digitalisiert by Manny Hesse
Der Tag schien für das Haus des Stoffwalkers und Gerbers Vesonius Primus von ganz besonde...
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digitalisiert by Manny Hesse
Der Tag schien für das Haus des Stoffwalkers und Gerbers Vesonius Primus von ganz besonderer Bedeutung zu werden. Am frühen Morgen*) schon trat der Sklave Pollio an das Lager des Hausherrn und weckte ihn mit dem lang erwarteten Ruf: „Das Schiff ist da, o Herr!" Dieses Schiff, das aus Massilia (Marseille) kam, hätte längst im Hafen von Pompeji vor Anker liegen müssen, Aber der ständige Südostwind der letzten Zeit war für die Schiffahrt nicht günstig. Die Segler und Ruderer liefen mit großen Verspätungen ein. Einen Augenblick noch blieb Vesonius liegen und horchte auf die Geräusche des erwachenden Hauses, dann erhob er sich. Auch die beiden Söhne, die Knaben Flavius und Petronius, kamen aus ihrer Kammer; kurze Zeit später waren die drei, begleitet von einigen Sklaven, auf dem Wege zum Hafen. Der Frachter, auf den Vesonius so ungeduldig gewartet hatte, brachte Gärbottiche, gefertigt aus den Hölzern Galliens, Walkapparate, mit denen die Stoffe geklopft wurden, eine Presse und viele andere Dinge, die man für den Ausbau der Werkstatt brauchte. Auf den Rat des Freundes Cäcilius Jucundus, des Bankiers und Geldwechslers, hatte sich der Walker entschlossen, seinen Betrieb zu vergrößern und technisch zu verbessern. Die kleine Stadt hatte sich von dem letzten Erdbeben langsam erholt, die Bürger konnten wieder an anderes denken als an den Wiederaufbau des Zerstörten. Die Nachfrage nach guten Stoffen, wie sie das Haus Vesonius herstellte, war größer als vor der Katastrophe. Pompeji mit seinen fast zwanzigtausend Einwohnern war im Jahre 63 durch ein heftiges Erdbeben schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. *) Wir wissen heute, daß es der 23. August des Jahres 79 n. Chr. war. 2
Zahlreiche Häuser waren eingestürzt, und viele Leute hatten ihr Heim und ihre Besitztümer verloren. Pompeji war eine wohlhabende, ja reiche Stadt. Die idyllische Lage am Golf von Neapel — mitten in einer Landschaft, in der ein köstlicher Wein wuchs, und Zypressen und Pinien das Stadtbild anmutig belebten .—• hatte viele Leute hier ihren Wohnsitz suchen lassen. Es war eine Stadt der Pensionäre, die sich nach einem ertragreichen Leben zur Ruhe setzen wollten. Aber es war auch ein Ort der Kaufherren und Gewerbetreibenden. Dafür sorgten schon die glückliche Lage am Schnittpunkt mehrerer Straßen, die ins Innere des Landes führten, der schiffbare Sarno und die Nähe des Meeres, das den Hafen mit der weiten Welt verband.
Die Landschaft zu Füßen des Vesuvs
Eine Stadt mit diesen Möglichkeiten und diesem Reichtum konnte ihre Bedeutung auch durch ein Erdbeben nicht so schnell verlieren. Die Zerstörungen, die im Unglücksjahre 63 angerichtet worden waren, hatten die Bewohner mit großer Tatkraft beseitigt. Bald konnte man hoffen, auch die letzten Spuren des schrecklichen Ereignisses getilgt zu haben; der ununterbrochen anhaltende Zustrom von weiteren Bewohnern verhieß 3
der Stadt neuen, erfreulichen Aufstieg. Kein Wunder, daß erfahrene und weitblickende Geschäftsleute wie Vesonius und sein Geldgeber Jucundus daran teilnehmen wollten. Es war ein schöner Sommertag, dieser 23. August. Die Sonne stand funkelnd am tiefblauen Himmel und gab selbst den eintönig grauen Hausfassaden ein freundliches Aussehen. So viel Geld die Menschen dieser Stadt auch besaßen, so trugen sie ihren Wohlstand doch nicht gern zur Schau; ein Gang durch die Wohnbezirke war daher nicht gerade ein erfreulicher Anblick. Erst wenn man die Schwelle eines Hauses überschritt und die Tür hinter sich schloß, wurde man von der üppigen, bürgerlichen Lebenskultur der Bewohner umfangen Die beiden Söhne des Vesonius machten sich auf dem Weg zum Hafen einen Spaß daraus, von den kniehohen Bürgersteigen auf das holperige Straßenpflaster hinunterzuspringen. Die Trittsteine, die an den Straßenkreuzungen das Überqueren des tiefliegenden Fahrdammes erleichterten, überließen sie den Erwachsenen. Trotz der frühen Morgenstunden waren überall die Handwerker schon fleißig am Werk. Sie saßen in ihren Läden, die nach den Straßen zu offen lagen, und klopften und bosselten an ihren Arbeitsstücken herum. Aus den ärmeren Vierteln kamen die Frauen zu den Brunnen, um die Krüge mit Wasser zu füllen, und an den Toren stauten sich die Fuhrwerke, die vom Lande frisches Gemüse und Obst hereinbrachten. Vesonius überschritt mit seinen Kindern den weiträumigen Platz des Forums, an dem die wichtigsten Regierungsgebäude und die Tempel lagen, dann bogen sie in eine enge Gasse ein und hatten gleich darauf den Hafen erreicht. Mehrere Frachtensegler lagen hier vertäut. Auf schmalen Bretterstegen schafften die Hafenleute all das, was die Stadt für ihren Lebensunterhalt und ihre Werkstätten benötigte, ans Ufer und in die nahen Speicher. Vesonius brauchte nicht lange nach seinem Schiff Auschau zu halten; denn die große Walkpresse stand bereits ausgeladen, Matrosen und Sklaven waren mit lautem Geschrei dabei, immer neue Lasten aus dem Laderaum des dicken Schiffsbauches heraufzuwinden. Die Kinder turnten neugierig an Bord. Zum Ärger der Matrosen krochen sie in jeden Winkel und tauchten bald hier und bald dort zwischen den Fässerstapeln auf, oder sie liefen den schimpfenden Lastenträgern vor die Füße. Das Schiff wiegte in der leichten Dünung des Meeres und die Planken knarrten unter den Tritten der Matrosen und Sklaven. Die Segel hingen 4
schlaff am Mast. Tiefblau wölbte sich der Himmel über dem glitzernden Meer. In der Ferne stand steil und majestätisch der Vesuv. Seine Flanken waren bis weit hinauf mit Weinkulturen bedeckt. Polternd rollten Wagen heran, mit denen die ausgeladenen Güter abgefahren werden sollten, kleine, zweirädrige Karren mit großen, dickspeichigen Rädern. Vesonius saß mit dem Schiffsführer vor einer Hafenschenke bei einem Becher pompejanischen Weines. Der „Pompejaner" galt als guter Tropfen und war weit im Lande gerühmt. Er war nicht weniger begehrt als die „Pompejanische Fischtunke", die zahlreiche kleine Händler in der Stadt herstellten. Als Spezialität wurde die Speisewürze im ganzen römischen Reich gern gekauft. Unter den ausgeladenen Gerätschaften waren einige von unförmigem Aussehen. Es gab viel Geschimpfe, bis die Bottiche und die Presse auf das Fuhrwerk gehoben waren, und noch mehr Mühe machte es, sie auf dem schiechten Lavasteinpflaster, über das der Karren rumpelnd dahinschwankte. heil in die Werkstatt zu bringen. Vesonius interessierte sich wenig für den Transport. Dafür waren die Sklaven da, und er hielt es für selbstverständlich, daß die Arbeit schnell und sachgemäß erledigt wurde. Er beurteilte eine Leistung nach dem Erfolg und nicht nach der Mühe, die sie machte. Trotz seines Handwerkerberufes war er ein stolzer, hochangesehener Mann in der Stadt. Er war im allgemeinen auch ein gütiger Herr und kargte nicht mit Belohnungen, wenn alles zu seiner Zufriedenheit lief; aber hart griff er zui Peitsche, wenn er sah, daß die Sklaven träge und nachlässig wurden.
