Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität
Ilona Nord
Walter de Gruyter
Ilona Nord ...
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Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität
Ilona Nord
Walter de Gruyter
Ilona Nord Realitäten des Glaubens
≥
Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Practical Theology in the Discourse of the Humanities
Herausgegeben von Bernhard Dressler · Maureen Junker-Kenny Thomas Klie · Martina Kumlehn · Ralph Kunz Band 5
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Ilona Nord
Realitäten des Glaubens Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020555-8 ISSN 1865-1658 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort „Alles nur virtuell! Kein wirkliches, echtes Leben.“ – eine meist abschätzige, manchmal auch beruhigende Charakterisierung medialer Phänomene. Wer solche Aussagen einmal gegen den Strich bürstet, ist schon mittendrin in der Auseinandersetzung um die Bedeutung computervermittelter Kommunikationen für die Realität. Es folgen auf dem Fuß weitreichende Fragen danach, wie wirklich die Wirklichkeit ist und ob Realität und Authentizität weiterhin als schlagkräftige Matadorinnen gegen eine Kultur medialer Kommunikation eingesetzt werden können. Für die Theologie ergeben sich überraschende Perspektiven, denn Medialität wird als einer ihrer integralen Bestandteile erkennbar. Und Virtualität zeigt sich als ein Topos mit theologischer Tradition. Es gehört zu den Kernaufgaben gegenwärtiger Praktischer Theologie, das Verhältnis von Medien und Religion bzw. Theologie zu klären, mediale Phänomene auf ihre religiöse Dimension zu befragen und insbesondere auch umgekehrt: religiöse Phänomene in ihrer medialen Dimension in den Blick zu nehmen. Im Rückblick auf meinen Arbeitsprozess bin auch ich selbst davon überrascht worden, wohin mich das eigene Forschungsinteresse geführt hat. Zunächst stand im Vordergrund, ein mediales Phänomen und seine Bedeutung für moderne Alltagskulturen bzw. deren Relevanz für die Praktische Theologie zu ermitteln. Immer deutlicher wurde im Verlauf des Prozesses aber, dass dies nur die eine Seite der Medaille beschreibt. Die andere ist der Deutung eines ganz eigenen theologischen Gegenstands gewidmet. Meine Beschäftigung mit dem Thema Virtualität lässt sich lesen als Auseinandersetzung mit der Frage nach der Realität des Glaubens, die sich letztlich doch nur im Plural erfassen lässt. Dass Prof. Dr. Wilfried Engemann ein Geleitwort zu diesem Buch verfasst hat, ist für mich eine sehr große Freude. Ich danke herzlich für diese Einführung, in der alle Themenkreise zusammenfassend abgeschritten werden, und darüber hinaus: Es ist doch erst der Leser, der ein Buch durch die eigene Perspektive lebendig werden lässt. Was für ein Glück, ist dieser Leser zudem ein inspirierender Autor! Die Evangelisch-theologische Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster hat diese Arbeit im November 2007 als Habilitationsschrift angenommen; für die Drucklegung ist sie leicht überarbeitet worden.
VI
Vorwort
Prof. Dr. Wilfried Engemann und Prof. Dr. Christian Grethlein danke ich für ihre Gutachten. Prof. Dr. Wilfried Engemann verdanke ich darüber hinaus mehr: eine sachlich hervorragende und persönlich höchst motivierende Begleitung des Vorhabens. Begonnen habe ich mit meinem Projekt am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo ich in den Jahren 2001 bis Anfang 2004 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im kirchlichen Dienst am Lehrstuhl von Prof. Hans-Günter Heimbrock arbeiten konnte. Deshalb möchte ich auch der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, namentlich Oberkirchenrätin Dr. Hanna Zapp, herzlich dafür danken, dass sie mein Habilitationsvorhaben mit dieser institutionellen Förderung auf den Weg gebracht hat. Prof. Hans-Günter Heimbrock danke ich für die Begleitung in den ersten Jahren; die Diskussionen mit ihm und innerhalb der Frankfurter Sozietät waren sehr fruchtbar. Dass diese Arbeit in der Reihe Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs des de Gruyter-Verlags erscheinen kann, freut mich sehr, denn in ihr sind der interdisziplinäre Austausch und die hermeneutische Blickrichtung auf die Praktische Theologie von programmatischer Bedeutung. Prof. Dr. Thomas Klie möchte ich hierfür besonders herzlich danken. Dr. Albrecht Döhnert hat engagiert alle Fragen des Lektorats begleitet. Dr. Frank Kind danke ich für seine Akribie und seinen Einsatz dafür, dass aus dem Manuskript eine Druckvorlage geworden ist. Persönlich zu danken habe ich auch meiner lieben Freundin Dr. Sybille Becker, mit der mich nicht nur wissenschaftliche Projekte verbinden, sondern ein ganzes Stück Leben. Ganz großer Dank geht schließlich an meine Söhne David und Rasmus und an meinen Mann Helwig Wegner-Nord, der meine Gedanken in guten Gesprächen mit vorangetrieben hat und immer mein erster Leser war. Alle drei habt ihr mich arbeiten lassen, auch wenn es viel schöner gewesen wäre, die kostbare Zeit gemeinsamen Lebens zusammen zu verbringen. Damit, aber auch mit vielem anderen, habt ihr mich reich beschenkt! Dem Doktorvater von einst und jetzigen Freund, Prof. Dr. Yorick Spiegel, ist dieses Buch von Herzen gewidmet. Frankfurt, im Juli 2008
Ilona Nord
Inhalt Zum Geleit ................................................................................................................ XI Einleitung ...................................................................................................................... 1 Teil 1 Beiträge zu einem praktisch-theologischen Verständnis virtueller Realitäten ...................................................................................................... 9 1
Annäherungen an ein mediales Phänomen............................................11
1.1 1.2
Simulation I: Mediale Erinnerungskulturen...........................................12 Simulation II: Über das Zusammenwirken von Person und Medium...................................................................................16 Experimentierwelten: Zur Eigendynamik medialer Schöpfungen ..............................................................................19 Spielwelten: Zur medialen Vervielfältigung von Spielmöglichkeiten .............................................................................25 Virtual Communities und die Gemeinschaft der Heiligen ..................31 Die Sichtbarkeit von Widersprüchen durch verlinkte Stücke.............36 Die religiöse Codierung der Welt filmisch inszeniert: „The Matrix“...............................................................................................36 Die Herausforderung: Virtuelle Realitäten als interaktive Kommunikationsräume.............................................................................42
1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 2
Hermeneutische und methodische Orientierungen..............................45
2.1
Zum Verhältnis von Ästhetik, Wahrnehmung und Kommunikation .................................................................................49 Die religiöse Dimension von Irritationen und ihre ambivalente Bedeutung .............................................................................53 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene..................................................................................................59 Das Blitzlicht als Präsentationsweise ......................................................59 Zur Auswahl der Phänomene ..................................................................63 Zum Selbstverständnis der Forscherin...................................................63
2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3
VIII
Inhalt
2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7
Zur Perspektivität von Wahrnehmung...................................................65 Blitzlichter sind Fiktionen.........................................................................66 www.ewigesleben.de ..................................................................................68 Zur Frage nach der Kommerzialisierung religiöser Bedürfnisse................................................................................77
3
Medientheoretische Studien .....................................................................81
3.1
Zur Simulation I: Über das Verhältnis von Wort und Bild.................................................81 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit .......................85 Zur sozialwissenschaftlichen Ausgangsfrage: Sind virtuelle Realitäten Sonderwirklichkeiten?.....................................85 Zur medienwissenschaftlichen Kritik am metaphysischen Anteil in der Deutung virtueller Realitäten ............................................86 Zur Beziehung von Wirklichkeit, Realität und Möglichkeit................88 Zur theologischen Sicht auf die Wirklichkeit des Möglichen und ihre sinnliche Dimension ..................................................................92 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation..............................................101 Zur biografischen Bedeutung von Anonymität. Einführung ...........102 Zum soziologischen Verständnis von Face-to-FaceKommunikationen und Vertrauen ........................................................103 Theologische Anschlussstellen des Verständnisses von Anonymität........................................................................................109 Zur Spielwelt: Wenn Humor zur kommunikativen Freiheit beträgt .........................112 Ein phänomenologischer Blick auf den Humor im Spiel..................113 Ein praktisch-theologischer Blick auf den Spielraum des Glaubens .............................................................................................116 Die Virtual Communities: Zur Erfahrung der Dazugehörigkeit......118 Ein sozialphilosophisch-ästhetischer Blick auf Räume sowie dessen praktisch-theologische Rezeption..................................119 Zu einem ästhetischen Verständnis von Gemeinschaftsgefühlen....121 Von der Weltflucht in die Matrix...........................................................125 Philosophische und sozialwissenschaftliche Aspekte.........................126 Theologische Aspekte..............................................................................128
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 3.5.1 3.5.2 3.6 3.6.1 3.6.2
Inhalt
IX
4
Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion .......137
4.1
Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien ...........................................................................................137 Kritik an einem kulturhermeneutischen Blick auf Medien................138 Theologische Beiträge zur Deutung virtueller Realitäten ..................143 Vier Felder praktisch-theologischer Beschäftigung mit Medien .......148 Kirche in den Medien ..............................................................................149 Religion in den Medien............................................................................152 Zur sogenannten Medienreligion...........................................................157 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Kommunikation ...............................................................................166 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion ..............................................................................................176 Christliche Religion als kulturelles Zeichensystem .............................177 Christlicher Glaube als immersive Erfahrung der Anwesenheit Gottes.................................................................................182 Zum Verständnis von Gefühlen und Atmosphären ..........................185 Zur virtuellen Realität religiöser Erfahrung .........................................189 Wie der Glaube Gott in die virtuelle Realität des Menschen gebärt ..........................................................................................................195
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.3.3 4.1.3.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3
Teil 2 Gottesdienst und Predigt in medientheoretischer Perspektive........................199 1
Die religiöse Sonntagswelt ......................................................................201
1.1 1.2
Soziologische Einblicke in Sonntagskulturen......................................202 Virtuelle Realität im kirchlichen und theologischen Verständnis des Sonntags........................................................................207
2
Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs .......................................................................................................213
2.1
Der Kirchenraum als medientheoretisch reflektierter Gegenstand................................................................................................213 Zum semiotischen und phänomenologischen Beitrag zur Diskussion ..........................................................................................218 Medientheoretische Weiterführungen ..................................................222 Kirchenräume im Internet ......................................................................222 Zur These „Kirchenräume ermöglichen Differenzerfahrungen“.....225
2.2 2.3 2.3.1 2.3.2
X
Inhalt
3
Zur Kasualpraxis – medientheoretisch reflektiert...............................230
3.1 3.2
Ein kritischer Dialog mit kasualtheoretischen Positionen.................231 Praktisch-theologische Konsequenzen.................................................235
4
Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes ...................238
4.1 4.2 4.3
Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes..............................................238 Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen......................................247 Zum Verhältnis von christologischer Dimension und dialogischer Struktur ................................................................................253
5
Medientheoretische Aspekte zur Homiletik ........................................258
5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2
Annäherungen an ein mediales Phänomen..........................................260 Medientheoretische Aspekte zur Rede vom „Hörer“........................269 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik...........272 Predigt als religiöse Rede, als Gespräch und als Rollenspiel.............273 Zur homiletischen Reflexion der Situation und der Kasualpredigt......................................................................................278 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten ....................286 Medientheoretische Aspekte ..................................................................287 Zum Wirklichkeitsverständnis................................................................287 Zur Bibel als Medium ..............................................................................292 Zur Bedeutung des Bibeltextes ..............................................................297 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven..................................................303 Von der anmutigen bis zur unterhaltsamen Predigt...........................306 Vom offenen Kunstwerk bis zum Spielraum der Predigt .................320
5.4 5.4.1 5.4.1.1 5.4.1.2 5.4.1.3 5.4.2 5..4.2.1 5.4.2.2
Schlussbemerkung ...................................................................................................333 Literatur .....................................................................................................................334 Namenregister ..........................................................................................................358
Zum Geleit 1 Prämissen Virtuelle Realität im weitesten Sinne ist diejenige Wirklichkeit, zu der sich Menschen verhalten; sie ist die Welt als wahrgenommene oder gedachte, gewünschte oder geglaubte Welt. Sie ist Wirklichkeit als notwendigerweise unterstelltes, wirksames Bezugsfeld unseres Daseins. In diesem Sinne ist auch unser Welt- und Selbstbild Ausdruck einer virtuellen, uns (mit)bestimmenden Realität; sie entspricht der Kraft von Vorstellungen, der Kraft des Glaubens, unserer Fähigkeit, den morgigen Tag zu denken und Zukunft zu antizipieren. Virtuelle Realität geht gleichwohl nicht allein auf menschliche Fantasien zurück: Sie ist eine auch in Auseinandersetzung mit der materialen Welt, mit „harter Realität“ gewonnene, in Fehlschlägen erlernte und schließlich angeeignete Welt. Sie ist ständig im Fluss, ständig in Veränderung begriffen. Sie wird mit immer wieder neuen Bildern und Vorstellungen angereichert – während andere (Bilder und Vorstellungen) aus dieser virtuellen Welt verschwinden, sobald sie niemandes Gedanken, Wünsche und Hoffnungen mehr widerspiegeln. Von den bestehenden Strukturen, Regeln, Zusammenhängen, Bildern, Visionen, Traditionen virtueller Welten gilt dann aber auch, dass sie ihrerseits Kräfte freisetzen und auf ihre „Benutzer“ zurückwirken. An diesem Punkt zeigt sich die Relevanz virtueller Welten, in bzw. mit denen ein Mensch lebt, für dessen Identität. Virtuelle Welten zu bilden ist eine Form der Entwicklung und Aneignung von Identität; denn wenn Menschen z. B. ihre Identität beschreiben, greifen sie notwendigerweise konstruierend auf ihre „virtuelle Realität“ zurück, indem sie z. B. sagen, was sie in ihrem Leben als gegeben betrachten, mit welcher „Welt“ sie rechnen, wie sie sich auf diese Welt einstellen, wie sie dieser Welt entsprechen. Es ist eine Binsenweisheit der Kognitions- und Kommunikationspsychologie, dass Menschen ihrem Wünschen, Wollen und Handeln nicht die Welt als Summe von Faktizitäten zugrunde legen (können), sondern diejenige „Welt“, von der sie aus bestimmten Gründen meinen, dass sie so sei. Mit
XII
Zum Geleit
Blick auf diese Welt können Menschen sagen, wer sie sind, wer sie in dieser Welt sind – und wer sie als Christen sind.ŗ Darüber hinaus impliziert das Phänomen des Glaubens selbst das Leben in einer buchstäblich virtuellen Welt, in der nicht nur gilt, was man sieht, sondern mehr noch das, was man nicht sieht. Glaube hat mit Leben auf Gottes Möglichkeiten hin zu tun, mit einem imaginären und nichtsdestotrotz gewissen Woraufhin. Die große Debatte um Gewissheit versus Sicherheit (z. B. im Blick auf das ewige Leben) spiegelt eine Facette oder Variation des christlichen Lebens aus der virtus des Glaubens wider. Die in diesem Buch zusammengefassten Überlegungen knüpfen an diesen Punkt an. Ilona Nord fragt, was das Handwerk der Predigt zur Gestaltung einer den Glauben fördernden „virtuellen Welt“ beiträgt, was die in anderen Wissenschaftsdisziplinen geführte Debatte über Virtualität für die Praktische Theologie, insbesondere die Homiletik, austrägt, und was umgekehrt von der Theologie bzw. dem Verständnis der christlichen Religion her in die interdisziplinäre Erörterung der Struktur virtueller Welten eingebracht werden kann. Nord vermag ein beachtliches Potenzial aufzuzeigen, das die Reflexion der Teilnahme an Ritualen, am Gottesdienst und den Sakramenten und die Wahrnehmung von Rollen in Kirche und Gemeinde einschließt. Virtuelle Realitäten werden in besonderer Weise durch Medien „gebaut“. Zeitungen, Film, Fernsehen und Rundfunk konstruieren fortwährend Welten über Welten über Welten, und die Kirche kommuniziert in und mit diesen Welten unter anderem auch das Evangelium, ein Vorgang, der praktischtheologisch nur in Ansätzen reflektiert ist. Dass die Autorin dieses Buches in einen direkten Dialog mit den Medienwissenschaften einsteigt, hängt vor allem damit zusammen, dass dort der bewusste und unbewusste Umgang mit virtuellen Welten an der Tagesordnung und gegenüber anderen Disziplinen am besten erforscht ist. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht die Frage nach der Rolle der Medien als solchen, sondern nach einer angemessenen Berücksichtigung des Phänomens „virtueller Realität“ im Kontext der Praktischen
ŗ
Angesichts des eben ausgeführten, weiten Verständnisses von „virtueller Realität“ ist es nicht überraschend, dass zu interdisziplinären Foren und Kongressen, auf denen die Funktionen und Phänomene von Virtualität diskutiert werden, Medienwissenschaftler und Theologen gleichermaßen geladen werden. Die gemeinsamen Interessen reichen von der Konstruktion bzw. Rezeption apokalyptischer Konzepte über die vergleichende Untersuchung semantischer Welten in Science-Fiction-Filmen und (religiösen) Texten bis hin zu dem grundsätzlichen Phänomen, dass Menschen zugleich „zwei Welten“ angehören können – was schon Johannes dem Täufer geläufig war.
2 Reflexionsperspektiven
XIII
Theologie, wie der erste Teil dieses Buches – „Beiträge zu einem praktischtheologischen Verständnis virtueller Realitäten“ – zeigt.
2 Reflexionsperspektiven Das vorliegende Buch behandelt ein Thema, dessen Vielschichtigkeit und Weite im Grunde eine ganze Reihe gesonderter Untersuchungen zur Bedeutung virtueller Realität im Kontext von Christentum, Theologie und Kirche erforderte. Auf der Textebene wären z. B. die in den Textwelten Alten und Neuen Testaments enthaltenen kühnen Entwürfe einer künftigen Heilszeit bzw. des Reiches Gottes sowie die konzeptionellen Verknüpfungen und Verschränkungen, die Weiter- und Neuerzählungen jüdischer und christlicher Traditionen zu untersuchen, auf der rituellen Ebene die kultischen Inszenierungen von Heilsgeschichte mit ihren Wirklichkeit gestaltenden Ritualen usw. Von daher ist es angemessen, dass sich die Autorin in ihrem praktischtheologischen Interesse auf die durch Sprache – also wiederum medial – entworfenen, bewohnbaren Welten der Kommunikation des Evangeliums konzentriert. 2.1 Phänomenologische Annäherungen an das Thema Statt bei Definitionen und Konzeptionen von Medialität anzusetzen, geht Ilona Nord in medias res und nimmt zunächst in verschiedenen Momentaufnahmen blitzlichtartig einzelne Facetten der christlichen Religion in den Blick, die in unterschiedlichen Bezügen zum Phänomen einer (religiösen) virtuellen Welt stehen: Angefangen bei Erinnerungskulturen als zentralem Bestandteil christlicher Glaubenspraxis (Erinnerungskulturen, die sich u. a. in Gebäuden und Ritualen manifestieren und dabei auf höchst wirksame Weise reale Welten bilden), über eine Erörterung des Zusammenspiels von Person und Medium, die Wirklichkeit stiftende Dimension direkter, offener und darin „experimenteller“ Kommunikation, über Hinweise zu Analogien zwischen dem Spiel mit elektronischen Medien und einem kommunikationsphilosophisch und praktisch-theologisch akzentuierten, Welt-erschließenden Spielbegriff, bis hin zu dem Versuch, auch die „Gemeinschaft der Heiligen“ unter den Aspekten von Virtual Communities zu betrachten, führt Ilona Nord Schritt um Schritt in die Komplexität ihres Gegenstandes ein. Sie arbeitet wichtige Analogien und Gemeinsamkeiten zwischen virtueller Medienwelt und der religiösen Welt
XIV
Zum Geleit
des Christentums heraus, wobei einer der wichtigsten darin zu liegen scheint, dass beide gleichermaßen lebensbestimmend und insofern „real“ sein können, und überdies eine „enorme Erweiterung des menschlichen Möglichkeitssinns“ (zu denen für den Glaubenden die Möglichkeiten Gottes gehören) implizieren. 2.2 Hermeneutische und methodische Aspekte Die Autorin knüpft im zweiten Kapitel ihres Buches an jene Reflexionsperspektiven der Praktischen Theologie an, in denen die Dimension des Virtuellen einerseits und des Medialen andererseits am stärksten präsent ist und in denen bereits entsprechende hermeneutische und methodische Grundsätze praktisch-theologischer Argumentation entwickelt wurden: Das sind vor allem die Perspektiven der (Rezeptions-)Ästhetik sowie der Semiotik bzw. der Kommunikationswissenschaft. Vor diesem Hintergrund geht es nicht einfach nur darum, Praktische Theologie als Wahrnehmungswissenschaft zu erörtern, sondern sie auch als Theorie zur Gestaltung religiöser Erschließungsräume (als eine Erscheinungsform virtueller Welten) zu konturieren. Dazu gehören ein vertieftes Verständnis von menschlichen Wahrnehmungs- als Konstruktionsprozessen und eine Auseinandersetzung mit bestehenden theologischen Interpretationen von Kommunikationsprozessen und -ereignissen zwischen Gott und Mensch – etwa anhand des Begriffs der Offenbarung oder im Kontext der Sakramente (vgl. 2.1). Ebenfalls aus hermeneutischem Interesse nimmt Ilona Nord das in der Praktischen Theologie gelegentlich erörterte Moment der „Irritation von Wahrnehmung“ (u. a. ein strukturales Moment auch von „Offenbarung“) auf, an dem sich die Konstruktion von Sinn – als Versuch, die Welt wieder als „stimmig“ zu denken, sie „gedanklich zu reparieren“ – in der Kommunikationspraxis besonders häufig entzündet. Das ist insofern eine passende Vertiefung, als es hier im Kern um die Bedeutung des Virtuellen für die Gestaltung und Rezeption von Predigten geht, wobei die Entautomatisierung der Wahrnehmung (so ein kommunikationswissenschaftliches Synonym für „Irritation“) eine besondere Rolle spielt (vgl. 2.2). Auch bringt die Autorin mit dem Fremdheitsmodell Henning Luthers, den „Andersheit-Konzepten“ der feministischen Theologie und theologisch-philosophischen Aspekten der „Kommunikation mit dem Anderen“ geeignete theologische Argumentationsmuster ins Spiel, von denen aus sie ihre Annäherung an die „Arbeit“ mit und an virtuellen Welten verdeutlichen kann.
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In methodischer Hinsicht geht die vorgelegte Untersuchung – in Anlehnung an die religionssoziologischen Analysen von Clifford Geertz – von beschreibend-interpretierenden Momentaufnahmen aus („Blitzlichtern“), was es ihr nicht nur möglich macht, mit ihrer theoretischen Abhandlung rasch in medias res zu gehen, sondern auch eine Art Spurensicherung der von ihr wahrgenommenen Phänomene vorzunehmen. Dabei ist sich Nord der Gefahr der Überinterpretationen gerade bei der Analyse fremder Welten bewusst, was für sie die Konsequenz hat, sich über die Auswahl der analysierten Phänomene Rechenschaft abzulegen und ihre eigenen Prämissen offenzulegen (vgl. 2.3). Dabei legt sie Wert auf die bleibende Fiktionalität ihrer „Blitzlichter“, ohne den darin in den Blick genommenen komplexen virtuellen Welten die Möglichkeit abzusprechen, „neues Sein“ in einer stimmigen (diese Welten quasi zusammenhaltenden) Einheit von Denken, Fühlen und Handeln darzustellen. Beispielhaft geht die Verfasserin zur Erörterung ihres Ansatzes auf die auf der Website ewigesleben.de sowohl dargestellte als auch von und mit dieser Website je und je zu bildende, immer weiter zu entwickelnde und zu entwerfende virtuelle Welt – man könnte auch von einer Art virtuellem WeltRaum sprechen – ein (vgl. 2.3.6). Dabei wird deutlich, wie zum Teil im Rückgriff auf archaisch-religiöse Symbole Welten entworfen werden, wie man sie aus biblischen Texten oder außerbiblischen Mythen kennt. Ganz abgesehen von der Faktizität einer religiösen Hinter- oder Realwelt, funktionieren alle diese Welten als virtuelle Bewegungs- und Erschließungsräume, deren Benutzer bzw. „Begeher“ tatsächlich etwas erleben, Erfahrungen machen (z. B. der Geborgenheit, des Trostes usw.) und einen Ort des Gedenkens schaffen. Diese Website eröffnet überdies einen virtuellen Raum, der die Möglichkeit bietet, „sich … wann immer man möchte, mit dem Themenbereich Tod, Verlust, Trauern und Sterben auseinanderzusetzen“ (ebd.), ohne das auf eine vor allem informelle Art und Weise tun zu müssen. Häufig geht es unter anderem darum, eine wie auch immer geartete Beziehung zu einem verstorbenen Menschen zu pflegen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass auf virtuelle Weise ein Raum für Trauerarbeit geschaffen werden kann, der mit religiösen Räumen für Trauerarbeit durchaus vergleichbar ist, was unter anderem die Frage provoziert, ob – um im Beispiel zu bleiben – christliche Tauerarbeit grundsätzlich anderen Regeln folgt oder „nur“ mit anderen Inhalten verbunden ist.
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2.3 Erscheinungsformen virtueller Realität und deren theologische Erörterung 2.3.1 Wort, Bild und andere Medien Im dritten Kapitel des vorliegenden Buches werden die eingangs skizzierten Facetten virtueller Realität wieder aufgegriffen und unter anderem mit medienwissenschaftlichen Fragestellungen vertieft, wobei die Basis für eine theologische Betrachtung geschaffen wird. Hier kommen nun solche Erscheinungsformen virtueller Realität in dem Blick, die unbestreitbar auch im Kontext von christlicher Religion und Theologie ihren Ort haben und konstitutiv sind sowohl für die religiöse Welt als auch für die Kommunikation in der theologischen Welt. Dabei kommt dem Verhältnis von Wort und Bild, dem Verhältnis von Welt und Reich Gottes (als möglicher Welt), der Art und Weise, wie Menschen religiöse Erfahrungen machen und wie Christen sich als Gemeinschaft erfahren, ein besonderes Gewicht zu. Im Rückgriff auf unter anderem semiotische Argumentationsmuster wird deutlich, inwiefern Bilder wie Worte über die wahrnehmbare Wirklichkeit hinausweisen bzw. diese de facto erweitern können. Wort und Bild können sich in dieser Funktion ergänzen, sich gewissermaßen interpretieren. Dass die Verfasserin so basal mit Wort und Bild einsetzt, hängt unter anderem mit ihrem weit gefassten Medienverständnis zusammen, wonach es nicht (erst) die Epoche der Technisierung der Kommunikation war, die ein Nachdenken über die Funktion von Medien notwendig gemacht hat, denn „Medium“ ist zunächst und im Prinzip alles, was zum Träger von Bedeutung werden kann, und das sind Wort und Bild gewissermaßen als die klassischen Medien der Menschheit. Im Umgang mit Wort und Bild erwirbt ein Mensch gleichsam seine „Virtualisierungsfähigkeit“, also das Vermögen, Wirklichkeit zu konstruieren. Das wirft unter anderem die Frage auf, was es heißt, etwa die Worte und Bilder der Bibel in diesem Sinne „verwenden“ zu können. Dass die Verfasserin sich nicht dazu entschließt, den Medienbegriff ‚scharf‘ zu definieren, hängt mit ihrem Gegenstand und der entsprechenden Weite des von ihr benutzten Medienverständnisses zusammen. Wie sie an verschiedenen Punkten ihres Buches ausführt, hat alles das die Qualität von Medien, was zur Konstruktion virtueller Realität benutzt wird. Deshalb versteht sie es unter anderem als „Gelegenheit, etwas gegeben sein zu lassen“ (vgl. 112).Ř Von daher hat die Unterscheidung von personalen und apersoŘ
Ähnlich verfährt Umberto Eco im Blick auf den Zeichenbegriff. Obwohl er ausgesprochen komplexe Schriften über die Semiotik verfasst, genügt es seiner Ansicht nach, im Blick auf das Zeichen festzustellen, dass alles das als Zeichen betrachtet
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XVII
nalen Medien für sie keine konstitutive Bedeutung, obwohl sie der Autorin natürlich bekannt ist und von ihr eingehend diskutiert wird. 2.3.2 Zur Art der Wirklichkeit virtueller Welten Besondere Bedeutung kommt in dem vorliegenden Buch der Frage nach der Art der Wirklichkeit virtueller Welten zu (vgl. 3.2), da es hier in besonderem Maße um analoge Betrachtungen zur Wirklichkeit ‚religiöser Welten‘ geht. Ausgehend vom kultursoziologisch und sozialwissenschaftlich etablierten Begriff der „Sonderwelten“ bzw. „-wirklichkeiten“ erläutert Ilona Nord zunächst die Problematik dieser Redeweise, sofern diese eine quasi weniger wirkliche Wirklichkeit bezeichnen soll. In einer ausführlichen Analyse der kultur-, religions- und medienwissenschaftlichen Genese des Virtualitätsbegriffs macht die Autorin demgegenüber auf die Faktizität von Wirkkräften aufmerksam und arbeitet das Festhalten an einer bestimmten Subjekt-ObjektKonzeption als Grundproblem im (einseitigen) Beurteilen virtueller Wirklichkeit heraus. Weitere, sich insbesondere mit Kant und Kierkegaard auseinandersetzende Erörterungen des Virtualitätsverständnisses im philosophischen Kontext (3.2.2–3.2.4) sowie eine aufschlussreiche theologische Fokussierung von Virtualität als „Wirklichkeit des Möglichen“ machen „virtuelle Realitäten“ vollends als (praktisch-)theologische Herausforderung und als notwendigen (Re-)Konstruktionsraum sinnlicher, empirischer Wahrnehmung plausibel. Sie sind – scheinbar paradoxerweise – die Form von Realität, die geeignet ist, dem Schwindel der scheinbar objektiven Realität nicht zu erliegen. 2.3.3 Das Experiment des Glaubens In einem eigenen Kapitel geht Nord auf virtuelle Realitäten als Experimentierwelten ein (vgl. 3.3). In den entsprechenden Kapiteln stellt die Autorin einzelne Argumentationselemente zusammen, die es ihr später erlauben, auch das Experiment des Glaubens als ein Unterfangen in solchen von Kräften durchwalteten Welten zu denken. Dabei geht es nicht um naive Parallelsetzungen. Indem die Autorin z. B. auf die Funktion der Anonymität in der virtuellen Kommunikation zu sprechen kommt, geht es ihr vor allem um die Bewusstmachung der Vervielfältigung von Kommunikations- bzw. Partizipationsformen (an virtuellen Welten), die es einem Menschen z. B. erlauben, jemand anderer zu sein bzw. (schon) als jemand anderer zu kommunizieren. werden kann, womit man etwas ‚sagen‘ kann, also alles, was Träger einer Bedeutung sein kann.
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Zum Geleit
Hoch differenziert werden in der vorliegenden Untersuchung die Zusammenhänge zwischen bestimmten Kommunikationsformen und dem Bedürfnis nach Intimität und Vertrauen erörtert. Dabei wird Nord deutlich, dass z. B. die Face-to-Face-Kommunikation in einer Medienwelt mit bestimmten Erfahrungen der Fern-Nähe von Personen nicht mehr das ist, was sie vordem war; Kommunikationsbeziehungen, das gegenseitige Aneinander-Partizipieren, haben aufgrund unseres Umgangs mit Medien und unseres ‚Aufenthalts‘ in virtuellen Welten recht verschiedene Genesen. Deshalb reflektiert Nord zwar die besondere Funktion (und die Grenzen) angesichtiger Kommunikation; sie versäumt aber nicht, die durch den Umgang mit Medien gegebenen Komponenten der „Fernnähe“ in ihrer Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums mitzubedenken. In diesen Zusammenhang gehört auch die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie der Offenbarung als einer – kommunikationstheoretisch betrachtet – medialen Gegebenheit und Gelegenheit, die durch ihre Struktur sowohl Erfahrungen der Vertrautheit als auch der Fremdheit vermittelt. Die Metapher des Spiels hat vor diesem Hintergrund die Funktion, virtuelle Realität als einen Raum zu interpretieren, in dem Menschen bestimmte ‚reale‘ Rollen einnehmen und sich neue Erfahrungs- und Spielräume erschließen können, von denen her sie einen veränderten Zugang zu ihrem Leben als einem Ganzen gewinnen. Indem solche Räume eine Erweiterung der Möglichkeiten der eigenen Lebensbetrachtung und -erfahrung bieten, implizieren sie auch eine prinzipielle Erweiterung des Freiheitsraumes eines Individuums, sofern sich „Einbuße an der Kategorie der Möglichkeit als Einbuße an Freiheit“ (vgl. 116, nach Waldenfels) herausstellen kann. (Dementsprechend hat ein fantasievoller Mensch die Aussicht, im umfassenderen Sinne von sich sagen zu können, frei zu sein, als ein Mensch mit wenig Fantasie; denn dieser kann kaum Vorstellungen von den Möglichkeiten entwickeln, die er ergreifen könnte.) Auch Glaubenserfahrungen lassen sich als Wahrnehmungen von Spielräumen des Lebens bzw. der Freiheit interpretieren. 2.3.4 Atmosphären Besondere Relevanz erhält dieses Buches durch die darin herausgearbeiteten Berührungspunkte zwischen der intensiven, besonderen Gemeinschaftserfahrung von „Virtual Communities“ und dem Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder einerseits sowie der Art der Verbundenheit von Glaubenden andererseits (vgl. 3.5). Dabei spielt wiederum die Herstellung von „Atmosphären“ (u. a. durch Feste und Liturgie, aber auch die Kommunikations-
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bedingungen medialer Virtual Communities) eine besondere Rolle, was Nord durch zahlreiche kultursoziologische und sozialphilosophische Beobachtungen zu untermauern versteht. In dem Abschnitt 3.6 – Von der Weltflucht in die Matrix – liegt der Versuch vor, das auf Räume bezogene Denken neben primär auf die Zeit bezogenen Interpretationsmodellen des menschlichen Lebens stark zu machen. In Anknüpfung an verschiedene explizite und implizite Raummodelle (u. a. von M. Castells, E. Konau, R. Koseleck, M. Löw) wird erörtert, in wie vielen Punkten sozial konstruierte Räume mit (anderen) virtuellen Räumen vergleichbar sind, wobei die Konstituierung beider durch die Gesellschaft eine besondere Rolle spielt. Die Materialität der sich in diesen Welten konstituierenden Sphären ist für deren Beschreitbarkeit, Regelhaftigkeit und Wirksamkeit – einschließlich der Rückwirkungen auf den Menschen, der in dieser Welt unterwegs ist – sowie für die Kommunikation in diesen (bzw. über diese) Welten ohne Bedeutung.ř In einer kritischen Auseinandersetzung mit Paul Tillichs Überlegungen zur theologischen Bedeutung zeitlichen und räumlichen Denkens kommt Nord überdies zu dem Urteil, dass die „Dominanzstruktur der Zeit über den Raum“ (vgl. 3.6) heute aus nachvollziehbaren Gründen so nicht mehr bestehe; beide Kategorien dienten gleichermaßen dazu, Vorstellungen von gesellschaftlicher – also auch kirchlicher und religiöser – Praxis zu beschreiben und zu entwickeln. Die Beobachtung, dass die Beschaffenheit und Qualität von Lebens- und Erkenntnisräumen vom ‚Tatbestand‘ und von der Art ihres Gebrauchs abhänge, impliziert viele Anknüpfungspunkte für das Verständnis der Welten, die Gottesdienste, Rituale – ja, die Gemeinde als Ganze eröffnen. Der von der Verfasserin benutzte Begriff der „Vernetzung“ signifiziert dementsprechend keine Flucht ins Unwirkliche, sondern ist im Kontext ihrer Terminologie adäquater Ausdruck dafür, wie z. B. ein Christ im Glauben mit anderen verbunden ist, wobei diese anderen auch in anderen Religionen lebende Menschen sein können. Für Christen hat die faktische, schon geschehene „Vernetzung“ mit der Christusgeschichte eine zentrale Bedeutung; sie ist Ausdruck dafür, wie Christen „je auf ihre Weise die Gegenwart Gottes in Jesus Christus wahrnehmen und zum Zentrum ihrer historischen Konstruktion machen“ (vgl. 199).
ř
Man könnte auch (mit M. Castells) den virtuellen Welten in ihrer Abhängigkeit u. a. von mikroelektronischen Geräten und ihren technischen Nutzungsbedingungen ihrerseits ‚Materialität‘ zugestehen. Doch das ist nicht entscheidend, da Räume ja vor allem durch ihre Nutzung räumlich werden, nicht durch ein bestimmtes Ensemble feststehender Objekte.
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2.4 Medien und virtuelle Welten in den Argumentationsmustern der Praktischen Theologie 2.4.1 Virtualität im Diskurs der Praktischen Theologie Zum fachwissenschaftlichen Interesse des vorliegenden Buches gehört unter anderem die Frage, wo und wie im Diskurs der Praktischen Theologie virtuelle Realität thematisiert wird und welche Erwartungen mit dieser Fokussierung einschlägiger kommunikationstheoretischer Analysen verbunden sind. Es entspricht der Forschungs- bzw. der Publikationslage, dass sie sich dabei auf die großen Bereiche Medien und Religion bezieht. Dieser Schritt ist insofern unerlässlich, als auf den genannten Forschungsfeldern zum Teil recht undifferenziert mit dem Begriff bzw. Phänomen virtueller Realität umgegangen wird, wie es andererseits unumgänglich ist, an dort Erarbeitetes anzuknüpfen. Veränderungen in der Medienwelt waren aufseiten der Theologie stets gleichermaßen von „aufklärerischen Hoffnungen“ und „kulturpessimistischen Zweifeln“ begleitet. Dementsprechend ist eine bleibende praktisch-theologische Herausforderung von Veränderungen in der Medienwelt darin zu sehen, dass sich durch Neue Medien auch die Wahrnehmungsmuster von Menschen ändern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass kein Medium per se besser oder schlechter für die Kommunikation des Evangeliums bzw. für die Konstruktion ‚positiver‘ virtueller Welten geeignet ist. In diesem Zusammenhang arbeitet Nord heraus, dass die primär kulturhermeneutische Auseinandersetzung mit den Medien unter anderem deshalb zu kurz greift, weil sie in ihrer notorisch pessimistischen Zeitdiagnose eine ideologische Note hat und Gefahr läuft, mit opportunen Sinnangeboten bzw. dem latenten Imperativ zur Selbstdeutung der Kommunikation des Evangeliums gerade im Wege zu stehen.Ś Demgegenüber plädiert die Verfasserin dafür, bei der Beurteilung sowohl personaler wie technischer Kommunikationsumstände die menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung selbst hinreichend zu würdigen. Im Zusammenhang ihrer Analyse „theologischer Beiträge zur Deutung virtueller Realitäten“ arbeitet Ilona Nord im Dialog mit Th. Klie, H. Weder und M. Trowitzsch wichtige Elemente ihrer weiteren Argumentation heraus. Dazu gehören: die Einheit der Wirklichkeit bzw. die Überwindung ihrer Zweiteilung in einen weltlichen und quasi außerweltlichen Bereich, das Postulat der Wirkung des Möglichen und eine Neubewertung der Fantasie als Raum sowohl geistiger und sinnlicher Freiheit. Die Beschäftigung mit virtuellen Realitäten,
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Vgl. die subtile Kritik der Verfasserin an entsprechenden Thesen von Wilhelm Gräb (138–142)
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so vermag die Autorin für den praktisch-theologischen Diskurs zu zeigen, hat in starkem Maße dazu beigetragen, die Rolle des Glaubens für die Wahrnehmung von Lebensmöglichkeiten neu in den Blick zu bekommen. 2.4.2 Zur praktisch-theologischen Annäherung an die Medien Im Rahmen einer Systematisierung der praktisch-theologischen Beschäftigung mit den Medien (Kirche in den Medien, Religion in den Medien, Medienreligion, medientheoretisch reflektierte Kommunikation) weist Ilona Nord in diesem Buch nicht nur auf einseitige Zugänge und Desiderate hin, sondern knüpft mit ihren Überlegungen klar an die wichtigsten Erkenntnisse auf diesen Forschungsfeldern an und führt sie unter dem Gesichtspunkt der virtuellen Realität weiter. Leitende Frage ist also auch hier, „wie Medien hinsichtlich ihrer Möglichkeit, Wirklichkeit zu konstruieren, wahrgenommen werden“ (vgl. 4.1). Dabei gelingt es der Autorin z. B., falsches Konkurrenzdenken im Blick auf die Medienpräsenz der Kirche zu überwinden und Synergien verschiedener Formen medialer Präsenz in den Blick zu nehmen. Sie vermag ferner zu zeigen, wie die virtuelle Welt verschiedener Medien einerseits (z. B. Kino) und des Gottesdienstes (sowie weiterer Handlungsfelder der Kirche) andererseits nicht nur Distanznahme dem Alltag gegenüber eröffnen, sondern beide zu einer intensiveren Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit führen können – ein Phänomen, das in der Perspektive von „Religion in den Medien“ zu erörtern ist. Angesichts der Herausforderung, vor die z. B. die quasi-religiöse Rezeption bestimmter Kultfilme stellt, wirft Nord jedoch immer wieder die berechtigte Frage nach den adäquaten Formen auf, in denen die Kirche die Kommunikation des Evangeliums vollziehen sollte, um den Einzelnen in die ‚wirkliche Welt des Glaubens‘ hinein zu begleiten. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Autorin – nach einer Analyse der in der Forschung mit dem Begriff „Medienreligion“ verbundenen Phänomene (u. a. J. Hörisch, N. Janowski, A. Schilson, I. Mädler, H.-M. Gutmann) – weniger daran interessiert ist, zu klären, wo im Leben eines Menschen Medien eine irgendwie religiöse Funktion erfüllen. Sie ist vielmehr an der Frage interessiert, wie Menschen verfahren, wenn sie im Gebrauch von Medien einerseits und als Glaubende andererseits Wirklichkeit konstruieren und Stimmungen regulieren, ohne im einen oder anderen Fall als pathologisch zu gelten. Zwischen den Zeilen wird denn auch deutlich, dass der Begriff der Medienreligion kaum operationalisierbar ist.
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Von daher ist es auch schlüssig, dass die Autorin den in der Praktischen Theologie breit erörterten Kommunikationsbegriff selbst medientheoretisch in den Blick nimmt. Mit Bezug auf E. Lange, D. Bastian, M. Josuttis und die semiotische Perspektive gelingt es Nord, etwa das Klischee von der Abstumpfung durch technische Kommunikationsmedien zu hinterfragen und diese in ihrer besonderen Bedeutung für die Fähigkeit des Menschen, Wirklichkeit zu konstruieren, in den Blick zu bekommen. Dabei wird deutlich, dass die Partizipation eröffnende Funktion von Medien nicht auf Face-to-FaceKommunikationen beschränkt ist bzw. dass diese Form der Kommunikation ebenso Partizipation verhindern kann. 2.5 Zur virtuellen Realität religiöser Kommunikation Der christliche Glaube betrifft das ganze Leben des Menschen einschließlich seines Weltbildes, seiner Hoffnungen und Zielvorstellungen; dementsprechend ist die christliche Religion unter anderem als Entwurf eines komplexen virtuellen Raums beschreibbar, in dem sich Glaubende orientieren. Innerhalb dieses Raums erproben und erwerben Menschen neben anderem ihre Rolle, die sie als Glaubende „spielen“ (vgl. 4.2); sie finden „Lebensgewinn“ in virtualisierten Kommunikationen, deren Inhalt und Ressource die Verheißungen des Evangeliums sind. Mit diesen – insbesondere im Dialog mit Gerd Theißen entwickelten – Überlegungen führt Ilona Nord über die (üblicherweise mit Fragen der Kommunikation auf der Basis von Zeichen verbundenen) hermeneutischen und philosophischen Aspekte von religiöser Kommunikation hinaus und erörtert ihre Wirkung auf die lebensweltliche Realität. Mit ihrer These, in der Religion gehe es um „virtualisierte Kommunikationen mit Gott“, nimmt Nord natürlich keine neue Kommunikationsform in den Blick, sondern schlägt eine neue, zusätzliche Betrachtungsweise dafür vor. Es liegt auf der Hand, dass es ihr in diesem Zusammenhang nicht um eine „letzte Wirklichkeit“ hinter dieser Kommunikation geht, sondern darum, den Wirklichkeitscharakter der Kommunikation selbst in den Blick zu bekommen. Religiöse Kommunikationen virtuell zu verstehen, heißt demnach nicht, sie unter das Risiko zu stellen, dass es Gott nicht gäbe, sondern dass Gott in den uns eröffneten Spielräumen unseres Denkens, Verstehens und Lebens wirklich anzutreffen ist. Dieser Ansatz ermöglicht es der Autorin, den Glauben als „immersive Erfahrung der Anwesenheit Gottes“ zu erörtern. Der Begriff der „Immersion“ bzw. des „Immersiven“ ermöglicht es der Verfasserin, eine zentrale Facette ihrer Betrachtungsweise von Religion auf den Punkt zu bringen: Die
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„Welt des Glaubens“, in die ein Mensch eintaucht bzw. die ihn birgt und ihm quasi ‚Asyl gewährt‘, die ihm und seinen Schwierigkeiten, Ängsten und Sehnsüchten einen Ort gibt jenseits der Utopie, diese Welt ist in hohem Maße auch eine gefühlte, empfundene und insofern erlebte, reale, den Einzelnen tatsächlich umgebende Welt, die es ihm ermöglicht, wirklich präsent zu sein. In diesem Zusammenhang kommt noch einmal die Bedeutsamkeit von Atmosphären für die virtuelle Kommunikation und die sie begleitenden „Immersionen“ ins Spiel: Atmosphären werden durch Medien konstituiert und verändert, worin ein Ansatzpunkt zur Intensivierung von Kommunikations- und Verstehensprozessen gesehen werden kann: „Atmosphären sind emotional so bedeutsam, weil man sich in ihnen darüber klar wird, welche Lebensmöglichkeiten sich eröffnen könnten oder welche verschlossen bleiben. So regen Atmosphären dazu an, dem nachzuspüren, wie etwas ist oder wie es war, oder wie es sein könnte jetzt und hier, da und dort gewesen zu sein und noch zu sein“ (vgl. 4.2.1). Ein Kriterium für gelingende Kommunikation ist demnach die Eignung der im Einzelnen zur Geltung kommenden Medien für die Schaffung adäquater Atmosphären, nicht der Grad ihrer personalen bzw. apersonalen Beschaffenheit. Solche gelingende Kommunikation kann die reale Welt eines Menschen gewissermaßen „zum Wackeln bringen“; jedoch nicht, um sie durch eine irreale Fantasiewelt zu bagatellisieren, sondern um seine Welt um die Realität der virtuellen Welt des Glaubens zu bereichern. Die ausdrückliche Bezugnahme der Autorin auf den Glaubensbegriff Paul Tillichs ist insofern überzeugend, als dieser – natürlich in anderen Worten – das Phänomen der Immersion treffend signifiziert, indem er den Glauben formal als unbedingtes Ergriffensein von einer transzendenten Wirklichkeit bestimmt, mit der der Einzelne in Verbindung steht. Die dabei zustande kommende ‚Verbindung‘ ist eine reale. Und was auf der Basis dieser Verbindung kommuniziert wird, hat eine Welt- und Selbstbild konstituierende Wirkung, bis hin zur Stärkung des Glaubens (vgl. 194 ff.). In einer „riskanten“ metaphorischen Redeweise schreibt Ilona Nord dem Glauben unter anderem die Funktion zu, Gott je und je in die virtuelle Realität des Menschen hinein zu gebären. Der Gefahr, den Glauben als Werk misszuverstehen, entgeht die Autorin dadurch, dass sie – mit Bezug auf Luther – den Glauben letztlich als die Daseinsweise Gottes in der Lebenswelt des Menschen erfasst, der (nämlich Gott) den Menschen wiederum dazu veranlasst, sich auf neuerliche Veränderungen in dieser Welt einzustellen, allen Geburtsängsten zum Trotz (vgl. 4.2.2).
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3 Zur Betrachtung des Gottesdienstes als virtuelle Realität Bevor die im ersten Teil des vorliegenden Buches entwickelten Perspektiven und Argumentationsmuster explizit für eine Analyse des Gottesdienstes und der Predigt aufgenommen werden, werden deren zeitliche und räumliche Bedingungen im Blick auf den Sonntag und den Kirchenraum entfaltet. 3.1 Zur „Welt des Sonntags“ Der „Sonntag“ lebt in ganz verschiedenen virtuellen Welten auf. Anders formuliert: Es gibt mehrere Welten, die den Sonntag als besonderen Tag qualifizieren, wobei in hohem Maße soziologische Kontexte an der Art seiner Virtualisierung mitwirken. Auf der Basis einer Auswertung kirchlicher Stellungnahmen und durch eine historische Rückschau auf den Sonntag kann gezeigt werden, dass es unfruchtbar ist, die Debatte um den Sonntag in eine Debatte um die Geltung des Christentums oder ein stärkeres Bewusstsein für die christliche Religion umschlagen zu lassen. Demgegenüber plädiert Nord dafür, den Sonntag – in durchaus christlicher Absicht – besser ‚begehbar‘ zu machen und nicht eine bestimmte ‚Sonntagsmorgengottesdienstwelt‘ als dem Glauben einzig angemessene Zufluchtswelt erscheinen zu lassen (vgl. Teil 2, 2.1), die dazu führte, dass sich die Menschen einmal in der Woche in einer „Sonderwirklichkeit“ wiederfänden. 3.2 Zur „Welt des Kirchenraums“ Am Kirchenraum wird der ‚Welt-Raum-Charakter‘ einer Kommunikation in virtueller Realität besonders deutlich. Indem der Kirchenraum von Menschen als Medium gebraucht wird, trägt er zum Gegebensein bestimmter Wirklichkeiten und Erfahrungen bei. Er wird unter anderem zum Erschließungsort von Sehnsucht, provoziert die Begegnung mit „dem Anderen“, der/das zum Leben des Menschen gehört. Das gilt auch für „computergestützte (Kirchen-) Räume“ (vgl. Teil 2, 2.2). Durch die medientheoretischen Weiterführungen der Autorin wird allerdings auch deutlich, dass das Differenzkriterium (heilig/profan) nur eines unter anderen sein kann. Hinsichtlich möglicher praktisch-theologischer ‚Nutzungskonzepte“ ist es wichtig, die drei medialen Grundfunktionen des Kirchenraums gleichermaßen im Blick zu haben: Er trägt (1.) durch seine Struktur zur Selbstdefinition einer bestimmten sozialen Gruppe (d. h. der Gemeinde) bei; er wirkt (2.) bei der
3 Zur Betrachtung des Gottesdienstes als virtuelle Realität
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Erfahrung bzw. der Konstitution der Communio Sanctorum und der Vergegenwärtigung des gelebten Glaubens auch vergangener Generationen mit; im Kontext der liturgischen Feier unterstützt er (3.) die Kommunikation des Evangeliums. Den Kirchenraum „multimedial“ zu nutzen heißt, darauf zu achten, dass keine dieser Dimensionen für das Leben der Gemeinde mit ihrer Kirche unterschätzt wird.ś 3.3 Zur virtuellen Dimension der Kasualien Kasualien sind eine geeignete Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte (z. B. die von Taufbewerbern) nicht nur in einem religiösen Kontext zu verorten, sondern sie auch als religiöse Geschichte zu verstehen, d. h. sie als solche zu (re)konstruieren und Gott in ihr zu denken, Gott konkret zu ‚lokalisieren‘ (vgl. Teil 2, 3). Mit diesem Gedanken knüpft Nord an andere kasualtheoretische Modelle an, in denen Kasualien – vor allem, soweit sie auf Rituale bezogen sind – als „Räume der Macht“ (mithin als Gelegenheiten zur Änderung von Machtverhältnissen im Leben eines Menschen!) beschrieben werden können. Hierbei wird die Relevanz bzw. Ergiebigkeit des Virtualitätsbegriffs besonders deutlich. 3.4 Zur virtuellen Kraft des Gottesdienstes Das von Ilona Nord vorgelegte Buch erläutert die virtuelle Kraft des Gottesdienstes in der Weise, dass dessen einzelne liturgische Elemente und Sequenzen (in Auswahl) medientheoretisch reflektiert werden. Anhand eines Erfahrungsberichts macht sie zudem deutlich, in welchem Maße „Atmosphären“ für gelingende Kommunikation (und für die Transformation der Inhalte und der Beziehungsrealität dieser Kommunikation in den Alltag) eine Rolle spielen (vgl. Teil 2, 4.1–4.2). „Eingangs- und Eröffnungsteil“, „Verkündigung und Bekenntnis“ und die übrigen Teile oder Elemente der Liturgie haben bei der Konstruktion des virtuellen liturgischen Raums eine je spezifische Funktion, die auf den jeweiligen Ort im Raum abgestimmt sein muss, wenn der Gottesdienst die Feiernden tatsächlich auf ihrem Weg durch den liturgisch konstruierten Raum beś
Dies geschieht, wenn z. B. ein Kirchenvorstand der Struktur und Ausstattung des Raumes (als etwas bloß Äußerlichem) gleichgültig gegenübersteht, wenn Gottesdienste nicht mehr in der Kirche stattfinden, wenn Kirchen ausschließlich für Gottesdienste zugänglich sind usw.
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gleiten, führen soll. Speziell anhand der liturgischen Wirkung des Singens kann dargelegt werden, in welchem Sinne die Gemeinde an den – mit dem Eintritt in virtuelle Welten verbundenen – „Immersionserfahrungen“ beteiligt ist.Ŝ In den Ausführungen von Nord zeichnet sich der Versuch ab, der gottesdienstlichen Feier – obschon als virtuelles Geschehen beschreibbar – noch stärker den Charakter einer Sonderweltveranstaltung zu nehmen, ohne auf deren traditionelles Zeichenrepertoire (Talar, Lieder usw.) verzichten zu müssen. Dabei wird auch deutlich, inwiefern die ‚Kommunikationswelt Gottesdienst‘ vom Einsatz (weiterer) Medien – über das klassische Repertoire hinaus – profitieren kann, wobei die in der Liturgik gelegentlich anzutreffende konsequente Dialogisierung des gesamten Gottesdienstgeschehens vorsichtig in Frage gestellt wird.
4 Zusammenführung der Analysen und Ergebnisse in homiletischer Sicht Im letzten und zugleich umfangreichsten Kapitel ihres Buches führt die Autorin ihre Analysen und Ergebnisse in homiletischer Perspektive zusammen. Dabei geht sie von der homiletischen Herausforderung aus, „die Wirklichkeit Gottes als Teil der Wirklichkeit unseres Lebens zu artikulieren“, eine Herausforderung, die anhand des Modells virtueller Realität plausibilisiert wird und in praktischer Hinsicht auf eine Vernetzung verschiedener Kommunikationsräume und Medien hinausläuft – statt in der traditionellen Gottesdienstkultur mit ihren teils restringierten Codes den alleinigen oder gar idealen Kommunikationsraum zu sehen. 4.1 Orte der Predigt bzw. predigtähnlicher Kommunikationen Anhand verschiedener Orte der Predigt bzw. predigtähnlicher Kommunikationen (z. B. Wort zum Sonntag) verweist Ilona Nord zunächst auf bestimmte, aufseiten der Hörer mit der Predigt verbundene Bedürfnisse (Vergewisserung der eigenen Identität; Leben in der Gegenwart als Leben in wirklicher Wirklichkeit) und kritisiert homiletische Versuche, die primär auf die Erschütterung von Wirklichkeit bzw. das bloße Konstruieren von Gegenwirklichkeiten setzen. Demgegenüber wird deutlich gemacht, in welchem Sinne die Ŝ
Vgl. analoge Erläuterungen zu Vaterunser, Segnung und Sendung.
4 Zusammenführung der Analysen und Ergebnisse in homiletischer Sicht
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Predigt ein Prozess ist, der Menschen gewissermaßen die Möglichkeit gibt, ihre Wirklichkeit in der Perspektive des Evangeliums auszubauen, sie sich als ihre Lebenswirklichkeit anzueignen. Verknüpfungen verschiedener Kommunikationsformen (Face to Face, fernmündlich, SMS usw.) eröffnen die Möglichkeit, quasi-homiletische Bemühungen nicht auf die „Kanzelkommunikation“ zu beschränken, sondern sie außerhalb der Gottesdienstkommunikation eines Sonntagvormittags zu denken. Dazu gehört es, Menschen in ihrer „vernetzten“ Lebensweise wahrzunehmen und homiletisch adäquat darauf zu reagieren.ŝ Ansatzpunkte hierfür ergeben sich aus ganz verschiedenartigen Anforderungen, vor die allein schon der Umgang mit den Medien Wort und Schrift – Hören und Lesen – stellt. In ihrer graduell abstufbaren Vieldeutigkeit sind Wort und Schrift gleichwohl für die Kommunikation des Evangeliums und die (Re-)Konstruktion einer Welt des Glaubens geeignet. Im Lesen und Hören des Evangeliums bewegt sich der Mensch in seiner Welt zu den Konditionen der Botschaft des Evangeliums weiter, er erfährt sich unter anderem als geborgen, er erfährt, dass die Macht Gottes mit ihm ist. Der Begriff des virtuellen Leibkörpers hat in diesem Zusammenhang die Funktion, die kommunikativen Möglichkeiten des Menschen zusammenzufassen, ihn als „mediales Wesen“ zu apostrophieren und dabei nicht nur kognitive Prozesse oder sprachliche Äußerungen im Blick zu haben. Das Thema Freiheit ist insofern substanziell mit diesem Begriff verbunden, als die Kommunikationsfähigkeit eines Menschen zu einem erheblichen Teil das Ausmaß widerspiegelt, in dem er am Leben partizipieren, sich Wirklichkeit erschließen kann.Ş 4.2 Zur Funktion der Rhetorik und der homiletischen Kritik Im Kontext der Homiletik kommt der Rhetorik unter anderem die Funktion zu, jene Freiheit aufseiten des Hörers zu fördern, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, seine Wirklichkeit vom Evangelium her als veränderte Wirklichkeit – nicht einfach als Gegenwirklichkeit – in den Blick zu bekommen und sie zu begehen („Rhetorik als Kreation von Situationen“, vgl. 250). Dazu gehört es, dass der Prediger seine Funktion im Rollenspiel Predigt nicht instrumentell, ŝ Ş
Vgl. die Analogie zur ‚Erfindung‘ der Kanzelliturgie. Analog dazu wird in der Praktischen Philosophie häufig die Fantasie und Vorstellungskraft des Menschen als ein Unterpfand seiner Freiheit angesehen: Wer sich nur sehr eingeschränkt vorstellen kann, was in bzw. mit seinem Leben der Fall sein könnte, ist weniger frei als jemand, der um eine Vielzahl solcher Möglichkeiten weiß.
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sondern medial versteht. Von daher ist es ausgesprochen konstruktiv, wenn die Autorin vor diesem Hintergrund auf das Bibliodrama zu sprechen kommt, in dem Rollen bewusst gewählt werden, um virtuelle Welten zu eröffnen, die dann nicht (mehr nur) zur Rolle, sondern zum ‚wirklichen Leben‘ gehören. Dass und wie die Autorin in diesem Zusammenhang zu einer subtilen homiletischen Kritik an einem ‚Heiligen der Homiletik‘– Ernst Lange – kommt, ist bemerkenswert: Ilona Nord verweist auf das bei Lange und anderen anzutreffende Prinzip, in der Predigt – bei allem Respekt vor der Situation – eben doch mit einer zweiten, äußeren, religiösen Wirklichkeit aufzuwarten und wirkliche Wirklichkeit quasi immer „überwinden“ zu müssen – was weder empirisch noch theologisch wirklich durchzuhalten ist. Die Predigt ist durchaus nicht immer der erlösende „Schachzug“ (E. Lange), durch den die Wirklichkeit eine andere, bessere wird.ş Viel wichtiger ist für die Verfasserin die Gleichzeitigkeit von Prediger und Hörer in derselben Situation, in derselben ‚virtuellen Realität‘. Hier deutet sich möglicherweise eine wichtige Korrektur am Situationsverständnis der evangelischen Homiletik an.ŗŖ 4.3 Zur Struktur und Wirkung der Predigt In ihren Ausführungen zur Struktur und Wirkung der Predigt bringt Ilona Nord ihre Überlegungen zum Verständnis und zur Bedeutung virtueller Realität auf den Punkt.ŗŗ Predigten sind – sowohl für den Prediger als auch für die Hörenden – unter anderem „Gelegenheiten, die eigene Lebenssituation neu zu strukturieren“. Mit Bezug auf einschlägige rezeptionsästhetische Modelle zeigt die Autorin, in welchem Sinne der Predigt ein Ereignischarakter zukommt, der sich, wie jedes Ereignis, auf konkrete Raum-Zeit-Koordinaten bezieht, innerhalb derer die Hörenden sich bewegen können, und von wo aus sie sich in andere (eigene, persönliche) Welten fortbewegen und so in besonderer Weise zu „Tätern des Wortes“ werden. In der von Prediger und Hörer gemeinsam gebildeten Welt „geschehen“ so wirkliche Dinge wie z. B. die Veränderung von Machtverhältnissen im Leben eines Menschen.
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Vgl. 245–250.
Analoge Überlegungen – wie zur Situation – stellt die Autorin u. a. in Bezug auf die Kasualpredigt und den Segen an; um sie wirkungsvoll an der Konstruktion von „Identifikationsspielräumen“ (284) zu beteiligen, dürfen die Bemühungen um eine angemessene „Gestimmtheit der Räume“ nicht vernachlässigt werden. ŗŗ Vgl. 279–334. ŗŖ
4 Zusammenführung der Analysen und Ergebnisse in homiletischer Sicht
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4.4 Zur medialen Welt der Bibel und den Lebenswelten der Hörer Wenn in diesem Zusammenhang die „Bibel als Medium“ (vgl. Teil 2, 5.4) apostrophiert wird, so wird damit vor allem gesagt, dass sie dem Leser und Ausleger unter anderem auch als Konstruktionshilfe für seine Glaubenswelt zur Verfügung steht – diese also nicht einfach schon abbildet –, eine virtuelle Welt, in der sich z. B. „Wiedergeburtserfahrungen“ ereignen können. Damit fördert die Bibel in bestimmter Hinsicht die religiöse (Ein-)Bildung des Einzelnen im Eckhartschen Sinn; sie stellt „seine Füße auf weiten Raum“ und lässt ihn (in seiner wirklichen Welt) wirkliche, gewagte Schritte der Freiheit gehen. Das literaturwissenschaftliche Modell virtueller Textwelten (W. Iser u. a.) wird plausibel mit der Funktion biblischer Texte verknüpft, wobei mit ihnen durch Hinweise auf leib-körperliche Umgangsweisen zusätzliche Aspekte ins Blickfeld gerückt werden. Die Autorin kommt aufgrund ihres medialen Zugangs zu einer überzeugenden Kritik sowohl am semantischen Leerstellen- bzw. Enklavenmodemodell von W. Iser als auch am Begriff des „intermediären Raums“, indem sie erläutert, inwiefern virtuelle Realitäten generell nicht als an ihren Grenzen zu erkennende Territorien zu verstehen sind, sondern – vor allem wegen ihrer unendlichen Vernetzung – als „prinzipiell unbegrenzte Räume“, die je und je durch ihre religiöse, soziale, kulturelle (usw.) Gestaltung eine konkrete Kontur gewinnen. Was für die Wirklichkeit schaffende, Lebensräume eröffnende und verstellende Rezeption biblischer Texte gilt, gilt in ähnlicher Weise für die Wirkung der Predigt in den Lebenswelten ihrer Hörer. Ausgehend von einer Kritik am Josuttisschen Postulat quasi ontologischer, nicht mehr medial gedachter heiliger Räume und heiliger Welten, problematisiert Nord die faktisch unterstellte magische Wirkung der Texte und der Predigt. Demgegenüber verweist sie auf die unausweichliche Offenheit des Predigtgeschehens und vertieft ihr Plädoyer für eine notwendige „Predigtatmosphäre“. Damit ist ein an konkrete Strukturen und Inhalte der Predigt gebundenes homiletisches Milieu gemeint, das es Hörern ermöglicht, sich unter der Predigt im „Möglichkeitshorizont Gottes“ (A. Grözinger) zu imaginieren. Vor diesem Hintergrund bringt die Autorin schließlich den Aspekt der notwendigen Unterhaltsamkeit einer Predigt ins Spiel. „Unterhaltsam“ ist eine Predigt insofern, als sie besondere mediale Bedingungen erfüllt: Sie muss die Wahrnehmung des Hörers wecken und auf sein Mitkommen angelegt sein, sie soll ihn aus der Reserve locken, ihm Nahrung („Unterhalt“ im eigentlichen Sinn) bieten, mit der er sich hinaus in seine „Welt“ wagt. Entsprechend der Atmosphärentheorie von Hermann Schmitz hat solche „Unterhaltung“ eine
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verbindende, unter den Hörenden Gemeinsamkeit stiftende Wirkung. Sie homiletisch zu wagen, zielt auf einen „Sättigungseffekt“ im Sinne spürbarer Zufuhr an Lebensenergie. Die homiletischen Problemanalysen und Erörterungen des vorliegenden Buches lassen erkennen, in welchem Sinne die Fortsetzung der Predigt in der (Re-)Konstruktion von Lebenswirklichkeit aufseiten des Hörers konstitutiv zum Predigtgeschehen hinzugehört. Gefördert wird dieses Geschehen unter anderem durch die Respektierung der medialen Bedingungen der „Produktion“ und „Rezeption“ einer Predigt, wozu die Aufmerksamkeit für die spezifischen Merkmale ihrer Struktur und Präsentation bzw. das Bemühen um ihre Ergänzungsfähigkeit gehören. Im Ergebnis dieses Prozesses kommt es weniger auf die logisch nachvollziehbare Unterbringung von Satzwahrheiten in der eigenen Lebenswelt an, sondern – hier rezipiert die Autorin Gerd Theißen – auf den durch die Predigt unter Umständen neu eröffneten Spielraum der „Interaktion mit Gott“. Die Arbeit an und für diesen Spielraum ist nach Ansicht von Ilona Nord das Beste, was eine Predigt tun könne und worauf bei ihrer Vernetzung mit dem Gottesdienstganzen zu achten sei.
5 Zum Ertrag der Untersuchung Die Autorin hat ein Werk vorgelegt, das das Phänomen virtueller Realität in den aktuellen Diskurs der Praktischen Theologie einzeichnet und mit zentralen praktisch-theologischen Argumentationsmustern verbindet. Angesichts der grenzenlos anmutenden potenziellen Anknüpfungsmöglichkeiten ist eine überzeugende Auswahl getroffen worden, indem Gottesdienst und Predigt als solche Handlungsfelder in den Blick genommen werden, die an der Konstruktion religiöser als virtueller Welten besonderen Anteil haben. Dabei ist – mehr als die Beschränkung im Titel erkennen lässt – in weiten Teilen des Buches das Ganze der Praktischen Theologie im Blick. Durch die schrittweise praktisch-theologische Entfaltung des Virtualitätsbegriffs vermag das vorliegende Werk ein umfassenderes Verständnis von der Funktionsweise sowie konkrete Umgangsformen derjenigen Wirklichkeit zu entwickeln, auf die die Bemühungen Praktischer Theologie letztlich zielen. Dabei geht es zentral um die Bildung christlicher, (nicht im konfessionellen Sinn) evangelischer Identität, die ihre Nahrung gleichermaßen aus der Tradition wie aus virtuellen Welten im Sinne der Wirklichkeit des Möglichen – einschließlich künftiger Situationen – bezieht. Durch die Analyse und Beschreibung dieses Zusammenhangs ist es gelungen, die in der Theologie ge-
5 Zum Ertrag der Untersuchung
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legentlich konstruierte Kluft zwischen Lebenswelt und Glaubenswelt nachhaltig zu problematisieren. Das kritische Potenzial, mit dem die Autorin von ihrem Virtualitätskonzept her einzelne verbreitete praktisch-theologische Gemeinplätze hinterfragt, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Das betrifft unzureichende Subjekt-Objekt-Verhältnis-Bestimmungen, die kulturhermeneutisch begründete Privilegierung bestimmter Medien für religiöse Zwecke, einzelne rezeptionsästhetische Prämissen, den vermeintlich immedialen Charakter relevanter offenbarungstheologischer Kommunikationsprozesse, das Verständnis bzw. die Relevanz der Medienpräsenz der Kirche, die Ideologie von „Gegenwirklichkeiten“, die faktische Zweiteilung der Wirklichkeit, den Begriff der Situation, die Ontologie heiliger Räume u. a. m. Damit leistet das vorliegende Buch einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Voraussetzungen und Möglichkeiten der Kommunikation des Evangeliums und stellt eine große Bereicherung des Argumentationsrepertoires der Praktischen Theologie dar. Deshalb kann man die Lektüre dieses Werkes nur wärmstens empfehlen und der Autorin aufmerksame Leserinnen und Leser wünschen. Münster, am 1. Juli 2008
Wilfried Engemann
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Einleitung Christliche Religion und christlicher Glaube pflegen einen konstruktiven Umgang mit der Wirklichkeit. Darin liegt eine Gemeinsamkeit mit virtuellen Realitäten. An dieser Gemeinsamkeit können Praktische Theologie und Homiletik ihr Verständnis von Medien und von der Kommunikation des Evangeliums schärfen. Virtuelle Realitäten vermögen es, Menschen in alternative, zum Teil fantastische Welten hineinzuführen. Fantasyspiele, Chatrooms oder Websites bieten hierzu viele Möglichkeiten. Auch die christliche Religion eröffnet solche Kommunikationsräume. Im Vergleich zu den computergestützten virtuellen Realitäten hat die jüdisch-christliche Tradition allerdings vor allem Textwelten angeboten: die Bilder vom messianischen Friedensreich, in dem der Löwe und das Lamm friedlich beieinanderliegen (Jes 9), oder des himmlischen Jerusalems (Apk 21), einer Stadt, in der kein Leid, kein Geschrei noch Schmerz mehr sein wird. Kognitiv werden Menschen in diesen religiösen Welten von einem bestimmten Weltbild angesprochen, emotional wird ihnen mit diesem eine Perspektive auf ein Leben vermittelt, das eine gute Zukunft erhoffen lässt. Der Bezug zur Lebenswelt wird dabei nicht ausgelassen. So wie Computerspiele Anregungen für einen Umgang z. B. mit Krisensituationen im Alltag vermitteln können, indem Kinder oder Erwachsene spezifische Rollen übernehmen, so ermöglicht auch Religion Rollenangebote für ihre Mitglieder. Das Angebot, sich z. B. mit Abraham oder Sarai zu identifizieren, ihre Geschichte kennen zu lernen und nachzuspielen, verändert die Wahrnehmung der Wirklichkeit in spezifisch religiöser Weise. Dies gilt auch für die großen, die sakramentalen christlichen Symbolhandlungen: Der christliche Glaube lädt ausdrücklich dazu ein, sich als Kind Gottes zu begreifen. Dass Menschen einen lebenslangen Prozess aufnehmen, in dem sie sich damit identifizieren, Kind Gottes zu sein, das ist das Angebot, das die Taufe macht. Ebenso gilt für das Abendmahl: Wer am Abendmahl teilnimmt, wird zum Jünger oder zur Jüngerin Jesu. Der sakramentale Raum eröffnet die Möglichkeit, immer wieder neu Rollen zu übernehmen, mit denen man sich persönlich in die Welt des Glaubens hineinstellt und mit dem eigenen Anteil an ihr spielt. Diese Rollenspiele, so lautet das Anliegen eines ganzheitlichen Verständnisses des christlichen Glaubens, sollen nicht darauf reduziert werden, dass sie allein im Kontext von Kirche zu spielen sind. Sie
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sind darauf angelegt, dass sie weiterwirken und zum ganz alltäglichen Repertoire eines Christenmenschen werden.ŗ Aber virtuelle Realitäten vermitteln neben Spiel und Unterhaltung auch tagespolitische oder auf historische oder kulturelle Ereignisse bezogene, informativ einnehmende Welten. Auch dies gilt für die christliche Religion, z. B. insofern sie sich in und mit elektronischen Medien präsentiert und über ihre Aktivitäten und Angebote informiert oder computergestützt zu religiöser Praxis einlädt. Virtuelle Andachtsräume stehen hierfür ebenso wie kirchliche Newsletter, Online-Zeitungen etc. Angebote an virtuellen Realitäten entstehen seit gut fünfzehn Jahren massenhaft auf elektronischer Basis, also mit Hilfe von computervermittelten Kommunikationen. Ihre besondere Eigenschaft ist, dass sie als Spielwelten, als bildungsbezogene (Re-)Konstruktionen kultureller Errungenschaften, als technische Welten und als Chatrooms einen höheren Immersionsgrad als die für die Religion genannten Textwelten produzieren.Ř Es entsteht eine neue Intensität von Immersionen: „Mit Hilfe spezieller grafischer Displays (Stereoprojektion, Videobrille) und geeigneter Eingabegeräte (Datenhandschuh, Spacemouse) wird dabei Immersion erzeugt, das Gefühl, vollständig in eine künstliche, virtuelle Umgebung einzutauchen.“ř Damit wird auch deutlich, dass Immersionen Kommunikationen grundlegend über Gefühle bestimmen. Einerseits ist ein enormer Zuwachs an Zugängen zu Informationen über alle möglichen Themen und zu praktischen Handlungsvollzügen zu erkennen. Andererseits bringen das World Wide Web und computervermittelte Kommunikationen insgesamt ein verändertes Verhältnis zu Emotionen, zu Gefühlen, zu affektiven Artikulationen in das Blickfeld kommunikationswissenschaftlicher Überlegungen. „Im Jahr 2000 waren die wichtigsten Nutzungsmotive der Onliner mit 93 Prozent Zustimmung weil ich mich informieren möchte und mit 80 Prozent weil es mir Spaß macht. Fünf Jahre später kamen die beiden identischen Vorgaben in der Erhebung auf 91 Prozent bzw. 78 Prozent [...].“Ś Zusammenfassend lässt sich sagen: Das World Wide Web
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So auch Gerd Theißen, Die Religion des Urchristentums. Gütersloh 2000, 34; es zeigen sich erste Vernetzungen des Themas mit Ansätzen des Bibliodramas und des Bibliologs, die im zweiten Teil der Untersuchung aufgegriffen werden. Mit Immersionen sind hier die Wirkungen gemeint, die Menschen spüren, wenn sie sich in eine elektronisch konstruierte Umgebung hineinbegeben. Ausstellungshandout Cybernarium Days 23.–28.1.2002, Centralstation Darmstadt; vgl. auch Teil 1, 1 Annäherungen an ein mediales Phänomen. Maria Gerhards/Walter Klingler, Mediennutzung in der Zukunft. In: Media Perspektiven 2/2006, 86. Kursive Textteile kennzeichnen in dieser Untersuchung fest-
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wird „in erster Linie als Orientierungsangebot genutzt, fast ebenso wichtig ist aber das mit dem Internet verbundene emotionale Erleben.“ś Es ist weitgehend unstrittig, dass die Ansicht revidiert werden muss, virtuelle Realitäten bewirkten eine Abstumpfung der Sinne. Abstumpfung tritt allenfalls durch eine Überforderung der Sinne aufgrund einer hohen Intensität von sinnlichen Eindrücken auf. Virtuelle Realitäten können die sinnliche Wahrnehmung intensivieren. Dies ist der Grund dafür, dass sie emotional weitreichender wirken, als dies in weniger immersiv wirkenden Medien der Fall ist. Eine weitere interessante Gemeinsamkeit zwischen computergestützten virtuellen Realitäten und der christlichen Religion zeigt sich im Blick auf ihre Herkunftsreligion, das Judentum. Im Vergleich zum Judentum kann man davon sprechen, dass die christliche Religion ihre Identität zum Teil jedenfalls über immersive Effekte herausbildete, die sie über die Intensivierung sinnlicher Wahrnehmungen erzielte. Diese für das jüdisch-christliche Verhältnis durchaus ambivalente Entwicklung zeigt sich z. B. darin, dass das Urchristentum sowohl den jüdischen Mythos (dass etwa das Volk Israel der Stellvertreter aller Menschen ist) und die Grunderzählung, den Bundesschluss Gottes mit seinem Volk, nicht nur fortsetzte, sondern auch neu zentrierte. So verbindet sich ein Mythos mit einer konkreten Geschichte, die zudem einen einzigen Menschen aus dem Volk Israel ins Zentrum allen Geschehens rückt. Indem Jesus nach seinem Tod in kürzester Zeit zur Gottheit erhoben wurde, er als Sohn Gottes, erhöhter Kyrios und Erlöser verehrt wurde, sind zwei gegenläufige Tendenzen in eine spannungsvolle Einheit hineinkonstruiert worden: „Eine Intensivierung des Geschichtsbezugs und eine Intensivierung des Mythos, eine Rehistorisierung und eine Remythologisierung zugleich [...]. Ein konkreter Mensch wird zur Gottheit, die Gottheit inkarniert sich in einem konkreten Menschen.“Ŝ Die Offenbarung Gottes in einen Menschen zu verlegen, der universale Bedeutung hat, verspricht durch Jesus Christus auch eine Intensivierung der emotionalen Bindung an Gott, der dem Menschen in seiner Erscheinung als Mensch näher gekommen ist. Einerseits können Angst, Schuld, Versagen und Trauer in diese Beziehung hineingetragen und damit auch persönlich anerkannt werden, weil es möglich ist, sich mit Jesus gemeinsam an Gott zu wenden und ihn mit Abba anzurufen. Andererseits kann Religion auch Grenzsituationen herbeiführen. So regt das
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stehende Ausdrücke, Zitate bzw. Zitate in Zitaten und Leitwörter für das Verständnis des Textes. Ursula Dehm/Dieter Storl/Sigrid Beeske, Das Internet: Erlebnisweisen und Erlebnistypen. In: Media Perspektiven 2/2006, 92. Theißen (2000: 40).
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Evangelium dazu an, Jesus Christus nachzufolgen, auch wenn diese Nachfolge bis zum Martyrium führt. Im christlichen Glauben geht es von dem in den Evangelien berichteten Beginn bis in die Gegenwart hinein sowohl um irritierende als auch um vertrauensvolle Gefühle. In seinem Kontext werden Situationen der Ablehnung und der Annahme, der Angst und der Freude kommuniziert; es geht um große und darin intensive Gefühle, die von existenzieller Bedeutung sind. Eine herausfordernde Gemeinsamkeit virtueller Realitäten und christlicher Religion liegt schließlich in der Frage nach ihrer Wirklichkeit. Beiden wird häufig das Attribut zugewiesen, nicht wirklich zu sein, oder sie erhalten (unabhängig voneinander) den Status einer Sonderwelt. Die Diskussion über das mediale Phänomen der virtuellen Realitäten führt zu der Annahme, dass diese Frage innerhalb der Theologie nicht allein (medien-)ethisch zu beantworten ist. Es sind auch ästhetische Fragestellungen, insbesondere Fragen nach der Wahrnehmung der Wirklichkeit des christlichen Glaubens, zu vertiefen. Kultur- und Geisteswissenschaften wie auch die Naturwissenschaften halten ein plurales Spektrum zur Deutung des Terminus Wirklichkeit bereit. Als spezieller gemeinsamer Blickpunkt der Beschäftigung mit virtuellen Welten und dem christlichen Glauben wurde bereits auf deren Wirkungen, die Immersionen, verwiesen. Anders formuliert kann man auch sagen, dass sich in Immersionen die Art und Weise niederschlägt, wie etwas wirklich wird. Für die Frage nach dem, was als wirklich zu gelten hat, ergibt sich daraus eine Ergänzung, die weiterführt: Die Akzeptanz dessen, was als wirklich gilt, hängt wesentlich davon ab, ob die Art und Weise einsichtig wird, wie etwas wirklich wird. Dieser Zusammenhang wird traditionell in der (religions-)philosophischen und der systematisch-theologischen Diskussion unter dem Topos der Modalität von Wirklichkeit verhandelt. Diesem Topos ist in der Kommunikation des Evangeliums eine hohe Bedeutung zuzumessen. So trägt die Auseinandersetzung mit virtuellen Welten dazu bei, dass die Theologie ihre eigene Tradition hinsichtlich relevanter Fragen an den Glauben rekonsultiert. In der Kommunikation des Evangeliums geht es nicht nur darum, in angemessener Weise die Botschaft Jesu Christi zu verkündigen, sondern auch darum, wie sie sich zum Verständnis von Wirklichkeit insgesamt verhält, wie sie die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Glaubens zu kommunizieren vermag. Für die Erschließung des medialen Phänomens virtueller Realitäten insbesondere auf Immersionseffekte zu setzen und damit den Fokus auf Wirkungen bei den Rezipientinnen und Rezipienten einzustellen, sprechen auch historische Bezüge ihrer Deutung. Ein Beispiel ist Meyers KonversationsLexikon aus dem Jahre 1890. Hier findet sich unter dem Eintrag Virtualität
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das Synonym Wirkungsfähigkeit. Für das Stichwort virtuell wird festgehalten: „vom lat. virtus, Tugend, Tauglichkeit, im physikalischen Sprachgebrauch eine in der Möglichkeit vorhandene Eigenschaft, welche unter gewissen Umständen in die Wirklichkeit zu treten vermag. So sagt man z. B., die gespannte Sehne einer Armbrust besitze virtuelle Energie (Arbeitsfähigkeit), weil sie, wenn losgelassen, den Pfeil fortzuschleudern vermag, indem sich dabei die in der ruhenden Sehne gleichsam schlummernde virtuelle Energie in die aktuelle oder thätige Energie (Bewegungsenergie) des dahinfliegenden Pfeils verwandelt.“ŝ In der Enzyklopädie wird somit nahegelegt, dass virtuell im Gegenüber von potenziell gedacht werden kann. Dann wird auf die Spannung zwischen einer Möglichkeit und ihrer Verwirklichung hingewiesen. Schließlich wird dem Adjektiv virtuell das Charakteristikum der Modalität zugewiesen. Was sich an physikalischen Beispielen zeigen lässt, kann in anderer Form auch in der Literatur aufgefunden werden. So wird z. B. Dante Alighieris Göttliche Komödie als ein Entwurf eines virtuellen Seelen-Raums interpretiert. Margaret Wertheim stellt in ihrem Beitrag zur Bedeutung virtueller Realitäten für die Historie des Raumverständnisses unter anderem Dantes Vermögen heraus, literarisch die Sinne so anzusprechen, dass man sich mit auf der Seelen-Reise durch Dantes Welt wähne, dass man sie geradezu höre, sehe und rieche. Die Realität seines Weltentwurfs habe in der Renaissance sogar zu dem Brauch geführt, komplizierte Landkarten von Dantes Hölle zu zeichnen. „Wie die Göttliche Komödie so schön zeigt, geht die Erschaffung virtueller Welten der Entwicklung zeitgenössischer Technologie für die Virtual reality voraus. Eine der Aufgaben aller großen Literatur, von Homer bis Asimov, ist es gewesen, glaubhafte andere Welten heraufzubeschwören. Bücher versetzen uns, obwohl sie mit der Macht der Worte arbeiten, in fesselnde andere Wirklichkeiten. Es ist kein Zufall, dass das Johannesevangelium mit dem Satz beginnt: Im Anfang war das Wort.“Ş Es gibt also keine prinzipiellen, sondern allenfalls graduelle Unterschiede zwischen den z. B. literarischen, in Buchform publizierten Gestaltungsweisen virtueller Realitäten und computervermittelten virtuellen Realitäten. Virtuelle Realitäten sind durch Medien wie das Wort – oder im Falle der Computer-Kommunikationen besser allgemein formuliert: durch Zeichen – ŝ
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Meyers Konversations-Lexikon. Eine Enzyklopädie des allgemeinen Wissens. Bd. 16. Leipzig/Wien 1890 (4. Auflage), 227. Die Hervorhebungen stammen aus dem Text, dessen Autor allerdings nicht genannt ist. Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet. Zürich 2000, 45. Die Kennzeichnungen stammen von der Autorin. Zur Historizität virtueller Realitäten vgl. auch Stefan Rieger, Anthropologie und Kybernetik. Frankfurt am Main 2003.
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vermittelte glaubhafte andere Welten. Dass sie glaubhaft wirken, macht sie bedeutsam für die Wirklichkeit, die nun ihrerseits sich klarer zu erkennen gibt als spezifische Konstruktion einer Wirklichkeit. Wenn in dieser Weise von einer konstruierten Welt oder der Konstruktion einer Wirklichkeit gesprochen wird, ist dies keine Abwertung gegenüber einer vorgeblich objektiv auffindbaren Realität. Vielmehr soll in dieser Untersuchung darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Lebenswelt, die im Alltagsbewusstsein oftmals als vorgegeben und objektiv erlebt wird, ein Konstrukt ist, das nicht weniger auf bestimmten Übereinkünften in der Wahrnehmung basiert als dies z. B. für die Welt der Religion und des christlichen Glaubens gilt. Beide nehmen die menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung in Gebrauch, die sich auf die Wahrnehmung von Welt, ihre Gestaltung und die intersubjektive Kommunikation über diese bezieht: „Virtualität wird damit [...] ein existentiell nicht hintergehbares Zuschreibungsverfahren, in dem der Mensch sich beobachtet, in dem er sich als soziokulturelles Wesen erzeugt und erhält.“ş So können virtuelle Realitäten als eine Gestaltungsweise der medialen Fähigkeiten des Menschen aufgefasst werden. Die Praktische Theologie hat virtuellen Realitäten, insbesondere was ihre computergenerierte Gestaltung anbelangt, bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Computerspiele mit Gewaltszenarien, aber auch das Problem, dass Jugendliche mit geringen Bildungschancen durch den Konsum von medialer Kommunikation ihre Konzentrationsfähigkeit und die Motivation, sich der Gestaltung ihres Lebens aktiv zuzuwenden, verlieren, unterstützen zu Recht Vorbehalte gegenüber computervermittelten Kommunikationen. Doch der weitestreichende Grund für eine Distanzierung liegt m. E. in der strukturellen Ähnlichkeit und damit auch einer konkurrierenden Dimension von virtuellen Realitäten oder Medien auf der einen und Glaube oder Religion auf der anderen Seite.ŗŖ Praktische Theologie kann darin, dass sie für die Wahrnehmung der Medialität von Religion, Glaube und Offenbarung sensibilisiert, sich auch für eine die Praxis der Homiletik verändernde Perspektive stark machen: Die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ist ein mediales Geschehen. Es gibt keine Möglichkeit, Gottes Gegenwart unvermittelt, sozusagen unmittelbar zu erfahren. Doch wie für mediale Kommunikationen durch Radio, Fernsehen oder Computer gilt auch für die Offenbarung Gottes, dass sie Einş ŗŖ
Manfred Faßler, Bildlichkeit. Wien/Köln/Weimar 2002, 222. Vgl. z. B. Manfred Josuttis: „Die religiöse und die technische Television stören einander.“ (Manfred Josuttis, Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden. Gütersloh 2002, 258). Er empfiehlt den Verzicht auf Medienkonsum.
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drücke hinterlässt, die ihr eine eigene Wirklichkeit geben. Diese Eindrücke werden auf Gottes Handeln oder auf die Wirkung des Heiligen Geistes zurückgeführt. Aber die Wahrnehmung, dass göttliche Wirkungen im Spiel sind, ersetzt nicht die Frage danach, wie diese sich zeigen. Es soll also auf diese Weise der Medialität religiöser Erfahrungen nachgegangen werden. Dies erscheint umso mehr lohnenswert, als Medien selbst dazu tendieren, unsichtbar zu bleiben.ŗŗ Weit häufiger werden die Inhalte, die in einer medialen Inszenierung auftreten, reflektiert, als dass die Form, in der sie erscheinen, zum Gegenstand einer Diskussion wird. Damit geht es im Folgenden darum, aus der Erkundung des medialen Phänomens virtueller Realitäten Einsichten zur Selbstaufklärung der medialen Dimension christlicher Religion und christlichen Glaubens zu erheben. Dies geschieht in einem ersten Teil zunächst vor dem Horizont medientheoretischer Diskussionen innerhalb der Praktischen Theologie und dann in einem zweiten Teil in der Konzentration auf Gottesdienst und Homiletik und deren Sensibilität für die Virtualität der Kommunikation des Evangeliums. Die Lehrbücher der Homiletik, so drückt es Rainer Preul drastisch aus, nähmen allesamt auf die öffentlichen Medien entweder gar keinen oder nur einen beiläufigen Bezug.ŗŘ Doch immerhin kann eine medientheoretisch reflektierte Homiletik auf der zeichentheoretischen Grundlage aufbauen, die die Medialität der Kommunikation des Evangeliums bereits aus semiotischer Perspektive thematisiert hat.ŗř Hinzu treten weitere Vernetzungsmöglichkeiten, wenn man auf die oben angesprochene menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung blickt. Sie zeigt sich z. B. in Entwürfen, die auf die Spiel- und Theaterpädagogik sowie auf die Sprechakttheorie und die Kommunikationspsychologie eingehen.ŗŚ Eine Spurensuche zur Bedeutung virtueller Realität innerhalb homiletischer Literatur verspricht also einerseits, auf wenig aus-
Vgl. zum ästhetischen Horizont dieser Frage Pravu Mazumdar, Repräsentation und Aura: Zur Geburt des modernen Bildes bei Foucault und Benjamin. In: Peter Gente (Hg), Foucault und die Künste. Frankfurt am Main 2004, 220–237. ŗŘ Vgl. Rainer Preul, Kommunikation des Evangeliums unter den Bedingungen der Mediengesellschaft. In: Ders./Reinhard Schmidt-Rost, Kirche und Medien. Gütersloh 2000, 9–51, hier: 40, Anm. 82. ŗř Vgl. Wilfried Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie. Leipzig 2003, insb. 44–49 u. 167–189. ŗŚ Vgl. für die erstgenannten Ansätze z. B. Susanne Wolf-Withöft, Predigen Lernen. Homiletische Konturen einer praktisch-theologischen Spieltheorie. Bonn 2000, und allgemeiner Thomas Klie, Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie. Gütersloh 2003, zu Letzteren den Überblick von Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik. Tübingen/Basel 2002. ŗŗ
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getretene Pfade zu führen, andererseits, auf Verbindungen unter Bestehendem aufmerksam zu machen. Wo Religion als Teil von Kultur verstanden wird, erhält die praktischtheologische Beschäftigung mit Medien schließlich noch einen weiteren Anlass. Er liegt in der enormen Ausdehnung, die computervermittelte Kommunikationen weltweit angenommen haben. Sie bestimmen einen großen Teil der Kommunikationskultur insgesamt. Insbesondere in der nördlichen Hemisphäre wird täglich über mehrere Stunden über Medien wie Fernsehen, mobile Telefone und Personal Computer kommuniziert. Während 1997 6,5 % der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger Online-Kommunikationen genutzt haben, ist diese Rate im Jahr 2001 bereits auf 38,8 % gestiegen. 2005 sind es 58 % aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, die das Internet nutzen. Gleichzeitig steigt die Nutzung des Fernsehens leicht an, die des Radios bleibt durchaus konstant; insgesamt nimmt also die Zeit, die Menschen medial kommunizieren, zu. Prognostiziert wird darüber hinaus für die nächsten zehn- bis fünfzehn Jahre, dass in der Bundesrepublik mehr als 70 % der Menschen online kommunizieren.ŗś Daneben ist zu berücksichtigen, dass computergestützte Kommunikationen nicht isoliert am PC genutzt werden, sondern sie immer schon mit Radio, Fernsehen und Telefon vernetzt sind. Aus dieser Vernetzung geht die multimediale Kommunikationskultur hervor, die öffentlich und privat präsent ist. Die Frage, welche Konsequenzen elektronisch mediatisierte Kommunikationen in Zukunft gerade für die Bildung von Kindern und Jugendlichen haben werden, muss auch medienkritisch beantwortet werden. In dieser Untersuchung liegt der Fokus allerdings anders. Es wird in der Beschäftigung mit Medien unterhalb von ethisch normativen Fragestellungen angesetzt. Denn zunächst sollen medientheoretische Reflexionen zugelassen werden, die verdeutlichen, wie nah Medien und Religion bzw. Glaube hinsichtlich der Frage nach der Wahrnehmung von Wirklichkeit miteinander verwandt sind: Beide bieten Strukturen zur Organisation von Weltsichten und konstruieren auch selbst mit ihren Wahrnehmungen Wirklichkeit. Beide sind auf Vertrauen in sich angewiesen und folgen vergleichbaren Bauplänen.
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Gerhards/Klingler (2/2006: 85).
Teil 1 Beiträge zu einem praktisch-theologischen Verständnis virtueller Realitäten
1 Annäherungen an ein mediales Phänomen Im Dom von Siena lerne ich Luigi, einen Avatarŗ, kennen; er ist Reiseführer von Beruf. Auf seinem Rundgang durch die Kathedrale informiert er über die Bilder im Dom, über dessen Geschichte und Architektur. Luigi beantwortet Fragen und erläutert, was zu sehen ist. Ich bin in eine faszinierende religiöse Welt eingetaucht, auch wenn der Avatar noch etwas hölzern daher kommt. Ich frage mich, ob er nur auf stimmliche Laute reagiert und dann immer wieder dieselben Sprechsequenzen abspult oder ob er bereits situativ zu reagieren vermag. Aber in Anbetracht künftiger technischer Entwicklungen kommt dieser Überlegung nur eine vorübergehende Bedeutung zu; die Reaktionsmöglichkeiten von Sprechcomputern erweitern sich permanent. Cybernarium Days, so heißt eine Ausstellung des Fraunhofer-Instituts, Graphische Datenverarbeitung, die im Jahr 2002 in Darmstadt eröffnet wurde und den Phänomenbereich virtueller Realitäten konzentriert für die Öffentlichkeit inszeniert. Das große Interesse an dieser Ausstellung motivierte dazu, sie seitdem in einer Dependance des Instituts in Darmstadt fest zu installieren und damit ständig begehbar zu halten. Wer in die hier dargebotenen virtuellen Realitäten eintritt, wird von einem Dunkel überrascht, das alles schluckt. Ein Effekt, den die Ausstellungsmacher bewusst inszeniert haben, denn im Dunkel wird Helles ganz besonders wahrnehmbar: erste Immersionserfahrungen. Der Rundgang durch die Ausstellung beginnt mit einem Lernraum, dem Dom von Siena. Gerade in dieser Sparte von Lernräumen werden virtuelle Realitäten oft als Simulationen im Sinne von Scheinwelten bezeichnet. Der Begriff Scheinwelt suggeriert, es handele sich um etwas nicht Wirkliches. Eine solche Einschätzung, so wird im Folgenden noch deutlich werden, simplifiziert das Verständnis von Realität. Simulationen, Schein-, Modell- und Experimentierwelten lassen erfahren, was es bedeutet, in virtuelle Realitäten einzutauchen. Ich versuche, diese Erfahrung aus eigener Perspektive in Form eines BlitzlichtsŘ wiederzugeben:
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Der Begriff Avatar stammt aus der indischen Mythologie und bezeichnet artifizielle Figuren, die mit Menschen, die in virtuelle Realitäten eintreten, zu interagieren beginnen. Vgl. zu dieser methodischen Herangehensweise Teil 1, Kapitel 2.3.
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1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
1.1 Simulation I: Mediale Erinnerungskulturen Das Projekt Dom von Siena, das zur Vor- und Nachbereitung von Reisen in die Region Toskana, aber auch allgemein zur Entwicklung virtueller Repräsentation von Bauwerken, die nicht mehr existieren, entwickelt wurde, ist für die Weltausstellung in Hannover (EXPO) im Jahr 2000 entstanden. Für die Gestalter dieser virtuellen Realität war die Visualisierung des Gebäudes insbesondere deshalb eine Herausforderung, weil die Komplexität in der Aufbereitung der Geometrie, der grafischen Darstellung und der Details von Gemälden, Mosaiken und dem Mauerwerk sehr hoch gewesen ist. Zum Visualisierungsprozess gehörten auch die Arbeit am Licht des Raums und die Beleuchtung der Installation. So heißt es: „Um die Stimmung im Inneren der Kathedrale besser wiederzugeben, wurde das Modell einer Beleuchtungssimulation unterzogen, die sowohl das Tageslicht als auch ca. 150 Lichtquellen im Inneren des Domes berücksichtigte.“ř Immersionen werden maßgeblich durch Illuminationen erzeugt. An dieser Stelle ist eine erste Verbindung zum Praxisfeld Religion möglich: Zur Architektur von Sakralbauten gehört die Beschäftigung mit Licht sowie dem Lichteinfall traditionell dazu. Zum einen ist dies eine Folge der fundamentalen biologischen und kulturellen Bedeutung des Lichts. Licht eröffnet Lebensräume, die mit ihm zuallererst sichtbar werden.Ś Es versetzt in Stimmung und gibt Hoffnung.ś Licht ist eine global verbreitete Metapher für Leben. Zum anderen kann aber auch eine spezifisch christliche Bedeutung herausgearbeitet werden. Kirchengebäude sind Jahrhunderte lang nach Osten ausgerichtet worden, damit das Morgenlicht in sie einfallen kann. Dem Morgenlicht ist zugeschrieben worden, dass es etwas vom Glanz der Ewigkeit vermitteln könne. Innerhalb der christlichen Theologie ist das Licht eine Metapher für die Qualifikation des Christentums als Erlösungsreligion geworden.Ŝ Die Auseinandersetzung mit der Simulation des Doms von Siena ř Ś
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Vgl. Handout Lernraum Dom von Siena. Vgl. hierzu auch Hans-Günter Heimbrock, Gott im Auge. Über Ansehen und Sehen. In: Wolf-Eckart Failing/ders. (Hgg.), Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis. Stuttgart 1998, 123–144. Vgl. Teil 2, 3.1; vgl. auch beispielsweise Hans Erich Thomé/Gotthard Scholz-Curtius, Lichteinfall. Zeitgenössische Kunst in der Kirche. Frankfurt a. M. 1995. Vgl. Werner Beierwaltes, Art. Licht, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, Basel 1980, Sp. 282–286, und z. B. für eine neuere Kritik an der einflussreichen Schrift von Rudolf Bultmann Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum: Adolf Martin Ritter, Die Lichtmetaphorik bei Dionysius Ps.-Areopagita und in seinem Wirkungsbereich, in: Reinhold Bernhardt/Ulrike Link-Wieczorek (Hgg.), Metapher und Wirk-
1.1 Simulation I: Mediale Erinnerungskulturen
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macht aber auch noch etwas Zweites bewusst: Die traditionelle Gestaltung des Lichtspiels in Kirchen kann im Grunde ebenfalls als Simulation bezeichnet werden. Sie simuliert die Präsenz von Gottes Macht zur Erlösung. Insofern stellt sich hier die Arbeit an einer Simulation auch als eine Arbeit an der Darstellung von Metaphern dar. Gerd Theißen macht sich diese Einsicht zunutze, indem er nun auf umgekehrtem Wege Erfahrungen mit dem Begehen von Kirchen und Kathedralen nutzt, um eine immersive Inszenierung der Religion des Urchristentums vorzustellen. Er reinszeniert die Religion des Urchristentums als semiotische Kathedrale. Die semiotische Kathedrale ist eine virtuelle Realität, die zur Auseinandersetzung mit der urchristlichen Religion anregt. Über sie schreibt er: „Obwohl sie ein menschliches Konstrukt ist, hatte sie für ihre Bewohner eine innere Evidenz als Antwort auf eine Offenbarung. Bis heute schlägt sie Menschen in ihren Bann.“ŝ Diese Perspektive zeigt, dass Texte und Gebäude in gleicher Weise als Simulationen von Glaubenserfahrungen gedeutet werden können. Die Rede von der semiotischen Kathedrale greift auch das Phänomen auf, dass virtuelle Realitäten durch dreidimensional angelegte Raumerlebnisse wirken. Zweidimensionale Oberflächen werden in die Tiefe erweitert und darin wird die Simulation herkömmlicher Raumerfahrungen perfekter als zuvor organisiert. Theißens semiotische Kathedrale verhilft ebenfalls sehr gut dazu, eine weitere Neuerung in der Raumerfahrung zu betonen: sie liegt in dem Bewusstsein, dass die Existenz der virtuellen Realität maßgeblich von ihrer Nutzung abhängt. Räume werden deutlich als soziale Gebilde erkennbar, sie entstehen erst in ihrem Gebrauch. Die virtuelle Realität der semiotischen Kathedrale oder des Dom-Raums ist eine der Möglichkeit nach vorhandene Realität. Der Dom-Raum ist „[...] allein durch die kurzzeitige wechselseitige Einbettung von menschlichem Handeln und nicht-menschlichen Schaltungsprozessen [...]“Ş entstanden. Diese subjektbezogene und rezeptionsorientierte Wahrnehmung virtueller Realität ist gerade hinsichtlich medienethischer Diskussion von Bedeutung. Im medienethischen Sinne ist der virtuelle Dom von Siena als ein kulturell hochwertiges Beispiel zu bezeichnen. Neben ihm und anderen qualitativ hochrangigen Produkten existieren massenhaft schlecht produzierte und mit
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lichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur. Göttingen 1999, 164–178. Vgl. Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000, 391. Faßler (1999: 58).
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Gewaltfantasien spielende Computerszenarien, die die zum Teil pauschalen Urteile über das Phänomen erklärbar werden lassen. So heißt es z. B., dass der Umgang mit virtuellen Realitäten den Realitätssinn und die Fähigkeit, Techniken und ihre Folgen abzuschätzen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen schwäche.ş Aber ein mehr differenzierter Blick, so sollte deutlich geworden sein, kann den Gebrauch des Topos Scheinwelt als ideologisch entlarven und zudem den Anteil der christlichen Religion, die sie selbst am Phänomen der Simulation hat, angemessener freilegen. Doch auch ein in anderen Kulturwissenschaften verbreitetes Misstrauen gegenüber Simulationen behindert diesen Umgang mit dem medialen Phänomen. Der Grund für dieses Misstrauen kann in einer Angst gegenüber unkalkulierbaren Einflüssen gesehen werden: „Dieses Mißtrauen [...] ist das Mißtrauen des alten, subjektiven, linear denkenden und geschichtlich bewußten Menschen dem Neuen gegenüber, das sich in den alternativen Welten zum Ausdruck bringt und mit den übernommenen Kategorien wie objektiv wirklich oder Simulation nicht zu fassen ist.“ŗŖ Der Streit um eine Einschätzung dessen, was Simulationen kulturell bedeuten, greift also über medienethische Fragen hinaus. Es geht um das Verständnis von Wirklichkeit generell. Eine solche Perspektive, wie sie z. B. von Vilém Flusser vertreten wird, ist interessant, weil er in virtuellen Realitäten alternative Welten entstehen sieht. Sie dienen seiner Einschätzung nach nicht dazu, ein realitätsgetreues Abbild etwa eines einst existierenden Gebäudes darzustellen, obwohl im Falle des Doms von Siena und auch in anderen Fällen mit einer solchen Authentizität durchaus gespielt wird. Mit Flusser lässt sich vielmehr der Blick von der virtuellen Realität als hergestelltem Medienprodukt lösen. Damit kann seinem Entstehungs- und Rezeptionsprozess mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wie konstitutiv diese beiden, Entstehung und Rezeption, sowie die Interaktion zwischen Gestalterinnen von virtuellen Realitäten und ihren Nutzern für die Bedeutung virtueller Realitäten im Alltag sind, zeigt ein Simulationsprojekt, das ebenfalls Erinnerungsarbeit fördert. Marc Grellert von der Technischen Universität (TU) Darmstadt hat am 9. November 2003 das Synagogen-Internet-Archiv eröffnet, dessen Kernstück die Rekonstruktion von 15 deutschen Synagogen bildet. Er begann das Projekt als Student 1994, in dem Jahr, als ein Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck verübt wurde. Neben seiner historischen und politischen Orientierung in der Nutzung virtueller Realitäten ist aber auch seine ästhetische Weiterbildung während des Projekts ş ŗŖ
Vgl. Hartmut von Hentig, Ach, die Werte. München 1999, 43 f., und Müller (2002). Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1999, 215 (1. Aufl. 1991).
1.1 Simulation I: Mediale Erinnerungskulturen
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für den Zusammenhang von Immersionserfahrungen in virtuellen Realitäten aussagekräftig. Wiederum geht es um Licht und, wie Grellert ausdrücklich sagt, um die Gestaltung von Atmosphären: „Am Anfang hatten wir Architekturprogramme mit eher nüchternen Ergebnissen“, sagt Grellert. „Jetzt benutzen wir Software aus der Filmindustrie. Damit können wir Licht und Schatten setzen und so Atmosphären entstehen lassen.“ŗŗ Der Kontakt mit Zeitzeugen hatte Grellert auf die Idee zum Projekt gebracht. Er hat Basisinformationen zu 2.000 Synagogen gesammelt, zu denen die Besucherinnen und Besucher der Websites selbst etwas hinzufügen können. In zwölf Monaten gingen ca. 1.000 Einträge ein. Auf diese Weise entstehen mit Simulationen Beiträge zu einer hochmodernen Erinnerungsarbeit, die interaktiv konstruiert ist.ŗŘ Um die Bedeutung solcher Arbeiten für die christliche Religion herauszustellen, ist es von Nutzen, sich zu vergegenwärtigen, dass in der virtuellen Realität simulierter Synagogen und der Kommunikation über sie Erinnerungsarbeit geleistet wird, die einen zentralen Bestandteil christlicher Glaubenserfahrung tangiert.ŗř Doch dass diese Erinnerungsarbeit sich in einem anderen Medium als zuvor, wie etwa im Buch oder, mehr allgemein ausgedrückt, im Archiv vollzieht und gespeichert wird, verändert auch die Erinnerungsarbeit selbst. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive wird weitgehend einstimmig argumentiert, dass das Gedächtnismodell des Archivs der telematischen Kommunikation nicht mehr angemessen ist.ŗŚ Die Schlüsselphänomene hierzu sind Visualisierungen und, wie oben beschrieben, interaktive Prozessierungen von Erinnerung. Eine Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass die Bedeutung der Schrift für die Erinnerungskultur in Zukunft anders eingeschätzt werden wird als bisher. Wo im Archiv die Schrift als Speichermedium dominierte, konnte der Sehnsucht und dem Wunsch nach Stabilität im Erinnern, ja sogar nach ewigem Erinnern nachgegeben werden. Doch die FunkIngo Senft-Werner, Ein Klick, und die Synagoge öffnet sich. Wissenschaftler rekonstruiert zerstörte jüdische Gotteshäuser im Computer / Internet-Archiv. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.2003. Das Synagogen-Internet-Archiv ist unter der Adresse www.synagogen.info zu erreichen. ŗŘ Vgl. Elena Esposito, Fiktion und Virtualität. In: Sybille Krämer (Hg.), Medien, Computer, Realität. Frankfurt a. M., 2. Aufl. 2002, 73–94. ŗř Vgl. z. B. Peter Biehl, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie IX. Praktisch-theologisch. In: TRE, Bd. 12. Berlin/New York 1984, 675–677. ŗŚ Vgl. Aleida Assmann, Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses. In: Georg Stanizek, Wilhelm Vosskamp (Hgg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation. Köln 2001, 280; vgl. Peter Weibel, Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren. Karlsruhe 2001, 8–11. ŗŗ
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1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
tionen von Schrift und Archiven verändern sich nun; dabei zeigen sie, dass sie nur sehr selektiv Erinnerungen bewahren können. Zugespitzt kommt zum Ausdruck, dass Erinnerung sich in einem dynamischen System flüssiger Daten vollzieht und erst in der Interaktivität der Personen, die Datenquellen aufsuchen, ihre konkrete Gestalt erhält.ŗś
1.2 Simulation II: Über das Zusammenwirken von Person und Medium Medizinstudierende können mit Unterstützung des Computers am Kunststoffmodell eines menschlichen Knies die sogenannte Kniespiegelung trainieren.ŗŜ Mit einer Endoskop-Kamera und Tasthaken dringt man in das Innere des Knies ein und führt Handgriffe aus, wie sie auch bei herkömmlichen Operationen durchgeführt werden müssen. Der minimal-invasive Eingriff, auch Schlüsselloch-Chirurgie genannt, ersetzt mehr und mehr die bisherigen Operationsverfahren; zum Teil sind die Risiken, die diese relativ neue Behandlungsmethode mit sich bringt, noch nicht zureichend erwogen; doch ihr Potenzial für die medizinische Behandlung ist unbestritten. Konkret geht es darum, Instrumente und eine winzige Kamera, das Endoskop, durch einen kleinen Schnitt in den Körper eines Patienten einzuführen. Die Kamera überträgt die Bilder – hier aus dem Kniegelenk – auf einen Monitor. Die Operation wird mithilfe der übertragenen Bilder ausgeführt. Um eine solche Technik zu erlernen, müssen Ärztinnen in der Ausbildung jahrelang bei Operationen assistieren und an Kunststoffmodellen oder Körperteilen von verstorbenen und sezierten Menschen üben. Solche Übungen können am Computer mit einem Arthroskopie-Trainingssimulator ausgeführt werden. Die Kamerabilder sind durch computergenerierte Bilder ersetzt. Im chirurgischen Training arbeitet man dann nicht mit echten Instrumenten, sondern mit Attrappen, die vom Simulator genau verfolgt werden. Dieses Verfahren spart Kosten und stellt auch anatomische Eigenarten und pathologische Veränderungen weit flexibler dar als ein Plastikmodell. Lernfortschritte können elektronisch überprüft werden. Die in diesem Sinne betriebenen Simulationen von Arbeitsfeldern, wie sie etwa für Lokomotivführer und Pilotinnen bereits gängig sind, werden in der Medizin ebenfalls etabliert. Das Beispiel des Simulationstrainings fordert dazu heraus, sich mit der Anpassung von Mensch und Technik auseinanderzusetzen. Die Verbindung ŗś ŗŜ
Welche Konsequenzen dies für das Verständnis von Geschichte hat, vgl. unter 3.6. Vgl. zu dieser Beschreibung das Handout „Arbeitsplatz Arthroskopietraining“.
