskomplex zurückbringen. Ich zog die Schultern hoch und flüsterte: »Dieser Diktator! Er will sein Spektakel! Er mischt sich sogar in den Ablauf der Prozesse ein! Er will nichts anderes, als uns sterben sehen.« »Und das möglichst bald«, knurrte mein Nachbar, ein untersetzter Mann in seinem beschmutzten braunen Overall. »Bald und auf schreckliche Art!« pflichtete ihm sein Gegenüber bei. »Er erhofft sich zweifellos eine Stabilisierung seiner Macht durch diesen Riesenprozeß!« sagte Premcest. »Morgen früh werden wir uns also alle dort wiederfinden.« Er deutete auf den Bildschirm. Die Kamera filmte gerade einen Rundblick durch den
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nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Saal. Die ersten Zuschauer verließen, erregt miteinander sprechend, die Plätze. Ches Prinkmon, der Fernsehreporter, schloß seinen Bericht ab und erklärte mit ruhiger Stimme: »Wir versprachen Ihnen, meine Zuhörer, einen interessanten und ausgewogenen Bericht. Wir konnten dieses Versprechen nur einen Tag lang halten. Morgen wird in einem anderen Saal eine ganz andere Art von Prozeß beginnen, und auch dort werden unsere Kameras sein, auch von dort werden wir unvoreingenommen und sachlich-informativ berichten. Für heute verabschiedet sich das Team: Chef Monhole, Kameramann Dharr und ich, Ches Prinkmon. Sie sahen und hörten eine Sondersendung von ArkonVision. Danke.« Langsam streifte er sich Kopfhörer und Mikrophonbügel ab.
* Ogor stemmte seine Füße gegen die Kante des gegenüberliegenden Sitzes. Der kleine Wagen der unterirdischen Verbindung raste fast lautlos durch den Schacht, auf den Gefängniskomplex zu. Alles oder fast alles ging automatisch vor sich, aber dort vorn würden ihn wieder Wachen empfangen. Er wollte gar nicht flüchten. Er wollte nur Ruhe und Vergessen. Wieder überlegte er, ob er seine letzte Möglichkeit ausschöpfen sollte, aber dann schalt er sich einen Feigling, der nicht den Mut hatte, den Konsequenzen ins Auge zu sehen. Wimmernd bremste die Automatik die Kabine ab, hob sie aus dem Schacht und setzte sie in eine geschlossene Kammer. Die Türen glitten leise zischend auf. Ogor sah sich einer Rampe gegenüber, die hellerleuchtet nach oben führte. Wie fast überall bestanden auch hier die Wände aus Stahlverkleidungen. Ogor ging schweigend die Rampe hinauf und ignorierte das Zuschnappen schwerer Trennwände und Türen hinter sich. Schließlich nahm ihn abermals ein Lift auf und entließ
ihn wieder auf dem betreffenden Stockwerk. Hier warteten die bewaffneten Wächter und die schwebenden Roboter. Sie führten ihn schweigend zurück in seine Zelle. Primm raste auf ihn zu, kreiste um Ogors Kopf und schrie immer wieder, von Flüchen unterbrochen: »Ogor gesehen! Schlechte Aussicht. Bald sterben-sterben!« Ogor fing die Kolibrimaus mit schnellem Handgriff aus der Luft, hielt sie vors Gesicht und murmelte: »Alles ist unklar, mein Kleiner. Du mußt noch warten, Primm. So wie ich.« »Immer warten-warten. Wann kommen wir weg, Ogor?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist alles bald vorbei, Primm.« Er öffnete vorsichtig die Finger, und der Primm schwirrte davon, ein winziges hellblaues Bündel, dessen Flügel sich so schnell bewegten, daß die einzelnen Abläufe nicht mehr unterscheidbar waren. Als Ogor sich setzen wollte, klickte der Lautsprecher. »Gefangener Ogor!« »Ja«, brummte er unwillig. »Was gibt's?« »Ches Prinkmon, der Journalist der Arkon-Vision, will Sie später sprechen. Sind Sie einverstanden?« »Meinetwegen. Wann?« »Irgendwann. Sie können den Zeitpunkt bestimmen. Es sollte noch heute sein.« »Sagen Sie ihm«, entgegnete Ogor, »daß er in zwei Stunden kommen kann.« »Danke.« Bisher hatte man ihn in diesem Gefängnis nicht gerade verwöhnt, aber immerhin korrekt behandelt. Er hatte befürchtet, als neunfacher Mörder den Abscheu der Beamten und Wächter zu erregen, aber sie blieben kühl und gelassen. Vermutlich hatten sie schon ganz andere Gefangene hier gehabt. Er zog sich aus, duschte und legte sich auf die Pritsche. Primm klammerte sich an den Gitterstab und machte keinerlei Anstalten, trotz des offenen Fensters davonzufliegen. Wenigstens ein Wesen gab es, dachte er melancholisch, das mich nicht verabscheute.
Planet des Gerichts
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* Etwa eine Stunde später, als es bereits dunkel geworden war, schreckte bohrender Kopfschmerz den Gefangenen hoch. Er kannte schwersten Schmerz in allen Variationen, aber er hatte so gut wie niemals Kopfschmerzen gehabt. Er setzte sich auf, massierte die Schläfen und merkte langsam, wie der Schmerz wich. Ein Blick aus dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinstrich, zeigte ihm die ersten Sterne. Träge zog er sich an, schaltete das Licht am Kopfende der Liege an und wartete mit unendlicher Geduld auf den Reporter. Jetzt, da alle seine Chancen am Ende waren, hatte er Zeit im Überfluß. Von jetzt bis zum Augenblick seines Todes. Was wollte der Reporter? Warum wollte er ihn sprechen? Ogor zuckte gleichgültig die Schultern. Er konnte es sich nicht denken. Er hatte von einem Wärter gehört, daß mehrere hundert neue Gefangene eingetroffen waren. Verräter und Deserteure, hatte es geheißen. Nicht seine Sache, sagte er sich. Er wußte, daß er sich völlig indifferent verhielt. Er schien allen Zuschauern kalt und ungerührt zu sein. Aber die langen Jahre der Qualen hatten ihn befähigt, seine Gemütsbewegungen zu verbergen. Er haßte sich wegen der drei Mädchen und der sechs Männer, die er umgebracht hatte. Aber in vielen langen, qualvoll schlaflosen Nächten hatte er sich immer wieder selbst geprüft. Er hatte nichts vergessen von dem, was er erlebt und empfunden hatte – nur die Phasen, in denen er wie ein Rasender reagiert hatte, waren für immer aus seinem Gedächtnis getilgt. Er war sicher, daß er nicht einmal im wildesten Ansturm des Korratz-Schmerzes gemordet hätte. Es war der Minicomputer oder die Veränderung, die nach dem Einsetzen dieses teuflischen Dinges in seinem Verstand stattgefunden hatte. Wieder unterbrach der Summer seine Überlegungen.
»Sie werden im Sprechraum erwartet. Man holt Sie ab, Ogor.« »Geht in Ordnung«, sagte er mürrisch. Minuten später eskortierten ihn zwei Wächter durch den Korridor, an der Schaltstation für die Sicherheitseinrichtungen vorbei, in den Sprechraum, eine große Zelle, mit dem Luxus eines Teppichbodens sowie einem Tisch und mehreren Sesseln. Ches Prinkmon und ein hagerer Mann mit einer Schulterkamera warteten bereits ungeduldig. »Was wollen Sie?« erkundigte sich Ogor mürrisch. Er fühlte sich gereizt und müde. »Mit Ihnen sprechen. Über einige wesentliche Punkte.« Wieder fing der Kopfschmerz an. Zwei Wächter lehnten, die Waffen locker an der Hüfte, an den Wänden. Sie gähnten und schienen verärgert über die späte Störung zu sein. Ogor vermutete, daß Ches den Verwalter bestochen hatte; er hatte beim Schwimmen das Gespräch zwischen Wächtern aufgeschnappt, und daraus war zu schließen, daß Doomyh Kiln bestechlich war, ohne deswegen seine Pflichten zu vernachlässigen. Er legte unter der Einwirkung einiger Handvoll Chronners seine Vorschriften sehr elastisch aus. »Über welche wesentliche Punkte wollen Sie mit mir sprechen? Und warum die Kamera und der Scheinwerfer?« Anstelle des Reporters antwortete der Kameramann, den Ogor schon während der Übertragung dieses Tages hinter der Scheibe gesehen hatte. »Über Neumond, über die neun Planeten und über die angedeutete Möglichkeit, den Mikrocomputer zu beherrschen, Ogor.« Die Schmerzen, die sich in einem sichelförmigen Bogen zwischen den Schläfen hinzogen, erzeugten in Ogors Kopf einen wilden, pochenden Schmerz. Aber er beherrschte sich noch immer. Er setzte sich und erklärte: »Sie werden das alles in den Tagen des Prozesses erfahren. Wozu diese Eile, meine Herren? Sie greifen den Ergebnissen der Verhandlung vor.«
30 Bevor er reagieren konnte, begriff er, was eigentlich geschah. In seinem Kopf gab es ein metallisches Geräusch wie von einem altertümlichen Relais. Dann verwandelte sich Ogor, der etwa dreißig Tage lang ein Musterhäftling gewesen war, in einen rasenden Organismus. Mit einem gewaltigen Satz sprang er aus seinem Sessel, flankte über den Tisch und schleuderte mit einem kurzen Fußtritt den Photographen zurück. Er stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf einen Wächter und schlug, kaum daß die Sohlen seiner Stiefel den Boden berührten, den anderen Mann zur Seite. In diesen Sekunden verwandelte sich Ogor, vom Mikrocomputer gesteuert, in eine rasende Kampfmaschine. Dank seines Körpers, der zu einem großen Teil mehr einem Roboter glich als einem Arkoniden, besaß er weitaus schnellere Reflexe und ebenso viel größere Kräfte. Sein Hieb schleuderte den zweiten Wachter mehrere Meter weit die Wand entlang und in eine Ecke. Als er wieder sein Gleichgewicht gefunden hatte, hielt Ogor bereits die Waffe des ersten, bewußtlosen Wächters in der Hand. »Hilfe! Er wird verrückt!« keuchte Dharr, der zusammen mit seiner Kamera sich in einem Winkel wiederfand. Sein Schädel dröhnte wie eine Glocke. Ches stand scheinbar unbeteiligt da, rührte sich nicht und registrierte nur. Seine Bewegungslosigkeit rettete ihm das Leben. Ogor federte herum. Er hob die Waffe, dann warf er sich zur Seite und riß die zweite Waffe an sich. Er beachtete weder Dharr noch Prinkmon, sondern sprang zur Tür. Jetzt bewegte er sich zwar so schnell wie ein Roboter, aber seine einzelnen Bewegungen waren die eines lebenden Wesens. In diesem Sekundenbruchteil begriff Ches Prinkmon, auf welche Weise Ogor zum neunfachen Mörder geworden war. Bevor er, die offizielle, schwerstens bewachte Zufahrtspiste über dem Planetenboden benützend, den riesigen Gefängniskomplex betre-
