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nl konkret
Taschenbücher mit interessanten Themen vermitteln •
wissenschaftliche Darstellungen in populärer Form • aktuell-politische Fakten • gesellschaftliche Zusammenhänge
Martin Robbe
Revolutionen und Revolutionäre heute Warum ist in der Gegenwart der Begriff „Revolution" so faszinierend, daß ihn selbst diejenigen für sich in Anspruch nehmen, die die Revolution bekämpfen? Martin Robbe beantwortet diese Frage. Er zeigt, wie sich in den verschiedenen revolutionären Strömungen der Gegenwart der welthistorische Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzieht. Der Autor analysiert ebenfalls die Versuche des Imperialismus, diesen Prozeßaufzuhalten. Als Marxist setzt sich Robbe gründlich mit Theorie und Praxis ultralinker und refor mistischer Positionen auseinander und versucht, die Aufgaben eines Revolutionärs in unseren Tagen zu bestimmen. nl-konkret, Band 5-2., überarbeitete und zum Teil neugefaßte Auflage-208 Seiten • Broschiert 4 , - M
Verlag Neues Leben Berlin
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Hans-Jürgen Dittfeld
Raumschiff „Neptun kehrt um Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Verlag Neues Leben Berlin
© Verlag Neues Leben, Berlin 1975 Lizenz Nr. 303 (305/79/75) LSV 7503 Einband und Illustrationen: Günther Lück Typografie: Rainer Daske Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 6420799 EVP 0,25 Mark
an Dinin blickt von seiner Lektüre auf, starrt versonnen vor sich hin, atmet langsam und tief. Seine Augen sind auf irgendeinen fernen Punkt gerichtet. Er hat versucht, in einen Roman einzudringen, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Er wollte nachfühlen, nachvollziehen, nacherle ben. Jan hat Zeit. Wochen, Monate, Jahre. Jahre, in denen gedachte Menschen, ebendie aus den Büchern, seine Umwelt füllen, ihm Gesellschaft sein würden. Nur eine Ausnahme gibt es. Jans Blick ist aus der Ferne zurück gekehrt. Die unscharfen Konturen seiner Umgebung nehmen Gestalt an. Aufmerksam vergleicht er Lade- und Entladeströme, kontrolliert die Ausbeute der Sonnenbatterien, den Sauerstoffgehalt der Luft, die er atmet, mustert die pulsierenden Zeiger, die Herzschlag und Atemfrequenz symboli sieren. Sein Blick gleitet über Bildschirme, Manometer und Akzelerometer, verharrt auf seiner rechten Hand, die seltsam steif in der Nähe des.Lesegerä tes in der Luft hängt, folgt der gesteppten Naht auf dem Ärmel der Kombination, landet schließlich bei der Schnalle der über der Brust gekreuz ten Sicherheitsgurte, wandert weiter über Schenkel und Knie, überspringt die Schlaufen an den Fußgelenken und bleibt auf der kreisrunden schwarzen Scheibe über den Füßen hängen, hinter der nur wenige helle, scheinbar unbewegliche Punkte starr und kalt glühen: das Weltall. Lange blickt Jan Dinin dorthin, sehr lange. So lange, bis sich, wie erwartet, jenes Gefühl des Fallens ins Leere einstellt, das einen auch auf der Erde mitunter beschleicht, wenn man aus großer Höhe hinabsieht oder auch wenn man sich bei einer ganz besonderen Dummheit ertappt. Jetzt reißt er sich los von dem schwarzen Loch hinter dem Panzerglas, tastet mit den Augen nach rechts, wo seine Blicke ein zweites Paar Schuhe, Fußgelenkschlaufen, Beine, Sicherheitsgurte mit Schnalle, Arme und ein Gesicht erfassen. Dieses völlig entspannte Gesicht ruht seitlich auf den zusammengelegten Händen. Die Wangen, vom Schlaf leicht gerötet, sind rasiert, und die etwas geöffneten Lippen lassen eine Reihe regelmäßiger Zähne sehen. Die Zeit der Ablösung ist heran, doch es besteht kein Grund zur Eile. Die beiden Piloten sind derart aufeinander eingespielt, daß die nun nötigen Kontrollen nur Minuten dauern werden. Vorsichtig berührt Jan den Schlafenden an der Schulter, dessen Gesicht sofort einen leicht verkrampf ten Ausdruck annimmt, der etwas Unverständliches, Unfreundliches durch die Zähne stößt, hochfährt, von den Gurten zurückgehalten wird, sich dann die Augen reibt, nach dem Hygienebeutel angelt und wortlos mit der Körperpflege beginnt. „Bitte ein etwas dienstfreudigeres Gesicht, Herr Kollege!" versucht ihn Jan zu ermuntern. Sein Kopilot wirft ihm einen bösen Blick zu, beendet hastig die Morgentoi lette, reckt sich intensiv und beginnt mechanisch, Meßwerte in den Co dierautomaten zu tippen. Konzentriert und schweigend arbeiten sie, setzen die impulsverschlüsselte Meldung in Richtung Erde ab, lösen sich aus den Gurte*n und schwingen sich zu den Ergometern hinüber, auf denen sie, immer noch schweigend, trainieren. Mehr als vierzig Minuten später bestätigt ein kurzer Pfeifton den Empfang der Signale auf der Erde. „Dreiundvierzig Minuten — das sind fast vierhundert Millionen Kilometer", stößt Hei Sanders noch schwer atmend hervor. „An diesem freundlichen Pfiff siehst du aber, wie besorgt sie um uns sind, wie sehr ihre Hoffnungen auf uns ruhen; wir sind nun mal der Stolz aller 3
Raumfahrtenthusiasten." Jan braucht nach der Nachtwache ein Gespräch,' wählt den ironischen Ton, hofft, daß Hei darauf einsteigen wird. „Daß man dieses Versuchskaninchendasein nicht abkürzen kann..., warum hat man uns keinen Hibernator mitgegeben?" erwidert Hei mürrisch. „Das fehlte gerade noch. Die Zeit im Hibernator verschlafen. Dann wirst du irgendwann wach, überlegst, wie alt du eigentlich bist, oder wirst nicht wach, weil irgendein Syntrisistor ausgefallen ist. Nein, der Hibernator wäre nichts für mich." „Egal wäre mir das, wenn ich nur diese langweilige Zeit überbrücken könnte." „Dafür fährst du den längsten Großversuch, den es je gab. Bist Hauptper son..." „Ich, wieso ich?" unterbricht Hei. „Senf t hat einen Großversuch lauf en, und wir, wir stecken mittendrin, sind Teil seines Spielzeugs. Vielleicht trägt er j etzt vor dem wissenschaftlichen Rat vor, hört Beifall. Oder er sitzt gemütlich beim Tee, oder er geht mit seinen Kindern spazieren. Mag sein, daß er auch Manuskripte durchsieht, in denen er immer wieder unsere .Neptun' be schreibt. Seine ,Neptun', sein Projekt, sein liebstes Kind! Mal eine Vorlesung für Kosmonauten, mal für Physiker, mal ein Vortrag für Rentner, für Schulkinder, für Hausfrauen! Und immer steht Senft darüber! Irgendwo unten, unter .Inventar' stehen vielleicht auch wir. Und hier draußen lauschen wir dankbar auf seinen Pfiff, den er nicht mal selber pfeift. Sogar das ist automatisiert!" „Glaubst du wirklich, was du da sagst?" „Und du, was glaubst du denn? Wozu hängen wir denn hier? Doch nur für Senft, das ganze Institut arbeitet doch nur für ihn, ist es nicht so? Macht es denn sonst jemand glücklich, was wir zusammentragen, was wir vielleicht zur Erde zurückbringen?" ? „Ja, verdammt, das macht es! Der Mensch lebt, um zu wissen, muß wissen, will wissen! Und jede Information, die wir mitbringen, bedeutet mehr Wissen. Das ist erfüllter Wille, das ist doch auch Glück!" Zwischen Hels Brauen steht eine tiefe Falte. Er schweigtnachdenklich, doch er schweigt. Jan will zu einer Moralpredigt ansetzen, besinnt sich aber, ahnt eine Gefahr, will Gegenargumente sammeln. Aber Hei wendet sich ab, teilt knapp und dienstlich mit, daß die Algenkulturen überprüft werden müssen, hangelt zum Werkzeugschrank und schwimmt dann in die unteren Bereiche der „Neptun". Noch nie sind an Bord solche Worte gefallen. Hei war immer der lustigere, hat über eintönige Stunden hinweggeholfen, gescherzt, zu Liedern angestif tet, hat die Zeit verkürzen helfen. In den letzten Wochen schien er allerdings mehr mit sich selbst beschäftigt. Und nun dieser unerwartete Ausbruch! Zu viel Bitterkeit für einen, dem noch Jahre im Weltraum bevorstehen. Schließlich sollen sie die „Grand-Tour" bewältigen, bis zum methanumwölk ten Neptun vorstoßen, an Jupiter, Saturn und Uranus vorbei, sollen die bisher längste bemannte Raumexpedition der Geschichte bestehen. Zugegeben, an dieser Meinung über Senft ist etwas Wahres. Gern sonnt sich der Direktor im Ruhm der Erfolge. Gewiß sind sie beide für ihn Objekte in einem, riesigen Netzwerk koordinierter Forschung, jeder mit einer akkurat berechneten Überlebenschance oder mit einem Risikofaktor, wie man will. Und dieser Risikofaktor ist größer als bei allen anderen Projekten. Aber hat nicht schon jetzt der Verlauf der Expedition die Richtigkeit der 4
Entscheidung bestätigt? Dürfen sie den Risikofaktor vergrößern, vergrö ßern durch menschliches Versagen, wie es so schön heißt, was jetzt, hier in der Kapsel, nur unmenschliches, weil selbstmörderisches Versagen, genannt werden kann? Jan Dinin vermag diesen Gedanken nach der langen Nacht wache nicht zu Ende zu denken, spürt Verlangen nach sinnvoller körper licher Arbeit, nach Ablenkung. Hei ist mit den Algenkulturen beschäftigt. Hastig putzt er die Quecksilber lampen, wechselt .die Membran der Umwälzpumpe, kontrolliert die Reinheit des Wassers, notiert Daten. Jan wendet sich dem Stromversorgungsreaktor zu. Der Wirkungsgrad ist gesunken, ein Brennstab hat sich gelöst und die Reaktion verlangsamt. Verbissen zieht er am schweren Schraubenschlüssel und ist bemüht, seinen Körper zwischen den engen Wänden einzuklemmen, damit ihm die Schwerelosigkeit keinen Streich spielt. Als der Schlüssel zum zweitenmal abrutscht, flucht er laut und wird vollends nervös, als der im Raum über ihm hantierende Hei sich teilnehmend erkundigt, ob er etwas helfen könne. Als ob der nicht genau weiß, daß hier unten nur einer Platz hat! Jan schluckt eine erregte Antwort hinunter, montiert verbissen weiter. Die elektronischen Speicher der Bordbibliothek enthalten zweitausend Bände, dazu Musikkonserven aller Art, fast ebenso viele Filme. Das Ganze nimmt nicht mehr Raum ein als ein Handkoffer und ist ihnen über separate 5
Wiedergabegeräte zugänglich, jedem einzeln nach seinen Bedürfnissen. Aber auch andere Dokumente gibt es, von Raumfahrt-Psychologen sorg fältig ausgewählt. Jan schaltet sich das Inhaltsverzeichnis an die Kopfhörer, sucht etwas Bestimmtes. Lange hat er nachgedacht, hat Hei beobachtet, hat mit dem ersten Flugabschnitt verglichen. Und hat Veränderungen festge stellt! Nun glaubt er, etwas Jun zu müssen. Jan will keine Ungewißheit. Er muß Hei aus der Reserve locken, will nicht zulassen, daß der Freund auf dieser Reise unzufrieden ist. Er glaubt an die Bedeutung ihrer Arbeit, fühlt Begeisterung, wird sie immer fühlen und kann nicht verstehen, wie der Gedanke an Professor Senft bei Hei hat Verbitterung auslösen können. War Hei nicht mit der gleichen Hingabe wie er gestartet? Hat das Selbstver trauen des Freundes nachgelassen? Endlich findet er das gesuchte Band mit dem Titel „Auswahlkriterien". Der Automat zeigt Bereitschaft an — Auslö setaste. Der Bildschirm flammt auf: Abschlußsitzung der Auswahlkommission. Daniel Cooper, ein erfahrener Raumpilot, führte den Vorsitz. Dreißig Kandidaten zählte die Liste. „Gestatten Sie mir vor dem Beitrag von Herrn Yang eine vorläufige Zusammenfassung." Cooper eröffnete die Nachmittagssitzung. Er sprach leise und mit wohlüberlegten Worten, damit nichts ins Protokoll gelangte, was die abgewiesenen Kandidaten verletzen könnte. „Wir haben also die Zahl der möglichen Bewerber auf zehn reduzieren können. Dabei galt als Aus wahlkriterium vorerst nur die innere Bereitschaft, sich in den Dienst der Sache zu stellen. Bei folgenden Kosmonauten bestehen erwiesenermaßen mehr oder weniger erhebliche Zweifel darüber, den Erfordernissen gerecht werden zu können." Es folgte eine Namensliste, in der neben weltbekannten Piloten auch solche auftauchten, die nur wegen ihrer hervorragenden Testergebnisse in die engere Wahl gezogen worden waren. „Ich bitte die Kollegen Bereichsleiter, den genannten Kandidaten die Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände mitzuteilen. Verstehen wir uns recht, keiner dieser Piloten ist sich der von den Experten beobachteten inneren Abwehrreaktion bewußt. Enttäuschung und Resignation in unserem Beruf sind vom Übel. Ich bitte Sie deshalb eindringlich, jedem nur die Gründe zu nennen, die er ohne Bedenken akzeptieren wird. Darf ich nun den Kollegen Yang vom Institut für Neurokybernetik um seinen Vortrag bitten." Die versammelten Wissenschaftler wurden aufmerksam, die Tuscheleien verstummten. Yang begann schnell und konzentriert zu sprechen. Nachdem er die physische Eignung der Kandidaten als selbstverständlich und nicht zu seinem Fachgebiet gehörig vorausgesetzt hatte, gab er einen kurzen Abriß des von ihm aufgestellten Kriterien-Katalogs. Koordinationszahlen der Organtätigkeit, Komponentenzerlegungen der Enzephalogramme, Kennzif fern für Reaktionsgeschwindigkeit, Reflexverhalten, Konzentrationsfähig keit, Sexualität wanderten über die Tafel; Tabellen, Graphiken, Holo gramme, in denen ebendiese Symbole für die restlichen zehn Kandidaten zusammengestellt und miteinander verglichen waren. Ohne auch nur einmal die Stimme zu heben, den Fluß der Rede zu hemmen oder zu beschleunigen, hatte Yang logisch, systematisch, objektiv die Daten verdichtet, hatte zwei felsfrei nachgewiesen, daß, obwohl alle Kandidaten geeignet, nur zw9i den derzeit bekannten Forderungen völlig entsprachen, also optimal einsetzbar waren. „Wie Sie unschwer erkennen können", sagte er, schon die Papiere zusammenraffend, „ergibt sich eine klare Entscheidung zugunsten der beiden Kandidaten Jan Dinin und Hei Sanders, die, wie wir wissen und wie
