KLEINE JUGEND REIHE
GEORGI GUREWITSCH
RAUHREIF AUF
PALMEN
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung 1. Teil
VERLA...
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KLEINE JUGEND REIHE
GEORGI GUREWITSCH
RAUHREIF AUF
PALMEN
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung 1. Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1953
4. Jahrgang, Heft 2/1953
Russischer Oriqinaltitel ИНЕЙ НА ПАЛЪМАХ
Deutsch von M Nabel
(Die Erzählung wurde der Illustrierten Rundschau Jahrgang 1952
Berlin, entnommen)
Copyright 1952 by Verlag Kultur und Fortschritt GmbH Berlin Prin ted in Germanv • Alle Rechte vorbehalten
Lizenz Nr 3
Einband und Textillustrationen nach Motiven von G Filippowski aus
der Zeitschrift Snamje
sila 1951 nachgezeichnet von Rudi Lehmann Satz und Druck
(III/9/1) Sachsische Zeitung Verlag u Druckerei
Dresden N 23 Riesaer Straße 32 10471
285/61 52
Das Meer tobte die ganze Nacht Langsam wuchsen die Wogen, eine nach der anderen, aus der Dunkelheit her aus. Sie richteten sich steil vor uns auf, und ihre sich überstürzenden Kamme schauten in unser Boot hinein, als wollten sie uns – ihre künftige Beute – erspähen. Wir waren sechs in dem Boot der Heizer Wilkins, Joe, ein Schwede, ein Italiener, ein Neger und ich Die Matrosen ruderten abwechselnd und ich saß am Heck, schwankend wie ein Pendel schöpfte Wasser und goß es über Bord, immer und immer wieder Meine Wunde schmerzte von Stunde zu Stunde mehr, vielleicht deshalb, weil sie vom Salzwasser zerfressen wurde. Ich war völlig durchnäßt. Mein Anzug war zu einer kalten Kompresse geworden. Ich zitterte, und meine Zähne schlugen vor Kälte aufeinander Ich hatte nur den einen, ständig wiederkehrenden Gedanken. Was soll nun werden? Als es hell geworden war, sahen wir vor uns als weißen Streifen eine flache Insel liegen. Koralleninseln sehen von weitem stets weiß aus. Doch bald stellten wir überrascht fest, daß es diesmal weder von dem weißen Korallensand noch von der Brandung herrührte… Die kleine tropische Insel war durch einen äußerst rätselhaf
ten Vorgang völlig in Schneewehen versunken. Auf den bleifarbenen Wellen des Ozeans schwammen Eisschollen, und die Brandung schleuderte sie mit gewal tigem Schwung gegen die Korallenriffe, wobei sie zer brachen, zermalmt und zersplittert wurden, bis nur noch eine formlose Eismasse zurückblieb. Fontänen salzigen Wasserstaubs stiegen in die Luft. Wenn sie auf den flok kigen Schnee fielen, überzogen sie ihn mit dunklen Flek ken. Die biegsamen Stämme der Palmen waren weiß ge worden. Rauhreif funkelte auf den riesigen gefiederten Blättern, und die weißen Baumkronen hoben sich scharf von dem dunkelblauen Himmel ab. Fast die ganze Lagu ne hatte sich in eine spiegelglatte Eisfläche verwandelt. In dem durchsichtigen, grünlichen Eis waren Korallen und grellbunte Papageienfische eingefroren, überall lagen erfrorene Schwalben und Seevögel, und die Zangen der Kokoskrabben ragten aus dem Schnee hervor. Als erstes entfachten die Matrosen ein Feuer, und ich setzte mich so nahe daran, daß meine Schuhsohlen versengten und mir die Funken ins Gesicht flogen. Doch mein Schüttelfrost wollte nicht aufhören. Ich klapperte nach wie vor mit den Zähnen und bat immer wieder, neue Äste herbeizubrin gen. Der Neger packte einige Armvoll Reisig neben mich und bemerkte mit kläglicher Verwunderung: „Ich glaube, ich habe mir die Ohren erfroren. Ob das bald vorbei ist?“ Ich antwortete nicht. Wie oft bei Kranken kamen mir meine Gedanken viel lauter vor als die Stimmen der Um gebung. Und ich dachte immer nur das eine: Es wird im mer mehr Schnee. Was wird aus uns? Da näherte sich Joe dem Feuer und meinte: „Das Boot hat ausgedient, es gibt bestimmt ein gutes Sieb ab. Ich
fürchte, wir müssen hierbleiben. Johnson spielt Robinson und wir anderen alle Freitag.“ „Und du, Joe, bist Robinsons Papagei“, warf gehässig der Italiener ein, „für dich ist die Hauptsache, du kannst schwatzen.“ Der gutmütige Joe begann laut zu lachen. „Meiner Mei nung nach ist es hier gar nicht so schlecht“, sagte er. „Es gibt gefrorene Früchte in jeder Menge und Krabbenkon serven in Büchsen aus der eigenen Schale. Und dazu be liebig viel Eis für Cocktail.“ Ich hörte zu und schüttelte mich. Die Spaße Joes verminderten meine Konzentration, und ich mußte doch entscheiden, was weiter zu tun war. Doch da rief der Neger, der sich ein wenig abgesondert hatte: „Ein Dampfer! Er kommt direkt hierher!“ Alle sprangen sofort auf die Beine. „Was für ein Dampfer? Etwa die ,Willela’?“ „Nein, er sieht anders aus. Er ist klein und hat nur einen Schornstein…“ „Los! Macht das Feuer größer! Werft nasse Äste hinein, damit es stärker qualmt!“ „Können sie nah genug herankommen?“ „Sie lassen Boote herab… Man muß ihnen zeigen, wo sie landen können!“ Mit großer Erleichterung verfolgten alle, wie das Boot näherkam, bald auf den Wellen schaukelnd, bald zwi schen ihnen verschwindend. Und nur ich allein quälte mich mit dem Gedanken: Sie werden uns von hier fort schaffen. Und was dann? Joe erkannte als erster am Heck des Dampfers die ge streifte amerikanische Flagge. „Jungs!“ schrie er, „haltet euch fest, wir fahren direkt in die Staaten. Kämmt und
rasiert euch! In zwei Tagen wird man eure Gesichter in allen Zeitungen veröffentlichen! Ich sehe schon im Gei ste die Überschriften vor mir: ,Palmen mit Rauhreif be deckt!’ – ,Tapfere amerikanische Matrosen am Äquator von Treibeis eingeschlossen.’ Und die gelehrten Profes soren werden von kalten Fronten schwatzen, die Prediger werden verkünden, daß die Welt in Kälte erstarrt und man sofort seine Sünden bereuen soll.“ „Joe, sei still!“ unterbrach ihn Wilkins. „Hört zu, Jungs! Wir wollen uns darüber einigen: Kein Wort über die ,Willela’! Wir verstehen es eben selbst nicht. Unser Schiff ist auf einen Eisberg gefahren und gesunken. Hört ihr? Hören Sie, Mister?“ Immer noch nannte er mich hartnäckig ,Mister’. „Und warum sollen wir es verschweigen?“ fragte ich. „Verschweigen?“ fragte Wilkins zurück. „Auf keinen Fall. Aber wir wollen diese Sache nicht unseren Zei tungsleuten überlassen. Sie verwandeln alles in eine blo ße Sensation, in wohlfeile Heldentaten von Banditen. Wir müssen selbst die ganze Geschichte schreiben, Mister. Die Leute sollen die Wahrheit erfahren.“ „Ja, ja!“ rief ich, „das müssen sie unbedingt.“ Wilkins sei Dank – er hat mich darauf gebracht, was weiter zu tun ist. Ich bin verpflichtet, alles bis zum letz ten Wort selbst aufzuschreiben. Die Menschen müssen die Wahrheit wissen – das ist die Hauptsache. Und da erinnerte ich mich plötzlich an den Beginn meiner Ge schichte – an jene Tage, wo ich verzweifelt alles aufgab und mich dazu entschloß, meinen grauen Anzug zu ver kaufen.
Erstes Kapitel Als ich meinen grauen Anzug verkauft hatte, wurde mir leichter ums Herz. Der graue Anzug war die Schwelle, die mich vom Elend trennte. Mit dem Anzug konnte ich noch hoffen, fragen, mich aufregen, suchen, mich an längst vergessene Bekanntschaften erinnern, mich auf sie beziehen und Beweise anzutreten versuchen. Ich konnte mich noch im Schlamm der Hinterhöfe aufhalten und in möblierten Zimmern mit ihrem Geruch nach Waschseife und gebratenem Stockfisch wohnen. Jetzt, wo ich ohne einen anständigen Anzug war, blieb mir nur das eine üb rig: die Hände zu falten und ruhig das Ende abzuwarten. Hatte ich denn keine Arbeit gesucht? Ich hatte mich doch in vier Arbeitsvermittlungsbüros eintragen lassen. Jeden Tag besuchte ich sie alle vier. Ich wartete nachts an den Türen der Druckereien, um früher als die anderen die Stellenanzeigen in den Morgenzeitungen lesen zu kön nen. Solange ich noch den Anzug hatte, konnte ich – wenn auch nicht sehr oft – bei meinen Verwandten zu Mittag essen. Während ich darauf wartete, daß man den Tisch deckte, wärmte ich mich vergnügt in der Küche und hörte mir, zwar ohne Vergnügen aber höflich, gute Ratschläge an. „Daran hättest du eben früher denken sollen“, sagte die praktische Tante Berta. „Du hättest sparen sollen. Dann könntest du dir eine Farm mit einer Kuh kaufen, hättest jetzt deine Milch zu trinken und keine Not.“ „Du bist selbst schuld“, bemerkte tiefsinnig Onkel Jon ny, „weshalb hast du die Armee verlassen? Wo willst du jetzt Arbeit finden? Alle suchen doch jetzt.“ Mein Cousin Harry fügte ebenfalls irgend etwas Nützliches hinzu. „Gestern habe ich diesen Taugenichts – den jungen Dirk
gesehen“, erzählte er. „Stell dir vor, er heiratet die Erbin von Vandenhof. Wozu braucht er nur die Millionen der Vandenhof? Er hat doch selbst achtzehn.“ „Neunzehn“, verbesserte ihn Onkel Jonny, als wüßte er es am besten, wieviel in den Safes der Reichen lag. „Man muß nur ein solches Mädchen finden und braucht nie mehr zu arbeiten“, seufzte Harry. „Sind wir etwa schlechter als Dirk? Wir sind genau solche Menschen – zwei Hände, zwei Beine… Eine Bar eröffnen – das ist auch nicht schlecht – oder eine Plantage in Brasilien…“ Geduldig hörte ich zu und wartete auf den Augenblick, wo die Suppe auf den Tisch gestellt wurde. Die Ratsch läge, waren gut. Schlecht war nur, daß ich kein Kapital für eine Farm, eine Plantage oder eine Bar besaß, übri gens verfügten meine Verwandten auch über kein Kapi tal. Onkel Jonny arbeitete als Kassierer in der Bierschen ke O’Haras und erzählte sein ganzes Leben lang voll Neid, was so ein Wirt am Bierschaum verdient und wie die Kellner die Betrunkenen betrügen. Mein Cousin Har ry arbeitete für denselben O’Hara (den einflußreichsten Mann in unserem Bezirk) bei der Schlichtung von Strei tigkeiten Betrunkener, bei der Beilegung von Arbeiter streiks und während der Präsidentschaftswahlen. Nachdem ich die von Tante Berta mit Ratschlägen und Klagen gewürzten Koteletts verschlungen hatte, begab ich mich in ein Büro, das angeblich einen Angestellten suchte. Wenn Sie übrigens mal in der Stadt der Wolken kratzer Arbeit gesucht haben, dann wissen Sie selbst, was für eine „lustige“ Sache das ist. Da stehen Sie nun an der Schwelle des Büros. Sie über prüfen den Sitz der Krawatte und den Scheitel, husten einmal künstlich, damit Ihre Stimme ungezwungen und
eindrucksvoll klingt. Sie stauben die Schuhe mit dem Taschentuch ab, dann bemühen Sie sich, Ihrem Gesicht einen sorglosen Ausdruck zu verleihen. Sie sind kein Arbeitsloser, Sie sind nur gekommen, um nach einem zufälligen Spaziergang ein freundschaftliches Gespräch mit dem Direktor zu führen. Dann kommt die entschei dende Minute. In dieser einen Minute müssen Sie bewei sen, daß die Firma ohne Sie zum Bankrott verurteilt ist. „Arbeit?“ brummt der Clerk hinter seinem Tisch, „woher haben Sie nur so viel Dreistigkeit? Wir haben keine Ar beit, gehen Sie!“ Er schaut nicht einmal auf Ihre Krawatte, auf den Schei tel und auf die umsonst geputzten Schuhe. In einigen Büros lachte man mir ins Gesicht: „Arbeit? Du willst wohl einen Witz machen? Woher sollen wir jetzt Arbeit nehmen? Bei uns herrscht die Krise, das kannst du in der Abendzeitung nachlesen.“ Ich errötete, entschuldigte mich und ging hinaus. Wie ein Bettler fühlte ich mich, der sich zum erstenmal mit Schnürsenkeln an eine Straßenecke stellt. Ziellos lief ich in gebückter Haltung durch die Straßen und biß mir in die Lippen vor Bitterkeit und Erniedri gung. Die Passanten stießen mich, die Autos erschreckten mich durch ihre Signale. Hoch über meinem Kopf aber glänzte, schrie und tönte die Reklame, überzeugte, be wies und befahl… „Jeder vernünftige Amerikaner trägt Brillantringe von Hutchison.“ „Unser Sekt verlängert Ihr Leben um das Doppelte!“ Doch wo sind sie – die vernünftigen Amerikaner mit den Brillantringen und dem das Leben um das Doppelte ver längernden Sekt? Ich traf nur Arbeiter mit müden, grauen
Gesichtern, aufgeregte Verkäuferinnen und Stenotypi stinnen (zehn Dollar in der Woche, wenn man jung, hübsch und nach der letzten Mode gekleidet ist) und ebensolche Arbeitslose wie mich, die man sofort an ihrer langsamen Gangart erkennen konnte. Drei- oder viermal in den anderthalb Jahren fragte man mich nach Empfehlungen. Mit versagender Stimme er klärte ich, daß ich keine besäße. „Warum nicht? Haben Sie keine Arbeitserfahrung? Und warum? Sie sind gleich aus dem College zur Front gegangen? Sie haben also weder Empfehlungen noch praktische Erfahrungen? Was heißt hier Diplom? Sie haben doch alles vergessen. Was? Zur Probe? Wir haben keine Zeit, Leute anzulernen. Wollen Sie als Verladearbeiter gehen? Was? Sie haben eine Handverletzung? Wenden Sie sich an ein Spital.“ Das war eine lange, unendlich langweilige und widerwär tige Geschichte. Doch wie lange konnte das fortdauern? Ich lieh, wo ich konnte, und versetzte, was ich konnte, Allmählich ver kaufte ich alle meine Sachen, ein Stück nach dem ande ren, darunter auch die goldene Taschenuhr, die ich von meinem verstorbenen Vater geerbt hatte. Zu meiner Verwunderung ernährte mich diese Familienkostbarkeit nur zwei Wochen lang. Ich weiß nicht, wie das kam. Als die Uhr verzehrt war, kam die Reihe an den Anzug. Ich fastete drei Tage, länger konnte ich es ohne Nahrung nicht aushalten. So ging die Epoche des grauen Anzugs zu Ende. Damit gab ich alles auf. Ich versank in der Un terwelt. Auch die Unterwelt hat ihre Gesetze, ihre Sitten und ih re Lebensgewohnheiten. Ich lernte sitzend auf Bänken schlafen und riß die Augen weit auf, wenn ein Polizist
kam; ich machte mich mit dem alten Gesetz der Land streicher vertraut, einem Gesetz, welches das Schlafen unter freiem Himmel verbietet, wenn man kein Geld in der Tasche hat; ich lernte, geduldig in der Schlange vor der Armenküche zu stehen und kläglich mit den Augen zu zwinkern, wenn irgendein unschuldiges Mädchen von der Heilsarmee mir zuredete, ich solle mich bekehren, jeden Abend beten, nicht fluchen und nur abgekochtes Wasser trinken. Ich lernte neue Freunde kennen – die Bewohner der Unterwelt. Das waren ältere Arbeiter mit großen Familien, die man aus den Fabriken geworfen hatte, als sie nicht mehr beweglich genug waren, Matro sen von verschrotteten Dampfern, Angestellte bankrotter Firmen, Schullehrer, die man wegen Budgetkürzung ent lassen hatte, Beamte, die von der Kommission zur Unter suchung unamerikanischer Tätigkeit der Sympathie zu den spanischen Republikanern überführt worden waren, Kriegsveteranen, die man gestern mit Musik und Blumen empfangen hatte und heute an einer Straßenkreuzung sich selbst und ihrem Schicksal überließ, arbeitslose Jungen ohne Beruf – Landstreicher von heute und von morgen sowie naive Dummköpfe wie ich, die den Eltern die letz ten Groschen abgenommen hatten, um ein Diplom zu erwerben, das niemand brauchte. Am liebsten war mir ein Matrose, ein älterer, krummer Mann mit einem verwitterten, kupferfarbenen Gesicht und rotem Haar. Man nannte ihn Josef-Patrick Middle oder einfach Joe. Zufällig glichen die Initialen Joes den Initialen eines bekannten Milliardärs, und der vagabun dierende Matrose benutzte im Scherz gern die pompöse und ehrfurchtsvolle Ausdrucksweise der Zeitungen: „Mi ster J. P. M. ist bereit, die Geschäftskreise Skandinaviens