1.2 Simulation II: Über das Zusammenwirken von Person und Medium
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zwischen Mensch und Technik muss offenbar fließend sein, um optimale Ergebnisse erzielen zu können. Hierbei ist es der Fluss selbst, der trainiert werden muss, sodass Technik und Mensch eins werden und eine gelingende Operation erwartet werden kann. Medienkritische Stimmen wie die von Jean Baudrillardŗŝ und Norbert BolzŗŞ beispielsweise werden immer wieder angeführt, um zu zeigen, wie Techniken der Virtualisierung Weltwahrnehmungen verflüssigen und instabil machen. Wenn mit dem Argument der Verflüssigung außerdem dafür plädiert wird „einer konstitutionellen Unterscheidbarkeit von wirklich und nicht wirklich gerade unter den Bedingungen virtueller Computerwelten theoretisches – und praktisches – Gewicht beizumessen“ŗş, zeigt sich, wie im Gegensatz dazu mit dem Verständnis von Realität die Charakteristika Härte, Festigkeit, Widerstand etc. verbunden werden.ŘŖ Dies geschieht aber offenbar, ohne dass es eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Kriteriums Stabilität gegeben hätte. Dagegen konfrontiert das Phänomen des Arthroskopietrainings damit, dass die Arbeit in virtuellen Räumen durchaus verlässliche Ergebnisse erzielen kann, dass der Umgang in und mit ihnen keineswegs eine Flucht aus der Realität fördert, sondern dass gerade andersherum in ihnen die Chance zu einer erhöhten Anpassung an diese liegt. Die Fokussierung auf das Kriterium wirklich versus nicht wirklich bzw. stabil versus flüssig/instabil steigert hingegen eine kulturwissenschaftlich verbreitete Voreingenommenheit gegenüber virtuellen Realitäten. Sie erfasst die wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Bedeutung von Simulationen, wie sie am Beispiel ihrer medizinischen Nutzung gezeigt worden ist, nicht. Dem Praxisbezug, mit dem virtuelle Realitäten entwickelt werden, wird diese Argumentation kaum gerecht. Das Arthroskopietraining verdeutlicht also, wie sehr es auf das Zusammenwirken von Person und technischem Medium ankommt, um eine Simulation wirkungsvoll werden zu lassen. Dies gilt nun aber auch in religiösen und Vgl. beispielsweise den bekannten Text von Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ars Electronica (Hg.), Philosophieren der neuen Technologie. Berlin 1999, 125, wo er den Menschen nur noch als Teil eines Apparates sieht: „Durch die virtuellen Maschinen und die neuen Technologien jedoch bin ich keineswegs entfremdet. Sie bilden mit mir einen integrierten Schaltkreis (dies ist das Prinzip des Interface). Groß- und Mikrocomputer, Fernsehen und Video und selbst der Photoapparat sind wie Kontaktlinsen, durchsichtige Prothesen, die derart in den Körper integriert sind, daß sie fast schon genetisch zu ihm gehören, [...].“ ŗŞ Vgl. Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis – Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München 1993. Hier stellt Bolz bspw. heraus, dass die Hauptprobleme des Informationszeitalters Selektion und Zugang sind (214 f.). ŗş Vgl. Krämer (1998: 15). Hervorhebungen von der Autorin. ŘŖ Wie problematisch ein solches Realitätsverständnis ist, wird in Teil 1, 3.2 erläutert. ŗŝ
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kirchlichen Handlungsvollzügen. Auch das Verhalten der Pfarrerin oder des Pfarrers im Gottesdienst ist als eine spezifische Technik zu betrachten, die erlernt werden muss und die nach handwerklichen Fertigkeiten verlangt.Řŗ Religion kann überhaupt als menschliches Verhalten, das sich zu einem großen Teil auch erlernen lässt, verstanden werden. Wenn sie als menschliches Verhalten im Beziehungsraum zum Göttlichen verstanden wird, kommt zudem in den Blick, dass es um die Vermittlung eines Beziehungsgeschehens, mit anderen Worten um die Teilhabe an einer medialen Konstellation von Beziehung geht. Konkret wird z. B. bezüglich der Gottesdienstpraxis das Zusammenwirken von Person und dem göttlichen Medium des Geistes thematisiert. Zumeist geschieht dies allerdings, indem die Person als Medium thematisiert wird und ein kommunikatives Handwerk hinzutritt.ŘŘ Wenn es heißt: „Die heilige Handlung schließt handwerkliche Fähigkeiten mit ein, die man im Körpertraining der Heiligung allmählich lernen muss“Řř, ist die Verwandtschaft von medizinischer und religiöser Handlung noch einmal auf den Punkt gebracht. Auch innerhalb von Religion wird also die menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung, mit anderen Worten die Möglichkeit, sich voll und ganz in die Ausführung einer Handlung und in die ihr zugehörige Welt hineinzubegeben, genutzt. Die Wirkung von Handlungen, so wird jedoch in Kirche und Theologie betont, hängt von der Wirkung des göttlichen Geistes ab und nicht von der Perfektion der liturgischen Präsenz oder der Perfektion in der Handhabung liturgischer Gesten. Aber: Eine radikale Unterscheidung zwischen medizinischem und theologischem Gebrauch virtueller Realitäten entsteht durch dieses Argument auch nicht. Denn es bleibt doch zu fragen, ob ein Arzt, der seine Handlungen religiös reflektieren kann, im Zusammenhang mit einem minimal-invasiven Eingriff nicht auch sagen kann, dass das Gelingen seiner Arbeit auf den Geist Gottes angewiesen ist. Seine Lebenserfahrung kann ihm, ebenso gut, wie sie es der Pfarrerin sagen kann, vermitteln, dass keine der eigenen Handlungen voll und ganz souverän unternommen wird, die Wirkungen der persönlichen Handlungen keinesfalls in der eigenen Hand liegen. Wie wirkungsvoll kommuniziert wird, dies hängt also auf dem Gebiet Vgl. Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität. Gütersloh 1996, 96. ŘŘ Dieses Handwerk scheint dann – im Gegenüber zur Medizin – auf eine technische Unterstützung verzichten zu können. Letztlich ist diese Sichtweise, dass man auf Technika verzichten kann, darauf zurückzuführen, dass man sich religiöse Kommunikation eher im Nahraum vorstellt. Allenfalls die Benutzung des Mikrophons wird ab und zu thematisiert. Řř Josuttis (1996: 99). Řŗ
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der Religion wie auf anderen Gebieten davon ab, ob das Zusammenwirken von Person und Medium gelingt. Innerhalb der Theologie scheint nun dort eine hohe Immersionsleistung vermutet zu werden, wo sich die Person gegenüber dem Medium zurücknimmt: Für den Auftrag der liturgischen Person im Gottesdienst wird z. B. gesagt, dass sie, etwa wenn sie segnet, nur einfach selbst für den Segen da sein müsse. „Ihre liturgische Präsenz besteht in medialer Existenz.“ŘŚ Liturgische Personen seien durch den Ablauf des Gottesdienstes von eigenen Emotionen so befreit und für die göttliche Energie so gereinigt, dass der Segen Gottes durch sie hindurchströmen könne. Zum einen verdeutlicht diese Position, dass gerade in der Theologie die Beziehung von Person und Medium sehr eng gesehen wird. Zum anderen wird bereits angedeutet, dass es auch in der christlichen Religion um eine Flussbewegung, um ein Fließen geht, wenn die Wirklichkeit Gottes im Gottesdienst inszeniert und dargestellt wird. Es wird in der Glaubenserfahrung nicht auf Stabilität als Kriterium gesetzt, sondern vielmehr auf Bewegung bzw. auf den Fluss der göttlichen Lebenskraft, die in der Gemeinde Gottes fließe.Řś Aus der Perspektive christlichen Glaubens widersprechen die Charakteristika Beweglichkeit und Fließen also keineswegs der Etablierung einer stabilen Beziehung. Treue und Stabilität in der Beziehung zu Gott werden vielmehr mit fließenden Lebensbewegungen und Wandel verbunden. – Die nächste Stippvisite führt in eine Experimentierwelt.
1.3 Experimentierwelten: Zur Eigendynamik medialer Schöpfungen Kunstwerke gehören zu den ersten Darstellungsweisen, in denen elektronische Kommunikationen und insbesondere virtuelle Realitäten in der Öffentlichkeit bekannt wurden. Die Cybernarium Days präsentieren ein Kunstwerk mit dem Titel Augmented Man. In dieser Installation begegnet man sich selbst in einem virtuellen Spiegel. Die Bilder zweier Videokameras, die neben einer Leinwand angebracht sind, werden in einen Rechner eingespeist und mit kurzer Zeitverzögerung seitenverkehrt auf der Leinwand wiedergegeben. Man sieht also das eigene Spiegelbild. Zwischen den Spiegelbildern der verschiedenen Menschen bewegt sich zusätzlich eine virtuelle Person, der Augmented Man. Installationen, in denen sich Benutzer wie in einem Spiegel sehen und mit künstlichen Gegenständen oder Personen interagieren, werden Manfred Josuttis, Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden. Gütersloh 2002, 175. Řś Josuttis (2002: 167). ŘŚ
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seit Jahren erforscht. Denn dass Augmented Man versucht, zu den übrigen Menschen im virtuellen Raum Kontakt aufzunehmen, wirkt befremdend. Seine Anwesenheit, mehr aber noch seine Anonymität irritiert und wirft die Menschen, die sich in der Installation bewegen, auf sich selbst zurück. Sie sind gefordert, sich zu zeigen, sich zu bewegen, Kontakt aufzunehmen. Um ausführlich zu imaginieren, was geschieht, wenn künstliche Intelligenz in den Alltag von Kommunikationen einkehrt, hat Steven Spielberg einen Spielfilm mit dem Titel A. I. – Artificial Intelligence (2001) entwickelt.ŘŜ A. I. spielt in einer Zeit, in der weite Teile der Erde überschwemmt sind. Aus dieser Katastrophe hat sich eine neue Gesellschaftsform entwickelt, in der die Anzahl der Menschen streng kontrolliert wird und jede Geburt staatlicher Genehmigung bedarf. Roboter hingegen werden am laufenden Band produziert, weil sie keine lebenswichtigen Ressourcen verbrauchen. Es gibt Arbeitsroboter, Unterhaltungsroboter, Sexroboter und Kinderroboter – Maschinen sozusagen „für all das, was die Menschen sich gegenseitig nicht mehr zu geben im Stande sind“Řŝ. Spielberg erzählt die Geschichte von David – das ist nun kein Junge, sondern der Prototyp eines Kinderroboters. David ist darauf programmiert, seinen Käufern ewige, uneingeschränkte Liebe zu schenken. Eines Tages kommt der Roboter in die Familie von Monica und Henry Swinton. Die Swintons haben eigentlich ein richtiges Kind, aber es ist nicht da. Ihr Sohn Martin wurde tiefgefroren, um Zeit zu gewinnen für die medizinische Forschung, denn Martin ist sterbenskrank. Als Ersatz für das leibliche Kind schenkt Henry Monica den Roboter. Zunächst lehnt Monica dieses künstliche Kind ab, dann aber beginnt sie seine Gegenwart zu mögen und schließlich aktiviert sie Davids Liebesprogrammierung, das ihn auf sie als Mutter fixiert. Eines Tages kehrt Martin lebensfähig und gesund in seine Familie zurück. David und Martin beginnen miteinander zu konkurrieren, bis hin zu einer für Martin lebensgefährlichen Szene am Swimmingpool. Da entschließt sich Monica, das Roboterkind fortzubringen. Sie setzt es zusammen mit seinem klugen, sprechenden Roboter-Teddy in einem finsteren Wald aus. David fleht seine weinende Menschen-Mutter an, nicht von ihm zu gehen. Monica fährt dennoch weg. Da begibt sich David auf die Suche nach der blauen Fee. Sie soll ihn zu einem echten Kind machen, und er will als echtes Kind mit seiner
Vgl. auch Jörg Herrmann, Roboterjunge mit Gefühlen. In: Zeitzeichen 10/2001, 52–55. Řŝ Kai Mihm, A. I. – Artificial Intelligence. Steven Spielberg wagt große Emotionen. In: epd Film, 10/2001, 37. ŘŜ
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Mutter zusammen sein. Wie ein eschatologisches Versprechen wirkt es, dass David dies einen Tag lang gelingen wird. Spielbergs Roboterkind provoziert mit dem, was der Inbegriff göttlicher Liebe ist. Es wird eine Liebe geschildert, die so unbedingt ist und nichts Eitles, Zweideutiges, Egoistisches hat, dass sie nur vollkommen genannt werden kann. Im Roboterkind wird dem Menschen das Göttliche im synthetischen Gewand deutlich. Es liegt in der programmierten Fähigkeit, unendlich, ewig lieben zu können. Nicht zufällig wird das Roboter-Kind den Namen David erhalten haben; er steht für eine veränderte Zukunft Israels (1. und 2. Buch Samuel) und auch er entfacht ambivalente Gefühle. Dies spiegeln die biblischen Geschichten um seinen Werdegang. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion wird überdies über die Historizität der König-DavidGeschichten geforscht.ŘŞ Das biblische Material selbst führt in eine Wirklichkeit, in der Realität und Fiktion ineinander liegen.Řş Das filmische Experiment macht so eine kommunikative Erfahrung nachvollziehbar, die hoch ambivalente Gefühle erregt. In eine intime Beziehung wie die einer Kleinfamilie fallen technisch hergestellte anonyme Strukturen ein, die dennoch echte Empfindungen wecken; dies irritiert. „A. I.“ führt nicht in eine Szenerie ein, die mit computergesteuerten Medien neu entstanden wäre. Ein historisches Beispiel ist E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“řŖ, in der sich der Protagonist Nathanael in eine Puppe verliebt. Aber was ehemals Ausnahmesituationen im Leben beschrieb, greift nun in alltägliche Erfahrungsräume ein. In Zukunft werden sich die Einsatzgebiete, von der (Film-)Kunst ausgehend, erweitern: Augmented Men erhalten in Dienstleistung und Service wie im Bereich von Hotels und Kongresszentren sowie in der sozialen Arbeit, vor allem der Pflege, Bedeutung.řŗ
Vgl. Israel Finkelstein/Neil A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. München 2003. Řş Vgl. auch Teil 2, 5. řŖ E. T. A. Hoffman, Der Sandmann. In: Jochen Schmidt (Hg.), Deutsche Künstlernovellen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1982, 23–89. řŗ Vgl. Christopher P. Scholtz, Alltag mit künstlichen Wesen. Theologische Implikationen eines Lebens mit subjektsimulierenden Maschinen am Beispiel des Unterhaltungsroboters Aibo. Göttingen 2008. Diese Innovationen auf dem Kommunikationssektor werfen neue Fragen auch zur ethischen Verantwortung für eine human gestaltete Gesellschaft auf, die hier nicht zureichend reflektiert werden können. Es soll sich dem Gesamtduktus der Untersuchung folgend zunächst auf Wahrnehmungsfragen konzentriert werden. ŘŞ
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Künstliche Intelligenz (KI) irritiert tradierte Vorstellungen von Intelligenz, Rationalität, Vernunft, Emotion, kurz gesagt das leibliche Empfinden. Auf welcher Grundlage behaupten Forscher eines sogenannten starken Konzepts von künstlicher Intelligenz, ihre Maschinen verhielten sich, sie nähmen wahr, sie erkennten, sie reflektierten, sie zeigten Gefühle, ja sie lebten sogar? Hier wird also über die Rezeption hinaus gegriffen und der Maschine Subjektivität zugesprochen.řŘ Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) kommentiert künstliche Intelligenz folgendermaßen: „Vielleicht ist die Vorstellung, daß uns eine intelligente Maschine in sinnvolle Gespräche verwickeln könnte, das, was uns am meisten beunruhigt.“řř Turkle zieht sozialpsychologische Konsequenzen. Künstliche Intelligenz beunruhigt in ihrer unpersönlichen Gestalt. Sie beunruhigt, weil sie damit konfrontiert, dass es für mich eine Beziehung geben könnte, die mich bindet, die sich aber nicht selbst auf ein persönliches Gegenüber bezieht, das sich zeigt und identifiziert. Spielbergs Beitrag wirft stärker als Turkle den Blick auf die Gefühlswelt, auf die Verwirrung in den Empfindungen, die durch automatische oder maschinelle Liebe ausgelöst wird. Die Anonymität des Gegenübers verwirrt das Selbstgefühl: Wie ist das zu verstehen, dass man selbst das Herz an eine Sache wie eine Maschine hängt?řŚ In dieser Situation erfährt man sich selbst als fremd, man wird sich gewahr als ein Mensch, der sich selbst nicht völlig bekannt ist, sondern auch für sich anonyme Seiten bereithält.řś In anonymisierten Kommunikationen liegt demnach offensichtlich eine Möglichkeit, eine transzendente Dimension menschlichen Lebens zu entdecken. Aber es fehlt, soweit ich sehe, ein Identitäts- und Gesellschaftsverständnis, das anonyme Strukturen und mit ihr auch fremde Anteile in Kommunikationen als integrale Bestandteile von Kommunikation reflektiert. Innerhalb der christlichen Tradition ist hier ein Wissen um ihre religiöse Bedeutung da, aber es ist bislang nicht in Bezug auf religiöse Kommunikationen in computergestützten Zusammenhängen reflektiert worden. Anonymität und Fremdheit sollen vielmehr durch Authentizität und Nähe überwunden werVgl. Olaf Kaltenborn, Das Künstliche Leben. München 2001, 301 ff. Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Hamburg 1999, 245 (erstmals 1995 im Amerikanischen unter dem Titel „Life on the Screen“). řŚ Vgl. hierzu auch Bernhard Pörksen, Das Menschenbild der Künstlichen Intelligenz. In: Communicatio Socialis, 33. Jg., 2000, Heft 1, 4–17. Pörksen führt hier ein Interview mit Joseph Weizenbaum, in dem ebenfalls Gefühle zu Robotern thematisiert werden. Vgl. auch Joseph Weizenbaum im Gespräch mit Gunna Wendt, Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft. Freiburg/Basel/Wien 2006. řś Vgl. Merleau-Ponty (1966: 197 und öfter). řŘ řř
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den; sie werden kaum in ihrem eigenen Wert anerkannt.řŜ Bereits in der jüdischen Tradition ist mit der Lektüre der Schriften der hebräischen Bibel eine Tiefendimension historischer Identität angelegt, die in ferne, fremde Welten führt und sowohl im Gottesbild als auch in der Rekonstruktion der Autorschaft der Schriften immer wieder auf anonyme Strukturen verweist. Es lassen sich bereits die Bedeutung des Tetragramms für die jüdische Gottesverehrung oder Erzählungen wie beispielsweise die Gottesbegegnung Elias’ am Horeb (1. Kö 19, 12 f.) so verstehen. Auch die Engeltheologie bietet reiche Anschlussmöglichkeiten.řŝ Neben und sogar in diesen mit anonymen Dimensionen angereicherten Kommunikationen wird in biblischen Schriften von personalen Begegnungen und deren Bedeutung für die Rezipienten berichtet. Die personale Begegnung Jesu mit den Menschen seines Umfelds hat hohe Bedeutung für die Ausstrahlung des Evangeliums gehabt. Christian Grethlein macht in seinem Beitrag zur Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft darauf aufmerksam, dass der Jude Jesus von Nazaret, der für Christen grundlegende Vermittler zu Gott, keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterließ, sondern sich auf das unmittelbare Wirken seiner Person beschränkte. „Vor allem wirkte Jesus durch mündliche Rede, Mahlgemeinschaften und unmittelbare Hilfeleistungen. [...] Die Überzeugungskraft [...] ist untrennbar mit der face-to-face Kommunikation verbunden, die eine einmalige Intensität der Begegnung ermöglicht.“řŞ Die Hochschätzung der personalen Kommunikation muss aber nicht gleichzeitig zu einer Ablehnung medialer religiöser Kommunikation führen.řş Auch am Beispiel der Verkündigung Jesu zeigt sich das. Sie wird in den urchristlichen Zeugnissen nicht losgelöst von schriftlicher Überlieferung dargestellt. „Vielmehr bildete die Hebräische Bibel für Jesus den selbstverständlichen Hintergrund für sein Wirken und Leben.“ŚŖ Jesus selbst nutzte, neben
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Vgl. so z. B. den Entwurf von Huizing (2002), dessen Anliegen es ist, einer Kultur der Coolness eine christliche Liebesgestik gegenüberzustellen, und der deshalb für Nähe und Authentizität sowie Angesichtigkeit wirbt. Vgl. hierzu ausführlicher Teil 1, 2.3. Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft. Leipzig 2003, 20. Grethlein votiert eindeutiger, als dies hier geschehen kann, für den Vorrang der personalen vor der medialen Kommunikation. Vgl. Ulrich Gehring, Seelsorge in der Mediengesellschaft. Neukirchen-Vlyn 2002, vor allem 247 ff. Zur intensiveren Auseinandersetzung mit der christlichen Begründung der Face-to-Face-Kommunikation bietet Gehring eine christologische Argumentation an. Ebenda.
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Gesten, Erzählungen, die starke Bilder in die Tradition einführten, und einzelnen, rhetorisch gezielt eingesetzten Worten das Medium Schrift.Śŗ Personale und mediale Kommunikation sind seit Anfang der jüdischchristlichen Geschichte nebeneinander zu finden. Dabei ist außerdem zu berücksichtigen, dass auch die personale Kommunikation auf Zeichen basiert. Wenn in der persönlichen Begegnung etwa mit Symbolhandlungen, einer Rede oder auch nur einer Mimik kommuniziert wird, so werden Personen selbst zu Trägern von Zeichen, in diesem Sinne auch zum Medium. Bei aller Unterschiedenheit zwischen einer persönlichen Begegnung und z. B. einem brieflichen Kontakt, bleibt ihnen doch gemeinsam, dass Kommunikation stets zeichenvermittelt verläuft. Zu diskutieren ist darüber hinaus, welche Bedeutung es für die gegenwärtige Wahrnehmung biblischer Texte hat, dass Face-to-Face-Kommunikationen Jesu im Medium der Schrift überliefert worden sind. Biblische Texte inszenieren in diesen religiösen Kommunikationen sehr häufig vor allem die besondere Verbindung Jesu zu Gott oder thematisieren den Vorwurf eines Bündnisses mit dem Teufel (Mk 3; 11 und öfter). Es ist innerhalb der Darstellung von Face-to-Face-Kommunikationen Jesu z. B. mit kranken oder besessenen Menschen nicht von vornherein festgelegt, dass der biblische Text eine Begegnung mit einem konkreten Menschen schildern und bei den Rezipienten eine Kommunikation über sie anstoßen möchte; zum Teil bleiben die Menschen, die Jesus heilte, anonym, es werden Sammelberichte gegeben, die seine übermenschliche Wirkungskraft demonstrieren (Mt 4, 23– 25). In anderen Fällen wird berichtet, dass Jesus die von ihm geheilten Personen richtiggehend fortschickte (Lk 8, 26–39), er also keine kontinuierliche, persönlich bindende Beziehung mit ihnen aufbauen wollte. Die geschilderten biblischen Kommunikationen Jesu lassen also noch einmal deutlich werden, dass eine heutige Rezeption biblischer Texte, wenn sie diese hinsichtlich ihrer Kommunikationskultur in Augenschein nimmt, jedenfalls auch Aussagen darüber trifft, welche Erwartungen an die Gestaltung einer gelingenden Kommunikationskultur gestellt werden. Für diese kann sicher gesagt werden, dass das Gespräch unter vier Augen durch die enorme Zunahme an medialen Kommunikationen geradezu einen kultischen Status angenommen hat.ŚŘ Argumentationen, dass Jesus selbst oder die urchristlichen Autorinnen und Autoren bewusst die personale der medialen Kommunikation vorgezogen hätten, sind m. E. nur schwer zu begründen. Die biblischen Texte weisen personale, anonyme und mediale KommuniŚŗ ŚŘ
Vgl. Teil 2, 5. Vgl. Jochen Hörisch, Der Sinn der Sinne. Frankfurt a. M. 2001, 18.
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kationen auf. Wie heute mit ihnen umgegangen werden soll, ist im größeren Horizont der Frage nach dem, was Christum treibet, zu beantworten.
1.4 Spielwelten: Zur medialen Vervielfältigung von Spielmöglichkeiten Von der Ausstellungsstation Augmented Man sind es nur wenige Schritte hinüber zu der Ecke, wo Tron gespielt wird, ein historisch zu nennendes Computerspiel. Dort geht es nicht um die Erfahrung anonymer Kommunikation, sondern um die Übernahme fiktiver Rollen, die man nicht selbst entworfen hat, sondern in die man hineingeht und sie anzieht wie eine Kleidung. Ich setze den Tracking-Helm auf; er versetzt mich in eine mich um 180 Grad umschließende Umgebung, in der ein Motorradrennen stattfindet. Ich stehe zwar noch mit beiden Beinen auf dem Boden und sitze nicht auf einem Motorrad, aber das Gefühl, auf einem Light Cycle, einem schnittigen Motorrad, über eine rechteckige Arena zu rasen, ist doch nahezu perfekt simuliert. Das Szenario stammt aus dem Disney-Spielfilm Tron, der 1982 in die Kinos kam. Wiederum wird die enge ästhetische Verbindung zwischen Kinofilm und virtuellen Realitäten im Bereich computervermittelter Kommunikationen deutlich. Der Film handelt von einem machtgierigen Schachprogramm, das einen Großrechner kontrolliert und die Weltherrschaft anstrebt. Der Held des Films wird in den Computer gebeamt, weil er das destruktive Programm manipulieren soll, und muss im Computer als virtuelle Figur eine Reihe von Abenteuern bestehen, bevor er das Programm aus den Angeln hebt. Ich trete im Motorradrennen gegen einen Kollegen an und erfahre, was es heißt, zu verlieren. Da ist es ein Trost zu hören, was die Gender-Forschung zum Gebrauch von Computerspielen beiträgt. Es ist von einem differenzierten Zugriff von männlichen und weiblichen Jugendlichen auf den Computer auszugehen. Es lässt sich eine höhere Beteiligung männlicher Jugendlicher beobachten, aber der Anteil weiblicher Jugendlicher steigt.Śř Das User-Verhalten selbst lässt auch Differenzen erkennen: Der Schwerpunkt bei den weiblichen Jugendlichen liegt auf dem pragmatischen Gebrauch des Computers im Rahmen von bestimmten Arbeitsaufgaben im privaten und schulischen UmŚř
Vgl. Jürgen Grimm, Die digitale Revolution. Perspektiven der Informationsgesellschaft. In: Annette Mehlhorn (Hg.), Abgestürzt. Theologie und Kirche im Zeitalter elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologie. Frankfurt a. M. 2002, 13–50.
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feld und auf Kommunikation in Form von E-Mails sowie im Chat-Bereich. Männliche Jugendliche präferieren eindeutig Schieß- und Action-Spiele (z. B. Half Life, Command & Conquer), weibliche Jugendliche greifen eher zu Denkund Geschicklichkeitsspielen wie beispielsweise Solitär. „Außerdem stellt der Computer nach wie vor ein männlich besetztes Artefakt dar, was von Einfluß auf das technische Kompetenzerleben der weiblichen Jugendlichen ist.“ŚŚ Virtuelle Realitäten waren vor 20 Jahren noch Visionen, zumeist produziert mit enormen personellen und finanziellen Ressourcen der amerikanischen Filmindustrie. Heute ermöglichen handelsübliche PCs ganz alltägliche Erlebnisse mit virtuellen Realitäten. Für hohe Immersionen im privaten Gebrauch sind Geräte wie Videobrillen und Trackingsysteme allerdings noch zu teuer. „Dies könnte sich schnell ändern, sobald für solche Geräte ein Massenmarkt entstehen würde, wie wir das beim Personal Computer bereits miterlebt haben.“Śś Seit einiger Zeit wächst das Interesse von Erwachsenen an OnlineSpielen kontinuierlich an. Computerspiele werden von vielen Menschen zwischendurch im Büro, aber auch in der Freizeit gespielt. Studierende der evangelischen Theologie scheinen allerdings weniger involviert zu sein. In mehreren Seminaren im Bereich der Praktischen Theologie zeigte sich, dass Computerspiele eher mit Zurückhaltung betrachtet werden. Auf die Frage nach dem Grund hierfür wurden das sogenannte Real Life und das Virtual Life in Konkurrenz gesetzt. Man solle sich eher dafür engagieren, das wirkliche Leben zu stärken, Menschen vor der Flucht in den Cyberspace zu bewahren und ihren Realitätssinn zu stärken.ŚŜ Innerhalb des Seminars wurde beispielsweise erprobt, wie es ist, ein Bewohner in der virtuellen Stadt Funcity bzw. Funama zu sein. Diese virtuelle Stadt wurde von verschiedenen Institutionen, vor allem dem Privatfunksender Radio FFN, getragen. In ihr konnte man auch eine Kirche und ein Pfarramt, inklusive einer Online-Seelsorge, aufsuchen. Die Beteiligung im Segment der Religion wurde vom Bistum Hannover verantwortet. Eine Studentin, Annette Ekert, kommentierte: „Vielleicht bin ich zu blöd, um das zu verstehen, vielleicht bin ich einfach nur schrecklich altmodisch! Aber was soll das denn bittschön alles? Eine virtuelle Spaß-Stadt, durch die ich mich per Mausklick bewegen kann? Leute besuchen, die ich nie Astrid Dinter, unveröffentlichter Projektbericht III, Frankfurt a. M. Juli 2003, vgl. aber vor allem dies., Adoleszenz und Computer. Von Bildungsprozessen und religiöser Valenz. Göttingen 2007. Dinter arbeitet genderspezifische Unterschiede im Umgang mit dem Computer und speziellen Anwendungsgebieten heraus. Śś Vgl. Handout zu Tron. ŚŜ Vgl. Hartmut Böhme, Von der Vernetzung zur Virtualisierung der Städte. In: www.culture.hu-berlin.de/hb/Volltexte/pdf.Stadt.pdf (Stand: 05.01.2003). ŚŚ
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wirklich sehe? Ich wohne (zum Glück) in einer echten Stadt und bin umgeben von Menschen, die mit mir reden wollen – und zwar real. Mir tun die vereinsamten Menschen leid, die vor ihrer Kiste sitzen und Leben spielen müssen. So wird der Computer zum Zeitstaubsauger, der uns die Zeit zum wirklichen Miteinander wegsaugt.“Śŝ Nicht wirklich, nicht echt, Leben spielen müssen, wirkliches Miteinander weggesaugt etc.: Dies sind zentrale Argumente gegen virtuelle Kommunikationen, genauer gegen Computerspiele.ŚŞ Die Formulierung Leben spielen klingt zunächst pejorativ. Aber innerhalb der Praktischen Theologie wird das Spielen seit geraumer Zeit als eine anthropologische Fähigkeit hoch geschätzt.Śş Auch die theologische Reflexion bietet distanzierte Beschreibungen im Umgang mit dem World Wide Web. Unter dem Titel Und sie surften nur einen Sommer hat Bernd-Michael Haese das Phänomen Internetflucht von Jugendlichen beschrieben.śŖ Die Forschungsgruppe Virtual Society der Universität Oxford und der aus ihr hervorgegangenen Studie von Sally Wyatt habe, so führt Haese aus, eine „kleine, aber nicht zu vernachlässigende Gruppe von Internet-dropouts“śŗ beforscht. Es gehe um Menschen, die das Internet bewusst nicht mehr nutzen. Unter ihnen seien viele Jugendliche. Haese greift zunächst die Ergebnisse der Virtual-Society und ihrer Studie auf; zweitens gehe es ihm darum herauszuarbeiten, in welcher Weise kirchliche Internetangebote eine prägnante Rolle in der Sozialisation Jugendlicher spielen. Abschließend diskutiert er diese Ergebnisse im Kontrast zu einem bestehenden kirchlichen Internetprojekt, einem offenen Jugend-Internetcafé. Haeses unaufgeregter Gang zum Computer relativiert harte Ablehnung und visionäre Zustimmung. Das Projekt, so schreibt er, entspreche an wichtigen Punkten den konzeptionellen Anliegen: Wenn die Rechner besetzt seien, dann seien Gruppen vor ihnen zu finden. Manchmal zöge es auch die Eltern und Großeltern zur Recherche im Internet ins Jugendhaus. Es habe sich gezeigt, dass insbesondere Vereine und Gruppen der älteren Gemeindemitglieder an Internetkursen, Schnupperangeboten, Einführungen etc. interessiert seien. Haese unterAnnette Ekert sei herzlich für die Abdruckgenehmigung gedankt. Sie erinnern m. E. im Gestus an die Haltung, die bereits Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a. M. 1964, Ende der Fünfzigerjahre an Diskussionen in Evangelischen Akademien moniert hat. Śş Vgl. Teil 2.4. śŖ Vgl. Bernd-Michael Haese, ‚Und sie surften nur einen Sommer‘. Die jugendliche ‚Internetflucht‘ und ihre gemeindepädagogischen Folgen. In: Pastoraltheologie 91 (2002: 45–64). Vgl. zu Internetprojekten mit Jugendlichen in der außerschulischen Bildungsarbeit Schindler/Bader/Eckmann (2001). śŗ Haese (2002: 45). Śŝ ŚŞ
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streicht, wie das Jugend-Internetcafé die Altersgrenzen zwischen den Gemeindegruppen vergleichsweise durchlässig macht. Virtuelle und reale Angebote würden in der Praxis unkompliziert gemischt. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Computer zeitweise verwaist sind. „Offline-Angebote wie Kickern und Billard sind nach wie vor für die Jugendlichen attraktiv und machen klar, dass die verführerische Wirkung von Computern ihre Grenzen hat.“śŘ Haese rückt mit diesem Artikel den Bedarf für eine kirchliche Medienpädagogik ins Licht und plädiert vor allem für eine Deeskalierung des Streits pro oder contra Internet. Einen Gegensatz von Realität und Virtualität, Echtheit und Simulation zu stilisieren, werde dem Phänomen nicht gerecht.śř Neben der Cybersucht gibt es auch einen lebensdienlichen Umgang mit computervermittelten Kommunikationen. Für diesen ist allerdings eine Kompetenz unverzichtbar: die Kultivierung des Cuts. Denn: Es ist möglich, den Computer auszuschalten. Virtuelle Realitäten erfordern also eine Ethik, in der, wie etwa innerhalb der Biogenetik und der Medizin bereits diskutiert, das ethische Können und das ethische LassenśŚ thematisiert werden. Das ethische Können besteht dann gerade darin, auf der Ebene der Dauerhaftigkeit dem programmierten, hochgeschwinden, vielfältig verknüpf- und vernetzbaren Möglichen das Unmögliche zu entreißen. „D. h. ein gegenwärtig verantwortliches Handeln, das Individualität und Kollektivität in sich bindet, muss sich der Radikalität des Fetischs der Möglichkeit nach vorhanden entziehen können. Ethisches Können wäre dann Unterbrechung, Cut, Anhalten, ausdrücklich werden: Es wäre ein ästhetisches Handeln, ein Kunst-Akt.“śś Die Frage nach der Verantwortbarkeit des Möglichen gewinnt weiter an Relevanz, und zwar insbesondere in einem rezeptionsästhetischen Sinne, in dem Interaktivität nicht als eine angenehme Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten betrachtet wird, sondern als ein unverzichtbarer Bestandteil von Ethik. Der Cut ist ein bewusst gesetzter Schnitt. Er wird zur Tugend eines Individuums, das der Intensität und der Komposition von Immersionseffekten im eigenen Leben selbst ein Design geben muss. Zu diesem Design gehören auch Spielwelten,
Haese (2002, 64. Hervorhebungen vom Autor. Vgl. Bernd Michael Haese, Hinter den Spiegeln – Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet. Stuttgart 2006, insbesondere 135–175. Das in vieler Hinsicht sehr lesenswerte Buch kann hier leider nicht eingehender besprochen werden. śŚ Vgl. Projektgruppe Ethik im Feminismus (Hg.), Vom Tun und vom Lassen. Münster 1992. śś Faßler (1999: 61); Hervorhebungen vom Autor. śŘ śř
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die nicht nur individuelle Identitätsfindungsprozesse fördern, sondern auch sozialisierende Funktionen haben.śŜ Eine innovative Spielart ist die des Multi-User-Dungeon (MUD), zu der z. B. das Star-Trek-Spiel TrekMUSE gehört. Es geht um Computerprogramme, die über das Internet zugänglich sind, und die die vorwiegend männlichen Nutzer in virtuelle Räume versetzen. In ein MUD erhält man Zutritt, indem man den eigenen Computer mit dem Computer verbindet, in dem das MUD-Programm residiert. Im Rahmen von Forschungen zur Identität im Internet werden MUDs für eine neue Art von virtuellem Gesellschaftsspiel und von Gemeinschaft gehalten. Zudem entsteht über textgestützte MUDs eine Form von kollektiv geschriebener Literatur, denn MUD-Spieler sind gleichzeitig MUD-Autoren, also Schöpfer und Konsumenten von Medieninhalten in einem. „In dieser Hinsicht hat das Mitspielen in einem MUD sehr viel Ähnlichkeit mit dem Drehbuchschreiben, der darstellenden Kunst, dem Straßentheater, dem Improvisationstheater, ja sogar der Commedia dell’arte.“śŝ Ein Pionier auf dem Gebiet der Erforschung von Virtual Communities, Howard Rheingold, veröffentlichte 1993 seine dichte Beschreibung von Virtual Communities mit dem Untertitel „home-steading on the electronic frontier“śŞ. Am Ende seines Kapitels über MUDs, in dem er das Spiel mit den Identitäten in Rollen, die selbst entworfen werden, ausführt und auch die Risiken schildert, die in einem virtuellen Leben stecken, schließt er: „By what criteria should obsessive use be determined? I do not know the answers to questions about the values of MUDding, but I do know that the questions are broad ones, addressing key ambivalences that people have about personal identity and interpersonal relationships in the information age.“śş Nicola Döring geht davon aus, dass in Online-Spielen neue kollektive Identitäten ausgebildet und Gemeinschaften entwickelt werden, dabei beeinflusse das Spielen interpersonale Beziehungen auf sehr unterschiedliche Weise. Die Nutzung eines Action-Spiel-Servers könne anonym und unverbindlich erfolgen, ohne dass man dabei neue Kontakte knüpfe, sie könne aber auch zu starken sozialen Bindungen führen, etwa wenn man einem Clan beitrete oder einen begründe.ŜŖ Clans sind Gruppen von Spielerinnen śŜ
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Natascha Adamowsky hat sich in ihrer Dissertation zu „Spielfiguren in virtuellen Welten“ auf eine Deutung des elektronisch generierten Spiels konzentriert. Sie ist der Ansicht, dass es das Phänomen des Spiels ist, das den Blick für den interaktiven Umgang mit der digitalen Technik eröffnet, aber auch hier wird der soziale Aspekt des Spiels kaum erwähnt. Vgl. Natascha Adamowsky, Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt a. M. 2000. Turkle (1999: 13). Howard Rheingold, The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier. MIT-Press-Edition 2000 (erstmals 1993). Rheingold (2000: 180). Vgl. Nicola Döring, Sozialpsychologie des Internet. Göttingen, 2. Aufl. 2003; vgl. auch Manfred Faßler, Was ist Kommunikation? Paderborn, 2. Aufl. 1997, 279–288.
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und Spielern, die zusammen ein Team bilden und versuchen, gemeinsam gute Resultate zu erzielen. Es wird gemeinsam trainiert, es werden Wettkämpfe durchgeführt und häufig gibt es eine eigene Website des Clans. „Während manche Spieler mit Freunden, Partnern oder Familienangehörigen aus dem realen Leben an Online-Games teilnehmen und somit ihre bestehenden Beziehungen stärken können, sind andere mit dem Problem konfrontiert, dass ihre OnlineSpielaktivitäten zu Distanzierungen im sozialen Netzwerk führen.“Ŝŗ
Offline- wie Online-Spiele teilen die Ambivalenzen, die dem Spielen generell eigen sind: Sie können Distanz zur Konstellation von Beziehungen schaffen, in denen in Form unmittelbarer Anwesenheit gelebt wird. Sie erweitern zugleich die Kontaktmöglichkeiten zu Menschen, die ebenfalls spielen. Damit werden sie zu Spielräumen, in denen technologische und kulturelle Regeln einer prozessorientierten Verständigung mit immer neuen Vorhaben verbunden werden. Empirische Befunde zu den Aneignungsweisen von ComputerSpielen zeigen, wie Jugendliche teilweise sehr gezielt Spielerfahrungen zur Stimmungsregulation einsetzen und die Differenzen zwischen Realität und Fiktion herausarbeiten, „anstatt sich passiv vom Reiz der Technik überwältigen zu lassen“ŜŘ. Zu Beginn der Erforschung von Computerspielen wurde insbesondere die Mensch-Maschine-Schnittstelle untersucht, nun aber geht die Tendenz dahin, Interaktionen zu beforschen und damit den Beziehungsaspekt sowie sozialisierende Aspekte herauszufiltern. Das Internet wird zunehmend zu einem Medium, in dem soziale Kontakte gestaltet werden. Die Ambivalenzen, die hinsichtlich von Computerspielen immer wieder thematisiert werden, müssen auf diesem Deutungsweg nicht ausgeschlossen werden. Daneben erscheint es sinnvoll, den Gründen nachzugehen, warum Menschen es vermeiden, zu spielen, oder warum sie das Spiel und das richtige Leben in Konkurrenz zueinander bringen. Das Spielen steht innerhalb kulturwissenschaftlicher Diskussionen durchaus in sehr positiver Anerkennung. Philosophisch wird das Spiel als eigenständige Wirklichkeit im menschlichen Leben, gerade in Beziehung zu seiner Glückserfüllung geschätzt. Es wird von Erfahrungen gesprochen, die Möglichkeiten geglückten Daseins offen halten.Ŝř Auch an theologische Empfehlungen, zu spielen, kann angeknüpft werden, so etwa an Martin Luther, der
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Döring (2003: 110). Döring (2003: 298). Vgl. Wolfgang Janke, Spiel I. Philosophisch. In: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 671–676, hier 675.
1.5 Virtual Communities und die Gemeinschaft der Heiligen
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vorgeschlagen hat, das Kartenspiel gegen Depressionen einzusetzen.ŜŚ Ansätze, eine ganze Theologie des Spiels zu entwerfen, wie dies Dorothee Sölle und Marcel Martin zu Beginn der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts unternahmen, sind inzwischen wieder zurückgetreten. Geblieben ist allerdings eine hohe Sensibilität für die praktisch-theologische Bedeutung des Spiels. Sie ist ausgeführt worden für die Liturgie als Spiel, das Spielfeld Homiletik, die Dynamik des Spiels in der Seelsorge und auch für die Gemeindeund die Religionspädagogik.Ŝś Insbesondere für die Homiletik ist hier im Sinne einer medienbewussten Homiletik an die Grundlagen von Wilfried Engemann und Albrecht Grözinger anzuknüpfen.ŜŜ Soweit ich erkennen kann, sind dabei Charakteristika computervermittelter Spiele allerdings noch nicht in die praktisch-theologische Diskussion um das Spiel hineingetragen worden. Sie können dazu beitragen, dass in der praktisch-theologischen Diskussion die Ambivalenzen des Spielens reflektiert werden und zum anderen die Reflexion an bestimmten Spielweisen ausgerichtet und damit konkreter wird.
1.5 Virtual Communities und die Gemeinschaft der Heiligen Virtual Communities gelten in medien- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen als ein Phänomen, an dem sich spätestens ab 1995, also mit der Verbreitung des World Wide Web, der Wandel von Sozialisierungsprozessen aufweisen lässt. Immerhin geben 32 % deutscher 12- bis 19-jähriger Internetnutzer an, im Internet schon oft Leute kennengelernt zu haben. Mädchen bestätigen dies etwas mehr (34 %) als Jungen (30 %), Hauptschüler (38 %) und Realschüler (42 %) stärker als Gymnasiasten (24 %). „Eine Unterstützung der Sozialfähigkeit im Bereich entfernter und näherer Bekannter durch das Internet ist demnach auch für Deutschland gesichert.“Ŝŝ Dieses Resümee von Jürgen Grimm bezeichnet selbst bereits einen Wahrnehmungswandel in puncto Virtual Communities. Als Howard Rheingold 1993 Virtual Community veröffentlichte, vertrat er noch entschieden die Geburt einer neuen Form von Gemeinschaft.ŜŞ Inzwischen hat sich die erste Euphorie gelegt. Man findet ŜŚ Ŝś ŜŜ Ŝŝ ŜŞ
Vgl. Susanne Wolf-Withöft, Spiel II. Praktisch-theologisch. In: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 677–683, hier 681. Vgl. ebenda. Vgl. Teil 2, Kapitel 5. Vgl. für dieses Zitat und auch für die oben angegebenen Zahlen Grimm (2002: 34; dann 39). Vgl. Rheingold (2000).
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1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
aber immer noch Beschreibungen, die letztlich eine hohe kommunikative Innovation bescheinigen. Für die Erkundung der sozialen Bedeutung von virtuellen Realitäten sind neben elektronischen Spielen auch Virtual Communities in den Blick zu nehmen. Bekannt geworden ist Howard Rheingold auch durch seinen Bericht über seine eigenen Erfahrungen mit einer der ersten virtuellen Gemeinschaften Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Er war in The Well (Whole Earth Link) täglich zwei Stunden online und erlebte während dieser Zeit einen regen Austausch von Informationen. Aber Rheingold überraschte auch, wie hoch emotional virtuell kommuniziert wird. Die kleinen Bildzeichen, die in virtuellen Kommunikationen gern verwandt werden, heißen dementsprechend Emoticons. Es gibt einen speziell für die Kommunikation von Emotionen entwickelten Code.Ŝş Rheingold erlebte ebenfalls, dass die online aufgebauten Gemeinschaften in der Region der San Francisco-Bay zu physischen Treffen führten. Es wurden Partys gefeiert; in einem Fall bezahlten die Mitglieder der Community die Kosten für einen Krankenhausaufenthalt, der für den betroffenen Menschen notwendig, aber nicht erschwinglich war.ŝŖ Mit Rheingolds Forschungen wird es zum Standard, eine virtuelle Gemeinschaft als ein selbstdefiniertes elektronisches Netzwerk interaktiver Kommunikation wahrzunehmen. Dieses Netzwerk besteht auf der Basis eines gemeinsamen Interesses oder eines gemeinsamen Zwecks. Während der Neunzigerjahre wurden weltweit Zehntausende solcher Gemeinschaften gebildet. Die Bewegung ging vorwiegend von den USA aus. Heute wird global im Netz kommuniziert. Virtual Communities leisten nach einer gewissen Zeit persönliche, materielle und affektive Unterstützung; Rheingolds Beispiel blieb nicht das einzige: „Das geschah beispielsweise im Fall von Senior-Net für alte Menschen oder bei Systers, einem Netzwerk von Frauen in den Computerwissenschaften. Damit scheint die Interaktion im Internet letztlich sowohl spezialisiert/funktional als auch umfassend/unterstützend zu sein, weil die Interaktion im Netzwerk das Feld der Kommunikation mit der Zeit erweitert.“ŝŗ Kommunikationsreichweiten werden nicht nur in neue Räume ausge-
Vgl. Döring (2003: 162–163) und Christina Schachtner, Netfeelings. In: Wolfgang Schindler/Roland Bader/Bernd Eckmann (Hgg.), Bildung in virtuellen Welten. Praxis und Theorie außerschulischer Bildung mit Internet und Computer. Beiträge zur Medienpädagogik, Bd. 6. Frankfurt a. M. 2001, 301–317. ŝŖ Vgl. Rheingold (1993: 231–253). ŝŗ Castells (2001: 409). Ŝş
1.5 Virtual Communities und die Gemeinschaft der Heiligen
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dehnt, sondern die Kommunikation in virtuellen Communities wird zunehmend professioneller und professionalisiert.ŝŘ Die soziologische Unterscheidung zwischen schwachen und starken Verbindungen kann helfen zu beschreiben, was virtuelle Gemeinschaften ausmacht. Es kommt in den Blick, dass „Nordamerikaner gewöhnlich mehr als tausend zwischenmenschliche Verbindungen haben. Nur ein halbes Dutzend davon sind intim, und nicht mehr als fünfzig sind wirklich stark. Aber zusammengenommen sind die übrigen 950 Verbindungen einer Person wichtige Quellen der Information, der Unterstützung, der Geselligkeit und des Gefühls der Zugehörigkeit.“ŝř Was macht schwache Verbindungen aus? Zu niedrigen Kosten werden im Netz Informationen bereitgestellt und Chancen eröffnet. Meistens wird asynchron kommuniziert. Dabei kann der Kontakt zu fremden Menschen innerhalb eines weitgehend gleichberechtigten Interaktionsmusters aufgenommen werden, weil soziale Charakteristika weniger einflussreich sind, wenn der Rahmen der Kommunikation formal festgelegt ist. „Tatsächlich fördern schwache Verbindungen offline wie online Kontakte zwischen Menschen mit unterschiedlichen sozialen Eigenschaften, und erweitern so die Reichweite der Soziabilität bis jenseits der gesellschaftlich definierten Grenzen von Ich-Identifikation.“ŝŚ Es werden Mitgliedschaften in vielen Teilgemeinschaften möglich und virtual Communities bestehen nicht notwendig isoliert von anderen Formen der Sozialität. Interessenspezifische Treffen wie etwa bei LAN-Partys führen die Menschen dann auch einmal „Face to Face“ zusammen. Diese interpersonalen Netzwerke verstärken außerdem auch eine Tendenz, die zeigt, dass Menschen ohne institutionelle Hilfe eines Vereins und ähnlicher Zusammenschlüsse soziale Beziehungen aufbauen. Cyberlinks geben Menschen, die sonst ein begrenzteres gesellschaftliches Leben hätten, weil ihre Familien- und Freundschaftsbindungen zunehmend räumlich verstreut sind, die Gelegenheit zu persönlichen Kontakten. Online-Kommunikationen können durch den Verzicht auf einen angesichtigen Austausch eine weniger gehemmte Diskussion ermöglichen und – Vgl. Gabriele Hoffacker, Virtuelle feministische Communities. In: Heinrich-Böll-Stiftung und Feministisches Institut (Hgg.), feminist spaces. Frauen im Netz. Königstein i. T., 133–146. Hoffacker kommt aus dem Online-Journalismus und erläutert das Community-Management, das nicht nur für den Profitbereich genutzt wird, sondern ebenso im Non-Profit-Bereich erforderlich ist. ŝř Dies zeigt eine Untersuchung von Barry Wellman und Milena Guilia, Netsurfers don’t ride alone: virtual communities as communities. In: Barry Wellman (Hg.), Networks in the Global Village. Boulder 1999, 331–366, hier zitiert nach Castells (2001: 410). ŝŚ Castells (2001: 410). ŝŘ
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wenn dies möglich wird – zu mehr direkten und ehrlichen Reaktionen motivieren. Aber Online-Freundschaften mit unbekannten Personen sind häufig sehr fragil, „weil eine unglückliche Formulierung mit einem Klick bestraft werden kann, der die Verbindung kappt – für immer“ŝś. Neben diesen Schwierigkeiten, Verbindungen Kontinuität zu geben, schließt das Feld virtueller Communities allerdings den Horizont dafür auf, dass Menschen in sehr unterschiedlichen Nähe- und Ferneverhältnissen zueinander kommunizieren und dabei eben auch unterschiedliche Frequenzen nutzen. Die elektronisch gestützte Kommunikation lässt eine Anzahl von schwachen Kommunikationen zu, die zunächst als weniger qualitätsvoll erscheinen, weil sie weniger Kontinuität bieten. Wer aber zu dem Segment der Gesellschaft gehört, das erwerbstätig ist und hierbei mit computervermittelten Kommunikationen arbeitet, wird die Erfahrung teilen können, dass die wachsende Anzahl von nicht kontinuierlichen Kommunikationen eine relativ hohe Bedeutung für die Vernetzung in der Arbeitswelt hat. Virtual Communities haben darüber hinaus auch eine Kommunikationskultur befördert, die zu einer Selbstbeschreibung als Kosmopolitinnen und Kosmopoliten bei den Nutzerinnen und Nutzern geführt hat. Einzelne Netze und die Vernetzung dieser Netze, kurzum die Teilhabe und aktive Gestaltung von vernetzten Kommunikationen, stehen einer Deutung in Richtung eines – freilich sehr diversifizierten – Weltbürgertums offen und könnten dessen kommunikativ erworbenen Zusammenhalt repräsentieren. Die computervermittelte Kommunikation wird, so Castells bereits vor einigen Jahren, insbesondere den sozialen und kulturellen Zusammenhalt einer kosmopolitischen Elite stärken, „indem es der Bedeutung einer globalen Kultur eine materielle Grundlage bietet [...]“ŝŜ. Nicht zuletzt der „Robo-Cup“, ein internationaler Wettbewerb mit Spielteams, die Roboter sowohl bauen als dann auch als Spielfiguren einsetzen, zeigt, wie bspw. iranische Mädchen und junge Frauen mit eigenen Teams über die Aneignung von Technik und Softskills computergestützter Kommunikationen ihre Emanzipationsmöglichkeiten ausweiten können. Gleichzeitig bleibt die Ambivalenz globalisierter, elektronisch gestützter Kommunikationen darin bestehen, dass innerhalb dieser Entwicklung Bevölkerungen afrikanischer Länder die Verlierer sind. Eine Weltkarte zur Verteilung von Internet-Anschlüssen zeigt die Marginalisierung des afrikanischen Kontinents sehr deutlich.ŝŝ Die Kehrseite der Vernetzung ist der Ausschluss von Kommunikation. Auch er gehört konstituierend zur Bildung von Gemeinschaften oder Gruppen hinzu.
ŝś ŝŜ ŝŝ
Ebenda, 409. Castells (2001: 415). Es werden aber auch Hoffnungen in das Internet zur Verbesserung sozialpolitischer Entwicklungshilfe gesetzt, vgl. Afrika: Internet for social action. In: Communicatio Socialis, 33. Jg., 2000, Heft 2, 240 ff.
1.6 Die Sichtbarkeit von Widersprüchen durch verlinkte Stücke
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Virtuelle Realitäten eröffnen Kommunikationsräume, die dazu genutzt werden, dass man in Gruppen von Menschen hineinfindet, die im World Wide Web bereits bestehen oder im Entstehen begriffen sind und deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich aus ähnlichen Interessen, Bedürfnissen oder Überzeugungen zusammenfinden. Auch die christliche Religion bringt Gemeinschaften und Gruppen, Vereine, Organisationen, sogar Institutionen hervor, sie ist geradezu auf Gemeinschaftsbildung angelegt. Sie unterhält also ebenso wie das World Wide Web feste Strukturen und ermöglicht durch sie verschiedene, nähere und fernere, intensivere und weniger intensive Verbindungen zu Kirche. Diese Verbindungen könnten im Modell der Unterscheidung zwischen starken und schwachen Kommunikationen differenziert gewürdigt werden und einen ersten Ansatz dazu liefern, wie ein medienspezifisch reflektiertes Bild von Kirche als corpus permixtum weiter zu entfalten ist. Paulus z. B. hat für Kirche und christliche Gemeinschaft das Bild vom Leib Christi eingeführt (1. Kor 12, 27).ŝŞ Es weist über die vorfindbare Kommunikation in dem vorfindbaren Kommunikationsraum hinaus in den weltweiten Zusammenhang aller derjenigen, die an Christus glauben. Dabei ist der Leib Christi keine Größe, die an einem Ort aufgesucht werden könnte, um ihrer habhaft zu werden. In diesem Sinne kann die Wirklichkeit dieser Gemeinschaft als eine virtuelle Realität beschrieben werden; sofern man an ihr im Glauben teilhat, gewinnt sie (ver-)bindende Wirklichkeit. Schließlich soll noch auf einen kritischen Impuls aufmerksam gemacht werden: Anhand von Virtual Communities lässt sich, wie oben angedeutet, eine Tendenz zur Privatisierung der kommunikativen Öffentlichkeit erheben. Dieser Indikator unterstreicht das an anderen Stellen ebenfalls aufgewiesene Problem, dass auch christliche Gottesdienste, insbesondere am Sonntagmorgen, ihren Charakter als öffentliche Veranstaltungen verlieren. Was öffentliche Kommunikationen als solche ausweist, scheint neu bestimmt werden zu müssen. Es stellt sich die Frage, wie mit dem Schwinden von öffentlichen Kommunikationen gerade im Blick auf die Zunahme computervermittelter Kommunikation umzugehen ist.
1.6 Die Sichtbarkeit von Widersprüchen durch verlinkte Stücke Die Cybernarium Days sind keine Welt für sich, sondern präsentieren Ausschnitte aus gegenwärtigen Kommunikationskulturen. Man kann den Gestus ŝŞ
Vgl. z. B. Christian Möller, Einführung in die Praktische Theologie. Tübingen und Basel 2004, insb. 56–71.
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hinterfragen, mit dem das Fraunhofer-Institut die Ausstellung präsentiert: die Erforschung humaner Technik, in deren Bereich keine ethischen Probleme auftauchen. Gefährdungen, Grenzen und Ängste aufzusuchen, dies ist nicht die Absicht dieser Ausstellung, die zunächst Anwendungsbereiche von virtuellen Realitäten publikumswirksam präsentiert. Der Forschungsbereich weist hinein in den Alltag am Arbeitsplatz, in die Freizeit beim Spiel oder auf die Spur der Kunst und in Bildungsprozesse, auch in die Tourismusbranche. Wenn nun im folgenden Abschnitt die Filmtrilogie The Matrix vorgestellt wird, steht dies thematisch gesehen im Gegensatz zu den Cybernarium Days.ŝş The Matrix gehört zur Diskussion über virtuelle Realitäten auf exemplarische Weise hinzu, weil in diesem Film Kulturkritik an einer totalitären Virtualisierung der Lebenswelt geübt wird. Es werden die untergründig schwelenden Ängste verhandelt, die aufkommen, wenn eine Technik sich zu perfektionieren und die Virtualisierung der Lebenswelt umfassend zu werden droht. Mit diesem Konzept des Verlinkens von Stücken, nämlich Cybernarium Days und The Matrix zu verbinden, wird etwas von den alltäglichen Widersprüchen in den Erfahrungen mit computergestützten Kommunikationen verständlich.
1.7 Die religiöse Codierung der Welt filmisch inszeniert: „The Matrix“ The Matrix artikuliert Zukunftsängste, die durch das Phänomen der Virtualisierung von Kommunikation geweckt werden. Die Ästhetik des Films nutzt hierzu christliche und insbesondere gnostische Codes. Die Zukunft ist Gegenwart geworden. Diesen Eindruck soll man bekommen, wenn es heißt, dass im 21. Jahrhundert Roboter an der Macht sind und unwissende Menschen in einer virtuellen Welt gefangen halten. Die Welt existiert als Computersimulation eines elektronischen Universums. Computerprogramme steuern Menschen, deren Sinneseindrücke Daten sind, die sie in ihr Gehirn übermittelt bekommen. Die Menschen, wie sie ehemals waren, liegen passiv in mit Nährlösung gefüllten Schalen und dienen der Computerdiktatur, eben der Matrix, als Energielieferanten. So genannte CyberpunkRebellen, eine Untergrundorganisation, sehen in einem Computergenie ŝş
Die anfänglich starke Aufnahme von The Matrix in religionspädagogische Konzepte hat während des Erscheinens von Teil 2 und 3 deutlich nachgelassen. Wie die StarWars-Saga verfalle auch die The Matrix-Dreieinigkeit zum Ende hin der inneren Erschöpfung, so Andreas Busche, epd Film 12/2003, 33. Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum auch in dieser Darstellung und Deutung der Trilogie das Schwergewicht auf dem ersten Teil liegt.
1.7 Die religiöse Codierung der Welt filmisch inszeniert: „The Matrix“
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namens Neo den Befreier der Menschheit. Sie weihen ihn in ein schreckliches Geheimnis ein: „Morpheus, der Kopf der Gruppe – ein gesuchter Terrorist –, erklärt ihm, dass Neo bisher in der Illusion einer realen Welt, der Matrix, gelebt habe. Er, Neo, sei der Erlöser, der gekommen sei, die Welt zu befreien.“ŞŖ Sie holen ihn zu sich und er willigt ein, dass er neu erschaffen wird. Die Agenten der Matrix verfolgen Neo bereits. Es kommt zum Kampf auf Leben und Tod, denn die Existenz eines Erlösers bedeutet ihr Ende. Cypher, eine Person aus der Gruppe um Orpheus, spioniert für sie. Sie töten Neo. Doch Trinity, eine Anhängerin von Neo, gelingt es mit ihrer Liebe und ihrem Glauben an Neo, dass er wieder aufersteht. Morpheus ist schließlich bereit, sein Leben für den Erlöser Neo hinzugeben. So gelingt es ihm, die computergesteuerten Agenten zu besiegen. Ob Neo eine endgültige Erlösung bringt, bleibt offen. Denn hier geht es nicht um die Zerstörung der Matrix, sondern um einen totalitären Herrschaftswechsel. Neo und seine Gefährten verweigern sich nicht der Matrix, sondern sie passen sich ihr perfekt an, perfekter als dies den ehemaligen Agenten gelungen war. „Neo ist dabei der Übermensch: Wahrer Mensch und wahrer Agent.“Şŗ Die Faszination des Films The Matrix, Teil 1, scheint in der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten technischen Fortschritts und darin zu liegen, wie diese filmisch dargeboten werden. Die mythische Aufbereitung im Film macht es offenbar möglich, Ängste zu artikulieren, die in einer öffentlichen Diskussion um Medienethik so nicht zutage treten und wohl auch nie das Publikum erreichten, die der Film anzusprechen vermag. Hinzu kommt, dass die existenzielle Ebene des Films nicht so faszinierend wirkte, wenn seine ästhetische Seite dies nicht beförderte. Der Film von Andy und Larry Wachowski ist mit vier Oscars‚ u. a. für die besten visuellen Effekte, ausgezeichnet worden. Mit Gewaltszenen wird nicht gespart, vor allem am Ende bekommen sie ein geradezu überbordendes Gewicht. Kung-Fu-technisch perfekt ausgebildete Kämpfe sind im Genre der Science-Fiction nicht ungewöhnlich, in The Matrix werden sie besonders einprägsam eingesetzt, wenn es am Schluss um einen Kampf auf Leben und Tod geht. Aber während z. B. Spielbergs A. I. eine Geschichte aus dem Nahbereich familiären Lebens erzählt, dehnt The Matrix das Szenario in kosmische Dimensionen aus. Als Grundfigur des Films findet sich ein Thema, das hier im Zusammenhang mit virtuellen Realitäten schon mehrfach aufgenommen worden ist. Es ist die Verunsicherung darüber, was wirklich ist, was gewiss ist, worauf man vertrauen kann, ohne abVgl. www.rpi-loccum.de/matrix.html (Stand: 14.3.2001). Vgl. auch Katholisches Filmwerk, The Matrix, Arbeitshilfe, Frankfurt a. M. 2001. Şŗ Vgl. The Matrix (2001: 15). ŞŖ
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hängig zu werden: „Während einerseits im täglichen Gebrauch die Begeisterung für die technischen Errungenschaften der Kommunikationsindustrie immer größer wird, schleicht sich ins Unterbewusstsein der PC-Generation offenbar auch eine verschleierte Furcht vor der Abhängigkeit von intelligenten Maschinen ein, die in Filmen wie The Matrix ausgelebt werden kann.“ŞŘ Wenn nun zwei Ansätze zur Aufnahme des Films in religionspädagogischen Entwürfen vorgestellt werden, geht es nicht um den Medieneinsatz im Religionsunterricht. Die Absicht ist vielmehr, die Kommunikationsziele dieser Entwürfe zu überdenken. Beide Ansätze rekonstruieren Religion in ihrer christlichen Signatur und bieten an, ein Produkt der Kulturindustrie aus evangelischer Sicht zu deuten.Şř Als erstes Beispiel führe ich Barbara Brinkops und Wiebke Nitz’ Beitrag an. Sie geben auf ihrer Website Anregungen zu einem Unterrichtsentwurf. Unter Lernzielen wird notiert, es gehe darum zu verstehen, dass Lieblingsfilme das, was Menschen unbedingt angeht, thematisieren; es werden religionsphänomenologische Kategorien empfohlen, man solle sich mit Symbol, Ritual und Mythos beschäftigen. Es gehe darum, zu „erkennen und [zu] reflektieren, wie in dem Film The Matrix gnostische und christliche Symbole und Inhalte verwendet werden bzw. in moderner Form bezogen auf den Computer auftauchen“ŞŚ. Der Erlöser Neo soll mit dem Erlöser Jesus Christus verglichen werden. Man möchte für die Identifikation von religiösen Mythen und Symbolen in populären Massenmedien sensibilisieren. Diese Lernziele zeigen in ihrer Mehrheit, wie The Matrix zum Anlass genommen wird, Religion als kulturell relevant auszuweisen. Dieser Ansatz kann durchaus wichtige Erkenntnisprozesse für das Verständnis des Christentums anregen, allerdings wird hierbei m. E. ein Schritt in der Wahrnehmung der Film-Trilogie übergangen: The Matrix wird nicht selbst als ein Ausdruck von nicht kirchlich gebundener und in diesem Sinne kulturell frei flotierender Religiosität verstanden. In diesen Wahrnehmungshorizont gehört auch die Sensibilisierung für die Frage nach der Deutung eines Kinobesuchs als (pseudo-)religiöses Ritual. Die Diskussion darum, ob ein Kinobesuch auch als eine Art von Gottesdienst verstanden werden
Franz Everschor, Cyberpunk und Jedi-Ritter. In: film-dienst 13/99, 3. Vgl. für solche Angebote und ihre kulturhermeneutische Analyse auch Herrmann (2001); Gräb (2002: 190–212) und den Beitrag von Ulrike Vollmer, Einen Spiegel finden – Erlösung in den Filmen von Jane Campion. Communicatio Socialis, 33. Jg., 2000, Heft 2, 212–223. ŞŚ Barbara Brinkop/Wiebke Nitz, Erlösung aus der feindlichen Scheinwelt. Der Film „Matrix“ als Beispiel für Religion in der populären Kultur. Vgl. www.rpi-loccum.de/ matrix.html, 2. ŞŘ Şř
1.7 Die religiöse Codierung der Welt filmisch inszeniert: „The Matrix“
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könnte, wird nicht aufgegriffen.Şś Ebenso wenig wird danach gefragt, ob Filmgottesdienste für Schülerinnen und Schüler attraktiv sein könnten. Dies ist m. E. eine Folge davon, dass der fremdartige Eigencharakter des inzwischen zum Kultfilm avancierten Stücks nicht genügend berücksichtigt wird. Allzu schnell wird die Brücke zu Inhalten christlicher Theologie geschlagen, um für eine Aktualisierung christlicher Traditionen zu sorgen. Das zweite Beispiel einer Aufnahme von The Matrix als Unterrichtsgegenstand in der Religionspädagogik stammt von Uwe Böhm und Gerd Buschmann. Auch für diesen Beitrag möchte ich betonen, dass die theologische und die religionspädagogische Aufarbeitung attraktives Material anbieten. Kritisch sehe ich hingegen wiederum, wie der Film The Matrix verarbeitet wird. Böhm und Buschmann unternehmen eine Rekonstruktion der paulinischen Tauftheologie über die Analyse des Films. Dieses Anliegen verfolgen sie bereits im Eröffnungssatz ihres Beitrags: „Paulinische Theologie ist – gemessen an ihrer christentumsgeschichtlichen Bedeutung – in der Religionspädagogik de facto beträchtlich unterrepräsentiert [...] es kommt jedenfalls darauf an, neue Zugänge zu finden und zu wagen, wenn das paulinische Kreuz nicht weiter Crux der Religionspädagogik bleiben soll! Die Symboldidaktik in ihrer neugefassten, semiotisch, massenmedial und popkulturell erweiterten Form könnte dazu einen hilfreichen Beitrag leisten, wie er hier gewagt werden soll.“ŞŜ In diesen Formulierungen scheint ein apologetisches Interesse am Einsatz von Filmen im Religionsunterricht auf, das einen erfolgreichen medialen Stoff für eigene Zwecke ins Spiel bringt. Doch es ist prinzipiell möglich, auf diesem Wege auch der religiös aufgeladenen Wirklichkeitssicht im Film nachzugehen und zu fragen, ob eine solche Virtualisierung der Lebenswelt nicht gerade ein Charakteristikum christlicher Religion ist. Die Aufarbeitung der Gnosis und der Tauftheologie des Paulus im Kontext von The Matrix könnte gerade die Wahrnehmung von religionskritischen Aspekten bei den Schülerinnen und Schülern stärken, zugleich aber auch eine Gelegenheit sein, das, was in diesem Zusammenhang von Christentum und christlicher Wirklichkeitssicht dennoch Bestand hat, herauszuarbeiten. Mit einem Blick auf die Teile 2 und 3 von The Matrix möchte ich deshalb zumindest andeuten, welche Akzentuierungen aus einer ästhetisch eingestellten Herangehensweise an die Filmtrilogie möglich wären. Vgl. Inge Kirsner/Hans-Ulrich Gehring (Hg.), Filmgottesdienste. Jena 2005, sowie dies./Michael Wermke (Hgg.), Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen. Göttingen 2000, und Teil 1, 3.1.4. ŞŜ Uwe Böhm/Gerd Buschmann, The Bible meets Batman. Der Sciencefiction-Thriller „Matrix“ und die christliche Taufe. In: www.theophil-online.de/praxis/mfpraxi2.htm (Stand: 27.06.2008). Şś
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Im zweiten Teil, Matrix Reloaded, liegt ein besonderes Augenmerk auf einem Schauplatz, von dem im ersten Teil nur die Rede war. Es ist die Stadt Zion. Hier treffen Neo, seine Geliebte Trinity und der Guerillaführer Morpheus mit ihrem Raumkreuzer, der Nebukadnezar, auf eine ganze Flotte von Rebellenschiffen. In Zion versammeln sich die letzten Freiheitskämpfer der Erde,Şŝ um dem Ansturm von 250.000 Kampfdrohnen standzuhalten. Sie sind oktopusartige Roboter, die von den Maschinenherrschern einst zur Kontrolle von versklavten Menschen entwickelt wurden. Der Rat von Zion schickt nun die Nebukadnezar zusammen mit der Besatzung zweier anderer Schiffe zurück in die Computerstruktur der Matrix. Sie sollen verhindern, dass es einen entscheidenden Kampf gegen die Maschinen der wirklichen Welt gibt.ŞŞ Die Filmkritikerin Heike Kühn hat Matrix Reloaded als Christus-Programm bezeichnet.Şş Der Anlass hierfür liegt darin, dass eine Begegnung mit Gott, dem Vater der Matrix, simuliert wird, und die Erkenntnis gewonnen werden kann, dass die Figur des Erlösers auf einem einkalkulierten Rechenfehler basiert. Das Scheitern dieser Anomalie gehöre, so Kühn, zu den Grundlagen der Matrix wie die von Rechnergeneration zu Rechnergeneration eingeplante Wiederbelebung der Erlöserlegende. Hier endlich könne Matrix Reloaded unsere eingeschlafenen grauen Zellen aus dem Dämmerzustand erwecken, in den uns die wie am Zahlen-Schnürchen ablaufenden Kampfhandlungen und Stuntwunder versetzten. „Wie verselbstständigt sich ein Rechenfehler? Wie emanzipiert sich der Mensch vom Gottesprogramm? Ende des Films. Die Auferstehung der Intelligenz im bereits angekündigten dritten Teil ist schon jetzt reine Glaubenssache.“şŖ Die religiöse Signatur ist kritisch im Blick; Kühn legt frei, mit welcher Botschaft Matrix Reloaded erfolgreich wird: Der Mythos vom Erlöser wird von zwei Seiten aus befördert. Die Matrix übt eine totalitäre Macht aus und die Gegenmacht tritt ebenfalls mit absoluten Herrschaftsansprüchen auf. Man kann die Wirkung auf politische und weltanschauliche Verhältnisse wie etwa nach dem 11. September 2001 beziehen, sie wirken aber auch durch die Macht der Fantasie im Inneren eines Menschen weiter. Es sind Immersionseffekte, die in Tag- oder Nachtträumen die Frage wach halten, wie sehr man sich auf eine medial inszenierte Welt einlassen kann, ohne aus anderen alltäglichen Welten herauszufliehen. Der dritte Teil, Matrix Revolutions, bietet noch mehr Kämpfe und Gefechte, die ursprüngliche Idee der Film-Trilogie tritt dahinter deutlich zurück. Dennoch
Şŝ ŞŞ Şş şŖ
Vgl. epd Film 6/2003, 41. Vgl. ebenda. Vgl. Heike Kühn, Das Christus-Programm. In: Frankfurter Rundschau, 21.05.2003, 9. Ebenda.
1.7 Die religiöse Codierung der Welt filmisch inszeniert: „The Matrix“
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könnte ihr großes Thema weitergetrieben werden: „Die ganze Illusionsmaschinerie Kino hat sich spektakulär selbst hinterfragt und gleichzeitig ein faszinierendes Ensemble von Charakteren aufgeboten.“şŗ Die christliche Religion in Analogie mit der Cyber-Religion von Matrix wahrzunehmen, stellt vor die Aufgabe, deren eigene Matrix, ihre oft auf das Ganze der Wirklichkeit bezogenen Geltungsansprüche zu hinterfragen.
Dass die Matrix zur Analogie eines vergeistigt und immateriell wahrgenommenen christlichen Gottes wird, ist nicht allein die Vorstellung einzelner Filmemacher, sondern sie ist tief in der Wahrnehmung von christlicher Religion zumindest westlich geprägter Kulturen verankert. Es liegen hierzu auch wissenschaftliche und wissenschaftsjournalistische Kommentare, z. B. aus den Fachgebieten der Philosophie und der Kulturanthropologie, vor. In diesen Kommentaren wird der Cyberspace in eine Analogie mit dem christlichen Himmel gebracht; es gehe um die Erlösung der Menschen von ihrer irdischen Existenz, allen Schmerzen und allem Leiden. Der Cyberspace wird dargestellt wie ein idealisiertes Reich, das die politischen und ökologischen Probleme hinter sich gelassen hat. Im Cyberspace wird das himmlische Jerusalem gesehen.şŘ „Genau wie die frühen Christen versprechen sie einen transzendenten Zufluchtsort – eine utopische Stätte der Gleichheit, Freundschaft und Macht.“şř Zumindest in US-amerikanischen Publikationen ist die religiöse Emphase, mit der der Anbruch einer neuen Ära für die Menschheit verkündet wird, offenkundig. Der Cyberspace sei nicht per se eine religiöse Konstruktion, aber man könne diesen neuen digitalen Bereich als den Versuch verstehen, einen technologischen Ersatz für den christlichen Himmelsraum zu konstruieren. Wenn frühe Christen sich den Himmel als ein Königreich gedacht hätten, in dem ihre Seelen von den Schwächen des Fleisches befreit sein würden, so bezeichneten heute die Verfechter des Cyberspace ihren Bereich als einen Ort, an dem wir befreit sein werden „von dem, was Kybernetik-Pionier Marvin Minsky verächtlich die blutige Schweinerei organischer Materie genannt hat [...]. Die Faszination, die Computer auf uns ausüben, ist viel mehr spiritueller als nützlicher Art, schreibt [...] Michael Heim. Bei unserer Liebschaft mit diesen Maschinen, sagt er, suchen wir nach einem Zuhause für Geist und Herz“şŚ.
Busche (2003: 33). Vgl. Hartmut Böhme, Zur Theologie der Telepräsenz. In: www.culture.hu-berlin.de/ HB/volltexte/texte/telepraes.html. şř Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet. Zürich 2000, 7. şŚ Wertheim (2000: 8). şŗ şŘ
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1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
Das Tremendum und das Faszinosum von Computerwelten liegen in der enormen Erweiterung des menschlichen Möglichkeitssinns. Computervermittelte Kommunikationen fordern auf eine bislang nicht bekannte Weise dazu heraus, sich mit der Generierung von Wirklichkeitswahrnehmungen auseinanderzusetzen. „Virtualisierung besagt im Bereich der Erfahrung, daß etwas als möglich erfahren, betrachtet oder behandelt wird.“şś Mit dieser Deutung wird eine Tür aufgestoßen in Räume, die in die Auseinandersetzung um eine theologische Weltdeutung oder um ein christliches Wirklichkeitsverständnis hineinführen. In diesem Horizont wird auch die Frage nach der Gegenwart Gottes neu interessant. So muss einerseits geklärt werden, wie das Verständnis einer Praktischen Theologie beschrieben werden kann, die sich als Wahrnehmungswissenschaft versteht. Andererseits muss dies, orientiert an den gebotenen Annäherungen, im Kontext einer Praktischen Theologie geschehen, die Medien eine zentrale Bedeutung in ihrem Wahrnehmungsverständnis einräumt.
1.8 Die Herausforderung: Virtuelle Realitäten als interaktive Kommunikationsräume Virtuelle Realitäten und ihre Immersionswirkungen sind nicht als radikal neues Phänomen elektronischer Medien zu qualifizieren. Immersionen sind, historisch gesehen, nicht erst mit computervermittelten Kommunikationen entstanden. Eine Geschichte der Medien lässt sich z. B. unter dem Blickwinkel lesen, wie man immer wieder neu versucht hat, Grade von Immersionen zu steigern. Die Fantasiewelten, die in der Literatur seit alters entworfen werden, gehören in diesen Zusammenhang ebenso wie Schlachten, die im Sandkasten nachgebaut werden.şŜ Im Kino und im Theater werden Immersionen ebenso wie in computervermittelten Kommunikationen inszeniert. Die Vernetzung verschiedener Medien führt überdies zu einer Amalgamierung von Immersionseffekten, die in ihrer Gesamtwirkung etwa im Bereich von Multimedia-Präsentationen gar keine harte Gegenüberstellung zwischen einer computergenerierten virtuellen Realität und einem Kinofilm mehr erlauben. Auch im Theater werden multimediale Bilder- und Interaktionswelten eingesetzt. Eine Entwicklung, die noch bevorsteht, aber sicher zu einer neuen Intensität von Immersionseffekten führt, stellt sich ein, wenn es üblich geworden şś şŜ
Waldenfels (1998: 236). Vgl. Faßler (1999: 58).
1.8 Die Herausforderung: Virtuelle Realitäten als interaktive Kommunikationsräume
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sein wird, statt den PC hochzufahren, einen Datenanzug anzuziehen oder zumindest eine Datenbrille zu tragen. Letzteres konnte in der Darmstädter Ausstellung ausprobiert werden. Es geht nicht mehr vorrangig darum, die Funktion des Speicherns, der Übertragung und der Selektion von Informationen als Erweiterung von Kommunikationsmöglichkeiten vorzustellen. Elektronische Medialität wird durch interaktives Dazutun zu einer verfassten Wirklichkeit. Sie baut sich, vom digitalen Maschinencode ausgehend, im Moment des Eintritts in virtuelle Realitäten auf. „Dieser Eintritt, Immersion genannt, ist ein mentaler Schritt in ein physikalisch und mathematisch immer reicher werdendes Netz möglicher Wirklichkeit.“şŝ Man tritt in eine mediale Umgebung hinein, die durch eine multisensorische Interaktion von Mensch und Computer über jeweils mehr als einen Kanal konstruiert ist. Kombiniert werden Geräusche, Text und Hypertext, Animation, Sprache, Gestik, Mimik oder Handschrift. In der virtuellen Umgebung findet sich eine interaktiv verfasste Wirklichkeit. Am Beispiel von virtuellen Realitäten und ihrem Gebrauch zeigt sich immer deutlicher, wie Kommunikationsräume entstehen und dort, wo sie nicht mehr gebraucht werden, auch wieder verschwinden. Die soziale Bestimmung dessen, was ein Raum ist, gewinnt an Bedeutung. Zu den Konsequenzen der ModerneşŞ gehören neben Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen auch ein verändertes Verhältnis zu Räumen und Raumstrukturen. Raumkonstitution und Raumerfahrung hängen von der Nutzung von Räumen ab. Raumerfahrungen sind dabei zugleich immer auch Immersionserfahrungen: „Diese immersiven Umgebungen erfordern für ihre Nutzung die Fähigkeit, sich in unstabile Umgebungen begeben zu können.“şş Der Grad der Immersion und das Gelingen einer Kommunikation hängen dabei nicht zwingend von der Stabilität eines Kommunikationsraumes ab. Dennoch kann Kontinuität in der Kommunikation erreicht werden. Diese Veränderungen in der Kommunikationskultur sind in die praktisch-theologische Diskussion um Medien, Religion und Wahrnehmung im Folgenden aufzunehmen.ŗŖŖ Weitere Herausforderungen liegen auf der Ebene der Veränderungen, der die Formen von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskulturen durch elektronische Speichermedien ausgesetzt sind. Es wird zunehmend wichtig, transparent damit umzugehen, dass symbolische Repräsentationen und Darstellungen (religiöse) Konstruktionen sind. Eine solche Transparenz bedeutet şŝ şŞ şş ŗŖŖ
Faßler (1999: 58). Vgl. Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. 1997. Ebenda. Vgl. Teil 1, Kapitel 3.
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1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
dabei keineswegs, dass religiöse Symbole und darstellendes Handeln im Gottesdienst beliebige Bedeutungshorizonte annehmen könnten oder beliebig veränderbar sind. Es bedeutet allerdings zu zeigen, dass der christliche Glaube darauf angewiesen ist, dass Menschen seinen Gehalt immer wieder neu (re-) konstruieren und darin seine Wirklichkeit entwerfen. Die Auseinandersetzung mit virtuellen Realitäten eröffnet der Praktischen Theologie neue Wege, sich mit der Bedeutung von anonymer Kommunikation und grundsätzlich mit personaler Kommunikation auseinanderzusetzen. In welchem Verhältnis sie zueinander stehen, was von ihnen jeweils zu erwarten ist und wo ihre Bedeutung überhöht wird, ist in Anbetracht computergestützter Kommunikationen erneut herauszuarbeiten. Das Paradigma, dass christlicher Glaube mit existenziellen Fragen und Verkündigung deshalb mit einem Gestus absoluten Ernstes verbunden sei, wird aus der Perspektive elektronischer Spielkultur auf die Probe gestellt. Wenn es um eine kulturell ansprechende Gottesdienstgestaltung geht, soll an das Paradigma unterhaltsamen Spielens angeknüpft werden. Wer sich diesen Fragen direkt widmen möchte, sollte das folgende Kapitel zu methodischen Orientierungen überschlagen und mit Teil 1, Kapitel 3 fortfahren. Denn in Kapitel 2 wird Rechenschaft darüber abgelegt, wie die Annäherungen an das Phänomen virtueller Realitäten methodisch zu verstehen sind. Es geht dabei um eine Einordnung der vorliegenden Untersuchung in die praktisch-theologische Forschung zur Wahrnehmung gelebter Religion, ferner wird das Kriterium der Irritation innerhalb dieses Forschungsbereichs erläutert. Schließlich steht das Konzept des Blitzlichts im Blickfeld, das für die Schilderung der Einzelphänomene anhand von Clifford Geertz’ dichter Beschreibung entwickelt worden ist.
2 Hermeneutische und methodische Orientierungen Hermeneutische Modelle der Phänomenologie haben die Aufmerksamkeit für Wahrnehmungsfragen innerhalb Praktischer Theologie seit gut zwanzig Jahren beständig gefördert. Henning Schröer charakterisierte die Aufgabe Praktischer Theologie folgendermaßen: „Eine interkulturelle, medienbewusste praktisch-theologische Hermeneutik ist nötig. Sie arbeitet vorwiegend phänomenologisch [...].“ŗŖŗ Das Spektrum der Forschungsbeiträge von Eilert HermsŗŖŘ, Wilfried Härle, Edward FarleyŗŖř u. a. zeigt für die Systematische Theologie, wie vielfältig phänomenologische Orientierungen gestaltet sein können. Große Vielfalt spiegeln aber auch die praktisch-theologischen Forschungsbeiträge von Albrecht Grözinger, Hans-Martin GutmannŗŖŚ, Astrid Dinter und Hans-Günter HeimbrockŗŖś sowie Heimbrock mit Wolf-Eckart FailingŗŖŜ und in anderer Weise auch von Reiner PreulŗŖŝ wider. Für eine medientheoretisch reflektierte Praktische Theologie bieten zudem die hermeneutischen Modelle der Semiotik einen unverzichtbaren Beitrag. Denn hier ist die Vermittlung von Wirklichkeit durch Zeichen die grundlegende Voraussetzung aller Wirklichkeitswahrnehmung. Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit, die Dinge, wie sie sind, Gegenstände oder Ereignisse, in einem Zeichen selbst nicht zum Ausdruck kommt, gilt als unhintergehbar. Insofern ŗŖŗ Henning Schröer, Praktische Theologie. TRE, Bd. 27. Berlin/New York 1997, 214. ŗŖŘ Vgl. Eilert Herms, Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Gestalten. In: Wilfried Härle/
ŗŖř ŗŖŚ
ŗŖś ŗŖŜ
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Dieter Lührmann (Hgg.), Ethik und Recht. Marburger Jahrbuch für Theologie XIV, Marburg 2002, 93–119. Vgl. z. B. Edward Farley, Ecclesial Man. A Social Phenomenology of Faith and Reality. Philadelphia 1975. Vgl. In dem von Georg Lämmlin und Stefan Scholpp herausgegebenen Band „Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen“, Tübingen/Basel 2001, qualifizieren z. B. Albrecht Grözinger, Hans-Günter Heimbrock, Manfred Josuttis, Gerhard Marcel Martin und Hans-Martin Gutmann ihre Ansätze ‚phänomenologisch‘. Vgl. Astrid Dinter/Hans-Günter Heimbrock/Kerstin Söderblom (Hgg.), Einführung in die empirische Theologie. Göttingen 2007. Vgl. Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock/Thomas Lotz (Hgg.), Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt. Berlin 2001. Vgl. Wilfried Härle/Reiner Preul (Hgg.), Phänomenologie. Über den Gegenstandsbezug der Dogmatik, 1994 (MJTH 6).
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
ist auszuschließen, dass es möglich ist, ungebrochen von einer Kontinuität zwischen Ereignis und Zeichen zu einer sozusagen wirklichkeitsgetreuen Interpretation eines Zeichens vorzudringen. „Im Gegenteil, der menschliches Verstehen und Kommunizieren begründende Zeichengebrauch dokumentiert eine prinzipielle Diskontinuität zwischen Ereignis und Interpretation.“ŗŖŞ Mit dieser hermeneutischen Prämisse bietet die Semiotik zum einen Anschlüsse an medienwissenschaftliche Theorien, für die die Frage nach der Funktion von Übereinkünften in Verstehens- und Kommunikationsprozessen ebenso wichtig ist wie für die Semiotik. Zum anderen ergeben sich spezifische Konsequenzen für die Praktische Theologie, z. B. für deren Offenbarungsverständnis. Gottheiten oder das Numinose, so schreibt Hermann Deuser zur Semiotik in religionsphilosophischer Perspektive, seien nicht direkt zugänglich, sondern träten zeichenvermittelt in Erscheinung. Darin lägen zugleich die Bedingung und das Lebenselement von magischen Praktiken, religiösen Riten und Kulten, Mythologien und schließlich der religionsphilosophischen und theologischen Theoriebildung.ŗŖş Hiermit ist aber nun weder zugleich gesagt, dass es keine wahre Beziehung zwischen Zeichen und bezeichneten Sachen mehr gäbe, noch dass die Sachen durch eine geschickte Zeichenvermittlung in jeden Bezeichnungsmodus gebracht werden könnten: „Mit einer Favorisierung der Ästhetik in der Praktischen Theologie wird nicht unterstellt, eine gediegene ästhetische Erarbeitung und Durchdringung dieser theologischen Disziplin befähige dazu, Offenbarungen zu inszenieren, also Glauben zu machen. Die Phänomenologie der Offenbarung und die Praxis der Wahrnehmung partizipieren aber beide an einem ästhetischen Modus, demzufolge menschliches Erkennen und menschlicher Gestaltungswille das Resultat von Wahrnehmungs- oder Erschließungsprozessen sind.“ŗŗŖ Für die ästhetische Gestaltung praktisch-theologischer Handlungsvollzüge ist die Dialektik zwischen Zeigen und Verhüllen, Nahebringen und Verfremden kennzeichnend. „Eine naive Ästhetik der Ganzheitlichkeit, des Schönen oder des Vertrauten verstellt den Weg der Gottes- und Selbsterkenntnis eher, als dass sie ihn beschreiten lehrt.“ŗŗŗ Und schließlich ist mit Engemann daran festzuhalten, dass in der praktisch-theologischen Ästhetik künftig noch ŗŖŞ Engemann (2003: 172). ŗŖş Vgl. Hermann Deuser, Semiotik. In: Semiotik I, TRE, Bd. 16, Berlin/New York 2000,
108. ŗŗŖ Wilfried Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster
der Praktischen Theologie. Leipzig 2003: 230 f. ŗŗŗ Engemann (2003: 231).
1.8 Die Herausforderung: Virtuelle Realitäten als interaktive Kommunikationsräume
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stärker die Penetranz des Gegenwartsbezugs erkennbar sein muss. Die Weigerung, Praktische Theologie als Anwendungswissenschaft zu vertreten, darf aus der Vorsicht gegenüber bestimmten Schwächen einer zu stark an handlungstheoretisch orientierten Theoriebildungen nicht soweit gehen, dass man sich über die Anwendung praktisch-theologischer Ästhetik selbst ausschweigt. „Mit anderen Worten: Die Kunst der Wahrnehmung muss durch Impulse für die Darstellung ergänzt werden.“ŗŗŘ In diesem Sinne folgt der Phänomenerkundung im ersten Teil eine Diskussion um die Bedeutung von Virtualität für die Homiletik im zweiten Teil der Untersuchung. Im Schnittfeld der oben genannten phänomenologischen und semiotischen Zugänge liegt außerdem auch eine signifikante Verwendung des Stichworts Kunst. Albrecht Grözinger stellte seine Praktische Theologie unter den Titel Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmungŗŗř, Rainer Volp untertitelte seine Liturgik mit Die Kunst, Gott zu feiernŗŗŚ, Gert Otto fokussierte sein Interesse an der Ästhetik in der Kunst, verantwortlich zu redenŗŗś. Zu ihnen zu zählen sind auch die im zweiten Teil der Untersuchung genauer besprochenen Beiträge zur Homiletik wie Predigt: ästhetisch. Wahrnehmung – Kunst – LebenskunstŗŗŜ und Semiotische Homiletikŗŗŝ. Praktisch-theologische Bezugnahmen auf Clifford Geertz’ dichte BeschreibungŗŗŞ sowie dessen Verständnis von Kultur liegen ebenso in der semiotischen Spur wie die Aufnahme von George Steiners Ausarbeitungen zum Verständnis realer Gegenwartŗŗş. ŗŗŘ Ebenda. ŗŗř Vgl. Albrecht Grözinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung. Güters-
loh 1995. ŗŗŚ Vgl. Rainer Volp, Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. I: Einführung und Geschichte.
Gütersloh 1992; II: Theorien und Gestaltung. Gütersloh 1994. ŗŗś Vgl. Gert Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden. Rhetorik – Ästhetik – Ethik.
Gütersloh 1994. ŗŗŜ Vgl. Gerhard Marcel Martin, Predigt: ästhetisch. Wahrnehmung – Kunst – Lebens-
kunst. Stuttgart 2003. ŗŗŝ Vgl. Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konse-
quenzen. Tübingen/Basel 1993. ŗŗŞ Vgl. z. B. Fechtner (2001). Die dichte Beschreibung wird bei weiteren Nennungen, um zu
kennzeichnen, dass sie eine programmatische Formel von Geertz ist, stets kursiv gesetzt. ŗŗş Vgl. Teil 1, 3.3 zum Verständnis von Religion sowie auch Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gütersloh 2004, sowie Ilona Nord (2005), Über George Steiner, Virtuelle Realitäten und die Peinlichkeit von Gott zu sprechen. In: Eveline Goodman-Thau/Fania OzSalzberger (Hgg.), Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität. Berlin/Wien, 297–312.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
Schließlich steht eine wahrnehmungsorientierte Praktische Theologie mit Forschungen zu gelebter ReligionŗŘŖ und Religion in der Lebenswelt der ModerneŗŘŗ sowie zu Religion und populärer KulturŗŘŘ in Verbindung. Es werden kulturelle Phänomene erforscht und es wird deren theologische Deutung versucht. Von hier aus werden die Erträge auf kirchliche Handlungsfelder zurückbezogen. Im größeren Kontext von Mitgliedschaftsstudien der Evangelischen Kirche in Deutschland und in Auseinandersetzungen mit den sogenannten Trendmonitoren ist die Bedeutung von Fragen danach gewachsen, wie Kirchenbindung und Glaubensüberzeugung, Lebensstile und Weltsichten von, wie es heißt, kirchlich distanzierteren Mitgliedern, aber auch von konfessionslosen Menschen beschrieben werden können.ŗŘř Leider geht aus der letzten EKD-Erhebung im Vergleich zu den Trendmonitoren, die insbesondere innerhalb der katholischen Theologie rezipiert werden, weniger pointiert als notwendig hervor, dass gerade diese Gruppe von Menschen im Wesentlichen ihre Kontakte zu Kirche über Medien aufnehmen.ŗŘŚ Befragt man die oben genannten verschiedenen Ansätze auf ihre theologische Motivation zu der perzeptiven Orientierung, zeigt sich, dass in ihnen als ein charakteristisches Kriterium von Wahrnehmung die Irritation hervorgehoben wird. Selbstverständlich differiert der Grad, mit dem dieses Kriterium in den Entwürfen herausgearbeitet wird. In dieser Untersuchung soll nun die Erforschung von Störungen und Irritationen in alltäglichen Lebensvollzügen ins Zentrum gerückt werden. Zu ihnen gehören z. B. Fremdheitserfahrungen: Es irritiert im Alltag, dass eine Weltsicht sich in der Begegnung mit einem bislang fremden Zusammenhang nicht mehr aufrechterhalten lässt. Es irritiert, wenn etwas Neues ins Blickfeld gerät, seien es ein Ring an der Hand oder eine Fußgängermarkierung auf der Straße und anderes mehr. Auch das,
ŗŘŖ Vgl. den Tagungsband von Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer, Gelebte Religion
ŗŘŗ ŗŘŘ ŗŘř
ŗŘŚ
als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie. Zürich 2002; vgl. auch Inken Mädler, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive. Gütersloh 2006. Vgl. Kristian Fechtner/Michael Haspel (Hgg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne. Stuttgart 1998. Vgl. Kristian Fechtner/Gotthard Fermor/Uta Pohl-Patalong/Harald Schroeter-Wittke (Hgg.), Handbuch Religion und Populäre Kultur. Stuttgart 2005. Vgl. zuletzt die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Herausgegeben von Wolfgang Huber, Johannes Friedrich und Peter Steinacker. Gütersloh 2006. Vgl. Rüdiger Schulz, Religiöse Kommunikation heute – Erkenntnisse aus dem ‚Trendmonitor 2000‘. Situationsanalyse und Empfehlungen. In: Communicatio Socialis, 33. Jg., 2000, Heft 3, 296–323.
2.1 Zum Verhältnis von Ästhetik, Wahrnehmung und Kommunikation
49
was einem Menschen neu erscheint, bringt ihn dazu, etwas als fremd und anders zu qualifizieren. Aus medienwissenschaftlicher Sicht bietet sich eine solche Einstellung des Blicks ebenfalls an. Sie fördert die Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsprozessen, die z. B. aus einer nicht näher einschätzbaren Ferne kommen. Telekommunikationen sind solche Kommunikationen, in denen die Nähe oder Ferne, in der kommuniziert wird, sich nicht mehr räumlich eindeutig bestimmen lassen. Sie sind Kommunikationen, in die sogenannte fernnahe Beziehungen eingeschrieben sind und diese irritieren auf spezifische Weise: in ihrer Inszenierung als Simulationen, als Experimentier- und Spielwelten, als Virtual Communities.
2.1 Zum Verhältnis von Ästhetik, Wahrnehmung und Kommunikation Praktische Theologie aus der Perspektive der Ästhetik zu entwerfen und Kommunikation dabei als einen Schlüsselbegriff zu fassen, war für Henning Schroer bereits Ende der Siebzigerjahre eine Vorstellung, die ihm gerade auch mit der empirischen Wende innerhalb der Theologie verbunden schien: „Wird Kommunikation – offenbar Schlüsselbegriff für die Verbindung der Theologie zu den empirischen Sozial- und Handlungswissenschaften – auch zum Kernproblem der Ästhetik?“ŗŘś Im selben Artikel fordert er: „Ästhetik muß den anthropologischen Kontext des Schönen und der Künste einbeziehen. Versuchsweise gesagt: Da Wahrnehmung in des Wortes tiefer Bedeutung ihr Gegenstand ist, muß Ästhetik als Wahrnehmungsanthropologie entwickelt werden.“ŗŘŜ Nahezu zwanzig Jahre später rangiert in seiner Auslegung Praktischer Theologie das Interesse an Ästhetik innerhalb von Zukunftsperspektiven für die Disziplin an erster Stelle. Praktische Theologie soll primär als Wahrnehmungswissenschaft verstanden werden, wie es vor allem Grözinger dargelegt hat. „Dabei bietet der Begriff Wahrnehmung im Deutschen die Möglichkeit, ähnlich dem englischen to realize, auch den Handlungsvollzug in sich zu erschließen. Praktische Theologie soll sowohl als Wissenschaft als auch als Kunst begriffen werden. Die Begegnung von Theologie und Kunst sowie eine ŗŘś Vgl. für einen historischen Überblick z. B. Henning Schröer, Ästhetik III. In prak-
tisch-theologischer Hinsicht. In: TRE, Bd. 1, Berlin/New York 1977, 566–572, hier 570, aber auch ders., Praktische Theologie. In: TRE, Bd. 27, Berlin/New York 1996, 190–220. ŗŘŜ Ebenda.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
Erneuerung des Kulturbegriffs in einer multikulturellen Gesellschaft deuten hier neue Aufgabenfelder an.“ŗŘŝ Im Anschluss an diese Orientierung stehen im Fokus einer ästhetisch orientierten Praktischen Theologie insbesondere mediale Kommunikationen und deren Reflexion als ästhetische Phänomene, weil sie für die Konstitution von Glauben Bedeutung haben. Damit ist die sinnliche Wahrnehmung für die wissenschaftliche Erkundung von Phänomenen gelebter Religion nicht mehr länger so zu entwerten, wie dies in der klassischen Rezeption von Wahrnehmungsphilosophien über das Phänomen der Sinnestäuschungen geschehen ist.ŗŘŞ Betrachtet man die aktuelle, seit dem Jahrtausendwechsel publizierte praktisch-theologische Diskussion zum Thema, zeigen sich über grundlegende Beiträge von Grözinger, Volp, Josuttis, Martin, Meyer-Blanck sowie Heimbrock/Failing hinaus Weiterentwicklungen, die Ästhetik im Sinne von Wahrnehmung als rezeptiven Vorgang entfalten und auch gegen eine Dualisierung von sinnlicher Wahrnehmung und Vernunft bzw. von Gefühl und Vernunft argumentieren. Die sozusagen aktive Beteiligung am Wahrnehmungsprozess wird zunehmend herausgearbeitet und auch für die Verkündigung fruchtbar gemacht. Innerhalb eines rezeptionsästhetisch ausformulierten Wahrnehmungsverständnisses führt dies z. B. zu einem Plädoyer für kreative Aneignungsprozesse.ŗŘş Dieser Orientierung folgen auch praktisch-theologische Entwürfe, die sich empirisch verstehen oder als Kernbegriff den Konstruktivismus aufnehmen. Eberhard Hauschild z. B. bleibt bei der Charakterisierung der von ihm vertretenen „Praktischen Theologie empirisch“ und schließt sich dabei doch einem mit der Soziologie von Berger und Luckmann abgesicherten Wirklichkeitsverständnis an. Dies führt ihn zu der These, dass Theologie Konstruktion sei. In Bezug auf das Gottesverständnis kann Hauschild sagen: „[...] es gibt Gott, aber es sind mein Glaube und meine Theologie, die von Gott reden; Konstruktionen liegen vor.“ŗřŖ Diese Position vertritt er, ebenso wie Wolfgang Steckŗřŗ, der sich allerdings phänomenologischer Hermeneutik zuordnet, wenn er von Konstruktionen spricht.
Vgl. Schröer (1996: 213). Vgl. Lambert Wiesing, Philosophie der Wahrnehmung. Frankfurt a. M. 2002, 14 f. Vgl. Engemann (2003: 226). Eberhard Hauschild, Praktische Theologie – neugierig, graduell und konstruktiv. In: Ders./Schwab, Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 99. ŗřŗ Vgl. Wolfgang Steck, Praktische Theologie. Band 1, Stuttgart 2000. ŗŘŝ ŗŘŞ ŗŘş ŗřŖ
2.1 Zum Verhältnis von Ästhetik, Wahrnehmung und Kommunikation
51
Inwiefern für Feministische Theologie die Rede von der Konstruktivität von Wirklichkeit unverzichtbar ist, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Geschlechtlichkeit bzw. von Prozessen des Doing GenderŗřŘ: In Verwandtschaft zu ästhetischen Orientierungen votiert Martina Plieth für ein Verständnis Praktischer Theologie als einer Wissenschaft, die Wahrnehmungs- und Ausdruckstheorie zu betreiben habe.ŗřř Andrea Bieler nimmt die wahrnehmungsorientierten Ansätze zur Erforschung gelebter Religion, wie sie von Hans-Günter Heimbrock und Wolf-Eckart Failing sowie von Manfred Josuttis vorgelegt worden sind, auf und verbindet sie mit Norbert Mettes Ansatz, sodass Fragestellungen der Handlungstheorie und der Phänomenologie miteinander in einen Dialog kommen.ŗřŚ Bieler stellt die Herausforderungen von Multikulturalität dabei in das Zentrum Praktischer Theologie. Für die katholische Praktische Theologie ist z. B. Walter Fürst anzuführen, der Beiträge zur „Kunst der Wahrnehmung und Gestaltung in Glaube und Kirche“ŗřś herausgegeben oder zum Teil selbst verfasst hat, in denen wiederum das beschriebene Spannungsfeld zwischen Wahrnehmung und Ästhetik so thematisiert wird, dass beide nicht in eine Dualität von passiver Aufnahme und aktiver Gestaltung auseinanderfallen. Weil das Christentum als Offenbarungsreligion sowohl vom Verbergen als auch vom Enthüllen wisse, habe die Offenbarung, so schlussfolgert Fürst, ästhetische Qualität und: diese „erscheint als konkrete Person in der Geschichte“ŗřŜ. Weiter heißt es: „Wenn in der postmodernen Medienwelt alles zum Bild zu werden droht und sich eindimensional in reine Virtualität und flachen Ästhetizismus zu verwandeln scheint, sind Theologie und Kirchen wie nie zuvor herausgefordert, ihr ureigenes, vielfach aber vernachlässigtes Verhältnis zur Bild- und Gestalthaftigkeit des christlichen Glaubens neu zu bedenken und den Menschen als Realität gebendes Sakrament der Gottesbegegnung in neuer Weise ernst zu nehmen.“ŗřŝ Diese Argumentation entspricht der christlichen Orientierung an der Historizität des Offenbarungsereignisses und der aus ihr abgeleiteten Bedeutung von Geschichte für den Glauben. Doch es wird in der Auseinandersetzung mit ŗřŘ Vgl. Sybille Becker (2006). ŗřř Vgl. Martina Plieth, Praktische Theologie als immanent-transzendent bezogene Wahr-
nehmungstheorie. In: Hauschild/Schwab (2002: 134). ŗřŚ Vgl. Andrea Bieler, Hybridität und Ritualisation. In: Hauschild/Schwab (2002: 12 f). ŗřś Walter Fürst (Hg.), Pastoralästhetik. Die Kunst der Wahrnehmung und Gestaltung in
Glaube und Kirche. Freiburg/Basel/Wien 2002. ŗřŜ Ebenda. ŗřŝ Vgl. Andreas Wittrahm/Ulrich Freeser-Lichterfeld, Einführung. In: Fürst (Hg.) (2002:
11).
52
2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
sozial konstruierten Raumkonzepten und auch in der Auseinandersetzung mit der Theologie Paul Tillichs verdeutlicht werden, dass allein mit dem Bezug auf die Historizität des Christus-Ereignisses noch nicht die ästhetische Dimension der Offenbarungstheologie erfasst ist.ŗřŞ Virtualität wird hier wiederum als Gegenbegriff zur konkreten Person geführt, in diesem Falle der Person Jesu Christi.ŗřş Dass ihre Wirklichkeit uns allein medial vermittelt zugänglich ist und ihre Wahrnehmung zumindest virtuelle Dimensionen enthält, bleibt unberücksichtigt. Einen Schritt weiter führt m. E. Gerhard Marcel Martins zumindest in ersten Ansätzen erkennbares Verständnis von Ästhetik. Er verbindet es auch explizit mit einem medientheoretisch reflektierten Fokus. Dafür bezieht sich Martin auf Wolfgang Welsch, der eine Abgrenzung zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrnehmung für nicht sinnvoll hält. Das Ästhetische finde sich in Anschluss an Welsch nicht nur in der Kunst, sondern in den künstlichen Wirklichkeitssetzungen der Medien insgesamt, so etwa in Design und Werbung. Neben oberflächlichen Ästhetisierungen gebe es in wissenschaftlicher, gerade auch naturwissenschaftlicher Forschung, in neuen Technologien, in Video-Animationen und Simulationen, in den Nachrichten und der Unterhaltung sehr verschiedene radikalere Wege ins Virtuelle, in die Fiktionalität, in den Plural von Wirklichkeiten. „Liturgieexperimente lassen sich zunehmend auf solche oft irritierende Multimedialität ein; man könnte sogar – gänzlich ohne apologetische Tendenzen – erwägen, ob die Praxis des Glaubens, die die Praktische Theologie reflektiert, nicht schon immer multimedial war und mit verschiedenen Wirklichkeiten umging – vom informierenden und erzählenden Wort über performative Sprache in Zuspruch und Freispruch, über das breite Spektrum der Musik und über das sakramentale Handeln mit den Substanzen und Körpern bis zu Energieübertragungen im Segen.“ŗŚŖ Martin plädiert mit Welsch für ein Programm transversaler Vernunft, damit Praktische Theologie von der Ästhetik aus entworfen werde und dabei ästhetisches Erkennen nicht mehr als Sonderfall gegenüber logischem Erkennen deklarierbar sei. Mit einem solchen Konzept könne die bestimmende Rolle, die die Hermeneutik gegenüber der Ästhetik in der Praktischen Theologie einnehme, relativiert werden. Martin erläutert anhand verschiedener GotŗřŞ Vgl. Teil 1, 2.6. ŗřş Von ihr spricht übrigens auch Schroer in: Ders. (1977: 571): „Ästhetik ist theologisch
als Lehre von der kreativen authentischen Darstellung exemplarischer Menschlichkeit aufzufassen.“ ŗŚŖ Gerhard Marcel Martin, Homiletik und Ästhetik. Über Bewegungsveränderungen in der theologischen Hermeneutik. In: Artheon-Mitteilungen Nr. 17, 20.
2.2 Die religiöse Dimension der Irritation und ihre ambivalente Bedeutung
53
teserfahrungen, warum eine solche Relativierung vonnöten ist. Gott begegne in sehr verschiedenen Kanälen, wie er sich ausdrückt, in Ausdrucks- und Eindruckswelten, in religiös rituellen und ethisch praktischen Handlungen, in Kontemplation und auch in gegenstandsfreier Meditation, schließlich auch im Denken. Gott sei bisweilen ein absolutes, bisweilen ein absolut konkretes Subjekt. „Er kommt in Fleisch und Blut und lässt sich schmecken in Brot und Wein. Gott [...] entzieht sich aller Erfahrbarkeit, ist präsent, unerreichbar und abwesend – und all dies in merkwürdigen Konfigurationen.“ŗŚŗ Die unterschiedlichen Gotteserfahrungen könnten nicht in ein begriffliches oder vorstellungsmäßig umfassendes System hineingetragen werden. Sie blieben disparat, aber deshalb noch nicht willkürlich beliebig. Vielmehr sieht Martin, dass sich postmoderne Pluralität in Richtung auf Irritation bewege. Dies bedeute zunächst Vieldeutigkeit und Unfasslichkeit. „Das Unfassliche ist aber nicht zu verstehen als Gegenphänomen zu Rationalität, sondern (als) deren Medium und Textur. (Welsch 1993, 324f) Das entspricht theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich dem Erfahrungs- und Reflexionsbereich zwischen dem offenbaren und dem verborgenen Gott.“ŗŚŘ Das Kriterium der Irritation ist im praktischtheologischen Diskussionsfeld seit über zwei Jahrzehnten fest verankert, nun stellen sich Fragen zu seiner religiösen Dimension.
2.2 Die religiöse Dimension der Irritation und ihre ambivalente Bedeutung Die Irritation ist ihrem deutschen Wortsinn nach mit dem Verständnis des Fremden verbunden; erst seit der Aufnahme europäischer Tradition hat sich die Rede vom Anderen und der AnderenŗŚř eingebürgert, die im Englischen und Französischen bevorzugt wird.ŗŚŚ Im exemplarischen Blick auf Georg Simmels Exkurs über den FremdenŗŚś erschließt sich der Unterschied im Gebrauch der beiden Wörter darin, dass der, die oder das Fremde sozusagen etwas ist, ŗŚŗ Ebenda. ŗŚŘ Martin (2003: 21). ŗŚř Vgl. aber auch Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Hamburg 1987 (erstmals
1949). ŗŚŚ Vgl. z. B. für die aktuelle Rezeption von Lévinasscher Philosophie: Zygmunt Bauman,
Postmoderne Ethik. Hamburg 1995. ŗŚś Vgl. den weit reichenden Beitrag von Georg Simmel, Exkurs über den Fremden. In:
Almut Loycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdsein. Frankfurt a. M./New York 1992, und Ilona Nord, Individualität, Geschlechterverhältnis und Liebe. Gütersloh 2001, 64–67.
54
2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
das für sich steht und dessen Beziehung zum Vertrauten nicht thematisiert wird. Es wird vielmehr die Beziehungslosigkeit zur Umgebung betont. Demgegenüber wird im Bild vom Anderen die Beziehung betont, die beispielsweise die Ethnologie zu ihrem Gegenüber unterhält.ŗŚŜ Eine solche Hinwendung zum Fremden, zum Anderen, ist eine Frucht aus dem sogenannten linguistic turn. Sein Einfluss verhalf mit dazu, dass sich diesem Topos in der Theologie erneut zugewandt wurde, obwohl in der Tradition des deutschen Idealismus die Konstitution des Subjekts immer auf der Unterwerfung des Objekts aufbaute. Henning Luther führt dies in seinem Beitrag Ich ist ein Anderer aus: „Zum einen wird der neuzeitlichen Subjektivität ihr machtförmiger Herrschaftsanspruch vorgehalten, der alles dem Subjekt als Objekt entgegensetzt. Zum anderen werden der Subjektzentrierung Solipsismus und asozialer Individualismus vorgeworfen.“ŗŚŝ Über die Beschäftigung mit Jürgen Habermas und Emmanuel Lévinas kann Luther mit dieser Kritik am neuzeitlichen Subjekt eine Subjektivität rekonstruieren, die kommunikative Intersubjektivität und Selbsttranszendierung miteinander verbindet und damit beide Theoriestränge aufnimmt. Fremdes und Anderes wird im Eigenen als solches gewahr. Das Selbstbewusstsein ist so gerade kein positives Wissen um sich selbst, „keine ursprüngliche Selbstvertrautheit“ŗŚŞ, sondern es zeigt sich in einem Differenzbewusstsein. An diesem Ort lokalisiert Luther Religion. Der Rest von Fremdheit in zwischenmenschlichen Kommunikationen verweise auf das bleibende Geheimnis der jeweiligen Individualität. „Sie ist Geheimnis, weil sie weder identisch ist mit der Identität, die wir in der Wechselseitigkeit der sozialen Interaktion gewinnen, noch auch identisch ist mit dem, was wir vorgängig von uns wissen oder worauf wir uns in dem Gefühl der Selbstvertrautheit verlassen.“ŗŚş In diesem Geheimnis sei die bleibende Bedeutung der Religion angezeigt. Die Beziehung zum Fremden, zum Anderen wird zum Erkennungsmerkmal von Religion. Mit Emmanuel Lévinas vertritt er eine ethisch gebildete Ästhetik der Verletzlichkeit. Nicht das Sein, sondern der Andere bildet den letzten Bezugspunkt dieser Philosophie. Der Tod des Anderen ŗŚŜ Vgl. Eberhard Berg/Martin Fuchs, Kultur, soziale Praxis und Text. Frankfurt a. M.
