del Mestre, Ulrich Scheibler, Susanne
Praxis Bülowbogen
Inhaltsangabe Wirklich nicht leicht hat es Dr. Peter Brockman...
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del Mestre, Ulrich Scheibler, Susanne
Praxis Bülowbogen
Inhaltsangabe Wirklich nicht leicht hat es Dr. Peter Brockmann. In seinem Privatleben scheint überhaupt nichts mehr so zu laufen, wie es der Mediziner gerne hätte. Denn mit allen wichtigen Frauen in seinem Leben gibt es Probleme: mit seiner Noch-Ehefrau Lore, die ihn vor Jahrzehnten verlassen hat, von der er sich aber erst jetzt scheiden lassen will, mit seiner bildhübschen Freundin Iris, der erfolgreichen Anwältin, mit seiner Sprechstundenhilfe Gabi, die immer ein wenig eifersüchtig ist, und nicht zuletzt mit seiner Tochter Kathrin, der jungen Assistenzärztin, die sich mit ihrer Mutter Lore besser zu verstehen scheint als mit ihm. Doch um all diese Schwierigkeiten kann sich Dr. Brockmann nicht mit der gebotenen Sorgfalt kümmern, wie immer hat er keine Zeit fürs Privatleben. Denn seine Patienten fordern ihn nicht nur als Arzt, auch als Seelenkenner ist sein Rat gefragt. Und nicht selten ist er auch ihr Beichtvater und Vermittler in pikanten Familienangelegenheiten: Als zum Beispiel die attraktive, gerade verheiratete Helen in seiner Praxis darüber klagt, dass ihr Mann Klaus sich dem Leistungssport mehr widmet als ihr – sie nehme sich einen Hausfreund, teilt sie Dr. Barockmann mit. Das könne er ruhig ihrem Manne durchblicken lassen, meint Helen, denn auch Klaus ist Patient bei Dr. Brockmann. So schickt sich Dr. Brockmann an, den rettenden Engel des jungen Glücks zu spielen …
Copyright © 1989 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln Gesamtherstellung: Lingen Verlag GmbH, Köln Druckerei: Mohndruck, Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Umschlaggestaltung: Roberto Patelli, Köln Titelillustration: Action Press, Hamburg Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Und wer liebt mich?
E
s war ein Wetter wie aus dem Bilderbuch. Schon am frühen Morgen schien die Sonne, und ein paar kleine weiße Wolken am Himmel deuteten darauf hin, dass der Tag genauso schön werden würde wie sein Beginn. Gabi Köhler merkte allerdings nicht viel von diesem Traumwetter. Sie saß in der fensterlosen, von einer Neonröhre erhellten Anmeldung von Dr. Brockmanns Arztpraxis am Bülowbogen, hatte den Telefonhörer am Ohr und den Terminplan für die heutige Sprechstunde vor sich. »Doch, Frau Neutze«, sagte sie, »Ick kann mir Ihre Schmerzen vorstellen. Ick versucht’s wenigstens.« Sie wartete einen Augenblick und meinte dann: »Na schön, denn kommen Sie so her, ohne Termin. Ick kann Ihnen wirklich keinen geben.« Durch die offene Tür warf sie einen Blick in das Wartezimmer, in dem schon alle Stühle besetzt waren, und unterdrückte einen Seufzer. »Wenn ick Ihnen kein' Termin geben kann, Frau Neutze, kann das der Dokter auch nich'.« »Frau Wiedemann?« Schwester Erika war ins Wartezimmer gekommen, und eine junge Frau stand auf. Ein etwa fünfjähriger Junge umklammerte ängstlich ihre Hand. Erika beugte sich zu dem Steppke hinunter. »Das is'n ganz kleiner Piekser, den merkste überhaupt nich'«, meinte sie tröstend. Gabi blickte den dreien nach, die im Behandlungszimmer verschwanden. »Ick kann Sie nich' mit dem Dokter verbinden, Frau Neutze, Nee. Weil er noch nich' hier is'.« Sie hörte einen Moment zu. »Na, prima. Bis nachher.« Erleichtert legte sie auf und warf einen Blick auf ihre Arm1
banduhr. Schon nach acht, und Dr. Brockmann war noch nicht da! Komisch, dachte Gabi. Was is'n da los? Sie spannte ein Blatt in die Schreibmaschine und fing an, einen Krankenbericht zu tippen. Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick zur Tür. Aber es kamen jedes mal nur Patienten herein, nicht Dr. Brockmann, und Gabi wurde allmählich nervös. In diesem Augenblick betrat ein Mann mit einer dänischen Dogge die Anmeldung. Ungläubig starrte Gabi das riesige Tier an, während Frau Wiedemann, die, von Schwester Erika begleitet, aus dem Behandlungszimmer zurückkam, ihren Sohn ängstlich an sich zog. »Aber Herr Joswig«, sagte Erika vorwurfsvoll. »Ja?« fragte der ältere Mann unschuldig. »Is' wat?« »Der Tierarzt is' zwee Querstraßen weiter. Das is'!« Gabi hatte sich von ihrer Überraschung erholt. Herr Joswig lachte. »Ach, wejen Purzel. Nee – wir wollten bloß endlich schnell den Krankenschein vorbei bringen.« Er griff in die Jackentasche und holte einen zusammengefalteten Schein hervor. Gabi schüttelte amüsiert den Kopf. »Nich' ma' dazu sind Hunde hier zujelassen, Herr Joswig.« Ihr Lächeln verfehlte seinen Zweck. Herr Joswig fühlte sich gekränkt. »Aber der sieht bloß so ross aus. So 'n Tier nimmt viel wenijer Platz weg wie die kleenen Kläffer, die andauernd rumhopsen. Purzel is' 'ne janz ruhige Seele.« »Ob die Seele hopst oder ruhig is', Herr Joswig, sie hat als Hundeseele hier nischt zu suchen«, beharrte Gabi, und jetzt war Herr Joswig ernstlich verletzt. »Komm, Purzel«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Und ick dachte, an dem Schein war' Ihn' jelejen. Morjen!« In der Tür wäre er fast mit einer älteren Patientin zusammengeprallt, die erschrocken zurückwich und genau wie Frau Wiedemann einen großen Bogen um den gefährlich aussehenden Purzel machte. Erika hatte sich zu Gabi über den Schreibtisch gebeugt. »Verstehst du das?« fragte sie leise. »Wo bleibt denn bloß der Chef?« 2
»Keine Ahnung. Krankenbesuche hat er heute Morgen keine. Aber vielleicht hat ihn 'n Patient zu Hause anjerufen.« Die ältere Frau hatte Herrn Joswig und seiner Dogge nachgeblickt. Jetzt wandte sie sich pikiert an Gabi, »Frau Köhler, ich habe, wie Sie wissen, einen Zwergpudel. Den darf ich nicht mitbringen. Aus hygienischen Gründen, wie Sie mir gesagt haben. Können Sie mir dann erklären, warum dieser Herr mit seinem Kalb …« Gabi lächelte versöhnlich. »Frau Öhlert, wir haben das Kalb gerade auf die Weide geschickt …« »Aber es war hier«, beharrte die Patientin. »Unübersehbar. Es gibt also Privilegien. Ich werde mich beim Doktor beschweren.« »Tun Se das«, erwiderte Gabi mit einem Seufzer. »Wenn er da is'.«
Um dieselbe Zeit war Dr. Peter Brockmann noch draußen in Schwanenwerder. Er hatte in seinem Gartenhaus übernachtet und, da er zeitig aufgestanden war, den Kahn losgemacht, um ein paar Runden zu rudern. Dr. Brockmann liebte diese Stunden auf dem Wasser, wenn der Tag noch still und frisch war. Er hatte sich an der Morgensonne gefreut, ein paar Wasservögel beobachtet und, wie er das nannte, ›seine Seele baumeln lassen‹. Er hatte das nötig, besonders in den letzten Wochen. Jetzt hatte er das Boot am Steg festgemacht und nach einem Blick auf seine Uhr festgestellt, dass er noch jede Menge Zeit hatte. Mit einem behaglichen Seufzer ließ er sich in einen Terassenstuhl fallen und blickte auf den See. Von der Maerker-Villa her tauchte Rudi Lehmann auf. Er war Hausmeister und Chauffeur von Brockmanns Schwager Dr. Georg Maerker, Chef der Maerker AG, in der pharmazeutische und kosmetische Salben hergestellt wurden. Rudi ging rückwärts über den Rasen und zog einen Gartenschlauch hinter sich her. Dr. Brockmann beobachtete ihn eine Weile. Dann sprach er ihn an. »Morjen, Rudi!« 3
Ein bisschen erschrocken drehte sich der kräftige Mann um. »Ach, Herr Dokter! Morgen. Ick … ick wollte … Dokter Maerker fährt heute später in die Firma – wejen der Dienstreise jestern. Und da dacht' ick mir, machste dich 'n bißken nützlich …« Brockmann grinste. »Mit anderen Worten: Du klaust mir eine von meinen raren Freizeitbeschäftigungen.« »So war det nich' jemeint, Herr Dokter. Ick …« »Ick mein's ja auch nich' so, Rudi.« Dr. Brockmanns hübsche blaue Augen waren voller Freundlichkeit. »Aber wenn du mal später zum Dienst musst, denn würd' ick an deine Stelle ausschlafen und nich' in aller Herrjottsfrühe im Garten rumfummeln.« »Na ja, da is' schon wat dran. Aber man hat eben so 'ne Art BioRhythmus, ooch wenn der Chef mal sein' Terminkalender ändert.« Rudi warf einen Blick auf seine Armbanduhr und hatte Mühe, seine Verwunderung zu verbergen. Peter Brockmann deutete auf seinen Terassenstuhl »Wenn du sowieso 'n bißken Zeit hast – ick wollte dich eigentlich die janzen letzten Tage wat fragen: Neulich stand ick da unten mit Gabi und Frau Pauli am See. Da bist du über die Wiese jekommen, direkt auf uns zu, und ick hatte das Jefühl, als ob du mir wat sagen wolltest. Und denn biste abjedreht und hast so jetan, als ob du jar nich' zu mir wolltest. Aber mir kam et eher so vor, als ob Gabis und Iris' Gegenwart dir irgendwie den Mut jenommen hätte.« Rudi Lehmann hatte sich gesetzt. Er wirkte plötzlich verlegen. »Da kann ick ma jar nich' dran erinnern …« Brockmann warf ihm einen schrägen Blick zu, widersprach aber nicht. »Denn muss ick mich wohl jeirrt haben. Oder ick hab's jeträumt, ick träume sowieso ziemlich viel – vielleicht auch ziemlich viel Quatsch in letzter Zeit.« Erleichtert griff Rudi dieses Thema auf. »Träumen soll aber jesund sein, hab' ick jelesen. 'ne Art Ausgleich für den Psycho, den man tagsüber so mitmacht. Oder stimmt det nich'?« »Doch, doch«, bestätigte Brockmann lächelnd. »Aber wenn man dreimal in der Nacht vom Träumen aufwacht und nich' wieder ein4
schlafen kann, is det nich' mehr so jesund, wenn man sowieso nich' jenug Schlaf hat.« Rudi nickte eifrig. »Det kenn' ick, so 'ne Nächte. Und wenn man denn endlich einjeschlafen is', isset halb sieben, und der Wecker klingelt.« Peter Brockmann blinzelte in die Sonne, »'n Wecker brauch' ick schon seit Jahrzehnten nich' mehr. Um sechse bin ich wach. Da hast du schon janz recht mit dei'm Bio-Rhythmus.« Rudi hatte wieder einen Blick auf seine Uhr geworfen und stand auf. »Tja, Viertel nach acht … Denn werd ick mal. Sonst heißt et noch, ich drücke mich vor der Arbeit.« Auch Dr. Brockmann hatte unwillkürlich auf seine Uhr gesehen. »Wat? Wie spät isses?« fragte er ungläubig. »Viertel nach acht.« »Meine Uhr is' zwanzig nach sieben …« »Denn jeht se falsch«, meinte Rudi. »Vielleicht is' die Batterie schlapp.« Brockmann war aufgesprungen und hatte die Uhr vom Handgelenk genommen. Er schüttelte sie ein paar mal, hielt sie ans Ohr und starrte immer wieder auf das Zifferblatt. »Das jibt's doch nich'! Ick müsste ja längst in der Praxis sein!« »Wenn Se wollen, bring' ick die Uhr beim Uhrmacher vorbei und lass die Batterie mal prüfen«, bot Rudi an. Dr. Brockmann drückte sie ihm hastig in die Hand. »Ja, mach das. Danke, Rudi, das is' sehr nett von dir. Ick hab's jetzt 'n bißken eilig.« Damit lief er ins Haus und rief in seiner Praxis an. Gabi meldete sich. »Is' wat passiert?« fragte sie sofort. »Nee. Nischt Besonderes«, antwortete Peter zögernd. Gabi runzelte die Stirn. »Na, du machst mir Laune! Die Leute steh'n hier wie aufm Flughafen bei Dauernebel.« »Ick komme ja jleich«, versprach er. »Bin schon so jut wie unterwegs.« Fünf Minuten später verließ er, jetzt in Straßenkleidung, seine altmodische braune, abgewetzte Arzttasche in der Hand, das Haus. Mit langen Schritten lief er über die Wiese auf die Maerker-Villa zu, in der seine Schwiegermutter und sein Schwager Georg mit Familie lebten. 5
Lore kam ihm entgegen. Überrascht ging Dr. Brockmann auf seine Frau zu. »Lore, wat machst du denn so früh hier draußen?« Lore Brockmann lächelte ein bisschen unsicher. »Guten Morgen.« »Ja, Morjen …« Peter blickte seine Frau an. Manchmal kam es ihm immer noch total unwirklich vor, dass Lore, nachdem sie ihn vor zwanzig Jahren wegen eines anderen Mannes verlassen hatte – ihn und ihre damals knapp zehnjährige Tochter Kathrin – plötzlich aus Amerika zurückgekehrt war. Natürlich nicht zu ihm, obwohl sie, jedenfalls auf dem Papier, immer noch miteinander verheiratet waren. Merkwürdigerweise hatte sich Dr. Brockmann bis zu Lores Rückkehr nie dazu entschließen können, die Scheidung einzureichen. Jetzt wohnte Lore in einem Appartement in der City. Der Mann, mit dem sie in den Staaten zusammengelebt hatte, war gestorben und hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. »Ich habe bei Mutter übernachtet«, erklärte Lore Brockmann ihre Anwesenheit. »Aber eigentlich wollte ich dich sprechen.« Dr. Brockmann warf einen Blick auf sein Handgelenk, wo er sonst seine Uhr trug. »Ja, ick … bloß jetzt nich'! Weißte, ick …« »Ich wollte dich gestern Abend sprechen«, unterbrach Lore ihn. »Aber du bist so spät nach Hause gekommen, dass ich dich nicht mehr stören mochte. Und jetzt hab' ich dich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr hier erwartet.« »Nee. Ick bin eigentlich auch schon in der Praxis«, murmelte er und blickte wieder auf die Stelle, wo seine Uhr gesessen hatte. Lore bemerkte es. »Du hast keine Uhr um, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.« »Doch«, sagte er zerstreut. »Meine Uhr hat Rudi. Die is' stehen geblieben, und beim Kahn fahren hab' ick das nich' bemerkt.« »Es ist drei Minuten nach halb neun«, erklärte Lore nach einem Blick auf die hübsche antike Uhr, die sie an einer goldenen Kette um den Hals trug. Sie nahm sie ab und hielt sie Peter hin. »Bitte. Du kannst sie behalten, bis deine wieder in Ordnung ist.« Brockmann nahm sie und wusste nicht recht, was er damit anfan6
gen sollte. Dann steckte er sie in die Brusttasche seines Sakkos. »Danke, das is' lieb von dir. Ja, ick …« »Du hast jetzt keine Zeit, ich weiß.« Lores Augen funkelten ein bisschen spöttisch. »Worum jeht's denn?« fragte Peter nervös. »Wir haben noch ein paar Einzelheiten wegen unserer Scheidung zu besprechen, findest du nicht?« »Doch, unbedingt. Bloß …« »Bloß jetzt nicht«, vollendete Lore, als er stockte. »Sag mir doch bei Gelegenheit, wann du Zeit hast.« »Klar, mach' ick«, versprach er erleichtert. »Also dann – Wiedersehen.« Lore sah ihm nach, wie er eilig davonging. »Ach, Peter …« Er drehte sich um. »Ja?« »Hat Kathrin sich eigentlich mal bei dir gemeldet? Weißt du, wann sie wiederkommt?« Brockmann schüttelte den Kopf. Kathrin – das war auch so ein Problem. Dr. Kathrin Brockmann, fast dreißig Jahre alt, Assistenzärztin im Krankenhaus – und verschwand einfach wie ein trotziger Teenager, weil sie offenbar nicht damit klar kam, dass ihre Mutter plötzlich nach zwanzig Jahren zurückgekehrt war. »Nee«, murmelte Brockmann. »Ick … ick denke, dieser Tage. Hat sie sich bei dir nich' gemeldet?« Lores Gesicht hatte sich verschattet. »Nein. Das war nach Lage der Dinge wohl auch nicht zu erwarten.« Sie winkte Brockmann verabschiedend zu. »Ist gut. Wir hören voneinander.« Er nickte und lief erleichtert weiter. Mit seinen Gedanken war er schon längst in seiner Praxis.
Benny saß auf dem Fußboden und hielt seinen Raupenschlepper auf dem Schoß. Er wurde von einer Batterie angetrieben, und wenn er fuhr, machte er einen ziemlichen Krach. 7
Ein Stück weiter lag ein Teddy. Benny betrachtete ihn voller Abneigung und baute seinen Raupenschlepper so auf, dass er genau auf den Teddy losfuhr. Bennys Mutter hatte sich über das Kinderbett gebeugt, in dem Pamela lag. »Tut det hier weh?« fragte Karin Schröder besorgt und drückte der Zweijährigen leicht gegen den Hals, wo die Mandeln saßen. Die Kleine schüttelte stumm den Kopf. »Hier?« fragte Karin weiter und drückte auf Pamelas Bauch. Wieder Kopf schütteln. »Tut's woanders weh?« Schweigen. Pam sah Karin nur an. Sie fühlte dem Kind die Stirn und blickte dabei hilflos zu ihrer Mutter hinüber, die an dem Regal mit den Spielsachen lehnte. »Aber irgendwas muss se doch haben. Von nischt kommt doch det Fieber nich'« Jutta Jahnke nickte. »Wenn ick nachher beim Dokter bin, bitt' ick 'n, dass er vorbeikommt.« »Dass det Mädel aber auch nischt sagt …« »Weil se doof is'!« Das war Benny. Er blickte nicht hoch, sondern ließ seinen Raupenschlepper auf den Teddy zurasen. »Boffff!« Benny tat, als habe es einen schrecklichen Zusammenstoß gegeben. Der Motor lärmte immer noch, und Karin nahm das Spielzeug auf und stellte es ab. »Benny! Det muss doch nu' nich' sein!« Ihre Stimme klang gereizt. Pamela hatte sich im Bett hoch gesetzt und zeigte aufgeregt auf ihren Teddy. »Da … da …« machte sie weinerlich. Karin brachte ihn ihr. »Is' ja gut«, sagte sie liebevoll. »Hier haste deinen Teddy.« Benny stand auf. Er beobachtete seine Mutter und die Kleine mit ganz unkindlich ernsten, beinahe feindseligen Augen. Jutta Jahnke fing seinen Blick auf und nahm ihrer Tochter den Schlepper ab. Hastig gab sie ihn Benny zurück und strich ihm über den Kopf. »Spiel'n Moment in der Küche, ja? Pam is' krank, weißte …« Sein Auto an sich gedrückt, marschierte Benny zur Tür. »Schad't ihr jar nischt«, murmelte er, ehe er das Kinderzimmer verließ. Seine Mut8
ter hatte die Bemerkung aufgeschnappt und fuhr entrüstet herum, aber Frau Jahnke hielt sie zurück. »Du mußt'n aber auch nich' immer so anschnauzen«, sagte sie leise und vorwurfsvoll. Für einen Moment fühlte sich Karin Schröder schuldbewusst. Aber das verdrängte sie rasch wieder. »Ach! Immer zackeriert er an der Kleenen rum!« »Vielleicht, weil du immer mit ihr rumschmust …« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Benny hockte inzwischen in der Küche. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Am liebsten hatte er geheult oder mit den Füßen getrampelt. Aber dann würde seine Mutter nur wieder mit ihm schimpfen. Weil Pam krank war. Und weil sich sowieso alles nur noch um sie drehte. Er setzte seinen Raupenschlepper ab und öffnete den Schrank unter der Spüle. Dort standen lauter bunte Flaschen. Sie sahen hübsch aus, fand Benny. Er holte eine nach der anderen heraus und stellte sie in einer Reihe auf. Dann ließ er seinen Schlepper mit Getöse auf die Flaschen zurasen. Eine kippte um. Sie war nicht ganz zugeschraubt gewesen, und eine sämige rosa Flüssigkeit quoll heraus. Benny stellte die Flasche wieder hin und betrachtete das ausgelaufene Spülmittel. Dann stippte er zwei Finger hinein und leckte daran. »Mensch, Benny! Was machst du denn da!« Seine Großmutter tauchte in der offenen Küchentür auf. Erschrocken stürzte sie auf den Jungen zu und hielt seine Hand fest. »Da is' Gift drin, verstehste? Das darf man nich' essen!« Der Fünfjährige blickte sie unsicher an. »ick wollte doch bloß ma' kosten.« »Auch das nich'. Davon kann man sterben«, behauptete Frau Jahnke in der gut gemeinten Absicht, ihm ein für allemal Angst vor solchen Aktionen einzujagen: »Sterben, hörste! Versprich Oma, dass du det nie wieder machst!« Benny nickte. Er merkte, dass sich seine Großmutter Sorgen um ihn machte, und das tat ihm gut. Als seine Mutter in der Küchentür erschien, zuckte er zusammen. 9
Sie entdeckte die Putzmittel auf dem Boden. »Benny! Wat is' denn das nu' wieder!« Frau Jahnke legte den Arm um den Jungen. »Komm, lass! Ick habe jesagt, er soll in der Küche spielen.« »Aber doch nich' in' Schränken rumwühlen!« rief Karin Schröder aufgebracht. Sie deutete auf die ausgelaufene Flüssigkeit und nahm die Flasche mit dem Spülmittel hoch. »Jetzt sieh dir die Schweinerei an! Und ausjerechnet mit dem Chemie-Zeug! Det is' jefährlich! Janz jefährlich!« Jutta Jahnke räumte die Flaschen in den Schrank zurück und wischte mit einem Lappen den Fleck auf dem Fußboden weg. »Hab' ick ihm schon jesagt. Und's war' jescheiter, wenn du det Zeug so hinstellst, dass die Kinder nich' rankomm'n.« »Nu' nimm du ihn auch noch in Schutz«, murrte Karin. Sie sah, dass Benny mit den Tränen kämpfte, und setzte etwas versöhnlicher hinzu: »Nu' heul bloß nich' noch. Is' ja noch mal jut jegangen.«
Als Frau Jahnke in Dr. Brockmanns Praxis am Bülowbogen kam, war Peter gerade kurz zuvor eingetroffen. Vor einem jungen Mann, der eine Mullbinde um die Hand gewickelt hatte, blieb er stehen. »Was hast'n da drunter?« »Autotür zujeknallt und Pfote zwischen jehabt«, gab der Junge Auskunft. Dr. Brockmann verzog das Gesicht. »Warum machste denn so wat? Det tut doch weh … Na, det seh'n wir uns jleich an.« Er ging weiter zur Tür seines Sprechzimmers, die Gabi ihm bereits aufhielt. Sie schloss sie hinter ihm und holte schweigend einen frischen weißen Kittel aus dem Schrank. Während Brockmann ihn überzog, warf er seiner Sprechstundenhilfe einen schrägen Blick zu. »Wülste denn nich' wissen, warum ick so spät bin?« »Wieso? Nee«, erwiderte Gabi knapp. 10
»Weil du mich ja sonst auch nach privaten Sachen fragst.« Ein bisschen schnippisch blies sie sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn's privat is', interessiert 's mich schon überhaupt nich'. Oder soll ick jetzt fragen, ob Iris dich zu spät wachgeküßt hat?« Brockmann runzelte die Stirn. »Ick habe allein übernachtet. Nee, die Sache is' janz einfach …« Gabi ging zur Tür. »Erzähl 's mir später, ja. Wir sind da draußen nämlich kurz vor'm Volksaufstand.« Na schön, liebe Tante, wenn du nich' willst, dachte Brockmann ein bisschen brummig über Gabis Desinteresse. Laut sagte er: »Denn lass ick den ersten Randalierer bitten.« Jutta Jahnke musste eine ganze Weile warten, ehe sie an die Reihe kam. Dr. Brockmann hörte ihr Herz ab und maß den Blutdruck. Dann meinte er: »Ja, Frau Jahnke, det is' alles besser geworden, aber wir bleiben vorläufig bei den Medikamenten, die ick Ihn'n verordnet habe. Wenn Sie wieder Beschwerden bekommen, melden Sie sich bitte sofort. Sonst möchte ich Sie gerne so in vier, fünf Wochen wiedersehen.« Jutta Jahnke schob den Blusenärmel zurück und zog sich ihre Jacke über. »Danke, Herr Dokter. Ach so – und denn wollt' ick Sie noch um was bitten – vielmehr die Karin, also meine Tochter … Ob Sie nich' mal vorbeiseh'n könnten. Unsere kleine Pam, also Karins Tochter, die hat nämlich Fieber.« Brockmann, der gerade am Schreibtisch ein Rezept für Frau Jahnke ausstellte, hob den Kopf. »Tochter? Hatte Ihre Karin nich 'n Jungen?« Sie nickte eifrig. »Den Benny – ja. Der is' auch noch da. Aber seit zwei Jahren ha'm wir auch 'n kleenet Mä'chen. Pamela heißt se.« Sie lächelte. »Das wollte mein Schwiegersohn so – wejen ›Dallas‹. Weil er findet, dass Karin mit der Ähnlichkeit hat.« Dr. Brockmann musste lachen, während er sich am Waschbecken die Hände wusch. »Und denn nennt er seine Tochter so?« Gleich darauf wurde er wieder ernst. »So, dann hat der Vater von dem Jungen sie also doch noch jeheiratet.« »Nee … Das is' jetzt 'n anderer«, erklärte Jutta Jahnke. »Bennys Vater, 11
der … der war ja damals nich' mehr festzustellen. Da war Karin ja in Kreise jeraten – da wusste doch keener, wer mit wem.« Sie senkte den Kopf. »Mein Jott, hab' ick mir damals jeschämt, als ick mit ihr zu Ihn'n jekomm' bin, weil se andauernd jeko … also weil se sich so viel überjeben musste. Und wie se denn hier steht und sagt: ›Se brauchen mich nich' zu untersuchen, Herr Dokter, ick bin schwanger.‹ In'n Boden hätt' ick versinken könn'. Wer kommt denn auf so wat – bei seiner eijenen Tochter – mit siebzehn …« Brockmann hob die Schultern. »Ach, wissen Sie …« »Aber nu' hat se ja den Alex jeheiratet«, sagte Frau Jahnke erleichtert, »'n lieber Mann. Bißken einfach vielleicht. Er is' Dreher, aber sehr lieb. Und denn ha'm se ja auch gleich die Kleene jekriegt. Aber der Alex is' auch sehr jut zu dem Benny. Wie'n eijener Vater.« »Und die Kleine hat nu' Fieber«, sagte Brockmann, um Frau Jahnkes Redeschwall abzukürzen. »Für den Benny, da hatten Se doch 'n Kinderarzt, den Kollegen Preuss. Das is' doch 'n alter erfahrener …« »Ja, der war so alt, dass er vor'm halben Jahr jestorben is«, teilte Frau Jahnke ihm trocken mit. »Ach! Das wüsst' ick ja noch jar nich'!« Sie hob die Schultern. »Tja, Ärzte sterben eben ooch manchmal.« Brockmann verkniff sich ein Grinsen. »Gut, Frau Jahnke. Sagen Sie der Gabi draußen Bescheid, sie soll Ihr'n Dallas-Star auf die Liste mit den Hausbesuchen setzen.«
Die Sprechstunde zog sich in die Länge. Es war weit nach Mittag, als Dr. Brockmann endlich den letzten Patienten verabschiedete. Gabi schloss hinter ihm die Tür des Sprechzimmers, das mit seinen gemütlichen, ein bisschen altmodischen Möbeln und der Couchecke gar nicht wie eine ärztliche Ordination wirkte. »Ach, übrigens, Frau Pauli hat vorhin anjerufen. Sie erwartet dich zum Abendessen. Is' ejal, wann du kommst, es jibt Linseneintopf mit 12
Würstchen. Wegen warmhalten. Sie versucht aber, noch mal anzurufen.« Wie immer, wenn sie von der attraktiven Rechtsanwältin Iris Pauli sprach, hatte Gabi so einen gewissen Unterton. Manchmal ärgerte sie sich selbst darüber, aber sie kam nicht dagegen an. Dabei war es weiß Gott lange her, dass sie, Gabi, mal mit Dr. Brockmann liiert gewesen war. Vielleicht wäre sie noch heute mit ihm zusammen, wenn sie ihm damals nicht irgendwann eine Art Ultimatum gestellt hätte: entweder Schluss oder Scheidung von Lore, die damals noch in Amerika verschollen gewesen war. Aber Peter Brockmann hatte sich nicht scheiden lassen wollen, und Gabi hatte die Konsequenzen daraus gezogen. Sie war Peters Sprechstundenhilfe geblieben – und seine Vertraute in fast allen Dingen, doch darüber hinaus hatte sich nichts mehr zwischen ihnen abgespielt. So is' det eben, dachte Gabi. Ick hab's ja nich' anders jewollt. Trotzdem versetzte es ihr jedesmal einen kleinen Stich, wenn von Iris Pauli die Rede war – oder auch von Lore, die nun wieder in Berlin lebte. »Wat war denn nu'?« erkundigte sich Gabi beiläufig. Dr. Brockmann wusste nicht sofort, was sie meinte. »Wie? Wann?« »Na, heute morgen. Warum biste so spät jekommen?« Er ging zum Schreibtisch. »Ach so – nischt. Wirklich nich' der Rede wert.« »Verstehe. Nu' sind wa bockig!« Gabi runzelte die Stirn, und Dr. Brockmann nahm einen Patientenbogen vom Tisch. »Frau Trimmel bitte.« »Die is' jejangen; et hat ihr zu lange jedauert«, erklärte Gabi. »Wir sind durch.« »So …« Brockmann zog Lores Uhr aus der Brusttasche und warf einen Blick darauf. Sofort kam Gabi näher. »Wat is' denn det?« »'ne Taschenuhr«, erklärte er ausweichend. Sie streckte die Hand aus. »Zeig doch mal!« 13
Ein bisschen wiederstrebend gab er ihr die Uhr. Gabi betrachtete sie neugierig. »Niedlich. Von Iris?« »Lore.« Sie sah hoch und grinste beziehungsvoll. »Ach! Ihr schenkt euch schon wieder joldene Uhren?« Ihr Lächeln ärgerte ihn. »Quatsch! Die Uhr jehört Lore. Sie hat sie mir jepumpt, weil meine wahrscheinlich kaputt is'. Deswegen bin ick heute auch zu spät jekomm'.« Er fuhr sich durch das Haar. »Ick bin aufjestanden wie immer. Hab' meine Kahnpartie jemacht und auf meine Uhr jeseh'n. Da haste ja noch viel Zeit, hab' ick jedacht, aber die Uhr muss zwischendurch mal 'ne Dreiviertelstunde steh'njeblieben sein.« »Und das haste nich' jemerkt?« fragte Gabi ungläubig. »Hab' ick nu' mal nich'!« knurrte er. »Die Sonne hat jeschienen, ick hab' mich 'n bißken im Kahn ausjestreckt … vielleicht bin ick noch mal einjenickt. Ick hatte schlecht jeschlafen und viel jeträumt. Vielleicht lag's daran.« »Übermüdung am Ruder – is' det nich' strafbar?« neckte sie ihn, wurde aber gleich wieder ernst und besorgt. »Du träumst schlecht? Wat denn?« Er zuckte mit den Schultern. »Ick weiß ooch nich' … Naja, Lore, die Scheidung … Und Kathrin meldet sich nich' – und noch so 'n paar andere Sachen. Rudi, zum Beispiel …« »Rudi?« fragte sie verwundert. »Wat is' denn mit Rudi?« »Ach, das erzähl' ick dir vielleicht 'n andere Mal.« Er rieb sich die Augen. »Jibt's jetzt Kaffee und 'n Happen zu essen?« Gabi nickte und betrachtete noch einmal die Uhr, ehe sie sie Brockmann zurückgab. »Sag mal – Lore hat dir die Uhr heute Morgen jejeben? Wohnt se auch wieder bei dir?« Peter verzichtete auf eine Antwort, sondern warf ihr nur einen strengen Blick zu, der Gabi veranlasste, zur Tür zu retiñeren. »So wat soll's ja jeben. So 'ne Art Aufflackern noch mal – kurz vor der Scheidung.« Jetzt setzte er doch zu einer Entgegnung an, aber in diesem Augenblick summte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Es war Erika, die 14
Iris Paulis Anruf durchstellte. Gabi nutzte die Gelegenheit zum Rückzug. Im Hinausgehen hörte sie, wie Brockmann mit Iris sprach. »Ja, Gabi hat mir schon erzählt. Ja, ick freue mich … Du weißt doch, wie jerne ick deine Linsen esse. – Wenn ick komme, bin ick da … Tschüss.« Er legte auf und lächelte.
Lore Brockmann erwischte gerade noch eine freie Parklücke vor dem Appartementhaus, in dem sie sich eine möblierte Wohnung genommen hatte. Sie lenkte ihren Mietwagen hinein, stieg aus und holte zwei Plastiktüten mit ihren Einkäufen vom Rücksitz. Dann angelte sie nach ihrer Handtasche. Hinter ihr stoppte ein Taxi. Als Lore sich umdrehte, erkannte sie ihre Tochter Kathrin, die gerade ausgestiegen war. Sie hatte eine Reisetasche bei sich, und der Taxifahrer stellte einen Koffer auf den Bürgersteig. Dann grüßte er und fuhr ab. »Hallo …« sagte Kathrin verlegen. »Hallo, Kathrin.« Lores Stimme klang belegt. Ihr Blick fiel auf Kathrins Koffer. Aber bevor sie eine Frage stellen konnte, sagte die junge Ärztin: »Ich bin direkt vom Flughafen gekommen.« Lore wusste nicht recht, was sie von Kathrins unerwartetem Auftauchen halten sollte. »Soll … soll das ein Vorwurf sein, dass ich dich nicht abgeholt habe?« fragte sie vorsichtig. »Ich hatte doch gar keine Nachricht von dir. Ich wusste nicht, wann du zurückkommst. Ich weiß nicht mal, wo du warst.« »In Griechenland.« Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab' nicht erwartet, dass du mich abholst.« Sie blickte an ihrer Mutter vorbei. »Als du nach all diesen Jahren zurückgekommen bist, hab' ich dir vorgeworfen, dass du nicht sofort zu mir gekommen bist. Nun war ich ebenfalls verschwunden, ohne zu sagen, wohin und für wie lange. Aber ich wollte beim Zurückkommen nicht denselben Fehler machen.« 15
Ein wenig hilflos zog Lore die Schultern hoch. »Und was wäre gewesen, wenn du mich nicht angetroffen hättest?« »Dann wäre ich trotzdem hier gewesen«, entgegnete Kathrin mit einer Spur Trotz. »Ein gescheiterter Versuch ist auch ein Versuch.« Lore Brockmann schluckte. »Dann … willst du mir also nur noch mal vorführen, was für eine schlechte Mutter ich bin?« »Ach Quatsch!« Kathrin lächelte ein bisschen mühsam. »Können wir vielleicht drinnen weiterreden?« »Ja, natürlich.« Lore wandte sich dem Haus zu. Ihr Appartement war recht aufwendig eingerichtet, mit teuren Möbeln, Lampen und Bildern. Trotzdem wirkte es irgendwie ungemütlich, weil die persönliche Note fehlte. Lediglich ein paar Zeitschriften und eine Schale mit Obst auf dem Couchtisch verrieten, dass es bewohnt war. In der Küche packte Lore ihre Einkäufe aus. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte, denn der unerwartete Besuch ihrer Tochter erfüllte sie mit Unsicherheit. Als Kathrin in der Küche erschien, sah sie ein wenig erstaunt auf die beiden halben Hummer, die ihre Mutter auf einer Platte angerichtet hatte. »Erwartest du Besuch? Dann gehe ich gleich wieder.« Lore blickte hoch. »Besuch? Nein, warum?« Sie fing Kathrins Blick auf und lächelte ein bisschen wehmütig. »Ach, wegen des Hummers? Nein, den hab' ich für mich gekauft. Kalifornisch – ein Gruß aus der Heimat sozusagen. Hier ist das Luxus, ich weiß. Aber bei mir zu Hause ist Seafood …« Sie stockte und verbesserte sich: » … sind Fischrestaurants fast so etwas wie hier ein Schnellimbiss.« Sie deutete auf die Platte. »Es reicht für zwei. Ich kauf sowieso immer zu viel ein. Wenn du also möchtest …« Als Kathrin nickte, nahm Lore ein wenig fahrig Teller und Gläser aus den Schränken. Sie hatte auch eine Flasche Weißwein besorgt, die sie aus dem weiß-rosa gestreiften Papier wickelte. Während sie aus einer Schublade einen Korkenzieher holte, wurde ihr klar, dass Kathrin wusste, warum sie sich in diese Aktivitäten flüchtete. »Du denkst, ich lenke ab, nicht wahr?« fragte sie. 16
Kathrin schüttelte den Kopf. Lore legte den Korkenzieher auf den Tisch, ohne die Flasche geöffnet zu haben. »Ich tu's aber. Ich tue das, was dein Vater … was Peter auch immer gemacht hat, wenn es schwierig wurde: Er hat angefangen zu kochen. Er hat versucht, Konflikte durch seine Kochkünste wegzuschieben. Und er hat mich damit auch noch aus dem einzigen Bereich verdrängt, in dem ich halbwegs so etwas wie kreativ sein konnte – aus der Küche. Er hat das natürlich nicht planvoll getan. Er hat es nicht mal bemerkt – und ich auch nicht. Nur einen maßlosen Zorn hab' ich manchmal gespürt.« Sie warf Kathrin einen nervösen Blick zu. »Ich verteidige mich schon wieder …« »Ich bin nicht gekommen, um dich anzugreifen«, sagte Kathrin leise. »Du bist gekommen, um endlich eine plausible Antwort darauf zu hören, warum ich damals weggegangen bin.« Kathrin setzte sich an den Küchentisch. »Die hast du mir doch schon gegeben – bei deinem ersten Besuch.« »Ich weiß. Ich habe gesagt, es seien die Umstände gewesen. Die Beengtheit, die so eng gar nicht war. Das Alleingelassen sein. Dass Peter ganz in seinem Beruf aufgegangen ist, immer weniger Zeit für mich hatte. Aber das stimmt nicht, jedenfalls nicht nur. Das waren Äußerlichkeiten. In Wahrheit war es die Machtfrage. Wer gewinnt Macht über wen.« Kathrin verzog den Mund. »Das klingt nach progressiver Frauenzeitung.« Lore reagierte nicht auf ihren leisen Spott. »Es ist mir egal, wonach es klingt. Aber es ist so. Und klar geworden ist es mir erst Jahre später. Wenn ich es früher gewusst hätte, hätte ich mich anders gewehrt.« Sie machte eine Pause, als erwarte sie, dass Kathrin etwas fragte. Aber als ihre Tochter sie nur ansah, fuhr sie fort: »Verliebte scheinen so wunderbar gleichberechtigt. Und sie sind auf so ehrliche Weise verlogen: Alles lieben sie gemeinsam, reisen, tanzen, ins Theater gehen, ins Konzert. Sie mögen dieselben Farben, dieselben Blumen, Spaziergänge im Regen und lange Gespräche über den Sinn des Lebens …« 17
»Ach …« Kathrin unterbrach sie mit einem kleinen resignierten Lächeln. Sie zögerte einen Moment, weil sie nicht wusste, wie sie die Frau, die ihre Mutter war und die zwanzig Jahre ohne sie gelebt hatte, anreden sollte. Dann meinte sie: »Ich weiß, was du sagen willst … Lore. Nach einer gewissen Zeit stellt sich heraus, dass der, den man liebt – oder zu lieben glaubt – Tanzen hasst, Reisen anstrengend findet, Theater langweilig. Dass er lieber in der Sonne spazieren geht und über alles reden möchte, nur nicht über den Sinn des Lebens. Und dann passiert nur noch das, was derjenige will, der das Geld nach Hause bringt, der die ökonomische Macht hat. Ich kann mir vorstellen, dass Vater mit den Zwängen seines Berufes alles entschuldigt und alles durchgesetzt hat.« Sie stockte und blickte ihre Mutter an. »Nach unserem ersten – ziemlich scheußlichen – Zusammentreffen hast du mich gefragt, ob ich mich noch nie verliebt habe. Und ich habe geantwortet, dass ich diesen Zustand nicht besonders schätze, weil er albern ist und sein ernüchterndes Ende absehbar. Da schienst du mir beinahe empört. Hast du deine Meinung inzwischen geändert?« »Nein«, sagte Lore entschieden. »Verlieben würde ich mich immer wieder. Ich wüsste nur ziemlich genau, wie sich die Zeit danach anfühlen muss.« Nachdenklich stützte Kathrin den Kopf in die Hände. »Ja, vielleicht bin ich deshalb heute hergekommen. Um das zu verstehen. Vielleicht kannst du's mir erklären.« Lore blickte auf ihren gesenkten Kopf. »Ich glaube, das kann ich nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass das jeder für sich selbst herausfinden muss.« Kathrin runzelte die Stirn. Sie war ein wenig verärgert, aber mehr über sich selbst, weil sie so viel von sich preisgegeben hatte. »Entschuldige«, sagte sie spröde. »Ich stelle dir Fragen wie eine Vierzehnjährige. Aber als ich vierzehn war …« » … konntest du mich nicht fragen, ich weiß.« Lore nickte und fühlte sich wieder so hilflos wie zu Anfang ihres Gesprächs. Sie deutete auf die Platte mit den Hummern. »Wollen wir rübergehen?« 18
Kathrin nickte. Sie nahm die Teller und Weingläser vom Tisch und folgte ihrer Mutter in den Wohnraum.
Bei den Saalbachs hatte der Tag wie immer begonnen. Während Bernd Saalbach und seine Frau Gisela, geborene Maerker, am Frühstückstisch saßen, bevor sie gemeinsam in die Maerker AG fuhren, hatten Jens und Hinrich, die beiden jüngsten Söhne, wie üblich so lange herum getrödelt, daß es jetzt allerhöchste Zeit für sie wurde, in die Schule zu kommen. Sie hatten die Schultaschen auf dem Rücken, und Jens stellte seinem Bruder beim Hinauslaufen ein Bein. Hinrich stolperte und sagte empört: »Mann, spinnst du?« »Aber Jens!« mahnte Dr. Gisela Saalbach, die als Chemikerin in dem Familienunternehmen arbeitete. Der Junge grinste. »Hab's nicht so gemeint. Tschüss!« Auch Hinrich rief einen kurzen Abschiedsgruß, dann rannten die beiden hinaus. Bernd Saalbach konnte sich eine ironische Bemerkung nicht verkneifen. »Da kommt das Maerkersche durch … Manche Maerkers stellen einem auch gern hin und wieder hinterrücks ein Bein und sagen dann, sie hätten es nicht so gemeint.« Seine Frau zog die Brauen zusammen, erwiderte aber nichts darauf, weil gerade ihre älteste Tochter, gleichfalls mit einer Schultasche, hereinkam. Annelie goss sich im Stehen eine Tasse Tee ein und trank hastig. »Setz dich doch«, forderte ihre Mutter sie auf, doch die hübsche Siebzehnjährige winkte ab. »Keine Zeit. Bin zu spät dran.« Ihr Vater blickte zu ihr hoch. »Sag mal, Annelie, du hast doch demnächst Geburtstag. Weißt du schon, was du dir wünschst?« Das junge Mädchen druckste herum. »Ja, du … ich weiß was. Aber das muss ich dir ein bisschen ausführlicher erklären. Dazu reicht die Zeit jetzt nicht.« 19
»Lass mich mal raten: Führerschein?« Annelie schüttelte den Kopf, daß die langen Haare flogen. »Nee, ganz was anderes. Den Führerschein mach' ich sowieso.« Sie stellte die Tasse zurück, schnappte sich ihre Tasche und ging zur Tür. »Tschüss dann!« Saalbach blickte ihr stirnrunzelnd nach. »Führerschein mach' ich sowieso! Und Vater zahlt. Selbstverständlich!« Gisela Saalbach unterdrückte ein Seufzen. »Der Führerschein ist heutzutage eben selbstverständlich. Außerdem kann ich ihr den bezahlen, wenn dir das zu teuer ist.« Saalbach zog es vor, nicht darauf einzugehen. Stattdessen fragte er: »Was ist es denn, was sie sich wünscht? Bin ich wieder der einzige, der das noch nicht weiß?« Seine Frau gab sich einen Ruck. »Annelie möchte nach Schwanenwerder ziehen. In die Villa. Regine bleibt ja die nächsten zwei Jahre in Marburg, und Annelie könnte die Dachgeschoßwohnung bekommen.« Regine war Giselas Nichte, die älteste Tochter ihres Bruders Georg. Sie war Ethnologin und hatte einen unehelichen Sohn, Florian, den sie sehr liebte. Vor kurzem war sie nach Marburg übersiedelt, wo sie an einem wissenschaftlichen Projekt mitarbeiten sollte. Saalbach blickte mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck auf das Tischtuch. »Und wo ist da das Geschenk?« Gisela hob die Schultern. »Annelie fürchtet, daß du etwas dagegen hast, wenn sie auszieht. Sie möchte sich sozusagen deinen guten Willen schenken lassen.« »Was sollte ich dagegen haben? Sie wird achtzehn.« Dr. Gisela Saalbach war überrascht. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr Mann heftigen Protest gegen die Pläne seiner Ältesten anmelden würde. »Immerhin wäre es eine ziemliche Veränderung in unserem Familienleben. Der erste Vogel verlässt das Nest. Außerdem brauchen wir dann jemanden für die Jungs. Sie können schließlich nicht den ganzen Tag allein im Haus sein.« Bernd Saalbach winkte ab. »Da werden wir eben ein Au-pair-Mädchen oder so anstellen müssen.« Er fing einen verwunderten Blick sei20
ner Frau auf und hatte Mühe, ein spöttisches Grinsen zu verbergen. »Mir scheint, Annelie sollte sich diesen sogenannten guten Willen von dir schenken lassen. Ich habe nichts dagegen – soll sie nach Schwanenwerder ziehen.« Seine Augen funkelten. »Vielleicht wohnen wir ja alle eines Tages in der Villa – als eine große glückliche Familie!« Gisela, die am besten wusste, wie groß die Spannungen zwischen Bernd und dem – wie er es nannte – ›maroden Maerker-Clan‹ waren, runzelte die Brauen. »Was soll denn das nun wieder heißen?« Zu ihrem Erstaunen lächelte Bernd, anstatt zu einer seiner üblichen Tiraden gegen ihre Familie und Dr. Peter Brockmann anzusetzen, der die Firmenanteile seiner Frau Lore verwaltete. »Nichts. Vergiss es. Es war nur eine alberne Bemerkung.« Er stand auf und gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Es war eine Zärtlichkeit, die Gisela Saalbach in ihrer Ehe seit langem nicht mehr gewohnt war. Bernd Saalbach war Prokurist in der Maerker AG. Aber da er es liebte, geschäftlich risikoreiche Alleingänge zu machen und die Firma dadurch schon einmal in finanzielle Schwierigkeiten gebracht hatte, hatte Dr. Georg Maerker im Einverständnis mit den anderen Anteilseignern Bernds Befugnisse erheblich eingeschränkt. Saalbach durfte seit damals keine wichtigen Entscheidungen mehr treffen, ohne zuvor die Zustimmung der übrigen Aktionäre einzuholen. Er hatte das zähneknirschend hingenommen, aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht insgeheim verbissen darauf hingearbeitet hätte, seinen alten Einfluss zurückzuerlangen und – wenn möglich – noch zu vergrößern. Und seit kurzem glaubte er, einen Weg dahin gefunden zu haben … An diesem Tag forderte er in der Firma die Personalakte von Rudi Lehmann an, dem Chauffeur und Hauswart von Georg Maerker. Saalbach wusste, dass Rudis Mutter die Geliebte von Konsul Maerker gewesen war, seinem Schwiegervater. Beide, der Konsul und Dorothea Lehmann, lebten nicht mehr. Und Gisela schien von den alten Geschichten keine Ahnung zu haben. Jedenfalls war sie entsetzt und völlig fassungslos gewesen, als Saalbach ihr gegenüber einmal behauptet hatte, Rudi sei vermutlich der uneheliche Sohn des alten Konsuls und somit ihr, Giselas, Halbbruder. 21
Herr Kolbe, ein langjähriger Mitarbeiter der Maerker AG, brachte Bernd die Personalakte. »Ich nehme an, es geht um ein Jubiläum«, sagte Kolbe. Saalbach blickte überrascht auf. »Bitte?« »Ja, ich dachte, weil Herr Lehmann demnächst zwanzig Jahre bei uns beschäftigt ist. Das wäre immerhin ein Grund zum Feiern. Zumal Herr Lehmann der Familie ja sehr nahe steht.« Saalbach lächelte undurchsichtig, während er dachte: Was meint er damit? Weiß er etwas? Oder bezieht er sich nur auf Rudis Vertrauensstellung und die Tatsache, dass seine Frau bei meiner Schwiegermutter Haushälterin ist? Laut sagte er: »Ja, das wäre allerdings ein Grund zum Feiern. Ach, sagen Sie, Herr Kolbe, als Rudi … ich meine, als Herr Lehmann damals eingestellt wurde – ich war zu dieser Zeit ja noch nicht in der Firma – hatte der Konsul da eigentlich keinen Fahrer? Oder ist der gerade ausgeschieden?« Kolbe fuhr sich über das schüttere Haar. »Der Herr Konsul hatte einen Fahrer. Den alten Kaulbach. Der war damals vierundsechzig, und er wurde für das letzte Arbeitsjahr vor der Berentung von unserer Firma ausgezahlt. Nicht gerade zu seiner Begeisterung, glaube ich. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Herr Konsul die Stelle für Herrn Lehmann freibekommen wollte.« »Ah so.« Saalbach blätterte in der Akte. »Vielen Dank, Herr Kolbe. Ich denke, wir sollten uns bei Gelegenheit mal etwas länger zusammensetzen, wenn Sie wollen …« »Sehr gerne, Herr Saalbach«, erwiderte der ältliche Mann devot. Dann ging er, während sich Bernd in Rudi Lehmanns Personalakte vertiefte. Ungefähr um dieselbe Zeit war Rudi in Schwanenwerder damit beschäftigt, den Wagen seines Chefs zu waschen. Seine Frau Sonja half ihm dabei, während seine kleine Tochter Petra, ebenfalls mit einem Eimer und einem Lappen bewaffnet, ihren Puppenwagen putzte. Anna Maerker, die Witwe des verstorbenen Konsuls, eine gepflegte, damenhafte Erscheinung, kam aus der Villa und schlenderte zum 22
Parkplatz. »Guten Abend, Rudi«, grüßte sie den stämmigen Mann freundlich. Er richtete sich auf. »'n Abend, Frau Konsul.« Anna wandte sich an ihre Haushälterin. »Sonja, Sie brauchen heute Abend nicht mehr zu mir zu kommen. Das bisschen schaff ich allein.« Sonja Lehmann ließ den Lederlappen sinken. »Wenn Sie meinen, Frau Konsul. Et macht mir aber wirklich nischt …« »Guten Abend, Frau Konsul.« rief Petra fröhlich dazwischen. Sie hatte ihren Puppenwagen stehen gelassen und hüpfte auf die alte Dame zu. Anna strich dem Kind über die Haare und sagte mit einem netten Lächeln: »Und dann möchte ich die ganze Familie Lehmann ein für allemal bitten, mich nicht mehr Frau Konsul zu nennen.« Sie beugte sich zu Petra hinunter. »Und du sagst einfach Tante Anna zu mir. Klar? Also einen schönen Abend noch.« »Danke, Frau Kon …« Sonja unterbrach sich verwirrt. »Danke …« »'n Abend, Ihnen auch …« rief Rudi der alten Dame nach. Er und Sonja arbeiteten schweigend weiter, bis Anna Maerker im Haus verschwunden war. Dann sagte Sonja unterdrückt: »Merkste wat?« »Wat denn?« fragte Rudi gespielt harmlos zurück, obwohl er genau wusste, was seine Frau meinte. Sonja verzog ärgerlich den Mund. »Mensch, Rudi, tu nich' so! Ick weeß doch, daß du 's auch merkst. Wir soll'n nich' mehr Frau Konsul sagen …« »Det wollte se schon immer. Wir ha'm uns bloß nie nach jerichtet.« Sein Gesicht wirkte abweisend, aber seine Frau ließ nicht locker. »Rudi, du kannst sie doch wenigstens mal drauf ansprechen. Du kannst doch sagen, daß du im Nachlass von deiner Mutter … daß du da Briefe jefunden hast …« »Hör bloß auf mit den Briefen! Ick möchte davon nischt mehr wissen!« fuhr Rudi auf, und etwas in seiner Stimme bewog Sonja nun doch, das Thema fallen zulassen, jedenfalls vorläufig. Komisch, in diesem Punkt ließ Rudi einfach nicht mit sich reden. 23
Wie er es Frau Jahnke versprochen hatte, machte Dr. Brockmann nach der Sprechstunde einen Hausbesuch bei ihrer Tochter, um nach der kleinen Pamela zu sehen. Karin Schröder hielt die niedliche Zweijährige auf dem Schoß. Ihr Mann Alex hatte Feierabend und beobachtete kaum weniger besorgt als seine Frau, wie Dr. Brockmann das Kind untersuchte. »Ja, Pam«, sagte Brockmann, nachdem er sich den Rachenraum des kleinen Mädchens angesehen und vorsichtig den Hals abgetastet hatte, »du hast Angina.« Karin seufzte und legte für einen Moment ihre Wange auf das Haar des Kindes. »Dabei hab? ick ihr heute morgen auf 'n Hals jedrückt und jefragt, ob det wehtut, und da hat sie jesagt: ›Nee.‹« Peter Brockmann nickte. »Heute Morgen hat er ihr vielleicht auch noch nich' wehjetan. Tja, das Fieber is' jetzt schon ziemlich hoch. Ick möchte ihr 'n Fiebersaft jeben.« Er griff nach seiner alten braunen Lederbügeltasche und suchte darin herum. Die Tür des Kinderzimmers stand einen Spalt offen. Benny spähte herein. Sein Gesicht war ernst, mit großen aufmerksamen Augen. Überrascht, beinahe ungläubig blickte Alex Schröder seine Frau an. »Sie hat wat jesagt? Sie hat ›nee‹ jesagt?« Der vierschrötige Mann ging vor Pamela in die Hocke. »Du hast wat jesagt, meine Süße?« Karin Schröder winkte ab. »Nee. Sie hat nich' ›nee‹ jesagt, sie hat mit 'm Kopp jeschüttelt.« Von seinem Beobachtungsposten aus sah Benny, wie sie die Kleine an sich drückte, und biss sich auf die Unterlippe. Wieder lag dieser unkindliche, halb feindselige, halb verzweifelte Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ach so.« Enttäuscht richtete Schröder sich wieder auf und wandte sich an Dr. Brockmann, der inzwischen gefunden hatte, was er suchte, und eine Plastikflasche aus der Verpackung zog. »Sie spricht nämlich nich'.« »Nu' lass doch mal', Alex«, protestierte seine Frau. »Det interessiert doch den Dokter nich'.« Aber Alex Schröder ließ sich nicht bremsen. »Wieso? Vielleicht kann der Dokter wat dazu sagen. Sie is' ja nu' schon zwei Jahre alt. Und au24
ßer so 'n Lauten und so … so komische Worte, die nur wir versteh'n, sagt se nischt. Also mir macht det Sorjen. Manchmal denk' ick … det wär' ja furchtbar … manchmal denk' ick, se is' vielleicht 'n bißken …« Mit einer bezeichnenden Geste tippte er sich gegen die Stirn. »Zu ihren Buntstiften sagt se zum Beispiel ›Tatuppen‹. Det is' doch nich' in Ordnung. Se wird bald drei. Da sprechen andere Kinder janz andere Sachen.« »Weil se doof is'«, sagte Benny von der Tür her. Karin Schröder fuhr aufgebracht herum. »Verschwinde, Benny! Ick hab' doch jesagt, du sollst in der Stube bleiben. Du störst den Dokter.« Peter Brockmann warf dem Jungen einen freundlichen Blick zu. »Mich stört er nich'. Meinetwegen kann er ruhig reinkommen.« Alex streckte dem Kind die Hand hin. »Komm rein, Benny.« Seine Stimme klang liebevoll. Man merkte, dass er seinen Stiefsohn gern hatte. Aber Benny übersah die ausgestreckte Hand und machte einen weiten Bogen um Alex. Er lief zu seiner Mutter und drückte sich eng an sie. Karin Schröder verzog den Mund und ließ ihn widerwillig gewähren. Dr. Brockmann hatte die kleine Szene beobachtet. Ein nachdenklicher Ausdruck trat in seine Augen. Dann wandte er sich mit einem beruhigenden Lächeln an Schröder. »Mit dem Sprechen, da machen Se sich mal keine Sorgen. Et jibt Kinder, die sammeln ihr'n Wortschatz erst mal … wie soll ick sagen … heimlich an. Und auf einmal sprechen se dann so viel, daß man staunt.« Benny äffte seine kleine Schwester nach. »Tatuppen – Tatuppen …« Karin versetzte ihm mit dem Ellbogen einen unsanften Schubs, aber der Junge schmiegte sich sofort wieder an sie. Dr. Brockmann nickte. »Ja. Da hat die Pam wahrscheinlich mit ihren ersten Buntstiften, wie det kleine Kinder so machen, auf 'm Papier rumjetuppt. Und jemand hat se ermuntert und hat jezeigt: Da tuppen und da tuppen. Und weil das für sie neu war, hat se sich jedacht: Stift heißt Tatuppen. Det is'n Zeichen von Intelligenz.« »Ach so«, murmelte Alex Schröder. Man sah ihm seine Erleichterung an. 25
Peter Brockmann hatte inzwischen die Plastikflasche geöffnet und den dazugehörigen Löffel aus der Verpackung geholt. Er ließ einen dickflüssigen rosafarbenen Saft auf den Löffel laufen. »So, Pam, jetzt ha'm wir hier wat Feines. Einen prima süßen Saft, damit du wieder jesund wirst. Woll'n wir den mal kosten?« Pam nickte. Benny löste sich von seiner Mutter und starrte fasziniert auf die rosa Flüssigkeit. »Is' det fürs Geschirrspülen?« fragte er. »Benny! Jetzt aber raus!« befahl Karin Schröder. Dr. Brockmann warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts. Stattdessen wandte er sich freundlich an den Jungen. »Nee. Das is'n Fiebersaft. Mund auf, Pam.« Folgsam schluckte die Kleine das Medikament und wurde dafür von Dr. Brockmann gelobt. Benny hatte keinen Blick von der kleinen Prozedur gelassen. »Stirbt man davon auch?« erkundigte er sich begierig. Seine Mutter schnappte ihn und schubste ihn in Richtung Tür. »So! Nun reicht's aber endgültig!« Alex Schröder, dem das Kind leid tat, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Komm, wir jeh'n in die Stube fernseh'n.« Aber Benny schüttelte die Hand ab und rannte aus dem Kinderzimmer. Alex folgte ihm. Seine Frau seufzte. »Entschuldigen Sie, Herr Dokter. Unser Benny is' manchmal zum An-die-Wand-Schmeißen. Kann die Kleene wieder ins Bett?« Peter nickte und sah zu, wie liebevoll Karin ihre Tochter zudeckte. Der Unterschied zu der Art, wie sie Benny behandelte, war erschreckend. Aber Dr. Brockmann gab keinen Kommentar dazu ab, sondern fragte scheinbar ahnungslos, während er sich in der Küche die Hände wusch: »Der Benny hängt wohl sehr an sei'm Schwesterchen, was?« »Ehrlich jesagt nich'«, gab Karin bedrückt zu. »Er hat sojar schon mal jesagt, am liebsten hätt' er's, wenn Pam tot war'.« »Ach so, deshalb hat er jefragt, ob man von dem Saft stirbt.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nee. Das is' was anderes.« Sie erzählte Dr. Brockmann, wie Benny am Vormittag mit den Putzmitteln herumgespielt und am Spülmittel geleckt hatte. »Und da hab' ick 26
'n Schreck jekriegt und ihn anjeschnauzt, daß det jefährlich is' und dass man davon sterben kann.« »Na, denn stell'n Se die Sachen mal jut weg«, meinte Dr. Brockmann. Die Tür flog auf, und Benny kam in die Küche gestürmt. »Spielste jetzt mit mir?« Er umschlang die Beine seiner Mutter so heftig, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Benny, wat soll denn det?« Unwillig löste sie seine Umklammerung. »Ick kann jetzt nich' spiel'n. Ick muss mich um Pam kümmern.« In einem jähen Wutausbruch – oder war es Verzweiflung? – schlug Benny nach Karin, worauf er sich prompt eine Ohrfeige einhandelte. Einen Moment starrte er sie an. Dann fing er an zu weinen und rannte aus der Küche. Für den Rest des Tages war der Junge still und in sich gekehrt. Seine Mutter achtete nicht weiter darauf. Sie war zufrieden, dass Benny sie in Ruhe ließ und keinen Unfug anstellte. Dr. Brockmann hatte ihr den Fiebersaft dagelassen, und Benny beobachtete, wie Pam später noch einmal einen Löffel voll bekam. Das süße Zeug schien Pam zu schmecken, denn sie schluckte alles brav hinunter. »Det machste aber schön«, sagte Karin zärtlich. Sie warf Benny einen flüchtigen Blick zu. »Da nimm dir mal 'n Beispiel dran. Wat du immer für 'n Theater machst, wenn du wat schlucken sollst.« Benny schwieg. Er sah, wie seine Mutter die kleine Schwester liebevoll ins Bett legte. »Nu' schlaf dich jesund, ja? Und du zieh dich aus«, wandte sie sich ungeduldig an Benny. »Is' Zeit fürs Bette.« Aber der kleine Junge war nicht müde. Er war sehr unglücklich. Alex und Karin Schröder saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es wurde ein Fußballspiel übertragen. Irgendwann ging Benny auf Zehenspitzen zu Pams Bett hinüber und warf einen Blick hinein. Pam war wach und lachte glucksend, als sie ihren Bruder erkannte, aber sein hübsches Kindergesicht blieb finster und feindselig. Leise schlich sich der Junge aus dem Zimmer über den Flur. Er sah seine Mutter und seinen Stiefvater mit dem Rücken zur Tür vor dem Fernsehgerät sitzen. Alex trank Bier. Die laute Stimme 27
des Sportreporters und das aufbrandende Geschrei der Zuschauer im Fußballstadion übertönten jedes andere Geräusch. Benny schlich weiter. In der Küche angelte er nach dem Spülmittel, das an der Wand des Waschbeckens stand. Mit seinen kurzen Ärmchen konnte er es nicht erreichen. Also schleppte er so leise wie möglich einen Stuhl heran, kletterte darauf und nahm die Flasche an sich. Dann holte er einen Löffel aus der Schublade. Ein paar Minuten später hörte Karin ihre kleine Tochter jämmerlich schreien. Sie kam sofort ins Kinderzimmer und beugte sich über das Bett. »Pam! Wat is' denn, meine Süße?« Dann schrie sie auf. »Alex! Alex, komm ma' her!« Neben Pam's Bett stand ein Stuhl. Während Karin die Kleine hochnahm, sah sie dort den Esslöffel liegen. Ein wenig rosa Flüssigkeit war noch darauf. Alex Schröder stürzte ins Zimmer. »Wat is' denn?« Vor Angst und Schrecken konnte Karin kaum sprechen. »Hier! Kiek doch ma'! Pam hat Schaum vor 'm Mund!« Alex schüttelte seine Tochter sanft. »Pam! Sag doch mal wat!« Der große Mann schwitzte vor Aufregung. Benny saß in seiner Spielecke und beschäftigte sich mit seinen Legosteinen. Er tat, als ginge ihn das alles nichts an.
Gabi Köhler war allein in der Praxis. Sie trug ein sehr schickes, im Rücken tief ausgeschnittenes Kleid, hatte das Radio angestellt und tanzte nach der lauten Musik ausgelassen durch die Räume. Als Dr. Brockmann unvermutet hereinkam, fuhr sie erschrocken zusammen. »Peter!« »'n Abend«, sagte er. »Wat machst du denn noch hier?« Gabi stellte das Radio ab. »Ick werde abjeholt. Und du? Ick dachte, du belastest deinen Magen längst mit Iris' Hülsenfrüchten.« »Da jeh ick jetzt hin. Ick hab' von unten Licht in den Fenstern hier jeseh'n und dachte: siehste mal nach. Außerdem hab' ick heute noch 28
keinen Blick in die Post jeworfen.« Wortlos legte ihm Gabi einen kleinen Stapel geöffneter Briefe auf den Tresen. Peter blätterte sie durch. »Noch irgendwelche wichtigen Anrufe?« »Nee Erwartest du einen?« »Kathrin hat sich auch nich' jemeldet?« Dr. Brockmann unterdrückte einen Seufzer. »Komisch. Sie wollte doch spätestens heute zurückkommen.« Gabi lächelte ironisch. »Du, hör mal, deine Tochter wird demnächst dreißig.« Er steckte die Hände in die Manteltaschen. »Um Kinder macht man sich immer Sorjen. Auch wenn se Fuffzich sind.« » … sprach der Großvater und kraulte sich den eisgrauen Bart!« ulkte Gabi. »Nu' zisch ma' ab, Linseneintopf fassen.« Iris Paulis hübsches Gesicht erhellte sich, als sie Dr. Brockmann die Wohnungstür öffnete. Er umarmte die blonde Anwältin herzlich. »Na, is' das früh, oder is' das nich' früh?« fragte er stolz. »Es ist unerwartet früh. So unerwartet, daß ich …« Peter ließ sie los. »Sag nich', du hast die Linsen noch nich' ma' einjeweicht!« Sie nickte und strich sich das Haar zurück. »Doch. Genau das wollte ich sagen.« Als sie seinen enttäuschten Gesichtsausdruck gewahrte, musste sie lachen. »Quatsch. Sie sind warm. Ich brauch' sie nur noch heiß zu machen.« Wenig später saßen sich die beiden an dem liebevoll gedeckten Tisch gegenüber. Iris hatte eine Flasche Rotwein aufgemacht und eine Platte mit Barockmusik aufgelegt. Schweigsam löffelte Peter seine Suppe, trank hin und wieder einen Schluck Wein. Iris beobachtete ihn und fragte nach einer Weile: »Heh, Peter, wo bist du?« Er schrak hoch. »Wat?« Dann lächelte er schuldbewusst. »Hier – bei dir. Und ick esse gerade so unjefähr den besten Linseneintopf meines Lebens.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, du warst ganz woanders.« 29
»Das liegt an dieser Musik«, behauptete Peter Brockmann. »Wusstest du das nich'? Barockmusik regt Alpha-Wellen in der rechten Gehirnhälfte an. Da kommt man in einen tranceähnlichen Zustand.« »Und wo hat dich dein tranceähnlicher Zustand hingeführt?« erkundigte sich Iris. »Zu einer Frau?« Er schüttelte den Kopf. »Nee. Zu 'nem kleinen Jungen. Doch, ehrlich, Iris.« Und dann erzählte er von seinem Besuch bei den Schröders und den Beobachtungen, die er dabei gemacht hatte. »Und da steht denn so 'n kleener Kerl und hungert regelrecht nach Liebe«, ereiferte er sich, und Iris lachte. »Seit wann bist du so pathetisch?« »Ick stelle mir das eben vor. Der Junge lebt drei Jahre mit seiner Mutter alleine, alles konzentriert sich auf ihn, und denn verliebt sich Mamma. Plötzlich is 'n Mann im Haus. Erste Entthronung. Und denn wird die kleine Schwester jebor'n – und das is' dann die zweite Entthronung. So was hält nich' mal 'n Erwachsener aus. Und das Schwierige is', dass die Leute das gar nich' merken.« Iris warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. »Manchmal würd' ich mir dein Einfühlungsvermögen für deine nächste Umgebung wünschen … was die ›Entthronungen‹ betrifft.« »Wie meinste denn das?« fragte Peter unbehaglich. Ihre Antwort klang eine Spur zu leichthin. »Daß ich meinen Thron in gewisser Weise mit Gabi teilen muss – daran hab' ich mich ja inzwischen gewöhnt. Aber nun auch noch Lore …« »Du hast doch hoffentlich nicht den Eindruck, daß Lore dich … entthront?« erkundigte er sich unsicher. Iris verzichtete auf eine Antwort und sagte stattdessen unvermittelt: »Weiß du, es ist so früh … Wir könnten eigentlich noch ins Kino gehen.« Unwillkürlich warf Dr. Brockmann einen Blick auf sein Handgelenk und zog dann Lores Uhr aus der Brusttasche. »So? Wat jibt's denn?« »Was hast du denn da?« fragte Iris sofort. Er war ärgerlich auf sich selbst, daß er Lores Uhr überhaupt hervorgeholt hatte. »Meine Armbanduhr is' nich' in Ordnung. Lore hat letz30
te Nacht bei Anna in der Villa jeschlafen. Ick hab' sie heute Morjen zufällig im Garten jetroffen. Und weil ick 'ne Uhr brauche, hat sie mir ihre jeliehen.« Sie betrachtete die Uhr mit hochgezogenen Brauen. »Hübsch. Noch Gütergemeinschaft – oder?« In diesem Augenblick läutete das Telefon. Nach einem kurzen Zögern ging Iris an den Apparat und meldete sich. »Ja, Gabi?« hörte Brockmann sie sagen. »Augenblick.« Er war schon aufgestanden und griff nach dem Hörer. Gabi berichtete, dass Frau Schröder angerufen habe. Die kleine Pam hätte Schaum vor dem Mund. »Schaum?« wiederholte Brockmann betroffen. »Ick ahne was. Ruf zurück und sage, ick komme sofort. Pass auf: Ruf auch die Feuerwehr an, die soll'n Rettungswagen schicken. Und dann die Vergiftungs-Beratungsstelle. Die soll'n schon mal nachschlagen, wat sie an rosafarbenen Spülmitteln haben und was da drin is'. Ick melde mich dann und sage durch, um welches Fabrikat es sich handelt.« Er legte auf und wandte sich zu Iris. »Alles klar, alles klar!« In einer Mischung aus Enttäuschung und Verständnis breitete sie die Arme aus. »Ick melde mich«, murmelte Dr. Brockmann. Er verzichtete sogar darauf, Iris einen Abschiedskuß zu geben, sondern schnappte sich seinen Mantel und verließ hastig die Wohnung. Er traf fast gleichzeitig mit dem Rettungswagen der Feuerwehr bei den Schröders ein. Benny hockte total verängstigt in einem Sessel im Wohnzimmer. Nachdem Dr. Brockmann Pam kurz untersucht hatte, rief er bei der Vergiftungs-Beratung an und nannte den Namen des Spülmittels, das Benny seiner kleinen Schwester eingegeben hatte. Dann gab er Weisung, die Kleine ins Krankenhaus zu bringen. Während Karin ihre Tochter in eine Decke wickelte, versuchte Dr. Brockmann, den aufgeregten Vater zu beruhigen. »Alles, was wir hier machen, sind Vorsichtsmaßnahmen, Herr Schröder. Nach dem, was die Vergiftungszentrale durchgegeben hat, is' das Zeug relativ harm31
los. Ihre Pam soll trotzdem vierundzwanzig Stunden beobachtet werden.« Alex Schröder nickte wie betäubt, und Brockmann blickte zu Benny hinüber. Er wollte noch etwas sagen, aber einer der Feuerwehrmänner kam aus dem Kinderzimmer. »Wir rücken denn ab.« »Ich komme sofort«, erklärte Brockmann. Er wandte sich an Karin. »Wie konnte er das nur machen«, stammelte sie. »Seine eijene Schwester …« Peter Brockmann sah sie eindringlich an. »Der Benny, Frau Schröder, der Benny kann nischt dafür.« Karin Schröder biss sich auf die Lippen. Aber sie begriff, was der Arzt ihr klarmachen wollte. Unmerklich nickte sie und blickte nun gleichfalls zu ihrem Sohn hinüber. Es kostete sie Überwindung, aber sie brachte es doch fertig, ihm zuzunicken. »Tschüss, Benny, ick bin bald wieder da.« Der Junge sah ihr nach, wie sie mit Pamela eilig die Wohnung verließ. Er wirkte immer noch wie das verkörperte Entsetzen. Alex Schröder schluckte und holte tief Luft. Dann ging er in einem ehrlichen, liebevollen Impuls zu dem kleinen Kerl hin. »Is' allet halb so schlimm, Benny. Komm.« Er wollte ihn hochheben. Und diesmal wich Benny ihm nicht aus. Im Gegenteil – er streckte die Arme aus und drückte sich eng an den großen Mann. »Sie werden auf 'm laufenden jehalten«, sagte Dr. Brockmann betont sachlich, um seine Rührung zu verbergen. Dann fuhr er ins Krankenhaus.
Nachdem er Pamela in der Obhut der dortigen Ärzte zurückgelassen hatte, versuchte er von der Halle aus, Iris anzurufen. Aber in ihrer Wohnung nahm niemand den Hörer ab. Enttäuscht legte Dr. Brockmann auf, überlegte und suchte dann Lores Nummer aus seinem Notizbuch. 32
Kathrin Brockmann war immer noch bei ihrer Mutter. Es hatte vieles gegeben, worüber sie miteinander geredet hatten. Aber es war gut und richtig gewesen. Sie waren sich nähergekommen. Als das Telefon läutete, ging Lore an den Apparat. Überrascht erkannte sie am anderen Ende der Leitung die Stimme ihres Mannes. »Das war irgendwie 'n seltsamer Tag«, sagte er stockend. »Ick … Es kommt dir vielleicht komisch vor, aber wenn du noch Zeit und Lust hast … Wir wollten doch noch 'n paar Sachen besprechen. Und Kathrin …« »Kathrin ist hier«, unterbrach Lore ihn. »Sie ist vom Flughafen aus gleich hierher gekommen.« »Na, denn will ick nich' stören«, sagte Peter ein bisschen gekränkt, weil seine Tochter sich nicht zuerst bei ihm hatte sehen lassen. »Wieso? Komm doch«, widersprach Lore. »Das ist doch sozusagen eine Familienangelegenheit.« Er wehrte ab. »Nee, Lore, lass mal. Bestell Kathrin 'n schönen Gruß. Wär' nett, wenn sie sich bei Jelejenheit auch mal bei mir meldet. Tschüss.« Lore legte auf und wandte sich zu ihrer Tochter um. »Schade. Erst wollte er kommen – und dann wieder nicht.« Sie zögerte. »Er … er wollte mit mir die Einzelheiten der Scheidung besprechen.« Kathrin ging nicht darauf ein, sondern stellte die Frage, die ihr die ganze Zeit über im Kopf herumgegangen war. »Als … als du damals deinen Aktienanteil notariell auf Peter übertragen hast – nach Großvaters Tod –, da warst du doch schon in Amerika. Wie ging das eigentlich? Ist das über einen Notar in den USA abgewickelt worden?« Lore Brockmann brauchte ein paar Sekunden, bis sie sich zu einer Antwort durchrang. »Nein. Da war ich hier. Da war ich für zwei Tage hier.« Sie vermied es, Kathrin anzusehen. »Und nun möchtest du wissen, warum ich dich nicht …« Kathrin fiel ihr ins Wort. »Nein. Ich denk' mir: Wenn du mich damals gesehen hättest, dann … wärst du nicht zurückgegangen nach Amerika.« Lore ließ sich stumm auf die Armlehne eines Sessels sinken. Sie hielt 33
den Kopf gesenkt und kämpfte mit den Tränen. Kathrin trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Peter Brockmann war unterdessen auf dem Weg nach Schwanenwerder. Er parkte seinen Wagen vor der Villa und stieg aus. In diesem Moment trat Rudi Lehmann aus dem Haus, »'n Abend, Herr Dokter«, grü3te er freundlich. »Ick wollte gerade nach vorn, das Tor abschließen, aber Herr Saalbach und Frau Dokter sind noch bei der Frau Kon … bei Frau Maerker.« »So …« Brockmann blieb stehen, weil er das Gefühl hatte, dass Rudi ihm noch etwas sagen wollte. Und so war es auch. »Herr Dokter«, begann der Chauffeur umständlich, »als Sie mich heute morjen jefragt haben, ob ick damals … ob ick Sie da ansprechen wollte – also das wollte ick tatsächlich. Da is' nämlich so 'ne Sache … also ick weiß nich wie ick mir da verhalten soll.« »Na, dann komm doch am besten gleich mit nach unten in meine Hütte«, schlug Brockmann vor, doch Rudi schüttelte den Kopf. »Nee, das jeht nich'. Sie haben ja Besuch.« »Ick habe Besuch?« fragte Peter erstaunt. »Ja, wissen Se das nich'?« Brockmann nickte, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wer auf ihn warten könnte. »Doch, doch, jetzt erinner' ick mich.« Er lächelte Rudi zu. »Ja, und wat dein Problem betrifft – jederzeit. Komm einfach zu mir.« Damit ging er rasch in Richtung seines Gartenhauses davon. »Hallo«, sagte er überrascht, als er die Tür geöffnet hatte. »Du?« Iris Pauli lag auf der Couch und lächelte ihm entgegen. Mit einer raschen, anmutigen Bewegung stand sie auf. »Ja. Es gibt noch Nachtisch.« Sie deutete zum Couchtisch, auf dem zwei Kristallgläser mit appetitlich angerichteten Waldbeeren standen. Peter erwiderte ihr Lächeln. »Ick … ick habe bei dir zu Hause anjerufen, als ick im Krankenhaus fertig war …« »Krankenhaus?« wiederholte Iris, nun doch erschrocken. »So schlimm?« Er schüttelte den Kopf. »Nee, alles in Ordnung. Nur vorsichtshalber.« 34
In ihre hübschen Augen trat ein leicht verlegener Ausdruck. »Ja, weißt du, bei mir zu Hause, da … da waren diese Trance erzeugenden Alpha-Wellen in der Atmosphäre. Da hab' ich mich nicht mehr so wohl gefühlt und bin hierher gekommen. Schlimm?« Brockmann nahm sie in die Arme. »Im Gegenteil.« Sein Blick fiel auf den Tisch, wo etwas Goldenes schimmerte. »Was is' denn das da?« Iris löste sich von ihm. »Das? Ich hab' ein bisschen im Familienschmuck gebuddelt. Das ist die Taschenuhr von meinem Urgroßvater. Sie geht. Ich dachte, sie ist vielleicht passender, bis du deine Armbanduhr wieder hast …« Sie nahm die Uhr und ließ sie an der Kette vor Peters Gesicht baumeln. Er nahm sie und grinste, bevor er Iris noch einmal umarmte.