zu finanzieren“, sagte er, wenn er einem arbeitslosen schwedischen Auswanderer zehn Cents hinlegte; oder: „Mister J. P. M. hat ein Kontrollpaket der Tabakkompa nie erworben“, wenn er einen Zigarettenstummel von der Straße aufhob. Joe hatte auf Handelsschiffen alle Meere und Ozeane befahren und in seinem Leben wirklich etwas gesehen. Man kann nicht sagen, daß er gebildet war. Bücher las er wenig – bei der Seefahrt hat man keine Zeit für so etwas, aber Joe merkte sich alles, was ihm unter die Augen kam, und schnappte die seltsamsten Redewendungen auf, die er dann nicht ohne Spott bei den unpassendsten Gelegen heiten hervorholte. „Eßt nicht zuviel Fleisch“, empfahl er den Arbeitslosen in der Schlange vor der Armenküche. „Nur Pflanzennah rung rettet euch vor der Herzverfettung.“ ,,Ich bin für die amerikanische Lebensweise“, behaupte te Joe, wenn er Zeitungen auf der Wiese ausbreitete, wo wir übernachteten. „Die Privatinitiative führt uns zum Wohlstand!“ – das sagte er vor dem Tor eines stillgelegten Werkes. Als je doch die Polizei mit Gummiknüppeln die erregten Arbei ter auseinanderjagte, bemerkte Joe: „Jeder Schlag, den wir erhalten, dient der Sache der Freiheit.“ Jeder von uns hat seine Eigenarten. Joes schwacher Punkt war sein Kampf um Gerechtigkeit. „Dazu haben Sie kein Recht!“ – diesen Satz hörte ich am häufigsten von ihm. Joe kämpfte für Gerechtigkeit in Kleinigkeiten, wo er nur konnte. Er überprüfte die Waagen in kleinen Läden, ordnete die Schlangen vor den Armenküchen, mischte sich in alle Straßenereignisse, stritt sich mit Poli zisten und sogar mit Richtern herum. Und zweimal –
soweit ich mich erinnern kann – nahm das ein böses En de: Joe erhielt sechzig Tage wegen Beleidigung der Würde des Gerichts. Zum letztenmal war das Anfang Februar während der Schneestürme, und Joe regte sich darüber auch gar nicht einmal besonders auf. Nach Anhö rung des Urteils fragte er: „Wird im Gefängnis auch gut geheizt?“ Doch zu seinem Glück hörte das der Richter nicht mehr. Auf diese Weise erhielt Joe ein Winterquar tier, und ich blieb auf der Straße, um weiter über das traurige Schicksal eines Arbeitslosen nachzudenken. Zweites Kapitel Das, wovon ich jetzt erzählen werde, geschah im Früh jahr, gerade in dem Augenblick, als Joe das Gefängnis verlassen sollte. Ich erwartete ihn im Park auf unserer Lieblingsbank. Es war ein fröhlicher Apriltag, an dem sich die Sonne voller Lebensfreude in jeder Pfütze spie gelte. Es roch nach feuchter Erde, frischem Grün und noch nach etwas Rätselhaftem, Süßem. An solchen Ta gen möchte man sein Bündel über die Schulter werfen, aufstehen und ins Blaue hineinwandern, durch die lär mende City und die rauchigen Vorstädte, durch die Vil lensiedlungen, Felder, Farmen und Gehölze, immer gera deaus in irgendeine ferne Gegend, wo es keine arbeitslo sen Ingenieure gibt, die absolut nicht verstehen können, warum sie ohne Arbeit sind. Ich erinnere mich, daß man mich in meiner Collegezeit stets für einen fleißigen Studenten gehalten hat. Ich las viele Bücher und nicht nur technische; ich interessierte mich für Musik und Kunst. Damals erschien mir das Le ben einfach und klar: strenge dich an, lerne, bekomme gute Zensuren, erwirb dein Diplom, und alles wird „all
right“ sein. Nun bin ich fertig, trage mein Diplom in der Tasche – und bin ohne Arbeit. Da erst begann ich, ernst haft zu überlegen. Alle denken wir nicht nach, solange uns das Leben nicht an die Wand drückt. Jedem Amerikaner prägt man von seiner Jugend an fortwährend ein, daß er unbedingt Mil lionär wird, wenn er nur arbeitsam, sparsam und ener gisch ist. Und wir tun alles, um unsere Arbeitsliebe und Energie zu entwickeln. Für lange Überlegungen haben wir keine Zeit, wir brauchen alle Kraft für das Busineß. Bruchstückweise nehmen wir im Vorbeigehen Filme, Kriminalromane, Teile aus Rundfunksendungen und fette Zeitungsüberschriften in uns auf, ohne sie zu verdauen, ohne uns auszukeimen, ja ohne daran zu glauben, und vergessen sie sofort wieder: „Neunjähriges Mädchen tötet aus Eifersucht seinen Bruder!“ Wahrscheinlich Schwindel! denkt der Durchschnitts amerikaner, das braucht man nicht zu lesen. Das ist ge schickt erfunden. „Der F. B. I. hat eine Geheimverschwörung entlarvt!“ „Agenten Moskaus bedrohen unsere Sicherheit!“ Sicher alles Unsinn, denkt der Durchschnittsleser, aber vielleicht ist es auch wahr. Moskau – das liegt doch irgendwo weit im Norden, im ewigen Schnee. Wer weiß, wessen sie dort fähig sind? Wenn man darüber schreibt, wird wohl schon etwas dran sein. Vielleicht bedrohen sie uns wirk lich. Mich interessiert das nur wenig. Ab und zu gerät einem Amerikaner auch eine fortschrittliche Zeitung in die Hände, in der etwas von einer herannahenden Krise steht und behauptet wird, daß uns die Regierung zum Kriege führt. Da der Amerikaner aber daran gewöhnt ist,
daß Zeitungen immer lügen, zuckt er nur mit den Schul tern und denkt: Was für eine Krise? – Schwindel! Das haben sie sich ausgedacht, um mehr Abonnenten zu er halten. Mein Geschäft geht doch ganz gut. Und er knittert die Zeitung zusammen, wirft sie auf den Bürgersteig und vergißt sie sofort. Politik interessiert ihn nicht. Er ist ein solider Mensch – er hat seine Arbeit, sein Haus, sein Au to, eine Wohnungseinrichtung mit Fernsehempfänger, alles auf Abzahlung gekauft. Doch da kommt ein schwarzer Tag, wo man den „soliden Menschen“ ins Bü ro ruft und ihm die fristlose Kündigung überreicht. Die Ersparnisse verflüchtigen sich wie Tabaksqualm, er muß die fällige Ratenzahlung versäumen, und man holt die Wohnungseinrichtung, das Auto und den Fernsehemp fänger wieder ab, die bereits zu Dreiviertel bezahlt wa ren. Von Jugend auf haben wir gelernt: „Mein
Heim ist meine Burg.“ Wenn aber fremde Leute kom men und uns mit einem Fußtritt aus dieser Burg vertrei ben, so ist das wohl ein Grund zum Nachdenken. Ja, wirklich, warum schläft Bauingenieur Alan Johnson im Park vor Hunger ein, anstatt zu arbeiten? Warum steht Alan Johnson im Regen – er, der wunderbare Häuser mit elektrischer Küche, mit einem Eisschrank und einem Badezimmer, warme, trockene und bequeme Häuser mit praktischen Möbeln, einem sauberen Bett, mit Staubsau gern und Müllschluckern zu bauen versteht? Warum wärmt sich dieser gleiche Alan während der Arbeitszeit in der Sonne, wenn er gelernt hat, Fabriken, herrliche Gebäude und mächtige Kräne, riesige, gewaltige Werk hallen zu errichten, in die man Tausende von Werkbän ken stellen kann, wo Tausende von Menschen Arbeit finden könnten? Warum? Ja wirklich, sagen Sie: Warum? Während ich über dieses langweilige Thema nachdach te, schlenderte irgendein Stutzer im karierten Mantel und mit einem dunkelgrünen Hut an mir vorüber und spielte mit seinem Spazierstock. Dann setzte er sich neben mich auf die Bank. Mit dem schnellen Blick des Berufslandstreichers mu sterte ich meinen Nachbarn von der Seite. Wer war er? Was suchte er hier im Park? Vielleicht konnte man 25 Cents aus ihm herauspressen. Seinem Äußeren nach könnte er… Ich brauchte übrigens gar nicht mehr nach zudenken. Neben mir saß Freddy Paloma – der Kapitän und Linksaußen unserer Fußballmannschaft auf dem Col lege. Ich wandte mich ab. Ich wollte durchaus nicht, daß Freddy mich in diesem Zustand erkannte, sich die Ge schichte meiner Abenteuer erzählen ließ, nur um dann mitfühlend durch die Zähne zu seufzen: „Ach, ach,
schwere Zeiten!“ Im Grunde genommen war ich mit ihm auch nicht besonders befreundet gewesen. Ich kannte ihn hauptsächlich vom Fußball her. Freddy war kein schlech ter Stürmer, nur ein wenig unverschämt. Er bildete sich immer etwas ein, spielte für sich allein und verlangte, daß man die Bälle nur ihm zuspiele. Auch sonst war Freddy ziemlich überheblich gewesen: er belehrte gern die Neu en, darunter auch mich, wie man Fußball spielen und wie man leben sollte. Das hatte ich damals bald satt bekom men. Bei den Vorlesungen traf ich ihn viel seltener. Freddy erschien im College nur vor den Prüfungen, dann war er stets sehr blaß und aufgeregt. Hastig befragte er die Stu denten, wer prüft, was geprüft wird, ob man zum Profes sor oder zum Assistenten gehen soll, ob man sich vor einem bestimmten Thema drucken kann. Er schrieb For meln auf seine Manschetten und bat beschwörend darum, ihm vorzusagen. Ich selbst hatte für ihn einmal eine wört liche Übersetzung des Prüfungstextes eingeschmuggelt und so sein Examen in der russischen Sprache gerettet – das war zu Beginn des Krieges gewesen, als man noch gern von der Freundschaft mit den Russen sprach. Ich muß ehrlich sagen, die Russen sind kein schlechtes Volk, aber ihre Sprache ist so kompliziert, daß sie speziell zum Leidwesen der Studenten erfunden zu sein scheint. Der arme Freddy konnte diese ganze Weisheit niemals be greifen und erstarrte mir gegenüber in unbegrenzter Ehr furcht, eis ich ihm seinerzeit die Übersetzung gab. Wer hätte damals gedacht, daß wir einmal zusammen auf ei ner Bank sitzen würden und ich mich abwende, damit Freddy mich nicht erkennt. „Schönes Wetter“, bemerkte Freddy lässig – der beste
Anfang für ein Gespräch. „Ein wenig kalt für den April, nicht?“ „Um die Ecke kann man sich wärmen, Sir“, antwortete ich im Tonfall eines Landstreichers, „Soll ich Sie hin bringen, Sir?“ Freddy begann furchtbar zu lachen, so daß sich sein Schnurrbart aufrichtete wie die Borsten einer Zahnbürste, „Spiel mir kein Theater vor, Alan“, sagte er, „ich habe dich doch erkannt. Ich sehe, daß du gestrandet bist. Was ist los? Warum arbeitest du nicht?“ „Warum?“ rief ich aus. „Ich selbst frage mich, ,warum?’. Wenn du willst, sammle ich hier im Park noch tausend Menschen, wir alle werden uns aufstellen und im Chor fragen: Warum arbeiten wir nicht? Willst du viel leicht eine Antwort geben?“ Freddy zuckte mit den Schultern. „Was soll man da antworten? Du weißt doch selbst – bei uns herrscht eine Krise“, sagte er. „Schuld ist Moskau und verschiedene Lumpen, die von ihm gekauft worden sind. Deswegen können wir nicht mit Asien handeln, ihret wegen sitzt du hier ohne Arbeit.“ „Die Predigten habe ich schon gehört“, erwiderte ich bissig, „ich verstehe nur nicht, was das mit den Russen zu tun hat. Sollen sie doch dort bei sich kopfstehen, mich interessiert das nicht. Ich handele nicht mit Asien – mit Asien handelt die Wallstreet. Ich dagegen baue Häuser. Kann ich in meiner Heimatstadt keine Häuser bauen?“ „Sieh mal einer an! Ein Roter!“ fauchte Freddy. „Freddy, ich sage dir die ganze Zeit, daß ich kein Roter, kein Schwarzer, kein Gelber und kein Blauer mit Blüm chen bin. Ich bin arbeitslos. Und überhaupt langweilt
mich diese Unterhaltung mit dir. Im Park gibt es noch viele freie Bänke.“ Nachdenklich zeichnete Freddy mit seinem Stock ir gendwelche Kringel in den Sand. „Willst du nicht auf die Palmeninseln fahren?“ fragte er unerwartet. „Ich kann auch zum Mond fahren, wenn man dort Ei senbetonarbeiter braucht.“ Freddy lächelte. „Zum Mond brauchst du nicht. Ich schlage dir die Pal meninseln vor. Ein Vertrag für fünf Jahre. Ich als Ver mittler bekomme dreißig Prozent vom Verdienst. Der Dampfer geht in zwei Wochen.“ Drittes Kapitel Oft habe ich mir die Frage gestellt: was wäre aus mir geworden, hätte ich Freddy nicht getroffen? Das ist schwer zu sagen. Ein unternehmungslustiger Mensch hätte wahrscheinlich im Gefängnis geendet, ein friedli cher, zart veranlagter Charakter wäre sicher vor Hunger gestorben. Auf jeden Fall hatte ich Glück gehabt. Und ich war damals auch wirklich glücklich. Mit großem Vergnügen erinnere ich mich an die ersten Freudentage, als ich ein „Mann mit Arbeit“ geworden war. Freddy war so großzügig, mir auf mein erstes Gehalt Geld zu leihen, und ich ging zunächst erst einmal in das nächste Restaurant. Wenn schon prassen, dann aber gründlich! Und ich bestellte mir ein Beefsteak, Apfelku chen und Kaffee. Mir tat es direkt leid, daß ich schon so schnell mit dem Essen fertig war. Darauf wurde mir durch das ungewohnte Sättigungsge fühl direkt wirr im Kopf, ich spürte eine angenehme
Wärme im ganzen Körper und fühlte mich stark, gut und großzügig wie noch nie. Dann ging ich los und kaufte mir einen grauen Anzug, obwohl, wie ich später erfuhr, grau schon nicht mehr modern war. Der neue Anzug öffnete mir wie ein Schlüssel die Türen aller vermietbaren Zim mer. Und eine halbe Stunde später rekelte ich mich in einer Badewanne und berauschte mich an Wärme und Sauberkeit. Dann bereitete ich mir ein seelisches Vergnügen. Ich besuchte die Familie von Onkel Jonny und brachte Tante Berta sogar eine Schachtel Pralinen mit. Der Onkel wagte nicht mehr, mir gute Ratschläge zu erteilen. Harry aber seufzte tief, zeigte seine blitzenden künstlichen Zähne – die echten hatte man ihm unterdessen ausgeschlagen – und meinte: „Die Palmeninseln – das ist das richtige. Dort vermeh ren sich die Dollars ebenso schnell wie Karnickel.“ Tante Berta führte mich jedoch in einen stillen Winkel, schaute ängstlich auf ihren Sohn und flüsterte: „Alan, du solltest Harry eine gute Arbeit besorgen. Die Bar ist nicht der richtige Ort für den Jungen. Ich glaube, er riecht sogar zuweilen nach Branntwein. Du als der Altere solltest ihn zur Vernunft bringen.“ Die Ärmste! Sie wußte immer noch nicht, daß ihr Sohn bereits ein richtiger Gangster war. Dann bereitete ich mir das Vergnügen, etwas Gutes zu tun. Ich verschaffte Joe – dem furchtlosen Kämpfer für die Gerechtigkeit – Arbeit und nahm nicht einmal 30 Prozent dafür. Zwar war es kein besonderer Posten, aber viel Auswahl gab es nicht, da Joe in seinem Matrosenbuch einen schwarzen Stempel hatte. Den hatte er damals bekommen, als er die Gerechtigkeit gegenüber einem
Obersteuermann verteidigte. Aus diesem Grunde konnte er kein Matrose mehr werden, sondern nur Küchenhilfe auf der „Willela“ zum Ofenheizen und Geschirr waschen. Doch auch mit dieser Arbeit war Joe nicht weniger zu frieden als ich mit meiner. „Auf jeden Fall“, sagte er, „ist es besser, sauber zu ma chen, als Schmutz zu verbreiten.“ All das war sehr angenehm: satt sein, sauber und gut gekleidet sein, auf einem gewaschenen Laken schlafen, unter einem Dach und nicht im Regen, die Achtung der Verwandten und die Freude Joes genießen. Es war ange nehm, zu kaufen, anzuprobieren, zu bestellen, sich als vollwertiger Mensch zu fühlen und ohne Zittern an einem Polizisten vorbeizugehen. (Joe stellte fest, daß ich mei nen Kopf jetzt höher trug.) Am schönsten war es aber, sich an die Arbeit zu machen. Ich denke daran, mit welcher Begeisterung ich mich das erstemal an den schrägen Zeichentisch setzte. Das Reiß zeug, die rasselnde Rechenmaschine, der Rechenschieber und das unberührte Weiß des Zeichenpapiers brachten mich direkt in eine gerührte Stimmung, Und die Zwek ken, die ganz gewöhnlichen Reißzwecken mit ihren emaillierten Köpfen! Fast wären mir die Tränen in die Augen gestiegen, als ich sie sah – waren es doch nun ganze acht Jahre her, daß ich sie nicht mehr in der Hand gehalten hatte. Ich erinnere mich, wie ich die erste Zahl in die Tabelle eintrug. Ich erinnere mich, wie ich den harten Zeichenbleistift anspitzte, den Atem anhielt und auf dem Papier die erste Linie zog – wie glücklich war ich bei ihrem Anblick, so exakt, bestimmt und in jeder Beziehung tadellos sah sie aus. Es machte mir Vergnügen, ein Nachschlagewerk in der