* Die Fuhrleute mußten nun bald zu Hause sein; auch den Kindern war es langweilig geworden; sie waren nirgends mehr zu entdecken. Da verabschiedete sich der Tuchherr von dem Schiffer, trank ihm den letzten Schluck zu und wandte sich zufrieden zur Stadt. Obwohl er nicht im geringsten Hand angelegt hatte — ein freier Römer mißachtete die Handarbeit, sie galt als unwürdig und ehrlos — spürte er das Bedürfnis, sich in den warmen Bädern der Thermen ein wenig zu erfrischen. Um ehrlich zu sein: es war nicht allein der Drang nach Reinlichkeit und Entspannung, der ihn dazu veranlaßte. Die Bäder waren ein beliebter Treffpunkt, wo man jede Neuigkeit erfahren und jede Nachricht in Umlauf setzen konnte. Es erschien Vesonius nicht ungeschickt, dafür zu sorgen, daß die ganze Stadt bald von dei Vergrößerung seiner Werkstätten für Stoffaufbereitung und Kleiderreinigung erfuhr. Zeitungen 5
waren in jenen Tagen noch unbekannt und die zahlreichen werbenden Inschriften an den Hauswänden waren nur ein sehr unzureichender Ersatz. Unterwegs sah er sich vergebens nach den Knaben um. So ging er über das Forum zu den Stabianer Thermen, die als die schönsten und modernsten Pompejis galten. Rechts und links neben dem Eingang hatten Händler ihre Verkaufsstände. Vesonius blieb plaudernd bei dem einen und dem anderen stehen, denn viele waren seine Kunden. Handel und Wandel ließen selbst in den heißen Mittagsstunden an dieser besonders lebhaften Ecke der Stadt nie ganz nach, und so war das Bild bunt und voller Leben. Hier wechselte er ein paar Scherzworte, kaufte eine Kleinigkeit, dort nahm er eine Bestellung entgegen und notierte sie auf seine Wachstafel. Er betrat das Bad und legte im Auskleideraum Toga und Tunika ab. Der Gewandmeister nahm sie entgegen und legte sie in eine der Nischen in der Wand; ein Diener verwahrte die Schmucksachen, denn es galt als unfein und protzig, sie mit ins Bad zu nehmen. Vesonius ließ sich zunächst ein wenig in der lauen Luft des Tepidariums durchwärmen und ging dann hinüber ins heiße Bad. Das Caldarium war der Stolz Pompejis, es war mit allem Komfort der neuesten Zeit versehen. Die Heißluftheizung, die Sergius Orata vor hundert Jahren erfunden hatte, war hier besonders geschickt angelegt. Der Fußboden lagerte auf hunderten kleiner ZiegelpfeileT, und durch die Hohlräume zwischen den Sockeln strich die heiße Luft. Ähnliche Hohlräume gab es in den Wänden, und diese Zentralheizung arbeitete so ausgezeichnet, daß man in der Halle nach Herzenslust schwitzen konnte. In einer Wanne gleich neben dem Eingang saß Popidius Priscus, ein guter Bekannter, einer von Vesonius' besten Kunden. Der schwere, wohlbeleibte Mann hatte Sorgen. Er war seit Jahr und Tag dabei, sein Haus neu aufzubauen, das 63 durch das Erdbeben völlig zerstört worden war. ,,Was macht das Haus?" fragte daher Vesonius, denn es gab keinen Gesprächsstoff, der dem Geschäftsfreund mehr am Herzen lag. „Gute Fortschritte", sagte Popidius, aber das sauertöpfige Gesicht strafte ihn Lügen. „Wohl viel Ärger mit den Handwerkern?" „Ach, die Handwerker!" jammerte Popidius und strich sich mit dem Handrücken den Schweiß vom Gesicht. „0 Vesonius, ich sage dir, auf die Leute ist kein Verlaß." „Wobei du meine Firma hoffentlich ausnehmen wirst," scherzte Vesonius, „und das soll in Zukunft sogar noch besser werden!" So hatte 6
er den Badnachbarn geschickt auf das Thema gebracht, das ihn zu dieser Stunde hierher geführt hatte und Vesonius gab einen ausführlichen Berichi von seinen Plänen. „Wenn dir Vulcanus *) nur keinen Strich durch die Rechnung macht", sagte Popidius griesgrämig. Er spielte damit auf die Erdstöße an, die in der letzten Zeit, vor allem am 21. und 22. August die Erde wieder erschüttert und auch in Pompeji neue Gebäudeschäden verursacht hatten. „Wir wollen es nicht hoffen"! Vesonius lachte nicht mehr; denn das war ein Punkt, der alle Gemüter der Stadt mit geheimer Furcht erfüllte. Der Walker wandte sich den anderen Besuchern zu, soweit er sie in dem Dunst der Halle erkannte. Er brachte auch bei ihnen seine Neuigkeiten an. Dann meinte er, daß es nun genug des Geplauders sei, ließ sich im Labrum mit lauwarmen Wasser begießen und ging dann schnell ins Frigidarium hinüber, um mit kaltem Wasser den Körper wieder auszukühlen. Da es inzwischen spät geworden war, schenkte er sich die Massage, die Ölung und den Besuch des großen Hofes, der Palaestra, wo sich eine Schar junger Pompcjaner mit Ballspiel und anderen sportlichen Übungen vergnügte. Als er am Nachmittag nach Hause kam, meldete ihm der Torhüter, der sein Stübchen dicht neben dem Eingang hatte, daß der Schiffsführer gekommen sei, um mit ihm die Fracht abzurechnen. Der Seemann wartete in der Wohnhalle, dem Atrium. Er spielte mit dem großen Hund, der hier an der Kette lag, um das Haus zu bewachen. Es war kein schönes Tier. Sein langer, schmaler Kopf wurde durch ein paar große Hauer, vor denen jeder Besucher erschrak, verunstaltet. Der Hund hatte anscheinend mit dem Fremden Freundschaft geschlossen. Er lag auf dem Rücken, die Beine weit von sich gestreckt und ließ sich mit einem Stöckchen den Bauch kraulen. Es war ein Ausdruck des Wohlbehagens, und weder er selbst noch sein Herr ahnten, daß es bald eine Geste der Verzweiflung und des Todeskampfes werden sollte. In der Mitte des Hallendaches war eine rechteckige Öffnung, das Impluvium. Der Regen fiel frei in ein darunter befindliches Becken. **) * altitalienische Gottheit des Feuers und im übertragenen Sinne der Kräfte des Erdinnern. **) Vgl. zu dieser Schilderung das Innere eines reichen Pompejianer Bürgerhauses auf der letzten Umschlagseite. 7
„Wir wollen es uns bequem machen", sagte Vesonius, und bot seinem Besucher die Hand. ,,Es ist ein schöner Tag, und auch Vulcanus scheint uns Ruhe zu gönnen". Er führte den Gast durch einen Gang, in dem rechter Hand die Türen in die Wohngemächer führten, zum Peristyl. einer Säulenhalle, die einen kleinen, aber wohlgepflegten Garten umschloß Links und rechts von dieser Halle lagen die Wirtschaftsräume. Die Sklaven eilten hin und her; sie rüsteten das Mahl. In der Ecke des Gartens unterhielt sich Agrippina, des Vesonius Tochter, mit ihrer Freundin, der Tochter des Bankiers Cäcilius Jucundus.
Grundriß eines Pompejanischen Hauses
Das Mädchen kam herbei, den Vater und den Fremden zu begrüßen und sich in dem neuen Gewand bewundern zu lassen, das eben fertig geworden war. „Man merkt, daß man im Hause eines Stoffkenners ist", sagte der Seemann anerkennend, als das Mädchen zu der Freundin zurückkehrte, „so gefällige Stoffe wie bei dir sieht man selten, und ich komme doch viel in der Welt herum". Vesonius deutete einladend auf eine Bank. Hier war es kühl. Das von Säulen getragene Dach, das nur über dem Gärtchen offen war, i spendete Schatten, und doch konnte man meinen, im Freien zu sitzen. -I 8
Der Schiffsführer holte die Papiere hervor, die zu besprechen waren, und Vesonius begann sie durchzusehen. „Ihr werdet immer teurer", sagte er, als er die Posten verglich und die Summen nachrechnete. Der Gast zuckte entschuldigend die AAseln. „Die hohen Unkosten! Die Geschäfte sind stark zurückgegangen. Unser altes Römisches Reich will nicht mehr recht! Oft fahren wir halb leer". „Und da meinst du, wir Landratten müßten nun Euch Seeräubern Eure Ausfälle bezahlen!" Vesonius konnte seinen Ärger hinter den scherzhaften Worten nicht ganz verbergen. „Wir können doch nicht mit halben Schiffen fahren! Ob voll oder leer, die Fahrzeit bleibt die gleiche, die Mannschaft bleibt die gleiche, mit einem Wort: die Unkosten ändern sich bei verminderter Fracht nicht nennenswert". „Erzählt das meinen Kunden! Die werden Euch schon eine Antwort geben!" Verdrossen zog Vesonius einen Beutel hervor, zählte eine Anzahl Münzen ab und ließ sie zögernd in die Hand seines Besuchers gleiten. „Und wann wollt Ihr wieder fahren?" „Morgen mit dem Aufgang der Sonne. Wir haben durch den Sturm viel Zeit verloren und müssen nun jede Stunde ausnutzen. Die Mannschaft will ihren Lohn, gleich, ob wir auf See sind oder faul im Hafen liegen". Ein Sklave kam und meldete, das Essen sei angerichtet. „Ihr macht uns doch die Freude, mit uns zu speisen?" fragte Vesonius. „Gern!" Nachdem die beiden sich gewaschen und erfrischt hatten, gingen sie in den Speiseraum, in dem bereits gedeckt war. Außer der Frau des Hauses, die an der Spitze der Tafel saß, lagen alle anderen beim Essen halb ausgestreckt auf den Ruhepolstera. Die Sklaven brachten die erlesenen Gerichte auf Platten aus der Küche. Im Speiseraum gab es keine Möbel, auf die man sie hätte abstellen können. Der Schiffsführer, an die karge Kost auf See gewöhnt, langte tüchtig zu. Er war ein einfacher Mann; die Stunde in diesem wohlgepflegten Hause genoß er mit tiefem Behagen. 9
Nach dem Essen saß man noch eine Stunde zusammen und plauderte. Dann erhob sich der Gast. Bald, nachdem sich der Schiffsführer verabschiedet hatte, ging man im Hause des Vesonius zur Ruhe; die Sonne war noch nicht lange unter den Horizont getaucht.