Der Liebhaber
H
elen Urban war eine sehr hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren, die sie meist im Nacken zusammengebunden trug, und ausgezeichneter Figur. Sie war noch nicht lange verheiratet, und eigentlich hätte sie recht glücklich sein müssen, wenn … ja, wenn es nicht diesen Kurt Hamacher gegeben hätte. Und die verdammte Meisterschaft, für die ihr Mann so verbissen trainierte, dass daneben nichts anderes mehr Platz hatte. Offenbar nicht einmal mehr sie, Helen. Dabei wollte Helen Urban Sportlehrerin werden und war selbst eine hervorragende Florettfechterin. Und sie hatte sich auch immer eingebildet, Verständnis für Klaus' Ambitionen zu haben. Sicherlich machte es Spaß, zu siegen, Medaillen und Pokale zu gewinnen. Aber keinesfalls war es das Wichtigste im Leben, fand Helen. Als sie an diesem Spätnachmittag zusammen mit ihrem Mann ihre 35
Wohnung in der Potsdamer Straße verließ, war wieder einmal Training angesagt. Auf dem Hof des großen Mietshauses kämpften zwei Jungen mit silbrig glänzenden Plastikschwertern und -Schilden. Geradezu verbissen schlugen die etwa siebenjährigen Steppkes aufeinander ein. Klaus Urban, in Jeans und T-Shirt, beobachtete die beiden und nickte anerkennend. »Vielleicht unser Nachwuchs«, meinte er, während Helen den Deckel eines großen Müllcontainers hochhob, damit ihr Mann die mitgebrachten Abfalltüten hineinwerfen konnte. Helen runzelte die Stirn. »Ich hab' der Frau Hölscher schon 'n paarmal gesagt, daß ich das gefährlich finde.« »Was is 'n daran gefährlich?« fragte Klaus kopfschüttelnd. »Die Dinger sind doch aus Plastik.« »Auch mit Plastik kann man sich Brüschen hauen.« Nebeneinander gingen die beiden jungen Leute zu dem Durchgang, der auf die Straße führte. Klaus Urban strich sich über das kurze dunkle Haar. Der Schnitt war zwar nicht mehr modern, aber Klaus mochte ihn. Er fand kurze Haare praktisch, und sie unterstrichen, wie er meinte, seinen sportlichen Typ. »Seit wann bist du so zimperlich, Helen?« erkundigte er sich ein bisschen ruppig. »Wer kämpft, kriegt eben manchmal Beulen ab. Das schult fürs Leben. Kann man gar nich' früh genug mit anfangen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, brachte aber nichts mehr heraus, weil er husten musste. Es war ein ziemlich heftiger Anfall, der in der Toreinfahrt doppelt laut klang. Helen warf ihrem Mann einen schrägen Blick zu. »Vielleicht solltest du deinen Trainer mal fragen, ob er außer seinen Zauberdrogen auch 'n paar Hustenbonbons hat.« Ihr Ton ärgerte Klaus. »›Dein Trainer‹! Hör doch endlich mal auf, Kurt ›meinen‹ Trainer zu nennen!« »Ich mag ihn nicht«, sagte sie kurz, und ihr Mann presste die Lippen zusammen. »Er ist mein Freund«, erwiderte er, und Helen schwieg. Der Husten machte Klaus auch während des Fechttrainings in der 36
Sporthalle zu schaffen. Einmal musste er sogar deswegen den Kampf unterbrechen, weil er hinter der Maske kaum mehr Luft bekam. Er riss sie herunter und hielt sich den Arm vor das Gesicht. Auch Kurt Hamacher, der Trainer, nahm die Maske ab. »Was is'?« fragte er ungeduldig. Klaus winkte ab. »Verschluckt …« schwindelte er, und Hamacher grinste. »Weiter. Dir wird schon noch die Spucke wegbleiben.« Damit schob er sich die Maske wieder über und ging in Ausfallstellung. Etwa eine halbe Stunde lang kämpften sie. Klaus war in Schweiß gebadet. Er fühlte sich schlapp, und seine Reaktionen kamen viel zu langsam. Als Hamachers Degen ihn wieder einmal an der Maske traf, gab Klaus es auf. »Lass gut sein für heute.« Kurt warf ihm einen unzufriedenen Blick zu. »Was is 'n los mit dir? Nennst du das Kondition?« »Hab' vielleicht 'n schlechten Tag.« »Vielleicht?« wiederholte der Trainer spöttisch. »Deine Sperrdeckung hat nicht einmal geklappt.« »Nächste Woche klappt sie.« »Nächste Woche ist das Turnier«, sagte Hamacher betont, während er Klaus in den Hintergrund der großen Halle folgte. »Eben.« Klaus versuchte ein Lächeln, musste aber wieder husten und unterdrückte es krampfhaft. Er merkte, dass Hamacher ihn stirnrunzelnd beobachtete. Helen hatte ebenfalls trainiert, aber nach mehreren Gängen gegen ihre Gegnerin verloren. Doch die junge Frau lachte nur darüber. Sie nahm die Maske ab, zog das Gummiband aus ihrem Haar und schüttelte die blonden Locken zurecht. »Bravo! Gratuliere!« rief sie ihrer Sportkollegin fröhlich zu. Als sie Klaus und Hamacher kommen sah, wandte sie sich ihrem Mann zu. »Schon fertig? Das wird dann ja fast so was wie 'n gemütlicher Abend.« Statt einer Antwort fing Klaus wieder zu husten an. Hamachers eben noch missmutige Miene wurde besorgt. Er legte ihm den Arm um die Schultern. »Was is' denn das für 'ne Husterei? Hast du dich erkältet?« 37
Er warf Helen einen Blick zu, in dem ein unausgesprochener Vorwurf lag, so als sei sie an Klaus' Husten schuld. »Hat er sich erkältet?« Helen zog die Schultern hoch. Sie konnte die Fürsorglichkeit des Trainers fast noch weniger ausstehen als seine brutale Antreiberei. Aber Klaus zuliebe verzichtete sie auf eine unfreundliche Antwort, sondern sagte nur mit einem leichten Lächeln: »Ich studiere Sport, nicht Medizin.« Hamacher wandte sich wieder an Klaus. »Komm mit, ich geb' dir was. Damit donnern wir das sofort runter, eh's richtig ausbricht.« »Bist du Arzt?« konnte Helen sich nun doch nicht verkneifen zu fragen, und Hamacher sah sie verdutzt an. »Ich meine, wenn nich', war' ich 'n bisschen vorsichtig mit ›runter donnern.« »Du solltest dich 'n bisschen besser um deinen Mann kümmern«, konterte der Trainer. »Wenn er zum Turnier …« Helens Stimme war immer noch heiter liebenswürdig. »Wir versuchen, so was wie 'ne Ehe zu führen. Das heißt, ich unterhalte kein Trainingslager mit angeschlossenem Sanatorium.« Klaus räusperte sich nervös. »Helen, komm, so meint er's doch nich' …« Ihr Lächeln wurde ironisch. »Doch, doch, so meint er's. Nich', Kurt?« Hamacher grinste. »Streitet euch ruhig. Mir is' lieber, ihr habt 'n bisschen Kniest, als daß ihr euch ständig in den Armen liegt. Du weißt ja, Klaus: Beim Athleten muss die Liebe warten.« »Wie wär's, wenn du mitkommst und dich zwischen uns legst«, schlug Helen lässig vor. »Sag das nich' noch mal. Ich mach' das«, konterte er. Aber da ihm das Gespräch allmählich zu unbequem wurde, winkte er den beiden verabschiedend zu. »Entschuldigt mich. Schönen Abend noch …« Auf dem Heimweg fanden Klaus und Helen keinen Parkplatz vor ihrer Tür, sondern ein ganzes Stück weiter entfernt. Während sie über die Potsdamer Straße nach Hause schlenderten, meinte Klaus anerkennend: »Ich hab' dir vorhin zugeseh'n. Du bist fabelhaft in Form. Verstehe nicht, warum du dich nicht für die Meisterschaft gemeldet hast.« 38
»Ein Meister in der Familie reicht doch«, erwiderte Helen leichthin. Dann fügte sie ernsthaft hinzu: »Du weißt, ich bin kein Wettkampftyp. Mir gibt das nichts. Ich mach' Sport, weil das 'n Teil von meinem Leben ist, aber ich lebe nich', um Sport zu machen. Diese ganze Trainingsrackerei, um den Enkeln irgendwann erzählen zu können, was das für 'n komischer eingestaubter Silbertopp im Schrank ist …« Klaus blickte sie verständnislos an. »Aber man muss doch hin und wieder im Leben überprüfen, wie weit man kommt, wenn man wirklich etwas leisten will.« Helen lächelte sanft. »Das mach' ich in anderen Bereichen.« »Wo denn?« Ihr Lächeln wurde ein wenig verführerisch. »Zeig' ich dir nachher.«
Die Altbauwohnung der Urbans war zwar nicht üppig aber doch recht gemütlich eingerichtet. Ein paar ältere Möbel, Erbstücke aus Helens Verwandtschaft, harmonierten erstaunlich gut mit der modernen Sitzgruppe und den Lithographien an den Wänden. Die ganze Einrichtung zeigte Geschmack und Liebe zum Detail, und die beiden großformatigen Fotos – auf einem waren Helen und Klaus in Fechtkleidung zu sehen, auf dem anderen posierte er allein – verrieten, dass es sich um die Behausung von zwei sportbegeisterten jungen Leuten handelte. Während Helen in der Küche verschwand, setzte sich Klaus im Wohnzimmer eine Weile auf die Couch, den Kopf in die Hände gestützt. Er ärgerte sich, dass er heute beim Training so schlecht abgeschnitten hatte, und er fragte sich, ob es nicht falsch gewesen sei, vorzeitig aufzuhören. Schließlich stand er auf, nahm seine Fausthantel vom Regal und stellte sich in die freie Mitte des Zimmers, in der nur ein großer heller Baumwollteppich lag. Klaus ging in Fechtgrundstellung, die linke Hand in die Hüfte gestützt, und stieß die Hantel immer wieder in regelmäßigen Abstän39
den nach vorn. Das war eine Übung, die der Fechter zur Stärkung seiner Schnelligkeit und Stoßkraft braucht. Wieder und wieder ließ Klaus den Arm mit der Hantel vorschnellen, so lange, bis er in Schweiß geriet. Sein Gesicht war ernst, fast verbissen, und der Atem wurde ihm knapp. Ein paarmal hustete er auch, aber er gab trotzdem nicht auf. Er hörte nicht einmal, dass Helen hinter seinem Rücken das Zimmer betrat. Sie trug ein Glas mit einer dampfenden, gelblich-milchigen Flüssigkeit in der Hand. Eine kleine Weile beobachtete sie ihren Mann, dann ging sie um ihn herum und streckte ihm das Glas hin. Als er nicht reagierte, hielt sie es in die Richtung, in die sein rechter Arm mit der Hantel immer wieder vorschnellte, bis er schließlich aufgab und mürrisch fragte: »Was soll denn das?« Helen lachte. »Heiße Zitronenmilch.« »Wofür?« erkundigte er sich hüstelnd, und sie zeigte auf seine Brust. »Dagegen.« »Danke.« Er nahm ihr das Glas ab und trank durstig. Als Helen sich von rückwärts gegen ihn lehnte, versteifte er sich. Aber sie schmiegte sich an ihn und streichelte leicht über seine Haut. »Du bist nassgeschwitzt, mein großer Krieger. Das ist nicht gut für das, was da eventuell ausbricht, wie dein Trainer ganz richtig beobachtet hat.« Während Klaus noch einen Schluck trank, umarmte sie ihn fester. Ihre Stimme klang leise und schmeichelnd. »Weißt du was? Wir nehmen jetzt ein schönes heißes Bad …« »Wir?« fragte Klaus unsicher. »Ja. Wir beide. Dann kriechen wir in unser weiches, warmes Bett, und dann … sehen wir mal …« Ihre Finger beschrieben kleine Kreise auf seinem Rücken, und Klaus löste sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck von ihr. »Mensch, Helen, sei doch nich' so stur …« »Ich?« »Ja, du!« beharrte er. »Ich muss mein Trainingsprogramm durchziehen, wenn ich 'n Blumentopp gewinnen will!« Helen wandte sich ab, schlenderte zu einem Sessel und ließ sich hin40
einfallen. »Was machst man mit dem Blumentopp, wenn der Rosenstock inzwischen verwelkt ist.« »Du bist unfair«, murmelte Klaus. Der Abend verlief wie die meisten in der letzten Zeit. Helen las, während Klaus noch einmal auf dem Teppich sein Trainingsprogramm absolvierte. Plötzlich lachte sie amüsiert auf. Klaus, der gerade seine für heute letzten Kniebeugen gemacht hatte, sah zu ihr hin. »Was is'? Ich will mit lachen.« »Hier wird Freud zitiert«, erklärte Helen, obwohl ihr klar war, daß Klaus todsicher nicht komisch finden würde, was sie so erheiterte. »Sigmund, der Psychopappa.« Sie nahm die Zeitung und las vor: »Die moderne Kulturerziehung bedient sich bekanntlich des Sports in großem Umfang, um die Jugend von der Sexualbetätigung abzulenken. Richtiger wäre es, zu sagen, sie ersetzt den Sexualgenuß durch die Bewegungslust und drängt die Sexualbetätigung auf eine ihrer autoerotischen Komponenten zurück.« Wieder lachte sie. »Witzig, nich'? Obwohl es stimmt. Kenn' ich sogar von mir.« Klaus erwiderte nichts darauf. Helen begriff, dass er verärgert war, und fügte hinzu: »Das hab' ich zufällig gefunden, 'n Artikel über Sport und Sexualität. Sportlerfrauen berichten aus ihren Erfahrungen.« Er steuerte wortlos die Tür zur Diele an. »Klaus«, sagte Helen leise, mit einem sonderbaren Lächeln. »Ich schaff mir 'n Hausfreund an.« Ein paar Sekunden sahen sie einander schweigend an. Dann stieß er ein verächtliches Schnauben aus und ging hinaus.
Dr. Kathrin Brockmann saß in einem Sessel im Sprechzimmer ihres Vaters. Sie war braungebrannt von ihrem Griechenlandurlaub und sah mit ihrem offenen langen Haar und den verträumten Augen ganz und gar nicht wie eine fast dreißigjährige tüchtige Ärztin aus. Eine kleine Falte stand auf ihrer Stirn. »Das versteh' ich jetzt nicht. 41
Eben beklagst du dich noch, daß ich mich nich' sofort bei dir gemeldet habe, nachdem ich aus dem Urlaub zurückgekommen war, läutest mit der großen Familien-Zusammengehörigkeits-Glocke …« Dr. Brockmann winkte ab. »Komm, komm, von Familie hab' ick nischt jesagt. Ick habe von einem gestörten Tochter-Vater-Verhältnis jesprochen.« »Hoi!« machte Kathrin amüsiert. »Ja«, bestätigte ihr Vater und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Ick weeß eben jerne, wo du bist und wie's dir jeht. Und dir scheint umjekehrt nischt daran zu liegen.« »Das stimmt zwar nicht«, erwiderte sie, »aber gut: Hat das nun was mit Familiensinn zu tun oder nicht?« Brockmann setzte zu einer Entgegnung an, doch sie fuhr rasch fort: »Und den könntest du beweisen, wenn du nachher zu dieser Fete kommst. Annelie hat mir gesagt, daß sie dich eingeladen hat.« Er zog eine kleine Grimasse. »Hat se. Und ick habe ihr zu ihr'm Jeburtstag gratuliert. Aber ick hab' nun mal keinen Spaß an diesem … diesem vordergründigen Familienglück. Anna, Georg, Rebecca, Saalbach und Gisela – allet mimt da auf heilen Clan …« »Lore hast du vergessen!« warf Kathrin ein. »Ja, Lore auch«, gab Peter Brockmann zu. »Mit anderen Worten: Du bist feige! Im Grunde willst du nicht kommen, weil Lore da ist.« Sein erster Impuls war, zu widersprechen. Aber dann hielt er es doch für klüger, bei der Wahrheit zu bleiben. »Nenn das meinetwegen feige. Ick finde es schön für Lore, dass sie nach all den Jahren sozusagen wieder in den Schoß der Familie aufjenommen worden is'. Aber für mich hat det was Falsches. Wenn ick da hinkomme, denn wird jeplaudert – heiter, als war' nischt. Und in Wirklichkeit kieken alle aus 'n Augenwinkeln, wie ick mit Lore umgehe und sie mit mir.« »Das ist doch verständlich …« »Aber mir zu anstrengend«, beharrte er. »Lore und ick – wir lassen uns scheiden, und denn muss man nich' so tun, als war' man irgendwo noch 'n Ehepaar.« 42
»Das verlangt doch niemand von dir.« »Doch«, widersprach er lebhaft. »Im Stillen schon. Jetzt, wo Lore wieder da is', ha'm se alle die Vergangenheit verjessen, alle mögen sie – und irgendwie ha'm sich da die Dinge umgekehrt.« Er sah Kathrin mit einem um Verständnis bittenden Blick an. »Ick möchte mich da auch Iris gegenüber nich' missverständlich verhalten.« Kathrin lehnte sich zurück. »Ach was. Iris hat 'n großes Herz und gute Nerven. Du hältst sie doch nich' für so kleinkariert, daß sie dir 'n Besuch bei Annelies Geburtstag verübelt.« »Das is' nich' kleinkariert, das is' menschlich. Iris fühlt da 'ne … 'ne Gefahr. Ick spüre das.« Er warf seiner Tochter einen prüfenden Blick zu. »Du hast dich ja auch ziemlich plötzlich mit Lore versöhnt.« »Ich … ich verstehe sie jetzt besser«, erklärte Kathrin nach einer kleinen Pause. Da klopfte es an die Tür des Sprechzimmers, und Gabi trat ein. »Tut mir leid, aber da is' eben noch die Frau Baum jekommen. Die hat furchtbare Schmerzen, sagt se. Der janze linke Kopp tut ihr weh.« Wie immer, wenn jemand seine Hilfe brauchte, war Peter Brockmann sofort bereit. »Bring sie nach nebenan«, bat er Gabi. »Ick komme gleich.« Als sie verschwunden war, grinste er Kathrin an. »Tja, da denkt man, et is' Feierabend und man kann 'n nettes, entspanntes Gespräch mit seiner Tochter führe … Bleibste noch 'n Moment?« Die junge Ärztin schüttelte den Kopf. »Ich seh' dich doch gleich draußen in der Villa.« Sie lachte. »Zieh dir 'ne Rüstung an – gegen die stechenden Blicke aus den Augenwinkeln.« Frau Baum war glücklicherweise kein Fall für Dr. Brockmann. Ein vereiterter Backenzahn entpuppte sich als Ursache für ihre Kopfschmerzen, und Peter schickte sie zum Zahnarzt. Als sie weg war, richtete Gabi ihm aus, daß Iris Pauli um seinen Rückruf bäte. Die junge Anwältin war bester Laune, als Dr. Brockmann sich bei ihr meldete. »Ich wollte mich nach deinen heutigen Hausbesuchen erkundigen. Anschließend erwarte ich dich nämlich zu einem Privatseminar zum 43
Thema Erbrecht bei unehelichen Kindern. Du hattest mich neulich danach gefragt. Und so gehorsam, wie ich mittlerweile geworden bin, hab' ich mich schlau gemacht.« Peter saß an seinem Schreibtisch. Er fühlte sich ein bisschen unbehaglich bei dem Gedanken, was er Iris gleich verklickern musste. »Is' ja prima«, meinte er. »Also Hausbesuche direkt hab' ick nur zwei, aber ick wollte danach noch janz kurz …« »Was heißt das – Hausbesuche direkt? Gibt's auch indirekte?« hakte Iris sofort nach. Diese Rechtsanwälte, dachte Peter. Die finden doch immer sofort den wunden Punkt. »Mensch, Iris, nu' sei doch nich' so überjenau. Ick habe zwei kurze Hausbesuche, und dann wollte ick noch mal raus nach Schwanenwerder … mich umzieh'n.« »Umzieh'n? Du hast doch inzwischen einen halben Kleiderschrank hier bei mir.« »Ja, weiß ick. Aber ick möchte auch mal 'n paar andere Sachen anzieh'n. Außerdem feiert Annelie heute ihr'n Jeburtstag da draußen. Sie wird achtzehn …« »Wird«, fragte Iris gedehnt. »Ich denke, sie ist es.« Peter Brockmann unterdrückte einen Seufzer. »Herrgott, ja! Also, sie is' achtzehn … Sag mal, hast du heute 'n Prozess mit 'nem Germanistikprofessor jehabt?« »Nein«, entgegnete sie kühl. »Ich bin nur präzise. Außerdem wundert es mich, daß du zu solch einem Familienfest gehst. Wo du sie doch sonst meidest wie ein Chirurg die Keime, wenn du diese etwas platte Metapher entschuldigst … Lore wird auch da sein?« »Wenn Annelie sie einjeladen hat, wird Lore wohl auch da sein«, erklärte er vage. »Stört dich das?« Iris beeilte sich, das entschieden zu verneinen. Aber die gute Laune war ihr restlos vergangen. »Also wann kommst du nun? Vielleicht kann ich ja vorher noch ins Kino gehen …« Er versicherte ihr, daß er bestimmt nicht länger als eine halbe Stunde auf der Geburtstagsfeier bleiben würde. »Na schön«, meinte Iris. »Übrigens, Peter, wenn du in dieser Erb44
schaftssache eine präzise Auskunft möchtest, brauche ich das Geburtsdatum des oder der betroffenen Kinder. Und das Todesdatum des Vaters. Ja, dann also viel Spaß – und grüß die Familie. Tschüss.« Peter Brockmann hörte das Klicken in der Leitung und legte ebenfalls auf. »Soviel zum Thema: großes Herz und gute Nerven«, murmelte er vor sich hin. In der Villa in Schwanenwerder war Annelies Geburtstagsparty in vollem Gange. Die ganze Familie war da, dazu noch ein paar junge Leute aus Annelies Freundeskreis. Während Sonja Getränke herumreichte, rief Dr. Georg Maerker seiner Nichte zu: »Annelie, kann man diese … diese fetzige Musik nicht mal durch etwas anderes ersetzen?« Das Geburtstagskind, das mit Kathrin und Lore Brockmann am kalten Büfett gestanden hatte, wandte sich überrascht um. »Fetzig?« fragte Annelie, und ihre Freunde lachten, weil die aufgelegte Schallplatte in ihren Augen ziemlich brav und bieder war. Bernd Saalbach winkte seinem Schwager aufgeräumt zu. »Daran wirst du dich in Zukunft gewöhnen müssen, mein Lieber. Im übrigen, so fetzig ist das ja nun gerade nich'. Gefällt mir sogar ausgesprochen gut.« Gisela blickte ihren Mann verwundert an. »Wenn Annelie bei uns zu Hause so was gespielt hat, warst du aber anderer Meinung.« Er lachte nur und legte den Arm um ihre Schulter. »Manche Menschen haben eben die Fähigkeit zum Meinungswechsel.« Trotzdem versprach Annelie ihrem Onkel, gleich eine andere Platte aufzulegen, »'n langsamen Walzer oder so …« Anschließend schlenderte sie zu ihrer Großmutter hinüber. Anna Maerker hatte schon seit einiger Zeit beobachtet, dass der ›liebe Saalbach‹, wie sie ihren Schwiegersohn ein bisschen boshaft nannte, heute Abend ausgesprochen nett zu seiner Frau war, beinahe charmant. Jetzt zog er sie sogar an sich. Anna Maerker, die selbst keine glückliche Ehe mit dem verstorbenen Konsul geführt hatte, erfüllte das mit Skepsis. Trotzdem lächelte sie Annelie zu. »Und da hast du immer gesagt, deine Eltern verstehen sich nicht.« 45
»Ja, komisch.« Das Gesicht des jungen Mädchens wurde nachdenklich. »Pappa ist in der letzten Zeit wie umgewandelt. Wenn ich denke, was ich für 'n Bammel gehabt hab', ihn zu fragen, ob ich hierher zu euch zieh'n kann – und dann hat er nur gesagt: Warum nich'!« Ihre Großmutter nickte. »Bitte. Was ich immer sage: Kinder haben von ihren Eltern keine Ahnung – und umgekehrt.« »Kann sein. Aber eins steht fest: Vor gar nich' langer Zeit wollten Gisela und Pappa sich noch trennen.« »Was?« fragte Anna Maerker nun doch alarmiert. Annelie nickte. »Ich hatte da zufällig 'n Teil von 'nem Gespräch mitbekommen. Ich hab' gehört, wie Gisela gesagt hat, Pappa soll sich rechtzeitig nach 'ner anderen Wohnung umseh'n. Es ging um irgend 'ne Erbschaftsgeschichte. Irgendeinen Rudi. Ich wusste gar nich', daß wir 'n Rudi in der Familie haben. Weißt du, ob Pappa 'n Verwandten hat, der Rudi heißt?« Anna schaffte es, Haltung zu bewahren. »Nein. Das hast du bestimmt missverstanden. Halt dich an deinem Geburtstag nicht an das, was du vielleicht gehört hast, sondern an das, was du tatsächlich siehst.« Sie blickten beide zu Annelies Eltern hinüber und sahen, wie Gisela ihrem Mann einen Kuss auf die Wange gab. Auch Georg Maerker und seine Frau hatten das kleine Intermezzo beobachtet. Spöttisch hob er die Brauen. »Da scheint ja so was wie frische Liebe auszubrechen.« Rebecca nickte. Ihre Augen waren ein bisschen traurig. »Ja, schön. Beneidenswert.« Annelie hatte sich inzwischen zu ihren Freunden gesellt, und Anna Maerker hatte ein paar Augenblicke allein am Fenster gestanden. Jetzt wollte die alte Dame die Wohnräume verlassen, aber in der Tür stieß sie auf Sonja, die mit einem Tablett voller leerer Gläser die Küche ansteuerte. »Sagen Sie, wo ist eigentlich die Kleine?« erkundigte sich Anna bei ihrer Haushälterin. »Petra?« Die junge Frau wirkte überrascht. »Die sitzt unten und spielt – hoff ick. Warum?« 46
»Holen Sie sie doch rauf. Es ist doch selbstverständlich, daß sie bei so einem Fest mit eingeladen ist.« Anna deutete auf Jens und Hinrich, die beiden Saalbach-Jungen, die sich gelangweilt auf der Couch herumlümmelten. »Vielleicht kann sie die beiden müden Krieger da 'n bisschen aufmuntern.« Noch immer ganz perplex über die Einladung kam Sonja in die Küche, wo ihr Mann vor der Bratröhre stand und den Lammbraten begutachtete, der darin brutzelte. »In ein paar Minuten isser so weit«, sagte Rudi Lehmann stolz. »Wer?« fragte seine Frau geistesabwesend, während sie die benutzten Gläser in die Spülmaschine räumte und neue auf das Tablett stellte. »Na, der Braten!« Rudi warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. »Wat hast 'n? Is' wat?« »Du sollst noch zwei, drei Flaschen von dem Rotwein aus 'm Keller holen, hat Dr. Maerker gesagt.« Rudi richtete sich auf. »Jut!« Er wollte sich sofort auf den Weg machen, doch Sonja hielt ihn auf. »Rudi! Rudi, da stimmt wat nich'!« »Wo stimmt wat nich'?« »In dieser janzen Sache. Mit deiner Mutter und mit dem Konsul!« Er runzelte die Stirn. »Mensch, nu' fang doch nich' wieder davon an!« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Ick fange so lange immer wieder davon an, bis du dich mal vernünftig mit mir unterhältst. Jetzt hat die Frau Konsul eben jesagt, ick soll Petra nach oben hol'n, et war' selbstverständlich, wenn se mitfeiert.« »Na und? Petra war schließlich immer dabei, wenn jefeiert wurde …« »Ja, im Garten!« bestätigte Sonja leise, aber heftig. »Weil se da sowieso war. Aber doch nich' hier oben in der Wohnung. Tu doch nich' einfach so, als ob's die Briefe vom Konsul nich' jibt.« Rudi senkte ebenfalls die Stimme. »Nu' hör mal jut zu, Sonja: Zwischen dem Konsul und meiner Mutter war nie wat! Und die Briefe jibt's auch nich'. Basta!« 47
»Die Briefe jibt's nich'?« wiederholte sie verwirrt, und er nickte. »Nee. Die hab' ick wegjeschmissen.« Fassungslos starrte Sonja ihren Mann an. »Du hast die Briefe vom Konsul an deine Mutter …« »Wegjeschmissen, ja«, bestätigte Rudi. Bernd Saalbachs plötzliches Auftauchen unterbrach ihre Auseinandersetzung. »Ich bin einem verführerischen Bratengeruch nachgeschlichen«, erklärte er händereibend. »Und – na ja – wie Wilhelm Busch so treffend reimt: Ein jeder Jüngling hat nun mal 'nen Hang zum Küchenpersonal …« Er lachte. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch kochen, Rudi. In Ihnen scheinen sowieso noch ganz ungeahnte Fähigkeiten zu schlummern.« Rudi Lehmann lächelte ein bisschen verlegen. »Ja, ick muss denn mal in 'n Weinkeller …« »Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie begleite?« erkundigte sich Saalbach liebenswürdig. »Ich wollte mir sowieso mal anseh'n, was mein Schwager da für Schätze gebunkert hat.« Im Weinkeller blickte er sich aufmerksam um, nahm hier und da eine Flasche aus dem Regal und betrachtete die Etiketten. Rudi hatte inzwischen den Rotwein, den er hinaufbringen sollte, in einen Drahtkorb gelegt. »Tja«, sagte Bernd, »ich verstehe zwar nicht allzu viel von Weinen – aber hier scheint ja doch einiges zu schlummern …« Rudi zuckte mit den Schultern. »Ick verstehe jar nischt davon. Ick bring' hoch, was man mir sagt.« Saalbach nickte. »Woher sollten wir Leute aus kleinen Verhältnissen auch was davon verstehen. Mein Vater war ein kleiner Buchhalter in einem unbedeutenden Verlag. Dagegen gehörte Ihre Frau Mutter als pharmazeutische Assistentin schon zur Oberschicht.« Die anbiedernde Freundlichkeit, die Saalbach ihm gegenüber neuerdings an den Tag legte, bereitete Rudi Unbehagen. »Na, ick weeß nich' …« Saalbach blickte sich um. »Hier wird ja wohl noch 'ne ganze Menge vom alten Konsul stammen, was?« 48
Rudi deutete auf ein Regal. »Da sind noch 'n paar Flaschen, die war'n schon da, als mich der Konsul eingestellt hat.« Saalbach zog ein grüblerisches Gesicht. »Ja, ja, so lange sind Sie schon in der Firma, so lange – und immer noch nicht Fuhrmeister. Man hat Sie nie befördert.« »Ich bin mit dem zufrieden, was ick habe«, versetzte Rudi ein bisschen störrisch. Saalbach legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das sollten Sie aber nicht, Rudi. Glauben Sie, die Familie Maerker hätte mich so weit hochkommen lassen, wenn ich nicht gekämpft hätte? Wenn ich denen das nicht abgerungen hätte?« »Na ja, Sie konnten ja damals einheiraten«, rutschte es Rudi heraus. Er meinte es nicht böse, er stellte nur eine Tatsache fest. Saalbach zuckte trotzdem einen Augenblick zusammen, dann lächelte er wieder breit. »Ich würde Sie gerne ein paar Schritte weiterbringen. Auch ohne Einheirat.« Darauf mochte Rudi ihm keine Antwort geben. Er meinte nur verlegen: »Ja, ick muss denn allmählich wieder nach oben. Sonst verbrennt mir der Braten.« »Das müssen wir natürlich verhindern«, erklärte Bernd Saalbach gut gelaunt. Und dann machte er doch tatsächlich eine Geste, die Rudi bedeutete, ihm voranzugehen.
Als sie in die Diele traten, war Peter Brockmann gerade eingetroffen. Er stand an der Garderobe, um seinen Mantel aufzuhängen, und Rudi und Saalbach bemerkten ihn nicht sofort. »Ich habe das übrigens ganz ernst gemeint, Rudi«, beteuerte Bernd. »Ich sprech' Sie noch mal darauf an.« »Is' jut, Herr Saalbach«, murmelte Rudi und war sehr erleichtert, als er plötzlich Dr. Brockmann gewahrte, »'n Abend, Herr Dokter!« Peter grüßte freundlich zurück. Als er die Wohnräume betrat, empfing ihn lautes Händeklatschen. Annelie kam auf ihn zugestürzt und 49
zog ihn in die Mitte des großen Zimmers, um mit ihm zu tanzen. Aus der Stereoanlage erklang ein Tango. Lächelnd machte Dr. Brockmann ein paar Schritte mit seiner Nichte und legte sogar etliche schwungvolle Figuren und Drehungen hin. »Ick gratuliere dir herzlich zum Achtzehnten. Ab heute biste ja nu' für den Blödsinn, den du machst, selbst verantwortlich.« Annelie lachte. »War ich bisher auch schon. Danke, daß du gekommen bist.« »Nur zum Gratulier'n. Ick muss gleich wieder los.« In diesem Moment tauchte Lore bei ihnen auf und klatschte in die Hände. »Darf ich?« »Sehr ungern«, behauptete Annelie und löste sich mit einer ausgelassenen Verbeugung von ihrem Lieblingsonkel. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Arme um Lore zu legen. Und der Tanz mit ihr war genauso, wie Peter befürchtet hatte. Man beobachtete ihn und Lore: seine Schwiegermutter und Kathrin, Georg und Rebecca, Saalbach und Gisela. Ihre teils wohlwollenden, teils überraschten oder amüsierten Blicke waren für Dr. Brockmann das reinste Spießrutenlaufen. Trotzdem machte er gute Miene zum bösen Spiel, obwohl nach und nach alle anderen Paare die Tanzfläche verließen und ihm und Lore zusahen. Lore schien das nichts auszumachen, denn als die Musik schwieg und die Umstehenden applaudierten, verbeugte sie sich vergnügt, und Kathrin warf ihr ein – wie es Peter erschien – aufmunterndes, verschwörerisches Lächeln zu. Trotzdem war es ziemlich spät, viel später, als er versprochen hatte, als Dr. Brockmann endlich seinen Wagen vor dem Haus parkte, in dem Iris Pauli auf ihn wartete. Von der Straße aus hatte er noch Licht hinter ihren Fenstern gesehen. Deshalb holte er seine Arzttasche aus dem Auto und ging hinaus. Iris empfing ihn mit einem Gesicht, das nichts Gutes verhieß. Sie warf einen Blick auf Peters Tasche und sagte kühl: »Ich habe nichts. Jedenfalls nichts Organisches.« 50
Ein bisschen umständlich zog er seinen Mantel aus. »Du weißt doch, ick lass' die Tasche über Nacht nich' im Wagen.« »Wer sagt denn, daß du über …« Sie schluckte den Rest des Satzes hinunter und fragte stattdessen: »Also, wo warst du so lange?« Brockmann versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen. »Frau Staatsanwalt, das war so: Ick habe da eine Nichte, die ick sehr schätze, und die hat heute Jeburtstag …« Er fing einen Blick von Iris auf und merkte, daß sie nicht für seine Scherze zu haben war. »Also jut«, sagte er deshalb in normalem Tonfall. »Wie det immer so is' auf solchen Festen: Man will gleich wieder jeh'n, und denn wird man eben doch länger aufjehalten. Und das hatte einen sehr konkreten Grund. In dem Zusammenhang hatte ick dich auch jebeten, dich über das Erbrecht von unehelichen Kindern zu informieren.« Zweifelnd sah Iris ihn an. »Das ist unser Thema?« »Du hast mir doch am Telefon gesagt …« Sie winkte ab und ging ins Wohnzimmer zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein paar Papiere lagen. Sie nahm eine Fotokopie hoch. »Also das ist so: Bis zum 1.7.1970 galten uneheliches Kind und sein Vater als nicht verwandt. Damit war das Kind auch nicht erbberechtigt. Seit diesem Datum ist das nicht mehr so. Auch das uneheliche Kind erbt.« Dr. Brockmann rieb sich nachdenklich das Kinn. »Seit siebzig erst? Na ja, damit wäre der Fall erledigt. Der, um den's jeht, is' dann schon zu alt.« Iris schüttelte den Kopf. »Das gilt auch für uneheliche Kinder, die vor diesem Zeitpunkt geboren wurden. Mit folgender Einschränkung …« Sie las vor: »Wenn der Erbfall – also der Tod des Vaters – am oder nach dem 1.7.1970 eingetreten ist und das Kind nicht vor dem 1.7.1949 geboren wurde.« »Der alte Maerker is' vierundsiebzig jestorben«, murmelte Brockmann. »Und Rudi is' mit Sicherheit nach neunundvierzig geboren … Dann also doch!« »Rudi? Welcher Rudi?« fragte Iris irritiert. »Unser Rudi, draußen auf Schwanenwerder.« »Und was hat der mit dem alten Maerker zu tun?« 51
Peter sah sie eindringlich an. »Det fällt unter anwaltliche Schweigepflicht, ja? Also: Rudi is' mit ziemlicher Sicherheit ein unehelicher Sohn von Konsul Kurt Maerker, Gott hab' ihn selig …« Iris wirkte betroffen. Sie legte die Fotokopie zurück und ging ein paarmal in ihrem behaglich und geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer auf und ab. Peter nutzte die Gelegenheit, um sich endlich hinzusetzen. »Und der Rudi?« wollte Iris schließlich wissen. »Der ahnt nichts davon?« Peter Brockmann hob stumm die Schultern. »Und warum sagst du's ihm dann nicht?« fragte sie weiter. Er nickte bedächtig. »Selbstverständlich hab' ick darüber schon nachgedacht. Wenn's stimmt, müsste er natürlich seinen Anteil kriegen – klar. Andererseits: Rudis Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Man kann es nich' durcheinander bringen bloß auf 'ne Vermutung hin. Und das Leben der anderen, für die das ja auch 'ne Menge Konsequenzen hätte …« Iris lächelte spöttisch. »Ja, ja, letzten Endes gehört Peter Brockmann eben doch auch zum Maerker-Clan!« »Ach, Iris, nu' hör doch mal auf!« entgegnete er leicht unwillig. »Du weißt jenau, wie ick ich die sojenannte Familie vom Leib halte.« »Siehe heute Abend«, konterte sie prompt. »Was heißt übrigens Vermutung? Glaubst du nicht, dass der alte Maerker seiner Frau die Sache gebeichtet hat?« »Hat er. Aber selbst wenn sie das beschwören würde – hätte das 'ne rechtliche Bedeutung – ohne andere Beweise?« Iris wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht …« »Na, siehste. Außerdem wird Anna das nich' sagen. Sie hätte es ja schon längst tun können.« »Na ja«, sagte Iris ein bisschen bitter, »dann wird alles so bleiben, wie es ist. Rudi fegt weiterhin das Laub von den Wegen, auf denen die Maerkers ihre ruhigen Bahnen gehen.« Peter beugte sich nach vorn. »Das glaub' ich eben nich'. Ich vermute, daß Schwager Saalbach da längst was jewittert hat. Der entwickelt neuerdings ein janz seltsames Interesse an Rudi. Saalbach führt was im 52
Schilde, das is' klar. Der Mann strahlt eine … eine irgendwie jefährliche Heiterkeit aus. Das hab' ick auch heute jespürt.« »Und deshalb bist du so lange geblieben? Um diese ›gefährliche Heiterkeit‹ auszukosten?« »Quatsch!« sagte Peter in einem letzten Versuch, der Auseinandersetzung auszuweichen. »Wenn man mit jedem 'n paar Worte wechselt – das dauert eben länger, als man denkt.« Aber Iris war jetzt endgültig auf Konfrontation eingestellt. Sie war immer noch wütend, weil sie so lange auf Peter gewartet hatte, und das musste sie loswerden. »Mit Lore hast du auch gewechselt – ich meine Worte …« Peter Brockmann strahlte sie mit seinem unschuldigen Lächeln an. »Ja. Wir ha'm sojar jetanzt. Tango.« Diesmal verschlug es Iris die Sprache. Stumm starrte sie ihn an, während sie das Empfinden hatte, das sich in ihrem Magen ein kleiner heißer Stein zusammenballte, der größer und größer wurde. Peters Lächeln fror ein. »Ick wollte da jar nich' hin. Deinetwegen. Aber Kathrin hat mich überredet. Sie hat jemeint, du hättest 'n großes Herz und jute Nerven.« »Aha! Kathrin ist also schuld!« Der heiße Stein wuchs noch immer und drängte nach draußen. Brockmann schüttelte den Kopf. »Nein. Natürlich nich'. Ich … tut mir leid, Iris. Entschuldige.« An ihrem Gesicht sah er, daß sie weit davon entfernt war, irgendetwas zu entschuldigen. »Ick wusste jar nich, dass du so viel gegen meine – im weitesten Sinn – Familie hast.« Iris warf das Haar nach hinten. »Hab' ich auch nicht, Peter, aber ich muss gestehen, dass mich deine … neue Vater-Mutter-Kind-Situation ein bisschen nervös macht. Ich finde, du solltest dir erst mal darüber klarwerden, ob du da nicht was nachholen möchtest.« »Iris, ick …« Aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern fuhr mit dem letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung fort: »Und ich würde jetzt gern ein bisschen in mein großes Herz sehen und die Elastizität meiner guten Nerven prüfen.« 53
Dr. Brockmann begriff, was sie damit sagen wollte. Er wartete noch ein paar Sekunden, ob sie nicht doch noch ihre Meinung änderte, aber als sie keinen Versuch zum Einlenken unternahm, musste er wohl oder übel ihre Verabschiedung akzeptieren. Er stand auf und griff nach seiner Arzttasche. »Hätt' ick se ja doch im Auto lassen können«, murmelte er. Und als Iris immer noch nichts sagte, sondern nur steif dastand, wandte er sich, nun gleichfalls verärgert, ab und ging.
Am nächsten Tag kam Helen Urban in Dr. Brockmanns Praxis. Es herrschte der übliche Betrieb. Die Patienten gaben sich die Klinke in die Hand, Gabi Köhler und ihre Kolleginnen rotierten, und Peter Brockmann, der sonst immer ein bisschen wie ein Fels in der Brandung gewirkt hatte, war verbiestert und nervös. Der Streit mit Iris steckte ihm in den Knochen, aber da sie ihn weggeschickt hatte, verspürte er auch keine Lust, sie anzurufen, um die Sache wieder einzurenken. Das, so fand er, war nun Iris' Angelegenheit. Peter seufzte. Ihm schien, dass sein Leben in der letzten Zeit wirklich zunehmend komplizierter wurde. Seine Miene erhellte sich erst wieder ein bisschen, als Helen Urban in sein Behandlungszimmer kam. Sie gehörte schon seit ein paar Jahren zu seinen Patientinnen, allerdings nur sporadisch, da sie im allgemeinen beneidenswert gesund war. Diesmal klagte sie über Schmerzen im Arm, die sie angeblich seit ein paar Tagen plagten. Dr. Brockmann untersuchte sie auf eine Muskeloder Sehnenzerrung. Vorsichtig bewegte er ihren Arm, drehte ihn hin und her und tastete ihn ab. Aber auf seine Fragen, ob ihr diese oder jene Bewegung weh täte, schüttelte Helen jedesmal den Kopf. Schließlich meinte sie mit einem verlegenen Lächeln: »Tut mir leid, jetzt spüre ich keine Schmerzen mehr.« Dr. Brockmann lächelte zurück. »Warum tut Ihnen das leid? Sei'n Se doch froh.« 54
»Ich meine, dass ich Sie damit belämmert habe«, verbesserte sie sich. »War nett, Sie wieder mal zu seh'n, Frau Berndt.« »Urban«, korrigierte Helen ihn. Brockmann schüttelte über seine Vergesslichkeit den Kopf. »Richtig. Wenn meine Patientinnen heiraten, tu' ick mich immer 'n bißken schwer mit 'm Umlernen. Urban!« Er deutete auf ihren Arm. »Vielleicht haben Sie sich beim Sport 'n bisschen überanstrengt – 'n Krampf. So was geht meist von allein wieder weg.« Helen stand auf. Sie hatte sich gestern Abend einen Plan zurechtgelegt, und das war der Grund, weshalb sie überhaupt in Dr. Brockmanns Praxis gekommen war. Möglichst locker sagte sie: »Ich wollte Sie eigentlich noch was fragen … in bezug auf Aids.« Peter Brockmann schaffte es nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen. »Ja? – Was?« Um ihre Unsicherheit zu überspielen, flüchtete sich Helen in den für sie typischen leicht spöttischen Unterton. »Die allgemein zugängliche Literatur und die Vorsichtsmaßnahmen kenn' ich natürlich. Kondom, möglichst keinen Anal- oder Oralverkehr … Nicht ganz sicher bin ich mir beim Küssen. Genauer – bei Zungenküssen.« Dr. Brockmann lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Wie immer, wenn er sich betont sachlich gab, redete er jetzt hochdeutsch. »Es gibt einige Patienten, bei denen das Virus im Speichel gefunden wurde. Es konnte aber bisher – und ›bisher‹ is' mein letzter Wissensstand – bei Untersuchungen in dieser Richtung bei betroffenen Gruppen noch kein Fall von Übertragung durch Küssen nachgewiesen werden. Auch nicht bei Zungenküssen.« »Selbst nicht bei intensiven?« erkundigte sich Helen. Ein wenig aus dem Konzept gebracht, zuckte Dr. Brockmann mit den Schultern. »Ich weiß nich', was Sie unter intensiv verstehen. Bei Verletzungen der Mundschleimhaut gibt's natürlich 'n Infektionsrisiko. Und wenn 'n Aids-Infizierter beim Küssen zubeißt wie 'n Vampir natürlich auch.« »Ja, ja, so ungefähr hätt' ich mir das vorgestellt«, sagte Helen mit 55
ruhiger Selbstverständlichkeit. »Klaus und ich – wir sind ja in einem Fecht-Verein. Und … na ja, es gibt da einen netten jungen Mann. Also die Geschichte befindet sich noch in ihren aufregenden Anfängen. Ich … ich möchte nicht gleich sagen: Mach erst mal 'n Aidstest.« In diesem Moment hatte Dr. Brockmann sich dazu entschlossen, mal wieder den Seelendoktor zu spielen, wie er das so häufig tat. Behutsam fragte er: »Ist Ihre junge Ehe denn schon im … im Bröckeln begriffen?« Helens hübsche blaue Augen spiegelten Überraschung und absolute Harmlosigkeit wider. »Nein, überhaupt nicht! Der andere wäre nur was für meine Bedürfnisse nach Sinnlichkeit und Leidenschaft.« »Ah ja … Und das trennen Sie so? Dafür is' der Klaus unjeeignet – oder wie?« Lebhaft schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, das nicht! Sonst hätt' ich ihn wohl kaum geheiratet. Nur in den letzten Monaten … Klaus möchte Deutscher Meister, vielleicht sogar Weltmeister werden – wie engagierte Leistungssportler eben so sind: immer das Siegerpodest vor Augen. Und da ist Sex nicht erlaubt – vor der Medaille, während des Trainings. Klaus trainiert eben sehr viel. Und mir fehlt da was Entscheidendes.« »Mhm …« Dr. Brockmann machte eine kleine Pause. »Haben Sie denn mit Klaus schon mal darüber gesprochen?« »Natürlich. Ich hab' ihm auch gesagt, was ich vorhabe. Aber er nimmt es nicht ernst.« »Der Klaus ist seit Jahren mein Patient«, meinte Peter Brockmann bedächtig. »Wir haben uns oft über Sport unterhalten. Ich weiß, dass das 'ne Art Lebensinhalt für ihn is' … Aber ick kann mir eijentlich nich' vorstellen, dass er seine Ehe aufs Spiel setzt, bloß um sich 'ne Medaille umzubaumeln.« Fast hätte Helen vor Erleichterung aufgelacht. Jetzt hatte sie Dr. Brockmann genau da, wo sie ihn haben wollte. Sie strahlte den Arzt an. »Wissen Sie was, Herr Doktor – Klaus kommt nachher zu Ihnen. Wegen 'ner kleinen Erkältung. Wenn Sie Lust haben, fragen Sie ihn 56
doch einfach mal.« Und ehe er noch zu einer Erwiderung oder Frage ansetzen konnte, hielt sie ihm die Hand hin, verabschiedete sich und war draußen. Verblüfft und nachdenklich starrte Dr. Brockmann auf die Tür, die sie hinter sich zugezogen hatte. Ungefähr zwei Stunden später saß Klaus Urban in der Besucherecke in Dr. Brockmanns Sprechzimmer. Peter hatte ihn untersucht, ihm Bronchien, Lunge und Herz abgehört und ihm ein Rezept gegen seinen hartnäckigen Husten ausgestellt. Und da er sich nun einmal dazu durchgerungen hatte, im Fall Urban den Seelendoktor zu spielen, rückte Dr. Brockmann dann damit heraus, was Helen ihm erzählt hatte. Schließlich beging er damit keinen Vertrauensbruch – im Gegenteil. Sie hatte ihn ja sogar ausdrücklich dazu aufgefordert, mit Klaus über die Sache zu reden. Der junge Mann hatte Mühe, seine Fassungslosigkeit zu verbergen. Und Dr. Brockmann registrierte sehr wohl, dass Klaus ziemlich blass um die Nase geworden war. »Und das … das hat sie Ihnen einfach so gesagt?« murmelte er hilflos und ließ den Kopf hängen. Doch dann rettete er sich in seine üblichen Vorstellungen und Redensarten. »Was ich nicht verstehe, ist … Ich meine, sie will ja auch mal Sportlehrerin werden. Wenn sie so gegen meinen Leistungsbegriff ist – was will sie dann den Schülern vermitteln?« »Na ja«, meinte Dr. Brockmann gedehnt. »Wissen Sie, Klaus, ick werde auch manchmal für 'n bisschen altmodisch jehalten, wenn ick sage, ick erwarte von mir und von denen um mich rum, dass se was leisten. Aber Leistung ist doch …« »Leistung ist ein Wert an sich!« unterbrach Klaus ihn überzeugt. »Auch wenn 'ne Partnerschaft dabei vor die Hunde jeht?« fragte Peter Brockmann leise. »Dann stimmt was an der Partnerschaft nich'!« widersprach Klaus hitzig. Doch im nächsten Moment erkundigte er sich: »Wer … wer is' es denn?« 57
»Einer aus Ihrem Fecht-Ver…« Peter stockte. Verflixt, das hatte er doch gar nicht sagen wollen! Es war ihm einfach herausgerutscht. »Das is' doch eigentlich gleichgültig«, setzte er unwirsch hinzu. Klaus hörte gar nicht mehr hin. »Einer von uns also, sieh mal an«, murmelte er. Er holte tief Luft, straffte sich und stand auf. »Na ja, wenn sie das so will …« Peter Brockmann war ebenfalls aufgestanden. »Übrigens – medizinisch is' das überhaupt nich' erwiesen, dass Sexualität die körperliche Leistung mindert. Ick habe manchmal das Jefühl, dass da 'ne verstaubte Oberstabsarzt-Legende am Leben erhalten wird.« Mit diesem kleinen Denkanstoß verabschiedete er Klaus und wünschte ihm Glück für die bevorstehende Meisterschaft. »Und das mit der kleinen Erkältung is' halb so schlimm«, versicherte er noch am Schluss. Aber an seinen Husten hatte Klaus Urban nach diesem Gespräch sowieso nicht mehr gedacht. Es gab andere, wichtigere Dinge. Schließlich liebte er Helen, und dass sie ernsthaft vorhatte, mit einem anderen … Dieser Gedanke setzte Klaus plötzlich viel mehr zu als eine verlorene Meisterschaft. Am Abend war wieder Training angesetzt, das letzte vor der Meisterschaft. Und Trainer Hamacher hatte allen Grund, mit Klaus unzufrieden zu sein. »Mensch, was is 'n los mit dir?« fragte er, nachdem er wieder einmal einen Treffer bei Klaus gelandet hatte, den dieser mit ein bisschen Reaktionsvermögen leicht hätte parieren können. »Du bist unkonzentriert, drischst drauflos – ohne Intelligenz … Trainierst du zu Hause nich' vernünftig?« Klaus hörte kaum hin. Er wusste selbst, dass er miserabel gewesen war. Er blickte zu Helen hinüber, die mit drei anderen Fechterinnen ein Stück entfernt stand. Gerade kam ein junger Mann auf sie zu und wechselte ein paar Worte mit ihr. Ist er das? fragte sich Klaus, während er beobachtete, wie der junge Mann kurz den Arm um Helen legte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. Dann wandte er sich ab. 58
»Ich weiß ja nich', was du im Bett machst – außer dich auszuruhen. Aber denk bitte daran …« Kurt Hamacher klappte der Mund zu, als Klaus ihn einfach stehenließ und dem jungen Mann nachlief. »Thomas!« rief er. Der Angerufene wandte sich um. Doch in diesem Augenblick kam ein anderer Fechter auf Helen zu und küsste sie ebenfalls auf die Wange. »Nacht, Helen! Nacht, Klaus!« rief er und winkte. »Ja, was ist denn?« fragte der junge Mann namens Thomas. Klaus zuckte zusammen. »Nichts. Schon gut«, murmelte er, nun völlig verwirrt, weil soeben ein dritter Fechter hinter Helen auftauchte und ihr auf die Schulter tippte. Sie wandte den Kopf und lächelte ihn an. So krieg' ich das nie raus, dachte Klaus frustriert. Kurz entschlossen marschierte er auf seine Frau zu und ergriff ihren Arm. »Gehn'n wir?« Sie nickte vergnügt. Es wirkt, dachte sie, nachdem sie einen Blick in sein Gesicht geworfen hatte. Es wirkt tatsächlich. Sie waren schon fast beim Ausgang, als Klaus noch einmal den Kopf wandte. »Nacht, Kurt«, rief er seinem Trainer zu, den er vergessen hatte. »Danke …« Kopfschüttelnd blickte Hamacher ihm nach.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. In Schwanenwerder frühstückten Rudi und Sonja Lehmann in ihrer gemütlichen Wohnküche. Er hatte seine Chauffeursuniform an, und die Dienstmütze lag auf einem Stuhl. Die kleine Petra hatte schon den Schulranzen auf dem Rücken. Ihre Mutter strich ihr noch einmal über das Haar und zog die verrutschte Bluse herunter. »Nu' musste dich aber beeil'n«, sagte sie und gab ihrer Tochter einen Kuss. Petra nickte. »Tschüss, Pappa!« Sie hielt ihrem Vater das Gesicht hin, und Rudi küsste sie gleichfalls auf die Wange. 59
»Tschüss, meine Süße.« Er und Sonja sahen dem kleinen Mädchen nach, bis es zur Tür hinaus war. Dann angelte Rudi Lehmann nach seiner Chauffeursmütze. »Ja, ick muss denn auch los.« Sonja hielt ihn zurück. »Du hast mir vor 'n paar Tagen jesagt, daß du die Briefe weggeschmissen hast …« Sofort bekam sein nettes, gutmütiges Gesicht einen unsicheren Ausdruck. »Nu' fang doch nich' noch mal von diesen Briefen an!« »Denn hätteste se besser verstecken müssen«, sagte Sonja triumphierend. »Ick wollte die alten Pullover wegjeben – die, die du sowieso nich' mehr trägst. War 'n bisschen albern, die Briefe da drunter zuschieben.« Rudi schwieg und senkte den Kopf, und seine Frau fuhr fort: »Du glaubst also auch, daß se 'n Beweis sind, daß du 'n Sohn von …« »Nein!« fiel Rudi ihr ins Wort. »Und warum haste se denn doch aufjehoben?« »Weil … weil ick se jetzt verbrenne …« sagte er entschlossen und wollte zur Tür. »Da brauchste se nich' mehr zu suchen!« rief Sonja ihm nach. »Jetzt hab' ick se nämlich versteckt.« Ihr Blick verriet Rudi, daß es keinen Zweck hatte, sie zu bitten, ihm die Briefe seiner Mutter auszuhändigen. Sonja würde es nicht tun – auch nicht, wenn er sie anschrie. Aber so etwas war sowieso nicht Rudi Lehmanns Art. Dazu war er viel zu gutherzig. Er wandte sich nur wortlos ab und verließ mit gesenktem Kopf den Raum, um seinen Dienst anzutreten. Ungefähr um dieselbe Zeit erwachte Helen Urban in ihrem Schlafzimmer. Sie brauchte ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zu finden und sich zu erinnern, was gestern Abend noch passiert war. Klaus lag dicht neben ihr, einen Arm immer noch um sie gelegt. Die Sonne, die durch das Fenster fiel, schien auf die beiden Kleiderhäufchen rechts und links neben der Matratze. Helen lächelte, als sie sich erinnerte, wie hastig Klaus und sie sich gestern ausgezogen hatten. Sie hatten sich keine Zeit mehr genommen, die Sachen ordentlich 60
aufzuhängen oder wenigstens auf einen Stuhl zu legen. Einfach hingeworfen hatten sie alles … Helen richtete sich halb auf und zupfte ihren fest schlafenden Mann am Ohrläppchen. Klaus blinzelte und fuhr dann erschrocken hoch. Aber Helen hielt ihn fest und zog ihn wieder zu sich herunter. An Klaus' Gesicht sah sie, dass auch er sich erinnerte. Sie lachte leise, während sie dicht an seinem Mund flüsterte: »Nun hab' ich dir wahrscheinlich alle Kraft aus den Lenden gesaugt …« Es klang zärtlich und gleichzeitig ein bisschen spöttisch. »Das werden wir ja heute Abend sehen«, antwortete er ebenso leise, während in seinen Augen eine gewisse Besorgnis auftauchte. Helen streichelte mit ihren Lippen seine Haut. »Wenn du nich' gewinnst, dann darfst du dich von mir scheiden lassen und deinen Trainer heiraten. Ich komm' als Trauzeugin.« Nun musste er doch lachen und zog sie enger an sich.
Schluss für heute, dachte Gabi Köhler am Abend dieses wie immer langen Praxistages. Sie war die letzte in den Behandlungsräumen, auch wie immer, räumte noch ein bisschen auf, verschloss die Rollschränke mit den Karteikästen und schlüpfte in ihren leichten Sommermantel. Auf dem Korridor, der zu Peter Brockmanns selten benutzter Privatwohnung hinter den Praxisräumen führte, hörte sie leise Musik. Irgendetwas Klassisches. Gabi blieb stehen. »Peter?« rief sie unterdrückt. Als keine Antwort kam, ging sie mit entschlossenen Schritten auf die Tür des Wohnzimmers zu und öffnete sie. Peter Brockmann saß in einem Sessel und blätterte in einer medizinischen Fachzeitschrift. Bei Gabis Eintritt blickte er auf. »Jehste nich' nach Hause?« fragte sie. Er fuhr sich über das Haar. »Nee. Ick … ick übernachte heute hier.« »Verstehe.« Sie nickte mit hochgezogenen Brauen. »Problembär verkriecht sich in Höhle.« 61
Halb erwartete sie, dass er ihr jetzt erzählen würde, was er für Probleme hatte, aber er schwieg. Gabi seufzte. »Ick hab' mir schon so wat jedacht. Ick hab's Telefon durchjestellt.« Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte Iris Pauli nämlich seit Annelies Geburtstag nicht mehr in der Praxis angerufen. Aber vielleicht meldete sie sich ja heute Abend noch … »Wär' nich' nötig jewesen«, brummte Peter. »Ick nehme sowieso nich' ab.« Gabi musste lachen. »Du hebst nich' ab? Du hast doch viel zu große Angst, dass über Nacht 'n Patient an Schnuppen stirbt.« Wie auf ein Stichwort hin begann in diesem Augenblick das Telefon zu läuten. Gabi rührte sich nicht, sondern sah Peter nur abwartend und amüsiert an. »Ick habe Feierabend«, erklärte sie betont. Peter reagierte mit stummem Vorwurf, stand aber dann doch selbst auf und meldete sich. Helen Urban war am Apparat. Sie wirkte ein bisschen aufgedreht und sehr, sehr glücklich. Als erstes erzählte sie Dr. Brockmann, dass Klaus die heute Abend stattgefundene Meisterschaft für Degenfechten gewonnen habe. Und dann fügte sie, allerdings nicht besonders schuldbewusst hinzu: »Und jetzt muss ich Ihnen noch 'n Geständnis machen, Herr Doktor. Ich hab' Sie nämlich angeschwindelt …« Gabi beobachtete Peter während des Gesprächs. Sie sah, wie er zuerst den Kopf schüttelte, die Stirn runzelte und dann grinste. »Können sie mir noch einmal verzeihen?« fragte Helen. Sein Grinsen verstärkte sich. »Das muss ick mir noch schwer überlegen. Richten Se dem Leistungshelden jedenfalls meinen Glückwunsch aus. – Jute Nacht.« »Wat war denn?« fragte Gabi neugierig wie immer. Seine Augen blitzten vergnügt. »Ick erfahre soeben, daß ick als Eheretter missbraucht worden bin.« »Wieso missbraucht?« »Eine an sich sehr nette Patientin hat mir weisgemacht, sie hätte 'n 62
Liebhaber, und hat mich sehr raffiniert dazu gebracht, das ihr'm Mann zu erzählen.« »Und wo is' da die Rettung?« erkundigte sich Gabi verständnislos. Brockmann steckte die Hände in die Hosentaschen. »Der Liebhaber war erfunden. Aber der Junge hat's geglaubt und … na ja, er hat sich wohl 'n bisschen mehr um seine Frau jekümmert. Daß so 'n uralter Trick immer noch funktioniert!« »Nur die uralten Tricks funktionier'n«, erklärte Gabi weise, und Peter grinste wieder. »Gabi Köhlers Nachtjedanken.« Sie standen ziemlich dicht voreinander, und Gabi fand, dass Peter nicht gut aussah. So abgespannt und … ja, irgendwie deprimiert. Man musste sich ein bisschen um ihn kümmern. »Um die Ecke jibt's 'n neuen Italiener«, sagte sie zögernd, und in ihren Augen tauchte ein Lächeln auf. Peter Brockmann erwiderte es. »Eh' ick verhungere …« meinte er, und Gabi konnte nur den Kopf schütteln über so viel männliche Ruppigkeit. Aber immerhin – er hatte zugestimmt, mit ihr essen zu gehen, und sie würde schon dafür sorgen, dass er was Anständiges in den Magen bekam. Und was seine Ruppigkeit anging – die war sie schließlich gewöhnt.
Murad mag die Deutschen
S
chwester Erika kam in die Anmeldung der Praxis und lächelte dem alten Mann, der am Tresen lehnte, erfreut zu. »Opa Schnabel! Sie ha'm wir ja 'ne Ewigkeit nich' jeseh'n!« Der Alte setzte eine wichtige Miene auf. »Ick habe 'ne Weltreise jemacht!« verkündete er stolz. 63
»Ach!« Überrascht musterte Erika ihn. Eigentlich sah er aus wie immer, ziemlich klapperig, und zwar ordentlich, aber doch recht ärmlich angezogen. »Haben Sie im Lotto gewonnen?« erkundigte sie sich skeptisch. »Det ooch. Aber bloß drei Richt'je.« »Und davon ha'm Se 'ne Weltreise gemacht?« Gabi Köhler, die bis jetzt mit Schreibarbeiten beschäftigt gewesen war, das kleine Gespräch aber mitgehört hatte, hob den Kopf. »Welt is' 'n Dorf in Schleswig-Holstein. Da hat Opa Schnabel 'ne Nichte, und die hat ihn einjeladen. Und weil das Dorf Welt heißt, hat er nu' 'ne Weltreise jemacht.« Damit hatte sie Herrn Schnabel allerdings ernsthaft verärgert. »Det hätte ick nich' von Ihnen jedacht, Frau Köhler«, sagte er empört, »daß Sie 'n ollen Mann die Witze kaputtmachen. Ick hätte Schwester Erika jerne noch 'n bißken zappeln lassen.« »Das wollt' ick eben verhindern«, meinte Gabi resolut. »Schwester Erika hat nämlich heute morgen 'ne Menge Arbeit.« Sie warf einen bezeichnenden Blick auf die beiden Patienten, die ebenfalls in der Anmeldung warteten, und durch die offene Tür in das bereits gut besetzte Wartezimmer. In diesem Augenblick betrat eine jüngere Frau die Anmeldung. Sie trug eine auffallend große modische Sonnenbrille, die fast vollständig die obere Gesichtshälfte verdeckte. Schwester Erika achtete nicht weiter auf sie, sondern stemmte, an Opa Schnabel gewandt, die Arme in die fülligen Hüften, »'ne olle Frau veräppeln, was? Das hat Folgen, Opa Schnabel. Die nächste Spritze tut weh!« Damit verschwand sie in den Behandlungsräumen, während Gabi sich der jungen Frau mit der Sonnenbrille zuwandte. »Morjen, Frau Hellriegel.« Etwas verlegen trat die Angesprochene an den Tresen. »Morjen, Frau Köhler. Ick bin nich' anjemeldet. Et is' wat Akutet …« Gabi nickte mitleidig und blickte auf ihren Tagesplan. »Ick lass Sie vor«, bot Opa Schnabel hilfsbereit an. »Ick bin der erste heute, und ick habe Zeit.« 64
Der junge Mann, der gleichfalls in der Anmeldung wartete, mischte sich ein. »Entschuldigen Sie, aber da müssen Sie die anderen Patienten auch fragen. Wir rücken damit nämlich alle einen Platz nach hinten.« Frau Hellriegel lächelte schüchtern. »Nee, nee, ick warte. Is' schon in Ordnung.« In dem Moment riss Dr. Brockmann schwungvoll die Tür von draußen auf und rief wie immer, wenn er in seine Praxis kam: »Schönen juten Morjen allerseits!« Sein eben noch lächelndes Gesicht wurde allerdings schlagartig ernst, als er Frau Hellriegel gewahrte. Er nickte ihr kurz zu, ebenso dem alten Herrn Schnabel. »Opa Schnabel, wo war'n Sie denn so lange? Ick habe mir schon Sorjen gemacht.« »Ick habe 'ne Weltreise jemacht«, erklärte der alte Mann. »So? Müssen Se mir nachher erzähl'n.« Damit verschwand Dr. Brockmann, gefolgt von Gabi, in seinem Sprechzimmer. Während sie einen frischen weißen Kittel aus dem Schrank holte und Peters Mantel in Empfang nahm, um ihn wegzuhängen, sagte er mit forcierter Heiterkeit: »So! Denn woll'n wir mal ran an die Leiden der Menschheit.« Gabi warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Du hast ja so verdächtig jute Laune?« Peter zog den Arztkittel über. »Wenn ick ernst bin, is' es nich' richtig, und wenn ick jute Laune habe, auch wieder nich'.« »Ick habe jesagt: verdächtig jut! Wenn du richtig jute Laune hast, fühlt sich das anders an.« Er schloss die Knöpfe seines Kittels. »Ick habe heute morjen beschlossen, mir mein dicket Fell überzuzieh'n. Sonst steh' ick mein Privatleben nämlich allmählich nich' mehr durch.« Gabi nickte. »Verstehe. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nich' nass.« »So unjefähr«, bestätigte Brockmann, »Et kann losjeh'n.« Sie betrachtete ihn einen Moment stirnrunzelnd, sagte aber nichts, sondern ging zur Tür, um Opa Schnabel hereinzurufen. 65
Frau Hellriegel musste nicht allzu lange warten. Gabi nahm sie zwischendurch dran. Dr. Brockmann begrüßte die junge Frau besonders freundlich. »Darf ich?« fragte er dann und griff nach ihrer Sonnenbrille, um sie ihr behutsam abzunehmen. Was er dahinter sah, hatte er erwartet: ein dick verschwollenes, blau unterlaufenes Auge. »Ick bin jestolpert«, erklärte Frau Hellriegel tödlich verlegen, »und auf 'ne Stuhllehne jefall'n.« Brockmann nickte ärgerlich. »Ja, ja – und 'n dreifachen Salto ha'm Se dabei auch noch jemacht.« Sie senkte den Kopf. »Er kann nischt dafür, Herr Dokter. Wenn er besoffen is', denn … denn isser nich' zurechnungsfähig.« »Na, denn is' ja alles in Ordnung«, meinte Peter sarkastisch. »Denn schicken Se 'n doch mal vorbei, damit ick ihn tröste.« »Der Wolfi is' nich' schlecht, Herr Dokter«, beteuerte sie leise, fast flehend. Er betrachtete sie mit gerunzelten Brauen. »Frau Hellriegel, Sie kommen in Abständen von drei Wochen mit 'ner Prellung, 'nem Bluterguss oder 'nem blauen Auge. Soll ick jetzt mit Ihr'm Mann Mitleid haben?« »Det kommt von der Arbeitslosigkeit …« »So? Ick kenn' aber 'n paar Arbeitslose, die ihre Frau nich' alle paar Tage verprügeln. So wat nennt man Körperverletzung, Frau Hellriegel.« Sie blickte verständnislos zu ihm auf. »Aber doch nich', wenn man verheiratet is', Herr Dokter …« Als sie Brockmanns finstere Miene gewahrte, fing sie an zu weinen. »Wenn Sie mir jetzt auch noch ausschimpfen, denn weeß ick überhaupt nich' mehr, wohin …« Er beugte sich über sie, betrachtete ihr Auge und berührte es vorsichtig mit den Fingerspitzen. »Ick schimpfe Sie nich' aus«, sagte er, bemüht, seinen Groll hinunterzuschlucken. »Ick bin … empört über Ihr'n Mann. Sagen Se ihm, ick seh' mir das nich' mehr mit an. Und das mein' ick ernst.« Ihr Blick wurde angstvoll. »Wenn ick dem sage, daß ick bei Ihnen war, denn haut er mir gleich noch eene uff't andere Auge. Offiziell bin 66
ick Stütze abhol'n.« Ihre Stimme flatterte. »Det is' wirklich bloß allet, weil er nischt zu tun hat, Herr Dokter. Mit jedet Jahr, det der keene Arbeit jefunden hat, is' det schlimmer jeworden. Und wenn er mal für 'n paar Tage wat kriegt, denn fliegt er gleich immer wieder. Wejen 'n Suff. Und weil er immer jleich jewalttätig wird, der Wolfi.« »Kann er denn so viel saufen, von dem bißken Stütze?« fragte Brockmann. »Ick jehe ja schwarz putzen«, gestand sie tonlos. Er presste die Lippen zusammen. »Na, das muss ja 'n tolles Jefühl sein, wenn Sie ihm den Suff auch noch finanzieren, in dem er Sie denn verkloppt.« Er sah die Beschämung in ihren Augen und fügte sanfter hinzu: »So, nu' jeh'n wir rüber in't Behandlungszimmer. Mal seh'n, wie wir Sie wieder hübsch kriegen.« Ulla Hellriegel lächelte traurig. »Hübsch war ick noch nie, Herr Dokter. Ooch ohne det Veilchen hier. Sie könn' mir ja nich' hübscher machen, wie ick vorher war.« »Na, det woll'n wir doch mal seh'n«, sagte er nett. »Ick möchte übrigens, daß Sie auch zum Augenarzt jeh'n.« Er bemerkte ihr Zusammenzucken und fügte rasch hinzu: »Sei'n Se janz beruhigt, ick rede mit dem. Denn stellt er keine peinlichen Fragen.« Frau Hellriegel warf ihm einen dankbaren, unendlich erleichterten Blick zu. Und Peter Brockmann wurde es einmal mehr klar, warum er nie Ambitionen gehabt hatte, in einer ›nobleren‹ Gegend zu praktizieren. Hier am Bülowbogen, unter den kleinen Leuten, den ewig zu kurz Gekommenen, den Außenseitern und Armseligen, war der Platz, wo er gebraucht wurde. Mochten seine Kollegen, die sich mit ihren Superpraxen längst eine goldene Nase verdient hatten, ruhig dieselbe über ihn rümpfen – und ebenso über die Patienten, die sein Wartezimmer bevölkerten –, ihm machte das schon längst nichts mehr aus. Seine nächste Patientin war Frau Kühn. Sie litt an Diabetes und kam regelmäßig zum Zucker testen. Dr. Brockmann hatte ihre Laborwerte vorliegen und nickte zufrieden. »Ja, Frau Kühn, alles in Ordnung. Schön, daß wir Sie jetzt so ein67
gestellt haben. Ihre Insulin-Einheiten behalten wir so bei. Und wie fühl'n Sie sich?« »Prima«, erklärte die rundliche Frau. »Sagen Se mal, det war doch eben die Frau Hellriegel aus 'm Haus bei uns, nich'?« »Mhm … wieso?« fragte Peter. Frau Kühn drückte, während sie sprach, mehrmals verstohlen unterhalb ihres Ohres gegen ihre Wange. Aber das hinderte nicht ihr Mitteilungsbedürfnis. »Der Mann von der und sein Spezi, der Kleiber, die tyrannisier'n det janze Haus. Det sind zwee janz üble Kunden. Wenn die besoffen sind – und det sind se meistens, denn pöbeln die bloß rum. Aber besonders mit die Türken. Ick wollte sojar schon mal die Polizei hol'n.« »Und warum haben Sie 's nich' jemacht?« erkundigte sich Peter. Frau Kühn drückte wieder gegen ihre Wange. »Damit se mich ooch noch verkloppen! Nee, danke!« »Is' was mit Ihr'm Ohr?« fragte Dr. Brockmann, der sie beobachtet hatte. »Nee. Det heißt – et tut 'n bißken weh. Aber det hab' ick manchmal. Det jeht von allein wieder weg.« Er nahm einen Ohrenspiegel vom Instrumententisch. »Na, seh'n wir trotzdem mal nach.« Während er sich neben die Patientin setzte und ihr Ohr untersuchte, fuhr Frau Kühn fort: »Det sind richt'je Nazis, wissen Se. Die brüll'n sogar manchmal so Parolen …« »Ick schreib' Ihnen 'ne Überweisung zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Frau Kühn«, sagte Brockmann. »Und ick möchte, daß Sie da janz schnell hinjeh'n. Sie haben 'ne Entzündung im äußeren Gehörgang.« »Is' det schlimm?« Frau Kühn wirkte ein bisschen erschrocken. »Das kann schlimm sein, wenn's 'ne bakterielle Entzündung is'«, erklärte ihr Dr. Brockmann. »Und zwar besonders bei Diabetikern. Das müssen wir unbedingt im Auge behalten.« »Wenn Sie meinen!« Es klang wenig begeistert. »Mein' ick!« erklärte er kurzangebunden und wandte sich zu Gabi, die eben in der Tür erschien. 68
»Telefon. Ihre Frau …« Brockmann nickte. »Ja. Ick bitte um 'n Moment Jeduld.« Während er zum Schreibtisch ging, um die Überweisung für Frau Kühn auszustellen, fuhr die mit ihrem vorherigen Thema fort. »Manchmal denk' ick, da müssten Sie mal vorbeikieken. Die Kerle richtig zusammenstauchen. Vor Ihn'n ha'm die vielleicht Respekt.« Dr. Brockmann grinste. »Da bin ick mir aber nich' so sicher. Außerdem bin ick Arzt und kein Polizist. Womöglich verkloppen die mich auch.« »Na, det wär' doch …« meinte Frau Kühn regelrecht begeistert. »Denn wär'n die fällig. Und wir wär'n se erstmal für 'ne Weile los.« Peter verabschiedete sie erheitert und ließ sich dann Lores Anruf durchstellen. Nachdem sie sich begrüßt hatten, meinte sie: »Du hast ja so verdächtig gute Laune.« Er lachte. »Das hat mir heute schon mal jemand gesagt. Scheint was dran zu sein. Und eben hat mir eine Patientin anjetragen, ick soll mich mal 'n bißken verkloppen lassen, damit zwee unanjenehme Zeitjenossen aus 'm Verkehr jezogen werden.« »Muss ich das verstehen?« fragte Lore irritiert, und als er verneinte, fuhr sie entschlossen fort: »Ich möchte dich zum Essen einladen … hier bei mir.« Er war zu verdutzt, um sofort zu antworten, und sie fragte: »Peter, bist du noch dran?« »Klar. Ick überlege bloß. Wann denn?« »Wann du Zeit hast. Wie wär's mit morgen?« Wieder zögerte er einen Augenblick. »Und was versprichst du dir davon?« wollte er schließlich ziemlich direkt wissen. »Was ich mir davon verspreche?« Sie klang ein bisschen überrumpelt. »Ja … du hast vor ein paar Wochen mal ziemlich sarkastisch an meinen Kochkünsten gezweifelt. Und in gewisser Weise stimmte das ja. Du hast mir nie Gelegenheit gegeben, welche zu entwickeln. Und nun wollte ich dir eigentlich vorführen, was du – sicher ungewollt – da verhindert hast. Das soll kein Vorwurf sein, Peter. Nimm 69
es einfach als eine harmlose, vielleicht etwas kindische Rechtfertigung.« Peter lächelte unwillkürlich. »Naja, in einem sind wir uns wenigstens ähnlicher geworden. Ick versuche auch immer noch, meine Probleme wegzukochen, wenn mir gar nischt anderes mehr einfällt. Also danke für die Einladung. Bis morgen Abend dann, plus – minus Hausbesuche.« Er legte auf und fragte sich, warum er sich zu seinen bisherigen Problemen noch eine neue Schwierigkeit eingehandelt hatte. Wie sollte er Iris bloß verklickern, daß er eine Verabredung mit Lore hatte – falls die davon erfuhr? Und das alles nur, weil er so schlecht nein sagen konnte!