Hand zu halten, zu lesen, zu prüfen, zu zeichnen, zu ra dieren und nachzudenken. Dabei kann ich nicht einmal behaupten, daß meine Ar beit besonderes Nachdenken erfordert hätte. Als erstes übertrug man mir die Berechnung eines Trägers – eines einfachen Stahlbetonträgers für ein Fabrikgebäude mit einer Spannweite von acht Metern, doch der Träger – hier, wo es sich um meinen Beruf handelt, kann ich nicht einfach so teilnahmslos erzählen. Sehen Sie, jedes Ding auf der Welt hat sein Gewicht und ist bestrebt, nach unten zu fallen. Das war bereits lange Zeit vor Newton bekannt. So müßte uns also nach dem Gesetz von der Schwerkraft die Decke auf den Kopf fallen. Damit sie jedoch nicht fällt, stützen wir sie mit einem Träger. Vorläufig wurde mir nur eine bescheidene Aufgabe zu teil, und doch zitterte ich unwillkürlich dabei. Immerhin waren acht Jahre verflossen, seit ich die letzte Berech nung gemacht hatte. Vielleicht gehorchten mir meine Finger und mein Kopf nicht mehr. Welche Freude erfüll te mich, als ich. fühlte, wie mein Träger Fortschritte machte. Ich erinnerte mich an all meine Kenntnisse. Ich erinnerte mich an die Montageeisen, die Bügel, die Pro filberechnung, die Biegungsdiagramme… Früher sagten die Professoren immer, daß ich Materialgefühl besäße. Das Gefühl ist etwas Abstraktes, doch will ich mich be mühen, es zu erklären. Sicherlich haben Sie schon mehr fach die herrliche Brücke über den mächtigen Hudson oder über das Goldene Tor bestaunt. Sie erinnern sich an die gigantischen Pfeiler bei der Brückeneinfahrt und an die schwebenden Metallbögen, die zwischen diese Pfeiler gespannt sind? „Wie schön!“ haben Sie wohl oft bei die
sem Anblick gesagt. Ja, wirklich, das ist schön. Das ist schön, weil es rationell ist. Eine rationelle Konstruktion, bei der es kein überflüssiges Material gibt, erfreut das Auge. Das Metall besitzt wunderbare Eigenschaften. Wir verv/enden kein unnötiges Material, und es entsteht eine schlanke, elegante, leicht wirkende Brücke. Im Gegen satz zum Metall ist für Steinkonstruktionen nur Druckbe anspruchung möglich. Pfeiler und Bögen stützen sich gegenseitig ab. Die mittelalterlichen Kathedralen – das sind Lieder aus Stein. Hier finden wir eine wirkliche Verschmelzung der Pfeiler und Bögen. Das sind Mei sterwerke der harmonischen Verbindung. Stahlbeton ist ein neues Material. Es besitzt noch keine eigene Traditi on. Seine Zusammensetzung ist sehr kompliziert: da gibt es feste Steinbrocken, Sand, Zementmörtel und Stahlge flechte. Wir kennen dieses komplizierte Material noch unzureichend, auf jeden Fall kalkulieren wir für seine Festigkeit einen zusätzlichen Prozentsatz ein. Dieses zu sätzliche Material wirkt sich jedoch durch Verteuerung und Plumpheil aus. Wir nennen den Beton widerstands fähig und massiv, in Wirklichkeit aber beruht diese Mas sivität auf unserer Unkenntnis. Wenn wir dieses Material restlos kennen würden, könnten wir filigranartige Gebil de aus Stahlbeton bauen. Diese Mängel muß der Konstrukteur durch Feingefühl und Geschmack ausgleichen. Ich fühle, daß die Fachkollegen schon über mich lachen, über meine Gefühle für die Schönheit dieser Dinge, übri gens lachte Freddy auch über mich. Er riet mir, mich nicht auf das Gefühl zu verlassen, sondern lieber einige Unterrichtsstunden beim Oberingenieur des Büros zu nehmen. Das tat ich denn auch. Und als die zweiwöchige
Probezeit vorüber war, nahm der Oberingenieur von mir den Trägerentwurf entgegen und sagte lakonisch: „Mor gen sticht die ,Willela’ um acht Uhr morgens in See. Sie fahren mit ihr direkt zu den Palmeninseln.“ Viertes Kapitel Ich fürchte, daß ich hier die seltsame Fahrt zu den Pal meninseln überhaupt nicht schildern kann. Diese Inseln nämlich habe ich eigentlich gar nicht zu Gesicht bekom men. Schon lange vor dem Morgengrauen hatte unser Dampfer die Inseln angelaufen. Man setzte mich mit ei nem Kutter über, in dem neben einem ganzen Haufen von Ballen auch Holzkisten lagen mit der warnenden Aufschrift: „Nicht stoßen, nicht werfen, nicht kanten!“ Während ausgeladen wurde, färbte sich der Himmel graublau, und auf der glatten Fläche des Ozeans bemerk te ich den blauen Streifen des niedrigen Ufers. Am Kai standen Soldaten – zwei hochgewachsene, wohlgenährte Jungen mit Maschinenpistolen auf der Brust. Ihre nackten Beine hatten sie gespreizt, ihre Füße steckten bis zu den Knöcheln im tiefen Sand – so standen sie und musterten uns von oben herab. Hinter dem Rücken der Soldaten hing ein Schild: „Ko koskonzession Chili and Co.“, und dahinter erstreckte sich die flache, ebene Landzunge, auf der es nur Sand, aber keinen einzigen Strauch gab. Links von uns konnte man hinter Stacheldraht langgestreckte Bambushütten erkennen, wahrscheinlich die Unterkünfte der Arbeiter, und rechts niedrige einstöckige Betongebäude, deren flache, weißgraue Silhouetten völlig mit dem Sand ver schmolzen. Das ist im Grunde genommen alles, was ich von den Palmeninseln erzählen kann.
Man brachte mich in einem der Betongebäude unter. Wir begannen am nächsten Tag um sieben Uhr morgens mit der Arbeit. Nur um diese Zeit konnte man richtig atmen und klare Gedanken fassen. Pünktlich um sieben kam Oberingenieur Clay – ein von der Sonne dunkel braun gebrannter, trockener und nervöser Malariakranker – und gab uns die Tagesaufgaben: die Berechnung oder Konstruktionszeichnung eines mehrgliedrigen Trägers, eines metallenen Stützbalkens, einer Überdachung oder der runden Wand eines Reservoirs. Wer weiß, warum Chili and Company so viel Betonla ger und Reservoire für Kokosöl bauen ließ. Ich interes sierte mich nicht dafür, wenigstens die erste Zeit nicht. Mich begeisterte der Umstand, daß die Arbeit überhaupt nicht alle wurde. Gegen zehn war das Atmen kaum noch möglich. Alle paar Minuten gingen wir zu dem Behälter mit kaltem Wasser oder steckten den Kopf unter den Wasserhahn. Das erfrischte, aber nur für kurze Zeit. Waren die Haare wieder trocken, so wurde der Kopf erneut schwer, die Gedanken träge und unbestimmt, man mußte fünf Minu ten lang die Stirn runzeln, um zweistellige Zahlen zu multiplizieren. „Konnte denn der Chef in den Staaten keinen besseren Flecken Erde für uns finden?“ rief der Techniker Jonny. „Ich fühle, wie ich am lebendigen Leibe vertrockne. Hier können nur Eidechsen und Kanaken, diese gelben Affen, leben.“ (Jonny war erst achtzehn Jahre alt. Er wollte gern als Erwachsener gelten und bemühte sich deshalb, mög lichst kräftige Schimpfwörter zu gebrauchen.) „In den Staaten bezahlt man dir kein solches Gehalt“, erwiderten die Älteren.
„Versuche dort einmal, Arbeit zu finden. Alan kann dir erzählen, wie leicht das ist.“ „Arbeiten ist nirgendswo angenehm…“ Viel später stellte ich Freddy die gleiche Frage: „Warum hat der Chef eigentlich sein Büro auf den Palmeninseln, in einem fremden Land, eingerichtet?“ Freddy aber lachte nur. „Der Chef weiß schon, was er tut“, meinte er. „In den Staaten sitzt er auf dem Präsentierteller. Dort gibt es Hunderte fortschrittlicher Zeitungsleute, ihnen allen kann man nicht den Mund stopfen. Mister Chili hat Unterstüt zungsgelder erhalten? Wofür? Für wissenschaftliche For schungen. Was sind das für Forschungen?… So würde man dort andauernd fragen. Hier ist Chili sein eigener Herr. Er ist ,Mister Dollar’ in eigener Person. Was er dort hinter dem Stacheldraht macht? Interessiert uns nicht, wir werden mit Dollars bezahlt. Der hiesige Präsident trifft selbst Maßnahmen, um die Ruhe unseres Chefs nicht zu stören.“ Natürlich hatte Freddy recht. Wir alle waren eine Art „Mister Dollar“ in diesem Land. Nicht nur der Chef, son dern auch Freddy, Jonny und ich, ja sogar die monumen talen Posten am Kai. Um die Mittagszeit waren wir endgültig von der Hitze ausgelaugt und beendeten die Arbeit. Dann begannen die ermüdenden Stunden der Arbeitspause – von 12 bis 6. Wenn man die Hitze und die Haifische ignorierte, konnte man baden gehen; man konnte aber auch im Zimmer sit zen, das Fenster mit einem feuchten Laken verhängen, schwarz werden vor Hitze und laut auf den Chef, die Tropen, auf sich selbst, auf die Arbeitslosigkeit und Freddy schimpfen. Schließlich konnte man auch noch den Teufel mit Beelzebub verjagen, sechs Stunden auf
dem Barhocker verbringen und ungewöhnliche Cocktails trinken. Gewöhnlich wählte ich die erste dieser Möglichkeiten, unser schweigsamer Chef Clay die letzte. Punkt zwölf Uhr nahm er auf dem Drehschemel vor dem Büfett Platz und eröffnete – wie er sich ausdrückte – den Angriff auf seinen Malariaanfall. Zwei Stunden lang dauerte der hartnäckige, schweigende Kampf zwischen dem Alkohol und dem Fieber. Clay dämpfte die Krankheit durch ein schreckliches Gemisch aus Rum, Zitronensäure und rei nem Sprit. (Niemand von uns konnte dieses Zeug über haupt auch nur in den Mund nehmen.) Schließlich be siegte nach langem Kampf der Alkohol die Krankheit und den Kranken. Clay wurde sentimental und verfiel in seiner Trunkenheit in eine philosophische Stimmung. „Weshalb trinke ich?“ fragte er. „Weshalb arbeite ich? Weshalb lebe ich? Warum jagt man mich nicht fort? Ihr wißt es nicht? Ach, ihr jungen Burschen!“ An den Aben den arbeitete Clay nicht. Bestenfalls schlummerte er bei sich auf dem Tisch. Alle Vorgesetzten einschließlich der Chefs wußten das, doch sagten sie nichts. Auf seinem Gebiet war Clay jedoch Meister. Er verstand es wie kein zweiter, die letzte Hand anzulegen, und wir alle staunten immer wieder, wenn Clay mit zwei Worten eine ausweg lose Komplikation löste. Die Trunksucht Clays sollte aber für mich unerwartete Folgen haben. Das war etwa einen Monat nach meiner Ankunft. Die ganze Zeit über hatte ich die Fundamente und Träger für irgendwelche unbekannte Bauten, die bei uns mit „Kor pus A, Korpus B, Korpus X“ usw. bezeichnet wurden, berechnet. Wofür diese Bauten bestimmt waren, wußte
niemand und fragte niemand. Wir erhielten unser doppel tes Gehalt nicht für die Befriedigung unserer Neugier. Aber eines Abends, als die Temperatur etwas abgesunken war und sich die goldenen Mondstrahlen in dem dunklen glatten Ozean spiegelten, wurde Clay ans Telefon geru fen. Unser Oberingenieur schlummerte wie gewöhnlich, das Kinn auf die Handflächen gestützt, und Jonny blin zelte uns zu und sagte in den Telefonhörer: „Warum ru fen Sie an? Wissen Sie denn nicht, daß er nach dem Es sen schlecht hört?“ „Wer hört schlecht?“ Wie ein Blitz fuhr Jonny zusam men und schlich auf Zehenspitzen vom Telefon fort. Die Stimme Clays hatte unerwartet klar und nüchtern geklun gen, doch seine Bewegungen wirkten wie bei einem Be trunkenen ungeschlacht. Man merkte, daß sich der Ober ingenieur vor jeder Bewegung selbst das Kommando gab: „Ich muß aufstehen! Ich muß mit der rechten Hand den Hörer nehmen“, usw. Langsam griff er nach dem Telefon. „Welches Schema?“ fragte er zurück und run zelte die Stirn vor Ärger. „Korpus N? Machen Sie das nach den Zeichnungen von Korpus B. Das verstehe ich nicht. Welche Korrekturen? Meinetwegen!“ Er ließ sich auf seinen Sessel nieder, verzog die Stirn vor Kopfschmerzen. Plötzlich lächelte er gutmütig und hilflos. „Ich glaube, ich bin betrunken, Jungs. Also muß einer von euch gehen. Wer ist hier der Vernünftigste?“ Er blickte sich um. „Alan, seien Sie so gut. Wissen Sie, wo Korpus B ist? Was? Geheim? Das macht nichts, ich trage die Verantwortung. Ich schreibe Ihnen einen Zettel, man soll Ihnen das Laboratorium im Betrieb zeigen.“ Endlich würde sich mir das Geheimnis der Kokoskonzession ent hüllen. Endlich würde ich sehen, welche Dinge wir mit
unseren Trägern und Absteifungen ausrüsten. Zehn Mi nuten waren kaum vergangen, als ich im Arbeitszimmer des Laboratoriumschefs Mister Stone saß und mit ihm gemeinsam die Pläne für Korpus B durchsah. „Hier in der Elektrolyseabteilung bleibt alles beim alten“, sagte er und fuhr mit dem Bleistift über die Photokopie. (Aha,, dachte ich, eine Elektrolyseabteilung in einem Kokos nußlager!) „Man muß nur den Umfang der Kompressor station vergrößern. (Eine Kompressorstation! Wozu brauchen sie nur Druckluft?) Hier muß eine Öffnung für die Rohrleitung sein. (Anscheinend für die Luft.) Hier werden die Reservoire stehen, und hier kommen der Ma schinensaal und der Transformator hin. (Sicherlich wer den’ sie von unserem Kraftwerk gespeist.) Aber die Hauptsache ist das Laboratorium. Jetzt“ – er blickte auf die Uhr – „beginnt gerade ein Versuch, und Sie können die Apparate bei der Arbeit sehen. Passen Sie auf.“ Er legte irgendeinen Hebel an einer Marmortafel um, und an der Wand uns gegenüber erschien eine Öffnung in der Form eines Bullauges. Ich schaute hindurch und sah hinter der gebogenen Scheibe einen ziemlich großen Raum ohne Türen und Fenster, dessen Wände durchge hend aus Spiegeln bestanden. In dem Raum befanden sich einige offene Kisten, Palmen in Fässern, eine kleine, sehr zierliche Antilope mit einem feinen Maul und zuk kenden Ohren und in einem Eisenkäfig sogar ein Alliga tor. Wegen der Spiegel fand ich mich nicht sofort zu recht, da alle Gegenstände doppelt erschienen. Plötzlich spitzte die Antilope die Ohren, schnupperte und jagte dann wie wild durch den Raum. Dann machte das Tier halt, verkroch sich in einer Ecke und jetzt erst, als ich seinem Blick folgen konnte, erkannte ich, was es
erschreckte. Links oben in der Ecke quoll aus einem Rohr, das einer Gewehrmündung glich, Dampf. In eini gen Minuten war der ganze Raum von dem Dampf er füllt, zuerst verschwand darin der Alligator, dann die Antilope und schließlich waren auch die Palmen nicht mehr zu sehen. „So ist es immer“, rief Stone bedauernd. „Im wichtigsten Augenblick hüllt der Nebel alles ein.“ „Probieren Sie hier etwa Giftgase aus?“ fragte ich voller Widerwillen. Stone schüttelte den Kopf. „Wie kommen Sie darauf? Wieso Giftgase? Das ist ganz harmloser Wasserstoff.“ Einige Zeit darauf löste sich der Nebel auf. Diesmal bot die Versuchskammer ein ganz anderes Bild. Die Spiegel waren beschlagen, der Boden mit einer dünnen Schicht matten Rauhreifs bedeckt. Die Palmen ließen ihre Blätter hängen, der Alligator hatte sich zusammengerollt, und nur die Antilope sprang im Krampfzustand im Raum umher, blieb von Zeit zu Zeit stehen und ließ den Kopf sinken, als würde sie vom Schlaf überwältigt. „Hundert zehn Grad!“ rief Stone und wies mit der Hand auf die Wand, wo ein Riesenthermometer einer mir unbekannten Konstruktion hing. Der Leuchtzeiger stand neben der Zahl 110. Er bewegte sich auf 112 hin. Jetzt waren es schon 113. Die Temperatur sank immer mehr. Nun wur de mir alles klar. Korpus B war ein grandioses Laborato rium zur Erforschung der Kälte. In der Elektro lyseabteilung gewann man Wasserstoff aus Wasser. Die Riesenreservoire, die wir berechneten, waren für die Aufbewahrung von Gasen bestimmt.