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bei diesen Fakten nicht verwunderlich, auch eine feste Freundschaft verbin det. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit." Beifall. Senft erhob sich, würdigte die Leistungen des Vorredners: haben wir nun endlich die Methode in der Hand, nach der wir in Zukunft unsere Raumfahrtkader risikofrei auswählen können..., umfangreicher Forschungsauftrag..., ernste Arbeit zeitigte hervorragendes Ergebnis..., beglückwünsche ich Sie in unser aller und nicht zuletzt in meinem Namen..." „Das ist ja nicht mit anzuhören!" Hei ist plötzlich hochgeschnellt, bringt mit einem Faustschlag das Wiedergabegerät zum Schweigen. „Die haben uns ganz computergemäß verschaukelt, und du guckst dir das auch noch an! Jetzt nach elf Monaten Einöde!" „Darf ich dich daran erinnern, wie du dich über die Berufung gefreut hast, wie du von einem zum andern liefst, um dich beglückwünschen zu lassen? Weißt du noch, wie du die letzten Tests verflucht hast und endlich los wolltest?" „Natürlich wollte ich weg, wollte diese Gesichter nicht mehr sehen, weg von der Hektik... Aber das war damals..." „Nicht nur damals. Noch als wir das Kreuzen der Marsbahn feierten, weißt du noch, wie lustig wir waren? Du sagtest, glaube ich, daß dies deine schönste Mission wäre, warst voller Lob über die .Neptun', über die Ruhe an Bord. Lieder sangen wir..." „Soll ich dir vorsingen, glaubst du, dadurch wird es besser?" Bitter klingen diese Worte. Hei hat das Kinn auf die Brust gesenkt. Doch Jan will nicht-aufgeben, bohrt weiter. Was war denn jetzt anders? Hatten sie nicht jederzeit gewußt, daß erst in zwölf Jahren das Ziel erreicht, in frühestens zwanzig die Mission beendet sein würde? Hei ist doch ein erfahrener Pilot, muß doch hier mit voller Leistung arbeiten, wird gebraucht. Wie kann man ihm das nur bewußt machen? „Hei, du hast doch selbst gesagt, daß die Merkur-Expedition dein größtes Erlebnis war. Dir fehlt doch nur noch unsere ,Grand-Tour' zur Krönung der Laufbahn. Was willst du mehr? Ich verstehe dich nicht." „Schöne Krönung, in dieser weltraumverlorenen Blechbüchse hier. Zum Merkur waren wir zu fünft unterwegs, hatten nur die Fusionsreaktion im Kopf, waren begeistert. Energie für die Erde, das war was! Und nach zwei Jahren waren wir zurück. Aber jetzt — sollten wir je zurückkehren, sind wir vergreist und verblödet. Ich halte das nicht mehr aus! Du mit deinen Prinzipien, hier wird doch nur geforscht, um zu forschen..., ach." Hei vergräbt das Gesicht in den Händen. Erst nach Minuten entkrampft er sich allmählich, während Jan ratlos, seiner Erregung nicht Herr werdend, abwartet. Nach einer Weile beginnt er erneut: „Ich möchte doch nur, daß unsere Arbeit nicht leidet, daß wir durchhalten und — daß wir auch ein bißchen Spaß an der Sache haben. Versteh mich richtig, ich will nicht deine Leistungen bemängeln. Da gibt es noch keine Bedenken. Unlängst erst, bei diesem Meteoritenalarm, wie haben wir da gespurt, wie schnell waren die Folgen beseitigt! Ohne Prahlerei, das hätte uns keiner nachgemacht. Aber was war danach? Nicht einmal gefreut haben wir uns zusammen, geschweige denn eine kleine Siegesfeier oder so etwas — das meine ich..." „Etwas Freude, ja das wäre schön. Aber mit solchen Diskussionen werden wir das nie erreichen." Nachdenklich, traurig fast, beginnt sich Hei in sein Lager zu schnallen. Seine Miene und Haltung verkünden eine fast trotzige
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Forderung nach dem Ende des Gesprächs. Jan fühlt sich müde, hat nichts erreicht. Ist er unfähig zur Hilfe, oder muß er weiter auf Hei einwirken? Ist nicht Hei ebenfalls voll verantwort lich, hat er selbst nicht außerdem ein Recht auf Ruhe? Schlaflos in den Gurten hängend, lauscht Jan auf die Atemzüge des, anderen. Hei hat sich also tatsächlich geändert! Offensichtlich kann er sich mit ihrer Situation nicht abfinden. Jetzt schon? War ihm vor dem Start zuwenig Zeit zur Selbstprüfung geblieben? Wächst etwas in ihm, was er nicht ahnen konnte, bevor das Kleinerwerden des Heimatplaneten zum Sinnbild ihrer Einsamkeit wurde? Jan wartet auf den Schlaf, hofft, daß es vorüber gehende Schwierigkeiten sind. Doch die Besorgnis läßt sich nicht verjagen. Tag um Tag vergeht, regelmäßig wird gearbeitet. Für die Sendungen zur Erde wird schon so viel Energie benötigt, daß sie nur noch wöchentlich erfolgen können. Auch von der Leitzentrale empfangen sie immer schwä chere Signale. Mühselig ist die Ausrichtung der Antenne. Oft reicht die Verstärkung des Empfängers kaum aus, um aus dem Wellensalat Verständli ches herauszusieben. Noch erreichen sie ausführliche Nachrichten über das Leben auf der Erde, aber auch das wird nun mehr und mehr nachlassen. Hei hat ein persönliches Logbuch zu führen begonnen. In Miniatursehrift füllt er die Blätter und ist ängstlich darauf bedacht, daß es Jan nicht in die Hände bekommt. Nur selten liest er eine Seite daraus vor. Es gibt heitere und ernste Tage, Stunden gemeinsamer Kunsterlebnisse, die ihnen der „Kulturspeicher" bietet, Stunden, in denen ihr Lachen durch die Räume der „Neptun" hallt, in denen sie pausenlos Witze erzählen oder darin wetteifern, sich die merkwürdigsten Spitznamen zuzurufen. Ernste Gespräche werden gemieden. Der Begriff Einsamkeit scheint aus ihrem Wortschatz gestrichen. Sorgen um ihre Algen, die wichtigste Sauerstoffquelle an Bord, vereinen sie. Eklige Fäulnis hat sich in den Bassins breitgemacht. Eine Menge kostbaren Wassers verbrauchen sie, indem sie mehrmals täglich filtrieren und einmal sogar die ganze Füllung austauschen. Der Erfolg ist gering, bis Hei eine Idee hat. „Du Sternenheini, duMilchstraßenpferd", brüllt er in die Kommandokapsel hinauf, „wir nehmen einfach das Desinfektionsmittel!" Ein Vorversuch zeigt, daß es die Algen vertragen. Zum Wasser des Bassins hinzugegeben, unterbricht das für die Körperpflege vorgesehene Medika ment bald den Fäulnisprozeß. Zufrieden verfolgen sie die Gesundung der Kulturen. Das Einfangen der seit diesen Experimenten umhertreibenden Wassertropfen gleicht einer Schmetterlingsjagd. Wer die meisten Tropfen eingefangen hat, darf die Mahlzeit zubereiten. Normalerweise ist die schwere Arbeit Jans Gebiet. Stundenlang hatte er manchmal den Computer bearbeitet, um ihm einen Fehler abzugewöhnen, hatte Einschübe gewechselt, Bauelemente ausgetauscht und, in Schweiß gebadet, einmal sogar trotz aller Vorsicht einen Schlag bekommen. Der elektrische Reiz war ungefährlich, aber seine heftige Reaktion hatte dazu geführt, daß er einige Male um seine Körperachse rotierte und mehrere Prel lungen davontrug. Das Deckglas eines Manometers war gesprungen. „Ungeschickter Erdenwurm!" knurrt Hei nur und zieht sich wieder hinter seine Berechnungen zurück, mit denen er sich seit Tagen intensiv beschäf tigt. Jan ahnt nicht, was er da treibt. Hilfe oder in diesem Falle etwas mehr
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Teilnahme hätte er von ihm erwartet, doch er läßt ihn gewähren. Wenn Hei so intensiv rechnet, arbeitet, vermeidet er jedes Geräusch. Dann ist doch wenigstens sicher, daß der Freund sich keinen zermürbenden Grübeleien hingibt. Die Zeit verrinnt unendlich langsam. Der Tagesablauf ist eintönig. All unsere Probleme sind lösbar, denkt Jan, als er wieder einmal lange auf den Schlaf warten muß. Er ist mit sich und seinen Leistungen zufrieden. Was würde es auch helfen, wenn es anders wäre? Schließlich hatte er sich freiwillig für diesen Flug entschieden, wußte, daß ihn nichts anderes erwarten würde. Doch Hei? J a n vergißt nicht dessen Zweifel am Sinn ihrer Mission, die Zweifel an ihrer Rückkehr zur Erde. Obwohl sie schon zwei Monate nicht mehr darüber gesprochen haben, spürt Jan, wie unglücklich der Freund ist, spürt es und kann nicht helfen. Zu sehr hat Hei sich ihm bereits verschlossen. — Unruhe, Nervosität, die die Gefahr von Fehlreaktionen in sich birgt! Sollte sein technisch geschulter Verstand an diesem Problem scheitern? Dennoch — Jan ist Optimist. Er vertraut auf das nächste große Ereignis. Für den achtzehnten Monat ihrer Reise ist ein Annäherungsmanöver an den Planetoiden Hidalgo vorgesehen. Sie sollen eine Landung wagen, Experi mente machen, besondere Ergebnisse zur Erde funken. Bald werden die Vorbereitungen beginnen. Es wird viel zu tun sein, das wird Hei ablenken. Wird es ihn erneut begeistern, wird er wieder zurückfinden zu ihrer Arbeit, sich innerlich identifizieren mit der Mission? Jan ist Optimist. Funktionstests sind Hels Spezialgebiet. Deshalb nimmt er sich die Babyra kete vor. Er aktiviert die Nuklearbatterie, überprüft das System der Träg heitsnavigation, kontrolliert den Kommandostand, repariert ein winziges Leck und beginnt dann den Bordcomputer des Landefahrzeuges mit Infor mationen zu überschütten. Hei läßt das Elektronengehirn die Bordbibliothek durchsehen, programmiert Auswahlprinzipien, nach denen die Maschine den Kulturvorrat sortiert. Seelenlos, formal, präzise, schnell. „Hervorragend — kein Ausfall nach siebzehn Monaten Kosmos", stellt er nach zwei Tagen fest. Das ist noch der alte Hei. Konzentration, Intensität, Freude an der Arbeit. Wie in alten Zeiten, denkt Jan bewundernd. „Von mir aus kann der Kollege Hidalgo kommen", sagt Hei scherzend. Auch J a n war fleißig. „Nach Raumzeitanalyse Programm römisch eins noch 311, nach Metrik-Koordinatentest noch 318 Stunden bis zum Rendezvous, die Autokorrelation der Bahnanalyse liefert sogar 358 Stunden", meldet er. „Radarkontakt?" „Möglich." „Wollen wir?" „Na los!" „Da ist er!" i Ein grüner Punkt glimmt auf dem Bildschirm. Lange steht fest, daß Jan zum Hidalgo hinüberfliegen soll. Hei erhält die viel Fingerspitzengefühl erfordernde Aufgabe, die „Neptun" währenddessen in größtmöglicher Nähe zu stabilisieren. Von Stunde zu Stunde wird der grüne Punkt auf dem Radarschirm größer. Schließlich sehen sie den fahl schimmernden Steinklotz durch die Luken. Ungefähr ein Kegelstumpf, etwa fünfzig Kilometer in seiner größten Achse messend, scheint er sehr ärmlich zu sein. Einige Krater, Zacken, Berge. Ärmlich und bedeutungslos wie die spanischen Hidalgos, von denen er
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seinen Namen hat. Würde dieser Planetoid bald Bedeutung erlangen? Da seine Bahn von der des Mars bis hinaus zum Saturn reicht, soll er als passives Riesenraumschiff eine automatische Station aufnehmen, die dann alle dreizehn Jahre im Aktionsbereich irdischer Raumschiffe aufkreuzen würde. Deshalb hatte man den Kurs der „Neptun" am Hidalgo und nicht an anderen größeren Planetoiden vorbeigeführt. „Noch ehe wir zur Erde zurückkkehren, werden hier Menschen arbeiten, unsere Kollegen, vielleicht Wanja, vielleicht Monique." Hei blickt versonnen auf das Pult der Sendeanlage. „Aber nur, wenn wir einwandfreie Landemöglichkeiten feststellen und eine saubere Übertragung zustande bringen." Schon im Skaphander, zwängt sich Jan durch den Korridor, kriecht wie ein Wurm in die Kleinrakete, hängt die Gurte ein und legt die Hände auf die Griffe des Steuergerätes. Langsam schiebt die Startautomatik den sechs Meter langen Zylinder ins Freie. „Fünf, vier, drei, zwei, eins, null — ab." Jan treibt auf die unförmige Masse des Planetoiden zu, die nun fast ein Drittel des Himmels verdeckt. „Wenden!" Die Sprechverbindung ist deutlich. Er beginnt das Brems manöver. „Baby-Neptun" setzt sanft auf, die Verankerungen schlagen ein. „Fertig, alles in Ordnung." „Gratuliere." Hels Stimme vibriert etwas. Minutenlang gibt Jan die Beschreibung der Umgebung. „Eindruck: wie auf einem Berggipfel; Krater mit fünfzig Metern Durchmesser nordöstlich, mit hundert Metern Durchmesser östlich; westlich eine Kette von Felsbrocken, Krateoriden ungleichmäßig verteilt, Silikattröpfchen wie auf dem Mond, Gesteinsfarbe grau mit schwarzen Einschlüssen, Außentemperatur minus 85,4..., Neptun-Mutterschiff gut sichtbar — kannst die Positionslichter ausschalten, Hei!" Das Magnettongerät summt. Grünlich flimmernd bestätigt der Radar schirm die visuellen Beobachtungen. Der Quecksilberhorizont unter der Kunststoff haube zeigt keine ebene Fläche. Als ob keine Schwerkraft vorhan den wäre, bildet das flüssige Metall eine Kugel. „Schwerkraftbestimmung!" Um die Meßwerte der Akzelerometer zu kontrollieren, wird ein einfacher Fallyersuch unternommen. Jan läßt den Fallkörper am oberen Ende .des senkrechten Maßstabes los und verfolgt die sich langsam beschleunigende Abwärtsbewegung. Sanft schlägt der Fallkörper auf, federt im Zeitlu pentempo zurück. „98,5 Zentimeter Fallstrecke in hundert Sekunden." „Schwerebeschleunigung 0,002", hört er Hels Stimme, der schnell gerechnet hat. Zwei Tausendstel der Erdanziehung! Beim Ausstieg würde er sich anseilen müssen, um nicht durch einen Stoß, durch eine unvorsichtige Bewegung stundenlang von der rauhen Oberfläche getrennt oder gar in den Weltraum hinausgetrieben zu werden. Zwei Stunden vergehen kaum bemerkt. Dreimal hat die „Neptun" weiße Gaswolken ausgestoßen, dreimal hat Hei korrigiert, um die Distanz zu halten. „Ausstiegsmanöver!" Ein knappes Wort nur, um einander davon zu unterrichten, welches der
