Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 55
Rückkehr nach Atlantis von Hugh Walker
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der ...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 55
Rückkehr nach Atlantis von Hugh Walker
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter kehrt in seine Heimat zurück. Ubali und Thamai – Dragons treue Begleiter und Kampfgefährten. Sythara – Königin der Sonneninsel. Athelaine und Kelamon – Zwei Geister in Menschengestalt. Amee – Die Königin von Myra kämpft einen verzweifelten Kampf. Der Namenlose – Ein Wesen, das mit Welten experimentiert. Für die Welt, die Dragon verließ, nachdem er sich in die Weiten des Eislands gewagt hatte, sind drei Jahre vergangen – eine lange Frist, in der das Böse Zeit hatte, immer mehr Fuß zu fassen. Jetzt, nach seiner Rückkehr durch das »Götterauge«, befindet sich Dragon – weit entfernt von Myra, seinem Königreich – in dem Gebiet, das von den Erben des alten Atlantis beherrscht wird. Dragon sieht mit Schrecken und Abscheu das Tun und Treiben der Sklavenjäger und Blutherren. Zugunsten der grausam Unterdrückten greift er ein und tilgt den Schandfleck Shebar vom Antlitz der Erde. Anschließend zieht Dragon mit seinen Gefährten weiter, immer wieder gezwungen, für Freiheit und Gerechtigkeit einzustehen. Sein Ziel ist die Sonnenstadt auf Neuatlantis, der Restinsel des vor zwei Jahrtausenden versunkenen atlantischen Kontinents. Bevor er nach Myra zurückkehrt, will Dragon der grausamen Herrschaft Vodors und Sytharas über diesen Teil der Welt ein Ende bereiten, denn dies, so fühlt er, ist er dem Vermächtnis des alten Atlantis schuldig. Doch menschliches Planen und Walten des Schicksals sind zweierlei! Bevor Dragon seine Absicht verwirklichen kann, fällt der Schatten des Himmels über die Welt und naht die Nacht der Dämonen. Für Dragon aber bringt die Katastrophe die RÜCKKEHR NACH ATLANTIS ...
1.
Die ganze Nacht und bis in den dämmernden Morgen brannte Ossar. Dann stand eine verkohlte, rauchende Ruine in der Bucht, umgeben vom hellen Schein der Lagerfeuer der siegestrunkenen Kanuks. Als die Sonne aufging, sah Dragons herankommende Flottille nur ein paar vereinzelte schwarze Rauchschwaden über der Küste. Aber erst, als die sechs Schiffe in der Bucht vor Anker gingen, wurde Dragons bange Frage beantwortet, denn jetzt war deutlich zu sehen, daß Schlangentöters Streitmacht ganze Arbeit geleistet hatte. Die Blutburg war nicht mehr! Jubel empfing ihn und die Flotte; und ein stolzer Kriegshäuptling Schlangentöter, dessen Ansehen durch diesen Sieg gewaltig gewachsen war. Die Vernichtung Ossars war nicht ohne Verluste abgegangen, aber der Jubel des Sieges überwog bei weitem die Trauer um die Toten. Es gab ein großes Fest mit Kriegstänzen und Gesängen, doch auf Dragons Rat ließ Schlangentöter es frühzeitig abbrechen. Die Krieger waren müde vom Kampf und der durchwachten Nacht. Nicht alle Jäger kamen mit Beute zurück. Es würde bald schwierig sein, dieses gewaltige Heer ausreichend zu versorgen. Es mußte in Bewegung bleiben. Die Versorgung war es auch, die Schlangentöters Pläne weitgehend änderte. »Ich werde nur mit einem Teil des Heeres weiterziehen«, erklärte er. Dragon nickte nachdenklich. »Wie viele?«
»Aus allen Stämmen einige Dutzend, das werden etwa ein Dutzend mal hundert sein. Dazu die Männer auf den Schiffen ... Wenn Ihr ihrer nicht mehr bedürft ...« »Nein«, erklärte Dragon. »Ich werde sie unter deinen Befehl stellen. Hast du Pferde für sie?« »Ja, Dragon ... aber ... weshalb sie unter meinen Befehl stellen, wenn Ihr ...« Dragon lächelte. »Du bist umsichtig und klug, mein Freund. Du brauchst meine Hilfe nicht, um diese letzte Blutburg zu stürmen. Ich habe andere Pläne. Mein Ziel ist die Sonnenstadt.« Der junge Padoka erschrak. »So braucht Ihr die Schiffe doch ...« Dragon schüttelte den Kopf. »Nein. Nur Ubali und Thamai werden mich begleiten.« »Unterschätzt Ihr die Gefahr nicht, Dragon?« »Ich hoffe nicht.« Nach einem langen Augenblick nickte Schlangentöter. »Ihr habt recht. Ich kann Euch nicht aufhalten. Und ich bin sehr zuversichtlich. Es mag sein, daß wir Verluste haben, aber wir werden diese Burg erobern! Mit oder ohne Eure Hilfe – wiewohl sie uns sehr willkommen wäre«, fügte er rasch hinzu. Er betrachtete Dragon forschend. »Wir haben nur einen gefährlichen Gegner«, fuhr er fort. Die Zeit. Die Stämme der Quesas werden sich uns anschließen. Wir sind stark. Aber sind wir stark genug? Stark genug für alles, was von jenseits des Meeres kommen mag?« Er schüttelte den Kopf. »Es wird viel Zeit kosten, das Heer mit fünf Schiffen über die Enge der Winde zu setzen ...« Dragon nickte. »Du wirst alle sechs haben. Aber es wird deshalb nicht viel rascher gehen. Wieso fürchtest du die Zeit?«
Schlangentöter runzelte die Stirn. Es fiel ihm schwer, es zu sagen. »Einigen gelang die Flucht aus Ossar. Wir konnten es nicht verhindern. Sie hatten einen kleinen Segler einen halben Tagesmarsch im Norden.« »Wieviele?« Schlangentöter zuckte die Achseln. »Kein Dutzend. Aber es macht keinen Unterschied, ob eine Handvoll oder hundert. Sie werden die Kunde in die Sonnenstadt tragen ... und sie werden mit mächtigen Waffen wiederkehren ...« »Gemach, mein Freund«, beruhigte ihn Dragon. »Es ist nicht viel, was diese Flüchtlinge berichten können, auch wenn die Furcht ihre Worte beflügelt. Was auch immer geschieht, es wird eine Weile dauern. Dir und deinen Kriegern bleibt genug Zeit. Laß die Männer, die du entbehren kannst, nicht alle sofort heimkehren. Sie sollten das Land um die Burgen und die Küste im Auge behalten. Das wird zudem ihre Enttäuschung mildern, daß sie nicht zu den Auserwählten gehören, die an deiner Seite dem Feind entgegenziehen. Deine Wahl mag böses Blut unter den Stämmen machen.« »Das hoffe ich nicht, Dragon«, erwiderte Schlangentöter. »Die Schamanen und die Sterne werden es entscheiden – abgesehen von einigen Häuptlingen ...« Er lächelte. »Deren Wahl ich zu beeinflussen gedenke.« Dragon grinste. »Weise genug. Ich bin sehr zufrieden mit dem Stand der Dinge. Fürchte nicht, was man in der Sonnenstadt entscheiden wird. Bis man dort eine Entscheidung trifft, werde auch ich angekommen sein. Und ich verspreche dir, dafür zu sorgen, daß ihnen meine Ankunft eine ganze Weile zu denken geben wird!« Schlangentöter schüttelte verwundert den Kopf. »Ich weiß, Ihr seid ein mutiger Mann und besitzt seltsame Kräfte, aber fürchtet Ihr nicht ...«
»Fürchten?« rief Ubali, der zu den beiden trat und die letzten Worte mitangehört hatte. »Wir haben mächtige Götter auf unserer Seite, auch wenn sie nicht von dieser Welt sind. Wen sollten wir fürchten?« »Ja«, murmelte Schlangentöter. »Das ist wahr. Aber es gibt Orte, wo sie Euch nicht hören können. In den unheiligen Tempeln dieser verruchten Stadt. Ich kenne sie nicht. Aber sie muß sein wie diese Burgen, die wir zerstörten – ein Ort, in dem nur ein Gott gilt: Blut!« Er sah die beiden fest an, traurig gestimmt über den nahen Abschied. »Mögen Eure Götter stärker sein. Und unsere – zu allen Zeiten.« Den Nachmittag verbrachte Dragon in den noch immer schwelenden Mauern Ossars. In den tieferen Gewölben stießen sie auf rußgeschwärzte Leichen – Gefangene, denn sie trugen Ketten. Sie mußten erstickt sein, denn das Feuer selbst war nicht so tief hinabgedrungen. Seltsamerweise hatten Ratten überlebt und sich bereits über die Toten hergemacht. Währenddessen wurde auch entschieden, wer mit Schlangentöter reiten sollte. Das riesige Lager teilte sich nach und nach in Gruppen auf. Am Morgen würde außer einigen Spähtrupps niemand mehr da sein. Da Dragon nicht vorhatte, mit einem der gekaperten Schiffe zu der atlantischen Insel zu segeln, schlug Schlangentöter vor, daß Dragon versuche ein kleineres Schiff zu bauen. An Arbeitern sollte es ihm nicht mangeln. Doch Dragon lehnte ab. Es würde zu lange dauern. Und diese Stämme waren keine Seefahrer. Auch genügte es nicht, nur dorthin zu gelangen. Er brauchte Einfluß und Macht – mehr als Alnar von Marmo besessen hatte. Er besaß die Schätze eines Königs. Und als solcher wollte er kommen.
Prunk und Wunder hatten die Menschen immer gelockt. Und mit beidem würde er aufwarten. »Du weißt bereits einen Weg, wie wir über das Meer gelangen, mein König?« fragte Ubali, aber es klang mehr wie eine Feststellung. Dragon nickte. Er deutete auf den kleinen Beutel an seinem Gürtel. »Wir werden mit Vitus Hilfe ein Wunder vollbringen. Und es müßte schon mit Cnossos zugehen, wenn uns das nicht einen würdigen Auftritt verschafft.« Ubali grinste. Dann wurde er ernst. »Es ist wie eine Heimkehr für dich, nicht wahr?« Als Dragon keine Antwort gab, fuhr er fort: »Mögen die Götter geben, daß du etwas von dem findest, was sie dir so grausam entrissen haben ...« Aber Dragon schüttelte den Kopf. »Die Erinnerungen verblassen langsam. Ich bin ... froh darüber. Alles, was ich bisher aus der Vergangenheit wiederfand, war schmerzlich. Schmerzlicher als die Erinnerungen. Die Dinge sind verändert. Es ist auch mit mir nicht anders. Jahrtausende bleiben nicht ohne Spuren. Wenn Alnars Bericht nur annähernd der Wahrheit entspricht, dann wartet nichts aus der Vergangenheit auf uns ...« »Ich meine keine Lebenden ... aber vielleicht Häuser oder Dinge, wie sie die Weisen am Ah‘rath hatten ...« »Maschinen«, meinte Dragon nachdenklich. »Du magst recht haben. Es sind sicher nicht die Menschen allein, vor denen die Stämme hier Angst haben. Vielleicht besitzen die Bewohner der Sonnenstadt noch alte Waffen und Maschinen. Es wäre möglich ... Und wenn sie sie besitzen, dann müssen wir alles daransetzen, sie in unsere Hände zu bekommen.« Er ballte unwillkürlich die Fäuste. »Aber selbst wenn nichts dort wäre, wenn dieser Rest der atlantischen Insel nicht mehr als eine steinerne
Öde wäre – ich würde alles tun, um sie zu sehen und zu fühlen. Es gibt Augenblicke, da kann ich Träume und Erinnerungen nicht mehr unterscheiden. Dann glaube ich, daß vielleicht alles nur ein seltsamer Traum war. Selbst die Erinnerung an Cnossos ist unwirklich geworden. Der Gleiter, das Eisland, Myra – Stück um Stück entschwindet die Vergangenheit. Die Erinnerungen sind unwirklicher als je zuvor. Eines Tages werde ich nicht mehr sicher sein, Ubali ...« Ubali gab keine Antwort. Er verstand Dragon. Auch er war in einer fremden Welt gewesen, und ähnliche Gefühle hatten ihn befallen. Auch da hatte es Augenblicke gegeben, da Shi-but nicht mehr wirklich war – nur ein Traumbild. Und Thamai mochte nun ähnlich empfinden, wenn sie an ihre Heimat dachte, an jene Lichtung in den Dschungeln von Danilas Welt. Es gab nun keine Lebensteiche mehr, und keine Vitu-peri, keine Tiermenschen. In wenigen Jahren würde sich Thamais Stamm so verändert haben, daß er nicht mehr ihren Erinnerungen glich. Nur das Jetzt war wirklich! Solange das Herz schlug und der Arm stark war und es Thamai an seiner Seite gab, blieb wenig Zeit für Träume und Erinnerungen. Aber er verstand, daß die einsame Seele des Königs zerrissen war von Sehnsucht und Erinnerungen. Wenn nicht nach Atlantis, so nach Myra. Und Amee.
2.
Dämmerlicht erfüllte die riesige Kuppel des Tempels der Gelben Schlange. Der gleißende Schein der Lampen und Kerzen vermochte sie nur spärlich zu erhellen. Aber die Düsternis paßte zu dem Schauspiel, das bevorstand. Aus der Spitze der Kuppel betrachtet, sah der Altar wie eine goldene runde Scheibe aus. Wie ein Kranz von Strahlen fieldas widerspiegelnde Licht auf den hellen Marmor des Bodens. Es mochte ein Trick der Wände sein, die das Licht brachen und zurückwarfen. Der Altar glich einer Sonne – wie der Tempel selbst. Es war nur von hier oben so deutlich erkennbar – ein Anblick für die Götter gedacht, zu ihrem Ergötzen. Nicht für die Menschen, die sich wie Ameisen um den Altar scharten. Aber es waren menschliche Augen, die gebannt hinabspähten. Augen, die wußten, was geschehen würde. Stille erfüllte den Tempel, und Kälte, obwohl die Nacht lau war. Die einsame Gestalt fröstelte und klammerte sich fester an die kalten Ornamente, die Hände aus einem vergangenen Jahrtausend geformt hatten. Unten bewegten sich die Ameisen in ihren gelben und goldenen Priestergewändern. Ein Gong ertönte, und der Laut schwoll in der Kuppel zu einem mächtigen Dröhnen an, gespeist von tausend Echos. Die Gestalt schwankte, von dem tödlichen Verlangen erfüllt, die Hände an die Ohren zu pressen. Eine Tür öffnete sich hallend. Ein halbes Dutzend Priesterdiener führten eine sich windende Gestalt herein und auf den Altar zu. Es war ein junger Mann. Sie hatten ihm die Arme auf den Rücken gebunden. Er war
nackt bis auf ein Tuch um die Lenden, das sie ihm nun abnahmen. Dann hoben sie ihn auf den Altar. Er taumelte, geblendet von der goldenen Helligkeit unter seinen Füßen. Schwindel schien ihn zu erfassen, denn er stolperte und sank in die Knie. Und noch etwas geschah: Rauch stieg auf von der Scheibe des Altars. Der Gefangene schüttelte den Kopf, als lähmte der Rauch seine Sinne. Die Gestalt in der Kuppel bewegte sich rasch und unbemerkt. Ein dünnes Seil entrollte sich ein Stück. Flink glitt die Gestalt nach unten. Das Seil wurde länger. Es pendelte in der Dunkelheit hinter dem Altar. Die Tür öffnete sich erneut. Mehrere Frauen traten ein, denen die Priester ehrfürchtig Platz machten. Sie schritten auf den Altar zu. Der Gefangene nahm sie erst wahr, als sie die Stufen davor fast erreicht hatten. Er war sich seiner Nacktheit sehr bewußt, ebenso wie die Frauen. »Erhabene Königin«, sagte einer der Priester und verneigte sich tief, »Es ist alles bereit.« Sythara nickte. Sie legte den roten Mantel ab, den eine ihrer Begleiterinnen nahm. Sie war eine sehr schöne Frau, groß und schlank und verführerisch gekleidet in ein durchsichtiges weißes Gewand, das bis zum Boden reichte. Kostbare Geschmeide zierten die nackten Arme und den Hals. Ihr Haar funkelte im unruhigen Licht, als sie den Kopf neigte. »So laßt uns allein!« befahl sie. Der Priester zögerte. »Der Atem der Sonne ist noch frisch. Verzeiht, wenn ich Euch warne, erhabene Königin. Es wäre besser, noch ein wenig zu warten ...« »Ihr meint, bis er so benommen ist, daß er sich nicht mehr regt?« erwiderte sie ungehalten. »Schluß damit, 10
Priester. Ich will, daß er wach ist, wenn ich ihn in die Arme nehme!« Sie winkte herrisch. »Erhabene Königin. Unterschätzt die Gefahr nicht«, wagte der Priester erneut zu erwidern. »Er weiß, was ihm bevorsteht. Er mag sich wehren ...« Sie erwiderte selbstbewußt: »Es gibt keinen, der mir widersteht, Priester. Tut, wie Euch geheißen!« Der Priester verneigte sich. Dann winkte er. Zwei Diener traten an den Rand des Altars. Gleich darauf versiegte der betäubende Rauch. Der Gefangene richtete sich schwankend auf. Sein Blick hing fasziniert an der Gestalt der Königin. Diese betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Die Frauen in ihrer Gefolgschaft ließen sich in einiger Entfernung rund um den Altar nieder. Sie wandten die Gesichter ab. Die Priester verließen den Tempelraum. Die Königin wartete, bis sie verschwunden waren. Ihr Blick ließ nicht von ihrem Opfer ab, das wie hypnotisiert auf sie starrte. Als die Tür sich hinter den Priestern schloß, stieg Sythara die beiden Stufen zum Altar hoch. Aber noch etwas geschah und ließ die lockende Stimme der Königin ungehört verklingen. Eine Gestalt war plötzlich mitten unter Sytharas Gefolge, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Mit überraschten Rufen sprangen die Frauen auf. Einen Augenblick wichen sie zurück, dann erkannten sie, daß der unerwartete Besucher ein Mann in der Kleidung der Palastsoldaten war und offenbar an einem Seil aus der Kuppel herabgestiegen war. Abwartend hielten sie inne, die Blicke lauernd auf die Gestalt gerichtet, die ein Schwert in ihrer Rechten hielt.