1999, 9; vgl. auch Michael Taussig, Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Hamburg 1997. ŗŚŝ Vgl. Henning Luther, „Ich ist ein Anderer“. Die Bedeutung von Subjekttheorien (Habermas, Lévinas) für die Praktische Theologie. In: Dietrich Zilleßen/Stefan Alkier/ Ralf Koerrenz/Harald Schroeter (Hgg.), Praktisch-Theologische Hermeneutik. Rheinbach-Merzbach 1991, 231–255, hier: 233. Hervorhebungen vom Autor. ŗŚŞ Luther (1991: 227). ŗŚş Luther (1991: 239).
2.2 Die religiöse Dimension der Irritation und ihre ambivalente Bedeutung
55
stelle die Behaglichkeit im Sein radikal infrage und fordere dazu heraus, mehr als das Sein zu denken. „Das Grundmotiv des Denkens bei Lévinas ist daher […] das der Entfremdung und Heimatlosigkeit, die befreiende Erfahrung des ein-Fremder-Sein auf Erden.“ŗśŖ In der Epiphanie des Antlitzes findet Lévinas dann auch Gott. „Dies bedeutet nicht, daß der andere Mensch Gott ist, wohl aber, dass sich die Epiphanie des Antlitzes des Anderen in seiner Spur hält.“ŗśŗ Die Herausforderung durch die Nacktheit des Anderen, wie sie bei Lévinas beschrieben ist, bedeutet für Luther in doppelter Weise ein Adieu, einen Abschied von seiner Welt, den Auszug aus seiner Heimat zum Anderen hin und damit zugleich den Weg auf Gott zu – à Dieu. Der Andere sei dann ein Mensch, der aus der Ordnung herausgefallen ist: der Fremdling, der Heimatlose, der leidende Andere. Die Ambivalenz einer Orientierung am leidenden Anderen findet sich dort, wo für Opfer, im Sinne eines überholten Paternalismus, eingetreten wird. Auf dieser Linie liegt eine feministische Lesart des Anderen, die Lévinas’ Philosophie kritisch gegenübersteht. Sie bezieht sich auf Simone de Beauvoirs Das andere GeschlechtŗśŘ, in dem, die Andere zu sein, das Schicksal von Frauen ist, deren – weil sie le deuxième sexe sind – Identität nicht erschlossen werden kann. Dem Wort Frau entspricht kein Inhalt, wie de Beauvoir mit vielen Aussagen ihrer Zeitgenossen und aus der Geschichte heraus plausibel machen kann. Im Begriff des Anderen kumulieren mythische Abwertungen und sozial konstruierte Festlegungen von dem, was eine Frau in Relation zum Mann sei oder zu sein habe. In gewisser Weise ist damit eine Gleichung provoziert, die das Andere als das Weibliche identifiziert und dem Vertrauten unterwirft. Emanzipation heißt dann, aus dieser unmittelbaren Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Konstruktion des Anderen in eine Selbstständigkeit hinauszugehen. Aber damit ist ein Emanzipationsprozess noch nicht abgeschlossen, denn ich ist eine Andereŗśř. Hedwig MeyerWilmes hat diesen Konflikt in ihrem Beitrag Als Mann und Frau erschuf er sie? Karl Barth im Gespräch mit Simone de BeauvoirŗśŚ herausgearbeitet.
Aus der feministischen Diskussion um die sozialen, kulturellen und ethnischen Unterschiede unter Frauen stellt sie die begrenzte Leistungsfähigkeit des Blicks auf das Andere heraus, die sich aus einer anthropologischen Fixierung auf Zweigeschlechtlichkeit ergibt. Die Begegnung mit dem Dritten rückt in die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen. Mit Gott als dem ganz Anderen wird ein Kommunikationsraum geschaffen, in dem es möglich ist, dem Göttlichen auf die Spur zu kommen. Dieser Raum liegt nicht jenseits dieser Wirklichkeit, sondern in ihr, denn es überlagern sich nunmehr drei ŗśŖ ŗśŗ ŗśŘ ŗśř ŗśŚ
Luther (1991: 245). Luther (1991: 248). Vgl. de Beauvoir (1987). Vgl. Luther, der in dem oben genannten Beitrag diese Formulierung maskulin führt. Vgl. Hedwig Meyer-Wilmes. Zwischen lila und lavendel. Regensburg 1996, 109–122.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
Perspektiven: „Gott als Anderen zu denken, bedeutet, sich im Angesicht der Anderen zu sehen. Es bedeutet, mein Menschsein vom Menschsein der Anderen abhängig zu machen. Das Fremde im Anderen zu akzeptieren, bedeutet, sich der Gefahr zu stellen, das eigene Ich zu verlieren. Erst wenn wir das Andersfarbige, Andersgläubige, Anderssprachige, anders Lebende und Liebende zu lieben vermögen, erst dann sind wir fähig, dem Göttlichen auf die Spur zu kommen.“ŗśś Zwei Einwände sind nun aufzugreifen: Wird mit der zentralen Stellung des Anderen nicht die feministisch-theologische Orientierung in hermeneutischen und methodologischen Fragen ausgeblendet?ŗśŜ Provoziert eine solche Vorstellung von Gott oder eine davon abgeleitete Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes nicht eine klischeehafte Verweiblichung des Subjekts? Susanne Sandherr hat an Lévinas’ Schrift Jenseits des Seins herausgearbeitet, dass das Subjekt in den Charakteristika des Empfänglichen, Empfindsamen weiblich wird, um überhaupt Subjekt werden zu können. „Nicht der Aneignung und Aufwertung abgespaltener und abgewerteter Eigenschaften, sondern einem paradoxen und schmerzhaften Bildungs-Entbildungsprozess sucht und gibt Jenseits des Seins das Wort: Als weibliches wird das Subjekt Subjekt.“ŗśŝ Die Charaktere der sinnlichen Empfänglichkeit, des Tragens und Ertragens, der Hingabe und Ausgesetztheit, der Verletztheit und Verletzlichkeit seien weder Weichmacher noch Stoßdämpfer. Sie kompensierten nicht, sie dienten nicht der Regression des Ichs, noch brächten sie Korrekturen am Ich an, sondern sie erneuerten es. Die befreiten weiblichen Züge setzten unbotmäßige und utopische Gehalte frei: „[...] erst ungeschützte Offenheit und Verwundbarkeit geben dem Subjekt Selbststand und Widerstandskraft. Allein die Lehre der Nähe, die Erfahrung des eigenen Nicht-ganz-Seins, das Begehren des Anderen hindern die Auflösung des Ich in tödliche Erstarrung.“ŗśŞ Über diese Identifikation mit dem Zugeschriebenen ist es möglich, aus einer Abwehr und Konkurrenz mit dem als gleich wahrgenommenen Anderen herauszutreten und die Spannung aufzubauen, selbst das Andere aufzusuchen und sich vom Fremden irritieren und erfüllen zu lassen.ŗśş Das Antlitz des Anŗśś Meyer-Wilmes (1996: 120). ŗśŜ Vgl. Herlinde Pauer-Studer, Das Andere der Gerechtigkeit. Berlin 1996, 104 ff. ŗśŝ Susanne Sandherr, Die Verweiblichung des Subjekts. Eine Lévinas’sche Provokation.
In: Andrea Günther, Feministische Theologie und Postmodernes Denken. Stuttgart 1996, 123–132, hier: 129. ŗśŞ Sandherr (1996:130). ŗśş In dieser Perspektive liest sich nun auch die Berufsrollenbeschreibung von Manfred Josuttis in „Der Pfarrer ist anders“ wieder neu. Vgl. Manfred Josuttis, Der Pfarrer ist anders. München 1982.
2.2 Die religiöse Dimension der Irritation und ihre ambivalente Bedeutung
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deren löst in mir ein Begehren aus, dieser Fremdheit näher zu kommen. Die Fremdheit stellt meine Art, Selbst zu sein, in Frage und sie fordert mich zu Veränderungen heraus, auf denen die Verheißung erfüllten Lebens liegt. Diese Hochschätzung des Anderen ist in der Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl bei Karl Barth wie bei Paul Tillich fest verankert, wenngleich auf verschiedene Weise. Es gibt einen geistvollen Umgang miteinander, in dem das Andere nicht abgeschattet und nicht abgewertet werden muss.ŗŜŖ Aber es bedurfte hierfür noch eines weiteren Schrittes hin zu einer philosophischen Relativierung existenzialer Perspektiven, damit aus dieser Wahrnehmung die Absolutheit in der Erfahrung des Anderen weichen konnte. Selbstbezug und Fremdbezug gehören zusammen; der Selbstbezug hat immer auch ein Moment des Selbstentzugs. „Das Sich-selbst-entziehen besagt, dass ich mir immer auch fremd bin, beim Blick in den Spiegel, beim Vernehmen des Echos der eigenen Stimme, in der Müdigkeit, aber auch in der Beschwingtheit der Bewegung. Die Fremdheit des Anderen tritt dann nicht als Überraschungseffekt auf wie bei Descartes: ich sitze am Tisch, und am Fenster gehen plötzlich Wesen vorbei, die Ähnliches tun wie ich selber und sich so als Mitmenschen entpuppen. Fremdheit in mir und Fremdheit der Anderen würde heißen, dass ich von vornherein im Blickfeld der Anderen lebe. Die Anderen treten nicht zusätzlich in meine Eigenheitssphäre ein, sonder ich gehöre mir nie ganz selber.“ŗŜŗ Diese Position weiter zu verfolgen hat mehrere Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung: Die erste liegt darin, dass eine Beschreibung von Subjektkonstitution in einer Lebenswelt gefordert ist, in der zunehmend medial kommuniziert wird und innerhalb verschiedener Beziehungen Menschen unterschiedliche Teilidentitäten ausbilden und leben. In Anschluss an Henning Luthers These von der Maßgeblichkeit von Fragmentierungsprozessen für die Identitätsbildung hat Sabine Bobert hierfür einen Vorschlag gemacht.ŗŜŘ Zunächst korrigiert sie die Tendenz Luthers, das fragmentierte Selbst in seiner Zerrissenheit festzuschreiben und gegebenenfalls Krisen nur noch mit dem religiösen Postulat der Notwendigkeit von Kontingenzerfahrungen zu überhöhen. Sie möchte Luthers Intentionen in einem postmodernen Leitbild eines multiplen Selbst aufnehmen und dabei stärker als er Kohärenzprinzipien zulassen. Sie beabsichtigt, diese Teilidentitäten für den Identitätsbildungsprozess produktiv zu nutzen und zuŗŜŖ Vgl. Hans-Martin Gutmann, Wer sich selbst darstellt, muß vom Anderen reden. In:
Lämmlin/Scholpp (2001: 277–296, hier: 295). ŗŜŗ Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Frankfurt a. M. 2000, 44. ŗŜŘ Vgl. Sabine Bobert, Selbsttransformation als Tor zum Heiligen. In: Eberhard Hau-
schild/Ulrich Schwab (Hgg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 23–40, hier 24 f.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
gleich Religion davon zu entlasten, totale Identitätsfunktionen übernehmen zu sollen. Wenn Religion nicht mehr auf Totalperspektiven abziele und sich von identitätskonstituierenden Gesamtaufgaben entlaste, könne sie dem Individuum besser dienen: „Denn dann benötigt das Subjekt Religion nicht mehr als Totalperspektive fundamentalisierend zum Zementieren seiner Identität, sondern es kann sein bisher erlangtes Gleichgewicht aufs Spiel setzen und bereichernde religiöse Teilidentitäten einspielen [...] Religion ist nicht notwendig für die Identitätsentwicklung. Sie eröffnet jedoch einen eigenartigen, die Identität bereichernden Beziehungshorizont und erschließt eigenartige, neue Spielräume.“ŗŜř Die genannten Spielräume ermöglichen es, sich davon zu lösen, die eigene Persönlichkeit profilieren zu müssen und dabei möglichst authentisch zu wirken. In diesen Spielräumen begegnet dem Subjekt das Andere z. B. im Fremden auf eine bislang noch nicht angesprochene Weise. Dies betrifft die Frage nach dem Anderen der Machbarkeit, nach der Kontingenz. „Die bekannte Frage, was Computer können oder nicht können, würde sich zuspitzen zu der Frage: Können Computer antworten, das heißt nicht bloß reagieren, sondern auf Fremdes eingehen? Das Nichtkönnen, das dem eigenen Können eingeschrieben ist, würde besagen, daß das eigene Tun anderswo beginnt. Es gibt Experimente, die mit uns geschehen, bevor wir selbst Experimente darstellen.“ŗŜŚ Phänomenologisch formuliert, geht es darum zu antworten. Denn Antworten ist „ein Reden und Tun, das auf fremde Ansprüche antwortend sich selbst überrascht“ŗŜś. Damit ist – nebenbei bemerkt – auch die Reputation der Frage und der Sinnsuche für eine wahrnehmungsorientierte Praktische Theologie nicht abgewertet, sondern erst wieder ihr methodologischer Platz frei gemacht: Theologisches Arbeiten ist – ebenso wie die Verkündigung – nicht als ein Antworten-Produzieren auf existenzielle Lebensfragen zu verstehenŗŜŜ, sondern als ein Prozess, in dem sich Praktische Theologie selbst infrage stellen lässt, weil sie beim Antworten von neuen Fragen überrascht und verändert wird.
ŗŜř Bobert (2002: 25). ŗŜŚ Bernhard Waldenfels, Experimente mit der Wirklichkeit. In: Sybille Krämer, Medien –
Computer – Realität. Frankfurt a. M. 1998, 241. ŗŜś Bernhard Waldenfels, Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994, 636. ŗŜŜ Vgl. zur Diskussion, ob Verkündigung Lebenshilfe sein soll, Rüdiger Schulz, Religiöse
Kommunikation heute – Erkenntnisse aus dem Trendmonitor 2000. Situationsanalyse und Empfehlungen. In: Communicatio Socialis 33. Jg., 2000, Heft 3, 296–323.
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene 2.3.1 Das Blitzlicht als Präsentationsweise Zur Beschreibung von Phänomenen virtueller Realität möchte ich sogenannte Blitzlichter aufleuchten lassen, die in der Weise, wie sie präsentiert werden, aus dem Gestus wissenschaftlich distanzierter, reflektierter Sprache ausbrechen. Es ist die Aufgabe des folgenden methodischen Abschnitts zu klären, warum diese Veränderung dem Forschungsthema und seiner Aufarbeitung entspricht und wie dies auch methodisch nachvollziehbar wird. In den dargestellten Annäherungen sind bereits Elemente einer solchen Vorgehensweise zu finden; ein weiterer Versuch, ein Blitzlicht konsequent auszuführen, findet sich in der Beschreibung der Websites zum Ewigen Leben. So vorzugehen ist zunächst eine Konsequenz der Beschäftigung mit dem ethnografischen Entwurf, den Clifford Geertz mit der dichten Beschreibung entwickelt hat und der in den vergangenen 30 Jahren kritisiert und fortentwickelt wurde. Elemente aus diesem Entwurf werden nun für den praktischtheologischen Gebrauch profiliert. Der Anschluss an Geertz legitimiert sich insbesondere über die Frage, wie Wahrnehmungen gelebter Religion in die praktisch-theologische Diskussion eingespielt werden können. Es sind die Ethnologie und die Kulturanthropologie, die sich gegenwärtig mit Erfahrungen und ihrer Dokumentation insbesondere von Fremdem und Anderem – auch in der eigenen Lebenswelt und nicht nur in fernen Ländern – beschäftigen. Clifford Geertz etablierte Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts mit der dichten Beschreibung eine interpretierende Ethnologie. Das hier vorgestellte BlitzlichtŗŜŝ soll als ihre kleine Schwester verstanden werden. In der dichten Beschreibung werden – in zugespitzter Einfachheit ausgedrückt – das Erklären der naturwissenschaftlichen und das Deuten der geisteswissenschaftlichen Forschung miteinander in Austausch geführt. Erklären und Deuten sind damit als untrennbar miteinander verwoben wahrzunehmen. Die Ethnologie ist weder ein Forschungsfeld, das experimentell vorgeht, um Erklärungsmuster zu entwickeln, noch ist sie eine Wissenschaft, die ohne Erklärungen auskäme und die Macht des Diskurses in der Konstruktion von Sinn über Sprache behauptete. Clifford Geertz, der seinen eigenen Ansatz einen semioŗŜŝ Die Benennung Blitzlicht ist kursiv gesetzt worden, um zu kennzeichnen, dass es sich
um eine metaphorische Ausdrucksweise handelt.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
tisch geprägten nennt, steht für Titel wie Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der FaktenŗŜŞ, im englischen Original After The FactŗŜş, und dichte Beschreibung, deren abschließender Passus etwas von etwas aussagenŗŝŖ heißt und damit eindeutig klarstellt, dass es keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit von Erfahrungen gibt. Zwei gerade für eine semiotisch und phänomenologisch orientierte Praktische Theologie attraktive methodische Weichenstellungen liegen darin, die Konstruktion und Interpretationsbedürftigkeit von Fakten zu betonen und das Noema, die Bedeutung eines Geschehens, einer Handlung aufzuspüren und interpretierend zu beschreiben. Johannes A. van der Ven hat diesen Zusammenhang für die Praktische Theologie als empirical research beyond positivism ausgeführt: „Hence phenomena are both observed and interpreted facts, or rather data, that give rise to debate: in principle every observer sees and interprets the facts differently. To put it in modern terms: there are no hard facts, there are only phenomena. These are constructions of our perception and interpretation, or rather, they are products of our perceptual interpretation or interpretive perception, and hence open to discussion.“ŗŝŗ Der soziologische Hintergrund ist präsent, wenn soziale Handlungen immer auch Kommentare sind, die mehr kommentieren als nur sich selbst. „Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muss nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen.“ŗŝŘ
Zum Abschluss seines berühmten Essays über den balinesischen Hahnenkampf namens Deep Play schreibt er: „Was aber den Hahnenkampf vom normalen Leben trennt, was ihn aus dem Bereich des Alltäglichen heraushebt und mit einer Aura höherer Wichtigkeit umgibt, ist nicht die Tatsache, daß er, wie es die funktionalistische Soziologie gern sähe, Statusunterschiede verstärkt (solch eine Verstärkung wäre in einer Gesellschaft, in der jede Handlung davon Zeugnis ablegt, kaum nötig), sondern daß er einen metasozialen Kommentar zu der Tatsache abliefert, daß die menschlichen Wesen in einer festen Ranghierarchie zueinander stehen – und daß die kollektive Existenz der Men-
ŗŜŞ Vgl. Clifford Geertz, Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten.
München 1997. ŗŜş Vgl. Clifford Geertz, After The Fact. Two Countries, four Decades, one Anthro-
pologist (Jerusalem-Harvard Lectures). Harvard University Press 1996. ŗŝŖ Vgl. Clifford Geertz, Deep Play. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In:
Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, 253 ff. ŗŝŗ Johannes A. van der Ven, An Empirical or a Normative Approach to Practical-Theological Research? In: Journal Of Empirical Theology, 15.2 (2002), 5–33, hier: 8. Van der Ven verweist auf Martha Nussbaums, Love’s Knowledge. New York/Oxford 1990. ŗŝŘ Geertz (1983: 260).
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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schen überwiegend im Rahmen dieser Rangordnung stattfindet.“ŗŝř Seine Funktion sei interpretierend. Es handele sich um eine balinesische Lesart balinesischer Erfahrung, eine Geschichte, die man einander über sich selbst erzähle. Für das hier in Anschlag gebrachte Blitzlicht gilt, von der dichten Beschreibung abgeleitet, dass sich Phänomenbeschreibungen mit ihren Interpretationen mischen und hierbei ein Kommentar zur Deutung eines Phänomens, wie dem einer virtuellen Realität, entsteht. Blitzlichter machen kurz sichtbar, was ansonsten im Verborgenen bleibt. Dies teilen sie mit der dichten Beschreibung von Geertz. Sie wenden sich – wie die Form des EssaysŗŝŚ – der Ausarbeitung eines Ausschnitts, eines Segments, einer Miniatur zu. Geertz spricht davon, dichte Beschreibungen seien mikroskopisch. Ethnologische Beschreibungen deuten und entreißen durch das Deuten das Gesagte eines Diskurses dem vergänglichen Augenblick. Zwar könne es groß angelegte ethnologische Interpretationen ganzer Gesellschaften, Zivilisationen und Weltereignisse geben. Diesen nähere sich der Ethnologe aber typischerweise von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her.ŗŝś Es ist diese Liebe zum Detail, zum Unscheinbaren, die gerade für die protestantische Theologie, und da insbesondere für die Homiletik, von Bedeutung ist. „Denn zu den besonderen Kennzeichen ebenso wie zu den Anstößigkeiten jüdischer wie christlicher Traditionen zählt die Distanznahme zum Spektakulären, Gloriosen, gerade der Hang zum Unscheinbaren.“ŗŝŜ Dies kann, so stellt Heimbrock heraus, für das Neue Testament, die Verkündigung Jesu, seine Lebenspraxis und für zentrale theologische Traditionsbildungen nachgewiesen werden. Es sei vorab nur an das Gleichnis vom verlorenen Groschen, vom Scherflein der Witwe oder an die Rede von der Erhöhung des Niedrigen im Lobgesang der Maria erinnert. Auch Traditionen aus der Befreiungstheologie knüpfen hier an. Zu ihrem tieferen Verständnis kann auch Geertz beitragen: „Geringfügige Tatsachen können ungeahnte Folgen haben – ein Zwinkern evoziert die Wissenschaftstheorie, ein Schafdiebstahl führt zur Revolution, weil eines mit dem anderen zusammenhängt.“ŗŝŝ Blitz-
ŗŝř Geertz (1983: 252). ŗŝŚ Vgl. z. B. Georg Simmel, Zur Ästhetik. Der Henkel. In: Ders., Hauptprobleme der
Philosophie. Philosophische Kultur. GA, Bd. 14, hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1996. ŗŝś Vgl. Gerhard Fröhlich/Ingo Mörth (Hgg.), Symbolische Anthropologie. Kulturanalysen nach Clifford Geertz. Frankfurt a. M./New York 1998, 15. ŗŝŜ Failing/Heimbrock (1998: 177). ŗŝŝ Geertz (1983: 34).
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
lichter sind an dieser Liebe zum Detail orientiert. Die Aufnahme der Websites zu einem virtuellen Friedhof in diese Untersuchung ist so zu verstehen. An Clifford Geertz’ Beitrag zu einer methodischen Gestaltung phänomenbezogenen Forschens innerhalb ästhetisch orientierter Praktischer Theologie zeigen sich aber zugleich Leerstellen, die für eine weitere Bearbeitung offen sind. Geertz’ dichte Beschreibung tendiert trotz aller gegenteiligen Absichten dazu, Bedeutungen zu universalisieren. Die Menschen, die innerhalb einer Lebenswelt interagieren, verstehen ebenso wenig wie diejenigen, die zu deuten versuchen, sämtliche Implikationen, die ihre Interaktionen haben. In erster Linie schildern Autoren und Autorinnen eines Blitzlichts ihr Verständnis eines Zusammenhangs und ihre Fremdheitserfahrungen. Geertz schafft eine Sensibilität für die Problematik der Repräsentation, des Schreibens und der Autorschaft sowie für die Konstruiertheit sozialwissenschaftlicher Darstellung. Er rückt die Anderen als Produzenten ihrer eigenen Interpretationen mit der Konzeption der dichten Beschreibung ins Rampenlicht und eröffnet Möglichkeiten, sie als Subjekte anzuerkennen.ŗŝŞ Sein eigenes Werk wird mit dem balinesischen Hahnenkampf diesem Anspruch allerdings auch nicht gerecht. Die Balinesen bleiben blasse, anonyme Chiffren, die konkrete Stimme des Anderen fehlt.ŗŝş Diese Kritik trifft ins Zentrum des Forschungsanliegens und hinterfragt die Konstruktion des Beziehungsgewebes zwischen Forscher und Lebenswelt. Aber es könnte sich aus der aufgedeckten Schwäche von Geertz’ Beschreibung eine produktive Weiterentwicklung seiner Methode ergeben. Wo Geertz nicht mit einzelnen Aussagen von Balinesinnen und Balinesen konkretisiert und deren Identitäten nicht sichtbar macht, schafft er Raum, im sogenannten Anderen das Eigene zu fokussieren. Ethnologisches Forschen führt nicht in ferne Länder und Gegenden, um das Fremde des Anderen an und für sich zu erforschen, sondern um des Selbstverständnisses der Forscherinnen und ihres Kontextes willen. In diesem Sinne geht es darum, das fremde oder zumindest als fremd beschriebene Phänomen virtueller Realität zu erkunden und zu reflektieren. In seiner Interpretation wird zugleich etwas von der eigenen (Praktischen) Theologie vorgelegt. In der Beschäftigung mit virtuellen Realitäten geht es demnach nie allein um das erkundete Phänomen, z. B. darum, welche Veränderungen die Computertechnologie im Kommunikationsbereich evoziert. Im größeren Zusammenhang gesehen geht es zugleich um Klärungsprozesse, die die Praktische Theologie sowie ihr Selbstverständnis betreffen. ŗŝŞ Vgl. hierzu 2.2.2. ŗŝş Vgl. Berg/Fuchs (1999: 57).
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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2.3.2 Zur Auswahl der Phänomene Im Rahmen des vorliegenden Projektes liegt der Fokus weder auf Langzeitstudien zu Bildungsprozessen an CD-ROMs noch auf Querschnittstudien zum Gebrauch von Datenanzügen oder anderem mehr. Die Blitzlichter setzen vielmehr darauf, eine Forschungshaltung zu entfalten, in der der Gegenstandsbereich und das Subjekt der Forschung in ihrer Verbindung berücksichtigt werden. Alle sinnliche Wahrnehmung verläuft in subjektiven Wahrnehmungshorizonten; Weltanschauungen bilden sich perspektivisch aus, sie stehen in Beziehung zu den je eigenen unverwechselbaren Standpunkten ihrer Autorinnen und Autoren. In diesem Sinne soll die „Interpretationsimprägniertheit jeder Beobachtung und jeder Darstellung, die als methodologische Grundposition den gesamten Forschungs- und Analyseprozess durchzieht“ŗŞŖ, betont werden. Hierzu gehört es auch zu reflektieren, aus welcher Nähe oder eben aus welcher Ferne das eigene Forschungsfeld fokussiert werden kann. In den Cybernarium DaysŗŞŗ konnten Menschen in virtuelle Realitäten eintauchen. Daneben hat die Ausstellung des Fraunhofer-Instituts aber auch auf die gewirkt, die nur die Schlangen am Eingang des Geländes oder die Plakate in ganz anderen Stadtteilen gesehen haben. Das Zoomen, in dem Nähe und Ferne immer wieder neu bestimmt werden, ist für die Erkundung des Forschungsfelds bereichernd. Mit dieser Einstellung können sehr verschiedene Perspektiven auf ein Thema eingenommen werden. Unter der Fragestellung nach einer Soziologie der Kirchenmitglieder hat sich diese Einsicht bereits in der Praktischen Theologie als fruchtbar gezeigt. 2.3.3 Zum Selbstverständnis der Forscherin An einer Station meines Besuchs in der Ausstellungshalle der Cybernarium Days habe ich meine distanziertere Beobachtungsposition aufgegeben und teilgenommen, ohne dass die eigene Teilnahme, das eigene Experimentieren, zum Zentrum der Repräsentation geworden wären, wie dies in der Auto-Ethnografie etwa geschieht. Es handelte sich um die Spielwelt von Tron.ŗŞŘ Man lernt, sich selbst im Feld zu sehen, zusammen mit anderen, die innerhalb der Mensch-Maschine-Schnittstellen agieren. Es werden die Fragen, „die früher ŗŞŖ Manfred Lueger, Grundlagen qualitativer Feldforschung. Wien 2000, 11. Hervor-
hebung I. N. ŗŞŗ Vgl. Teil 1, 1. ŗŞŘ Vgl. Teil 1, 1.4.
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
einer unabhängigen, kontextneutralen Epistemologie und Methodologie vorbehalten schienen, im Kontext der Forschungsinteraktion gesehen“ŗŞř. Wie sehr diese Ausrichtung des wissenschaftlichen Arbeitens, das kontextneutral und dabei souverän über den Stoff zu agieren hat, weiterwirkt, ist im Blitzlicht zu den Cybernarium Days und zum Film The Matrix gut zu beobachten. Allein kleinere Einschübe wie z. B. zur Faszination an neuen Techniken und ihrer Wirkung vermitteln meine Empfindungen. Im Ausstellungsgebäude bin ich in eine Welt eingetaucht, die über sich hinausweist und dabei durch Immersionserlebnisse starke Empfindungen erregt, die für das Phänomen virtueller Realitäten signifikant sind. In dem im Folgenden noch präsentierten Blitzlicht zum virtuellen Friedhof habe ich versucht, das Surfen von einer Website zur nächsten als so etwas wie ein Gefühlsbad, dessen Temperatur und Farbgebung sich permanent ändert, zu beschreiben. Unter der Hand (an der Maus) werden Menschen auf diese Weise mit Emotionen bekannt gemacht, die letztlich eine sozialisierende Bedeutung haben.ŗŞŚ Weder die Blitzlichter zu den Cybernarium Days, die Schilderung von The Matrix, noch das hier folgende Blitzlicht zu einem virtuellen Friedhof erhalten in dieser Vorgehensweise einen Status, der sie zur Forschungsgrundlage einer im naiven Sinne empirischen Theologie machten. In Anlehnung an die dichte Beschreibung geht es nicht vorrangig um das Einholen von Cyberspace-Kenntnissen, nicht vorrangig um das Wie der Auswahl von Informanden, um die Transkription von Texten, um die Niederschrift von zeitgeschichtlichen Zusammenhängen, um das Kartografieren von Feldern, das Führen eines Tagebuchs usw. Alle diese Instrumente, die aus der Ethnografie zur Erforschung eines Feldes angeraten sind, können genutzt werden. „Aber es sind nicht diese Dinge, Techniken und herkömmlichen Verfahrensweisen, die das ganze Unternehmen bestimmen. Entscheidend ist vielmehr die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der dichten Beschreibung [...].“ŗŞś
Ernst Lange hat bezüglich der Kommunikation des Evangeliums einen intensiven Prozess der Versprechung vorgeschlagen.ŗŞŜ Im Kontext der dichten Beschreibung formuliert, bedeutet dies: Es geht um einen Vorgang, in dem jeder Versuch aufgegeben wird, (christliche) Grundfragen oder Kenntnisse (der Religion) als Faktenwissen zu vermitteln. Das Subjekt der Kommunikation setzt sich vielmehr selbst einem kreativen Prozess aus, in dem es ein kulturelles Phänomen aus seiner Sicht zu deuten beginnt. Das Blitzlicht bietet für einen solchen Vorgang ein Übungsfeld.
ŗŞř ŗŞŚ ŗŞś ŗŞŜ
Berg/Fuchs (1999: 14). Vgl. Geertz (1983: 255). Geertz (1983: 10). Hervorhebung vom Autor. Vgl. Teil 5.2.
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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2.3.4 Zur Perspektivität von Wahrnehmung Die dichte Beschreibung versucht zunächst, fremde Phänomene in einen Zusammenhang zu bringen mit dem, was unter, neben, über und hinter ihnen bereits an Lebenswelt existiert. Der Repräsentationsprozess wird dadurch transparenter, weil etwa die Asymmetrie zwischen dem Selbst und dem Anderen, das sozusagen das eigentliche Forschungsobjekt war, offen gelegt wird. Erst wo ihre Bedeutung in vollem Maße mit in die Wahrnehmung wissenschaftlicher Forschung eingeht, wird deutlich, was Perspektivität bedeutet. Sie relativiert nicht alle Ergebnisse als individuelle Erzeugnisse oder rein subjektive Erfahrungen. Sie zieht vielmehr die Perspektivität in die wissenschaftliche Betrachtung hinein, sodass der im Forschungsprozess entstandene Text als ein Akt der Autopoiesis erkennbar ist.ŗŞŝ „Über andere zu reden heißt, über sich selbst zu reden. Die Konstruktion des Anderen ist zugleich die Konstruktion des Selbst.“ŗŞŞ Dies gilt zum einen für die Person, die die dichte Beschreibung anfertigt. Sie gibt damit zugleich eine Beschreibung ihrer selbst von sich weiter. Dies gilt aber auch für die Theologie als Wissenschaftsforum. Wo sie sich mit virtuellen Realitäten beschäftigt, führt diese Vernetzung theologische Diskussionen um virtuelle Realitäten aus prinzipiellen Einschätzungsfragen zu den Neuen Medien heraus und wendet sich etwa der Modellwelt oder der Frage nach der Anonymität einzelner Phänomene aus dem Forschungsfeld zu. Es geht in der Beschreibung eines Phänomens nicht mehr darum, sozialpolitische und bildungspolitische Qualitäten und ihre Wertungen anzufragen oder ihre moralische Bewertung zu begründen. Es geht in einem ersten offenen Austausch darum, im Detail auf die Konstruktion virtueller Realitäten mit einem Stück autopoetischer Arbeit zu reagieren. Der entstehende Beitrag darf dabei strittig sein: Dem engeren Verständnis der Rhetorik als einer Redekunst hatte Clifford Geertz sich sehr zugewandt. Dafür sprechen auch seine oft sarkastischen Bemerkungen zur Autorentätigkeit anderer Ethnografen, wenn es um die Frage der Authentifizierung des Dargestellten oder die Inszenierung und Plausibilisierung des Dagewesenseins ging. Auch die Betrachtungen zur ethnographic arrival story gehören hierher. Das Problem der Plausibilisierung weist dabei bereits über die Grenzen der Rhetorik hinaus. Denn mit ihm ist auch das Brüchigwerden des realistischen Erkenntnismodells und des ŗŞŝ Vgl. für die Theologie Oswald Bayer, Gott als Autor. Zur theologischen Begründung
der Autor-Poetik Johann Georg Hamanns. In: Peter Haigis/Doris Lax, Brücken der Versöhnung. Festschrift für Gert Hummel zum 70. Geburtstag. Münster 2003, 37–50. ŗŞŞ Berg/Fuchs (1999: 11).
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
wissenschaftlichen Erkenntnisprivilegs angesprochen, das die etablierte Autorität des epistemischen Diskurses ins Wanken geraten ließ. „Die Sozialwissenschaft insgesamt scheint davon betroffen [...].“ŗŞş Hier gibt es also keine hermeneutische Rückversicherung mehr, die nicht auch hinterfragt werden könnte. Dennoch bleibt die hermeneutische Arbeit unverzichtbar, denn sie dient dazu, die eigenen Ergebnisse plausibel kommunizieren zu können. Ob sie einleuchten, wird allerdings an einem anderen Ort entschieden: bei der Leserin und dem Leser. Das Themenfeld virtueller Realitäten, das oft als fremd eingeschätzt wird, zeigt überraschenderweise alte, traditionsreiche und zentrale Seiten der Theologie in modernem Gewand. Das Fremde ist nie gänzlich fremd, sondern vielmehr von dem Bereich des Überschaubaren und Vertrauten entfremdet, in die Ferne gerückt (worden).ŗşŖ Es geht um ein eigenes Anliegen der Theologie, das ihr schon lange nicht mehr allein gehört oder besser gesagt, das ihr notwendig nie allein gehört hat.ŗşŗ 2.3.5 Blitzlichter sind Fiktionen Clifford Geertz nennt seine ethnografischen Monografien fictions: Dieser Begriff klingt in der deutschen Sprache abschätziger als im Englischen. Verantwortlich dafür dürfte die Assoziation sein, dass es sich bei einer Fiktion lediglich um etwas Ausgedachtes handele. Im Englischen bezeichnet das Wort fiction aber neben dem Erfinden auch eine Gattung der Literatur; es geht um die Prosa-, genauer gesagt Romanliteratur.ŗşŘ Für Geertz ist deutlich, dass der Inhalt eines Werkes nicht von der Form der Repräsentation zu trennen ist. Eng an Paul Ricœur orientiert, ist er an dem Noema interessiert. Er zitiert Ricœur und dies sei, weil die Textpassage sehr aufschlussreich ist, hier im englischen Originaltext wiederholt: „What ... does writing fix? Not the event of speaking, but the said of speaking, where we understand by the said of speaking that intentional exteriozation constitutive of the aim of discourse thanks to which the sagen – the saying – wants to become Aussage – the enunciatio, the enunciated. In short, what we write is the noema
ŗŞş Berg/Fuchs (1999: 84). ŗşŖ Vgl. Paul Tillich, Die Merkmale der menschlichen Entfremdung und der Begriff der
Sünde. In: STh, Bd. 2. Berlin/New York, 1987, 52 ff. ŗşŗ Vgl. auch Albrecht Grözinger, Die Sprache des Menschen. 9. Sprechen und Handeln.
München 1991, 197–209. ŗşŘ Vgl. z. B. Wolfgang Habermeyer, Schreiben über fremde Lebenswelten. Das postmo-
derne Ethos einer kommunikativ handelnden Ethnologie. Köln 1996, 76.
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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[thought, content, gist] of the speaking. It is the meaning of the speech event, not the event as event.“ŗşř
Im Anschluss an die ethnografische Beschreibung stehen die Blitzlichter in ähnlicher Weise in einem fiktionalen Zusammenhang. Die Komposition der Einzelstücke ist als ein schöpferischer Akt zu verstehen; ob er es vermag, schöpferisch zu wirken, dies wird wiederum anderswo entschieden. Das Fiktive wird zu einem Prüffaktor für die Relevanz einer phänomenologisch orientierten Kulturhermeneutik. „Es lohnt nicht, wie Thoreau sagt, um die ganze Welt zu reisen, bloß um die Katzen auf Sansibar zu zählen.“ŗşŚ Für die praktisch-theologische Erschließung des Anderen ist das Fiktive in diesem Sinne unverzichtbar. Denn die Wirklichkeit des Glaubens, dass mit Jesus als dem Christus das Reich Gottes angebrochen ist, bleibt der Erfahrungswirklichkeit vieler Menschen fremd. Albrecht Grözinger bündelt die ästhetische Wirkung von Fiktionen auf drei Weisen. Fiktionen bewirken: „(1) die Verdichtung komplexer Erfahrungen und Reflexionen, (2) die Differenzierung scheinbar einfacher Handlungsabläufe sowie (3) die Transzendierung vorfindlicher Sinnhorizonte.“ŗşś Unter dem Leitwort Theopoetik seien erste Bemerkungen hierzu gemacht. In Fiktionen kann Leben verdichtet beschrieben werden. In den medientheoretischen Kontext übersetzt heißt dies auch: Mit Verdichtungen werden Immersionen hergestellt. Immersionen wiederum können kathartisch wirken. Das Wissen darum ist freilich alt, bereits Aristoteles brachte den Begriff der Fiktion mit dem Begriff der Katharsis zusammen.ŗşŜ Auch von hier aus kann also das Faszinosum virtueller Realitäten erschlossen werden. Sieht man auf die kathartische Dimension, die ein Aufenthalt in einer virtuellen Realität auch hat, so erhält die Wahrnehmung, dass Menschen sich von einem Computerspiel unterhalten lassen, einen komplexen Zusammenhang. In dem, was zunächst eher oberflächlich als Unterhaltung wahrgenommen wird, ist dann zugleich etwas zu finden, das mit offenbaren und zugleich verborgenen teleologischen Erwartungen an die eigene Lebensgeschichte zu tun hat. Es gibt einem Menschen selbst Gelegenheit, den Ablauf der Geschichte der Welt, das Wort vom Es-gibt-nichts-Neues-unter-der-Sonne, zu stören. Die Katharsis löst aus, dass die Frage nach dem Sinn von Ereignissen wieder
ŗşř Clifford Geertz, Thick Description. Toward an Interpretive Theory Of Culture. In:
Ders., The Interpretation of Cultures. New York 1973, 19. ŗşŚ Ebenda. ŗşś Grözinger (1991: 189). ŗşŜ Vgl. Grözinger (1991: 190).
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offen ist und von dem eigenen Standort aus und in eigener Reflexion beantwortet werden muss.ŗşŝ Wo es gelingt, fiktionale Perspektiven einzunehmen, die Denken, Fühlen und Handeln umgreifen, stellt sich etwas von dem ein, was das von Tillich sogenannte Neue Sein ausmacht, denn der Mensch geht aus der Selbstwahrnehmung des homo incurvatus in se ipsum heraus: „Auch hier gilt, daß der Mensch ohne die sprachlichen Fiktionen an sich selbst verkümmern müßte. Dies gilt umso mehr für die Kirche und die Theologie, die ja von dem Gott zu erzählen und über ihn nachzudenken haben, der unsere menschliche Realität weit übersteigt.“ŗşŞ Für das Religionsverständnis heißt das, dass in dieser Untersuchung einerseits Elemente eines funktionalen Verständnisses von Religion wertgeschätzt werden, dass es andererseits aber um die Erweiterung von möglichen Spielräumen innerhalb unserer Welt geht, und über diese hinaus geht es um mögliche, andere Welten, in die hinübergewechselt werden kann. Zu ihnen gehört z. B. die Welt der Toten, derer auf dem virtuellen Friedhof gedacht wird. Solange diese andere Welt für mich keine eigene Wirklichkeit erhält, bleibt sie eine Sonderwelt. Sobald aber das, was zunächst weit weg und gänzlich fiktional erscheint, in Verbindung mit Vorfindlichem und dem sogenannten Realen tritt, ändert sich die Relevanz der Erfahrungen in virtuellen Realitäten. Fiktionen tragen dazu bei, dass Einstellungen transformiert werden; sie verändern Menschen. Die Veränderungen können durchaus ambivalenter Wirkung sein. In dieser Weise soll nun eine solche Erfahrung beschrieben werden. 2.3.6 www.ewigesleben.de Sie heißen abschiednehmen.com, dervirtuellefriedhof.de, requiescat in pacem, ewigesleben.de oder hall of memory. Es handelt sich um Friedhöfe für Online-Bestattungen, die es für Menschen, für Tiere sowie für Menschen und Tiere und sogar für Sachen gibt.ŗşş
ŗşŝ Vgl. Grözinger (1991: 194 f. Grözinger zitiert hier Hans-Robert Jauß, der Johann
Peter Hebels Erzählung über den Brand von Moskau interpretiert. ŗşŞ Grözinger (1991: 196). ŗşş Dieser Abschnitt ist eine nochmals überarbeitete Fassung eines Beitrags, den ich zu
„ewigesleben.de“ in der Akademie Arnoldshain vorgetragen habe: Ilona Nord, Willkommen in der Ewigkeit. Über computergenerierte Religiosität und Anmutungsqualität von Atmosphären. In: Mehlhorn (2002: 89–116). Vgl. auch Andreas Mertin, Der Tod im Cyberspace. Pfarrer und PC 4/2000, 4–6.
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Wer ewigesleben.de in die Adresszeile des World Wide Web eingibt, wird willkommen geheißen in der Ewigkeit: Ein schwarzer Bildschirm zeigt sich. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Schwarz als Weltall. Tausende von Funken gehen wie von Sternen aus; helles Licht glitzert im Dunkel. Es wäre sicher ein sehr starker Eindruck, mit Datenhelm und Datenhandschuh in die computeranimierte Welt des Ewigen Lebens einzutauchen. Dies würde aber möglicherweise auch die Angst verstärken, dass das grenzenlose und sich ständig vergrößernde All mich einfach schluckt. Immersionen steigern die Intensität der Erfahrung; man kann sie allerdings auch bewusst minimieren, auch dadurch, dass man Kommunikationsmöglichkeiten ungenutzt lässt: Bei meinem Besuch der Website bin ich für die Nutzerinnen und Nutzer auf dem Portal anonym geblieben. Auf der Startseite von ewigesleben.de ist vorne links eine Pendeluhr zu sehen, rechts ein Fels, merkwürdig gefärbt und von Feuer und Eis umgeben. Diese Dinge, die Uhr und der Fels, schweben im All und verlieren dabei ihre Dinglichkeit. Die Uhr ist signifikanterweise zeigerlos. Aber nicht die Uhr, nicht der Fels, nicht das All an sich sind interessant, die einzelnen Sachen leben von ihrer Beziehung zueinander und von der Deutung, die ihnen gegeben wird. Das Design der Uhr historisiert das Ambiente; es scheint aus einem englischen Wohnzimmer im Bristol Style zu kommen; ein hölzerner, siebeneckiger Rahmen, ein weißes Zifferblatt mit schwarzen Zahlen, alles verweist auf Geschichte. Daneben wirkt die Aura eines gewaltigen Felsbrockens. Seine Spitze ist vom Wind umweht, er zeigt sich weißblau wie im ewigen Eis. Dann wird er gelb bis orange, weil er von der Sonne bestrahlt wird, aber er hat auch schwarze, bedrohliche Seiten, wie Bergmassive vor einem Gewitter. Der Fels im All wirkt eigenartig; er ist ohne planetaren Grund wie ein archaischer Brocken aufgerichtet. Meine Assoziationen gehen zum Felsen, auf den man sich verlassen kann, weil alles Zeitliche an ihm vorbeifließt. Auf der nächsten Seite gibt es einiges zu lesen, dazwischen Absatzmarken aus kleinen, zeigerlosen Uhren: Ewigkeit, umgesetzt in Designelemente. Die Überschrift spielt mit einer ganz großen Vision: „Leben Sie ewig in der virtuellen Realität des Internet!“ŘŖŖ Seit es die Menschen gebe, quäle der Gedanke, mit dem Tode in Vergessenheit zu geraten. Erfahrungen, Weisheiten oder letzte Grüße wollen weitergegeben werden. „Durch das Testament oder das hinterlassene Erbe ist dies in der Regel nicht möglich.“ Denn allzu oft, so heißt es, bleiben Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen und das weitere soziale Umfeld ohne Erinnerungsstücke an den Verstorbenen zurück. Besonders tragisch sei die Vor-
ŘŖŖ Vgl. www.ewigesleben.de/willkommen.html (Stand: 25.02.2007) und ebenda die fol-
genden Zitate.
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stellung, plötzlich durch einen Unfall oder eine Gewalttat aus dem Leben gerissen zu werden, ohne wichtige Dinge ausgesprochen zu haben. Das Internet biete die Möglichkeit, das Vermächtnis wach zu halten. Alles könne noch einmal gesagt oder richtig gestellt werden. Das Lebenswerk könne noch einmal Revue passieren. Alles ist möglich, so heißt es, und deshalb lautet die Prognose: „Stellen Sie sich vor, dass dieser Abschied hier für immer erhalten bleibt, solange es das Internet oder ein vergleichbares Medium gibt. Für jeden Menschen wird Ihre Botschaft weltweit abrufbar sein. Für Ihre Kinder, Enkel und Urenkel in zehn, hundert oder tausend Jahren – solange es Menschen gibt.“ Weiter heißt es: „Wenn Sie dieser Möglichkeit Ihres ganz privaten Vermächtnisses gegenüber positiv eingestellt sind, stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Wir gestalten Ihnen niveauvoll – ganz nach Ihren Wünschen – Ihr Andenken. Als Gestaltungsgrundlage können Ihre Lieblingsfarben, Ihre Fotos, Ihre Stimme oder kurze Videosequenzen dienen. So entsteht eine individuelle Präsentation Ihrer Persönlichkeit.“ŘŖŗ Diese Arbeit, so lautet es abschließend, werde auch im Internet mit einem persönlichen Passwort abrufbar sein. Danach sei ausreichend Zeit, Änderungswünsche bekannt zu geben. Nach dem eigenen Tode werde die letzte Nachricht weltweit für alle nachfolgenden Generationen unter der Adresse www.ewigesleben.de zugänglich sein. Auf Wunsch erarbeiteten die Webmaster auch eine interaktive Gedächtnisstätte für bereits Verstorbene.
Keine einzige Seite im virtuellen Ewigen Leben ist von einem Menschen persönlich für sich selbst entworfen und ins Netz gestellt worden. Alle Seiten jedenfalls, die gegenwärtig zugänglich sind, beziehen sich auf das Gedächtnis, das andere für Verstorbene eingeräumt haben. Das Anliegen regt jedoch Fragen an, die allzu oft nicht bedacht werden, weil der Tod mit seiner Aura sie zu schwer erscheinen lässt und man sich allenfalls auf juristische Weise zu einer Klärung des eigenen Nachlasses herausfordern lässt. Was bedeutet es aber, Erinnerung an das eigene Leben zu strukturieren; was, das andere noch nicht mit bekommen haben, ist mir wert, es weiterzugeben – was ist also unausgesprochen und braucht ein Medium, das es der verschwiegenen Innerlichkeit entzieht? Das Angebot, auf virtuelle Weise hierfür eine Klärung herbeizuführen, ist eine Art von Beziehungsarbeit, die für meine Wahrnehmung christliche Traditionen hinter sich wissen kann. Sie dient nicht nur der Bildung nachfolgender Generationen, sondern – wie Martin Luther etwa sagen würde – der Bereitung auf das Sterben, die keinesfalls allein auf ein unmittelbar bevorstehendes Ende bezogen ist, sondern eine Beschäftigung, die weit vorher im Leben eines Christenmenschen einen Platz finden sollte.ŘŖŘ Die Sondierung von Erfahrungen und Erlebnissen, die angesichts des Endes tragen, fällt nicht leicht und braucht Raum. Die Website könnte ein solcher sein. Es scheint ŘŖŗ Vgl. www.ewigesleben.de/willkommen.html (Stand: 25.02.2007). ŘŖŘ Vgl. Gutmann (2002: 86–94).
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nicht einfach, sich auf einen derartigen Prozess einzulassen. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, warum sich keine Websites finden, die Menschen für sich selbst entworfen haben. Die virtuelle Gedächtnisstätte vom Ewigen Leben enthält nun noch eine Seite, die Hinweise gibt und Bedingungen für die praktische Gestaltung nennt. Zur Beratung kann Christian Kluth angeschrieben werden; er lebt in Bochum, stellt sich allerdings nicht weiter vor. Zunächst solle man, so heißt es, eine Liste der Dokumente zusenden, die nach dem eigenen Tod veröffentlicht werden sollen, sowie Designvorstellungen nennen. Nachdem die Liste gesichtet wurde, werde ein Kostenvoranschlag übermittelt. Danach solle man alle Dokumente, Bilder, Ton- und Filmaufzeichnungen auf dem Postwege schicken. Auf der Basis dieses Materials werde die gewünschte Seite entworfen, die nur mit einem geschützten Passwort aufgerufen und ständig korrigiert werden könne. Als Preisbeispiel wird eine DIN-A4-Seite mit Text und einem Bild für 50,- Euro offeriert.ŘŖř
Neben den Buttons „Kunden“, „Info“ und „Kontakt“ stehen „Gedenkstätte“ und „Gästebuch“, auf diese beiden wird nun näher eingegangen werden. Die Startseite der virtuellen Gedenkstätte zeigt wiederum die Pendeluhr und den großen Felsen im Sternenmeer des Weltraums. Darunter befinden sich sieben Eintragungen. Genannt werden die Vornamen von verstorbenen Menschen, drei Männern und vier Frauen, sowie ihre Geburts- und Todesdaten. Die Todesdaten reichen vom Jahr 1997 bis ins Jahr 2000.ŘŖŚ Dass im Namensverzeichnis nur die Vornamen genannt werden, lässt ein Gefühl von Nähe zwischen den Verstorbenen und denjenigen, die die Gedenkstätte besuchen, aufkommen. Die Umgangsformen im Internet machen diese Präsentation aber nicht ungewöhnlich, vielmehr werden hier konventionelle Formen durch direkte, oft kurze Mitteilungen, die auf traditionelle Höflichkeitsformen verzichten, abgebaut. Das Weglassen des Nachnamens unterstreicht gleichwohl, dass die Gedächtnisseiten den näheren Freundes- und Bekanntenkreis ansprechen. Im Netz finden sich keine Gedächtnisseiten, die das öffentliche Leben dieser Personen ansprechen, berufliche Leistungen, soziale oder gesellschaftliche Engagements fehlen bei der Würdigung der Person, im Unterschied etwa zu gedruckten Traueranzeigen. a) zum Beispiel: Volker Wenn auf der Startseite sein Name angeklickt wird, öffnet sich seine Gedächtnisseite. Auf ihr findet sich nun doch der ganze Name: Volker Brämer. Vier Bildelemente bestimmen die Gedächtnisseite, es wird mit Fotos und mit Schrift, also mit Bild und Wort, gearbeitet. Ein schwarzer Untergrund ist mit ŘŖř Vgl. www.ewigesleben.de/informationen.html (Stand: 15.06.2008). ŘŖŚ Stand: 15.06.2008.
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warmen Gelbtönen kombiniert. Man könnte auch sagen: Aus dem Dunkel scheint das Helle heraus. Im oberen Drittel des Bildschirms sieht man eine Schneelandschaft, wie sie an der flachen Küste Norddeutschlands aussieht; im Vordergrund stehen zwei große Bäume mit grazilen nackten Ästen; das Foto hat viel Tiefe, nach hinten wird es immer heller; wie bei einem Sonnenaufgang umspielt das Licht den Horizont. Die Landschaft vermittelt Weite und Klarheit. In dieses Landschaftsfoto hinein ist der Namenszug des Verstorbenen eingebracht: Nicht in hartem Weiß, sondern in einem angenehmen Grau strahlt er etwas von einer Identität im Zwischenzustand aus. Die Buchstaben sind dabei nicht einfach grau, sondern sie wirken transparent. Der Namenszug wird an manchen Stellen erhellt von dem aufgehenden Licht der Sonne. Der Name partizipiert am Licht des Sonnenaufgangs, er wird selbst hell: Der Verstorbene ist in der Welt gegenwärtig. Das Licht ist eine starke Metapher für die Anwesenheit, für die bleibende Verbindung zwischen Lebenden und Toten. Aristoteles nannte das Durchscheinen des Hellen durch das Dunkel oder, anders ausgedrückt, das Erhellt-Werden „Parousie“ŘŖś. Im christlichen Kontext wird von Parusie gesprochen, wenn vom Ankommen des Auferstandenen die Rede ist. Es wird hell, wo die Wiederkunft des Auferstandenen sich im Licht ankündigt, sie kündigt sich von Ferne an.ŘŖŜ Im Sehen, im Hell-Sehen wird Anwesenheit vermittelt, Gefühle der Verlassenheit schwinden. Im Alltag ist an vielen Stellen präsent, welche Bedeutung Licht für das Wohlergehen von Menschen hat: das Nachtlicht im Kinderzimmer oder in Krankenhäusern, die Kerze, die in der Dämmerung entzündet wird, das geradezu grelle Licht, das an Bahnhöfen und in Untergrundbahnen für mehr Sicherheit sorgen soll, aber auch die hell erstrahlende Festbeleuchtung, die jede Trübsinnigkeit vertreiben soll, u. a. m. Auch innerhalb der Ausstellung der Cybernarium Days hat man sich, wie erwähnt, diesen Immersionseffekt zunutze gemacht: das Eintauchen in ein Dunkel, in dem Licht umso heller erstrahlen kann. Ein weiteres wichtiges Gestaltungselement auf der Seite ist ein Porträtfoto des Verstorbenen. Wiederum wird mit Lichteffekten gearbeitet: Auf seinem Gesicht liegt ein heller Glanz. Es ist von hinten her beleuchtet und dies ‚macht’ das Foto sehr lebendig.ŘŖŝ In den Farben des Porträts wiederholen sich nun auch die eines Landschaftsbildes. Es scheint, als ob er mit der Erde, in die er gelegt worden ist, eins wird. Die Jacke, die der Verstorbene trägt, hat das goldene Beige, das am Horizont in anderer Schattierung da ist; der Bildhintergrund ist grau wie die ŘŖś Vgl. Böhme (1998: 38). ŘŖŜ Gernot Böhme schreibt: „Das grundlegende Wahrnehmungsereignis ist das Spüren
von Anwesenheit.“ Ders., Aisthesis. München, 2001, 45. ŘŖŝ Vgl. auch Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen. Frankfurt a. M., 4. Aufl. 1999, 146 f.
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Buchstaben seines Namens und der noch im Dunkeln liegende Schnee auf dem weiten Feld. Neben dem Bild steht nun ein Text, der von zwei Personen namens Rita und Annika unterschrieben ist. Sie sagen: „Wir wissen nicht, wie es zu diesem tragischen Autounfall kommen konnte und wir verstehen auch nicht, warum Du dabei sterben musstest, aber wir sind dankbar, dass wir Dich kennen lernen durften.“ Es wirkt auf mich wohltuend, dass die Frauen ihre Erfahrungen mit dem Verstorbenen hier für sich und andere bewahren und dankbar Abschied nehmen können.
Ein Bildausschnitt aus dem Landschaftsbild ist als weiteres Gestaltungselement unter dem Schriftzug für den Namen eingeblendet. Ausgewählt wurde der Teil des Landschaftsbildes, in dem Himmel und Erde am Horizont aneinanderstoßen und das Helle erleuchtend erfahren werden kann. In das Bild ist Text eingearbeitet; nur eine Zeile steht hier, die lautet: „Hinter dem Horizont geht es weiter ...“. Diesmal ist die Schrift weiß. Das Helle der aufgehenden Sonne des neu anbrechenden Tages wird verstärkt; die Schrift nimmt nichts davon zurück. Im Gegenteil, sie unterstützt das Atmosphärische des anbrechenden Morgens. Nur das Wörtchen „Hinter“ und die Pünktchen am Ende dieser Liedzeile von Udo Lindenberg sind in Grau getaucht und sie ragen auch aus dem Bildausschnitt heraus. Die Ausstrahlung der Morgendämmerung soll nicht in einen fest gefügten Rahmen gezwungen werden. Die Zeile selbst lässt keinen Zweifel an einer Hoffnung darauf, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, oder anders gesagt: dass mit dem Ende des Sichtbaren nicht das Leben insgesamt beendet ist. Im Schwarz des unteren Bildrandes finden sich in einem vollen Grau das Geburtsdatum, der Todestag sowie der Beerdigungsort von Volker Brämer. Es könnte sein, dass das Landschaftsbild am alten Friedhof von Itzehoe, wo sein Grab ist, aufgenommen wurde. Aber letztlich müssen Bild und Text nicht in diesem Sinne korrespondieren, denn das Bekenntnis „Hinter dem Horizont geht es weiter ...“ transzendiert den Ort des Grabes und mit ihm, so nehme ich es wahr, auch den Tod. Die Website ist ein Beispiel für eine Art virtuellen Kunsthandwerks, in dem die Wahrnehmung einer Lebenssituation dargestellt wird. Es geht um eine irritierende Lebenssituation, den Tod eines geliebten Menschen. Die beiden Frauen, die als Autorinnen genannt werden, bieten mir mit der Website ein Feld interpretativer Möglichkeiten an, das keineswegs so offen wäre, dass man alles aus ihm herauslesen könnte. Doch sie legen auch andersherum keine Interpretation fest. Die Konstellation von Schrift und Bild tritt in eine wechselseitige Relation ein, die durchaus verschiedene Lektüren der Website zuließe.ŘŖŞ Eine dieser Lektüren habe ich selbst hiermit angeboten.ŘŖş ŘŖŞ Vgl. hierzu auch Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Insbesondere „Das offene
Kunstwerk in den visuellen Künsten“. Frankfurt a. M. 1977, 154.
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b) zum Beispiel: Andrea Andrea, so gibt die Übersichtsseite des Administrators Auskunft, ist am 31. Juli 1993 geboren und am 12. Februar 2000, also mit sechs Jahren, gestorben. In der Gedenkstätte vom Ewigen Leben findet sich für sie ein von Bianca gemaltes Abschiedsbild, vielleicht ihrer Freundin, vielleicht ihrer Schwester. Das Kinderbild, das zum Totengedächtnis des Kindes ins Internet eingestellt wurde, rührt mich. Es wird bestimmt von einem zartblauen Himmel, der gut vier Fünftel des Bildes ausfüllt. Am unteren Bildrand ist eine Wiese gemalt, aus dunkelgrünem Gras. In der Mitte der Wiese befindet sich eine kleine Figur, Kopf und Hände sind mit einem dunklen, vielleicht schwarzen Stift gezeichnet, ein ausladender dunkelbrauner Rock bestimmt den Körper von der Brust abwärts. Kein Gesicht ist erkennbar, überhaupt ist die kleine Figur ohne Unterschied zwischen Kleid und Haut dunkelbraun gehalten. Es mag die tote Andrea sein. Links neben ihr ragt ein Gebilde auf, das orange und schwarz umrandet ist, eine Blume mit festem Stiel – wie eine erhabene rote Rose – steht in diesem kleinen, abgeschlossenen Raum. Von vorne betrachtet wirkt dieses Element wie die räumliche Darstellung eines Sarges. Eine Schnur, die am rechten Rand herabhängt, fällt auf. Oben auf dem SargŘŗŖ steht im zarten Blau des Himmels ein Kreuz, schwarz umrandet, aber es ist gelb ausgemalt und trägt in sich eine Streckung, die weiter nach oben, in den Himmel, weist. Neben dem Sarg ist eine Friedhofsvase zu sehen; ihr spitzer ŘŖş Doch mit der Art der Bilder innerhalb der Gedächtnisseiten greife ich eine Bild-
präsentation auf, die eher dem Genre der Fotografie entspricht als der virtuellen Realität eines Doms zu Siena. So wird medientheoretisch im Grunde unreflektiert an ein Bildverständnis angeknüpft, das sich etwa mit der semiotischen Zuwendung zum Bild in Roland Barthes’ frühen Schriften verstehen lässt. Angeregt von der Auseinandersetzung mit Barthes, der die kulturelle Bedeutung der Fotografie maßgeblich herausgearbeitet hat und der doch einen bilderfremden Grundzug in seiner Theoriebildung beibehält, ist nun zu konzedieren, dass auch in dem vorgetragenen Blitzlicht eine Bilderfremdheit fortexistiert, die in dieser Weise sich letztlich auch als Medienfremdheit deuten lässt. So habe auch ich mich kaum der medialen Konstruktion der Bilder zugewandt, sondern bin sogleich in die Anschauung der Bildwelten hineingegangen. Manfred Faßler hat hierfür einen weitreichenden Verdacht geäußert: „Dieser Grundzug wird zum Schutze des monomedialen (text-, begriffs- und verbalsprachlichen) Sprachverständnisses aufrechterhalten.“ (Manfred Faßler, Bildlichkeit. Wien/Köln/ Weimar 2002, 189). Vgl. zu Roland Barthes z. B. : Ders. (1970), Le troisième sens. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 222, Paris, 12–19. Hier liegt innerhalb der wahrnehmungsorientierten Praktischen Theologie noch ein zu behandelndes Aufgabenfeld. ŘŗŖ Ich setze das Wort Sarg kursiv, weil es eben meine Wahrnehmung dieses Bildelements ist. Vielleicht ist die Schnur eines der Seile, mit der Sargträger Andrea ins Grab hinabgelassen haben.
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Stil, der ihr in der Erde Halt gibt, ist klar gezeichnet. Die schwarze Friedhofsvase ist voller bunter Blumen, die sich an den Sarg anlehnen. Am Himmel gibt es außerdem Wolken und ein kleines Tier, vielleicht ein Schäfchen, das ebenso transparent eingezeichnet ist und aus dem Bild herauszutrippeln scheint. Ein Engel hat gelbe Flügel, sie haben dieselbe Farbe wie das Kreuz. Andrea trägt ein weites Kleid. Ihre Arme sind weit ausgebreitet, als wollten auch sie zu Flügeln werden. Ihre roten Schuhe gucken am linken Rockrand heraus, ein großer Zipfel des Kleides zeigt nach rechts; sie fliegt dem Schäfchen hinterher. Zwei Wolken bilden eine Brücke, von einem Windhauch hinter ihrem Rücken geht der Schwung aus, mit dem sie unterwegs ist. Ihr Gesicht wirkt traurig, die Augen sind ernst, eines ist etwas verwischt. Der rote Mund ist sehr groß, die Lippen sind schwarz umrandet und fest geschlossen.
Für mich lässt sich das Bild sozusagen in Szenen lesen: Andrea verlässt die dunkelbraune Existenz; sie fliegt am Himmel mit ausgebreiteten Flügeln; sie ist zu einem Engel geworden. Das Kind bleibt nicht im Gras liegen; das sonnengeflutete Kreuz und die sonnengelben Flügel korrespondieren miteinander.Řŗŗ Eine leibliche Auferstehung als Engel gibt dem Unfassbaren der Auferstehung einen Halt, der den Glauben an das, was irdisch nicht möglich ist und doch möglich werden soll, nicht überflüssig macht, sondern geradezu mit fantastischen Bildern füttert. Der alte Menschheitstraum, fliegen zu können, eine Leichtigkeit des Seins zu erfahren, wird in dieser Vorstellung vom Leben nach dem Tode anschaulich. Andrea lässt sich vom Wind unter ihren Flügeln wegtragen. In ihr, dem Engel, wird die irdische Existenz des Menschenkindes durchsichtig hin auf eine himmlische Daseinsweise. Der Himmel ist nicht leer, sondern er ist Andreas neuer Lebensraum. Im Sterben zu einem Engel zu werden, diese Vorstellung drückt einerseits eine Verwandlung eines Menschen nach dem Tod aus und andererseits vermittelt sie auch die Hoffnung, dass die Tote oder der Tote nicht verloren gehen, sondern eine neue Existenz finden. Die feste Grenze, die neuzeitliche Weltbilder zwischen Mensch und Gott eingetragen haben, wird mit der Wahrnehmung der Engel durchlässig: Die Engel durchbrechen diese Grenze ,naturgemäß‘, lassen Irdisches und Himmlisches näher zueinander rücken. Die Website arbeitet Vorstellungen von Transzendenz heraus und legt diese dabei nicht eindimensional fest. Sie thematisiert, ebenso wie die Website für Volker, die Relation von Endlichem und Unendlichem. Die Gestalt des Engels macht es unmöglich, Wesen und Erscheinung der Verstorbenen klar voneinander abzugrenzen. Und ebenso geht es mit der Wahrnehmung, die ich von deren Beziehung haben kann: Sie wird mehrdeutig. Offenen KunstŘŗŗ Eine Auseinandersetzung mit Hoffnungsbildern von Kindern im Umgang mit dem
Tod liefert Martina Plieth, Kind und Tod. Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. 2002.
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werken ist genau diese Mehrdeutigkeit eingeschrieben: „Das Problem der Beziehung des Phänomens zu seiner ontologischen Grundlage wird, in einer Perspektive perzeptiver Offenheit, zu dem der Beziehung des Phänomens zu der Mehrwertigkeit der Perzeptionen, die wir von ihm haben können“ŘŗŘ. Mit dieser Mehrdeutigkeit zu leben ist nicht nur eine herausforderungsvolle Aufgabe. Sie kann auch als ein Geschenk, als eine Gnade für alle aufgefasst werden, die sich an der Kommunikation des Evangeliums beteiligen. c) Das Gästebuch Es gibt eine große Anzahl von Einträgen, die bewusst machen, dass das Leben zeitlich ist, dass es schneller zu Ende sein kann, als man dies erwartet. Man sollte sich mit dem Tod auseinandersetzen, bevor es zu spät ist, heißt es da etwa. Die Gästebuchseiten eröffnen einen virtuellen Raum, sich freiwillig, und wann immer man möchte, mit dem Themenbereich Tod, Verlust, Trauer und Sterben auseinanderzusetzen. Insbesondere, wenn es ausgeschlossen ist, dorthin zu gehen, wo der Leichnam eines Verstorbenen ruht, kann hier ein Ort gefunden werden, den zudem auch andere Menschen besuchen können. Zudem ist es möglich, nicht nur einzeln und allein der eigenen Trauer Ausdruck zu geben, sondern es ist auch denkbar, gemeinsam eine Trauerseite einzurichten. Die Auskunft des Initiators, die Websites seien als interaktives Vermächtnis zu verstehen, können als einen Hinweis in diese Richtung verstanden werden. Bei jedem Kontakt mit Trauerwebsites können trauernde Menschen aber auch eine Kommunikation zu verstorbenen Personen aufbauen. Die virtuelle Gedächtnisstätte wird damit zu einer Welt, in der Trauernde die Beziehung zu einer verstorbenen Person weiterentwickeln können. Inwiefern die verstorbenen Menschen an dieser Entwicklung teilhaben oder selbst etwas beitragen, bleibt spekulativ. Doch diese Frage andersherum als spiritistisch abzuwerten, würde den seelsorgerlichen Umgang mit Trauernden und ihren Kontakten zu verstorbenen Menschen verfehlen. Der Abschluss eines Trauerprozesses kann durch die Tabuisierung solcher Kommunikationen erschwert werden.213 Kritisch wird im Gästebuch auch die Entstehung virtueller Trauer- und Gedächtnisorte selbst gesehen. Es sei unangemessen und unglaubwürdig, dass das Internet mit dem ewigen Leben in Analogie trete oder sogar in Identität ŘŗŘ Eco (1977: 51). Řŗř Vgl. Ulrike Wagner-Rau, Kontakt zu Toten. In: Ilona Nord/Fritz-Rüdiger Volz (Hgg.),
An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorick Spiegel. Festschrift zum 70. Geburtstag. Münster 2005, 453–468.
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mit ihm gebracht werde. Diesem Einspruch ist prinzipiell zu entgegnen, dass Menschen im Internet mit ihren Verstorbenen kommunizieren können, dass sie dies aber auch am Grab oder im Gottesdienst tun können. Eine Hierarchie einzuführen, welche Kommunikation qualitativ hochwertiger als andere Formen sei, ist hier unnötig. Für einen Trauerprozess wird es sicherlich zuträglich sein, sehr verschiedene Möglichkeiten zur Trauerarbeit zuzulassen, sodass Menschen im Alltag eines Trauerjahres vielerorts ihren abschiedsvollen Gefühlen Ausdruck geben können. Im Gästebuch finden sich auch Einträge, die zunächst fremd und verrückt wirken. Zum Beispiel der Eintrag von Lucifer, der die Websites gruftig findet, oder den Eintrag aus Transsylvanien vom Auferstandenen, der am 25. Januar 2000, mittags um halb zwei, Folgendes hinterließ: „Mein Tod wird sich noch sehr lange herauszögern, vorher werden noch viele andere Menschen sterben und sich stundenlang quälen und sich im eigenen Blut wälzen.“ŘŗŚ Normalerweise ist es die Aufgabe des Webmasters, das Gästebuch von solchen Einträgen zu bereinigen, was hier, wenn überhaupt, nur sehr zurückhaltend geschieht. Dies öffnet den Blick auf irritierendes Material. Die Websites vom Ewigen Leben bieten einen Raum an, in dem Menschen sich selbst in der Rolle als Vampir präsentieren. Vampire und Vampirinnen sind virtuelle Gestalten; sie haben ein blutleeres Antlitz, sie sind existenziell abhängig vom Blut, vom Leben anderer, die das Netz aktivieren. Sie sind auf merkwürdige Weise nicht totzukriegen – sie sind untot. Spätestens hier könnte auf der Basis konventioneller mitteleuropäischer Trauerkultur Einspruch erhoben werden. Doch dieser Einspruch würde zugleich eine weitere Dimension der Wahrnehmung von Sterben und Tod abschatten, ohne ihre Dichte für eine ästhetisch sensible Deutung ermessen zu haben. Dass in der virtuellen Welt Vampire aufleben, ist ein Zeichen, das weiterverweist. Es verweist auf die fantastische Inszenierung der alten Frage nach dem Tod und wie es dann weitergeht.Řŗś Wiederum wird man darauf gestoßen, dass das Verhältnis von Realität und Fiktion notwendig zu bestimmen ist oder eine Auskunft dazu nötig wird, wie viel Fiktion der Glaube an ein ewiges Leben verträgt oder sogar verlangt.
2.3.7 Zur Frage nach der Kommerzialisierung religiöser Bedürfnisse Aus anderer Perspektive sind Websites wie die vom Ewigen Leben ein Beispiel für die Kommerzialisierung religiöser Bedürfnisse. „Es gibt nichts, was es nicht gibt. Auch und vor allem das Internet erweist sich mal wieder als Sammelsurium von Skurrilitäten. Online-Bestattungen sind offenbar ziemlich in,
ŘŗŚ www.ewigesleben.de/Gästebuch.html. Řŗś Vgl. auch Žižek (1997).
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zum Teil richtig teuer.“ŘŗŜ Menschen ringen mit der Frage, ob und wie es nach ihrem Tod weitergeht, und werden motiviert, eine Seite für sich selbst einzurichten – gegen 5,- Euro bis hin zu Preisen wie 3.900 Schweizer Franken. Es ist ein unheimliches Szenario, die virtuelle Präsentation der eigenen Persönlichkeit zum letzten Anliegen zu machen. Sich selbst zubereiten für die Ewigkeit, dabei sozusagen jederzeit abrufbar zu sein für die Hinterbliebenen und dies am besten in einem schön gestalteten Rahmen. Die Websites für Volker und Andrea sind in ihrer Art konventionell pietätvoll. Man kann sich anderes vorstellen, wenn alle technischen Hilfsmittel ausgeschöpft werden. Heute Geborene werden sich im virtuellen Wohnzimmer der Großmutter einloggen und sich als Avatar oder im Datenanzug zu ihr auf den Schoß setzen. In einer Blackbox kann man die Großmutter zum Erzählen bringen, und wenn das Kind genug hat, wird die Großmutter mit einem Klick ins Bett gelegt. Technisch ist ein solches Szenario längst realisierbar. Wie immer, wenn es um neue Technologien geht, muss erwogen werden, was in Zukunft realisiert werden und auf was verzichtet werden soll. Vilém Flusser schrieb 1989, dass es nicht schwer sei, sich dieses Leben vorzustellen, in dem alle anders sein werden. Seine Ahnung war allerdings, dass der Mensch der Zukunft an Dingen uninteressiert ist: „Übrig bleiben von den Händen die Fingerspitzen. Mit ihnen wird der künftige Mensch auf Tasten drücken, um mit Symbolen zu spielen und um audiovisuelle Informationen von Apparaten abzurufen. Der fingernde, handlose Mensch der Zukunft wird nicht handeln, sondern tasten. Sein Leben wird kein Drama mehr sein, das eine Handlung hat, sondern es wird ein Schauspiel sein, das ein Programm hat. [...] Nicht Arbeit und nicht Praxis, sondern Betrachtung und Theorie werden sein konkretes Leben charakterisieren. Nicht Arbeiter, Homo faber, sondern Spieler mit Formen, Homo ludens, ist der Mensch der undinglichen Zukunft.“Řŗŝ
In der Rolle des Homo ludens liegt eine Ambivalenz, die in der kulturellen und religiösen Deutung virtueller Realitäten als Spielräume des Lebens nicht unterschlagen werden darf. Eine pauschale Medienkritik hilft dabei nicht weiter. Sie erfüllt im Gegenteil m. E. vielmehr eine gesellschaftliche Funktion. Sie kanalisiert Ängste vor einer neuen Technologie, deren Fortentwicklung mit dem Einsatz enormer Forschungsgelder unabhängig von dieser Kritik vorangetrieben wird. Wenn die Kontakte eines Menschen ausschließlich im Cyberspace liegen, dann ist er oder sie wohl cybersüchtig und damit auch krank und hilfsbedürftig. Kommunikationen im Cyberspace katalysieren soziale Welten. Kontaktarme Menschen werden einsamer; kontaktreiche MenŘŗŜ Sascha Klein, Letzte Ruhe im Cyberspace. In: www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/
01518,druck-223482,00.html (Stand: 20.11.2002). Řŗŝ Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1991, 188.
2.3 Methodische Überlegungen zur Erforschung medialer Phänomene
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schen gewinnen Kommunikationen hinzu und können neue Erfahrungen mit der Vielfalt von Beziehungen, der Intensität von Beziehungen wie differenzierten Formen der Beziehungsführung machen.ŘŗŞ Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass es in der Frage nach der Bedeutung virtueller Kommunikationen nicht um die Frage geht, ob der Computer und das Internet gelingendes Kommunizieren überhaupt ermöglichen können. Zur Disposition steht vielmehr, wie gefördert werden kann, dass möglichst viele Menschen sich Kompetenzen im Umgang mit Medien aneignen. Dies ist ein Anliegen, das Theologie und Kirchen fördern müssen, wenn sie auch in Zukunft Deprivilegierten Hilfe zur Selbsthilfe bieten wollen.Řŗş Zurückbezogen auf die Websites zum Ewigen Leben muss hinsichtlich der Kommerzialisierung religiöser Bedürfnisse auch reflektiert werden, was es bedeutet, wenn sie ein FakeŘŘŖ wären. Die Gedächtnisseiten entsprängen dann nur einem einzigen Gehirn, dem des Webmasters. Er hätte sie als Dummy, als Musterseite gefertigt. Es ist auffällig, dass die virtuellen Friedhöfe oder Gedächtnisstätten, oder wie immer sie genannt werden mögen, kaum Wachstum verzeichnen können. Seit dem Jahr 2000 sind auf der Website vom Ewigen Leben keine neuen Gedächtnisseiten eingestellt worden. Der Frankfurter Anbieter der „Hall of Memory“ hat sein Projekt wegen mangelnder Nachfrage gestoppt. Das Netz hat Raum für alle möglichen und unmöglichen Experimente. „Das Web wird immer mehr zum Grab, und das nicht nur für Tier und Mensch.“ŘŘŗ Aber es gilt auch zu berücksichtigen, dass das Internet ein junges Medium ist. Die Menschen, die sich in ihm engagieren, sind in der Regel noch nicht alt genug, damit Sterben, Tod und Erinnerungskultur durchweg ein interessantes Thema wären. Wenn das Internet zu einem lebensbegleitenden Medium geworden ist, wenn die heute Zwanzigjährigen 70 Jahre alt sind, wird eine andere Situation zu beschreiben sein. Die Online-Aktivität von Jugendlichen wächst seit Jahren kontinuierlich. Eine Welt ohne Internet ist für sie kaum mehr vorstellbar; das aus den Neunzigerjahren bekannte Bildungsgefälle zwischen Onlinern und Offlinern hat sich weitgehend nivellieren lassen. Von anŘŗŞ Vgl. Shell Jugend-Studie: Jugend 2000. Opladen 2000, insbesondere den Abschnitt zu
den Heavy-Usern, Bd. 1, 213–215. Řŗş Vgl. für das Fernsehen schon Hans Erich Thomé, Gottesdienst frei Haus. Göttingen
1991, 87–127. ŘŘŖ Das englische Wort „fake“ kann im Deutschen mit ‚Fälschung‘ und mit ‚Imitation‘
übersetzt werden. Personalisiert ist auch vom ‚Schwindler‘ zu sprechen. Vgl. Manfred Geier, Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos. Literatur. Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1999. ŘŘŗ www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,druck-223482,00.html (Stand: 20.11.2002).
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2 Hermeneutische und methodische Orientierungen
deren Medien wie Radio- und Fernsehsendern und auch von Tageszeitungen ist bekannt, dass es eine Bindung an eine Welle, an ein Programm oder ein Printmedium gibt, die lebensbegleitende Funktionen hat. So muss die Anfrage an die Bedeutung virtueller Erinnerungskultur anderswo entschieden werden: dort, wo sie angeklickt werden. In welcher Weise veränderte es die Wahrnehmung, mit der die Gedächtnisseiten angesehen werden, wenn man weiß, dass diese Gedächtnisseiten von real existierenden Menschen eingestellt worden sind? Zunächst ist festzuhalten, dass das Kriterium der Irritation aufgehoben würde. Irritationen entstehen dort, wo man sich nicht mehr sicher sein kann, was man real nennen würde und was fiktional. Man würde also den Schwindel bekämpfen können, der einen im doppelten Sinne des Wortes erfasst, wenn man nicht weiß, was echt und was unecht, was ein Dokument wahren Gedächtnisses ist und was nicht. Doch verließe man sich auf die Antwort, die Seiten seien nur ein Fake, würde man sich selbst um eine weiterführende Auseinandersetzung mit sich selbst bringen: Sie wirft einen Menschen zurück auf sich selbst und macht die eigene Antwort bedeutsam – die Rezipientin und der Rezipient müssen selbst entscheiden, welche Bedeutung sie virtuellen Friedhöfen zumessen.
3 Medientheoretische Studien Die folgenden Studien haben nun die Funktion, die einführend präsentierten virtuellen Realitäten auf dem Ausstellungsgelände der Cybernarium Days medienwissenschaftlich, (religions-)philosophisch und theologisch zu reflektieren.ŘŘŘ
3.1 Zur Simulation I: Über das Verhältnis von Wort und Bild „Bildlichkeit ist für beobachtend-erkennendes Wissen nicht mehr die illustrative Beigabe.“ŘŘř Visualisierungen geben auf eigene Weise Wissen weiter. Dies ist am Beispiel der Lernräume des Doms zu Siena und der rekonstruierten jüdischen Synagogen deutlich geworden. Für Lernprozesse werden dabei auf Formen hochmoderner Erinnerungskultur und ihre Archivierungsmethoden zurückgegriffen. Kulturkritische Einwände gegen virtuelle Realitäten benennen diese häufig als Motor für einen Prozess der Entmaterialisierung und Vergeistigung von Kultur. Zum Teil geschieht dies mit der Absicht, vor der Virtualisierung der Lebenswelt, die sich in einer medial forcierten Krise der Repräsentation ausdrücke, zu warnen. Sie wird in engem Zusammenhang mit der Zunahme von Visualisierungen in kulturellen Prozessen gesehen.ŘŘŚ Der Sehkanal, der spätestens seit Platon zwei unterschiedliche Funktionen zugewiesen bekommen hat, nämlich das Lesen und das Schauen, den Text und das Bild, wird nun kulturell neu codiert. Dies bedeutet, dass Wort und Bild in einem veränderten Zusammenhang wahrgenommen werden. Wahrnehmungsfragen werden relevant; sie führen in die Auseinandersetzung, wie Materialität, Form und Erkennen verstanden werden sollen. Sehen und Hören, Bild und Wort stehen in der europäischen Kultur in einem spannungsreichen Verhältnis, das in der Theologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Tradition der Dialektischen Theologie dazu geführt ŘŘŘ Vgl. 1. Annäherungen an ein mediales Phänomen. ŘŘř Faßler (2002: 12). ŘŘŚ Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München
2001.
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3 Medientheoretische Studien
hat, dass das Wort und das Hören eine qualitativ höhere Wertigkeit erhielten als das Bild und das Sehen. Die Rede von der europäischen Schriftkultur gehört hierher. Es ist innerhalb dieser Ordnung noch einmal insbesondere in der theologischen Tradition für den Vorrang der Oralität vor der Schriftlichkeit votiert worden. Es ist auch mit kulturwissenschaftlichen Belegen versucht worden, die Oralität als für die Speicherung des Evangeliums primäre darzulegen. Doch von der Vorsicht vor den Bildern, die aus der Erfahrung manipulativer Visualisierungsweisen sprach, und damit von der Kritik an der Darstellung des nicht darstellbaren Gottes (zweites Gebot) bis zur Funktionalisierung und Popularisierung des Films während des Dritten Reichs wird innerhalb der Kulturwissenschaften inklusive der evangelischen TheologieŘŘś seit nahezu dreißig Jahren abgerückt. Rainer Volp hat für den Bereich der Theologie vor allem mit F. D. E. Schleiermacher argumentiert; die These, dass Bilder in jedem Denken mitgesetzt seien, ist hier leitend. Diese Einsicht beruhe darauf, dass menschliche Erkenntnis durch Zeichen konstituiert werde. Es werde auf der Basis von Zeichen kommuniziert; Zeichen umfassten sowohl Wörter als auch Bilder. Schleiermacher hatte der menschlichen Vernunft in diesem Sinne eine bezeichnende Tätigkeit zugeschrieben. Für Volp sind deshalb Zeichenrelationen, die man etwa in Bildern betrachtet, eine Art Verhaltensmodell in nuce. Von hier ausgehend schließt Volp an Umberto Eco an, wenn er Bilder wie folgt versteht: „ein Modell von Beziehungen ..., das dem Modell der Wahrnehmungsbeziehungen homolog ist, das wir beim Erkennen und Erinnern des Gegenstandes konstruieren oder anders gesagt jedes Zeichen, das in gewisser Weise dem ähnelt, was es denotiert, ist ein ikonisches Zeichen.“ŘŘŜ Wenn Zeichen als basale Kommunikationsmittel angenommen werden, verändert sich auch die Beziehung von Wort und Bild. Sie tritt aus der Ordnung heraus, in dem das Wort insbesondere in der europäischen Tradition häufig vor dem Bild angesiedelt worden ist. Demzufolge wird auch gefragt, ob Bilder nicht vom Wort her verstanden werden müssten. Dies geschieht etwa, wo man Bilder als Gegenstände mit Blick auf ihre Ursprungsbeziehung deutet und das Wort, das diese bezeichnet, als das sie Identifizierende bestimmt. Auch dort, wo Bilder als Elemente von Beziehungen der Ähnlichkeit in Modellen von Sinnübertragung
ŘŘś Vgl. zum Überblick Rainer Volp, VII. Das Bild als Grundkategorie der Theologie. In:
TRE, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 557–568; Hans-Günter Heimbrock, Modo Religioso. Klang und religiöse Bedürfnisse sowie Gott im Auge. Über Ansehen und Sehen in: Ders./Wolf Eckard Failing, Gelebte Religion wahrnehmen. Stuttgart 1998, 69–91 und 123–145; Albrecht Grözinger (1986). ŘŘŜ Volp (1980: 558).
3.1 Zur Simulation I: Über das Verhältnis von Wort und Bild
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gesehen werden, geschieht dies. Bilder werden dann eingesetzt, um zum über die Wirklichkeit hinausweisenden Zeichen zu werden.ŘŘŝ Der Vergleich von Bild und Wort und ihre Zuordnung zueinander sollen hier aber nicht weitergeführt werden. Vielmehr ist für diesen Diskussionszusammenhang von Wort und Bild und ihrer Beziehung zu virtuellen Realitäten wichtiger, eine These aus der Medienkulturforschung aufzunehmen, in der man sich davon löst, die Geschichte der Medien als eine Geschichte der Technologisierung des Wortes zu verstehen. Das Problem der Medialität stelle sich historisch nicht erst mit dem Prozess der Literalisierung oraler Kulturen, so argumentiert Ludwig Jäger z. B. auch gegen Jan Assmann. Jäger kann das Phänomen der Literalisierung auch nicht systematisch darauf zurückführen, dass Medien entwickelt werden, wenn Telebeziehungen, also Ferne, die direkte sprachliche Kommunikation raumzeitlich begrenzen.ŘŘŞ Er ist vielmehr der Auffassung, dass Telekommunikationen und mit ihnen virtuelle Realitäten die Frage nach der Medialität intensivieren, aber sie nicht initiieren. Der Literatur- und Medienwissenschaftler klärt in diesem Sinne das semiologische Fundament des Medialitätsproblems, indem er die Medialität der Sprachzeichen in den Mittelpunkt rückt. Kein Zeichen wirkt unmittelbar, sondern ist selbst unabdingbar verbunden mit dem Medium, in dem es auftritt. Es ist also unangebracht, Sprache und Medien einander entgegenzusetzen oder Medien in einer Hierarchie von Kommunikationsformen unterhalb von Sprache anzusiedeln. Sprache wird weiterhin als „Archimedium des Medialen überhaupt angesehen“ŘŘş. Dennoch sind Sprache, Zeichen, Bilder und Medien als gleichursprünglich anzusehen. Es ist nun die Eigenart digitaler Medien, dass sie die Notwendigkeit forcieren, die Medialität von Zeichen wahrzunehmen. In der Medialität von Zeichen liegt zugleich ihre Funktion, Kommunikation gegenwärtig werden zu lassen. Über Virtualisierungsprozesse werden Kommunikationsräume erzeugt, in denen Anwesenheit inszeniert wird. In virtuellen Realitäten wie etwa z. B. dem oben erwähnten Synagogen-Archiv wird eine religiöse Welt vergegenwärtigt, die zerstört wurde und deren Zerstörung für das gegenwärtige Leben schmerzhaft bedeutsam bleibt. Virtuelle Realitäten zu begehen, leistet hier einen Beitrag zu einer kulturellen und religiösen Erinnerungsarbeit. „Verbindet man Virtualisierungsprozesse mit dem ŘŘŝ Ebenda. ŘŘŞ Vgl. Ludwig Jäger, Zeichen/Spuren. Skizze zum Problem der Sprachzeichenmedia-
lität. In: Georg Stanitzek/Wilhelm Vosskamp (Hgg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation. Köln 2001, 17. ŘŘş Jäger (2001: 18).
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3 Medientheoretische Studien
Gedanken der materialen, temporalen und kommunikativen Weisen der Anwesenheit, so verliert das Wort Virtualität seine Assoziationen: fälschend, täuschend, unecht, nicht wahrheitsfähig.“ŘřŖ Virtualisierungsfähigkeit wird zum Quellcode für das, was als mediale Selbstbefähigung des Menschen beschrieben werden kann. Es geht um Vorgänge, in denen es zur zeichenhaften Repräsentation des Abwesenden kommt, zum Anwesend-werden-lassen dessen, was abwesend ist. Virtuelle Realitäten intensivieren die Wahrnehmung, dass Kommunikation es weniger mit der Übermittlung von Botschaften nach einem Repräsentationsmodell zu tun hat, sondern dass Wirklichkeit ein oder besser mein Konstrukt der Wahrnehmung von Welt ist, die ich zeichenvermittelt erfahre und kommuniziere. In dem Vermögen, Wirklichkeit zu konstruieren, zeigt sich ein Teil menschlicher Virtualisierungsfähigkeit. Mit dem Gebrauch virtueller Realitäten ist ein enormer Zuwachs an (kostengünstigen) Speicherräumen eröffnet worden. Sie haben neben dem Aufzeichnungsmedium der Schrift auch die der Rede, der Fotografie, des Films bzw. ihrer multimedialen Kombinationen ermöglicht und darin das kulturelle Archiv erweitert. Zugleich wird deutlich, dass sich Speichermedien permanent verändern und dabei auch Daten in Medien, die nicht mehr abgerufen werden können, verloren gehen. Erwartungen, dass elektronisch gestützte Erinnerung auf umfassende Speicherkapazitäten zurückgreifen könnte, sind nicht zu erfüllen. Abgesehen von dem Problem von Datenverlusten und dem gleichzeitigen Zuwachs an Speichermöglichkeiten beschäftigt die Mediensoziologie jedoch die weiterführende Frage, wie gespeicherte Daten den Bereich des Wissenserwerbs, der Wissensspeicherung, Wissensverteilung und Wissensvermittlung beeinflussen werden. Elektronisch generierte Speicher oder Archivräume machen Erinnerung keineswegs von Menschen unabhängig, vielmehr werden spezialisierte Kompetenzen für Erinnerungsprozesse wichtiger: „So hat beispielsweise der interaktive Aspekt des digitalen Bildes, basierend auf der Virtualität der elektronischen Informationsspeicherung, zur Herausbildung eines neuen Forschungszweiges geführt: der Entwicklung von Schnittstellen zwischen Bild und Betrachter.“Řřŗ Auf diesem Gebiet wird eine interdisziplinäre Kompetenz von Künstlern, Informatikerinnen, Sozial- und Geisteswissenschaftlern verlangt. Insbesondere wird auf die Allianz von Kunst und Naturwissenschaft gesetzt, die als Voraussetzung für die Entwicklung innovativer ŘřŖ Faßler (2002: 60). Řřŗ Peter Weibel, Neue Berufsfelder der Bildproduktion. Wissensmanagement vom
künstlichen Tafelbild zu den bildgebenden Verfahren der Wissenschaft. OstfildernRuiz 2001, 8 f.
3.2 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit
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Schnittstellen und dynamischer Informationsräume gilt. Nur aufgrund von ihr könne, so heißt es, eigenverantwortliches und selbst organisiertes Lernen stattfinden.ŘřŘ Rückt in der Reflexion zur Erinnerungskultur die Entwicklung von Schnittstellen zwischen Bild und Betrachter, oder umfassender formuliert: von Zeichen und Rezipientin bzw. Rezipient in den Mittelpunkt des Interesses, dann forcieren computervermittelte Kommunikationen, die Intentionalität menschlichen Daseins, konkret die Beziehung des Menschen zum Zeichen(gebrauch), genauer in den Blick zu nehmen.
3.2 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit Virtuelle Realitäten, die am Arbeitsplatz z. B. dem Zweck der medizinischen Ausbildung dienen, bringen auf eine wieder andere Weise die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Realität auf, als dies für die Simulationen des Doms von Siena und rekonstruierter Synagogen gilt. Wann kann eine Kommunikation in virtuellen Realitäten als wirklich oder als real gelten? Oder kann sie mit keinem der beiden Wörter bezeichnet werden, muss ihr ein eigener Terminus zugewiesen werden? Zunächst soll auf die sozialwissenschaftlich begründete Einschätzung eingegangen werden, virtuelle Realitäten besäßen keine Wirklichkeit, sie seien vielmehr eine Sonderwirklichkeit.Řřř 3.2.1 Zur sozialwissenschaftlichen Ausgangsfrage: Sind virtuelle Realitäten Sonderwirklichkeiten? Wenn etwa in sozialwissenschaftlichem Zusammenhang angenommen wird, es gebe zum einen eine Realität, die das umfasst, was sozusagen an harter Objekthaftigkeit vorzufinden ist, dann wäre das Arthroskopietraining eine Tätigkeit, die auf eine Sonderwelt bezogen ist. Wirklich ernst würde es erst dann, wenn tatsächlich operiert werde. Doch für die Operateurin ist im Handlungsvollzug zwischen Training und Ernstfall kein Unterschied mehr auszumachen. Der im Trainingsfeld begangene Fehler hinterlässt bei der Operateurin oder dem ŘřŘ Ebenda. Řřř Vgl. für diese Position z. B. Werner Rammert, Virtuelle Realitäten als medial erzeugte
Sonderwirklichkeiten – Veränderungen der Kommunikation im Netz der Computer. In: Faßler (1999: 33–48).
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3 Medientheoretische Studien
Operateur seine Spuren, denn während des Trainings geht es ja gerade darum, sich in die Wirklichkeit der Operation hinein zu imaginieren. Bei aller Angleichung beider, der perfekten Simulation im Training und dem Ernstfall, wird eben dieser Unterschied unter den Operationen festgehalten. Die Trainingssituation scheint am ehesten als eine Sonderwirklichkeit zu bezeichnen zu sein. Sie doppelt die Realität zwar, aber in dieser Doppelung stellt sie doch einen eigenen Schutzraum zur Verfügung, in dem Operationsfehler begangen werden können, ohne dass Menschen Schaden nehmen. Als Sonderwelt kann auch die Welt des Glaubens betrachtet werden. So z. B. wenn man das himmlische Jerusalem (Apk 21) als perfekte Simulation einer irdischen Stadt versteht. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive wird in ihr eine Simulation irdischer Verhältnisse gesehen, die die Menschen von ihrem irdischen Unglück ablenkt und auf ein jenseitiges Glück zu vertrösten wisse. Auch eine Mystik, die Menschen vollständig in die Welt Gottes hinein zu imaginieren beabsichtigt, sodass ihnen ihre irdische, politische und soziale Existenz unbedeutsam erscheint, könnte man als Sonderwirklichkeit bezeichnen.ŘřŚ So verwundert es nicht, dass der Cyberspace selbst in diesem Duktus als eine Sonderwelt angesehen wird, die nach dem Bauplan des himmlischen Jerusalems gedeutet wird. Im Cyberspace, so heißt es dann, vollziehe sich eine Wiederentdeckung des Himmels. Der Himmel steht symbolisch für eine andere Wirklichkeit, für eine Sonderwirklichkeit, eine zweite Wirklichkeit, die eine Alternative zum irdischen Dasein bietet, indem sie Hoffnung auf ein transzendentes glückliches Leben vermittelt. Der Cyberspace trägt auf diese Weise etwas zur Rückkehr der Metaphysik bei. 3.2.2 Zur medienwissenschaftlichen Kritik am metaphysischen Anteil in der Deutung virtueller Realitäten Auf dem Hintergrund der Wahrnehmung virtueller Realitäten als Sonderwelten wird plausibel, warum in der gegenwärtigen medienwissenschaftlichen Diskussion z. B. von Sybille Krämer darauf insistiert wird, dass virtuelle Realitäten als populäre Metaphysik dekonstruiert werden müssten.Řřś Wie immer man sich in der Frage der Metaphysik entscheiden mag, ihr – zumindest für eine grobe Orientierung – nachzugehen, ist für ein Verständnis virtueller Realitäten unverzichtbar, denn von ihr aus entscheidet sich, welche kulturelle Bedeutung das Phänomen insgesamt erhält. ŘřŚ Vgl. dagegen Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. Hamburg (4. Aufl.) 1998. Řřś Vgl. Krämer (1998: 9–26).
3.2 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit
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Ein Einstieg in das metaphysische Bedeutungsfeld des Virtuellen ist über das lateinische Wort virtus möglich, das mit der Kraft nach übersetzt werden kann. Von hier aus wird zurückgeschlossen auf eine Wirkkraft, die Wirklichkeit oder Verwirklichungsprozesse anregt. Mit der Auslegung als Wirkkraft fordert man zugleich eine Verhältnisbestimmung von Ursache und Wirkung heraus.ŘřŜ Innerhalb der entsprechenden Diskussionen geht es dann auch um Fragen nach metaphysischen Weltbildern. Wenn Thomas von Aquin zum Beispiel den Begriff virtualiter zu Unterscheidungszwecken gebraucht, positioniert er ihn gegenüber von essentialiter, materialiter und actualiter. Er kennt auch den Begriff des virtuellen Enthaltenseins.Řřŝ In diesem Verständnis wird dem Virtuellen eine Sonderwirklichkeit zugesprochen, die es als eine sozusagen weichere Realität als die vorfindliche ausweist. In ihr scheint noch Raum für eine andere, bessere Welt, in der das, was in der Realität nicht verwirklicht, ermöglicht, realisiert werden konnte, nun zum Zuge kommt. Die virtuelle Realität übersteigt in dieser Auslegung sogar das, was essenziell angelegt ist und weitet sozusagen auch das Spektrum von Lebensmöglichkeiten hinter dem Essenziellen, der Beziehung von Essenz zu Existenz, aus. Eine solche metaphysische Vorstellungswelt kritisieren kulturkritische Deutungen virtueller Realität. Das mediale Phänomen befördere eine Derealisierung des Wirklichen. Die menschliche Wirklichkeitserfahrung werde durch sie nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Medien zunehmend an Eindringlichkeit, Gewichtigkeit und Verbindlichkeit verlieren.ŘřŞ Insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften werden die Folgen der Verbreitung von virtuellen Realitäten häufig in dieser Weise kritisch analysiert.Řřş Ralf Grötker entfaltet die kulturkritische Hypothese z. B. so, dass virtuelle Realitäten Grenzerfahrungen in der Wirklichkeit aufhöben bzw. deren Härte aufbrächen, sodass Wirklichkeit – wie sie in dem philosophischen Sinne des Widerstands zur Subjektivität aufgefasst wird – gar nicht mehr erfahren werde: „Für den modernen Subjektivismus ist Wirklichkeit der Gegenstand, die Welt, an deren Härte das menschliche Subjekt leidet, an deren Gegebenheit es die Schranke seines Tuns und Denkens findet. Sein Wille, die Welt in seine Welt, das Fremde in ein Eigenes zu verwandeln, läßt das Subjekt an sich selbst Welt und Fremdheit erfahren: in seiner Existenz erfährt es Wirklichkeit. Vor allem zeigen
ŘřŜ Vgl. H. Tetens, Ursache/Wirkung. Wissenschaftstheorie. In: Historisches Wörterbuch
der Philosophie. Bd. 11. Darmstadt 2001, 401–411. Řřŝ Vgl. Sven K. Knebel, Virtualität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.
11. Darmstadt 2001, 1062. ŘřŞ Ebenda. Aber auch Welsch, Wirklich. Bedeutungsvarianten – Modelle – Wirklichkeit
und Virtualität. In: Sybille Krämer (Hg.), Medien – Computer – Realität. Frankfurt a. M. 1998, 169–212. Řřş Vgl. Grötker (2001: 1066).
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3 Medientheoretische Studien
Elend und Tod, zeigt die fremd-vertraute Äußerlichkeit des Leibes, dass Wirklichkeit der Verfügung Widerstand leistet.“ŘŚŖ
Es wird wiederum deutlich, wie Befürchtungen gegenüber virtuellen Realitäten mit einem erkenntnistheoretischen Modell korrespondieren, das auf einem dual strukturierten Subjekt-Objekt-Schema aufbaut. Denn virtuelle Realitäten können nur dann die Wahrnehmung der Wirklichkeit schwächen, wenn die Objektwelt als Widerstand beschrieben wird, an dem Identität gebildet wird. Wird mit virtuellen Realitäten das Gegenüber zur Objektwelt aufgeweicht, droht seine Demontage, weil Fluchtwege und Umleitungen durch virtuelle Realitäten eröffnet werden, die der Ausdehnung des Subjektiven keine produktive Grenze mehr zu bieten vermögen. Die Sorge um die Verlässlichkeit von Wirklichkeit wird in diesem Sinne als Sorge um den Aufbau von Subjektivität verständlich. 3.2.3 Zur Beziehung von Wirklichkeit, Realität und Möglichkeit Eine Alternative zu der Sichtweise, dass virtuellen Realitäten nun im ontologischen Sinne Wirklichkeit zukommt bzw. dass diese ihnen nicht zukommt, findet sich dort, wo einerseits eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität vorgenommen wird und andererseits die Reflexion des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit einbezogen wird.ŘŚŗ Anhand der Positionen von Aristoteles, Kant, Nietzsche und anderen arbeitet der Philosoph Wolfgang Welsch unterschiedliche Auffassungen heraus. Aristoteles steht dabei für eine ontologische, Kant für eine formale Auffassung der Beziehung von Wirklichkeit und Möglichkeit. Bei Friedrich Nietzsche findet sich ein Modell, das Wirklichkeit als von ihm sogenannte Fiktionsverfestigung in Richtung eines Konstruktivismus verdeutlicht. Virtuelle Realitäten sind damit zunächst einmal als mögliche Welten qualifiziert. In der Vorstellungswelt von Aristoteles heißt dies, dass von einer virtuellen Realität als der Verwirklichung einer Möglichkeit gesprochen wird. Aristoteles hatte hierfür das Beispiel eines Handwerkers formuliert, der einen Erzklumpen vor sich hat und daraus eine Kugel fertigt. Der Erzklumpen müsse diese Möglichkeit zur Realisierung schon enthalten, sie gewissermaßen hergeben, anderenfalls misslinge der Verwirklichungsprozess. Wasser oder ŘŚŖ R. Wiehl, Wirklichkeit. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6, Tübingen
1962, 1735. ŘŚŗ Vgl. Wolfgang Welsch, Wirklich. Bedeutungsvarianten – Modelle – Wirklichkeit und
Virtualität. In: Sybille Krämer (Hg.), (1998:169–212, hier insbesondere 193 ff.; 192 f.; 196 f.).
3.2 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit
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Luft gäben dergleichen nicht her, Erzklumpen, Holzstücke oder Steinbrocken hingegen täten es. Der Handwerker realisiere nicht etwa freischwebend eine von ihm entworfene Idee, sondern er realisiere eine im Werkstück schon bereitliegende Möglichkeit. Wirklichkeit und Möglichkeit geraten in dieser Sichtweise beträchtlich nahe aneinander. Von nicht entfalteten Möglichkeiten zu sprechen, heiße in dem Sinne, sie als verwirklichbar, als mögliche Wirklichkeiten in den Blick zu nehmen. Die Imaginationskraft des Menschen stellt sich so als das Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit dar. Das Imaginative entwerfe die Möglichkeit auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung. Mit Aristoteles lässt sich also sagen, dass der Mensch aufgrund seiner Imaginationsfähigkeit einen Möglichkeitsraum inszenieren kann, der über das Vorfindliche hinausgeht und die sogenannte Realität in diesem Sinne für weitere, schönere, nahezu vollkommene Realisationen offen hält. Immanuel Kant hat zur Fragestellung des Verhältnisses von Wirklichem und Möglichem das berühmt gewordene Hundert-Taler-Argument vorgetragen, mit dem er zur Kritik des ontologischen Gottesbeweises beiträgt. Er fragt hier, ob hundert wirkliche Taler mehr als hundert mögliche seien. Seine Antwort ist ein Nein. Nach Kants formalem Zugang zu diesem Problem besteht zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen kein Unterschied. „Das darf auch gar nicht anders sein, der Begriffsgehalt muß vielmehr der gleiche sein, denn andernfalls würden wir, wenn wir die hundert Taler, die man uns als mögliche in Aussicht gestellt hat, dann wirklich erhalten, etwas anderes als hundert Taler erhalten müssen.“ŘŚŘ Allerdings bleibt bestehen: „Nur modal darf und muß ein Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit bestehen – und natürlich ein beträchtlicher Unterschied, und von diesem profitiert unser Vermögensstand, wenn wir die hundert Taler schließlich wirklich bekommen.“ŘŚř Für Kant sei festzuhalten, dass er einen terminologischen
ŘŚŘ Welsch (1998: 192). Markierung vom Autor. ŘŚř Ebenda. Markierung vom Autor. Mit Ingolf U. Dalferth lässt sich weiter präzisieren:
„Wirklichkeit ist ein Modalbegriff, der in traditioneller ontologischer Lesart eine bestimmte Weise des Seins von etwas anzeigt. Gäbe es nur eine Weise, in der etwas sein kann, würde sich der Begriff erübrigen: ‚x ist’ und ‚x ist wirklich’ hätten dann semantisch denselben Gehalt. Weil es aber verschiedene Weisen gibt, in denen etwas ist oder sein kann, ist der Wirklichkeitsbegriff durch Abgrenzung gegenüber den übrigen Modalbegriffen bestimmbar [...]. Traditionell wird das vollständige System der Modalbegriffe durch die drei Modi der Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit und ihre Negationen (Unmöglichkeit, Nichtwirklichkeit, Nichtnotwendigkeit bzw. Kontingenz) angegeben. Der Wirklichkeitsbegriff lässt sich demnach dadurch bestimmen, dass er gegen die Modi der Möglichkeit und der Notwendigkeit abgegrenzt wird.“ Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religions-
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3 Medientheoretische Studien
Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität mache, der gerade für die Diskussion um virtuelle Realitäten unverzichtbar sei. Kant fasse den Unterschied von Möglichkeit gegenüber Wirklichkeit zugleich als den von Realität gegenüber Wirklichkeit. Hierbei verstehe er unter Realität eben den Sach- oder Begriffsgehalt, der beim Möglichen wie beim Wirklichen derselbe ist. „Wirklichkeit hingegen bezeichnet das hinzukommende Gegebensein, die Position, die Existenz. Zweitens bedeutet dies, dass wir hier einen gleichsam nackten Wirklichkeitsbegriff vor uns haben: Wirklichkeit hat schlicht den Sinn von Existenz, Gegebensein, Position, Gesetztsein – wovon auch immer, ob von Gott, Talern oder PC-Dateien.“ŘŚŚ Mit Welschs Aufarbeitung der Kantschen philosophischen Position kann eine theologische Deutung virtueller Realitäten formuliert werden, die sich der Aufgabe der Dekonstruktion der Metaphysik stellt und doch für die Möglichkeit von metaphysisch Gegebenem offen bleiben kann. Diesen Blickpunkt befördert Friedrich Nietzsche. Er vertritt eine Position, die an die von Kant geschilderte anknüpft, aber noch einmal darauf aufmerksam macht, dass meine Wirklichkeit als eine menschliche Konstruktion zu betrachten ist, die auf dem Weg metaphorischer Tätigkeit hervorgebracht wird. Nietzsche nennt diese eine Fiktion. Der Philologe sieht dabei Wirklichkeit im Gewebe von Metaphern entstehen. „Warum aber halten wir diese Wirklichkeit gemeinhin für etwas von uns Unabhängiges? Weil wir unsere produktive Tätigkeit vergessen. ‚Eben durch diese Unbewusstheit’ – ‚dadurch, dass der Mensch sich [...] als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst’ – gelangen wir ‚zum Gefühl der Wahrheit’ und einer von uns unabhängigen Wirklichkeit.“ŘŚś Zwischen Fiktion und Wirklichkeit bestehe so gesehen kein kategorialer oder ontologischer, sondern nur ein Vergessens-Unterschied. „Wirklichkeit ist ein Fiktionssediment, bei dem wir uns – infolge eines sozial-pragmatischen Erfolges – nicht mehr bewußt sind, das es eines ist.“ŘŚŜ Auch hierin liegt eine Variante, den medienwissenschaftlichen Grundsatz auszulegen, dass Medien sich selbst unsichtbar machen. Im Kantschen formalen Zugang zur Erschließung des Phänomens virtueller Realitäten liegt der Vorzug, dass die Metaphysikhaltigkeit, die das Phänomen virtueller Realitäten mit sich führt, kritisiert und aufgebrochen wird. Während eine metaphysische Position auch gerade innerhalb der Theologie philosophie. Tübingen 2003, 134. Diese Ergänzung ist auch weiter unten eingetragen als Erläuterung zu Kierkegaards Bestimmung von Wirklichkeit und Möglichkeit. ŘŚŚ Welsch (1998: 193). Hervorhebungen vom Autor. ŘŚś Welsch (1998: 196 f.). ŘŚŜ Welsch (1997: 197).
