Hans Mathias Kepplinger Politikvermittlung
Theorie und Praxis öffentlicher Kommunikation Band 1 Herausgegeben von Han...
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Hans Mathias Kepplinger Politikvermittlung
Theorie und Praxis öffentlicher Kommunikation Band 1 Herausgegeben von Hans Mathias Kepplinger in Zusammenarbeit mit Simone Christine Ehmig
Hans Mathias Kepplinger
Politikvermittlung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16421-2
Inhalt
Vorwort .............................................................................................................. 7 Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation .................................. 9 Die Rationalität von Politik und Medien ......................................................... 27 Politiker als Protagonisten der Medien ............................................................. 51 Erfahrungen von Bundestagsabgeordneten mit Journalisten ............................ 67 Politische Rationalität und publizistischer Erfolg ............................................ 83 Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen .................... 99 Was unterscheidet die Mediatisierungsforschung von der Medienwirkungsforschung? ........................................................................... 117 Der Nutzen erfolgreicher Inszenierungen ...................................................... 129 Der Transfereffekt des Starstatus ................................................................... 143 Das öffentliche Erscheinungsbild der Politiker ............................................. 155 Wie das Fernsehen Wahlen beeinflusst ......................................................... 173 Beobachtung der Beobachtung von Politik .................................................... 193 Quellenverzeichnis ........................................................................................ 209
Vorwort
Eine grundlegende Annahme der klassischen Theorie der Politik lautet: Politik ist nur in der Polis möglich einer Stadt, in der alle mit allen diskutieren und über alles mitentscheiden können. Eine zentrale Frage der modernen Theorie der Politik lautet: Wie ist Politik außerhalb der Polis möglich in einem Flächenstaat, in dem nicht alle mit allen kommunizieren und nicht alle über alles mitentscheiden können? Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts lautete die optimistische Antwort: Die Medien informieren sachlich angemessen über das politische Geschehen und die Bevölkerung entwickelt anhand ihrer Berichterstattung realistische Vorstellungen und begründete Meinungen, die zur Grundlage ihrer Wahlentscheidung werden. Diese Annahmen wurden durch theoretische Überlegungen und empirische Forschungsergebnisse grundlegend in Frage gestellt. Mit Blick auf die Medien gehören dazu vor allem zwei Erkenntnisse. Bei der Politik handelt es sich erstens nicht um eine Gegebenheit, über die die Medien berichten; vielmehr geschieht in der Politik vieles nur deshalb, weil die Medien berichten. Zwischen Politik und Medien bestehen komplizierte Wechselbeziehungen, so dass man die Berichterstattung nicht einfach als Darstellung einer vorgegeben Realität betrachten kann. Die Politikberichterstattung der Medien orientiert sich zweitens nicht nur am politischen Geschehen, sondern auch an den Sichtweisen der Journalisten und redaktionellen Linien ihrer Publikationsorgane. Die Medien sind keine neutralen Vermittler, die allen Politikern und Aktivitäten gleiche Chancen bieten, sondern eigenständige Akteure, die die Vermittlung von Politik an die Bevölkerung nicht nur fördern, sondern gelegentlich auch behindern. Mit Blick auf die Bevölkerung sind ebenfalls zwei Erkenntnisse zu nennen. Erstens hat sich die Erwartung als falsch erwiesen, dass mit steigender Bildung und wachsender Entlastung von schwerer Arbeit das Interesse an Politik, die politisch relevanten Kenntnisse und das politische Engagement zunehmen. So geht die Wahlbeteiligung gerade bei jenen zurück, bei denen sie theoretisch steigen müsste, und die Politikverdrossenheit nimmt bei jenen zu, bei denen sie sinken sollte bei den höher Gebildeten in gehobenen Berufspositionen. Zweitens hat sich die Erwartung als falsch erwiesen, dass die politischen Meinungen und Entscheidungen der Bevölkerung rationaler werden. Tatsächlich ist die Be-
deutung peripherer Eigenschaften von Politikern und politischen Aktionen für die politische Meinungs- und Willensbildung eher gewachsen als gesunken. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der zunehmende Einfluss der Persönlichkeitseigenschaften von Politikern auf Wahlentscheidungen, der dazu geführt hat, dass die Mehrheit der ungebundenen Wähler den persönlich sympathischeren dem aus ihrer Sicht sachlich kompetenteren Kandidaten vorzieht. Die skizzierten Erkenntnisse stellen Enttäuschungen im genauen Wortsinn dar, die man bedauern kann. Wichtiger sind Antworten auf zwei Fragen: Wie kann man die erwähnten Sachverhalte erklären? Und was folgt daraus? Die Ziele des vorliegenden Bandes bestehen in der Vermittlung von theoretischen Sichtweisen und breit fundierten empirischen Forschungsergebnissen. Die Grundlage liefert eine systemtheoretische Analyse des Verhältnisses von Politik und Medien. Ihren Schwerpunkt bildet im Unterschied zu den meisten systemtheoretischen Studien nicht die Binnenstruktur der Politik bzw. der Medien sondern ihr Verhältnis zueinander. Es folgt eine Befragung von Bundestagsabgeordneten und Hauptstadtjournalisten zur Rationalität des politischen und journalistischen Handelns. Daran schließt sich eine Reihe von empirischen Untersuchungen zum Umgang von Politikern mit den Medien an, auf die empirische Untersuchungen zum Einfluss der Medienberichterstattung auf die Bevölkerung folgen. Getrennt werden diese beiden Teile durch eine Diskussion der Unterschiede zwischen einer funktionalen Erklärung des Verhaltens von Politikern gegenüber den Medien und einer kausalen Erklärung des Einflusses der Medien auf die Bevölkerung. Den Abschluss des Bandes bildet eine systemtheoretische Analyse der Wahrnehmung von Politik aus der Perspektive der Wähler. Für die erneute Publikation von Beiträgen, die zuerst in Fachzeitschriften und Fachbüchern erschienen sind, habe ich im Interesse an einer einfachen und allgemeinverständlichen Darstellung methodischer Details, umfangreiche Literaturbelege und fachspezifische Exkursionen gestrichen. Deshalb werden für den fachlich interessierten Leser die Quellen der Erstveröffentlichungen im Anhang dokumentiert. Die Publikation des vorliegenden Bandes wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfe von mehreren Mitarbeitern. Simone Christine Ehmig hat die Rechte bei den Erstverlagen eingeholt, Andrea Ohters hat die Texte neu geschrieben und den Band formatiert, Nicole Podschuweit hat die neuen Fassungen der Texte Korrektur gelesen und Thomas Zerback hat zahlreiche Grafiken neu gestaltet. Bei allen bedanke ich mich für ihre Sorgfalt und Geduld. Für alle Fehler, die dennoch existieren mögen, bin ich selbst verantwortlich. Hans Mathias Kepplinger Mainz im Dezember 2008
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Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation
Die Publizistikwissenschaft hat in den vergangenen Jahren mehrfach die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit gefunden. Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei die Wirkungsforschung, besonders die Frage nach dem Einfluss der Massenmedien auf den Wahlausgang, aufgeworfen vor allem durch die theoretischen und empirischen Arbeiten von Elisabeth Noelle-Neumann.1 Die Beantwortung dieser Frage besitzt aus zwei Gründen fundamentale Bedeutung: Zum einen gibt sie über den Einfluss der Parteien und der Massenmedien auf die politische Willensbildung Auskunft; hierbei handelt es sich um ein Problem der politischen Macht und ihrer Legitimation. Zum anderen gibt sie über die Manipulierbarkeit oder Willensfreiheit der Wähler Auskunft; hierbei handelt es sich um ein Problem des politischen Systems und seiner theoretischen Grundlagen. Die Wirkungsforschung berührt damit zentrale Elemente der Demokratietheorie, schränkt jedoch die Betrachtungsweise auf die Einflusskette Journalist Rezipient Politiker ein. Die Systemtheorie bietet die Möglichkeit, die politischen Funktionen der Massenmedien umfassender, wenn auch allgemeiner, zu bestimmen. Unter einem sozialen System soll hierbei in Anlehnung an Niklas Luhmann ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.2 Ein soziales System in diesem Sinne besteht nicht aus Personen, sondern aus Handlungen, die unter einem bestimmten Aspekt zusammengefasst werden.3 Die Grenzen sozialer Systeme lassen sich nicht als invariante Zustände des physischen Substrats definieren etwa nach Art von Mauern, die eingrenzen, oder nach Art abzählbarer physischer Objekte, etwa Menschen, die dazugehören bzw. nicht dazugehören; sie lassen sich nur als Sinngrenzen begreifen, als Elemente eines Bestandes von Informationen, deren Aktualisierung auslöst, dass Informationen nach bestimmten systemimmanenten Regeln behandelt werden.4 Dies bedeutet: Die Regeln, die in einem System gelten, legen die Grenzen des Systems fest. Folglich werden die Grenzen des Systems der Massenkommunikation von den Regeln für die journalistische Berichterstattung bestimmt und sie ändern sich mit diesen Regeln.
Soziale Systeme bauen sich aus Subsystemen auf, die ihrerseits wiederum Subsysteme ausbilden können. Folgende Subsysteme sollen unterschieden werden: das System der politischen Herrschaft und das System der politischen Willensbildung.5 Die einzelnen Subsysteme stehen in funktionalen Beziehungen zueinander und zum Gesamtsystem. Als Funktion werden dauerhafte Leistungen eines (Sub-)Systems für ein anderes (Sub-)System bezeichnet. Dabei bleibt offen, ob diese Leistung für den Bestand oder Zustand des jeweils anderen Systems erforderlich ist oder nicht.6 Funktionen, die für den Bestand oder Zustand eines (Sub-)Systems erforderlich sind, werden als funktionale Voraussetzung bezeichnet. Das System der politischen Willensbildung ist in diesem Sinne eine funktionale Voraussetzung für das System der politischen Herrschaft, weil es keine herrschaftliche Entscheidung ohne politische Willensbildung geben kann, wobei wiederum offenbleibt, wie diese Willensbildung geschieht. Bestimmte Typen politischer Herrschaft setzen jedoch bestimmte Arten politischer Willensbildung voraus, was z. B. das Bundesverfassungsgericht in seiner institutionellen Garantie der Pressefreiheit zum Ausdruck brachte. Zum System der politischen Willensbildung werden alle Werturteile und Tatsachenbehauptungen gerechnet, die die Beliebigkeit politischer Entscheidungen strukturieren und somit auf faktisch mögliche Alternativen eingrenzen. Das System der politischen Willensbildung wird somit weder durch Organisationen, Personen oder Themen bestimmt, sondern durch die Funktion der Kommunikation definiert. An der politischen Willensbildung können beliebige Organisationen und Personen teilnehmen; Gegenstand der politischen Willensbildung können theoretisch alle Themen sein. Welche Organisationen, Personen und Themen jeweils an der politischen Willensbildung teilnehmen und welchen Beitrag sie dabei zur politischen Willensbildung leisten, ist demnach keine theoretische, sondern eine empirische Frage, die ich im Folgenden mehr aufwerfen als beantworten werde, wobei ich von der Annahme ausgehe, dass den Parteien, den Massenmedien und dem Parlament bei der politischen Willensbildung eine besondere Bedeutung zukommt. Zum System der politischen Herrschaft rechnet man alle Gestaltungs- und Vollzugsentscheidungen, die das individuelle Verhalten allgemeinverbindlich festlegen und Alternativen dadurch ausschließen. Das System der politischen Herrschaft wird damit analog zum System der politischen Willensbildung weder durch Organisationen, Personen oder Themen bestimmt, sondern durch die Funktion der Entscheidungen definiert. Im Folgenden sollen die Regierung und Verwaltung in ihrem Verhältnis zu den Massenmedien betrachtet werden, ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden wäre.
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System der politischen Willensbildung Im System der politischen Willensbildung kann man zwei Subsysteme unterscheiden, das System der Individualkommunikation und das System der Massenkommunikation, die durch zweiseitige bzw. einseitige Kommunikationsbeziehungen gekennzeichnet sind. Im ersten Fall handelt es sich um die Kommunikation mit spezifischen Adressaten, deren Reaktionen sich in der Regel an die Kommunikatoren richten. Im zweiten Fall handelt es sich um die Kommunikation zu einem dispersen Publikum, dessen Reaktionen sich in der Regel an Dritte wenden. Im ersten Fall stellt die direkte Rückkoppelung den Normalfall, im zweiten Fall dagegen die Ausnahme dar. Zum System der Individualkommunikation gehören u. a. die Kommunikationsbeziehungen in Parlamenten und Parteien, zum System der Massenkommunikation die Kommunikationsbeziehungen von Presse, Hörfunk und Fernsehen zum Publikum. Im Folgenden will ich zunächst das System der Massenkommunikation näher betrachten und anschließend einige Veränderungen im Verhältnis zwischen den Massenmedien und den Parteien und Parlamenten nachzeichnen. Das System der Massenkommunikation wird durch die Aktivität ganz unterschiedlicher Medien konstituiert, die man in zwei Kategorien einteilen kann, die Prestige-Medien zu ihnen rechne ich u. a. überregionale Abonnementzeitungen und die populären Medien sie umfassen u. a. Boulevardzeitungen, das Fernsehen und den Hörfunk. Diese Unterscheidung beruht auf einer Funktionsdifferenzierung, die im Einzelfall präzisiert werden kann. Die Prestige-Medien besitzen im Unterschied zu den populären Medien drei statt einen Adressaten: die politischen Eliten, die Journalisten und die Masse der Rezipienten, die keiner der beiden Kategorien angehören. Trotz dieses gravierenden Unterschiedes bilden alle Massenmedien aus zwei Gründen ein System: Zum einen verfahren sie alle nach den gleichen oder ähnlichen Regeln, zum anderen ist eine Meldung, gleichgültig wer sie publiziert hat, für alle und damit für das Gesamtsystem zugänglich. Dies wird anhand der Prestige-Medien besonders deutlich. Der Einfluss der Prestige-Medien auf die Masse der Rezipienten beruht vor allem auf ihrer Position innerhalb des Mediensystems. Indem sie die Themen und Gesichtspunkte der Berichterstattung wesentlich bestimmen, erreichen sie ein Publikum, das weit über den Kreis ihrer Rezipienten hinausreicht. Dadurch vergrößern sie die Reichweite ihrer Berichterstattung und überspringen zugleich die Selektionsmechanismen aufseiten der Rezipienten. Auch derjenige, der nie den Spiegel liest, erfährt am Sonntag aus Hörfunk oder Fernsehen, spätestens jedoch am Dienstag aus der Regionalpresse das journalistische Leitthema der Woche. Wer die Berichterstattung der überregionalen Tages- und Wochenzeitungen nicht verfolgt, kann die wichtigsten Themen in den Fernsehmagazinen
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finden. Damit wird die allgemein verbreitete Vorstellung fragwürdig, dass der politische Einfluss der Massenmedien vor allem von der Zahl ihrer Leser, Hörer oder Zuschauer und damit ihrer Reichweite abhängt. Der Einfluss der Prestige-Medien auf die politischen Eliten beruht vor allem auf zwei Faktoren: Der Struktur ihrer Leserschaft und der vermittelten Reichweite. Die New York Times besitzt wesentlich wegen ihrer Leser Einfluss: Es ist ein sehr besonderes Publikum Minister, Botschafter, der Kongress, Akademiker.7 Dies trifft auch für die anderen Prestige-Medien zu, die auf diesem direkten Weg Stellungnahmen von grundsätzlicher Bedeutung und politische Entscheidungen beeinflussen.8 Man muss jedoch auch hier wieder davon ausgehen, dass der Einfluss der Prestige-Medien auf die politischen Eliten auf ihrer Position im Mediensystem beruht, die sicherstellt, dass die formulierten Themen und Gesichtspunkte aufgegriffen und weiterverbreitet werden. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein Angriff des Spiegel auf die Regierung, der in den anderen Medien keine Beachtung findet, wäre harmlos, erst die Resonanz des Angriffs in den anderen Medien verleiht ihm Gewicht. Allerdings gibt es empirische Belege dafür, dass der Einfluss der Prestige-Medien auch auf den personalen Beziehungen zwischen den verschiedenen Eliten beruht. Die Medienelite ist in den Vereinigten Staaten von Amerika in die Machtstruktur der Gesellschaft fest integriert.9 Die 290 leitenden Mitarbeiter der 25 größten Tageszeitungen (Herausgeber, Direktoren, Chefredakteure usw.) verfügen über insgesamt 447 persönliche Verbindungen zu den größten Wirtschaftsunternehmen des Landes, den Eliteuniversitäten, den politischen Führungskreisen und den wichtigsten Clubs; 25 Personen halten 204 dieser Verbindungen und nehmen somit Schlüsselstellungen ein. Sechsunddreißig Angehörige der Medienelite hatten in der Vergangenheit hochrangige Positionen im Regierungssystem, darunter waren Positionen im Kabinett, im Beraterstab des Präsidenten und in den Beraterstäben verschiedener Bundesbehörden. Der Kern der Medienelite besitzt damit drei Einflussmöglichkeiten: durch die Berichterstattung, durch informelle Kontakte und durch formelle Kompetenzen in öffentlichen Ämtern. Zwar wird man die amerikanischen Befunde nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen können, dennoch fällt es nicht schwer, in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Parallelen zu finden. Als Beispiele sei an Günter Gaus, Klaus Bölling, Conrad Ahlers und Klaus Harpprecht erinnert, die als Publizisten, politische Berater und Politiker die Ostpolitik besonders der Regierung Brandt wesentlich mitbestimmt haben. Aus den vorliegenden Daten kann man die Feststellung ableiten: Die Massenmedien, speziell die Prestige-Medien, die ursprünglich in einer fast prinzipiellen Distanz zu den politischen Machthabern standen, sind teilweise in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen worden.
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Im System der politischen Willensbildung besitzen die Massenmedien, die Parteien und das Parlament drei gemeinsame Funktionen, an deren Erfüllung sie unterschiedlichen Anteil haben: Sie stellen Öffentlichkeit her, sie definieren Themen und sie strukturieren Entscheidungen. Der Begriff Öffentlichkeit ist dabei in einem formellen und in einem materiellen Sinn zu verstehen: Im formellen Sinn bedeutet er die rechtliche Möglichkeit des Zugangs zu Informationen, Diskussionen und Entscheidungen, im materiellen Sinn dagegen die soziale Verwirklichung dieser Möglichkeit durch die Unterrichtung über Informationen, Diskussionen und Entscheidungen. Die Funktion des Parlamentes bestand und besteht vor allem darin, formelle Öffentlichkeit herzustellen und dadurch Verantwortung sichtbar sowie Entscheidungen überprüfbar zu machen. Das Parlament hat sich hierfür mehrere neue Instrumente geschaffen, die die Funktionserfüllung sichern sollen u. a. Hearings und Untersuchungsausschüsse. Durch die zunehmende Verschränkung von Parlament, Parteien und Regierung sind jedoch Konfliktlagen entstanden, die dazu führen, dass das Parlament unter bestimmten Umständen kein Interesse an der Herstellung formeller Öffentlichkeit zeigt; Regierung, Parlament und Parteien tendieren dann gemeinsam zur Geheimhaltung, wo Öffentlichkeit angebracht wäre. Dadurch sind partielle Funktionsverluste eingetreten, die die Massenmedien kompensieren, indem sie durch publizistischen Druck die parlamentarische Behandlung durchsetzen. Parallel zu dieser Entwicklung musste das Parlament seine Funktion, ein Forum der politischen Diskussion zu bilden, weitgehend an die Massenmedien abtreten. Wenn heute das Parlament seine Debatten über Grundsatzfragen beginnt, wurden alle Argumente in den Massenmedien bereits erörtert. Die Debatten dienen infolgedessen weniger dazu, die Ansichten zu klären, als die Verfahrensmäßigkeit der Entscheidung zu sichern. Die Funktion der Parteien bestand vor allem darin, materielle Öffentlichkeit für Personen und Themen herzustellen. Die Parteien konnten sich dabei bis weit ins 20. Jahrhundert durch ihre Parteizeitungen unabhängig von anderen Publikationen an die Wahlbevölkerung wenden. Sie besaßen darüber hinaus weitaus mehr Möglichkeiten, bei öffentlichen Veranstaltungen Gehör zu finden. Durch den Niedergang der Parteipresse und das schwindende Interesse an Großveranstaltungen sind die nicht parteigebundenen Massenmedien zunehmend zwischen die Parteien und das Wahlvolk getreten. Die Massenmedien entscheiden damit, welche Personen und Themen, die die Parteien anbieten, in welcher Weise den Wählern bekannt werden. Amerikanische, dänische schwedische und deutsche Untersuchungen zeigen, dass die Massenmedien in ihrer Wahlkampfberichterstattung die einzelnen Themen anders gewichten als die Kandidaten.10 Wie die schwedische Studie darüber hinaus belegt, gelingt es mit Ausnahme der kommunistischen keiner Partei, ihre Themengewichtung in ihren Parteizeitungen durch-
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zusetzen. Bei allgemein hoher Übereinstimmung der Themenstrukturen gleichen die Parteizeitungen den anderen Blättern mehr als den eigenen Parteiverlautbarungen. Die Parteien sind in ihrer Öffentlichkeitsarbeit damit von den Massenmedien zumindest teilweise abhängig geworden, wodurch die Massenmedien eine aktive Rolle im Wahlkampf übernommen haben. Während die Fähigkeit der Parteien, sich eigenständig an das Wahlvolk zu wenden, geringer wurde, ist ihr Einfluss auf die Besetzung von Führungspositionen in allen Bereichen des Gesellschaftssystems gewachsen. Dadurch hat sich eine Funktionstrennung zwischen Massenmedien und Parteien herausgebildet: Die Parteien entscheiden in zunehmendem Maße über die Auswahl von Personen, die Massenmedien über die Auswahl von Themen. Beide Entwicklungen haben sich auf Kosten des Herrschaftssystems vollzogen, das seine Fähigkeit, über Themen und Personen weitgehend autonom zu entscheiden, verloren hat. Aufgrund der Funktionsdifferenzierungen von Parteien und Massenmedien wurden Themenwahl und Personalentscheidung zu funktionalen Äquivalenten, die Funktionsdefizite ausgleichen. Die Parteien versuchen über Personalentscheidungen Einfluss auf die Themen der Massenmedien zu gewinnen. Dies gelingt ihnen aufgrund der gesetzlichen Voraussetzungen vor allem im Bereich der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, wo alle leitenden Positionen nach dem Proporzprinzip vergeben werden. Die Massenmedien versuchen soweit sie eine aktive politische Rolle spielen durch die Themenwahl Einfluss auf die Personalentscheidungen von Parteien und Regierungen zu gewinnen. Dies geschieht vor allem durch publizistische Kampagnen gegen einzelne Politiker, die als Repräsentanten von Sachprogrammen oder Sachentscheidungen gelten. Charakteristisch für derartige Kampagnen ist, dass sie die angegriffenen Personen über einen längeren Zeitraum zum Gegenstand der Kritik machen, wobei der Zeitpunkt von Veröffentlichungen weniger vom Verlauf der Ereignisse als ihrer taktischen Verwendbarkeit abhängt. Die Massenmedien sind auf Informationen aus den Parteien angewiesen, während die Parteien auf die Berichterstattung der Massenmedien angewiesen sind. Zwischen den Massenmedien und den Parteien besteht insofern eine wechselseitige Abhängigkeit, die besonders in normativen Betrachtungen hervorgehoben wird. Wie eine genauere Analyse jedoch sehr schnell deutlich macht, ist die Abhängigkeit auf beiden Seiten keineswegs gleich groß. Die Massenmedien können sehr wohl auf die Berichterstattung über Parteien verzichten, ohne dass ihnen daraus ein wesentlicher Nachteil erwächst, und sie können sich durchaus Informationen aus den Parteien verschaffen, ohne dass dazu bei den Parteien eine aktive Bereitschaft besteht. Ein Beispiel für den ersten Sachverhalt: Die Massenmedien erwähnen selbst während der Wahlkämpfe kleine Parteien, die nicht in den Parlamenten vertreten sind, kaum. Ein Beispiel für den zweiten Sachver-
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halt: Die Massenmedien berichten immer wieder über Interna der verschiedenen Parteien, die ihnen entgegen den Intentionen der Parteiführung zugespielt wurden. Die bevorzugte Information einzelner Journalisten ist für die von ihnen vertretenen Medien zwar ein Vorteil, ihr Ausschluss von Exklusivinformationen jedoch kein existenzbedrohender Nachteil. Ganz anders ist die Situation der Parteien: Die Parteien besitzen ohne die Berichterstattung der Massenmedien kaum Wahlchancen. Die beiden einzigen neuen Parteien, die in den letzten 25 Jahren den Sprung in die Landtage geschafft haben, waren mit der NPD und den Grünen jene Gruppierungen, die aus verschiedenen Gründen in den Massenmedien Resonanz fanden. Dabei deutet die Analyse der Erfolgsgeschichte der NPD darauf hin, dass die Tatsache der Berichterstattung wichtiger war als ihre Tendenz: Allen fünf Perioden mit wachsender Zustimmung zur NPD ging eine Welle negativer Berichterstattung voraus, die die NPD Protestwählern vermutlich besonders attraktiv erscheinen ließ. Aus der skizzierten Abhängigkeit der Parteien von den Massenmedien kann man zwei Folgerungen ableiten: Die Berichterstattung der Massenmedien ist erstens zu einer funktionalen Voraussetzung für den Erfolg der Parteien geworden. Dadurch hat sich innerhalb des Systems der politischen Willensbildung eine funktionale Differenzierung ergeben, die in der Weimarer Republik noch nicht in gleicher Weise vorhanden war. Die Parteien hatten seinerzeit vielmehr über ihre Presseorgane und über ihre Veranstaltungen noch weitaus bessere Chancen, die potentiellen Wähler direkt zu erreichen. Die Berichterstattung der Massenmedien hat zweitens die Funktion einer informellen 5-Prozent-Hürde übernommen, deren Errichtung auf journalistischem Konsens beruht. Ob einer Partei der Sprung über diese Hürde gelingt, hängt nicht nur von formalen Kriterien, sondern von den Regeln der journalistischen Nachrichtenauswahl ab. Durch die wachsende Bedeutung der Massenmedien im Prozess der politischen Willensbildung sind zwei verschiedene Grundlagen politischer Macht entstanden, die Parteibasis und die Massenmedien. Der einzelne Parteipolitiker steht daher unter Umständen vor der Frage, ob er innerhalb der Partei politische Karriere machen oder an der politischen Partei vorbei öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen will, die er als politische Macht in die Partei einbringen kann. Die Parteiführung hingegen steht in bestimmten Situationen vor der Entscheidung, ob sie im Konfliktfall die Interessen der Parteibasis oder die Interessen der medienrelevanten Minderheiten innerhalb der Partei vertreten soll.
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System der politischen Herrschaft Im System der politischen Herrschaft lassen sich wie im System der politischen Willensbildung zwei Subsysteme unterscheiden, das System der Gestaltungsund das System der Vollzugsentscheidungen, die von verschiedenen Personen und Organisationen getroffen werden. Im ersten Fall handelt es sich um Entscheidungen von Regierungen, im zweiten Fall um Entscheidungen von nachgeordneten Verwaltungen; in beiden Fällen werden alle entscheidungsrelevanten Tätigkeiten der Entscheidungsträger den jeweiligen Subsystemen zugerechnet. Im Folgenden will ich zunächst die Regierung, anschließend die Verwaltung in ihrem Verhältnis zu den Massenmedien betrachten und auch hierbei die Veränderungen in den Vordergrund stellen, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ergeben haben. Im Verhältnis zwischen den Regierungen und den Massenmedien sind Veränderungen eingetreten, die vor allem die funktionalen Beziehungen der beiden Subsysteme zueinander beeinflussen. Die Regierungen waren auch in den liberalen Demokratien bis weit ins 20. Jahrhundert von den Informationen der Massenmedien weitgehend unabhängig; dies trifft sowohl für die Beziehungen zwischen politischen Herrschaftssystemen als auch für die Beziehung zwischen Herrschaftssystem und Bevölkerung zu. Das Herrschaftssystem erhielt noch im 19. Jahrhundert seine Informationen über die politischen Ansichten der Bevölkerung vor allem von Behörden Polizei und Geheimdiensten und es verbreitete Informationen über Gesetze und Verordnungen ebenfalls über Behörden. Die zahlreichen Amtsblätter und das Verlautbarungsrecht der Bundes- und Landesregierungen etwa im Staatsvertrag über die Errichtung des ZDF (§ 5) sind Relikte dieses Verfahrens, das jedoch seine ehemalige Bedeutung verloren hat. Ähnlich wie zwischen Partei und Wahlvolk sind die Massenmedien als Informationsträger zwischen das System der politischen Herrschaft und die Bevölkerung getreten. Die Regierung besitzt kaum eine Möglichkeit, die Bevölkerung direkt zu unterrichten und sie gerät, wenn sie es zumeist vor Wahlen versucht, in den Verdacht, unerlaubte Propaganda zu betreiben. Kein wichtiges Gesetz wird von der Regierung der Bevölkerung direkt mitgeteilt, fehlt es an entsprechenden VorInformationen durch die Massenmedien, so wird dies als systemfremder Informationsmangel interpretiert. Parallel zu dieser Entwicklung hat die Bedeutung der Behörden als Informationsquelle abgenommen, die der Massenmedien dagegen zugenommen. Ihren Ausdruck findet diese Entwicklung in der Tätigkeit des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, das zur Schaltstelle für die lnformationssammlung wurde. Während die Massenmedien bei der Informationsübermittlung an die Bevölkerung nahezu ein Monopol besitzen, hat sich bei
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der Informationsübermittlung aus der Bevölkerung eine Konkurrenz zwischen Massenmedien und Meinungsforschung entwickelt, die politisch umso bedeutsamer wird, je mehr die Darstellungen der Situation durch Meinungsforschung und Massenmedien auseinanderklaffen. Andererseits ist die Tendenz unverkennbar, dass die Massenmedien zunehmend demoskopische Untersuchungen, die sie selbst in Auftrag geben, in den Dienst ihrer publizistischen Ziele stellen, wodurch die repräsentativen Elemente der publizistischen Öffentlichkeit durch plebiszitäre Elemente überlagert werden. Auch im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen haben sich die Massenmedien zu Informationsquellen und zu Informationsträgern entwickelt. Die Prestige-Medien und die internationalen Nachrichtenagenturen sind zu den wichtigsten Informationsquellen der Entscheidungsträger u. a. des State Departement geworden, weil sie in der Regel etwa 24 Stunden früher berichten als die eigenen Organisationen und zudem über bessere Informationen verfügen.11 Die Entscheidungsträger stützen sich dabei vorwiegend auf die Prestige-Medien und die Nachrichtenagenturen ihrer eigenen Staaten. Die wichtigsten Informationsquellen der Auslandskorrespondenten dieser Medien sind die Prestige-Medien ihrer Standorte, die zugleich von den diplomatischen Vertretern als Hauptquelle für ihre Berichterstattung über die aktuelle Lage genutzt werden.12 Dadurch ist es zu einer Funktionsteilung zwischen Massenmedien und diplomatischem Dienst gekommen. Von den drei klassischen Funktionen des diplomatischen Dienstes Berichten, Repräsentieren, Verhandeln ist die erste Funktion weitgehend auf die Massenmedien übergegangen. Dabei übernimmt die Inlandsberichterstattung der Prestige-Medien eine Schlüsselstellung für das Bild im Ausland, das weitgehend durch die akkreditierten Auslandskorrespondenten vermittelt wird, die sich bevorzugt an den Prestige-Medien ihrer Gastländer orientieren. Im Verhältnis zwischen der Verwaltung und den Massenmedien sind ebenfalls Veränderungen eingetreten, die die Systemgrenzen erheblich verschoben haben und nachhaltigen Einfluss auf die jeweiligen Subsysteme besitzen. Grundlage dieser Veränderungen sind mehrere rechtliche Regelungen, die den Schutz von Informanten und von personenbezogenen Daten betreffen. Der Schutz von Informanten wurde durch Urteile des Bundesgerichtshofes zur Zeugenvernehmung im Strafprozess sowie durch die Novellierung des Zeugnisverweigerungsrechtes im Pressewesen durch den Deutschen Bundestag neu geregelt. In beiden Fällen hat das Gericht die Interessen der Allgemeinheit, die Interessen der Informanten und die Interessen der Betroffenen abgewogen, wobei es die Interessen der Betroffenen aus Gründen, die hier nicht zur Diskussion stehen, sehr unterschiedlich gewichtet hat. Der Bundesgerichtshof hat in zwei Entscheidungen vom 15. November 1982 und 17. Oktober 1983 den Schutz von Informanten der Strafverfolgungsbe-
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hörden verringert. Betroffen sind sogenannte Vertrauensmänner (V-Leute), die vor allem bei der Spionageabwehr, Drogenfahndung und Terrorismusbekämpfung verdeckt Informationen sammeln; sie können in Strafprozessen nur dann als Zeugen auftreten, wenn sie ihre Identität preisgeben. Auch eine optische oder akustische Abschirmung ist nicht zulässig. Eine Ausnahme ist nur statthaft, wenn der Zeuge aus Sicherheitsgründen seinen Namen verändert hat. Die Entscheidungen des BGH sichern das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren, indem sie der Verteidigung Gelegenheit geben, die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen. Gleichzeitig zwingen sie den Zeugen, seine tatsächliche Identität preiszugeben oder auf eine Aussage zu verzichten, wodurch die Aufklärung von Straftaten und die Überführung von Straftätern erschwert werden. Der Bundesgerichtshof hat damit die Handlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden und ihrer Informanten zugunsten der Strafverteidigung und ihrer Mandanten eingeschränkt. Der Bundestag hat durch das Gesetz über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeit von Presse und Rundfunk, das am 1. August 1975 in Kraft trat, den Schutz von Informanten der Massenmedien vergrößert. Das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt sich nun auf die Person des Verfassers von Beiträgen und Unterlagen, auf die Person des Einsenders von Beiträgen und Unterlagen sowie auf die Gewährsmänner für Beiträge. Geschützt wird dabei nicht nur die Person des Mitteilenden, sondern auch der Inhalt der Mitteilung. Die Neufassung des Zeugnisverweigerungsrechtes erleichtert die Informationsbeschaffung der Massenmedien, indem es die Anonymität der Informanten sicherstellt, und weitet die Handlungsmöglichkeiten der Massenmedien und ihrer Informanten auf Kosten der Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen und der Strafverfolgungsbehörden aus, zumal das Bundesverfassungsgericht in seiner sogenannten WallraffEntscheidung vom 25. Januar 1984 die Verbreitung illegal beschaffter Informationen gebilligt hat. Das BVerfG erklärt, dass die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen in dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG fällt, allerdings rechtfertige weder das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung noch die Pressefreiheit ... die rechtswidrige Beschaffung von Informationen. Da das Zeugnisverweigerungsrecht die Anonymität des Beschaffers illegaler Informationen nachhaltig sichert, legt das geltende Recht eine Rollentrennung zwischen Informanten und Journalisten nahe. Der Journalist wird dabei zum Vermittler illegal beschaffter Informationen, der sich so lange nicht strafbar macht, solange er die Informationen nicht selbst beschafft, sondern von anonymen Informanten übernimmt. Als Folge dieser Rollentrennung, die durch die Novellierung des Zeugnisverweigerungsrechtes eingeleitet und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bekräftigt wurde, ist ein grauer Markt für illegal
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beschaffte Informationen entstanden, der auf zunehmende Kritik innerhalb der Massenmedien stößt. Über den Handel mit illegal beschafften Informationen liegen keine systematischen Untersuchungen vor; die bekanntgewordenen Fälle deuten jedoch darauf hin, dass er in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. Beispiele hierfür sind die Verhandlungen des Nachrichtenhändlers Frank P. Heigl mit dem stern und dem Spiegel über den Verkauf von Geheimdokumenten der CSU (1979/80), die Verhandlungen des ehemaligen Pressechefs der Neuen Heimat, Siegfried Mehnert, mit dem stern und dem Spiegel über die Weitergabe von Akten des Unternehmens (1981), die Geldzahlungen an eine Mitarbeiterin des Bundeskriminalamtes durch den stern und einen freien Mitarbeiter von Bild am Sonntag (1982) sowie die Geldzahlungen des stern beim Ankauf der sogenannten Hitler-Tagebücher durch den Journalisten Gerd Heidemann (1982/83), der sich in der Redaktion unter Hinweis auf den Informantenschutz weigerte, seine Quelle zu nennen und damit die Täuschung erst ermöglichte. Die erwähnten Beispiele können nicht verallgemeinert werden, sie stehen jedoch für eine Korrumpierung der Informationsbeschaffung, die den tatsächlichen oder vorgegebenen Zielen der Publikationsorgane widersprechen. Der Deutsche Bundestag hat nur wenige Jahre nach der Novellierung des Zeugnisverweigerungsrechtes das Gesetz zum Schutz vor Missbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung, das sogenannte BundesDatenschutzgesetz, verabschiedet, das am 1. Januar 1978 in Kraft trat. Unter das Gesetz fallen nach § 1, Abs. 2 personenbezogene Daten, die von Behörden oder sonstigen öffentlichen Stellen sowie von natürlichen oder juristischen Personen, Gesellschaften oder anderen Personenvereinigungen des privaten Rechts für eigene Zwecke oder geschäftsmäßig für fremde Zwecke in Dateien gespeichert, verändert, gelöscht oder aus Dateien übermittelt werden. Aufgrund der anschließend formulierten Bestimmung unterliegt die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten durch die genannten Personen und Organisationen erheblichen Beschränkungen. Dies gilt auch für die Datenverarbeitung in wissenschaftlichen Instituten. Die Massenmedien genießen dagegen aufgrund von § 1, Abs. 3 ein sogenanntes Medien-Privileg. Nicht geschützt sind danach personenbezogene Daten, die durch Unternehmen oder Hilfsunternehmen der Presse, des Rundfunks oder des Films ausschließlich zu eigenen publizistischen Zwecken verbreitet werden. Die Ausweitung des Informantenschutzes durch das Zeugnisverweigerungsrecht, das Medien-Privileg der Massenmedien bei der Speicherung personenbezogener Daten und die Legalisierung der Verbreitung illegal beschaffter Informationen haben die Grenzen zwischen den Massenmedien und anderen Subsystemen zugunsten der Massenmedien verschoben, zumal die Handlungsmöglich-
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keiten anderer Subsysteme gleichzeitig eingeschränkt wurden. Diese Grenzverschiebungen stellen praktisch eine Machtverlagerung von anderen Subsystemen auf die Massenmedien dar, verbunden mit einer Ausweitung ihrer Funktionen. Ursprünglich erfüllten die Massenmedien die Funktion von Chronisten, die als unbeteiligte Beobachter das Handeln Dritter verzeichneten. Im Laufe der Entwicklung wurden sie zusätzlich zum Auslöser von Pseudo-Ereignissen, die jemand eigens zum Zwecke der Berichterstattung inszeniert; die Ereignisse wurden dadurch von der Ursache zum Ziel der Berichterstattung. Die Kausalbeziehung zwischen Ereignis und Bericht entwickelte sich zur Finalbeziehung. Neben die manifeste Funktion der Dokumentation trat die latente Funktion der Stimulierung von berichtenswerten Ereignissen. Aufgrund der jüngsten Entwicklung werden die Massenmedien darüber hinaus zum umfangreichsten Speicher zeitgeschichtlicher Daten. Zur Berichterstattung über und die Auslösung von öffentlichen Ereignissen tritt damit zunehmend deren lückenlose Archivierung. Die öffentliche Kommunikation erhält eine Qualität, die letztlich ihre Voraussetzung, die Freiheit von Kontrollen, gefährdet. Grenz- und Funktionsverschiebungen Die Grenz- und Funktionsverschiebungen zwischen dem Subsystem Massenkommunikation und anderen Subsystemen sind vor allem auf die gestiegene Legitimation und Leistungskraft der Massenmedien zurückzuführen. In den vergangenen Jahren hat sich die Legitimationsvermutung von staatlichen Institutionen auf die Massenmedien verlagert. In der Vergangenheit lag die Legitimationsvermutung im Konflikt zwischen staatlichen Institutionen und Massenmedien generell auf Seiten der staatlichen Institutionen, heute dürfte eher das Gegenteil der Fall sein, wobei man als Wendepunkt dieser Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland die Spiegel-Affäre betrachten kann. Obwohl die Ansichten der Bevölkerung über das Vorgehen gegen den Spiegel im Dezember 1962 gespalten waren, und obwohl der Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht keineswegs eindeutig zugunsten der Zeitschrift ausging, dürfte der gesamte Vorgang in der Erinnerung zumal des politisch interessierten Teils der Bevölkerung als ein Übergriff von Staatsorganen haften geblieben sein, der die Beurteilung späterer Konfliktfälle beeinflusste und sich auch in Gesetzgebung und Rechtsprechung niederschlug. Die Entscheidungen des Deutschen Bundestages, des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes treffen Güterabwägungen zwischen konfligierenden Rechten und Interessen. Dabei werden Eigeninteressen der Massenmedien oder einzelner Publizisten weitgehend vernachlässigt oder generell aus-
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geschlossen So heißt es etwa in der bereits angesprochenen WallraffEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ohne weitere Begründung: Gewiss kann der Hauptzweck der strittigen Veröffentlichung nicht in der Verfolgung eigennütziger Ziele der Beklagten gesehen werden. Indem das Gericht Eigeninteressen der Massenmedien oder einzelner Publizisten ausklammert, identifiziert es ihre Interessen und Rechte letztlich mit den Rechten und Interessen der Allgemeinheit, die den Interessen und Rechten Dritter gegenüberstehen. Die Massenmedien erscheinen so als selbstlose Vertreter der Allgemeininteressen, denen die Partikularinteressen von einzelnen Personen und Organisationen unterzuordnen sind. Dies gilt auch im Konkurrenzverhältnis zu den staatlichen Institutionen, die sie partiell als Repräsentanten des Allgemeininteresses abgelöst haben. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes über die Verwendung von VLeuten gründen letztlich auf dem Verdacht, die Strafverfolgungsbehörden und ihre Informanten könnten in unzulässiger oder unzulänglicher Weise Angeklagte belasten; die Informanten wären in der Lage, dem Gericht, geschützt durch ihre Anonymität, erfundene oder auch nur halbrichtige Informationen vorzulegen, die zu einer Verurteilung des Angeklagten führen könnten. Die Gesetzgebung des Deutschen Bundestages zum Zeugnisverweigerungsrecht beruht dagegen letztlich auf der Vermutung, dass die Massenmedien und ihre Informanten niemanden in unzulässiger oder unzulänglicher Weise belasten. Sie geht unausgesprochen von der Annahme aus, die Informanten legten den Massenmedien, auch wenn sie durch Anonymität geschützt sind, keine erfundenen oder halbrichtigen Informationen vor und die Massenmedien nutzten derartige Informationen, sollten sie vorgelegt werden, nicht in unzulässiger Weise. Die gleiche Argumentationsfigur findet sich hinter der Gesetzgebung zum Datenschutz, wo die Missbrauchsmöglichkeit in einem Fall unterstellt, im anderen Fall aber bestritten oder durch übergeordnete Ziele der Allgemeinheit relativiert wird. Dabei kann man jedoch nicht übersehen, dass die Identifikation der Interessen der Massenmedien mit den Interessen der Allgemeinheit letztlich zu Lasten der Interessen von Einzelnen geht. Die institutionelle Garantie der Pressefreiheit gewinnt im Vergleich zur individuellen Garantie der Pressefreiheit zunehmend an Bedeutung, wodurch sich das Presserecht vom Recht jedes Einzelnen zum Sonderrecht einer Institution zu entwickeln droht. Erklärungsansätze Die Massenmedien sind allen anderen Institutionen bei der Beschaffung, Bearbeitung und Verbreitung von politisch bedeutsamen Informationen weit überle-
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gen. Für diese Überlegenheit gibt es zahlreiche Gründe. Die Massenmedien sind erstens im Unterschied zu Parteien jederzeit voll arbeitsfähige Organisationen. Bei den Parteien handelt es sich dagegen, wie Michael Gurevitch und Jay G. Blumler formulieren, um Organisations-Gerippe, die ihre volle Kraft nur bei Wahlkämpfen entfalten.13 Die Massenmedien sind zweitens Teil eines internationalen Informationsnetzes, das weitgehend unabhängig von Landesgrenzen und ideologischen Barrieren operiert und damit einen Vorsprung vor allen Organisationen besitzt, die an solche Grenzen gebunden sind. Die Massenmedien verfügen drittens über erhebliche finanzielle Mittel, deren Verwendung keiner formalisierten Kontrolle anderer Institutionen wie Parlamenten oder Rechnungshöfen unterworfen ist. Sie besitzen damit eine Entscheidungsfreiheit und ein Risikomanagement, das anderen Institutionen fehlt. Die Massenmedien genießen viertens rechtliche Privilegien, die die Informationsbeschaffung erleichtern. Dadurch besitzen sie Zugang zu Informationen, die anderen Institutionen teilweise oder gänzlich versperrt sind. Dies alles erklärt jedoch letztlich nicht die Grenz- und Funktionsverschiebungen auf Kosten anderer Einrichtungen, die ebenfalls über einen hohen Grad formaler Organisation, über internationale Verbindungen, über erhebliche finanzielle Mittel und über rechtliche Privilegien verfügen, wie z. B. im zwischenstaatlichen Bereich der Diplomatische Dienst. Der entscheidende Grund für die Grenz- und Funktionsverschiebungen zugunsten der Massenmedien liegt in ihrer außerordentlich hohen Selektionsfähigkeit, die sich auf die Personen ihrer Mitarbeiter sowie auf die Inhalte und Folgen ihrer Berichterstattung beziehen. Die Massenmedien sind erstens bei der Rekrutierung ihrer Mitarbeiter von formalen Kriterien wesentlich unabhängiger als Verwaltungseinrichtungen, auch spielen im Vergleich zu Parteien politische Ansichten eine relativ geringe Rolle. Sie sind dadurch in ihrer Personalauswahl generell flexibler, zugleich besitzen Journalisten mehr berufliche Alternativen als Parteimanager oder Politiker, deren berufliches Vorankommen in der Regel nur innerhalb der einmal gewählten Organisation möglich ist. Journalisten können mit anderen Worten durchaus von einer linken zu einer rechten Zeitung wechseln; Politiker haben dagegen kaum eine vergleichbare Wahlmöglichkeit. Ihre Berufschancen liegen allenfalls außerhalb ihres bisherigen Tätigkeitsbereiches, was jedoch ihre eigenen Organisationen eher schwächt als stärkt. Journalisten sind darüber hinaus in ihrer Berufstätigkeit erheblich weniger formalen Verhaltensregeln unterworfen als die Mitarbeiter anderer Institutionen, sie können dadurch unbedenklicher und zugleich wählerischer in ihren Kontakten sein. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Auslandskorrespondenten in der Regel über weiter gespannte Kontakte verfügen als Diplomaten. Die Massenmedien besitzen zweitens einen dominierenden Einfluss darauf, welche Themen in die öffentliche Diskussion eingebracht und welche aus ihr
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verbannt werden. Verbände, Parteien oder Regierungen können zwar mit einigem Erfolg Themen in die Medien bringen; sie können sie jedoch kaum aus den Medien fernhalten. Jeder Versuch, ein Thema herunterzuspielen, bewirkt das Gegenteil, er erweckt zusätzliche Aufmerksamkeit. Die Massenmedien können dagegen sehr wohl Themen aus der öffentlichen Diskussion verbannen, wobei es sich nicht um Willensentscheidungen einzelner Personen oder Organisationen, sondern um informelle Konsensbildungen handelt. Ein Beispiel für den skizzierten Sachverhalt ist die Berichterstattung der Massenmedien über die Ursachen der Herrschaft des Nationalsozialismus. Während die Massenmedien der Bundesrepublik Deutschland alle wichtigen Institutionen der Gesellschaft die Unternehmen, die Gewerkschaften, die Parteien, die Justiz usw. als Verantwortliche und Schuldige darstellten, finden sich kaum vergleichbare Berichte über die Rolle der Massenmedien beim Niedergang der Weimarer Republik und während des Dritten Reiches. Die selektive Zuwendung der Massenmedien zu einzelnen Themen ist eine der Voraussetzungen für ihre z. T. spektakulären Erfolge bei der Aufdeckung von Missständen. Sie sind den Behörden in solchen Fällen zu denken wäre etwa an die Entdeckung von Umweltschäden, Justizirrtümern oder Bestechungsaffären jedoch nicht deshalb überlegen, weil sie über bessere Mitarbeiter und Methoden verfügen, ihre Überlegenheit beruht vielmehr vor allem anderen darauf, dass sie sich derartigen Sachverhalten selektiv zuwenden können, wobei die Auswahl der Themen vor allem nach journalistischen Gesichtspunkten erfolgt. Die Voraussetzung für die spektakulären Erfolge in einzelnen Fällen ist mit anderen Worten der Verzicht auf die Gleichbehandlung aller Fälle. Das Vorgehen der Massenmedien ist damit zwar weitgehend interessenbestimmt, ihre Erfolge bilden jedoch zugleich ein funktionales Äquivalent zu den Nachteilen des formalen Vorgehens staatlicher Organe. Von den Massenmedien erwartet das Publikum drittens im Unterschied zu allen anderen Institutionen keine Urteilskonstanz, hier als die Beibehaltung von einmal geäußerten Urteilen verstanden. Verbandsvertreter, Politiker, Juristen, Wissenschaftler usw. müssen ihre Urteile beibehalten und Urteilsänderungen rechtfertigen. Niemand erwartet dagegen, dass Journalisten frühere Urteile aufrechterhalten, folglich entfällt auch die Verpflichtung, Urteilsänderungen zu begründen. Da Urteilsänderungen in der Praxis aufgrund der sich ändernden Bedingungen unvermeidbar sind, führt die Erwartung der Urteilskonstanz zu einer Relativierung der Vertrauenswürdigkeit aller Personen und Institutionen, die ihr ausgesetzt sind, während die Vertrauenswürdigkeit einzelner Journalisten oder der Massenmedien keinen derartigen Zweifeln unterliegt. Ein Beispiel ist die weitgehende Unterstützung der Forderung nach Null-Wachstum anfangs der
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siebziger Jahre, die ebenso weitreichenden Klagen über die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft gewichen ist. Der Verzicht auf Urteilskonstanz führt in der Berichterstattung der Massenmedien zuweilen zu Widersprüchen, die jede andere Institution nachhaltig diskreditieren würden, dennoch handelt es sich hierbei nicht nur um einen Mangel. Gerade wegen ihres weitgehend folgenlosen Verzichts auf Urteilskonstanz sind die Massenmedien in hohem Maße adaptionsfähig. Während andere Institutionen unter dem Druck der Selbstrechtfertigung dazu neigen, an früheren Urteilen auch dann festzuhalten, wenn sie sich als falsch oder fragwürdig herausstellen, sind auch hier die Massenmedien wesentlich beweglicher. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Publikationsorgane, die einer Regierung nahestehen, Krisenerscheinungen erheblich eher erkennen als die jeweiligen Regierungsparteien. Ein Beispiel hierfür ist der Niedergang der Regierung Brandt, den vor allem jene Publikationsorgane vorbereitet haben, die, wie Spiegel, stern und Süddeutsche Zeitung, wesentlich zu ihrer Etablierung beigetragen hatten. Ein weiteres Beispiel ist der Rücktritt von Ministerpräsident Filbinger, den nach zunächst folgenlosen Angriffen oppositioneller Zeitungen und Zeitschriften letztlich eher konservative Blätter wie Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung herbeigeführt haben. Die Massenmedien sind viertens im Unterschied zu allen anderen Institutionen weitgehend von moralischer Verantwortung befreit. Dieser Sachverhalt besitzt mehrere Gründe: Zum einen können die Massenmedien wie keine andere Institution durch Themenwechsel die Diskussion der negativen Konsequenzen ihrer Berichterstattung vermeiden oder steuern. Ein Beispiel ist die Rolle der Massenmedien beim Abzug der Amerikaner aus Vietnam, den die meisten Medien jahrelang gefordert haben und der das Leben von mehreren hunderttausend Menschen in Vietnam und Kambodscha forderte. Dennoch hat es keine intensive Diskussion der moralischen Verantwortung der Massenmedien für die Massaker gegeben, die der Erfüllung ihrer Forderungen folgte. Neben dem Themenwechsel schützt die Massenmedien auch der diffuse Einfluss der Berichterstattung vor moralischer Verantwortung, zumal bei Politikern bereits die erkennbare Intention, bei Journalisten dagegen erst die nachgewiesene Wirkung als Basis der Beurteilung ihres Handelns gilt. Als Folge dieser Asymmetrien tragen die Massenmedien nicht nur im Selbstverständnis der Journalisten, sondern auch in den Augen der Bevölkerung keine nennenswerte Verantwortung für Entwicklungen. Dies gilt auch für Fälle, bei denen es wie bei der Ölkrise 1973/74 möglich war, einen Einfluss der Massenmedien mit großer Sicherheit nachzuweisen.14 Weil die Massenmedien sich wie keine andere Institution selektiv gegenüber ihrem eigenen Handeln verhalten können, entziehen sie jene Aspekte ihres Verhaltens der öffentlichen Diskussion, die zu einem Schwund ihrer Legitima-
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tion führen könnten. Diese Selektionsfähigkeit der Massenmedien stellt deshalb nicht nur eine Ursache ihrer Leistungsfähigkeit dar, sie bildet zugleich auch eine Voraussetzung für die Verlagerung der Legitimationsvermutungen zugunsten der Massenmedien. Die Verlagerung der Legitimationsvermutung hängt somit wesentlich vom Funktionieren ihrer selektiven Selbstreflexion ab. In dem Maße, in dem diese selektive Selbstreflexion durch systematische Betrachtungen durchbrochen wird, wird die Verlagerung der Legitimationsvermutung in Frage gestellt. Insofern und damit komme ich auf den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück ist das Thema der empirischen Kommunikationswissenschaft, vor allem jedoch der Wirkungsforschung, letztlich die Legitimation der Macht verschiedener sozialer Systeme. Die Funktionen der Massenkommunikation im System der politischen Willensbildung sowie ihr Verhältnis zum politischen Herrschaftssystem haben sich geändert. Das System der Massenkommunikation ist in einigen Fällen zur funktionalen Voraussetzung für andere Systeme und Subsysteme geworden, zugleich versuchen andere Systeme und Subsysteme zunehmend das System der Massenkommunikation für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Grenzen zwischen dem System der Massenkommunikation und anderen Subsystemen außerhalb des Systems der politischen Willensbildung haben sich zugunsten der Massenkommunikation verschoben; dies ist vor allem auf die veränderte Rechtslage, die veränderten Legitimitätsvermutungen und die wachsende Leistungskraft der Massenmedien zurückzuführen, die ihrerseits vor allem auf der höheren Selektionsleistung der Massenmedien beruhen. Sie verfügen dadurch über die Möglichkeit, sich zentralen Themen entschieden zuzuwenden, die öffentliche Diskussion von eigenen Irrtümern zu vermeiden und der öffentlichen Erörterung ihrer Verantwortung auszuweichen. Da das politische System einer liberalen parlamentarischen Demokratie jedoch gerade auf den Prinzipien der Überprüfbarkeit und Verantwortlichkeit politischen Handelns beruht, stellt sich abschließend die Frage, wie es möglich ist, die Leistungsfähigkeit des Systems der Massenkommunikation, die eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des politischen Systems ist, mit der Erhaltung der Prinzipien einer liberalen parlamentarischen Demokratie zu verbinden.
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Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung unsere soziale Haut. München und Zürich 1980. 2 Niklas Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme (1967). In: Derselbe: Soziologische Aufklärung. Opladen 1970, S. 115. 3 Vgl. David Easton: A Systems Analysis of Political Life. New York 1965.
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Niklas Luhmann, a. a. O., S. 117. Vgl. Manfred Hättich: Demokratie als Herrschaftsordnung. Köln und Opladen 1967, S. 85 ff. 6 Vgl. Robert K. Merton: Manifest and Latent Function. In: Derselbe: Social Theory and Social Structure. Toward the Codification of Theory and Research. Glencoe, Ill. 1951, S. 21-81 7 Barbara von Jhering: Reporter mit guten Quellen. Besuch bei dem Doyen der Washingtoner Korrespondenten. In: Die Zeit, 3. November 1981. 8 Vgl. Colin Seymour-Ure: The Politcal Impact of Mass Media. London 1974; Bernard C. Cohen: The Press and Foreign Policy. Princeton 1963; James Reston: The Artillery of the Press. The Influence on American Foreign Policy. New York und Evanston 1966. 9 Vgl. Peter Dreier: The Position of die Press in die US. Power Structure. In: Ellen Wartella / D. Charles Whitney / Sven Windahl (Hrgs.): Mass Communication Review Yearbook. Bd. IV, Beverly Hills 1983, S. 439-451. 10 Thomas E. Patterson: The Mass Media Election. How Americans Choose Their President. New York 1980, S. 33-42; Kent Asp: The Struggle for the Agenda. Party Agenda, Media Agenda and Voters Agenda in die 1979 Swedish Election Campaign. In: Winfried Schulz / Klaus Schönbach (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen. München 1983, S. 301-320. 11 Vgl. William O. Chittick: State Departement, Press and Pressure Groups: A Role Analysis. New York 1970; Phillip W. Davison: News Media and International Negotiations. In: Public Opinion Quarterly 38 (1974) S. 174-191. 12 Vgl. Marion Wittmann: Auslandskorrespondenten aus der Dritten Welt in der Bundesrepublik Deutschland im Blickfeld internationaler Kommunikationspolitik. In: Publizistik 27 (1982) S. 311331. 13 Vgl. Michael Gurevitch / Jay G. Blumler: Mass Media and Political Institutions: The Systems Approach. In: George Gerbner (Hrsg.): Mass Media Politics in Changing Cultures. New York 1977, S. 251-268. 14 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Herbert Roth: Die Kommunikation in der Ölkrise des Winters 1973/74. In: Publizistik 23 (1978) S. 337-357. Siehe auch Hans Mathias Kepplinger: German Media and Oil Supply in 1978 and 1979. In: Nelson Smith / Leonard I. Theberge (Hrsg.): Energy Coverage Media Panic. An International Perspective. New York 1983, S. 22-49. 5
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Die Rationalität von Politik und Medien
Ein wichtiges Thema der wissenschaftlichen Analyse der Politikvermittlung ist seit einigen Jahren die Mediatisierung der Politik.1 Der Begriff bezeichnet die Anpassung der Politik an die Erfolgsbedingungen der Medien. Ein Beleg hierfür ist die seit den sechziger Jahren steigende Zahl der auf die Öffentlichkeit zielenden Aktivitäten des Deutschen Bundestages.2 Ein konkretes Beispiel liefern die Kleinen Anfragen der Parlamentarier, die zu ihrer Information eingerichtet, von ihnen heute aber vielfach als Mittel zur Selbstdarstellung in den Medien genutzt werden.3 Die wichtigste Ursache der Mediatisierung der Politik ist die im Laufe der Jahrzehnte ständig gewachsene Bedeutung der Medien als Mittler zwischen Politik und Bevölkerung: Weder mit öffentlichen Reden, noch mit Plakaten oder Inseraten können Politiker in kurzer Zeit so viele Menschen erreichen wie über die Medien, die zudem als neutrale und entsprechend glaubwürdige Quelle gelten. Deshalb passen Politiker sich aus Eigeninteresse den Erfolgsbedingungen der Medien an. Sie inszenieren medienwirksame Ereignisse, greifen Themen und Tendenzen auf, die positive Resonanz versprechen und vermeiden öffentliche Stellungnahmen, die negative Medienreaktionen hervorrufen können. Bei der Mediatisierung der Politik kann es sich um eine Machtverlagerung von einem auf ein anderes Subsystem handeln, die mit einem teilweisen Autonomieverlust der Politik einhergeht: Die Themen und die Art ihrer Behandlung, die Politiker früher eigenständig bestimmt haben, werden nun von den Medien vorgegeben. Mit einer reinen Machtverlagerung ist dann zu rechnen, wenn sich die Kriterien, denen erfolgreiche Sach- und Personalpolitik genügen muss, nicht wesentlich von den Kriterien unterscheiden, die erfolgreichem journalistischem Handeln zugrunde liegen: Es werden die gleichen Probleme in gleicher Weise behandelt, allerdings liegt die Initiative nun zumindest teilweise bei den Medien. Die Mediatisierung der Politik kann jedoch auch mit einer Verringerung der Funktionsfähigkeit der Politik verbunden sein. Damit ist dann zu rechnen, wenn die Politik im Interesse medialer Resonanz auf die bestmögliche Lösung wichtiger Personal- und Sachprobleme verzichtet. Einen Funktionsverlust kann man vermuten, wenn sich die Erfolgsbedingungen der beiden Subsysteme markant voneinander unterscheiden. In diesem Fall stellt die Mediatisierung der Politik möglicherweise nicht nur eine Machtverlagerung dar, sondern führt zu einer Minderung der Funktionsfähigkeit der Politik.