* Am nächsten Morgen begab sich Vesonius, wie er es gewohnt war, gegen neun Uhr in die benachbarte Werkstatt. Hier ruhte heute jede andere Arbeit. Man wollte den Tag dazu benutzen, die Walkpresse und die neuen Färb- und Beizbottiche aufzustellen. Vesonius überwachte selbst die Arbeiten. Er gab dem riesigen Sklaven Pollio die notwendigen Anweisungen und Pollio rief sie den Arbeitern zu. Man hatte die schwere Presse auf untergelegten Rundhölzern an ihren Platz geschoben; die Sklaven zerrten gerade an den Rollen, um sie herauszuziehen, als ein dumpfer, grollender Donnerschlag die Luft erschütterte. Das Werkstattgebäude schwankte, als rüttele ein Zyklop mit übermenschlichen Kräften an seinen Fundamenten. Herr und Sklaven blickten erschreckt auf und horchten. Werkzeuge kollerten zur Erde. Eine Steinamphore, in der sich Beize befand, zerbrach mit klirrendem Laut; die klebrige Flüssigkeit lief in breiten Rinnsalen über den gepflasterten Hof. „Vulcanus! Das war Vulcanus! 0 Herr", rief Pollio entsetzt. „Und der Donner?" fragte Vesonius. „Nein, das kam nicht aus der Unterwelt! Das ist ein Warnruf der Götter! Es wird gut sein, Pollio, wenn du zu den Frauen läufst, um sie zu beruhigen. Ich bleibe! Wenn das Beben schlimmer wird, komme ich hinüber. Wir werden dann die Stadt sofort verlassen." „Herr, du willst all das hier im Stich lassen?" sagte Pollio erstaunt. „Denk an das Beben vor sechzehn Jahren! Meinst du, ich will mich von den zusammenstürzenden Mauern erschlagen lassen? Es ist besser, wenn wir gehen und wiederkommen, sobald die Götter wieder Ruhe geben." Pollio war kurze Zeit fort, als draußen auf der Straße Lärm entstand. Vesonius ging vor das Haus und sah schräg gegenüber Cäcilius Jucundus vor dem Eingang stehen. Von dem Nolaer Tor kamen Leute gelaufen. Sie rafften ihre Gewänder, um schneller vorwärts zu kommen. Erregung stand auf ihren Gesichtern. 10
„Es sind die Hirten des Vettius Conviva, wenn mich nicht alles täuscht", rief der Bankier herüber. „Der Vesuv brennt!" schrien die Männer schon von weitem; sie kamen von den Hängen vor der Stadt und liefen, um die entsetzliche Nachricht zu ihren Leuten zu bringen. „Was war das für ein Donner?" fragte ein Mann mit struppigem Bart und zerfurchtem Gesicht. Zwei der Hirten verhielten einen Augenblick: „Der kam aus dem Berg", berichtete einer. „Eine hohe Flamme schoß plötzlich aus seinem Maul. Wir sahen Steine durch die Luft fliegen und dann breitete sich der Rauch aus wie eine gewaltige Pinie." wie ein hoher Stamm mit riesig-schwarzem Geäst", fügte ein bla-sser fünfzehnjähriger Junge, noch atemlos vom Laufen, hinzu. „Und in der Wolke blitzten und zuckten die Feuergarben", fuhr der Hirte fort. „Ein großes Feuer muß tief innen im Berg brennen. Sein Bauch ist aufgerissen, heraus quillt ein dicker, rauchender Brei und wälzt sich gegen die Häuser von Herculaneum". Herculanum war eine Stadt, etwas kleiner als Pompeji. Sie lag unmittelbar am Fuße des Vesuvs und war nur vier Kilometer vom Gipfel entfernt. „Der Brei fließt so schnell, daß man kaum mehr davonlaufen kann", schluchste der Junge, dem jetzt von der ausgestandenen Angst die Tränen über die Wangen liefen. „Jupiter erbarme sich unser!" schrie der ältere und zerrte den Jungen mit sich. „Gewiß kommt die Flut auch noch zu uns!" Die Hirten rannten weiter und ließen die anderen stehen. „Was hältst du davon?" fragte der Walker den Geschäftsfreund. „Nichts, nichts als Geschwätz! Die Tölpel sehen am hellichten Tage Gespenster! Es wird eine tiefliegende Wolke sein, die langsam den Berghang hinabzieht." In diesem Augenblick begann ein seltsames Sausen in der Luft. Gleich darauf fielen Steinbröckchen, die eigentümlich leicht und heiß waren, in die Straße. Überall prasselte es auf die Dächer, „Es regnet Steine'.', sagte ein kleines Mädchen verwundert. Es war die Tochter des Tofelanus Valens, der neben dem Bankier wohnte. „Ich muß zu den Frauen", rief Vesonius, „sie werden sich ängstigen. Wenn es schlimmer wird, müssen wir überlegen, was wir tun. Vielleicht ist es am besten, wenn wir ins Freie gehen." „Du bist zu ängstlich", beruhigte Jucundus. „Ich denke nicht daranl 11
Soll der Pöbel unsere Häuser ausplündern? Wer wird vor ein paar Steinchen davonlaufen!" Trotz seiner Selbstsicherheit warf er einen besorgten Blick zum Himmel, der sich düster und bedrückend verfärbte. Von dem strahlenden Blau des Mittags war nichts mehr zu sehen. Vesonius lief die paar Schritte zu seinem Haus hinüber. Er hörte, wie der Hund an der Kette zerrte. Unter den Säulen traf Vesonius die Gattin. „Was ist das?" fragte sie. In ihren Augen stand das Grauen. ,,Ich weiß es nicht, die Schäfer des Vettius meinten, es käme vom Vesuv. Aber das kann ich mir nicht recht denken . . . dieser friedliche Berg, der noch nie jemanden etwas zu Leide tat!" Ein Sklave, der dem Hausherrn die schriftlichen Arbeiten erledigte, trat eifrig heran: „Gewiß irrst du dich, o Herr, ich las in der Geographie des Strabo, daß er bei einer Besteigung des Berges Steine gefunden hat, die vom Feuer benagt und Höhlen, die schwarz von Ruß waren." Vesonius sah ihn wütend an: „Du redest Unsinn", sagte er. „Der Ruß wird von Hirten stammen, die ihre Mahlzeiten bereiteten". Dann trat er dicht an den Sklaven heran. Obwohl er leise sprach, war etwas in seiner Stimme, das den Schreiber erzittern ließ: „Und selbst wenn der Vesuv ein feuerspeiender Berg wäre, so erschreckt man damit nicht zitternde Frauen. Du hast zu schweigen, wenn du nicht gefragt wirst!" „Was werden wir tun?" fragte Flavius, der alterte Sohn, der hinzugekommen war. „Nichts", entschied der Vater. „Wir bleiben im Haus. Die Wände sind dick und das Dach ist in Ordnung. Kommt in die Räume an der Säulenhalle, dort sind wir am sichersten! Es dauert bestimmt nur kurze Zeit, und alles ist vorüber. Dann werdet ihr über eure eigene Ängstlichkeit lachen." Als sich die Familie mit den Sklaven in dem großen Speiseraum versammelt hatte, ließ Vesonius Lampen bringen, denn es war indessen dunkel geworden. Die Frauen schreckten zusammen, wenn die Erdstöße, die immer noch anhielten, das Haus erschütterten. Als Vesonius in einem Augenblick der Ruhe die Tür öffnete und in die Säulenhalle hinaustrat, sah er, daß das Steingebröckel bereits zwei Fuß hoch den Boden bedeckte. Aber noch schlimmer: Der Steinschlag war anscheinend schwächer geworden, doch nun begann ein feiner, dunkelbrauner Aschenregen. Er fiel so dicht, daß das Tageslicht wie von 12
dunklen Schleiern fast völlig ausgelöscht war. Man meinte, die Nacht zöge herauf, und doch war es erst Mittag. Der Walker war aufs äußerste bestürzt. Ob es nicht doch besser war, das Haus zu verlassen? Aber die Sorge um die Frauen, die sich in diesem höllischen Unwetter sicher zu Tode fürchteten, hielt ihn zurück. Er wollte in das Speisezimmer zurückgehen, als er im Atrium Schritte' hörte. Geführt von Juba, dem Neger, den er vor Jahren gekauft hatte, kamen die Sklaven, die bisher in der Walkerei geblieben waren. „Wir kommen, weil du vielleicht unsere Hilfe brauchst, o Herr", sagte Juba zögernd. Er war nicht ganz sicher, wie die eigenmächtige Handlung aufgenommen würde. Zu spät dachte er daran, daß jemand in der Werkstatt bei den neuen Gerätschaften hätte bleiben müssen. Aber Vesonius nickte nur. Was interessierten ihn die Werkstatt und die Walkpresse, die noch am Morgen sein ganzer Stolz gewesen war. „Vielleicht sollten wir doch lieber versuchen, die Stadt zu verlassen", murmelte er. Dann, sich an Juba wendend, fragte er: „Wie steht es auf der Straße?" „Die Leute laufen in großen Scharen aus der Stadt", antwortete er. „Sie haben sich Kissen auf die Köpfe gelegt und Tücher vor die Gesichter gebunden. Ihren Hausrat schleppen sie mit