LUX
H I S T O R I S C H E
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Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
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LUX
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
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Heftpreis 75 Pfg,
LUX HISTORISCHE REIHE bringt in fesselnder Darstellung, plastisch und farbig, Zeitbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Auge des Lesers. Geschichte wird hier zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft gibt ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Bild des dargestellten Zeitraumes. Titel der ersten Hefte: 1. 2. 3. 4. 5.
6. 7. 8. 9. 10.
Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege
Die Tempel Athens Alexanderzug Pyrrhus — der Abenteurer Hannibal Untergang Karthagos
Titel der folgenden Nummern: Kaiser ohne Krone Das Goldene Rom Die ersten Christen Caesaren und Soldaten Germanenzüge Die Hunnenschlacht Die Mönche von Monte Cassino Der Prophet Allahs Karl der Große Heiliges Römisches Reich Kaiser und Päpste Die Kreuzfahrer Friedrich Barbarossa Die Hohenstaufen Bürger und Bauern Die Humanisten Der Schwarze Tod Die Renaissance Neues Land im Westen
Fahrendes Volk Ritter und Landsknechte Kaiser der Welt Der Große Krieg Der Sonnenkönig Ruf übers Meer Der Preußenkönig Rokoko Im Schatten der Bastille General Bonaparte Kaiser Napoleon Kongreß in Wien Eiserne Straßen Der vierte Stand Verschwörer und Rebellen Sieg der Technik Bismarck Die rote Revolution Demokratie und Diktatur
und viele weitere Hefte. LUX HISTORISCHE REIHE bringt jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Geschichtskundlichen Landkarten, Anmerkungen und Zeittafel.
VERLAG S E B A S T I A N L U X - MURNAU VOR MÜNCHEN
LUX
HISTORISCHE
REIHE
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OTTO ZIERER
PRIESTER UND MAGIER DIE GESCHICHTE BABYLONS UND DES VOLKES ISRAEL
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
EINLEITUNG Als die Forschung sich den frühesten Menschen zuzuwenden begann und aus der Tiefe der Erde die versteinerten Reste zuerst einzelner, dann vieler Frühmenschen zutage traten und mit ihnen ihre Werkzeuge und Waffen und die Tiere, unter denen sie gelebt hatten, da entsann man sich der mannigfaltigen Sagen und Überlieferungen der Völker, in denen von der Urzeit der Menschengeschichte berichtet wurde. Angesichts der erstaunlichen Bodenfunde — Zeugnissen aus längst vergangenen Zeitaltern der Erde — ergab sich, daß sich die Menschheit auch ohne schriftliche Berichte eine zutreffende ,,Urerinnerung" an jene Frühzeit bewahrt hatte, die viele Jahrtausende zurücklag. Das Gedenken an früheste Zeiten des Menschengeschlechtes, da es noch in engster Verbindung mit der Natur lebte, hat sich nicht nur in der Schöpfungsgeschichte der Bibel, sondern auch in den Vorstellungen vieler anderer Völker über die Anfänge der Menschheit erhalten. Es ist die Erinnerung an eine Zeit, in der Menschen, Tiere und Pflanzen noch in ursprünglicher Gemeinschaft beisammen waren, friedlich oder auch feindlich. Diese Lebenseinheit der Frühmenschen ist in dem Augenblick zerbrochen, als der Mensch sich der Natur nicht mehr einordnete, sondern begann, sich die Erde „im Schweiße seines Antlitzes" Untertan zu machen. Es ist die Zeit, da er den Acker bestellt und das Wild als Nutz- und Arbeitstiere auf seine Weiden, in seine Ställe und Pferche bringt. Der Weg zu Ackerbau und Viehzucht beginnt in der Mittelsteinzeit und zieht sich über Jahrtausende hin. Am spätesten setzt er ein in den Landschaften Mittel- und Nordeuropas, am frühesten in den begünstigten Gebieten des Südens, in den Stromtälern des Nil und des Euphrat und Tigris. Hier bebauen die Menschen schon im 5. und 4. Jahrtausend v. Chr. die Felder und gründen Bauerndörfer und Gehöfte. Hier erwachsen aus fruchtbaren Niederungen die frühesten Kulturen der Alten Welt: die ägyptische, über die in Heft 1 der „Historisehen Reihe" berichtet wird („Sphinx am Strom"), und die Kultur „Mesopotamiens", von der das vorliegende Heft erzählt. 2
MESOPOTAMIEN, DAS ZWISCHENSTROMLAND In den ausgedehnten und zerklüfteten Bergen Kleinasiens, die sich südlich des Schwarzen Meeres zum Kaukasus hinziehen, entspringen zwei Ströme, Euphrat und Tigris. Am Oberlauf haben sich ihre Täler in vielfachen Windungen in die Bergtafeln geschnitten, sie zwängen ihre Wasser, dem Zug der Berge folgend, nach Süden, durchbrechen die starken Steinrücken des Taurischen Gebirges und treten endlich in flachere Gebiete ein. Hier nimmt der Tigris seinen Lauf entlang dem Iranischen Bergland nach Südosten, der Euphrat biegt weit westlich in die syrische Tiefebene ein und wendet sich erst am Mittel- und Unterlauf seinem Bruderflusse wieder zu, um endlich mit ihm vereint im Persischen Golf zu münden. In jenen alten Tagen griff das Meer noch höher ins Land, und die beiden Ströme erreichten getrennt den Golf. Das weite Tiefland, das die mächtigen Wasserläufe umarmen, heißt von Urzeiten her „Zwischenstromland", Mesopotamien. Die jährliche Schneeschmelze im Frühjahr führt ihm große Wassermassen zu, die für Monate die flachen Ufer des Mittel- und Unterlaufes überschwemmen. Wasser bedeutet hier Segen und Tod zugleich, es ist eine Macht, dem Menschen in die Hand gegeben, um sie zu nützen oder ihr zu erliegen. So sind seit Jahrtausenden an den Ufern der Ströme Dämme und Schleusen errichtet, die Überflutungen zu regulieren; Kanäle und Schöpfwerke sorgen für gleichmäßige Durchblutung des Landes. Aber die Gefahr des Verbrennens oder Ertrinkens bleibt allgegenwärtig. Verfallen Dämme und Schleusen, so versumpfen die Ufer, weht der ewige Sandwind die Kanäle und Rinnsale zu, so verdorren die Felder unter der glühenden Sonne.
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Zwischen tropischen Palmenhainen, wuchernden Schilfdickungen und reichen Äckern treiben die schwarzen Gewässer der Kanäle dahin. Flamingos schwirren wie rosenrote Wolken über den Ufersümpfen und queren den Strom, der einem breiten Bande geschmolzenen Silbers gleich durch das feierliche Schweigen des Landes gleitet. Braunhäutige Menschen schreiten, nur mit dem Lendenschurz bekleidet, hinter dem Joch Buckelochsen übers Feld, und hoch über ihnen spannt sich ein seidiger, mit Goldfäden durchwehter Himmel. Urstimmung liegt wie Licht vom siebenten Schöpfungstage über dem paradiesischen Garten zwischen den beiden Strömen. Hier begann nach der Sage der ältesten Völker der Schicksalsweg der Menschengeschichte, wie eine frühe Dichtung des Landes erzählt: „Als droben der Himmel noch nicht benannt war, Das Feste unten einen Namen nicht hatte, Als Apsu, der Uranfängliche, Alleserzeuger, Mummu Tiamat, die Mutter von allem, Mit ihren Wassern in eines sich mischten, Das Festland nicht war, noch Mensch sich fand, Als von allen Göttern kein einziger lebte, Noch keiner benannt, kein Schicksal bestimmt war, Da wurden gebildet die Götter in ihrer Mitte..." Aus diesem Lande wächst fast gleichzeitig mit dem ägyptischen Kulturkreise ein zweiter zur Blüte empor, der für die Augen der späteren Zeit zunächst viel Ähnlichkeit mit dem Leben des Niltales zu haben scheint. Das vielfarbige Mosaik der Völker — das man nach der Landschaft „zwischen den Strömen" das „mesopotamische" oder nach der wichtigsten, zu Weltbedeutung erhobenen Stadt das „babylonische" nennt —• weist aber bei näherem Zusehen in Entwicklung und Gestalt recht unterschiedliche Züge gegenüber dem ägyptischen Bild auf und gleicht ihm nur in den äußeren Erscheinungen. Beide Kulturkreise bringen großartige Wissenschaften, gewaltige Bauten und eindrucksvolle Schriftdenkmäler hervor, auch die landschaftlichen Vorbedingungen — die Lage am lebensspendenden Strom, der durch den Kampf zwischen Wasser und Dürre bestimmte Charakter der Uferkultur — scheinen auf eine innere Gleichheit der beiden Völkergruppen hinzudeuten. Und doch bestehen von 4
Anbeginn entscheidende Besonderheiten, deren Auswirkungen eine von der seelischen Atmosphäre des Niltales gänzlich verschiedene Lebensstimmung über das Zwischenstromland heraufführt. Ägypten lebt, von den natürlichen Scheidewänden seiner Wüstengebirge, von den Todeszonen der Sandflächen eingeschlossen, selbstgenügsam in der schmalen Oase seines Tales, Jahrtausende nur durch die dünnen Fäden der Karawanenwege oder über die immer gefährdeten Meeresstraßen mit der übrigen Welt verknüpft. Seine Könige sind im letzten Sinne Gutsherren über einem Volk von Bauern, die Priesterschaft vergräbt sich in die Felsenschächte der Tempel und schließt sich ins Geheimnis altüberlieferten Wissens ein, ohne die Möglichkeit und das Bedürfnis zu haben, Gedanken mit der Außenwelt zu tauschen und in Wettstreit mit fremdem Geist zu treten. So ist auch der verdichtete Ausdruck ägyptischen Wesens in den Künsten, sind vor allem die riesigen Bauten, die gleichsam erstarrte Plastik und der hoheitsvolle Schritt der Bildbänder das geschlossene, streng in der Eigenart dieses Landes gefangene Abbild eines Geistes, der Jahrtausende hindurch nur aus sich selber lebte. Ägypten liegt, seinem eigenen Grabmal gleichend, in stummer Majestät hinter den Mauern der Vereinsamung, welche die Hand des Schöpfers um sein Leben gezogen hat. Aus dieser schrecklichen Stille des Alleinseins inmitten des triumphierenden Todes rettet sich die Seele des Landes zu jener einzigen Insel, die wie ein Abbild der Ewigkeit im Meere des Vergänglichen aufragt: in den Stein, in die Unzerstörbarkeit des Felsens. Das Letzte, was sich im Fluß der Zeiten bewahren läßt, die Mumie der Geschichte, stummer Widerschein einstigen Lebens, ist die Sprache der Künste in monumentalen, für die Ewigkeit gefügten Bauten, gewaltigen Bildnissen und BandreliefsT. Durch die Wucht und Unvergänglichkeit ihres Materials und den immer wachen Willen, fortzudauern und sich selbst zu überliefern, macht die ägyptische Kultur auf die Nachwelt einen tieferen und großartigeren Eindruck als die mesopotamische, von deren einst gewaltigen Städten und Bauwerken der Zeitensturm nur spärliche Reste übriggelassen hat. Im Land zwischen den Strömen gibt es keinen Fels, der unzerstörbar inmitten des flutenden Daseins stünde. Nur 5
der sonnengedörrte Lehm, der sich zu Ziegeln formen läßt, bietet Baumaterial. Aus ihm wurden einst die Heiligtümer an Euphrat und Tigris, die ausgedehnten Großstädte und Paläste, die Hochhäuser und weiträumigen Plätze errichtet. Im Auf- und Abschwanken der irdischen Schicksalswaage sind all diese Wunder und Herrlichkeiten zur Erde zurückgesunken, aus der sie einst die kunstreiche Hand des Menschen geformt hat. Selbst die Bauten einer späteren Zeit, welche die Ziegel zu brennen und zu glasieren verstand, konnten an Dauerhaftigkeit nicht mit den Pyramiden und Felsentempeln Ägyptens wetteifern. Nur noch flache Lehmhügel, die als schwache Welle in den Ebenen liegen, zeigen die Orte einstiger Größe an, verwischte Striche von Grundmauern, über die der Sandwind Berge gehäuft hat, .vermischt mit Brocken mürben Lehms, Tonscherben und Tafeln, Siegelzylindern mit Keilinschriften und glasierten Ziegelbildern. Das Bewußtsein, nicht dauern zu können, zerfallen zu müssen wie der Ton, aus dem die Steine der Paläste und Tempel geformt sind, überdeckt das Lebensgefühl dieses Landes, so wie die Starrheit des Felsens allmählich das gesamte Denken und Fühlen Ägyptens ergriffen hat. Der Tod ist groß, und der wehende Staub der Wüsten zieht in braunen Schleiern um das Paradies an Euphrat und Tigris; der dunkle Würger schreitet auch an den Ufern dieser Doppelströme dahin und beschattet mit düsteren Fittichen alles Leben. Die grausige Erkenntnis des unentrinnbaren Loses ist der Preis, den der Mensch für den Fortschritt der Kultur bezahlt. Unter dem Himmel an Euphrat und Tigris könnte das Wort der paradiesischen Schlange gesprochen sein: „Ihr werdet sein wie Gott, das Gute und Schlechte erkennen." Je mehr sich das Denken aus dem Paradies des Naturgefühls, aus der Bindung an die Einheit der Schöpfung löst, um so klarer empfindet der Mensch seine Einsamkeit unter dem lastenden Firmament. Das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Geschickes überfällt ihn, und unentrinnbar öffnet sich vor ihm das finstere Tor des Todes. „Von Urzeit her ist es bestimmt: Du mußt sicherlich sterben", heißt es im Buch Sirach. In dem Lied vom Helden Gilgamesch ertönen wie Klagerufe aus tödlicher Wüste die Verse: 6
„Ich fürchtete mich vor dem Tode, deshalb hetze ich durch die Wüste, Das Schicksal meines Freundes liegt schwer auf mir. Werde auch ich, wie er, mich niederlegen müssen, Ohne je wieder aufzustehen in alle Ewigkeit?" 2 Die Todesnot ungezählter Geschlechter, der Drang nach Dauer und Verewigung ist in Babylonien ebenso in den Herzen der Menschen wie im Stromtal Ägypten. In Mesopotamien, dem Land ohne Fels und Stein, bleibt dem unruhigen Herzen der Menschheit nur die Insel des Geistes, sich aus dem Meer des Vergehens zu erretten. Darum wird Babylonien und sein Kulturkreis die große Schule der Geisteswissenschaften, und deshalb bringt diese Landschaft die großartigen Bilder der Sehnsucht in uralten Dichtungen von Göttern, jenseitigen Welten und ewigen Gesetzen hervor. Dazu kommt, daß in Mesopotamien mit seinen offenen Grenzen eine Woge fremder Völker der anderen folgt, Dörfer und Städte überspült und in stetem Kampf und Aufstieg, in tragischem Untergang und stürmischer Vermischung den ewig fruchtbaren Urgrund des Lebens aufwühlt, um endlich im Zurückfluten den andern an Errungenschaften und Weisheiten zuzutragen, was sich in seinem eigenen Wesen neu gebildet hat.