Ob und wie sich die Erfolgsbedingungen der Medien und der Politik unterscheiden und worin diese Unterschiede bestehen, ist trotz der zentralen Bedeutung der Fragen für die Beurteilung der Mediatisierung von Politik ungeklärt. Ein Grund hierfür dürfte darin bestehen, dass zwar zahlreiche Spezialuntersuchungen über die Rationalität der Medien existieren,4 jedoch nur wenige Studien zur Rationalität der Politik5 und nahezu überhaupt keine vergleichenden Analysen der Rationalität von Politik und Medien vorliegen.6 Mit dem Begriff Rationalität werden die Kriterien des notwendigen und akzeptablen Verhaltens in einem sozialen System verstanden, hier der Politik und den Medien. Als Indikatoren für die jeweiligen Rationalitäten werden die Sichtweisen von Politikern und Journalisten betrachtet. Sie geben Auskunft über die Rationalität der Politik und der Medien aus der Sicht der Handelnden. Gegen diesen Ansatz kann man einwenden, dass ein Teil der Politiker und Journalisten selbst keine hinreichend klaren Vorstellungen von der Rationalität ihrer Tätigkeit besitzt. Deshalb werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige theoretische Annahmen formuliert. Eine umfassende Darstellung der Rationalität von Politik und Medien kann hier nicht geleistet werden. Zur Vorbereitung der empirischen Analyse soll allerdings aus dem oben genannten Grund auf einige Prämissen und Folgerungen hingewiesen werden. Theoretische Annahmen Politik und Medien verfolgen unterschiedliche Primärziele.7 Das grundlegende Ziel von Politik ist die Gestaltung der Gesellschaft die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Lebensverhältnisse. Ihre Gegenstände sind strukturelle Probleme. Das grundlegende Ziel der Medien ist die Aufklärung der Bürger die Ausweitung der Kenntnisse und die Ermöglichung begründeter Meinungen.8 Ihre Gegenstände sind aktuelle Ereignisse. Das grundlegende Mittel der Politik ist Macht, die Möglichkeit zur Mobilisierung anderer für die eigenen Ziele und Zwecke.9 Das grundlegende Mittel der Medien ist Information, die Verbreitung von Tatsachen und Meinungen. Gemeinsam ist der Politik und den Medien, dass sie auf das Vertrauen des für sie relevanten Teils der Bevölkerung angewiesen sind und dass alle ihre Vorhaben auch legitimen Eigeninteressen dienen. Die Entscheidungsprozesse in der Politik und in den Medien unterscheiden sich erheblich. In der Politik sind sie durch drei Merkmale charakterisiert: An ihnen sind mehrere Organe bzw. Institutionen beteiligt; die Abfolge der Entscheidungen ist explizit und ausführlich geregelt; ein großer Teil der Entscheidungen findet öffentlich statt, was unter anderem die Medien einschließt. Zu den angesprochenen Organen gehören in Deutschland auf Bundesebene Ausschüsse,
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Fraktionen, Ministerien, das Kabinett und das Parlament, bzw. der Bundestag und der Bundesrat sowie gegebenenfalls der Vermittlungsausschuss und das Bundesverfassungsgericht.10 Die Regelung der Entscheidungsprozesse besitzt weitreichende Konsequenzen für politisches Handeln: Eingriffe von politischen Organen in die Entscheidungen anderer Organe gelten als legal und legitim; politische Entscheidungsprozesse dauern sehr lange, und Verstöße gegen Verfahrensregeln sind von außen relativ gut erkennbar. Die Entscheidungsprozesse der Medien sind ebenfalls durch drei wesentlich Merkmale gekennzeichnet: An ihnen ist nur eine Organisation beteiligt ein Verlag oder eine Sendeanstalt; die Abfolge der Entscheidungen ist relativ einfach strukturiert und durch wenige Vorschriften geregelt11 und die Entscheidungen finden generell nicht öffentlich statt, was unter anderem die Politik ausschließt. Letzteres ist sachlich notwendig, wird jedoch bei der Diskussion der Rolle der Medien in der Gesellschaft unzureichend bedacht. Die Regelung der journalistischen Entscheidungsprozesse besitzt ebenfalls erhebliche Konsequenzen: Eingriffe von Medienorganisationen in die Entscheidungen anderer Medien gelten als illegal oder illegitim; journalistische Entscheidungsprozesse dauern nicht lange, und Verstöße gegen Verfahrensregeln sind, wenn überhaupt, von außen nur schwer erkennbar.12 Aus den skizzierten Prämissen von Politik und Medien kann man mehrere Annahmen über die Rationalität des politischen und journalistischen Handelns ableiten. Hierfür werden sechs Dimensionen unterschieden Erfolgsvoraussetzungen, konkrete Zielsetzungen, Zeithorizonte, Strategien, Taktiken und Risikobereitschaften von Politkern und Journalisten. Der Begriff Erfolgsvoraussetzungen bezeichnet systemspezifische Qualifikationen, die für Erfolge erforderlich sind, der Begriff konkrete Zielsetzung die Entscheidung für oder gegen ein Vorhaben, der Begriff Zeithorizonte die bei Vorhaben in Rechnung gestellten Zeiträume, der Begriff Strategien die langfristige Planung eines Vorhabens, der Begriff Taktiken die kluge Durchführung eines Vorhabens, der Begriff Risikobereitschaft den Willen zum Handeln in Ungewissheit. Zwischen Strategien und Taktiken gibt es fließende Übergänge, so dass eine klare Abgrenzung nicht in jedem Fall möglich ist. Trotzdem ist ihre Unterscheidung zur Strukturierung der Problematik sinnvoll. Bei den folgenden Annahmen handelt es sich nicht um Hypothesen im strengen Sinn, weil dazu alle Beziehungen zwischen den einzelnen Sachverhalten spezifiziert werden müssten, was den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Zur Vereinfachung der Darstellung sind die Annahmen trotzdem als Hypothesen formuliert. Sie besitzen den Charakter von All-Aussagen, obwohl sie selbstverständlich nur graduell gelten. Erfolgsvoraussetzungen: Das Grundlegende Mittel der Politik ist Macht, eine wesentliche Voraussetzungen für Erfolge in der Politik sind Machtwille und die Fähigkeit im Umgang damit. Deshalb besitzen Mittel der Machtgewinnung
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und Machterhaltung große Bedeutung für Politiker. Das grundlegende Mittel der Medien ist Information, wesentliche Voraussetzungen für Erfolg in den Medien sind Neugier und die Absicht und Fähigkeit, Informationen auch gegen Widerstände zu finden und zu verbreiten.13 Deshalb besitzen Mittel der Informationsbeschaffung und Informationsprüfung große Bedeutung für Journalisten. Konkrete Zielsetzungen: Politiker bewegen sich mit ihren Vorhaben in einem relativ engen organisatorischen und ideologischen Handlungsrahmen. Deshalb prüfen sie vor allem, ob ihre Vorhaben von der Partei und ihren Gremien getragen werden und bei Wahlen Erfolg versprechen. Journalisten sind bei ihren Vorhaben relativ frei von organisatorischen und ideologischen Bindungen. Deshalb prüfen sie im Wesentlichen nur, ob ihre Vorhaben von ihren Kollegen gebilligt werden und das Interesse des Publikums finden. Zeithorizonte: Die Entscheidungsprozesse in der Politik sind sehr komplex, und die Entscheidungen wirken lange nach. Deshalb denken Politiker in langen Zeiträumen. Die Entscheidungsprozesse in den Medien sind vergleichsweise einfach und ihre Ergebnisse wirken nur kurz nach. Deshalb denken Journalisten in kurzen Zeiträumen. Dies gilt sowohl für die Dauer der Beschäftigung mit einem Vorhaben als auch für die Dauer der in Rechnung gestellten Folgen. Strategien: Politik zielt auf die Gestaltung von Gesellschaft. Deshalb gehen Politiker der Meinung der Bevölkerung voraus, befassen sich mit strukturellen Problemen und konzentrieren sich auf Normalfälle, die zur Grundlage allgemeinverbindlicher Regelungen werden können. Medien zielen auf die Aufklärung der Bürger über das aktuelle Geschehen. Deshalb berichten Journalisten über Ereignisse und konzentrieren sich auf Extremfälle, die die Aufmerksamkeit des Publikums erregen. Politiker sind bei der Durchsetzung ihrer Vorhaben auf die Unterstützung anderer Politiker angewiesen. Deshalb fördern sie die Karrieren von Politikern, die ihre Vorstellungen billigen und behindern die Karrieren von Politikern, die ihnen im Wege stehen könnten. Aus dem gleichen Grund berücksichtigen sie die Interessen der relevanten Akteure in den Gremien, beachten die Abfolge und Dauer der Entscheidungen sowie die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse. Journalisten stehen unter starkem Zeitdruck, benötigen zur Realisierung ihrer Publikationspläne aber nur die Zustimmung ihrer Redaktion. Deshalb vernachlässigen sie die Meinungen erfahrener Kollegen, die Eigeninteressen andere Gremien und orientieren sich nur an den redaktionellen Abläufen in ihrer jeweiligen Organisation. Taktiken: Politiker sind bei der Verwirklichung ihrer Vorhaben auf die Mehrheiten in verschiedenen Gremien angewiesen. Deshalb greifen sie wichtige Probleme erst dann auf, wenn sie die erforderlichen Mehrheiten für wahrscheinlich halten. Politiker können durch personelle und sachliche Kompensationsangebote Mehrheiten in Gremien erreichen. Deshalb verknüpfen sie Sachfragen,
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die nichts miteinander zu tun haben, und akzeptieren bei Verhandlungen mehrdeutige Formulierungen, die den Interessen anderer entgegenkommen. Journalisten sind bei der Verwirklichung nicht in gleichem Maße auf die Unterstützung anderer angewiesen. Für sie zählt dagegen die Akzeptanz ihrer Beiträge in der Öffentlichkeit. Deshalb greifen sie Themen erst dann auf, wenn sich die Öffentlichkeit dafür interessiert, lehnen aber mehrdeutige Formulierungen sowie eine sachfremde Verknüpfung mehrerer Themen ab. Risikobereitschaft: Die langfristigen Gestaltungsabsichten von Politikern sind nur sinnvoll, wenn sie zumindest partiell Neuland betreten. Zugleich können sie sich ein Scheitern ohne erhebliche Nachteile nicht leisten. Deshalb wägen sie die Erfolgsaussichten ihrer Vorhaben sorgfältig ab, gehen dann aber relativ große Risiken ein, wenn sie auch dann die Initiative ergreifen, wenn nicht alle Detailfragen geklärt sind. Journalisten können sich bei der Verfolgung ihres grundlegenden Ziels, der Aufklärung der Bevölkerung, ohne erhebliche Nachteile keine Fehler leisten. Deshalb gehen sie bei Publikationen von Nachrichten keine großen Risiken ein und veröffentlichen Meldungen erst, wenn alle Ungewissheiten beseitigt sind. Die Rationalität der Politik und Medien muss aus zwei Gründen von den Vermutungen der Angehörigen des jeweils anderen Subsystems unterschieden werden. Zum einen orientieren sich Politiker, die sich den Erfolgsvoraussetzungen der Medien anpassen wollen, nicht an der tatsächlichen Rationalität der Medien, sondern an ihren Vorstellungen davon. So werden jene Politiker, die der Ansicht sind, Journalisten würden wichtige Probleme erst dann aufgreifen, wenn sie in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden, solche Probleme erst dann thematisieren, wenn dies nach ihrer Einschätzung der Fall ist. Zum anderen stellen Journalisten Politik nicht entsprechend ihrer tatsächlichen Rationalität dar, sondern folgen ihren Vorstellungen davon. So werden Journalisten, die politische Initiativen auch dann erwarten, wenn dafür keine Mehrheiten in den relevanten Gremien zu erkennen sind, ihr Ausbleiben eher beklagen als Journalisten, die solche Initiativen nicht erwarten. Die Annahmen sollen anhand der Aussagen von Politikern und Journalisten überprüft werden, die auf gleicher Ebene miteinander verkehren und folglich als vergleichbar betrachtet werden können. Dies trifft auf die Bundestagsabgeordneten und die Mitglieder der Bundespressekonferenz zu. Alle 611 Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages und alle 623 ständigen Mitglieder der Bundespressekonferenz, die für traditionelle Medien (Presse, Hörfunk, Fernsehen, Nachrichtenagenturen) arbeiten, erhielten im Frühjahr 2008 einen Fragebogen, den sie selbst ausfüllen sollten.14 Die Fragen an die Politiker und Journalisten waren soweit dies angesichts der unterschiedlichen Tätigkeiten möglich ist aufeinander abgestimmt. Oft waren nur die Begriffe Politiker und Journalisten ausge-
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tauscht, zuweilen waren Antwortvorgaben an die spezifischen Sachverhalte angepasst. Die genauen Formulierungen enthalten die folgenden Tabellen. Nach zweimaligem Erinnern haben 187 Abgeordnete und 235 Journalisten die Fragebögen ausgefüllt.15 Jeweils die Hälfte der Politiker und Journalisten wurden nur nach ihrer eigenen Tätigkeit befragt. Die jeweils andere Hälfte wurde nach der Tätigkeit der anderen befragt die Politiker über die Journalisten und umgekehrt.16 Aufgrund der Anlage der Befragung kann man die Rationalität der Politik aus Sicht der Politiker (99 Befragte) direkt mit der Rationalität der Medien aus Sicht der Journalisten (123 Befragte) vergleichen. Zudem kann man die Vorstellungen der Politiker von der Rationalität der Medien (88 Befragte) der Rationalität der Medien (Befragtenzahl wie oben) sowie die Vorstellungen der Journalisten von der Rationalität der Politik (Befragtenzahl wie oben) gegenüberstellen. Ergebnisse Erfolgsvoraussetzungen Über die grundlegenden Ziele von Politik und Medien Gestaltung bzw. Aufklärung besteht weitgehende Übereinstimmung zwischen Wissenschaftlern und Praktikern. Sie müssen deshalb hier nicht weiter diskutiert werden. Große Übereinstimmung besteht auch über die grundlegenden Mittel von Politik und Medien Macht und Information. Weitgehend unklar ist dagegen, worauf die Erlangung, Erhaltung und Ausübung von Macht beruht. Theoretisch kann man mindestens vier Aspekte unterscheiden die Identifikation von Mitstreitern, die Prüfung ihrer Vertrauenswürdigkeit, den Abbau von Widerständen und die Überzeugung anderer. Die Aspekte von Macht sind vermutlich für Journalisten weniger wichtig als für Politiker. Für sie geht es vermutlich vor allem um zwei andere Aspekte, die man als Grundlagen der Informationsverbreitung betrachten kann die Entdeckung von Informationen und die Prüfung ihrer Richtigkeit. Die empirischen Ergebnisse bestätigen diese Vermutungen. Erwartungsgemäß sind für Politiker die Grundlagen der Machtausübung wichtiger als für die Journalisten. Sie überlegen, wie sie andere Menschen vom dem überzeugen können, was sie für notwendig und richtig halten, wie sie Abwehrhaltungen beseitigen können, die sie für Vorurteile halten, mit wem sie ihre Ziele verfolgen können und ob sie ihnen dabei vertrauen können. Dies alles ist für sie wichtiger als für Journalisten. Für Journalisten ist dagegen wichtiger als für Politiker, dass sie herausfinden, wie die Dinge wirklich sind und prüfen können, ob stimmt, was andere sagen. Tabelle 1 zeigt die Prozentanteile der Befragten, die die Sachverhalte für wichtig oder sehr wichtig halten. Die Buchstaben neben den Prozentwerten zeigen an,
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dass die Unterschiede statistisch signifikant sind. Grundlage der Berechnungen sind die Mittelwerte, in die auch der Grad der Zustimmung und Ablehnung zu den Vorgaben eingehen. Deshalb sind einige Unterschiede signifikant, obwohl die Summe der zustimmenden Antworten ähnlich ist. Statt der Mittelwerte werden im Interesse einer einfach lesbaren Darstellung hier trotzdem die anschaulicheren Prozentwerte derer ausgewiesen, die die erwähnten Sachverhalte für sehr wichtig oder wichtig halten (Tabelle 1). Tabelle 1: Erfolgsvoraussetzungen von Politikern und Medien Frage: Als Politiker (Journalist) kann man verschiedene Ziele verfolgen. Wie wichtig sind Ihnen die folgenden Ziele?
Wichtig oder sehr wichtig ist *: Menschen davon überzeugen, was notwendig und richtig ist Vorurteile abbauen Feststellen, mit wem man ein Ziel verfolgen kann Prüfen, ob andere mir glauben / vertrauen Herausfinden, wie die Dinge wirklich sind Prüfen, ob stimmt, was andere sagen
Politiker (n=187) %
Journalisten (n=235) %
97
32 a
90
69 a
83
11 a
72
17 a
94
99 a
76
96 a
* Vorgegeben waren fünfstufige Skalen, deren Enden beschriftet waren mit sehr wichtig (4) bzw. nicht so wichtig (0). Ausgewiesen ist der Anteil der Skalenwerte 4 und 3. Die Mittelwerte unterscheiden sich signifikant nach dem T-Test für unabhängige Stichproben (a p<.01; k p<.05).
Konkrete Zielsetzungen Politiker sind Angehörige von Parteien, die relativ spezifische weltanschauliche Grundlagen (Parteilinien) besitzen. Bei ihren Vorhaben sind sie mittelfristig von der Unterstützung ihrer Parteien, langfristig von den relevanten Interessengruppen und Wählern abhängig. Deshalb müssen sie sich an die Parteilinie halten, die Mehrheiten in den relevanten Gremien bedenken sowie die Interessen gesellschaftlich relevanter Gruppen und ihrer Wähler beachten. Journalisten arbeiten für Redaktionen, die relativ unspezifische weltanschauliche Grundlagen (redak33
tionelle Linien) haben. Bei ihren Vorhaben sind sie kurzfristig auf die Zustimmung ihrer Redaktionen und das Interesse ihres Publikums angewiesen. Ihr Ansehen als Journalisten beruht in hohem Maße auf der Wertschätzung durch ihre Kollegen. Deshalb prüfen sie, ob ihre Vorhaben von der Redaktion gebilligt werden und das Interesse der Kollegen und des Publikums finden. Dagegen sind für sie die redaktionellen Linien nicht so bedeutsam wie die Parteilinien für Politiker. Die Annahmen treffen zum großen Teil zu. Bei der Entscheidung für ein konkretes Vorhaben ist es für Politiker und Journalisten gleichermaßen wichtig, ob andere Probleme noch wichtiger sind. Dies ist trivial und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Danach besitzen die einzelnen Gründe für oder gegen ein Vorhaben aber unterschiedliche Gewichte. Nachdem Politiker das aus ihrer Sicht wichtigste Problem identifiziert haben, orientiert sich etwa die Hälfte häufig daran, ob das Thema die Bevölkerung interessiert und zur Grundhaltung der Partei passt. Jeweils ein knappes Drittel fragt sich, ob ihnen das Vorhaben bei Wahlen Vorteile oder Nachteile bringt, in den Gremien Aussicht auf Erfolg hat und welche Resonanz es bei den wichtigen Medien findet. Die möglichen Reaktionen der Medien besitzen damit für Politiker bei der Entscheidung für oder gegen ein Vorhaben eine ähnliche Bedeutung wie die Erfolgsaussichten in den politischen Gremien bei den Wählern. Dies deutet darauf hin, dass die möglichen Reaktionen der Medien einen bisher unterschätzten Einfluss auf politische Planungen besitzen (pro-aktive Effekte der Medien). Nachdem Journalisten das aus ihrer Sicht wichtigste Problem identifiziert haben, orientieren sich mehr als vier Fünftel häufig daran, ob das Thema die Bevölkerung interessiert. Ob es zur Grundhaltung der Zeitung/Zeitschrift, bzw. des Senders passt, ist dagegen nur für eine kleine Minderheit ein häufiger Grund für oder gegen die Behandlung eines Themas. Journalisten entscheiden sich demnach viel öfter als Politiker mit Blick auf die Bevölkerung für oder gegen ein Vorhaben und viel seltener mit Blick auf die Grundhaltung ihrer Organisation. Daneben sind für Journalisten zwei andere Faktoren wichtig. Mehr als die Hälfte überlegt bei ihrer Themenplanungen häufig, welche Resonanz ein Thema bei den wichtigen Medien findet und ob es in der Redaktion Aussicht auf Erfolg hat. Damit ist für Journalisten die Billigung der Redaktion entgegen der Erwartung wichtiger als für Politiker die Billigung der Gremien. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass sie täglich damit konfrontiert sind, Politiker dagegen nur gelegentlich, dann aber nachhaltig. Die zuletzt zitierten Aussagen der Journalisten verweisen auf einen bedeutsamen Sachverhalt, die starke Kollegenorientierung im Journalismus.17 Sie könnte in der Konsequenz dazu führen, dass der Journalismus ein höheres Maß an Selbstreferentialität aufweist als die Politik. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Politik für äußere Einflüsse offener ist als der Journalismus. Ob diese Vermutung zutrifft, kann hier nicht überprüft
34
werden. Die Signifikanzen wurden auch hier anhand der Mittelwerte berechnet. Antworten, die mit Buchstaben gekennzeichnet sind, unterscheiden sich statistisch signifikant. Statt der Mittelwerte werden wieder die anschaulicheren Prozentsätze jener ausgewiesen, die sich häufig oder sehr häufig an den genannten Kriterien orientieren. (Tabelle 2). Tabelle 2: Kriterien der Entscheidung für konkrete Vorhaben in Politik und Medien Frage: Politiker (Journalisten) können nicht alle und nicht alles gleichzeitig tun. Wie häufig kommen nach Ihrer Erfahrung folgende Fälle vor? * Politiker (n=187) %
Journalisten (n=235) %
ob andere Probleme noch wichtiger sind.
72
77
ob es zur Grundhaltung der Partei passt, zu ihren speziellen Anliegen gehört (
ob es zur Linie der Zeitung/Zeitschrift, bzw. des Senders passt.)
42
25a
ob es in den Gremien (in der Redaktion) Aussicht auf Erfolg hat.
30
52a
ob es bei bevorstehenden Wahlen (im publizistischen Wettbewerb) Vorteile oder Nachteile bringt.
32
30a
ob einflussreiche Interessengruppen dafür oder dagegen sind.
14
5a
ob ein Vorhaben bei den wichtigen Medien vermutlich eine positive oder negative Resonanz findet (
ob ein Thema vermutlich auch in anderen Medien aufgegriffen wird).
27
62a
ob das Thema die Bevölkerung interessiert.
54
85a
Ob Politiker (Journalisten) ein wichtiges Problem aufgreifen oder liegenlassen, hängt davon ab,
*
Vorgegeben waren die Antworten häufig, gelegentlich, sowie selten/nie. Ausgewiesen ist der Anteil der Antwortvorgabe häufig. Die Mittelwerte unterscheiden sich signifikant nach dem T-Test für unabhängige Stichproben (ap<.01; kp<.05).
35
Zeithorizonte Als Zeithorizonte werden hier die Zeiträume bezeichnet, an die Menschen bei ihren Überlegungen und Handlungen denken. Sie betreffen zum einen die Dauer der Planung und Durchführung einer Handlung, zum anderen die Dauer ihre vermutlichen Folgewirkungen. Die Politiker und Journalisten wurden nacheinander nach drei Zeiträumen gefragt dem Zeitraum, in dem sie sich mit einem aktuellen Vorhaben bereits befassen; dem Zeitraum, der für den Abschluss dieses Vorhabens noch erforderlich ist und nach der Dauer der Folgewirkungen, die das Vorhaben im günstigsten Fall haben wird. Aufgrund der theoretischen Annahmen muss man davon ausgehen, dass sich die Zeithorizonte von Politikern und Journalisten stark unterscheiden. Deshalb wurde den Politikern und Journalisten freigestellt, ob sie die Dauer ihrer Beschäftigung mit einem aktuellen Vorhaben in Tagen, Wochen oder Monaten angeben wollten. Als generelles Ergebnis kann man feststellen: Politiker denken in Monaten, Journalisten denken in Tagen. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob es um die bisherige oder zukünftige Beschäftigung mit einem aktuellen Vorhaben oder um die Dauer seiner Auswirkungen geht. Zu jedem Aspekt macht die relative oder absolute Mehrheit der Politiker ihre Angaben in Monaten, die relative Mehrheit der Journalisten in Tagen. Die meisten Politiker machen ihre Angaben jedoch nicht nur in den größeren Zeiteinheiten. Sie nennen dabei auch die größeren Zeitspannen. Dies gilt ebenfalls unabhängig davon, wozu Politiker und Journalisten Stellung nehmen und ob sie in Tagen, Wochen oder Monaten denken. Aufgrund dieser Befunde kann man vermuten, dass sich Journalisten nur schwer vorstellen können, in welch langen Zeiträumen Politiker denken. Umgekehrt können sich Politiker vermutlich nur schwer vorstellen, wie eng die Zeithorizonte von Journalisten sind. Dies dürfte eine Ursache der zuweilen massiven Kritik von Journalisten an der aus ihrer Sicht inakzeptabel langen Dauer von Gesetzgebungsverfahren sein (Tabelle 3).
Strategien Die Ansichten der Politiker und Journalisten über die angemessene Strategie ihrem Tätigkeitsfeld wurden mit einer Frage danach ermittelt, welche Verhaltensweisen richtig oder falsch sind. Weil es hier weniger um das tatsächliche als das richtige Verhalten geht, wurden die Antwortvorgaben normativ formuliert. Vorgelegt wurden nur Aussagen, denen theoretisch Politiker eher zustimmen als Journalisten. Die Strategie der Politiker bei der Planung ihrer Vorhaben unterscheidet sich erwartungsgemäß von der Strategie der Journalisten. Allerdings
36
Tabelle 3: Zeithorizonte in Politik und Medien Frage: Politische (Journalistische) Vorhaben brauchen bis zu ihrer Verwirklichung oft viel Zeit. Wie ist das mit dem wichtigsten Vorhaben, mit dem Sie sich zurzeit beschäftigen? Bitte schätzen Sie ungefähr die Dauer in Tagen, Wochen oder Monaten.* Politiker (n=187)
Journalisten (n=235)
Tage Wochen Monate
Tage Wochen Monate
Wie viele Tage, Wochen oder Monate beschäftigen Sie sich schon mit dem Vorhaben? Gewählte Zeitintervalle in % Durchschnittlich genannte Tage, Wochen oder Monate x
3
2
74
41
20
11
168
6
25
6
4
9
3
11
62
44
18
8
69
5
19
5
2
8
1
1
48
42
12
8
188
3
117
3
2
14
Wie lange wird es vermutlich noch dauern, bis das Vorhaben zumindest vorläufig abgeschlossen ist? Gewählte Zeitintervalle in % Durchschnittlich genannte Tage, Wochen oder Monate
x
Wenn das Vorhaben abgeschlossen ist wie lange wird es sich im günstigsten Fall vermutlich auswirken? Gewählte Zeitintervalle in % Durchschnittlich genannte Tage, Wochen oder Monate
x
*
Die Befragten konnten sich für ein Zeitintervall (Tage, Wochen oder Monate) entscheiden, mit dem sie ihre Antwort offen angeben. Die Mittelwerte entsprechen den durchschnittlichen Angaben aller Befragten, die das entsprechende Zeitintervall gewählt haben. Fehlende Werte zu 100 Prozent: Keine konkrete Antwort
37
trifft dies auf zwei Aspekte nicht zu. Dies belegen die Daten in den beiden mittleren Spalten von Tabelle 4. Entgegen der Annahme ist für Politiker und Journalisten die Berücksichtigung der Dauer der Entscheidungsprozesse das wichtigste Kriterium ihrer Planung. Bei der Interpretation des Befundes ist jedoch zu beachten, dass sich Journalisten nur sehr kurz, Politiker aber sehr lang mit ihren Vorhaben befassen. Die Berücksichtung der Dauer der Vorhaben durch Politiker besitzt deshalb eine andere Tragweite als die Berücksichtigung der Dauer durch Journalisten: Wenn Journalisten durch eine Fehlkalkulation scheitern, betrifft das wenige Tage, wenn Politiker scheitern, mehrere Monate Arbeit. Überraschend ist auch, dass Politiker Übertreibungen im Interesse der Sache für wichtiger halten als Journalisten und dass Journalisten das Zurückhalten von Informationen noch etwas eher akzeptabel finden als Politiker. In allen anderen Fällen bestätigen die Aussagen der Politiker und Journalisten die Annahmen: Im Unterschied zu Journalisten sollten sich Politiker nicht um spektakuläre Einzelfälle kümmern, sondern um strukturelle Probleme; sie sollten der Meinung der Mehrheit vorausgehen; sie sollten die Meinung erfahrener Kollegen respektieren, und sie sollten die Mehrheiten und Eigeninteressen der relevanten Gremien beachten. Im Unterschied zu Politikern sollten Journalisten vor allem die Meinungen erfahrender Kollegen sowie die Eigeninteressen aller Gremien vernachlässigen, auf die sie angewiesen sind. Letzteres ist vor allem mit Blick auf die Mitarbeiter von Hörfunk- und Fernsehsendern und deren Verhältnis zu den Rundfunk- und Fernsehräten sowie den Landesmedienanstalten bedenkenswert. Die tatsächlichen Strategien der Politiker und Journalisten müssen aus den eingangs genannten Gründen von ihren Vermutungen über die Strategien im jeweils anderen Tätigkeitsbereich unterschieden werden. Die Vorstellungen der Politiker von der richtigen Strategie der Medien unterscheiden sich deutlich von den Vorstellungen der Journalisten. Die entsprechenden Daten finden sich in den beiden äußeren Spalten. Einerseits sind die Politiker weniger als die Journalisten davon überzeugt, dass Journalisten die Dauer der redaktionellen Entscheidungsprozesse in Rechnung stellen müssen. Hier fehlt es offensichtlich an Einsicht in den journalistischen Alltag. Andererseits sind sie eher der Ansicht als Journalisten, diese müssten sich mehr um strukturelle Probleme kümmern, die Meinung erfahrener Kollegen beachten, Probleme übertrieben darstellen und die Eigeninteressen aller beachten, auf die sie angewiesen sind. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass Politiker vielfach von Journalisten Verhaltensweisen erwarten, die für die Politik typisch sind. Sie tendieren zur Assimilation der Medien an die Politik. Betrachtet man die Vorstellungen der Politiker von der Strategie der Medien als Grundlage ihrer Verhaltensweisen gegenüber den Medien, kann man folgern, dass viele Politiker die Besonderheiten der Medien nicht gut genug er-
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kennen, um sich ihnen optimal anzupassen. Dies dürfte eine weitere Mediatisierung der Politik eher behindern als fördern. Ähnliche Unterschiede bestehen zwischen den Vorstellungen der Journalisten von der richtigen Strategie der Politik und den Sichtweisen der Politiker. Einerseits sind Journalisten weniger als Politiker davon überzeugt, dass diese der Meinung der Mehrheit vorangehen sollten. Damit stellen sie bewusst oder unbewusst die Führungsfunktion von Politik in Frage. Andererseits sind sie eher als Politiker der Ansicht, sie müssten sich um Strukturprobleme kümmern, die Dinge manchmal übertrieben darstellen, um etwas zu bewirken, und die Mehrheiten und Eigeninteressen der relevanten Gremien beachten. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass Journalisten von der Politik intensiver die Verhaltensweisen erwarten, die für die Politik typisch sind. Sie tendieren eher zum Kontrastieren von Politik und Medien. Betrachtet man die Vorstellungen der Journalisten als Grundlage ihrer Darstellung und Bewertung von Politik, kann man vermuten, dass Journalisten Politiker vor allem dafür kritisieren, dass diese ihrer genuinen Aufgabe nicht hinreichend gerecht werden. Antworten, die mit gleichen Buchstaben gekennzeichnet sind, unterscheiden sich statistisch signifikant. Die Signifikanzen wurden mit Varianzanalysen auf der Grundlage der Mittelwerte berechnet. Statt der Mittelwerte werden aus den bereits genannten Gründen die Prozentwerte derer ausgewiesen, die die Befolgung der genannten Verhaltensweisen richtig oder völlig richtig finden (Tabelle 4).
Taktiken Taktik gehört zum Vorgehen in vielen Tätigkeitsfeldern. Zugleich gelten taktische Tricks als ethisch fragwürdig. Die Ansichten der Politiker und Journalisten über die richtigen Taktiken bei der Durchsetzung ihrer Vorhaben wurde deshalb mit einer Frage danach ermittelt, welche fragwürdigen Vorgehensweisen sie für unvermeidbar halten. Vernachlässigt man die Ablehnung fragwürdiger Taktiken und konzentriert sich auf ihre Billigung, erkannt man zwei markante Unterschiede zwischen der Politik und den Medien. Beide Unterschiede entsprechen den Erwartungen aufgrund der Voraussetzungen, unter denen Politik und Medien operieren. Politiker halten viel eher als Journalisten im Interesse ihres Erfolges mehrdeutige Formulierungen für unvermeidbar und sie sind aus dem gleichen Grund viel eher dazu bereit, Sachfragen miteinander zu verknüpfen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Mit Blick auf alle anderen Aspekte bestehen entgegen den Erwartungen nur geringe Unterschiede zwischen Politikern und Journalisten. Bemerkenswert ist allenfalls der Grad der Ablehnung, der an den Mittelwertunterschieden erkennbar sind. Trotzdem werden in der folgenden
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Tabelle 4: Strategien von Politik und Medien und ihre wechselseitige Wahrnehmung Frage: Wer als Politiker (Journalist) Erfolg haben will, muss Regeln befolgen. Bitte geben Sie an, ob Sie die folgenden Verhaltensweisen richtig oder falsch finden.
Das ist völlig richtig, bzw. richtig : Politiker (Journ.) müssen bei ihren Plänen die Dauer von politischen Entscheidungsprozessen (redaktionellen Abläufen) einkalkulieren. Politiker (Journ.) sollten sich nicht um spektakuläre Einzelfälle kümmern, sondern um strukturelle Probleme. Politiker (Journ.) dürfen nicht lügen, sie müssen aber nicht alles sagen, was sie wissen. Politiker (Journ.) sollten der Meinung der Mehrheit vorangehen, statt ihr zu folgen. Politiker (Journ.) müssen die Meinungen erfahrener Kollegen genau so beachten wie Beweise von Experten. Politiker (Journ.) müssen die Mehrheiten und Eigeninteressen aller Gremien (müssen die Eigeninteressen aller) beachten, auf die sie angewiesen sind. Politiker (Journ.) müssen Probleme manchmal übertrieben darstellen, um etwas zu bewirken.
40
Politiker Politiker Journalisten Journalisten über über über über Journalisten Politiker Journalisten Politiker (n=88) (n=99) (n=112) (n=123) % % % %
60a,b,c
90a
86b
93c
55k
66a
34a,b,k
72b
61a,k
66
75k
83a
37k,l
65a,k
36a,b
56b,l
49b
60a
25a,b,c
65 c
21a
41a,b
14b,c
67a,c
30a,c
54a,b
23b,d
69c,d
Vorgegeben waren fünfstufige Skalen, deren Enden beschriftet waren mit völlig richtig (+2) bzw. absolut falsch (-2). Ausgewiesen ist der Anteil der Skalenwerte +1 und +2. Einfaktorielle Varianzanalysen mit Post-Hoc-Test nach Scheffé: a,b,c,d Mittelwerte mit gleichen Buchstaben unterscheiden sich signifikant (p<.01) k,l,m,n Mittelwerte mit gleichen Buchstaben unterscheiden sich signifikant (p<.05)
Tabelle die Prozentwerte derer ausgewiesen, die die fragwürdigen Taktiken für unvermeidbar halten. Beachtenswert ist, dass nur sehr wenige Politiker und Journalisten der Ansicht sind, die Behinderung und Förderung von Karrieren innerhalb und außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsbereichs seien unvermeidbar. Möglicherweise handelt es sich hierbei um ein Tabuthema, so dass Zweifel an der Gültigkeit der ermittelten Aussagen bestehen.18 Die Taktiken in Politik und Medien müssen auch hier von den Vermutungen der Politiker und Journalisten über die Vorgehensweisen im jeweils anderen Tätigkeitsfeld unterschieden werden. Sie werden wieder in den beiden äußeren Spalten der folgenden Tabelle dargestellt. Hier zeigt sich erneut die Neigung von Politikern zur Assimilation der Medien an die Politik: Politiker halten mehrdeutige Formulierungen sowie die Verknüpfung von nicht zusammen gehörenden Sachfragen im Journalismus für genau so unvermeidbar wie in der Politik. Betrachtet man die Vorstellungen der Politiker von der Taktik der Medien als Grundlage ihrer Verhaltensweisen gegenüber den Medien, kann man folgern, dass viele Politiker irrtümlicherweise annehmen, Vorgehensweisen, die in ihrem eigenen Bereich notwendig sind, wären auch im Verhältnis zu Journalisten akzeptabel. Diese Vermutung ist nach allem, was man sehen kann, falsch. Bei den Journalisten zeigt sich dagegen erneut keine Neigung zur Assimilation der Politik an die Medien. Sie sehen vielmehr die Taktik der Politik so wie die Politiker selbst. Allerdings gibt es auch keine Neigung zur Kontrastierung fragwürdiger Taktiken in Politik und Medien. Bei der Interpretation der Befunde ist zu berücksichtigen, dass die Politiker die von ihnen konzedierten Vorgehensweisen vermutlich für notwendig und vertretbar halten, während die Journalisten sie möglicherweise zwar für notwenig aber nicht für vertretbar halten. Betrachtet man die Vorstellungen der Journalisten von der Taktik der Politik als Grundlage ihrer Darstellung und Bewertung von Politik, kann man mit der erwähnten Einschränkung vermuten, dass sie die Notwendigkeit zu fragwürdigen Vorgehensweisen realistisch einschätzen. Antworten, die mit gleichen Buchstaben gekennzeichnet sind, unterscheiden sich statistisch signifikant. Die Signifikanzen wurden auf der Grundlage der Mittelwerte berechnet (Tabelle 5).
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Tabelle 5: Taktik von Politik und Medien und ihre wechselseitige Wahrnehmung Frage: vgl. folgende Seite
Unvermeidbar: Politiker (Journ.) akzeptieren bei Verhandlungen, wenn sie sich anders nicht einigen können (wenn sie mit einem Beitrag anders nicht vorankommen), zuweilen mehrdeutige Formulierungen. Politiker (Journ.) verknüpfen, um die Zustimmung ihrer Verhandlungspartner zu erhalten (um eine Geschichte interessant zu machen), zuweilen Sachfragen miteinander, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Politiker (Journ.) greifen wichtige Probleme zuweilen erst dann auf, wenn sie einigermaßen sicher sind, dass sie in den relevanten Gremien eine Mehrheit finden (in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden). Politiker (Journ.) wecken mit intensiven Klagen (anklagenden Berichten), obwohl es eigentlich nur um Einzelfälle geht, zuweilen den Eindruck, dass es sich um allgemeine Probleme handelt. Politiker (Journ.) behindern zuweilen die Karriere fähiger Kollegen, weil sie befürchten, dass sie der Verwirklichung ihrer eigenen Sachprogramme (gesellschaftlicher Reformen) im Wege stehen. Politiker (Journ.) fördern zuweilen die Karriere mittelmäßiger Kollegen, weil sie glauben, dass sie mit deren Hilfe ihre eigenen Sachprogramme (thematischen Anliegen) verwirklichen können.
42
Politiker Politiker Journalisten Journalisten über über über über Journalisten Politiker Journalisten Politiker (n=88) (n=99) (n=112) (n=123) % % % %
16a,c
52a,b
22b,d
59c,d
5a,c
46a,b
5b,d
53c,d
20k
30
35
39k
5a,c
10a,b
9b
8c
7b
10 a
4a,b,c
16c
5b
12a
3a,b,c
16c
Frage zu Tabelle 5, S. 42: In allen Berufen gibt es problematische Vorgehensweisen. Bitte geben Sie an, ob Sie die folgenden Verhaltensweisen von Politikern (Journalisten) für vermeidbar oder für unvermeidbar halten. Vorgegeben waren fünfstufige Skalen, deren Enden beschriftet waren mit vermeidbar (-2) bzw. unvereinbar (+2). Ausgewiesen ist der Anteil der Skalenwerte +1 und +2. Einfaktorielle Varianzanalysen mit Post-Hoc-Test nach Scheffé: a,b,c,d Mittelwerte mit gleichen Buchstaben unterscheiden sich signifikant (p<.01) k,l,m,n Mittelwerte mit gleichen Buchstaben unterscheiden sich signifikant (p<.05)
Risikobereitschaft Politiker und Journalisten stehen häufig vor der Entscheidung, ob sie das Risiko von Fehlschlägen eingehen bzw. handeln sollen, bevor alle Ungewissheiten beseitigt sind. Trotz dieser formalen Übereinstimmung befinden sich Politiker und Journalisten sachlich nicht in der gleichen Entscheidungssituation. Journalisten stehen vor der Alternative, durch eine verfrühte Publikation eine Falschmeldung zu verbreiten und dadurch den eigenen Ruf als zuverlässige Quelle zu gefährden oder aber durch eine verspätete Publikation Konkurrenten eine richtige Erstmeldung zu überlassen und den eigenen Ruf als Quelle aktueller Meldungen zu beschädigen. In beiden Fällen geht es nur um das eigene Ansehen, weil die richtige Meldung die Rezipienten im Zweifelsfall durch ihre Konkurrenten erreicht. Politiker stehen dagegen vor der Alternative, durch verfrühte oder durch eine verspätete Entscheidungen ihr grundlegendes Ziel, die Gestaltung von Gesellschaft zu verfehlen, weil politische Vorhaben oft nur dann realisierbar sind, wenn bestimmte Konstellationen gegeben sind und weil das eigene Scheitern nicht durch das Verhalten der Konkurrenten kompensiert wird, die in der Regel ganz andere Ziele verfolgen. Systemtheoretisch betrachtet ist das Zögern von Journalisten funktional, weil ihr grundlegendes Ziel, die Aufklärung der Bevölkerung, in jedem Fall erreicht wird, das Zögern von Politikern dagegen dysfunktional, weil ihr grundlegendes Ziel, die Gestaltung der Gesellschaft in ihrem Sinn, verfehlt wird. Den Unterschied der Entscheidungssituationen von Politikern und Journalisten kann man noch aus einer anderen Perspektive betrachten. Aus Sicht der Politiker geht es um die Beseitigung eines Schadens, eines Mangels oder einer Benachteiligung, die ohne ihre Initiative fortbestehen würden. In solchen Situationen sind die meisten Menschen risikofreudig: Sie gehen große Risiken ein, um Schäden zu vermeiden oder zu beseitigen.19 Aus Sicht der Journalisten geht es um die Vermehrung eines Nutzens, ihres Ansehens bzw. des Ansehens ihres Publikationsorgans bei den Kollegen und in der Öffentlichkeit. In solchen Situationen sind die meisten Menschen risikoscheu: Um ihren Nutzen zu vermehren, gehen sie keine großen Risiken ein. Aus beiden theoretischen Annahmen kann
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man folgern, dass Politiker das Risiko von Fehlschlägen nicht scheuen und auch dann entscheiden sollten, wenn nicht alle Ungewissheiten beseitigt sind. Journalisten sollten dagegen das Risiko von Fehlschlägen scheuen und eine Meldung erst dann publizieren, wenn alle Ungewissheiten beseitigt sind.20 Die empirischen Daten bestätigen die theoretische Annahme: Die meisten Politiker sind der Ansicht, Politiker würden irrational handeln, wenn sie das Risiko von Fehlschlägen scheuen, bzw. wenn sie nicht entscheiden würden, bevor alle Ungewissheiten beseitigt sind. Darin werden sie von den meisten Journalisten bestätigt. Die meisten Journalisten sind dagegen der Ansicht, Journalisten würden rational handeln, wenn sie das Risiko von Fehlschlägen scheuen und nichts veröffentlichen würden, bevor alle Ungewissheit beseitigt sind. Darin werden sie von den meisten Politikern bestärkt. Dies zeigt: Was in einem Subsystem rational ist, ist im anderen irrational und umgekehrt. Betrachtet man die Vorstellungen der Politiker von der Risikobereitschaft der Journalisten als Grundlage ihrer Verhaltensweisen gegenüber den Medien, kann man folgern, dass die meisten Politiker richtig erkennen, dass Journalisten nicht die gleichen Risiken eingehen wie sie selbst, und dass sie von ihnen auch keine entsprechenden Publikationen erwarten können. Betrachtet man die Vorstellungen der Journalisten von der Risikobereitschaft der Politiker in gleicher Weise, kann man folgern, dass die meisten Journalisten richtig erkennen, dass Politiker größere Risiken eingehen als sie selbst und dass sie das Verhalten der Politiker realistisch einschätzen und darstellen (Tabelle 6). Zusammenfassung und Diskussion Die Rationalität der Politik unterscheidet sich deutlich von der Rationalität der Medien. Dies gilt zumindest für das Verhalten von Politikern und Journalisten im Bereich der Bundespolitik. Ob es auf das Verhalten der Politiker und Journalisten auf den Landes- und Kommunalebenen zutrifft, kann hier nicht beurteilt werden. Die Unterschiede manifestieren sich in den Erfolgsvoraussetzungen, konkreten Zielsetzungen, Zeithorizonten, Strategien, Taktiken und der Risikobereitschaft von Politikern und Journalisten. In allen Fällen bestehen mehr oder weniger markante Unterschiede zwischen dem, was Politiker und Journalisten für notwendig, sinnvoll und akzeptabel halten. Je größer diese Unterschiede sind, desto größer ist der Spielraum für eine weitere Mediatisierung der Politik. Nimmt man an, dass sich die Mediatisierung der Politik fortsetzt und orientierte sich an den größten Unterschieden, kann man die folgenden Annahmen formulieren: Die Erfolgsvoraussetzungen von Politik werden sich aufgrund der Anpassung der Politiker an die Erfolgsbedingungen der Medien vor allem in vier Berei-
44
Tabelle 6: Risikobereitschaft in Politik und Medien Frage: Wie beurteilen Sie Politiker (Journalisten), die das Risiko von Fehlschlägen scheuen, bzw. keine Entscheidung treffen (nichts veröffentlichen), bevor alle Ungewissheiten beseitigt sind? Politiker Politiker Journalisten Journalisten über über über über Politiker (Journalisten), die Journalisten Politiker Journalisten Politiker das Risiko von Fehlschlägen (n=88) (n=99) (n=112) (n=123) scheuen, handeln
% % % %
vernünftig.
55
15
60
29
... nicht vernünftig.
28
66
23
56
weiß nicht / keine konkrete Antwort
17
19
17
15
Summe *
100
100
100
100
vernünftig.
68
26
55
34
... nicht vernünftig.
18
57
26
47
weiß nicht / keine konkrete Antwort
14
17
20
19
Summe *
100
100
101
100
Politiker (Journalisten), die nicht entscheiden (nichts veröffentlichen, bevor alle Ungewissheiten beseitigt sind, handeln
* Abweichungen von 100 sind rundungsbedingt. Angst vor Fehlschlägen: Politiker über Politiker vs. Journalisten über Journalisten: Chi2 = 49.08, df=2, p<0.01; Politiker über Politiker vs. Politiker über Journalisten: Chi2 = 35.01, df=2, p < 0.01; Journalisten über Journalisten vs. Journalisten über Politiker: Chi2 = 29.05, df=2, p<0.01 Entscheidungsangst bei Ungewissheit: Politiker über Politiker vs. Journalisten über Journalisten: Chi2 = 22.58, df=2, p<0.01; Politiker über Politiker vs. Politiker über Journalisten: Chi2 = 36.00, df=2, p<0.01; Journalisten über Journalisten vs. Journalisten über Politiker: Chi2 = 12.71, df=2, p<0.01
45
chen ändern Politiker werden andere Menschen weniger davon überzeugen, was notwendig und richtig ist; sie werden weniger versuchen, Vorurteile abzubauen; sie werden weniger prüfen, mit wem man ein Ziel verfolgen kann und sie werden weniger prüfen, wem man glauben kann. Bei den beiden zuerst genannten Entwicklungen handelt es sich um eine Reduzierung des Führungsanspruchs der Politik, bei den beiden zuletzt genannten um eine Schmälerung der Grundlagen genuin politischer Macht. Die Kriterien der Entscheidung für oder gegen konkrete Vorhaben der Politik werden sich aus dem gleichen Grund auf vierfache Weise ändern: Politiker werden weniger prüfen, ob ihre Vorhaben zur Grundhaltung der Partei passen; intensiver prüfen, ob sie in den Gremien Aussicht auf Erfolg haben; stärker darauf achten, ob sie bei den Medien eine positive oder negative Resonanz finden und genauer untersuchen (lassen), ob sie die Bevölkerung interessieren. Bei der zuerst genannten Entwicklung handelt es sich um einen Bedeutungsverlust relativ stabiler politischer Ideologien, bei den beiden zuletzt genannten um einen Bedeutungsgewinn von schnell wechselnden Opportunitäten. Der Zeithorizont der Politik wird deutlich schrumpfen: Politiker werden sich weniger lange mit Vorhaben befassen und dazu möglicherweise die Verfahren abkürzen, und sie werden die langfristigen Folgewirkungen ihrer Entscheidungen seltener bedenken und bei ihren Entscheidungen in Rechnung stellen. Bei beiden Entwicklungen handelt es sich um eine Verminderung von langfristigen Zielplanungen, wobei die Beschleunigung der Verfahren möglicherweise mit einem Verlust an Sorgfalt, Transparenz und Verantwortungsbewusstsein verbunden ist. Die Strategien der Politik werden sich auf fünffache Weise ändern: Politiker werden sich eher um spektakuläre Einzelfälle statt um strukturelle Probleme kümmern, dabei aber Probleme seltener übertreiben, um etwas zu bewirken; sie werden der Meinung der Mehrheit öfter folgen statt ihr vorauszugehen und dabei die Meinungen erfahrener Kollegen und die Eigeninteressen der Gremien, auf die sie angewiesen sind, weniger respektieren. Bei den zuerst genannten Entwicklungen handelt es sich um eine Verminderung gesamtgesellschaftlicher Problemlösungsfähigkeit, verbunden mit einer Reduzierung von Übertreibungen im Interesse von Problemlösungen. Bei den sodann genannten Entwicklungen handelt es sich um eine Preisgabe der Führungsfunktion der Politik und ihrer Einrichtungen. Die Taktiken der Politik werden sich schließlich in zwei Bereichen ändern: Politiker werden bei Verhandlungen seltener mehrdeutige Formulierungen akzeptieren, die eine Einigung ermöglichen, und sie werden, um die Zustimmung ihrer Verhandlungspartner zu erhalten, seltener Sachfragen miteinander verknüpfen, die eigentlich nichts miteinander zu tu haben. Bei beiden Entwicklungen
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handelt es sich um eine Verminderung der Konsensfähigkeit bei ernsten Konflikten. Sie ist im zuletzt genannten Fall mit einem Gewinn an sachlicher Klarheit verbunden. Den Veränderungen der Politik stehen mehrere Hindernisse entgegen. Ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zu einer weiteren Mediatisierung der Politik sind die Verfahrensregeln der Politik in einer parlamentarischen Demokratie, denen sich einzelne Politiker auch dann nicht entziehen können, wenn sie es aus dem Bedürfnis nach Medienresonanz wollen. Ein zentrales Element der Verfahrensregeln ist die gestaffelte Beteiligung mehrerer Organe an Entscheidungen. Es verlangt von Politikern bestimmte Strategien und Taktiken, motiviert sie zum Denken in langen Zeiträumen und zwingt sie zur Akzeptanz von kalkulierten Risiken. Eine Beseitigung oder Schwächung dieser Verfahrensregeln könnte die Entscheidungsprozesse beschleunigen. Eine in den Medien viel diskutierte Forderung ist in diesem Zusammenhang die Einführung von Elementen der direkten Demokratie. Sie würde die Entscheidungsprozesse beschleunigen und nach Ansicht ihrer Befürworter das politische Engagement der Bürger fördern. Zugleich würden sie die Mediatisierung der Politik fördern, weil nur die Medien den Politikern und ihren Plänen die erforderliche Publizität und Akzeptanz verschaffen können. Dadurch würde sich, wie die Einführung der Vorwahlen in den USA anschaulich zeigt, die Macht nicht von den Parteien auf die Bürger, sondern von der Politik auf die Medien verlagern. Ein weiteres Hindernis für die erwähnten Entwicklungen sind nach den vorliegenden Daten die Vorstellungen vieler Politiker von den Strategien der Medien. Aus Sicht der Politiker sollten sich Journalisten in vielen Fällen so verhalten wie sie selbst. Aus Sicht der Journalisten besitzen viele Politiker aber unrealistische Vorstellungen von zielführenden Vorgehensweisen in den Medien. Politiker unterschätzen die Bedeutung von redaktionellen Abläufen für journalistisches Handeln. Sie überschätzen die Möglichkeiten der Medien zur Behandlung von strukturellen Problemen und zur Orientierung an den Meinungen erfahrener Kollegen. Der erste Sachverhalt dürfte eine Folge einer unzureichenden Kenntnis des journalistischen Alltags sein. Der zweite und dritte Sachverhalt dürften darauf zurückzuführen sein, dass sich viele Politiker kaum vorstellen können, wie groß der Zeitdruck im Journalismus und wie kurz die Aufmerksamkeit des Publikums sind. Dies setzt intensiven Gesprächen mit erfahren Kollegen und differenzierten Beiträgen über Strukturprobleme enge Grenzen. Die Wissenslücken der Politiker dürften sich beseitigen lassen. So lange sie existieren, stehen sie jedoch einer stärkeren Anpassung an die Rationalität der Medien im Wege. Ein Hindernis für die erwähnten Entwicklungen sind schließlich die Vorstellungen der meisten Journalisten von den angemessenen Strategien und Taktiken der Politik. Journalisten sind noch eher als Politiker davon überzeugt, dass
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Politiker nicht lügen dürfen und dass sie die Mehrheiten und Eigeninteressen der Gremien beachten müssen, auf die sie angewiesen sind. Zugleich halten sie es noch eher als Politiker für notwendig, dass Politiker zur Durchsetzung ihrer Vorhaben gelegentlich Probleme übertrieben darstellen und zur Verwirklichung ihrer Vorhaben gelegentlich Sachfragen miteinander verknüpfen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. In diesen Sichtweisen manifestiert sich eine Wertschätzung politischer Führung durch Journalisten. In die gleiche Richtung deutet die Erwartung vieler Journalisten an die Risikobereitschaft der Politiker. Dies deutet darauf hin, dass Politiker mit der Anpassung ihrer Verhaltensweisen an die Bedürfnisse der Medien zwar kurzfristig Erfolge haben können, langfristig aber Nachteile in Kauf nehmen müssen. Ob und inwieweit Politiker ihre Denk- und Verhaltensweisen auf den genannten Wegen den Erfolgsbedingungen der Medien anpassen, muss offenbleiben, weil derartige Veränderungen von vielen Faktoren abhängen, die in die vorliegende Untersuchung nicht einbezogen werden konnten. Dazu gehören die möglichen Veränderungen von Verfahrensregeln der Politik und der inneren Verfassung der Parteien, der Strukturen der Medienmärkte und der Arbeitsweise von Journalisten sowie der neuen Möglichkeiten zur Umgehung der traditionellen Medien mit dem Internet. Falls und insofern Politiker aber ihre Denk- und Verhaltensweisen tatsächlich auf die skizzierte Art den Erfolgsbedingungen der Medien anpassen, ist mit erheblichen Funktionsverlusten der Politik zu rechnen. Im Wesentlichen würde es sich um eine Vernachlässigung der langfristigen Lösung von strukturellen Problemen zugunsten kurzfristiger Erfolge handeln. Begleitet wäre dies von einem dauerhaft glaubhaften Anspruch auf politische Führung.
1 Vgl. Ulrich Sarcinelli: Parteien und Politikvermittlung: Von der Parteien- zur Mediendemokratie? In: Derselbe (Hrsg.): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft. Beiträge zur politischen Kommunikation. Wiesbaden 1998, S. 273-296, Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1998, S. 145-163; Gianpietro Mazzoleni / Winfried Schulz: Mediatization of Politics: A Challenge for Democracy? In: Political Communication 14 (1999) S. 247-261; Winfried Schulz: Reconstructing Mediatization as an Analytical Concept. In: European Journal of Communication 19 (2004) S. 87-101. 2 Vgl. den Beitrag Politische Rationalität und publizistischer Erfolg in diesem Band. 3 Vgl. den Beitrag Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen in diesem Band. 4 Zu erwähnen sind Untersuchungen zum Einfluss von Organisationsstrukturen auf die Abläufe in Redaktionen. Vgl. Frank Esser: Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und deutscher Journalismus im Vergleich. Freiburg i. Br. 1998; zum Einfluss der Sozialisation von Nachwuchsredakteuren auf das Verhalten vgl. Warren Breed: Social Control in the Newsroom: A Functional Analysis. In: Social Forces 33 (1955) S. 326-335; sowie auf das zielführende Verhalten bei der Recherche vgl.
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Michael Haller: Recherchieren: Ein Handbuch für Journalisten. 5. überarbeitete Auflage, Konstanz 2000; zum Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf die Nachrichtengebung vgl. Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg i. Br. 1997; zum Einfluss der Kollegen auf das eigene Verhalten vgl. Carsten Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer. Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus der Gegenwart. Köln 2003. Hinzu kommen zahlreiche empirische Untersuchungen zum RollenSelbstbild von Journalisten, die die journalistische Handlungslogik jedoch allenfalls nebenbei behandeln. Vgl. Siegfried Weischenberg / Maja Malik / Arnim Scholl: Die Souffleure der Mediengesellschaft: Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz 2006. 5 Vgl. Hannah Arendt: Politik und Freiheit. In: Die Neue Rundschau 4 (1958) S. 670-694; Hans Buchheim: Die Rationalität der politischen Vernunft. Berlin 2004; Michael Oakeshott: Rationalism in Politics and Other Essays. Indianapolis 1991; Waldemar Schreckenberger: Informelle Verfahren der Entscheidungsvorbereitung zwischen der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen: Koalitionsgespräche und Koalitionsrunden. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 25 (1994) S. 329-346; derselbe: Veränderungen im parlamentarischen Regierungssystem. Zur Oligarchie der Spitzenpolitiker der Parteien. In: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag. Berlin 1992, S. 133-157. Eine Reihe weiterer Studien präsentiert Tätigkeitsfelder von Politikern. Vgl. Thomas Meyer: Was ist Politik? 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2003. 6 Vgl. hierzu Max Weber: Der Beruf zur Politik (1919). In: Derselbe: Soziologie. Analysen. Politik. Stuttgart 1964, S. 167-185; Thomas E. Patterson: Out of Order. New York 1993; Jochen Hoffmann: Inszenierung und Interpenetration. Das Zusammenspiel von Eliten aus Politik und Journalismus. Wiesbaden 2003. 7 Zur Vereinfachung der Darstellung geht es nur um die aktuelle Berichterstattung der Medien. Die Unterhaltung folgt einer eigenen Rationalität, die Schnittmengen mit den Rationalitäten von Politik und aktueller Medienberichterstattung besitzt, mit ihnen aber nicht identisch ist. 8 Dies ist vielfach mit Machtansprüchen verbunden, was hier jedoch vernachlässigt werden muss. Das gilt umgekehrt auch für die Aufklärungsabsichten von Politikern. 9 Vgl. Niklas Luhmann: Macht. Stuttgart 1975; Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. 2. Auflage, Tübingen 1992. 10 Vgl. Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 7. Auflage, Wiesbaden 2006. 11 Dies gilt für die deutschen Medien noch mehr als für die angelsächsischen. Vgl. Frank Esser: Die Kräfte hinter den Schlagzeilen, a. a. O. 12 Beispiele hierfür liefern die Räte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Der Einfluss der Rundfunkräte auf die Programmgestaltung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten. In: Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.): Offene Rundfunkordnung. Prinzipien für den Wettbewerb im grenzüberschreitenden Rundfunk. Gütersloh 1988, S. 453-493. 13 Dies verbindet die Medien mit der Wissenschaft, der jedoch eine andere Form von Rationalität zugrunde liegt. Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Lebensklugheit und wissenschaftliche Rationalität. Bemerkungen zum öffentlichen Konflikt verschiedener Denkstile. In: Oskar W. Gabiel / Ulrich Sarcinelli / Bernhard Sutor / Bernhard Vogel (Hrsg.): Der demokratische Verfassungsstaat. Theorie. Geschichte. Probleme. München 1992, S. 177-193. 14 Nicht befragt wurden Mitarbeiter von Pressebüros, Verbandszeitschriften und Fotografen. 15 Der Rücklauf beträgt bereinigt um stichprobenneutrale Ausfälle für die Politiker 31 %, für die Journalisten 40 %. Anteil Männer in Politik: 66 %, in Journalismus: 72 %. Fraktionszugehörigkeit der Politiker: 39 % CDU/CSU; 29 % SPD; 12 % FDP; 11 % DIE GRÜNEN; 5 % DIE LINKE; Tätigkeitsbereiche der Journalisten: 28 % Fernsehen, 27 % Tageszeitungen; 17 % Hörfunk; 8 % Wochenblätter; 19 % andere (u. a. Magazine, Agenturen). Die Abgeordneten der FDP und der LIN-
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KEN sind in der Stichprobe leicht überrepräsentiert, die der SPD leicht unterrepräsentiert. Der Rücklauf vor allem der Politiker liegt erheblich unter dem Rücklauf der ersten Befragung der Bundestagsabgeordneten (vgl. den Beitrag Erfahrungen von Bundestagsabgeordneten mit Journalisten in diesem Band), jedoch etwas über dem Rücklauf einer Befragung der Bundestagsabgeordneten durch die Universität Jena im Jahr 2007 (28 %) (vgl. www.SFB580.PROJEKTA3.DE.VU). 16 Der Rücklauf in den jeweiligen Teilgruppen unterscheidet sich nicht nennenswert. Auch Merkmale wie Geschlecht, Fraktionszugehörigkeit (Politiker) und Tätigkeit für verschiedene Mediengattungen (Journalisten) unterscheiden sich nicht bemerkenswert. Die Gruppen sind deshalb direkt vergleichbar. 17 Vgl. Carsten Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer a. a. O. 18 Die Förderung oder Behinderung der Karriere von Kollegen kann man mit gutem Grund als Aspekt von Strategie betrachten. Sie wurden aus fragebogentechnischen Gründen zusammen mit den Aussagen zur Taktik vorgelegt. 19 Vgl. hierzu Amos Tversky / Daniel Kahnemann: Rational Choice and the Framing of Decisions. In: Journal of Business 59 (1986) S. S420-S278. 20 Von dieser generellen Regel gibt es eine Ausnahme. Sie tritt dann ein, wenn Journalisten in eine ähnliche Lage kommen wie Politiker und etwa zur Abwehr einer drohenden Katastrophe Meldungen auch dann publizieren sollten, wenn sie nicht gesichert sind.