In der Kompressorstation wurde das Gas unter Druck gesetzt und im Maschinensaal anscheinend in Flüssigkeit verwandelt. Aber wozu geschah das alles? Damit der Alligator er fror? „Interessant, wie viel sie aushält,“ brummte Stone, der
die Sprünge der Antilope beobachtete. „Anscheinend braucht man doch einige Zeit dazu, um sie zu vereisen.“ Wieder zeigte sich der Nebel, doch diesmal nicht lange, und als er sich verzogen hatte, lag die Antilope in einer Rinne, durch die eine klare, fast völlig durchsichtige Flüssigkeit abfloß. „Flüssige Luft!“ vermutete ich. Durch ein Nicken bestä tigte Stone meine Annahme…. Plötzlich tauchte eine neue, phantastische Erscheinung auf. Der obere Teil des Laboratoriums begann zu leuch ten. Durch den ganzen Raum zogen sich von einem Ende zum anderen orangefarbene, blaue und dunkelviolette Strahlen. Ihre Färbung änderte sich fortwährend; in we nigen Sekunden verschmolzen die Strahlenbündel, flammten auf und begannen sich zu drehen. Zeitweise hatte man den Eindruck, als sei unter der Decke ein bläu licher und orangefarbener Vorhang aus durchsichtigem Stoff befestigt, dessen Falten sich leise im Winde beweg ten. „Ein kleines Nordlicht“, erläuterte der unerschütterliche Stone. „Über der flüssigen Luft hat sich ein Vakuum ge bildet. Wenn wir Strom zuführen, verwandelt sich der Raum in einen Leuchtkörper. Er sah aufmerksam durch die Scheibe und begann dann hintereinander auf verschiedenfarbige Knöpfe zu drük ken. In der Versuchskammer wurde es lebendig – von der Decke kamen Haken und Zangen herab… Die Metall greifer scharrten über den Fußboden und trugen die Fäs ser mit den Palmen und die Kisten (augenscheinlich wa ren darin verschiedenartige Stoffe, an denen man die Käl teeinwirkung ausprobierte) aus der flüssigen Luft her aus… Der eine Haken ergriff die tote Antilope, hielt sie
jedoch nicht fest genug, so daß sie auf den Beton fußboden fiel und in viele kleine Stücke zersprang, als sei sie aus Glas. Ihr Kopf wurde zur Seite geschleudert, die dünnen Füße zersplitterten. Weiter konnte ich nichts sehen, weil Stone das Licht ab schaltete und die Öffnung verdeckte. Als ich nach dem Diktat von Stone Zahlen auf die Pho tokopie übertrug, dachte ich fortwährend: Wozu ist das alles notwendig? Anfangs kam mir eine ganz einfache Erklärung in den Kopf: Mister Chili – unser Chef – besaß die größten Schlachthäuser in Amerika. Ihm gehörten ganze Berge von Würsten, Bruststücken, Fleischkonser ven, Füllungen, Koteletts, Pasteten, Rauchfleisch und Bouillonwürfeln. Der Fleischkönig – Mister Chili – hatte einen ungeheuren Bedarf an Kälteeinrichtungen. Um all die Lendenstücke, Filets, Bruststücke und Leberwürste Chilis in alle 48 Staaten und die 16 marshallisierten Län der des hungernden Westeuropas zu schicken, waren Tausende Waggons, Hunderte Dampfer mit Kühlvorrich tungen, Hunderte von Hafenkühlanlagen an allen Küsten des Atlantiks und des Stillen Ozeans erforderlich. Unser Chef war nicht nur ein Fleischkönig, sondern gleichzeitig auch ein König des Frostes – kein Wunder deshalb, daß man in seinem Laboratorium die Kälte studierte. Doch bei nüchterner Überlegung ließ sich diese Erklä rung nicht aufrechterhalten. Studium der Kälte – das wä re verständlich gewesen; weshalb mußte dann aber die Antilope vereist werden? Kein Holzfäller fällt einen Baum und schleppt ihn dann mit allen Ästen und Blättern aus dem Wald… Es wäre sinnlos, gefrorene Ochsen mit Hörnern, Hufen und vereistem Fell zu transportieren. Nein, der Fleischhandel hatte hiermit nichts zu tun… Der
Chef verfolgte andere Absichten. Und ich beschloß, sobald Freddy auftauchte, ihn auszu fragen, falls er selbst irgend etwas darüber wußte. Fünftes Kapitel Freddy kam viel früher, als ich dachte. Mitte Juli traf plötzlich auch der Chef ein. Er landete nachmittags in der größten Hitze mit dem Flugzeug und brachte in fünf Mi nuten die ganze Siedlung in eine Aufregung, als sei sie ein Ameisenhaufen. Gelb vor Wut und vom Fieber ver sammelte uns der halbnüchterne Clay im Büro. Jonny brummte etwas von der zustehenden Ruhepause und er hielt sofort einen Verweis. Was hieß hier Arbeitszeit? Der Chef war auf der Arbeitsstelle, also müssen alle ar beiten. Ausruhen konnte man in den Staaten und sich die Schuhsohlen in den privaten Stellenvermittlungsbüros ablaufen. Wer etwa daran zu zweifeln wagte, würde heu te noch entlassen werden… Mit zusammengebissenen Zähnen setzten wir uns an die Tische. Jeder würde heute alles tun, um seine Unersetzbarkeit zu beweisen. Die Stenotypistinnen klapperten um die Wette, die Buchhal ter beklagten sich laut über die Fehler, die Vorgesetzten verteilten freigiebig Tadel mit so erhobener Stimme, daß man sie auch im Korridor hören konnte – denn vielleicht ging dort der „große Chili“ gerade vorüber. Gegen Abend kamen wir an die Reihe: Der Chef verlangte Clay am Telefon, und Clay, unser kaltblütiger Clay, dem alles außer dem Alkohol gleichgültig war, wurde blaß, als er nach dem Hörer griff… „Der Alte scheint wohl selbst zu fliegen“, flüsterte Jon ny schadenfroh. „Alan“, sagte Clay plötzlich, nachdem er den Hörer
aufgehängt hatte, „Sie werden im Arbeitszimmer des Chefs verlangt…“ Jetzt hatte ich Veranlassung, zu zittern und rot zu wer den. Zum Chef? Ich? Weshalb denn? Was hatte ich ge tan? In Gedanken ließ ich alle von mir unterzeichneten Entwürfe und Kostenanschläge an mir vorüberziehen. Ich. hatte doch keine Fehler gemacht, keine Tadel einge steckt! Sicher wollte man nur das Personal verringern, und ich als Neuling war der erste… Wie ein Verurteilter stand ich vor der schweren Eichentür und schaute unent schlossen auf den bronzenen Löwenkopf, der einen Kup ferring zwischen den Zähnen hielt. Gleich würde ich die sen Ring ergreifen und damit die Tür zu den Staaten öff nen, zurück zu den Parkbänken, zu den entwürdigenden Almosen der Heilsarmee und den Nachtlagern für fünf Cents… Da kam Stone durch eine Seitentür. Sein ge pflegtes, blasses Gesicht war mit roten Flecken bedeckt, seine Lippen bebten. „Man muß doch ein Idiot sein“, meinte er mit klappernden Zähnen, „ein völliger Idiot, um den eigenen Zeitungen so viel Glauben zu schenken. Er ist erstaunt darüber, daß die Russen auch Ingenieure haben; er glaubt, daß man in Moskau auf Eisbären reitet! Man muß schon ein hundertprozentiger Dummkopf sein…“ Ich hörte Stone nicht zu, ich hatte andere Sorgen. Ich begriff, daß Stone bereits eine Rückfahrkarte in die Staa ten erhalten hatte. Plötzlich tauchte das bekannte Gesicht Freddys vor mir auf. Mein ehemaliger Schulkamerad war unruhig und blaß wie vor einem Examen. Mit einem erfreuten Ruf zog er mich an der Hand in ein Nebenzimmer und flü sterte hastig im Gehen:
„Alan, mein Freund, ich habe dich rufen lassen, ent schuldige. Du mußt mir helfen,, du bist meine letzte Hoffnung! Der Chef hat vom F. B. I. einen russischen Artikel erhalten, der sofort übersetzt werden muß. Der Chef tobt, und ich habe alles vergessen… Ich erinnere mich an überhaupt nichts mehr.“ „Aber Freddy, mein lieber Freund, ich habe auch seit acht Jahren kein Lehrbuch mehr in der Hand gehabt.“ „Irgendwie wirst du es schon schaffen, Alan, irgend wie… Hier sind Wörterbücher, da ist Papier, notfalls rufen wir eine Stenotypistin! Strenge deinen Kopf an, Alan, davon hängt dein Schicksal ab und meins auch…“ Er reichte mir eine dünne Zeitschrift. Auf dem Umschlag sah ich russische Buchstaben und freute mich über sie wie über alte Bekannte. Nach dem Titelblatt und der äußeren Gestaltung zu ur teilen, handelte es sich um eine Zeitschrift, die anschei nend für die Jugend bestimmt war. Doch Freddy ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. Er blätterte in dem Heft, zeigte mir einen rot angestrichenen Artikel, und ich begann stockend zu übersetzen: Das Haus aus Wasser
von G. Gorin
1. Tolja wählt seinen Weg
Ein japanischer Kreuzer vom Typ „Jamato“ mit einer Wasserverdrängung von 16 000 Tonnen war in der Nähe der Vulkaninsel – nur rund fünf Seemeilen von seinem Stützpunkt entfernt – durch sowjetische Torpedoboote versenkt worden. Das war in jenen Tagen, als unter den mächtigen Schlägen unserer Truppen die japanische Eli tearmee über die Felder der Mandschurei floh, als die
gelehrten Bakteriologen in Charbin ihre Archive ver brannten, alle Augenzeugen erschossen und ihre Pestflö he laufen ließen, als Mister Truman an den japanischen Frauen und Kindern eine neue wirksame Waffe – die Atombombe – ausprobierte. Die in der Mandschurei geschlagenen Samurais kapitu lierten, und die Vulkaninsel wurde zusammen mit ande ren russischen Inseln dem Sowjetvolk zurückgegeben. In dem früheren Flottenstützpunkt ließ sich eine ozeanolo gische Station nieder, und die Ozeanologen stellten die Frage, wie man das versenkte Schiff heben könnte. Mit Magnetgeräten stellte man die Lage des Schiffskörpers fest; die Bodenbeschaffenheit war günstig (ein Schlammboden kann untergegangene Schiffe verschluk ken), aber das Lot sagte kategorisch: Nein! Die Tiefe betrug 311 Meter, der Wasserdruck über 30 Atmosphä ren. Unter solchen Bedingungen konnten Taucher nicht arbeiten. Tolja Saizew kannte diese Einzelheiten jedoch noch nicht. Er hatte überhaupt noch nichts von Kreuzern des „Jamato“-Typs gehört. Tolja saß auf der ersten Bank in seinem Klassenzimmer, neigte seinen runden, kahlge schorenen Kopf und malte große und ungefüge Buchsta ben in sein Heft: „Ich lerne in der Schule. Ich habe eine Mama und die Schwester Sascha. Meine Mama ist Sta chanowarbeiterin. Mein Papa ist an der Front gefallen… Papa war MG-Schütze.“ Tolja erinnerte sich nur undeutlich an seinen Vater, der Spezialist für Kaltbearbeitung von Metallen gewesen war. Aber die Nachbarn erinnerten sich noch gut an Mei ster Saizew und erzählten seinem Sohn oft von dem aus gezeichneten Fachwissen seines Vaters. Als es für Tolja
Zeit wurde, einen Beruf zu wählen, beschloß er, den glei chen Weg wie sein Vater zu beschreiten. Er verließ die Lehranstalt „Amur“ – die beste Gewerbeschule des Fer nen Ostens – mit Auszeichnung, Diese Lehranstalt war Hunderte von Kilometern im Umkreis berühmt, und lan ge vor der Schulentlassung gingen die Anforderungen der verschiedensten Organisationen ein, die um Entsendung von fünf, zehn oder fünfzehn jungen Fachleuten baten. Man brauchte Fachleute in den Eisenbahnwerkstätten, auf den Schiffswerften und bei der Erdölgewinnung, in den Maschinenbauwerken und in den Fischkonservenfa briken, in den Holzkombinaten und sogar in der Wal fangflotte. Man konnte Komsomolsk, Sowjetskaja Ga wan, die Stadt Swobodny, Alexandrowsk auf Sachalin oder Petropawlowsk auf Kamtschatka wählen. Man konnte aber auch in der Heimatstadt bei Mama und der Schwester Sascha bleiben. „Ich will noch lernen“, sagte Tolja, „meine Erfahrung ist noch gering. Ich möchte mich bei der praktischen Ar beit weiterbilden.“ Und er wählte den entferntesten und schwersten Ar beitsplatz, die Vulkaninsel, wo eine große Expedition für Unterwasserarbeiten ihre Tätigkeit begann. 2. Der seltsame Einfall der Zarin Anna Die Geschichte des versenkten Kreuzers vernahm Tolja bereits auf dem Dampfer. Zusammen mit ihm fuhren viele Menschen zur Vulkan insel: Dreher, Schlosser, Maurer, Zimmerleute, ein Film vorführer mit seinen Apparaten, ein geschäftiger Wirt schaftsleiter und ein Klubleiter mit einer ganzen Biblio thek. Als Tolja von der Existenz der Bibliothek erfuhr,
bat er um „irgendwelche Bücher über Unterwasserarbei ten“. Der Klubleiter entlieh ihm gern ein „Handbuch für den Unterwasserarbeiter“, eine sehr dicke „Ozeanogra phie“, einen Sammelband „Der Stille Ozean – Leben und Naturbeschaffenheit“ und außerdem eine zerlesene ver gilbte Broschüre mit dem schwülstigen Titel: „Erste und ausführliche Beschreibung des im Januar 1740 nach ei nem Plan des Mitgliedes der Akademie Georg Kraft in St. Petersburg erbauten Eishauses“. In dieser Broschüre wurde erzählt, wie auf den Befehl der Zarin Anna auf der gefrorenen Newa gegenüber dem Winterpalast ein Eishaus errichtet wurde. Die gelang weilte Zarin hatte diesen Bau veranlaßt, um dort die Hochzeit ihres Hofnarren veranstalten zu können. Die Zimmer, die Türen, die Fenster, die Möbel, die architek tonischen Verzierungen – alles war aus blankem Eis. Folgendes schrieb Kraft darüber: Betons. Es läßt sich gut bearbeiten, sägen, polieren und färben. Aber bitte – werden Sie sicher sagen – , es taut doch. Ja, es taut, doch nicht so schnell. In mittlerer Breite wie bei uns hält sich eine fünf Meter dicke Eisschicht unter einer Schicht von Sägespänen den ganzen Sommer über. Dünnere Eisplatten wie bei unserem Musterhäu schen hier tauen schneller, doch kann man sie mit Hilfe dieses Instruments wieder zum Gefrieren bringen (er schwenkte seine Flaschenpistole). In unserem kältereichen Land könnte das Eis ein ausge zeichnetes Baumaterial darstellen. Schon vor dem Gro ßen Vaterländischen Krieg baute der Ingenieur Krylow bei Moskau Gemüselagerräume aus Eis. In der Arktis errichtet man aus Eis Wohnhütten, die sogar heizbar sind. Aus Eis bestehende Brustwehren, Verbindungsgräben
und Feuerstellungen haben in den Kriegsjahren keinen schlechteren Schutz gegen feindliches Feuer geboten als Beton. Es gibt verschiedene Methoden, um das Eis vor dem Tauen zu bewahren. Man kann es von oben mit Sä gespänen, Schlacke, Torf oder Schaumbeton bedecken. Man kann auch das Eis vom Innern her unter dem Ge frierpunkt halten – durch ein Gemisch aus Eis und Salz oder durch tiefgekühlte Gase, die man durch Röhren zu führt. Wir benutzten sowohl die eine - als auch die andere Methode und außerdem noch einige neuere. Das Ergeb nis sehen Sie hier – dieses im vorigen Winter erbaute Häuschen hat den Frühling, den Sommer und den Herbst überdauert und wird nach unseren Berechnungen wohl behalten in die nächste Kälteperiode eintreten…“ Tolja lauschte dem Professor mit wachsendem Erstau nen. Es war schwer, das überlieferte Mißtrauen gegen über einem unbeständigen Material wie dem Eis zu überwinden. Aber die greifbaren Tatsachen ließen sich nicht ableugnen: dieses Eishaus, die Stufen, die Tdr, die Fenster, die Balken und das Dach aus Eis. Alles war ge nauso wie in dem Buch von Kraft, nur der Elefant fehlte. Dafür standen aber rings um das Eishaus dunkelgrüne Sträucher und üppige Apfelbäume, deren schwer belade ne Zweige durch kräftige Holzlatten abgestützt werden mußten. 4. Das Museum für Eiskunst Der Leiter der Expedition auf der Vulkaninsel, der zweifache Stalinpreisträger, Doktor der technischen Wis senschaften, Professor Andrian Michailowitsch Tscher now, war als hervorragender Fachmann und Neuerer auf dem Gebiet der Kältetechnik bekannt. Wenn der Profes
sor in einem Fragebogen eine Antwort auf die Fragen: „Welche wissenschaftlichen Werke haben Sie verfaßt, welche Erfindungen oder Rationalisierungsvorschläge haben Sie gemacht?“ geben mußte, so sah er sich ge zwungen, stets noch sechs zusätzliche Blätter einzukle ben. Der Professor hatte ein dreibändiges Werk unter dem Titel „Die Kälte“ verfaßt, nach dem alle Kälteinge nieure studierten. Der Professor hatte selbst Lagerräume, Feuerstellungen und Verbindungsgräben aus Eis gebaut, von denen er seinen Arbeitern erzählte, und leitete auch das Einfrieren des Bodens beim Bau der Metrotunnel im Schwemmsand. Außerdem war er der Erfinder einer neu en Gefriermethode, doch davon soll später noch die Rede sein. Die Arbeitskraft des Professors war wirklich er staunlich. Er vermochte Vorlesungen zu halten, Lehrbü cher zu schreiben, fünf, sechs Probleme zur gleichen Zeit zu bearbeiten und drei Dutzend Vorschläge zu überlegen, die eigentlich noch nicht an der Reihe waren. Die Stu denten sagten im Scherz, daß im Kopf Andrian Michai lowitschs ein Fließband enthalten sei, das automatisch alle 20 Minuten eine neue Erfindung fertigstelle. Die Studenten übertrieben natürlich wie gewöhnlich, trotz dem stand fest, daß der Professor mehr als einmal seine Zuhörer durch die Vielseitigkeit und den Reichtum seiner Ideen in Begeisterung versetzt hatte. Als man einmal in der Geographischen Gesellschaft die Pläne zur Umgestaltung des Klimas in den kommenden Fünfjahrplänen besprach, meldete sich Professor Tscher now zur Diskussion. Er ging mit einem kleinen Blatt Pa pier in der Hand zum Rednerpult und sagte: „In letzter Zeit bin ich da auf einige Gedanken gekommen, die ich als Kältetechniker nicht bis zu Ende durchdenken kann.