* Der Geist ist Babylons Stein, der von seinen Taten der Nachwelt kündet; Mesopotamien wird zur Mutterlandschaft der Wissenschaften wie Ägypten zum Vorort der Künste. Das Wirken des babylonischen Kulturkreises wird bestimmend für ganz Vorderasien und greift über die Grenzen der ältesten Welt zu den Halbinseln des Mittelmeeres, zu denen die Wanderzüge der „Barbaren" streben. Die Grundlagen wirtschaftlichen Denkens, Maß, Gewicht und Münze, der Gleichklang des- Zeitgefühls, die Einteilung des Jahres in Monate und Wochen, die völkerverbindende Sprache und Schrift der Diplomatie, das Babylonische und die Keilschrift, die geistige Anschauung des Weltganzen, Entstehungslehre, Astronomie und geographisches Weltbild und endlich die Erkenntnisse einer magischen Keligionswissenschaft — das alles sind Geschenke, welche die
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uralten Völker Mesopotamiens der antiken Welt hinterlassen und sich durch sie ebenso ins Gedächtnis der Zukunft schreiben wie Ägypten durch seine steinernen Denkmäler, Tempel und Pyramiden. *
Schon zu Ende der mittleren Steinzeit (etwa 7000 v. Chr.) wohnen ungefähr gleichzeitig wie in Ägypten im Zwischenstromland bereits ackerbautreibende Stämme, die sich als kleine Dorfgemeinschaften um gemeinsame Tempel und Heiligtümer gruppieren und von Priesterkönigen regiert werden. Eine größere, stadtähnliche Siedlung aus dem 4. Jahrtausend ist Eridu, an dem damals noch tiefer ins Festland greifenden persischen Golf gelegen. Es wird reicher und mächtiger als alle anderen Plätze des Landes. Das Volk — die Sumerer — hat sich schon in diesen frühen Tagen der Geschichte vom Ackerbau zum Handwerk und zum Handel entwickelt und legt in Literatur, Religion und Wissenschaften den Grund, auf dem späterhin die Babylonier aufbauen. Als sich die Sumerer, zahlreicher geworden, auch am Oberlauf der Ströme niederlassen wollen, treffen sie auf semitische3 Einwanderer, die vielleicht aus dem fernen Südosten Asiens oder aus Arabien herkommen. Der semitische Wanderstrom pulsiert seit vielen Jahrhunterten, Welle um Welle tauchen die Nomaden aus den Wüsten auf und suchen nach gutem Land. Im fruchtbaren Lande Kanaan und in Syrien stoßen sie auf das kraftvolle Volk der Hethiter, das die semitische Brandungswelle nach Osten ablenkt. Das fruchtbare Doppelstromland, an dessen Ufern die sumerischen Bauern den steten Kampf gegen Wasser und Dürre kämpfen, hat seine Bewohner unkriegerisch, aber hart und zäh gemacht. So gehen ohne wesentliche Erschütterung die Wogen der Semiten über das Land weg. Die Akkader, Amoriter, Babylonier und Assyrer wandern ein und finden zwischen und neben den Ureinwohnern Platz. Die Unruhe aber bleibt Schicksal Mesopotamiens. Während die semitische Uberwanderung vor sich geht, haben die ersten Wanderzüge der indoeuropäischen Völker die iranischen Randgebirge erreicht, und fortan drohen von Norden und Osten die Kassiter und die Elamiter. Im 8
endlosen Widerstreit der Stämme und Völker, die an die besten Ackerplätze drängen, vereinen sich am Strom die beiden Gemeinschaften unter dem akkadischen König Sargon4, das semitische Akkad im Norden und das Land der Sumerer im Süden. Bald darauf erobert der neue Herr Mesopotamiens auch die Städte Elam und Susa, unterwirft die Amoriter und begründet die semitische Hoheit. Das künftige Babylonien oder Mesopotamien ist damit vorgezeichnet; in dem neuen Staatswesen herrscht eine blühende sumerische Kultur. * Auf ausgetretenen Karawanenwegen schwanken die bepackten Kamele und Esel über Gebirge und Wüsten talwärts, wo das breite Silberband der Ströme glänzt und sich hinter flachen Ziegel wällen die Städte dehnen. Wächter in Baumwollkleidern stehen unter den viereckigen Torwerken der Stadt Tello und prüfen den Strom der Karren und Lasttiere, der zum Markte zieht. Zweiräderwagen poltern über die gepflasterten Wege und die weiten Plätze, die gesäumt sind von schachtelartigen Lehmbauten; das Gemäuer ist von der Sonne gebleicht. Draußen vor den Toren gleiten die Segler und Euderboote auf dem großen Strom; sie kommen von den Städten Kisch, Ur, Larsa oder Isin. Aus den Tempelhöfen rufen die Hörner und Erzbecken zum Opfer. Ernst und würdevoll schreiten die Priester und Vornehmen mit runden, seltsamen Kopfbedeckungen und mehreren Überwürfen von Wollstoffen. Voran geht der Priesterkönig Gudea6, den das Volk „Patesi" — den Herrscher — nennt. Aus dem weiten Hof führt eine Freitreppe zum Altar des Himmelsgottes, der — nach der Sage — dem König dereinst das Wasser des Lebens überreicht hat. In den Vorhöfen sammeln sich die Hirten des Stromlandes, die kleinen Bauern vom Euphratufer, die Handwerker und Händler der Städte. Sie alle scharen sich um die Altäre der unsichtbaren Mächte, deren Wirken sie zu spüren meinen und deren Gnade sie durch die Vermittlung der Priesterschaft erreichen wollen. Das Leben liegt immer noch wie träumend im Arm der Natur, verknüpft mit den geheimen Kräften der Schöp2(2)
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fung. Die Welt scheint mit Dämonen6, Teufeln, Schutzgeistern und Halbgöttern belebt. Tier und Pflanze, Berg und Strom sind beseelte Darsteller im großen Drama des Daseins. Auf den Friedhöfen vor den Toren gespenstern die Geister der Abgeschiedenen, die noch nicht in die jenseitige Welt gelangen konnten. Um ihnen den ewigen Frieden zu geben, spendet das Volk alljährlich am Totentag das Wasseropfer. Aus dieser religiösen Vorstellung heraus rühmt sich ein babylonischer König nach einem Siege: „Die Grabstätten ihrer Fürsten zerstörte ich und ihre Gebeine nahm ich mit fort. Ihre Totengeister schloß ich von der Wasserspende aus und verdammte sie zur Ruhelosigkeit." Die Lebenden suchen die bösen Geister und Dämonen zu bannen, ihr lichtscheues Wesen durch das Bild darzustellen und damit das Schreckhafte seiner unsichtbaren Gestalt zu entkleiden. Das ist der Sinn jener überlebensgroßen Abbilder geflügelter und geschnäbelter Fabelwesen, Fischmenschen und Tiergestalten mit menschlichen Zügen. Der Dämon, der sich unter die Menschen schleicht und der sich erkannt sieht, verliert seine Kraft, der Name und das Spiegelbild bannen, die Phantasiegestalten wehren die Gespenster ab. Zu den Priesterhäusern, die hinter den glasierten Ziegelmauern mit den Schreckfiguren liegen, kommt das Volk, um Hilfe und Beistand gegen das Unverständliche, Unbegreifliche und Übermenschliche zu finden. Da drängt sich eine Mutter mit ihrem augenkranken Kind aus dem Strom der Neugierigen; sie trägt in einem umgehängten Tuch die kärgliche Gabe, mit der sie den Zauberspruch des Priesters zu bezahlen gedenkt. Ein böser Dämon hat dem Kind „in die Augen geblasen und sie mit einer Wolke verdunkelt", wie eine alte Keilinschrift erzählt. Diesen Geist der Krankheit soll der Priester nun austreiben. Er hebt beschwörend seine Hände über dem Scheitel des Kindes und murmelt eine jener Formeln, wie sie im Urwissen vieler Völker wiederkehren. „Koche, koche! Brenne, brenne! Schlechter, Böser, geh ins Feuer, mach dich fort! Wer bist du? Wessen Sohn? Wer bist du? Wessen Tochter?" Digital unterschrieben
Manni Hesse
von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.03.04 07:51:58 +01'00'
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Ehrfürchtig lauscht die Menge der Herumstehendendem Zauberspruch des Priesters. Für diese Bauern, Hirten und Arbeiter ist der Mann mit der runden Kappe und dem vielfach gefalteten Gewand Zauberer und Gelehrter, Seher und politischer Führer zugleich. Sie alle beugen sich glaubensvoll der magischen Weltstimmung, die ihr Zeitalter bestimmt. Was wissen sie von den seelischen Kämpfen, die in einsamen Nächten die Brust jener Magier durchtoben, zu denen sie aufblicken wie zu Wissenden und Vertrauten der ewigen Mächte? Denn die Tempelpriester haben sich längst von dem Dämonenglauben der Menge abgewandt und sind auf dem Wege zur verstandesmäßigen Erfassung der Welt. Sie errechnen den Lauf der Gestirne, sinnen über die Weltzeitalter, erforschen in kühnen Gedanken den Plan des Schöpfers und stellen die Frage, die am Beginn jeder Philosophie steht: Woher kommt die Welt? Und indem sie erste Gesetze des Himmels erspüren, streift sie der Schauer der Gottheit, in deren Bereiche sie einzudringen beginnen. Sie erkennen die heilige Siebenzahl in den Wandelsternen des Himmels, zu denen sie außer Sonne und Mond die fünf bekannten Planeten rechnen, und die Zahl Sieben kehrt wieder in den Tönen der siebensaitigen Leier, in den sieben Farben und Stufen des Marduk-Tempels. Wissenschaft und Geheimnis werden eins, seherische Ahnung und wissenschaftliches Erkennen schaffen gemeinsam die Lehre, deren Verbreitung streng auf Paläste und Tempel beschränkt bleibt.
Der erste König, der sich aus dem Gewirr von Gestalten der frühen Jahrhunderte abhebt, ist Hammurabi (um 1700 v.Chr.). Er bestimmt die emporstrebende Stadt Babylon am Mittellauf des Euphrat als künftige Hauptstadt des Reiches. In den dort entstehenden mächtigen terrassenförmigen Tempelbauten lebt eine Priesterschaft, die das Erbe sumerischer Vorzeit bewahrt und vermehrt hat. Um der nachfolgenden Priestergeneration das Erforschte und Errungene weitergeben zu können, wird eine bedeutende Literatur auf dem naturgebotenen Material des Landes — den 11
Tontafeln — niedergelegt. Schon seit dem Jahr 3000 kennen die Sumerer eine Bilderschrift, ähnlich den ägyptischen Hieroglyphen7, die zur Wortschrift vereinfacht worden ist. Stilisierte Abbilder allgemein bekannter Gegenstände dienen nicht nur zur Versinnbildlichung der Begriffe, die sie darstellen, sondern auch als Zeichen für ähnlich lautende Wörter. Die Kenntnis dieser sumerischen „Hieroglyphen'' ist Geheimnis der Magier. Sie haben allmählich die verschiedenen Bildchen mit ihren Kreisen, Bogen und Wellenlinien, die dem Schreibmaterial nur schwer einzugraben sind, zu geradlinigen Abdrücken des Spachtelstiftes vereinfacht, zu einer Ordnung von Keilen. Schrift und Sprache der Sumerer sind, je mehr sie aus dem Volksleben verschwanden, zu Ausdrucksmitteln der religiösen Wissenschaft, zum Verständigungsmittel innerhalb der Tempel geworden, das den übrigen Menschen versiegelt bleibt. In dieser Eigenschaft erhält sich das Sumerische bis zum Ende der babylonischen Kultur. Unter Hammurabi werden die alten Erfahrungen und Überlieferungen des Volksrechtes gesammelt. Er faßt das vorhandene Recht in einer Gesetzessammlung zusammen und läßt das überarbeitete und geprüfte Recht in 280 Paragraphen niederlegen. Ein allgemeines und jedem zugängliches Gesetzbuch ist geschaffen; die Rechtssätze Hammurabis werden in einen über mannshohen Steinblock eingemeißelt, dessen oberer Teil in einer bildhaften Darstellung zeigt, wie König Hammurabi sein Gesetzbuch aus der Hand des Sonnengottes Schamasch empfängt. „Vor diesem Bilde soll der Geschädigte, der einen Rechtsanspruch hat, erscheinen und soll die Inschrift lesen und ihre kostbaren Worte beachten. Der Stein wird ihm Klarheit schaffen, auf daß er sein Recht finde." So liest man im Text der Inschrift. Und wirklich drängen sich die streitenden Parteien vor dem steinernen Mal des Rechts, Priesterschüler und Lehrer lesen und deuten den Menschen die Paragraphen. Das Verfahren der Schuldeintreibung, die Lohntarife und die Höchstpreise interessieren die Kaufleute, die Beamten lesen über Steuerrecht nach, und mancher ernsthaft Geschädigte läßt sich von den Ausdeutern die Ab12
schnitte mit den Strafen für Ehebruch, Diebstahl, Betrug oder Mord sagen. Abschriften dieses Gesetzessteins von Babylon gehen auf Tonzylindern in das ganze Land; denn wie Ägypten ist Babylonien von einem Heer von Beamten überzogen. Statthalter, Landvögte, Polizeioffiziere und Finanzverwalter sitzen neben Aufsehern der königlichen Güter, Verwaltern der Kornspeicher und Hafen Vorstehern. Sicher und ruhig strömt das Dasein dahin; die sich endlos vermischenden und durchdringenden Völker dieses offenen Landes haben im großen, herrschenden Babylon einen glanzvollen Mittelpunkt gefunden und empfinden das fruchtbare Zwischenstromland als gemeinsame Heimat. Wenn an der Wende des Winters zum Frühling das befruchtende Hochwasser kommt, feiert das Volk sein Neujahrsfest; es ist die Erinnerung an den Sieg des Frühlingsgottes Hammut über die böse, finstere Göttin des Chaos, die einst die Weltschöpfung verhindern wollte. Von den umliegenden Städten und Dörfern ziehen Karawanen und Pilgerzüge nach Babylon, weithin sind die Wasser des Euphrat bedeckt mit den Bootsfiotten der Fremden. Während der Festtage sind Rang, Würde und Reichtum ohne Bedeutung, das Volk kehrt zur Gleichheit der Urtage zurück. „Herr und Knecht gehen Seite an Seite", bezeugt eine Tontafel aus der Stadt Nimrud. Sogar der König räumt seinen Thron und überläßt ihn und seinen Palast einem vom Volk gewählten Festkönig. Die Äcker werden neu aufgeteilt und die Gesetze feierlich verkündet. Durch die breiten Prachtstraßen Babylons mit den mehrstöckigen Vierecken der Wohn- und Kaufhäuser bewegen sich die Festzüge zu den Terrassentempeln. Männer aus dem semitischen Äkkad, dem sumerischen Eridu, aus Kisch, Larsa und Ur, Stämme und Rassen aus allen Himmelsrichtungen schreiten nebeneinander im Strom der Prozession. Der fellbekleidete „Sonnenbarbar" aus Elam, ein blondhaariger, breitschultriger Riese, geht neben dem hageren, schwarzbärtigen Semiten aus der arabischen Wüste; der vornehme Kaufmann aus Babylon plaudert mit Handelsfreunden aus entfernten Hafenstädten an Euphrat und Tigris. Und doch ist das Bild dieses Völkergemisches keineswegs so bunt und gegensätzlich wie in früheren Tagen, als 13
alle in ihrer nationalen Tracht und Haarmode erschienen. Mit Ausnahme der wenigen „Barbaren" aus iranischen Gebirgen haben sich die Festbesucher an die königliche Verordnung gehalten, nach der alle Untertanen Babylons den semitischen Kinnbart und die sumerischen Kapuzenmäntel zu tragen haben. In den Beinen der Festteilnehmer findet sich auch Naram-Sin, der Sohn eines kleinen Landwirts, der vor einiger Zeit in die Großstadt gekommen ist, um bei einem Kaufmann zu dienen. Er hat sich in Babylon umgesehen, manches gelernt und sich Freunde geschaffen. Sein höchstes Ziel ist es, ebenfalls Händler zu werden und für immer in der schönen Stadt zu leben. Mit diesem Entschluß im Herzen kehrt er nach den Feiertagen ins Dorf seines Vaters zurück, um das Einverständnis der Familie zu erfragen. Breit zieht der Strom durch das flache Land, und obschon er in tausend geöffneten Adern sein Wasser in die Uferlandschaft ergießt, obgleich überall durch Schleusen und Kanaltore die Flut zu den Bewässerungsanlagen abfließt, rollt das gelbgraue Riesenband in gewaltiger Dünung talwärts. Wo das Strombett gegen Kisch umbiegt, begleiten hochstämmige Dattelwälder das Ufer, auf der gegenüberliegenden Seite ziehen sich blühende Obstgärten und grüne Äcker bis weit in die Ferne hin. So weit das Auge reicht, ist der Euphrat von Lastfiotten bedeckt; es sind Gruppen kleiner, kreisrunder Boote, die aus Weidengeflecht oder Palmfaser gebaut und mit Asphalt abgedichtet sind. Wie auch die Strudel und Schnellen am Oberlauf des Stromes diese Schifflein drehen und wirbeln mögen, sie kentern nicht und tanzen wie große Körbe flußabwärts. Durch das Gewimmel zieht stolz das Langboot eines babylonischen Kaufmanns. An dem schlanken Mast steht ein rotgestreiftes Mattensegel im sanften Wind, zugleich schaufeln an jeder Seite des niederen Bords je acht Ruderer mit kurzen Paddeln das Wasser, so daß das Schiff mit hoher Bugwelle durch den Strom schießt. Auf diesem Boot fährt Naram-Sin in sein heimatliches Dorf. Sein Blick ruht unverwandt auf dem erhöhten Uferdamm, auf dessen Krone die lange Reihe einer Kamelkarawane dahintrottet. Die Tiere sind mit Körben und Ballen hochbepackt; sie kommen von Eridu, vom Meer herauf, und bringen neue Ware aus den Küstenländern. 14