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Politiker als Protagonisten der Medien
Politiker sind wie andere Personen des öffentlichen Lebens häufig Gegenstand von Medienberichten. Sie werden namentlich genannt und im Bild gezeigt, ihre Absichten und Aktionen werden berichtet und kritisiert usw. Wenn sie nicht namentlich genannt werden, werden sie indirekt angesprochen, weil es um ihre Partei geht, um Gremien, denen sie angehören, oder um Sachfragen, mit denen sie als Politiker befasst sind. Personen, über die die Medien berichten, werden hier als Protagonisten der Berichterstattung bezeichnet. Sie bilden eine Minderheit der Rezipienten, sind in das berichtete Geschehen aber stark involviert. Personen, auf die die oben genannten Bedingungen nicht zutreffen, werden im Folgenden als Beobachter bezeichnet. Sie bilden die Masse der Rezipienten, sind in das berichtete Geschehen relativ wenig involviert. Die Einflüsse der Medien auf die Protagonisten der Berichterstattung werden in Anlehnung an einen Begriff von Kurt Lang und Gladys Engel Lang als reziproke Effekte bezeichnet. Der Begriff wird hier umfassend gebraucht und bezeichnet die Wirkung auf alle, über die die Medien berichten einzelne, namentlich genannte Personen und Mitglieder von Organisationen, die zwar nicht namentlich genannt, aber aus ihrer Sicht eindeutig angesprochen sind. Reziproke Effekte beruhen auf der persönlichen Betroffenheit und auf der spezifischen Mediennutzung der gesellschaftlichen Akteure, die sich selbst oder ihr Tätigkeitsfeld als Gegenstand der Berichterstattung sehen. Die Rezeption der Berichte durch Protagonisten erstreckt sich theoretisch auf vier Wahrnehmungsdimensionen: 1) Selbstwahrnehmung: Sie bilden sich ein Urteil darüber, wie sie selbst und ihre Tätigkeit erscheinen ob sie sich z. B. vorteilhaft oder unvorteilhaft verhalten haben, was aus ihrer Sicht tatsächlich geschehen ist usw. Hier geht es um das Geschehen selbst, die Gegenstände der Berichterstattung. 2) Berichtswahrnehmung: Sie bilden sich anhand der Berichterstattung eine Meinung darüber, wie die Medien das aktuelle Geschehen darstellen und bewerten. Hier geht es weniger um das Geschehen als um die Berichterstattung die Auswahl und Bewertung der Fakten durch die Medien. Dabei stellen sie Vermutungen darüber an, wie die Medien den gleichen Sachverhalt oder ähnliche Geschehnisse in Zukunft behandeln werden. 3) Wirkungsvermutungen: Hierbei handelt es sich um jene Effekte, die sie bei anderen annehmen. Politiker bilden sich anhand der Beiträge ein Urteil darüber, welchen Ein-
druck ihre nähere und fernere soziale Umgebung sowie die Bevölkerung allgemein anhand der Berichte gewinnen und wie sie auf die Darstellung reagieren, ob sie ihr Verhalten billigen oder Initiativen erwarten. 4) Wirkungserfahrungen: Hierbei handelt es sich um direkte Effekte der Beiträge, die bei den Rezipienten selbst eintreten und von ihnen auch wahrgenommen werden. Beispiele für erfahrene Wirkungen auf Protagonisten der Berichterstattung sind spontaner Ärger oder Freude über negative bzw. positive Beiträge.1 Die Effekte der Berichte auf Protagonisten erstrecken sich auf drei Wirkungsdimensionen: 1) Kognitionen: Hierbei handelt es sich um die durch die Berichte hervorgerufenen Vorstellungen der Protagonisten. 2) Emotionen: Hierbei handelt es sich um die durch die Berichte hervorgerufenen Empfindungen der Protagonisten. 3) Verhaltensweisen: Hierbei handelt es sich um Wirkungen, die direkt beobachtbar sind. Hierzu gehören u. a. Beratungen, Anweisungen, öffentliche Auftritte als Folge von Medienberichten. Die Verhaltenweisen der Protagonisten können die Folge ihrer Wirkungserfahrungen und Wirkungsvermutungen sein. Für das Verhalten ist es unerheblich, ob die Wirkungsvermutungen zutreffen. Entscheidend ist, dass sie solche Wirkungen annehmen und ihr eigenes Verhalten danach ausrichten. Vermutlich bestehen zwischen Verhaltensweisen, Kognitionen und Emotionen Wechselwirkungen: Die Verhaltenweisen sind nicht nur Folgen von Kognitionen und Emotionen. Sie beeinflussen diese auch. Zu Verhaltensweisen der Protagonisten gehören ihre Kontakte zu den Medien. Dabei kann man theoretisch zwei Strategien unterscheiden: 1) Einflussnahme auf die Medien: Sie verändern im Erfolgsfall den Charakter der Medien, bzw. der Medienberichte. Beispiele hierfür sind im Falle negativer Berichterstattung Beschwerden beim Deutschen Presserat, presserechtliche Maßnamen, politischer Druck auf die Redaktion sowie Gesetze und Verträge, die die Handlungsmöglichkeiten der Medien beschränken. 2) Anpassung an die Medien. Sie verändern potenziell den Charakter der Politik, weil sich die Politik den Erfolgsbedingungen der Medien unterwirft. Dieser Sachverhalt wird üblicherweise als Mediatisierung der Politik bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die zunehmende Kritik von Politikern an Politikern der eigenen Partei, die wegen ihres hohen Nachrichtenwertes ihren Niederschlag in der Berichterstattung findet und auf Kosten der Organisation die Sichtbarkeit ihrer Mitglieder fördert. Mediennutzung der Protagonisten Weil die Protagonisten von Medienberichten von den Berichten und ihren möglichen Wirkungen selbst betroffen sind, kann man annehmen, dass sie mehr derartige Berichte nutzen und dass sie sie intensiver rezipieren als die Masse der un-
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beteiligten Beobachter. Hierzu Beispiele aus der Politik und der Justiz: Die Hälfte der Landtagsabgeordneten (50 %) lesen, wenn ihre Landespartei von den Medien massiv kritisiert oder sogar angeprangert wird generell viel mehr Beiträge über die Landespartei als normalerweise, fast zwei Drittel (63 %) verfolgen einzelne Beiträge viel aufmerksamer als normalerweise.2 Etwas mehr als die Hälfte der Richter (51 %) und Staatsanwälte (47 %) verfolgen die Berichterstattung über die Verfahren, an denen sie beteiligt sind, intensiver als die Berichterstattung über andere Verfahren. Relativ viele lesen viel mehr Beiträge als über andere Prozesse (Richter 27 %, Staatsanwälte 44 %). Einige lesen Blätter, die sie normalerweise nicht beachten (Richter 19 %, Staatsanwälte 22 %). Allerdings lesen nur sehr wenige einzelne Beiträge immer wieder (Richter 2 %, Staatsanwälte 4 %).3 Aus diesen Befunden kann man vorsichtig folgern, dass die Protagonisten die Berichterstattung über ihre eigene Tätigkeit intensiver verfolgen als die Berichterstattung über die Tätigkeit ihrer Kollegen. Sie setzen sich folglich sehr hohen Mediendosen aus. Dies dürfte dazu führen, dass sie von der Berichterstattung über die jeweiligen Themen selbst mehr beeinflusst werden als unbeteiligte Beobachter, die sich wesentlich geringeren Mediendosen aussetzen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie die Botschaften der Berichte und Kommentare einfach übernehmen. Quellen reziproker Effekte Der direkte Einfluss der Medien auf die Protagonisten ihre Wirkungserfahrung ist theoretisch um so größer, je mehr Ansehen die Medien bei den Protagonisten und in ihrer soziale Umgebung genießen: Kritik von Medien, die man schätzt, ist schmerzlicher, Lob von solchen Medien erfreulicher als entsprechende Aussagen von Medien, die man nicht schätzt. Der entscheidende Wirkfaktor ist demnach in solchen Fällen nicht die Reichweite (Auflage, Zuschauerzahl), sondern die Reputation der Medien. Einen Beleg hierfür liefert eine schriftliche Befragung von 184 Bundestagsabgeordneten im Jahr 1997. Einen sehr großen Einfluss auf die Bundestagsabgeordneten schreiben die Parlamentarier vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (46 %) und dem Spiegel (41 %) zu. Erst danach folgen die Tagesschau (36 %) und heute (34 %) sowie die Tagesthemen (33 %) und das heute journal (32 %). Von den Medien mit großer Reichweite besitzen nach Aussagen der Parlamentarier nur Bild (28 %) und Focus (28 %) einen entsprechenden Einfluss. Mit großem Abstand folgen die Fernsehnachrichten der Privatsender sowie die politischen Magazine der öffentlichrechtlichen Anstalten. Auch die Leiter der Kommunikationsabteilungen von deutschen Großunternehmen schreiben vor allem den genannten Qualitätszeitun-
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gen einen großen Einfluss auf Entscheidungen ihrer Unternehmen zu, wobei sie der Reputation des Blattes in der Wirtschaft entsprechend das Handelsblatt ähnlich häufig nennen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (17 % vs. 21 %).4 Verarbeitung der Mediendarstellungen durch Protagonisten Die Protagonisten kennen im Unterschied zu unbeteiligten Beobachtern das dargestellte Geschehen mehr oder weniger gut aus eigener Anschauung. Folglich vergleichen sie die Darstellung mit ihren eigenen Eindrücken. Die an einem Geschehen beteiligten Akteure führen ihr Verhalten in hohem Maße auf die Umstände ihres Handelns zurück. Die unbeteiligten Beobachter erklären es dagegen vor allem mit dem Charakter und den Motiven der Akteure.5 Eine wichtige Ursache dieses fundamentalen Attributionsfehlers ist der unterschiedliche Informationsstand der Akteure und Beobachter: Die Akteure kennen den verfügbaren Handlungsspielraum, die Handlungsalternativen und ihre Risiken, und sie wissen oft auch, welche Folgen ihr früheres Verhalten in ähnlichen Situationen hatte. Die Beobachter verfügen meist nicht oder nur teilweise über diese Informationen. Folglich entwickeln sie implizite Persönlichkeitstheorien Vorstellungen vom Charakter und den Motiven der Akteure mit denen sie ihr Verhalten erklären. Die generellen Unterschiede zwischen den Sichtweisen von Akteuren und Beobachtern sind bei der Erklärung von negativen Verhaltensweisen besonders groß, weil sich in diesen Situationen die Akteure häufig mit dem Hinweis auf die Umstände entlasten. Zugleich halten die Beobachter Hinweise auf die Umstände ihres Verhaltens oft auch dann für unglaubwürdige Ausreden, wenn sie sachlich richtig sind. Journalisten sind berufsmäßige Beobachter, die das Geschehen aus der Perspektive von Beobachtern sehen. Im Mittelpunkt ihrer Darstellung steht deshalb meist die Beschreibung des Charakters und der Motive der Protagonisten. Die Protagonisten sind deshalb der Meinung, ihr Verhalten werde irreführend dargestellt: Sie sehen sich als Personen präsentiert, die ohne Rücksicht auf Umstände frei handeln konnten, was den aus ihrer Sicht falschen Eindruck vermittelt, dass sie für alle unbeabsichtigten negativen Folgen ihres Verhaltens voll verantwortlich sind. Hiezu Beispiele aus Politik und Wirtschaft und Justiz: Vier Fünftel der Landtagsabgeordneten (82 %) sind der Überzeugung, bei der letzten massiven Kritik der Medien an ihrer Landespartei seien die Fakten völlig oder teilweise falsch dargestellt worden. Zwei Drittel (67 %) von ihnen sind der Ansicht, Umstände, auf die die Partei keinen Einfluss hatte seien verschwiegen, heruntergespielt worden.6 Leiter der Kommunikationsabteilungen von Großunternehmen sehen dies ähnlich. Mehr als die Hälfte von jenen, deren Unternehmen nach ihrer
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Überzeugung zum Gegenstand falscher Berichte wurden, beklagen, dass die Umstände, auf die das Unternehmen keinen Einfluß hatte,
verschwiegen oder heruntergespielt wurden (57 %).7 Auch Richter (48 %) und Staatsanwälte (52 %) sehen Fehler in der Berichterstattung über ihr Verhalten bei Strafprozessen vor allem darin, dass Umstände, auf die das Gericht keinen Einfluß hatte, falsch dargestellt oder heruntergespielt wurden.8 Folglich liegen die Ursachen falscher Darstellung aus Sicht der Protagonisten oft weniger in der Publikation falscher Tatsachenbehauptungen als im Verschweigen wichtiger Fakten, gegen das sie presserechtlich nichts unternehmen können. Stärke reziproker Effekte Geht man von den Annahmen aus, dass die Protagonisten der Medienberichte sich besonders hohen Mediendosen aussetzen, die Beiträge aufgrund ihrer Betroffenheit sehr aufmerksam verfolgen und entsprechend sensibel reagieren, kann man folgern, dass Medien auf die Protagonisten eine stärkere Wirkung besitzen als auf die Masse der unbeteiligten Beobachter. Hinweise darauf, dass diese Annahme zutrifft, liefern Wirkungsvermutungen von Journalisten. Zwar meint mehr als die Hälfte (63 %) einer kleinen aber repräsentativen Stichprobe von Zeitungsredakteuren, dass einzelne Beiträge
überhaupt keinen nennenswerten Einfluß auf die Gesellschaft besitzen. Zugleich glauben aber fast alle (96 %), dass selbst einzelne Beiträge
einen erheblichen Einfluß auf Personen besitzen, über die sie berichten.9 Einen eindeutigen Beweis für die Vermutung, dass selbst einzelne Berichte auf Protagonisten eine größere Wirkung ausüben als auf die Masse der Beobachter enthält ein methodisch aufwendiges Feldexperiment.10 Gegenstand des Experimentes sind die Reaktionen verschiedener Personengruppen auf einen längeren Fernsehbericht über Missbrauch und Betrug im Gesundheitswesen der USA, den die Wissenschaftler vorher kannten. Die Hälfte der Gruppen wurde gebeten, den Bericht zu sehen, die andere wurde gebeten, ihn nicht zu sehen. Die Angehörigen der Gruppen wurden etwa eine Woche vor sowie kurz nach dem Bericht befragt. Die hier relevanten Befunde kann man folgendermaßen zusammenfassen: Auf die Problemwahrnehmung der Politiker, die mit dem Thema mehr oder weniger intensiv befasst waren, wirkte der Bericht stärker als auf die Problemwahrnehmung der Bevölkerung. Zudem beeinflusste er die Vorstellungen der Politiker von der Problemwahrnehmung der Bevölkerung. Allerdings änderte dies nichts daran, dass das Thema auf ihrer Liste der dringlichen Fragen weiterhin am Ende rangierte. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu beachten, dass der Einfluss eines einzigen Fernsehberichtes ermittelt wurde. Die Berichterstattung über
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alle bedeutenden Themen wie die Gesundheitsreform, den Umweltschutz oder den Klimawandel besteht jedoch aus einer sehr großen Zahl von z. T. spektakulären Beiträgen innerhalb eines längeren Zeitraums. Dies dürfte die Wirkungsunterschiede erheblich vergrößern, weil das Interesse der unbeteiligten Zuchauer wesentlich schneller erlahmt als das Interesse der mit der Thematik beruflich befassten Protagonisten. Einen besonders starken Einfluss besitzen Medienberichte bei der Skandalierung der Protagonisten, weil hier eine hohe Berichtsintensität einhergeht mit einer starken Konsonanz und einem eindeutig negativen Tenor der Berichterstattung. Die Folge sind starker Stress und skandaltypische Fehlreaktionen der angeprangerten Protagonisten das plötzliche Umkippen einer trotzigen Abwehrhaltung in panikartige Unterwerfung unter die Forderungen der Skandalierer sowie der Verlust von politischen Ämtern.11 Zeitpunkte reziproker Effekte Politiker reagieren nicht nur auf vorangegangene Berichte, sondern versuchen auch, positive Beiträge herbeizuführen sowie negative Beiträge zu verhindern. Entsprechend kann man pro-aktive, inter-aktive und re-aktive Effekte unterscheiden. Pro-aktive Effekte sind Wirkungen zukünftiger Berichte auf die Verhaltensweisen potenzieller Protagonisten, die sie verhindern oder herbeiführen wollen. Man kann sie auch als antizipierende Reaktionen bezeichnen. Beispiele hierfür sind Interventionen in Redaktionen und Exklusivinterviews. Inter-aktive Effekte sind Wirkungen, die während der Kontakte mit den Medien von ihnen ausgehen. Ein Beispiel hierfür sind Einflüsse der Studio-Atmosphäre auf das nonverbale Verhalten von Gästen einer TV-Talk-Show. Re-aktive Effekte sind Wirkungen, die bereits erschienene Berichte auf Protagonisten ausüben. Man kann sie auch als korrigierende Reaktionen bezeichnen. Bei den re-aktiven Effekten handelt es sich um die Folgen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Hier sind die Verhaltensweisen der Politiker Folgen der Berichte, die mit Hilfe kausaler Theorien erklärt werden müssen. Bei den pro-aktiven Effekten handelt es sich um die Folgen von Zweck-Mittel-Relationen. Hier sind die Verhaltensweisen der Politiker Mittel, um Ziele zu erreichen, die mit finalen bzw. funktionalen Theorien erklärt werden müssen. Eine rein kausale Betrachtung wird der Gesamtproblematik folglich nicht gerecht. Sie muss durch eine funktionale Betrachtung ergänzt werden. Handlungen von Politikern (pro-aktive Effekte), die durch die Hoffnung auf oder Furcht vor Berichten ausgelöst werden, gehören zum Alltag der Politik.
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Ein Beispiel hiefür sind die Kleinen Anfragen im Bundestag. 12 Ihre Zahl hat im Laufe der Jahrzehnte dramatisch zugenommen. Eine Ursache dieser Entwicklung liegt darin, dass die Parlamentarier durch Kleine Anfragen in die Medien kommen wollen. Um dies zu erreichen, greifen sie oft Anregungen aus den Medien auf und stellen Kleine Anfragen in der begründeten Erwartung, dass die Regionalzeitungen in den heimischen Wahlkreisen darüber berichten. Dies alles geschieht gelegentlich auch in Absprachen mit Journalisten, mit denen sie die erfolgversprechendsten Themen eruieren. Jeder Bericht über eine Kleine Anfrage stellt eine Gratifikation für den Antragsteller dar und je mehr er mit einem Bericht rechnen kann, desto eher muss man ihn als Ursache seines Verhaltens betrachten. Ein Beispiel für die Bedeutung der Medien bei öffentlichen Kontroversen liefern Tarifauseinandersetzungen.13 So erklären 40 % der Teilnehmer an Schlichtungsverhandlungen, sie würden meistens oder in einzelnen Fällen durch Druck der Öffentlichkeit veranlasst, zu einem Schlichtungsergebnis zu kommen. Bemerkenswerterweise äußern die direkt betroffenen Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen diese Ansicht weitaus häufiger als die nur indirekt betroffenen Schlichter. Ein Beispiel für Aktivitäten zur Verhinderung von negativen Berichten sind Hintergrundgespräche von Politikern mit Journalisten, in denen die Politiker versuchen, unangenehme Themen herunterzuspielen.14 Diese Gespräche finden nach Aussage fast aller Berliner Korrespondenten (87 %) häufig statt. Dabei versuchen die Politiker meist, die Journalisten davon zu überzeugen, dass das Thema unwichtig ist (86 %). Häufig lancieren sie auch Informationen, die den Eindruck erwecken, daß die unangenehmen Informationen falsch sind (55 %). Vergleichweise selten versuchen Politiker, die Journalisten von Informationen abzuschneiden (28 %), Letzteres vermutlich deshalb, weil ihnen das nicht gelingen und den eigenen Zugang zu den Medien erschweren würde. Bei den re-aktiven Effekten von Medienberichten unterscheidet man sinnvollerweise zwei Typen: den Entschluss zu korrigierenden Reaktionen sowie den Entschluss zum Verzicht darauf. Ein Beispiel für beide Reaktionsweisen ist das Verhalten nach Angriffen der Medien. Einige Politiker wehren sich nach solchen Berichten mit Leserbriefen, Gegendarstellungsverlangen oder Unterlassungsklagen. Zu erinnern ist hier an Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der sich wiederholt presserechtlich gegen angeblich falsche Behauptungen gewehrt hat. Sein Verhalten ist jedoch eher ein Sonder- als der Normalfall. Weit mehr als zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten (71 %) kennen mindestens eine Person, die nach falschen und ehrverletzenden Berichten auf presserechtliche Maßnahmen verzichtet [hat], obwohl die rechtlichen Voraussetzungen
gut dafür waren.15 Die Dunkelziffer, d. h. die Zahl der Fälle, die der Öffentlichkeit nicht bekannt werden, ist demnach hier extrem hoch. Als Gründe für den Verzicht auf presse-
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rechtliche Maßnahmen nennen die Parlamentarier vor allem Angst vor weiterer, negativer Publizität (37 %), das unangemessene Verhältnis von Aufwand und Ertrag (30 %) sowie die geringe Wirkung von Gegendarstellungen (27 %). Die Parlamentarier befürchten folglich von den Medien mehr als sie vom Recht erwarten. Reziproke Effekte positiver und negativer Berichte Die Art und Stärke der Wirkung positiver und negativer Medienberichte auf Politiker kann methodisch einwandfrei nur durch die Kombination von Inhaltsanalysen der Medienberichte über mehrere Themen mit Informationen über das Verhalten der Politiker ermittelt werden. Solche Studien liegen nicht vor. Vorläufige Befunde liefert eine Befragung amerikanischer Politiker. Befragt wurden zwischen 1983 und 1995 knapp 500 Spitzenpolitiker, die in einem mehrstufigen Verfahren identifiziert wurden.16 Nur eine kleine Minderheit meint, dass positive oder negative Berichte der Massenmedien keinen Einfluss auf die Verwirklichung von politischen Vorhaben besitzen, mit denen sie befasst waren oder sind. Einen Einfluss positiver Berichte verneinen 17 %, einen Einfluss negativer Berichte verneinen dagegen nur 9 %. Generell fördern nach Ansicht der Befragten positive Berichte eher die Verwirklichung ihrer Ziele (79 %) als dass negative Berichte sie behindern (71 %). So beschleunigen positive Berichte Verfahren eher (39 %) als dass negative Berichte sie verlangsamen (36 %). Andererseits erschweren negative Berichte konkrete Aktionen eher (68 %) als dass positive Berichte sie erleichtern (63 %). Sie vergrößern beispielsweise die Zahl der Optionen, die bedacht werden müssen, eher (28 %) als dass positive Berichte die Zahl der bedenkenswerten Optionen verringern (18 %). Negative Berichte schwächen vor allem die Unterstützung von außen eher (66 %) als dass positive Berichte sie stärken (51 %). Dieser Eindruck kann auf realen Erfahrungen beruhen, etwa einer Verschlechterung der öffentlichen Meinung, oder Ausdruck eines Third Person-Effektes sein der Überschätzung der Wirkung negativer Berichte auf Dritte. Welche Interpretation zutrifft, geht aus den Daten nicht hervor. Zwar liefert die Befragung der Politiker keinen Beweis für die Existenz der Medienwirkungen. Dennoch kann man mit der gebotenen Vorsicht zwei Befunde festhalten. Zum einen konstatiert die Mehrheit vielfache Medienwirkungen auf die Politik. Zum anderen deuten die meisten Daten darauf hin, dass negative Berichte eher einen Einfluss auf die Verwirklichung von politischen Vorhaben besitzen als positive Berichte. Allerdings sind die in der Befragung ermittelten Unterschiede nicht sehr groß und nicht konsistent. Zudem muss wegen der unterschiedlichen politischen Systeme und Medienlandschaften sowie ihrer Verände-
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rungen in den vergangenen 20 Jahren offen bleiben, ob man die Ergebnisse auf Deutschland übertragen kann. Allerdings stimmen die berichteten Erfahrungen mit generellen Befunden der Medienwirkungsforschung überein. Danach werden negative Berichte über Politik generell eher beachtet als positive; negative Berichte über eine Person oder Partei erreichen zudem eher deren Anhänger als positive Berichte über die Gegenseite; negative Berichte werden besser behalten und sie setzen sich bei einer Pro-Contra-Berichterstattung eher durch. Direkte und indirekte Medienwirkungen Fast alle Studien zur Medienwirkung beruhen auf dem unausgesprochenen Axiom: Ohne Medienkontakt keine Medienwirkung. Demnach sind direkte Kontakte zu den Medieninhalten die Voraussetzung für Medienwirkungen. Die Folgewirkungen der dadurch hervorgerufenen Effekte werden so per definitionem nicht als Medienwirkungen betrachtet. Diese Wirkungsdefinition entspricht nicht dem Wirkungsbegriff der Physik und des Alltagslebens. Für die Physik gilt beispielsweise: Wenn die Bewegung eines Objektes C von einem Objekt B verursacht wurde, das seinerseits von einem Objekt A in Bewegung gesetzt wurde, dann wurde die Bewegung des Objektes C von A verursacht obwohl zwischen A und C kein Kontakt bestand. Eine anschauliche Illustration dieses Sachverhaltes anhand von nebeneinander hängenden Kugeln kann man in jedem guten Spielwarenladen kaufen. Für das Alltagsleben gilt beispielsweise: Wenn ein Autofahrer einen anderen abdrängt, der deshalb einen Fußgänger anfährt, dann hat er den Verkehrsunfall zumindest mit verursacht. Aufgrund theoretischer Erwägungen und empirischer Befunde muss man neben den direkten indirekte Medienwirkungen in Rechnung stellen. Als direkte Medienwirkungen werden hier jene Effekte bezeichnet, die von der Nutzung der Medienangebote ausgehen. Als indirekte Medienwirkungen werden die Auswirkungen der direkten Medienwirkungen auf Dritte bezeichnet. Diese Unterscheidung ist nicht neu. Eine ähnliche Unterscheidung hat Collin Seymour-Ure bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgeschlagen, die jedoch in der Medienwirkungsforschung ohne nennenswerte Resonanz blieb.17 Die Konstatierung von indirekten Medienwirkungen, d. h. von Auswirkungen direkter Wirkungen auf Dritte, setzt die Konstatierung von direkten Medienwirkungen voraus. Dies erschwert den Nachweis von indirekten Wirkungen, macht ihn jedoch nicht unmöglich. Eine Hilfe zur Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die Folgen der Reaktionen von Mediennutzern den Medien zugeschrieben werden müssen, liefert eine Typologie von Collin Seymour-Ure auf der Grundlage der traditionellen Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Be-
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dingungen. Wendet man sie auf die Beziehungen an zwischen den Medienberichten, den Wirkungen auf die Rezipienten und den Folgen ihrer Verhaltensweisen für Dritte, kann man folgende Feststellungen treffen: 1) Wenn die Medien notwendige und hinreichende Ursachen der indirekten Wirkungen sind, d. h. nichts anderes den Sachverhalt (vermittelt durch die Rezipienten) verursachen konnte und weitere Ursachen nicht erforderlich waren, dann müssen die indirekten Wirkungen voll und ganz sowie ausschließlich den Medien zugeschrieben werden. 2) Wenn die Medien eine hinreichende, aber keine notwendige Ursache der indirekten Wirkungen sind, d. h. das gleiche Resultat theoretisch auch durch andere Ursachen hätte herbeigeführt werden können, dann müssen die indirekten Wirkungen den Medien zugeschrieben werden, weil nicht sicher ist, dass die anderen Ursachen wirksam geworden wären. 3) Wenn die Medien eine notwendige aber keine hinreichende Ursache der indirekten Wirkungen sind, d. h. keine andere Quelle als die Medien den Sachverhalt (vermittelt durch die Rezipienten) hätte hervorrufen können, der Effekt aber nur eintritt, wenn andere Gründe dazu kommen, dann muss der überwiegende Teil der indirekten Wirkungen den Medien zugeschrieben werden. 4) Wenn die Medien weder eine notwendige, noch eine hinreichende Ursache der indirekten Wirkungen sind, sondern nur der Katalysator einer Entwicklung, die ohnehin eingetreten wäre, dann muss ein geringer Teil der indirekten Wirkungen den Medien zugeschrieben werden. Den Einfluss der Medien auf die Entwicklungen kann man dabei jedoch genauso wenig vernachlässigen wie den Einfluss aller anderen Faktoren, die sie verursacht haben. Für die Analyse indirekter Medienwirkungen können mehrere Wirkungsmodelle herangezogen werden. Zu erinnern ist das zu Unrecht nahezu vergessene Modell von Bruce H. Westley und Malcolm S. MacLean Jr., das die Positionen von Personen im Kommunikationsfluss sowie die Wirkungszusammenhänge identifiziert und dabei auch Rückkoppelungseffekte in Rechnung stellt.18 Zu nennen sind Netzwerktheorien, die die Medien als Informationsquelle einbeziehen, deren Folgewirkungen allerdings meist den Meinungsführern zuschreiben. Zu erwähnen ist das Diffusionsmodell von Stephen Hilgartner und Charles L. Bosk, das verschiedene Sphären der Öffentlichkeit unterscheidet und damit die Entstehung und den Verfall der Themen in der öffentlichen Diskussion illustriert.19 Hinzuweisen ist schließlich auf mehrere Theorien der öffentlichen Meinung, die einen mehrstufigen Wirkungsprozess annehmen, in dem die Medien eine Schlüsselstellung besitzen.20
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Indirekte Wirkungen von reziproken Effekten Der direkte Einfluss von Medienberichten auf das Verhalten von Politikern beruht theoretisch auf dem Einfluss der vier genannten Wahrnehmungsdimensionen der Selbstwahrnehmung, der Berichtswahrnehmung, den Wirkungsvermutungen und den realen Wirkungserfahrungen , wobei zwischen diesen Faktoren die angesprochenen Wechselwirkungen bestehen. Sie lassen sich theoretisch z. T. relativ gut erklären und sind empirisch z. T. relativ gut erforscht. Die Folgewirkungen der reziproken Effekte auf Politiker, d. h. ihr Einfluss auf Dritte (indirekte Effekte), beruhen oft darauf, dass das Verhalten von Politikern die Eigendynamik anderer Subsysteme z. B. der Wirtschaft, der Justiz, des Militärs usw. auslöst, beschleunigt, bremst oder stoppt. Die dadurch ausgelösten Konsequenzen gehen dann u. U. weit über das hinaus, was in den Medienberichten angelegt oder intendiert war, die das Verhalten der Politiker (direkte reziproke Effekte) hervorgerufen haben. Zu diesen Konsequenzen (indirekte Wirkungen) gehören auch die unbeabsichtigten negativen Folgen des Verhaltens der Politiker. Sie müssen der Logik der indirekten Wirkungen entsprechend, soweit sie absehbar waren, ebenfalls anteilig auf die Medienberichterstattung zurückgeführt werden. Diese Folgerung setzt zwei Bedingungen voraus. Erstens: Das Verhalten der Politiker (direkter reziproker Effekt) muss ganz oder teilweise durch Medienberichte über sie oder ihren Tätigkeitsbereich verursacht worden sein. Zweitens: Das folgende Geschehen muss ganz oder teilweise durch ihr Verhalten verursacht worden sein. Beide Bedingungen sind nicht einfach zu erfüllen, es ist jedoch auch nicht unmöglich. Sind die Bedingungen erfüllt, dann liegt die moralische Verantwortung für diese Konsequenzen (sekundäre Effekte) teilweise auch bei jenen, die die Wirkungskette ausgelöst haben. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Medien mit Wirkungsabsicht die Dinge dramatischer darstellen als sie aus Sicht der Berichterstatter tatsächlich sind. Mehrere Studien zu den Konsequenzen von reziproken Effekten der Berichterstattung auf Politiker haben die Außenpolitik generell sowie den Ausbruch von Kriegen zum Gegenstand. Zu erwähnen sind die quantitativen Studien zur Darstellung der Handlungsoptionen der Politik in den USA und in Deutschland vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Sie zeigen, dass die meisten Medien zwar nicht direkt zum Krieg aufriefen, die Lage aber so zeichneten, dass der Krieg aus Sicht der Bevölkerung aber auch aus Sicht der verantwortlichen Politiker als einzige Möglichkeit erschien.21 Zu erwähnen ist ferner eine ausführliche qualitative Studie zum Einfluss vor allem der Times und anderer britischer Medien auf die Appeasement-Politik der Regierung Chamberlain vor dem Münchner Abkommen.22 Neuere Studien analysieren den Einfluss der deutschen Medien auf die vorzeitige Anerkennung von Serbien und Kroatien nach dem Verfall von
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Jugoslawien durch die deutsche Regierung23 sowie den Einfluss der amerikanischen Medien auf die Entscheidung des US-Präsidenten zur Intervention in Somalia.24 Die komplexen Konsequenzen der reziproken Effekte der Medienberichterstattung lassen sich noch am ehesten anhand des zuletzt genannten Falls skizzieren. Sie bestanden u. a. in der militärischen Intervention in Somalia vor den Kameras der Fernsehanstalten, in schweren Kämpfen mit Rebellengruppen mit drastischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, in der Erschießung und Schändung von amerikanischen Soldaten, im überhasteten Abzug der alliierten Truppen und in der andauernden Zerstörung von weiten Teilen der Infrastruktur. Die politischen Folgen von reziproken Effekten auf innenpolitische Entscheidungen dokumentieren ebenfalls quantitative Studien. Die komplexen Beziehungen zwischen dem berichteten Geschehen, der Berichterstattung, der Bevölkerungsmeinung und dem Handeln der Bundesregierung dokumentiert eine Studie zur Ölkrise des Winters 1973/74.25 Den Weg zum direkten Einfluss der Medien auf die Politik kann man in sechs Feststellungen zusammenfassen: 1) Die Bundesrepublik Deutschland importierte nach dem israelisch-arabischen Krieg trotz des Boykotts der ölexportierenden Länder mehr Rohöl als in den Jahren zuvor. 2) Die Medien stellten die Versorgungslage als bedrohlich dar. 3) In der Bevölkerung breitete sich Angst aus, die zu Hamsterkäufen führte. 4) Weil die Raffinerien die extreme Nachfrage nicht befriedigen konnte, kam es zu Versorgungsengpässen. 5) Die Preise für Rohölprodukte (Benzin, Diesel, leichtes und schweres Heizöl) stiegen drastisch an. 6) Die Bundesregierung erließ, obwohl sie über den ausreichenden Vorrat an Rohöl informiert war, als Reaktion auf die Medienberichte und die dadurch ausgelöste Versorgungslücke ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge an vier Sonntagen. Für diesen reziproken Effekt gab es, wie der damalige Wirtschaftsminister Friderichs später äußerte, zwei Gründe: Zum einen hatte das Kabinett den Eindruck, dass die Politik angesichts des Mediendrucks Handlungsfähigkeit zeigen musste, zum anderen wollte das Kabinett die Chance nutzen, das Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu stärken. Dieser reziproke Effekt besaß mehrere Konsequenzen (indirekte Effekte), von denen hier nur vier genannt werden sollen. 1) Die Medien stellten die Entscheidung der Bundesregierung und die Lahmlegung des Autoverkehrs als Bestätigung ihrer falschen Charakterisierung der Versorgungslage dar. 2) Die Preise für Rohölprodukte gingen im Sommer 1974 wegen der überfüllten Lager wieder deutlich zurück. 3) Die Medien stellten angesichts der erkennbaren Abhängigkeit Deutschlands von Ölimporten die Kernenergie kurzzeitig wieder positiver dar als zuvor. 4) Das Sonntagsfahrverbot besaß die von der Politik intendierte Wirkung. Es wurde, unterstützt durch Fördermaßnahmen z. B. zum Einbau von Doppelfenstern, zum Wendepunkt im Umweltbewusstsein der deutschen Bevölkerung.
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Den Gegenbeweis für den Einfluss der Medien auf politische Entscheidungen lieferte das Verhalten der deutschen Politik nach dem Zusammenbruch des Schah-Regimes im Winter 1978-79.26 Den Weg zum direkten Einfluss der Medien auf die Politik kann man in vier Feststellungen zusammenfassen: 1) Weil der Iran damals der Hauptöllieferant der Bundesrepublik Deutschland war, brachen die Importe im Januar 1979 dramatisch ein. 2) Die Medien berichteten nur sehr verhalten über die Entwicklung der Ölimporte. 3) Die Bevölkerung nahm die bedrohliche Lage nicht wahr. 4) Die Bundesregierung traf trotz der bedrohlichen Versorgungslage keine öffentlichkeitswirksamen Entscheidungen zur Reduzierung des Ölverbrauchs. Für diesen reziproken Effekt den Verzicht auf Notmaßnahmen gab es im Wesentlichen zwei Gründe, zum einen den mangelnden Handlungsdruck der Medien, zum anderen die Erwartung, dass die Lieferausfälle durch Zusatzlieferungen anderer Anbieter ausgeglichen würden. Auch dieser reziproke Effekt besaß mehrere Konsequenzen (indirekte Effekte), von denen hier nur zwei genannt werden sollen: 1) Die Bevölkerung bemerkte die dramatische Lage nicht, weil die Lieferausfälle innerhalb weniger Wochen durch erhöhte Förderungen von Saudi Arabien ausgeglichen wurden. 2) Die Medien stellten die Kernenergie nicht als notwendige Alternative zu Ölimporten dar, sondern blieben bei ihrer inzwischen überwiegend negativen Darstellung der Kernenergie. Betrachtet man beide Vorgänge zusammen, so wird auch ohne die Zusatzinformation des früheren Wirtschaftsministers deutlich, dass die Bundesregierung 1973 mit ihrem Fahrverbot nicht auf die tatsächliche Versorgungslage, sondern auf den Druck der Medien und die dadurch geschaffene Erwartungshaltung der Bevölkerung reagierte (direkte reziproke Effekte). Zugleich wird zumindest ansatzweise deutlich, dass beide Medienwirkungen einen vermutlich großen Einfluss auf das Umweltbewusstsein und die Energieakzeptanz der Bevölkerung besaßen (sekundäre Effekte). Die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Verhalten von Minderheiten und der Darstellung ihres Verhaltens, der Entwicklung der öffentlichen Meinung und dem Verhalten der Regierungsparteien (primärer Effekt) sowie deren Folgewirkungen (sekundäre Effekte) dokumentiert eine Studie zur Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung von 1961 bis 1975.27 Den Weg zum direkten Einfluss der Medien auf die Politik kann man in sechs Feststellungen zusammenfassen: 1) Seit Anfang der sechziger Jahre stellten vor allem die linksliberalen Medien die Ziele und Motive von Kriegsdienstverweigerern zunehmend positiv dar. 2) Ende der sechziger Jahre hatte die Mehrheit eine positive Meinung von den Kriegsdienstleistenden, trotzdem glaubte nur eine Minderheit, dass die Mehrheit so denkt. Eine positive Meinung über Kriegsdienstverweigerer hatten vor allem die höher Gebildeten. 3) Im Gefolge der positiven Darstellung der Ziele und Motive von Kriegsdienstverweigerung und der Vermutungen über
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die Geringschätzung der Kriegsdienstleistenden stieg die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung stark an. Unter den Antragstellern waren Abiturienten so weit überrepräsentiert, dass man von einem Abiturientengrundrecht sprach. 4) Im Gefolge des Anstiegs der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung publizierten vor allem die linksliberalen Medien ab 1972 immer mehr Argumente gegen das damalige Anerkennungsverfahren. 5) Im Gefolge der wertenden Darstellung des Verfahrens sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung im Oktober 1974 für seine Abschaffung aus. 6) Im April 1976 schaffte die SPD-FDP-Koalition mit der Mehrheit ihrer Stimmen trotz verfassungsrechtlicher Bedenken der Regierung und der Oppositionsparteien das Anerkennungsverfahren durch eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes ab. Dieser reziproke Effekt hatte mehre Ursachen, den direkten Einfluss der linksliberalen Medien auf die Politiker der SPD-FDPKoalition, den durch Umfragen bekannten Wandel der Bevölkerungsmehrheit zur Kriegsdienstverweigerung sowie die damit zusammenhängenden Vermutungen der Abgeordneten über die zukünftige Wirkung des Tenors der linksliberalen Medien im Falle eines Fortbestands der geltenden Regelung. Er besaß mehrere Konsequenzen (indirekte Effekte), von denen hier wieder sechs genannt werden sollen: 1) Die CDU/CSU-Fraktion reichte beim Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen die Neufassung des Wehrdienstgesetzes ein. 2) Die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung nahm nach der Abschaffung des Prüfverfahrens noch einmal erheblich zu. 3) Das Bundesverfassungsgericht erließ eine einstweilige Anordnung gegen die Neufassung des Wehrdienstgesetzes. 4) Das alte Prüfverfahren trat als Folge der einstweiligen Anordnung wieder in Kraft. 5) Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Neufassung des Wehrdienstgesetzes in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig. 6) Das alte Anerkennungsverfahren wurde nach einer Übergangsphase modifiziert. Die Wirkungen der Medienberichte auf die Protagonisten der Berichterstattung sowie deren Auswirkungen auf Dritte kann man aus mindestens drei Gründen methodisch nicht so exakt aufzeigen wie ihre Wirkungen auf unbeteiligte Beobachter. Erstens: Sekundäranalysen von repräsentativen Umfragen mit Fragen nach den entsprechenden Erfahrungen mit Medienberichten scheiden praktisch aus, weil unter den Befragten wenn überhaupt viel zu wenige Protagonisten sind, die ihre Erfahrungen berichten können. Zweitens: Experimente, bei denen man einen Teil der Versuchspersonen mit Medienberichten über sie konfrontiert (Experimentalgruppe), würden die meisten Testpersonen in eine für sie ganz ungewöhnliche Situation versetzen und wären deshalb kaum aussagekräftig. Drittens: Die Identifikation der indirekten Effekte setzt die Identifikation von direkten Effekten voraus. Beide Schritte sind mit Unsicherheiten behaftet, die umso größer werden, je länger die untersuchten Wirkungsketten sind. Diesen Nachteilen stehen einige Vorteile gegenüber. Erstens: Der tatsächliche Einfluss
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der Medien auf Politik, Wirtschaft, Kultur usw. wird bei einer Einbeziehung der reziproken Effekte realistischer erfasst als bei ihrer Ausblendung. Zweitens: Mit der Einbeziehung der indirekten Effekte der Medien lassen sich komplexe Wirkungsmodelle entwickeln, die die Frage aufgreifen, ob und wie Medienberichte die Eigendynamik anderer Subsystemen in Gang setzen, wodurch die Wirkungen der Medien u. U. weit über den ursprünglichen Effekt hinausgehen können. Ein Beispiel hierfür sind Hamsterkäufe nach Berichten über Versorgungslücken, die die Engpässe verstärken und Preissteigerungen auslösen. Drittens: Mit der Einbeziehung der reziproken Effekte der Medien kann festgestellt werden, ob und wie die Medien die Funktionsweisen von Subsystemen wie Politik, Wirtschaft, Kultur usw. dauerhaft ändern, weil sich die Akteure in den anderen Subsystemen teilweise der Funktionslogik der Medien auf Kosten der Funktionslogik ihrer eigenen Subsysteme anpassen. Ein Beispiel hierfür ist die Mediatisierung der Politik.
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Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Sonja Glaab: Folgen ungewollter Öffentlichkeit: Abwertende Pressebeiträge aus der Sichtweise der Betroffenen. In: Axel Beater / Stefan Habermeier (Hrsg.): Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch die Medien. Tübingen 2005, S. 117-137. 2 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Dorothea Marx: Wirkungen und Rückwirkungen der politischen Kommunikation. Reziproke Effekte auf Landtagsabgeordnete. In: Ulrich Sarcinelli / Jens Tenscher (Hrsg.): Entscheidungspolitik und Darstellungspolitik. Beiträge zur politischen Kommunikation. Köln 2008, S. 185-205, dort S. 191. 3 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Thomas Zerback: Der Einfluss der Medien auf Richter und Staatsanwälte. Art, Ausmaß und Entstehung reziproker Effekte (Manuskript). 4 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Ute Köbke: Die vierte Gewalt. In: pr-magazin 33, Nr. 8 (2002) S. 32-33. 5 Vgl. Edward E. Jones / Richard E. Nisbett: The Actor and the Observer: Divergent Perceptions of Causes of Behaviour. In: Edward E. Jones et al. (Hrsg.): Attribution: Perceiving the Causes of Behaviour. Morristown, NJ 1972, S. 79-94. 6 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Dorothea Marx, a. a. O., S. 194. 7 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Ute Köbke, a. a. O. 8 Vgl. Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Thomas Zerback, a. a. O. 9 Vgl. Kerstin Knirsch: Rationalität und Ethik im Journalismus: Eine empirische Untersuchung zur Berufsauffassung von Journalisten, Mainz 1999 (Magisterarbeit). 10 Vgl. Fay L. Cook et al.: Media and Agenda Setting: Effects on the Public, Interest Group Leaders, Policy Makers, and Policy. In: Public Opinion Quarterly 47 (1983) S. 16-35. 11 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen. München 2005, S. 104-113. 12 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen. In diesem Band. 13 Vgl. Bernhard Külp: Der Einfluß von Schlichtungsformen auf Verlauf und Ergebnis von Tarif- und Schlichtungsverhandlungen. Berlin 1972, S. 74.
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14 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer / Marco Kreuter: Erfahrungen der Berliner Journalisten mit Politikern. Siehe www.kepplinger.de. 15 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch die Medien: Halten die Annahmen der Juristen den sozialwissenschaftlichen Befunden stand? In: Gesellschaft für Rechtspolitik Trier (Hrsg.): Bitburger Gespräche. Jahrbuch 1999/I. München 2000, S. 15-34. 16 Vgl. Martin Linsky: Impact: How the Press affects Federal Policymaking. New York/London 1986, Appendix C. 17 Vgl. Colin Seymour-Ure: The Political Impact of Mass Media. London, Beverly Hills 1974, S. 21, 41 ff, 62. 18 Bruce H. Westley / Malcolm S. MacLean Jr.: A Conceptual Model For Communications Research. In: Journalism Quarterly 34 (1957) S. 31-38. 19 Stephen Hilgartner / Charles L. Bosk: The Rise and Fall of Social Problems: A Public Arenas Model. In: American Journal of Sociology 94 (1988) S. 53-78. 20 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. München 2001; Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung. In: Politische Vierteljahresschrift 11 (1990) S. 2-28; Wilhelm Hennis: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Tübingen 1957, dort S. 19-31; Susan Herbst: Reading Public Opinion: How Political Actors View the Democratic Process. Chicago 1998. 21 Vgl. H. Schuyler Foster, Jr.: How America Became Belligerent: A Quantitative Study of War News 1914-1917. In: American Journal of Sociology 40 (1935) S. 464-475; derselbe: Charting Americas News of the World War. In: Foreign Affairs 15 (1937) S. 311-319; Bernard Rosenberger: Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Köln 1998 22 Vgl. Colin Seymour-Ure, a.a. O., S. 67-98. 23 Heinz-Jürgen Axt: Hat Genscher Jugoslawien Entzweit? Mythen und Fakten zur Außenpolitik des vereinten Deutschland. In: Europa-Archiv 48 (1993) S. 351-360. 24 Matthew A. Baum: Soft News Goes to War: Public Opinion and American Foreign Policy in the New Media Age. Princeton, NJ 2003. 25 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Herbert Roth: Kommunikation in der Ölkrise des Winters 1973/74: Ein Paradigma für Wirkungsstudien. In: Publizistik 23 (1978) S. 337-356. 26 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: German Media and Oil Supply in 1978 and 1979. In: Nelson Smith / Leonard J. Theberge (Hrsg.): Energy Coverage Media Panic: An International Perspective. New York 1983, S. 22-49. 27 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Michael Hachenberg: Die fordernde Minderheit: Eine Studie zum sozialen Wandel am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980) S. 484-507.
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Erfahrungen von Bundestagsabgeordneten mit Journalisten
Die Politikberichterstattung der Massenmedien ist für die Öffentlichkeit bestimmt, die Kontakte zwischen Politikern und Journalisten finden jedoch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Leser, Hörer und Zuschauer nehmen nur einen kleinen Teil dieser Beziehung wahr und halten ihn notgedrungen für das Ganze. Sie haben keine Informationen über die informellen Kontakte zwischen Politikern und Journalisten, die der Berichterstattung vorausgehen und folgen. Sie wissen kaum, ob ein Interview abgesprochen war und ob es entsprechend durchgeführt wurde. Sie kennen nicht den Einfluss von Personenkonstellationen auf die Gesprächsatmosphäre und die Art der Fragestellungen. Sie erfahren selten, welche Teile eines Interviews nicht veröffentlicht wurden und ob die Zusammenfassung sachgerecht war. Sie hören zuweilen über öffentliche Beschwerden und Gegendarstellungen von Politikern, die privaten Reaktionen und unverwirklichten Absichten bemerken sie nicht. Die vorliegende Studie soll einige jener Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten beleuchten, die sich außerhalb der eigentlichen Berichterstattung abspielen und sich dennoch häufig in ihr niederschlagen. Den theoretischen Hintergrund bildet die Annahme, dass die Massenmedien nicht nur über eine vorgegebene Realität berichten, sondern sie bis zu einem gewissen Grade selbst schaffen. Politiker und Journalisten werden dabei nicht als voneinander unabhängige Akteure und Chronisten, sondern als Träger unterschiedlicher Rollen im System der öffentlichen Kommunikation angesehen, die durch Rückkoppelungen miteinander verbunden sind. Zu diesem System gehören die informellen Vorbereitungen eines Berichtes ebenso wie die subjektiven Reaktionen der Betroffenen, so unangemessen sie im Einzelfall auch sein mögen. Sie beeinflussen sowohl zukünftige Kontakte zwischen Politikern und Journalisten als auch deren Verhalten in der politischen Diskussion, das seinerseits wieder auf die Berichterstattung zurückwirkt. Der Inhalt der Berichterstattung wird folglich nicht nur als Spiegel eines naturwüchsigen Geschehens betrachtet, sondern als Darstellung von Verhaltensweisen angesehen, die selbst teilweise Folgen der skizzierten Interaktion sind.
Grundlage der folgenden Analyse ist eine Befragung von Abgeordneten des 8. Deutschen Bundestages, die mit Hilfe von drei Parlamentariern im Sommer 1979 schriftlich durchgeführt wurde. An der Befragung beteiligten sich 286 der 518 Bundestagsabgeordneten. Der Rücklauf betrug damit 55 Prozent; er lag zwischen 60 Prozent bei der FDP, 58 Prozent bei der SPD und 52 Prozent bei der CDU/CSU. Angesichts der befragten Gruppe kann man den Rücklauf als gut betrachten. Die Repräsentativität der Befragung haben wir durch Vergleiche zwischen den antwortenden Abgeordneten und allen Mitgliedern des Bundestages überprüft und dazu die Parteizugehörigkeit und die Dauer der Parlamentsangehörigkeit herangezogen. Beide Merkmale wurden im Fragebogen ermittelt, ihre Verteilungen anhand externer Quellen mit den tatsächlichen Verteilungen verglichen. Beide Vergleiche zeigen große Übereinstimmungen, so dass die Repräsentativität der Antworten gewährleistet ist. Informelle Kontakte Fast alle Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien besitzen intensive Kontakte zu Journalisten. Mehr als vier Fünftel der Befragten (85 %) äußerten, Journalisten würden zu ihrem engeren Bekanntenkreis gehören. Die weitaus meisten dieser Abgeordneten berichteten, dass es sich bei der Mehrzahl der Journalisten (77 %) um Mitarbeiter von Zeitungen handelt. Nur relativ weniger antworteten, die Mehrzahl seien Hörfunk- oder Fernsehmitarbeiter (8 % bzw. 4 %). Etwa jeder Zehnte meinte, zu seinem Bekanntenkreis gehörten etwa gleich viel Journalisten aus allen Medien (11 %). Zwischen den Abgeordneten der drei Fraktionen gibt es trotz ihrer verschiedenen parlamentarischen Rollen als Mitglieder von Regierungs- bzw. Oppositionsparteien von einer Ausnahme abgesehen etwas häufigeren Kontakten der SPD- und FDP-Abgeordneten zu Hörfunkmitarbeitern keine bemerkenswerte Unterschiede. Sein persönliches Verhältnis zu den Bonner Journalisten beschrieb etwa ein Fünftel der Abgeordneten als freundlich (19 %) und etwa zwei Drittel nannten es sachlich (66 %). Nur 15 Prozent meinten, es sei distanziert oder gaben keine konkrete Antwort. Auch im persönlichen Verhältnis der Abgeordneten zu den Bonner Journalisten existieren keine bemerkenswerten Unterschiede zwischen den Angehörigen der drei Fraktionen; es gibt prozentual etwa gleich viele Abgeordnete mit freundschaftlichen und rein sachlichen Kontakten zu Bonner Journalisten. Die Antworten der Abgeordneten bestätigen die Ergebnisse einer 1966 durchgeführten Befragung von Mitgliedern der Bundes-Pressekonferenz e. V., in der die Bonner Korrespondenten von Presse, Hörfunk und Fernsehen zusammengeschlossen sind.1 Persönliche Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten besitzen
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verschiedene Facetten und Ursachen. Um die Bereitschaft der Politiker zu spontanen, informellen Gesprächen festzustellen, wurde ihnen folgende Situation vorgestellt: Sie möchten nach einem arbeitsreichen und anstrengenden Tag in ein Lokal gehen, um in Ruhe etwas zu essen und ein bisschen abzuschalten. Als Sie die Tür des Lokals öffnen, sehen Sie an einem Tisch mehrere Journalisten zusammensitzen und erregt über die heutige Debatte im Bundestag diskutieren. Wie würden Sie reagieren? Etwa die Hälfte der Abgeordneten (54 %) antwortete, sie würde sich zu den Journalisten setzen und an der Diskussion beteiligen. Am kontaktfreudigsten zeigten sich die FDP-Politiker, gefolgt von den CDU/CSU-Politikern. Die Politiker der SPD ließen dagegen eine gewisse Reserve erkennen, die man nicht zuletzt an den spontanen Antworten ablesen kann, es komme darauf an, welche Journalisten das seien. Ein wesentliches Element der Kontakte zwischen Politikern und Journalisten bilden die sogenannten Hintergrundgespräche, bei denen auch vertrauliche Informationen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, weitergegeben werden. Die Häufigkeit derartiger Gespräche von Politikern der Koalition und der Opposition unterscheidet sich überraschenderweise kaum. Allerdings zeigt sich, dass Abgeordnete der SPD seltener Hintergrundgespräche führen als Abgeordnete der FDP und der CDU/CSU. Die Unterschiede zwischen Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD können kaum durch ihre parlamentarischen Rollen erklärt werden, weil sie sich dann auch auf die Abgeordneten der FDP erstrecken müssten. Auch mangelndes Interesse der Journalisten scheidet als Ursache aus, weil SPD-Abgeordnete weitaus häufiger als CDU-Abgeordnete berichteten, dass die Initiative zu Hintergrundgesprächen meist von den Journalisten ausging (19 % bzw. 9 %). Hintergrundgespräche finden meist im Wahlkreis der Abgeordneten (76 %), in ihrem Bundestagsbüro (50 %) und in Bonner Lokalen (25 %) statt. Nur selten werden sie dagegen in Bonner Presseclubs (12 %) und in Bonner Redaktionsbüros (11 %) geführt. Die Werte addieren sich hier auf mehr als 100 Prozent, weil mehrere Angaben möglich waren. Etwa zwei Drittel (67 %) der Politiker berichteten, zu ihren Hintergrundgesprächen kamen etwa gleich viele Journalisten aller politischen Richtungen, etwa ein Viertel (26 %) erklärte, zu seinen Gesprächen kämen überwiegend Journalisten, die meiner Partei nahestehen. Nur relativ wenige (7 %) sprechen dagegen nach eigener Aussage überwiegend (mit) Journalisten, die anderen Parteien nahestehen. Besonders häufig gaben diese Antwort FDP-Abgeordnete (29 %). Zwischen Abgeordneten der CDU/ CSU und der SPD bestehen hier keine Unterschiede (je 6 %). Die große Häufigkeit, mit der FDP-Abgeordnete Hintergrundgespräche mit Journalisten führen, die anderen Parteien nahestehen, ist teilweise auf den großen Anteil von Funktionsträgern unter ihnen zurückzuführen. Von dieser Ausnahme abgesehen,
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existieren zwischen den Abgeordneten der drei Fraktionen keine bedeutsamen Unterschiede. Zugangschancen zu den Massenmedien Robert Michels beschrieb in seiner Soziologie des Parteiwesens die Tendenz zur Oligarchienbildung in modernen Parteien und bezeichnete dabei die Presse als gewaltigen Hebel zur Eroberung, Wahrnehmung und Kräftigung der Herrschaft über die Massen.2 Die Abgeordneten des 8. Deutschen Bundestages geben eine Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Massenmedien die Tendenz zur Oligarchienbildung in den Parteien verstärken: Parlamentarier, die in ihrer Partei oder Fraktion eine herausgehobene Stellung innehaben, besitzen erheblich bessere Zugangsmöglichkeiten zu den Massenmedien als Parlamentarier ohne eine herausgehobene Stellung.3 Die zuerst genannte Gruppe von Abgeordneten wird im Folgenden kurz Funktionsträger, die zuletzt genannte Gruppe Nicht-Funktionsträger genannt. Unter den Funktionsträgern sind mehr Abgeordnete, die Interviews für Hörfunk und Fernsehen gegeben haben als unter den Nicht-Funktionsträgern (für Zeitungen haben fast alle schon Interviews gegeben). Unter den Funktionsträgern sind darüber hinaus mehr Abgeordnete, die häufig Interviews für Zeitung, Hörfunk und Fernsehen gegeben haben als unter den Nicht-Funktionsträgern. Die Massenmedien reproduzieren und verfestigen damit die im Bundestag und in den Parteien bestehende Hierarchie (Tabelle 1). Die weitaus besten Zugangschancen zu den Massenmedien besitzen die Abgeordneten der FDP: Mehr als zwei Drittel berichteten, sie hätten häufig Interviews für Zeitungen (71 %), Hörfunk (71 %) und Fernsehen (63 %) gegeben. Der hohe Anteil von FDP-Politikern, die Interviews für Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen gegeben haben, ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass sie im Unterschied zu SPD- und CDU/CSU Politikern von Publikationsorganen mit ganz unterschiedlichem politischen Standort gleichermaßen als Interviewpartner akzeptiert werden. Sie sind bei linken wie bei rechten Zeitungen gern gesehene Gäste, während bei CDU/CSU- und SPD Politikern deutliche Zusammenhänge zwischen der Tendenz der Quellen und der Parteizugehörigkeit der Interviewpartner bestehen: Je konservativer die Zeitung, desto häufiger geben ihr CDU/CSU-Abgeordnete Interviews, je progressiver die Zeitung, desto häufiger geben ihr SPD-Abgeordnete Interviews. Je eindeutiger die politischen Positionen der Zeitungen sind, desto größer sind die Differenzen zwischen SPD und CDU/CSU: Bei der Frankfurter Rundschau und der Welt sind sie am größten, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am geringsten (Tabelle 2).
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Tabelle 1: Häufigkeiten von Interviews für Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen durch Funktionsträger und Nicht-Funktionsträger Frage: Haben Sie schon Interviews für Zeitungen (Hörfunk, Fernsehen) gegeben? Funktionsträger (n=124) %
NichtFunktionsträger (n=162) %
alle (n=286) %
Zeitungen häufig selten nie, keine Antwort
70 29 1
49 49 2
58 40 1
X2 = 12,5452 df = 2 p < 0,001
Hörfunk häufig selten nie
60 39 1
39 54 7
48 48 4
X2 = 16,3820 df = 2 p < 0,001
Fernsehen häufig selten nie, keine Antwort
37 56 7
12 71 17
23 64 13
X2 = 27,9160
Ja, für
df = 2 p < 0,001
Bei den Fernsehmagazinen ist der Zusammenhang zwischen politischer Tendenz und Interviewhäufigkeit nicht so deutlich ausgeprägt wie bei den Zeitungen, dennoch erkennt man auch hier deutliche Affinitäten: Die beiden exponiertesten Magazine, Panorama und ZDF-Magazin interviewten eindeutig überwiegend Politiker, die die politischen Linien der Sendungen vertreten, während das Verhältnis bei Monitor und Report ausgeglichen ist. Auch hier spielen die FDP-Abgeordneten wieder eine Sonderrolle: Sie werden sowohl von konservativen als auch von progressiven Journalisten als Gesprächspartner akzeptiert. Ihre Partei besitzt damit für die politische Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland eine Bedeutung, die über ihren Stimmenanteil weit hinausgeht. Den Zusammenhang zwischen der politischen Tendenz von Zeitungen und Fernsehmagazinen sowie der Parteizugehörigkeit der interviewten Politiker wird man vor allem auf zwei Gründe zurückführen können: Journalisten werden erstens vor allem Politiker interviewen, die ihre eigene Position oder die Linie der Redaktion vertreten. Dabei kann es sich um bewusste oder unbewusste Selektionsentscheidungen handeln. Politiker werden sich zweitens vor allem durch Journa71
Tabelle 2: Interviews für Zeitungen und Zeitschriften Frage: Für welche Zeitungen haben Sie schon Interviews gegeben? Titelvorgaben Bundestagsabgeordnete CDU/CSU FDP SPD alle (n=132) (n=24) (n=130) (n=284) % % % % Abonnementzeitungen Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Die Welt
13 19 26 51
63 42 42 58
36 29 22 23
28 25 25 39
Straßenverkaufszeitung Bild
30
63
21
28
Wochenblätter/Zeitschriften Die Zeit Der Spiegel Stern
15 19 10
38 46 38
13 29 19
16 26 16
Basis: Alle, die schon Interviews für Zeitungen gegeben haben
listen interviewen lassen, die ihnen selbst politisch nahestehen. Dies dürfte vor allem für Spitzenpolitiker zutreffen, die in der Lage sind, eine Auswahl zwischen den Interviewangeboten zu treffen. Beide Tendenzen werden sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig verstärken. Der skizzierte Zusammenhang führt zu einer Spaltung der politischen Öffentlichkeit in gegensätzliche Lager, die sich nur begrenzt wahrnehmen und in denen sich scheinbare Harmonie herstellt. Einen Sonderstatus besitzen in dieser Situation die FDP-Abgeordneten, die eine Verbindung zwischen beiden Teilöffentlichkeiten herstellen. Die unterschiedlichen Zugangschancen für Funktionsträger und NichtFunktionsträger wird man auf eine ganze Reihe von Ursachen zurückführen können. Funktionsträger dürften erstens häufiger über wichtige Informationen verfügen. Die Rezipienten werden sich zweitens für die Funktionsträger mehr interessieren. Die Journalisten werden drittens Interviews mit Funktionsträgern als prestigeträchtiger betrachten. Politiker mit Gespür für journalistische Auftritte werden viertens häufiger Funktionsträger und, wenn sie Funktionsträger sind, häufiger interviewt werden. Es liegen mit anderen Worten vermutlich komplexe Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Variablen vor. Auch die unterschiedlichen Zugangschancen der Funktionsträger bzw. der Nicht-Funktionsträger in den verschiedenen Medien dürfte vielfältige Ursachen besitzen. Gene72
rell wird man jedoch davon ausgehen können, dass die Chancen der NichtFunktionsträger umso geringer sind, je größer der Selektionsdruck ist. Am größten ist der Zwang zur Auswahl zweifellos beim Fernsehen. Die Chancen der Nicht-Funktionsträger sind deshalb dort am geringsten. Die hierarchischen Kommunikationsstrukturen beeinflussen vermutlich die Machtstrukturen der Parteien und die Karrierechancen von Politikern. Zum einen verstärken sie die Tendenz zur Oligarchienbildung. Die Distanz zwischen Führungselite und Parteibasis wird größer, die Führungselite von der Parteibasis unabhängiger. Gleichzeitig erhöht sich die Abgängigkeit der Führungsspitze von der publizistischen Öffentlichkeit: Die Führungsspitze wird im Extremfall von der publizistischen Öffentlichkeit gestützt und gestürzt, deren Verdikte von den Führungseliten in Parteien und Parlamenten nur noch legalisiert werden. Zum anderen schaffen die Kommunikationsstrukturen die Möglichkeit der politischen Karriere an den Machtstrukturen der Parteien vorbei. Der Erfolg in den Massenmedien wird zur Alternative für den sukzessiven Aufstieg in der Parteihierarchie. Neben die Parteikarriere tritt die Medienkarriere. Die Folge ist eine Schwächung des Parteieinflusses auf die Karriere von Spitzenpolitikern. Verhalten beim Interview Die Interaktionen zwischen Politikern und Journalisten vor und während des Interviews haben wir anhand von elf Aussagen über allgemeine Gesprächseigenschaften und interviewspezifische Verhaltensweisen untersucht. Um den Einfluss politischer Affinitäten und Divergenzen auf den Interviewverlauf festzustellen, sollten die Abgeordneten angeben, was auf Journalisten zutrifft, die ihnen politisch nahestehen, und was Journalisten kennzeichnet, die einen gegensätzlichen Standpunkt vertreten. Den Befragten war es freigestellt, die Eigenschaften Journalisten aus beiden, aus einem oder aus keinem der beiden Lager zuzuschreiben. Die Summen der Feststellungen über Journalisten aus beiden Lagern geben darüber Auskunft, wie die Abgeordneten das Verhalten von Journalisten generell charakterisieren, die Differenzen der Exklusivaussagen über Journalisten aus verschiedenen Lagern zeigen, worin sich nach den Erfahrungen der Politiker Kontakte zu Journalisten mit gleichen und gegensätzlichen Ansichten unterscheiden. Je größer diese Differenzen sind, desto größer ist der Einfluss der politischen Einstellungen auf die Art der Kontakte. Die Abgeordneten charakterisierten die Journalisten vor allem durch zwei allgemeine Eigenschaften: Sie haben eine vorgefasste Meinung (61 %), sind dabei jedoch sachkundig (52 %) und keineswegs fachlich unqualifiziert (12 %). Erst auf den nächsten Plätzen folgen interviewspezifische Verhaltensweisen:
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Die Journalisten stellen Fangfragen (47 %), Zwischenfragen (43 %) und fallen ins Wort (33 %). Die Voreingenommenheit wurde fast ausschließlich den Gesinnungsgegnern, die Sachkompetenz jedoch keineswegs nur den Gesinnungsfreunden zugeschrieben: Nur jeder sechste Abgeordnete (16 %) stellte an Journalisten mit ähnlichen Ansichten vorgefasste Meinungen fest, immerhin jeder vierte (27 %) hielt jedoch auch Journalisten mit gegensätzlichen Ansichten für sachkundig. Sachkompetenz gehört nach Aussagen der Abgeordneten wie das Stellen von Zwischenfragen zu den Eigenschaften, die Journalisten unterschiedlicher Lager in ähnlicher Weise auszeichnet. Ein Vergleich der Exklusivaussagen über Journalisten aus verschiedenen politischen Lagern jener Aussagen, die nur auf Angehörige des einen oder anderen Lagers bezogen sind ergibt das typische Profil des Interviews mit einem Journalisten, der gegensätzliche Ansichten vertritt: Der Journalist hat eine vorgefasste Meinung (43 % Differenz) und er stellt Fangfragen (33 % Differenz). Das Gespräch findet in einer unpersönlichen Atmosphäre statt (28 % Differenz) und der Gesprächspartner versucht einen lächerlich zu machen (21 % Differenz). Die Antworten der Abgeordneten legen die Feststellung nahe, dass zwischen Interviews mit Journalisten aus verschiedenen politischen Lagern hinsichtlich der genannten Aspekte deutliche Unterschiede bestehen, die den Gesprächsverlauf vermutlich nachhaltig beeinflussen (Tabelle 3). Die Politiker aller drei Bundestagsfraktionen beurteilten Journalisten mit gleichen politischen Ansichten sehr ähnlich. Ein völlig anderes Bild ergibt die Beurteilung von Journalisten mit gegensätzlichem Standort. Signifikante Unterschiede fanden sich in neun Fällen: CDU/CSU- und FDP-Abgeordnete erwähnten häufiger als SPD-Abgeordnete, dass Journalisten mit gegensätzlichen Ansichten eine vorgefasste Meinung haben, Fangfragen stellen, ins Wort fallen, einen lächerlich zu machen versuchen, den Interviewausschnitt nicht besprechen und Interviews vorher nicht anmelden. CDU-Abgeordnete äußerten häufiger als FDP- und SPD-Abgeordnete, Journalisten, die der Gegenseite nahestehen, besprächen die Fragen vorher nicht und seien fachlich unqualifiziert. FDP-Abgeordnete berichteten häufiger als CDU/CSU- und SPDAbgeordnete über Zwischenfragen. Die ausgewiesenen Prozentzahlen basieren auf Feststellungen, die exklusiv über Journalisten mit gegensätzlichen Ansichten und über Journalisten aus beiden Lagern gemacht wurden (Tabelle 4).