Hans Kneifel ten hatte, mußte er feststellen, daß auch der Mond Celkars heute vom Schlagschatten seines Planeten bedeckt war: Neumond! Zwei Schüsse fauchten donnernd auf. Die beiden Wächter, von konzentrierten Schockstrahlen getroffen, rissen die Arme auseinander und sackten zusammen. Mit einem wilden Ruck riß Ogor die Tür auf und stürmte auf den Korridor hinaus. Zehn Sprünge trugen ihn geradeaus, dann feuerte er wieder, behende wie eine Maschine und mit teuflischer Treffsicherheit, auf einen Arkoniden, der den Kopf aus einer Wachstube herausstreckte. Mit einem gurgelnden Schrei ging der Mann zu Boden. »Was ist das, Ches?« keuchte Dharr und wuchtete sich vom Boden der Zelle hoch. »Das ist der Mikrocomputer«, sagte Ches tonlos. Er erlebte es mit, aber er war zu sehr beeindruckt, um es richtig glauben zu können. Vor seinen Augen hatte sich der ruhige, beherrschte Untersuchungsgefangene in ein wildes Tier verwandelt. Es konnte nicht anders sein: der Mikrocomputer, ausgelöst durch den Schock des unsichtbaren Mondes, regierte diesen halbrobotischen Organismus. So und nicht anders war es gewesen, als Ogor neunmal gemordet hatte. »Ogor? Er dreht durch?« fragte Dharr keuchend. Ches wandte sich um und starrte eine Sekunde lang in den Korridor hinaus, in dem sehr schnelle Schritte und das Quäken eines Alarmsummers zu hören waren. So ruhig und bedächtig, wie es ihm möglich war, erwiderte er: »Es scheint, daß Ogor durchdreht. In Wirklichkeit regiert ihn der Mikrocomputer. Du solltest drehen, denn diese Aufnahmen werden wir niemals mehr schießen können. Er ist nicht bei Sinnen. Sein Körper handelt, aber er gehorcht einem pervertierten mechanischen Verstand.« Binnen weniger Sekunden erreichte Ogor die Nische des Korridors, in der die verschiedenen Sicherheitseinrichtungen untergebracht waren. Als die Kamera Dharrs zu
Planet des Gerichts surren begann, erfaßten die automatisch gesteuerten Linsen den dahinzuckenden, blitzschnellen Körper Ogors. Die Finger des Gefangenen kippten nacheinander lange Reihen von Schaltern herunter. Eine Sirene heulte. Mehrere Summer gaben langgezogene, blökende Töne von sich. In dem Stockwerk dieses kreisringförmigen Korridors öffneten sich hundert oder mehr Türen schlagartig. Gleißende Tiefstrahler schalteten sich ein. Robotische Einrichtungen blockierten die Verbindungen zwischen den darüber und darunter liegenden Stockwerken. »Mach die Aufnahmen, Dharr! Schnell! Die Gelegenheit kommt niemals wieder!« Dharr rannte aus dem Sprechzimmer hinaus, schwenkte die leichte Kamera herum und lehnte sich gegen die Mauer. Er filmte den Körper Ogors, wie er sich bewegte und reagierte. Hin und wieder rannten Wächter durch den Korridor, aber ehe sie begriffen, wie die Situation stand, wurden sie von den hervorragend gezielten Schüssen niedergeworfen. Der Lärm, die Lichter und die Aufregung forderten die Gefangenen geradezu heraus, ihre Zellen zu verlassen. Das Chaos begann sich auszubreiten. Immer mehr Köpfe tauchten auf. Jetzt hatte Ches Prinkmon seine Sensation. Er hatte sie nicht gewollt. Aber er war entschlossen, jede Chance zu nützen. Er verließ die Sprechzelle und wagte sich in das Durcheinander des Ringkorridors hinaus. Dharr faßte Mut und filmte die verworrenen Szenen. Wie ein Rasender sprang und rannte Ogor, auf jeden der uniformierten Wächter feuernd, durch die Menge, die sich von Sekunde zu Sekunde vergrößerte. Er war im Bann des Mikrocomputers. Der Rechner beherrschte ihn vollkommen, aber die Phase würde nicht lange dauern. Ches wußte es, denn der Verteidiger hatte erklärt, daß diese Zeitspanne nur wenige Stunden dauerte. Sie hatten für sechzig Minuten Filmband. Der Text und die Geräusche waren unwichtig; man konnte sie später herstellen, mischen und einspielen.
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7. Genau zweihundert Türen wurden durch die Schaltungen Ogors geöffnet. Davon waren allein hundertsiebzig Türen oder Stahlplatten solche, die Zellen abschlossen. Zellen von verschiedener Größe, mit zehn, acht oder vier Gefangenen belegt, einige Zellen waren leer oder enthielten nur einen einzigen Gefangenen. Hunderte von Eingekerkerten waren plötzlich in einem scharf umrissenen Rahmen frei. Aber ihr neugewonnenes Reich erstreckte sich lediglich auf eine einzige Ebene des riesigen Gefängnisses; die beiden, einander gegenüberliegenden Verbindungen zwischen den Stockwerken waren zwar im Augenblick noch geöffnet und passierbar, aber der Alarm rief die Wachen der beiden Ebenen heran, und sie waren nicht so schnell zu überraschen. In dem betroffenen Bereich rannten die Gefangenen in einer Art Massenpsychose auf die rund drei Dutzend Wachen zu, wurden teilweise niedergeschossen, aber schließlich siegte die zahlenmäßige Übermacht. Dreißig oder einunddreißig Wachen gab es in diesem Stockwerk. Elf Minuten nach dem ersten Angriff Ogors befanden sie sich in der Hand der Gefangenen.
* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN: Ich schreckte aus einem leichten Schlaf auf, als das Licht in der Zelle aufflammte und Premcest mit einem Satz aus der hinteren Ecke hervorsprang. Langsam öffnete sich die Zellentür, gleichzeitig klappten laut die Wandfächer auf. Alarm! Klingt nach Angriff oder Rebellion! schrie der Logiksektor. Vom Korridor drang das laute Geräusch von Schritten, Schreien und Schüssen herein. In wenigen Sekunden hatten wir uns mehr oder weniger angezogen und drängten
32 uns um Premcest, der den Ausgang versperrte. »Dort scheint jemand flüchten zu wollen!« murmelte Premcest und stieß mich an. »Die Gefangenen sind alle frei. Alle Türen stehen offen, soweit ich das sehen kann.« Unbeschreiblicher Lärm entstand, als auch wir uns in den Korridor hinausschoben. Er war voller Männer. Hin und wieder im quirlenden Durcheinander tauchten die Uniformen von Wächtern auf. Die Männer kämpften schweigend und verbissen, aber allein die Übermacht der Menge überwältigte sie schnell. Ein einzelner Mann rannte jetzt hinter der weitgeschwungenen Krümmung des Zentralkorridors entlang und feuerte aus zwei Handwaffen hinter sich. Es ist Ogor! zischte der Logiksektor. Zwei Wächter kamen aus einem Bereitschaftsraum heraus. Sie hielten die Waffen in den Händen und rannten auf uns zu. Wir blieben stehen und waren ratlos; unbewaffnete Männer hatten kaum Chancen. Premcest wirbelte herum und deutete auf den heranstürmenden Ogor, der jede Lücke in dem Gewimmel ausnutzte, sich im Zickzack hin und her warf und zufällig einen Gefangenen niederschoß, als sich der Mann zwischen ihn und einen Wächter schob. »Dort ist Ogor! Er ist rasend geworden!« schrie mein Freund aufgeregt. Die Wächter ließen sich ablenken. Sie hoben die Waffen und blickten in die Richtung, in die Premcest zeigte. Im gleichen Moment warfen wir uns auf die Uniformierten, rissen ihre Waffen in die Höhe und wanden sie aus den Händen der Männer. Gleichzeitig näherte sich uns Ogor und schrie durch das Heulen der Sirenen und das Schnarren der Summer: »Ich habe alle Türen geöffnet! Ich muß handeln! Los, befreit euch! Wir sitzen alle in einem Boot …« Sein Geschrei wurde leiser und verlor sich im allgemeinen Lärm. Ich ahnte, daß er wieder unter dem Einfluß seines Gehirnersatzes stand; wenn dies stimmte, konnte ich sogar annehmen, daß Neumond über Celkar herrschte. Ogor befand sich wieder in einer
Hans Kneifel seiner Phasen der unbeherrschbaren Gewalttätigkeit. Aber wie war er aus seiner gesicherten Zelle entkommen? Ogor spurtete davon, schoß um sich und bewegte sich wie ein rasender Roboter. Seine Bewegungen waren zu schnell für einen normalen Arkoniden. Der gesamte Ringkorridor, der den Außenlinien des Gefängniskomplexes folgte, war jetzt voller Gefangener. Wir sahen mindestens zweihundert Männer jeden Alters, die wild durcheinanderschrien, auf die Wächter einschlugen und die Bewußtlosen in die Zellen hineinschleiften. Über dem Chaos aus Stimmen und Geschrei und den Geräuschen des Kampfes wimmerten unausgesetzt die Alarmanlagen. Fartuloon hielt meinen Arm fest und sagte: »Es war der schlechteste Zeitpunkt. Hier kommt niemand heraus. Halten wir uns zurück.« »Vermutlich werden sie die Wärter als Geiseln nehmen!« warf ich ein. »Und hier im Zentralkorridor sind wir wehrlos.« Die befreite Abteilung war nichts anderes als eine einzelne von mehr als fünfundzwanzig Ebenen, die kreisförmig übereinander lagen. Unter uns und über uns hatte sich nichts geändert. Wir konnten förmlich darauf warten, daß sie uns wieder einfingen. »Trotzdem müssen wir etwas unternehmen«, drängte er. »Einverstanden.« Ich riß mich los und rannte auf eine größere Menge Männer zu, die gerade einen Wächter niederschlugen. Eine Sirene stellte ihr nerverschütterndes Heulen ein. Ich packte einen riesigen Mann, den ich schon mehrmals unter den verschiedenen Gruppierungen seit Serrogat gesehen hatte, an der Schulter. Er fuhr überrascht herum und erkannte mich. Ich grinste und brüllte: »Wir sammeln uns! Wir brauchen einen Platz, an dem wir uns verschanzen können!« »Gute Idee. Los, Kameraden, nehmt ihn mit, und wir suchen uns einen gemütlicheren Platz!« donnerte der breitschultrige Mann.