und tasten sich schreiend durch die Finsternis. Aber ich fürchte, weit werden sie nicht kommen. Man sinkt bei jedem Schritt bis über die Knöchel ein". „So meinst du, es ist besser, wenn wir hier bleiben?" Der Sklave reckte sich auf: „Um mich hätte ich keine Angst, aber die Frauen werden nicht durchhalten", sagte er. „Aber wenn dieser Aschenregen Tag und Nacht anhält? Dann deckt er das ganze Haus zu und wir müssen jämmerlich ersticken." Juba war zuversichtlicher: „Wie sollte er die ganze Nacht anhalten, o Herr? Auch die Kräfte eines Gottes erschöpfen sich. Es wird nicht lange dauern, dann wird die Luft rein sein. Dann wollen wir gleich daran gehen, die Asche wieder fortzuräumen!" So begaben sie sich alle in den Speiseraum, um zu warten, ängstlich sich vor den Göttern beugend und zitternd in der Ahnung des Schicksals, das sie ihnen beschieden haben mochten. Vesonius ließ etwas Wein und Wasser bringen, daß sie sich erfrischen konnten. Sie tranken, aber mehr, um die Kehlen zu befeuchten, als vor Durst. Die giftigen Dämpfe, die sich nun über die Stadt niederzusenken begannen, legten sich beklemmend auf das Herz und machten das Atmen zur Qual. 13
„Wir sollten wenigstens das Geld und die Schmucksachen zusammenpacken", meinte Vesonius nach einer Weile. „Wenn wir doch noch das Haus räumen müssen, kann es dazu zu spät sein." Er erhob sich und winkte einigen Sklaven, ihm zu folgen. „Willst du uns allein lassen?" jammerte das Mädchen Agrippina und drängte sich an ihn. „Ich fürchte mich!" Vesonius strich der Tochter über das Haar. „Es ist ja nur für kurze Zeit", beruhigte er sie. „Aber wenn wir fliehen müssen, brauchen wir Geld. Oder glaubst du, einer wird uns etwas schenken?" Als Vesonius den Raum verlassen wollte, hörte er von der Straße her seinen Namen rufen. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber so sehr er sich auch dagegen stemmte, sie gab nicht nach. Erst als die Sklaven mit zupackten, gelang es. Draußen sahen sie, daß die Asche bereits so hoch lag, daß sie ihnen fast bis zur Hüfte ging. Es war inzwischen stockfinstere Nacht geworden, obwohl irgendwo hoch am Himmel noch immer der feurige Wagen der mittäglichen Sonne dahinzog. Vor der Tür stand Cäcilius Jucundus, begleitet von zwei Sklaven, die Lampen trugen. „Unsere Frauen wollen nicht länger warten", sagte der Bankier. „Und da noch immer kein Ende abzusehen ist, dürfte es wohl das Beste sein, wenn wir uns auf den Weg machen. Wollt Ihr nicht mitkommen?" „In Jupiters Namen", antwortete Vesonius. „Ja! Bringt Mäntel, Decken und Kissen", befahl er dann den Sklaven. „Vergeßt die Lampen nicht. Je- mehr Lampen, um so besser. Wohin sollen wir flüchten?" fragte er, sich wieder an den Nachbarn wendend. „Irgendwohin, wo keine Häuser sind", entgegnete der Bankier, „nur nicht in die Nähe des Unglücksberges. Es wird am besten sein, wenn wir zum Hafen gehen. Vielleicht haben wir da die Möglichkeit, aufs Meer zu kommen. Sollten wir uns in der Finsternis verlieren, so wollen wir uns bei der Hermessäule am Hafen treffen. Beeilt euch, ich gehe und benachrichtige die Frauen". Er drehte sich um und arbeitete sich durch die Asche zurück. „Hast du das Geld?" fragte die Frau des Vesonius, als sie die Mäntel umlegten und Tücher vor die Gesichter banden. „Ich hole es sofort. Geht inzwischen hinüber zu Jucundus! Pollio wird euch geleiten". Vom Atrium klang das Heulen des Hundes herüber, der noch immer an seiner Kette zerrte. Die Asche, die durch das Impluvium wehte, lag hier so hoch, daß der treue Wächter in tödliche Bedrängnis geriet. 14
Die Kette war an der Wand festgemacht. Da das Tier höher und höher kletterte, würgte ihm das Halsband den Atem. Nicht mehr lange, und er würde ersticken müssen. „Wir bleiben bei dir, Vater", sagten die beiden Jungen tapfer, als sich die Frauen, geführt von Pollio und zwei Lampenträgern, auf den Weg gemacht hatten. „Gut", antwortete Vesonius, „aber beeilen wir uns. Wenn wir noch lange zögern, werden wir in diesem Zeug da draußen steckenbleiben .. ."
# „Jupiter sei Dank, daß ihr endlich kommt!" rief der Bankier, als sich die beiden Frauen des Vesonius mit Pollio über die Straße getastet hatten. So kurz der Weg auch war, er hatte sie doch lange aufgehalten; denn bei jedem Schritt sanken die Füße tief ein. Sie mußten mühsam einen Weg durch die dicke Asche bahnen. „Haltet euch hinter uns", sagte Jucundus und setzte sich mit zwei lampentragenden Sklaven an die Spitze des kleinen Zuges. „Aber wir können die anderen doch nicht zurücklassen", zögerte die Frau des Vesonius, als sie sah, daß man sich auf den Weg machte. „Wir gehen nur ein Stück voraus!" ermunterte sie Jucundus. „Ich habe mit Vesonius vereinbart, daß wir zum Hafen gehen. Je früher wir dort sind, um so eher können wir uns um ein Boot kümmern". Es war jetzt so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Die Lampen waren matte, kleine Lichtpunkte. Drei oder vier Schritte entfernt, wurden sie bereits von der grausigen Finsternis verschluckt. Es war unmöglich zu spredien; mit jedem Atemzug drang selbst durch die vorgebundenen Tücher feiner Aschenstaub in Mund und Nase. Sie waren erst kurze Zeit gegangen, als ein starker Stoß den Erdboden erschütterte. Dicht neben ihnen stürzte krachend eine Hauswand zusammen. Die Frau des Vesonius schrie gellend auf. Ein Steinbrocken hatte sie getroffen und ihr den Arm gebrochen. Sie sank in die Knie und blieb hilflos, völlig ermattet liegen. Der Sklave Pollio war sofort um sie bemüht. Aber die Lampenträger, die nichts gehört hatten oder nur noch den einen Wunsch hatten, diesem Grauen zu entfliehen, eilten trotz Pollios wütendem Rufen weiter. Bald waren sie verschwunden, und die Finsternis umgab die Zurückgebliebenen wie ein dichtes, schwarzes Tuch. „Wir müssen weiter, o Herrin", rief Pollio ächzend. Aber die Frau gab keine Antwort. Da beugte er sich nieder, faßte sie unter den ge15
sunden Arm und hob sie mit seinen Bärenkräften auf. ,.Halte dich an mir fest", sagte er zu Agrippina, die wehklagend dabei stand. Und dann tasteten sie sich dicht an den Hauswänden entlang langsam weiter. Sie rannten gegen vorspringendes Mauerwerk oder stolperten über einen Menschen, der zusammengebrochen am Erdboden lag. Sie bogen um Straßenecken, aber die Orientierung hatten sie längst verloren. Sie wußten nicht mehr, wo sie sich befanden, nur die allgemeine Richtung nach Südosten glaubte Pollio einzuhalten. Von Zeit zu Zeit stapfte jemand mit Lampen oder mit einer Fackel an ihnen vorüber. Dann schrie Pollio, man möge sie mitnehmen, aber jeder hatte genug mit sich selbst zu tun, und niemand kümmerte sich um sie. Vielleicht hätte es der riesige Sklave dennoch geschafft, wenn nur diese erstickende Luft nicht gewesen wäre, die sich beklemmend auf die Lungen legte. Immer wieder mußte er stehen bleiben und sich ausruhen. Dann sank die Frau an seinem Arm in sich zusammen. Er hatte Mühe, sie wieder auf die Beine zu bringen. Das Mädchen Agrippina war von Hustenanfällen geschüttelt, aber ihre schmale Hand krampfte sich fest um den Zipfel von Pollios Gewand, den einzigen Halt, den sie in dieser grausigen Stunde noch hatte. Schließlich konnte auch der Sklave nicht mehr. Keuchend hob und senkte sich seine mächtige Brust. Er preßte seine Hände auf das schmerzende Herz. Da stürzte die Frau zu Boden. Agrippina stolperte über sie und ließ Pollio los. Der Sklave schritt taumelnd zwei, drei Schritte weiter, bis auch er zusammenbrach wie seine Herrin. Die Mutter lag da wie tot. Agrippina zog den Saum des Mantels über ihr Gesicht und preßte in verzweifelter Hoffnungslosigkeit den Kopf in die Arme. Pollio warf sich auf den Rücken, seine Beine zogen sich in einem letzten Krampf zusammen. Dann kam die Asche, die grausame, endlose Asche und deckte die drei mit ihrem dunklen Leichentuch zu . . . ir Als Vesonius mit seinen Söhnen und den Sklaven zum Haus des Cäcilius Jucundus hinüberging, fand er niemanden mehr vor. „Sie werden zum Hafen gegangen sein, dachte der Walker. „Pollio wird sie sicher führen." In einer langen Kette schritten sie stumm hintereinander. Sie kamen verhältnismäßig leicht vorwärts. Da sie durch ihre Zahl die Asche festtraten, hatten es immer nur die ersten zwei oder drei besonders schwer. 16