3.2 Zur Simulation II: Über die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit
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die Haltung einer Behauptung und Verteidigung Gottes befördern könnte, die einer offenen Kommunikation des Evangeliums nicht entsprechen würdeŘŚŝ, ist die formale Position Kants dazu geeignet, die Anwesenheit Gottes in der Wirklichkeit nahezu rückhaltlosŘŚŞ thematisieren zu müssen und die Wahrnehmung der Wirklichkeit dennoch nicht ohne eine in ihr enthaltene Virtualisierungsfähigkeit des Menschen vorzustellen. Sie kann im Rahmen dieser Untersuchung innerhalb des religionsphilosophischen Systems nicht weiter ausgeführt werden. Anvisiert ist aber ein Anschluss an eine empirisch orientierte und prinzipiell fehlbare Metaphysik.ŘŚş Mit Kant kann die Virtualisierungsfähigkeit selbst noch genauer beschrieben werden. Sie liegt im Empfinden des Menschen, das allerdings nicht von der Erkenntnis abgekoppelt ist, sondern in einem engen Verhältnis zu ihr steht. Als erste Annäherung lässt sich sagen: „Sonach heißt real möglich, was mit den formalen Bedingungen unserer Erkenntnis (Raum und Zeit, Ursache und Wirkung usw.) übereinstimmt, und wirklich heißt, was unter den materialen Bedingungen unserer Erfahrung in Zusammenhängen der Empfindung gegeben ist.“ŘśŖ Die Empfindung, also z. B. die Rezeption von Sinnesdaten wie warm oder kalt, gibt in dieser Auslegung Existenzgewissheit überhaupt. „Wahrnehmung, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit (Kant A 218 ff./B 266 ff.).“Řśŗ Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung ist nach Kant demnach gar nicht hoch genug zu schätzen. Allerdings sollte man zurückhaltend sein, was ihre unmittelbare Belastbarkeit hinsichtlich der Wahrheitsfrage anbelangt. Denn: „Sein im Sinne von Wirklichkeit ist kein reales Prädikat, sondern Position des Verhältnisses eines Gegenstandes der Sinnenwelt zum endlich-menschlichen Erkenntnisvermögen (Kant A 598/B626). Das hat kritische Konsequenzen für die Erkenntnis der
ŘŚŝ Vgl. Teil 2.5. ŘŚŞ Es ist hier von „nahezu rückhaltlos“ zu sprechen, weil Kant selbst keine absolute
Metaphysik-Kritik durchführte. Diese Position hat nach der Kritik an der Aufklärung einen großen Vorteil: Sie kann metaphysische Vorstellungen in ihre Gedankenwelt integrieren, ohne dass sie zu festen Voraussetzungen werden; vgl. dazu auch weiter unten die Position von Deuser, die er mit der Philosophie von Charles Sanders Peirce rekonstruiert. ŘŚş Vgl. z. B. Hermann Deuser, Charles Sanders Peirce. II. Religionsphilosophisch und theologisch. In: TRE, Bd. 26. Berlin/New York 1996, 173 f. ŘśŖ Wolfgang Janke, Wirklichkeit I. philosophisch. In: TRE, Bd. 19, Berlin/New York 2004, 117. Řśŗ Ebenda.
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Wirklichkeit Gottes wie der reiner Vernunftwesen (Noumena) und für den Inbegriff der intelligiblen Welt überhaupt.“ŘśŘ Weil die Modalkategorie der Wirklichkeit nur in der Sinnenwelt Anwendung findet, ist es unmöglich, die Wirklichkeit Gottes aus reiner theoretischer Vernunft zu beweisen oder zu widerlegen. Von diesem Riss in der Metaphysik geprägt, bedeutet „Existenz jetzt nicht mehr allgemein Herausgetretensein der Dinge aus ihren Ursachen (esse rei extra causas), sondern ausschließlich das Selbstverhältnis und Selbstwerden des menschlichen Geistes zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit (Kierkegaard).“Řśř Mit dieser nun an Sören Kierkegaard und dessen Kant-Rezeption anschließenden Position wird die Existenzvergessenheit einer abstrakten Ideen-Metaphysik weiter aufgebrochen. Kierkegaard setzt „den Glaubensentschluß in sein Recht [...]: als Sinn für das Werden, das ist für die Veränderung der Wirklichkeit aus Freiheit, und als Zugang zum epochal Geschichtlichen, das ist zum Menschgewordensein Gottes. Der einzig wahre Charakter existenzialer Wirklichkeit ist Glauben.“ŘśŚ Die Frage nach der Bedeutung virtueller Realitäten, ihr Charakter als mögliche Wirklichkeit und ihr eigener Wirklichkeitsstatus zeigen auf dem Gebiet der Theologie zunehmend ihre Relevanz für die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt. 3.2.4 Zur theologischen Sicht auf die Wirklichkeit des Möglichen und ihre sinnlichen Dimension Sören Kierkegaard (1813 – 1855) beschrieb das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit mit folgendem Satz: „Gud – er det Muliges Virkelighed“Řśś – Gott ist die Wirklichkeit des Möglichen. Den oben skizzierten Modellen zu Aristoteles, Kant und Nietzsche lässt sich Kierkegaards Wirklichkeitsverständnis nicht einfach zuordnen. Immer wieder ist in der Rezeption seines Werkes darüber gestritten worden, inwieweit seine Schriften am deutschen Idealismus partizipieren. Häufig wird betont, dass er bereits seine ersten Arbeiten in deutlicher Abgrenzung von einer Vermittlungstheorie, wie sie bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel vorliegt, verfasste, doch es werden auch
ŘśŘ Řśř ŘśŚ Řśś
Ebenda. Janke (2004: 118). Ebenda. Vgl. Kierkegaard (SKS) (2000: p. 41, 21).
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wieder Verbindungen zu ihm gezogen.ŘśŜ Eine weiterreichende Auseinandersetzung kann hier nicht geführt werden. Die Auswahl seines Beitrags zum Thema hat ihren Grund vor allem darin, dass das Wirklichkeitsverständnis weder ontologisch noch konstruktivistisch angelegt ist, dass Kierkegaard mit anderen Worten an der Interpretation der einen Wirklichkeit arbeitet und dabei doch dieser Wirklichkeit ihre Verbindung zu Möglichkeitsräumen einschreibt. „Kierkegaard wäre nämlich gern ein Mäeutiker gewesen, der seinen Leser in das wahre Christentum hineinbetrügt und hineintäuscht.“Řśŝ Die im Deutschen sehr negativ klingenden Worte hineinbetrügen und hineintäuschen führen aber m. E. nun gerade an den Kern dessen, warum in der theologischen Deutung von virtuellen Realitäten auf Kierkegaard kaum verzichtet werden kann. Er arbeitet mit dem Blick darauf, was möglich ist, um herauszubekommen, wie etwas anders sein könnte. Kierkegaard nimmt unterdessen eine christliche Qualifizierung der einen Wirklichkeit vor. Er bestimmt die Wirklichkeit des Möglichen aus der Zuwendung Gottes zu den Menschen. Die Inkarnation Jesu Christi ist für ihn das tragende Geschehen. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit mit Jesus, dem Christus, im Glauben ist es letztlich, die Kierkegaard von Wirklichkeit sprechen lässt. Wenn im Folgenden also von der Wirklichkeit des Möglichen gesprochen wird, wird zugleich mit hineingelesen, dass Kierkegaard „die Grundbewegtheit des Lebens zwischen den Möglichkeiten des Lebensentwurfs und der Angst, das Lebensganze zu verfehlen“, glaubte „nur angemessen im Rekurs auf ein Urbild beschreiben zu können, das dieser Grundbewegung gerecht wurde: den Christus der Tradition“ŘśŞ. Als philosophischer Theologe fragt Kierkegaard für diese Grundbewegtheit, in der das Anders-sein-Können liegt, nach dem Werden. In ihm ist das Inkommensurable, das Unmäßige im Kontingenten von hoher Bedeutung.Řśş So beginnt Kierkegaard den ersten Paragrafen seiner Schrift „Philosophische Brocken“ folgendermaßen: „Wie verändert sich das, was wird; oder worin
ŘśŜ Vgl. Henning Schröer, Kierkegaard. In: TRE, Bd. 18. Berlin/New York 1989, 145,
und Konrad Paul Liessmann, Sören Kierkegaard zur Einführung. Hamburg, 3. Aufl. 2002, 86 (1. Aufl. 1993). Řśŝ Liessmann (2002: 9 f). ŘśŞ Vgl. Klaas Huizing, Der dramatisierte Mensch. Stuttgart 2004, 25. Huizings Bezug auf das Urbild kann an diesem Ort leider nicht ausreichend kritisch reflektiert werden. Řśş Der Eintrag des Kontingenten in das Verhältnis von Möglichem und Wirklichem bereichert die theologische Diskussion zu virtuellen Realitäten, denn erst über das Kontingente wird deutlich, dass theologische Deutung von virtuellen Realitäten nicht einfach in einen fortschrittsoptimistischen Zusammenhang gebracht werden kann.
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besteht die Veränderung des Werdens [...].“ŘŜŖ Die Verhältnisbestimmung von Möglichkeit und Wirklichkeit liegt demnach im Werden. Für Kierkegaard steht die menschliche Handlungsfreiheit nicht mit Gottes Vorsehung in Konflikt, sie ist es vielmehr, die analog zu sich aus dem logisch Möglichen Wirkliches werden lässt. „Was möglich war, wird wirklich, hätte aber nicht wirklich werden müssen. Das Anders-sein-können führt folglich in das Problem des Überganges – und damit zu Kierkegaards modallogischer Formulierung von Kontingenz: Aber ein solches Sein, das doch Nicht-Sein ist, das ist ja die Möglichkeit; und ein Sein, das Sein ist, das ist ja das wirkliche Sein oder die Wirklichkeit; und die Veränderung des Werdens ist der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. [...] Alles, was da wird, beweist gerade durch sein Werden, daß es nicht notwendig ist; denn das Einzige, das nicht werden kann, ist das Notwendige, denn das Notwendige ist.“ŘŜŗ Das Besondere am wirklichen Dasein sei demnach seine Inkommensurabilität, das Nicht-greifbar-sein des Werdens. Ohne die Probleme, die die Kierkegaard-Forschung hier zum Thema der Zeitlichkeit zu diskutieren hat und auch ohne den philosophischen Hintergrund Kierkegaards näher beleuchten zu können, zeigt sich in diesen kurzen Stücken bereits die Aktualität für die Diskussion um die Einschätzung von virtuellen Realitäten. Dort, wo es zu Verwirklichungen des Möglichen kommt, kann Kierkegaard von Gott sprechen. Virtuelle Realitäten lassen Erfahrungen mit Gott zu, in denen Gott aus dem Möglichen in das Wirkliche heraustritt. Sie bieten eine Struktur, in der ein Werden oder Veränderungen der eigenen Wahrnehmung zugänglich werden. Gottes Gegenwart kann werdend erfahren werden. Doch dass Gott die Wirklichkeit des Möglichen ist, wäre kein Satz von Kierkegaard, wenn es nicht zugleich eine unüberwindliche Distanz zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen gäbe. Es ist nicht seine Vorstellung, dass, wenn man nur lange genug an der Möglichkeit arbeitete und ihr Profil herausschnitzte, sich ihre Realisation ergäbe, weil eben alles in ihr angelegt ist und auf ihre Realisation wartete. Sie steht nicht in einem Kontinuum, in einem kontinuierlichen Anwachsen an Göttlichem in einem Menschen und in Gottes Schöpfung. Mit Kierkegaard bleibt die Präsenz Gottes auf ein paradoxes Geschehen bezogen. Es gibt keine vorzufindende Wirklichkeit, die von Gott durch und durch durchdrungen wäre, sodass Gott alles
ŘŜŖ Kierkegaard (SKS [(4,273: 16 ff.]), zitiert nach Hermann Deuser, Die Inkommen-
surabilität des Kontingenten. Zwei Reden Kierkegaards: Über Besorgnis und Ewigkeit. In: Nils Jörgen Cappelhörn/ders. (Hgg.), Kierkegaard Studies. Yearbook 2000. Berlin/New York 2000, 165–176, hier: 165 f. ŘŜŗ Deuser (2000: 166).
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in allem wäre. Vielmehr steht die Wirklichkeit Gottes im Horizont des Möglichen zur Debatte. Sie ist abhängig von ihrem Werden. Damit hat die Frage nach der Kontingenz eine Perspektive aus der Modallogik heraus erhalten: „Erst jetzt ist die Frage nach dem Kontingenten auf eine entscheidend neue Ebene geführt, nämlich die, Kontingenz auf sich selbst anwenden zu müssen; anders gesagt: in die Alternative von Gewissheit/Ungewissheit, Vertrauen/Misstrauen, Glaube/Zweifel gestoßen zu werden. Zur Diskussion steht dann nicht nur die ontische Kontingenz, ob dieses oder jenes als kontingent einzustufen sei, sondern die ontologische Kontingenz des Werdens in der Leidenschaft des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen; und diese wiederum ist noch grundsätzlicher Thema der metaphysischen Kontingenz in der Selbstanwendung des Zufälligen auf das faktische Dasein meiner selbst.“ŘŜŘ Es erschließt sich nun präziser, warum Kierkegaard dort, wo Mögliches wirklich wird, von Gott zu sprechen vermag. Gottes Anwesenheit in einem Menschen, Gottes Wirklichkeit in der Möglichkeit alternativer Existenzweisen lässt sich nicht in einem kontrollierbaren Lebensprozess als Kontinuum herstellen; als Wirklichkeit bleibt sie in der Welt des Möglichen kontingent. Deshalb gehört zu ihrer Charakterisierung, dass Kierkegaard sie als Bewusstsein von Glück, Erschrecken oder Hoffnung beschreibt. Die Wirklichkeit des Möglichen wahrzunehmen, Glück, Erschrecken und Hoffnung wahrzunehmen, baut auf einem Sensorium auf, dass Menschen dazu führt, sich einzugestehen, auf ein Verhältnis zu Gott angewiesen zu sein und es zugleich keinen Anspruch des Menschen darauf gibt, dass Gott eine Beziehung zum Menschen eingeht.ŘŜř Die Frage nach der Gegenwart Gottes erschließt sich im Horizont des Kontingenten. Virtuelle Realitäten sind prinzipiell dazu geeignet, eine Erfahrung der Gegenwart Gottes zu ermöglichen. Mit dieser These schließe ich weiter an Kierkegaards Ansatz an, von der Wirklichkeit des Möglichen als von Gott zu sprechen. In seiner Schrift „Philosophische Brocken oder ein Bröckchen Philosophie“ (1844)ŘŜŚ stellt er sich den Fragen nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen, von historischen Ereignissen und der Wahrheit der Offenbarung, von Vernunft und Religion. Seinem Selbstverständnis nach will er sich selbst nicht einen Christen nennen. „Er nennt sein Vorhaben, den sich in ‚Knechtes Gestalt‘ offenbarenden Gott als Möglichkeit zu denken, einen dichterischen Versuch. Damit ist der sich Offenbarende als eine poetische Hypothese eingeführt, die selbst weder einen Glauben voraussetzt noch Resultat ŘŜŘ Deuser (2000: 168). ŘŜř Vgl. Deuser (2000: 190). ŘŜŚ Vgl. Liessmann (1993: 99).
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einer logischen Deduktion ist. Wenn man so will: Climacus führt die Offenbarung als eine heuristische Fiktion ein und stellt sich dann die Frage: „Wenn diese Fiktion Realität wäre, wie verhielte sie sich zum menschlichen Wissen, zu Vernunft und Geschichte?“ŘŜś Die Offenbarung Gottes als eine heuristische Fiktion einzuführen, bleibt kaum ohne Konsequenzen. Das sich Einlassen auf diese Konstruktion hat vielmehr große Folgen für die Bestimmung dessen, wie Wahrnehmung gestaltet wird, in welchem Verhältnis Wissen, Vernunft und Geschichte zu ihr stehen. Die Annahme der Wirklichkeit in der Möglichkeit, anders ausgedrückt: die Annahme der Wirklichkeit einer virtuellen Realität führt hinein in den Prozess des Werdens, in den Übergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Für Kierkegaard ist dieser Prozess keineswegs leicht und unterhaltsam. Er schildert ihn vielmehr als schwierig und schmerzlich. Der Grund hierfür ist, dass eine entfachte, erregte Freiheit sich nicht als freie Entscheidung durchsetzen muss, denn zwischen dem, was möglich, und dem, was wirklich wird, liegt Angst. Sie wird dadurch ausgelöst, dass Möglichkeiten ein Können in den Horizont stellen und dieses Können zur Verwirklichung strebt: „Die Möglichkeit ist das Können. In einem logischen System ist es recht bequem zu sagen, daß die Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeht. In der Wirklichkeit ist dies nicht so sehr leicht, und es bedarf einer Zwischenbestimmung. Diese Zwischenbestimmung ist die Angst, welche den qualitativen Sprung ebenso wenig erklärt wie sie ihn ethisch rechtfertigt, ist gefesselte Freiheit.“ŘŜŜ Der Umgang mit Angst ist für Kierkegaard ein Drehpunkt, an dem sich das Werden der Wirklichkeit in der Möglichkeit entscheidet. Die Angst sei weder eine Bestimmung der Notwendigkeit, so Kierkegaard weiter, noch sei sie bereits eine der Freiheit. Er nennt die Angst vielmehr gefesselte Freiheit. Die Freiheit sei selbst nicht frei, sondern gefesselt. Sie sei ihrerseits nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst gefesselt. Kierkegaard lotet aus, welche Zumutung es ist, sich im Prozess des Werdens vorzufinden, sich in dem Prozess zu befinden, in dem Möglichkeiten verwirklicht werden. Noch einmal wird deutlich, was es heißt, von der Kontingenz des Inkommensurablen zu sprechen. Die Rede von dem ‚qualitativen Sprung‘ hat hier ihren Ort. Er hält es letztlich für nicht fassbar, wie aus Möglichem Wirkliches wird. Sein Werden sei nicht greifbar. Diese existenzialistische Signatur gibt der Theologie zu erkennen, dass der Glaube der Gestaltung von Freiheit verpflichtet ist.ŘŜŝ
In der schmerzhaften Situation, die sich einstellt, wenn Menschen sich nicht für eine Option entscheiden können und so zwischen verschiedenen eröffneŘŜś Liessmann (1993: 101 f.). ŘŜŜ SKS (4,354: 48). ŘŜŝ Vgl. Teil 1.3.
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ten Möglichkeitsräumen balancieren müssen, liegt ein Großteil der Ambivalenzen im Umgang mit virtuellen Realitäten begründet. Entwicklungen stagnieren, und insofern kommt der Gebrauch virtueller Realitäten nicht über den Status gefesselter Freiheit hinaus; andauernde Wiederholungen ohne nennenswerte Veränderungsprozesse können dann auch von virtuellen Realitäten abhängig machen. Diese Sucht verstärkt das Gefühl, vor einem Leben, das sich in Entscheidungen konkretisiert, Angst zu haben.ŘŜŞ Sinnlich wahrnehmbar wird dieser Zustand in der Empfindung als Schwindel. „Der, dessen Auge es widerfährt in eine gähnende Tiefe niederzuschauen, er wird schwindlig. Aber was ist der Grund? Es ist ebensosehr sein Auge wie der Abgrund [...]. Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigne Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen.“ŘŜş Die Freiheit, die Möglichkeiten erregt, geht unter im Schwindel. Der Schwindel ist ein Phänomen, mit dem Veränderungen abgewehrt werden. Es gibt eine kulturwissenschaftliche Beschreibung des Schwindels, die genau dieses psychologische Phänomen aufgreift. Sie bietet eine Gelegenheit, die großen philosophischen Begriffe Angst und gefesselte Freiheit zumindest in Ansätzen aus ihren Empfindungen heraus zu verstehen und eben darin ein Beispiel dafür zu finden, was wirklich wirklich ist. Christina von Braun hat einen Versuch über den SchwindelŘŝŖ vorgelegt. Sie setzt mit einem Blick auf die Etymologie des Wortes ein. Der Schwindel wird abgeleitet vom mittelhochdeutschen Wort swinden, was so viel heiße wie abnehmen, vergehen, abmagern, bewusstlos werden. Die Sinne, der Körper und das Bewusstsein drohen zu schwinden. Eine zweite Bedeutung macht von Braun im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung des Geldes ausfindig. Die Rede vom Schwindler kommt auf. Der Begriff des Schwindels im Sinne des Betrugs wird parallel zur Durchsetzung des Papiergeldes populär. Der Wert einer Sache wird in ein Zeichen verlagert. Diese Entwicklung reicht bis zum Jahr 1971, in dem in Bretton Woods die bis heute gültige Ablösung der Währung vom Gold beschlossen wurde, sodass sich Geld nun gänzlich von einem Bezug auf Naturalien emanzipiert hat.
ŘŜŞ Kierkegaard hat die Wiederholung als eine Form der Vergegenwärtigung ausgelegt.
Vgl. Huizing, Festschrift für Timm und Huizing (2004: 31–33). Vgl. aber auch zur psychologischen Deutung dieses Vorgangs Yorick Spiegel, Erinnern Wiederholen Durcharbeiten. Stuttgart 1972. ŘŜş SKS (4,365: 60 f.). ŘŝŖ Vgl. Christina von Braun, Versuch über den Schwindel. Zürich 2001.
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In beiden Deutungen des Schwindels, in der des Krankheitsbildes wie der der Täuschung, kann von Braun als gemeinsamen Nenner die Beschäftigung mit der sinnlichen Wahrnehmung ausmachen. So resümiert sie, dass das Symptom des Schwindels sehr oft auf Irritationen des Sehvermögens zurückgeführt wurde. Andererseits spiegelten sich im Umgang mit der Fähigkeit des Sehens und der kulturanthropologischen Deutung des Blicks immer schon auch Fragen der kollektiven Wahrnehmung von Wirklichkeit. Dies habe nicht nur für die Entwicklung des Papiergeldes gegolten; von Braun verweist auch auf den Bilderstreit des frühen Mittelalters und die Auseinandersetzungen um die Transsubstantiationslehre im 13. Jahrhundert, bei der es bekanntlich um die Frage ging, ob Hostie und Wein ‚nur ein Symbol‘ seien oder ‚den realen Leib‘ und ‚das wirkliche Blut‘ Jesu Christi darstellten. Interessanterweise hat von Braun auch auf Sören Kierkegaards Auslegung des Schwindels Bezug genommen. Sie sieht einen aktiven und einen passiven Schwindel ineinander verwoben. Bei Kierkegaard liest sie den Schwindel als Resonanz auf ein Vakuum, das der Tod Gottes hinterlassen hat. Dieser Tod sei aber wiederum durch die Logik selbst herbeigeführt worden, etwa durch die von Leibniz angenommene Gewissheit, auf der eine Beweiskette beruhen muss. „So konvergiert die Geschichte des Logos mit der Geschichte des Schwindels – wenn sie nicht überhaupt gleichursprünglich sind.“Řŝŗ Dem Denker, dem etwa die Gewissheit von der Existenz Gottes als Schwindel diagnostiziert wird, schwindele es vor der Macht des eigenen Denkens. Deutlicher könne die Annäherung der passiven und der aktiven Form des Schwindels kaum hervortreten. „Dem trägt Kierkegaard auch Rechnung, wenn er – einen Ausweg aus dem unendlichen Schwindel suchend – zur Besonnenheit mahnt, damit man sich nicht, von der Langeweile dämonisch besessen, indem man ihr entfliehen will, gerade in sie hineinarbeitet.“ŘŝŘ Nun könnte bei Friedrich Nietzsche noch gefunden werden, wie Menschen resistent werden gegen jeden Schwindel, wo es ihnen doch in Anbetracht ihrer Fantasien, die sie realiter im Alltag leben, längst hätte schwindeln müssen. Doch im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit und seiner Bedeutung für die Erschließung virtueller Realitäten mögen diese Notizen zum Schwindel genügen. Sie sollten in zwei Richtungen sensibilisieren: Zum einen ging es darum, im diskutierten Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit die religiöse Frage nach Gott auszumachen, und zum zweiten ging es darum, die Frage nach Gott sinnlich wahrnehmbar zu beschreiben. Die Ästhetik des Schwindels richtet den Blick auf ein Gefühl, das hoch immersiv wirkt, in dem klare Konturen dessen, was gilt und was nicht gilt, aufgelöst werden. Die Wahrnehmung der Realität und dessen, was bislang gewiss erschien, löst sich auf, bis Řŝŗ von Braun (2001: 18). ŘŝŘ von Braun (2001: 19).
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hin zur Fantasie der völligen Auflösung eines Selbst im Tod, im Schwinden des Körpers. Schwindel wird als ein Immersionseffekt deutbar, in dem eine Möglichkeit Wirklichkeit zu werden sich anberaumt, gegen die eine Abwehr besteht.
Auf dieser Grenze von Möglichkeit und Wirklichkeit liegen Experimente mit der Wirklichkeit in der Möglichkeit. Wo man ihnen souveräner als im Schwindel begegnen kann, wird der Homo ludens aktiv. Im Spiel werden traditionell Lebensmöglichkeiten getestet und damit virtuelle Perspektiven entwickelt. Bleiben sie, wie bereits oben gesagt, im Status einer steten Wiederholung, der kein Werden eigen ist, bleibt Freiheit in sich gefesselt, denn es werden keine Transformationsprozesse freigesetzt. Die relativ intensive Beschäftigung mit dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit und ihrem Verhältnis zu virtuellen Realitäten hat ihren Sinn innerhalb dieser Untersuchung auch auf dem Hintergrund der deutschsprachigen Theologie nach den beiden Weltkriegen. Sie hat gerade aus der Erfahrung mit fortschrittsoptimistischen und dazu auch Gott und Welt nicht paradox, sondern vermittelnden Theologien die Gegenwart Gottes als wirklich gesetzt und die vorfindliche Realität als Traumwelt bezeichnet. Die eingeübte Wahrnehmung wurde also umgekehrt und zugleich zweigeteilt. Auch Hans-Joachim Iwands Position, der bereits Brechungen in das dialektische Wahrnehmungsmuster einzieht, spricht in diesem Sinne für eine doppelte Wirklichkeit: „Die eigentliche Wirklichkeit ist die in Jesus Christus; die andere Wirklichkeit ist allenfalls Traumwelt. Die eigentliche Wirklichkeit wird nur von denen betreten, die glauben – indem sie z. B. aus der Vergebung leben. Wer aus ihr lebt, [...] der lebt aus der Wirklichkeit. Wer es nicht tut, gerät in die NichtWirklichkeit, in die gnadenlose Welt seiner eigenen Pläne und Ideen.“Řŝř Dieser Zugang zur Gegenwart Gottes diente dazu, Gott aus der Legitimation von kriegerischen Verbrechen oder aus Vereinnahmungen für kulturelle Entwicklungen herauszuhalten. Seine Schattenseiten zeigen sich zum Teil noch heute in dem schwierigen Umgang protestantischer Theologie mit der Wirklichkeit des Glaubens. Diese Position ist allerdings seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auch wirkungsvoll kritisiert und korrigiert worden. Ernst Lange und Manfred Metzger haben Entwürfe vorgelegt, die für den Situationsbezug in praktisch-theologischer Forschung eintreten.ŘŝŚ Es dürfe nicht weiter von der vorfindlichen Situation der Menschen abgelenkt werden, indem man ihnen mit metaphysischen Vertröstungsstrategien Glauben plausibel mache. Manfred Metzger formulierte, mit der Menschwerdung Jesu Christi sei es uns Řŝř Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik. Tübingen und Basel 2002, 366 f. ŘŝŚ Vgl. Teil 2, 5.
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verboten, Gott und Mensch, Göttliches und Weltliches, Heiliges und Profanes, Übernatürliches und Natürliches, Christliches und Unchristliches in zwei Räume zu trennen.Řŝś In diese bis in die Gegenwart hinein anhaltende Bemühung um eine Wahrnehmung der einen WirklichkeitŘŝŜ, die im Glauben keine zweite Wirklichkeit aufmacht, kommt die Beschäftigung mit virtuellen Realitäten nun in gewisser Weise wie ein Katalysator für Diskussionen um die Gegenwart Gottes in die Praktische Theologie hinein. Sie hat dabei die Aufgabe, den Avancen, die kulturwissenschaftliche Deutungen von virtuellen Realitäten der Theologie und einer Form von Medienreligion machen, kritisch gegenüberzustehen. Denn es ist m. E. Roman RoesslerŘŝŝ immer noch zuzustimmen, wenn er formuliert, dass der Kollaps der Metaphysik noch gar nicht verdaut worden sei. Die theologische Kritik an der Metaphysik ist noch nicht soweit in die persönliche Frömmigkeit eingegangen, dass man sie bereits wieder verabschieden könnte. Roessler argumentiert mit Zahrnt: „Der metaphysische Himmel ist eingestürzt [...] Die bis dahin geglaubte jenseitig-übersinnliche Welt, die wie das Licht der Sonne über der Erde stand und ihr den Horizont setzte, ist in einem unaufhaltsamen Schwund unwirklich und unwirksam geworden und spendet kein Leben mehr [...]. Fortan gibt es nicht mehr zwei geteilte, gegensätzliche Welten – eine jenseitig-übernatürliche oben und eine diesseitig-natürliche unten –, sondern nur noch die eine ungeteilte Welt, in der wir leben.“ŘŝŞ Auch aus dieser Perspektive wird deutlich, dass in der Beschäftigung mit virtuellen Realitäten eine Chance liegt, sich dem anzunähern, „daß die Wirklichkeit immer schon [...] eine Konstruktion war“Řŝş. Es scheint nicht anders möglich, als mit Konstruktionen von Weltbildern zu leben. Ihr Entwurf ist dem Menschen aufgegeben. Erst, wo man sich dieser Aufgabe stellt, wird man herausfinden, was wirklich wirklich ist.
Řŝś Vgl. Manfred Metzger, Die eine Wirklichkeit. Vorspiel zur Freude an der Predigt. In:
ŘŝŜ
Řŝŝ
ŘŝŞ Řŝş
Dietrich Rössler u.a. (Hgg.), Fides et Communicatio. Festschrift für Martin Doerne, Göttingen 1970, 218. Vgl. Engemann auch (2001: 372 ff.). Vgl. Hans-Günter Heimbrock, Welches Interesse hat die Theologie an der Wirklichkeit. In: Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Stuttgart 1998, 11–36. Vgl. Roman Roessler, Theologie im Spiegel heutiger Predigtpraxis. In: Wilfried Engemann (Hg), Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen. Leipzig, 2001, 61–67. Heinz Zahrnt, Glauben unter leerem Himmel: Ein Lebensbuch. München/Zürich 2000, 31 f. Ralf Grötker, Virtuelle Realität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, Darmstadt 2001, 1066.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation In ihrer Studie zur Sozialpsychologie des InternetŘŞŖ widmet sich Nicola Döring unter anderem auch der Frage, ob im Gebrauch virtueller Realitäten Fluchtbewegungen aus der Offline-Realität zu sehen seien. „Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass die meisten Menschen im Netz an Maskerade und Anonymität […] interessiert sind und künstliche Identitäten […] annehmen, sich also wechselseitig täuschen anstatt einander authentisch zu begegnen. Diese Vorstellung ist aber wenig plausibel.“ŘŞŗ Sie ist wenig plausibel, weil ganz oben in der Nutzungsintensität der einzelnen Netzdienste E-Mail steht, gefolgt von Mailinglisten, Newsgroups und Newsboards; das Chatten, Mudden und Gamen dagegen ist nur bei einer eher jüngeren Minderheit beliebt. Weder im E-Mail-Austausch, noch in thematischen Online-Foren oder auf persönlichen Homepages sind Anonymität oder Pseudonymität gängig. Im Gegenteil sind oft Name, Adresse, Beruf usw. in der Signatur angegeben oder den Netzbeiträgen zu entnehmen. Nur selten werden sie absichtlich verheimlicht. Wenn erfundene Namen verwendet werden, erweitern sie häufig die Selbstdarstellung und nicht die Tarnung im Netz. Originelle E-Mail-Adressen oder Homepages sind eine Möglichkeit, sich selbst zu inszenieren, und werden, insbesondere in der beruflichen Kommunikation, mit dem tatsächlichen bürgerlichen Namen und weiteren Identifizierungsmerkmalen sowie Links zu Geschäftspartnern etc. verbunden. Wenn nun aber Pseudonyme im Netz gebraucht werden, kann dieser Gebrauch auch einem bestimmten, psychologisch wichtigen Zweck entsprechen: „Falls auf Pseudonymität zurückgegriffen wird [...], dann dient sie (genau wie außerhalb des Netzes, z. B. Anonyme Alkoholiker) vielfach dazu, authentischen Selbstausdruck in riskanten Fragen zu ermöglichen und ist nicht dazu gedacht, andere Menschen zu täuschen oder eine fiktive Rolle zu spielen.“ŘŞŘ Bei aller Relativierung von dramatischen Täuschungsvorstellungen im Netz, die auf dem Feld der Diskussion über anonyme Kommunikationen durchaus notwendig sind, ist aber auch eine Haltung zu kritisieren, die den Umgang mit Fantasie, Fiktion und Spiel in medialen Umgebungen durchgängig als Fluchtbewegung bezeichnet. Wo für die Stärkung des Realitätssinns votiert wird und dabei zugleich eine Festschreibung auf das vorgeblich Realistische gewünscht wird, wird das menschliche Bedürfnis und Vermögen, sich ŘŞŖ Vgl. Nicola Döring, Sozialpsychologie des Internet. Göttingen 2003 (2. Aufl.). ŘŞŗ Döring (2003: 398). ŘŞŘ Ebenda.
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selbst und die eigenen Verhältnisse zu transzendieren, unterbewertet. Trotz aller nur zu unterstützenden Vorsicht vor einer Überbewertung dessen, was an persönlichkeitsbildenden Experimenten im Cyberspace möglich ist, sind Netzkommunikationen eine Weise, wie Menschen mit dem, wie sie sich selbst verstehen und wo sie über ihre bisherigen Selbstverständnisse hinauswollen, experimentieren können: „Wenn Netzkommunikationen trotzdem für die Mehrzahl der Beteiligten identitätsrelevant sind, dann deshalb, weil wir im Netz mit neuen Präsentationsmitteln und Publika, mit ungewohntem Feedback und spezifischen Irritationen konfrontiert werden, die Anlass bieten, herkömmliche Umgangsformen mit eigenen und fremden Identitäten zu hinterfragen.“ŘŞř Mit computergestützten Kommunikationen kann also keineswegs eine besondere Zunahme von anonymen Kommunikationen belegt werden, vielmehr ist von einer Diversifizierung von Kommunikationsformen auszugehen. Zu ihr gehören auch Chat und Spiel sowie der Umgang mit Pseudonymen in ihnen. Sie generell als Fluchtwege aus Identitätsbildungsprozessen zu bezeichnen, kann kaum schlüssig erläutert werden. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die These weiterzuverfolgen, die bereits bezüglich der entsprechenden Ausstellungsstation der Cybernarium Days, dem Augmented ManŘŞŚ, festgehalten worden ist: Es fehlt an einem Identitäts- und Gesellschaftsverständnis, in dem anonyme Strukturen als integrale Bestandteile von Kommunikation reflektiert werden. 3.3.1 Zur biografischen Bedeutung von Anonymität. Einführung Der sprachliche Platzhalter für die Anonymität ist das Man, das von Martin Heidegger zwar ontologisch aufgewertet wurdeŘŞś, aber bis in die Gegenwart keine klare philosophische oder theologische Anerkennung erfahren hat. Dies wird z. B. dort deutlich, wo es um Anonymität in biografischen Bezügen geht. So hat Sören Kierkegaard bereits früher als Heidegger Verständnis für die Bedeutung anonymer Kommunikation gezeigt. Er polemisierte zwar einerseits gegen das Man als konventionelle Verallgemeinerung, aber andererseits würdigte er durchaus dessen positives Gegenstück. Dieses fand er im von ihm ŘŞř Döring (2003: 401). ŘŞŚ Vgl. Kapitel 1.3. ŘŞś Bei Heidegger erfährt das Man eine Aufwertung, insofern er jedes alltägliche Ver-
ständnis von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein, gegenüber dem intellektuellen Verständnis ontologisch aufwertet. Letztlich bleibt das ,Man‘ aber eine uneigentliche Form des Daseins. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 15. Aufl. 1979, § 27. Für Diskussion und Hinweise danke ich Richard Purkarthofer.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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so geschätzten, ebenso anonymen gemeinen Mann, dem menige Mand.ŘŞŜ Doch in der Rezeption von Kierkegaard wird schnell klar, wie schlecht das Bild vom anonymen Man ist. Wer es gebraucht, scheint noch nicht voll präsent, nicht voll entwickelt, in gewisser Weise noch in der Pubertät, für die solche Unentschiedenheiten gesellschaftlich noch anerkannt sind. So heißt es über Kierkegaards Gebrauch von Pseudonymen in seinen Veröffentlichungen: „[...] zum anderen ist damit die Periode der pseudonymen Schriftstellerei für Kierkegaard im wesentlichen beendet, und er wird nun ganz zu dem religiösen Schriftsteller, als der er selbst sich auch immer gesehen hat [...] Die experimentell-spielerischen Positionen und Argumentationsfiguren, die er seinen Pseudonymen überlassen hatte, haben ihre Funktion erfüllt; sie haben ihrem Schöpfer Gelegenheit gegeben, sich den Verlockungen des Denkens hinzugeben, ohne dafür verantwortlich sein zu müssen.“ŘŞŝ Von nun an habe Kierkegaard zunehmend in seinem Namen sprechen können, und er sei dann auch in der Lage gewesen, den Kampf gegen die dänische Staatskirche in eigenem Namen führen zu können. Es klingt noch an, dass Anonymität und die Variante der Pseudonymität eine Gestaltungsform eines menschlichen Freiheitssinnes ist, doch sie gilt als Übergangsbereich, dem keine eigene Bedeutung zukommt, weil das Subjekt, das sich anonymisiert, noch nicht bereit ist, volle Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. 3.3.2 Zum soziologischen Verständnis von Face-to-Face-Kommunikationen und Vertrauen Anonyme Kommunikationen sind keinesfalls als Gegenpol zu Face-to-FaceKommunikationen zu sehen, wenn es darum geht zu reflektieren, wie Vertrauen in Kommunikationen hergestellt werden kann. Vertrauensbildung geschieht nicht in der Konstanz von Face-to-Face-Kommunikationen, sondern der Umgang mit Wechseln zwischen personalen, Face-to-Face- und apersonalen bzw. medialen Kommunikationsformen schafft gerade die Voraussetzung für vertrauensvolle Beziehungen. Mit dieser These verbunden wird außerdem davon ausgegangen, dass die Face-to-Face-Kommunikation nicht die Urform von Kommunikation genannt werden kann und sie deshalb ihre ŘŞŜ Vgl. Sören Kierkegaard, Kleine Aufsätze 1842–1851. Der Corsarenstreit, hg. von
Hayo Gerdes. Düsseldorf/Köln 1960, 19–23, zu seiner Polemik gegen die entstellte Form des Man. Zur Hochschätzung des anonymen Menschen vgl. Jörgen Bukdahl, Sören Kierkegaard and the Common Man, transl. and annot. by Bruce H. Kirmmse. Grand Rapids 2001. ŘŞŝ Liessmann (1993: 99 f.).
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absolute Vorrangigkeit vor anderen Kommunikationen, die hinsichtlich der Kommunikation des EvangeliumsŘŞŞ häufig gefordert wird, einbüßt. Die Abwehr, die mit der Relativierung der Face-to-Face-Kommunikation verbunden ist, scheint einer Haltung zu entsprechen, in der davon ausgegangen wird, dass der Kommunikationsmodus des Face-to-Face für die Bildung von Vertrauen von vorrangiger Bedeutung ist. Es geht m. E. in der Diskussion um die Bedeutung von Face-to-Face-Kommunikationen darum, wie in hochmodernen Gesellschaften Vertrauen gebildet wird. Die Zunahme von medialen Kommunikationen lässt deshalb die Angst aufkommen, dass die Kategorie Vertrauen der Gesellschaft und den Kommunikationen in ihr verloren geht.ŘŞş Aus diesem Grunde ist es sinnvoll zu überprüfen, ob und inwiefern Prozesse von Vertrauensbildung hinlänglich über den Leitmodus angesichtiger Kommunikation verstanden werden können. Häufig wird die Bedeutung der Face-to-Face-Kommunikation aus der entwicklungspsychologischen Forschung heraus begründet. Die Mutter-KindBindung, die Menschen von den ersten Tagen des Lebens an prägt, ist hierfür das Vorbild. Erik H. Erikson hat für den frühkindlichen Reifeprozess das visuelle und akustische Wechselspiel zwischen Mutter und Kind sehr betont. Aber auch er beschreibt, wie diese Kommunikation misslingen kann.ŘşŖ Ganz unberücksichtigt bleiben in seinen Ausführungen allerdings die Monate der Schwangerschaft, in denen zwischen Mutter und Kind bereits eine intensive Verbindung gelebt wird. Gerade die akustische und haptische Kontaktaufnahme im Bauch wird zunehmend wertgeschätzt; sie steht am Anfang der Kommunikation des Säuglings und geht der visuellen, angesichtigen Kommunikation von Mutter und Kind voraus. Für die Ausbildung des Sehens und des Gesichtssinns braucht der Säugling außerdem auch nach der Geburt noch einige Monate lang Zeit. Aber auch für das spätere Leben kann der Face-to-Face-Kontakt nicht ohne Ambivalenzen für die Vertrauensbildung von Menschen herangezogen werden. Zum Beispiel ist hier an die Situationen zu denken, in denen unter vier Augen Erklärungen erbeten werden und in denen der erzieherische strenge Blick eingesetzt wird. Er tritt oft gepaart mit der Aufforderung, sieh mich an, wenn ich mit dir spreche, auf. Das Auge kontrolliert das Gesicht des GegenŘŞŞ Vgl. zu diesem Ausdruck Ernst Lange, Predigen als Beruf. Aufsätze zur Homiletik,
Liturgik und Pfarramt. Herausgegeben von Rüdiger Schloz. München 1982. ŘŞş So auch Christoph Dinkel, Facetime – Chancen direkter Begegnung. In: Deutsches
Pfarrerblatt 2/2007, 76–81. ŘşŖ Vgl. E. H. Erikson, Kinderspiel und politische Phantasie. Stufen in der Ritualisierung
der Realität. Frankfurt a. M., 72. Vgl. auch Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Stuttgart 1998, insbesondere 123–142.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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übersŘşŗ; der Ausdruck Gesichtskontrolle ist in diesem Sinne wörtlich zu nehmen. Im Bereich der Medienwissenschaften wird hierzu auch der Einsatz von Technik reflektiert: „Mediengeschichtlich setzt die monoculare Fotographie, das Telescope, die einäugige Kamera die Geschichte des kontrollierenden Blickes fort.“ŘşŘ Angesichtigkeit ist in diesem Sinne als ein durchaus ambivalentes Phänomen wahrzunehmen. Aber gerade aus medienwissenschaftlicher Perspektive wird der Face-to-Face-Kontakt nicht relativiert, sondern mit erhöhter Bedeutung aufgeladen: „Das Gespräch unter vier Augen hat geradezu Kultstatus nicht nur unter Politikern und Spitzenmanagern, die über alle erdenkliche avancierte Kommunikationstechnologie verfügen. Sie steigen, wenn’s ernst wird, immer häufiger ins Flugzeug, um das direkte Gespräch zu suchen. Der Papst fliegt von der Stadt, die das eine Weltzentrum seit langem nicht mehr ist, in alle Teile der Welt; [...] die Weltpolitiker müssen sich in die Augen schauen können, wenn sie über den Krieg in einer zuvor vergessenen Weltecke, über die jetzt alle Medien berichten, entscheiden.“Řşř
Face-to-Face-Kommunikationen werden medial inszeniert und dies gilt nun offenbar nicht nur für den Sektor politischer, sondern auch für den kirchlicher Kommunikation. Einerseits präsentieren Online-Pfarrer und -Pfarrerinnen sich im Netz stets mit einem Porträt und personalisieren somit die mediale Kommunikation über das Bild ihres Gesichts. Kirchliche Medienproduktionen in Film, Fernsehen und in Online-Kommunikationen inszenieren zunehmend leitende Persönlichkeiten, mit denen die Menschen am Bildschirm die Organisation Kirche identifizieren sollen. Andererseits tendieren diese medialen Produktionen dazu, sich selbst oder den eigenen Anteil an diesen Produktionen unsichtbar zu halten. Indem Kommunikation mit bestimmten prominenten Personen möglichst unmittelbar inszeniert wird, entsteht ein Immersionseffekt, der den Rezipientinnen und Rezipienten eine zugewandte Nähe demonstrieren soll. Zugespitzt formuliert ergibt sich aus diesem Phänomen eine Situation, in der telematische Beziehungen, die das Ferne nah werden lassen, das verdrängen, was Ferne für Kommunikation konstruktiv bedeuten kann. Der Kulturanthropologe Thomas Macho formuliert in diesem Sinne, dass die
Řşŗ Vgl. Thomas Hauschild, Der böse Blick. Hamburg 1982. ŘşŘ Manfred Faßler (Hg.), Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität, Wahrnehmung und
Ethik der Kommunikation. München 1999, 13 (Vorwort). Řşř Vgl. Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt
a. M. 2001, 18 f.
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3 Medientheoretische Studien
Signatur der Ferne der Moderne verloren gegangen sei.ŘşŚ In ihr könne die Ferne nur noch dann für einen sicheren Ort gehalten werden, wenn sie touristisch vororganisiert sei, wenn sie als Heimatersatz wiedererkennbar werde oder ethnokulturell eingegrenzt worden sei. Auch auf diese Weise wird der „Kult der Angesichtigkeit“ medial gefördert. Das Phänomen, dass mit Facialisierung Intimität inszeniert wird, ist allerdings älter als die moderne Medienindustrie. Macho verweist zunächst auf mehr als 8.000 Jahre alte Ahnenkulte des Neolithikums. Menschen säuberten die Schädel ihrer Verstorbenen von Fleischresten und überzogen sie mit einem Gemisch aus Gips und Erdpech, sodass die Gesichtszüge nachgebildet werden konnten. Solche Totenköpfe, wie sie bei Ausgrabungen in der Nähe von Jericho gefunden wurden, gelten als erste Zeugnisse einer Kultur, die die Abwesenheit der Toten überwinden will.Řşś Mit den Köpfen wollte man auf konkrete, greifbare Art einen Sinn für Individualität, Tradition und den Fortbestand der Familie symbolisieren, „die Knochen mit ihren neuen Gesichtern fungierten möglicherweise als frühe Tele-Medien“ŘşŜ. Auf diese Weise sollten sie als Ausdruck einer bestimmten historischen Situation wahrgenommen werden. Dies gelte auch für die Bedeutung des Porträts, die historisch durchaus unterschiedlich hoch gewesen sei. Die Ursprünge von Höhlenmalereien allerdings stellen sich gesichtslos dar. In prähistorischen Höhlen wie etwa in Lascaux, Roufignac und anderswo seien zahlreiche überwältigend realistische Tierbilder gefunden worden, „jedoch extrem wenige, obendrein zumeist mehrdeutige Abbildungen von Menschen – und so gut wie gar keine Darstellungen von Gesichtern“Řşŝ. Diese kritischen kulturanthropologischen ŘşŚ Vgl. Thomas Macho, Das Prominente Gesicht. In: Faßler (1999: 121–136). Macho hat
die faciale Struktur von Kommunikation zu seinem Spezialgebiet gemacht. Vgl. z. B. Thomas Macho, Vision und Visage. Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Medien. In: Wolfgang Müller-Funk/Hans Ulrich Reck (Hgg.), Inszenierte Imaginationen. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien/New York 1996, 87–108; ders., Gesichtsverluste. Faciale Bilderfluten und postindustrieller Animismus. In: Gerburg Treusch-Dieter/ders. (Hgg.), Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft. Ästhetik und Kommunikation 25/94+95. Berlin, 25–28. Řşś Vgl. zur Überwindung der Abwesenheit von Toten aus psychoanalytischer Perspektive auch Eberhard Haas, Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Gießen 2002, insbesondere: Rituale des Abschieds: Anthropologische und Psychoanalytische Aspekte der Trauerarbeit, 189–212. ŘşŜ Macho (1999: 123). Řşŝ Ebenda. Auch Klaas Huizing, Der erlesene Mensch. Stuttgart 2000, 229, nimmt auf Macho Bezug, allerdings entscheidet er sich trotz dessen auch für ihn nachvollziehbaren Kritik an einer Fixierung auf das Angesichtige für die Arbeit mit dem „alles überragenden Stellenwert“ der „Gesichtserfahrung“.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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Überlegungen zur Facialisierung von Kommunikation führen nun wieder zurück zu der Frage, wie Ferne und Anonymität verstanden werden können. Wo es unterlassen wird, eine angesichtige Beziehung aufzunehmen, öffnet sich Kommunikation ins Unbestimmte und damit in eine Ferne, die nicht eingehegt werden kann.ŘşŞ Anonymitätskritische Stimmen befürchten, etwas komme von draußen herein und schwäche das Eigene, bis hin zum gefürchteten ökonomischen Aus. Manfred Faßler nennt diese Haltung Telephobie; in ihr würden mediale Erfahrungen häufig als gestaltlos, anonym oder zumindest nicht regulierbar begriffen. „Leitworte wie Einfachheit, Eindeutigkeit, Ganzheit, Echtheit und (am besten noch überzeitliche) Wahrheit werden eingebracht, um sich ständig ändernde Umgebungen ruhig zu stellen: wenigstens für den Selbstglauben.“Řşş Ein Grund hierfür dürfte sein, dass computervermittelte Kommunikationen eingeübte Wahrnehmungsmuster an ihre Grenzen führen: Die räumliche Ordnung von Nähe und Ferne ist nicht mehr im Gegenüber befindlich, sondern Ferne schreibt sich mit Computer-Kommunikationen material nachvollziehbar in Nähe, in Nahbeziehungen ein: „Während mechanische Anwesenheit die gebauten und umbauten Räume, Infrastrukturen, Geh- und Dienstwege meint, ist der Modus elektronischer Anwesenheit die ungegenständliche, kopräsente Ferne.“řŖŖ Ferne ist kein geografischer Begriff mehr, ebenso wenig wie Nähe. Ferne ist ein szenischer Abstand der globalen Zugriffe auf Server, Datenbanken, Kanäle geworden. Diese Veränderung wahrzunehmen, bedeutet zugleich, sich der kulturellen Aufgabe zu stellen, Praxen auszubilden, die ausdifferenziert genug sind, um Fernnähe begreifen und aushalten zu lernen, oder mehr noch, mit ihr kompetent umzugehen. Es wird unumgehbar, abseits von Nähe, Intimität und Wärme ein Vertrauen in Kommunikationen entwickeln zu können, die nicht im Nahbereich bestehen und nicht durch Nähe kontrolliert werden können. Denn computervermittelte Kommunikationen produzieren, ebenso wie Massenmedien, permanent Unsicherheiten zwischen denjenigen, die miteinander kommunizieren. Dies geschieht über die Teilnahmebedingungen an Diskussionsgruppen ebenso wie über die sehr gestiegene Anzahl von einmaligen Kontakten, die Menschen in mitteleuropäischen Ländern heute generell pro Tag führen. Mit ihnen wächst sozusagen eine Sehnsucht nach Konstanz und Sicherheit. Doch sie ist jetzt nicht mehr wie in der ersten Lebenszeit eines ŘşŞ Vgl. Theo Roos, In Tube. Surfen und Sein. In: Rudolf Maresch/Florian Rötzer
(Hgg.), Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet. Frankfurt a. M. 2001, 265–271. Řşş Faßler (1999: 70). řŖŖ Faßler (1999: 73).
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3 Medientheoretische Studien
Menschen über ein Vertrauen in Rückkehr, in die Wiederkehr von Anwesenheit, in die Wiederholung des Blicks zurück einzuholen.řŖŗ Die Fähigkeit zu vertrauen erfordert nun vielmehr ein höheres Maß an Selbstvertrauen. Die Hochachtung der Face-to-Face-Kommunikation lenkt allerdings zunächst wieder auf ein Gegenüber hin, dessen Angesicht Vertrauen stabilisieren helfen soll. Sie bewirkt, dass die Vertrauensbildung auf der Ebene der Sichtbarkeit des Gesichts festgehalten wird. Dadurch werden Face-to-Face-Kommunikationen allerdings auch einem hohen Erfolgsdruck ausgesetzt, denn die Präsenzphasen, in denen Menschen sich angesichtig treffen, müssen gelingen. Wenn sie misslingen, wird die Kommunikation oft abgebrochen; die Toleranzräume für konfliktreiche Kontakte werden enger bemessen. Innerhalb der Soziologie wird argumentiert, dass man an Zugangspunkten zu abstrakten Systemen auf Sichtbarkeit und Selbstdarstellungsfähigkeit als Problem treffe. Systemrepräsentanten und Experten, die das Vertrauen der Laien einzuwerben hätten, müssten Gesichtsarbeit (facework) leisten. Man könne jedoch genauso auch von Gefühlsarbeit sprechen, denke man an die affektive Basis von Systemvertrauen.řŖŘ Diese Bedeutungskonzentration auf die Gesichts- und Gefühlsarbeit lässt auch für kirchliche Repräsentantinnen und Repräsentanten den Druck steigen, dass Präsenzphasen in Kasualgesprächen, in Gottesdiensten und anderswo gelingen. Gerade an den Schnittstellen kirchlicher Arbeit, wo mit Menschen kommuniziert wird, die in ihrer Lebensgeschichte nicht von Kirche und Religion begleitet worden sind, wird Gesichtsarbeit zu einem wichtigen Erfahrungsmodus, Religiosität positiv in einem Repräsentanten oder einer Repräsentantin inszeniert aufzufinden und erfahren zu können. Mit dem Begriff Gefühlsarbeit lässt sich auch auf die soziale Seite des Gefühls hinweisen. Yorick Spiegel hatte bereits in seiner Arbeit zur Theologie der bürgerlichen Gesellschaft mit Verweis auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher die Reflexion der sozialen Dimension des Gefühls angestoßen.řŖř Die gegenwärtig in der deutschsprachigen praktisch-theologischen Diskussion begonnene Erörterung der Bedeutung von Atmosphären in der Religion verhandelt ebenfalls die soziale Seite des Gefühls.řŖŚ
řŖŗ Vgl. demgegenüber Harald Wenzel, Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeit-
massenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne. Weilerswist 2001, 352. řŖŘ Vgl. Wenzel (2001: 354). řŖř Vgl. Yorick Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. München 1968. Für die
gegenwärtige Diskussion um gelebte Religion finden sich im Bereich der Forschungen von Wilhelm Gräb auch immer wieder Bezugnahmen auf das Gefühl im Gefolge Schleiermachers. Ich möchte hier nur eine Formulierung zitieren, in der Gräb vom Glauben als „gefühlsbezogene Selbstdeutung sinnbewusster Individualität“ spricht (Wilhelm Gräb, Praktisch-theologische Wahrnehmung und Theorie gelebter Religion. In: Georg Lämmlin/Stefan Scholpp (Hgg.), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Tübingen und Basel 2001, 254). Die soziale Seite des Gefühls wird von ihm, soweit ich sehe, allerdings nicht thematisiert. řŖŚ Vgl. für eine weitere Entfaltung dieses Aspekts Teil 2, Kapitel 4.2.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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3.3.3 Theologische Anschlussstellen des Verständnisses von Anonymität Auf der Suche nach ersten Zugängen zu theologischen Anschlussstellen an anonyme Kommunikationen kann ganz grundsätzlich auf den altisraelitischen Gottesnamen im Tetragramm verwiesen werden. Elias’ Erfahrungen am Horeb (1. Kö 12), wo Gott sich ihm im Wind offenbart, könnte angeführt werden, aber auch die Deutung von Engeln kann zu einem theologischen Verständnis von Anonymität herangezogen werden. Auf Letztere soll nun intensiver eingegangen werden, denn zum einen gehören sie in den Bereich alltäglich gelebter Religion und damit zu einem bevorzugten Gebiet einer Praktischen Theologie, die sich Wahrnehmungsfragen stellen will. „Fast die Hälfte der Menschen in Deutschland glaubt daran, dass sie von ihrem Schutzengel behütet werden, sagt eine aktuelle Umfrage. In den Buchläden finden sich ganz unterschiedliche Titel zu den Engeln, und ihre Geschichten tauchen auch noch an anderen Orten auf: in Gedichten und auf Bildern, auf der Kino-Leinwand und immer wieder in Liedern.“řŖś Zum zweiten zeigte bereits die Gedächtnisseite für Andrea, wie in einer alltäglichen Verarbeitungsweise eines Todesfalls mit dem Symbol eines Engels gearbeitet wird.řŖŜ Es ist zunächst ein Charakteristikum von Engeln, dass sie anonym bleiben. Die Bibel kennt zwar einige Engel mit Namen, aber sie nennt in der Mehrzahl Engel, die ihren Namen nicht preisgeben und nicht zulassen, sie zu verehren. Dies geschieht nicht allein deshalb, weil ihre Verehrung von der Verehrung Gottes abhalten könnte, sondern weil die Verehrung von ihnen das Ferne, das Fremde, das mit ihnen in die Nähe kommt, aufhebt oder, anders ausgedrückt, einhegt und vertraut werden lässt. Claus Westermann erläutert zur Erzählung von Menoachs Frau, der ein Engel die Geburt eines Kindes ankündigt (Ri 13), und zu der Notiz von dem Engel, der dem Apokalyptiker Johannes verbietet, vor ihm niederzufallen (Apk 22), dass es eine produktive Abwehr und Verweigerung des Namens gebe, die ein Signal zum Freiheitsbewusstsein eines Menschen setze. „Wer den Namen des Engels weiß, hat ihn damit in gewisser Weise in der Verfügung; er kennt ihn, er weiß über ihn Bescheid, er kann ihn bei diesem Namen anrufen. Auch dieses Bescheidwissen ist hier abgewehrt.“řŖŝ Die Geschichten von Engeln führen an die Grenzen von Sprache und Denken; „sie zeigen, daß die Verehrung Gottes, daß aller Gottesdienst einen Raum frei lassen muss, wo das Verehren und das Dienen aufhört, wo es uns verwehrt ist.“řŖŞ In diesem Perspektivwechsel zur Anonymität der Engel liegt eine Möglichkeit, auch die Wirkung anonymer Kommunikation nicht řŖś řŖŜ řŖŝ řŖŞ
Helwig Wegner, Dem Engel trauen. Frankfurt a. M. 2001, 11. Vgl. 3.3.7. Claus Westermann, Gottes Engel brauchen keine Flügel. Stuttgart 1978, 72. Westermann (1978: 73).
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3 Medientheoretische Studien
allein in ihrer Bedeutung für ‚den Absender‘, sondern vielmehr für das Beziehungsgeschehen und ‚die Empfängerin‘ zu überdenken. Eine anonyme Ausdrucksweise setzt dem eingeübten Austausch des Alltags Grenzen und bricht damit Wahrnehmungen von Realität auf. Mit Blick auf die Erzählung von der Berufung Gideons (Ri 6) konstatiert Michael Welker, die Begegnung mit dem Engel und mit dessen Verheißung führe zu einer Infragestellung und Änderung der Situation, auch der gegebenen politischen Situation. „Eine neue Sicht der Realität setzt ein, die auch zur Wirklichkeitsveränderung führt.“řŖş Doch sie wird nicht in einer kontinuierlichen Begleitung innerhalb einer Face-to-Face-Kommunikation ermöglicht, sondern durch außerordentliche Ereignisse kommuniziert, in denen in der Realität göttliches Wirken transparent wird; dies geschieht nie eindeutig und für alle Menschen verobjektivierbar.
Weil das Christentum eine Offenbarungsreligion ist, hat es einen engen Bezug zu Medien, die es ermöglichen, Abwesendes anwesend und gegenwärtig werden zu lassen. Dies geschieht zum Teil in der Unsichtbarkeit der Medien selbst. Die Formfrage ist dabei für die Gestaltung von Religion und Glaube keineswegs sekundär: „Gerade die Form der Offenbarung“, formuliert Albrecht Grözinger, „ist so stets ein Hinweis auf das Sein Gottes selbst. In der menschlichen Wahrnehmung, die durch das Offenbarungsgeschehen hervorgerufen wird, erscheint dieses Sein Gottes in der ästhetischen Dialektik von Präsentation und Entzug.“řŗŖ Biblische Offenbarung und die Schrift als Zeugnis dieser Offenbarung zeichneten damit selbst die Grundlinien einer Ästhetik, insofern dort die Phänomene der Offenbarung immer in einer bestimmten Konstellation zur Wahrnehmung des Menschen stünden. Diese Partizipation an der Wahrnehmung von Menschen und an deren Welt bringe es auch mit sich, dass die Dialektik von Präsentation und Entzug sich in bunter Variation darstellen ließe. Die Offenbarung Gottes in Christus Jesus ist ein mediales Geschehen, das sich durch eine spezifische Weise, sich zu zeigen und dabei doch verborgen zu bleiben, äußert.řŗŗ In diesem Sinne sind Offenbarungen immer auch ein Hinweis auf das, was Menschen nicht vermögen wahrzunehmen, von dem, was ihnen nicht zugänglich ist. Hier liegt das Fremde und das Anonyme, das irritiert, wie in der Begegnung mit den Engeln geschildert, und das ängstigt und verzweifelt zur Theodizeefrage führt. Die Abwesenheit Gottes zuzulassen, ist die dialekřŖş Michael Welker, Schöpfung und Wirklichkeit. 4.1 Gottes Engel in der ‚Boten-Engel-
lehre‘. Neukirchen-Vluyn 1995, 77. řŗŖ Albrecht Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. München 1987, 132. řŗŗ Vgl. Paul Tillich, Offenbarung. V A Religionsphilosophisch. In: Die Religion in
Geschichte und Gegenwart. Band IV, Tübingen 1930, 664–669. In diesem Beitrag legt Tillich die Bedeutung des Unbedingt-Verborgenen für das christliche Offenbarungsverständnis knapp und eindrücklich dar.
3.3 Lebenswelt als Experimentierwelt? Zur Anonymität in der Kommunikation
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tische Voraussetzung, sich nun auch der Zuwendung Gottes anzunähern und „Gott im Wahrnehmungsbereich von Menschen“ zu sehen. „Diese Prozesse laufen darauf hinaus, dieses Sich-Zeigen Gottes als gegenwärtiges Heilsgeschehen begreiflich und bekannt zu machen.“řŗŘ Eine ästhetische und dabei phänomenologisch geschulte, praktisch-theologische Perspektive enthält das Wissen um die Begrenztheit des Wahrnehmbaren und des Sichtbaren; sie sieht dies als einen integralen Bestandteil ihrer Betrachtungsweise an. In diesem Sinne greife ich Martin Seels philosophischen Vorschlag auf, Medien als Gelegenheiten zu verstehen, die etwas gegeben sein lassen. Im etwas kann eine Person, eine Sache oder eine fiktive Entität gemeint sein; es kommt darauf an wahrzunehmen, dass das Gegebene nur deshalb Objekt des Vernehmens sein kann, weil Medien da sind: „Durch Medien [...] ereignet sich das Gegebensein von Gegebenem. Sie sind Gelegenheiten zum Gegebensein von etwas. Gegeben in diesem Sinn ist alles, was wahrgenommen, erkannt, vorgenommen werden, kurz: was die Stelle eines intentionalen Objekts einnehmen kann.“řŗř Seel versteht Ästhetik als Wahrnehmungslehre und spricht mit phänomenologischer Orientierung dann vom intentional Gegebenen, denn er will bewusst machen, dass Wahrnehmung immer Wahrnehmung von etwas ist, und dieser Prozess geschieht eben nicht unabhängig von Medien: „Kein intentional Gegebenes ohne Medium seines Gegebenseins, [...] oder einfacher noch: keine Intentionalität ohne Medialität.“řŗŚ Mit diesem phänomenologischen Zugang in die Einsicht von der Medialität von Religion wird allerdings auch betont, dass die Medialität von Religion kein religiöses Spezifikum ist, sondern dass sie die Medialität alles Gegebenen mit allen kulturellen Phänomenen teilt. In einer Zeit, in der der Protestantismus in Deutschland sein Verhältnis zur Kultur neu diskutiertřŗś, stellt sich auch die Aufgabe, die in ihrem Umfang keineswegs weitreichenden, aber dennoch vorhandenen anonymen Strukturen in medialen Kommunikationen wahrzunehmen und zu deuten. Ich betone, dass diese Forderung unterhalb von Diskussionen um die medienethische Verantwortung von Theologie und Kirchen liegt und keineswegs Forderungen etwa zum Jugendschutz, zu verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen oder Ähnlichem widerspricht. Vielmehr ging es darum zu zeigen: „Die Assoziierung des anonymen Man mit einer besonderen Gesichts-, Geist- und řŗŘ Engemann (2002: 81). řŗř Martin Seel, Medien der Realität und Realität der Medien. In: Sybille Krämer, Medien,
Computer, Realität. Frankfurt a. M. 1998, 248 f. řŗŚ Seel (1998: 249). řŗś Vgl. Petra Bahr/Klaus-Dieter Kaiser, Protestantismus und Kultur. Gütersloh 2004.
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3 Medientheoretische Studien
Herzlosigkeit krankt daran, dass sie etwas dort erwartet, wo es nicht zu finden ist.“řŗŜ Gelingende Kommunikation kann nicht durch ein Plädoyer für Faceto-Face-Kommunikationen verbürgt werden; Face-to-Face-Kommunikationen können ebenso misslingen oder gelingen wie anonyme Kommunikationen. Als eine produktive Aufnahme der Schattenseiten anonymer Kommunikation stellt sich allerdings die Möglichkeit dar, zu beobachten und zu bearbeiten, was an den Knotenpunkten geschieht, „wo Persönliches in Anonymes übergeht oder in Anonymität zurücksinkt“řŗŝ.
3.4 Zur Spielwelt: Wenn Humor zur kommunikativen Freiheit beiträgt In einem sehr vielschichtigen Sinne tragen Spiele zur kommunikativen Freiheit bei, in der Menschen sich alltäglich artikulieren können. Computerspiele sind Gelegenheiten, soziale Kontakte zu knüpfen. Dies geschieht in Online-Spielen, die eben kaum solitär gespielt werden, sondern auf einem gemeinsamen Terrain mit vorgegebenen Regeln. Ein solches vorbereitetes Terrain erleichtert es, gerade Begegnungen zu fremden Personen aufzunehmen, wenn Traditionen und Rituale nicht mehr im Alltag dazu zur Verfügung stehen. So übernehmen es Spiele auch, Begegnungen vorzustrukturieren. Damit vermindern sie z. B. auch Ängste, die auftreten können, wenn man etwa in fremden Räumen über angemessene Verhaltensweisen verunsichert ist. Darüber hinaus ist es im Spiel möglich, mit verschiedenen Rollen zur eigenen Identitätsbildung zu experimentieren. Beide Grundfunktionen des Spiels wurden bereits mit Tron und dem MUDing ausgeführt. In den Blickpunkt des Interesses soll nun noch einmal der Spielraum selbst gestellt werden. Wie entsteht er und was leistet er, was ist sein Charakteristikum? Dieser Frage wird insbesondere in phänomenologischer Perspektive nachgegangen. Die praktisch-theologische Zielrichtung dieser Gedankenführung liegt dann in der Frage nach dem Aufbau eines religiösen Spielraums. Sie liegt genauer in der Frage nach einem Spielraum, der es ermöglicht, die Gegenwart Gottes experimentell zu erkunden. Besonders pointiert wird also in der Wahrnehmung des Spiels, dass die Menschen, die spielen, innerhalb der virtuellen Realitäten etwas bewirken. Es geht darum wahrzunehmen, wie sie eine Welt bzw. ihre Welt des Glaubens entwerfen. Der Spielraum schafft řŗŜ Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M.
2004, 252. řŗŝ Ebenda.
3.4 Zur Spielwelt: Wenn Humor zur kommunikativen Freiheit beiträgt
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damit eine Fläche, die persönliche Freiheit und Wirkmöglichkeit zu stärken. Es ist möglich, sich mit dem Eindruck eines drohenden ökologisch bedingten Weltuntergangs, den man aus Medien und Bildungsinstitutionen erhalten hat, so zu beschäftigen, dass man an seiner Verhinderung arbeitet und – insofern erfolgreich gespielt wird – die Rettung der Welt auch erreicht. Es ist möglich, sich um die Besiedelung der Welt zu kümmern und darin auch ein Stück von einem eigenen Beheimatungsprozess herauszuspielen. Es ist möglich, ein psychologisches Spiel zu spielen, in dem es um die Fähigkeit geht, überzeugend zu lügen. Auf diese Weise verschafft man sich Freiräume von alltäglich einengenden Festlegungen. Zusammenfassend heißt dies, dass beim Spielen nicht nur neue Rollen erprobt werden und damit Identitätsarbeit geleistet wird, dass nicht nur die eigene Lebenssituation reflektiert wird, dass nicht nur ein Sample von Reflexionen erstellt wird, die dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen.řŗŞ Es wird zugleich ein Erfahrungsraum eröffnet, in dem sich etwas bewirken lässt, und zwar in der Gegenwart. Im Spielen ist es möglich, alternative Lebensmöglichkeiten zu erproben und dabei auf intensive Weise Gegenwart zu erleben, denn: „Im geglückten Spielen geht unser ganzes Dasein völlig in wiederholbarer Gegenwärtigkeit auf und blendet so die Ängste vor Zukünftigem und lastender Erinnerung ab [...].“řŗş Auch dies kann dazu führen, die Gegenwart Gottes zu erfahren. Zu spielen bedeutet also nicht nur, in andere Welten einzutauchen, sondern es ist hier insbesondere der Aspekt des Spielens zu betonen, der dessen Bedeutung als Schwellen- und Übergangsphänomen herausstellt. Mit verschiedensten Formen der Veränderung zu experimentieren und diese auch proleptisch zu erproben, darin liegt das Bindeglied zwischen einer Spielwelt und dem sogenannten Ernst des Lebens. Beide Welten gehören zusammen und liegen auch oft ineinander. Dies zeigen z. B. auch Forschungen, die innerhalb von Computerspielen eine rhetorische Strategie herausgearbeitet haben, mit der sich die Spielenden im beständigen Wechsel von Humor und ernsthaftem Spiel entfalten.řŘŖ 3.4.1 Ein phänomenologischer Blick auf den Humor im Spiel Neben dem Internet als Distributions- und Darstellungsmedium für herkömmlichen Humor und dem Internet als Thema von Humor wird das řŗŞ Vgl. Adamowsky (2000: 232). řŗş Janke (2000: 675). řŘŖ Vgl. Adamowsky (2000: 232).
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3 Medientheoretische Studien
World Wide Web auch als Medium für die Produktion neuer Humorformate gesehen. Bildcollagen, Fake- oder Parodie-Sites, die besonders im Bereich des politischen Humors verbreitet sind, gehören hierher. „Humor ist eine Möglichkeit, spielerisch mit Wirklichkeitskonstruktionen umzugehen, wobei gerade die emotionale Qualität der Belustigung entlastet (z. B. bei Ärger oder Angst) und sozial verbindend wirkt (allerdings nicht selten auf Kosten der Abgrenzung von anderen Gruppen).“řŘŗ Die Fähigkeit, humorvoll mit Lebenssituationen umzugehen, ist Menschen aber nicht selbstverständlich gegeben. In seiner phänomenologischen Erschließung virtueller Realitäten greift der Philosoph Bernhard Waldenfels genau in diesem Sinne auf Studien zurück, die die raumzeitliche Orientierung und leibliche Bewegung in Zusammenhang mit Spielräumen der Freiheit thematisieren.řŘŘ Dabei bestimmt er Freiheit als Spontaneität innerhalb von Strukturen und will sich damit von einem rein inneren Freiheitsverständnis abgrenzen: „Schiller dagegen spricht von einer rein inneren Freiheit: Der Mensch ist frei, und wär er in Ketten geboren. Im Gegensatz hierzu betone ich, dass Freiheit sich bloß innerhalb von Strukturen und Regeln realisieren läßt – und nicht außerhalb ihrer.“řŘř In der Bestimmung dessen, worin Freiheit gefunden werden kann, orientiert sich Waldenfels vor allem an dem französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty. Dieser habe konkrete Freiheit in dem allgemeinen Vermögen, sich in Situationen zu versetzen, gesehen. Freiheitliches Verhalten bestehe also nicht in einer höheren Form von Tätigkeit, die von außen in etwas eingreift, sondern sie ermögliche es, geschaffene Strukturen zu übersteigen, um daraus andere zu schaffen.řŘŚ Auf diese Weise zeige sich das Charakteristikum menschlicher Freiheit im Sinn für das Mögliche, oder anders gesagt in der menschlichen Virtualisierungsfähigkeit. Sie wird von Waldenfels konkret in der Vorstellung einer virtuellen Leiblichkeit entfaltet. Genauso wie die Wirklichkeit sei auch die Möglichkeit als ein Implikat von Erfahrung zu bestimmen und eben nicht als ein Attribut, das einem Ding zugesprochen werde. Virtualisierung besage im Bereich der Erfahrung, dass etwas als möglich erfahren, betrachtet oder behandelt werde. „Berücksichtigen wir, dass die erfahrbare Wirklichkeit immer schon Spielräume der Möglichkeit offen läßt, also niemals řŘŗ Döring (2003: 299). řŘŘ Vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des
Leibes. Frankfurt a. M. 2000, 110–141. řŘř Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Frankfurt a. M. 2000: 201). Hervorhe-
bungen vom Autor. řŘŚ Vgl. Waldenfels (2000: 195).
3.4 Zur Spielwelt: Wenn Humor zur kommunikativen Freiheit beiträgt
115
als reine oder volle Wirklichkeit vorkommt, so treten Potentialität oder Virtualität zunächst nicht in einen Kontrast zur Wirklichkeit, sondern zur Aktualität. Hierbei müssen wir unterscheiden zwischen Möglichkeiten innerhalb einer konkreten Situation und möglichen Situationen.“řŘś Diese Unterscheidung wird nun gerade in Bezug auf den Humor und seine Genese interessant. Da ist der Fall des Patienten Schneider, der sich in ärztlicher Behandlung bei den Neurologen Adhémar Gelb und Kurt Goldstein befindet. Er leidet an einer Splitterverletzung in der optischen Gehirnzone, die er im II. Weltkrieg erlitten hat und die seine Verhaltensmöglichkeiten merklich einschränkt. Schneider besitze weiterhin die Fähigkeit, in konkreter Einstellung unmittelbaren Forderungen der Situation nachzukommen, doch er habe die Fähigkeit eingebüßt, sich auf nur Mögliches einzustellen und eine abstrakte oder kategoriale Einstellung einzunehmen. Er könne sich auf alltägliche Weise in Raum und Zeit orientieren, ohne dass er Entfernungen oder Zeitdaten anzugeben imstande wäre. Außerdem habe er auch keine Schwierigkeiten, die Mücke zu verjagen, die ihn gestochen hat, er versage aber, wenn er aufgefordert werde, mit dem Finger auf ein Körperteil zu zeigen und nicht nur nach einer bestimmten Körperstelle zu greifen. Schneider sei imstande zu erzählen, was er selbst erlebt habe, es gelänge ihm aber nicht, fremde Erlebnisse wiederzugeben und mögliche Szenen auszumalen oder vorzuführen. „Es fehlt ihm an Initiative im sexuellen Verkehr ebenso wie im Gespräch; Spiel und Witz treten zurück hinter einer sichtlichen Ernsthaftigkeit, die sich an das Notwendige und Naheliegende hält. Die Einbuße an der Kategorie der Möglichkeit stellt sich als Einbuße an Freiheit heraus.“řŘŜ Für Merleau-Ponty, der den Fall ausführlich erläuterte, bleibt der Kranke ins Aktuelle eingesperrt, während beim Normalen der Leib als virtuelles Aktionszentrum fungiere und ein virtueller oder menschlicher Raum sich dem physischen Raum überlagere. Waldenfels bezeichnet die konkretistische Einstellung auch als einen übersteigerten Wirklichkeitssinn.řŘŝ In medienkritischer Absicht ist nun allerdings weiterzufragen, was passiert, wenn mögliche Welten und mögliche Räume in Anschlag gebracht würden, in die wir überwechselten wie in eine andere Welt. „Auch dieser Überschritt bedeutet nichts völlig Neues, solange die mögliche Welt als Phantasiewelt, als Welt der Fiktion verstanden wird, die im Modus des Als-ob auf řŘś Bernhard Waldenfels, Experimente mit der Wirklichkeit. In: Sybille Krämer, Medien,
Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M. 1998, 236. řŘŜ Waldenfels (1998: 237). řŘŝ Er verweist hier auch auf Robert Musils Figur des Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften.
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3 Medientheoretische Studien
die wirkliche Welt zurückbezogen bleibt.“řŘŞ Doch virtuelle Realitäten beanspruchen genau dies, dass sie die vorfindliche Realität nicht nur tangential berühren, sondern dass es sich bei ihnen um Spielräume handelt, in denen konkret Freiheit erfahren werden kann. Waldenfels’ Ausführungen haben ihre Stärke in der Erschließungskraft des Spielraums der Freiheit. Freiheit gehört in leiblicher Gebundenheit konkret zum menschlichen Leben hinzu. Sie ist kein erst noch zu erlangendes Gut, sondern Menschen leben aus ihr heraus. Sie ist kein inneres Ideal, sondern ein Spielraum, innerhalb dessen Experimente mit der Wirklichkeit gemacht werden können. Sie äußert sich auf hervorragende Weise in der Lust am Spiel mit Lebensmöglichkeiten, das mit Witz und Humor fasziniert. Die ethische Frage nach den Grenzen der Bedeutung und der Macht des Spiels bleibt offen. 3.4.2 Ein praktisch-theologischer Blick auf den Spielraum des Glaubens Es sind bereits Grundlagen zu einer praktisch-theologischen Bedeutung des Spielens gelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine Bewegung, die das darstellende Spiel in Theaterstücken entwickelte und erprobte. Die Stücke wurden in Kirchen aufgeführt. Die Bandbreite reichte und reicht bis heute von Krippenspielen für den Weihnachtsgottesdienst bis hin zu experimentellen Workshops zur Selbsterfahrung und auf kirchlichen Servern laufenden Online-Spielen. In ihrer Interpretation wird ebenfalls auf die Bedeutung des Spiels mit Lebensmöglichkeiten oder Spielräumen der Freiheit verwiesen.řŘş Während nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Theologie ein höheres Gewicht auf der anthropologischen Bedeutung des Spiels als auf der pädagogischen Bedeutung lag, werden gegenwärtig beide Bereiche immer mehr miteinander verbunden. Man kann dies sowohl mit der Weiterentwicklung von Bibliodrama und Bibliolog erklären wie auch an der Entwicklung der spielpädagogischen Diskussion erkennen. Joachim Scharfenbergs Illustration des Spiels von biblischen Geschichten in Selbsterfahrungsgruppen der Pastoralpsychologen ist in das Plädoyer eingemün-
řŘŞ Waldenfels (1998: 238). řŘş Vgl. zur Einführung den Artikel von Wolfgang Janke, Spiel I. In: TRE, Bd. 31, 670–
675. Vgl. auch Susanne Wolf-Withöft, Spiel II. Praktisch-theologisch. In: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000.
3.4 Zur Spielwelt: Wenn Humor zur kommunikativen Freiheit beiträgt
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det, die Bibel aus der intellektuell-verbalen UmklammerungřřŖ herauszulösen. Gerhard Marcel Martin erläutert eine Hagiodramatische Arbeit in der Risikogesellschaftřřŗ. Insgesamt geht es um die Förderung individueller Lebensführungskompetenz. Sie steht zum Teil im Kontext von Seelsorge, es geht um eine Stärkung religionsproduktiver Kräfte sowie ästhetischer Fähigkeiten in der religiösen Sozialisation. In Voraussicht der Diskussion der Bedeutung virtueller Realitäten insbesondere für die Homiletik, seien ausschnitthaft nur wichtige neuere Beiträge genannt. Susanne Wolf-Withöft erläutert die Voraussetzung für ein spielerisches Homiletikverständnis: „dass der Prediger seinen Text – ganz im Sinne einer theologia eventualis – als ein Reservoir möglicher Wirklichkeiten begreift“řřŘ. Die Predigerin selbst vermittelt in diesem Sinne keinesfalls von vornherein Wirklichkeit. Die Predigt schafft vielmehr Raum, verschafft Distanz zur Welt. „Die Reflexion dieses Zusammenhangs klassifiziert das Spiel der Predigt als Bewegungsraum.“řřř
Wenn über die Bedeutung des Spiels für die Predigt nachgedacht wird und dabei dem Vorschlag gefolgt wird, diese als Bewegungsraum zu verstehen, dann müssen nun konsequenterweise auch Überlegungen zur Raumstruktur der Verkündigung Jesu angestellt werden. „Denen gesagt wurde, Dein Glaube hat dir geholfen!, das sind Menschen, denen zunächst ein Spielraum gegeben wurde, Menschen, die einen für sie vorbereiteten Erschließungs- und Entscheidungsraum betreten konnten, Menschen, denen in der ihnen vertrauten Welt eine neue, andere Welt eröffnet wurde, ein Welt-Raum, in denen sie zu entschiedenen Beteiligten, weil zu unmittelbaren Zeugen des Evangeliums wurden.“řřŚ Deutlich tritt hervor, dass es beim Predigen darum geht, die Gemeinde bzw. die einzelnen Menschen in ihr an dem Zeugnis des Evangeliums zu beteiligen. In dieser Richtung geht es darum, dass Menschen im Akt der Predigt „mitspielen“: „Wer predigt, läßt sich auf ein Spiel ein. Und
řřŖ Vgl. Joachim Scharfenberg, Spielen ernst genommen. In: Ders., Einführung in die
řřŗ
řřŘ řřř řřŚ
Pastoralpsychologie. Göttingen 1990 (1. Auflage 1985), 94, und Wolf-Withöft (2000: 680). Vgl. Gerhard Marcel Martin, The daily risk. Hagiodramatische Arbeit in der Risikogesellschaft. In: Ilona Nord/Fritz-Rüdiger Volz (Hgg.), An den Rändern. Lernprozesse mit Yorick Spiegel. Festschrift zum 70. Geburtstag. Münster 2005 (im Erscheinen). Martin verweist für die spielpädagogische Diskussion auf Christoph Riemer/Benedikt Sturzenecker (Hgg), Playing Arts. Gelnhausen 2002. Wolf-Withöft (2000: 680). Ebenda. Wilfried Engemann, Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung. In: Ders. (2003: 141–166); Ders., Der Spielraum der Predigt. In: Erich Garhammer/ Heinz-Günther Schöttler (Hgg.), Predigt als offenes Kunstwerk. München 1998, 185. Hervorhebung vom Autor.
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3 Medientheoretische Studien
wer einer Predigt zuhört, spielt mit.“řřś Es geht in rezeptionsästhetischer Sichtweise darum, Fantasie zu wecken und eigene Gedankengänge anzuregen, anstatt ein perfektes Schauspiel zu bieten, das auch ohne die Anwesenden abgespielt werden könnte. Die Interaktion mit den Menschen im Gottesdienst wird auf spielerische Weise nicht nur gefördert, sondern die Menschen werden dazu herausgefordert, die Welt des Glaubens für sich zu rekonstruieren. Eine solche Herausforderung kann auch das Format einer Spielintervention haben, wie in Verbindung zur Transaktionsanalyse vorgeschlagen worden ist.řřŜ Im rezeptionsästhetischen Ansatz zum Verständnis der Homiletik wird auch die Raumstruktur der Verkündigung Jesu, so wie sie in biblischen Texten auftritt, gedeutet und sich der Frage nach dem Ernst der Verkündigung gestellt.řřŝ Der Versuch, die Clownin für die Verkündigung (wieder-)zuentdecken, kann als ein weiterer Beitrag zur Integration von Witz und Humor in die kirchliche Predigtkultur verstanden werden. Dass es dabei keineswegs um lockere, oberflächlich lustige Unterhaltung geht, zeigt sich darin, dass die Clownin vor allem mit Leiderfahrungen spielt. Der Clown repräsentiere stets den Anderen bzw. die Andere, also eine leidende, gebrochene Existenz, die gerade aus ihrer Position zwischen den Welten nie die Hoffnung verliere. Doch die Clownin trägt beim Spielen auch zu einer produktiven Verwirrung eingeübter Wahrnehmungen bei, die humorvolle Akzente enthält.řřŞ
3.5 Die Virtual Communities: Zur Erfahrung der Dazugehörigkeit Stimmungsregulierung, emotionaler Austausch, das Gefühl, in einen kommunikativen Zusammenhang eintauchen zu können und dazuzugehören, dies beschreibt die – neben der Informationsvermittlung – stärkste Motivation,
řřś Karl-Heinz Bieritz, Die Predigt im Gottesdienst. Zuletzt in: Ders., Zeichen setzen.
Stuttgart 1995, 137–158. řřŜ Wilfried Engemann, Persönlichkeitsstruktur und Predigt. Leipzig 1992 (1. Auflage:
1989), 30 f. und 102–107. řřŝ Vgl. zu einer detaillierteren Auseinandersetzung mit diesem Entwurf Teil 2, 5. řřŞ Vgl. Gisela Matthiae, Clownin Gott. Eine feministische Dekonstruktion des Gött-
lichen. Stuttgart 1999; dies., Clownin Gott und Clownin Mensch. Überlegungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen. In: Hoffman (2001: 163–179). Matthiaes Ansatz wird in der Diskussion um gegenwärtige Ansätze zur Predigtlehre wieder aufgegriffen. Ebenso werden bibliodramatische Ansätze, die ebenfalls mit Formen des Theaterspiels arbeiten, dort besprochen, weil es in ihnen im näheren Sinne um neuere Formen des darstellenden Predigens geht.
3.5 Die Virtual Communities: Zur Erfahrung der Dazugehörigkeit
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sich in elektronisch vernetzten Räumen aufzuhalten. Am Phänomen von Virtual Communities wird besonders deutlich, wie sehr Kommunikation durch affektive Dimensionen bestimmt ist. Aber wie entsteht ein Gefühl zu einem virtuellen Raum? Aufschluss über die Besonderheit von virtuellen Sozialisierungsprozessen gibt ein Blick auf die Konzeption von virtuellen Räumen. Virtual Communities zeigen im Vergleich mit anderen, nicht elektronischen Sozialisierungsprozessen besonders radikal an, dass Räume sozial konstruiert werden. Gemeinsame Räume entstehen dort, wo Menschen sich in eine Umgebung begeben, in denen sie sich selbst sowie bestimmende Objekte relational angeordnet haben. Dies heißt nicht, dass jeder, der sich in einen virtuellen Raum begibt und hier auf eine Gruppe von Menschen stößt, sich am Arrangement des Raums beteiligen muss. Es stehen vorarrangierte Räume zur Verfügung und auf sie wird im alltäglichen Leben zurückgegriffen; doch sie werden auf spezifische Weise jeweils durch die Anwesenheit von Menschen verändert. Räume, so lautet die hier vertretene These, werden wahrnehmbar durch Empfindungen, die sich aus der Wirkung von in bestimmter Weise angeordneten Gegenständen und der Wahrnehmungsfähigkeit der sie synthesierenden Menschen entwickelt. Die Wirkung von Gegenständen und Menschen, die sich miteinander in Beziehung setzen, entwickeln im gemeinsamen Arrangement eine eigene Atmosphäre. „Das bedeutet, Atmosphären entstehen durch die Wahrnehmung von Wechselwirkungen zwischen Menschen oder/und aus der Außenwirkung sozialer Güter im Arrangement.“řřş Räume, in denen Menschen mit Menschen, Tieren, Dingen, Zeichen aller Art kommunizieren, sind also Arrangements von Anwesendem oder anders ausgedrückt: In Atmosphären finden sich diese Arrangements auf ihre spezifische Weise artikuliert. 3.5.1 Ein sozialphilosophisch-ästhetischer Blick auf Räume sowie dessen praktisch-theologische Rezeption Bevor eine praktisch-theologische Erörterung zum Verständnis von Gefühlen, Affekten, Stimmungen und Empfindungen sowie deren Bezügen zu Atmosphären unter der Fragestellung, welche Bedeutung sie für Religion haben, aufgenommen werden kannřŚŖ, soll hier zunächst nur die ästhetische Reflexion von Religion in ihrer Dimension als Atmosphäre im Mittelpunkt stehen. řřş Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001, 205. řŚŖ Vgl. 4.2. zum Verständnis von Religion.
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3 Medientheoretische Studien
Atmosphären zu reflektieren heißt, sich – im weitesten Sinne ihres Verständnisses – räumlich wahrnehmbaren Empfindungen zuzuwenden. Es geht um Empfindungen, die miteinander verbinden oder trennen, die dazu anregen, das eigene Selbstgefühl zu weiten und zu stärken, oder die es auch erdrücken können. Diese Empfindungen entstehen durch Relationen, in die Menschen untereinander treten, indem sie mit Gegenständen im Raum Kontakt aufnehmen und in denen Menschen darüber hinaus in sie selbst transzendierende Relationen treten. In diesem Sinne kann gesagt werden: Eine Atmosphäre ist eine Gestaltungsweise, wie Anwesenheit relational, als kommunikative Verbindung, leiblich wahrnehmbar wird. Für den Bereich religiöser Erfahrungen hat Manfred Josuttis sich wohl als Erster in der deutschsprachigen evangelischen Praktischen Theologie Atmosphären zugewandt und sie mithilfe der Philosophie Hermann Schmitz’ gedeutet. Für Josuttis geht es bei der Erkundung von Atmosphären vor allem darum, wie Gefühle der Anwesenheit des Göttlichen beschrieben werden können. Diese Fragestellung verknüpft er mit der Frage nach der Zukunft von Kirche. Die Kirche als Institution sei darauf angewiesen, dass sie durch das Ereignis von Gottes Gegenwart und damit durch das Geschehen von religiöser Erfahrung zur Kirche werde. Denn die Wirklichkeit von Kirche sei niemals auf die landeskirchliche Organisation oder das vorhandene Gemeindemilieu zu begrenzen, sondern die Institution sei auf das Ereignis angewiesen, in dem diese Institution Kirche durch die Präsenz des Göttlichen zum Gottesdienst der Gemeinde werde. Dies aber sei ein Geschehen ubi et quando visum est deo.řŚŗ Josuttis deutet in Anschluss an Schmitz Atmosphären pneumatologisch. Sie sind für ihn eine ergreifende Macht göttlichen Geistes. Sie bieten darin eine Möglichkeit, die Wirkung des göttlichen Geistes ästhetisch zu beschreiben. Dabei hat die weitere Beschreibung einer Atmosphäre als verbindendes Gefühl den Vorzug, dass sie das Bedürfnis nach Kontaktaufnahme und Gemeinschaft aufgreifen kann. Dieses Bedürfnis ist innerhalb der evangelischen Tradition wenig gepflegt worden. Die Individualisierung der Frömmigkeit und die Befreiung der Gestaltung des Gottesglaubens aus der Abhängigkeit der Institution Kirche gehören aus gutem Grund zum reformatorischen Kern des Protestantismus. Mit seiner Aufnahme der Atmosphärentheorie fördert Josuttis die Arbeit an der Sozialität und Beheimatung in Kirche sowie die Reflexion der persönlichen Spiritualität.
řŚŗ Vgl. Manfred Josuttis, Heiligung des Lebens. Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrung.
Gütersloh 2004, 41-48.
3.5 Die Virtual Communities: Zur Erfahrung der Dazugehörigkeit
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Dennoch kann m. E. nicht direkt an Josuttis angeknüpft werden, denn das Schmitzsche Konzept der Atmosphäre als ergreifender, von außen hereinbrechender Macht löst die Entstehung der Atmosphäre zu radikal von ihrer Beziehung zu Menschen und Dingen sowie Zeichen ab. Es ist das von außen einbrechende Geistererlebnis, das unmittelbar zu wirken scheint, und in dieser Unmittelbarkeit scheint die Atmosphäre dann göttlichen Charakter zu haben und eignet sich kaum mehr dazu, die Atmosphären von Gottesdiensten zu reflektieren. Zusätzlich liegt in dieser Ablösung der Atmosphäre von Menschen, Dingen und Zeichen auch die Gefahr, die kulturelle Prägung der Wahrnehmung von Atmosphären auszublenden. Es entsteht ein Bild, als ob es Atmosphären gäbe, die universell identisch wahrgenommen werden könnten.řŚŘ Wahrnehmung ist aber, so ist hier die leitende These, keineswegs als ein unmittelbarer Vorgang zu verstehen, sondern ist selektiv und über den Habitus strukturiert. Deshalb ist das Arrangement wie die Rezeption von Atmosphären auch abhängig von sozialen Strukturprinzipien wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität.řŚř 3.5.2 Zu einem ästhetischen Verständnis von Gemeinschaftsgefühlen Eine alternative theologische Deutung von Atmosphären ist noch nicht herausgearbeitet worden. Sie könnte allerdings an ein Verständnis von Atmosphären anknüpfen, das auf ästhetischen Korrespondenzen aufbaut. Über ein solches Konzept ist es möglich, Gemeinschaftsgefühle wahrzunehmen und zugleich deren Konstruktion transparent zu halten.řŚŚ Ein solcher Zugang lieferte auch eine Verbindung zu dem sozialphilosophisch-ästhetischen Verständnis von Atmosphären, das bereits die Relationalität von Menschen und Dingen in Anschlag brachte. Mit dem Schlüsselbegriff der Korrespondenz werden die Wechselwirkungen unter den Menschen und Gegenständen eines atmosphärischen Arrangements möglich zu beschreiben. Interdependenzen řŚŘ Dies ist sowohl für die Atmosphären-Konzepte von Hermann Schmitz wie für Ger-
not Böhme festzustellen. In der Bestimmung des Religionsverständnisses werden beide noch einmal ausführlicher dargestellt, vgl. 4.2. řŚř Vgl. Löw (2001: 210). řŚŚ Der Terminus Gemeinschaftsgefühl ist dabei in sich problematisch, denn er suggeriert, es gebe Gefühle, die von verschiedenen Menschen umstandslos geteilt werden könnten und auch noch auf dieselbe Weise von diesen gedeutet würden. Doch eine präzisere Erörterung dieses Problems ist hier leider nicht möglich. Der Begriff wird weiter verwendet, weil er als Hilfskonstruktion dazu dient, auf die nicht innerliche Seite von Gefühlen aufmerksam zu machen.
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zwischen dem, wie Atmosphären wahrgenommen werden, und dem, was sie zur Konstruktion von Wirklichkeit beitragen, könnten so thematisiert werden. Schließlich erhielte man einen Zugang zu Atmosphären in technischen Räumen, was für die Beschäftigung mit Atmosphären durchaus nicht üblich istřŚś, aber für die Reflexion virtueller Communitys eine basale Bedeutung hat. Von diesen kann die Gottesdienstlehre, so die hier vertretene These, durchaus lernen, weil über sie ein neues Blickfeld eröffnet wird dafür, wie religiöse Gefühle von Gemeinschaft praktisch-theologisch thematisiert werden können. Korresponsives Wahrnehmen spielt bereits im Denken von Baumgarten bis Hamann, von Nietzsche bis Husserl und Heidegger, Adorno und Gadamer eine wichtige Rolle. Knodt formuliert programmatisch: „Es ist ein Denken, das Wahrheit und Wahrnehmung aufeinander zuarbeitet und den primären schöpferischen Akt anzielt, statt das Verstehen oder Erklären, Interpretieren oder das wissenschaftliche Notat zu favorisieren. Korrespondenzdenken war nie bloß Kritik, Analyse oder Auslegung, sondern immer auch eine schöpferische Haltung dem Leben gegenüber, die zum Glücken desselben beitragen wollte.“řŚŜ Wenn Reinhard Knodt vom korresponsiven Wahrnehmen im technischen Raum spricht, ist zugleich die Lebenswelt gemeint, wie sie durch technische Naturbearbeitung, durch Institutionen rationalisierter Kommunikation, durch Medien, durch Informationsverarbeitung, durch Verkehr und alle Bereiche von Produktion und Konsumtion eingerichtet und alltäglich durch das Engagement von Menschen und ihrer Tätigkeit aufrechterhalten wird. Jener Raum sei zugleich Lebenswelt wie auch Naturverhältnis, er sei in einigen seiner Aspekte heute als ein Bereich der Gewalt, als institutionalisierte Naturzerstörung, instrumentelle Reduktion und Herrschaft der Technik beřŚś Atmosphärentheorien beziehen sich sehr häufig auf Lichtverhältnisse, so z. B. auf
Schauspiele des Wetters. Auch in der Theologie werden vorzugsweise Atmosphärentheorien rezipiert, die diese in der Natur aufsuchen, so etwa in den Entwürfen von Hermann Schmitz und Gernot Böhme, die z. B. von Josuttis und Mädler rezipiert worden sind. Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Atmosphären als ergreifende Mächte. In: Christoph Bizer, Jochen Cornelius-Bundschuh, Hans-Martin Gutmann, Theologisches geschenkt. Festschrift für Manfred Josuttis. Bovenden 1996, 52–58; Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, 7 ff.; vgl. Inken Mädler, Transfigurationen. Gütersloh 2006, 86–92. Allerdings befasst sich Mädler in ihrem Streiflicht zu Atmosphären auf Böhmes DingModell, indem z. B. die blaue Tasse zum Exemplum wird und man über den Terminus der Umgebungsqualitäten viele Ähnlichkeiten zum hier eingeführten korresponsiven Konzept von Atmosphären finden kann. řŚŜ Reinhard Knodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum. 8 Essays zur Kunst im Medienzeitalter. Ditzingen 1994, 8. Hervorhebungen vom Autor.
3.5 Die Virtual Communities: Zur Erfahrung der Dazugehörigkeit
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zeichnet worden. Adäquat fassbar werde er aber nur, wenn man sich gerade nicht von seinen Phänomenen abwende, als könne man dort sozusagen den anästhetischen Gegner und alle Seinsvergessenheit schon ausmachen. „Statt dessen kommt es darauf an, ihn als Horizont ästhetischer Korrespondenz neu zu entwerfen und damit wirklich zu interpretieren, wo viele Intellektuelle sich bisher nur distanzierten.“řŚŝ Knodt drückt dabei die Ambivalenzen, die im Technikgebrauch liegen, ebenfalls aus: „Die atmosphärische Situation in einer praktischen, wartungsfreien und herstellungsfreundlichen Gerätewelt aus Büros, Maschinen, Bankomaten, Abfertigungs-, Produktions- und Bildungshallen sowie sogenannter Grünanlagen, in die je nach Jahreszeit andere Blumen montiert werden, hat mit dem brutalen Funktionssinn zu tun, bei dem man im technischen Raum immer schon angekommen ist, egal wo man ist.“řŚŞ Trotzdem gilt es gerade in dieser Ambivalenz zu untersuchen, ob nicht auch im Gebrauch von Technik atmosphärische Korrespondenzen gefördert und damit auch Arbeitsatmosphären verändert werden können. Bemerkenswerterweise thematisiert Knodt nun nicht Virtual Communities, wo alle in einer atmosphärischen Konstellation des virtuellen Chatrooms oder Ähnlichem virtuell leiblich anwesend sind, sondern er reflektiert ein Beispiel, in dem die Grenzen zwischen technischem Raum und nicht technischem Raum fließender sind. Es handelt sich nicht um eine virtuelle Realität in Reinform, sondern um einen virtuellen Raum einer virtuell erweiterten Realität: es geht um das Tragen eines Walkmans. Man treffe etwa in einem Bus oder einer Bahn auf einen Menschen, der mit einem Walkman unterwegs sei. Gewöhnlich werde ihm vorgeworfen, er schneide sich von seiner Umwelt ab; dies zeige sich möglicherweise dem Betrachter in einem ihm teilnahmslos geltenden Blick des Walkman-Hörers. Für Knodt besteht die Quintessenz einer korresponsiven Wahrnehmung darin, dass mit dem Walkman ein Hörraum aufgebaut werde, der zugleich zu einer Atmosphäre werde. Der Mensch, der über den Walkman höre, müsse sich also keineswegs von seiner Umwelt abgeschnitten haben, sondern er sei in seinem synästhetischen Wahrnehmen nur in anderer Zusammensetzung mit seiner Umgebung beschäftigt. Da man nicht zwischen einem klaren und einem unklaren sinnlichen Wahrnehmen unterscheiden kann, da man kein falsches oder richtiges Teilnehmen am Weltgeschehen ermitteln kann, muss man, so Knodt, zumindest versuchshalber die Atmosphäre vergleichen, die er theoretisch mit und ohne Walkman entwirft. „Ich, der ich von ihm […] wie sinnierend angeblickt werde, mag bei ihm gerade jetzt auf neue, außergewöhnliche Weise vorkommen [...]. Der Mensch mit dem WalkřŚŝ Knodt (1994: 9). řŚŞ Knodt (1994: 57).
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man, dem ich womöglich noch vorwerfe, er habe sich von mir abgeschnitten – hat also längst dafür gesorgt, daß ich ihm durch seine Kunst der Synästhesie geradezu festlich nah bin.“řŚş Im Tragen des Walkmans können demzufolge sinnliche Genüsse kultiviert und der Bezug zur wahrgenommenen Welt intensiviert werden. Damit ist die Wahrnehmung, Technik sei verantwortlich für eine entfremdende, von der Realität distanzierende Haltung zum Leben, auf ästhetischem Wege durchbrochen.
Ein zweites, mehr traditionelles Beispiel, in dem auf atmosphärische Weise die Empfindung, dazuzugehören, stimuliert wird, bietet das Fest. Das Fest, so ist Knodts These, zelebriert Teilhabe. Menschen kommen zusammen, um zu feiern. Auf diese Weise öffnen sie sich für eine – im weitesten Sinne – gemeinsame Atmosphäre. „Nähe ist Teilhabe an einer Atmosphäre.“řśŖ Der atmosphärische Wert vieler Dinge sei davon abhängig, dass sie eine zwischenmenschliche Nähe herstellten, symbolisierten oder inszenierten. „Im Atemkreis eines bestimmten Gegenstandes ist es dann, als hätten wir menschliche Fäden durch die Jahrhunderte zu jenen geknüpft, die ein Bild malten, einen Schrank bauten, vor uns besaßen oder jenes abgegriffene Buch vor uns lasen.“351 Atmosphärische Korrespondenz mit Dingen sei also in vieler Hinsicht eine ästhetisch transformierte Korrespondenz mit Menschen oder – wie im Falle inszenierter Natur – mit dieser ihrem Ideal nach. Knodt verweist auch auf die religiöse Dimension von Festen. Sie gäben sich bis in die Anfänge menschlicher Kulturgeschichte als von Göttern eingerichtete Veranstaltungen zu erkennen. Denn die Götter treten bei diesen Festen selbst in Erscheinung, damit das menschliche Miteinander neu bestärkt wird. „Als Ausgleichselement und als Trost also ist das Fest zunächst zu werten. Das bloß Alltägliche wäre das Trostlose, der Verkehr mit den Göttern zur Befestigung der Gemeinschaft ist der Ursinn des Festes.“řśŘ Jan Assmann hat für die altägyptischen Feste das Atmosphärische sogar als den Zentralaspekt zur Erzeugung der Präsenz der Gottheit herausgearbeitet. Er spricht vom Festgeschehen als Atmosphärisierung, an der alle Festteilnehmer beteiligt sind. Sich vom Fest, ja von festlicher Gesinnung auszuschließen, dies gilt als Beleidigung der Gottheit, zumindest aber des Gastgebers. Die Kultivierung des sinnlichen Genusses ist nun der Weg, wie Nähe gefeiert werden kann. Festbräuche entfalten die Sinne. Erlesene Speisen, sorgfältige Zubereitung und Darreichung, Gerüche, Blumen, Duftsalben, Räucherwerk, berauschende Getränke, Musik und zielgerichtet eingesetzte erotiřŚş řśŖ řśŗ řśŘ
Knodt (1994: 64). Ebenda. Ebenda. Vgl. Assmann bei Knodt (1994: 65).
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix
125
sche Reize gehören dazu. Auch die Übersteigerung der Entfaltung der Sinne wird inszeniert: Es kommt zielgerichtet zur atmosphärischen Überflutung, „d. h. zur synergetischen Harmonie der Affekte, zum Festrausch, der Aufhebung von Raum und Zeit und zur Einrichtung eines neuen sozialen Raumes, dem Raum des Festes als zelebrierter, gemeinschaftlicher Atmosphäre.“řśř Wo Feste gefeiert werden, werden Immersionseffekte beabsichtigt. Darin werden sie zu Kommunikationsräumen, in denen es möglich wird, den Alltag zu durchbrechen. Dies geschieht auch mit der Absicht, diesen Durchbruch nachhaltig zu erreichen. Deshalb können sie als Experimente zu einem veränderten Leben gesehen werden. Die emotionalen Bedeutungen, die virtuelle Realitäten auszulösen vermögen, werden insbesondere durch die Intensivierung sinnlicher Wahrnehmungen inszeniert. Das Gefühl dazuzugehören, selbst anwesend unter anwesenden Menschen zu sein, ist ein Prozess, der durch ästhetische Korrespondenzen unter Menschen, Gegenständen und Zeichen hervorgerufen wird. In diesem Prozess überlagern sich virtuelle Leibkörper und vermitteln darin, dass Menschen sich einander verbunden fühlen, obgleich sie sich nicht körperlich berühren können. Virtual Communities beziehen ihre Attraktivität gerade aus der intensiven Begegnungsart, die durch den immersiven Einsatz von Menschen, Dingen und Zeichen hervorgerufen wird. Mit der Gestaltung von Atmosphären wird kommunikativ zum Ausdruck gebracht, dass man Menschen die Empfindung geben möchte, dazuzugehören oder eben ausgeschlossen zu sein. Die Verbindungen zur Lebenswelt des Gottesdienstes sind zumindest bezüglich des religiösen Festes angesprochen worden. An Kommunikationsräumen im World Wide Web kann man nun aber für die Kommunikation des Evangeliums z. B. im Sonntagsgottesdienst ablesen, dass ästhetische Korrespondenzen es veranlassen, dass ein Gemeinschaftsgefühl in den einzelnen anwesenden Menschen aufkommen kann. Für die Erfahrung, dazuzugehören, sind sie von grundlegender Bedeutung.
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix Innerhalb der modernen, insbesondere der philosophischen Diskussion genoss die Zeit gegenüber dem Raum eine Vorrangstellung. Martin Heideggers einflussreiches Werk Sein und ZeitřśŚ steht dafür. Dies gilt aber auch für die řśř Knodt (1994: 66). řśŚ Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1927.
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theologische Diskussion, wie mit der Theologie Tillichs noch gezeigt werden wird. Dieser Vorrang wird gegenwärtig relativiert. Auch die Veränderung von Kommunikation im Cybernetic Turn trägt hierzu bei. Doch die Relativierung der Bedeutung der Zeit gegenüber dem Raum wird keineswegs unkritisch gesehen. Kulturkritische Argumente indizieren z. B. zusammen mit modernen Enttraditionalisierungsprozessen zugleich den Geschichtsverlust westlicher Gesellschaften. Dieser Kritik zufolge befördere der Cyberspace Weltflucht bzw. eine Flucht in einen anderen als den realen Raum, in der die Immaterialität hoch geschätzt werde, in der Vergänglichkeit, Zeitlichkeit und Erinnerung nicht mehr als bestimmend angesehen würden. Man begebe sich vielmehr gerade in eine Sphäre der immateriellen Geistigkeit. Geschichtslosigkeit wird als kulturelles Phänomen befürchtet.řśś 3.6.1 Philosophische und sozialwissenschaftliche Aspekte Geschichte vollzieht sich nicht in Sondergeschichten, sondern in den Koordinaten von Raum und Zeit. Wer von Geschichte spricht, spricht von ihr auch innerhalb eines bestimmten Verhältnisses von Raum und Zeit. „Denn Geschichte hat es immer mit der Zeit zu tun, mit Zeiten, die nicht nur metaphorisch, sondern auch empirisch auf räumliche Vorgaben bezogen bleiben, so wie geschehen, das der Geschichte vorangehende Verb, zunächst auf eilen, rennen oder fliegen verweist, also auf die räumliche Fortbewegung [...] Zeitliche und räumliche Fragen bleiben immer ineinander verschränkt, auch wenn die metaphorische Kraft aller Zeitbilder anfangs den räumlichen Anschauungen entspringt.“řśŜ Koselleks Zeitschichten bringen geografische und damit räumliche Metaphern in eine Deutung von Geschichte ein und betonen außerdem die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in ihr. Dies verändert nicht nur die Wahrnehmung von Geschichte, sondern eben auch die des Verhältnisses von Raum und Zeit. Um im Rahmen der Praktischen Theologie einen Schritt zur Umorientierung machen, soll für die christliche Theologie die Vorrangstellung der Zeit vor dem Raum zumindest kurz erläutert werden, weil sie mit der grundlegenden These verbunden ist, dass das Christentum eine geschichtliche Religion ist. Hierfür wird auf die Position von Paul Tillich beispielhaft zurückgegriffen. Von ihm aus wird ein Versuch zu einem Verständnis von Raum und Zeit unternommen, das sich insbesondere auf virtuelle Realitäten bezieht. řśś Vgl. 1.1. řśŜ Reinhart Kosellek, Zeitschichten. Frankfurt a. M. 2003, 9.
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix
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Es geht auf die bereits genannte Soziologin Martina Löw und den Soziologen und Medienwissenschaftler Manuel Castells zurück. Herkömmliche Raumerfahrungen, wie etwa der Eintritt in einen Bahnhof, das Öffnen der eigenen Wohnungstür und der Blick vom Flur in die Küche, diese und andere Raumerfahrungen unterscheiden sich von den Raumerfahrungen in virtuellen Realitäten insbesondere in folgender Hinsicht: Der Cyberspace ist – im Gegensatz zur Bahnhofshalle – elektronisch konstruiert, er entsteht erst mit dem Eintritt in virtuelle Realitäten. Sie sind computervermittelte Kommunikationsräume, die sowohl an Apparate als auch an Software und deren Gebrauch gebunden sind. Sie verändern sich ständig mit der Bewegung derer, die sie betreten, und ermöglichen Übergänge in weitere virtuelle Räume bzw. deren Realitäten. Raum als materielles Substrat, Territorium oder Ort zu entwerfen, trägt immer weniger. Diese Entwicklung fördert nun aber die wissenschaftliche Reflexion über den Raumbegriff, die – wie Elisabeth Konau bereits 1977 festhielt – auch eine vernachlässigte Dimension soziologischer Theoriebildung gewesen ist.řśŝ „Raum haftet nicht nur die Vorstellung des Starren an, sondern erinnert auch an die geopolitischen Argumentationen im 2. Weltkrieg. In der Soziologie führt die negative Besetzung des Wortes Raum – weit über die Grenzen Deutschlands hinaus – zu einer Abkehr von theoretischen Auseinandersetzungen um den Raumbegriff.“řśŞ So wird die Thematisierung von Raum auch mithilfe der Diskussion um die kulturelle und soziale Bedeutung des Cyberspace aus dem Schatten einer geschichtlich bedingten Tabuisierung herausgenommen. Auszugehen ist zumindest mit der jüngeren soziologischen Diskussion von einem sozial konstruierten Raum, der durch materielle und symbolische bzw. zeichenhafte Komponenten gekennzeichnet ist. Dabei wird nicht mehr zwischen einem sozialen und einem materiellen Raum unterschieden, ebenso wenig wird davon ausgegangen, dass ein Raum betrachtet werden könnte, ohne dass diese Betrachtung gesellschaftlich vorstrukturiert wäre.řśş Aufgrund einer solchen Raumvorstellung, die auf einer Theorie sozialer Strukturierung und Konstruktion von Raum basiert, wird es möglich, bestimmte Vor-Urteile, die z. B. mit der Unterscheidung eines materiellen von einem sozialen Raum einhergehen, aufzubrechen und damit auch neue Bedeutungen für nun entstehende Kommunikationsräume zu entwerfen. So ist die am meisten irriřśŝ Vgl. Elisabeth Konau, Raum und soziales Handeln. Studien zu einer vernachlässigten
Dimension soziologischer Theoriebildung. Stuttgart 1977. Hervorhebung von der Autorin. řśŞ Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001, 11. řśş Vgl. Löw (2001: 15).