Aische Beidoun hatte Angst. Sie stand neben Murad am Fenster ihrer Neubauwohnung im so genannten ›Sozialbunker‹ in der PotsdamerEcke Pallasstraße und blickte nach unten. Da waren sie wieder, die beiden. Sie lümmelten an der Betonbrüstung des Vorplatzes, tranken Bier und waren todsicher betrunken. Und der eine hatte ein Klappmesser, das er immer wieder zwischen die gespreizten Finger seiner linken Hand stieß, die auf einem Brett auf der Brüstung lag. Er machte das sehr schnell und sehr treffsicher, und Aisches Angst wuchs. »Du kannst jetzt nicht gehen«, sagte sie auf türkisch zu Murad, ihrem Mann. »Warte noch.« Murad starrte auf das Messer dort unten. »Ich muss jetzt gehen. Wenn ich unpünktlich bin, schmeißt er mich raus.« »Bitte, tu mir den Gefallen und warte«, flehte Aische. »Vielleicht gehen sie bald weg.« »Die gehen nicht weg.« Das türkische Ehepaar beobachtete, wie unten auf der Straße der Mann das Messer seinem Kumpan hinhielt. Der nahm es zögernd, legte seine linke Hand auf das Brett und versuchte nun ebenfalls, zwi70
schen seine gespreizten Finger zu stechen. Er war dabei viel langsamer, aber auch er brachte sich keinen einzigen Kratzer bei. Der andere Mann lachte. Aische wusste, daß er Wolfi Hellriegel hieß und sein Freund Olaf Kleiber. Er trank seine Bierdose aus und warf sie auf den Boden. Dann riss er mit einer kurzen, fast brutalen Bewegung eine neue Büchse auf, die in einem Sechserpack auf der Brüstung stand, und setzte sie an den Mund. Danach nahm er das Messer wieder an sich und begann von neuem mit der Stecherei. Aische straffte sich. »Ich komme mit.« Murad widersprach: »Du bleibst hier.« Aber diesmal gehorchte sie nicht. »Ich komme mit. An mich trauen sie sich nicht ran.« Ein paar Minuten später verließen sie gemeinsam das Haus. Aisches stummes Flehen hatte sich nicht erfüllt: Die beiden Männer waren immer noch da, und der eine sah sie ins Freie treten. Er stieß seinen Freund an. »Kiek ma', Wolfi, wer da kommt …« Wolfgang Hellriegel, genannt Wolfi, kniff die Augen zusammen. Dann grinste er. Er und Olaf brauchten sich nicht durch Worte zu verständigen. Ein Blick genügte. Nebeneinander gingen sie auf Aische und Murad zu, um ihnen den Weg zu versperren. Die beiden Türken blieben stehen. »Na, wen ha'm wa denn da!« sagte Wolfi mit einem Grinsen, »'n echtet Kanakenpärchen ha'm wa da …« Murad trat einen Schritt auf die beiden zu. »Bitte, lassen Sie mich durch. Ich muss zur Arbeit.« »Ach nee!« Auch Olaf grinste. Es sah gefährlich und heimtückisch aus. »Der Kanake muss zur Arbeit. Der Kanake hat Arbeit, ja? Unsre Arbeit, die wir nich' ha'm, die hat der Kanake! Na, det freut ein'n ja richtig …« Wolfi war nahe an Murad herangekommen und stieß ihm die Faust gegen die Schulter. »Wat arbeiteste denn, Kanake?« Aische geriet allmählich in Panik. »Lassen Sie mein' Mann zufrieden. Hat Ihnen nichts getan …« 71
Wolfis Augen funkelten. »Du halt die Schnauze, sonst kriegste gleich eene jeschwiemelt.« Und Olaf hakte nach: »Nischt jetan, nee? Anständ'je Deutsche die Arbeet wegneh'm, det nennst du ›nischt jetan‹, ja?« Hinter seinem und Wolfis Rücken näherte sich ein Postbote. »Darf man ma' durch, die Herrschaften?« fragte er, ohne mitzukriegen, daß die beiden Deutschen Streit mit dem türkischen Ehepaar suchten. Wolfi und Olaf drehten sich um, machten Platz, und diesen Augenblick nutzte Murad, um Aisches Hand zu ergreifen und sie mit sich zu ziehen. Sie rannten fast, und hinter sich hörten sie Wolfi rufen: »Euch schnappen wa uns schon noch!« Er wandte sich an Olaf. »Wär' ja jelacht, wenn wa det Kanakenpack nich' aus unser'm Haus rauskriegten.« Olaf nickte, während ein hässliches Grinsen seinen Mund verzerrte. »Janz langsam machen wir det. Mit Jenuß.«
An diesem Abend beschloss Dr. Peter Brockmann, italienisch zu kochen. Bevor er nach Schwanenwerder fuhr, besorgte er sich frische selbst gemachte Ravioli beim Italiener, dazu ein paar dicke fleischige Tomaten für die Soße. Die übrigen Zutaten hatte er zu Hause. Während die Ravioli kochten, öffnete Peter eine Flasche Rotwein und trug sie mit einem Glas zum Tisch. Dann machte er sich an die Zubereitung der Soße. Als das Essen fertig war, schöpfte sich Peter zwei große Löffel Soße über die Ravioli und garnierte sie mit drei Blättchen Basilikum, das er im Topf zog. Unwillkürlich grinste er über sich selbst, dass er so viel Aufwand für ein einsames Abendessen trieb. Aber heute war ihm danach, sich selbst ein bisschen zu verwöhnen. Und außerdem konnte man durch ein gutes Essen tatsächlich seine Probleme für einige Zeit verdrängen, fand Dr. Brockmann. Er hatte sich gerade an den Tisch gesetzt, als es an die Tür klopf72
te. Auf Peters Herein betrat seine Schwiegermutter das Häuschen. Peter hatte sie sehr gern und erhob sich lächelnd, als er sie erkannte. »Anna!« »Guten Abend, Peter«, sagte sie. »Ich habe Licht bei dir gesehen.« Ihr Blick fiel auf den gedeckten Tisch. »Entschuldige, ich störe dich beim Essen. Dann komm' ich vielleicht später noch mal.« »Nee, warum? Komm, du kannst mit essen. Es reicht für zwei.« Er rückte ihr einen Stuhl an den Tisch, aber sie wehrte ab. »Danke. Ich hab' schon gegessen.« »Aber 'n Glas Wein trinkste doch mit.« »Ich weiß nicht … Worüber ich mit dir sprechen möchte, ist eigentlich nichts, womit ich dein Abendessen belasten sollte.« Er holte ein Glas aus dem Schrank und kam damit an den Tisch zurück. »Das is' sowieso so 'ne Art persönliches Krisenessen«, gestand er mit einem schiefen Grinsen. »Kommt also nich' drauf an.« Er drückte seine Schwiegermutter auf den Stuhl und stellte das Glas vor sie hin. »Wenn's dich nich' stört, dass ich esse …« »Na, hör mal …« protestierte sie und betrachtete seinen noch unberührten Teller. »Du hast frisches Basilikum?« Er nickte stolz und goss Anna Maerker ein Glas Wein ein. »Selbst jezogen. Und nun sag schon, was du auf 'm Herzen hast.« »Es geht um Sonja«, begann sie seufzend und berichtete, dass ihre Haushälterin ihr in letzter Zeit ziemlich verändert erschien. »Seit Rudis Mutter gestorben ist, besteht so etwas wie eine Wand zwischen uns. Eine Fremdheit. Und mit Rudi ist es genauso.« Annas Gesicht wirkte bekümmert. »Hast du denn mal versucht, das anzusprechen?« erkundigte sich Peter. Die alte Dame drehte nervös ihr Weinglas zwischen den Fingern. »Ich habe versucht zu zeigen, dass mir an unserem quasi familiären Verhältnis gelegen ist. Ich habe Sonja und Rudi gebeten, endlich die ›Frau Konsul‹ wegzulassen und mich schlicht Frau Maerker zu nennen. Und die kleine Petra hab' ich versucht, wie meine eigenen Enkel zu behandeln.« 73
Peter nickte nachdenklich. »Vielleicht is' es gerade das, was sie verunsichert. Weißt du, was ich glaube, Anna? Du hast 'n schlechtes Gewissen.« Er blickte sie voll an und sah, dass sie nickte. »Und ick muss jesteh'n, mir jeht es ähnlich. Ick habe hin und her überlegt, wie ick mich verhalten soll, aber mir is' noch nichts Gescheites einjefall'n. Wir wissen ja noch nich' mal, ob Rudi was von der Beziehung zwischen seiner Mutter und deinem Mann weiß.« »Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es so ist. Vielleicht hat seine Mutter es ihm erzählt, kurz vor ihrem Tod. Vielleicht hat sie ihm auch gesagt, dass er Kurts Sohn ist.« Er hatte seinen Teller geleert und brachte ihn in die Spüle. »Ick würde dir raten, rede einfach mal mit Sonja oder Rudi, wenn sich 'ne günstige Gelegenheit ergibt«, sagte er, als er dann an den Tisch zurückkam. »Frag sie klipp und klar, was sie haben.« Als es an die Tür klopfte, blickte er erstaunt auf. »Du erwartest Besuch?« fragte Anna Maerker. »Nee, eigentlich nich' …« Sie lächelte verständnisvoll. »Vielleicht ein Überraschungsbesuch von Iris?« »Das glaub' ich nun gar nich'«, murmelte er und fügte lauter hinzu: »Herein!« Es war Kathrin, die lächelnd den Raum betrat. »Guten Abend. Stör' ich?« Anna stand auf und ließ sich von ihrer Enkelin umarmen. »Überhaupt nicht. Ich wollte gerade gehen.« Kathrin blickte von einem zum anderen. »Kriegsrat?« Peter verneinte eine Spur verlegen, und seine Schwiegermutter hatte es plötzlich recht eilig, sich zu verabschieden. »Is' was?« wollte Kathrin wissen, der dieser überstürzte Aufbruch merkwürdig vorkam, aber Brockmann wehrte ab. »Nö, nö, nischt Besonderes. Und du?« Kathrin erklärte, daß sie eine Kollegin in Wannsee besucht und danach spontan beschlossen habe, bei ihrem Vater vorbeizuschauen. »Aber eigentlich hätte ich eher Iris bei dir erwartet als Anna …« 74
Er blickte an ihr vorbei. »So? Ja … nee. Iris scheint sich nich' mehr so wohl bei mir zu fühlen.« Kathrin betrachtete ihn aufmerksam. »Das klingt aber nich' gut.« Sie setzte sich auf die Couch und ließ sich von ihrem Vater ein Glas Wein einschenken. »Und warum? Habt ihr Krach gehabt?« Ein paar Minuten später wusste sie die ganze Geschichte und fühlte sich ziemlich betroffen. »Das hab' ich nicht gewollt«, sagte sie konsterniert. »Das hab' ich bestimmt nicht gewollt. Ich war' nicht im Traum darauf gekommen, daß Iris es kränken könnte, wenn du zu 'ner Familienfeier gehst, auf der auch deine Frau ist, von der du praktisch seit zwei Jahrzehnten geschieden bist.« Peter seufzte. »Is' aber so. Und so janz sicher warst du dir ja auch nich'. Sonst hätteste nich' jesagt, Iris hätte 'n großes Herz und jute Nerven …« Er schwieg und trank einen Schluck Wein. »Aber irgendwo kann ick Iris schon verstehen. Da taucht Lore plötzlich auf – und auf einmal is' da mit dir zusammen plötzlich wieder so was wie 'ne Familie …« Ungläubig blickte Kathrin auf. »Das is' nich' dein Ernst!« Er überging ihren Einwand, sondern sprach zum ersten Mal aus, was er dachte und fühlte und was er sich bis jetzt nicht einmal selbst so deutlich eingestanden hatte. »Ick kann auch gar nich' abstreiten, dass mich Lores Rückkehr natürlich berührt hat. Sie … ja, sie is' schon 'ne tolle Frau. Wie sie das hinjekriegt hat, das alle sie wieder mögen, wo – außer Anna vielleicht – kaum jemand Verständnis für sie hatte. Du am wenigsten …« Kathrins Augen spiegelten Überraschung und Verständnislosigkeit wider. »Aber wenn du das alles so einschätzt, warum hast du dann nicht mit Iris offen darüber gesprochen?« Ja, warum? Peter Brockmann kannte die Antwort. Es lag an seiner üblichen Bequemlichkeit, unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Aber das gab er natürlich nicht zu. Deshalb sagte er knapp: »Iris hat mich gar nicht dazu kommen lassen. Sie hat mich rausgeschmissen.« »Das hätt' ich unter diesen Umständen wahrscheinlich auch ge75
macht«, rutschte es Kathrin heraus. Sie fing einen gekränkten Blick ihres Vaters auf und erkundigte sich schnell: »Und wie geht's nun weiter? Jetzt wird geschmollt, ja?« Brockmann hob vage die Schultern. »Ick kann jetzt nich' den ersten Schritt machen, Kathrin …« »Aha«, sagte sie aufgebracht. »Und erwartest du, dass Iris den macht?« »Mensch, nu' schnauz mich doch nich' gleich an! Ick muss mir klarwerden, wie ick das mache!« Er blickte sie von der Seite an. »Lore hat mich übrigens morgen zum Essen einjeladen.« »Und du gehst hin?« Er wand sich ein bisschen. »Ja. Soll ick nich'? Du hast doch selbst jesagt, wir sind so jut wie jeschieden …« »Weiß Iris das? Ich meine, daß du zu Lore zum Essen gehst?« Er registrierte sehr wohl die Schärfe in ihrer Stimme, und sein Unbehagen wuchs. »Nee. Wie soll ick ihr das denn sagen, wenn wir keinen Kontakt haben?« Als Kathrin aufstand, war ihm klar, dass sie gehen wollte. »Du, hast du keinen Hunger?« fragte er rasch in dem Bestreben, sie noch festzuhalten. »Ick habe noch 'n paar erstklassige Ravioli. Und selbstjemachte Tomatensoße …« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln war nicht besonders fröhlich. »Nee, danke. Wenn wir früher Probleme hatten, hast du auch immer versucht, mich mit Pudding zu bestechen. Ich möchte jetzt geh'n.« Brockmann ließ den Kopf hängen. »Hab' ick also noch jemanden vergrault! Verstehste mich denn nich'?« Für einen Moment legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Nee, Alter, im Moment nich' …« Als sie fort war, räumte Peter ein bisschen auf. Und er dachte: Das ganz persönliche Krisenessen hat heute nischt jenutzt. Im Gegenteil … Er seufzte. Man konnte eben doch nicht alle Probleme durch Kochen oder ein gutes Essen verdrängen. Manche waren sehr hartnäckig. 76
Rudi Lehmann hatte an diesem Abend Überstunden machen müssen. Dr. Georg Maerker, sein Chef, hatte länger in der Firma zu tun. Es war schon dunkel, als Rudi den Wagen auf den Parkplatz der Villa lenkte. Sonja hatte in der Küche auf ihren Mann gewartet und machte ihm das Essen warm. Sie saß am Tisch und sah ihm zu, wie er es sich schmecken ließ. Petra schlief schon. Eigentlich hatte Rudi gehofft, bald nach dem Essen ins Bett gehen zu können. Vielleicht noch die Spätnachrichten im Fernsehen – und dann ab in die Falle. Aber kaum, daß er fertig gegessen hatte, fing Sonja wieder von den Briefen des Konsuls an. Die Sache ließ ihr einfach keine Ruhe, und wenn sie allein war, grübelte sie ständig darüber nach. »Warum wehrste dich denn so dajegen, überhaupt darüber zu reden?« fragte sie ihren Mann. Er blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Weil's Quatsch is', Sonja. Absurd is' det! Mamma hat mir als Kind, als ick jefragt habe, da hat se mir so viel von mei'm Vater erzählt, lauter Einzelheiten. Wie sie ihre Wohnung jesucht und jefunden haben. Wie se jemeinsam Urlaub jemacht haben. Wie mein Vater ums Leben jekomm' is' bei diesem Autounfall und wie se da traurig war … So wat erfindet man doch nich'!« »Vielleicht doch, wenn man keine and're Wahl hat«, entgegnete Sonja verständnisvoll. »Und wenn man die Wahrheit nich' sagen darf.« Rudi rettete sich in Zorn, in der Hoffnung, sie würde dann endlich das Thema fallenlassen. »Denn hat Mamma also jelogen, ja? Det finde ick nich' schön, daß du ihr det in 'n Tod hinterhersagst.« »Det wär' doch keine Lüge, Rudi. Det war 'ne Notlüge«, warf Sonja besänftigend ein. »Und eine, für die sie mir sehr leid tut. Und die Briefe …« »Die Briefe, die Briefe! Wat is' denn dabei? Meine Mutter war die Assistentin vom Konsul. Warum soll er ihr denn da keene Briefe jeschrieben haben!« »Aber doch nich' solche!« Sonja war aufgestanden und kam auf ihn zu. »Ick habe in ein, zwei reinjeseh'n. So 'ne Briefe schreibt 'n Chef nich' 77
an seine Assistentin. Du weeßt doch, wie der alte Konsul war. 'n Knatterkopp. Immer kurz, immer Distanz. Und der schreibt seiner Assistentin von unterwegs? Von seinen Reisen? Wie er sich fühlt? Erkundigt sich, wie's dir jeht? Passt so was zum Konsul, wenn da nich' noch was anderes wär'?« »Du phantasierst ja«, sagte Rudi wegwerfend. Sie schüttelte den Kopf. »Und warum wollte deine Mutter partout nich' hierher zu uns? Bei uns wohnen? Wejen der Frau Konsul! Weil die's nämlich auch weiß.« Er musterte sie verblüfft. »Hat se dir das jesagt?« »Nee. Aber ick kann doch zwei und zwei zusammenzählen. Seit deine Mutter jestorben is', is' se janz anders. Als ob se nu' endlich mal wat klären müsste.« Rudi begriff den Funken Wahrheit in ihren Worten. Aber er wollte es nicht zugeben. Vor Sonja nicht – und vor allem vor sich selbst nicht. Er war immer ein Mensch gewesen, der mit seinem Leben zufrieden war. Er wollte nicht, dass sich das änderte. Er hatte einfach Angst davor, eine dumpfe Angst, die er nicht in Worte fassen konnte. »Wenn du so jut rechnen kannst«, sagte er leise, »denkst du, die Frau Konsul hätte sich det jefall'n lassen? 'n unehelichen Sohn von ihrem Mann im eigenen Haus? Den jeden Tag seh'n? Det wär' ja … unjeheuerlich. Unmenschlich wär' det.« Sonja nickte. »Ick traue das dem Konsul zu.« Am nächsten Morgen wurde Rudi in der Maerker AG zu Bernd Saalbach gerufen. Es war das erste Mal, daß er das Büro des Prokuristen betrat, und er blickte sich ein bisschen neugierig und verstohlen darin um. Bernd Saalbach erhob sich hinter seinem Schreibtisch und begrüßte Rudi so herzlich, als sei er ein liebes Familienmitglied. »Das ist schön, daß Sie so schnell kommen konnten, Rudi. Nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf die Besucherecke mit den schweren Ledersesseln. Rudi wartete höflich, bis Saalbach von seinem Schreibtisch einen Stapel Prospekte genommen und sich damit ihm gegenüber hingesetzt 78
hatte. Mit dem breiten Lächeln, das er in der letzten Zeit immer für Rudi parat hatte, betrachtete Saalbach ihn. »Sie wissen vielleicht, dass wir fünf von unseren Lieferwagen ausrangieren wollen. Und dafür brauchen wir natürlich Ersatz. Das ist zwar keine riesige, aber doch eine beachtliche Investition.« »Ja«, sagte Rudi und blickte verwirrt auf die Prospekte, die Saalbach ihm hinschob und auf denen Lastwagen verschiedener Firmen abgebildet waren. »Und dazu hätte ich gern Ihren fachmännischen Rat«, fuhr Saalbach fort. »Aber da wär' doch eigentlich der Lamprecht der Richtije … Der is' ja auch der Leiter vom Fuhrpark.« Saalbach nickte jovial. »Ist er. Er hat sich auch schon geäußert. Aber wissen Sie …« Sein Tonfall wurde vertraulich. »Das muss nicht stimmen, aber es könnte so sein: Leute in Lamprechts Position kungeln ganz gerne mit den Vertretern. Da fallen dann noch mal ein paar persönliche Prozente ab. Und deshalb hätte ich von Ihnen gern so eine Art Gegengutachten.« Rudi wurde der Hemdkragen ein bisschen eng. »Ick … ick verstehe eigentlich so jut wie überhaupt nichts von Lkws, Herr Saalbach.« Aber der ließ sich nicht beirren. Er drückte Rudi die Prospekte in die Hand, dazu die schriftlichen Angebote der verschiedenen Firmen und eine Aufstellung über die Anforderungen, die die Maerker AG an die Fahrzeuge stellte. »Da untertreiben Sie natürlich wieder in Ihrer sprichwörtlichen Bescheidenheit, mein Lieber. Ich möchte, dass Sie sich ein bisschen mit der Materie beschäftigen und mir dann Ihre Meinung sagen.« »Aber ick möchte nich', dass das böses Blut mit dem Herrn Lamprecht jibt«, widersprach Rudi zaghaft. »Der is' ja sozusagen mein Vorjesetzter.« Saalbach lächelte milde und stand auf. »Die Chefetage ist hier oben, Rudi. Das weiß auch Herr Lamprecht. Im übrigen habe ich Ihnen ja schon gesagt, dass ich noch eine ganze Menge mit Ihnen vorhabe. Und ich meine das ernst.« Er klopfte ihm kurz auf die Schulter. »Ich höre von Ihnen, ja?« 79
An der Tür hielt er den Chauffeur noch einmal auf. »Ach, Rudi … Herr Dr. Maerker braucht im Augenblick noch nichts von unserer … kleinen Zusammenarbeit zu wissen. Ich glaube, mein Schwager unterschätzt Sie.« Für einen Moment bekam Saalbachs Lächeln etwas Perfides. »Ich möchte ihm, was Sie betrifft, mit konkreten Ergebnissen gegenübertreten. Einverstanden?« Rudi nickte stumm. Ihm passte das alles nicht; er hatte ein ungutes Gefühl dabei, aber er wusste nicht, wie er sich gegen Saalbachs Freundlichkeit zur Wehr setzen sollte.
Ulla Hellriegel goss die Blumen auf ihrem Balkon. Sonst pflegte sie sie mit viel Hingabe und freute sich an ihrem Gedeihen. Aber an diesem Morgen hatte sie kein Auge dafür. Ihr Mann trieb sich unten vor dem Haus herum, zusammen mit Olaf Kleiber. Natürlich hatten sie wieder Bierbüchsen dabei, und Wolfi hatte Olaf sein Klappmesser gegeben. Mit einer Mischung aus Kummer und Zorn beobachtete Ulla Hellriegel, wie Olaf die Geschicklichkeitsübung mit dem Messer machte. Sie kannte das. Wolfi hatte ihr oft genug prahlerisch vorgeführt, wie schnell er zustechen konnte, ohne sich auch nur die Haut zu ritzen, wenn die Messerklinge zwischen seinen gespreizten Fingern in das Holzbrett sauste. Ulla hasste diese Messer spiele. Als neben ihr auf dem Balkon ihr siebenjähriger Sohn auftauchte, fragte sie nervös: »Musst du nich' in die Schule?« Achim Hellriegel schüttelte den Kopf. »Ick muss erst zur dritten Stunde.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Balkonbrüstung nach unten sehen zu können. Seine Mutter runzelte die Stirn. »Geh rein!« Doch Achim gehorchte nicht. Dafür interessierte es ihn viel zu sehr, was sein Vater und Olaf dort unten taten. Gerade legte Olaf das Messer beiseite und blickte Wolfi Hellriegel beifall heischend an. Der klopfte ihm auf den Rücken. »Nich' schlecht. 80
Wenn de noch 'ne Weile übst, biste bald so jut wie ick. Da siehste ma' wieder: Wenn man een' wat lernen lässt, denn kann er ooch. Aber uns ha'm se ja nischt lernen lassen.« Er trank einen Schluck Bier und wischte sich über den Mund. Seine Augen bekamen plötzlich einen geradezu schwärmerischen Ausdruck. »Weeßte eigentlich, wat hier ma' stand, Olaf? Hier an diese Stelle?« »Klar. Der Sportpalast. Weeß doch jeder.« »Und wat war im Sportpalast?« Olaf Kleiber begriff nicht, worauf sein Freund hinauswollte. »Sechstagerennen …« »Hier hat Goebbels jestanden, Olaf!« erklärte Wolfi. »Vielleicht jenau an diese Stelle hat er jestanden. Hier hat er jebrüllt: Wollt ihr den totalen Krieg? Und denn ha'm wa de Welt jezeigt, wat 'ne Harke is'.« Olaf staunte. »Echt? Hier? Mach keene Witze.« »Hier!« bestätigte Wolfi. Er rückte näher an seinen Freund heran. »Bei de Nazis, Olaf, da wär'n wir nich' arbeitslos. Da wär'n wir oben und die unten …« »Wer?« fragte Olaf, der im Denken nicht der Fixeste war. Deshalb imponierte ihm Wolfi ja auch so. Der kannte sich aus. Der wusste, wo's langging. »Na alle!« sagte Wolfi. »Alle, die uns jetzt in 'n Arsch treten. Manchmal denk' ick, wir müssten wat unvernehm, Olaf.« »Mal wieder uff't Arbeitsamt? Uns anscheißen lassen? Nee, danke!« »Uns organisier'n«, erklärte Wolfi. »Mit andere, die so denken wie wir. Mal richtig durchgreifen mit det Jesockse! Zeijen, det et uns ooch noch jibt.« Er hatte sich in Feuer geredet. »Bißken Randale, verstehste? Uffräumen, wieder Zucht und Ordnung. Denn hätt'n wir auch wieder Arbeit …« Er verstummte, weil er sah, dass Murad, der junge Türke, auf die Straße trat, und stieß Olaf in die Seite. »Fangen wa doch gleich ma' an!« presste er durch die Zähne. »Los, komm!« Zwei Etagen über dem Hellriegelschen Balkon, auf dem immer noch Ulla und ihr kleiner Sohn standen, tauchte jetzt Aische, Murads Frau, auf. Sie sah, wie Wolfi und Olaf ihrem Mann nachrannten, ihn über81
holten und ihm den Weg verstellten. Was die beiden Deutschen zu ihm sagten, verstand sie nicht, aber sie gewahrte, wie sie ihn anrempelten und mit den Fäusten gegen Murads Brust und Schulter stießen. Aische wurde es eiskalt vor Angst, trotz der Sonne, die auf den Balkon schien. Auch Murad begriff, dass es diesmal Ernst wurde und dass er den beiden nicht entkommen konnte. Er las es in ihren Gesichtern und den funkelnden Augen. Ganz gleich, was er tat – sie würden über ihn herfallen. »Weeßt du eijentlich, du Kanake, wat hier ma' jestanden hat?« hatte Wolfi gefragt, und Murad hatte nur stumm den Kopf geschüttelt. Daraufhin hatte er den ersten Stoß vor die Brust bekommen. »Ob du weeßt, wat hier jestanden hat?« wiederholte der große Deutsche. »Lassen Sie mich in Ruh'. Ich weiß nicht, was Sie woll'n …« antwortete Murad. Wieder ein Stoß, diesmal von dem anderen Deutschen. »Der Sportpalast hat hier jestanden, hier, wo du deine stinkigen Kanakensocken druff hast.« Der nächste Stoß. »Von hier aus ha'm wa de Bolschewiken bekämpft, du Arsch!« brüllte Wolfi. »Und so 'ne Untermenschen wie euch. Los, sag ›Heil Hitler! ‹« Murad schwieg und ließ es immer noch ohne Gegenwehr zu, dass die beiden ihn gegen die Schultern boxten. »Du sollst ›Heil Hitler‹ sagen!« Das war wieder Olaf, der zwar besonders langsam im Denken, aber dafür ein umso treuerer Gefolgsmann von Wolfi war. »Hörste schwer?« »Is' verboten«, sagte Murad mit steifen Lippen. Wolfi trat noch einen Schritt auf ihn zu. »Ach? Verboten, ja! Wer verbietet det? Dein Scheich in de Moschee? Oder ›Allah-is-mächtig‹ – oder wer? Los! Heil Hitler!« Als Murad nicht reagierte, holte er aus und versetzte ihm einen brutalen Schlag in die Magengrube. Murad sackte nach vorn, aber Olaf riss seinen Kopf hoch und holte zum nächsten Schlag aus. Auf dem Hellriegelschen Balkon zog Ulla ihren Sohn an sich und 82
drehte seinen Kopf weg, damit er nicht mit ansah, wie sein Vater und dessen Freund unten auf der Straße einen Mann, der sich nicht wehrte, gnadenlos zusammenschlugen .
In Dr. Brockmanns Praxis herrschte an diesem Morgen wieder einmal Hochbetrieb. Das Wartezimmer war überfüllt, und selbst im Vorraum warteten drei Frauen, dass sie endlich an die Reihe kamen. Dr. Brockmann verließ gerade mit einem Patienten sein Sprechzimmer und wandte sich an Gabi, die hinter dem Tresen saß. »Herr Teichert bekommt bitte …« In diesem Augenblick wurde die Tür zur Praxis aufgerissen. Aische, das dunkle Haar unter einem Kopftuch verborgen, schob ihren Mann herein. Man sah ihr an, dass sie geweint hatte, und auch jetzt noch kämpfte sie mit den Tränen. Murad sah schrecklich aus, mit blutverschmiertem Gesicht und blutigen Händen. Dr. Brockmann ging sofort auf ihn zu, betrachtete ihn kurz und nahm ihn und Aische mit ins Behandlungszimmer. »Diese Türken«, sagte eine der Frauen, die in der Anmeldung warteten. »Immer müssen se sich kloppen und messerstechen. Und unsereener kann noch länger warten.« Herr Teichert nickte. »Aber jenau!« sagte er im Brustton der Überzeugung. In seiner Ordination versorgte Dr. Brockmann Murads Wunden. Schwester Erika assistierte ihm. Dabei ließ er sich von ihm und Aische berichten, was vorgefallen war. Peters Gesicht wurde ernst, regelrecht finster. Er erinnerte sich, was Frau Kühn ihm neulich erzählt hatte. Sie hatte offenbar nicht übertrieben. Mitleidig blickte Peter das türkische Ehepaar an. Aische hockte zusammengesunken in einem Sessel und weinte leise vor sich hin. Murad war glücklicherweise nicht allzu schwer verletzt. Nur übel zugerichtet hatten ihn die beiden Randalierer, und vermutlich war das erst der Anfang … 83
»Ick habe von diesen Leuten jehört, Herr Beidoun«, sagte Dr. Brockmann. »Die werden so weitermachen. Ick möchte Ihnen wirklich raten, zur Polizei zu geh'n.« »Nein! Nich' zu Polizei!« Aisches Stimme flatterte. Murad versuchte ein resigniertes Lächeln. »Werden sie mir nicht glauben bei der Polizei. Werden sie sagen, is' auch meine Schuld. Und is' Behörde. Behörde is' nich' gut für uns, wenn die wegen uns Arbeit haben. Und wenn Polizei kommt, werden die beiden … werden sich rächen. Und dann noch schlimmer.« Peter sah ein, dass der junge Türke irgendwo recht hatte. Nachdenklich ging er auf und ab. Was konnte er raten? Wie helfen? Aische würgte an ihren Tränen. »Hat Murad nie denen was getan. Immer freundlich, zu alle im Haus. Aber alle sind gegen Türken – auch ohne Schlagen.« »Ich hab' die Deutsche gern«, sagte Murad leise, und Dr. Brockmann stieß heftig den Atem aus. »Ich will kein' Streit. Immer wenn jemand sagt Scheißkanake und so, halt' ich den Mund. Hör' ich gar nich'. Sind viele nette Deutsche.« Aische senkte den Kopf. »Mein Mann hat immer schwer gehabt. Ganz klein ist er nach Deutschland gekommen, nach Köln. Und dann is' sein Vater gestorben, und hat er ganz allein für Familie gesorgt. Fast nie Schule. Immer arbeiten …« Etwas mühsam drehte Murad den Kopf in ihre Richtung. »Sei still, Aische«, sagte er auf türkisch. »Das interessiert den Doktor nicht.« »Doch. Kann er wissen, dass du ein guter Mann bist«, widersprach sie und wandte sich an Peter Brockmann. »Ich hab' geheiratet, weil Murad ein guter Mann is'. Und is' fleißig. Hat jetzt gute Stellung in ein türkisches Restaurant. Aber wenn er nich' pünktlich is', weil die beiden Männer in Haus ihn festhalten, dann entlassen. Und dann wieder arbeitslos.« Dr. Brockmann gab sich einen Ruck. »Deswegen finde ick ja, Sie sollten doch zur Polizei jeh'n. Wenn sogar Ihre Stellung in Jefahr is' …« »Nein, nein. Keine Polizei«, beharrte Murad. Brockmann nickte. »Dann versprechen Sie mir aber, dass Sie sich bei 84
mir melden, wenn das so weiterjeht, ja? Denn komm' ick mal vorbei. Ick bin ja keine Polizei.« Er nahm eine Visitenkarte vom Schreibtisch und drückte sie Murad in die Hand. »Das is' meine Telefonnummer. Sie könn'n mich jederzeit anrufen.« Gabi, die gerade hereinkam, hörte seine letzten Worte. Sie hielt Aische und Murad die Tür auf, nachdem Dr. Brockmann die beiden mit einem Händedruck verabschiedet hatte. »Wat war denn?« wollte Gabi anschließend wissen. Peter erzählte es ihr, und sie meinte: »War' das nich' was für die Polizei?« Er hob bedrückt die Schultern. »Die beiden haben Angst vor der Polizei.« Gabi betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Und als wat willst du da hinjeh'n? Als Rächer vom Bülowbogen? Mensch, Peter, mach nich' wieder den Helden vom Dienst. Haste doch schon erlebt, wie so wat ausjeht …« »Der eine von den beiden Stänkerfritzen is' der Mann von der Frau Hellriegel. Da kann ick durchaus mal als Arzt vorbeijeh'n. Außerdem hab' ick in dem Schuppen noch andere Patienten.« Er straffte sich. »So, und nu' woll'n wir die anderen mal nich' länger warten lassen.«
Am Abend war Dr. Brockmann dann bei seiner Frau eingeladen. Sie hatte wirklich vorzüglich gekocht. Es gab T-Bone-Steaks mit mexikanischen Bohnen und einem köstlichen Salat. Dazu hatte Lore einen guten Rotwein besorgt, wie Peter Brockmann ihn liebte. Er hatte Lores Essen sehr gelobt und sie um das Rezept für die mexikanischen Bohnen gebeten. Sie hatten über dies und das geredet, auch über die Schwierigkeiten ihres früheren Zusammenlebens. Lore sprach ganz ohne Bitterkeit darüber. Überhaupt erschien sie Peter an diesem Abend von einer sonderbaren Heiterkeit erfüllt, die ihn, obwohl er sich in ihrer Gesellschaft wohl fühlte, gleichzeitig ein bisschen befangen machte. 85
Als Nachtisch offerierte Lore selbstgemachten Karamellpudding. Ein wenig irritiert sah sie, wie Peter grinste. »Magst du keinen Pudding? Hab' ich da …« Sie stockte, und er warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Du meinst, ob du mich da mit jemand anderem verwechselst? Nee, nee. Ick musste bloß gerade daran denken, dass Kathrin mir unlängst mal vorjeworfen hat, ick hätte immer versucht, sie mit Pudding zu bestechen, wenn wir Probleme hatten.« »Und? Stimmt das?« wollte Lore wissen. Er nickte. »Unbewusst natürlich. Und du? Willst du mich auch bestechen?« »Wozu?« fragte sie mit einer Spur Koketterie, die auch bei ihm ankam. In seinen blauen Augen erschien ein amüsiertes Funkeln. »Na ja, was weiß ich? Zu irgendwas …« »Ich kann's ja mal versuchen«, meinte sie und stand auf, um den Pudding aus der Küche zu holen. »Vielleicht finden wir das Ziel später heraus.« Peter sah ihr mit einem Lächeln nach, das zwischen Sympathie und Unbehagen schwankte. Der Pudding war genauso gut wie das ganze vorherige Essen. »Donnerwetter!« sagte Dr. Brockmann, nachdem er den ersten Löffel probiert hatte. »Den könnt' ick nich' besser machen!« Lore lachte. »Du willst doch nicht behaupten, dass du einen echten Karamellpudding hinkriegen würdest!« Grinsend schüttelte er den Kopf. »Nee. Stimmt. Das Rezept hätt' ick auch jerne …« Sie beobachtete ihn, wie er einen zweiten Löffel in den Mund steckte. Dann holte sie tief Luft und gestand: »Ich habe dich heute Abend hergebeten, um dir zu sagen, dass ich morgen nach Kalifornien zurückfliege.« Peter Brockmann ließ den nächsten Löffel, den er gerade zum Mund führen wollte, sinken. Total überrascht starrte er Lore an. »Ach …« Für einen Moment hielten ihre Blicke einander fest. Dann senkte Lore den Kopf. »Ja. Als ich zurückgekommen bin, da habe ich in den 86
ersten Wochen auf eine Weise, die ich mir selbst nicht richtig eingestanden habe, gedacht, gehofft …« Sie unterbrach sich. »Nein, nicht gehofft, das wäre zu viel gewesen. Aber ich hatte gedacht, wir kämen vielleicht irgendwie nochmal zusammen.« Wieder streifte Peter ein rascher Blick. Als er schwieg, sprach Lore noch leiser weiter: »Doch dann habe ich gespürt, dass das unsinnig ist.« »Jott, so unsinnig …« warf er gedehnt ein, allerdings weniger aus Überzeugung als in dem Bemühen, Lore etwas Nettes zu sagen. Sie durchschaute ihn auch sofort und schüttelte sacht den Kopf. »Peter!« Dann fuhr sie betont sachlich fort: »Der Scheidungstermin ist erst in ein paar Wochen. Wenn es so weit ist, wirst du mich anrufen, dann komm' ich noch einmal kurz her.« Peter Brockmann schwieg ein paar Sekunden, bevor er fragte: »Wissen es die anderen?« »Anna weiß es«, erwiderte Lore. »Sie hat nichts gesagt, weil ich es dir selbst erzählen wollte. Und mit Kathrin treffe ich mich morgen Vormittag. Die anderen sind ja daran gewöhnt, dass ich unvermittelt verschwinde.« Sie schwiegen jetzt beide, bis Peter Brockmann mit einem kleinen Lächeln auf den Pudding zeigte. Also doch! sollte das heißen, und Lore erwiderte sein Lächeln. »Du hast vorhin selbst gesagt, wozu so ein Pudding gut ist. Also iss.« Sein Lächeln wurde breiter, beinahe erleichtert. »Du übernimmst meine Methoden!« Ungefähr um dieselbe Zeit saß Kathrin Brockmann in der gemütlichen Couchecke in Iris Paulis Wohnung. Das Zerwürfnis zwischen Iris und ihrem Vater hatte Kathrin keine Ruhe gelassen, zumal sie sich nicht ganz unschuldig daran fühlte. Deshalb war sie hergekommen. Iris war anfangs ein bisschen reserviert und sogar misstrauisch gewesen. Und während die Frauen bei einem Glas Sekt zusammensaßen, vergewisserte sie sich noch einmal, ob Peter seine Tochter nicht vorgeschickt habe. 87
Kathrin schüttelte den Kopf. »Er würde es mir wahrscheinlich sogar ziemlich übelnehmen, wenn er wüsste, dass ich hier sitze.« Iris lächelte halb traurig, halb spöttisch. »Es wäre ihm zuzutrauen.« Sie schwieg einen Moment und fragte dann ratlos: »Und was mach' ich nun?« Kathrin zog die Schultern hoch. »Ich hab' versucht, Ihnen meine ziemlich naive Rolle bei der ganzen Geschichte zu erklären. Ich hätte wissen müssen, dass Peter immer noch ein Meister im Verdrängen ist. Ich dachte allerdings, er hätte das ein bisschen abgelegt.« »Er hat seine Methoden verfeinert«, verbesserte Iris sie ironisch, ohne allerdings dabei verbergen zu können, wie viele Sympathien sie immer noch für diesen Mann hegte, obwohl er es ihr gelegentlich wahrhaftig nicht leicht machte, ihn zu lieben. »Ich kann mir vorstellen, dass er früher gar nicht bemerkt hat, was er da tut. Jetzt weiß er's, und nun verdrängt er auf subtile Weise das Bewusstsein seiner Verdrängung. Das ist die Antwort der Männer auf die weibliche Emanzipation.« Kathrin musste lachen. »Steht das irgendwo?« »Bestimmt«, gab Iris zu. »Diese Erkenntnis hilft mir aber trotzdem nicht weiter.« Sie seufzte. »Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als wieder mal zum Telefon zu greifen.« Kathrin lächelte und schwieg. Aber sie war sehr erleichtert, weil sie offenbar den Zweck ihres Besuches erreicht hatte. »Na, fabelhaft«, sagte Iris trocken. »Dann haben zwei Frauen mal wieder die Beziehungsarbeit geleistet, zu der ein Mann nicht fähig ist.« Kathrin wusste nicht recht, ob sie mit ihrem Vorschlag herausrücken sollte oder nicht. Aber dann tat sie es doch. »Vielleicht müssten Sie und Peter … mal zusammenziehen. Ich meine, dann merkt man doch ganz konkret, ob …« »Um Gottes willen!« unterbrach Iris sie mit gespieltem Entsetzen. »Mit so einem Trottel unter einem Dach – da kann ich mir ja gleich 'n Strick nehmen.« Die beiden Frauen lachten. Und Kathrin hob ihr Sektglas und stieß mit Iris an. 88
Zwei Tage später brachte Gabi Köhler wie allmorgendlich die Post in Dr. Brockmanns Sprechzimmer. Er stand am Waschbecken und trocknete sich die Hände ab. »Leg sie hin«, bat er und machte eine Kopfbewegung zu seinem Schreibtisch. Mit provozierender Langsamkeit zog Gabi den untersten Brief hervor und legte ihn obenauf. »Von Iris!!!« sagte sie. Peter warf ihr das Handtuch zu und schnappte sich sofort das Kuvert. »'n Abschiedsbrief, nehm' ick an«, meinte Gabi, während sie das Tuch neben dem Waschbecken aufhängte und die restlichen Briefe auf die Schreibtischplatte legte. Mit nervösen Fingern hatte Peter Iris' Brief aufgerissen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Gabi das Zimmer verlassen wollte, und bat: »Nee, nee, bleib mal. Vielleicht brauch' ick seelische Stütze.« Er zog den Briefbogen heraus und begann zu lesen. Plötzlich lächelte er und sah Gabi erleichtert an. »Kannst jeh'n.« Sie rümpfte die Nase. »Tja …« sagte sie mit gespielter Enttäuschung – oder war doch ein bisschen echte dabei? Dann verließ sie das Sprechzimmer, während sich Peter schon wieder in Iris' Brief vertiefte. Am Spätnachmittag summte in Iris Paulis Anwaltskanzlei das Telefon. Sie nahm selbst den Hörer ab und lächelte, als sie Peter Brockmanns Stimme erkannte. Er klang aufgeregt und erleichtert, bedankte sich, dass sie ihm geschrieben hatte, und Iris bekam dabei sogar ein bisschen Herzklopfen. »Was blieb mir anderes übrig?« fragte sie zärtlich. »Oder sollte ich dich auf deiner Tauchstation ertrinken lassen?« Sie lachte, als er fragte, ob sie auf ihrer Tauchstation nicht ebenfalls in Gefahr gewesen sei. »Ich? Nein. Ich hätte noch jede Menge Sauerstoff gehabt.« »So? Naja … Und wann seh'n wir uns?« wollte Peter wissen. »Wann du willst«, entgegnete sie. »Dann würde ick sagen, du kommst heute Abend zu mir.« Er blätterte in den Patientenkarten auf seinem Schreibtisch. »Ick habe nur 89
noch drei Patienten hier und anschließend 'n paar Hausbesuche. Und ick habe zwei vorzügliche neue Rezepte. Mexikanisches Bohnengemüse und Karamellpudding …« Ihm war gar nicht klar, was er da sagte. Aber Iris schaltete schnell bei der Aufzählung dieser Gerichte, die in Übersee bevorzugt wurden. »Iris?« fragte Brockmann erschrocken, als ihm durch ihr plötzliches Schweigen sein Lapsus klarwurde. »Biste noch dran?« »Ja«, sagte sie. »Ich wollte dir nur eine kleine Denkpause lassen. Ob du diesen Vorschlag wirklich ernst meinst …« »Also nich'«, murmelte Peter kleinlaut. Seine Miene erhellte sich erst, als Iris ihm vorschlug, doch zu ihr zu kommen. »Ja«, sagte er folgsam. »Selbstverständlich komm' ick zu dir. Bis dann …« Mit einer fast zärtlichen Bewegung legte er den Hörer auf. Als Gabi mit ein paar Patientenkarten hereinkam, warf sie einen kurzen Blick in sein Gesicht. »Na, gute Laune?« fragte sie. Er steckte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels. »Wieder verdächtig?« Gabi schüttelte den Kopf. »Nee. Nu' nich' mehr. Kunststück!« Sie legte die Patientenkarten auf den Tisch. »Das sind die Hausbesuche. Is' übrigens einer im besagten Wohnsilo dabei. Soll ick die kugelsichere Weste einpacken?« »Quatschkopp!« Dr. Brockmann warf ihr einen seiner nettesten Blicke zu. »'n Quatschkopp bist du. Aber ick liebe dich.« »Ja. Immer dann, wenn du jemand anderen noch mehr liebst«, knurrte Gabi und wandte sich schnell ab.
Wolfi Hellriegel hatte drei leere Bierdosen auf die Betonbrüstung des Vorplatzes gestellt. Er legte eine Stahlkugel in die Zwille, spannte sie und zielte. Die Kugel flog und traf. Die mittlere Bierdose kippte um. »Nu' du«, sagte Wolfi zu seinem Sohn und drückte ihm die Zwille in die Hand. Er half dem Siebenjährigen, die Kugel einzulegen, und Ach90
im zog an dem Gummi. Aber natürlich waren seine dünnen Kinderärmchen zu schwach. Die Kugel flog nur ein kleines Stück weit und fiel dann zu Boden. Wolfi betrachtete seinen Sohn und seufzte. »Wenn de in die Schule ooch so bist, wirste ooch nischt. Wie dein Vater … Los, noch mal. Det üben wa jetzt.« Er wollte eine neue Kugel einlegen, doch in diesem Augenblick kam Olaf Kleiber über die Straße. Er trug einen großen Pappteller mit mehreren Schinkenknackern und einem großen Klecks Mostrich. Genau wie Wolfi war er wieder einmal angetrunken. »Verpflegung …« verkündete er mit etwas schwerer Zunge. Wolfi legte die Zwille beiseite. »Na, det is' doch ma' wat. Is' det wat, mein Sohn?« Der Junge zog die Schultern hoch. »Mamma kommt gleich von der Arbeit. Die hat vorjekocht.« Sein Vater winkte verächtlich ab. »Bis det fertig is' …« Er nahm eine Wurst und gab sie Achim. Dann machten sich Olaf und er über das Essen her. Doch während er noch kaute, wurde Wolfis Blick plötzlich starr. Murad Beidoun kam die Straße entlang und ging auf den ›Sozialbunker‹ zu. »Wen ha'm wa denn da mal wieder …« murmelte Wolfi. Auch Olaf hatte den jungen Türken entdeckt. Er drückte seinem Freund den Pappteller mit den restlichen Würsten in die Hand und bückte sich nach der Zwille. »Jetzt kriegt er eene uffjebrannt.« Wolfi lachte. Doch plötzlich trat ein verschlagenes Funkeln in seine Augen. »Nee, lass. Det heben wa uns uff. Ick weeß erst noch wat änderet. Mitkomm'.« Mit schnellen Schritten ging er Murad entgegen, dicht gefolgt von Olaf. Achim trottete zögernd hinterdrein. Oben auf dem Balkon ihrer Wohnung war Aische aufgetaucht. Sie wusste, dass ihr Mann um diese Zeit heimkommen musste, und wartete auf ihn. »Juten Abend, Herr Kanake«, sagte Wolfi mit übertriebener Höflichkeit und blieb vor Murad stehen. »Kleener Imbiss jefällig?« Auffordernd hielt er ihm den Teller mit den Würsten hin. 91
Falls der junge Türke Angst hatte, so zeigte er sie jedenfalls nicht. Er erwiderte nur: »Danke. Sehr freundlich. Aber essen wir kein Schweinefleisch.« Es war genau die Antwort, die Wolfi Hellriegel erwartet hatte. Seine Brauen schoben sich zusammen. »Ach! Kiek ma' an. Der Herr Kanake will unsere Schinkenknacker nich' essen. Zu fein, ja? Wat soll denn det heißen? Fressen wir Scheiße, ja?« Er drückte seinem Sohn, der inzwischen ebenfalls herangekommen war, den Pappteller in die Hand. »Det woll'n wa doch ma' seh'n. Reich dem Herrn ma' 'ne Wurst, Achim.« Der Kleine ging schüchtern auf Murad zu und hielt den Pappteller hoch. Murad bückte sich und ergriff Achim leicht bei den Armen, um ihn ein wenig zurückzuschieben. Er lächelte das Kind an. »Danke. Wirklich nicht.« In diesem Moment brüllte Wolfi los: »Det Schwein hat mein' Jungen anjefaßt! Haste det jeseh'n, Olaf? Der fasst mein' Jungen an!« Eifrig griff Olaf das Stichwort auf. »Jetzt biste fällig, Kanake!« Murad hörte, wie seine Frau vom Balkon aus angstvoll seinen Namen rief. Er wich zurück, während Olaf in Angriffsstellung ging und Wolfi blitzschnell sein Klappmesser hervorzog. Drohend ging er auf den Türken zu. »Dir stech' ick ab, du Kinderschänder, du Türkenarschficker, du!« Murads erster Impuls war, zum Haus zu rennen. Aber Olaf versperrte ihm den Weg. Also warf der junge Türke sich herum und flüchtete in Richtung der Stra3e, während er Aische oben auf dem Balkon zurief: »Hol das große Messer aus der Küche.« Aische verschwand in der Wohnung, während Murad einen Bogen schlug, an Wolfi, der nicht ganz sicher auf den Beinen war, vorbeikam und die Straße hinunterrannte. Wolfi und Olaf brachen in grölendes Gelächter aus. Aber dann sagte Olaf plötzlich beunruhigt: »Weeßte, wat ick gloobe? Der holt die Bullen. Der rennt zu 'ner Telefonzelle und ruft die Bullen an.« »Meinste?« Wolfi klappte sein Messer zusammen und steckte es hastig in die Tasche. »Denn ma' hinterher!« Eine Straße weiter hatte Murad Beidoun tatsächlich eine Telefonzelle 92
erreicht. Er wählte Dr. Brockmanns Nummer und wartete schwer atmend darauf, dass sich jemand meldete. Gabi nahm den Anruf entgegen. Erschrocken hörte sie, was der junge Türke berichtete. »Bitte … den Doktor …« bat er keuchend. »Aber der Dokter is' nich' hier … Da müssen Se …« Was sie sonst noch sagte, hörte Murad nicht mehr. Wolfi und Olaf hatten die Telefonzelle erreicht und wollten die Tür aufreißen. Unter Aufbietung all seiner Kräfte hielt Murad sie zu, während Gabi in der Praxis aufgeregt zu Schwester Erika sagte: »Einer von unser'n Patienten, 'n Türke. Den bedroh'n se mit'm Messer. Und Peter … der hat da zu tun.« Schwester Erika wurde blass. »Na los! Worauf warteste! Ruf die Polizei an.« »Mach du det«, sagte Gabi entschlossen, während sie sich eilig den weißen Kittel herunterriss und hinter dem Tresen hervorkam. »Wo willste denn hin?« fragte Erika. Gabi war schon an der Tür. »Peter abfangen, wenn er nich' schon da is'!« Inzwischen hatte Murad Beidoun, ohne den Telefonhörer wieder aufzuhängen, die Zellentür aufgestoßen. Durch den plötzlichen Ruck verloren Wolfi und Olaf, die immer noch von draußen am Griff zerrten, das Gleichgewicht und fielen hin. Verzweifelt hetzte Murad die Straße entlang, in der Hoffnung, seine Wohnung zu erreichen. Einige Neugierige, die das Intermezzo an der Telefonzelle beobachtet hatten, blickten dem Flüchtenden nach, und ein Passant, der die Situation gründlich missdeutete, hielt Murad fest. »Ick hab' ihn!« rief er Olaf und Wolfi zu, die sich aufgerappelt hatten und drohend näher kamen. Es gelang Murad, sich loszureißen und weiterzurennen. Aber diesmal blieben ihm Wolfi und Olaf auf den Fersen. Keuchend erreichte Murad den Vorplatz vor seinem Haus. Aische stand wieder auf dem Balkon. »Wirf das Messer runter!« schrie ihr der verzweifelte Mann zu. Sie zögerte nur einen Moment. Dann fiel das große Küchenmesser, das sie vorhin aus der Wohnung geholt hatte, 93
auf den Boden. Murad hechtete darauf zu, ergriff es und stellte sich seinen beiden Verfolgern. Weder sie noch Murad sahen, dass gerade Dr. Brockmann mit Frau Hellriegel aus dem Haus kam. »Det Schwein hat'n Messer!« rief Olaf atemlos. Wolfi zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Seine Stimme war leise und kalt, während er sein Messer hervorzog und es aufklappen ließ. »Na, denn ha'm wa 'n ja endlich so weit. So, mein Junge, nu' kannste nach Allah rufen – jetzt hat er dir bald bei sich …« Langsam und geduckt ging er auf Murad zu, der vor ihm zurückwich, während er das Küchenmesser fest umklammert hielt. Auf der Straße liefen ein paar Leute zusammen, und Frau Hellriegel, die plötzlich ihren Mann entdeckte, schrie auf. »Wolfi!« Sie wollte zu ihm hin, doch in diesem Moment nahm Hellriegel einen letzten Anlauf und stürzte auf Murad zu. Der Türke streckte sein Messer aus. Kurz vor ihm stolperte Wolfi plötzlich und fiel genau in Murads Messer. Er sackte nach vorn, die Hände auf den Bauch gepresst, und brach zusammen. Wie gelähmt starrte Murad auf das blutige Messer in seiner Hand, dann auf den Mann, der sich stöhnend am Boden wälzte. »Det musste ja mal so kommen … det musste ja mal so kommen …« wimmerte Ulla Hellriegel und kauerte sich neben ihren Mann auf den Boden. Er zuckte noch ein paarmal und lag dann still. Dr. Brockmann drehte ihn auf den Rücken und untersuchte die heftig blutende Wunde in Wolfis Unterbauch. Er riss seine Arzttasche auf und holte gleichzeitig seine Autoschlüssel aus der Manteltasche, die er Frau Hellriegel in die Hand drückte. »Renn' Se zu mei'm Wagen. Da vorne, der Silbergraue. Im Kofferraum is 'n schwarzer Lederbeutel. Bringen Se den her.« Dann befahl er einem der Umstehenden. »Rettungswagen anrufen. Und die Polizei!« Der Mann rannte davon. Es passierte Dr. Brockmann nicht zum ersten Mal, dass er in solch einem Fall Erste Hilfe leisten musste. Er arbeitete ruhig und geschickt, schnitt Wolfis Kleider auf und legte die Einstichstelle frei. Sie blutete immer noch stark. Aus seiner Arzttasche holte Peter Brockmann 94
eine Mullpackung, riss die Umhüllung ab und presste den Mull auf die Wunde. Als Frau Hellriegel mit dem Lederbeutel aus seinem Wagen zurückkam, winkte Peter einen Passanten heran. »Halten Se den Mull. Fest andrücken.« Brockmann zog ein Infusionsbesteck aus dem Beutel und schob die Kanüle in Wolfis Armvene. Dann schloss er eine Plastikflasche mit Kochsalzlösung an und hielt sie an dem langen Schlauch hoch. Als Gabi Köhler sich durch die Umstehenden drängte, schien Peter absolut nicht erstaunt über ihr plötzliches Auftauchen zu sein. Er drückte ihr ganz selbstverständlich die Flasche mit der Infusion in die Hand. »Halten«, sagte er knapp und löste dann den Passanten ab, der die Mullkompresse auf Wolfis Bauch drückte. Aus der Ferne hörte man das rasch näher kommende Geheul eines Notarztwagens und der Feuerwehr. Murad Beidoun kauerte in einiger Entfernung auf der Erde, völlig reglos, das Messer vor sich. Aische, die längst aus dem Haus gekommen war, stand wie erstarrt neben ihm. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Ulla Hellriegel hatte ihren Sohn, der verzweifelt schluchzte, an sich gepresst. Ihr Blick traf sich mit dem der jungen Türkin. Mit einer hilflosen Geste zog Aische die Schultern hoch. »Sie könn'n doch nischt dafür«, sagte Frau Hellriegel. »Woll'n Se Ihr'n Mann nich' nach oben bringen?« Aische nickte, beugte sich zu Murad hinunter und berührte ihn sanft an der Schulter. In diesem Moment stoppte der Notarztwagen auf der Straße, und das Notarztteam kam eilig herbeigerannt. Dr. Peter Brockmann hob den Kopf, und jetzt erst nahm er Gabi bewusst wahr, die neben ihm stand und die Infusionsflasche hielt. »Wo kommst du denn so plötzlich her?« fragte er verwundert. Ihr Lächeln verrutschte ein bisschen. »Jeflogen«, sagte sie. »Wie sich det für'n Schutzengel jehört.« 95
Iris Pauli betrachtete Peter mit leichter Sorge. Es war Abend, sie hatten ein Glas Wein miteinander getrunken, und er hatte ihr erzählt, was passiert war. Aber erleichtert hatte ihn das offenbar nicht. Er saß auf dem Sofa, starrte vor sich hin, und sein Gesicht wirkte müde und bedrückt. »Vielleicht hält' ick da früher hinjeh'n müssen«, murmelte er nach einem langen Schweigen. Iris legte ihm die Hand auf den Arm. »Peter, wir haben jetzt über eine Stunde über diese traurige Geschichte geredet. Du hättest nicht früher hingehen können – und ich werde den Jungen vor Gericht vertreten, wenn er das will. Der andere lebt, das ist erst mal die Hauptsache. Aber können wir jetzt mal einen Moment über uns reden?« Peter Brockmann nickte, und ein kleines Lächeln erhellte sein erschöpftes Gesicht. »Jedenfalls bin ick froh, dass ick jetzt hier bin und mich bei dir ausquatschen kann.« »Das könntest du doch immer haben …« sagte sie weich. Er lehnte sich zurück. »Ja, vielleicht. Lach mich jetzt nich' aus. Aber ick habe in der letzten Zeit manchmal daran jedacht, wie das wär', wenn wir zusammenwohnen würden. Ick meine – denn könnteste mich nich' mehr rausschmeißen.« Misstrauisch runzelte Iris die Brauen. »Hast du mit Kathrin gesprochen?« Er sah sie erstaunt an. »Mit Kathrin? Nee, warum?« Sie stand auf. »Ach, nichts. War nur so eine Frage.« Mit einem Lächeln kam sie um den Tisch herum und setzte sich neben Peter. Zärtlich lehnte sie sich an ihn. »Und das würdest du machen? Mit mir zusammenziehen?« Wieder nickte er. »Ja. Es jibt da seit Jahren 'ne Baugenehmigung. Wir könnten mein Gärtnerhäuschen draußen erweitern …« Prompt rückte Iris von ihm ab. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich in deine Holzbude ziehen würde?« »Holzbude!« widersprach er gekränkt. »Das is' 'n richtiges Haus!« Iris winkte ab. »Wenn, dann würdest du hierher zu mir ziehen.« »Hier is' doch gar kein Platz für zwei«, meinte Peter abwehrend und 96
warf einen Blick in die Runde, als handele es sich bei Iris' großzügigem Appartement um eine Hundehütte. Sie blickte ihn kampflustig an. »Wenn du nicht so einen schweren Tag hinter dir hättest, würdest du schon wieder rausfliegen.« Dann lachte sie und legte die Arme um seinen Hals. Und Peter Brockmann zog sie mit einem erleichterten Seufzer an sich.
Schuldgefühle
E
s ließ sich nicht bestreiten, dass Iris Pauli ein sehr elegantes, großzügiges Badezimmer hatte. Aber es war eben ›ihr‹ Badezimmer. Jedenfalls empfand Dr. Brockmann es so, als er am Morgen geduscht hatte und sich anschließend rasieren wollte. Suchend blickte er sich nach seinem Rasierzeug um, konnte es aber zwischen all den Flaschen mit Parfüms und Eaux de Toilette und den vielen Cremedöschen nicht entdecken. Peter überlegte, ob er in dem großen verspiegelten Hängeschrank nachsehen sollte, unterließ es dann aber. Obwohl er nicht zum ersten Mal bei Iris übernachtete, kam er sich immer noch wie zu Besuch vor. »Iris!« rief Dr. Brockmann, und die junge Anwältin betrat in einem sehr eleganten Morgenmantel den Raum. »Ja?« Sie entdeckte die beträchtliche Wasserlache auf dem Kachelboden und meinte: »Oh, der Nil ist über die Ufer getreten.« Peter, der für die Überschwemmung verantwortlich war, fühlte sich schuldbewusst. »Ach so, ja. Ick muss mich erst an diese Dusche jewöhnen. Ick wisch' det gleich weg.« »Das brauchst du nicht. Meine Raumpflegerin kommt nachher.« Iris betrachtete ihn mit schief geneigtem Kopf. »Aber du würdest mir 97
wirklich einen großen Gefallen tun, wenn ich dir einen anderen Bademantel besorgen dürfte.« Brockmann sah an sich hinunter. »Wieso? Was is' mit dem Mantel?« Sie lachte. »Er ist scheußlich.« Verständnislos betrachtete sich Peter im Spiegel. Zugegeben, der Mantel war nicht gerade superelegant, und er hatte auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, aber Dr. Brockmann hing daran. »Du meinst, er is' nich' sehr modisch. Hier sieht mich doch keener.« »Doch, ich«, sagte Iris mit liebevollem Spott. Er räusperte sich. »Ach so, ja. Ick wollte dich fragen, wo meine Utensilien sind. Rasierzeug und so …« Sie öffnete den Hängeschrank. Verblüfft blickte Peter auf die Fülle von Kosmetika, die in den Regalen stand, Tiegel, Töpfchen, Tuben und Flaschen. Im untersten Regal hatte Iris Platz für Peters Toilettensachen geschaffen. »Ich hab' dir hier was freigeräumt.« Er deutete auf die Kosmetika. »Benutzt du das alles?« fragte er ungläubig. »Natürlich. Du tust so, als ob du zum ersten Mal in diesem Bad bist. Ist was nicht in Ordnung?« Er nickte. »Doch, doch … Jetzt, wo ick weiß, wo mein Eckchen is' …« Es klang etwas sarkastisch. Iris blickte ihn an. »Du fühlst dich nicht wohl bei mir?« erkundigte sie sich geradeheraus, wie es ihre Art war. Er bestritt es. Schließlich hätten sie beschlossen, das Zusammenleben mal auszuprobieren – und nun sollte es auch dabei bleiben. Eine kleine Falte erschien zwischen Iris' Brauen. »Klingt mehr nach Pflicht als nach Kür …« Sie frühstückten gemeinsam. Iris hatte den Tisch liebevoll gedeckt, und Peter lobte sie dafür. Trotzdem hatte er keine rechte Ruhe und schielte zwischendurch immer mal wieder auf seine Armbanduhr – unauffällig, wie er meinte. Aber Iris bemerkte es natürlich. Später in der Diele, als sie sich voneinander verabschiedeten, sagte sie: »Ich hab' heute vormittag auf dem Gericht zu tun. Wie ich das überblicke, bin ich mittags fertig. Wollen wir bei dir in der Nähe irgendwo essen?« 98
Er stimmte sofort zu. »Find' ick 'ne sehr jute Idee. Aber ruf auf alle Fälle noch mal an.« Stirnrunzelnd betrachtete er sich im Garderobenspiegel und strich mit der Hand ein paarmal leicht über sein Jackett. »Muss wohl auch weg …« »Was?« fragte Iris. »Die Jacke. Is' unjefähr so alt wie der Bademantel.« Iris musterte das gute Stück und nickte. »Eigentlich ja.« Er hatte gehofft, dass sie nein sagen würde, und brummte: »Wenn ick jewußt hätte, dass ick mich passend zu deiner Wohnung neu einkleiden muss …« Sie umarmte ihn lachend. »Tschüss, du wandelnde Altkleidersammlung.« Kurz vor acht war er in der Praxis, im Gegensatz zu früher, wo er meist schon eine halbe Stunde vorher eingetrudelt war. Und Gabi Köhler hatte kurz vor seinem Eintreffen gewitzelt: »Seit unser Chef bei Frau Pauli logiert, is' er nich' mehr überpünktlich, sondern bloß noch pünktlich.« Aber dann war er da, durchquerte mit seinem üblichen schwungvollen »Juten Morjen allerseits« die Anmeldung, verschwand in seinem Sprechzimmer, und gleich darauf rief Gabi den ersten Patienten herein. An diesem Morgen war es in der Praxis etwas ruhiger als sonst. Es gab gerade mal keine Erkältungs- oder Grippewelle, und das Wetter war so, dass sich auch die Beschwerden von Dr. Brockmanns Herzund Kreislaufpatienten offenbar in Grenzen hielten. Als Gabi im Lauf des Vormittags mit ein paar Papieren ins Sprechzimmer kam, hörte sie Peter durch die offene Schiebetür im Behandlungszimmer mit einer Patientin reden. Frau Rust hatte offenbar häusliche Probleme, denn sie jammerte: »Wenn der Junge raus wäre – und ick mit mei'm Mann alleene in der Wohnung, denn wär' das … wie soll ick sagen? Zu zweit lebt sich's eben besser in so 'ner kleinen Wohnung.« Darauf erwiderte Dr. Brockmann etwas, was Gabi aufhorchen ließ. Er sagte nämlich: »Ach, wissen Se, manchmal is' auch 'ne große Wohnung zu klein für zwei Menschen.« 99
Er verabschiedete die Patientin und kam in sein Sprechzimmer zurück, um sich die Hände zu waschen. Gabi war an seinem Schreibtisch stehengeblieben. »Vielleicht is' Iris' Wohnung ja auch zu klein«, sagte sie scheinbar beiläufig. Peter wandte sich erstaunt nach ihr um. »Wie kommst du jetzt auf Iris' Wohnung?« »Entschuldige«, murmelte sie. »Das jeht mich ja nu' wirklich nischt an. Vergiss es.« Aber da sie natürlich zu gern der Sache auf den Grund gegangen wäre, fügte sie nach einer Pause hinzu: »Ick dachte nur – du hast eben der Frau Rust jesagt, dass auch 'ne große Wohnung für zwei Leute zu klein sein kann. Und da dachte ick … vielleicht rebelliert dein Unterbewusstsein gegen Iris' Wohnung.« Dr. Brockmann trocknete sich die Hände ab, hängte das Handtuch weg und grinste. »Mensch, wenn du in der Nähe bist, muss man sich jeden Satz wirklich dreimal überlegen.« »Et stimmt also!« schoss Gabi triumphierend ab. Er ging zu seinem Schreibtisch. »Nein … ja. Das heißt, es hat weniger was mit der Größe zu tun, als dass es eben nich' meine Wohnung is'. Is' alles sehr harmonisch sonst.« Sie tat so, als müsse sie ein paar Sachen auf seinem Schreibtisch ordnen. »Warum nehmt ihr euch keine wirklich große Wohnung? Oder'n Haus, wo jeder seine eigene Abteilung hat?« »Weil davon nie die Rede war«, antwortete er überrascht. »Weil …« Lässig fiel sie ihm ins Wort: »Was ihr jetzt treibt, is' jedenfalls 'n Witz. Und die Pointe kann ick dir auch schon sagen: Katastrophe.« »Danke für den Zuspruch«, erwiderte Dr. Brockmann trocken. Eine knappe Stunde später war das Wartezimmer leer. Dr. Brockmann blickte auf die freien Stühle und meinte: »So 'n leeres Wartezimmer hat wat Bedrückendes.« »Existenzangst?« erkundigte sich Gabi, die noch hinter ihrem Tresen saß. Sie hob einen Packen Patientenblätter hoch. »Unbegründet. Die sind alle für heute Nachmittag anjemeldet. Aber wo wir so schön pünktlich fertig sind, könnten wir vielleicht zusammen zu Mittag essen …« 100
»Nee, du, ick …« Das Summen des Telefons unterbrach ihn. Gabi hob ab. »Praxis Dr. Brockmann … Tag, Iris. Nee, Sie stör'n nich'. Er steht janz dicht vor mir.« Luder, dachte Dr. Brockmann, als er ihr Grinsen sah, und nahm den Hörer. Gabi hörte, wie er sich mit Iris in einem Lokal an der Ecke verabredete, und meinte ein bisschen schnippisch, als er aufgelegt hatte: »Entschuldige meinen Vorschlag.« »Wieso?« antwortete Peter. »War' ja möglich jewesen.« »Du isst mittags im Restaurant?« erkundigte sie sich und gab sich mit einem bedeutungsvollen Nicken gleich selbst die Antwort. »Klar. Neutrales Terrain. Da seid ihr beide zu Gast.« Peter schüttelte den Kopf wie über ein ungezogenes Kind. »Wenn du nicht aufhörst zu sticheln, erzähl' ick dir überhaupt nischt mehr.« Er fing ihren Blick auf und setzte hinzu: »Das kannste dir auch sparen.« »Ick habe nischt jesagt!« protestierte Gabi scheinheilig. »Nee. Aber du kiekst unverschämt!« Peter wandte sich ab und betrachtete den Blumenstrauß, der auf dem Tresen stand. »Hübsch …« »Den hat Frau Kühn heute Morjen für dich gebracht«, erklärte Gabi. »Weil du sie zum HNO-Arzt überwiesen hast. Damit hättest du ihr, wo se doch Diabetikerin is', beinahe das Leben jerettet. Sie hatte eine Otitis. Soll ick dir ausdrücklich sagen, damit du beim nächsten Mal weißt, was das is'.« Dr. Brockmann musste lachen. »Et kommt noch der Tag, an dem ick meinen Krankenschein bei den Patienten abjeben muss.«
Susanne Dahlberg war mehr als nur ein hübsches Mädchen. Sie war eine Schönheit, und nicht einmal der bittere Zug um ihren Mund vermochte ihre Ausstrahlung zu beeinträchtigen. Als Thomas mit einem Tablett das große, etwas düster wirkende Wohnzimmer ihrer gemeinsamen Wohnung betrat, runzelte sie ungeduldig die Brauen. »Warum dauert das denn so lange?« Ihre Frage und mehr noch der Ton, in dem sie gestellt war, reizten 101
ihn. »Verdammt noch mal, weil …« Er blickte auf Susanne hinunter, die am Tisch saß, und versuchte ein Lächeln. »Entschuldige, die Milchtüte war mir aus dem Kühlschrank gefallen, und ich musste das erst wegwischen. Okay?« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Mit einer fast unmerklichen Bewegung wich sie zurück. »Okay, tut mir leid.« Zusammen mit Thomas stellte sie Kaffee, Brot, Aufschnitt und Marmelade auf den Tisch. »Nun setz dich doch endlich hin. Wenn wir so lange trödeln, müssen wir wieder ewig warten. Du kennst doch die Behörden.« »Sie lassen uns bestimmt vor«, meinte Thomas begütigend. Er wollte das leere Tablett vom Tisch nehmen, aber Susanne zog es zu sich herüber und stellte es neben ihren Stuhl. »Bestimmt!« erwiderte sie sarkastisch. Thomas' gutgeschnittenes Gesicht wurde plötzlich starr. Er richtete sich auf und versuchte zwei- dreimal tief durchzuatmen. Es gelang ihm nicht. Ihm war, als presse ihm jemand die Luft ab. Susanne hatte es beobachtet und fragte leichthin: »Wann gehst du endlich zum Arzt?« Er antwortete nicht, sondern rang immer noch nach Atem, und nun empfand sie doch Besorgnis. »Thomas, was ist denn?« Der Druck löste sich. Er holte tief Luft, und es gelang ihm zu lächeln. »Schon in Ordnung. Das kommt eben manchmal.« Als das Telefon läutete, stand er rasch auf und ging quer durch das große Zimmer darauf zu. »Susanne Dahlberg und Thomas Speidel«, meldete er sich. »Ja, Augenblick.« Er griff nach dem Apparat und wollte ihn an den Frühstückstisch tragen. »Es ist Reni.« Susanne hielt ihn zurück. Ihre eben noch weiche Stimme klang scharf. »Lass das Telefon, wo es ist!« Thomas gehorchte resigniert. »Reni?« sagte er in den Hörer. »Sie kommt.« Susanne Dahlberg griff die Räder ihres Rollstuhls und setzte ihn in Bewegung. Geschickt lenkte sie ihn zum Telefon. »Ja?« fragte sie, nach102
dem sie den Hörer aufgenommen hatte. Ihr Mund verzog sich. »Es geht mir fabelhaft.« Thomas war an den Tisch zurückgekehrt und hatte sich wieder gesetzt. Mit einer verzweifelten Gebärde senkte er den Kopf. Der Weg zum Versorgungsamt, wo Susanne wegen ihres Behindertenantrags vorsprechen musste, war nicht allzu weit. Thomas fuhr sie im Rollstuhl hin. Überraschenderweise mussten sie wirklich nicht allzu lange warten, und als sie wieder auf der Straße waren, fragte Thomas: »Wohin?« Susannes Lippen wurden schmal. »Nach Hause!« Etliche Passanten warfen dem gutaussehenden jungen Mann, der den Rollstuhl schob, und dem bildschönen Mädchen darin neugierige oder auch mitleidige Blicke zu. Thomas kannte das. Gewöhnt hatte er sich nicht daran. Und Susanne wohl ebenfalls nicht, auch wenn sie keine Bemerkung darüber machte. Wie fast immer, wenn sie unterwegs waren, blickte sie starr geradeaus. Aber auf der Potsdamer Straße, als sie an einem Geschäft vorüberkamen, in dessen Schaufenstern jugendliche, farbenfrohe Kleidung ausgestellt war, sagte Susanne plötzlich: »Halt!« Überrascht blieb Thomas stehen. »Was ist?« Sie deutete auf das Modegeschäft. »Ich möchte da hin.« Und als er nicht sofort reagierte, griff sie mit einem unwilligen Kopfschütteln in den Handkranz der Rollstuhlräder, versetzte ihnen einen heftigen Schwung, so dass der Haltegriff Thomas' Händen entglitt, und fuhr selbst auf eines der Schaufenster zu. Thomas kam ihr nach. »Ich dachte, du wolltest so schnell wie möglich wieder nach Hause …« »Und nun hab' ich's mir anders überlegt. Müssen wir über jede Bewegung diskutieren, die ich allein machen will?« »Nein. Ich meinte ja nur …« Sie wandte sich nicht zu ihm um. »Ich möchte mir gerne ansehen, was ich tragen würde, wenn ich nicht hier drin sitzen müsste.« Und da war er wieder, der Druck auf Thomas' Brust, der ihm das Atmen schwer machte. Aber Susanne merkte nicht, wie er um Luft 103
kämpfte, weil sie die Kleider und Röcke im Schaufenster betrachtete. Und als sie nach einer Weile sagte: »Okay, fahren wir heim«, war der kurze Anfall vorüber. An der Ecke Bülowbogen begegneten sie Dr. Brockmann. Er wollte gerade auf das Lokal zusteuern, vor dessen Tür Iris bereits auf ihn wartete. Als sie ihn kommen sah, ging sie ihm entgegen und hakte sich bei ihm unter. Peter Brockmann kannte Susanne und Thomas und blieb bei ihnen stehen. »Tag, Frau Dahlberg. Tag, Herr Speidel.« Er warf den beiden jungen Leuten einen freundlichen Blick zu. »Wie geht's Ihnen?« Susannes heiteres Lächeln sollte ihre Bitterkeit kaschieren. »Wie's 'nem Krüppel so geht. Und einem, der den Krüppel schieben muss.« »Wir müssen eben mit der Situation fertig werden«, sagte Thomas schnell. »Und es geht auch schon ganz gut.« »Er lügt.« Susanne blickte Peter Brockmann an, der nicht recht wusste, was er erwidern sollte. Um die kleine peinliche Pause zu überbrücken, machte er Susanne und Thomas mit Iris bekannt. Die beiden Frauen nickten einander zu, und Thomas verneigte sich leicht. »Ja«, sagte Susanne dann, »wir gehen ein bisschen spazieren. Natürlich würden wir das lieber im Wald machen. Aber die U-Bahn-Stationen hier in der Nähe haben alle keinen Fahrstuhl, und wenn man den ›Krüppelbus‹ … Verzeihung, den Behindertenbus mal bekommt, regnet's meistens. Aber vielleicht kriegt unser Meisterfahrer hier ja irgendwann seinen Führerschein zurück. Dann kann er mich ins Grüne karren.« Dr. Brockmann warf Thomas einen betroffenen Blick zu und gewahrte, wie der junge Mann sich vergeblich bemühte, tief durchzuatmen. »Is' Ihnen nich' gut, Herr Speidel?« »Doch, doch«, presste Thomas hervor. Aber Susanne schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat Atembeschwerden. Ich sage ihm seit Wochen, dass er mal zu Ihnen kommen soll. Aber er meint wahrscheinlich, ein Invalide im Haushalt reicht.« Endlich bekam Thomas wieder Luft. »Jetzt hör doch mal auf, Susanne«, bat er leise, und sie lächelte ironisch. 104
»Er mag die Wahrheit nicht.« Brockmann wandte sich an sie. »Was sagen denn Ihre Ärzte?« Sie hob die Schultern. »Die sagen wenig und verstecken ihre ratlosen Gesichter. Das heißt: Prognose aussichtslos.« Thomas widersprach. »Das stimmt nicht. Sie machen bloß nicht viel Hoffnung.« Wieder erschien die steile Falte auf Susannes Stirn. »Ich möchte jetzt weiter. Wir halten Sie sowieso nur auf, Herr Doktor.« Peter Brockmann schüttelte den Kopf, doch sie sagte freundlich aber entschieden: »Auf Wiedersehen.« Dabei lag wieder dieses scheinbar heitere Lächeln auf ihrem Gesicht, das jedoch nicht den Ausdruck ihrer Augen übertünchen konnte. Dann drehte sie den Kopf zu Thomas. »Schiebst du jetzt, oder …« Bevor er reagieren konnte, hatte sie wieder selbst in den Handkranz der Rollstuhlräder gegriffen und fuhr an. Thomas folgte ihr nach einem hastig gemurmelten Abschiedsgruß. Brockmann und Iris sahen den beiden ein paar Sekunden nach. Dann betraten sie das Restaurant. Es war recht gemütlich eingerichtet mit holzgetäfelten Wänden und Blumen auf dem Tisch. Iris und Peter setzten sich in eine Nische. Der Ober brachte die Speisekarten und nahm dann die Bestellung entgegen. Orangensaft und Hühnerfrikassee für Iris, ein Mineralwasser und Sauerbraten mit Klößen für Peter Brockmann. Als die Getränke gebracht worden waren, erkundigte sich Iris nach Susanne Dahlberg. Die Begegnung, so kurz sie gewesen war, ging ihr nach. Dr. Brockmann blickte Nachdenklich auf die Tischdecke. »Ja, die Susanne Dahlberg und der Thomas Speidel, die galten als so 'ne Art Traumpaar. Sie is' Drogistin und er Ingenieur. Wollten gerade heiraten, als dieser Unfall passierte. Auf der Autobahn.« »Seitdem ist sie gelähmt?« fragte Iris, und er nickte. »Saß er am Steuer?« Wieder nickte er, und Iris meinte: »Das erklärt ja ein bisschen ihr nicht gerade verbindliches Verhalten ihm gegenüber.« »Er wird's nich' mit Absicht jemacht haben«, brummte Peter. 105
Iris trank einen Schluck Saft. »Und es ist wirklich aussichtslos? Ihr Zustand wird so bleiben?« Er zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nich' – aber nach der Diagnose sieht's so aus.« »Und wovon leben die beiden, wenn er sich auch tagsüber um sie kümmert?« wollte die praktische Iris wissen. Erneutes Schulterzucken. »Vielleicht vom Sozialamt. Vielleicht arbeitet der Junge halbtags … Ick weiß es wirklich nich'. Seit dem Unfall sind sie nich' mehr bei mir jewesen. Ick habe mal anjerufen und mich erkundigt, aber ick hatte das Jefühl, dass sie in Ruhe jelassen werden wollten. Sie igeln sich ein. Das is' nich' jut.« Peter seufzte. »Dabei – was war das für eine lebenslustige Person, die Susanne. Nich' bloß hübsch, sondern auch intelligent, witzig …« »Und das kommt bei Frauen ja bekanntlich höchst selten vor«, sagte Iris mit einem kleinen Lächeln. »Entschuldige, das war als Überleitung gedacht.« Er blickte sie fragend an. »Überleitung? Wozu?« Sie antwortete nicht sofort, sondern musste sich erst einen Ruck geben. »Ich habe dich eine Zeitlang in meiner Wohnung beobachtet, und du kannst sagen, was du willst – du wirst dich bei mir nie zu Hause fühlen.« Während sie sprach, hatte sie den Aktenkoffer hochgenommen, den sie mitgebracht hatte. Sie öffnete ihn und holte eine Klarsichthülle mit einigen Papieren heraus. »Was is' das?« fragte Peter. »Ich war bei einem Makler. Das hier sind Angebote für große Wohnungen und Häuser. Weißt du, ich dachte mir, am besten Überfall' ich dich damit. Wenn wir erst lange reden, geschieht wieder nichts.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über Dr. Brockmanns Gesicht. Er dachte an Gabi und was sie heute in der Praxis zu ihm gesagt hatte. War wirklich ein kluges Kind, die Gabi, und offenbar hatte sie so eine Art sechsten Sinn. »Das heißt«, sagte Peter zögernd, »du würdest also mit mir …« »Unter ein Dach ziehen, ja«, vollendete Iris. Sie blätterte in ihren Unterlagen und zog dann einen Bogen aus der Hülle, den sie vor Peter 106
auf den Tisch legte. »Zehlendorf. Im Grünen. Für mich ein bisschen weit. Für dich als einziges Gewässer die Badewanne. Aber Kompromisse muss man eben schließen …« Brockmann hatte das Angebot flüchtig überflogen. »Achthundertfünfzigtausend Mark!« sagte er Stirnrunzelnd. Iris lachte. »Ein vielbeschäftigter Arzt und eine gut verdienende Anwältin, – die Banken werden die Arme so weit öffnen, dass sie sich die Schultergelenke auskugeln.« »Das gäbe dann wieder 'n Patienten mehr«, versetzte er trocken. Iris nahm die Papiere an sich und legte sie in den Koffer zurück. »Wir müssen das nicht jetzt entscheiden. Lass uns heute Abend in Ruhe darüber sprechen.« Der Ober kam, servierte das Essen und wünschte einen guten Appetit. »Danke«, erwiderte Peter mechanisch. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Er dachte an die Havel, den Wannsee, seine einsamen Ruderpartien am Morgen, wenn der Tag noch frisch und still war, oder des Abends, wenn er da draußen spürte, wie die Last eines langen Arbeitstages von ihm abfiel. All die großen und kleinen Sorgen, die ihm täglich zugetragen wurden und die er oft genug zu seinen eigenen machte … Das alles aufgeben? Peter Brockmann seufzte unterdrückt und warf Iris einen raschen Blick zu. »Was ick sagen wollte – wegen heute Abend: Ick komme 'ne Idee später, weil ick … weil ick da 'n Buch brauche, und das liegt draußen auf Schwanenwerder …« Sie nickte und lächelte. »Guten Appetit.« »Glaubste nich'?« fragte er prompt. »Doch«, beteuerte sie. »Was is' es denn für 'n Buch?« Und als er nicht sofort antwortete, fügte sie mit einem vergnügt boshaften Funkeln in den Augen hinzu: »Du wirst schon eines finden.« »Guten Appetit«, sagte Peter Brockmann gekränkt, weil sie ihn wieder einmal durchschaut hatte.