Planet des Gerichts Ein paar andere Gefangene gehorchten und hoben den bewußtlosen Wächter hoch. Premcest winkte und deutete in die Richtung, in die Ogor davongerannt war. Eine laute, hallende Stimme krachte aus den unsichtbaren Lautsprechern und befahl uns in erregtem Ton, sofort in die Zellen zurückzugehen. Immer wieder wurde diese Warnung wiederholt, und schließlich schwiegen die Gefangenen ebenso wie die unzähligen verschiedenen Alarmeinrichtungen. Je weiter wir liefen, desto mehr Gefangene schlossen sich uns an. Wieder eine Beobachtung, wie man sie immer wieder machen konnte: der erste, der anfing, Anführerqualitäten zu zeigen, riß die anderen mit sich. »Mißhandelt die Wächter nicht. Es sind Geiseln. Wir können mit ihnen etwas aushandeln, wenn wir die Wachen als Kaufpreis einsetzen!« schrie jemand von hinten. Inzwischen waren wir mindestens hundert Männer, die sich durch den Korridor schoben. Aufmerksam musterte ich die verschiedenen Einrichtungen. Die halb-robotischen Sperren waren alle ausgeschaltet. Noch immer drang aus der vor uns liegenden Krümmung des Ganges das Geräusch von Schußwechseln an unsere Ohren. Wir rannten an Dutzenden offenstehenden Zellenpanzertüren vorbei. Immer wieder schaltete jemand weitere Sicherheitseinrichtungen ab. Die Fächer, in die Roboter Essen und Bettzeug stellten, wurden aufgerissen. Dann kamen wir an den leeren Bereitschaftsraum der Korridorwache. Premcest, der Riese und ich drangen ein und sahen nichts anderes als einige eingeschaltete Servorobots und eine bemerkenswerte Unordnung. Wir bewegten uns in rasender Schnelligkeit durch die Räume, aber es gab nur einen einzigen Eingang. Enttäuscht rief Premcest: »Sind schlauer, als ich dachte. Aber irgendwo muß es einen Eingang in diesen Korridor geben!« »Ganz sicher. Wahrscheinlich dort, wo geschossen wird.« Wir nahmen einige Gegenstände an uns,
33 dann liefen wir wieder hinaus. Inzwischen waren fast alle Gefangenen an dieser Stelle vorbeigeströmt. Sie rannten dorthin, wohin sich der Hauptstrom der freigelassenen Männer bewegte. Ich zuckte zurück, als ich die zwei Arkoniden sah, die völlig unbehelligt in etwa zwanzig Schritt Entfernung den rennenden Gefangenen folgten. Der Reporter! zischte das Extrahirn. Ich blieb überrascht stehen und hielt Premcest an. Der hochgewachsene Gefangene wollte an uns vorbei und sich auf die Journalisten stürzen, aber wir hielten ihn zurück. Der jüngere Mann sprach in das Mikrophon eines kleinen Recorders, der andere balancierte die Kamera mit der riesigen Filmbandtrommel auf der Schulter und hielt sein Auge an das Sucherobjektiv gepreßt. Zuerst beachteten sie uns nicht, aber dann blickte uns Ches Prinkmon scharf an. »Machen Sie keine Dummheiten«, sagte er beschwörend. »Wir sind völlig unparteiisch. Lassen Sie uns hinaus.« Ich grinste kurz. »Von mir aus. Wenn Sie uns den Ausgang zeigen?« Für einen Augenblick schwankte die Kamera. Ich mußte damit rechnen, daß sie unsere Gesichter erfaßte. Ich trat zur Seite und machte einige Schritte auf den jungen Mann zu, der den Prozeß gegen Ogor kommentiert hatte. »Was ist eigentlich passiert?« Der Riese hinter mir deutete nach links und rief drohend: »Los! Weitergehen! Von mir aus können Sie filmen, was sie wollen. Aber wir müssen hier 'raus!« Als wollte die Direktion seine Befürchtungen unterstreichen, erscholl wieder die Lautsprecherstimme, die mit dem Einsatz von Kampftruppen vom Raumhafen drohte, um den Aufstand niederzuschlagen. Wir setzten uns voller Unruhe wieder in Bewegung. Premcest und ich vermieden dabei, uns in der Nähe der Kamera aufzuhalten. »Schneller!« »Wir waren bei Ogor. Plötzlich drehte er
34 durch, entwaffnete die Wachen und stürmte davon. Mir hat er halb den Brustkorb eingedrückt«, erklärte Ches. »Rechnen Sie sich Chancen aus?« »Wie würden Sie unsere Chancen einschätzen?« fragte Premcest brummig zurück. »Ganz miserabel«, lautete die Antwort. Sie konnten Narkogas in den Korridor und die Zellen blasen, die Roboter im Schutz von Energieschirmen würden uns ebenfalls zurücktreiben, denn wir hatten nur schätzungsweise zwei Dutzend Lähm- oder Schockwaffen, die von den Wächtern stammten. Das Ganze war sinnlos, aber vielleicht gab es doch irgendwo eine winzige Chance. »Vielleicht können wir Ihnen draußen mehr helfen«, erklärte Ches. Er versuchte, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich hätte an seiner Stelle nichts anderes getan. Weder Fartuloon noch ich hatten das geringste Interesse daran, diesen beiden Männern etwas zu tun oder sie ebenso wie die Wächter als Handelsobjekte zu behandeln. »Vorausgesetzt, Sie kommen hinaus!« knurrte der Große. »Wir haben alle Wächter entwaffnet.« »Wir können eine Art Sprecher zwischen den Gefangenen und der Verwaltung sein«, schlug Prinkmon vor. »Niemandem ist gedient, wenn hier Wärter oder gar Fernsehleute umgebracht werden.« »Bisher ist noch niemand umgebracht worden!« sagte Premcest nachdrücklich. »Soweit ich es beurteilen kann, wird auch niemand umgebracht. Höchstens wir Gefangenen.« Wir holten die Masse der Gefangenen ein. Sie staute sich im Korridor, und als wir versuchten, uns durchzuschieben, saßen wir nach zwanzig Schritten fest. Fartuloon hob die Arme und schrie laut: »Macht Platz! Diesen beiden Männern verdanken wir, daß die Zellen sich geöffnet haben. Sie und Ogor haben uns befreit. Laßt sie durch, rührt sie ja nicht an!« Die Überraschung ließ eine schmale Gas-
Hans Kneifel se entstehen. Wir bahnten uns einen Weg und kamen wieder ein gutes Stück vorwärts. Immer wieder sahen wir einzelne Wächter, die gefesselt inmitten einiger Gefangener eingekeilt waren. Das Schießen hatte aufgehört. Wir drängten uns weiter, und neben uns summte die Kamera. »He! Loslassen!« fauchte der riesige Gefangene. »Rührt sie nicht an. Was gibt es dort vorn?« »Der einzige Ausgang aus diesem Kreisel hier.« Mindestens dreihundertfünfzig Gefangene drängten sich hier zusammen. Sie unterhielten sich leise. Der erste Schock der Freude, als die Türen sich öffneten, war unwiederbringlich vorbei. Jetzt erinnerten sich die Männer an Geschichten, die sie kannten: dies war nicht die erste Gefangenenerhebung, und in den meisten Fällen waren solche Aktionen mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen worden. Die Stimmung schwankte jetzt zwischen Euphorie und tiefster Niedergeschlagenheit. Viele Männer würden sich jetzt am liebsten wieder in die Zellen zurückgezogen haben, aber das Diktat der Masse hielt sie an ihrem Platz. Eine gewisse Ratlosigkeit lag in der Luft. Ich mußte sie ausnutzen. Ich machte mir mit ein paar Rippenstößen Platz und rief: »Freunde! Hört einmal zu!« Langsam beruhigte sich das Murmeln der unzähligen Gespräche. Die Männer rückten weiter auseinander. Die meisten sahen in meine Richtung. Der Kameramann schien wirklich kaltblütig zu sein, oder aber er erkannte die Gefahr nicht, in der sie beide sich befanden. In dieser Stimmung konnte ein falsches Wort oder eine unbedachte Bewegung die aufgestörten Männer explodieren lassen. Ich hielt nach Ogor Ausschau, aber ich sah ihn nicht. »Diese beiden Journalisten sprachen mit Ogor. Vielleicht habt ihr den Prozeß gesehen, beziehungsweise seinen Anfang. Er fiel wieder in eine seiner gefährlichen Wahnsinnsphasen zurück. Er hat die Wächter überwältigt und uns befreit. Laßt also die
Planet des Gerichts Männer hier durch, die Wachen werden nicht auf sie schießen. Wir sind schließlich keine Meuchelmörder. Los, zur Seite, Dicker!« Ich schob die zwei Leute von Arkon-Vision vorwärts. An dieser Stelle verbreiterte sich der Korridor zu einem rechteckigen Raum, an dessen Ende eine Rampe aufwärtsführte. In ungefähr fünfzig Metern Entfernung schimmerten mehrere gestaffelte Energieschirme, zwischen denen schwere Kampfroboter schwebten. Hinter den Maschinen waren Bewaffnete in Kampfanzügen zu sehen. »Geht geradeaus«, sagte ich. Wir waren noch immer von aufgeregten Männern umgeben, die sich voll deutlicher Unruhe bewegten, die Köpfe drehten und die Fäuste ballten. »Die Wächter und Roboter werden euch durchlassen. Los, schnell.« Wieder blickte mich der Journalist mit merkwürdiger Schärfe an. Dann nickte er, drehte sich um und winkte seinem Kameramann. Ehe der Spezialist sich umwenden und Aufnahmen von Premcest und mir machen konnte, verschwand ich in der Menge der Gefangenen. »Gut gemacht!« lobte mich Premcest. »Und jetzt zu euch, Freunde. Mißhandelt die Wächter nicht. Je besser es ihnen jetzt geht, desto weniger schlecht wird es uns gehen, wenn es eine Auseinandersetzung gibt. Es ist nämlich so, daß der Imperator unseren Tod sehen will.« »Du meinst«, schrie jemand aus der Menge, »daß das Gefängnis angegriffen wird?« »Das ist nicht auszuschließen«, warf ich ein. »Aber wir haben Geiseln …!« Von hinten brüllte jemand: »Einunddreißig Wächter. Alle entwaffnet …« »Ihr kennt die Wut Orbanaschols offensichtlich nicht«, sagte Premcest. »Wenn er schlechter Laune ist, dann gibt er Schießbefehl.« »Er wird rasend vor Wut sein«, gab jemand zu bedenken.