Vesonius sorgte dafür, daß jeder einmal an dKie Spitze kam und sich keiner zu sehr anstrengen mußte. So erreichten sie in kurzer Zeit die Stabianer Thermen und bogen hier scharf nach Westen ab. Sie waren noch nicht weit gegangen, als ein Lampenträger vorn über einen Körper stolperte, der von der Asche schon halb zugedeckt war. „Hier liegt jemand", sagte einer der Sklaven. „Und hier!" rief ein anderer. „Nur weiter", drängte Vesonius, „wir haben keine Zeit und müssen an uns selbst denken." Er hob die Füße und stieg über die Liegenden hinweg; er ahnte nicht, daß er in diesem Augenblick zum letztenmal seiner Frau und dem Kinde begegnet war. Als sie das Forum erreicht hatten, ging es etwas schneller, denn hier fiel die Asche dünner. Wahrscheinlich trieb der vom Meere wehende Wind sie tiefer in die Stadt hinein. Kaum aber hatten sie die Gasse betreten, die zum Hafen führte, als ihnen Leute entgegengewankt kamen. „Es hat keinen Zweck hinunterzugehen", keuchte einer der Männer. „Das Meer ist in wildem Aufruhr und überspült die Ufer. Hunderte sind schon umgekommen. Kein Schiff kann ausfahren. Gegen die Kraft der Wellen kommen die Ruder nicht an. Der Wind aber steht vom Meer herein." Vesonius blieb stehen und überlegte, was zu tun sei. Seine Frau und Agrippina mußten zusammen mit der Familie des Jucundus und den Sklaven schon längere Zeit den Hafen erreicht haben. Es war nicht anzunehmen, daß die Flüchtenden in dem Toben der Elemente kostbare Zeit mit Warten verloren hatten. Sicher waren sie auf dem nächsten Wege aus der Stadt hinausgegangen, um dem Ort der Katastrophe zu entfliehen. Wenn der Aschenregen aufhörte, würde man sich bald wiederfinden. Er befahl deshalb, sofort kehrt zu machen, und auf Umwegen gelang es ihnen schließlich, das Stabianer Tor zu erreichen und aus dem Straßengewirr herauszukommen. Sie waren zum Umfallen müde, doch der unaufhörlich rieselnde Aschenregen hetzte sie weiter. In der Nähe des Meeres, wo die Luft ein wenig klarer war, fanden sie einen kleinen Schuppen, in den sie sich verkrochen, um zu ruhen. Aber an Schlaf war nicht zu denken. „Wo mag die Mutter sein?" fragte Petronius, der jüngere der beiden Söhne. „Hab' keine Sorge", beruhigte ihn der Vater. „Pollio ist bei ihnen. Wenn wir hierher gekommen sind, hat er sie erst recht in Sicherheit 17
gebracht. Wir werden sie wohlbehalten bei unserem Freund in Surrentum (Sorrent) finden." Da richtete sich plötzlich der Neger Juba auf. „Hat jemand den Hund losgemacht?" fragte er. Juba und der Hund waren Freunde, aber in der Stunde des Schreckens hatte der Sklave den Kameraden vergessen. Es war ihm, als höre er das angstvolle Heulen des Hundes. Der lag, elendiglich verendet, im Atrium des Hauses, tief unter der Aschenschicht, die höher war, als seine Kette ihm zu klettern erlaubte. Die Nacht zog herauf, aber die Menschen merkten keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Es konnte nicht dunkler werden, als es schon war. Immer weiter fiel die Asche, still und lautlos wie Winterschnee, die ganze Nacht. Als sich die Flüchtlinge in der Frühe wieder auf den Weg machten, wußten sie nicht, ob sie auf der Straße gingen oder über die Felder. Es war alles eine einzige ebene Fläche. Die Larapen schnitten kleine Kegel in das Dunkel, groß genug, daß sie sehen konnten, wohin sie die Füße setzten. Obgleich Vesonius einen Krug öl mitgenommen hatte, würde das Licht ihnen nicht mehr lange leuchten. Es wurde Zeit, daß sie aus dieser Nacht herauskamen, wenn es überhaupt noch ein Herauskommen gab. Das Gelände begann nun langsam anzusteigen. Sie mußten sich in der Nähe eines Höhenzuges befinden. Endlich, am Ende dieses zweiten Tages, ließ der Aschenregen merklich nach. Die Landschaft erhob sich fahl und unwirklich aus der Finsternis. Bäume, die. aus dem Aschenmeer herausragten, waren bestäubt mit graubraunem Mehl. Überall lagen Äste am Boden, die unter der Last gebrochen waren. In einem verlassenen Hause fanden sie eine Unterkunft. Sie warfen sich auf die Erde und schliefen den tiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung. Der frühe Morgen fand sie wieder bereit zum Aufbruch. Während sie dastanden und verzweifelt .über das tote Land hinblickten, das ihnen Heimat gewesen war, näherten sich Leute, die eine Bahre trugen. Die Träger ließen sich zur Rast in der Nähe nieder. Der Walker ging zu ihnen hinüber. „Wer ist der Mann?" fragte er. 18
„Es ist Plinius", erwiderte einer, der müde an der Bahre niedergehockt war. „Der große Naturforscher?" fragte Vesonius und neigte sich über die stille Gestalt. „Er w a r ' s ! " bestätigte der Träger. „Sein tapferer Geist und der Hunger nach Wissen haben ihn dem Vulkanus und dem Tod überantwortet." Vesonius stand in Bestürzung vor dem Toten. „Wie ist das möglich? Hielt Plinius sich nicht als Kommandant der Kaiserlichen Flotte in Misenum auf? Ist denn auch Misenum von dem Unglück betroffen?" Der andere verneinte: „Misenum ist nicht zerstört. Plinius hörte durch einen Boten, den ihm Rectina gesandt hatte, von der Katastrophe. Wir brachten sogleich die Boote zu Wasser und ruderten ihn über den Golf. Er trieb uns zu atemloser Eile, zitternd um seine Freunde, um Rectina und die andern. An der Stelle, wo wir landen wollten, warf uns die aufgewühlte Brandung zurück und so befahl Plinius, zu seinem Freunde Pomponiannus zu fahren, der in der Nähe von Stabiä wohnt. O, wenn du ihn gesehen hättest, mit welcher Gelassenheit er den erschreckten Leuten zusprach, wie er die Asche auflas und sie untersuchte, den Himmel und den tobenden Berg kühl beobachtete und Bemerkungen in seine Notiztafeln eintrug! Er sandte Boten aus, ob er von den Freunden nicht eine Nachricht erhalte, die ihn beruhige oder aus der er erfahre, wie er Hilfe bringen könne. Als die Asche immer dichter fiel und die Bewohner in ihrer Verzweiflung das Unsinnigste taten, da fragte er den Hausherrn, ob er sich ein wenig niederlegen dürfe, er hoffe, daß sich die aufgeregten Elemente bald beruhigt hätten. Er tat das aber nur, um allen, die um ihn waren, den Gleichmut vor dem Schicksal vorzuleben, der ihm eigen war. Als er sich nach einiger Zeit erhob, und man Anstalten machte, irgendwohin zu entrinnen, da sahen wir, wie der herrliche Mann plötzlich bleich wurde und zusammensank. Ehe wir hinzuspringen konnten, ihn zu stützen, lag er tot am Boden . . . " Der Sprecher suchte nach Worten. „O, er schien gar nicht tot zu sein, so friedlich war sein letzter Schlummer. Wir haben ihn dann mit uns getragen und bringen ihn in das Haus seines Schwestersohnes Cäcilius Plinius." Der Sprecher wickelte aus seiner Toga zwei Wachstafeln: „Wir fanden sie bei ihm", sagte er. „Es sind seine letzten Aufzeichnungen. Er war ein großer Forscher! Cäcilius Plinius soll sie lesen und davon den 19
Menschen berichten und ihnen sagen, wie dieser Mann im Angesicht des Todes wie ein Heros unter uns war." Vesonius warf noch einen Blick auf den Toten, dann kehrte er zu den Seinen zurück. In der Villa seines Hausfreundes fanden sie wenige Zeit später eine vorläufige Bleibe. Dann, als die Suche nach Frau und Kind ergebnislos verlaufen war, zog er an einen anderen Ort, seelisch gebrochen und beruflich entwurzelt.