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Trotzdem suchte er am Abend in seinem Gartenhäuschen ein Buch heraus, das er pflichtschuldigst in Iris' Wohnung mitnehmen wollte. Dann nahm er seinen Sommermantel vom Stuhl und ließ noch einmal einen wehmütigen Abschiedsblick über seine heißgeliebte Höhle gleiten. Mit einem Seufzer griff er nach der Türklinke, als jemand von draußen klopfte. Es war Anna Maerker, die erschrocken zusammenzuckte, weil ihr so prompt auf ihr Klopfen hin geöffnet wurde. »Sieht so aus, als ob du gerade gehen wolltest …« Peter trat einen Schritt zurück und deutete mit einer einladenden Geste in das Innere des Raumes. »Ich bin nur auf 'n Sprung hier. Komm trotzdem rein.« »Ich mach's kurz«, versprach Anna, während er die Tür hinter ihr schloss. »Ich habe mit Sonja gesprochen. Es ist so, wie wir vermutet haben. Sonja und Rudi wissen, dass eine … Beziehung zwischen Kurt und Rudi’s Mutter bestanden hat.« »Mhm …« machte Dr. Brockmann nachdenklich, und Anna setzte hinzu: »Aber Rudi möchte es nicht wahrhaben. Es sieht so aus, als ob es ihm peinlich ist. Der Familie gegenüber …« Er schüttelte leicht den Kopf. »Es is' ihm peinlich, dass seine Mutter 'n Verhältnis mit deinem Mann hatte?« »Ja, offenbar«, gestand Anna. »Es sieht so aus, als ob Rudi nicht möchte, dass über die ganze Angelegenheit überhaupt noch einmal gesprochen wird.« »Und woher wissen sie es? Hat seine Mutter es Rudi erzählt?« »Nein«, sagte die alte Dame. »Es gibt da Briefe. Briefe, die Kurt an Frau Lehmann geschrieben hat. Persönliche Briefe …« Sie stockte. Ihr Gesicht überzog sich mit leiser Verlegenheit. »Liebesbriefe – was weiß ich!« »Und steht da irgendwas drin über Rudi?« forschte Peter. »Dass er Kurts Sohn is'?« Seine Schwiegermutter hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Jedenfalls hat Sonja das nicht angesprochen. Ich hätte sie natürlich direkt fragen können …« »Aber du hast es nich' jetan, weil Rudi von der ganzen Sache nischt 108
mehr hören will«, vollendete Peter Brockmann. Er sah ihr die Unruhe und Unsicherheit an, mit der sie sich nun schon seit so vielen Wochen herumplagte, und wollte ihr etwas Beruhigendes sagen. »Na ja, vielleicht is' es besser so – für alle.« Anna Maerker nickte erleichtert. Aber Peter Brockmann hatte erhebliche Zweifel, dass die Sache damit ausgestanden war. Er hatte Bernd Saalbach und dessen merkwürdig verändertes Wesen in der letzten Zeit nicht vergessen. Bernd wusste etwas. Und selbst wenn Rudi die ganze Angelegenheit nicht weiter verfolgte – Saalbach würde keine Ruhe geben. Nur – was bezweckte er damit? Dr. Brockmann hätte die Antwort auf diese Frage erfahren, wenn er an diesem Abend ein Gespräch zwischen Bernd Saalbach und Herrn Kolbe mitgehört hätte. Es hatte lange nach dem offiziellen Dienstschluss in Saalbachs Büro stattgefunden. Der ehrgeizige Prokurist der Maerker AG hatte dem verblüfften Kolbe – natürlich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit – anvertraut, dass Rudi Lehmann ein unehelicher Sohn des verstorbenen Konsuls Kurt Maerker war. »Dann wäre er … dann wäre er ja der Halbbruder von Dr. Georg Maerker«, hatte Kolbe fassungslos erwidert. Saalbach hatte triumphierend genickt. »Er ist es. Und der Halbbruder meiner Frau und der von Frau Lore Brockmann.« »Das ist … allerdings eine Überraschung!« Otto Kolbe war noch immer wie vor den Kopf geschlagen gewesen, und Saalbach war zu seinem Schreibtisch gegangen. »Das ist nicht nur eine Überraschung – das hat auch Konsequenzen.« Er hatte Kolbe einige Passagen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch vorgelesen, die die Änderung des Erbrechts von unehelichen Kindern beinhalteten. »Das Maerkersche Erbe muss neu verteilt werden«, hatte er gesagt. »Rudi muss seinen Aktienanteil bekommen. Und da er von der Firma nichts versteht, werde ich ihm anbieten, sein Stimmrecht zu verwalten. Zusammen mit dem Stimmrecht meiner Frau ergibt das eine ganz, ganz satte Sperrminorität.« 109
Kolbe hatte begriffen. »Dann könnten Sie ja endlich …« »Ja, kann ich!« hatte Bernd Saalbach ihn unterbrochen, und Kolbe hatte beflissen gemeint, dass er ihm unter diesen Umständen nur gratulieren könnte. Saalbach hatte abgewinkt. »Noch nicht, Herr Kolbe. Noch fehlt mir ein juristisch hieb- und stichfester Beweis. Aber ich werde ihn finden. Verlassen Sie sich darauf.«
Thomas Speidel machte Spätdienst in einer Tankstelle. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, Geld zu verdienen und gleichzeitig tagsüber Susanne versorgen zu können. An diesem Abend, während Thomas hinter der Kasse saß, kam eine auffallend hübsche junge Frau, um ihre Tankrechnung per Euroscheck zu begleichen. Während sie ihm den ausgefüllten Scheck zusammen mit ihrer Scheckkarte gab, fiel Thomas' Blick durch die großen Glasfenster nach draußen. Er sah den Wagen der hübschen Kundin und dachte unwillkürlich: Sieht fast genauso aus wie mein Wagen. Vielmehr, wie er ausgesehen hat, bevor … »Ist was nicht in Ordnung?« fragte die Kundin, die Thomas' Geistesabwesenheit bemerkt hatte. »Doch, doch«, erwiderte er rasch und gab der jungen Frau die Scheckkarte zurück. »Ja, gute Nacht dann«, sagte sie und ging zur Tür. Sie hatte es offenbar eilig, denn Thomas sah, wie sie immer Schneller auf ihr Auto zulief. Er starrte auf ihre Beine, und das Bild verwischte sich, machte einem anderen aus seiner Erinnerung Platz: Susanne, wie sie an einem hellen Sommertag lachend auf seinen Wagen zugerannt war, der auf einem Parkplatz am Waldrand stand. Sie war so schnell gewesen, dass Thomas sie kaum hatte einholen können. »Du bist eine lahme Ente!« hatte sie ihn geneckt. »Erpel«, hatte er sie verbessert. »Männliche Enten heißen Erpel.« 110
Sie hatte ihre Wange an seine geschmiegt. »Weißt du, dass Entenpaare ihr ganzes Leben lang zusammenbleiben?« »Ich dachte Schwäne …« hatte er erwidert. »Enten auch.« Ihr Gesicht war ganz nah vor seinem gewesen. »Glaubst du, dass Enten heiraten?« Er hatte gelacht. »Bestimmt. Wozu gäb's sonst Sumpfhühner.« Und auf ihren fragenden Blick hin hatte er erklärt: »Das sind die Pfarrer. Schwarz mit weißem Kragen. Die halten die Trauung. Steht in jedem Biologiebuch.« Susannes Lächeln war ganz weich und zärtlich geworden. »Wann treten wir vor's Sumpfhuhn?« Er hatte ihr Gesicht zwischen seine Hände genommen. Und bei jedem Wort hatte er ihr einen Kuss gegeben. »Wann – du – willst.« Thomas starrte immer noch durch die Glasscheibe der Tankstelle. Die Kundin mit dem Wagen, der wie seiner aussah, war abgefahren. Und Susannes glückliches Gesicht von jenem Nachmittag, an dem sie beschlossen hatten, zu heiraten, verschwamm. Statt dessen tauchte ein anderes Bild auf: Lichter von Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen, die die Dunkelheit gespenstisch erhellten. An der Leitplanke der zertrümmerte Wagen. Und Susanne, die auf einer Trage lag. Er, Thomas, hockte daneben, nahm keinen Blick von ihrem geisterhaft blassen Gesicht. Irgendjemand fragte ihn: »Haben Sie Alkohol zu sich genommen, Herr Speidel?« Es war ein Polizist. Bevor Thomas antworten konnte, sagte Susanne schnell: »Nein.« Thomas stand auf. »Ich … ich habe …« Die beiden Sanitäter, die Susanne auf der Trage festgeschnallt hatten, hoben sie an, trugen sie zu einem Rettungswagen. »Augenblick!« rief Thomas dem Polizisten zu und lief neben Susanne her. »Hast du Schmerzen?« fragte er. Ihre Stimme war sehr leise. »Nein. Ich … fühle gar nichts mehr. Meine Beine sind ganz … taub.« Sie lächelte verzerrt. »Vielleicht sind sie gar nicht mehr da …« »Doch, doch, doch!« sagte Thomas erstickt. Er hatte getrunken gehabt an jenem Abend. Nicht viel, nur ein oder 111
zwei Gläser Bier. War deshalb der Unfall geschehen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es seine Schuld war, wenn Susanne jetzt in einem Rollstuhl saß. Damit musste er leben. Und mit diesen Erinnerungsbildern, die ihn immer wieder heimsuchten. Thomas fuhr sich über das Gesicht, als müsse er Spinnweben fortwischen. Dann griff er zum Telefon neben der Kasse in der Tankstelle und wählte die Nummer seiner Wohnung. Susanne Dahlberg war mit ihrem Rollstuhl ins Schlafzimmer gefahren. Dort lenkte sie ihn so, dass er parallel zu der großen Schrankwand stand, in der ihre Sachen hingen, und öffnete eine der Türen. Sie griff in den Schrank und zog hinter ihren Kleidern zwei Krücken hervor, die sie quer über die Armlehnen ihres Rollstuhls legte. Dann fuhr sie damit ins Wohnzimmer zurück. Es war nicht das erste Mal, dass sie das machte, wenn sie abends allein war. Thomas wusste nichts davon. Susanne stellte die Krücken auf den Boden, und dann stemmte sie sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte aus dem Rollstuhl hoch. Sie hing mehr, als dass sie stand, zwischen den Krücken. Aber sie versuchte, zitternd vor Anstrengung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie schaffte es. Es ging unendlich mühsam, aber es gelang ihr, ein paar Schritte vorwärts zu tun. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Susanne zuckte zusammen. Sie warf einen Blick zum Rollstuhl zurück, der beim Esstisch stand. Der Weg dorthin war weiter als die Entfernung zum Telefon. So schnell es ihr möglich war, bewegte sich Susanne mit ihren Krücken auf den Apparat zu, erreichte ihn, ließ sich keuchend in den Stuhl daneben fallen und lehnte die Krücken gegen ihre Oberschenkel. Sie zwang ihren Atem zur Ruhe und hob ab. »Susanne Dahlberg.« »Gott sei Dank!« hörte sie Thomas' Stimme. »Ich hab' schon eine Ewigkeit durch klingeln lassen. Wo steckst du denn bloß?« »Ich … ich war in der Küche. Das dauert eben 'n bisschen. Willst du mir Vorwürfe machen, weil ich nicht schnell genug am Telefon war?« 112
»Natürlich nicht«, lenkte er sofort ein. »Ich hab' mir bloß Sorgen gemacht, weil's so lange gedauert hat.« »Und warum rufst du an?« fragte sie. »Is' was?« »Nein, nichts Besonderes. Ich hab' gerade an dich gedacht, und da habe ich …« »Du brauchst nicht jedesmal, wenn du an mich denkst, anzurufen«, unterbrach sie ihn. »Tu ich auch nicht. Sonst würde bei dir pausenlos das Telefon klingeln.« Sie lächelte. »Wirklich?« Im selben Moment rutschte eine der Krücken von Susannes Oberschenkel und fiel polternd zu Boden. Sie starrte entsetzt darauf, während sie mit der freien Hand nach der anderen Krücke fasste und sie ängstlich umklammerte. Thomas hatte das Poltern durchs Telefon gehört. »Was war das?« fragte er besorgt. »Ist dir was runtergefallen?« »Nein«, sagte sie. »Nichts.« »Hat sich aber so angehört.« »Ich sag's dir doch!« beteuerte sie, immer noch voller Panik auf die am Boden liegende Krücke starrend. »Wenn du 'n Geräusch gehört hast, dann war das vielleicht bei dir …« Seine Stimme wurde weich. »Ich hab' dich lieb, Susanne. Also bis nachher.« Susanne legte auf und schloss einen Moment erschöpft die Augen. Die Krücke, dachte sie. Wie krieg' ich die wieder hoch? Sie versuchte, sich danach zu bücken, gab es aber sofort wieder auf, um nicht zu riskieren, dabei vom Stuhl zu fallen und dann gar nicht mehr auf die Beine zu kommen. Statt dessen nahm sie die ihr verbliebene Krücke und drehte die Oberarmstütze nach unten. Dann probierte Susanne langsam und vorsichtig, die U-förmige Stütze unter die hingefallene Krücke zu schieben und sie auf diese Weise Stück für Stück zu sich hinauszuziehen. Als sie sie mit den Fingern erreichen konnte, packte Susanne die Krücke und lehnte sich mit einem tiefen, zitternden Seufzer zurück. Sie hatte es geschafft! 113
Mit beiden Krücken konnte sie wieder zu ihrem Rollstuhl gelangen und ins Schlafzimmer fahren, um die Krücken hinter ihren Kleidern zu verstecken. Und Thomas würde ihr Geheimnis nicht erfahren.
Dr. Brockmann nahm die Oliven seines Stethoskops aus den Ohren und richtete sich auf. »Sie können sich wieder anziehen«, sagte er zu Thomas Speidel, der mit nacktem Oberkörper auf der Liege im Behandlungszimmer saß. Peter setzte sich ihm gegenüber auf einen Hocker, während der junge Mann sein Oberhemd überstreifte. »Tja, also … ich kann nichts finden, Herr Speidel. Und so, wie Sie Ihre Beschwerden beschreiben, möchte ich sagen: Sie haben eine vegetative Störung.« Thomas blickte ihn aufmerksam an. »Und was heißt das? Was kann man dagegen machen?« Dr. Brockmann stand auf. »Die Ursache beheben. Ihre jetzige Tätigkeit als Tankwart im Spätdienst – strengt die Sie sehr an? Oder is' da sehr viel zu tun? Kommen Sie häufig in Stresssituationen?« Thomas knöpfte sein Hemd zu. »Nein, eigentlich sitz' ich da nur an der Kasse … 'n Ölwechsel is' manchmal zu machen, aber spätabends is' das selten.« »Und warum arbeiten Sie nich' in Ihrem Beruf als Ingenieur?« Thomas blickte den Arzt offen an. »Ich hab' das versucht nach dem Unfall. Ich hab' versucht, bei meiner Firma halbtags zu arbeiten, aber das ging nicht. Und 'ne andere Halbtagsstelle in meinem Fachbereich hab' ich auch nicht gefunden.« »Braucht die Susanne Sie denn tagsüber unbedingt?« fragte Brockmann nachdenklich. »Ick hatte den Eindruck, dass sie mit dem Rollstuhl ganz gut allein zurechtkommt.« Thomas blickte vor sich hin auf den Boden. Seine Stimme klang gepresst. »Ich möchte das so. Ich bin schließlich daran Schuld, dass sie …« 114
»Wirft Ihnen Susanne das vor?« hakte Peter Brockmann nach. »Nein. Jedenfalls nicht direkt …« Der junge Mann überlegte. »Es sind eigentlich keine Vorwürfe. Ich – Verstehen Sie – ich versuche zu spüren, was Susanne möchte, ohne dass sie das extra sagen muss. Meist gelingt mir das auch. Aber nicht immer – oder ich missversteh' was. Und dann wird sie ungeduldig. Manchmal ist etwas in einer Situation eine Hilfe für sie – und dann wieder empfindet sie diese Hilfe in genau der gleichen Situation plötzlich als Kränkung, sogar als Zumutung. Und dann kann sie sehr ungerecht werden. Ihr Charakter hat sich irgendwie verändert. Versteh'n Sie? Sie ist bitter geworden, sarkastisch …« Dr. Brockmann nickte. »Gehn' wir doch noch 'n Moment nach nebenan«, schlug er vor und öffnete die Schiebetür zu seinem Sprechzimmer. Er bot Thomas Platz in der Sitzecke an und ließ ihn reden. Peter spürte, wie gut es dem jungen Mann tat, sich einmal auszusprechen. Viel zu lange hatte er sich schon mit seinen Problemen allein herumschlagen müssen. So etwas verkraftete auf die Dauer kein Mensch. »Ich würde Susanne sofort heiraten, immer noch«, sagte Thomas und verbesserte sich sofort: »Was heißt – immer noch! Jetzt erst recht.« »Und die Susanne will nich'?« Thomas nickte. »Sie sagt, im Augenblick, solange ich dieses Schuldgefühl ihr gegenüber habe, glaubt sie mir das. Aber eines Tages würde ich mich doch in eine gesunde Frau verlieben. Sie sagt, sie kann mir nicht ein Leben lang einen Krüppel zumuten …« Er brach ab und versuchte, tief Atem zu holen. Es gelang ihm nicht. »Da is' es wieder«, murmelte er. »Haben Sie denn diese Schuldgefühle?« erkundigte sich Dr. Brockmann ruhig. »Ja. Die hab' ich.« Allmählich bekam Thomas wieder besser Luft und entspannte sich. »Ich hatte auf dieser Familienfeier eben doch zwei Bier getrunken. Vielleicht war ich müde … Ich weiß gar nicht mehr, wie es passiert ist. Auf einmal war ich mit dem Wagen auf der Leitplanke …« 115
»Macht Susanne denn Gehübungen? Tut sie irgend etwas für ihre Rehabilitation?« Thomas schüttelte den Kopf. »Das lehnt sie ab. Sie möchte sich lieber mit dem Rollstuhl abfinden, als lächerliche Gehversuche zu unternehmen, sagt sie. Sie war schon immer eine Perfektionistin. Was sie angepackt hat, musste tadellos sein, auch beruflich. Susanne hat nie Entwicklungen gezeigt, immer nur Ergebnisse. Und auch die nur, wenn sie erstklassig waren.« Dr. Brockmann nickte, stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er stellte Thomas ein Rezept aus. »Ich schreibe Ihnen ein homöopathisches Mittel auf. Tropfen. Die nehmen Sie bitte so, wie's auf dem Beipackzettel steht.« Er blickte zu Thomas hinüber, der sich gleichfalls erhoben hatte. »Das, was Sie mir erzählt haben, erklärt Ihre Beschwerden mehr als genug. Diese Tropfen – können – helfen. Aber wichtiger is', dass Sie aus Ihrem psychischen Stress herauskommen. Versuchen Sie, Susanne zu 'ner Gymnastik zu überreden, trotz ihrer Ablehnung.« Seine Stimme wurde eindringlich, während er Thomas das Rezept gab. »Und Ihre Schuldgefühle, die nützen niemandem. Ihnen nich' – und ihr nich'. Versuchen Sie, dass Susanne das akzeptiert.« »Danke, Herr Doktor«, sagte Thomas Speidel mit leiser Stimme.
Den Samstag verbrachte Dr. Brockmann damit, sich gemeinsam mit Iris Häuser anzusehen. Sieben an der Zahl standen auf dem Programm, und es waren sieben Pleiten. Das, was Brockmann gefiel, gefiel Iris nicht – und umgekehrt. Entweder waren die angebotenen Objekte zu klein oder zu groß, zu teuer oder zu verwahrlost, und Iris meinte nach der siebenten Besichtigung: »Mehr verkrafte ich heute nicht. Weißt du was? Wir gehen jetzt zu dir und machen uns 'n gemütlichen Abend.« Peter strahlte sie an. »Zu mir? Du kommst mit zu mir?« »Ja, warum nicht«, erwiderte sie lachend und hakte sich bei ihm unter. 116
Aber ein gemütlicher Abend sollte es leider nicht werden. Im Gegenteil … In der Motzstraße 96 saß Thomas Speidel um diese Zeit in seiner und Susannes gemeinsamer Wohnung vor dem Fernseher. Es lief eine Sportsendung – Bodenturnen für Frauen. Thomas fühlte sich besser, seit er beim Arzt gewesen war. Die Atembeschwerden waren nahezu verschwunden. Ob das an den Tropfen liegt, die Dr. Brockmann mir verschrieben hat? fragte sich der junge Mann. Kann sein … Aber vielleicht hat er mir auch nur geholfen, indem er mir zuhörte … Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil Susanne plötzlich mit ihrem Rollstuhl in der Tür erschien. Sie blickte auf den Fernseher, und alles in ihr verkrampfte sich. »Ein fabelhaft aufmunterndes Programm für Krüppel!« »Entschuldige.« Thomas stand sofort auf und schaltete den Apparat aus. »Es tut mir leid.« Susanne reagierte nicht, sondern drehte sich mit ihrem Rollstuhl einmal auf der Stelle, indem sie nur ein Rad bewegte. Das andere, das auf einem Teppichläufer stand, hielt sie fest. Durch die Drehung wurde der leichte Teppich zusammengeschoben, worauf weder Susanne noch Thomas achteten. »Ich habe gesagt, es tut mir leid«, wiederholte er etwas lauter. Er merkte, wie ihm plötzlich wieder die Luft knapp wurde, und versuchte durchzuatmen. Als Susanne immer noch nicht auf seine Entschuldigung einging, verlor er die Nerven. Er schrie plötzlich: »Ich habe gesagt, es tut mir leid!« Susanne erschrak ein wenig. »Ja, ja«, sagte sie betont ruhig. »Ist in Ordnung. Du brauchst nicht zu schrei'n. Ich möchte bloß keine Sportsendungen sehen. Vielleicht kannst du dich daran halten.« Normalerweise wäre Thomas jetzt still gewesen, hätte wieder einmal zurückgesteckt. Aber plötzlich konnte er es nicht mehr. Zu vieles hatte sich in ihm angestaut, das jetzt zur Entladung drängte. »Was darf ich denn überhaupt noch?« fragte er in hilflosem Zorn. »Darf ich mir überhaupt noch was anseh'n, wo sich Menschen bewe117
gen? Am besten seh' ich mir bloß noch Nachrichten an – und Diskussionsrunden, wo sie sitzen. Ich werd' mal ans Fernsehen schreiben: Sie sollen endlich mal 'n Programm machen, in dem nur Rollstuhlfahrer vorkommen.« Susanne begriff seine lange angewachsene, tiefsitzende Verzweiflung nicht. Sie hörte nur, was er sagte, und bedachte nicht, warum. Dazu war sie viel zu sehr in ihre eigene Verbitterung verstrickt. »Ja, ja, siehst du! Ich wusste, dass es eines Tages so kommen würde!« stieß sie heftig hervor. »Jetzt hast du den Krüppel satt!« »Und sag nicht immer Krüppel!« schrie Thomas außer sich. »Ich kann das Wort nicht mehr hören!« »Aber ich bin ein Krüppel!« schrie Susanne ebenso laut zurück, während ihr die Tränen kamen. »Weil du nichts tust.« Thomas war blass, und seine Augen flackerten. Er wollte nicht mehr schreien. Aber je länger er sprach, desto lauter wurde seine Stimme wieder, laut, unbeherrscht und verzweifelt. »Weil du nicht mal den Versuch machst, an deinem Zustand was zu ändern. Weil du ohne jede Initiative in deinem verdammten Stuhl rumhockst. Weil du nicht mal den Hauch einer Bemühung um eine Krankengymnastik machst. Weil du alles ablehnst, was deine Situation verbessern könnte. Unsere Situation! Und weil du es geradezu genießt, Tag für Tag für Tag vorzuführen, was ich dir angetan habe!« Susanne starrte ihn an. Sie dachte an die Gehübungen, die sie machte, sobald sie allein war, diese qualvollen, armseligen Bemühungen, die ihr den Schweiß aus allen Poren trieben und die so erbärmlich aussahen. Thomas hatte recht mit dem, was er Dr. Brockmann gesagt hatte. Sie war eine Perfektionistin. Sie liebte alles, was perfekt war. Und nun hing sie, ein armseliges Bündel Fleisch und Knochen, zwischen zwei Krücken und schleppte sich Schritt für Schritt vorwärts, immer wieder, jeden Tag. Es war besser geworden, das wusste sie. Sie machte Fortschritte. Und wenn eine Krankengymnastin sie dabei gesehen hätte, hätte sie vermutlich mit ihrem professionellen Optimismus gesagt: »Toll machen Sie das, wirklich!« 118
Aber es war nicht toll. Es war erbärmlich, fand Susanne. Sie bedachte nicht, dass Thomas keine Ahnung von ihren heimlichen Aktivitäten hatte. Sie sah ihn nur an, wie er da stand mit gesunden Gliedern, der Mann, den sie hatte heiraten wollen und der ihr plötzlich wie ein Feind erschien. Sie schrie nicht zurück. Sie sagte nur tief verletzt: »Ich möchte zu Reni. Ich möchte zu meiner Freundin. Ich möchte zu einem Menschen, der wenigstens einen Funken Verständnis für mich hat.« Mit einer wilden Bewegung fuhr Thomas zum Telefon herum und nahm es hoch. »Ja! Hier! Ruf sie an! Sag Reni, was für ein Scheusal ich bin!« Er riss an der langen Telefonschnur, schlang sie um die Hand und wollte den Apparat zu Susanne bringen. Dabei stolperte er über den von ihrem Rollstuhl zusammengeschobenen Läufer. Vergeblich versuchte Thomas, sich abzufangen. Er stürzte nach vorn, und die Telefonschnur straffte sich. Im Fallen riss Thomas sie aus der Wand. Er schlug mit der Stirn auf die scharfe Kante des Couchtischs, warf sich in einer instinktiven Abwehrbewegung herum und fiel schwer zu Boden. Das Telefon war seiner Hand entglitten. Aus einer Platzwunde auf Thomas' Stirn sickerte Blut. »Thomas …« sagte Susanne erstickt. Und dann lauter: »Thomas!« Er antwortete nicht. Er hatte das Bewusstsein verloren. Susanne fuhr zu ihm, versuchte, sich nach unten zu beugen, schaffte es aber nicht und stieß ihn statt dessen behutsam mit der Fußhalterung des Rollstuhls an. »Thomas, sag doch was!« Mit wachsendem Entsetzen starrte sie auf ihn hinunter, dann auf die herausgerissene Telefonschnur. Wie sollte sie jetzt Hilfe holen? So schnell sie konnte, fuhr sie zu dem Platz, an dem das Telefon gestanden hatte, griff sich das Telefonverzeichnis, das dort lag, und blätterte es mit zitternden Fingern auf. »Brockmann … Brockmann …« murmelte sie. Sie fand die Nummer des Arztes, legte das Verzeichnis auf ihren Schoß und fuhr damit in den Hausflur. Draußen lenkte sie den Rollstuhl so, dass sie die Klingel an der gegenüberliegenden Wohnungstür erreichen konnte. Sie läutete Sturm, 119
und als niemand die Tür öffnete, hämmerte sie mit beiden Fäusten gegen das Holz. Vergeblich. Ihre Nachbarn waren offenbar nicht zu Hause. Susanne wollte schreien. »Hilfe … Hilfe!« Aber sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Verzweifelt sah sie sich um. Es war noch nicht allzu spät, die Haustür stand offen. Und direkt davor, nur ein paar Schritte entfernt, befand sich die Telefonzelle. Ein paar Schritte nur. Ein … paar … Schritte …
Iris und Dr. Brockmann hatten auf der Fahrt nach Schwanenwerder Pizzas besorgt. Sie dufteten verführerisch, als Peter sie in seinem Gartenhäuschen auspackte und auf zwei Teller gab. Dann holte er Rotwein und entkorkte die Flasche. Als er gerade einschenken wollte, klingelte das Telefon. Peter hielt in seiner Tätigkeit inne. Iris, die schon am Tisch saß, seufzte. Er stellte die Flasche ab und ging an den Apparat, während Iris den Wein in die Gläser goss. »Frau Dahlberg«, sagte Peter überrascht. »Was kann ich für Sie tun?« Er winkte ungeduldig ab, als Iris fragte: »Soll ich dir dein Glas bringen?« Mit wachsender Beunruhigung hörte er zu, was Susanne ihm berichtete. »Wo ist er?« fragte er dann. Susanne sprach von der Telefonzelle vor ihrem Haus aus. Sie saß auf der Hängevorrichtung für die Telefonbücher. Die Krücken hatte sie gegen eine Wand gelehnt. Auf ihrem Schoß lagen ihr Portemonnaie und das Telefonverzeichnis, das sie aus der Wohnung mitgenommen hatte. »Im Wohnzimmer«, antwortete sie. »Er ist ohnmächtig … oder tot. Er blutet auf der Stirn.« Ihre Stimme flatterte. »Bleiben Sie jetzt ganz ruhig, Susanne«, sagte Dr. Brockmann. »Bleiben Sie bei ihm und rufen Sie den Rettungswagen. Hundertzwölf …« »Das kann ich nicht. Ich hab' kein Kleingeld mehr.« Voller Panik 120
schüttelte Susanne ihr Portemonnaie. »Ich hätte das als Erstes machen müssen, ich weiß, aber ich bin vollkommen … ich …« Ihre Worte erstickten. »Wo sind Sie denn?« fragte Brockmann überrascht. Seine Augen weiteten sich, als er ihre Antwort hörte. »Wo? In der Telefonzelle vor dem Haus? Und wie sind Sie da hingekommen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Susanne kaum hörbar. »Ich glaube, gelaufen …« Dann fing sie an zu weinen. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Susanne«, sagte Dr. Brockmann so ruhig wie möglich. »Ick ruf den Rettungswagen – und ick komme. Bis gleich.« Er drückte die Telefongabel hinunter und wählte sofort. »Ich muss noch mal kurz weg«, sagte er dabei zu Iris. Dann lauschte er. »Mann, sitzen die auf der Leitung?« Als sich immer noch niemand meldete, drückte er kurz entschlossen Iris den Hörer in die Hand. »Hier. Bestell den Rettungswagen in die Motzstraße 96. Ick bin gleich wieder da.« Mit geradezu halsbrecherischer Geschwindigkeit fuhr er zu Susannes und Thomas' Wohnung. Es war ein Wunder, dass ihn keine Polizeistreife stoppte und ihm ein saftiges Strafmandat aufbrummte. Offenbar hatte auch Iris Schwierigkeiten, den Rettungsdienst zu verständigen, denn Dr. Brockmann traf als erster in der Motzstraße ein. Die Telefonzelle war leer, die Haustür stand offen. Susanne saß im Wohnzimmer im Rollstuhl. Thomas war bei ihr. Er hatte ein großes Pflaster auf der Stirn und sah blass, aber irgendwie sehr glücklich aus. Die Krücken lehnten am Tisch. Thomas war, während Susanne telefonierte, schon wieder zu sich gekommen. Er hatte ihr Verschwinden entdeckt und sie überall gesucht. Dann war er nach draußen auf die Straße gerannt. »Sie hat in der Telefonzelle gehockt«, sagte er leise und immer noch vollkommen überwältigt. Dr. Brockmann wandte sich an die junge Frau, die stumm da saß und auf ihre Hände blickte. »Wie fühlen Sie sich?« Sie blickte hoch und lächelte matt. »Gut, gut …« Thomas deutete auf die beiden Krücken, die am Tisch lehnten. »Susanne übt schon seit ein paar Wochen laufen. Sie hat mir nichts davon 121
gesagt. Sie …« Er stockte, weil ihm die Tränen kamen. »Sie wollte es mir erst zeigen, wenn sie es … richtig kann …« Dr. Brockmann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was ist mit Ihrer Verletzung?« Thomas schluckte. »Das is' nichts. Bloß 'ne kleine Schramme.« »Darf ich mal sehen?« fragte Peter und löste behutsam das Pflaster. Er betrachtete die von geronnenem Blut verklebte Verletzung. »Das is' 'ne Platzwunde. Muss genäht werden.« Er deutete zum Fenster, durch das man plötzlich ein zuckendes Blaulicht sah. Ein Wagen stoppte vor dem Haus. »Der Rettungswagen. Der wird Sie gleich zur Unfallstation bringen.« Susanne sah Thomas an. »Es tut mir leid … Es war meine Schuld.« Er schüttelte stumm den Kopf. Liebe und grenzenlose Erleichterung lagen in seinen Augen. Als Dr. Brockmann in sein Gartenhaus zurückkam, saß Iris mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch und las in einem Buch. Unwillkürlich blickte sie auf die Uhr. Dann lächelte sie. »Du brauchst nichts zu sagen.« »Möcht' ick aber vielleicht …«, erwiderte Dr. Brockmann und stellte seine Arzttasche ab. Immer noch lächelnd tippte Iris auf das Buch. »Ich habe mich inzwischen weitergebildet.« »Was?« fragte er zerstreut, mit seinen Gedanken immer noch bei Susanne und Thomas. »Ich habe ein bisschen in deinem Buch geblättert.« »In welchem Buch?« Iris hob es hoch. »Na, in diesem hier. Das dir so wichtig war, dass du vorgestern extra noch mal hierher fahren musstest, um es zu holen. Ich hab's dir wieder mitgebracht.« Sie las den Titel vor. »Auch im Schatten kann es blühen. Kleine Anleitung für sonnenarme Gärten.« »Ach, das …« Mit einem ziemlich schlechten Gewissen sah Peter sie an. »Iris …« Sie nickte. »Ja. Iris ist sehr genügsam und gedeiht auch bei wenig Pflege.« 122
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Zuneigung betrachtete er sie. Dann kam er zu ihr und umarmte sie fest.
Vollmachten
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infried Lemberg, genannt Winne, war Zeit seines Lebens von denen gehänselt worden, die größer, kräftiger, gesünder waren als er. Das war als Kind so gewesen, und als er erwachsen wurde, hatte sich daran auch nichts geändert. Winne hatte darunter gelitten. Er hatte sich Freunde gewünscht und nach Anerkennung gelechzt. Und jetzt, mit über fünfunddreißig, hatte er auf einmal beides. Es war phantastisch, fand er, und er genoss es jeden Tag neu. Schade war nur, dass seine Frau so gar kein Verständnis dafür hatte. Traude mochte Winnes Freunde nicht, und sie lamentierte bei jeder Gelegenheit darüber, dass er seine Zeit lieber mit ihnen als zu Hause verbrachte. Sollte sie! Das war Traudes Problem! Winne hörte, wie seine Frau staubsaugte, und zog in der Diele seine schwarze Lederjacke über. Er fand sie todschick, auch wenn sie ihm mindestens zwei Nummern zu groß war. Aber so trug man das heute eben. Vorsichtig spähte Winne ins Wohnzimmer, wo Traude in ihrer geblümten Kittelschürze mit dem Staubsauger herumfuhrwerkte, und überlegte, ob er sich ohne Abschied verdrücken sollte. Aber in diesem Augenblick entdeckte sie ihn und schaltete den Motor aus. »Ick jeh' denn mal …« sagte Winne vage. Sie richtete sich auf. »So. Du jehst denn mal. Wohin jehste denn mal?« Er zuckte mit den mageren Schultern. »Na, wohin schon? Bei meine Freunde …« 123
Traude Lemberg schnaubte verächtlich. »Freunde! Und wat machste bei den'n?« »Na, Sachen besprechen …« »Und saufen. Um de Mittagszeit schon saufen! Wat änderet könn' die doch jar nich'!« Er versuchte, autoritär zu wirken. »Du, ick lass mir meine Freunde nich' beleid'jen. Die Jungs sind in Ordnung.« Traude zog ihn am Jackenärmel ins Zimmer. Sie war eigentlich eine nette, verträgliche Frau, kein Typ, der ständig herummeckerte. Aber das, was Winne in der letzten Zeit trieb, war einfach zu viel. »Mensch, Winne, kommste dir denn jar nich' albern vor? Du als erwachsener Mann zwischen diese halbe Kinder?« Sein Blick wurde störrisch. »Da sind manche fast so alt wie icke. Und so alt bin ick außerdem ooch nich' …« »Nee«, sagte sie bissig. »Wenn de dir unter dieser blöden Jacke noch 'ne Strampelhose anziehst, kannste als Säugling jeh'n.« Er bewegte unbehaglich die Schultern. »Wat soll denn det? Wat willst du eijentlich?« »Dich wieder auf 'n Teppich hol'n, Winne. Dich weghol'n von diese Truppe.« Winne Lemberg betrachtete ihr rundes, nicht unhübsches Gesicht. »Nu' hör ma' jut zu, Traude: Ick habe zum ersten Mal in mein' Leben echte Freunde. Welche, die mir ernst nehm' und nich' hänseln – und det lass ick mir nich' vermiesen. Nich' von dir!« Die Diskussion wurde durch Marthe, die neunjährige Tochter der Lembergs, unterbrochen. Sie kam aus der Schule und hielt eine Tüte mit Fotos in der Hand. »Tach, Mamma, Tach Pappa!« rief sie und schwenkte die Tüte. »Ick hab' die Fotos vom Ferienlager. Wülste ma' seh'n Pappa? Sind fast alle jeworden.« Winne lächelte seine Tochter liebevoll an. Er hing an seiner Kleinen; trotzdem war es ihm jetzt wichtiger, zu seinen Kumpels zu kommen. »So? Na prima, Süße. Später, ja? Ick muss jetzt ma' eilig weg.« Ein bisschen schuldbewusst gab er ihr einen Kuss und murmelte in Traudes Richtung: »Tschüss denn …« 124
»Nimm Marthe doch mit. Altersmäßig passte se da ja hin«, erwiderte seine Frau und sah ihm Stirnrunzelnd nach, wie er sich hastig zur Tür hinaus drückte. Marthe hatte ihren Ranzen in die Ecke gestellt. »Wat is' denn, Mamma?« fragte sie, und ihre Mutter wandte sich um. »Ach, nischt.« Sie zog das Kind zum Sofa und setzte sich, um die Fotos zu betrachten. »Mensch, da war ja wirklich ville Wald – und so schön jrün …« »Aber der stirbt trotzdem, der Wald, sagt der Förster«, erklärte Marthe wichtig.
Winne hatte unterdessen eine Taxe herangewinkt und ließ sich zu dem Hinterhof bringen, wo seine Freunde ihren Treff hatten. Es war ein alter Schuppen, über dessen Tür die Aufschrift prangte: The Berlin Angels. Davor waren mehrere schwere Motorräder aufgebockt. Ein junger Mann in Lederkleidung saß auf einer Maschine. Ein Mädchen im Jeansanzug unterhielt sich mit ihm, als Winnes Taxi in den Hof fuhr. Unterwegs hatte er noch einmal halten lassen und einen Karton mit sechs Champagnerflaschen besorgt. »Hey, Petsy … Tach, Olaf!« rief Winne zu den beiden hinüber, während der Taxifahrer den Karton aus dem Kofferraum holte. Stolz deutete Winne darauf. »Stoff! Sag schon ma' Bescheid.« »Na, bravo!« rief Olaf und bedeutete Petsy mit einer Kopfbewegung, die Neuigkeit den anderen mitzuteilen. Winne holte ein Bündel Geldscheine aus der Jackentasche und drückte dem Taxifahrer einen Zwanziger in die Hand. »Stimmt so.« Dann griff er nach dem Karton mit dem Champagner. Olaf stieg vom Motorrad und nahm ihn ihm ab. »Unser Winne!« meldete er lautstark, als er den Schuppen betrat. Winne folgte ihm mit einem stolzen Lächeln und versuchte dabei, den wiegenden Gang eines Westernhelden nachzuahmen, was ihm nur unvollkommen gelang. 125
Drinnen empfing ihn Rockmusik. Die Fenster des Schuppens waren verdunkelt, ein paar bunte Lampen verbreiteten schummriges Licht. Die Wände waren mit Rockpostern und einer amerikanischen Südstaatenflagge geschmückt. Es gab ein paar Tische mit Sitzgelegenheiten, Matratzen auf dem Boden und an einer Wand eine Bar. Winne wurde mit lautem Händeklatschen von den anwesenden Jugendlichen begrüßt, während Olaf den Champagnerkarton hochhielt. »Bißken Brause für uns alle«, sagte Winne betont lässig, um zu verbergen, wie gut ihm der Applaus tat. Mario, mit seinen fünfundzwanzig Jahren der älteste der Jugendlichen, die sich hier regelmäßig trafen, ein hübscher, glatter, cleverer Typ, stand aus seinem Sessel auf und legte dem Ankömmling den Arm um die Schultern. »Für unseren Winne ein Zicke-zacke-zicke-zacke …« »Hei, hei, hei!« schrien die anderen. Außer Petsy. Sie lehnte an der Bar und beobachtete die Szene. »Wat haste denn?« fragte ein anderes Mädchen. »Haste wat jején Winne, unser'n jroßen Gönner?« Petsy schüttelte unmerklich den Kopf. Sie sprach leise, damit es die anderen nicht hörten. »Nee, hab' ick nich', Mone. Aber leid tut er mir.« Olaf hatte inzwischen die erste Flasche Champagner aus dem Karton geholt. Der Korken knallte, was die anderen wieder veranlasste, johlend zu applaudieren. »Gläser!« Mario kam an die Bar und warf Petsy einen auffordernden Blick zu. Sie ging hinter den Tresen und holte Biergläser aus dem Regal. Sektgläser gab es nicht bei den Berlin Angels. Winne war glücklich. Er trank Champagner mit seinen Freunden und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Mario und Olaf setzten sich zu ihm. Später kamen noch Petsy und ein dritter Junge namens Ebby dazu. Ebby hatte etwas Wiesel artiges an sich, und es war offensichtlich, dass er in Mario, der in der Gruppe das Sagen hatte, sein großes Idol sah. Ebby machte alles, was Mario wollte. 126
Während Ebby gerade die vierte Flasche Champagner öffnete, lehnte sich Mario zurück und meinte scheinbar nebenbei: »Ja, bevor de jekomm' bist, Winne, hatten wir jrade darüber jeredet, det wir hier ma' renovier'n müßten.« Winne Lemberg blickte sich überrascht um. »Wieso? Det is' doch toll hier! Sieht doch allet echt Spitze aus …« »Könnte aber noch besser aussehen«, warf Olaf ein. »Wir könnten …« Er verstummte abrupt, weil Mario ihm einen scharfen Blick zuwarf. Ich rede hier, hieß das. Du hältst gefälligst die Klappe. Winne hatte davon nichts mitbekommen und erklärte nun eifrig: »Wenn ihr det meint – ick helfe. Ick mach mit. Ick hab' ja im Augenblick nischt zu tun.« Der Korken knallte, und Ebby goss ihm als erstem Champagner ein. Dabei grinste er übertrieben freundlich. Mario schlug Winne auf die Schulter. »Bist 'n echter Freund. Bloß – mit helfen isset leider nich' jetan. Is auch 'ne Jeldfrage.« Er trank Winne zu. »Prost.« Olaf und Ebby tranken mit. Nur Petsy stand unvermittelt auf und ging verärgert zur Bar. »Na, denn müssten wir eben zusammenlegen«, sagte Winne und stellte sein Glas zurück. »Ick bin dabei.« »Zum Zusammenleg'n müssten wa erstma' wat ha'm«, erklärte Ebby und handelte sich genau wie vorhin Olaf einen drohenden Blick von Mario ein. Winne merkte auch das nicht, sondern fragte arglos: »Wie viel brauchten wa denn?« Gespielt abschätzend betrachtete Mario den Raum. »Tja, 'n paar Hunderter wer'n da wohl zusammenkomm'n …« »Vielleicht könnt' ick wat vorschießen …« Mario wiegte skeptisch den Kopf. »Geld bei jute Freunde pumpen – ick weeß nich' …« »Dazu sind wa doch jute Freunde!« meinte Winne herzlich. Er beugte sich zu Mario. Petsy an der Bar konnte nicht mehr Verstehen, was die vier am Tisch noch redeten. Sie wollte es auch gar nicht, weil das Ganze sie regelrecht abstieß. Das sagte sie auch zu Mone, als die wieder neben ihr auftauchte. 127
»Ick finde det ätzend, wat die mit Winne machen.« »Wieso?« fragte Mone naiv. »Ausnutzen tun se 'n. Dieses ständije Jequatsche von jute Freunde und so – widerlich is' det! Die woll'n doch bloß an seine Kohle. Deshalb tun se so, als ob er hier der King wär'.« Mone grinste. »Wenn eener den King machen will, muss er eben ooch abdrücken. Außerdem wird er ja nich' jrade Millionär sein, det Hämeken.« »Millionär nich'. Aber wat auf der Kante wird er haben. Und so wat riecht Mario. Die Nummer hat er ja schon öfter jebracht.« »Denn warn' Winne doch«, schlug Mone schnippisch vor. Petsy nickte. »Würd' ick ja. Aber den ha'm se doch schon vollkommen benebelt mit ihre Kumpelmasche.« Mit gerunzelten Brauen beobachtete sie, wie drüben am Tisch Olaf und Mario dem schmächtigen Winne lachend auf die Schulter schlugen. Und er strahlte, als hätte er ein Geschenk bekommen.
Der alte Herr Schnabel war Dr. Brockmanns letzter Patient vor der Mittagspause. Peter begleitete ihn in den Vorraum und verabschiedete sich. In diesem Moment betrat Kathrin die Praxis. Dr. Brockmann begrüßte seine Tochter erfreut mit einem Kuss auf die Stirn. »Wiedersehen, Frau Gabi«, sagte der alte Schnabel, während er hinausging. Peter hörte es und grinste. »Frau Gabi? Wat war denn das?« Gabi zwinkerte amüsiert zurück. »Opa Schnabel hat 'ne Enkelin, und die hat ihm erklärt, dass man nich' mehr ›Fräulein‹ sagt. Nu' bin ick also Frau Gabi.« »Aha.« Peter wandte sich an seine Tochter. »Frau Kathrin! Was verschafft mir die Ehre?« »Ick komm' vom Dienst, und ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen zu Mittag essen …« Wie immer fiel es Peter schwer, direkt nein zu sagen. »Ja – nur … die 128
Mannschaft und ick, wir wollten eigentlich hinten in der Praxiswohnung …« Gabi half ihm aus der Verlegenheit. »Wat für vier jereicht hätte, reicht auch für drei. Das heißt, wenn dir Gemüseeintopf nich' zu schlicht is', Kathrin.« »Wat is' denn mit Erika und Irene?« fragte Dr. Brockmann verblüfft. »Essen die nich' mit?« Seine Sprechstundenhilfe schüttelte den Kopf. »Nee. Ick schätze, denen is' der Eintopp zu schlicht.« Kathrin lachte. »Ich habe eine Schwäche für schlichte Dinge.« Sie folgte ihrem Vater in die Wohnung, während Gabi die Praxis abschloss. Beim Essen fragte Dr. Brockmann seine Tochter nach ihrer Arbeit im Krankenhaus aus, erkundigte sich nach einem seiner Patienten, der auf ihrer Station lag, und flachste wie üblich ein bisschen mit Gabi herum. Die Stimmung war heiter und entspannt, bis Kathrin plötzlich fragte: »Und was macht die Wohnungssuche?« »Was?« fragte Dr. Brockmann, obwohl er sie genau verstanden hatte. »Ach so, die Wohnungssuche …« Er warf Gabi einen unsicheren Blick zu, auf den sie aber nicht reagierte, sondern nur in sich hinein grinste und ihre Suppe weiterlöffelte. Kathrin hatte das mitbekommen. »War das die falsche Frage? Denn zieh' ick sie zurück.« Peter schob seinen geleerten Teller von sich. »Nee, nee. Wir suchen immer noch das Schloss mit Ost- und Westflügel zum Zurückziehen, Havellage, unter hunderttausend Mark, und da sind die Angebote unheimlich rar.« »Zum Zurückziehen?« wiederholte Kathrin. »Ich denke, ihr wollt zusammenziehen?« Ein kleines Schweigen entstand, und sie murmelte: »Entschuldige, war blöd von mir.« »Themawechsel!« rief Gabi, die sich noch eine Kelle Suppe aufgetan hatte. »Obwohl – das is' vielleicht auch nich' das geeignete Tischgespräch. Trotzdem. Mal seh'n, ob die Damen und Herren Ärzte aufm laufenden sind: kreisförmiger rötlicher Ausschlag mit späterem Fieber. Was is' das?« 129
»Ick stelle keene Ferndiagnosen«, sagte Dr. Brockmann brummig. »Wer hat das? Soll in die Praxis kommen.« »Jeht nich'. Liegt schon im Krankenhaus. Der kleene Sohn von 'ner Bekannten. Hirnhautentzündung.« »Von 'nem Ausschlag?« Dr. Brockmann und Kathrin blickten sich nachdenklich an, und Gabi deutete auf den Stapel medizinischer Fachzeitschriften, der auf einem Tischchen lag. »Vielleicht solltet ihr mal 'n bisschen öfter in eure medizinischen Micky-Maus-Hefte kieken.« »Frühsommer-Meningo-Enzephalitis«, buchstabierte Kathrin. Und Dr. Brockmann fügte hinzu: »Zeckenstich.« Gabi war baff. »Stimmt. Alle Achtung!« Dr. Brockmann schüttelte tadelnd den Kopf. »Du bist pampig. Wat meinst du denn, womit wir die besten Jahre unseres Lebens verbracht haben! Is' allerdings ziemlich selten, die Krankheit. Und wer hat das?« »'n kleener Junge, den du nich' kennst«, erklärte Gabi. »War erst so 'n kleener Kreis. Hat nich' gejuckt und nischt, is' immer jrößer jeworden … So 'ne Zecke, so 'n kleenet Biest – und so hinterhältig …« Sie stockte und warf Brockmann einen verschmitzten Blick zu. »Aber reden wir ruhig wieder von deiner Wohnungssuche.« »Die kleenen Biester sind meistens die hinterhältigsten«, sagte Peter beziehungsvoll. Gespielt gekränkt stand Gabi auf. »Will jemand Kaffee?« Und als beide Brockmanns nickten, verschwand sie in der Küche. Während der Kaffee durch die Maschine lief, räumte Gabi ab und stellte Kaffeegeschirr auf den Tisch. Sie selbst trank nur ziemlich hastig eine Tasse, weil sie Kathrin und Brockmann Gelegenheit geben wollte, allein noch ein paar Worte zu wechseln. »Ick jeh' denn schon mal nach vorn, den Nachmittag vorbereiten«, sagte sie. Brockmann rieb sich die Augen. »Bestell ihm 'n schönen Gruß, er soll's gnädig machen.« Gabi zog im Hinausgehen eine Grimasse. »Erklär doch deinem Vater mal, wovon er lebt, Kathrin.« Dann schloss sie die Tür hinter sich. Kathrin schwieg ein paar Sekunden und warf ihrem Vater einen nach130
denklichen Blick zu, ehe sie auf das Thema zurückkam, das sie die ganze Zeit über beschäftigt hatte. »Ist es wirklich so schwer für Iris und dich, 'ne Wohnung zu finden – oder 'n Haus? Zu zweit muss das doch finanzierbar sein.« Er seufzte. »Klar isses das. Aber vielleicht ha'm wir Angst, wat zu finden, wat uns beiden jefällt.« »Weil ihr dann Ernst machen müsstet?« Fragend sah Kathrin ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. Er nickte zögernd. »Und war' da nich' so 'ne Art Zwischenschritt angezeigt?« »Und der wäre? 'ne Wohnung, die uns beiden nich' jefällt – oder was?« versuchte Brockmann zu scherzen. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Wir sind ja nu' schon 'ne janze Weile zwischengeschritten, weißte …« Stimmt, dachte Kathrin. Und laut sagte sie: »Iris hat bei dir 'ne Weile draußen in Schwanenwerder gewohnt. Du bist jetzt zum Ausgleich meistens bei ihr. Aber da scheinst du dich auch nicht wohl zu fühlen. Warum macht ihr nicht mal zusammen Urlaub?« Er setzte zu einem Protest an, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Nein, red' dich nicht mit der Praxis raus.« Sie griff nach dem Stapel medizinischer Zeitschriften, nahm die oberste herunter und blätterte darin. »Im Grunde habt ihr doch noch nie zusammengelebt. Ihr wisst doch gar nicht, wie ihr über 'ne längere Zeit miteinander auskommt.« »Das sagt mir meine Tochter, die das auch noch nie ausprobiert hat«, knurrte Brockmann. »Aber vielleicht haste ja recht. Vielleicht würde das was klären. Trotzdem – die Praxis …« Kathrin hatte in der Zeitschrift gefunden, was sie suchte. Sie las vor: »Sehr erfahrener Allgemeinmediziner, vitaler Pensionär für Vertretungen frei … Praxiserfahrene Ärztin, vierzig Jahre, übernimmt Vertretung in Allgemeinpraxis. Auch homöopathische Erfahrung …« Sie hob den Kopf. »Ich würde dich ebenfalls vertreten. Bloß kann ich das im Augenblick nicht. Aber Moment mal, ich wüsste da jemanden …« »So? Wen denn?« fragte Dr. Brockmann mäßig interessiert. »Jemand, der dir gefallen wird. Sieh ihn dir doch einfach mal an«, schlug sie vor. 131
Mit missmutiger Miene lehnte sich Brockmann in seinem Stuhl zurück. Aber das war nur gespielt. Wer ihn kannte, wusste, dass er anfing, sich mit Gedanken an einen Urlaub zu beschäftigen. »Aus so 'm Urlaub kann man doch gar keene Schlüsse zieh'n. Sind doch vollkommen unrealistische Testbedingungen. Sich im Urlaub zu vertragen – det kann doch jeder.« Kathrin legte die Zeitschrift zurück. »Erstens sieht man daran, dass du seit ewigen Zeiten keinen Urlaub zu zweit gemacht hast. Und zweitens weißt du genau, dass das nicht stimmt. Wer so'n Zweierurlaub durchsteht, der kann wirklich von Liebe reden.« Peter grinste. »Sehr ermunternd! Aber vielleicht haste recht. Vielleicht sollte man das tatsächlich mal machen.« Am Nachmittag kam Traude Lemberg in die Praxis. Sie war bei Dr. Brockmann wegen einer Schilddrüsen-Unterfunktion in Behandlung, und sie fühlte sich seit längerer Zeit nicht wohl. An Dr. Brockmanns Gesicht merkte sie, dass er sich ebenfalls Gedanken machte, nachdem er sie untersucht hatte. »Nich' zufrieden, nee?« fragte Traude ängstlich. »Nich' so janz«, gab er zu. »Ihr Kreislauf war schon mal besser. Woll'n wir nich' ma' 'ne Kur beantragen, Frau Lemberg?« Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nee. Ick kann jetzt nich' weg.« »Wegen Ihrer Tochter?« »Auch. Aber mehr … mehr wegen mei'm Mann.« »Na, der Winne, der könnte ja auch mal 'n bisschen frische Luft vertragen. Vielleicht könnten Sie beide …« Sie unterbrach ihn alarmiert. »Wissen Sie wat von Winne?« »Den Winne hab' ick seit seiner Kindheit in Behandlung, Frau Lemberg«, sagte er ruhig. »Die strotzende Gesundheit in Person war er leider nie. Er is' zu fleißig. Arbeitet zu viel. Und dieser TransportarbeiterJob, das ist sowieso nich' das Richtige …« Traude senkte den Kopf. »Det … det macht er jar nich' mehr. Da … isser Jeflogen.« »Jeflogen? Winne?« fragte Dr. Brockmann ungläubig. »Wieso denn 132
das?« Als Traude bedrückt schwieg, ging er zu der Schiebetür zu seinem Sprechzimmer, in dessen gemütlicher Couchecke sich schon oft seine Patienten ganze Wagenladungen voller Steine vom Herzen geredet hatten. »Komm Se mal 'n Moment nach nebenan.« Es dauerte nicht lange, bis Peter Brockmann die ganze Geschichte aus Traude herausgeholt hatte. Wie Winne sich verändert hatte und jetzt kaum noch zu Hause war, immer mit diesen Motorradfreaks herumzog und sich von ihr überhaupt nichts mehr sagen ließ. »Und das alles, weil er jeerbt hat«, sagte sie. »Wie seine Mutter jestorben is' – 'n halbet Jahr is' det her …« Dr. Brockmann schüttelte den Kopf. »Na, das können ja keine Reichtümer jewesen sein«, meinte er begütigend. »Ihre Schwiegermutter kannte ick ja 'n halbes Leben lang. Hat doch auch immer nur von der Hand in'n Mund …« »Da haben Se se nich' richtig jekannt«, fiel Traude ihm ins Wort. »Die hat sich allet abgespart. Schon von ihr'm ersten Mann hatte se wat. Und vom zweeten, dem Franz – der war ja Frührentner – der hat ooch nischt ausjejeben, bis er denn wegen seine Lunge hops gegangen is' …« »Mhm … Und wie viel is' det?« »Über hunderttausend«, gestand Traude zu Dr. Brockmanns Überraschung. »Aber wie viel es jetzt noch is', weeß ick nich'. Det sagt er mir nich', seit er diese Typen da kennenjelernt hat. Det war' sein Erbe, sagt er, det jinge mich nischt an.« »Und wat sind das für Typen?« erkundigte sich Dr. Brockmann nun doch beunruhigt. »Wo hat er die denn kennengelernt?« »Irgendwo nach der Arbeet an so 'ner Imbissbude«, berichtete Traude bedrückt. »Da hat Winne 'n Bier jetrunken, und da kamen die an. So 'ne Motorradtruppe, wissen Se. Winne hat ihnen een' ausgegeben – und denn müssen die wohl unheimlich nett zu ihm jewesen sein. Wissen Se, den Winne ha'm se ja immer gehänselt – mit seine Hühnerbrust und weil er so schmächtig is'. Und der Hellste is' er ja auch nich' …« Ihr kamen die Tränen. »Aber er is' 'n lieber, anständiger Kerl.« Sie tat Brockmann leid. »Na, so schlimm sind die ja vielleicht gar nich'«, meinte er in dem Versuch, sie zu trösten. 133
»Winne hat ja nie richtige Freunde gehabt«, schluchzte Traude, und er nickte. »Na, seh'n Se, und wenn das nu' welche sind …« Sie wischte sich über die Augen. »Nee, Herr Doktor, det sind keene. Der is' ja geradezu süchtig nach die. Andauernd rennt er da hin, auch tagsüber. Und denn isser 'n paarmal nich' auf Arbeit jejangen, und denn ha'm se ihn entlassen.« »Der Winne war doch immer janz Vernünftig«, meinte Dr. Brockmann. »Der wird sich schon wieder fangen.« Traude blickte einen Augenblick schweigend vor sich hin. Sie glaubte nicht an Dr. Brockmanns Prophezeiung. Aber es hatte keinen Sinn, ihm die Ohren vollzuheulen. Es änderte ja nichts. »Ja, das hoff ick auch«, sagte sie und stand auf. »Danke, Herr Doktor …« Als sie nach Hause kam, war Winne immer noch nicht da. Traude aß mit Marthe zu Abend, setzte sich dann noch, weil eine Unterhaltungssendung lief, mit der Kleinen vor den Fernseher und hörte immer wieder mal nach draußen, ob Winne nicht die Haustür aufschloß. Seufzend stellte Traude schließlich den Fernseher ab und schickte ihre Tochter ins Bad. Marthe trödelte eine Weile herum. Sie stand mit nacktem Oberkörper in ihrer Schlafanzughose vor dem Spiegel, hatte sich die Zähne geputzt und schnitt sich selbst allerlei Grimassen. »Nu' mach' ma' 'n bißken hinne, du Clown«, sagte Traude, die ihre Tochter von der Tür aus beobachtet hatte. Sie kam näher und entdeckte die kreisförmige Rötung auf Marthes Bauch. »Wat haste denn da?« »Wo?« fragte das Kind. Es betrachtete den kleinen Fleck, auf den die Mutter zeigte, und zuckte mit den Schultern. »Weeß ick nich'. Hab' ick noch nich' geseh'n.« »Na, Mensch, hoffentlich haste keen' Floh mitjebracht aus 'm Ferienlager«, meinte Traude beunruhigt. »Juckt det?« »Nee.« Instinktiv wollte die Kleine sich kratzen, aber ihre Mutter schob ihre Hand zur Seite. »Denn kratz auch nich'. Schmir'n wir 'n bisschen Creme drauf. 134
Det wird so 'n Ausschlag sein vom sauren Regen. Liest man ja überall.« »Wo is' 'n Pappa?« wollte Marthe wissen, während ihre Mutter eine Cremedose aus dem Badezimmerschrank nahm und die gerötete Stelle eincremte. »Überstunden?« »Ja, so kann man det nennen?« murmelte Traude bitter und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Marthe sah sie von der Seite an. »Haste Kummer, Mammi?« »Nee, nee. Is' schon jut.« Traude versuchte zu lächeln. Zärtlich drückte sie Marthes Kopf an sich.
Iris Pauli war zwischen zwei Gerichtsterminen bei einem Reisebüro vorbeigefahren und hatte sich einen Berg Prospekte besorgt. »Ich brauche die Angebote für jemanden, dem man bei jedem Versuch, sich herauszureden, sofort eine Alternative bieten muss, Verstehen Sie?« hatte sie dem jungen Mann erklärt, der sie bediente. »Also Berge, Meer, Binnensee, Hochmoor, Wüste, Eisberge, Tropen, Antarktis …« Abends hatte sie sich mit Dr. Brockmann getroffen, um sich eine große Neubauwohnung anzusehen, die ihnen der Makler offeriert hatte. Iris gefiel sie eigentlich ganz gut, aber Peter hatte wieder einmal jede Menge Einwände gehabt, so dass sie nach einer kurzen Besichtigung in Iris' Wohnung gefahren waren. Nach dem Essen tranken sie ein Glas Wein miteinander, während Dr. Brockmann in ein paar medizinischen Fachzeitschriften blätterte und Iris in eine Prozessakte vertieft war. Aber sie waren beide nicht recht bei der Sache, sondern warfen sich gegenseitig immer mal wieder einen beobachtenden Blick zu, bis es schließlich gleichzeitig geschah und sie sich ertappt anlächelten. Iris deutete auf ihre Akte. »Bin gleich fertig.« »Nee, nee, mach mal … is' mir ganz recht«, behauptete Peter. »Ick muss mich mal wieder 'n bisschen auf den neuesten Stand bringen. Wozu hat man die Dinger abonniert.« 135
Iris dachte an die mitgebrachten Ferienprospekte und klappte ihre Akte zu. »Blödsinn. Kann ich auch morgen machen. Schließlich ist Freizeit. Ich meine, wir haben ja auch noch so was wie ein Privatleben.« »Stimmt«, sagte Peter Brockmann und dachte an sein Gespräch mit Kathrin. »Ach, übrigens …«, begann er gleichzeitig mit Iris. Sie stockte. »Ja?« »Nee. Du«, widersprach er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, sag ruhig, was du sagen wolltest.« Er zögerte, fing dann aber doch an: »Ick weiß, das is' vielleicht 'n kleiner Überfall, und wenn's nich' jeht, denn jeht's eben nich'. Ick meine, du hast ja deine Termine auch langfristig jeplant und kannst nich' einfach von heute auf morgen …« Er sah, dass sie mit einem überraschten Lächeln den Kopf schräg legte, und fuhr entschlossen fort: »Na jut. Wo das mit der Wohnungssuche nich' so richtig vorankommt – wie wär's, wenn wir einfach mal Urlaub machten? Ja, kiek nich' so«, bestätigte er, als er ihren ungläubigen Blick gewahrte. »Ick habe darüber nachjedacht und … Natürlich is' es fast unmöglich, die Praxis allein zu lassen, aber Kathrin sagt, sie wüsste 'ne sehr jute Vertretung.« Wortlos griff Iris nach der Mappe, die neben ihrem Sessel stand, und holte den Stapel Reiseprospekte heraus. Den obersten gab sie Dr. Brockmann. »Was is' das?« fragte er verblüfft. Ihre Augen strahlten, als sie sich neben ihn setzte. »Da ich in meinem Beruf immer darauf gefasst sein muss, dass die Gegenseite mit überraschenden Fakten kommt, bereite ich mich natürlich vor.« Peter war regelrecht gerührt. »Na, wenn das keene Übereinstimmung is'! Wir würden ja in jedem Partnerquiz die Preise abräumen.« Iris konnte ihr Glück immer noch nicht ganz fassen. »Und du würdest tatsächlich für eine gewisse Zeit deine Praxis jemand anderem anvertrauen?« »Ja. Würd' ick!« Er betrachtete den Prospekt und wurde gleich wieder etwas miesepetrig. »Aber Berge? Hanglagen ha'm mich schon als Kind traurig gemacht …« 136
Lachend legte ihm Iris den ganzen Prospektstapel auf den Schoß. »Von Ibiza bis zur Wüste Gobi ist alles dabei.« Bereits zwei Tage später stellte sich Dr. Thilo Weber in Dr. Brockmanns Praxis vor. Er kam gegen Ende der Sprechstunde, und Gabi, die nicht wusste, was es mit seinem Besuch für eine Bewandtnis hatte, bat ihn, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Dr. Weber war ein mittelgroßer, sympathischer Mann Mitte Dreißig. Während er wartete, betrachtete er die an den Wänden aufgehängten Apfelsinenpapiere, von denen Dr. Brockmann einmal hatte verlauten lassen, dass er sie sammle, um dankbare Patienten von aufwendigen Geschenken abzuhalten. Seitdem brachte man ihm immer wieder neue mit, die dann an die Wände des Wartezimmers gepinnt wurden. Dr. Brockmann hatte noch eine Patientin im Sprechzimmer. Es war die letzte an diesem Vormittag. »Is' sicher gleich so weit«, sagte Gabi zu Dr. Weber, als sie einen Blick ins Wartezimmer warf. Der gutaussehende Mann interessierte sie. Dr. Brockmann erschien in der Tür seines Sprechzimmers und ließ Frau Rust vorangehen. »Ja, also, wenn Sie die nächsten drei Tage keine Beschwerden mehr haben, dann seh'n wir uns vorläufig nich'«, meinte er in bezug auf seine Urlaubspläne. Frau Rust zog einen Schmollmund. »Verstehe. Es greift schon.« Sie fing den verständnislosen Blick des Doktors auf und fügte spitz hinzu: »Ick meine det neue Jesetz. Mit der Kostendämpfung. Wo die Regierung verboten hat, dass die Ärzte so üppig zulangen.« »Frau Rust …« setzte Brockmann an, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ick weeß, Herr Dokter, dass det jrade gegen Sie ungerecht is'. Ick meine: Wir sind da ja alle beide die Leidtragenden. Ick wähl' die ooch nich' mehr. Die echten Schurken sitzen bei der Pharmaindustrie. Wissen wir ja. Liest man ja überall.« »Na ja, also …« »Sagen Se nischt! Trifft Sie ooch nich'. Sie verschreiben Gernerika, hab' ick schon längst jemerkt.« An der Tür blieb sie noch einmal ste137
hen. »Hoffentlich hilft's ooch. Wiedersehen, Frau Köhler. Wiedersehen, Herr Doktor.« »Irjendwann nehm' ick die Illustrierten aus 'm Wartezimmer«, murmelte Brockmann genervt. »Vielleicht nimmste erst mal Herrn Dr. Weber raus«, schlug Gabi vor. »Wieso? Is' noch jemand …« Dr. Brockmann tippte sich an die Stirn. »Mensch, na klar!« »Wer is' denn det?« erkundigte sich Gabi neugierig. »Der tat so geheimnisvoll.« »Meine Vertretung«, antwortete Peter in schöner Selbstverständlichkeit. »Deine wat?« Perplex starrte sie ihn an. Er gab sich ganz cool. »Ja. Iris und ick – wir verreisen. Und da brauch' ick doch 'ne Vertretung.« Gabi hätte ihm am liebsten irgend etwas an den Kopf geworfen, dass er so nebenbei mit dieser Neuigkeit herausrückte, statt sie vorher einzuweihen, wie es sich ihrer Meinung nach gehörte. Aber sie zwang sich, genauso cool zu fragen: »Wo geht's denn hin?« »Is' noch nich' janz raus«, erklärte Brockmann. »Die erste halbe Woche Sylt. Die zweete Madagaskar. Oder als Kompromiss die Azoren.« »Wie wär's mit Florida? Da soll's noch Krokodile geben«, sagte Gabi giftig und marschierte hinter den Tresen, um ihren Mantel zu holen. »Ick jehe essen. Ohne jroßen Appetit.« Brockmann hielt sie zurück. »Nee, bleib mal. Ick möchte, dass du dabei bist. Schließlich is' das ja auch 'ne Frage der Zusammenarbeit. Vielleicht gefällt er dir nich'.« Gabi drückte ihren Mantel an sich. »Nich' nötig. Schlimmer als du kann er nich' sein.« Sie hatten ziemlich leise gesprochen und nicht bemerkt, dass Dr. Weber in der Tür aufgetaucht war. Als sie ihn entdeckten, wurden beide ein bisschen verlegen. Dr. Brockmann ging mit ausgestreckter Hand auf den jungen Kollegen zu. »Herr Weber, guten Tag. Entschuldigen Sie, dass Sie 'n bisschen warten mussten.« 138
Thilo Weber schüttelte den Kopf. »Es schadet einem Arzt nichts, wenn er hin und wieder etwas Wartezimmeratmosphäre mitbekommt.« Er nahm Brockmanns Hand. »Guten Tag, Herr Brockmann.« Peter machte ihn und Gabi miteinander bekannt und fragte: »Haben Sie etwas dagegen, wenn Frau Köhler nachher an unserem Gespräch teilnimmt?« »Nein, überhaupt nicht.« Dr. Weber lächelte Gabi freundlich zu. »Ohne Sie wär' ich hier ja aufgeschmissen.« »Dann darf ich bitten«, forderte Dr. Brockmann ihn auf und ging zum Sprechzimmer voraus, »'n paar Minuten noch«, sagte er zu Gabi, die ihren Mantel auf die Stuhllehne legte. Sie wusste nicht recht, wie sie das Ganze beurteilen sollte. Es dauerte wirklich nicht lange, bis Peter Brockmann sie hereinrief. Als sie das Sprechzimmer betrat, saß Dr. Weber in einem Sessel. Brockmann deutete auf die Couchgarnitur. »Bitte«, sagte er mit formeller Höflichkeit, und Gabi grinste. »Is' ja wie Bescherung.« Sie setzte sich, während Dr. Brockmann ein bisschen steif auf und ab ging. »Also, der Kollege Weber … Ich fass das mal zusammen: erst Realschule, Krankenpfleger, dabei Entschluss, selbst Arzt zu werden. Abitur auf der Abendschule …« »Seiteneinsteiger«, warf Thilo erklärend ein, und Gabi lächelte ihn mit offener Sympathie an. »Wenn man danach richtig sitzt, is' et egal, wie man eingestiegen is' …« Kein Zweifel, sie mochte diesen Dr. Weber, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Dr. Brockmann versuchte, es zu ignorieren, und fuhr fort: »Alle Staatsexamen, approbiert, promoviert …« Gabi unterdrückte ein respektloses Kichern. »Meine Mutter war eine arme Näherin und mein Vater Bergarbeiter. Die beiden hatten sieben uneheliche Kinder«, alberte sie. »Kommen Sie auch aus so ärmlichen Verhältnissen?« Thilos Stimme klang amüsiert. »Meine Mutter war Hausfrau und mein Vater Drogist.« 139
»Ach!« Dr. Brockmann hörte mit seinem Herumwandern auf. »Meiner war Apotheker. Am Prenzlauer Berg. Ost-Berlin.« »Meine Familie stammt aus Köpenick«, berichtete Dr. Weber, und Gabi zog eine kleine Grimasse. »Da hab' ick als Schönebergerin ja ganz Schlechte Karten.« Brockmann kam wieder zum Thema zurück. »Tja … der Kollege Weber hat schon zwei Praxisvertretungen gemacht. Und wir sind uns eigentlich einig.« Gabi gab ihre Alberei auf und fragte ernsthaft: »Und wann fangen wir an?« »Das hängt von ein paar Details ab, die ich jetzt noch nich' übersehen kann«, erklärte Dr. Brockmann. »Aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der nächsten sechs Wochen.« Thilo Weber stand auf. »Gut. Dann warte ich auf Ihre Nachricht.« Mit einem netten Lächeln blickte er erst Peter, dann Gabi an. »Also hoffentlich auf Wiedersehen.« »Gefällt mir. Sehr hübscher Junge«, sagte Gabi, als er gegangen war. Brockmann grinste. »Wenn du denkst, du kannst mich eifersüchtig machen … Aber im Ernst: Der is' hübsch?« Gabi nickte. »Mhm.« Er zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. »Jedenfalls war' er jenau der Richtige. Hat als Krankenpfleger wirklich konkret mit den Menschen zu tun jehabt. Daraus dann der Entschluss, Arzt zu werden.« Er warf Gabi einen boshaften Seitenblick zu. »Das jefällt mir.«
Mario hatte Winne einen Sturzhelm besorgt. Er war zwar ein bisschen klein, aber Winne behauptete, dass er prima säße. Die BERLIN ANGELS waren mit ihren Motorrädern zu einer verlassenen Kiesgrube gefahren. Sie waren dort schon öfter gewesen und hatten Verpflegung und vor allem zu trinken mitgenommen. Winne saß bei Mario auf dem Soziussitz. Mario war der einzige der 140
Gruppe, der keine Kartons oder Thermostaschen auf dem Gepäckträger hatte. Es war unter seiner Würde, sich damit abzuschleppen. Statt dessen ordnete er nur im Befehlston und mit einer entsprechenden Geste an: »Jetränke hier rüber.« Dann wandte er sich zu Winne. »Oder nich'?« Der beeilte sich zu nicken. »Doch, doch, klar.« Er blickte sich auf dem freien Platz um und bemühte sich, den Wortschatz der Jugendlichen zu übernehmen. »Geile Ecke …« Sie hatten Winne aus einem ganz bestimmten Grund hierher mitgenommen. Seit er neulich in ihrem Treff damit herum getönt hatte, dass er über hunderttausend Mark auf der Bank hätte, stand für Mario fest, dass er und seine Freunde da abkassieren würden. Und zwar richtig. »Ick sage euch nur eins«, hatte Mario zu Olaf und Ebby gesagt, »haltet ihr in Zukunft die Schnauze. Det mach' ick alleene. Mit euerm dussligen Gequatsche versaut ihr bloß allet.« Und dann hatte er einen Plan entwickelt, mit dem er jetzt nach und nach bei Winne herausrückte. Olaf und Ebby waren eingeweiht und wussten, was sie dabei zu tun und zu sagen hatten. Die anderen aus der Clique kümmerten sich nicht weiter um die drei und Winne. Ein paar Jungen dribbelten mit einem Fußball herum, andere lagen in der Sonne oder bastelten an ihren Motorrädern, und die Mädchen außer Petsy hockten in einer Gruppe zusammen und unterhielten sich. Es wurde gegessen und getrunken, und Winne fühlte sich wieder mal total happy in der Gesellschaft seiner Freunde. Petsy lag in einiger Entfernung im Gras, hatte die Ellbogen aufgestützt und blätterte in einer Illustrierten. Aber mit einem Ohr hörte sie zu Mario und den anderen hinüber, um mitzubekommen, was sie mit Winne zu reden hatten. »Na, wie find'ste die Idee?« fragte Mario gerade, und Winnes dünne Stimme kippte fast über vor Begeisterung. »Det is' der Hammer. Der Hammer war' det …« Olaf nickte beifällig. »Warum sind wir bloß nich' früher da druff jekomm'!« »Is' mir heute Morjen beim Zähneputzen einjefall’n«, verkündete 141
Mario großartig. In diesem Moment trat Ebby zu den dreien. Mario winkte ihm gönnerhaft zu. »Hör ma' zu, Ebby: Wir bauen unseren Partyraum zu 'ner Disco aus.« Ebby spielte den total Erstaunten. »Wat denn? So echt mit Bar und Eintrittsgeld?« »Genau!« bestätigte Mario. »Winne sitzt an der Kasse und streicht die Kohle ein. Det is' doch wat, Winne, oder? Is' wat anderes, als Kisten schleppen. Sitzte im Warmen und zählst bloß die Scheine. Is' det nischt?« »Det isset überhaupt!« sagte Winne glücklich. Mario stieß ihn freundschaftlich in die Seite. »Ick hab' doch jesagt, ick besorg' dir 'n Job. Die Mädels jeh'n hinter die Bar. Ebby und Olaf machen Rausschmeißer – und icke bin der Geschäftsführer.« »Und wovon machen wir die Einrichtung?« Das war wieder Ebby. »Ick meine, wir brauchen da ja jede Menge Elektronik und so wat.« »Allet schon besprochen«, erklärte Olaf. »Schießt Winne vor.« »Keen Problem«, beteuerte der. »Ick meine, det is 'ne Investition. Da is' meine Kohle jut angelegt.« Sie tranken sich mit ihren Bierbüchsen zu, klopften Winne auf die Schulter, und Petsy, die alles mitgehört hatte, presste angeekelt die Lippen zusammen. Olaf zog plötzlich ein bedenkliches Gesicht. »Sag mal, Mario«, fragte er wie verabredet, »wenn du als Jeschäftsführer die janze Ausstattung einkaufst – bei Möbelgeschäften, Elektronikläden und so – rennt denn Winne immer mit 'n Scheckbuch neben dir her – oder wie geht det?« »Klar mach' ick det!« versprach Winne. Mario dachte nach. »Nee, nee, det war' nich' gut. Det macht keen'n juten Eindruck. Det sieht aus, als ob ick als Geschäftsführer nischt zu sagen habe. Und noch wat: Du siehst zwar spitzenmäßig aus, Winne – aber irgendwie nich' wie eener, der hunderttausend auf 'm Konto hat. Da wer'n welche misstrauisch werden.« »Ick kann det aber beweisen!« Mario nickte. »Klar kannste det. Aber warum erst Misstrauen aufkommen lassen. Du weißt, wie Geschäftsleute sind.« 142
»Und wat nu'?« fragte Winne ratlos. »Ganz einfach!« Mario tat, als wäre er im Moment darauf gekommen. »Du jibst mir 'ne Vollmacht. Und damit det richtig seriös aussieht – eine vom Anwalt.« Winne zögerte. »Mensch, Anwälte …« »Det is' ooch 'ne Sicherheit für dich«, unterbrach Olaf ihn. »Wenn det allet seine Ordnung hat …« »Na ja, da is' wat dran«, gab Winne zu, und Mario erklärte: »Ick weeß ooch schon einen – det heißt – eine! Hat mich mal bei so 'ner Verkehrssache vertreten. Bei der hab' ick 'n unheimlichen Schlag. Wenn wir da sofort hingeh'n, brauchen wir auch nich' warten.« Olaf sprang auf. »Na, denn los. Wichtige Sachen soll man sofort erledigen.« In diesem Moment konnte Petsy nicht mehr länger an sich halten. »Darf ick dazu auch mal wat sagen?« fragte sie mit mühsam unterdrückter Empörung und kam auf die drei zu. Mario stellte sich dicht vor sie. Er sah plötzlich regelrecht gefährlich aus. »Nee. Darfste nich'!« sagte er leise und drohend. Petsy starrte ihn ein paar Sekunden an, dann senkte sie den Blick und wandte sich ab. Eine knappe Stunde später saßen Mario und Winne in Iris Paulis Anwaltsbüro. Iris machte ein sehr skeptisches Gesicht, nachdem Winne ihr, assistiert von Mario, sein Anliegen vorgetragen hatte. »Eine Generalvollmacht?« wiederholte sie gedehnt, während sie genau Winnes unbehagliche Miene registrierte. »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?« Er warf einen Blick zu Mario und antwortete dann unsicher: »Ja, det … det war' der korrekte Weg.« Iris Pauli beugte sich nach vorn. »Mit einer Generalvollmacht, Herr Lemberg«, sagte sie eindringlich, »mit einer Generalvollmacht hat der Bevollmächtigte Zugang zu allen Ihren Konten, Liegenschaften und so weiter. Ist Ihnen das klar?« »Liegenschaften hab' ick ja nich'.« Winne druckste ein bisschen herum und atmete dann tief durch. »Aber klar – wir sind ja Freunde …« Mario strahlte wie Prinz Charming persönlich. »Sonst würden wir ja 143
so wat nich' machen.« Er warf Iris einen feurigen Blick zu. »Wir kenn' uns doch noch von damals – von diese Verkehrssache. Da ha'm wir doch auch bestens zusammengearbeitet …« Iris lächelte ihr unverbindliches Anwaltslächeln. »Da war ich Ihre Pflichtverteidigerin, Herr Zobel.« »Entschuldigung …« Ihre Sekretärin betrat den Raum. Sie hielt einige Papiere in der Hand, die sie auf den Schreibtisch legte. »Danke«, sagte Iris freundlich. Im Hinausgehen drehte sich die junge Frau noch einmal um. »Ach ja, und Dr. Brockmann bittet um Rückruf.« Winnes bedrücktes Gesicht erhellte sich schlagartig. »Sie kenn'n Dokter Brockmann?« fragte er und fühlte sich regelrecht erleichtert. Iris nickte. »Ja. Sie auch?« »Na, bei den bin ick doch Patient. Den kenn' ick vielleicht länger und besser wie Sie …« Unwillkürlich musste Iris lächeln. Aber da sagte Mario, der allmählich ungeduldig wurde: »Könn'n wir denn mal zurückkommen auf diese Generalvollmacht?« Sofort wurde Iris wieder kühl und geschäftsmäßig. »Ja, das können wir.« Sie wandte sich an Winne. »Wenn Sie das also wirklich wollen, dann kommen Sie bitte übermorgen …« sie warf einen Blick in ihren Terminkalender, » … übermorgen um elf. Wenn Ihnen das passt.« »Wieso denn übermorgen?« fragte Mario entgeistert. »Weil unser Herr Notar Dr. Schumacher ist. Ich selbst bin keine Notarin. Ich kann eine Generalvollmacht also auch nicht notariell beglaubigen. Dr. Schumacher ist erst übermorgen wieder in der Kanzlei.« Mario sprang auf. »Det hätten Se uns doch gleich sagen könn'n! Denn hätten wir hier nich' rumgesessen. Denn hätten wir uns gleich 'n Notar gesucht, der früher kann!« Er stieß Winne an. »Los, komm!« Iris hob die Schultern. »Das bleibt Ihnen unbenommen. Aber solche schwerwiegenden Entscheidungen sollte man nicht übers Knie brechen.« Sie warf Winne einen mahnenden Blick zu. Er erwiderte nichts darauf, stand langsam auf und verließ mit Mario das Büro. 144
Am Abend während des Essens berichtete Iris Dr. Brockmann von der Szene in ihrer Kanzlei. »Ich hatte heute übrigens einen deiner Patienten bei mir. 'ne sehr seltsame Sache.« »Wen denn?« Peter blickte überrascht auf, als er die Antwort hörte. »Einen Herrn Lemberg. Er wollte einem anderen eine Generalvollmacht über sein Vermögen geben.« Dr. Brockmann ließ das Rotweinglas sinken. »Das haste doch hoffentlich nich' gemacht!« »Nein. Ich hätte es gar nicht gekonnt, weil ich kein Notariat habe. Außerdem kam mir das Ganze merkwürdig vor. Aber deinem Gesicht nach zu urteilen, scheinst du Genaueres zu wissen.« Er erinnerte sich an seine Unterhaltung mit Traude Lemberg. »So jenau auch wieder nich'. Aber das krieg' ick noch raus. Die Frau von dem Lemberg hat mich vorhin angerufen. Die ha'm 'ne Tochter mit erhöhter Temperatur. Seh' ick mir mal an, und bei der Gelegenheit werd' ick nachfragen.« »Doch nicht noch heute Abend!« protestierte Iris, und er verneinte. »Morgen früh. Obwohl …« Am liebsten wäre Peter Brockmann tatsächlich auf der Stelle zu den Lembergs gefahren. Aber Iris' Blick veranlasste ihn, sitzen zu bleiben. »Jut. Morgen früh.« Doch irgendwie war ihm nicht wohl bei dieser Entscheidung.