35 »So ist es«, sagte ich. »Die Frage bleibt, was wir jetzt tun.« Dicht neben mir ertönte ein rumpelndes Geräusch. Die Männer sprangen zur Seite. Ein Teil der scheinbar massiven Wand bewegte sich und drehte sich langsam nach innen. Licht schaltete sich ein, und in dem breiter werdenden Spalt stand Ogor, der ehemalige Kommandant, Waffen in beiden Händen. Er war von Kopf bis zu den Stiefeln mit einem rötlichen Staub oder Puder bedeckt. Breite Bäche aus Schweiß hatten sein Gesicht in ein Muster unregelmäßiger senkrechter Streifen verwandelt. Er sah auf gefährliche Weise irre aus. Er lachte schallend und brach ganz plötzlich damit ab. Dann sagte er mit undeutlicher Stimme: »Ich habe einen Weg gefunden.« Wir alle starrten ihn verwundert und atemlos vor Verblüffung an. »Hier entlang. Hier gibt es alles – Waffen, Essen, Uniformen. Ich habe niemanden getroffen.« Seine Finger öffneten und schlossen sich wie die Klauen eines Raubvogels um die Kolben der Waffen. Dann drehte er sich um und rannte davon, in einen Raum von unbekannter Größe hinein. Unschlüssig folgten ihm zuerst einige, dann mehrere Gefangene. Schließlich strömten sie hinter ihm her und schleppten die Geiseln mit sich, die sich glücklicherweise ruhig verhielten. Eine gefährliche, hysterische Spannung lag in der Luft. Fartuloon und ich drängten uns zur Seite und blieben an die Mauer gepreßt stehen. »Warte!« flüsterte Premcest warnend. Ich nickte. Die Männer schoben sich keuchend an uns vorbei und rannten hinter Ogor her. Wieder ertönte eine Lautsprecherdurchsage, deren Ton eine unverhüllte Drohung darstellte. Johlendes Geschrei der Gefangenen antwortete dem Gefängnisdirektor, der uns beschwor, die Rebellion zu beenden. Es wird nichts nützen! sagte der Logiksektor. Es war immer dasselbe. Ein paar Männer, die abseits der großen Gruppe hinter Ogor
36 einherrannten, zögerten. Es war ihnen deutlich anzusehen, daß sie am liebsten der Aufforderung gehorcht hätten. Aber der Sog der gemeinsamen Aktion und die Furcht, als Feigling bezeichnet zu werden, waren zu groß – sie rannten nach längerem Stocken weiter. Zuletzt befanden sich nur noch wir beide außerhalb der wuchtigen, getarnten Tür. »Es ist besser, wir gehen mit«, sagte ich zögernd. »Vielleicht können wir verhindern, daß der wahnsinnig gewordene Ogor die Geiseln umbringt oder ähnliches geschieht.« Die beiden Männer von Arkon-Vision waren zunächst langsam, dann immer schneller werdend, die Schräge hinaufgelaufen. Als sie dicht vor den Schirmfeldern standen, schaltete man einen Projektor ganz kurz aus. Zwei Roboter mit schweren Strahlwaffen schoben sich aus der Lücke. Es ging ganz schnell; die Männer schlüpften durch die Lücke, die Roboter wichen zurück, und der Energieschirm schloß sich sofort wieder. Keiner der Gefangenen hatte sich bewegt, aber auch die Wachen dieses Gefängnisbezirks machten keine Anstalten, die Rampe hinunterzukommen. Sie warteten. »Oder wir sehen vielleicht doch eine winzige Chance«, gab Premcest zu. Wir befürchteten, daß die Fernsehleute ihren Film ausstrahlen würden, denn er stellte eine erregende Reportage dar. Vielleicht erkannte uns jemand. Zugegeben, es war nicht sehr wahrscheinlich, aber die Möglichkeit bestand durchaus. »Möglich, daß es ein winziges Loch gibt. Ich glaube nicht daran«, erklärte ich voller Skepsis. Dieser Gefängniskomplex war viel zu gut bewacht und gesichert. Noch niemals war hier, das hatte uns die Lautsprecherstimme eindringlich zugerufen, ein einzelner Gefangener lebend geflüchtet. Und eine Gruppe besaß ebenfalls nicht die geringste Chance. »Was werden sie tun?« fragte ich und wurde etwas schneller. »Auf alle Fälle den Diktator benachrichti-
Hans Kneifel gen.« Wir befanden uns in einem langgestreckten Raum, in dem das Echo der Stimmen und Schritte prasselnde und summende Geräusche erzeugte. Der Raum, voller Staub und schlecht ausgeleuchtet, ging in einen Stollen über, der wohl zu den Versorgungsgängen gehörte. Überall gab es einfache Stahltüren und Vorratsräume, die jetzt von den Männern geplündert wurden. In einem Raum entdeckten sie scharfe Waffen und Energiemagazine und bewaffneten sich damit. Sofort gewann die Rebellion eine neue, tödlichere Bedeutung. »Wir auch?« fragte ich und lief hinter Premcest tiefer in das Labyrinth der Gänge und Vorratskammern hinein. »Nein. Halten wir uns heraus. Ich habe nicht die geringste Lust, von einem Raumsoldaten der JERRAWON niedergeschossen zu werden.« Die Menge der Gefangenen zerstreute sich. Wir hielten jetzt, dem Mittelpunkt des Kreisrings näher, ein Gebiet von etwa hundertfünfzig Grad unter Kontrolle. Eine Stunde verging. Die Wächter wurden in eine staubige Kleiderkammer gesperrt, und schließlich sahen wir auch den Weg, den Ogor gefunden hatte. Es war eine schmale Tür, die sich in der größten Bereitschaftsanlage befand. Von hier aus konnten die Wachen und Robots in das Versorgungssystem hinein. Diese Tür, schrie Ogor, hatte er gefunden, er, ganz allein … »Seinen Mikrocomputer scheint ein Wahnsinniger programmiert zu haben. Oder glaubst du an die Neumond-Theorie?« flüsterte mein Freund. »Teilweise. Ich halte sie immerhin für möglich.« »Ich kann es mir nicht vorstellen. Was ich mir vorstellen kann, ist hingegen ein Angriff der Wärter, verstärkt durch Kampftruppen vom Raumhafen. Sie werden genau dann angreifen, wenn die meisten Männer müde sind. Also in den ersten Stunden des neuen Tages. Etwa in sechs, sieben Stunden«, erklärte er.
Planet des Gerichts »Auf Befehl dieses Irren im Kristallpalast?« »Mit Sicherheit, Atlan!« bestätigte Fartuloon. Es brauchte wenig Phantasie und keinerlei Kenntnisse der Lage, um sich vorstellen zu können, daß Orbanaschol tobte. Längst hatte er erfahren, daß die Verräter und Deserteure, also seine persönlichen Feinde, nicht länger hilflose Gefangene waren. Zwar würden wir, selbst wenn wir tagelange Gefechte lieferten, letzten Endes auch sterben müssen, aber allein der Umstand dieser Rebellion durch Zufall mußte ihn herausfordern. Er würde auf jeden Fall den Angriffsbefehl erteilen. Das Schicksal der Geiseln war ihm gleichgültig – was bedeuteten einunddreißig Gefangenenwärter auf einem fernen Planeten? Es würde rücksichtslos durchgegriffen werden. Weder Fartuloon-Premcest noch ich, Atlan-Lothor, gaben uns Illusionen hin. Ich deutete mit dem Daumen in Richtung des Eingangs. »Der sicherste Platz wäre jetzt in unserer Zelle, Premcest!« »Nicht der sicherste Platz für einunddreißig Geiseln. Der kleinste Zwischenfall kann sie umbringen.« »Gut. Wir bleiben hier.« Langsam gingen wir zwischen den mehr oder weniger ratlosen Gruppen der Gefangenen hin und her. Wir setzten uns schließlich in die Nähe des Lagerraums, in den man die Geiseln eingeschlossen hatte. Doomyh Kiln, der Direktor dieses Gefängnisses, meldete sich nicht wieder über die Lautsprecher. Nichts geschah. Wir alle warteten. Eine lähmende Stille und Ruhe, von denen die Nerven gefoltert wurden, breitete sich aus. Bewaffnete Gefangene bewachten die beiden Zugänge und berichteten später, daß weder die Roboter noch die Wachen Anstalten machten, einzudringen. Auch wurde kein Gas in den Raum geblasen. Unendlich langsam verging die Zeit, aber vielen von uns war klar, daß das lange Warten mit einem Donnerschlag enden würde.
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8. Daß im Stadtbüro von Arkon-Vision aufgeregte Mitarbeiter und Kollegen zu hören und zu sehen waren, gehörte in den Bereich des Alltäglichen. Aber daß dieses Durcheinander zu dieser Stunde herrschte – es war nach Mitternacht – war nicht gerade häufig. Es gibt nicht den geringsten Grund für diese gezwungen wirkende Fröhlichkeit, dachte Bürochef Fimm Monhole, als ein besonders gutaussehendes Mädchen, mit den Hüften schaukelnd, quer durch das Büro stolzierte und das Fenster aufgleiten ließ. »Was ist denn bei euch los, Fimm?« fragte der Reporter eines Massenblatts, der schon nicht mehr nüchtern gewesen war, als er hereingekommen war. »Der gewöhnliche Ärger nach Mitternacht«, raunzte Monhole. »Ab und zu verwandelt sich unser Büro in ein Irrenhaus!« Der Reporter lachte wiehernd und verschlang mit hervorquellenden Augen dasselbe Mädchen, das auf die Tür mit der Aufschrift Ruhe, Verführung, nicht stören! zuging, sie aufriß und hinter sich krachend zuschlug. »Wer ist das?« »Wer ist was?« erwiderte Monhole zerstreut. Irgendwie würden sie auch die nächsten Tage durchstehen. Es gab immer ein solches Irgendwie. Heute beispielsweise mehrere Sensationen nacheinander: Prozeßbeginn, eine achtstündige Reportage mit hoher Einschaltquote, dann die Nachrichten der Prozeßaussetzung, der Standgerichtsverhandlung und die Meuterei mit den aufregenden Aufnahmen. Und morgen würden sie mit Sicherheit den Kampf um das Gefängnis filmen, wenn auch nicht gerade an vorderster Front. »Wer ist das Mädchen?« wollte der Reporter wissen und hielt sich krampfhaft an einer Schreibtischecke fest. »Welches Mädchen?« Dharr und Prinkmon waren in dem betreffenden Raum und schnitten ihren Film, den
38 sie aus dem Knast mitgebracht hatten. Wenn Ches auch noch einen einigermaßen guten Text sprach und die rhythmische Untermalung gut aussuchte, war morgen in den Frühnachrichten eine neue Sensation fällig. ARKON-VISION IST STETS DABEI! »Dieses verdammt gutaussehende Mädchen. Kurze dunkelblau gefärbte Haare.« Monhole hob die Schultern und brummte: »Keine Ahnung. War plötzlich da. Ich glaube, eine Sekretärin von nebenan. Ches ist an ihr interessiert.« »Wer?« »Ches Prinkmon!« schrie Monhole gereizt auf. Er schob den Mann vor ihm zur Seite und ging auf dieselbe Tür zu. Im gleichen Augenblick glitt sie auf, Ches steckte seinen Kopf mit den rotgeränderten Augen durch den Spalt und schrie zurück: »Hier bin ich. Was ist los? Hat jemand gerufen?« »Erhänge dich am geflochtenen Filmband!« empfahl Monhole und trat in den dunklen Raum ein. Er rammte den Verschluß der Tür zu und sah an der Frontwand des Raumes die Wiedergabe der Aufnahmen. Der Ton war schlecht ausgesteuert gewesen, aber dies schrieb er der Erregung Prinkmons zu. Sie würden Volume wegnehmen, mit Trebble arbeiten und notfalls etwas Gemurmel mit Schreien aus dem Archiv hereinspielen und darüberlegen. »Kein Grund dazu. Schon besoffen oder noch aufnahmefähig?« murmelte Aderlohn vom Misch- und Schneidepult aus. »Ich werde dir gleich zeigen, wer besoffen ist«, drohte Monhole und ließ sich in einen schweren Sessel fallen. »Ich!« kicherte das Mädchen und legte ihren rechten Arm auf Monholes Schultern. »Danke, nicht interessiert!« murmelte Monhole. Es stand ihm jetzt und heute alles bis zum Hals. Er hatte es satt. Er fand alles ausgesprochen entbehrlich, am meisten sich selbst und seinen Beruf, der nichts anderes als Magengeschwüre, Leberschaden und Herzschlag hervorbrachte und das stolze Gefühl, Lehrmeister und Fremdenführer für