Der Lavafluß hatte die herrliche Landstadt Herculaneum unter seiner Höllenflut begraben. Haus um Haus, die kostbaren Bauten und die Tempel der Götter, zerbarsten unter dem Ansturm der Unterwelt. Die Menschen hatten in kopfloser Flucht nur das nackte Leben retten können. Hab und Gut ließen sie zurück. In Pompeji, das die Lava nicht erreicht hatte, schauten noch die Dächer mancher hohen Häuser aus der übereinandergetürmten Ascheschicht heraus. In der Nähe des Forums, wo sich die öffentlichen Gebäude befanden und die Asche weniger dicht gefallen war, konnte man sogar in das Innere einiger Bauten Einlaß finden. Viele Statuen und Schätze aus den Tempeln und Dienstgebäuden wurden geborgen. Als die verstörten Bewohner sich wieder gefaßt hatten, kehrten viele von ihnen zurück, gruben und schürften in den Ruinen, durchwühlten die Asche- und Steinschichten und suchten nach ihrer Habe. Sie durchbrachen die Wände der Wohnungen und Gewölbe, bahnten sich Grabenwege von Haus zu Haus und retteten dieses und jenes. Aber es war nicht viel, was sie herauswühlten. Wie hätten sie auch der riesigen Packung des Schuttes Herr werden können, die an manchen Stellen bis zu fünfzehn Meter hoch die Stadt überdeckte. So nutzten sie wenigstens das Mauerwerk der Hausgiebel und Mauerkränze aus, um es für ihre Notbauten als Steinbruch zu verwenden. Zuletzt waren auch die noch verbliebenen ragenden Baureste dem Boden gleichgemacht. Man möchte diese Tatsache beklagen; denn dabei ging manches verloren, was der Nachwelt wertvoll war. Und doch war diese „Enttrümmerung" ein Segen. Denn nun breitete sich eine üppige Pflanzendecke und das Vergessen über die Unglücksstätte und schützte die verschütteten Schätze vor dem Raubbau und der Schatzgräbergier vieler Jahrhunderte. Und trotzdem wissen wir so vieles aus den letzten Tagen von Pompeji! Woher kennt man den Todeskampf der Bewohner auf den Straßen, 20
die Namen der Einwohner, die wir genannt haben, die Art ihrer Behausungen, ihre mancherlei Gewerbe und viele andere Dinge? Wie ist es möglich, von Pompeji und den Pompejanein so zu plaudern, als habe man eben erst eine Reise zu ihnen gemacht und setze sich nun hin, um einen Erlebnisbericht zu geben? Hier nun beginnt der zweite Abschnitt in dem Schicksalsablauf Pompejis, der nicht weniger seltsam und aufregend ist, als die Geschichte des furchtbaren Untergangs der schönen, idyllischen Römerstadt. Die Namen der drei untergegangenen Städte — wie Pompeji und Herculaneum war auch das meernahe Städtchen Stabiä vom Erdboden vertilgt worden — entschwanden fast ganz aus den Listen der Lebenden und aus den Blättern der Geschichte. Man wußte zwar um ihre ehemalige Existenz aus den Werken antiker Schriftsteller, vor allem aus zwei Briefen des Cäcilius Plinius des Jüngeren, der dem Geschichtsforscher Tacitus einen ergreifenden Bericht vom Tode seines Oheims übermittelt hatte, man kannte auch die ungefähre Lage Pompejis. Aber der Sarnofluß, der diese Stadt einst umspült hatte, war durch die Schuttmassen weit aus seiner Bahn gelenkt, und das Meer, in dem sich vordem die Mauern Pompejis gespiegelt hatten, war fast zwei Kilometer nach Westen zurückgedrängt. So verloren sich die wichtigsten örtlichen Anhaltspunkte aus dem Bewußtsein. Als dann die Augenzeugen der Katastrophe gestorben waren, blieb bald nichts anderes als die undeutliche Erinnerung an ein schreckliches Ereignis. Rom hatte den Höhepunkt seiner Macht überschritten. Sorgen um die außenpolitische Entwicklung begannen die Beschäftigung mit innerpolitischen Fragen immer mehr zu überschatten. Man fand nicht mehr die Zeit, dem Schicksal versunkener Städte nachzuspüren, da die eigene Existenz bedrohlich gefährdet war. Hoch über dem blauen Golf von Neapel, an der Stelle, an der einst Herculaneum gelegen hatten, gründete eine spätere Zeit das Städtchen Resina, während sich im Raum vom Pompeji Hirten und Bauern anzusiedeln begannen. Hier war das Land besonders fruchtbar; die Asche ergab einen vorzüglichen Dünger und die Herden fanden ausgezeichneten Weidegrund. Ein sechzehnhundertjähriger Schlaf senkte sich über die einst so blühende Landschaft. •ir
Ein erstes Erwachen brachte das Jahr 1689. Damals wurde in der Nähe des Vesuvs ein Brunnen ausgehoben. Als 21
man tiefer und tiefer grub, stellte man fest, daß hier verschiedene Erdschichten in merkwürdiger Reihenfolge in glatten Bahnen übereinander lagen. Das war auffallend, weil es so ganz von der natürlichen Bodenschichtung abwich. Schließlich fand man auch einige kleinere Gegenstände, darunter eine Inschrift, in der der Name Pompeji vorkam. Das hätte ein bedeutungsvoller Hinweis sein können, aber auf den nächstliegenden Gedanken kam niemand. Zwar erinnerte man sich sofort der alten Städte und begann sich für die ergrabenen Schätze zu interessieren, aber der Fachmann, den der Besitzer des Brunnen-Grundstückes heranzog, entschied, hier habe wohl einmal ein Landhaus gestanden, das einem gewissen Pompejus gehörte. Nun war der Name Pompejus bei den Römern auch ein Personenname, die Stadt Pompeji war nach ihm benannt und zwar zu Ehren von Sulla, dessen Geschlechtername Pompejus war. Der vollständige Name der Stadt lautete: Colonia Veneria Cornelia Pompeianorum. Der Brunnenbesitzer ließ sich durch den Entscheid des „Fachmannes" täuschen und stellte die Grabungen ein. Im Anfang des 18. Jahrhunderts kam es dann zu einem zweiten Fund ond zwar wieder beim Ausbau eines Brunnens. Ein Bauer in Resina, dessen Brunnen zu versiegen drohte, ging daran, ihn zu vertiefen. Mit dem Erdschutt kamen zu seinem Erstaunen wertvolle Steine, meist Marmor und Alabaster ans Tageslicht. Er verkaufte einige davon an einen Steinmetzen und von dem kaufte sie Prinz d'Elboeuf, der sich in der Nähe ein Haus bauen wollte. D'Eiboeuf, ein großer Kunstfreund, erwarb das Grundstück mit dem schätzespendenden Brunnen und setzte nun selber die Ausgrabungen fort. Herrliche Statuen und andere wertvolle Dinge wurden in rascher Folge geborgen. Doch auch diesmal irrten sich die Fachleute: sie hielten die Schätze für Schmuck aus einem Herkulestempel. Als dann die Ergiebigkeit der Grabungsstelle sank, verlor der Prinz das Interesse an der Sache, die Ausgrabungen wurden unterbrochen. Niemand ahnte, daß d'Elboeuf bei dieser Schatzgräberei als erster in ein Gebäude von Herculaneum eingedrungen war. Wieder vergingen Jahre. Man begeisterte sich an den herrlichen Statuen, von denen einige inzwischen durch Erbschaft und Verkauf den Weg nach Dresden gefunden hatten. Unter den Bewunderern war auch die Königin beider Sizilien, eine Tochter Augusts III. von Sachssn. Sie 22
bestimmte König Karl von Sizilien, ihren Gatten, die Ausgrabungen an der gleichen Stelle wieder aufzunehmen. Es traf sich gut, daß derVesuv, der in jenen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts sehr lebhaft gewesen war, nun wieder zur Ruhe zu kommen schien, und so konnte tatsächlich mit der Arbeit begonnen werden. Man mußte sehr vorsichtig vorgehen: denn über der Nachschürfstelle lag ja nun der Ort Resina, und es hätte die an sich schon sehr hohen Kosten noch weiter erhöht, wenn an den Gebäuden des Ortes Schäden entstanden wären. Die Bauern waren nicht sehr erbaut von den Grabungen unter ihren Füßen, denn sie interessierten sich für das, was auf der Erde wuchs, aber nicht für das, was in ihr steckte. So kam es oft zu Streitigkeiten zwischen ihnen und den Archäologen. Als erstes fand man die Bruchstücke von gewaltigen Bronzepferden und zwei Marmorstatuen. Nach weiteren Funden stieß man dann —• es war im Dezember 1738 —• auf die Reste einer Inschrifttafel, auf der zu lesen war, daß ein Mann namens Lucius Annius Mammianus Rufus aus eigenen Mitteln dieses Theater von Herculaneum erbaut habe. Das war also des Rätsels Lösung! Man stand in der verschütteten Stadt Herculanum und zwar mitten auf der Bühne des Theaters. Eine wahrhaft grandiose Szene, wie sie ein Schriftsteller nicht phantasievoller erfinden könnte. Zweifellos hätte man auch gar keinen glücklicheren Punkt für den Beginn der Ausgrabungen wählen können, denn das Theater war mit Skulpturen, Bronzen und anderen Kostbarkeiten angefüllt. Aber auf die Dauer war es nicht leicht, sich durch das eisenharte Gestein, das Herculaneum ausfüllte, zu graben, zu bohren und zu sprengen, und als die Ausbeute schließlich auch hier geringer wurde, wandte man sich einem neuen Platz zu. Inzwischen hatte man nämlich auch an einem weiter südöstlich gelegenen Punkte Mauerreste und ein paar kleine Gegenstände gefunden, und so überredete man den König, die Ausgrabungen hier, statt in Herculanum, fortzusetzen. Am 1. April 1748 wurde damit begonnen und auch diesmal hatte man, wie sich bald zeigen sollte, einen sehr glücklichen Ausgangspunkt gewählt. Es war, als ob das Schicksal, das die verschütteten Städte mehr als anderthalb Jahrtausende lang so sorgfältig verborgen hatte, nun alles wieder gut machen wollte. Es ging sofort mit recht beachtlichen Funden an; darunter schon in 23