Das Segelboot hat die Landestelle erreicht, es legt kurz an, damit Naram-Sin ans Ufer springen kann, dann gleitet es lautlos wieder in den Strom zurück. Neben der geschweiften Holzbrücke, die den Kanal überspannt, biegt Naram-Sin in den Karawanenweg ein, folgt ihm eine Weile und verläßt nach einiger Zeit das Ufer, um einen Karrenweg einzuschlagen, der zu einer Dattelpflanzung führt. Hier liegt eine Ziegelei am Wegrande; Frauen mischen in großen Gruben Häcksel mit nassem Lehm und formen mit hölzernen Stichschaufeln viereckige Ziegel. Bald erreicht Naram-Sin das Gatter des Gutshauses. Der Bau liegt im Schatten der Dattelpalmen, seine gemauerten Wände sind weißgekalkt und mit Rötel bemalt. Es ist das königliche Landgut, über das der Bezirksamtmann Endil-Banu herrscht. _ Hinter dem Palmenwäldchen dehnen sich Gärten und Äcker, zwischen Gruppen von Bäumen und Sträuchern leuchten die Mauern eines Dörfchens mit niedrigen Hütten aus Flechtwerk und Lehm, der an der Sonne getrocknet ist. Palmwedel bilden das primitive Dach. Statt des kostbaren Holzzaunes ziehen sich Dornhecken oder niedere Lehmmauern um die Gehöfte. Naram-Sin ist im trottenden Schnellschritt der weggewohnten Landbewohner über den staubigen Pfad geeilt, seine Stirne hat sich mit Schweiß bedeckt. Atemlos verhält er nun vor dem Bild des heimatlichen Hofes. Das erste der kleinen Häuschen neben der Verteilerschleuse des Kanals gehört dem Vater, dem alten Soldaten Sin-ischmeanni. Naram-Sin spürt zum erstenmal nichts von der Herzensfreude, die ihn früher beim Anblick der Heimat ergriffen hat. Mit ernüchternder Deutlichkeit sieht er, wie klein und bescheiden, eng und armselig die Welt des Dorfes ist; enttäuscht und zögernd schlendert er zu der Hütte und beachtet kaum das Jubelgeschrei der kleineren Geschwister, die stolz den städtisch gekleideten Bruder begrüßen. Feierlich und weltmännisch neigt sich der Sohn vor den Eltern, die vor dem Eingang der Hütte stehen. Dann macht sich die Mutter daran, ein festliches Mahl zu bereiten; sie schlachtet ein Lamm und beginnt es am Spieß über der Feuerstelle zu braten. Nachbarn finden sich ein, um den Erzählungen und Berichten des jungen Kaufmanns von dem bunten Leben der Königsstadt zu lauschen. 15
Vater Sin-ischmeanni hat es sich nicht nehmen lassen, sein buntgewirktes, schon etwas zerschlissenes Feiertagsgewand überzustreifen. Stumm kauern die Männer, ehrfürchtig von den Kindern umringt, auf den Fersen nieder und lassen im Schatten des Vordaches den Tonkrug mit Dattelwein in der Runde gehen. Aus dem Haus tönt das Klappern des tönernen Küchengeschirrs. Naram-Sin erzählt von Babylon, der Stadt. „Babylon ist eine Handelsmacht!", sagt er, „mehr Kaufleute gehen durch ihre Straßen, als Sterne am Himmel sind. Als der oberste der Götter — unser Herr Marduk — die Welt aus dem Urmeere schuf, hat er seine Stadt an die Ufer des großen Stromes gebaut, damit ihre Bewohner einen natürlichen Weg zum Meere hatten und Kaufleute werden konnten, die mit allen Waren aus den iranischen Bergländern handelten, Karawanen aus dem fernen Indien auf ihre Märkte zogen und den Reichtum des Stromlandes an die westliche Welt weitergaben. Die Götter wollen, daß wir Händler seien." Die Bauern starren stumm auf den staubigen Boden. Einen Augenblick ist Schweigen, dann hebt der alte Sinischmeanni den Kopf. Alle Freude ist aus seinem Gesicht gewichen. „Bin Händler besitzt keine feste Wohnstatt, er lebt auf dem Boot oder auf dem Rücken der Kamele. Wenn er sein Haupt zur Ruhe legt, so wölbt sich über ihm ein Zelt oder gar nur der Sternenhimmel. Wie aber haben eigenes Land und ein Dach." Naram-Sin lächelt. „Auch die Kaufleute besitzen das und noch viel mehr. Hast du niemals die großen Häuser in Babylon gesehen, die mit Stockwerken und Terrassen machtvoll emporstreben und wie königliche Paläste sind? Sie gehören Kaufleuten, nicht aber armseligen Bauern. Die Händler, die aus den iranischen Bergen oder über das Meer Kupfer und Zinn, das Gold Arabiens und das Elfenbein Afrikas, die Perlen und Gewürze Indiens heranschaffen, deren Kara-
Bild rechts: o b e n : Assyrischer Jagdwagen mit erlegtem Löwen; Keilschrift; babylonisches Ornament — M i t t e : Babyionischer König; Kopf eines Gottes; Dämon in Gestalt eines Greif-Menschen— u n t e n : Babylon. Stufentempel
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wanen vom Libanon kostbares Zedernholz, aus Syrien die gefärbten Tuche, edle Steine aus Phönikien, Leinen und kunstvolle Geschirre aus Ägypten holen, werden reicher, als ihr es jemals erträumt. Das Geld Babylons klingt in der ganzen Welt, sogar in Indien rechnen die Kaufleute mit der babylonischen ,Mina'." Sin-ischmeanni hat ruhig und ernst zugehört. Er sieht die Leidenschaft in den Augen des Jungen. Der Blick des Alten umfaßt die Gestalt des vor ihm Sitzenden, schweift zu den Arbeitern auf den Feldern hinüber und über die schwerfällig trottenden Büffelgespanne. Ruhe und Frieden liegt über dem Land und seinen Menschen. Nicht immer war es so... Es gab eine Zeit, da am rauchverhangenen Horizont die Häuser brannten und die Männer das Schwert führten statt des Pfluges und die Not umging an den Ufern des großen Flusses. Vielleicht ist es gut, jetzt davon zu sprechen... „Du hast recht, Naram-Sin, auf allen Wegen strömt der Reichtum nach Babylon in die Taschen des Kaufmanns, und alle Winde treiben die Schiffe in die Häfen unseres Reiches. Aber hast du vergessen, wer die Grenzzeichen in das Land unserer Feinde trug, wer ihre stolzen Städte bezwang und sie Babylon tributpflichtig machte ? Hast du vergessen, was ich dir als Knabe von der Zeit erzählte, als die Stadtkönige von Isin und Larsa und die räuberischen Sonnenvölker aus den Bergen unsere Brüder erschlugen und die Frauen und Kinder ins Elend verschleppten? Der Kaufmann schlich angstvoll und hungernd durch die Gassen der verödeten Städte, seine Lager waren leer, und in den Häfen faulten die Schiffe. Da sammelte unser Herr Hammurabi seine Krieger, zu denen auch die Männer unserer Familie gehörten, und die Götter gaben ihm den Sieg. Wir befreiten das Land, warfen das barbarische Elam nieder und dehnten die Grenzen Babylons bis an die Oberläufe der Ströme aus. Babylons Größe wuchs auf den Schultern der Soldaten, und es wird nur so lange bestehen, wie seine Männer auf das Dröhnen der Kriegshörner hören und bereit sind, ihrem Ruf zu folgen. Hammurabi gab uns wie Tausenden seiner Kämpfer Land zu eigen, damit wir ohne Sorgen unser Korn bauen und unseren Hunger stillen konnten. Der Acker ist erblich in der Familie, solange der älteste Sohn das Waffenhandwerk übt. 18
Laß die Händler Schätze in ihre Truhen scheffeln, Naram-Sin, du aber mußt wie dein Vater und der Vater deines Vaters statt des Reichtums das Schwert wählen!" Beifälliges Murmeln läuft durch den Kreis der Zuhörer, Naram-Sin aber ist aufgesprungen. Hastend überstürzen sich seine Worte: „Was früher geschah, das weißt du, Vater, aber was dir selbst angetan wurde, das hast du vergessen. Oder willst du dich nicht mehr daran erinnern, wie dir der königliche Steuerbeamte, der drüben in Nurim den Kornspeicher beaufsichtigt, eine Tontafel schickte, auf der die Worte standen, die mir noch heute im Gedächtnis haften: ,Warum hast du die Ziegenwolle, die du abzuliefern hast, nicht nach Babylon gesandt? Schämst du dich deiner Unterlassung nicht? Nach Eingang dieses Schreibens hast du die Steuer sofort abzuführen.' Das war in dem Jahr, als Seuchen die Tiere hinrafften und nur noch zwei Ziegen in unserem Stall standen. Aber was kümmerte das den Steuereinnehmer. Er handelte nach dem seelenlosen Gesetz seiner Vorschrift: ,Züchtest du Schafe, so hast du die Pflicht, zur Zeit der Schafschur und wenn die Herdentiere werfen, nach Babylon zu kommen und mit dem Steueramt abzurechnen'8. Soll ich mich mein Leben lang plagen und den Rücken bükken, um doch arm zu bleiben wie ein Tier? Nein, Vater, ich werde ein Haus haben in Babylon, Sklaven, die für mich arbeiten, Schiffe, die den Reichtum der Welt in meine Lager bringen, und Kamele, die Lasten für mich tragen. Der Kaufmann ist frei und ein König unter den Menschen..." Sin-ischmeanni will den Sohn unterbrechen, aber NaramSin spricht weiter, sein Blick geht weit über das Land, als ob er fern am Himmelsrand ein Ziel sähe. „Überall liegt der drückende Schatten des Staates über dem Bauern, wie der Geier, der über dem Tier in der Wüste schwebt. Sieh an, mein Vater, von deinen Äckern, die du so mühsam bewässerst und pflegst, mußt du die Hälfte des Ertrages an die staatlichen Kornspeicher abliefern; und tragen endlich nach Jahren deine Dattelhaine, so verlangt das Steueramt zwei Dritteile der Ernte. Was aber bekommst du auf dem Markt für den Rest deiner Ernte? Es ist kaum der Rede wert, denn die Kon19
kurrenz der königlichen Domänen erdrückt dich. Die Landgüter der Krone besitzen den besten Boden und können daher billiger verkaufen als der kleine Landbauer. Wieviele waren in den Mißjahren gezwungen, bei den königlichen Kornspeichern oder städtischen Darlehensverleihern Schulden zu machen, um die hohen Steuern bezahlen zu können und nicht samt ihren Familien verhungern zu müssen! Dafür bezahlt der arme Ackersmann dreißig bis vierzig Prozent Zinsen, die ihn mit Gewißheit in die Schuldknechtschaft bringen. Der Weg des Bauern führt von der Plage zur Sklaverei, mein Vater!" „Das ist nicht wahr!", ruft einer der Zuhörer, „seit der König in den Städten die Gesetzestafeln und die Säulen des Bechts errichten ließ, darf niemand mehr als zwanzig vom Hundert Zins nehmen!" „Ja, dem Wort nach..., und zugleich hat Hammurabi seinen hohen Beamten, den Priestern und Offizieren ausgedehnte und ertragreiche Ländereien nahe den Strömen gegeben, den gewöhnlichen Soldaten aber ihre erblichen Lehen tief im Lande an den versandeten Kanälen. Wie sollen sie dort bestehen?" Auch Sin-ischmeanni hat sich erhoben. Seine kraftvolle Gestalt überragt den Jungen um Haupteslänge. „Was du auch immer gegen unseren weisen und gerechten Herrscher sagen magst, Naram-Sin, Soldat mußt du werden, denn wir sind durch heiligen Vertrag gebunden!" Feierlich fährt er fort: „Als wir dieses Lehen erhielten, wurden von einem schreibkundigen Priester alle Sätze, die zwischen uns und dem König gelten sollten, in einen Tonzylinder gekerbt. Dieser Zylinder steht neben vielen Tausenden ähnlicher Urkunden in dem Saal der Schriften zu Babylon. Wir aber bekamen den Abdruck,derwohlverwahrtinmeinemHausliegt. Soll ich dir die Tonplatte zeigen? Und in diesem Vertrage steht aufgezeichnet, daß ich und alle meine Söhne in die Stammrolle eingetragen sind und Soldaten bleiben müssen." „Zeige deinen schönen Vertrag lieber dort drüben vor!" sagt Naram-Sin erbittert und deutet gegen das Gehöft des Steuereintreibers. „Der Amtmann des Gutes lauert seit Jahren auf deinen Palmenhain, den er dir vielleicht schon morgen wegnehmen wird. Auch du, mein Vater, wirst von deinem Lehen wandern müssen, sobald es den Herren gegefällt." 20
Verweht im Sturm der Jahrtausende sind Naram-Sins und Sin-ischmeannis Gebeine. Keine sichere Kunde spricht über den Abgrund der Zeiten herüber, nur einen Fetzen vom Schicksal der Menschen trieb der Wind vor die Füße der Nachwelt. Sicherlich wird Naram-Sin wie die Jugend aller Zeiten trotz aller Einwände des Vaters seinen Willen durchgesetzt haben und Kaufmann und vielleicht reich geworden sein. Einige aufgefundene Tontafeln und Zylinder erzählen davon, daß Naram-Sins Voraussage eintraf. Der Amtmann Endil-Banu von dem nahen Staatsgehöft streckte seine habgierige Hand nach Sin-ischmeannis Dattelhain aus. Aber auch das Vertrauen des Alten auf die Gerechtigkeit des Königs wurde erfüllt; denn Hammurabi befahl die Untersuchung des Streitfalles und erließ eine gerechte Entscheidung. „Ist es geschehen, daß ein Feld, das ich einem Soldaten für immer gegeben habe, von einem meiner Beamten fortgenommen wurde, so untersuche man den Fall! Wenn der Dattelhain zu seinem väterlichen Hause gehört, so gebe man ihn Sin-ischmeanni zurück!"
* Im Machtkreis des Reiches, das Hammurabi so fest gefügt hat und von ihm abhängig, wächst langsam jenes Volk zur Macht empor, das Babylon den Untergang bereiten soll. Dort, wo der Tigris die Ausläufer des Iranischen Berglandes verläßt und sich der Ebene nähert, haben semitische Stämme um die Stadt Assur den assyrischen Staat errichtet. Seine geschichtliche Stunde kommt, als die Weltstadt Babylon in Beichtum und Luxus verweichlicht. Die Assyrer streifen die Herrschaft Babyloniens ab und machen sich selbständig. Einer ihrer Kriegskönige, Tiglat-Pilesar (1113—1074) führt seine Scharen südwärts und gründet in Ninive eine neue Hauptstadt. Seine Beiterscharen stoßen bis zum Libanon und zum Mittelmeer vor. Mit geballter Macht und unwiderstehlicher Wucht greift er schließlich Babylon an und bringt es nach harten Kämpfen in seine Gewalt. Zum Gedächtnis seiner Taten läßt 21
Tiglat-Pilesar am Ufer des Tigris sein Bild in eine Felswand hauen. Nach einem kurzen, durch den Einfall von Bergvölkern bewirkten Eückschlag wird Assyrien für lange Zeit die erste Großmacht Vorderasiens. Schwer lastet seine Herrschaft auf den Unterworfenen, besonders auf der uralten Gegnerin Babylon. Die Geschichte berichtet viel von den Kriegstaten der Assyrerkönige. Um ihre Herrschaft für immer zu sichern, wenden sie bisher unbekannte Methoden an. König TiglatPilesar III. (746—727) ist der erste Herrscher, der die Einwohner eroberter Provinzen in entfernte Landstriche verpflanzt. In der Fremde sollen die Entwurzelten Vergessen lernen. Hin und her schwanken die Geschicke der Völker unter der assyrischen Herrschaft. Höher und höher türmen die Könige Sargon II., Sanherib und Assurhaddon in den Jahren 722—669 den Bau ihrer Macht. Gewalt regiert ihre Welt, und immer neue Gewalt muß sie erhalten. Der Vordere Orient wird unterworfen, Syrien mit Damaskus, die phönikischen Seestädte Sidon und Tyrus, dann auch die Felsenfeste Jerusalem. Befreiungsversuche Babylons werden mehrfach blutig niedergeschlagen. Die Länder von Medien bis Cypern, von Taurien bis Arabien gehören schließlich den Assyrern. Sogar Ägypten fällt 671, und der Statthalter der Großkönige residiert im Palast der Pharaonen. Die assyrische Herrschaft drückt wie ein Alptraum auf den unterworfenen Völkern. Gräberfelder bezeichnen die Wege der assyrischen Heere, der Himmel grollt vom Fluch der gequälten und vergewaltigten Millionen. Um das Reich, das seine größte Ausdehnung erreicht hat, zu erhalten, muß Assurbanipal (669—630), der Nachfolger Assurhaddons, sein Leben lang Krieg führen. Er ist ein Fürst, der den Kampf nicht als höchste Aufgabe der Könige ansieht. Als Prinz ist er für die Priesterlaufbahn erzogen worden, hat Geometrie, Himmelskunde und Magie studiert und spricht Akkadisch und Sumerisch, die heiligen, nur mehr in den Geheimlehren verwendeten Sprachen. Das Testament seines Vaters hat ihn unerwartet auf den Thron berufen. Und obschon er mehr Neigung zum Gelehrten als zum Krieger hat, nötigen ihn doch die Verhältnisse, von einem Aufstandsgebiet und von einem Schlachtfeld zum anderen zu eilen, denn die Aufgabe auch 22
nur einer Provinz hätte den Beginn des Verfalls bedeutet. Wenn die Welt nicht mehr an die Schrecklichkeit und Unüberwindlichkeit Assyriens glaubt, ist das Ende Ninives und seiner Könige gekommen. Trotz aller Siege zeigen sich aber doch bereits die ersten Risse im Gemäuer der assyrischen Machtpyramide. In den Bergländern des Nordens und Ostens rühren sich fremde, kampflustige Barbaren, Kimmerier und Skythen, die von Zeit zu Zeit raubend und plündernd in das Oberlaufgebiet der Ströme einfallen. Während Assurbanipal sich mit den aufsässigen Fürsten von Elam herumschlägt, erheben sich die Ägypter und treiben mit Hilfe griechischer Soldtruppen die assyrischen Besatzungen aus dem Lande (um 655). Diese Niederlage wird wettgemacht durch den glänzenden Sieg, den Assurbanipals Generäle über die Elamiter erfechten. Susa wird niedergebrannt und in dem unglücklichen Lande ein schreckliches Strafgericht gehalten. Noch einmal lähmt eine Welle des Entsetzens die unterdrückten Völker. Aber mit Elam, der östlichsten Grenzprovinz, ist der Damm niedergelegt, an dem sich bisher der wilde Wanderstrom der Indogermanen gebrochen hat. Jetzt dringen sie unaufhaltsam aus der Tiefe des Irans heran. Wieder erhebt sich die alte Todfeindin Babylon. Ihre listigen, ränkevollen Staatsmänner haben eine Weltverschwörung gegen Assur zustande gebracht. Die kaum unterworfenen Fürsten von Elam, die Ägypter unter Pharao Psammetich, die Israeliten und Syrier, die Lydier Kleinasiens unter Gyges und die indogermanischen Meder vereinigen sich gegen ihre Unterdrücker. Mit Zusammenfassung aller Kräfte gelingt es Assurbanipal, seiner Feinde Herr zu werden. Die ängstlichen Bundesgenossen ziehen sich von Babylon zurück, und der Großkönig kann seine ganze Kraft gegen die Erbgegnerin werfen. Als Sieger zieht er in die Weltstadt ein. Im zwanzigsten Jahre seiner Regierung scheint es, als ob der König aufatmen und sich seinen persönlichen Neigungen hingeben dürfte. Ein gewaltiger Triumphzug wälzt sich durch die Häuserschluchten Ninives; von Zehntausenden von Assyrern jubelnd gesäumt, füllen sich die breiten Straßen mit den Kolonnen des siegreichen Heeres und dem Aufzug der Beute. Die langen, wie Würfel übereinandergeschichteten Palast- und Tempelbauten sind dicht besetzt mit Zuschauern ; auf den Plattformen der Tempelterrassen lodern 23