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3 Medientheoretische Studien
tierende Charakteristik des virtuellen Raums, soweit ich sehe, dass er eben nicht in dem herkömmlichen Sinne als materieller Raum lokalisierbar ist. Dieses Merkmal führt bei einigen Kritikern des Cyberspace zu dem Urteil, es handele sich deshalb um einen Utopos und eine immaterielle Sphäre. So schreibt z. B. Hartmut Böhme: „[...] ist die Erde dem materiellen Elend zugeordnet, so Cyberspace der entweder problementrückten oder problemlösenden Sphäre des Geistes; ist die Erde mit Schmutz konnotiert, so Cyberspace mit Reinheit; ist die Zeitform der Erde durch Entropiezuwachs, Sterblichkeit und Endlichkeit charakterisiert, so ist die Zeitform von Cyberspace die der Omnipräsenz, der Entgrenzung und der Abwesenheit des Todes.”řŜŖ Mit anderen Worten: Hier wird Fantasien Raum gegeben, die sich von der Zeitlichkeit im Sinne der Vergänglichkeit materiellen Lebens lösen. Diese Fantasien können allerdings nicht auf die Entwicklung des Cyberspace zurückgeführt werden, sondern sie entsprechen einer urmenschlichen Sehnsucht nach einem heilen Leben, das gerade in der christlichen Tradition auch einen festen Platz hat. So ist z. B. neben der Vorstellung von der leiblichen Auferstehung auch immer die Vorstellung eines Seelenheils kultiviert worden, das eine solche geistige, ätherische himmlische Existenz vorsieht.řŜŗ Wenn dem Cyberspace also eine solche Funktion zugeschrieben wird, hätte gerade die christliche Tradition eine Klärung auf eigenem Feld zu leisten.
Zunächst geht es aber in diesem Zusammenhang zumindest in ersten Ansätzen darum, warum auch innerhalb der Theologie die Bedeutung der Zeit vor der des Raums einen Vorrang erhalten hat. 3.6.2 Theologische Aspekte Paul Tillich fragt in einem Beitrag über geschichtliches und ungeschichtliches Denken danach, welche Kategorie, Raum oder Zeit, für eine Lebenshaltung bestimmend sei. Er sieht beide Lebenshaltungen als vertreten an, sowohl eine, die vom Raum determiniert sei, wie auch eine, die von der Zeit determiniert werde. Die Frage, die die Alternative zwischen einem geschichtlichen und einem ungeschichtlichen Denken aufwirft, sei: „[...] wie verhalten sie sich zueinander, für welche von beiden können oder müssen wir uns entscheiden? Ungeschichtliches Denken ist ein Denken, in dem der Raum der Zeit
řŜŖ Vgl. Hartmut Böhme, Von der Vernetzung zur Virtualisierung der Städte: Ende der
Philosophie – Beginn des Neuen Jerusalem? www.culture.hu-berlin.de/hb/volltexte/ texte/vernetzung.html (Stand: 16.06.2008), Anm. 86. řŜŗ Vgl. Wertheim (2000).
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix
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überlegen ist und die Zeit dem Raum untergeordnet und eingeordnet wird.“řŜŘ Tillich führt die klassische Mystik in Europa und Indien für eine Weltanschauung an, in der der Raum der Zeit vorgeordnet wird. Er führt Spielarten des sogenannten Naturalismus an, in dem ein Grund der Natur zur Basis erklärt oder eine übernatürliche Substanz oder die ewige Wiederkehr propagiert werde. Drittens führt er einen Existenzialismus an, in dem ein Mensch im Tod von der Geschichte, der Lebensgeschichte wie der Menschheitsgeschichte, isoliert werde. Ohne nun für die einzelnen Beispiele eine für sie adäquate Reflexion herbeiführen zu können, verdeutlichen diese, welchen Argumentationen Tillich sich gegenübergestellt sieht. Gerade der Protestantismus habe die Raumgebundenheit zurückgedrängt, damit Fixierungen auf heilige Orte wie Rom oder China oder Moskau überwunden würden. Dies macht auch seine These besser verständlich: „Der Sieg der Zeit über den Raum ist nicht der Sieg abstrakter Begriffe in der Philosophie, sondern ein weltgeschichtlicher Sieg. Der Sieg der Zeit ist vor allem und grundlegend der Sieg über den Polytheismus und alle seine säkularen Formen, deren wichtigste und verheerendste der Nationalismus ist.“řŜř Polytheismus und Nationalismus sind die beiden Ismen, mit denen Tillich eine Orientierung am Raum verbindet: „Polytheismus in der religiösen Form oder Polytheismus in der säkularen Form, das heißt Nationalismus, hat einen Charakter, der deutlich die Merkmale der Überlegenheit des Raumes zeigt. Polytheismus ist ganz sicher nicht die Annahme vieler Götter im Gegensatz zu einem Gott. Polytheismus ist die Absolutsetzung eines Raumes neben anderen Räumen. Der Gott, der diesen Raum oder diese Wertsphäre regiert, ist der absolute Gott; aber die anderen Götter erheben denselben Anspruch, und das ist das Verheerende, Zerspaltende und dämonisch Zerstörende des Polytheismus.“řŜŚ Mit der Vorrangstellung des Raums befürchtet Tillich demgemäß eine Auseinandersetzung um die Räume, in denen eine Religion und ein Gottesglaube Geltung haben. Die Verbindung zu gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Hegemonialität von Kulturen und Religionen liegt nahe, z. B. mit der Erschütterung, die von nineeleven ausgegangen ist. Es geht dabei auch um eine Auseinandersetzung um Räume, die religiös besetzt sind. Die Kritik, die Tillich an der Verbindung von Raum und Nationalismus übt, bleibt also weiter aktuell. řŜŘ Paul Tillich, Geschichtliches und ungeschichtliches Denken. Vortrag in der Deut-
schen Hochschule für Politik im Sommer 1951 in Berlin. Gesammelte Werke Band VI, Stuttgart 1963, 172–184, hier 173. řŜř Tillich (1963: 179). řŜŚ Tillich (1963 : 180).
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Seine Überlegungen zur Bedeutung der Utopie weisen aus, dass er durchaus eine Vorstellung von der Transzendierung des Verhältnisses von Raum und Zeit hat. In der Beschreibung diesseitiger Verhältnisse bleibt er aber einem relativ dualistischen Weltbild, das den Widerstreit von Zeit und Raum thematisiert, verhaftet. Tillichs Raum-Konzept ist an einer Vorstellung orientiert, die Räume bei aller Einbeziehung der Prozessphilosophie Whiteheads doch stets mit der Hegemonie von politischen Systemen verbindet. Insofern bleibt im Verhältnis von Zeit und Raum der Zeit doch ein Vorrang.řŜś Ein alternatives Raumkonzept sieht Menschen in ihrer Beziehung zu Räumen. Menschen und Dinge sind in Geschichten verstrickt und dabei zugleich in Szenarien verwickelt, die ihnen auf diese Weise Identität geben.řŜŜ Es sind Räume, in denen wir uns bewegen und heimisch werden, es sind Räume, die uns im Laufe unserer Lebenszeit entweder zur Heimat oder auch fremd werden. Es gibt demnach so etwas wie eine räumliche Zugehörigkeit von Personen und Dingen. Das Wer und das Was einer Lebenstätigkeit ist selbst schon mitgeprägt durch das Wo: „Auf gewisse Weise erneuert sich damit die antike Raumauffassung, die mit Topoi rechnet, das heißt mit Plätzen, die ein Wesen einnimmt, die ihm zugehören, und eine place identity schaffen [...].“řŜŝ Nur so könne jemand am falschen, unpassenden oder ungünstigen Ort sein, und nur so könne die Welt auf dem Kopf stehen und alles drunter und drüber gehen. Der gelebte Raum ist, so konstatiert Waldenfels, kein leerer Behälter, sondern ein mehr oder weniger erfüllter und gegliederter Raum. Auf diese Weise erhält der Raum in der Paarung von Raum und Zeit eine eigenständigere Kontur. Man könnte auch sagen: Nun, in Zeiten der Virtualisierung, löst sich die Dominanzstruktur der Zeit über den Raum auf. Für die Sozialphilosophie lässt sich diese Bewegung im Begriff der Globalisierung bündeln. Lokales und Globales miteinander in Balance zu halten, ist ein wichtiges Thema der Raum-DiskussionřŜŞ, in die auch die Transformation urbaner Architektur inklusive der Virtualisierung von Global-Citys gehört. Computernetzwerke lassen einen global organisierten Raum entstehen, der grenzenlos, permanent veränderbar und nicht mehr örtlich fixiert ist. „Das Internet gilt řŜś An die Zeit und ihren Vorrang ist innerhalb der modernen christlichen Theologie
schließlich auch die entscheidende Wirkung von Verkündigung gebunden: Wo Gott und Mensch miteinander in Kommunikation treten, wird Zukunft eröffnet. Das mit Jesus als dem Christus angebrochene Reich Gottes eröffnet Zukunft, bis hin zur Eschatologie und der Hoffnung auf ewiges Leben. Die Vorstellung vom Reich Gottes ist sicher für räumliche Assoziationen offen, doch diese werden kaum thematisiert. řŜŜ Vgl. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 1985, 197. řŜŝ Waldenfels (1985:196). Hervorhebung vom Autor. řŜŞ Vgl. die Reihe Zweite Moderne im Suhrkamp-Verlag.
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix
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daher als wesentlicher Beleg für einen gesellschaftlichen Globalisierungsprozeß.“řŜş Als eine Konsequenz dieser These ergibt sich, dass die soziale Konstruktion von Raum immer mehr als wesentlich zu berücksichtigen ist. Die Kategorie Zeit ist im Vergleich dazu z. B. mit der Biografieforschung in den vergangenen Jahren wesentlich systematischer als Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit diskutiert worden als die Kategorie Raum.řŝŖ Positionen, die dennoch vertreten, dass durch die Zunahme medialer Kommunikationen Nicht-Orte entstünden, führen zu Hypostasierungen von Technik und thematisieren darin im Grunde ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber Entwicklungsprozessen, an denen diejenigen, die Kritik üben, keinen Anteil haben und auch keinen Anteil nehmen. So heißt es etwa: „[…] an die Stelle der Städte tritt der unendlich ausgedehnte Raum des kulturell und medial Imaginären, an die Stelle der Berührung das Bewusstsein als Projektionsfläche für die Bildwelten und Erzählungen des Imaginären, die unablässig Erinnerungen und Vorstellungen sich anverwandeln, sie mit ihren Mustern durchdringen, ihren Ordnungen assimilieren.”řŝŗ Als Alternative zu dieser Vorgehensweise bietet Manuel Castells Wahrnehmungs- und Interpretationshilfen an, indem er in Bezug auf virtuelle Kommunikationen vom Raum der Ströme spricht und dabei Transformationsprozesse erschließt, ohne von vornherein moralische Urteile zu präjudizieren. Trotzdem unterlässt er es nicht, Risiken und Chancen dieser Umorientierung aufzuzeigen. Castells beginnt grundsätzlich: „Was ist Raum? In der Physik lässt er sich nicht außerhalb der Dynamik der Materie definieren. In der Sozialtheorie lässt er sich nicht ohne Bezug auf gesellschaftliche Praxis definieren.“řŝŘ Damit ist Castells wie Tillich an der Bedeutung von Räumen für das Zusammenleben von Menschen interessiert. Auch wenn der virtuelle Raum nicht permanent sichtbar ist, hat er, so betont Castells, eine materielle Struktur. Sie sei von Materie abhängig und wirke zugleich symbolisch. Die hohe Bedeutung des Cyberspace erschließe sich nun daraus, dass dieser Raum Praxen zusammenbringe, die simultan verliefen. Traditionell ist die Vorstellung der Simultaneität mit Nähe in Verbindung gebracht worden. Die Verschwisterung von Gleichzeitigkeit und Nähe wird nun allerdings aufgelöst: „Es ist jedoch wesentlich, dass wir dieses Basiskonzept der materiellen řŜş Löw (2001: 103). řŝŖ Vgl. auch Löw (2001: 10). řŝŗ Heinz Brüggemann, Diskurs des Urbanismus und literarische Figuration der Sinne in
der Moderne. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (1998: 397). řŝŘ Castells (2001: 466).
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Grundlage simultaner Praxisformen von der Vorstellung der Nähe lösen, um die mögliche Existenz materieller Grundlagen der Gleichzeitigkeit zu berücksichtigen, die nicht auf physischer Nähe beruhen; denn genau dies trifft auf die herrschenden Praxisformen des Informationszeitalters zu.“řŝř Castells versteht unter herrschenden Praxisformen diejenigen organisatorischen und institutionellen Arrangements, deren innere Logik eine strategische Rolle bei der Gestaltung gesellschaftlichen Lebens spielt. Sie wirken auch auf das soziale Bewusstsein und damit auf die symbolische Reproduktion einer ganzen Gesellschaft ein. Er nimmt diese Praxisformen nun in größeren Zusammenhängen als Ströme wahr. Dieses Bild aus der Natur von Flusslandschaften, assoziiert mit Modellen elektrischer und elektronischer Ströme, wird für ihn zum Sinnbild in der Beschreibung westlicher Gesellschaften. Er beschreibt Ströme von Kapital, von Information, Ströme organisierter Interaktion und Ströme von Bildern, Tönen und Symbolen. Dabei erschließt er aus soziologischer Perspektive, wie Ströme zweckgerichtete, repetitive, programmierbare Sequenzen des Austauschs darstellen und der Interaktion zwischen physisch unverbundenen Positionen dienen. Ströme vernetzten soziale Akteure innerhalb der wirtschaftlichen, politischen und symbolischen Strukturen der Gesellschaft. Gegen die These von der Immaterialität des Cyberspaces werden nun drei Ebenen materieller Grundlagen des Raums der Ströme mit Castells beschrieben: „Die erste Ebene, die erste materielle Grundlage des Raums der Ströme besteht [...] aus einem Kreislauf elektronischer Vermittlungen – mikroelektronische Geräte, Telekommunikation, computergestützte Verarbeitung, Funksysteme und Hochgeschwindigkeitstransport[,] der ebenfalls auf der Mikroelektronik beruht.”řŝŚ Wie Räume erfahren werden, hängt demnach davon ab, dass sie genutzt werden. Räume sind in diesem Sinne keine feststehenden Objekte, die wiederum Dinge beherbergen, sie sind genaugenommen Lebensverhältnisse, sie werden erlebt und gelebt.řŝś Und dies geschieht im Wesentlichen über Bewegungen, mit denen sie erkundet werden. Wolf-Eckart Failing kann mit seiner phänomenologischen Sichtweise Castells eher soziologische Perspektive weiter untermauern. Räume werden im Gegensatz zur herkömmlichen Wahrnehmung als physikalisch konstruierter Container keineswegs als homogen angesehen. Es sei vielmehr von einer Verschachtelung, Überlagerung und Durchdringung mehrerer Räumlichkeiten auszugehen. řŝř Castells (2001: 467). řŝŚ Castells (2001: 467 f.). řŝś Vgl. Failing (1998: 99).
3.6 Von der Weltflucht in die Matrix
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Diese Ausführungen bezieht Failing nicht auf den Kontext des Cyberspace, aber sie bieten durchaus einen Schlüssel an, werden sie in diesem Kontext gelesen: „Er [der Raum; I. N.] ist nicht einmal der Raum. Er ist vielmehr eine Verschachtelung, Überlagerung und Durchdringung mehrerer Räumlichkeiten, von Orten in Orten, Häusern in Häusern: ein Ineinander von Innen- und Außenwelten, von Fiktion und Realität. Diese Orte, Plätze, Räume sind unterschiedlich sowohl in ihrer Dimension, in den Maßen und Wertigkeiten, wie auch hinsichtlich Gestalt, Intensität, Prägnanz und Tragweite.“řŝŜ Räume verflüssigen damit ihre Konturen, man kann vom einen in einen anderen wechseln. In der Bewegung durch diesen Raum, der aus vielen Räumen besteht, lässt sich das, was Castells Raum der Ströme genannt hat, nach der Seite leibhaftiger Orientierungsversuche im Raum durchkonjugieren. Jede Bewegung des Körpers bewirkt eine Veränderung in der Perspektive, mit der Lebenswelten wahrgenommen werden.řŝŝ Der Cyberspace verlangt uns ein verflüssigtes Raumkonzept ab, das Zeit und Raum enger miteinander verschränkt.
„Die zweite Ebene des Raums der Ströme ist durch dessen Knoten und Zentren bestimmt.“řŝŞ Manche Orte sind nach Castells als Austauscherinnen zu bezeichnen, die für die reibungslose Interaktion aller in das Netzwerk integrierten Elemente sorgen. Andere Orte seien die Knoten des Netzwerks, das heißt der Ort strategisch wichtiger Funktionen, die um eine Schlüsselfunktion im Netzwerk herum eine Reihe lokalisierter Tätigkeiten und Organisationen aufbauten. „Die dritte wichtige Ebene des Raums der Ströme betrifft die räumliche Organisation der herrschenden Führungseliten (nicht: Klassen), die die direktiven Funktionen ausüben, um die herum dieser Raum aufgebaut ist.“řŝş Der Raum der Ströme ist, so Castells, sicherlich nicht die einzige mögliche, er ist aber die beherrschende räumliche Logik westlicher Gesellschaften, „weil er die räumliche Logik der herrschenden Interessen und Funktionen in unserer Gesellschaft ist. Aber diese Herrschaft ist nicht ausschließlich strukturbedingt“řŞŖ. Castells blendet aus seinem sozialtheoretischen Blickwinkel nicht die sozialen Akteurinnen und Akteure aus, die als technokratisch-finanzielle Elite nicht nur zentrale Positionen innerhalb einer Gesellschaft einnehmen, sondern zugleich auch räumliche Forderungen stellen. Sie tun dies, um mateřŝŜ Failing (1998: 99 f.). řŝŝ Vgl. hierzu auch Seel (2000: 291 f.). Sich im Bilde zu bewegen oder eben ein Bild im
Computer anzuschauen, sind sehr verschiedene Vorgänge, auf die ich hier leider nicht eingehen kann. Vgl. auch Lambert Wiesing, Phänomene im Bild, München 2000: Der Autor regt dazu an zu sehen, dass das Bild schon wie ein primitiver Cyberspace behandelt wird. řŝŞ Ebenda. řŝş Castells (2001: 470). řŞŖ Castells (2001: 471).
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rielle und räumliche Grundlagen für ihre Interessen und Praxisformen abzusichern. Auf diese Weise spiele die Verbindung der Eliten untereinander und die Segmentation und Desorganisation der Massen zusammen. Castells nennt diese Dynamik einen Doppelmechanismus sozialer Herrschaft in unserer Gesellschaft. Der Raum spiele in diesem Mechanismus eine grundlegende Rolle: „Eliten sind kosmopolitisch, einfache Leute sind lokal. Der Raum von Macht und Reichtum wird über die ganze Welt hinweg projiziert, während Leben und Erfahrungen der einfachen Leute an Orten, in ihrer Kultur und in ihrer Geschichte verwurzelt bleiben.”řŞŗ Räume sind aus dieser Perspektive einmal mehr als soziale Konstruktionen wahrzunehmen. Mit der Vorstellung von einem Raum der Ströme wird die Bedeutung lokaler und nationaler Kulturen aufgewertet. Die Differenzen und Konflikte, die eine solche Aufwertung mit sich bringen, werden aber nicht zugunsten einer Einheitskultur eingeebnet. Vielmehr wird deutlich, wie sehr der Umgang mit verschiedenen Orientierungen in der Bewegung durch verschiedene Lebensräume zur Herausforderung für eine Theologie wird, die sich gegenwärtigen Veränderungen in der Kommunikationskultur stellen will. Eine Aufwertung der theologischen Bedeutung des Raums trägt zu einer Aufwertung der Liebe zum Unterschiedlichen, das nebeneinander Raum nimmt und dem nebeneinander Raum gelassen wird, bei. Soweit ich sehen kann, spricht Paul Tillich zwar auch von ‚dem geschichtlichen Raum’. Mit dieser Ausdrucksweise erkennt er an, dass Geschichte lokale und damit soziale Koordinaten hat. Doch in Tillichs Theologie findet keine eigene soziale Konturierung des Raumes gegenüber der Zeit statt. Welche Schlussfolgerungen sind für eine Christologie, die sich stärker räumlich orientierte, zu ziehen? Wo die Lebens- und Wirkungsgeschichte Jesu Christi stärker räumlich wahrgenommen wird, erhält die kulturelle Vielfalt christlicher Religiosität hohe Bedeutung. Eine Fahrt durch den Raum der Ströme verdeutlicht, wie fremd die Aufnahme der Auferstehungsbotschaft in anderen als der bekannten Umgebung gestaltet sein kann. Diese sicher spätestens seit der Kontextualisierungsdebatte zur Basis der Christologie gehörende Einsicht genießt nun einen anderen Stellenwert innerhalb der Theologie. Man wird ein höheres Augenmerk auf das Thema des SynkretismusřŞŘ legen und sehen, wie sehr jede Religiosität, jeder Glaubensausdruck nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern auch seines kulturellen Raums ist. Sich im Raum der Ströme zu vernetzen heißt, Distanzen bestehen zu lassen und Nähe řŞŗ Ebenda. řŞŘ Vgl. Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre
theologische Reflexion. Zürich 2005, 122–128.
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einzugehen, aber auch wieder aufzugeben. Vernetzung heißt nicht Verschmelzung, heißt nicht lebenslange Verkettung mit einem Knotenpunkt im Netz. Wo der Glaube an Christus zum Beispiel vernetzt ist mit dem Glauben in anderen Religionen, können nun vermehrt Wechsel in der Religion innerhalb einer Lebensgeschichte – und nicht nur innerhalb von Konfessionen – auftreten. Es kann als sicher gelten, dass sich alle Religionen durch Vernetzung wechselseitig beeinflussen. Dass sie sich auch ähnlicher werden, ist nicht selbstverständlich; dass sie sich besser verstehen lernen, ist zu hoffen.řŞř Jesus Christus als Mitte der Geschichte wahrzunehmen, diese Position kann nicht mehr ohne eine Reflexion auskommen, die die Alternative von zyklischen und linearen Zeitbildern verlässt. Es gilt, die räumliche Bedeutung von Lebensgeschichten und Geschichte insgesamt zu bedenken und Knotenpunkte von Vernetzungen zwischen dem, was gleichzeitig, und dem, was ungleichzeitig auf die Deutung des eigenen Lebens wirkt, in den Blick zu nehmen. Ein objektivistisches Geschichtsverständnis wird in den meisten gegenwärtigen Theorieansätzen in Frage gestellt, denn: „Die geschichtliche Wirklichkeit, die der Historiker erarbeitet und beschreibt, ist demnach nicht das wirkliche vergangene Geschehen, sondern sie ist immer die individuelle kreative Konstruktion eines gegenwärtig lebenden historischen Beobachters.“řŞŚ Was historisch Forschende aus ihrem Quellenmaterial mittels Auslese, Abstraktion und Verknüpfung machen und dann als Geschichte präsentieren, verweist auf das Verstehen einer bestimmten Historikerin oder eines bestimmten Historikers. Dies bedeutet allerdings längst nicht, dass alle Deutung beliebig wäre. Das, was gestaltet wird, wird zugleich durch die Quellen, die genutzt werden, begrenzt und bestimmt. Reinhart Kosellek hat dies das Vetorecht der Quellen genannt: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. [...] Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“řŞś řŞř Vgl. Wolfgang Nethöfel, Matrixbewusstsein oder die Innenseite der Globalisierung.
In: Hans-Martin Gutmann/Cathrin Gutwald (Hgg.), Religiöse Wellness. München 2005, 135. řŞŚ Adalbert Keller, Geschichtliche Wirklichkeit und Virtuelle Realität. In: Peter Roth/ Stefan Schreiber/Stefan Siemons (Hgg.), Die Anwesenheit des Abwesenden. Augsburg 2000, 112. řŞś Reinhart Kosellek, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, 206. Vgl. auch Keller (2000: 116 f.).
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3 Medientheoretische Studien
In diesem Sinne ist die Rede von Jesus Christus als Mitte der Geschichte durchaus weiterhin als eine Glaubensaussage mit historischer Valenz zu verstehen. Sie beschreibt, wie Christinnen und Christen je auf ihre Weise die Gegenwart Gottes in Jesus Christus wahrnehmen und zum Zentrum ihrer historischen Konstruktion machen.
4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion 4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien Vom Massen- und Leitmedium Fernsehen hin zu vernetzten Computertechnologien: Medien fordern Kirche und Theologie wiederholt zu eingehender Reflexion ihrer Position heraus. Ob es nun um den Buchdruck, die Erfindung des Films oder den Aufbau des Rundfunks ging, jedes dieser Medien wurde zunächst entweder mit aufklärerischen Hoffnungen gefeiert oder mit kulturpessimistischen Zweifeln kritisiert. Dass die Neuen Medien ebenfalls solche Reaktionen hervorrufen, kann deshalb kaum überraschen.řŞŜ Doch in dieser Skepsis liegt auch die Chance zu einer tiefer greifenden Auseinandersetzung mit medialen Entwicklungsprozessen. Hans Thomé hatte Bedenken bezüglich des Fernsehgottesdienstes vorgetragen; Wolfgang Petkewitz hatte sich bereits auf Informations- und Kommunikationsmedien bezogen und kritisiert, dass die Dezentralität der Neuen Medien Kommunikation nicht kontrollierbar mache; er befürchtete auch eine fortschreitende Substitution personaler durch mediale Kommunikation und Interaktion.řŞŝ Die Beiträge markieren bereits, dass ein theologisches Verständnis von Medien sich nicht allein mit technologischen Entwicklungen auseinanderzusetzen hat, sondern die kulturelle und religiöse Bedeutung neuer Medien zu reflektieren hat. Es geht um veränderte Wahrnehmungsparadigmen, die historisch gesehen immer wieder in Bezug auf das Realitätsbewusstsein bzw. das Wirklichkeitsverständnis vollzogen wurden und werden und nun mit den medialen Entwicklungen auf dem Sektor der Virtualisierung von Kommunikation wiederum anstehen.řŞŞ řŞŜ So auch Wolfgang Nethöfel, Ethik zwischen Medien und Mächten. Theologische
Orientierung im Übergang zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Neukirchen-Vluyn 1999, 188–200 und 249–260. řŞŝ Vgl. Hans Erich Thomé, Gottesdienst frei Haus? Göttingen 1991, und Wolfgang Petkewitz, Verkündigung in der Mediengesellschaft. Gütersloh 1991. řŞŞ Ob Kirche und Theologie ihre Mediennutzung intensivieren, entscheidet darüber, ob und wie ihre Anliegen in Zukunft wahrgenommen werden. Wenn sie ihre Präsenz in den Medien nicht steigern, werden sie kulturell weiter marginalisiert werden. Es gilt,
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
Es ist m. E. innerhalb Praktischer Theologie zu beobachten, dass es zwei Beschäftigungsfelder mit Medien gibt, die relativ selbstständig nebeneinander her verlaufen. Im einen Feld ist die Verbindung zu Themen und Einrichtungen evangelischer Publizistik fest verankert. Im anderen Feld wird auf rezeptionsästhetische bzw. kulturhermeneutische Weise an medialen Inszenierungen und ihrer Bedeutung für die Praktische Theologie gearbeitet. Innerhalb dieses Beitrags wird ein Austausch unter diesen verschiedenen Strängen beabsichtigt. Dabei soll auch die Relevanz des Phänomens virtueller Realitäten für ein praktisch-theologisches Verständnis von Medien geklärt werden. 4.1.1 Kritik an einem kulturhermeneutischen Blick auf Medien Für das Feld kulturhermeneutischer Beschäftigung mit Medien steht Wilhelm Gräbs Beitrag Sinn fürs Unendliche. Religion der MediengesellschaftřŞş Pate, mit dem nun aus rezeptionsästhetischer und phänomenologisch geprägter Sicht die Diskussion aufgenommen werden soll. Gräb geht grundlegend davon aus, dass multimediale Inszenierungen selbst religiöse Dimensionen enthalten. Medien sind sozusagen immer schon Trägerinnen religiöser Weltsicht: „Die Mediengesellschaft hat uns alle, aber auf sehr verschiedene Weise, zu Tele-Visionären gemacht. Das Fernste und Entlegenste, das geschieht, wohin auch nur unsere Vorstellungskräfte reichen, wird ins Bild gesetzt und in Geschichten erzählt. So sprechen die Medien den Sinn in uns an, daß die Wirklichkeit unseres Lebens im Vorhandenen nicht aufgeht [...]. Die Medien wecken und erhalten heute den Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“řşŖ Gräb öffnet damit das Gebiet praktisch-theologischen Reflektierens für die Beschäftigung mit medialen Inszenierungen. Dabei kann er religiöse Dimensionen wahrnehmen, ohne dass sie von vornherein in Konkurrenz zu Kirche und kirchlich geprägter Frömmigkeit geraten müssen. sich nicht auf den in keiner Weise letztgültig abgesicherten öffentlich-rechtlichen Sendeplätzen auszuruhen. Stattdessen steht vielmehr eine Umorientierung in Richtung auf eine öffentliche Theologie an, die auch ihre zentralen öffentlichen Arbeitsfelder medientheoretisch reflektiert. Dies kann hier allerdings nicht geschehen. Denn in diesem Kapitel geht es weniger darum, kirchliche Handlungsfelder auf ihre Kompetenzen hin zu befragen, wie sie die Kommunikation des Evangeliums inszenieren, sondern vielmehr auf die Medialität von Glauben und Religion hinzuweisen. In Bezug zur Homiletik werden allerdings doch einige auch auf die Praxis der Verkündigung bezogene Konsequenzen vorgestellt. řŞş Vgl. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002. řşŖ Gräb (2002: 13 f.).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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Aus rezeptionsästhetischer Perspektive kann diese Öffnung ebenfalls unterstützt werden. Zusätzlich besteht aber das Anliegen, die Art und Weise, wie Menschen die religiöse Dimension beispielsweise eines Kinofilms aufnehmen, zu erforschen. Von der Reflexion der Rezeption eines Films können Praktische Theologie und kirchliche Praxis für ihre Kommunikation des Evangeliums, in den elektronischen Medien wie auf ihren herkömmlichen Gebieten, lernen. Dieses Anliegen, das den Inhalt nicht unabhängig von der Form der Präsentation reflektiert, wird allerdings mit Gräbs kulturhermeneutischem Ansatz nicht verfolgt: „D. h. dann beispielsweise, daß ich eben nicht frage, wie die Kirche die Medien für die Kommunikation des Evangeliums nutzen könnte. Auch Bücher und Filme erzählen religionsbildende Geschichten und zeigen Bilder, die zu lebensformenden Sinnbildern werden. Meine Frage ist daher, wie die explizite Religion, wie vor allem die Kirchen religionsbildende Sinnräume auch in der Mediengesellschaft sein und bleiben können.“řşŗ In Gräbs Auseinandersetzung mit der Mediengesellschaft ist eine Hermeneutik leitend, die praktische Dogmatik sein will. Sie steht unter der Leitfrage: „Wie ist in der Mediengesellschaft sinnvoll vom Gott des christlichen Glaubens zu reden, von Sünde und Schuld, von Rechtfertigung und Gnade?“řşŘ Während ich der praktisch-theologischen Fragestellung Gräbs auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zustimmen kann, ergeben sich Differenzen, wenn auf die gegebenen Antworten geblickt wird. Gräb rekonstruiert über den Topos der Mediengesellschaft eine Zeitdiagnose, deren Hauptaugenmerk auf der Krise der Moderne liegt. Man könnte diese Krise mit einem durch Traditionsabbau verunsicherten Lebensgefühl und mit Kontingenzbewältigung paraphrasieren. Beide lösen existenzielle Fragen aus, auf die Theologie und Verkündigung zu reagieren hätten. Es wird deutlich, dass Gräbs Beschäftigung mit der Mediengesellschaft im Rahmen eines zeitdiagnostischen Verständnisses der sogenannten Zweiten Moderne steht. Individualisierungs-, Standardisierungs- sowie Globalisierungsprozesse führen in ihren gegenseitigen Widersprüchen untereinander zu einer spezifisch modernen Schwächung des Subjekts. Gräb empfiehlt deshalb „gegenwartskulturelle Wahrnehmungen religiös-moralischer Orientierungsbedürfnisse“ und „die Hermeneutik privatisierter Deutungssysteme“řşř. Es scheint erstens so, als ob das Menschenbild, das dieser Diagnose entspricht, kein Angebot macht für diejenigen, deren Selbstgefühl stabil und selbstständig ist, deren Bedarf an Orientierung in Krisen- oder Schwellenřşŗ Ebenda. Hervorhebungen vom Autor. řşŘ Ebenda. řşř Gräb (2002: 241).
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situationen durchaus präsent ist, aber die mit der Modernisierung der Gesellschaft auch ohne Bezug zu kirchlicher Religiosität positiv umgehen können. Zweitens wird an die diagnostizierten Krisen angeschlossen, um Sinnbildungspotenziale und Möglichkeiten zu Identitätsbildungsprozessen freizulegen. So kann sich Religion letztlich nur als unbedingt notwendig erweisen. Diese Perspektive kann, insbesondere auf dem Gebiet der Kommunikation des Evangeliums, der Versuchung erlegen sein, Gott verteidigen zu wollen und damit eine freie Zuwendung der Menschen zu Gott geradezu zu verhindern. Drittens ist mit der Empfehlung einer Hermeneutik privatisierter Deutungssysteme aus rezeptionsästhetischer Perspektive ebenfalls eine nicht unproblematische Grenzlinie überschritten: Selten können in der Verkündigung noch so gut durchdachte und wohlformulierte Deutungen dazu führen, dass Menschen sie einfach für sich aufnehmen können. Erst der Spielraum der Freiheit, der einlädt, eine Deutung gemeinsam herauszuspielen, kann weiterführen. Ein apologetisches Interesse an der Auseinandersetzung mit der Mediengesellschaft zeigt sich in Gräbs Entwurf explizit dort, wo er Kommunikationen im Internet mangelnde Tiefe unterstellt: „Was er dort [der Mensch im Internet; I. N.] nicht findet, ist eine ihn in der Tiefe anrührende, mit dem Unbedingtheitsgrund des eigenen Daseins in Kontakt bringende Selbstdeutung. Sie darf er – hoffentlich – in einer Kirche erwarten, die wieder zu ihrer Religionsfähigkeit gefunden hat.“řşŚ Der Definition, die Gräb dem Horizont der Aufgabenbeschreibung von Kirche gibt, ist, wie bereits gesagt, zuzustimmen. Es geht um eine Ermöglichung von Selbstdeutungen. Es dürfte allerdings eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten sein, dass Kirche hierauf ein Monopol hätte. Es gibt kulturelle Produktionen und hierunter mediale Inszenierungen, die dies ebenfalls vermögen, seien es Kinofilme, Online-Kunstwerke, Seelsorge-Chats oder Ähnliches. Es ist in der Diskussion um das Medium Internet kaum schlüssig und für eine kulturhermeneutisch arbeitende Praktische Theologie wenig nachvollziehbar, wenn der Geist des Evangeliums für spezifische, milieugebundene besondere Gestaltungsweisen reserviert wird. Sicherlich bleibt es diskutabel, ob der Besuch eines Kinofilms als ein Gottesdienst bezeichnet werden kann. Gräb selbst legt Deutungen von Kinofilmen vor, ohne allerdings soweit zu gehen, sie als einen Gegenstand der Gottesdienstgestaltung zu erörtern. Aus dem Blickwinkel der Homiletik und der Gestaltung des Sonntagsgottesdienstes können hierfür gute Gründe angeführt werden. Die Attraktivität von Gottesdiensten kann dadurch steigen, dass man sich mit den Orten vernetzt, an denen Menschen Erfahrungen mit Religion bereits gemacht haben. Die Semantik mangelnder Tiefe verweist aber řşŚ Ebenda.
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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zurück auf eine Zeitdiagnose, die die Bedeutung der christlichen Religion mithilfe eines Überbietungsschemas auszuweisen versucht. Eine Stärke in Gräbs Entwurf liegt darin, dass er eine Interpretation des Internets vorlegt, die dieses in Differenz zu Massenmedien wahrzunehmen weiß und auch verdeutlicht, wie weitreichend die Kommunikationskultur mit ihm verändert wird. Das Internet, so Gräb, stellt einen Quantensprung in der Mediengeschichte dar, weil es einen integrativen, dezentralen und globalen Medienverbund geschaffen habe und noch weiter schaffe.řşś Das Internet sei als ein Individualmedium anzusehen, das es zwar ermögliche, Informationen auch in hohen Stückzahlen zu verbreiten, aber keinesfalls als ein Massenmedium klassischer Art bezeichnet werden könne. Er übersieht nicht, dass der Computer und das Internet auch Funktionen von Film, Fernsehen, Radio und anderen Medien bündeln. Das Internet wird zum Medium für die Erstellung, Verarbeitung und Versendung von Briefen, Büchern, Filmen, Bildern, für Werbung, Nachrichten und Unterhaltung, mit anderen Worten für viele Servicebereiche, die Vorläufermedien ebenfalls angeboten haben. Ein religionskulturell gesehen wichtiger Unterschied sei nun aber, dass es mit dem Internet so gut wie keine Regulierungsinstanzen mehr gebe, die über Sendeund Empfangsrechte entschieden. „Das Internet funktioniert dezentral. Es kennt keine Sendeanstalten, Verlagshäuser, Lektoren, Fernsehdirektoren oder Programmverantwortlichen. [...] Denn das Internet transformiert die Alltagskultur überhaupt nicht durch seine Inhalte. Diese sind beliebig und in ihrer Vielfalt gar nicht zu überschauen und zu kontrollieren.“řşŜ Gräb schließt sich hiermit einer Formulierung von Jochen Hörisch an, der das Internet als antizentralistisch, individualistisch, antiautoritär und also sicherlich demokratischer als etwa Presse, Rundfunk und Fernsehen sieht. Die Technik des neuen Mediums setze diese liberalisierende und demokratisierende Wirkung frei. Auf diese Weise radikalisiere das Internet die gelebte Religionsfreiheit. Bei aller Affinität für die Thesen, dass das Internet Demokratisierungsprozesse fördere und die grundgesetzlich verankerte Religionsfreiheit sowie ihren Schutz radikalisiere, reicht eine solche Aussage für eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit dem Medium Internet nicht aus. Auch der řşś Die Frage nach der Zugangsmöglichkeit zum Internet evoziert religionspädagogische
und bildungspolitische Konsequenzen. Während der Neunzigerjahre ist von der Zentralstelle Medien der Deutschen Bischofskonferenz und dem Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik für das Kinderfernsehen eine Analyse und Bewertung erhoben worden sind. Dies. (Hg.), Debatte Kinderfernsehen. Garz bei Berlin 1998. Für die Internetnutzung auch von sozial benachteiligten Kindern fehlt, soweit ich sehe, eine solche Studie noch. řşŜ Gräb (2002: 239).
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Verweis auf eine Demokratisierung der Kultur kann erst dann sinnvoll sein, wenn geklärt ist, in welcher Hinsicht Demokratie hier gestärkt wird. Das Thema künstliche Intelligenz, das Gräbs Reflexion zum Internet abschließt, bleibt ebenfalls hinter einer weiterführenden anthropologischen Diskussion zum Verhältnis von Mensch und Maschine zurück: „Vielleicht wird im Internet aber auch der Traum vom ewigen Leben informationstechnologisch weiter geträumt: Sei es als Geist, der in schneller Hardware haust, oder gespeichert auf der Festplatte – mit Auferstehungsoption. Doch das ist Science Fiction, bei der die entscheidende Differenz gerade übersehen wird, zwischen uns Menschen als kreatürlichem Wesen aus Fleisch und Blut und der künstlichen Intelligenz des Computers.“řşŝ Mit Hörisch hält Gräb fest, dass dem Computer die bestimmte Selbstbezüglichkeit fehle, die menschliche Intelligenz charakterisiere. Sie werde nicht durch Selbstreflexion, also nicht bewusst hervorgebracht. Die Prozessierung von Bewusstsein als entscheidendes Merkmal zu nennen, zeigt aber wiederum, dass eine Anthropologie vorausgesetzt wird, die eine Mensch-Maschine-Schnittstelle sowie ihre soziale Funktion (noch) nicht in ihre Reflexion einbezieht. In der Charakterisierung des religiösen Verhältnisses eines Menschen zu sich selbst wird m. E. deutlich, dass, leibhafte Gestimmtheit und Präsenz sowie das eigene Dasein als passiv konstituiert wahrzunehmen, ohne eine Ausdehnung in einen virtuellen Leibkörper gedacht wird. Von der passiven Wahrnehmung des eigenen Daseins schreibt Gräb: „Wir thematisieren in ihm zugleich den transzendenten Einheitsgrund unseres eigenen selbstbewussten Daseins. Dass wir das religiös in leibhafter Gestimmtheit und Präsenz tun, weil anders wir uns gar nicht zugänglich sind, dürfte wohl den stärksten Hinweis darauf enthalten, dass die Kommunikation in virtuellen Räumen, somit das Internet, letztendlich keinen Ersatz für die Kommunikation in leibhafter Kopräsenz wird bieten können.“řşŞ Die rezeptionsästhetischen Anschlussstellen für eine Auslegung virtueller Realitäten liegen im Bereich der Anthropologie in der Ausformulierung des virtuellen Leibkörpers und der Bedeutung der menschlichen Virtualisierungsfähigkeit gerade für die Annahme des Evangeliums von Gnade und Rechtfertigung. Wo die menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung nicht mit in die Deutung von Medien und insbesondere virtueller Realitäten einbezogen wird, kann es leicht zu einer vereinfachenden Gegenüberstellung von personaler und medialer Kommunikation kommen. Eine Auseinandersetzung um die praktisch-theologische Bedeutung von virtuellen Realitäten würde auf diese řşŝ Ebenda. řşŞ Gräb (2002: 242).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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Weise aber ihre eigenen religiösen und theologischen Anteile an diesem Phänomen ausblenden. Immerhin handelt es sich um den Aspekt der Konstruktion von Wirklichkeit, zu ihr gehört auch die Konstruktion der Wirklichkeit Gottes. 4.1.2 Theologische Beiträge zur Deutung virtueller Realitäten Veröffentlichungen zum Thema virtuelle Realitäten sind innerhalb der deutschsprachigen Praktischen Theologie überschaubar. Sowohl aus der evangelischen wie aus der katholischen Tradition heraus ist je ein Sammelband in den letzten Jahren entstanden.řşş Beiträge, die unter anderen Fragestellungen das Thema tangieren, stehen meist in Zusammenhang mit einer theologischen Deutung des Internets oder der Neuen MedienŚŖŖ. Auf sie wird im Anschluss auch eingegangen werden, aber das Phänomen virtuelle Realität bleibt hier im Zentrum. Ein Grund für diese Konzentration ist, dass virtuelle Realitäten nicht auf die Bindung an ein spezifisches Medium festgelegt sind. Sie treten sozusagen quer zu den verschiedenen Medien und Mediennutzungen auf. Sie sind in Büchern, in Radio- und Fernsehsendungen, in Internetpräsentationen und, wie mit dem Ausstellungsraum der Cybernarium Days veranschaulicht, in leiblich begehbaren virtuellen Räumen erfahrbar. Zum anderen wird ihnen sozusagen inhaltlich eine Offenheit in der Inszenierung von Lebensmöglichkeiten zugetraut, sodass ihre Deutung mit den Begriffen der Fiktion, der Imagination und der Fantasie verbunden wird. Außerdem zeigt sich, dass zur Deutung von virtuellen Realitäten nicht allein auf technische Medien zurückgegriffen wird, sondern dass eine Verbindung von Mensch und Medium gedacht werden kann, die die Technik der computervermittelten Kommunikation in einen leiblichen Vorstellungsraum integriert. In der Arbeit an diesen
řşş Vgl. Peter Roth/Stefan Schreiber/Stefan Siemons (Hgg.), Die Anwesenheit des Ab-
wesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomen von Virtualität. Augsburg 2000; Thomas Klie (Hg.), Darstellung und Wahrnehmung. Münster 2000. ŚŖŖ Vgl. Bernd-Michael Haese, Internet/Neue Medien. In: Fechtner/Fermor/Pohl-Patalong/Schroeter-Wittke (Hgg.) (2005: 128–139). Haese verzichtet hier ganz auf das Stichwort ‚Virtual Reality’, in seiner Monografie ist ihr allerdings ein eigenes Kapitel gewidmet, auch er greift die Deutung von Virtualität als Möglichkeitsraum auf, siehe weiter unten. Thomas H. Böhm verzichtet auf das Phänomen Virtual Reality in seiner Monografie „Religion durch Medien – Kirche in den Medien und die ‚Medienreligion’. Eine problemorientierte Analyse und Leitlinien einer theologischen Hermeneutik. Stuttgart 2005.
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Fragen liegt die Bedeutung für die praktisch-theologische Diskussion um Medien, gelebte Religion und Wahrnehmung. (1) Michael Haese ist in diesem Sinne der Auffassung, dass der Computer und die vernetzte, virtuelle Welt des Cyberspace Ideen des menschlichen Daseins, eben neuen und dabei doch alten Realitäten, wie er sich ausdrückt, zu neuer Geltung verhilft. Er entfaltet die Bedeutung von Virtualität, von Spiel, Raum und Zeit als Sphäre des handelnden Menschen und die Bedeutung einer verbindenden sinnstiftenden Erzählung. So legt er anhand philosophischer Traditionen die virtuelle Dimension in der Anthropologie dar, erläutert Virtualität im Zusammenhang des Übergangs von einer oralen zu einer durch Schrift geprägten Kultur und zeigt schließlich auch die Zuwächse an Virtualisierung durch technische Innovationen auf. Für seine im Kontext der Kybernetik stehende Arbeit greift er zur weiteren Erläuterung von Virtualität das Konzept des navigierbaren Raums und damit verbunden die Rolle der Körperlichkeit im Cyberspace sowie das Thema Erzählung im Cyberspace auf.ŚŖŗ Als Movens seiner Erhebung virtueller Realität stellt sich eine erneuernde Würdigung des Spiels heraus, das Haese aus seinem Schattendasein in einer protestantischen Theologie befreien will, die sich dem Produktivitätsdenken der Moderne gut angepasst habe. „Das ‚Fest der Narren’ (play) wird in unseren Kirchen immer noch zu wenig gefeiert, dafür ist reichlich Platz für games: Hier (und nur hier) darf so (und nur so) gespielt werden! Auch Cox’ Plädoyer für ein närrisches Element im Christentum, das verschüttete Schätze wieder freizulegen vermag, hat Chancen, im Fahrtwind einer kirchlichen Internetarbeit neu gehört zu werden.“ŚŖŘ Haese plädiert dafür, dass die Kirchen die flache und eskapistische Diskussion um Gewalt in den Medien in ein konstruktives, das heiße von Tabus und Idealisierungen befreites Gespräch über Gewalt in der Gesellschaft zu überführen.ŚŖř Er leistet mit diesem Beitrag Grundlagenarbeit für ein medienwissenschaftlich informiertes Verständnis von Virtualität innerhalb der Praktischen Theologie, dabei zieht er – wie oben beispielhaft angeführt – auch kybernetische Konsequenzen. (2) Thomas Klie stellt fest, dass die Mitteilung und Darstellung von medial sich zeigender religiöser Praxis für Theologie und Religionspädagogik nicht nur eine Frage nach dem Geltenlassen anderer Stile sei, sondern auch eine Frage nach der Verhältnisbestimmung von Kompetenz und Performanz des Evangeliums. „Wie verhält sich der Glaube, wenn vor den popkulturellen Kulissen die Opposition von fact und fiction schlechthin obsolet zu werden ŚŖŗ Vgl. Haese (2006: 146–172). ŚŖŘ Haese (2006: 222 f.). ŚŖř Vgl. Haese (2006: 223).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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scheint? Inwieweit schrumpfen dann Rückbindung und Vergewisserung zu ephemeren Akten?“ŚŖŚ Mit dieser Anfrage weist Klie zugleich ein essenzialistisches Wirklichkeitsverständnis zurück. Die Wirklichkeit wird als eine unteilbare bezeichnet. Für die Theologie ist dies nichts radikal Neues; immer wieder haben Theologen wie z. B. Dietrich Bonhoeffer und Paul Tillich im vergangenen Jahrhundert darauf beharrt, dass die Theologie theistische Positionen radikal aufzugeben hat. Die Kommunikation des Evangeliums muss voraussetzungslos verlaufen: so als ob es Gott nicht gibt. Oder: Gott wird dort gegenwärtig, wo der Gott des Theismus im Zweifel untergegangen ist. Diese längst auffindbaren Ausgangslagen nachaufklärerischer Theologie werden mit dem Phänomen virtueller Realitäten radikalisiert. Aus ihm kann ein Anspruch an die Praktische Theologie abgeleitet werden, damit Ernst zu machen, dass Glaube, Religion und Theologie die Relevanz ihrer Themen nicht in einem Zwischenraum von fact und fiction absichern können. Sie haben keine besonderen Rückzugsmöglichkeit in einen Zwischenraum oder eine Nische, die vor einen Spiegel führte, in den wir blicken könnten, um zumindest Hinweise auf unser wahres Wesen zu erhalten: „Die Differenz von Imagination und Realem wird durch kein Bild und kein[en] Spiegel auf Abstand gehalten. Sie bricht in sich zusammen.“ŚŖś Damit steht zur Diskussion, welche Konsequenzen für die Interpretation virtueller Realitäten innerhalb Praktischer Theologie zu ziehen sind.
Thomas Klie schlägt im Blick auf die Religionspädagogik ein didaktisches Modell einer Re-Inszenierung von Oszillationserfahrungen vor. In seinem Beitrag vollzieht er die Loslösung von doppelten Wirklichkeiten im Weltbild. Wahrnehmung von Welt ist demnach ein Konstitutionsprozess. Welt wird erzählt. Von dieser Ausgangslage aus wird die Frage nach der Wahrheit der Wirklichkeit gestellt. Wahrheit werde in Korrespondenz und Dialog zwischen verschiedenen Texturen ermittelt und nicht in Form einer irgendwie gearteten Übereinstimmung von Erzähltem mit der Welt der Dinge und Sachverhalte. Wahrheit sei hiernach immer je gegenwärtige Bewahrheitung, sich performativ selbst vermittelnde Wahrheit. Dieser Ansatz steht im Kontext der Auseinandersetzung mit der Philosophie von Gianni Vattimo, der den Begriff des Oszillierens in die Mediendiskussion eingebracht hat. „Oszillation beschreibt die mit der Wahrnehmung von Differenz und Pluralität verbundene Erfahrung von nicht auflösbarer Ambiguität, also einer Art kreativen Schwebezustands zwischen Befremdung und Geborgenheit. Es ist das stets nötige Zappen zwischen synthetisierten Wirk-Welten. Die moderne Kommunikationsgesellschaft pendelt sich gleichsam ein in eine Gesellschaft des Schauspiels, eine Gesellschaft, in der sich die Wirklichkeit mit weniger starren und mit fließenden Eigenschaften ŚŖŚ Thomas Klie, Vita und Virtualität. In: Ders. (Hg.), Darstellung und Wahrnehmung.
Münster 2000, 9. ŚŖś Manfred Faßler, Ohne Spiegel leben. München 2000, 89.
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darstellt und in der die Erfahrung die Züge der Oszillation, der Unheimlichkeit und des Spiels annehmen kann. Spiel erscheint in diesem System als ein emergentes Epiphänomen des Informellen.“ŚŖŜ In diesem Oszillieren ist kein Zwischenraum zwischen Realität und Fiktion mehr als Raum der Freiheit auszumachenŚŖŝ, sondern Freiräume finden sich nur dort, wo das Ineinander von fact und fiction oszillierend erkundet wird.
(3) Eine beliebte, im Alltagsverhalten fast durchweg vorherrschende Weise, das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit zu bestimmen, lautet wie folgt: „Möglich ist, was noch nicht wirklich ist, beziehungsweise möglich ist, was ausgehend vom Wirklichen als wahrscheinlich erscheint.“ŚŖŞ Hans Weder hat das Ineinanderfließen von virtueller Realität und nicht computergestützter Realität innerhalb der theologischen Vorstellung vom Reich Gottes reflektiert. Er hat sich dabei auch das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit zunutze gemacht und es auf seine Tragfähigkeit hinsichtlich der Reich-GottesVerkündigung Jesu geprüft. Die Theologie habe gegenüber diesem Begriff des Möglichen, wonach das Mögliche ganz durch das Wirkliche beherrscht werde, schon immer Vorbehalte geäußert. In diesem Punkt treffe sie sich nun auf interessante Weise mit einem Moment der virtuellen Realität. Weder hebt darauf ab, dass virtuelle Realitäten gerade Welten entstehen lassen könnten, die sich in keiner Weise aus der realen Wirklichkeit extrapolieren lassen müssen. Hier könne man einer Möglichkeit begegnen, die ihre je eigene Wirklichkeit habe. Sie sei in dem Sinne eine echte Alternative zur Wirklichkeit, als sie sich weder abhängig von ihr noch in Widerspruch zu ihr verhalten müsse. Dabei werde allerdings vorausgesetzt, dass es der menschlichen Fantasie gelinge, über die Prägung durch die Realität hinauszukommen. „In ganz ähnlicher Weise spricht man in der Theologie vom Reich Gottes als dem Reich des Möglichen, das in keiner Weise durch das Wirkliche beherrscht wird. Das Reich Gottes als Reich des wahren Lebens ist weder dependent noch kontradependent zum wirklichen Leben des Menschen.“ŚŖş
ŚŖŜ Thomas Klie, Auf der Oberfläche tanzen! Von Oszillationen und Reinszenierungen.
In: Ders. (Hg.) (2000: 251 f.). Hervorhebungen vom Autor. ŚŖŝ Es wird hier deutlich, dass das mit Winnicott angestoßene Bild vom intermediären
Zwischenraum begrenzte Validität hat. Es verhilft noch zur Illusion eines dritten Raums, dem Zwischenraum. Wenn überhaupt, muss er aber als ein virtueller Raum gedacht werden, der stets verschränkt mit anderen Räumen ist; vgl. die Auslegung von Virtualität durch das psychoanalytische Modell des intermediären Raums bei Adamowsky und innerhalb Praktischer Theologie bei Heimbrock. ŚŖŞ Hans Weder, Virtual Reality. In: Klie (2000: 64–76, hier 69). Hervorhebungen vom Autor. ŚŖş Weder (2000: 70).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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Zu einer neuen Verhältnisbestimmung des Möglichen zum Wirklichen greift Weder zunächst auf die griechische Sprachwelt zurück. Wirklichkeit heißt hier energeia, zu deutsch Wirkung sowie Wirksamkeit. „Das lateinische Wort Realität betrachtet die Welt als eine zuhandene Sache, das deutsche Wort Wirklichkeit – ähnlich dem Griechischen – betrachtet die Welt als die Summe alles Wirkenden, alles auf den Menschen Wirkenden.“ŚŗŖ Möglichkeit, im Griechischen dynamis, sei nun keine schwache Gestalt des Wirklichen, weil es eben erst möglich und damit noch nicht wirklich sei. Vielmehr trage das Mögliche eine eigene Kraft in sich, mit der es auf die Wirklichkeit zukomme, in sie eingehe, auf sie einwirke. Diese nicht zu erwartende und überraschende Wirkung des Möglichen ist Weders Anknüpfungspunkt, wenn er das Mögliche mit der Deutung der Wirkung des Reiches Gottes verbindet: „Die Gleichnisse Jesu malen die Fiktion des Reiches Gottes vor Augen, um eben dieses Reich der Möglichkeit in seiner eigenen Dynamik auf den Menschen wirken zu lassen [...]. Das Gleichnis lässt vor unseren Augen die Fiktion des Reich Gottes entstehen.“Śŗŗ Eine Fiktion sei das Reich Gottes, insofern es die Wirklichkeit der Welt übersteige. Fiktional sei es, weil in ihm die Gesetze unserer Wirklichkeit nicht maßgebend seien. Und dennoch enthalte diese Fiktion einen Realitätsbezug. Sie gehe im Gleichnis auf die Wirklichkeit der Welt zu. Weder setzt als Qualitätskriterium virtueller Realitäten ihre Immersionsfähigkeit an. Er stellt die Frage, ob sie jene Kraft entfalten, mit der das Mögliche die Wirklichkeit enteigne und, biblisch gesprochen, Menschen auf den Weg des wahren Lebens führen. Weders Deutung leitet das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit nicht voneinander ab; er bezieht sich nicht auf Modelle, die eine doppelte Wirklichkeit indizieren lassen. Vielmehr gelingt es ihm zu zeigen, dass eine Abstinenz der Theologie vom Phänomen der virtuellen Realitäten zugleich eine Entfernung von einer Theologie bedeutet, die – unter dem Vorwand, eine Weltflucht in virtuelle Realitäten verhindern zu wollen – sich um die heilsame Irritation, die im Evangelium liegt, bringt. Wenn Theologie und Kirche also ihre Bedeutung auf dem Gebiet der Religion einbüßen, liegt dies weniger an ihrem Gegenstand, der Beziehung Gottes zu den Menschen, die nicht plausibel gemacht werden könnte, sondern vielmehr daran, dass sie den Sinn für ihre Möglichkeiten zu wenig kultiviert. Auf diese Weise trägt die Diskussion um virtuelle Realitäten etwas dazu bei, dass innerhalb der Praktischen
ŚŗŖ Ebenda. Śŗŗ Weder (2000: 71).
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Theologie der Möglichkeitssinn des Menschen hoch geschätzt und gefördert wird. (4) Michael Trowitzsch verfolgt die theologische Würdigung der Fantasie bis zurück in die paulinische Theologie, in der der Tod in der Sünde nicht das Letzte ist, sondern die Verwandlung des alten Leibes in ein neues Leben erwartet wird.ŚŗŘ In diesem Sinne könnte man die menschliche Fantasie als virtuellen Leibkörper verstehen, oder mit Trowitzschs Worten als einen spezifischen Raum geistiger und sinnlicher Freiheit. Die Fantasie selbst soll dabei nicht über ihre Beschreibungen als Spielraum der Freiheit idealisiert werden. Sie wirkt durchaus ambiguitär. Die sogenannten Situationen der Anfechtung, wie sie Jesus erlebt haben soll und wie sie von Martin Luther selbst beschrieben werden, geben darüber Auskunft, wie wehrlos Menschen gegenüber Fantasien der Angst und des Schreckens sein können.Śŗř Die Beschäftigung mit virtuellen Realitäten wirkt innerhalb Praktischer Theologie wie ein Katalysator, wenn es darum geht, die Beziehung des christlichen Glaubens zu seinem Möglichkeitssinn bzw. zur Fantasie zu thematisieren. Sie trägt zu einer theologischen Rehabilitation der Fantasie wie der Fiktion und des Imaginären bei. Mit ihr kann außerdem offengelegt werden, dass der Glaube an die Gegenwart Gottes ein Phänomen menschlicher Konstruktion ist. Zu glauben, dass der Glaube von Gott gestiftet und dem Menschen geschenkt wird, steht dazu keineswegs in Widerspruch. Eine der Herausforderungen, die die Beschäftigung mit virtuellen Realitäten an die Praktische Theologie stellt, liegt darin, Konstruktionen als solche offen zu legen. Wo dies geschieht, wird die theologische Reflexion des Glaubens und der Religion kaum der Religionskritik zum Opfer fallen, sondern es wird vielmehr klärend wirken, dass der Glaube den Mut erfordert, sich auf eine menschliche Konstruktion einzulassen. Dass sie in der Perspektive des Glaubens allerdings mehr ist als eine menschliche Konstruktion und dass aus ihr auch noch mehr als eine solche werden kann, bleibt dennoch möglich oder anders gesagt: Es bleibt eine Erfahrung des Virtuellen, die allerdings von jedem Menschen selbst gemacht werden muss.
ŚŗŘ Vgl. Michael Trowitzsch, Phantasie. In: TRE, Bd. 26, Berlin/New York 1996, 469–
472. Śŗř Vgl. auch Trowitzsch (1996: 470).
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4.1.3 Vier Felder praktisch-theologischer Beschäftigung mit Medien In überwiegendem Maße hat sich deutschsprachige Praktische Theologie in ihrem Verständnis von Medien bislang auf Theorien zu Massenmedien bezogen. Zum Beispiel wird sich für die Frage nach der Repräsentanz von Kirche in den Medien vor allem auf Rundfunk und Tageszeitungen bezogen. In der Frage nach Religion in Medien geht es nahezu ausschließlich um das als Massenmedium verstandene Fernsehen. Bezüglich der religiösen Dimension von Medien wird sich ebenfalls vor allem auf das Fernsehen bezogen. In (praktisch-)theologischen Beiträgen zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Kommunikation ist es nicht anders: Die Auseinandersetzung mit den Medien Radio und Fernsehen bestimmten bislang die Diskussion, allerdings treten zunehmend Untersuchungen zum Internet, d. h. hier zu OnlineKommunikationen hinzu. Die Verbindung von Individual- und Massenkommunikationen, die computergestützte Kommunikationen und damit auch den Phänomenbereich virtueller Realitäten kennzeichnet, und die Kombination von sehr unterschiedlichen medialen Kommunikationen, die Menschen täglich aufnehmen, haben Konsequenzen für das praktisch-theologische Verständnis von Medien. Sie sollen nun herausgearbeitet werden. Als Fokus, der speziell auf die Erschließung von virtuellen Realitäten gerichtet ist, dient weiterhin die Frage, wie Medien hinsichtlich ihrer Möglichkeit, Wirklichkeit zu konstruieren, wahrgenommen werden. Zur Orientierung werden vier Bereiche unterschieden: a) Kirche in den Medien, b) Religion in den Medien, c) die sogenannte Medienreligion und d) ein medientheoretisch reflektiertes Verständnis von Kommunikation. 4.1.3.1 Kirche in den Medien Hier eröffnet sich für die Praktische Theologie das Feld evangelischer Publizistik und kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit. Beide sind Grundformen medialer Kommunikation im Auftrag von Kirche. Aber dieser Auftrag ist unterschiedlich definiertŚŗŚ: Evangelische Publizistik betreibt Journalismus, der redaktionell unabhängig ist. Evangelische Publizistik ist orientiert am Engagement ohne EigennutzŚŗś. Deshalb genießt sie so hohe öffentliche Anerkennung. ŚŗŚ Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Mandat und Markt.
Perspektiven evangelischer Publizistik. Frankfurt a. M. 1997, 21 f.; allerdings abweichend die Bestimmung: Evangelische Publizistik als Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit. Śŗś Vgl. Otmar Schulz, Engagement ohne Eigennutz. Robert Geisendörfer – Ein Leben für die Publizistik. Frankfurt a. M. 2000.
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Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit dagegen ist an die verfasste Kirche und unmittelbar an die jeweilige Einrichtung als Auftraggeberin gebunden. Mit den Mitteln von Public Relations und Werbung wird um das Vertrauen zur Organisation Kirche geworben. Zwischen beiden Bereichen ergeben sich allerdings Schnittstellen. So kann z. B. ein redaktioneller Beitrag in Radio oder Fernsehen sich auf die öffentliche Akzeptanz der Institution Kirche positiv auswirken. Es steht zur Debatte, ob ein gegenüber der eigenen Institution kritischer Online-Journalismus oder eine Kirchengebietspresse, die offizielle Verlautbarungen von kirchenleitenden Personen nicht stets wohlwollend kommentiert, der Steigerung der Akzeptanz von Kirche in der Öffentlichkeit und der internen Kommunikation nicht gerade zuträglich sein kann. Kirchliche Medienarbeit muss alltäglich mit diesem Spannungsverhältnis umgehen. Wie auch immer nun im einzelnen Fall reagiert wird, hinter dieser Entscheidung steht die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der Medienwirklichkeit. Sowohl kirchliche Öffentlichkeitsarbeit wie christliche Publizistik bzw. Journalistik konstruieren mediale Wirklichkeiten. Die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der Konstruktion von Wirklichkeiten kann hier nicht in Gänze behandelt werden. Es muss aber in Beziehung zum Phänomen virtueller Realitäten auf eine für diesen Bereich wichtige Facette aufmerksam gemacht werden: Im Journalismus wie in der Öffentlichkeitsarbeit werden Wirklichkeiten konstruiert. Wo man mit der Hypothese arbeitet, dass im Bereich des Journalismus sogenannte harte Fakten vermittelt würden und sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit der Kirche ihre werbliche Seite zeige, wird dies dazu führen, dass zwei Lager innerhalb des Arbeitsbereichs Kirche in den Medien entstehen. Darüber hinaus stünde man in der Gefahr, Verkündigung nur im Bereich Öffentlichkeitsarbeit ansiedeln zu können und Glaube als Wirklichkeitskonstruktion ohne Faktizität wahrzunehmen. Eine solche Interpretation würde das, was Konstruktion von Glauben heißt, trivialisieren und weder dem hier vertretenen medientheoretischen Ansatz noch dem christlichen Glauben gerecht.ŚŗŜ Die Herausforderung für ein praktisch-theologisches Verständnis von Medien, das auch einen Theoriebereich zu öffentlicher Kommunikation enthält, liegt nur zum einen darin, die medialen Konstruktionen von Wirklichkeit festzustellen. Sie liegt zum anderen auch darin, theoretisch zu rekonstruieren und empirisch zu untersuchen, wie und mit welchem Genauigkeitsgrad Wirklichkeiten inszeniert werden. Nur solche Medienwirklichkeiten, die von den Rezipientinnen und Rezipienten aufgenommen werden, weil sie mit ihŚŗŜ Vgl. 4.2, zum Verständnis von Religion und Glaube.
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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rem Informationsanteil und dem Wärmegrad in ihrer Gestaltung eine bindungsfähige Konstruktion bislang noch unbekannter, fremder Wirklichkeit anbieten, werden für andere wirklich werden, das heißt in ihrer Erfahrung einen Platz von Bedeutung einnehmen.Śŗŝ Dies kann sowohl auf dem Wege christlicher Publizistik wie auf dem Wege von Öffentlichkeitsarbeit geschehen. Diese Einschätzung macht eine Unterscheidung von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit aber noch nicht obsolet. Sie hilft, verschiedene Orientierungen innerhalb der Konstruktionen von Medienwirklichkeiten weiter auszudifferenzieren und damit für die oben eingeforderte Präzision und zugleich für eine Vielfalt in der Darstellung zu sorgen. Damit wird Kirche öffentlichen Anliegen eher entsprechen können, als wenn sie sich zunehmend auf Öffentlichkeitsarbeit konzentriert und auf eine Einmischung in mediale Konstruktionen von Wirklichkeit, wie sie etwa mit der journalistischen Berichterstattung – man denke an Publikationen wie epd-Entwicklungspolitik oder an Filmkritiken zu internationalen Filmproduktionen in epd-film – zurückzieht. Die Vielfalt im Angebot des Bereichs Kirche in den Medien bewirkt also, kurz gesagt, Synergien, auf die nicht verzichtet werden kann. Christian Grethleins Votum hierzu ist deshalb sehr zu unterstützen, denn allzu oft sind bereits der Gottesdienst oder der Gemeindebrief in Konkurrenz mit regionalen oder bundesweiten medialen Angeboten oder mit personalen Zusammenkünften gebracht worden; stattdessen gilt es, ihre Verbindung untereinander zu fördern: „Auch wäre ein möglichst enger Verbund zwischen den verschiedenen Medien, hier dem Fernsehgottesdienst, Sonntags- und Gemeindeblatt, Besuchsdienst, Angeboten der Erwachsenenbildung und Ähnlichem, wünschenswert, denn die partizipatorischen Gehalte von Fernsehgottesdiensten (und Hörfunkandachten) vertiefen sich durch die Rezeption in der Face-toFace-Kommunikation.“ŚŗŞ Ein solches Verständnis von Kirche in den Medien begünstigt auch, dass die noch immer dominante Interpretation, in der das praktisch-theologische Medienverständnis instrumentell bestimmt worden ist und die Massenmedien dabei im Vordergrund stehen (Kirche agiert über Presse, Hörfunk und Fern-
Śŗŝ Vgl. Günter Bentele, Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? In: Ders./Manfred Rühl
(Hgg.), Theorien öffentlicher Kommunikation. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 19, München 1993, 170 f. ŚŗŞ Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft. Leipzig 2003, 95.
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sehen), aufgebrochen wird.Śŗş Praktische Theologie hat hier die Aufgabe, verstärkt die Verbindungen zwischen sogenannter personaler und medialer Kommunikation zu analysieren. Der technische Apparat wird kaum mehr zur Beschreibung eines Medienverständnisses herangezogen. Seit Beginn der Achtzigerjahre ist ein Prozess zu beobachten, in dem insbesondere Nachrichtentechnik und Datenverarbeitung, Massenmedien und Individualmedien miteinander verschmelzen. Von hier ausgehend muss noch breiter eingeholt werden, was es für die Anthropologie einer medientheoretisch reflektierten Praktischen Theologie heißt, dass Individualmedien auf einer MenschComputer-Interaktivität (MCI) basieren.ŚŘŖ Ein Medienverständnis, das dem Verständnis von Kirche in den Medien dient und in einem kulturellen und religiösen Kontext gebraucht wird, in dem sich ein religiöser Pluralismus auch in der öffentlichen Kommunikation etabliert, wird von der Kenntnis der medialen Konstruktion von Wirklichkeit profitieren können. Es zeichnet sich ab, dass neben der christlichen in Zukunft weitere große Religionsgemeinschaften Religion in der Gesellschaft repräsentieren werden. Islamische Religionsgemeinschaften, möglicherweise auch buddhistische Gemeinschaften, werden in den nächsten Jahren öffentlich-rechtlich anerkannte Institutionen herausbilden. Damit werden Privilegien, wie sie etwa in Sendeplätzen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und in Partizipationsrechten an den entsprechenden Aufsichtsgremien bestehen, nicht mehr selbstverständlich zu verteidigen sein. Diese kulturelle Neuorientierung verlangt eine selbstständige und bewusste Steuerung der Art und Weise, in der sich Kirche an der Konstruktion von Medienwirklichkeiten beteiligen will. 4.1.3.2 Religion in den Medien Die Frage, wie Religion in Medien kommuniziert wird, steht im größeren Zusammenhang der praktisch-theologischen Erforschung gelebter Religion. Religion wird in ihren kulturellen Kontexten aufgesucht; dazu gehören die elektronischen Medien ebenso wie andere, nicht elektronische Darstellungsweisen von Religion in Musik, Theater, in allen Arten von Alltagskulturen. Im Handbuch Religion und populäre Kultur schreiben die Herausgeberin und die Herausgeber zur Begründung dieser Herangehensweise: „Dieser Blickwechsel Śŗş Vgl. Reiner Preul, Kommunikation des Evangeliums unter den Bedingungen der Me-
diengesellschaft. In: Ders./Reinhard Schmidt-Rost (Hgg.), Kirche und Medien. Gütersloh 2000. ŚŘŖ Vgl. Manfred Faßler/Wulf Halbach (Hgg.), Geschichte der Medien. München 1998, 322.
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hängt eng damit zusammen, dass seit geraumer Zeit die klassische Säkularisierungsthese, die gleichsam die Unvereinbarkeit von (traditioneller) Religion und (moderner) Kultur statuiert hatte, wenn auch nicht verabschiedet, so doch erheblich modifiziert worden ist. Die Spätmoderne erweist sich bei genauerem Hinsehen eben auch als religionsproduktiv.“ŚŘŗ Dass Theologie sich auf diese Entwicklung einstelle, zeige eine durchaus selbstkritische Einsicht. Im Gegenzug zu einer ererbten Alltagskulturvergessenheit gebe es in der jüngeren Theologie ein großes Interesse und einen wachen Blick für die populär-kulturelle Praxis und ihre Formen, Medien und Themen. In anderer hermeneutischer Perspektive, aber ebenso mit der Fragestellung der Wahrnehmung gelebter Religion verbunden, konstatiert Albrecht Grözinger, gelebte Religion sei begrifflich und inhaltlich in der Praktischen Theologie heute fest etabliert. Das Gleiche könne für das Stichwort der Wahrnehmung gelten. „Dass der die letzten dreißig Jahre dominierende Ansatz Praktischer Theologie als Handlungswissenschaft durch eine ästhetisch-phänomenologische Perspektive wohl nicht zu ersetzen, sondern zu ergänzen ist – auch diese These dürfte gegenwärtig auf breite Zustimmung treffen.“ŚŘŘ Seitdem Praktische Theologie als Erforschung gelebter Religion und als Wahrnehmungswissenschaft ausgearbeitet wird, wendet sie sich also verstärkt kulturellen Phänomenen mit religiöser Bedeutung zu.ŚŘř Zum Gegenstandsbereich gehören z. B. Musikclips, in denen biblische Erzählungen oder Legenden von Heiligen durchschimmern.ŚŘŚ Fernsehformate werden in ihrem Regelwerk mit KlostergemeinschaftenŚŘś oder in Bezug auf ihre thematische Orientierung als „Pfarrer- und Nonnenserien“ŚŘŜ unter-
ŚŘŗ Kristian Fechtner u. a. (Hgg.), Handbuch Religion und populäre Kultur. Stuttgart
2005, Einleitung. ŚŘŘ Albrecht Grözinger, Gelebte Religion als Thema der Systematischen und der Prakti-
ŚŘř ŚŘŚ
ŚŘś
ŚŘŜ
schen Theologie. In: Ders./Georg Pfleiderer (Hgg.), Gelebte Religion als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie. Zürich 2002, 13. Vgl. zu einer näheren Erläuterung des Wahrnehmungsverständnisses Teil 1, 2.1. Dabei finden sich Beiträge innerhalb Systematischer und Praktischer Theologie bzw. werden die Disziplingrenzen hier durchlässiger: vgl. Klaas Huizing. Der inszenierte Mensch. Stuttgart 2002, 208–263. Vgl. Florence Develey, Das Experiment Authentizität. Vergleichende Beobachtungen zum TV-Sendeformat Big Brother und dem Regelwerk benediktinischer Klostergemeinschaften. In: Grözinger/Pfleiderer (2002: 109–130). Vgl. Thomas H. Böhm, Religion durch Medien – Kirche in den Medien und die ‚Medienreligion’. Stuttgart 2005, 107–142.
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sucht, Fußballspiele in ihrem rituellen Ablauf mit dem Gottesdienst verglichenŚŘŝ u. a. m. Für einen Beitrag zu einer medientheoretisch reflektierten Praktischen Theologie ist die Frage nach Religion in Medien allerdings insbesondere hinsichtlich des Kinofilms interessant. Es hat sich in den vergangenen zehn Jahren geradezu eine eigene theologische Filminterpretation etabliert. Auffällig ist, dass es eine Art Ranking in der theologischen Wertschätzung von Filmproduktionen gibt. Filme wie Titanic und The Matrix, auch die Truman-Show und Lola rennt sind mehrfach interpretiert worden.ŚŘŞ Hierbei stand überwiegend die Suche nach Überschneidungen von Film und Religion in struktureller und funktionaler Sicht zur Diskussion: „Filme setzen sich wie religiöse Symbolisierungen mit existenziellen Lebensfragen auseinander und geben Antworten auf Sinnfragen.“ŚŘş Auffällig ist allerdings, dass humorvolle bundesdeutsche Erfolgsfilme wie Otto, der Film oder Der Schuh des Manitu nicht besprochen worden sind. Greift man zurück auf die Interpretation virtueller Realitäten als Spielräume der Freiheit, die sich auch gerade in der Fähigkeit, in humorvolle Szenerien einzutauchen, zeigt, wird zumindest angedeutet, inwiefern auch diese Filmsparte praktisch-theologisch interessant sein könnte. Ein weiter Religionsbegriff, wie er etwa von Thomas Luckmann entwickelt wurde, ermöglicht es z. B., im Blick auf solche Filme von der unsichtbaren Religion des Kinos zu sprechen. Filme, die von ihren Produzenten selbst nicht als religiös verstanden worden sind, ließen sich in der Perspektive eines funktionalen Religionsverständnisses religiös lesen. Die Filme selbst übernähmen wichtige Funktionen im Bereich narrativer Lebensdeutung, die in früheren Zeiten in weitaus stärkerem Maße von den Narrationen der kirchlichen Religionskultur erfüllt worden seien.ŚřŖ Diese Beiträge zur theologischen Interpretation von Filmen und Filmkultur im Kinosaal haben die praktisch-theologische Diskussion für diese kulturellen Produktionen sensibilisiert. Explizit religiöse Motive und christliche Traditionen sind nach Jörg Herrmann insbesondere im europäischen Nachkriegs- und Post-Nachkriegsfilm zu finden. ŚŘŝ Vgl. Joachim von Soosten, Krieg und Spiele. Kultgemeinschaften im Fußballsport. In:
W. Isenberg/Matthias Sellmann (Hgg.), Konsum als Religion? Mönchengladbach 2000; vgl. auch Frank Thomas Brinkmann, Sport. In: Fechtner u. a. (2005: 268–278). ŚŘŞ Vgl. zur Film-Trilogie Teil 1, 1.7 und 2.6. Vgl. aber auch z. B. Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Gütersloh 2001, Gutmann (1998), Gräb (2002) sowie Jörg Herrmann Medienerfahrung und Religion. Göttingen 2007. ŚŘş Jörg Herrmann, Film. In: Kristian Fechtner/Gotthard Fermor/Uta Pohl-Patalong/ Harald Schroeter-Wittke (Hgg.), Handbuch Religion und Populäre Kultur. Stuttgart 2005, 63–73, hier 66. ŚřŖ Vgl. Herrmann (2005: 69).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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Dafür nennt er z. B. Robert Bressons Tagebuch eines Landpfarrers (1950), Ingmar Bergmans Das siebte Siegel (1957) sowie Licht im Winter (1962), dann Pier Paolo Pasolinis Das erste Evangelium – Matthäus (1964), die Jesus-Filme von Roberto Rosselini Der Messias (1975) und auch noch Denys Arcands Jesus von Montreal (1989) und Krzysztof Kieslowskis Filmzyklus Dekalog (1988/1989). Herrmann stellt ein nachlassendes Interesse der Filmwelt an religiösen Themen fest, an dem gemessen das Engagement kirchlicher Institutionen an Filmen wie Bonhoeffer – die letzte Stufe (2000) und Luther (2003) auffalle. Doch die Filmproduktionen erscheinen so vielfältig, wie etwa Mel Gibsons Die Passion Christi (2004), Sakrileg (2006) und Ben X (2007) zeigen, dass solche weit ausgreifenden Einschätzungen schwierig sind. Immer wieder bieten Filme die Verarbeitung christlicher Tradition in mehr oder weniger intensiver Weise an. In dieser Hinsicht sind sie Gegenstand von theologischen Seminaren; die Auseinandersetzung mit ihnen schärft dabei die Wahrnehmung für eine kulturelle, nicht stets konfessionell orientierte Deutung des Christusgeschehens; es kann sich sozusagen in den fremden Blick auf den christlichen Glauben eingeübt werden, wenn dieser in einer Filmproduktion – unter den Prämissen verkaufsorientierter Marketingstrategien – zur Darstellung kommt.
Interessant ist schließlich die ebenfalls reflektierte Perspektive der Verwandtschaft von Ritualen der Filmrezeption und der Rezeption von Religion, in ihrer expliziten Gestalt z. B. im Gottesdienst. Hier zeigt sich allerdings auch, wie sich eine Perspektive, die aus dem Genre Kinofilm argumentiert, von der unterscheidet, die sich auf virtuelle Realitäten bezieht. Wenn zunächst vorausgesetzt wird, dass man Kirche und Kino aufsuche, um Distanz vom Alltag zu nehmen, kann dies hinterfragt werden: Virtuelle Realitäten dienen neben der Distanznahme auch einer intensiveren Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit, die in ihnen durchgespielt wird. Heißt es, man verlasse das Haus und begebe sich in einen länglichen Raum, an dessen Stirnseite auf Leinwand oder Kanzel Narrationen oder Deutungen dargeboten werdenŚřŗ, wird die oppositorische Perspektive durch das Eintauchen in virtuelle Realitäten aufgehoben. Hier geht es nicht mehr um eine frontal dargebotene Deutung, sondern um eine immersive Erfahrung der Interaktion. Kino und Kirche fänden beide in Räumen statt, die Kathedralen genannt werden könnten. Auch virtuell inszenierte Kathedralen können begangen werden, doch sie werden durch ihre elektronische Konstitution deutlicher als soziale Räume wahrnehmbar, die stets mit ihrem Gebrauch neu entstehen und auf die weniger mit dem Gefühl heiliger Geborgenheit zurückgegriffen werden kann. Praktisch-theologische Vergleiche von Kino und Kirche schärfen zwar das Bewusstsein für beiden gemeinsame Strukturen, doch sie sollten dabei nicht zu vereinfachenden Vergleichen führen, in denen Vorstellungen von Gottesdienst und Predigt prolongiert werden, die in Homiletik und Liturgik Śřŗ Vgl. Herrmann (2005: 64).
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kritisch reflektiert werden und so hinter dem Stand der Diskussion in diesen Arbeitsfeldern zurückbleiben. Hierfür steht beispielsweise die These, dass sowohl in der Kirche wie im Kino eine Darbietung rituell gerahmt werde. In der Kirche geschehe dies mit Lied und Liturgie; im Kino mittels Vorhang und obligater Kinowerbung. In diesen immer gleichen Ablauf seien die Interpretationen des Lebens durch Film und Predigt eingebettet. Ein solcher Vergleich legt nahe, dass die Predigt dem Film gleichkomme und dass im Gottesdienst die Liturgie die Rahmung der Predigt sei. Und weiter: „Während die Predigt ohne Technik auskommt, ist der Film ein Medium der Moderne, das auf technischen Möglichkeiten beruht.“ŚřŘ Diese Einschätzung hat in mehrerer Hinsicht ihre Schwierigkeiten. Selbst wenn man davon absieht, dass vielerorts die Erwartung an eine gute Predigt darin besteht, dass sie technisch mit einem Mikrophon und Lautsprechern verstärkt wird und dass die sprecherische und die gestische Ausbildung der Predigenden gefördert werden, bleibt, dass in der Homiletik seit Langem die Rhetorik sowie Film- und Theatertheorien diskutiert werden. Insofern wird man sagen können, dass die mediale Inszenierung der Predigt auch in der Praxis, sowohl in der Ausbildung wie in der Fortbildung, längst fokussiert ist. Diese Fokussierung wird aber offenbar nicht medientheoretisch reflektiert. In diesem Sinne ist die Medialität der Predigt herauszustellen: Das Predigen ist eine auf Zeichen basierende und damit medial gebundene Form von Kommunikation. Es ist als aktuell gesprochenes Wort und geistliche Rede wie der Film eine mediale Inszenierung, wenngleich sich die Inszenierungen im Zugriff auf unterschiedliche Techniken unterscheiden. Trotz dieser kritischen Kommentierung steht fest, dass auf den praktischtheologischen Untersuchungen zu Religion und Filmkultur für die Deutung virtueller Realitäten produktiv aufgebaut werden kann: Virtuelle Realitäten werden in vielen Kinofilm-Produktionen in Form von computergestützten Bildanimationen genutzt. Filme und virtuelle Realitäten teilen den ästhetischen Aspekt, dass durch sie Konstruktionen von Wirklichkeit vorgenommen werden und diese Konstruktionen in die Wirklichkeitssicht der Rezipientinnen und Rezipienten eingehen.Śřř Auseinandersetzungen um ein angemessenes Verhältnis von Form und Inhalt, wie sie z. B. anlässlich von Mel Gibsons Passion Christi aufkamen, können die Revision theologischer Themen, z. B. Erlösung und Gewalt, befördern. Was hier für die Filmkultur erarbeitet wurde, kann auch in die Diskussionen um computergestützte Produktionen ein-
ŚřŘ Herrmann (2005: 64). Śřř Vgl. Herrmann (2005: 66).
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gehen.ŚřŚ Theologie und Kirche könnten auf diese Weise ihr Themenspektrum erweitern und damit auch etwas dazu beitragen, dass John Updikes Auffassung, dass das Kino mehr für sein spirituelles Leben getan habe als die Kirche, der Theologie zum Anstoß wird.Śřś Kommende Generationen, die bereits mit virtuellen Realitäten am heimischen und schulischen Personal Computer oder sogar mit Tracking-Systemen aufgewachsen sein werden, werden aller Voraussicht nach Ähnliches nicht über das Kino, sondern über ihre Nutzung elektronischer Welten sagen. Die Praktische Theologie hat über die Verhältnisbestimmung von Religion in Medien ihren Gegenstandsbezug, sowohl was das Erkunden als auch was das Reflektieren religiöser Phänomene in der Gegenwartskultur angeht, aktualisiert und erweitert. Sie schärft aber auch umgekehrt ihre Wahrnehmungsfähigkeit für das Mediale in der Religion. 4.1.3.3 Zur sogenannten Medienreligion Bereits im Zusammenhang mit der Untersuchung zur filmischen Inszenierung virtueller Realitäten in der Trilogie The Matrix der Brüder Wachowski ist die religiöse Dimension von Medien angesprochen worden.ŚřŜ In dem oben erwähnten Vergleich eines Besuchs von Kino und Gottesdienst zeigt sich ebenfalls, dass Medien und Religion miteinander verwandt sind. Zum Teil wird ihr Verhältnis als konkurrierend beschrieben: „Das Internet macht der Religion Konkurrenz, nicht durch das Vorkommen von Religion im Internet, sondern durch den Charakter des Mediums selbst.“Śřŝ Mit der Wahrnehmung ihres verwandtschaftlichen Verhältnisses kann leichter fokussiert werden, was Praktische Theologie aus der Analyse der religiösen Dimension von Medien für ihren Umgang mit Medien aufnehmen kann. Dies ist das Anliegen dieses Abschnitts. In die Diskussion um Medien und Religion innerhalb Praktischer (und auch Systematischer) Theologie ist insbesondere die Perspektive des Philologen und Medienwissenschaftlers Jochen Hörisch eingegangen.ŚřŞ Deshalb ŚřŚ Vgl. zu der älteren Diskussion Hans-Martin Gutmann, Die tödlichen Spiele der Er-
wachsenen. Moderne Opfermythen in Religion, Politik und Kultur. Münster 2004. Śřś Vgl. Herrmann (2005: 63). ŚřŜ Vgl. 1.7. Śřŝ Gerd Buschmann (2003) gibt eine gute Problemanzeige, aber auch er geht nicht über
die Position hinaus, dass zeitgenössische Theologien zu medialen Themen sich auf einem Grat zwischen Panikmache und Bagatellisierung bewegen. ŚřŞ Vgl. z. B. Gräb (2002); Gehring (2002, insb. 160-178); Grethlein (2003); vgl. auch Michael Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie, in: ZThK (2004: 465–488).
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sollen einige seiner Hauptthesen kurz vorgestellt werden. Er geht davon aus, dass Medien und Religion sich insbesondere darin gleichen, dass sie Heilsversprechen geben: „Heilsversprechen sind, wie sollte es anders sein, mediale Heilsversprechen; und allen Medien wohnen Heilsversprechen inne. Eine religiös oder theologisch fundierte Kritik an den jeweils neuen Medientechnologien verkennt schlicht, dass Religionen, Missionen und Konfessionen verlässlich an der Spitze des Medienfortschritts anzutreffen waren und sind.“Śřş Hörisch hält dies nicht für eine neue Entwicklung; auffallend an den Neuen Medien wie Personal Computer, World Wide Web, E-Mail und Multimedia sei in theologischer Perspektive, dass ihre Botschaften gerade nicht neu seien, sondern sie spezifische religiöse Funktionen übernähmen. Die Aufgabe der Medien sei, so schließt er an die verbreitete, bereits oben entfaltete These an, Absenzen zu überbrücken.ŚŚŖ Medien reagierten kompensatorisch auf die verstörende Erfahrung von räumlicher oder zeitlicher Abwesenheit. Briefe, Telefonate, Faxe, Radio- und TV-Emissionen waren und seien Raum- und Zeitüberbrücker. „Das gilt auch für die beiden großen klassischen Massenmedien unserer Kultur: das Abendmahl und das Geld. Brot und Wein überbrücken die Zeit zwischen dem gestorbenen und dem wiederkommenden Christus. Sie machen im schönen Paradox eines eschatologischen Erinnerungskults die Abwesenheit des Erlösers erträglich.“ŚŚŗ Im historischen Rückbezug sieht Hörisch denn auch durch Hostien und Münzen Fernes nah werden; dabei allerdings bleibe das Nahe doch zugleich als Fernes am Horizont bestehen. Er siedelt also in seinem Verständnis von Medien eine paradoxale Struktur an, die er auch der christlichen Offenbarungstheologie entnehmen kann. Doch die Neuen Medien hielten nicht nur die Verbindung zu ihren Vorläuferinnen, sie träten auch in eine spezifische Veränderung ein. Wenn das griechische Wort für Fernes, tele-, als das klassische Präfix fast aller neuen Medientechnologien nach Gutenberg gelte, so wie es am Telegrafen, dem Telefon, dem Telefax etc. sich zeige, kämen nun aber die neuesten Medientechnologien ganz ohne dieses Präfix aus. Computer, Internet, Cyberspace oder E-Mail seien hierfür Beispiele. Hirschs These ist, dass die neuen Kommunikationsmöglichkeiten Kommunion, mit anderem Wort Teilhabe ermöglichten. „Das Heilsversprechen der neuen Medien [...] lautet nicht länger, dass wir in ferner oder näherer Zukunft dieser oder jener Erlösungserfahrung teilhaftig werden können – sondern vielmehr, dass eben hier und jetzt eine Śřş Jochen Hörisch, Gott, Geld, Medien. Frankfurt a. M. 2004, 164. Vgl. auch Medien
und Religion. In: Gutmann/Gutwald (Hgg.) (2005: 135–148). ŚŚŖ Vgl. 2.3. ŚŚŗ Hörisch (2004: 169).
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Kommunikation statthat, die die Grenze zur Kommunion überschreitet. Die tradierte Fixierung auf Zukunfts- und Erlösungshorizonte wird neumedial durch einen neuen Kult der Simultaneität ersetzt. Echtzeit ist das Zauberwort, das die klassischen Vermittlungsberufe (vom Priester über den Professor bis zum Börsenmakler) in tiefe Krisen stürzt.“ŚŚŘ Das Kriterium der Echtzeit, das Hörisch herausarbeitet, versetzt die Rezipientinnen und Rezipienten in eine Gleichzeitigkeit mit der Inszenierung des medialen Ereignisses, die seines Erachtens die hohe Bindung an das Medium erklärt. Hörischs Auffassung spitzt m. E. zu stark zu, dass die Neuen Medien das Kriterium der Synchronizität forcierten. Hoch frequentiert zeigen sich gerade asynchrone Kommunikationen, wie sie die Informationsrecherche im World Wide Web und die E-Mail-Kommunikationen anbieten; Chatten und Mudden wären daneben die Kommunikationsformen, die synchrones Kommunizieren ermöglichen, aber sie stehen nicht allein für die Attraktivität der Neuen Medien. Es wird also sowohl synchron als auch asynchron kommuniziert. Eine zweite These zur Verwandtschaft von Religion und Neuen Medien bezieht sich auf einen von Hörisch und anderen vertretenen, vergleichbaren Weltbezug: Er finde sich in der christlichen Tradition der Gnosis und der Cyberspace-Interpretationen. Die Gnosis habe mit ihrem Zweifel daran, dass der reine und absolute Gott für den Schmutz des Seins nicht verantwortlich gemacht werden könne, eine den Neuen Medien ähnliche Orientierung angeboten.ŚŚř Wenn es geheißen habe, dass ein böser Demiurg für den sogenannten Teufelsdreck gesorgt hätte, den es im Namen des reinen Geistes auszutreiben gelte, dann finde sich hierzu eine Parallele in den Neuen Medien. Sie seien es, die von den schmutzigen Aspekten, die die traditionellen Medienströme kennzeichneten, von der Druckerschwärze, vom eucharistischen Blutstrom und auch von der anrüchigen Materialität des Pecunia-olet-Geldstroms befreiten. Hörisch macht mit seiner These von der Synchronizität darauf aufmerksam, wie die Neuen Medien in ihrer religiösen Wirkung erstens religiöse Praxen forcieren, die auf Erfahrungen mit der Anwesenheit Gottes abzielen. Zweitens kann aus seiner These abgeleitet werden, dass die ambivalenten Folgen dieser Vergegenwärtigungwünsche darin liegen können, die paradoxe Struktur christlichen Glaubens aufzulösen oder zu schwächen, sodass die historische Dimension christlichen Glaubens durch die präsentische nivelliert würde. Insgesamt aber ist m. E. Vorsicht gegenüber der Reinheitsthese zum Cyberspace geboten, denn mit den medienwissenschaftlichen Positionen von Manfred Faßler und Manuel Castells ist bereits deutlich geworden, dass die ŚŚŘ Hörisch (2004: 169 f.). ŚŚř Vgl. Hörisch (2004: 170).
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neuen Kommunikationsverhältnisse keineswegs als immateriell zu beschreiben sind. Nur wenn man den Gebrauch der Apparatetechnik sowie die technologische Entwicklung elektronischer Medien ausblendet, kann ein solches Bild entstehen.ŚŚŚ Vielmehr wird gegenüber solchen Tendenzen doch zunehmend deutlich, dass ökologische Folgen, wie etwa die Zunahme des Papierkonsums über die Computertechnologie und die Schwierigkeiten, elektronischen Müll zu recyceln etc., dringend bewältigt werden müssen. Direkte gesundheitliche Folgen für Menschen wie für die Tierwelt, beispielsweise durch die Strahlenbelastung über Funkverbindungen und Mobiltelefonanlagen, werden bereits erwartet, allerdings gibt es noch keine Langzeitstudien, die die ökologischen Gefahren der Neuen Medien dann auch politisch wirksam verdeutlichen könnten. An Hörischs Thesen bleibt erstens festzuhalten, dass die Medialität christlicher Religion in historischer Dimension erläutert und die Diskussion um neue Medien an traditionelle, kirchlich entwickelte Medien angeschlossen werden kann. Dies fördert innerhalb praktisch-theologischer Diskussionen die Wahrnehmung, dass christliche Religion durch Medien wie ihren Gebrauch geprägt ist. Zweitens kann an die These, dass Medien Abwesenheiten überbrücken, angeknüpft werden. Die Neuen Medien vermögen es, Anwesenheit noch radikaler zu inszenieren, als dies in den Massenmedien bereits geschehen ist. Diese Radikalisierung in ihren ambivalenten Folgen einzuschätzen, ist eine der Praktischen Theologie nun neu zukommende Aufgabe. Die Frage nach der Religion der Medien ist innerhalb Praktischer Theologie seit ca. 25 Jahren in Zusammenhang mit dem Medium des Fernsehens thematisiert worden. Mitte bis Ende der Achtzigerjahre wurden fernsehkritische Thesen bereits von Wolf-Rüdiger Schmidt, Hans-Norbert Janowski und anderen publiziert.ŚŚś Anfang der Neunzigerjahre stehen z. B. die Studien Horst Albrechts zur Religion der Massenmedien für diesen Themenbereich.ŚŚŜ Ende der Neunzigerjahre traten Arno Schilson und um die Jahrtausendwende dann Günter Thomas mit jeweils mehreren Publikationen zu diesem Thema an die Öffentlichkeit.ŚŚŝ ŚŚŚ Vgl. 1.2; 1.7; 3.6. ŚŚś Vgl. Hans Norbert Janowski, Die kanalisierte Botschaft. Religion in den Medien –
Medienreligion. Gütersloh 1987. ŚŚŜ Vgl. Horst Albrecht, Die Religion der Massenmedien. Stuttgart 1993. ŚŚŝ Vgl. Arno Schilson, Medienreligion. Zur religiösen Signatur der Gegenwart. Tübingen
1997; Ders., Jenseits aller Kommunikation: Medien als Religion? In: Hermann Kochanek (Hg.), Ich habe meine eigene Religion. Sinnsuche jenseits der Kirchen. Zürich 1999, 130–157; vgl. Günter Thomas, Medien-Ritual-Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Frankfurt a. M. 1998; Ders. (Hg.), Religiöse Funktionen des Fern-
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Auf der Basis eines überwiegend funktional formulierten Religionsverständnisses ist es für die Autoren möglich, die Religion des Massenmediums Fernsehen zu beschreiben, ohne dies in ständigem Bezug oder der Abgrenzung zu christlichen Inhalten tun zu müssen. In Albrechts Beitrag Fernsehen als Religion? Die Tagesschau als Beispiel finden sich in nuce bis heute diskutierte Thesen. Die religiöse Bedeutung der Tagesschau zeige sich erstens in einem hidden curriculum, einem Ablauf von Bildern und Worten, der keinesfalls von allen Rezipienten und Rezipientinnen verstanden, aber dennoch angesehen werde. Die hohen Einschaltquoten bei Nachrichtensendungen und das in Interviews und bei Umfragen immer wieder bekundete Interesse an ihnen seien als der Vollzug eines Rituals zu interpretieren. Es gehe mehr darum, einen Tagesrhythmus zu finden und Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, als sich nun den Inhalten eines Fernsehbeitrags zu widmen. Fernsehen wird so als Ritual angesehen, das im Alltag stabilisiert, das als tief in der Bilderwelt verankertes, emotionales Orientierungssystem zu gelten habe und als Brücke über die Diskontinuitäten des Tages und des Lebens hinwegführe.ŚŚŞ Schließlich wird das Fernsehen im Anschluss an US-amerikanische Massenkommunikationsforschungen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren als die neue Religion, die uns kontrolliert, bezeichnet. Albrecht bezieht sich hierbei auch auf einen älteren Beitrag von Peter Cornehl, der die Funktionen, die Religion einmal ausgefüllt hat, nämlich Orientierung, Expression, Vergewisserung, Integration des Lebens zu leisten, auf die Massenmedien und insbesondere das Fernsehen übergehen sieht. Weil dessen Beschreibung zu den in den Annäherungen an virtuelle Realitäten zum Teil vorgetragenen Befürchtungen viele Ähnlichkeiten aufweist und weil hier zugleich deutlich wird, wie Religion und Medien vergleichbare Funktionen für Menschen übernehmen, sei der ältere Beitrag Cornehls auch ausführlicher zitiert. Cornehl ist der Auffassung, dass „die Ausweitung der Medien, v. a. des Fernsehens, unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und die Lebenswelt selbst in vielleicht revolutionärer Weise verändern werden. Die Medien schaffen neue Traditionen und regulieren den Alltag. Sie prägen das Bild der Welt. Sie schaffen neue künstliche Ikonen, sie produzieren Symbole und Mythen, synthetische Träume vom wahren Glück. Und sie haben (wie die religiöse Tradition auch) ihre eigentliche Faszinationskraft nicht im kognitiven Bereich, sondern im emotionalen, im Bereich der Expressionen und der Affirmationen, in der Weise, wie sie es verstehen, Wünsche und Ängste zu artikulieren und Versprechungen und Tröstungen zu vermitteln. Sie erzeugen auf besonders raffinierte Weise schließlich auch das Gefühl von Gemeinschaft. Wer fernsieht, ist nicht allein, er ist aufgehoben in sehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden 2000. ŚŚŞ Vgl. Albrecht (1993: 103).
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einem größeren Ganzen [...]“ŚŚş. Auf diese Funktion wird auch gegenwärtig Bezug genommen, wenn das Spektrum der Erforschung von Medienreligion auch auf andere Medien als das Fernsehen ausgeweitet worden ist: „Die Rezipientinnen und Rezipienten erleben demnach das Fernsehen als konstante, umfassende und unzerstörbare Wirklichkeit, die sich hinter ihrer konkreten alltäglichen Erfahrungswelt aufspannt.“ŚśŖ
Das Fernsehen bietet der medienreligiösen These zufolge ein mit dem Alltag stets mitlaufendes, zugriffssicheres Kommunikations- bzw. Wahrnehmungskontinuum an. Es sei ohne Anfang und ohne Ende, allgegenwärtig, vermeintlich alles sehend und nichts fordernd. Obwohl das Fernsehen selbst zu einer Vielfalt und Unabwägbarkeit von Meinungen und Informationen sowie Standpunkten beitrage, mit seinen Sendungen auch eine chaotische Welt beschreibe, biete es durch seine klar strukturierte Programmabfolge aber andererseits einen Kontrapunkt zu Erfahrungen postmoderner Unübersichtlichkeit. Weil die mediale Verunsicherung im Rahmen des so verlässlichen Mediums Fernsehen stattfindet, könnten einzelne Sendungen eine Verunsicherung auch bewusst einsetzen.Śśŗ Aus praktisch-theologischer Perspektive ist über diese Interpretation des Fernsehens auch die Bedeutung von Ritualen außerhalb von kirchlichen Vollzügen angesprochen. Sie werden mit der Untersuchung von Phänomenen gelebter Religion zunehmend erforscht. Diese Forschung wirkt zurück auf die Wahrnehmung der eigenen Tradition und ihrer religiösen Rituale, die ambivalent gedeutet werden.ŚśŘ Die Kritik am Ritual des Gottesdienstes betrifft z. B. die mangelnde Vertrautheit von Menschen mit dem Vollzug der einzelnen gottesdienstlichen Elemente. Deren Sinn ist Menschen oft gar nicht mehr klar. Rituale können zu zwanghaftem religiösem Gebaren führen. Sie können den Kreis derer, die an ihm teilnehmen können, nur auf Eingeweihte beschränken, und dies widerspricht der Orientierung, dass ein Gottesdienst ein öffentliches Geschehen ist. In Ritualen liege auch die Gefahr, dass eine bestimmte Form von Religion vergötzt werde. Diese Kritikpunkte treffen nun auf die Nutzung des Mediums Fernsehens nicht zu, weshalb mehrfach prognostiziert worden ist, das Ritual eines Gottesdienstbesuches sei von dem des Fernsehens abgelöst worden. Doch anstatt Konkurrenzbeziehungen zu thematisieren, geht es hier darum, die Wahrnehmung von alltäglich gelebten ŚŚş Vgl. Peter Cornehl, Tradition nach dem Auszug. In: Pastoraltheologie 78/1989, 454–
466, hier 459. ŚśŖ Thomas H. Böhm, Religion durch Medien – Kirche in den Medien und „Medien-
religion“. Stuttgart 2005, 211. Hervorhebung vom Autor. Śśŗ Vgl. Böhm (2005: 212). ŚśŘ Vgl. für eine genauere Betrachtung des Gottesdienstrituals Teil 2, 4.
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Ritualen zu erhöhen.Śśř Hierzu gehört, dass sie im Alltag Menschen von dem Zwang, sich permanent zwischen verschiedenen Optionen entscheiden zu müssen, entlasten. Rituale stiften zudem sozialen Zusammenhalt, wenn sie überindividuell praktiziert werden. Diese Dimension ist offenbar von steigender Bedeutung. Es ist also nicht zutreffend, wenn weiterhin herausgestellt wirdŚśŚ, dass mit dem Fernsehen aus dem Alltag ausgestiegen und in eine zweite Wirklichkeit entflohen würde. Der rituelle Charakter des Fernsehens wie auch des Gebrauchs von computergestützten Kommunikationen wird zunehmend darin gefunden, Erfahrungswelten vernetzen zu können. Dies zeigt sich unter anderem in einer sich verändernden Präsenz dieses Mediums: Es wird nicht mehr nur eingeschaltet, wenn man eine Sendung sehen will, sondern in Restaurants, Supermärkten, U-Bahn-Stationen laufen Fernsehprogramme, die die Funktion des Fernsehens als Tagesbegleitung ausweisen. Diese Präsenz schafft Atmosphären, die einzelnen Menschen das Gefühl vermitteln, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Insbesondere über Wettervorhersagen und politische Nachrichten wird ein weltweiter Sinnhorizont mit lokalem Bezug inszeniert, was der Einzelnen und dem Einzelnen ein Gefühl, dabei zu sein, vermittelt. Diese Inszenierungen sind ein wesentlicher Bestandteil dessen, was Menschen gegenwärtig als religiös qualifizieren.Śśś Sie sind besonders über Bildschirme öffentlich präsent. Der Bildschirm selbst ist es, der als ein Übergangsobjekt zwischen privaten und öffentlichen Räumen fungiert. Screening bietet auf dem Weg zur Schule oder zum Arbeitsplatz ein Kontinuum für die Anlagerung von Empfindungen, die stabil vermitteln, dass Menschen gemeinsam unterwegs sind, dass ihnen permanent andere anwesende Menschen begegnen. In mehreren Untersuchungen war das regelmäßige Anschauen der Tagesschau in den vergangenen Jahren zum prominenten Forschungsgegenstand geworden. Herausgearbeitet wurde, wie eine Sendung dazu beiträgt, den Alltag zu strukturieren. Die Tagesschau hilft, den alltäglichen Beginn des Abends zu strukturieren. Sie tut dies über ihre Inhalte, aber auch über ihren Ablauf. Man kann zeigen, wie einzelne Elemente mit christlichen Andachtsformen verwandt sind. Aber dies muss nicht der einzige Blickpunkt bleiben. Hinzu tritt nun ein Aspekt, der gerade die materielle Kultur des Screenings noch einmal zu betonen vermag. Hans-Martin Gutmann hat z. B. in diesem Sinne die Liturgie der Tagesschau im Alltag beschrieben. Über den rituellen Charakter hinaus hält er für die Viertelstunde bis 20.15 Uhr aber auch fest: „Der Fernseher steht in 5 Millionen HausŚśř Vgl. Hans-Günter Heimbrock/Wolf-Eckart Failing, Gelebte Religion wahrnehmen.
Stuttgart 1998. ŚśŚ Vgl. Böhm (2005: 211). Śśś Vgl. auch 3.5.
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halten im Zentrum der Kommunikation. Unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Begehung, den ich für meine Interpretation auswähle, kann ich sagen: Der Fernseher nimmt den Platz des Altars oder der Kanzel in diesem Ritual ein.“ŚśŜ
Um den Fernseher in seiner religiösen Bedeutung als Altar oder Kanzel aus rezeptionsästhetischer Perspektive noch darüber hinaus zu beschreiben, kann Inken Mädlers Beitrag zur Erforschung materieller Kultur herangezogen werden. Im Rahmen eines Interviews mit einer Frau namens Pascal konnte sie folgende Aussagen aufzeichnen: „[...] so Sachen, die für mich selbstverständlich sind, dass die dabei sein müssen, also schon als Kind – und von dem sie weiter sagt: Das brauch ich, das gehört dazu, das, also ohne das, da würde ich verrückt werden, glaube ich (...) das muss irgendwie da sein, um schließlich festzuhalten: Fernsehen war schon immer bei mir, das ich weiß nicht warum, aber das muss sein.“Śśŝ Auch Mädler begreift den Fernseher als Übergangsobjekt, der für Pascal ein Begleiter in ihrer Kindheit gewesen ist, der sie getröstet und beruhigt habe. Pascal habe auch explizit geäußert, dass, wenn der Fernseher heute nicht laufe, es ihr zu ruhig sei; sie bemerke dann, dass sie allein sei, was sie nicht gern sei. Pascal schlösse selbst daraus, sie brauche die Geräusche. Über die rituelle Funktion des Fernsehens hinaus ist nun aber Mädlers Beschreibung des Fernsehers als Ausdruck ihres Technikverständnisses interessant. Es handele sich hier, anders als in den nicht elektronischen Fällen, um die Treue zu einem von ihr sogenannten Unding, dessen gegenständliche Kontinuität weniger mit Bezug auf das letztlich auswechselbare, materielle Gehäuse, denn als die Kontinuität einer virtuellen Realität geformt werde.ŚśŞ Mädler geht nicht weiter auf das Phänomen virtueller Realitäten ein. Der Bezug zur Kontinuität einer virtuellen Realität zeigt aber an, dass der Fernseher als ein Übergangsobjekt gedeutet wird und die Begehung von Räumen sowie der Raum selbst, in dem Pascal lebt, im Fluss gehalten werden. Pascal scheint es möglich zu sein, ihren Erfahrungsraum mit Fernsehwelten in diesem Sinne virtuell zu erweitern. Es ist insbesondere interessant, dass sie sich nicht dem Fernseher zuordnet und sagt, dieser halte sie an seine Welten gebunden. Nimmt man ihre Selbstaussage ernst, so sagt sie vielmehr, Fernsehen war schon immer bei mir und vermittelt damit, dass sie das Medium als Begleitung bzw. Bestandteil ihres Leibkörpers versteht.
ŚśŜ Hans-Martin Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der
König der Löwen. Gütersloh 1998, 150–161, hier 154. Śśŝ Inken Mädler, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Per-
spektive. Gütersloh 2006: 228. ŚśŞ Vgl. Inken Mädler (2006: 228).