An diesem Tag hatte Bernd Saalbach beschlossen, mit Rudi Lehmann fractura zu reden. Saalbach kam mit seinen Nachforschungen einfach nicht weiter. Er brauchte den hieb- und stichfesten Beweis, dass Rudi tatsächlich ein unehelicher Sohn von Konsul Maerker war, und diesen Beweis konnte ihm nur Rudi selbst liefern. Bernd Saalbach richtete es so ein, dass er mit seinem Wagen gerade das Werksgelände verließ, als Rudi in seiner Chauffeursuniform vor dem Bürogebäude auf seinen Chef wartete. Saalbach stoppte und kurbelte das Seitenfenster herunter. »Ach, Rudi …« Der Chauffeur trat zu ihm. »Ja, Herr Saalbach?« 145
»Ich hab' da eine Bitte, Rudi. Mit dem neuen Rasenmäher, den ich mir neulich auf ihre Empfehlung hin gekauft habe, mit dem ist was nicht in Ordnung. Der läuft nicht. Hätten Sie irgendwann mal Zeit, sich den anzusehen?« Rudi nickte. »Ja, klar. Wenn Sie wollen, komm' ick nachher vorbei, wenn ick Dokter Maerker nach Hause gefahren habe.« »Ausgezeichnet. Sehr gut, danke!« Saalbach winkte verabschiedend und fuhr wieder an. Zu Hause ging er als Erstes in die große Garage und holte den elektrischen Rasenmäher hervor. Er nahm die Schutzhaube über dem Motor ab, löste mit einem Schraubenzieher einen Pol in der elektrischen Zuleitung und bog das Kabel zur Seite. Dann setzte er die Abdeckhaube wieder auf und verschraubte sie. So, dachte er befriedigt. Nun kann er kommen, der Rudi. Pfeifend ging Saalbach ins Haus. Rudi Lehmann brauchte nicht lange, um den angeblichen Defekt zu finden. Er hatte den Rasenmäher untersucht und blickte zu Saalbach hoch, der neben ihm in der Garage stand. »Hier is' bloß das Kabel rausgerutscht.« »Weiter nichts?« fragte Saalbach. »Und das bei einem fabrikneuen Gerät?« Rudi befestigte das lockere Kabel. »Kommt schon mal vor, dass jemand schlampt. Aber: kleine Ursache – große Wirkung.« Saalbach nickte. »Und damit geben Sie mir beinahe ein Stichwort, Rudi. Es gibt eine kleine Ursache: dass sich der alte Konsul Maerker einmal in ihre Mutter verliebt hat. Und es gibt eine große Wirkung: nämlich die, dass Sie ein Sohn vom Konsul sind.« Rudi, der immer noch vor dem Rasenmäher am Boden hockte, war ein paar Sekunden total geschockt und wusste nicht, was er erwidern sollte. »Wer … wer hat Ihnen das gesagt?« brachte er schließlich hervor. »Wer sagt so was?« Langsam stand er auf. »Ich sage das, Rudi«, entgegnete Saalbach glatt. »Und ich weiß es. Sie wissen es auch. Sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie es nicht schon längst geahnt haben.« Hilflos schüttelte Rudi den Kopf. »Det stimmt nich' …« 146
Saalbach schlug einen väterlich begütigenden Ton an. »Aber natürlich stimmt es. Und Sie haben Beweise dafür.« »Was für Beweise?« fragte Rudi störrisch. »Sie wissen, was ich meine.« Es war ein Schuss ins Blaue, aber für Saalbach die einzige Möglichkeit, weiterzukommen. »Rudi!« bat er eindringlich. »Haben Sie Vertrauen zu mir. Ich bin auf Ihrer Seite. Geben Sie mir die Beweise. Ich werde Ihre Ansprüche durchsetzen. Mann! Sie sind von Rechts wegen Aktionär der Maerker AG. Man hat Ihnen über Jahrzehnte Hunderttausende vorenthalten! Geben Sie mir eine Vollmacht. Ich hole Ihnen Ihr Geld zurück.« Wie betäubt schüttelte Rudi den Kopf. »Nein. Nein, das stimmt alles nich'. Woher wollen Sie das wissen?« »Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer. Ich erklär's Ihnen.« »Nein. Das möcht' ick nich'!« sagte Rudi abweisend. Saalbach unterdrückte einen Seufzer. »Gut, dann erklär' ich es Ihnen eben hier.« Und dann setzte er ihm in allen Einzelheiten das geänderte Erbrecht auseinander, nach dem Rudi als unehelicher Sohn von Konsul Maerker die gleichen Rechte hatte wie dessen ehelich Geborenen Kinder. Er müsse nur endlich seine Ansprüche anmelden. Rudi hörte stumm zu. Dann schüttelte er wieder den Kopf. »Nee, Herr Saalbach. Ooch, wenn det allet so wär' – det mach' ick nich'. Ick schmeiße Leuten, die mich mein Leben lang jut behandelt haben, keine Steine in 'n Weg.« »Gut behandelt, gut behandelt?« sagte Saalbach höhnisch. »Würden Sie jemanden nich' gut behandeln, dem Sie ein paar hunderttausend Mark schulden? Oder vielleicht sogar Millionen? Damit sind Sie zufrieden?« »Ja, bin ick!« beharrte Rudi tapfer, obwohl die genannten Zahlen nicht ohne Wirkung auf ihn blieben. »Aber darf ick Sie mal was fragen? Die Maerkers, die sind doch sozusagen Ihre Familie. Die Tochter vom Konsul is' Ihre Frau. Warum wollen Sie Ihrer eigenen Familie schaden?« Saalbach schwieg einen Moment überrumpelt. Dann sagte er leise: 147
»Weil es mir im Grunde geht wie Ihnen, Rudi. Ich bin auch so eine Art Sohn vom Konsul. Ich hab' ihn verehrt wie meinen Vater. Und er hat mich geschätzt. Und gefördert. Wie Sie übrigens auch. Und nach seinem Tod hat die Familie Maerker mich behandelt wie einen x-beliebigen Angestellten.« Noch leiser fügte er hinzu: »Und da schließe ich meine Frau ein.« Er blickte Rudi an. Seine Augen waren schmal und voller Hass. »Und das, Rudi, kann auf die Dauer kein Mensch ertragen, diese … Demütigungen. Und Sie – Sie werden auch gedemütigt.« Er stockte und lächelte plötzlich. »Wenn Ihnen Ihr rechtmäßiger Besitz so gleichgültig ist – ich kann Versuchen, das zu Verstehen. Aber Sie haben eine kleine Tochter. Was ist denn mit ihr? Mit ihrer Zukunft? Denken Sie denn gar nicht an Petra?« Rudi schwieg, aber er wirkte betroffen. Saalbach sah es wohl, und er wusste, dass wenigstens sein letzter Pfeil sein Ziel erreicht hatte. Wenn Rudi auch heute noch nicht bereit war, einen Entschluss zu fassen – er würde darüber nachdenken.
Am nächsten Morgen fuhr Dr. Brockmann noch vor der Sprechstunde zu den Lembergs. Marthes Bett stand im Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Neunjährige lag mit fieberheißem, rotem Gesicht in den Kissen. Winne und Traude waren dabei, als Dr. Brockmann den kreisförmigen roten Fleck auf Marthes Bauch betrachtete. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Gabi und Kathrin neulich beim Mittagessen. Über den kleinen Jungen, der durch einen Zeckenbiß Hirnhautentzündung bekommen hatte. Auch Marthe hatte einen Zeckenbiß. Dr. Brockmann blickte zu ihren Eltern auf. »Das hättet ihr nich' vielleicht noch 'n bißken spannender machen können?« fragte er in dem matten Versuch, das, was er gleich sagen musste, ein wenig zu entschärfen. »Ick dachte mir, es is' 'ne Erkältung«, murmelte Traude. »Kann doch nich' so schlimm sein«, pflichtete Winne ihr bei. Dr. Brockmann zog Marthes Pyjamajacke hinunter und deckte sie 148
zu. »Doch, Winne. Marthe muss ins Krankenhaus. Das Fieber kommt von 'nem Zeckenbiß. Und damit darf man nich' spaßen. Ick bin ziemlich sicher, dass es noch schnell in 'n Griff zu kriegen is' … aber na ja … Verdacht auf Hirnhautentzündung.« »Hirnhautentzündung?« wiederholte Traude mit weit aufgerissenen Augen. »Det is' doch, wovon die Leute verrückt werden?« In hilflosem Entsetzen fuhr sie zu ihrem Mann herum. »Und du! Du hängst bei minderjährige Rocker rum! Wie wär' et, wenn de dich ma' wieder um deine Familie kümmern würdest!« Draußen ertönte der Tür gong. Winne rührte sich nicht, sondern wirkte wie erstarrt vor Schrecken. Traude verließ hastig das Zimmer, als der Gong zum zweiten Mal anschlug. Peter Brockmann wandte sich an Winne. »Da is' noch wat, Winne. Wir kenn' uns ja nu' schon ein paar Jahre …« »Ja, Herr Doktor«, sagte der schmächtige Mann Vertrauensvoll. »Du … du hast da ein paar neue Freunde«, fuhr Peter fort, verstummte aber gleich wieder mit einem Blick auf Marthe, der er zulächelte. »Nee, lass uns erst mal nach 'm Krankenwagen telefonieren.« In diesem Moment kam Petsy ins Zimmer gestürmt. Sie entdeckte das Kind im Bett und den unbekannten Mann daneben, war aber zu aufgeregt, um mehr als ein kurzes »Entschuldigung« hervorzubringen. Dann wandte sie sich sofort an Winne. »Winne, du darfst det nich' machen! Die woll'n doch bloß deine Kohle abzocken. Unterschreib nischt!« Traude, die von Petsys Auftauchen offensichtlich überrumpelt worden war, tauchte im Schlafzimmer auf. »Wer is' die? Schmeiß die sofort raus.« Petsy hob begütigend die Hände. »Keene Aufregung, ick jehe gleich von selbst. Haste det verstanden, Winne?« Der schüttelte hilflos den Kopf. »Ja … nee. Wieso? Wat is' denn?« »'tschuldigung« sagte plötzlich eine Stimme von der Tür her. Es war Mario. »Die Tür stand offen.« Er warf Winne einen scharfen Blick zu. »Darf ick ma' fragen, wat los is'? Wir war'n beim Notar verabredet. Wo bleibst du denn?« 149
»Ich glaube«, sagte Dr. Brockmann ruhig, »Winne kommt nich' zum Notar.« Mario bekam schmale Augen. »Ach? Darf man wissen, wer Euer Gnaden sind?« Erst jetzt gewahrte er Petsy und starrte sie verblüfft an. »Wat machst du denn hier?« Peter hatte sich erhoben. »Brockmann. Ick bin Arzt, und ich würde Sie jetzt bitten, den Raum zu verlassen.« Mario beachtete seine Worte gar nicht. Ihm dämmerte, was Petsy hier wollte, und jähe Wut schoss in ihm hoch. Drohend ging er auf das Mädchen zu. »Du bist doch die letzte …« Er duckte sich und wollte sich auf Petsy stürzen. Das folgende ging so rasch, dass niemand richtig wusste, wie es passierte. Petsy brachte Mario mit einem unvorstellbar schnellen Karateschlag zu Fall. Rücklings fiel er auf das Ehebett der Lembergs.
An diesem Morgen kam Dr. Brockmann zu spät in seine Sprechstunde. Das Wartezimmer war bereits voll besetzt, als er die Praxistür aufriss und so schwungvoll, wie ihm eigentlich gar nicht zumute war, sein übliches »Morjen, allerseits!« rief. Er beugte sich zu Gabi, die wie immer hinter dem Tresen saß, und murmelte: »Jing nich' anders. War mal wieder etwas komplexer.« Gabi grinste. »Du kannst eben doch nich' weg. Die Menschheit braucht dich. Obwohl's mir leid tut – wegen Dr. Weber.« Sie deutete zur Sprechzimmertür. »Besuch …« Drinnen saß Iris in einem Sessel. Sie sah wie das verkörperte Schuldbewusstsein aus. »Setz dich«, bat sie, als Dr. Brockmann die Tür hinter sich schloss. Er gehorchte. »Ja?« fragte er beunruhigt. »Bitte, anschnallen«, fuhr sie fort. »Ich habe heute morgen ganz früh einen Anruf bekommen. Ich soll einen Wirtschaftsprozess überneh150
men. Als Nebenklägerin der Geschädigten. Das war' die Chance meines Lebens … beruflich, meine ich«, verbesserte sie sich. »Haste daneben noch Zeit für 'ne Sache Körperverletzung in Notwehr?« erkundigte sich Dr. Brockmann und dachte an Petsy, die Mario durch ihren Karateschlag ziemlich lädiert hatte. Er würde deshalb bestimmt zum Kadi laufen. Iris nickte und blickte Peter mit plötzlicher Besorgnis an. »Etwa du?« fragte sie. Als er stumm den Kopf schüttelte, lächelte sie erleichtert.
Die Entführung
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r. Brockmann legte den Arm um Iris' Hüfte. Sie standen beide vor der Tür des Gartenhauses in Schwanenwerder und blickten über das Wasser, dessen Oberfläche ein leichter Wind kräuselte. Der Morgen war klar und schön, und Iris hätte die friedliche, sonnendurchtränkte Atmosphäre noch ein paar Minuten länger genießen mögen. Aber Dr. Brockmann beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, der besagte: Komm jetzt, der Alltag beginnt. Als er Iris mit sich zog, begegnete ihnen Anna Maerker, die einen Spaziergang am Seeufer entlang gemacht hatte. Sie lächelte den beiden überrascht zu. »Wenn ich gewusst hätte, dass ihr hier seid, hätte ich euch zum Frühstück gebeten. Warum seid ihr nicht einfach nach oben gekommen?« Peter empfand einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er seine Schwiegermutter in der letzten Zeit vernachlässigt hatte. »Wir haben auch nich' gewusst, dass wir hier sind«, erwiderte er mit einer Anspielung darauf, dass Iris nur selten zu bewegen war, nach Schwanenwerder herauszukommen. »Hat sich gestern kurzfristig ergeben, dass ick mal wieder herdurfte.« 151
Iris registrierte seine Stichelei mit einem amüsiert strafenden Blick. Sie begrüßte Anna und fuhr dann fort: »Peter übertreibt natürlich furchtbar. Er kann hier sein, so oft und so lange er will. Er tut manchmal so, als sei sein Aufenthalt in meiner Wohnung so eine Art Festungshaft.« Stirnrunzelnd betrachtete Brockmann die Blumen und Sträucher um das Gartenhaus. »Det kann nich' so bleiben«, murmelte er. »Alles verkrautet und verwildert.« Er stellte seine Arzttasche ab und bückte sich, um zwei, drei Unkrautbüschel herauszureißen. Rudi Lehmann, der gerade mit einer Schubkarre und Gartengeräten auftauchte, sah es von weitem und rief im Näherkommen: »Ick hätte det schon längst jemacht, Herr Dokter, aber Sie ha'm mir ja jeglichen Eingriff in Ihre private Bundesgartenschau verboten.« Noch halb gebückt, wandte Peter sich um und verspürte plötzlich einen heftigen stechenden Schmerz im Rücken. Gepeinigt verzog er das Gesicht und versuchte äußerst mühsam, sich aufzurichten. Rudi ließ seine Karre stehen und stützte ihn. »Seh'n Se«, sagte er und griff nach Dr. Brockmanns Arzttasche, um sie ihm in die Hand zu drücken. Anna und Iris hatten einen raschen Blick gewechselt. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, Peter, wenn du die Blumen auf Frau Paulis Balkon gießt«, meinte die alte Dame amüsiert. »Da brauchst du dich nicht zu bücken.« Auch Iris musste ein Lächeln unterdrücken, weil es wirklich ein bisschen komisch ausgesehen hatte, wie Peter plötzlich zusammengezuckt und kaum hochgekommen war. »Das ist ein Argument, auf das ich bisher noch gar nicht gekommen bin.« Brockmann hatte starke Schmerzen. Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als jetzt darüber zu jammern. »Ihr seid roh, Leute«, sagte er nur. »Ick erklär' euch mal bei Jelejenheit, wat 'n Lumbago is'.« Er war froh, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit von ihm abund seinem Schwager Georg zuwandte, der mit eiligen Schritten von der Villa herüberkam. »Wo stecken Sie denn, Rudi?« rief er ärgerlich. »Ich muss in die Firma. Und das schon längst …« Überrascht blickte Rudi auf seine Uhr. »Aber es is' doch erst …« 152
»Ich weiß, wie spät es ist«, unterbrach ihn Dr. Maerker knapp und begrüßte Peter und die beiden Frauen. »Hab' eben einen Anruf bekommen. Eins unserer Fertigungsbänder hat den Geist aufgegeben. Ich muss da sofort hin.« »Kann Rudi ja nich' wissen, wenn du plötzliche Anrufe kriegst«, meinte Brockmann versöhnlich, und der Fahrer verteidigte sich: »Ick wollte die Zeit nutzen und hinten am Ufer die Blätter …« »Ja, ja, schon gut«, fiel ihm Georg ins Wort. »Nun hab' ich Sie ja gefunden und bitte Sie, dass wir möglichst schnell aufbrechen.« Normalerweise hätte sich Rudi über den gereizten Ton seines Chefs nicht geärgert. Es kam selten genug vor, dass Dr. Maerker aus der Haut fuhr. In der Regel war er zwar distanziert, aber immer freundlich. Und falls er wirklich mal nervös und deshalb ungerecht war, ging Rudi mit einem Schulterzucken darüber hinweg. Aber an diesem Morgen reagierte der sonst so vernünftige, gutmütige Mann mit einer für Georg Maerker unverständlichen Zornesaufwallung. Das letzte Gespräch mit Bernd Saalbach ging Rudi im Kopf herum. Und so gern er es auch gewollt hätte, er konnte die Erinnerung daran nicht abschütteln. Die Pfeile, die Saalbach abgeschossen hatte, saßen tief und begannen zu wirken. »Denn jestatte ick mir noch untertänigst, die Pfoten waschen zu dürfen und die Dienstmütze aufzusetzen«, sagte Rudi aufgebracht, bückte sich nach seiner Schubkarre und ging mit langen Schritten zum Haus. Georg wollte zu einer scharfen Entgegnung ansetzen, doch seine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass …« »Was war denn das?!« fragte Georg, zwischen Verblüffung und Ärger schwankend. »'ne Reaktion«, entgegnete Dr. Brockmann trocken und wechselte einen Blick mit seiner Schwiegermutter. »Ja aber … muss ich die mir gefallen lassen?« fragte Georg beinahe hilflos. »Es … es ist vermutlich immer noch …« setzte Anna zu einer Erklärung an, »Rudi scheint mit dem Tod seiner Mutter noch nicht fertig geworden zu sein. Er ist ein bisschen dünnhäutig geworden.« 153
»Und deshalb darf er mir gegenüber flapsig reagieren?« Georg schüttelte unwirsch den Kopf. Dr. Brockmann verspürte wenig Lust, die Diskussion zu vertiefen. »Ja, ick müsste auch schon längst weg sein. Aber ick hab's da leichter. Ick bin mein eigener Chauffeur.« Das heißt, an diesem Morgen war Iris sein Chauffeur. Sie hatten vereinbart, dass sie Peter vor seiner Praxis absetzen und anschließend in ihr Büro fahren würde. »Du bringst mir den Wagen dann zum Mittagessen«, sagte er beim Abschied. Iris lachte. »Du willst Blech essen?« »Wat?« fragte Peter verblüfft, und sie wiederholte: »Ich soll dir den Wagen zum Mittagessen bringen.« Er grinste. »Sag ick ja: Deutsch is 'ne schwere Sprache. Also bis nachher.« Iris betrachtete ihn von der Seite. »Du wirst ein bisschen zerstreut. Ist das wegen Rudi?« Er nickte. »Ja. Ick glaube, da entwickelt sich was ganz anderes, als wir uns das'n bisschen blauäugig vorgestellt hatten. Rudi hat sich wahrscheinlich überschätzt. Oder unterschätzt. Er hat unterschätzt, dass sein Kopp anders funktioniert als sein Gefühl. Und wenn dann noch so 'n paar Situationen wie vorhin zusammenkommen, wird bei ihm 'ne Sicherung durchbrennen. Und ick fürchte, mit 'nem ziemlichen Knall für alle.« Während ihres Gesprächs waren zwei Jungen und ein Mädchen mit ihren Fahrrädern ziemlich waghalsig auf dem Gehsteig herumgekurvt. Jetzt hörten Brockmann und Iris ein schepperndes Geräusch und sahen, wie die beiden Jungen abrupt bremsten. Dr. Brockmann griff nach seiner Arzttasche, sprang hastig aus dem Wagen und sah ein Stück weiter entfernt das Mädchen mitsamt seinem Rad auf der Straße liegen. Die vielleicht Zehnjährige richtete sich auf, als der Arzt sich neben sie auf den Boden kauerte. Sie blutete aus einer Schürfwunde am Knie. Die beiden Jungen lachten, und einer rief: »War det erst die Probe, ey, oder war det schon die Nummer?« 154
Dr. Brockmann öffnete seine Tasche. »Das bringen wir am besten gleich in Ordnung, was?« meinte er freundlich. Das Mädchen warf ihm einen abweisenden Blick zu. »Sind Sie Arzt, ey?« Und als er bejahte, sprang es auf, riss sein Rad hoch und schwang sich in den Sattel. »Wejen so'n bißken brauch' ick doch keen' Dokter! Jeh'n Se ma' im Wartezimmer bei Ihre Omas!« Damit radelte es, wild in die Pedale tretend, davon. Verblüfft schloss Dr. Brockmann seine Arzttasche. Iris, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war, meinte amüsiert: »Ihr müsst den Nachwuchs motivieren, sonst seid ihr eines Tages arbeitslos.« Ziemlich vorsichtig richtete Peter sich auf. Die hastigen Bewegungen eben hatten ihm erneut ziemliche Schmerzen bereitet. Jetzt stützte er die Hand in die Seite und kam langsam auf die Beine. Iris' Gesichtsausdruck wurde besorgt. »Sag mal, was hast du denn?« »Nischt, nischt«, winkte er ab. »Der Opa jeht jetzt zu seine Omas.« »Also bis nachher!« Sie winkte ihm zu und wandte sich zum Wagen. Peter hielt sie zurück. »Krieg ick keenen Kuss?« Sie schüttelte den Kopf. »Du wirst da oben sehnlich erwartet. Vielleicht steht Gabi am Fenster – und dann musst du gleich wieder private Kommentare geben. Also …« Wie recht sie mit dieser Vermutung hatte, bestätigte sich, als Gabi während der Sprechstunde mit den Röntgenbefunden eines Patienten Peters Zimmer betrat und prompt sagte: »Na, das war ja heute morgen auf der Straße 'ne Verabschiedung ziemlich auf Distanz.« Er unterdrückte ein Grienen. »Iris wollte vermeiden, dass du uns're Zärtlichkeiten mitkriegst.« Gabi fuhr verblüfft herum. »Woher wusste denn Iris, dass ick am Fenster stehe …« Jetzt grinste er doch, und sie ärgerte sich, weil sie sich verraten hatte. Dann jedoch entdeckte sie, dass Dr. Brockmann sein Bein nachzog, als er zum Schreibtisch ging. »Humpelst du?« fragte sie besorgt. »Haste 'n Fuß verknackst?« »Kleine Fußheberlähmung«, murmelte er. 155
»Wat?« Er bemühte sich, einigermaßen normal zu gehen. »Siehste – kennste nich'. Nu' schick mir mal Herrn Schmitz mit seiner Gastritis rein.« Sie warf ihm im Hinausgehen einen beunruhigten Blick zu. »Vielleicht solltest du auch mal zum Arzt jeh'n.« Mittags traf sich Dr. Brockmann wie verabredet mit Iris in der Eckgaststätte in der Nähe seiner Praxis. Und hier rückte Iris ein bisschen verlegen damit heraus, dass sie, wie sie es nannte, Peter eine Freude machen wollte. »So?« fragte er mit leichtem Misstrauen. »Ja«, bestätigte sie eifrig. »Du hast … also, wie du heute morgen zu Anna gesagt hast, du ›durftest‹ mal wieder nach Hause – und wie du dann um deine Pflanzen besorgt warst … Ich wollte dir vorschlagen, die nächsten drei Nächte bei dir zu Hause zu übernachten.« »So war das doch nich' jemeint. Wirklich nich'. Ick bin jern bei dir. Und wenn wir erst mal unsere Traumvilla haben …« Ein bisschen beschämt griff er nach ihrer Hand. »Ick entschuldige mich für meine dämliche Bemerkung von heute morgen.« Dass er so reumütig war, rührte sie, und sie gab ihm rasch einen Kuss auf die Wange. Dann holte sie tief Luft. »Tja, und nun komm' ich mir ziemlich hinterhältig vor. Es ist nämlich so: Bei mir ist heute eine halbe Lastwagenladung mit Akten zu meinem Wirtschaftsprozess abgeliefert worden, und die muss ich so schnell wie möglich durcharbeiten. Das heißt, so gut wie Tag und Nacht.« Seine Miene verdüsterte sich. »Und weil der alte Knabe dabei stören würde, wird er in seinen Buddelkasten an der Havel geschickt.« »Das geschieht mir recht«, sagte Iris kleinlaut. »Ich hab' die Geschichte falsch herum erzählt. Dabei wollt' ick dir wirklich einen Gefallen tun. Es war' mir nämlich viel lieber, wenn du bei mir wärst. Ich würde einen Teil der Akten mit nach Hause nehmen. Du würdest etwas lesen, Musik hören, ins Bett gehen, wenn du müde bist. Ich würde vielleicht weiterarbeiten und wüsste: Du bist da, ich bewache deinen Schlaf …« Aber die Vorstellung, drei Feierabende in seiner geliebten Höhle in Schwanenwerder zu verbringen, war viel zu verlockend für Peter 156
Brockmann, als dass er sich von Iris' Worten noch davon hätte abbringen lassen. »Nee, nee, du hast ja recht. Ick habe falsch reagiert. Ick erwarte ja auch nich', dass du im Auto sitzt und auf mich wartest, wenn ick Hausbesuche mache.« Dieser Vergleich hinkte natürlich gewaltig, und Iris seufzte: »Warum kann ein Mann so gut wie nie richtig hinhören?!« Eine Weile widmeten sie sich schweigend ihrem Essen. Dann meinte Iris: »Übrigens hast du immer wieder gesagt, du schuldest Gabi längst mal wieder eine Einladung. Vielleicht ist das die Gelegenheit.« Sie fing Peters forschenden Blick auf und schüttelte den Kopf. »Nun sieh mich nicht so an. Ich mein' das ernst. Was hältst du davon?« »Ich dachte, Fangfragen sind unzulässig …« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, war natürlich auch wieder falsch. Warum soll ich dir Vorschläge machen, mit wem du essen gehst.« »Außerdem find' ick das 'ne sehr schöne Vorstellung, mir mal wieder was zu Hause zu brutzeln«, warf Peter ein. »Dann lad Gabi doch dazu ein! Das ist vielleicht noch besser, persönlicher …« »Alle drei Abende oder nur einen?« fragte er trocken, und sie biss sich auf die Lippen. »Ich sehe, du glaubst mir nicht. Du denkst offenbar tatsächlich, ich empfinde Gabi als … Gefährdung. Also lass es.« Iris war nicht gekränkt, nur ein bisschen traurig – und auch verunsichert. Woran lag es nur, dass sie und Peter sich neuerdings so oft missverstanden? Woher kamen all die Schwierigkeiten und Probleme in ihrer Beziehung? Ziemlich schweigsam beendeten sie ihre Mahlzeit, und dann wurde es Zeit für Dr. Brockmann, in die Praxis zurückzukehren. Hier war eine seiner ersten Patientinnen das Mädchen, das am Morgen vom Fahrrad gestürzt war und Peters Hilfe so rüde abgelehnt hatte. Es war gekommen, um sich die Wunde am Knie nun doch verarzten zu lassen. »Und warum haste mich auf der Straße hocken lassen wie'n dummen August?« fragte Dr. Brockmann, während er, von Schwester Eri157
ka assistiert, die Schürfwunde säuberte. »Hätt' ick doch gleich machen können.« »Ja, det tut mir leid«, sagte die kesse Zehnjährige. »Det war wegen den blöden Fuzzis. Ick dachte mir: Machste 'ne Flocke, sieht besser aus. Wissen Se, man muss ja heutzutage unjeheuer uff Zack sein, wenn ein'n die Kerle nich' einmachen soll'n.« Brockmann musste einen Moment das Gesicht abwenden und sah, wie sich Schwester Erika und Gabi, die im Hintergrund ein paar Unterlagen ordnete, einen verständnisinnigen Blick zuwarfen. Dann erwiderte er ernsthaft: »Da haste natürlich recht. Tja, ick möchte dir jerne noch 'ne Spritze jeben, aber dazu brauch' ick das Einverständnis von dein'n Eltern. In die Wunde könnte nämlich Dreck reingekomm' sein. Da jibt's so ziemlich jemeine Bazillen …« »Tetanus, ick weeß!« unterbrach die Kleine seine Erklärungen. »Brauch ick nich'. Letzten Sommer bin ick auf so'n blöden Bauernhof von 't Pony jefall'n. Lüneburger Heide, Psycho-Pannenberg. Da ha'm se mir schon jeimpft mit Tetanus.« »Ah so. Und haste die zweite und dritte Spritze auch jekriegt?« »Logo. Ick wollte doch keen' Starrkrampf. Schnauze nich' mehr uffkriegen, det fehlte noch!« Gabi hörte in der Anmeldung das Telefon klingeln und nahm den Hörer des Zweitapparates im Behandlungszimmer ab. »Praxis Dr. Brockmann. Ja, Augenblick …« Sie wandte sich an Peter. »Das is' der Vater von dem Jungen, der schon zweimal angerufen hat.« Dr. Brockmann richtete sich auf. »Machen Sie bitte hier weiter, Erika.« Während die rundliche Schwester das Knie des Mädchens verband, ging er zum Telefon. Er wechselte ein paar Worte mit dem Anrufer und meinte dann: »Gut, Herr Siegel, ick komme nachher vorbei. Wo war das?« Er notierte sich die Adresse und nickte. »Klingelschild Herrmann. Gut. Bis nachher.«
Der Mann, der in Dr. Brockmanns Praxis angerufen hatte, hieß Eber158
hard Siegel. Er war Inhaber einer kleinen Sortimentsbuchhandlung, fünfunddreißig Jahre alt und hatte ein freundliches, vertrauenerweckendes Gesicht. Am Vormittag hatte er in seiner Buchhandlung ein Telefongespräch geführt und dann ein Schild in die Tür gehängt, auf dem stand: ›Closed – Geschlossen‹. Danach war er mit einem Taxi weggefahren. Aus einem Haus in der Innenstadt hatte er einen achtjährigen Jungen abgeholt, der trotz des schönen Wetters einen dicken Winteranorak trug, dazu eine Wollmütze und einen Schal. Der Junge hatte ein fiebergerötetes Gesicht gehabt und ein Schachbrett unter dem Arm getragen. Eberhard Siegel hatte sich mit einer prall gefüllten Reisetasche abgeschleppt. Eine Stunde später saßen die beiden, der Junge und der Mann, in einer teuer aber nicht unbedingt geschmackvoll eingerichteten Wohnung mit falschem Marmorkamin, Waffen an den Wänden, dekorativen Grünpflanzen und ostasiatischen Kunstgegenständen. Auf einem niedrigen Marmortisch stand das Schachbrett. Eberhard Siegel starrte grübelnd darauf und murmelte: »Ja, ich glaube, meinen Turm bin ich los …« Er setzte eine Figur, und der Junge, der mehr auf dem Sofa lag als saß, immer noch den Schal um den Hals und in eine Wolldecke mit Tigerfellmuster gewickelt, lächelte ein bisschen. »Ich hab' dir gesagt: Die Rochade war 'n Fehler.« Seine Stimme klang belegt, und als er schluckte, verzog er das Gesicht. »Tut der Hals weh, Christof?« fragte Siegel besorgt. Dann streckte er die Hand aus. »Gib mir mal das Fieberthermometer.« Er erschrak, als er die Temperatur ablas. Neununddreißig, acht … »Was hast du auf den Zettel geschrieben?« fragte der Junge, der Christof hieß. Siegel schrak auf. »Was?« »Auf den Zettel, den du in die Küche gelegt hast.« Siegel warf ihm einen liebevollen Blick zu. »Dass es dir gut geht und dass ich mich um dich kümmere.« Der Junge lehnte sich erschöpft zurück, und Eberhard Siegel rang 159
sich zu dem Entschluss durch, einen Arzt kommen zu lassen. »Aber vorher«, sagte er, »sollten wir noch 'n paar Sachen besprechen.« Als Dr. Brockmann kam, war er zunächst von der aufwendigen Wohnungseinrichtung überrascht. »Donnerwetter«, sagte er. »Ick wusste überhaupt nich', dass es in unserem Kiez solche Wohnungen gibt.« Eberhard Siegel lächelte verlegen. »Ja, das … das ist wohl auch eher eine Ausnahme.« Peter sah Christof auf der Couch liegen und ging freundlich auf ihn zu. »Und das is' der Patient?« Der Junge hielt ihm die Hand hin. »Christof Siegel«, stellte er sich vor. »Tach, Herr Siegel!« Peter Brockmann nahm die Hand und drückte sie. Dann setzte er sich neben Christof auf die Couch. »Ich … ich habe die Wohnung von einem Freund übernommen«, erklärte Eberhard Siegel nervös. »Wegen der etwas störrischen Hausverwaltung läuft sie weiter auf seinen Namen. Die wollten die Wohnung jemand anderem geben. Deshalb muss draußen auch weiter Herrmann stehen. Sie haben sich vielleicht gewundert …« »Nö, nö«, sagte Brockmann gemütlich. »So was kommt öfter vor.« Er öffnete seine Arzttasche und entnahm ihr einen Rachenspatel. »Na, denn woll'n wir mal …« Er leuchtete Christof mit einer Lampe in den Hals, während der Junge »Aaaah« sagte, und meinte dann: »Tja, da haben wir eine fabelhafte ausgewachsene Angina.« Er nahm Christof den Schal ab, tastete den Hals ab und holte sein Stethoskop aus der Tasche. »Dann haste in dieser schönen Wohnung ja bestimmt auch 'n eigenes Zimmer, Christof, was? Wo du ruhig liegen kannst … Ziehste mal die Pyjamajacke aus?« Er beobachtete, wie Siegel und der Junge sich einen ratlos erschrockenen Blick zuwarfen. Dann sagte der Mann: »Ja, natürlich. Nur das … das ist ein bisschen unaufgeräumt. Das wollten wir Ihnen nicht zumuten.« Christof nickte erleichtert. Auch das bekam Dr. Brockmann mit, als er den Brustkorb abhörte. Anschließend packte er sein Stethoskop weg und holte statt dessen 160
das noch leere Krankenblatt hervor, das Gabi ihm für diesen Hausbesuch mitgegeben hatte. Er trug zunächst seine Diagnose ein, ebenso Christofs Geburtsdatum, das der Junge ihm nannte. Dann begann er, ihn nach seinen bisherigen Krankheiten zu befragen, die er gewissenhaft notierte. Windpocken, Keuchhusten, Masern, Mittelohrvereiterung … »Du warst aber ziemlich viel krank in deinem Leben, Christof«, meinte er dabei. »Und wie steht's mit Ihren Kinderkrankheiten, Herr Siegel?« wandte er sich an Eberhard, der sich inzwischen in einem Sessel gesetzt hatte. Eberhard schrak zusammen. »Mit meinen … wieso?« »Ick notiere mir auch die Krankheiten der Eltern«, gab Dr. Brockmann freundlich Auskunft. »Daraus kann man häufig wichtige Schlüsse ziehen – auf das Kind.« »Ach so, ja. Also soviel ich mich erinnere: Windpocken, Ziegenpeter, Angina hatte ich auch häufig, eine Blinddarmoperation, als ich zwölf war – und vor fünf Jahren hatte ich eine Steißbeinfistel. Da war ich im Krankenhaus.« Brockmann nickte. »Und Ihre Frau?« Eberhard Siegel räusperte sich. »Ja also, da kann ich praktisch überhaupt nichts sagen. Eine Grippe mal … über Kinderkrankheiten haben wir nie gesprochen.« »Als ich fünf war, war Mammi im Krankenhaus«, meldete sich Christof zu Wort. Siegel starrte ihn erschrocken an, dann nickte er bestätigend. »Ach ja, stimmt.« »Und weshalb war Ihre Frau im Krankenhaus?« erkundigte sich Dr. Brockmann. Fahrig strich sich Eberhard über die Stirn. »Das war … eine Unterleibsgeschichte. Man müsste sie mal fragen, aber das geht zur Zeit leider nicht. Meine Frau ist verreist – im Odenwald. Ein ganz abgelegener Hof. Da gibt's nicht mal Telefon.« Peter lächelte höflich. »Kein Telefon. So was wünsch' ich mir auch mal. Na gut.« Er wandte sich an Christof. »Wir werden die Mamma fragen, wenn sie zurück is'. Das is' denn hier ja 'n richtiger Männer161
haushalt, was? Können Sie sich denn wenigstens die ersten Tage um den Jungen kümmern, Herr Siegel?« »Ja, ich … ich habe eine Buchhandlung. Gutes Personal … Das geht schon.« »Na, prima. Und bei welcher Kasse sind Sie versichert?« »Das … das geht privat«, sagte der Mann hastig. »Liquidieren Sie das bitte privat.« Dr. Brockmann entnahm seiner Tasche ein Privatrezept und füllte es aus. Dabei warf er einen kurzen Blick auf das Schachbrett, das immer noch auf dem Tisch stand. »Du kannst doch sicher schon Schach spielen, Christof?« »Klar.« Der Junge nickte eifrig. »Ich schlag' Eberhard auch meistens.« Siegel versuchte ein Lächeln. Es fiel etwas verzerrt aus. »Ja, das stimmt. Das hat man davon, wenn man seinem Gegner zu viele Tricks verrät.« Brockmann setzte seine Unterschrift unter das Rezept. »Und denn muss man sich seine Gegner schleunigst zu Freunden machen.« »Wir sind Freunde«, beteuerte Christof stolz. Dr. Brockmann warf ihm einen lächelnden Blick zu. Dann gab er Siegel das Rezept und stand wegen seiner Rückenschmerzen, die sich im Lauf des Tages noch verstärkt hatten, ein bisschen mühsam auf. »Dosierung steht drauf. Wenn keine Besserung eintritt, rufen Sie mich bitte wieder an.« Er gab Christof die Hand. »Das Schachspielen lass mal 'ne Weile, Christof. Das strengt jetzt zu sehr an, verstehste … Wo kann ich mir die Hände waschen?« »Im Bad«, erwiderte Siegel unsicher. »Hier entlang, bitte.« Dabei erweckte er für einen Moment den Eindruck, als müsse er erst überlegen, wo sich das Badezimmer befand. Dr. Brockmann warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, sagte aber nichts, sondern folgte ihm hinaus.
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Rebecca Maerker, die hübsche schlanke Frau von Georg Maerker, hatte einen Einkaufsbummel gemacht. Sie stand im Innenhof des Europacenters und betrachtete eine Schaufensterauslage. Dann schlenderte sie zu der großen Wasseruhr hinüber, die wie immer von Schaulustigen und Bewunderern umgeben war. Auch Rebecca blieb stehen und betrachtete die Uhr. Sie merkte nicht, dass sie beobachtet wurde. Erst als eine Männerstimme sie ansprach, wandte sie den Kopf. »Le temps passe«, sagte Gabriel. »Et: où sont les neiges d'antan …« Für einen Moment hatte Rebecca das Empfinden, alles Blut ströme ihr in einer einzigen Woge zum Herzen. Sie blickte den Mann an, und er sagte leise: »Hallo, Rebecca.« »Hallo, Gabriel …« ein seltsames Lächeln umspielte ihre Lippen, so als habe sie gewusst, dass Gabriel eines Tages wieder da sein würde. Der Mann, bei dem Rebecca das gefunden hatte, was es in ihrer Ehe seit langem nicht mehr gab: Liebe, Lachen, Zärtlichkeit … Trotzdem hatte sie gewusst, dass es nicht von Dauer sein konnte. Die Frauen der Maerkers ließen sich nicht scheiden, um einen jungen französischen Studenten mit glatter Haut und leidenschaftlichen dunklen Augen zu heiraten. Gabriel und sie hatten einander Lebewohl gesagt, und er war in seine Heimat zurückgekehrt. »Seit wann bist du wieder hier?« fragte Rebecca und blickte wieder auf die Wasseruhr. »Seit drei Wochen.« »Und warum hast du dich nicht gemeldet?« Ein winziger Schmerz zitterte in ihrer Stimme. Gabriel lächelte sein unwiderstehliches, charmantes Lächeln. »Ich wusste, dass du eines Tages vor mir stehst.« Es war ein Satz wie aus einem Roman, und Rebecca wusste es. Aber sie widersprach nicht, sondern empfand eine plötzliche kleine Wärme, die sich wohltuend in ihr ausbreitete. Gabriel schob seinen Arm unter ihren. »Gehen wir irgendwo eine Tasse Kaffee trinken?« 163
Es war nicht vernünftig, jetzt ja zu sagen. Es war doch zu Ende, und sie hatte es selbst so gewollt. Wieso genügten Gabriels Lächeln, sein Blick, der wie eine zärtliche Berührung war, die Nähe seines Körpers, um Rebecca zu veranlassen, mit ihm zu gehen? Später, dachte sie verschwommen, später sag' ich ihm adieu. Was ist schon dabei, wenn wir noch ein paar Minuten zusammen sind? Aber sie wusste, dass sie sich selbst etwas vormachte. Sie fanden einen Fenstertisch in einem Café mit Blick auf die Gedächtniskirche. Gabriel erzählte, was er in der letzten Zeit gemacht hatte. Rebecca hörte weniger auf den Sinn seiner Worte als auf seine Stimme, und die Wärme in ihr war immer noch da. »Ja, dann«, sagte sie schließlich, als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten, »ich hab' mich sehr gefreut, dich wiederzusehen …« Sie wollte sich verabschieden, wirklich, sie wollte es, aber Gabriel griff in sein Jackett und zog seine Brieftasche hervor. »Halt, Moment …« Hastig schrieb er ein paar Worte auf einen Zettel und schob ihn Rebecca hin. »Was ist das?« »Meine Adresse zur Zeit. Und die Telefonnummer. Ich wohne bei einem Freund. Der ist verreist.« »Nein«, sagte sie und schob den Zettel zurück. »Nein, nein, Gabriel.« Sie schaffte es, ihre Stimme leicht und ein bisschen ironisch klingen zu lassen. »Wir wollen doch hoffentlich das ganze Drama nicht wieder von vorn anfangen.« Wie er sie ansah … »Hast du es … als Drama empfunden?« Einen Moment lang war sie ganz ehrlich, bar jeder Verstellung. »Für mich war es zum Schluss beinahe eine Tragödie.« »Das ist typisch für eine klassische Komödie«, sagte er. »Am Ende des zweiten Aktes sieht es beinahe aus wie eine Tragödie. Aber dann kommt ja immer noch der dritte Akt.« »Und den lassen wir weg«, beharrte Rebecca. Sein Blick wurde traurig. »Wir gehen also in der Pause.« Verdammt, er sollte sie nicht so ansehen! Rebecca holte zitternd Atem. »Du bist der unverschämteste Schauspieler, den ich kenne!« Mit 164
einer vagen Geste hob sie die Schultern. »Dabei kenne ich überhaupt keine Schauspieler …« Gabriel ging nicht auf ihre Worte ein. »Du hast mich gefragt, warum ich mich nicht gemeldet habe. Das klang wie ein Vorwurf. Und jetzt – ist das logisch?« »Für mich ja«, flüsterte sie tonlos. Er nickte lächelnd. »Gut. Dann bleibst du jetzt noch ein wenig – und brauchst dafür den Zettel nicht zu nehmen …« Zur gleichen Zeit sagte Dr. Georg Maerker, der diesmal ganz gegen seine Gewohnheit im Fond seines Wagens und nicht auf dem Beifahrersitz saß, zu Rudi Lehmann: »Sie können mich am nächsten Taxistand absetzen, Rudi.« Er fing einen überraschten Blick seines Fahrers im Rückspiegel auf und fügte hinzu: »Ich muss nach Spandau. Ich möchte Ihnen den Umweg nicht zumuten. Sie haben Feierabend.« »Macht mir nischt aus«, erwiderte Rudi knapp. »War' ja nich' das erste Mal.« »Nein, nein, fahren Sie nach Hause«, beharrte Georg. »Dann können Sie vielleicht nachholen, woran ich Sie heute morgen gehindert habe.« »Das war auch Arbeit«, erklärte Rudi mürrisch. »Is' nich' mein Garten.« »Herrgott, dann lassen Sie's!« fuhr Georg gereizt auf. »Was ist denn los? Hab' ich Ihnen irgendwas getan? Dann sagen Sie's!« »Nee. Is' in Ordnung«, knurrte Rudi. Er entdeckte einen Taxenstand. »Soll ick da vorne halten?« »Bitte, ja«, entgegnete Dr. Maerker mit einem Seufzer und stieg aus, sobald der Wagen stoppte. Er ließ sich zuerst zu einem Blumengeschäft bringen, wo er einen ziemlich teuren Strauß erstand. Dann fuhr er weiter zu einem hübschen Neubau in der Nähe des Tiergartens, dem man ansah, dass die Mieten hier nicht gerade billig waren. Dr. Maerkers Verärgerung über Rudis seltsame, für ihn unverständliche Widerborstigkeit war verflogen. Er drückte auf den Klingelknopf, unter dem ein Schild mit dem Namen ›Rebecca Scholz‹ angebracht war. 165
Die neunundzwanzigjährige, sehr attraktive Laborantin der Maerker AG öffnete. Sie trug ein Kleid, das in seiner raffinierten Schlichtheit sehr sexy wirkte und ihre aufregende Figur unterstrich. »Komm rein«, sagte sie lächelnd zu Georg. In der Diele küssten sie einander, ehe Georg den mitgebrachten Blumenstrauß Rebecca Scholz in den Arm drückte. Und es war wie immer, wenn er in die Wohnung am Tiergarten kam. Das Verlangen, das er nach dieser Frau empfand, war stärker als alles andere. Georg begehrte sie mit einer Heftigkeit, der der sonst ängstlich auf Beherrschung bedachte Mann nichts entgegenzusetzen hatte. Rebecca lächelte, als er sie ins Schlafzimmer drängte und den Reißverschluss ihres Kleides herunterzog. Eng umschlungen fielen sie auf das Bett. Später – es war draußen inzwischen dunkel geworden – saßen sie in Rebeccas Wohnzimmer, sie in einem seidenen Hausmantel, er nur mit Hemd und Hose bekleidet, und tranken eine Flasche Sekt. Rebecca Scholz beobachtete Georg, der ein wenig geistesabwesend wirkte. Schließlich fragte sie mit einem spöttischen Lächeln: »Schlechtes Gewissen?« Er schrak aus seinen Gedanken auf. »Was? Nein. Und du? Hast du ein schlechtes Gewissen?« Sie schlug die Beine übereinander. »Warum sollte ich? Weil ich mit meinem Chef schlafe?« Ihre Direktheit bereitete ihm Unbehagen. »Spielt es eine Rolle, dass es der Chef ist?« Sie lachte leise. »Überhaupt nicht. Es könnte auch jemand anders sein. Entscheidend ist, dass ich seitdem viel lieber zur Arbeit komme.« »Mehr nicht?« fragte er enttäuscht. Rebecca stand auf und setzte sich zu ihm. »Was willst du hören? Dass du ein großartiger Liebhaber bist? Du bist sanft und schwach. Und ich mag sanfte und schwache Männer.« »Schwach? Wieso schwach?« protestierte Georg. »Und sanft«, bestätigte sie, während sie ihn küsste. Dann fragte sie 166
unvermittelt: »Stört es dich eigentlich, dass deine Frau auch Rebecca heißt?« »Stört es dich?« Sie gab keine Antwort darauf, sondern fragte lächelnd weiter: »Hast du einen Kosenamen für sie? Nennst du sie Rebecca – oder Becci … oder Rebchen – oder irgendwie?« »Nein«, sagte er. »Rebecca. Warum willst du das wissen?« Sie rückte ein Stück von ihm ab und betrachtete ihn prüfend. »Hast du schlechte Laune? Dann geh lieber.« »Nein, nein«, erwiderte er hastig. »Ich hab' bloß ein bisschen Ärger mit meinem Fahrer. Ich hab' mich jetzt ein paarmal an einem Taxenstand absetzen lassen – und er reagiert merkwürdig. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft.« »Dann fahr doch selbst«, schlug sie leichthin vor. Er trank einen Schluck Sekt. »Das geht nicht so einfach. Wenn ich mich plötzlich nicht mehr fahren lasse, dann …« » … würde Rebecca Verdacht schöpfen«, vollendete sie, wieder mit diesem kleinen spöttischen Unterton, den sie oft ihm gegenüber anschlug. Georg Maerker nickte. »Unter anderem.« Sie lehnte sich zurück. »Gib ihm zwei Wochen Sonderurlaub. Sag ihm, er wirkt überarbeitet. In dieser Zeit fährst du, und danach haben sich alle daran gewöhnt, dass du dich auch mal selbst ans Steuer setzt.« »Das ist vielleicht gar keine dumme Idee.« »Ich habe nie dumme Ideen«, sagte Rebecca Scholz lächelnd, und Georg zog sie an sich. »Lass uns von was anderem reden, ja?« Sein Blick verriet, was er sich darunter vorstellte. Er war noch nicht zu Hause, als seine Frau ihren Wagen vor der Villa in Schwanenwerder parkte. Rebecca Maerker hatte einen gehetzten Ausdruck im Gesicht. Peter Brockmann, der gleichzeitig mit ihr eintraf, stellte seinen Wagen versehentlich so ab, dass er ihr den Weg abschnitt, als sie hastig 167
ausstieg und zum Haus wollte. »Entschuldige«, sagte er freundlich. »Ick wusste nich', dass du so schnell bist.« »Ich … ich bin in der Stadt aufgehalten worden«, erklärte Rebecca unsicher. Ihre Schwiegermutter, die die Ankunft der beiden Wagen gehört hatte, kam aus dem Haus. »Na, endlich kommt jemand! Sonja hat einen wunderbaren Rinderbraten gemacht, und ich sitze mutterseelenallein im Haus herum.« »Ist Georg nicht da?« fragte Rebecca nervös, und Anna schüttelte den Kopf. »Er hat am Nachmittag angerufen, dass er noch zu einem Empfang muss.« Es gelang Rebecca nicht ganz, ihre Erleichterung zu verbergen. Dr. Brockmann registrierte es mit leiser Verwunderung. »Was ist jetzt mit dem Braten?« fragte Anna. »Hast du Zeit und Lust, Peter?« »Ja«, erwiderte er. Ursprünglich hatte er Gabi zum Essen einladen wollen, aber sie hatte behauptet, heute schon etwas vorzuhaben, so dass sie ihre Verabredung auf morgen verschoben hatten. »Kommt mir sehr gelegen.« Mit einer freundschaftlichen Geste legte er den Arm um Rebecca und zog sie mit sich zum Haus.
Am nächsten Tag besorgte Dr. Brockmann in der Mittagspause die Sachen, die er brauchte, um für sich und Gabi am Abend ein köstliches Essen zu zaubern. In der Nachmittagssprechstunde herrschte das übliche Gedränge, aber es kam kein unvorhergesehener Fall dazwischen, so dass Dr. Brockmann sicher war, pünktlich Feierabend machen zu können. Dachte er … Eine der letzten Patientinnen dieses Tages war Frau Lüdcke. Sie war noch jung, wirkte aber älter, weil sie nachlässig gekleidet und für ihre Größe zu dick war. »Also wie gesagt«, meinte Dr. Brockmann, als er sie verabschiedete, 168
»den Blutdruck, Frau Lüdcke, den müssen wir runter kriegen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mensch, Lüdeken, du musst wenijer an die Flasche, sonst schaffen wir det nich'.« Die Frau versuchte einen treuherzigen Augenaufschlag. »Ick trinke so jut wie überhaupt nich', Herr Dokter. Det sind bloß … manchma' die Umstände. Seit mein Oller weg is' – und det bißken Stütze …« Dr. Brockmann drückte die Türklinke herunter. »Na, denn erst recht. Schnaps is' doch teuer!« Er öffnete die Tür seines Sprechzimmers. »Mach' ma' 'ne Woche trocken. Sollst ma' seh'n, wie schön det is'.« Gabi verließ gerade ihren Platz hinter dem Tresen und steuerte auf das Sprechzimmer zu. Aber da drängte sich ein kleines etwa achtjähriges Mädchen vor, das draußen gewartet hatte, und blickte flehend zu Dr. Brockmann auf. »Herr Dokter, könn'n Se Mamma nich' sagen, se soll nich' so ville saufen?« Frau Lüdcke holte aus und gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. Die Kleine brach in Tränen aus und rannte aus der Praxis. Ihre Mutter wirkte verlegen. »Tut mir leid, Herr Dokter … Die Hand is' mir ausjerutscht. Wie kann die Jöre so wat sagen!« »Denken Se drüber nach, Frau Lüdcke«, meinte Peter ernst. »Vielleicht kriegen Sei’s raus. Also auf Wiedersehen.« Er schloss die Tür hinter ihr, während Gabi ein paar Papiere auf seinen Schreibtisch legte. »Nu jeht det Jahrtausend bald zu Ende, und Kinder wer'n immer noch verprügelt – oder misshandelt, missbraucht«, sagte sie aufgebracht. »Sojar entführt – wie dieser kleene Junge da.« Dr. Brockmann hob den Kopf. »Entführt? Welcher kleene Junge?« »Ha'm se jestern Abend im Fernseh'n jebracht«, berichtete Gabi. »In der Zeitung stand's auch. Mutter kam nach Hause – Kind war weg. Wahrscheinlich der Freund. Der is' nämlich verschwunden. Und der Junge war ooch noch krank. Muss man sich mal vorstell'n: 'n krankes Kind entführen!« Dr. Brockmann erwiderte nichts darauf. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck starrte er vor sich hin. Erst als er Gabis erstaunten Blick 169
spürte, riss er sich zusammen. »Wat is' denn nu' mit heute Abend?« wollte sie wissen. »Bleibt's dabei?« »Natürlich«, versicherte er. »Grundstoffe sind schon alle im Wagen.« Gabis Augen strahlten. »Is' günstig heute. Bloß drei Hausbesuche.« »Nee. Vier«, murmelte Dr. Brockmann. Er straffte sich. »Is' eben noch einer dazujekomm'n. Glaub' ick jedenfalls. Und wenn's stimmt, dauert der etwas länger.« Verständnislos runzelte sie die Stirn. Er holte einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und löste einen Schlüssel daraus. »Ick erklär's dir, wenn ich nachjekommen bin.« »Nachjekommen? Wohin?« »Na, nach Schwanenwerder«, erwiderte Peter Brockmann in einem Ton, als verspräche er einem Kind dreimal im Jahr Weihnachten. »Wenn du hier fertig bist, dann fährst du vor, genießt schon mal die schöne frische Luft, kannst auch Kahn fahr'n, wenn du willst. Und wenn ick fertig bin, komm' ick nach, und denn essen wir zusammen.« Gabi wollte einen Einwand erheben, doch er fügte mit seinem nettesten Augenaufschlag hinzu: »Ick fände es sehr lieb von dir, wenn du das machen würdest und keine weiteren Fragen stellst. Hier is' der Schlüssel von meiner Bude und hier …« er griff in die andere Hosentasche, » … is' der Autoschlüssel. Wegen der Esswaren. Sei so lieb, nimm sie aus meinem Wagen und tu sie bei mir in 'n Eisschrank.« Gabi ließ sich die Schlüssel in die Hand drücken und meinte mit hochgezogenen Augenbrauen: »Det is' wirklich die umwerfendste Einladung seit unserer Trennung.« Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Gehen. »Ick muss bekloppt sein!« Eberhard Siegel fuhr erschrocken zusammen, als es an der Wohnungstür klingelte. Er ahnte, wer das war, und ein paar Sekunden lang stand er mit gesenktem Kopf in der Diele und kämpfte mit sich, ob er öffnen sollte. Dann gab er sich einen Ruck. Er machte die Tür auf und sagte ruhig: »Guten Abend, Herr Doktor Brockmann. Schön, dass Sie kommen. Ich habe Sie erwartet. Kommen Sie bitte.« Er ging Peter voran in ein pompöses Schlafzimmer mit Sei170
denvorhängen, Spiegelwänden und einer riesigen Stereoanlage. In dem Bett in der Mitte des Raumes lag Christof und schlief. Bei seinem ersten Besuch hatte Dr. Brockmann Eberhard Siegel als übernervösen, fahrigen Mann kennengelernt. Jetzt wirkte er völlig verändert, ruhig, gelöst und beinahe heiter. Siegel blickte auf den Jungen, der klein und verloren in dem großen Bett wirkte. »Er schläft schon eine Weile. Das Fieber ist auch runter.« Brockmann trat näher heran und nickte. Dann wandte er sich zu Eberhard Siegel. »Ich bin eigentlich nicht wegen Christof gekommen. Nicht nur …« Siegel hielt seinem Blick stand. »Ich weiß. Es stand ja in der Zeitung. Und im Fernsehen haben sie es auch gebracht. Haben Sie einen Augenblick Zeit, Herr Dr. Brockmann?« Als der Arzt nickte, führte er ihn in den Wohnraum. Er vergaß, ihm Platz anzubieten, und ging ein paarmal auf und ab, immer noch von dieser seltsamen Ruhe erfüllt. Es war, als wäre eine Last von ihm genommen, und so fühlte er sich auch. »Vielleicht sollte ich Ihnen erst mal all die Dinge sagen, die nicht stimmen«, begann Eberhard Siegel. Brockmann schüttelte bedächtig den Kopf. »Das brauchen Sie nicht, Herr Siegel. Das hier ist nicht Ihre Wohnung. Sie sind nicht Christofs Vater, Christofs Mutter ist nicht im Odenwald ohne Telefon, und Sie sind wahrscheinlich kein Buchhändler mit viel Personal.« »Doch, doch, Buchhändler bin ich«, sagte Eberhard Siegel. »Aber ohne Personal. Ich hab' eine kleine Sortimentsbuchhandlung, und die habe ich für die Zeit, in der ich hier bin, geschlossen. Aber mit dem übrigen haben Sie recht. Diese etwas … vordergründige Behausung gehört einem Freund. Er ist Kameramann und dreht zur Zeit in Südamerika einen Film. Ich sehe hin und wieder nach, ob alles in Ordnung ist, und gieße die Grünpflanzen. Ich bin nicht Christofs Vater, ich bin …« »Sein Freund«, vollendete Dr. Brockmann, als er nicht weitersprach. »Hat der Junge selbst gesagt …« »Ja, so kann man es wohl nennen.« Siegel lächelte einen Moment, wurde aber gleich wieder ernst. »Und Christofs Mutter ist nicht ohne 171
Telefon im Odenwald, sondern sitzt vermutlich am Telefon in Berlin.« »Warum rufen Sie sie nicht an?« fragte Dr. Brockmann einfach. »Ja, das werde ich wohl tun müssen …« Eberhard blickte den Arzt um Verständnis bittend an. »Ich … ich weiß noch nicht ganz, was und wie ich es ihr erklären soll. Ich fühle mich moralisch im Recht, und ich möchte mich ihr gegenüber nicht rechtfertigen. Wissen Sie, Reni – Reni heißt Christofs Mutter … Aber wollen Sie nicht Platz nehmen?« Brockmann wehrte ab. »Nee, danke. Ich hab's im Augenblick 'n bisschen mit der Wirbelsäule. Die Sessel sind mir zu tief. Aber wenn ick mich auf die Lehne setzen darf …« »Aber selbstverständlich.« Während Peter sich vorsichtig setzte, sprach Siegel weiter. Er versuchte, Dr. Brockmann Christofs Mutter zu schildern. Sie sei eine faszinierende Frau, meinte er, immer aktiv, eigentlich sogar ruhelos und sehr erotisch. Ihn, Siegel, hätte sie aus seinem trockenen Buchhändlerdasein herausgerissen. Aber leider sei sie auch recht oberflächlich und ungebildet. »Und wenn man ein Kind hat – noch dazu ein so gescheites wie Christof, dann ist das zumindest bedauerlich«, sagte er. »Ich habe Christof vom ersten Augenblick an gemocht – und er mich. Das ist nicht selbstverständlich, wissen Sie …« Peter Brockmann nickte. »Ich weiß. Jungs in dem Alter sind häufig eifersüchtig auf die Liebhaber ihrer Mütter – simpel jesagt …« Eberhard Siegel lächelte ein bisschen traurig. Er gestand, dass er nicht lange Renis Liebhaber gewesen sei. Sie war nicht treu, hatte hier eine kleine Liebschaft gehabt und dort eine … Er, Siegel, hatte das wegen des Jungen, an dem er sehr hing, hingenommen. Aber vor ein paar Wochen war es dann doch zum Bruch gekommen, und Reni hatte ihm verboten, Christof weiterhin zu sehen. Dabei schien sie sich nach Siegels Schilderung nicht allzu viel um ihren Sohn zu kümmern. Der Junge war heimlich ein paarmal in die Buchhandlung gekommen, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hatte. Ja, und dann hatte das Kind bei Eberhard angerufen und erzählt, dass es krank sei und allein 172
im Bett liege. »Das war wie eine Kurzschlußhandlung«, sagte Siegel. »Ich musste den Jungen einfach holen.« Dr. Brockmann hörte die Tür klappen und entdeckte Christof, der plötzlich im Rahmen stand. Der Arzt deutete auf Christofs nackte Füße. »Ziehste dir mal sofort Socken über!« Der Junge lief zu Eberhard Siegel, der sich inzwischen auf das Sofa gesetzt hatte. »Hast du Mamma angerufen?« Siegel legte den Arm um ihn. »Nein, noch nicht.« »Sie wartet aber drauf.« Der Mann nickte. »Ja, wahrscheinlich.« »Nee, ganz sicher. Das hat sie mir vorhin gesagt.« Eberhard zuckte zusammen. »Wer?« »Mamma«, erwiderte Christof selbstverständlich. »Als du vorhin einkaufen warst, hab' ich sie angerufen. Dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen machen soll. Und wo ich bin.« »Du hast ihr gesagt, wo du bist?« vergewisserte sich Siegel, und der Junge nickte. »Ja. Und nu' wartet sie drauf, dass du sie anrufst. Sie hat bei der Polizei Bescheid gesagt, dass ich wieder da bin. Aber jetzt sollst du sie anrufen. Ich wollt's dir gleich sagen – aber dann bin ich eingeschlafen.« Siegel starrte vor sich hin, sekundenlang wie gelähmt. Christof gab ihm einen kleinen Stoß, indem er sich gegen ihn warf. »Ruf schon an!« Langsam stand der Mann auf und ging zum Telefon, während Dr. Brockmann den Jungen beim Arm nahm. »Nu' komm mal hopp ins Bett.«
Rudi Lehmann fuhr genau in dem Moment los, als die Ampel auf Grün sprang. Georg Maerker, der wieder im Fond saß, runzelte die Stirn. »Na, na, na …« »Ja?« fragte Rudi und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Das war aber eben noch nicht grün …« tadelte sein Chef. 173
»Das war noch nich' grün?« wiederholte Rudi mühsam beherrscht. »Entschuldigung, aber das war grün! Ich bin haarscharf bei Grün jestartet.« »Ja, haarscharf! Sie fahren in der letzten Zeit sowieso etwas scharf, Rudi. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das sage. Es ist Ihnen selbst vielleicht noch nicht aufgefallen.« »Nee. Isset nich'«, knurrte Rudi, und Georgs Unmut wuchs. »Reagieren Sie doch nicht gleich so gereizt.« Der Chauffeur war durch die kurze Debatte einen Moment lang abgelenkt und hätte fast einen neben ihm fahrenden Wagen gestreift. Hastig wich er aus, und Dr. Maerker sagte mit einem kleinen Triumph in der Stimme: »Na, sehen Sie …« »Ja, weil Sie mich nervös machen«, gab Rudi ruppig zurück. »Dann steig' ich wohl am besten aus«, entfuhr es Georg, doch gleich darauf lenkte er wieder ein. »Wir sollten uns wirklich nicht streiten, Rudi.« Der Fahrer gab keine Antwort, sondern starrte verbissen nach vorn durch die Windschutzscheibe. Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück. Auf dem Gelände der Maerker AG stellte Rudi den Wagen auf dem für Dr. Maerker reservierten Parkplatz ab und stieg aus. »Wann darf ick mich wieder bereithalten?« fragte er steif. Georg blieb vor ihm stehen. Er war jetzt fest entschlossen, den Rat von Rebecca Scholz zu befolgen. »Rudi, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen«, begann er ein bisschen umständlich und so freundlich, wie es ihm eben möglich war. »Ich habe das Gefühl, Sie brauchen mal eine Pause. Da war der Tod Ihrer Mutter – der hat Sie sicher sehr mitgenommen. Und dann überhaupt dieser ständige Stress auf der Straße … Ich möchte Ihnen vierzehn Tage Zusatzurlaub geben.« Rudi schob die Brauen zusammen. »Ick brauche keinen Urlaub. Wat reden Sie denn da!« »Na, na, na, Rudi, doch nicht diesen Ton!« rügte Georg. »Ich denke, ich mache Ihnen ein ziemlich großzügiges Angebot.« »Großzügiges Angebot!« fuhr Rudi auf. »Ick brauche Ihre Anjebo174
te nich', Herr Dokter Maerker. Ich brauche keine Almosen von Ihnen!« Georgs Ton wurde nun ebenfalls scharf. »Was ist denn in Sie gefahren, Rudi? Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden?« »Ja! Ick weeß det. Aber wissen Sie, mit wem Sie reden?« Georg musterte ihn kühl. »Mit meinem Fahrer und Hauswart.« Es war so, wie Dr. Brockmann prophezeit hatte: Bei Rudi brannten plötzlich sämtliche Sicherungen durch. Wutentbrannt funkelte er Georg an. »So! Na, denn werd' ich Ihnen mal sagen, mit wem Sie reden. Mit Ihr'm Halbbruder reden Sie!« Fassungslos starrte Georg ihn an. Er sah plötzlich fast ein bisschen töricht aus. »Bitte? Sind Sie wahnsinnig geworden?« »Noch nich'?« erwiderte Rudi erbittert. »Aber vielleicht wer'n Sie's. Sie ha'm ja eben so gütig den Tod von meiner Mutter anjesprochen. Und wissen Sie, wer so jut wie sicher mein Vater is'? Ihrer! Der Herr Konsul Kurt Maerker.« Georg hatte das Empfinden, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Fahren Sie nach Hause, Rudi«, sagte er mit blassem Gesicht. »Sie sind vorläufig beurlaubt. Geben Sie die Wagenschlüssel beim Fuhrmeister ab.« Bernd Saalbach ließ Rudi sofort vor, als die Sekretärin ihn anmeldete. Während die junge Frau ihn in sein Büro führte, stand Saalbach auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Betont herzlich drückte er Rudi die Hand. »Sie sehen aus, als hätten Sie mir etwas Wichtiges zu sagen«, stellte er nach einem Blick in das erregte Gesicht des Chauffeurs fest. Rudi nickte. »Ja. Ick hab's ihm jesagt. Es ging nich' anders.« »Was haben Sie wem gesagt«, erkundigte sich Saalbach freundlich. »Herrn Dokter Maerker, dass ick wahrscheinlich sein Halbbruder bin.« Saalbachs Lächeln erlosch, machte jäher, entsetzter Fassungslosigkeit Platz. »Ja, sind Sie denn von allen guten Geistern …« Er stockte und kämpfte um Beherrschung. Dann fuhr er gedämpft, fast flüsternd fort: »Rudi! Wie konnten Sie denn so etwas tun!« 175
Hilflos hob Rudi die Schultern. »Es … es is' aus mir rausjeplatzt. Ick konnte nich' mehr.« Saalbach wandte sich ab und begann nervös in seinem Büro auf und ab zu laufen. Als er nichts sagte, meinte Rudi bedrückt: »Ick kann Ihn'n die Situation erklären, wie's dazu gekommen is' …« Saalbach blieb stehen. »Nein, nein, das ist jetzt unbedeutend. Entscheidend ist, dass Sie es gesagt haben. Wie hat er reagiert?« »Er hat mich ab sofort beurlaubt.« Rudi warf Saalbach einen hilflosen, fast flehenden Blick zu. »Aber Sie haben doch selbst jesagt … Sie sind doch fast sicherer als ick, dass …« »Ja, Rudi, ja«, erwiderte Saalbach begütigend. Er hatte sich wieder gefangen. Vor allem durfte er es sich nicht mit Rudi verderben. Er ging zu ihm, legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter und führte ihn zu einem Sessel. »Nun setzen Sie sich erst mal. Sie sind ja vollkommen fertig mit den Nerven.« Er blickte auf ihn hinunter. »Ja. Ich bin ganz sicher. Aber ich wollte die Fäden selbst in der Hand behalten. Den günstigsten Zeitpunkt abwarten, die schlüssigen Beweise vorlegen. Ihre Reaktion, Rudi, ob berechtigt oder nicht, war schrecklich verfrüht, verstehen Sie?« »Und wat machen wir nu'?« fragte Rudi ratlos. Saalbach lächelte. In Gedanken entwarf er bereits eine neue Strategie. »Gar nichts. Wir warten ab.«
Dr. Brockmann hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen, während er die Tür seines Häuschens öffnete. »Gabi, es tut mir leid … Es jibt keine Entschuldigung, ick weiß. Kannst morgen gleich noch mal …« Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als er einen Blick in den Wohnraum warf. Am Esstisch saßen Gabi, Iris und Rebecca Maerker. Auf dem Tisch standen eine Schüssel mit Gulasch, eine mit Gemüse und eine mit Salzkartoffeln. Die drei Frauen waren bereits beim Essen. Ein viertes Gedeck stand für Brockmann bereit. »Wir ha'm schon mal anjefangen«, erklärte Gabi in aller Gemütsruhe. 176
»So?« Peter versuchte sich zu fassen, »'n Abend allerseits.« Fragend blickte er Iris an. Sie lächelte ein bisschen verlegen. »Ja, entschuldige. Mir ist zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen. Ich musste einfach mal raus aus diesem ganzen Aktenkram. Außerdem dachte ich ja, dass du gestern mit Gabi verabredet warst. Da wollte ich mal nach dir sehen.« »Und ich bin einfach so vorbeigekommen«, ergänzte Rebecca Maerker, während Brockmann seine Tasche absetzte und den Mantel auszog. »Na, ja, det is' doch sehr jut …« Gabi deutete auf das Essen auf dem Tisch. »Ick nehme an, das sollte Kalbsgulasch mit Salzkartoffeln werden.« Er schüttelte den Kopf. »Nee. Züricher Geschnetzeltes mit Rösti.« Iris musste lachen. »Dann holst du dir am besten ein scharfes Messer und schneidest deine Portion in kleine Stücke.« Draußen klopfte es an die Tür. Georg Maerker stand draußen. »Ich möchte etwas sehr Wichtiges mit dir besprechen«, sagte er nervös. Ein wenig zögernd gab Peter die Tür frei. »Ja, komm rein …« Jetzt erst entdeckte Georg die Frauen am Tisch. »Verzeihung, ich wusste nicht … Rebecca …« »Guten Abend, Georg«, grüßte sie ruhig. Brockmann wandte sich an seinen Schwager: »Du wolltest mir was Wichtiges sagen? Allein?« Georg schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das hat Zeit.« Peter ging zum Tisch. »Dann setz dich zu uns. 's jibt 'n herrlichen Gulasch bei mir.« Es klang, als hätte er es gekocht. Gabis Kopf fuhr empört zu ihm herum, aber Iris legte ihr begütigend die Hand auf den Arm. »Nicht aufregen. Er meint es wirklich so.« Dr. Brockmann beugte sich zu den beiden Frauen hinunter. Dabei verspürte er wieder diesen messerscharfen Schmerz im Rücken. Er hatte Mühe, nicht aufzustöhnen. Iris und Gabi bemerkten nichts davon. Sie lächelten einander verständnisvoll zu.