rote Pechflammen aus den Bronzeschalen. Als endlich die blaue Nacht ihren samtenen Mantel über das Land deckt, glühen die Umrisse der Hochbauten mit Zacken und Terrassen unter Tausenden von öllämpchen auf. Durch dieses von Gongs und Trommeln dröhnende, von Chören und Posaunenschmettern erfüllte goldene Ninive fährt der König auf seinem Triumphwagen. „Drei Fürsten von Elana und ein Araberscheich haben den Wagen gezogen. Tausende von Gefangenen, Viehherden, erbeutete Tempelschätze und kostbare Geräte folgten nach." Zwei Tage und Nächte dauern die Siegesfeiern, bis Assurbanipal sich endlich aus der lauten Stadt in das Schloß Sargons zurückziehen kann, um dort den Frieden und das Glück des Alleinseins zu genießen. Unter den dichten Palmen und Sykomoren des Haremsgartens ist ein kostbares Ruhebett aufgeschlagen und daneben ein Sessel für Assurscharat, die Gemahlin des Königs. Auf einem Tischchen stehen Erfrischungen, kandierte Früchte und Wein. 9 Kaum ein Strahl der glühenden Sonne, die hoch über den Palmwipfeln steht, dringt durch das Blätterdach, trotzdem wehen zahlreiche Wedelträger dem hohen Paar Kühlung zu. Mit keiner Miene verrät der König, daß er den Aufzug der Tänzerinnen und Flötenspielerinnen, der Mädchen mit Saiteninstrumenten und Zimbeln bemerkt hat. Auch den Oberhofmeister, der jeden neuen Auftritt durch kniefällige Verbeugung und Erhebung der Hände ankündigt, beachtet Assurbanipal nicht. Träge liegt er, auf den linken Ellbogen gestützt, und hebt die Goldschale grüßend gegen Assurscharat. Aus tiefen Gedanken heraus beginnt er zu sprechen. „Wieder ist die Erde unserer Äcker getränkt mit dem Blute der Feinde. Unzählbar sind die Scharen derer, die aus dem Licht in die Dunkelheit gingen... Wie lange noch, und auch ich werde den schmalen Weg in das Unbestimmte beschreiten. König und Sklave sind gleich am Ende des irdischen Seins." Mit leiser Stimme zitiert Assurbanipal die Worte eines alten Zauberverses, den eine babylonische Tontafel uns bewahrt hat. „In das Land, aus dem keiner zurückkehrt, in das dunkle Land wandte Istar, die Tochter Sins, den Schritt,
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nach dem Hause, dessen Bewohner in Finsternis stehen, nach der Stätte, wo Staub ihre Nahrung ist, Lehm ihre Speise, wo sie das Licht nicht sehen, im Schatten leben, wie Vögel in Federn gekleidet, wo Staub auf Türen und Türrahmen liegt..." Sinnend blickt der König in den sonnengoldenen Schimmer des Laubdaches. Dann fährt er fort: „Unbarmherzig ist der Tod, keine Schonung kennt er. Bauen wir ewig ein Haus? Segeln wir ewig? Werden ewig Menschen geboren auf Erden? Steigt der Fluß ewig, die Hochflut dahinführend? Seit jeher gibt es keine Dauer, Der Schlafende und der Tote, wie gleichen sie sich!" Die Hand der Königin tastet zu dem Liegenden, streicht scheu und zärtlich über sein Gewand. „Assurbanipal wird nicht wie andere Menschen sterben, er ist König und Gott zugleich. Das Reich, das er aufgerichtet hat, wird währen bis ans Ende der Tage und ihn selbst unsterblich machen." Ein undeutbares Lächeln Hegt auf dem Antlitz des Tyrannen. „Auch Assurbanipal wird sterben", sagt er, „auch das assyrische Reich wird untergehen; denn weise ist der Spruch, der in den alten Schriften steht: ,Siehe den Leib, den du anfassest, daß dein Herz sich erfreue, Er wird dahinschwinden und Staub sein.' Wo weilen die Toten, die von den Streitrossen zerstampft und von den Schwertern meiner Krieger erschlagen wurden? ,Ihr Totengeist ruhet nicht in der Erde, Der Geist lebt zwischen Sternen und Grabmal.' Selbst die Priester haben keine Gewißheit. Dämonen und Götter sprechen nur dunkel zu uns." Mit herrischer Bewegung gebietet der König dem Tanz und der Musik Einhalt. Erschreckt weichen die Tänzerinnen zurück und werfen sich zu Boden. Gnadeflehend strekken sie ihre flachen Hände gegen Assurbanipal, aber er beachtet sie nicht. „Laß den Priestern des Sonnengottes Schamasch sagen", befiehlt er dem Hofmarschall, „ich wünsche das Orakel 4(2)
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über die Zukunft des Eeiches zu befragen. Bis ein geeignetes Opfertier ausgesucht ist, sollen die Sterndeuter kommen." Wieder versinkt der König in Gedanken. Er wandert noch einmal im Geist die Pfade seiner Jugend, als sich ihm in den Tempelschulen der Priester das Bild des Lebens und der Welt aus Forschung und Zauberei, Astronomie und Sterndeuterei zum ersten Male erschloß. Die Anschauung vom Weltganzen, wie sie in den Menschen des assyrischen Kulturkreises lebt und von hier über die Länder des Orients ausstrahlt, ist das Werk der Chaldäer10. Sie haben die Länge des Sternenjahres mit 365 Tagen, 6 Stunden und 11 Minuten errechnet, die Vorrückung der Tag- und Nachtgleichen festgestellt und die „Periode Saros", einen Abschnitt von 6585Y4 Tagen mit 223 Mondumläufen bestimmt, nach der Sonnen- und Mondfinsternisse in der gleichen Ordnung wiederkehren. Überraschend ist ihre Lehre, daß sich Welt und Leben entwickelt haben; sie steht allein inmitten einer an Schöpfung glaubenden Menschheit, weil sie das Gesetz des organischen Fortschritts an den Anfang setzt. Großartig ist das Bild der sieben Stufen der Erde, die inmitten eines irdischen Ozeankreises aufragt; über den Bahnen der sieben Planeten wölbt sich der himmlische Ozean des Alls, unter der tiefsten der sieben Erdstufen flutet der schwarze Unterweltsozean; drei Welten, drei Himmel, drei Ozeane klingen im Akkord zusammen. Geheimnisschwer kehrt die Siebenzahl wieder: die sieben Mauern der Unterwelt, die sieben Tore, die sieben Stufen der babylonischen Tempel, die sieben Zweige am Lebensbaum, die sieben Stufen der Läuterung, die eine Seele zurückzulegen hat, ehe sie eingeht in die Erlösung. In allem Sein findet man die gleichen Sinnbilder, sieben sind die Metalle, die Farben, die Töne, die Planeten, die Vokale und die Tage der Woche... ... Aus tiefem Grübeln wird der König durch den Eintritt der Magier geweckt, die weißgekleidet in siebenfachen Überwürfen unter spitzen Mützen daherschreiten, siebensaitige Instrumente in den Armen, die mit stets gleichbleibenden Akkorden erklingen. Dazu singen sie einen uralten Zauberspruch in der heiligen, nur den Geweihten verständlichen sumerischen Sprache. Dem Aufzug folgt ein Greis, der einen kleinen Tonzylinder in der Eechten und eine mit Zeichen bedeckte Scheibe 26
in der Linken trägt: es ist der chaldäische Hofastrologe mit dem Eeiohs-Horoskop. Aber der Chaldäer vermag die Wißbegierde des Königs nicht zu befriedigen. Nur dunkel und undeutbar spricht er von den „Entsprechungen, die zwischen Himmel und Erde, zwischen den Gesetzen der Götter und dem Leben der Menschen sind". Dann erklärt er längst Bekanntes: was die „sieben Befehlsübermittler des Himmels an die Erde" — die Planeten — im Horoskop des Reiches zu bedeuten haben. Assurbanipal begreift; der Alte wird nichts von seinem Wissen preisgeben. — Als daher der Bote vom SchamaschTempel eintrifft und meldet, daß alles zur Anrufung des Orakels bereit sei, entläßt der König den Chaldäer und begibt sich, gefolgt von seinem Hofstaat, zum Tempel. Am Eingang des schrägansteigenden, viereckigen Hauses der Gottheit stehen zwei überlebensgroße, geflügelte Ungeheuer mit Menschenköpfen und Knebelbärten, die Dämonenwächter, die den Gespenstern den Eintritt verwehren sollen11. Unter der rechteckigen Pforte in der glasierten Ziegelwand warten die Priester und verneigen sich tief vor dem Königspaar. Ein dämmeriger Raum, der durch eine in der Mitte offene Decke gedämpftes Licht erhält, nimmt die Eintretenden auf. Die bunten Wände sind mit wilden Gestalten phantastisch bemalt; Götter und Dämonen teilen den geistigen und körperlichen Lebensraum mit den Menschen und begrenzen als Riesenfiguren mit Tierköpfen, Krallen und gespreizten Flügeln die Halle. Auch Rückwand und Altar sind mit steinernem Bildwerk bedeckt, Jagdszenen mit sterbenden Löwen, Kriegsbilder mit jagenden Rossen und siegenden Assyrerkönigen. Die Priester haben die vorgeschriebenen Waschungen bereits vollzogen, auf dem Altar stehen die Gefäße mit geweihtem Wasser, Wein und gemahlenem Korn. Aus kleinen Räucherschalen steigen blaue, betäubend duftende Dämpfe. Der Baru — der Seher-Priester — schreitet feierlich zum Altar. Die Zeremonie nimmt ihren Anfang. Der Baru spricht: „Durch Hingabe dieses Lammes, o Schamasch, möge es uns gelingen, dich günstig zu stimmen, damit du uns gnädig Dinge der Zukunft erschauen lassest. Dei27
ner Gottheit möge es gefallen, uns durch die Teile dieses Tieres ein Orakel zu erteilen." Zypressenharz wird auf die Schalen gestreut, dick wölkt der Dampf zur Decke. Zwei Priester schütten Bier und Gerste als Opfergaben über die große Bronzeschale, in der die Holzkohlen glühen. Dann führt ein Tempeldiener das zur Opferung bestimmte Lamm heran, ein schönes, schneeweißes Tier. Beschwörend hebt der Seher die Arme und spricht die alte Gebetsformel. „Verhüte, daß etwas Unreines den Ort der Wahrsagung berühre! Verhüte, daß das Lamm, das zu beschwören ist, untauglich sei oder mangelhaft! Verhüte, daß beim Schlachten dieses Tieres ein unreines Opfergewand Oder etwas Unreines, das einer der Priester gegessen oder getrunken hat, Die Beschwörung unwirksam mache und uns die Schau ins Künftige verwehre! Verhüte, daß dem Munde deines Priesters die Antwort voreilig entschlüpfe!'' Ein anderer Magier stellt die Orakelfrage: „Ich frage dich, Schamasch, großer Herr, ob Assyrien und sein König Assurbanipal glücklich sein werden?" Dumpf dröhnt ein Gongschlag durch den E a u m ; ein Tempeldiener tötet das Lamm durch einen raschen Stich in die Halsschlagader, deren Ausbluten schweigend abgewartet wird. Dann übernimmt ein Priester den Körper und öffnet ihn mit kundigen Schnitten. Wieder werden Räucherstäbe verbrannt, Bier und Mehl geopfert. Der Baru tritt heran und betrachtet die Lage der Eingeweide. Dann löst er die Leber vorsichtig heraus, denn sie ist nach der chaldäischen Zauberlehre der eigentliche Sitz des Lebens und der Seele, in sie zeichnet die Gottheit ihre Spuren. Mit der ausgebluteten Leber in den Händen besteigt der Baru den erhöhten Orakelstuhl, erst jetzt nehmen auch König und Königin ihre Thronsitze ein, das Gefolge fällt ehrfürchtig auf die Knie. Die Magier sind an den Baru herangetreten und besprechen sich mit ihm in der heiligen Sprache der Priester. Assurbanipal kennt ihre Geheimsprache und lauscht auf die Auseinandersetzung der Gelehrten. 23
„Die Pyramide ist wie ein Löwenkopf", murmelt der Baru, „also werden die Diener den Herrn bedrängen!" Ein weißhaariger Priester deutet auf die ausgebreitete Leber: „Sie gleicht einem gespaltenen Löwenohr. Nach dem Wort der alten Schriften werden die Götter das Heer des Königs an der Grenze verlassen." „Ich sehe", sagt einer der jüngeren Priester, „daß der kleine Lappen der Leber einem Schafsohr oder einer Ochsenzunge gleicht — die Vasallen werden dem Thron des Herrschers untreu." Assurbanipals Züge haben sich verfinstert. Ist das die Warnung des herannahenden Schicksals? Die Priester treten zurück. Der Baru verharrt lange ohne Bewegung. Sein Gesicht ist bleich und wie im Tode erstarrt. In der Versenkung, allein mit der Kraft der Seele, will er die rechte Auslegung erfahren. Hinter dem Altarvorhang stimmen die Tempeldiener einen eintönigen Gesang an. Dann öffnen sich die Lider des Sehers, wie in verborgener Glut brennen die großen Augen. Assurbanipal und seine Gemahlin erheben sich, ihre Blicke hängen an den Lippen des Magiers. Seine Stimme scheint aus fernen Räumen zu kommen. „Zurückkehrend vom anderen Ufer der Welt, gebe ich Antwort auf die Frage Assurbanipals, Königs von Assyrien. Ein großes Standbild ist erbaut und reicht bis zu den Wolken. Granit ist sein Haupt, Sandstein sein Leib und Ton seine Füße. Einst wird beben die Erde unter den tönernen Füßen, einst wird brausen der Sturm um das granitene Haupt. Aber der König wird bei Schamasch weilen, ehe dies geschieht12." In der Stille tönt ein greller, kreischender Laut. Die Höflinge verhüllen die Augen. Assurbanipal, der König der Könige, hat sein kostbares Gewand von oben bis unten zerrissen. Er hat den Spruch der Gottheit verstanden. * Die letzten Lebensjahre Assurbanipals sind von Unruhe erfüllt. An allen Enden regen sich die unterdrückten Völker, das fremde Joch abzuschütteln. Der Haß eines halben Jahrtausends treibt zu wilder Entladung. Pharao Necho von Ägypten dringt um 600 in das assyrische Randgebiet Syrien ein, in Babylon bricht ein Aufstand der Chaldäer 29
aus von Norden fallen abermals mit Steinäxten bewaffnete Gebirgsvölker ein, im Osten treten die Meder unter König Kyaxares an. Nur mit Mühe hält Assyrien seine Herrschaft aufrecht, seine Grundfesten schwanken. Unter diesem Gewitterhimmel geht Assurbanipal früher als er geahnt „in das Land, aus dem keiner zurückkehrt." * Als sein Nachfolger den Thron besteigt, vereinigen sich Kebellen und Eroberer gegen die Herren Ninives. Sie erstürmen die verzweifelt verteidigte Weltstadt und nehmen so gründliche Eache, daß von den Assyrern nur wenige übrig bleiben. Viele Nachkommen der einst Verschleppten haben in Ninive Amt und Würden erlangt. In der Stunde der Not erinnern sie sich der Leiden ihrer Vorväter, schlagen sich auf die Seite der Befreier und helfen das Werk der Vernichtung vollenden. „Zerstört ist Ninive! Schutt liegt auf ihrer Schwelle, ihre Zederntäfelung ist abgerissen!", jubeln die Propheten Israels. „Wie ist die Stolze zur Einöde geworden, zum Lager der Tiere! Wer an ihr vorübergeht, zischet und schwenket den Hut." Niedergebrochen ist die Pracht der Assyrer. Rauchgeschwärzt liegen die Trümmer der Burgen, zerstört im Feuersturm sind die zinnengekrönten Mauern, auf den Treppen der Riesentempel trocknet das vergossene Blut. Die Jahrhunderte schütten Sand über die versunkene Herrlichkeit und zermahlen langsam die Reste menschlicher Größe. „In dem Haus des Staubes, in das ich hineinging, Liegen am Boden Szepter und Krone, Und nur noch die Gespenster der Machthaber Wohnen dort, die vor Zeiten hier herrschten..." so erzählt eine Tafel der Gilgamesch-Sage. * Babylon hat in der langen Zeit der Tyrannei den inneren Widerstand gegen Ninive niemals aufgegeben und mehr als einmal seinen Freiheitsdrang mit der Zerstörung ganzer Stadtviertel gebüßt. Nach dem Sturz des Assyrerreiches macht König Nebukadnezar (605 — 562) die Stadt zur 30
Hauptstadt seines Neubabylonischen Reiches und verteidigt sie erfolgreich gegen ägyptische Angriffe. Auf den Spuren der geschlagenen Ägypter ziehen seine Truppen nach Westen. Der „König der Könige" erobert Jerusalem (587), plündert den Tempel Salomos und führt die Tempelschätze fort. Das jüdische Volk aber geht in die „Babylonische Gefangenschaft". Auch Nebukadnezar wendet die Methoden Assyriens an. Der Großkönig zieht weiter bis ans Mittelmeer und vollendet das Neubabylonische Reich, Nach dreizehnjähriger Belagerung fällt ihm auch das letzte begehrte Ziel seiner Pläne zu, die reiche Seestadt Tyrus. Babylon ist wieder die prächtigste Großstadt ihrer Zeit und die Herrin der damals bekannten Welt. * ISRAEL DAS „AUSERWÄHLTE VOLK" In jenen Tagen, da sich Babylon als Herrin des mittleren und unteren Euphrat erhebt, ziehen viele nomadisierende Horden durch die einsamen Länderstrecken am Rande der bebauten Stromtäler. Immer wieder fließen die verästelten Rinnsale semitischer Wanderung aus Süden und Südosten nordwärts, angezogen von den fruchtbaren Reichen an den großen Wasseradern. Inmitten dieses stetigen, über Jahrtausende hinreichenden Wellenschlages semitischer Wanderung treibt um 2 000 v. Chr. auch eine kleine Sippe von Hirten, deren Nachkommen berufen sind, eine ganze Welt mit ihrem Geist zu beeinflussen. Wie die meisten dieser wandernden Horden werden sie von einem patriarchalischen Oberhaupt, einem Älter-Vater, der zugleich Priester der um ihn gescharten Familien ist, geführt. Lange haben sie — so berichtet die gläubige Überlieferung — am südlichen Rande Mesopotamiens gewohnt, nahe der Stadt Ur, bei der damals der Euphrat sich mit den Fluten des persischen Golfes vermischte. Vielleicht sind sie von den nahen arabischen Gebirgen herabgestiegen, kommen doch die meisten dieser Nomaden aus den geheimnisvollen Schluchten der großen Wüstenberge. 31
Der Osten der Alten Welt — Westlicher Teil
Die Weiden an der Strommündung sind gut, aber eines Tages ergreift die alte Unrast wieder die Herzen der Hirten, sie brechen die Zelte ab und wandern an den Euphratufern entlang nach Norden. Langsam lassen sie die Machtbereiche Babylons hinter sich, betreten das höhere Tafelland und kommen endlich in das Gebirge, in dem die Stadt Haran liegt. Während sie ihre Viehherden auf den saftigen Bergwiesen weiden, hören sie von durchziehenden Karawanen, daß ein fruchtbares Land im Südwesten jenseits der Wüste liege. Sie vertrauen der Botschaft, reißen abermals ihre leichten Hütten und Pferche ab und brechen auf. Die Staubwolke über den wandernden Herden wälzt sich langsam südwestlich davon, das fruchtbare Land geht in Steppe, Sandwüste und ödes Bergland über, aber die Verheißung des gelobten Landes steht wie eine Fata Morgana vor der Sehnsucht der Wanderer. Sie halten durch, ertragen Durst, Hunger und Mühsal und betreten nach monatelangem 32
Der Osten der Alten Welt — östlicher Teil
Marsch ein scharf eingekerbtes Flußtal, das wie ein paradiesischer Garten vor ihnen liegt. Aus der verdorrten Schale der Wüste öffnet sich gleich einer saftigen Frucht das grünende Jordanland, die Pforte zu Kanaan, dem Gestade der Verheißung.