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Unterprogramme absolviert wird. Das eine Wort bedeutet für Hei, daß die automatischen Greifer keine Gesteinsproben aufnehmen können, daß Jan nun etwa hundertachtzig Handgriffe entsprechend der Checkliste erledigen würde, um sich dann hinauszuzwängen und ein wenig Hidalgomaterie einzusammeln. „Ich werde dir ein paar Veilchen pflücken." „Gänseblümchen wären mir lieber." Auch für Scherze ist noch Zeit. Alles läuft wie am Schnürchen. Jan steht auf dem Boden des grauen Himmelskörpers und blickt sich um. Er sieht die eckige Säule der Kleinrakete neben sich aufragen, sieht das große „Nep tun"-Schiff am Himmel hängen, sieht die Sonne, grell leuchtend, pam pelmusenklein, sieht dicht über dem Horizont, wie einen Tischtennisball, den Planeten Jupiter. Der wird ihr nächstes Ziel sein, denn der astrodynamische Kunstgriff der Grand-Tour beruht auf der Ausnutzung der Gravitations kraft dieses Planeten. Sie wird den Flug der „Neptun" beschleunigen, ihre Richtung ändern. Dann weiter zum Saturn, dann... Jan tastet sich vorsichtig voran. „Drei Meter, sechs, zehn. Gesteinsbrocken aufgenommen, faustgroß, schwarz..." Da geschieht das Unbegreifliche. Ein Knacken im Kopfhörer. Eine Unter brechung? Jan sieht auf. Der gigantische Körper des Raumschiffs beginnt sich zu drehen, die Hauptdüsen glühen auf, ein breiter Feuerkegel zeigt das Entsetzliche an: Das Haupttriebwerk hat gezündet!
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„Hei, Hei, was ist denn? Schließ die Treibstofftanks! Hei!" Eiskaltes Entsetzen breitet sich über Jans Körper, jedes Härchen richtet sich auf. Seine weit aufgerissenen Augen spiegeln sich in der Frontscheibe des Skaphanderhelms. Eines der Signallämpchen im Helm flackert. Die „Neptun" entschwindet mit voller Beschleunigung. Die Lohe des Haupttrieb werkes wird kleiner und kleiner.- Jan brüllt in das Mikrofon, daß die Stirnadern schwellen. Das Herz will den Brustkorb, will den Skaphander sprengen. Der Zeiger der Funkempfangskontrolle beginnt sich der roten Marke zu nähern. Dann kippt der ganze Hidalgo, und Jan fühlt nichts mehr. Auf- und abwallende Finsternis stürmt auf ihn ein, Hels Gesicht, der Feuerschweif, die „Neptun"... Jan sinkt, sinkt in schwarze Unendlichkeit. Schmerz! Das rechte Bein schmerzt, wie nur ein eingeschlafenes Bein schmerzen kann. Und noch etwas ist da — ein Kreischen im Kopfhörer: Das Havarie-Signal der „Neptun". Woher kommt es? Ist das ein Traum? Mühsam versucht Jan, die Gedanken zu ordnen. Während einer Umdrehung des Planetoiden muß er so, mit eingeknicktem Bein, gelegen haben. Oder waren es zwei? Das Bild des Himmels gleicht dem, in dessen Zentrum vorhin die „Neptun" gehangen hatte. Aber die „Neptun" ist weg! Das Feuer ihres Triebwerkes ist längst zwischen den Sternen zerflirrt! Hei meldet Havarie, er gibt jenes Signal, das man nur für kurze Zeit mit äußerster Sendeleistung abstrahlen kann. Über eine halbe Stunde wird dieses Signal in Richtung Erde unterwegs sein. In jeder Sekunde wird es 299792,4562 Kilometer zurücklegen. Es wird empfangen werden, wird Alarm auslösen. Zuerst Automaten, dann Funker werden zurückrufen, nach Infor mationen schreien. Kommissionen werden gebildet, treten zusammen, wäl zen Fragen hin und her. Was wird man unternehmen? Jan sjeht die ferne heiße helle Sonne. Seine Kiefermuskeln spannen sich, die Zähne graben Furchen in die Unterlippe, das Blut schmeckt nach Salz. Tränen im Skap handerhelm passen nicht zu dem Bild, das sich Jan von sich selbst gemacht hat. Aber sie sickern unaufhörlich, brennen auf der Haut. Mechanisch vollzieht er die Handgriffe des Unterprogramms „Einstieg". Die vorgeschriebenen Begleitworte fließen sinnlos in die Bandspeicher. Der Reaktor produziert sinnlos Energie, die Luft strömt sinnlos durch den Regenerator. Das Magnetometer, das Fotometer, der Mikrometeoritendetek tor, das Gravimeter — alles sinnlos. Jan Dinin ist am Ende! Er braucht einen freien Speicher, will seine letzten Worte auf Band sprechen. Er merkt viel zu spät, daß der Skaphander noch hermetisiert ist, schält sich mühselig heraus, trommelt < mit den Fäusten auf das Pult, reibt sich dann die schmerzenden Handgelenke. Unfähig zu vernünftigen Reaktionen, betätigt er irgendwelche Schalter, ruft Speicher ab, unterbricht den Vorgang wieder, hört Musikfetzen, sieht Anfänge von Filmen über den Bildschirm flackern, jagt zusammenhanglos Formeln über den Projektor, macht schwergliedrig irgendwelche Bewegungen und erlaubt schließlich längeren Aufzeichnun gen den Weg zu seinen Augen, Ohren. Der vorbeiflatternde Inhalt des Speichers lenkt ab. Berechnungen, Bahndaten, Fachliteratur, Romane, Opern, Gedichte. Ist es für die letzten Worte noch zu früh? Wird es noch einen Ausweg geben? Darüber kann er jetzt nicht nachdenken. Erst einmal abschalten. Schlafen vielleicht. Ja, schlafen. Dann denken. Zwei Tabletten werden reichen. Wieder erwacht, beginnt er seine Chancen abzuschätzen. Lebensmittel?
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Sind für achtzehn Monate berechnet, könnten bei äußerster Sparsamkeit zwei Jahre reichen. Sauerstoff regenerierung und Energieerzeugung dürften beinahe unbegrenzte Zeit funktionieren. Die Hydrazintriebwerke würden einige Manöver, auf jeden Fall jedoch den Rückstart vom Hidalgo ermögli chen. Bahnberechnungen? Das wäre mit dem Computer unter dem Sitz zu lösen. Aufzugeben braucht er nicht, noch nicht! Aber hat das einen Sinn? Kann man allein überhaupt durchhalten? Und Hei? Was war nur geschehen? Wie konnte es zum Durchstarten des Haupttriebwerkes gekommen sein? Die „Neptun", ein für die Grand-Tour umgerüstetes Schiff der Merkur-Klasse, gilt als absolut sicher. Liegt ein solches Schiff auf Warteposition, so sind die Triebwerke blockiert, kann man nur kleine Lagekorrekturen mittels der Preßluftdüsen vornehmen. Nur von Hand... Jan sieht den roten Starthebel unter der Panzerglashaube plastisch vor sich. Wie auf einem inneren Projektionsschirm läßt er Schaltkreise an sich vorbeigleiten, verfolgt Leitungen, konstruiert Ausfälle von Verstärkern, Relais, Pumpen, Schaltern, Magneten, Motoren. Findet nichts, was einen zufälligen Start herbeiführen könnte. Nicht zufällig? Also beabsichtigt? Also Hei...? Warum? Welchen Sinn sollte ein Start in den Weltraum haben? Selbstmord? Ausgeschlossen! Das paßt nicht zu Hei! Auch hätte er dann nur die Ventile zu öffnen brauchen — der schmerzloseste Tod, den es gibt. Aber was sonst? Gibt es von diesem Punkt überhaupt die Möglichkeit, ein sinnvolles Ziel anzusteuern? So einfach mit Handsteuerung? So einfach, daß man sich plötzlich dazu entschließen könnte? Hier sind keine Schiffe unter wegs. Die Bahnberechnung zu den Marsstationen erfordert Iterationen, die ohne Computer nicht ausführbar sind. Bis zum Mond, bis zur Erde gar... Nein, das wäre die Arbeit von Wochen. Nicht mehr zu bewältigen, wenn das Triebwerk gezündet hat. Raumwinkel, Startgeschwindigkeit dürfen nicht mehr als ein zehntausendstel Prozent abweichen. Dazu konnte man sich nicht plötzlich entschließen, das erforderte kalte Berechnung, lange Vorbereitung. Das ist Hei nicht zuzutrauen! Oder doch? Kalte Berechnung, brillanter Mathematiker — das paßt irgendwie zusammen. Jan schaudert, blickt zum Thermometer: zwanzig Grad Celsius, also mormal. Hei... Jan will es nicht glauben. Er läßt die Zeit mit Hei an sich vorüberziehen. Erinnert sich an Scherze, an Spötteleien, an ihre gemeinsamen Lieder nach dem Start, an das längsame Versickern mancher Gespräche, an ihren Kampf um die Gesundung der Algen, an Hels schweigsame Tätigkeit am Computer. Was weiß er über Hei, für den er immer nur Freundschaft empfunden hat, mit dem er achtzehn Monate lang eingekapselt war, von dem er nun getrennt ist, getrennt durch einen so völlig unverständlichen Vorfall? Sie hatten zusammen die schwierigsten Tests bestanden, sich aus simulierten Katastro phen herausgearbeitet, gefährliche Abenteuer überlebt. Er hatte Hei auf Reisen, auf Empfängen begleitet, hatte die Herzlichkeit, mit der er allen begegnete, ebenso bewundert wie seine Sicherheit und Lebensfreunde. Exaktheit und Gründlichkeit hatte er bei der Auswertung der MerkurExpedition bewiesen, während Jan sich in die Aufgaben eines Kommandan ten einarbeitete, zuerst Double und dann Nachfolger von Hei Sanders wurde. Exaktheit, Gründlichkeit — halten diese Begriffe einer genauen Analyse stand? War nicht Hels Interesse mitunter schnell erloschen, ließ nicht seine Aufmerksamkeit nach, wenn das Wesentliche erkannt war, ein Auftrag als erfüllt gebucht werden konnte? Hatte nicht Jan oftmals durch weiteres pedantisches Vorgehen noch mehr herauszuholen vermocht? Heftige Streit
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gespräche hatte es deswegen gegeben. — Erfüllung des Auftrages war die eine Seite, war Hei auf den Leib geschneidert, wurde vorbildlich gelöst. Das weitere Abfragen der Informationen nach eventuell noch versteckten Erkenntnissen hatte Jan besorgt. Anzeichen von Kurzschlußreaktionen hatte es bei Hei nie gegeben. Abso lute Kaltblütigkeit der Kandidaten mußte ja auch erwiesen sein. Niemals sonst hätte Professor Yang das Tauglichkeitsattest signiert. Yang — lag da die Lösung? Jan beschließt, die schwerverständliche Kennziffernakrobatik vorerst beiseite zu lassen, sich später noch einmal die Kommissionssitzung anzusehen, falls es sie im Speicher von „Baby-Neptun" überhaupt gibt. Speicher — warum war der Speicher so voll? Für den Hidalgo-Ausstieg war das völlig unnötig. Hei hätte nach dem Funktionstest alles wieder löschen können. Warum tat er es nicht? Zufall? Das müßte herauszubekom men sein! Lag System in der Auswahl des Gespeicherten? Waren es kom plette Informationen oder nur Bruchstücke, ausgewählt nach ihrem Fre quenzgehalt, wie bei solchen Tests üblich? Jan greift in die Tasten, findet staunend Aufzeichnungen seiner Berechnungen, seine persönlichen Notizen. Keine von Hei! Filme, Bücher, Musik, alles ist nach seinem eigenen Ge schmack. Zufälliger Start—unmöglich. Selbstmord, Panikreaktion—unvorstellbar. Speicherinhalt sortiert, für ihn sortiert! Was bleibt denn da noch? Es gibt keine andere Lösung: Die „Neptun" ist von Hand gewendet, gestartet worden! Hei Sanders hat ihn absichtlich verlassen. Bewußt! Die Methode des autogenen Trainings versagt, die Gesichtsmuskeln schmerzen vor Anstren gung. Die Zähne knirschen aufeinander, krampfartig. Jan kann sich nicht entspannen. Jeder Gedanke endet an einer undurchdringlichen Wand. Zittern. Schwindel. Übelkeit. Wut. Verzweiflung. Griff nach den Tabletten. Mit einer plötzlichen, für ihn selbst unerwarteten Bewegung leert Jan das ganze Röhrchen. Nach Minuten verengt sich 'sein Blickfeld, legt sich ein eisernes Band um die Stirn, beginnt das Hinüberdämmern. Aber es quälen ihn Zweifel. Gibt es noch etwas mitzuteilen, weiß er auch nur eine Winzigkeit, mit der er der Menschheit nützen könnte? War es falsch, was er getan hatte? Aber jetzt ist es... zu spät. Der Körper bäumt sich noch einmal auf—dann nichts mehr. Palmenstrand, ein Berggipfel. Logisches Chaos einer Fließstrecke, ein irrsinnig kläffender Pinscher, Relais, Hydraulik, ein bebrillter Mann in grünem Kittel, Bildschirme — Bildschirme? Logas tränennasses Gesicht, ihr Stammeln: „Jan, ich kann so nicht mehr leben. Immer allein, immer diese Angst. Gib den Kosmos auf, oder wir müssen uns trennen." Wieder Bildschirme, dazwischen ein runder, schwarzer mit verstreuten grünen Pünktchen — das Kabinenfenster. Jan erwacht, Kopf und Glieder schmerzen. Durch die Luken blickt die Unendlichkeit. Er sieht den öden Hidalgo. Erinnerung kehrt zurück. Die Tabletten waren zu schwach! Ver zweifelt krümmt er sich in den Gurten, der Körper rebelliert. Die Hand zuckt zum Belüftungsventil. Mach doch Schluß, Jan! Kampf mit der Mutlosigkeit. Selbsterhaltungstrieb? Langsam konzentriert er sich, beginnt zu essen, mechanisch. Er fühlt sich im innersten zerstört. Würde er jetzt mit der Erde sprechen können, Beobachtungsdaten abset zen, alles wäre anders, wäre zweckvoll, beinahe unkompliziert — scheint es.