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Man kann an dieser Stelle mit der marxistischen Kapitalismuskritik fragen, ob gesellschaftliche Bedürfnisse das Bewusstsein bestimmen, oder fragen, ob psychoanalytische oder therapeutische Analysen des Phänomens, Angst davor zu haben, einsam zu sein, hier Anwendung finden sollten. Es wäre dann auch darüber zu diskutieren, ob ein Bedürfnis nach Integration in ein umfassenderes Weltbild als religiös qualifiziert werden soll und welches Verständnis von Religion hier zugrunde gelegt werden muss: ob ein solches Verständnis von Religion einer Religionskritik standhalten könnte. Die kulturkritische Losung von Marshall McLuhan, the medium is the message, die mit Hörisch zu Beginn des Abschnitts über Medienreligion eingeführt wurde, und die den religiösen Charakter von Medien an deren Heilsversprechen festmacht, leistet ohne Zweifel auch in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag zur Kritik an Medien. Doch diese Interpretation erschließt noch nicht, wie der Gebrauch von Medien es vermag, Bedürfnisse nach Kommunikation so aufzunehmen, dass Menschen regelmäßig auf sie zurückgreifen, ohne dass man ihre Verhaltensweisen zugleich pathologisiert. Die folgende Kritik von Metz, die in eine solche Richtung geht, soll nicht grundsätzlich abgelehnt werden, es geht vielmehr darum, dass sie in ihrer Form zu sehr verallgemeinert und dadurch verändernde Impulse nicht gezielt genug vortragen kann. Metz schreibt in Anlehnung an die klassische Religionskritik: „Das Opium der Armen [...] ist die Massenmedienkultur [...]. Diese Modernisierung der Köpfe durch die moderne Fernsehkultur produziert ein imaginäres Bewusstsein, eine Art Realitätswahrnehmungsverlust.“Śśş Es ist wiederum die Argumentation maßgeblich, dass Fernsehen in eine zweite Wirklichkeit führe, die die aktive Beschäftigung mit der eigenen ersten Wirklichkeit verhindere. Dass umgekehrt dem Fernsehen die Funktion zugeschrieben wird, zur emotionalen Restabilisierung beizutragen, wird nicht thematisiert. Die Bildschirme in öffentlichen und privaten Räumen werden nicht eingesetzt, um in einer zweiten Wirklichkeit Surrogate für eine sozusagen wirkliche Gemeinschaft zu liefern. Ihr Einsatz wird deshalb akzeptiert, weil sie in dieser einen Wirklichkeit, in der Menschen leben, alltagsrelevant Stimmungen zu regulieren vermögen. Zur Erschließung dieses Zusammenhangs trägt die rezeptionsästhetische Perspektive bei. Mit der Analyse dessen, wie Menschen Medien rezipieren, wird es möglich, detailliert dem nachzugehen, wie sie z. B. mit ihren Empfindungen umgehen und dabei Wirklichkeit für sich zu konstruieren vermögen.
Śśş Johann Baptist Metz, Die elektronische Falle. In: Guido Zurstiege (Hg.), Festschrift
für die Wirklichkeit. Wiesbaden 2000, 153–158, hier: 154 f.
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4.1.3.4 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Kommunikation Virtuelle Realitäten, insbesondere in ihrer Form als computergestützte Kommunikationen, stehen im Zentrum dieser Untersuchung und: Ihre praktischtheologische Erschließung dient der Reflexion der Kommunikation des Evangeliums, insbesondere für die Disziplin der Homiletik. Wiederum können diese Reflexionen nun historisch vernetzt werden. Die Beschäftigung mit Kommunikation hat innerhalb des Christentums Geschichte. Bei Thomas von Aquin z. B. findet sich „eine Analyse von Kommunikation als einer Mitteilung von etwas, die einer dem anderen macht“ŚŜŖ, ohne dass Thomas allerdings sein Verständnis philosophisch ausgearbeitet hätte. Allerdings ist eindeutig, dass eine intensive Beschäftigung mit Modellen von Kommunikation vor allem in die praktisch-theologischen Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, insbesondere ab den Sechzigerjahren.ŚŜŗ Die Rede von Kommunikation ist sowohl für diese Untersuchung wie für die neuere Praktische Theologie so zentral, dass nun auch Deutungen, die in dieser Disziplin bereits vorgenommen wurden, hier unter dem Gesichtspunkt des virtuellen Wandels in der Kommunikationskultur vorgestellt werden. Wie innerhalb Praktischer Theologie von Kommunikation gesprochen wird, richtet sich dabei auch nach dem Kontext, auf den für seine Deutung zugegriffen wird, je nachdem, ob man sich an der Philosophie, der Publizistik, der Psychologie, der Biologie, der Theologie usw. orientiert hat. Für diese Untersuchung ist das Kriterium der Virtualität und mit ihr der Konstruktion von Wirklichkeit für das Verständnis von Kommunikation maßgeblich; das anvisierte theologische Verständnis von Kommunikation ist entsprechend in interdisziplinärer Perspektive auf die Sozialphilosophie und die Medienwissenschaften entstanden. Mit ihm soll insgesamt der medientheoretische Aspekt im theologischen Verständnis von Kommunikation gestärkt werden. Vorauszuschicken ist noch, dass es sowohl Verständnisse von Kommunikation gibt, die davon ausgehen, dass Kommunikation der Verständigung dient und gelingende Verständigung ihr Ziel sei, und dass es demgegenüber Entwürfe gibt, die einen solchen Verständigungsprozess nicht notwendig miteinbeziehen und eher von Kommunikation als einem intersubjektiven Regelwerk sprechen.ŚŜŘ Innerhalb Praktischer Theologie wird häufig aber der Terminus von der gelingenden Kommunikation favorisiert. Diese OrientieŚŜŖ Christof Bäumler, Kommunikation/Kommunikationswissenschaft. In: TRE, Bd. 19,
Berlin/New York 1990, 385. ŚŜŗ Vgl. Bäumler (1990: 388 f.). ŚŜŘ Vgl. Waldenfels (2000: 367 f.).
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rung resultiert aus dem Charakter des Christentums als Erlösungsreligion; die Kommunikation Gottes mit den Menschen wird als Heilsgeschehen gedeutet. Dem entspricht es auch, dass aus christlicher Perspektive Kommunikation grundsätzlich ein Mitteilungscharakter zugeschrieben wird. Auf dem Hintergrund eines offenbarungstheologischen Religionsverständnisses kann der Begriff der Mitteilung so verstanden werden, dass es Gottes freie Entscheidung ist, sich der Schöpfung und den Menschen mitzuteilen. Wird nun auf dem Hintergrund eines modernen Weltbildes weiter gefragt, wie diese Mitteilung aufgenommen werden kann, so wird die Antwort in einer zentralen Glaubensaussage auffindbar: Es ist die Menschlichkeit Gottes, die uns Gottes Anwesenheit in der Welt wahrnehmbar macht. In der Person Jesu Christi wird der Welt das Heil vermittelt. Sie wird zum Medium, zum Zeichen des Heils, das selbst kommuniziert wird. Als Leitbegriff für die Reflexion christlicher Praxis, insbesondere des Gottesdienstes, hat Ernst Lange 1964 den Begriff Kommunikation des Evangeliums in die praktisch-theologische Diskussion eingeführt. Auch hier ist der Mitteilungscharakter noch deutlich erkennbar, aber es ist nicht mehr so sehr an ein Sender-Empfänger-Modell als vielmehr an eine dialogische Struktur von Kommunikation gedacht. Im Zusammenhang seines Rechenschaftsberichts über die Tätigkeit in der sogenannten Ladenkirche betont er, dass er nicht mehr von Verkündigung oder Predigt sprechen wolle, sondern von der Kommunikation des Evangeliums, weil dieser Begriff das prinzipiell Dialogische des gemeinten Vorgangs akzentuiere und „außerdem alle Funktionen der Gemeinde, in denen es um die Interpretation des biblischen Zeugnisses geht – von der Predigt bis zur Seelsorge und zum Konfirmandenunterricht – als Phasen und Aspekte eines – und desselben Prozesses sichtbar macht.“ŚŜř Langes Gebrauch der Kommunikation des Evangeliums klang emphatisch und war auf das Ziel der Verständigung, sozusagen auf Schnittflächen unter kommunizierten Welten angelegt. Insofern ist Hans Dieter Bastians Beitrag als ein wichtiger Einspruch gegen diese normative Bestimmung von Kommunikation festzuhalten. Sein Anliegen war zu reflektieren, dass Kommunikation misslingen kann und permanent auch misslingt, dass Störungen zu Kommunikationsprozessen hinzugehören, dass mit anderen Worten das Gelingen von Kommunikation ŚŜř Zitiert nach Bäumler (1990: 388); Bäumler weist allerdings darauf hin, dass vor Lange
bereits Hendrik Kraemer, The Christian Message in a Non-Christian World. London 1938, den Terminus Kommunikation in die praktisch-theologische Diskussion eingebracht habe. Vgl. aber auch Ernst Lange, Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns. Herausgegeben und eingeleitet von Rüdiger Schloz. München/Gelnhausen 1981, 101–129.
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zumindest komplexer gesehen werden muss. Dies hat ihn auch dazu bewogen, kybernetische und funktionale Kommunikationstheorien in die Praktische Theologie zu integrieren. Er hat z. B. dafür plädiert, dass auch technologisches Wissen diskutiert werden müsse.ŚŜŚ Bastian arbeitet auf diese Weise heraus, dass Kommunikation nicht nur gestaltbar ist, sondern dass auch die Regeln und Techniken ihrer Gestaltung kommuniziert werden müssen. Über das Plädoyer für die Aufnahme kybernetischer und funktionaler Theorien hat Bastian also aus heutiger Perspektive auch das Bewusstsein für die technische Medialität von Kommunikation erhöht. Manfred Josuttis hat zwar die theologische Bedeutung der empirischen Forschung zur Kommunikation zu würdigen gewusst, aber zugleich kritisch darauf aufmerksam gemacht, dass Verkündigung immer zugleich kreatorische, transempirische Elemente enthalte.ŚŜś Josuttis` Beitrag geht vom Brennpunkt der technischen Medialität von Kommunikationen weg und fokussiert die menschliche Kreativität, mit der quasi über sich selbst hinaus kommuniziert wird. Mit in diese Kritik an der kybernetisch und empirisch orientierten Forschung gehört auch der Beitrag von Helmut Peukert, der sich mit seinem theologischen Verständnis von Kommunikation an Jürgen Habermas und dessen Pointierung solidarischen Handelns angeschlossen hat.ŚŜŜ In diesen Zusammenhang reichen ebenfalls theologische Beiträge zum Verständnis von Kommunikation, die gezielt auf mediale Kommunikation eingehen; sie beschäftigen sich mit dem Fernsehen als Massenmedium und beziehen die Systemtheorie Niklas Luhmanns mit ein.ŚŜŝ Neben der systemtheoretisch und der diskurstheoretisch geprägten Diskussion um Kommunikation beginnt während der Achtzigerjahre eine weitere Hermeneutik an Bedeutung zu gewinnen: Aus dem US-amerikanischen Pragmatismus sowie dem Kontext der Semiotik Umberto Ecos wird herausgearbeitet, dass Kommunikation sich stets unter den Bedingungen von Zeichenprozessen ereignet. Dies gilt unabhängig davon, ob Kommunikation ŚŜŚ Vgl. z. B. Bastian, Hans-Dieter/Ulrich Teiner, Hoffnungslos gestört? Probleme reli-
giöser Kommunikation. Düsseldorf 1971. ŚŜś Vgl. Manfred Josuttis, Verkündigung als kommunikatives und kreatorisches Gesche-
hen. EvTh 32 (1972), 3–19; für die neuere Diskussion: Ders., Die Einführung in das Leben. Gütersloh 1996. ŚŜŜ Vgl. Helmut Peukert, Kommunikative Freiheit und absolut befreiende Freiheit. In: Herbert Vorgrimler (Hg.), Wagnis Theologischer Erfahrungen mit der Theologie Karl Rahners. Freiburg im Breisgau 1979, 274–283. ŚŜŝ Vgl. Grethlein (2003); Moxter (2004). Für die ältere Diskussion und einen kybernetischen Bezug z. B. Hans Joachim Dörger, Kirche in der Öffentlichkeit. Stuttgart 1979.
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personal, im Sinne einer Begegnung von Personen beispielsweise im Gespräch, oder sich mit elektronischer Vermittlung vollzieht.ŚŜŞ In der Diskussion um semiotische Modelle von Kommunikation ragt auch eine Kritik an Kommunikationsverständnissen hinein, die das Verständnis von Medien zu sehr auf deren Präsenz als technische Apparate festlegen.ŚŜş Kommunikation wird praktisch-theologisch durch ein Zeichenverständnis erhellt, das prinzipiell offen ist für so etwas wie sinnliche Zeichen. Üblicherweise wird unter einem Zeichen ein Schrift- oder ein Bildzeichen verstanden, nun werden in das Kommunikationsverständnis auch Gesten, Lichtverhältnisse, Geschmack und Geruch einbezogen. Es geht um ganzheitlich ausgerichtete Kommunikationen. Die zunehmende Verbreitung von massenmedialen und computergestützten Kommunikationen bringt Ende der Neunzigerjahre und über die Jahrtausendwende hinweg ein Plädoyer für die Förderung personaler Kommunikation mit sich.ŚŝŖ Sie entdeckt die nonverbale Kommunikation als einen ihrer neuen Forschungsbereiche.Śŝŗ Eine solche grundlegende Orientierung Praktischer Theologie an Kommunikation findet sich z. B. bei Wilfried Engemann: „Wenn wir uns in der Praktischen Theologie [...] dazu entschließen, die Kommunikation des Evangeliums gewissermaßen als Zentralperspektive für die Anordnung aller weiteren inhaltlichen und methodischen Gesichtspunkte der Praktischen Theologie zu wählen, gehen wir von zwei wichtigen Prämissen aus: (1.) Die Kommunikation des Evangeliums ist ein Prozeß, der sich nicht in der Übermittlung von Heilsinformationen erschöpft, sondern darauf abzielt, daß die Kommunikanden mit Gott und untereinander neu (bzw. überhaupt) in Beziehung treten sowie an seinem Reich und aneinander partizipieren, wodurch sie sich dann auch selbst in einem anderen Licht sehen können. (2.) Bei der Rede von der Verkündigung des Evangeliums ist nicht nur die verbale Dimension der Verkündigung in Form der Predigt im Blick, sondern es geht um alle Ebenen der Mitteilung des Reiches Gottes, sei es in, mit und unter der Mahlfeier, durch liturgische Gestaltung, durch Musik, diakonisches Handeln, seelsorgerliche Begleitung, durch zeugnishaftes politisches Engagement usw.“ŚŝŘ Engemann vertieft noch einmal das Bewusstsein dafür, dass es in der Kommunikation des Evangeliums weder monologisch zugeht noch dass diese auf das Genre der Predigt zu begrenzen ist. Damit ist der Blick auf die Kommunikation des Evangeliums zugleich medial eingestellt: sie kann sehr ŚŜŞ ŚŜş ŚŝŖ Śŝŗ ŚŝŘ
Vgl. Engemann (2000: 134 ff). Ebenda. Vgl. Grethlein (2003: 110–113); Gräb (2003). Vgl. Preul (2000: 33). Engemann (2003: 42).
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
verschiedene Gestalt annehmen. Die Aufmerksamkeit für die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungen und raumzeitlicher Aspekte für Kommunikationsprozesse steigt seither. Mit dem Phänomen virtueller Realitäten ist für die Praktische Theologie die Chance verbunden, das Verständnis von Kommunikation und das von Wahrnehmung enger miteinander zu verbinden. Beides sind Grundbegriffe gegenwärtiger Diskussionen. Es geht darum zu beschreiben, was dem Menschen auch in und mit medialen Kommunikationen wahrzunehmen möglich ist. Virtuelle Realitäten stumpfen die Sinne nicht ab, sondern sie intensivieren Wahrnehmungsprozesse, so ist in den Annäherungen zum Phänomenbereich herausgearbeitet worden.Śŝř Insbesondere die immersiven Erfahrungen, die Menschen beim Eintauchen in virtuelle Realitäten machen, stehen für diesen Wandel in der Kommunikationskultur, der auch veranlasst, dass Medien nicht mehr zureichend im Gegenüber zum Menschen beschrieben werden können. Sie erhalten einen Anteil am menschlichen Körper. Das Phänomen virtueller Realitäten macht innerhalb alltäglicher Kommunikationen klar, wie diese „selbstständigen körperlichen Formen“ŚŝŚ verstanden werden können. Sie zeigen sich als Kommunikationsräume, die die Realität menschlicher Kommunikationen erweitern und die die Konstruktion von Wirklichkeit als eine anthropologische Fähigkeit sichtbar machen. Medien eröffnen Kommunikationsprozesse, in denen Wirklichkeiten entworfen und gelebt werden. Ein praktisch-theologisches Verständnis von Kommunikation kann auf diese Bestimmung nicht nur eingehen, es bringt sogar selbst Schnittflächen für ein solches mit. Denn auch die Kommunikation des Evangeliums baut auf der Konstruktion einer Wirklichkeit auf. In ihr wird die Anwesenheit Gottes in der Welt gesetzt, ohne es dabei zu belassen. Denn das Wissen darum, dass die Anwesenheit Gottes in der Welt nicht selbstverständlich wahrnehmbar ist, ist präsent. Ihre Wahrnehmung muss je und je erschlossen werden. Es geht deshalb darum, Menschen „einen Erschließungsraum zu schaffen, in dem sie sich unversehens unter den Bedingungen des Reiches Gottes wahrnehmen können, als erwünscht, erlöst, ermutigt zu befreitem Handeln [...]. Es geht immer wieder um die Eröffnung von Möglichkeiten der Partizipation am Reich Gottes“Śŝś. Für die Konkretion eines solchen Verständnisses der Kommunikation des Evangeliums ist zunächst Bezug zu nehmen auf das ästhetische Kriterium, in dem Form und Inhalt, Gestalt und Botschaft aufs engste miteinander Śŝř Vgl. Teil 1, 1. ŚŝŚ Bäumler (1990: 396). Śŝś Engemann (2003: 42 f.).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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verbunden sind.ŚŝŜ Mit ihm vernetzt wird das Wie, also der intentionale Aspekt von Kommunikation, entscheidend wichtig: „Intentionalität [...] besagt, daß jedes Erleben sich auf etwas bezieht, indem es dieses in einem bestimmten Sinne meint [...] Der intentionale Sinn steht für das Woraufhin eines Verhaltens oder eines Erlebens.“Śŝŝ In diesem Horizont des Verständnisses hat Kommunikation reziproke und nicht-reziproke Anteile, sie hat bewusste und unbewusste Anteile. Dies deutet an, dass Kommunikation nicht selbstverständlich zu Übereinkunft und Einstimmung führen kann. Dissonanzen können vielmehr absichtlich herbeigeführt werden, ebenso wie sie aus Missverständnissen heraus entstehen können. Es wird also nicht normativ vom Gelingen von Kommunikation ausgegangen, denn im Misslingen kann ebenso eine Dimension kommunikativer Prozesse liegen, die aber für die Beteiligten zunächst nicht wahrnehmbar ist. Auch die Kommunikation des Evangeliums ist deshalb als ein offener Prozess zu beschreiben, dessen Orientierung allerdings in der christlichen Hoffnung verankert ist, dass es möglich ist, dass Kommunikation gelingt. Rainer Preul hat in seiner Auslegung der Kommunikation des Evangeliums ebenfalls für ein phänomenologisches und dabei intentionales Verständnis votiert.ŚŝŞ Zunächst verbindet er mit dieser die Kommunikation eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Sie ziele darauf ab, Glauben als Lebenseinstellung zum einen zu erschließen und somit zu seinem Entstehen beizutragen und zum anderen eine spezifische Wahrnehmungseinstellung zu bestärken. Theologisch begreift er diese Wahrnehmungseinstellung als ein Antworten: „Die sachgemäße Antwort auf die Verkündigung des Evangeliums, der Rechtfertigungsbotschaft, ist der Rechtfertigungsglaube.“Śŝş In diesem Rechtfertigungsglauben eigneten sich Menschen ein christliches Wirklichkeitsverständnis an, das Preul erfahrungsbezogen interpretiert: „Die Erfahrung beschränkt sich nicht darauf, etwas zu meinen und anzuzielen, sondern sie antwortet auf etwas, sie greift zurück auf etwas, das ihr entgegenkommt.“ŚŞŖ
ŚŝŜ Vgl. hierzu auch die Erläuterungen zum Wahrnehmungsverständnis in Teil 1, 3.3. Śŝŝ Waldenfels (2000: 367). ŚŝŞ Vgl. Preul (2000). Vgl. auch ders., Das Sinnangebot der Medien und die kirchliche
Verkündigung. In: Christian Drägert/Nikolaus Schneider (Hgg.), Medienethik. Stuttgart 2001, 363–380. Dieser Band ist insgesamt instruktiv, um das Verhältnis von Kirche und Medien auszuloten. Śŝş Preul (2000: 10 f.). ŚŞŖ Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie. In: Failing/Heimbrock/Lotz (2001: 61–84, hier: 76).
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
Preul nutzt nun die Unterscheidung von innerer und äußerlicher Wirkung der Kommunikation des Evangeliums, um die Verkündigung für alle medialen Möglichkeiten zu öffnen: „Die innere Klarheit, die sich erst einstellt, wenn die Decke auf den Herzen weggezogen ist (1.Kor 3,15 f.) und Gott einen hellen Schein in unsere Herzen gibt (1.Kor 4,6), ist menschlichem Zugriff entzogen, aber sie hat die äußere Klarheit zur Voraussetzung.“ŚŞŗ Allerdings verkennt die ansonsten sehr richtige handwerkliche Forderung, z. B. in guter elementarisierter Weise und mit großer Klarheit in den Sätzen zu predigen, dass Klarheit nicht gleichbedeutend mit Eindeutigkeit ist, ja dass Eindeutigkeit noch nicht einmal das Ziel einer religiösen Rede sein muss, Menschen vielmehr durch eine Schilderung von offenen Ambivalenzen in die Konstruktion ihrer eigenen Wirklichkeitsbilder hineingeführt werden. Für Preuls intentionales Verständnis der Kommunikation des Evangeliums ist schließlich charakteristisch, dass er den Personen in der Kommunikation des Evangeliums eine herausragende Bedeutung gibt. Der christliche Glaube existiert nicht primär in Gestalt von Texten, Riten, Liedern etc., sondern in Gestalt von Personen, die ihn leben. „Daraus folgt, daß das eigentliche und ursprüngliche Medium religiöser Kommunikation die menschliche Person in ihrer Leibhaftigkeit ist, sofern sie ihren Glauben so oder so zu erkennen gibt.“ŚŞŘ Hiermit ist der Schnittpunkt der Diskussion um die Kommunikation des Evangeliums mit der um das Verständnis von Medien erreicht. Allerdings setzt Preul seinen Medienbegriff fundamentalanthropologisch ein, wenn er die Person das eigentliche und ursprüngliche Medium religiöser Kommunikation nennt. Er sieht die Urform der Kommunikation des Evangeliums in der leibhaften Face-to-Face-Kommunikation, dies gelte für Jesus Christus wie für alle seine späteren Zeugen. Preul will mit der Argumentation, die die Person als Medium bezeichnet, Individualität nicht abwerten, sondern vielmehr unterstreichen, dass „das christliche Zeugnis [...] die Gestalt eines Lebenszeugnisses“ŚŞř hat. Damit verliert der Medienbegriff aber auch an Schärfe, weil er in den Lebensäußerungen von Menschen aufzugehen scheint und somit seine Verbindung zu spezifischen Medien zu verlieren droht: In diesem Sinne spricht Preul von einer „vita christiana“, die er als Genre für die Bezeugung eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses neu beleben möchte. Das Votum greift im Grunde auch die fortgesetzt hohe
ŚŞŗ Preul (2000: 11). Hervorhebungen vom Autor. ŚŞŘ Preul (2000: 11 f.). ŚŞř Preul (2000: 12).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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Akzeptanz der praktisch-theologischen Biografieforschung auf, die hier ebenfalls einen Angelpunkt hat.ŚŞŚ An dieser Entfaltung wird in Preuls Beitrag m. E. ein Vorbehalt gegenüber einem Kommunikationsverständnis erkennbar, das sich grundsätzlich intentional versteht und Kommunikation also stets zeichenvermittelt sieht.ŚŞś Die große Lösung, mit der er die Inszenierung einer „vita christiana“ ins Spiel bringt, rückt seinen Entwurf zum Verständnis der Kommunikation des Evangeliums unter den Bedingungen der Mediengesellschaft doch wieder in Distanz zu den Medien, die in der Mediengesellschaft genutzt werden. Der Grund hierfür scheint in einem Zeichenbegriff zu liegen, der Sprache und Rationalität verbindet und diese einer vorsprachlichen Gefühlswelt gegenüberstellt. Preul weist deshalb auch nonverbalen Zeichen im Grunde die Bedeutung zu, die innerhalb der Watzlawickschen Kommunikationstheorie der analogen Kommunikation zukommt: „Was sich auf der Beziehungsebene zwischen den Kommunikanten abspielt, hat vorzeichenhafte Bedeutung für das Verständnis dessen, was auf der Inhaltsebene in vorwiegend digitaler Kommunikation vermittelt wird. Ist die Beziehung etwa von Mißtrauen beherrscht, dann ist alles, was verbal-digital verlautbart wird, dem Verdacht der Unglaubwürdigkeit, Heuchelei oder auch Schmeichelei ausgesetzt.“ŚŞŜ
Emotionen in Kommunikation wahrzunehmen, dies gibt der praktisch-theologischen Diskussion um Kommunikation einen weiteren Grund, sich auf ästhetische Fragestellungen einzulassen. Gerade in der empirischen Forschung wird immer wieder die Bedeutung der Emotionalität für computergestützte Kommunikationen betont. Allerdings ist es auf der Basis eines intentionalen Kommunikationsverständnisses m. E. nicht schlüssig, einen vorsprachlichen und das heißt hier vor der Existenz von Zeichen angenommenen Raum für Gefühle festzulegen. Auch sie sind in ihrem Ausdruck wie in ihrer Wahrnehmung an Zeichen gebunden, die sicher nicht alle sprachlich definiert werden müssen, aber durch Sprache intersubjektiv identifiziert werden können. Es ist vermutlich Preuls Anliegen, die Anthropologie vor einer Intersubjektivität schützen zu wollen, die das Subjekt in dieser aufgehen ließe. Doch zu einem anthropologischen Konzept, das phänomenologisch orientiert und für das Kommunikation intentional bestimmt ist, gehört die Anonymität des eigenen Seins hinzu, sodass keine Gefahr besteht, dass das Individuum in der Sozialität aufgeht. Es muss nicht im individuellen Gefühl seine Zuflucht vor der Verzweckung suchen. Ein zweiter in jüngster Zeit erschienener Beitrag zum Thema stammt von Christian Grethlein, der in seinem Essay zur Kommunikation des Evangeliums in
ŚŞŚ Vgl. Neues Handbuch (2002: 175–213). ŚŞś Vgl. Preul (2000: 13). ŚŞŜ Ebenda.
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
der MediengesellschaftŚŞŝ einerseits das Fernsehen weiterhin als Leitmedium begreift und aus dieser Perspektive Medienkritik vor allem an manipulativem Einsatz von Massenmedien äußert, aber – hier in Übereinstimmung mit Preul – mit einem intentionalen Verständnis von Kommunikation für einen vielfältigen Gebrauch von Medien zur Kommunikation des Evangeliums eintritt. Seit Beginn der Christentumsgeschichte seien Medien zur Integration der Gemeinden und Christen in den Gesamtzusammenhang christlicher Daseinsund Wertorientierung unerlässlich. In dieser Verhältnisbestimmung von Praktischer Theologie und Medien wird die Bedeutung der Person im Kommunikationsprozess wiederum besonders hervorgehoben: Je mehr die apersonalen Medien mit unmittelbarer Face-to-Face-Kommunikation verbunden würden, desto wirkungsvoller seien sie. So biete das Fernsehen der wachsenden Zahl vor allem älterer Menschen eine intentionale Partizipation an der Kommunikation des Evangeliums, wenn es ihnen beispielsweise nicht mehr möglich sei, zur Kirche zu gehen.ŚŞŞ Darüber hinaus kann m. E. ergänzt werden, dass mediale Kommunikationen des Evangeliums für die Rezipientinnen und Rezipienten nicht nur dann wirkungsvoll sind, wenn sie auf frühere Erfahrungen personal vermittelter Kommunikationen zurückbezogen werden können. Der umgekehrte Weg wird mit der steigenden Frequenz von computergestützten Kommunikationen, auch z. B. mit Online-Pfarrern und -Pfarrerinnen, ebenfalls möglich: Durch Medien wird es möglich, Nähe und Distanz zum Kommunikationspartner differenziert einzustellen. Gerade Menschen, die sich noch nicht im Kernbereich kirchlicher Kommunikation vernetzt haben, nutzen im Bereich der Kasualien, der Beratung in Lebenskrisen sowie der Klärung von theologischen Fragen mediale Kontakte, in deren Konsequenz ebenfalls die Schwelle zu einem nächsten personalen Kontakt herabgesetzt werden kann. Trotz der Anerkennung apersonaler Medien formuliert Grethlein allerdings doch einen Primat personaler Medien. Grundlegend für die Kommunikation des Evangeliums seien personale Medien, die partizipatorisch, symmetrisch und begleitend kommunizieren. „Das Evangelium wurde schon von Jesus nicht abstrakt lehrmäßig, sondern in konkreten Gesprächen, Situationen der Hilfeleistung und des gemeinsamen Essens und Trinkens kommuniziert; es ist auf direkte Teilhabe angelegt.“ŚŞş Weil in der Kommunikation des Evangeliums die Ausrichtung des ganzen Lebens auf dem Spiel stehe, sei hier tiefes Vertrauen notwendig. „Offensichtlich ist solches Vertrauen, weil es nicht nur ŚŞŝ Vgl. Grethlein (2003). ŚŞŞ Vgl. Grethlein (2003: 112 f). ŚŞş Grethlein (2003: 110).
4.1 Zur Diskussion um die Virtualisierung von Kommunikation in den Medien
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die kognitive, sondern die leibliche Dimension umfasst, für uns Menschen wesentlich an Face-to-Face-Kommunikationen gebunden.“ŚşŖ Es ist zuzustimmen, dass die Begegnungen, die Menschen mit Jesus hatten, diese offensichtlich tief beeindruckt haben; zum Teil machten sie sogar das ganze Leben umfassende Wandlungsprozesse durch. Doch aus medientheoretisch reflektierter Perspektive soll weiterhin darauf insistiert werden, dass die Unterscheidung zwischen apersonalen und personalen Medien sowie die Vorordnung der personalen vor die mediale Kommunikation innerhalb der praktisch-theologischen Diskussion dazu neigt, die Medialität von Kommunikation auszublenden. Die Struktur dieser Argumentation kann dazu führen, dass mit Medien weiterhin stärker Apparate assoziiert werden und dieses verkürzte und vereinfachende Verständnis von Medien eben der Begegnung von Personen gegenübergestellt wird. Daneben ist die hohe Anerkennung der Person im Prozess der Kommunikation des Evangeliums durchaus anzuerkennen und weiter zu fördern. Denn innerhalb der Praktischen Theologie ist sie bis in die jüngste Zeit keineswegs selbstverständlich gewesen. Deshalb sind sowohl Preuls wie Grethleins Voten als Kurskorrektur an Positionen im Gefolge einer dialektischen Theologie zu verstehen, die die Person zu sehr entwertete bzw. sie sogar als Hindernis in kommunikativen Prozessen des Glaubens ansah. Es wurde übersehen, dass „das Evangelium Gestalt annahm, indem das Wort Gottes in Person zum Menschen in Beziehung trat“ und dass „es auch post Christum ausschließlich in Gestalt persönlicher Zeugnisse weitergegeben worden“Śşŗ ist. Deshalb dürfe die Person des Einzelnen im Prozess der Kommunikation des Evangeliums nicht, wie es geschehen sei, als bloßes Hindernis oder als passive Empfängerin von Offenbarungen verhandelt werden.ŚşŘ Auch Michael Moxter argumentiert in seiner systematisch-theologischen Verhältnisbestimmung von Religion und Medien für die Stärkung personaler Kommunikationen. Er indiziert eine Virtualisierung des Weltbezugs als direktes Resultat veränderter Kommunikationsweisen, die sich durch die Verbreitung von Massenmedien durchsetze. Weil sie nicht auf Interaktion unter Anwesenden beruhe, diese vielmehr durch Technikeinsatz systematisch unterbreche und ausschließe, könne man dabei sein, ohne dass es ernst werde. Und er fügt ausdrücklich hinzu: „Zuschaueranruf, Studio- bzw. Hallenpublikum, Chatroom und interaktive Medien sind m. E. keine Gegenbeispiele, sondern selbst Formen virtualisierter Beteiligung.“Śşř Moxter kritisiert vor allem massenmediale Kommunikationen, wie dies gerade in der Bundesrepublik Deutschland und den USA mit den TheorieŚşŖ Śşŗ ŚşŘ Śşř
Grethlein (2003: 110f). Vgl. Engemann (2003: 43). Zur Frage nach der Bedeutung des Subjekts der Predigt vgl. Teil 2, 5. Moxter (2004: 474).
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bildungen von Niklas Luhmann eine gute Tradition bekommen hat; Massenmedien wurden insbesondere in diesen beiden Ländern seit dem Ersten Weltkrieg sehr gefördert. Im Gefolge ihrer Entwicklung konnten nationalsozialistische Propaganda und Kriegspropaganda auch wissenschaftlich, durch die aufkommende Medienwirkungsforschung, professionalisiert werden.ŚşŚ
Es ist nicht unproblematisch, wenn auf Kommunikation im Kontext praktisch-theologischer Diskussionen als gelingende Kommunikation Bezug genommen wird. Ihr Ideal scheinen vertrauensvolle und kontinuierliche Dialoge zu sein. Es war ebenfalls Niklas Luhmann, der entfaltete, dass Kommunikation zwar durchaus möglich ist, dass sie grundsätzlich aber nicht als zuverlässig gelten kann. Reflexion, Idee, Wissen usw. würden nur in bestimmten Formen nach außen dargestellt. „Es sind sozusagen vorzeigbare Ergebnisse, die die Anpassung der Umwelt herausfordern. Dabei enthalten sie nur das, was in den Zwischenraum unter den Bedingungen des (bei Menschen) Selbstoder (bei Systemen) des Bestandsschutzes adressierbar ist.“Śşś Aus dieser erkenntnistheoretischen Prämisse ist nun eine entsprechende ethische Schlussfolgerung zu ziehen, wie sie übrigens für die Theoriebildung Luhmanns bleibend wichtig ist: Denn ihr bis heute gültiger Ertrag ist, Kommunikation prinzipiell als unzuverlässig wahrnehmen zu können. Mit Luhmann wird Kommunikation aus der überlieferten Bindung an die subjektive Handlungsabsicht und die kulturelle, sprachliche und sinnbestimmte Identität herausgelöst. Hierdurch werden die Prozesse der ökonomischen, gegenständlichen, sprachlichen oder institutionellen Vermittlung beobachtbar, ohne dass ihnen von vornherein eine Überlast an Sinn und dessen Vermittlung auferlegt wird.ŚşŜ Sinnvermittlung, und zwar Lebenssinnvermittlung, ist aber der Anspruch, mit dem, allgemein gesprochen, religiöse Kommunikation bzw. die Kommunikation des Evangeliums verbunden ist. Die nicht hintergehbare Unzuverlässigkeit auch religiöser Kommunikation zu entfalten, ist ein Beitrag, den die Beschäftigung mit virtuellen Realitäten zu einem praktisch-theologischen Verständnis von Kommunikation leisten kann.
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion Für ein medientheoretisch reflektiertes Religionsverständnis sind folgende Eckpunkte besonders erläuterungsbedürftig: Es ist zunächst zu fragen, wie ŚşŚ Vgl. Faßler (20022: 143). Śşś Niklas Luhmann zitiert nach Faßler (20022: 66). ŚşŜ Vgl. Faßler (20022 : 68).
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion
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innerhalb der christlichen Religion Wirklichkeit verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu präzisieren, welcher Bezug zwischen der Rede von der Wirklichkeit und der Rede von Gott besteht (4.2.1). Aufbauend auf die medientheoretische Einsicht, dass virtuelle Realitäten Stimmungsregulatoren sind, gilt es nun analog für das Religionsverständnis herauszuarbeiten, welche Bedeutung Stimmungen, Gefühle bzw. Emotionalität für Religion und Glauben haben (4.2.2). Religiöse Kommunikationen sind in globalem Horizont zu sehen, insbesondere wenn an ihre mediale Präsentation gedacht wird. Insofern wird stets präzisierend von der christlichen Religion gesprochen; sie ist bereits je nach dem Kontext, in dem sie gelebt wird, selbst kulturell sehr verschieden geprägt und gestaltet. So ist also an dieser Stelle zumindest darauf hinzuweisen, dass die folgenden Ansätze zu einem medientheoretisch reflektierten Religionsverständnis eine Deutung aus evangelischer Perspektive sind. Sie gehören außerdem in einen mitteleuropäischen, genauer noch bundesrepublikanischen, westdeutschen Kontext. Welche Auswirkungen dies auf die Beschreibung des Religionsverständnisses hat, kann an dieser Stelle nicht explizit reflektiert werden; dies wäre Teil einer eigenen Religionstheorie. Aber mit diesen einleitenden Bemerkungen wird so signalisiert, dass Preul zuzustimmen ist, wenn er für die Praktische Theologie fordert: „Eine rein transzendentale Bestimmung von Religion, die lediglich die Möglichkeitsbedingungen von Religion und religiösem Verhalten entwickelt, reicht für die Belange der Praktischen Theologie noch nicht aus.“Śşŝ Es geht zugleich darum, gelebte Religion wahrzunehmen und ihre Phänomene auch im Rahmen einer Konkretion des Religionsverständnisses zu erforschen. 4.2.1 Christliche Religion als kulturelles Zeichensystem Religion, so sollte nachvollziehbar geworden sein, hat grundsätzlich eine mediale Struktur, weil und insofern sie an Prozessen von Kommunikation partizipiert und auch die Kommunikation des Evangeliums notwendig auf Zeichen basiert.ŚşŞ Dabei können Zeichen sowohl Menschen als auch ihre Gesten, Schriftzeichen, Datensätze, Bilder u. a. m. umfassen. Sie sind sozuŚşŝ Preul (1997: 546). ŚşŞ Von dieser Position ausgehend kann das hier entworfene Religionsverständnis weiter
in einen differenzbetonten Ansatz eingeordnet werden. Zum ersten Überblick vgl. Bernhardt (2005: 275–291), aber auch Christian Danz, Fundamentaltheologie als religionsphilosophische Theorie des Glaubens. Überlegungen zu den Konstitutionsbedingungen theologischer Dogmatik. In: Nord/Volz (Hgg.) (2005: 45–65).
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
sagen materielle Elemente, die als Zeichen semiotische Beziehungen zu etwas Bezeichnetem herstellen. Auf diese zeichengebundene Weise der Interpretation eignen sich Menschen Welt an; auf diese zeichengebundene Weise der Interpretation erfahren Menschen die Gegenwart Gottes. In diesem weiten Sinne basieren Religionen auf allen möglichen Zeichen. Sie treten allerdings zur Verwirklichung einer konkreten Religion in spezifische Verhältnisse zueinander; mit anderen Worten, sie bilden durch die religiöse Kommunikation von Menschen gestaltete Zeichensysteme, die je nach ihrer Herkunft kulturell geprägt sind. Innerhalb der neueren theologischen Diskussion hat der Neutestamentler Gerd Theißen Religion als kulturelles Zeichensystem beschrieben.Śşş An seinem Vorschlag kann ein Ansatz für ein medientheoretisch reflektiertes Verständnis von Religion anknüpfen; Theißen bietet darüber hinaus Impulse an, die Virtualisierung von religiöser Kommunikation zu entfalten. (1) Zum Geltungsanspruch von Religion. Die urchristliche Religion hat laut Theißen eine das ganze Leben bestimmende Dynamik. Aus medientheoretischer Perspektive verweist eine solche Dynamik zunächst darauf, dass Religion einen virtuellen Raum entwirft, der keineswegs nur die Beziehung zwischen Mensch und Gott anbelangt, sondern beabsichtigt, eine Weltdeutung aufzubauen. In dieser Absicht gleicht sie anderen virtuellen Realitäten, die ebenfalls darauf abzielen, über Immersionseffekte ein vollständiges Eintauchen der Rezipienten und Rezipientinnen in eine virtuelle Realität herbeizuführen. Insofern könnte man sagen, dass Religion ein Zeichensystem ist, das Immersionseffekte zu inszenieren beabsichtigt, die die Bedeutung des christlichen Glaubens möglichst für das ganze Leben eines Menschen vergegenwärtigen. (2) Ein Aspekt zum Verhältnis von Theologie und Religion. Innerhalb eines praktisch-theologisch qualifizierten Religionsverständnisses liegen zwei Perspektiven ineinander verschränkt vor: Wird Theologie im prägnanten Sinne als Lehre von Gott definiert, zielt sie auf denjenigen Gegenstand, der als alles bestimmende Wirklichkeit bzw. als die Wirklichkeit im Ganzen bestimmend gedacht wird. Insofern gehört die Differenz zwischen dem religiösen Bewusstsein und seinem Gegenstand, zwischen dem Akt des Glaubens und seinem Thema, zum Begriff von Theologie. „So sehr der Religionsbegriff für die phänomenologische Anbindung an die menschliche Erfahrung steht, so sehr dient der Theologiebegriff als Platzhalter für den Gegenstandsbezug und
Śşş Vgl. Theißen (2000).
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion
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damit für das Wahrheitsproblem religiöser Rede.“śŖŖ Mit dem Gegenstandsbezug der Praktischen Theologie ist von vornherein eine Bindung an den christlichen Glauben mitgesetzt; aber diese soll keineswegs dazu führen, dass die praktisch-theologische Rede von Gott nur einer Binnenperspektive glaubender Menschen zugänglich wäre. In einer Theologie der urchristlichen Religion stellt sich das Verhältnis von Religion und Theologie vielmehr in einer doppelten Perspektive dar.śŖŗ Zum einen wird eine auf religionswissenschaftliche Kriterien aufbauende Erläuterung des christlichen Glaubens in Mythos, Ritus und Ethos als einer Außenperspektive vorgestellt, auf der anderen Seite wird die Binnenperspektive eines evangelischen Verständnisses der Christusbotschaft präsentiert. Aus medientheoretischer Perspektive wird damit eine Deutung dessen angeboten, was in Bezug auf virtuelle Realitäten als Spielräume der Freiheit vorgestellt worden istśŖŘ: Von der Binnenperspektive hinsichtlich des eigenen Glaubens in die Außenperspektive gehen zu können und vice versa, zeigt die Fähigkeit, mit der eigenen Rollenbestimmung bzw. Identifikation als Christin oder Christ spielerisch umgehen zu können. Das Anliegen, beide Perspektiven miteinander zu vermitteln, entspricht einem Identitätskonzept, das offen ist für die Aufnahme unterschiedlicher Rollen in der eigenen Persönlichkeitsbildung. Insofern wird auch ein absoluter Geltungsanspruch des christlichen Glaubens mit dieser Doppelperspektive aufgebrochen, sodass die Identifikation als Christin nicht die gesamte Person dominieren muss. Wäre die Bindung absolut fixiert, würde ein Mensch die Freiheit verlieren, eine sich distanzierende Identifikation, wie sie sich etwa im humorvollen Umgang mit Religion zeigtśŖř, einzunehmen. Gemessen an der Vorstellungswelt gegenwärtiger computergestützter Kommunikationen wird man, anstatt von der Binnen- und der Außenperspektive auszugehen, vielmehr zu fragen haben, ob in Bezug auf religiöse Kommunikationen nicht stärker vieldimensional gedacht werden muss. Im Raum der Ströme, in dem Menschen alle möglichen spirituellen Kommunikationen aufnehmen können, tauchen sie in Kommunikationsräume ein, in denen Identifikationsangebote bestehen, die nicht (nur) entweder als areligiös oder als religiös zu bezeichnen sind, sondern viel eher als experimentell religiös oder synkretistisch.
śŖŖ Michael Moxter, Riskierte Wirklichkeit. Warum braucht Religion Theologie? In: Theo-
logische Literaturzeitung 128 (2003) 3, 257. śŖŗ Vgl. Theißen (2000: 17 f.). śŖŘ Vgl. 1.4. śŖř Vgl. 3.4.
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
(3) Die christliche Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn in virtualisierten Kommunikationen mit Gott verheißt. Was bislang eher eine philosophische oder im weitesten Sinne in den Bereich der Hermeneutik gehörende Frage war, wird mit der alltäglichen Kommunikation in virtuellen Realitäten lebensweltlich plausibel: Wirklichkeit ist stets nur innerhalb eines Wirklichkeitsverständnisses gegeben. Wer dieser Einsicht grundlegend Rechnung trägt, kann Religion dann z. B. als kulturelles Zeichensystem oder als semiotisches Phänomen verstehen und muss doch nicht allein formal argumentieren: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“śŖŚ Auf diese Weise verbindet sich ein formaler Ansatz, der medientheoretisch die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufrechterhält, mit einem inhaltlich religiösen, weil auf die Wirkung von Religion bezogenen Ansatz, dem Lebensgewinn. Dabei kann das Anliegen durchaus bestehen, in dieser Formulierung offen zu lassen, ob und in welchem Sinne es eine letzte Wirklichkeit gibt. In Theißens Formulierung ist diese Offenheit m. E. aber nicht gegeben, denn die Rede von der Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit legt es doch nahe, dass hier auf einen metaphysischen Realismus zugegangen wird. Es scheint im Wirklichkeitsverständnis eine Relation gedacht zu sein, „die zwischen einer Totalität von Sachverhalten und einer von ihr unabhängigen Totalität von Beschreibungen besteht [...]. Die Crux eines solchen metaphysischen Realismus besteht darin, eine Unterscheidung einzuführen und das derart Unterschiedene zugleich auch unabhängig von der Tätigkeit des Unterscheidens identifizieren zu wollen“śŖś. Zugleich würde die Funktion von Religion im Religionsverständnis das dominierende Gewicht erhalten. Denn die Bestimmung von Religion als Zeichensystem in Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit intendiert m. E. vor allem die Stabilisierung von Identität, die durch die Imagination entsteht, nicht tiefer als in die Arme Gottes fallen zu können, i. e. die letzte Wirklichkeit. Demgegenüber kann auf der Basis dieser Untersuchung folgender Vorschlag zum Verständnis von Religion unterbreitet werden: Die christliche Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn in der virtualisierten Kommunikation mit ihrem Gott verheißt. Anstatt auf das religionswissenschaftliche Äquivalent der letzten Wirklichkeit aufzubauen, sollte sich das Religionsverständnis einer Praktischen Theologie explizit auf die christliche Religion und ihre Vorstellung von Gott beziehen. Auf diese Weise kann man den Standpunkt dieses Religionsverständnisses offenlegen und doch deutlich machen, śŖŚ Theißen (2000: 19). śŖś Moxter (2003: 248).
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion
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dass der Mensch zur religiösen Kommunikation auf seine Virtualisierungsfähigkeit angewiesen ist. Nebenbei bemerkt wird über diese Perspektive und auf dem Hintergrund des geschilderten Falles des Patienten SchneiderśŖŜ auch einsichtig, warum Menschen – eben aufgrund der schwach ausgebildeten Fähigkeit zur Virtualisierung der Welt – ganz grundsätzlich Schwierigkeiten haben können, sich auf eine religiöse Kommunikation einzulassen. Die Frage nach der Wirklichkeit erhält über die Kommunikation in virtuellen Realitäten nun zwar eine alltäglich spürbare, erhöhte Bedeutung, sie ist aber in der Theologie bereits vielfach thematisiert worden. Im vergangenen Jahrhundert waren es insbesondere die Philosophie und die Religionsphilosophie, die versuchten, nach dem Holocaust, nach Auschwitz einen Ausdruck für ihr Wirklichkeitsverständnis zu finden; dies wirkte auch auf die Theologie ein. Es ging darum, die Einsicht ernst zu nehmen, dass jeder Wirklichkeitsbezug, alle Erfahrung sich aus dem Ineinander von eigenem Handeln und Widerfahrenem ergibt, auch der religiösen. Für die Beziehung zu Gott, ja sozusagen für Gott selbst, bleibt dies nicht ohne Folgen. Spätestens mit Hans Jonas’ Auslegung der Gottesbeziehung wird ein Wirklichkeitsverständnis brüchig, dass sich noch eine religiöse Instanz vorstellen kann, die eine souveräne Kontrolle über die Welt wahrt. Aus der jüdischen Tradition heraus schreibt er, dass es zu den vertrautesten Grundsätzen jüdischen Glaubens gehöre, dass Gott um und für seine Geschöpfe Sorge trage. Aber dieser Mythos betone den weniger vertrauten Aspekt, dass dieser sorgende Gott kein Zauberer ist, der im Akt des Sorgens zugleich auch die Erfüllung seines Sorgeziels herbeiführe: „Etwas hat er anderen Akteuren zu tun gelassen und hat damit seine Sorge von ihnen abhängig gemacht. Er ist daher auch ein gefährdeter Gott, ein Gott mit eigenem Risiko. Dass dies sein muss, ist klar, denn sonst wäre die Welt im Zustand permanenter Vollkommenheit. Die Tatsache, dass sie es nicht ist, könne nur eins bedeuten: entweder dass es den Einen Gott gar nicht gibt (obwohl vielleicht mehr als einen) oder dass der Eine etwas Anderem als er selbst, von ihm Geschaffenen, einen Spielraum und eine Mitbestimmung überlassen hat bezüglich dessen, was ein Gegenstand seiner Sorge ist.“śŖŝ. Mit diesen eindrücklichen Zeilen lassen sich gleich verschiedene Charakteristika eines medientheoretisch reflektierten Gottesverständnisses verdeutlichen. Zunächst legt Jonas offen, dass die Rede von der Sorge Gottes im Medium des Mythos formuliert sei. Daneben wird die Wirklichkeit, die glaubend erfahren wird, als instabil und als interaktiver Raum beschrieben, den auch Jonas śŖŜ Vgl. 3.4. śŖŝ Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt
a. M. 1984, 32; vgl. auch Moxter (2003: 255).
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als Spielraum bezeichnen kann. In dieser Entfaltung kündigt sich bereits an, wie die Rede von der Dimension des Lebensgewinns sich im Duktus der entfalteten Argumentation erschließen lässt: „Eine Allmacht, der alles möglich ist, eine Allwissenheit, die alles überblickt, vollzieht den Schritt zur Schöpfung, zur Wirklichkeit der Welt, indem sie etwas riskiert. Die alte metaphysische Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts?, erhält folglich eine spieltheoretische Antwort. Deren kürzeste Formel lautet: Kein Gewinn ohne Einsatz. Kein Dasein der Welt ohne den Verzicht auf absolutes Wissen, der für Gott selbst zum Risiko wird.“śŖŞ Damit besteht das Risiko nicht darin, so zu leben, als ob es Gott nicht gibt, sondern so zu leben, dass Gott im Spielraum des Lebens Raum erhält. Erst mit der Wahrnehmung der virtuellen Dimension in der Beziehung zu Gott kommt religiöse Kommunikation sozusagen in der Wirklichkeit an. Die Risiko-Semantik kann in diesem Sinne als eine soziologische Variante der Phänomenbeschreibung gelten, die mit der Virtualisierung religiöser Kommunikation hier für die Praktische Theologie vorgetragen wird. 4.2.2 Christlicher Glaube als immersive Erfahrung der Anwesenheit Gottes In der Frage nach der Emotionalität von Religion bzw. ihrer Bedeutung für die Menschen, die glauben, ist es aufschlussreich, auf das Religionsverständnis von Clifford GeertzśŖş zurückzugreifen. Sein semiotisch geprägter Vorschlag zielt offen darauf, Religion als menschliche Konstruktion zu verstehen, insofern bestimmte Vorstellungen formuliert werden, also mit Zeichen operiert wird, und diese wiederum so inszeniert werden, dass sie Wirklichkeit werden. Anstatt des basaleren Begriffs vom Zeichen gebraucht er allerdings das auch in Theologie und Religionswissenschaft bedeutsame Symbol bzw. bezeichnet Religion als ein Symbolsystem, „das darauf zielt, starke umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen schei-
śŖŞ Moxter (2003: 254). Moxter bezieht sich hier auf Hans Blumenberg, Arbeit am
Mythos. Frankfurt a. M. 1979. Hervorhebungen vom Autor. śŖş Vgl. Clifford Geertz, Religion als kulturelles System. In: Ders., Dichte Beschreibung. Bei-
träge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, 44–95. Auch Theißen rekurriert auf Geertz’ Religionsverständnis, vgl. Theißen (2000: 19).
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nen“śŗŖ. Der kritischen Rückfrage, ob Geertz selbst doch noch eine metaphysische Dimension in seinem Wirklichkeitsverständnis weiterführt, soll hier nicht nachgegangen werden. Vielmehr liegt jetzt der Fokus auf der Bedeutung von Stimmungen und Gefühlen, insbesondere in der Wahrnehmung von religiösen Kommunikationen.śŗŗ Denn der Umgang mit Stimmungen ist das, was, wie hier bereits ausgeführt, laut der empirischen Forschung in den Medienwissenschaften für Jugendliche, aber auch zunehmend für Erwachsene attraktiv ist, wenn sie virtuelle Realitäten aufsuchen.śŗŘ Der Immersionscharakter von Religion bzw. die Einsicht, wie bedeutsam Stimmungen und Gefühle für Religiosität sind, wird aber keineswegs eindeutig positiv gesehen. Eine philosophiegeschichtliche Einordnung der Bedeutung des Gefühls kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden, aber es soll doch der Rahmen, in dem sie thematisiert werden, zumindest genannt werden: „Zwar ist der Begriff der Stimmung im Anschluß an Heidegger in Abgrenzung zu einzelnen Affekten genauer bestimmt worden, und seit F. O. Bollnow wird auch der Erschließungscharakter von positiven, erhebenden Stimmungen betont, doch gibt es gerade Skepsis und Zurückhaltung, was die Bedeutung von dem betrifft, was uns in Stimmungen erschlossen wird.“śŗř Diese Skepsis ist auch in philosophischen Beiträgen aus der europäischen Aufklärung fest verankert: „Vor dem Hintergrund des cartesianischen Methodenideals der Klarheit und der Gewißheit lag es nahe, die Gefühle für philosophisch zweifelhafte Verwirrungen zu halten. Immanuel Kant zufolge ist Affekt ... wie ein Rausch, der sich ausschläft, Leidenschaft als ein Wahnsinn anzusehen, der über einer Vorstellung brütet, die sich immer tiefer einnistet.“śŗŚ Hinrich FinkEitel und Georg Lohmann, die sich an der Diskussion um die Rehabilitierung śŗŖ Geertz (1983: 48). śŗŗ Auch bei Geertz findet sich, wie bereits oben in Zusammenhang mit Theißen bespro-
chen, die Entsprechungsthese: Zeichen scheinen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen. Aber Geertz dekonstruiert diese Vorstellung auch wieder, indem er formuliert, dass die Stimmungen und Motivationen der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. Dieses Scheinen stellt das, was Religion hinsichtlich ihres Wirklichkeitsbezugs bewirken will, unter Generalverdacht. Religion inszeniert nur, so könnte man einfügen, eine Aura von Faktizität. Ihren Inhalt selbst hält er in dieser Auslegung damit nicht für ein Faktum. Religiöse Wirklichkeit ist demnach nicht hinter dem Bezeichneten bzw. in der Entsprechung zu ihm zu finden, sondern in ihrer Inszenierung, in der Subjekt, Zeichen und Bezeichnetes in ein Wirkungsfeld miteinander treten. śŗŘ Vgl. Teil 1, 3.5. śŗř Georg Lohmann, Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen. In: Hinrich FinkEitel/ders. (Hgg.), Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993, 266–292; hier: 275 f. śŗŚ Fink-Eitel/Lohmann (1993: 8).
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des Gefühls während der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts beteiligt haben, zitieren Immanuel Kant auch darin weiter, dass, Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, wohl immer eine Krankheit des Gemüts gewesen ist. Allerdings gab es zu dieser Auslegung der Gefühle oder Stimmungen immer auch Gegenbewegungen. Auch Immanuel Kant kann nicht so eindeutig ausgelegt werden, wie dies hier erscheint. In der antiken Philosophie weisen bereits Platons Aussagen zu den Gefühlen eine ambivalente Reflexion aus; er sprach von der Überwindung der Gefühle wie auch von ihrer Integration in die Vernunft. In der humanistischen Renaissance, wie etwa bei Montaigne, sind die Gefühle philosophisch rehabilitiert worden. „Die angelsächsische moral-sense-Philosophie des 18. Jahrhunderts begründete Moralität in moralischen Gefühlen (Shaftesbury, Hutcheson, Hume). Wie Pascal der Logik die Logik des Herzens entgegensetzte, so stellte Rousseau reiner, praktischer Vernunft das prärationale, moralbegründete Mitleid gegenüber. Seit Baumgarten spielen die Gefühle auch in der Ästhetik eine immer wichtigere Rolle.“śŗś Es lässt sich bei Schiller weiter verfolgen, wie die Ästhetik zur obersten Disziplin der Philosophie wurde, und in der Romantik wird im 19. Jahrhundert den Gefühlen schließlich eine so fundamentale Bedeutung zugemessen, wie es die vorromantische Aufklärung dem Denken zugesprochen hatte.śŗŜ „Bei Feuerbach, Kierkegaard, Nietzsche und Dilthey setzte sich diese Umkehrbewegung fort, bis Bloch und Heidegger schließlich einer bestimmten Gefühlsart zutrauten, das Selbst- und Weltverhältnis insgesamt zu erschließen: den Stimmungen.“śŗŝ
Innerhalb dessen, wie Gefühle – sie fungieren sozusagen als Oberbegriff im Gegenüber zum Denken –, näher beschrieben werden können, wird für die Stimmungen eher ein innerlicher Erlebnisraum thematisiert. Den Affekten komme es zu, der Betroffenheit des Menschen durch äußerliche Geschehnisse Raum zu verleihen. Zusätzlich werden Affekte in gegenwärtigen Diskussionen diejenigen Gefühle genannt, die auf einzelne Gegenstände oder Sachverhalte bezogen sind, also intentionalen Charakter haben.śŗŞ Furcht, Freude oder Wut gehören in diesen Bereich. Sie stehen in gewissem Unterschied zu Stimmungen, die nicht in erster Linie gegenstandsbezogene Gesamtdispositionen bezeichnen. Angst, Heiterkeit und Depression können hier als Beispiele gelten. Aber auch Stimmungen werden durch spezifische Objekte angeregt, sodass die vorgenommenen Unterscheidungen nicht ganz trennscharf vorzunehmen sind.
śŗś Fink-Eitel/Lohmann (1993: 9 f.). Hervorhebungen von den Autoren. śŗŜ Vgl. zur Bedeutung Baumgartens für die Ästhetik Kants und auch zur Bedeutung
Schillers: Bahr (2004). śŗŝ Fink-Eitel/Lohmann (1993: 10). śŗŞ Vgl. Fink-Eitel/Lohmann (1993: 7 f.).
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Gefühle, so kann man zusammenfassend sagen, werden hier als reflektierte Wahrnehmungen verstanden und äußern sich in Affekten sowie in Stimmungen. Die Unterscheidung von Affekten und Stimmungen nach dem Muster, Erstere seien äußerlich angeregt, Letztere entsprächen innerlichen Dispositionen, dürfte stärker auseinanderreißen, was doch näher zusammengehört. Warum beide zumindest als Polaritäten dessen gelten, was Gefühle ausmacht, wird im Zusammenhang dessen klarer werden, was sie zum Verständnis von Religion beitragen. In diesem Sinne sind auch Gefühle, Stimmungen wie Affekte, keine menschlichen Ausdrucksqualitäten, die als unmittelbar zu bezeichnen wären. Auch sie sind abhängig von kulturellen Kontexten, auch sie können erst durch Zeichen vermittelt wahrgenommen werden. Insofern kann bestritten werden, dass sie einen unmittelbaren Zugang zu religiösen Offenbarungen eröffneten. In ihrer Wirkung allerdings soll dieser Effekt gerade herbeigeführt werden: In der Immersionserfahrung soll die Medialität, mit der sich eine Stimmung einem Menschen einprägt, vergessen werden. 4.2.2.1 Zum Verhältnis von Gefühlen und Atmosphären Das Phänomen des Eintauchens in eine Umgebung, bei dem das Subjekt sich nun nicht mehr der Welt gegenüber befindet, sondern vielmehr in ihr aufgeht, wird als eine Qualität atmosphärischer Wirkung beschrieben; dieses Eintauchen kann auf der Seite der Rezipientin oder des Rezipienten als Stimmungsqualität beschrieben werden: „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“śŗş Man kann also schließen: Immersionen werden über eine spezifische Art des Umgangs mit Stimmungen und Affekten erzeugt. Eine Art und Weise, wie dies geschehen kann, liegt in der Erzeugung von emotional gestimmten Umgebungen, mit anderen Worten: von Atmosphären. Zugleich gibt es keinen atmosphärisch neutralen Raum. Menschen erleben in verschiedenen Situationen bzw. Räumen zugleich auch immer spezifische Atmosphären. Hierauf aufmerksam zu werden, ist eine basale Art, eine Wahrnehmungsschule zu betreiben. Es gilt gerade im Hinblick auf die śŗş Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neueren Ästhetik. Frankfurt a. M. 1995, 161.
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Begehung computergestützter Kommunikationsräume, Kompetenzen im Umgang mit Atmosphären zu studieren bzw. die Praxis zu reflektieren, wie Atmosphären erzeugt werden. Dingliche, sprachliche und musikalische Arrangements erzeugen Atmosphären. Die Arbeit an Atmosphären baut auf Kompetenzen auf, die erlernt werden können. Wiederum wird deutlich, dass Immersionserfahrungen keine mit computergestützten virtuellen Realitäten neu entstehenden Phänomene sind. An immersiven Atmosphären wird in der Bühnenbildnerei, der Kosmetik, der Innenarchitektur, dem Design und in den Medien gearbeitet. Im Bühnenbild wird von einem produzierten Klima gesprochen, im Kaufhaus oder in der Tiefgarage von Muzak, der akustischen Möblierung, oder im Hörfunk von einer Atmo, die einem Redebeitrag unterlegt wird. Wo die Wahrnehmung von Atmosphären übergangen wird, werden Situationen häufig falsch eingeschätzt, weil man Affekte wie Stimmungen übersieht und damit das, was wirklich wirklich ist, ignoriert. Während die Perspektive der Konstruktion von Atmosphären bzw. die der Kompetenzen im Umgang mit ihnen zugleich die Medialität von Atmosphären sichtbar zu machen versucht – ohne dabei behaupten zu müssen, man könne das Wirken von Atmosphären im Griff haben –, sind Atmosphärentheorien zunächst dazu entworfen worden sind, um die Wirkungen von Gefühlen außerhalb des eigenen Herzens deuten zu können. Dann werden Atmosphären als überwältigende Mächte, wie etwa Liebe und Hass, dargestellt.śŘŖ Sie kommen als unmittelbar ergreifende Gefühle in den Blick, wie sie etwa in der Dämmerung aufgenommen werden könnten. Sie werden im vorsprachlichen Bereich angesiedelt. Es wird verständlich, warum es selbst in einem Beitrag über Kommunikative Atmosphären vor allem darum geht, auf die zwischenmenschliche Atmosphäre aufmerksam zu machen, die als eine Art Resonanzboden für das eigene Empfinden dargestellt wird.śŘŗ Hier wird die Gestalt der Empfindungen kaum thematisiert, ebenso wenig die Medialität zwischenmenschlicher Atmosphären. Der medialen Dimension von Atmosphären widmet sich allerdings der Philosoph Martin Seel, indem er die Beziehung von Atmosphären zu Lebensgeschichten herausarbeitet. Ein signifikantes Medium seiner Ästhetik, das er immer wieder zur Erläuterung verschiedener Phänomene heranzieht, ist der rote Ball, der Oskar gehört. Er liegt im Garten: „So erinnert der Ball an das śŘŖ Vgl. Hermann Schmitz, Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein
von ihnen. In: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hgg.), Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993, 33–56. śŘŗ Vgl. Gernot Böhme, Kommunikative Atmosphären. In: Martin Basfeld/Thomas Kracht (Hgg.), Subjekt und Wahrnehmung. Beiträge zu einer Anthropologie der Sinneserfahrung. Basel 2002, 103–116.
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Lärmen der Kinder, die längst abwesend sind; so inszeniert eine Wohnungseinrichtung einen Wohlstand, dem man ansehen kann, daß er trügerisch ist. Atmosphäre ist ein sinnlich und affektiv spürbares und darin existentiell bedeutsames Artikuliertsein von realisierten oder nicht realisierten Lebensmöglichkeiten.“śŘŘ Sie haben auf diese Weise teil an einem komplexen Prozess der Fernanwesenheit, der Dialektik von Präsenz und Absenz, von Präsenz und Verweisungszusammenhängen, in denen die Dinge zu wirken beginnen. Dabei stimulieren die Dinge erst die Gefühle, die Menschen in sich tragen, und bringen Atmosphären zur Wahrnehmung. Objekte und Stile einer Umgebung geben ihr einen Charakter, der nicht allein durch jedes einzelne Objekt zustande kommt, sondern der erst in der Fülle ihres Erscheinens entsteht: in der atmosphärischen Korrespondenz.śŘř Sie ist ein Konglomerat von Eindrücken, Auren und Verweisungszusammenhängen, die atmosphärisch wirken. „Das atmosphärische Erscheinen, von dem ich hier spreche, ist also nicht mit der generellen Spürbarkeit von Atmosphären gleichzusetzen; es ist vielmehr als ein sinnlich-emotionales Gewahrsein existentieller Korrespondenzen zu verstehen.“śŘŚ Diese Explizitheit des Atmosphärischen ergebe sich, wenn es in seiner ureigenen Domäne eigens wahrgenommen werde. Dies sei das synästhetische Spiel von Erscheinungen, aus denen es gebildet sei. In diesem Sinne bestehen Atmosphären aus Temperaturen, Gerüchen, Geräuschen, Sichtbarkeiten, Gesten und Symbolen und konstituieren so das Erscheinen einer Situation, welche die, die sich in ihr befinden, durchaus unterschiedlich berührt und betrifft. Die Atmosphäre wird zu einer Korrespondenzart zwischen längerfristigen und augenblicklichen Lebensvorstellungen und Lebenserwartungen und dem, wie eine Situation, längerfristig oder augenblicklich, im Licht dieser Dispositionen erscheint. „Deswegen kann man hier auch von einer korresponsiven ästhetischen Wahrnehmung sprechen.“śŘś Die Wahrnehmung atmosphärischer Korrespondenzen wird damit auch zu einem sinnhaften Vernehmen. Es gibt allerdings neben der korresponsiven Wahrnehmung auch ein bloßes Erscheinen zu konstatieren. Hier konzentriert man sich ganz auf das sinnliche Gegebensein von Objekten und findet darin einen Abstand zu Sinngebungen, die bereits vorauslaufen. Eine solche Wahrnehmung kann kontemplative ästhetische Anschauung genannt werden und es sind die meditativen Zugänge zu ‚Naturschauspielen‘ wie der Dämmerung oder die Lektüre bzw. die Lesung eines TexśŘŘ śŘř śŘŚ śŘś
Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens. München/Wien 2000, 152. Vgl. auch Teil 1, 3.5. Seel (2000: 153). Seel (2002: 154). Hervorhebung vom Autor.
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tes, das Hören eines Musikstücks. Hier tritt die Subjektivität in der Wahrnehmung ganz zurück. Das Andere erhält Raum und mit ihm biografische, historische und kulturelle Bezüge.
Im Ansatz einer korresponsiven ästhetischen Wahrnehmung liegt die Möglichkeit, das Zeichen und seine Deutung je für sich wahrzunehmen sowie ihre Beziehung zueinander ebenfalls zu thematisieren. Die korresponsive Wahrnehmung eröffnet damit auch eine Möglichkeit, Sinne und Sinn miteinander in Beziehung zu halten, ohne dass sie miteinander konkurrieren müssen. Die universale Geschichte sowie die individuelle Geschichte der Sinne und ihre kulturelle Imprägniertheit werden berücksichtigt. Der Topos der sinnlichen Wahrnehmung verliert seine Naivität, die ihm qua unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung im Schmecken, Hören und Riechen etc. zugewiesen werden könnte. „Das Bewusstsein für Atmosphären aktiviert ein Wissen um kulturelle Bezüge, in denen ihre Wahrnehmung steht. Außerdem schließt es häufig Akte der Imagination mit ein, in denen zugleich eine andere Gegenwart phantasiert oder in Erinnerung gerufen wird (die Zeit, als dieser Ball noch Mittelpunkt in Oskars Leben war; die Zeit, in der die Enkel den Garten wieder mit Leben erfüllen werden).“śŘŜ Auf diese Weise erhält der Atmosphären-Begriff, der über seinen Bezug etwa zu Natur-Atmosphären philosophische und poetische Gestalt bekommen hat, nun seine Einbettung in spezifische Kontexte der Alltagswelt zurück. Die Wahrnehmung von Atmosphären ist kulturell und lebensgeschichtlich bestimmt. Die korresponsive Vernetzung mit der Lebensgeschichte und mit der kulturellen Herkunft bestimmt die Intensität, die eine Atmosphäre für Menschen gewinnen kann. „Sein Zentrum ist das perzeptive Verspüren, wie etwas in dieser Situation – oder wie diese Situation – mit meinem Wohl und Wehe (positiv oder negativ) korrespondiert oder korrespondieren könnte.“śŘŝ Ob es allerdings möglich ist, dem Ding an sich durch eine Meditation, in der die Subjektivität ganz zurücktritt, näher zu kommen, muss bezweifelt werden. Wie Theißen und Geertz scheint auch Seel eine Entsprechungstheorie mitzudenken, innerhalb derer das Zeichen sich doch wirklich auf das Bezeichnete beziehen zu können scheint. Aber auch hier soll die hermeneutische Diskussion dieser Frage zurückgestellt werden zugunsten der Freilegung ästhetischer Einsichten in Atmosphären. Atmosphären sind emotional so bedeutsam, weil man sich in ihnen klar darüber wird, welche Lebensmöglichkeiten für einen Menschen offen bzw. śŘŜ Ebenda. Der rote Ball ist für Seels Ästhetik das Paradigma seines Denkens. Er kommt
immer wieder auf ihn zurück, um mit ihm und durch ihn seine Überlegungen alltagsgetreu durchzudeklinieren. śŘŝ Ebenda, 155.
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welche verschlossen sind. So regen Atmosphären dazu an, dem nachzuspüren, wie etwas ist, oder wie es war, oder wie es sein könnte, hier und jetzt, da und dort gewesen zu sein oder noch zu sein. „Mit wachem Sinn für das atmosphärische Erscheinen nehmen wir unsere jeweilige konkrete, sinnlich eruierbare Situation als eine vorübergehende Gestalt unseres Lebens wahr.“śŘŞ Diese hinterlässt Spuren, insofern können Situationen erinnert werden.śŘş Inwiefern diese Beschreibung einer emotional ergreifenden Erfahrung zugleich für eine religiöse Erfahrung gelten kann, soll nun im Folgenden anhand einer akustischen Immersion geschildert werden. Nachdem versucht worden ist zu klären, wie die Wahrnehmung der Präsenz einer Person oder einer Sache mit Atmosphären sowie Gefühlen bzw. Stimmungen verbunden ist, steht nun die Frage nach einer religiösen Qualifizierung dieser Wahrnehmung im Raum. 4.2.2.2 Zur virtuellen Realität religiöser Erfahrung Der Literaturwissenschaftler George Steiner hat in seiner ästhetischen Theorie unter dem Titel Von realer GegenwartśřŖ eine religiöse Erfahrung beschrieben, die auf die Präsenz Gottes verweist. Er setzt zeitdiagnostisch ein und ist dabei der Auffassung, die Phase der modernen Religionskritik sei beendet. Es ist die Ära, die mit Nietzsches Todesdiagnose für den LogosGott verbunden ist. Wort und Sprache sind nicht in der Lage, Realität, Gegenwart, die Gegenwart Gottes zu verbürgen. Es ist weiter die Ära des Dekonstruktivismus alles Transzendenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt. Hier wird die Sprache einer methodischen Analyse unterzogen und ihre Eigendynamik behauptet. Die Theologie muss sich mit der These auseinandersetzen, dass Gott ein Phantom der Grammatik ist, ein Fossil aus der Kindheit rationalen Sprechens. Steiner hält diese Phase für beendet; er verortet sich insofern in einem Kontext, der mit der Renaissance von Religion rechnet. Um Spuren von Gottes Gegenwart aufzusuchenśřŗ, greift Steiner zu Literatur, Kunst und Musik; er thematisiert keine computergestützten virtuellen Realitäten, sagt aber, dass ästhetische Erfahrungen realer Gegenwart nicht an śŘŞ Ebenda. śŘş Vgl. auch Hinderk M. Emrich, Synästhesie, Emotion und Illusion. In: Kunst- und
Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Der Sinn der Sinne. Bonn 1998, 126–140, hier: 138. śřŖ Vgl. George Steiner, Von realer Gegenwart. München/Wien 1990. śřŗ Einen Einblick zur Vorgeschichte des Topos bietet übrigens auch George Herbert Mead, The Philosophy of the Present. New York 2001 (erstmals 1932).
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große Kunstwerke gebunden seien, obwohl diese als besondere Hervorbringungen besonders wirkten. Für ihn selbst ist es vielmehr ein Chanson, dessen Wirkung zu einer Erfahrung realer Gegenwart wurde. Es handelt sich um „Je ne regrette rien“ von Edith Piaf. Er beschreibt, wie er sich in die Welt dieses Liedes hineinbegeben kann, in ihr aufgeht, aber zugleich auch immer empfindet, dass etwas Fremdes, anderes in ihm Asyl erhalte.śřŘ Das Lied von Edith Piaf ergreift Steiner und fesselt ihn, obwohl er es für textlich infantil und musikalisch stentorisch hältśřř. Es sei ein Ohrwurm, penetrant, und doch rühre es ihn auf besondere Weise an. In dieser Rührung misst Steiner der Erfahrung der Immersion eine religiöse Bedeutung zu. Darin lasse sich der Eindruck realer Gegenwart, letzter Wirklichkeit oder von dem, was uns unbedingt angehe, fassen. Wie immer man diese Erfahrung beschreibt, sie bleibe ambivalent. Der Grund für diese Ambivalenz liegt m. E. nun darin, dass in der Musik noch immer etwas gern gehört wird, was aber in puncto des Liebesverständnisses von Steiner gar nicht mehr geglaubt wird. Die Hörerfahrung allerdings lässt es nicht zu, die musikalische Form des Chansons von dem religiösen Inhalt zu trennen.śřŚ Man könnte auch sagen, dass Steiner in dieser Weise seine Arbeit am Mythos der Liebe ausdrückt. Ihre Frucht ist eine ästhetische Erfahrung der Irritation. Denn Steiner greift die Immersion als Heterophanie auf; sie irritiert. Wörtlich genommen bedeutet dies, dass anderes erscheint, sich anderes zeigt und offenbart. „Im Kunstwerk findet Andersheit Asyl, eine Heterophanie, die überwältigt.“śřś Mit einem Schlüsselwort des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas kann er eine solche Erfahrung auch eine Heimsuchung nennen. Diese Vokabel klingt bedrohlich: Gegen eine Heimsuchung ist man wehrund willenlos. Die Heimsuchung fordert eine Gastlichkeit, die nicht ohne Konsequenzen bleibt. Kulturelle Heterophanien sind ambivalente Phänomene. Piafs Lied vermittelt ein wunderbares Glücksgefühl und zugleich nervt es im Unterton; etwas Fremdes stört das einmütige Mitschwingen. So kann das Lied nicht ganz und gar zu dem Lieblingslied Steiners werden; immer bleibt eine Differenz, etwas, das nicht transparent wird.
śřŘ Vgl. zu akustischen Immersionen auch Peter Sloterdijk, Weltfremdheit. Frankfurt
a. M. 1993, 294 und öfter, sowie Georg Picht, Kunst und Mythos. Vorlesungen und Schriften. Stuttgart 51996, 466 und öfter. śřř Vgl. Steiner (1990: 241). śřŚ Vgl. auch Moxter (2003: 254). śřś Vgl. Steiner (1990: 230).
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Diese Ambivalenz wird aber keineswegs als ein Hindernis für die Erfahrung realer Gegenwart erwogen, sondern sie wird schlicht für weltlich und darin eben wirklich und unaufhebbar gehalten. Denn: „Das Ideal des vollkommenen Echos, transparenter Rezeption ist genau das des Messianischen.“śřŜ Wo diese Differenzierung akzeptiert wird, ist es nun auch keine blasphemische Fehlinterpretation mehr, wenn Menschen in allen möglichen Welten, in allen möglichen virtuellen Realitäten reale Gegenwart erfahren können. Sie bannen solange Gott nicht in einer kulturellen Produktion, wie sie sich der ambivalenten Struktur ihrer Erfahrung realer Gegenwart gewahr bleiben. Dabei sind in den erfahrenen Heterophanien je nach Qualität und Aufnahmevermögen mehr oder weniger Möglichkeiten zur Wandlung, zur Ver-Änderung eingelassen. Die Not, die die Artikulation einer religiösen Erfahrung aufbringen kann, erläutert Steiner dabei interessanterweise ebenfalls in der Semantik des Risikos. „Wer zu erzählen versucht, was in ihm vorgeht, wenn er der lebendigen Gegenwart in Kunst, Musik und Literatur ein lebendiges Willkommen und eine Heimstatt bereitet, riskiert, sich der ganzen Skala von Wirrnis und Peinlichkeit auszusetzen.“śřŝ Wer von einem Kunstwerk und seiner Bedeutung für sich selbst spricht und nicht ebenso künstlerisch dabei vorgehen kann, werde leicht lächerlich gemacht und zurechtgewiesen. Dies geschehe gerade an den Stellen, an denen es besonders wehtue, weil es um Intimes gehe. Man nehme doch das peinliche Berührtsein wahr, das jemand empfinde, „wenn wir Zeugnis ablegen vom Dichterischen, vom Eintritt des Mysteriums der Andersheit von Kunst und Musik in unser Leben, [das, I. N.] metaphysischreligiöser Art [ist, I. N.]“śřŞ. An dieser Erläuterung wird nun auch deutlich, warum religiöse Kommunikation in spielerischen Zusammenhängen befreiende Impulse hat. Durch die Distanzierung von alltäglichen Vollzügen werden Möglichkeiten eröffnet, das, was ansonsten peinlich ist, einen Ausdruck finden zu lassen. Der Rollenwechsel in einem Spiel verschafft Raum, sich anders zu zeigen. Die Frage danach, was es ist, das die Bereitschaft für ein ästhetisches Empfinden fördert, sodass reale Gegenwart erfahren werden kann, wird von Steiner im Verweis auf die Vorstellung des Wiedererkennens einer Situation beantwortet. Von Plato bis Sigmund Freud und C. G. Jung habe man Vorstellungen des Déjà-vu, oder des Déjà-entendu, des wir sind uns schon einmal begegnet hierfür in Betracht gezogen. Ein momentanes Übereinanderschieben śřŜ Steiner (1990: 185). śřŝ Steiner (1990: 235). śřŞ Ebenda.
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von Vergangenheit und Gegenwart könne dazu führen, dass man unbewusst fühle, eine solche Situation bzw. diesen Menschen, dieses Gefühl wiederzuerkennen. Ein „Wackeln“ psychischer Koordinaten der Zeitlichkeit schaffe einen Platz für das Gedicht, das Gemälde oder die Melodie und dadurch ein Gefühl der Vertrautheit. Äußere Umstände und innere Dispositionen wirkten in dem Moment auf eine bestimmte Art und Weise zusammen, wenn das bislang Fremde auf die Schwelle trete. Zur Beschreibung der Erfahrung realer Gegenwart, die für Steiner in jedem Falle undurchsichtig bleibtśřş, bezieht er auch atmosphärische Komponenten mit ein. Zwielicht und dämmrige Stimmungen diffuser Aufmerksamkeit beförderten, dass die Welt zu wackeln begönne ebenso wie Situationen widerstandsloser Empfänglichkeit oder gespannte Konzentration, Aufmerksamkeit sowie sexuelle Begegnungen. „Es ist bekannt, daß Stimulantien, Narkotika, zu Träumen und Halluzinationen anregende Mittel die Verkrustung von Selbstbefangenheit, von unbefriedeter Selbstgenügsamkeit sprengen und zugleich die Synapsen der Empfänglichkeit vermehren. Romantik, Surrealismus und Futurismus haben systematisch solche Risse kultiviert, die zu den inneren Räumen der Seele führen. Während der vorübergehenden Eklipsen des Ich finden andere Präsenzen ihren erleuchteten oder schattigen Weg.“śŚŖ Die Erfahrung realer Gegenwart findet in immersiven Situationen statt, die die menschlichen Sinne in besonderer Weise anregen. Die Entdeckung der eigenen Religiosität, so kann mit Steiner also gefolgert werden, beginnt dort, wo die Selbstwahrnehmung irritiert wird.
Wo Risse in der vorvertrauten Lebenswelt entstehen, wird man Empfindungen gewahr, die sich in besonderer Weise einprägen. Traditionell ist innerhalb der Religion der Sitz für diese Empfindungen die Seele. Aus phänomenologischer Perspektive liegt es nun nahe, die Seele als Metapher für ein Zentrum eigenleiblichen Spürens zu verstehen. Ihre immaterielle Verfassung, die doch körperliche Wirkungen sichtbar werden lässt, bringt sie in die Nähe eines virtuellen Raums der Empfindungen. Mit ihr wird es möglich, Eindrücke gelebter Situationen und der Art und Weise, wie sie auf die Befindlichkeit eines Menschen wirken, beschreiben zu können. In vielen Fällen, wenn es nicht möglich ist, der situativen Bezogenheit von Gefühlen und ihrer Verbindung zu früheren Erfahrungen nachzugehen, werden sie sozusagen nur als Wahrnehmung eines Körperzustandes bewusst: als Trauer, Ärger etc. „Unter anderen Umständen jedoch gehört zum Gefühl neben der Wahrnehmung eines bestimmten Körperzustandes auch die Wahrnehmung einer bestimmten damit einhergehenden geistigen Verfassung [...]. śřş Welche lebensdienliche Position dies ist, zeigt Wolfram Kurz (Hg.), Kompendium der
Logotherapie und Existenzanalyse. Tübingen 1995, insbesondere sein eigener Beitrag „I. Grundriss der Logotherapie“, 17–39. śŚŖ Steiner (1990: 238 f.).
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Das bedeutet, dass wir neben den Vorstellungsbildern von unserem Körper in einer bestimmten Verfassung auch noch eine spezifische Vorstellung von unserer Denkweise in dieser Situation haben.“śŚŗ Für das Verständnis von Religion gibt die Analogisierung der Seele mit einer eigenleiblichen virtuellen Realität in dieser Argumentation einen Hinweis darauf, wie Religiosität, existenziell formuliert: der Glaube, anthropologisch verstanden werden kann. „Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins durch das, was uns unbedingt angeht [...]. Auf der einen Seite ist es ein Anliegen des Menschen, auf der anderen Seite beansprucht es Unbedingtheit, ganz gleich, ob es zum Anliegen gemacht wird oder nicht.“śŚŘ Mit Paul Tillichs Verständnis von Glaube wird einerseits dem intentionalen Charakter der religiösen Erfahrung ein Anschluss gegeben. Zum anderen wird die Bedeutung dieser Erfahrung nicht auf die vorfindliche Situation festgelegt, sondern ihre Bedeutung wächst über diese hinaus und wird dadurch zu einer Situation, in der ein Mensch Selbst-Transzendierung erfährt. Im Referenzrahmen einer Leibphänomenologie ausgedrückt, kann davon gesprochen werden, wie man im Glauben des virtuellen Leibkörpers gewahr werden kann. Tillich bezeichnet diese Seite des Glaubensverständnisses als formal. In diesem formalen Sinne von Glauben als unbedingtem Anliegen habe jeder Mensch Glauben, denn es gehöre zum Wesen des menschlichen Geistes hinzu, im Sinne der Selbst-Transzendierung des Lebens, auf etwas Unbedingtes bezogen zu sein. Diesen formalen Glaubensbegriff hält er deshalb für universal. Er widerspricht damit einer Vorstellung, dass die Weltgeschichte der Kampfplatz zwischen Glauben und Unglauben sei. Es ist die Seele, die als eigenleiblich gespürte virtuelle Realität der menschlichen Religiosität Raum gibt. Konsequenterweise verändert sich mit dieser Perspektive auch die Wahrnehmung von Religiosität in der Welt. Die Unterscheidung zwischen Glaubenden und nicht Glaubenden trägt in dieser Hinsicht nicht weiter. Es geht dabei nicht darum, die nicht Glaubenden zu potenziell Glaubenden zu machen. Vielmehr wird die Perspektive herumgedreht: Das, was mir widerfährt, kann mich selbst irritieren und macht mich dessen gewahr, dass mir mein Glaube eben nicht verfügbar ist. Bereits Tillich hatte empfohlen, eher zwischen würdigen und unwürdigen Inhalten des Glaubens zu unterscheiden. Letztere bezögen sich auf bedingte Wirklichkeiten und machten insofern Endliches zu dem, was unbedingt angeht. Was aber unbedingt angeht, dessen kann ich nicht voll transparent habhaft werden. Mit Bezug auf die christliche Botschaft konkretisiert Tillich Glaube dann inhaltlich: „Glaube ist der ZuśŚŗ Damasio (2003: 108). śŚŘ Paul Tillich, Systematische Theologie III. Berlin/New York 1987, 155.
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stand des Ergriffenseins durch das neue Sein, wie es in Jesus als dem Christus erschienen ist. In dieser Formulierung ist die formale und universale Glaubensdefinition zu einer inhaltlichen und speziellen geworden.“śŚř Doch auch sie liegt nicht einfach offen vor uns, denn Form und Inhalt stehen weiter miteinander in Spannung. Die nicht spezifizierte formale Struktur des Glaubens spannt den virtuellen Raum auf, der mit dem Raum der Ströme verbunden ist und sich so nicht von dem Eindruck der Wahrheit anderer Religionen in anderen Wirklichkeiten abkoppeln lässt. „In bezug auf den Inhalt des Glaubens lassen sich drei Elemente unterscheiden: erstens das Element des Geöffnetwerdens durch den göttlichen Geist, zweitens das Element des Aufnehmens des göttlichen Geistes trotz der unendlichen Kluft zwischen göttlichem und menschlichem Geist und drittens das Element der Erwartung der endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens.“śŚŚ In diesen drei Elementen übersetzt Tillich die Beschreibung des Glaubens als Wiedergeburt, Rechtfertigung und Heiligung. Zurückgebunden an die Beschreibung von Steiners Erfahrung realer Gegenwart, erscheint das Geöffnetwerden im Bild des Risses veranschaulicht; die Aufnahme des göttlichen Geistes spiegelt sich wieder in der ambivalenten Schilderung, wie faszinierend und zugleich peinlich die Auslegung der Bedeutung von Piafs Musik auf ihn selbst bzw. auf die Menschen wirkt, denen er von seiner Erfahrung erzählen möchte. Schließlich findet sich Tillichs Erwartung der endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens in der Aufhebung aller Ambivalenzen, die in Erfahrungen realer Gegenwart antizipiert wird, in ihrer Fülle aber der Zeit vorbehalten, wenn das messianische Reich vollendet wird.
Auch Tillich betont, dass sich ein emotionales Element im Glauben findet. Allerdings: Er beschreibt es nicht als ein unbestimmtes oder unbestimmbares Gefühl, sondern als „das Schwanken zwischen der Angst der eigenen Endlichkeit und dem ekstatischen Mut, der die Angst besiegt, indem er sie in die Kraft der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens in sich hineinnimmt.“śŚś Steiners Interpretation, aber auch die oben vorgetragene Auslegung zu den Experimentierwelten, in denen sich virtuelle Realitäten auffinden lassen, verweisen genau auf diese Empfindung des Schwankens.śŚŜ Mit Kierkegaard konnte dort auch ausgelotet werden, dass es sich im Schwanken um einen Schwindel handelt, der einen erfasst, wenn man der eigenen Möglichkeit, sich von etwas befreien zu können, gewahr wird. Dieser Schwindel bestimmt auch das religiöse Gefühl, wenn Menschen sich ihrer selbst zwi-
śŚř śŚŚ śŚś śŚŜ
Tillich (1987: 156). Tillich (1987: 159). Tillich (1987: 158). Vgl. 1.3.
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion
195
schen der Angst der eigenen Endlichkeit und dem ekstatischen Mut gewahr werden, in die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes hineinwachsen zu können. 4.2.2.3 Wie der Glaube Gott in die virtuelle Realität des Menschen hineingebärt Einer der eindrücklichsten Texte, die die Erfahrung der Wiedergeburt theologisch verdichtet reflektieren, dürfte Martin Luthers Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben sein. Dabei geht es dezidiert um den Umgang mit den eigenen Vorstellungen vom Sterben. Luther thematisiert die Wirkung von Bildern, die Angst machen, oder von solchen, die ermutigen. Als Bild für den Prozess des Sterbens wählt er den Geburtsvorgang. So schildert Luther den Umgang mit dem Tod in räumlich konnotierten Bildern, die stets auch mit dem eigenen Körper in Verbindung stehen. Luther argumentiert in diesem Sinne mit dem virtuellen Leibkörper. Dabei spricht er davon, es gehe zunächst um eine abweisende, ausstoßende, dann um eine hinführende, einkörpernde Bewegungsrichtung. Zur Vorbereitung des Sterbenden auf die neue Geburt, die einer Öffnung für die heilsamen Sakramente gleichkomme, müssten drei abweisende Bewegungen vollzogen werden. Als Erstes müsse das schreckliche Bild des Todes und der Todesfurcht vertrieben werden. „Er muß zum zweiten das Grübeln über das eigene Leben und insbesondere über eigenes Versagen vertreiben: Die Sünde wächst und wird groß, auch durch ihr zu vieles Ansehen und zu tiefes Bedenken. Dazu hilft die Blödigkeit unseres Gewissens, das sich selbst vor Gott schämt und greulich straft. Da hat der Teufel dann ein Bad gefunden [...]. Und er muß zum dritten das Bild der Hölle vertreiben, weil sich hier mit der Frage nach dem eigenen Erwähltsein eine Größenphantasie zeigt, die Grenze zwischen Gott und Mensch überschreiten zu können: [...] denn ich will alles wissen, was Gott weiß, und ihm gleich sein, dass er nicht mehr wisse denn ich, und also Gott nicht Gott sei [...]“śŚŝ Die hinführende Bewegung beschreibt Hans-Martin Gutmann als Ein-Bildung, oder noch besser werde sie Ein-Körperung genannt. Letztgenannte Ein-Körperung betont den leiblichen Zusammenhang der Immersion und unterstreicht damit, was im Begriff der Ein-Bildung zu kurz kommen kann. Luthers pädagogischer Hinweis auf die mittelalterliche Tradition der Ein-Bildung, wie sie in der Mystik bei Meister Eckhart zu finden ist, muss leiblich verstanden werden.śŚŞ Die Einbildung ist kein geistiger Vorgang, sondern ein leiblicher Prozess, der Körper und Geist verändert, weil er beispielsweise zu einer Veränderung des Lebensgefühls eines Menschen führt. śŚŝ Gutmann (2002: 90). śŚŞ Vgl. auch Deuser (2001) und Teil 2, 5.4.
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
Die Vorbereitung auf das Sterben kommt so einem (Ein-)Bildungsprozess gleich. Hierfür nimmt Luther vornehmlich das Bild Christi in Gebrauch. Gutmann beschreibt ihn mit Luthers Worten, die hier – weil sie so treffend formuliert sind – länger zitiert werden sollen: „Sondern deine Augen, deines Herzens Gedanken und alle deine Sinne gewaltiglich kehren von demselben Bild, und den Tod stark und emsig ansehen nur in denen, die in Gottes Gnade gestorben, und den Tod überwunden haben, vornämlich in Christo, darnach in allen seinen Heiligen.‘ Diese Einkörperung entspricht in ihren drei Schritten der abweisenden Bewegung. Gegenüber dem Tod und der Todesfurcht: durch die Ein-Bildung in Christus wird der Tod selbst ‚im Leben erwürgt und überwunden‘. Gegenüber dem Drang, über die eigene Lebensgeschichte nachzusinnen und insbesondere über eigenes Versagen zu grübeln, wirkt das Bild Christi im Sinne einer heilsamen Entmächtigung als Desensibilisierung: ‚Sondern musst abkehren deine Gedanken und die Sünde nicht, denn in der Gnade Bild ansehen, und dasselbe Bild mit aller Kraft in dich bilden und vor Augen haben. Der Gnade Bild ist nichts anderes, denn Christus am Kreuz‘. Schließlich entmächtigt die Konzentration auf das Bild Christi, der selbst in der Hölle gewesen und sie überwunden hat, auch dieses Angst-Bild und die Panik des Sterbenden, ob dieser Ort für ihn vorgesehen sei: ‚Darum sieh das himmlische Bild Christum an ..., Sieh, in dem Bild ist überwunden deine Hölle und deine ungewisse Vorsehung gewiß gemacht.“śŚş
Luther schildert eine dramatische Dynamik, die von Entmächtigung und Bemächtigung spricht, und zeigt, wie er im Bild Christi diese Macht zur Heil(ig)ung findet. Je stärker die Irritationen aus Angst und Verzweiflung sind, desto mehr sind Menschen auf starke Bilder, starke Wertungen angewiesen, um sich gegen zerstörerische Mächte wehren zu können. Zerstörerische innere Bilder sollen durch heilsame innere Bilder oder Objekte ersetzt werden, so würde dieser von Luther beschriebene Vorgang aus psychoanalytischer Sicht begriffen werden.śśŖ Wer das ewige Leben gewinnen will, muss sich neu in einen großen Raum gebären lassen, in dem Freude sein wird.śśŗ Auf faszinierende Weise spricht śŚş Gutmann (2002: 90 f.). Auslassung vom Autor. śśŖ Vgl. beispielsweise Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt.
Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. Frankfurt a. M. 2003 (1. Aufl. 1965), auf ihn verweist auch Gutmann. śśŗ Vgl. Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben. In: Ders., Ausgewählte Werke, herausgegeben von H. H. Borchert/Georg Merz, Erster Band. München 1938, 337–362, hier 348; zur Ausarbeitung des Sermon auch Gutmann (2002: 89 ff.). Er bringt Luthers Umgang mit heilsamen und zerstörerischen Mächten auch in Verbindung mit Yorick Spiegel, Prozess des Trauerns. München 1973, und der ethnologischen Arbeit von Ina Rösing, Die Verbannung der Trauer. Nächtliche Heilungsrituale in den Hochanden Boliviens. Frankfurt a. M. 1987.
4.2 Zu einem medientheoretisch reflektierten Verständnis von Religion
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Luther im Glauben das menschliche Virtualisierungsvermögen an. Dabei versetzt er sich in verschiedene Welten und schildert die Welt des Ungeborenen, die Welt des Geborenen und die Welt des Wiedergeborenen: „Wann so jedermann Urlaub auf Erden geben ist, soll man sich dann allein zu Gott richten, da der Weg des Sterbens sich auch hinkehret und uns führet. Und hier hebt an die enge Pforte, der schmale Steig zum Leben, des muß sich ein jeglicher fröhlich erwägen, denn er ist wohl sehr enge, er ist aber nit lang und es geht hier zu, gleichwie ein Kind aus der kleinen Wohnung seiner Mutter Leib mit Gefahren und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erden, das ist auf diese Welt. Also geht der Mensch durch die enge Pforten des Tods aus diesem Leben; und wiewohl der Himmel und die Welt, darin wir jetzt leben, groß und weit angesehen wird, so ist es doch alles gegen den zukünftigen Himmel viel enger und kleiner, denn der Mutter Leib gegen diesen Himmel ist. Darum heißt der lieben Heiligen Sterben ein neu Geburt und ihr Fest nennet man auf lateinisch Natale, einen Tag ihrer Geburt. Aber der enge Gang des Tods macht, dass uns dies Leben weit und jenes enge dünkt. Drum muß man das glauben und an der leiblichen Geburt eines Kindes lernen, wie Christus sagt: Ein Weib, wann es gebiert, so leidet es Angst, wann sie aber genesen ist, so gedenkt sie der Angst nimmer, dieweil ein Mensch geboren ist von ihr in die Welt. Also im Sterben auch muß man sich der Angst erwehren und wissen, daß darnach ein großer Raum und Freud sein wird.“śśŘ
Obwohl auch das Bild von der Geburt unterstützt, wie sehr der christliche Glaube als etwas, das man geschenkt bekommt, auszulegen ist und obwohl es kaum eine grundlegendere christliche Aussage gibt, als dass wir unser Leben nicht uns selbst verdanken, macht Luther im Sermon klar, dass die Bereitung zum Sterben ohne eine konstruktive Geburtsarbeit nicht gelingen kann. Aber Luthers Theologie der Gebürtlichkeit kann durchaus um einen weiteren Raum ergänzt werden. Seiner Beschreibung der Wiedergeburt fehlt die Vorbereitung auf die Geburt. Es geht um die Schwangerschaft. Hier wächst heran, was dann zur Geburt drängt. Gottes Gegenwart wird immer mehr präsent, es ist ein Heranreifen, das der Geburt im eigentlichen Sinne vorausgeht. Auf diese Weise könnte die Einkörperung Gottes eine höhere leibphänomenologische Bedeutung erhalten. Auch der eschatologische Topos der Parusie erhält einen Sitz im Leben: Parousia mit Anwesenheit zu übersetzen, dies wirkt zu statisch. Die Verkündigungsszene in den Evangelien beginnt mit einem „Fürchte dich nicht!“ Es steht zu Anfang, um Maria zu öffnen für die Erfahrung der Anwesenheit des göttlichen Geistes in ihrem Leben. Der Engel ist ihr fremd und irritiert sie. Sie selbst soll schwanger werden. Maria wird nicht nur gesegnet, ihr wird nicht nur die Begleitung Gottes in ihrem Leben verheißen, sondern Gott soll auch noch menschliche Gestalt in ihr śśŘ Luther (1938: 347 f.).
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4 Virtuelle Realitäten in der praktisch-theologischen Diskussion
annehmen. Weil dies an die Grenzen dessen geht, was sie für möglich hält, gibt der Engel ihr starke Bilder und Worte, die gegen die Angst helfen. Sie glaubt ihnen; sie lässt sich selbst hinüberführen in ein verändertes Leben, das ihr in der virtualisierten Kommunikation mit ihrem Gott verheißen wird. Die Pointe dabei ist, dass nicht der Mensch in der virtuellen Realität Gottes aufgeht, sondern dass Gott sich einlässt auf die virtuelle Realität des Menschen.
Teil 2 Gottesdienst und Predigt in medientheoretischer Perspektive
1 Die religiöse Sonntagswelt Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu. Ödön von Horváthŗ
Einerseits gilt der Sonntag als Feiertag und es wird für ihn auch Heiligkeit reklamiert. Trotz aller Angleichungen an die Werktage eröffnet er immer noch besondere Gelegenheiten, Erwartungen und Hoffnungen: ein Besuch im Museum oder ein Spaziergang im Wald, ein Treffen mit der Familie oder einfach das Vergnügen, einen Tag zu Hause verbringen zu können. Unabhängig davon, ob man die Möglichkeiten, die ein im Vergleich zum Alltag verändertes Zeit- und Raumgefüge bieten, nun wahrnehmen kann oder nicht, kann der Sonntag wie ein Spielraum im Leben wahrgenommen werden. Zum anderen wird festgestellt, dass viele Menschen eher den Samstag hoch schätzen und am Sonntag entweder Langeweile, Einsamkeit oder Arbeit auf sie warten. Wie auch immer er verbracht wird, an diesem Tag werden Gefühle besonders wahrgenommen. Der Sonntag, der Ruhetag, der die Herzen erhebt und die Seele erbautŘ, scheint eine virtuelle Gestalt zu haben, die sich aus der Sehnsucht nach einem gelingenden Leben speist. Dieses religiöse Anliegen aufzunehmen, kann als ein Teil der Antwort darauf gelten, welche Bedeutung der Sonntagsgottesdienst für die Feier des Sonntags haben kann: Die Funktion des Gottesdienstes besteht in rezeptionsästhetischer Orientierung darin, Menschen in ihrem Glauben zu stärken. Hinsichtlich des medientheoretischen Aspekts heißt dies, sie in der Fähigkeit zur Virtualisierung ihres Wirklichkeitsverständnisses zu stärken. In dieser Funktion bildet der Sonntagsgottesdienst in nuce ab, mit welcher Vision der Sonntag auch gesellschaftlich gelebt werden kann. Obwohl mit dem Sabbatgebot eine große jüdisch-christliche Tradition für die Reflexion des Sonntags bereitsteht, gibt es innerhalb der evangelischen Theologie und Dogmatik keine eigenständige, aus der Christologie (Auferstehungstag), Ekklesiologie (Tag der versammelten Gemeinde) oder Eschaŗ Ř
Österreichisch-ungarischer Schriftsteller (1901–1938). Das Grundgesetz der Bundesrepublik hat die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 unverändert übernommen. In Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung heißt es: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erbauung gesetzlich geschützt.“ (GG Art. 140).
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1 Die religiöse Sonntagswelt
tologie (ewiger Sabbat) entwickelte Lehre vom Sonntag. „In den großen Dogmatiken und Lehrbüchern des 20. Jh. ist er faktisch nicht vorhanden, oder die Argumentation folgt ausschließlich der Linie Arbeit und Freizeit – Werktag und Wochenende (so symptomatisch Ev. Erwachsenenkatechismus 673 ff.).“ř Für die praktisch-theologische Perspektive formuliert Thomas Bergholz, dass eine schöpferische Interpretation des Sonntags noch aussteheŚ; die Kirche müsse die Bedeutung des Sonntags für die Gemeinde klar und neu formulieren, damit er nicht einerseits als Teil der wachsenden Freizeit assimiliert und andererseits unter ökonomischem Druck preisgegeben werde. Wenn unter diesen Bedingungen vorgeschlagen wird, von der virtuellen Realität des Sonntags zu sprechen bzw. präziser von der Fähigkeit zur Virtualisierung des Lebens am Sonntag, dann heißt dies nun aber zugleich, den Sonntag aus den polarisierten Bedeutungsfeldern von Arbeit und Freizeit herauszuholen. Denn in diesem Sinne kann es auch an einem Werktag Sonntag werden und die menschliche Virtualisierungsfähigkeit kann prinzipiell auch auf dem Sportfeld gestärkt werden. Deshalb wird zunächst ein soziologischer Blick auf Sonntagskulturen geworfen und erst dann die kirchliche Sonntagskultur thematisiert.
1.1 Soziologische Einblicke in Sonntagskulturen Eine europaweite Internet-Umfrage ergab, dass nahezu 31 % der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an jedem Wochenende im Zusammenhang ihrer Erwerbsarbeit eingebunden sind. Hervorgehoben wird auch, dass „ [...] der Anteil derer, die Samstags- und Sonntagsarbeit kategorisch ablehnen, in Deutschland geringer [ist, I. N.] als im europäischen Ausland.“ś Das Statistische Bundesamt ermittelte, dass 22 % der Mütter mit Kindern unter 18 Jahren an Sonn- und Feiertagen erwerbstätig sind.Ŝ Daneben ermöglicht die Telekommunikation, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit online eingekauft werden kann. Und schließlich gibt zu denken, dass im europäischen
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Thomas Bergholz, Sonntag. In: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 465. Allerdings muss Karl Barth als Ausnahme genannt werden, der zwar keine eigene Lehre vom Sonntag, aber dessen Bedeutung entfaltet (KD III/4). Vgl. Bergholz (2000: 469). Bergholz verweist auch auf Volp (1992), der diese Leerstelle bereits markierte. Vgl. auch Teil 2, 1.2. Vgl. www.presse.monster.de/255_DE_p8.asp (16.01.2007). Vgl. www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/wochenberichte/docs/99-25-1. html (Stand 16.01.2007).
1.1 Soziologische Einblicke in Sonntagskulturen
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Ausland, so zeigen diese Untersuchungen auch, deutlicher am Sonntag festgehalten wird, als dies in Deutschland der Fall ist. Andersherum zeigt ein Vergleich der deutschen Sonntagskultur mit anderen europäischen und weltweiten Konventionen hinsichtlich der Gestaltung des Ruhetags, dass in multireligiösen Gesellschaften die verschiedenen Weltreligionen ihre Gottesdienste an verschiedenen Tagen feiern und dann diesen Tag auch als Ruhetag pflegen können. Der Verzicht auf Synchronizität bedeutet also noch nicht zwangsläufig, dass keine Besinnung mehr möglich ist. In der Geschichte der Bundesrepublik wurde der Sonntag nach und nach immer mehr als ein Tag ausgestaltet, an dem Geschäfte und Läden geschlossen sind. Zudem ist der Samstag auch erwerbsarbeitsfrei und schulfrei gehalten worden; die Geschäfte schlossen noch bis Ende der Achtzigerjahre am Samstag gegen Mittag. Diese synchronisierte Struktur wird jetzt zunehmend aufgelöst. Dazu kommt, dass in den verschiedenen Milieus der Gesellschaft der Sonntag sehr unterschiedlich verbracht wird. Im Hintergrund sind möglicherweise auch noch Bilder einer Sonntagskultur präsent, die seit den Fünfzigerjahren vor allem in bürgerlichen Kreisen im Westen der Bundesrepublik gelebt und etabliert wurde. Das Frühstücksei gehört zu ihr ebenso wie klassische oder auch Volksmusik, Aktivitäten im Sportverein oder Schrebergarten, der Besuch im Bekanntenkreis oder bei der Familie, ehrenamtliche Tätigkeiten und schließlich auch der Gottesdienst. Doch diese Bilder vom Sonntag stehen – zumindest dort, wo man sich ihrer noch erinnert – in Spannung mit der derzeitigen Sonntagsgestaltung. Sie findet sich keinesfalls in zeitgleich stattfindenden, gemeinsamen, am besten familiären Aktivitäten, sondern vielmehr darin, dass am Sonntag mehr Zeit für die individuelle Lebensgestaltung bleibt als an Werktagen. Nicht erhöhte Synchronizität macht die Attraktivität des Wochenendes aus, sondern vielmehr die Möglichkeit, aus synchronisierten Handlungsabläufen in Schule und Büro etc. aussteigen zu können; lange ausschlafen zu können, ist so gesehen ein Ausdruck der persönlichen Freiheit. Der Sonntag ist in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend an den Werktag angeglichen oder dem Werktag untergeordnet worden. Menschen, die sich ein Aussteigen aus der Sinnstruktur des Werktags aus persönlichen oder beruflichen Gründen nicht leisten können, sind geneigt, die Bedeutung des Sonntags zu relativieren. Dem entspricht auch, dass der Sonntag zum letzten Tag der Woche geworden ist. Bereits 1976 ist die DIN 1355 geändert worden, wodurch der Montag zum ersten Tag der Woche wurde und die alte
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Regelung, nach der die Woche am Sonntag um 0 Uhr anfing, nicht mehr galt.ŝ Die Woche beginnt nicht mehr mit dem Sonntag, sondern mit dem Montag. Ebenso ist zu beobachten, dass seit den Neunzigerjahren die Grenze zwischen gemeinsamen Zeiten ohne Erwerbsarbeit und mit Erwerbsarbeit immer durchlässiger wird: 1994 wird ein neues Arbeitszeitrecht erlassen, 1996 folgt ein neues Ladenschlussgesetz, die Anzahl genehmigter Ausnahmen beim Sonntagsarbeitsverbot nimmt zu, die Zahl der von Kommunen genehmigten sogenannten offenen Sonntage steigt ebenso, wie die Sonntagsarbeit durch die Bedürfnisgewerbeordnungen der Länder ausgeweitet wird. Ein Blick in heutige, ganz alltägliche Beschreibungen des Sonntags macht en détail deutlich, dass die Fähigkeit zur Virtualisierung am Sonntag und sogar am Wochenende kaum bedacht wird. Bestimmend ist z. B. für Frauen die Sorge darum, nachholen zu können, was unter der Woche liegen blieb. „Hausarbeit, Reparaturen, Gartenarbeit, wenig Zeit für eigene Interessen und Engagement, wenig Zeit für Freundschaftspflege durch pers. Situation (alleinerziehend) [...] Und so klingt es, wenn es zumindest hin und wieder am Wochenende gelingt, eine Verschnaufpause einzulegen: Sa: Ausschlafen, lange frühstücken, Einkauf, Hausarbeit, Garten, Abschalten, Lesen. So: Ausschlafen, lange frühstücken, Sportaktivitäten der Kinder begleiten, Besuche bei Mutter, Bügeln, Vorkochen für die kommende Woche ... [...] Mehr Freizeit, weniger Pflichten. Wünscht sich die 44jährige Sekretärin, alleinerziehend, zwei Kinder.“Ş Der ausgeschaltete Wecker wird als Symbol genannt. Frauen, die zuhause arbeiten, stehen dabei zusätzlich in einer besonderen Situation am Wochenende: Eine Frau, die zu ihrer Wochenendgestaltung befragt wurde, sagt, sie versuche, den Sonntag für sich als Hausfrau auch besonders zu gestalten: Sie lese, handarbeite und versuche durch gepflegte Kleidung einen Merkpunkt zu setzen. Ihre Änderungswünsche sind: mehr Kurzreisen, Ausflüge, Kirchgang gemeinsam mit dem Ehemann und eben nicht so viel Haushalt.ş Deutlich wird, dass sich Familienbesuche auf den Sonntag beŝ
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Vgl. Heinrich Mehl/Thomas Schaack, Vorbemerkung. In: Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA) der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, Arbeitsstelle Flensburg (Hg.), Schönes Wochenende. Ergebnisse einer Umfrage mit Beiträgen aus Volkskunde, Soziologie und Theologie (SWI-Materialien, Bd. 20). Bochum 2002, 10. Irmgard Herrmann-Stojanov, Samstag, Sonntag, Wochenenden: Orientierungsmuster für das Verhalten zum Ende der Woche. Ergebnisse einer Befragung. In: Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA) der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, Arbeitsstelle Flensburg (2000: 43). Hervorhebungen der Zitate im Zitat durch I. N. Vgl. Herrmann-Stojanov (2002: 12–52, hier: 42). Ich nenne einige Eckdaten zur Umfrage, um den Umfang und den Charakter der Erhebung zu verdeutlichen: 549 Frauen und 329 Männer und 15 Personen, die ihr Geschlecht nicht angaben, haben sich an der Aktion beteiligt. Die Altersgruppe der späten Jugend (18–25 Jahre) und die der jungen Erwachsenen (25–35 Jahre) sind im Sample unterrepräsentiert. Die Älteren
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schränken, hierfür wird dann samstags eingekauft und zum Teil auch gekocht. Einige Frauen genießen diese Tätigkeiten, auch weil sie mit der Freude verbunden sind, einen zentralen Familientag zu haben. Andere empfinden dies als so anstrengend, dass sie sich wünschen, einmal selbst bekocht und eingeladen zu werden.ŗŖ Für Jugendliche ist der Sonntag keineswegs langweilig. Es geht für Jungen und Mädchen im Konfirmationsalter am Wochenende um Erholen und Entspannen. „An erster Stelle wird von den Schülerinnen und Schülern unter 16 Jahre ferngesehen, an zweiter Stelle trifft man sich mit Freunden. Knapp 60 % geben an, sich mit dem Computer zu beschäftigen; die Hälfte schaut auch einmal in ein Buch, ähnlich viele treiben Sport. Auffällig war, dass etwa die Hälfte verneint, mit der Familie gemeinsam zu essen. Die 13- bis 16Jährigen helfen zu 77 % nicht im Haushalt, lieber ginge man hin und wieder samstags mal mit zum Einkaufen.“ŗŗ Allerdings geben viele Schülerinnen und Schüler an, dass sie für die Schule lernen müssten.ŗŘ Für die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen sei charakteristisch, dass sie sehr samstagsbezogen sei. „Am Samstag ist Disco-Time. Die jungen Leute gehen gerne essen, in die Kneipe, betreiben Körperpflege und treffen sich mit Freunden. Und sonntags dann faulenzen, fernsehen, den Tag genießen.“ŗř Ein Blick darauf, wie Jugendliche den Sonntag beschreiben, wenn sie bedeutsame Gegenstände nennen sollen, unterstreicht ihren Bedarf an medialer Unterhaltung: Neben dem Fernseher stehen Computer und Stereoanlage.ŗŚ Auch die Gruppe der Menschen, die aus dem aktiven Erwerbsarbeitsleben ausgeschieden oder erwerbsarbeitslos geworden sind, muss ihren Alltag nicht in Werktage und Sonntage strukturieren. Wenn sie es tut, geschieht es wohl eher, weil die Zeitstruktur der Erwerbsarbeitstätigen kulturell hoch besetzt und einflussreich ist. Sie müssen die Zeitstrukturierung nach persön-
ŗŖ ŗŗ ŗŘ ŗř ŗŚ
(62–70 Jahre) und die Alten (über 70 Jahre) sind verhältnismäßig stark vertreten. 29 Personen sind älter als 80 und der älteste Teilnehmer ist 98 Jahre. 13 % der Befragten bezeichneten sich als Angestellte und Beamte, 7,6 % gehören im weiteren Sinne der Pflege oder sozialen Diensten an, 5 % sind im naturwissenschaftlich-technischen Bereich tätig. Über 8 % der Fragebögen wurden von Lehrerinnen und Lehrern ausgefüllt. 6,4 % gaben an, im Nahbereich der Kirche beschäftigt zu sein. Mit über 15,5 % bilden die Rentnerinnen und Pensionäre die größte Gruppe, allerdings knapp gefolgt von 14,3 % Schülerinnen und Lehrlingen. Als Haus- und selten auch Familienfrauen bezeichneten sich 7,3 % und als Studenten und Studentinnen knapp 5 %. Vgl. Herrmann-Stojanov (2002: 46). Ebenda. Herrmann-Stojanov (2002: 44). Herrmann-Stojanov (2002: 45). Hervorhebungen von der Autorin. Ebenda.