Hans Kneifel Millionen und aber Millionen, wenn nicht für Milliarden zu sein, wenn genügend Arkoniden im ganzen großen Imperium ihre verdammten Geräte einschalteten. Er schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als er Ches mit nüchterner, aber müder Stimme sagen hörte: »Wir sind gleich fertig, Fimm. Und ich schwöre dir, die nächste Sensation ist gleich fällig!« Sie sollten aus dem Material einen zwanzig Minuten langen Bericht zusammenstellen, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Gefängnisplanet vielen Arkoniden bekannt war, die Existenz dieses gigantischen Gefängnisses aber naturgemäß nur wenigen. Der Bericht enthielt alles: winziger geschichtlicher Rückblick, Gebäudeaufnahmen, Archivmaterial und natürlich das Aktuelle aus dem Gefangenenaufstand, ausgelöst durch Ogor, der wieder bei Neumond seinen Anfall bekommen hatte. Mehrmals bewegten sich dieselben Bilder vor dem Schirm, und die beiden Männer sprachen, einander abwechselnd. »Aber ich bin, hihi, betrunken.« Das Mädchen kicherte richtiggehend nett, fand Monhole, aber er raffte sich auf, ignorierte das Klopfen an der Tür und fragte: »Welche Sensation, Ches?« »Wir haben, denke ich, jemanden gefilmt, der jemandem so ähnlich ist, daß kein Zweifel besteht. Du hast doch ein gutes Gedächtnis für Gesichter und Personen, nicht wahr?« Das war fast Insubordination, mindestens aber eine Beleidigung. Fimm war berüchtigt dafür, von hundert Gesichtern, die er einmal mit einem gewissen Aufmerksamkeitswert kennengelernt hatte, achtundneunzig wiederzuerkennen. »Aber ich bin nicht sehr … betrunken!« flüsterte das Mädchen und kicherte wieder provozierend. Monhole fühlte eine Gänsehaut. »Ich denke, ich erkenne deinen Gefangenen wieder!« brummte Fimm. »Was sollen diese dämlichen Fragen?«
Planet des Gerichts »Er baut nur vor. Er braucht aus unserem Reptilienfonds einen Haufen Geld für Kiln.« Monhole glaubte, sich verhört zu haben. »Für wen?« Ches sagte etwas weniger sarkastisch: »Eine beträchtliche Summe für Doomyh Kiln, den Herrn Direktor des metallenen Gefängnisses. Wir müssen unbedingt mit zwei Gefangenen reden.« Mit Grabesstimme entgegnete Monhole: »Ihr seid alle beide verrückt. Seid ihr sicher, daß euch nicht einer der Gefangenen auf den Kopf geschlagen hat?« »Ganz sicher«, entgegnete Dharr. »Warte auf unsere Aufnahmen, Chef.« »Ich bin«, kicherte das Mädchen, »nur ein ganz klein wenig beschwipst. Singst du mir heute ein Schlaflied, Cheschen?« »Selbstverständlich, mein Engel«, antwortete Prinkmon mit äußerster Sachlichkeit. »Mit einem sechs Pfund schweren Hammer.« »Wie nett!« Monhole ertappte sich bei dem Gedanken, daß man auch ohne einen fehlprogrammierten Neumond-Mikrocomputer jemanden genußvoll ermorden konnte, aber er bezwang sich mannhaft und fragte, noch immer verblüfft: »Langsam glaube ich, ihr meint es ernst. Was ist los? Raus mit der Sprache!« Der Projektor begann zu schnurren. In diesem Fall kam es nicht auf stereoskopische Genauigkeit und farbliche Präzisionswiedergabe an. Aber die Bilder waren trotzdem scharf. Mit highspeed zogen die Aufnahmen vorbei, Prinkmons und Dharrs Stimmen zwitscherten und wimmerten, dann wurden die Bildfolgen immer langsamer und krochen schließlich träge in Zeitlupe dahin. Aus den Studiolautsprechern erscholl ein dunkles, dumpfes Donnern, vermischt mit zischenden Geräuschen der Apparate-Statik. »Hier. Sieh dir die beiden Gesichter an. Diese beiden!« Ches sprang vor den Bildschirm und deutete auf die beiden Köpfe. Als ob eine Lampe eingeschaltet worden wäre, erwachte
39 Monholes Erinnerungsvermögen. Ein junges Gesicht, ein schlanker Mann, und das runde, faltige Gesicht eines alten, jedoch alterslos wirkenden Mannes. Beide Gesichter strahlten Energie und Klugheit aus. »Sage, daß es nicht wahr ist!« murmelte Monhole, im Innersten getroffen. »Tatsächlich ist das die wahre Sensation. Fartuloon, der Bauchaufschneider, und Kristallprinz Atlan. Hat sie außer euch noch jemand erkannt?« Ches sagte augenblicklich: »Mit Sicherheit nicht.« Voneinander wußten sie, daß sie politisch völlig indifferent waren, weil sie es sein mußten. Wenn sie Stellung nahmen, konnte es sie den Kopf kosten. Außerdem hatten sie deshalb zusammengefunden und waren deshalb zu einem der besten Teams geworden, weil sie unabhängig und objektiv waren. Sie schilderten wertfrei, schnell und perfekt. Sie werteten nicht, sie sagten, was war, wer darin verwickelt war, und wie die Geschichte ablief. Sie registrierten, aber sie machten fremde Schicksale nicht zu ihrem eigenen Schicksal. Und jetzt waren sie auf eine Sensation gestoßen, auf den ganz großen Schock. Was sollten sie tun? Monhole stand auf und ächzte. Er wußte, daß sie ab dem Zeitpunkt auf dem Zünder der Bombe saßen, an dem die Existenz der beiden Männer bekannt wurde. Noch waren sie unerkannt. Gefangene in der Meute von Deserteuren. Es war grotesk! Unfaßbar! »Ches? Dharr … ihr habt zu schweigen. Wir wissen offiziell von nichts. Wir haben diese beiden Männer nicht erkannt. Verstanden?« »In Ordnung, Chef«, erwiderte Dharr. Er wußte, daß in solchen Fällen der erfahrene Büroleiter immer recht hatte. »Aber …«, fing Ches an. Monhole sagte um eine Spur schärfer: »Ausreden lassen, Ches. Hast du verstanden? Wir kennen diese Männer nicht. Du gehst morgen zu diesem Beutelschneider Kiln, erbittest nach der Niederschlagung der Revolte ein Interview unter schwerster Be-
40 wachung und allen möglichen Sicherheitsmaßnahmen und versuchst, die beiden aufzunehmen. Klar?« »Das wird die Geschichte des Jahrhunderts. Du meinst, wir sollen versuchen, ihren Weg in den Tod oder in die Freiheit zu verfolgen?« »Soweit möglich. Begriffen, du junger Spund?« »Vollkommen, Herr Monhole«, sagte Ches. Er bewunderte den Alten. Der Mann wußte wirklich, wo es entlangging. »Ich habe begriffen. Was ist mit unserem Bericht?« »Überspielt ihn in die Zentrale. Kommentarlos. Sie werden senden, das verspreche ich euch.« »Ich bin schon fast wieder nüchtern, Chessilein!« schluchzte das Mädchen. »Gleich bringe ich dich zu mir nach Hause«, versprach Prinkmon. »Wer ist im Büro?« Dharr stieß ein heiseres Gelächter aus und rief: »Ich schlafe hier. Ich werde dich wecken, in deinem komischen Hotel.« »Nettes Hotel!« maulte das Mädchen trotzig, stand auf und zerrte Ches mit sich. »Ich denke, die Truppen werden im Morgengrauen angreifen«, sagte der Büroleiter völlig sachlich. »Ich geb dir – euch – höchstens fünf Stunden Schlaf, nicht mehr. Halte dich bereit, ich werde Bescheid sagen, daß alles vorbereitet ist. Kamera klar, Dharr?« Dharr gähnte nur provokativ, verschloß die Spule mit Bild und Ton und ging aus dem Schneideraum hinaus. Sekunden später rasten die Informationen, elektronisch aufgelöst, durch ein Breitbandkabel in die Sendezentrale und wurden eingeplant. »Haut schon ab«, murmelte Monhole. Wirklich es waren Teufelskerle. Und ausgerechnet der gejagte Kristallprinz, der prominenteste Partisan seit einem Jahrhundert, befand sich unerkannt als Gefangener hier auf Celkar. Die Wunder nahmen kein Ende mehr. Es war nicht abzuschätzen, wann sie alle sich wieder ausschlafen konnten. Aber
Hans Kneifel die Sensationen fanden jetzt statt, und sie hatten ihren eigenen Ehrgeiz, dabei zu sein.
* Aderlohn Dharr kam noch vor dem Morgengrauen durch den Hotelkorridor gestürmt, riß Ches aus dem Schlaf und raste mit ihm im Firmengleiter hinaus in die Richtung des Gefängniskomplexes. Fimm Monhole schien erfolgreich gearbeitet zu haben, denn dieser Pressegleiter war das einzige private Fahrzeug, das die Sperren passieren durfte. Hier in der Parkzone des Gefängnisses wimmelte es von Raumschiffgleitern der JERRAWON, von bewaffneten Kampfeinheiten und Robotern. Doomyh Kiln kam auf die beiden Männer zugelaufen und rief: »Vorsicht. Halten Sie sich aus allem heraus! Die Soldaten haben direkten Befehl vom Imperator.« »Was passiert eigentlich genau?« wollte Ches gähnend wissen. Er machte einige Turnübungen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. »Die Gefangenen halten ein Stück Versorgungstrakt und eine Ebene des Gefängnisses unter Kontrolle. Sie haben einunddreißig Geiseln – aber Sie kennen die Lage ja. Jetzt besetzen die Soldaten die strategischen Punkte und werden auf ein Zeichen angreifen. Sie müssen in der Nähe von Kommandant Twellzock bleiben. Hier ist er. He, Kommandant, Sonnenträger … das sind die beiden mutigen Reporter, die gestern beinahe vom Pöbel nicht mehr freigelassen worden wären.« Twellzock steckte, bis an die Zähne bewaffnet, in einer Kampfuniform. Durch den Gesichtsschutz und den Helm war er nur an der Nummer seines Kampfanzugs zu erkennen. Er nickte den Journalisten zu und winkte. »Los. Mitkommen«, sagte er barsch. Lange Züge von Soldaten und Robotern schoben sich durch mehrere Eingänge in das Innere des riesigen Bauwerks, das auch in
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seinem kreisförmigen Innenhof voller Bäume und Gleiter den Eindruck einer Festung machte. Schweigend folgten die beiden Männer von Arkon-Vision.
* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN: Wieder schreckte ich aus einem flachen Schlaf auf. Es gab immer Geräusche hier in den Stollen: Flaschen klirrten, Waffen schlugen gegen Metall, Männer stritten sich, andere schnarchten laut. Mein erster Blick aus blinzelnden Augen galt der massiven Tür, hinter der die Geiseln eingesperrt waren. Inzwischen hatten die Gefangenen mehrere Verteidigungslinien eingerichtet, die durch Barrikaden aus Kisten, Ballen, Fässern und ziegelartig übereinandergestapelten Behältern aller Art gebildet waren. Ganz in unserer Nähe verlief ein solcher dicker, mannshoher Wall. »He, Premcest!« sagte ich deutlich und rüttelte meinen Freund an der Schulter. Inzwischen waren auch wir von demselben Staub bedeckt wie vorher Ogor. Irgendwo waren Fässer geplatzt, und man trug den Staub, der süßlich schmeckte, in alle Richtungen. »Ja? Greifen Sie an?« »So sieht es aus. Beziehungsweise hört es sich so an.« Von rechts und links kamen Geräusche. Offensichtlich gab es nicht einmal mehr eine Lautsprecherwarnung. Orbanaschol hatte schon wieder einmal zugeschlagen. Sie würden rücksichtslos sein, die Männer von Sonnenträger Twellzock. Deutlich konnten wir schwere Schritte unterscheiden, leise, scharfe Kommandos und das Summen der Maschinen. Inzwischen hatten wir die möglichen Angriffswege erkannt, und überall dort warteten bewaffnete Gefangene. Wir hatten sogar in einem Magazin ein paar tragbare Lautsprecher gefunden und verteilt. Ich sprang auf und rief: »Sie kommen! Die Raumsoldaten dringen
ein.« Von ganz weit links und, viel näher, auch von rechts, donnerten die ersten Schüsse der Verteidiger. Innerhalb Sekundenfrist waren alle Gefangenen alarmiert und auf den Beinen. Sie griffen fluchend nach ihren Waffen und verschwanden in der Deckung der Barrikaden. Noch mehr Schüsse dröhnten. Dann schrie ein Gefangener: »Wir haben einunddreißig Geiseln in unserer Gewalt!« Zwischen einer Salve von schweren Entladungen, die an der ersten Barriere einschlugen und die gestapelten Verpackungsmaterialien in Flammen aufgehen ließen und auseinandersprengten, und einem Chor aus entsetzten Schreien und dem Trappeln von flüchtenden Verteidigern durchschnitt eine harte Stimme das Chaos. Ich erkannte sie sofort wieder. Twellzock! »Die Weise unserers Vorgehens wird sich nach dem Zustand der Geiseln richten. Wir haben eindeutige Befehle des Imperators. Räumt die Barrieren, lauft zurück in die Zellen, laßt die Geiseln frei.« »Ihr werdet uns alle umbringen, ihr Hunde!« schrie ein anderer Mann in den Handlautsprecher. Jetzt sahen wir jenseits der ersten, halb zerstörten Barriere die Roboter auftauchen. Sie waren in grünlich schimmernde Abwehrfelder gehüllt und bewegten suchend die Linsen und die Waffenarme. Drei Maschinen schoben die aufgetürmten Hindernisse mühelos zur Seite. Vor uns versammelten sich einige ratlose Bewaffnete vor dem Schott des Lagerraums. »Verhaltet euch richtig und vernünftig.« Von beiden Seiten rückten die Angreifer vor. Die erste Linie bildeten schwere Kampfroboter, die dicht über dem Boden schwebten und eine undurchdringliche Reihe bildeten. Nicht eine einzelne Person hatte die Chance, zwischen den Schutzschirmen hindurchzukommen. An einigen Stellen brannten die Barrikaden. Schwarzer Rauch verdunkelte das Bild und hüllte die Beleuchtungskörper ein. Premcest machte mir ein Zeichen. Wir
42 sprangen geduckt hinüber zu der Gruppe, von der die Geiseln bewacht wurden. Neben uns konzentrierten mindestens dreißig Gefangene das Feuer aus den Beutewaffen auf einen der vordersten Robots. Die Schutzschirme der Maschine flackerten überlastet auf und erloschen, aber noch ehe die Kampfmaschine ausgeschaltet werden konnte, schob sich aufheulend eine andere an ihre Stelle. Dieser erste Teil des Angriffs erfolgte mit äußerster Langsamkeit, aber er hatte durchschlagenden Erfolg. Die Linie der summenden, blinkenden Maschinen sperrte den Gang von einer zur anderen Seite ab. Ununterbrochen schossen die Verteidiger, aber sie wichen in der gleichen Geschwindigkeit zurück, in der die Truppen vordrangen. Es war von Anfang an sinnlos gewesen. »Was habt ihr mit den Männern vor?« fragte ich und hielt einen Gefangenen fest, der sich am Schloß zu schaffen machte. »Wir treiben sie heraus. Sie sollen sich zwischen uns und die Robots stellen«, schrie er und schob mich zur Seite. Ich drehte meinen Kopf und sah hinter den Robots, die noch dreißig Meter entfernt waren, die Raumsoldaten des Sonnenträgers von der JERRAWON. Sie sahen nicht weniger kriegerisch aus als die Maschinen. In den Händen trugen sie schwerste Schockwaffen, aber ich sah auch ebenso viele tödliche Strahler. »Das ist Unsinn. Die Roboter können sie nicht von uns unterscheiden. Wartet auf die Chance im Gerichtssaal. Ihr fordert nur heraus, daß wir hier erschossen werden, Freunde.« Du spielst sehr gefährlich, zischte der Extrasinn. »Geh weg. Sie sollen zuerst die Geiseln umbringen, dann uns!« schrie jemand und hob seine Waffe. Premcest lenkte ab, indem er laut aufschrie und auf eine Gruppe von Verteidigern deutete, die an uns vorbeirannten und sich hinter der nächsten Barriere versteckten. Unerbittlich summten die Maschinen näher. Wieder peitschten einige Schüsse aus Lähm-
Hans Kneifel waffen auf. Männer neben uns brachen zusammen, andere sprangen zur Seite und warfen sich in Deckung. Ich bückte mich und nahm die Waffe eines Mannes an mich. Hinter mir öffnete Premcest bereits den Verschluß der stählernen Tür. Die Kette der Roboter zermalmte, verbrannte und rammte die letzte Barriere zur Seite und kam näher. »Schnell, hinein!« rief Premcest unterdrückt und stieß die Tür auf. Ein Hagel von Schüssen wurde in unsere Richtung abgegeben, als wir uns durch den Spalt der Tür zwängten. Hinter uns glühten die Ränder der Stahlplatte auf, die Einschläge erzeugten Geräusche wie Hämmer. Die Geiseln standen schweigend da und starrten uns an. Premcest lachte und warf einem von ihnen die Waffe zu. »Euch geschieht nichts«, sagte er. »Wir haben die anderen abgelenkt.« Sie schwiegen, und auch ich entledigte mich der Waffe. Dann gingen wir einige Schritte zur Seite. Ich erklärte in möglichst leichtem Tonfall: »Die ganze Sache war aussichtslos. Die Truppen sind da, in wenigen Minuten haben sie uns wieder zurückgetrieben. Man wollte euch vor den Gefangenen aufstellen.« Einer der Männer schüttelte den Kopf. Ihnen allen stand der Schrecken des Wartens auf den Tod oder das Überleben deutlich in den Gesichtern. Wir lehnten uns an die Wand und warteten. Jeden Augenblick würden die Soldaten hier eindringen. »Warum habt ihr euch um uns gekümmert?« »Weil wir nichts gewinnen, wenn ihr sterbt. Wir verlieren mit Sicherheit unser Leben an Ort und Stelle. Immerhin haben wir noch eine Chance, wenn morgen oder später verhandelt wird.« »Es scheint, daß es noch ein paar Vernünftige unter diesen Irren dort gibt!« stellte jemand fest. Inzwischen hatten die Sperrlinien der Roboter die Gefangenen in der Mitte des Gangsystems zusammengedrängt. Die Soldaten,
Planet des Gerichts die nach anderen Gesichtspunkten vorgingen, schwärmten nach rechts und links aus und drangen in die Räume und Hallen ein. Und jetzt wurde die Tür aufgerissen, und mit vorgehaltenen Waffen sprangen sieben Soldaten in den Lagerraum hinein. Sie schienen sofort erfaßt zu haben, daß hier keine Gefahr mehr drohte. »Jemand verletzt?« schrie einer. »Alles in Ordnung.« »Und diese beiden hier?« »Sie haben die anderen abgelenkt. Wir bringen sie zurück in die Zelle. Klar?« Der Anführer deutete auf zwei Soldaten und schnarrte: »Ihr geht mit. Wir sind gleich mit den anderen fertig. Los, 'raus!« Sie brauchten uns nicht in die Zellen zurückzuschleppen; wir gingen selbst. Hinter den Robotern strömten Hunderte von Soldaten herein und bildeten Ketten bis hinauf in den Korridor. Als wir, umgeben von erschöpften Wärtern, die Nebenräume verließen, hörten wir wilde Schreie, Schüsse und Kommandos. Wir blieben stehen und starrten in die Richtung des Kampfes. Vier Soldaten versuchten, Ogor festzuhalten. Er schlug wild um sich, riß sich los, flüchtete ein paar Schritte und wurde wieder eingefangen, prügelte sich abermals mit den Raumsoldaten herum. Dann richtete einer die Schockwaffe zwischen die Schulterblätter des Gefangenen und feuerte. Ogor brach auf der Stelle zusammen und wurde von den Soldaten weggetragen. »Das ist der einzige, der noch echte Chancen hat«, murmelte Premcest. »Wahrscheinlich. Ihr sollt morgen alle pauschal verurteilt werden. Darüber hinaus keinen Kommentar.« Es sieht düster aus, flüsterte der Logiksektor. Wir wurden nicht mißhandelt. Die Soldaten und zwei Wächter führten uns in die alte Zelle zurück. Wir waren müde, duschten schnell und schliefen bereits, als die anderen Gefangenen zurückgebracht wurden.