Der Nomadenstamm ist unter der zauberischen Stimmung der Frühzeit aufgewachsen, sein Lebensgefühl wurzelt tief im Bewußtsein der All-Einheit des Daseins, und wie all diesen Menschen früher Tage, die unter geheimnisvollem Sternenhimmel, in der purpurnen Einsamkeit der Berge und in der Verlassenheit einer rätselvollen Wüste atmen, ist ihnen der Umkreis ihres Lebens mit Geistern, Dämonen und Wundern erfüllt. Und doch unterscheiden sie sich von Anbeginn von all den mächtigeren, größeren 33
und kulturell höher stehenden Völkern, deren Gebiete sie durchstreifen, denn sie sinken nicht in der Woge der Weltangst unter, sie flüchten nicht aus der furchtsamen Atmosphäre des Daseins in die Huldigung vor unbegreiflichen Mächten, zu Dämonenkult und Götzendienst. Auch über ihnen ist der dunkle Engel mit dem schwarzen Flügel, der Würger Tod, der allem Leben Gesetze gibt, doch sie unterwerfen sich ihm nicht. Unbeirrbar steht vor ihnen das Wissen um jenen einzigen und geistigen Gott, den sie Jahwe — „den, der da ist, war und sein wird" — nennen. Zu ihm, der mit dem Mantel seiner allumfassenden Größe Natur, Leben und Schicksal einschließt, senden sie ihre Gebete, befreit von der Macht der Dämonen, erhaben über die Ohnmacht der Götzen, die Menschenhand gebildet oder nachgebildet hat. So heilig und hoch ist ihnen der Name Jahwes, daß sie es einzig ihrem Priester, und auch ihm nur einmal im Jahre, am Versöhnungstage erlauben, ihn anzusprechen. Denn dieser Gott aller Götter — „Adonai", der Herr — soll nur im Gedanken leben und nichts von seiner hohen Geistigkeit durch Verknüpfung mit irdischen Ausdrucksmitteln einbüßen. In der Sicherheit ihres Gottes haben die Wanderer unter ihrem Patriarchen Abraham die Durststrecken der Wüste durchwandert, sie sind aus unbekannten Einöden an den gesegneten Strom gelangt und finden endlich das verheißene Paradies. Mit dem überzeugten Anspruch der Auserwählten des Herrn nehmen sie vom Lande Kanaan Besitz, in dem sie nur eine dünne Urbevölkerung vorfinden. Die Landesbewohner prägen den Namen der Zugewanderten, sie nennen sie „Ifri" —- Leute von drüben. Die Wanderer selber nehmen den Namen des dritten, auf Abraham folgenden Stammvaters an und bezeichnen sich künftig als Volk „Israel" — Volk der Gotteskämpfer. Der geistigen Insel ihres Gottesglaubens, auf die sich die Israeliten gerettet haben, entsprechen auch die landschaftlichen und politischen Verhältnisse. Das Paradies Kanaan ist von Mauern des Neides und Hasses umgeben; mögen die Völker stark und kriegerisch wie Babylonier und Assyrer, oder klein und unbedeutend wie Edomiter und Moabiter am Rande der kanaanitischen Landschaft sein, sie alle sind Gegner. Die Natur selbst hat die Umwelt zum Feinde Israels gemacht, als sie Steppen und Wüsten wie 34
einen Kranz des Durstes und Hungers um das grüne Kleinod des Jordantales gelegt hat. Furchtbar allein unter räuberischen und feindseligen Völkern wächst Israel heran, enger noch flüchtet es sein Herz in den Himmel der Gottheit. Jahre der Dürre kommen, die wie glühende Sandwolken über den Orient hintreiben und auch die Grenzen Kanaans überschreiten. Der rote Tod zieht aus den Wüsten zum grünen Jordanufer herab, die Brunnen und Quellen versiegen, das Vieh verdurstet auf den Weiden, und die Getreidefelder verbrennen unter einer unerbittlich sengenden Sonne. Der Hunger treibt die umliegenden Wüstenstämme plündernd nach Kanaan, aber dort liegen wie überall die Kraftlosen und Ermatteten auf den Straßen. Es gibt nur ein einziges Land, das reich geerntet hat, dem sein Strom wie alljährlich die lebenspendenden Wassermassen des Monsuns zuträgt, Ägypten, die Kornkammer der Welt. Und wieder ist Jahwe mit seinem Volk. Er hat es gefügt, daß ein vor Jahren verschollener Sohn des Stammesoberhauptes Jakob, Joseph, in Ägypten eine neue Heimat gefunden, eine glanzvolle Laufbahn hinter sich gebracht und endlich bis zur Würde eines Beraters des Pharao aufgestiegen ist. In der drängenden Not zwischen räuberischen Wüstenvölkern und dem Hungertod wird Israel noch einmal zum Nomadenstamm. Wie in den Urtagen bricht es seine Wohnstätten ab und wandert um das Jahr 1600 v. Chr. mit Weib und Kind, Knechten und Viehherden nach Süden, den „Fleischtöpfen Ägyptens" entgegen. Der Pharao nimmt sie freundlich auf und weist ihnen das Land Gosen zwischen dem Ostrand des Deltas und den Schilfseen nördlich des Boten Meeres als Weide- und Siedlungsland zu. In der abgeschlossenen Landschaft, umgeben von Fremden und angesichts der zahllosen Tiergottheiten Ägyptens, der vielfältigen Kulte und Tempel, die gleich jenseits der Grenze Gosens das ägyptische Leben bestimmen, vertieft sich das Bewußtsein des Erwähltseins, der Glaube an den einen, geistigen Gott. Jahrzehnte gehen dahin, das Neue Reich Ägyptens steigt zu Macht und Gipfelhöhe empor, aber auch das Volk in der Landschaft Gosen hat sich vermehrt. Aus dem kleinen Nomadenstamm sind nach der Überlieferung zwölf Stämme geworden. 35
Die lange Zeit des Nebeneinanderlebens der beiden Völker verändert allmählich die Duldsamkeit des ägyptischen Gastgebers, die Eingesessenen empfinden immer mehr die Kluft zwischen ihrem eigenen Wesen und dem der Israeliten. Nationale Leidenschaften, durch die Erinnerung an den Einfall semitischer Hyksos und durch die Gegenwart des babylonischen Erbfeindes aufgerührt, fließen mit jenen vielen Vorurteilen zusammen, die sich aus dem Anblick israelitischer Wohlhabenheit, wachsenden Besitzes und in sich selbst geschlossener Lebensführung ergeben. Als die Pharaonen für ihre großartigen Bauten ungeheure Arbeitermassen benötigen, geben sie der allgemeinen Feindseligkeit gegen die „Fremden in der Landschaft Gosen" nach und drücken die Israeliten zu Zwangsarbeitern herab. Unter Thutmosis (1502—1448) — jenem Napoleon Ägyptens — stehen hebräische Männer zu Tausenden an den Bauplätzen, streichen Ziegel und schleppen Balken, während die ägyptischen Aufseher sie mit langen Lederpeitschen antreiben. Unter Eamses (1301-—1224) nimmt die Bautätigkeit noch größere Ausmaße an, die neuen Tempel des „hunderttorigen Theben" entstehen, die Städte Pithom und Ramses werden aus dem Boden gestampft. Die Fundamente der Tempel und Paläste gründen auf dem Leid und der Mühsal der Unterdrückten, unter denen die Nachkommen Abrahams und Jakobs die unglücklichsten sind. Bildinschriften und Reliefs der Zeit zeigen, wie sie in dichten Trauben an den Flaschenzügen hängen, wie sie auf den Rollbahnen mächtige Quadersteine vom Gebirge heranschaffen und des Abends in langen Kolonnen in die bewachten Barackenstädte getrieben werden. In dieser Not schickt Jahwe seinem Volke den Retter, den großen Moses. Nach den alten Berichten des 2. Buches Mosis ist die Herkunft des Propheten von Geheimnis umgeben. Eine ägyptische Prinzessin findet im Papyrusschilf ein hilfloses, im Binsenkörbchen ausgesetztes Kind, nimmt es mitleidig zu sich und läßt es wie einen vornehmen Ägypter erziehen. Heranwachsend wird Moses sich seiner israelitischen Abstammung bewußt, wendet sich von den ägyptischen Göttern ab und bekennt sich zum Gott des auserwählten Volkes. In seiner starken Seele sammeln sich alle Sehnsuchtswünsche des gequälten Volkes; er empfindet den tausend36
fachen Schrei der Geplagten, ihrer Menschenwürde Beraubten, er fühlt, wie sich alle Hoffnung an Jahwe klammert, und er sieht, wie vor den inneren Augen seines Volkes das Traumbild des verlorenen Landes Kanaan blüht. Flucht nach Kanaan scheint der einzige Ausweg aus der Knechtschaft. Als seine Stunde gekommen ist, ergreift Moses die Führung. Er schließt heimlich ein Bündnis mit dem Stamm der Madianiter, die den Marschweg nach Osten beherrschen, dann befiehlt er seinen Stammesgenossen, sich zum Aufbruch zu bereiten. Geschickt wählt er die Tage, in denen der große Eamses zu Grabe getragen wird, das Land in Verwirrung und Erschütterung gelähmt und der Sohn und Nachfolger des Pharao, Menephita, mit den Zeremonien und Sorgen der Reichsübernahme beschäftigt ist. Schlagartig zur selben Stunde erheben sich die Israeliten in den Arbeitslagern, ganz Gosen bricht auf und strebt mit endlosen Wagenzügen und gewaltigen Rinderherden eilends zur Ostgrenze Ägyptens. Sie erreichen glücklich die seichten Ausläufer des Roten Meeres, die, von weiten Schilffeldern umsäumt, die Sinaihalbinsel vom afrikanischen Ufer trennen. Als die Ebbe das Wasser zurücksaugt, durchqueren sie die Senke und hasten zum rettenden Ufer. Da wehen am westlichen Horizont gelbe Staubfahnen zum Himmel, die Reitergeschwader und Sichelwagen des Pharao brausen auf der Spur der Entflohenen heran. Ein Wunder geschieht! Als das klirrende, Sieg jauchzende Heer donnernden Hufes die Senke hinab durch spritzende Tümpel und Sumpfdickichte sprengend die Fliehenden einzuholen droht, erhebt sich die gläserne Wand der Wasser. Die Flut rauscht heran und begräbt die Verfolger. Am östlichen Rande des Ufers senden die Israeliten ein Dankopfer zu ihrem Gott. Kämpfend dringt das gerettete Volk in die Urlandschaft der Sinaihalbinsel ein. Es tritt in die heilige Stille Gottes, in einen riesenhaften Tempel der Einsamkeit. Blau und gelb steigen die steilen Wände von Granit und Porphyr aus dem roten Wüstensande, wie Türme ragen ihre Gipfel fast 2000 m hoch in gleißendem GHmmerschiefer über die schweigenden Schluchten und Täler. 37
Fern vom Lärm der Welt, in der Hingabe an Gott, erhält Israel hier seine feste Ordnung. Unter Blitz und Donner vom Sinai-Gipfel niedersteigend, bringt Moses dem Volk die Satzung seines Bundes mit Jahwe. Er verkündet die Zehn Gebote: „Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägypterland, aus dem Diensthause, geführt hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben..." „Du sollst den Namen deines Herrn, des Gottes, nicht mißbrauchen; denn der Herr wird nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht..." „Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest..." „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren..." „Du sollst nicht töten..." „Du sollst nicht ehebrechen..." „Du sollst nicht stehlen..." „Du sollst nicht falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten." Zu diesen Grundgesetzen menschlichen Zusammenlebens treten zahlreiche Verordnungen und Regeln, die dem künftigen Staate als Form, den Bürgern als Richtschnur und der öffentlichen Wohlfahrt als Grundlage dienen sollen. Das große Beispiel der umliegenden Kulturvölker — Ägyptens und Babylons — ist das Vorbild für die Nomaden ; an die Stelle primitiver, mündlich überlieferter Rechtssätze tritt das zwingende Gebot der Gottheit. Israel wird künftig unter dem Befehl heiliger Bücher und Gesetze leben. In Stein gemeißelt stehen die Zehn Gebote in der Mitte des Lagers; wenn sich der Wanderzug fortbewegt, liegen die Tafeln in einer heiligen Truhe, der Bundeslade, die aus Akazienholz, mit Goldblech überzogen und von einem kunstvoll aus Gold getriebenen Kranz umrandet ist. Durch vier Ringe an den Ecken werden Tragstangen gesteckt, und so schwankt das verkörperte Gesetz der ziehenden Schar einer fernen, ersehnten Heimat entgegen. * Langsam schiebt sich Israel aus den Sinaigebirgen zum Südrande Kanaans vor. Wieder sind es Hunger und Durst der Wüste, die ein Geschlecht der Satten anfallen. Kampf brandet an der 38
Grenze des Paradieses auf. Zunächst wird Israel von den Edomitern im Süden abgewiesen, zieht aber dann — von Moses klug geführt — in weitem Bogen an den wehrhaften Provinzen vorbei und erscheint abermals am Ostrand Kanaans. Dort sitzen die Amoriter, denen die Wanderer nun in leidenschaftlichen Gefechten die Höhen östlich des Jordans entreißen. Ein einziges Mal ist auch Moses in seinem Heldenleben schwach gewesen, ein einziges Mal hat er — der Fels seines Volkes — an Jahwe gezweifelt. Darum verkündet ihm der strenge Gott auf einsamer Höhe unter jagenden Wolken angesichts des blühenden Landes: ,,... auf dem Berge Nebo schaue das Land Kanaan, das ich den Kindern Israels geben werde! Dann aber stirbst du auf diesem Berge, wie dein Bruder Aaron auf dem Berge Hör gestorben ist, weil ihr euch am Haderwasser an mir vergangen habt." Jenseits des Flusses dehnt sich das Land der Verheißung, das Ziel eines starken Lebens. Moses steht auf der Schwelle der Erfüllung, er hat für diese Stunde auf ragendem Gipfel, für diesen Anblick des Paradieses sein Dasein verströmt. Ergeben dem Willen Gottes senkt er sein Haupt und ergibt sich der Ewigkeit. Nach seinem Tode übernimmt Josua, ein Mann aus Ephraim — dem stärksten Stamme —, die Führung des wandernden Volkes. „Da sprach Josua zum Volke: noch drei Tage, dann werdet ihr den Jordan überschreiten, um das Land in Besitz zu nehmen, das der Herr, euer Gott, euch geben will..." Getragen von dieser Verheißung fallen die Israeliten in das gesegnete Land ein und ziehen vor die feste Stadt Jericho. Als sie über die gestürzten Mauern der Stadt stürmen, ist die Entscheidung und das Land gewonnen. „Und sie töteten alles, was in der Stadt war..." Erschreckt unterwirft sich die Bevölkerung den Siegern; kleinere, noch weiterkämpfende Stämme finden den Tod durch das Schwert. Mit der Unerbittlichkeit der Frühzeit werden die Besiegten ausgerottet, ihre Städte und Dörfer verbrannt, ihre Besitztümer geplündert und geraubt. Das besiegte Kanaanitertum zieht sich aus dem Innern Palästinas, in dem der neue Staat entsteht, unter die schützen39
den Mauern der wenigen Hafenstädte zurück, die am westlichen Eande des Landes seit alter Zeit erstarkt sind. Kämpfend folgen die Israeliten den überwältigten Feinden vom Jordan zum Meer, an dessen sandigen, hafenlosen Küsten sieb der Stamm Ephraim niederläßt. Die neuen Herren kommen aus den Wüsten, sie geben aueb jetzt nicht auf das unheimliche, schwankende Wasser. Ihre Macht endet an den mächtigen Bastionen von Sidon und Tyrus, den Mutterstädten der Phöniker. Um jene Zeit, da die Israehten im inneren Raum des phönikischen Binflußgebiets erscheinen, werden die reichen Hafenstädte auch vom Meere her in ihrem Bestand bedroht. Vom blühenden Seereich auf Kreta, aus den Handelsstädten der Agäis und aus Ägypten kommen alarmierende Nachrichten über wilde, kriegerische Nordstämme, die an den Küsten brandschatzen und auf den Wasserwegen räubern. Auch vor dem phönikischen Strand tauchen die kühnen Langboote und die gefürchteten gestreiften Segel der „barbarischen See Völker" auf. Die Städte der Phöniker, eines semitischen Stammes, der seit undenklichen Zeiten am Meer sitzt, sind immer schon kleine Staatswesen für sich gewesen, deren Bedeutung in dem weitgespannten Netz von Handelshäusern und Stützpunkten, in den bis zu den Ufern des Atlantik greifenden Seeverbindungen und der Stärke der Handelsund Kriegsflotte liegt. Da weder die Ägypter noch die binnenländischen Mesopotamier gern zur See fahren, bleibt den Phönikerstädten der gesamte Durchgangshandel zwischen der Welt des reichen Stromlandes im Osten, dem Niltal und den Uferländern am weiten Mittelmeer. Ein unaufhörlicher Strom von Schätzen flutet durch die Schleusen von Tyrus und Sidon. Die alten, klugen Kaufmannsstaaten setzen nichts auf die unsichere Karte eines Krieges, von dem man nie weiß, wie er endet. Sie rufen weder gegen den aus dem Innern des Landes vordringenden Gegner noch gegen die räubernden Nordvölker zu den Waffen oder zu nationaler Erhebung, sondern wehren sich gegen beide mit der Maßhaltung, die von der Notwendigkeit der Selbstverteidigung bestimmt wird, streben aber gleichzeitig dahin, den Hirtenstämmen Palästinas wie den Piraten der See begreif lieh zu machen, daß der beiderseitige Vorteil Zusammenarbeit, nicht Krieg erfordere. 40