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lichen Bedürfnissen und Verpflichtungen vornehmen oder haben nun den Freiraum, dies zu tun. „Die mangelnde Unterscheidbarkeit von Alltag und Feiertag, von Arbeit und Ruhe, der Rückzug aus der Öffentlichkeit der Erwerbswelt in die reine Privatsphäre bringt doch so manchem älterem Menschen Langeweile und Verdruss: So erklärt ein 79-Jähriger, für ihn beginne das Wochenende gar nicht, der Ablauf sei ziemlich öde, er müsse Geselligkeit organisieren, sonst finde nichts statt. Auch eine 86-Jährige erklärt, sie würde das Wochenende gern unter Menschen und nicht allein verbringen.“ŗś Es gibt demnach ein Bedürfnis nach geselligen Aktivitäten: „Insgesamt aber scheint gerade für die Älteren das Wochenende einen Aufforderungscharakter zu haben in dem Sinne wie Jetzt kommt das Wochenende, lasst uns was unternehmen, lasst uns aktiv sein.“ŗŜ Das Wochenende hat eine Animationsfunktion, dies weisen verschiedene Studien unabhängig voneinander aus.ŗŝ Aus dem Erwerbsarbeitsleben ausgeschiedene Menschen zeigen viel Interesse an Wochenendausflügen, Theater- und Museumsbesuchen, fahren Rad und gehen Spazieren. Eine Studie zeigt, dass 28 % der über 62-Jährigen ehrenamtliche Tätigkeiten an beiden Tagen des Wochenendes ausüben. Die Enkel und Kinder zu treffen und am Computer zu sitzen, diese beiden Komponenten werden ebenfalls als feste Programmpunkte genannt. Doch neben den aktiven Seniorinnen und Senioren gibt es viele Menschen, die ihr Wochenende sehr ruhig verbringen, weil sie keine Kraft für eine Kontaktaufnahme mit anderen Menschen haben oder krank sind. Es sind also insbesondere ältere Menschen, die am Sonntag das Bedürfnis nach Geselligkeit und Unterhaltung haben. Sie sind es auch, die bereits Offenheit für neue Aktivitäten und Eindrücke mitbringen. Sie äußern darin auch ihr Interesse, ihre Fähigkeit zur Virtualisierung zu stärken. Von Jugendlichen und Erwachsenen wird Geselligkeit und Unterhaltung weniger gewünscht als vielmehr, Zeit zu haben für Schularbeiten und anderes, was noch zu erledigen ist. Die Beobachtung, dass Jugendliche am Wochenende gerne mit den Eltern oder den Freunden und Freundinnen Medien zur Unterhaltung nutzen, ist allerdings ein Hinweis darauf, dass sie bei aller Einbindung in Verpflichtungen gegenüber Schule oder Ausbildung auch Spielräume zur Virtualisierung wahrnehmen. Die Fähigkeit, sich in mediale Welten hineinzubegeben und darin zu spielen, zu fantasieren, zu experimentieren, ist also durchaus vorhanden. ŗś ŗŜ ŗŝ
Ebenda. Herrmann-Stojanov (2002: 47). Hervorhebungen von der Autorin. Herrmann-Stojanov verweist hier auf die vielfältigen Studien von J. P. Rinderspacher, der seit 1987 das Wochenende kontinuierlich erforscht. Vgl. z. B. J. P. Rinderspacher, Ohne Sonntage gibt es nur noch Werktage. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes. Bonn 2000.
1.2 Virtuelle Realität im kirchlichen und theologischen Verständnis des Sonntags
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1.2 Virtuelle Realität im kirchlichen und theologischen Verständnis des Sonntags Im Sommer 1999 schaltete die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine bundesweite Anzeigenkampagne mit dem Slogan Ohne Sonntage gibt es nur Werktage. Sie widersprach mit dieser Kommunikationskampagne öffentlich einer kulturellen und gesellschaftspolitischen Tendenz, die auf die Änderung des Feiertagsgesetzes hinausläuft. Der Anlass hierzu hat sich in gewisser Weise weiter profiliert: Die Anzahl verkaufsoffener Sonntage, die über das gesamte Jahr verteilt werden, nimmt zu; regional und lokal diskutieren und agieren die evangelischen Landeskirchen immer wieder zu diesem Thema. In dieser sozial- und kulturpolitischen Auseinandersetzung wird von den Kirchen zur Legitimierung des Sonntags als Feiertag Bezug auf die Zehn Gebote bzw. die Heiligung des Sabbats genommen, wie sie in der biblisch-jüdischen Tradition im dritten Gebot kodifiziert ist (Ex 20, 8–11; Dtn 5, 12–15). „Mit dem zum Sonntag gewordenen Sabbat als wöchentlichem Feiertag der Auferstehung hat die Kirche dem Zentrum ihres Glaubens dann eine sinnenfällige Gestalt geben können.“ŗŞ Ob es der Kirche tatsächlich gelungen ist, dem Feiertag der Auferstehung eine sinnfällige Gestalt zu geben, wird allerdings jeweils von den am Gottesdienst beteiligten Menschen entschieden. Man wird vorsichtiger sagen können, dass die Kirchen dem Feiertag der Auferstehung einen regelmäßig zugänglichen Kommunikationsraum gegeben haben. Neben dieser Argumentation wird von den Kirchen auch aus wirtschaftsethischer Perspektive für einen Schutz des Sonntags plädiert. In einer Resolution der Evangelischen Regionalversammlung Frankfurt am Main heißt es so z. B., dass mit dem arbeitsfreien Sonntag daran erinnert werde, dass das Ziel der Schöpfung nicht die Arbeit, sondern die Ruhe sei.ŗş Insofern der Sonntag die Arbeitszeit unterbreche und der Wiederherstellung der Kräfte diene, helfe er dem Menschen und seiner Gesundheit. Die Entscheidung, den 1. Advent zum verkaufsoffenen Sonntag zu machen, widerspreche der Ruhefunktion und stelle eine zusätzliche Härte für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und -nehmer und deren Angehörige dar. Die Ausweitung der Geschäftsöffnungszeiten an den Werktagen bedeute schon jetzt eine hohe ŗŞ 19
Mehl/Schaack (2002: Vorwort, 9–11, hier: 9). Vgl. für ein Beispiel aus dem kirchlichen Alltag im Anhang, 337-338: „Der Sonntag – ein Tag der Ruhe, des Dankes und der Freude.“ Dieser Text ist von der Evangelischen Regionalversammlung Frankfurt a. M. am 5. November 2005 innerhalb einer Resolution zur Sonntagsruhe verabschiedet worden.
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Belastung der Mitarbeitenden. Die zusätzliche Öffnung der Geschäfte an Sonntagen sei familien- und partnerschaftsfeindlich. Darüber hinaus stelle der verkaufsoffene Sonntag eine besonders hohe Belastung für die Frauen dar, die die Mehrfachbelastung von Familien- und Erwerbsarbeit tragen müssen. Dem Sonntag wird eine umfassende sozial-kulturelle Bedeutung zugeschrieben, insofern er ein Reservoir gegen die fortschreitende Ökonomisierung aller Lebensbereiche bilde. Die Bindung der Wirtschaft an die Entfaltung des ganzen Lebens wird betont. Es fällt auf, dass die Argumentation dazu tendiert, mit der Sonntagsfrage zugleich die Geltung des Christentums innerhalb der Gesellschaft zu diskutieren. Dies zeigt sich darin, dass die Heiligung des Sonntags implizit über den Dekalog (Geschenk), explizit über das Grundgesetz abgesichert werden soll. Es wird damit eine christliche Konstruktion von Wirklichkeit angeboten, die für die Gesamtgesellschaft Geltung beansprucht, ohne sie als eine religiöse Lebensanschauung auszuweisen. So werden auch sozialethische Begründungen ohne explizite Referenz zum Glauben angeführt. Kirche vermittelt auf diese Weise, Agentin des Humanen in der Öffentlichkeit zu sein und zeigt dabei allerdings auch, dass sie bezüglich der Veränderung der Ladenöffnungszeiten weniger gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern argumentiert, sondern vielmehr stellvertretend für sie spricht. Der wirtschafts- und konsumkritischen Position fehlt eine angemessene Würdigung der Wirtschaft; sie scheint eher die Funktion der Konkurrentin von Religion zu erhalten. In der Sonntagsfrage, so scheint es, wird auch die Frage nach der Bedeutung der neuzeitlich errungenen Trennung von Staat und Kirche und nach der Differenz zwischen Kultur und Religion diskutiert. Auf pragmatischer Ebene kann darauf verwiesen werden, dass die Sonntagsgesetze des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nachweisbar zu einem vertieften Bewusstsein des christlichen Gehaltes dieses Tages geführt haben. Vielmehr wird bestritten, dass der Sonntag als Teil des arbeitsfreien Wochenendes, der zudem für die Freizeitplanung ungünstig gelegen ist, in der postindustriellen Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft überhaupt in Referenz zum Feiertag, der geheiligt werden soll, gesehen wird.“ŘŖ Wenn also innerhalb von kirchlichen und theologischen Argumentationen für den SonnŘŖ
Thomas Bergholz, Der Sonntag: Tag der Heiligung oder Tag der Arbeitsruhe? In: Ursula Roth/Heinz Schöttler/Gerhard Ulrich (Hgg.), Sonntäglich. Zugänge zum Verständnis von Sonntag, Sonntagskultur und Sonntagspredigt. München 2003, 89; vgl. aber auch den Beitrag von Michael N. Ebertz, Wochenenddramaturgien in sozialen Milieus. In: Kristian Fechtner/Lutz Friedrichs (Hgg.), Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch. Stuttgart 2008, 14-24, der hier leider inhaltlich nicht mehr weiter eingearbeitet werden konnte.
1.2 Virtuelle Realität im kirchlichen und theologischen Verständnis des Sonntags
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tag als Familien- und Erholungstag eingetreten wird, verbleibt die Wahrnehmung des Sonntags im Modus der Polarität von Werktag und Freizeit und verstärkt damit selbst noch einmal die Bedeutung der wirtschaftlichen Dimension des Lebens insgesamt. Es ist demgegenüber nicht nur wachsender, sondern gleichzeitig auch nachlassender ökonomischer Druck, der dazu führt, dass die Struktur Werktag-Sonntag ihre harten Konturen verliert. Zu den Menschen, die sich am Sonntagmorgen in evangelischen Kirchengemeinden zum Gottesdienst versammeln, gehören viele Menschen, die nicht erwerbstätig oder nicht mehr erwerbstätig sind, oft bilden sie die große Mehrheit der gottesdienstlichen Gemeinde. Dazu kommt, dass viele der am Wochenende unternommenen Aktivitäten, die in den Sonntagsstudien nicht von vornherein explizit religiös konnotiert sind, als gelebte Religion wahrnehmbar sind. Die Frage nach der Partizipation an Religion stellt sich also nicht erst hinsichtlich der Verteidigung des Sonntags, an dem der Sonntagsgottesdienst gefeiert wird. Damit geht es also nun vielmehr darum, eingeübte Wahrnehmungen des Sonntagsgottesdienstes aufzubrechen. In diesem Sinne wird es dann auch möglich, die Bedeutung des Sonntagsgottesdienstes für das evangelische Gottesdienstverständnis und damit für die kirchlichen Formen der Kommunikation des Evangeliums zu relativieren, also in eine angemessenere Beziehung zu anderen Gottesdienstpraxen zu setzen.Řŗ Die Allianz mit gesellschaftlichen Kräften, die sich für eine humanere Arbeitszeitpolitik einsetzen, muss aus den genannten Gründen von Kirche und Theologie keineswegs aufgegeben werden. Einen gemeinsamen Tag in der Woche zum Ausruhen zu haben, kann weiter ein kulturell und sozialpolitisch vertretenes Anliegen sein. Nur sollte dies deutlicher von der Frage abgekoppelt werden, dass, wenn der Sonntag fällt, an diesem Tag z. B. kein Gottesdienst mehr gefeiert würde. Demgegenüber ist darüber nachzudenken, wie Gottesdienste dennoch gefeiert werden können. Einen größeren Mut in der Differenzierung christlicher Kultur und säkularer Kultur ermöglichte mehr Freiheit im Umgang mit Gottesdiensten und könnte insofern zu einer Belebung der öffentlichen Sonntagskultur beitragen, die in ihrer heutigen bundesdeutschen Gestalt noch viel Ähnlichkeit mit kulturellen Konventionen hat, die aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammen. Aufmerksam zu machen ist auch auf die Funktion von Argumenten, die den Ruhetag als immer noch etabliert bezeichnen, weil „[...] unser Wochenende doch sehr in geregelten Bahnen verläuft und damit Teil der alltäglichen Řŗ
Vgl. Christian Grethlein, Gottesdienst nur am Sonntag? Evangelische Überlegungen zu einem zeitgemäßen Gottesdienstverständnis. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie (43) 2004, 130–131.
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1 Die religiöse Sonntagswelt
Lebenspraxis der Menschen ist“ŘŘ. Durch die Fixierung auf die Anforderungen durch Erwerbsarbeit wird ein Schwerpunkt der Auslegung in die reproduktive Funktion des Wochenendes gelegt: „Nachdenklich sollte stimmen, dass der Wunsch nach Innehalten, nach Ruhe, nach der Möglichkeit, den Alltag loslassen zu können und Zeit für sich selbst zu finden, die Antworten auf den Fragebögen wie ein roter Faden durchzieht.“Řř Die Suche nach mehr Zeit werde immer wieder mit der Auszeit des Wochenendes in Verbindung gebracht. „Ein Innehalten soll nicht bloß haltmachen, es soll uns Halt geben in dieser sich so rasch bewegenden und verändernden Welt.“ŘŚ Das Wochenende werde zumindest von allen Menschen, die in Schule und Beruf gebunden sind, als dringend gebrauchte Auszeit geschätzt.Řś Auch in dieser Formulierung wird deutlich, dass die Konstruktion des dualen Systems von Werktagen und Sonntagen die Suche nach alternativen Modellen blockiert. Lebenszeit wird in diesem System vereinfachend im polaren Gegenüber von Werk- und Sonntagen wahrgenommen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass ihre Wahrnehmung von Räumen abhängt, in denen sie zugebracht wird.ŘŜ Diese Perspektive führt zur Frage nach der virtuellen Realität des Sonntags. Er muss deutlicher als ein begehbarer Möglichkeitsraum charakterisiert werden. Erste Ansätze zeigen sich hierfür in einer Auslegung, die zur Heiligung des Feiertags auch die Feier des Auferstehungstages hinzunimmt: „Der Sonntag ist der Tag des auferstandenen Herrn, das wöchentliche Osterfest der Gemeinde.“Řŝ Auf diese Weise werden die Bedürfnisse nach Reproduktion und nach Kreation miteinander verbunden; der Sonntag selbst wird zum Möglichkeitsraum, den es kommunikativ zu entfalten gilt. Axel Denecke hat in Anknüpfung an Karl Barths Theologie zumindest einen Blick in diese Richtung geworfen: „[...] Ich lobe die Predigt am Sonntag, weil der Sonntag nicht nur christlich der 1. Tag der Woche, sondern viel mehr, jüdisch-christlich der 8. Tag der Woche ist.“ŘŞ Passion und Auferstehung von Jesus Christus erhielten aus der jüdischen Woche und ihrer Einteilung ihre Bedeutung, kodifiziert im ersten Schöpfungsbericht, im ersten Kapitel der
Herrmann-Stojanov (2002: 49). Herrmann-Stojanov (2002: 50). Ebenda. Vgl. auch Sandra Birkoben und Guntram Turkowski, „Schönes Wochenende!? Ergebnisse und Originaltöne der Umfrage“. In: Hermann-Stojanov (2002: 53–88). ŘŜ Vgl. Teil 1, 3.6. Řŝ Bergholz (2003: 469). ŘŞ Axel Denecke, Lob der Sonntagspredigt. In: Roth/Schöttler/Ulrich (Hgg.) (2003: 234). Hervorhebungen vom Autor. ŘŘ Řř ŘŚ Řś
1.2 Virtuelle Realität im kirchlichen und theologischen Verständnis des Sonntags
211
Genesis.Řş „Der erste Wochentag markiert den Beginn der Schöpfung, der siebente den der Ruhe Gottes von seinen Werken, also den Sabbat. Jesus wurde vor dem Sabbat, der am Freitagabend beginnt und am Samstagabend endet, gekreuzigt und am Tag nach dem Sabbat, also dem ersten Tag, von den Toten auferweckt.“řŖ Das hieße, dass der siebente Wochentag sein Grabestag war. Mit seiner Auferstehung am folgenden Tag vollende Jesus in dieser Sichtweise sowohl sein eigenes Wirken als auch die Schöpfung insgesamt. Dieser Tag müsste nun eigentlich als achter Tag gezählt werden – als Tag, der aus dem gewohnten Zeitrhythmus herausfällt. Zugleich beginne mit der Überwindung des Todes durch Jesus an diesem ersten Tag der Woche die neue Schöpfung. Den achten Tag zeichnet nicht aus, dass er völlig losgelöst von dem vorangehenden Leben gestaltet würde, der Sonntag trägt vielmehr alle Erfahrungen des Diesseits in sich und ist nach Denecke doch ein Tag, der noch gar nicht ist, so wie auch unsere Auferstehung noch nicht ist. „Wir sind frech und hochmütig (mit hohem Mut), wenn wir diesen Sonntag feiern, wenn wir an diesem Tag Gottesdienst feiern und predigen. Wissen wir eigentlich, was wir da tun? Wir greifen dabei zu den Sternen, die nicht die unsrigen sind. Wir haben aber von diesen Sternen zu künden, können nicht zu hoch reden und singen [...] Haben wir je so gepredigt? Wir blieben bisher unter unseren Möglichkeiten.“řŗ Der Griff nach den Sternen zeigt semantisch die Gefahr an, die in dem Verständnis des Sonntags als virtueller Realität liegt. Er könnte so wiederum als religiöse Sonderwelt konstruiert werden. George Steiner stellt deshalb dem Sonntag ein Lob auf den Samstag gegenüber: „In der utopischen Vollkommenheit des Sonntags wird es für das Ästhetische vermutlich weder Logik noch Notwendigkeit mehr geben. Die erkennenden Wahrnehmungen und Gestaltungen im Spiel metaphysischer Vorstellung, im Gedicht und in der Musik, die von Schmerz und Hoffnung sagen, vom Fleisch, das nach Asche schmeckt, und vom Geist, der den Geruch des Feuers hat, sind immer des Samstags. Philosophisches Denken, poetisches Schaffen sind Samstagskinder. Sie sind einer Unermeßlichkeit des Wartens und Erwartens entsprungen. Gäbe es sie nicht, wie könnten wir ausharren?“řŘ Die Bedeutung des Samstags liege in einem Gefühl, unerlöst zu sein; er versetze in einen Schwebezustand Vgl. Klaus Schwarzwäller, Der Sonntag im Wochenende. In: Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (2002: 90–103). řŖ Schwarzwäller (2002: 91). řŗ Denecke (2003: 234 f.). řŘ Steiner (1990: 318). Řş
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1 Die religiöse Sonntagswelt
zwischen Erinnerung und Erwartung. Auf dem Samstag liege eine Sehnsucht nach Erfüllung. Sie erregt zugleich in hohem Maße Freiheit und schöpferische Kraft. In dieser Weise korreliert die religiöse mit der soziokulturellen Beschreibung des Samstages, an dem viele Menschen eine Betriebsamkeit spüren, der insbesondere für Jugendliche ein aufregender, erwartungsvoller Tag ist. Wenn der achte Tag der Woche zur de facto begehbaren virtuellen Realität wird, erhält er zeitliche und räumliche Bedeutung. Denn auch, wenn eine realistische Wirklichkeitsbetrachtung es für nahezu ausgeschlossen halten muss, innerhalb des westlichen Kulturkreises einen achten Tag der Woche zu etablieren, können hierzu doch prinzipiell Experimente unternommen werden. In ihnen geht es dann darum, die Wirklichkeit im Möglichkeitsraum der Auferstehung Jesu Christi herauszuspielen. Solche Experimente können das alltägliche Leben verändern, z. B. indem Menschen ein anderes Verhältnis zur Uhrzeit bekommen. Verändert sich allerdings nichts, heißt dies, dass mithilfe der Religion zwei Wirklichkeiten konstruiert worden sind: im achten Tag der Woche befände man sich in einer Sonderwirklichkeit. Im Unterschied zu allen möglichen virtuellen Realitäten steht für die des Gottesdienstes allerdings fest, dass sie eine kommunizierte und erlernbare Codierung haben muss. Anderenfalls würde ein Wandel in der kirchlichen Sonntagskultur nicht mehr in Verbindung mit einer ihrer öffentlich wahrnehmbaren Formen bestehen.řř An jeder Veränderung in der Codierung der Sonntagskultur muss es kommunikativ möglich sein, zu partizipieren und somit auch an einem gemeinsamen, transparenten Code teilzuhaben, der erlernbar und praktizierbar ist. Die virtuelle Realität des Gottesdienstes führt nicht in religiöse Sonderwelten, sondern zu einem vertieften Verständnis der eigenen Lebensmöglichkeiten.
řř
Vgl. Lutz Friedrichs, Kleiner Sonntagsgottesdienst. Praktisch-theologische Überlegungen zu einem – verdrängten – Alltagsproblem. In: Pastoraltheologie, 94 Jg. (2005), 398–410. Friedrichs plädiert dafür, vom kleinen Sonntagsgottesdienst auszugehen und ihn in dieser Form zu reflektieren; er bezieht auch das Kriterium Öffentlichkeit ein.
2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs Die Kirche und der Kirchenraum genießen seit gut zwanzig Jahren neue Aufmerksamkeit. Es wird diskutiert, wie in evangelischem Verständnis Sakralität und Heiligkeit zu verstehen sind. Ein Gebäude wird nicht geweiht, sondern die Gemeinde feiert eine Einweihung der Kirche, dabei bittet sie um Gottes Anwesenheit und Beistand. Das Besondere eines Kirchenraums wird in seiner Würde und Atmosphäre gefunden. Diese werden nicht nur im Innenraum und durch Gegenstände im Interieur ausgemacht, der so wie ein Speicher christlicher Erinnerung und Hoffnung wirkt, sondern auch die Außenseite des Kirchenbaus wird als ein wichtiges Strukturmoment im Ortsbild bzw. im Stadtbild wahrgenommen. Aus der Diskussion um eine zivilgesellschaftliche Perspektive auf Kirche wird den Kirchengebäuden bisweilen sogar die Bedeutung von Herz oder Lunge des GemeinwesensřŚ zugeschrieben. An der Gestaltung von Kirchenräumen, an der Art und Weise, wie sie der Öffentlichkeit zugänglich sind, bietet sich die Möglichkeit, „eine Tür zu den Menschen zu öffnen“řś. Wenn die Perspektive nun weg von der kirchlichen und theologischen Position hin zu der der Rezipientinnen und Rezipienten gedreht wird, lässt sich auch konkretisieren, wofür Menschen eine Tür geöffnet wird. Sie erhalten mit dem Kirchenraum vielfältige Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zur Virtualisierung zu erproben.
2.1 Der Kirchenraum als medientheoretisch reflektierter Gegenstand Menschen leben nicht nur in Räumen, die architektonisch geplante und errichtete Gebäudeteile sind, sondern sie bewegen sich zugleich auch immer in elektronisch konstruierten Räumen; dies beginnt etwa bei der Konstruktion der Licht- und Wärmeversorgung und führt bis hin zur Vernetzung über
řŚ řś
Vgl. Bedford-Strohm (1999: 455 ff). Ulrike Wagner-Rau, Zu diesem Heft: Mit den Kirchenräumen eine Tür zu den Menschen öffnen. Pastoraltheologie, 95. Jg., Heft 10 (2006), 401.
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Mobilfunksysteme. Menschen befinden sich also nie nur in einem umbauten Raum, sondern sie bewegen sich in ihm, kommunizieren über ihn oder mit ihm, und dazu nutzen sie sowohl elektronische als auch nicht elektronische Räume. Dieses soziologische Raumverständnis eröffnet Möglichkeiten, gemauerte (und betonierte) Räume und elektronische Räume in ihrer Verbindung miteinander wahrzunehmen. In dieser Perspektive tritt außerdem besonders deutlich hervor, dass Räume soziale Konstruktionen sind.řŜ Im Kontext medientheoretischer Überlegungen zum Gottesdienst stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen diese Sichtweise für die Beschreibung eines Kirchenraums hat. Zunächst ist festzuhalten, dass auch der gemauerte Kirchenraum als ein Medium zu verstehen ist. Mit diesem weiten Medienbegriff, der ein Medium als eine Gelegenheit, etwas gegeben sein zu lassenřŝ, fasst, erreicht man, dass der Kirchenraum selbst in seiner Struktur als ein Artefakt, als eine soziale Konstruktion reflektiert wird, die die Wahrnehmung der Religiosität maßgeblich bestimmt. Die Aufmerksamkeit für verschiedene Raumkonstellationen in einem Kirchenraum bzw. eine polyzentrische Raumwahrnehmung wird hiermit gefördert. Für die These, dass der Kirchenraum ein anderer, besonderer Raum ist, heißt dies aber auch, dass er nicht mehr länger als ein abgesonderter, nicht elektronischer Raum gedeutet werden kann, in den man sich sozusagen abgeschottet von der Welt und aller Kommunikation zurückziehen könnte, sondern dass sichtbar wird, wie der Kirchenraum in seiner Vielräumigkeit mit anderen Lebensräumen vernetzt ist und sich allerdings in diesem Ensemble eine Differenz zu anderen Kommunikationsräumen feststellen lässt. Innerhalb der praktisch-theologischen Diskussion kann mit diesem Ansatz an eine kirchensoziologisch und kybernetisch orientierte Kirchenraumwahrnehmung angeknüpft werden, die ebenfalls auf Raumstrukturen in Orten und Städten eingeht. So hat Florian ScherzřŞ z. B. im interdisziplinären Austausch zwischen Theologie und Geografie herausgearbeitet, welche Herausforderungen Kirche im Wandel sozialer Raumstrukturen und Raumwahrnehmungen zu bestehen hat. Für ein praktisch-theologisches Raumverständnis heißt dies, dass es über die Deutung eines Sakralbaus hinaus auszuweiten ist, weil deutlich wird, wie eng Kybernetik und Kirchenbautheorie sowie insbesondere ästhetische Kirchenraumforschung miteinander verbunden sind. Scherz’ Beitrag fördert ein Raumverständnis, in dem der Kirchenraum als řŜ řŝ řŞ
Vgl. 3.6.2. Vgl. Teil 1, 3.6. Vgl. Florian Scherz, Kirche im Raum. Gütersloh 2004.
2.1 Der Kirchenraum als medientheoretisch reflektierter Gegenstand
215
gelebter Raum und damit von seiner sozialen Konstruktion aus in den Blick kommt. In dieser Wahrnehmung des Raums als sozialer Konstruktion liegt dann auch die Möglichkeit, deren Vernetzung mit elektronischen Räumen wahrzunehmen, die ebenfalls sozial konstruiert sind. Für den Bereich der Liturgik hat Christian Grethlein grundlegende Einsichten seines Kirchenraumverständnisses formuliert. Auch er argumentiert mit dem gelebten Raum, dem Raum, in dem Gottesdienst gefeiert wird. In historischer Perspektive arbeitet er so z. B. heraus, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein eine konstruktive Reflexion der Raumgestaltung im Bereich evangelischer Kirche fehlt. Dies habe zu einer einseitigen Rückwendung zu Romantik und Gotik geführt, die heute noch spürbar sei. Unterbrochen worden sei diese Linie durch die infolge des Zweiten Weltkriegs enormen Zerstörungen und Umsiedlungen. Diese hätten allerdings eine Zeit intensiven Kirchenbaus ausgelöst. „Dabei kristallisierte sich in den sechziger Jahren zunehmend die Tendenz zu Gemeindezentren mit Mehrzweckräumen aus.“řş Ihre Renovierung stehe in vielen Orten jetzt an, durch zunehmende Finanznot komme es allerdings häufig zu Abrissen. Für die heutige Situation nennt er drei wesentliche Herausforderungen: den Umgang mit in den Jahrzehnten des DDR-Regimes zerstörten und verwahrlosten Kirchen in Ostdeutschland, die Umwidmung von Kirchen und den Prozess der Musealisierung von Kirchenräumen. Während einerseits Kirchen ihre Sakralität verlören, gewönnen öffentliche Gebäude wie Einkaufszentren, Kinos und Banken in ihrer Architektur an sakraler Ausstrahlung. Als Hauptproblem sieht Grethlein: „Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Kirchengebäude und liturgischem Vollzug gefährdet.“ŚŖ Er resümiert, die Raumgestaltung von Kirchengebäuden erfordere eine klare liturgische Konzeption. Hierbei sei von neutestamentlichen Perspektiven zum Gottesdienst die grundlegende Participio an Jesus Christus zur Darstellung zu bringen, zum anderen aber auch der daraus folgenden, also abgeleiteten Gemeinschaft der Feiernden untereinander Raum zu verleihen. In diesem Rahmen votiert Grethlein für eine polyzentrische Raumgestaltung und kritisiert so auch die im Gefolge der Reformation sich einstellende Sitzkultur in Kirchen mit ihrer Orientierung an Altar und Lesepult. Scherz und Grethlein stellen die Bedeutung des Kirchenraums vor allem anhand von soziologischen Raumbeziehungen dar. Bei Scherz sind es die Beziehungen der verschiedenen Räume am Ort, die insbesondere die Außenseite von Kirche ins Blickfeld bringen, bei Grethlein ist es die Beziehung zur řş ŚŖ
Christian Grethlein, Grundfragen der Liturgik. Gütersloh 2001, 155. Grethlein (2001: 157). Hervorhebung vom Autor.
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
liturgischen Versammlung, die vornehmlich den Innenraum von Kirchen thematisiert.Śŗ Neben diesem Ansatz liegt ein dritter Diskussionszusammenhang, der phänomenologische und rezeptionsästhetische Deutungen von Kirchenräumen betont. Hier hat man sich weithin davon gelöst, den Kirchenraum als liturgischen Raum zu verstehen. In der nicht liturgischen Sicht tritt hervor, dass Kirchenräume eine Differenzerfahrung zu alltäglichen Raumerfahrungen in öffentlichen und erst recht in privaten Gebäuden anbieten. Diese Orientierung an der Differenz spiegelt, so heißt es, zugleich auch ein ökumenisch belastbares Verständnis von Raum wider. Im katholischen Deutungszusammenhang werden Kirchen als heilige Räume bezeichnet. Sie werden von der profanen Umwelt eindeutiger unterschieden als im evangelischen Kontext. Der Weiheritus, der hier einen Raum zum Kirchenraum macht, bezeichnet zusätzlich diese Differenz. Die Differenzbestimmung geschieht in einem Ritus, der destruktive Mächte zu bannen beabsichtigt, und damit dazu beiträgt, den Raum für kultische Zwecke abzusondern. Hinzu treten die Verwahrung der Hostien in einem Tabernakel und mitunter die Aufbewahrung von Reliquien unter dem Altar. Alle drei Komponenten zusammengenommen festigen die Wahrnehmung der Differenz zwischen heiligem und profanem Ort. Fulbert Steffensky betont in seiner Auslegung des Kirchenraums zwar die Bedeutung der sich versammelnden Menschen. Dabei steht die Versammlung der Gläubigen nicht allein, sie wird ergänzt durch die Congregatio Sanctorum, die im Kirchenraum durch Gegenstände und Bilder sowie durch Erinnerungen an frühere Generationen von Gläubigen präsent werde. Steffensky bezieht auf diese Weise aber auch gegen eine gottesdienstliche Eventkultur Position und leitet damit über zu einem nicht liturgischen Gebrauch des Kirchenraums. Wo wenig oder keine Unterhaltung und Dekoration vorgefunden würden, fänden Menschen einfacher zu sich selbst. In diesem Sinn plädiert Steffensky auch für eine Wahrnehmung von Kirchen als Räume des Schweigens. Kirche ist damit ein Ort, an dem eine Gegenkultur zu inszenieren ist. Es ist die Weise, wie ein Kirchenraum der Seele Raum geben kann, die ihn dafür prädestiniert, dass er eine Differenzerfahrung zum Alltag möglich Śŗ
Vgl. zur neueren Forschung an Kirchenräumen hinsichtlich der Bedeutung ihrer liturgischen Nutzung: Klaus Raschzok, Kirchengebäude und liturgische Nutzung. In: Jörg Neijenhuis (Hg.), Liturgie lernen und lehren. Leipzig 2001, 43–70. Zu ersten Annäherungen einer Wahrnehmung des Kirchenraums vgl. Lisa Neuhaus, Ratloser Umgang mit dem Sakralraum. Architekturstudierende machen Umbauvorschläge. In: Deutsches Pfarrerblatt 8/2003, 404–406; und Ulrike Streckenbach, Spannend bis zum Schluss. Die Gestaltung von Kirchengebäuden im Spannungsfeld von Gott und Welt. In: Christenlehre, Praxis, Religionsunterricht, 3/2003, 4–7.
2.1 Der Kirchenraum als medientheoretisch reflektierter Gegenstand
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macht. Steffensky kann hierzu aber Begegnungen von Kunst und Religion, von Musik und Religion aufnehmen. Er versteht Kirchenräume als Gasträume, in denen Gottesdienst nicht nur in liturgisch festgelegter Weise gefeiert wird, sondern er schätzt eine Vielfalt freier Formen.ŚŘ Petra Bahr und Klaus-Dieter Kaiser formulieren in ähnlicher Orientierung, dass der Gottesdienstraum in seiner besonderen architektonischästhetischen Gestalt ein Topos der Sehnsucht nach dem Anderen sei; er gebe Gelegenheit, die alltägliche Raumerfahrung zu unterbrechen.Śř Die Interpretation des Kirchenraums wird auch hier nicht an die Liturgie gebunden, sondern man wirft einen Blick auf die Atmosphäre kirchlicher Räume zu der Zeit, in der kein Gottesdienst gefeiert wird. Der Kirchenraum hat nicht allein dadurch eine besondere Wirkung, dass in ihm Gottesdienst gefeiert wird, die Orgel spielt, Lesungen zu hören sind etc., sondern dieser Raum wirkt bereits aus sich heraus, seine Architektur spricht. Wilhelm Gräb fasst diesen Zusammenhang so, dass das Religiöse im Atmosphärischen liege, in der Aura des Raumes, in den Gestimmtheiten, in die der Raum versetzt. „Damit ein Sakralbau dies leisten kann, kommt es auf seine architektonische Gestalt an und damit auf die ästhetische Erfahrung, welche der Raum machen läßt.“ŚŚ Die Arbeit in den kirchlichen Praxisfeldern Kirchenbau sowie Kunst und Kirche sowie auch die zum Teil öffentlich geführten Diskussionen um säkulare Kirchennutzungen hat die praktisch-theologische Auseinandersetzung mit Kirchenräumen ebenfalls vorangetrieben. Durch den Blick auf die nicht liturgische Nutzung von Kirchen wird der individuellen religiösen Kommunikation Aufmerksamkeit geschenkt. So lässt ein Aufenthalt in oder ein Rundgang durch die Kirche für eine Besucherin oder einen Besucher einen Kommunikationsraum entstehen, in dem eigene Vorstellungswelten präsent werden: Die eigene Befindlichkeit wird erspürt, die Beziehung zur Religiosität wahrnehmbar. Dies bedeutet nicht, dass die Sichtweise, in der „die Gotteshäuser mit ihrem Inventar wie Altar, Kruzifix, Heiligenbilder und Reliquien als solche Orte der Anwesenheit Gottes“Śś gelten, grundsätzlich revidiert würde. Aber die Bedeutung des Kirchenraums für die Religiosität des Einzelnen bzw. der Einzelnen erhält doch einen erhöhten Stellenwert innerhalb der Praktischen Theologie. Vgl. Fulbert Steffensky, Der Seele Raum geben. In: Ders., Schwarzbrot-Spiritualität. Stuttgart 2005, 25–52. Śř Vgl. Petra Bahr/Klaus-Dieter Kaiser, Protestantismus und Kultur. Gütersloh 2004, 390. ŚŚ Bahr/Kaiser (2004: 391). Śś Gernot Böhme, Anmutungen: Über das Atmosphärische. Ostfildern vor Stuttgart 1998, 87. ŚŘ
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Der medientheoretische Blick schafft allerdings zusätzlich Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen den Kirchenraum nur dann als besonderen, d. h. religiös konnotierten Raum wahrnehmen, wenn sie eine kommunikative Beziehung zu ihm aufnehmen können. Sie müssen z. B. architektonische Zeichen lesen und mit ihnen in Austausch treten können, damit die Stille in einer Kirche auch zu einem Menschen sprechen kann. Erst unter dieser Bedingung kann individuelle Religiosität vom Austausch und der Begegnung mit öffentlichen sakralen Räumen, die nicht liturgisch gestaltet sind, profitieren. Denn Zeichen vermitteln sich nicht unmittelbar, sondern müssen gelesen werden können. Auch wenn z. B. eine gotische Architektur eine immersive Atmosphäre ausstrahlt und Menschen ihren Blick beim Eintreten unwillkürlich nach oben führen, heißt dies nicht, dass hier unmittelbar kommuniziert worden wäre, sondern vielmehr wirken die Zeichen so, dass sie offenbar von vielen Menschen leicht lesbar sind. Der Besuch einer Kirche erfordert mediale Fähigkeiten. Bereits aus semiotischer Sicht ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass in der Frage nach der Gestaltung eines Kirchenraums insbesondere die Wirkung reflektiert werden muss, die die Lektüre der Räume und dessen, was in ihnen geschieht, auf die Menschen hat, die ihn besuchen. Die Reflexion dieser Lektüreprozesse medientheoretisch fortzuführen, ist die Aufgabe des folgenden Kapitels.ŚŜ
2.2 Zum semiotischen und phänomenologischen Beitrag zur Diskussion Aus semiotischer Perspektive kommt in den Blick, wie Kirchen auch ohne religiöse Beziehung zum Christentum besucht werden können: „Faktisch werden kirchliche Räume wie Kunstwerke betrachtet, ja man muß damit rechnen, daß in Europa die touristischen Besucher von Kirchen ihrer Zahl nach dieselbe Größenordnung erreichen wie die religiös motivierten Besucher. Damit stellt sich generell die Frage, welche Erfahrungen Besucher kirchlicher Räume unabhängig von ihrer religiösen Bindung machen können.“Śŝ Die sogenannte synkretistische Signatur, die die kirchliche Architektur in ihrem Charakter als Kulturgut enthält, macht klar, dass eine eindeutige Codierung Vgl. z. B. Rainer Volp, Geistliche Gemeinschaft oder soziale Anlaufstellen? Die Kirchen und ihre Gemeinden. In: Kirche im Mittelpunkt. Kongressbericht der Fachtagung 1991 in Schwäbisch-Gmünd, 72–83. Śŝ Böhme (1998: 90). ŚŜ
2.2 Zum semiotischen und phänomenologischen Beitrag zur Diskussion
219
von Kirchenräumen nicht möglich ist. Zu ihrer Architektur gehören nicht nur religiöse Insignien, sondern auch dem Kernbereich von Religion fremde Faktoren sowie Aspekte, die geradezu eine Ablehnung von Kirche und Religion hervorrufen können. Mit der (Kunst-)Geschichte tritt zugleich auch oft eine ambivalente Geschichte kirchlicher Aneignungsprozesse zutage, wie sie insbesondere in Kirchen kolonialisierter Länder zu erkennen sind.ŚŞ Insofern werden hier soziale Aspekte der Wahrnehmung von Kirche über raumästhetische Zeichen vermittelt. Zum Zweiten macht die semiotische Perspektive deutlich, dass Raumästhetik und soziale Raumwahrnehmung zusammengehören. In dieser Zusammengehörigkeit können sie als verschiedene Raumcodes differenziert werden. So kann zwischen der Wahrnehmung des Raums und der im Raum anwesenden Menschen unterschieden werden: „Hodologische Kodes systematisieren die jeweilige Beziehung des im Raum anwesenden Individuums zur Raumgestalt und Raumfolge, proxemische Kodes dienen dem Ausdruck und der Beschreibung der Beziehung zu anderen im Raum anwesenden Personen. Mit Hilfe dieser beiden Kodes läßt sich die Erfahrung des Raumes weiter differenzieren.“Śş Für die Frage nach der liturgischen oder nicht liturgischen Interpretation von Kirchenräumen ist dies ein Hinweis, dass weder die eine noch die andere Betrachtungsweise allein Vorrang genießen kann. Beide Zugänge werden im semiotischen Kontext als zusammengehörig geschildert und zeigen darüber hinaus auch ihre mediale Dimension. Weil die liturgische Interpretation des Kirchenraums, mit anderen Worten die Analyse des proxemischen Codes in der Gottesdienstlehre der vergangenen Jahrzehnte überwog, ist es interessant, sich dem vernachlässigten Aspekt besonders zu widmen. Hodologisch kommt der Kirchenraum damit insbesondere hinsichtlich seiner Atmosphären und Anmutungsqualitäten in den Blick. Es kann dann auch von Atmosphären kirchlicher Räume im Plural gesprochen werden. Gernot Böhme nennt die Wirkungen dieser Atmosphären ihre Anmutungsqualitäten. Böhme widmet sich einem breiten Spektrum von Immersionen, wie sie durch Licht und Dämmerung, das Steinerne, Figuren und Bilder, die akustischen Qualitäten des Raums, Farben, Materialien, Insignien des Altars und christliche Symbole erzeugt werden. Dass in dieser Beschreibung kirchlicher Räume nur große Kirchen gotischen Baustils vorkommen, ist zu kritisieren. Doch es bestätigt noch einmal, wie sehr die Vgl. auch bspw. Heide Berndt/Alfred Lorenzer/Klaus Horn, Architektur als Ideologie. Frankfurt a. M., 5. Aufl. 1977. Śş Hans Thomé, Gottesdienst frei Haus? Fernsehübertragungen von Gottesdiensten. Göttingen 1991, insb. 200–214, hier 205. ŚŞ
220
2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Codes der gotischen und auch der romantischen Kirchenbauten die mitteleuropäische Wahrnehmung von Kirchen geprägt haben. Anhand des gotischen Baustils lassen sich allerdings die Atmosphäre von Kirchenräumen und ihre Wirkungen sehr anschaulich vermitteln. Mit ihm wird atmosphärisch für eine Umgebung gesorgt, die z. B. eine heilige Dämmerung und das zu ihr gehörende diaphane Licht entstehen lässt. „Es ist nicht Licht im Sinne von Schein oder sichtbarem Strahl. Das heißt, es handelt sich um Licht, das auf der Basis von Dunkelheit erfahren wird, aus der heiligen Dämmerung heraus. Im Dunkeln sein ist die Basis dieser Lichterfahrung.“śŖ Diese Lichterfahrung wird allerdings unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem, ob man draußen in der Natur oder in einem begrenzten, umbauten Raum diese Erfahrung der Dämmerung mache. „Zwar verlieren sich auch hier [in der Kirche, I. N.] alle Dinge im Unbestimmten, aber gerade nicht wie in der Natur in unbestimmter Weite.“śŗ Draußen lässt die Dämmerung die Angst aufkommen, sich in der Weite zu verlieren; die heilige Dämmerung in einem Kirchenraum zu erfahren, heißt dagegen eher, das Gefühl zu haben, vom Kirchenraum geborgen zu werden. In ihm ahne man das Heilige wie bei einem Geheimnis, so heißt es. Konkret geht es auch um Gestaltungselemente wie Raumhöhe, goldene Farbe und einzelne Kerzen, die diese Erfahrung befördern. Dabei erhält allerdings die Raumhöhe eine besondere Bedeutung. Die Dämmerung lässt sich z. B. nicht ebenso in einem Raum mit einer normalen Zimmerdeckenhöhe erfahren wie in einer gotischen Kathedrale, denn sie müsse sich weiter nach oben verlieren können: „Das hohe gotische Kirchenschiff, die Säulen und Strebungen, die unten, wo man sich befindet, durch ihre Massigkeit die Dämmerung verdichten, verlieren sich nach oben, lichten sich, könnte man sagen.“śŘ Licht fällt von oben gebündelt und streifig als farbige Garbe ein, es wirkt wie „ein Schein ohne Quelle“śř. So könne Erlösung sinnlich erfahren werden. Böhme erinnert daran, dass, wenn die Sonne verdeckt ist und es trotzdem ein strahlendes Scheinen zwischen dunklen Gewitterwolken gibt, im Volksmund vom Gottesfinger gesprochen wird. Die Quelle des Lichts wird als transzendent erahnt: „Der Blick selbst transzendiert, den Strahlen folgend, das Licht auf seinen Quell hin.“śŚ Manchmal streiften die Strahlen einzelne Dinge oder Personen, dann wiederum beleuchteten sie sie direkt, ließen aber immer Einzelnes hervortreten. Dieses Phänomen wirke, śŖ śŗ śŘ śř śŚ
Böhme (1998: 92). Böhme (1998: 93). Böhme (1998: 93). Hervorhebungen vom Autor. Ebenda. Hervorhebungen vom Autor. Böhme (1998: 95). Hervorhebung vom Autor.
2.2 Zum semiotischen und phänomenologischen Beitrag zur Diskussion
221
wie Böhme sagt, als Principium individuationis und erlöse Menschen und Dinge aus der Verlorenheit ins Unbestimmte. Der geschilderte Umgang mit Licht und seiner Deutung beschreibt en détail, wie auch computergestützte Kommunikationsräume gestaltet werden. Für den virtuell rekonstruierten Dom von Siena und die Webseiten vom ewigen Leben ist dies bereits beispielhaft erläutert worden.śś Grundsätzlich wird aber über die Reflexion von Kirchenraum-Atmosphären deutlich, wie Kirchenräume bewusst gestaltete Umgebungsqualitäten enthalten, die auf Menschen in spezifischer Weise wirken sollen und wirken. Diese Umgebungsqualitäten dienen als Stimulanzien für eine bestimmte Glaubenserfahrung. Neben dem Licht sind in diesem Sinne nun auch die Stille und das Erhabene zu nennen, die die Atmosphäre gotischer Kirchen häufig bestimmen. Wer aus dem Lärm in die Stille kommt oder aus der Fixierung auf alle möglichen visuellen Reize, zum Beispiel in einer Fußgängerzone, in die erhabene Atmosphäre einer gotischen Kathedrale eintritt, spürt insbesondere Kontraste. In phänomenologischer Beschreibung ausgedrückt lehren kirchliche Räume, „dass das Erhabene primär eine Erfahrung am eigenen Leibe ist.“śŜ Das Leibgefühl gleite ins Unendliche aus, so Böhme, und man bemerke unwillkürlich, wie beschränkt und klein man sei. „Zwischen diesem Ausgleiten ins Unendliche und dem Zurückgeworfen-Werden auf die eigene Körperlichkeit alterniert das Gefühl und bildet so die Ambivalenz, die in der Betroffenheit durch das Erhabene liegt.“śŝ Diese Ambivalenz gehört schließlich auch zu Raumerfahrungen, die durch Steine und das Steinerne angeregt werden: „Es ist eine Art urtümlicher menschlicher Stolz, der einen in solchen Räumen ergreift, nicht nur das Gefühl der Sicherheit und der Ordnung, sondern auch das der Erhebung über die Natur.“śŞ Im Wort Erbauung, das im Sinne der Gemeindebildung in der Bibel (1. Kor 14,26) genannt werde, finde sich bereits der Begriff eines festen Hauses als Metapher für Kirche und Gemeinde. Der Kirchenbau als festes Haus mit ungewöhnlicher Bauweise evoziere, dass Menschen sie „mit einer gewissen Scheu, Sammlungsbereitschaft und – wie soll man sagen – Transzendenzerwartung betreten“śş. śś śŜ śŝ śŞ śş
Vgl. 1.1 und 2.3.6. Böhme (1998: 96 f.). Böhme (1998: 97). Böhme (1998: 100). Böhme (1998: 105). Kritisch allerdings bleibt festzuhalten, dass Böhme den proxemischen Code in seinem Beitrag zur Wahrnehmung von Kirchenräumen unberücksichtigt lässt und die Gegenstände und deren Anmutungsqualitäten nicht weiter medial reflektiert, sodass es so scheint, als ob Atmosphären quasi unmittelbar aufträten.
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Die Atmosphäre, die in einer gotischen Kathedrale erfahren werden kann, ist für viele Menschen hochattraktiv, weil diese Räume dazu anleiten, sich in einer festen Ordnung wiederzufinden. Doch diese Wahrnehmung ist nicht die einzig mögliche; andere Menschen empfinden erhabene Atmosphären als störend und ambivalent: Größe, Allmacht, Autorität von Gott und Kirche stehen dann in einem unklaren Verhältnis zur Bewertung der eigenen Subjektivität und des Selbstgefühls. Zwiespältige Gefühle gegenüber den Traditionslinien von Religion, die Menschen in ihrer Lebensplanung eingeschränkt oder ihnen Freiheit genommen haben, treten neben das Gefühl der Geborgenheit in einem Heil versprechenden Raum.
2.3 Medientheoretische Weiterführungen Im Gegensatz zu den herkömmlichen Kirchen in Städten und Orten sind virtuelle Kirchen immer offen, um betreten zu werden. Es gibt sie in sehr verschiedenen Formen und sie werden immer zahlreicher. Wenn es in der Praktischen Theologie also um den Kirchenraum geht, sollten computergestützte Kirchenräume nicht ausgespart bleiben.ŜŖ Im Vergleich mit ihnen bieten sie zusätzliche Möglichkeiten an, den herkömmlichen Kirchenraum in seiner spezifischen Eigenart zu verstehen. Der weit verbreitete Konsens, Kirchenräume sollten Differenzerfahrungen anbieten, kann mithilfe des medientheoretisch geschulten Blicks außerdem weiterentwickelt werden. Schließlich soll in diesem Zusammenhang auch die Frage diskutiert werden, inwiefern die neuere Entwicklung, die Architektur des Kirchenraums stärker zu würdigen, die liturgische Bedeutung des Kirchenraums gefährdet. 2.3.1 Kirchenräume im Internet Aus der Vielzahl virtueller Kirchen- und Andachtsräume sollen nun einige Beispiele vorgestellt werden, zunächst eine Kirchenraumwahrnehmung, die auch die Außenseite der virtuellen Kirche erfasst. Es handelt sich um einen Besuch in Funama, der größten deutschsprachigen virtuellen Stadt: „Aus unserem Seminar weiß ich, dass es hier auch irgendwo eine Kirche geben soll. Aber wo? Ich lasse die Stadt noch mal an mir vorüberziehen. Nichts zu sehen.
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Leider ist dies aber weithin der Fall, auch z. B. in Martin Benn (Hg.), Heilige Räume. Zentrum Verkündigung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (ehemals Beratungsstelle für Gestaltung von Gottesdiensten). Frankfurt am Main 2006.
2.3 Medientheoretische Weiterführungen
223
Halt, da war etwas. Zwischen den (Hoch-)Häusern leuchtet das grüne Dach der Kirche hervor. Irgendwie erinnert mich das an ein Bild, das sich mir jeden Morgen bietet, wenn ich mit dem Zug in den [...] Bahnhof einfahre. Da leuchtet nämlich kurz vorher für einen Augenblick das grüne Dach einer Kirche zwischen den Hochhäusern hervor und ist im nächsten Moment wieder verschwunden.“Ŝŗ Bemerkenswert ist der Verweisungszusammenhang, in dem Lisa Zang die reale und die virtuelle Kirche wahrnimmt. Beide werden von ihr in Bewegung wahrgenommen: einmal sitzt sie im Zug am Fenster, das andere Mal an ihrem Bildschirm, die Maus in der Hand. Die Kirche in Funcity ist eine rein virtuelle Kirche, das heißt, sie lebt durch ihre elektronische Konstruktion und den Gebrauch, der von dieser gemacht wird.ŜŘ Dieses erste Beispiel für eine Kirche im Internet präsentiert einen Raum, dem kein Bauwerk aus Stein und Holz entspricht.Ŝř In ganz ähnlicher Weise haben auch verschiedene Landeskirchen und medienspezifische Arbeitsstellen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland virtuelle Kirche online begehbar gemacht. Eine insbesondere für Kinder entworfene virtuelle Kirche soll mit der Charakteristik evangelischer Kirche, ihren Gegenständen im Raum und ihren Gottesdiensttraditionen vertraut machen.ŜŚ Virtuelle Kirchenräume dienen z. B. dazu, einen Besuch in einem historischen Gebäude vorzubereiten. Der virtuellen Reproduktion eines Kirchenraums geht dabei häufig eine dreidimensionale Videoaufnahme voraus, in die interaktiv sozusagen eingetreten werden kann. Deshalb können die Deckengemälde z. B. intensiver und näher betrachtet werden, als dies mit bloßem Auge möglich ist. Signifikant für die virtuellen Kirchenräume ist außerdem, dass sie alle polyzentrische Wahrnehmungsspektren anbieten. Der Raum wird über eigene Bewegung, und das heißt Perspektivwechsel, erkundet. Darin wird auch vermittelt, dass der Raum kein feststehendes Gebilde ist, sondern dass er sich selbst permanent bewegt. Diese Beobachtung bezieht sich allerdings nicht ausschließlich auf den virtuellen Raum. In sehr grundlegender Weise gilt dies auch für nicht elektronisch gestützte Kirchenbauten. So sind Gebäude aus geologischen Gründen permanent in Bewegung, obwohl sie fest und unverrückbar zu sein scheinen. Lisa Zang, Essay: Funcity-Funama. Unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. www.funcity.de (Stand: 15.06.2007). Vgl. für eine solche Variante auch den virtuellen Andachtsraum des Evangelischen Regionalverbands Frankfurt am Main, der mit hohem ästhetischen und kommunikativen Anspruch erarbeitet worden ist und hierfür bereits Auszeichnungen erhalten hat. ŜŚ Vgl. z. B. www.kirche-entdecken.de; vgl. aber auch Haese zu Cyberchurch (2006 : 263–310). Ŝŗ ŜŘ Ŝř
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Hier setzt nun auch die Kritik an einer Wahrnehmung von Kirchengebäuden an, die in der ästhetischen Beschreibung die Anmutung des Steinernen als festen Grund suggeriert. Es gibt keinen Raum, der unveränderlich ist und vor Gefahren zu schützen in der Lage ist, weil er sich nicht bewegt und Halt verbürgen könnte.Ŝś Böhmes Schilderungen des diaphanen Lichts und des Steinernen sind architektonische Inszenierungen. Diese Einsicht wertet die Bedeutung und die Wirkung von Kirchenräumen nicht grundsätzlich ab, sondern es stellt sie in ein anderes Verhältnis zur Wahrnehmung der Wirklichkeit. Gerade auf dem Gebiet der theologischen Reflexion des Kirchenraums liegt die Versuchung nahe, eine unmittelbare Beziehung zu den Dingen und zu Gott auszumachen. Es gilt eben auch im heiligen Raum zu akzeptieren, dass jede Wahrnehmung Zeichencharakter hat und die Interpretationsbedürftigkeit und -fähigkeit des Wahrgenommenen respektiert werden muss. „Der Wunsch nach einem Zeichen vom Himmel birgt den Mythos einer für sich selbst sprechenden Wirklichkeit. Dieser Wunsch liegt beispielsweise im Offenbarungsbegriff der Orthodoxie.“ŜŜ Einen umbauten Kirchenraum und einen virtuellen Kirchenraum unterscheidet, dass ihre Zeichen verschiedener Art sind; dass sie Zeichen sind, ist ihnen allerdings gemeinsam. In dieser Sichtweise ist das touristische Interesse z. B. an der Gotik mit ihren großen, mächtigen Domen zumindest teilweise eine Reaktion auf fehlende Kontingenzbewältigungsstrategien im Alltag. Der Dom ist konzipiert als die große Gegenmacht, in dem traditionell Kontingenzen thematisiert werden und zugleich Versuche unternommen werden, ihre Macht zu bändigen. In einen solchen Raum hineinzugehen, kann durchaus genossen werden. Wo allerdings die gotische Raumerfahrung für die Wahrnehmung von Kirchenräumen normative Bedeutung erhält bzw. behält, bedeutet dies zugleich, ein spezifisches Gottes- und Weltverständnis anzunehmen, das auf der Basis einer vergangenen Bedeutung von Kirche in der Gesellschaft aufbaut und sich der Erweiterung von Codierungen zu Kirchenraumerfahrungen verschließt. Das Phänomen virtueller Realitäten verändert unsere Raumvorstellungen. Der Raum ist kein feststehender Raum, er ist noch nicht einmal ein Raum, sondern Räume, die wie Ströme miteinander verbunden sind, werden in der Bewegung, die leiblich unternommen wird, erfahren. Es wird unumgänglich wahrzunehmen, dass Räume permanent entstehen, dass die, die menschlich wahrnehmbar sind, in dieser Wahrnehmung auch von Menschen hergestellt
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Vgl. Wertheim (2000: 167–204) in Verweis auf Einsteins Relativitätstheorie. Engemann (2003: 175 f.).
2.3 Medientheoretische Weiterführungen
225
werden, wenngleich sie kosmologisch betrachtet eine Eigenausdehnung haben. Eine zweite Veränderung in der Raumwahrnehmung liegt in der Intensität, mit der Wahrnehmungen möglich sind. Zum einen entsteht für die Betrachterin und den Betrachter ein individuelles Bild durch die selbst gewählten individuellen Perspektiven. Zum anderen liefert z. B. ein Medium wie der 3D-Rundgang optische Eindrücke, die beim Sitzen am Bildschirm in ca. fünfzig Zentimeter Abstand präsentiert werden. Die sinnliche Wahrnehmung wird hierbei sehr angeregt. Farben und Formen wirken zum Teil intensiver als in der herkömmlichen, nicht elektronisch gestützten Begehung des Raums. 2.3.2 Zur These „Kirchenräume ermöglichen Differenzerfahrungen“ Mit den Kommunikationsmöglichkeiten, die der Cyberspace bietet, benötigen die Kulturwissenschaften insgesamt eine neuerliche Klärung der Kategorie Raum. Essenzielle Raum- und Zeitvorstellungen vermögen immer weniger, tragfähige Modelle zum Verständnis dieser beiden Kategorien beizutragen. Die Kritik an einem essenziellen bzw. linearen Verständnis von Zeit ist dabei bereits deutlicher vollzogen worden, als dies für die Kategorie des Raums gilt. Bezüglich des Raumverständnisses gilt gerade in der Kirchenraum-Diskussion häufig die Formulierung einer Differenzthese. Sie besagt, dass der Kirchenraum ein anderer Raum sein soll als die Räume, in denen Menschen im Alltag leben.Ŝŝ Der Kirchenraum wird im Gegenüber zu Räumen, die kommerzialisiert seien, positioniert, und es werden Kargheit und Strenge für eine ideale Gestaltung genannt, damit der Sinn des Gottesdienstes möglichst pointiert zum Ausdruck komme: „Wozu brauche ich eine Kirche? Der heilige Raum ist der fremde Raum, nur in der Fremde kann ich mich erkennen.“ŜŞ Dies geschieht auch auf dem Hintergrund, dass Supermärkte und Theater sowie Fußballstadien als moderne Kathedralen bezeichnet werden. Aber nicht nur die laute Akklamation wird außerhalb von Kirchen inszeniert, auch die zurückgezogenen, leisen religiösen Praktiken, wie z. B. Kontemplation und Meditation, werden fern von der expliziten Religion praktiziert. Das Kriterium der Differenz wird also nicht nur in der Konzeption von Kirchenräumen angewandt, sondern vielfach gerade in Freizeitkulturen genutzt, zu der ja auch die Ausübung der Religion gezählt wird. Die Differenz ist ein theologisch fundiertes Kriterium, das aber an kulturtheoretischen Ŝŝ ŜŞ
Vgl. Teil 2, 2.1. Fulbert Steffensky, Der Seele Raum geben. In: Benn (2006: 23).
226
2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Überlegungen partizipiert und eben auch kulturelle Anwendung findet. So erscheint es auch nicht sinnvoll, dass der Kirchenraum im radikalen Gegenüber zum säkularen Raum gesehen wird. Ein Raum, der isoliert von anderen Räumen als ganz anderer Raum gelten könnte, existiert nur als Ideal. Bereits die Verschränkung mit Kunstobjekten und mit der kulturellen Prägung durch eine bestimmte Architektur hebt einen scharfen Dualismus zwischen Sakralund Profanraum auf. Aus philosophischer Perspektive folgt das Differenzkriterium in der Kirchenraum-Diskussion einer Hermeneutik, die auf der Subjekt-ObjektSpaltung aufbaut, wie sie z. B. innerhalb des deutschen Idealismus gedacht worden ist. Zu den harten Dualismen moderner Theoriebildung gehörten Gegenüberstellungen wie die von Kultur und Natur, Mann und Frau, Aktivität und Passivität, Außen und Innen, Oben und Unten, Gesellschaft und Kirche, Glauben und Zeitgeist, Pfarrer und Gemeinde, Predigt und Liturgie, Martha und Maria und der Gegenüberstellung von Gott und Mensch. Aus der Sorge heraus, Gott nicht zu sehr in die Sphäre des Menschlichen hineinzuziehen, wird die Differenz zwischen beiden deutlicher betont, als es das reformatorische Verständnis vom Verhältnis des Profanen zum Heiligen erfordert.Ŝş In den Gegenüberstellungen wurde übersehen, wie abhängig beide Pole voneinander sind bzw. wie der eine Pol erst durch die Vernetzung mit dem anderen Pol zu seiner Bedeutung kommt. Darüber hinaus dürfte zu einer harten Differenzierung beigetragen haben, dass die dominierende Frömmigkeitsstruktur die Kategorie des Erhabenen hoch schätzt, sodass eine Loslösung von ihr als ein äußerst riskantes Unternehmen erscheint. Die Architektur der Gemeindezentren, die hier abweichend konstruiert war, konnte sich offensichtlich nicht durchsetzen. Eine Vermittlung zwischen beiden Konzepten gelingt nicht oft. Aber auch aus soziologischer Sicht ist es problematisch, die Bestimmung des Kirchenraums auf einen Ort der Ruhe und Kontemplation zu beschränken. Wo Kirche und Theologie als ein Teil von Kultur verstanden werden, ist eine mehrdimensionale Sichtweise nötig. Wird die Kirche als Insel inmitten eines tosenden Meers wahrgenommen, entspricht dies einem Dualismus zwischen Mikro- und Makrotheorie: hier das persönliche, religiöse Handeln, dort die Struktur von Gesellschaft. In der theologischen Hermeneutik des Wirklichkeitsverständnisses Praktischer Theologie ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer Wirk-
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Vgl. z. B. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, B: Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten der Kultur. Berlin/New York 1987, 283–286.
2.3 Medientheoretische Weiterführungen
227
lichkeit verfolgt wird.ŝŖ Hier ist nun wieder an diese Prämisse zu erinnern, denn für die Kirchenraumästhetik ist das Risiko groß, in den alten Dualismus zurückzufallen: Die ästhetische und dabei nicht liturgische Betrachtung des Kirchenraums verstärkt eine dualistische Wahrnehmung. Der gotische Kirchenraum motiviert dazu, sich in der Bank niederzulassen und still zu werden, passiv zu verweilen. Die Ambivalenz, die in dieser Haltung liegt, ist, dass die Besucherin sich in dieser Passivität als von Gott geliebt und anerkannt fühlen darf, währenddessen sozusagen draußen die Sünde regiert. Zum anderen ist der Kirchenbau, selbst ein so imposantes Gebäude wie der Kölner Dom, auch in seiner Außenseite nicht mehr als Träger von Herrschaft erkennbar. Dominant sind im Stadtbild höhere, imposantere kommerzielle oder öffentliche Bauwerke. Auch diese Umakzentuierung in der Wahrnehmung eines Domes fördert eine positive Konnotation der Insel-Kirche, weil man sich in ihr Gott näher zu wissen scheint, weil man sich von den Strukturen weltlicher Herrschaft distanzieren kann. Wenn Theologie und Kirche sich als Teil von Gesellschaft und Kultur verstehen, ist es nicht sinnvoll, dass sie den Kirchenraum vornehmlich im Kontext der Mikrotheorie verstehen, in der sie die Nutzung des Raums durch einzelne Personen gegenüber gesellschaftlichen Strukturen positionieren. Gesellschaftliche Strukturen fließen vielmehr stets in die Handlungen individueller Akteure ein und diese Akteure entwerfen umgekehrt auch selbst Strukturen.ŝŗ Strukturen ermöglichen Handeln und schränken es gleichzeitig ein. Gerade in der Alltagsbewältigung sind sie unverzichtbar. Deshalb müssen sie nicht unkritisch aufgenommen werden, doch die Polarisierung eines nicht kommerziellen Raums Kirche im Gegenüber zu einem kommerziellen Raum Kaufhaus verhindert den Blick auf die soziale Struktur des Kirchenraums und auf die Außenwahrnehmung von Kirche als sozialer Organisation. Aus der Perspektive, dass Räume stets soziale Konstruktionen sind, eröffnet sich der Blick auf drei ineinander verschachtelte Räume im Kirchenraum: Ein Kirchenraum ist zunächst immer auch ein Raum einer bestimmten sozialen Gruppe, die sich für den Bau oder die Unterhaltung des Bauwerks einsetzt. Zum Zweiten ist im Kirchenraum zugleich der liturgische Raum der versammelten Gemeinde vorfindbar. Drittens ist gerade in älteren Kirchenräumen die Aura wahrnehmbar, die der gelebte Glaube vorangegangener ŝŖ ŝŗ
Vgl. Teil 1, 3.2. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl., Frankfurt a. M./New York. 1997. Es wird keine Übernahme von Giddens’ Sozialtheorie anvisiert, dazu ist sie zu wenig ästhetisch ausgebildet, sondern es geht hier um eine Weise, wie Dualismen in Wahrnehmungen entschärft werden können.
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2 Der Kirchenraum im ästhetischen und medientheoretischen Diskurs
Generationen hinterlassen hat. Es ist der Raum der Communio Sanctorum spürbar. Damit zeigt sich nun, dass das Differenzkriterium, das auf das Heilige des Kirchenraums abhebt, insbesondere den sozialen Raum der Communio Sanctorum schätzt. Diese Bevorzugung kann dazu führen, dass die Dimension des Kirchenraums als Raum einer sozialen Gruppe kaum mehr thematisiert wird und deshalb auch die Frage nach der liturgischen Dimension des Kirchenraums an Bedeutung verliert. Wenn ein Kirchenraum ausschließlich zum individuellen Flanieren genutzt wird, also keine Gottesdienste mehr in ihm stattfinden, nimmt seine Bedeutung als geistlicher Raum ab. Damit dann etwaige andere Aktivitäten nicht zur Entwürdigung christlicher Gottesdienste, die in dieser Kirche stattgefunden haben, beitragen, ist es vielerorts üblich, den Kirchenraum zu entwidmen. Mit dieser Entwidmung gibt man den Raum für andere Zwecke frei. Diese Praxis zeigt an, dass ein Gottesdienstraum, in dem die Dimension der Communio Sanctorum nur individuell wahrgenommen wird, diese Dimension mit der Zeit verliert. Jede Dimension braucht zu ihrer Erhaltung die beiden anderen Dimensionen. Ohne liturgische Nutzung verliert die Aura der Communio Sanctorum ihren lebendigen Bezug zur gegenwärtigen Gemeinde. Ohne Bezug zu einer sozialen Gruppe, einer Gemeinde, verliert ein Kirchenraum die Verbindung zu den sozialen Räumen, in denen Menschen ihr Leben leben. Ohne die Verbindung zur Communio Sanctorum verliert die Gemeinde ihre Verbindung zur Tradition gelebten Glaubens und leidet unter dem Druck, alle ihre Lebensäußerungen selbst erfinden zu müssen. Positionen, die weder den liturgischen gegen den materiellen Raum noch den materiellen gegen den liturgischen Raum ausspielen, betonen deren Wechselwirkung: „Ritual und Raum generieren und strukturieren sich wechselseitig.“ŝŘ Der Raum ist ein integrierender Bestandteil des Rituals. Insbesondere die Spuren, die vergangene Gottesdienste im Kirchenraum hinterlassen haben, helfen eine Verbindung zwischen der Gemeinschaft der Heiligen und der versammelten Gemeinde zu schaffen.ŝř Bleibt in dieser Orientierung nur noch einmal die Aufgabe zu betonen, dass der Kirchenraum ein Raum einer sozialen Gruppe ist; wird deren Leben wahrnehmbar, sind auch weitere Kommunikationsräume, die Menschen aus ihren sozialen Bezügen mitbringen, im Kirchenraum präsent. Räume, in denen sie zu anderen Zeiten ihres Lebens stehen, sind beim Besuch der Kirche mit ihnen präsent. Nur deshalb können sie liturgisch und predigend betreten
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Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik. Berlin/New York 2004, 110. Vgl. Bieritz (2004: 111).
2.3 Medientheoretische Weiterführungen
229
werden, nur deshalb, weil sich Menschen dies wünschen, kommen sie zur Feier ihrer Kasualien in die Kirche. Wo eine harte Differenz zwischen dem heiligen Raum und dem Alltagsraum aufgebaut wird, ist die Trias der dreidimensionalen Raumstruktur von Kirchen auseinandergerissen. Erst eine Deutung des Kirchenraums, die alle drei Räume, den Raum der Communio Sanctorum, den der sozialen Organisation und den der liturgischen Versammlung, ineinander liegend wahrnimmt, kann das Spezifische des Kirchenraums fassen. Es liegt nicht in der Differenz zum profanen Leben schlechthin, sondern die Differenzerfahrung, die in einem Kirchenraum gemacht werden kann, liegt in der Möglichkeit, verschiedene Ebenen gelebten Lebens miteinander in Kontakt bringen zu können. Insofern ist der Kirchenraum nicht als Raum der Differenz im Sinne der Isolation zu profilieren, sondern vielmehr der Gottesdienst als ein Raumwechsel herauszuarbeiten, der eine Chance bietet, das eigene Leben mit nahen und fernen Menschen, mit der Schöpfung und auch explizit mit Gott wieder neu zu vernetzen.
3 Zur Kasualpraxis – medientheoretisch reflektiert In der Diskussion um KasualienŝŚ wird der Gottesdienst überwiegend entlang der Lebensgeschichte von Menschen zu verstehen versucht. Damit ist die Erforschung von Lebensgeschichten ins Zentrum praktisch-theologischen Arbeitens gestellt worden. So thematisieren z. B. Kristian Fechtnerŝś, Wilhelm GräbŝŜ und auch Albrecht Grözingerŝŝ je auf unterschiedliche Art und Weise die Bedeutung der Rekonstruktion von Lebensgeschichten in Kasualhandlungen. Mit der zumeist sozialwissenschaftlich gestützten Reflexion ist auch die Sensibilität für neu zu konzipierende Kasualhandlungen gestiegen: Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare, die analog zu Trauungen angeboten werden, erste Versuche mit Trennungsgottesdiensten, die sicher eine neu zu entwerfende Liturgie herausfordern, und Schulanfangsgottesdienste gehören hierzu, aber die Gottesdienste anlässlich von Jubiläen, wie die Tauferinnerung, die goldene Konfirmation oder die goldene Hochzeit, sind ebenfalls zu nennen. Diese verschiedenen Anlässe bringen Menschen zusammen, damit sie gemeinsam ihren Fall durchleben. Der Gottesdienst erscheint so als ein Medium, das nach einem weiten Medienverständnis, den Kasus nun gegeben sein lässt, ihm, mit anderen Worten, Raum und Zeit gibt. Der Ertrag dieser Wahrnehmung liegt in der Einsicht, dass ein Kasualgottesdienst in erster Linie von einer Familie nicht als Gottesdienst der Gemeinde wahrgenommen wird, sondern als Medium der Kasualgesellschaft, die sich in ihm religiös ausdrücken möchte. In medientheoretischer Perspektive formuliert heißt dies, dass Kirche in einer Kasualhandlung ihren Klienten einen virtuellen Raum zur Erkundung der Wirklichkeit Gottes anbietet.
Vgl. für einen Überblick vom Urchristentum bis heute Ulrike Wagner-Rau, Segensraum – Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft. Stuttgart 2000, 19–29. ŝś Fechtner (2001). ŝŜ Wilhelm Gräb, Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der kirchlichen Amtshandlungen. In: PTh 76 (1987: 21–38), und ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion. Gütersloh 1998. ŝŝ Vgl. Albrecht Grözinger, Es bröckelt an den Rändern. München 1992, 108–125, hier 124. ŝŚ
3.1 Ein kritischer Dialog mit kasualtheoretischen Positionen
231
Doch dies ist nicht der einzige virtuelle Raum, der im Kontext von Kasualien bezüglich religiöser Kommunikation betreten werden kann. Kommunikationen zu Kasualien werden häufig mit elektronisch gestützten Medien eingeführt: Neben die persönliche Kontaktaufnahme mit dem Gemeindesekretariat, dem Pfarrer oder der Pfarrerin wegen einer Taufe, Hochzeit etc. tritt z. B. die Anmeldung per Fax oder E-Mail und viel bedeutsamer noch die Recherche nach Bibelworten im Internet. Es geht also sowohl um Formalia als auch um religiöse Fragen und theologische Erläuterungen. Hierzu nutzen Menschen die Vernetzung mit medialen Diensten von Kirche. Religiöse Kommunikation verläuft polyzentrisch, sogar über die Grenzen der eigenen Religion hinaus. Wird der Kasualgottesdienst als Möglichkeit zur Erkundung der Gegenwart Gottes angesehen, liegt hierin auch für die Pfarrerin und den Pfarrer eine Orientierungsmöglichkeit, die die Vorbereitung des persönlichen Gesprächs bereits strukturiert. In der Kommunikation des Evangeliums kann das Ziel des Gesprächs präzise angegeben werden. Es geht darum, Menschen in der religiös signierten (Re-)Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte zu begleiten. Der Gottesdienst selbst dient dann auch dazu, diese Konstruktion in einer symbolischen Interaktion zur Darstellung zu bringen. Diese Wahrnehmung der Wirklichkeit stärkt auch die Fähigkeit zur Virtualisierung: Menschen beginnen selbst, Gott in ihre Realität einzuzeichnen. So wird eine Gelegenheit greifbar, Gottes Gegenwart als wirklich zu erfahren. Einen solchen Prozess zu begleiten, ist eine spezifisch theologische Aufgabe. Es geht darum, Menschen einen Kommunikationsraum dafür anzubieten, sich selbst in den Horizont des Reiches Gottes einzuzeichnen. Damit vollziehen sie selbst Gottes Annahme nach, wie zum Beispiel mit der Taufe als Initiationsgeschehen in den christlichen Glauben. Auch aus dieser Perspektive kann übrigens dafür plädiert werden, „die Taufe als die grundlegende liturgische Handlung und damit als Fundament des Gottesdienstes“ŝŞ anzuerkennen.
3.1 Ein kritischer Dialog mit kasualtheoretischen Positionen Rituale sind religiöse Kommunikationsräume mit ambivalenten Wirkungen. Die Kritik bezieht sich auf ihren Vollzug, in dem Menschen dazu gezwungen werden, ihre Beziehung zu einer Gottheit in festgelegter Weise zu artiku-
ŝŞ
Christian Grethlein, Grundfragen der Liturgik. Gütersloh 2001, 188–214, hier 188.
232
3 Zur Kasualpraxis – medientheoretisch reflektiert
lieren.ŝş Doch diese kritische Herangehensweise wird gegenwärtig kaum noch aufgegriffen. Forschungen aus der Sozialanthropologie ersetzten den Begriff der Religion zeitweise durch den des Ritus.ŞŖ van Gennep hat die Struktur des Ritus für die deutschsprachige Diskussion wegweisend geprägt.Şŗ Er teilte ihn sehr vereinfacht gesagt in drei Phasen ein, zunächst in die Herauslösung aus einem Herkunftszusammenhang, dann in eine liminale Phase, d. h. eine Übergangsphase der Transformation und Neuorientierung, und schließlich nennt er die Einführung in einen neuen Zusammenhang. Dies bedeutet, dass Religion als ein Ritus zur Überwindung von Schwellen zwischen verschiedenen Lebensräumen gesehen wird. Der Glaube gilt so als eine Lebensmöglichkeit, die es vermag, Menschen aus Bindungen freizusetzen, ihnen neue Orientierungen zu bieten und sie schließlich wieder für ein Leben in verbindlichen Bezügen bereit zu machen. So bewirken Riten in verschiedenen Dimensionen, dass Menschen Kommunikationsräume, die sie binden und darin unfrei machen, verlassen können und dass sie sich neu mit anderen, zum Teil noch nicht betretenen Räumen vernetzen können. Auf diese Weise wird die Virtualisierungsfähigkeit des Menschen, der eine kritische Situation zu überstehen hat und dessen Aktionsradius dadurch eingeengt erscheint, belebt. In der Auseinandersetzung mit Ritualtheorien ist auffällig, wie sehr die liminale Phase die (theologische) Forschung dominiert hatŞŘ: Die Krise, die Unsicherheiten, die in einer Neuorientierungsphase liegen, hat die größte Bedeutung erhalten und insbesondere in der Kasualtheorie dazu geführt, dass Übergänge als existenzielle Gefährdungen wahrgenommen wurden.Şř Peter Cornehl nennt die Taufe ein Sakrament der Rettung in einer bedrohten Welt, zum anderen betont er aber auch die Initiation in die Gemeinschaft: Cornehl zufolge markiert die Taufe Anfang, Grund und Grenze des Christseins. Dies dürfte ein Grund dafür sein, warum religiöse Riten mit großer Ernsthaftigkeit
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Vgl. z. B. Yorick Spiegel (Hg), Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten. Zur Sozialpsychologie des Gottesdienstes. Stuttgart 1972, insb. der eigene Beitrag Spiegels in diesem Band. Vgl. zur Weiterentwicklung aus dieser Phase heraus auch Hans-Günter Heimbrock, Gottesdienst: Spielraum des Lebens. Kampen 1993. Vgl. Theo Sundermeier, Ritus I. In: TRE, Bd. 29, Berlin/New York 1998, 259. Arnold van Gennep, Übergangsriten. Frankfurt am Main 1999 (franz. Original 1969). Für die Anthropologie und die Ethnologie ist deshalb Victor Turners differenzierende Weiterarbeit zu nennen: Victor Turner, Das Liminale und das Liminoide in Spiel, Fluß und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie. In: ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a. M. 1995 (engl. Original 1982), 28–94. Vgl. Failing (1998: 263).
3.1 Ein kritischer Dialog mit kasualtheoretischen Positionen
233
praktiziert werden. Doch der Blick auf die Struktur des Ritus wurde erweitert. Die Analyse reicht vom Phänomen des Nachtgebets über die von Daily Soaps, Popsongs und KinofilmenŞŚ hinüber zur Fankultur in FußballstadienŞś und beim Marathonlauf bis hin zur Wellness-BewegungŞŜ. Korrespondenzen unter den sehr verschiedenen Riten herauszuarbeiten, zeigt, wie sehr religiöse Riten selbst an der Gestalt anderer kultureller Riten teilhaben. Theo Sundermeier hat auf sieben verschiedene Bedeutungsebenen des Ritus aufmerksam gemachtŞŝ: Im Ritus werden Gefühle wie Trauer, Angst und Freude artikuliert und auch kanalisiert. Er dient also der Stimmungsregulierung. Riten seien „künstlerische Happenings“, Sundermeier greift explizit die ästhetische Dimension auf. Ein Höhepunkt im Leben wird z. B mit besonderen Kleidern, einem Fest und Ähnlichem begangen. Riten arbeiten demnach mit Immersionseffekten. Nun werde in Riten nicht nur die Wiederholung vergangener Ereignisse erfahrbar, sondern es werden zugleich auch Neuinszenierungen, Dramatisierungen gegenwärtiger sozialer und religiöser Wirklichkeit vorgenommen. Viele Riten ließen trotz strenger Regeln „Raum für Improvisation, Spontaneität, Spiel.“ŞŞ Hier wird explizit die Virtualisierungsfähigkeit des Menschen in rituellen Handlungen angesprochen. Die kommunikative Struktur sieht Sundermeier in der besonders wirksamen Form des Ritus als kulturelles Gedächtnis (Assmann) einer Gemeinschaft und ihrer Religion. Durch ihn werden so Geschichte, Alltagsweisheit sowie Werte und Normen vermittelt. Riten geben insofern Informationen weiter und erfüllen auch eine Bildungsfunktion. Hinzu tritt im Ritus eine Dimension der Veröffentlichung von Rechtsverhältnissen: „Was rituell vollzogen ist, kann rechtlich nicht mehr rückgängig gemacht werden.“Şş Diese Verbindlichkeit kann wohl kaum mehr allgemein vorausgesetzt werden, aber dass rituelle Praxen rechtliche Konsequenzen haben, gilt weiterhin. Die limitische Struktur von Riten verhilft dazu, dass Gruppen konstituiert werden. Andersherum wird allerdings auch ausgewiesen, dass die, die nicht am Ritus teilnehmen, von der Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Dies ist die sozialisierende Dimension von Riten. Schließlich geht es um die religiöse Dimension der Riten. Sie seien Brücken zum Unsichtbaren, machten dieses sichtbar,
ŞŚ Şś ŞŜ Şŝ ŞŞ Şş
Für den Bezug zur Konfirmation vgl. Gutmann (1998: 57–74). Vgl. z. B. Manfred Josuttis, Heiligung des Lebens. Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrung. Gütersloh 2004, 92–104. Vgl. Christoph Quarch/Williges Jäger, „denn auch hier sind Götter.“ Freiburg 2003. Vgl. Sundermeier (1998: 263). Sundermaier (1998: 263). Ebenda.
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3 Zur Kasualpraxis – medientheoretisch reflektiert
greifbar, sinnlich erfahrbar und zeigten dem Menschen, dass er darauf angewiesen sei, im Hier und Jetzt in Harmonie mit allen Kräften und Lebewesen zu leben. Es ist bereits oben angeklungen, dass es nicht allein die religiöse Dimension von Riten ist, die eine Vernetzung im Leben bewirkt. Eine psychische Entlastung, eine rechtliche Verbindlichkeit oder eine spielerische Dynamik und anderes mehr tragen ebenfalls dazu bei. Insofern hat die religiöse Dimension des Ritus keine eigene, zu addierende Funktion, sondern in ihr wird artikuliert, was in den anderen Dimensionen ebenfalls praktiziert wird. Diese Artikulation bietet in diesem Sinne einen Deutungsraum an, in dem die einzelnen Beiträge zu dem rituellen Prozess „Vernetzung im Leben“ angesiedelt werden können. In gewisser Weise entfaltet Ulrike Wagner-Rau in ihrer Kasualtheorie die religiöse Dimension des Ritus, indem sie den Fokus von der individuellen Lebensgeschichte weg zum Beziehungsgeschehen der Menschen lenkt und dabei die Kasualie als einen Raum der Macht beschreibt, der zu begehen sei.şŖ Ihr Beitrag ist es, dass sie über die Dimension der Lebensgeschichte und damit der Lebenszeit die Dimension des Raumes in der Kasualtheorie betont. Die Kasualpraxis selbst wird beschrieben als ein Raum, der immer wieder herzustellen ist und im psychoanalytischen Sinne eines intermediären Raums und Übergangsobjekts die Grundlage für die Gestaltung der Neuorientierungsphase bildet. Er wird in diesem Sinne zu einem Möglichkeitsraum, in dem die Erfahrung von Lebensübergängen rituell reflektiert wird. Dies geschieht in der Verbindung zu einer Theologie des Segens, die alle Kasualien charakterisieren könne: Kasualpraxis lebe aus einem Raum des Segens heraus. In ihm würden Lebensgeschichten gehalten und so ausgehalten, wie sie jetzt seien und auch sein können. Insofern seien die kirchlichen Kasualien einerseits ein Angebot, durch das der (Re-)Konstruktion von Lebensgeschichte Raum und Zeit gegeben werde. Andererseits aber setzten sie in paradoxer Weise in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem das Individuum weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen sei, auch einen Kontrapunkt. „Gegen diese Tendenz konzentriert sich im Segen das große Spiel der Freiheit von allen Selbstherstellungszwängen.“şŗ Wagner-Rau hat in ihr Raumverständnis keine medialen Aspekte einbezogen. Aber durch die Verbindung zum Segensraum eröffnet sie selbst die Perspektive auf den Glauben als eine virtuelle Realität, die mit ihm konstruiert wird. Allerdings scheint in ihrer Argumentation auch eine Entgegensetzung şŖ şŗ
Vgl. Wagner-Rau (2000). Wagner-Rau (2000: 172).
3.2 Praktisch-theologische Konsequenzen
235
von Individuum und gesellschaftlicher Struktur durch, in dem die kirchliche Kasualpraxis als Gegenkultur aufgebaut wird. An die Metapher des Raums knüpft auch das Kasualverständnis von Wolf-Eckart Failing an.şŘ Er legt den Schwerpunkt weniger auf eine psychoanalytisch als vielmehr auf eine phänomenologisch gebildete Raumvorstellung. Sie wird für ihn zur Wahrnehmungs- und Erprobungsschule des Glaubens, „mehr szenische Eröffnung des Spielraums der Lebenswahrheit als Ermahnung (Paränese), Einfügungsversuch in Gemeinde oder gezwungene Einzeichnung in die Rettungsgeschichte (Heilsgeschichte) Gottes.“şř Insgesamt zeigt sich, dass der Einfluss medialer Kommunikationen auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Kasualien bislang kaum reflektiert worden ist. Im Bereich der Medienreligion liegen einzelne Ausnahmen vor, wie etwa dass der Einfluss von Fernseh-Traumhochzeiten auf die Gestaltung von Trauungen in der Ortsgemeinde herausgearbeitet worden ist.şŚ Das Verständnis des Kasualgottesdienstes als eines Raums des Segens oder eines Spielraums bietet Anknüpfungspunkte an medientheoretisch reflektierte Raumverständnisse. Allerdings zeigt sich wie bereits in der Diskussion um den Kirchenraum, dass die Konstruktion des Religiösen sich häufig auf das Pathos einer Gegenwelt bzw. eines Gegenraums bezieht.
3.2 Praktisch-theologische Konsequenzen Beim Aufbau religiöser Kommunikation in der Kasualpraxis geht es nicht allein um Krisensituationen und deren Bewältigung. Deshalb greift die Fixierung auf Kontingenzbewältigung in der Konstruktion des Religiösen zu kurz. Es stehen z. B. bei Taufen und Trauungen auch Glücksgefühle und Gefühle des unterhaltsamen Zusammenseins zur Deutung an. Auch Beerdigungen führen nicht immer in Krisensituationen. Immer noch sind im Umgang mit religiöser Kommunikation Klischees im Umlauf, wie z. B. das Mängel-Klischee und das Gegentyp-Klischee.şś Menschen mit diesen Mängel-Klischees zu beschreiben oder mit diesen Bildern von Menschen religiös zu kommu-
Vgl. Wolf-Eckart Failing, Kasualien als Einweisung in christliche Lebenskunst. In: Heimbrock/ders. (1998: 200–232). şř Failing (1998: 232). şŚ Vgl. Fechtner (2001: 51–57) und Traumhochzeit. Kasualien in der Mediengesellschaft. Themenheft PTh 88 (1999), H. 1. şś Vgl. zur Homiletik in dieser Orientierung Wilfried Engemann, Personen und Beziehungen. Predigt und Transaktionsanalyse. In: ders. (2003: 346–357). şŘ
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3 Zur Kasualpraxis – medientheoretisch reflektiert
nizieren, heißt, sich der Wahrnehmung des konkreten Gegenübers in seinen Stärken zu entziehen. Die These, dass zwei Drittel der Kirchenmitglieder sich distanziert verhielten, ist ebenfalls mit Bezug auf die Nutzung medialer Kommunikationen zu überprüfen. So erscheint eine Person, die den Sonntagsgottesdienst nur ein- bis dreimal im Jahr besucht, möglicherweise als kirchlich distanziert. Dass sie aber neben diesen Aktivitäten weitere Kommunikationswege zu Glauben und Kirche unterhält, kann aus der Sicht des Pfarrers bzw. der Pfarrerin nicht wahrgenommen werden. Zu diesen Kommunikationswegen zählen Reisen, Kommunikationen in der Familie oder im Bekanntenkreis und auch mediale, computergestützte Kommunikationen ebenso wie geistliche Musik, Literatur, Tageszeitungen und Chatrooms, Radio- und Fernsehsendungen etc. und auch der Gemeindebrief der Ortsgemeinde. In der neuen Studie zur Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche, Kirche in der Vielfalt der LebensbezügeşŜ, wird wiederum die Distanz als Bindungsmuster an Kirche genannt; eine Untersuchung des Kommunikationsverhaltens, insbesondere was mediale Kommunikationsformen angeht, ist nicht erfolgt. Bereits in vorausgegangenen Mitgliederbefragungen hieß es, dass das Distanzbewusstsein gegenüber kirchengemeindlichen Lebensweisen nicht nur individuell und persönlich zu interpretieren sei. Es gehöre vielmehr zum kirchlichen Christentum in der Lebenswelt der Moderne. „In den Kasualien konstituiert sich eine distanzierte Dreiviertelkirche (Karl-Wilhelm Dahm) als ein eigenes Segment und als eine in sich eigenständige Gestalt von Kirchenmitgliedschaft. Praktisch-theologisch wäre präziser ein solches kasualkirchliches von einem vereinskirchlichen Christentum zu unterscheiden, wobei mit gleichsam abgestuften Entfernungsgraden ebenso zu rechnen ist wie mit Übergangsbereichen.“şŝ Eine solche Feststellung heute ohne Abwertung als Feiertagschristentum lesen zu können, ist dabei auch eine Frucht kirchensoziologischer Untersuchungen, wie etwa von Helmut HildşŞ in den Siebzigerjahren publiziert, und von Arbeiten, die sich in dieser Zeit mit dem Verhältnis von Gottesdienst und Öffentlichkeitşş beschäftigt haben. Über diese Vorarbeiten hinaus gilt es aber auch bezüglich der Kasualtheorie, die Reflexion von weiteren Kommunikationsräumen zu intensivieren. Vgl. Wolfgang Huber/Johannes Friedrich/Peter Steinacker (Hgg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2005, 431. şŝ Fechtner (2003a: 13). şŞ Vgl. Helmut Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Gelnhausen/Berlin 1974; ders. u. a. (Hgg.), Was wird aus der Kirche? Gütersloh 1984. şş Vgl. Peter Cornehl/Hans-Eckehard Bahr (Hgg.), Gottesdienst und Öffentlichkeit. Hamburg 1970. şŜ
3.2 Praktisch-theologische Konsequenzen
237
Die Ansätze, die versucht haben, Kasualien im Rahmen von Lebensgeschichten zu verstehen, sind maßgeblich von einem linearen Zeitverständnis ausgegangen und haben so insbesondere an den Verlauf eines Lebens zwischen Geburt und Tod gedacht. Dieses Zeitverständnis vernachlässigt den Einfluss von Räumen auf die Wahrnehmung von Zeit. Religiöse Erfahrungen, die für die Ausbildung von Identität relevant sind, werden auch durch Plätze vermittelt, die jemand einnimmt, die zu ihm gehören und eine sogenannte Place Identity schaffen.ŗŖŖ Die Kasualräume als Räume der Macht auszuformulieren, ist hierfür bereits ein Anfang. Allerdings ist zusätzlich zu bedenken, wie viele Räume und wie viele Übergänge in andere Räume sich bereits in diesem einen Raum befinden. Die Distanz, die Kirchenmitglieder gegenüber Kirche hegen, wird aber grundsätzlich auch mit gutem Grund von Kirche selbst und im Kasualgottesdienst gepflegt. Denn der je persönliche Bezug zu Kirche und Glauben muss auch in diesem Gottesdienst nicht ausdrücklich werden. Die Inszenierung von Nähe und grenzenloser Vertrautheit widerspricht einem Glauben, der auch mit geheimnisvollen Seiten Gottes rechnet.ŗŖŗ Die Offenheit, die sich in Kasualgottesdiensten zeigt, wirkt sich vielmehr günstig auf die Partizipationsmöglichkeiten an Kirche und Gottesdienst aus. Denn der Bezug auf den Fall schafft in einer Kultur, in der Religion vielfach als Privatsache und intime, kaum zu versprachlichende Angelegenheit aufgefasst wird, die Möglichkeit, sich eher frei und selbstbestimmt auf Religion hin zu bewegen. Zum anderen ist der Kasualgottesdienst selbst als öffentliches Geschehen definiert und ermöglicht, die eigene Lebenssituation in einer distanzierteren Weise zu vergegenwärtigen, als dies in familiärer Nähe geschieht. Gerade in medialen Kommunikationen liegt die Chance, Distanzen wahren zu können und andererseits doch ein aufmerksames Angebot für eine religiöse Kommunikation zu schaffen.
ŗŖŖ Vgl. Waldenfels (1985: 196). ŗŖŗ Vgl. Teil 1, 3.3.
4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes Gottesdienstlich zu kommunizieren ist eine zentrale Lebensäußerung christlichen Glaubens. Ihre medientheoretische Reflexion soll auf drei Aspekte konzentriert werden. Zunächst geht es um den Ritualcharakter des Gottesdienstes, das heißt, es werden medientheoretische Überlegungen zu einzelnen liturgischen Elementen angestellt. Von hier aus wird in einem erweiterten Blickfeld Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen thematisiert. Die innerhalb Praktischer Theologie vielfach vertretene These von der Inszenierung des Evangeliums steht dabei im Mittelpunkt. Abschließend geht es um die dialogisch vorgestellte Kommunikation mit Christus.
4.1 Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes Um den Ritualcharakter des Gottesdienstes möglichst nah an erfahrener Praxis zu beschreiben, ist die Schilderung eines Studenten der Religionspädagogik ausgewählt worden. Darin liegt der Vorteil, dass der Beschreibende sich nicht selbst mit der Rolle der Pfarrerin im Gottesdienst identifiziert, sondern seine nicht auf die Profession des Pfarrers bezogene Rezeption mitteilt; er selbst deutet seine Stimmungslagen an bzw. teilt etwas davon mit, was ihm der Gottesdienst bringt: (1) „Ich betrete das Kirchenportal und sogleich reicht mir die Küsterin ein Gesangbuch. Da ich mein eigenes dabei habe, lehne ich dankend ab. Meine erste Wahrnehmung: Draußen ist es zwar kalt, in der Kirche aber auch nicht unbedingt wärmer; habe ich mir doch mal sagen lassen, dass die Heizung mindestens eine Stunde vorher schon eingeschaltet werden muss. Auffallend ist die Leere. Ich zähle 12 Leute und 3 Konfirmanden. Angeschlagen sind die zu singenden Lieder. – Ein wenig Zeit vergeht und die Orgel setzt ein, eben die Begrüßung. Anschließend folgt wie immer 130: Oh Heiliger Geist [...] Die Gemeindepfarrerin erhebt sich und spricht ins Mikrophon: Ich begrüße Sie zu diesem Gottesdienst, dem drittletzten in diesem Kirchenjahr [...] vor dem Ewigkeitssonntag ist jetzt Zeit zum Nachdenken über die vergängliche Menschenzeit und die anbrechende Götterzeit. Dann wird der Wochenspruch verlesen. Gesungen wird 325, 1+5+7. Dann: Lasset uns anbeten: Herre Gott, erbarme dich [...], dann folgt ein Psalm und Ehre sei dem Vater und dem Sohn und Ehre sei Gott in der Höhe. (Der Gotteslobpreis ist der typische Anfang des Gottesdienstes in meiner Kirchengemeinde).
4.1 Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes
239
(2) Jetzt beginnt die Schriftlesung. Meist liest jemand aus dem KV vor, so auch diesen Sonntag, Hiob 14, 1–6. Immer folgt darauf meditative Musik der Orgel, um den vorgetragenen Text, die Worte, besser in sich aufzunehmen, zu verinnerlichen. Hierauf folgt das Apostolische Glaubensbekenntnis. Dann wird wieder gesungen, Lied 414. Bis jetzt ist etwa eine Viertelstunde vergangen, bevor die Pfarrerin zur Predigt auf die Kanzel steigt. An diesem Morgen[,] kurz vor zehn, ist der Kirchenraum hell durchflutet vom Licht, das so reichlich durch die hohen Kirchenfenster hineinfällt. Der Predigttext steht beim Evangelisten Lukas 18, 1–8. Die Pfarrerin blickt zurück, wie es bei ihr eigentlich war, in Anspielung auf den Predigttext, mit einem Gebet überhaupt erhört zu werden, bei Gott. Sie spricht von großen Einwänden gegen das Beten, das landläufig doch als nutzlos fallengelassen wird. Es ist in großes Gut, so sagt sie, diese Gabe, wie ein Kind zu beten, bis ins Erwachsenenalter herübergerettet zu haben [...] Dann singen alle Lied 357, 1–3 und knüpfen inhaltlich an die Predigt an. Nun erheben wir uns und die Pfarrerin spricht die Fürbitten, anschließend beten alle gemeinsam das Vaterunser. Die Glocken ertönen. (3) Das letzte zu singende Lied ist 369, 1–3: Wer nur den lieben Gott lässt walten. Zum Abschluß folgt noch die Bekanntmachung für die kommende Woche (Termine, Veranstaltungen, Verwendung der Kollekte usw.). [Mit] Nun stellt Euch unter den Segen des Herrn beendet die Gemeindepfarrerin den Gottesdienst. Zum Orgelnachspiel bleiben alle sitzen und nach dem letzten Ton wird aufgestanden. Draußen vor der Kirche verabschiedet die Pfarrerin dann noch durch Händedruck die Gemeindeglieder. Es bleibt festzuhalten, dass der Gottesdienst eine feste Ordnung hat mit wechselnden Inhalten. Es ist jene routinierte Kraft, die den Gläubigen erst einmal bei der Hand nimmt und ihn anschließend wieder loslässt, ihm mitgibt, was er braucht, um die kommende Woche zu bestreiten.“ŗŖŘ
Die Beschreibung konzentriert sich auf den Gottesdienstablauf, der mit seiner festen Ordnung und wechselnden Inhalten eine routinierte Kraft für den Studenten ist. Das Ritual hilft, die kommende Woche zu bestreiten, wie er schreibt. Damit ist vor allem die funktionale Wirkung des Rituals Gottesdienst herausgestellt. Der Modus, in dem diese Hilfe angeboten wird, liegt im Wiederholen vertrauter Handlungen. Sie hat eine identitätsstützende Funktion. Es ist die Routinisierung von Handlungen, seien es nun alltägliche oder außerordentliche, die Menschen neu in ihrem Leben zu vernetzen vermag. Sie befähigt dazu, das eigene Leben souverän zu führen. Eigentlich sollte es überraschen, dass die Beschreibung des Studierenden das Ritual selbst nicht kritisiert. Er scheint keine Widerstände gegen die liturgische Sprache, den Gestus oder Ähnliches zu haben. Seine Kritik trifft vielmehr atmosphärische Faktoren: Wärme bzw. Kälte, Licht und mangelnder Gesang. Wo ihre Wirkung mangelhaft ist, wird es für den Gottesdienstbesucher schwierig, an der Kommunikation des Evangeliums teilzuhaben. ŗŖŘ Jan Ludwig, Unveröffentlichtes Manuskript. Die Texteinteilung ist von mir vorge-
nommen worden.
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
Die Bedeutung, die atmosphärische Faktoren für die Kommunikation im Gottesdienst haben, lässt es neu fraglich werden, warum die routinierte Kraft des gottesdienstlichen Rituals wie ein Schatz im Acker liegt. Es ist z. B. nicht schlüssig, die Fremdheit des Rituals als wichtigsten Grund dafür zu nennen, dass nur wenige junge Menschen im Gottesdienst sind. Anderssein und Fremdheit können in anderen Kommunikationszusammenhängen gerade attraktiv wirken. Dennoch bleibt, dass nur wenige Menschen der Altersgruppe unter 30 Jahren ihr rituelles Bedürfnis selbst artikulieren und sich kommunikativ in Beziehung zu einer gottesdienstlichen Liturgie bringen können. Diese Fähigkeit haben zumeist nur diejenigen erworben, die von klein auf mit liturgischen Traditionen vertraut gemacht wurden. Fulbert Steffensky wertet das Aufkommen der Ritualdiskussion als eine Reaktion auf die Prozesse von Verinnerlichung und Intellektualisierung, die Religion insbesondere mit der Aufklärung und im Protestantismus durchlaufen hat. Im Ritual wird die sinnliche Wahrnehmung von Religion gestärkt: „Der Protestantismus hat das Christentum vergeistigt. Das Herz und das Gewissen wurden die dramatischen Orte, nicht mehr die alten Orte, Zeiten und Techniken waren entscheidend. Das ist ebenso wahr wie ungenügend. Jede neue Religion, die Bestand haben will, ... muß den Schritt von der inneren zur äußeren Religiosität tun. (M. Douglas).“ŗŖř Zu der sichtbaren oder sinnlich wahrnehmbaren Seite von Religion gehört neben dem Ritual, das davon lebt, an alten Orten zu festen Zeiten und mit eingeübten Techniken vollzogen zu werden, auch das Atmosphärische: die visuelle und taktile sowie akustische Gestaltung des Gottesdienstraumes. Erst wenn der liturgische und der umbaute Raum miteinander korrespondieren, können die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sich mit ihnen vernetzen. Doch das Plädoyer für eine Wiederentdeckung des Gewohnten, des Geläufigen vernachlässigt das Neue, das zwar noch genannt, aber nicht mehr ausgeführt wird. Der Transformationsprozess ritueller Haltungen besteht im Grunde in einer Wiedereingliederung in das bisher gelebte Leben. So wird z. B. empfohlen, den Sonntag wie einen alten Lehrer wahrzunehmen, der mich in den Gottesdienst schickt. Die Gefahr, dass Gewohnheiten ersticken, sei heute nicht mehr gegeben. Menschen seien hingegen ständig in Entscheidungszwänge verstrickt. „Die Gewohnheit, die Regelmäßigkeit, die Geläufigkeit erbauen die innere Haltung des Menschen.“ŗŖŚ Doch so verstanden partizipiert das gottesdienstliche Ritual an dem mangelhaften Zustand anderer alltäglicher ŗŖř Fulbert Steffensky, Plädoyer für eine heilige Zeit. In: Kirchlicher Dienst in der Ar-
beitswelt (2002: 104). ŗŖŚ Steffensky (2002: 104).
4.1 Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes
241
Rituale, die ihre transformierende Potenz mehr und mehr einbüßen.ŗŖś Am Abschluss des Rituals steht in klassischer Sichtweise eine Eingliederung in eine neue Lebenssituation, in eine neue Rolle, einen neuen Status, doch diese Veränderung wird innerhalb des Rituals nicht erreicht, möglicherweise aus Gründen der Überforderung durch komplexe Alltagswirklichkeiten auch nicht mehr erwünscht: „Ich liebe den Gottesdienst, weil wir alte Texte hören wie Briefe aus der Ferne. Die Texte und ihre Bilder schließen uns die Welt auf. Die Welt liegt uns nicht zu Füßen, wir können sie nicht jederzeit betreten. Wenn man keine Führer hat, kann man sich in der Wirklichkeit nicht zurecht finden und erkennen, was sie hat und was ihr fehlt. Ohne den Text schweigt unsere Hoffnung und unser Gewissen [...].“ŗŖŜ Dass Menschen ein Ritual in dieser Weise immer wieder aufsuchen, kann als ein altersspezifisches Vergewisserungsbedürfnis gedeutet werdenŗŖŝ, es hilft in diesem Sinne, sich in einer verändernden Welt ein Residuum zu schaffen, das Erholung vermittelt. In der Beschränkung des Gottesdienstrituals auf den Erholungsaspekt wird der Freiraum, der die Kommunikation des Evangeliums für die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten bietet, nicht weiter ausgebaut. Die soziale Dimension des Rituals ist weit stärker betont als die religiöse. Selbst wenn man die routinierte Kraft als Kraft Gottes deutet, wird die Schattenseite der Routine, dass man sich mit ihr vor Überraschungen im Leben schützen will, weder in der Beschreibung des Gottesdienstes noch in seiner theologischen Reflexion thematisiert. Weil Menschen zurecht einen Erholungsanspruch an Rituale stellen, aber Rituale Rekreation und Kreation miteinander verbinden, ist noch einmal ein Blick auf eine ritualtheoretische Differenzierung sinnvoll. Victor Turner unterscheidet zwischen liminalen und liminoiden Ritualen.ŗŖŞ An Ersteren beteilige man sich durch Pflicht, an Letzteren auf der Basis der Freiwilligkeit. Während in einer Kasualie wie der Beerdigung für die Beteiligten die Notwendigkeit besteht, den verstorbenen Menschen loszulassen und ihn zu beerdigen, man sich also einem Ritual aus Pflicht zuwendet, gehe es im Sonntagsgottesdienst um liminoide Phänomene, die dadurch gekennzeichnet seien, dass man sich freiwillig in sie hineinbegebe. Turner schildert allerdings zusätzlich, wie im Ritual ein Wechselspiel zwischen Struktur und Anti-Struktur stattfindet. Die Anti-Struktur steht hierbei für Wachstumsprozesse; die Struktur ŗŖś ŗŖŜ ŗŖŝ ŗŖŞ
Vgl. Bieritz (2004: 644 f.). Steffensky (2002: 104). Vgl. Bieritz (2004: 645). Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. (Studienausgabe) 2000.