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Der Soldat schwang sich über den Rand des Altars und erreichte den Gefangenen noch vor der Königin. Der Gefesselte starrte ihn erschrocken an. »Die Fesseln, rasch!« zischte der Soldat und griff nach den gebundenen Händen. Da schien der Gefangene zu erkennen, wen er vor sich hatte. Seine Benommenheit verflog schlagartig. »Athel ...«, begann er. »Still!« Mit einem Schnitt fielen die Fesseln. Gleichzeitig kam Bewegung in die Königin und ihr Gefolge. Sie sprangen an den Altar und versuchten ebenfalls hochzuklettern, wobei ihnen aber ihre langen Kleider hinderlich waren. »Wir müssen zum Seil«, murmelte der unerwartete Helfer dem Gefangenen zu. »Spring über sie. Es sind Mörder dabei. Dreh dich nicht um! Lauf, so rasch du kannst, und klettere hoch. Ich werde sie lange genug aufhalten.« Der Gefangene nickte mit zusammengebissenen Zähnen. »Jetzt !« schrie der Soldat. Sie sprangen gleichzeitig über die Frauen hinweg und kamen hart auf. Der Gefangene war glücklicher. Er fing sich und raste auf das Seil zu. Der Soldat stürzte, und das Schwert entglitt seiner Hand. Bevor er auf die Beine kam, hatten ihn zwei der Frauen erreicht. Während die eine das Schwert aus seiner Reichweite stieß, daß es klirrend über den Marmorboden schlitterte, warf sich die andere voll auf ihn und umklammerte seine nackten Arme. Er wand sich herum. Ein Messer blitzte in seiner Faust. Als er die Frau von sich stieß, ragte es aus ihrer Brust. Sie war ohne Schrei gestorben, doch ihre Miene zeigte Erstaunen. 12
Bevor die anderen noch begriffen hatten, was geschehen war, sprang er auf. »Quelana!« rief die Königin. »Er gehört dir, wenn du ihn dir holst!« Eine der Frauen löste sich aus der Gruppe, raffte ihre weiten Röcke hoch und hetzte hinter dem Fliehenden her. Der sah sich einmal um und erkannte, daß er das Seil nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, um noch aus ihrer Reichweite zu klettern. Der Befreite kletterte inzwischen bereits in beträchtlicher Höhe. Sein Befreier hielt an, als er den Strick erreicht hatte, und erwartete seine Verfolgerin. Er war jetzt waffenlos, aber in seinen jungen, seltsam weichen Zügen war keine Furcht zu lesen. Die Frau hatte innegehalten, als sie sah, daß ihr Opfer sie erwartete. Sie zögerte merklich. Aber in ihrem Gesicht war Triumph. Ihre Beute würde ihr nicht mehr entkommen. »Vorwärts. Quelana!« rief die Königin erneut. »Lebenskraft ist rar geworden und kostbar, seit die Kunde von Ossars Untergang kam. Dies mag wohl der letzte Spender sein, den ich dir überlasse. Lohnt es sich nicht, darum zu kämpfen?« Sie lachte, als Quelana unter einem überraschenden Fausthieb des Soldaten zurücktaumelte. Mit einem schrillen Schrei sprang Quelana auf den Soldaten los, bekam den Helm zu fassen und riß ihn von seinem Kopf. Eine Fülle langen dunklen Haares löste sich darunter und fiel um seine Schultern. Seine Fäuste kamen hoch und stießen sie zurück. Blut lief aus ihren Mundwinkeln, aber sie beachtete es nicht. Ihr ganzer Körper war von Gier erfüllt – von Gier nach der lebendigen Wärme ihres Gegners, die sie ihm mit jeder Berührung entzog. Und mit jeder Berührung mußte 13
er schwächer werden. Es war immer so. Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Kräfte ihn so weit verließen, daß sie ihn ganz in ihre Arme nehmen konnte. Die anderen waren inzwischen ebenfalls näher gekommen. Die Königin hielt sich etwas abseits. Ein spöttischer Zug war um ihre Lippen. Ihr Blick war auf die Kämpfenden gerichtet, wanderte aber gelegentlich zu dem Fliehenden, der inzwischen die halbe Höhe der Kuppel erreicht hatte. Quelana griff erneut an. Ihr Gegner ging unter ihrem Gewicht zu Boden. Die Frauen wichen zurück, als die beiden über den Marmorboden rollten. Zu spät wurde offensichtlich, daß dies nicht ohne Zweck geschah. Mit überraschender Kraft stieß der Mann die Frau von sich, daß sie hart mit dem Kopf aufschlug und betäubt liegenblieb. Mit einem Sprung hatte er sein Schwert erreicht, hob es mit grimmigem Gesicht über den Kopf und stieß es der Betäubten in die Brust. »Du hast zu lange gelebt!« zischte er. Dann hastete er auf den pendelnden Strick zu und begann hochzuklettern. »Aufhalten!« rief die Königin. »Hinterher! Das ist kein Mann. Seid ihr blind! Holt die Priester! Schafft mir dieses Weibstück her. Eine Handvoll Golddanars, wer sie mir bringt!« Diese Versprechungen lockten indes die Zofen und Dienerinnen nur wenig. Sie, die sie keine Auserwählten waren, fühlten mehr mit den beiden Fliehenden und schauderten vor dem Schicksal, das ihnen bevorstand. Quelanas Tod erfüllte sie mit Erleichterung. Zu oft hatten sie dieses tyrannische Weib verflucht. Aber sie wußten auch, daß ihr Leben einzig von der Gnade der Königin abhing, und daß König Vodor längst ein heimliches Auge auf die Schar Dienerinnen seiner Gemahlin 14
geworfen hatte – und es war nicht ihre Weiblichkeit, die sein Begehren erregt hatte, sondern ihre Lebenskraft! Während zwei zur Tür eilten, um die Priester zu rufen, liefen die übrigen an die Stelle, an der der Strick pendelte. Aber die Fliehende war inzwischen außer Reichweite. »Hinterher, verdammtes Pack!« schrillte die Stimme der Königin. Nach einem Augenblick des Zögerns begann eine der Frauen nachzuklettern, doch die weiten Röcke behinderten sie zu sehr. Sie kam nur langsam voran. Als sie knapp über den Köpfen der übrigen schwebte, und angstvoll hinunterstarrte, beendete die Fliehende diese mühsame Verfolgung, indem sie den Strick zu ihren Füßen mit dem Schwert durchhieb. Die Verfolgerin fiel auf ihr Hinterteil und blieb laut klagend sitzen. Der erwartete Wutausbruch der Königin blieb aus. Sythara hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. In diesem Augenblick kamen die Priester in den Tempelraum gestürmt. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen, was geschehen war. Dann hatten sie die beiden Gestalten in der Kuppel entdeckt. Kurz darauf war der Tempel umstellt. Zwei Priesterdiener kamen mit Bogen und einem Köcher voll Pfeilen in den Opferraum. Doch ihre Schießkunst war alles andere als beeindruckend. Die erste Gestalt hatte inzwischen die Kuppeldecke erreicht. Die zweite beschleunigte ihre Kletterei. Es war klar, daß die Priester nur auf die Soldaten warteten. Der nackte junge Mann, der sich verzweifelt an den Ornamenten festklammerte, seufzte erleichtert, als seine Befreierin ihn erreichte. »Oh, Athelaine, du forderst die Götter heraus ...« 15
»Spar dir den Atem, Kelamon«, keuchte das Mädchen. »Über dir ist ein lockerer Stein. Da müssen wir durch.« Er wollte etwas erwidern, aber sie deutete drängend nach oben. »Rasch. Uns bleibt nicht viel Zeit.« Er tastete einen Augenblick an der Decke, bis er den nachgebenden Deckenstein fühlte. Dann drückte er vorsichtig und hob ihn hinaus. Er schlüpfte durch und fröstelte in der kühlen Nachtluft. Dann beugte er sich hinab und half dem Mädchen hoch. Einen Augenblick standen sie heftig atmend auf dem schmalen Wulst, der sich um die Kuppelspitze und dann schwindelerregend steil nach unten wand. Kelamon hatte Mühe, sich von diesem Anblick loszureißen. Um ihn funkelten die Hügel der Stadt in Hunderten von Lampen und Fackeln. Unten flackerte der Widerschein von Fackeln an den Wänden der gegenüberliegenden Häuser. Die Straße selbst war nicht zu sehen. »Die warten bereits auf uns«, stellte Kelamon fest. Das Mädchen schob den Stein zurück. »Aber sie sehen nicht viel«, meinte sie. »Das ist unsere Chance. Komm schon. Wir müssen zum Palast gelangen.« Bevor er antworten konnte, war sie bereits in der Finsternis vor ihm verschwunden. Er folgte vorsichtig. Abgleiten bedeutete nicht unbedingt einen Sturz in die Tiefe, vielmehr aufgespießt zu werden an den spitzen Ornamenten – eine Vorstellung, die jedenfalls unerfreulicher war, als in den Armen der Königin den letzten Seufzer zu tun. »Athel?« rief er flüsternd. Ein Stück unter ihm erwiderte sie ungeduldig. »Hier bin ich. Wo bleibst du nur?« 16
»Ich komme ja.« Es war gespenstisch, in der Dunkelheit über diese steinernen Figuren und Zierrate zu klettern, die kaum je ein menschliches Auge sah, marmorne Gesichter und Leiber unter den Fingern zu fühlen. Rufe klangen von unten herauf und scharfe Kommandos. Das mußte die Palastmiliz sein. Hatte diese Flucht überhaupt noch einen Sinn? Er bezweifelte es. Alle Wege mußten nach unten führen, und unten warteten die Soldaten des Königs in aller Ruhe auf sie. Welch ein tollkühner Plan! Er paßte so recht zu Athelaines tapferem Herzen. Aber nun gab es keinen Zweifel mehr. Sie saßen beide in der Falle. Und wer sollte ihren Auftrag ausführen? Er verfluchte den Augenblick, da er den Häschern der Königin ins Netz gelaufen war – unvorsichtig wie ein dummer Junge. Er hatte alles verdorben, Es wäre besser gewesen, Athelaine hätte ihn nicht zu retten versucht. Die Königin wäre überrascht gewesen über die fremde Kraft seines Lebens ... Vielleicht war aber der erste Fehler gewesen, diese menschliche Gestalt zu wählen ... Sie hatten den äußeren Rand der Kuppel erreicht und beugten sich vorsichtig vor, um hinabzublicken. Sie schlossen geblendet die Augen. Die enge Gasse funkelte im Fackellicht. Der ganze Palast schien auf den Beinen zu sein, um sie zu suchen. »Tut mir leid«, sagte Kelamon, »daß es so endet. Aber vielleicht lassen sie uns leben, wenn sie erkennen, daß ihnen unsere Lebenskraft nicht bekommt.« »Das möchte ich nicht herausfinden«, widersprach sie heftig. »Und wir werden es auch nicht!« Sie kletterte voran, bis sie die Zinnen des Palasts vor sich hatten. Ihnen kam die Kuppel des Tempels von al17
len Gebäuden am nächsten. Er wurde ein wenig bleich, als ihm klar wurde, was sie vorhatte. Er wünschte, er hätte Flügel wie die gefiederten Lebewesen dieser Welt. Denn nur mit Flügel oder Zauberei schien es ihm möglich, auf diese Zinnen hinüberzugelangen. Aber er hatte längst erkennen müssen, daß die Formeln, die zu Hause so wirksam waren, hier schmählich versagten. Zauberei war hier etwas, das nur den Göttern vorbehalten schien. Und die Götter kümmerten sich wenig um diese Welt. Das Mädchen hielt vor ihm an. Er starrte auf den Palast, dann auf die zahllosen Fackeln unter ihnen. »Ich weiß nicht, ob es reichen wird«, murmelte sie. »Ich mußte es abschneiden ...« Erstaunt erkannte er, daß sie das Seil bei sich hatte, und daß sie das Schwert daran festband. Er stellte in Gedanken fest, daß sie anpassungsfähiger war als er. Sie hatte rasch gelernt, wie diese Menschen zu denken, statt den alten Kräften nachzutrauern. Er half ihr, das andere Ende des Seiles an der Kuppel zu befestigen. »Die Zinnen sind ziemlich hoch, Kelamon. Aber ein wenig tiefer befinden sich einige Vorsprünge, in denen das Schwert Halt finden könnte. Ich glaube nicht, daß uns Zeit genug bleibt für mehr als ein oder zwei Versuche. Hier.« Sie reichte ihm Seil und Schwert. »Ich werde ihre Aufmerksamkeit ablenken. Warte, bis du Tumult hörst. Dann wirf!« Er nickte und wog das Schwert in der Hand. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ein leichter Zauber hätte genügt. Aber nicht hier. Hier galten nur die Muskeln! Als er sich umwandte, sah er das Mädchen am Rand der Kuppel verschwinden. Er lauschte angestrengt. Wenig später vernahm er Knirschen, gleich darauf Poltern von Steinen, das zum Geprassel einer kleinen Lawine 18
wurde. Dann Stille. Vereinzelte Rufe von unten – und schließlich ein vielstimmiger Aufschrei. Er sah unter sich, wie die Fackeln durcheinanderwirbelten, als die Soldaten auf die andere Seite des Tempels liefen, woher die Schreie kamen. Kelamon zögerte nicht länger. Er holte weit aus und warf. Einen langen Augenblick geschah nichts, nur das Seil verschwand in seiner ganzen Länge in der Finsternis. Dann traf das Schwert klirrend auf Stein. Es schien ihm unglaublich laut, aber in dem Tumult unten nahm es niemand wahr. Kein zweites Klirren folgte. Das konnte nur bedeuten, daß das Schwert Halt gefunden hatte. Er griff nach dem Seil zu seinen Füßen und begann es vorsichtig einzuholen. Es spannte sich sofort. Vorsichtig zog er daran. Es hielt. Er ruckte mit aller Kraft und hatte Mühe, sich festzuhalten. Aber das Seil hielt. Hastig sah er sich um und gewahrte Athelaine. »Rasch!« keuchte sie. »Der Trick wird nicht lange wirken ...« »Du erst, Athel«, sagte er. »Ich kann das Seil spannen.« »Nein, es muß uns beide tragen«, erklärte sie bestimmt. »Vorwärts!« Zögernd ließ er sich an dem Seil hinab, bis er hing. Dann setzte er sich in Bewegung, vorsichtig, Griff um Griff. Es war alles sehr ungewohnt – vor allen Dingen die körperliche Anstrengung. Als die Soldaten tief unter ihm ihre Aufmerksamkeit wieder auf diese Seite des Tempel richteten, kam er sich vor wie eine Zielscheibe. Noch hatten sie ihn nicht entdeckt. Auch das Mädchen hing nun am Seil. Es war ein weiter Weg über diese schwindelerregende Tiefe. Dann erspähte sie einer. 19
Ein Ruf erscholl. Der Soldat deutete wild mit dem Arm nach den beiden hilflos pendelnden Gestalten. Gleich darauf schwirrten die ersten Pfeile gefährlich nah an ihnen vorbei. Ein Dutzend Bogen sangen, und die Luft war erfüllt vom gefiederten Tod. Athelaine schrie auf, als eines der Geschosse ihren Arm streifte. Und sie hatten kaum den halben Weg. Hundert vom Feuerschein erhellte Gesichter starrten zu ihnen hoch und folgten jeder ihrer Bewegungen. Im nächsten Augenblick wußte Kelamon, daß ihre Flucht zu Ende war. Ein Dutzend Männer kam mit Fackeln über die Zinnen des Palastes auf sie zu. »Wir müssen umkehren!« keuchte er. Das Mädchen hielt verzweifelt inne. »Verzeih mir, Kel«, sagte sie traurig, »Es ist meine Schuld, Athel. Ich war ein Narr. Ein Träumer ...« »Ja, wie unser Herr. Hast du Furcht?« »Ja.« »Wir sterben nur in dieser Welt«, sagte sie tröstend. Aber ihre Stimme zitterte. Eines der Geschosse bohrte sich in das harte Leder ihres Soldatenharnischs. Der Schuß hatte in dieser Höhe das meiste seiner Wucht verloren und durchschlug den Panzer nur leicht. Das Mädchen unterdrückte einen schmerzlichen Aufschrei. »Zurück«, drängte er. »Wenn wir schon sterben, dann nicht so ... hilflos ...« Hastig arbeiteten sie sich zum Tempeldach zurück. Aber damit waren die Männer auf den Zinnen nicht einverstanden. Sie hatten das Seil erreicht, und einer hieb mit dem Schwert danach. Dabei glitt er ab. Sie hörten sein Schreien, als er in die Tiefe stürzte. Entsetzt verdoppelten die beiden ihre Anstrengungen. Das Mäd20
chen hatte den Rand der Kuppel fast erreicht, als das Seil nachgab. Kelamon hörte sie aufschreien und kämpfte gegen die Panik an, als er fiel. Seine verkrampften Fäuste gaben das Seil nicht frei, und das rettete ihm das Leben, als er einen Augenblick später gegen die Steinwand des Tempels prallte. Undeutlich nahm er das Mädchen über sich wahr. Sie versuchte hochzuklettern. Als er seine Benommenheit abschütteln konnte, fiel ihm die seltsame Stille auf. Er blickte hinab und sah, daß die Gesichter der Menschen in der Gasse reglos zum Himmel gerichtet waren – aber nicht in seine Richtung. Er folgte ihrem Beispiel und zuckte zusammen. Ein dunkler, riesiger Finger senkte sich auf den Palast und den Tempel herab – ein Finger von Schwärze, von unirdischer Dunkelheit. Er wuchs und schwebte herab wie Rauch. Die halbe Kuppel war bereits in ihm verschwunden. Der Schatten des Himmels bewegte sich wieder. Entsetzensschreie drangen von unten herauf und hallten schrill zwischen den steinernen Wänden wider. Kelamon seufzte erleichtert. Er hatte nicht erwartet, daß es so schnell gehen würde. Er wußte, daß ihnen wenig Zeit blieb für ihren Auftrag, wenn der Schatten die Stadt mit solcher Geschwindigkeit fraß. Aber in diesem Augenblick war er ein Verbündeter, denn Athelaine und ihm vermochte er nichts anzuhaben. Sie waren aus dieser Schwärze gekommen. Dann erstarrte er zu Eis. Das Amulett! Die Wachen hatten es ihm bei seiner Gefangennahme abgenommen. Ohne das Amulett war diese Schwärze für ihn so tödlich wie für die Menschen. Mühsam begann er hochzuklettern. Aber die Schwärze quoll bereits über den Rand der Kuppel. 21
»Athelaine!« rief er verzweifelt und vernahm ihre Antwort. »Wir sind gerettet, Kel!« »Mein Amulett«, rief er heiser. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Das Amulett des Mädchens würde ihnen beiden Schutz bieten. Als er den Kuppelrand erreichte, begann die Schwärze ihn einzuhüllen und berührte seine Haut wie ein eisiger Hauch. »Athelaine ...« Ihre helfenden Hände fanden seine und hielten ihn mit lebendiger Wärme. Sie zogen ihn hoch über den Rand und in ihre schützenden Arme.
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3.
Die Menschen in den Straßen der Sonnenstadt duckten sich wie unter einer gewaltigen Faust. Seit sieben Tagen hing dieser Schatten über der Insel und verschlang Stück um Stück des Landes. Wer von ihm verschluckt wurde, kehrte nicht wieder, und manche sprachen von geisterhaften Gestalten, die sie für einen Augenblick in der Schwärze gesehen haben sollten. Vom Meer her war der Schatten vor sieben Tagen auf die Nordspitze der Insel gefallen. Über Nacht. Bis die Kunde zur Stadt drang, war auch erkennbar, daß der Schatten wanderte – Schritt um Schritt nach Süden. In wenigen Tagen würde er die Stadt erreichen. Panik erfaßte die Menschen, aber nur wenigen gelang die Flucht von der Insel, denn der König ließ die Schiffe beschlagnahmen und sie in den Hafen der Stadt bringen. Das ging nicht ohne Kämpfe ab. König Vodor war indes nicht bereit, die Stadt, über die er seit Jahrhunderten herrschte, ewig jung durch die Lebenskraft von Tausenden von Frauen, kampflos aufzugeben. Sklaven wurden in die Schwärze gestoßen, um Aufschluß über ihre Beschaffenheit und Wirkung zu erhalten. Man hörte sie schreien. Man sah sie niemals wieder. Priester beteten zu ihren alten Göttern um die Kraft, diesen schwarzen Dämon aufzuhalten, der alles zu verschlingen drohte. Magier versuchten, ihn mit bannenden Gesängen aus alten Schriften aufzuhalten. Und tatsächlich schien es zwei Tage lang, als wären sie erfolgreich. Die Schwärze wanderte nach Westen und 23
nicht länger auf die Stadt zu. Die Untergangsstimmung, die sich in der Stadt ausgebreitet hatte, verflog. Doch dann kam ein kleines Schiff aus Südwesten und brachte eine neuerliche Hiobsbotschaft: Die Stimme der Kanuks und Quesas hatten sich erhoben. Die Blutburg Ossar stand in Flammen. Es war nicht auszuschließen, daß sie selbst die Insel angriffen, um Rache für die jahrhundertelange Unterdrückung zu nehmen. Sie waren so zahlreich wie die Felsen an den Küsten. Erneute Panik ergriff die Menschen – die Reichen wie die Armen. Selbst wenn kein Angriff erfolgte, würde die Sonnenstadt aufhören zu bestehen. Die Götter würden die Blutopfer in den Gassen der Stadt suchen, wenn keine Sklaven von jenseits des Meeres mehr kamen. Nicht alle wußten, wohin das Blut und die Lebenskraft der Sklaven floß – daß damit die Unsterblichkeit der oberen Schichten bezahlt wurde. Für die meisten waren es die Götter, die das Blut verlangten – heidnisches Blut, das man kaufen konnte, das die Priester im Tempel der Roten Schlange opferten, und das man rauchend trank, um die Kräfte der Götter zu fühlen. Dann begann der Schatten wieder zu wandern, mit größeren Schritten als je zuvor. Er verschlang betende Priester und beschwörende Magier und warnende Propheten, die den Untergang der Welt verkündeten. Die meisten begannen es zu glauben, daß der Untergang der Welt bevorstand. Die Tempel waren voll in dieser Nacht, als die Schwärze über die Stadt wallte – der Tempel der Schwarzen Schlange, in dem die Niederen beteten und die Armen, in dem die Herzen bang und kalt waren und erfüllt von dumpfer Resignation, in den die eisige Kälte gnädige Starre trug; der Tempel der 24
Roten Schlange, in dem das rauchende Blut der Opfer in den Schalen zu Eis wurde; der Tempel der Gelben Schlange, auf dessen Kuppel Kelamon und Athelaine kauerten, und in dessen Opferhalle Sythara, die Königin, ihr Gefolge um sich erstarren und sterben sah. Über den linken Flügel des Palastes schob sich der Schatten hinweg, erstickte alles Schreien, alles Leben. Und hielt wogend an. Der Marktplatz vor dem Hafen war dichtgedrängt mit verängstigten Menschen, einfachen Männern, Soldaten, Frauen, Kindern und Höflingen gleichermaßen. Sie alle beseelte nur ein Gedanke: auf die Schiffe zu gelangen und von diesem Ort des Grauens zu fliehen. Es war ein gespenstischer Anblick. Entlang der breiten Allee der Sonne brannten noch Lichter. Der Palast war halb in das grauenvolle Dunkel gehüllt. Dahinter war Stille ... Schwärze ... Weit draußen auf dem Wasser flackerten vereinzelte Fackeln auf den großen Segelschiffen der Flotte. Mit einem Aufschrei, der wie das Wimmern einer riesigen Kreatur klang, setzte sich die Menge in Bewegung. Die ersten sprangen in die Boote, bewaffnet mit Stöcken und Messern. Manche der Boote sanken. Nur wenige kamen in Fahrt. Das Hafenwasser glich einem brodelnden Fischteich – mit Hunderten von Menschen, die auf die Hafensperre zuschwammen, um das offene Meer zu gewinnen und an die Schiffe zu gelangen. Die Hafenmauern waren hellerleuchtet von Fackeln, als die Menschen auf ihr entlangliefen, auf die Wachtürme zu. Über ihnen, unbemerkt in der Panik, waren auf der einen Hälfte des Himmels die Sterne erloschen. 25
Die Sperrgitter des Hafens fielen unter Triumphgeheul. Die Wachen lagen erschlagen in den Türmen. Überall sprangen Menschen in die Fluten des nachtschwarzen Wassers. Auf dem Platz vor dem Palast begannen Feuer aufzulodern und die Vorgänge zu erhellen. Die Soldaten auf den Schiffen wurden auf die Gefahr aufmerksam. Aber sie wußten nicht, was das alles bedeutete. Sie warteten auf einen Befehl des Königs. Sie ankerten hier zu seiner Verfügung. Sie sahen die zahllosen Köpfe der Schwimmer in den Wellen, spärlich erhellt vom Feuer, und halfen den ersten an Bord. »Der Schatten des Himmels ... über der Stadt ...« »Die Königin ist tot ...« »Der König sicherlich ebenso ...« So unglaublich die Dinge auch klangen, ein Blick auf die Stadt ließ die Berichte bereits weitaus weniger phantastisch erscheinen. Deutlich war der gewaltige Schatten zu sehen, eigentlich kein Schatten, mehr eine gewaltige leere Schwärze, die den größten Teil der Stadt auslöschte. Die Furcht griff über auf die Soldaten und Seeleute der Flotte. Sie sammelten die Schwimmer auf, die in Hunderten die Schiffe erreichten. Dann lichteten sie Anker und fuhren weiter hinaus aufs Meer, um in sicherer Entfernung den Morgen abzuwarten. Während der ganzen Nacht brannten Feuer in der Sonnenstadt, als versuchten die Menschen, die Schwärze dadurch zu bannen. Aber es war nicht die Schwärze, sondern die Kälte, die aus dem Boden, aus den Steinen und Mauern strömte, daß sich eine dünne weiße Schicht über den Wassertöpfen bildete, die kaum einer von ihnen je gesehen hatte – Eis. 26
König Vodor starrte brütend auf die Sklavin, die mit wirbelnden Bewegungen vor ihm tanzte. Er war ein hochgewachsener, muskulöser Mann. Er regierte seit über fünfhundert Sommern über die Sonnenstadt und die Insel. Äußerlich sah man ihm kaum vierzig dieser Sommer an, außer manchmal, wenn in seinem Blick ein tieferes Wissen loderte, und eine tiefere Leidenschaft, als ein kurzes Leben entfachen konnte. Jetzt wirkte sein schmales Gesicht müde. Mit halbgeschlossenen Lidern lauschte er auf den wirbelnden Schlag der Trommel, die die Tänzerin in ekstatischer Bewegung hielt. Er griff nach dem Weinkelch und trank, ohne die Augen von ihr zu lassen. Sie war eine braunhäutige Eingeborene, die die Schiffe wie viele andere aus Ossar brachten vor mehr als einem halben Dutzend Sommern. Eine Sklavin, deren Lebenskraft dazu bestimmt war, des Königs Leben zu verlängern. Als es soweit war, da bat sie, tanzen zu dürfen zum Ruhm ihrer Götter, denn sie war eine Priesterin in ihrer Heimat. Sie tanzte, und nie sah der König ein höheres Maß an Anmut und Geschmeidigkeit. Sie blieb am Leben, um immer zu tanzen, wenn es der König verlangte. Wie nun, in dieser Stunde, da der König von Furcht erfüllt war, die er niemandem eingestanden hätte. Sie trug das schenkellange Kleid aus Leder, wie es die Mädchen ihres Stammes trugen, die goldenen Ringe an den Armen, die Zeichen ihrer einstigen Würde. Der Knoten des langen schwarzen Haares war gelöst. Es flog wie ein Banner im Wind. Trommel und Tanz endeten abrupt. In einem letzten Wirbel von Bewegung fiel sie auf die Knie vor dem König. 27