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Ein übler Trick
J
ürgen Kossak war Polizist mit Leib und Seele. Sein Rechtsempfinden war die Dienstvorschrift, sein Weltbild von zwei Menschengruppen geprägt: Gesetzestreue und Verbrecher. Dazwischen gab es noch Faule, Arbeitsscheue und ideologische Wirrköpfe, die für Kossak zwangsläufig in Richtung Kriminalität tendierten und früher oder später auch dorthin abdrifteten. Nicht zu vergessen die Versager, zu denen Jürgen Kossak seinen einzigen Sohn rechnete, und das schon, seit der Junge in der Hauptschule zum ersten Mal sitzengeblieben war. Zugegeben, Gernot Kossak war kein Sohn zum Renommieren, kein Siegertyp und auch keine überragende Geistesgröße. Er war Durchschnitt. Weder besonders hübsch noch besonders mutig noch besonders fleißig oder begabt. Aber bei einem anderen Vater als Jürgen Kossak hätte Gernot vielleicht doch ein paar Entwicklungsmöglichkeiten gehabt. Kossaks Autoritätsgehabe jedoch, seine Strenge und seine Verachtung hatten Gernot das Rückgrat gebrochen. Jetzt, mit fünfundzwanzig, war er feige, verlogen und gleichzeitig ungerecht und überheblich, wo er keinen Widerstand zu erwarten hatte. An diesem Morgen saß Gernot in der Küche mit seiner Mutter beim Frühstück, während sein Vater sich für den Dienst fertigmachte. Beide sahen nur flüchtig auf, als Jürgen Kossak, bereits in Uniform, eine offene Aktentasche in der Hand, den Raum betrat. Stumm ging er zum Küchentisch, nahm die beiden belegten Brötchen, die ihm seine Frau in Alufolie gewickelt hatte, und steckte sie in die Tasche. Dann schloss er sie, setzte seine Mütze auf und warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Wiederseh'n. Mach doch ma' wieder 178
Klopse …« Als er an Gernot vorbeiging, presste er fast unhörbar ein »Versager!« hervor und wandte sich zur Tür. »Mach' ick«, versprach Gerlinde Kossak unglücklich. »Tschüss, Jürgen …« Sie wartete, bis auch die Wohnungstür hinter ihrem Mann zufiel, und blickte dann ihren Sohn an. »Mensch, Gernot, unternimm doch wat!« Gernot Kossak brauste auf. »Wat denn?« »Unternimm wat!« wiederholte sie. »Bewirb dich!« »Ick habe mir beworben«, verteidigte er sich aufgebracht. »Ick habe mir überall beworben, wo se Detektive brauchen. Det weeßte doch. Du hast die Briefe doch selber jeschrieben.« »Denn jeh hin!« drängte sie. »Vielleicht musste hinjeh'n. Die müssen dich seh'n. Schreiben reicht vielleicht nich'!« Er zuckte mit den mageren Schultern. »Wie soll ick det denn machen? Soll ick hinjeh'n und sagen: Juten Tach, ick bin Detektiv. Denn sagen die: Schicken Se 'ne schriftliche Bewerbung.« Seine Mutter beugte sich über den Tisch. »Vielleicht nehm' se dich auf Probe. Und denn beweiste ihnen, wat du kannst. Und Vater beweiste es auch. Du musst das Vater beweisen.« »Ich brauche nischt beweisen«, widersprach er mürrisch. »Ick weeß, wat ick kann.« Gerlinde Kossak, einst eine hübsche lebenslustige Frau, jetzt aber resigniert und aufgerieben durch die ständigen Streitereien zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn, strich sich über die Kittelschürze. »Vielleicht reicht so 'n Drei-Monats-Kurs ja doch nich'. Vielleicht musste 'ne richtige Ausbildung machen.« »Fängst du jetzt ooch noch an, ja?« schrie Gernot und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. Seine Mutter zuckte zusammen. »Ick halte det jedenfalls nich' aus. Ick halte diese Stimmung hier nich' mehr aus«, sagte sie leise, und ihr Sohn warf ihr einen betroffenen Blick zu. Gernot hing an seiner Mutter. Sie war der einzige Mensch, der Vertrauen in seine Fähigkeiten setzte und immer wieder versuchte, ihm Mut zu machen. »Nu' lass doch ma', Mamma.« Er blickte auf die Pla179
stikdecke und gab sich einen Ruck. »Na, denn muss ick det wohl machen«, murmelte er düster. »Ick wollte det vermeiden. Aber denn muss ick et wohl machen.« »Wat denn?« fragte seine Mutter beunruhigt. Er ignorierte ihre Frage. »Ick kriege 'ne Stellung, Mamma. Ick versprech' dir det. Ick … ick brauchte mal zwanzig Mark. Wenn 't geklappt hat mit der Stellung, kriegste det Jeld wieder.« Mit einem tiefen Seufzer stand Gerlinde Kossak auf und ging zum Küchenschrank, wo sie ihr Geld aufbewahrte.
Die Untersuchungsbefunde von Pia Tannert gefielen Dr. Brockmann weit weniger als die Patientin selbst. Sie war eine sehr hübsche junge Frau, jugendlich flott und gleichzeitig teuer gekleidet, und sie hatte ein klares, sympathisches Gesicht. »Tja«, sagte Peter Brockmann, »meine Vermutung hat sich bestätigt. Das haben Röntgen und Ultraschall eindeutig ergeben: Sie haben Gallensteine – und zwar von der Sorte, die man medikamentös nich' auflösen kann.« Mehr verwundert als erschrocken schüttelte Pia den Kopf. »Und ich dachte, so was haben nur alte Menschen.« Brockmann nickte. »Ja, das denken viele. Stimmt aber nich'.« »Und nu'?« fragte Pia. »Eh' Sie 'ne richtige scheußliche Kolik kriegen, is' es vernünftig, wenn Sie die Dinger entfernen lassen. Is' 'n schneller und harmloser Eingriff. Reine Routine.« »Und die Narkose?« Pia runzelte die glatte Stirn, »'ne Narkose is' immer 'n Risiko, das liest man doch immer wieder.« Dr. Brockmann seufzte. »Mensch, ihr Illustrierten-Mediziner! Ja, stimmt, 'ne Narkose birgt 'n gewisses Risiko. Aber soll ick Ihnen aufzählen, wie viele Menschen auf der Welt jeden Tag 'ne Narkose kriegen?« Sie lachte ein bisschen. »Nee, nee, das is' mir schon klar. Und – muss das gleich passieren?« 180
»Allzu lange warten sollten Sie nich'. Wie gesagt, es kann schlimmer werden.« »So ein Käse!« schimpfte Pia. »Mitten im Semester. Das passt mir eigentlich überhaupt nich'.« Immer noch sehr vorsichtig wegen seiner Rückenschmerzen setzte sich Dr. Brockmann in seinen Schreibtischsessel. »Was studieren Sie denn?« »Ich mach' 'ne Ausbildung zur Sozialarbeiterin.« Jetzt war Peter Brockmann überrascht. So wie Pia Tannert aussah und wie sie vor allem gekleidet war, hätte er ein ganz anderes Berufsziel bei ihr vermutet. »Aha«, murmelte er, und die junge Frau lächelte. »Ungefähr so, bloß noch ein bisschen erschrockener, hat mein Vater auch reagiert, als ich ihm erzählt hab', dass ich das werden will. Mein Vater is' Staatsanwalt – Jugendstrafkammer. Ich sollte eigentlich auch Jura studieren. Aber ich dachte mir: Lieber was machen, damit die Kids gar nich' erst in Pappas Fänge kommen. Ich arbeite auch schon in einem Jugend-Freizeitheim.« Sie unterhielten sich eine Weile über Pias dortige Erfahrungen, dann meinte Dr. Brockmann: »Gut, Pia, ick schreibe Ihnen jetzt 'ne Überweisung ins Krankenhaus. Da wird man Sie noch mal jenau anseh'n.« Sie zog eine kleine Grimasse. »Hat das nich' wenigstens noch so sechs, acht Wochen Zeit?« Er hob die Schultern. »Es is' Ihre Entscheidung.« Peters nächster Patient war der kleine Gregor Ihle. Seine Mutter war mit ihm da, weil der Junge keinen Appetit hatte und für ihr Empfinden viel zu mager war. Dr. Brockmann untersuchte das Kind, konnte aber keine organische Krankheit feststellen. Während er sich bemühte, die überbesorgte Mutter zu beruhigen, stellte Gabi einen Anruf seines Schwagers Georg durch. Er bat Peter, am Abend zu einer außerordentlichen Sitzung der Geschäftsleitung der Maerker AG zu kommen. Peter verspürte wenig Lust, daran teilzunehmen. »Is'n bisschen kurzfristig. Ick hab' nach der Praxis Hausbesuche, weißte ja. Außerdem gehör' ick nich' zur Geschäftsleitung.« 181
Georgs Stimme klang dringlich, beinahe flehend. »Ich weiß. Aber das, worum es da geht … das kann auch für die Familie persönliche Konsequenzen haben. Ich bin nicht sicher, ob ich da immer den richtigen Ton treffe. Deshalb war' ich dir dankbar, wenn du, sozusagen als objektiver Beobachter, dabei sein könntest.« »Na schön«, gab Dr. Brockmann mit einem kleinen Seufzer nach, und Georg verabschiedete sich ziemlich schnell, vielleicht weil er Angst hatte, sein Schwager könne seine Zusage noch zurücknehmen. Nach dem Telefonat zog Dr. Brockmann seinen Rezeptblock heran und stellte ein Rezept aus. »Ick habe Ihnen hier trotzdem was aufgeschrieben«, sagte er zu Frau Ihle, schob seinen Stuhl zurück und ging auf die junge Frau zu, die ihren Sohn inzwischen wieder angezogen hatte. »Das sind Brausetabletten, 'n paar Minerale, die ganz nützlich sein können. Tun Se die Dinger in'n Saft oder in Gregors Milch. Wird ihm schmecken.« Er hielt der jungen Frau das Rezept hin, aber Gregor streckte fordernd die kleine Hand aus. Mit einem gutmütigen Lächeln gab Dr. Brockmann ihm den weißen Zettel, doch der Kleine ließ ihn erschrocken fallen, weil ihn seine Mutter wegen seiner Eigenmächtigkeit zur Ordnung rief. Das Rezept flatterte unter die Untersuchungsliege. Frau Ihle und Peter bückten sich danach. Er war ein bisschen schneller und angelte nach dem Rezept, während Gabi den Raum betrat. Plötzlich stieß Peter Brockmann ein unterdrücktes Stöhnen aus. Er schaffte es nicht mehr, sich gerade aufzurichten, sondern blieb in gebückter Haltung mit schmerzverzerrtem Gesicht stehen. »So, hier …« murmelte er, während er Frau Ihle das Rezept reichte. »Wat is' denn, Herr Dokter?« fragte sie erschrocken, während Gabi hereinkam und Peter besorgt musterte. Er schüttelte den Kopf. »Nischt, nischt. Olle Knochen knacken manchmal. Warten Sie'n Moment draußen und lassen Sie sich von Frau Köhler 'n Labortermin für den Kleinen geben, ja?« Die junge Frau zog ihren Sohn eilig zur Tür. »Wiederseh'n, Herr Dokter. Und Entschuldigung …« 182
Er antwortete nicht, sondern versuchte, sich langsam aufzurichten, indem er sich auf der Untersuchungsliege abstützte. »Peter …« sagte Gabi besorgt. Er schaffte es, sich vorsichtig auf die Liege zu setzen und nach hinten fallen zu lassen. Gabi hob seine Beine hoch, die er sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht anzog. »Wat is' denn los?« fragte sie, jetzt mit echter Panik in der Stimme. »Red' doch mal! Herz oder wat –? Wat soll ick machen?« »Nischt!« presste er hervor. »Nischt? Du wirst dich doch nicht zum Mittagsschlaf hinjelegt haben.« Er stöhnte halb gepeinigt, halb ärgerlich über sich selbst auf. »Brockmann, Brockmann, jetzt biste fällig …« Er wandte das Gesicht zu Gabi. »Vor'n paar Tagen haste jesagt: Geh doch mal zum Arzt. Ick fürchte, ick muss deinen Rat befolgen.« »Dein Ischias?« »Genauer: Lumbago-Ischialgie. Die Bandscheibe grüßt …« »Soll ick die Patienten nach Hause schicken?« »Nein!« fuhr er auf. »Wenn du jemanden schickst, dann Erika. Die gibt mir 'ne Spritze, und denn geht's schon wieder.« »Mann, Mann, Mann!« Gabi stemmte die Hände in die Hüften. »Dokter Brockmann, der Arzt, der sojar noch im Liegen praktiziert!« Aber auf seinen Blick hin ging sie dann doch zur Tür und rief Schwester Erika herein.
Gernot Kossak war ins Kaufhaus gegangen. Dort schlenderte er, mit einem Einkaufskorb bewaffnet, durch die Kosmetik-Abteilung und beobachtete die Leute. Plötzlich blieb sein Blick an zwei Frauen hängen. Die eine war eine ältere Türkin mit Kopftuch, die andere offenbar eine Landsmännin von ihr, aber jung, modern gekleidet und geschminkt. Gernot sah, wie die Jüngere an einem Ständer mit preiswerten Lippenstiften stehenblieb, einen herausnahm und aufdrehen wollte. Die ältere 183
Frau nahm ihn ihr aus der Hand, las das Preisschild und sagte etwas zu ihrer Begleiterin. Dann legte sie den Lippenstift zurück. Enttäuscht blickte Gernot den beiden nach. Er ging ebenfalls zu dem Ständer, nahm einen Lippenstift und legte ihn in seinen Korb. Vor der für diese Abteilung zuständigen Kasse stand eine kleine Kundenschlange. Gernot stellte sich an und wartete geduldig, bis er an der Reihe war, um den Lippenstift zu bezahlen. Auch Pia Tannert hatte nach ihrem Besuch bei Dr. Brockmann das Kaufhaus betreten. Sie trug ihre offene Ibiza-Tasche aus Strohgeflecht über der Schulter. In der Kosmetik-Abteilung gesellte sie sich zu einer Gruppe Frauen, die einer Vorführung zusahen. Eine sehr gut zurechtgemachte Kosmetikerin schminkte gerade eine junge Kundin. Interessiert sah Pia der Prozedur zu und merkte gar nicht, dass jemand ziemlich dicht hinter sie trat. Es war Gernot Kossak. Er tat so, als fessele ihn die Vorführung, blickte sich zwischendurch ein-, zweimal vorsichtig um und holte, nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand ihn beachtete, den vorhin gekauften Lippenstift aus seiner Jacke. Mit einer raschen Bewegung ließ er ihn in Pias Strohtasche gleiten. In diesem Moment drehte sie den Kopf, vielleicht weil sie eine Bewegung gespürt hatte, vielleicht auch nur, weil Gernot so dicht hinter ihr stand. Ihre Blicke trafen sich, und Gernot lächelte verlegen. Arglos lächelte Pia zurück und wandte dann ihre Aufmerksamkeit wieder der Kosmetikerin und ihren Erläuterungen zu. Gernot aber ging mit schnellen Schritten zu einem Verkaufstisch, hinter dem eine Verkäuferin stand. Er sagte etwas zu ihr und wies mit dem Kopf auf die Gruppe um Pia. Ein paar Minuten später wurde Pia Tannert von einem Angestellten des Kaufhauses, einem jungen, ein wenig geschniegelt wirkenden Mann, angesprochen. »Verzeihung … Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« Pia nickte bereitwillig. »Ja, bitte. Worum geht's?« »Haben Sie eben einen Lippenstift gekauft?« fragte der junge Mann. Pia verneinte. »Aber ich kauf mir vielleicht noch einen. Wieso?« »Würden Sie mich dann einen Blick in Ihre Tasche werfen lassen?« 184
Das Folgende erlebte Pia wie einen Alptraum. Es konnte doch nicht wirklich sein, dass ihr, Pia Tannert, angehende Sozialarbeiterin und Tochter eines Staatsanwalts, so etwas passierte. Sie wehrte sich zunächst dagegen, den forschen jungen Angestellten in ihre Tasche sehen zu lassen. Aber als er sie daraufhin aufforderte, ihm zu folgen, begriff sie, dass man sie verdächtigte, einen Kaufhausdiebstahl begangen zu haben, und öffnete ihre Tasche. »Hier, bitte! Wenn Sie das glücklich macht, sehen Sie hinein.« Ein paar Sekunden später hielt der junge Mann einen Lippenstift hoch. »Haben Sie dafür einen Kassenzettel?« Es nützte nichts, dass Pia versicherte, den Lippenstift weder gesehen noch gekauft zu haben. Der forsche junge Mann forderte sie auf, ihm in ein Büro in der Verwaltungsetage des Kaufhauses zu folgen. Eigentlich waren es zwei Büros, die durch eine Glaswand voneinander getrennt waren. Aber das registrierte Pia erst später. Im Augenblick war sie viel zu sehr damit beschäftigt, einen inzwischen dazu gerufenen Verwaltungsangestellten des Kaufhauses von der Unsinnigkeit seines Verdachts zu überzeugen. Er hatte ihre Tasche geleert und den Inhalt auf einem der sich gegenüberstehenden Schreibtische ausgebreitet. »Verdammt noch mal, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich's nicht nötig habe, so'n billigen Lippenstift zu klauen!« sagte Pia zornig. »Hier, seh'n Sie sich mein Schminkzeug an. Ich kaufe nur Markenartikel.« »Ja, ja«, erwiderte der Verwaltungsangestellte gelangweilt. »Und der Lippenstift hat Flügel und is' Ihnen in die Tasche geflattert. Haben immer Flügel, die geklauten Sachen. Vielleicht sollten wir 'ne Fluggesellschaft gründen. Als nächstes erzählen Sie nun vermutlich, dass Ihnen den Stift jemand anders in die Tasche gesteckt hat.« Pia nickte erregt. »Ja, warum nich'! Vielleicht jemand, der mir'n Streich spielen wollte. Oder jemand, der ihn tatsächlich geklaut hat, dachte, dass er beobachtet worden is', und den Stift dann schnell mir in die Tasche geworfen hat.« »Na, das is' doch wenigstens mal originell!« Die Stimme des Mannes 185
klang höhnisch. »Frau Tannert, seien Sie doch vernünftig. Wir haben sogar einen Zeugen.« »Na, den würd' ich gerne mal sehen«, sagte Pia, und er deutete in den angrenzenden Raum hinter der Glaswand. »Da drüben sitzt er.« Pia fuhr herum und erkannte den jungen Mann wieder, der vorhin in der Kosmetikabteilung so dicht hinter ihr gestanden hatte. Sie hatte keinen Zweifel, dass er es war, denn erstens hatte sie ein gutes Personengedächtnis, und zweitens trug er eine sehr auffallende CollegeWindjacke. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke, dann wandte sich Gernot Kossak wieder dem Mann zu, der vor ein paar Augenblicken den Raum betreten hatte. Es war ein gemütlich wirkender Fünfziger namens Schatz, der als Hausdetektiv in diesem Kaufhaus angestellt war. Gernot hatte Herrn Schatz bestätigt, dass er den Diebstahl beobachtet habe. »Und zur Meldung jebracht«, sagte er wichtig. »Ick habe det einerseits für meine Pflicht als Staatsbürger erachtet – und and'rerseits konnte mir das nich' entjeh'n, obwohl't sehr raffiniert jemacht war. Wir sind nämlich Kollegen. Ick bin auch Detektiv.« »So? Wo arbeiten Sie denn?« wollte Herr Schatz wissen. Gernots Adamsapfel hüpfte aufgeregt hin und her, während er schluckte. »Ja, die Sache is' die. Det liegt bei uns in der Familie. Mein Vater is' Polizist, und ick habe jrade meine Ausbildung abgeschlossen. Bei International Detectiv Schools und Agencies.« Herr Schatz wurde ein bisschen distanziert. »Ach ja, kenn' ich nich'. Ist das so'n Dreimonatskurs?« »Drei Monate Intensivkurs. Wir können allet. Rechtskunde und praktisch.« Gernot machte eine Kopfbewegung zum benachbarten Büro, »Seh'n Se ja. Stellung hab' ick noch nich', aber wo ick nu' schon mal hier bin, wollte ick gleich ma' fragen …« »Tut mir leid, Herr Kossak«, unterbrach ihn der Hausdetektiv, »aber wir haben zur Zeit keine Stellung frei. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Wir halten auch nicht sehr viel von diesen Kursen. Trotzdem: danke für Ihre Mitarbeit. Sie sind bereit, als Zeuge aufzutreten?« 186
»Na klar«, beteuerte Gernot und bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen.
Dr. Brockmann schaffte es natürlich nicht, pünktlich zu dem von Georg Maerker anberaumten Treffen zu erscheinen. Da alle Aktionäre der Maerker AG gleichzeitig Familienmitglieder waren, fand es in der Maerker-Villa im großen Wohnzimmer statt. Der Anlass für diese überraschende Zusammenkunft war, dass Georg Maerker am Vormittag ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit Herrn Kolbe geführt hatte. Gerüchte machen schnell die Runde, und so hatte der Verwaltungsangestellte erfahren, dass Rudi Lehmann Knall auf Fall von Dr. Maerker beurlaubt worden war. Diese Tatsache hatte Kolbe mehr als beunruhigt, und deshalb hatte er sich entschlossen, dem Chef der Maerker AG zu berichten, was er von Bernd Saalbach über Rudi erfahren hatte. Am Abend hielt sich Georg nicht mit langen Vorreden auf, sondern kam sofort zur Sache. Seit dem Gespräch mit Otto Kolbe war ihm klar, warum sein Schwager so großes Interesse hatte, nachzuweisen, dass Rudi Lehmann ein unehelicher Sohn von Kurt Maerker und somit Miterbe war. Saalbachs Verhalten empörte Georg zutiefst. Mit scharfen Worten warf er ihm vor, einen Vertrauensbruch begangen zu haben. Natürlich versuchte sein Schwager, sich anfangs zu verteidigen. Er behauptete, lediglich einem Gerücht nachgegangen zu sein. Doch Georg winkte aufgebracht ab. »Mach dich doch nicht lächerlich! Willst du uns hier alle zu Idioten stempeln? Du gehst einem ›Gerücht‹ nach? Besprichst das nicht mit uns, sondern mit Kolbe, einem Angestellten? Und offensichtlich mit Rudi!« Er wandte sich zu seiner Schwester um, die schweigend und wie erstarrt am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausblickte. »Oder hast du von der Sache gewusst?« »Ja«, erwiderte sie knapp, ohne sich umzudrehen. »Bernd hat es mir vor längerer Zeit angedeutet. Aber ich habe es nicht geglaubt.« 187
In diesem Moment betrat Dr. Brockmann den Wohnraum. Die Spritze, die Erika ihm in der Praxis gegeben hatte, hatte ein wenig gewirkt. Er hatte seine Sprechstunde zu Ende geführt und die fälligen Hausbesuche gemacht. Allerdings war er keineswegs schmerzfrei, sondern ging schleppend und leicht gebückt. Aber darauf achtete in der allgemeinen Aufregung niemand. Georg begrüßte seinen Schwager mit einem Händedruck und bedankte sich für sein Kommen. Gisela Saalbach war währenddessen auf ihren Mann zugegangen. »Wie konntest du das machen, Bernd? Wie konntest du die ganze Zeit …« Er unterbrach sie gereizt. »Das hab' ich doch eben deutlich erklärt.« Brockmann blickte von einem zum anderen und konnte sich denken, wovon die Rede war. Trotzdem fragte er: »Worum geht's denn nun eigentlich?« »Unser Schwager Saalbach«, begann Georg, wurde aber von Bernd mit einem sarkastischen Auflachen unterbrochen. »Der ›liebe Saalbach‹! Nicht wahr, liebe Schwiegermutter?« fügte er mit einer ironischen Verbeugung zu Anna Maerker hinzu. »Unser Schwager«, fuhr Georg unbeirrt fort, »hat seine kostbare Zeit darauf verwendet, Gerüchten nachzugehen, dass Rudi Lehmann, mein Fahrer und unser Hauswart, ein liebes Mitglied der Familie ist.« Erneut stieg Empörung in ihm auf, und er wandte sich wieder an Saalbach. »Wenn dir keine vernünftige Erklärung dafür einfällt, weißt du, was ich machen werde? Ich werde dich …« Bernd hob die Hand. »Ehe du weiterredest, tue ich hiermit kund und zu wissen, dass ich mein Arbeitsverhältnis bei der Maerker AG kündige. Haben das alle verstanden?« Georg nickte. »Damit kommst du meiner Kündigung …« Wieder unterbrach Saalbach ihn. »Deinem Rausschmiss zuvor. Ich weiß.« Dr. Brockmann hielt es an der Zeit, sich einzuschalten. »Nun hört mal zu, Leute. Ehe ihr euch hier gegenseitig rausschmeißt, denkt mal'n Augenblick ruhig nach – und denkt auch mal an die Familie …« »Die Familie?« rief Saalbach höhnisch dazwischen. »Unser guter 188
Doktor Brockmann taucht mal kurz aus der heilen Welt seines Bülowbogen-Kiezes auf und denkt an die Familie?« Brockmann ging humpelnd auf ihn zu. »Bernd«, sagte er begütigend, aber Saalbach ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich brauche deine milden Kommentare nicht! Wenn ich sie von jemandem nicht brauche, dann von dir, der jahrelang nichts anderes getan hat, als zielstrebig an meiner Demontage zu arbeiten.« »Bernd«, setzte Peter Brockmann trotzdem noch einmal an, doch Giselas scharfe Stimme fuhr dazwischen: »Jetzt reicht es, Bernd!« Saalbach griff den Satz auf. »So ist es! Es reicht!« Er wandte sich zur Tür. Und nach einem kurzen bellenden »Guten Abend!« ging er einfach hinaus. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann fragte Rebecca, während sie auf einen Sessel deutete: »Möchtest du dich nicht setzen, Peter?« Dr. Brockmann ging auf einen Stuhl zu. »Nee, danke, Rebecca. Is' mir zu tief. Ick hab's heute'n bisschen mit dem Rücken.« Er blickte in die Runde und fragte in seiner ruhigen Art: »Ja, und was nu'?« Georg straffte sich. »Ich habe bereits mit Kolbe gesprochen, weil ich ahnte, wie das hier ausgeht. Kolbe kann für eine Weile Bernds Aufgaben übernehmen.« Peter schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das meine ich nich'. Ich meine, was ihr nun mit Rudi zu tun gedenkt.« »Rudi ist von Bernd aufgehetzt worden«, erwiderte Georg. »Damit wird mir auch sein flegelhaftes Benehmen in der letzten Zeit klar. Er hat seinen Rüffel gekriegt, und damit ist der Fall für mich erledigt.« In diesem Moment schaltete sich Anna Maerker ein. »Rudi ist Kurts Sohn«, sagte sie fest. »Und damit ist er dein Halbbruder und Giselas und Lores auch. Und nichts ist erledigt.« Die Worte schlugen wie eine Bombe ein. Alle außer Peter Brockmann starrten die alte Dame entgeistert an. Georg war der erste, der sich einigermaßen fasste. »Mutter, was … wer sagt das?« Ruhig erwiderte Anna seinen Blick. »Mein Mann hat es mir gesagt, 189
euer Vater. Kurz vor seinem Tod. Aber ich hab' es auch so schon längst geahnt. Frau Lehmann war Kurts … ja, man sagt wohl immer noch … Geliebte.« Gisela hatte ihre Erstarrung abgestreift. Sie ging auf Anna zu. »Mutter, das ist doch …« »Die Wahrheit«, erklärte die alte Dame einfach. »Und Rudi weiß das auch.« Gisela drehte sich zu Peter um. »Und du wusstest es ebenfalls?« Als er stumm nickte, explodierte sie: »Und warum, verdammt noch mal, habt ihr uns das verschwiegen?« »Rudi war die Sache der Familie gegenüber, so albern's klingen mag, peinlich«, antwortete er bedächtig. »Er wollte Anna nich' weh tun und hat gebeten, dass wir die ganze Angelegenheit vergessen.« »Und dabei wäre es vermutlich auch geblieben«, ergänzte Anna, zu ihrem Sohn gewandt, »wenn du ihn in der letzten Zeit nicht wie ein Duodezfürst seinen Lakaien behandelt hättest.« Gisela schüttelte den Kopf. »Moment, Moment, so einfach kann das nicht sein. Wenn Bernd es ebenfalls gewusst hat, dann steckt mehr dahinter. Ich muss …« Sie wollte hinauseilen und blieb an der Tür noch einmal stehen. »Ich hab' ja gar keinen Wagen.« »Nimm meinen«, bot Rebecca an und ging mit ihr hinaus, um die Schlüssel zu holen. Als Gisela nach Hause kam, fand sie ihren Mann im Schlafzimmer, wie er eilig einen großen Koffer packte. »Was machst du da?« fragte sie überrascht, und er grinste sarkastisch. »Sieh eine Weile zu. Wenn du's herausbekommen hast, sagst du's mir.« Ihr Gesicht war ratlos und irgendwie verzweifelt, als sie sich neben den Koffer auf das Bett setzte. »Bernd, die ganze letzte Zeit …« Er ließ sie nicht ausreden. »Du hast doch vor ein paar Wochen, als ich dir die Sache ›angedeutet‹ habe, ganz klar gesagt, was geschieht, wenn dieser hässliche kleine Skandal ans Tageslicht kommt. Dann soll ich mich nach einer Bleibe umsehen, hast du gesagt. Oder nicht?« Mechanisch strich sie die zuoberst liegenden Kleidungsstücke im 190
Koffer glatt. Dann wurde ihr klar, was sie da tat, und sie zog abrupt die Hände zurück. »Ich möchte dich jetzt etwas fragen, und unterbrich mich bitte nicht wieder. Deine ganze Ausgeglichenheit in den letzten Wochen, deine gute Stimmung, diese … neue Zuneigung zu mir, die mir so gut getan hat …« Sie stockte, weil ihre Stimme schwankte, und fuhr dann etwas gefestigter fort: »War das alles nur, weil du wusstest, dass du diesem ›maroden Clan‹, wie du einmal gesagt hast, eines Tages diesen hässlichen kleinen Skandal präsentieren wirst?« Saalbach hatte einen Stapel Oberhemden aus dem Schrank geholt und blieb auf halbem Weg stehen. In seinen Augen stand ein beinahe fanatisches Leuchten. »Ja. Ja, du hast es richtig erkannt. Aus dieser Vorfreude habe ich ganz neue Kräfte geschöpft. Weil der ›liebe Saalbach‹ die Gewissheit hatte, dass die lieben Anteilseigner der Maerker AG den Angestellten Saalbach eines Tages artig fragen würden, welche Entscheidungen zu treffen sind. Rudi hat mir die Sache durch sein tölpelhaftes Vorpreschen zwar ein wenig vermasselt, aber es bleibt auch so noch köstlich genug.« Er blickte auf seine Frau hinunter. »Sag mal, hast du allen Ernstes geglaubt, ich hätte über Nacht vergessen, was ihr mir angetan habt? Alle Demütigungen, alles Ducken? Hast du wirklich geglaubt, ich sei so mir nichts, dir nichts, ohne jeden Grund ein braver, angepasster Angestellter und Pantoffelheld geworden? Ein Idiot, dem endlich das Rückgrat gebrochen ist?« »Hör auf!« schrie sie gepeinigt. Sie musste einfach schreien, um ihrer wahnsinnigen Enttäuschung Herr zu werden. Sie starrte ihn an, den Mann, von dem sie drei Kinder hatte und von dem sie in den letzten Wochen geglaubt, nein, gehofft hatte, dass er einen neuen Anfang in ihrer Ehe suchte. Manchmal war sie fast glücklich gewesen. Sie hatte wieder Vertrauen gehabt, während Bernd … Dr. Gisela Saalbach biss die Zähne aufeinander. Nicht weinen, nichts sagen! Diesen Triumph wollte sie ihm nicht auch noch gönnen, dem Mann, in den sie sich beinahe wieder verliebt hätte. Sie stand auf und verließ mit eiligen Schritten das Zimmer. 191
Dr. Brockmann hatte Iris angerufen und sie gebeten, nach Schwanenwerder hinauszukommen. Als sie sein Häuschen betrat, lag er auf der Couch. »Entschuldige, wenn ick liegenbleibe«, sagte er verlegen. Iris lächelte. »Selbst in der schönsten Beziehung nutzen sich die Dinge allmählich ab. Auch die Höflichkeit.« Sie setzte sich zu ihm. Als sie ihn ein bisschen hochziehen wollte, um ihn zu küssen, verzog er den Mund. »Vorsicht … Kleener Rückenschmerz, weißte. Deshalb bin ick auch nich' aufjestanden. Stehen und sitzen fallen mir im Augenblicke etwas schwer.« Er sah ihr enttäuschtes Gesicht und fragte: »Is' das so schlimm?« »Natürlich nicht, wenn du Schmerzen hast. Na ja, dann ist meine Überraschung wahrscheinlich gar keine mehr.« »Du willst'n nächtlichen Dauerlauf mit mir machen?« ulkte er. »Das jeht heute leider nich'.« »Quatsch«, sagte Iris. »Aber ich habe Konzertkarten. Vivaldi. Vier Jahreszeiten …« »Au, nee! Da würd' ick zur Zeit nich' mal den Frühling durchstehen … oder durchsitzen. Von den anderen drei Jahreszeiten ganz zu schweigen. Müssen wir uns auf der Platte anhören.« »Hast du die?« fragte sie, und als er verneinte, meinte sie bedauernd: »Schade. Ich auch nicht.« »Aber nach der Operation versprech' ick dir's«, sagte Peter betont beiläufig. »Wird ja sicher irgendwann noch mal jespielt.« Sie starrte ihn erschrocken an. »Operation? Nach welcher Operation?« »Na, nach meiner«, erklärte er. »Wenn meine Selbstdiagnose stimmt, hab' ick'n sogenannten Bandscheibenvorfall. Und der müsste dann operiert werden. Ick habe morgen janz früh'n Termin in der Klinik, und denn wissen wir Genaueres.« »Und das sagst du einfach so obenhin?« erwiderte Iris angstvoll. »Das ist doch eine ganz unangenehme Angelegenheit!« »Ach, et jibt noch viel unangenehmere Angelegenheiten«, brummte 192
Dr. Brockmann und genoss es, dass sie seine Wange streichelte. »Hast du schon gegessen?« »Nein. Aber ich hab' jetzt auch keinen Appetit mehr.« »Aber ick!« bekannte er und deutete zur Küche. »Ick habe da ein paar erstklassige Dosen Ravioli. Würdest du …« »Natürlich würde ich«, sagte Iris, blieb aber noch sitzen. »Ich mach' mir Sorgen um dich, und du redest von Dosenravioli.« Trotz seiner Schmerzen empfand er es als angenehm, dass sie Angst um ihn hatte. Peter Brockmann lächelte Iris zu und zog sie mit einer vorsichtigen Bewegung zu sich herunter, um ihr einen Kuss zu geben. Am nächsten Morgen bestätigte Dr. Friese, einer von Kathrins Kollegen im Krankenhaus, Peters Befürchtungen. Er hatte tatsächlich einen Bandscheibenvorfall und musste unters Messer. Wohl war ihm bei dieser Vorstellung nicht. Im Gegenteil, es war Peter Brockmann plötzlich ziemlich mulmig zumute. Vor allem machte er sich Sorgen um seine Praxis. Doch Kathrin hatte bereits für Abhilfe gesorgt. Dr. Thilo Weber, Peters verhinderte Urlaubsvertretung, arbeitete gerade halbtags in einer anderen Praxis, aber am Nachmittag konnte er am Bülowbogen Sprechstunde abhalten. »Und hier würde man mir vormittags freigeben«, berichtete Kathrin ihrem Vater. »Wir können dich also gemeinsam vertreten, bis Thilo ganztägig übernehmen kann.« Dr. Brockmann seufzte tief. Die Sache passte ihm ganz und gar nicht, aber sie ließ sich nicht ändern. Also stimmte er zu, als Kathrin vorschlug, gemeinsam mit Dr. Weber in der Mittagspause zu ihm zu kommen, um die Einzelheiten zu besprechen. Anschließend fuhr Dr. Brockmann in seine Praxis. Natürlich waren auch seine Helferinnen sehr um ihren Doktor besorgt. Schwester Erika wollte ihm sofort eine schmerzstillende Injektion geben, doch er winkte ab. »Jetzt nich', Erika. In der Mittagspause.« »Ick dachte, Sie haben die Schmerzen jetzt«, meinte die resolute Schwester, und trotz allem musste Gabi grinsen. Brockmann bemerkte es und knurrte: »Ick habe das Jefühl, du nimmst mich' nich' besonders ernst. Oder warum grinste sonst?« 193
Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu. »Weeß ick nich'. Muss hysterisch sein. Du tust mir ehrlich leid.« »So? Denn schick mir mal den nächsten rein.« Als Pia Tannert den Raum betrat, blickte Peter sie überrascht an und deutete dann auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Da seh'n wir uns ja schnell wieder.« Pia setzte sich. Sie wirkte bedrückt. »Sie haben recht behalten. Heute Nacht hab' ich auf einmal ganz ekelhafte Schmerzen gekriegt. So was hab' ich noch nie erlebt. Ich dachte, ich werde wahnsinnig. War das schon 'ne Kolik?« »Hört sich so an«, meinte Dr. Brockmann. »Ha'm Se den Notarzt gerufen? Nee? Denn machen Se das, wenn's wieder passiert. Im Augenblick kann ick Ihnen da wenig helfen. Die Steine müssen raus.« Sie nickte, und er setzte hinzu: »Machen Se nich' so'n trauriges Gesicht. Wir sind Leidensgenossen. Ick muss auch unters Messer. Und seh'n Se mich an: Innerlich hüpf ick vor Vergnügen im Quadrat.« Pia musste lächeln, wurde aber gleich wieder ernst. »Kann so eine Kolik davon kommen, dass man sich unheimlich aufregt?« »Ha'm Se das denn?« erkundigte er sich, und sie erzählte ihn, was ihr gestern im Kaufhaus passiert war. Sie hatte den Verdacht des Diebstahls nicht entkräften können und machte sich nun Sorgen. »Wenn die mich verknacken – ich weiß gar nicht, ob ich dann jemals 'ne Stelle kriege – als Vorbestrafte. Dabei bin ich ziemlich sicher, dass mir den Lippenstift jemand in die Tasche gemogelt hat.« Dr. Brockmann blickte ein bisschen ungläubig drein. »Wozu? Was hätte dieser Jemand denn davon?« Pia hob die Schultern. »Vielleicht wollt' er sich wichtig machen. Da war so'n junger Typ, der behauptet, er hätte mich beobachtet. Der hat sich ganz komisch verhalten – als ob er'n schlechtes Gewissen hätte.« »Sie haben ihn gesehen?« Sie nickte. »Manche Kaufhäuser zahlen ja wohl Prämien an Leute, die Diebe erwischen. Vielleicht is' das einer, der sich seine Diebe selber macht. Vielleicht tut er so was öfter. Jedenfalls werd' ich wieder in 194
das Kaufhaus gehen. Vielleicht find' ich ihn, wenn meine Vermutung stimmt.« »Und dann?« wollte Dr. Brockmann wissen. »Werd'ich ihn mir vornehmen und ihn überzeugen, dass er mit so 'ner kleinen miesen Gemeinheit sein Leben ruinieren kann«, sagte Pia entschlossen. »Ich würd' dem das schon klarmachen.« Dr. Brockmann schrieb ihr ein Schmerzmittel gegen ihre Gallenbeschwerden auf, schärfte ihr aber ein, es nur im äußersten Notfall zu nehmen. Dann verabschiedete sich Pia. In der Mittagspause kamen wie verabredet Kathrin und Dr. Weber. Dr. Brockmann erklärte, dass er in der nächsten Woche ins Krankenhaus gehen wollte, und schlug vor, dass die beiden bis dahin, so oft es ihnen möglich war, in die Praxis kamen, um sich schon mal ein bisschen umzutun. Kathrin hätte fast gelacht, weil ihr Vater sich solche übertriebenen Sorgen um das Wohl und Wehe seiner Patienten machte. Als ob hier nichts ohne ihn liefe. »Das ist geradezu genial – von der Idee her«, flachste sie und handelte sich einen strafenden Blick von Peter ein. »Ja, dann war' ja so weit alles klar«, meinte er. »Ihre Unterlagen, Herr Weber, hab' ick, Kathrins Approbation kenn' ick … Bis auf den traurigen Anlass is' also alles fabelhaft.« Kathrin blieb noch ein paar Minuten bei ihrem Vater, nachdem Thilo sich verabschiedet hatte. Dr. Brockmann hatte sehr wohl registriert, dass sie dem jungen Kollegen mit einem Lächeln nachgesehen hatte. »Du kannst den ziemlich jut leiden, den Thilo, was?« fragte er. »Ja«, bestätigte sie. »Thilo is' 'n netter Kerl. Korrekt, höflich, nich' oberflächlich, flirtet nich' mit jeder rum, die ihn mal anlächelt.« Dr. Brockmann schmunzelte. Er hatte selten erlebt, dass seine Tochter eine so lange positive Erklärung über ein männliches Wesen abgab. Zweifellos hatte das bei ihr eine Menge zu bedeuten. Da es bis zur Nachmittagssprechstunde noch eine Weile hin war, bat er Kathrin, als sie aufbrechen wollte, ihn mit ihrem Wagen ein Stück mitzunehmen. »Ick müsste mal schnell ins Kaufhaus, aber ick möch195
te nich' mehr selbst fahren. Wenn du mich da absetzt, fahr' ick mit der Taxe zurück.« Sie runzelte die Stirn. »Ins Kaufhaus? Hältst du das für 'n guten Einfall in deiner Situation? Kann das nich' jemand anders für dich erledigen?« Peter schüttelte entschieden den Kopf. »Nee, ick möchte in der Musikabteilung 'ne bestimmte Platte für Iris kaufen. Die muss ick schon alleine aussuchen. Is' mir wichtig.« Er wollte eine Aufnahme der ›Vier Jahreszeiten‹ besorgen. Als Abschiedsgeschenk sozusagen. Denn immerhin kam es Peter Brockmann so vor, als müsse er sich tatsächlich für eine Weile von der Welt verabschieden, wenn er nächste Woche ins Krankenhaus ging. Eine scheußliche Vorstellung!
Gernot Kossak hatte erst beim Frühstück Gelegenheit gehabt, seinem Vater von seiner ›Heldentat‹ im Kaufhaus zu berichten. Er tat es ziemlich großspurig und leider auch nicht wahrheitsgetreu. Seine Mutter kannte die Geschichte schon, und während Gernot erzählte, beobachtete sie ihren Mann, wie er darauf reagierte. Gernot tat das ebenfalls. Denn wenn es etwas gab, das er sich wünschte, dann war es endlich mal eine Anerkennung durch seinen Vater. »Also, ick det sehen, wie se den Lippenstift verschwinden lässt«, sagte er wichtigtuerisch, »und sofort den Profigang einlegen. Rechtsweg einhalten. Keene Eigenmächtigkeiten – noch bin ick da ja nich' anjestellt. Also: Personal informier'n. Naja, und denn ging allet ruckizucki. Denn hat mich der Hausdetektiv zu 'ner Unterredung jebeten – und et sieht sehr jut aus. Wahrscheinlich nehmen die mich. Jedenfalls hat der jesagt, die Leute von meine Detektivschule sind bekannt als einsame Spitze.« Jürgen Kossak hatte mit undurchdringlicher Miene zugehört und dabei gefrühstückt. Als er auch jetzt noch schwieg, drängte seine Frau: »Na, nu' sag doch mal wat, Jürgen!« 196
Er blickte seinen Sohn an. Seine Stimme hatte einen höhnischen Unterton, als er antwortete: »Ja, ja, die Polizei braucht die Mithilfe der Bürger. Aber die is' sozusagen ehrenamtlich. Oder ha'm se dir wat für deine Privatschnüffelei bezahlt? Wenn die so begeistert war'n, warum ha'm se dich nich' gleich einjestellt?« Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zur Tür. Gerlinde Kossak biss sich auf die Lippen. »Du bist ungerecht, Jürgen. Mensch, merkste denn nich', dass du den Jungen fertigmachst?« Ihr Mann blieb stehen. »Ick? Ick mache diesen Ver …« »Wenn du noch mal Versager sagst, dann … dann …« Ihre Stimme erstickte. »Sitzenjeblieben, noch mal sitzenjeblieben«, sagte Kossak leise und verächtlich. »Mit Ach und Krach Hauptschulabschluß. Aus der Lehre jeflogen, arbeitslos, rumhängen, obskure Jobs, 'n Detektivkurs, den er sich in 't Knie reiben kann – wie nennst du denn so wat? Da is' doch Versagen noch milde ausjedrückt. Pass mal auf, wat da noch alles kommt.« »Ja! Weil du det regelrecht herbeiredest!« rief sie schluchzend. Grußlos ging er aus der Küche, und Gerlinde schloss, von einem heftigen, hilflosen Weinen geschüttelt, die Augen. Gernot griff nach ihrem Arm. »Hör uff, Mamma. Ick bin auf 'm richtigen Weg. Noch zwei, drei so 'ne Erfolge, denn hab' ick die Stellung.« Sie blickte ihn verzweifelt an. »Du musst Pappa auch versteh'n, Gernot. Pappa is' irgendwie enttäuscht. Der wollte 'n richtigen Polizisten aus dir machen. Eenen, der Karriere macht – in der Polizeiführung …« Er beugte sich zu ihr. »Ick mache noch Karriere, Mamma«, beteuerte er beschwörend. »Da wird er staunen! Die Gegend um det Kaufhaus is' Pappas Revier. Da fährt er Streife. Ick nehm' mir mal die Musikabteilung vor. Kassetten wer'n auch jerne geklaut. Mal seh'n, wat Pappa sagt, wenn ick ihm so janz locker 'n Warenhausdieb überjebe. Ob er denn immer noch sagt: ›'n Detektivkurs, den ick mir in 't Knie reiben kann! ‹« Am Nachmittag setzte Gernot Kossak sein Vorhaben in die Tat um. 197
In der Musikabteilung des Kaufhauses herrschte ziemliches Gedränge. Gernot, wieder in seiner auffälligen Collegejacke, ging wie beim letzten Mal vor. Er kaufte eine Tonbandkassette, bezahlte sie an der Kasse und schlenderte dann zwischen den Verkaufstischen herum, auf der Suche nach einem geeigneten Opfer. Um dieselbe Zeit betrat auch Dr. Brockmann die Musikabteilung. Er ging zu einer Schallplattenauslage, wo es klassische Musik zu kaufen gab, und sah sich nach einer Aufnahme der ›Vier Jahreszeiten‹ um. Weder er noch Gernot bemerkten Pia Tannert, die den jungen Mann in seiner auffallenden Jacke schon beim Betreten des Kaufhauses entdeckt hatte und ihm langsam gefolgt war. Pia hielt sich immer im Hintergrund, ließ aber Gernot nicht aus den Augen. Dabei entging ihr, dass er ebenfalls von ein paar Jugendlichen beobachtet wurde, die in der Musikabteilung herumschlenderten und so taten, als interessierten sie sich nur für die dort angebotenen Platten und Kassetten. Es waren zwei Mädchen und zwei Jungen zwischen etwa fünfzehn und achtzehn Jahren und ein Jüngerer, der vielleicht zwölf sein mochte. Die fünf verständigten sich untereinander mit Blicken und Handzeichen, und als Pia auftauchte, gingen sie hinter den Schallplattenständern in Deckung, um von ihr nicht gesehen zu werden. Aber gleichzeitig beobachteten sie, wie Gernot Kossak seine vorhin gekaufte Kassette aus der Plastiktüte nahm. Er knüllte die Tüte zusammen und steckte sie in seine Jackentasche. Dann schlängelte er sich an ein älteres türkisches Ehepaar heran, dass vor einer Plattenauslage mit dem Hinweis ›Türkische Folklore‹ stehengeblieben war. Dr. Brockmann hatte vergeblich nach den ›Vier Jahreszeiten gesucht. Er richtete sich auf und blickte sich nach einer Verkäuferin um. In diesem Augenblick gewahrte er, wie Gernot Kossak seine Kassette in die offene Einkaufstasche der Türkin gleiten ließ. »Wat machen Sie denn da?« fragte Dr. Brockmann überrascht. Gernot fuhr erschrocken herum und wollte hastig davonlaufen. Doch da trat Pia ihm in den Weg, die den Zwischenfall gleichfalls beobachtet hatte. »Kann ich Sie mal 'n Moment sprechen?« 198
Gernot erkannte sie sofort, stieß sie unsanft zur Seite und wandte sich zur Flucht. Dabei wäre er fast dem zwölfjährigen Jungen in die Arme gerannt, der in einiger Entfernung stand. »Bleib stehen, du Mistsau?« rief der Junge und pfiff schrill auf zwei Fingern, um seine vier Freunde zu alarmieren. Sie versuchten, dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden, doch er war schneller und hetzte zur Rolltreppe. Die Jugendlichen folgten ihm mit langen Sätzen. Kurz vor der Treppe rempelte Gernot eine ältere dickliche Frau heftig an. Sie strauchelte, rang nach Luft und versuchte vergeblich, sich an einem Regal festzuhalten. Leichenblass im Gesicht fiel sie zu Boden und rührte sich nicht mehr. Die Verfolgungsjagd ging weiter. Gernot rannte, als ginge es um sein Leben, aber die fünf Jugendlichen ließen sich nicht abschütteln. Während Gernot die Rolltreppe hinunter jagte, nahmen sie die Treppe, drängten sich zwischen den Kaufhauskunden durch und erreichten den Flüchtenden in der unteren Etage, wie er dem Ausgang zu hastete. Pia Tannert, die oben in der Musikabteilung ein paar Sekunden gebraucht hatte, um ihre Verblüffung zu überwinden, kam dazu, wie der sich heftig wehrende Gernot von den fünf festgehalten wurde. Er heulte fast vor Angst und Verzweiflung, aber er kam nicht mehr frei. »Udo! Karola! Floppy!« rief Pia und drängte sich zu der Gruppe durch, die inzwischen von Neugierigen und Kaufhausangestellten umringt war. »Was macht ihr denn hier?« Sie kannte die fünf. Sie gehörten zu dem Jugendzentrum, in dem sie arbeitete. Gestern Nachmittag hatte sie ihnen erzählt, was ihr passiert war, weil sie viel zu aufgeregt gewesen war, um die Geschichte für sich zu behalten. Dabei war ihr auch die Idee gekommen, sich noch einmal im Kaufhaus nach dem Mann umzusehen, der ihr dies alles eingebrockt hatte. »Wir wollten dir helfen«, sagte Sabine, und Klaus, der fünfte im Bunde, nickte. »Darf man mal fragen, was das zu bedeuten hat?« fragte ein Mann hinter Pia. Es war einer der Verkäufer. Sie wandte sich um und nickte. 199
»Ich kann Ihnen alles erklären. Am besten rufen Sie allerdings zuerst mal 'n Streifenwagen.« Wenige Minuten später hielt ein Polizeifahrzeug vor dem Kaufhaus. Jürgen Kossak und ein Kollege stiegen aus und gingen auf den Eingang zu. Man brachte die beiden Beamten zu den Büroräumen. Als Jürgen Kossak eintrat, sah er, dass der Raum voller Menschen war. Pia, die fünf Kids aus dem Freizeitzentrum, Herr Schatz, der Kaufhausdetektiv, und ein paar Angestellte waren da. Und Gernot. Die Gesichter der anderen verschwammen vor Jürgen Kossaks Augen. Er sah nur seinen Sohn, der ihn in einer Mischung aus Trotz, Schuldbewusstsein und Verzweiflung anstarrte. Jürgen Kossak begriff, dass man ihn seinetwegen hergerufen hatte, und ihm wurde regelrecht übel. Langsam ging er auf Gernot zu. Oben in der Musikabteilung kümmerte sich Dr. Brockmann inzwischen um die Kundin, die Gernot Kossak vorhin so übel angerempelt hatte. Sie war ohnmächtig. Natürlich hatte sich gleich ein Kreis von Schaulustigen um sie gebildet, und ein junger Mann versuchte, die Bewusstlose unter den Achseln zu fassen und hochzuheben. »Nich'«, sagte Dr. Brockmann, der humpelnd herangekommen war. »Wieder hinlegen!« Mühsam kniete er neben der Frau nieder. »Beine hochheben …« Der junge Mann begriff nicht, was der Arzt von ihm wollte, und hob verwirrt sein eigenes Bein ein Stück an. »Mann! Nich' Ihre!« schnauzte Brockmann. »Die von der Frau!« Er beugte sich über sie und öffnete ihre Jacke und den Blusenkragen. Dabei sah er, wie der junge Mann sehr zögernd seiner Aufforderung Folge leistete und die Beine der Frau nur leicht hochhielt. »Nich' so! Richtig hoch!« ordnete Dr. Brockmann an. »Über Ihre Schultern. Nu' ha'm Se sich nich' so!« Er richtete sich auf und half, das eine Bein der Ohnmächtigen dem ebenfalls knienden Mann über die Schulter zu legen. Danach beugte er sich wieder über die Frau, in deren Gesicht allmählich die Farbe zurückkehrte. Im nächsten Augenblick jedoch sank Peter Brockmann mit schmerz200
verzerrtem Gesicht vornüber. Es gelang ihm gerade noch, sich seitlich abzurollen. Auf die Ellenbogen gestützt, blieb er auf dem Teppichboden liegen. »Kann mal bitte jemand den Notarztwagen rufen«, presste er halblaut mit geschlossenen Augen hervor, gerade als seine Patientin wieder zu sich kam. Zehn Minuten später wurde Peter Brockmann, sorgfältig von zwei Sanitätern auf einer Trage festgeschnallt und mit einer Decke zugedeckt, in den Notarztwagen gebracht. Seine Patientin, die sich von ihrer Ohnmacht inzwischen wieder völlig erholt hatte, sah kopfschüttelnd zu. »Der hat mir das Leben jerettet«, sagte sie voller Vorwurf über die Ungerechtigkeit des Schicksals. »Und nu' liegt er selber uff de Bahre!«
Iris Pauli kam ins Krankenhaus, als Peter Brockmann noch in Narkose lag. Kathrin begleitete sie zu ihm. »Er hatte eine ruhige Nacht, und die Operation war ohne Komplikationen«, berichtete sie. »Aber es wird mindestens noch 'ne halbe Stunde dauern, bis er wieder ganz bei sich ist.« Iris betrachtete Peter besorgt und warf dann einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie seufzte. »Ich muss leider gehen. Ich habe gleich einen Termin bei Gericht. Grüßen Sie ihn bitte sehr, sehr herzlich von mir.« Sie hatte eine Plastiktüte bei sich, aus dem sie jetzt ein kleines Kassettenradio hervorholte. Leise und vorsichtig, als hätte sie Angst, Peter sonst zu wecken, stellte sie es auf seinen Nachttisch. »Sagen Sie ihm bitte, er braucht nur auf die Starttaste vom Recorder zu drücken – wenn er das kann …« Kathrin nickte überrascht, und Iris verließ nach einem geflüsterten Abschiedsgruß auf Zehenspitzen das Zimmer. Als Dr. Brockmann aus der Narkose erwachte, sah er verschwommen jemanden an seinem Bett sitzen. Eine Frau. Langsam schälte sich ihr Gesicht aus den Schleiern seiner Benommenheit, bekam Kontu201
ren … Peter Brockmann blinzelte, schloss die Augen wieder, öffnete sie von neuem. Das war doch … »Lore …« flüsterte er mühsam. »Lore, wieso …« Lores Gesicht kam näher. Sie beugte sich über ihn. »Ich bin zurück«, sagte sie sanft, »früher als geplant. Mein Haus in Kalifornien wird renoviert, und da störe ich bloß. Als ich in deiner Praxis erfahren habe, was los ist, bin ich gleich hergekommen.« »Musst du immer so plötzlich verschwinden und so plötzlich wieder auftauchen?« murmelte Peter. Dann entdeckte er Kathrin neben seiner Frau. »Aha … Familie komplett …« Lore Brockmann lächelte, und sie versuchte, auch noch weiterhin zu lächeln, als ihre Tochter sagte: »Ich soll dich sehr, sehr herzlich von Iris grüßen, Peter. Sie hat einen Termin und kommt dann sofort her. Sie hat dir was mitgebracht.« Kathrin deutete auf den Recorder auf seinem Nachttisch, neben dem jetzt auch noch ein Blumenstrauß von Lore prangte. Als sie auf die Starttaste gedrückt hatte, ertönte Musik, eine kraftvolle Streicherpassage. »Was ist das?« fragte Lore, während Peter Brockmann lächelte. »Vivaldi. Vier Jahreszeiten.« Er blickte zum Fenster. »Wir ha'm Sommer, nich'? Schön …« Er lauschte auf die Musik, bis ihm die Augen zufielen. Fast übergangslos schlief er ein.
Jede Menge Blumen
E
s ließ sich nicht bestreiten, dass Dr. Brockmann ein schwieriger Patient war. Schwierig nicht im Sinne von wehleidig, aber in allem, was die Empfehlungen und Anweisungen von Ärzten und Schwestern anging. Er schlug es in den Wind, wenn man ihm Ruhe, Vorsicht und Scho202
nung empfahl, sondern stand viel zu früh und viel zu oft auf, um in seinem Zimmer herumzugehen, besonders, wenn er Besuch hatte. Dann führte er vor, wie gut er schon wieder nach seiner Operation laufen konnte und wie beweglich er war. Und zu allem Überfluss erwartete er noch Applaus dafür. Zum Beispiel von Gabi und Dr. Thilo Weber, die ihn gemeinsam besuchen kamen. Zur Schande der beiden, die es eigentlich hätten besser wissen müssen, sei es gesagt, dass sie ihm diesen Applaus auch reichlich spendeten, nachdem er, mit einem Hausmantel bekleidet, um sein Bett herum marschiert war und dann noch eine Zugabe machte, indem er in einem weiten Bogen durch sein Zimmer wanderte. »Sieben Tage war der Brockmann krank«, dichtete Gabi den Wilhelm-Busch-Vers um. »Nun läuft er wieder, Gott sei Dank.« Peter kehrte zu seinem Bett zurück. »Nun helft mir mal wieder in die Falle. Wenn Schwester Elfie mich erwischt, gibt's Ärger. Ick sollte heute nämlich nich' mehr aus 'm Bett.« »Elfie?« fragte Gabi. »Dieser Drachen hieß doch Gertrud.« »Gertrud hat seit jestern Urlaub«, erklärte Peter. »Der neue Drachen heißt Elfie.« Er wollte gerade, von Thilo und Gabi gestützt, ins Bett steigen, als sich die Tür öffnete und eine hübsche junge Krankenschwester im Rahmen erschien. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete sie das Bild. »Hallo, Schwester Elfie«, sagte Peter mit seinem harmlosesten Lächeln. Die junge Schwester sah missbilligend zu, wie er sich zurücklegte und Thilo fürsorglich die Decke über ihn breitete. »Herr Doktor Brockmann …« setzte sie zu einer längeren Strafpredigt an. Peter war eitel Höflichkeit. »Darf ich vorstellen: Frau Köhler, meine langjährige und erfahrene Sprechstundenhilfe. Herr Dr. Weber, mein Praxisvertreter – Schwester Elfie.« Elfie reagierte nicht auf den Gruß der beiden, sondern meinte ironisch: »Zwei Ärzte und eine erfahrene Sprechstundenhilfe! Fabelhaft! Ist Ihnen das nicht 'n bisschen peinlich?« Peter schwieg, und sie erwartete wohl auch keine Antwort, denn sie fuhr fort: »Brauchen Sie noch etwas, Herr Doktor Brockmann?« 203
»'n paar Joggingschuhe vielleicht«, schlug Gabi vor. Peter warf ihr einen verweisenden Blick zu. Dann sagte er liebenswürdig: »Nein, danke, Schwester Elfie.« »Fein. Dann lassen Sie sich von Ihrem Kollegen als Gute-Nacht-Geschichte vielleicht noch ein paar postoperative selbstverschuldete Komplikationen aufzählen. Gute Nacht.« Damit verließ die junge Schwester das Krankenzimmer. »So hübsch und schon so streng«, meinte Gabi. »Kommt die Schwester häufiger, nur um mal zu fragen, ob du wat brauchst?« »Klar. Dafür isse hier ja anjestellt«, erwiderte Peter. »So, und jetzt bitte ick um detaillierte Berichterstattung aus dem Praxisleben. Kathrin hat mir von ihrer heutigen Sprechstunde schon erzählt. Und was gab's bei Ihnen? Thilo?« »Ich beantworte täglich dutzendmal die Frage der Patienten, wann Sie wieder da sind, mit: bald!« erwiderte der junge Arzt heiter. »Das erzeugt im allgemeinen Freude und Erleichterung. Nicht gerade schmeichelhaft für mich. Aber im Ernst: Ein paar Dinge gibt es tatsächlich zu besprechen.« Sie redeten eine Weile über die Praxis, und Dr. Weber berichtete, dass er Schwierigkeiten mit einer zuckerkranken Patientin hatte. »Ich hab' zu ihr gesagt: Frau Jeschke, Sie können Ihr Insulin nich' gespritzt haben. Wenn sie's getan hätten, hätten Sie nicht so katastrophale Laborwerte. Aber sie behauptet steif und fest, sie hätte sich die Injektionen gegeben. Ich widerspreche, es geht hin und her, sie wird pampig und sagt, ich hätte keine Ahnung und soll mal'n Nachhilfekurs nehmen …« »Die Jeschke is' wirklich 'n Ekelpaket«, pflichtete Gabi ihm bei. »Ick wollte die auch schon 'n paarmal rausschmeißen.« »Kinder, die Frau hat Angst vor der Spritze, das wissen wir doch«, meinte Dr. Brockmann begütigend. »Bestellt se in die Praxis, dann soll Erika das machen.« »Aber ich hab' sie rausgeschmissen«, gestand Thilo kleinlaut. »Man kann sich doch nicht alles gefallen lassen. Sie sagte, am liebsten würde sie sich 'n anderen Arzt suchen, und ich hab' geantwortet, das könne sie gleich tun.« 204
Gabi fing Dr. Brockmanns Blick auf und sagte rasch: »Aber sonst sind noch fast alle Patienten da.« »Der Bülowbogen is' nu' mal 'ne etwas ruppige Ecke«, meinte Peter, und sein junger Kollege nickte. »Ja. Vielleicht bin ich noch zu empfindlich.« Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Ich mach' mich dann mal auf die Socken zu den Hausbesuchen.« Als er sich von Peter verabschiedete, machte auch Gabi Anstalten zu gehen, aber Dr. Brockmann hielt sie zurück. »Bleib mal noch 'n Moment.« Er wartete, bis Dr. Weber die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann sagte er: »Lore is' wieder in Berlin.« »Ach! Seit wann denn?« fragte Gabi überrascht. »Seit 'ner Woche. Sie besucht mich hier – und zwar ziemlich regelmäßig.« »Und nu' jibt's Zoff mit Iris!« Sie nickte einsichtig. »Noch nich‹«, gestand er unbehaglich. »Iris weiß noch gar nischt davon.« Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Hatten wir das nich' schon mal?« »Mensch, als ick aus der Narkose auf je wacht bin, saß Lore hier am Bett«, versuchte er sich zu rechtfertigen. »Und später, als se weg war, kam Iris, und ick war unheimlich müde … und hatte Schmerzen. Da wollte ick nich' gleich so 'ne komplizierte Diskussion. Und denn … denn wollt' ick Iris das jedesmal sagen, und 's hat sich immer nich' ergeben.« Gabi stand auf und streckte abwehrend die Hände aus. »Mein lieber Peter, ick möchte mit der Anjelegenheit nischt zu tun haben. Erzähl Iris, wat du eben mir erzählt hast – und damit basta!« Er sah ein, dass sie recht hatte, nur half ihm das leider nicht, sein Unbehagen vor der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Iris loszuwerden. Trotzdem war er entschlossen, ihr endlich reinen Wein einzuschenken, als sie am nächsten Morgen zu ihm kam. Zuerst allerdings führte er auch ihr seine Gehübungen vor. Diesmal schaffte er es sogar, bis zum Fenster zu marschieren, und das recht zügig. 205
»Bravo«, sagte Iris, als er sich zu ihr umdrehte, und gab ihm einen Kuss. »Nun komm aber wieder ins Bett.« Als sie ihn unterhaken wollte, schob er sie sanft aber bestimmt zurück. »Nee, lass mal. Ick muss das ja üben.« »Herr Doktor Brockmann!« sagte eine Stimme von der Tür her, als er sein Bett gerade erreicht hatte. Schwester Elfie war eingetreten und betrachtete die Szene mit vorwurfsvollen Blicken. »Ja?« fragte er gespielt harmlos und machte, dass er ins Bett kam. »Nehmen Sie eigentlich Eintrittsgeld?« erkundigte sich die hübsche Schwester kopfschüttelnd. »Ich habe den Eindruck, dass Sie Publikum einladen, um hier mit der Zirkusnummer ›Der uneinsichtige Patient‹ zu glänzen.« »Nee«, antwortete Peter grinsend. »Darf ick übrigens bekannt machen: Schwester Elfie – Frau Pauli. Frau Pauli is' meine private Krankengymnastin und hat die Sache überwacht.« Elfie warf Iris einen kurzen Blick zu. »So …« Sie ging aber nicht weiter auf diesen Punkt ein, sondern räumte das Frühstücksgeschirr ab. Iris allerdings fragte prompt, nachdem die Schwester wieder draußen war: »Sag mal, warum erzählst du denn einen solchen Blödsinn?« Er feixte. »Weißte, Schwester Elfie is' schrecklich streng. Und 'n bisschen humorlos isse auch. Außerdem hat se was gegen meine Alleingänge.« Iris setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett. »Und warum machst du das, wenn es unvernünftig ist?« »Iris, ick bin Arzt«, verteidigte er sich. »Ick weiß schon, was ick tue. Wenn ick nur das bisschen Training mache, was die mir hier anbieten, lieg' ick noch 'n halbes Jahr im Krankenhaus.« »Und wer sind die vielen Leute, denen du deine Kunststücke vorführst?« erkundigte sie sich neugierig. »Gestern Abend waren der Thilo und Gabi hier und …« Peter wollte ihr nun endlich von Lores Besuchen erzählen, doch Iris unterbrach ihn. »Nein, nein, ich will es gar nicht wissen. Was hab' ich davon? Es interessiert mich auch nicht.« 206
»Wirklich nich'?« vergewisserte er sich, und sie schüttelte entschieden den Kopf. »Na jut. Aber denn beklag dich hinterher nich', wenn du's erfährst.« Er legte sich zurück, und Iris achtete nicht auf seinen merkwürdigen Ton, sondern kam wieder auf das vorherige Thema zurück. »Mich interessiert viel mehr, warum du rumläufst, wenn das gefährlich ist.« »Es is' nich' gefährlich«, wiegelte er ab. »Ick möchte nur so schnell wie möglich raus hier. Ick habe nämlich die dumpfe Ahnung, dass in der Praxis nich' alles so läuft, wie ick mir das wünsche.« Bei Iris war Dr. Brockmann sein Geständnis also nicht losgeworden. Eigentlich war er ganz erleichtert darüber. Aber geschehen musste etwas, das war ihm klar. Und deshalb beschloss er, das Pferd von der anderen Seite her aufzuzäumen und mit Lore zu sprechen. Sie kam am Nachmittag und brachte wieder einen großen Blumenstrauß mit. Dr. Brockmann lag im Bett, las in einer medizinischen Zeitschrift und hörte dazu klassische Musik aus dem Radio, das Iris ihm mitgebracht hatte. Lore betrachtete ihn lächelnd. »Ich hab' draußen eine Schwester gefragt, wie es dir geht. Sie hat gesagt, du läufst schon, und du wirst es mir bestimmt vorführen. Mit so einem seltsamen Unterton hat sie das gesagt.« »So? Das wird wohl Schwester Elfie gewesen sein.« Peter Brockmann gab sich einen Ruck. »Lore, ick … ick möchte etwas mit dir besprechen. Nimm doch Platz.« Eigentlich hatte sie heute nur ganz kurz bei ihm hereinschauen wollen. Aber weil Peter es gar so dringlich machte, setzte sie sich nun doch neben sein Bett. »Hat es was mit der Scheidung zu tun?« Als er den Kopf schüttelte, fuhr sie lächelnd fort: »Schade. Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.« »Lore, bitte!« sagte er gequält. »Ich … es geht um Iris. Versteh mich bitte richtig. Ich freue mich über deine Besuche, aber wenn die so spontan und plötzlich kommen, dann … dann könnt's passieren, dass Iris und du … dass ihr euch hier mal trefft.« 207
»Ja – und?« fragte sie verständnislos. Er rutschte ein bisschen in die Kissen zurück. »Ick fände das nich' sehr entspannend.« »Du meinst, es könnte deinen Heilungsprozess verzögern?« erkundigte sie sich mit leisem Spott. »Was schlägst du also vor? Für mich, sagen wir, Dienstag und Freitag – und für Frau Pauli den Rest der Woche?« »Quatsch! Aber du könntest ja vorher anrufen, wenn du mich besuchen willst«, platzte er heraus. Sie zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Anrufen? Wie eine heimliche Geliebte, die nicht auf die misstrauische Ehefrau stoßen soll? Ich gebe zu, das hätte einen gewissen Reiz.« Dann aber schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein, lieber Peter, das werde ich ganz gewiss nicht machen. Das wirst du mir auch nicht ernsthaft zumuten. Ich glaube, du tust auch Frau Pauli unrecht, du unterschätzt sie, wenn du meinst, dass sie etwas dagegen hätte, dass dich deine Noch-Ehefrau im Krankenhaus besucht.« Er wollte etwas erwidern, doch sie fuhr fort: »Und sollte das tatsächlich der Fall sein, dann fürchte ich, ist sie nicht die Richtige für einen Peter Brockmann.« Er schwieg, und Lore stand auf, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Also auf Wiedersehen – ohne Anruf.« Als sie zur Tür wollte, kam Schwester Elfie mit einer mit Wasser gefüllten Vase herein. »Danke, Schwester«, sagte Lore, winkte Peter verabschiedend zu und ging. Schwester Elfie griff nach den Blumen auf dem Nachttisch, um sie ins Wasser zu stellen. »Nanu?« meinte sie ironisch. »Nich' auf den Beinen? Kein Salto rückwärts?« Peter warf ihr einen finsteren Blick zu. »Nee. Die Gage war mir zu niedrig.«
Der enge Hinterhof war nur schwach erhellt von dem Lichtschein, der aus einigen Fenstern der angrenzenden Häuser fiel. 208
Michi und Karli kauerten hinter dem großen Müllcontainer, den sie vor zwei vergitterte Fenster zu ebener Erde geschoben hatten. Er war so hoch, dass die beiden Neunjährigen vollkommen dahinter verschwanden. Das war wichtig, damit niemand aus der Nachbarschaft sie beobachten konnte. Jetzt richtete sich Michi vorsichtig auf und stieß mit der Hand gegen eines der Fenster hinter dem Gitter. Es ließ sich nach innen aufdrücken. Der Junge grinste seinen Freund an. »Siehste, wat hab' ick jesagt: offen!« Karli spähte in den Raum. »Det is' det Klo.« Michi nickte. »Deswejen is' det Fenster ja ooch offen. Wejen stinken. Also los, rein!« »Warte mal«, flüsterte Karli. »Det Jitter sieht ziemlich eng aus. Ick schätze, da komm' wir nich' durch. Wir brauchen eenen, der dünner is'. Und wat is' mit der Alarmanlage?« »Im Klo?« fragte Michi kopfschüttelnd. »Wenn eener danebenpinkelt, jeht 'ne Sirene – oder wie?« Karli musste lachen. »Mann, ey!« Dann jedoch wurde er wieder ernst. »Aber et könnte doch sein, dass an alle Fenster 'ne Alarmanlage is' …« Michi dachte kurz nach. »Denn bräucht'n wa keen', der dünner is', sondern een', der dümmer is', 'n Doofen. Een', den wir antesten lassen …« »Weißte eenen?« fragte Karli, und sein Freund antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Lars!« »Spinnst du?« fragte Karli kopfschüttelnd. »Du weeßt doch jar nich', ob der quatscht.« Nachdenklich verzog Michi das Gesicht. »Det darf nich' sein. Da müssen wir uns wat überlegen …« So geräuschlos wie möglich schoben sie den Container in die Mitte des Hofes zu den anderen zurück und schlenderten auf die Straße. Michi hatte Geld dabei und kaufte für sich und seinen Freund an einer Imbissbude ein Kebab. Unter der Hochbahn lehnte er sich an einen Kleintransporter, der dort geparkt war. 209
»Kannste dich an den Horrorvideo erinnern? Det Ami-Ding mit der Kinderbande in diese Trümmerstadt da in Nu York?« »Ach, den!« sagte Karli. »Bronx meinste. Wat is damit?« »Na, da hatten se doch so 'ne Pfeife dabei, so 'n Verräter. Und den ha'm se doch in 'n Ruinenkeller jesperrt, damit er verhungert und se ihn los sind.« Karli nickte begeistert. »Der denn 'ne Riesenratte jeworden is' und se alle nach'nander uffjefressen hat!« »Jenau den«, stimmte Michi zu. Er stieß Karli in die Rippen. »Wir ha'm doch in unsere Ruine uff'n Hof noch 'n paar Keller frei.« Karli musste grinsen. »Wülste een' einsperrn' und ma' kieken, ob er 'ne Riesenratte wird?« »Quatsch! Aber damit er uns nich' verpfeift …« Bei Karli fiel allmählich der Groschen. »Wat denn – Lars? Mann, wir wissen doch noch jar nich\ ob er uns verpfeift. Vielleicht macht er ja auch jar nich' mit.« Michi schluckte den Rest Kebab hinunter. »Klar macht der mit! Der kommt doch jeden zweeten Tag und fragt, ob er nich' Kumpel bei uns sein kann!« »Ja. Aber der weeß doch nich', det wir klauen!« Michi verdrehte die Augen. Karli war wirklich manchmal schwer von Begriff. »Ebent! Und wenn wir den durch det Gitter schicken, weeß er's. Und denn muss er weg. Mitwisser musste ausschalten, det siehste doch in jeden besser'n Krimi.« Am nächsten Mittag nach der Schule lungerten die beiden Jungen so lange auf dem Spielplatz in ihrem Viertel herum, bis Lars Ewert auftauchte. Lars war zwar genauso alt wie Michi und Karli, wirkte aber jünger. Er war blass, schmächtig und mager – und auch keineswegs so raffiniert wie die beiden anderen, die sich schon seit einiger Zeit auf Einbruchdiebstähle in Baubuden, Kiosken, Autos und Läden verlegt und sich ein beachtliches Lager an Diebesgut in einem leerstehenden Kellerraum angeschafft hatten. Michi war derjenige, der dabei die Ideen und das Sagen hatte, deshalb 210
übernahm er auch jetzt die Rolle des Wortführers. »Wenn de willst, kannste bei uns mitmachen«, sagte er lässig zu Lars, der sein Glück zuerst gar nicht fassen konnte. Michi und Karli hatten ihm schon lange wegen ihres selbstsicheren Auftretens imponiert, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als zwei solche Freunde zu haben. »Ey … Kumpel bei euch? Echt?« fragte er strahlend. Michi bejahte. »Wir brauchten noch 'n Mann. Müsstest aber ooch beweisen, dass du det verdienst.« Lars nickte eifrig. »Klar. Wat soll ick machen?« Michi ließ nicht gleich die Katze aus dem Sack, sondern erkundigte sich erst mal: »Wie isset mit deine Ollen? Darfste spät raus – wenn 't duster is'?« »Klar«, versicherte Lars wieder, obwohl er sich dessen nicht so sicher war. »Meen Oller is' uff Montage in Wessiland, und meene Mutter sagt nischt.« Michi grinste. »Meen Oller is' ooch uff Montage. In Tegel.« Lars begriff, was er meinte, und grinste zurück. »Wat denn? In 'n Knast – ey? Stark! Weshalb denn?« Unvermittelt sprang Michi ihn an und drückte ihm mit dem ausgestreckten Mittelfinger, als wäre es eine Messerklinge, das Kinn nach oben. »Du, hör ma', dußlige Fragen stell'n, is' nich'. Is' det klar?« »Klar doch, ey«, versicherte Lars, während der Finger seinen Kopf immer weiter nach hinten drückte. »Komm, lass, et reicht!« sagte Karli, den Michis Attacke mit Unbehagen erfüllte. Lars rieb sich das Kinn, als Michi ihn losließ. Wie ein Profigangster blickte sich der Neunjährige um. Aber der Spielplatz, eine trostlose, schmutzige Anlage auf einem ehemaligen Trümmergrundstück, von kahlen Häuserwänden und einem hohen Drahtzaun umgeben, war leer. »Also pass uff«, sagte Michi durch die Zähne. »Wir müssen erst ma' seh'n, ob du ooch wat kannst. Heute Abend um neune, Ziethenstraße, zweeter Hinterhof.« »Und kein' Ton zu irjend jemand!« fügte Karli drohend hinzu. Lars wurde es plötzlich ein bisschen mulmig zumute. Einen Moment 211
lang überlegte er sogar ernsthaft, ob er heute Abend nicht lieber zu Hause bleiben sollte. Aber er hatte sich zu lange schon gewünscht, zwei Freunde wie Michi und Karli zu haben. Er würde bei ihnen mitmachen – egal, was sie heute Abend mit ihm vorhatten. Am Abend fand er sich mit klopfendem Herzen an der angegebenen Adresse ein. Michi und Karli waren schon da und zeigten ihm den Müllcontainer, den sie wieder vor die beiden vergitterten Fenster geschoben hatten. Michi drückte das offene Fenster auf und flüsterte Lars zu: »So, jetzt kletterste da rein.« »Wozu 'n dette?« fragte Lars perplex, und Michi zischte ihn aufgebracht an: »Mann! Willste nu mitmachen oder nich'? Det is' 'ne Mutprobe. Schon mal jehört? Also los!« Widerstrebend schlich Lars auf das Fenster zu. Michi und Karli halfen ihm, auf die Fensterbank zu klettern. Dann zwängte er sich unter großer Anstrengung durch die Gitterstäbe und ließ sich in den dahinter liegenden Raum gleiten. »Und nu' wieder raus?« fragte er hoffnungsvoll. Michi schüttelte den Kopf. »Jetzt siehste zu, dass de nach vorne kommst. Da is 'n Laden. Da nimmste 'ne Schnapspulle aus 'm Regal und bringst se her.« »'ne Schnapspulle? Wieso denn det?« »Mann! Mach!« befahl Michi scharf, und Lars verschwand zögernd. Wenig später schrillte drinnen im Laden eine Alarmglocke los. Michi und Karli fuhren zusammen, duckten sich hinter den Container und blickten zu den erleuchteten Wohnungen hinüber. Hinter dem vergitterten Fenster tauchte Lars wieder auf. »Da klingelt wat! 'ne Alarmanlage oder so …« Er reichte die mitgebrachte Schnapsflasche nach draußen. Karli wollte danach greifen, aber Lars ließ sie zu früh los, so dass sie auf den Asphalt fiel und zerbrach. »Scheiße!« zischte Michi, während Lars sich in heller Panik durch das Gitter zwängte. Die beiden anderen liefen bereits davon und blieben erst in der dunklen Hofeinfahrt stehen. 212
In seiner Aufregung sprang Lars sehr ungeschickt von der Fensterbank und musste sich mit den Händen am Boden abfangen. Dabei brachte er sich mit einer Glasscherbe einen Schnitt bei, der heftig zu bluten anfing. Während in einem Haus zwei Fenster zur Hofseite geöffnet wurden und ein paar Leute, durch das Schrillen der Alarmanlage aufmerksam geworden, hinausblickten, rannte der Junge Michi und Karli nach. Im Laufen zeigte er den beiden seine verletzte Hand, und Karli rief: »In unserer Bleibe is' Verbandszeug.« Ungehindert erreichten die drei den Kellerraum. Karli knipste die Glühbirne an, die von der Decke hing, und holte aus einem Verbandskasten, den er und Michi mal aus einem Auto geklaut hatten, eine Mullbinde. »Setz dich«, sagte er und deutete auf eine Kiste. Er riss das Papier von der Binde und drückte sie Lars in die Hand. »Hier, bind dir det um.« »Spitze!« sagte Michi höhnisch und betrachtete Lars aus zusammengekniffenen Augen. »So eener wie du hat uns jrade noch jefehlt.« »Is' doch bloß 'n kleener Kratzer«, versuchte Lars abzuschwächen, während er die Binde um seine Hand wickelte. Dabei blickte er sich staunend in dem Kellerraum um. In den Ecken und an den Wänden waren alle möglichen Sachen gestapelt. Gebrauchte Bohrmaschinen, Kreissägen, Schraubenschlüssel, Werkzeugkästen. Lars entdeckte aufeinandergeschichtete Magazine, jede Menge Süßigkeiten, Zigaretten, Kleidungsstücke, sogar einen Pelzmantel, außerdem Regenschirme, Autozubehör, Handtaschen und Fotoapparate. »Wo is' 'n det allet her?« fragte er verwundert. »Jeklaut, Mann«, erklärte Michi großspurig. »Oder denkste, det ha'm se uns jeschenkt?« »Und … warum macht ihr det?« Karli grinste. »Weil't Spaß macht und weil't spannend is'. Nur auf Video ankieken, is' Scheiße. Selber machen musste.« Er warf Lars einen abtaxierenden Blick zu. »Haste jetzt Schiß?« Lars hörte auf, seine Hand zu umwickeln und presste den Rest der Binde in der Faust zusammen. »Nee«, schwindelte er. »Aber ick gloobe, ick muss jetzt nach Hause …« Hastig stand er auf und wollte zur 213
Kellertür. Aber Michi war schneller. Er packte ihn von hinten, während Karli ihm zu Hilfe kam. Gemeinsam zerrten sie den schmächtigen Jungen, der zu weinen begonnen hatte, in die Mitte des Raumes zurück.