Sie bleiben, was sie seit alten Zeiten gewesen sind, Vermittler zwischen dem fernen, kaum erforschten Westen der Mittelmeerwelt und den blühenden Kulturländern des nahen Ostens. * Die Israeliten stellen das heilige Tempelzelt mit den steinernen Gesetzestafeln in der eroberten Felsenburg Silo zwischen Jordan und Meer auf und geben sich damit einen Mittelpunkt, zu dem die Gedanken im einsamen Gebet wandern können. Eingsum siedeln die zwölf Stämme. Im fruchtbaren Westteil entfaltet sich bald eine reiche Ackerkultur; die Wanderer aus der Wüste werden als Bauern seßhaft. Sie bauen Weizen, Hirse und Hanf, pflegen Weingärten, öl- und Feigenbäume in Hainen und übernehmen die handwerklichen Fertigkeiten der Phöniker. Die Vornehmen errichten steinerne Häuser und Paläste — aber auch das gemauerte Haus bleibt ein Abbild des Wüstenzeltes, ein fensterloses, mit dem Gesicht nach innen gewandtes Gebäude. Im Osten, am Rand der dürren Steppen, wohnen die Hirten, Jäger und Viehzüchter aus den Stämmen Rüben, Gad, Manasse und Dan. Durch die Verschiedenheit der Landschaft und der Daseinsverhältnisse lebt sich das Volk bald auseinander. Die Einsamkeit der Wüste, der Druck Ägyptens haben die Furchtsamen unter das schützende und vereinende Dach des Gesetzes, in die bergende Mauer des Gottesglaubens geführt. Nun leben sie in Überfluß und Sattheit im Land der Verheißung und vergessen die Lehren, die ihnen Moses in der Sinaiwüste gegeben hat. Heidnische Gebräuche der neuen Umwelt vermischen sich mit dem reinen, über so viele Jahrhunderte erhaltenen Väterglauben. Neben dem Heiligtum zu Silo entstehen Opferstätten in Bethel und Rama; Jahwe muß die Verehrung seines Volkes mit Götzen babylonischen und phönikischen Ursprungs teilen. Um Sichern bildet sich ein Bund von Städten, die gemeinsam dem Baal — dem blutigen Moloch der Phöniker — einen Tempel bauen. Es gibt keinen obersten Richter und Patriarchen mehr, der das Volk in Zucht halten könnte; die Stämme sind der väterlichen Herrschaft aus Abrahams Tagen entwachsen 41
und haben noch keine neue Form gefunden. Sie geraten untereinander in Streit, um eines angeblichen Frevels willen wird der Stamm Benjamin von den übrigen Israeliten beinahe ausgerottet. Es wüten fortdauernde, greuelvolle Kämpfe mit den Nachbarvölkern, den Moabitern, Madianitern, Amalekitern und Philistern. In dieser Verfallszeit treten, wie stets, wenn sich Gefahren am Horizont Israels ballen, Propheten und Helden auf. Unaufhaltsam stürzt der Stern des Volkes wie ein fallendes Meteor das Himmelsgewölbe hinab. Die in eine Schlacht mitgeführte Bundeslade fällt in die Hände der Philister; Samson, Israels Volksheld und Vorkämpfer, endet als Geblendeter in Gefangenschaft. In tiefer Not fristen die besiegten Stämme Israels ihr Dasein. Im Lande bleibt nicht einmal genug Eisen, um die Pflüge auszubessern, denn die Sieger führten die Schmiede und alle Eisenwaren fort, um die Ohnmacht der Geschlagenen zu verewigen. Das Elend bringt das Volk zu seinem Gott zurück. Einige Stämme wählen gemeinsam den frommen und tapferen Richter Samuel zum Anführer und ziehen unter seiner Führung gegen die Philister. Israel begreift, daß es einig sein müsse, um inmitten feindlicher Nachbarn bestehen zu können. Nach Samuels ersten Siegen fordert das Heer in gemeinsamem Entschluß: „Wir wollen sein wie andere Völker, wir wollen einen König haben!" 1 3 Die Antwort Samuels, der für den Glauben der Väter fürchtet, ist: „Der H E R R wird König sein in Ewigkeit!" Aber schließlich beugt auch er sich dem Willen des Volkes und salbt Saul, den tapfersten Mann des Stammes Benjamin um das Jahr 1000 zum König von Israel. Saul erfüllt zwar alle militärischen Hoffnungen der Stämme, aber auch Samuels Furcht wird Wahrheit. Königswürde und Erfolg machen den Volksherrscher stolz und hoffärtig, „er vergaß Jahwes" und „wurde hochmütig vor seinem Volke". Da entsteht im Lager Samuels eine Gegenbewegung. David aus Bethlehem, den König Saul gefördert und mit einer seiner Töchter verheiratet hat, wird heimlicher Mittelpunkt der Verschwörung. 42
Als es zum offenen Konflikt kommt, flieht David zu den Erbfeinden, den Philistern. Mit ihnen im Bunde kehrt er wieder, stürzt Saul vom Thron und wird, zunächst als Statthalter der Philister, König von Israel. Mit großem Geschick beginnt er, den Staat aufzubauen. Seine erste Aufgabe ist die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit. Zu diesem Zwecke schafft er sich einen uneinnehmbaren Herrschersitz, eine neue Herzkammer Israels. Er gibt die alte Burg bei Hebron auf und baut ein altes Felsennest der Amoriter •— Jerusalem — zur Kesidenz aus. Kaum ist die zwischen tiefeingeschnittenen Felsentälern hochaufragende Stadtburg befestigt, als die Auseinandersetzung mit den ehemaligen Bundesgenossen, den Philistern, unvermeidlich wird. „Da fragt David wieder den Herrn; und der Herr antwortete: ,Auf, zieh hinab gen Kegila, denn ich will die Philister in deine Hände geben.' Also zog David samt seinen Männern gen Kegila und stritt wider die Philister und trieb ihnen das Vieh weg und kämpfte eine große Schlacht gegen sie..." Eins mit seinem Gotte, wird Israel von der Woge religiöser und nationaler Begeisterung wie ein Sturmwind über das feindliche Land, hingetragen. Bis Damaskus fliegen die Feldzeichen Davids, die Scharen Israels jubeln: „Saul hat Taudende erschlagen, David aber Zehntausend!" Der gesunkene Stern des Volkes ist wieder zum Zenit emporgestiegen, der neue Staat gibt sich eine feste Stätte, um die sein künftiges Leben wie ein Garten am Haus erblühen soll. Dreihundert Jahre nach der Einwanderung in Kanaan bauen die Israeliten ein steinernes Heiligtum, dessen Grundriß dem Tempelzelt der Wüstentage nachgebildet ist und das auf dem königlichen Felsen Jerusalems stehen soll. Zu Füßen des Tempels entstehen Paläste, städtische Straßen und Wasseranlagen; feste Mauern und Türme gürten die „hochgebaute Stadt". Auf Felsgrund gegenüber dem Tempel errichtet David den Königspalast. *
Im Monat „Tischri", im Oktober, feiert Israel zur Erinnerung an Gottes wunderbaren Schutz während der Wüstenwanderung das Laubhüttenfest. Es ist zugleich Erntedank 43
und Gedächtnis an jene Vorzeit, in der es keine Ernten und keinen Überfluß, aber genug Hunger und Durst gegeben hat. Denn das Volk will nicht vergessen, daß es aus steinerner Einöde gekommen, daß sein Weg durch die Schluchten nackter Gebirge, durch versengende Sandmeere unter heißestem Himmel und durch die Armut toter Steppen geführt hat. Einmal im Jahre steigen die Menschen aus der weißen Pracht Jerusalems in die Tiefen der Vergangenheit, um sich Kraft aus der mütterlichen Erde zu holen, um noch einmal die Gefühle der Voreltern zu erleben, die Gedanken der Wüstenwanderer zu ahnen. Dann wohnt Israel eine Woche lang zu Füßen der ragenden Davidsburg in den Schluchten des Kedrontales unter primitiven Laubhütten, um am siebenten Tage — dem „Fest der Gesetzesfreude" — in langen Prozessionen aus den Tälern empor zum Felsen Davids und zu seinem strahlenden Tempel zu steigen. Die schreckliche Einsamkeit der Wüste hat das Herz der Tausende angerührt und ihnen zwischen den Mauern der Furcht die schmale Pforte gezeigt, die zur Sicherheit in Gott führt. Jahwe ist der Fels, zu dem alle Gedanken streben, um den sich Schicksal und Geschichte dieses kleinen, sich von allen anderen Völkern scheidenden Stammes bewegen. Israel bringt weder eine wissenschaftliche Literatur gleich Babylon noch Werte der bildenden Kunst wie Ägypten hervor; all seine Lebenskraft strömt zu Gott und findet entsprechend, seiner rein geistigen Gestalt den höchsten Wesensausdruck in Epen, die von IHM erzählen, in Hymnen, die zu SEINEM Preise gesungen werden. Befreit aus der düsteren Enge der Schluchten, zieht die Menge, Palmwedel schwingend, durch die Tore der heiligen Stadt Jerusalem, vorüber an den stattlichen Häusern der Reichen zum Goldenen Tempeltor, vor dem die kretischen Lanzenträger stehen. Fremde aus allen Ländern drängen sich in dem ersten ummauerten Vorhof, der mit seinen Lasttieren, Warenlagern und Viehherden einem riesigen Markte gleicht. Die Angehörigen des auserwählten Volkes streben von diesem Vorplatz zu'einem zweiten, aus Zedernholz gefügten Tor und in den nächsten, von Säulengängen umgebenen Hof, über dem eine feierliche, weihevolle Simmung liegt. 44
Männer des Priesterstammes Levi schreiten in weißen Gewändern, mit Turbanen, die unterm Kinn verknüpft sind, über den Platz, auf dem sich um einzelne wundertätige Rabbis14 die Menge gesammelt hat, um zuzusehen, wie den Kranken und Besessenen die bösen Geister ausgetrieben werden. Im „Hof der Leviten" wird Öl für die Tempellampen bereitet, Räucherwerk gemischt und als Zeichen des Erntedanks Schaubrot aus ungesäuertem Teig auf lange, geschmückte Tische gelegt. Die Rabbis sind in blendend weißes Linnen gekleidet. Die Gürtel, die die Fülle des Tuches raffen und zusammenfassen, zeigen die vier Farben des Heiligen Zeltes: Weiß, Blau, Rot und Stahlblau. Die Gruppe der Rabbis darf in den innersten Hof eintreten, wo sich das hohe, fensterlose Heiligtum erhebt. Aber auch ihnen setzt die fromme Scheu eine Grenze, sie müssen in der Vorhalle bleiben, wo es ihnen obliegt, das heilige Gerät zu ordnen. Sie füllen die Lampen nach, reinigen den siebenarmigen Leuchter und legen neue Schaubrote auf. Einer der Priester entzündet das Räucherwerk am Altar, duftende, weiße Schwaden schweben zum purpurnen Vorhang des Allerheiligsten auf. Vor den Türen des Tempelhauses stehen Priester, die Kanaans sinnbildliche Pflanzen in den Händen tragen, Paradiesapfelranken, Palmenwedel, Myrthen und Bachweidenzweige. Auf dem Vorhof schmettern die silbernen Trompeten der Leviten, der Hohe Priester naht in feierlichem Aufzuge. Einen Augenblick verharrt er unter dem Tor zum Tempelhaus ; das Gewand aus dunkelblauem Byssusleinen ist mit goldenen Glöckchen behängt, sein Oberkleid goldgewirkt und auf den Schultern mit zwei großen Edelsteinen zusammengehalten. Auf der Brust glitzert ein Schild, das in Gold und Edelsteinen die zwölf Namen der Stämme Israels zeigt; die dunkelblaue, in einer Goldplatte endende Stirnbinde trägt in hebräischen Lettern die Worte „HEILIG DEM HERRN". Langsamen Schrittes durchquert er den Hof und die Vorhalle des Heiligtums, um allein und als einziger von allen Israeliten in die innerste Kammer, das Allerheiligste, einzutreten. Während der Hohe Priester Zwiesprache mit dem HERRN hält, erscheinen unter den zahlreichen Säulen45
toren der äußeren Höfe die weißen Gestalten der Rabbis. Sie entrollen die Gesetzbücher, um nach altem Brauch dem Volke die Leviten zu lesen, Erinnerung an die Gesetze, auf deren Kenntnis und Einhaltung die Wohlfahrt des Staates ruht. Nach Beendigung der Lesung erdröhnen Trompeten, das Volk sinkt in die Knie. Aus dem Hof der Leviten steigt Weihrauch, man sieht durch die offenen Tore, wie der Hohe Priester am großen Altar ein Tieropfer darbringt. Kurz darauf erscheint er inmitten von Rabbis und Priestern, begleitet vom König und seinem Gefolge und verkündet dem Volke, daß der Alte Bund mit Jahwe erneuert ist. Israel ruht versöhnt im Arm seines Gottes. * Noch einen Schritt näher zum Glück führt der Weg des Volkes. Unter Davids Nachfolger Salomo blühen Handel, Gewerbe und Handwerk. Die reichen Hafenstädte Sidon und Tyrus verschiffen die Waren Israels übers Meer und bringen Schätze aus allen Himmelsgegenden. Es ist die Zeit, in der Ägypten unter den letzten Ramseskönigen in Verwirrung und Bürgerkrieg verfällt, in der Libyerfürsten, Priester, Abenteurer und Parteiführer sich um den Pharaonenthron streiten. Die reichen Handelsherren Phönikiens nutzen die Wirren aus, auch den Handel der einstigen Weltmacht am Nil an sich zu bringen und ihren Einfluß auf die reichen Südländer auszudehnen. Zusammen mit Hiram von Tyrus rüstet König Salomo eine Expedition in das Goldland „Ophir" und sendet Schiffe in das Weihrauchland „Punt", nach Arabien, Ostafrika und an ferne unbekannte Küsten. „Alle Trinkgefäße des Königs Salomo waren gülden und alle Gefäße im Haus ,vom Walde Libanon' waren aus lauter Gold; denn das Silber achtete man zu Zeiten Salomos nicht. Die Meerschiffe des Königs, die auf der See mit der Flotte Hirams fuhren, kamen in drei Jahren wieder und brachten Gold, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen.. ,"16 Auf den grünen Höhen des Libanongebirges klingen die Äxte der Holzfäller, riesige Zedern brechen unter ihrem Schlag; von fernen Wüstenbergen rollen Marmor und Urgestein zum Bauplatz auf dem Felsen Jerusalems. Prächtiger und größer als unter David wächst der Neue Tempel. 46
Und doch vergißt Salomo in seinem Märchenpalast über der „hochgebauten Stadt" nicht den Urquell israelitischen Lebens, Jahwe, den einzigen Gott. Wie sein Vater David schlägt er die Harfe: „Wo der Herr nicht sein Haus bauet, Da arbeiten umsonst, die daran bauen. Wo der Herr nicht die Stadt behütet, Da wachet umsonst der Wächter..." Die Zeit der Blüte aber trägt in sich den Keim zum Verfall. Der Bau des großartigen Tempels und die prunkvolle Hofhaltung haben ungeheure Summen verschlungen, die Steuer liegt drückend auf dem Volk. Die Ältesten der Stämme treten zusammen und beschließen, von Salomos Sohn, dem König Rehabeam, Aufhebung der unerträglichen Lasten zu fordern; als sich der hochfahrende Fürst dem Ansinnen verschließt, rufen sie zum Bürgerkrieg auf. Die verlustreichen Kämpfe enden mit der Spaltung des Volkes. Zehn von den zwölf Stämmen schließen sich im Norden Palästinas als Königreich Israel um die Städte Samaria und Sichern zusammen; im Süden bleibt Juda mit Jerusalem als Mittelpunkt den alten Königen treu. Losgelöst vom religiösen Zentrum, verlieren die Herren des größeren Nordstaates bald die lebendige Verbindung mit dem Herzen des israelitischen Lebens. Sie nehmen Frauen aus den benachbarten Völkern, reiche Tyrenerinnen oder Sidonierinnen, durch die bald auch der Kult des phönikischen Molochs ins Land einzieht. Überall werden Opferstätten und Bildwerke der Heidengötter errichtet. Dunkle Tage liegen über dem Land der Verheißung. Haß und Krieg zwischen den beiden israelitischen Staaten nehmen kein Ende. In diese Wirrnis hinein stößt der erste der ringsum drohenden Gegner, ein ägyptisches Heer, das den Tempel Salomos ausraubt (um 930 v.Chr.). An allen Horizonten türmen die Großstaaten ihre Machtpyramiden, alle Himmelsgegenden dröhnen vom Erz der Waffen. Wie eine ansteigende Sturmflut erhebt sich aus den Bergländern Mesopotamiens die neue assyrische Herrschaft und schickt ihre Ausläufer bereits an die Küste des Mittelmeers. Das zerrüttete Ägypten muß den assyrischen Gewaltherren weichen, auch in die palästinensischen Positionen rücken assyrischer Einfluß und assyrische Oberhoheit vor. * 47
Die Glut des Tages ist gebrochen, das flimmernde Gold des Sonnenlichts verblaßt, seidig und abendlich milde spannt sich die Luft über Jerusalem. In dieser Stunde zwischen Tag und Dämmerung sind die Straßen besonders belebt. Die Handwerker sitzen vor ihren viereckigen, fensterlosen Häusern, hämmern, nähen und weben und unterhalten sich quer über die enge Gasse; ein Strom von Käufern, Gaffern und Bummlern bewegt sich bergauf und bergab durch die heilige Stadt. Nahe dem Siloahteich, im Schatten der Davidsburg, staut sich die Menge. Hier in der Unterstadt wohnen die kleinen Handwerker, die Taglöhner und Besitzer der winzigen Gärten, die jenseits der mächtigen Mauern und des steilabfallenden Kedrontales auf dem „Berg des Ärgernisses" terrassenförmig angelegt sind. Die schattigen 01haine und Parklandschaften nördlich davon und gegenüber dem Tempelbau sind im Besitz der Reichen und Priester. In der volkreichen Gerbergasse drängen sich die Männer und hören dem asketisch hageren Redner zu, der von dem flachen Dach eines niedrigen Hauses in leidenschaftlichen Worten zu der Menge spricht. In einfachen, langwallenden Leinengewändern, die meisten ungegürtet, sind die Leute von ihren Werkplätzen und Verkaufsräumen gekommen. Viele tragen die Zeichen ihres Berufes hinter dem Ohr, der Wechsler eine kleine Münze, der Färber ein Stoffmuster, der Schreiber eine Feder und der Gerber einen Lederstreif. Der Sprecher, der die Aufmerksamkeit der Menschen gebannt hält, ist einer jener Propheten, wie sie manchmal im Volke auftreten, Männer, die, von Jahwes Geist angerührt, in die Einsamkeit der Wüste oder der Gebirge gehen, um dort die Stimme vom anderen Ufer des Lebens zu hören. Aus der großen Stille kommen sie wieder in die Städte, den Söhnen und Töchtern ihres Volkes zu predigen und ihre Seele zu Gott zu rufen. Am Jordan hat Arnos von Tekoa, ein Schäfer, mit feurigen Zungen gepredigt; auch aus dem Nordreich Israel dringt die Kunde, daß Propheten und Warner aufgetreten sind. Der Mann, der dort oben vom Dach des kleinen Hauses predigt, hat viele Anhänger in Jerusalem. Es ist Isaias, der Büßer und Gesandte Gottes. Erregt hängen die Augen der Menge an dem Propheten, der von seiner Berufung spricht. 48