»Steh auf, Shin Reh«, sagte Vodor und gab dem Sklaven mit der Trommel einen Wink, sich zu entfernen. »Setz dich zu mir. Ich möchte wissen, was deine Götter sagen.« Sie erhob sich, noch immer heftig atmend vom Tanz, und mit gerötetem Gesicht, das dem König trotz der Fremdheit schöner schien als die hellhäutigen bemalten Gesichter der Frauen der Sonneninsel. Es war eine barbarische Schönheit voller Leben. »Meine Götter, Herr?« fragte sie. Er nickte düster. »Meine Priester zweifeln an ihren Göttern. Und meine Seher sagen das Ende der Welt voraus. Der Schatten des Himmels wird die Welt verschlingen – was immer dieser Schatten ist. Nicht nur Atlantis, die ganze Welt. Wo Himmel ist, wird sein Schatten fallen. Sag mir, was sagen deine Götter? Kennen sie eine bessere Wahrheit?« Mit gesenktem Kopf sagte sie: »Seit ich an Eurem Hof bin, Herr, habe ich das Band zu den Göttern gelöst. Eine Sklavin dient nur einem Herrn ...« »Warum?« unterbrach er sie unwillig. »Habe ich dir je befohlen, dich von ihnen loszusagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. Aber ich war ihrer nicht mehr ... würdig. Wie sollte ich ihr Werkzeug sein, wenn ich Eures war und bin? Wie sollte ich Priesterin sein ohne ein Volk?« Er nickte zögernd. »Und der heilige Tanz?« »Er ist nicht für die Götter. Er ist für Euch, Herr. Aber ich war lange genug Priesterin, um zu wissen, was mir meine Götter sagen würden.« »Und?« »Sie würden sagen, daß allem Licht Schatten folgt, aller Wärme Kälte und allem Leben Tod. Es ist nur ein Schritt in ein anderes Sein ...« 28
»So hast du keine Furcht vor dem Tod?« »Doch, Herr. Aber nicht so wie Ihr ihn fürchten müßt ...« Sie zuckte zurück, als er wütend hochfuhr. Aber nach einem Augenblick sank er zurück und nickte. »Sag mir, weshalb.« »Weil Ihr nicht allein seid in Eurer Furcht, Herr. Sie alle, deren Kraft Euch Leben gab, sind in Euch. Ein wenig von jedem. Euch steht nicht ein Tod bevor, sondern viele. Ihr habt nicht eine Angst, sondern viele ...« »Genug«, unterbrach er sie grimmig. »Ich spüre sie nicht. Sie gaben mir ihre Kraft, und sie starben. Sie sind tot. Vielleicht fürchte ich den Tod ...«, meinte er grübelnd, »aber manchmal erfüllt mich das Leben mit größerem Schrecken.« Er ballte die Fäuste. »Alles, was ich begehre, muß ich zerstören ...« Er griff nach ihr. Sie zuckte zusammen unter seinem Griff. Dann wurde sie bleich. »Oh, Herr ...« Er ließ sie los. Sie sank stöhnend zurück. »Ich will dich. Nicht deinen Tod!« sagte er wild und hob hilflos seine Hände. »Aber dieser verfluchte Körper macht keinen Unterschied mehr!« Er ließ die Arme sinken. »Es gab eine Zeit, da konnte ich wählen, was ich geben wollte – Liebe oder Tod; und was ich nehmen wollte – Leidenschaft oder Lebenskraft. Aber nun ist alles eins. Es ist teuflisch, immer mit einer Toten zu erwachen ...« Bleich sah sie ihn an. »Die Herrin Sythara ...«, begann sie. »Sie ist wie ich, wie die meisten des Adels, aber noch jung. Keine hundert Sommer. Sie vermag noch zu unterscheiden zwischen Leidenschaft und Tod. Sie ist sicher in meinen Armen, aber diese Gier nach Kraft und 29
Leben hat uns entfremdet. Vielleicht wird sie eines Tages so einsam sein wie ich – wenn uns noch genug Zeit bleibt ...« »Sagt mir eines, Herr. Weshalb ist es nur einigen gegeben, Lebenskraft zu nehmen, und weshalb kann ein Mann sie nur einer Frau nehmen und umgekehrt?« »Es ist ein Geheimnis, das nur wenige Auserwählte kennen. Es bedeutet Macht und einen festen Sitz auf diesem Thron. Dieses Wunder liegt allein in meiner Hand. Selbst die Priester wissen nichts ... nicht genug. Ich kann die Unsterblichkeit geben ... eine erträglichere Unsterblichkeit, als die Priester sie zu geben versuchen mit ihrem Kult des Bluttrinkens ...« Er schauderte. »Diese Stadt hat ein altes Erbe«, fuhr der König fort. »In den tiefsten Gewölben ruhen Wunderdinge ... Maschinen, wie sie noch kein Mensch in dieser Stadt gesehen hat. Sie müssen unsagbar alt sein ...« »Von den Alten, die die Tempel im Land meines Stammes bauten«, flüsterte das Mädchen. »Tempel, sagst du?« fragte der König. Sie nickte. »Es sind nur noch Ruinen. Aber die diese Häuser gebaut haben, müssen einst sehr mächtig gewesen sein.« »Vielleicht.« Vodor zuckte die Achseln. »Jetzt sind sie tot. Vielleicht kam der Schatten des Himmels auch über sie. Dann werden auch von uns nur Ruinen bleiben. Aber sie werden nicht von Macht künden, nur von barbarischer Grausamkeit ...« Er erhob sich und trat ans Fenster. Der Platz und der Hafen waren dunkel. Weit draußen auf dem Wasser sah er vereinzelte Lichter der Schiffe. »Vielleicht sollten wir doch auslaufen. Irgendwo mag Rettung liegen ...« 30
Ein Diener betrat den Raum und verbeugte sich. Durch die offene Tür drangen aufgeregte Kommandos und das Getrappel eiliger Schritte herein. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Vodor. »Die erhabene Königin begab sich in den Tempel, Herr. Ein Sklave ist entflohen ... durch die Hilfe einer Frau, wie berichtet wird. Sie befinden sich beide auf der Kuppel des Tempels. Die erhabene Königin befahl den Palastwachen, den Tempel zu umstellen ...« Vodor grinste. Der Gedanke, daß Sythara die Beute vor den Augen entwischt war, erheiterte ihn. »Komm, Shin Reh. Das ist ein Schauspiel, das wir uns nicht entgehen lassen sollten!« Er eilte voran zur Rückseite des Palasts, wo sich die Audienzräume befanden, und winkte ungeduldig, als das Mädchen zögerte. Fackelschein drang von der Straße herauf und erhellte die Häuser gut genug, um die beiden Gestalten erkennen zu lassen, die geradewegs gegenüber auf dem Kuppelrand kauerten. Er hörte, wie Shin Reh den Atem anhielt, als eine der Gestalten sich davon löste und einen Augenblick später pendelnd über der Gasse hing. Dann erst sahen sie das Seil, das zum Palast herüberführte. Die Wachen unten entdeckten sie und fingen an, auf sie zu schießen. Die ersten Pfeile verfehlten weit das Ziel. Dann hingen beide Gestalten am Seil und pendelten vorsichtig auf den Palast zu. »Sie werden nicht weit kommen«, stellte Vodor fest, »oder meine Wachen sind Stümper. Wir wollen auf den Zinnen einen Empfang vorbereiten ... für den Fall, daß meine Wachen doch Stümper sind ...« »Herr ...«, bat das Mädchen und brach ab. Er hielt inne. »Du hoffst für sie?« 31
Sie senkte den Kopf. Er nickte lächelnd und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Es ist Narrheit, in diesen schlechten Zeiten einen Sklaven entlaufen zu lassen. Von zweien gar nicht zu reden. Aber ich bin das Opfer meiner Launen, fürchte ich, und heute ist zum erstenmal so etwas wie Frieden in mir. Mögen sie also entkommen, wenn die Götter es wollen. Es mag der Augenblick nahen, da ich mich dafür an dir schadlos halte, meine Sklavin.« »Ja, Herr«, sagte sie leise. »Wenn Ihr mich nicht mehr liebt ...« Erstaunt starrte er sie an. »Wer, bei den Göttern, sagt dir, daß ich dich liebe ... eine Sklavin ... ich der König der ...« »Ich fühle es, Herr.« Er setzte zu einer Erwiderung an, dann wandte er sich abrupt ab und starrte auf die beiden Fliehenden, die die Mitte des Weges erreicht hatten. Ohne sie anzusehen, sagte er nach einem Augenblick: »Willst du die Unsterblichkeit mit mir teilen?« »Nein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Nein, Herr, nicht diese Unsterblichkeit ...« »Lehne nicht ab, was du mit falschen Augen siehst. Es bedeutet nicht, daß du töten mußt. Es ist deine Entscheidung. Nichts hindert dich daran zu sterben, wenn du es willst ...« »Will man es denn? Ist die Versuchung nicht stärker?« »Ja«, sagte er schwer, »sie ist immer stärker ...« Er brach ab, als er über sich auf den Zinnen Schritte vernahm und Stimmenlärm. Triumphgeheul kam von unten. Die beiden Fliehenden hatten innegehalten. Pfeile schwirrten knapp an 32
ihnen vorbei. Einer traf. Er schien aber nicht viel angerichtet zu haben, denn es folgte nicht einmal ein Schmerzensschrei. »Sie haben sie in der Zange«, stellte Vodor fest. »Was können sie tun?« Die Stimme des Mädchens war voller Angst. »Sie kehren um, und sie haben es verdammt eilig.« Gleich darauf war auch zu erkennen, warum. Das Seil schwankte, als ob sich jemand daran zu schaffen machte. Die erste Gestalt hatte die Kuppel erreicht. Die zweite war noch eine Lanzenlänge entfernt, als das Seil nachgab. Shin Reh schrie leise auf, als die Gestalt fiel und gegen die Tempelwand prallte. »Glück gehabt«, stellte der König fest. »Aber es gibt trotzdem keinen Ausweg mehr für sie ...« Er unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei, als er die Schwärze bemerkte, die sich wogend herabsenkte auf den Palast und den Tempel und die Fliehenden verschlang. Das Ende! dachte er mit einem Gefühl der Leere in sich. Shin Reh drängte sich furchtsam an ihn. Aber sie schrak zurück, als sie die Kälte spürte, die von ihm ausging, als sein Körper nach ihrer Wärme griff. »Ihr Götter«, schluchzte sie. Von der Gasse kamen Schreie herauf, von denen manche schrill abbrachen, während andere sich entfernten. Dann senkte sich eine unirdische Stille über den Palast. Der König überwand sein Entsetzen nach einem Augenblick, als er sah, daß der Schatten des Himmels zum Stillstand kam. Draußen vor dem Fenster, zum Greifen nahe, hörte die Stadt einfach auf – hörte die Welt auf. Schreie und Stimmen waren weit entfernt, im Hafen wahr33
scheinlich. Sie waren bedeutungslos. Er unterdrückte das Entsetzen, das ihn zu kopfloser Flucht drängte. Er betrachtete das Mädchen, das mit weitaufgerissenen Augen am Fenster stand. Sie war eine Sklavin, eine Barbarin. Und dennoch, ihr Gefühl war richtig. Er liebte sie. Er hatte sie all die Jahre geliebt, aber die Kluft war zu groß gewesen, selbst für den König. Eine Sklavin zur Unsterblichen zu machen, wäre unvorstellbar gewesen. Doch jetzt, mit dem schwarzen Tod da draußen und dem Ende der Welt in aller Mund – jetzt bedeuteten die alten Gesetze nichts mehr. Das alles war verlorener Glanz. Nun galt es nur noch festzuhalten, was man liebte – bis das Ende kam. Er berührte sie leicht, vorsichtig, denn jede seiner Berührungen kostete sie Kraft, und es war ein weiter Weg bis hinab in die Gewölbe der Alten. »Hab keine Furcht«, sagte er eindringlich. »Noch ist Zeit. Komm.« Sie nickte bleich und folgte ihm aus dem Raum. Der Korridor war dunkel. Er sah auch gleich, weshalb. Die Kälte nahm mit jedem Schritt zu und wurde bald unerträglich. Fast greifbar sahen sie die bodenlose Schwärze vor sich. Sie war selbst in der Dunkelheit noch deutlich erkennbar. Mit einem Fluch machte er sich auf den Rückweg. Es gab einen zweiten Abgang in die Keller. »Wohin führt Ihr mich, Herr?« fragte sie zitternd. »Hinab«, sagte er nur. »In die ... Gewölbe?« fragte sie entsetzt. Er nickte grimmig. »Es ist nicht deine Entscheidung. Noch bist du meine Sklavin. Wenn du zu fliehen versuchst, werde ich dich berühren, und du wirst sterben.« Sie folgte ihm schweigend die endlosen Treppen hinab in feuchtkalte Regionen des Palasts, die kaum jemand 34
betreten hatte, in denen der Staub von Jahrhunderten lag. Überall war diese eisige Kälte spürbar. Schließlich erreichten sie riesige Kammern, deren Wände nicht aus Stein waren, sondern aus Metall. Die Atemluft war dünn, daß sie nach Luft rangen. Die Fackeln brannten nur spärlich und gaben kaum Licht. Seltsame Dinge standen in diesen Räumen, wie Shin Reh sie noch nie gesehen hatte. Kolosse aus mattglänzendem Metall, mit seltsamen Zeichen verziert. Ja, das mußten die magischen Dinge der Alten sein, mit denen sie den Legenden ihres Stammes nach die Luft, das Wasser und die Erde beherrschten – vor unendlich langer Zeit. Wie brütende Ungeheuer hockten sie da, und der Gedanke, sie könnten plötzlich lebendig werden, erfüllte sie mit Schauder. Selbst der König beschleunigte seinen Schritt, als fürchte er die Geister der Alten. Spuren waren im Staub. Es waren seine eigenen. Er hatte diesen Abgang nur einmal benützt. Vor mehr als zweihundert Jahren. Er fragte sich, ob es hier unten Sicherheit gab vor dem schwarzen Tod. Ob der Schatten nur auf die Erde fiel, oder ob er sich in das Gestein fraß. Es kam der Augenblick, da diese Frage beantwortet wurde. In einer der Hallen, durch die sie mußten, wogte in einer Ecke die Schwärze. Der Raum war so kalt, daß es ihnen den Atem verschlug. Die Haut brannte, und Furcht trug die Kälte bis tief ins Herz. Der König eilte weiter. Er war nicht sicher, ob der Raum der Unsterblichkeit noch betretbar sein würde. Diese Schwärze mochte ihn besetzt haben. Aber er wußte, jedes Zögern würde ihre Chancen nur verschlechtern. Und er wußte auch, daß es vielleicht keinen Ausweg aus diesem Labyrinth mehr für sie gab. 35
Immer häufiger gelangten sie durch Räume, in denen die Schwärze wogte. Und mit jedem eisigen Lufthauch, der die spärlich brennende Fackel zu ersticken drohte, wurde die Angst stärker – die Angst, plötzlich in dieser Dunkelheit im Bauch der Erde eingeschlossen zu sein. Dann lag die Kammer vor ihnen, die er vor mehr als fünf Jahrhunderten entdeckt hatte, und in der einer seiner Gefährten starb und in seinem Tod offenbarte, daß noch Leben in diesen Maschinen war. Und welche Art von Leben. Ein Zufall. Einer der das Leben des Sonnenvolks veränderte, einer, der aus einem blühenden Volk ein sterbendes machte, das an Blutgier und Grausamkeit dahinsiechte. Er schob das verängstigte Mädchen auf eine seltsame Liegestatt zu, über der ein Helm aus Metall hing, von dem dünne Metallfäden zu einem großen Kasten liefen. Als das Mädchen lag, senkte er den Helm über ihren Kopf. Er berührte einen schwarzen Knopf und drehte ihn. Dann trat er zurück und ballte die Fäuste. Lichter huschten über den Kasten, und ein unirdisches Heulen drang durch den Raum. Der König atmete auf. Die Kräfte der Alten waren noch nicht entschwunden. Das Mädchen schrie auf und sank zurück, schlafend. Der König lehnte sich an die Wand und wartete. Es gab nichts, das er tun konnte, außer warten – und beten, daß diese Schwärze ebenfalls wartete. Aber er hatte seit mehr als hundert Jahren zu keinem Gott mehr gebetet. Es schien ihm nun, daß die Götter diese Welt längst verlassen hatten.
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Der Weg nach oben war frei. Es hatte sich nichts verändert. Alle Schwäche war aus Shin Reh gewichen, und mit ihr ein Großteil der Furcht. Als der König sie berührte und in die Arme nahm, fühlte sie nur einen kurzen Augenblick jene verzehrende Kälte, die nach ihren Kräften griff. Dann geschah etwas in ihr. Etwas in ihr griff nach seinen Kräften. Es war ein berauschendes Gefühl. Sie standen eine Weile umschlungen. Als sie die oberen Gemächer erreichten, drangen auch wieder menschliche Stimmen an ihre Ohren. Aus den Fenstern des Palasts sahen sie, daß Feuer am Marktplatz brannten und daß das Meer voll war von schwimmenden Menschen, die die Schiffe zu erreichen suchten. »Zu spät für eine Flucht«, murmelte der König. »Sie würden uns zertrampeln, wenn wir versuchten, zum Hafen zu gelangen. Ich denke, wir werden hier den Morgen abwarten. Vielleicht geben die Götter uns noch ein wenig Zeit ...« »Eine Nacht ...« lächelte Shin Reh. »Eine Nacht«, nickte der König. »Da draußen mag Grauen und Kälte herrschen. Davor wird unsere Tür verschlossen sein.« Kurz vor dem Morgengrauen bewegte sich der Schatten wieder. Er verschlang den Palast und den Hafen und griff auf das Meer hinaus. Die Menschen, die die Schiffe nicht mehr rechtzeitig erreicht hatten, starben. Ein mächtiges Rauschen erfüllte das Meer hinter der schwarzen Wand, als ob es in unergründliche Tiefen hinabstürzte. Die Flotte lichtete Anker und versuchte, das offene Meer im Osten zu gewinnen. Doch Strömungen hielten die Schiffe und trieben sie nach Westen, langsam und unaufhaltsam. 37
Auch der Wind schlug um und jagte die Schiffe mit Sturmgewalt auf die Schwärze zu, die über das ganze Meer zu reichen schien. Ein gewaltiger Sog riß die Schiffe mit sich. Im Dämmerlicht sahen die verzweifelten Menschen, daß die Stadt fast vollkommen unter der Schwärze verschwunden war, und daß die schwarze Wand bis in den Himmel ragte. Dann wirbelte das Meer sie selbst hinein in den schwarzen Tod. Die Schiffe rasten schneller und schneller. Die Kälte umgab sie mit einem Panzer aus Eis. Dann gefror die Welt um sie. Knirschend kam alle Bewegung zum Stillstand. Die Schiffe ritten auf Wellen von Eis. Aber da lebte keiner des Sonnenvolkes mehr.
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4.
Das Schiff, das auf nordöstlichem Kurs auf die neuatlantische Insel zustrebte, war etwas, wie es niemand auf dieser Welt zuvor erblickt hatte. Es war das Wunder, das Dragon vor den Augen der begeisterten und beeindruckten Kanuks vollbracht hatte. Aber nur er und Ubali und Thamai wußten, daß es nicht sein Wunder war, sondern das Vitus, des Lebensgeistes. Sein Geschenk war es, das Dragon die Macht gab – der Samen der Wunschpflanze. Aber Dragons Geist war es, der das Wunder formte, denn die wachsende Pflanze gehorchte den Befehlen seiner Gedanken. Sie wuchs im seichten Wasser des Strandes unter dem flackernden Schein der Fackeln der atemlosen Krieger. Um Mitternacht sprossen die ersten Zweige, und in der Morgensonne war es ein mächtiges Schiff, um ein Mehrfaches größer als die atlantischen Segler, die neben ihm in der Bucht ankerten. »Wie«, so wollten die Häuptlinge der Kanuks wissen, »wollt Ihr dieses Schiff allein lenken? Wen von uns nehmt Ihr mit?« Aber Dragon hatte abgelehnt. Es wäre sinnlos gewesen, mit Kanuks in der Sonnenstadt zu erscheinen. Es hätte wenig Eindruck gemacht mit Männern an der Seite, die dort nur als Sklaven galten. Auch stand noch ein zweites, größeres Wunder bevor – er brauchte keine Mannschaft für das Schiff. Es gehorchte ihm, rascher und zuverlässiger, als es eine Mannschaft je vermocht hätte. Es lauschte seinen Gedanken.
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Die Winde waren günstig, als sie ausliefen. Das mächtige Segel wölbte sich prall im Wind, und der Koloß gewann rasch Fahrt. Es war ein Schiff und doch kein Schiff. Die Bordwände waren mit Rinde bedeckt wie Bäume. Die Ruder ragten stämmigen Ästen gleich hinaus. Das Segel bestand aus Tausenden von Blättern. Das Deck aber war ein Garten. Mit Bäumen, die Schatten spendeten; mit Früchten, die man nur zu pflücken brauchte, und die in erstaunlich kurzer Zeit nachwuchsen; mit einem kleinen Teich süßen Wassers; mit Wiesen und Blumen; ein gepflegter Garten, wie ihn Könige besaßen. Und dennoch – ein Schiff, das über die salzige Öde des Meeres glitt. Ein Gigant, den zu bewegen es zehn Dutzend Männer bedurft hätte. Er fand seinen Kurs allein durch Dragons leitende Gedanken. Irgendwo in seinem Innern besaß er Verstand, oder eine Seele, denn manchmal, da spürte Dragon fremde Gedanken. Am zweiten Tag der Fahrt sahen sie zum erstenmal die Schwärze am östlichen Horizont. »Ein Sturm?« fragte Ubali. Thamai schüttelte mit besorgter Miene den Kopf. »Nein, es sieht nicht nach Sturm aus. Es ist viel zu schwarz ...« Dragon starrte mit gerunzelter Stirn auf das bedrohliche Gebilde, das bis hoch in die Atmosphäre zu reichen schien. So als ob schwarzer Regen vom Himmel fiele, so dicht, daß er wie eine Wand wirkte. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, murmelte er. »In dieser Richtung müßte die Insel liegen.« Je näher sie kamen, desto gewaltigere Ausmaße nahm die Schwärze an. Ein riesiger Schatten, der vom Himmel 40
fiel! Und es gab bald keinen Zweifel mehr, wohin er fiel: auf Neu-Atlantis! Dann verschwand die Nachmittagssonne im Schatten. Es wurde dunkel, fast Nacht über dem Meer, so vollkommen wurde die Sonne verdeckt. Es schien, als wollte die Sonne nie mehr auftauchen. Thamai betete zu Vitu. Ihr Gebet erinnerte Dragon an Danilas Welt, und die wilden Zonen, in denen die Elementargeister eigene Naturgesetze geschaffen hatten. Aber dies war nicht Danilas Welt. Es war seine Welt – zwei Jahrtausende zu spät, aber seine Welt. War die Vergangenheit noch immer nicht zu Ende? Dauerte die Katastrophe noch an? Hing noch immer das Henkersschwert über diesem Rest von Atlantis? Aber dann kam die Sonne wieder und überflutete das Meer mit goldenem Glanz, daß die drei Menschen geblendet die Augen schlossen. Es war wie eine Erlösung. Die Schwärze schwand aber nicht. Sie wuchs, während die Sonne zum Horizont hinabwanderte und der Abend kam. Das Schiff erbebte mehrmals, und Dragon empfand aufgeregte Gedanken. Er verstand sie nicht, aber er spürte sie. Das Schiff schien einen eigenen Kampf zu führen, gegen einen Feind, den es fürchtete. Dragons leitende Gedanken waren beruhigend. Aber er war selbst beunruhigt. Er war sicher, daß das Schiff Gefahr zu wittern vermochte. Es schien ihm überhaupt mehr die Eigenschaft eines Tieres als einer Pflanze zu besitzen. Ubali entdeckte die Gefahr. »Das Wasser ist in Bewegung«, entfuhr es ihm. Mein König, wir sind in eine Strömung geraten!« Es war bald deutlich zu erkennen, daß das Wasser sie mit sich riß. Das Schiff versuchte mehrmals auszubre41
chen. Es tat dies selbständig, ohne den Befehl Dragons. Wie von Geisterhand bewegten sich die Ruderäste. Doch es war ein vergeblicher Kampf. Auch der Wind trieb sie in die Richtung der Strömung. »Das ist Eis«, entfuhr es Ubali. »Deshalb ist es auch so kalt. Aber wie kann hier Eis sein?« Dragon nickte nur. Es war in der Tat merkwürdig. Es mußte mit dieser Schwärze zusammenhängen, die wie ein Vorhang in den Himmel strebte. Im Küstenwasser schwammen Eisschollen. Ein fernes Rauschen wurde hörbar wie von Klippen. »Worauf treiben wir zu?« fragte Thamai bleich. »Klingt nach Brandung«, stellte Ubali unsicher fest. »Wir werden zerschellen, wenn wir nicht loskommen ...« »Es liegt nicht mehr in unserer Macht«, erklärte Dragon. »Das Schiff kann nicht mehr gehorchen. Es kämpft um sein Leben – besser als wir es könnten. Aber diese Strömung ist stärker ...« Tatsächlich bebte das Schiff, als ob es an den Banden der Strömung rüttelte. Es drehte sich und wand sich, schnellte über die wachsenden Wogen, schnitt sie mit rasender Geschwindigkeit, balancierte über der rasenden See mit einem wimmernden Laut in den Segeln. »Wir müssen uns festbinden!« brüllte Dragon. Gemeinsam banden sie Thamai an einen der Stämme. Himmel und Meer verschmolzen um sie zu einem wirbelnden, schäumenden Grau-in-Grau. Dazwischen tat sich der schwarze Schlund zum Greifen nahe wie das Tor zur Hölle selbst auf. Es gab keinen Zweifel, daß sie darauf zu jagten. Während sie noch verzweifelt bemüht waren, das Mädchen festzubinden, begriff das Schiff selbst, daß seine Mannschaft in Gefahr war. Äste umschlangen 42
Thamai fest und doch locker genug, daß sie atmen und sich bewegen konnte, wenn sie es wollte. Das gleiche geschah mit Dragon und Ubali. Die Sonne war fast unter dem Horizont verschwunden. Die Dämmerung machte alles noch gespenstischer. Seit Beginn der Strömung waren die Bordwände gewachsen, so daß kaum noch Meerwasser an Deck spritzte. Immer mehr schlossen sie sich nach oben und hielten gleichzeitig den schneidenden Wind von den Gefährten ab. Plötzlich war vollkommene Dunkelheit um sie. Nacht ohne eine Spur von Licht. Kälte. Rauschen des Wassers. Donner der Brandung. Das Gefühl schwindelerregender Fahrt. Und über allem die teuflische Erwartung, in diesem Chaos zu zerschellen. Das Schiff schrie! Es klang über dem Sturm so unirdisch wie das Geheul von Dämonen. Dann setzte es knirschend und knarrend auf Grund. Einen endlosen Augenblick glitt es so dahin. Die Äste hielten Dragon und seine Gefährten sicherer, als es Stricke oder Riemen je vermocht hätten. Dennoch waren sie nahe daran, die Besinnung zu verlieren, als das Schiff endlich mit einem letzten gewaltigen Ruck zum Halten kam. Das Krachen und Brechen endete. In der Stille war nur das Rauschen des Wassers weit hinter ihnen und das Heulen des Windes vernehmbar. Ein rotes Dämmerlicht kam vom Bug her. Der Himmel war ohne Sterne. Dragon schüttelte die Benommenheit ab. Er straffte sich in den schützenden Ästen, die ihn zögernd freigaben. »Thamai! Ubali!« rief er. Er sah ihre Gestalten undeutlich in einiger Entfernung. 43