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* Der Primm flog und flatterte aufgeregt durch die Zelle. Schließlich blieb er auf der offenen Wandklappe sitzen und starrte mit seinen winzigen Augen auf die vielen Männer, die sich um Ogor kümmerten. Der Mann lag lang ausgestreckt auf seiner Liege, aber acht breite Energiefesseln lagen um seine Gliedmaßen und um Brust und Becken. Gerade war die belebende, schocklösende Spritze injiziert worden. Ogor erwachte ganz langsam. Genauer: das, was noch nicht Prothese und Positronik war, fand langsam wieder ins Leben zurück. »Wie lange dauert es noch, bis der Verteidiger kommt?« fragte der Assistent des Gefangenenarztes. »Keine Ahnung«, brummte Doomyh Kiln. »Ich habe ihm gesagt, daß er sich beeilen soll.« Inzwischen befanden sich sämtliche Gefangenen wieder in den Zellen. Abschürfungen, Brandwunden und einige Dutzend Verstauchungen waren behandelt worden. Es herrschte Ruhe. Die Aufräumungsarbeiten in den Depots und Lagerräumen gingen zügig voran. »Wird er sterben?« fragte ein Raumsoldat mit hochgeklapptem Helmvisier. »Nein. Aber wir haben erkannt, daß er tatsächlich einen Schock erlitt. Er hat sich seit seiner Einlieferung hervorragend und ruhig verhalten. Als ob er noch Kommandant eines Schlachtkreuzers wäre. Und plötzlich schlägt die Folgeerscheinung des Korratz wieder zu. Wir haben alle gesehen, wie er durchdrehte. Er prügelte sich mit Ihnen wie ein Roboter.« Kiln nickte dem Soldaten zu. »Endlich tot. Ich werde wegfliegen schnell-schnell!« zwitscherte pfeifend der Primm. »Das ist richtig. Er war ein richtiges Energiebündel.« Ogor öffnete beide Augen, bewegte aber den Kopf nicht. Er starrte von einem Mann
44 zum anderen. Dann sagte er leise: »Ich hatte einen Anfall, ja?« Nicht ganz unbeeindruckt erklärte Kiln, was vorgefallen war. Schließlich senkte er die Stimme und meinte: »Das ist unser Chefarzt. Sie befinden sich in bester Überwachung; jederzeit ist schnelle Hilfe möglich.« »Ich brauche keine Hilfe. Gestern war Neumond, nicht wahr?« »Ja.« Einige Sekunden lang herrschte ein niedergeschlagenes Schweigen. Ratlos sahen sich die Männer an. Sie wußten nicht, wie sie am besten reagieren sollten. Wenn nur der Anwalt endlich kommen würde. »Wo steckt Tema, mein Verteidiger?« »Wir haben ihn gerufen. Er muß jeden Moment hier eintreffen. Warum wollen Sie ihn sprechen?« »Ich habe ihm etwas zu sagen.« »Etwas Wichtiges, Ogor?« »Nicht für Sie. Wichtig nur für mich. Warten wir, bis Tema kommt. Ich bin es satt.« Er schloß die Augen und entspannte sich. Die Männer warteten, nicht weniger ratlos als zuvor. Sie bedauerten Ogor, denn jetzt kannten sie die Wahrheit. Aber sie half niemandem. Fünfzehn Minuten später brachten Wächter und drei Raumsoldaten den Anwalt in die Zelle. »Hier bin ich, Ogor. Ich habe erfahren, was passiert ist. Mit dieser Beweisführung werden wir siegen, und in ein paar Tagen sind Sie frei und rehabilitiert. Wir werden es schaffen, Kommandant Ogor!« Ogor sagte leise: »Macht diesen verdammten Mist hier weg. Ich werde euch nicht umbringen. Los, öffnet die Fesseln.« Die Armfesseln und die Brustfesseln wurden abgeschaltet. Ogor richtete sich auf und sagte mit förmlich versteinertem Gesicht und ohne jegliche sichtbare Regung: »Ich bin nicht arm, Tema. Vor allen Zeugen erkläre ich, daß aus meinem Nachlaß Ihre Rechnung bis auf den letzten Chronner
Hans Kneifel beglichen wird. Ich habe in der Verhandlung gesagt, daß ich eine letzte Möglichkeit entdeckt habe, meinen Mikrocomputer zu beeinflussen. Ich bin lebensüberdrüssig, Tema. Der letzte Tag hat es mir gezeigt. Für mich gibt es nur noch eines: das Ende.« Tema rief aufgeregt, seine Finger zitterten vor Erregung: »Du bist verrückt, Ogor! Wir sind kurz vor der Wende, vor deinem Sieg. Und du willst resignieren?« In seiner Erregung duzte er ihn. Damit bewies er, nur für den Mediziner zu erkennen, sein durchaus menschliches Verhalten in dieser Frage. »Ich bin nicht verrückt. Ich bin dieses Zustands zwischen Tod und Irrsinn überdrüssig. Ich schalte mich ab.« »Nein!« schrie Rotnam Tema auf. »Doch. Ich habe keine Lust mehr. Die Aussichten für die nächsten Jahre sind keineswegs so, daß ich daran etwas fände. Danke dir, Tema – du hast es wirklich versucht. Danke und Ende.« Er schloß die Augen. Dann bäumte sich sein Körper wie unter der Einwirkung eines starken Stromschlages auf und sank schlaff in sich zusammen. Alles ging ganz schnell vor sich. Der Mediziner kam gar nicht dazu, entsprechend zu reagieren. Als er sich nach vorn warf, war es bereits zu spät. Er setzte zwar sein Diagnosegerät an, aber als er den haarfeinen Rauchfaden aus der Schädeldecke des ehemaligen Kommandanten aufsteigen sah, die Anzeigeinstrumente betrachtete und schließlich kopfschüttelnd zurücktrat, wußten alle, daß Ogor tot war. »Danke und Ende!« wiederholte Tema kopfschüttelnd. »Was für eine komplizierte Art, die Ruhe herbeizuführen.« Die Raumsoldaten verließen schweigend die Zelle. Auch auf dem Korridor herrschte Totenstille. Doomyh Kiln senkte den Kopf und sagte in einem fast echten Tonfall: »Der arme Kerl. Das hat wohl niemand erwartet.« »Nein«, bemerkte Tema. »Nur er selbst.
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Und wenn Sie mich alle für verrückt erklären – ich kann ihn verstehen.« Er blickte den Körper noch einmal an und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Primm durch den Raum raste und schließlich in gerader Linie zwischen den Gitterstäben hindurchschoß und geradeaus weiterflog, bis er als winziger, hellblauer Punkt in der Sonnenglut des frühen Mittags verschwand. Dieses Kapitel war für alle Zeiten zu Ende. Doomyh Kiln stand auf und sagte leise: »Entschuldigung. Ich werde das Nötige veranlassen. Ich muß noch nach den beiden Reportern sehen. Sie sind einschlägig interessiert und kümmern sich um die Gefangenen.« »Schon gut«, erwiderte der Arzt. Der Direktor des Gefängniskomplexes ging durch die offene Zellentür und näherte sich der weiter entfernt liegenden Zelle, in der die Journalisten jene beiden Gefangenen interviewten, denen man mit einiger Sicherheit das Leben der meisten Geiseln zu verdanken hatte. Arkon-Vision hatte gut für die Sondergenehmigung gezahlt.
9. Diesmal gab es nicht die geringste Chance, sich zu befreien. Und selbst wenn es sie gegeben hätte, würde sie niemand ergriffen haben. Mindestens ein Dutzend Raumsoldaten hielten die Gefangenen in dieser Zelle in Schach. Das Schott stand weit offen, an der Wand des Korridors lehnte entspannt, aber wachsam, eine zweite Gruppe Soldaten. In dem riesigen kreisringförmigen Korridor patrouillierten die Wärter. Auch sie waren inzwischen mit scharfen Waffen ausgerüstet worden. »Wie kamen Sie dazu, den Wärtern zu helfen?« fragte Ches Prinkmon ruhig. Inzwischen wußte er, daß sich sein Verdacht zur Gewißheit verstärkt hatte. Diese beiden Männer waren Fartuloon und Atlan, der Kristallprinz und sein Freund und väterlicher Lehrmeister. Dies war die Wahrheit.
Dharrs Kamera schnurrte, und sie richtete sich immer wieder auf die Gesichter dieser beiden Gefangenen. »Wir hielten es für sinnlos, die Geiseln als Waffe, Kaufobjekt oder Tauschware zu benutzen. Es hätte nichts geändert, im Positiven«, erklärte Premcest. Dharr und Prinkmon wußten, daß sie eine Ausnahmegenehmigung besaßen. Kiln war bestochen worden. Nur auf Grund dieser Tatsache durften sie jetzt hier arbeiten, und dank der Bestechung hatten sie auch die Niederschlagung des Aufstands filmen und kommentieren können. »Sie nennen sich Lothor?« wandte sich Ches an den jüngeren der beiden Männer. »Ja.« Prinkmon hatte sich auf einen der einfachen Stühle gesetzt und schrieb oder zeichnete irgendetwas auf seinen Block. Immer wieder schnurrte die Kamera und richtete ihre blau-verspiegelte Linse auf den einen oder anderen Gefangenen. Sie alle hockten teilnahmslos und müde auf ihren Pritschen. Nur Lothor und Premcest zeigten eine gewisse gespannte Wachsamkeit. »Wie sind Sie hierher gekommen?« fragte Dharr hinter seiner Kamera hervor. Seine Stimme klang betont lässig. »Mit einem Raumschiff, junger Mann«, sagte der Gefangene. Scheinbar achtlos bewegte Ches Prinkmon den Notizblock. Dann klappte er ihn so nach vorn, daß ihn der ältere, kleinere und fettere der beiden ausgesuchten Gefangenen sehen konnte. Sofort richteten sich die Augen Premcests darauf. Er sah eine einfache Zeichnung, aber sie war von erschreckender Bedeutung. Ein Strichmännchen! Ein kleiner Mann mit einem dicken, runden Bauch, in dem ein breiter Schnitt, schon fast ein Schlitz klaffte. Ein medizinisches Skalpell, unschwer als solches zu erkennen, verursachte diesen Schnitt. Der simpel gezeichnete Patient grinste grimmig. Die Bedeutung dieses Bildes war von klarer Bedeutung: Bauchaufschneider.