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Tabelle 3: Verhalten von Journalisten mit gleichem und unterschiedlichem politischen Standort Frage: Es gibt sicher Journalisten, die Ihnen politisch nahestehen und solche, die einen mehr gegensätzlichen politischen Standort vertreten. Können Sie bitte sagen, was eher typisch für den einen und was eher typisch für den anderen ist? keine nahe- gegenweder konkrete stehen sätzlich beide noch Antwort Summe % % % % % % hat eine vorgefasste Meinung 2 45 14 27 12 100 ist sachkundig 25 3 24 36 12 100 stellt Fangfragen 6 39 2 41 12 100 stellt Zwischenfragen 16 7 20 45 12 100 fällt ins Wort 9 23 1 55 12 100 unpersönliche Atmosphäre 1 29 1 57 12 100 bespricht die Fragen vorher nicht 8 18 1 61 12 100 versucht einen lächerlich zu machen 0 21 0 67 12 100 bespricht nicht den Interviewausschnitt 1 14 2 71 12 100 meldet Interviews vorher nicht an 5 8 1 74 12 100 fachlich unqualifiziert 2 7 3 76 12 100 Basis: Alle Befragten (n=286)
Die Unterschiede zwischen den Fraktionen in den Aussagen über Journalisten mit gegensätzlichem politischem Standort werden noch deutlicher, wenn man nur die Funktionsträger miteinander vergleicht. Die Funktionsträger der CDU/CSU berichteten weitaus häufiger als die Funktionsträger der SPD, dass Journalisten ihnen ins Wort fallen (31 % Differenz), eine vorgefasste Meinung besitzen (25 % Differenz), Fangfragen stellen (25 % Differenz) und Interviewausschnitte nicht besprechen (23 % Differenz). Auch die unpersönliche Atmosphäre bei Interviews wurde von ihnen besonders häufig beklagt (18 % Differenz). Die Werte für die Funktionsträger der FDP liegen in den drei ersten Fällen zwischen denen der CDU/CSU und der SPD, im letzten Fall über jenem der CDU/CSU. Bei den Abgeordneten ohne Funktionen sind die Unterschiede zwischen den Fraktionen entsprechend geringer. Zur Erklärung der Unterschiede zwischen den Abgeordneten der drei Fraktionen bieten sich drei Überlegungen an: Abgeordnete der CDU/CSU und der FDP haben erstens häufiger negative Vorurteile gegenüber Journalisten mit gegensätzlichen Ansichten. Gegen diese Annahme sprechen die Aussagen über informelle Kontakte zu Journalisten aus allen politischen Lagern. Journalisten, die der SPD nahestehen, verhalten sich zweitens gegenüber Politikern der anderen Parteien ablehnender als Journalisten, 75
Tabelle 4: Verhalten von Journalisten mit gegensätzlichem Standort im Urteil von Politikern der CDU/CSU, SPD und FDP Frage wie in Tabelle 3 Bundestagsabgeordnete CDU/CSU FDP SPD (n=132) (n=24) (n=130) % % % hat eine vorgefasste Meinung 66 67 50 stellt Fangfragen 49 58 40 unpersönliche Atmosphäre 33 33 25 ist sachkundig 25 42 25 fällt ins Wort 37 21 12 stellt Zwischenfragen 20 42 22 versucht einen lächerlich zu machen 27 25 15 bespricht die Fragen vorher nicht 27 8 14 bespricht nicht den Interviewausschnitt 23 17 8 fachlich unqualifiziert 17 8 4 meldet Interviews vorher nicht an 10 17 5
X2= 5,2876; p<0.02 X2= 3,9105; p<0.05 X2= 2,1449; n. s. X2= 3,0636; n. s. X2= 22,0039; p<0.001 X2= 5,6051; p<0.02 X2= 5,8500; p<0.02 X2= 8,7709; p<0.01 X2= 10,9590; p<0.001 X2= 11,9086; p<0.001 X2= 4,0313; p<0.05
Basis der Berechnungen sind für jede Aussage die zustimmenden und nicht zustimmenden Antworten. Für alle Fälle gilt df=2.
die der CDU/CSU oder der FDP nahestehen. Zur Prüfung dieser Annahme liegen keine empirischen Daten vor. Abgeordnete der CDU/CSU und der FDP treffen drittens häufiger auf Journalisten mit gegensätzlichen Ansichten und berichten deshalb häufiger über derartige Erfahrungen. Für diese Annahme sprechen die Meinungsverteilungen unter Journalisten4 und die besonders häufigen Medienkontakte von Funktionsträgern der CDU/CSU und der FDP. Das verbale und nonverbale Verhalten von Interviewern beeinflusst das verbale und nonverbale Verhalten ihrer Interviewpartner. Die derart hervorgerufenen Verhaltensänderungen von Interviewpartner beeinflussen die Bewertung ihrer Persönlichkeit und ihrer Aussagen durch direkte Beobachter und durch Beobachter an Bildschirmen. Beide Zusammenhänge wurden experimentell untersucht und mehrfach bestätigt.5 Auch Inhaltsanalysen von Interviews6 und politischen Debatten im Fernsehen zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen den nonverbalen Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer. Bei Hörfunk- und Fernsehinterviews schlagen sich derartige Wechselwirkungen nahezu unvermittelt in der Berichterstattung nieder und prägen die Wahrnehmung der interviewten Person. Dennoch kann dieser Eindruck nicht allein auf diese Person zurückgeführt werden, er ist eine Folge der Personen-Konstellation. Das Interview stellt
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nicht eine Person dar. Die Interviewsituation schafft Voraussetzungen, unter denen sich eine Person mehr oder weniger gut darstellt. Erfahrungen mit der Berichterstattung Hörfunk- und Fernsehinterviews müssen für die Berichterstattung häufig gekürzt und zusammengefasst werden. Dabei besteht die Gefahr, Aussagen bewusst oder unbewusst zu entstellen. Weitaus die meisten Abgeordneten berichteten jedoch, ihre Interviews seien meist akzeptabel gekürzt und zusammengefasst worden. Mit ihren Hörfunkinterviews waren 89 Prozent, mit ihren Fernsehinterviews 79 Prozent der Abgeordneten zufrieden. Die geringere Zufriedenheit mit den Fernsehinterviews durfte darauf zurückzuführen sein, dass hier die Redaktion oft stärker kürzen muss. Die Mitglieder der drei Fraktionen haben aber mit den Zusammenlassungen ihrer Interviews unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion berichteten mehr als doppelt so häufig wie die Abgeordneten der SPD-Fraktion, dass ihre Interviews für Hörfunk und Fernsehen selten akzeptabel oder überwiegend nicht akzeptabel gekürzt und zusammengefasst wurden. Am zufriedensten äußerten sich die Abgeordneten der FDP-Fraktion, von ihnen beklagte sich nur einer über die Kürzung seiner Fernsehinterviews (Tabelle 5). Die Unterschiede zwischen den Fraktionen werden wieder deutlicher, wenn man nur die Funktionsträger miteinander vergleicht: Über verfälschende Kürzungen von Hörfunkinterviews berichteten zwei Abgeordnete (4 %) der SPDFraktion, sieben Abgeordnete (13 %) der CDU/CSU-Fraktion. Basis sind in beiden Fällen nur jene Politiker, die Hörfunkinterviews gegeben hatten. Der Unterschied ist statistisch nicht signifikant. Verfälschende Kürzungen von Fernsehinterviews erwähnten drei Politiker (6 %) der SPD-Fraktion, 14 Politiker (25 %) der CDU/CSU-Fraktion. Basis sind in beiden Fällen jene Politiker, die Fernsehinterviews gegeben hatten. Der Unterschied ist statistisch signifikant. Bei den Abgeordneten ohne Funktion verschieben sich die Proportionen entsprechend in die Gegenrichtung. Die Aussagen deuten darauf hin, dass bei der CDU/CSU eher die Spitzenpolitiker, bei der SPD dagegen eher die Abgeordneten ohne Funktion schlechte Erfahrungen mit Interviewkürzungen machten. Zur Erklärung der Unterschiede zwischen den Abgeordneten der drei Fraktionen bieten sich drei Überlegungen an: Abgeordnete der SPD- und der FDPFraktion formulieren erstens ihre Stellungnahmen bei den Aufnahmen präziser und kürzer als Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion. Es ist daher seltener notwendig, sie zu raffen. Zur Prüfung dieser These liegen keine empirischen Daten vor. Hörfunk- und Fernsehjournalisten verstehen zweitens besser, worauf es
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Tabelle 5: Kürzungen von Hörfunk- und Fernsehinterviews Frage: Gerade bei Hörfunk und Fernsehen müssen viele Interviews und Statements gekürzt und zusammengefasst werden. Waren diese Kürzungen für Sie bisher immer akzeptabel oder wurde dadurch manchmal der Inhalt verfälscht?
Hörfunk meist akzeptabel selten akzeptabel, überwiegend nicht akzeptabel keine konkrete Antwort Summe Fernsehen meist akzeptabel selten akzeptabel, überwiegend nicht akzeptabel keine konkrete Antwort Summe
Bundestagsabgeordnete CDU/CSU FDP SPD alle (n=128) (n=24) (n=121) (n=273) % % % % 84 100 93 89 11
0
4
7
5 100
0 100
3 100
4 100
(n=119) % 72
(n=22) % 95
(n=109) % 83
(n=250) % 79
22 6 100
5 0 100
10 7 100
15 6 100
X2= 8,0570; df= 4, n. s.
X2= 10,2049; df= 4, p<0.05
Basis: diejenigen, die Interviews gegeben haben
SPD- und FDP-Politikern ankommt und können ihre Stellungnahmen deshalb besser zusammenfassen als Aussagen von CDU/CSU-Politikern. Diese These lässt sich durch die Meinungsverteilungen unter Rundfunkjournalisten stützen. Eine exakte Prüfung ist jedoch auch hier augenblicklich nicht möglich. Die größeren Unterschiede zwischen den Funktionsträgern könnten drittens darauf zurückzuführen sein, dass von den Funktionsträgern der CDU/CSU ein größerer Prozentsatz häufig Hörfunk- und Fernsehinterviews gibt als von den Funktionsträgern der SPD. Auch diese These kann wegen der geringen Fallzahlen nicht exakt geprüft werden. Gegen ihre Annahme sprechen jedoch die Aussagen der Funktionsträger der FDP-Fraktion, die fast alle häufig Hörfunk und Fernsehinterviews gegeben haben und dennoch nicht über verfälschende Kürzungen klagten. Verfälschende Interviewkürzungen sind objektive Tatsachen. Die Klagen der Abgeordneten lassen sich durch Vergleiche zwischen Originalaufnahmen und Sendefassungen zumindest theoretisch überprüfen. Dazu könnte man eine Kombination von Expertenbefragungen und Inhaltsanalysen anwenden; in Einzelfällen wären auch genaue Analysen der Produktionsprozesse denkbar. Belei78
digungen durch die Berichterstattung sind soweit es sich nicht um justiziable Fälle handelt keine objektiven Tatsachen in diesem Sinne. Objektive Tatsachen sind nur die Berichte; das Gefühl, es handele sich um eine Beleidigung, ist dagegen eine subjektive Reaktion, die von Person zu Person verschieden sein kann, ihrerseits jedoch wieder eine objektive Tatsache darstellt. Beleidigungen durch die Berichterstattung können deshalb kaum angemessen durch Inhaltsanalysen oder Expertenbefragungen untersucht werden. Das Gefühl der Abgeordneten, von Presse, Hörfunk oder Fernsehen beleidigt worden zu sein, ermittelten wir durch die Frage: Ist ein Journalist bei der Berichterstattung über politische Auseinandersetzungen, an denen Sie beteiligt waren, über das noch zu vertretende Maß hinausgeschossen und hat Sie durch Äußerungen in Hörfunk, Fernsehen oder Zeitung beleidigt? Die Antworten der Abgeordneten zeichnen ein bemerkenswertes Bild der politischen Öffentlichkeit: 28 Prozent fühlten sich durch Zeitungsberichte, jeweils 5 Prozent durch Hörfunk- und Fernsehberichte beleidigt. Die Presseberichterstattung erweist sich damit erstaunlich häufig als eine Ursache der Verletzung subjektiver Ehrgefühle, von der die Abgeordneten aller drei Fraktionen in gleichem Maße betroffen sind. Im Verhältnis zur Berichterstattung in Hörfunk und Fernsehen bestehen einige Unterschiede, die jedoch statistisch nicht signifikant sind: Acht bzw. neun Politiker der CDU/CSUFraktion, jeweils zwei Politiker der FDP-Fraktion und vier bzw. drei Politiker der SPD-Fraktion fühlten sich durch sie beleidigt (Tabelle 6). Zur Erklärung des Unterschiedes zwischen Beleidigungen durch Zeitungsberichte einerseits und Hörfunk- bzw. Fernsehberichte andererseits bieten sich drei Überlegungen an: Das Spektrum der Presseerzeugnisse ist erstens wesentlich größer als das Spektrum beim Rundfunk. Dies gilt sowohl für die journalistische Qualität als auch für die politische Richtung. Viele Abgeordnete werden zweitens fast nur in der Presse erwähnt. Die Wahrscheinlichkeit einer Beleidigung durch die Presse ist deshalb größer als die Wahrscheinlichkeit einer Beleidigung durch Hörfunk und Fernsehen. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sind drittens besser verfügbar als Hörfunk- und Fernsehbeiträge. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene einen Bericht selbst wahrnimmt, ist deshalb größer als beim Rundfunk, wo ihn in vielen Fällen Dritte auf beleidigende Äußerungen hinweisen. Zur Erklärung des Unterschiedes zwischen den Fraktionen bieten sich zwei Überlegungen an: Unter den Funktionsträgern der CDU/CSU-Fraktion gibt es erstens etwas mehr Politiker, die leicht beleidigt sind, als unter den Funktionsträgern der SPD-Fraktion. Die Fernsehberichterstattung über die Funktionsträger der Fraktionen gibt zweitens CDU/CSU-Politikern häufiger Anlass, sich beleidigt zu fühlen, als Politikern der SPD-Fraktion. Beide Annahmen können wir mit den vorhandenen Daten nicht überprüfen.
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Tabelle 6: Beleidigungen durch Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen Frage: Ist ein Journalist bei der Berichterstattung über politische Auseinandersetzungen, an denen Sie beteiligt waren, über das noch zu vertretende Maß hinausgeschossen und hat Sie durch Äußerungen in Hörfunk, Fernsehen oder Zeitung beleidigt? Bundestagsabgeordnete alle CDU/CSU FDP SPD (n=132) (n=24) (n=130) (n=286) % % % % Ja, in der Zeitung Ja, im Hörfunk Ja, im Fernsehen
28
29
27
28
X2= 0,0714 df= 2; n. s.
6
8
3
5
X2= 1,9176 df= 2; n. s.
7
8
2
5
X2= 3,5274 df= 2; n. s.
Basis der Berechnungen sind für jedes Medium die Ja-Antworten und Nicht-Ja-Antworten.
Zusammenfassung und Interpretation Die Abgeordneten der drei Fraktionen berichteten über folgende Erfahrungen im Umgang mit Journalisten: 1) Die meisten Abgeordneten zählen Journalisten zu ihrem engeren Bekanntenkreis und pflegen informelle Kontakte zu ihnen. 2) Abgeordnete, die in ihrer Partei oder Fraktion eine Funktion innehaben, besitzen wesentlich bessere Zugangschancen zu den Massenmedien als Abgeordnete ohne eine derartige Funktion. 3) Journalisten mit einem ähnlichen politischen Standort verhalten sich nach Aussage der Abgeordneten anders als Journalisten mit einem gegensätzlichen politischen Standort. 4) Hörfunk- und Fernsehinterviews werden überwiegend akzeptabel gekürzt und zusammengefasst. Dies ist im Hörfunk noch häufiger der Fall als im Fernsehen. 5) Die Abgeordneten fühlen sich häufiger durch Zeitungsberichte beleidigt als durch Berichte in Hörfunk und Fernsehen. Die Erfahrungen von Angehörigen der drei Fraktionen glichen und unterschieden sich in folgenden Bereichen: 1) Bei den informellen Kontakten von Politikern und Journalisten gibt es keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den drei Fraktionen. 2) Abgeordnete der CDU/CSU haben bessere Chancen, ihre Ansichten in eher konservativen Zeitungen und Fernsehmagazinen, Abgeordnete der SPD haben bessere Chancen, ihre Ansichten in eher progressiven Zeitungen und Fernsehmagazinen zu äußern. Die Chancen der FDP-Abgeordneten sind
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dagegen von der politischen Ausrichtung des Publikationsortes weitgehend unabhängig. 3) In der CDU-CSU-Fraktion verfügen relativ viele Funktionsträger, in der SPD-Fraktion dagegen relativ viele Nicht-Funktionsträger über gute Zugangschancen zu den Massenmedien. In beiden Fällen sind die Zugangschancen der FDP-Abgeordneten gleich gut oder besser. 4) Abgeordnete der CDU-CSU und Abgeordnete der FDP machen eher negative Erfahrungen im Umgang mit Journalisten, die gegensätzliche Positionen vertreten, als Abgeordnete der SPD. 5) Abgeordnete der CDU/CSU beklagen häufiger nicht akzeptable Interviewkürzungen in Hörfunk und Fernsehen als Abgeordnete der FDP und der SPD. Die Unterschiede sind jedoch nur beim Fernsehen signifikant. 6) Abgeordnete der CDU/CSU und der FDP berichten etwas häufiger über Beleidigungen durch Hörfunk und Fernsehen als Abgeordnete der SPD. Die Unterschiede sind jedoch nicht signifikant. 7) Die Unterschiede in den Erfahrungen mit den Massenmedien zwischen den Abgeordneten der CDU/CSU auf der einen Seite und denen der SPD auf der anderen Seite sind unter den Funktionsträgern in der Regel deutlicher ausgeprägt als unter den Nicht-Funktionsträgern, deren Erfahrungen einander entsprechend ähnlicher sind. Politiker und Journalisten sind wie die Daten belegen keine voneinander unabhängigen Akteure und Chronisten. Derartige Vorstellungen treffen weniger ihr tatsächliches Verhalten als die Rollenerwartungen des Publikums und das Selbstbild von Redakteuren und Korrespondenten. Die Verhaltensweisen von Politikern und Journalisten sind vielmehr durch zahlreiche informelle Kontakte und Absprachen aufeinander bezogen und abgestimmt. Derartige Verschränkungen erleichtern die publizistische Selbstdarstellung der Politiker und die politische Berichterstattung der Journalisten, sie widersprechen jedoch zugleich den Rollenerwartungen und dem Selbstbild. Der Widerspruch zwischen normativen Erwartungen und praktischen Notwendigkeiten wird durch die Ausklammerung der informellen Kontakte und Absprachen aus der Berichterstattung formal gelöst, er bleibt jedoch praktisch bestehen. Die Ausklammerung ist eine Voraussetzung dafür, dass die Darstellung den Eindruck der Distanz, Neutralität und Objektivität erweckt, sie bietet jedoch keine Gewähr dafür, dass dieser Eindruck gerechtfertigt ist. Auf der Vorstellung der voneinander unabhängigen Akteursund Chronisten-Rollen beruht die Annahme, die Berichterstattung über Politiker würde, vorausgesetzt sie ist korrekt, das Bild einer unbeeinflussten Person zeichnen. Folglich seien alle Verhaltensaspekte Überheblichkeit, Unsicherheit, Gelassenheit usw. auf die dargestellte Person zurückzuführen und ihrem Charakter zuzuschreiben. Besonders einleuchtend ist diese Annahme bei LiveInterviews in Hörfunk und Fernsehen, wo sich jeder direkt von Politikerauftritten überzeugen kann. Die vorliegenden Daten zeigen jedoch, dass Interaktionen zwischen Politikern und Journalisten deutlich von politischen Präferenzen beein-
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flusst werden. Die Wechselwirkungen erstrecken sich dabei sowohl auf den verbalen wie auf den nonverbalen Bereich. Die Berichterstattung ist deshalb nicht nur eine Darstellung einzelner Personen, sondern auch der jeweiligen Personenkonstellationen und ihrer Auswirkungen auf das individuelle Verhalten. Es ist folglich gerade dort fragwürdig, vom Verhalten auf die Persönlichkeit zu schließen, wo dies besonders naheliegend erscheint. Die Demokratietheorie weist den Massenmedien eine konstituierende Rolle im Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung zu. Die Massenmedien besitzen danach die Aufgabe, ein öffentliches Forum zu bilden, das die Ansichten aller relevanten Gruppen wiedergibt. Die vorliegenden Daten zeigen, dass Presse, Hörfunk und Fernsehen die Abgeordneten aller drei Bundestagsfraktionen Gelegenheit zur Selbstdarstellung geben. Sie bilden dabei jedoch keineswegs einen neutralen Resonanzboden für Parteien und Meinungen, sondern stellen eine aktive Kraft in der politischen Auseinandersetzung dar, die den Parlamentariern sehr unterschiedliche Möglichkeit bietet, ihre Ansichten häufig und unverfälscht darzustellen. Die Begünstigungen und Benachteiligungen, die die Befragung sichtbar gemacht hat, folgen nicht der Grenzlinie von Regierungsund Oppositionsparteien, sondern verlaufen in vielen Fallen zwischen SPD und FDP. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind deshalb viel eher inhaltlich als funktional bestimmt: Sie sind eher Ausdruck politischer Präferenzen als Folgen parlamentarischer Rollen. 1 Vgl. Claus-Peter Gerber / Manfred Stosberg: Die Massenmedien und die Organisation politischer Interessen. Bielefeld 1969, S. 128. 2 Robert Michels: Soziologie des Parteiwesens. Neudruck der 2. Auflage, Stuttgart 1925, S. 125. 3 Der Klassifikation in Funktionsträger und Nicht-Funktionsträger wurden die Antworten auf folgende Frage zugrunde gelegt: Haben Sie in ihrer Partei oder Fraktion eine herausgehobene Stellung inne? Die Antwortvorgaben lauteten Ja und Nein. 4 Vgl. die Zusammenstellung von Befragungsdaten in Hans Mathias Kepplinger: Optische Kommentierung in der Fernsehberichterstattung über die Bundestagswahl 1976. In: Thomas Ellwein (Hrsg.): Politikfeld Analysen 1979. Opladen 1980, S. 163-179. 5 Vgl. u. a. Ralph Exline / David Gray / Dorothy Schuette: Visual Behavior in a Dyad as Affected by Interview Content and Sex of Respondent. In: Journal of Personality and Social Psychology 1 (1965) S. 201-209; Andrew S. Imada / Milton D. Hakel: Influence of Nonverbal Communication and Rater Proximity on Impressions and Decisions in Simulated Employment Interviews. In: Journal of Applied Psychology 62 (1977) S. 295-300. 6 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung unsere soziale Haut. München 1980, S. 234-239.
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Politische Rationalität und publizistischer Erfolg
Den Einfluss der Medien auf die Politik stellen wir uns üblicherweise als Wirkungskaskade vor: Am Beginn stehen die Ereignisse. Sie fließen in die Berichte der Massenmedien über das aktuelle Geschehen und seine Hintergründe ein. Die Realitätsdarstellung der Massenmedien beeinflusst die kurzfristigen Wahrnehmungen und dauerhaften Vorstellungen der Bevölkerung. Diese Sichtweisen und die damit verbundenen Meinungen wirken sich neben anderen Faktoren auf die Wahlentscheidungen aus. Sie schlagen sich in der Zusammensetzung der Parlamente und in den daraus hervorgehenden Regierungen nieder. Nach dieser Vorstellung stehen die Politiker am Ende der Kaskade, in deren Verlauf der Inhalt der Medienberichte durch zahlreiche Personen interpretiert und modifiziert wird, was ihren Einfluss auf Politiker eher gering erscheinen lässt. Das skizzierte Wirkungsmodell ist nicht ganz falsch. Es greift jedoch zu kurz und führt deshalb in die Irre. Der entscheidende Grund hierfür besteht darin, dass die Politiker als Rezipienten der Medienberichte und als Medium direkter Effekte überhaupt nicht vorkommen. Dies ist vor allem deshalb fragwürdig, weil sie permanent Themen der Berichterstattung sind. Die Einflüsse der Medien auf diejenigen, über die sie berichten, bezeichnet man in der Publizistikwissenschaft als reziproken Effekt. Sie beruhen auf der persönlichen Betroffenheit und auf der spezifischen Mediennutzung der gesellschaftlichen Akteure, die sich selbst oder ihr Tätigkeitsfeld als Gegenstand der Berichterstattung sehen. Aufschluss über den direkten Einfluss der Medien auf die Politik gibt eine repräsentative Umfrage des Instituts für Publizistik der Universität Mainz vom Sommer 1997.1 Angeschrieben wurden 250 Bundestagsabgeordnete und 300 Pressesprecher großer Unternehmen, von denen 61 bzw. 79 Prozent geantwortet haben. Die hier relevante Frage an beide Gruppen lautete: Welchen Einfluss besitzen nach Ihrer Einschätzung folgende Publikationen auf die Bundestagsabgeordneten? Die Parlamentarier berichteten folglich über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Einfluss der Medien auf sich selbst, die Pressesprecher urteilten dagegen aus der Perspektive von sachkundigen Beobachtern des politischen Geschehens. Ihre Antworten zeigen drei generelle Ergebnisse sowie zahlreiche Detailbefunde. Die generellen Ergebnisse lauten: 1) Pressesprecher schreiben den aufgeführten Medien etwas häufiger einen sehr großen Einfluss auf die Bun-
destagsabgeordneten zu als diese selbst. Dieser Unterschied ist auf den sogenannten Third-Person-Effekt der Massenkommunikation zurückzuführen: Die meisten Menschen glauben, die Medien würden andere Menschen mehr beeinflussen als sie selbst. Dies gilt vor allem dann, wenn diese Einflüsse als problematisch oder gar negativ betrachtet werden. 2) Die Bundestagsabgeordneten halten den Einfluss der Printmedien auf die Bonner Politiker für größer als den Einfluss des Fernsehens. Dies trifft vor allem auf zwei Blätter zu die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel. Ein wesentlicher Grund hierfür besteht darin, dass die Abgeordneten die Presse wesentlich intensiver verfolgen als das Fernsehen. Eine wenig bekannte Rolle spielen dabei Mediendienste: Fast alle Abgeordneten (89 %) informieren sich regelmäßig anhand von Artikelsammlungen (Clippings) über die Presseberichterstattung. Dagegen nutzt nur eine Minderheit (27 %) regelmäßig entsprechende Übersichten über die aktuellen Fernsehbeiträge (Tabelle 1). 3) Die Abgeordneten schreiben vor allem den Blättern einen großen Einfluss zu, die sie selbst bevorzugt lesen. Bei den Abgeordneten der CDU/CSU ist dies die FAZ, bei den Abgeordneten der SPD dagegen der Spiegel. Dies deutet darauf hin, dass sie nicht über den Einfluss der Blätter auf andere spekulieren, sondern eigene Erfahrungen berichten. Andernfalls müssten sie im Sinne des Andere-Leute-Effektes den Medien, die der Gegenseite nahe stehen, einen größeren Einfluss zuschreiben. Der entscheidende Grund für den geringen Einfluss der Fernsehmagazine auf die Parlamentarier besteht darin, dass sie von einer bemerkenswerten Ausnahme abgesehen kaum genutzt werden. Die Ausnahme bildet Bonn direkt (heute: Berlin direkt), das immerhin jeder zweite Parlamentarier (55 %) regelmäßig verfolgt und dessen Einfluss relativ hoch eingeschätzt wird (Tabelle 2). Der Einfluss der Medien bzw. einiger Publikationsorgane auf den Inhalt politischer Entscheidungen lässt sich aufschlussreich an Entscheidungen dokumentieren, bei denen es um die Eigeninteressen der Medien insgesamt bzw. um die Interessen eines bestimmten Medientyps geht der Blätter, deren Geschäft die Enthüllung ist und die folglich auf spezielle Recherchemöglichkeiten angewiesen sind. Das erste Beispiel hierfür liefert das Schicksal der Pläne für ein Presserechtsrahmengesetz in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie scheiterten nach Auskunft von mehreren Beteiligten vor allem deshalb, weil Rudolf Augstein im Spiegel vom 29. Juli 1974 unter dem Titel Das Sondergesetz massive Kritik an dem Referentenentwurf geübt hatte und bedeutende Verleger wie Alfred Neven DuMont (Kölner Stadt-Anzeiger) und Karl Bringmann (Rheinische Post) im September des gleichen Jahres im Bundesinnenministerium dagegen Sturm liefen.2 Das zweite Beispiel betrifft einen ähnlichen Sachverhalt, die Modifikation des Gesetzes über die akustische Überwachung der Wohnungen
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Tabelle 1: Einfluss der Presse auf die Bundestagsabgeordneten Frage: Welchen Einfluss besitzen nach Ihrer Einschätzung folgende Publikationen auf die Bundestagsabgeordneten? Listenvorlage Bundestagsabgeordnete (n=184) % sehr großen Einfluss Frankfurter Allgemeine Zeitung 46 Der Spiegel 41 Süddeutsche Zeitung 33 Bild 28 Focus 28 Das Handelsblatt 21 Die Welt 14 Frankfurter Rundschau 14 Stern 13 Welt am Sonntag 8 Die Zeit 5 Rheinischer Merkur 2 Die TAZ 1 Neues Deutschland 0
Pressesprecher (n=237) % 54 56 40 38 30 24 24 14 9 8 9 2 0 0
Anmerkung: Antwortvorgaben: sehr großen Einfluss, großen Einfluss, keinen großen Einfluss Schriftliche Befragung 1997; Quelle: Peter 1998
von Verdächtigen vor der letzten und entscheidenden Abstimmung. Nachdem der Spiegel am 2. Februar 1998 dazu unter der Überschrift Angriff auf die Pressefreiheit eine Titelgeschichte veröffentlicht hatte, die an 12.000 Meinungsbildner verschickt wurde, darunter Journalisten sowie Abgeordnete aller Länderparlamente und des Bundestages, stimmte ein Teil der Koalition für ein Abhörverbot von Journalisten und damit gegen ihren ursprünglichen Gesetzesvorschlag. Zu diesem Vorgang passt eine Bemerkung von Rudolf Augstein zur Ankündigung von Helmut Kohl, das Journalisten-Privileg nach einem Wahlsieg zurückzunehmen: Die davon betroffenen Journalisten blieben nach Augstein stumm, weil sie davon nicht wirklich bedroht seien. Als Grund nannte Augstein nach
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Tabelle 2: Einfluss des Fernsehens auf die Bundestagsabgeordneten Frage: Welchen Einfluss besitzen nach Ihrer Einschätzung die folgenden Sendungen auf Bundestagsabgeordnete?
sehr großen Einfluss Tagesschau heute Tagesthemen heute journal Bonn direkt Monitor Panorama Kennzeichen D Frontal n-tv Nachrichtenangebot Report München Spiegel TV Report Baden Baden Focus TV stern TV L RTL aktuell SAT.1 Nachrichten Fakt Pro Sieben Nachrichten
Bundestagsabgeordnete (n=184) % 36 34 33 32 28 13 8 8 7 7 3 3 2 2 2 1 1 1 0
Pressesprecher (n=237) % 51 47 46 41 22 16 14 7 8 3 8 3 8 1 1 4 3 1 0
Anmerkung: Antwortvorgaben: sehr großen Einfluss, großen Einfluss, keinen großen Einfluss. Schriftliche Befragung 1997; Quelle: Peter 1998
dem parlamentarischen Sieg des Spiegel vom vorangegangenen Sommer: Das würde auch ein neugewählter Kanzler Kohl nicht hinkriegen.3
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Einfluss der Politik auf die Medien Die Politik beeinflusst die Medien auf vielfältige Weise: 1) durch Gesetze wie z.B. zur Fusionskontrolle; 2) durch Machtausübung in Rundfunkräten; 3) durch Interventionen bei den Medien wegen einzelner Berichte; 4) durch öffentliche Kritik an einzelnen Beiträgen oder der Berichterstattung einzelner Personen und Redaktionen usw. Breit fundierte Auskunft über die Beeinflussung der Medien durch die Politik gibt eine schriftliche Befragung von 498 Politik-, Wirtschaftsund Lokalredakteuren im Herbst 1989. 42 Prozent der Befragten äußerten, dass sie politischem Druck in der Redaktion ausgesetzt waren. 45 Prozent erinnerten sich an öffentliche Angriffe gegen ihre Arbeit. Dabei muss es sich nicht immer um Angriffe aus der Politik gehandelt haben. Beide Befunde deuten aber darauf hin, dass sich etwa die Hälfte der Redakteure zumindest gelegentlich als Opfer äußerer Einflüsse sieht. Dies ist auch dann noch bemerkenswert, wenn man annimmt, dass der eine oder andere sich gerne in einer Opferrolle sieht und dazu neigt, auch berechtigte Kritik als illegitimen Druck zu interpretieren. Den negativen Erfahrungen mit der Politik im weitesten Sinn stehen jedoch auch positive Erlebnisse gegenüber: Immerhin 42 Prozent erinnerten sich an ein Vertrauensverhältnis zu einem Politiker. Dabei handelt es sich oft um die gleichen Personen, die politischem Druck ausgesetzt waren: Von den Journalisten, die politischen Druck in der Redaktion erlebt haben, hatten 48 Prozent ein Vertrauensverhältnis zu einem Politiker. Von ihren Kollegen, die keinen politischen Druck in der Redaktion erlebt hatten, waren es dagegen nur 38 Prozent. Der politische Druck in den Redaktionen ist folglich vielfach nur eine Seite der Medaille, die andere Seite ist häufig ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Politikern. Beides deutet auf ein enges Verhältnis zur Politik, das Licht- und Schattenseiten besitzt: Verständlicherweise geraten vor allem jene Journalisten in die politische Auseinandersetzung, die einen besonders engen Kontakt zu Politikern besitzen. Auch hier gilt der Satz: Wer sich grün macht, den fressen die Ochsen. Das Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus der Sicht der Journalisten deutlich gewandelt. Dabei kann man zwei gegenläufige Trends erkennen: Die Großväter-Generation, die vor 1936 geboren wurde und bereits in den Aufbaujahren der Bundesrepublik im Beruf war, hatte häufiger ein Vertrauensverhältnis zu Politikern und war seltener politischem Druck ausgesetzt als die Eltern-Generation, die zwischen 1936 und 1950 geboren wurde und gelegentlich als 68er-Generation bezeichnet wird. Wieder anders ist die Erfahrung der Enkel-Generation, die nach 1950 geboren wurde. Ihre Angehörigen hatten, was z. T. mit ihrem Alter zusammenhängen mag, nur selten ein Vertrauensverhältnis zu einem Politiker, erlebten aber trotzdem häufig
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politischen Druck. Dies legt die generelle Folgerung nahe: Das Klima zwischen Politikern und Journalisten hat sich im Laufe der Zeit eher verschlechtert als verbessert. Politischer Druck gehört zwar sicher nicht zu den Alltagserfahrungen von Journalisten, bleibt jedoch auch nicht auf kleine Minderheiten beschränkt. Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich derartige Erfahrungen im politischen Denken von Journalisten niederschlagen. Zuverlässige Selbstaussagen darüber sind sicherlich schwer möglich, weil die Erinnerung manches verblassen lässt, einiges verklärt und manches dramatisiert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sie jedoch die einzige Quelle, die wenigstens Hinweise auf die Intensität derartiger Erlebnisse gibt. Wir haben die befragten Redakteure deshalb gebeten, die drei Erfahrungen zu benennen, die für ihr gegenwärtiges politisches Denken am bedeutsamsten sind. Das Erlebnis von politischem Druck in der Redaktion gehört dazu nur in wenigen Fällen noch seltener allerdings die Erfahrung mit einem Vertrauensverhältnis zu einem Politiker. Auch öffentliche Angriffe gegen ihre eigene Arbeit haben nach Ansicht der weitaus meisten Befragten ihre politischen Ansichten nicht nachhaltig beeinflusst. Diese Befunde deuten darauf hin, dass sowohl die positiven wie auch die negativen Erlebnisse äußere Episoden bleiben, die auf die inneren Einstellungen der meisten Journalisten nicht durchschlagen. Man kann auch sagen: Die meisten werden damit fertig (vgl. Tabelle 3). Anpassung der Politik an die Medien Für den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, der aus dem Journalismus kommt und daher beide Seiten kennt, ist der Umgang mit Massenmedien (...) heute für einen Politiker (...) eine Routine, die man beherrschen muss, um politische Inhalte zu kommunizieren. Es wird von den Politikern meist stillschweigend akzeptiert, dass z.B. die Tagesordnung im Parlament auch mit Blick auf die Arbeitszeiten der Journalisten gestaltet wird. Wer am nächsten Tag in den Schlagzeilen stehen will, sollte seinen Terminkalender danach ausrichten. Jeder Politiker kennt das und lernt, mit diesen Spiel- regeln der Massenkommunikation umzugehen.4 Hierbei handelt es sich, auch wenn man die Entwicklung selbst und ihre Auswirkungen auf die Politikvorstellungen der Bevölkerung bedauern mag, um einen notwendigen Vorgang, dem rationale Entscheidungen zugrunde liegen: Die Politiker mussten sich in dem Maße an die Bedingungen der Medien anpassen, in dem der Erfolg in den Medien zu einer Voraussetzung für den Erfolg in der Politik wurde. Jede Kritik daran, die den Zwang zur Anpassung der Politik an die Medien ausspart, greift zu kurz, weil sie
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Tabelle 3: Bedeutsame Erfahrungen von Journalisten mit der Politik Frage: Bitte kreuzen Sie an, was Sie persönlich erlebt haben. (Vorlage einer Liste mit 33 Erlebnissen). Nachfrage: Schauen Sie sich bitte noch einmal an, was Sie angekreuzt haben und nennen Sie die drei Erfahrungen, die für Ihr gegenwärtiges politisches Denken am bedeutsamsten sind. Geburtsjahrgänge 1909-35 1936-50 1951-66 (n=168) (n=162) (n=161) % % % Persönliche Erlebnisse Vertrauensverhältnis zu einem Politiker Öffentliche Angriffe gegen Ihre Arbeit Politischer Druck in der Redaktion Schreiben gegen die eigene Überzeugung
52 44 36 4
48 52 48 10
27 42 43 17
Prägende Erlebnisse Vertrauensverhältnis zu einem Politiker Öffentliche Angriffe gegen Ihre Arbeit Politischer Druck in der Redaktion Schreiben gegen die eigene Überzeugung
7 1 13 1
11 9 15 1
6 9 14 4
Anmerkung: Anteil der Befragten, die die Erlebnisse als bedeutsamste nannten. Quelle: Ehmig 2000, S. 208-213
die Hauptursachen der Veränderungen verkennt. Dieser generelle Trend wird zwar immer wieder durch einzelne Politiker unterbrochen. Allerdings gelingt dies auf Dauer nur, wie das Beispiel von Kohl gegen Ende der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts belegt, wenn zur politischen Fähigkeit die Gunst der Stunde kommt: Ohne die deutsche Wiedervereinigung hätte er die damaligen Medienattacken kaum überstanden. Die Medien, vor denen sich Politiker verbeugen und verbiegen, sind nicht notwendigerweise auch die, denen sie sich beugen und gelegentlich unterwerfen. Im letzten Fall geht es vorrangig um Medien mit einer besonderen Stellung innerhalb des Mediensystems, um deren Einfluss auf andere Medien und damit das gesamte Mediensystem. Im ersten Fall geht es entweder um die Medien mit gro-
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ßer absoluter Reichweite, also großem Publikum, oder um Medien mit Bedeutung für bestimmte Zielgruppen vor allem die Wähler im eigenen Wahlkreis. Deshalb spielen hier zum einen die Fernsehsender und die Boulevardblätter, zum anderen aber auch die Regionalzeitungen in der Heimat der Abgeordneten eine wichtige Rolle. Ein Beispiel für die Anpassung der Politik an diese Medien sind die Aktivitäten des Bundestages. Für den Zweck dieser Betrachtung kann man die Aktivitäten grob in zwei große Klassen einteilen. Die erste Klasse von Aktivitäten zielt auf allgemeinverbindliche Regelungen und stellt den sachlich relevanten, nachhaltig wirksamen Ertrag der Parlamentsarbeit dar. Hierzu gehören alle Personal- und Sachentscheidungen einschließlich ihrer Vorbereitung durch Plenarsitzungen, wie z.B. Debatten über den Bundeshaushalt, über Verfassungsänderungen und über internationale Abkommen. Der Zweck dieser Ereignisse besteht, auch wenn sie gelegentlich große Publizität finden, vorrangig in der Verabschiedung von Gesetzen und Verträgen. Diese Aktivitäten waren Mitte der neunziger Jahre nicht seltener oder häufiger als zu Beginn der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts: In der 12. Legislaturperiode (1990-94) fanden ähnlich viele Plenarsitzungen statt wie in der ersten (1949-53) (243 vs. 283). Auch Gesetze wurden etwa genau so viele eingebracht (800 bzw. 805) und verabschiedet (507 bzw. 545). Von einem allgemeinen Rückgang oder von einer allgemeinen Ausweitung der entscheidungsorientierten Parlamentstätigkeit kann deshalb nicht gesprochen werden. Allerdings gab es durchaus eine Phase gesetzgeberischer Inaktivität. Hierbei handelte es sich um die Regierungszeit von Helmut Schmidt, der von den meisten meinungsbildenden Medien als Macher dargestellt und von der Mehrheit der Bevölkerung auch so wahrgenommen wurde. Die zweite Klasse von Aktivitäten zielt auf die Vermittlung von Informationen an das Parlament, die Medien und die interessierte Öffentlichkeit. Hierzu zählen aktuelle Stunden, öffentliche Anhörungen sowie schriftliche und mündliche Anfragen. Der Zweck dieser Ereignisse besteht, auch wenn sie im Zusammenhang mit Sach- und Personalentscheidungen geschehen, vor allem darin, die Aufmerksamkeit des Parlamentes, der Medien und der Bevölkerung auf bestimmte Themen und Aspekte zu lenken. Zugleich bieten sie den Parlamentariern die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, die zumindest bei den Regionalblättern in ihren Wahlkreisen Beachtung findet. Diese Aktivitäten nahmen im Laufe der Jahrzehnte dramatisch zu: Von der ersten bis zur zwölften Legislaturperiode stieg die Zahl der mündlichen und schriftlichen Anfragen von 392 auf 20.689 an. Die Höchstwerte fanden sich mit weit über 20.000 Anfragen in der achten und zehnten Legislaturperiode. Auch öffentliche Anhörungen und aktuelle Stunden wurden seit den achtziger Jahren immer häufiger durchgeführt. Allerdings blieb ihre
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Zahl vergleichsweise gering. Die Mediatisierung der Parlamentsarbeit vollzog sich demnach in zwei Schüben. Der erste Schub erfolgte Mitte der sechziger Jahre, der zweite in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Begleitet und vorbereitet wurden diese Veränderungen durch Änderungen der Geschäftsordnungen des Bundestages. Hierbei handelte es sich um Reformen, die selbst bereits von den medialen Bedürfnissen der Parlamentsarbeit geprägt waren (Abbildung 1). Abbildung 1: 400
Aktivitäten des Bundestages Anfragen
Sitzungen, Anhögen und aktuelle Stunden
350
25.000
20.000
300 250
15.000
200 10.000
150 100
5.000 50 0
0 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Legislaturperiode
Plenarsitzungen (n=2.487);
Öffentliche Anhörungen (n=1.044)
Aktuelle Stunden (n=414)*;
Mündliche/schriftliche Anfragen
Anmerkungen:*) 1965 eingeführt; **) Seit der 6. Wahlperiode (1969-72) auch schriftliche Anfragen. Quelle: Kepplinger 1998, S. 155
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Die Mediatisierung der parlamentarischen Arbeit blieb nicht ohne Auswirkung auf die Größe und Effektivität des Regierungsapparates. So beantwortete z.B. das Bundesministerium der Finanzen in der 12. Wahlperiode (1990-94) insgesamt 3.534 parlamentarische Anfragen. In 3.371 Fällen das entspricht 95 Prozent handelte es sich um mündliche und schriftliche Anfragen. Stark belastet durch mündliche und schriftliche Anfragen waren auch das Bundesministerium für Verkehr (2.281 Anfragen), das Bundesministerium des Inneren (2.244 Anfragen) und das Auswärtige Amt (1.703 Anfragen). Die Belastung der Bundesministerien durch eine Vielzahl von mündlichen und schriftlichen Anfragen erfordert einen entsprechend großen Personalbestand. Die Mediatisierung der Parlamentsarbeit war deshalb auch eine kaum beachtete Ursache der Ausweitung der Ministerialbürokratie. Dies ist kein generelles Argument gegen die Möglichkeit für mündliche und schriftliche Anfragen, muss jedoch bei einer rationalen Abwägung der Vor- und Nachteile der Mediatisierung der Parlamentsarbeit berücksichtigt werden. Symbolische Politik Symptomatisch für die Anpassung der Politik an die Erfolgsbedingungen der Medien ist die Zunahme symbolischer Politikaktionen, die mehr auf die Befriedigung der Medien und die Beruhigung der Bevölkerung als auf die Lösung von Sachfragen zielen. Wolfgang Clement beschreibt dies aufgrund seiner eigenen Erfahrung folgendermaßen: Um ein Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen, bedarf es heute (...) lediglich einer Fernsehsendung, die bestimmte Einzelerscheinungen spektakulär in Szene setzt. (...) Die Öffentlichkeit erwartet in allen diesen Fällen eine möglichst sofortige Reaktion der Politik, die dann ihrerseits versucht ist, wiederum nur durch symbolische Handlungen zu antworten Längerfristige, aber nicht minder bedeutsame Probleme, die allerdings weniger spektakulär von den Medien inszeniert werden, geraten somit in den Hintergrund. Die politische Tagesordnung wird auf diese Weise zu einem großen Teil von Ereignissen bestimmt, deren Relevanz bei genauer Betrachtung relativ gering einzuschätzen ist. Gleichwohl binden die Reaktionen auf solche Ereignisse einen nennenswerten Teil der politischen Problemlösungskapazität.5 Einen Beleg für die verinnerlichte Bereitschaft zu symbolischer Politik lieferten die Reaktionen der Pressesprecher aus vier Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Baden-Württemberg) auf den Ozon-Alarm in Hessen am 26. Juli 1994. Obwohl keine eindeutigen Belege für eine Reduzierung vorlagen, hielten acht von neun Pressesprechern die Maßnahme für sinnvoll, weil dadurch die Ozon-Diskussion
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in Bewegung gebracht worden sei. Offensichtlich waren für die Pressesprecher unabhängig von der Haltung ihrer jeweiligen Landesregierungen die fraglichen Entscheidungen normal. Für sie ging es nicht mehr um die sachliche Richtigkeit einer Maßnahme, sondern nur noch um die publizistischen Erfolgschancen einer demonstrativen Geste und den Eindruck, den sie bei der Bevölkerung hinterließ. Die wachsende Neigung zu symbolischer Politik und ihre wachsende Bedeutung für das öffentliche Erscheinungsbild der Politik lassen sich anhand der Stellungnahmen nachzeichnen, die im Laufe der Jahrzehnte zum Anlass von Politikberichten wurden. Geeignet für eine solche Analyse ist die Politikberichterstattung der drei Tageszeitungen, die seit der Gründung der Bundesrepublik bundesweit verbreitet werden der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Welt.6 Seit den frühen sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stieg die Zahl der Beiträge aus Anlass von Stellungnahmen zum politischen Geschehen auf mehr als das Doppelte an. Die Politikberichterstattung vermittelte folglich zunehmend den Eindruck, dass in der Politik zwar immer mehr geredet, jedoch nicht mehr gehandelt wird. Die Urheber der Stellungnahmen waren nahezu ausschließlich Politiker. Die Zahl der Beiträge, die dadurch ausgelöst wurden, verdoppelte sich im Laufe von 45 Jahren. Gegen Ende der siebziger Jahre war sie sogar nahezu dreimal so groß wie zu Beginn der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Anzahl der Beiträge, die durch Stellungnahmen von Bürgern oder Bürgerinitiativen, von Angehörigen gesellschaftlicher Einrichtungen (Verbände, Vereine usw.) sowie von Angehörigen staatlicher Einrichtungen (Militär, Polizei, Verwaltung usw.) ausgelöst wurden, blieb dagegen trotz der Ausweitung der Politikberichterstattung konstant niedrig. Aufgrund der wachsenden Zahl von publizistisch erfolgreichen Politikerstellungnahmen schwanden die publizistischen Möglichkeiten der Einzelnen und ihrer Interessenvertretungen zusehends: Die wenigen Beiträge, die nach wie vor von ihren Stellungnahmen ausgelöst wurden, wurden immer mehr von Beiträgen überlagert, die auf Stellungnahmen von Politikern beruhten. Damit fehlte in den siebziger Jahren eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung der programmatischen Ankündigung Willy Brandts des mehr Demokratie wagen. Hierfür wäre es notwendig gewesen, dass vor allem die Stellungnahmen von Bürgern und von Aktionsgruppen aus dem vorpolitischen Raum den Anlass für Politikberichte gebildet hätten. Dies war jedoch, obwohl häufiger über Bürgerinitiativen berichtet wurde, nicht der Fall: Sie entwickelten sich nicht zum bestimmenden Subjekt der Berichterstattung, sondern blieben überwiegend Objekt der Darstellung etablierter Kräfte, darunter vor allem der Parteien.
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Die wachsende Zahl von Politikerstellungnahmen, die zum Anlass der Politikberichterstattung wurde, deutet darauf hin, dass die Politiker im Laufe der Zeit gelernt haben, wie man mit geringstem Aufwand in die Medien kommt indem man Stellungnahmen zu Stellungnahmen zu Stellungnahmen abgibt. Nicht alle Stellungnahmen kann man als Element von symbolischer Politik betrachten: Auch wenn es keine symbolische Politik gäbe, gäbe es Politiker-Stellungnahmen. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Art der Stellungnahmen näher zu unterscheiden. Aus theoretischen und praktischen Gründen kann man sie zu vier Klassen zusammenfassen, die für unterschiedliche Sachverhalte stehen: Erfolgs- und Misserfolgsbehauptungen sie kann man als Indikator für die Problemlösungsfähigkeit der Politik ansehen: Je mehr Erfolgs- und Misserfolgsaussagen von Politikern zum Anlass von Politikberichten werden, desto intensiver steht die Problemlösungsfähigkeit der Politik zur Diskussion. Konsens- und Konfliktbehauptungen sie kann man als Indikator für den Grad der politischen Kontroverse betrachten: Je mehr Konsens- und Konfliktbehauptungen von Politikern zum Anlass von Politikberichten werden, desto heftiger sind die Auseinandersetzungen. Reaktionen in etablierten Konflikten sie kann man als Indikator für die Selbstreferentialität von Politik ansehen: Je mehr Reaktionen von Politikern auf andere Politiker zum Anlass von Politikberichten werden, desto selbstreferentieller ist Politik. Handlungsankündigungen und Handlungsaufforderungen sie kann man als Anzeichen für potentielle und virtuelle Handlungen, für symbolische Politik also, ansehen. Nicht alle Ankündigungen und Aufforderungen gehören zur symbolischen Politik. Geht man aber von der begründbaren Annahme aus, dass sich die Zahl der substantiellen Fälle im Laufe der Zeit nicht wesentlich verändert hat, gibt die Zu- und Abnahme aller Ankündigungen und Aufforderungen Auskunft über die Zu- oder Abnahme symbolischer Politik. Alle Arten von Stellungnahmen wurden im Laufe der Zeit immer häufiger zum Anlass von Politikberichten. Keine andere Art hatte jedoch eine derartige Konjunktur wie die Stellungnahmen, die die größte Affinität zur symbolischen Politik besitzen: Handlungsankündigungen und Handlungsaufforderungen. Die Zahl der Beiträge aus derartigen Anlässen nahm, obwohl sie schon in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorherrschten, auf weit mehr als das Doppelte zu. Neben den Handlungsankündigungen und -aufforderungen wuchs zu Beginn der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre auch die Zahl der Konsensund Konfliktbehauptungen. Das deutet darauf hin, dass in dieser Phase die Kontroversen zwischen den Parteien zunahmen und der Ton der Auseinandersetzungen rauer wurde, was vor allem in den achtziger Jahren das öffentliche Erscheinungsbild der Politik negativ beeinflusste. Dies war neben einer Reihe von ande-
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ren Faktoren eine wichtige Ursache der langsam wachsenden Politikverdrossenheit in den politisch interessierten Teilen der Bevölkerung (Abbildung 2). Abbildung 2:
Art der Stellungnahmen deutscher Politiker
350
Anzahl der Beiträge
300 250 200 150 100 50 0
1951-53 1954-56 1957-59 1960-62 1963-65 1966-68 1969-71 1972-74 1975-77 1978-80 1981-83 1984-86 1987-89 1990-92 1993-95
Handlungsankündigung/-aufforderung (n=3.408); Erfolg-/Misserfolgsbehauptung (n=1.224);
Konsens-/Konfliktbehauptung (n=1.849)
Reaktion auf Konflikte (n=705)
Anmerkungen: Die Deutschlandberichterstattung diente als Basis (n=29.139). Berücksichtigt wurde nur politisches Geschehen. Nicht ausgewiesen sind Beiträge, deren Anlass ein Ereignis bzw. deren Anlass nicht erkennbar war (n=17.685), sowie Stellungnahmen von Nicht-Politikern (n=4.268). Quelle: Kepplinger 1998, S. 160
Folgerungen In modernen Demokratien braucht die Politik die Medien mehr als die Medien die Politik. Dies hat vor allem zwei Gründe. Erstens, Regierungen, Parlamente, Parteien und einzelne Politiker können sich nach dem Niedergang der Parteipresse nicht mehr eigenständig an die Masse der Bevölkerung wenden. Hierbei sind sie auf die Vermittlung durch die Medien angewiesen. Der Erfolg in den Medien ist dadurch zu einer funktionalen Voraussetzung für den Erfolg in der Politik geworden. Zweitens, die dauerhaften Bindungen der Bevölkerung an bestimmte politische Richtungen auf der Grundlage von Herkunft und Lebenslage sind
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schwächer geworden. Dadurch ist die Bedeutung kurzzeitiger Einflüsse gewachsen. Dies wiederum hat das Wirkungspotential der Medien vergrößert, weil sie kurzfristig erheblich mehr Menschen erreichen können. Der gesamte Prozess besitzt erhebliche Auswirkungen auf die Rationalität des politischen Handelns. Politik und Journalismus beruhen in liberalen Demokratien auf ähnlichen normativen Voraussetzungen. Beide zielen auf die Optimierung der Willensbildung durch den öffentlichen Wettbewerb von Informationen und Meinungen. Beide beanspruchen zur Erfüllung dieser Aufgabe Freiheit von staatlichem Zwang und Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Machtgruppen. Beide richten sich im Prinzip an die gesamte Bevölkerung und leiten ihre Existenzberechtigung auch aus ihrem Erfolg bei ihr ab. Beide ziehen einen Personentyp an, der der Masse misstraut, aber die Öffentlichkeit schätzt und öffentliche Resonanz als Gratifikation empfindet. Die Legitimation und rechtliche Stellung beider Gruppen beruht auf der Annahme, dass sie ihre jeweiligen Ziele erreichen bzw. dass sie ohne ihre Einrichtungen die Parlamente, Parteien, die Zeitungen, Zeitschriften usw. noch weniger erreichbar wären. Die Liste solcher Gemeinsamkeiten ließe sich verlängern. Wichtiger sind im vorliegenden Zusammenhang jedoch die Unterschiede. Von der Politik erwartet man ein systematisches Vorgehen gegen Missstände, von den Medien dagegen nur eine fallweise Intervention. Die Medien können sich deshalb auf besonders vielversprechende Einzelfälle konzentrieren, an denen sie exemplarisch ihre Effektivität demonstrieren. Von der Politik erwartet man im Unterschied zu den Medien Urteilskonstanz. Urteilsänderungen von Politikern müssen gerechtfertigt werden, Urteilsänderungen der Medien werden dagegen vergessen. Weil Urteilsänderungen im Laufe der Zeit unvermeidbar und die Gründe hierfür nicht immer kommunizierbar sind, erscheint die Politik im Unterschied zu den Medien als unzuverlässig. Von der Politik erwartet man im Unterschied zu den Medien eine moralische Verantwortung für die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Handelns. Weil solche Nebenfolgen nicht immer vorhersehbar und vermeidbar sind, macht sich die Politik anders als die Medien permanent schuldig, was zusätzliche Angriffsflächen bietet. Die Rationalität der Politik unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht grundsätzlich von der Rationalität der Medien. Sie besitzen zudem unterschiedliche soziale Funktionen, die gegenseitig nicht austauschbar sind. Die Anpassung der Politik an die Bedingungen der Medien hat deshalb negative Auswirkungen auf die Politik. Dies beginnt bei der Auswahl der politischen Eliten, erstreckt sich auf die Rationalität des politischen Prozesses sowie die Verantwortung für die unbeabsichtigten Folgen politischer Entscheidungen. Es endet bei der Akzeptanz des politischen Systems, weil es an seinen eigenen Erfolgskriterien gemessen wird,
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jedoch den ganz andersartigen Erfolgsbedingungen der Medien genügen muss. Das politische System ist damit divergierenden Kriterien ausgesetzt, denen es umso weniger gerecht werden kann, je bedeutsamer die Medien werden.
1
Vgl. Susanne Peter: Expertenurteile über die redaktionelle Linie ausgewählter Print- und TVMedien. Mainz 1998 (Magisterarbeit). 2 Vgl. Dirk Augustin: Die Gründe für den Verzicht der sozialliberalen Koalition auf ein Presserechtsrahmengesetz. Mainz 1994 (Magisterarbeit). 3 Der Spiegel Nr. 24, 1998. 4 Wolfgang Clement: Zur Mediatisierung der Politik und Politisierung der Medien. In H. Hoffmann (Hrsg.): Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt. Darmstadt 1994, S. 32-37, dort S. 33 f. 5 Ebenda, S. 44 f. 6 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1998, S. 152-163.
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Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen
Die Medien besitzen einen zu großen Einfluss auf die Politik. Dies ist seit Jahrzehnten die Kernbotschaft der Befragung von Politikern. Ihre Grundlage erkennt man besonders deutlich beim Vergleich des Einflusses der Medien auf die Politik, den sie nach Einschätzung von Politikern tatsächlich besitzen und dem Einfluss, den sie nach ihrer Meinung haben sollten. Die erste derartige Befragung wurde bereits 1972 durchgeführt.1 Die Befragten konnten den tatsächlichen Einfluss u. a. der Medien auf die Politik anhand einer sechsstufigen Skala einschätzen, wobei niedrige Werte einen großen Einfluss anzeigen. Bereits damals schrieben die Politiker vor allem dem Fernsehen (2,4) und der Presse (2,5) einen gleich großen oder sogar größeren Einfluss auf die Politik zu als der Verwaltung (2,5), den Gewerkschaften (2,7) und der Wirtschaft (3,0). Übertroffen wurde der wahrgenommene Einfluss der Medien auf die Politik nur vom Einfluss der Bundesregierung (1,4) und der Parteien (1,4). Die Einschätzungen der Politiker entsprachen weitgehend den Urteilen von Entscheidern in der Wirtschaft, der Verwaltung und den Gewerkschaften. Aus Sicht der Politiker war bereits 1972 der große Einfluss der Medien, und hier wiederum vor allem des Fernsehens, auf die Politik nicht wünschenswert. Über die Hälfte (57 %) waren der Meinung, das Fernsehen sollte weniger Einfluss auf die Politik haben, mehr als ein Viertel (28 %) wünschte dies auch von der Presse. Auch hierbei entsprachen die Sichtweisen der Politiker weitgehend den Sichtweisen der anderen Eliten. Vierzig Jahre später, im Sommer 2003, hatten sich die Machtverhältnisse aus Sicht der Politiker noch mehr zugunsten der Medien verschoben.2 Bei einer Befragung der Mitglieder des Deutschen Bundestages konnten die Parlamentarier den tatsächlichen Einfluss u. a der Medien auf die Gesellschaft auf einer elfstufigen Skala einschätzen, wobei hohe Werte einen großen Einfluss anzeigen. Auch wenn hier nicht gezielt nach dem Einfluss der Medien auf die Politik gefragt wurde, vermitteln die Ergebnisse interessante Aufschlüsse. Nach Ansicht der Politiker besitzen die Medien (8,2) erheblich mehr Einfluss auf die Gesellschaft als die Finanzmärkte (6,9), die Verwaltung (6,7), die Parteien (6,7), der DGB (6,5), der BDA (6,2) und die Unternehmen (4,8). Knapp übertroffen wird der Einfluss der Medien auf die Gesellschaft nach Ansicht der Parlamentarier nur
vom Einfluss der Bundesregierung (8,4). Die Frage danach, wie groß der Einfluss der Genannten sein sollte, offenbart mit Blick auf die Macht der Medien eine Kluft zwischen Sein und Sollen: In keinem anderen Fall ist aus Sicht der Parlamentarier der Unterschied zwischen der wahrgenommenen und der gewünschten Macht auch nur annähernd so groß wie bei den Medien (-3,6). Die meisten deutschen Parlamentarier betrachten die Macht der Medien als eine Gefahr. So sind 83 Prozent der Parlamentarier der Meinung, der zunehmende Einfluss der Massenmedien sei für die Zukunft des deutschen politischen Systems sehr bedenklich bzw. ziemlich bedenklich. Der Einfluss der Medien ist allerdings auch aus Sicht von Politikern nicht immer nur negativ. Dies belegt eine Befragung von Spitzenpolitikern in den USA.3 So erklären zwar fast drei Viertel (71 %), negative Medienberichte würden die Chancen verringern, politische Ziele zu erreichen. Über drei Viertel (76 %) sagen jedoch, positive Medienberichte würden diese Chancen vergrößern. Die vermuteten Gründe lassen sich spezifizieren: Zwei Drittel (66 %) sind der Meinung, negative Berichte würden die Unterstützung der Vorhaben aus der Gesellschaft verringern, die Hälfte (50 %) ist andererseits jedoch der Überzeugung, positive Medienberichte würden sie vergrößern. Aus diesen und einer Reihe ähnlicher Befunde kann man zwei Folgerungen ableiten. Erstens, die Art des Einflusses der Medien auf die Politik hängt entscheidend von der Art der Berichterstattung der Medien ab. Berichten die Medien positiv, nutzen sie Politikern; berichten sie negativ, schaden sie ihnen. Beachtenswert ist dieser triviale Sachverhalt deshalb, weil die Medien über Politik meist negativ berichten. Zweitens, beim Verhältnis von Medien und Politik geht es weniger um die Macht der Medien als um die Ohnmacht der Politik: Politiker, die in den Medien nicht vorkommen, existieren für die Masse der Wähler nicht, und Politiker, deren Ziele negativ dargestellt werden, haben geringe Chancen, ihre Absichten zu verwirklichen. Die Abhängigkeit der Politiker von der medialen Beachtung und Bewertung ihrer Aktivitäten führt zu der Frage, ob unsere Vorstellungen von den Mechanismen der Medienwirkung der Realität gerecht werden. Reziproke Effekte Die Wirkungen der Medien auf diejenigen, über die sie berichten, die Protagonisten der Berichterstattung, kann man in Anlehnung an Kurt und Gladys Engel Lang reziproke Effekte nennen.4 Bei den Protagonisten der Berichterstattung handelt es sich um Politiker, Unternehmer, Sportler, Künstler usw. Die Medien besitzen auf die Protagonisten einen größeren Einfluss als auf die Masse der unbeteiligten Beobachter. Reziproke Effekte können vor, während und nach der
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Berichterstattung über die potenziellen Nutzer auftreten. Entsprechend kann man pro-aktive, inter-aktive und re-aktive Effekte unterscheiden. Pro-aktive Effekte sind Wirkungen von zukünftigen Berichten auf die Verhaltensweisen von potenziellen Protagonisten, die sie vermeiden oder herbeiführen wollen. Ein Beispiel ist die Inszenierung von Ereignissen eigens zum Zwecke der Berichterstattung. Inter-aktive Effekte sind Wirkungen, die während der Kontakte mit den Medien von ihnen ausgehen. Ein Beispiel hierfür sind Einflüsse der Studio-Atmosphäre auf das nonverbale Verhalten von Gästen einer TV-Talk-Show. Re-aktive Effekte sind Wirkungen, die die bereits erschienenen Berichte auf die Protagonisten ausüben. Ein Beispiel hierfür sind die Emotionen, die Skandalberichte bei den Skandalierten auslösen. Ein anderes Beispiel sind Stellungnahmen von Politikern zu Behauptungen, die von Medien verbreitet werden. Bei den re-aktiven Effekten handelt es sich um Ursache-WirkungsBeziehungen, bei den pro-aktiven Effekten um Zweck-Mittel-Relationen. Hier sind die Verhaltensweisen der Akteure ein Mittel, um Ziele zu erreichen positive oder neutrale Berichte, die ihre Wertschätzung bei den Wählern oder die Akzeptanz für ihre Gesetzesvorhaben verbessern. Sie sind aus der sachlich begründeten Sicht der Politiker funktionale Voraussetzungen für ihren Erfolg.5 Dabei kann man primäre und sekundäre Mittel sowie intermediäre und finale Ziele unterscheiden. Ein primäres Mittel ist z. B. die Einbringung einer Kleinen Anfrage, ein sekundäres Mittel die Berichterstattung darüber. Ein intermediäres Ziel ist die Berichterstattung, ein finales Ziel der Einfluss der Berichterstattung auf das Publikum. Einzelne Elemente kann man folglich je nach Perspektive als Mittel und/oder Ziel betrachten. Die Wahl bestimmter Mittel ist umso zwingender, je wichtiger die Ziele für die Akteure sind und je stärker die Akteure auf spezifische Mittel angewiesen sind. Je mehr funktionale Alternativen existieren, desto weniger kann man die Entscheidung für ein bestimmtes Mittel aus der Notwendigkeit der Funktionserfüllung ableiten. Je weniger funktionale Alternativen existieren, desto eher kann man die Entscheidung für ein bestimmtes Mittel mit der Notwendigkeit der Funktionserfüllung erklären. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn zu dem Mittel kein funktionales Äquivalent existiert, der Akteur also auf ein spezifisches Mittel angewiesen ist. So gibt es zwar mehrere funktionale Äquivalente zur Einbringung Kleiner Anfragen eine Rede im Bundestag oder bei einer wichtigen Konferenz, ein Interview zu einem kontroversen Thema usw. Es gibt jedoch kaum ein funktionales Äquivalent für die Berichterstattung der Medien. Die Entfaltung medienwirksamer Aktivitäten generell lässt sich folglich besser durch die Notwendigkeit der Funktionserfüllung erklären als die Entscheidung für eine spezifische Aktivität.