»Ja. Alles heil«, antworteten schwach ihre Stimmen. Auch sie befreiten sich aus den Ästen. Dragon lauschte den Gedanken des Schiffes. Er vernahm sie nach einem Augenblick. Sie waren schwach. Erleichtert wandte sich Dragon der Reling zu. Sie war ziemlich hoch gewachsen, und es bereitete ihm einige Mühe, sie zu erreichen. Überrascht rief er: »Ubali! Thamai ! Seht euch das an !« Es war nicht zu erkennen, woher das rote Licht kam, aber es machte die Schwärze durchsichtig. Man konnte weit sehen. Aber so weit das Auge reichte, erstreckte sich eine rötlich gleißende aufgewühlte Ebene. »Eis. Alles Eis«, flüsterte Ubali mit Grauen in der Stimme. »Spürt ihr es«, sagte Thamai plötzlich. »Der Wind. Er weht nach oben ...« Dragon nickte nach einem Augenblick. »Du hast recht. Und die Luft ist dünn wie auf einem hohen Berg ...« Ubali starrte nach oben. »Was ist da oben? Ein riesiges Loch ?« Dragon zog fröstelnd seinen blauen Umhang fester um die Schultern. Dann sah er, daß Thamai erbärmlich fror und nahm ihn ab, um ihn ihr zu geben. Sie nahm ihn dankbar. Auch Ubali machte die Kälte zu schaffen. »Vielleicht ist es ein Tor?« meinte Thamai. »So wie das, durch das wir gekommen sind. Von einer Welt in die andere ... Was meint Ihr, König Dragon?« »Ein Tor im Himmel?« Dragon runzelte die Stirn. »Es wäre nicht unmöglich. Aber was es auch ist, es kann noch nicht lange bestehen. Weder die Blutjäger noch die Kapitäne der Schiffe aus der Sonnenstadt wußten davon. Auch Alnar nicht. Außerdem könnte bei dieser Strömung kein Schiff die Insel verlassen ...« »Aber wo ist die Sonnenstadt?« fragte Thamai. 44
Dragon schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns umsehen. Wichtiger als die Stadt allerdings ist die Suche nach einer Möglichkeit, das Schiff wieder flottzumachen. Oder wenigstens Teile davon ...« Ein Beben ging bei diesen Worten durch den Schiffsleib. Eis barst unter ihm. Das Schiff glitt ein Stück vorwärts. Es hatte ein wenig schräg gelegen, aber nun richtete es sich auf. Seine Gedanken trafen Dragon mit unvermuteter Kraft. »Es sieht so aus«, würgte er hervor, »als wäre es nicht ganz damit einverstanden, daß wir nur Teile flottmachen. Und es sieht außerdem so aus, als wäre es nicht ganz so hilflos auf dem Eis.« Er starrte über die Bordwand nach unten, da ihm nicht klar war, wie es auf dem Kiel stehen konnte. Da sah er, daß es gar keinen Kiel hatte, sondern auf Wurzeln ruhte. Es war ein dickes Geflecht aus kräftigen Wurzeln, die merklich wuchsen. »König!« Ubalis Stimme rief ihn aufgeregt von der gegenüberliegenden Seite des Schiffes. »Die Sonnenstadt!« Deutlich erkennbar im roten Licht lagen die Türme und Kuppeln einer Stadt. Ein dicker Eispanzer ließ alles funkeln wie von einem inneren Feuer. Doch es war nur der Widerschein des Lichtes. Die Gebäude selbst waren dunkel und leblos. »Ja, das muß sie sein«, stimmte Dragon zu. »Wir werden sie uns ansehen ...« Wie auf ein Zeichen setzte sich das Schiff in Bewegung. Scharrend schoben die beweglichen Wurzeln es über das Eis. Gleichzeitig stieg aus dem Boden spürbar Wärme auf, und es schien ein recht unerfreulicher Gedanke, das Schiff zu verlassen und in die Eiswüste hinauszuwandern. Alle drei empfanden es so, aber nur Dragon war klar, daß das Schiff bewußt diese Emp45
findungen auslöste. Immer deutlicher wurde, daß das Schiff ein eigenes Wesen besaß, das nicht nur gehorchte, sondern auch selbständig zu handeln vermochte und Wünsche und Schmerz kannte. Es erfüllte Dragon mit Besorgnis, wenn er sie auch den Gefährten nicht mitteilte. Dieses Schiff konnte ein mächtiger Verbündeter sein, aber auch eine Gefahr für sie alle. Vibrierend arbeitete sich das Schiff eine Anhöhe hinauf. Als es den Hügel erklommen hatte, drehte es sich auf die Stadt zu. Abwärts ging es rascher. Zudem gewann es mit jeder Lanzenlänge, die es sich vorwärtsarbeitete, mehr Sicherheit. Ubali grinste unsicher. »Die Wunder sind noch nicht zu Ende«, sagte er. Dragon nickte. »Wir werden noch so manche Überraschung erleben.« Er begab sich unter Deck, wo die Gewächse einen hüttenärtigen Raum bildeten, und gürtete sein Schwert. Er nannte es Almunir – Verhüter des Unrechts. Er nahm Bogen, Köcher und den Helm auf. Als er wieder an Deck war, sah er, daß Thamai seinen Umhang abgelegt hatte. Es war warm an Deck, als segelten sie durch tropisches Gewässer. Das Schiff gab sich alle Mühe, es seiner Mannschaft so angenehm wie möglich zu machen. Aber warum? Lag es in seiner Natur? Er schüttelte den Kopf. Daß es seinem Schöpfer gehorchte, mochte vielleicht in seinem Wesen verankert sein. Aber daß es sich aus eigenem Antrieb um die Nöte seiner Mannschaft bemühte? Was steckte dahinter? Irgendeine Absicht, dessen war er sicher. Aber welche? War es möglich, daß Vitus Einfluß über die Dimensionen reichte? Daß der Lebensgeist ihnen über Welten hinweg zu helfen trachtete? Nein, das schien zu un46
glaublich. Seine Macht war beschränkt. Er war ein Elementargeist seiner Welt, die ihre eigenen Gesetze besaß. Andererseits tat diese Wunschpflanze Dinge, die merklich gegen die Gesetze dieser Welt waren, die nicht nur wie Wunder anmuteten, sondern Wunder waren! Er gab es auf, darüber nachzugrübeln. Früher oder später würde sich alles klären. Wenn ihnen genügend Zeit blieb. Das Schiff gewann an Geschwindigkeit. Die Türme kamen rasch näher. Die Gedanken des Schiffes, die Dragon nicht verständliche Worte sondern eher Gefühle vermittelten, waren friedlich. Es beruhigte Dragon unbewußt, und wohl auch Ubali und Thamai. Im Augenblick wenigstens schien alles gut zu laufen. Das Schiff war zufrieden mit sich. Das Schiff glitt über einen zugefrorenen Fluß und gelangte auf eine breite Straße, an deren einen Seite sich mächtige Gebäude erhoben. Die Brandung war fern und unbedeutend. Die Stadt selbst war still und tot. Zeitlos. Festgefroren in der Ewigkeit. Sie glitten durch einen gewaltigen Torbogen auf einen großen Platz. Dort sahen sie die ersten Leichen. Sie lagen über den ganzen Platz verstreut. Ein palastartiges Bauwerk begrenzte den Platz auf der einen Seite. Vor seinen Eingängen lagen ebenfalls Leichen. Sie waren wie Soldaten gekleidet. »Vielleicht ist es der Palast«, meinte Thamai und schüttelte sich. »Diese armen Menschen«, murmelte sie. »Sie müssen überrascht worden sein ...« »Wir wollen sie nicht zu sehr bemitleiden«, widersprach Ubali. »Die Kanuks könnten dir sagen, welche Teufel diese Neuatlanter sind. Hast du das vergessen?« 47
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Liebster. Aber denkst du, daß sie alle so waren? Denke an die Luftpiraten, die mein Dorf bedrohten. Es gab auch Gute unter ihnen. Oder denke an meinen Stamm. Da gab es auch solche, die frevelten ...« »Wir wollen uns hier umsehen«, sagte Dragon. »Vielleicht finden wir irgendeinen Hinweis darauf, was geschehen ist – und warum es geschehen ist.« Ubali nickte. Dragon gab einen gedanklichen Befehl an das Schiff. Es hielt an, doch lag etwas Warnendes in seinen Gedanken. Wir werden vorsichtig sein, versuchte Dragon es zu beruhigen. Aber die Unruhe übertrug sich auf ihn, und er sah, daß auch Ubali und Thamai sich mißtrauisch umblickten. »Ich werde das Gefühl einer Gefahr nicht los«, brummte Ubali. »Ich auch nicht«, stimmte Thamai zu. »Es ist das Schiff«, erklärte Dragon. »Es fürchtet etwas und sorgt dafür, daß wir auch einen Teil seines Unbehagens mitbekommen. Aber wir können nicht immer auf dem Schiff bleiben. Wir werden die Augen offenhalten. Thamai, du bleibst hier. Ubali und ich werden uns den Palast ansehen. Wir bleiben nicht lange.« Sie nickte, nicht allzu glücklich darüber, daß sie auf dem Schiff bleiben sollte. Ubali kletterte als erster die Leiter hinab. Dragon wartete, bis er unten war. Doch kaum berührte Ubali den Boden, stieß er einen Schrei aus. Sein dunkler Körper verformte sich, wurde innerhalb eines Augenblicks zum Schwarzen Panther. Aber noch während er Gestalt annahm, begann er sich aufbrüllend erneut zu verformen, und seine Glieder wurden menschlich. Dragon sprang nach unten und riß den Gefährten hoch, dessen Glieder sich eiskalt anfühlten. Gleichzeitig 48
schrie Thamai auf, und das Heulen des Schiffes erfüllte die rötliche Dunkelheit. Wurzeln und Äste schnellten vor und umklammerten Dragon und Ubali. Sie zitterten wie menschliche Arme und waren kalt wie Eis. Sie zogen sie fest an sich. Gedanken jagten sich in Dragons Kopf, solche des Schiffes, und seine eigenen. In seinen chaotischen Empfindungen wurde ihm bewußt, daß ihm selbst nichts geschehen war. Er fror weder, noch fühlte er Schmerz. Aber etwas hatte Ubali und Thamai und das Schiff bedroht. Ubali erholte sich rasch, und auch Thamai, die besinnungslos auf Deck gelegen hatte, kam nach einer Weile wieder zu sich, als sich die beiden Männer um sie bemühten. Das Schiff brauchte länger, bis es sich beruhigte. Todesfurcht war in seinen Gedanken. »Ich konnte nicht mehr atmen«, erklärte Ubali. »Mein König, es war so kalt ... wie ...« Er brach ab, als er keinen Vergleich fand. Thamai nickte bestätigend. »Ich spürte nichts anderes als Kälte. Es kam plötzlich. Wie ein Schlag ...« »Aber warum?« entfuhr es Dragon. »Warum nur ihr? Warum ich nicht?« »Das muß der Tod gewesen sein, den diese Menschen erlitten«, sagte Thamai. Ubali nickte. »Etwas hat uns davor bewahrt. Aber was?« »Etwas an Euch, König«, stellte Tahmai fest. Dragon nickte langsam. »Ich dachte auch bereits daran. Hier sind wir alle sicher. Als Ubali das Schiff verließ, war er in Gefahr. Als ich das Schiff verließ, um ihm zu helfen, warst du in Gefahr, Thamai. Du und das Schiff. Es wäre möglich.« Er hielt nachdenklich inne. »Etwas an mir«, murmelte er nachdenklich. Dann fuhr er fort: 49
»Das Schwert könnte es sein. Vesta verlieh ihm besondere Kräfte. Ihr wißt, daß ich keinen Unschuldigen damit zu töten vermag. Vielleicht hat es noch andere lebensschützende Kräfte ...« »Euer Amulett glüht«, stellte Thamai fest. »Damit meine Gedanken und die des Schiffes einander finden«, erklärte Dragon. »Versteht Ihr die Gedanken des Schiffes?« Dragon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das Schiff versteht meine.« »Könnt Ihr es nicht fragen?« meinte Thamai. »Vielleicht weiß es mehr als wir.« Dragon richtete die Frage an das Schiff. Es antwortete nach einem Moment – auf seine Art. Äste langten nach Dragon, der erschrocken nach seinem Schwert griff. Die Gedanken des Schiffes drangen beruhigend auf ihn ein. Die Äste machten sich an seinem Hals zu schaffen und faßten das Amulett. Mit einem Ruck war es über seinem Kopf und pendelte außer Reichweite auf halber Höhe des Mastes. »Gib es zurück!« befahl Dragon, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Nur ein Gefühl der Sicherheit strömte über sie. Ein Gefühl der Geborgenheit auf diesem Schiff. »Das Amulett der Eiskönigin also«, entfuhr es Ubali. »Warum schützt es uns alle?« »Das wissen die Götter!« knurrte Dragon mißmutig. »Durch Berührung vermutlich. Wäre das ein gewöhnliches Schiff, stünden unsere Chancen schlechter. Aber unser schwimmender Dschungel hat einen gesunden Lebenswillen. Und wenn wir uns an ihn halten, wird uns nicht viel geschehen – wenigstens durch die Kälte nicht.« 50
Er trat an die Reling und starrte eine Weile auf die toten Gebäude, auf das rötlich schimmernde Dächermeer der Sonnenstadt. Er lächelte grimmig zu sich selbst. Als Prinz einer fernen Insel, als Licht von Atlantis hatte er in diese Stadt einziehen wollen. Licht! Das war es, was diese Stadt nun am meisten brauchte. Und er konnte es nicht geben! Statt eines degenerierten Volkes fand er Leichen. Eine Totenstadt. Das Schicksal hatte ihn betrogen – um den letzten Rest seiner Welt. Aber war wirklich noch etwas vom alten Atlantis hier gewesen? Im Blut? Vielleicht. Aber die Stadt selbst barg nichts vom alten Glanz. Sie war primitiv wie die Menschen, die andere Völker Barbaren nannten und selbst nicht viel mehr als Barbaren waren. Nein, hier hatte der Tod nichts aus seinen Erinnerungen zerstört. Hier war nichts, das ihm ein schmerzliches Gefühl der Vertrautheit vermittelt hätte. Hier war nichts mehr zu finden. Noch während er es dachte, setzte sich das Schiff wieder in Bewegung.
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5.
Das Schiff arbeitete sich an der Küste entlang tiefer in die seltsame Schwärze hinein. Da sie verhältnismäßig sicher waren, gingen Dragons Pläne dahin, ins Herz der Schwärze vorzudringen, um herauszufinden, was sie war. Vielleicht gab es jenseits eine Möglichkeit zu entkommen. Doch er hatte keine großen Hoffnungen. Es war ein Sog, der Wasser und Luft anzog. Die Strömung würde an allen Seiten sein. Die Küste war deutlich zu erkennen, weil die Erde nur eine dünne Schicht Eis bedeckte, während das Wasser bis auf den Grund hinab gefroren schien. Wie weit das Eis hinausreichte, war nicht zu erkennen, aber weiter als man zu sehen vermochte. Das Rauschen der Brandung mußte weit entfernt sein. Dragon fragte sich, ob diese Schwärze wuchs und ob sie je wieder einen Weg hinausfinden würden. Vitus Wunderschiff würde sie nur über einen begrenzten Zeitraum am Leben halten können. Es war nicht allmächtig. Eis würde ihm auf die Dauer nicht als Nahrung genügen. Oder es verbrauchte sich und starb. »König!« rief Ubali aufgeregt. Er deutete auf eine Ansammlung von Gebäuden, hinter denen ein tempelartiger Bau aufragte, dessen runde Kuppel die meisten Häuser überragte. »Hier sind nicht alle tot! Wenn meine Augen mir keinen Streich gespielt haben, dann habe ich eine Gestalt gesehen!« Dragon starrte in die angegebene Richtung. Es war schwer, in den dunklen Gassen etwas zu erkennen. »Jetzt wieder!« entfuhr es Ubali. »Heeee!« 52
Der Wind gab dem Ruf einen geisterhaften Klang. Ein halbverwehtes Echo kam. Und dann Antwort. Sie verstanden nicht, was die Stimme rief. Es klang nach einer weiblichen Stimme. »Hierher!« rief Ubali und schwenkte seine Arme. Das Schiff hatte angehalten. Dann sah Dragon die Gestalt aus einer der Gassen herauslaufen. Es war eine Frau, dem hellen wallenden Kleid nach zu schließen, in dem der Wind sie förmlich vorwärtstrieb. In einiger Entfernung vom Schiff hielt sie an und starrte hoch. »Kommt an Bord!« rief Ubali. Die Gestalt kam zögernd näher, hielt jedoch erneut an. »Ihr seid nicht von der Sonneninsel. Wer seid Ihr?« »Die Strömung trieb uns her. Habt keine Furcht. Kommt an Bord, damit wir reden können. Leben noch andere?« Nach einem Augenblick schüttelte sie zögernd den Kopf. »Nein; In der Stadt ist niemand mehr am Leben. Viele flohen mit der Flotte ...« Sie brach mißtrauisch ab, »Euer Schiff ... Es ist kein Schiff ...« Furcht erstickte ihre Stimme. Sie läuft weg! dachte Dragon instinktiv. Aber das Schiff war rascher. Bevor sie sich abwenden konnte, hatten die ersten Wurzeln sie erreicht und umschlungen. Sie schrie schrill auf und wehrte sich verzweifelt, während die Wurzeln sie näherzogen und hochhoben. Ubali kletterte über die Bordwand, um sie in Empfang zu nehmen. Nur mit Mühe schaffte er das sich windende Bündel an Bord. Thamai bemühte sich um die Frau, und nach einem Augenblick begann sich diese zu beruhigen. Sie starrte unsicher um sich. Dragon sah, daß sie sehr schön war. 53
Und er entdeckte auch die kostbaren Geschmeide in ihrem Haar und an ihren Armen. »Habt keine Furcht«, sagte er. »Ihr habt recht, unser Schiff ist kein Schiff im üblichen Sinn. Es besitzt ein eigenes Leben, und es handelt manchmal ein wenig überraschend. Aber glaubt mir, Ihr seid hier sicher.« Das Mißtrauen schwand nicht aus ihren Augen, aber Thamais Anwesenheit schien sie zu beruhigen. »Ihr seid keine gewöhnliche Frau«, fuhr Dragon rasch fort. »Erzählt uns von Euch. Wie habt Ihr überlebt?« »Ich bin Sythara, die Königin der Sonneninsel.« »Sythara«, murmelte Dragon. Vodors Weib! »Ihr habt meinen Namen schon gehört?« unterbrach sie seine Gedanken. Dragon nickte langsam. »Ja, Königin. Wir kennen ihn. Aber dort, wo wir ihn hörten, hatte er keinen guten Klang.« »Nein?« Sie lachte. »Das Amulett, mein König«, sagte Ubali plötzlich und deutete auf Sytharas Brust. »Ja«, stimmte Thamai zu. »Es gleicht dem Euren. Es ist ein wenig kleiner ...« Sythara ergriff es hastig. »Woher habt Ihr es, Königin?« fragte Dragon. »Von einem Sklaven«, erklärte sie widerwillig. »Von einem Eures Volkes?« »Nein ...« Nachdenklich fügte sie hinzu. »Er war auch kein Kanuk oder Quesa. Er war sehr jung. Es steckte viel Kraft in ihm. Aber ... er war anders ...« Sie nickte zu sich. »Er gab es Euch?« »Nein, ich nahm es mir. Er sollte sterben. Aber es gelang ihm zu fliehen. Was ist damit?« »Es hat Euch das Leben gerettet«, erklärte Ubali. 54
»Dieses Ding?« Spott lag ihr auf der Zunge. Doch die drei nickten ernst. Dragon wechselte das Thema. »Ihr sagt, eine Flotte ist ausgelaufen?« Die Königin nickte. »Und sie ließ Euch hier?« fragte er ungläubig. »Es ging zu rasch. Ich sah es nicht, aber ich glaube, sie konnte nicht warten. Ich war im Tempel, als es geschah, und dachte, ich würde nie mehr aus dieser Finsternis hinausfinden. Dieses ... rote Licht ... es kam erst später ...« »Und der König?« »Er ist tot. Er liegt mit seiner kleinen Sklavenhure im Bett. Ich habe sie im Palast gefunden ...« Sie lächelte spöttisch. »Die Kanukdirne hatte keine Freude mehr an ihm gehabt, denn sie ist ebenfalls tot.« Es schien ihr Genugtuung zu bereiten. Schaudernd wandte Thamai sich ab. Das Lächeln erstarb auf Sytharas Lippen. »Es tut mir leid, daß es mir an Mitgefühl fehlt. Ich ... war einst anders. Aber das ist lange her. Vielleicht ist dies der Augenblick, sich darauf zu besinnen. Mich hält hier nichts mehr, außer Erinnerungen an Tote und an vergeudete Leben.« Sie sah Dragon bittend an. »Nehmt mich mit Euch.« Dragon warf seinen Gefährten einen fragenden Blick zu. Diese nickten zögernd, aber er wußte, sie hätten in keinem Fall nein gesagt. Er nickte zustimmend. »Ich danke Euch«, sagte sie erleichtert. »Ihr sollt es nicht umsonst tun. In der Schatzkammer des Palastes liegen Gold und Edelsteine. Ich kann Euch dahin führen ...« Dragon schüttelte den Kopf. »Wir haben Schätze genug an Bord, um ein Königreich zu kaufen. Schätze, an 55
denen weniger Blut klebt. Aber noch ist nicht sicher, daß wir je wieder ein Königreich finden werden. Vorerst sind wir auf diesem Schiff sicher. Und Ihr könnt unsere Neugier befriedigen und uns über Euer Reich berichten. Zu vieles haben wir von jenen gehört, die es haßten. Vielleicht könnt Ihr Besseres berichten.« »Ich haßte es auch«, erwiderte sie düster. Dann lächelte sie wieder. »Aber Ihr sollt alles erfahren – von einer, die es erlebte ... und genoß!« Sie hatten keine Orientierung. Sie folgten der Küste. Nichts veränderte sich. Überall war gefrorenes Land und vereistes Meer. Und darüber das rötliche Leuchten, das ihnen bald wie die Glut einer fernen Hölle schien. Sie ließen die Stadt hinter sich. Gelegentlich kamen sie an kleinen Küstensiedlungen vorbei. Überall bot sich ihnen das gleiche Bild – mitten im Leben erstarrte Menschen, in deren Gesichtern das Grauen stand. Dann sahen sie weit draußen im Eis dunkle Schatten wie von Schiffen. Sie nahmen Kurs darauf zu und erkannten bald, daß es sich um eine ganze Flotte handelte. Die Flotte der Sonneninsel! Die Schiffe waren während der Fahrt vom Eis überrascht worden, so als wäre das Wasser unter ihren Kielen gefroren. Tatsächlich zeigte die Oberfläche die Form von Wellen. Die Schiffe waren übersät von Toten. Sythara betrachtete das alles schweigend. Ihrer Miene war keine Regung zu entnehmen. Dragon fühlte Sympathie mit ihr. Er wußte, was sie empfinden mußte. Er war selbst der letzte Überlebende seiner Stadt, seines Reiches – jenes Teils dieser Insel, der nun tief unter dem Eis des Meeres lag. Er wußte, was es bedeutete, wenn ei56
nem nur Erinnerungen blieben, die nach und nach verblaßten, so sehr man sie auch wachzuhalten versuchte. Sie ließen das eisige Grab hinter sich. Die Königin war von da an sehr schweigsam. Doch nach und nach gelang es Dragon, einiges über Neu-Atlantis zu erfahren. Sythara beispielsweise regierte an der Seite Vodors seit über hundert Sommern. Er war der Gottkönig. Der Unsterbliche. Er hatte diese Stadt gegründet, nachdem Barbaren aus dem Westen, Vorfahren der Kanuks, die Insel verwüstet hatten. Nur er besaß das Geheimnis der Unsterblichkeit. Nur er besaß die Magie der Lebenstrinker, und er teilte sie nur mit wenigen Auserwählten. Freilich war deren Zahl in den mehr als fünfhundert Sommern seiner Regentschaft stetig gewachsen. Viele hatten versucht, die unterirdischen Kammern zu finden, in denen das Geheimnis verborgen sein mußte. Aber nie war es jemandem gelungen. Die Lebenstrinker, wie der König selbst einer war, und auch sie, die Königin, nahmen ihren Opfern die Lebenskraft durch Berührung. Sie gewannen Jugend und Kraft aus dem Leben ihrer Opfer. Seltsamerweise brauchten männliche Lebenstrinker weibliche Opfer und umgekehrt. Kein Mann vermochte einem anderen Lebenskraft zu entziehen. Und keine Frau einer anderen. Nach und nach wurde die Spanne kürzer, während der die gewonnene Lebenskraft wirkte. Es bedurfte immer größerer Sklaventransporte nach der Sonneninsel. Dazu kam noch ein anderer Umstand. Bei den Fortgeschrittensten hatte sich der Körper so sehr auf einen steten Zufluß neuer Kraft eingestellt, daß jede Berührung des anderen Geschlechts einen Kraftraub bedeutete. So kam es, daß die Auserwählten schließlich nur mehr untereinander geschlechtliche Beziehungen unterhielten, denn was der eine dem anderen dabei an Kraft nahm, 57
raubte der andere im selben Augenblick zurück. So war eine degenerierte Adelsschicht entstanden, die nur ein Ziel kannte: neue Sklaven, und damit neue Kraft zu erhalten – und das in immer rascherem Maße. Der Kult der Bluttrinker hingegen war letztendlich ein priesterlicher Kult für die wohlhabende Mittelschicht des Sonnenvolkes. Wer sich Sklaven als Lebensspender leisten konnte, brachte sie regelmäßig in den Tempel, um in halb religiösen, halb magischen Riten sein Blut zu trinken. Nicht alles auf einmal. So ein Sklave konnte seinen Herrn jahrelang versorgen. Das Blut übte eine ähnliche Wirkung aus wie die Lebenskraft für die Auserwählten. Es heilte, kräftigte und stärkte. Es machte nicht unsterblich, aber es verlängerte das Leben ein wenig. Doch auch hier gab es einen Pferdefuß: Das Bluttrinken wurde zur Sucht. Die berauschende Wirkung des Blutes wurde bald der Anlaß zu mörderischen Orgien, in denen Dutzende von Sklaven ihr Leben ließen. Sklavenhandel und -jagd, die Aufgabe der Blutburgen jenseits des Meeres, war nicht nur das einträglichste Geschäft, sondern eine nackte Notwendigkeit, wollte solch eine Gesellschaft überleben. Das übrige Volk besaß seine eigenen Tempel, in denen es betete und Buße tat und flehte. Es war eine starke Religion. Es gab Riten, nach denen den Gläubigen schwach in den Knien war und sie sich wahrlich wie von den Göttern selbst berührt fühlten. Wenig von dem, was in den oberen Schichten geschah, drang bis ganz nach unten durch. Wer zuviel wußte, wurde beseitigt. Die unteren Schichten besaßen kein klares Bild von den wahren Verhältnissen, bis auf kleine Gruppen, die gelegentlich rebellierten. Zudem war für sie die Unsterblichkeit des Königs und seiner 58
Getreuen ein Zeichen der Götter, an dem niemand zu zweifeln wagte. So wußten sie auch nicht, daß manche der Tempelriten nur dazu dienten, Lebenstrinkern billige Kraft zu verschaffen. Sythara wußte das alles. Als eine der Auserwählten war ihr nichts fremd geblieben. Sie hatte ihr Leben gehaßt und genossen. Je älter sie wurde, desto mehr verlor sie die Achtung vor dem Leben. Daß sie die Wahl hatte, einen Mann zu lieben oder zu töten, beides mit einem Kuß oder einer zärtlichen Berührung, wurde mit den Jahren immer mehr zur Versuchung, zur teuflischen Gier nach Lebenskraft, die sich immer stärker bemerkbar machte. Eine Leidenschaft floß in die andere über. Ja, sie haßte es! Aber es war keine Reue in ihren Worten. Dragon konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß diese vielen Toten auf den Schiffen sie nur deshalb erschüttert hatten, weil es ungenutzte, vergeudete Lebenskraft bedeutete. Deshalb warnte er Ubali. »Sei auf der Hut. Im Augenblick besteht vielleicht keine Gefahr, aber wenn der Drang groß genug wird, mag sie sich wohl an uns heranmachen. Laß dich nicht von ihr berühren!« »Keine Angst um mich, mein König«, meinte Ubali unbesorgt. »Mit einem Schwarzen Panther wird sie nicht viel Freude haben.« Er lachte unterdrückt bei dieser Vorstellung. Auch Dragon vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. »Ihr solltet ihr das Amulett abnehmen«, meinte Thamai. »Sonst gibt sie vielleicht eines Tages dem Schiff Befehle ...« Dragon schüttelte den Kopf. »Nein, da besteht keine Gefahr. Ich habe das Schiff geschaffen. Solange ich lebe, wird es nur mich als Herrn 59