„Ich sah den Herrn auf einem hohen Throne sitzen, und seine Schleppe füllte den ganzen Tempel aus. Seraphim standen um ihn her, jeder hatte sechs Flügel : mit zweien deckte er sein Angesicht, mit zweien seine Füße und mit zweien flog er. Sie riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen; die ganze Erde ist voll von seiner Herrlichkeit! Und es bebte die Schwelle der Tür bei dem lauten Euf. Da sprach ich: ,Wehe mir, denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volke mit unreinen Lippen!' Da flog zu mir einer der Seraphim mit einem Glühstein in der Hand; mit der Zange hatte er ihn vom Altar genommen. Und er rührte ihn an meinen Mund und sprach: .Siehe, deine Sünden sind hinweggenommen!' Und der Herr sprach: ,Wen soll ich zu diesem Volke senden V Ich sagte: ,Herr, hier bin ich: sende mich!' Er sprach: ,Gehe hin!'..." 16 Dann kniet Isaias nieder und spricht mit erhobenen Händen feierlich das Gebet, dessen Worte von der Menge ergriffen wiederholt werden. „Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter. Gott ist mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Hort meines Heils, Mein Schutz und meine Zuflucht, mein Heiland, der du mich bewahrst vor dem Frevel."17 Die Masse der Zuhörer zerstreut sich und wandelt diskutierend zum Siloahteich, wo um diese Zeit Kühlung und Unterhaltung zu finden sind. Ein Rabbi im braunweiß gestreiften Mantel tritt auf Isaias zu und begrüßt ihn ehrerbietig. „Ich bin Rabbi Joram ben Dossa", sagt er, „wenn dir mein Haus würdig erscheint, so lade ich dich zum Mahl." Isaias blickt den Fremden aus durchdringenden Augen an und gibt dann durch Neigen des Hauptes seine Zustimmung. Der Rabbi und der Prophet gehen durch das Straßengewirr der Stadt, sie steigen die Stufenwege zur Oberstadt hinauf, durch Bogen und Überdachungen und gelangen in das Viertel der Vornehmen. 49
Das Haus des Eabbi Joram ist ein großer, viereckiger Würfel, aus Felsstein und Mörtel gefügt und mit Verputz geglättet. Nur eine niedrige Tür öffnet sich zur Straße, kein Fenster läßt Licht eindringen. Aus dem durch öllämpchen erleuchteten Kaum hinter der Eingangspforte tönt der gleichmäßige Gesang der Frauen, die auf Handmühlen das Korn mahlen. Beim Eintritt des Rabbi und seines Gastes ziehen sich die Weiber und Kinder zurück und überlassen das schlichte, mit Teppichen behangene Zimmer den beiden Männern. Auf hölzernen Wandborden stehen Krüge und Schüsseln aus Kupfer und Zinn. In diesem frommen Hause wird nie ein Tongeschirr verwendet, da es nach den Regeln der Schrift als unrein gilt. Auf dem großen, umgestürzten Scheffel, der zugleich als Tisch dient, flackert die Lampe; im Nebenzimmer klappern die Frauen geschäftig mit Geschirr, zwei Dienerinnen schleppen Kissen herbei, um den Männern neben dem Scheffel ein bequemes Lager zu bereiten. Isaias, der Jahre unter dem freien Sternenhimmel der Berge genächtigt hat, schlägt vor, sich auf das Dach zu begeben. Über eine schmale Leiter steigen sie hinauf und betreten durch eine Luke das flache Dach. Schon hat sich die Dämmerung ausgebreitet, blaues Halblicht liegt wie ein Schleier über dem Häusermeer der Stadt. Nur im Nordosten auf dem Felsenplateau glüht der weiße Stein des Tempels im rötlichen Widerschein der sinkenden Sonne, die vergoldeten Dachziegel des Allerheiligsten blitzen. Auch auf den Dächern der Nachbarhäuser haben sich essende und plaudernde Gruppen niedergelassen. Allmählich zieht sich das Leben von den Gassen in die Häuser zurück, Stille und Friede kehren in Jerusalem ein. Noch haben die Männer kaum mehr als Worte der Höflichkeit gewechselt. Eine Dienerin erscheint, kniet nieder und bietet dem Gast ein kupfernes Becken mit duftendem Wasser, damit er sich vor Beginn des Essens die rechte Hand wasche, mit der die Speisen berührt werden. Eine zweite Magd bereitet ein Fußbad und sprengt duftendes öl auf die Kissen. Vor der Mahlzeit betet der Rabbi, Isaias verschränkt wortlos die Arme vor der Brust. Sie rücken näher an das niedere Tischchen heran, stützen sich mit dem linken Ellenbogen auf die Platte und ver50
wenden die Rechte zum Essen. Zuerst wird „Kikkar", das dünne, fladenartige Brot gereicht, das in Stücke gebrochen und zu den übrigen Speisen verzehrt wird. Der Rabbi bietet eine ansehnliche Speisenfolge, wie sie in den wohlhabenden Häusern üblich geworden ist. In kleinen Schalen werden geröstete Getreidekörner, Linsen mit Lammfleisch, später auch Milch und Honig, Käse und Trauben, Feigen und Paradiesäpfel angeboten. In den kelchartigen Bechern duftet der schwere, süße Wein. Aber der Prophet nimmt nur Brot und Milch, er verschmäht die lockenden Gerichte, und auch sein Gastgeber ist gezwungen, die Mahlzeit rascher als sonst zu beenden. Das Gebet ist verrichtet und der Tisch abgeräumt, Rabbi Joram wendet sich an seinen Besucher. Es ist Nacht geworden, das Leuchten des Tempels ist erloschen, ein silberner Sternenbogen spannt sich über die ruhende Stadt. „Heiliger", sagt der Rabbi, „ich hatte einen seltsamen Traum: mein Haus strahlte auf wie ein Rubin, übergoß alles ringsum mit seinem Licht und erlosch jählings, so daß tiefere Nacht war, als ich jemals eine gesehen." Das Gesicht des Propheten wird abweisend, die zwingenden Augen sind halt geschlossen. „Hast du mich hergeholt, um eine Auslegung zu hören? Es gibt zweimal zwölf Traumdeuter in der Stadt; als gelehrter Rabbi dürfte dir das Buch ,Sefer Ruot' König Salomos mit seinen Sprüchen und Deutungen bekannt sein. Wozu also bedarfst du dessen, den der Herr zu anderem Zwecke gesandt hat?" Rabbi Joram nimmt die Zurechtweisung ohne Ärger und ohne Verteidigung entgegen. Er nickt gedankenvoll. „Ich habe mir den Traum selber gedeutet, Heiliger. Vielleicht sah ich Israel, wie es seit Salomos Zeit geworden ist — alles überstrahlend durch seine Gottesgewißheit und in tiefere Nacht als alle anderen Völker stürzend, als es seines Herrn vergaß." Der Rabbi wendet mit der Erzählung seines Traumes das Gespräch auf die Auseinandersetzung über das wahrhaft Bewegende, über das Schicksal des Volkes, das wie ein Berg der Sorge auf allen Wohlgesinnten lastet. „Rabbi", beginnt Isaias, „unser Volk steht an einem Scheideweg. Es war auserwählt vor allen Menschen, weil es als einziges den körperlosen, alleserfüllenden und geistigen Gott erkannte. Aber dieses Wissen, das wie eine Brand51
fackel Israels ganzes Dasein und Schicksal erfaßte, schied es zugleich von der übrigen Menschheit. Solange das Volk in der Gewißheit der Erwählung, in der Sicherheit seines Gottes durch das Gestrüpp des Hasses, der Mißgunst und der Gewalt dahinschritt, war es unzerstörbar; denn es gibt wohl eine irdische Macht, die Tempel und Altäre vertilgen kann, aber es gibt keine Gewalt dieser Erde, die den Geist zu töten vermag. Da Israel seinem Gotte untreu wurde, ist es weniger als alle anderen Völker, denn ihm erlosch das Licht der Unsterblichkeit, und es taumelte hilflos im gefahrvollen Dunkel der diesseitigen Welt, in der es nur ein kleiner, schwacher und freundeloser Haufe von Menschen ist. „Höre Himmel, lausche Erde; denn der Herr spricht: Söhne habe ich großgezogen, sie aber haben mich verachtet! Es kennt der Ochs seinen Besitzer, der Esel seine Krippe; Israel aber kennt mich nicht, mein Volk hat keinen Verstand! Wehe dem sündigen Volk! Verlassen hat es den Herrn, es kehrt ihm den Rücken. ." 18 „Ich habe über die Ursachen unseres Verfalls, über die Wurzeln des Unglaubens und der Abwendung von Gott nachgedacht", antwortet der Rabbi leise. „Siehe, es ist die Stimme der Welt, die das stille Wort Gottes übertönt hat. Das Volk gehorcht der überzeugenden Sprache der Tatsachen; es weiß nichts von jener höheren Wirklichkeit, die jenseits des Sichtbaren beginnt. In den alten Tagen, als sich unser Gott mächtiger erwiesen hatte als die Götzen Ägyptens, als uns der Herr aus der Gefangenschaft fortführte und uns durch Wüsten, Feinde und Gefahren ins gelobte Land leitete, da war die Macht und damit das Dasein Gottes allen Menschen offenbar. Wir bezwangen die Anhänger des Moloch und Baal; die Götter Babylons und Assurs waren ferne und hatten keine Gewalt über das Haus des Einzigen, das uns der siegreiche David, der glanzvolle Salomo gebaut hatten. Die Masse glaubte an die Macht. Jetzt aber, da die Völker mit den steinernen Götzen, den flatternden Dämonenbannern und blutigen Altären über Israel zu triumphieren scheinen, sagen die Wankelmütigen und Kleingläubigen, daß die höllischen Gespenster Babylons, Ninives und Sidons auch den Gott unserer Väter besiegt hätten, daß der Herr seine Macht verloren habe. Und aus diesem Grunde brennen in Samaria und Sichern 52
r die Opferfeuer vor Götzenbildern, darum werfen sich viele den weltlichen Freuden als dem einzig Gewissen in die Arme, und darum sind Einheit und Kraft unseres Volkes gebrochen." Der Prophet springt von seinem Lager auf, er tritt an die Brüstung des Daches, seine Augen glühen im Widerschein des Lichtes. Heiser ist seine Stimme und die Worte wie der Gluthauch, den die Wüste ausatmet. „Du nennst die Ursachen, Rabbi, sage den Kleinmütigen : Seht, Gott selber kommt und rettet euch! Dann werden aufgetan den Blinden die Augen, der Tauben Ohren tun sich auf; dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und des Stummen Zunge löset sich..." 19 Ruhe kehrt in das Antlitz des Sehers zurück, seine Glieder lösen sich, und er sinkt in die Kissen. „Ich sprach davon, Rabbi, daß Israel an einer Wende seiner Geschichte steht. Die Anschauung vom alten, zürnenden Rachegott ist verweht. Aus den Schleiern menschlicher Gedanken löst sich die höhere Klarheit des größeren Gottes. Jener Gott, zu dem das Volk in den Wandertagen betete, der in Sturm und Blitz sich zu erkennen gab, war ein Vater der Isrealiten und ein Vernichter für ihre Feinde — er war nur unser Gott. Aus der gesprengten Schale dieser alten Anschauung steigt der wahre Geist des Alls empor, jener Herr, der über allen Menschen als Schöpfer, Herrscher und Vater sitzt. Das Weltgesetz ist mehr als der parteiische, egoistische Gott eines kleinen Volkes. Darum sage ich, Rabbi: Jahwe hat Assyrien gerufen, damit es uns züchtige für unsere Sünden! Gott selber ist es, der die Ägypter, die Babylonier herbeiführt, sein Volk mit Geißeln und Dornen auf den rechten Pfad seiner großen Mission an der Menschheit zu führen." Lange schweigt Joram ben Dossa. Die Nacht ist weich und tief, aus ihren offenen Pforten strömen Gesichte und Gedanken. Es ist dem Rabbi, als schaue er von zeitlosem Gipfel über die kommenden Jahrtausende. Alles wird weit entrückt und klein vor dem Abstand der Zeit, nur noch das Wesentliche ist geblieben, vergangen sind all die heißen Gefühle, die brennenden Sehnsüchte und leidvollen Schicksale der ungezählten Menschenströme. 53
Wo wird das heute schon schwankende Ägypterreich sein? Was wird von Babylons Größe bleiben? Und worin wird Israels Aufgabe bestanden haben? Es ist, als lese der Prophet in der Seele seines Gastgebers. Ohne daß der Gelehrte ein Wort von seinen Empfindungen verraten hätte, erhält er aus Isaias Mund Antwort und Deutung. „Jahrtausende werden kommen und gehen, Rabbi. Verödet liegen die Felsentempel Ägyptens, die Pyramiden stehen einsam im Sande der Wüste, andere Menschen werden im Niltal wohnen, und sie werden sich Ägypter nennen, ohne von der Größe ihrer Vorfahren zu wissen. Zerfallen werden die Stufenpyramiden und Paläste Babylons, der Pflug oder der Schritt des Kamels werden über die Stätten gehen, auf denen die Städte am Euphrat und Tigris ragen. Auch Israels Tempel wird verödet stehen, und ein neues Menschengeschlecht herrscht in der kommenden Welt. Aber nicht den Untergang will der Herr, er will das Leben! Denn Gott ist das Wesen aller ewigen Dinge. Wie sich die Angst vor dem Tode im felsenumsäumten Niltal zur Verewigung im Stein geflüchtet hat, wie Babylons Weisheit, seine magische Lehre und große Wissenschaft das rettende Gestade der Unsterblichkeit für die Völker Mesopotamiens sind, so scharte sich Israel in der Todesfurcht seines Herzens um den geistigen Gott. Denn auch darin erweist sich die allumfassende Macht des Herrn, daß er sich in vieler Gestalt offenbart und doch nur Einer ist. # In die Zukunft aber wird eingehen, was ewig ist: Ägyptens Künste, Babylons Wissenschaft und Israels Erkenntnis des einzigen Gottes." Ergriffen schweigt der Rabbi. Er denkt an das Wort eines anderen Sehers, das die Runde im Lande macht: „Am Ende der Tage wird der Berg des Herrn sich erheben über alle Berge und zu ihm strömen alle Nationen!" Wie eine Antwort aus ferner Zukunft klingt Isaias Stimme: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären; nennen wird man ihn Emmanuel — mit uns ist Gott! Und alle Völker werden zu ihm beten..." 20 * 54
Das unerbittliche Gesetz des Wellenschlages der Völker, das jedem Berg ein Tal folgen läßt, ereilt den Nordstaat Israel zuerst. Nach inneren Unruhen rückt der Assyrerkönig ins Land und erstürmt nach dreieinhalb jähriger Belagerung die feste Stadt Samaria (721 v. Chr.). Die gefürchtete Methode des siegreichen Assyrien, sich gegen künftige Rache der Besiegten zu sichern, wird nun auch gegen die Israeliten angewandt. Der König von Samaria und die Masse seiner Untertanen müssen den Marsch in die Weiten des Ostens antreten. Fremde Siedler nehmen das Land in Besitz. Von Samaria aus rollt die Lawine des assyrischen Heeres südwärts gegen Jerusalem und das Reich Juda. Doch noch einmal geht das Strafgericht an der Stadt Davids vorüber. Ausbrechende Seuchen veranlassen den Assyrerkönig Sanherib, die Belagerung abzubrechen. Für kurze Zeit kehrt das Volk, von seinen Propheten aufgerufen, zum Gott der Väter zurück. Ein Jahrhundert später ist die Stunde Assyriens gekommen. Der Koloß auf tönernen Füßen stürzt in dröhnendem Fall in sich zusammen, die Unterdrückten und Besiegten erheben sich gegen die Nachfolger Assurbanipals. Ägypten, Babylon und die aus den iranischen Bergen vordringenden neuen Völker verbünden sich gegen die Zwingmacht Assur. Nach der Erstürmung Ninives brechen Kämpfe unter den Siegern aus. Die Könige Judas schlagen sich auf die verlierende Seite. Sie stehen dem ägyptischen Pharao Necho gegen König Nebukadnezar von Neubabylon bei, werden besiegt und zur Tributzahlung an Babylon gezwungen. Als sie sich im Vertrauen auf ägyptische Hilfe nochmals erheben, ist das Schicksal Judas reif geworden. Nebukadnezar verbrennt Stadt und Tempel Salomos, das Volk aber muß in die „Babylonische Gefangenschaft" wandern (587 v. Chr.). „An Babels Strömen — da saßen wir und weinten, wenn wir an Sion dachten. An Weiden, die dort waren, hängten wir unsere Harfen auf. Denn die uns gefangen hinweggeführt, begehren dort von uns Gesänge; Die uns geraubt, verlangten Jubellieder: ,0 singet uns ein Lied von Sion!' 55
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,Wie können wir ein Lied des Herrn in fremdem Lande singen?' Vergeß ich dein, Jerusalem, so möge meine Rechte der Vergessenheit verfallen! Es klebt meine Zunge mir am Gaumen, wenn ich dein nicht gedenke, Wenn ich nicht Jerusalem machte zu meiner höchsten Freude! 2 1 " Das Unglück wirkt wie läuterndes Feuer auf den Geist Israels. Das Volk besinnt sich und erkennt, daß Jahwe nicht der allem anderen feindliche, parteiische Gott Israels, sondern der wahre und einzige Gott der Menschheit ist. Aufgeschlossener als zuvor, beginnt es, von der Fremde zu lernen und in die Schule altbabylonischer Weisheit zu gehen. An den Ufern des Euphrat schreiben die gelehrten Rabbis die Geschichte des Volkes; sie sehen in der Not der Gegenwart ein verdientes göttliches Gericht. In Läuterung und neugewonnener Frömmigkeit kehrt die Hoffnung auf Befreiung in das Herz Israels zurück. Und nach einem Menschenalter leuchtet Jahwes Sonne wieder über den Stämmen des Alten Bundes, als die Katastrophe über das Neubabylonische Reich hereinbricht. Die Neuen Völker, die sich am Rande der ältesten Welt niedergelassen haben und nun mächtiger geworden sind, stürmen gegen die Grenzen der alten Reiche. Von den iranischen Gebirgen brechen die Panzerreiter der Perser unter ihrem Kriegskönig Kyrus zu Tal. Das Buch Esra enthält die Erlasse des Königs.. „Da sprach Kyrus der Perser: der Herr, der Gott vom Himmel, hat mir alle Königreiche in den Ländern gegeben, und er hat mir befohlen, ihm ein Haus zu bauen zu Jerusalem in Juda. Wer nun unter euch seines Volkes ist, mit dem sei Gott, und er ziehe hinauf gen Jerusalem und er baue am Haus seines Herrn, des Gottes in Israel. Und wer noch übrig ist an allen Orten, wo er als Fremdling lebt, dem mögen die Leute seines Wohnortes mit Silber und Gold helfen, ihm freiwillig Gut und Vieh beisteuern zum Wiederaufbau in Jerusalem.. . 2 2 " So kehrt Israel heim in das Land der Verheißung (538 v. Chr.).