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Hilfe würde kommen, vielleicht nach zwei Jahren, vielleicht eher. Hei würde befragt werden — ach, schon wieder dieser Hei! Aber die Antenne ist zu klein. Die Sendeleistung reicht nicht aus — nichts geht mehr! Nichts? Jan hat sich doch immer dazu bekannt, was auch geschähe, in jedem Falle leben zu wollen. Jetzt hat er eine ausweglose Situation, mehr noch, er braucht nicht darüber nachzudenken, ob man von Jan, dem bewundernswerten Kämpfer, reden würde oder von Jan, dem Selbstmörder. Was er auch tut, er würde Jan, der Verschollene bleiben. Und trotzdem, gibt es nicht stets Wege aus dem Aussichtslosen? Nicht Zufälle, nein, neue Erkenntnisse, oft dort auftretend, wo am wenigsten vermutet. Hatte nicht die Katastrophe der „Merkur II" damals, vor fünf Jahren, eine wahre Explosion derartiger Erkenntnisse ausgelöst? Der bei spiellos schnelle Start der „M III", die vielen neuen Navigationsvarianten während der Suche an der Unglücksstelle. Erfolglose Suche zwar — doch keine erfolglose Expedition, denn das wissenschaftliche Programm der „M II" wurde, beinahe nebenbei, ebenfalls erfüllt. Sicher, man hat gelernt inzwischen, doch ein Staubkorn am Hildalgo—ja, so fühlt sich Jan—ist auch für die modernste Technik unauffindbar! Gewiß, Oliver hatte damals sein Entwicklungsprogramm durchgesetzt. In diesen Monaten müßte das neue Superradar in die Erprobung gehen. Würde dieses Wunderwerk Raum schiffe jenseits der Marsbahn orten können? Doch die lächerlichen Maße der Kleinrakete... Warum sollte man nach ihr überhaupt suchen, wenn die große „Neptun" mit Havarie-Signal durchs All raste? Jan erinnert sich an seine Hypothese der „MII"-Katastrophe. Unter der Voraussetzung plötzlichen Maximalschubs nach einem Ausfall der Antriebs kybernetik hatte er eine Lösungsvariante erarbeitet, die aber nur bei einigen Theoretikern Beachtung fand. Ist er nicht jetzt ungefähr im Aphelbereich dieser möglichen Katastrophenbahn und vielleicht im Suchsektor für Oli vers Testprogramm? Wunschträume, Strohhalme, an die man sich klam mert! Hei würde ihn auslachen... Und rationell, logisch, objektiv—sogar mit Recht! Wer würde schon ein kostspieliges Suchunternehmen mit derart geringen Erfolgschancen befürworten? So hatte auch die Kommission die Einstellung der Suche nach der „MII" begründet. Nüchtern. Sachlich. Doch durfte man allein mit dieser papiernen Sachlichkeit entscheiden, wenn Menschenleben im Spiele waren? Vier Kosmonauten sind mit der „M II" verschollen. Vier! Hatte nicht damals die ganze Kommission versagt, genau wie Hei gestern möglicherweise versagt hat? Wie anders stellen sich Tatsachen dar, wenn man selbst betroffen ist. Neben Olivers Radarprojekt hatte nur noch die Forderung nach schärferen Auswahlkriterien weitere bedeutende Aktivitäten des Raumfahrtinstituts ausgelöst: Die Forschungen Professor Yangs! Aber könnte ihm nicht auch hier etwas einfallen, etwa mit seinem Plasma triebwerk? Könnte nicht Hei, wenn er zur Erde zurückkäme, etwas zu seiner Rettung unternehmen? — Nein, von Hei ist nichts zu erwarten! Selbst wenn er seine Tat bereuen würde — er würde nichts für ihn tun können, denn er würde sich selbst damit in Frage stellen. Mochte es das auch geben — Hei ist nicht so. Hei ist logisch. Hels Tat — ist es eine Tat, ist es das, was man früher Mord nannte? Nein, nein, Jan wehrt sich dagegen. Doch was ist es dann? Hei — ein Opfer unglücklicher Umstände, Opfer der Einsamkeit, der Zweisamkeit, Opfer des Einflusses von Bildschirmen, Meßstrecken, Motoren, Haltegurten, Konturenbetten? Warum war er, Jan, nicht auf den
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Gedanken der Rückkehr gekommen? War er ein besserer Mensch? Besser— was ist besser an einem Menschen? Hatte nicht Professor Yangs Analyse bewiesen, daß sie die besten waren? Für die Neptun-Mission! — Auch die besten füreinander? Warum hatten sie nicht mehr übereingestimmt, sich nicht wortlos verstanden, wie es im Routine-Dienst, bei Reparaturen, selbst bei Havarien immer der Fall war? Was ist die Yang-Methode wert, wenn sie so etwas nicht kalkulieren kann? Yang — Hei, Hei — Yang. Der Malstrom der Gedanken verengt sich. Jan liegt da und starrt an die Decke, stellt sich Yang vor, wie er von hundert Mitarbeitern mit Akribie zusammengestellte Tabellen, Grafiken, Ziffernfol gen auswertet, dann sein Tauglich oder Nichttauglich verkündet. Sicher, zuverlässig, überzeugt. Überzeugend. In kurzen Aufblendungen fügt sich nun alles zusammen. Als wäre sein Kopf eine hallende Kuppel, in die von Lautsprecherstimmen einzelne Argumente gerufen werden, summiert sich die Synthese seines inneren Monologs: Hels Unzufriedenheit. Die absolute Sicherheit des Schiffes gegen Fehlstarts. Die ewigen Rechnereien während der letzten Wochen. Er hat die Bahn für die Rückkehr ermittelt! Die Auswahl des Speicherinhalts... Ergo: Hei ist umgekehrt! Wohlüberlegt! Und er, Jan, hatte im entscheidenden Konflikt absolut nichts begriffen! Die YangMethode liefert also kein gültiges Kriterium für die Flugtauglichkeit einer Mannschaft. Er, Jan, ist der einzige, der das weiß! Er würde verhindern können, daß man Piloten wehrlos hinausschießt. Wehrlos gegen sich selbst, weil fehlbeurteilt. Er muß leben, muß zurück! Deshalb! Jan erstarrt, empfindet beinahe körperlich, was für einen gewichtigen Auftrag er sich eben gegeben hat. Wie von einer langen Reise zurückgekehrt, mustert er die vertrauten Details der Kabine. Nimmt von all dem Besitz, was ihn umgibt, was lebensnotwendig ist. Nimmt von neuem Besitz! Dann sieht er das Tablettenröhrchen, das noch am Boden liegt. Als wäre seihe Hand aus Glas, hebt er es auf, spürt, daß er errötet. Er trägt das Röhrchen zur Luftschleuse, läßt die nötigen Handgriffe ablaufen und beobachtet, wie es langsam auf den Hidalgo hinunterschwebt. Als er an die Berichte der Kollegen denkt, die vor ihrer Rückkehr irgendeinen Gegenstand zur Erinne rung auf -den Mond geworfen haben, merkt er, wie ein Lächeln in ihm aufsteigt. Viele Stunden ununterbrochener Tätigkeit, kurzer Schlaf, schweißgebade tes Erwachen, Träume von Loga, von Hei und von der Erde, von dieser unbeschreiblich fernen, unvergleichlich schönen Erde. — Flüche, Verwün schungen. Oft auch wieder der Blick zu den Ventilen. Er ist noch da, dieser Blick. Selbstmord wäre eine Möglichkeit, ist aber aus der Wirklichkeit schon gestrichen. Schließlich errechnet Jan eine Bahn, die realisierbar ist, die innerhalb einer seinen Vorräten angemessenen Zeit in die Nähe der Erde führen kann. Er würde sich einschränken müssen, Energie sparen, fast nichts essen, warten. Er erarbeitet das Startprogramm, trainiert es zweimal, optimiert die Startzeit. „Zwei, eins, null — Start." Beinahe der gesamte Vorrat an chemischem Treibstoff rast durch die Düsen. Canopussensor ein, Sonnensensor ein. Wird er jemals die Automatik auf die Orientierung nach dem blauen Licht des Heimatplaneten umschalten können? Falls nichts Unvorhergesehenes passiert: Überlebenschance eins zu tausend!