anerkennen. Aber es kann ihren Gedanken lauschen und uns vielleicht warnen, wenn sie etwas vorhat.« Vorerst schien sie jedoch froh, diesem eisigen Friedhof zu entkommen. Sie verschwand in einer der natürlichen Hütten am Heck des Schiffes und blieb dort die meiste Zeit. Der Himmel veränderte sich, je tiefer sie in die Schwärze eindrangen. Das rote Licht wurde kräftiger. Es war nun deutlich erkennbar, daß es von oben kam, wenn auch die eigentliche Quelle vorerst noch verborgen blieb. Und noch etwas fiel ihnen am Himmel auf: Er war zum Greifen nah. Sie wußten nicht, wie lange sie sich bereits in dieser Zone befanden, denn sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Tag und Nacht waren nicht erkennbar. Nur die zunehmende Müdigkeit sagte ihnen, daß sie wohl bereits eine geraume Weile darin zubrachten. Ein Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich immer mehr in ihnen. Der gleichmäßig rötlich gleißende Anblick der Landschaft um sie ließ den Blick flimmern. Und der Gedanke an den Tod ringsum füllte die Herzen mit ebenso düsterer Glut. Sie entdeckten die beiden Gestalten erst, als das Schiff sie fast erreicht hatte. Ein Junge und ein Mädchen standen auf dem Eis und winkten. Sie hielten einander an der Hand, und sie paßten nicht in diese kalte Öde aus Eis. Sie trugen nicht viel mehr am Leib als Thamai, doch um sie war nicht die Wärme des Schiffes, Dennoch schienen sie nicht zu frieren. Dragon entdeckte das Sonnenamulett am Hals des Mädchens. 60
Das Schiff hielt an. Das Mädchen rief etwas hoch. Ihre Stimme klang dünn in der Kälte. »Seid Ihr Dragon von Atlantis?« Verwundert erwiderte Dragon: »Ja, ich bin Dragon ...« »Wir suchen Euch«, erklärte das Mädchen. »Wir kommen an Bord.« Ohne eine weitere Entgegnung abzuwarten, verschwanden die beiden und befanden sich einen Augenblick später an Deck vor der überraschten Besatzung. »Ah«, seufzte der Junge, »dieses Element ist mehr nach meinem Geschmack als diese dicke Atmosphäre, in der man schwitzt, wenn man nur den Arm hebt.« Sie sahen sich neugierig um, ließen einander aber nicht los. »Er hat kein Amulett«, sagte das Mädchen plötzlich. »Die anderen auch nicht«, stimmte der Junge zu. »Glaubst du, wir können es wagen?« Das Mädchen zögerte. »Das ist ein seltsames Schiff«, sagte sie dann. »Es ... lebt ...« »Ja«, sagte Dragon. »Das Schiff trägt auch unser Amulett.« Er deutete auf den Mast. »Dann können wir«, meinte der Junge und ließ das Mädchen los. Einen Augenblick stand er starr, dann lächelte er und nickte. »Richtig.« »Wollt ihr uns nicht sagen, wer ihr seid?« fragte Dragon mit einer Spur Ungeduld in der Stimme. »Verzeiht«, begann das Mädchen. Der Junge ließ sie nicht aussprechen. »Eure Retter«, verkündete er. »Unsere Retter?« »Ja.« Der Junge nickte selbstsicher. Das Mädchen nickte ebenfalls. »Ich bin Athelaine«, stellte sie sich vor. 61
»Ich bin Kelamon«, erklärte der Junge. »Wir sind Geister.« »Ihr seid ... was?« entfuhr es Dragon. »Wir sind Geister«, wiederholte Kelamon. »Kelamon!« wies ihn das Mädchen scharf zurecht. »Du weißt, daß unsere Mission davon abhängt, daß er uns glaubt. Der Meister warnte uns davor, Worte wie Geister zu verwenden. Sie haben keinen guten Klang. Keinen wirklichen Klang«, fügte sie hinzu. Der Junge zuckte die Achseln, »Nichts, was wir zu sagen haben, ist viel glaubwürdiger. Wenn sie uns genauer ansehen, werden sie ohnehin erkennen, daß wir nicht wirklich sind ...« »Ja«, seufzte das Mädchen. »Es ist alles viel schwieriger geworden, als ursprünglich geplant. Wir sollten ihn unter seinen natürlichen Umständen treffen. Und wir haben noch ein Problem. Sie sind drei. Was tun wir mit den anderen beiden?« »Ja«, sagte der Junge nachdenklich. »Ich fürchte, wir können nichts für sie tun ...« »Dann sterben sie ...« »Das tun alle hier. Wir können es nicht ändern. Unsere Mission lautet einzig, Dragon zu suchen und nach jenseits zu bringen ...« »Ich weiß«, sagte das Mädchen traurig. »Aber das mag der Meister entscheiden. Können wir nicht das ganze Schiff mitnehmen?« Während Ubali und Thamai dem Gespräch der beiden verwundert und nicht ohne Unbehagen lauschten, unterbrach sie Dragon kopfschüttelnd. »Da ich annehme, daß über unser Schicksal verhandelt wird, erlaubt ihr wohl, wenn ich mitrede.« Die beiden starrten ihn verblüfft an und nickten dann zögernd. 62
»Gut«, meinte Dragon. »Ich werde nirgendwo hingehen, ohne diese Entscheidung selbst getroffen zu haben ...« »Gut, so trefft sie!« warf Kelamon gönnerhaft ein. »Nicht so hastig«, winkte Dragon ab. »Aber es geht um Euer Leben!«, rief der Junge. »Soviel ich dem Gespräch entnommen habe, nicht nur um meines«, stellte Dragon fest. »Da habt Ihr recht. Diese Welt wird sterben, noch ehe der Mond voll sein wird.« »Woher wißt ihr das?« »Wir sind Geister«, erklärte er. »Ihr müßt verzeihen«, meinte Dragon nachsichtig, »wenn ich meine Zweifel habe. Ich hatte nie mit Geistern zu tun ...« »Siehst du, was ich gesagt habe! Du hättest dieses dumme Wort niemals benützen dürfen«, schalt das Mädchen. »Hört mich an, Dragon von Atlantis. Und Ihr tut besser daran, meine Worte so ernst zu nehmen, wie sie sind. Kelamon und ich ... wir sind nicht wirklich. Wir haben einen menschlichen Körper, und wären wir Euch irgendwo begegnet, wohin dieser Schatten nicht fällt, und wie es unser Plan war, dann wäre Euch auch nichts ungewöhnlich erschienen. Aber hier in der beginnenden Leere, die unser eigentliches Element ist, hier werdet Ihr bald erkennen, daß wir nicht mehr ganz körperlich sind ...« »Ja«, entfuhr es Dragon, der mit einemmal den rötlichen Wiederschein des Eises durch ihren Körper hindurch zu erblicken glaubte. »Es nimmt zu«, fuhr sie mit einem Lächeln fort. »Woher kommt ihr?« »Unser Meister wird es Euch vielleicht sagen. Jetzt nur soviel: Es gibt viele Welten jenseits des Himmels, 63
und nicht alle sind wirklich. Jeden Augenblick werden welche geboren und andere gehen unter, manche erstehen, andere verlöschen. Es bedeutet nichts. Diese wird sterben. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Vertraut uns. Wir werden Euch sicher führen. Vielleicht wird euch allen ein Wunder widerfahren ...« »Ihr nicht!« rief der Junge und deutete auf Sythara, die in diesem Augenblick an Deck kam. »Sie hat mein Amulett«, fügte er aufgeregt hinzu. »Sagt Ihr, sie soll es mir zurückgeben!« »Es stimmt«, bestätigte das Mädchen. »Es ist sein Amulett. Sie hat es ihm genommen. Sie wollte ihm mehr nehmen, wenn ich ihn nicht aus dem Tempel befreit hätte. Nicht, daß sie Erfolg gehabt hätte, aber es ist nicht gut, wenn die Menschen zu viel über uns herausfinden.« Sythara lächelte. »Es stimmt, Dragon«, erklärte sie. »Der junge Mann sollte das nächste Leben sein, das ich trinken wollte. Und wäre seine kleine Freundin nicht gekommen, hätte wohl ich mein Opfer und meine Zofe ihr Leben behalten. Aber die Dinge haben sich geändert.« Sie nahm das Amulett ab und reichte es dem Jungen, der es mißtrauisch nahm. Er hing es sich um und schien seine alte Selbstsicherheit wiederzugewinnen. »Was tun wir mit ihr?« fragte Athelaine. »Werfen wir sie über Bord?« Sie deutete auf die Königin. Der Junge stimmte zu. Sie machten einen Schritt auf die bleichwerdende Sythara zu. »Nichts dergleichen!« sagte Dragon scharf und trat dazwischen. »Sie ist eine Mörderin!« wandte der Junge ein. »Eine Lebenstrinkerin! Sie wird es wieder tun ...« »Das bleibt dann zu entscheiden«, stellte Dragon ruhig fest. »Ihr bringt uns jetzt zu eurem Meister, uns alle, 64
oder keinen. Unter diesen Bedingungen bin ich bereit, mit ihm zu reden.« Die beiden starrten Dragon erstaunt an. »Ihr stellt Bedingungen?« Dragon nickte. Die beiden redeten einen Augenblick heftig aufeinander ein in einer Sprache, die Dragon nicht verstand. Schließlich nickte das Mädchen mit einem kalten Seitenblick auf Sythara. »Das alles widerspricht unserem Auftrag«, erklärte sie. »Wir müssen Erkundigung einholen. Wir kommen wieder, wenn der Meister so entscheidet. Wir raten Euch, diesen Kurs beizubehalten. Jeder Kurs führt in den Tod, aber auf diesem werden wir Euch wiederfinden.« Dragon stimmte zu, und die beiden wurden durchscheinend und verschwanden. Ubali wischte sich mit der Hand über die Augen. »Wohin sind sie gegangen ?« Sythara starrte nur bleich hinterher. Sie fragte sich insgeheim, ob Dragon sie ausliefern würde, wenn es darauf ankam.
65
6.
Gleichmäßig glitt das Schiff durch die rötliche Düsternis. »Was glaubt Ihr, König?« fragte Thamai. »Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Dragon gepreßt. »Denkst du, daß es stimmt, was sie sagen?« fragte Ubali. »Daß diese Welt stirbt ...?« »Das ist es, was mich am meisten erschreckt. Wenn diese Schwärze wächst, wie Sythara bereits berichtete, dann könnte sie früher oder später die ganze Erde umfassen.« Er deutete zurück auf die tote Sonnenstadt. »Ist euch klar, was das bedeuten würde?« Die anderen nickten bleich. »Daß es überall so aussieht wie hier«, murmelte Thamai. »Welch eine Vergeudung«, sagte Sythara in der Stille, die diesen Worten folgte. Sie behielten den Kurs bei, wie die beiden Besucher geraten hatten. Dragon lauschte den verwirrten Gedanken des Schiffes. Es schien nicht einverstanden mit dem Kurs, aber es gehorchte. »Es muß bereits ziemlich groß sein«, meinte Ubali. »Vielleicht gibt es überhaupt keinen Weg mehr hinaus.« Dragon wußte keine Antwort darauf. Immer mehr erinnerte ihn diese Schwärze an eine der wilden Zonen von Danilas Welt. Nicht in der Form, aber der Art. Eine riesige Eislandschaft hier in diesem warmen Klima. Waren auch hier die Elemente außer Kontrolle geraten? Gab es eine Möglichkeit, sie zu beeinflussen? 66
Er schalt sich einen Narren. Er war Wissenschaftler, auch wenn er dies vor Jahrtausenden in einer anderen Welt gewesen war. Er sollte in der Lage sein, logisch zu denken. Aber was war logisch? Es gab Welten, die besaßen ihre eigenen Gesetze und Lebensformen. Danilas Welt als Beispiel. Was dort geschehen war, mußte einem irdischen Wissenschaftler wie Zauberei anmuten. Und er, als Wissenschaftler, hatte es akzeptiert, hatte nach ihren Gesetzen gehandelt, und war sogar erfolgreich damit gewesen. Und nun stand er hier Geistern gegenüber, und er wußte, daß seine Zweifel dabei waren, zu schwinden. Vielleicht trug dieses Schiff dazu bei, auf dem sie über das Eis krochen. Sicher auch Ubalis Verwandlungsfähigkeit, die ihn an uralte Legenden über Wertiere erinnerte. So vieles war ihnen in dieser Welt begegnet, das die Gemüter der barbarischen Menschen mit Zauberei erfüllte. Aber er wußte, daß dunkle Kräfte am Werk waren, die es früher auf der Erde nicht gegeben hatte – die Kräfte des Balamiters und seiner Nachkommen, die er mit den Geschöpfen dieser Welt gezeugt hatte. Cnossos war tot. Was lebte, war sein Erbe – Menschen, die seine dunklen Kräfte besaßen Kyrace sicherlich, und Maratha. Und andere, die sich mächtige Zauberer dünkten. Es waren andere Kräfte, als sie die Weisen der Berge besessen hatten, keine eines freien menschlichen Geistes. Sie wachten abwechselnd, Sythara ausgenommen, die sie im Auge behalten wollten. Aber trotz ihrer Müdigkeit wollte sich kein Schlaf einstellen. Zu bedrückend waren ihre Umgebung und ihre Gedanken. Dragon verfiel immer mehr in Grübeleien. Alte, blasse Erinnerun67
gen gewannen wieder Farbe. Muras und Amees Gesicht tauchten vor ihm auf. Würde er auch Amee nie wiedersehen? Atlantor? Partho und all die anderen Gefährten? Was mochte in Myra geschehen sein während seiner Abwesenheit? Er war zu lange weg gewesen. Es gab Neider, die der Thron lockte. Heftige Gedanken des Schiffes schreckten Dragon auf. Die Vorahnung einer Gefahr überschwemmte Dragon wie eine Woge. Er taumelte hoch. Er verstand nicht gleich, was geschah. Aber im nächsten Augenblick hörte er einen Aufschrei von Thamai. Er sprang aus seiner Hütte. Undeutlich sah er die weißgekleidete Gestalt Sytharas mit Thamai ringen. Ein Dolch blitzte rötlich in Sytharas Faust und zuckte herab. Bevor er eingreifen konnte, schnellte ein schwarzer Schatten auf die Königin zu. Ein wütendes Knurren kam aus der Kehle Ubalis, als Sythara erneut den Dolch hob und auf Thamai einstach. Ein einziger Hieb der klauenbewehrten Tatzen sandte Sythara schlitternd über das halbe Deck. Sie schrie und lag stöhnend zwischen den Büschen des Vordecks. »Ubali!« rief Dragon, als der Panther erneut zum Sprung ansetzte. Aber es hätte keines Rufes bedurft. Ubalis aus der Angst um Thamai geborene Wut war nach dem Schlag verraucht. Noch während sich die mächtige Katze zu Thamai herumdrehte, verwandelte sie sich. Ubali nahm Thamai besorgt in die Arme. Sie blutete aus zwei Schnittwunden am Arm, eine davon ziemlich tief. Sie lächelte ein wenig benommen und rieb ihren Nacken. »Ich hörte sie nicht kommen. Erst als sie hinter mir stand, sah ich ihren Schatten. Da schlug sie bereits auf mich ein. Danach hatte ich alle Hände voll zu tun, sie 68
mir vom Leib zu halten. Ich kam gar nicht dazu, nach einer Waffe zu greifen ...« »Auf dem Schiff sind auch Heilkräuter. Kümmere dich darum, Ubali. Ich werde nach Sythara sehen.« Aber Sythara hatte bereits einen Helfer gefunden. Das Schiff. Die Büsche stützten ihren blutenden Körper. Der Prankenhieb hatte sie schwer verletzt. Äste klammerten sich um ihre Wunden, um sie zu verschließen und den Blutstrom an Hals und Brust zu dämmen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und selbst in dieser Grimasse der Pein noch schön. Zunehmende Schwäche glättete ihre Züge. Ihre Augen richteten sich auf Dragon. »Ich ... mußte ... einfach«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Es war ... stärker als ... ich. Es ... war immer stärker als ich. Aber ich ... bereue nichts ...« Sie wand sich stöhnend. Ihre Augen schlossen sich, und Dragon, der sich zu ihr hinabgebeugt hatte, dachte schon, sie wäre tot, als sie erneut zu sprechen begann. »... Schiff lebt ... höre wie es ... flüstert ...« Während sie mit kaum vernehmlicher Stimme sprach, erschrak Dragon. Die sterbende Königin alterte. Tiefe Falten kerbten ihr wächsernes Gesicht. Ihr Haar wurde weiß. Ihre Haut schrumpfte. Aber gleichzeitig geschah etwas anderes. Auch das Schiff schien erkannt zu haben, was geschah. Und es hatte wohl auch erkannt, was Sythara war – eine Lebenstrinkerin. Vielleicht kannte das Schiff sogar solche Gefühle wie Mitleid. Der sterbende Körper erbebte plötzlich. Die Königin öffnete erneut die Augen. »Welche Kraft ...«, sagte sie. »Gib mir ... ein wenig davon ...« Und das Schiff gab. Die alternden Züge der Königin begannen sich wieder zu glätten. Das Weiß schwand aus 69
den Haaren. Selbst die Blässe wich aus dem Gesicht. Es war so voller Leben, als ob es nicht zu diesem blutigen Körper gehörte. »... Götter ...« flüsterte sie. »Welch ein Gefühl, jung zu ... sein ...« Die Augen brachen. Die Äste schlossen sie. Der Boden öffnete sich und nahm den Leichnam mit hinab in sein Inneres. Während Dragon noch stand und dem Tod nachsann, den er gesehen hatte, riefen ihn die Gedanken des Schiffes. Eine freudige Erregung lag in ihnen, die ihm seltsam anmutete. Dann vernahm er noch andere Gedanken, ebenso vor Aufregung tanzende. »Welche Kraft!« riefen sie. »Welches Leben!« Ein Lachen hallte wider. Es war erfüllt von der Begeisterung für ein neues, unerwartetes Leben. Ubali und Thamai riefen Dragon in die Wirklichkeit zurück. »Ist sie ... tot?« fragte Thamai. Dragon schüttelte langsam den Kopf. »Nein.« Er deutete um sich. »Sie hat jetzt einen neuen Körper.« »Das Schiff?« entfuhr es Ubali. Dragon nickte. Er lauschte und hörte wieder das Lachen. Er sehnte sich plötzlich danach, dort zu sein, woher diese Stimme kam. Nur mit Mühe vermochte er sich loszureißen. Während das Schiff dahinglitt, tauchten plötzlich Sterne am greifbar nahen Himmel auf. Ihr Glanz kam völlig unerwartet, so als hätte jemand einen Vorhang zur Seite geschoben. Es war ein atemberaubender Anblick – in allen Farben funkelten sie, so hell, als wäre nichts zwischen ihnen und den Menschen. 70
»Das ist nicht unser Himmel«, murmelte Dragon. »Du hast recht, Ubali. Das muß ein Tor sein, aber eines, das nicht auf eine andere Welt führt, sondern direkt in den Kosmos, in die Leere zwischen den Sternen. Die Götter mögen wissen, warum es sich aufgetan hat. Und warum ausgerechnet hier auf dieser unseligen Insel. Vielleicht sind seit jener großen Katastrophe, die in meinen Tagen geschah, diese Kräfte noch immer nicht zur Ruhe gekommen ...« In Dragon rief dieser Anblick längst vergessen geglaubte Erinnerungen wach. Es war, als ob er durch ein Teleskop in den Himmel blickte, oder, mehr noch, durch das Bullauge eines Sternenschiffs. Er ballte unwillkürlich die Fäuste. Es schien so viele Wege durch den Raum zu geben. Gäbe es nur einen durch die Zeit ... Nach einer Weile wurde noch etwas anderes sichtbar: eine düster glühende riesige Sonne, deren Scheibe von der doppelten Größe des Mondes sein mußte. In ihren Schein war die Insel getaucht. Alle, auch das Schiff, spürten sie, daß sie sich dem Mittelpunkt dieses kosmischen Tores näherten. Das Schiff zitterte, aber es glitt weiter vorwärts, als Dragon es befahl. Plötzlich erreichten sie den Rand eines riesigen Kraters, den nicht einmal der Glanz der roten Sonne aufzuhellen vermochte. Mit einem schrillen Laut panischer Angst kippte das Schiff unter ihnen weg. Doch im nächsten Augenblick griffen die Äste nach ihnen und hielten sie fest. Das Schiff stürzte nicht. Es schwebte wie von magischer Hand getragen über diesem Abgrund endloser Schwärze. 71
Alle Laute hatten ein Ende – die ferne Brandung, der Wind, das Ächzen und Scharren des Schiffes. Sie schwebten in vollkommener Stille. Dann begann der Alptraum.
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7.
Kleine Punkte lösten sich aus der riesigen Scheibe der roten Sonne und kamen herab. Während sie näherkamen, sah Dragon, daß sie Flügel hatten, aber daß sie keine Vögel waren. Sie verschwanden einen Augenblick in kosmischer Dunkelheit. Erst nach einer Weile sah er sie erneut – als sie das Schiff fast erreicht hatten. Ihre Augen glühten im Widerschein des roten Lichtes. Ihre schlangenartigen Hälse pendelten während des Fluges. Die mächtigen Reptilienflügel peitschten die Luft. Ein plötzlicher Wind wirbelte über das Schiff. Das erste der Wesen landete mit einem schrillen Laut der Wut. Das Schiff erzitterte unter seinem Aufprall. Ein langgestreckter wurmartiger Körper schob sich auf unzähligen kurzen Beinen auf ihn zu. Ein Rachen tat sich auf, und eine gespaltene Zunge zuckte ihm entgegen. Er riß Almunir aus dem Gürtel. Ubali war plötzlich neben ihm und gab ihm den großen Drachenschild. Aus den Augenwinkeln sah Dragon Thamai hinter einigen Stämmen Deckung suchen und das Blasrohr an den Mund setzen. Aber es gab keine Deckung. Das Schiff erbebte mehrfach, als weitere der Bestien landeten. Dragon und Ubali wichen in den dürftigen Schutz der Stämme des Mastes und der Deckaufbauten zurück. Dann gab es kein Zurückweichen mehr. Rücken an Rücken mit Ubali und Thamai sah er sich dem Tod gegenüber. Das ganze Deck wimmelte. Ständig kamen neue Körper herab. Einer prallte gegen seinen Schild. Almunir zuckte vor und 73
sank tief ein. Die Kreatur fiel kreischend. Zwei weitere fielen unter den Hieben des Schwertes. Auch das Schiff kämpfte. Äste griffen nach den Bestien und schleuderten sie über Bord, wo sie mit gebrochenen Flügeln in den endlosen Abgrund fielen. Thamais Blasrohrpfeile konnten den Panzer der Angreifer nicht durchdringen. Sie richtete ihr Augenmerk auf die offenen geifernden Rachen, in denen das Gift innerhalb weniger Augenblicke wirkte. Ubali hatte alle Hände voll zu tun, die Heranstürmenden von sich und Thamai abzuwehren. Die Stämme boten nur ungenügend Deckung. Eine der Bestien unterlief sein Schwert, bevor er es aus dem Körper eines verendenden Angreifers reißen konnte. Mit der Linken umklammerte er den Hals. Aber er konnte nicht verhindern, daß sich die Zähne in seinen Arm gruben. Mit einem wütenden Aufschrei hieb er den Hals durch. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Thamai das Blasrohr fortgeworfen hatte und sich mit dem Dolch zur Wehr setzte. Mit kräftigen Hieben verschaffte er sich Luft und warf Thamai sein Schwert zu. Bevor die nachfolgenden Ungeheuer über ihre gefallenen Artgenossen klettern konnten, um erneut auf ihn einzustürmen, hatte seine Gestalt sich verwandelt. Ein Schwarzer Panther sprang unter sie und hielt blutige Ernte. Aber es floß auch ihr Blut, und ihre Kräfte schwanden. Thamai ging als erste zu Boden. Der Panther sprang über sie, um sie mit seinem Körper zu schützen. Er riß zwei weitere Angreifer zu Boden, dann schlugen Zähne in seine Flanken. Mit einem grollenden Brüllen wirbelte er herum. Ein weiterer verbiß sich in seinem Rücken. 74
Dragon kam ihm zu Hilfe und hieb auf die Bedränger ein, deren Kiefer sich im Tod lösten. Aber Ubali hatte schwere Wunden. Seine Bewegungen waren langsam. Er begann sich erneut zu verwandeln. Dragon hielt den Schild über ihn und Thamai. Einen Augenblick hielten sie wankend stand. Dann nahm Ubali den Schild, und Dragon riß mit der freien Linken seinen Dolch aus dem Gürtel. Aber zuviel seines Körpers war nun ungeschützt. Zähne gruben sich in seine Schulter. Der Aufprall ließ ihn fast zu Boden taumeln. Rasender Schmerz durchfuhr ihn. Er ließ den Dolch fallen und packte den kalten, schuppigen Körper und riß ihn von sich. Einem weiteren gelang es, unter Almunirs Streichen durchzuschlüpfen und sich im Schenkel des Atlanters zu verbeißen. Klauen rissen tiefe Wunden. Aufbrüllend ließ er das Schwert los und griff mit bloßen Händen nach seinem Widersacher. Nur die ungeheure Lebenskraft, die ihm Vitu gab, ließ ihn wie einen Fels in der geifernden Horde stehen, während er die Kiefer des Rachens öffnete und das Tier von sich schleuderte. Einen Augenblick lang sah er zwei durchscheinende Gestalten über dem Schiff schweben. Athelaine und Kelamon. In ihren Gesichtern war Entsetzen. Dann verdeckten die immer noch herabflatternden Tierkörper sie. Er griff blind nach seinem Schwert. Ein neuer Ansturm ließ ihn zurücktaumeln. Er stolperte über einen reglosen Körper – Thamais Körper. Nur mühsam gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben. Nicht nur körperlicher Schmerz raste in ihm. Mehrere der Bestien hatten sich in Thamai verbissen und rissen sie auseinander. Neben ihr ging Ubali in die Knie, bedeckt mit dreien der kreischenden flatternden Kreaturen. Überall war Blut. 75
Mit Almunir in beiden Händen stürzte Dragon auf den sterbenden Ubali zu und hieb auf die mörderischen Ungeheuer ein. Aber es war zu spät. Ubali, sein treuester Begleiter auf seinen Wegen durch Welten und Reiche, lebte nicht mehr. Wie Aasgeier flatterten die Tiere herab und stürzten sich auf die Leichen der Freunde. Rote Schleier wogten vor Dragons Augen. Seine Abwehr erfolgte instinktiv. Vitus zähes Leben hielt ihn aufrecht. Almunir zuckte rötlich auf und ab trotz Erschöpfung und Schmerzen. In Dragons Zügen war unmenschlicher Grimm, in seinen Augen die Vorahnung des nahen Todes. Aber keine Furcht. Er schwankte. Zwei der Bestien stießen im Flug auf ihn herab und rissen ihn zu Boden. Während er fiel, fraßen sie sich an seinem Körper fest. Vergeblich hieb er mit dem Schwert nach ihnen. Kiefer schnappten nach seinem Arm. Almunir entfiel seiner kraftlosen Faust. Er starrte in die rote Sonne, während er starb. Noch immer kamen Schwärme von diesen Wesen herab. Aber sie kümmerten sich nicht mehr um das Schiff. Sie flogen daran vorbei, auf die Sonnenstadt zu. Dragon ahnte, daß sie sich nicht mit den Leichen zufriedengeben würden. Eine ganze Welt wartete auf ihren Hunger. Die Gedanken des Schiffes hüllten ihn tröstend ein und machten den Schmerz unbedeutend. Er fühlte, er wußte, daß das Schiff auf ihn wartete. Der Boden öffnete sich, und er sank in die dunklen schützenden Eingeweide des Schiffes.