Ich möchte gern, daß die hier versammelten Hydrotech niker, Geographen und Klimatologen über diese Proble me nachdenken. Erstens: In den Gebieten, wo bereits eine künstliche Bewässerung besteht, ist es unbedingt notwendig, die Winterberieselung einzuführen. Versuche haben gezeigt, daß eine Winterberieselung den Ernteertrag um etwa zehn Prozent erhöht. Im Winter gibt es stets genug Was ser, das unter dem Eis Ins Meer abfließt, ohne Nutzen zu bringen. Zweitens: Man kann auch Wasservorräte für den Sommer schaffen, indem man während des Winters Was ser auf brachliegendem Gelände gefrieren läßt. Sehr gro ße Eismassen von der Größe eines Sees können im Sommer das Klima beeinflussen, da sich beim Tauen die Luft abkühlt und Feuchtigkeit aufnimmt. Drittens: In kleinen und großen Wasserreservoiren kann man die nutzlose Wasserverdunstung dadurch verhin dern, daß man im Winter auf künstlichem Wege die Eis fläche verstärkt. Das ist ganz einfach: man braucht nur nach dem Gefrieren des Sees Wasser unter dem Eis her auszupumpen und es oben auf das Eis zu gießen oder das noch junge Eis durch Sandaufschüttungen zu versenken. Durch diese einfache Methode kann man eine Eisschicht von vier bis fünf Metern Stärke herstellen. Das Ergebnis ist eine Verzögerung des Tauprozesses im Sommer und die Verhinderung nutzloser Verdunstung. Viertens: Ist es notwendig, das Tauen zu regulieren, so braucht man nur Asche oder Ruß auf das Eis zu schütten. Bekanntlich erwärmen sich schwarze Gegenstände ra scher als weiße. Auf diese Weise läßt sich der Tauvor gang bei den ewigen Eisflächen im Tien-Schan-Gebirge beschleunigen, und alle Flüsse Mittelasiens erhalten zu
sätzliches Wasser. Fünftens: Durch dieselbe Methode kann man das Auf tauen der Eismassen in der Arktis beschleunigen und die Schifffahrtsbedingungen auf dem nördlichen Seeweg wesentlich verbessern. Doch hier müssen Klimatologen entscheiden: erwärmt sich dadurch das Klima oder führt das im Gegenteil zu einer neuen Kälteperiode im Nor den?“ Vierzehn solcher Punkte folgten hintereinander. Einige Vorschläge Professor Tschernows bezogen sich vielleicht auf die fernere Zukunft, doch einige andere würden bereits in den nächsten Jahren vei wirklicht wer den können. Der Professor war ein heftiger Gegner der jenigen Stubengelehrten, die jahrelang den gleichen Ge danken entwickeln und sämtliche Einwände nur deshalb von vornherein verwerfen, weil sie von anderen gemacht werden. Er befand sich ständig auf der Suche nach neuen, interessanten Ideen – gleichgültig von wem sie stamm ten: von einem berühmten Gelehrten, einem Ingenieur, einem Studenten oder einem Arbeiter. Oft kam es vor, daß er in einem noch längst nicht ausgereiften Vorschlag die Fähigkeit zum selbständigen Denken erkannte, seinen Urheber zur Weiterentwicklung dieser Idee drängte, ihn ermunterte und anfeuerte, Ratschlage erteilte, korrigierte und vertiefte. Wenn aber die neue Arbeit druckfertig war und der junge Autor zu ihm kam, um ihn um seine Unter schrift unter das Werk zu bitten, zuckte der Professor nur mit den Schultern. „Entschuldigen Sie, was habe ich damit zu tun?“ sagte er. „Sie haben doch alles von Anfang bis Ende selbst gemacht. Und die Grundidee stammt auch von Ihnen – erinnern Sie sich noch, wie wir uns im Seminar sogar gestritten
haben?… Nein, nein, ich habe hieran kein Verdienst. Und im übrigen – die Hauptsache ist, daß die Arbeit Nut zen bringt, wer sie unterschrieben hat, das ist eine zweit rangige Frage.“ Hätte Tolja das alles; schon damals gewußt, so wäre er schon viel früher zum Professor gegangen; so aber wagte er ihm seine Arbeit nicht eher zu zeigen, als bis er sie völlig fertig hatte. Einen ganzen Monat lang arbeitete er in der mechani schen Werkstatt. Wenn er am Abend seine Tagesproduk tion abgegeben hatte, blieb er noch etwa drei Stunden länger und hantierte an seiner Drehbank herum. Außer dem bemerkten die Arbeiter, daß Tolja an den Sonntagen über die Bucht zur Südseite fuhr und dort im Schnee wühlte. Etwa ein Monat war seit seiner Ankunft vergan gen, als sich Tolja endlich entschloß, zum Leiter der Ex pedition zu gehen. „Ich möchte Sie bitten, Andrian Michailowitsch“, sagte er, „mir aus dem Lager ein wenig von dem Frostpulver zu geben, mit dem Sie die Wände ausbessern. Ich habe hier einige Kleinigkeiten gemacht… immerhin wäre es schade, wenn sie zerschmelzen würden.“ Er entfaltete ein mitgebrachtes Bündel und legte ein Schachspiel auf den Tisch, das ganz aus Eis bestand: gedrechselte rundköpfige Bauern, gezackte Türme und bärtige Könige mit einem langen Umhang, die ein wenig Professor Tschernow ähnelten… Das Schachbrett war ebenfalls aus Eis gemacht – die einen Quadrate aus durchsichtigem Eis von grünlicher Farbe, die anderen aus undurchsichtigem weißem. Natürlich hatten diese kleinen Eisfiguren mit den Auf gaben der Expedition nichts zu tun, doch es entsprach
nicht dem Charakter des Professors, den jungen Dreher so ohne weiteres wieder zu entlassen und ihm nur einen gleichgültigen Zettel in die Hand zu drücken: „An den Überbringer ist auszugeben…“ „Wie hast du denn diese Figuren gemacht?“ fragte der Professor. „An der Drehbank? Und mit welcher Schnitt geschwindigkeit? Ist das Eis dabei nicht getaut? Und sind die kleinen Zähnchen nicht abgebrochen? Wie bist du überhaupt auf diesen Gedanken gekommen?“ Tolja faßte Zutrauen und zog das Buch von Georg Kraft aus seiner Tasche. „Wenn die alten Meister früher schon so gearbeitet ha ben“, sagte er, „so wäre es für uns eine Schande, wenn wir hinter ihnen zurückbleiben würden. Wir haben doch eine neue Technik und auch besseren Stahl. Ich glaube, man könnte Ihr Eishaus ganz nach dem Vorbild dieses Buches einlichten.“ „Das ist eine prachtvolle Idee“, meinte der Professor, „gründen wir ein Museum für Eiskunst, Machen wir fol gendes: In den Abendstunden beschäftigst du dich mit der Ausstattung des Eishauses. In erster Linie stellst du Möbel, Geschirr und alle sonstigen Kleinigkeiten her… Im Winter bauen wir dann die größeren Sachen: die Säu len, eine Skulptur und die architektonischen Verzierun gen. Im nächsten Jahr rüsten wir ein Eisschiff aus, laden unser Eishaus darauf und schaffen es auf dem Seewege nach Leningrad. Sollen die Zweifler nur sehen, was man aus Eis alles machen kann!“ So begann Tolja mit der Verschönerung des Eishauses. Nach dem Schachspiel folgten ein Eistisch, ein Schreib zeug, ein Eiskamin mit Brennholz aus Eis, ein Eisbett, eine Lampe und Stühle. Jedesmal, wenn Tolja ein neues
Stück ins Eismuseum brachte, dachte er mit Vergnügen daran, wie man das alles auf ein Schiff verladen würde, um es zusammen mit dem Eishaus über den Ozean zu schicken. 5. Ein Frachtfloß aus Eis Es war aber gar nicht notwendig, das Eishaus nach Le ningrad zu befördern, um es der wissenschaftlichen Welt zu zeigen. Mit Beginn der Schiffahrtssaison kamen mit dem ersten Dampfer Gäste zur Vulkaninsel: eine Regie rungskommission, Experten, Vertreter wissenschaftlicher Forschungsinstitute und Zeitungskorrespondenten. Der Professor zeigte den Gästen das Eishaus, faßte dann den verlegenen Tolja am Ärmel und sagte: „Und das ist unser Meister: der erste Eisdreher.“ Mit großem Interesse be trachteten die Besucher die schön ausgeführten Eisge genstände und erkundigten sich nach ihrer Herstellung. Doch wie alle echten Meister sah Tolja in seiner Arbeit nichts Besonderes. „Das ist ganz einfach“, erklärte er, „man sägt ein Stück mit der Kreissäge ab und bearbeitet es dann an der Werkbank. Man kann eine Färbung erzielen, indem man bereits dem Wasser vor dem Gefrieren ein Farbpulver beimischt. Die Bilder auf dem Fenster habe ich nicht gemacht, dafür haben wir einen Künstler namens Matwe jew – den Klubleiter. Ebenso wie man mit Farben auf Papier malt, kann man auch ein Mosaik aus Eis herstellen – sein Farbenspiel wird sogar noch schöner…“ Die Besichtigung war bald beendet. Ein Ingenieur kam mit der Meldung ins Museum, daß die Arbeiter fertig seien. Professor Tschernow führte seine Gäste ans Ufer, um ihnen seine Hauptarbeit zu zeigen, die während des
ganzen Winters langsam und gründlich vorbereitet wor den war. In der Bucht ging es heute ungewöhnlich leb haft zu. Eine ganze Flotille – acht Schlauchboote – stach in See. Sie versammelte sich rings um den kleinen Dampfer „Grosny“, der zur Versuchsstation gehörte. Als der Professor ans Ufer trat, gab der Dampfer ein Pfeifsi gnal und setzte sich langsam in Bewegung, ein langes Netz hinter sich herziehend. Die Schlauchboote bildeten eine gerade Linie entlang des sich entfaltenden Netzes. Rein äußerlich sah alles wie Fischfang aus. Der Dampfer „Grosny“ beschrieb nun eine ganze Ellip se und gab erneut ein Pfeifsignal, auf das hin auf allen Schlauchbooten am Netz gleichzeitig Bewegung ent stand. Am Bug eines jeden Bootes standen kanonenähn liche Apparate, aus denen dicke Strahlen einer sprühen den, dichte Dampf wölken erzeugenden Flüssigkeit he rauszuschießen begannen. Sofort spürte man eine tiefe Abkühlung, die Luft wurde frisch und roch wie nach ei nem Gewitter. Plötzlich blinkte in den zerfließenden Dampfschwaden etwas Hellweißes auf, und im gleichen Augenblick be fanden sich die Schlauchboote inmitten eines Ringes fri schen, soeben erst gebildeten Eises, das am Metallnetz hängenblieb. Die Boote fügten diesem ersten Ring sogleich einen zweiten hinzu. In bestimmten Abständen voneinander schwammen sie inmitten der Ellipse. Die Steuerleute gossen aus ihren kurzläufigen Kanonen den sprühenden Stoff auf das Wasser, das sich sofort in Eis verwandelte. Nachdem so auf der blauen Glätte der Bucht ein ovales Eisgebilde entstanden war, stießen die Boote bis zur Mit te vor, um diesmal das Wasser strahlenförmig einzufrie
ren. Dadurch erhielt der flache Ovalring gefrorene Spei chen und sah jetzt aus der Vogelperspektive wie ein plattgedrücktes Rad aus. Immer mehr glitzerndes Eis entstand aus dem blauen Wasser, und schließlich befan den sich die Schlauchboote auf einer Eisscholle – wie Fische, die von der Brandung an Land gespült wurden. Als die Eisscholle im Rohbau fertig war, begannen die Arbeiter, auf seiner Oberfläche verschiedene Anlagen zu errichten: einen Bordrand, einen Eiswürfel am Bug und am Heck eine Art offenes Deck. Die Leute hatten das den ganzen Winter über geübt, deshalb arbeiteten sie jetzt schnell und zielbewußt. An den Rändern der Eisscholle standen Pumpen, die mit zehn Mündern zugleich unter lautem Glucksen und Ächzen Wasser ansaugten… Neben jeder Pumpe stand ein Arbeiter mit einem Schlauch, ihm gegenüber ein anderer mit einem Ballon, der wie ein Feuerlöscher aussah. Der eine lenkte den Wasserstrahl in die gewünschte Richtung, der andere schüttete ein feines Pulver auf das Wasser, und sofort wurde aus dem Wasser lockeres, zuckerartiges Eis. Mit einer erstaunlichen Ge schwindigkeit stellten die Arbeiter hieraus flache Erhö hungen, Türmchen, Würfel, Einfriedungen und Stufen her. Allmählich bekam die Eisscholle das charakteristi sche Aussehen eines Dampfers, oder genauer gesagt, eines Lastkahns mit hohem Bug und einem großen Flachdeck. Und es war auch wirklich ein Lastkahn. Kaum hatte man das Deck fertiggestellt, als am Bug schon zwei Ringe befestigt wurden. Die Arbeiter warfen ein Tau zur „Grosny“ hinüber, und geschäftig zog der Dampfer die neugeborene Eisscholle zur Anlegestelle, wo bereits große Haufen von Tauen, Ankern, Ketten, Fässern, Kästen, Zelten, Stapel von Ballons und ein
kompliziertes Rohrsystem auf sie warteten. Während der Hafenkran die schwere Fracht auf das Eis beförderte, halfen die Schiffsbauer beim Verladen. Tolja Saizew aber bewaffnete sich mit einem Pinsel und malte auf die zuckerartige Bordwand der Eisscholle mit großen Buchstaben: „POBEDA“ Frachteisfloß Nr. 1 6. Eine Reis« auf der Eisscholle Der russische Schriftsteller Korolenko berichtet in sei nen Lebenserinnerungen von einem Engländer, der eine Prämie für die Erfindung eines neuen Wortes aussetzte. Anscheinend war diesem Engländer nicht bekannt, daß neue Wörter in einer Sprache zusammen mit jeder neuen Erscheinung und jedem neuen Begriff auftauchen. Wir merken schon gar nicht mehr, wieviel neue Wörter uns die Oktoberrevolution gebracht hat: Komsomolze, Kol chosbauer, Stoßarbeiter, Agrostadt, Mitschurinzüchter, Fünfjahrplan – alles Wörter und Begriffe, die man früher in keinem Lexikon fand. Jede Erfindung bereichert die Sprache durch neue Wör ter: Bezeichnungen für neue Maschinen und ihre Teile, für neue Berufe und Arbeitsmethoden. Betrachten wir z. B. nur, welche Wörter uns die Erfindung des Flugzeugs gegeben hat – Jagdflugzeuge, Bomber, Leitwerk, Flug platz, Rollfeld, Aerodynamik, Bordmechaniker, Pilot und Pilotin. Zusammen mit den neuen Maschinen hielten in das sowjetische Dorf auch Wörter wie Traktorist und Mähdrescherführer ihren Einzug, bald gab es auch Be griffe wie Dorflesestube, Wanderkino und Dorflaborato rium. Die neue Wissenschaft brachte Wörter wie Jarowi sation, durch neue Arbeitsmethoden entstanden Bezeich
nungen wie Schneeaufhaltung und Nestanpflanzung. Diese neuen Wörter waren Bestandteile des neuen Le bens und verdrängten für alle Zeiten die überflüssigen, veralteten Wörter, wie z. B. Feldrain, Gemengelage, Ku lak und Kulakenhelfer, Abgabe, Landgendarm, Prügel strafe, von den Begriffen Gutsherr, Grundzins, Fron dienst und Leibeigenschaft schon gar nicht zu reden. Die von Professor Tschernow auf seiner Versuchsstation entwickelte Erfindung führte ebenfalls zur Geburt einer ganzen Reihe neuer Wörter: „Verspeichung“, „Innenver eisung“, „Obervereisung“ – so nannte man die aufeinan derfolgenden Arbeitsvorgänge zur Herstellung des Frachteisfloßes {ebenfalls ein neues Wort). Der das Was ser mit dem Schlauch zuführende Arbeiter hieß „Was serwerfer“ – sein Partner „Frostwerfer“, die einem Feuer löscher ähnlichen Apparate und die kurzen Kanonen auf den Booten trugen die Bezeichnung „Wasserwurfgeräte“, der das Einfrieren bewirkende chemische Stoff erhielt den Namen „Härter“. Das durchsichtige, grünliche Eis des Eishauses nannte man hier „Glaseis“, das unter den Füßen knirschende Eis des Eisfloßes hieß „Zuckereis“. Seine weiße Farbe beruhte auf den vielen in ihm enthal tenen Luftbläschen. Durch diese Luft war frisches Zucke reis zweimal leichter als Wasser und deshalb zur Beför derung von Flachten sehr geeignet. Davon konnte man sich schon am nächsten Tage über zeugen, als das Eisfloß 1200 Tonnen Fracht an Bord nahm (wenn man bei einer Eisscholle von einem Bord sprechen kann). Dazu gehörten die Maschinenanlage, die Pumpen, die zahllosen Ballons mit dem „Härter“, ein Riesengasbehälter und rund hundert Passagiere. Gegen drei Uhr nachts, in völliger Dunkelheit, waren die Lade