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Monate vergehen. Hei mag die Speicher des Bordcomputers der „BabyNeptun" nur deshalb mit Informationen gefüllt haben, um dem verlassenen Gefährten die Tage zu erleichtern. Eine winzige Möglichkeit, die Andeutung eines Rettungsweges ist auch dabei: Zum Teil gelöscht durch die Beschrei bung des Ausstieges auf den Hidalgo, findet Jan seine eigenen Aufzeichnun gen über die Konstruktion kleiner Plasmatriebwerke, die ihn seit Jahren beschäftigt. Zum Zeitvertreib rechnet er weiter, hofft auf eine realisierbare Lösung, beruhigt sich dabei. Auf der Suche nach weiteren Informationen hört er systematisch alle Speicher ab, spielt einen Text nach dem anderen an, übergeht vieles, findet wenig. „... und wenn es mit mir besser wird, soll alles vergessen sein." Das war doch Hels Stimme! Mit dem Gefühl, als falle er mit geschlossenem Fallschirm, läßt Jan zurückspulen, findet den Anfang dieses Textes und hört, indem er wie hypnotisiert auf das graue Pult starrt: „Du schläfst jetzt, Jan, hast eine Tablette genommen. Ich möchte dir etwas sagen, aber noch hoffe ich, daß du es nie hören mußt. Solltest du es doch einmal zu Ohren bekommen, so wünschte ich, daß du mich verstehst, obwohl ich mich selbst nicht ganz begreife. Seit Monaten habe ich Zweifel, ob es richtig war, alles zu verlassen. Ich weiß nicht, ob ich durchhalten werde, allein mit dir, oder ob ich eines Tages etwas Unwiderrufliches tun werde, was dich enttäuschen muß. Manchmal bin ich wie umnebelt von der Sehnsucht nach der Erde, nach Micky, Ricardo, Wanja und den anderen, und dann glaube ich, nur noch Fehler an dir zu sehen. Du scheinst mir seelenlos und unmenschlich, wie die Automaten um uns. Ich weiß nicht, wie lange ich dagegen ankämpfen kann. Ich habe versucht, einen Rückweg zu berechnen. Du darfst das nicht erfahren. Es würde furchtbar werden zwischen uns... ,aber vielleicht wirst du mich später verstehen. Ich brauche die Menschen, Luft, Sonne, Freiheit — die Erde. Nur habe ich dies nicht gewußt, solange wir noch dort waren. Das mußt du mir glauben. Sicher bist du nicht so unleidlich, wie du mir jetzt erscheinst. Deshalb soll keines meiner Worte gegen dich gerichtet sein. Ich muß mit mir selbst ins reine kommen, und wenn es mit mir besser wird, soll alles vergessen sein." Noch lange starrt Jan auf das Pult des Wiedergabegerätes, versucht zu begreifen. Die gepreßt klingende Stimme, der ungewohnte Ernst der Worte tönen in ihm nach. Er hatte geglaubt, den Freund zu kennen, und kannte ihn doch nicht. „Das moralische Gesetz in mir" — fehlt es bei ihm? Nein, er hat ein anderes, setzt sein Ich an eine andere Stelle der Werteskala, nach der er handelt. Was für Kämpfe, was für seelische Qualen hat Hei durchstehen müssen? Wie mag er sich selbst sehen, wenn er noch lebt? Von Zeit zu Zeit schaltet Jan den Empfänger ein. Das kostet wenig Energie, und das Rauschen im Kopfhörer ist das einzige Geräusch, das nicht aus dem Innern von „Baby-Neptun" kommt. Signale von der Erde erwartet er nicht. Er weiß, daß er eine 3 m-Parabolantenne haben müßte und die lächerliche Schüssel von nur 50 cm Durchmesser außenbords ihm nichts nützen kann. Trotzdem ist es ein schönes Spiel, wenn das Rauschen infolge der Drehung seines engen Gefährts anschwillt und schwächer wird, wenn seine Körperbe wegungen hörbar werden, mit denen er die Lage der Rakete und ihrer Antenne verändert. Eines Tages wird dieses Spiel zum Spiel seines Lebens: Jan verwünscht seine Ohren, die ihm ein Signal vorgaukeln; läßt aber den Empfänger eingeschaltet. Nach Stunden wird es zur Gewißheit — es ist ein
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Signal! Er stabilisiert, wendet die Antenne in die Richtung der größten Feldstärke, die mit seinem Kurs beinahe übereinstimmt. Nein, das kann doch nicht sein! Die Dauerkennung von „Merkur II" ist klar, unüberhörbar! „M II" ist aber doch verschollen, existiert nicht mehr! Woher kommt dieses Signal? Radar. Höchstspannung. Da ist es! Was ist es? Die „MII"? Nach Stunden ist die oszillierende Kontur gewachsen, nach zwei Tagen erblickt Jan das tote Raumschiff durch die Bugluke. Sein Funkspruch bleibt ohne Antwort. Er preßt die Augen an das Okular des Erkundungsfernrohres, bis ihm die Lider schmerzen. Sein Blick gleitet über das langsam rotierende Projektil. Unverkennbar: Es ist ein Schiff der „Merkur"-Klasse. Es muß die „MII" sein! Nach einer Stunde gelangt die bisher verdeckte Seite des im Sternenlicht matt schimmernden Körpers in sein Gesichtsfeld. Ein gepreßtes Stöhnen quält sich über seine Lippen. Der Rumpf zeigt einen breiten Riß mit bizarr gezackten Rändern. Bauteile hängen heraus, sind nur noch durch Rohrlei tungen lose mit dem Schiff verbunden. Da muß sich der Reaktor befunden haben, wenig tiefer das Haupttriebwerk. War der Reaktor überkritisch geworden, war er explodiert? Ein Meteoritentreffer? Nichts, was diese Fra gen beantworten könnte. Fast fünf Jahre müssen seit der Katastrophe ver gangen sein! Nein, da kann niemand den Funkspruch beantworten, da gibt es niemanden mehr! Dennoch, für Jan ist das Wrack ein Geschenk des Himmels. In dem schweigenden Projektil können Nahrungsmittel, Treibstoffe, Batterien, Stahl, Kupfer, Titan, Werkzeuge, ein Sender — was könnte da nicht alles sein! Was wären das für Möglichkeiten! Er verwendet kurz entschlossen seine letzten Hydrazinvorräte zur Angleichung der Geschwindigkeiten und leitet das Dockingmanöver ein. Die „MII" hat die Größe der „Neptun". Jan kennt den Typ genau, mühelos gleitet er an Bord. Vor Aufregung schweißnaß und zitternd, schwebt er in Richtung Kommandoraum, spürt nicht, wie gering seine Kräfte schon sind. Die Schleuse zur Baby-Rakete der „MII", dem Rettungsboot, steht offen. Die Kleinrakete fehlt. Das Kabinendeck scheint unbeschädigt. Er öffnet die Durchgangstür zum Kommandoraum und ist geblendet von ungewohnter Helligkeit. Die nur zum Teil erloschenen Armaturen, die Pilotensessel, das große Radaroskop, die hellbeleuchteten Bassins mit den Algen und — ganz hinten, unbeweglich, mit den Händen an irgendwelche Schalthebel geklam mert, ein Mensch! Jan hält den Lukengriff mit beiden Händen, sein Körper vibriert. „He — hallo!" versucht er. „...,ja?" „Sie leben?" Da treffen sich zwei Menschen, Millionen Kilometer von der Erde entfernt, und können es nicht glauben, sehen sich entsetzt an, erschauern dann vor Freude, wissen nicht, was zu tun ist, können nichts ausdrücken, drücken alles aus. Keiner der beiden weiß später zu sagen, wie lange sie einander anstarrten. Plötzlich stößt sich Jan kräftig ab, schwebt hinüber und packt den neuge wonnenen Gefährten heftig bei den Schultern. „Wer sind Sie?" „Galja Fedorowna." Jan kennt die Namen der meisten Kosmonauten, weiß, wen er vor sich hat. Ungläubig schwebt er um die kleine Person herum, die sich an den Sessel
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klammert und die Sprache verloren zu haben scheint, deren weitaufgeris sene Augen ihm folgen, Augen, die zu dem staubgrauen Gesicht und zu dem von vielen Silberfäden durchmischten wirren Haar in einem seltsamen Kontrast geraten, weil ein freudiges Leuchten in ihnen aufkommt. Das ist also diese Biologin, Algenspezialistin aus Leningrad, die auch als Raumfahrtpsychologin ausgebildet ist. Und sie ist hier, sie lebt! Vor Jahren wurde ihr Name als Opfer der „Merkur"-Katastrophe in die Gedenktafel gemeißelt, und sie lebt! Langsam beginnt Jan, sich zurechtzufinden, konsta tiert, daß er noch immer schweigend um Galja herumschwebt, will etwas sagen. Doch wo anfangen? Da fällt sein Blick auf die leeren Pilotensessel. „Wo sind die anderen, Anthony Words, Giordano Vendella, Sakoto...?" „Ich weiß nicht. Sind sie nicht zurück?" Galjas Gesicht wird sehr ernst. Jan begreift. „Verzeihung, ich bin Jan Dinin. Wir waren auf der ,Grand-Tour' zum Neptun und hatten Havarie." „Und die Genossen?" „Wir waren nur zwei. Hei Sanders ist auf Heimatkurs." Galja sieht ihn aufmerksam an. Fragt nicht weiter, beginnt dann, stockend zu erzählen. Sie hat Mühe, sich zu erinnern. Meist fehlen die Worte, oft birgt sie das Gesicht in den Händen, wischt sich Tränen von den Wangen, versucht ihre Haare zu ordnen, merkt, wie zusammenhanglos ihre Worte sind, fängt neu an. Schließlich gibt sie es kopfschüttelnd auf. „Dort im Speicher ist mein 19
Tagebuch. Hör es dir an, ich kann nicht..." „Sei ganz ruhig. Das hat Zeit, viel Zeit." Jan will ablenken, erzählt von der „Neptun"-Mission, langsam, unvollständig, übergeht die Konflikte. Doch schon nach wenigen Minuten ist Galja erschöpft eingeschlafen. Jan durchstreift die „MII", untersucht die Vorräte, den Rechner. Er prüft, welche Räume noch zugänglich sind, macht Radioaktivitätsmessungen und stellt enttäuscht die Unzulänglichkeit der im Kommandöraum befindlichen und daher unzerstörten Teile der Sendeanlage fest. Was war damals gesche hen? Er stöbert das Logbuch auf, wischt Zeile um Zeile den Staub von der letzten beschriebenen Seite. „Große Durchsicht der ,Baby-Rakete', des Haupttrieb werkes und des Reaktors", steht dort als Arbeitsplan. Ein bißchen viel auf einmal, scheint es. Doch halt, gehörte zur großen Durchsicht damals nicht auch ein Probeflug der Baby-Rakete? Ein Geräusch läßt ihn herumfahren. Galja kommt herangeschwebt. Sie sieht jetzt anders aus. Das Gesicht ist sauber, hat etwas Farbe, ihre Haare sind gekämmt. „Entschuldige..., gestern..., vorhin..., ich muß erst lernen..., die Zeit war so lang. Ich bin wie tot." „Nicht doch, nein, du lebst! Wir leben. Komm, Galja, frühstücken, dann reden. Wir sind jetzt eine Mannschaft, was haben wir für ein Glück!" Ihr Blick fällt auf die verwischte Logbuchseite. „Es war furchtbar damals. Ich weiß nicht einmal, was wirklich geschehen ist. Saß gerade bei meinen Algen. Die anderen machten eine ihrer häufigen Durchsichten. Alle waren sehr beschäftigt, keiner hatte Zeit für die .Algenmamsell', so nannten sie mich immer." Mühsam unterdrückt Galja ein Schluchzen. „Die ,BabyRakete' war gerade außenbords. Ich hatte sie noch heranschweben sehen. Plötzlich gab es einen Stoß, ein Krachen ging durch das Schiff, wie von einer Explosion, Dann setzte Beschleunigung ein, ich wurde' in eine Ecke ge schleudert, verlor die Besinnung. Als ich erwachte, war ich voller Blut. Ich weiß nicht, wie lange ich gelegen habe. Meine Zeitrechnung stimmt nicht mehr. Monatelang gab ich Klopfzeichen an der Tür zum Hinterschiff. Es war entsetzlich! Was glaubst du, wie oft ich Schluß machen wollte..." Was sollte man antworten? Jan zieht es vor zu schweigen, faßt kräftig ihren Arm und hilft ihr beim Hinüberschweben zum Kombüsenschrank. „Magst du Algensteak?" Die dunkelgrüne Masse schmeckt tatsächlich wie gebratenes Fleisch. Jan ißt mit Behagen, während Galja kaum etwas herunterbringt und gedanken verloren einem Happen hinterhersieht, der sich von ihrer Gabel gelöst hat und in Richtung Luke schwebt. „Ißt du oft solche leckeren Sachen?" „Ausschließlich — lecker ist das schon nach einer Woche nicht mehr!" Da läßt Jan alles liegen, stürzt zum Skaphander, hastet durch die Schleu sen in seine Rakete, stopft sich die Taschen voll, kehrt zurück und verstreut wie eine behelmte Fortuna Leckerbissen im Kommandoraum. Nach einer halben Stunde ist Galja gesättigt, lehnt sich zufrieden zurück. „Galja, das war ein Festmahl. Aber nun heißt es wieder sparen, wenn wir noch einige Zeit leben wollen." „Ich hätte nicht gedacht, daß meine Forschungsergebnisse noch einmal jemandem nützen werden. ,Algensteaks — Züchtung und Zubereitung' hieß eines meiner Themen. In all den Jahren habe ich dann gelernt, eine ganze Speisekarte von Algengerichten herzustellen. Ohne die Arbeit wäre ich