76
8.
Amee unterdrückte das Grauen. Sie starrte auf Orcos‘ Hände, auf die zu Krallen gekrümmten Finger, die beschwörend erhoben waren. Worte kamen halblaut von seinen Lippen. Zauberei in Myra! Die dunklen Kräfte, die Romon sie zu meiden und zu verabscheuen gelehrt hatte, standen nun in ihren Diensten. Sie bekämpfte Magie nicht mit Vernunft, sondern mit Magie. Aber sie wußte auch, daß es keine andere Wahl gab, daß ihr Thron wankte und verloren war, wenn Dragon nicht bald zurückkehrte. Sie wollte ihn halten. Sie mußte ihn halten. Um jeden Preis! Es hatte bereits Opfer gekostet – gewaltige Opfer. Mehrere tausend Soldaten waren tot. Zahllose Opfer hatte die Seuche gekostet. Noch immer brannten Seuchenschiffe an den Küsten. Aber der eine, der für all diese schrecklichen Dinge verantwortlich war, der Meister der Dämonen, befand sich nun in ihrer Gewalt. Nicht Vernunft triumphierte über ihn oder gar Kraft, sondern seine eigenen dunklen Geheimnisse – Zauberei. Rachmuds Liebeszauber, um genau zu sein. Sie wußte nicht, wie lange die Wirkung anhielt. Kyrella hatte von zwei Tagen gesprochen. Aber Amee wollte sichergehen. Sie wußte auch nicht, wie lange das Wasser selbst potent blieb. Es würde jedenfalls für sieben oder acht Tage reichen, wenn sie sparsam und zielbewußt damit umging. Solange würde ihr Orcos in übernatürlicher Leidenschaft zugetan bleiben. 77
Und was dann? Maratha mußte einen Ausweg finden. Inzwischen galt es, die Furcht zu bekämpfen und die Zeit zu nützen. Der Seuche galt ihr erster Gedanke. »Krankheiten«, hatte Orcos gesagt, »sind nur Dämonen. Und ich bin ihr Meister.« Sie war keine wirkliche Krankheit. In seinem Liebeswahn hatte Orcos ihr gestanden, daß diese Seuche das Werk seiner Kräfte war, daß sie nur in den Gehirnen der Menschen existierte, daß sie krank wurden, weil sie es sich einbildeten – weil jemand wollte, daß sie es sich einbildeten. Es bedürfe nur einer Beschwörung jener Mächte, und die Menschen würden aufhören zu erkranken und zu sterben. Diese Beschwörung vollzog sich nun. Das Grauen, das Amee dabei empfand, galt nicht so sehr diesen unirdischen Kräften, die der Magier beschwor, sondern der Unmenschlichkeit des Magiers, der vor solchen Mitteln nicht zurückschreckte, um seine Pläne zu verwirklichen. Und seine Pläne, das hatte Amee inzwischen erfahren, zielten auf den Untergang Myras – nicht nur der Stadt, sondern des ganzen myranischen Reiches. Was sie nicht herausbekam, obwohl sie immer wieder in ihn drang, war der Grund für seine mörderischen Absichten. Er warf braune Blätter in das Feuer, das neben ihnen auf den Zinnen des Palastes brannte. Gelber Rauch stieg auf, und die Spannung in den Zügen Orcos‘ vertiefte sich. Wie viele Menschen mochten die dämonische Gestalt auf den Zinnen sehen und ihrer Königin fluchen, weil sie sich dieser Kräfte bediente? Bereits jetzt flüsterten 78
Stimmen, daß sie sich mit dem Teufel verschworen habe, um ihren Thron zu behalten. All das Dunkle, wovon Dragon dieses Reich befreit hatte, kehrte nun Schritt um Schritt wieder. Orcos schreckte sie aus ihren Gedanken. »Geliebte Königin, Euer Wunsch ist erfüllt. Niemand mehr wird an der Seuche sterben.« »Ich danke Euch, Meister Orcos«, sagte sie fest und lächelte ihn betörend an. »Ihr beweist mir Eure Gunst wie meine besten Gefolgsmänner. Vielleicht finde ich einen Weg, EurenPlatz auf der Liste der Anwärter auf die Mantelprobe zu verbessern. Vor allem, da ich Eurer Gunst und Eurer beeindruckenden Kräfte noch weiter bedarf.« »Sagt, was es ist, Königin meines Herzens, und es soll geschehen.« Er sah sie mit unverhohlener Leidenschaft an, die ihr das Blut ins Gesicht trieb. Rasch wandte sie sich ab. »Später«, bat sie ihn, so sanft sie es zuwege brachte. »Jetzt gehen andere Dinge vor. Erwartet mich nach Sonnenuntergang mit den anderen in der Audienzhalle. Ich werde Euren Rat und vielleicht Eure Hilfe brauchen.« Er erwiderte ihr grüßendes Nicken mit einer tiefen Verneigung und einem schmachtenden Blick. Fast empfand sie Mitleid mit ihm. Doch sie unterdrückte es rasch. Bald darauf kam ein Bote vom Hafen und brachte die Nachricht, daß ein Wunder geschehen sein müsse. Die Seuche war plötzlich von allen gewichen. Ein paar Worte, ein paar Blätter, gelber Rauch, Willenskraft ... dachte Amee grimmig. Das Entstehen der Seuche mochte nicht mehr Aufwand bedeutet haben. Und doch waren in dieser kurzen Zeit Hunderte daran 79
gestorben. Welch ein teuflischer Zauber! Welch ein teuflisches Gehirn! Das Ende der Seuche wurde wenig später bereits in der Stadt gefeiert. Die Spannung der letzten Tage wich merklich. Myra atmete wieder. Myra lachte sogar wieder! Amee gestattete sich den Luxus, aufzuatmen. Am Abend trat das Konzil der Daikane zusammen. Nun, da El Haleb und Totamas wieder zurück waren, sah sie dieser Zusammenkunft wesentlich mutiger entgegen. Sie würde Orcos als Daikan der Heggaren einsetzen müssen, um ihm ihre Gunst zu beweisen und um ihm jenen Status zu geben, der ihn einen würdigen Anwärter auf die Mantelprobe machte. Vor allem aber, um ihn in Sicherheit zu wiegen, denn manchmal, da glaubte sie, tiefer in seinem Blick, unter den Schleiern der magischen Leidenschaft, Haß zu sehen. Wut über die Vergeblichkeit seines Auflehnens gegen die Droge. Etwas in ihm war wach und frei vom Liebesrausch, das fühlte sie. Sie mußte auf der Hut sein. Da Haleb und Totamas das Konzil bereits unterrichtet hatten, sowohl von den Geschehnissen der letzten Tage als auch von den verzweifelten Plänen der Königin, verlief die Sitzung ohne große Temperamentsausbrüche, wie sonst üblich. Die meisten stimmten der Königin zu. Nur einige murrten, aber Amee glaubte zu erkennen, daß auch sie nur den Schein wahrten. Sie ließen auch durchblicken, daß Amees Ansehen gestiegen war durch ihre umsichtige Bekämpfung der Seuche, der es zu verdanken war, daß die Stadt selbst nicht einen Toten zu beklagen hatte. An Orcos‘ Miene war nicht zu erkennen, was er dachte, fühlte oder plante. Er nahm den Titel eines Daikans des myranischen Reiches mit einem leichten Nicken ent80
gegen. Wenn ihm manches Grinsen und mancher unfreundliche Blick entging, dann allein deshalb, weil er nur Augen für Amee hatte. Aber sie schauderte unter seinem Blick, denn sie spürte, daß ihm wohl bewußt war, welchen Narren sie aus ihm machte. Sie wußte, sie würde es nicht lange ertragen. Grausamkeit widerstrebte ihrem Wesen, selbst wenn sie Grausamkeit damit vergalt. Maratha schüttelte den Kopf. »Er ist immer wach«, sagte sie. »Seit er hier ist, habe ich seinen Geist noch nie ruhen gefühlt, so oft ich ihn auch berührte. Er weiß, daß ihn jemand zu belauschen trachtet ...« »Weiß er, daß du es bist?« fragte Thamai. »Ich glaube nicht, Amee. Aber er ist sehr stark. Und sehr wach.« Amee schüttelte bleich den Kopf. »So gibt es keine Möglichkeit, außer ... Mord?« »Nur Orcos‘ Tod wird Myra freimachen von der Gefahr eines drohenden Untergangs ...« »Kann er wahrhaftig ganz Myra vernichten?« »Hast du vergessen, was mit Parthos Truppen geschah?« »Nein. Wie könnte ich das vergessen?« Sie ballte die Fäuste. »Gibt es keinen anderen Weg?« »Nein«, erwiderte die Seherin. »Er ist hier, um zu vernichten. Er ist wie einer von Cnossos‘ Untoten. Jemand steht hinter ihm, der ihn leitet.« »Wer?« Maratha schüttelte den Kopf. »Das konnte ich nicht erkennen. Noch nicht. Und da ist noch etwas in seinen Gedanken. Etwas, vor dem er Angst hat. Große Angst. 81
Ich muß es herausfinden. Es ist wichtiger als alles andere ... Wie lange kannst du ihn noch halten?« »Sieben Tage. Vielleicht acht ... aber vielleicht irre ich mich auch in der Kraft des Wassers ... Ich habe Angst ...« Beruhigend ergriff Maratha sie am Arm. »Ich werde nicht so lange brauchen. Aber ich muß erfahren, was ihn so in Panik versetzt.« Amee nickte. »Gut. Was willst du tun?« »Ich werde zu ihm gehen. Noch heute nacht.« »Es ist gefährlich«, warnte Amee. »Keine Angst um mich, meine Freundin. Ich habe meine langbewährten Tricks.« Maratha sah. Nicht mit ihren blinden Augen, sondern mit einem inneren Blick, der auf eine seltsame Art auch Geist und Seele zu erkennen vermochte. Sie stand über Orcos‘ Lager gebeugt. Sie spürte, wie sein Bewußtsein wach wurde. Rasch zog sie ihren tastenden Blick von ihm zurück. Es galt nun, vorsichtig zu sein und ihn nicht vollkommen erwachen zu lassen. Amees Bildnis entstand vor ihrem inneren Auge. Als ihr Blick wieder nach ihm griff, sank das Bild mit ein. Orcos seufzte. Das Traumbild wurde kräftiger und nahm ihn mit sich fort, da das Liebeswasser selbst im Traum seine Wirkung nicht einbüßte. Erleichtert erkannte Maratha, daß er sich ganz dem Traum hingab. Vorsichtig drang sie tiefer. Einmal zuckte etwas in ihm zurück vor ihrem suchenden Blick, und er warf sich stöhnend herum. Aber er wurde nicht aus seinem Traum gerissen. 82
Sie glitt tiefer in das schlafende Bewußtsein des Mannes. Träume und Gedanken flüsterten durch sein Gehirn. Ein dunkler Schatten hing über allem. Eine Drohung. Furcht ... Doch darüber schwiegen die nächtlichen Gedanken. Sie mußte ihn wecken. Nun, da sie tief genug in ihm war, würde es ihm schwerfallen, sich aus ihrem Griff zu lösen, bevor sie nicht wenigstens einen kurzen Blick in jene Abgründe getan hatte, aus denen er seine Furcht schöpfte. Wer bist du ? riefen ihre Gedanken. Wovor hast du Angst? Wer hat dich gesandt dieses blutige Werk zu tun ? Was fürchtest du ? Stumm, im Inneren, schrie Orcos auf und erwachte. Er begriff nicht sogleich, was vorging. Wovor hast du Angst? Woher kommst du? rief diese Stimme, die sich nicht ignorieren ließ. »Ich komme ... aus dem Süden ...« krächzte er und preßte die Hände gegen die Schläfen. Doch die fremde Stimme blieb. Mit einem Ruck setzte er sich auf und sah in der Dunkelheit die weißgekleidete Gestalt neben seinem Lager. Aber bevor er sie genauer ansehen konnte, trübte sich sein Blick. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er sank auf das Lager zurück, heftig keuchend. Wer schickt dich? Wer schickt dich? »Die ... Herrin ... des Südens ...« Weshalb? Weshalb ... »Sie ... haßt ... Dragon ...« Wer ist sie? Wer ist sie? »... Kyrace ...« Die quälenden Fragen verstummten einen Augenblick, und Orcos versuchte sich aufzubäumen. Doch der Griff des fremden Geistes wurde fester. 83
Was fürchtest du ? Er wand sich. Was fürchtest du? Er schrie, um diese Stimme zu übertönen, um sie nicht mehr hören zu müssen. Doch sie schnitt unerbittlich durch sein Bewußtsein. Was fürchtest du? Was fürchtest du? Maratha spürte die Wand, die zwischen ihren suchenden Gedanken und seinen Erinnerungen stand. Eine Wand, die ihn hindern sollte, zu verraten, was dahinter war. Eine Wand, die sie überwinden mußte. Mit aller Kraft ging sie dagegen an. Alte Kräfte, wie sie Cnossos dieser Welt vererbt hatte, stemmten sich gegen das Hindernis. Sie spürte, daß Orcos selbst keinen Widerstand entgegensetzte. Dann brach sie durch – und schrie auf! Bilder von schuppigen, fliegenden Bestien lauerten dahinter und füllten den Eindringling mit Entsetzen. Auch Orcos wurde von diesen Bildern überschwemmt, nun da die Wand zerbrochen war. Er schrie auf in panischer Angst, und Maratha hatte alle Mühe, ihn zu halten und sich gleichzeitig dieser entsetzlichen Gedankenbilder zu erwehren. »Die Dämonen ...«, würgte Orcos hervor. »Sie gehorchen ... nicht mehr. Sie kommen ... bald ...« Martha sah es deutlicher, als seine stammelnden Worte es sagten. Die Dämonen zerbrachen ihre Ketten und kamen auf die Erde! Ein unvorstellbarer Gedanke. Woher weißt du es? Nun, da er sich an das Verdrängte erinnerte und mühsam begann, seine Furcht zu beherrschen, antwortete er willig und erleichtert darüber, daß jemand dieses schreckliche Geheimnis teilte. 84
»Ich hörte sie flüstern«, sagte er mit zitternder Stimme. Er, der sich Meister der Dämonen nannte, der sie beschwören und sie sich dienstbar machen konnte, mit Hilfe der alten Formeln und Kräfte, er zitterte bei dem Gedanken, daß sie kommen könnten, ohne daß er sie rief. Wann? »Vor zwei Nächten. Ich horche oft. Sie sagen weise Dinge, die die Menschen nicht wissen ...« Was hast du gehört? »Daß die Erde ihnen gehören würde. Bald. Sehr bald ...« Wann? »Sie sagten es nicht. Ihr Götter ...« Du flehst die Götter an ? »Wenn es je einen Augenblick gab, zu ihnen zu flehen, so ist er jetzt gekommen. Ich bin so hilflos.« Weshalb? »Diese Droge, die mich an die Königin fesselt, sie lähmt meine Kräfte. Ich muß wissen, wann sie kommen. Ich muß wieder hören, was sie sagen!« Ich werde dir helfen. »Du? Wer bist du?« Das ist nicht wichtig. Ich werde dir die Kraft geben. Nach einem Augenblick des Zögerns begann sich Orcos darauf vorzubereiten, einen Weg zu den Dämonen zu öffnen. Alte Worte geisterten durch seine Gedanken, wie sie Maratha aus uralten Erinnerungen bekannt schienen. Beschwörungen entstanden daraus und füllten seinen Geist mit einem unirdischen Rhythmus. Kräfte flossen in eine Richtung jenseits aller Abgründe. Maratha gab ihre dazu. Sie spürte, wie sich eisige Türen öffneten, die in Leere und Schwärze führten, in kosmische Meere ohne Ufer. 85
Schreien und Kreischen erfüllte diese Leere und Finsternis, in der eine düstere rote Sonne glomm. Es waren bestialische Laute, voll Gier, Wut und grausamer Erwartung. Das mußten Onahans Geschöpfe sein! Orcos verstand diese kreischenden Stimmen. Für ihn waren es Worte, Rufe ... »Sie wollen nur Blut«, würgte er hervor. »Ihr ganzes Denken ist nur Blut. Alles Blut. Es muß ganz nah sein ...« Wie nah? fragte Maratha. »Ich weiß es nicht. Morgen ... In den nächsten Tagen ... Vielleicht noch heute ... vielleicht in diesem Augenblick ...« Die letzten Worte schrie er fast. Kannst du sie nicht auf halten? »Nein! Einen vielleicht. Zwei ... mag sein, wenn ich keinen Fehler mache. Ein Fehler kann das Ende sein. Aber die sind Tausende. Sie warten auf das Blutfest ...« Das Blutfest? »Das ist der Untergang der Welt.« Furcht griff auch nach Marathas Herzen. Der Strom ihrer Kraft versiegte, und die eisigen Türen ins Reich der Dämonen schlossen sich. Die Gedanken der Seherin waren chaotisch. »Laß mich nicht allein«, baten Orcos‘ Gedanken. »Vielleicht können wir gemeinsam etwas tun ...« Aber Maratha hatte ihn bereits verlassen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit schritt sie aus dem Raum. Er starrte hinter ihr nach, wach und totenbleich. Eine Bewegung ließ ihn herumfahren. Die wohlbekannte Gestalt Oduls, den er noch wenige Tage zuvor beschworen hatte, schwebte mitten in der Kammer und funkelte den Meister der Dämonen an. Er war durchscheinend, geisterhaft. Seine Klauen schlugen 86
nach Orcos, der zurücktaumelte und sich wieder aufrichtete, als er erkannte, daß der Dämon nicht stofflich war und ihm nichts anzuhaben vermochte. Eine deutliche Drohung ging von der Kreatur aus, bevor sie verschwand. Orcos sank bleich zurück. Sie waren bereits hier, aber noch nicht stark genug. Es gab kein Entrinnen mehr.
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9.
»Dragon. König Dragon«, flüsterten körperlose Stimmen in und um ihm. Er spürte Kälte um sich und zog sich davor zurück, aber er fühlte Kraft in sich wie nie zuvor. Der Kampf war noch nicht zu Ende. Dann erkannte er, daß er keine Augen besaß. Er war blind. Doch in sein Erschrecken griff eine helfende Kraft und führte seinen Geist zu tausend Augen, die nicht Augen waren, und zu tausend Ohren, die nicht Ohren waren, zu tausend Händen, die keine Hände waren. Er sah und hörte und empfand. Er blickte um sich auf seinem mächtigen Körper, der unter der roten Sonne in der Leere schwebte, und sah das krabbelnde Ungeziefer, das in Schwärmen aufflog und mit kreischenden Lauten um ihn wogte. Viele lagen erschlagen auf ihm. Er wußte plötzlich, wo er sich befand. Im Schiff! Er war das Schiff! Oder wenigstens ein Teil des Schiffes ... »König Dragon!« Die Stimmen drangen wieder in sein Bewußtsein. »Ubali!« rief er. »Thamai!« »Wir sind hier, König.« Freude war in den Stimmen. »Wer noch?« »Ich, Sythara!« »Wir.« Keine Erklärung folgte diesem Wort. »Sind wir tot?« fragte Dragon. »Offenbar nicht«, antwortete Thamai nach einer Weile. Er war nicht sicher, ob sie es war. Die Stimmen klangen verändert. Es waren keine Stimmen, nur Gedanken. 88
»Wir leben!« sagten starke Gedanken und schwelgten in dem unvergleichlichen Gefühl, bewußt zu sein. Sie lebten. Sie waren das Schiff. Ihr Ziel war – Danilas Welt. Lange Zeit war die Dunkelheit des Nichts um sie, und die Kälte, die unberührt blieb vom fernen Licht der Sterne. Aber Zeit bedeutete nichts für das Schiff, nichts für sie. Sie schlummerten in der Wärme ihrer Erinnerungen. Dann war wieder Wasser unter ihnen, belebte die Wurzeln ihres Kiels und ließ das Schiff erblühen in einer Blütenpracht unter einem blauen Himmel. Sie waren am Ziel. Diese Sonne, diese Luft, dieses Wasser und diese Erde waren die Elemente, in denen der Samen solcher Wesen wie das Schiff gedieh. Hier war seine Heimat. Sie segelten durch die stillen Wasser des Südmeeres, kreuzten vor den Inseln der Feuerberge, tanzten auf den himmelhohen Wogen des stürmischen Westmeeres – eins mit den Elementen. Und doch nicht eins. Das Wasser duldete das Schiff. Die Luft duldete, es. Die Sonne und die Erde duldeten es, erfreuten sich an seiner Vollkommenheit. Es erinnerte sie an Dinge, die fern lagen, an eine Zeit der Größe und Freiheit, aber auch der Furcht und des Chaos. Aber einer schwelgte in keinen Erinnerungen. Die Welt war reingewaschen worden von den Geschöpfen der Epoche des Chaos. Die Vergangenheit war versiegelt mit ehernen Gesetzen, die die Elemente banden. Er war Vesta, der Herr der Elemente. Ihm war alles Untertan. Bis auf dieses Schiff! 89
Er sandte Vögel mit einer Botschaft. Und das Schiff gehorchte. Es nahm Kurs auf die Insel des Namenlosen. Zweimal begegneten ihm Schiffe der Menschen, doch keines beachtete es. Keines schien es zu sehen. Schließlich erreichte es die Insel und lief in einen Hafen ein, zu dem die Vögel es geleiteten. Dort griffen seine Wurzeln nach dem Boden und verankerten es. Vesta erschien in Gestalt einer Göttin, in strahlendes Licht getaucht. »Höre mich an, Geschöpf Vitus«, sprach sie. »Du kommst von weit her. Aber deinesgleichen wie alle wilden Geschöpfe der Elemente starben, als meine Ordnung wieder über die Welt kam. Du bist ein Geschöpf des Chaos. Hier ist nicht mehr deine Heimat.« »Es war ein weiter Weg«, sagte das Schiff. »Wir sind müde.« »So ruh dich aus. Zeit bedeutet nichts. Eine Weile werde ich dulden, daß du bleibst. Du magst mir von dir berichten, von deiner langen Fahrt. Ich weiß, daß Dragon dich wachsen ließ. Nur er besaß deinen Samen. Berichte mir, wie es ihm ergangen ist, und ob er seinen Traum gefunden hat ...« »Wir sind Dragon«, erwiderte das Schiff. »Was bedeutet das?« »Ich fürchte, ich weiß, was es bedeutet«, sagte eine Stimme. Eine hochgewachsene Gestalt stand in der Bucht. Sie war nicht genau zu erkennen, doch konnte man sehen, daß sie in einen langen Mantel gehüllt war, der seltsam schillerte, als der Wind ihn bewegte. In manchen Augenblicken war er völlig unsichtbar. »Du hier?« fragte die Göttin. »Ja, ich bin zurück. Dieses Schiff ist der Grund dafür. Es fand den Weg durch den Kosmos. Es war ihm ein bes90
serer Helfer als ich. Aber es mag sein, daß er dennoch meiner Hilfe bedarf.« Zwei Gestalten tauchten hinter dem Sprecher auf, ein junges Mädchen und ein junger Mann. Sie waren nackt bis auf die Amulette, die an goldenen Ketten um ihren Hals hingen. Freudiges Erstaunen war in ihren Gesichtern, als sie das Schiff bemerkten. »Sieh, Athelaine, das Schiff!« rief der Junge aufgeregt. »Zürnst du uns, Meister, daß wir zu spät kamen?« »Nein ...« »Deine Boten sind nicht unfehlbar, wie ich höre«, stellte die Göttin ironisch fest. »Auch mein Handeln nicht«, stimmte er ohne Reue zu. »Aber wir sind keine Sterblichen, um an Gefühlen der Schuld zu kränkeln. Du bist frei, und ich habe neue Einsichten und Ideen. Beides verdanken wir Dragon. Du hast vermocht, so etwas wie Dankbarkeit zu heucheln, und die Sterblichen sind Gefühlen, wenn sie dazu mit Schönheit verabreicht werden, nur allzu leicht ein Opfer. Ich wünschte mir, einen Gefährten wie ihn an der Seite zu haben. Deshalb bin ich hier.« »Hier suchst du ihn? Bei mir?« »Nein, Vesta. Nicht bei dir. Er ist nicht der Mann, den deine Reize ketten könnten. Und wie alle freien Geister haßt er eherne Gesetze, die alle Phantasie ersticken. Bei dir würde er verlernen zu träumen. Ich könnte ihm ein wenig der Freiheit bieten, von der er träumt. Er ist hier auf diesem Schiff. Besser noch, er ist dieses Schiff. Onahans Kreaturen töteten seinen Körper.« »Onahans Kreaturen sagst du? Weshalb?« »Die Erde hört auf zu bestehen. Viele Türen sind offen. Sie werden reiche Beute haben. Wenn du erlaubst, werde ich nun an Bord gehen.« 91
»Wenn du erlaubst, werde ich bleiben und sehen, was deine Kräfte vermögen.« Der Verhüllte nickte nur. Begleitet von seinen beiden Boten, stieg er an Bord des Schiffes, das hilfreich seine Äste senkte. »Ihr seid Dragon?« fragte er. »Und wer noch? Meine Boten berichteten von vier Menschen, die sie zuletzt an Bord gesehen hatten,« »Wir sind Ubali«, antwortete das Schiff. »Ubali, der Paladin?« unterbrach es Vesta. »Wir sind Ubali der Paladin des Lebensgeistes. Wir sind Thamai. Und wir sind Sythara, die Königin der Sonnenstadt.« »So sind sie alle bei dir«, sagte der Verhüllte zufrieden. »Wir sind alle eins«, erwiderte das Schiff. »Wo sind ihre Körper?« »Sie sind ohne Leben. Sie sind in mir, Nahrung für mein Wachsen.« »Kennst du mich?« »Wir kennen dich. Du bist der Namenlose.« Der Verhüllte nickte. »Ich werde jetzt eins sein mit euch. Habt keine Furcht.« Das Schiff öffnete sich ihm. Das verschmolzene Bewußtsein der vier Menschen war der Geist des Schiffes. Es war geboren worden, als Dragon es schuf. Es besaß keine eigenen Erinnerungen, die weiter zurückreichten als bis an die Fahrt zur Sonneninsel. Aber nun war es im Besitz von Erfahrungen und Erinnerungen, kannte große Teile der Erde und Danilas Welt und wußte die tiefsten von Dragons Erinnerungen. Es kannte Atlantis! Das Schiff selbst besaß keine Intelligenz. Es war nur eine Pflanze. Aber es vermochte Intelligenz an sich zu binden. 92
Dragon! Wir sind hier. Wir sind Dragon! erwiderte das Schiff. Aber der Namenlose ließ sich nicht beirren. Er wußte, er mußte ein einzelnes Bewußtsein wecken, das in anderen aufgegangen war, aber das sich vielleicht noch erinnerte. Dragon! Wir hören, sagte das Schiff ungeduldig. Dragons Gesicht drang in das Bewußtsein des Schiffes, eindringlich, beschwörend. Widersprüche begannen sich in den Gedanken des Schiffes zu erheben, und langsam, unendlich langsam erinnerte es sich, daß es nicht ein Wesen war, sondern fünf. Der Namenlose verstärkte seine Gedanken, sein Rufen. Das Schiff schwieg, aber eine andere Stimme antwortete: Dragon? Ubali! rief der Namenlose. Thamai! Stimmen flüsterten, fragend, nachdenklich. Und schließlich eine, zögernd und stockend: Ich ... bin ... Dragon. Dann eine zweite, rascher: Ich bin Ubali. Und ich Thamai. Sythara? fragte der Namenlose. Es kam keine Antwort. Erst als Dragon, Thamai und Ubali ebenfalls nach ihr riefen, sagte das Schiff: Wir hören euch. Versucht nicht, uns zu trennen. Es würde den Tod bedeuten. Für dich oder die Königin ? Sytharas Stimme kam schwach wie aus weiter Ferne: Für mich. Ich brauche seine Kraft. Laßt mich leben ... Es wird für eine Ewigkeit sein. Ja, auch für eine Ewigkeit. Nur leben ... leben ... Und ihr? fragte der Namenlose. 93
Gibt es noch Leben für uns ... außerhalb ... allein? fragte Dragon. Nicht nur Leben, sondern auch die Wahl, wie es gelebt wird, erwiderte der Namenlose. Und wo? Es klang hoffnungsvoll. Vielleicht auch das. Unsere Körper? Neue warten auf euch. Was bist du? Ein Gott? Ein Magier? Er ist ein Narr! dröhnte Vestas Stimme in ihre Gedanken. Ein mächtiger Narr und ein Frevler! Anerkennung lag in der Stimme. Der Namenlose lachte zustimmend. Und alle Schöpfung ist Narrenwerk! Die Kräfte des Universums waren sein Stoff. Die Geister der Elemente seine Gehilfen. Mit ihnen schuf er in weniger als einem Tag drei Körper aus den Erinnerungen der drei Menschen. Sie waren perfekt und ohne Makel. Selbst Vitu, der Lebensgeist, war neidisch auf dieses Werk. Als alles bereit war, gab das Schiff die drei Menschen aus seinem Bewußtsein frei. Sie kehrten heim in ihre Körper.