den ersten Tagen ein schönes Wandgemälde und das Skelett eines Mannes, der bis zum letzten Atemzug einen Beutel mit Münzen in der Hand gehalten hatte. Das war der Beginn der Wiederentdeckung Pompejis, wenngleich man die Stadt noch einige Zeit für Stabiä hielt. Erst im Jahre 1763 fand man eine Statue mit einer Inschrift, aus der mit aller wünschenswerten
Im Kleinen Theater Alt-Pompejis
Klarheit hervorging, daß man tatsächlich das alte Pompeji wiedergefunden hatte. Lange Zeit wurden nun die Ausgrabungen mit wechselndem Eifer und Erfolg durchgeführt —• es fehlt uns hier der Platz, sie im einzelnen ausföhrlich zu schildern — aber alle Arbeiten krankten daran, daß man ziemlich willkürlich und zusammenhanglos schürfte. Man grub hier ein wenig und dort, man lud die herausgeschaffte Erde und Asche in der Nähe ab, wo sie störten, wenn man mit den Ausgrabungen bis dorthin vorgedrungen war, kurzum, man ließ in jeder Beziehung einen vernünftigen Plan vermissen, so daß mehr als ein Jahrhundert lang alles mehr oder weniger von Zufällen abhängig war. Das wurde erst anders, als der Archäologe und Münzforscher Giuseppe Fiorelli im Jahre 1860 die Leitung der Ausgrabungen übernahm. Diesem gründlichen Gelehrten ist es zu danken daß uns Pompeji so I 24
erhalten wurde, wie wir es heute vor dem Südosthang des Vesuvs liegen sehen. Im Laufe der Jahre ist von Fiorelli, seinen Helfern und Nachfolgern ein gewaltiges Material ans Tageslicht gebracht und wissenschaftlich untersucht und beschrieben worden, so daß wir heute in Pompeji eines der wundervollsten Zeugnisse einer längst vergangenen Kultur besitzen und über das Leben in dieser geschäftigen Kleinstadt bis in geringste Einzelheiten gründlich unterrichtet sind. Unsere umfassende Kenntnis der pompejanischen Verhältnisse fängt schon bei den Namen der Einwohner an. Wir sind mit den Eigentümern mancher Häuser so vertraut, als ob ein Adreßbuch der alten Stadt offen vor uns läge. Der stolze, geschäftstüchtige Walker Vesonius ist keine Erfindung des Verfassers; er hat tatsächlich gelebt. Sein Haus steht heute noch. Die folgenden Auszüge aus dem „Führer durch Pompeji", den August M'iu geschrieben hat, belehren uns, wie erstaunlich gut man über das Leben in der alten Stadt unterrichtet ist: „Eingang Nr. 20: Haus des Vesonius Primus (Casa di Orfeo), eines Walkers. Große Reste der alten Kalksteinfassade. Der Name des Besitzers ergibt sich aus der im Atrium aufgestellten Herme, die der Kassierer ihm gewidmet hat; ferner aus einigen Inschriften am Hause. Der bekannte Hund stammt von hier. Auf der Rückwand des Gartens großes Bild: Orpheus unter den Tieren; rechts und links davon Gartenmalerei. Daneben: Eingang Nr. 22: Tuchwalkerei. Sie gehörte dem Vesonius Primus, dessen Namen wir auch in der Gerberei Nr. 2 finden. Die Werkstatt ist in zwei ältere bessere Häuser eingebaut, wie 'vir das bei den Walkereien überall beobachten. Im Peristyt drei große Becken mit Wasserhahn zum Einweichen der Stoffe. Daneben sieben Plätze für die Wassergefäße, in denen die Stoffe gestampft und gewaschen wuiden. Im Gang fand man eine Haufen weißlicher Tonerde, die zum Reinigen der Stoffe diente. Im Laden Nr. 21 drei weitere Plätze zum Ausstampfen und der Aufstellplatz für die Presse." Gelebt haben auch der Bankier Cäcilius Jucundus, dessen Haus schräg gegenüber von dem seines Freundes Vesonius lag, und Popidius Priscus. der tatsächlich noch am Bau seines bei dem Erdbeben vom 5. Februar 63 zerstörten Hauses war. Durch Inschriften an den Häusern, Skulpturen und manchmal auch durch Siegelstöcke mit dem Namen des Hausherrn sind wir also ziemlich genau über die Bewohner zahlreicher Häuser unterrichtet. 25
Ein weiterer wichtiger Fund wurde im Hause des Cäcilius Jucundus gemacht, den Mau in seinem Führer als den wohl bekanntesten Pompejaner bezeichnet. (Seine Büste verrät uns, daß er einen runden Schädel, «ine kräftig vorspringende Nase, einen etwas schiefstehenden Mund und . . . beträchtlich abstehende Ohren hatte). In einer Ecke fand man nämlich eine eiserne Truhe, die nicht weniger als 132 Wachstäfeichen enthielt. In das weiche Wachs dieser Tafeln ritzten die Römer mit einem Griffel ihre Aufzeichnungen ein. Es waren also „Notizbücher" der Antike. Zum Glück scheint der Bankier eine kräftige Hand gehabt zu haben, wer sein Bild betrachtet, ist sogar überzeugt davon; denn selbst bei den Täfelchen, deren Wachs der Hitze zum Opfer gefallen ist, haben sich die Schriftzüge deutlich in die Holzunterlagen eingeprägt, und so gelang es, nicht weniger als 127 dieser Tafeln zu entziffern. Wir erfahren auf diese Weise die Namen vieler Bürger, für die der Bankier Auktionen durchgeführt hat (gegen ein Prozent Provision), von Schuldnern und ihren Bürgen sowie andere interessante Einzelheiten, Die schreckliche Katastrophe von 24. August 79, die für viele Menschen (man nimmt an, daß allein in der Stadt ungefähr ein Zehntel der Bevölkerung umgekommen ist) zu dem grausigsten Erlebnis ihres Daseins werden sollte, wandelt sich so zu einem ganz eigenartigen Glücksfall für die Altertumskunde. Man ist heute, um nur ein Beispiel zu erwähnen, genau darüber unterrichtet, daß die Römer ein etwa ein Pfund schweres rundes Brot backten, das achtfach unterteilt war. Woher wir das wissen? Nun, Fiorelli grub eines Tages eine unbeschädigt gebliebene Bäckerei aus, in deren Ofen sich 81 Brote befanden. Sie waren kurz vor dem Ausbruch hineingeschoben worden und wurden auf diese Weise bis in unsere Zeit hinübergerettet, da damals niemand mehr Zeit fand, sie herauszuziehen. Sie sind zwar verkohlt und steinhart geworden, geben aber dem Altertumsforscher trotzdem kulturgeschichtlich wertvolle Aufschlüsse. Aber nun ist in unserem Bericht nicht nur vom Leben der Pompejianer, ihrer Arbeit und ihren Wohnungen die Rede gewesen, sondern auch von den Schicksalen der Menschen in den letzten Minuten ihres Lebens. Auch hier verdanken wir unsere Kenntnis Fiorelli. Im Jahre 1864 waren die Ausgrabungsarbeäter in einer Straße — sie erhielt später den Namen „Gäßchen der Skelette" (Vicolo dei scheletri) —• auf eine kleine Öffnung gestoßen, in der menschliche Gebeine, wie 26
man sie schon vorher gefunden hatte, sichtbar wurden. Nun hatte Fiorelli, damit durch unsachgemäße Behandlung bei der Ausgrabung kein Fundstück beschädigt oder gar zerstört würde, die Anweisung gegeben, ihn in solchen Fällen sofort herbeizuholen. Wenn er nicht gleich erreichbar wäre, seien die Arbeiten abzubrechen und bis zu seinem Eintreffen an anderer, weniger wichtigen Stelle fortzusetzen. Man benachrichtigte daher auch in diesem Falle Fiorelli. Zum Glück war er anwesend, eilte herbei und erweiterte die Öffnung etwas, um hineinsehen zu können. Es waren tatsächlich Skelettknochen darin. Da hatte er einen genialen Gedanken. Die Skelette wurden vorsichtig und ohne Beschädigung des Bodenzustandes entfernt, dann ließ er Gips anrühren und den Brei in die Öffnung hineingießen. Als dann der Gips
Gipsabgüsse von Toten des 24. August 79 n. Chr.