arbeiten beendet. Schnaufend und unter einem imposan ten Funkenregen zog der Dampfer „Grosny“ das massive Eisfloß hinter sich her. Es war ziemlich kühl, besonders auf dem Eise. Das hatten die Gäste nicht bedacht, deshalb hielten sie in ihren dünnen Sommermänteln sehnsüchtig nach Osten Ausschau, wo die Sonne zum Vorschein kommen mußte. Es wurde hell, als der Dampfer die dunkle Meerenge passiert hatte, die den Krater vom offenen Ozean trennte. Die Dunkelheit hatte sich nur noch in der Bucht gehalten. über dem Ozean war der Himmel jedoch schon hellgrau und am Horizont hellgelb. Die glatte Oberfläche des Ozeans besaß eine milchige Färbung. Die zarten Farben des Sonnenaufgangs wechselten fast jede Minute. Jetzt schien der ganze Himmel von flüssi gem Gold überzogen. Grünliche Lichtstreifen verdräng ten die Dämmerung immer mehr. Dann leuchtete eine himbeerrote Flamme auf, rosenfarbene Flecken huschten über das Wasser und tänzelten auf den Wogen hin und her. Die Passagiere schauten hingerissen auf dieses stumme Farbenspiel. Die Dunkelheit, die Kälte, die ver drießliche Stimmung nach der schlaflosen Nacht waren sofort vergessen. Man hörte laute bewundernde Rufe: „Wie schön! Welch herrliche Weite!“ Und irgend jemand sagte: „Hoffentlich dauert diese Fahrt recht lange!“ „Diese Eisflöße sind zwar langsam, doch für Touristen sehr geeignet“, bemerkte der Korrespondent der Zeitung „Sowjettourist“. „So müßte man auf der Wolga entlangfahren.“ „Nein, so ein Fluß ist dafür zu klein, sie taugen nur für die See.“ „Man könnte auch, über das Schwarze Meer von Odessa
nach Batum, entlang der Küste, damit fahren.“ „Mit der Zeit wird es sicher solche schwimmenden Er holungsheime geben.“ „Oder Pionierlager… oder Seefahrtschulen zum Bei spiel…“ „Doch werden sich die Jungen auf dem Eise nicht erkäl ten?“ Der Dampfer „Grosny“ legte in anderthalb Stunden et wa acht Kilometer zurück und machte gerade in dem Augenblick auf offenem Meer halt, als der feurige Son nenball am Horizont auftauchte und die ganze Oberfläche des Ozeans im Lichte der ersten Sonnenstrahlen zu fun keln begann. Sofort setzte die Arbeit ein. Die Frostwerfer rollten ihre endlos erscheinenden Schläuche auf, und Professor Tschernow begab sich mit den Ingenieuren und seinen Gästen über die mit Schlacke bestreuten und doch glatten Treppenstufen zum Kommandoturm. Hier blieb der Professor vor einem kleinen Leuchtschirm stehen. Auf diesem Schirm zogen unbestimmte Schatten vorüber, gleichzeitig ertönte ein unverständliches dumpfes Rau schen. „Sehen Sie sich das genau an“, sagte der Professor bedeutsam, „vor Ihnen steht der Leuchtschirm eines Empfängers – eine ziemlich gelungene Kombination zwischen Fernsehempfänger und Echolot. Es ist das neueste Versuchsmodell, das wir soeben erst erhalten haben.“ Unterdessen kam aus dem Gerät ein lautes Knacken, und darauf zeigte sich auf dem Schirm ein kla res Bild. Anscheinend war der Empfänger erst jetzt rich tig eingestellt. Man erkannte einen dunklen Steilhang mit gezackten Felsen und die deutlichen Umrisse eines Dampfers – den aufragenden Bug, das flache Deck und den charakteristischen Geschützturm, der aus einzelnen
Metallblöcken zusammengesetzt schien. Die unklaren Silhouetten von Fischen, die an dem Schiff vorbei schwammen, ließen keinen Zweifel: der Leuchtschirm zeigte den Boden des Ozeans. Einige Minuten lang blieb das Bild völlig klar, dann wurde der rechte Rand des Schirms trübe, und ein Nebelfleck bewegte sich auf den Kreuzer zu. „Sehen Sie, wie schnell die Vereisung Fortschritte macht“, meinte Professor Tschernow und deutete auf den Nebel. Weitere Erklärungen sind hier wohl kaum nötig. Gestern noch hatte die Kälte beim Bau eines Lastkahns geholfen, heute hob die Kälte ein gesunkenes Schiff. Je der Kubikmeter des leichten „Zuckereises“ konnte 500 Kilogramm heben (natürliches Eis ist schwerer und seine Hubkraft fünfmal geringer). Der Kreuzer wog 16 000 Tonnen. Um ihn wieder zum Schwimmen zu bringen, mußte man an seinem Rumpf mindestens 32000 Kubik meter Eis anfrieren lassen, in Wirklichkeit jedoch viel mehr, da der Kreuzer ja voller Wasser war und erst vom Meeresboden losgelöst werden mußte. Die Besatzung des Eisfloßes arbeitete mit ungewöhnli cher Anspannung. Das Gefriermittel „Härter“ wurde mit Schläuchen in eine Tiefe von 300 Meter geleitet. Eine kleine Unachtsamkeit – und die Schlauche konnten am künstlichen Eis festfrieren. Noch schlimmer wäre es, wenn die Eisscholle am Meeresboden haften würde… Dann mußte man erneut monatelang warten, bis sie auf taute, und dann wieder von vorn beginnen. Um das zu vermeiden, befestigte man das Eis nicht an den Bord wänden, sondern am Deck des Kreuzers. Der Professor beobachtete persönlich unablässig die schwarzen Linien der Schläuche und kommandierte in rascher Folge:
„Nummer 4 hoher… noch höher… noch…“ Lärmend hoben und senkten die Motore die Schläuche. Die Schlauchboote trieben auf dem Ozean hin und her. Zu weilen stieg vom Grund Eis nach oben und stieß kra chend zusammen. Die tiefe Morgenruhe belebte sich durch einen frischen Wind. Das milchige, spiegelglatte Wasser wurde erst blau, dann blaugrün und schließlich am Horizont fast lila. Schwere Wellen ließen das Eisfloß spürbar erzittern, einige von ihnen überspülten es und ließen auf dem unteren Deck glänzende Fischlein und Medusen – halbdurchsichtige, unbewegliche Gallert klümpchen – zurück. „Höher! Höher! Etwas tiefer!“ schrien die Arbeiter an den Motoren durcheinander. „Tank Nr. 7 ist leer“, meldete der Oberfrostwerfer, und der Chefingenieur addierte im Kopf die Zahlen, die er mit Kreide auf einer Tafel neben dem Leuchtschirm no tiert hatte: „28 000 Kubikmeter“ (der vermutete Raumin halt der Eisscholle unter Wasser). So ging es acht Stunden lang weiter. Die Abbildung des Kreuzers auf dem Schirm wurde allmählich immer trü ber. Irgendwo in der Tiefe bildete sich ein riesiger Eis berg, doch an der Oberfläche blieb vorerst alles unverän dert. Das Ende kam plötzlich und unerwartet… das Bild auf dem Schirm begann zu beben, und bevor jemand die se Bewegung bemerken konnte, schrie der Professor: „Alarm!“ Durchdringend heulte die Sirene des Dampfers „Grosny“. Alle Motore begannen mit voller Kraft zu ar beiten und zogen die Schläuche heraus… die Schlauch boote zerstreuten sich rasch nach allen Seiten.
Ein bis zwei Minuten war alles noch ruhig. Dann blitzte urplötzlich etwas in der Sonne auf. „Festhalten!“ schrie der Professor, und im selben Augenblick schon überflute te eine Riesenwelle graugrünen Wassers den Bug des Eisfloßes. Einige Sekunden lang richtete sich das Eisfloß steil auf, die Menschen fielen hin und hielten sich krampfhaft am Geländer fest. Schreckerfüllt starrten sie in das tobende Meer. Dann wurde das Wasser ruhiger, das Eisfloß senkte sich in seine normale Lage, und die Menschen starrten auf den aufgestiegenen Eisberg von der Größe eines zweistöckigen Hauses und den darin eingeschlossenen Kreuzer, dessen beschädigter Bug steil aus der Eismasse ragte,
7. Neue Wege Während diese Zeilen niedergeschrieben werden, beför dert ein Spezialdampfer das gehobene Schiff ins Repara turdock. Der Kreuzer hatte noch viel Mühe verursacht. Um den Schiffskörper in eine normale Lage zu bringen, mußten zusätzliche Eisblöcke am Heck befestigt werden. Nunmehr war das Schiff fast völlig von Eis umgeben. Wie Schwimmsäcke hielten die Eismassen den durchlö cherten Rumpf über Wasser. Zusammen mit einer Gruppe Frostwerfer macht Tolja Saizew diese Reise mit dem vereisten Kreuzer mit. Er hat sich diesen Posten erbeten, da er eine Prüfung als Student des Kältetechnikums ablegen wollte. Professor Tschernow befindet sich gegenwärtig in Mos kau, wo weitgehende Pläne zur Hebung gesunkener Schiffe besprochen weiden. Die neue Methode erlaubt ein Arbeiten in beliebiger Tiefe. Sicher wird es gelingen, alle während des Vaterländischen Krieges von den Fa schisten versenkten Schiffe wieder in Dienst zu stellen – das sind praktisch alle, deren Hebung und Reparatur ei nen Sinn hat. Die Geschichtsforscher wollen gern die Reliquien der früheren russischen Siege wieder herstellen – sie planen eine Hebung des bei Balaklawa versenkten englischen Geschwaders und der schwedischen Schiffe, die bei Hangut zerstört wurden. Vielleicht wird man auch den legendären Dampfer „Tscheljuskin“ vom Grunde des Tschuktschen-Meeres heben. Und natürlich wird Professor Tschernow bei den Be sprechungen wieder ein aus seinem Notizbuch gerissenes Blatt hervorziehen und sagen: „Ich möchte gern, daß die sowjetischen Wissenschaftler einmal über folgende Probleme nachdenken…“
So endete der Bericht aus der sowjetischen Zeitschrift, die ich auf Befehl Chilis mit Freddy zusammen übersetz te. Sechstes Kapitel Ich muß sagen, daß mich dieser russische Aufsatz au ßerordentlich interessierte und nicht nur seine technische Seite. Ich glaubte in eine völlig andere, unverständliche Welt zu schauen. Wirklich schade, daß der Aufsatz schon zu Ende war. Eine Menge Fragen gingen mir durch den Kopf, die si cher dem russischen Leser völlig sinnlos erschienen wä ren. Welche Firma finanzierte die Arbeiten der Expediti on, wie hoch waren die Unkosten für die Schiffshebung, und welchen Gewinn erzielte man dabei? Warum wurde nicht erwähnt, ob Professor Tschernow reich war? – . bei einer solchen Fülle eigener Arbeiten und Patente mußte er doch über ein ungeheures Kapital verfügen? Unbe greiflich erschien mir auch, aus welchem Grunde er die jungen Wissenschaftler so sehr unterstützte – er zog sich doch nur eine Konkurrenz heran. Ich beachtete besonders die Entwicklung des jungen Drehers, Sollten die Russen wirklich Arbeiter in eigenen Lehranstalten ausbilden, sollte es wahr sein, daß Dutzende von Werken Dreher suchen, dazu sogar noch unerfahrene, junge? In diesem Falle konnte man die Russen nur beneiden. Mein Vater war Setzer, und zwar ein sehr guter Setzer. 19 Jahre hin tereinander war er nicht arbeitslos, und das ist bei uns wirklich eine große Seltenheit. Bevor er jedoch Setzer wurde, arbeitete er einige Jahre als „Druckereigehilfe“ – d. h. er wischte Staub, scheuerte die Fußböden und lief dreißigmal am Tage in den Laden…
Während des Krieges hat man uns erzählt, daß die Russen gutmütige Bären und ausgezeichnete Soldaten seien. Wir überließen ihnen gern die schwerste Arbeit – die Vernichtung der Faschisten – , die auch uns den Weg nach Europa frei machte. Nach dem Kriege wurden die Russen in unseren Zeitungen als blutgierige Bären und bösartige Feinde jeglicher Kultur gebrandmarkt… Doch nun beauftragte mich mein Chef, einen Aufsatz dieser „Feinde der Kultur“ zu übersetzen, um die Errungen schaften eines russischen Erfinders zu studieren, der nicht etwa einen neuen Panzer oder eine neue Atombom be ausgearbeitet hatte, sondern eine ganz friedliche Me thode zur Beförderung von Frachten und zur Hebung gesunkener Schiffe. Das stimmte mich natürlich nach denklich. Am meisten beschäftigte mich aber die technische Idee des Professors Tschernow. „Auf Sandboden mit Sand bauen, auf Tonerde – mit Ton und auf dem Wasser – mit Wasser!“ Was für Möglichkeiten eröffneten sich da für einen Bauingenieur! Man konnte Talsperren, Pfeiler, Kais, An legestellen und Wellenbrecher, Brücken und Fähren, Flugplätze, Flöße, Lastkähne und Unterwasseranlagen vollständig aus Eis bauen. Dann brauchte man keine Steinplatten heranzuschaffen, brauchte sie nicht zu bear beiten, nicht aneinanderzureihen, man konnte ohne Ze ment, ohne Armaturen, ohne Verschalung und ohne Un terwasserarbeiten bauen. In diesen Tagen erfuhr ich, was Eingebung bedeutet. Von Mittag bis sechs Uhr abends schlenderte ich am Ufer umher, verbrannte mir die Schuhsohlen im heißen Sand und stellte in Gedanken Wände und Träger aus weißem,
grünem, dunkelblauem und halbdurchsichtigem Eis her… Stundenlang stand ich auf einem Fleck, schaute auf den lichtüberfluteten Ozean und rechnete mit einem Stock im Sande, so daß die Posten schon mißtrauisch herüberschauten… Selbstverständlich wußte ich sehr wohl, daß meine Überlegungen nichts Besonderes dar stellten. Sicher hatte Professor Tschernow auf der ande ren Seite des Ozeans vor ein, zwei Jahren genau die glei chen Luftschlösser aus Eis gebaut. Bestimmt hatte auch er seinerzeit Vorgänger. Doch diese Luftschlösser konn ten Wirklichkeit werden, seitdem dem Professor das Ge friermittel „Härter“ zur Verfügung stand. Andererseits konnte auch ich Anlagen aus Eis errichten, wenn ich die gewöhnliche flüssige Luft zu Hilfe nahm, wie sie in so großer Menge in Korpus B erzeugt wurde. Ich bedauerte, daß ich die Wasserbautechnik nur ober flächlich kannte. Warum hatten wir nur im College so flüchtig gearbeitet, anstatt die einzelnen Fächer wirklich zu studieren? Wir beeilen uns, ein Diplom zu erlangen, Geld zu verdienen und zu arbeiten. Wir stopfen uns den Kopf mit Wissen voll, um es beim Examen vorzuweisen, um diese „Ware“ anzubieten, sie günstig für eine Zensur zu verkaufen und dann sofort wieder zu vergessen. Doch jetzt nahm ich mir mit großem Vergnügen und ohne Hast die Bücher vor. Ich las gründlich, machte mich mit der neuen Sache vertraut und fand in manchen alten Zeit schriften längst vergessene Ideen, die sich jetzt verwirk lichen ließen. Nehmen wir z.B. die Idee der „blauen Kohle“. So nennt man die Energie von Ebbe und Flut im Meer. Zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden steigt das Wasser im Ozean durch die Mondanziehung durchschnittlich um
einen halben Meter. Der Mond leistet dabei eine unge heure Arbeit. Wir benutzen diese Kraft jedoch nur in den Flußmündungen, indem wir die Schiffe während der Flut in die Häfen bringen. In schmalen, langen Buchten erreicht das Gezeitengefäl le zuweilen eine Höhe von 10 bis 15 Metern. Das sind richtige Stauseen und Wasserkraftwerke, die von der Natur selbst geschaffen worden sind. Man braucht diese Buchten nur durch mächtige Staudämme abzuriegeln und in die Staudämme Turbinen einzubauen. Das Wasser wird diese Turbinen viermal innerhalb von viemndzwan zig Stunden in Bewegung setzen, wenn es bei der Flut vom Ozean in die Bucht strömt und wenn es bei der Ebbe zurückfließt.