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schon gestorben. Ein ganzes Lehrbuch habe ich in den Speicher diktiert. Ob das je gelesen wird?" „Ich denke, man wird es lesen. Wir werden es schaffen! Noch weiß ich nicht genau, wie. Aber mit deiner Ausdauer und mit einigen technischen Erfah rungen meinerseits ist es nicht aussichtslos, verstehst du!" „Ja, wirklich, wir können wieder hoffen, glaube ich. Aber die anderen... Was mag damals bloß geschehen sein? Was meinst du als Fachmann dazu?" „Schwer zu sagen. Mehrere große Durchsichten aift einmal macht man heute nicht mehr. Vielleicht hatten sich die Kollegen übernommen. Irgendein kleiner Fehler, ein Meteoritentreffer... Jedenfalls sind die großen Tanks leer. Das Haupttriebwerk hat also gearbeitet. Deshalb war die ,MII' nicht mehr im Operationsgebiet. Deshalb konnte die ,MIII' dich nicht finden. Es ist genau meine Variante des Unglücks! Wenn das Hei erfahren könnte..." „Hei — ist das der Hei Sanders, mit dem du...? Was hat er damit zu tun?" Jans Gesicht wird abweisend, er will das Thema wechseln. Keinerlei Triumphgefühl über die Bestätigung seiner Hypothese. Eher Traurigkeit über das Versagen der Spezialisten. „Du mußt mir alles sagen, hörst du?" „Später." Galja berichtet, wie sie in den Jahren seit dem Unglück gelebt hat. Wie sie versuchte, soweit wie möglich die Technik des Raumschiffes, die Atemluft generatoren, die Meßsysteme und den Bordcomputer bedienen zu lernen. Jan hört aufmerksam zu, beobachtet ihr Gesicht, staunt über die Ruhe, die diese Frau beherrscht. Fragen über Fragen. Technisches erklärt er sofort. Auch sie muß vieles erläutern, hilft ihm, sich in seiner neuen Umwelt zurechtzufinden. Er hat Ideen, will bessern, muß sie, die eingewöhnt ist, überzeugen, wird vor Probleme gestellt. Ununterbrochen beschäftigt ihn der Gedanke, mit den jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln eine Rückkehr zur Erde zu bewerkstelligen, Galja zu retten, sich zu retten. Schließlich gibt es noch Hydrazin in den Reservetanks der „MII". Das Bewußtsein, ihrer beider Leben in der Hand zu haben, beflügelt ihn. Jetzt denkt er nicht mehr daran, aufzugeben. — Man kann zerstört werden, aber aufgeben darf man nicht. Ihre oft rührende Unkenntnis selbst einfacher raumfahrttechnischer Zusammenhänge drängt ihm immer wieder die Frage auf: Wie konnte Galja es hier aushalten? Sie war allein geblieben, hatte als einzige überlebt. Sie wollte zu Ende leben, auch allein, hatte nie aufgegeben, hatte sich mit den Apparaten angefreundet und in diesen Apparaten Wesen gesehen, deren Innenleben ihr unverständlich war, zu denen sie aber Vertrauen gewann, weil sie Leben ermöglichten, weil sie Voraussetzung für ihre Existenz waren, äo wie einst die Bändigung des Feuers und die Erfindung des Pfluges Voraussetzung für die Existenz der Menschheit wurden. Jans Hauptproblem ist zunächst die Sicherung der Energieversorgung der „MII". Die riesigen Flügel der Sonnenbatterien haben schon aus physikali schen Gründen nur etwa vier Prozent der in Erdnähe üblichen Ausbeute. Zudem läßt der Alterungsprozeß ihre Leistung ständig geringer werden. Wäre Jan nur wenige Wochen später eingetroffen, hätte er die schwachen Signale der „MII" nicht mehr wahrnehmen können, hätte die Abnahme der Beleuchtungsstärke Galjas Algen sterben lassen! Jan verbindet die Stromkreise der „MII" mit dem Reaktor seiner KleinRakete, aktiviert eine Nuklearbatterie, die er einem noch nicht abgesetzten Sonnensatelliten im Laderaum der „MII" entnimmt, regeneriert die alten
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Sonnenbatterien, setzt alle nur auffindbaren Ersatzzellen zu einer neuen zusammen. Galja ist im Kommandoraum aktiv. Sie bringt alles auf Hoch glanz und nimmt das vernachlässigte Routinetraining wieder auf. Schon nach wenigen Tagen haben sie sich eingespielt, regiert ein fester Arbeitsplan das Leben an Bord. Nun können sie sich den Problemen ihres weiteren Fluges zuwenden. Gern bezeichnet Galja Jan als ihren neuen Kommandanten. Oft beobachtet sie ihn nachdenklich. Eines Tages berührt sie ein Thema, welches sie bewegt, seit sie mit Kosmonauten zusammenlebt, das sich ihr gerade jetzt aufdrängt, weil die Bemühungen um die Funktion der Technik und der unmittelbare Kampf ums Weiterleben zu einer Einheit verschmolzen sind. „Früher sagte ich immer, ihr Techniker habt keine Seele. Aber wenn man dir zusieht... Das ist nicht nur Arbeit mit Händen und Gehirn. Du fühlst dich hinein. Die Technik wird Teil deiner selbst. Mit ganzer Seele dabei — wie soll man es anders ausdrücken?" „Wozu Seele? Wir brauchen sie nicht!" „Wie erwartet. Alles, was ihr für unerklärbar haltet, möge nicht existieren. Aber das Unerklärbare in uns, du hast es erfahren, das gibt es! Das nenne ich Seele." Jan weiß um das Unerklärbare. Wäre er nicht sonst schon jenseits des Jupiters? Tatenfroh, zuversichtlich, einträchtig mit Hei? „Gewiß, Galja, noch ist vieles nicht zu erklären, sind Gefühle uns ein Hindernis. Noch sind wir selbst das schwächste Glied in unserer Entwicklungskette. Doch, wenn es auch langsam geht, Stufe um Stufe, wir werden das ebenfalls schaffen, werden eines Tages genau wissen, wie wir, was wir, warum wir..." Jan glaubt an die Erkennbarkeit der Psyche, hatte er doch wegen dieses Glaubens so auf Professor Yang vertraut. Er weiß nun zwar, daß die Yang-Methode vielleicht ein falscher Schritt ist, glaubt aber fest, daß irgendwie in ihrem Sinne einmal alle Unklarheiten beseitigt werden wür den. Galja lächelt ungläubig. „Dann, wenn das so sein wird, fünfhundert oder tausend Jahre weiter, wenn man vielleicht genau erkennen, voraussagen kann, wie ein Mensch denken, was er tun wird—leben möchte ich dann nicht, in einer solchen fertigen, langweiligen Welt. Fertig sein, sich und die Welt begriffen haben, Ziel erreicht, Schluß. Dann ist Schluß, verstehst du? Ich hoffe, dahin wird es nie kommen." Jan horcht auf. So weit hat er noch nie gedacht. Am Ziel sein heißt aufhören. Das ist logisch, Doch er, der stets Aufgaben zu lösen, Gedanken zu fixieren, Forschungen zu beenden gehabt hat, wehrt sich gegen die Vorstellung, daß das Enträtseln eines Problems eine tote, langweilige Welt zur Folge haben könnte und daß die vollständige Durchdringung der Psyche — vielleicht mit einer wesentlich verbesserten Yang-Methode— mehr Probleme schaffen als beseitigen würde. Er möchte jetzt nicht antworten, er sträubt sich gegen das Unwägbare, Unmeßbare, aber Galja will ihm begreif lich machen, daß das Schwierigste und deshalb auch Wichtigste für den Menschen der Mensch selbst ist, sie möchte ihn zwingen, sein Problem zu Ende zu denken. „Du forschst doch nicht nur in der Außenwelt, sondern analysierst auch dein Inneres. Nur begreifst du das Außen besser. Vor deinem Inneren hast du Angst, mehr Angst als vor Gefahren im Weltall. Besonders dein persönli
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ches Urteil über andere, vor allem über diesen Hei, erscheint dir unzutref fend. Und warum? Nur weil du es nicht mit Formeln und Zahlen belegen kannst und vielleicht auch, weil beim Nachdenken über das menschliche Innenleben kein Ende absehbar ist." Jan fühlt sich durchschaut: „Und du?" Er versucht abzulenken. Galja antwortet nicht, sieht ihn nur an. Ist Jan schon reif für die Erde? Seit er ihr über sich und Hei erzählt hat, seit sie von den Ereignissen auf dem Hidalgo weiß, ist sie besorgt. Er grübelt immer noch zuviel über die Motive dieses Hei Sanders, die ihr ziemlich klar erscheinen. Dort, wo Hei ist, wird Jans Bericht unglaubhaft erscheinen, Kämpfe herausfordern. Wird Jan sich gegen den weniger sensiblen Hei behaupten können? Gibt es eine andere Lösung als Kampf? — Fragen, die nicht zu beantworten sind. Noch nicht. Hier nicht. Bahnberechnungen ergeben, daß sie in zwei Jahren in größere Erdnähe geraten werden, daß eine Rettung dann nicht mehr so unwahrscheinlich wäre. Jan löst Aufgaben, die auf dem Kosmodrom eine ganze Arbeitsgruppe beschäftigt hätten, bewältigt trotzdem das Trainingspensum, experimen tiert, konstruiert. Galja nimmt ihm viele Arbeiten ab, hilft ihm, sich zu konzentrieren. Unter ihrem Einfluß beginnt er über viele Dinge anders zu denken, auch sich selbst von anderer Warte zu sehen. Oft träumen sie von der Zukunft, fühlen Verständnis, spüren das Glück des Nicht-mehr-alleinSeins. Zwei Monate ist J a n nun schon auf der „MII". Zwei Monate, in denen — und darüber wundert sich J a n — es keinen noch so kleinen Streit gegeben hat. Mit vielen Menschen war er schon zusammen. Er hält es für gesund, streitbar seine Meinung zu vertreten. Schließlich braucht man Auseinander setzungen, vorwärts bringen sie meistens. Wenn Galja ihre Meinung vertritt, nimmt sie allem die Schärfe, oft nur mit einem Blick. Verständnis, Achtung für den anderen — Jan spürt, daß er daraus Kraft schöpft, sicherer wird, mehr leisten kann. Wie sich Galja verändert hat! Ist das nur eine Folge der abwechslungsrei cheren Kost, die sie nach der Vereinigung ihrer Vorräte zur Verfügung haben? Wie gepflegt sie aussieht, kein Vergleich mehr mit dem grauen Häufchen Unglück, das J a n am ersten Tage im Sessel hatte hocken sehen. Mit wieviel Spaß sie in der Küche hantiert und immer neue Gerichte hervorzaubert, denen man kaum ansieht, daß sie sämtlich aus den Algenbas sins stammen. Auch ihre Sprache hat sich verändert. Die oft sonderbaren, weltfremden Formulierungen, mit denen ihre Tagebuchaufzeichnungen überhäuft sind, haben sich fast verloren. Erstaunlich, wie nahe sie durch geduldiges Beobachten oft dem Geheimnis der Funktion eines Gerätes gekommen ist. Schon wenige Sätze genügen, um sie in die Lage zu versetzen, mit Apparaten zu arbeiten, an die man eine Biologin, eine „Algenmamsell", niemals herangelassen hätte. J a n ist sich nicht klar darüber, daß er sich in dieser Zeit ebenfalls verändert hat. Wenn er nach Vollendung einer Arbeit, laut und falsch pfeifend, Werkzeug und Material verstaut, sieht er ein zufriedenes Lächeln auf Galjas Lippen. Außenbords bringt er die große Antenne in Ordnung. Berechnungen für sein Plasmatriebwerk fressen die meisten Stunden. Beim Durchsuchen des Ersatzteillagers findet er spezielle Leistungstransistoren. Er sieht die Mög
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lichkeit, einen neuen Sendeverstärker zu bauen, Funkkontakt zur Erde herzustellen. Er entwirft und verwirft, rechnet und probiert. Schließlich greift er zur Lötpistole. Zittrig und nervös, vergißt er das Essen, wird von Galja ermahnt, die ihm assistiert und vorsichtig weggeschwebte Teile wieder herbeischafft. Endlich ist der Sender arbeitsbereit. Fiebernd vor Erwartung, schaltet Jan ein. Als er Galjas besorgten Blick in der spiegelnden Plasteyer kleidung eines Meßgerätes wahrnimmt, ist es bereits zu spät. Leichter Rauch züngelt zwischen den Bauteilen hervor, stechender Geruch verbreitet sich. Jan ballt die Fäuste, die Knöchel treten weiß heraus. Er spürt Galjas Hand auf seinem Arm, spürt, wie sie seinen Kopf an ihre Brust zieht, wie ihre Hände leicht durch seine Haare gleiten, bis sich seine Kiefermuskeln entspannen. Nicht angeschnallt, sind sie beide ganz sacht gegen die Decke des Kommandoraumes getrieben. „Nicht doch, bleib ruhig. Uns ist ja nichts passiert." Er glaubt plötzlich, Hei zu sehen, Vorwürfe zu hören. Wie hätten sie sich gestritten, jetzt gestritten! Einer würde dem anderen die Schuld geben, ausfallend werden. Und sie? „Uns ist ja nichts passiert" — ja, das ist das wichtigste. Er ist nicht müde, nun nicht mehr. Der Mißerfolg entmutigt ihn nicht, erneut vertieft er sich in Formeln. Noch ein Jahr, dann muß sein Minitriebwerk arbeiten, dann soll es sie zur Erde tragen. Die „MII" verfolgt ihre Bahn durch das All nicht geradlinig. Sie rotiert in etwa fünfzehn Stunden um einen Punkt in der Nähe der Triebwerksdüsen.