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10.
Es war wie ein Erwachen aus einem wundersamen Traum, ein Emportauchen aus fremden, unbegreiflichen Bildern, deren Logik vergessen war. Bizarre Erinnerungen blieben in jedem von ihnen, Erinnerungen aus dem Leben der anderen, Bilder aus dem alten Atlantis, aus Shi-but, aus den Tempeln der Sonnenstadt, aus den Augenblicken der Wiedergeburt einer Vitu-peri; bizarr – weil diese Dinge Fremdkörper waren, eingebettet in den eigenen Erinnerungen, fremdartig und widersprechende Gefühle auslösend: Wonnen und Ekel zugleich in den Tempeln der Sonnenstadt; Furcht und atemloses Staunen in den Straßen Muons. Es gab auch solche Erinnerungen, die sie miteinander teilten, gemeinsame Erlebnisse, die jeder ein wenig anders empfunden hatte, und die sie nun in innigerer Freundschaft verbanden als je zuvor. Dann das Erwachen – das völlige Erwachen und Lösen voneinander. Der Genuß einer vergessenen Freiheit, vergessener Sinne, vergessener Empfindungen, vergessener Kräfte und Schwächen eines eigenen Fleisches, das mit jeder Bewegung fühlen ließ: ich bin! Dieser wundersamste Kerker der Schöpfung! Dragon öffnete die Augen – nicht jene Nicht-Augen des Schiffes. Er spürte das Heben der Lider, den Schmerz des Lichtes, der ihn blinzeln ließ. Er fühlte die Wärme der Sonne. Er roch den Duft von einer Fülle von Pflanzen. Das alles verwischte die düsteren Erinnerungen an den Tod. Er setzte sich auf, genoß die ureigene Bewegung, diesen Luxus eigener Muskeln und Sehnen. 95
Er saß auf einem Lager aus seidenen Decken in einem Raum, der mit kostbaren Teppichen ausgestattet war. Bilder von fremdartigen Wesen, Landschaften und Gebäuden hingen an den Wänden. Keine Gemälde, sondern echte Wiedergaben mit unbekannten Techniken. Er stand auf und betrachtete sie genauer. Er versuchte sie mit alten atlantischen Erinnerungen zu vergleichen, doch sie blieben ihm alle fremd. Paradiesische Stille war um ihn, nicht die kosmische Stille, die irgendwo in seiner Erinnerung war, sondern die eines Sommertags, mit den wohltuenden Geräuschen von Wind und Leben. Er sah an sich hinab. Er trug eine Tunika. Neben seinem Lager standen Sandalen. Sein Körper war unverletzt. Einige Narben waren zu erkennen – alte Narben, keine von Wunden, die die Ungeheuer auf dem Schiff geschlagen haben mußten. Er fühlte keinen Schmerz, nur Wohlbehagen. Gegenüber an der Wand stand eine kostbar verzierte Truhe. Neugierig untersuchte er sie. Als er sie an einer bestimmten Stelle berührte, sprang sie auf. Nirgends vermochte er jedoch ein Schloß zu entdecken. Mehr jedoch als dieses Phänomen interessierte ihn der Inhalt der Truhe: ein blauer Umhang mit dem Drachenemblem – sein Umhang! Darunter sein Schild und Almunir, das Schwert mit den magischen Kräften Vestas. Der Umhang war ohne Risse und Kampfspuren, ebenso der Schild. Nur das Schwert besaß Kerben. War der Kampf unter der roten Sonne nur etwas aus seiner Phantasie? Hatte er gar nicht wirklich stattgefunden? Er schüttelte den Kopf. Zu viele wirre Erinnerungen waren in ihm, die so wenig Sinn ergaben. Und zu viele Lücken. Er schloß die Truhe. 96
Dann trat er ans Fenster, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Ein friedliches Bild bot sich ihm. Der Raum befand sich in einem schloßartigen Gebäude, soviel er von hier aus zu erkennen vermochte. Ein Waldstreifen erstreckte sich unter ihm. Jenseits sah er eine Bucht, und am Horizont das Meer. Ein Hauch von Zeitlosigkeit lag über dem Land. Er wandte sich vom Fenster ab. Eine Tür führte in einen Nebenraum. Vorsichtig öffnete er sie. Der Raum sah nicht viel anders aus als sein eigener. Auf der einen Seite befand sich ebenfalls eine breite Liegestatt. Auf ihr lag Thamai. Sie schlief. Leise trat er zu ihr. Frieden war auf ihrem Gesicht. Es war ohne Narben, ohne Wunden – wie auch ihr Körper. Dabei waren Bilder von Bestien, die das Mädchen zerfleischten, von Blut, das aus Kehle und Brust strömte, in seiner Erinnerung. Wer immer sie gerettet und gepflegt hatte, er hatte ein Wunder vollbracht, wie es selbst die atlantischen Ärzte nicht vermocht hätten. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Er drehte sich um und sah die dunkle muskulöse Gestalt Ubalis eintreten. Seine Augen leuchteten, als er Dragon und Thamai sah. »Die Götter meinen es gut mit uns«, sagte er leise. »Die Götter, Ubali?« erwiderte Dragon zweifelnd. »Vitu«, sagte Ubali überzeugt, »hat seinen Paladin gerettet.« »Vitu?« Dragon schüttelte den Kopf. »Vitu vermag keine Wunder mehr zu tun, seit wir der Ordnung auf Danilas Welt zu ihrem Recht verhalfen. Woher willst du wissen, daß dies Vestas Welt ist?« Der Schwarze zuckte die Schultern. »Ich fühle es.« Dragon nickte. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist alles so einfach, wie du sagst. Ich hoffe nur, wir haben 97
nicht begonnen, zu rasch, an Wunder zu glauben. Es erfüllt mich mit Unbehagen, ein Liebling der Götter zu sein.« Ubali lachte unbekümmert. »Weshalb?« Dragon gab keine Antwort. Vielleicht, dachte er, sollte ich versuchen, die Dinge so leicht wie Ubali zu nehmen, nicht immer aufbauen und festhalten wollen. Einfach das Leben als ein Abenteuer sehen. Und es leben um des Abenteuers willen. Dann wäre es ein erfülltes Leben. Aber er war auch ehrlich genug, zuzugeben, daß er keine Stunde bereute. Auch wenn die Götter die Entscheidungen für ihn getroffen hatten. Das Schloß des Namenlosen war ein riesiges Museum. Bilder, Gegenstände, Maschinen von tausend Welten, die er auf seinen Wanderungen besucht hatte. Manches erschien Dragon bekannt, und eines erkannte er wieder: ein Bild zeigte Muon. Unter tausend Städten hätte er die Hauptstadt von Atlantis wiedererkannt. Der Namenlose war also auch vor dem Untergang der atlantischen Insel auf der Erde gewesen. Das Schloß schien verlassen. Sie begegneten niemandem auf ihrem Weg nach unten. Erst als sie in eine gewaltige Halle gelangten, kamen ihnen zwei menschliche Gestalten entgegen. Beim Näherkommen erkannten sie Athelaine und Kelamon wieder. So war doch alles keine Phantasie gewesen, kein Alptraum. Starb die Erde wahrhaftig? Die beiden grüßten freundlich. »Der Meister erwartet euch bereits. Kommt.« Sie führten sie durch die Halle, deren riesige Wände fast ausschließlich mit Zeichen und Symbolen bemalt waren. Undeutlich glaubte Dragon Türen zu erkennen. Aber es blieb keine Zeit für mehr als nur einen flüchti98
gen Blick. Dann erreichten sie durch einen Bogengang einen kleineren, aber immer noch beeindruckenden Raum, dessen Wände vom Boden bis zur kuppelartigen Decke voll von Büchern waren. Obwohl in Muon nur noch eine einzige Buch- und Schriftensammlung bestanden hatte – Büchereien waren seit Jahrhunderten durch Mikrofilmarchive und Datenspeicher ersetzt –, fühlte Dragon ein schmerzliches Gefühl der Vertrautheit. »Jahrtausende von Büchern«, begrüßte sie eine Stimme. Der Namenlose. »Willkommen im Zeitalter der Schrift, dem Beginn aller Zivilisation. Es ist lange her, daß ich das alles mit jemandem teilte. Nehmt Platz.« Ubali und Thamai sahen sich staunend um. Thamai hatte noch nie zuvor Bücher gesehen, und Ubali kannte nicht viel mehr als die Schriftrollen im myranischen Palast. Der Namenlose, noch immer in seinen schillernden, alles verhüllenden Umhang gekleidet, genoß das unbefangene Staunen der beiden. »Diese beiden stehen am Anfang des peinvollen Weges zum Wissen und zur wirklichen Macht über die Dinge. Du stehst am Ende dieser Jahrtausende des Buches. Gäbe es eine symbolischere Stätte unseres Treffens als diese Sammlung aus Hunderten von Welten, deren Türen mir offen sind?« Dragon nickte und bemühte sich, dieses Gefühl des Überwältigtseins abzuschütteln. Er hatte so viele Fragen. Sie nahmen auf hochlehnigen, thronähnlichen Stühlen Platz, in denen Ubali und Thamai wie exotische Edelleute saßen, stumm und würdevoll. Der Namenlose trat zu ihnen. Unter der Kapuze war undeutlich ein Gesicht zu erkennen, doch nur für einen Augenblick. 99
»Wo sind wir, Herr?« wagte Ubali schließlich zu fragen. »Auf meiner Insel«, erwiderte der Namenlose. »Die Insel des Namenlosen«, entfuhr es Thamai. »So ist es meine Welt?« »Ja, es ist die Welt, in der ihr so viele Dinge verändert habt. Wodurch mein Experiment ein unerwartetes Ende fand. Aber das ist kein Vorwurf. Es war nur eines von vielen ...« »Wer bist du?« fragte Dragon. »Ein Neugieriger, der die Geheimnisse der Schöpfung kennt. Diese Antwort wird dich nicht befriedigen, ich weiß. Aber sie ist befriedigender als jene, die ich dir in Alesch gab. Es stimmt, was ich dir damals sagte, und es ist die Wahrheit, was ich dir jetzt sage, aber es gibt noch tausend andere Wahrheiten.« »Seid Ihr ein Gott?« fragte Ubali. »Du würdest mich mit Recht so nennen. Aber du nennst auch Vitu einen Gott, doch er ist nur ein unfreier Geist der Ordnung. Und manchen Sterblichen sind Pflanzen und Tiere Götter. Nein, die Menschen schaffen ihre Götter selbst. Es gibt sie nicht wirklich. Aber was ist schon wirklich? Diese Welt ist wirklich, real. Realität ist ein Wechselspiel zwischen Materie und Energie – zwischen Stoff und Feuer! Der Kosmos ist voll von Wesenheiten. Schöpfung ist ihr Spiel. Aber nicht alle Schöpfungen sind wirklich. Deine Erde, Dragon, war nicht wirklich.« »Meine Erde«, stammelte Dragon, »sie war nicht wirklich? Was bedeutet das?« »Sie war eine Halbwelt, mit einem offenen Auge für die Wirklichkeit. Nur das Universum ist die Wirklichkeit, Dragon. Atlantis hatte den Blick auf das Universum gerichtet. Viele Fäden liefen hinaus. Aber Atlantis 100
ist versunken, das Auge geschlossen. Die Wirklichkeit ein Traum. Cnossos, dieses letzte Bindeglied zum Universum, ist tot. Und er hat eine verderbenbringende Saat über die Erde gebracht, aus der nur noch düstere Kreaturen wachsen. Deshalb wird die Erde ausgelöscht!« »Ausgelöscht?« rief Dragon. »Die Menschen mit ihr?« Der Namenlose nickte. »Ja, alle Menschen mit ihr. Sie sind nur Figmente ... einer Phantasie ...« »Deiner Phantasie?« »Ja und nein«, antwortete der Namenlose kryptisch. »Cnossos‘ Kreaturen aber werden Futter für Onahans Dämonen sein!« »Onahan?« »Du bist ihm begegnet«, erklärte der Namenlose. Dragon nickte. »Ich entsinne mich. Ich befand mich plötzlich an einem anderen Ort ... von einem Augenblick zum anderen. Ein Hüne stand mir gegenüber. Er nannte sich Onahan. Er sagte, er wäre älter als die Menschheit und existiere im Kosmos seit der Stunde, da Licht und Dunkel miteinander rangen und das Chaos der Schöpfung begann. Ich empfand Abscheu vor ihm. Gewalt und Haß und Barbarei sah ich in ihm ...« »Was sagte er noch?« fragte der Namenlose interessiert. »Daß wir uns wieder begegnen würden ...« »Sagte er, warum?« Dragon schüttelte verneinend den Kopf. Er versuchte den Zusammenhang zu begreifen. »Onahans Pläne sind auch für mich nicht durchschaubar. Aber er sprach die Wahrheit. Er ist so alt wie das Universum. Er existiert, seit Licht und Dunkel einander bekriegen. Er ist das Dunkel. Seine Geschöpfe sind die Dämonen, die die Herzen der Sterblichen plagen – Gier, Rachsucht, Mordlust ... du kennst sie besser als ich.« 101
»Ja. Doch jene Wesen, die uns auf dem Schiff angriffen ...« »Sie sind seine Geschöpfe. Seine Diener. Dämonen nennen die Menschen sie, die mit den dunklen Künsten vertraut sind und in unseligen Augenblicken auf das alte Wissen stießen, wie man sie rufen kann und in Bann zu halten vermag. Wie man sie sich dienstbar machen kann zu Mord und Gewalt und Macht. Ist eine dieser Türen einmal offen, schließt sie sich nie mehr ganz. Die Erde ist voller Türen, die Cnossos‘ Geschöpfe geöffnet haben – für die Macht des Bösen. Sie werden daran sterben. Es ist mein Wille!« »So liegt es in deiner Macht, die Erde zu vernichten oder bestehen zu lassen?« rief Dragon. Der Namenlose nickte stumm. »Weshalb willst du sie vernichten?« fragte Dragon bestürzt. »Weil sie voll Fäulnis ist und keine Früchte nach meinem Sinn mehr tragen wird. Ein mißglücktes Experiment. Nur eines von unzähligen. Weshalb hängt dein Herz so daran?« »Die Menschen!« stieß Dragon hervor. »Du vernichtest sie bewußt, obwohl sie keine direkte Schuld tragen. Das ist grausam. Ist Grausamkeit nicht einer von Onahans Dämonen?« »Gefühle machen dich blind, mein Freund. Das ist das Los der Sterblichen. Löschst du eine Formel nicht aus, wenn sie falsch ist?« Dragon nickte zögernd. »Diese eine Erde«, stellte der Namenlose fest, »ist nicht mehr als solch eine Formel. Wie auch die Menschen. Sie sind nicht wirklich. Hier hört diese Möglichkeit ihrer Entwicklung auf. Sie verlöschen einfach wie Lichter. Sie 102
hören einfach zu existieren auf. Komm. Du sollst es sehen.« Sie schritten zurück in die große Halle, und nun sah Dragon, daß die Wände tatsächlich Hunderte von Türen besaßen. Durch eine traten sie in einen dunklen Raum, dessen Wände eine samtene Schwärze ausstrahlten. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, begann der Raum in Licht und Farben zu funkeln. Ein Bild entstand, das Dragon vertraut war ... »Es ist soweit«, sagte der Namenlose.
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11.