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Mediatisierung der Politik Je mehr Politiker auf Medienberichte als sekundäres Mittel angewiesen sind, desto mehr müssen sie sich, wenn sie Erfolg haben wollen, bei der Wahl der primären Mittel an den Erfolgsbedingungen der Medien orientieren. Dabei können die Erfolgsbedingungen der Medien zum wichtigsten Entscheidungskriterium werden. Eine Folge dieser Abhängigkeiten und Aktivitäten ist die Mediatisierung der Politik. Dabei überlagert wie Heinrich Oberreuter früh erkannt und differenziert beschrieben hat6 die Eigengesetzlichkeit der Medien die Eigengesetzlichkeit der Politik. Diesen Prozess illustriert die Entwicklung der Aktivitäten des Bundestages. Sie kann man grob in zwei große Klassen einteilen.7 Die erste Klasse kann man als Gestaltungshandeln bezeichnen. Es zielt auf allgemeinverbindliche Regelungen und stellt den sachlich relevanten, nachhaltig wirksamen Ertrag der Parlamentsarbeit dar. Hierzu gehören alle Personal- und Sachentscheidungen einschließlich ihrer Vorbereitung durch Plenarsitzungen wie z.B. Debatten über den Bundeshaushalt, über Verfassungsänderungen und über internationale Abkommen. Der Zweck dieser Ereignisse besteht, auch wenn sie gelegentlich große Publizität finden, vorrangig in der Verabschiedung von Gesetzen und Verträgen. Diese Aktivitäten waren Mitte der neunziger Jahre nicht seltener oder häufiger als zu Beginn der fünfziger Jahre: In der zwölften Legislaturperiode (1990-94) fanden ähnlich viele Plenarsitzungen statt wie in der ersten (1949-53) (243 vs. 283). Auch Gesetze wurden etwa genauso viele eingebracht (800 bzw. 805) und verabschiedet (507 bzw. 545). Von einem allgemeinen Rückgang oder von einer allgemeinen Ausweitung der entscheidungsorientierten Parlamentstätigkeit kann deshalb nicht gesprochen werden. Die zweite Klasse von Aktivitäten kann man Darstellungshandeln nennen. Es zielt auf die Vermittlung von Informationen an das Parlament, die Medien und die interessierte Öffentlichkeit. Hierzu zählen aktuelle Stunden, öffentliche Anhörungen sowie schriftliche und mündliche Anfragen. Der Zweck dieser Ereignisse besteht, auch wenn sie im Zusammenhang mit Sach- und Personalentscheidungen geschehen, vor allem darin, die Aufmerksamkeit des Parlamentes, der Medien und der Bevölkerung auf bestimmte Themen und Aspekte zu lenken. Diese Aktivitäten nahmen im Laufe der Jahrzehnte dramatisch zu: Von der ersten bis zur zwölften Legislaturperiode stieg die Zahl der mündlichen und schriftlichen Anfragen von 392 auf 20.689 an. Darin eingeschlossen sind die Kleinen Anfragen. Das Darstellungshandeln hat folglich im Unterschied zum Gestaltungshandeln erheblich an Bedeutung gewonnen. Dies wirft die Frage auf, warum das Darstellungshandeln an Bedeutung gewonnen hat und welche weiter reichenden Folgen dies besitzt. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert einen Blick auf die rechtlichen und politischen Voraussetzungen für Kleine Anfragen.
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Genese der Kleinen Anfragen Die Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) unterscheidet zwischen Kleinen Anfragen und Großen Anfragen. Daneben besteht die Möglichkeit zu (mündlichen oder schriftlichen) Fragen einzelner Mitglieder. Kleine Anfragen sind vor allem ein Mittel der Oppositionsparteien, die die weitaus meisten Kleinen Anfragen stellen. Sie müssen von mindestens 34 Abgeordneten bzw. 5 % der Mitglieder des Bundestages eingebracht werden. Üblicherweise werden die Kleinen Anfragen in den zuständigen Arbeitskreisen beraten und im Falle der Zustimmung der jeweiligen Fraktion dem Parlamentssekretariat übermittelt. Der Präsident des Bundestages leitet die Kleinen Anfragen an die zuständigen Ministerien weiter, die sie schriftlich beantworten. Die Antworten werden als Bundestagsdrucksache allen Abgeordneten zugestellt. Eine Aussprache findet nicht statt. Kleine Anfragen wurden 1912 in die Geschäftsordnung des Reichstages eingeführt und später in die Geschäftsordnung des Bundestages übernommen.8 Von der ersten bis zur neunten Legislaturperiode (1949 -1983) spielten sie keine große Rolle. Dies änderte sich mit dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag (1983), wodurch die Zahl der Kleinen Anfragen von 297 auf 1.006 hochschnellte. Ein Grund bestand darin, dass die GRÜNEN zunächst nicht über informelle Kontakte in die Ministerien verfügten und sich auf diese Weise Informationen beschafften. Ein weiterer Grund bestand darin, dass sich Bürgerinitiativen mit Hilfe der Kleinen Anfragen der GRÜNEN Informationen und Aufmerksamkeit verschafften.9 Allerdings wurden auch in den folgenden Legislaturperioden jeweils mehr als 1.000 Kleine Anfragen eingebracht. Dies deutet darauf hin, dass der plötzliche aber dauerhafte Anstieg der Zahl der Kleinen Anfragen auch andere Gründe hatte. In der wissenschaftlichen Literatur wird der sachliche Nutzen von Kleinen Anfragen überwiegend bezweifelt und ihre Zunahme entsprechend kritisch bewertet. So vermutet Wolfgang Ismayr, dass eine derartige Vielfalt von Einzelaktivitäten in der Fraktion allgemein wahrgenommen wird und die Konzentration auf das Wesentliche nicht fördert.10 Wolfgang Rudzio glaubt nicht, dass angesichts der steigenden Flut von Anfragen ihre Ergebnisse noch tatsächlich verarbeitet werden und in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand stehen.11 Wolfgang Ismayr sieht den Nutzen der Kleinen Anfragen vor allem darin, dass sie öffentlichkeitswirksam Problemzusammenhänge sichtbar machen können.12 Dagegen betrachten Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh die Kleinen Anfragen nach wie vor als Mittel zur Leistungs- und Sachkontrolle.13 Gemeinsam ist diesen Stimmen, dass sie vom ursprünglichen Zweck der Kleinen Anfragen ausgehen, ihrer Funktion zur Unterrichtung der Parlamentarier und der politisch interessierten Öffentlichkeit. So zitiert Werner J. Patzelt einen Abge-
103
ordneten mit folgenden Worten: Also ich stehe nicht an zu sagen, daß manche schriftliche Anfrage
nicht wegen der Antwort, die man erwartet, gestellt wird
sondern
weil man auf diese Weise ins Medium kommt. Und ins Medium will man ja nicht zuletzt deswegen kommen, weil man
etwas vorweisen muß bei seiner erneuten Nominierung und gegenüber dem Wähler.14 Funktionen der Kleinen Anfragen Kleine Anfragen können politische und publizistische Funktionen erfüllen. Unter den politischen Funktionen werden hier die traditionellen Zwecke von Kleinen Anfragen verstanden die Information der Fragesteller, ihrer Fraktion und ihrer Partei; die Vorbereitung und Unterstützung von politischen Aktivitäten der Antragsteller (Reden, Gesetzesinitiativen), die Profilierung der Antragsteller im Parlament und der Partei sowie die Kontrolle der Regierung. Zu den publizistischen Funktionen werden Zwecke gerechnet, die in den Medien selbst liegen (Berichterstattung) oder sich effektiv nur mit Hilfe der Medien erreichen lassen (Sensibilisierung der Bevölkerung, Unterstützung außerparlamentarischer Aktivitäten). In diesen Bereich gehört auch die Profilierung der Antragsteller bei den Medien. Die politischen und publizistischen Funktionen der Kleinen Anfragen haben wir mit einer schriftlichen Befragung der Abgeordneten der CDU/CSU, FDP und der PDS ermittelt, die vor und nach der Bundestagswahl 2002 in der Opposition waren. An der Befragung beteiligten sich 54 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, 20 Abgeordnete der FDP-Fraktion und 7 Abgeordnete der PDS, was einem Rücklauf von 25 % entspricht. Der geringe Rücklauf ist zum einen auf die turbulente Endphase des Wahlkampfs zurückzuführen, der von drei alle Aufmerksamkeit absorbierenden Themen dominiert wurde dem Elbhochwasser, dem Irak-Krieg und den TV-Duellen. Zum anderen ist er darauf zurückzuführen, dass ein Teil der Abgeordneten, die vor der Wahl angeschrieben worden waren, nicht mehr in den Bundestag zurückkehrten und deshalb nach der Wahl kaum noch ansprechbar war. Trotz des unbefriedigenden Rücklaufs bieten die Antworten der 81 Abgeordneten eine brauchbare Basis für verallgemeinerbare Aussagen über die Ursachen der Kleinen Anfragen, ihre Verwendung und die Quellen ihrer Themen. Bei der Suche nach den Ursachen der Kleinen Anfragen wird man die manifesten Ziele der Parlamentarier und die latenten Motive ihres Verhaltens unterscheiden müssen. Fragen nach den manifesten Ursachen des politischen Verhaltens werden oft mit Hinweisen auf sozial erwünschte Aspekte beantwortet. Fragen nach den latenten Motiven führen dagegen eher zu den wirklich relevanten Handlungsgründen. Gefragt nach den manifesten Zielen verweisen die Parlamen-
104
tarier erwartungsgemäß auf die manifesten Zwecke der Kleinen Anfragen die Kontrolle der Regierung, die eigene Information und die Vorbereitung von Gesetzen. Allerdings nennen auch hier schon relativ viele die Information der Medien. Dagegen spielen andere politische Aktivitäten wie die Vorbereitung von Reden im Parlament und im Wahlkreis sowie die Profilierung innerhalb der Partei keine große Rolle (Tabelle 1). Tabelle 1: Manifeste Ziele, die mit Kleinen Anfragen verfolgt werden Frage: Kleine Anfragen können ja mehrere Ziele verfolgen. Bitte gehen Sie die folgenden Möglichkeiten durch und beurteilen Sie ihre Wichtigkeit. sehr wichtig %
wichtig %
nicht so wichtig %
dazu, die Regierung unter Druck zu setzen
56
41
3
... meiner eigenen Information
48
44
7
der Vorbereitung von Gesetzesinitiativen
35
44
21
der Vorbereitung von Reden im Parlament
7
44
48
der Vorbereitung von Reden im Wahlkreis
5
40
54
als Nachweis parlamentarischer Aktivitäten
2
30
70
zur Profilierung innerhalb der Partei
2
23
70
44
44
11
Kleine Anfragen dienen
Politische Ziele
Publizistisches Ziel
dazu, die Medien auf Probleme aufmerksam zu machen
Werte über 100%: Rundungsfehler; Werte unter 100 %: Fehlende Angaben.
105
Politiker wollen etwas bewirken, und die Aussicht, etwas bewirken zu können, ist ein wesentliches Motiv ihres Handelns. Je größer aus Sicht von Politikern die Chancen sind, mit einer Handlung etwa zu bewirken, desto eher handeln sie entsprechend. Deshalb kann man die Einschätzung der Wirkungschancen als einen Indikator für die latenten Motive für Kleine Anfragen betrachten. Erwartungsgemäß wird in den Antworten auf entsprechende Fragen die Relevanz der Medienresonanz noch deutlicher, weil die Parlamentarier politische Wirkungen seltener erwähnen als politische Ziele und weil sie zugleich publizistische Wirkungen häufiger nennen als publizistische Ziele. Die Parlamentarier haben häufig erlebt, dass sie mit Kleinen Anfragen Themen in den Medien platzieren können. Deshalb ist die Aussicht auf Medienresonanz ein wichtiges Motiv für das Einbringen von Kleinen Anfragen. Die Einbringung von Kleinen Anfragen stellt in solchen Fällen eine pro-aktive Medienwirkung dar: Die Parlamentarier stellen in der begründeten Erwartung, dass die Medien über ihre Initiative berichten, medienwirksame Anfragen an die Bundesregierung (Tabelle 2). Zusätzliche Hinweise auf die Motive der Parlamentarier geben die Antworten auf die Frage, ob man sich als Bundestagsabgeordneter durch Kleine Anfragen profilieren kann. Vorgegeben waren vier gesellschaftliche Einheiten sowie eine spezifische Situation. Mehr als zwei Drittel der Parlamentarier (69 %) erklärte, dass man sich mit Kleinen Anfragen bei der Fraktion profilieren kann, jedoch weniger als die Hälfte (41 %), sagt das über die Partei. Daraus kann man folgern, dass die Profilierung bei den eigenen politischen Organisationen ein wichtiges Motiv für die Einbringung von Kleinen Anfragen darstellt. Dies trifft in ähnlichem Maße auch auf die Profilierung in der Gesellschaft zu. Mehr als zwei Drittel (68 %), waren davon überzeugt, dass man sich mit Kleinen Anfragen in der Öffentlichkeit profilieren kann, fast zwei Drittel (63 %) sagt das von den Medien. Daraus kann man schließen, dass diese Profilierungsmöglichkeiten ähnlich wichtige Motive für die Einbringung von Kleinen Anfragen sind. Dagegen stellt die Profilierung im Wahlkampf ein weniger verbreitetes Motiv dar (43 %). Der pro-aktive Einfluss der Medien auf die Wahl der Themen von Kleinen Anfragen wurde u. a. mit folgender Frage ermittelt: Werden Themen der Kleinen Anfragen gelegentlich so gewählt, dass die Medien darüber berichten? Nach Aussagen von 20 % der Befragten geschieht das öfter und nach Aussage von 67 % manchmal. Bestritten wird dies nur von 11 %, der Rest gab keine konkrete Antwort. Folglich wählen fast 90 % der Befragten zumindest gelegentlich die Themen ihrer Kleinen Anfragen so aus, dass die Medien darüber berichten. Sie orientieren sich nicht nur an der Dringlichkeit der Thematik, sondern auch an ihrer medialen Verwertbarkeit. Hierbei handelt es sich keineswegs immer um eine passive Spekulation über die mögliche Resonanz ihrer Initiativen.
106
Tabelle 2: Latente Motive für Kleine Anfragen Frage: Was bewirken Kleine Anfragen? Bitte gehen Sie die folgenden Möglichkeiten durch. Vermutete Wirkung Politische Wirkungen
nehmen Einfluss auf Debatten im Bundestag
sensibilisieren die Kollegen im Bundestag für ein bestimmtes Thema
geben Anstöße zu neuen Gesetzesinitiativen
nehmen Einfluss auf laufende Gesetzgebungsverfahren Publizistische Wirkungen
dienen der Unterstützung von außerparlamentarischen Aktivitäten
helfen dabei, wichtige Themen in den Medien zu platzieren
sensibilisieren die Bevölkerung für ein bestimmtes Thema
häufig %
selten %
nie %
46
44
5
42
51
5
35
59
2
22
63
12
57
35
6
49
42
5
21
65
10
Werte über 100%: Rundungsfehler; Werte unter 100 %: Fehlende Angaben
Vielmehr gibt es bereits im Vorfeld zielgerichtete Kontakte zwischen Politikern und Journalisten. Zwar betont die Mehrheit der Befragten (57 %), dass die Initiative zu Kleinen Anfragen meist oder immer von ihnen ausgeht. Immerhin ein Viertel (25 %) räumt jedoch ein, die Initiative gehe meist von Journalisten aus oder von beiden Seiten gleichermaßen oder lasse sich nicht eindeutig lokalisieren (ergibt sich so). Zudem erklären die meisten, dass der Inhalt der Kleinen Anfragen mit Journalisten zumindest gelegentlich abgesprochen wird. Dies kommt nach Auskunft von 17 % manchmal vor, nach Auskunft von 48 % selten. Nur ein Drittel (35 %) behauptet, das komme nie vor. Fast alle Kleinen Anfragen landen im Archiv oder Handapparat der Abgeordneten und Fraktionen. Das entspricht einem geordneten Ablauf, sagt jedoch über ihre tatsächliche Verwendung nichts aus. Etwa die Hälfte der Abgeordneten 107
erklärt, die Kleinen Anfragen würden immer an Personen, Gruppen oder Institutionen in den Wahlkreisen weitergegeben. Genauso viele sagen, die Themen würden weiter verfolgt, so dass man die Kleinen Anfragen nur als einen von mehreren Schritten im Verlauf einer Themenkarriere betrachten kann. Andererseits werden die Kleinen Anfragen nach Auskunft der weitaus meisten Abgeordneten in den Ausschüssen und Fraktionen nur manchmal diskutiert, was die oben zitierten Zweifel aus der Wissenschaft bestätigt. Die meisten Antworten werden folglich von genau jenen Gremien nicht intensiv rezipiert, die die Anfragen mit auf den Weg gebracht haben. Dies deutet darauf hin, dass die Kleinen Anfragen weniger auf Resonanz im Parlament und dessen Gliederungen als auf Resonanz bei den Bürgern im heimatlichen Wahlkreis zielen. Eine annähernd gleich große Bedeutung besitzt ihre Resonanz bei den Medien. So erklären 40 % der Abgeordneten, dass die Antworten auf Kleine Anfragen immer an die Medien weitergegeben werden (Tabelle 3). Die Bedeutung der Bürger in den Wahlkreisen als eigentliche Zielgruppe der Kleinen Anfragen unterstreichen auch die Antworten auf Fragen nach der Art der Medien, denen die Antworten zugehen und ihrer Resonanz bei diesen Medien. Etwa zwei Drittel (65 %) der Abgeordneten übermitteln die Antworten auf Kleine Anfragen an regionale Tageszeitungen, fast genauso viele (59 %) schicken sie an überregionale Tageszeitungen. Deutlich weniger Abgeordnete leiten sie an Nachrichtenagenturen (43 %) oder Magazine wie Spiegel oder Focus weiter (41 %). Noch wesentlich weniger von ihnen kontaktieren Fernsehsender (28 %) oder Radiosender (22 %). Die Auswahl der Medien, denen die Antworten zugeleitet werden, orientiert sich offensichtlich an Erfahrungen mit ihrer Resonanz. Über die Hälfte der Befragten (59 %) erklärt, dass regionale Tageszeitungen über eine Kleine Anfrage von ihnen berichtet haben. Fast die Hälfte (44 %) hat solche Erfahrungen mit überregionalen Tageszeitungen gemacht. Dagegen hat nur ein Drittel erlebt, dass Nachrichtenagenturen (33 %) oder Magazine (33 %) ihre Initiativen aufgegriffen haben. Noch weniger erwähnen Radiosender (20 %) oder Fernsehsender (16 %). Die weitaus meisten Abgeordneten berichten, dass die Themen der Kleinen Anfragen zumindest gelegentlich mit Blick auf ihre Chancen bei den Medien ausgewählt werden. Damit stellt sich die Frage nach den Quellen ihrer Initiativen, den Ursprüngen ihrer Anregungen für Kleine Anfragen. Hier kann man vier Kategorien unterscheiden, erstens die Bevölkerung im Wahlkreis der Abgeordneten, deren Probleme und Sichtweisen sie vertreten; zweitens die Politiker des Bundestages, an denen sie sich zustimmend oder ablehnend orientieren; drittens die Experten für bestimmte Themen, bei denen es sich oft um Vertreter von Verbänden handeln dürfte; viertens die Medien, wobei man, wie oben deutlich wurde, verschiedene Gattungen unterscheiden muss. Nach Auskunft der Parlamenta-
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Tabelle 3: Verwendung der Antworten auf Kleine Anfragen Frage: Was geschieht, wenn die Antworten auf Kleine Anfragen vorliegen? immer %
manchmal %
nie %
Die Kleine Anfrage landet im Archiv / Handapparat
62
21
10
Die Kleine Anfrage wird mit der Antwort an Personen, Institutionen, Vereine und Bürgerinitiativen im Wahlkreis weitergegeben
48
49
2
Das Thema wird weiter verfolgt
47
49
0
Die Ergebnisse werden im zuständigen Ausschuss diskutiert
21
68
11
Die Ergebnisse werden in der Fraktion diskutiert
7
79
11
40
57
3
Politisch-parlamentarisch
Publizistisch Die Kleine Anfrage wird mit der Antwort an die Medien weitergegeben
Werte über 100%: Rundungsfehler; Werte unter 100 %: Fehlende Angaben
rier besitzen alle vier Quellen eine annähernd gleiche Bedeutung. Die meisten Abgeordneten stützen sich auf Anregungen aus der Politik und von Experten, fast genauso viele nennen Bürger in den Wahlkreisen sowie mit leichten Abstrichen die Medien. Unterschiede bestehen weniger zwischen als innerhalb der vier Kategorien. So greifen über 50 % Anregungen von Fraktionsangehörigen auf, jedoch nur 5 % Überlegungen von Mitgliedern anderer Fraktionen; 40 % erhalten Anregungen von Berichten überregionaler Tageszeitungen, jedoch nur 10 % von Beiträgen des Fernsehens usw. (Tabelle 4). Aufgrund der vorliegenden Daten kann man den typischen Werdegang von Kleinen Anfragen folgendermaßen beschreiben: 1) Die Medien, vor allem die überregionalen Zeitungen, und andere Akteure liefern den Parlamentarien Anregungen für Kleine Anfragen. 2) Die Parlamentarier orientieren sich bei der Wahl 109
Tabelle 4: Quellen der Anregungen für Kleine Anfragen Frage: Vermutlich erhalten Sie für Kleine Anfragen gelegentlich Anregungen von außen. Bitte gehen Sie die folgenden Quellen durch und markieren Sie die Häufigkeit. sehr häufig/ häufig %
selten/ nie %
49 38
48 58
Politiker Fraktionskollegen Politiker anderer Fraktionen
59 5
36 89
Experten Experten
59
41
Medien Überregionale Zeitungen Zeitschriften Regionale, lokale Zeitungen Fernsehen Radio
40 28 26 14 10
53 68 72 81 83
Quellen Bevölkerung / Wähler Bürger aus meinem Wahlkreis Vereine, Bürgerinitiativen aus meinem Wahlkreis
Werte über 100%: Rundungsfehler; Werte unter 100 %: Fehlende Angaben
der Themen und der Gestaltung der Kleinen Anfragen u. a. an den Bedürfnissen der Medien, vor allem an jenen der überregionalen und regionalen Presse, worüber sie sich gelegentlich bereits im Vorfeld mit Journalisten verständigen. 3) Die Ministerien beantworten die Kleinen Anfragen. 4) Die Parlamentarier informieren u. a. die Medien, vor allem die regionalen und überregionalen Zeitungen, über die Kleinen Anfragen und die Antworten der Ministerien. 5) Die Medien, vor allem die regionalen Zeitungen, berichten über die Kleinen Anfragen und die
110
Antworten, die ihrerseits oft eine Folge von Medienberichten und Urteilen über die Medientauglichkeit von Themen sind. Abbildung 1 illustriert diesen zirkulären Wirkungszusammenhang. Abbildung 1:
Beschreibung des Ablaufs
Input
Output Ministerien
Bürger
Bürger
Politiker Kleine Anfragen
Parlament
Experten
Medien
Medien
Rückwirkung
Die wachsende Zahl der Kleinen Anfragen kann man aufgrund der hier vorgelegten Daten teilweise durch die begründete Überzeugung von Parlamentariern erklären, dass ihre Beachtung in den Medien eine Voraussetzung für ihren Erfolg als Politiker ist. Aufgrund des Einflusses der früheren Berichterstattung und des Einflusses der wahrgenommenen Publikationschancen lässt sich grob geschätzt etwa ein Viertel der Zunahme der Kleinen Anfragen auf die Medien zurückführen. Bei diesen Wirkungen handelt es sich um ein Beispiel für die pro-aktiven Effekte der Medien: Die potenziellen Protagonisten richten ihr Verhalten an den Erfolgsbedingungen der Medien aus, die ihren Einfluss folglich schon im Vorfeld der Berichterstattung entfalten. Die Wirkung der Medien besteht demnach nicht nur darin, dass sie durch ihre Berichterstattung Vorstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen der Masse der Bevölkerung ändern. Sie prägen durch ihre 111
vermuteten Effekte schon im Vorfeld der Berichterstattung das Verhalten der Akteure, über die sie berichten. Die Medien berichten über Sachverhalte, die ohne die Erwartung der potenziellen Protagonisten überhaupt nicht oder nicht so existieren würden, wie sie berichtet werden. Indirekte Wirkungen von Kleinen Anfragen Konzentriert man zur Vereinfachung der Problematik die Betrachtung auf die intendierte Medienresonanz von Kleinen Anfragen, kann man die Berichterstattung als intermediären und ihren Einfluss auf die Rezipienten als finalen Zweck betrachten. Falls die Zwecke erreicht werden, handelt es sich um direkte Wirkungen (Medienberichte) und indirekte Wirkungen (Rezipientenreaktionen) der Kleinen Anfragen. Neben diesen intendierten Wirkungen existieren nicht intendierte Wirkungen. Zu diesen Nebenfolgen gehören die Auswirkungen auf die Ministerien, die sie beantworten. Dies können folgende Daten verdeutlichen. Das Bundesministerium der Finanzen beantwortete in der zwölften Wahlperiode (1990-94) insgesamt 3.534 parlamentarische Anfragen. In 3.371 Fällen das entspricht 95 Prozent handelte es sich um mündliche und schriftliche Anfragen. Die Belastung der Bundesministerien durch eine Vielzahl von mündlichen und schriftlichen Anfragen erfordert einen entsprechend großen Personalbestand. Die Mediatisierung der Parlamentsarbeit war deshalb eine kaum beachtete Ursache der Ausweitung der Ministerialbürokratie. Zu prüfen wäre, ob und in welchem Ausmaß die Beantwortung von Kleinen Anfragen die Ministerialbürokratie trotz der erwähnten Ausweitung von sachlich möglicherweise bedeutsameren Aktivitäten abhält. Erklärungen Den Werdegang der auf Medienresonanz zielenden Kleinen Anfragen kann man kausal und funktional erklären. Bei einer funktionalen Erklärung stellt die Erfüllung der für den Erfolg erforderlichen Ziele (Medienberichte, Medienwirkung) die Ursache des Verhaltens von Politikern dar (Entscheidung zu Kleinen Anfragen, Einbringung von Kleinen Anfragen). Die Entscheidung für Kleine Anfragen und ihre Einbringung werden als pro-aktive Wirkungen betrachtet: Weil Politiker auf positive Publikumsresonanz angewiesen sind, und weil diese in ausreichendem Maße nur durch Medienberichte erreicht werden kann, entscheiden sie sich für die Einbringung von Kleinen Anfragen, über die einige Medien erfahrungsgemäß berichten. Die Wahl der geeigneten Mittel wird gedanklich und damit
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nicht direkt beobachtbar aus den gegebenen Notwendigkeiten und den vorhandenen Erfahrungen abgeleitet, die erforderlichen Schritte werden direkt beobachtbar ausgeführt. Bei einer kausalen Erklärung stellt die Entscheidung zu einer Kleinen Anfrage die Ursache und ihre Einbringung eine Folge dar. Sie besitzt direkte und indirekte Wirkungen (Aktivität der Ministerialbürokratie, Medienberichte bzw. Medienwirkungen, Ausweitung und Überlastung der Ministerialbürokratie). Abbildung 2 illustriert die kausale und funktionale Betrachtungsweise. Dabei werden, um die Darstellung möglichst einfach zu halten, funktionale Alternativen zu den primären Mitteln (z. B. Reden im Parlament, Teilnahme an Talk-Shows) vernachlässigt. Sie muss man sich ober- und unterhalb des Kästchens für die Kleinen Anfragen vorstellen. Abbildung 2:
Erklärung des Ablaufs
Funktionale Betrachtung Pro-aktive Wirkungen
Ursachen des Verhaltens
Primäres Mittel
Intermediäres Ziel = sekundäres Mittel
Finales Ziel: vorgegebene Zweckerfüllung
Wahl des Mittels Entscheidung zur Initiative
Ursachen
Kleine Anfragen
Folgen
Medienberichte
Medienwirkungen
Aktivität der Ministerien
Ausweitung der Ministe-
Direkte Wirkungen
Indirekte Wirkungen
Kausale Betrachtung
113
Die funktionale Betrachtung besitzt den Nachteil, dass der Zusammenhang von Zweck (Ziel) und Mittel mit einer Unsicherheit behaftet ist, weil Handlungen mit dem Verweis auf intendierte Wirkungen erklärt werden, deren Eintreten nicht sicher ist. Sie besitzt jedoch den Vorteil, dass sie eine Antwort auf die Frage ermöglicht, weshalb der Prozess initiiert wurde. Die kausale Betrachtung besitzt den Vorteil, dass die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung theoretisch eindeutig ist. Von Wirkungen spricht man nur, wenn sie tatsächlich vorliegen. Praktisch trifft das jedoch nicht zu, weil alle messbaren Wirkungen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten und folglich auch nur mit dieser Wahrscheinlichkeit auf die Ursachen zurückgeführt werden können. Die kausale Betrachtung besitzt zudem den Nachteil, dass die entscheidende Ursache des Prozesses, die Entscheidung zur Initiative, nicht erklärt werden kann und folglich offen bleiben muss. Einen Ausweg bietet nur ihre Erklärung durch die intendierten Ziele (Zwecke), womit sie in eine funktionale Erklärung übergeht. Deshalb führt zur Erklärung des gesamten Prozesses kein Weg an einer funktionalen Erklärung vorbei. Die logische und empirische Analyse einer relativ unbedeutenden parlamentarischen Aktivität, der Einbringung und Verwertung von Kleinen Anfragen, zeigt, dass man politische Kommunikation mit linearen Kausalmodellen nicht hinreichend beschreiben und erklären kann. Dies gilt auch für die Mediatisierung der Politik. Zwar sind für die Analyse der komplexen Zusammenhänge nach wie vor lineare Kausalmodelle erforderlich. Sie müssen jedoch in einen funktionalen Gesamtzusammenhang integriert und entsprechend interpretiert werden.
1 Vgl. zum Folgenden Ursula Hoffmann-Lange / Klaus Schönbach: Geschlossene Gesellschaft. Berufliche Mobilität und politisches Bewußtsein der Medienelite. In: Hans Mathias Kepplinger (Hrsg.): Angepaßte Außenseiter. Was Journalisten denken und wie sie arbeiten. Freiburg i. Br. 1979, S. 49-75, dort S. 70-73. 2 Vgl. zum Folgenden Bernard Weßels: Abgeordnetenbefragung 2003. Kurzfassung und Dokumentation der Ergebnisse. Berlin o. J. (2005). Online im Internet unter http://www.wzb.eu/zkd/dsl/pdf/berfin1-all1.pdf [Stand: 20.09.2008]. 3 Vgl. hierzu Martin Linsky: Impact. How the Press Affects Federal Policy Making. New York, London 1986, Appendix C. 4 Vgl. zum Folgenden Hans Mathias Kepplinger: Reciprocal Effects. Toward a Theory of Mass Media Effects on Decision Makers. In: The Harvard International Journal of Press/Politics 12 (2007) S. 3-23. 5 Zur Logik der Funktionalen Analyse vgl. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Stuttgart 1969, S. 458-461; Nicolai Hartmann: Teleologisches Denken. Berlin 1966; Niklas Luhmann: Funktion und Kausalität (1970). In: Derselbe: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Wiesbaden 2005, S. 11-38. Die hilfreiche Explikation der Problematik von Hartmann (S. 69) entspricht der hier behandelten Problematik nicht ganz, weil Hartmann
114
davon ausgeht, dass die Zwecke frei gesetzt werden, während hier die Zwecke (Bekanntheit, Beliebtheit, Akzeptanz us.) aufgrund der Position der Parlamentarier weitgehend vorgegeben sind. 6 Vgl. Heinrich Oberreuter: Übermacht der Medien. Erstickt die demokratische Kommunikation? Zürich 1982, S. 60-97. 7 Vgl. zum Folgenden Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1989, S. 145-163. 8 Vgl. hierzu Gertrud Witte-Wegmann: Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag. Berlin 1972, S. 25 ff. 9 Vgl. dazu Uwe Kranenpohl: Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im deutschen Bundestag 1949 bis 1994. Wiesbaden 1999, S. 154-208. 10 Wolfgang Ismayr: Der Deutsche Bundestag. Opladen 2000, S. 340. 11 Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1996, S. 241. 12 Wolfgang Ismayr: Der Deutsche Bundestag a. a. O., S. 341 f. 13 Hans-Peter Schneider / Wolfgang Zeh: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1989, S. 1008 14 Vgl. Werner J. Patzelt: Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit. Passau 1993, S. 328, Fußnote 111.
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Was unterscheidet die Mediatisierungsforschung von der Medienwirkungsforschung?
Der Begriff Mediatisierung bezeichnet die Anpassung der Akteure in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und zahlreichen anderen gesellschaftlichen Subsystemen an die Erfolgsbedingungen der Medien.1 Die Mediatisierung erstreckt sich theoretisch auf mindestens drei miteinander verbundene Aspekte den Autonomieverlust der Subsysteme, den Funktionsverlust der Subsysteme sowie die Machtverlagerung von den Subsystemen auf die Medien. Ein Autonomieverlust liegt dann vor, wenn die Medien die Rekrutierung des Nachwuchses, die Karrierechancen der Akteure und die Ausrichtung beruflichen Handelns in anderen Subsystemen maßgeblich beeinflussen. Eine Machtverlagerung ist dann gegeben, wenn die Medien durch die Art ihrer Sachdarstellung den Entscheidungsspielraum in anderen Subsystemen so einengen, dass nur noch wenige Alternativen akzeptabel sind oder sogar nur noch eine Möglichkeit legitim erscheint. Von einem Funktionsverlust kann man dann sprechen, wenn die Akteure in anderen Subsystemen aufgrund ihrer Anpassung an die Erfolgsbedingungen der Medien ihre eigentlichen Aufgaben nicht optimal wahrnehmen. Für die Richtigkeit dieser Annahmen gibt es inzwischen empirische Belege, vor allem durch quantitative Befragungen.2 Alle drei Aspekte der Mediatisierung Autonomieverlust, Funktionsverlust und Machtverlagerung kann man als Medienwirkungen betrachten. Erklärt werden sie im Wesentlichen durch zwei Faktoren durch die zunehmende Bedeutung öffentlicher Resonanz für die Akteure in den meisten gesellschaftlichen Subsystemen sowie durch die einzigartige Fähigkeit der Medien, solche Resonanz zu verschaffen. Erfolg in den Medien ist demnach zu einer funktionalen Voraussetzung für Erfolg in anderen Subsystemen geworden.3 Dabei spielen zahlreiche intervenierende Variablen eine Rolle. Hierzu gehören die intensive Nutzung der Medienberichte durch die Protagonisten der Berichterstattung, die spezifische Wirkung der Berichte auf sie sowie ihre Vorstellungen von der Wirkung der Beiträge auf andere. Dies alles legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Mediatisierungsforschung um eine Variante der Medienwirkungsforschung handelt und dass der Begriff Mediatisierungsforschung nur ein modisches Etikett ist. Stimmt diese Vermutung? Ich werde diese Frage anhand von
drei Themen behandeln den Objekten der Medienwirkungen, den Modellen der Medienwirkungen sowie den theoretischen Erklärungen der Medienwirkungen.
Objekte der Medienwirkungen Der Medienwirkungsforschung liegt von wenigen Ausnahmen abgesehen4 das Paradigma eines einseitig gerichteten Informationsflusses zugrunde, das der Politologe Harold D. Lasswell in die bekannte Frage gegossen hat: Who says what in which channel to whom with what effect? Dieses Paradigma besitzt zwei weitreichende Konsequenzen, deren Bedeutung nicht allgemein wahrgenommen wird. Eine Konsequenz besteht darin, dass die Politiker als Objekte von Medienwirkungen darin überhaupt nicht vorkommen. Am Ende der Wirkungskette steht unausgesprochen die anonyme Masse der Rezipienten, in der die politischen Akteure als statistisch irrelevante Minderheit untergehen. Nahezu die gesamte Medienwirkungsforschung befasst sich folglich mit dem Publikum insgesamt oder, falls es sich um experimentelle Studien handelt, mit Studenten, von deren Reaktionen auf die Reaktionen der Bevölkerung geschlossen wird. Eine weitere Konsequenz besteht darin, dass Medienwirkungen Medienkontakte voraussetzen: There is no effect without contact. Die einflussreichste Quelle dieser Annahme dürfte Paul F. Lazarsfeld sein, der zwar die Figur des Meinungsführers in die Medienwirkungsforschung eingeführt und die These vom ZweiStufen-Fluss der Meinungsbildung formuliert hat.5 Dabei hat er aber die Wirkungen, die die Meinungsführer auf ihre Gesprächspartner ausüben, ausschließlich den Meinungsführern und nicht den Medien zugeschrieben, aus denen sie ihre Informationen und Meinungen erhalten haben. Für ihn sind Meinungsführer keine Verstärker, die die Medienwirkungen über den Kreis der direkten Nutzer hinaus ausweiten, sondern Filter, die die Medienwirkungen auf das reduzieren, was die Meinungsführer ohnehin schon wussten und glaubten. Eine Folge dieser Auffassung ist, dass nahezu die gesamte Medienwirkungsforschung bei den Mediennutzern endet und die darüber hinausgehenden Effekte auf ihr gesellschaftliches Umfeld ausgeblendet werden. Zwar gab es in den fünfziger Jahren aus der Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Politologie einzelne Ansätze zur Überwindung dieser Sichtweise,6 tatsächlich wurde jedoch nahezu die gesamte Forschung auf eine individual-psychologische Perspektive reduziert. Die Wirkung der Medien auf die Bevölkerung besteht danach in der Addition ihrer Wirkungen auf die einzelnen Mediennutzer. Dies trifft auch auf Studien zum Third-Person-Effekt zu, die Überlegungen zu den Folgewirkungen von Fehleinschätzungen enthalten, sie jedoch empirisch nicht belegen. Zudem wurde die Eigendynamik der durch Medienberichte ausgelösten Prozesse,
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von einigen Ausnahmen abgesehen, zu denen Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale gehört,7 aus der Betrachtung ausgeklammert. Beispiele für diese Eigendynamik liefern auch die Ölkrise im Jahr 1973 sowie die Zunahme der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts.8 Eine weitere Folge der Ausklammerung der indirekten Medieneffekte ist die Psychologisierung der Medienwirkungsforschung, die Konzentration auf die individuelle Nutzung und Verarbeitung der Medienangebote. Auf der Grundlage einer gut gesicherten Stabilitäts-Hierarchie geht es dabei meist um die am leichtesten beeinflussbaren Sachverhalte: die Veränderungen der Vorstellungen und Meinungen. Der Einfluss der Medien auf Verhaltensweisen wird allenfalls in Grenzbereichen analysiert, vor allem in der Wahlforschung und in der Konsumforschung. Zu den erwähnenswerten Ausnahmen gehört die Priming-Theorie in der Version von Shanto Iyengar und Donald Kinder,9 vor allem weil sie belegt, dass die mit der Stabilitäts-Hierarchie zusammenhängende Ansicht fragwürdig ist, Verhaltensänderungen würden Meinungsänderungen voraussetzen. Ähnliche theoretische Annahmen enthält die Theorie der instrumentellen Aktualisierung.10 Die Mediatisierungsforschung hat einen ganz anderen personellen und sachlichen Fokus. In ihrem Zentrum steht erstens nicht die große Masse des Publikums, sondern die vergleichsweise winzige Minderheit der öffentlich sichtbaren Akteure in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. Dies hat Auswirkungen auf die Durchführung von quantitativen Analysen. Mit Experimenten kann man die Mediatisierung etwa der Politik kaum untersuchen, weil Politiker daran nicht teilnehmen würden und weil sie wie in der Medienwirkungsforschung üblich nicht durch studentische Versuchspersonen ersetzt werden können. Möglich sind Befragungen, wobei man sich aus dem gleichen Grund zuweilen auf die mittlere und untere Ebene beschränken muss. Ähnliche Einschränkungen gibt es bei teilnehmenden Beobachtungen und Dokumentenanalysen. Auch hier sind die aussagekräftigsten Quellen kaum zugänglich. Trotzdem können wie inzwischen zahlreiche Beispiele belegen derartige Studien mit Gewinn durchgeführt werden. Bei der Mediatisierungsforschung geht es zweitens nicht vorrangig um das Wissen und die Meinungen der Akteure, sondern um ihr systembezogenes Handeln: Was Politiker unter dem Einfluss der Medien wirklich denken, ist nahezu irrelevant. Entscheidend ist, was sie aufgrund der Medien tun und lassen. Ob die Medien beispielsweise einen Einfluss auf die Vorstellungen der Politiker vom Nutzen oder Schaden der Gentechnik haben und ob die Medien deren Meinung zur gesetzlichen Regelung der Genforschung ändern, ist unwichtig. In der Mediatisierungsforschung geht es darum, ob Politiker unter dem Druck der Medien zu der Thematik öffentlich Stellung nehmen, ob sie parlamentarische Aktivitäten
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entfalten und ob sie am Ende eines langen Prozesses für oder gegen eine Gesetzesvorlage stimmen, sich der Stimme enthalten oder bei der Abstimmung fehlen, weil sie sich für ihre Entscheidung nicht öffentlich rechtfertigen wollen. In der Mediatisierungsforschung spielen drittens die Vorstellungen der einzelnen Politiker vom Einfluss der Medien auf ihre nähere und fernere Umgebung ihre Fraktionskollegen, die Mitglieder und Anhänger ihrer Partei und die Bevölkerung insgesamt eine zentrale Rolle. Dabei geht es jedoch vorrangig nicht darum, dass sie vergleichsweise starke unerwünschte Wirkungen auf andere vermuten, sondern darum, welche praktischen Folgerungen sie daraus ableiten. Diese Folgerungen werden vermutlich durch gruppendynamische Prozesse moderiert, die bisher weder theoretisch reflektiert noch praktisch untersucht wurden. So werden um ein Beispiel zu nennen mehr oder weniger alle Mitglieder einer Fraktion negativen Berichten über ein gemeinsames Vorhaben eine starke Wirkung auf Dritte zuschreiben und sich gegenseitig, weil sie darüber reden, die Richtigkeit ihrer Fehlurteile bestätigen, wodurch eine scheinbar solide Entscheidungs- und Handlungsgrundlage entstehen kann. Diese interne Dynamik wird vermutlich durch eine externe ergänzt: Die Mitglieder der Fraktion werden zu Recht vermuten, dass auch ihre Anhänger in der Bevölkerung negativen Berichten über ihr Vorhaben einen starken Einfluss auf die Bevölkerung insgesamt zuschreiben. Dies kann bei den Anhängern Zweifel an der Erfolgsaussicht des Anliegens wecken und die Intensität ihres Engagements mindern. Dies wiederum kann dazu führen, dass die Fraktionsangehörigen ein Vorhaben auch dann nicht mehr mit der gleichen Entschiedenheit vorantreiben wie zuvor, wenn die Berichte tatsächlich kaum eine messbare Wirkung auf die Masse der Bevölkerung besitzen. In der Mediatisierungsforschung geht es viertens weniger um die Wirkung der Medien auf einzelne Personen als um ihren Einfluss auf die Strukturen und die Arbeitsweisen von Organisationen, den Ablauf von Ereignissen und die Rekrutierung des Führungspersonals. Beispiele hierfür sind die Einbindung von Journalisten in die Themenfindung von Parlamentariern; die Zunahme der medienrelevanten Aktivitäten der Parlamente;11 der Ausbau der Kommunikationsabteilungen der Regierungen; die Ausrichtung von Wahlkämpfen an den Bedürfnissen der Medien und die Selektion des Führungspersonals unter Berücksichtigung ihrer Medientauglichkeit. Dabei ist, wie die Karrieren von Joschka Fischer, Gerhard Schröder und Guido Westerwelle belegen, die mediale Außenwirkung zuweilen bedeutsamer als die parteiinterne Akzeptanz. Die Aktivitäten der einzelnen Politiker, die sich an den Medien orientieren, sind dabei nicht an sich relevant. Bedeutsam sind sie als Indikatoren für die Funktionsweisen der Teilsysteme, in denen sie sich bewegen. Dies gilt in ähnlicher Weise für andere Teilsysteme, die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport usw.
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Modelle der Medienwirkungen Der Medienwirkungsforschung liegt, soweit sie die Rolle der Medien in der politischen Kommunikation überhaupt thematisiert, ein mehrstufiges Wirkungsmodell zugrunde. Am Beginn stehen die Ereignisse. Sie bilden den Anlass und den Gegenstand der Berichte über das aktuelle Geschehen. Es folgen die kurzzeitigen Wahrnehmungen und dauerhaften Vorstellungen der Bevölkerung sowie ihre Meinungen über das Geschehen und die politischen Akteure. Sie schlagen sich neben anderen Faktoren in ihrem Wahlverhalten nieder. Der Wahlausgang prägt die Zusammensetzung des Parlamentes und der daraus hervorgehenden Regierung. Dies wiederum wirkt sich auf die praktische Politik aus. Nach dieser Vorstellung stehen Politiker und politische Entscheidungen am Ende einer langen Wirkungskette, in deren Verlauf die Inhalte der Medienberichte durch eine Vielzahl von Personen interpretiert und modifiziert werden, was ihren Einfluss auf die Politik eher gering erscheinen lässt. Dieses Wirkungsmodell ist nicht ganz falsch. Es greift jedoch aus mehreren Gründen zu kurz und führt deshalb in die Irre. Das aktuelle Geschehen steht nicht am Anfang der Wirkungskette. Das Geschehen, über das die Medien berichten, ist erstens häufig selbst schon eine Folge vorangegangener Medienberichte. Ein erheblicher Teil des berichteten Geschehens würde sich zudem überhaupt nicht oder nicht so ereignen, wie es sich ereignet, wenn die Akteure keine positive Medienresonanz erwarten oder keine negative Medienresonanz befürchten würden. Und schließlich vernachlässigt es den direkten, unvermittelten Einfluss der Medien auf diejenigen, über die sie berichten. Der Mediatisierungsforschung liegt ein anderes Wirkungsmodell zugrunde. Hier stehen Politiker nicht am Ende einer langen Wirkungskette, sondern an ihrem Beginn. Sie werden von den Medien weniger indirekt vermittelt durch die Reaktionen der Bevölkerung als direkt beeinflusst. Die Einflüsse der Medien auf die Protagonisten der Berichterstattung bezeichne ich in Anlehnung an Kurt Lang und Gladys Engel Lang als reziproke Effekte.12 Wie andere Personen des öffentlichen Lebens sind Politiker und die von ihnen behandelten Themen häufig Gegenstand von Medienberichten. Sie werden im Bild gezeigt, ihre Absichten und Aktionen werden berichtet und kritisiert, die Themen der öffentlichen Diskussion werden so dargestellt, wie sie sie sehen oder aber anders usw. Dabei werden sie entweder namentlich genannt oder sie fühlen sich angesprochen, weil es um ihre Partei geht, um Gremien, denen sie angehören, oder um Sachfragen, mit denen sie befasst sind. Die Rezeption von Medienberichten durch ihre Protagonisten, hier durch Politiker, erstreckt sich auf mindestens vier Dimensionen. Politiker bilden sich anhand von Medienberichten erstens ein Urteil darüber, wie sie selbst und ihre
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Tätigkeit bzw. die für sie relevanten Themen erscheinen ob sie sich z. B. vorteilhaft oder unvorteilhaft verhalten haben, was aus ihrer Sicht tatsächlich geschehen ist usw. Hier geht es um das Geschehen selbst, die Gegenstände der Berichterstattung. Sie bilden sich zweitens eine Meinung darüber, wie die Medien das aktuelle Geschehen darstellen und bewerten. Hier geht es weniger um das Geschehen als um die Berichterstattung die Auswahl und Bewertung der Fakten durch die Medien. Dabei stellen sie auch Vermutungen darüber an, wie die Medien den gleichen Sachverhalt oder ähnliche Geschehnisse in absehbarer Zukunft behandeln werden. Politiker bilden sich drittens ein Urteil darüber, welchen Eindruck ihre nähere und fernere soziale Umgebung sowie die Bevölkerung allgemein anhand der Berichte gewinnen und wie sie auf die Darstellung reagieren ob sie ihr Verhalten billigen oder Initiativen erwarten. Die möglichen Auswirkungen dieses Sachverhaltes wurden bereits kurz angesprochen. Politiker machen viertens Wirkungserfahrungen. Hierbei handelt es sich um direkte Effekte der Beiträge, die bei ihnen selbst eintreten und von ihnen auch wahrgenommen werden. Beispiele sind spontaner Ärger oder Freude über negative bzw. positive Beiträge, die sich nachweisbar selbst in ihrem nonverbalen Verhalten niederschlagen. Auch darauf wurde bereits kurz verwiesen. Politiker reagieren nicht nur auf vorangegangene Berichte, sondern versuchen auch, positive Beiträge herbeizuführen sowie negative Beiträge zu verhindern. Entsprechend kann man pro-aktive, inter-aktive und re-aktive Effekte unterscheiden. Pro-aktive Effekte sind Wirkungen zukünftiger Berichte auf die Verhaltensweisen potenzieller Protagonisten, die sie verhindern oder herbeiführen wollen. Man kann sie auch als antizipierende Reaktionen bezeichnen. Beispiele hierfür sind Exklusivinterviews auf Initiative von Politikern. Inter-aktive Effekte sind Wirkungen, die während der Kontakte mit den Medien von ihnen ausgehen. Ein Beispiel hierfür sind Einflüsse der Studio-Atmosphäre auf das Verhalten von Gästen einer TV-Talk-Show. Man kann sie auch als Effekte von Interaktionen bezeichnen. Bedeutsam ist dabei nicht nur, was Politiker sagen und wie sie es äußern, sondern auch der gesamte Bereich ihres nonverbalen Verhaltens.13 Re-aktive Effekte sind Wirkungen, die bereits erschienene Berichte auf Protagonisten ausüben. Dazu gehören auch manifeste Reaktionen wie z. B. Beschwerden bei Redaktionen und Distanzierungen in öffentlichen Reden. Man kann dies als korrigierende Reaktionen bezeichnen. Bei den re-aktiven Effekten handelt es sich um Wirkungen im Sinne der Medienwirkungsforschung. Auf die inter-aktiven und vor allem auf die pro-aktiven Effekte trifft dies nicht zu. Hierbei handelt es sich um Verhaltensweisen, die man im Paradigma der Medienwirkungsforschung nicht erklären kann. Darauf werde ich zurückkommen. Die Art und Stärke der reziproken Effekte der Medien sind Folgen der spezifischen Nutzung und Verarbeitung der Medien durch Politiker sowie ihrer
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spezifischen Sichtweisen und Interessenlagen. Weil Politiker von den Berichten und ihren möglichen Wirkungen selbst betroffen sind, nutzen sie mehr derartige Berichte und rezipieren sie intensiver als die Masse der unbeteiligten Beobachter.14 Bei Krisen und Konflikten, die sie selbst betreffen, verfolgen sie die Berichterstattung besonders intensiv. Sie setzen sich folglich sehr hohen Mediendosen aus. Dies kann dazu führen, dass sie von der Berichterstattung über die jeweiligen Themen mehr beeinflusst werden als unbeteiligte Beobachter. Daraus folgt jedoch entgegen den Annahmen der Medienwirkungsforschung nicht, dass sie Sachdarstellungen und Bewertungen der Medien übernehmen. Aufgrund ihrer Hintergrundinformationen und ihrer Interessenlage kann theoretisch begründbar genau das Gegenteil eintreten, eine klare innere und äußere Distanzierung davon. Ob und wie sich dies in ihrem Verhalten niederschlägt, hängt zudem weniger von ihren persönlichen Meinungen zur Sache als dem strategischen Nutzen oder Schaden öffentlicher Aktionen ab. Politiker, über die die Medien berichten, kennen zudem im Unterschied zu unbeteiligten Beobachtern meist die dargestellten Sachverhalte durch Gespräche mit Involvierten oder anhand von Dokumenten, und sie haben detaillierte Informationen über die Verfahren, die politischen Entscheidungen vorausgehen. Zudem können sie die möglichen Auswirkungen von Handlungsalternativen realistischer einschätzen als Außenstehende. Dies hat theoretisch und praktisch bedeutsame Konsequenzen. Politiker führen, wie alle Akteure, aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse ihr Verhalten in hohem Maße auf die Umstände ihres Handelns zurück.15 Journalisten verfügen meist nur über einen Teil dieser Informationen und erklären wie alle Beobachter das Verhalten der Politiker vor allem mit ihrem Charakter und den Motiven und sie stellen verständlicherweise die Sachverhalte entsprechend dar. Politiker vergleichen die Medienberichte mit ihren eigenen deutlich anderen Eindrücken. Sie sind deshalb der Meinung, ihr Verhalten werde von den Medien falsch dargestellt: Sie sehen sich als Personen präsentiert, die ohne Rücksicht auf Umstände frei handeln können, während sie sich selbst strukturellen und organisatorischen Sachzwängen ausgesetzt sehen, die ihrer Entscheidungsfreiheit enge Grenzen setzen. Diese Phänomene werden von der Medienwirkungsforschung kaum theoretisch diskutiert und empirisch analysiert, weil aus den genannten Gründen die Politiker als direkt beeinflusste Akteure nicht vorkommen.
Erklärungen von Medienwirkungen Die Medienwirkungsforschung untersucht den Einfluss der Medien auf weitgehend isolierte und autonome Individuen. Zwar können sie Mitglieder von Grup-
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pen sein, die die Wirkungen moderieren. Die Art und Weise, wie die Individuen die Medien nutzen, sowie die Effekte, die dadurch eintreten, sind aber weder eine Voraussetzung für ihr individuelles Wohlbefinden, noch für ihre Selbstbehauptung in ihrer sozialen Umgebung. Ein Grund hierfür besteht darin, dass die Lerntheorie nach wie vor die unausgesprochene Grundlage der meisten Ansätze der Medienwirkungsforschung ist. Auf ihr beruhen die Agenda-Setting-These, die Wissenskluft-These, die Kultivierungs-These, die Diffusionsforschung usw. Von den Annahmen der Lerntheorie ausgehend liefert die Medienwirkungsforschung kausale Erklärungen der Wirkung der Massenmedien. Eine Bedingung für kausale Erklärungen ist die zeitliche Reihenfolge von Ursache und Wirkung: Die Ursache muss der Wirkung vorausgehen. Auf dieser Überzeugung beruhen fast alle Experimente zur Wirkung der Massenmedien sowie alle Zeitreihenanalysen, für die langfristige Trends der Medienberichterstattung mit ebensolchen Trends der Bevölkerungsmeinung verglichen werden. Auch hier geht es im Kern um die Frage: Was war zuerst? Was zuerst war, wird als Ursache betrachtet, was später kam, als Wirkung. Bemerkenswerte Ausnahmen von dem skizzierten Erklärungsansatz bilden die Konsistenztheorien sowie der damit verwandte Nutzen- und Belohnungsansatz. Bei beiden Ansätzen liegt ein Teil der Wirkursachen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft in notwendigen oder wünschenswerten Sollzuständen, die durch die Nutzung von Medienangeboten nicht gestört oder durch sie erreicht werden sollen bzw. können. Nach der Theorie der kognitiven Konsistenz hängt beispielsweise die Wirkung der Medienbotschaften sowohl von ihrer Richtung und Ausprägung als auch von den bereits bestehenden Kognitionen ab. Beide die existierenden und die neuen Kognitionen werden von dem alles steuernden Bedürfnis nach einem harmonischen Ausgleich miteinander verschmolzen. Beim Nutzen- und Belohnungs-Ansatz werden emotionale Sollzustände als Ursache der Zuwendung zu Medienangeboten angesehen. Die dadurch hervorgerufenen Effekte werden als Gratifikationen betrachtet, die die emotionalen Sollzustände herbeiführen. In beiden Fällen steuern in der Zukunft liegende Sollzustände das in der Gegenwart gezeigte Verhalten. Die Ursache der Nutzung und Verarbeitung liegt demnach in dem Zustand, der dadurch erreicht werden soll: Die Medienangebote stellen Mittel dar, die einem Zweck dienen. Die Mediatisierungsforschung untersucht den Einfluss der Medien auf Systeme und Subsysteme, auf Organisationen und Institutionen bzw. auf die Menschen, die sich in diesen Kontexten bewegen. Ihre Basis bilden theoretische Annahmen zu den funktionalen Voraussetzungen der Stabilität und des Wandels dieser Einheiten. Dies betrifft Institutionen wie die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft, politische Organisationen wie das Parlament und die Ausschüsse sowie Personen wie die einzelnen Parlamentarier. Politisches Handeln ist
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im Wesentlichen intentionales Handeln. Politiker reagieren nicht nur auf vorangegangene Berichte. Sie versuchen darauf wurde bereits mehrfach verwiesen positive Beiträge herbeizuführen sowie negative Beiträge zu verhindern. Diese Sachverhalte besitzen erhebliche Auswirkungen auf das theoretisch relevante Menschenbild und die Erklärung ihres Verhaltens. Die handelnden Menschen werden erstens nicht als weitgehend isolierte und autonome Individuen betrachtet, sondern in ihrer Beziehung zu ihren Handlungskontexten gesehen. Es geht darum, wie sie sich in ihren jeweiligen Handlungskontexten behaupten können. Es geht um die funktionalen Voraussetzungen der Selbstbehauptung im jeweiligen Kontext. Die handelnden Menschen werden zweitens als bewusst agierende Individuen angesehen, die durch den jeweiligen Kontext vorgegebene Ziele und Zwecke verfolgen und die dazu zweckmäßig erscheinenden Mittel einsetzen. Bei diesem Kontext handelt es sich je nach Fragestellung um die Politik, das Parlament, die Fraktion usw. Das Verhalten der Menschen ist drittens nur insofern theoretisch relevant, als es einen Bezug zu dem jeweiligen Handlungskontext besitzt. Dies gilt auch für alle Vorstellungen, Meinungen, Verhaltensweisen, die von den Medien verursacht werden. Die meisten Ergebnisse der Medienwirkungsforschung liefern hierzu keine Informationen. Sie sind deshalb aus Sicht der Mediatisierungsforschung theoretisch weitgehend irrelevant. Sie besitzen keine Indikatorqualität. Die Mediatisierungsforschung liefert aus den genannten Gründen im Unterschied zur Medienwirkungsforschung auch finale bzw. funktionale Erklärungen des medienrelevanten Verhaltens von Politikern: Die in der Gegenwart beobachtbaren Verhaltensweisen werden als Mittel betrachtet, um in der Zukunft liegende Ziele zu erreichen. Es handelt sich um Mittel-Zweck-Beziehungen, wobei die Zweckerfüllung unter bestimmten Voraussetzungen als Ursache der Mittelwahl betrachtet werden kann. Dies gilt analog auch für die hier diskutierten Fälle: Die Erfüllung der für den Erfolg erforderlichen Ziele (Medienberichte, Medienwirkung) wird als eine Ursache des Verhaltens von Politikern etwa im Parlament oder gegenüber den Medien angesehen. Konkret formuliert: Weil Politiker auf positive Publikumsresonanz angewiesen sind und weil sie diese in ausreichendem Maße nur durch Medienberichte erreichen können, entscheiden sie sich z. B. für die Einbringung von Kleinen Anfragen, über die einige für sie wichtige Medien erfahrungsgemäß berichten. Die Wahl der geeigneten Mittel wird gedanklich und damit nicht direkt beobachtbar aus den gegebenen Notwendigkeiten und den vorhandenen Erfahrungen abgeleitet, die erforderlichen Schritte werden direkt beobachtbar ausgeführt. Funktionale Theorien haben den Nachteil, dass der Zusammenhang von Zweck und Mittel mit einer Unsicherheit behaftet ist, weil Handlungen mit dem Verweis auf intendierte Wirkungen erklärt werden, deren Eintreten nicht sicher
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ist. Dies trifft in ähnlicher Weise aber auch auf kausale Theorien zu. Auch hier können die Wirkungen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten und erklärt werden. Funktionale Theorien haben zudem den Nachteil, dass man die Wahl eines Mittels nur dann aus den Folgen ableiten kann, wenn es sich bei den Folgen tatsächlich um funktionale Voraussetzungen handelt. Dies ist dann der Fall, wenn die Funktionsfähigkeit des Systems beim Nichteintritt der Folgen in Frage gestellt wäre. Dies ist in den Sozialwissenschaften im Unterschied zur Biologie und Medizin meist schwer zu beweisen. Funktionale Theorien haben schließlich auch noch den Nachteil, dass die Erklärung für die Wahl eines Mittels umso weniger aussagekräftig ist, je mehr funktionale Alternativen zur Verfügung stehen. Andernfalls muss geklärt werden, weshalb die Entscheidung für eine von mehren Alternativen gefallen ist. Aus den genannten Gründen erscheint es bei oberflächlicher Betrachtung ratsam, den Problemen auszuweichen und z. B. das mediengerechte Verhalten von Politikern kausal durch ihre Motive zu erklären. Dies ist jedoch praktisch nicht zielführend, weil dann die beiden zentralen wissenschaftlichen Fragen ausgeklammert sind. Erstens: Warum besitzen Politiker die angenommenen Motive, andere Menschen aber nicht? Warum suchen sie beispielsweise die Öffentlichkeit, während mittelständische Unternehmer sie meiden? Zweitens: Warum wählen sie ein bestimmtes Mittel und vernachlässigen andere? Warum wenden sie sich beispielsweise an die Medien und nicht an die Kirchen? Antworten auf diese zentralen Fragen sind nur möglich, wenn man Politiker als Akteure in einem gesellschaftlichen Subsystem betrachtet und die funktionalen Voraussetzungen für ihre Selbstbehauptungen in diesem System theoretisiert. Funktionale Erklärungen sind allerdings keine Alternative, sondern eine notwendige Ergänzung von kausalen Erklärungen. Sie setzen den Nachweis von Kausalbeziehungen voraus. So kann man die wiederholte Entscheidung eines Politikers für eine medienwirksame Aktion durch den intendierten Zweck Medienresonanz nur erklären, wenn dieser Zweck hinreichend oft erfüllt wird, wenn also die Aktion mit einer befriedigenden Wahrscheinlichkeit in eine Publikation mündet.
Folgerungen Die Vermutung, Mediatisierungsforschung sei nur ein neues Etikett für Medienwirkungsforschung, trifft aus drei Gründen nicht zu. Erstens untersucht sie schwerpunktmäßig andere Objekte als die Medienwirkungsforschung: Im Zentrum der Mediatisierungsforschung stehen nicht vereinzelte Individuen, die allenfalls aufsummiert werden, sondern Strukturen von Organisationen und Personenkonstellationen. Zu diesen Organisationen gehören Parteien und Parlamente
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sowie Unternehmen und Verbände. Zweitens konzentriert sie sich auf ein anderes Wirkungsmodell: Neben den direkten Wirkungen auf die Mediennutzer werden die indirekten Wirkungen betrachtet. Letztere bilden dabei keinen Neben-, sondern den Hauptaspekt der Analyse. Die direkten Nutzer der Medienangebote kann man dabei als Schnittstellen zwischen der Eigendynamik der Medien und der Eigendynamik der sozialen Einheiten betrachten, in denen sich die Nutzer bewegen. Drittens liefert sie andere theoretische Erklärungen: Neben kausale Erklärungen von Medienwirkungen treten finale Erklärungen der medienrelevanten Verhaltensweisen. Der Grund hierfür besteht darin, dass die Individuen als intentional handelnde Menschen betrachtet werden, die sich gegenüber vergangenen und zukünftigen Medieninhalten zweckrational verhalten. Dabei antizipieren sie zukünftige Medienwirkungen, die sie herbeiführen oder vermeiden wollen. Aus den genannten Gründen kann man die Entwicklung der Mediatisierungsforschung als Anzeichen für einen Paradigmenwechsel der Analyse politischer Kommunikation betrachten, durch den die empirische Forschung stärker mit der Theorie politischer Systeme verbunden wird.
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Vgl. Gianpietro Mazzoleni / Winfried Schulz: Mediatization of Politics: A Challenge for Democracy. In: Political Communication 16 (1999) S. 247-261; Winfried Schulz: Reconstructing Mediatization as an Analytical Concept. In: European Journal of Communication 19 (2004) S. 87-101. 2 Vgl. in diesem Band Politische Rationalität und publizistischer Erfolg, Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen, Der Transfereffekt des Starstatus. 3 Vgl. in diesem Band Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation. 4 Zu diesen Ausnahmen gehört der dynamisch-transaktionale Ansatz. Vgl. Werner Früh / Klaus Schönbach: Der dynamisch-transaktionale Ansatz III: Eine Zwischenbilanz. In: Publizistik 50 (2005) S. 4-20. 5 Paul F. Lazarsfeld / Bernard Berelson / Hazel Gaudet: The Peoples Choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign. New York 1944. 6 Matilda W. Riley. / John W. Riley 1951: A Sociological Approach to Communications Research. In: Public Opinion Quarterly 15 (1951) S. 444-450; Bruce H. Westley / Malcolm S. MacLean: A Conceptual Model for Communication Research. In: Journalism Quarterly 34 (1957) S. 31-38; Colin Seymour-Ure: The Political Impact of Mass Media. London 1976. 7 Vgl. Elsabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung unsere soziale Haut. München 1980. 8 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Herbert Roth: Kommunikation in der Ölkrise des Winters 1973/74. In: Publizistik 23 (1978) S. 337-356; Hans Mathias Kepplinger / Michael Hachenberg: Die fordernde Minderheit. Eine Studie zum sozialen Wandel durch abweichendes Verhalten am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980) S. 508-534. 9 Shanto Iyengar / Donald Kinder: News that Matters: Television and American Opinion. Chicago 1987.
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10 Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Joachim Friedrich Staab / Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie kognitiv-affektiver Medienwirkungen. In: Winfried Schulz (Hrsg.): Medienwirkungen. Weinheim 1992, S. 161-189. 11 Vgl. in diesem Band Politische Rationalität und publizistischer Erfolg. 12 Vgl. in diesem Band Politiker als Protagonisten der Medien. 13 Vgl. Michael Ostertag: Zum Wirkungspotential nichtsprachlicher Äußerungen in politischen Sendungen. Mainz 1991. 14 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Dorothea Marx: Wirkungen und Rückwirkungen der politischen Kommunikation. Reziproke Effekte auf Landtagsabgeordnete. In: Ulrich Sarcinelli / Jens Tenscher (Hrsg.): Entscheidungspolitik und Darstellungspolitik. Beiträge zur politischen Kommunikation. Köln 2008, S. 185-205. 15 Edward E. Jones / Richard E. Nisbett: The Actor and the Observer: Divergent Perceptions of Causes of Behaviour. In: Edward E. Jones et al. (Hrsg.): Attribution: Perceiving the Causes of Behaviour. Morristown, 1972, S. 79-94.