erhärtet war, begann man von oben her den ausgegossenen Raum sorgfältig freizulegen. Ein erschütternder Anblick bot sich dem Forscher und seinen Arbeitern: vier menschliche Figuren, in Gips lebensvoll nachgeformt, lagen vor ihren Augen. Die weiche Ascheschicht, die auf die zusammengebrochenen Menschen gefallen war, hatte die Körper eingehüllt, und durch das Gewicht der 27
darüber liegenden Massen war sie fest um die Leichen gepreßt worden. So ließen sich die genauen Umrisse dei Körperformen in Gips nachbilden. Die Haltung der Glieder, das Leid auf den Gesichtern, alles ist getreu erhalten geblieben, und wer auch nur eine Fotografie solcher Gipsnachbildungen gesehen hat. der wird tief beeindruckt sein von der furchtbaren Not, die aus den Bildern spricht. Die vier Gestalten, die so wieder auferstanden, waren zunächst zwei vornehme Frauen, allem Anschein nach Mutter und Tochter. Sie hatten zwei Hausschlüssel bei sich, dazu Silbermünzen und drei Paar goldene Ohrringe. Der rechte Arm der älteren Frau war gebrochen, der linke, wohl um das Gesicht zu -schützen, über den Kopf gelegt. Die vierzehn(ährige Tochter war lang auf den Boden gesunken und hatte den Kopf auf die Arme gebettet. Dann war da eine einfache Frau, mit einem eisernen Ring am Finger. Ein Stück davon entfernt lag ein riesiger Mann auf dem Rücken, der ebenfalls einen eisernen Ring am Finger trug. Sogar Spuren seiner Sandalen haben sich erhalten. Auf diese Weise also schrieben die Menschen die letzten Minuten ihres Lebens in die Asche, die sie erstickte. Es hat sich noch oft Gelegenheit ergeben, das von Fiorelli erdachte Verfahren anzuwenden, und so haben wir noch weitere Zeugnisse dieser Art. Ein zusammengekauerter Pompejaner wurde unter einer Stiege in der Palaestra gefunden, ein Sklave starb, als treuer Türhüter bis zum letzten Augenblick auf dem anvertrauten Arbeitsplatz ausharrend, in der Villa dei Misteri, und schließlich wurde so auch der Hund unseres Freundes Vesonius gefunden. Nachdem er so hoch auf die Asche geklettert war, wie es die Kette gestattete, war er verendet, die Füße im Todeskampf erstarrt und das Maul mit den großen, spitzen Zähnen angstvoll aufgerissen. Im Laufe der zweihundert Jahre, die seit dem Beginn der Ausgrabungen verflossen sind, hat man ungefähr drei Fünftel der Stadt freigelegt. Man begnügte sich übrigens nicht damit, nur die Asche fortzuschaufeln; man hat die Bauten möglichst wieder in den Zustand versetzt, in dem sie sich im Jahre 79 vermutlich befanden. Die Brunnen sprudeln wieder, die Statuen stehen an ihren alten Plätzen — ja man hat die gefundenen Reste der Pflanzen und Blumen untersucht und genau nach diesen Pflanzen auch das alte botanische Bild der Perlstyle und Gärten wiederhergestellt. 28
In den Werkstätten fand man Werkzeug, das wieder so hingelegt wurde, wie es vor 1870 Jahren in der Unglücksstunde gelegen hatte. Es ist. als sei die dazwischenliegende Zeit ausgelöscht, als müsse die Tür aufgehen und der römische Handwerksmeister eintreten, sich nach unseren Wünschen zu erkundigen. Ein Vorstadtrestaurant wurde freigelegt; man grub viele Krüge und Gefäße aus und in einem, das luftdicht verschlossen war, fand man noch einen Rest von einem dickflüssig gewordenen Wein. An den Hauswänden liest man wieder die Inschriften, mit denen die Bäcker, Garküchen und Gasthöfe auf ihre Erzeugnisse und Unternehmungen aufmerksam machten. „Fremder, bemühe dich nur um die Ecke, dort findest du das Gasthaus des Sarius". Der Eifer, mit dem die örtlichen Wahlkämpfe ausgefochten wurden, bekundet sich in zahl-
Häushaltgeräte aus Alt-Pompeji Oben (hängend): Gemüseplatte, 2 Weinlöffel, Eieilöffel. 2 Weinheber. Bratptanne, Pastetenform, Weinheber. Mitte: Wasseftopl, Bratpfanne. Eierplatte, Weinkrug, Löffel, Fett-Topf, Fingerwaschschale, Gabel, 2 Delikatessenschüsseln, Weinsieb, Löffel. — Unten: Weinkrug, Wassereimer, Wasserkochtopf, Weinkrug (liegend), Farbkoduopf, Wasserkochtopf, Weinkrug.
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reichen Aufrufen. Die großen Fähigkeiten der einzelnen Kandidaten werden gepriesen: „Wähler wählt den Pansa! Er ist ein Ehrenmann, der sich um Pompeji sehr verdient gemacht hat. Er gehört ans Ruder". Handwerker machen die Behörde auf ihre Werkstätten aufmerksam: ,,Die Zimmerleute und Wagner ersuchen den Herrn Beigeordneten um seine Gewogenheit. Er möge bei den öffentlichen Bauten die Arbeit an keine ortsfremden Unternehmer vergeben". Die Theater kündigen in Maueraufschriften ihre Schaustellungen an: „Die Fechtertruppe des Beigeordneten M. Alleius Lucius Libella wird am 1. Juni im Pompeji kämpfen. Das Theater wird durch ein Zeltdach gegen die Son.ie geschützt sein". Oder: „Es wird eine Tierhetze gegeben und eine Vorstellung von Athleten. Der Platz ist gesprengt und mit Segeltüchern überspannt" oder „Vorstellung! Dreißig Paar Fechter treten auf. Beginn bei Sonnenaufgang". All das ist mit schwarzer oder bräunlicher Farbe von eigenen Reklameschreibern an die Wände gepinselt. Aber es gab auch besondere „Plakattafeln", weiße Gipsvierecke, auf die Wände geputzt. Man nannte ein solches „Anschlagbrett" Album, d. h. Weiße Fläche. Auch- private Ergüsse liest man, und damit sie die Ewigkeit überdauern, sind sie tief in die Hausfassaden eingeritzt. Manchmal sind sie recht handfester Natur: „Der Packträger Oppius ist ein Schurke", j „Mach daß du von hier fortkommst du Faulenzer, hier ist kein Platz für Eckensteher", „Samius wünscht dem Cornelius, er möge sich aufhängen", und ein anderer, der sich über den Gastwirt erbost hat, schreibt: „Hoffentlich wirst du selbst einmal deinen bösen Ränken erliegen, du verkaufst uns fast Wasser und trinkst den klaren Wein", '• ein dritter, der mit seinen Gastgebern schlechte Erfahrungen gemacht zu haben scheint, klagt: „Wer mich zu Tische lädt, dem soll es gut gehen! Lucius Istacidius, der mich nicht zum Essen will-, ist ein böser Mensch". Zuweilen sind die Aufschriften richtige Kleinanzeigen: „Eine Amphora Wein ist gestohlen worden. Der Wiederbringer erhält Belohnung. Wer den Dieb ermittelt, bekommt den doppelten Betrag". Es gab in Alt-Pompeji auch schon die Unsitte, die Hauswände mit den eigenen Namen zu bekritzeln; so finden wir an den öffentlichen Gebäuden des Forums und im Theater ganze Schwärme von Namen verewigt. Was damals ein Ärgernis war, ist uns heute ein wichtiger Hinweis auf die Einwohnerschaft der Unglücksstadt. •&•
Die Ausgrabungen lassen noch zahlreiche Überraschungen erwarten, i Die vielen Villen, die einst am Abhang des Unglücksberges mitten 1 30
zwischen gepflegten Weinkulturen standen, bergen noch manches Geheimnis und manche Schätze, ja, diese Villen besonders.- Hier in der landschaftlich ausgezeichneten Lage am Fuße des Vesuvs, wo der Blick weit hinausgeht über das Meer, siedelten sich mit Vorliebe römische Kaufherren an und umgaben sich, da sie die Mittel dazu besaßen, mit dem Luxus erlesener Kunstwerke und mit ausgesuchtem Hausrat. Das Kulturbild römischen Lebens wird sich durch die Grabungsarbeit an dieser Stelle gewiß erweitern' und runden. Aber jetzt schon ist die unglückliche und wiedererweckte Stadt Pompeji mehr als ein Museum. Es ist das einzigartige Bild einer antiken Stadt, in der man nicht mehr das Gefühl von Altertum und toten Ruinen, sondern nur das der Fremde hat, und wo man hinüberfährt wie nach einer Insel, wo noch heute die Alten wohnen, ihre weiße Toga über den Markt tragen, ihren Geschäften und ihrem Vergnügen nachgehen und die schöne, klingende Mundart der Lateiner sprechen. Goethes Wort über Pompeji kommt uns in den Sinn: „Wenig Unheil hat der Nachwelt soviel Freude bereitet". Empfehlenswerte Bücher über Pompeji: Egon Caesar Conte Corti: „Untergang und Auferstehung von Pompeji und Eerculaneum", August Mau: „Führer durch Pompeji", Theodor Birt: „Zur Kulturgeschichte Roms", Ludwig Friedländer: „Sittengeschichte Roms". Diesen Lesebogen schrieb HELLMUTH LANGE Bild auf der vorderen Umschlagseite: Blick über das Forum Pompejis und auf den Vesuv. — Bilder auf der letzten Umschlagseite: Das Innere der Wohnung des Aedilen (Beigeordneten) Pansa in Pompeji — unten: Das Herkulaner Tor in Pompeji restauriert. —• Seite 2: Pompejanische Schmuckleiste. LUX-LESEBOGEN Nr. 50 / Heftpreis 20 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte. Verlag Sebastian Lux, Murnau-München. Aufl. 50 000. Bestellungen (vierteljährlich 6 Hefte zu DM 1,20) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. Druck: Buchdruckerei Hans Holzman, Bad Wörishofen.
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