Solche Stellen gibt es auf der Erde zu Dutzenden – die
Flußmündungen in England und Frankreich, die norwegi schen Fjorde, die Buchten in Kanada und den Vereinig ten Staaten… Ich zweifle nicht daran, daß Professor Tschernow bereits Eisdämme für russische Gezeiten kraftwerke im Hohen Norden oder am Ochotsker Meer entwirft. In Europa diskutierte man seinerzeit lebhaft ein Projekt zur Austrocknung der Nordsee. Dieses Meer ist nicht tief, seine größte Tiefe beträgt nicht viel mehr als hundert Meter. Zwei Staudämme – einer zwischen Eng land und Dänemark mit einer Länge von rund 600 Kilo metern und ein zweiter im Ärmelkanal zwischen der eng lischen und französischen Küste mit einer Länge von höchstens 30 Kilometern – würden dieses Meer völlig vom Ozean abriegeln. Dann müßte man einen Kanal bau en, um die gegenwärtig in die Nordsee mündenden engli schen, deutschen, holländischen und belgischen Flüsse in den Ozean abzuleiten, und schließlich das Wasser aus pumpen (ungefähr 4000 Kubikkilometer). Dann könnte man 10 Millionen Hektar ausgezeichneten Landes erhal ten, das durch verfaulende Wasserpflanzen reichlich ge düngt ist – das wären fruchtbare Felder, die ganze Ar meen solcher armer Teufel wie Joe Middle und mich ernähren könnten. Natürlich ist das keine leichte Aufga be. Und hierbei handelt es sich nicht nur um die Errich tung von Eisdämmen. Riesige Mengen Salzwasser müß ten über die Dämme gepumpt werden. 4000 Kubikkilo meter – das ist mehr als die jährliche Wassermenge des Amazonas und die dreizehnjährige des St.-LorenzStromes. Doch ich fand auch scharfsinnigere Projekte… Ein Deutscher schlug die Errichtung eines Staudammes an der Meerenge von Gibraltar vor, um das Mittelmeer vom Ozean abzuriegeln und es auf diese Weise in einen
See zu verwandeln. Zum Unterschied von der Nordsee brauchte man hier kein Wasser auszupumpen, es würde von selbst austrocknen. In etwa 50 Jahren hätte sich der Meeresspiegel um 200 Meter gesenkt, und dann könnte man in der Meerenge ein Riesenwasserkraftwerk bauen, dessen Kapazität so groß wäre wie die aller bestehenden Kraftwerke zusammengenommen. Seine Elektroenergie würde ausreichen, um alle Siedlungen und Städte an den neuen Küsten des verkleinerten Meeres zu versorgen und gleichzeitig die Sandwüsten der Sahara in einen blühen den Garten zu verwandeln. In einem Museum für Geschichte der Technik sah ich einmal die ersten Automobile. Unwillkürlich mußte man über sie lächeln – das waren Kutschen mit einem Motor unter der Fußstütze des Kutschers. Der Erfinder hatte eine neue Maschine geschaffen, hatte das Transportwe sen auf eine völlig neue Grundlage gestellt, aber noch nicht begriffen, daß die neue Maschine auch eine neue Form brauchte… Ein grundsätzlich neues Material wie das Eis verlangte auch neue Formen, und ich hatte ihm in Gedanken die Formen von Beton und Erde gegeben… Ich fühlte deutlich, daß hier noch unendliche Möglichkei ten verborgen lagen, die ich nur noch nicht entdeckt hat te. Schließlich befriedigten mich diese riesenhaften, je doch unbestimmten allgemeinen Gedanken nicht mehr. Ich. beschloß, einen konkreten Plan für ein Wasserkraft werk aus Eis zu entwerfen. Doch hierbei ging es wieder um eine Projektierungsarbeit, und darüber kann ich nicht so kalt und teilnahmslos sprechen… Wir wollen die Kraft des fließenden Wassers – die me chanische Bewegung eines zum Meer strömenden Flus ses – in nützliche Arbeit verwandeln. Wir wollen diesen
Fluß veranlassen, Metall zu schmelzen, Häuser zu be leuchten, zu weben, zu bohren, zu hobeln und uns mit der Straßenbahn zu befördern. Doch der Fluß fließt faul und träge dahin, schleppt die Lastkähne und Flöße ohne Eile, so daß sie nicht nur eine Straßenbahn, sondern jeder beliebige Fußgänger überho len kann. Da bauen wir quer durch den Fluß einen Damm, sperren ihn völlig ab und verlegen ihm den Weg ins Meer. Jetzt beginnt der Fluß zu steigen. Die Wassermenge nimmt immer mehr zu, sie überflutet die Ufer, und allmählich bildet sich nach Monaten oder Jahren ein ganzer See, den die Ingenieure Stausee nennen… Die Oberfläche dieses Sees liegt 10 bis 20, manchmal auch mehr als 100 Meter über dem früheren Wasserstand des Flusses. Dann beginnen wir das angesammelte Wasser abzulassen. Wir bauen einen künstlichen Wasserfall, verwandeln das geneigte Flußbett in eine Stufe und kon zentrieren in einem einzigen Punkt das Gefälle von etwa hundert Kilometern. Hier stellt man dann die Turbinen auf. Das Wasser strömt über die Turbinen, dreht sie, und die Drehung erzeugt Strom. Dieser Strom schmilzt Me tall, beleuchtet Häuser, webt, hobelt, bohrt und fährt uns in der Straßenbahn. Beim Bau eines Wasserkraftwerkes müssen wir also einen Staudamm errichten, Turbinen aufstellen, die Wasserströmung auf diese lenken, dürfen die Entlastungsanlage und die Absturzkammer nicht ver gessen und müssen die Schleusen für die Schiffahrt und die Flößerei, die Schleusenkanale berücksichtigen, schon gar nicht zu reden von den Bewässerungskanälen und den Stromleitungen, die das Wasser und den Strom zum Verbraucher befördern. Um mir die Aufgabe nicht selbst zu erschweren, beschloß ich, zunächst einmal ein ge
wöhnliches Wasserkraftwerk mit einem Wasserüberfall aus Beton, einer Absturzeinrichtung aus Stein und metal lenen Schleusentoren zu entwerfen, dessen Staudamm jedoch aus Eis bestehen sollte Ein Staudamm aus Eis! In Gedanken sah ich ihn schon vor mir: aus dem graublauen Flußwasser ragte ein hellweißer Dammbogen, der in der Sonne funkelte. Doch meine Phantasie hielt mich schon wieder zum Narren. Der Staudamm durfte nicht in der Sonne funkeln. Funkelte er, so begann er zu tauen, und gerade dagegen mußte ich mit ganzer Kraft ankämpfen. Was konnte man unternehmen? In dem russischen Auf satz hatte Professor Tschernow andeutungsweise von „einigen neuen Methoden“ gesprochen. Ich besaß keine Vorstellung von diesen „neuen Methoden“, doch war ich der Meinung, daß man zunächst auch mit den alten, längst allgemein bekannten Verfahren auskommen könn te. Das erste in dieser Reihe besteht in einer Schutz schicht, durch die man die Eismasse gegen Sonnenstrah len abschirmt. Diese Schicht kann aus Sägespänen, Schlacke, 7’orf, ja überhaupt aus jedem porösen, locke ren Material bestehen, das einen schlechten Wärmeleiter abgibt. Eine Sägespäneschicht von einem Meter Dicke bewahrt die Eismasse völlig vor dem Tauen. Jedermann weiß, daß in den nördlichen Ländern unter einer kleinen Erdschicht, die im Sommer auftaut, seit Jahrtausenden ewiges Eis verborgen liegt. Schwieriger ist schon die Sicherung des Unterwasserteils. Hier muß man den Staudamm wohl mit einer porösen Kunstmasse, wie beispielsweise Schaumbeton, verklei den. Wenn die ganze Anlage aber auf einem Untergrund aus Sand oder rissigem Felsgestein ruht, so ist es auch noch notwendig, die Sohle des Staudamms vor warmen
Strömungen zu schützen, die von unten durch den Sand oder das Gestein sickern können. Am einfachsten ge schieht das sicherlich dadurch, daß man den Erdboden vor dem Damm bis auf eine beträchtliche Tiefe zum Ge frieren bringt. Diese Schutzmauer aus gefrorenem Boden leitet das Sickerwasser in eine größere Tiefe und verhin dert so das Auftauen des Staudamms von unten her. Die zweite Methode besteht in einer Kältespeicherung. Man kann in den Dammkörper Gänge einbauen und sie in der kältesten Winterzeit mit Luft füllen. In diesen Gängen könnte man z. B. Behälter mit einem Gemisch aus Eis und Salz aufstellen. Davon hat auch Professor Tschernow bereits gesprochen. Man kann ferner den Staudamm mit einer Reserveeisschicht versehen, die so dick sein muß, daß im Sommer gerade soviel abschmilzt wie im Winter frisches Eis hinzukommt. Die dritte Methode sieht eine künstliche Abkühlung mit Hilfe elektrischer Kühlanlagen vor. Nach meinen Berech nungen braucht man für die Arbeit dieser Kühlanlagen nicht mehr als 3 bis 4 Prozent der gesamten Stromerzeu gung des Wasserkraftwerks. Das ist nicht weiter schlimm. Bei jedem Kraftwerk gibt es Stunden und Tage mit geringerer Belastung, deshalb würde man die unbe deutende Strommenge für die Kühlanlagen stets übrig haben. Welche Methode sollte man wählen? Anscheinend hing das von den örtlichen Bedingungen ab. So kann man nur in einem strengen Winter Kälte speichern; im Süden ist das gänzlich unmöglich. Bei Wasserkraftwerken konnte man ohne weiteres die Kühlanlagen verwenden, doch bei den Dämmen, die man zur Trockenlegung von Meeren errichtet, war kein überschüssiger Strom vorhanden. Ich
konnte wohl provisorische Berechnungen anstellen und tat das auch. Um jedoch eine genaue Lösung dieser Pro bleme geben zu können, mußte man kein „Wasserkraft werk an sich“ in beliebiger Form entwerfen, sondern ein ganz konkretes Wasserkraftwerk an einer bestimmten Stelle des Erdballs. Und nach langem Schwanken wählte ich zum Gegenstand meines Projekts ein Kraftwerk am St.-Lorenz-Strom. Doch da stieß ich sofort auf eine neue Schwierigkeit… Ich benötigte genaue Angaben über den Fluß: seine Was sermenge in trockenen und wasserreichen Jahren. Ich brauchte Längs- und Querschnitte, geologische Unterla gen über die Ufer und den Untergrund, die chemische Zusammensetzung des Wassers, die Schiffahrtsberichte, genaue Karten von den Uferbezirken. Auf den Palmenin seln ließ sich das natürlich nicht auftreiben, deshalb be schloß ich, Freddy um Hilfe zu bitten, der zusammen mit dem Chef ein- bis zweimal im Monat zu uns geflogen kam. Siebentes Kapitel Freddy hielt tatsächlich Wort – zur Belohnung für mei ne Übersetzung aus dem Russischen wurde ich zum Lei ter des Laboratoriums für Baumaterialien ernannt. Ob wohl ich hier 25 Dollar mehr in der Woche verdiente, interessierte mich als Konstrukteur die neue Arbeit nicht besonders. Von einem Tag zum anderen wiederholte sich das gleiche: die Laboranten formten kleine Kugeln aus Zementbrei, schüttelten Sand oder Kies in ihren Sieben und machten Probewürfel aus Beton. Doch ging ich ohne Widerrede ins Laboratorium, weil ich dort die Möglich keit hatte, Modelle zu bauen und das Eis als Baumaterial
zu untersuchen. Freddy besuchte mich sehr regelmäßig, um seine dreißig Prozent Vermittlergebühr zu holen. Anscheinend setzte ihn meine Redlichkeit ein wenig in Erstaunen. Er hielt mich für einen sympathischen, doch etwas verschrobenen Menschen und belehrte mich wie in alten Zeiten gern darüber, wie man leben mußte, wobei er mit Beispielen aus seinen Spekulationen oder den Spekulationsgeschäf ten Chilis nicht kargte. „Der Chef ist ein kluger Kopf“, meinte Freddy. „Er ver steht es, sogar aus Erde, Wasser, Luft und Feuer Geld zu machen.“ So war nun einmal Freddys Charakter. Er bewunderte stets Leute, die es weiter gebracht hatten als er selbst. Wenn ich ihm jetzt zuhörte, so erinnerte ich mich an un seren Fußballplatz, wo wir jungen Spieler uns seinerzeit um Freddy scharten. „Unser Trainer ist ein heller Kopf“, sagte Freddy da mals, „er versteht es, mit jedem Ball Tore zu schießen. Jungs, ihr müßt lernen, eure Beine wirklich zu beherr schen. Die Tore sind das Hauptkapital an der Fußballbör se.“ Ich unterbrach jedoch Freddys geistlose Reden und fragte ihn, ob Chili keine neuen Nachrichten über die Arbeiten Professor Tschernows erhalten habe. Da lächelte Freddy vielsagend und senkte seine Stimme: „Der Chef würde ohne Zögern selbst zehntausend Dollar für neue Berichte aus Rußland bezahlen. Aber das ist nicht so einfach! Erinnerst du dich noch daran, daß in dem Aufsatz, den wir gemeinsam übersetzt haben, ein Gasbehälter, irgendein Pulver und eine Art Dampf er wähnt wurden? Alle unsere Experten sagen übereinstim mend, daß die Russen mit fester Luft Kälte erzeugen. Der
Chef hat darauf Versuche angeordnet… doch rein gar nichts ist dabei herausgekommen. Niemand kann sagen, wo hier der springende Punkt liegt.“ „Aber wenn die Russen vereisten können, muß es doch irgendeine Methode geben“, bemerkte ich. „Sicher gibt es sie, aber versuche einmal, sie zu finden. Der Chef hat eine hübsche Summe in diese Versuche gesteckt, und immer noch zeigen sich keine Ergebnisse. Eine ganze Woche lang hat er vor Wut getobt, bis man ihm die Kon trollaktien der .Internationalen Kaugummi-Company’ angeboten hat. Der Chef hat diesen Kaugummi im Werte von drei Millionen Dollar verschluckt und sich damit getröstet. Drei Millionen Dollar! Das ist keine Kleinig keit! Uns beiden würde es für den Anfang reichen. Was würdest du tun, Alan, wenn du anderthalb Millionen hät test?“ Als mir Freddy diese unsinnige Frage stellte, die von Millionen Amerikanern während des Essens, nach dem Essen oder anstatt des Essens immer wieder gestellt wird, konnte er natürlich nicht wissen, daß ich mir darauf schon eine Antwort zurechtgelegt hatte. Am Tage vorher hatte ich einen ungefähren Kostenanschlag aufgestellt. Nach meinen Berechnungen brauchte ich gerade unge fähr anderthalb Millionen Dollar, um mit dem Bau be ginnen zu können. Und dann erzählte ich Freddy alles: vom Staudamm, von den Schleusen und dem Wasserüberfall, von der Filtration des warmen Grundwassers, vom Wasserkraftwerk am St.-Lorenz-Strom und den Mil lionen Farmen auf dem Boden der Nordsee. Freddy hörte sich meinen begeisterten Bericht mit ironi scher Neugier an, lächelte an manchen Stellen skeptisch, doch als ich von der Umsiedlung der Arbeitslosen auf den Meeresgrund sprach, begann er laut und unaufhalt
sam zu lachen. „Oh, ich kann nicht mehr (wieder eine Lachsalve)… Nein, welche Naivität! (Gelächter)… Ich kann einfach nicht glauben, Alan, daß du genauso alt bist wie ich, denn du sprichst wie ein Mädchen aus der Höheren Töchter schule. Neues Land für die Arbeitslosen?! Eine Million Farmen auf dem Meeresgrund?! Ist das dein Ernst? Nein, das kann ich nicht glauben.“ Ich war erstaunt und empört, verstand nicht, was er meinte, und sah bestimmt sehr dumm aus. „Hör zu, alter Junge“, sagte Freddy. „Wenn du es selbst nicht begreifst, will ich es dir erklären. Wir geben Europa Kredite, damit es Getreide auf der Getreidebörse in Chikago, Eipulver von Fox und Konserven von Chili kauft. Wer wird dir erlauben, zehn Millionen Hektar Land direkt bei London zu bebauen? Die Zeitungen verschlingen dich mit Haut und Haaren, man wird dich in irgendeinem Getreidespei cher lynchen. In Iowa und Kansas heizt man die Loko motiven mit Weizen, in Ohio übergießt man die Kartof feln mit Petroleum. Wir brauchen keine satten Farmer, sondern Käufer, Millionen Hungriger, die um Brot bitten, die Schulden machen und Kredite aufnehmen, die uns ihre Frauen, Kinder, Häuser und ihre unsterblichen See len verpfänden! Das brauchen wir! Denke du lieber dar über nach, wie man weitere zehn Millionen Hektar Land verwüsten kann, dann wird man dir Dank sagen. Armer Junge, du schlägst vor, Beton durch Eis zu ersetzen, und meinst, damit alle Schwierigkeiten gelöst zu haben. Glaubst du denn, es liegt am Beton? Nein, mein Lieber, die Sache verhält sich doch so, daß nach unseren Geset zen die Flüsse Staatseigentum sind und die Privatbesitzer der Elektrizitätswerke natürlich nicht wünschen, daß ih