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Der Nutzen erfolgreicher Inszenierungen
Die Mediatisierung der Wahlkämpfe hat aus dem Publikum von Wahlveranstaltungen die Statisten von Inszenierungen gemacht, deren Adressaten zuhause vor den Fernsehschirmen sitzen. Diese Entwicklung wurde in Deutschland Mitte der siebziger Jahre von der CDU/CSU eingeleitet und bei der Bundestagswahl 1998 von der SPD zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht. Der Leipziger Parteitag im April 1998, in dessen Verlauf die Kanzlerkandidatur Gerhard Schröders offiziell beschlossen wurde, war eine detailliert geplante Show.1 Allerdings sollten keineswegs die Delegierten, Journalisten und Ehrengäste im Saal selbst beeindruckt werden, sondern die Fernsehzuschauer diejenigen, die live zusahen, oder diejenigen, die das Ergebnis der strikten Regie in den Abendnachrichten zu sehen bekommen würden. Die Regie sah verschiedene Lichtstimmungen, einen zehnminütigen Triumphmarsch über nur 80 Meter durch jubelnde und klatschende Anhänger vor, dazu Kameraeinstellungen, die so geplant wurden, dass außer dem Redner vor allem Gerhard Schröder nur die Worte des Neuen aus dem Slogan Die Kraft des Neuen zu sehen waren. Nichts wurde dem Zufall überlassen, die Planung des Kandidaten-Parteitages hatte schon Monate zuvor, beim Parteitag in Hannover im Dezember 1997, begonnen. Video-Clips stellten Partei und Kandidaten vor, eigens komponierte Musik untermalte die von der wechselnden Beleuchtung geschaffenen Stimmungen. Minutiös, zum Teil sekundengenau lief der Regie-Plan ab, der die Wirkung der Show bei denen, die den Kandidaten im Fernsehen sahen, die Lichtstimmungen wahrnahmen und die natürlich auch das jubelnde Publikum bemerkten, maximieren sollte. Über die Reaktionen einer Reihe von Zeitungsjournalisten auf den Leipziger Parteitag und ähnliche Veranstaltungen berichtete Jutta Redemann im Sommer 1998 unter der Überschrift Last und Lust.2 Zwar fand der Büroleiter der Frankfurter Rundschau, Richard Mend, es liefen zu viele Inszenierungen, das nerve, und der Chefredakteur des Bonner Generalanzeigers, Helmut Herles, wollte verhindern, dass alles nur Infotainment wird. Zugleich bekannte jedoch der Bonner Büroleiter der Welt, Martin Lambeck, wenn Inszenierungen so brilliant ... sind wie die der SPD in Leipzig, muss man das sagen und schreiben.... Günter Bannas vom Bonner Büro der Süddeutschen Zeitung empfand den Leipziger Parteitag der SPD, obwohl er mehr Form als Substanz besaß, nicht als abstoßend, sondern als spannend, weil eine Zeitung eine solche Inszenierung
beschreiben und distanziert analysieren könne. Zwar sind diese Äußerungen nicht repräsentativ und vermutlich geben sie die komplexeren Einschätzungen der Berichterstatter nur auszugsweise wieder. Dennoch zeigt sich in ihnen das häufig zumindest ambivalente Verhältnis zur mediengerechten Inszenierung von Wahlkampfveranstaltungen. Diese Einschätzungen würden zwar möglicherweise anders ausfallen, wenn es sich um die Inszenierungen von Parteien handeln würde, denen die Berichterstatter mit weniger Wohlwollen gegenübertraten als 1998 der SPD, allerdings wäre auch dann kaum mit einer einhelligen Ablehnung zu rechnen zu gut passen diese Inszenierungen zu den Bedürfnissen der Medien. Dies gilt vor allem aber nicht nur für das Fernsehen, wie die Zitate der Bonner Korrespondenten belegen. Theoretische Überlegungen und experimentelle Befunde Eine Ursache der herausragenden Bedeutung der öffentlichen Auftritte von Politikern und ein Grund für die Notwendigkeit ihrer sorgfältigen Inszenierung ist der Einfluss der Publikumsreaktionen auf die Meinungen der Radiohörer und Fernsehzuschauer. Dies belegen Experimente mit Reden, in die positive und negative Publikumsreaktionen eingeschnitten wurden: Redner, die sich im Hörfunk engagiert zu kontroversen Themen äußern, werden von den Zuhörern besser beurteilt, wenn an mehreren Stellen Beifall zu hören ist. Diese Effekte sind besonders stark, wenn es sich um ein attraktives Publikum handelt, d.h. um Menschen, die in den Sendungen positiv charakterisiert werden. Der Einfluss der Publikumsreaktionen erstreckt sich auch auf die Wirkung der Rede: Redner, deren Äußerungen von Beifall begleitet sind, beeinflussen die Meinungen der Radiohörer stärker als Redner ohne diese Resonanz. In die entgegengesetzte Richtung wirken sich negative Publikumsreaktionen aus. Sie mindern im Vergleich zu neutralen Fassungen ohne Beifall oder Ablehnung die Wertschätzung des Redners und die Überzeugungskraft seiner Äußerungen.3 Ähnliche Belege liegen für das Fernsehen vor. Zwar könnte man meinen, die bildliche Darstellung von Publikumsreaktionen würde vor allem die Wahrnehmung des Publikums beeinflussen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Auf die Wahrnehmung des Redners wirkt sie sich erheblich stärker aus. Redner, in deren Reden Aufnahmen von zustimmenden Publikumsreaktionen eingeschnitten wurden, werden von Fernsehzuschauern für populärer und interessanter gehalten als Redner, die keine erkennbaren oder gar ablehnende Publikumsreaktionen hervorrufen. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn sie in den Fernsehberichten als unerfahrene Neulinge vorgestellt wurden.4 Diese und ähnliche Befunde deuten darauf hin, dass die Fernsehzuschauer Aufnahmen von Publikumsreaktionen nicht als eigenstän-
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dige Informationen aufnehmen, sondern intuitiv als Hinweise zur Bewertung des Redners und seiner Äußerungen heranziehen.5 Der (positive) Einfluss (positiver) Publikumsreaktionen auf die Wahrnehmung eines Redners ist experimentell gut nachgewiesen. Aber wie steht es um die Funktion solcher Aufnahmen innerhalb der Berichte? Stellen positive Publikumsreaktionen isolierte Elemente dar, oder sind sie in der Regel aus dramaturgischen Gründen Teil eines komplexen Ganzen? Dies ist Gegenstand der vorliegenden Studie. Sie geht der Frage nach, welchen Zusatznutzen Fernsehberichte über positive Reaktionen des Publikums bei Politikerreden besitzen. Ihre Grundlage ist die Annahme, dass positive Publikumsreaktionen oft mit anderen positiven Aspekten der Darstellung einhergehen vor allem den Äußerungen der Reporter über das Geschehen, dem Erscheinungsbild der Redner in ihren Berichten und der Gesamttendenz der Beiträge über die öffentlichen Auftritte von Politikern. Positive Reaktionen des Publikums sind nach diesen Überlegungen ein Vehikel, mit dem auch andere positive Botschaften transportiert werden können. Die erfolgreiche Inszenierung von Politikerauftritten wäre dann ein wirkungsvolles Mittel zur Steuerung der Berichterstattung solange sich die Berichterstatter an die üblichen Regeln der Berichterstattung halten. Art und Häufigkeit von Publikumsreaktionen Im ersten Schritt der Analyse soll geprüft werden, wie oft Kohl und Schröder im Bundestagswahlkampf 1998 mit Publikumsreaktionen im Bild gezeigt wurden und wie oft die Berichterstatter auf solche Publikumsreaktionen hinwiesen. Grundlage der Analyse sind alle Beiträge der Hauptnachrichtensendungen und magazine der fünf reichweitenstärksten Fernsehsender (Tagesschau, Tagesthemen; heute, heute-journal; RTL aktuell, RTL Nachtjournal, Sat.1 18:30 und PRO7 Nachrichten) im Zeitraum von 2. März 1998 bis zum Tag vor der Bundestagswahl am 27. September, in denen Kohl oder Schröder in Nachrichtenfilmen im Bild gezeigt wurden unabhängig davon, ob dabei Publikumsreaktionen erkennbar waren oder nicht. Theoretisch wäre es möglich, dass auch reine Textmeldungen Hinweise auf Publikumsreaktionen enthalten. Dies ist jedoch so selten, dass sie hier vernachlässigt werden können. Die Ergebnisse dieser Analyse, die bemerkenswerte Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den Ergebnissen einer früheren Analyse aufweisen, kann man in vier Feststellungen zusammenfassen: 1) Kohl wurde häufiger im Bild gezeigt als Schröder (794 vs. 528). Dies war zu erwarten, da über Kohl als Amtsinhaber intensiver berichtet wurde. Allerdings war Kohl auch in der Fernsehberichterstattung über den Bundestagswahlkampf 1976 häufiger im Bild zu sehen als der damalige Amtsinhaber
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Schmidt. Der Amtsinhaber hat folglich nicht notwendigerweise mehr Fernsehpräsenz als sein Herausforderer. Schröder konnte jedoch trotz der ausgezeichneten Wahlkampagne seiner Partei und trotz seiner eigenen Medienbegabung den natürlichen Vorsprung des Amtsinhabers nicht aufholen. 2) Die Reaktionen des Publikums wurden wesentlich häufiger im Bild gezeigt als im Text erwähnt (403 vs. 157). Dies bestätigt die entsprechenden Befunde anhand der Fernsehberichterstattung über die Bundestagswahl 1976.6 Allerdings war damals das Übergewicht der Bildberichterstattung noch wesentlich größer (631 vs. 46). Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass damals auch Magazinbeiträge erfasst wurden. 3) Die Sender berichteten wesentlich häufiger über positive als über negative Reaktionen des Publikums bei Auftritten der beiden Spitzenkandidaten (444 vs. 43). Das entsprach ebenfalls der Fernsehberichterstattung über den Bundestagswahlkampf 1976. Allerdings wurde 1976 wesentlich häufiger über negative Reaktionen des Publikums berichtet als 1998 (563 vs. 114). Dieser Unterschied dürfte z. T. auf den unterschiedlichen Charakter der Wahlkämpfe zurückzuführen sein. 4) In den Berichten über öffentliche Aufritte von Kohl wurden negative Publikumsreaktionen öfter thematisiert als in den entsprechenden Berichten über Schröder. Auch das entsprach der Darstellung Kohls im Vergleich zu seinem damaligen Gegenkandidaten. Allerdings wurde bei Auftritten von Kohl 1976 wesentlich öfter über negative Publikumsreaktionen berichtet als 1998 (105 vs. 47). Dies ist z. T. auf den Charakter der Wahlkämpfe und z. T. auf den Charakter der untersuchten Programme zurückzuführen damals wurden auch Magazinsendungen erfasst, die mehr meinungslastige Beiträge enthalten als Nachrichtensendungen. Die Fernsehberichterstattung über die Reaktionen des Publikums bei öffentlichen Auftritten von Politikern im Wahlkampf weist offensichtlich eine Reihe von relativ konstanten Merkmalen auf. Dies deutet darauf hin, dass es sich hierbei um wiederkehrende Muster der Wahlberichterstattung handelt, die möglicherweise auf journalistischen Konventionen beruhen. Sie legen mehr oder weniger explizit fest, was berichtenswert ist. Dabei handelt es sich zum einen um allgemeingültige Berufsnormen, zum anderen jedoch auch um zeitspezifische Sichtweisen innerhalb und z. T. außerhalb des Journalismus. Bemerkenswert sind im vorliegenden Zusammenhang vor allem zwei nicht personengebundene Merkmale die Dominanz der Bilder und der positiven Reaktionen. Sie werden deshalb genauer untersucht. Hierzu analysieren wir zunächst den Zusammenhang zwischen der bildlichen Darstellung der Publikumsreaktionen und den entsprechenden Äußerungen der Berichterstatter. Dazu werden weil es um allgemeine Muster geht alle Beiträge über Kohl und Schröder gemeinsam betrachtet. Fast ein Drittel aller Aufnahmen mit positiven Reaktionen des Publikums wurde von entsprechenden Äußerungen der Berichterstatter begleitet. Der Zusammenhang
132
zwischen der bildlichen und sprachlichen Darstellung negativer Publikumsreaktionen war noch wesentlich größer: Die Berichterstatter wiesen fast immer auf die negativen Reaktionen des Publikums hin, die im Bild zu sehen waren. Die sprachlichen Hinweise der Berichterstatter auf positive und negative Publikumsreaktionen, die im Bild gezeigt werden, stellen eine Verdoppelung der gezeigten Realität dar: Sie machen auf das Geschehen aufmerksam, bekräftigen das Gesehene und verstärken vermutlich seine positive oder negative Wirkung. Inszenierte und nicht inszenierte Auftritte Öffentliche Auftritte von Politikern in Wahlkämpfen lassen sich in zwei Typen unterteilen inszenierte und nicht inszenierte Auftritte: Als inszenierte Auftritte kann man Wahlkampfveranstaltungen und Parteitage bezeichnen, als nicht inszenierte Auftritte können Bundestagsreden und Auftritte in Menschenmengen, z. B. bei Staatsbesuchen oder Straßenwahlkampf in den Innenstädten, gelten. Die beiden Typen unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht voneinander: Inszenierte Auftritte sind erstens leichter kontrollierbar. Der Ablauf von Parteitagen und Wahlkampfveranstaltungen wird von den Parteien detailliert geplant. Er ist folglich den Rednern genau bekannt. An inszenierten Auftritten nehmen überwiegend Anhänger der jeweiligen Parteien teil. Das Publikum ist folglich relativ homogen und positiv eingestellt. Die Parteien kontrollieren dennoch in der Regel den Zugang zu den Veranstaltungsorten und weisen ihren eigenen Anhängern bevorzugte Plätze zu, so dass positive Reaktionen des Publikums gut zur Geltung kommen. Zugleich werden Gegner, die möglicherweise stören könnten, an den Rand gedrängt oder völlig ferngehalten. Beide Maßnahmen tragen dazu bei, dass überraschende Ereignisse oder störende Aktionen des Publikums selten und spontane Reaktionen des Redners kaum erforderlich sind. Schließlich besitzen die Parteien häufig einen Einfluss auf die Fernsehberichterstattung über inszenierte Auftritte, weil sie z. B. den Kamerateams bestimmte Plätze zuweisen, damit sie einen möglichst günstigen Eindruck vom Geschehen vermitteln. Nicht inszenierte Auftritte werden zwar ebenfalls geplant, ihr Ablauf ist jedoch nur schwer kontrollierbar. Zwar ist den Parteien der Ablauf von z. B. Parlamentsdebatten bekannt, sie besitzen jedoch keine Kontrolle über mögliche Änderungen. Der Zugang zu solchen Veranstaltungen ist im Rahmen der geltenden Regeln prinzipiell offen, so dass die Parteien keinen Einfluss auf die Zusammensetzung und Plazierung des Publikums haben. Das Publikum ist folglich relativ heterogen und insgesamt weniger positiv gestimmt. Häufig befinden sich Gegner des Redners auf bevorzugten Plätzen. Zudem müssen sich die Redner bei solchen Veranstaltungen meist direkt mit ihren politischen Kontrahenten ausei-
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nandersetzen. Deshalb müssen Politiker im Parlament erheblich häufiger spontan auf vorangegangene Reden und auf Zwischenrufe reagieren. Auch Kontakte mit Wählern z. B. auf der Straße bergen mehr Überraschungen und verlangen häufiger spontane Reaktionen als z. B. Parteiveranstaltungen. Schließlich haben die Parteien bei solchen Veranstaltungen keinen nennenswerten Einfluss auf die Fernsehberichterstattung. Aufgrund der vorgegebenen Unterschiede zwischen den beiden AuftrittsTypen kann man davon ausgehen, dass das Publikum bei inszenierten Auftritten positiver auf Politiker reagiert als das Publikum bei nicht inszenierten Auftritten. Dies müsste sich auch in der Art der Fernsehberichterstattung niederschlagen. Beiträge über inszenierte Auftritte müssten eher positive Publikumsreaktionen zeigen als andere. Die Analyse der Wahlberichterstattung bestätigt diese Vermutung: Die Sender berichteten zwar etwas häufiger über nicht inszenierte als über inszenierte Auftritte der beiden Spitzenkandidaten (273 vs. 235). Berichte über inszenierte Auftritte zeigten jedoch weitaus öfter positive Publikumsreaktionen als Berichte über nicht inszenierte Auftritte (64% vs. 34%). Dies lag zum einen daran, dass in Berichten über nicht inszenierte Auftritte deutlich häufiger keine Publikumsreaktionen erkennbar waren. Es waren jedoch auch häufiger negative oder ambivalente Reaktionen aus dem Publikum zu sehen. Die Art des Auftritts hat einen erheblichen Einfluss auf die zu erwartenden Publikumsreaktionen. Politiker können bei inszenierten Auftritten vor eigenem Publikum mit positiven Publikumsreaktionen rechnen, die in den meisten Fällen auch in den Fernsehnachrichten zu sehen sind. Bei nicht inszenierten Auftritten sind Publikumsreaktionen häufig nicht erkennbar oder sogar negativ (Tabelle 1). Das Erscheinungsbild der Kandidaten Das Verhalten von Politikern bei öffentlichen Auftritten ist vermutlich nicht unabhängig von den Reaktionen des Publikums. Die positiven oder negativen Reaktionen des Publikums schlagen sich vielmehr im Verhalten der Politiker nieder sie verhalten sich mehr oder weniger gelassen und selbstbewusst, sie sind mehr oder weniger konzentriert und schlagfertig usw. Deshalb kann man vermuten, dass Politiker bei inszenierten Auftritten, bzw. bei Auftritten mit positiven Publikumsreaktionen vorteilhafter auftreten als bei anderen Auftritten. Dies müsste sich ebenfalls in der Fernsehberichterstattung im Erscheinungsbild entsprechend niederschlagen. Im Erscheinungsbild von Politikern kann man verschiedene Aspekte unterscheiden den Eindruck von Vertrauenswürdigkeit, Energie, Gelassenheit usw. Bei der Analyse der Fernsehberichterstattung wurden insgesamt neun solcher Aspekte unterschieden und mit 5-stufigen Schätzskalen
134
Tabelle 1: Zusammenhang zwischen den Reaktionen des Publikums und der Art des Auftritts der Kandidaten im Fernsehen inszenierte Auftritte (n=235) %
nicht inszenierte Auftritte (n=273) %
positiv
64
34
ambivalent
4
8
negativ
1
4
nicht erkennbar
31
54
Summe
100
100
Publikumsreaktionen
Basis: Nachrichtenfilme vom 02.03.1998 bis zum 26.09.1998, in denen inszenierte und nicht inszenierte Auftritte der beiden Kandidaten dargestellt wurden (n=508)
ermittelt. Die Ergebnisse für beide Politiker werden weil es nicht um individuelle Unterschiede, sondern um systematische Zusammenhänge geht zusammengefasst. Erwartungsgemäß vermittelten die Fernsehbeiträge über inszenierte Auftritte einen wesentlich positiveren Eindruck von Kohl und Schröder als die Beiträge über nicht inszenierte Auftritte: Beide Politiker erschienen in Beiträgen über inszenierte Auftritte vor allem vertrauenswürdiger, sympathischer, energischer und durchsetzungsfähiger. Zugleich wirkten sie weniger unsicher (Abbildung 1). Im positiven Erscheinungsbild der Kandidaten bei inszenierten Auftritten fließen vermutlich die Wirkungen von zwei Faktoren zusammen zum einen der Einfluss des Publikums vor Ort auf das Auftreten des Redners, zum anderen der Einfluss der im Bild gezeigten Publikumsreaktionen auf die Eindrücke der Zuschauer. Der Einfluss dieser beiden Faktoren auf das Erscheinungsbild der Kandidaten in den Fernsehberichten lässt sich mit den verfügbaren Daten nicht sauber trennen. Hinweise darauf liefert jedoch eine differenzierte Analyse der vorliegenden Wahlberichte. Um herauszufinden, ob die Art des Auftritts oder die Publikumsreaktionen für die positive Wahrnehmung der Kandidaten entscheidend waren, untersuchen wir den Zusammenhang zwischen Publikumsreaktionen und Erscheinungsbild der Kandidaten getrennt für beide Auftrittsarten. Inte-
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Abbildung 1:
Zusammenhang zwischen der Erscheinung im Bild und der Art des Auftritts der Kandidaten im Fernsehen.
vertrauenswürdig sympathisch energisch seriös durchsetzungsfähig gelassen unsicher unbeherrscht verärgert 0
20
40
60
80
100
Prozent: trifft zu inszenierte Auftritte (n=235),
nicht inszenierte Auftritte (n=273)
Basis: Nachrichtenfilme vom 02.03.1998 bis zum 26.09.1998, in denen inszenierte und nicht inszenierte Auftritte der beiden Kandidaten dargestellt wurden (n=508)
ressant ist vor allem, ob positive Publikumsreaktionen das Erscheinungsbild der Kandidaten gegenüber Beiträgen ohne Publikumsreaktionen verbessern. Beiträge mit negativen oder ambivalenten Reaktionen werden deshalb hier nicht berücksichtigt. Sowohl die Auftrittsart als auch die Publikumsreaktionen standen in einem bemerkenswertem Zusammenhang mit dem Erscheinungsbild der Kandidaten: In Beiträgen mit positiven Publikumsreaktionen wirkten die Kandidaten
136
unabhängig von der Art des Auftritts vertrauenswürdiger, sympathischer, energischer und durchsetzungsfähiger als in Beiträgen ohne Publikumsreaktionen. Zugleich erschienen sie weniger unsicher. In Beiträgen über inszenierte Auftritte wirkten die Kandidaten unabhängig von den Publikumsreaktionen vor allem vertrauenswürdiger, energischer, seriöser und durchsetzungsfähiger als in Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte. Die Ergebnisse zeigen den Nutzen politischer Inszenierungen: Politiker vermitteln in der Fernsehberichterstattung andere Auftritte. Dies gilt auch dann, wenn das Publikum nicht positiv reagiert bzw. solche Reaktionen im Fernsehen nicht gezeigt werden. Allerdings können sie mit einer großen Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass im Fernsehen positive Publikumsreaktionen gezeigt werden, die ihre Auftritte noch positiver erscheinen lassen. (Tabelle 2). Tabelle 2: Zusammenhang zwischen der Erscheinung im Bild und der Art des Auftritts der Kandidaten im Fernsehen nach Publikumsreaktionen inszenierte Auftritte
nicht inszenierte Auftritte
Publikumsreaktionen positiv
keine Publikumsreaktionen
Publikumsreaktionen positiv
keine Publikumsreaktionen
(n=151)
(n=72)
(n=92)
(n=148)
%
%
%
%
vertrauenswürdig
83
76
70
60
sympathisch
75
71
74
58
energisch
71
56
41
25
seriös
86
86
79
74
durchsetzungsfähig
74
64
52
34
gelassen
72
71
66
60
unsicher
2
4
2
9
unbeherrscht
7
6
4
6
verärgert
7
6
3
4
137
Die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung In die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung gehen neben dem Eindruck, den die Kandidaten im Bild machen, auch die Äußerungen der Berichterstatter und die Stellungnahmen von anderen Akteuren ein, die in dem Bericht zu Wort kommen. Trotz der Vielzahl dieser Einflüsse auf die Gesamttendenz der Beiträge wird man weil die Parteien bei inszenierten Auftritten eine stärkere Kontrolle über das Geschehen besitzen vermuten können, dass Berichte über inszenierte Auftritte eine positivere Gesamttendenz aufweisen als Berichte über andere Auftritte. Die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung wurde getrennt für Kohl und Schröder auf 5-stufigen Schätzskalen ermittelt. Die Stufen waren von eindeutig positiv bis eindeutig negativ beschriftet. Beiträge, die keine Tendenz besaßen, wurden gesondert erfasst. Die vorliegenden Wahlberichte bestätigen die erwähnte Vermutung: Die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung in Beiträgen über inszenierte Auftritte war deutlich positiver dargestellt als die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung in Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte. Nahezu zwei Drittel der Beiträge über inszenierte Auftritte charakterisierten die Kandidaten insgesamt positiv. In den Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte traf dies nur auf deutlich weniger als die Hälfte der Beiträge zu. Zugleich war der Anteil negativer Kandidatendarstellung nahezu doppelt so hoch (Tabelle 3). Tabelle 3: Zusammenhang zwischen der Kandidatendarstellung und der Art des Auftritts der Kandidaten im Fernsehen inszenierte Auftritte (n=235) %
nicht inszenierte Auftritte (n=273) %
positiv
62
45
ambivalent
19
19
negativ
9
15
nicht erkennbar
11
21
Summe
101
100
Kandidatendarstellung
138
Die Gesamttendenz der Darstellung der Kandidaten kann ähnlich wie ihr Erscheinungsbild auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden, darunter die Art des Auftritts und die Art der Publikumsreaktionen. Auftritte vor eigenem Publikum sichern aufgrund der starken Kontrolle der Partei über das Geschehen und die Berichterstatter vermutlich eine positive Gesamttendenz. Möglicherweise trägt jedoch auch die Darstellung positiver Publikumsreaktionen dazu bei, dass die Kandidatendarstellung insgesamt einen positiven Eindruck vermittelt. Die erste Vermutung bestätigt sich. Die zweite Vermutung erweist sich jedoch nicht als richtig. Positive Publikumsreaktionen hatten anders als bei der Wahrnehmung der Kandidaten keinen eigenen Einfluss auf die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung. Sowohl für inszenierte als auch für nicht inszenierte Auftritte galt: Die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung in Beiträgen mit positiven Publikumsreaktionen war zwar häufiger positiv als die Gesamttendenz in Beiträgen ohne Publikumsreaktionen. Sie war aber auch häufiger negativ. Die Gesamttendenz der journalistischen Darstellung hing folglich allein von der Art des Auftritts ab (Tabelle 4). Tabelle 4: Zusammenhang zwischen der Kandidatendarstellung und der Art des Auftritts der Kandidaten im Fernsehen nach Publikumsreaktionen inszenierte Auftritte Publikumskeine reaktionen Publikumspositiv reaktionen Kandidatendarstellung (n=151) (n=72) % %
nicht inszenierte Auftritte Publikumskeine reaktionen Publikumspositiv reaktionen (n=92) (n=148) % %
positiv
67
59
54
50
ambivalent
19
22
20
17
negativ
10
3
14
11
nicht erkennbar
4
16
13
22
100
100
101
100
Summe
139
Zusammenfassung und Folgerungen Die wichtigsten Ergebnisse der Analyse kann man in elf Feststellungen zusammenfassen: 1) Bei öffentlichen Auftritten von Kohl berichteten die Fernsehsender häufiger über die Reaktionen des Publikums als bei öffentlichen Auftritten von Schröder. 2) Die Fernsehsender stellten die Reaktionen des Publikums beider Politiker meistens im Bild dar. Sprachliche Hinweise waren seltener. 3) Die weitaus meisten Fernsehbeiträge berichteten über positive Reaktionen des Publikums beider Politiker. 4) Wurden positive Publikumsreaktionen im Bild gezeigt, erwähnten die Berichterstatter in etwa jedem dritten Fall die Zustimmung zum Kandidaten. 5) Wurden negative Publikumsreaktionen im Bild gezeigt, wiesen die Berichterstatter fast immer auf die Ablehnung der Kandidaten hin. 6) Die Kandidaten waren etwas häufiger in Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte als in Beiträgen über inszenierte Auftritte zu sehen. 7) Beiträge über inszenierte Auftritte enthielten deutlich positivere Publikumsreaktionen als Beiträge über nicht inszenierte Auftritte. 8) Das Erscheinungsbild von Kohl und Schröder in Beiträgen über inszenierte Auftritte war positiver als in Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte. Dies galt unabhängig von den gezeigten Publikumsreaktionen. 9) Das Erscheinungsbild von Kohl und Schröder in Beiträgen mit positiven Publikumsreaktionen war positiver als in Beiträgen ohne Publikumsreaktionen. Dies galt unabhängig von der Art des Auftritts. 10) Die Gesamttendenz der Darstellung von Kohl und Schröder in Beiträgen über inszenierte Auftritte war deutlich positiver als in Beiträgen über nicht inszenierte Auftritte. Dies galt unabhängig von den gezeigten Publikumsreaktionen. 11) Die Gesamttendenz der Kandidatendarstellung hing nicht von den gezeigten Publikumsreaktionen ab. Wahlkämpfer, die bei inszenierten Auftritten vor eigenem Publikum auftreten, profitieren dadurch mehrfach. Zum einen profitieren sie vor Ort, bei ihrem Auftritt. Die meist positiven Reaktionen der eigenen Anhänger, die zudem die besten Plätze innehaben, geben dem Redner Sicherheit. Dies verbessert seinen Auftritt, was sich wieder in positiven Reaktionen des Publikums niederschlägt. Zum anderen profitieren sie auf mehrfache Weise von der Berichterstattung über ihren Auftritt. Die Aufnahmen der meist positiven Reaktionen des Publikums werden häufig von entsprechenden Hinweisen der Berichterstatter begleitet, die die positiven Eindrücke verstärken. Die bildliche und sprachliche Darstellung von positiven Publikumsreaktionen schlägt sich in der Wahrnehmung der Redner durch die Fernsehzuschauer nieder, weil sie das Erscheinungsbild verbessern jenen Eindruck, den sie als Personen bei den Zuschauern hinterlassen. Darüber hinaus ist auch noch die Gesamttendenz der Beiträge über inszenierte Auftritte besser als die Gesamttendenz der Beiträge über andere Auftritte. Der Redner wirkt nicht nur besser, er wird durch Äußerungen der Berichterstatter oder
140
Stellungnahmen anderer Personen, durch die Art des Einbaus seiner Rede in einen längeren Bericht oder andere journalistische Mittel auch noch besser dargestellt. Erfolgreich inszenierte Auftritte versprechen deshalb im Fernsehzeitalter einen bemerkenswerten Zusatznutzen, der über die Bedeutung des Auftritts selbst weit hinausgeht.
1 Vgl. Jürgen Leinemenn: Hollywood an der Pleiße. In einer pompösen Show feiern die Sozialdemokraten die Kür ihres Kanzlerkandidaten. In: Der Spiegel, 20. April 1998. 2 Vgl. Jutta Redemann: Wahlkampf: Last und Lust. Wie Bonner Zeitungskorrespondenten hinter den Inszenierungen der Parteien Inhalte suchen. In: Die Zeitung Juli/August 1998. 3 Vgl. David Landy: The Effects of an Overheard Audiences Reaction and Attractiveness on Opinion Change. In: Journal of Experimental Social Psychology 8 (1972) S. 276-288. 4 Vgl. Jon Baggaley: Psychology of TV Image. Westmead 1980. 5 Vgl. Wolfgang Donsbach / Hans-Bernd Brosius / Axel Mattenklott: Die zweite Realität. Ein Feldexperiment zur Wahrnehmung einer Wahlkampfveranstaltung durch Teilnehmer und Fernsehzuschauer. In: Christina Holtz-Bacha / Lynda Lee Kaid (Hrsg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Untersuchungen aus dem Wahljahr 1990. Opladen 1993, S. 104-143. 6 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hans Mathias Kepplinger: Optische Kommentierung in der Berichterstattung über den Wahlkampf 1976. In: Thomas Ellwein (Hrsg.): Politikfeld-Analysen 1979. Opladen 1980, S. 163-179.
141
Der Transfereffekt des Starstatus
Starpolitiker hat es schon immer gegeben zumindest seit es Politik gibt, seit der Entstehung der Polis im antiken Griechenland. Zu den herausragenden Starpolitikern des klassischen Altertums sozusagen den Mega-Stars der Antike gehörten Perikles, dessen Reden uns Thukydides übermittelt hat, und Cicero, der mit seinen Schriften selbst für den Nachruhm sorgte. Auch Cato, einen der geistigen Urheber des Dritten Punischen Krieges, wird man zu den Starpolitikern seiner Zeit rechnen dürfen. Das Mittelalter und die beginnende Neuzeit hatten ebenfalls bereits ihre Starpolitiker Friedrich II, Richard Löwenherz und Karl der Kühne, der in der Schlacht bei Nancy so zugerichtet wurde, dass man seinen Leichnam nie gefunden hat. Aber wie sieht es mit Karl V. aus, in dessen Reich die Sonne nicht unterging? War er ein Starpolitiker? Man mag daran zweifeln, dass es in vergangenen Jahrhunderten Politiker im heutigen Sinn gab, kann jedoch nicht übersehen, dass auch unter den Machthabern der damaligen Zeit Stars existierten. Sie waren zwar nicht immer die Mächtigsten, aber Macht besaßen sie alle. Damit ist ein erstes Merkmal von Starpolitikern benannt ein Mindestmaß an Macht. Einige Starpolitiker der vergangenen Jahrhunderte waren herausragende Feldherren, einige bedeutende Redner, einige geniale Verschwender. Keiner musste alles sein, aber alle hatten eines gemeinsam: Ihre Tätigkeit fand in der Öffentlichkeit statt. Damit ist ein zweites Merkmal von Starpolitikern benannt. Macht existiert auch ohne Öffentlichkeit, und häufig liegt die wahre Macht in den Händen von Personen, die die Öffentlichkeit nicht einmal mit Namen kennt. Aber Starruhm gibt es nur in der Öffentlichkeit, durch die Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit. Ich werde im Folgenden nicht erklären, was ein Starpolitiker ist Begriffsexplikationen und essentialistische Deutungen gehören nicht zu meinem Spezialgebiet , sondern darstellen, was einen Starpolitiker im Zeitalter der Mediendemokratien auszeichnet. Hier geht es also nicht darum, was ein Starpolitiker ist, sondern wie man ein Starpolitiker wird. Dazu werde ich sechs Thesen formulieren und anhand eines kleinen Experiments diskutieren. These 1: Politiker agieren in zwei verschiedenen Arenen, in denen unterschiedliche Regeln und verschiedenartige Erfolgskriterien existieren. In der einen Arena geht es um die sachgerechte Lösung von Problemen die Sicherung
der Renten, den Abbau der Zölle, die Verbesserung des Umweltschutzes usw. In der anderen Arena geht es um die Zustimmung zu den handelnden Personen der Mehrheit innerhalb der eigenen Partei, im Parlament und unter den Wählern. Der Erfolg in der einen Arena ist in der Regel eine Voraussetzung für den Erfolg in der anderen Arena: Die Zustimmung der Wähler erhält der Politiker, der die wichtigen Aufgaben zufriedenstellend löst. Die wichtigen Sachfragen kann nur der Politiker lösen, der die Zustimmung der Wähler hat. Dies gilt analog für das Parlament und die Parteien. Sachliche Effektivität und persönliche Akzeptanz hängen deshalb zumindest langfristig zusammen. Sie sind jedoch keineswegs identisch. Jede Arena hat ihre eigenen Regeln und damit ihre eigenen Erfolgsbedingungen. Der dauerhafte Erfolg bei der Lösung politischer Sachfragen erfordert ein hohes Maß an Sachkenntnis, Einsatzwillen, Fortune usw. Die dauerhafte Zustimmung der Mehrheit verlangt ähnliche, jedoch nicht notwendigerweise die gleichen Eigenschaften. Hier sind unter Umständen rhetorisches Talent, Schlagfertigkeit und Witz wichtiger. Je mehr die Erfolgsbedingungen in den beiden Arenen auseinanderklaffen, desto schwieriger wird die Lösung politischer Probleme: Diejenigen, die die Probleme lösen könnten, finden keine Zustimmung, und diejenigen, die Zustimmung finden, können die Probleme nicht lösen, weil ihnen dazu die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen.1 Die Grundlage der Beurteilung von Politikern bilden nicht ihre tatsächlichen Eigenschaften und Leistungen. Ihre Grundlage sind vielmehr die Eigenschaften und Leistungen, die die Bevölkerung wahrnimmt. Die wahrgenommenen Eigenschaften und Leistungen eines Politikers können mit seinen tatsächlichen Eigenschaften und Leistungen übereinstimmen. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der Fall. Nicht jeder, der als intelligent und integer oder als beschränkt und korrupt gilt, ist es tatsächlich. Nicht jeder, der konservativ und national oder liberal und sozial erscheint, verdient diesen Ruf. Je mehr sich die wahrgenommenen Eigenschaften eines Politikers von seinen tatsächlichen Eigenschaften unterscheiden, desto fragwürdiger sind die Entscheidungen, die sich darauf gründen. Das Erscheinungsbild wird im Extremfall zu einem Trugbild. Die Zustimmung beruht dann auf einer Fiktion, ihre Folgen sind jedoch real. Dies gilt auch für die Wahl eines Starpolitikers in ein wichtiges politisches Amt, der sich in der politischen Praxis als Problemfall erweist. These 2: Starpolitiker müssen keine Amtsinhaber sein und Amtsinhaber sind nicht notwendigerweise Starpolitiker. Welche deutschen Politiker kann man als Starpolitiker bezeichnen? Eine gegabelte Befragung von Studenten liefert Anhaltspunkte dafür. Eine Teilgruppe (n=29) stufte Anfang November 1995 die Starqualität von 23 deutschen Politikern anhand von fünfstufigen Schätzskalen ein. Grundlage war folgende Frage: In der aktuellen Berichterstattung fällt gele-
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gentlich das Wort Polit-Star oder SPD-Star, CDU-Star usw. Ob man einen Politiker für einen Star hält, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Wir betrachten hier nur deutsche Politiker und fragen, ob sie in Deutschland als Star zu betrachten sind. Dabei kommt es auf Ihr persönliches Urteil an ... Bitte urteilen Sie spontan und ohne zu zögern. Die Enden der Schätzskalen waren beschriftet mit definitiv ein Star bzw. definitiv kein Star. Die so ermittelte Starparade führte als einsame Spitze der frühere Bundespräsident von Weizsäcker an. Es folgten mit ihren damaligen Funktionen auf Platz 2 der Fraktionssprecher der Grünen, Fischer, auf Platz 3 der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gysi, auf Platz 4 Bundeskanzler Kohl, auf Platz 5 der saarländische Ministerpräsident Lafontaine, auf Platz 6 der niedersächsische Ministerpräsident Schröder, auf Platz 7 Arbeitsminister Blüm und auf Platz 8 der Bundestagsabgeordnete Geißler. Die Schlusslichter bildeten auf Platz 18 der FDP-Vorsitzende Gerhardt, auf Platz 19 die Bundestagsvizepräsidentin Vollmer, auf Platz 20 Postminister Bötsch, auf Platz 21 Umweltministerin Merkel, auf Platz 22 der PDS-Vorsitzende Bisky sowie auf Platz 23 der SPD-Sozialexperte Dreßler. Selbstverständlich kann man diese Einstufungen nicht verallgemeinern. Darum geht es hier aber auch nicht, wie die folgende Darstellung zeigen wird. Schon hier wird jedoch deutlich, dass die Rolle des Politikstars nicht notwendigerweise an Ämter gekoppelt ist: Mehrere Starpolitiker hatten kein bedeutendes Amt Fischer, Gysi, Geißler mehrere Inhaber von bedeutenden Ämtern waren keine Starpolitiker Bötsch, Kinkel, Merkel. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse kann man vier Kategorien von Politikern bilden: Erstens Amtsinhaber, die ihr Amt ihrem Starstatus verdanken. Ein Beispiel hierfür ist Ministerpräsident Biedenkopf. Zweitens Amtsinhaber, deren Starstatus auf ihrem Amt beruht. Ein Beispiel hierfür ist Bundeskanzler Kohl. Drittens Amtsinhaber, die ihr Amt innehaben, obwohl sie keine Starpolitiker sind. Ein Beispiel dafür ist Postminister Bötsch. Viertens Starpolitiker, die trotz ihres Starstatus kein bedeutendes Amt innehaben. Ein Beispiel hierfür ist Joschka Fischer. These 3: Starstatus ist ein funktionales Äquivalent für Erfolge in der Politik. Eine zweite Teilstichprobe von Studenten (n=26) stufte zur gleichen Zeit anhand von fünfstufigen Schätzskalen die Problemlösungsfähigkeit der gleichen Politiker ein. Die entsprechende Frage lautete: Politiker sollen nach dem Willen der Bevölkerung konkrete Probleme lösen. Dazu bedarf es spezifischer Fähigkeiten Weitblick, Sachkompetenz, Überzeugungskraft, Durchsetzungsfähigkeit usw. Ob man einen Politiker für in diesem Sinn fähig hält, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Bitte beurteilen Sie die politischen Fähigkeiten der unten aufgeführten Politiker. Urteilen Sie dabei spontan und ohne zu zögern. Die Enden der Skalen waren beschriftet mit ist sehr fähig bzw. ist nicht fähig. Die Rangliste
145
der Politiker mit hoher Problemlösungskompetenz führte von Weizsäcker an. Auf Platz 2 folgte Fischer. Platz 3 nahm Bundespräsident Herzog ein. Auf Platz 4 folgte Schröder, auf Platz 5 Kohl und auf Platz 6 Geißler. Die Schlusslichter der Kompetenz-Rangfolge bildeten auf Platz 22 der CSU-Politiker Gauweiler und auf Platz 23 der Fraktionsvorsitzende und damalige SPD-Vorsitzende Scharping. Wie man sieht, ist auch die Kompetenzzuschreibung offensichtlich nicht notwendigerweise an Ämter gekoppelt und umgekehrt: Zahlreiche Amtsinhaber gelten nicht als kompetent, zahlreiche Politiker, die als kompetent gelten, haben kein bedeutendes Amt inne. Zwischen den Urteilen über die Problemlösungskompetenz der Politiker und ihrem Starstatus besteht eine hochsignifikante Korrelation (R=.82; p<.001). Der tatsächliche Zusammenhang ist zwar schwächer, als es die Aggregatdatenkorrelation nahelegt, bleibt aber auch dann vermutlich noch bemerkenswert. Aus dem Zusammenhang zwischen den Urteilen über die Problemlösungskompetenz und dem Starstatus kann man eine erste Folgerung ableiten: Urteile über den Starstatus färben offensichtlich auf Urteile über die Problemlösungskompetenz ab und umgekehrt. Man kann deshalb von einem Transfereffekt des Starstatus sprechen: Der Starstatus eines Politikers stärkt in der Regel sein Ansehen als kompetenter Problemlöser.2 Der Transfereffekt des Starstatus nutzt vor allem Politikern ohne Amt, zumal sie anders ihre Problemlösungskompetenz kaum belegen können: Falls sie ein Starpolitiker werden, vermitteln sie damit gleichzeitig den Eindruck, dass sie über Problemlösungskompetenz verfügen. Der Erfolg auf dem Weg zum Starpolitiker ist m. a. W. zumindest partiell ein funktionales Äquivalent zum praktischen Nachweis von Problemlösungskompetenz (vgl. Abbildung 1). These 4: Die weitaus meisten Bürger kennen Politiker nicht persönlich. Alles, was sie über Politiker wissen, wissen sie von den Medien oder von Bekannten, deren Wissen aus den Medien stammt. Die weitaus größte Reichweite besitzt von allen Medien das Fernsehen, das auch diejenigen erreicht, die sich nicht im engeren Sinn für Politik interessieren.3 Das Fernsehen liefert bekanntlich eine Kombination von verbaler und visueller Darstellung. Die Berichterstattung über Politiker kann man thematisch in zwei große Bereiche gliedern die Darstellung ihres Charakters und ihrer Sachkompetenz. Der Begriff Charakter bezeichnet hier allgemein-menschliche Eigenschaften, die generell für oder gegen einen Mann oder eine Frau sprechen. Beispiele hierfür sind Vertrauenswürdigkeit und Optimismus bzw. Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Der Begriff Sachkompetenz bezeichnet spezifische Fähigkeiten, die man zwar von einem Politiker, nicht aber von anderen Menschen erwarten wird. Man könnte hierfür auch den Begriff Problemlösungskompetenz verwenden. Beispiele sind die Fähigkeit, die Staatsschulden zu reduzieren, für Recht und Ordnung zu sorgen und den Umwelt-
146
Abbildung 1:
Zusammenhang zwischen Einschätzung politischer Fähigkeiten und der Wahrnehmung als Starpolitiker Wahrnehmung als Starpolitiker 2
positiv
X Q 1
W
T
N
U P
M
F -2
-1
S
Wahrnehmung der politischen Fähigkeiten
R
O
1
K
negativ
V
B
2
positiv
L
A D
H G
C E
-1
J
negativ -2
Erläuterung der Kennbuchstaben: A B C D E F
= Scharping = Gauweiler = Merkel = Gerhardt = Bisky = Lambsdorff
G H J K L M
= Bötsch = Vollmer = Dreßler = Waigel = Kinkel = Cohn-Bendit
N O P Q R S
= Lafontaine = Schäuble = Blüm = Gysi = Süssmuth = Geißler
T = Kohl U = Schroeder V = Herzog W = Fischer X = Weizsäcker
147
schutz zu verbessern. Welche Eigenschaften von Spitzenpolitikern nehmen Fernsehzuschauer anhand der Hauptnachrichten wahr vor allem ihre Sachkompetenz oder ihren Charakter? Auf welche Informationen stützen sie ihre Wahrnehmung auf verbale oder visuelle Darstellungen? Antworten auf diese Fragen liefert eine Rezeptionsanalyse der Fernsehnachrichten im Bundestagswahlkampf 1990.4 Die Versuchspersonen sollten anhand einer Stichprobe von Sendungen angeben, welche von 21 Charaktereigenschaften und welche von 17 Sachkompetenzen Kohls und Lafontaines sie wahrnahmen. Darüber hinaus sollten sie anzeigen, ob sich ihre Wahrnehmungen auf optische Eindrücke oder auf sprachliche Hinweise stützten. Auf diese Weise wurden insgesamt 1.826 relevante Informationen erfasst. Über vier Fünftel dieser Informationen (81 %) betrafen den Charakter von Kohl und Lafontaine, nur ein knappes Fünftel (19 %) ihre Sachkompetenz. Bei genau der Hälfte handelte es sich eindeutig um verbale Informationen, bei etwas mehr als einem Viertel waren es eindeutig visuelle Informationen. Die Wahrnehmung des Charakters der beiden Politiker beruhte wesentlich häufiger auf visuellen Informationen als die Wahrnehmung ihrer Sachkompetenz (32 % vs. 13 %). Daraus folgt, dass die nonverbalen Elemente der Fernsehberichterstattung die Gestik und Mimik von Politikern, die sichtbaren Reaktionen ihrer Gesprächspartner und Umgebung sowie die Art und Weise, wie sie ins Bild gesetzt werden einen bemerkenswerten Einfluss auf die Wahrnehmung des Charakters der Akteure ausüben. Ich werde mich, weil dieser Bereich völlig unterbelichtet ist, im Folgenden auf die nonverbalen Aspekte der politischen Kommunikation konzentrieren. These 5: Die kurzzeitige Wahrnehmung von Spitzenpolitikern anhand der aktuellen Fernsehberichterstattung besitzt einen Einfluss auf die dauerhaften Vorstellungen von ihrem Charakter und ihrer Sachkompetenz. Fernsehzuschauer nehmen Politiker anhand der Fernsehnachrichten jeweils nur wenige Sekunden wahr. Dies führt zu der Frage, ob sich diese Wahrnehmungen im Laufe der Zeit zu dauerhaften Vorstellungen verdichten Vorstellungen, die die Bevölkerung auch dann hat, wenn sie nicht fernsieht. Falls diese Vermutung zutrifft, müsste sich die kurzzeitige Wahrnehmung eines Politikers umso stärker in den dauerhaften Vorstellungen niederschlagen, je größer der Fernsehkonsum der Zuschauer ist. Für eine exakte Analyse der vermuteten Zusammenhänge wäre es erforderlich, die kurzzeitigen Wahrnehmungen von Fernsehzuschauern über längere Zeit zu messen und parallel dazu die Entwicklung ihrer dauerhaften Vorstellungen von Politikern zu erfassen. Dies ist praktisch unmöglich. Eine näherungsweise Antwort gibt ein Vergleich der kurzzeitigen Wahrnehmung von Politikern durch Testpersonen mit den dauerhaften Vorstellungen der Bevölkerung. Die Wahrnehmungen der Testpersonen werden dabei als Schätzung der Wahrnehmungen
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der Bevölkerung betrachtet. Möglich ist dies, weil derartige Wahrnehmungen von Einstellungen weitgehend unabhängig sind.5 Die dauerhaften Vorstellungen der Bevölkerung von den 21 Charaktereigenschaften und 17 Sachkompetenzen haben wir in drei Telefonbefragungen während des Bundestagswahlkampfes 1990 erfragt. Die kurzzeitige Wahrnehmung der Charaktereigenschaften und Sachkompetenzen Kohls stand in einem engen Zusammenhang mit den dauerhaften Vorstellungen der Bevölkerung. Je höher der Fernsehkonsum der Personen war, desto stärker war erwartungsgemäß dieser Zusammenhang. Ein ähnliches Ergebnis zeigt die Analyse der dauerhaften Vorstellungen von Lafontaines Sachkompetenz. Die dauerhaften Vorstellungen von seinem Charakter ließen sich dagegen nicht in vergleichbarer Weise auf die kurzzeitige Wahrnehmung Lafontaines anhand der aktuellen Fernsehberichterstattung zurückführen. These 6: Bei gleicher Problemlösungskompetenz entscheidet die Fernsehperformanz über den Starstatus eines Politikers. Zwischen dem Starstatus eines Politikers und der Einschätzung seiner Problemlösungskompetenz besteht wie Abbildung 1 belegt ein enger Zusammenhang: Wer als Starpolitiker gilt, erscheint auch kompetent und umgekehrt. Von dieser allgemeinen Regel gibt es jedoch wie oben gezeigt wurde markante Ausnahmen: Einige Politiker besitzen einen höheren, andere einen niedrigeren Starstatus als man aufgrund ihrer Kompetenzeinschätzung erwarten würde. Beispiele hierfür sind Bisky (E) und Lambsdorff (F), Schäuble (O) und Gysi (Q) sowie Herzog (V) und Fischer (W). Ihre Problemlösungskompetenz wurde jeweils gleich, ihr Starstatus dagegen sehr unterschiedlich eingeschätzt. (Die Buchstaben verweisen auf die Positionen der Genannten in Abbildung 1.) Was sind die Ursachen dieser Diskrepanzen? Aus den empirischen Belegen kann man folgern, dass der unterschiedliche Starstatus von Politikern mit gleicher Problemlösungskompetenz auf ihrer unterschiedlichen Fähigkeit zur fernsehgerechten Selbstdarstellung beruht. Die Vermutung über den Einfluss der fernsehgerechten Selbstdarstellung auf den Starstatus von Politikern prüfen wir auf folgende Weise: Sechs Teilstichproben von Studenten erhielten einige Wochen nach den oben genannten ersten Tests einen neuen Testbogen, auf dem sie mit fünfstufigen Schätzskalen 21 Eigenschaften der oben erwähnten Politiker beurteilen sollten. Die entsprechende Frage lautete: Bitte notieren Sie, welche der unten aufgeführten Eigenschaften nach Ihrer Ansicht auf ... zutreffen. Wenn Sie der Meinung sind, dass die Eigenschaft voll und ganz zutrifft, kreuzen Sie bitte ganz links an. Wenn Sie der Meinung sind, dass sie überhaupt nicht zutrifft ganz rechts. Andernfalls dazwischen. Die Skalenenden waren beschriftet mit trifft voll und ganz zu bzw. trifft überhaupt nicht zu. Die folgende Darstellung beruht auf den Urteilen von insgesamt 49 Versuchspersonen, die sich zu jeweils einem der sechs genannten
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Politiker geäußert haben. Für die Analyse haben wir die Aussagen der Versuchspersonen über die Politiker mit vergleichsweise hohem und niedrigem Starstatus bei gleicher Kompetenzzuschreibung (Fischer, Gysi und Lambsdorff bzw. Herzog, Schäuble und Bisky) zusammengefasst. Die drei Politiker mit hohem Starstatus unterscheiden sich von den Politikern mit niedrigem Starstatus nicht aufgrund ihrer politischen Ansichten oder der Sympathie, die sie bei den Juroren genossen. Die Juroren fanden vielmehr beide Typen von Politikern gleich sympathisch und meinten in beiden Fällen, dass sie nicht oft sagen, was sie selbst denken. Auch zahlreiche andere Eigenschaften der beiden Typen beurteilten die Juroren ähnlich: Beide Typen sind nicht sonderlich unbeherrscht und machen einen eher optimistischen Eindruck. Sie sind eher nachdenklich und können durchaus mit Journalisten umgehen. Daraus folgt: Falls ein Politiker nachdenklich ist, sich beherrschen und gut zuhören kann, prädestiniert ihn dies noch nicht zum Starpolitiker. Selbst wenn er sagt, was die Leute hören wollen und dazu noch optimistisch wirkt und sympathisch ist, reicht es dazu nicht. Um ein Starpolitiker zu werden, benötigt er spezifische Starqualitäten. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, auf die es bei Fernsehauftritten ankommt: Als Starpolitiker gelten im Unterschied zu ihren gleich kompetenten Kollegen ohne Starimage Fernsehprofis, die auch eine Talkshow leiten könnten. Sie argumentieren geschickter. Sie erscheinen unterhaltsamer, origineller, witziger und schlagfertiger. Zwar gelten Starpolitiker als Schlitzohren, auch erscheinen sie weniger vertrauenswürdig und eher rücksichtslos. Im Unterschied zu ihren weniger publikumswirksamen Kollegen sind sie jedoch Siegertypen (vgl. Abbildung 2). Die Unterschiede in der Wahrnehmung von Politikern mit verschiedenem Starstatus deuten an, was einen Politiker bei gegebener Problemlösungskompetenz zum Star macht: Wichtig, wenn nicht entscheidend, ist seine Fähigkeit zur Selbstdarstellung im Fernsehen. Dies legt die Folgerung nahe, dass man nach der Unterscheidung zwischen Problemlösungskompetenz und Starqualität eine weitere Unterscheidung treffen muss die Unterscheidung zwischen Problemlösungskompetenz und Fernsehperformanz. Fernsehperformanz ist eine wichtige Voraussetzung für einen Starpolitiker und zwar vor allem dann, wenn er seinen Starstatus nicht wie z. B. Kohl wenige Jahre nach der Wiedervereinigung vor allem herausragenden politischen Verdiensten verdankt. Damit kann man hypothetisch folgende Wirkungskette annehmen: Fernsehperformanz ist eine Voraussetzung für Starstatus, Starstatus ist eine Ursache von Kompetenzvermutungen. Dies gilt generell, trifft jedoch auf Politiker ohne herausragendes Amt noch stärker zu.
150
Abbildung 2:
Eigenschaften von Politikern mit ähnlicher Problemlösungskompetenz und unterschiedlichem Starstatus
ist ein Fernsehprofi* ist unterhaltsam* ist originell* ist schlagfertig* ist ein Schlitzohr* könnte eine Talkshow leiten*
ist witzig* ist ein Siegertyp* argumentiert geschickt* wirkt unsicher ist vertrauenswürdig ist rücksichtslos ist nachdenklich kann es m. Journalisten ist unbeherrscht kann zuhören wirkt optimistisch wirkt offen ist weitschweifig sagt oft, was ich denke wirkt sympathisch Trifft voll und ganz zu
Trifft überhaupt nicht zu Hoher Starstatus (Fischer, Gysi, Lambsdorff) Niedriger Starstatus (Herzog, Schäuble, Bisky)
* Bei diesen Eigenschaften unterscheiden sich die Einschätzungen der Politiker mit ähnlicher Problemlösungskompetenz aber unterschiedlicher Starqualität signifikant voneinander (t-Test für unabhängige Stichproben, p< .05).
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Zusammenfassung und Folgerungen 1) Der Starstatus eines Politikers beruht auf seiner Wahrnehmung als Star durch die Bevölkerung er ist mit ihr identisch. Ein Starpolitiker ist nur, wer als Starpolitiker wahrgenommen wird. Die bei weitem wichtigste Plattform hierfür ist in den modernen Gesellschaften das Fernsehen. Wer dort nicht hinreichend präsent ist, kann kein Starpolitiker werden. 2) Wichtigste Voraussetzung für eine Karriere zum Starpolitiker sind Persönlichkeitseigenschaften, die man für erfolgreiche Auftritte in der Öffentlichkeit benötigt. Diese Eigenschaften sind nicht mit den Persönlichkeitseigenschaften identisch, die man zur Lösung von politischen Sachfragen braucht. Allerdings schließen sich die erwähnten Eigenschaften auch nicht aus. 3) Die Einschätzung der Problemlösungsfähigkeit eines Politikers seiner Kompetenz und seines Starstatus beeinflussen sich wechselseitig: Wer als Star eingeschätzt wird, dem wird in der Regel auch hohe Problemlösungskompetenz zugesprochen. Darin besteht der Transfereffekt des Starstatus. Eine Karriere als Starpolitiker ist ein wirksames Mittel, um den Anspruch auf Problemlösungskompetenz glaubhaft zu machen. Für Politiker, die ein Amt mit Entscheidungsbefugnis innehaben, stellt es ein funktionales Äquivalent für reale Problemlösungen dar. 4) Der Eindruck von Problemlösungskompetenz, der auf dem Starstatus eines Politikers ohne Amt beruht, leidet nicht unter unvermeidlichen Fehlschlägen, die jedes Amt mit sich bringt. Deshalb wirkt sich das funktionale Äquivalent, der Starstatus, oft effektiver auf das Ansehen eines Politikers aus als das Original, sein Entscheidungshandeln. Dies ist ein Grund, weshalb Starpolitiker ohne Amt häufiger für kompetent gehalten werden als Politiker mit Ämtern. Es ist zudem ein Grund dafür, dass Politikern, nachdem sie ein Amt übernommen haben, jene Kompetenzen abgesprochen werden, die ihnen vorher aufgrund ihres Starstatus zugebilligt wurden. Zusammenfassend kann man feststellen: Starpolitiker und den darauf beruhenden Transfereffekt des Starstatus hat es vermutlich immer gegeben. Aber der Weg zum Starpolitiker hat sich grundlegend geändert. Waren es früher vor allem militärische Erfolge, öffentliche Reden und demonstrativer Luxus, ist es heute Fernsehpräsenz. Dadurch ist das Fernsehen in eine Schlüsselstellung auf dem Weg zur Macht gerückt. Allerdings hat ein Element seine Bedeutung erhalten die Lust der Politiker an der öffentlichen Selbstdarstellung. Zweifellos muss auch heute ein Politiker kein Star sein, um ein führendes Amt zu übernehmen. Der frühere Bundeskanzler Kohl und der frühere Bundespräsident Herzog sind Beispiele hierfür. Andererseits ist Starstatus als Voraussetzung für die Übernahme eines politischen Amtes heute bedeutsamer als früher. Dies führt zur ersten These zurück und mündet in die Frage, ob wir uns bei der Auswahl des politischen
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Führungspersonals in hinreichendem Maße an jenen Erfolgskriterien orientieren, denen die gewählten Amtsträger in der praktischen Politik gerecht werden müssen.
1 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans Bernd Brosius / Stefan Dahlem: Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt. Theoretische Modelle und empirische Analysen. München 1994, S. 11-25, 117-150; Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Freiburg i. Br. 2005, S. 112-118, 142-149. 2 Dies gilt für die Prominenz von Politikern nicht. Auf die Frage, wer prominent sei, werden von Politikern fast nur Amtsinhaber genannt. Daraus kann man folgern, dass Prominenz und Starstatus von Politikern in den Augen der Bevölkerung zwei verschiedene Dinge sind. Vgl. hierzu Birgit Peters: Öffentlichkeitselite Bedingungen und Bedeutung von Prominenz. In: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Opladen 1994, S. 191-213, dort S. 201 f. 3 Vgl. Klaus Berg / Marie-Luise Kiefer (Hrsg.): Massenkommunikation IV. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964-1990. Baden-Baden 1992, S. 340-342. 4 Vgl. hierzu den Beitrag Wie das Fernsehen Wahlen beeinflusst in diesem Band, dort Tabelle 1. 5 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Stefan Dahlem, a. a. O., S. 69-80; Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer, a. a. O., S. 150-153.