Bernd Saalbach hatte sich in der Innenstadt eine möblierte Wohnung gemietet. Sie war ziemlich bescheiden eingerichtet, eigentlich nur mit dem Nötigsten, aber ihm genügte sie vorläufig. Er hatte andere Dinge im Kopf, als sich um eine behagliche oder sogar komfortable Unterkunft zu kümmern. Das alles hatte Zeit. Vor ein paar Tagen hatte Rudi Lehmann angerufen und Bernd von den Briefen berichtet, die Konsul Maerker an seine Mutter geschrieben hatte. Saalbach hatte darum gebeten, ihm diese Briefe auszuhändigen, weil er hoffte, darin endlich den schlüssigen Beweis für Kurt Maerkers Vaterschaft zu finden. Und Rudi, der sich so lange standhaft geweigert hatte, diese Briefe überhaupt richtig zu lesen, weil ihm das wie eine Indiskretion seiner verstorbenen Mutter gegenüber erschienen war, hatte sich tatsächlich dazu überreden lassen. Er hatte die Briefe Bernd Saalbach gebracht. Zuviel war inzwischen passiert; der Stein war ins Rollen geraten, und er, Rudi, konnte und wollte ihn nicht mehr aufhalten. Er musste die Sache bis zum Ende durchstehen. Für diesen Abend hatte Bernd Saalbach ihn wieder in seine Wohnung bestellt. Saalbach gab sich optimistisch und erklärte Rudi, dass die Rechtslage völlig eindeutig sei. Er deutete auf seinen Schreibtisch, auf dem sich juristische Sachbücher, allerlei Papiere und die Briefe von Konsul Maerker stapelten. »Ihnen, mein lieber Rudi, steht ein Viertel des Kindespflichtteils zu. Zwölf-Komma-fünf Prozent. Das sind nach vorsichtiger Schätzung des Betriebs- und Aktienkapitals knapp zwei Millionen Mark.« Wie betäubt schüttelte Rudi Lehmann den Kopf. »Zwei Millionen …« 214
»Zuzüglich der Ihnen seit dem Erbfall entgangenen Zinsen«, fuhr Saalbach triumphierend fort. »Und mit Ihrem Aktienanteil können Sie natürlich jede Entscheidung der Aktionäre blockieren.« Rudi blickte ihn betroffen an. »Das will ick doch aber überhaupt nich'!« »Sie nicht, Rudi, Sie nicht«, erklärte Saalbach händereibend. Er erschien Rudi sehr verändert, hektisch, übernervös und äußerlich ziemlich verwahrlost, etwas, das man von dem geschniegelten, peniblen Prokuristen der Maerker AG überhaupt nicht gewöhnt war. Saalbach war unrasiert, sein Hemd nicht mehr sauber, und die ganze Wohnung machte einen schrecklich unaufgeräumten Eindruck. Durch die offene Küchentür sah Rudi einen Berg von schmutzigem Geschirr in der Spüle. Daneben standen Essensreste. »Ick habe doch auch gar keine Ahnung von der Firma«, sagte Rudi unsicher. »Aber ich!« antwortete Saalbach betont. »Und wenn Sie mir die Vertretung Ihrer Anteile übertragen, dann wird in der Maerker AG endlich mal eine vernünftige Geschäftspolitik betrieben.« Er ging zu den Briefen auf der Schreibtischplatte und legte die Hand darauf. »Wir brauchen eben bloß noch mehr Beweise. Das hier reicht nicht. Gibt es nicht noch irgend etwas in dem Nachlass Ihrer Mutter? Es muss da noch etwas geben …« »Wat denn?« fragte Rudi gequält. Saalbach nahm den obersten Brief hoch. »Das weiß ich nicht. Aber der Konsul schreibt hier: Das Beiliegende hebe bitte gut auf und verwende es nur, wenn du einmal in Not geraten solltest …« Er ließ den Bogen sinken. »Was könnte das sein?« »Weeß ick nich'«, murmelte Rudi mit einem Schulterzucken. »Vielleicht eine Anerkennung der Vaterschaft?« drängte Saalbach. »Haben Sie irgendwas aus den Briefen herausgenommen? Hatte Ihre Mutter einen Anwalt – einen Notar?« Rudi hatte zu jeder Frage den Kopf geschüttelt. »Mutter hat nie gestritten. Die war so friedlich, die brauchte kee'n Anwalt.« Sie kamen nicht weiter an diesem Abend, und Rudi Lehmann fuhr 215
schließlich ziemlich niedergeschlagen nach Hause. Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut und dachte fast sehnsüchtig an die Zeit zurück, in der sein Leben noch unkompliziert und friedlich gewesen war. Jetzt spukten zwei Millionen in seinem Kopf herum … Am nächsten Vormittag, als Rudi in der Nähe der Villa den Rasen mähte, kam plötzlich Georg Maerker auf ihn zu. Er blieb stehen und wartete, bis Rudi endlich den Motor des Rasenmähers abstellte. »Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten. Es tut mir leid, Rudi. Ich möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen.« »Is' nich' nötig«, murmelte Rudi, dem das peinlich war. Georg bemühte sich, freundlich zu sein und sich gleichzeitig nicht festzulegen. »Ich weiß jetzt: Es ist denkbar, dass Sie ein Sohn meines Vaters sind. Aber es ist nicht sicher. Und Sie werden Verständnis dafür haben, dass man, solange es nicht sicher ist, überhaupt keine Konsequenzen ziehen kann. Ich sage Ihnen auch ganz ehrlich, dass die Familie kein Interesse daran haben kann, sich um Beweise zu bemühen.« »Nee. Das kann ick mir vorstell'n«, erwiderte Rudi ein wenig aufsässig. Georg fixierte ihn von der Seite. »Aber an diesen Beweisen arbeitet mein Schwager ja sicher mit großem Eifer …« Er wartete auf eine Antwort, doch als Rudi hartnäckig schwieg, fuhr er fort: »Andererseits können Sie nicht mein Fahrer und hier Hausmeister bleiben, solange die Sache in der Schwebe ist.« Jetzt wandte Rudi den Kopf und blickte Georg Maerker stirnrunzelnd an. »Woll'n Se mich auch rausschmeißen?« Georg steckte die Hände in die Taschen seines Sakkos. »Nein, im Gegenteil. Da es ja immerhin möglich ist, dass Sie tatsächlich zur Familie gehören, möchte ich Ihnen eine adäquate Übergangslösung vorschlagen. Ich möchte Ihnen den Posten eines stellvertretenden Leiters des Fuhrparks anbieten.« »Und wat soll ick da machen?« fragte Rudi überrascht. »Die Firma hat 'n erstklassigen Fuhrmeester. Und der …« »Ich möchte den Bereich der Fahrzeugbeschaffung aus dessen Kom216
petenz herauslösen. Sie bekommen ein eigenes Büro. Wir müssen demnächst eine Reihe älterer Fahrzeuge abstoßen und durch neue ersetzen. Die sollen Sie aussuchen. Außerdem übernehmen wir demnächst eine illiquide Verpackungsfirma, die ebenfalls einen Fuhrpark hat, den Sie dann betreuen können.« Rudis Blick war während Georgs Erklärungen sehr misstrauisch geworden. »Und wat erwarten Sie dafür von mir? Dass ick meine Kontakte zu Herrn Saalbach abbreche, nehme ick an.« »Nein«, sagte Georg Maerker rasch. »Das ist Ihr gutes Recht und Ihr verständliches Interesse.« Er sah den Unglauben in Rudis Gesicht und nickte ihm zu. »Überlegen Sie 's sich.« Rudi wusste wirklich nicht, was er von Georg Maerkers Angebot halten sollte. Er war verunsichert und hatte wieder einmal mehr in der letzten Zeit das Empfinden, dass er Bernd Saalbachs Hilfe brauchte. Der kannte die Maerkers, der würde wissen, was sie bezweckten. Deshalb fuhr Rudi am Abend wieder in Bernds Wohnung, die ihm noch unaufgeräumter als am Vortag erschien. Er hatte damit gerechnet, dass Saalbach ihm dringend abriet, auf Georg Maerkers Vorschlag einzugehen, weil irgendeine Falle dahintersteckte. Aber Bernd sagte zu seinem Erstaunen: »Natürlich nehmen Sie das Angebot an.« Er lächelte ein bisschen hinterhältig. »Gar nicht so ungeschickt. Hätte ich meinem phantasielosen Schwager nicht zugetraut. Aber eben auch wieder dumm. Denn damit tut er in gewisser Weise schon den ersten Schritt zu vollendeten Tatsachen.« Rudi blickte auf seine kräftigen Hände. »Und wat is', wenn det allet platzt wie 'ne Seifenblase?« Saalbach kam nicht sofort dazu, zu antworten, denn das Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab. »Ja?« Ein paar Sekunden hörte er schweigend zu, was der Anrufer am anderen Ende der Leitung sagte. Dann lachte er auf. Es klang höhnisch und gleichzeitig erbittert. Ohne ein Wort zu sagen, legte er auf. Einen Moment blickte er mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin, dann wandte er sich triumphierend zu Rudi. »Wir sind auf dem richtigen Weg. Glauben Sie's mir!« 217
Der Anruf war von Gisela Saalbach gekommen. Sie hatte sich dazu durchgerungen, weil ihre Tochter sie dazu gedrängt hatte. Annelie wohnte zwar nach wie vor in Schwanenwerder in der Maerker-Villa, aber an diesem Abend hatte sie ihre Mutter besucht. Annelies Brüder waren noch im Ferienlager, und sie wusste, dass Gisela unter dem Alleinsein litt. Natürlich hatten die beiden über Bernd gesprochen und was in ihm vorgegangen sein mochte, dass er so Knall auf Fall alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Annelie hing an ihrem Vater, und die Trennung der Eltern machte ihr Kummer. »Ich versteh' das alles nich'«, hatte sie gemeint. »Ihr seid doch zwei erwachsene Menschen …« Gisela lächelte bitter. »Das hab' ich auch gedacht …« Das junge Mädchen versuchte, seine Niedergeschlagenheit hinter Schnoddrigkeit zu verstecken. »Ich kenn' so was nur aus 'm Film. Aber da packt meistens die Frau ihre Koffer und geht zu ihrer Mutter zurück. Die Variante, dass der Mann auszieht, is' mir neu.« Sie warf ihrer Mutter einen schrägen Blick zu und sah, dass Gisela nicht auf ihren Scherz reagierte. »Entschuldige …« Gisela atmete tief durch. »Is' schon gut. Vielleicht hab' ich ja wirklich unterschätzt, in was … in was für einer inneren Not er sich befindet …« »Ja, Mensch, dann ruf ihn doch an!« sagte Annelie spontan. »Du hast doch die Nummer?« Ihre Mutter nickte. »Ja. Obwohl … er hat sich auch nicht richtig verhalten. Warum muss ich anrufen? Warum immer die Frauen?« Annelie blickte sie bettelnd an. »Warte doch erst mal, wie er reagiert. Männer sind nun mal Idioten. Dreitausend Jahre Patriarchat – das kriegt man nich' so einfach raus.« Sie blieb auf der Couch sitzen und sah ihrer Mutter nach, die zum Telefon ging. Gisela suchte Bernds Nummer aus ihrem Verzeichnis und wählte. Als er sich gemeldet hatte, sagte sie: »Ich bin's. Bernd, ich bin der Meinung, dass wir miteinander reden sollten …« Annelie beobachtete, wie ihre Mutter blass wurde. Sie wartete einen 218
kleinen Augenblick, dann legte sie langsam, wie in Zeitlupentempo den Hörer auf die Gabel zurück. »Und?« fragte Annelie. »Er hat einfach aufgehängt«, entgegnete Gisela tonlos. Sie wandte sich zu ihrer Tochter um. Schmerz und Empörung standen in ihren Augen, und ihre nächsten Worte klangen wie ein mühsam unterdrückter Aufschrei. »Das ist ungerecht, Annelie!« »Mamma!« Erschrocken sprang das Mädchen auf und lief zu ihr. Dann nahm sie sie tröstend in die Arme.
Dr. Brockmann hatte schon recht mit seiner düsteren Ahnung: In der Praxis lief nicht alles so, wie es sollte. Dr. Thilo Weber kam bei Peters Patienten nicht an. Dabei war Thilo im Grunde ein netter Kerl und auch ein guter Arzt, aber er fand einfach nicht den richtigen Ton zu den Menschen, die in Dr. Brockmanns Praxis kamen und die manchmal ruppige, manchmal humorvolle aber immer verständnisvolle Art ›ihres Dokters‹ gewöhnt waren. Er kannte ihre Sorgen, ihre Schwierigkeiten, ihre gelegentliche Schlitzohrigkeit und auch ihre stille Tapferkeit, mit der sie gegen die täglichen Fallstricke ihres meist armseligen Lebens ankämpften. Und auch wenn Peter Brockmann ein ›Dokter‹ war, so war er doch in den langen Jahren am Bülowbogen irgendwie einer der Ihren geworden. Natürlich war es ungerecht, von dem jungen Dr. Thilo Weber dieselben Qualitäten zu erwarten. Aber wieso sollte es ausgerechnet am Bülowbogen gerecht zugehen? Der alte Opa Schnabel sprach aus, was viele dachten, als er eines Vormittags bei Kathrin Brockmann in der Sprechstunde war. »Sie sind zwar ooch nich' der Dokter, aber Sie sind wenigstens seine Tochter. Det merkt man schon irjendwo.« Kathrin schüttelte ihm lächelnd die Hand. »Danke. Ich versuch' das als Kompliment zu nehmen.« »Könn' Se ooch«, versicherte Opa Schnabel ernsthaft. »Zu dem jun219
gen Dokter würd' ick det nämlich nich' sagen. Zu dem komm' ick nich' mehr.« Gabi, die am Pult saß und ein paar Eintragungen machte, blickte stirnrunzelnd auf, während Schwester Erika, die Instrumente auf dem Tisch ordnete, nur stumm in sich hinein griente. »So? Warum denn nicht?« fragte Kathrin. »Weil der nie Zeit hat«, erklärte Wilhelm Schnabel. »Und 'n Arzt muss Zeit haben. Aber det is' typisch für diese jungen Springer. Da muss et immer ruck-zuck jeh'n. Und denn wundern se sich, warum die Menschheit immer kränker wird. Fünf oder zehn Minuten reichen nämlich nich'.« Ehe Kathrin etwas erwidern konnte, war Gabi aufgestanden. Vor lauter Empörung sprach sie hochdeutsch. »Herr Schnabel! Herr Doktor Weber ist ein ausgezeichneter Arzt. Das würden Sie merken, wenn Sie mal in eine andere Praxis gehen. Da wären Sie nämlich nicht in fünf oder zehn, sondern in drei Minuten wieder draußen. Herr Doktor Weber gibt jedem Patienten so viel Zeit, wie er braucht.« Opa Schnabel blieb gelassen. »Da is' det Wartezimmer aber janz anderer Meinung. Müssten Se mal hör'n, wie die Leute da so rummosern an dem jungen Dokter.« Er musterte Gabi mit einem schiefen Grinsen. »Aber Sie mögen den Dokter wohl, wat? Na ja, 'n hübscher Kerl isser ja.« Gabi fing von Kathrin einen überrascht fragenden und von Schwester Erika einen bedeutungsvollen Blick auf, ehe diese das Behandlungszimmer verließ. Kathrin aber wandte sich mit einem freundlichen Lächeln an Opa Schnabel. »Wir haben hier, glaub' ich, eine sehr gute Arbeitsatmosphäre, Herr Schnabel, und ich mag Herrn Doktor Weber natürlich auch. Da werden Sie sicher Verständnis dafür haben, wenn wir – nicht nur deshalb – Herrn Doktor Webers Leistung sehr schätzen.« Der alte Mann hatte ein listiges Funkeln in den Augen. »Det ha'm Se schön jesagt, aber deshalb mögen ihn die Patienten noch lange nich'. Bis uff’n paar junge Frauen, aber det is' je keene Kunst. Also noch mal: danke und auf Wiedersehen.« 220
»Also so wat!« sagte Gabi, als er draußen war. Sie bemerkte, dass Kathrin ihr wieder einen nachdenklichen Blick zuwarf und fragte hastig: »Der nächste?« Als Kathrin nickte, ging sie eilig hinaus. Im übrigen hatte Opa Schnabel den Nagel auf den Kopf getroffen. Gabi Köhler fand Dr. Thilo Weber mehr als nur nett. Und da sie nicht der Typ war, der die Dinge einfach treiben ließ, hatte sie ihn gestern kurzerhand in die Praxiswohnung zum Abendessen eingeladen. Sie hatte gewartet, bis Dr. Weber von seinen Hausbesuchen zurückkehrte, wie er es immer tat, um die Patientenbögen abzuliefern, hatte im Wohnzimmer den Tisch gedeckt und ein paar Schnittchen hergerichtet. Es war ein sehr harmonischer Abend geworden. Allerdings hegte auch Kathrin Brockmann mehr als nur kollegiales Interesse für Thilo Weber, und als er an diesem Nachmittag in der Praxis erschien, um sie abzulösen, lud sie ihn für den Abend auf ein Glas Wein zu sich ein. Thilo nahm die Einladung dankend an und geriet ein bisschen in Verlegenheit, als sich wenig später Gabi bei ihm erkundigte, ob man den netten Abend von gestern nicht wiederholen könnte. »Heute Abend geht's nicht«, murmelte er. »Da hab' ich schon was vor.« »Dann morgen?« fragte Gabi, und er nickte. Es ließ sich nicht bestreiten, dass Dr. Weber auch bei Kathrin einen sehr angenehmen Abend verbrachte. Das ›Glas Wein‹, zu dem sie ihn gebeten hatte, entpuppte sich als reine Tiefstapelei. Es gab nämlich ein von Kathrin selbst gekochtes hervorragendes Menü mit mehreren Gängen. Der Tisch war festlich gedeckt, mit Kerzen, Kristall und gutem Porzellan, und aus der Stereoanlage erklang leise klassische Musik. Kathrin hatte sich sehr hübsch gemacht, und es bestand kaum ein Zweifel daran, dass Dr. Weber das alles sehr gefiel, seine junge Kollegin inbegriffen. »Wollen wir uns rüber setzen?« fragte Kathrin nach dem Essen und deutete auf das Biedermeiersofa, vor dem ein kleiner Tisch und ein Armstuhl aus derselben Epoche standen. Als Thilo bejahte, nahm sie ihr Weinglas und stellte es auf dem Tisch ab. Thilo folgte ihr, und sie 221
blickte ihn ernst und gleichzeitig voller Zärtlichkeit an. »Ich hab' ziemlich lange niemanden zu mir eingeladen. Ein paar Jahre ist das her. Das letzte Mal war's eine ziemliche Enttäuschung. Wenn es … irgendwelche Gründe gibt, dass du eigentlich nicht hier sein möchtest, dann sag es bitte gleich.« Er lächelte. »Ich bin gerne hier«, gestand er, und Kathrin fiel nicht auf, dass das eigentlich eine ziemlich vage Antwort war. Gabi sah er erst am nächsten Tag in der Nachmittagssprechstunde wieder. Sie versuchte mehrere Male, ein paar Worte unter vier Augen mit ihm zu wechseln, aber es wollte einfach nicht klappen. Eine der Patientinnen, die an diesem Tag zu Dr. Weber wollten, war Frau Ewert, die Mutter von Lars. Sie sah verweint aus und klagte über heftige Herzbeschwerden in der letzten Nacht. »Ick hab' überhaupt nich' geschlafen. Mein … mein Junge is' nämlich verschwunden, wissen Se.« Thilo, der ihr den Blutdruck gemessen und keine abweichenden, besorgniserregenden Werte festgestellt hatte, blickte auf. »Verschwunden? Wie alt ist denn ihr Sohn?« »Neun. Er hat jesagt, er jeht zu 'nem Freund, mit 'm Computer spielen – jestern Abend. Und denn is' er nich' nach Hause jekomm'.« »Na, dann ist es vielleicht spät geworden, und er hat dort übernachtet«, meinte Thilo, während er ihr die Blutdruckmanschette abnahm. »Aber wenn Sie sich Sorgen machen, gehen Sie doch zur Polizei.« Sie streifte den Blusenärmel hinunter. »Ja, das werd' ick wohl müssen. Ick … ick hab' das bis jetzt nich' jemacht, weil … Mein Mann hatte nämlich mal 'ne andere. Und da hab' ick ziemlich jetrunken. Da hat die Fürsorge mir Lars schon mal weggenommen.« »Ah so, verstehe«, murmelte Dr. Weber ein bisschen peinlich berührt. »Aber wenn dem Kind was passiert ist … Vielleicht sollten Sie trotzdem …« Sie blickte ihn aus ängstlichen Augen an. »Sie glooben ooch, dass ihm wat passiert is', ja?« Er stand auf. »Nein, Frau Ewert. Das weiß ich natürlich nicht. Gehen Sie zur Polizei, das wird das Beste sein.« Erleichtert sah er, dass Gabi 222
das Behandlungszimmer betrat, und wandte sich zu ihr. »Frau Ewert bekommt bitte schnell einen Labortermin.« »Wird jemacht!« erklärte sie fröhlich, und Thilo seufzte, nachdem sich Lars' Mutter verabschiedet hatte. »Also, Geschichten erzählen einem eure Patienten! Ich komm' mir vor wie auf 'ner Sozialstation.« Sie trat dicht an ihn heran. »Das sind se jewöhnt, das se hier von ihr'n privaten Sorgen erzählen können.« Und dann wurde sie endlich den Satz los, der ihr schon den ganzen Nachmittag auf der Seele brannte: »Bleibt's bei heute Abend?« Thilo Weber nickte. Und Gabi entging es, dass dieses Nicken ein bisschen unbehaglich ausfiel.
Als Sigi Kaul das Krankenzimmer betrat, saß Dr. Brockmann in einem Stuhl beim Fenster. Ein paar Sekunden betrachtete er die junge Frau verblüfft, die ihm einen Blumenstrauß mitgebracht hatte. »Mensch, Sigi! Mit dir hätt' ick nu' überhaupt nich' hier gerechnet!« Er wollte sich aus seinem Armstuhl hochstemmen, aber sie sagte besorgt: »Nee, bleiben Se sitzen, Herr Dokter. Ick weeß ja, dass Sie sonst höflich sind.« Er stand trotzdem auf und schüttelte ihr die Hand. »Tach, Mädel. Ick dachte, du hast längst 'ne Villa auf 'n Bahamas und bist da mit deiner Oma hinjezogen.« Sigi lachte. »Hör'n Se auf. Hat sich ausgebahamat. Wo soll ick denn mit 'n Blumen hin?« »Auf 'n Nachttisch. Ick sag' der Schwester gleich wegen 'ner Vase Bescheid. Und wat heißt ›ausgebahamat‹? Sind die Millionen alle?« Dr. Brockmann kannte Sigi seit ihrer Kinderzeit. Oma Köster, ihre Großmutter, hatte das Mädchen aufgezogen, nachdem Sigis Eltern ins Ruhrgebiet verzogen waren. Sie hatten dort eine Gaststätte aufgemacht. Die gute Oma Köster hatte es nicht immer leicht gehabt 223
mit der frühreifen Göre. Aber dann, als Sigi gerade achtzehn geworden war, war ihr Großvater väterlicherseits gestorben. Der alte Opa Kaul war auch ein Patient von Dr. Brockmann gewesen, ein stiller, bescheidener Mann. Niemand hatte geahnt, dass er einmal einen riesigen Lottogewinn gemacht hatte. Opa Kaul hatte weiterhin in seiner einfachen, fast armseligen Stube im Kiez gewohnt. Das viele Geld aber hatte er in Immobilien angelegt. Nach seinem Tod waren Sigis Eltern Erben des Millionenvermögens geworden. Sie kamen zur Beerdigung – in einem funkelnagelneuen Porsche, den sich Sigis Vater als erstes von der Erbschaft gekauft hatte. Und damit waren sie auf der Avus tödlich verunglückt. Der ganze Reichtum war nun an Sigi als einzige Tochter übergegangen, und sie hatte damals erklärt, erst einmal richtig ›leben‹ zu wollen. Ihre Stellung als Verkäuferin hatte sie aufgegeben, sich eine schicke Penthauswohnung gekauft und sich ganz dem ›high life‹ hingegeben – oder dem, was sie darunter verstand. Dadurch hatte Dr. Brockmann sie aus den Augen verloren. »Ob die Millionen alle sind?« wiederholte Sigi jetzt Dr. Brockmanns Frage. »Na, nich' janz. Aber ick hab 'n bisschen Pech gehabt mit 'nem Typen, in den ick mich verknallt hatte. Schwamm drüber. Jedenfalls hab' ick det Penthaus verkauft, das Geld anjelegt, und nu' wohn' ick erstmal wieder für 'ne Weile bei Oma. Bis ick 'ne jute, billige Wohnung finde.« »Jut und billig – na, da wirste wohl 'ne Weile suchen müssen«, meinte Dr. Brockmann. Sigi lachte unbekümmert. »Weeß ick. Aber wie der olle Schnabel bei Ihnen im Wartezimmer immer gesagt hat: Ick habe Zeit, ick kann warten. Lebt der noch?« »Ja, der lebt noch«, bestätigte Peter lächelnd. Er betrachtete Sigi. »Sag mal, das is' doch mindestens zwei Jahre her, dass wir uns nich' jeseh'n haben. Und die ganze Zeit habt ihr keinen Arzt gebraucht?« »Oma jeht's bestens, seit Se ihr damals geraten haben, die Galle rausnehmen zu lassen. Das heißt – vorgestern war se in Ihrer Praxis, wollte sich mal wieder durchchecken lassen – aber sie ha'm da so 'n jung'schen 224
Dokter, sagt Oma, der meinte, wenn se nischt hat, soll se froh sein und zu Hause bleiben.« Peter runzelte die Stirn. »So? Na ja, stimmt im Grunde ja ooch.« »Und da hab' ick denn auch erfahren, dass Sie im Krankenhaus liegen«, fuhr Sigi fort. »Erst dacht' ick mir, et is' vielleicht nich' anjebracht, dass ick herkomme, aber denn …« Sie stockte und lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht woll'n Se mir ja gratulieren.« »Jeburtstag?« fragte er, und als sie den Kopf schüttelte: »Tja, heirateste?« »Na, das ja nu' schon überhaupt nich'«, gab Sigi Auskunft. »Nee, ick hab' meine Prüfung bestanden. Als Arzthelferin.« Er blickte sie ungläubig an. »Als Arzthelferin? Du? Wat denn …« Sigi strahlte über das ganze Gesicht. »Mensch, is' det toll! Genauso hab' ick mir vorgestellt, dass Sie reagier'n!« Dann berichtete sie, dass sie ihre Ausbildung bei einem Internisten in Neukölln gemacht habe, nachdem sie gemerkt hatte, dass ihr Geld langsam weniger wurde. Allerdings gab es dabei einen Wermutstropfen. Dieser Dr. Müller-Imlau hatte Sigi nach bestandener Prüfung nicht übernommen, so dass sie jetzt auf der Straße saß. »Ick würde dich sofort übernehmen«, sagte Dr. Brockmann, dem es ehrlich imponierte, wie Sigi, das ehemalige Kellerkind, sich durchgebissen hatte. »Aber denn müsst' ick Gabi entlassen. Und dafür gibt's keinen Grund.« »Nee.« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Außerdem spielen ja bei Ihnen und Gabi vielleicht auch 'n paar private Gründe rein, dass Sie das nich' machen würden.« Dr. Brockmann drohte ihr lachend mit dem Finger. »Du Kröte!« Sigi blieb ziemlich lange. Dr. Brockmann wollte ganz genau wissen, wie es ihr in den letzten zwei Jahren und vor allem in ihrer Ausbildung ergangen war, und als sie sich verabschiedete, versprach er ihr, sich für sie bei seinen Kollegen umzuhören, ob nicht irgendwo eine Stelle für sie frei wäre. Die Sigi, dachte Dr. Brockmann, als er wieder allein war, und lächelte. Der unerwartete Besuch hatte ihn gefreut, und er vergaß darüber eine Zeitlang fast seine eigenen Probleme. 225
Um so unsanfter wurde er am Nachmittag daran erinnert, als Lore kam. Kathrin war gerade bei ihm, um ihm von der Vormittagssprechstunde Bericht zu erstatten. »Übrigens kann Thilo ab übermorgen die Praxis ganztags übernehmen«, sagte sie. »Lass dir also Zeit und kurier dich richtig aus.« Dr. Brockmann runzelte unwirsch die Stirn. Er saß wieder im Hausmantel in seinem Armsessel beim Fenster, und auf dem Nachttisch prangte ein weiterer Blumenstrauß, den Lore mitgebracht hatte. »Ick will raus hier«, murrte er. »Ick kann mich auch zu Hause hinlegen. Ick fühle mich fabelhaft.« Lore trat hinter seinen Stuhl und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Mein lieber Peter«, sagte sie, »was müssen wir denn machen, damit du dich nicht wie ein ungeduldiges Kind aufführst, das endlich aus dem Bett will.« Dabei massierte sie sanft seinen Rücken. Kathrin betrachtete das Bild ein bisschen spöttisch. »Wollt ihr euch das mit der Scheidung nich' noch mal überlegen?« In diesem Augenblick passierte die Katastrophe, die Dr. Brockmann sich seit Lores Rückkehr schon ein paarmal voller Unbehagen ausgemalt hatte, iris Pauli betrat das Zimmer. Auch sie hatte einen Blumenstrauß dabei, und ihr Begrüßungslächeln erstarrte. Langsam löste Lore ihre Hände von Peters Schultern, und Iris sah sehr wohl, dass er wie das personifizierte schlechte Gewissen aussah. Kathrin versuchte, die Situation zu retten. »Hallo, Iris«, sagte sie ganz selbstverständlich. Iris' Lächeln hatte etwas Maskenhaftes. »Guten Tag, Kathrin … guten Tag allerseits …« Höflich erwiderte Lore den Gruß. Sie wusste ja nicht, dass Iris Pauli keine Ahnung von ihrer Rückkehr aus Amerika hatte. Dr. Brockmann räusperte sich, aber seine Stimme klang trotzdem ziemlich krächzend. »Iris …« Als er aufstand, warf sie ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. Dann ging sie zu seinem leeren Bett und legte langsam die mitgebrachten Blumen auf die Decke. Es sah aus, als lege sie bei einer Beerdigung Blumen auf ein Grab. Iris machte eine kleine steife Verneigung in Lores und Kathrins 226
Richtung, verließ den Raum und schloss betont leise die Tür hinter sich.
Lars Ewert hatte eine scheußliche Nacht hinter sich. Michi und Karli hatten ihn in dem Kellerraum mit dem erbeuteten Diebesgut eingeschlossen. Es gab kein Fenster, nur die schwache Glühbirne an der Decke. Zuerst hatte Lars laut um Hilfe gerufen. Dann, als niemand ihn hörte, hatte er angefangen zu weinen. Er hatte Angst, ihm war kalt, und seine verletzte Hand tat abscheulich weh. Die Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten, und Lars wusste nicht, ob es noch immer Nacht oder schon Tag war. Irgendwann war er in einen erschöpften Schlaf gefallen, und als er erwachte, war ihm die Kälte in alle Knochen gekrochen. Er hatte sich in seinem Gefängnis umgesehen und den Pelzmantel entdeckt. Den hatte er, während ihm schon wieder die Tränen kamen, auf dem Boden ausgebreitet und sich hineingewickelt. Was hatten Michi und Karli vor? Warum hatten sie ihn hier eingesperrt? Würden sie ihn am Ende nie wieder raus lassen? Bei dieser Vorstellung war Lars' Furcht ins Uferlose gewachsen. Schluchzend und zitternd hatte er die nächsten Stunden verbracht. Er war durstig und hungrig, aber er hatte nicht gewagt, sich etwas Essoder Trinkbares von den gestohlenen Sachen zu nehmen. Dann hatte jemand die Tür seines Gefängnisses aufgeschlossen, und Karli war erschienen. Er hatte Lars eine Flasche Apfelsaft gegeben, aus der er gierig trank, und zwei Tafeln Schokolade. »Warum zitterste 'n so?« fragte er, während er Lars unbehaglich beobachtete. »Ick gloobe, ick hab' Fieber«, murmelte der Junge verzweifelt. »Lass mir doch raus hier!« Karli schüttelte den Kopf. »Kann ick nich'. Denn schlägt mich Michi zusammen. Und wenn du wat hörst, ja, wenn er vielleicht kommt, denn versteckste det allet. Die Flasche, die Schokolade und den Pelzmantel. Det darf er nich' seh'n.« 227
»Wat soll ick denn hier?« fragte Lars weinerlich. »Uns nich' verpfeifen.« »Ick mach' det nich'!« beteuerte der Junge. »Ick habe nischt jeseh'n.« Wieder schüttelte Karli den Kopf. »Det gloobt Michi nich'«. »Bitte!« flehte Lars. Er streckte Karli die Hand mit dem Verband hin. Er war blutverkrustet. »Meine Hand tut ooch so weh.« Karli, der die ganze Zeit an der geschlossenen Eisentür gelehnt hatte, zog mit einer unbehaglichen Bewegung die Schultern hoch. Blitzschnell drückte er die Tür hinter sich auf und schlüpfte hinaus. Es hallte dumpf, als er sie ins Schloss warf. Lars hörte, wie von draußen ein Schlüssel herumgedreht wurde. Voller Panik sprang er auf, rannte zur Tür und schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen das Eisen. »Lasst mir raus hier!« schrie er. »Karli! Lass mir doch raus.« Aber es kam keine Antwort. Trotzdem schrie und hämmerte Lars immer weiter, während Karli sich draußen im Kellergang gegen die Wand lehnte. Lars' dünnes Schreien setzte ihm zu, aber die Angst vor Michi war stärker. Schließlich gab Karli sich einen Ruck und rannte durch den Kellergang davon. An einer Biegung wäre er fast mit Michi zusammengeprallt, der von draußen kam. Erschrocken starrte Karli ihn an. »Wat machste 'n hier, ey?« fragte Michi finster. »Ick hab' dir schon jesucht.« »Ick … ick hab' ma' nachjekiekt«, stotterte Karli. »Und? Lebt er noch?« »Na klar! Aber Fieber hat er.« Michi versuchte, kaltblütig zu erscheinen. »Na, is' doch schon wat.« Er wollte zum Kellerraum weitergehen, doch Karli hielt ihn auf. »Bleib hier! Der tobt da drinne!« Michi grinste schief. »Denn wird er bald die Riesenratte. Der in den Video hat ooch vorher jetobt.« »Quatsch!« sagte Karli wegwerfend und rückte dann mit dem heraus, was ihm im Kopf herumging, seit Lars im Keller eingesperrt war. »Sag ma', wie war 't denn, wenn wir unsere Sachen woanders hinräum'n? Wenn er uns denn verpfeifen will, findet keener wat.« 228
»Spinnst du?« Michi tippte sich gegen die Stirn. »Det is doch viel zu riskant. Sag bloß, dir geht die Muffe!« Stumm schüttelte Karli den Kopf. Aber natürlich hatte er Angst. Außerdem tat Lars ihm leid. Er hatte zu jämmerlich ausgesehen, und sein Schreien hinter der geschlossenen Kellertür verfolgte Karli den ganzen Tag über. Karli Huberti war kein Kellerkind wie Michi. Er hatte ein schönes gepflegtes Zuhause und Eltern, die ihren Sohn nach modernen Prinzipien – oder was sie dafür hielten – erzogen. Bei Hubertis gab es keine Ohrfeigen oder ähnliches, da wurde über alles diskutiert. Man musste Kinder durch vernünftige Argumente überzeugen, wenn sie aus der Reihe tanzten, fand Eva Huberti, Karlis Mutter. Als der Junge an diesem Abend heimkam, saß Frau Huberti in ihrem mit echten alten Möbeln eingerichteten Wohnzimmer und las. Neben ihr auf dem Schreibtisch lagen einige Video-Kassetten. Ein wenig nervös wandte sie sich um, als ihr Sohn das Zimmer betrat. »Karli! Wo warst du denn schon wieder?« Plötzlich berlinerte Karli nicht mehr, sondern sprach ein reines Hochdeutsch. Seine Stimme klang gelangweilt. »Ich war im Schachklub. Das weißt du doch. Warum fragst du mich jedesmal, wenn ich nach Hause komme, wo ich war?« »Entschuldige«, erwiderte seine Mutter gelassen. »Ich möchte einfach nur informiert sein. Außerdem hat dein Vater nach dir gefragt.« Karlis Augen leuchteten auf. »Is' er zu Hause? Wo is' er?« Eva Huberti zog tadelnd die Brauen hoch. »Es ist Donnerstag, also ist er in der Parteiversammlung. Das müsstest du doch wissen.« Der freudige Schimmer in den Augen des Jungen erlosch. Stumm wandte er sich ab, um aus dem Zimmer zu gehen, doch seine Mutter hielt ihn auf. »Karli …« Genervt blickte er zur Decke. »Ja? Was gibt's?« Eva legte die gepflegte Hand auf den Stapel Video-Kassetten. Ihre Stimme klang sanft, so sanft, dass Karli am liebsten geschrien hätte. »Ich habe mir erlaubt, vorhin deine Höhle etwas aufzuräumen, und da 229
sind mir diese Kassetten in die Hände gefallen. Es tut mir leid. Es ist wahrscheinlich furchtbar indiskret …« Jetzt schrie Karli doch, während er zum Schreibtisch stürzte. »Beschissen is' das! Echt beschissen! Was hast du in meinem Zimmer zu schnüffeln?« Mit einem leisen Verweis schüttelte seine Mutter den Kopf und sagte: »Ich habe, wie gesagt, nicht geschnüffelt. Ich habe …« »Klar hast du geschnüffelt!« brüllte Karli. Seine Stimme kippte über vor Wut. Er riss die Kassetten vom Schreibtisch. Eva Huberti schüttelte wieder den Kopf. »Sag mal«, fragte sie milde, »hast du es nötig, dir einen solchen widerwärtigen Horrormist anzusehen?« »Das is' meine Sache, was ich mir ansehe.« »Ja. Aber könnten wir vielleicht mal darüber diskutieren?« »Nein!« sagte der Junge, seine Unsicherheit mit Wut überspielend, und ging mit den Kassetten zur Tür. »Wo willst du hin?« erkundigte sich seine Mutter, und er antwortete patzig: »Die widerwärtigen Horrorvideos wegbringen!« Draußen war er, und Eva blickte ihm einen Moment missbilligend nach. Dann wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Zu Michis Ehre sei es gesagt, dass auch ihm der im Keller eingeschlossene Lars nicht aus dem Kopf ging. Und am Abend, als es schon dunkel war, rang er sich dazu durch, ihm etwas zu essen zu bringen. Er besorgte eine Tüte Milch und ein Dönerkebab und machte sich auf den Weg zum Keller. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, öffnete er sie langsam und spähte vorsichtig in den von der Glühbirne schwach erhellten Raum. Irgendwie hatte Michi plötzlich ein bisschen Angst davor, was ihn erwartete. »Lars?« fragte er unsicher. Hinter einem Stapel von Kisten und Werkzeugen kam Lars hervorgekrochen. Er hatte sich völlig in den Pelzmantel gewickelt und ihn sogar über den Kopf gezogen, um sich warm zu halten. Jetzt schaffte er es nicht gleich, den Pelz abzustreifen. Michis Augen wurden groß und rund vor Entsetzen. Er glaubte nichts 230
anderes, als dass ein großes unheimliches Pelztier auf ihn zu kröche. Eines, in das Lars sich verwandelt hatte – wie in dem Horror-Video. Die Milchtüte entglitt Michis Hand. Krampfhaft das Kebab umklammernd, starrte er ein paar Sekunden auf das in Pelz gehüllte Etwas, dann wandte er sich zur Flucht. Er ließ die Tür offen und rannte aus dem Keller, als ginge es um sein Leben. Michi jagte über den Hof, erreichte die Hintertür, die ins Haus führte, und sah aus den Augenwinkeln, dass Lars' Mutter zusammen mit Sigi Kaul im Treppenhaus stand. »Und seit wann isser weg?« fragte Sigi gerade mitleidig. »Seit gestern Abend«, sagte Helga Ewert erstickt. »Ick war eben uff de Polizei. Die komm' jetzt, die Keller absuchen und so …« Michi rannte durch den Flur zur Haustür und wollte auf die Straße. In diesem Moment kam Karli von draußen herein. »Hau ab!« stieß Michi keuchend hervor. »Die Riesenratte …« Gleich darauf waren die beiden Jungen auf der dunklen Straße verschwunden. Sigi blickte ihnen nach. »Wer war 'n das?« »Der Michi, der kleene Strolch von den Zilkes im Vierten, wo der Mann im Knast is'«, gab Helga Ewert Auskunft, und Sigi wollte dem Jungen folgen. »Vielleicht weiß der wat!« Sie blieb stehen, weil hinter ihr ein lautes Schluchzen ertönte. Es war Lars, der jetzt ohne Pelzmantel, zitternd und schmutzig durch die Hoftür kam. Seine Mutter stürzte auf ihn zu, hob ihn hoch und drückte ihn an sich. »Lars, wo warste denn?« Er presste sein verheultes Gesicht an ihre Wange und brachte kein Wort heraus.
Dr. Brockmann hatte seine Sachen gepackt und sich angezogen. Nach Iris' schweigendem Aufbruch war er entschlossen, noch heute Abend das Krankenhaus zu verlassen. Natürlich hatte er damit einen ziemlichen Wirbel verursacht, aber er war von seinem Vorhaben nicht abzubringen gewesen. 231
Dr. Friese, der Stationsarzt, hatte Peter auf die gesundheitlichen Risiken aufmerksam gemacht, die er sich durch seinen Entschluss einhandeln konnte, doch auch das hatte nichts gefruchtet. Ein bisschen hilflos verabschiedete sich der Stationsarzt, während Kathrin noch bei ihrem Vater blieb. »Jetzt hör mal zu, Alter«, begann sie. »Du kannst Iris auch von diesem Telefon hier erreichen.« Sie deutete auf den Apparat auf dem Nachttisch. Peter schüttelte den Kopf. »Wenn ick sie erreiche, denn möcht' ick sie auch seh'n – und zwar sofort. Und das kann ick von hier aus nich'.« »Und von wo aus kannst du es?« »Ick lass mich jetzt zur Praxis bringen. Da kann ick jederzeit weg. Verstehste das nich'?« »Ich versuch's«, erwiderte Kathrin mit einem leichten Lächeln. »Obwohl ick mir nich' recht vorstellen kann, was du um diese Zeit in der Praxis machen willst.« Er atmete tief ein. »Mensch, mich … mich umseh'n! Ick jehör' da hin! Det is wie … Muss ick dir det erklär'n?« Natürlich musste er das nicht. Sie verstand ihn auch so. »Praxis-Entzugserscheinung. Klare Diagnose.« Vater und Tochter lächelten einander zu. Zwanzig Minuten später war Peter in seiner Praxis. Die Tür war abgeschlossen, aber er hatte natürlich die Schlüssel dabei. Als er den Vorraum betrat, stellte er verwundert fest, dass Licht brannte, ebenso im Wartezimmer. »Hallo …« rief Peter, doch niemand antwortete. Kopfschüttelnd sah er sich um. »Wenn man sich nich' um alles selber kümmert!« Er schaltete im Wartezimmer die Lampe aus, knipste sie aber gleich wieder an. Dann setzte er sich vorsichtig und betrachtete die leeren Stühle. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das immer breiter und strahlender wurde. »Ja, Leute, da bin ick wieder.« In diesem Moment ertönte der Türsummer, und Dr. Brockmann zuckte überrascht zusammen. Dann murmelte er seinen imaginären Patienten im Wartezimmer zu: »Seht ihr, schon wieder eener.« 232
Langsam stand er auf und ging zur Eingangstür. Draußen standen Sigi, Frau Ewert und Lars, der sich eng an seine Mutter drängte. Sigi starrte Brockmann verdutzt an. »Herr Doktor, wir … ick …« Helga Ewert strahlte. »Det is' schön, dass Sie wieder da sind, Herr Dokter.« Sie zeigte ihm Lars' verletzte Hand, und Brockmann gab die Tür frei, damit die drei die Anmeldung betreten konnten. Mechanisch wollte er sich zu Lars hinunter beugen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an seine Operation und deutete auf den Tresen. »Setzen Se 'n mal da rauf.« Frau Ewert hob ihren Jungen hoch, und Dr. Brockmann begann vorsichtig, den blutverkrusteten Verband zu lösen. »Peter!« sagte in diesem Moment eine fassungslose Stimme hinter seinem Rücken. Es war Gabi, die in der Tür zur Praxiswohnung aufgetaucht war. Hinter ihr erschien das überraschte Gesicht von Dr. Weber, und Gabi verbesserte sich hastig: »Herr Dokter …« Sie wirkte schrecklich verlegen. »Herr Doktor Weber und ick …« »Ihr sprecht den Tag noch mal durch«, sagte Peter Brockmann mit schöner Selbstverständlichkeit. »Is' doch in Ordnung.« »Und wat machst du … wat machen Sie hier?« Gabis Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Ick behandle 'n Patienten. Siehste doch«, erklärte Dr. Brockmann und wandte sich wieder Lars zu.
Liebe, Verliebte und Verhältnisse
D
r. Brockmann warf einen letzten Blick auf das Patientenblatt, das Gabi ihm hingelegt hatte, dann ging er Herrn Müller entgegen, der mit steifen, wie abgezirkelten Schritten das Sprechzimmer betrat. Seine Ausdrucksweise passte zu seinem Benehmen; sie war genauso gestelzt. 233
»Herr Dokter, man is' erfreut, dass es Ihn' wieder gesund geht.« Brockmann reichte ihm die Hand. »Danke, Herr Müller, danke. Und wie geht's Ihnen?« Er blickte noch einmal flüchtig auf das Patientenblatt. »Man dankt«, sagte Herr Müller. »Det Medikament, das verschrieben wurde, zeitigt Fortschritte.« »Die Diät halten Sie ein?« fragte Peter, stutzte und sah zum dritten Mal auf das Blatt in seiner Hand. »Das heißt …« »Diät?« fragte Herr Müller erstaunt. »'tschuldigung.« Dr. Brockmann tat, als hätte er sich versprochen. »Die Anwendung, die …« Er verstummte und zeigte auf die Schiebetür zum Behandlungszimmer. »Geh'n Sie doch bitte schon mal nach nebenan und machen Sie sich frei. Ich komme sofort.« Er öffnete für Herrn Müller die Tür, schloss sie schnell wieder hinter ihm und rief dann Gabi aus der Anmeldung. Als sie eintrat, hielt er ihr das Patientenblatt hin. »Herr Ernst Müller hat ein Ekzem«, sagte er und deutete zum Behandlungszimmer. »Das hier ist das Blatt von Herrn Harald Müller. Magengeschwür.« Gabi runzelte die Stirn. »Entschuldige.« Sie versuchte ein Lächeln, auf das Peter aber nicht einging. »Macht keenen juten Eindruck, wenn ick jemanden nach 'ner Diät frage, die ick ihm nich' verordnet habe.« »Ja, ja, is' ja jut …« murmelte Gabi und nahm das Blatt an sich. »Nee. Is' eben nich' jut!« Sie stieß einen genervten Seufzer aus. »Peter, ick bin jetzt über zwanzig Jahre Sprechstundenhilfe bei dir. Meines Wissens habe ick dir noch nie 'n falsches Patientenblatt gegeben. Da finde ick's nich' besonders fair, wenn du jetzt so tust, als ob …« Sie verstummte, weil Schwester Erika erschien. Sie sah, dass kein Patient im Zimmer war, und wandte sich an Gabi. »Hier is' gerade Frau Kowalski gekommen. Zur Kurzwelle. Mit 'nem Bestellzettel von dir, aber sie steht nich' im Plan, und wir sind bis obenhin belegt mit Kurzwelle. Was mach' ick jetzt mit der?« Dr. Brockmann, der gerade nach nebenan zu Herrn Müller gehen 234
wollte, blieb stehen und zog die Augenbrauen hoch. Gabi sah es und reagierte gereizt. »Mensch! Das is' doch nu' wirklich kein Drama! Schieb sie dazwischen. Das kann doch nich' so 'n Problem sein!« Damit marschierte sie hinaus. Erika zuckte mit den Schultern und warf Dr. Brockmann einen amüsierten Blick zu. »Tja, wenn man mit seinen Jedanken woanders is'! Die Liebe, die Liebe …« Nachdenklich nagte Peter an der Unterlippe, stellte aber keine Frage. Er ahnte, wer die Ursache für Gabis plötzliche Schussligkeit war, und fühlte leises Unbehagen in sich aufsteigen. Er kam aber erst am Abend nach der Sprechstunde dazu, mit Gabi über die Sache zu reden. Zuvor hatte er wieder einmal vergeblich versucht, Iris Pauli anzurufen. Zu Hause meldete sie sich nicht, und in der Kanzlei hieß es auch jedesmal, sie sei nicht da. Peter vermutete, dass sie sich vor ihm verleugnen ließ. Eine scheußliche Situation! Aber das hatte er nun von seiner Vogel-Strauß-Politik! Warum nur hatte er Iris verschwiegen, dass Lore wieder in Berlin war! Gabi kam herein. Sie hatte ihren weißen Kittel ausgezogen und trug einen offenen Mantel. Peter sah, dass sie darunter ein sehr schickes Kleid mit einem aufregend tiefen Ausschnitt anhatte. Sie legte zwei Patientenblätter auf den Tisch. »Die Bögen für die Hausbesuche. Mehrfach über Kreuz und gegengeprüft. Irrtum ausgeschlossen. Und nimm 'n Schirm mit. Soll Regen jeben.« Dr. Brockmann wandte sich vom Fenster ab, an dem er nach seinem erfolglosen Anruf bei Iris gestanden und grübelnd hinausgesehen hatte. »Passt zur Stimmung. Alles fabelhaft.« »Ick entschuldige mich in aller Form für die unerhörte Verwechslung von vorhin«, sagte Gabi. »Wird nich' wieder vorkommen.« »Du gehst schon?« fragte er, und sie nickte. »Ja. Ick hab' was vor.« Etwas von ihrer sonstigen Sympathie für Peter trat in ihren Blick. »Und du?« »Ick nich'«, sagte er. »Schade. Hast bloß zwei Hausbesuche. Mit Iris is' immer noch Sendepause? Und Lore?« 235
»Lore und ick haben beschlossen, uns erst zum Scheidungstermin wiederzusehen«, erklärte er ein bisschen steif. Gabi zuckte mit den Schultern. »Na, vielleicht schreibste Iris mal 'n Brief.« »Ick schreibe nich' gerne Briefe«, knurrte er. »Besonders nich', wenn man in derselben Stadt wohnt.« Sie musste lachen. »Wejen Porto? Kannst ihn ja persönlich vorbeibringen.« »Aber dir jeht's jut, wat?« sagte er gekränkt. Sie nickte, ihn absichtlich missverstehend. »Und du fragst nich', mit wem ick mich treffe? Warst auch schon mal neugieriger.« »Und du freundlicher«, konterte er. »Und einfühlsamer. Außerdem kann ick's mir denken.« »Und? Einwände?« erkundigte sie sich kess. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch. »Könntest du dir vorstellen, dass Kathrin auch ein jewisses Interesse an Herrn Doktor Thilo Weber hat?« Kampflustig schob Gabi das Kinn vor. »Du, ick kann mir vorstell'n, dass 'ne janze Menge Frauen Interesse an ›Herrn Doktor Thilo Weber‹ haben!« Dann fügte sie leise, mit einem Anflug von Unsicherheit hinzu: »Hat Kathrin was jesagt?« »Vielleicht fragste ihn einfach mal«, schlug Dr. Brockmann vor. »Müsst ick eher Kathrin fragen, oder?« Als sie gehen wollte, hielt Peter sie noch einmal auf und kam ihr bis zur Tür nach. »Ick habe das Gefühl, dass, seit ick aus 'm Krankenhaus zurück bin, dass sich da … in unserem Verhältnis irgendwie was geändert hat«, meinte er zögernd. »Verhältnis?« wiederholte Gabi gedehnt. »Unser Verhältnis hat sich vor fünfzehn Jahren geändert, lieber Peter, nich' erst, seit du aus 'm Krankenhaus zurück bist.« Dann ging sie endgültig hinaus.
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Ewald und Lieselotte Mohn waren seit über fünfzig Jahren miteinander verheiratet. In der Gegend um den Bülowbogen kannte man die beiden alten Leutchen, die man fast immer nur zu zweit sah und die sich, wie das häufig bei so betagten Ehepaaren der Fall ist, auf seltsame Weise irgendwie ähnelten. Beide strahlten sie eine ganz selbstverständliche rührende Güte aus. Beide hatten in einem faltigen Gesicht erstaunlich junge, beinahe kindliche Augen, die gleiche bedächtige Sprechweise und oftmals sogar die gleichen Bewegungen. Sie waren, wie man so sagt, im Lauf ihres langen Zusammenlebens ›zusammengebacken‹, so dass einer wirklich die Hälfte des anderen geworden war und sie nur miteinander eine vollständige Einheit bildeten. An diesem Spätnachmittag hatten sie miteinander einen Spaziergang gemacht, hatten sich in einer Anlage auf eine Bank gesetzt und dann langsam über den Dennewitzplatz den Rückweg angetreten. Vor der Luther-Kirche trafen sie ihren Gemeindepfarrer, und nachdem sie ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, zog Ewald Mohn aus seiner abgewetzten Brieftasche einen Fünfzig-Mark-Schein. »Als Spende«, sagte der alte Mann und hielt ihn dem Pfarrer hin. »War Rente jestern.« Pfarrer Lichtenberg wollte das Geld nicht annehmen, weil er wusste, dass die Mohns nicht auf Rosen gebettet waren, aber Lieselotte strahlte ihn an. »Nehm' Se mal, Herr Pfarrer. Das jeht schon in Ordnung. Für'n juten Zweck is' kein Jeld zu viel.« Da behielt er widerstrebend den Schein. »Ich tue es schweren Herzens«, versicherte er. Und dann fügte er etwas hinzu, das Lieselotte und Ewald gar nicht richtig verstanden. Er verglich sie beide nämlich mit Philemon und Baucis. Das sei ein altes Ehepaar aus einer Sage. Die beiden seien sehr arm gewesen und hätten trotzdem die Götter mit einem Festmahl bewirtet. Lieselotte und Ewald sahen sich ratlos an. Dann meinte sie freundlich: »Also, so arm sind wir jar nich', Herr Pfarrer.« Und Ewald, ihr getreues Echo, ergänzte: »Nee, so arm nich'.« Sie zeigte auf den Fünfzig-Mark-Schein. »Das soll auch nich' für'n 237
Festmahl für die Jötter sein, det is' wieder für die armen Menschen, die hungern.« »Ich weiß, ich weiß«, bestätigte Pfarrer Lichtenberg lächelnd. »Da kommt es auch hin. Ich danke Ihnen.« Lieselotte nickte. »Und wenn Sie'n Jedanken zum Herrjott raufschicken, dass wir jesund bleiben, denn wär' das schon viel Lohn.« »Mach' ich«, versicherte er. »Geht's Ihnen denn gut?« »Mir schon, Herr Pfarrer«, sagte Frau Mohn. »Aber mein Mann …« Das war eine der seltenen Gelegenheiten, wo Ewald seiner Eheliebsten widersprach. »Jetzt lass mal jut sein, Lotte. Mir jeht's nich' schlecht, Herr Pfarrer. Man is' ja nu' nich' mehr zwanzig, nich'? Und jetzt wackeln wir, meine Frau und ick, zu unsere Stammkneipe und trinken unser Bierchen. Das macht ja keener, dem's schlecht jeht …« Als der Pfarrer davonging, blickten ihm die beiden Alten lächelnd nach. Dann jedoch konnte Lieselotte einen sanften Vorwurf nicht unterdrücken. »Das mit der Kneipe hätt'ste ja nu' nich' sagen müssen. Was soll denn der Pfarrer denken.« Ewald sah ein bisschen schuldbewusst drein. »Nu' komm mal, et sieht nach Regen aus.« Sie gelangten noch trocken in das gemütliche Ecklokal. Aber während sie noch auf ihr Bier warteten, begann es draußen wie aus Mollen zu gießen. Wenig später betrat Dr. Brockmann die Gaststube, nachdem er in der Tür seinen tropfnassen Schirm ausgeschüttelt hatte. Er hatte seine zwei Hausbesuche erledigt und verspürte wenig Lust, einen langen, einsamen Abend zu Hause zu verbringen. Deshalb war er noch auf einen Sprung in das Lokal gegangen, in dem er sich so oft mit Iris in der Mittagspause getroffen hatte. War wohl doch keine so gute Idee, ausgerechnet hierher zu kommen, dachte er allerdings, als er seinen Mantel auszog und sich an diese Treffen erinnerte. Der Ober begrüßte Peter, »'na Abend, Herr Dokter. Ihr Tisch is' frei. Rotwein?« Brockmann erwiderte den Gruß und nickte. Dann entdeckte er Lie238
selotte und Ewald Mohn, und seine eben noch trübsinnige Miene hellte sich auf. Er trat zu ihnen an den Tisch, »'n Abend, Frau Mohn«, sagte er herzlich, während Ewald etwas umständlich aufstand. Peter drückte ihm die Hand. »Bleiben Se sitzen, Herr Mohn. Und? Jesund und munter, wie sich's für'n junges frisches Ehepaar jehört?« »Kernjesund!« versicherte Ewald schnell. »Und der olle Herzmuskel jibt auch Ruhe.« Dr. Brockmann fing einen besorgten Seitenblick von Lieselotte auf und fragte zweifelnd: »Na? Wirklich?« Sie beugte sich über den Tisch. »Blaue Lippen hat er öfter. Und blaue Fingernägel auch.« Worauf Ewald prompt die Hände ineinander verschlang, damit man die Nägel nicht sehen konnte. »So«, meinte Brockmann. »Denn kommen Se doch mal in der Praxis vorbei, Herr Mohn. Kann ja nich' schaden.« Ewald blickte seine Frau vorwurfsvoll an. »Wat du immer rumphantasierst! Ick habe wirklich nischt, Herr Dokter.« Aber Lieselotte ließ sich nicht einschüchtern. »Er hat Angst, dass Sie ihn in't Krankenhaus schicken. Einmal Krankenhaus, immer Krankenhaus, sagt er.« Brockmann lächelte. »So schnell schicken wir keinen ins Krankenhaus. Lassen Se sich mal seh'n.« Der Ober tauchte auf und meldete ihm, dass er den Rotwein an Peters Stammplatz serviert habe. Also verabschiedete sich Dr. Brockmann von den beiden alten Leutchen und ging zu seinem Tisch. Er hatte sich kaum gesetzt, als ein neuer Gast das Lokal betrat. Es war Sigi Kaul. Sie war vom Regen durchnässt und ging mit schnellen Schritten an die Theke. »Einmal Vollmilch Nuss«, bat sie und legte das abgezählte Geld hin. Als der Wirt ihr die Tafel gab, riss sie sie auf und wollte einen Riegel abbrechen. Dabei drehte sie sich um und entdeckte Dr. Brockmann. »Herr Dokter!« rief sie erfreut und steuerte auf seinen Tisch zu. »Um diese Zeit in der Kneipe? Und janz alleine …« »Hallo, Sigi!« Er deutete auf einen Stuhl. »Setz dich hin, denn bin ick nich' mehr alleine.« 239
»Ehrlich?« Ihre Augen leuchteten auf. »Na, wenn Se das wollen – jerne.« Genüsslich brach sie einen Schokoladenriegel ab. »Zigarettenersatz. In der Praxis dürft' ick ja nich' rauchen, und da bin ick umjestiegen.« Auffordernd hielt sie Peter die Schokolade hin. »Och'n Stück?« Er wehrte dankend ab. »Passt nich' zum Wein.« Sigi betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. »Also, ick tippe mal: Ihre Rechtsanwältin is' verreist, und die Havel is' über die Ufer getreten.« Sie lachte über seinen verdutzten Blick. »Na ja, wenn Ihr Häuschen am Ufer nich' überschwemmt war', säßen Sie doch jetzt dort. Und wenn Ihre … also, Sie wissen schon … wenn die uff Stube war', wär'n Se bei der.« Sie unterbrach sich. »Mensch, ick glaube, ick bin wieder'n bißken direkt, nich'?« Dr. Brockmann feixte und umging eine Antwort, indem er Sigi berichtete, dass er sich ihretwegen bei einigen Kollegen umgehört habe, bisher aber leider vergeblich, weil keiner eine Sprechstundenhilfe suche. »Bei einem könnt's allerdings was werden. Aber erst in drei Monaten. Da kriegt eine'n Kind.« »Na, das is' doch immerhin was!« meinte Sigi optimistisch. »Danke! Macht denn Ihre Gabi nich' mal Urlaub? Ick würde ja auch vertreten.« »Nee«, sagte Dr. Brockmann. »Das heißt – so was kann ja manchmal ganz plötzlich komm'.« Er schüttelte den Kopf, als ob er einen unangenehmen Gedanken vertreiben müsste. »Darf ick dich zu was einladen?« Sigi zierte sich nicht. »Ja, danke, 'ne Schwarze Johanna vielleicht.« Als der Ober den Johannesbeersaft gebracht hatte, trank Sigi einen Schluck und blickte sich im Lokal um. Dabei entdeckte sie Ewald und Lieselotte. »Sagen Se mal – die alten Mohns bei uns aus'm Seitenflügel, sind die nich' auch Patienten von Ihnen?« Brockmann machte ein Pokergesicht. »Schweigepflicht. Ha'm se dir das nich' beigebracht?« »Na klar. Ick dachte bloß, wo wir beide jetzt vom Fach sind …« Sigi stützte den Kopf in die Hände. Ihr Gesicht war nachdenklich geworden. »Is' schon doll, nich'? So lange verheiratet, und denn mögen se 240
sich immer noch. Find' ick schön. Ick glaube, so wat jibt's bald nich' mehr. Ick meine, die Leute, die heutzutage heiraten, hau'n sich doch oft schon nach drei Jahren die Koppe ein.« Sie lächelte, während sie wieder zu den alten Leuten hinsah. »Die Mohns ha'm auch nie jemeckert, wenn wir als Kinder auf'm Hof jespielt haben. Die hatten'n Jungen, wissen Se, der is' mit achtzehn gefallen.« Auch Dr. Brockmann blickte nun zu dem alten Ehepaar hinüber. Ewald Mohn war gerade aufgestanden und ging ein bisschen steifbeinig zur Theke, um die Zeche zu bezahlen. Während er seiner Frau den Rücken zudrehte, kam der Ober und schob ihr mit einem verschwörerischen Lächeln blitzschnell etwas zu. Es war eine Tafel Schokolade, die Lieselotte genauso schnell in ihrer Handtasche verschwinden ließ. Inzwischen hatte Ewald die kleine Rechnung beglichen, und Sigi und Dr. Brockmann beobachteten, wie ihm der Wirt ebenfalls etwas zusteckte. Es sah wie ein Portionsfläschchen Kräuterschnaps aus. »Det stimmt ja wirklich!« sagte Sigi überrascht. »Was?« fragte Peter. Sie blickte immer noch zum Tresen. »Seh'n Se mal, der olle Mohn lässt wat in der Jackentasche verschwinden. Hat mir meine Oma erzählt. Die beiden kaufen immer was für den anderen, und denn überraschen se sich damit. Is' det nich' niedlich?« »Die Mohns scheinen ja'n ziemlich intensives Gesprächsthema bei euch zu sein«, meinte Brockmann lächelnd. Sie nickte. »Die ha'm bei den Nazis 'n Juden versteckt. Is' erst vor ein paar Jahren rausgekomn, als se 'ne Urkunde jekriegt ha'm. Die haben da nie drüber geredet …« Der Ober hatte den beiden Alten inzwischen in ihre Mäntel geholfen. Sie nahmen ihre Regenschirme und winkten zu Dr. Brockmanns Tisch hinüber, ehe sie hinausgingen. Sigi trank ihr Glas aus. Auf ihrer Stirn stand eine kleine grüblerische Falte. »Man sagt ja, wenn von so'm ollen Ehepaar einer stirbt, denn überlebt das der andere nich' lange.« »Nu' kriegste dein' Melancholischen, wat?« fragte Dr. Brockmann, aber sie wehrte ab. 241
»Nee, nee! Ick glaube bloß, so wie die beeden – so was wird's bei mir nich' jeben …« Dabei warf sie Peter Brockmann einen träumerischen, leicht verhangenen Blick zu. »Jedenfalls hat der Richtige noch nich' angekloppt …« Dr. Brockmann erinnerte sich, dass Sigi als knapp Achtzehnjährige schon mal ziemlich heftig für ihn geschwärmt hatte, und ging ein bisschen auf Distanz, indem er ihr betont burschikos auf die Schulter klopfte. »Der wird schon noch kloppen.« Sie seufzte. »Sie sagen es. Kloppen – aber nich' ankloppen.«
Die alten Mohns hatten inzwischen ihre Wohnung erreicht. Sie aßen in der Küche eine Kleinigkeit zu Abend und setzten sich anschließend in ihr Wohnzimmer, das ein bisschen vollgestopft wirkte mit den vielen Möbeln, die zum Teil noch aus der Jahrhundertwende stammten, zum Teil aus den fünfziger Jahren. Ewald las in einer Illustrierten, und Lieselotte hatte sich ein Rätselheft aus der Schublade geholt und löste Kreuzworträtsel. Durch den Regen war es kühl geworden, deshalb hatte sie sich eine Strickjacke übergezogen. Hin und wieder blickte Lieselotte zu ihrem Mann hinüber, der in seine Zeitschrift vertieft war. Schließlich holte sie die Schokolade aus der Jackentasche, die sie aus der Gaststätte mitgebracht hatte, und schob sie vorsichtig über den Tisch in Ewalds Richtung. »Sag mal, kennst du'n Zufluss der Emscher?« fragte sie. Er ließ die Zeitung sinken. »Emscher? Nee.« Dann entdeckte er die Schokolade, und seine Miene erhellte sich. »Was is'n das?« Lieselotte versuchte, ein harmloses Gesicht zu machen. »Sieht aus wie Marzipanschokolade.« »Lotte!« sagte er gerührt. »Du sollst mich nich' immer so verwöhnen. Danke!« Sie nickte strahlend, und ihr Mann deutete zum Schreibtisch. »Nu' sieh mal im Rätsellexikon nach wejen dieser Emscher …« Gehorsam tat sie, was er vorschlug, weil sie schon ahnte, was nun 242
passierte. Und richtig, als sie zum Tisch zurückkehrte, stand auf ihrer Rätselzeitung ein Fläschen Kräuterlikör. »Wo kommt denn das her?« fragte Lieselotte mit gespielter Überraschung. »Wann hast du denn das wieder jekauft.« »Weeß ick nich' mehr«, erklärte er mit glänzenden Augen, weil er ihr ansah, wie sehr sie sich freute. »Ick hol' dir'n Gläschen.« Als er aufstand und zur Tür ging, fiel Lieselottes Blick auf seine Füße. »Du hast ja noch die Straßenschuhe an!« »Ja, die … die jeh'n heute so schwer runter«, gestand er ein bisschen ängstlich. »Nu' komm mal sofort her. Ick helf dir beim Auszieh'n«, sagte seine Frau resolut. »Die sind doch nass vom Regen. Du holst dir'ne Erkältung.« Sie zog einen Stuhl heran und legte sich eine Zeitung über den Rock. »Na, setz dich hin.« Als Ewald den Fuß auf ihren Schoß legte, sah sie, dass er die Schnürsenkel bereits geöffnet hatte. Ihr Gesicht wurde ganz blass vor Schreck. »Der Fuß is' ja ganz dick …« Sie tastete seine Wade ab. »Det Bein auch … Is' det andere auch so?« Er nickte zögernd, und ihre Unruhe wuchs. »Und du hast auch wieder ganz blaue Lippen. Du musst zum Dokter, Ewald.« Sein Blick bekam etwas Verstörtes, Gehetztes. »Du weeßt doch, wat dann passiert, Lotte. Denn muss ick in't Krankenhaus. Und da komm' ick nich' wieder raus. Lass mich doch hier zu Hause sterben, wenn der Herrjott will, dass es so weit is' …« Sie rettete sich in Schelte, um ihm und auch sich selbst Mut zu machen. »Red' nich' so'n Unsinn, Ewald!« Dann tätschelte sie mit unbeholfener Zärtlichkeit seinen Fuß. »Wir sterben noch lange nich'.« Aber die Angst in ihr wuchs.