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Außerdem dreht sie sich, wie ein riesiger Brummkreisel, um ihre Längs achse. Um Treibstoff zu sparen, unternimmt Jan noch nichts gegen diese Drehungen. So wie der Körper des Raumschiffes um seine Achsen kreist, so kreisen die Gedanken der beiden Insassen um zwei Probleme: Um die Möglichkeit einer Rückkehr zur Erde, der sie all ihre Kraft widmen, und um Hei. Jan fühlt, daß Galja von einer ständig wachsenden Unruhe befallen wird. Er bemüht sich daher, die Risiken des Rückfluges zur Erde zu bagatellisie ren. Galja weiß nicht, wieviel Kraft es kostet, allein die Funktion der lebenserhaltenden Technik zu gewährleisten. Die von ihm kalkulierte Über lebenschance ist in keinem ihr zugänglichen Speicher, auf keinem Stück Papier verzeichnet. Und obwohl er über alle Fortschritte seiner Arbeit, über alle Erfolge ausführlich berichtet, wächst ihre Unruhe! Jan ahnt nicht, daß diese Unruhe einen ganz anderen Grund hat, daß Galja nicht im mindeaten an einer glücklichen Landung zweifelt, da ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten alle Gefahren klein erscheinen läßt. Es ist die Zeit nach der Landung, die sie fürchtet, das Zusammentreffen mit Hei, die neue Untersuchung der Havarie der „Neptun". Wird Jan dann noch genauso überzeugt von sich sein wie jetzt in der Zeit des unmittelbaren Kampfes ums Überleben? Wird er sich durchsetzen mit seinen Erkenntnissen? Oder wird Hels Version glaubhafter erscheinen? Jan würde das nicht ertragen können. Das ist es, was Galja schon jetzt beunruhigt. Behutsam versucht sie mehr über das Verhältnis der beiden Piloten der „Neptun" zu erfahren. Ohne direkte Fragen zu stellen, nutzt sie jede sich bietende Gelegenheit. Jan erzählt oft davon, wie er mit Hei jahrelang durch dick und dünn gegangen ist, wie sie im Steten Kampf ihrer hart aufeinanderprallenden Meinungen sich gegenseitig beflügelt hatten. Galja weiß bereits, daß jeder dem anderen schon einmal das Leben gerettet hat: Jan, als er während eines Testsprunges aus zehntausend Meter Höhe denverklemmten Fallschirm des Kameraden öffnen half; Hei, als er seine letzten Sauerstoffvorräte teilte und damit beide vor dem Erstickungstod in einer havarierten Orbitalstation bewahrte. Galja hört auch die begeisterte Schilderung des Mondabenteuers, bei dem sie fluchend, einander anfeuernd, beschimpfend und sich gegensei tig stützend, mit letzter Kraft zur Station „Luna neunzehn" zurückfanden, wo man sie schon aufgegeben hatte. Jan berichtet ausführlich von den Veränderungen im Wesen Hels, die er während des einsamen Fluges der „Neptun" beobachtet hatte,, und von den wenigen Sätzen, die er im Speicher des Computers fand. Immer wieder sucht er nach einer Möglichkeit, den Rückstart vom Hidalgo durch technisches Versagen zu erklären: „Ich bin nur zu dumm, ich finde sie nicht." „Gib das auf, quäle dich nicht. Es war der Mensch, der versagt hat! Die Jahre haben ihn verändert. Er fand keine Freude mehr im monotonen Verlauf eurer Expedition. Mag sein, daß er das vorher nicht ahnen konnte... Immer Technik, immer Exaktheit — ein ganzes Leben lang. Er wollte plötzlich frei sein davon, sehnte sich danach, einfach Mensch zu sein, Mensch unter Menschen. Da mußte er zurück." Jan schüttelt den Kopf, will aufbegehren, will erklären, welch hohes Maß an Selbstverwirklichung sich mit dieser Aufgabe verband und daß in der Überwindung der eigenen kleinen Zweifel zugunsten einer großen Sache doch das eigentliche Menschsein bestehe. Doch mit einer Handbewegung verschafft sich Galja Gehör: „Wenn du dich
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mitschuldig an seiner Veränderung fühlst — vergiß es! Wenn überhaupt, so gilt das nur für einige kleine Details, um die ihr gestritten habt." Jan will abermals widersprechen, doch er begegnet Galjas ruhigen offenen Blicken, fühlt sich erkannt, merkt, daß Galja nichts weniger als Streit sucht, und schweigt. Mechanisch bedient er das Wiedergabegerät. Musik erklingt, und wie stets in den raren Momenten gemeinsamer Entspannung, gleiten sie in einen Zustand innerer Ruhe, der, für sie beide überraschend, oft dazu führt, daß sich jeder innerlich mit dem gleichen Sachverhalt beschäftigt, sich sogar mit den gleichen Worten äußert. Jeder spürt die Gefühle des anderen! Sie haben Freude an der Resonanz ihrer Gedanken, die sich wie die Schwingungen aufeinander abgestimmter elektronischer Kreise durch un sichtbare Verbindungen dem anderen übertragen. Dieses Bild aus der Technik stammt natürlich von Jan. „Resonanz — ja, so kann man es nennen oder Harmonie." „Na ja", knurrt er, „Harmonie ist so etwas Undefiniertes wie das Wörtchen ,schön'. Resonanz — das ist doch wenigstens ein klarer Begriff." „Sei nicht albern, für den Musiker ist Harmonie genauso klar definiert, und die Musik ist älter als deine Elektronik." Rettung. Jan hat nur dieses Ziel. Er demontiert leere Tanks, gewinnt Spezialstahl. Er zerlegt das Magnetometer und entnimmt ihm kilometerlange Drähte für die Spulen, die das Magnetfeld für sein Plasmatriebwerk bündeln sollen. „Ich brauche plasmabeständiges Material, vielleicht das Hitzeschild der Landekapsel. Wir können dann nicht mehr selbständig landen, sind ohne Hilfe verloren. Wärst du mit einem solchen Risiko einverstanden?" Fragend blickt er zu Galja. „Du machst das schon. Sicher findest du eine Möglichkeit. Überanstrenge dich nur nicht, darin allein besteht das Risiko." Dieses Vertrauen tut wohl. Sich selbst beobachtend, stellt er fest, daß ihn die Unsicherheit immer mehr verläßt. Diese Unsicherheit beim Abwägen gleichwertiger Argumente hatte er trotz der entgegengesetzten Aussage der verantwortlichen Psychologen immer für eine hemmende Charaktereigen schaft gehalten. War sie aus dem Zusammensein mit dem selbstsicheren Hei entstanden? Jan pfeift vor sich hin. Er repariert in zwei Tagen den Canopussensor und beginnt, das Raumschiff zu stabilisieren. „Ist so eine Orientierung eigentlich schwer?" „Ach, ich habe schon Tausende von Sternen durch das Okular gejagt." Lässiger Beobachterjargon. Galja soll seine Angst vor dem Mißerfolg nicht teilen. Mag sie ihre Ruhe behalten, es ist alles schon kompliziert genug. Das System Erde—Mond wird im Fernrohr langsam größer. Es gelingt, einen Radarkontakt herzustellen, dann wieder lange nichts mehr. Galja schreibt und schreibt, Galja zeichnet, Galja träumt, wenn sie nicht gerade assistiert. Körperliche Übungen sind wichtig für die Gesundheit eines Kosmonauten, auch für Galja. Jan ermahnt sie, trainiert mit ihr, obwohl ihn die körperliche Arbeit genug beansprucht. Sie ist ihm zu faul, er sieht Gefahr, denkt an kommende Belastungen. Schließlich macht er seinem Unwillen Luft: „Hei war da ganz anders!" „Ich bin nicht Hei." . Da tut es ihm leid. „Entschuldige."
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Sie übergeht wie selbstverständlich seine aus der Überanstrengung herrührende Gereiztheit. Hei war da ganz anders, denkt er und macht sich wieder ans Spulenwickeln. 2000, 3000, 5000 Meter feinsten Kupferdrahtes. Der darf nicht reißen! Nach der stupiden Wickelei sitzen sie vor dem Teleskop, suchen immer wieder die Erde. ,,Wa' i, Berge, Strand, Städte, Straßen, Menschen — denke immer daran! Wir werden wieder auf diesem Stern sein, Galja. Nur — tu ein wenig mehr dafür, bitte." Galja blickt zur Wand, beißt sich auf die Lippen. Dann schlägt sie lächelnd vor: „Wir müßten .Skaphanderalarm' üben. Für alle Fälle." Jan ist sofort bereit, sieht, wie schwer ihr das Ungewohnte fällt, wie sie sich pustend und schwitzend bemüht. Sie lachen über ihre Verrenkungen. Während er dann zur Lötpistole greift, übt sie allein weiter. Tage später, als er, mit schweren Metallteilen beladen, aus der Luft schleuse tritt, sitzt Galja über das Pult des Rechners gebeugt. „Lösch nur unsere Speicher nicht!" ruft er erschrocken, kaum daß er den Helm geöffnet hat. „Ich spiele doch nur mit den reversiblen Matrizen der hinteren Peripherie." Er grinst über den Klang der Fachausdrücke aus ihrem Munde. Nach dem Essen setzt er sich selbst ans Pult. Die Feldgleichungen für die Au ßenabschirmung machen ihm noch zu schaffen. Galja sieht ihm über die Schulter, vergleicht die Formelbandwürmer mit den Programmtexten, 27
notiert etwas, vergleicht dann wieder. „Hier fehlt doch noch ein Stepping zeichen!" Jan ist verblüfft. Sie hat recht! Ein Flüchtigkeitsfehler nur, der aber viel Zeit gekostet hätte. Seit die Energie wieder ausreicht, seit der große Computer wieder aktiviert ist, hat Galja sich mit dessen Bedienung vertraut gemacht, hat sie ihre Kenntnisse vervielfacht. Jan hatte ihr deswe gen zugesetzt, weil er einen versierten Operator brauchte, weil er einfach keine Zeit erübrigen konnte, um alle Berechnungen selbst durchzuführen. Nun beherrscht sie dieses Metier! „Ich bin gar nicht so untechnisch, wie du denkst. Je mehr ich mich damit beschäftige, um so interessanter wird es." Jan blickt in ihr strahlendes Gesicht: „Hervorragend! Ich bin froh, daß ich dich habe. Desinteresse an der Technik wäre auch Desinteresse an unserem Leben", fügt er scherzhaft dozierend hinzu. „Hm, nicht nur an unserem. Wer die Technik nicht begreift, der versteht nicht, wie und warum die Menschen existieren — um mit deinen Worten zu reden! Ich brauchte nur einen Anstoß, noch einmal sollst du dich nicht über mich beklagen. Aber ich gehe meistens etwas anders heran als du." Jetzt erst erfaßt Jan, was er von ihr verlangt hatte, was er verlangen mußte. Und wie gut, daß er es gefordert hat! Auch Galja'muß über sich hinauswach sen, muß all ihre Kräfte konzentrieren. Allein würde er die Erde nie erreichen! Beim Training vor dem Einschlafen ist sie ebenso schnell im Skaphander wie er. Ein tiefer gesunder Schlaf beschließt den Tag. Die erste Möglichkeit einer Bahnkorrektion wird in zwei Tagen sein, weitere gibt es in den nächsten Monaten, dann erst wieder nach 10,2 Jahren. Das wäre zU spät. Die fieberhaften Bemühungen haben Erfolg. Jans kleines Triebwerk ist fertig, 633 Tage, nachdem er die „MII" betreten hat. 14.22 Uhr Bordzeit. Griff nach dem Schalthebel. Knistern in den handge wickelten Spulen. Zwei Augenpaare starren auf das Akzelerometer. Noch spürt man nichts, noch ist alles ungewiß, kein Grund zum Jubeln. Nach Minuten erst beginnt der Zeiger träge auszuschlagen. Zwei Stunden später sitzt Jan am Computer. Viel zu lang sind die Sekunden, bis das Ergebnis auf dem Bildschirm erscheint. „Erfolg!" Zwei Menschen fliegen aufeinander zu, taumeln von der Decke zum Boden, von Wand zu Wand — Freudentanz. Schwerelos. „Wenn wir heil ankommen, wird bestimmt eine ,Merkur'-Rakete im Kos monautik-Museum aufgestellt. Vielleicht sogar auf der kleinen Insel, wo sie den Liebespaaren Schatten spendet." „Und die Kinder werden sich über die bunten Enten im Teich freuen und der tonnenschweren altmodischen Technik den Rücken kehren." Die nächsten neun Wochen sind programmiert. Die Anstrengungen wer den geringer. Während die ständig wirkende Kraft des kleinen Triebwerkes die Bahn der „MII" kaum merklich, aber stetig in Richtung Erde krümmt, finden Galj a und Jan wieder zu sich selbst. Und sie finden zueinander. Immer mehr zueinander. Nach diesen neun Wochen sollen die gesamten Vorräte an chemischem Treibstoff in die notdürftig reparierten Motoren fließen, um den entscheidenden Schuß zur Erde zu starten. Bis dahin muß das Plasmatrieb werk durchhalten. Noch dreiundsechzig Tage, nach dreiunddreißig, noch dreizehn, noch drei. Das winzige Triebwerk arbeitet oft ungleichmäßig, der Ionenstrom schwankt, aber es hält durch! 28