Maratha eilte durch die Korridore des myranischen Palasts. Ihr Gesicht war grau und verfallen. Trotz ihrer blinden Augen fand sie den Weg mit schlafwandlerischer Sicherheit. Amee erwartete sie bereits ungeduldig in ihren Gemächern. Sie erschrak zutiefst, als sie sah, in welchem Zustand sich die Seherin befand. »Was ist geschehen?« Sie führte Maratha zu ihrem Lager, wo diese sich seufzend zurücksinken ließ. »Onahans Dämonen warten auf uns«, murmelte die Seherin. »Onahan? Wer ist Onahan?« Die Seherin gab keine Antwort. »Was hast du von Orcos erfahren?« drängte sie. »Seine Furcht«, flüsterte Maratha. »Seine Furcht vor dem Ende der Welt ...« Amee wurde bleich. »Das Ende der Welt? Um aller Götter willen, wovon sprichst du?« »Es war uns verheißen, daß Onahans Geschöpfe mit uns zu Gericht gehen werden, an dem Tage, da die Erde untergeht ...« »Wer hat das verheißen, Maratha?« »Es ist eine alte Prophezeiung ...« Amee setzte sich zu ihr und blickte sie mitfühlend an. »Nun muß ich dir Trost geben, meine Freundin. Es gibt kein Zeichen, daß die Erde untergehen wird. Deine Furcht ist Orcos‘ Tun. Er ist stärker als du dachtest. Aber deshalb wird die Welt nicht ...« »Nein!« rief Maratha gequält und warf sich herum. Ihre blinden Augen starrten auf eine Stelle der Wand. 104
Nach einem Augenblick riß sie sich los und wollte sich erheben. Nur mit Mühe vermochte Amee sie zu beruhigen. »Orcos hat selbst Furcht, obwohl er sich Meister der Dämonen nennt. Er hört sie flüstern ...« »Er ist nicht bei Sinnen«, warf Amee ein. Maratha schüttelte den Kopf. »Nein, Königin. Wir hörten sie beide. Tausende. Sie sind ganz nah. Sie lauern überall. Sie warten ...« »Aber worauf?« rief Amee verzweifelt. Ihre Furcht hatte nichts mit diesen Dämonen zu tun, obwohl sie wußte, daß es sie gab, denn sie hatte Odul mit eigenen Augen gesehen. Vielmehr war es Marathas Zustand, der ihre Verzweiflung auslöste. Wenn es Maratha nicht gelungen war, mit Orcos fertig zu werden, dann gab es keine Hoffnung mehr. Wenn der Liebeszauber erst seine Wirkung verlor ... Rasch verdrängte sie den Gedanken. Furcht brachte sie nun nicht weiter. Sie mußte versuchen, Maratha wieder zur Besinnung zu bringen. »... auf die Nacht der Dämonen«, flüsterte Maratha. »Auf den Untergang der Erde ...« »Sicher irrst du dich, Maratha«, versuchte sie beruhigend auf die Seherin einzureden, doch diese schob sie von sich. »Du bist eine Närrin, Amee«, sagte sie barsch. »Du siehst die Zeichen nicht. Du wirst blind sterben – so blind wie meine Augen. Aber ich sehe sie ... hier!« Sie deutete auf die Wand über dem Lager. »Siehst du die Gier nicht in ihren Augen ...« »Oh, Martha ...« Sie versuchte, die Frau an sich zu ziehen. »Orcos quält dich mit Träumen. Es ist nicht wirklich. Ich sehe nichts.« 105
Die Seherin machte sich hastig frei und sprang auf. »Du bist blind! Aber es ist gleich. Es gibt kein Entrinnen!« In diesem Augenblick tönte ein langgezogener Schrei durch die Korridore des Palasts, der sie erstarren ließ. Amee war totenblaß. Es war Orcos‘ Stimme gewesen. Sie hätte diese verhaßte Stimme unter allen wiedererkannt. Sie hatte schrill vor Entsetzen geklungen! »Maratha!« sagte sie hastig. »Wie sehen sie aus? Wie Odul?« »Ja, Amee. Manche wie Odul. Aber sie haben viele Gestalten. Und sie hungern nach Fleisch und Seelen ...« Amee schauderte. Sie dachte an Rachmuds Ende. Sie sah es deutlich vor sich. »Es ist nicht wahr«, flüsterte sie erstickt. »Es kann nicht mit uns allen geschehen.« »Alle Tore werden offen sein, wenn diese Welt vergeht!« »Hör auf!« schrie die Königin. »Du bist irrsinnig. Ich höre jeden Tag Weissagungen. Es sind Lügen oder Zufälle. Ein Scharlatan.« Sie brach ab, als sie erkannte, daß Maratha sie nicht hörte. Die Seherin blickte mit geschlossenen Augen in eine Ferne jenseits dieses Raumes. Ihr innerer Blick wanderte zu anderen Gefilden. Von Amee unbemerkt, hatte sich der Dämon an den Baldachin über dem Lager gekrallt. Er war durchscheinend. Er wartete. Auf das Öffnen der Tür. Die Königin lief aus dem Raum und eilte in ihre Gemächer. Sie befahl Iwa, auf die Seherin achtzugeben. Dann sah sie nach Atlantor, der friedlich schlief. 106
Sie war erleichtert. Aber die Unruhe wollte nicht weichen. Sie sah nach den Wachen vor ihren Gemächern. »Habt ihr etwas bemerkt?« »Seit dem Schreien nichts mehr, erhabene Königin. Es ist alles ruhig. Der Kommandant ist unterwegs, um nachzusehen, was den Mann erschreckt hat.« Sie nickte. Sie kroch auf ihr Lager und lauschte. Der Palast war still. Nach einer Weile vernahm sie die Schritte der Wachen und ihre Stimmen. Seufzend legte sie sich zurück. Alles friedlich. Es hatte aufregendere Nächte in diesem Sommer gegeben. Sicher würde die Welt in einer so friedlichen Nacht nicht untergehen. Marathas Geist fand in die Gegenwart zurück. Der Ausflug in ihre Erinnerungen hatte sie ruhiger gemacht. Sie sah Iwa auf der Bank neben ihrem Lager. Über ihr war der Schatten des Dämons, fester und näher bereits. Sie beobachtete ihn grimmig, sah den Hunger in seinen kalten Augen. Sie fühlte, daß es ganz nah war. Sie würde nicht warten. Sie war immer ihren eigenen Weg gegangen. Sie würde ihn auch diesmal gehen. »Ihr Götter der Dunkelheit«, murmelte sie, »ich komme.« Es war leicht. Ihre Kräfte hatten allezeit Größeres vollbracht, als dieses sterbliche Herz zum Schweigen zu bringen. Es hatte mehr Kräfte bedurft, es all die Jahrhunderte am Leben zu erhalten. Als Iwa sich über die Seherin beugte, um zu hören, was sie murmelte, da sah sie, daß der Körper still lag und daß kein Atem mehr kam. Entsetzt sprang sie auf. 107
Während sie zur Tür lief, fiel ein Schatten über den Raum. Die Lampe flackerte und verlöschte. Iwa verlöschte. Die Wachen im Korridor lösten sich von einem Augenblick zum anderen auf. Im Gemach daneben hörte Amee auf zu existieren. Atlantor verschwand. In den unteren Gemächern verlöschten Haleb und Dajna in einem Atemzug der Leidenschaft. Und Partho in einem der Ruhelosigkeit. Totamas, der König der Iwaren, in feurigen Gedanken an Kyrella. Und Kengis in Gedanken an den Morgen, an dem für ihn die Mantelprobe beginnen sollte. Überall in Myra erloschen Gedanken, Wünsche, Gefühle, als wären sie nur Flammen. Wie ein Bildnis im Sand, über das der ewige Wind seine Dünen treibt. In einem Herzschlag war die Erde leer. Nur die Diener der Dunkelheit warteten in Angst und Schrecken auf das letzte Gericht. Der Dämon sprang kreischend hinab auf das Lager, auf dem die tote Maratha lag. Es war ein Kreischen der Wut. Er war nicht zufrieden, daß seine Beute ihm entgangen war. Mißmutig begann er den Leichnam zu zerreißen. In einiger Entfernung schrie Orcos wieder. Ein Dutzend der schuppigen Gestalten erschien in seinem Gemach, an ihrer Spitze Odul. Sie hatten es nicht eilig, ihren Meister zu töten. Sie nahmen ihm das Leben Stück für Stück. Es waren kleine Stücke. In der Zeitlosigkeit dieser Verdammnis verschwand die Erde. Sie löste sich auf – wie das Gespenst eines Traumes. 108
»Genug!« sagte Dragon schwer und lehnte sich taumelnd an die Wand. Licht flutete durch den kleinen Raum, in dem seltsame Geräte standen. »Ich vergaß«, sagte der Namenlose. »Deine Gefühle. Ihr Sterblichen wißt nicht, welche Grenzen sie euch auferlegen.« »Amee«, flüsterte Dragon. »Amee tot ... vor meinen Augen ...« Er ballte die Fäuste. »Und ich konnte nichts tun ...« »Sie war nur ein Pigment der Phantasie. Sie starb nicht ...« Dragon starrte ihn an. Schmerz und Grimm waren in seinen Zügen. Der Namenlose schüttelte, den Kopf. »Du verstehst es noch immer nicht ...« Dragon gab keine Antwort. »Ich glaube, ich werde solcherart nicht viel Freude an deiner Gesellschaft haben«, stellte der Namenlose bedauernd fest. »Komm.« Er führte Dragon in einen anderen Raum, der dem ersten glich. Auch hier begannen sich nach einem Augenblick Bilder zu formen ... Eine Stadt funkelte im nächtlichen Lichterglanz. Fahrzeuge glitten durch die Straßen. Jenseits, auf einem gewaltigen Raumhafen, kamen Sternenschiffe aus dem klaren Himmel herab. Es war eine gewaltige Metropole. Eingebettet in seine Hochhäuser standen uralte Ruinen – Denkmäler vergangener Jahrtausende – im Flutlicht. Dominierend auf einem der Hügel vor der Küste standen die Reste eines Palastes. Davor auf einem Podest eine einsame Sta109
tue aus schimmerndem Metall. Sie stellte einen jungen Mann mit vertrauten Zügen dar. »Myra«, flüsterte Dragon ergriffen. Der Namenlose nickte. »Ein Myra ... in Hunderten von Jahren. Eines, das seinen Aufstieg einem Mann namens Dragon verdankt, dessen Statue vor den Ruinen des alten Palastes steht. Verstehst du nun?« Dragon gab keine Antwort. Er versuchte zu begreifen, aber sein wissenschaftlich geschulter Verstand weigerte sich. Vielleicht wäre es Ubali und Thamai leichter gefallen, mit ihrem Glauben und ihrem magischen Verständnis eine Erklärung zu finden. Und doch – eine Vielzahl von möglichen Welten wäre etwas, das man akzeptieren könnte. Wenn nicht diese willkürliche Hand wäre, die hineingriff und vernichtete oder nach Belieben schuf. Eine unerträgliche Wahrheit, wenn man ein Teil dieser Schöpfungen war. Ein Pigment einer Phantasie ... »Ich sehe, daß Gefühle und Wahrheit einander nicht immer Freunde sind«, stellte der Namenlose fest. »Nein«, sagte Dragon. »Möchtest du vergessen?« Dragon zögerte. Dann sagte er fest: »Nein.« »Du hegst Gefühle, die mich betreffen?« »Ja.« »Welcher Art sind sie?« Dragon ballte hilflos die Fäuste. »Ich kann sie nicht beschreiben ...« Der Namenlose nickte. »Weshalb bin ich hier?« fragte Dragon unvermittelt. »Eine Laune«, erklärte der Namenlose. Dragon starrte ihn an. »Und Ubali und Thamai ... die gleiche Laune?« 110
Der Namenlose nickte. »Ihr habt mehr bewirkt als Sterbliche je taten. Vielleicht schmeichelte es meiner Eitelkeit als Schöpfer ...« Dragon schüttelte den Kopf. »Weshalb hast du in dieser Welt so jämmerlich versagt? Weshalb konnte Vesta mit Hilfe einiger Sterblicher dein Joch abschütteln?« Er starrte den Namenlosen herausfordernd an. »Ich will es dir sagen. Weil sie keine von deinen Träumereien ist, mit denen du spielst. Ich bin sicher, ich würde sie in keiner deiner Projektionskammern finden. Weil sie wirklich ist!« Der Namenlose gab keine Antwort. Heftig fuhr Dragon fort: »Und ich glaube, ich ahne, warum wir hier sind. Du kannst uns nicht einfach auslöschen wie alles andere, weil wir zuviel von der Wirklichkeit in uns haben; Kräfte dieser Welt ...« Der Namenlose nickte ungerührt. »Du ahnst noch nicht die ganze Wahrheit ...« »So sage sie mir!« forderte Dragon. »Sie wird deinen Gefühlen einen schmerzlichen ...« »Unwissenheit ist quälender«, unterbrach ihn Dragon. »Das Chaos, das euch diese Kräfte gab, ist nicht mehr. Ihr habt es selbst beseitigt. Vestas Ordnung kann euch auf dieser Welt nicht mehr dulden. Ihr seid Halbwesen, halbwirklich. Wie das Schiff, das nun zwischen den Zeiten segelt und zwischen den Räumen, für alle Zeiten auf der Flucht vor der Wirklichkeit.« »Mit Sythara«, flüsterte Dragon bleich. »Ja, mit Sythara. Sie wollte leben um jeden Preis. Das gleiche steht euch bevor. Ewige Wanderung zwischen den Zeiten und Welten. Ewige Flucht vor der Realität.« Lange Zeit schwieg Dragon und versuchte das Schicksal zu ermessen, das ihm bevorstand. 111
»Du verzweifelst?« fragte der Namenlose. Dragon gab keine Antwort. »Was schreckt dich daran so sehr?« »Die Einsamkeit«, murmelte Dragon. »Ist es die Unsterblichkeit nicht wert?« »Nein. Niemals.« »Es ist der Drang der Herde«, sagte der Namelose. »Einer von vielen zu sein.« »Ja«, murmelte Dragon. »Es sind die Gefühle, die alles Große zunichte machen.« »Es sind die Gefühle, die alle großen Dinge erträumen und erstreben lassen.« »Auf eine Weise könnte ich dir bieten, was du ersehnst.« Dragon sah den Namenlosen hoffnungsvoll an. »Du könntest es? Wie?« »Ein neues Experiment. Eine neue Erde ...« »In einer dieser Kammern?« Der Namenlose nickte. »Eine Scheinwelt? Ein Traum?« rief Dragon. »Es ist der einzige Weg«, erklärte der Namenlose. »Ihr Götter!« »Sie wird dir nicht fremd sein«, fuhr der Namenlose fort. Eifer war in seiner Stimme. Eifer des Schöpfers, der mit einem neuen Gedanken spielt. »Sie ist in deinem Kopf. Ich werde sie aus deinen Erinnerungen schaffen.« »Meine eigene Traumwelt?« fragte Dragon ironisch. »Das ist für mich der Reiz daran.« »Es ist Irrsinn!« »Du magst es dir überlegen«, erwiderte der Namenlose gleichmütig.
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Nicht nur die Erinnerung, auch Neugier war es, die Dragon schließlich die Entscheidung treffen ließ. Die Entscheidung galt für alle drei, das war Dragons Bedingung. Doch Ubali und Thamai erfuhren nicht die volle Wahrheit. In ihrem Bewußtsein bedeutete sie nichts. Und Dragon war nicht mehr sicher, daß er sie selbst verstand. Er war plötzlich müde und sehnte sich nach dieser Welt, die der Namenlose ihm versprach. »Werde ich mich erinnern?« »Möchtest du es?« »Ich glaube, ja. Für eine Weile wenigstens.« Der Namenlose stimmte zu. »Eines Tages werde ich deine Welt besuchen. Ich besuche sie alle. Was wäre Schöpfung, wenn ich mich ihrer nicht erfreuen könnte? Dann werde ich dich noch einmal fragen, ob du vergessen möchtest. Es wird nicht leicht sein, all diese Erinnerungen herumzutragen. Es ist der Ballast von Jahrtausenden.« »Ich will es versuchen. Laß uns beginnen, bevor ich zu sehr zu grübeln beginne.« Sie traten in die große Halle. Der Namenlose führte sie in eine Kammer, in der die Wände schwarz und leer waren. Bereit für die schöpfende Hand.
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12.
Als er erwachte, waren längst vergessene, aber vertraute Eindrücke um ihn. Ihr Götter! Der Namenlose hatte sein Versprechen erfüllt. Er befand sich in Atlantis. Atlantis existierte wieder – wenn auch vielleicht nur als Pigment einer Phantasie. Im Augenblick machte es keinen Unterschied. Es war die Erfüllung all seiner Sehnsüchte. Er stand vor dem Platz des Riesen. Er starrte verwundert um sich. Statt des Tümpels, in den der Mechanismus den Riesen tauchte, erstreckte sich ein Park exotischer Pflanzen über das ganze Gebiet. Hatte er sich geirrt? Nein. Er erkannte die Archive und Verwaltungsgebäude auf der anderen Seite des Platzes wieder. Nein, es bestand kein Zweifel. Er stand im Zentrum Muons. Ein Muon aus seiner Erinnerung. Der Anblick des schreienden Riesen hatte ihn immer abgestoßen. In diesem Muon schien es ihn nicht zu geben. Er ahnte, daß noch andere Überraschungen seiner harrten, aber daß wahrscheinlich nicht alle angenehmer Art sein würden. Dragon sah sich um. Er war allein. Von Ubali und Thamai keine Spur. Ein Einhorn trat an ihn heran, so daß er den strengen Körpergeruch des Wesens in die Nase bekam. Es blickte interessiert in den Korb, den Dragon bei sich hatte. »Sie haben einen Troll? Dazu kann man Ihnen nur gratulieren.« Erstaunt und erfreut zugleich nahm er wahr, daß er Flotox bei sich hatte. »Sie sind sehr launisch«, erwiderte er und wußte, daß er diesen Augenblick schon einmal erlebt hatte. 114
»Ich werde dir ins Genick spucken, wenn du dein verdammtes Mundwerk nicht zügelst!« schrie Flotox los. »Du denkst, du könntest dir alles erlauben, weil ich schlafe. Aber ich schlafe überhaupt nicht. In den nächsten drei Tagen werde ich kein Wunder für dich vollbringen. Auch nicht das kleinste Wunder, das verspreche ich dir!« »Er scheint tatsächlich ein streitlustiger Bursche zu sein«, meinte das Einhorn und trabte davon. Dragon lächelte. »Oh, Flotox«, sagte er. »Du ahnst nicht, wie gut es tut, dich wiederzusehen!« »Was soll das schon wieder? Wiedersehen?« kreischte der Troll. »Den ganzen Tag marterst du meine Nerven! Zwei Wunder habe ich für dich vollbracht ... kleine, zugegeben. Aber ich habe trotzdem mehr Respekt verdient!« »Sicher«, meinte Dragon glücklich. »Du gibst mir recht?« keifte der Zwerg. »Was ist das wieder für ein neuer Trick?« »Ich brauche deine Hilfe.« »So so.« »Kein Wunder«, sagte Dragon rasch. »Sag mir ... was hatten wir vor? Wohin wollten wir gehen?« Der Troll erhob sich in seinem Korb, und einen Augenblick sah es so aus, als würde er aus seinem blaurot gestreiften Wams platzen. Dann hielt er inne und rieb seine Knollennase. »Du weißt es nicht?« fragte er ungewöhnlich friedlich. »Nein«, gestand Dragon unbehaglich. Der Zwerg setzte sich. »Ich auch nicht. Du hast es mir nicht gesagt.« Er kicherte. Dragon seufzte. Einen Augenblick lang fühlte er sich verloren. Die Erinnerungen waren so vage. Aber er wußte, daß er alles daransetzen würde, daß diese Dimensi115
onsbrücke der Balamiter nicht gebaut wurde und daß Atlantis nicht versank. Diesmal würde es nicht versinken! »Soll ich noch ein kleines Wunder versuchen«, meinte Flotox mitfühlend. Dragons Nachdenklichkeit beunruhigte ihn sichtlich. »Das würdest du tun?« fragte Dragon nicht sehr interessiert. Gerade dieses mangelnde Interesse stachelte den Kleinen an. »Ja, das würde ich tun!« »Welche Art von Wunder hast du dir vorgestellt?« »Daß du dich erinnerst!« »Das schaffst du nicht«, erwiderte Dragon überzeugt. Er wußte, daß er gar keine Erinnerungen an diese Welt besitzen konnte. Oder doch? Hatte die Welt mit ihm begonnen? Oder war er nur in die Haut des Dragon dieser Welt geschlüpft? Besaß der Erinnerungen, die ihm von Nutzen sein konnten? Es war höchste Zeit, daß er in das Botschaftsgebäude zurückkehrte! Der Gedanke war plötzlich da. »Gar nicht schlecht«, entfuhr es Dragon anerkennend. »Ich weiß zwar noch nicht, weshalb, aber wir müssen ins Botschaftsgebäude.« »Na also«, brummte Flotox. »Ich werde Partho sagen, was für ein langweiliger Kerl du bist. Jawohl!« Erst nach einem Augenblick sickerte ein, was der Troll da gesagt hatte. »Partho, sagst du?« »Jawohl.« »Er ist in der Botschaft?« entfuhr es Dragon. »Und du kennst ihn?« »Wie sollte ich sonst wissen, daß er in der Botschaft ist? Ha? Nicht genug, daß ich ständig von Barbaren um116
geben bin, habe ich auch noch den einzigen dummen Atlanter am Hals!« Dragon vermied es, die Frage, wer wen am Hals hatte, genauer zu erörtern. Er war auch viel zu erregt über das Gehörte. Er mußte möglichst rasch die Zusammenhänge erfahren. Der Troll schien guter Dinge zu sein. Das galt es auszunutzen. »In welcher Botschaft ist Partho?« »In der myranischen, wo sonst? Hast du noch mehr so alberne Fragen?« Eine myranische Botschaft! Dragons Gedanken wirbelten. Ein Schatten fiel über die Straße. Dragon sah unwillkürlich hoch. Ein Vampirraumschiff stand bewegungslos hoch über der Stadt, sein schwarzes Metall schien das Licht der Sonne zu absorbieren. Eine myranische Botschaft! Er versuchte sich die Möglichkeiten vorzustellen, die sich daraus ergaben. Wenig später erreichten sie das Botschaftsgebäude. Es war festlich geschmückt. Irgend etwas ging vor, und er mußte schleunigst herausfinden, was. Früher oder später würde er Dinge tun oder erklären müssen. Und was dann? Immerhin, der mißtrauische Troll zweifelte nicht daran, daß er der Dragon war, den er kannte. Das würden wohl auch die anderen tun. War er es nicht auch? Hatte der Namenlose nicht gesagt, diese Welt würde für ihn erschaffen? Aus seinem Gehirn? Welche Erinnerungen besaßen die Menschen um ihn alle? Dieser Partho? Dieser Flotox? Wenn sie Erinnerungen besaßen, warum besaß er keine? Die myranische Botschaft war deutlich genug gekennzeichnet. Als er in den Flügel der myranischen Botschaft abbog, kamen ihm Tobos, Bhutor und Mura entgegen. 117
Die drei begrüßten ihn freundlich. Dragon versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Bhutors Wesen schien in dieser Welt gewandelt. Dazu Mura an seiner Seite. Eines schien klar – hier war nicht sein Platz. Er fand den Gedanken nicht betrüblich. Sein Herz schlug noch immer schneller, wenn er Mura ansah. Sie war die Liebe seiner Erinnerung – selbst jetzt. Aber dazwischen schoben seine Gedanken ein anderes Gesicht mit meergrünen Augen ... Amee! »Dragon!« rief der alte Tobos herzlich und ergriff ihn bei den Schultern. »Du weißt, du warst mir immer wie ein Sohn. Es ist ein guter Weg, den du gehst. Und deine myrnische ...« »Sag ihm, wie der Rat entschieden hat, Tobos«, unterbrach ihn Bhutor. »Es war nicht leicht, sie zu überzeugen«, berichtete Tobos. »Aber der Fortschritt ist nie leicht errungen, und es ist an der Zeit, daß der Rat von den Völkern der Kontinente stärkere Notiz nimmt. Deine Einigung des myranischen Reiches war ein Schritt, der sowohl Beifall als auch Besorgnis unter den Ratsmitgliedern auslöste ...« »Besorgnis?« unterbrach ihn Dragon. »Ja. Es sind Menschen, die Furcht vor den Fortschritt stellen. Es gibt warnende Stimmen, die fürchten, daß diese Völker eines Tages zu mächtig werden und daß Barbarenhorden unsere Insel überfluten könnten. Es ist natürlich absurd, denn es liegen Jahrtausende der Entwicklung dazwischen. Aber das Problem brauchte, den Göttern sei Dank, gar nicht erst erörtert zu werden. Mit einem Atlanter auf dem myranischen Thron ist es nicht relevant. Der Rat beschloß, auch darüber zu beraten, solche Lösungen für die übrigen Kontinente ins Auge zu fassen. Man wird sich nun mit der Erde als Ganzes 118
mehr befassen. Das ist auch dein Verdienst. Jedenfalls akzeptierte der Rat deine Forderungen nach Errichtung einer ständigen Nachrichtenverbindung zwischen Myra und Muon. Die Leitung der astronomischen Station auf dem Ah‘rath wird Bhutor übernehmen. Doch stehen dir oder deinen Bevollmächtigten jederzeit alle Einrichtungen, vor allem die medizinischen Anlagen, zur Verfügung. Ob man auch einen Gleiter zu deiner Verfügung bereitstellen wird, ist noch offen. Auch über Handel und dergleichen muß noch gesprochen werden. Ein Mitspracherecht im Rat allerdings wird nur gebilligt, wenn myranische Probleme zur Diskussion stehen. Damit hast du mehr erreicht als du wolltest. Du bist ein angesehener Mann in Atlantis, auch wenn manche dich verächtlich einen Barbarenkönig nennen.« Er lächelte. »Ich bin noch nicht zu alt für ein Abenteuer. Wenn ich im nächsten Jahr meinen Vorsitz im Rat abtrete, werde ich kommen und mir dein Reich ansehen, mein Sohn. Mögen die Götter ihm einen langen friedlichen Bestand gewähren.« Dragon nickte dankend und stammelte einige Worte des Abschieds. Er war zu verwirrt. König von Myra mit Billigung des Rates von Atlantis! Beide Welten, ursprünglich Jahrtausende getrennt, nun in einer. Welch ein Experiment! Dann dachte er an Cnossos und Balam und die Katastrophe. Hastig nahm er den Korb mit dem Troll von der Schulter und lief hinter den verschwindenden Gestalten her. »Tobos!« Der alte Mann wandte sich um. Bhutor und Mura ebenfalls. »Diese Energieemissionen auf Ero ...« 119
»Stimmt«, erwiderte Tobos nickend. »Wir haben deinen Bericht geprüft und die Entladungen auch entdeckt. Aber sie sind eindeutig natürlichen Ursprungs. Nichts Geheimnisvolles daran.« Ein Alpdruck fiel von Dragon ab. Es sah so aus, als hätte der Namenlose seine Erinnerungen gut gesiebt. Diesmal würde Atlantis nicht versinken! »Auf ein Wort, König.« Er sah auf. Ubali stand vor ihm, erfreut und erleichtert, ihn zu sehen. In seinen Augen war zu lesen, daß auch er sich erinnerte. »Ich habe vieles herausgefunden, das du wissen mußt, mein König. Aber nicht hier.« Er nahm Dragon mit sich in einen der Räume der Botschaft, die für die Gäste des Ostkontinents exotisch ausgestattet worden waren. »Myra ist so, wie es war, als wir es eroberten, mein König. So, als hätten wir es nie verlassen und wären nie in Thamais Welt gelangt ...« »Aber Thamai ist hier?« Ubali lächelte. »Ja, sie ist hier. In jedermanns Erinnerung ist sie seit langer Zeit an meiner Seite.« Er zog etwas aus seinem Gürtel und reichte es Dragon. »Hier. Das ist wichtig. Du mußt es dir ansehen, bevor du morgen im Rat sprichst.« Er zog sich zurück. Dragon sah, daß er einen Mikroleser in der Hand hielt. Er schaltete ihn ein. Er beinhaltete muonische Nachrichten, die einen Gesamtüberblick über Dragons Eroberungszug und Aufstieg zum myranischen König gaben. Er las sie interessiert. Die Geschichte stimmte in vielen Details, doch die Ausgangssituation war verändert. Es berührte ihn seltsam, das zu lesen. 120
Diesen Berichten nach war er, Dragon, seit drei Jahren Leiter der Ah‘rath-Station gewesen. Er hatte ein interessantes Experiment gestartet, indem er Schulen in der Stadt Urgor errichtete und sie von einer Gruppe Atlanter führen ließ, die sich freiwillig dafür zur Verfügung gestellt hatten. In Urgor nannten die Menschen sie die Weisen von Atlantis. Weise kamen auch weiter nach Westen, bis nach Myra, ein Reich, das der kriegerische König Zogor immer weiter auszubreiten gedachte. Hervorgehoben wurde auch die mehr als nur diplomatische Freundschaft zwischen ihm und der Königin Urgors, Amee. Als Zogors Heere Urgor bedrohten und viele der atlantischen Männer in ganz Myra als Ketzer ermordet wurden und außerdem Gefahr bestand, daß selbst die Station nicht von einem Angriff verschont blieb, da sich gewaltige myranische Heermassen auf dem Weg nach Osten befanden, entschloß sich Dragon, einzugreifen. Mit Hilfe Urgors, des Stadtkönigreichs Zunt und des Königreichs Katmahzar gelang es ihm nicht nur, die myranischen Truppen aufzuhalten, sondern selbst bis nach Myra vorzustoßen, um die Gewaltherrschaft König Zogors zu beenden. Amee bestieg den Thron über das neue myranische Reich. Danach kam noch ein ausführlicher Bericht über seine Vermählung mit Amee. Er ließ den Leser sinken. Eine vertraute Stimme erklang. Amee war hier. Er erhob sich und öffnete die Tür. Er blickte in das vertraute, so lang vermißte Gesicht, das ihm freudig entgegenlächelte. Sie drehte sich, funkelnd, in einem der neuen schillernden atlantischen Kleider. Ihre Augen lachten. 121
Was bedeutete es in diesem Augenblick, daß sie nur ein Traum war? Solange er den gleichen Traum erlebte ... ENDE Danksagung Liebe Dragon-Freunde! Heute sprechen wir im Namen der Redaktion und aller Autoren zu Ihnen und müssen Ihnen leider mitteilen, daß der Verlag sich aus kalkulatorischen Gründen veranlaßt sah, die DRAGON-Serie mit dem vorliegenden Band einzustellen. Obwohl eine beträchtliche positive Resonanz vorlag, wie u.a. auch die kürzlich vorgenommene Leserumfrage zeigt, erwies sich letztlich der Kreis der Fantasy-Fans, den aufzubauen und zu erweitern sich besonders Hugh Walker bemühte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt als noch zu klein, um dem Verlag die Weiterführung der Serie zu erlauben. Uns bleibt daher im Moment nichts anderes übrig, als alle Fantasy-Liebhaber auf die neuen TERRA-FANTASYTaschenbücher hinzuweisen, die vierwöchentlich bei PABEL erscheinen, und zu hoffen, daß die Fantasy-Literatur sich bei uns auch bald so durchsetzen wird, wie es vor rund 20 Jahren mit der SF der Fall war – denn dann sind die Söhne von Atlantis noch lange nicht verloren! In diesem Sinne viele Grüße und ein herzliches Dankeschön! Die Redaktion und die Autoren
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