nen der Staat mit billigem Strom Konkurrenz macht. Verhandlungen über ein Wasserkraftwerk am St.-LorenzStrom haben seit zehn Jahren zu keinem Ergebnis ge führt, weil die Wallstreet mit Hilfe ihrer Zeitungen und verschiedener Strohmänner im Kongreß dieses Projekt immer wieder zu Fall bringt. Da kommst du niemals mit deinen Ideen durch. Bestenfalls kauft man dir deine Pläne ab und legt sie in einen Panzerschrank.“ Ich war vollständig verwirrt. Das klang alles sehr wahr, doch ich wollte mein Projekt nicht aufgeben und zer brach mir den Kopf, um Gegenargumente zu finden. „Großmut, Wohlfahrt und Gerechtigkeit!“ fuhr Freddy fort, „das ist alles schön und gut in Wahlreden. Man sagt zwar, wir seien alle nur Durchreisende auf diesem Plane ten, doch ich für mein Teil möchte dann wenigstens die Reise in der ersten Klasse zurücklegen. Und du sitzt ganz unten im Schiffsbauch und planst neue Reisen! Glaubst du denn, unser Planet wird deinetwegen seine Bahn än dern? Das ist einfach lächerlich! Ich werde reich werden, während du mit deinen Luft schlössern verreckst. Auf der Börse werden Hirngespin ste nicht notiert, nach ihnen ist keine Nachfrage. Du soll test lieber nach Rußland fahren, die Roten haben eine Schwäche für Phantasten. Sicher hast du nicht zufällig russisch gelernt, wahrscheinlich besitzt du eine slawische Großmutter. Ich bemerke schon lange an dir etwas Un amerikanisches.“ „Nun, weißt du“, erwiderte ich, endgültig meine Selbst beherrschung verlierend, „ich möchte gern wissen, wer von uns beiden ein echterer Amerikaner ist. Meine Vor fahren sind auf der ,Mayflower’ herübergekommen, und als sie bereits wilde Truthähne verspeisten, haben sich
deine noch den Magen mit Makkaroni vollgeschlagen.“ Beleidigt ging Freddy fort, doch ich bemerkte das gar nicht mehr. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Freddy hatte die seltsamen Worte gebraucht: „Du solltest lieber nach Rußland fahren.“ Sollte er recht haben, und mußte man erst ein Roter werden, ehe man über nützliche Pro jekte nachdenken konnte? War es denn nicht möglich, ein ehrlicher, schöpferischer Mensch zu sein und gleichzeitig ein echter Amerikaner? Nein, ich schenkte Freddy keinen Glauben. Achtes Kapitel Zwei oder drei Tage lang war ich völlig mutlos und rührte meine Berechnungen nicht an. Doch brachte ich es nicht übers Herz, sie ganz aufzugeben, dafür hatte ich bereits zuviel daran gearbeitet. Allmählich bewies ich mir selbst, daß mein Freund im Unrecht war. Freddy war kein Wissenschaftler und kein Ingenieur, sondern Ge schäftsmann. Eigene Ansichten besaß er nicht, wahr scheinlich wiederholte er nur die Meinung Chilis. Aber in Amerika gab es1 genügend ehrliche und kluge Men schen, die mich verstehen und unterstützen würden. Nach einigem überlegen beschloß ich, Clay um Rat zu fragen. Ich wußte, daß mein früherer Chef ein begabter Mensch war. Clay war zwar zu bequem, um etwas Neues auszudenken, doch als Ratgeber schätzte ich ihn außeror dentlich. Ich habe ja bereits von ihm erzählt. Clay hörte mir aufmerksam, ernsthaft und sogar geduldig zu, ob wohl ich ihn auf seinem Wege zum Barhocker aufgehal ten hatte. Als ich fertig war, runzelte er seine hohe Stirn und sagte dann, für mich völlig unerwartet: „Ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen, Alan.“ Mir stockte der
Atem bei diesen Worten. Sah Clay etwa einen Fehler? Wo? In welcher Einzelheit? Doch Clay schwieg und schielte nach dem Trinkglas, in dem schon ein Cocktail mit der verlockenden Bezeichnung „Wundertrank“ für ihn bereitstand. „Ich meine nicht die technische Idee“, sagte er schließ lich. „Die Idee ist interessant und richtig ausgearbeitet. Sie müssen nur noch darüber nachdenken, wie man den Staudamm mit dem Ufer in eine feste Verbindung bringt, damit nicht das ganze Massiv wie ein Gletscher den Strom hinabtreibt. Aber das läßt sich lösen. Sie können Ihren Staudamm z. B. vor eine kleine Erhöhung stellen, damit er sich nicht vorwärts bewegen kann. Das kann man alles im Laboratorium überprüfen und eine entspre chende Lösung finden. Nur eines verstehe ich nicht: wo zu haben Sie sich das eigentlich ausgedacht?“ Nach meiner bitteren Erfahrung mit Freddy wagte ich schon nicht mehr, von der Million Arbeitsloser zu spre chen. „Natürlich“, fuhr Clay fort, „träumen Sie davon, Millionär zu werden. Wir haben alle einmal diese Kin derkrankheit mitgemacht. Doch das ist wirklich eine Utopie. In Wirklichkeit erhalten Sie dafür so gut wie nichts; den Gewinn steckt Chili ein. Ihre Idee wird ihm zehn oder hundert Millionen ein bringen. Er verdient sie allein durch die Lieferung von Eis. Doch was haben Sie mit Chili zu schaffen? Sie sind satt, haben Kleidung, Schuhe und sitzen im warmen Zimmer. Wärme gibt es hier sogar mehr als genug. Hat es für Sie einen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen, wie Chili hundert Millionen mehr verdienen kann? Sie wen den zehn Jahre Ihres Lebens dafür auf, und was wird das Ergebnis sein? Heute tragen die Arbeiter ihre Cents und
Dollars zu den Elektrizitätskönigen Smith, Jones und Robinson. Durch Ihre Bemühungen fließen diese Cents und Dollars dann in die Kasse einer neuen Monopolge sellschaft, deren Vorsitzender Chili sein wird und deren Teilhaber Smith, Jones und Robinson heißen. Sie werden wie ein Eichhörnchen zehn Jahre lang im Kreis herum springen, und das alles nur dafür, damit das Firmenschild wechselt. Schämen Sie sich, Alan, ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen.“ Das war alles, was Clay zu mir sagte. Ich versuchte, in Gedanken seine Worte zu zer pflücken und mir selbst zu beweisen, daß es zwecklos sei, auf ihn zu hören. Was der predigt, redete ich mir ein, ist alkoholisierter Buddhismus, eine CocktailAnschauung. Clay hat seinen Willen, seinen Verstand und seine Fähigkeiten in Alkohol aufgelöst. Dabei ist es wirklich schade um ihn. Nein, das war nicht nach mei nem Geschmack, nur alles zu verurteilen und selbst nichts zu unternehmen. Ich kam zu der Überzeugung, daß Freddy kein richtiger Ingenieur war und Clay kein echter Amerikaner. Doch irgendwo, dachte ich, muß es auch wirkliche Menschen geben. Wenn mein Vertrag abgelaufen ist, werde ich in die Staaten fahren und sie suchen. Sicher war das nicht einfach, doch neue Wege sind niemals leicht zu beschreiten. Zwar galt es, vor dem Bau noch das Geheimnis des rus sischen Eises zu enträtseln, aber ich zweifelte nicht dar an, daß dies möglich sei. Wenn die Russen das geschafft haben, sagte ich mir, können wir es auch. Ich selbst werde diese Forschungen durchführen, wenn es notwendig sein sollte. In jenen Tagen erschien mir alles sehr leicht. Ich fühlte mich so
stark, lebensfroh und voller Energie wie nie zuvor. Am liebsten hätte ich die ganze Welt zum Ringkampf aufge fordert und auf die Schultern gelegt. Bei der Arbeit war mir zum Singen zumute, und wenn ich allein war, lächel te ich froh vor mich hin. Das waren jene Tage, als ich Milly erwartete. Nicht ohne Grund habe ich sie bisher noch nie erwähnt. Wir kannten und trennten uns schon lange vor Beginn dieser Erzählung. Als ich aus der Armee zurückkam, war Milly Studentin. Sie befaßte sich mit der Geschichte der angewandten Kunst – das ist eines1 jener reizenden Fä cher, die man speziell für begüterte Mädchen erfunden hat. Ihr Vater war Arzt mit einer eigenen Praxis, die in Indianapolis einen guten Ruf hatte. Milly malte für eine Dilettantin ganz gute Aquarelle, war Meisterin im Schwimmen – in ihrem College – und schrieb einen interessanten Aufsatz über die Kostüme im Zeitalter Ludwigs XV. von dem ihr Professor sagte, daß er ausgezeichnet sei – für eine Studentin. In ihrem Col lege konnte Milly zweifellos Erfolge verzeichnen. Sie hatte eine etwas spitze Nase, helle Augenbrauen, blaue Augen mit spärlichen Wimpern und straffe, rosige Wan gen, wie ein gesunder Säugling. Milly benahm sich frei und ungezwungen, ohne sich deshalb gehen zu lassen, und glich in keiner Weise unseren Standardmädchen, die ausschließlich für den Flirt leben und von den 45 000 Wörtern der englischen Sprache nur die drei „entzük kend“, „schick“ und „vulgär“ benutzen. Milly konnte man mit einem Satz charakterisieren: das Leben war für sie ein Vergnügen. Sie schlief sanft auf ihrer Couch in mitten schön bestickter Kissen; sie aß mit großem Appe tit, lachte auch gern, oft ohne jeden Grund, liebte schöne
Kleider und konnte hingerissen zwei Stunden lang mit ihren Freundinnen über „Schleifchen und Bändchen“ schwatzen. Milly verstand ausgezeichnet zuzuhören. Mehrfach er lebte ich selbst ihre grenzenlose Geduld, wenn ich über Pionierpontons, die Dreierkonferenz oder die Spannun gen in der Armatur eines Eisenbetonträgers sprach. Milly verstand mich immer, und das ist ein großes Glück für einen Ingenieur. Ich habe nämlich berühmte Wissen schaftler getroffen, die sich darüber beklagten, daß ihre eigenen Frauen nicht einmal wüßten, weshalb ihre Män ner berühmt sind. Ich hatte mich sehr daran gewöhnt, Milly alles zu erzäh len, und als wir uns trennten (ich kehrte zur Armee zu rück), erzählte ich ihr in Gedanken immer noch, womit ich mich gerade beschäftigte – mit den Wellen des Oze ans, mit der Bindungsfähigkeit des Zements, mit meinem groben Sergeanten und mit den Briefen, die ich stets sehnsüchtig erwartete. Beim Betrachten einer schönen Landschaft suchte ich immer nach besonders anschauli chen Worten, damit Milly sie mit mir gemeinsam be wundern konnte. Wir wollten heiraten, sobald ich Arbeit gefunden hatte. Doch wie es damit stand, habe ich schon erzählt. Kurz bevor ich meinen grauen Anzug verkaufte, gingen wir endgültig auseinander. Ich selbst machte von mir aus Schluß, indem ich sie einfach nicht mehr aufsuchte. Viel leicht sind meine Anschauungen über die Ehe altmo disch. Ich bin der Auffassung, daß der Mann ein starker, zuverlässiger Mensch, die Stütze seiner Frau und in ihren Augen ein Held sein muß. Es gibt Männer, die es gern haben, wenn sie von ihren Frauen bedauert werden. Ich
gehöre nicht zu ihnen. Meine Gedanken wollte ich mit Milly teilen, nicht meine Niederlagen. Ich schämte mich, wenn ich Kummerfalten auf ihrer Stirn entdeckte und hören mußte, wie ihre Freundinnen über mich mißbilli gend tuschelten und ihr rieten, sich von mir zu trennen. Ich sah ein, daß ein Arbeitsloser kein geeigneter Verehrer für ein solches Mädchen sein konnte. Deshalb besuchte ich Milly nicht mehr, denn ich wollte nicht, daß sie mei netwegen vor ihren Bekannten erröten mußte, mir heim lich Geldstücke in die Manteltasche steckte, in der Nacht weinte und an ihren Vater schrieb, er möge mir eine Stel le als Flaschenspüler in einer Apotheke besorgen. In der Stadt der Wolkenkratzer kann man sich leicht aus den Augen verlieren. Die Adressen wohnungsloser Land streicher findet man auch nicht im Auskunftsbüro. Ich meinerseits war davon überzeugt, daß ich Milly verges sen mußte und hatte sie wohl auch wirklich vergessen. Als ich mich aber auf den Palmeninseln wieder einiger maßen als Mensch fühlte, dachte ich daran, Milly zu schreiben. Ich überlegte, was1 ich ihr schreiben sollte und ließ es dann doch wieder sein. So verging eine lange Zeit. Ich stellte mir vor, wie Milly einen Brief von mir erhalten und ihn lachend ihrem jungen Mann zeigen würde. Und trotzdem schickte ich ihr schließlich einen Brief – einen fast offiziellen Glückwunsch zum Geburts tag (einfach ein Glückwunsch – sagte ich mir – das ver pflichtet zu nichts). Doch schon zwei Tage später stand ich vor einer Landkarte und berechnete, in wieviel Tagen die Antwort eintreffen konnte. Als der Postdampfer in San Franzisko ankam, steckte ich ein rotes Fähnchen an diesem Punkt in die Karte. Ei nen Tag mußte man für das Sortieren der Post rechnen.
Der Eilzug nach dem Osten fuhr am Abend ab. Je mehr er sich der Wolkenkratzerstadt näherte, desto größer wurde meine Aufregung. Ich achtete nicht mehr auf die Proben und Tabellen, lächelte vor mich hin und dachte: Jetzt ist mein Brief in den Rocky Mountains… jetzt ist er in der Prärie… und nun fährt der Zug mit ihm über den Mississippi, unter ihm ertönen die Dampfersirenen, zie hen die endlosen Flöße dahin, und der gelbe Flußgrund schimmert durch das Wasser. Eine Woche darauf bewegte sich das Fähnchen auf mei ner Karte rückwärts. Es passierte den Mittelwesten, das verräucherte Chikago, die Prärie und die Berge, zwängte sich durch das Goldene Tor und bestieg einen Dampfer… Mit einem schon beinahe abergläubischen Gefühl wartete ich an dem Tage auf den Briefträger, als mein Fähnchen auf der Rückreise Palmtown wieder erreicht hatte. Doch wie enttäuscht war ich, als man mir einen Briefumschlag aushändigte, auf dem ich die wohlbekannten schiefen Buchstaben von Tante Bertas Handschrift erkannte. Ich wartete weiter, verlor allmählich die Hoffnung und trö stete mich mit allen möglichen Gründen, die eine Verzö gerung des Antwortbriefes bewirkt haben konnten. Ich machte mir Vorwürfe wegen meines zurückhaltenden, fast offiziellen Tons. Auf einen solchen Brief würde Mil ly vielleicht erst in einem halben Jahr antworten. Ich schrieb einen zweiten Brief, für den ich fünf Entwürfe anfertigte. Schließlich entschloß ich mich doch, ihn nicht abzuschicken, ließ einen Dampfer aus und sandte ihn trotzdem am folgenden. Tag mit der Luftpost. Wieder verstrichen sämtliche Fristen, auch die zusätzli chen und allerletzten. Es kam keine Antwort, Da begriff ich, daß man das Vergangene nicht rückgängig machen
und ein gebrochenes Herz nicht wieder zusammenkleben konnte. Auch Stolz war eine Eigenschaft, die ich nicht allein besaß, und vergessen konnten sicherlich auch, an dere Menschen… Am gleichen Tage, als ich mich end gültig durchgerungen hatte, Milly für ewige Zeiten zu vergessen, brachte mir der Briefträger ein Telegramm: „Eintreffe ,Willela’ – Palmtown Deine Milly“. Fortsetzung in Heft II