2.11 Uhr Bordzeit. Festgeschnallt in den Pilotensitzen, haben die beiden ihre Hände auf den Starttasten. „Zwo, eins, null, Zündung!" Der Beschleunigungsandruck wächst. Fünf volle Minuten lang. Dann Ruhe. Wenden des Raumschiffes mit der Kraft der Preßluftdüsen, Neuorien tierung auf Canopüs, Sonne und — Erde. Nun kann bereits das auf das blaue Licht der Erde ansprechende Orientierungssystem mitarbeiten. Noch siebzig Millionen Kilometer. Sie sind bereits innerhalb der Marsbahn. Im Vergleich zu der passiven Flugphase hat sich ihre Annäherungsgeschwindigkeit beinahe verzehnfacht. Täglich zwei Stunden sitzt Jan, später auch Galja, an dem kleinen, notdürftig zusammengeschalteten Sender: ,,,MII' ruft Luna, ,M II' ruft Erde! Sind auf Heimatkurs. So hört uns doch!" Dann die Bahnda ten. Warum antwortet denn keiner? Reicht die Sendeleistung immer noch nicht? Hat man die Notruf frequenz inzwischen geändert? Geduldig wird der Ruf wiederholt — Stunde um Stunde, Tag um Tag. Rückkehr? Würde es überhaupt eine Rückkehr geben, wenn man die Signale nicht rechtzeitig bemerkt? Allein landen ist unmöglich; nicht einmal abbremsen würden sie den Flug können. Hilflos würden sie irgendwo an Mond und Erde vorbeiflie gen, unrettbar in die Ewigkeit, wenn nicht wenigstens zwei Monate vor dem erdnächsten Punkt ihrer Bahn eine Rettungsaktion eingeleitet würde. Der sich vergrößernde „Doppelstern", der weiße Mond und die bläuliche Erde, deren wechselnde Gestalt bereits zu erkennen ist, zieht die Blicke an. „Wenn du nicht gekommen wärest, hätte ich das nie mehr gesehen." „Wenn du nicht gewesen wärest, hätte ich irgendwann die Ventile geöffnet." „Es gibt immer noch eine Chance. Du bist meine und ich bin deine. So stark ist kein Mensch, daß er auf die Dauer allein mit sich fertig wird." „Werden wir zusammenbleiben, da unten?" „Bitte ja, ich kann mir nichts anderes vorstellen! Wir werden an einem sonnigen Strand wohnen, Krim oder Miami-Beach oder Adria, und..." Die Worte sind leicht hingesagt worden, aber in Jans Kopf schwirren Gedanken wie ein Bienenschwarm. „Werde ich noch deine Chance sein, wenn es wieder andere Menschen um uns gibt?" „Ach, du Dummkopf!" Galja packt ihn bei den Schultern und schüttelt ihn, bis die langen Haare locker wie ein Strahlenkranz vom Kopf abstehen. Doch Jan zweifelt, zweifelt an dem, was er bei Galjas Berührung empfindet, zweifelt an allem, was sich mit dem Gedanken an die Rückkehr verbindet. Was wird sie erwarten dort, auf dem blauen Stern? „,Luna 40' ruft ,MII', ,Luna 40' ruft ,MII'. Wer seid ihr?" Jan fliegt herum, sein schwereloser Körper beginnt zu rotieren. Galja fängt ihn ein, legt die Hand auf seine nervös über das Sendepult huschenden Finger. Die Kommunikation ist einwandfrei, Informationen eilen hin und' her. Quälend sind die Wartezeiten, während der die Signale durch den Raum jagen. „Warum habt ihr so lange nicht geantwortet?" Diese Frage wird weder von „Luna 40" noch von einer der sich nach und nach hinzuschaltenden Erdstationen beachtet. Jan sendet, bis die Kontrollampe aufleuchtet, bis die Spannung der Akkumulatoren nachläßt, bis der Temperaturanzeiger für den Reaktor sich dem roten Strich nähert. „Auf Wiederhören, bis morgen!" ruft er dann. Er streckt den angespannten
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Körper, reibt sich die glühenden Wangen, spürt Galjas kühle Hand auf der heißen Stirn. Vierundzwanzig Stunden wird es dauern, bis die Brennele mente des Thermionik-Reaktors genug Energie nachgeliefert haben. „Geschafft, Mädchen, so gut wie geschafft!" „Endlich! Ach Jan..., du..." Kein Wort, kein Satz kann ausdrücken, was jetzt zu sagen wäre. Lange lassen sie den Augenblick in sich nachwirken, schweigen miteinander, halten sich bei den Händen. Die nächsten Wochen bringen Anweisungen für das Rendezvous mit dem „Rettungsboot" im Raum zwischen Erde und Mond, bringen das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Tausenden, die zu ihrer Rettung beitragen wer den, bringen die Grüße und Glückwünsche von Millionen, und sie bringen Zuversicht für die letzte Etappe ihrer Odyssee. Galj a und Jan werden nicht mit leeren Händen zurückkehren wie der Held des Homer. Werden jedoch alle ihrer Rückkehr freudig entgegensehen? Wo mag Hei sein? Was wird er jetzt denken? „Achtung, Achtung! Kosmosleitzentrale ,Luna 40' ruft ,MII'. Geben Infor mationen für Rendezvous-Manöver. Kurskorrektur eurerseits nicht erfor derlich. Stellt Borduhr ein. In neunhundertneunundsechzig Stunden werden Rettungsboote längsseits gehen. Bereitet Umsteigemanöver vor. Elektroni sche Speicher, Bordbuch und Zahlenmaterial mitbringen. Bergung der ganzen ,MII' kann nicht garantiert werden. Beginnt noch heute mit der medizinischen Adaption. Geht ab jetzt in allem auf Sicherheit. In genau zwölf Stunden erfolgt Vergleich der Zeitnormale. Erforderüche Genauigkeit: 10~10. Wieviel Kilopond Gegenschub werdet ihr bringen? Ab sofort jeden Funkspruch wiederholen. Alarmstufe I und Funkstille auf eurer Frequenz im erdnahen Raum angeordnet. — Wünschen euch viel Glück! — Ende." Jans Hände arbeiten mechanisch. Band zurückspulen, Antenne richten, Sender ein, Band ablaufen lassen. Antworten: ,,,MH' an ,Luna 40', alles verstanden. Gegenschub unmöglich, haben keinen Treibstoff, sind auf Hilfe angewiesen. Keine Schwierigkeiten an Bord. Wiederhören morgen." Seit den ersten Jahren der bemannten Raumfahrt kennt man die mit der Rückkehr ins Schwerefeld verbundenen Anpassungsschwierigkeiten. Ein Satz von einundvierzig Injektionen in den letzten vierzig Tagen vor der Landung soll nach längeren Raumflügen das Schlimmste verhüten. Aber doch hat jeder Raumfahrer Angst vor den ersten Stunden auf der Erde, in denen er auf die Gefährten vom Landekommando angewiesen ist. Vier Wochen Sanatorium — das ist das mindeste, was sie erwartet. Vier Wochen, in denen man außerdem durch ein System von Fragen und neurophysiologi schen Tests alle auch unbewußt in ihren Hirnen gespeicherten Informatio nen herausquetschen würde. „Die erste Zeit wird nicht einfach sein." „Schön wird es werden — es ist immer schön, Sieger zu sein." „Schön, welch albernes Wort dafür — meine ich." „Gewiß, da hast du recht. Ich suche auch oft nach Worten, um zu beschrei ben, was ich jetzt empfinde." „Also komm. Der Onkel Doktor ist soweit. Diese Empfindung wird einfach zu beschreiben sein." Galja schreckt zurück, als sie die Spritzen sieht. Jan ist nicht gerade ein ausgebildeter Krankenpfleger. „Laß nur, es gibt Schlimmeres."
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Die Tage schwirren dahin, ablesbar am Größerwerden der Erde. Jeden fünften Tag zeichnet Galja einen Kreis auf die der Erde zugewandte Luke. Die ständig größer werdenden Ringe bilden eine Zielscheibe. Noch zehn Stunden bis zum Rendezvous-Manöver. Schon seit Tagen sind sie im Skaphander. Die Atemluft-Regenerationsanlagen bringen nur noch halbe Leistung. Der Empfänger spuckt ständig Anweisungen aus, die Jan und Galja minutiös befolgen. Auf „Luna 40" ist ein „MII"-Simulator installiert worden. Dort machen zwei Piloten die gleichen Bewegungen. Automaten überprüfen deren Richtigkeit. Jetzt darf nichts mehr schiefgehen. Der Bordsender ist mehr und mehr zum Schweigen verurteilt. Die letzten Tage haben allzuviel Elektroenergie gekostet. Drei Batterien sind völlig ausgefallen. In der Kabine ist es fast dunkel und merklich kälter, aber die lebenswichtigen Aggregate und Automatensysteme arbeiten normal, arbei ten zuverlässig. Jan lächelt zufrieden und freut sich über Galjas Tapferkeit. Nur gut, daß wir schwerelos sind, auf welcher Seite sollte man sonst liegen. Überall Einstiche. Du stichst wie ein Fleischer!" „Komm her—noch eine und dann die letzte Bordmahlzeit." „Guten Appetit!" Als Paprikagulasch und Kiewer Kotelett fast gleichzeitig aus dem automa tischen Aufwärmer springen, sehen sie sich an: „Jetzt fehlt ein Glas Sekt!" „Warte, bald gibt es auch das."
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Es geht alles sehr schnell. Jan sieht das Raumschiff unbekannter Kon struktion, schwebt zur Luftschleuse,.bedient die Hebel, einen nach dem anderen. Galja dicht neben ihm. Ventil eins, Klinke eins. Ventil zwei, Klinke zwei... Jan hat das Gefühl, als falle er in unendliche Tiefen. Was einem die Aufregung so vorgaukelt, denkt er noch, dann merkt er, wie er wirklich fällt. Ganz unten Ventil fünf, Klinke fünf. Ein Vorhang sinkt vor seine Augen. „Galja!" Er greift nach ihr. Sie greift auch nach ihm, sie versucht zu greifen. Es ist ein schwacher Versuch... „Da haben wir ja gerade noch Glück gehabt." Die gezwungen-väterlichen Worte des Raumarztes auf „Luna 40" wird Jan nicht vergessen. Wie nach Jahren fast fehlerloser Arbeit den beiden beinahe ein verklemm ter Sauerstoffschlauch zum Verhängnis geworden wäre, das weiß inzwi schen jedes Kind. Die angstvollen Minuten des Ringens um das Leben Jan Dinins und Galja Fedorownas haben alle am Bildschirm miterlebt. — Die Sonne wärmt an diesen Märztagen. In warme Decken gehüllt, sitzen Galja und Jan vor ihrem schilfgedeckten Häuschen auf der flachen Insel in der reinen salzhaltigen Luft. Der Mond hängt blaß am hellen Himmel. „Weißt du noch, als wir von dort starteten?" Jan öffnet die Augen einen Spaltbreit. Er betrachtet blinzelnd ihr Gesicht und verjagt die Gedanken, die ihn bis eben nicht losgelassen haben. Es ist nun ein Jahr her, seit er die kurze Zeitungsnotiz gelesen hatte: „Hei Sanders tödlich verunglückt — technischer Direktor des Kosmodroms wurde Opfer eines rätselhaften Heliokopter-Absturzes." Nichts hatte auf einen Defekt des Hubschraubers schließen lassen. Es war am Tage ihrer Rettung geschehen. Jan durchgrübelt Hels Karriere, die steil nach oben geführt hatte, während er durch das Weltall irrte, Galja fand und um ihrer beider Leben kämpfen mußte. — Veröffentlichung der Resultate der abgebrochenen „Neptun"-Mis sion, Berufung zum Leiter der Außenstation „Luna 40", dann technischer Direktor des Kosmodroms. Und schließlich dieser Unfall, dieser rätselhafte Unfall. Gut, daß Galja von seinen Nachforschungen in Hels Vergangenheit nichts ahnt. Würde sie diese postume Anhänglichkeit verstehen? Verstehen vielleicht — aber gutheißen? Jans Zukunftspläne wird Galja jedenfalls unterstützen. Seine Bewerbung ist positiv beantwortet worden. Nach Jahresfrist wird er als Trainer in die Ausbildungsgruppe für lange Weltraumflüge eintreten. Er will die Piloten lehren, jeder Erkenntnis zu vertrauen und ihr gleichzeitig zu mißtrauen, will sie lehren, daß im Moment der Entscheidung das Bekannte zum Nichts, das Unbekannte zum Alles werden kann, daß die Bereitschaft zu neuer Erkennt nis gerade zu Zeiten der scheinbaren Vollkommenheit aller Kenntnisse das wichtigste ist, daß es hinter allem Bekannten wieder Unbekanntes gibt, daß Ziele, Wünsche, Gefahren unendlich, so unendlich wie der Kosmos bleiben werden und daß das Wissen darum und ständiger Zweifel am Erlernten gut ist, sogar notwendig, um schnell und richtig entscheiden zu können — um zu überleben. Und er wird ihnen wünschen, diese Lehre nie anwenden zu müssen, und sie trotzdem bedauern, wenn diese Anwendung ihnen versagt sein würde, wenn sie nicht Sieger werden könnten, weil es nichts zu besiegen gab. Viel ist schon getan. Die Yang-Methode ist jetzt nur ein Bestandteil, das Anfangsstadium eines „Systems der Eignungsbeurteilung". Ja, es gibt eine neue Methode — vollkommener, fortgeschrittener, durchschaubarer. Sie scheint wiederum endgültig, scheint abgeschlossen, ist „freigegeben zur
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Nutzung". Und gerade da liegt die Gefahr! Da, wo man fertig ist, wo man ein abgeschlossenes System hat. Solch ein System muß offen sein für neue Komponenten, muß freie Parameter zulassen. Es geht nicht darum, Kandi daten zu analysieren, nein, Jan will Piloten heranbilden, die auch dann eine Chance haben, wenn ein nicht kalkuliertes Chaos hereinbricht oder, wie auch immer, in ihnen selbst entsteht. Wenn nur einer seiner Schüler eine Gefahrensituation besser überstehen würde als er selbst, ohne die Hilfe phantastischer Glücksumstände, aus eigener Kraft, dann wäre sein Überle ben nicht umsonst gewesen, hätte es nicht nur für einen Jan Dinin oder eine Galja Fedorowna Bedeutung. Jan korrespondiert mit zahlreichen Freunden, mit Kommilitonen von der Pilotenschule, empfängt Besuche. Dabei hört er von der Unermüdlichkeit und Strebsamkeit, mit der Hei seit seiner Rückkehr die Achtung und Bewunderung von Mitarbeitern und Vorgesetzten erworben hatte, und erfährt auch von der Einsamkeit, in die er sich zurückgezogen hatte. Vieles jedoch bleibt im dunkeln. Jan ersetzt durch Spekulationen, was man ihm verschweigt. Er will die Gefährdung seines Lebens durch Hei nicht überbe werten. Vorwürfe oder gar Haß sind ihm fremd. Niemand weiter soll erfahren, was wirklich geschehen, auf welche Weise Hei im Kampf gegen sich selbst unterlegen ist. Diejenigen aber, die es ahnen oder die der Wahrheit nahekommen, sollten diskret, schweigen und ihr Wissen, wenn es nötig wird, bei der Auswahl neuer Mannschaften berücksichtigen. Das allein ist Jans Wunsch.
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Ulrich Waldner
Der tödliche Schuß
Der Jäger Paul Anders ist auf dem Transport ins Krankenhaus gestorben. Eine Zeugin sagt aus: „Ich hatte abgedrückt, das Reh fiel, gleichzeitig hörte ich den Schrei, ich blickte nach rechts und sah Paul nicht mehr. Da rannte ich los zu ihm, er lag auf der Seite, die Augen geschlossen. Ich hatte ihn auf den Rücken gedreht, und da sah ich den Einschuß auf der rechten Brustseite..." Die Kriminalisten Beck und Kaluweit, bekannt aus der Serie „Die drei von der K", müssen klären, ob es sich um einen Jagdunfall oder um Mord handelt.