Als Rebecca Maerker heimkam, wartete ihr Mann im Wohnzimmer auf sie. Er trug einen dunklen Abendanzug und wirkte nervös. Rebecca erschrak, als sie ihn sah. »Du bist schon zu Hause?« Dann 243
begrüßte sie ihre Schwiegermutter, die im Hintergrund in einem Sessel saß. Anna Maerker nickte ihr freundlich zu. »Guten Abend, Rebecca.« Georg warf einen ärgerlichen Blick auf seine Uhr. »Wir haben heute Abend eine Einladung bei den Pawlowsky-Grünthals. Hast du das vergessen? Wo warst du denn?« Sein inquisitorischer Ton reizte Rebecca. »Entschuldige, das hab' ich vergessen! Und ich war in der Stadt …« Einen Moment lang stellte sie sich vor, was Georg sagen würde, wenn sie ihm die Wahrheit erzählte. Dass sie sich mit Gabriel getroffen hatte – wieder einmal. Mit Gabriel, der sie liebte. Mit dem sie lachen konnte. Bei diesem sie sich jung und lebendig fühlte – eine lebendige, begehrenswerte Frau. Rebecca wollte ihren Mantel ausziehen, unter dem sie ein sehr elegantes, für einen Stadtbummel eigentlich zu aufwendiges Kleid trug. »Den Mantel kannst du gleich anbehalten«, sagte Georg nervös. »Wir müssen fahren.« »Ich würde mich gern umziehen«, protestierte sie. »Nicht nötig. Was du anhast, ist vollkommen in Ordnung.« Er betrachtete sie kritisch. »Was hast du denn so lange in der Stadt gemacht? Nimmst du wieder Französisch-Unterricht?« Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte sie zusammen, aber Georg deutete ihre Reaktion falsch. »Entschuldige, wenn ich frage. Aber ich weiß ja nicht viel von deinen Aktivitäten.« Seine Mutter mischte sich ein. Ihr gefiel es nicht, wie Georg mit seiner Frau sprach. »Das kannst du auch nicht bei deinen dürftigen Gastspielen hier zu Hause«, erklärte sie unwillig. Rebecca wandte sich zur Tür. »Ich möchte mich doch etwas frischmachen, wenn du gestattest. Und ich nehme zur Zeit keinen Französisch-Unterricht. Jedenfalls nicht direkt …« Beim Hinausgehen wäre sie fast mit Rudi Lehmann zusammengeprallt, der an die Tür klopfen wollte. Rebecca nickte ihm freundlich zu, während Rudi im Rahmen stehenblieb. »Entschuldigung, Herr Dokter Maerker«, sagte er. »'n Abend, Frau Maerker …« 244
Georg drehte sich überrascht um. »Ja, Rudi – was kann ich für Sie tun? Kommen Sie doch rein.« »Ick habe Ihr'n Wagen draußen jeseh'n, und ick dachte …« Rudi räusperte sich. »Ick wollte Ihnen bloß sagen: Ick hab' mir die Sache mit Ihrem Angebot für diese neue Stellung in der Firma überlegt. Also, ick würde das versuchen, wenn das noch gilt.« Mit einem etwas steifen Lächeln ging Georg auf ihn zu. »Natürlich gilt das noch. Und ich freue mich, dass Sie annehmen. Apropos, Rudi … In Anbetracht der Gegebenheiten glaube ich, dass wir unsere Anrede überdenken sollten.« Er merkte, dass Rudi nicht verstand, worauf er hinauswollte, und fuhr hastig fort: »Ich finde es nicht angemessen, Sie weiter Rudi zu nennen. Ich möchte in Zukunft Herr Lehmann zu Ihnen sagen. Das wäre eigentlich längst fällig gewesen. Außerdem kann ich Sie in Ihrer neuen Position ebenfalls schlecht mit dem Vornamen anreden. Kommen Sie doch bitte morgen in mein Büro, ja?« »Mach' ick, danke. Schönen Abend noch«, sagte Rudi befangen und ging. »Guten Abend, Rudi«, rief Anna Maerker ihm betont nach und wandte sich dann an ihren Sohn. »Ich hoffe, dieses ›Herr Lehmann‹ gilt nicht auch für mich!« »Wieso?« fragte er irritiert. »Hab' ich schon wieder was falsch gemacht?« Annas Stimme klang unwillig. »›In Anbetracht der Gegebenheiten wäre es vielleicht richtiger, bei Rudi zu bleiben und das Sie durch ein Du zu ersetzen.« Georg stieß einen gequälten Seufzer aus. »Mutter! Dazu gibt es im Augenblick doch nicht den geringsten Grund. Was Rudis Familienzugehörigkeit betrifft, ist überhaupt noch nichts erwiesen.« Er stockte. »Es ist doch so schon alles kompliziert genug.« Anna war aufgestanden und betrachtete ihn prüfend. »Du hast etwas, mein Sohn. Ich kenne dich. Dich machen weder Saalbach noch Rudi nervös.« »Sondern?« fragte er mit einer Spur Aufsässigkeit. Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« 245
Das Abendessen bei den Pawlowsky-Grünthals, die Geschäftsfreunde der Maerker AG waren, verlief äußerlich wie die meisten Abendessen dieser Art. Es waren etwa zwanzig Personen geladen, man stand herum und machte Small talk, während ein Lohnkellner Drinks anbot. Die meisten der Gäste waren Ehepaare, und nur ein jüngerer Mann, ein Rechtsanwalt namens Dr. Max Jung, war allein gekommen. Er entwickelte sofort ein ziemlich heftiges Interesse für Rebecca Maerker, erzählte ihr von seiner Yacht, die in Norderney vor Anker lag, und bedauerte mit einem charmanten Augenaufschlag, dass er Rebecca dort noch nie begegnet sei, obwohl die Maerkers dort jedes Jahr ihren Urlaub verbrachten. Doch dann erschien, kurz bevor die Gastgeberin zu Tisch bat, noch ein Gast: Rebecca Scholz, die attraktive Laborantin der Maerker AG. Georg sah sie in einem aufregenden Kleid eintreten, und sein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Ungläubigkeit. Herr Pawlowsky-Grünthal, der ihn beobachtet hatte, lachte schallend. »Genauso hab' ich mir Ihre Reaktion vorgestellt, mein lieber Doktor Maerker.« Seine Frau segelte mit einem strahlenden Lächeln auf Rebecca Scholz zu. »Guten Abend, meine liebe Rebecca. Schön, dass Sie kommen.« Rebecca Scholz wirkte sehr sicher, als sie erst Frau Pawlowsky-Grünthal und dann den Hausherrn begrüßte. Er legte vertraulich den Arm um sie. »Grüß Sie, meine Liebe. Ja, jetzt weiß ich gar nicht, wen ich mit wem bekannt machen muss.« Er wandte sich an Rebecca Maerker. »Sie kennen Frau Scholz sicher?« Georgs Frau schüttelte den Kopf. »Nein.« Pawlowsky-Grünthal lachte. »Nein? Sie sollten sich von Ihrem Mann nicht seine fähigsten und schönsten Mitarbeiterinnen vorenthalten lassen.« Die beiden Frauen begrüßten sich, und er fuhr vergnügt fort: »Herrn Doktor Maerker brauch' ich allerdings bestimmt nicht vorzustellen. Und nun wollen wir das Rätsel auch ganz schnell lösen. Frau Scholz war unsere beste Kraft im Labor. Dann haben wir diesen Zweig unserer Firma ja leider auflösen müssen – und vor ein paar Tagen hab' 246
ich erfahren, dass sie jetzt bei Ihnen arbeitet, Herr Doktor Maerker. Ich würde sagen: Überraschung perfekt!« »Ja«, murmelte Georg gepresst. »Das kann man sagen.« Erst nach dem Essen, als in dem großen Wohnraum der Mokka serviert wurde, fand er Gelegenheit, unbeobachtet ein paar Worte mit Rebecca Scholz zu sprechen. Seine Frau war wieder von Dr. Jung mit Beschlag belegt worden. Die beiden standen noch in der Tür zum Speisezimmer und unterhielten sich. Georg bemühte sich, ein Gesicht zu machen, das eine belanglose Konversation vortäuschen sollte. »Findest du das einen sehr guten Einfall?« fragte er leise. Rebecca Scholz lächelte kühl. »Ich war eingeladen. Ich gehöre hier praktisch zur Familie. Fühlst du dich gehemmt? Ich wollte dir eine Freude machen. Und außerdem ist es doch sehr amüsant.« Sie warf einen kurzen Blick zu Rebecca Maerker hinüber. »Du solltest dich ein bisschen um deine Frau kümmern. Dieser Junge ist ein ganz gefährlicher Bursche. Ich werd' ihn mal ein bisschen ablenken.« Georg sah ihr nach, wie sie mit ihrem anmutigen Gang auf das Paar in der Tür zu schlenderte. Gleich darauf nickte Rebecca Maerker dem Anwalt verabschiedend zu und kam zu ihrem Mann. »Was wollte denn dieser Typ von dir?« fragte Georg unbehaglich. Sie lachte leise. »Mich auf seine Yacht einladen. Aber das scheint er bei jeder Frau zu machen, die die halbwegs attraktiven Fünfundvierzig noch nicht überschritten hat. Jetzt ist Frau Scholz an der Reihe.« Georgs Blick verfinsterte sich, und Rebecca bemerkte es. »Du scheinst über die Anwesenheit deiner Mitarbeiterin nicht gerade begeistert zu sein.« »Interessiert mich nicht besonders«, erklärte Georg wegwerfend. »Sie ist sehr hübsch«, meinte Rebecca arglos und beobachtete, wie Rebecca Scholz gerade mit einer vertraulichen Geste Max Jungs Arm ergriff. »Und sie scheint viel besser mit Herrn Rechtsanwalt Jung fertig zu werden als ich.« Georg erwiderte nichts darauf. Aber sein Mund war schmal und verkniffen geworden. 247
Um dieselbe Zeit war Dr. Thilo Weber bei Gabi zu Besuch. Er saß in ihrem hübsch und ein bisschen verspielt eingerichteten Wohnzimmer auf der Eckcouch, Gabi neben sich. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und den Kopf an Thilos Schulter gelehnt. Aus der Stereo-Anlage kam leise einschmeichelnde Blues-Musik. »Ick hab's!« sagte Gabi plötzlich nach einer Weile, in der sie nur still dagesessen hatten, und Thilo zuckte regelrecht erschrocken zusammen. »Was hast du?« »Ick habe mich verliebt«, erklärte sie in schöner Selbstverständlichkeit und wandte sich zu ihm um. »Ick habe mich ganz eindeutig in dich verliebt!« Er nickte und lächelte. Aber es war Gabi, die ihn zu sich heranzog und auffordernd den Kopf hob. Sie küssten sich lange, bis Gabi sich ein bisschen atemlos aus der Umarmung löste. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Und wenn ick mich verliebe, bin ick ziemlich zielstrebig …« »Ja«, meinte er scherzhaft. »Das kann man wohl so sagen.« Wie zielstrebig sie war, bewies ihre nächste Frage, mit der Dr. Weber nun doch nicht gerechnet hatte. »Also, wat läuft da mit Kathrin?« »Mit Kathrin?« wiederholte er perplex. Gabi nickte. »Gehör sehr gut. Bleibt hoffentlich so. Et jibt Männer, die fragen in so 'nem Augenblick: Mit wem? Denn muss man's zweimal sagen. Also?« »Du, Kathrin …« begann er gedehnt und stockte gleich wieder. Gabi sah ein, dass sie ihn etwas in die Ecke gedrängt hatte, und lenkte ein. »Na ja, ick seh' schon. Diese Frage stell'n wir erst mal zurück. Ick wollte nur andeuten, dass ick jewisse Formen von Dreiecken 'n bißken pathologisch finde.« »Nein, nein, ich geb' dir da 'ne ganz klare Antwort«, beharrte Thilo erstaunlicherweise. »Ich empfinde Kathrin als eine sehr angenehme Frau, die sehr viel kann. Und – sie ist Männern gegenüber ziemlich zurückhaltend.« Gabi nickte zufrieden. »Hör ick jerne. Bleibt hoffentlich so.« 248
»Ich darf mich aber doch weiter mit ihr treffen?« erkundigte er sich ein bisschen spöttisch. »Morgen, zum Beispiel, machen wir gemeinsam einen Abschiedsbesuch bei Brockmann.« »Einverstanden«, antwortete Gabi fröhlich, »wenn wir hinterher was unternehmen.« Sie küssten sich wieder, aber diesmal war es Thilo, der die Initiative ergriff und Gabi an sich zog. »Kiek mal an«, murmelte sie zwischen zwei Küssen. »Von dem Treffen hat mir Peter überhaupt nichts erzählt.« Er sah sie an. »Er erzählt dir wohl so ziemlich alles, was?« Sie schwieg einen Moment und meinte dann: »Hintergrund der Frage anjekommen. Peter Brockmann und Gabi Köhler – tja … Erzähl' ick dir bestimmt mal – aber nich' jetzt, nee?« Am nächsten Tag in der Sprechstunde hatte sie strahlende Laune. Peter Brockmann bemerkte es natürlich, aber Gabi flitzte dermaßen hin und her, dass sie jedesmal schon wieder draußen war, wenn er ein privates Wort mit ihr reden wollte. Peter war ziemlich deprimiert. Spät am Abend hatte er noch einmal versucht, Iris anzurufen, aber in ihrer Wohnung hatte sich wieder niemand gemeldet. Vielleicht war sie wirklich nicht zu Hause? Nur – wo konnte sie sein? An diesem Vormittag kam Herr Horn in die Praxis. Er war nach einer Magenoperation aus dem Krankenhaus entlassen worden, und Dr. Brockmann, der, obwohl Schulmediziner, eine ganze Menge von erprobten Mitteln der Naturheilkunde hielt, schlug ihm zur Nachbehandlung eine Thymus-Therapie vor. Herr Horn, ein kleiner nervöser Mann Anfang Vierzig, war einverstanden, und Peter meinte zum Abschied: »Et sollte mich sehr wundern, Herr Horn, wenn Sie in 'n paar Wochen überhaupt noch an Ihr'n Magen denken. Ausjenommen, Sie knallen sich jeden Tag mit dicke Erbsen voll.« »Vielen Dank, Herr Dokter«, sagte Günter Horn mit einem schiefen Grinsen. »Ick gloobe, wenn die Leute bei Ihnen weggeh'n, freu'n se sich sogar noch über ihre halbe Lunge – wenn se eene ha'm.« 249
Gabi kam mit den nächsten Patientenbögen herein und legte sie auf den Schreibtisch. Sie wollte gleich wieder verschwinden, aber Peter hielt sie auf. »Der Herr Horn kommt morgen früh zur Thymusspritze. Legen Sie mir doch bitte mal die Unterlagen raus. – Moment noch«, fügte er hinzu, als Gabi sich zur Tür wandte. »Wiedersehen, Herr Horn.« Er verabschiedete seinen Patienten mit Handschlag und öffnete ihm die Tür. Dabei sah er, dass Lieselotte Mohn in der Anmeldung stand. Peter nickte ihr freundlich zu. Dann ging er zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. »Einerseits«, sagte er zu Gabi, die nervös in der Mitte des Zimmers stand, »biste heute den janzen Tag immer schneller raus, als du zu mir reinkommst …« Sie unterbrach ihn ungeduldig, »'s Wartezimmer is' voll. Ick versuche, mich selbst zu überholen.« »Andererseits«, fuhr er fort, ohne ihren Einwand zu beachten, »scheinste janz jute Laune zu haben, von der ick offenbar nischt abkriegen soll.« »Soll ick dir den neuesten Medizinerwitz erzählen – oder was?« fragte sie schnippisch. »Nö – aber überhaupt was erzähl'n«, meinte er beziehungsvoll. »Du erzählst mir doch auch nix mehr. Zum Beispiel, dass du heute nach den Hausbesuchen hier 'n Treffen mit Kathrin und Thilo hast.« »Ach so …« Dr. Brockmann warf ihr einen schiefen Blick zu. »Hätt' ick det jemußt?« »Nee«, erwiderte sie lächelnd. »Wir erzähl'n uns im Augenblick eben 'n bißken weniger.« Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Abfuhr wegzustecken. »Mhm. Schade. Na, denn schick mir mal den nächsten rein. Ach so, ick hab' da eben die Frau Mohn jeseh'n. Die nehmen wir so in zehn Minuten ausnahmsweise mal vor.« Lieselotte Mohn war natürlich wegen ihres Ewalds gekommen. Sie schilderte Dr. Brockmann seine Beschwerden, und ihr liebes Gesicht war tief bekümmert. »Er hat eben diese unheimliche Angst vorm Krankenhaus«, schloss sie leise. »Na ja, wenn ick ehrlich bin – ick hab' 250
die auch. Wenn man so lange zusammen is', Herr Dokter … Wenn's irgend geht, und er könnte zu Hause bleiben …« Flehend sah sie den Arzt an. Er nickte ihr beruhigend zu. »Die Symptome … die Dinge, die Sie mir da beschrieben haben«, verbesserte er sich, damit sie ihn leichter verstand, »die sind natürlich nich' sehr schön. Und ziemlich eindeutig sind sie auch. Aber ick werde versuchen, das ohne Krankenhaus in 'n Griff zu kriegen, und ick bin auch ziemlich sicher, dass uns det gelingt.« Spontan ergriff sie Brockmanns Hand. »Det war' schön, Herr Dokter …« Er versprach ihr, gleich nach der Sprechstunde bei ihnen vorbeizukommen, und sie nickte. »Aber bitte nich' sagen, dass ick Sie jeholt habe. Das wollte er nämlich nich'.« Mit einer rührenden Geste der Beschämung senkte Lieselotte den Kopf. »Wissen Se, eigentlich is' das det erste Mal in unserem Leben, dass ick ihn richtig hintergangen habe.« Sie hatte darauf bestanden, dass ihr Mann an diesem Tag im Bett blieb. Und da er sich wirklich elend fühlte, hatte er nicht widersprochen. Dr. Brockmann kam in der Mittagszeit. Er erklärte, er hätte hier im Haus zu tun gehabt und sei deshalb auf einen Sprung vorbeigekommen, um zu sehen, was es mit Ewalds geschwollenen Füßen auf sich habe, von denen Lieselotte neulich in der Gaststätte erzählt hätte. Er untersuchte Ewald, hörte das Herz ab und stellte fest, dass es höchste Zeit war, etwas zu unternehmen. »Das hätten Se schon längst tun sollen, Herr Mohn. Wozu is' denn der olle Brockmann da? Schließlich verdiene ick mein Geld damit, dass ick Leute wie Sie verarzte.« Er holte eine Einwegspritze aus seiner braunen Lederbügeltasche, zog sie auf und gab dem alten Mann eine Injektion. Ewald, der von einem Berg Kissen gestützt wurde, damit er besser Luft bekam, blickte ihn ängstlich an. »Und Sie schicken mich wirklich nich' in 't Krankenhaus, Herr Dokter?« »Ich versuch's, Herr Mohn«, sagte Peter. »Die Sache sieht so aus …« Er stockte und blickte sich nach Lieselotte um, die am Fußende des 251
Bettes stand. »Ach, Frau Mohn, ick bin heute schon ziemlich viel rumjerannt. Hätten Sie vielleicht 'n Glas Wasser für mich?« Sie nickte eifrig. »Na klar, Herr Dokter. Mineralwasser?« »Wenn Sie welches da haben …« Dr. Brockmann wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte, dann wandte er sich wieder an Ewald. »Durch Ihre Herzmuskelschwäche hat sich sehr viel Wasser in Ihrem Körper anjesammelt. Und wenn das immer mehr wird, denn kommt's bis zur Lunge. Denn kriegt man 'n Ödem, denn kann man sozusagen von innen ertrinken. Das war gerade der richtige Moment, in dem ick jekommen bin. Mit ein paar von den Spritzen, die ick Ihnen eben jejeben habe, werden Sie sehr schnell entwässern. Ick komme jetzt für 'ne Weile jeden Tag zweimal zu Ihnen. Und wenn Sie irgend 'ne Verschlechterung spüren, rufen Sie mich bitte sofort an.« Ewald Mohn nickte. Seine Augen funkelten verschmitzt. »Sie ha'm jar keen' Durst, nich'? Sie ha'm die Lotte bloß rausjeschickt, damit se sich keene Sorgen macht …« Brockmann blinzelte ihm verschwörerisch zu. »Aber wenn Sie nich' vernünftig sind und weiter auf tapferen Recken mimen, denn verpetz' ick Sie. Wat war' denn jewesen, wenn ick nich' zufällig bei Ihnen vorbeijekomm' war'?« Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Herr Dokter, mir brauchen Se doch keene Opern erzählen. Die Lotte hat Sie gerufen. Das weeß ick doch längst.« Er richtete sich auf und beugte sich näher zu Brockmann, damit er flüstern konnte. »Lotte kann nämlich so ziemlich allet. Bloß ens kann se nich': schwindeln.« Lieselotte Mohn erschien mit. einem Glas Mineralwasser in der Tür. »Darf ick wieder reinkomm' Ick meine, wenn Sie noch wat zu besprechen haben, denn jeh' ick noch mal in die Küche.« Brockmann grinste Ewald zu. »Aber beschwindeln lässt se sich auch nich', oder!«
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In dem Verwaltungsgebäude der Maerker AG war es ruhig. Die Angestellten hatten Feierabend. Georg Maerker saß allerdings noch an seinem Schreibtisch, den Telefonhörer in der Hand. Er wählte Rebecca Scholz' Nummer, wartete, hörte das Freizeichen. Aber niemand hob ab. Georg ließ es ein paarmal durch läuten, dann legte er langsam auf. Er sah nachdenklich und verunsichert aus, als er aufstand und zum Fenster schlenderte. Mit gerunzelter Stirn blickte er hinaus. Als die Tür zu seinem Büro geöffnet und gleich wieder ins Schloss gezogen wurde, wandte er sich um. »Rebecca!« sagte er erleichtert. »Hallo, Georg!« Rebecca Scholz kam mit dem spöttischen Lächeln näher, das sie so oft für ihn hatte. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und deutete mit leiser Verärgerung zum Telefon. »Ich habe gerade versucht, dich zu erreichen. Ich habe es den ganzen Tag lang versucht …« Sie lachte. »Ich hatte das Telefon leise gestellt und unter zwei Wolldecken begraben.« »Warum?« »Weil ich ausschlafen wollte«, erwiderte sie leichthin und trat auf ihn zu. Er fühlte, wie Nervosität in ihm aufstieg. »Hat dich jemand hier reinkommen sehen?« »Außer den Pförtnern niemand. In deinem unendlichen Einsatz für die Firma muss dir entgangen sein, dass Feierabend ist.« Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Einen Augenblick lang widerstrebte er, doch dann beugte er sich herunter und küsste den Mund, der ihn so magisch anzog. Aber gleich darauf kam er wieder auf das Thema zurück, das ihn den ganzen Tag über beunruhigt hatte, weil Rebecca nach dem gestrigen Abend bei den Pawlowsky-Grünthals heute nicht zur Arbeit erschienen war. »Weil du ausschlafen wolltest?« wiederholte er stirnrunzelnd ihre Worte. »Heißt das, du hast den ganzen Tag geschlafen? Ich hätte dich dringend im Labor gebraucht.« Sie zuckte lässig mit den Schultern. »Der Abend war ja – bis auf das 253
Kennenlernen deiner wirklich sehr sympathischen Frau – ziemlich öde. Da sind wir noch ein bisschen um die Häuser gezogen.« »Wer – wir?« fragte er misstrauisch. »Max und ich. Max Jung …« Sie sah Georg lächelnd nach, als er sich von ihr löste und durch das Zimmer ging. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Wir haben in drei Bars je einen sehr gefährlichen Cocktail getrunken, und dann hat Max mich – vollkommen ungefährlich – um fünf Uhr früh an meiner Haustür abgesetzt. Der Mann ist nicht nur hübsch, sondern auch sehr unterhaltsam. Bist du schon mal über den Atlantik gesegelt?« Georg presste die Lippen zusammen. »Nein. Aber ich nehme an, du wirst es demnächst tun.« Sie kam ihm nach und hakte sich bei ihm unter. »Ich denke nicht daran. Bei einer Kreuzfahrt mit meinem vorletzten Chef bin ich todsterbensseekrank geworden, und das Schiff hatte mehrere zehntausend Bruttoregistertonnen. Da werde ich mich doch nicht auf ein schief liegendes Segelboot …« Während ihrer Worte war sie mit ihm auf und ab gegangen, um ihm klarzumachen, wie albern sein Herumgerenne war. Jetzt löste sich Georg ziemlich heftig von ihr. Sie entdeckte die Angst in seinen Augen, Angst, sie zu verlieren, und Rebecca Scholz fand das fast ein bisschen komisch. »Was verlangst du von mir?« fragte er gepresst. »Soll ich mich scheiden lassen? Soll ich dich heiraten?« In einer übertriebenen Abwehrgeste hob sie beide Hände. »Hilfe! Ich weiß doch jetzt, wie es einem geht, der mit dir verheiratet ist.« »Was verlangst du dann?« »Gar nichts«, erwiderte sie. »Ich möchte, dass du jetzt erst mal mit mir essen gehst. Ich habe nämlich einen wahnsinnigen Hunger.« Sie sah, dass er unschlüssig auf seine Armbanduhr blickte, ging zum Schreibtisch und hielt – wieder mit ihrem spöttischen Lächeln – den Telefonhörer hoch. »Wir finden bestimmt eine Ausrede.« Georg nahm ihn ihr ab und legte wieder auf. Seine Augen hatten einen hilflosen, unglücklichen Ausdruck. »Warum tust du das? Du … du demütigst mich.« 254
Der Spott schwand aus ihrem Lächeln; es wurde weich und fast zärtlich. »Nein. Aber ich hab' dir's schon mal gesagt: Ich mag dich besonders, wenn du schwach bist. Gehen wir?« Auch Rebecca Maerkers Blick war weich und zärtlich und dennoch ganz anders, als sie ungefähr um dieselbe Zeit mit Gabriel auf der Löwenbrücke im Tiergarten stand. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und gemeinsam blickten sie über das Geländer auf den Teich hinunter. Nach einer Weile löste sich Rebecca aus Gabriels Umarmung. »Wir müssen jetzt gehen …« »Du«, verbesserte er sie. »Du musst gehen.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Gabriel, wenn du es so nicht möchtest, dann sag es mir. Dann ist es besser, wir sehen uns nicht wieder. Wenn es dir nicht genügt – für mich geht es nur so.« Er lächelte traurig und ein bisschen bitter. »Manchmal beneide ich deinen Georg. Und manchmal frage ich mich, ob er das – ob er dich überhaupt verdient.« »Verdient ein Mensch einen anderen?« »Vielleicht betrügt er dich …« Sie hob die Schultern. »Betrügen … verdienen – das sind beides Worte aus der Sprache von Geschäftsleuten. Ich kann damit nichts anfangen.« »Du mogelst«, sagte Gabriel. »Du weißt, was ich meine, und du mogelst dich mit Sprachanalysen aus meinen Gefühlen.« »Georg betrügt mich nicht«, sagte sie entschieden. »Dazu fehlen ihm die Phantasie – und die Zeit.« Er seufzte. »O mon dieu, und was wäre, wenn ich recht hätte?« »Darüber würde ich nachdenken, wenn du recht hättest«, erwiderte sie leichthin und hakte sich bei ihm unter. »Gehen wir?«
Gabi hatte nach der Nachmittagssprechstunde in der Praxis auf Thilo gewartet. Und sie hatte Glück – er kam als erster, so dass sie ein paar 255
Worte mit ihm allein wechseln konnte. »Was glaubste denn, wie lange das hier dauern kann?« fragte sie. Der junge Arzt zuckte mit den Schultern. »Das is' doch mehr 'ne Formalität. Wenn er einigermaßen pünktlich ist – und Kathrin auch, dann kann das eigentlich nicht länger als eine Stunde dauern.« »Denn könnten wir ja noch ins Kino gehen«, schlug sie vor. »Es gibt nämlich 'n paar ganz interessante Filme. Und man kann ja nich' nur …« Sie lächelte ihn verliebt an. »Ick meine, es war' nich' schlecht, wenn man auch was hat, worüber man reden kann.« Als kurz darauf Kathrin Brockmann kam, machte Gabi einen ausgesprochen vergnügten Eindruck. Aber das hielt nicht lange vor. Während Kathrin mit Thilo im Sprechzimmer verschwand, bekam Gabi nämlich plötzlich ein ziemlich ungutes Gefühl. Vertrauen is' gut, Kontrolle is' besser, sagte sie sich und ging zielstrebig auf die Tür des Sprechzimmers zu. Als sie sie öffnete, stand Kathrin gerade dicht vor Thilo, und er küsste sie auf die Wange. »'tschuldigung«, murmelte Gabi. »Ick hab' mir hier 's Anklopfen abjewohnt … vielleicht 'n Fehler …« Kathrin lachte unbefangen. »Überhaupt nicht. Wir haben gerade einen kollegialen Begrüßungskuss geübt.« Das stimmte sogar, und die Initiative war von Kathrin ausgegangen. Aber Gabi fand, dass Thilo ziemlich schuldbewusst wirkte, und schwankte zwischen Verärgerung und Niedergeschlagenheit. »Ick wollte bloß fragen, ob jemand Kaffee möchte – nach 'm Üben …« Dabei blickte sie immer noch Thilo an, aber der sagte kein Wort, sondern begnügte sich damit, ein betretenes Gesicht zu machen. Gabi schluckte. »Na, denn … denn jeh' ick mal welchen kochen.« Mit steifen Schritten marschierte sie aus dem Zimmer und hörte noch, wie Kathrin sich bei Thilo erkundigte: »Hast du heute Abend schon was vor?« Gabi verzichtete darauf, Thilos Antwort abzuwarten, sondern zog nachdrücklich die Tür hinter sich ins Schloss. In diesem Augenblick kam Dr. Brockmann von seinen Hausbesuchen zurück. »Du bist noch da, Gabi?« fragte er überrascht. 256
»Ja, ick … ick hatte grade jefragt, ob Kaffee jewünscht wird«, stammelte sie. »Is' der Fall. Du auch?« »Klar. Käm' mir ausgesprochen recht.« Brockmann war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihre Verstörtheit zu bemerken. »Schon jemand sauer?« »Nee. Warum?« »Weil ick zu spät bin. Bei dem Herrn Mohn, das hat doch länger jedauert.« Gabi hatte ein paarmal tief durchgeatmet und schaffte es jetzt, einigermaßen unbefangen zu wirken. »Nee. Kathrin is' auch gerade erst jekommen …« »Na, prima!« Erleichtert öffnete Peter die Tür zum Sprechzimmer. »Hallo, ihr beiden Hübschen!« Langsam, mit gesenktem Kopf ging Gabi zum Tresen und starrte vor sich hin. Nich' heulen, dachte sie. Jetzt bloß nich' heulen … Und dann passierte die zweite Katastrophe an diesem Abend. Dr. Brockmann erschien nämlich in der Tür des Sprechzimmers und sagte: »Gabi, komm doch mal. Wir haben gerade beschlossen, uns hier 'n gemütlichen Abend zu machen. Is' ja genug im Kühlschrank. Bleibste bei uns? Du jehörst ja sozusagen dazu …« Sie war herumgefahren und versuchte, an Peter vorbei zu Thilo zu blicken. »'n jemütlicher Abend? Was heißt das? Wie lange dauert der?« »Na, so lange 'n jemütlicher Abend eben dauert«, antwortete Dr. Brockmann ahnungslos. »Bis kurz vor der Schmerzgrenze …« »Aha«, sagte Gabi, während sie immer noch Thilo ansah. Er stand neben Kathrin und zog jetzt kaum merklich die Schultern hoch. Leider konnte ich mich der Einladung nicht entziehen, sollte das wohl heißen. Gabi biss sich auf die Lippen. »Nee, du, nett von dir. Aber ick habe 'ne Einladung ins Kino. Ick mach' noch den Kaffee, und denn jeh' ick.« »Schade«, sagte Peter bedauernd, während Thilo weiterhin schwieg, obwohl er sehr genau begriffen hatte, was Gabi mit ihrer Kinoeinladung meinte. In ihr stieg plötzlich die Galle hoch. Freilich galt ihre Wut Thilo, aber 257
da ihr im Moment nichts einfiel, womit sie ihn treffen könnte, bekam Dr. Brockmann Gabis Unwillen ab. Mit bitterbösem Sarkasmus fragte sie: »Soll ick Iris anrufen? Vielleicht hat die Lust.« Einen Moment blickte er sie schweigend an. Dann meinte er: »Nich' sehr gefühlvoll.« »Gleichfalls«, erwiderte Gabi patzig und verschwand. Warum musste Peter auch auf die blöde Idee mit dem gemütlichen Abend kommen! Am nächsten Morgen fuhr Dr. Brockmann noch vor der Sprechstunde zu den Mohns, um Ewald eine Spritze zu geben. Sein Patient lag zwar noch im Bett, aber seine Füße waren abgeschwollen, und er sah schon viel besser aus. »Sehr schön, Herr Mohn«, sagte Peter Brockmann zufrieden. »Also das mit dem Krankenhaus is' erst mal erledigt.« Der alte Mann strahlte ihn an. »Det kommt von Ihnen, Herr Dokter, und von der juten Krankenschwester, die ick hier habe.« Ein liebevoller Blick streifte seine Frau, die am Fußende des Bettes stand. Lieselotte lächelte still in sich hinein. »Wenn Se noch wat zu besprechen haben, hol' ick Ihnen wieder 'n Glas Wasser, Herr Dokter.« »Lotte«, sagte ihr Mann leicht tadelnd. Sie wandte sich zur Tür, weil in diesem Moment das Telefon klingelte. »Nu' muss ick sowieso …« Ewald Mohn blickte ihr nach, wie sie aus dem Zimmer ging. »Wenn ick noch mal zwanzig war', wissen Sie, wat ick denn machen würde, Herr Dokter? Die Lotte heiraten.« Brockmann lächelte verständnisvoll und ein bisschen gerührt. »Wenn man Sie so sieht, könnte man denken, dass Sie sich nie gestritten haben.« Ewald verzog den Mund. »Au! Det stimmt nich', Herr Dokter. Ick kann 'n richtiger Stinkstiebel sein. Ick hab' meine Frau oft unrecht jetan. So schlimm, dass se nich' mehr mit mir reden wollte.« »Ja, so wat kenn' ick«, meinte Peter. »Und was ha'm Se dann jemacht?« »Ick habe mich innerlich bekämpft«, erwiderte der alte Mann ein258
fach. »Ick habe jesagt: Ewald, du bist ein Mistvieh. Und denn bin ick hinjekrochen und habe jesagt: Lotte! Es tut mir leid.« Er schwieg einen Moment, ehe er leise hinzufügte: »Det muss! man könn'n – sonst wird det nie wat mit zwee Leute.« Peter Brockmann nickte schweigend und Lieselotte erschien in der Tür. »Das is' für Sie, Herr Dokter. Ihre Praxis. Die woll'n Sie dringend sprechen.« So schnell wie an diesem Morgen war Dr. Brockmann selten in seine Praxis gekommen. Als er eintraf, lag Herr Horn, der Patient, der die Magenoperation hinter sich hatte und heute morgen seine erste Thymusspritze bekommen sollte, auf einer Liege im Behandlungszimmer. Schwester Erika und Irene, die Laborantin, waren bei ihm. Gabi hatte in der Anmeldung gewartet und rannte jetzt hinter Peter her. Er beugte sich zu Herrn Horn hinunter, der ihn mit einem matten Lächeln anblickte, und fühlte ihm den Puls. »Geht's Ihnen gut, Herr Horn?« fragte Brockmann besorgt. »Prima, Herr Dokter«, versicherte der Patient mit müder Stimme. »Ick weiß auch überhaupt nich', wie det kam. Frau Schwester Erika hat mir die Spritze jejeben, und denn wollt' ick noch auf Sie warten, weil … meine Frau hat jesagt: Nimm dem Dokter mal 'n paar von unsere Boskop-Äppel mit, die sind besonders jut dieset Jahr …« Er wandte den Kopf und blickte Gabi an. »Wo sind 'n die Äppel für den Dokter?« »Die hab' ick beiseite jestellt. Das jeht schon in Ordnung, Herr Horn«, antwortete sie leise. »Na, denn is' jut.« Er blickte wieder zu Peter Brockmann hoch. »Jedenfalls, wie ick im Wartezimmer sitze, werd' ick immer müder und müder und … ja, denn muss ich wohl einjeschlafen sein und bin umjekippt. Und nu' lieg' ick hier …« Dr. Brockmann blickte seine drei Helferinnen an. Irene und Erika machten verschlossene Gesichter. Nur Gabi sah aus, als wolle sie etwas erklären. Er lächelte Herrn Horn beruhigend zu. »Bleiben Se erst mal liegen, Herr Horn. Irene bleibt bei Ihnen.« Dann winkte er Erika und Gabi. »Kommt ihr mal 'n Moment mit.« 259
Im Sprechzimmer zog er erstmal seinen Mantel aus, während Erika die Schiebetür zum Behandlungsraum zuzog. »Hättet ihr das nich' früher merken können?« fragte Dr. Brockmann mit mühsam unterdrücktem Ärger. »Mensch!« Gabi war sehr blass um die Nase. »Es is' meine Schuld. Ick habe Erika die Spritzen vorbereitet. Herr Horn sollte die Thymusspritze kriegen und Frau Taubert das Schmerzmittel, bevor Erika ihr dieses Zeug spritzt, das so gemein weh tut. Und … ja, da kam 'n Anruf, hat mich abjelenkt, und ick hab' die Spritzen verwechselt. Herr Horn hat das Valium gekriegt und is' einjeschlafen …« Schwester Erika wollte ihr helfen und wenigstens einen Teil der Verantwortung auf sich nehmen. »Ick hätte das sehen müssen, Chef.« »Ja, hätt'ste. Haste aber nu' mal nich‹«, erwiderte Brockmann leise, und Gabi schüttelte den Kopf. »Das stimmt doch gar nich'. Ick bin schuld.« »Hilft uns das jetzt irgendwie weiter?« fragte Peter. Er wandte sich an Erika. »Hat Frau Taubert ihre zweite Spritze schon bekommen?« »Nee. Gott sei Dank nich'.« »Gut. Dann bring sie jetzt nach hinten in die Praxiswohnung. Ich komme gleich und erklär' ihr, dass se 'ne Thymusspritze bekommen hat und dass das unjefährlich für sie is'. Herr Horn soll noch 'n Moment liegenbleiben, um den kümmere ick mich sofort. Das heißt, dem kannste jetzt das Thymus spritzen. Hat er ja noch nich'.« Erika nickte und flitzte hinaus. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann hob Gabi den Kopf. »Feuerste mich jetzt? Denn sag's gleich. Ick kann sofort jeh'n …« Brockmann merkte, dass sie fix und fertig war. Er kam zu ihr und nahm sie bei den Schultern. »Gabi! Nu' red doch nich' so 'n Unsinn!« Einen Augenblick stand sie starr und reglos da. Dann schluchzte sie auf und ließ ihren Kopf an Brockmanns Schulter sinken. »Ick bin durch 'n Wind, Peter … Ick kann mir nich' erklär'n, wie das kommt. Quatsch, natürlich kann ick das! Ick … ick …« »Thilo«, sagte er leise. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie nickte, und für einen Moment verdrängte ihr Zorn ihre Verzweif260
lung. »Dieser Kaff er! An einer bestimmten Stelle sind fast alle Männer gleich. Wenn se klar ja oder nein sagen soll'n, kommt immer jein raus.« Ihre Stimme erstickte, wurde ganz klein. »Ick glaube, ick liebe den, Peter …« Doch im nächsten Moment fuhr sie wieder auf. »Aber wenn er denkt, ick melde mich jetzt … Wenn der denkt, ick mach' den ersten Schritt, dann irrt der sich gewaltig.« Sie fing einen nachdenklich-traurigen Blick von Brockmann auf. »Ja! Kiek nich' so. Ick weeß, dir hab' ick immer die jroße Versöhnungsnummer gepredigt – und nu' kann ick se selber nich' …« Er drückte ihre Schultern. »Ick mach dir'n Vorschlag; wir machen jetzt ganz konzentriert unsere Sprechstunde – und denn setzen wir uns zusammen. Und denn überzeuge ick dich, dass du dich bei deinem Thilo meldest – und du sorgst dafür, dass ick weiter versuche, Iris zu erreichen.« Er lächelte. »Weißte, auch wenn man sich vielleicht im Recht fühlt: Manchmal muss man eben hin kriechen und sagen: Lotte – es tut mir leid.« »Lotte?« fragte Gabi verständnislos. »Wer is' denn nu' schon wieder Lotte?« »Das erzähl' ick dir nach der Sprechstunde«, versprach er. Gabi schniefte. »Weißte was? Wenn ick 'ne jute Vertretung wüsste, denn würd' ick janz schnell zwei Wochen Urlaub nehm'n. Ick glaube, ick bin reif.« »Ick wüsste 'ne Vertretung«, sagte Peter Brockmann. »Sigi!« »Sigi?« wiederholte sie entgeistert, und er grinst. »Stimmt, das weißte ja noch nich' … Erzähl' ick dir auch nach der Sprechstunde.«
261
Brüche
E
s war ein paar Tage später. Gabi hatte Dr. Brockmanns Rat befolgt und bei ihrem charmanten Jein-Sager Thilo tatsächlich den ersten Schritt getan, und nun sah es so aus, als wäre alles wieder in Ordnung. Auch Dr. Brockmann hatte weiterhin versucht, Iris zu erreichen, um sich endlich mit ihr auszusprechen. Das war inzwischen geschehen, so dass bei beiden, Peter und Gabi, das Stimmungsbarometer wieder auf ausgeglichen bis optimistisch stand. Und für Sigi Kaul, die kesse Berliner Göre und ehemalige Millionärin, erfüllte sich ein langgehegter Wunsch. Eines Abends nach der Sprechstunde zog sie in Dr. Brockmanns Praxis einen frisch gestärkten weißen Kittel an und ließ sich von Gabi in ihre Aufgaben als Sprechstundenhilfe einweisen. Denn trotz – oder auch wegen Thilo Weber, so genau wusste das niemand, und Gabi schwieg sich darüber aus – war sie fest entschlossen, zwei Wochen Urlaub zu machen. Sigi sollte sie in dieser Zeit vertreten. Als Dr. Brockmann nach seinen Hausbesuchen noch einmal in die Praxis zurückkam, begrüßte Sigi ihn mit einem fröhlichen »Guten Abend, Chef!« Die ungewohnte Anrede ließ ihn zunächst stutzen, aber dann nickte er den Frauen zu. »Na, seid ihr klar?« »Wat die Praxis betrifft, ja«, erklärte Gabi trocken, während er seine Arzttasche auf dem Tresen abstellte und ein paar Patientenbögen herausholte. »Im Moment testen wir, wer die besten Sprüche drauf hat.« »Und?« fragte Brockmann grinsend. Sigi senkte mit gespielter Bescheidenheit den Kopf. »Ick muss noch 262
viel lernen.« Sie deutete auf die Patientenbögen. »Soll ick die armen Leidenden noch schnell einordnen?« »Kannste machen. Apropos arme Leidende, Sigi. Du hast beim Internisten gelernt. Das hier is' 'ne Allgemeinpraxis. Zu mir komm' manchmal Leute, denen sieht man nich' gleich an, dass se was haben. Und da muss man trotzdem sehr freundlich sein.« »Aber Chef! Das kenn' ick doch!« versicherte Sigi. »Du sollst deinen ›der nächste bitte‹ lieben wie dich selbst …« Brockmann lachte, und Gabi meinte stirnrunzelnd: »Ick werde in mei'm Urlaub mal 'n paar Medizinerwitze auswendig lernen.« Peter ging nicht darauf ein, sondern fragte: »Haste noch 'n Moment Zeit?« Sie bejahte und folgte ihm ins Sprechzimmer, während Sigi den Karteischrank aufschloss und die Patientenbögen ablegte. Peter Brockmann hatte sich in den letzten Tagen ein paar Gedanken über Gabi gemacht. Und es ließ sich nicht bestreiten, dass sie ihm Unbehagen verursachten. Bis jetzt hatte Gabi in seiner Vorstellung zu seiner Praxis gehört wie … ja, wie er selbst. Aber wenn sie das plötzlich anders sah? Die Sache mit Thilo Weber schien ziemlich ernst zu sein, jedenfalls von ihr aus … Peter betrachtete Gabi, die sich in einen Sessel gesetzt hatte, und fragte dann ziemlich abrupt: »Haste eigentlich schon 'ne Vorstellung, wie das weitergehen soll – ick meine, mit Thilo?« Einen Augenblick war sie von der Direktheit seiner Frage überrumpelt. Sollte sie überhaupt darauf antworten? Gabi überlegte und erwiderte dann diplomatisch: »Du, ick habe da viel bei dir jelernt. Wenn er sich bewährt, mach' ick das so wie du: Offene Beziehung; wenn's hochkommt, so 'ne Art Ehe ohne Trauschein. Liegt ja sowieso im Trend.« »Na, denn bin ick beruhigt«, sagte Peter Brockmann. »Ick meine, hätte ja auch sein können, dass du demnächst heiratest, Familie gründest. Denn war' ick meine beste Kraft los.« Über ihr Gesicht glitt ein Schatten. »Ja, ja, wenn du das bloß arbeitstechnisch siehst – denn kannste wirklich beruhigt sein.« Sie lächelte ironisch. »Aber selbst wenn: Dann hätt'ste jetzt ja Sigi.« 263
Peter warf einen Blick auf die nur angelehnte Tür zum Vorraum und sagte leise: »Sigi … ob das nu' so 'n juter Einfall war? Die Entscheidung war vielleicht 'n Schnellschuss, der sich als Querschläger erweist.« »Wieso? Ick finde sie fabelhaft. Clever, schnell, doof isse überhaupt nich' – wo liegt das Problem? Duzen will se dich. Aber das hab' ick ihr vorhin hoffentlich ausjeredet.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Siehste, jenau da liegt das Problem! Als se siebzehn war, hat se sich nämlich mal in mich verknallt. Das habe ick ihr ausjeredet. Aber manchmal hab' ick das Jefühl: So 'n Rest is' noch jeblieben.« Gabi grinste. »Wenn du dieses Jefühl für deine Eitelkeit brauchst, denn würd' ick's pflegen. Heimlich natürlich.« Er kam nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben, denn Sigi steckte den Kopf durch den Türspalt. »Ick wollte mich bloß verabschieden. Ick jeh' denn nach Hause.« »Tschüss, Sigi«, sagte Gabi freundlich, und Peter winkte ihr verabschiedend zu. »Bis morgen früh. Grüß Oma.« »Schönen Abend noch«, sagte Sigi etwas unschlüssig. Sie hatte ihren Kittel ausgezogen und trug ein sehr hübsches Kleid, das vermutlich noch aus ihrer ›Millionärszeit‹ stammte, denn es sah sehr teuer aus. Peter betrachtete sie und sagte unvermittelt und in ziemlich geschäftsmäßigem Ton: »Ach, Sigi: Ab morgen kannste mich duzen, 'türlich nur, wenn keine Patienten dabei sind. Das hatte sich mit Gabi so eingebürgert – und wir können das ruhig beibehalten.« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Dann stammelte sie total verwirrt: »Ja … na ja, wenn Sie … wenn du … ick meine, so einfach … Müsste man da nich' anstoßen oder so?« Er kam zu ihr und schüttelte ihr die Hand. »Nee, nee, das machen wir janz modern. Wie junge Menschen so was heute machen. Ick heiße denn ab morgen Peter, nich'?« Damit schob er sie sanft zur Tür hinaus. »Und nu' schlaf dich aus, damit du morgen fit bist.« Als er und Gabi allein waren, blickte sie ihn kopfschüttelnd an. »Das hältste wohl für sehr schlau, was?« 264
Er strahlte eitel Zufriedenheit aus. »Ja. Jetzt is' die Luft raus. Nu' is' es das Normalste von der Welt – ohne jede gefährliche Emotion.« »Mein lieber Peter«, erwiderte sie spitz. »Wenn ick Lust hätte, würd' ick dir was über Emotionen erzähl'n. Aber damit bin ick zwanzig Jahre lang bei dir nich' weiterjekomm'n. Also lass ick's. Übrigens, wat machen die Emotionen zu Iris?« »Liegen auf Eis bis morjen Abend.« Er fing ihren verständnislosen Blick auf und grinste. »Ach, siehste: Seit Doktor Thilo Weber in dein Leben jetreten is', hatten wir ja 'ne etwas einjeschränkte Kommunikation. Morgen Mittag is' mein Scheidungstermin. Und den wollte Iris gerne abwarten – bevor wir uns wieder näherkomm'n.« »Tz, tz, tz«, machte Gabi. »Muß ja wirklich schwer sein mit 'ner Juristin. Immer jesetzliche Termine im Auge. Hoffentlich kommt se nu' nich' noch mit Verjährungsfrist.« Sie stand auf. »Aber jetzt jehe ick lieber.« »Grüß Thilo«, sagte Peter grinsend. »Kann ick heute nich' mehr. Der is' Fußball kieken bei 'n paar ehemaligen Kommilitonen. Je wohn' ick ihm noch ab. Die Abseitsregel kenn' ick schon.« »Na, hoffentlich kennt er se auch«, sagte Dr. Brockmann bedächtig. Gabi reckte das Kinn in die Luft. »Du, der weiß, dass er beim ersten Abseits die rote Karte von mir kriegt.«
Dieser Tag war ein Tag der Entscheidungen. Für Dr. Thilo Weber und Gabi. Für die Maerkers und Gisela Saalbach. Für Rebecca Maerker und Gabriel. Einige wussten es, andere traf es völlig unvorbereitet. Und zwei der Betroffenen hatten die für sie geltende Entscheidung selbst herbeigeführt. Wie Rebecca Maerker … An diesem Herbsttag, an dem eine noch fast sommerliche Sonne über Berlin schien, fuhr Rebecca zum Europacenter. Dort, vor der Wasseruhr, hatte sie sich mit Gabriel verabredet. Er war schon da und wartete auf sie. Rebecca sah, wie er ungeduldig auf und ab ging. 265
Als er sie zwischen den Passanten entdeckte, kam er rasch auf sie zu. Er wollte sie umarmen, aber Rebecca legte sanft die Hände gegen seine Brust. »Hallo, Gabriel …« Sie sah, dass er voller Unruhe war. Leise fragte sie: »Warum bist du so nervös?« »Nervös … nervös«, murmelte er. »Warum bestellst du mich hierher?« Er hatte es also begriffen. Dennoch stand in seinen dunklen Augen eine winzige Hoffnung, dass er sich geirrt haben könnte. Sie erlosch, als Rebecca ruhig erwiderte: »Ist das so schwer zu erraten?« »Wenn es das ist, was ich befürchte«, antwortete Gabriel gepresst, »dann möchte ich es eigentlich lieber nicht erraten. Weißt du, was ich dir zutraue? Wir haben uns hier wiedergetroffen – nach unserer Zeit damals. Und nun willst du dich hier von mir trennen.« Sie nickte schweigend, und er versuchte, seinen Schmerz hinter Ironie zu verstecken. »Mon dieu, ist das deutsch! Jetzt fehlt nur noch ein Wald mit viel Nebel, in dem du theatralisch verschwindest.« »Ich bin nun mal … vielleicht sehr deutsch«, erwiderte sie ernsthaft. »Aber wenn du möchtest, dann versuche ich es verspielter, französischer. Vielleicht verstehst du das besser.« Er wollte etwas erwidern, doch sie sprach lächelnd weiter: »Weißt du noch, wie wir uns wiedergesehen haben? Ich habe hier gestanden, hab' mir diese seltsame Uhr angesehen, und plötzlich hat mich jemand von hinten angesprochen. Hat gesagt: Hallo Rebecca …« Während ihrer Worte hatte sie sich von ihm abgewandt und ihm den Rücken zugekehrt, als betrachte sie die Wasseruhr. »Sag's«, forderte sie Gabriel, immer noch mit diesem verspielten, fast heiteren Lächeln auf. Er ging darauf ein, berührte sacht ihre Schultern. »Hallo, Rebecca …« Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Lächeln war fort. »Sie müssen mich verwechseln, Monsieur. Ich heiße zwar Rebecca, aber der Name kommt häufiger vor. Ich kenne Sie nicht. Ich würde Sie vielleicht gerne kennenlernen. Aber ich bin eine verheiratete Frau. Das wäre natürlich noch kein Grund, nur – ich bin nicht gemacht für Liebschaften. 266
Dazu bin ich nicht leichtsinnig genug. Ich würde Sie eines Tages lieben mit Haut und Haaren, und dann würde ich anfangen, Sie zu langweilen. Und weil ich das nicht ertragen könnte …« sie brach ab und deutete zu den Laubengängen, die den Innenhof begrenzten, » … würde ich irgendwann vielleicht da oben hinaufsteigen und mich hinunterstürzen. Das glauben Sie sicher nicht. Aber ich wirke nur nach außen hin so ruhig und gelassen. Ich möchte jetzt …« Wieder stockte sie und schloss für einen Moment die Augen, als hätte sie keine Kraft mehr. Dann fuhr sie fort: »Ich möchte jetzt sehr gerne gehen, ja … Und es wäre schön, wenn Sie das akzeptieren würden, Monsieur, und nicht auf die Idee kämen, mir nachzulaufen. Sie haben mich leider verwechselt.« Gabriel ließ es zu, dass sie ihn an der Schulter berührte und behutsam herumdrehte, so dass sein Blick auf eine Gruppe von Schaulustigen fiel, die die Wasseruhr umstanden. »Da steht eine junge Frau, die mir ein bisschen ähnlich sieht. Vielleicht meinen Sie die …« Danach ging sie davon. Gabriel wollte ihr folgen, doch dann unterließ er es und sah ihr nur nach. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie leer … Als Rebecca heimkam, war ihr Mann noch nicht da. Er war von der Firma aus zu Rebecca Scholz gefahren. Mit einer fast verzweifelten Heftigkeit hatte er sie umarmt, als könne er auf diese Weise all das vergessen, was ihn belastete. Er hatte es nicht vergessen können, und Rebecca Scholz hatte es gemerkt. Als Georg im Wohnzimmer eine Zigarette rauchte, kam sie ihm nach, noch mit offenen Haaren und im Morgenmantel, und trug seine Krawatte und das Jackett über dem Arm. Sie warf die Jacke über die Sessellehne und legte Georg die Krawatte um. »Was soll das?« fragte er verständnislos. »Wirfst du mich raus?« Ihre Antwort klang amüsiert. »Du hast stark verzögerte Reaktionen. Vielleicht solltest du mal deinen Schwager konsultieren. Diesen Brockmann. Der ist doch Arzt, oder?« Während ihrer Worte hatte sie angefangen, seine Krawatte zu binden. Er blickte sie verstört an. »Wieso wirfst du mich raus? Ich …« 267
»Mein lieber Georg, du warst nicht bei der Sache, und du bist nicht bei der Sache. Und abgelenkte Männer sind unendlich langweilig.« Rebecca kam mit dem Krawattenknoten nicht zurecht und stellte ihre Bemühungen ein. »Früher konnte ich das mal, ohne hinzusehen. Mach's selber.« Er schluckte: »Rebecca, ich … ich habe Probleme.« Sie hob abwehrend die Hand. »Bitte nicht! Wenn ich an Problemen interessiert wäre, hätte ich geheiratet oder wär' Bardame.« Er senkte den Kopf. Seine Stimme klang demütig. »Gut. Ich sehe ein, daß ich kein Recht habe, dich damit zu belasten.« »Zu langweilen«, verbesserte sie ihn. Er nahm auch das hin. »Meinetwegen auch langweilen. Und ich sehe noch etwas anderes ein. Ich kann dir diese Stundengastspiele nicht länger zumuten.« Sie lächelte. »Wieso nicht? Wenn du mir mit deinen Problemen vom Leib bleibst …« Fast eifrig fiel er ihr ins Wort: »Ich habe zu Hause erzählt, dass ich morgen geschäftlich nach Frankfurt muss. Ich würde die Nacht gern bei dir …« »Georg! Geschäftlich nach Frankfurt!« Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte in ihrer gespielten, spöttischen Überraschung die Hände zusammengeschlagen wie ein erstauntes Kind. »Du bist ja richtig einfallsreich! Und das glaubt dir jemand?« Als sie die Arme um seine Schultern legte, blickte er sie ernstlich verletzt an, und sie sagte leise: »Mach das bitte noch mal.« »Was?« fragte er perplex. »Diesen absolut hinreißenden Schmollmund.« Georg wollte sich von ihr lösen, aber sie hielt ihn fest und knotete seine Krawatte wieder auf. »Nein, nein. Du hast mich versöhnt. Du darfst noch ein bisschen bleiben.« »Rebecca«, murmelte er, »es … es könnte sein, dass Gisela … dass meine Schwester einen Verdacht hat, was uns betrifft, und …« »Liebster Georg«, fiel sie ihm ins Wort, und ihre Stimme klang seidenweich. Es stand in einem bestürzenden Gegensatz zu dem Sinn ih268
rer Worte. »Das Spannende an solch einer Affäre ist, dass niemand davon weiß. Wenn es ein Lagerarbeiter erfährt oder eine Sekretärin, deine Schwester oder deine Frau – dann liegt mein Kündigungsschreiben auf deinem Tisch. Beruflich und privat. Streng dich also ein bisschen an.« Er versuchte, sich einen letzten Rest von Selbstachtung zu erhalten. »Ich … ich glaube, ich sollte doch besser gehen.« »Nein«, bestimmte Rebecca Scholz lächelnd. »Jetzt bleibst du.«
Als Dr. Brockmann nach Hause kam, verließ Kathrin gerade die Maerker-Villa. Sie entdeckte ihren Vater, wie er auf dem Parkplatz seinen Wagen abschloss, und umarmte ihn flüchtig. »Ich war bei Anna. Es geht ihr nicht besonders gut. Seelisch, mein' ich. Sie hat das Gefühl, dass die ganze Familie irgendwie aus den Fugen gerät. Und sie kann nichts dagegen tun.« Peter nickte ein bisschen schuldbewusst. »Ja. Ick muss mich um Anna kümmern. Am besten gleich. Wülste nich' noch mal mit reinkommen?« »Kann ich nicht«, erwiderte Kathrin. »Ich bin verabredet. Mit Thilo Weber.« »Mit wem?« erkundigte er sich ungläubig und dachte daran, dass Gabi ihm vorhin erzählt hatte, Thilo sei bei Freunden, um sich ein Fußballspiel anzusehen. »Mit Thilo«, wiederholte Kathrin. »Hör mal, Tochter«, begann er vorsichtig, doch sie ließ ihn nicht ausreden. »Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, was los ist. Ich hab' ihn um dieses Treffen gebeten. Ich … ja, ich find' die Sache mit ihm und Gabi … verständlich. Aber ich möchte ihm wenigstens noch sagen, dass man das so nicht machen kann. Er hätte mir früher …« »Was versprichst du dir davon?« fragte Brockmann. »Wenn's nun mal so is', lass ihn laufen.« 269
Ihre Augen hatten einen verletzten Ausdruck. »So einfach ist das nicht. Es geht nicht darum, dass ich ihn laufen lasse. Soll er! Ich finde nur, man muss jemandem verständlich machen, dass er nicht den Eindruck erwecken darf, als würde er einen festhalten.« »Hat er das?« forschte Brockmann und machte einen Schritt auf sie zu. »Komm mit. Lass uns drüber reden – und danach geh' ich dann zu Anna.« Sie blickte ihn mit liebevoller Ironie an. »Und zu Rudi und zu seiner Frau, zu Georg und Rebecca, zu Gisela und Saalbach … Geh doch einfach mal zu dir. – Du wirst übrigens erwartet.« »Erwartet? Von wem?« Kathrin antwortete nichts darauf. Sie wandte sich ab, winkte ihrem Vater verabschiedend zu und ging zu ihrem Wagen. Dr. Brockmanns Miene erhellte sich. Er ahnte plötzlich, wer der Besucher war. »Iris?« rief er, während er die Tür zu seinem Häuschen öffnete. »Iris …« Sie saß auf der Couch und schüttelte missbilligend den Kopf. »Kann deine seltsame Familie nicht ein einziges Mal ein noch so winziges Geheimnis für sich behalten? Wer hat dir denn das nun wieder gesagt? Ich hab' mein Auto extra hundert Meter weiter auf der Straße geparkt. Also, wer war es?« Freudestrahlend blickte er auf sie hinunter. »Ick verpetz' doch mein Kind nich'!« Dann wurde er plötzlich besorgt. »Du, ick find's natürlich wunderbar, dass du hier bist, bloß …« Etwas beunruhigt stand sie auf. »Ja?« »Könnte es sein, dass du dich im Datum geirrt hast? Die Scheidung is' erst morgen.« »Ich weiß«, sagte Iris leise und kam auf ihn zu. »Mir ist plötzlich eingefallen, dass ich heute – wahrscheinlich für lange Zeit – das letzte Mal die Gelegenheit habe, bei einem verheirateten Mann zu übernachten …« Inzwischen fuhr Kathrin in zügigem Tempo nach Hause. Sie musste sich beeilen, damit Thilo Weber nicht vor ihr eintraf. Aber ihre Sorge war unbegründet. Thilo kam verspätet, und er wirkte ziemlich ab270
gehetzt. Er habe auch nicht lange Zeit, erklärte er, da er morgen verreise. Kathrin bot ihm Platz an, blieb selbst aber stehen, weil sie zu unruhig war, um jetzt stillzusitzen. Nervös ging sie auf und ab. »Du verreist also. Dann hab' ich ja sozusagen die letzte Möglichkeit erwischt, noch mal mit dir zu sprechen. Wohin geht's denn?« »Nach Gambia«, antwortete er. Kathrin blieb stehen. »Wo ist das?« »Westafrika. Ein kleines Krankenhaus. Zwei Ärzte, zwanzig Schwestern. Es soll aber gut ausgerüstet sein.« »Krankenhaus?« wiederholte sie verdutzt. »Du gehst im Urlaub in ein Krankenhaus?« »Ich fahre nicht in Urlaub«, verbesserte Thilo sie. »Ich geh' da als Arzt hin. Ich habe gestern vormittag das Angebot bekommen – und zugesagt.« Sie begriff immer noch nicht. »Und was macht Gabi da? In der Krankenhausverwaltung arbeiten? Hausfrau …« Er wich ihrem Blick aus. »Ich geh' da allein hin. Für drei Jahre.« »Und was sagt Gabi dazu?« »Die weiß es noch nicht.« Ein paar Sekunden war es sehr still. Dann fragte Kathrin ungläubig: »Das stimmt doch nicht, oder?« Dr. Thilo Weber nickte. »Doch.« Er holte tief Atem. »Ich weiß, dass alles, was ich jetzt sage, sehr unglaubwürdig klingen muss. Ich war sehr in dich verliebt, Kathrin – und wahrscheinlich bin ich's immer noch. Aber ich … ich hatte das Gefühl, ich komme nicht an dich heran. Du hast mich zwar hierher eingeladen, du hast ein wunderschönes Essen gemacht – und dann … ist es ein netter Abend geworden. Ein netter, freundschaftlicher Abend.« »Und? Hast du erwartet, dass ich dich an diesem ersten ›netten, freundschaftlichen Abend‹ bei mir an die Hand nehme und dir mein Schlafzimmer zeige?« fragte sie mit jäh aufsteigendem Zorn. »Hätte ich meine Bluse aufknöpfen und dich fragen sollen: Wie findest du mich?« Er versuchte einen Einwand, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. 271
»Oder mal anders gefragt: Warum, hast du gedacht, hab' ich dich eingeladen? Warum bist du gekommen? Und war es wirklich nur nett und freundschaftlich? Oder war da nicht noch ein bisschen mehr …« »Doch«, gestand Thilo. »Das ist es ja eben. Natürlich war da mehr …« »Warum hast du's dann nicht gesagt?« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Weil … weil ich so was nicht kann. Ich brauch' Zeit.« »Die brauch' ich auch«, erwiderte Kathrin heftig. »Warum hast du uns diese Zeit nicht gelassen? Wie hat Gabi das denn gemacht?« »Ja, wie hat sie das gemacht?« murmelte er. »Ich möchte sie … ich möchte das mit Gabi nicht abwerten, weißt du, das war unfair. Aber ich glaube, sie hat mich überrumpelt.« Kathrin musste plötzlich lächeln. Es sah allerdings nicht besonders fröhlich aus. Trotzdem, der Zorn war weg. Und auch das nagende Gefühl, der Verlierer zu sein. Was blieb, war fast ein bisschen Mitleid mit Thilo. »Ja«, sagte sie, »wer sich überrumpeln lässt, muss ab nach Gambia. Drei Jahre … Da hast du dann ja viel Zeit. Ich wollte eigentlich noch ein Glas zum Abschied mit dir trinken. Aber da hätte ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Weil jede Sekunde, die Gabi das zu spät erfährt, mir die Kehle zuschnüren würde.« Sie blickte den jungen Arzt an und klopfte ihm fast freundschaftlich auf den Oberarm. »Ich war auch in dich verliebt, Thilo. Aber du bist leider bloß ein netter Kerl – wenn's hochkommt. Schreib mir mal, wie's da unten ist.« Unsicherheit lag in seinen Augen. »Das meinst du nicht im Ernst, nicht?« »Doch«, erwiderte sie entschieden. »Das mein' ich.« Jetzt lächelte auch er ein wenig. »Okay. Und danke … für den Abgang.« Kathrin sah ihm nach, als er das Zimmer verließ. Das war's dann also, dachte sie. Sie horchte in sich hinein. Empfand sie Trauer? Sie wusste es nicht. 272
Gisela Saalbach hatte sich dazu durchgerungen, ihren Mann aufzusuchen. Jens und Hinrich, die beiden Jüngsten, waren aus dem Ferienlager zurück, und sie hatte ihnen erzählt, dass ihr Vater auf einer Geschäftsreise sei. Aber das konnte sie natürlich nicht mehr lange aufrechterhalten. Und überhaupt … Bernd und sie waren fast zwanzig Jahre miteinander verheiratet. Es waren nicht immer gute Jahre gewesen, aber trotzdem! Es waren gelebte Jahre, die man nicht einfach ausstreichen konnte. Gisela konnte es jedenfalls nicht. Annelie, die ihren Vater in seiner neuen Wohnung ein paarmal besucht hatte, begleitete ihre Mutter bis vor die Haustür. »Bammel?« fragte das junge Mädchen absichtlich burschikos, nachdem es einen Blick in Giselas Gesicht geworfen hatte. Sie senkte den Kopf. »Es ist nicht gerecht, weiß du … Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Dein Vater müsste …« »Warum hast du ihn eigentlich geheiratet?« Annelies leise Frage veranlasste Gisela, ruckartig den Kopf zu heben. »Möchtest du das jetzt wissen?« Die Augen der Achtzehnjährigen hatten einen hilflosen Ausdruck. »Ich weiß es nicht, Mamma. Vielleicht wär's wichtig, dass du es weißt, wenn du da rauf gehst.« Gisela nickte und legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. Dann blickte sie auf das Klingelbrett neben der Haustür. »Wo ist es?« Annelie deutete auf ein Schild, auf dem kein Name stand. »Dritter Stock links.« Gisela wollte klingeln, doch Annelie hielt ihre Hand fest. Sie drückte die Haustür auf, die nur angelehnt war. »Ich wünsch' euch das richtige Gefühl …« »Ich wünsch' mir die richtigen Worte«, entgegnete Gisela Saalbach und betrat das Haus. Als sie im dritten Stock an der Wohnungstür, an der wiederum kein Name stand, geläutet hatte, wurde ihr sofort geöffnet. Saalbach hatte Rudi Lehmann erwartet. Als er seine Frau erkannte, blickte er sie ein paar Sekunden stumm an. Dann sagte er: »Guten Abend, Gisela …« Er trug Hemd und Krawatte, war rasiert, und das überraschte seine Frau. Annelie hatte ihr erzählt, dass ihr Vater ziem273
lich verändert sei, beinahe ungepflegt, und dass seine Wohnung einer Räuberhöhle gliche. Saalbach brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Ich weiß, dass du um diese Zeit lieber Tee trinkst. Ich hab' mir gerade einen Kaffee gebraut.« Gisela lächelte zurück. »Ich hab' auch nichts gegen Kaffee.« Er gab die Tür frei. »Dann komm doch rein.« Auch die Wohnung war nicht so, wie Gisela erwartet hatte. Sie war aufgeräumt und sauber. Im Wohnzimmer standen sogar zwei Blumentöpfe, und die Papiere auf dem Schreibtisch wirkten geordnet. Saalbach bot seiner Frau Platz an und holte eine Tasse für sie. Dann schenkte er den Kaffee ein. Gisela war sicher gewesen, dass er nach den Jungen fragen würde und nach Annelie, dass er vielleicht sogar von sich aus auf ihre Trennung zu sprechen kam und wie er sich die nächste Zeit vorstellte – aber er redete nur von Rudi Lehmann und den Briefen, die Konsul Maerker an dessen Mutter geschrieben hatte. Er war wie besessen von dieser Sache, so, als hätte nichts anderes mehr Platz in seinem Leben. Gisela sah ihren Mann an, und der fanatische, flackernde Ausdruck seiner Augen machte ihr fast ein wenig Angst. Er nahm einen von Kurt Maerkers Briefen zur Hand. »Hier – hör dir das mal an. Hier schreibt dein Vater an Dorothea Lehmann: Solltest du jemals in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen – oder Rudi oder Rudis Familie, dann nimm diesen Brief und geh damit zu einem guten Anwalt. Er wird alles Weitere für dich veranlassen …« »Warum tust du's dann nicht?« fragte Gisela bedrückt. »Ich nehme doch an, dass Vater in dem Brief anerkennt, dass Rudi sein Sohn ist.« »Eben nicht!« sagte er mit mühsam unterdrückter Heftigkeit. »Ich habe diesen Brief nicht zehnmal gelesen – ich hab' ihn hundertmal gelesen. Es steht nichts über eine Vaterschaft drin. Nicht ein Wort.« Er tippte auf den Brief. »Und trotzdem dieser Satz: Nimm diesen Brief und geh damit zu einem guten Anwalt!« Gisela seufzte. »Dann wird nicht dieser, sondern ein anderer Brief gemeint sein. In dem Umschlag wird ein zweiter Brief gewesen sein. Und den meinte Vater.« 274
»Nein!« sagte Bernd Saalbach. Und dann lauter, fast schreiend: »Nein, nein, nein!« Gisela starrte ihn entsetzt an. »Was hast du?« Er schüttelte wild den Kopf. »Ich habe sechs Wochen, sechs lange quälende Wochen gebraucht, um darauf zu kommen. Wie ist das möglich, dass du das in sechzig Sekunden herausbekommst?« Beinahe hysterisch deutete er um sich. »Sechs Wochen lang habe ich in diesem Loch herum gegrübelt, wo in diesem verdammten Brief eine Botschaft versteckt ist. Sechs Wochen habe ich hier vegetiert, mich gehen lassen, mich vernachlässigt wie ein Penner – und jetzt kommst du hier einfach rein …« Gegen ihren Willen musste Gisela lächeln. Sie stand auf und legte ihrem Mann behutsam die Hand auf die Schulter. »Weil du dich vollkommen verkrampft hast – in allem. Du konntest einfach nicht mehr logisch denken.« Saalbach löste sich von ihr. »Bin ich denn ein Idiot?« murmelte er dumpf. Sie lächelte immer noch. »Nein. Das bist du nicht, Bernd. Stimmt es denn? Gibt es einen zweiten Brief?« Er nickte stumm, und sie fragte weiter: »Und wo ist er? Oder – wo war er? Das hätte ich nun wieder nicht so schnell herausgefunden.« »Du brauchst mich nicht zu trösten«, fuhr er bitter auf. »Das war ganz einfach. Viele Möglichkeiten kamen ja nicht in Frage.« Dann erzählte er ihr, dass Rudis Mutter den fraglichen Brief kurz vor ihrem Tod ihrer Schwester gegeben hatte, mit der Auflage, ihn erst herauszugeben, wenn Rudi in finanzielle Not geraten sollte. »Rudi holt ihn heute Abend von seiner Tante ab. Er wird ihn herbringen. Als du vorhin geläutet hast, dachte ich, er wäre es.« Als das Telefon läutete, stürzte Bernd mit zwei Schritten hin und riss den Hörer ans Ohr. »Ja?« Es war tatsächlich Rudi Lehmann, der anrief. »Es is' so, wie Sie vermutet hatten, Herr Saalbach«, gestand er. »In dem Brief steht, dass der Konsul mein Vater is' …« Natürlich wollte Saalbach, dass Rudi sofort mit dem Brief zu ihm 275
kam, doch der wehrte ab. Er fühlte sich ziemlich erschöpft, und in seinem Kopf ging alles durcheinander. Bis jetzt war es ja nur eine Vermutung gewesen, dass er ein unehelicher Sohn von Konsul Maerker war. Jetzt, wo es eindeutig feststand, hatte Rudi das Empfinden, sich erst einmal an die neue Situation gewöhnen zu müssen. »Ick muss mit Leuten reden, die nich' so aufjeregt sind wie Sie jetzt, Herr Saalbach«, sagte er. »Oder wie ick. Ick bin hier bei Dokter Brockmann …« »Was?« schrie Bernd. »Ja, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen!« Rudi hatte Schweißtropfen auf der Stirn stehen, und seine Hände zitterten. »Schrei'n Se mich bitte nich' an, Herr Saalbach! Das is' mein Brief und meine Sache. Sie haben das zwar alles anjerührt und rausjefunden, aber ob ick Ihnen dafür dankbar bin, das weiß ick im Moment nich'. Nu' lassen Se mir mal 'n bißken Zeit, das rauszufinden. Wiederhör'n.« »Rudi!« rief Saalbach in den Hörer. »Rudi, so hören Sie doch …« Aber der hatte bereits aufgelegt. Einen Augenblick lang starrte Bernd mit einem fast irren Ausdruck auf das Telefon. Dann ließ er langsam den Hörer sinken. »Ist der Mann denn wahnsinnig geworden … Dieser Vollidiot geht mit dem Brief zu Brockmann. Wie kann der Mann das machen? Der kann doch nicht mit meinem Brief … mit meinem Brief zu Brockmann gehen …« Seine keuchende Stimme und sein verzerrtes Gesicht jagten Gisela wieder Angst ein. Sie stellte sich ihm in den Weg, als er anfing, wie ein gefangenes Tier im Käfig auf und ab zu rennen. »Bernd! Bernd, bitte, beruhige dich! Der Brief ist doch da!« »Bei Brockmann«, murmelte er heiser. »Für Rudi ist Peter eine Vertrauensperson«, sagte sie, bemüht, ihn zu besänftigen. »Rudi möchte sich wahrscheinlich nur aussprechen. Er …« »Eine Vertrauensperson!« fuhr Saalbach auf. »Den Mann, der die letzten Monate nichts anderes im Sinn hatte, als mich zu demütigen und zu zerstören, den nennst du eine Vertrauensperson! Weißt du, was 276
deine Vertrauensperson tun wird? Den Brief vernichten! Das wird er tun!« »Aber Bernd! Das kann er doch gar nicht. Rudi hat den Brief …« Plötzlich fuhr er auf sie los, und in seinen Augen funkelte blanker Hass. »Dir war' das doch nur recht! Dir war' das doch nur recht!« Er drehte sich um, rannte zur Couch, auf der Giselas Mantel lag, riss ihn hoch und knüllte ihn zusammen. So drückte er ihn ihr in die Arme. »Geh! Geh sofort! Verlass auf der Stelle meine Wohnung. Geh, sag ich!« Seine Stimme kippte über. Sein unkontrollierter Wutausbruch ließ sie erstarren. Wie gelähmt wandte sie sich ab. In der Tür zur Diele drehte sie sich noch einmal um. Sie versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben, aber es gelang ihr nicht. »Annelie hat mich hergebracht. Kurz bevor ich zu dir heraufgekommen bin, hat sie mich gefragt, warum wir geheiratet haben … Ach ja, und die Jungs fragen viel nach dir …« Dann ging sie endgültig, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Am nächsten Vormittag fuhr Rebecca Maerker in die Firma. Ihr Mann hatte daheim eine Glückwunschkarte vergessen, die die Familienmitglieder zu Otto Kolbes dreißigjährigem Betriebsjubiläum unterzeichnet hatte, das heute in der Maerker AG mit einer kleinen Feier begangen werden sollte. Georg war sehr hastig und erregt aufgebrochen, weil kurz zuvor Gisela angerufen und ihm die jüngste Entwicklung im Fall Rudi Lehmann berichtet hatte. Für den Abend hatte Georg eine Versammlung der Aktionäre der Maerker AG in der Villa einberufen, um zu beratschlagen, was nun geschehen sollte. Rebecca vermutete ihren Mann um diese Zeit im Labor. Als sie eintrat, kam eine junge Angestellte auf sie zu. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie höflich. Rebecca nannte ihren Namen und fragte nach Georg. 277
»Oh, entschuldigen Sie, Frau Maerker«, sagte die Laborantin verlegen. »Das wusste ich nicht. Ihr Gatte war heute noch nicht hier unten, aber er muss jeden Augenblick kommen.« Rebecca bedankte sich und beschloss, hier auf Georg zu warten. Die Laborantin ging hinaus. Als eines der Telefone summte, nahm Rebecca nach einer Weile den Hörer ab. »Ja?« fragte sie zögernd. Sie erkannte die Stimme ihres Mannes am anderen Ende der Leitung. »Rebecca?« Sie war überrascht. Woher wusste Georg, dass sie im Labor auf ihn wartete? »Ja …« »Hör zu, Rebecca«, sagte er hastig, »heute Abend, das klappt nicht. Ich kann nicht zu dir kommen. Ich weiß, was du jetzt sagen wirst, aber es geht wirklich nicht, Liebste. Es ist etwas sehr Wichtiges dazwischengekommen, aber ich verspreche dir: Unsere gemeinsame Reise – die findet statt. Da wird nichts dazwischenkommen …« »Ja, ich bin noch dran«, sagte Rebecca Maerker tonlos. Sie starrte durch die Glastür und sah Rebecca Scholz mit schnellen Schritten auf das Labor zukommen. Als sie eintrat, war sie ein wenig überrascht, Georgs Frau hier zu finden, ging dann aber auf sie zu, um sie zu begrüßen. Irgendwie brachte Rebecca Maerker es fertig, zu lächeln. »Ich glaube, das ist für Sie«, sagte sie leise und gab der anderen den Telefonhörer. Im Hinausgehen legte sie rasch die Glückwunschkarte für Herrn Kolbe, die sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, auf einen Tisch. Eine halbe Stunde später betrat Rebecca Scholz Georgs Büro. Sie hatte ein zusammengefaltetes Blatt Papier in der Hand, das sie ihm wortlos hinhielt. »Was ist das?« fragte Georg betroffen. »Das weißt du nicht? Meine Kündigung. Beruflich und privat.« Georg wandte sich ab. »Die nehme ich nicht an.« Daraufhin legte sie das Blatt auf seinen Schreibtisch. »Aber Georg. Ich hab' es dir doch angekündigt. Ich hasse peinliche, melodramatische Tragödien.« Georg starrte sie an, unfähig, irgend etwas zu sagen oder zu tun. Re278
becca Scholz legte für einen flüchtigen Moment die Hand gegen seine Wange, »'s war ganz schön«, sagte sie leise und drehte sich zur Tür. »Wenn ich mich das nächste Mal in meinen Chef verliebe, werd' ich vorher fragen, wie seine Frau mit Vornamen heißt.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Du solltest dich um sie kümmern.« Rebecca Maerker fuhr eine Weile ziellos durch die Straßen. Irgendwann fand sie sich vor dem Europacenter wieder. Sie stellte ihren Wagen ab und ließ sich von dem Strom der Passanten mittreiben. Sie war wie benommen, wusste nicht, wohin sie wollte und was sie tat. Der Schleier ihrer Benommenheit riss erst, als ein älterer Mann sie ansprach. »Vorsicht, junge Frau. Wenn Se da wat seh'n woll'n, jeh'n Se lieber runter.« Da begriff Rebecca, dass sie auf einem Treppenvorsprung stand und sich weit über das Geländer gelehnt hatte. Unter ihr befand sich die Wasseruhr. Der Mann grinste. »Oder woll'n Se sich umbringen? Denn is' det hier zu niedrig. Da brechen Se sich höchstens die Beene. Für Selbstmörder is' oben. Zwanzigster Stock. Jibt'n Fahrstuhl.« Sein Lächeln erlosch, als er Rebeccas leeren Blick gewahrte. Ihm wurde plötzlich unbehaglich zumute. »Ja, 'tschuldigung … Nischt für ungut. Schön' Tag noch!« Damit ging er eilig die Treppe hinunter. Rebecca sah ihm nach. »Danke«, sagte sie leise, aber das hörte der Mann nicht mehr. Und plötzlich wusste sie, was sie wollte. Sie wollte zu Gabriel. Einmal noch …
Als Dr. Brockmann an diesem Morgen in seine Praxis kam, nahm Sigi ihm im Sprechzimmer den Mantel ab und hielt ihm einen frischen weißen Kittel hin, den sie schon vorher zurechtgelegt hatte – genau wie Gabi es ihr gesagt hatte. »Na?« fragte Brockmann. »Schwierigkeiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Allet paletti. Tasche zu Erika? Mantel nach hinten?« Als er nickte, nahm sie seine Lederbügeltasche auf. »Ach, Herr Dokter …« 279
»Hier unter uns Peter«, verbesserte er sie prompt. »Hatten wir doch abjemacht.« »Nee«, sagte sie entschlossen. »Ick hab' das überschlafen, und ick möchte das nich'.« »Ach? Und warum nich'?« Sie druckste ein bisschen herum. »Wissen Se, ick finde, so wat muss … wachsen. Ick habe das zu Hause 'n paarmal ausprobiert: Tach, Peter … Wie geht's, Peter … Geht eben nich'! Klingt mir vor mir selbst unnatürlich. Wenn ick darf, würd' ick jerne noch 'ne Weile Herr Dokter sagen.« Sie hatte das so nett herausgebracht, dass Peter Brockmann fast gerührt war. »Einverstanden. Ick versteh' wohl doch weniger von jungen Leuten, als ick dachte. Frau Kaul?« »Nö, det nu' nich'«, erklärte Sigi lachend. Er nickte ihr zu. »Na jut, Sigi, denn schick mir mal den ersten rein.« Dr. Brockmanns Scheidungstermin war für halb eins angesetzt. Gegen zwölf, nachdem er eine besonders mitteilungsbedürftige Patientin ziemlich abrupt verabschiedet hatte, zog er seinen Arztkittel aus. Sigi sah es und meinte verwundert: »Sind noch dreie draußen.« »Die müssen heute Nachmittag wiederkommen«, sagte Peter. »Ick habe einen wichtigen Termin.« In diesem Moment flog die Tür des Behandlungszimmers auf, und Gabi kam herein. Sie wirkte völlig aufgelöst. »Entschuldige, Peter«, stammelte sie, »aber ick … ick wusste nich', wo ick hin soll … Haste mal 'ne Sekunde …« Sie ging auf ihn zu, und als sie ihn fast erreicht hatte, kippte sie einfach um. Dr. Brockmann konnte sie gerade noch in seinen Armen auffangen. »Gabi!« sagte er erschrocken. Er sah Schwester Erika in der Tür auftauchen und winkte ihr und Sigi. »Los! Anfassen! Auf die Liege!« Die beiden griffen nach Gabis Beinen, während Dr. Brockmann sie unter den Achseln gefasst hielt. So trugen sie sie auf das Untersuchungsbett. Es dauerte nicht lange, bis Gabi wieder die Augen aufschlug. Als sie Brockmann neben sich sitzen sah, fing sie an zu weinen. Sie weinte, als könne sie nie wieder damit aufhören, und er ließ sie gewähren. Sie wa280
ren inzwischen allein. Sigi und Schwester Erika hatten die wartenden Patienten für den Nachmittag wieder herbestellt und waren anschließend essen gegangen. Ganz allmählich ebbte Gabis Schluchzen ab, und Dr. Brockmann sagte: »So, und nu' erzähl mal, was passiert is', wenn de willst.« Ein paar Minuten später wusste er die ganze Geschichte von Thilo Weber und dass er sich für drei Jahre an ein afrikanisches Krankenhaus verpflichtet hatte. Gabi hatte sich aufgesetzt und hockte wie ein Häufchen Elend da. »Kannste mir das erklär'n?« fragte sie schniefend. »Kannste mir erklär'n, wie'n normaler Mensch so reagieren kann? Nee! Kannste nich'. Männer sind eben nich' normal. Männer haben alle 'ne Gehirnwindung zu wenig!« »Danke«, meinte Peter und war froh, dass sie allmählich weniger verzweifelt als wütend war. Gabi putzte sich die Nase. Dann richtete sie sich plötzlich kerzengerade auf und starrte ihn an. »Sag mal, is' heute Mittag nich' dein Scheidungstermin?« Und als er nickte, rief sie entsetzt: »Na, Mensch, denn geh doch! Worauf warteste?« Er grinste und tastete nach ihrem Puls. »Wie fühlste dich?« Sie rutschte von der Liege. »Wenn du nich' sofort jehst … wenn du meinetwegen deine Scheidung verpasst – dann klapp' ick gleich noch mal zusammen.« »Jut«, sagte er. »Das heißt: bitte nich'! Geh nach hinten in die Wohnung und warte, bis ick wiederkomme.« Sie hielt sich einen Moment an ihm fest und schnitt eine kleine Grimasse. Ein bisschen sah sie plötzlich wie ein trauriger Clown aus. So einer mit einer gemalten Träne im Gesicht und einem lustigen Lachen. »Mensch, Peter – du wirst wenigstens geschieden. Ick schaff's nich' mal, zu heiraten!« Brockmann gab ihr einen Nasenstüber. »Du bist 'n oller Quatschkopp!« Er nahm sich ein Taxi, und als es vor dem Gerichtsgebäude hielt, sah er Lore gerade aus dem Portal kommen. Peter drückte dem Fahrer ei281
nen Geldschein in die Hand und sprang auf die Straße. »Lore!« rief er, während er auf seine Frau zu rannte. »Gott sei Dank! Ick dachte schon, ick bin zu spät. Die warten doch sicher schon.« Er gab ihr einen flüchtigen Wangenkuß. »Tag erst mal …« Ihr eben noch vorwurfsvoller Blick wirkte amüsiert. »Es ist schon alles vorbei.« »Ohne mich?« Peter holte tief Luft. »Bin ick jar nich' so traurig. Na ja – wat macht man nach so 'ner Scheidung? Entspannt essen gehen?« Lore schüttelte den Kopf. »Es ist vertagt. Wir sind nicht geschieden.« Er starrte sie an. »Wieso vertagt? Ick bin doch jetzt da …« »Jetzt werden bereits die nächsten geschieden«, erklärte sie. Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Vertagt bis wann?« »Der Bescheid darüber wird den Parteien zugestellt.« Mit einem Lächeln hakte sich Lore bei ihrem Immer-noch-Ehemann unter. »Ja, mein Lieber, du wirst mich nicht los. Und ich dich auch nicht. Du kannst mich zum Reisebüro begleiten. Ick muss meinen Rückflug verschieben.« Am Abend war Peter Brockmann mit Iris in seinem Gartenhaus verabredet. Als sie kam, umarmte er sie stürmisch, aber sie schob ihn sanft weg. »Wir müssen das nachholen. Ich glaube, dein Schwager Georg ist mir auf den Fersen.« Peter räusperte sich. »So? Ja, dann … dann wird' ick doch zu dieser Aktionärsversammlung jebraucht, obwohl ick dachte, et reicht, wenn Lore da is.« »Lore?« fragte sie entgeistert. »Ich denke, Lore sitzt im Flugzeug.« Er räusperte sich wieder, um seine Stimme freizubekommen, aber sie klang immer noch belegt. »Ja, das dachte ich eigentlich auch, nur … weißte … Wie sag' ick das am besten.« Er blickte Iris leicht verzweifelt an. »Also die Sache ist die: Das gestern Nacht, das war sehr schön. Und so wie's aussieht, hätten wir noch zehn oder zwanzig Nächte, das zu wiederholen.« Langsam löste sich Iris aus seinen Armen. »Das heißt doch nicht etwa …« 282
»Doch«, gestand Peter Brockmann. In diesem Moment wurde die Tür des Gartenhauses aufgerissen. Georg stürzte herein. Er war weiß wie eine Wand, mit schreckgeweiteten Augen. »Peter … Entschuldigung, Frau Pauli, ich … Rebecca … Sie hat sich mit dem Wagen auf der Avus überschlagen, ist lebensgefährlich verletzt … Sie haben angerufen. Kommst du bitte mit?« Peter starrte ihn an. Dann ging er langsam auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.
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