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Das öffentliche Erscheinungsbild der Politiker
Der persönliche Einfluss von Politikern beruht vor allem auf erfolgreicher Kommunikation. Dies gilt für ihre Stellung innerhalb des eigenen Lagers, im Verhältnis zum politischen Gegner sowie zu den Schlüsselfiguren in Staat und Gesellschaft. Diese Kommunikation findet z. T. öffentlich und z. T. nichtöffentlich statt. Für den Typus des Starpolitikers ist die öffentliche Kommunikation, für den Typus des Gremienpolitikers die nichtöffentliche Kommunikation wichtiger. Beide benötigen Resonanz, weil ohne Resonanz ihr Engagement ergebnislos verhallt. Die Kommunikation von Politikern schließt die Kommunikation über Politiker ein. Sie sind notwendigerweise zugleich Subjekt und Objekt von Kommunikation. An der öffentlichen Kommunikation über Politiker nehmen die Politiker selbst, die Vertreter der organisierten Interessen, Sprecher informeller Gruppen, einzelne Bürger sowie Journalisten teil. Einige Journalisten agieren in zwei Rollen, die unterschiedliche Verhaltensweisen verlangen als engagierte Teilnehmer mit materiellen oder immateriellen Eigeninteressen sowie als distanzierte Beobachter und Berichterstatter mit beruflichen Verpflichtungen. Beide Rollen überschneiden sich gelegentlich, ohne dass die Leser, Hörer und Zuschauer diesen Sachverhalt erkennen und seine Auswirkungen auf die Berichterstattung einschätzen können. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das politische Engagement von Journalisten auf die Auswahl der Nachrichten über das aktuelle Geschehen auswirkt. Ein Großteil der politischen Kommunikation besteht aus publizistischen Konflikten, öffentlichen Krisen und Skandalen. In allen drei Fällen ist die Kommunikation sowohl auf die Kontrahenten als auch auf die Medien und das Publikum gerichtet. Dies unterscheidet sie von privaten Auseinandersetzungen. Der Erfolg in solchen Auseinandersetzungen beruht unter Umständen mehr darauf, dass das Verhalten mediengerecht als sachgerecht ist, wobei der Begriff sachgerecht das Verhältnis zum eigentlichen Konfliktgegenstand bezeichnet. Die Notwendigkeit zu einem eher medien- als sachgerechten Verhalten hat Rückwirkungen auf die Lösung der Probleme, um die es inhaltlich geht: Publizistische Konflikte werden gelegentlich auf Kosten der Konfliktgegenstände entschieden, die weiter ungelöst bleiben. Die Folge sind Scheinlösungen, die engagierte Medien
befriedigen und die Öffentlichkeit beruhigen, die eigentlichen Probleme jedoch unberührt lassen oder dysfunktionale Folgen haben. Die Teilnehmer an öffentlicher Auseinandersetzungen haben die Wahl zwischen zwei Strategien: Sie können sich entweder auf die handelnden Personen oder auf die von ihnen vertretenen Sachfragen konzentrieren. Die meisten politischen Sachfragen sind so kompliziert, dass nur Experten die Einzelheiten überblicken können. In dieser Situation stellt die Personalisierung von Auseinandersetzungen eine Möglichkeit zur Reduzierung der Komplexität dar, weil sich ein Laie eher ein Urteil über die beteiligten Personen bilden kann. Aus Sicht der Laien ist ein Urteil über die Personen eine vernünftige Alternative zu einem Urteil über Sachverhalte, die er noch weniger beurteilen kann. Daran ändern auch Appelle, man solle sich über politische Sachverhalte informieren, nichts. Wer daran zweifelt, sollte sich fragen, was er wirklich über die Details der Rentenversicherung und des Embryonenschutzes weiß. Die meisten Menschen besitzen keine Detailkenntnis und könnten sie sich unter vertretbarem Aufwand auch nicht aneignen. Daraus folgt, dass die Personalisierung von Sachfragen umso wichtiger wird, je mehr Menschen es gibt, die sich nur nebenbei für Politik interessieren. Das zumeist nur oberflächliche Interesse für Politik breitete sich vor allem in den sechziger und siebziger Jahren aus. Einen erheblichen Einfluss darauf besaß neben anderen Faktoren die Verbreitung des Fernsehens. Erst das Fernsehen konfrontierte jene Teile der Bevölkerung, die sich nicht näher für Politik interessierten, nebenbei mit Politik und schuf dadurch die Grundlage für ein zumindest oberflächliches Interesse. Dies veränderte den Charakter der politischen Kommunikation grundlegend. Eine Folge ist die Visualisierung des politischen Geschehens, die die Bedeutung des Aussehens, der Sprechweise und des nonverbalen Verhaltens von Politikern vergrößerte.1 Die Notwendigkeit zur Personalisierung als Folge des wachsenden Interesses der Uninteressierten wurde durch den Zerfall traditioneller Wertbindungen verstärkt. Während früher die soziale Herkunft Konfessions-, Schicht- und Berufszugehörigkeit usw. einen erheblichen Einfluss auf die Einstellungen und Meinungen besaß und auch die Wahlentscheidungen wesentlich prägte, ist die Bindewirkung dieser Faktoren heute erheblich geringer. Bei den Wahlergebnissen zeigt sich dies in der Erosion der traditionellen Hochburgen der Parteien, in denen die alten Favoriten verlieren und die ehemals chancenlosen Konkurrenten aufholen. Bei der CDU/CSU betrifft dies die katholischen Landgemeinden, bei der SPD die industriellen Großstädte. Der Zerfall der traditionellen Wertbindungen setzte die Meinungen zu aktuellen Fragen frei und ließ sie als Manövriermasse für politisch-publizistische Aktivitäten zurück. Für die Politiker verstärkt dies die Notwendigkeit, politisch weniger interessierte Bürger zu ge-
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winnen, die früher aufgrund ihrer sozialen Herkunft eine kalkulierbare Meinung vertraten, nun jedoch als unsichere Kantonisten gelten müssen. Für die Journalisten erhöht es dagegen die Chance, die politische Orientierung eines wachsenden Teils der Bevölkerung durch die Präsentation von Fakten und Meinungen zur aktuellen Lage in die eine oder andere Richtung zu lenken. Die folgenden Analysen beschäftigen sich mit der Darstellung von deutschen Politikern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und in der Welt von 1951 bis 1995. Erfasst wurden wertende Aussagen über 24 spezifische Aspekte bzw. Eigenschaften von Politikern, außerdem fünf verallgemeinernde Urteile. Die Tendenz der wertenden Aussagen wurde mit fünfstufigen Schätzskalen erfasst, deren Enden mit eindeutig positiv und eindeutig negativ beschriftet waren. Die beiden positiven und negativen Skalenstufen werden für die folgende Analyse zusammengefasst und den ambivalenten Aussagen gegenübergestellt. Die untersuchten Blätter veröffentlichten insgesamt 21.203 wertende Aussagen über deutsche Politiker. Sie vermittelten dadurch alles in allem ein verheerendes Bild von der politischen Führungselite: Mehr als zwei Drittel der Wertungen (69 %) waren negativ, ein gutes Viertel (26 %) war positiv, der Rest (5 %) ambivalent, d.h. die Wertungen enthielten sowohl positive als auch negative Elemente. Die wertenden Aussagen über Bundes- und Landespolitiker sowie über Politiker verschiedener Parteien unterschieden sich kaum. Allerdings schnitten die Politiker der Grünen noch etwas schlechter ab als die übrigen Parteien, was auf die Kritik an ihrem Verhältnis zur Gewalt und zum Sexualstrafrecht vor allem in den achtziger Jahren zurückzuführen ist. Die spezifischen Aussagen über verschiedene Aspekte und Eigenschaften von Politikern kann man unter sachlichen Gesichtspunkten zu fünf Komplexen zusammenfassen. Hierbei handelt es sich um die Problemlösungsfähigkeit der Politiker, ihre Persönlichkeit,2 die Vertretung von Eigeninteressen, ihre Gemeinwohlorientierung sowie die Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess. Im Mittelpunkt der Bewertung von deutschen Politikern stand ihre Problemlösungsfähigkeit. Ähnlich häufig wurde ihre Persönlichkeit bewertet. Vergleichsweise selten erschienen Aussagen über die Vertretung von Eigeninteressen, ihre Orientierung am Gemeinwohl sowie über die Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess. Alle fünf Komplexe wurden eindeutig negativ charakterisiert. Das vergleichsweise günstigste Bild vermittelten die Aussagen über ihre Problemlösungsfähigkeit und über ihre Persönlichkeit. Auch hier waren jedoch zwei Drittel der Urteile negativ (65 % bzw. 67 %). Noch negativer waren die wertenden Aussagen über ihre Orientierung am Gemeinwohl (71 %), über ihre Bereitschaft, Bürger am Entscheidungsprozess zu beteiligen (81 %), sowie erwartungsgemäß über die Vertretung von Eigeninteressen (89 %). Angesichts des eindeutig
157
negativen Tenors der Urteile über alle fünf Komplexe war die Gewichtung der Urteile bedeutsamer als ihre Tendenz: Weil alle Eigenschaften und Aspekte überwiegend negativ charakterisiert wurden, kam es vor allem darauf an, welche von ihnen häufig thematisiert wurden. Die Tendenz der Politikerdarstellung wurde von Beginn der fünfziger bis Mitte der neunziger Jahre deutlich schlechter: Der Anteil negativer Aussagen war am Ende des Untersuchungszeitraumes sieben Prozent größer als am Anfang (76 % vs. 69 %). Dazwischen lag eine Periode mit einem noch größeren Anteil negativer Wertungen die Zeit des Umbruchs von der sozial-liberalen zur konservativ-liberalen Regierung Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Obwohl auch der Anteil der negativen Aussagen an allen wertenden Aussagen im Laufe der Zeit zunahm, wurde das publizistische Erscheinungsbild der Politiker besonders durch die Häufung von wertenden Aussagen geprägt: Mitte der neunziger Jahre publizierten die drei Blätter etwa zweieinhalbmal soviel wertende Aussagen wie zu Beginn der fünfziger Jahre. Zwischenzeitlich lag ihre Zahl allerdings noch höher. Als Folge dieser Häufung wertender Aussagen über deutsche Politiker wurde ihr publizistisches Erscheinungsbild per saldo immer negativer: Zu Beginn der fünfziger Jahre betrug der Saldo aus negativen und positiven Aussagen 285, Mitte der neunziger Jahre nach dem Höhepunkt der Welle war er mit 937 gut dreimal so groß (Abbildung 1). Die zentralen Aspekte der Persönlichkeit von Politikern im Sinne dieser Studie sind Glaubwürdigkeit, Rechtstreue, Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, Prinzipientreue (Opportunismus) sowie Überzeugungskraft. Hier ging es um die ethischen Aspekte, die Wahrhaftigkeit von Politikern. Sie wurde seit Mitte der sechziger Jahre zunehmend in Frage gestellt bzw. dezidiert bestritten. Die Politiker erschienen immer eindeutiger als Personen, die aus den verschiedensten Gründen kein Vertrauen verdienen. Ihren Höhepunkt hatte diese Entwicklung beim Umbruch von der sozial-liberalen zur konservativ-liberalen Koalition, der sich damit immer eindeutiger als ein Wendepunkt der politischen Kommunikation herausstellt. Zugleich wird deutlich, dass dieser Trend dem Vertrauensverlust der Politiker in der Bevölkerung um Jahre vorauslief.3 Während 1977 nur 34 Prozent der Westdeutschen der These zustimmten: Ich habe schon zu oft erlebt, dass führende Politiker nicht die Wahrheit sagen. Deshalb habe ich auch kein Vertrauen zu ihnen und verlasse mich nicht auf das, was sie sagen, waren 1992 im Durchschnitt 53 Prozent dieser Meinung4 (Abbildung 2). Der Vertrauensverlust der Politiker manifestierte sich auch in vergleichenden Urteilen über Politiker und Journalisten. Dies belegen die Antworten auf folgende Alternativ-Frage aus dem Jahr 1994: Wenn ein Politiker und ein Journalist zu einer bestimmten Frage ganz verschiedener Ansicht sind: Bei wem hätten
158
Abbildung 1:
Tendenz der wertenden Aussagen über deutsche Politiker
Anzahl der Aussagen 2500
2000
1910
1500 1256 1000 801 500
492
319 207
0
412
16
283
174
80
20
1951-53 1957-59 1963-65 1969-71 1975-77 1981-83 1987-89 1993-95
positiv (n=5.508),
ambivalent (n=1.127),
negativ
Basis: Wertende Aussagen über deutsche Politiker in der Deutschlandberichterstattung (n=21.219)* *15 fehlende Werte
Sie dann mehr Vertrauen, dass das, was er sagt, richtig ist, wem würden Sie eher glauben, dem Politiker oder dem Journalisten? Dem Journalisten hätte zwar nur jeder vierte vertraut. Der Politiker wäre jedoch auf noch mehr Reserve getroffen. Ihm hätte nur jeder zehnte vertraut. Der Vertrauensverfall gegenüber den Politikern verschaffte damit zwar den Journalisten einen Vertrauensvorschuss, hinterließ aber vor allem Misstrauen: Nahezu jeder zweite (46 %) hätte keinem von beiden vertraut.5 Die zentralen Aspekte der Problemlösungsfähigkeit im Sinne dieser Studie sind Kompromiss- und Entschlussfähigkeit, die Fähigkeit zu Reformen sowie Führungsstärke und Sachkompetenz. Auch sie wurden seit Mitte der sechziger Jahre zunehmend in Frage bzw. dezidiert in Abrede gestellt. Die Politiker wurden immer eindeutiger als Versager präsentiert, unfähig zur Lösung der anstehenden Probleme. Hieran änderte auch der Regierungswechsel nichts, so dass die Problemlösungsfähigkeit der Politiker seit Anfang der siebziger Jahre in einem ver-
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Abbildung 2:
Darstellung und Wahrnehmung der Persönlichkeit von deutschen Politikern
Frage: Hier unterhalten sich zwei über führende Politiker. Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken? Saldo aus negativen und positiven Aussa0
-69
0% -60
-100
10%
-200
20% -254
-300
30% 34%
-400
40%
39%
-500
50% 50%
-520 53% 56% 60% -600 1951-53 1957-59 1963-65 1969-71 1975-77 1981-83 1987-89 1993-95 Tendenz der Berichterstattung über die Persönlichkeit von Politikern. Saldo aus negativen und positiven Aussagen (n=7.429). Bevölkerungsmeinung* Es stimmten der Aussage zu: Ich habe schon oft erlebt, dass führende Politiker nicht die Wahrheit sagen. Deshalb habe ich auch kein Vertrauen zu ihnen und verlasse mich nicht auf das, was sie sagen. *Bei mehr als einer Befragung in einer Periode wurde für die Balkendarstellung der Mittelwert berechnet. Ab 1990 alle Angaben nur für Westdeutschland. Quelle: Allensbacher Archiv: IfD-Umfragen: 3048, 4006, 4036, 5064, 5074, 6009.
heerenden Licht erscheint. Die Vorstellungen der Bevölkerung von der Fähigkeit der Bundestagsabgeordneten wurden seit 1951 mehrfach mit folgender Frage ermittelt: Glauben Sie, man muss große Fähigkeiten haben, um Bundestagsabgeordneter in Bonn zu werden? Zwar liegen aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik nur wenige Erhebungen vor, sie belegen jedoch, dass der Respekt vor
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den Fähigkeiten der Bundestagsabgeordneten bis 1972 zunahm. Seither verfiel er drastisch: Der Anteil derer, die von den Fähigkeiten der Bundestagsabgeordneten überzeugt waren, ging bis 1992 von 63 Prozent auf 37 Prozent zurück, der Anteil derjenigen, die an der Fähigkeit der Bundestagsabgeordneten zweifelten, nahm im gleichen Zeitraum von 23 Prozent auf 48 Prozent zu.6 Auch hier lief die Welle der Negativ-Aussagen über Politiker den negativen Meinungen der Bevölkerung voraus. Deshalb deuten die Daten darauf hin, dass die negativeren Ansichten der Bevölkerung nicht nur eine Reaktion auf die Darstellung der Probleme Deutschlands, sondern auch eine Folge der expliziten Bewertung der Problemlösungskompetenz der deutschen Politiker war. Abbildung 3 zeigt die Darstellung und Wahrnehmung der Problemlösungskompetenz der deutschen Politiker. Der Saldo wertender Aussagen über die anderen Eigenschaften von Politikern nahm weniger dramatisch zu. Dennoch verdienen die Urteile über zwei weitere Aspekte besondere Beachtung, weil hierzu vergleichbare Umfrageergebnisse vorliegen. Bei den beiden Aspekten handelt es sich um die Gemeinwohlorientierung der Politiker sowie um ihre Vertretung von Eigeninteressen. Die wertenden Aussagen über diese beide Aspekte werden, damit sie mit den Befragungen vergleichbar sind, zusammengefasst und der Einfachheit halber als Interessenvertretung bezeichnet. Seit den frühen sechziger Jahren stieg die Zahl der negativen Aussagen über die Interessenvertretung durch deutsche Politiker nahezu kontinuierlich an. Nur nach der Wende am Beginn der achtziger Jahre hellte sich das Negativ-Bild kurzzeitig auf, um danach noch negativer zu werden. Die Ansichten der Bevölkerung zur Interessenvertretung der Politiker wurde seit 1951 mehrfach mit folgender Frage ermittelt: Glauben Sie, dass die Abgeordneten in Bonn in erster Linie die Interessen der Bevölkerung vertreten, oder haben sie andere Interessen, die ihnen wichtiger sind? Noch 1978 meinten 55 Prozent, die Politiker würden die Interessen der Bevölkerung vertreten, nur 22 Prozent waren der Meinung, andere Interessen vorwiegend ihre eigenen seien ihnen wichtiger. Bis 1992 hatten sich diese Mehrheitsverhältnisse umgekehrt: Nun meinten 48 Prozent, die Politiker würden andere Interessen vertreten. Dagegen waren nur noch 34 Prozent der Überzeugung, sie würden sich in erster Linie für die Interessen der Bevölkerung einsetzen.7 Der Vergleich der wertenden Aussagen über die Interessenvertretung durch Politiker und der entsprechenden Bevölkerungsmeinungen deutet ebenfalls auf einen Einfluss wertender Aussagen auf die Vorstellungen. Allerdings sind hier die Beziehungen aus zwei Gründen weniger klar. Zum einen änderte sich die wertende Darstellung der Interessenvertretung nicht so dramatisch wie die Charakterisierung der zuvor behandelten Aspekte. Zum anderen wurde der Saldo der Aussagen durch Politiker bereits seit Ende der fünfziger Jahre etwas negativer.
161
Abbildung 3:
Darstellung und Wahrnehmung der Problemlösungsfähigkeit von deutschen Politikern
Frage: Glauben Sie, man muss große Fähigkeiten haben, um Bundestagsabgeordneter in Bonn zu werden? Saldo aus negativen und positiven Aussa0
0% -60
-50
10%
-98 -100 -150
20% 22%
-200 -250 33% -300
23% 30%
28% 33%
32% 40%
39%
40%
-350 50% -400
-382
52% -387 60%
-450 1951-53 1957-59 1963-65 1969-71 1975-77
1981-83 1987-89 1993-95
Tendenz der Berichterstattung über die Problemlösungsfähigkeit von Politikern. Saldo aus negativen und positiven Aussagen (n=8.779). Bevölkerungsmeinung* Es glaubten, dass man keine großen Fähigkeiten haben muss, um Bundestagsabgeordneter in Bonn zu werden. *Bei mehr als einer Befragung in einer Periode wurde für die Balkendarstellung der Mittelwert berechnet. Ab 1990 alle Angaben nur für Westdeutschland. Quelle: Allensbacher Archiv: IfD-Umfragen: 061, 083, 1010, 1031, 1059,1093, 2085, 3056, 4087/II, 5053, 5074.
Gleichzeitig breitete sich in der Bevölkerung noch die Ansicht aus, die Politiker würden sich vorrangig am Gemeinwohl orientieren. Die Zweifel an der Interessenvertretung durch Politiker verbreiteten sich in der Bevölkerung soweit man aufgrund der verfügbaren Umfragen sehen kann erst zu Beginn der siebziger Jahre. Diesen späten Meinungsumschwung kann man als Beleg für eine autonome Entwicklung betrachten, jedoch auch als verzögerte Reaktion ansehen. Sie 162
könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Trendwende der Darstellung der Interessenwahrnehmung nicht markant war und folglich lange benötigte, um sich in den Ansichten der Bevölkerung niederzuschlagen (Abbildung 4). Abbildung 4:
Darstellung und Wahrnehmung der Interessenvertretung durch deutsche Politiker
Frage: Glauben Sie, dass die Abgeordneten in Bonn in erster Linie die Interessen der Bevölkerung vertreten, oder haben sie andere Interessen, die ihnen wichtiger sind? Saldo aus negativen und positiven Aussagen
0
0% -7 -21
-20
10%
-40 20% -60
22%
26% -80 35% 37%
33%
30%
30% 40%
-100 43% 44% 43% -120 49%
50%
-127 60% -140 1951-53 1957-59 1963-65 1969-71 1975-77 1981-83 1987-89 1993-95 Tendenz der Berichterstattung über das Eigeninteresse und die Gemeinwohlorientierung von Politikern. Saldo aus negativen und positiven Aussagen (n=3.008). Bevölkerungsmeinung* Es glaubten, es gibt andere Interessen, die ihnen wichtiger sind, und zwar: persönliche Interessen, Interessen der Partei, anderes. *Bei mehr als einer Befragung in einer Periode wurde für die Balkendarstellung der Mittelwert berechnet. Ab 1990 alle Angaben nur für Westdeutschland. Quelle: Allensbacher Archiv: IfD-Umfragen: 040, 050, 061, 073, 083,095, 1010, 1020,1096, 2123, 2096, 3061, 4006, 4050, 4096/II, 5055, 5074.
163
Negative Aussagen über Politiker können einzelne Fehler und Verfehlungen betreffen, ohne dass diesen Sachverhalten eine darüber hinausgehende Bedeutung zugesprochen wird. Sie werden folglich als Einzelfälle behandelt. Negative Aussagen können die kritisierten Sachverhalte jedoch auch generalisieren: Ein Fehler oder eine Verfehlung können in einer Reihe ähnlicher Verhaltensweisen gestellt (Wiederholungsfall), als Teil einer nicht endenden Serie von ähnlichen Geschehnissen präsentiert (Regelfall) sowie als Beleg für einen generellen Sachverhalt benutzt werden (Verallgemeinerung). Die Darstellung der Fehler und Verfehlungen von Politikern geht in solchen Fällen über eine Einzelfallkritik weit hinaus. Sie zielt auf die politische Klasse und damit auch auf das politische System. Dabei spielt es unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung keine Rolle, ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht. Für die folgende Analyse werden negative Aussagen über einzelne Fehler und Verfehlungen von Politikern ihrer Interpretation als Wiederholungs- und Regelfall bzw. ihrer Verallgemeinerung gegenübergestellt. Letzteres wird der Einfachheit halber generell als Verallgemeinerung bezeichnet. Alle negativen Aussagen, die nicht über den Einzelfall hinausweisen, werden auch dann wie eine Einzelfallkritik behandelt, wenn sie nicht ausdrücklich darauf beschränkt waren. Die bisherige Darstellung mag den Eindruck hervorrufen, dass vor allem Journalisten die Urheber der negativen Aussagen über Politiker waren. Dies ist jedoch falsch. Die Urheber von negativen Aussagen über Politiker waren mehrheitlich Politiker (7.947 Aussagen). Erst an zweiter Stelle folgten mit deutlichem Abstand Journalisten (4.487 Aussagen). Vertreter gesellschaftlicher Einrichtungen wie Unternehmen, Kirchen, Interessenverbände usw. sowie einzelne Bürger und Angehörige von Aktionsgruppen kamen dagegen mit kritischen Äußerungen über Politiker kaum zu Wort (1.130 Aussagen). An diesem extremen Ungleichgewicht änderte sich im Laufe der Jahrzehnte nahezu nichts. Das immer negativere Erscheinungsbild der deutschen Politiker war demnach nicht primär eine Folge der wachsenden Kritik aus der Gesellschaft. Es resultierte vielmehr aus dem Umgangston unter Politikern sowie den schwierigen Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten. Die Zahl der negativen Aussagen von Politikern über Politiker nahm mit dem Machtwechsel in Bonn Ende der sechziger Jahre erheblich zu, erreichte beim Machtwechsel Anfang der achtziger Jahre ihren Höhepunkt und ging danach deutlich zurück. Dies deutet darauf hin, dass die Welle von negativen Politikeraussagen vor allem eine Folge der aktuellen politischen Auseinandersetzungen war. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Kontroversen um die neue Ostpolitik, über den Terrorismus, um die Kernenergie und die NATO-Nachrüstung. Als die Auseinandersetzungen härter und die wechselseitigen Vorwürfe häufiger wurden, stieg
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die Zahl negativer Politikeraussagen auch in der Berichterstattung an. Als sich die Wogen wieder geglättet hatten, ging sie wieder zurück. Im Unterschied hierzu nahm die Kritik von Journalisten an Politikern weitgehend unabhängig von der politischen Entwicklung fast stetig zu. Dieser Trend lässt sich folglich nicht in gleicher Weise durch die aktuelle Entwicklung erklären. Daraus kann man folgern, dass die zunehmende Kritik der Journalisten aber durch medieninterne Faktoren hervorgerufen wurde. Hierzu gehört auch der erwähnte Wandel des Berufsverständnisses von Journalisten sowie ihres Politikerbildes (Abbildung 5). Abbildung 5:
Urheber negativer Aussagen über deutsche Politiker
Anzahl negativer Aussagen 1400
1200 1149 1000
800 606
557
600
538 400 244 200
0
173 27 1951-53
155
205
77
123
1957-59
1963-65
1969-71
1975-77
1981-83
1987-89
1993-95
Deutsche Politiker (n=7.947); Journalisten (n=4.487) Gesellschaftliche Einrichtungen, Aktionsgruppen, Einzelne (n=1.130) Basis: Negative Aussagen in der Deutschlandberichterstattung (n=14.569)* *Nicht ausgewiesen sind staatliche Einrichtungen (n=163), ausländische Akteure (n=450), Medien (n=99) sowie Sonstige (n=293).
Neben der themenbedingten Verschärfung der politischen Kontroversen trugen zwei weitere Ursachen zum Anschwellen der negativen Aussagen von Politikern über Politiker bei. Der erste Grund war die stärkere publizistische Beach165
tung der Kritik von Politikern. Weil Journalisten selbst häufiger Kritik an Politikern übten, schenkten sie auch häufiger der Kritik von Politikern an Politikern mehr Beachtung. Der zweite, wichtigere Grund war die Interessenlage der Politiker. Sie stehen wie alle Teilnehmer an öffentlichen Auseinandersetzungen vor der Wahl, die Vorteile der von ihnen vertretenen Sache oder die Nachteile der abgelehnten Alternative hervorzuheben. Scheinbar handelt es sich hierbei nur um zwei Seiten einer Medaille: Die positive Darstellung der bevorzugten Position entspricht der negativen Darstellung ihrer Alternative. In Wirklichkeit besitzen negative Aussagen aus mehreren Gründen jedoch eine größere Publizitäts-Chance und ein höheres Wirkungspotential. Negative Informationen finden erstens generell mehr Aufmerksamkeit als positive Informationen, weil sie eine Warnfunktion ausüben. Hierbei handelt es sich vermutlich um eine entwicklungsgeschichtlich verankerte Reaktion: Für das Überleben ist es wichtiger, einen bedrohlichen Feind zu entdecken als eine willkommene Beute zu erspähen. Negative Informationen besitzen zweitens einen höheren Nachrichtenwert als vergleichbare positive Informationen, weil sie mehr Interesse wecken. Deshalb wird z. B. die Kritik an Missständen eher berichtet als ihre berechtigte Relativierung. Negative Informationen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, werden drittens weniger selektiv genutzt als positive Informationen, weil sie wichtig erscheinen: Die Anhänger eines Kandidaten vermeiden zwar positive Artikel über seinen Konkurrenten, lesen aber durchaus negative Beiträge über ihn selbst.8 Negative Informationen werden viertens besser erinnert als positive und setzen sich zudem langfristig in Konkurrenz zu ihnen durch: Aus Serien von gleichgewichtigen Botschaften bleiben nach einiger Zeit eher die negativen als die positiven im Gedächtnis. In Konflikten sind fünftens negative Informationen über die Kontrahenten glaubhafter als positive Informationen über die eigene Seite, weil sie nicht im Verdacht stehen, die Sachverhalte zu beschönigen. Negative Informationen wirken sich sechstens stärker auf Entscheidungen aus als positive, weil fast alle Menschen eine tiefsitzende Schadens-Aversion haben: Vor die Wahl gestellt, Chancen zu nutzen oder Risiken zu vermeiden, entscheiden sich die meisten Menschen für die zweite Alternative. Dies ist ein Grund dafür, dass z. B. die meisten Wähler so lange bei bewährten Entscheidungen bleiben, bis ihnen die Konsequenzen als völlig inakzeptabel erscheinen. Die meisten Politiker werden die genauen Ursachen der publizistischen Vorteile von Negativ-Informationen kaum kennen. Der Sachverhalt selbst ist ihnen jedoch aufgrund von jahrelangen Erfahrungen bestens vertraut. So legte der damalige Bundesgeschäftsführer der FDP, Günther Verheugen, in der Zeit 1977 folgende Rangliste für Presseerfolge von Politikern vor: 1) Kritik an der eigenen
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Partei: gewaltiges Interesse der Journalisten; 2) Kritik am Koalitionspartner: starkes Interesse; 3) Wohlwollen für den politischen Gegner: Interesse; 4) Wohlwollen für den Koalitionspartner, Kritik am politischen Gegner: laues Interesse; 5) Positive Mitteilungen über die eigene Partei: Desinteresse.9 Der bekannte Nachrichtenwert negativer Äußerungen und ihre besonderen Wirkungschancen motivierten im Laufe der Zeit immer mehr Politiker zu negativen Äußerungen über ihre Kollegen. Dies schlug sich nicht zuletzt in solchen Äußerungen nieder, die, wie Günther Verheugen richtig feststellte, einen besonders hohen Nachrichtenwert besitzen: Kritik an der eigenen Partei. Sie nahm nahezu stetig zu, was erneut darauf hindeutet, dass ihre Ursachen weniger in der aktuellen Situation als in den Handlungsbedingungen des Mediensystems lagen. Ihre Ursache war weniger die Zunahme aktueller Anlässe, die eine Kritik an der eigenen Partei notwendig gemacht hätten, als vielmehr die langsam wachsende Bereitschaft, den Nachrichtenwert der Kritik am eigenen Lager in Publizität umzusetzen. Als Konsequenz dieser systembedingten Entwicklung übertraf die Zahl der negativen Politiker-Aussagen über die eigene Partei in den neunziger Jahren die Zahl der negativen Stellungnahmen über den politischen Gegner. Dieser Trend dürfte sich wegen seiner spezifischen Ursachen in Zukunft fortsetzen, auch wenn er zeitweise unterbrochen wird (Abbildung 6). Folgerungen Publizität stellt für Politiker eine Prämie dar, die die Wahrscheinlichkeit vergrößert, dass sie Äußerungen machen, die öffentliche Aufmerksamkeit finden. Die Kritik an Politikern, die Darstellung dieser Kritik in den Medien und die dadurch zusätzlich stimulierte Kritik bilden ein rückgekoppeltes System, das sich selbst wechselseitig aufschaukelt. Zweifellos profilierten sich auch schonfrüher Politiker durch Attacken auf ihre eigenen Parteifreunde. Erst seit den sechziger und siebziger Jahren besitzen die Medien jedoch eine so große Bedeutung für die politische Kommunikation, dass die mediale Attacke und die damit verbundene mediale Präsenz zu einer echten Alternative für Erfolge innerhalb des politischen Systems wurden. Aus der Sicht der einzelnen Politiker ist auch eine unbegründete oder überzogene Kritik am politischen Gegner und an politischen Freunden rational: Sie erhöht die eigene publizistische Präsenz und vergrößert seine Bekanntheit in der Bevölkerung, sie fördert seine Bedeutung und stärkt solange er den Bogen nicht überspannt auch seine Stellung innerhalb des eigenen Lagers. Aus der Sicht eines externen Beobachters ist eine solche Kritik dagegen alles andere als rational: Sie vermindert das Ansehen der Politiker, schädigt
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Abbildung 6:
Kritik von Politikern an politischen Freunden und Gegnern
Anzahl negativer Aussagen
400 358
350 300 250 200
159 150
130
100 50
111 20 6
0 1951-53 1957-59 1963-65 1969-71 1975-77 1981-83 1987-89 1993-95 Kritik an politischen Gegnern (n=1.816);
Kritik an Freunden (n=966)
Basis: Negative Aussagen von deutschen Parteipolitikern über Parteipolitiker (n=2.782)
den Ruf des politischen Systems und gefährdet langfristig die Institutionen des Parlamentarismus die Parteien, das Parlament und die Regierung. Genau diesen Effekt hatte die wachsende Zahl negativer Aussagen von Politikern über Politiker. Die politischen Institutionen stehen damit vor dem gleichen Dilemma wie andere kollektive Güter das Schulsystem, das Verkehrssystem, das Rentensystem, das Gesundheitssystem usw.: Der Einzelne hat dann den größten Nutzen, wenn er ihre Leistungen beansprucht, ohne etwas zu ihrem Erhalt beizutragen. Trotzdem besteht zwischen den genannten Fällen ein gravierender Unterschied: Während z. B. die Trittbrettfahrer des Gesundheitswesens die Schwächen dieses Systems ausbeuten, spielen die Trittbrettfahrer in der Politik die Stärken eines konkurrierenden Systems, der Medien, gegen das System aus, in dem sie selbst primär agieren. Dies hat zur Folge, dass das politische System sich immer mehr den Erfolgsbedingungen des Mediensystems unterwirft. Der Zwang zur Anpassung an die Erfolgsbedingungen der Medien führt zu einem Wettlauf um Publizität, der erhebliche Nebenfolgen besitzt. Der Publizität
168
werden Personen und Prinzipien, Verfahren und Ziele geopfert. Einzelne Politiker suchen den augenblicklichen Erfolg zu Lasten der langfristigen Funktionsfähigkeit der Politik. Beispiele hierfür sind die Politisierung des vorpolitischen Raumes sowie die Attacken auf die Persönlichkeit der politischen Gegner und Weggefährten. Beides schwächt aus unterschiedlichen Gründen die ohnehin erodierende Legitimationsbasis der Politik. Eine weitere Nebenfolge besteht in der fortschreitenden Überformung der Eigengesetzlichkeit der Politik durch die Eigengesetzlichkeit der Medien. Besonders eklatant ist dieser Prozess in den USA, wo die Einführung der Vorwahlen die Macht der Parteien gebrochen, jedoch nicht auf die Masse der Wähler, sondern auf die Medien übertragen hat. Folglich besitzen die Massenmedien nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Auswahl der Präsidentschaftskandidaten. Sie haben den gesamten Selektionsprozess ihren Spielregeln unterworfen. In die gleiche Richtung weisen in Deutschland die Erfahrungen mit der Direktwahl von Oberbürgermeistern.10 Die Verwirklichung der Forderungen nach Volksabstimmungen hätte die gleichen Konsequenzen, weil die Medien einen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang der Abstimmung besitzen und die Mechanismen der politischen Willensbildung in einer repräsentativen Demokratie aushebeln würden. Die politisch interessierten Bürger nehmen die Gegenstände der Politik, soweit sie nicht selbst direkt betroffen sind, mehrfach gebrochen und vielfach vermittelt wahr. Jede Stufe dieser Vermittlungen besitzt theoretisch zwei Funktionen: Sie kann eine Voraussetzung für den Zugang zur Realität sein, sie kann einen solchen Zugang jedoch auch erschweren. Welche dieser beiden Funktionen dominant ist, hängt von den verfügbaren Informationen ab: Herrscht ein Mangel an Informationen, öffnen sie den Zugang zur Realität wer nichts über die Steuerbelastung der Bürger weiß, bekommt durch Medienberichte eine Vorstellung davon. Herrscht ein Überfluss an Informationen, verstellen sie den Blick auf die Probleme wer die Steuerbelastung kennt, verliert durch Stellungnahmen von Journalisten und Politikern zu Stellungnahmen von Politikern und Experten den Kern der Gegenmaßnahmen aus den Augen. Das Interesse am Thema schwindet, die Übersicht über die Therapievorschläge geht verloren. Statt Einsicht entsteht Überdruss. Es tritt also, wie Winfried Schulz bemerkt, die paradox erscheinende Situation ein, dass mit dem gesteigerten Angebot an gesellschaftlichen Informationen auch und zwar proportional stärker das Ausmaß des gesellschaftlichen Nichtwissens ansteigt.11 Ein Beispiel hierfür ist die monatelange Debatte um eine Reform des Steuer-, Gesundheits- und Rentensystems. Gestützt auf umfangreiche Befragungen stellte Renate Köcher im März 1997 fest: Nach Wochen heftigster Kontroversen ist die Bevölkerung ratlos und desorientiert. Während täglich über die Reformpläne diskutiert wird, verschwimmen die Kon-
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turen der geplanten Maßnahmen in den Augen der Bevölkerung immer mehr. Nur knapp ein Viertel der Befragten fühlt sich bisher gut über die Renten- und Steuerreform informiert. Rund 30 Prozent haben nicht einmal eine schemenhafte Vorstellung von den Plänen.12 Die Reformdebatte von 1997 verdeutlicht ein Problem der politischen Kommunikation, das sich im Laufe der Jahrzehnte von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt herausbildete die zunehmende Entfremdung der Beobachter der Politik von den Gegenständen des politischen Handelns. Einige Zahlen zur Entwicklung der wertenden Aussagen über Politiker sowie der Stellungnahmen von Politikern, die zum Anlass von Politikberichten wurden, können dies zumindest ansatzweise belegen. In den frühen fünfziger Jahren (1951-53) publizierten die untersuchten Blätter 607 wertende Aussagen von Politikern und Journalisten über Politiker. Mitte der neunziger Jahre (1993-95) waren es mit 1.505 zweieinhalbmal soviel. Damals war der Höhepunkt der Wertungs-Welle mit 2.604 Aussagen sogar bereits überschritten. Einzelne Bürger, Angehörige von Bürgerinitiativen, Vertreter der Unternehmen, Kirchen, Interessenverbände usw. kamen dagegen nach wie vor kaum zu Wort (35 vs. 104 Aussagen). Stellungnahmen von Politikern bildeten zu Beginn der fünfziger Jahre den Anlass von 244 Berichten. Mitte der neunziger Jahre traf dies auf 509 Berichte zu. Auch hier war jedoch der Höhepunkt bereits deutlich überschritten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Stellungnahmen, die zu Anlässen von Berichten wurden, in der Regel andere Stellungnahmen zum Gegenstand hatten, die in der Analyse nur thematisch erfasst wurden. Als allgemeiner Richtwert kann gelten, dass zwischen den Beobachtern von Politik und den Gegenständen des politischen Handelns heute zweibis dreimal soviel Politiker-Äußerungen stehen. Sie verstellen bei intensiven Debatten den Zugang zu den Problemen mehr, als sie ihn erhellen. Die Ausweitung der Berichterstattung verbreiterte die öffentliche Plattform für Politiker und Journalisten und drängte die Ansichten der Betroffenen immer mehr in den Hintergrund. Entgegen den vom Zeitgeist inspirierten Forderungen nach allgemeiner Partizipation manifestiert sich in der Entwicklung der Politikberichterstattung eine Oligarchierung des politischen Diskurses, seine Aneignung und Beherrschung durch die Angehörigen von zwei hochgradig spezialisierten Berufsgruppen, den Politikern und den Journalisten. Diese Entwicklung vollzog sich gleichzeitig mit einem tiefgreifenden Wandel der Politik und des Journalismus: Der Anteil der Berufspolitiker nahm erheblich zu, der Journalismus entwickelte sich zum Akademikerberuf. Zudem gewannen die Öffentlichkeitsarbeit und die Politikberatung an Bedeutung, so dass man von einer allgemeinen Professionalisierung der politischen Kommunikation sprechen kann. In diesem Prozess setzten sich das Eigeninteresse und die Eigendynamik der Politik und vor
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allem der Medien gegen die egalitäre Mobilisierung der sechziger und siebziger Jahre durch. Diejenigen, die diesen Aufbruch trugen, blieben auf diejenigen angewiesen, die ihre Anliegen effektiv vermitteln und rechtswirksam erfüllen konnten mit der Konsequenz, dass sie langfristig deren Position stärkten. Hierbei handelt es sich, soweit heute erkennbar, um einen nicht umkehrbaren Prozess. Andererseits deutet die Trendwende der Politikberichterstattung in den späten siebziger Jahren der Rückgang der Beiträge aus Anlass von PolitikerStellungnahmen und die schwindende Zahl von wertenden Äußerungen von und über Politiker darauf hin, dass die Distanzierung der Beobachter vom Gegenstand der Politik ihren Höhepunkt überschritten hat. Dies schließt nicht aus, dass auch in Zukunft in Einzelfällen durch die Insider-Diskussion zwischen Politikern und Journalisten das Interesse der Bevölkerung gelähmt und ihr Verständnis blockiert wird.
1
Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt. Die Kategorie Persönlichkeit entspricht in etwa der Dimension Charakter in der erwähnen Studie zum Einfluß des Fernsehens auf Wahlentscheidungen (vgl. Fußnote 1). 3 Die hier untersuchten Qualitätszeitungen waren nicht Ursache der Meinungsänderungen hierfür ist ihre Reichweite viel zu gering. Man kann sie jedoch als Indikatoren für allgemeine Trends betrachten, die sich u. a. auch im Fernsehen niederschlugen. Hierauf deutet die Tatsache, dass die Fernsehzuschauer Politiker umso negativer beurteilen, je mehr Kanäle sie empfangen können. 4 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 19841992. München 1993, S. 660. Bei dem Wert für 1992 handelt es sich um den Durchschnitt aus zwei Befragungen. 5 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 19931997. München 1997, S. 894. 6 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 19841992, a. a. O, S. 657. 7 Ebenda, S. 657. 8 Vgl. Wolfgang Donsbach: Medienwirkung trotz Selektion. Einflußfaktoren auf die Zuwendung zu Zeitungsartikeln. Köln u.a. 1991, S. 161-175. 9 Wolf Schneider et al.: Unsere tägliche Desinformation. Wie die Massenmedien uns in die Irre führen. Hamburg, 4. Auflage 1990, S. 183. 10 Hans Mathias Kepplinger / Peter Eps / Dirk Augustin: Skandal im Wahlbezirk. Der Einfluß der Presse auf die Wahl des Münchner Oberbürgermeisters. In: Publizistik 40 (1995) S. 305-326; Hans Mathias Kepplinger / Peter Eps / Holger Pankowski: Die Rolle der Medien bei Direktwahlen In: Axel Görlitz / Hans-Peter Burth (Hrsg.): Informale Verfassung. Baden-Baden 1998, S. 125-160. 11 Winfried Schulz: Politikvermittlung durch Massenmedien. In: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.): Politikvermittlung. Beiträge zur politischen Kommunikation. Bonn 1987, S. 133. 12 Renate Köcher: Unbehagen über die Reformdebatte. Nach wochenlangen Kontroversen ist die Bevölkerung ratlos und desorientiert. In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. März 1997. 2
171
Wie das Fernsehen Wahlen beeinflusst
Wahlen sind Entscheidungssituationen. Die Wähler entscheiden sich zwischen zwei oder mehr Parteien bzw. zwischen zwei oder mehr Kandidaten. Auf die Wahlentscheidung wirken zahlreiche Kräfte ein, die man entsprechend ihrer Lokalisierung in externe und interne Faktoren sowie entsprechend der Dauer ihrer Wirksamkeit in langfristige und kurzfristige Faktoren unterteilen kann.1 Als externe Faktoren bezeichnen wir alle Kräfte, die von außen auf den Wähler einwirken, wie z. B. die Berichterstattung der Massenmedien und die Verhaltenserwartungen aus der sozialen Umgebung. Als interne Faktoren bezeichnen wir alle Kräfte, die aus dem Wähler heraus auf die Wahlentscheidung einwirken, wie z. B. politische Einstellungen und Wahltraditionen. Die internen Faktoren besitzen vermutlich ebenfalls externe Ursachen. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch, dass sie sich verselbständigt haben. Als langfristige Faktoren bezeichnen wir alle Kräfte, die über längere Zeiträume relativ kontinuierlich in eine Richtung wirken, ohne dass sich der Betreffende ihnen leicht entziehen kann, wie z. B. die Religionszugehörigkeit und die Wahltradition. Als kurzfristige Faktoren bezeichnen wir alle Kräfte, die zum Zeitpunkt der Wahlentscheidung ihren Einfluss entfalten, die jedoch nicht von größerer Dauer sein müssen, wie der wahrgenommene Charakter und die wahrgenommene Sachkompetenz der Kandidaten. Unter den Charaktereigenschaften verstehen wir allgemeinmenschliche Einstellungen und Verhaltensweisen, wie z. B. Prinzipientreue, Nationalbewusstsein oder sicheres Auftreten. Unter Sachkompetenz verstehen wir die Fähigkeit zur Verwirklichung spezifisch politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ziele. Derartige Ziele sind unter anderem die Abrüstung, die Preisstabilität, die Sicherung der Renten und die Verminderung der CO2-Emissionen. Konzentriert man sich auf die internen Faktoren der Wahlentscheidung, kann man sechs Hypothesen formulieren: Erstens, die Wähler besitzen Vorstellungen vom Charakter der beiden Kandidaten. Je positiver sie den Charakter eines Kandidaten im Vergleich zum Charakter des anderen Kandidaten einschätzen, desto eher werden sie diesen Kandidaten wählen. Zweitens, die Wähler besitzen Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten. Je größer ihnen die Sachkompetenz eines Kandidaten im Vergleich zur Sachkompetenz des anderen Kandidaten erscheint, desto eher werden sie ihn wählen. Drittens, die Vor-
stellungen vom Charakter der Kandidaten wirkten sich auf die Bereitschaft aus, die Partei des bevorzugten Kandidaten zu wählen. Viertens, die Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten wirkten sich auf die Bereitschaft aus, die Partei des bevorzugten Kandidaten zu wählen. Fünftens, die Wahltradition besitzt einen Einfluss auf die Absicht, einen Kandidaten zu wählen. Sechstens, die Wahltradition besitzt einen Einfluss auf die Bereitschaft, eine Partei zu wählen. Die genannten Zusammenhänge sind in Abbildung 1 dargestellt, wobei die beiden Kästen die unabhängigen bzw. die intervenierenden Variablen ausweisen. Abbildung 1:
Einflüsse auf die Wahlentscheidungen
Externe Faktoren
Interne Faktoren Vorstellung vom Charakter der Kandidaten
Massenmedien
Wahlabsicht: Partei
Wahltradition Soziale Kontakte
Vorstellung von der Sachkompetenz der Kandidaten/Parteien
Wahlabsicht: Kandidat
Die vorliegende Untersuchung soll die Wirkungskette zwischen PolitikerWahrnehmung und Wähler-Entscheidung schließen. Dazu soll sie erstens den Einfluss von Text- und Bildinformationen des Fernsehens über Helmut Kohl und Oskar Lafontaine auf die Wahrnehmung der Betrachter ermitteln. Dies geschieht zum einen durch eine intersubjektive Analyse der Text- und Bilddarstellung von Kohl und Lafontaine in den Fernsehnachrichten vor der Bundestagswahl 1990 (Inhaltsanalyse) sowie zum anderen durch eine subjektive Analyse der Wahrnehmung der beiden Politiker anhand einer Stichprobe der gesendeten Beiträge (Rezeptionsanalyse). Sie soll zweitens den Einfluss der kurzfristigen Wahrnehmungen auf die langfristigen Vorstellungen der Bevölkerung feststellen. Dies geschieht durch drei telefonische Befragungen von wahlberechtigten Bürgern, 174
die mit den Ergebnissen der vorangegangenen Studien kombiniert werden. Die Untersuchung soll drittens den Einfluss der Vorstellungen vom Charakter und der Sachkompetenz von Politikern auf die Wahlentscheidungen analysieren. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst wird anhand der Bevölkerungsumfragen der relative Einfluss der wahrgenommenen Sachkompetenz der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten ermittelt. Dies geschieht für Helmut Kohl und die CDU/CSU sowie für Oskar Lafontaine und die SPD. Anschließend wird der relative Einfluss der Vorstellungen vom Charakter und von der Sachkompetenz der beiden Kanzlerkandidaten auf die Entscheidung zwischen ihnen festgestellt. Dabei werden zusätzliche Faktoren wie frühere Wahlentscheidungen berücksichtigt. Quellen und Arten der Wahrnehmung von Kohl und Lafontaine Die weitaus meisten Wähler kennen Politiker nicht persönlich. Sie haben nie mit ihnen gesprochen. Sie haben sie nicht einmal selbst gesehen. Alles, was sie über Politiker zu wissen glauben, beruht auf Gesprächen mit anderen Menschen und auf der Darstellung der Massenmedien. Sie übernehmen diese Informationen nicht einfach maßstabgerecht. Sie nutzen die Informationen vielmehr selektiv und interpretieren sie vor dem Hintergrund ihrer Einstellungen, Meinungen und Kenntnisse. Ihre Vorstellungen von Politikern, etwa den Kandidaten in einem Wahlkampf, sind deshalb keine einfachen Abbilder der Darstellung der Massenmedien. Sie sind jedoch auch nicht unbeeinflusst davon. Die Darstellung von Politikern in den Massenmedien prägt vielmehr, neben anderen Faktoren, die Vorstellungen der Leser, Hörer und Zuschauer, die diese Vorstellungen angereichert durch eigene Interpretationen in Gesprächen weitergeben. Folgende Nachrichten-Sendungen wurden untersucht: ARD (Tagesschau und Tagesthemen), ZDF (heute und heute journal), Sat1 (Haupt- und Spätnachrichten), RTLplus (RTL aktuell Haupt- und Spätausgabe). Erfasst wurden vom 3. September bis zum 1. Dezember 1990 alle genannten Nachrichtensendungen an jeweils zwei Tagen pro Woche. Die Wochentage wurden systematisch rotiert. Analysiert wurden insgesamt 119 relevante Sendungen. Die Wahrnehmung des Charakters von Kohl und Lafontaine anhand der Fernsehberichterstattung wurde mit 21 fünfstufigen Schätz-Skalen ermittelt.2 Vorgegeben wurden allgemein menschliche Eigenschaften, die jeder Bürger haben kann. Nur in einigen Fällen wurden spezifische Eigenschaften genannt, die vor allem Politiker auszeichnen können, ohne dass damit schon spezifische Kompetenzen angesprochen wurden. Die Betrachter sollten jeweils angeben, ob eine Einstellung einen bestimmten Eindruck vermittelt ob Kohl oder Lafontaine z. B. nervös oder vertrauens-
175
würdig erschienen oder ob das Gegenteil zutraf. Im ersten Fall wurde ihm die vorgegebene Eigenschaft zugesprochen. Im zweiten Fall wurde sie ihm abgesprochen. Die Pole der Skalen lauteten trifft voll und ganz zu bzw. trifft überhaupt nicht zu. Zusätzlich sollten die Betrachter mit jeweils fünfstufigen Skalen angeben, ob ihr Eindruck eher auf sprachlichen Aussagen oder eher auf bildlichen Darstellungen beruhte. Die Pole dieser Skalen waren mit visuell bzw. verbal beschriftet. Die Wahrnehmung der Sachkompetenz von Kohl und Lafontaine wurde ebenfalls mit 17 fünfstufigen Rating-Skalen festgestellt. Hier wurden spezifische Kompetenzen zur Lösung konkreter Sachfragen vorgegeben, die man speziell von einem Politiker erwarten kann. Die Betrachter sollten jeweils angeben, ob Kohl oder Lafontaine in der jeweiligen Einstellung den Eindruck vermittelten, dass sie bestimmte Ziele verwirklichen können z. B., dass die Staatsschulden nicht zu groß werden, dass Familien mit Kindern mehr gefördert werden oder ob eher das Gegenteil zutraf. Auch hier gilt, dass ihnen die erwähnte Sachkompetenz zu- und abgesprochen werden konnte. Die Beschriftung der Pole lautete: Er kann (es) voll und ganz verwirklichen bzw.: Er kann (es) überhaupt nicht verwirklichen. Zusätzlich sollten die Betrachter erneut mit fünfstufigen Skalen angeben, ob ihr Eindruck eher auf sprachlichen Aussagen oder eher auf bildlichen Darstellungen beruhte. Die Pole dieser Skalen hatten die gleiche Beschriftung wie bei der Analyse der Charakterwahrnehmung. Die Betrachter der Nachrichtensendungen fanden gut viermal so viele Informationen über den Charakter von Kohl und Lafontaine als Informationen über ihre Sachkompetenz (1484 vs. 342 Einstellungen). Die vergleichsweise große Zahl der Hinweise auf den Charakter der beiden Politiker dürfte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass wir die Wahrnehmung des Charakters mit 21, die Wahrnehmung der Sachkompetenz jedoch nur mit 17 Skalen erfasst haben. Auch ist nicht auszuschließen, dass die zuerst genannten Skalen ihren Gegenstandsbereich besser abgedeckt haben. Durch diese Gründe lässt sich jedoch der enorme Unterschied in den Befunden nicht hinreichend erklären. Er deutet vielmehr darauf hin, dass die Zuschauer durch die Nachrichtensendungen des Fernsehens wesentlich mehr über den Charakter als über die Sachkompetenz von Politikern erfahren. Bei den Hinweisen auf den Charakter der beiden Politiker handelte es sich in knapp der Hälfte aller Fälle um Text-, in knapp einem Drittel aller Fälle um Bild-Informationen. Der Rest ließ sich nicht eindeutig zuordnen, weil keine Entscheidung möglich war oder beides zusammentraf. Die Betrachter informierten sich über die Sachkompetenz der Politiker zwar weit überwiegend anhand von sprachlichen Aussagen, sie nahmen jedoch mehr als doppelt so viele visuelle bildliche Hinweise auf ihren Charakter wahr (Tabelle 1).
176
Tabelle 1: Quellen der Informationen über den Charakter und die Sachkompetenz von Kohl und Lafontaine im Bundestagswahlkampf 1990 Anzahl der Einstellungen bzw. der Aussagen Quellen der Information weder noch/ verbal nicht erkennbar visuell n n n
Summe n
Charakter Kohl Lafontaine
527 156
243 77
323 158
1.093 391
Summe
683
320
481
1.484
Sachkompetenz Kohl Lafontaine
207 32
53 4
42 4
302 40
Summe
239
57
46
342
Gesamtsumme
922
377
527
1.826
Die Betrachter fanden mehr als dreimal so viele Hinweise auf den Charakter und die Sachkompetenz von Kohl als entsprechende Informationen über Lafontaine. Besonders krass war dieser Unterschied in der Berichterstattung über die Sachkompetenz der beiden Politiker. Auf die Sachkompetenz Kohls fanden sich mehr als siebenmal so viele Hinweise wie auf die Sachkompetenz von Lafontaine. Bemühungen von Lafontaine, seine Sachkompetenz in der Fernsehberichterstattung zur Geltung zu bringen, müssen damit eindeutig als Fehlschlag betrachtet werden. Dies hatte mindestens drei Ursachen: die generellen publizistischen Vorteile des Amtsinhabers, den unentschlossenen Wahlkampf seines Herausforderers und das politische Taktieren Lafontaines in der Vereinigungsphase, mit dem er die Chance gestaltender Aktivitäten aus der Hand gab. Daneben dürften auch die subjektiven Reaktionen zahlreicher Journalisten eine Rolle gespielt haben, die in ihm nicht den Kandidaten fanden, den sie erwartet hatten. Die meisten Eindrücke vom Charakter der beiden Kandidaten betrafen allgemein-menschliche Eigenschaften, die einen Politiker nicht von Freunden und Bekannten unterscheiden: Die Kandidaten erschienen optimistisch, sympathisch, vertrauenswürdig und offen, jedoch keineswegs nervös und unsi-
177
cher. Zwar nahmen die Zuschauer häufig auch spezifischere Eigenschaften wahr, die man speziell von einem Politiker erwarten würde: Die Kandidaten vermittelten den Eindruck, dass sie mit den anstehenden Problemen fertig werden, energisch sind sowie langfristig denken und planen. Ähnlich spezifische Eigenschaften, wie z. B. dass sie sich nicht vor Entscheidungen drücken, gute Kontakte haben und über viel Erfahrung verfügen, wurden dagegen relativ selten wahrgenommen. Ein Vergleich der Wahrnehmung einzelner Charaktereigenschaften der beiden Kandidaten macht deutlich, dass die Betrachter von Kohl erheblich häufiger als von Lafontaine den Eindruck hatten, er werde mit den anstehenden Problemen fertig, denke und plane langfristig und drücke sich nicht vor Entscheidungen. Die meisten Eindrücke von der Sachkompetenz der beiden Kandidaten betrafen die Fähigkeit zur Aussöhnung mit dem Osten, die Fortsetzung der europäischen Integration, die Stärkung von Recht und Ordnung und die Sicherung des wirtschaftlichen Aufschwungs. Daneben spielte auch die Wahrnehmung der Kompetenz zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und zur Vermeidung von Steuererhöhungen eine große Rolle. Die Wahrnehmung der Sachkompetenz der beiden Kandidaten entsprach damit weitgehend der Berichterstattung der Fernsehnachrichten über die entsprechenden Themenbereiche: Weil bestimmte Themen aufgrund der politischen Lage im Mittelpunkt der Berichterstattung standen, wurde vor allem die Sachkompetenz der Politiker für diese Themen wahrgenommen. Dieser Sachverhalt wirkte sich in erheblichem Maße zugunsten von Kohl aus, der aufgrund seiner Handlungsmöglichkeiten als Kanzler und seiner Handlungsbereitschaft als Politiker wesentlich häufiger als Lafontaine den Eindruck vermittelte, er verfüge über die entsprechende Sachkompetenz. Einfluss der Wahrnehmungen auf die Vorstellungen von Kohl und Lafontaine Für die folgende Analyse nutzen wir die Ergebnisse der Rezeptionsanalyse der kurzzeitigen Wahrnehmung von Kohl und Lafontaine durch die Fernsehzuschauer. Wir gewichten die wahrgenommenen Eigenschaften mit ihrer jeweiligen Ausprägung und addieren die Werte. Grundlagen der Gewichtungen sind die fünfstufigen Skalen, deren Werte zwischen +2 (trifft voll und ganz zu) und -2 (trifft überhaupt nicht zu) liegen. Positive Werte zeigen an, dass den Kandidaten die Eigenschaften überwiegend zugesprochen wurden, negative Werte bedeuten, dass sie ihnen überwiegend abgesprochen wurden. Die relativ dauerhaften Vorstellungen der Fernsehzuschauer vom Charakter und von der Sachkompetenz
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Kohls und Lafontaines haben wir in einer dreiwelligen Parallelbefragung vor der Bundestagswahl 1990 telefonisch ermittelt. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von 1.200 wahlberechtigten Bürgern in Mainz. Die Interviews wurden vom 8. bis 12. Oktober, vom 5. bis 8. November und kurz vor der Bundestagswahl vom 26. bis 30. November durchgeführt.3 Die Vorstellungen der Befragten vom Charakter der beiden Kandidaten haben wir mit der Frage ermittelt: Politiker haben ja bekanntlich ihre Stärken und Schwächen. Ich nenne Ihnen jetzt einige Eigenschaften. Sagen Sie mir bitte jedesmal, auf wen die genannte Eigenschaft mehr zutrifft, auf Kohl oder auf Lafontaine. Vorgegeben waren die gleichen Eigenschaften wie bei der Analyse der Wahrnehmung der Kandidaten anhand der Fernsehnachrichten. Die Befragten konnten die genannten Eigenschaften einem der beiden Kandidaten (trifft auf ... zu) oder beiden Kandidaten (trifft auf beide gleich zu) zuschreiben. Sie konnten sie jedoch auch beiden Kandidaten absprechen (trifft auf keinen von beiden zu). Die Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten haben wir mit der Frage ermittelt: Helmut Kohl und Oskar Lafontaine haben ja ihre Stärken und Schwächen. Ich nenne Ihnen nun einige politische Ziele. Sagen Sie mir jedesmal, welcher der beiden Politiker diese Ziele nach Ihrer Ansicht eher verwirklichen kann Helmut Kohl oder Oskar Lafontaine. Auch hier waren die gleichen Eigenschaften vorgegeben wie bei der Analyse der Wahrnehmung der Kandidaten anhand der Fernsehnachrichten. Die Befragten konnten sich erneut klar zwischen den beiden Kandidaten entscheiden, indem sie die Kompetenz nur einem von ihnen zuschrieben (Kohl oder Lafontaine). Sie konnten jedoch einer derart klaren Entscheidung ausweichen, indem sie die Kompetenzen beiden gleichermaßen zusprachen (beide gleich gut). Schließlich konnten sie die Kompetenzen beiden Kandidaten absprechen (keiner von beiden). Auch hier konnten sie eine Stellungnahme verweigern (weiß nicht). Die Häufigkeit der Wahrnehmung von Eigenschaften der beiden Politiker hängt nicht nur von der Häufigkeit entsprechender Darstellungen ab. Daneben spielt die Intensität der Fernsehnutzung eine wesentliche Rolle. Je regelmäßiger die Fernsehzuschauer die Nachrichtensendungen verfolgen, desto mehr entsprechende Wahrnehmungen werden sie machen. Die Fernsehnutzung haben wir bei der ersten Befragung erhoben. Die relevante Frage lautete: Wie ist das mit den Nachrichtensendungen im Fernsehen? Ich nenne Ihnen jetzt einige. Bitte sagen Sie mir, ob Sie die folgenden Sendungen täglich, fast täglich, gelegentlich oder nie ansehen. Genannt wurden Tagesschau, Tagesthemen, heute, heute journal, SAT1 Blick und RTL Aktuell. Zwischen der kurzzeitigen Wahrnehmung des Charakters und der Sachkompetenz von Kohl anhand der Fernsehnachrichten und den dauerhaften Vorstellungen der Befragten bestanden bemerkenswert hohe und zum Teil hochsig-
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nifikante Beziehungen: Die langfristigen Vorstellungen der Befragten von Kohl und Lafontaine entsprachen weitgehend den kurzfristigen Wahrnehmungen der beiden Politiker in den Fernsehnachrichten. Das traf auf die Vorstellungen von der Sachkompetenz der beiden Politiker noch etwas mehr zu als auf die Vorstellungen von ihrem Charakter.4 Für den großen Effekt der wahrgenommenen Sachkompetenz gibt es eine naheliegende Erklärung: Die Wahrnehmung der Sachkompetenz beruhte fast ausschließlich auf sprachlichen Informationen. Diese Informationen wurden auch von der Presse vermittelt, deren relativ konsonante Berichterstattung die Vorstellungen der Befragten mit geprägt haben dürfte. Die Beziehungen zwischen den kurzfristigen Wahrnehmungen und den langfristigen Vorstellungen waren erwartungsgemäß umso stärker, je intensiver die Befragten die Fernsehnachrichten verfolgten. Dieser Sachverhalt zeigt sich vor allem bei Kohl sehr deutlich, während er bei Lafontaine nur für die Sachkompetenz besteht. Die stärkere Fernsehnutzung schlug sich vermutlich nicht deutlicher in den Vorstellungen vom Charakter Lafontaines nieder, weil er in den Fernsehnachrichten zu selten präsent war, um einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen (Tabelle 2). Tabelle 2: Zusammenhang zwischen der kurzzeitigen Wahrnehmung des Charakters und der Sachkompetenz von Kohl und Lafontaine anhand der Fernsehnachrichten und den langfristigen Vorstellungen von ihnen Rangkorrelationen Kohl Konsum von Fernsehnachrichten wenig
Charakter
Lafontaine
Sachkompetenz
Charakter
Sachkompetenz
.59**
.63**
.50**
.69**
mittel
.64**
.71***
.45
.78**
viel
.74***
.73***
.41
.78**
Alle Befragten
.67**
.70**
.46
.76**
Basis: Charakter: 21 Eigenschaften; Sachkompetenz: 17 Eigenschaften. 6 Aspekte der Sachkompetenz von Lafontaine wurden nicht angesprochen. Fernsehkonsum: Die rechnerischen Werte liegen zwischen 0 und 12. Die Befragten wurden entsprechend der Intensität ihres Fernsehkonsums in drei gleich große Gruppen eingeteilt (0-5, 6-7, 8-12). Die Fragen zur Sachkompetenz wurden in der zweiten Panelwelle gestellt (5.-8. November 1990), die Fragen zum Charakter in der dritten (26-30. November) ** p<0,01.; *** p<0,001.