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Hat Ägypten seine Ewigkeitssehnsucht in unzerstörbaren Stein geflüchtet, haben Babylon und Ninive sich den Wissenschaften ergeben, um der Vergänglichkeit zu entgehen, so erhebt Israel — einsam und verlassen inmitten einer feindlichen Umwelt — sein Herz zum Glauben an den einzigen Gott. Das Erbe der alten Kulturen: Kunst, Wissenschaft und religiöse Läuterung ist bereit für die heraufziehende Wanderbewegung junger Völker, die schon aus dem Norden unterwegs ist, um Besitz zu ergreifen von den schönen Küsten der Mittelmeerwelt. In Persien, im fernen Indien, am Ufer des Schwarzen Meeres und am Balkangebirge sind hellhäutige Bauernscharen erschienen und beginnen nun zu Land und zur See in die älteren Kulturbereiche einzubrechen. Die Indogermanen treten auf, nach der griechischen Inselwelt drängen die Vorfahren der Hellenen, auf der italischen Halbinsel tauchen die Urahnen der Römer und Italiker auf, und aus den inneriranischen Gebirgen brechen die Reitergeschwader der Perser herab in die paradiesischen Täler. Eine neue, verjüngte Welt kündigt sich an.
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BEGRIFFSERKLARUNGEN A m u l e t t (lat. „amuletum"), kleiner, am Körper getragener Weihegegenstand, der als Abwehrzauber dienen soll. Im alten Ägypten und im Euphrat- und Tigrisgebiet vielfach in Form von Halbedelsteinen, Schmuckstücken oder mit magischen Formeln beschriebenen Blättern. Bekannt ist das Amulatt des heiligen Skarabäuskäfers in Ägypten. A r c h ä o l o g i e (griech.), Altertumskunde, auch die Wissenschaft von der antiken Kunst, allgemein das gesamte Wissen um Sitten, Gesetze und Denkmäler des Altertums, soweit es aus Ausgrabungen, Bodenfunden und Baudenkmälern gewonnen wird. A s t r o n o m i e (griech., Sternenkunde), bei den Babyloniern seit etwa 2000 v. Chr. nachweisbare, mathematische Methoden zur _ Vorausberechnung der Himmelserscheinungen; die Ägypter vermochten etwa um dieselbe Zeit bereits die astronomischen Himmels Vorgänge für die Kalenderbestimmung zu berechnen. A s t r o l o g i e (griech., Sterndeutung), der aus ältesten Menschheitstagen stammende Glaube, daß alles Menschenschicksal von der Stellung der Gestirne abhänge und daß sich dieser Einfluß berechnen lasse. B a r b a r e n , nach dem sumerischen Wort für „Sonne"; die Sonnenvölker oder Arier. Die im Iran einwandernden Arier hatten als Symbol ihrer höchsten Gottheit das Sonnenrad und wurden darum von den Ureinwohnern als „SonnenVölker" bezeichnet. Später wandelte sich der Sinn des Wortes, man nannte alle Fremden und Unzivilisierten „Barbaren". Der Grieche und später auch der Römer verstand unter Barbaren alle NichtGriechen bzw. Nicht-Römer. D ä m o n (griech.), ursprünglich (bei Homer) die Bezeichnung eines Gottes, später für die unpersönlich wirkende Schicksalsmacht gebraucht. Die älteren Völker Mesopotamiens verstanden unter Dämonen Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen. Es gab gute und böse Dämonen und eine besondere Lehre von den Dämonen , die „Dämonologie". G e o m e t r i e (griech.), Erdmeßkunst. 58
H o r o s k o p (griech. „Stundenschau"), die astrologische Bezeichnung für die Berechnung der Geburtsstunde eines Menschen. H i e r o g l y p h e n (griech.), „heilige Einkerbungen", die Bilderschrift der Ägypter. Die Hieroglyphen enthalten etwa 600 gebräuchliche Bildzeichen: 1. Lautzeichen, 2. Wortzeichen, 3. erklärende Zeichen, die Irrtümer verhindern sollen. Sie wurden als volkstümlich vereinfachte Buchschrift und als „hieratische" Tempelgeheimschrift verwendet. Alle Hieroglyphen, selbst die Volksschrift, gerieten gegen Ende des Römerreiches (ca. 475 n. Chr.) in Vergessenheit. Die Entzifferung begann mit der 1799 erfolgten Auffindung der Inschrift von Rosette, die in drei Schriftgattungen und Sprachen (hieratische, volkstümliche Hieroglyphen und griechisch) abgefaßt war. Die endgültige Entzifferung erfolgte 1822 durch I. F. Champollion. K a r a w a n e (pers. „kärwan" = Kamelzug oder Reisegesellschaft), eine Reisegemeinschaft, die mehrere Pilger oder Kaufleute im Orient zum Zweck gegenseitiger Hilfeleistung bilden. K e i l s c h r i f t , eine uralte Schriftform Vorderasiens, die sich aus senkrechtem, waagerechtem und Winkelkeil zusammensetzt; sie wurde mit dem Grabstichel in weichen Ton gegraben. Viele Schriftdenkmäler wurden auf Tonzylindern gefunden. Die Entzifferung begann mit den Arbeiten des deutschen Gymnasiallehrers Grotefend, 1802—1815. K l e i d e r (zu dem Kapitel „Israel"): Das leinene Untergewand, Chalek, mit weiten Ärmeln, fiel bis zu den Füßen, das Obergewand, Talith, bestand aus zwei sackartig zusammengenähten Decken, die einem weiß-braun gestreiften Mantel glichen. Dieses Übergewand wurde durch einen Riemen oder Strick gegürtet. Männer und Frauen trugen den „Sudar", eine Art Turban, die Fußbekleidung waren Sandalen, aus Leder geflochten. Zum Schutz gegen streunende Hunde gingen die meisten Leute mit Stöcken aus. K o s m o s (griech., das Weltganze), Makrokosmos, die große Welt oder das All, Mikrokosmos, die kleine Welt, die Innenwelt des Menschen, der Mensch selbst. 59
K u l t u r (lat. „cultura" = Landbau, Bodenbearbeitung), fügt nach der Erklärung Alexander von Humboldts der äußeren Veredelung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Maß, im alten Israel vor Christus: 1 Bath = 10 Omer = 38 Liter, 1 Silberling = 3 Mark, 1 Talent (phönikisch) = ca. 4000 Mark. Mesopotamien (griech., Zwischenstromland, Zweistromland), später durch die Griechen eingeführte Bezeichnung für die Landschaft zwischen Euphrat und Tigris. Mythos (griech., Sage), die Ursagen der Völker, auch die vorgeschichtliche Überlieferung und das Urwissen. Obelisk (griech., „kleiner Spieß"), Bezeichnung für schlanke, hohe Monolithe (griech. „Einzelsteine") mit pyramidenförmiger Abdachung, meist mit Hieroglyphen bedeckt. Ophir, sagenhaftes Goldland, aus dem nach dem 1. Buch der Könige König Hiram von Tyrus und König Salomo ihre Schätze bezogen. Man vermutet, daß damit Ostafrika oder Südarabien gemeint ist. P a p y r u s (griech.), Schriftstück auf Papyrus-Schreibstoff, hergestellt aus dem Mark der schilfartigen Papyrus-Staude, die am Ufer des Nils wächst, einseitig auf waagerecht laufenden Streifen beschriftet. Zum Schreiben diente ein schräg geschnittener Rohrhalm. Erst im 5. Jh. n. Chr. endgültig vom Pergament verdrängt. P a t r i a r c h e n (griech.-lat., „Erzväter"), nach der Bibel die Urväter des Volkes Israel (Abraham, Isaak und Jakob). Rabbi (hebr. „rab" = Großer, Mächtiger; Rabbuni = Meister, Lehrer), Ehrentitel der Gesetzeskundigen, später höfische Anrede. R i t u s (lat. „Brauch"), festgelegte Form einer politischen oder religiösen Handlung. Zeremonie (spätlat. „ceremonia"), äußere Form der Ehrerbietung.
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ANMERKUNGEN ') Aus der Wandfläche nur wenig hervortretende oder in die Fläche vertiefte Figurendarstellungen, die aus dem Leben der Könige oder des Volkes berichten und sich oft über die ganze Wandbreite hinziehen; — 2) das Gilgamesch-Epos, aufgezeichnet um 2000 v. Chr., schildert die Wanderung und Läuterung des sagenhaften Königs Gilgamesch; es berichtet u. a. von einer großen Sintflut im Zwischenstromland; — s) als Urheimat der Semiten galt Arabien; sie verbreiteten sich in großen Wanderungen über den ganzen Vorderen Orient, über Ägypten und Abessinien; — l) um 2300 v. Chr., Begründer des ersten Großreiches der Geschichte; — 5) um 2600 v. Chr.; — e
) Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen, teils gute, teils böse Geister;
— ') siehe Begriffserklärungen; — 8) Texte auf babylonischen Tontafeln; — *) nach einem Relief aus Ninive; —
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) semitische Bewohner der Landschaft
Chaldäa am unteren Euphrat; sie standen später als Sterndeuter in hohem Ansehen; — ll) solche Figuren stehen heute im Britischen Museum in London; —
la
) nach einem babylonischen Tontafeltext; —
ls
) Psalm 145; —
") Rabbi = jüdischer Gesetzeslehrer; — ") Buch der Könige; — l e )Isaias; — ") aus dem Buch Samuel; —
18
) Isaias; — '•) Isaias; —
") Psalm 136; — *') nach dem Schriftgelehrten Esra.
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20
) Isaias; —
ZEITTAFEL Mesopotamien um 3000 v.Chr. entwickeln die Sumerer die bestehende bäuerliche Kultur zur 1. Hochkultur im Süden Mesopotamiens; ihre Herkunft ist nicht geklärt, ihre Sprache ist mit den ältesten bekannten Sprachen nicht verwandt. Entstehen der 1. Schrift, der Vorstufe zur Keilschrift (Uruk-Zeit), Priesterkönigtum. Die Kunst steht im Dienst der Religion. Später Trennung von Oberpriestertum und Königtum. Totenkult. Prächtige Tempeltürme, Wände verputzt oder mit Mosaik eingelegt, reiche Ausstattung mit Tierfiguren, Reliefs. Die Häuser sind einfach, aus Lehmziegeln gebaut. Die Töpferware ist auf der Scheibe gedreht. Im Ackerbau um 2500 v.Chr. gibt es den Pflug und den Wagen. um2300v.Chr. Sargon I., der semitische Begründer des 1. Weltreichs in der Geschichte, „Herrschaft der vier Himmelsgegenden". Die Sumerer unterliegen trotz ihrer kulturellen Überlegenheit. Neue Hauptstadt Akkad. um2000v.Chr.Neue Blüte mit großartigen Tempelbauten (nur aus Ziegeln gebaut, da das Land arm an Stein ist); neue semitische Wanderungswelle. uml700v.Chr.Hammurabi einigt ganz Mesopotamien zu einem blühenden Reich mit aufgezeichnetem Recht. Einteilung des Volkes in Stände und Klassen. In Marduk, dem Stadtgott von Babylon, vereinen sich sumerische und akkadische Götter. Weltschöpfungsund Gilgamesch-Epos in akkadischer Sprache, in der auch die Gesetze geschrieben sind. Kultsprache noch sumerisch. Zweisprachige Listen (sumerisch-akkadisch) ermöglichen die Entzifferung des Sumerischen. Die Mathematik ist hoch entwickelt. 62
um 1400— Klassische Zeit der jüngeren babylon. Liteum 1050 v.Chr. ratur. Umarbeitung und Erweiterung älterer Werke, die nun ihre reifste und gültige Gestalt erhalten. Auch religiöse Schriften. Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, aber kein Glaube an ein Fortleben nach dem Tode, kein großer Totenkult. um 650 v.Chr. unter Assurbanipal wird die große Bibliothek in Ninive mit der gesamten erreichbaren Literatur in neuen Abschriften angelegt. 20000 Tontafelbruchstücke dieser Sammlung wurden gefunden. — Die Kulturen Babylons und Assyriens befruchteten schon in frühester Zeit die Nachbarländer, mit denen das Zweistromland wegen seiner offenen Lage in engster Berührung stand. Israel uml400v.Chr. Beginn der Eroberung Palästinas durch die semitischen Israeliten, vielleicht im Zusammenhang mit einer großen Völkerbewegung. In der Bibel sind die Grundereignisse ihrer Geschichte berichtet. seit etwa 1230 Ansiedlung in den unbewohnten Landv. Chr. strichen Palästinas, dann auch in den schon vorhandenen Städten, Anpassung an die Kanaanäer. Annahme einer kanaanäischen Mundart, des Hebräischen der Bibel. Aufgliederung in Stämme. Keligiöses Heiligtum in Silo. Das Außergewöhnliche für die Zeit und auch für die Umgebung ist der Glaube an den einzigen Gott Jahwe, einen rein geistigen Gott, der nicht dargestellt wird. Glaube an die Auserwählung des eigenen Volkes vor Gott. Der Hohepriester ist Richter und Führer des Volkes. um 1000 v.Chr. König Saul faßt die Stämme zusammen. um 1000— König David erobert Jerusalem, das neuer um 961 v.Chr. religiöser Mittelpunkt und Sitz des Königs wird. 63
961—922 v.Chr. Salomon wandelt das Reich nach dem Vorbild orientalischer Königreiche um. Wirtschaftliche Blüte zugleich mit geistigem Verfall, Abfall vom Glauben, Lauheit im sittlichen Leben. Propheten stehen auf als Mahner und Warner. Zerfall des Reiches. 721 v.Chr. Assyrereinfall unter Sargön IL Wegführung der Israeliten in die „Assyrische Gefangenschaft". 586v.Chr. Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar, den König des Neubabylonischen Reiches. Ende des Reiches Juda. „Babylonische Gefangenschaft". 538v.Chr. Rückkehr der Israeliten nach der Eroberung Babylons durch Kyros. Wiederaufbau des Tempels. Seither unter Fremdherrschaft (Perser, Ägypter, Syrer). 168v.Chr.
Aufstand des Judas Makkabäus und vorübergehende Selbstherrschaft. 63v.Chr. Die Juden kommen unter römische Oberhoheit. um das Jahr 6 Geburt Christi in Bethlehem, v. der Zeitrechnung 26—36 n. Chr. Statthalter Pontius Pilatus. Kreuzigung Christi. 44 n. Chr. Palästina wird römische Provinz. 66—70 n. Chr. Aufstand der Juden gegen die Römer, endet im Jahre 70 n. Chr. mit der Zerstörung Jerusalems durch Titus, Zerstreuung des Volkes.
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Der Leser, der die in diesem Heft geschilderten Ereignisse im großen Rahmen weiter verfolgen will, wird auf die spannend geschriebene Weltgeschichte
BILD DER JAHRHUNDERTE von OTTO Z I E R E R verwiesen. In neuartiger, eindrucksvoll erzählender Darstellung behandelt Otto Zierer im ,,Bild der Jahrhunderte ', dem der Text zu dem vorliegenden Heft im wesentlichen entnommen ist, die Geschichte des Abendlandes und der Welt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
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