46 Der Gefangene zeigte kein Erschrecken, aber er war plötzlich ruhiger und zurückhaltender. Er blickte betont gleichgültig an der Kamera vorbei auf die Waffen eines der Raumsoldaten. »Daß Sie mit einem Schiff landeten, ist klar«, meinte Prinkmon in vertraulichem Ton. »Aber woher kamen Sie? Warum befinden Sie sich unter den Gefangenen? Und aus welchem Grund haben Sie sich derartig uneigennützig für das Leben von Männern eingesetzt, die Ihnen eigentlich gleichgültig sein könnten? Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?« Es könnte ein Signal sein! flüsterte Atlans Extrasinn. Er hatte ebenso schnell das Bild gesehen und den Sinn erkannt. Der Reporter wollte ihnen damit sagen – und nur ihnen – daß er sie in der Masse der Gefangenen von Serrogat erkannt hatte. »Wir kamen von Serrogat«, sagte der jüngere mit dem weißen Haar des echten Arkoniden. »Außerdem lassen wir uns ungern ausfragen.« »Was haben Sie dort gemacht?« »Fragen Sie die anderen«, murmelte Premcest. »Und wir haben deshalb die Wärter geschont, weil sie auch nur Arbeiter sind, die nichts anderes als ihre Pflicht taten.« »Und was unsere Pläne betrifft«, ergänzte der andere und lehnte sich auf seiner Pritsche demonstrativ zurück, »da erkundigen Sie sich besser bei einem der Richter. Vermutlich werden wir alle umgebracht, wenn nicht ein Wunder geschieht.« »Wunder«, knurrte der Kameramann, – »gibt es bekanntlich alle Tage.« »Nicht für die Gefangenen von Serrogat«, entgegnete der Dicke, drehte sich herum und zog seine Decke über die Ohren. »Ende des Interviews!« Ohne Aufregung klappte Ches Prinkmon sein Notizbuch zu und stand langsam auf. »Uns interessieren die einzelnen arkonidischen Schicksale. Deswegen haben wir einige Gefangene befragt. Schließlich erlebt man es nicht alle Tage, daß ein solcher Rie-
Hans Kneifel senprozeß stattfindet.« Im selben Moment tauchte Doomyh Kiln in der offenen Zellentür auf. Er berührte den Kameramann kurz an der Schulter, schüttelte Ches die Hand und sagte mit dumpfer Stimme: »Ogor ist tot!« Prinkmon wirbelte erschrocken herum. »Wie das?« »Er hat, wie er es selbst erklärte, sich abgeschaltet: Er war lebensüberdrüssig. Der letzte Anfall hat ihm den Rest gegeben.« Ches erwiderte nach einer kurzen Pause des Überlegens: »Wir werden in diesem Fall, wenn es gestattet ist, auch noch den Rest der Reportage filmen. Danke, Kiln. Wir haben einige interessante Beobachtungen hier machen können. Die Schicksale der Gefangenen sind bemerkenswert.« Kiln deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Beeilen Sie sich. Der Leichnam mit einem Brandloch im Schädel wird gerade abtransportiert.« Die Anwesenheit oder Abwesenheit der beiden Männer änderte nichts an der Lage, in der sich Premcest und Lothor befanden. Sie waren weiterhin Gefangene. Sie würden wie alle anderen am nächsten Tag vor Gericht stehen. Sowohl Atlan als auch Fartuloon dachten darüber nach, was die Vorfälle der letzten Minuten zu bedeuten hatten, oder was sie in ihrem Fall bedeuten konnten, nachdem sie erkannt worden waren. Die Reporter wollten ihre Geschichte, ihre Sensation. Und sie würden sie auch bekommen, wenn sie die Existenz der beiden Gegner des Imperators an Orbanaschol verrieten. Der Gefängnisdirektor, die beiden Männer von Arkon-Vision und die Soldaten verließen die Zelle. Die Tür schloß sich wieder mit einem endgültigen Geräusch.
* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN: Ich hob den Kopf und starrte Fartuloon-
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Premcest schweigend an. »Was jetzt?« flüsterte ich so leise, daß es keiner der anderen Gefangenen hören und verstehen konnte. »Warten. Ich glaube, er wird etwas unternehmen.« Ich hob die Schultern; ich war skeptisch und fühlte, wie wir unausweichlich dem Ende zu glitten, ohne uns wehren zu können. »Er wird uns verraten!« sagte ich. Er flüsterte zurück: »Beide Möglichkeiten existieren. Aber ich denke, der Nachrichtenwert für seine Geschichte ist größer, wenn er uns nicht ausliefert, sondern uns irgendwie hilft.« »Ich glaube nicht daran«, wisperte ich beharrlich. Ich war wirklich davon überzeugt, daß man uns verurteilen und das Urteil schnellstens vollstrecken würde. »Unsere nächste Chance gibt es im Gerichtssaal!« war die leise Antwort. »Schlaf jetzt, dann sind wir morgen fit.« »Fit?« fragte ich verzweifelt, »wozu sollen wir fit sein?« »Für alle Möglichkeiten.« Ich kannte Fartuloon zu genau; er war kein bedingungsloser Optimist. Aber er interpretierte das deutliche, jedoch versteckte Interesse der Fernsehleute auf seine Art. Er erwartete eine positive Wendung unseres Schicksals. Ich drehte mich herum und versuchte, einzuschlafen.
* Zufällig trafen sich Fimm Monhole und der Verteidiger Ogors im Büro der Sendegesellschaft. Ches und Dharr hatten Tema mitgenommen und ihn auf einen Drink eingeladen. »Eine aufregende Sache ist das hier«, meinte Tema. Es war früher Abend. Im Augenblick herrschte hier eine geradezu fabelhafte Ruhe. »Sie sollten uns in voller Aktion sehen«, meinte Monhole. »Habt ihr, was ihr wollt?« »Natürlich. Wir sprechen uns nachher noch.«
Ches mischte einige Getränke und reichte Tema, der sich noch immer nicht gefaßt hatte, ein gefülltes Glas. »Wer ist eigentlich der beste Verteidiger für ganz große Fälle?« fragte er. »Nicht daß ich ihn brauchen würde – ich frage aus berufsmäßiger Neugierde.« Tema zog die Schultern hoch und biß sich auf die Unterlippe. »Wenn Kaarfux mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks noch arbeiten wollte, wäre er unbestreitbar der beste. Aber er ist nicht interessiert. Ich habe ihn mehrmals in der Ogor-Sache gebeten. Jedesmal Fehlanzeige.« Er trank einen gewaltigen Schluck. Mit steigendem Interesse betrachtete er die Einrichtung dieses großen Büroraums und die vielen verschiedenen Nachrichtengeräte. Aber ihm fiel auch die brennende Intensität auf, die dieser jüngere Mann an sich hatte. Ein fanatischer Einfall schien Ches Prinkmon gepackt zu haben und riß ihn ruhelos vorwärts. »Kaarfux?« fragte Ches unruhig und wandte sich nach Dharr um, der in der technischen Abteilung verschwand, um sein Filmband zu präparieren. »Ich kenne ihn. Er wohnt außerhalb von Kutenarynd in einem idyllischen Tal. Züchtet Blumen«, erklärte Monhole und winkte ab. »Ein alter Mann, war aber seinerzeit tatsächlich in jedem Gerichtssaal gefürchtet.« »Ich verstehe. Er nimmt nur noch die Jahrhundert-Strafsachen, wie?« »Wenn überhaupt!« meinte der Anwalt und trank das Glas leer. Auf alle Fälle würde er morgen wieder in der Arena der Gerechtigkeit sein, um den Prozeß gegen die Verräter zu beobachten. Er wußte schon jetzt, daß keiner der Gefangenen wirklich eine Chance hatte. Man würde sie in einzelnen Lifttransporten in die Tiefgeschosse der Arena bringen und dort erschießen. Er schüttelte sich und streckte Ches die Hand entgegen. »Danke fürs Mitnehmen. Ich arbeite hier gleich in der Nähe. Ich gehe zu Fuß, es ist
48 nicht weit.« »Schon gut. Sehen wir uns morgen in der Arena?« »Ja. Sie sind sicher dort, nicht wahr? Und Sie berichten über den Prozeß?« »Damit müssen Sie rechnen. Ja, unser ganzes Team wird dort sein. Gerade jetzt wird alles vorbereitet.« Ches blickte dem Anwalt nach und wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann drehte er sich herum und sah Monhole in die Augen. »Ich bin politisch nicht interessiert«, sagte er leise und drängend. »Aber das ist natürlich die Geschichte des Jahrhunderts. Wir haben sie erkannt. Zweifelsfrei! Ich zeichnete einen Bauchaufschneider, und Fartuloon verstand genau, was ich meinte. Ich muß die beiden aus der Masse der anderen Gefangenen herauslösen. Wir brauchen Sie. Wenn wir diese Geschichte ausschlachten …« Monhole schüttelte nachdenklich den Kopf und stellte eine Frage. »Du willst sie befreien?« »Unsinn. Aber Orbanaschol will durch dieses Gerichtsspektakel von seiner eigenen Notlage ablenken. Mit diesem MassenTodesurteil wird er die Arkoniden beschwichtigen. Wenn sich dabei auch noch herausstellt, daß Fartuloon und der gesuchte Kristallprinz unter den Gefangenen sind, so gibt das eine gräßliche Überraschung. Die beiden waren schon immer für eine spannende und unverhoffte Wendung der Lage gut. Wenn wir etwas Zündstoff hineinbringen, dann werden sie reagieren. Verstehst du? Und niemand wird uns etwas anhaben können, nicht einmal der verrückte Diktator selbst.« »Du bist«, sagte Monhole nicht ohne Mißbilligung, »erst ein paar Tage da, und schon bist du ebenso scharf wie der älteste Profi.« »Mir liegt die Sache im Blut. Machst du mit, Chef?« »Lasse mich nachdenken, Ches.« Er ging zurück in sein kleines Büro und warf die Tür hinter sich zu. Ches bezwang seine Unruhe und das immer wieder auftau-
Hans Kneifel chende Gefühl, ersticken zu müssen, und ging hinüber zu Dharr. Sie bereiteten ihre kurzen Sendungen vor. Sie stellten einen neuen Bericht über Ogor zusammen und versahen ihn mit den Bildern, die sie eben im Gefängnis aufgenommen hatten, dann bastelten sie zwei Stunden lang an dem Bericht über die Gefangenen. Er würde morgen als Einstimmung auf die Prozeßberichterstattung gesendet werden, und man würde ihn mehrmals wiederholen. »Brauchst du den Gleiter heute noch?« fragte Ches schließlich. Inzwischen war es Abend geworden. »Nein. Brauchst du ihn? Wozu?« »Ich muß einen wichtigen Besuch machen.« »In Ordnung. Nimm ihn, aber morgen früh mußt du mich abholen und zur Arena der Gerechtigkeit bringen!« »Alles klar!« Sie schüttelten sich kurz die Hände. Dharr arbeitete weiter, Ches setzte sich in den Gleiter der Arkon-Vision und blieb kurze Zeit darin schweigend und nachdenklich sitzen. Er wußte, daß sich in den nächsten Stunden und Tagen viele Schicksale erfüllen würden. Auch seines war darunter. Die Unruhe verließ ihn nicht, aber er war sicher, daß nach kurzer Zeit seine Karriere als Reporter steil aufwärts führen würde. Einfluß, Geld und die Bewunderung aller waren ihm ebenso sicher wie der Neid der Kollegen. Aber morgen mußte es genau die Überraschung geben, die er vorausplanen konnte. Er nickte, grinste sich selbst zu und startete die Maschine. Er schwebte in die Nacht hinaus, nachdem er mehrmals auf dem Stadtplan nachgesehen hatte. Seine Gedanken kreisten um die Sensation, die der Kristallprinz und der Bauchaufschneider hervorrufen würden. Die Sensation – seine große Stunde, seine Chance!
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49 ENDE
Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 293: Im Reich der Ausgestoßenen von Hans Kneifel Sie entgehen der Exekution – doch der Mörder erwartet sie in der Unterwelt