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Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten Die Vorstellungen der Befragten von der Sachkompetenz der Parteien haben wir bei den Telefonumfragen analog zu ihren Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten mit folgender Frage ermittelt: Alle Parteien haben ja ihre Stärken und Schwächen. Ich nenne Ihnen nun einige politische Ziele. Bitte sagen Sie mir jedesmal, welche Partei diese Ziele nach ihrer Ansicht eher verwirklichen kann die CDU/CSU oder die SPD. Genannt wurden die gleichen Ziele wie in der Frage nach der Sachkompetenz der Spitzenkandidaten. Die Befragten konnten sich auch hier klar zwischen den beiden Lagern entscheiden, indem sie die Kompetenz einer der beiden Parteien zuschrieben (CDU/CSU oder SPD). Sie konnten einer derart klaren Entscheidung ausweichen, indem sie die Kompetenz beiden Parteien gleichermaßen zusprachen (beide gleich gut) oder absprachen (keine von beiden). Schließlich konnten sie eine inhaltliche Stellungnahme vermeiden. Zur Vorbereitung der weiteren Analysen identifizieren wir die Politikfelder, für die die Parteien und ihre Kandidaten nach Ansicht der Befragten die Sachkompetenz besitzen. Dazu führen wir Faktorenanalysen der Antworten auf die zweimal 17 Aussagen durch. Die Faktorenanalysen ergeben sowohl für die Frage nach der Partei- als auch für die Frage nach der Kandidatenkompetenz eine Drei-Faktoren-Lösung, die 48,7 bzw. 52,7 Prozent der Varianz erklärt. Die drei Faktoren ähneln sich stark und werden deshalb einheitlich als Kompetenz für Sozial- und Umweltpolitik, Kompetenz für Wirtschaftspolitik und Kompetenz für Außenpolitik bezeichnet. Einfluss der Vorstellungen von der Sachkompetenz auf die Kandidaten- und Parteipräferenzen Den Einfluss der Vorstellungen der Befragten von der Sachkompetenz der Parteien und ihrer Kandidaten auf die Wahlabsichten analysieren wir mit Hilfe von Fragen zur Kandidaten- und Parteipräferenz. Die Kandidatenpräferenz haben wir mit zwei Fragen in der dritten Welle kurz vor der Wahl gemessen. Die erste Frage lautete: Alles in allem haben Sie eher eine gute oder eher eine schlechte Meinung von Helmut Kohl? Die zweite Frage lautete: Alles in allem haben Sie eher eine gute oder eher eine schlechte Meinung von Oskar Lafontaine? Die Antwortmöglichkeiten waren eher eine gute Meinung, eher eine schlechte Meinung und weiß nicht, unentschieden. Aus den Antworten wurde ein Präferenzmaß berechnet, das von +2 (für Kohl) bis -2 (für Lafontaine) reichte. Die Parteipräferenz haben wir ebenfalls in der dritten Welle mit der folgenden Frage
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gemessen: Am nächsten Sonntag ist ja Bundestagswahl. Welche Partei würden Sie wählen? Befragte, die die CDU wählen wollten, erhielten den Wert +1, Befragte, die die SPD wählen wollten, erhielten den Wert -1 zugewiesen. Alle anderen Befragten (diejenigen, die eine andere Partei nannten und diejenigen, die nicht wählen würden oder noch unentschieden waren) erhielten den Wert 0. Aufgrund der Codierung der Antworten zeigen positive Werte immer Präferenzen für Kohl bzw. die CDU an, negative Werte Präferenzen für Lafontaine bzw. die SPD. Die Einflüsse der Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien und Kandidaten auf die Partei- und Kandidatenpräferenzen überschneiden sich vermutlich. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Die Einflüsse der beiden Faktoren können sich gegenseitig verstärken. Der Einfluss des einen Faktors kann im Einfluss des anderen Faktors enthalten sein. Der Einfluss des einen Faktors kann durch den des anderen Faktors auch konterkariert werden. Aus den genannten Gründen ist es notwendig, den Einfluss der beiden Faktoren zusammen zu betrachten und ihre relative Stärke zu bestimmen. Den exklusiven Einfluss der vermuteten Sachkompetenz der Kandidaten auf die Wahlabsichten ermitteln wir in zwei Schritten. Zunächst berechnen wir eine multiple Regression, in die sechs unabhängige Variablen eingehen, die Ansichten über die Sachkompetenzen der Parteien und der Kandidaten für jeweils drei Politikfelder (Sozial- und Umweltpolitik, Wirtschaftspolitik, Außenpolitik). Die abhängigen Variablen bilden wieder die Präferenzen für die Parteien bzw. Kandidaten. Das ermittelte R2 gibt Auskunft über die erklärte Varianz, d.h. darüber, welcher Anteil der Wahlabsichten auf alle Faktoren gemeinsam zurückgeführt werden kann. Im Anschluss daran nehmen wir die Vermutungen über die Kompetenz der Parteien aus den Regressionsgleichungen heraus und berechnen erneut das zugehörige R2. Die Veränderung des multiplen R2, d.h. der Verlust an erklärter Varianz, gibt Auskunft darüber, welcher Betrag der Wahlabsichten nur durch die vermutete Kompetenz der Parteien erklärt werden kann. Auf die gleiche Art bestimmen wir den Effekt, der ausschließlich von der vermuteten Kompetenz der Kandidaten ausging. Die Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten besaßen einen eigenständigen Einfluss auf die Entscheidungen für einen der beiden Kandidaten sowie auf die Entscheidung für eine der beiden Parteien. Dieser Einfluss kann nicht auf die Vorstellungen von der Kompetenz der Parteien zurückgeführt werden. Die Vorstellung von der Sachkompetenz der Kandidaten erklärt allein 6,3 Prozent der Parteipräferenz und 9,2 Prozent der Kandidatenpräferenz. Die vermutete Sachkompetenz der Kandidaten wirkte sich damit vor allem auf die Entscheidung zwischen den Kandidaten aus. Ihr Einfluss erstreckte sich jedoch auch auf die Entscheidung für eine der beiden Parteien. Hierbei zeigten sich deutliche
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Unterschiede zwischen Wählern mit niedriger und hoher Schulbildung. Die Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien besaßen ebenfalls einen eigenständigen Einfluss auf die Entscheidung für eine der beiden Parteien sowie auf die Entscheidung für einen der beiden Kandidaten. Allerdings war dieser Einfluss vergleichsweise schwach. Er erklärt nur 3,0 Prozent der Parteipräferenz und 2,0 Prozent der Kandidatenpräferenz. Damit kann man feststellen, dass die vermutete Sachkompetenz der Kandidaten einen wesentlich größeren eigenständigen Einfluss auf die Wahlabsichten besaß als die vermutete Kompetenz der Parteien (Tabelle 3). Tabelle 3: Exklusiver Einfluss der Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien und Kandidaten auf die Wahlabsichten bei Befragten mit niedriger und höherer Schulbildung Erklärte Varianz in Prozent Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien %
Kandidaten %
Varianz insgesamt %
Alle Befragten (n=321) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
3,0** 2,0**
6,3*** 9,2***
45,4 49,1
Befragte mit niedriger Bildung (n=169) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
4,1** 1,7
6,7*** 9,9***
45,6 46,4
Befragte mit höherer Bildung (n=152) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
1,7 2,3
9,1*** 7,6***
48,3 55,0
**p<0,01; ***p<0,0001
Ein beträchtlicher Teil der Wähler entscheidet sich bei aufeinanderfolgenden Wahlen für die gleiche Partei. Die früheren Entscheidungen, die Wahltradition, besitzt daher einen Einfluss auf das zukünftige Verhalten.5 Die Wahltradition der Befragten haben wir mit zwei Fragen ermittelt. Mit der ersten Frage wurde die
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Stimmabgabe bei der letzten Bundestagswahl festgestellt. Sie lautete: Für welche Partei haben Sie bei der letzten Bundestagswahl 1987 gestimmt? Die zweite Frage zielte auf die Loyalität zur gewählten Partei. Sie lautete: Wählen Sie eigentlich normalerweise immer die gleiche Partei oder wechseln Sie gelegentlich? Aus den Antworten auf die beiden Fragen haben wir einen Index für die Wahltradition berechnet, der von +2 (starke Wahltradition zugunsten der CDU/CSU bis -2 (starke Wahltradition zugunsten der SPD) reicht. Um den Einfluss der Wahltradition auf die Wahlabsichten zu ermitteln, führen wir sie als zusätzlichen Faktor in die multiplen Regressionen ein. Den eigenständigen Einfluss der einzelnen Faktoren berechnen wir, indem wir sie nacheinander aus den Gleichungen herausnehmen. Die Veränderungen des multiplen R2, das die Stärke des ermittelten Einflusses anzeigt, geben wieder Auskunft darüber, welchen Einfluss die herausgenommenen Faktoren unabhängig von den verbliebenen Faktoren besaßen. Die Wahltradition besaß erwartungsgemäß einen erheblichen Einfluss auf die Wahlpräferenz. Sie allein erklärt 14,3 Prozent der Entscheidung zwischen den beiden Parteien. In den Entscheidungen der Befragten mit niedriger Schulbildung schlug sie sich stärker, in den Entscheidungen der Befragten mit hoher Schulbildung dagegen schwächer nieder. Die Wahltradition hatte auch einen eigenständigen Einfluss auf die Entscheidung zwischen den beiden Kandidaten. Dieser Einfluss war jedoch vergleichsweise schwach und nur bei Befragten mit niedriger Schulbildung signifikant. Die zentrale Frage im vorliegenden Zusammenhang lautet, ob die langfristig wirkende Wahltradition den aktuellen Einfluss der vermuteten Sachkompetenz der Parteien und Kandidaten so überlagerte, dass er bedeutungslos wurde oder ob diese Faktoren auch dann noch einen eigenständigen Einfluss auf die Wahlabsichten besaßen. Die Antworten hierauf sind eindeutig. Erstens, die vermutete Sachkompetenz der Parteien besaß, wenn man die langfristige Wahltradition mit berücksichtigt, keinen eigenständigen Einfluss auf die Wahlabsichten. Dies gilt für die Parteipräferenzen wie für die Kandidatenpräferenzen. Die aktuellen Einflüsse der vermuteten Kompetenz der Parteien gingen in den dauerhaften Wahltraditionen auf. Zweitens, die vermutete Sachkompetenz der Kandidaten besaß auch dann, wenn man die langfristigen Wahltraditionen der Befragten berücksichtigt, einen eigenständigen Einfluss auf die Wahlabsichten. Dieser Einfluss schlug sich vor allem in der Entscheidung zwischen den Kandidaten nieder. Er erstreckte sich jedoch auch auf die Entscheidung zwischen den beiden Parteien. Im ersten Fall erklärt die wahrgenommene Kompetenz der Kandidaten 7,4 Prozent, im zweiten Fall 2,9 Prozent der Wahlabsichten, wobei zwischen den Befragten mit niedriger und hoher Schulbildung nur graduelle Unterschiede bestanden (Tabelle 4).
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Tabelle 4: Exklusiver Einfluss der Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien und Kandidaten auf die Wahlabsichten unter Berücksichtigung der Wahltradition Erklärte Varianz in Prozent Vorstellungen von der Sachkompetenz der Parteien %
Kandidaten %
Wahltradition %
Varianz insgesamt %
Alle Befragten (n=321) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
0,9 1,1
2,9*** 7,4***
14,3*** 1,7**
59,7 50,8
Befragte mit niedriger Bildung (n=169) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
0,9 0,7
3,1*** 7,6***
15,3*** 3,6**
60,9 50,0
Befragte mit höherer Bildung (n=152) Parteipräferenz Kandidatenpräferenz
1,2 2,0
4,1 6,2
11,1*** 0,7
59,3 55,7
**p<0,01; ***p<0,0001
Einfluss der Vorstellungen von Charakter und Sachkompetenz der Kandidaten auf die Wahlabsichten Die Vorstellungen vom Charakter Kohls und Lafontaines haben wir in allen drei Befragungen anhand von 21 Persönlichkeitsmerkmalen ermittelt. Für die folgende Analyse ziehen wir die Befunde aus der zweiten Welle heran, weil wir von der Annahme ausgehen, dass die Vorstellungen vom Charakter eine Ursache der Präferenz für einen der beiden Kandidaten ist. Damit soll sichergestellt werden, dass die vermuteten Ursachen vor den vermuteten Wirkungen lagen. Die Vorstellungen von der Sachkompetenz der beiden Kandidaten haben wir bei der zweiten Befragung anhand von 17 Aussagen festgestellt. Auch diese Erhebung liegt vor der Ermittlung der vermuteten Wirkungen der Präferenz für einen der beiden Kandidaten. Zur Vorbereitung der Analyse haben wir die Dimensionen
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ihres Charakters ermittelt, die man in den Äußerungen der Befragten erkennen kann. Dies geschah ebenfalls mit Hilfe einer Faktorenanalyse der Antworten auf die 21 Aussagen. Die Faktorenanalysen ergeben sowohl für Kohl als auch für Lafontaine eine Vier-Faktoren-Lösung, die 54,3 Prozent der Varianz erklärt. Die vier Faktoren nennen wir Führungsstärke, Erfahrung, Selbstsicherheit und Rücksichtslosigkeit. Die Kandidatenpräferenzen haben wir unter anderem in der dritten Befragung mit zwei Fragen erhoben und daraus einen Index berechnet. Eine kurze Darstellung der Vorgehensweise enthält das vorangegangene Kapitel. In der folgenden Analyse ermitteln wir den Einfluss der Vorstellungen vom Charakter und von der Sachkompetenz der beiden Kandidaten auf die Entscheidung zwischen ihnen. Zusätzlich analysieren wir den Einfluss der erwähnten Vorstellungen auf die Präferenzen für ihre jeweiligen Parteien. Der entscheidende Grund hierfür besteht in der Vermutung, dass sich die positiven Vorstellungen von den Kandidaten mehr oder weniger unbewusst auch auf die Präferenzen für ihre Parteien niederschlagen können. In die Analyse gehen folglich neben den beiden vermuteten Ursachen (Vorstellungen vom Charakter und der Sachkompetenz) zwei vermutete Wirkungen (Präferenzen für Kandidaten und Parteien) ein. Grundlage der folgenden Analysen sind die erwähnten Faktorenanalysen der Wahrnehmung des Charakters und der Sachkompetenz der Kandidaten. Die einzelnen Faktoren bilden die unabhängigen Variablen in multiplen Regressionen. Die abhängigen Variablen sind jeweils die Kandidatenpräferenz und die Parteipräferenz. Die Einflüsse der Vorstellungen vom Charakter und der Kompetenz der Kandidaten auf die Kandidaten- und Parteipräferenzen überschneiden sich vermutlich. Wir ermitteln deshalb den exklusiven Einfluss der beiden Vorstellungen auf die Präferenzen der Befragten in zwei Schritten. Zunächst berechnen wir multiple Regressionen, in die die sieben unabhängigen Variablen (Führungsstärke, Erfahrung, Selbstsicherheit, Rücksichtslosigkeit, Kompetenz für Sozial- und Umweltpolitik, Kompetenz für Wirtschaftspolitik und Kompetenz für Außenpolitik) gemeinsam eingehen. Die abhängigen Variablen bilden die Kandidatenpräferenz und zusätzlich die Parteipräferenz. Das ermittelte R2 gibt Auskunft über die erklärte Varianz, d.h. darüber, welcher Anteil der Wahlabsichten auf alle Faktoren gemeinsam zurückgeführt werden kann. Im Anschluss daran nehmen wir die Werte für die vermutete Sachkompetenz aus der Regressionsgleichung heraus und berechnen erneut das Zugehörige R2. Die Veränderung des multiplen R2, d.h. der Verlust an erklärter Varianz, gibt Auskunft darüber, welcher Betrag der Wahlabsichten durch die vermutete Sachkompetenz der Kandidaten erklärt werden kann. Dieser Effekt ist nur auf die vermutete Sachkompetenz der Kandidaten zurückzuführen. Auf die gleiche Weise bestimmen wir den Effekt, der ausschließlich vom vermuteten Charakter ausgeht. Da man annehmen
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kann, dass sich die Vorstellungen von der Sachkompetenz und vom Charakter der Kandidaten auf die Wahlabsichten von Personen mit niedriger und hoher Schulbildung unterschiedlich stark auswirken, führen wir diese Berechnungen für alle Befragten sowie zusätzlich für die Befragten mit niedriger Schulbildung (ohne Abitur) und hoher Schulbildung (mit Abitur) getrennt durch. Die Vorstellungen vom Charakter der Kandidaten besaßen einen exklusiven Einfluss auf die Entscheidung zwischen den Kandidaten sowie auf die Entscheidung zwischen deren Parteien. Der Einfluss des vermuteten Charakters der Kandidaten erklärt allein 14,5 Prozent der Präferenz für einen der beiden Kandidaten sowie 6,5 Prozent der Präferenz für ihre Parteien. Die Befragten mit niedriger Schulbildung orientierten sich deutlich stärker am Charakter der Kandidaten als die Befragten mit hoher Schulbildung. Dies zeigt sich sowohl bei ihrer Entscheidung für einen der beiden Kandidaten als auch bei der Entscheidung für eine der beiden Parteien. Die Vorstellung von der Sachkompetenz der Kandidaten besaß erwartungsgemäß keinen exklusiven Einfluss auf die Entscheidung zwischen ihnen. Dies ist aufgrund der vorangegangenen Analysen ausgeschlossen. Ihr Einfluss auf die Entscheidung zwischen den Parteien war gering, jedoch für alle Befragten signifikant. Er allein erklärt 2,0 Prozent der Entscheidung für eine der beiden Parteien (Tabelle 5). Tabelle 5: Exklusiver Einfluss der Vorstellungen von Charakter und Sachkompetenz der Kandidaten auf die Wahlabsichten Vorstellungen von SachCharakter kompetenz % %
Varianz insgesamt %
Kandidatenpräferenz niedrigere Bildung höhere Bildung Alle
(n=169) (n=152) (n=321)
19,3*** 8,9*** 14,5 ***
0,2 2,1 0,4
64,5*** 60,3*** 61,3***
Parteipräferenz niedrigere Bildung höhere Bildung Alle
(n=169) (n=152) (n=321)
9,2*** 5,3** 6,5***
2,0 3,9 2,0*
50,3*** 50,9*** 48,7***
**p<0,05; **p<0,01; ***p<0,0001
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Die Wahltradition kann man als eine langfristig wirkende Kraft verstehen, die den Einfluss kurzfristiger Faktoren wie z.B. des wahrgenommenen Charakters der Kandidaten einer Bundestagswahl modifiziert. Um den Einfluss der Wahltradition auf die Wahlabsichten zu erfassen, führen wir im letzten Schritt unserer Analyse diesen Faktor zusätzlich in die multiplen Regressionen ein. Wir berechnen wie im vorangegangenen Fall den eigenständigen Einfluss der verschiedenen Ursachen, indem wir sie nacheinander aus den Gleichungen eliminieren. Die Veränderungen des multiplen R2 geben dabei wieder Auskunft über den Einfluss, den die jeweiligen Ursachen unabhängig von den anderen Ursachen ausübten. Die Wahltradition besaß nur einen relativ schwachen Einfluss auf die Entscheidung zwischen den beiden Spitzenkandidaten. Zudem war dieser Einfluss nur bei einer Betrachtung aller Befragten signifikant. Sie erklärt exklusiv 0,7 Prozent der Entscheidungen. Deutlich größer war der eigenständige Einfluss des vermuteten Charakters der Politiker. Er erklärt allein 12,5 Prozent der Entscheidungen. Der Einfluss, den die Vorstellungen vom Charakter der Kandidaten auf die Wahlentscheidung ausübten, wurde kaum geringer, wenn man die Wahltradition in die Betrachtung einbezieht (von 14,5% auf 12,5%). Dies deutet darauf hin, dass es sich bei dem vermuteten Charakter der Kandidaten um einen stabilen Einflussfaktor handelt, der von anderen Ursachen der Wahlentscheidung relativ unabhängig ist. Auch bei der Einbeziehung der Wahltradition zeigt sich erneut, dass die Vorstellungen vom Charakter der Kandidaten einen größeren Einfluss auf Personen mit niedriger Schulbildung ausübten. Sie war jedoch auch für die Entscheidung der Befragten mit hoher Schulbildung relevant, was sich vor allem im Vergleich zu dem verschwindend geringen Einfluss der Wahltradition auf das Verhalten dieses Personenkreises zeigte. Einen relativ großen eigenständigen Einfluss besaß die Wahltradition auf die Entscheidung für eine der beiden Parteien. Sie erklärt hier exklusiv 13,4 Prozent des Verhaltens. Dieser Befund ist jedoch trivial und soll daher nicht weiter diskutiert werden (Tabelle 6). Folgerungen Die vorliegenden Daten geben eine Antwort auf die Frage, wie das Fernsehen die Bundestagswahl 1990 beeinflusste. Der Einfluss des Fernsehens bestand darin, dass die Fernsehsender durch ihre Berichterstattung dauerhafte Vorstellungen von der Sachkompetenz der Kandidaten und deren Parteien sowie vor allem vom Charakter der beiden Kandidaten hervorriefen. Dies geschah zum überwiegenden Teil durch sprachliche Informationen, in einem erheblichen Maße jedoch auch aufgrund von bildlichen Darstellungen. Die Vorstellungen von der Sachkompe-
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Tabelle 6: Exklusiver Einfluss der Vorstellungen von Charakter und Sachkompetenz der Kandidaten auf die Wahlabsichten unter Berücksichtigung der Wahltradition Vorstellungen der Kandidaten von SachCharakter kompetenz % % Kandidatenpräferenz niedrigere Bildung (n=169) höhere Bildung (n=152) Alle (n=321) Parteipräferenz niedrigere Bildung (n=169) höhere Bildung (n=152) Alle (n=321)
Wahltradition %
Varianz insgesamt %
15,3***
0,2
0,6
65,2***
8,4***
2,2
0,1
60,9***
12,5***
0,2
0,7*
62,0***
3,5**
0,1
12,9***
63,2***
3,9**
0,1
11,1***
62,1***
3,2***
0,1
13,4***
62,1***
**p<0,05; **p<0,01; ***p<0,0001
tenz, vor allem jedoch vom Charakter der beiden Kandidaten besaßen einen bemerkenswerten Einfluss auf die Entscheidungen zwischen den Kandidaten, der auch auf die Entscheidungen zwischen deren Parteien ausstrahlte. Der wichtigste Befund ist ein Sachverhalt, den wir als Substitutions-Gesetz der Medienwirkung bezeichnen: Die wiederholte kurzzeitige Wahrnehmung von Realität jenseits der eigenen Erfahrungsgrenzen anhand der Medienberichterstattung hier des Charakters und der Sachkompetenz der beiden Kandidaten führt zu dauerhaften Vorstellungen, die für die Realität gehalten werden und in diesem Sinne die Realität substituieren. Der Einfluss der Vorstellungen vom Charakter der beiden Kandidaten würde unter anderen Voraussetzungen bei einem offeneren Wahlausgang ausreichen, um die Wahl zu entscheiden.6 Dies
189
wirft die Frage auf, ob die vorliegenden Befunde verallgemeinerbar sind und deshalb auf alle Wähler des Jahres 1990 und auf andere Wahlen übertragen werden können. Die Antwort hierauf ist notwendigerweise dreigeteilt. Erstens, die Wahl 1990 unterschied sich erheblich von anderen Bundestagswahlen. Selten hatte ein Kanzler derartige Gestaltungsmöglichkeiten, selten stand ein Kandidat derartig im Mittelpunkt der Fernsehberichterstattung, und selten war der Ausgang der Wahl so früh bereits so klar entschieden wie 1990. Aus diesem Grund kann man die vorliegenden Befunde nicht einfach auf andere Wahlen übertragen. Zweitens, die Bevölkerung von Mainz unterscheidet sich zum Teil deutlich von der Bevölkerung Deutschlands. Dies zeigt sich unter anderem in ihrer Sozialstruktur, in ihren religiösen Bindungen, in ihren Parteineigungen und in ihrem Wahlverhalten. Aus diesem Grund kann man die vorliegenden Befunde nicht einfach für Deutschland verallgemeinern. Drittens, die Zusammenhänge zwischen der Darstellung der Kandidaten, ihrer kurzzeitigen Wahrnehmung, den langfristigen Vorstellungen der Fernsehzuschauer und ihren Entscheidungen zwischen den Kandidaten und deren Parteien sind nach allem, was man sehen kann, von den genannten Randbedingungen unabhängig. Folglich sind zwar die Einzelergebnisse nicht verallgemeinerbar, wohl aber die theoretisch angenommenen und empirisch gefundenen Zusammenhänge. Unsere Ergebnisse zeigen zum einen, dass die Zustimmung der Wähler vor allem von den vermuteten Charaktereigenschaften abhängt, während die vermuteten Sachkompetenzen, die man als Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik betrachten kann, nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Sie belegen zum anderen, dass die Vorstellungen vom Charakter eines Politikers in erheblichem Maße auf bildlichen Informationen beruhen, dem generellen Eindruck, den er hervorruft. Daraus kann man folgern, dass im Zeitalter der Fernsehdemokratie die Kluft zwischen den Eigenschaften, die man als Voraussetzung zur Lösung politischer Sachfragen betrachten kann, und den Eigenschaften, die ein Politiker benötigt, damit er von den Wählern den Auftrag hierzu erhält, größer wird. Muss man aus den erwähnten Ergebnissen auch folgern, dass spezifische Sachaussagen von Politikern für den Wahlausgang belanglos sind? Diese Folgerung ist naheliegend, jedoch soweit man sehen kann falsch. Kohl hat die Wahl 1990 nicht durch eine politisch substanzlose Selbstdarstellung, sondern durch politische Grundsatzentscheidungen von historischer Bedeutung gewonnen, die er nach innen und außen z. T. gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt hat. Der Eindruck von Führungsstärke, Erfahrung und Selbstsicherheit lässt sich auch bei Politikern, die für Rollenspiele geeigneter sind als Kohl, vermutlich nicht simulieren. Solche Eigenschaften beruhen nicht zuletzt auf der Wahrnehmung von Sachentscheidungen und Sachaussagen. Das Verhältnis zwischen den Vorstellungen vom Charakter und der Sachkompetenz
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eines Politikers und ihren Einflüssen auf die Wahlabsichten ist offensichtlich komplexer als es den Anschein hat.
1 Vgl. Angus Campbell / Phillip E. Converse / Warren E. Miller / Donald L. Stokes: The American Voter. New York: Wiley 1960. 2 Für die rechnerischen Analysen wurden die Skalenstufen aller Skalen als +2, +1, 0, -1, -2 gewertet. 3 In der ersten Welle wurden 620 Interviews durchgeführt, in der zweiten Welle 395, in der dritten Welle 381. Damit wurden in der dritten Welle noch 32 Prozent der Ausgangsstichprobe erreicht. Die Fragen zum Charakter von Kohl und Lafontaine wurden in der ersten und dritten Welle gestellt, die Fragen zu ihrer Sachkompetenz in der zweiten Welle. 4 Man könnte vermuten, dass die dauerhaften Vorstellungen von den Kandidaten einen maßgeblichen Einfluss auf die kurzzeitigen Wahrnehmungen besitzen. Diese Vermutung trifft jedoch, wie eine umfangreiche Kontrollstudie gezeigt hat, nicht zu. Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Stefan Dahlem: Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt. Theoretische Modelle und empirische Analysen. München 1994, S. 69-80. 5 Zur tatsächlichen Stabilität der langfristigen Parteipräferenzen und ihrem Verhältnis zur aktuellen Wahlabsichten vgl. Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Freiburg i. Br. 2005, S. 101-111. 6 Das war bei der Bundestagswahl 2002 der Fall. Vgl. ebd., S. 162-168.
191
Die Beobachtung der Beobachtung von Politik
Die Wirkung der Massenmedien besteht nach landläufiger Ansicht in der Veränderung der Vorstellungen von, der Meinung zu und der Einstellung gegenüber der Realität. Dabei wird unausgesprochen unterstellt, dass die vorhandenen Sichtweisen auf eigenständigen Erfahrungen beruhen. Genau das ist jedoch bei der Politikberichterstattung unwahrscheinlich. Sie erstreckt sich überwiegend auf die Realität jenseits der Erfahrungsgrenzen fast aller Rezipienten, und sie begleitet die meisten seit ihrer Jugend. Zwar besitzen alle Rezipienten neben den Massenmedien auch andere Informationsquellen, vor allem Freunde und Bekannte. Deren Informationen über das aktuelle Geschehen stammen jedoch ebenfalls überwiegend aus den Medien oder von Bekannten, die sie ihrerseits von dort haben. Die Politikberichterstattung ändert im Laufe der Zeit wahrscheinlich die Vorstellungen der Rezipienten. Diese Vorstellungen sind jedoch selbst bereits eine Folge vorangegangener Medienberichte. Die Rezipienten übernehmen die Realitätsdarstellung der Massenmedien nicht einfach, sondern verarbeiten sie. Sie stellen sie in den Kontext ähnlicher Sachverhalte, grenzen sie gegeneinander ab und schlagen Verbindungen zu früheren Ereignissen. Einen Großteil dieser Sachverhalte kennen sie aus früheren Medienberichten, wodurch die neuen Informationen vor dem Hintergrund früherer Medienberichte interpretiert werden.1 Die Rezipienten ziehen zudem Folgerungen aus den jeweils neuen Berichten bzw. aus den bereits etablierten Vorstellungen. Diese Folgerungen betreffen u. a. die Motive der dargestellten Personen,2 die Ursachen von Unglücken, Verbrechen usw. sowie den Charakter von Politikern und die Leistungsfähigkeit von Staat und Politik.3 Weil die Rezipienten die Darstellungen nicht nur passiv übernehmen, sondern aktiv verarbeiten, gehen die medieninduzierten Vorstellungen unter Umständen weit über die medialen Darstellungen hinaus. Dennoch werden auch die Folgerungen in erheblichem Maße von den jeweiligen Darstellungen präfiguriert. Die Rezipienten können ihre scheinbar individuellen Folgerungen aus dem aktuellen Geschehen meist nur von dem ableiten, was die Medien ihnen als Basis liefern. Deren Informationen bilden die Prämissen für ihre Folgerungen. Man kann den Einfluss der Medien auf die Grundlagen von Folgerungen der Leser, Hörer und Zuschauer deshalb als Prämissen-Effekte der Medienberichterstattung
bezeichnen. Beispiele hierfür liefern Studien zum Einfluss der Medien auf die wahrgenommene Wichtigkeit von aktuellen Ereignissen4 sowie auf die wahrgenommene Bedrohlichkeit von Todesursachen5. Die wahrgenommene Häufigkeit von Todesursachen bildet z. B. die Grundlage für Ängste vor Technologien und zwar weitgehend unabhängig davon, ob die Vorstellungen zutreffen oder falsch sind. Solange sich die Darstellungen der Medien nicht fundamental widersprechen, sind die Folgerungen weitgehend vorgegeben. Dies ist, weil die meisten Menschen nur wenige Medien ähnlicher Ausrichtung verfolgen, auch dann der Fall, wenn verschiedene Medien unterschiedliche Urteilsprämissen liefern. Je logischer den Rezipienten die Folgerungen erscheinen, desto unfreier erfolgen sie: Sie sind, wie man mit Recht sagt, zwingend.6 Zwischen der Gewissheit, dass das eigene Urteil zutrifft, und der Unfreiheit der Urteilenden, besteht deshalb eine enge Beziehung: Die Verarbeitung neuer Medieninformationen stellt oft nur die Modulation vorgegebener Materialien dar und keine eigenständige Realitätserkenntnis. Trotzdem wird sie von den Rezipienten subjektiv als eigene Einsicht erlebt. Dieses Gefühl wird durch die Erfahrung bestärkt, dass andere auf die gleiche Weise zu den gleichen Folgerungen gelangt sind was kein Wunder ist, weil alle von denselben Prämissen abhängen. Sind sie falsch, wie z. B. bei der Darstellung einer angeblichen Ölpest im persischen Golf als Auswirkung des Golfkrieges, erweisen sich auch die Folgerungen als kollektive Trugschlüsse. Dies gilt sowohl für Sachurteile über die Art und Dauer der Schäden als auch für die moralischen Aspekte des Geschehens, z. B. die Schuld der USA und ihrer Verbündeten. Weil die Medien die Prämissen setzen, aus denen die Rezipienten mehr oder weniger präfigurierte Folgerungen ableiten, muss man primäre und sekundäre Medienwirkungen unterscheiden. Bei den primären Medienwirkungen handelt es sich um die Vermittlung von Urteilsprämissen, bei den sekundären Medienwirkungen um die daraus abgeleiteten Folgerungen. Sie sind in dem Maße den Medien zuzuschreiben, wie sie folgerichtig aus den Prämissen hervorgehen. Abbildung 1 skizziert die Wirkungsmechanismen in einem Pfadmodell. Es verdeutlicht, dass die sekundären Effekte individuelle Folgerungen in vielen Fällen auf Vorstellungen beruhen, die das Ergebnis von Medienberichten sind. Die verbreitete Meinung, solche Folgerungen wären eine eigenständige Leistung, ist oft nur eine Illusion. Vor allem logisch zwingende Folgerungen sind keine individuellen Leistungen, sondern kollektive Nachvollzüge medialer Setzungen.
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Abbildung 1: Quelle von vorhandenen Informationen
Keine
Frühere Medienberichte
Eigene Erfahrungen
Bedingungen und Arten von Medienwirkungen
Basis der Effekte
Quelle von neuen Informationen
Art der primären Effekte
Art der sekundären Effekte
Medienberichte
Etablierung von Vorstellungen durch Medienberichte
individuelle Folgerungen
Eigene Erfahrungen
Etablierung von Vorstellungen durch eigene Erfahrungen
individuelle Folgerungen
Medienberichte
Modifikation von medienvermittelten Vorstellungen durch neue Medienberichte
individuelle Folgerungen
Eigene Erfahrungen
Modifikation von medienvermittelten Vorstellungen durch eigene Erfahrungen
individuelle Folgerungen
Medienberichte
Modifikation von Vorstellungen auf der Grundlage eigener Erfahrungen
individuelle Folgerungen
Eigene Erfahrungen
Modifikation von Vorstellungen auf der Grundlage eigener und neuer Erfahrungen
individuelle Folgerungen
Keine Vorstellung vorhanden
Vorstellungen vorhanden
Vorstellung vorhanden
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Die Wirkung der Medienberichterstattung wird üblicherweise als Intervention betrachtet: Die Berichterstattung greift in bestehende Vorstellungen ein und verändert sie. Die Medienberichterstattung erscheint hier als eine externe Größe, die sozusagen von außen die Leser, Hörer und Zuschauer verändert. Solche Interventions-Theorien werden der hier behandelten Thematik schon deshalb nicht gerecht, weil die langjährigen Leser von Tageszeitungen ihre Vorstellungen sukzessive anhand der Berichterstattung entwickelt haben: Wenn sie 1950 im Alter von 20 Jahren regelmäßige Leser einer Zeitung wurden und es 1995 im Alter von 65 Jahren noch immer waren, dann war die Berichterstattung des Blattes 45 Jahren lang eine wesentliche Grundlage ihrer Vorstellungen vom politisch relevanten Geschehen. Diese Vorstellungen wiederum waren eine bedeutsame Grundlage der Folgerungen, die sie daraus abgeleitet haben. Dies gilt analog für die langjährigen Leser aller Zeitungen und Zeitschriften sowie die langjährigen Zuschauer etwa der Tagesschau. Deren Berichterstattung interveniert nicht in eine eigenständige Vorstellungswelt. Sie kreiert und moduliert sie im Laufe der Jahre. Deshalb kann man die Wirkung der aktuellen Berichterstattung als einen Teil der politischen Sozialisation ihrer Rezipienten betrachten. Die skizzierten Wirkungszusammenhänge führen zu der Frage, welchen Einfluss die Realitätsdarstellung der Massenmedien langfristig auf die Vorstellungen der Bevölkerung von Politik und ihr Urteil über Politik besitzt. Hierzu kann man auf der Grundlage zahlloser Wirkungsstudien einige generelle Thesen formulieren: Die wiederholte und kurzzeitige Wahrnehmung der Realität jenseits der eigenen Erfahrungsgrenzen anhand von z. B. Zeitungsartikeln oder Fernsehnachrichten führt zu dauerhaften Vorstellungen von der Realität, die in der Regel für die Realität selbst gehalten werden. Diesen Sachverhalt kann man als Substitutions-Gesetz der Medienwirkung bezeichnen: Die Berichterstattung der Medien tritt an die Stelle der realen Erfahrung, die medienvermittelten Vorstellungen substituieren sie. Sie erscheinen als direkter Ausdruck von Realität. Die Rezipienten registrieren nicht oder vergessen, dass ihre Realitätsvorstellungen auf Realitätsdarstellungen beruhen, dass diese Darstellungen nur Ausschnitte der Realität repräsentieren und dass die Auswahl der Ausschnitte und ihre Präsentation auch die subjektiven Sichtweisen der Berichterstatter spiegeln. Weil die Berichterstattung Realität substituiert, erscheinen aktuelle Berichte, die im Widerspruch zu früheren Darstellungen und den darauf aufbauenden Vorstellungen stehen, nicht als Widerlegung oder Korrektur früherer Berichte es sei denn, sie sind gezielt darauf angelegt. Die neuen Berichte werden vielmehr entweder für falsch gehalten oder als Beleg dafür betrachtet, dass sich die dargestellte Realität geändert hat. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die Darstellung Kohls während der deutschen Wiedervereinigung. Dies belegen die Antworten
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auf folgende Frage im Vorfeld der Bundestagswahl 1990: Bundeskanzler Kohl wurde in der Vergangenheit von den Journalisten häufig als mehr oder weniger unfähig dargestellt. Heute ist das nicht mehr so. Was ist Ihre Ansicht: Haben sich die Journalisten geirrt oder hat sich Kohl geändert?. Die relative Mehrheit der Befragten (38 %) vertrat die Ansicht, Kohl habe sich geändert. Selbst von den potentiellen CDU-Wählern glaubten dies viele (46 %). Dass die Journalisten sich früher geirrt hätten und damit die Prämisse ihrer eigenen Urteile falsch war meinte dagegen nur eine Minderheit der CDU-Anhänger (35 %). Die potentiellen Wähler der SPD (14 %) und der FDP (26 %) waren noch seltener dieser Ansicht.7 Einzelne Medienberichte besitzen, von spektakulären Ausnahmen abgesehen, keine messbare Wirkung, weil die meisten Berichte bereits wenige Minuten später wieder vergessen sind. So erinnert sich z. B. die Mehrheit der Fernsehzuschauer direkt nach den Nachrichtensendungen nur noch an eine von 13 Meldungen.8 Bedeutsam als Wirkfaktoren sind von spektakulären Ausnahmen abgesehen nur Serien von Berichten über gleiche Ereignisse oder Themen. Das schnelle Anschwellen der Berichte z. B. über Bürgerkriege in Somalia und Ruanda, über Erdbeben in San Francisco und Tokio oder über Skandale in Politik und Wirtschaft wird bewusst als Veränderung erlebt. Die Berichte und die behandelten Ereignisse ragen aus dem Strom des Geschehens heraus und bleiben als fest umrissene Episoden im Gedächtnis. Langsame Änderungen des Inhalts und der Gestaltung der Berichte z. B. über Probleme der Gesellschaft und Versäumnisse des Staates werden dagegen nicht bewusst wahrgenommen. Die Vorstellungen von der dargestellten Realität ändern sich folglich unbewusst. Was in Wirklichkeit die Folge sukzessiver Medienwirkungen ist, erscheint als persönliche Entwicklung, als wachsende Einsicht in die Natur der Sache. Je mehr dies der Fall ist, desto größer ist die Gewissheit, dass diese Einsicht eine solide Grundlage besitzt, also richtig ist. Ob dies zutrifft, hängt von den Prämissen der scheinbar individuellen Folgerungen ab und dies heißt von der sachlichen Angemessenheit der aktuellen Berichterstattung. Daran muss auch dann gezweifelt werden, wenn jeder einzelne Bericht richtig ist: Der Irrtum folgt nicht nur aus falschen Darstellungen, sondern auch aus fragwürdigen Gewichtungen, deren Ursachen im Journalismus liegen können, jedoch auch im Verhalten derer, über die die Medien berichten.
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Vorgestellte Welt Den Staat und die Politik, die der Einfachheit halber zusammen betrachtet werden, kann man als soziales System ansehen, dessen Output die Leistungen für die Gesellschaft darstellen.9 Hierbei handelt es sich u. a. um den Erlass von Gesetzen und Verordnungen sowie um ihren Vollzug. Dies schließt auch die Verteilung materieller Hilfen in Form von Sozialleistungen und Subventionen ein. Dem Output steht der Input aus der Gesellschaft gegenüber. Er besteht aus den Anforderungen an das System (demands) und der Unterstützung für das System (support). Bei den Anforderungen handelt es sich im Wesentlichen um Problemlösungserwartungen, bei der Unterstützung um ein Bündel von Verhaltensweisen, das von der billigenden Hinnahme der Entscheidungen über die periodische Beteiligung an Wahlen bis zur aktiven Teilnahme am staatlichen und politischen Leben reicht. Input und Output bilden ein rückgekoppeltes System, weil der Output den Input beeinflusst und umgekehrt: Wachsende Leistungen stärken die Unterstützung für das System. Sinkende Leistungen schwächen die Akzeptanz des Systems. Abbildung 2 illustriert diese Wechselwirkungen anhand eines einfachen Modells. Abbildung 2:
Staat und Politik als System
Anforderungen Demands Staat/ Politik
Entscheidungen Output
Unterstützung Support
Rückkopplung Soziale Systeme geraten nach Ansicht von Systemtheoretikern vor allem aus zwei Gründen in krisenhafte Zustände. Der erste Grund besteht darin, dass die Anforderungen aus der Gesellschaft (demands) ihre Leistungskraft übersteigen. In diesem Fall liegt eine Überlastung des Systems (system overload) vor. Die 198
Überlastung des Systems kann eine Folge übersteigerter Anforderungen aus der Gesellschaft, jedoch auch eine Konsequenz verminderter Leistungskraft des Systems sein. Auch ohne Detailanalyse wird man feststellen können, dass die Anforderungen aus der deutschen Gesellschaft den Staat seit Jahrzehnten an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bringen. Dies schlug sich in höheren Steuerbelastungen mit entsprechenden Einschnitten in die verfügbaren Einkommen nieder, führte aber trotzdem zu einer erheblichen Steigerung der Staatsverschuldung. Die Überlastung des Systems war keine Folge der verminderten Leistungskraft des Staates, sondern das Resultat steigender Anforderungen aus der Gesellschaft. Sie entstanden z. T. autonom in der Gesellschaft aufgrund aktueller Bedürfnisse der Bevölkerung, etwa durch das zunehmende Lebensalter der Menschen, und aufgrund der Professionalisierung der Interessenvertretung durch die Verbände. Die Bedürfnisse wurden jedoch auch aus Eigeninteresse von Politikern, Parteien und Regierungen in der Gesellschaft geweckt und bestärkt. Die Ursachen der wachsenden Anforderungen lagen folglich nicht nur in den autonomen Bedürfnissen der Bevölkerung. Die Anforderungen aus der Gesellschaft an die Politik, vertreten hier durch den Bundestag, überschreiten ihre Leistungskraft nach allem, was man sehen kann, nicht. Weder nahm die Zahl der Gesetze gravierend ab, noch stieg die Dauer der Gesetzgebungsverfahren erheblich an.10 Dies schließt einzelne Gegenbeispiele nicht aus, z. B. die Auseinandersetzungen um die gescheiterte Steuerreform im Jahr 1997. Allerdings nahmen die wechselseitigen Blockaden rivalisierender Einrichtungen zu. Eine wichtige Ursache ist die zunehmende Verschränkung von Bund und Ländern, die den Länderparlamenten mehr Einfluss auf Entscheidungen des Bundestages gab. Eine weitere Ursache ist die Politisierung des Bundesverfassungsgerichtes, das in die Rolle des Oberhauses traditioneller Prägung hineinwuchs und neben Bundestag und Bundesrat faktisch eine dritte Kammer bildet. Der zweite Grund für Systemkrisen besteht nach Ansicht von Systemtheoretikern darin, dass die Unterstützung aus der Gesellschaft (support) im Vergleich zu den Anforderungen aus der Gesellschaft (demands) zu gering ist. Dies kann eine Folge übersteigerter Erwartungen der Gesellschaft und eine Konsequenz schwindender Effizienz des staatlich-politischen Systems sein. Übersteigerte Erwartungen können sich autonom in der Gesellschaft entwickeln, etwa durch die Professionalisierung der Interessenvertretung. Ein Anzeichen hierfür ist die wachsende Zahl der beim Bundestag registrierten Interessenverbände. Übersteigerte Erwartungen können jedoch auch eine Folge von Hoffnungen sein, die das staatlich-politische System durch frühere Erfolge geweckt hat. Ein Beispiel hierfür ist die Anpassung der Renten an die Brutto-Löhne, die praktisch nicht erfüllbare Erwartungen hervorrief. Schließlich können sie auch eine Folge der Darstel-
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lung der Realität durch die Berichterstattung der Massenmedien sein, etwa wenn die Bürger eher als Opfer des Staates denn als sein Nutznießer erscheinen.11 Trotz der Überforderung des Staates und der daraus resultierenden Belastungen für die Bürger und trotz der Reibungsverluste zwischen staatlichen Einrichtungen und dem damit verbundenen Immobilismus in Teilbereichen der Politik wird man in Deutschland keine Krise des Staates und der Politik konstatieren können. Eine solche Diagnose erschiene vor allem bei einem Blick auf vergleichbare Länder nicht haltbar. Genaugenommen geht es darum jedoch auch nicht. Die meisten Menschen leiten im allgemeinen ihre Urteile über den Staat, die Politik und vor allem die Politiker aus einer vorgestellten Welt ab einer Welt, die ihnen vorgeführt wird und die sie sich so vorstellen, wie sie ihnen präsentiert wird. Sie nehmen am politisch relevanten Geschehen vor allem als Zeitungsleser, Radiohörer und Fernsehzuschauer teil und sind deshalb relativ distanzierte Beobachter der Beobachtungen von Beobachtern. Ihre Vorstellungen resultieren aus Beobachtungen zweiter Ordnung. Dies gilt vor allem für den politisch interessierteren Teil der Bevölkerung, der in materiell gesicherten Verhältnissen lebt und folglich von den realen Funktionsmängeln von Staat und Politik relativ wenig berührt wird. Die neue Politikverdrossenheit, die man seit den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts feststellen kann,12 findet sich im Unterschied zur alten politischen Entfremdung auch bei jenen, die unter einer sinkenden Leistungskraft des Staates nicht substantiell leiden. Vor allem ihre Enttäuschung über den Staat und die Politik ist erklärungsbedürftig, lässt sich aber mit den realen Mängeln des Systems gerade nicht erklären. Sie beruht weniger auf realen Erfahrungen als auf abstrakten Vorstellungen dem Eindruck, den ein aufmerksamer Beobachter gewinnen muss. Aus der Perspektive von relativ unbeteiligten Beobachtern werden vor allem jene urteilen, die von den beobachteten Missständen und Problemen selbst substantiell wenig betroffen sind. Ihre Verdrossenheit über den Staat und die Politik ist vor allem eine Folge der Beobachtung von Beobachtungen und lässt sich durch reale Erfahrungen mit Staat und Politik nicht erklären. Die Beobachter der Beobachtungen von Beobachtern kann man als naive Systemtheoretiker betrachten. Sie entwickeln anhand der täglich einlaufenden Meldungen Vorstellungen von den Problemen des Landes, den Opfern dieser Probleme, von der Zuständigkeit für die Beseitigung von Mängeln und Missständen, von Verdiensten und Versäumnissen usw. Aus diesen Vorstellungen ziehen sie mehr oder weniger eigenständige Folgerungen. Welche Eindrücke musste ein aufmerksamer Beobachter gewinnen, der z. B. von seinem 20. bis zu seinem 65. Lebensjahr das aktuelle Geschehen anhand der Berichterstattung die Politikberichterstattung seriöser Tageszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt und der Süddeutschen Zeitung verfolgt hat? Welche
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Folgerungen musste er als naiver Systemtheoretiker daraus ableiten? Eine präzise, beweisbare Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. In einem Gedankenexperiment kann man jedoch einige plausible Vermutungen anstellen, wobei zur Vereinfachung nur die Eindrücke vom Beginn und Ende des Untersuchungszeitraumes herangezogen werden. Ein aufmerksamer Beobachter der Politikberichterstattung wird im Laufe seines Lebens zu der Überzeugung gelangt sein, dass Staat und Politik in Deutschland immer weniger in der Lage sind, die anstehenden Probleme zu bewältigen, weil die Anforderungen aus der Gesellschaft dramatisch zunehmen, während die Leistungen für die Gesellschaft konstant bleiben.13 Er wird den Eindruck gewonnen haben, dass sich die negativen Ereignisse häufen und die Regierenden vom aktuellen Geschehen immer seltener bestätigt werden. Er wird erkannt haben, dass die Mehrzahl der Politiker unfähig ist und eigennützige Ziele verfolgt. Er wird gelernt haben, dass die meisten politisch-administrativen Aktivitäten kaum erkennbare Konsequenzen besitzen. Schließlich wird er eingesehen haben, dass kaum Hoffnung auf eine Überwindung der aktuellen Probleme des Landes und der Mängel seines politischen Systems besteht. Als naiver Systemtheoretiker wird er aufgrund dieser Beobachtungen im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gelangt sein, dass Staat und Politik immer tiefer in eine Krise schliddern. Dieser Überzeugung wird er sich, weil er sie selbst gewonnen hat, ganz sicher sein. Folglich wird seine Wertschätzung für den Staat, die Politik und die politische Klasse verfallen sein. Auch sein politisches Engagement wird abgenommen haben: Offensichtlich waren der Staat und die Politik und ihre Führungseliten heillos überfordert, unfähig die anstehenden Probleme zu lösen, geschweige denn, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Genau dies belegen die eingangs referierten Daten. Als naiver Systemtheoretiker ist er zu dieser Überzeugung nicht notwendigerweise deshalb gekommen, weil die Medien immer wieder explizit behauptet haben, der Staat und die Politik seien unfähig. Er hat diese Folgerung vielmehr selbst aus seinen Beobachtungen der Berichterstattung abgeleitet und sich so ein eigenes Urteil gebildet. Zwischen der tatsächlichen Lebenslage der Beobachter von Beobachtungen und ihren Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit von Staat und Politik wird im Laufe der Zeit eine Kluft entstanden sein: Während sie selbst mit ihrer Lebenslage relativ zufrieden sind, sehen sie um sich die Mängel und Versäumnisse wachsen: Die eigene wirtschaftliche Lage ist akzeptabel, die Lage der Volkswirtschaft miserabel; die Umwelt in der näheren Umgebung ist in Ordnung; der Zustand der Umwelt insgesamt niederschmetternd; die Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis machen in Bonn bzw. Berlin ihre Sache nicht schlecht, die Bundestagsabgeordneten generell bringen jedoch nichts Vernünftiges zustande usw. Die Di-
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vergenzen zwischen ihrer relativ positiven Lage und ihren zunehmend negativen Vorstellungen werden dazu geführt haben, dass ihre Urteile über Staat und Politik keine große praktische Bedeutung besitzen: Ihre negativen Einsichten bleiben weitgehend folgenlos, weil ihnen jene Dynamik fehlt, die aus echter Betroffenheit erwächst. Ihr Unmut schlägt sich zwar in Gesprächen, nicht jedoch in Aktionen nieder. Es ist die Reaktion von Zuschauern, die das Geschehen interessiert, jedoch praktisch kaum betrifft. Daraus folgt nicht, dass diese Sichtweise folgenlos bleiben muss: Sie stellt Schemata bereit, die den Reaktionen der Beobachter, falls sie selbst einmal zu Betroffenen werden, eine klare Zielrichtung vorgeben. Von ihnen wäre für das bestehende System wenig Unterstützung zu erwarten. Folgerungen Der Wandel der Darstellung, Wahrnehmung und Beurteilung von Politik ist das Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses, der von außen angestoßen wurde, dann jedoch eine immer stärkere Eigendynamik entwickelte. Dieser Prozess soll abschließend in modellhafter Vereinfachung rekonstruiert werden. Den äußeren Anstoß bildete die sozio-ökonomische Entwicklung der Gesellschaft vor allem die Verminderung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Einkommen und die Verbreitung einer besseren Formalbildung. Sie befreiten immer größere Teile der Bevölkerung von schwerer Arbeit, vermittelten politisch relevante Grundkenntnisse, gewährten finanzielle Entlastungen, verschafften zeitliche Freiräume und schufen dadurch die Voraussetzungen für die Teilnahme am Geschehen jenseits der eigenen Lebenswelt. Eine Folge der sozio-ökonomischen Veränderungen bestand darin, dass immer mehr Menschen die aktuelle Berichterstattung von Presse, Hörfunk und Fernsehen verfolgten. Das belegen die wachsenden Reichweiten aller relevanten Medien. Einen besonderen Schub erhielt diese Entwicklung durch die Etablierung des Fernsehens, das weiten Teilen der Bevölkerung den Zugang zum aktuellen Weltgeschehen öffnete. Eine Folge der zunehmenden Mediennutzung bestand darin, dass sich immer mehr Menschen für Politik zumindest oberflächlich interessierten. Die zunehmende Nutzung der aktuellen Berichterstattung der Medien und die Ausbreitung des politischen Interesses der Bevölkerung wirkten sich auf drei Faktoren aus erstens die Stellung der Medien und das Selbstverständnis von Journalisten, zweitens die Art der Anspruchsartikulation durch Interessengruppen und drittens das Verhalten der Politiker gegenüber der Öffentlichkeit. Hierbei handelte es sich um Parallelentwicklungen, zwischen denen zahlreiche Wechselwirkungen bestanden. Die größere Reichweite der aktuellen Berichterstattung
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rückte die Medien von der Peripherie ins Zentrum des Geschehens: Ihre Berichterstattung entwickelte sich von einer Begleiterscheinung des Handelns der Interessenvertreter und Politiker zu einer funktionalen Voraussetzung für deren Erfolg. Zugleich änderten sich das Selbstverständnis und die Arbeitsweise eines wesentlichen Teils der Journalisten: Aus passiven Berichterstattern wurden aktive Teilnehmer am Geschehen, die die Grenzen der legalen und legitim erscheinenden Recherche- und Publikationspraxis schrittweise ausweiten und mit ihren Berichten in das Geschehen eingriffen.14 Die größere Reichweite der aktuellen Berichterstattung und der Bedeutungsgewinn der Massenmedien änderten die Erfolgsbedingungen der Interessenvertreter und der Politiker: Sie mussten sich den Bedürfnissen der Medien anpassen, d. h. Informationen mit möglichst hohen Nachrichtenwerten produzieren. Dies besaß weitreichende Folgen. Dazu gehörten die Problematisierung von Missständen durch ihre Stigmatisierung und Moralisierung, die Politisierung des vorpolitischen Raumes durch gesellschaftliche Forderungen und politische Angebote, die Trivialisierung der Politik durch die Beschäftigung mit kaum relevanten Sachverhalten, die Mediatisierung der Politik durch die Produktion von mediengerechten Ereignissen sowie die Selbstinszenierung von Politikern durch Kritik von Politikern. Die Veränderungen der Politik und der gesellschaftlichen Interessenwahrnehmung schlugen sich in der aktuellen Berichterstattung nieder.15 Die Folgen bestanden in einer Häufung von Beiträgen über problematisierte Missstände, die dem Staat und der Politik angelastet wurden, über politisierte Ereignisse in Bereichen, die zuvor nicht Gegenstand der Politik waren, über parlamentarische Aktivitäten, die es früher kaum gegeben hatte sowie über Angriffe von Politikern auf Politiker, die sich zunehmend gegen das eigene Lager richteten. Die Entwicklungen der aktuellen Berichterstattung infolge der Anpassung der Politik an die Bedürfnisse der Medien wurden durch Veränderungen im Journalismus verstärkt. Sie schlugen sich u. a. in einem pessimistischeren Tenor der Darstellung des Geschehens nieder, in einer manifesteren Präsentation von Konflikten, in einer zunehmenden Skandalierung von Missständen sowie in einer wachsenden Kritik von Journalisten an Politikern. Konterkariert wurde die negativere Darstellung der inneren Angelegenheiten Deutschlands, der politischen Führungseliten und des politischen Systems durch eine relativ intensive Berichterstattung über positive Ereignisse; über Ereignisse, die für die Regierung sprachen und über Erfolge politisch-administrativer Maßnahmen. Dies glich jedoch die Masse der Negativdarstellungen bei Weitem nicht aus. Aus der Sicht der Akteure, deren Erfolgschancen zunehmend von den Medien abhingen, handelt es sich bei den oben erwähnten Entwicklungen um die Folgen von Sachzwängen, denen sie Rechnung tragen mussten. Aus der Sicht von
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Journalisten waren es Versuche, die journalistische Unabhängigkeit mit den Mitteln des Journalismus auszuhebeln. Dies erhöhte im Laufe der Zeit den Widerstand gegen die Instrumentalisierung des Journalismus. Als Folge dieser Gegenbewegung ging die Zahl der Beiträge aus Anlass von Politikerstellungnahmen seit Beginn der achtziger Jahre deutlich zurück. Sie war jedoch auch noch Mitte der neunziger Jahre noch erheblich größer als in den Gründerjahren der Bundesrepublik: Die Mediatisierung der Politik und die Transformation der Politikberichterstattung schritten zwar nicht linear fort. Sie waren jedoch auch nicht umkehrbar. Aufgrund der Mediatisierung der Politik und der Transformation der Politikberichterstattung wurden die Handlungen innerhalb der Politik und der Medien bzw. zwischen ihnen selbstreferentieller: Politiker kritisierten zunehmend Politiker, Journalisten griffen zunehmend Berichte anderer Medien auf, Politiker nahmen in den Medien zu Ereignissen Stellung, die selbst schon eine Folge früherer Medienberichte waren usw. Dadurch traten zwischen die eigentlichen Gegenstände und Adressaten der Politik die entscheidungsbedürftigen Sachverhalte und die Bevölkerung die Angehörigen von zwei Berufen: Politiker und Journalisten. Gleichzeitig löste sich die politische Kommunikation von ihren ursprünglichen Bezugsgrößen und entfaltete ein dynamisches Eigenleben. Die Veränderung der Politikberichterstattung schlug sich langsam und kaum merklich in den Politikvorstellungen immer weiterer Teile der Bevölkerung nieder. Dies galt vor allem für jene, die das aktuelle Geschehen aufgrund ihres politischen Interesses anhand der aktuellen Berichterstattung intensiv verfolgten die mittleren und oberen Bildungsschichten. Die Bevölkerung leitete aus ihren langsam aufgebauten Vorstellungen von Politik Folgerungen ab, die über das hinausgingen, was die Medien expressis verbis berichtetet hatten. Dabei handelte es sich vielfach nicht um eigenständige Einsichten, sondern um kollektive Nachvollzüge vorgeprägter Urteile. Zu diesen Folgen gehörten u. a. wachsende Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Problemlösungsfähigkeit deutscher Politiker sowie an der Leistungsfähigkeit von Staat und Politik.16 Die negativen Urteile über die politische Führung und das politische System blieben, obwohl sie zentrale Werte betrafen, weitgehend folgenlos. Es gab keine Massendemonstrationen gegen die Verhinderungsmacht des Bundesrates, gegen den vermuteten Eigennutz der Politiker, gegen die angebliche Ineffizienz der staatlichen Daseinsvorsorge usw. Selbst die Beteiligung bei Bundestagswahlen ging im internationalen Vergleich betrachtet kaum zurück. Der entscheidende Grund hierfür bestand darin, dass die Politikverdrossenheit in der Mittel- und Oberschicht weniger auf eigenen als auf medialen Darstellungen beruhte. Ihre Angehörigen urteilten nicht als Betroffene sondern als Beobachter, nicht aus realer Erfahrung sondern aus fiktionaler Einsicht. Abbildung 3 illustriert den
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skizzierten Wirkungszusammenhang modellhaft anhand von einigen wesentlichen Elementen. Abbildung 3:
Entwicklung von Politikverdrossenheit Ablaufmodell
Interessenvertretung
Sozioökonomische Entwicklung
Mediennutzung
Politisches Interesse
Stellung der Medien/ Selbstverständnis der Journalisten
Berichterstattung
Vorstellungen von / Meinungen über Politik
Politischer Prozess
Wichtigste Grundlage der vorangegangen Darstellung war bekanntlich eine Analyse der Deutschlandberichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt und der Süddeutschen Zeitung von 1951 bis 1996. Diese Zeitungen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht positiv von der Berichterstattung anderer Medien. Das gilt für die Menge der Beiträge und ihren Detailreichtum, die Professionalität der Nachrichtenauswahl und die Nüchternheit der Darstellung kontroverser Themen, die Sachlichkeit der Folgerungen in Meinungsbeiträgen und die Zurückhaltung bei generellen Urteilen über Staat und Politik. Die drei Tageszeitungen gehören zu den Blättern, die sich entschieden für das politische System der Bundesrepublik Deutschland einsetzten. Dies unterscheidet sie von einigen führenden Tageszeitungen in der Weimarer Republik. Eine systemkritische Haltung haben sie nicht vertreten. Dies alles kann man von zahlreichen anderen Publikationen nicht behaupten. Daraus folgt dreierlei. Erstens, die Berichterstattung einiger anderer Medien, die z. T. wesentlich mehr Menschen erreichten, vermittelte ein erheblich negativeres Bild von Staat und Politik als die Berichterstattung der untersuchten Qualitätszeitungen. Zu erwähnen sind vor allem Zeitschriften wie Spiegel und Stern sowie Fernsehmagazine wie Panorama und Monitor. Dies belegen mehrere Fallstudien, sowie eine Vielzahl von Einzelbefunden aus der tagesaktuellen Kritik. Quantitative Belege
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für einen ähnlich langen Zeitraum liegen hierfür jedoch nicht vor. Diese Medien dürften wegen ihrer z. T. großen Reichweite und wegen ihrer z. T. extremen Darstellungsweisen zur langsamen Ausbreitung der Politikverdrossenheit seit den sechziger Jahren erheblich mehr beigetragen haben. Zweitens, die Berichterstattung der hier untersuchten Blätter vermittelte trotz der unbestrittenen Qualität ihrer Berichterstattung und ihrer demokratischen Grundhaltung einen z. T. irreführenden Eindruck von Staat und Politik, der per saldo die Politikverdrossenheit förderte. Nach allem, was man sehen kann, waren weder der erwähnte Eindruck noch die daraus resultierenden Folgen beabsichtigt. Die wachsende Aversion gegen die politischen Führungseliten und gegen zahlreiche politische Einrichtungen waren vielmehr paradoxe Folgen der Intentionen der Redaktionen: Ihre Beiträge förderten, soweit die Verfasser staatspolitische Ziele verfolgten, das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollten statt Unterstützung für das politische System Distanzierung vom politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Drittens, die aktuelle Berichterstattung der Massenmedien besitzt unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Sie sind nicht die Folge eines illegitimen Missbrauchs, sondern eines legitimen Gebrauchs der Pressefreiheit. Dass die Pressefreiheit auch missbraucht wird, ist wahrscheinlich, jedoch nicht Gegenstand dieser Diskussion. Die unbeabsichtigten Nebenfolgen der aktuellen Berichterstattung bestehen u. a. in einer Fehlsteuerung der Aktivitäten politischer Institutionen, einer Diskreditierung des Ansehens der politischen Eliten und in einer schwindenden Akzeptanz des politischen Systems bei der Bevölkerung. Dass die aktuelle Berichterstattung auch positive Effekte besitzt, ist unbestritten, ändert jedoch nichts an den hier dokumentierten Sachverhalten. Die Öffentlichkeit der politischen Willensbildung ist ein Wesenselement der liberalen Demokratie, die Pressefreiheit ihr Garant. Deshalb sprach das Bundesverfassungsgericht der Presse gemeint sind die Medien insgesamt eine konstitutive Bedeutung für die Demokratie zu. Üblicherweise versteht man darunter, dass eine liberale Demokratie ohne eine freie Presse nicht existenzfähig ist. Die Freiheit der Presse ist folglich eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer liberalen Demokratie. Dabei werden in der Regel zwei implizite Annahmen gemacht: Der Einfluss der Presse beschränkt sich erstens angeblich darauf, die Voraussetzungen für die Funktion eines politischen Systems zu sichern, das ansonsten seiner vorgegebenen Eigengesetzlichkeit folgt. Ihre Berichterstattung besitzt zweitens für die liberale Demokratie angeblich keine nennenswerten dysfunktionalen, sondern nur bemerkenswerte funktionale Folgen. Beide Argumente sind mit großer Wahrscheinlichkeit falsch. Die Freiheit der Presse ist zweifellos eine funktionale Voraussetzung für eine liberale Demokratie. Sie ist nicht alles,
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aber ohne sie wäre alles nichts. Trotzdem muss die Frage gestellt werden, welche dysfunktionalen Folgen der Pressefreiheit eine liberale Demokratie verträgt, ohne ihren Charakter zu verlieren.17
1
Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Gregor Daschmann: Todays News Tomorrows Context: A Dynamic Model of News Processing. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 41 (1997) S. 548-563. 2 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Thomas Hartmann: Die Generalisierung der Personenwahrnehmung anhand von Fotos. In: Hans Mathias Kepplinger: Darstellungseffekte. Experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von Pressefotos und Fernsehfilmen. Freiburg i. Br. 1987, S. 230-265. 3 Vgl. in diesem Band Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt; Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Freiburg i. B. 2005, S. 150-153. 4 Vgl. Everett Rogers / James W. Dearing: The Anatomy of Agenda-Setting Research. In: Journal of Communication 43 (1993) S. 68-84. 5 Vgl. Barbara Combs / Paul Slovic: Newspaper Coverage of Causes of Death. In: Journalism Quarterly 47 (1979) S. 837-849. 6 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen. München 2005, S. 45-55, 133-147. 7 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Stefan Dahlem: Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt. Theoretische Modelle und empirische Befunde. München 1999, S. 88; Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer, a. a. O., S. 80-85. 8 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Gregor Daschmann: Todays News Tomorrows Context, a. a. O. und die dort referierte Literatur. 9 Vgl. David Easton: A System Analysis of Political Life. New York 1965; derselbe: A Framework for Political Analysis. Englewood Cliffs 1965; Gabriel Almond / Sidney Verba: The Civic Culture. Princeton 1963. 10 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1989, S. 56-65. 11 Ebenda, S. 71-76. 12 Ebenda, S. 15-33. 13 Die folgende Darstellung der Eindrücke, die ein langjähriger Leser der FAZ, Welt und SZ gewinnen musste, beruht auf einer Inhaltsanalyse ihrer Deutschlandberichterstattung von 1951 bis 1995. Vgl. dazu Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, a. a. O., S. 56-79, 164-177. 14 Vgl. Simone Christine Ehmig: Generationswechsel im deutschen Journalismus. Zum Einfluss historischer Ereignisse auf das journalistische Selbstverständnis. Freiburg i. Br. 2000. 15 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, a. a. O., S. 178-205. 16 Vgl. Marcus Maurer: Politikvermittlung durch Medienberichte. Eine Paneluntersuchung. Konstanz: 2003. 17 Vgl. Doris A. Graber et al.: Symposium. Two Hundred Years of Press Freedom: Has the Promise Been Fulfilled? In: Political Communication 10 (1993) S. 1-36.
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Quellennachweise
Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation Überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Mainz am 15. Dezember 1983. Zuerst veröffentlicht in: Publizistik (30) 1985, S. 247-264. Wieder abgedruckt in Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Politische Kommunikation. Grundlagen, Strukturen, Prozesse. Wien 1986, S. 172-189; Englische Fassung unter dem Titel Towards a System Theory of Political Communication in David L. Paletz (Hrsg.): Political Communication Research: Approaches, Studies, Assessments. Norwood, New Jersey 1994, S. 194. leicht gekürzt Die Rationalität von Politik und Medien Originalbeitrag Politiker als Protagonisten der Medien Zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift für Politik (54) 2007, S. 274-295. Erfahrungen von Bundestagsabgeordneten mit Journalisten Zuerst veröffentlicht unter dem Titel Unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Abgeordnete des 8. Deutschen Bundestages berichten über ihre Erfahrungen im Umgang mit Journalisten in: Publizistik (26) 1981, S. 33-55 mit Jürgen Fritsch. gekürzt Politische Rationalität und publizistischer Erfolg Zuerst veröffentlicht unter dem Titel Die Dominanz der Medien und die Demontage der Politik in: Angela Schorr (Hrsg.) Publikums- und Wirkungsforschung. Wiesbaden 2000, S. 247-260. gekürzt
Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen Zuerst veröffentlicht unter dem Titel Kleine Anfragen: Funktionale Analyse einer parlamentarischen Praxis in: Werner J. Patzelt, Martin Sebaldt, Uwe Kranenpohl (Hrsg.): Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls. Wiesbaden 2007, S. 304-319. Was unterscheidet die Mediatisierungsforschung von der Medienwirkungsforschung? Zuerst veröffentlicht in: Publizistik (53) 2008, S. 326-338. Wieder abgedruckt in Edgar Grande, Stefan May (Hrsg.): Perspektiven der Governance-Forschung. Baden-Baden 2008. Der Nutzen erfolgreicher Inszenierungen Zuerst veröffentlicht in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Wahlkampf in den Medien Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Opladen 1999, S. 25-39 mit Marcus Maurer. Der Transfereffekt des Starstatus Zuerst veröffentlicht unter dem Titel Politiker als Stars in: Werner Faulstich, Helmut Korte (Hrsg.): Der Star. Geschichte Rezeption Bedeutung. München 1997, S. 116-194. stark gekürzt Das öffentliche Erscheinungsbild der Politiker Zuerst veröffentlicht in: Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg 1998, S. 178-205. Englische Fassung unter dem Titel The Declining Image of the German Political Elite in: The Harvard International Journal of Press/Politics (5) 2000, S. 71-80. gekürzt Wie das Fernsehen Wahlen beeinflusst Originalbeitrag auf der Grundlage von Hans Mathias Kepplinger, Hans-Bernd Brosius, Stefan Dahlem: Wie das Fernsehen Wahlen beeinflußt. München 1994. sehr stark gekürzt Beobachtung der Beobachtung von Politik Zuerst veröffentlicht in: Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg 1998, S. 206-226. gekürzt
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