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
hingegen für die Bewahrung eines Status. So ist für den Sonntagsgottesdienst der Mangel festzustellen, dass die Spannung zwischen Anti-Struktur und Struktur nicht mehr präsent ist. Mit Blick auf die Sonntagskultur und ihre Fokussierung auf Menschen, die aktiv am Erwerbsarbeitsleben teilnehmen, ist plausibel, dass die Herausforderungen an das persönliche Wachstum von Menschen in ihren alltäglichen Beschäftigungen offenbar so groß sind, dass sie die Entfaltung der Anti-Struktur im Gottesdienst nicht abfragen und die liturgischen Personen sie auch nicht für sich abfragen. Auf Dauer wird damit aber das Potenzial religiöser Riten eingebüßt, das sich auf die Gestaltung von Zukunft, und zwar einer anderen, veränderten Zukunft, richtet. Dies dürfte ein Grund dafür sein, warum Personengruppen, die Wachstum und damit das Element der Anti-Struktur zur Deutung ihrer Lebenswirklichkeit brauchen, am Sonntagmorgen nicht in die Kirche kommen. Diese These kann aus medientheoretischer Perspektive noch weiter entfaltet werden: Menschen erhalten im Gottesdienst zu wenig Anregung dazu, ihre Virtualisierungsfähigkeiten zu stärken. Die Struktur des Glaubens zu rekonstruieren, dies mag durch das Gottesdienstritual selbst gelingen. Doch die Anti-Struktur, die dem Glauben Veränderungen abringt und dem Leben im Glauben Veränderungen anempfiehlt, wird kaum entfaltet. Wenn die Spielmöglichkeiten mit dem Leben, das „Was wäre wenn ...“ nicht herausgefordert werden, kann insbesondere die evangelische Orientierung an dem Zuspruch der Gnade leicht langweilen. Eine zweite medientheoretische Schlussfolgerung betrifft das Verhältnis von Zeit und Raum im Ritual. Schwellenrituale werden insbesondere entlang des Lebenslaufes beschrieben. Biografie- und Ritualforschung und die theologische Deutung der Zeit sind hier eng miteinander verbunden. Wiederum wird die Kategorie des Raums nahezu nicht entfaltet. Deshalb wird nun unter diesem Gesichtspunkt die Beschreibung des Gottesdienstes durchgesehen: (1) Der Eingangsteil Der Absatz: „Ich betrete das Kirchenportal“: In diesem Abschnitt kommt eine distanzierte Haltung zum Gottesdienst zum Ausdruck. Bemerkenswert ist die Wortwahl Kirchenportal. Dieser altertümliche Ausdruck hat jedoch mit dem World Wide Web eine Renaissance erfahren. Das Portal ist die Orientierungsseite eines gegliederten Internetauftritts. Ludwig nimmt die Schwelle bewusst als Orientierungsraum wahr. Nach dem Eintreten sind atmosphärische Eindrücke festgehalten: Es ist kalt im Raum, nahezu ebenso kalt wie draußen; es sind nur wenige Menschen da. Der Aufbau der Kommunikation des Evangeliums erscheint als eine schwierige Arbeit. Sie ist nicht nur für den Rezipienten des Gottesdienstes schwierig, sondern sie wird auch in der
4.1 Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes
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Liturgie reflektiert: die Eröffnung und die Anrufung zu Beginn bringen das Phänomen zum Ausdruck, wie schwierig es ist, sich Gott zu nähern. Es gilt, Distanzen zu überwinden, die zum einen mit dem Weg in das Kirchengebäude zu tun haben, zum anderen mit der Annäherung an den liturgischen Raum. In der Liturgiewissenschaft ist grundlegend ausgeführt, dass in der Eingangsliturgie die Distanz des Menschen zu Gott und zur versammelten Gemeinde in verschiedenen Weisen sprachlich durchgearbeitet wird. Eine ästhetisch orientierte liturgische Reflexion kann nun aber weitere Horizonte eröffnen: Es gehört zur Eröffnung und Anrufung aus einer wahrnehmungsorientierten Perspektive auch dazu, dass es Menschen im wahrsten Sinne des Wortes warm wird im Gottesdienst. Die visuelle und die auditive Dimension der Begrüßung sind durch Glockengeläut, Orgelmusik sowie wechselndes Sprechen stark ausgebaut. Die taktile Dimension der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher hingegen bleibt unreflektiert. Erschwerend für den Gottesdienstbesuch nennt Ludwig den mangelnden Gemeindegesang: Zwölf Leute und drei Konfirmanden singen gegen das musikalische Volumen einer Orgel an. Die immersive Bedeutung des Gesangs wird in der liturgischen und der kybernetischen Diskussion häufig unterschätzt. Der Gesang bietet die Möglichkeit zu einer eindrücklichen religiösen Selbsterfahrung, weil er die Wahrnehmung des Leibkörpers forciert, ebenso etwa wie das Lachen oder eine sportliche Übung. Es ist das Medium des Gesangs, das ein Gefühl für das Strömen räumlichen Daseins ermöglicht; der Gesang bringt eine mentale Auflösung der an vergangene Geschehnisse gebundenen Leibkörper zustande und lässt ihn im Geschehen des Gottesdienstes ankommen. Bereits ein einfacher Kanon bringt dieses Strömen hervor, in dem Menschen aus der Bindung an ihre Alltagsgedanken heraustreten und in diesem Sinne aus Festlegungen heraustreten können, die es verhindern, Gottesdienst als Unterbrechung des Alltags wahrnehmen zu können: „In der Poesie des Singens sind wir uns selber voraus – unseren Einsichten, unseren Argumenten, unserem Zwiespalt. Wie an keiner anderen Stelle tut man beim Singen, als könnte man schon glauben.“ŗŖş So ist der Gesang der Gemeinde ein wesentliches liturgisches Medium, die Virtualisierungsfähigkeit von Menschen zu stärken. Die Einführung neuer Lieder war ein bedeutender Impuls der reformatorischen Liturgiereform; mit ihnen hat man der Gemeinde aktiven Anteil an der Gestaltung der Liturgie gegeben.ŗŗŖ Im Singen ŗŖş Steffensky (2002: 107). ŗŗŖ Vgl. auch Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Kreative Vielfalt und die Tradition im
Gottesdienst. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. 40. Bd. 2001, 64–71.
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
liegt eine liturgische Möglichkeit, dass Menschen in die Wirklichkeit Gottes eintauchen. Dabei ist auch nicht nur der Einzelne im Blick, sondern seine Wahrnehmung als individueller Mensch verlangt in der religiösen Dimension ebenfalls nach einer Entgrenzung. Das gemeinsame Singen lässt ein Gefühl der Verbundenheit entstehen, die besonders die Distanzen unter den einzeln gekommenen Besucherinnen und Besuchern überwinden kann. Es stimuliert ein Gefühl für die versammelte Gemeinde: „Im gemeinsamen Singen erweitern sich die Ich- und die Gruppengrenzen, ohne dass, wie in den obsessiven Erlebnissen der Ekstase, das Bewusstsein ausgelöscht wird. Singen ist ein Verhalten mit transzendenter Tendenz.“ŗŗŗ Allerdings zeigt sich hier auch, wie schmal der Grat zwischen einer suggestiven und einer immersiven Atmosphäre ist. Insofern verlieren auch kasualtheoretische Argumente an Gewicht, wenn sie darauf abzielen, z. B. die Taufe in Sondergottesdiensten zu feiern. Die geringe Anzahl der Menschen und das häufig geringe Potenzial, zu singen, nimmt den Kasualgesellschaften die Chance, ihre Sinne für die Kommunikation des Evangeliums intensiv genug öffnen zu können. Musik und Gemeindegesang sind die beiden Elemente des Gottesdienstes, die starke immersive Wirkungen zeigen. Sie bereiten die Sinne auch für die eher sprachlich orientierte religiöse Auseinandersetzung im Spielraum der Predigt vor. Mit ihnen kann der medientheoretischen Einsicht Rechnung getragen werden, dass das Eintauchen in eine Wirklichkeit dort den intensivsten Erfahrungszuwachs vermittelt, wo er zu einer alle Sinne aufschließenden Wahrnehmung führt. Josuttis erinnert daran, dass der Gottesdienst mit Singen beginnt und dass nicht nur nach – wie ein Antwortgesang –, sondern auch vor der Predigt ein Lied erklinge; das Singen erfülle eine präparative Funktion. Er unterlässt es auch nicht, auf manche ambivalente Wirkung des Gottesdienstgesangs, sowohl in der Musik wie in den Liedtexten, hinzuweisen, aber er bündelt doch darin: „Eine psychische Gestimmtheit soll ausgelöst werden, die auf Öffnung, Bewußtseinserweiterung, Identitätsentgrenzung zielt, um die singenden Menschen auf den Einzug der göttlichen Atmosphäre einzustellen.“ŗŗŘ Das Singen ist damit herausgearbeitet als eine rezeptionsästhetisch unverzichtbare Artikulation von Glauben, die die Beteiligung der Gemeinde an der Gestaltung von Schmidt-Lauber thematisiert auch den Gemeindegesang als Element einer kreativen Vielfalt, die die Liturgie belebt. ŗŗŗ Vgl. Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, 3. Aufl., Gütersloh 2000, 178 und Johannes Block, Das Wort hinter den Worten finden. In: Pastoraltheologie 95. Jg. 2006/07, 284–297. ŗŗŘ Josuttis (2000: 204).
4.1 Zum Ritualcharakter des Gottesdienstes
245
Immersionserfahrungen vor Augen führt. Vergleichbar mit der Wirkung des Gesangs ist noch das gemeinsame Sprechen von Psalmen, dem Vater unser und den Fürbitten.ŗŗř (2) Verkündigung und Bekenntnis Es geht in diesem Teil des Gottesdienstes um Schriftlesung, Glaubensbekenntnis, Predigt und Fürbitten. Ludwig macht deutlich, dass das Orgelspiel, das auf die Schriftlesung folgt, der Gemeinde gleich zu Beginn eine Gelegenheit zur Meditation des Textes gibt. Der Text wird öffentlich verlesen und damit wird ein Freiraum zur persönlichen Aneignung der Heilsgeschichte gestaltet. Die Orgelmusik kann hierbei die Worte in sich bergen, sodass sie in dem musikalischen Raum Halt finden. In der Liturgik ist ein differenziertes Bewusstsein für die verschiedenen Codes vorhanden, mit denen im Gottesdienst räumlich kommuniziert wird.ŗŗŚ Es fehlt allerdings eine Ausarbeitung ihrer Verbindungen untereinander. In der Gottesdienstvorbereitung wird kaum nach Zielvorstellungen gefragt, die etwa vorausplanen, welche Aussage mit welcher musikalischen Begleitung eines Textes vorstrukturiert wird. Die kommunikativen Ziele einer solchen Text-Musik-Komposition müssten dann mit den Organistinnen und Organisten zusammen erwogen werden. Die nächsten beiden Etappen des Gottesdienstes, das Apostolische Glaubensbekenntnis und ein weiteres Lied, werden von Ludwig in passiver Ausdrucksweise formuliert. Ihre Aufzählung klingt wie eine Reihung, die der Vollständigkeit des zu schildernden Ablaufes geschuldet zu sein scheint. Ludwigs Bereitschaft, in selbstständigen Formulierungen und erzählerisch seine Wahrnehmungen weiterzugeben, kehren erst mit der Schilderung der Predigt zurück. Auch diese Wahrnehmung kann aus der liturgischen Diskussion um Rituale heraus vertieft werden. Nimmt man die psychoanalytisch gebildete Auslegung des Gottesdienstes als Ritual hinzu, sind im Anschluss an Sigmund Freuds Ritualtheorie die Schriftlesung, das Glaubensbekenntnis und die Predigt auch als eine Variante der Trias „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ zu verstehen.ŗŗś ŗŗř Interessanterweise kommen diese Elemente in Josuttis’ verhaltenswissenschaftlicher
Grundlegung zum Gottesdienst nicht vor. Die Gottesdienstpraxis, insbesondere beim Fürbittengebet während des Totensonntages, zeigt aber, welche große Bedeutung und Bewegung in diesem Gottesdienstteil gerade für die Gemeinde liegt; vgl. hierzu weiter unten (3). ŗŗŚ Vgl. z. B. die Übersicht bei Bieritz (2004: 45 f.). ŗŗś Michael Meyer-Blanck hat diese Trias en détail für den Gottesdienst ausgelegt und auch die in der Praktischen Theologie vorangegangenen Diskussionen zu ihnen geschildert: vgl. Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende. Göttingen 1997, 94.
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
Von hier aus kann nun weiter geprüft werden, wie – neben dem gottesdienstlichen Ablauf, der also in den Phasen der Erinnerung, des Wiederholens und des Durcharbeitens die zeitlichen Dimensionen dieses Entwicklungsprozesses einholt – die räumliche Dimension deutlicher zur Darstellung kommen kann. Soll die Schriftlesung als Teil der Anamnese die Bewusstwerdung der Heilstaten weiterhin anstoßen, muss aus medientheoretischer Perspektive darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich mit ihr die Illusion von der Schrift als immanenter Transzendenz, als einem Raum der individuellen Unsterblichkeit, der seit den frühen Hochkulturen geträumt wird, weiter fortsetzt.ŗŗŜ Die Grenzen des Buchs in seiner Funktion, das kulturelle und christliche Gedächtnis im Gottesdienst zu repräsentieren, sind offensichtlicher denn je.ŗŗŝ Alternativen liegen allerdings bereits vor. Das Buch muss nicht das einzige protestantische Übergangsobjekt bleiben, das Erinnerung räumlich inszeniert. Neben die Lesung kann z. B. die darstellende Kunst bis hin zum Sprechtheater und dem Bibliolog treten. Welche Medien jeweils zu wählen sind, muss von dem Kontext des Gottesdienstes her entschieden werden. In dieser ästhetischen Arbeit an der Phase der Wiederholung ist die menschliche Neigung, sich an das Notwendige und Naheliegende zu halten, besonders zu berücksichtigen. Spiel und Witz können sich weiter nicht entfalten, wenn die Lesung unter der Prämisse steht, dass die Autorität der biblischen Schrift inszeniert werden soll.ŗŗŞ Ebenso geht es im Predigtgeschehen darum, den Rezipientinnen und Rezipienten einen Spielraum der Freiheit zu eröffnen. Im Blick auf Ludwigs Zusammenfassung der erfahrenen Predigt wird einmal mehr deutlich, dass die Sehnsucht nach einem Spielraum der Freiheit nicht nur beim Rezipienten groß ist, wenn er sieht, wie das Leben vom Sonnenlicht hell durchflutet sein kann, sondern sie scheint auch bei der Pfarrerin groß zu sein, die allerdings in Ludwigs Wahrnehmung zur Regression neigt und die Freiheit des Gebets, die sie in Kindertagen hatte, reklamiert. (3) Segnung und Sendung In dem gemeinsamen Lied oder dem Glaubensbekenntnis, je nach örtlichem Usus, und in den Fürbitten und dem Vater unser erhält die Gemeinde im Abschluss des Gottesdienstes die meisten Möglichkeiten, selbst aktiv an der Gestaltung des Gottesdienstes mitzuwirken. In vielen Gemeinden ist es Tradition, dass Kirchenvorsteher oder Konfirmandinnen und andere Gemeindemitglieder in die liturgische Rolle hineingehen und stellvertretend für die ŗŗŜ Vgl. Aleida Assmann (2001: 281). ŗŗŝ Vgl. hierzu Teil 1, 3.1. ŗŗŞ Vgl. dazu auch Teil 2, 5.3.
4.2 Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen
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Gemeinde beten. Unterbrochen von gemeinsamen Gesängen, deren Anzahl in den Gesangbüchern bedeutend ist, entsteht oft eine dichte Atmosphäre, die durch die veränderte Körperhaltung – vom Sitzen ins Stehen – unterstützt wird. Auf diese Weise wird von jedem einzelnen Gottesdienstmitglied mitvollzogen, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, in dem ein besonderer Kommunikationsraum betreten wird: Es geht um die direkte Zuwendung zu Gott, um die Kommunikation der eigenen Religiosität, wie sie durch die Worte Jesu abschließend in eine mit den Generationen von Glaubenden seit ihren Anfängen verbindende Linie gebracht wird. Das ist eine christologisch geprägte Szene, die noch einmal leicht vergessen lässt, dass das Vaterunser ein Medium ist, das uns eine Gelegenheit zu dieser Kommunikation mit Gott gibt, sofern man selbst in den medialen Raum eintaucht. Dazu gehört es, dass man während des Betens die eigene Stimme im Konzert der Stimmen der anderen Anwesenden wahrnehmen kann. Diese Erfahrung wird von vielen Menschen wohl nur im Gottesdienst gemacht. Allein dies ist bereits eine religiöse Erfahrung, denn es zeichnet die Stimme aus, dass sie zum einen, anders als im Falle der Schrift, nicht eindimensional, sondern mehrdimensional wirkt: „Zu unterscheiden sind Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe, deren Leistungsfähigkeit wiederum nach Umfang, Geschwindigkeit und Genauigkeit variiert.“ŗŗş Zum anderen ist jede Stimme individuell und einzigartig, sie vermittelt zugleich etwas von ihrem Träger bzw. ihrer Trägerin. Dass sie im liturgischen Konzert erklingt, fördert ebenfalls die Fähigkeit zur Virtualisierung der eigenen Wirklichkeit. Entspannung im Sinne einer Rückkehr in die katabatische Kommunikation ist schließlich zum Ausklang des Gottesdienstes möglich, z. B. während der Ankündigungen, die Beziehungen im Nahbereich thematisieren. Aber es bleibt nicht bei der abfallenden Linie zum Abschluss des Gottesdienstes. Die Aufforderung, sich unter den Segen Gottes zu stellen, kündigt eine erneute Kommunikation in der anabatischen Dimension an. Wird der Segen dann gesprochen, wird mit ihm zugleich ein Raum konstituiert, in dem die Wirklichkeit Gottes in der Möglichkeit des Gott segne euch oder des Gott segne uns explizit artikuliert wird.
4.2 Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen Das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst kann nicht auf eine verbindliche Form reduziert werden, selbst wenn bestimmte Bilder, etwa vom Sonnŗŗş Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme. München 1998, 13.
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tagsgottesdienst, sich festgesetzt haben. Die Entstehung des Gottesdienstes im Rahmen der antiken Koiné verweist z. B. auf ein von Anfang an plurales Feld gegenseitiger Abhängigkeiten von Gottesdienst und Kultur. Zu neutestamentlicher Zeit, als es den Sonntagsgottesdienst noch nicht gab, sind sowohl hochliturgische oder rein wortorientierte wie auch häuslich-spontane Gottesdienste gefeiert worden.ŗŘŖ Sie alle konnten sich auf Traditionen berufen, die biblisch nachvollziehbar sind. „Der Ruf, ad fontes zurückzukehren, konnte und kann aufgrund des Neuen Testaments gerade nicht zu einer einheitlichen, wahren Gottesdienstgestalt führen.“ŗŘŗ Gottesdienste können vielmehr eine kommunikative Dichte gerade dort erreichen, wo sie sich auf spezifische Kontexte einlassen und, wie etwa Ernst Lange formulierte, das Evangelium mit der Situation versprochen wird. Insofern sind es nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, soziale Räume, die in das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst hineinragen, sondern es sind in differenzierter Wahrnehmung eben auch kulturelle Räume, die insbesondere über Medien wie Fernsehen und Internet vermittelt werden, zu berücksichtigen. Wenn in zeitlicher Nähe zum Gottesdienst ein weltweit aufsehenerregendes Ereignis passiert ist, wird man in der gottesdienstlichen Kommunikation zumindest ein Signal dazu geben müssen, dass dieses Ereignis wahrgenommen wurde. Gottesdienstliche Kommunikation steht in der zum Teil widersprüchlichen Spannung von globalen und lokalen Lebensbezügen. Neben den sozialen Räumen sind die liturgischen sowie die geistlichen Räume der Communio Sanctorum im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst präsent. Ihnen entsprechen, wiederum in einem weiten Verständnis gefasst, spezifische Medien. Zu ihnen zählt für die protestantische Kultur insbesondere das Buch bzw. die Bibel. Dieselbe besteht wiederum aus weiteren Medien, wie etwa Briefen und Evangelien etc. Aber es werden in ihr auch Medien thematisiert, um zu kommunizieren. Die Briefliteratur ist hierfür ein Beispiel. Über die Briefform der biblischen Autoren hinaus sind diese Kommunikationsformen als Medium für literarische Komposition genutzt worden, wie etwa in der Apokalypse des Johannes mit den sieben Sendschreiben verständlich wird. Der Gottesdienst ist also ein Kommunikationsgeschehen, in dem viele verschiedene Medien zur Kommunikation genutzt werden.
ŗŘŖ Vgl. Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer
pluralistischen Gesellschaft. Gütersloh 2004, 40. ŗŘŗ Peter Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Stuttgart 2002, 392; vgl. auch Grözinger
(2004: 42).
4.2 Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen
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Wird der Gottesdienst schließlich insgesamt als Kommunikationsgeschehen bezeichnet, wird über die Planung von Kommunikationen hinaus auf den Überschuss aufmerksam gemacht: Kommunikation bleibt kontingent. Doch dieses Charakteristikum jeder Kommunikation kann die Frage nach einer angemessenen Art und Weise der Verkündigung des Evangeliums nicht entschärfen. „Indem Gott das Risiko eingeht, unter den Bedingungen des Menschseins verstanden oder missverstanden zu werden, gilt auch von seinem Wort, dass es unter den Gegebenheiten menschlicher Kommunikation sowohl verstanden wie auch durch sie verdunkelt werden kann. Dementsprechend hat die Praktische Theologie [und darin auch die Gottesdienstlehre, I. N.] vorläufig formuliert, sich mit Modellen der Gewährleistung der Kommunikation des Evangeliums unter den allgemeinen Bedingungen menschlicher Kommunikation zu befassen.“ŗŘŘ Das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst codiert die Feier des angebrochenen Reiches Gottes also nicht in einer eine zweite Wirklichkeit aufmachenden Sonderzeichen-Welt (oder sie sollte es jedenfalls nicht tun); es geht in der Kommunikation des Evangeliums auch nicht um einen Botendienst zu Informationen über das Heil; es geht ebenso wenig dabei um besonders gut herauspolierte sprachliche Artikulationen. Das kommunikative Geschehen Gottesdienst liegt vielmehr in einer Atmosphäre, die auf vielfältige Weise fördert, dass Menschen im Gottesdienst selbst Räume der Kommunikation des Evangeliums betreten. Dies geschieht, wenn sie sich in Beziehung zu einer liturgischen Geste, zu einem religiösen Symbol oder einem gesungenen Wort aus einem Psalm etc. setzen. Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen zu beschreiben, legt damit Bilder von verschiedenen, sich überlagernden Kommunikationsräumen nahe. Dieser Ansatz hat auch Folgen für das Verhältnis von Liturgie und Predigt. Ein evangelisches und dabei ökumenisches Verständnis von Gottesdienst kann die Predigt als einen diskursiven Kommunikationsraum beschreiben, die Liturgie hingegen als einen rituellen; es geht um ein Zusammenwirken je für sich unverzichtbarer Elemente eines Gottesdienstes. Dabei ist allerdings noch nicht gemeint, dass innerhalb der Liturgie nicht auch Zweifel und Anfragen, Zweideutigkeiten, wie der Glaube sie mit sich bringt, artikuliert werden können. Aber je klarer der jeweilige Eigensinn definiert ist, desto entlastender für die Predigerin oder den Liturgen und desto spannungsreicher wird das kommunikative Geschehen Gottesdienst für die Beteiligten wir-
ŗŘŘ Engemann (2003: 39). Hervorhebungen vom Autor.
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ken.ŗŘř Die Bedeutung der Sakramente muss auf genau dieselbe Weise in diesem kommunikativen Zusammenhang gesehen werden; es sollte nun nicht wieder die Predigt gegen die Sakramente ausgespielt werdenŗŘŚ, sondern sehr genau die Wirkungen der Zeichenvorräte, die je unterschiedlich eingesetzt werden, erwogen werden. Wird der Gottesdienst mit diesen verschiedenen Elementen von Liturgie, Sakrament und Predigt als ein vielräumiges und darin auch mehrfach medial gestaltetes Kommunikationsgeschehen wahrgenommen, kann die problematische Dominanz der Predigt innerhalb der evangelischen Tradition abgebaut werden, ohne dass man den eigenen Sinn der Predigt für den Gottesdienst relativieren müsste. Anschlussmöglichkeiten für eine solche Entfaltung des Gottesdienstgeschehens sind zahlreich vorhanden. Die Gottesdienstlehren reichen von dem Bereich der bibliodramatischen Arbeit über die Aufarbeitung des Unterhaltungsbegriffs für den Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft, Zugänge zu Film- und Handy- sowie Internetgottesdiensten bis zur Erneuerung der Thomas-Messen in der Liturgischen Bewegung. Aus allen Zugängen kann das Bemühen herausgelesen werden, den anabatischen, darstellerischen Aspekt des Gottesdienstes intensiver zu bearbeiten, die Verbindung von Gottesdienst und Religion im Alltag zu stärken und darunter trotzdem den katabatischen Aspekt nicht zu vernachlässigen. Von Michael Meyer-Blanck stammt dabei der Vorschlag, die anhaltende Verbindung zwischen anabatischen und katabatischen Dynamiken in der Formel von der Inszenierung des Evangeliums auszudrücken.ŗŘś Der Begriff der Inszenierung wandert aus der Theaterwissenschaft in die Gottesdienstlehre ein. Auch Albrecht Grözinger und Gerhard Marcel Martin benutzen ihn und betonen dabei den darstellenden, gestalterischen Aspekt für die Gottesdienstlehre. Wie mit dem Begriff der Virtualisierung von Wirklichkeit wird auch mit dem Begriff der Inszenierung auf den Aspekt der Konstruktion im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst verwiesen. Aus der Theaterwissenschaft sind hierbei für die Rolle der Liturgin bzw. des Liturgen in der Inszenierung des Gottesdienstes Schlüsse gezogen worden: „Wer etwas inszeniert, unterscheidet sich (zumindest in den allermeisten Fällen) vom Autor, der Autorin des zu inszenierenden Stückes.“ŗŘŜ Er oder sie sei deshalb einer anderen AuŗŘř Vgl. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik. Tübingen und Basel 2002,
insb. 398–421. ŗŘŚ Diesen Eindruck kann man gewinnen bei Stefan Böntert, Gottesdienst im Internet.
Perspektiven eines Dialogs zwischen Internet und Liturgie. Stuttgart 2005. ŗŘś Meyer-Blanck (1997). ŗŘŜ Grözinger (2004: 56).
4.2 Gottesdienst als Kommunikationsgeschehen
251
torität verpflichtet als nur einer selbst gesetzten Zielrichtung. Auch die Liturgin bzw. der Prediger hätte die Gottesgeschichte nicht selbst geschrieben. Gleichwohl bedürfe es der eigenen frei verantworteten und risikoreichen Aktualisierung der Gottesgeschichte im Gottesdienst. Als zweiter Schwerpunkt wird die Spannung thematisiert, die in jeder Inszenierung, der im Theater wie der in der Kirche, liege: Das zu inszenierende Stück könne nie eingeholt werden. „Eine gottesdienstliche Inszenierung ist der Versuch, das zu machen, was eigentlich nicht gemacht werden kann.“ŗŘŝ Damit werden zwei Merkmale künstlerischen Schaffens ausgewiesen: Das erste betrifft die Originalität in der Vergegenwärtigung eines vorliegenden Stoffes sowie die Verantwortung der Künstlerin für eine von ihr getroffene Pointierung. In dieser Lesart übernimmt die Pfarrerin, im Kontext der Theaterwelt gesprochen, die Rolle einer Regisseurin, keinesfalls die einer Schauspielerin und auch nicht die einer Moderatorin. Damit wäre ein weitaus weniger präsentes Auftreten im kommunikativen Geschehen Gottesdienst verbunden, als dies gemeinhin unter den Prämissen der liturgischen Präsenz anvisiert wird. Auch wenn man an die Wirkungen der Atmosphären in Kirchenräumen denkt, könnte eine solche Zurücknahme der liturgischen Präsenz im Gottesdienst sich auf die rezeptionsästhetische Gestaltung des Gottesdienstes positiv auswirken. Das zweite Merkmal liegt darin, dass auch das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst mit einem offenen Kunstwerk vergleichbar wird. Keine noch so gut vorbereitete Produktion muss gelingen oder muss Menschen zu eigenen Interpretationen bewegen. Wiederum wird auf die Grenzen der Wirkmächtigkeit, hier von professionellen Personen, hingewiesen. Hinzu tritt die kommunikative Konsequenz aus dieser Rollenverschiebung: Es wird nun sehr deutlich, dass ein kommunikatives Geschehen nicht als ein Vermittlungsprozess feststehender Inhalte gedacht werden kann. Auch das Tragen des Talars erhält eine veränderte Signifikanz. Die Codierung des Talars als Kleidung der Universitätsgelehrten, die ihn historisch prägt, tritt zurück: Als Pfarrerin ziehe ich so verstanden einen Talar an, weil ich im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst Regie führe, mit schwarzem Gewand sozusagen Teil der Bühne werde und als Verantwortliche für die Inszenierung nahezu unsichtbar bleibe, aber doch in der Gestaltung gottesdienstlicher Kommunikation sehr präsent bin. Aus der Welt des Theaters
ŗŘŝ Grözinger (2004: 57).
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
heraus imaginiert, wird deutlich, wie wichtig die Kooperation des Regisseurs mit der Bühnenbildnerin, den Schauspielerinnen, den Musikern etc. ist.ŗŘŞ Ein anderer Kontext, aus dem heraus der Begriff Inszenierung für die Gottesdienstlehre entfaltet werden kann, liegt in der Welt des Kinos bzw. der Filme; Kino und Gottesdienst werden hier verglichen.ŗŘş Marcel Martin erläutert so mit einem von Eilert Herms formulierten Verständnis von Offenbarung, dass als Medium der Offenbarung auch die szenische Erinnerung zu nennen sei. Dem entsprechend sei die leibhafte Gestalt des Wortes stets Ingrediens von Szenen erlebter, erinnerter und erwarteter personaler Interaktion wahrnehmbar zu machen. Das Ziel darstellenden Handelns im Gottesdienst liegt dann darin, die Erfahrung der Gegenwart Gottes möglich zu machen. Martin schließt sich dabei auch dem homiletischen Ansatz von Martin NicolŗřŖ an, der zur Predigtgestaltung konkrete handwerkliche Vorschläge aus der Filmästhetik macht. In diesem Inszenierungsverständnis werden bereits elektronische und nicht elektronische Medienverständnisse miteinander verbunden. Das Spektrum der Auseinandersetzung mit Medien innerhalb der Gottesdienstlehre öffnet sich weiter über die Verbindung zur Filmkultur. Bislang wird die Inszenierung des Evangeliums selbst noch weitgehend frei vom Einsatz von Medien gedacht bzw. die Verschränkung verschiedener medial strukturierter Kommunikationsräume noch nicht explizit reflektiert. Aber über den Begriff der Inszenierung ist das Element der Konstruktion im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst dennoch deutlich herausgearbeitet. Wenn in dieser Untersuchung nun der Begriff der Virtualisierung vor dem der Inszenierung bevorzugt wird, hat dies den Grund, dass er noch deutlicher vermittelt, dass es sich im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst um einen Möglichkeitsraum handelt, die eigene Wirklichkeit zu konstruieren. Im Verständnis der Inszenierung schwingt hingegen noch immer mit, dass eine Inszenierung sich messen lassen muss an einem spezifisch ausgewiesenen Textverständnis, das einerseits zum Kriterium der Inszenierung wird und andererseits aber auch wach hält, dass der auszulegende Text nicht eingeholt
ŗŘŞ Henning Luther hat bereits 1983, allerdings speziell auf die Homiletik bezogen, den
Prediger als Regisseur vorgestellt. Vgl. Henning Luther, Predigt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst der Predigt. In: ThPr 18 (1983), 223–243. ŗŘş Martin verweist auf den Beitrag von Charles L. Rice, The embodied Word. Preaching as Art and Liturgy. Minneapolis 1991. ŗřŖ Vgl. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik. Göttingen 2002.
4.3 Zum Verhältnis von christologischer Dimension und dialogischer Struktur
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werden könne.ŗřŗ In diesem Sinne wird mit dem Begriff der Virtualisierung nicht nur das Hineingehen in den Text und seine Welt, sondern auch das Über-ihn-hinausgehen intendiert. Neben diesem hermeneutischen Aspekt öffnet der Begriff der Virtualisierung aber auch die Türen in andere mediale Kontexte, die zur Reflexion des Gottesdienstes auf ihre Weise beitragen.
4.3 Zum Verhältnis von christologischer Dimension und dialogischer Struktur Es ist im ersten Teil der Studie herausgearbeitet worden, dass ein Verständnis von Kommunikation, das sich allein am Modell des Dialogs orientiert, personale Kommunikation nicht zureichend beschreiben kann.ŗřŘ In den verschiedensten Gottesdienstformen finden sich neben dialogischen auch pluriloge Dimensionen religiöser Kommunikation, doch sie werden als solche kaum in der liturgischen oder homiletischen Diskussion reflektiert. Im Gebet und im Glaubensbekenntnis oder auch im Singen der Lieder spricht und singt die Gemeinde nicht mit einer Stimme, sondern es sind viele Stimmen, die sich hier auf einen Text bzw. eine Melodie einigen. In der Stille, die vor dem Vater unser Gelegenheit gibt, dass jeder und jede Einzelne ein eigenes Gebet spricht, wird sogar die Vielstimmigkeit ohne gemeinsamen Text zugelassen. Neben dieser Vielstimmigkeit in seinem Gefüge ist der Gottesdienst außerdem eine öffentliche Veranstaltung, die Menschen zugänglich ist, ohne dass sie einander kennen müssen. Sie können anonym, d. h. ohne sich namentlich bekannt zu machen, miteinander Gottesdienst feiern. Dass Pfarrer oder Pfarrerinnen den Blickkontakt mit Einzelnen suchen, ist zu manchen Anlässen oder in manchen Kirchenräumen nicht möglich; doch da, wo er möglich ist, ist er keineswegs in jedem Fall wünschenswert, er sollte reflektiert eingesetzt werden. Aus reformatorischer Sicht ist die Bedeutung des Dialogs in der gottesdienstlichen Kommunikation allerdings hoch. Jede Person im Gottesdienst ist imstande, selbst mit Gott durch Jesus Christus die Kommunikation aufzunehmen. Es bedarf zum Dialog mit Christus keiner Vermittlung durch Dritte. Michael Meyer-Blanck z. B. spricht vom Gottesdienst als Dialog mit Gott im
ŗřŗ Vgl. für eine solche Position z. B. Gerd Theißen, Über homiletische Killerparolen.
Oder die Chancen protestantischer Predigt heute. In: Praktische Theologie 32/97, 179–202. ŗřŘ Vgl. Teil 1, 3.3.
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
Medium menschlicher Darstellung und Mitteilung.ŗřř Für dieses Verständnis kann die Theologie Martin Luthers herangezogen werden. In der Kirchweihpredigt zur Einweihung der Schlosskirche in Torgau am 5. Oktober 1544 formuliert Luther die sogenannte Torgauer Formel. Mit ihr ist der Wunsch Luthers verbunden, in der neuen Kirche möge nichts anderes geschehen, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang. Aufgrund dieser Formulierung ist der evangelische Gottesdienst häufig als Wort und Antwort gekennzeichnet worden. Es zeigt sich, wie Luther für den Gottesdienst die virtuelle Realität des Dialogs mit Christus aufbaut. Er stellt sich einen innigen Dialog mit Christus vor; dieser verläuft zwischen Christus und den Einzelnen in der Gemeinde, nicht etwa mit der Gemeinde als einer Form des kollektiven Einzelnen. Zudem liegt es in der Struktur von Wort und Antwort, dass der Dialog von Christus begonnen wird. Christus antwortet nicht, sondern er fordert mit seinem Wort eine Antwort heraus. Auch wenn in Luthers Worten mitschwingt, dass es zwischen Christus und einem Menschen ein florierendes Zwiegespräch gibt, wird kommunikativ doch ein Sender-Empfänger-Modell nahegelegt. Innerhalb dieser Struktur sind vielfältige kommunikative Möglichkeiten denkbar: „Für Luther wird man jedoch zunächst sagen müssen: Vor allem anderen komme es darauf an, dass im Gottesdienst gepredigt wird. Es geht dabei nicht um das Wort als bloße Zeichensorte oder als Medium der Beziehung zwischen Gemeinde und Gott. Das lebendige Wort Christi ist gemeint, das durch die Predigt wieder zur religiösen Kommunikation gewordene Bibelwort.“ŗřŚ Es wird sichtbar, wie im Gottesdienst die Inszenierung des biblischen Wortes als lebendiges Wort Christi in der Lesung, im Gebet, in der Predigt möglich ist. Eingeräumt werden muss allerdings, dass entgegen Luthers Orientierung von Torgau, in der an die Stelle von Weihwasser und Weihrauch das Wort und das Gebet treten, evangelische Gottesdienstlehre gegenwärtig dazu tendiert, das Medium Sprache nicht zu hoch zu bewerten.ŗřś Das Plädoyer für andere Zeichensprachen wie Gestik, Bewegung, Tanz ist auch mit der praktisch-theologischen Orientierung an gelebter Religion verbunden. Diese Horizontverschiebung bewirkt, dass im Verständnis von Kommunikation deren ŗřř Vgl. Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Gütersloh 2002, 10. Im Folgenden
wird die Bedeutung des Dialogs im Gottesdienst im Für und Wider zu seiner Position erwogen. ŗřŚ Meyer-Blanck (2002: 32). ŗřś Vgl. auch hierfür ebenda.
4.3 Zum Verhältnis von christologischer Dimension und dialogischer Struktur
255
leibliche Gebundenheit mitreflektiert wird. Damit ist die Ausgangsbasis gelegt für eine Fortführung des Liturgieverständnisses, das veränderte Raumwahrnehmungen thematisiert, wie sie etwa mit dem virtuellen Leibkörper bereits vorgeschlagen wurden.ŗřŜ Eine Auslegung der dialogischen Struktur im Gottesdienst, in der auch die anabatische Dimension thematisiert wird, liegt in Luthers Schrift „Von der Ordnung des Gottesdienstes in der Gemeinde“ von 1523 vor. Sie betrifft das Predigtgeschehen. Luther kritisiert: „[...] daß man Gottes Wort zum Schweigen gebracht und in den Kirchen alleine gelesen und gesungen hat, das ist der ärgste Mißbrauch. [...] Wenn die Gemeinde zusammenkommt, soll gepredigt werden. Darum: wo nicht Gottes Wort gepredigt wird, ist’s besser, daß man weder singe noch lese noch zusammenkomme. Allein durch die Lesung werde die Gemeinde nicht gebessert, ebensowenig wie in Klöstern und Stiften, da sie nur die wende haben angeblehet.“ŗřŝ Die Kommunikation wird dialogisch, und dies heißt hier auch: diskursiv geführt. In der Torgauer Predigt heißt es außerdem, der liebe Herr selbst rede mit uns. Es kommt, so wird von Meyer-Blanck ausgelegt, Luther offenbar darauf an, dass die Hörenden das Wort als von Christus selbst gesprochen deuten, dass sie sich angesprochen fühlen, dass sie den Redenden als den Gott des Evangeliums identifizieren und dies dadurch bestätigen, dass sie ihrerseits antworten. Für das dialogische Prinzip im Gottesdienst ist demnach festzuhalten, dass es sich um ein Sender-Empfänger-Modell mit authentischem Christusbezug handelt. Die mediale Komponente dieses Dialogs wird zugunsten seiner Wirkung als präsente Kommunikation ausgeblendet. Es wird dabei im Gottesdienst eine virtuelle Realität inszeniert, innerhalb derer Menschen sich in direkte Kommunikation mit Jesus Christus hineinimaginieren sollen. Eine Schwierigkeit liegt nun darin, dass in der konkreten Gestaltung des Gottesdienstes dieser offene Spielraum Dialog mit Christus oft genug nicht offen gehalten wird, sondern durch die Präsenz des Liturgen bzw. der Liturgin ausgefüllt wird. Darin aber wird die Virtualisierungsfähigkeit der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher gehemmt. Anstatt sich selbst im Dialog mit Christus wiederzufinden, finden sie sich von einem Stellvertreter angesprochen. Die Beziehung, die dieser zum Rezipienten aufbaut, überdeckt aber den virtuellen Raum für die eigene Beziehung zu Christus. Wo die Bänke oder Stühle in einem Kirchenraum in eine Richtung geordnet stehen, sodass alle Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes frontal zum Altar und „Face to Face“ zur Pfarrperson situiert werden, wird diese Wirkung noch intenŗřŜ Vgl. Teil 1, 4.1 und öfter. ŗřŝ Meyer-Blanck (2002: 32 f.).
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4 Zur medientheoretischen Reflexion des Gottesdienstes
siviert. Nur in solchen Traditionen, wie z. B. in der Kommunität Taizé, die in diesem Sinne keine liturgisch leitende Person im Gottesdienst haben, kann mit einer frontalen Sitzordnung ein offener Spielraum entfaltet werden. Für die computergestützte Kommunikation ist nun hingegen charakteristisch, dass sie sehr verschiedene Positionierungen in Kommunikationen zulässt und dabei auch Freiheit lässt, mit persönlicher Andacht zu experimentieren. Diese muss nicht zu einem Rückzug in die Innerlichkeit führen, sondern kann gerade dazu veranlassen, aktiv gestaltend zu wirken. Werden z. B. im Bereich des Theaters Wechsel in den Kommunikationsstrukturen inszeniert, so wird dies im sonntäglichen Gottesdienst kaum erprobt oder erreicht. Häufig liegt die gottesdienstliche Raumgestaltung in der Hand der Küsterin oder des Küsters, deren Ausbildung und Vollmachten für die anspruchsvolle Planung der Gottesdienst-Kommunikation zu gering ist. Selten gibt es ein Gottesdienstteam, bestehend aus Küsterin, Organist und Pfarrerin, das hier zusammenwirkt. Selbst da, wo das Know-how für ein solches Zusammenwirken über die verschiedenen Berufsgruppen vorhanden ist, wird es kaum wirksam genutzt. Zum Bereich der elektronischen Kommunikationen gehört die inszenatorische Kompetenz, Atmosphären zu gestalten, Stimmungen hervorzurufen und damit Gefühle zu evozieren. Neue Studiengänge und Berufe sind in dieser Sparte in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren entstanden. Es geht darum, die gestalterische Kompetenz in der Frage der Gottesdienstkommunikation so wahrzunehmen, dass Atmosphären, Stimmungen und Gefühle im Gottesdienst nicht sich selbst überlassen werden, sondern in die Arbeit am Gesamtkunstwerk Gottesdienst eingehen. Die Überprüfung der ästhetischen Ausstrahlung liturgischer Kommunikationen auf ihre Wirkungen und eine Erweiterung über die dialogische Orientierung hinaus zu einem auch plurilog angelegten Kommunikationsgeschehen Gottesdienst muss die Tradition liturgischer Ordnungen dabei nicht missachten. Sie kann an sie anknüpfen und ihren Reichtum sogar besser entfalten. Die Chance für eine mehr pluriloge Kommunikationsstruktur im Gottesdienst liegt z. B. darin, dass in der Liturgie das Gottesbild wieder deutlicher in seiner trinitarischen Gestalt präsent wird.ŗřŞ Die Bedeutung des Dialogs mit Christus würde auf diese Weise in der protestantischen Tradition nicht ab-
ŗřŞ Vgl. z. B. auch Grözinger (2004: 51–53).
4.3 Zum Verhältnis von christologischer Dimension und dialogischer Struktur
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gewertet, aber seine Überbewertung würde in den ambivalenten Konsequenzen korrigiert werden.ŗřş
ŗřş Grözinger (2004: 51 ff.) macht auf die Kritik an der Trinitätsforschung aus jüdischer
und feministischer Perspektive aufmerksam.
5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik So wenig es angemessen ist, den Sonntagsgottesdienst in seiner mitteleuropäischen evangelischen Tradition zum Maßstab des Gottesdienstes schlechthin zu machenŗŚŖ, so wenig ist es angemessen, die Sonntagspredigt zum Maßstab von Predigten schlechthin zu machen. Die Wahrnehmung der Predigt als mediales Phänomen trägt zur Fundierung dieser These bei. Sofern das Predigen als die Verkündigung des Wortes Gottes verstanden wird, kann dieses Geschehen im (Sonntags-)Gottesdienst situiert sein, es muss aber nicht auf diesen Kontext beschränkt bleiben. Je deutlicher Gottesdienst (in Liturgie und Sakramenten) und Predigt in ihrer Eigenart unterschieden werden, desto deutlicher kann ihre Beziehung zueinander im Gottesdienst auf spannungsvolle Weise artikuliert werden. In diesem Sinne werden hier nun innerhalb eines eigenen Kapitels die Predigt und ihre Reflexion in der Homiletik bedacht. Die Predigt steht ohne Zweifel in einer traditionsreichen Beziehung zum Gottesdienst, aber wenn diese Beziehung zum maßgeblichen Kriterium ihres Verständnisses gemacht wird, bestimmt der Kontext des Sonntagsgottesdienstes weiterhin hauptsächlich ihre Reflexion. Damit ist die Gefahr verbunden, dass das Predigtgeschehen im Kontext Gottesdienst so verortet wird, dass die liturgische Kommunikation den Kommunikationsraum der versammelten Gemeinde mitbestimmt. Die immersive Kraft der Liturgie kann die Pfarrerin bzw. den Pfarrer dazu veranlassen, die Perspektive Gottes im Gottesdienst auf eine Weise einzunehmen, in der Gott in seiner besonderen Welt gezeigt wird. Die virtuelle Realität von Gottes Welt, die in einer solchen Gestaltung der Liturgie betreten wird, würde als von Gott vollends beherrscht dargestellt, sodass der Tod keine Angst mehr macht und die Ungerechtigkeit dieser Welt Menschen nicht mehr existenziell betrifft. Wird die Predigt dann weiterhin als Möglichkeit einer GottesredeŗŚŗ verstanden, ist die Anstrengung, die Kommunikation des Evan-
ŗŚŖ Einerseits wird hiermit auf die biblische Position, das Leben insgesamt als Gottes-
dienst wahrzunehmen (Röm 12), aufmerksam gemacht, andererseits daran erinnert, wie vielfältig Gottesdienste aufgrund ihrer kulturellen Imprägnierung gestaltet sind. ŗŚŗ Vgl. Manfred Josuttis, Gottes Wort im kultischen Ritual. In: Schöttler/Garhammer (Hgg.) (1998: 173).
5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
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geliums so zu gestalten, dass man die Codes einer religiösen Sonderwelt nicht von vornherein gelernt und geteilt haben muss, aufgegeben. Wenngleich in Ritualen ohne Zweifel religiöse Artikulationsmöglichkeiten bestehen, die außerhalb von Ritualen nicht zugänglich sind, geht die Sprache der Predigt nicht in einer religiösen Sprache auf, die zuerst auch noch einmal als solche im Gegenüber zu bestimmten historischen und kulturellen Sprachgewohnheiten definiert werden müsste. Im Predigtgeschehen selbst kann sich ein eigenes Ritual artikulieren, aber die Kommunikation des Evangeliums als ritualisierte religiöse Sprache zu verstehen, gibt den Anspruch auf, die Bedeutung des Gottesdienstes nicht im Kult am Sonntag, sondern in der alltäglichen Lebensführung zu finden. Die Feststellung, dass es im Alltag schwer fällt, von Gott zu reden, sollte nicht dazu verführen, sich darauf zu verlassen, dass man ja im Gottesdienst in ritualisierter Weise noch einigermaßen plausibel von Gott sprechen könne.ŗŚŘ Vielmehr wird nun im Kontrast dazu noch deutlicher, worin die theologische Herausforderung eines Predigtgeschehens liegt, das nicht als weitere Entfaltung der göttlichen Welt verstanden wird. Sie liegt in einem profilierten Wirklichkeitsbezug, der die Wirklichkeit Gottes als Teil der Wirklichkeit unseres Lebens zu artikulieren versucht. Dies kann auch im Gottesdienst geschehen. Aber die Homiletik profitiert davon, wenn sie die Kontrasterfahrung anderer Kommunikationsräume sucht. Sie profitiert davon, wenn sich Homiletikerinnen und Homiletiker einen Abstand zum Gottesdienst und seiner Kultur leisten, um die Kommunikation mit dem Anderen, dem Fremden, das sie irritiert, aufzunehmen. Die Begegnung mit der Welt der Linguistik und des Theaters hat dies bereits gezeigt. Im Bereich der Medien gehören hierzu der Journalismus und die Unterhaltung. Radio, Fernsehen, Tages- und Wochenzeitungen sind ebenso wie die computergestützten elektronischen Kommunikationsräume Medien, die ja bereits von Kirche zur Verkündigung des Wortes Gottes genutzt werden. Doch die Reflexion dieser Verkündigungsformen und die Predigt im Gottesdienst laufen weitgehend unvernetzt nebeneinander her. Insofern soll hier ein weiterer Beitrag zu ihrer Verknüpfung geleistet werden. Gerade in einem Kontext wie etwa dem des Radios wird deutlich, wie der sprachliche Code einer Rundfunkpredigt von dem Code redaktioneller Beiträge abweicht. Diese Abweichung ist dabei nicht nur darin begründet, dass eine Predigt – wie es so oft heißt – kein redaktioneller Beitrag ist und auch nicht sein soll. Es ist vielmehr die Kommunikationsfähigkeit von Predigerinnen und Predigern über den Kommunikationsraum Gottesdienst hinaus gefragt, denn für die Gestaltung eines Predigtgeschehens als eines MöglichŗŚŘ Vgl. ebenda.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
keitsraums der Verkündigung des Wortes Gottes ist theologisch gesehen prinzipiell alles möglich. Das Problem liegt meines Erachtens in der oft geäußerten Angst, die Kommunikation des Evangeliums passe sich so an die Gepflogenheiten etwa von Radiokommunikation an, dass sie nicht mehr als Kommunikation des Evangeliums erkennbar sei. Doch die Frage der Erkennbarkeit von Kirche und die Frage nach der Gestaltung der Kommunikation des Evangeliums sind nicht deckungsgleich. Eine Differenz einer so genannten kirchlichen Kultur gegenüber einer so genannten medialen Kultur herauszuarbeiten, muss heißen, auch im christologischen Kontext plausibel werden zu lassen, dass es mit der Menschwerdung Jesu Christi nicht vereinbar ist, Gott und Mensch, Göttliches und Weltliches, Heiliges und Profanes, Übernatürliches und Natürliches, Christliches und Unchristliches in zwei Räume zu trennen.ŗŚř Somit gehört auch die Kommunikation mit dem dreieinigen Gott, wie sie in der Liturgie eines Gottesdienstes explizit wird, in diesen einen Raum, in dem Gott, Jesus Christus und der Heilige Geist zugleich in ihrer heiligen wie in ihrer profanen Dimension als wirklich erfahren werden können. Aus der Perspektive des Glaubens, der die ganze Wirklichkeit eines Menschen umfasst, aber eben als eine Wirklichkeit bestimmt wird, wird die Predigt nun als Kommunikation des Evangeliums reflektiert. Die Predigt kommt dabei vor allem als eine zeichenvermittelte Artikulation in den Blick, was sie mit jeder Form von Kommunikation teilt, eben auch mit solchen Formen, die nicht mit gottesdienstlichen Artikulationen verbunden sind. Die Vernetzungsmöglichkeiten mit diesen außergottesdienstlichen Kommunikationen werden vielmehr zum Gütekriterium dessen, was man als gelingende Kommunikation des Evangeliums bezeichnen könnte. Der Frage, wie eine kommunikative Vernetzung gestaltet sein soll, kommt man über mediale Phänomene der Predigt näher.
5.1 Annäherungen an ein mediales Phänomen Die engste Verwandtschaft mit dem Gottesdienst am Sonntag haben Fernseh-ŗŚŚ und RadiogottesdiensteŗŚś der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Bezüglich des Gottesdienstes, der am Sonntagmorgen im Zweiten ŗŚř Vgl. Wilfried Engemann in Bezug auf Manfred Metzger in: Ders./Frank M. Lütze
(Hgg.), Grundfragen der Predigt. Ein Studienbuch. Leipzig 2006, 16. ŗŚŚ Vgl. Johanna Haberer, Gottes Korrespondenten. Geistliche Rede in der Medienge-
sellschaft. Stuttgart 2004, 60–100. ŗŚś Vgl. zum Medium Radio z. B. Rolf Schieder, Religiöse Rede im Radio. In:
Preul/Schmidt-Rost (2000: 122–135).
5.1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
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Deutschen Fernsehen übertragen wird, kann davon ausgegangen werden, dass eine Million Menschen hier mit einer überdurchschnittlichen Verweildauer diese Sendung ansehen. In diesem medialen Gottesdienstraum wird ein Sonntagsgottesdienst einer Gemeinde weit über die bundesweiten Grenzen hinaus empfangen, die Deutsche Welle strahlt ihn weltweit aus. Der Fernsehgottesdienst wird im hiesigen Kontext als eine virtuelle Realität wahrnehmbar, die eine eigene Wirklichkeit konstituiert. Die Geschichte des Fernsehgottesdienstes zeigt allerdings, wie um diesen Aspekt der Konstruktion des Gottesdienstes theologisch gerungen wurde.ŗŚŜ Wird dagegen die Konstruktion oder die Simulation des Gottesdienstes nicht als eine dem Gottesdienst nicht angemessene Nachbildung verstanden, sondern als ein eigener Möglichkeitsraum zur Kommunikation des Evangeliums, ist die medienförmige Aufbereitung des Gottesdienstes offengelegt und zugleich eine erste Chance zur homiletischen Reflexion eröffnet. Denn Liturgie und Predigt weisen eine hohe Ähnlichkeit mit dem herkömmlichen Gemeindegottesdienst auf, aber sie sind in Inhalt und Form auf die Sehgewohnheiten des Fernsehzuschauers zugeschnitten. Es kann davon ausgegangen werden, dass es eine Fernsehgemeinde gibt. Sie kommuniziert auch nicht nur massenmedial, sondern zunehmend über Brief, E-Mail und Telefon individuell und direkt mit der Gemeinde, in der der Fernsehgottesdienst stattfindet. Am Fernsehgottesdienst und seiner medialen Struktur tritt hervor, wie Menschen sich in den medialen Gottesdienstraum hineinbewegen und am Geschehen teilhaben. „Die Teilhabe ist aber auch ein Wissen darum, Teil einer großen Zuschauerschaft, einer Gemeinschaft zu sein, die zwar nicht physisch an einem Ort präsent ist, die aber als gedacht, ja vielleicht sogar ‚gefühlt’ beim Zuschauen mitgewusst wird.“ŗŚŝ Für den Rahmen der Homiletik ist nun interessant, dass die Predigt in diesem Gesamtgefüge wenig Bedeutung hat. Ihr Stellenwert hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt, der rituelle Charakter des Gottesdienstes wird heute gegenüber der dialektisch-theologischen Position stark gemacht, die die Predigt zum Dreh- und Angelpunkt gemacht hatte. Aus katholischer Perspektive wird „die Pastoral als Ziel“ŗŚŞ des Gottesdienstes formuliert. In evangelischer Lesart wird die Predigt im Fernsehgottesdienst als zeitgemäße ŗŚŜ Vgl. Thomé (1991:15–86) und für die neuere Rezeption, wie oben bereits genannt,
Haberer (2004: 60–100) sowie Thomas H. Böhm, Religion durch Medien – Kirche in den Medien und die Medienreligion. Stuttgart 2005, 58–106. ŗŚŝ Knut Hickethier, Medien und Religion. In: Birgit Weyel/Wilhelm Gräb (Hgg.), Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen 2006, 73. Hervorhebungen vom Autor. ŗŚŞ Böhm (2005: 85).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
Ansprache der öffentlichen Seelsorge verstanden. In diesem Zusammenhang wird noch einmal deutlicher, wie mit der liturgischen Dimension das Gemeinschaftsgefühl im virtuellen Gottesdienstraum aufgebaut wird und in der Ansprache die persönliche Kommunikation mit dem einzelnen, vorwiegend älteren oder kranken Menschen, vertieft werden soll. Das Gefühl der Teilhabe wird im seelsorgerlichen Dialog zu rekonstruieren versucht, sodass ein Vergewisserungsprozess für die eigene Identität und bezüglich ihrer Wirklichkeitssicht erreicht wird. Das Predigtgeschehen ist also in das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst so eingepasst, dass es eine Reflexion der Vernetzung und des Gemeinschaftsgefühls ermöglicht. Um die Art und Weise, wie religiöse Rede hierzu beiträgt, besser verstehen zu können, soll ein Blick auf das eher am Format der Predigt orientierten Wort zum Sonntag weiteren Aufschluss bringen. Diese geistliche Rede hat innerhalb der bundesdeutschen Geschichte die größte Tradition und den prominentesten Sendeplatz. Sie ist eine Predigt, die maximal vier Minuten dauert, gemessen am Format der Sonntagspredigt also kurz ist. Die Sendung wird wöchentlich von mehr als 1,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern gesehen. Sie wird gelobt und zugleich ist sie Gegenstand von Spott und Hohn. Für die Homiletik ist nun eine Analyse aus sozialwissenschaftlicher Perspektive relevant, die sich sowohl mit Gattung und Form als auch mit dem Umgang mit Wirklichkeit innerhalb dieser Predigtform auseinandersetzt. „Die hervorstechende Eigenschaft des Worts zum Sonntag ist seine geschlossene Sinnstruktur.“ŗŚş Es folge einer strengen inneren Ordnung, der Text sei ausgefeilt und in einer komplexen Form aufgebaut, inhaltlich spitze er sich in der Schlusspassage zu. Im Verlauf des Vortrags werde die Stimme immer eindringlicher und die Kamera intensiviere diesen Eindruck, weil der Sprecher bzw. die Sprecherin im langsamen Zoom nun näher herangeholt werde. Kein Wort zum Sonntag komme leichtfüßig daher. Es dominiere eine schwermütige Seele. Für den Zuschauer und die Zuschauerin bedeute dies, dass sie kaum Raum zu eigenen Interpretationen hätten. „Beim Wort zum Sonntag gehört tatsächlich ein gerütteltes Maß an Begriffsstutzigkeit dazu, nicht zu verstehen, was die Sprecher sagen wollen.“ŗśŖ In extrem ritualisierter Form seien das Thema und die Lösung des Problems vorgegeben. Dieser formalen Ordnung entspreche eine inhaltliche Orientierung, mit der Religion als Transzendenz in der Immanenz verstanden wird. Auf dieser Basis werde maßgeblich hervorgerufen, was mit Alfred Schütz und Thomas Luckmann als Entzug des WirkŗŚş Ruth Ayas, Das Wort zum Sonntag. Fallstudie einer kirchlichen Sendereihe. Stuttgart
1997, 283. ŗśŖ Ayas (1997: 284). Hervorhebung von der Autorin.
5.1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
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lichkeitsakzents zu bezeichnen sei: „Im Wort zum Sonntag wird der Geltungsanspruch des Wirklichkeitsakzents in Frage gestellt. Die Sprecher beginnen mittels einer Anknüpfung an die alltägliche Lebenswelt, aber sie versuchen, die natürliche Einstellung der Zuschauer zu erschüttern. Zwar wird nicht in jedem Wort zum Sonntag wörtlich von Tod und Vergänglichkeit gesprochen, jedoch werden stets Situationen und Themen etabliert, die den Verdacht aufkommen lassen, dass diese Welt vielleicht noch andere Gesichter habe als jene, die in der natürlichen Einstellung angenommen werden [...] Auf den für das Wort zum Sonntag typischen Entzug des Wirklichkeitsakzentes trifft zu, was Max Weber über die Propheten des antiken Judentum schrieb: Sie sehen die Welt voll Unheil gerade im vollen Sonnenglanz scheinbaren Glücks.“ŗśŗ Es zeigt sich über diese Analyse, wie religiöse Rede im Fernsehen von einem Religionsverständnis geprägt ist, das Funktionen von Riten dazu nutzt, in der Immanenz Transzendenz zu konstruieren. Auf diese Weise wird der Entzug des Wirklichkeitsaspekts im Sinne einer Distanz zur, wie Luckmann sagt, natürlichen Einstellung zur Welt, zum Charakteristikum religiöser Rede. Das Einspielen von Religion in Kommunikation führt somit notwendigerweise in eine andere Wirklichkeit, die eben mit der natürlichen Einstellung keine stabile Vernetzung unterhält. Schließlich wird nun noch eine computergestützte Kommunikation des Evangeliums vorgestellt. Es handelt sich um einen sogenannten Handy-Gottesdienst. Der erste Gottesdienst dieser Art ist im Jahre 2001 von der Evangelischen Jugend Hannover veranstaltet worden. Es wird hier mit dem Phänomen der mixed realities gespielt. Dabei ist in ähnlicher Weise wie in der Ausstellung des Fraunhofer-Instituts, Cybernarium Days, darauf gesetzt worden, elektronisch generierte und nicht elektronische Elemente in Kommunikationen miteinander zu vernetzen. Es nahmen mehr als 1.400 Jugendliche aus ganz Deutschland teil.ŗśŘ Anfragen aus dem Ausland haben vorgelegen; ein zentrales Element des Handy-Gottesdienstes war der SMS-Versand (Short Message Service), der aus technischen Gründen auf die Bundesrepublik beschränkt werden musste. Man hatte einen Jugendgottesdienst im Haus der Evangelischen Stadtjugend in Hannover gefeiert und live im Internet übertragen. Das Simsen wurde zur Vermittlung der Kernaussagen des Gottesdienstes genutzt. Am Morgen des Gottesdiensttages wurde bereits um neun Uhr an die Teilnehmerinnen eine erste Kurzbotschaft zum Start in den Tag gesendet. Mit Beginn des Gottesdienstes um 17 Uhr wurden dann fünf Nachrichten, die nicht länger als 160 Zeichen waren, übertragen. Begrüßung, ŗśŗ Vgl. Ayas (1997: 282). ŗśŘ Vgl. www.ref.ch/rna/meldungen/5425.html-18k (Stand: 28.02.07).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
Bibeltext, Predigt, Fürbitte und Segen waren hierfür ausgewählt worden. Die Kommunikation wurde an zwei Stellen interaktiv gestaltet. Alle Beteiligten waren aufgefordert worden, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Jugendgottesdienstes in der Kirche in Hannover Fürbitten zu senden. Dieselben waren in mehreren Gebetsgruppen zunächst entgegengenommen und zum Teil während des Gottesdienstes vorgetragen worden. Der anschließende 90minütige Chat gab eine weitere Gelegenheit, Kontakt aufzunehmen. Eine Hotline-Nummer und festgelegte Ansprechpartner standen für die Zeit nach dem Segen, also nach dem Schluss des Gottesdienstes, zur Verfügung. Das Innovative dieser Gottesdienstform ist, dass sie den Gottesdienstraum zum einen aus der Kirche vor Ort heraus öffnet in die Kommunikationsräume, die die Mobiltelefone je individuell aufbauen. Zum anderen nutzt man hier offensiv ein neues, unter Jugendlichen weitverbreitetes Medium, um Gottesdienst zu feiern. Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren besitzen inzwischen zu 82 % ein Mobiltelefon.ŗśř Dabei wird das Handy nicht nur für Telefonate benutzt. Insbesondere die Möglichkeit, per SMS zu kommunizieren, ist attraktiv. Das Simsen zählt zu den beliebtesten Kommunikationsformen unter Jugendlichen, die im Durchschnitt pro Tag rund zehn Botschaften verschicken und erhalten. Dies sind mehr Kontakte, als mit dem Handy oder über das Festnetz telefonisch geknüpft werden. Eine Vernetzung des Gottesdienstes mit einer SMS-Kommunikation greift also eine Lieblingskommunikationsform auf, die wiederum Zugänge zur religiösen Kommunikation erleichtert. Wie bereits in der Diskussion um Fernsehgottesdienste gab es im Umfeld des Handy-Gottesdienstes die Befürchtung, Jugendliche könnten eine solche Form dem Gottesdienst in der Kirche vorziehen. Wenn sich diese Erwartung bestätigte, spräche dies meines Erachtens aber nicht gegen das neu erfundene Verkündigungsformat, sondern zunächst einmal gegen das Angebot des herkömmlichen Gottesdienstes, für dessen Kommunikationsstruktur ein relativ geschlossener Raum signifikant ist. Die gottesdienstliche Kommunikation durch das Simsen über den Gottesdienstraum hinausreichen zu lassen, schafft Vernetzungen zu Kommunikationsräumen, in denen alltäglich kommuniziert wird. Doch soweit dies kommunikationswissenschaftlich schon belegt werden kann, führen mixed realities, also Kommunikationen, die sowohl ohne als auch mit technischen Hilfsmitteln geführt werden, nicht zur Beseitigung von bestimmten Medien, sondern zu ihrer Integration in eine vernetzte Lebenswelt. ŗśř Vgl. Uli Gleich, Jugendliche und neue Medien. ARD Forschungsdienst. In: Media
Perspektiven 4/2003, 194.
5.1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
265
Für die homiletische Bestandsaufnahme medialer Phänomene ist allerdings zu sehen, dass der Predigt kein neuer, signifikanterer Stellenwert zugemessen worden ist, vielmehr wird wiederum deutlich, dass man die Liturgie des Sonntagsgottesdienstes als Strukturierungshilfe beibehalten hat sowie im Bereich der Massenmedien einen Modus herausgearbeitet hat, der individuelle Gesprächsmöglichkeiten bereitstellt. Ohne eine Live-Gottesdienst-Situation in einem weiteren Kommunikationsraum zu haben, werden nun auch Gottesdienste bzw. Andachten und Predigten auf Websites z. B. der Evangelischen Kirche in Deutschland oder einzelner Gemeinden angeboten. Auch hier wird der Sonntagsgottesdienst auf der Website simuliert, indem beispielsweise zur Symbolik aus dem traditionellen gottesdienstlichen Leben gegriffen wird. „Beim Meditationsgottesdienst handelt es sich um eine gespeicherte Variante eines zuvor in RL [Real Life; I. N.]gefeierten Gottesdienstes. Mit Hilfe medialer Tricks – wie z. Bsp. dem Kerzen anzünden – wird eine möglichst große Annäherung an gottesdienstliche Vollzüge in RL angestrebt.“ŗśŚ Mit dieser medialen Aufbereitung einer Gottesdienstsituation werden zunächst kirchlich engagierte Menschen erreicht, möglicherweise auch sogenannte kirchlich Distanzierte, die in diesen Formen Vertrautes wiederentdecken und sich deshalb auf gängige Codes einzulassen vermögen. „Kommunikationsschwierigkeiten und Störungen entstehen mit von der Kirche weiter entfernten Zielgruppen – die aber den Großteil der Netzsurfer ausmachen.“ŗśś Für sie bleiben die kirchlichen Angebote unverständlich oder auch nichtssagend. Aus der Perspektive der Veranstalter sind aber gerade sie die Zielgruppe des Kommunikationsangebots. Dadurch, dass Raum und Zeit des Gottesdienstes nicht konkretisiert werden, und dadurch, dass lebensweltlich wahrnehmbare Ambivalenzen nicht artikuliert werden, wirken gespeicherte Gottesdienste auf Außenstehende außerdem eher steril. „It’s not the real thing. Gegenüber dem alten Schaukasten wirkt der online-Schaukasten der Webandachten schon flotter. Aber wer stur bleibt, könnte meinen: Das kann man notfalls auch per Poster, Flipchart oder Pinnwand in einer Citykirche machen, und ein Bildband wirkt vielleicht doch sinnlicher.“ŗśŜ Die Problemanzeige, die sich bezüglich der verschiedenen medialen Gottesdienstangebote herauskristallisiert, bezieht sich darauf, dass das homiletisch und liturgisch Gewohnte formal und inhaltlich weitgehend unverwandelt ins ŗśŚ Ebenda. ŗśś Sabine Bobert, Selbsttransformation als Tor zum Heiligen. In: Hauschild/Schwab
(2002: 32). ŗśŜ Ebenda.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
Netz gestellt wird. Das Format Predigt gerät dabei zunehmend unter Zeitdruck. Sind es im Fernsehen noch vier Minuten, die für das Wort zum Sonntag zur Verfügung stehen, werden während des Handy-Gottesdienstes kaum mehr als zwei Sätze ausreichen müssen. Hinzu tritt, dass nur wenige Auslegungen biblischer Texte vorgenommen werden, sondern eher ein biblisches Wort kommuniziert wird, das nach evangelischem Schriftverständnis aber noch nicht gleichbedeutend mit dem gepredigten Wort Gottes ist. Die konventionelle Codierung der gottesdienstlichen Angebote bringt es zudem mit sich, dass das Evangelium eher in evangelisationsartigen, vereinfachenden, möglichst eindeutigen Sätzen kommuniziert wird. „Niemand wird mit Vieldeutigkeit allzu lange allein gelassen.“ŗśŝ Allerdings kann die Kommunikation auf einer Website mit höherer individueller Freiheit aufgenommen werden, denn Zeit und Ort bestimmen die Rezipientinnen und Rezipienten selbst, sie werden nicht mehr durch die Veranstalter des Gottesdienstes vorgegeben.ŗśŞ Will man tatsächlich mit der Kommunikation des Evangeliums über angestammte Zielgruppen hinausreichen, muss für die Homiletik ein vom Vorbild des Sonntagsgottesdienstes sich abnabelndes Verständnis entwickelt werden. Dabei ist die Art und Weise, wie kommuniziert wird, von hervorragender Bedeutung. Es geht insbesondere darum, den Prozess des Codierens und Decodierens auch in den Kommunikationsraum der Rezipientinnen und Rezipienten hinein zu öffnen. Dies bedeutet, sie in einer offenen Gestalt an der Kommunikation des Evangeliums zu beteiligen. Als zentrale Frage für die Homiletik stellt sich deshalb: „Wie lassen sich Menschen im Netz ansprechen, die institutionelle Deutungsvorgaben ihrer Religiosität ablehnen, die sich selbst als Subjekte von Theologie verstehen – und dennoch Interesse an religiösen Angeboten im Netz zeigen – sogar an christlicher Religiosität?“ŗśş Der Handy-Gottesdienst liefert hierfür erste Anfänge. Er zeigt eine offene Struktur durch die Vernetzung der Gottesdienst-Kommunikation mit außerhalb des Gottesdienstes laufenden Kommunikationen und ihrer Rückkoppelung mit dem Gottesdienstgeschehen. Dabei existiert die Predigt zum einen im üblichen Rahmen einer Rede, zugleich wird sie ergänzt durch eine pluriŗśŝ Ebenda. ŗśŞ Diesen Vorteil beliebiger, d. h. auch wiederholbarer Abrufbarkeit von Verkündigung
im Internet machen sich inzwischen auch die Rundfunkanstalten zunutze, indem sie auch kirchliche Beiträge als PodCast anbieten. So steht etwa Moment mal in HR3 (Hessischer Rundfunk, Radio, 3. Programm) oder der Zuspruch in HR1 noch Wochen nach der Ausstrahlung im Netz zum Anhören zur Verfügung. Es entwickelt sich dadurch im Bereich hörbarer Verkündigung, was bislang dem schriftlichen Text vorbehalten war, eine Art Predigt on Demand. ŗśş Bobert (2002: 37).
5.1 Annäherungen an ein mediales Phänomen
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loge Kommunikation zu ihr. Die, die sich beteiligen möchten, schalten sich direkt in den Kommunikationsprozess ein und finden sich so selbst als Subjekte der Kommunikation des Evangeliums vor. Dieser pluriloge Kommunikationsraum wird über eine Art Callcenter hergestellt. Aber zum Gelingen des Kommunikationsprozesses führt die Vernetzungsstrategie von Kommunikationen, die den Gottesdienst als Ganzen mit anderen Kommunikationen vernetzt bzw. auf seine Existenz über spezifische Nachrichten mehrfach aufmerksam macht. Dies bedeutet, dass wiederum wenig Innovation in den Bereich der Predigt geflossen ist. Ein Blick in die Kanzelliturgie zeigt demgegenüber, dass traditionell bereits pluriloge Vernetzungsstrategien der Predigt bestehen. Hierfür ist ihre sogenannte Maximalstruktur aufschlussreich. Mit dem Kanzelgruß wird zunächst der Kontakt mit der anwesenden Gemeinde aufgenommen. Im hochmittelalterlichen Prädikantengottesdienst war der Prediger nicht immer mit dem Liturgen identisch, sodass der Kanzelgruß die erste Begrüßung der Gemeinde durch den Prediger gewesen ist.ŗŜŖ In dieser historischen Erläuterung wird bereits deutlich, wie kommunikativ die Kanzelliturgie angelegt wurde, dass ihre Erfindung einer bestimmten Wahrnehmung der Situation entspricht und diese in Sprache fasst. In der Schriftlesung wird die Kommunikation mit der historischen Urkunde des Christentums hergestellt. Im folgenden Gebet vor der Predigt wird mit dem dreieinigen Gott Verbindung aufgenommen. In der freien Rede geht es um die Kommunikation mit der Gemeinde, um ihre religiöse Selbstartikulation gerade immer auch in den Lebenswelten, aus denen heraus sie in die Kirche gekommen sind. Darin wird traditionell über den Kommunikationsraum Kirche hinausgegangen in weitere virtuelle Kommunikationsräume. Das Gebet nach der Predigt spielt in den Kommunikationsraum der Gemeinde wiederum explizit die Kommunikation mit dem dreieinigen Gott ein. Im Kanzelsegen wird die Schwellensituation thematisiert, die aufbricht, wenn der Kommunikationsraum Predigt sich nun öffnen soll hinein in die alltäglichen Kommunikationsräume, die die Menschen der Gemeinde je für sich betreten. In der Kanzelliturgie sind vieldimensionale Kommunikationsmöglichkeiten enthalten.ŗŜŗ Auch wenn ihre Decodierung im Gottesdienst ein zu hohes Maß an theologischer Bildung verlangt, als dass man sich einfach auf diese Predigtliturgie verlassen könnte, ist der Verweis auf sie wertvoll. Denn sie schafft Aufmerksamkeit für die verschiedenen kommunikativen Beziehungen, ŗŜŖ Vgl. Engemann (2002: 417). ŗŜŗ Vgl. Karl-Heinreich Bieritz, Ritus und Rede. Die Predigt im liturgischen Spiel. In:
Engemann/Lütze (Hgg.) (2006: 312 f.).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
die an einem Predigtgeschehen beteiligt sind, und indem sie dies tut, schafft sie Raum für eine offene, weil vieldimensionale Kommunikation. Mit dem Insistieren auf eine offene Kommunikation ist allerdings nicht gemeint, dass im Predigtgeschehen alles mögliche Beliebige thematisiert werden könnte, sondern es geht vielmehr darum, „dem Hörer eine Zeichenbildung, eine Signifikation zu ermöglichen“ŗŜŘ. Im Handy-Gottesdienst sind Beiträge via SMS sozusagen in ihrer speziellen fernnahen Räumlichkeit visualisiert und akustisch aufbereitet worden. Sie sind in der herkömmlichen Predigtkommunikation vor allem in den Köpfen und Herzen der einzelnen Menschen in der Gemeinde, also innerlich geblieben. Computervermittelte Kommunikationen verstärken allerdings Transformationsprozesse, damit das, was zunächst im leiblichen Innenraum aufgebaut wurde, auch in den virtuellen Leibkörper hineintreten kann und in diesem kommunikative Gestalt annimmt. Ohne diese auch zwischen Menschen vermittelnden Kommunikationsräume, in denen eigene Bedeutungen auch zur Darstellung kommen, kann eine Predigt ihre Wirkung nicht entfalten. „Der Hörer muß zum Täter des Wortes werden, und dieses Tun ist die Kehrseite eines Hörens, das auch versteht.“ŗŜř Das Drängen auf eine wirkungsvollere Gestalt von Predigtprozessen soll dabei keineswegs den Erfolgsdruck einer Predigerin oder eines Predigers auf eine Weise verstärken, die die pneumatologische Dimension in jeder religiösen Kommunikation kontrollieren zu können vorgäbe. Aber die allzu große Zurückhaltung gegenüber Wirkungsprozessen von Predigten kann eben auch die Arbeit an einer Intensivierung des Rezeptionsprozesses im Predigtgeschehen behindern. In den Austausch mit den Menschen zu treten, die an einem Predigtprozess beteiligt sind, steigert dabei auch wieder die Vernetzung mit vielfältigeren Lebensbezügen. Nur so kann das Predigtgeschehen größere Relevanz im Leben gewinnen: In ihm muss die Kommunikation des Evangeliums in den Erfahrungen von je einzelnen Menschen und ihren Glaubensprozessen vergegenwärtigt werden. Die hier geschilderten medialen Phänomene haben gezeigt, wie die Kommunikation des Evangeliums anderenfalls zurückfällt auf das Niveau einer Verlautbarung von biblischen Worten oder einer Fortsetzung der Liturgie mit anderen Mitteln.ŗŜŚ Zum Online-Angebot von Predigtvorschlägen Computervermittelte Kommunikationen ermöglichen, noch intensiver als es bislang durch die Printmedien schon geschehen ist, Predigtvorschläge zu ŗŜŘ Engemann (2002: 316). ŗŜř Vgl. Engemann (2002: 318). ŗŜŚ Für eine bipolare Spannung zwischen Ritus und Rede vgl. Bieritz (2006: 303–319).
5.2 Medientheoretische Aspekte zur Rede vom „Hörer“
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kommunizieren. Zur Korrespondenz zählen hier Kommentare von Kolleginnen und Kollegen, die privat oder öffentlich weitergereicht werden, aber vor allem sind die Ideenpools der inzwischen auch online präsentierten Zeitschriften und Jahrbücher zu den Perikopenreihen zu nennen. Das World Wide Web ist Datenbank für die Recherche von Predigthilfen. Darüber hinaus ist es auch selbst Kommunikationsraum für Predigtvorbereitungen in einem Gemeindekreis oder im Kollegium. Die Möglichkeiten für eine kommunikative Predigtvorbereitung wachsen mit der computergestützten Kommunikation an. Zur Wahl zwischen individueller oder gruppenbezogener Kommunikation tritt auch die Optionsmöglichkeit, zwischen verschiedenen Kommunikationskontexten zu wechseln: man kann sich sowohl in sehr verschiedene konfessionelle Kontexte begeben als auch in transnationale, anderssprachige Diskussionsorte. In dieser Reichweite, die auch fremde Länder und Kulturen erreicht, wird die räumliche Spannung, die in der christlichen Identität von Anfang an da war, im Alltag in neuem Ausmaß bewusst. Glaube und Kirche leben nicht nur aus Kommunikationsbeziehungen vor Ort, sondern sie sind immer schon global vernetzt. Aus dem biblischen Text zur Taufe des Kämmerers aus Äthiopien (Apg 8) ebenso wie aus dem Gleichnis des barmherzigen Samariters (Lk 10) oder etwa aus dem urchristlichen Taufbekenntnis, das Paulus im Galaterbrief 3, 26 f. zitiert, geht eine für Christinnen und Christen weltbürgerliche Orientierung hervor, deren Herausforderung es ist, transnationale Identitäten und Lebensformen und die Verteidigung des Ortes sowie seine Besonderheit miteinander zu vermitteln. Die Medialität des Predigtgeschehens auch in diesem vorbereitenden Sinne wahrzunehmen, spielt in den Kommunikationsprozess andere Kontexte und mit diesen auch plurale Atmosphären ein. Sie verhelfen letztlich dazu, eine Predigt nicht mit einer logisch stringenten Argumentation zu verwechseln, in der die Transzendenz aus der Immanenz heraus entwickelt wird, sondern in der Gottes Wirklichkeit ein zwangloseres Dasein erfährt. Dies wird dort möglich, wo die Wirklichkeit Gottes als Möglichkeit artikuliert wird, wo transparent bleibt, dass Religion sich der Konstruktion von Wahrnehmungen widmet, die Gottes Gegenwart in der Welt kommunizieren.
5.2 Medientheoretische Aspekte zur Rede vom „Hörer“ Insofern die Predigt als ein sprachliches Geschehen, genauer noch als eine Rede verstanden wird, ist sie adressiert an Hörer und Hörerinnen. Neben dieser kommunikationstheoretischen gibt es darüber hinaus aber auch eine theologische Begründung der Rede vom „Hörer“. Die Predigt wird als viva vox evangelii verstanden. So bindet Paulus in Röm 10, 14 und 17 Glauben und Hören eng zusammen. Dementsprechend formuliert Ingolf Dalferth: „Gott gegenüber befinden wir uns immer in der Situation des Hörers, auch wenn
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
wir die Schrift lesen.“ŗŜś Es wird zugleich vorausgesetzt, dass die Kommunikation innerhalb eines Raumes stattfindet, in dem Sprecher und Hörer kopräsent sind. Der Hörer steht in einer personalen, angesichtigen Beziehung zum Sprecher. Nach reformatorischer Auslegung, Confessio Augustana § 7ŗŜŜ, ist die Kopräsenz als Bedingung unhintergehbar, denn nur in dieser Kommunikationssituation kann gewährleistet werden, dass jederzeit auch die Sakramente gereicht werden können. „Der umfassende, alle Lebensbereiche sowie die ganze Lebensausrichtung und -gestaltung betreffende Charakter christlichen Glaubens erfordert Glaubwürdigkeit in der grundlegenden Kommunikation, wie sie allein in der Face-to-Face-Kommunikation möglich erscheint.“ŗŜŝ Religiöse Kommunikation im eigentlichen Sinne persönlich und angesichtig zu beschreiben, entspricht schließlich der reformatorischen Einsicht, dass zwischen Gott und Mensch keine Instanz, genauer kein Medium vermittelt als allein die Person Jesus Christus. Das protestantische Profil liegt in dieser Orientierung am Solus Christus und seiner pneumatologisch begründeten Vergegenwärtigung der persönlichen Begegnung mit Jesus als dem Christus. Gemessen an ihr wird die Bibel nun als sekundäres Medium bezeichnet.ŗŜŞ Obwohl diese Position zentrale theologische Argumente für sich anführen kann, muss der Fokus, den sie auf die personale Kommunikation setzt, theologisch und kommunikationswissenschaftlich noch einmal neu eingestellt werden, denn die Theologie hat durchaus einen eigenen Beitrag zu einer Medientheorie zu leisten, der durch eine ethisch motivierte Kritik an Medien nicht verloren gehen sollte.ŗŜş Es lässt sich z. B. zeigen, dass zwischen Martin Luthers Berufung auf die viva vox und seinem Beharren auf dem sola scriptura weder ein Verhältnis der Über- noch der Unterordnung noch eines des friedlichen, ja notwendigen Nebeneinanders besteht. „In seinem Bemühen um Eindeutigkeit fördert Luther eine irreparable Uneindeutigkeit der Sprache zutage [...]. Weder die Rede noch die Schrift als solche sind in der Lage, ŗŜś Ingolf Dalferth, Kirche in der Mediengesellschaft – Quo vadis? In: Theologia
Practica, 20. Jg. (1985), Heft 2, 183–194, hier 185. ŗŜŜ Vgl. Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche.
Ausgabe für die Gemeinde. Im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) herausgegeben vom Lutherischen Kirchenamt. Bearbeitet von Georg Pöhlmann. Gütersloh 1986, 64 f. ŗŜŝ Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft. Leipzig 2003, 68. ŗŜŞ Vgl. Michael Moxter, Medien – Medienreligion – Theologie. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 101 (2004) 466. ŗŜş Vgl. auch Teil 1, 3.3.
5.2 Medientheoretische Aspekte zur Rede vom „Hörer“
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Gottes Wort so mitzuteilen, wie es ist. Der von Gott intendierte Sinn erscheint darum in einer metaphorischen Verschränkung von beiden, im buchstabischen tsungen sinn[...]. Der buchstäbliche Zungensinn – zweideutiger lässt sich die Eindeutigkeit des Heiligen Geistes wohl kaum fassen. Oder umgekehrt: die Schrift soll der mündlichen Rede, die mündliche Rede soll der Schrift die Eindeutigkeit geben, die ihr immer wieder abhanden kommt.“ŗŝŖ Was hier erwogen wird, ist von Luther unter dem Titel der media salutis bearbeitet worden. Das gesprochene Wort und die Schrift gelten ihm beide als Heilsmedien. Nicht nur das Hören, sondern auch das Lesen kommt demnach für die Kommunikation des Evangeliums in Frage. Dem Hören steht das Sehen, dem Lesen das Sprechen zur Seite und damit ist es durchaus möglich, mit der Theologie Luthers das Verständnis von der Kommunikation des Evangeliums multimedial zu entwickeln. Die Konzentration auf den Hörer kann hingegen als eine historische Zuspitzung der Homiletik verstanden werden, die insbesondere mit der aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege formulierten Wort-Gottes-Theologie verbunden ist.ŗŝŗ Dabei kann das Hören, gerade auch wenn es von anderen Wahrnehmungen isoliert wird und damit durch die Isolierung des einen Sinns auch eine Intensivierung des Hörsinns erreicht wird, Freude auslösen, zum Singen anregen, es kann beruhigen etc. Doch das Hören bleibt dennoch eine ambivalente Sinneserfahrung. Manfred Josuttis beschreibt das Hören als Erfahrung von Macht, die er nicht mit dem alten Wort Gehorsam bezeichnet, dessen Funktion aber deutlich zu erkennen gibt, dass es um ein Einwilligen in (die Konstruktion) einer vorgegebenen Situation geht: „Wenn dieser dramatische, konflikterfüllte Verhaltens-Prozess des Hörens ans Ziel kommt, stellt sich Erhellung ein, Einsicht in den Sinn von Gott, Welt und eigener Existenz, Annahme des Lebens in seiner ganzen widersprüchlichen Gegebenheit, Einstimmung in jene göttliche Macht, die im Hören zu Wort kommt, der sich alles Geschaffene verdankt und die sich im Fortgang des Gottesdienstes zur Vereinigung schenken will.“ŗŝŘ Auch wenn oder, besser gesagt, gerade weil das Hören in diesen Formulierungen eine hohe religiöse Bedeutung erhält, muss es selbst in seinen zweideutigen Wirkungen reflektiert werden. Das, was mit dem Hörsinn wahrgenommen wird, bleibt, wie eben alle sinnlichen Wahrnehmungen, grundŗŝŖ Martina Rödszus-Hecker, Der buchstäbliche Zungensinn. Stimme und Schrift als
Paradigma der theologischen Hermeneutik. Waltrupp 1992, 21 und 46 f. Hervorhebungen von der Autorin. ŗŝŗ Vgl. auch Timm (1995: 36). ŗŝŘ Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage. Gütersloh 1991, 243.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
sätzlich in seinen Wirkungen ambivalent. Die semantische Verwandtschaft des Hörens mit der Hörigkeit und dem Gehorsam zeigt dies an. Mit Stimmmodulationen ist es möglich, Aufmerksamkeit zu kontrollieren. Sehr leises Sprechen oder sehr eindringliche Betonungen sind hierfür Beispiele, die anzeigen, wie mit dem Hörsinn Kommunikation diszipliniert werden kann.ŗŝř In diesem Sinne soll das Verständnis von der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit derer, die an einem Predigtprozess beteiligt sind, nun erweitert werden. Dazu werden verschiedene neuere homiletische Entwürfe nach Anschlussmöglichkeiten für eine Reflexion eines virtuellen Leibkörpers durchgesehen.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik Virtuelle Realitäten sind Möglichkeitsräume, so ist im Hinblick auf mediale Phänomene herausgearbeitet worden. Diese Möglichkeitsräume sind hierbei nicht nur technisch gestützte Kommunikationsmittel, sondern die Medientechnik korrespondiert mit der Virtualisierungsfähigkeit des Menschen. Der Mensch ist sozusagen nicht nur ein soziales, sondern auch ein mediales Wesen. Innerhalb einer phänomenologischen Anthropologie lässt sich diese mediale Dimension in der virtuellen Leiblichkeit des Menschen entfalten.ŗŝŚ Dabei kommt die Entfaltung der virtuellen Leiblichkeit einer Entfaltung menschlicher Freiheit gleich. Weil in dieser Untersuchung das Hauptaugenmerk auf dem Glauben als einer virtuellen Realität liegt und weil der Glaube hier insbesondere hinsichtlich seines Potenzials, Freiheit zu gestalten, wahrgenommen wird, steht dieser Zusammenhang nun zur homiletischen Diskussion. Freiheit wird dabei nicht als ein Ideal verstanden, dem es nachzueifern gelte, sondern als eine allgemein menschliche Fähigkeit, sich in eine Situation zu versetzen. Doch diese Situation ist nicht vorab gegeben, sie wird in der Wahrnehmung kreiert. Freiheit wird so als ein Modus gefasst, wie Menschen sich leiblich in der Welt bewegen, wie sie Welt gestalten und strukturieren.ŗŝś Freiheitliches Verhalten besteht demnach nicht in einer höheren Form der Tätigkeit, die von außen in etwas eingreift, sondern Freiheit bedeutet, geschaffene Strukturen zu verändern, um daraus andere zu schaffen. Im Umŗŝř Vgl. hierzu auch Hans-Günter Heimbrock, Gott im Auge. Er bespricht das Hören in
seiner christlichen Tradition mit allen Ambivalenzen inklusive der Hörigkeit. In: Failing/Heimbrock (1996: 123–144). ŗŝŚ Vgl. Teil 1, 3.4.1. ŗŝś Vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie der Leiblichkeit. Frankfurt a. M. 2000, 190–209.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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gang mit Sprache z. B. zeigt sich menschliche Freiheit konkret dort, wo an dieser gearbeitet wird, um etwas in neuer Weise zu sagen. „Die spezifische Fähigkeit des Menschen bestünde dann darin, Gesichtspunkte zu vervielfältigen und gegenüber vorgegebenen Strukturen verschiedene Möglichkeiten der Strukturierung zu bedenken und zu berücksichtigen. Desgleichen ist damit die Fähigkeit angesprochen, Zweideutigkeiten oder besser Mehrdeutigkeiten zu ertragen und den Sinn für das Mögliche zu entfalten. Schließlich kann Freiheit darin charakterisiert werden, dass der Sinn für das Mögliche, eben die Virtualität entfaltet wird. Wo sie entfaltet wird, nimmt sie sich einen Raum zu ihrer Gestaltung. Dieser kann als Spielraum beschrieben werden. „Der Spielraum entstammt einer Bewegung, die wie etwa im Falle der Tanzbewegung einen bestimmten Raum um sich verbreitet.“ŗŝŜ Nun soll der Horizont dieser phänomenologischen Beschreibung des virtuellen Leibkörpers und seiner Beziehung zum menschlichen Freiheitsvermögen zugunsten der Homiletik abgeschritten werden. Dies hat den Sinn zu zeigen, inwieweit die Kommunikation des Evangeliums bereits mit dem Kontext von virtuellen Realitäten vernetzt ist. 5.3.1 Predigt als religiöse Rede, als Gespräch und als Rollenspiel Mit dem Verständnis der Predigt als Rede gehört es eng zusammen, die Rhetorik als eine bedeutende Dimension homiletischer Arbeit zu verstehen. Die Tradition dieses Verständnisses reicht bis in die Alte Kirche zurück. Die drei großen Kappadokier, Gregor von Nazianz (329–390), Basilius von Caesarea (330–379) und Gregor von Nyssa (335–394) sind Theologen, die rhetorisch gebildet als Prediger auf dem hohem Niveau ihrer Zeit wirkten. Möglicherweise haben sie sogar die Rhetorik ihrer Zeit zu überbieten gewusst. Augustin (354–430) entfaltet in De doctrina christiana eine hermeneutisch-homiletische Grundlegung. Sie erhält zusammen mit der Regula Pastoris von Gregor dem Großen (540–604) im Mittelalter eine große Bedeutung. Auch Martin Luther erhält eine rhetorische Bildung. Christliche Prediger werden rhetorisch gebildet, damit sie mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Zielen sprachlicher Verständigung bewusst umzugehen lernen und die von ihnen gewählte Rhetorik ethisch vertreten können.ŗŝŝ Innerhalb eines weiten Medienverständnisses wird die Rhetorik als eine Gelegenheit zur Verständigung erkennbar. Doch diese Verständigung geschieht durchaus zielgerichtet. Denn die Pointe ŗŝŜ Waldenfels (2000: 205 f.). ŗŝŝ Vgl. Gert Otto, Rhetorische Predigtlehre. Mainz/Leipzig 1999, 25.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
einer Rhetorik liegt in der Kreation einer Situation, einer sprachlich gestalteten virtuellen Situation, die immersiv wirken soll. Interessanterweise macht die Geschichte der Rhetorik auch deutlich, dass insbesondere sie die Kunstform des Dialogs gefördert hat: „Nicht nur in Luthers Schriften, sondern im massenhaften Schrifttum der Reformationszeit können wir in einer vorher kaum bekannten Weise beobachten, dass adressatenbezogen und situationsbezogen geschrieben wird [...] Beliebtestes Mittel ist der Dialog in allen Stilisierungsarten. Der Dialog als die klassische Form, in der Wahrheit nicht als Richtigkeit dekretiert wird, sondern im Prozess, im Für und Wider, in Argument und Gegenargument, in Frage und Antwort allererst gefunden wird.“ŗŝŞ Der Dialog wird zum Möglichkeitsraum einer Wirklichkeit, die aber als solche nur durch die je agierenden Subjekte aufgefunden werden kann. In Renaissance, Humanismus und Reformation ist die Rhetorik ein fester Bestandteil eines umfassenden Bildungsverständnisses. Aber ihre Bedeutung nimmt mit fortschreitender Aufklärung ab. Ab dem späten 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts ist ihre Bedeutung, insbesondere dann auch für die Homiletik, verschwindend gering. So ist z. B. Paul Tillichs Beitrag, Predigten als religiöse Reden zu verstehen, ohne große Resonanz geblieben, zumal er nicht explizit mit der Rhetorik als homiletischer Methodik arbeitet.ŗŝş Im Gegenüber zu dem Topos der religiösen Rede befinden sich Positionen, die in Anlehnung an die Kritik von Karl Barth formuliert worden sind. Die religiöse Rede verdunkele, dass es im Predigen um Gottes Handeln gehe: „Die so bestimmte Bedeutung der Predigt und ihre Zentralstellung als Mitte des Gottesdienstes ersetzt das sakramentale Wandlungsgeschehen als Mitte der römischen Messe. [...] die epochale Bedeutung dieser Zentralstellung der Predigt [liege, I. N.] darin, dass sie dem Prediger Mut gemacht (hat), die Predigt ernst zu nehmen als Gottes eigene Rede und die falsche Bescheidenheit nicht länger [hat, I. N.] gelten [...] lassen, die Predigt als religiöse Rede, nur als Rede über Gott zu verstehen.“ŗŞŖ Mit diesem Ansatz wird deutlich, wie zum einen die Medialität der Predigt als Rede nahezu unsichtbar gemacht wird. Zum anderen wird durch die Predigt eine Situation kreiert, in der der Prediger im Grunde selbst als virtueller Leibkörper Gottes verstanden wird.
ŗŝŞ Otto (1999: 69). Otto zitiert im kursiv gekennzeichneten Textteil Hans-Eckehard
Bahr. ŗŝş Vgl. hierzu auch Frederick J. Parrella, Re-reading Paul Tillich’s Sermons. A Spiritual
Journey. In: Haigis/Lax (2003: 366–382). ŗŞŖ Friedemann Voigt, Predigt als theologischer Begriff. Die Predigtlehre Karl Barths. In:
Albrecht/Weeber (2002: 184–201, hier: 193). Voigt zitiert im kursiv gekennzeichneten Textteil Walther Fürsts Auslegung der Barthschen Predigtlehre.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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Manfred Josuttis’ Beitrag zur homiletischen Diskussion spiegelt auf eigene Weise wider, wie im homiletischen Prozess darum gerungen wurde und wird, liberaltheologische Annäherungen an den Hörer, die Situation und die Lebenswelt mit einem dialektisch-theologischen Verständnis von Kommunikation in Spannung zu halten.ŗŞŗ Im Ersteren überwiegt das Interesse an kommunikativen Fragen, im Letzteren das an theologisch-dogmatischen Inhalten. Die energetische Predigt ist nun dazu geeignet, „beide Konzepte auf einer höheren Ebene zusammenzuführen“ŗŞŘ. Dabei wirkt die Predigt in einem gelingenden Predigtprozess „wie eine Infektion, die manchmal lange Inkubationszeit benötigt. Erst allmählich zeigt sich dann seine vitalisierende Kraft. In vielen Fällen kommen Menschen erst sehr spät zur Besinnung. Und unter Umständen braucht es erhebliche Lebenskrisen, bevor die Kraft der evangelischen Infektion zu Bewusstsein kommt.“ŗŞř Die Predigtwirkung als eine evangelische Infektion zu bezeichnen, zeigt, welche Predigtsituation hier konstruiert worden ist. Sie nutzt den virtuellen Raum einer medizinischen Behandlung. Es geht im Predigtgeschehen um die Anamnese einer Krankheitsgeschichte und es sei anzunehmen, dass die Atmosphäre im Predigtgeschehen zu einer Art Erstverschlimmerung des Zustandes des Patienten Gottesdienstbesucher führt. Auf der Beziehungsebene lässt sich festhalten, dass in diesem Modell der Predigthörer von dem Prediger wiederum keine positive Anerkennung erhält. Er muss sich nicht nur ändern, er ist auf die Hilfe des Arztes Prediger angewiesen. Selbstheilungskräfte und die Kompetenz, den eigenen Zustand zutreffend wahrnehmen zu können, werden dem Patienten nicht zugetraut. Engemann hat mithilfe der Transaktionsanalyse den Ort der Predigt in den Lebensdispositionen des Predigers beschrieben und damit sichtbar gemacht, welche Beziehung Predigerinnen und Prediger in das vieldimensionale Predigtgeschehen hineintragen.ŗŞŚ Es geht um vier Grundimpulse, die – im Referenzrahmen der Transaktionsanalyse – in den Stichworten Distanz, Beharrung, Nähe und Wandel zum Ausdruck kommen. Immer, wenn gepredigt wird, geben die Predigenden einem dieser Grundimpulse Raum und versuchen auf diese Weise, ihre Angst zu bändigen und dabei die eigene Lebensposition zu ŗŞŗ Vgl. Manfred Josuttis, Verkündigung als kommunikatives und kreatorisches Ge-
schehen. In: Evangelische Theologie 32, 197l, 319 ff., wiederabgedruckt in: Ders., Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien. München 1985, 29–46. ŗŞŘ Manfred Josuttis, Die energetische Predigt. In: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky, Predigen im Plural. Hamburg 2001, 175. ŗŞř Josuttis (2001: 181). ŗŞŚ Vgl. Engemann (2003: 293–303).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
verteidigen. Stets werden beim Predigen auch Beziehungskonstellationen hergestellt. So strukturiert die Predigerin mit ihrem Grundimpuls den atmosphärischen Raum der Predigt vor. Zurückbezogen auf das Modell energetischen Predigens scheint dies beim Prediger eine Haltung vorauszusetzen, in der der Prediger selbst sich so annehmen kann, wie er sich wahrnimmt, die Gemeinde hingegen als veränderungsbedürftig erscheint. Mit dieser Predigthaltung wird es erschwert, in einen Austausch zu kommen, Annahme zu signalisieren und mit den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern eine konstruktive Beziehungsebene aufzubauen. Ein Wandel ginge vielmehr von einer Beziehung aus, in der – im Duktus der Transaktionsanalyse gesprochen – die Lebensposition heißt: Du bist o. k. und ich bin o. k., hier ist eine aufgeschlossene, aufmerksame Haltung orientierend. Wandel wird möglich, weil es darum geht, nicht gegen die Gemeinde, sondern mit ihr gemeinsam etwas bzw. sich zu verändern. In dem Modell, Predigt als Rede zu verstehen, ist neben der Beziehung zur Gemeinde auch die zum eigenen Glauben und zu Gott zu reflektieren: „Ihre Hauptaufgabe kann deshalb nicht in der Gestaltung von schriftlichen Entwürfen bestehen, sondern muss der eigenen Person gelten. Sie müssen empfänglich werden für die sprachlichen Impulse, die sich im Kraftfeld zwischen dem Text, der Gottheit und der Gemeinde im Gottesdienst einstellen werden. Sie müssen das Wort auf der Kanzel ergreifen können [...]. Es wird sich ergeben, wenn sie zum Medium zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen werden.“ŗŞś Josuttis beschreibt in diesem Zusammenhang das Subjektsein als Unterwerfung unter den göttlichen Geist. Durch diese Unterwerfung denkt er im Grunde, ein Medium bereitstellen zu können, das im Ergriffensein vom göttlichen Geist frei von persönlichen Interessen und Wirklichkeitswahrnehmungen und dabei zu einer Inkarnation des Predigttextes wird, sodass in gewisser Weise auch Gott selbst in ihm spricht. Dass der Prediger selbst sich als Medium versteht, dass er insofern ein Rollenspiel aufnimmt und darin Gott spielerisch zur Darstellung bringt, ist aus kommunikativer wie theologischer Perspektive so lange unproblematisch, wie der Prediger auch klar zu erkennen gibt, dass er nun eine Rolle übernimmt, um einen Möglichkeitsraum zur Kommunikation des Evangeliums aufzubauen. Weil der Prediger und die Predigerin in der Kommunikation des Evangeliums im Vergleich zu anderen alltäglichen Kommunikationen ohnedies bereits Fenster in unglaubliche Welten aufstoßen, muss in Bezug auf ihre Personen gewahrt bleiben, wo sie authentisch ihren Glauben vertreten oder wo sie mit diesem experimentieren. ŗŞś Josuttis (2001: 177).
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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Dominiert hingegen andersherum nicht der Möglichkeitssinn, sondern der Sinn für eine vorgegebene Realität, wird der Spielraum, mit der Wirklichkeit Gottes zu experimentieren, kleiner. In diese Richtung tendieren homiletische Konzepte wie das der „Predigt als Gespräch“ŗŞŜ. Es baut auf der Predigt als Rede auf und betont auch die Verbindung zum Modus des Dialogs: „Im Blick auf ein Verständnis der Predigt als Verkündigung soll sie [die Predigt, I. N.] den wechselseitigen Lernprozess zwischen Prediger und Hörer hervorheben. In weitgehender Übereinstimmung mit einer Auffassung der Predigt als Rede soll sie den Versuch signalisieren, den pastoralpsychologisch fassbaren Teil der Kommunikationsform Predigt zu behandeln.“ŗŞŝ Im PredigtDialog wird von einem in diesem Sinne interaktiven Lernprozess ausgegangen, der in einer Gruppensituation stattfindet. Drei Hauptfunktionen sollen in ihm erfüllt werden: religiöse Aufklärung, therapeutische Sensibilisierung und politisch pragmatische Motivierung. Bei von Kriegstein ist Ende der Siebzigerjahre eine Ausrichtung auf eine kasuelle Predigtweise in dem Sinne erkennbar, dass ein Thema gesetzt wird, das sozusagen lebensweltlich vorgegeben ist und nun gemeinsam reflektiert wird. Der interdisziplinäre Austausch mit kommunikationswissenschaftlichen und pädagogischen Entwürfen verhilft z. B. dazu, die Perzeptionsmöglichkeiten der Predigt zu erforschen. Deshalb wird in der homiletischen Diskussion auch darauf aufmerksam gemacht, wie wenig etwa eine inhaltliche Wiedergabe einer Predigt für die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher möglich ist. „Ergebnisse: etwas richtig 28 %, richtig 5 %, falsch 26 %, gar keine 40 %.“ŗŞŞ Dieses Resultat spiegelt aber nicht speziell die Rezeptionsmöglichkeiten von Predigten wieder, sondern gilt ebenso für andere Kommunikationsgeschehen, die durch eine Rede strukturiert sind. In dem Horizont der Rezeptionsmöglichkeiten werden auch pädagogische Konzepte diskutiert, die die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für Lernprozesse erörtern.ŗŞş Es entstehen kommunikationstheoretisch und -psychologisch gebildete Predigttheorien, die konfliktorientiertes Predigen vorsehen.ŗşŖ Religions- und Kirchensoziologieŗşŗ verbreitern die Basis zur Analyse der Situation, in die hinein gepredigt wird. ŗŞŜ Matthias von Kriegstein, Predigt als Gespräch. Stuttgart 1979. Zu neueren Ver-
ŗŞŝ ŗŞŞ ŗŞş ŗşŖ
öffentlichungen und zur Diversifizierung dieses Konzepts vgl. auch den Überblick zur Predigt als Gespräch von Engemann (2002: 312–316). Kriegstein (1979: 9). Hervorhebung vom Autor. Kriegstein (1979: 37). Vgl. Dieter Trautwein, Lernprozess Gottesdienst. Gelnhausen/Berlin 1972. Vgl. Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt 1. Spruchpredigt. Düsseldorf, 4. Aufl. 1995. Hans van der Geest, Du hast mich angesprochen. Die Wirkung von Gottesdienst und Predigt. Zürich 2. Aufl. 1983.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
Auch auf die Bedeutung der Emotionalität im Predigtprozess ist aufmerksam gemacht worden. So ist neben die soziologische auch eine ästhetische Bildung der Homiletik getreten. In ihr wird z. B. vorgeschlagen, Predigerinnen und Prediger in ihrem Ausdrucksvermögen mit Elementen aus dem darstellenden Spiel zu schulenŗşŘ. Das Bibliodrama ist für die Homiletik fruchtbar gemacht worden.ŗşř Beide Anregungen steigern die immersive Qualität der Predigt insbesondere darüber, dass der virtuelle Leibkörper angesprochen wird. Im Gottesdienst Menschen in verschiedene Rollen schlüpfen zu lassen, heißt, sie Situationen kreieren zu lassen. Wahrnehmen und Handeln spielen sich dann in einer Szene ab, in der die Wirklichkeit selbst als Mitspielerin auftritt. „Die Wirklichkeit ist nicht einfach da als etwas, das verändert oder bloß registriert wird, sondern sie ist als inszenierte da, indem wir Handlungen in ihr ausführen und aufführen.“ŗşŚ Bevor nun homiletische Entwürfe im Bereich semiotischer und rezeptionsästhetischer Homiletiken erörtert werden, soll hier zunächst noch einmal die Reflexion der Predigtsituation aufgenommen werden. 5.3.2 Zur homiletischen Reflexion der Situation und der Kasualpredigt Zur Reflexion der Situation Dass es ein hohes Gut des Predigers ist, die Lebenssituation der Menschen am Ort zu kennen, dass der Prediger sich im Vorbereitungsprozess in einige Menschen der Gemeinde hineinversetzen sollte, ist eine alte homiletische Einsicht. Friedrich Niebergall z. B. formulierte, er folge einem Ideal einer Homiletik von unten, von der Kirchenbank her.ŗşś Mitte der Sechzigerjahre appellierte Ernst Lange dafür, dass der Maßstab für die Predigt der Mensch wird, der nicht ŗşŗ Vgl. zum Beispiel Karl Fritz Daiber, Der Wirklichkeitsbezug der Predigt. In:
ŗşŘ
ŗşř
ŗşŚ ŗşś
Praktische Theologie 73 (1984), 488–501; Karl-Wilhem Dahm, Hören und Verstehen, Kommunikationssoziologische Überlegungen zur gegenwärtigen Predigtnot. PSt IV/2, 1970, 9 ff.; und ders., Die Predigt in kommunikationssoziologischer Sicht, Anstöße 2, 1970, 25 ff. Vgl. Hans-Günter Heimbrock, Gottesdienst als Spielraum des Lebens. 1. Lernprobleme des Gottesdienstes. Weinheim 1993; insbesondere „1.3. Gottesdienst zwischen rituellen Bedürfnissen und liturgischem Spiel“, 22–25. Hierfür steht insbesondere Gerhard Marcel Martin, vgl. auch seine neuere Veröffentlichung zum Thema: ders., Zwischen Eco und Bibliodrama – Erfahrungen mit einem neuen Predigtansatz. In: Garhammer/Schöttler (1998: 51–62). Vgl. Waldenfels (2000: 194). Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 2, Tübingen 1906, 5.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
279
glaubt und der keine kirchliche Sozialisation genossen hat. Damit gibt Lange der Homiletik eine neue Situation zur Reflexion auf. Die Predigerin hat eine Haltung vorbehaltloser Partizipation einzugehen; dies ist existenziell zu verstehen: „Offenbar geht aller methodischen Erschließung etwas Existentielles voraus, eine Haltung vorbehaltloser Partizipation, vorbehaltlose Teilhabe am Geschick des Hörers, die durch die homiletische Technik auf keine Weise zu ersetzen ist.“ŗşŜ Die Predigtsituation setzt also an einer Wirklichkeitssicht an, in der Gott keinen festen Platz hat. Aber diese Gottlosigkeit wird nicht als eine mögliche Wirklichkeitssicht akzeptiert. Sie wird vielmehr aus der Sicht des Glaubenden als inakzeptabel geschildert: „Im Kern ist also, biblisch gesprochen, die homiletische Situation die Situation der Anfechtung, die Situation, in der sich Gott entzieht, als Grund des Glaubens entzogen ist, in der er angesichts der Verheißungslosigkeit der andrängenden Wirklichkeit unaussprechbar wird.“ŗşŝ Diese Präjudizierung der Kommunikationssituation stört die Kommunikation des Evangeliums aber grundlegend. Sie setzt für die Befindlichkeit der Hörerin oder des Hörers eine Krisensituation voraus. Diese Voraussetzung ist zum einen kommunikativ schwierig, weil der Gesprächspartner nicht so angenommen wird, wie er ist.ŗşŞ Zum anderen kann für die Hörerinnen und Hörer einer Predigt nicht generell von einer akuten Krisensituation ausgegangen werden. Eine weitere Schwierigkeit für eine offene Kommunikation des Evangeliums liegt in dem Verständnis der Situation bzw. in dem Kommunikationsziel der Predigt: Es gehe in ihr darum, Situationen zu klären. Dass Lange für diese Position auch die menschliche Fähigkeit, spielen zu könnenŗşş, in sein Verständnis von Kommunikation einbezieht, macht seine Überlegungen auch aus medientheoretischer Perspektive attraktiv: „Im Schachspiel etwa erfolgt Klärung durch einen Zug, der aus der Bedrohung herausführt, also durch eine reale Veränderung der Situation. Andererseits hat das Wort Klärung einen glücklichen Anklang an den Begriff der Aufklärung.“ŘŖŖ Auch die Bedeutung von Gefühlen für Kommunikation wird herausgearbeitet, es gehe beim Predigen um Existenzielles. Aber hier zeigt sich auch eine Schwäche des Entwurfs. Denn es überrascht in der Beschreibung des Schachspiels z. B., dass vor allem eine Situation der Bedrohung thematisiert wird, das strategische ExŗşŜ Ernst Lange, Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt. Hg. ŗşŝ ŗşŞ ŗşş ŘŖŖ
von Rüdiger Schloz, München 1982, 9–68, hier 30. Vgl. Lange (1982: 25). Vgl. Engemann (2003: 293–311). Vgl. Hoffmann (2001). Lange (1982: 27 f).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
perimentierfeld Schachspiel hingegen nicht in den Blick kommt. Das Medium Schachspiel wird in einer unmittelbaren Weise als Wahrnehmung der Realität aufgefasst. Dazu passt auch, dass das Spiel als Möglichkeit zu einer lebensverändernden Deutung der Wirklichkeit beschrieben wird. Die konkreten Spielzüge werden aber nicht mehr genannt. Das Leben selbst steht also auf dem Spiel. Zur Theorie und Praxis der PredigtarbeitŘŖŗ gibt dem Prediger bzw. der Predigerin in diesem Sinne die Kommunikation des Evangeliums auf. Auf diese Weise wird es wiederum möglich, wenn auch unter der Hand und nicht beabsichtigt, dass eine zweite Wirklichkeit in der Religion gesucht wird. Religion wird dann wiederum als Transzendenz der Immanenz und nicht als Transzendenz in der Immanenz verstanden. Denn nur in der Transzendenz ist letztlich die eindeutige Klärung der Situation möglich. Eine solche ist aber in der Wirklichkeit, oder präziser: in der eigenen Konstruktion der Wirklichkeit erwünscht, z. B. wenn Klärung der Situation als Bannbruch und Exorzismus verstanden wird.ŘŖŘ Dem entgegen lässt die Wirklichkeitssicht sozusagen im Normalfall immer mehrere Möglichkeiten zu, sie ist deshalb vieldeutig zu verstehen. Die menschliche Virtualisierungsfähigkeit ermöglicht es hier, mit mehrdeutigen Situationen leben zu können. Doch eine solche Möglichkeit ist in diesem Predigtkonzept nicht vorgesehen. Das kommunikative Ziel der Predigt liegt explizit in der Klärung der Situation. Ihre Veränderung wird in der Überwindung von Vieldeutigkeiten anvisiert und nicht in der Akzeptanz derselben. Trotz dieser Schwierigkeiten ist Langes Neuformulierung der Situation für die Homiletik weiter wertvoll. Er formulierte Leitsätze wie „weg von der Rednerpult-Mission“, „weg von der Verschulung des Glaubens“ hin zur „stetigen Verantwortung unseres Glaubens vor den Gefährten unseres Alltags“ und „hin zu einer gegenseitigen Einübung im Glauben“.ŘŖř Damit signalisiert er, dass er die Kommunikation des Evangeliums auf partizipative Weise und auf Augenhöhe anvisiert. Man orientiert sich an einer Verkündigungsrichtung, die auf Verständigung im Alltag abzielt, und setzt sich ab von einer spezifischen Gottesdienst-Atmosphäre, in der Situationen kreiert würden, die unmündig machten. Das folgende längere Zitat macht einerseits deutlich, wie alle religiösen Fluchtbewegungen aus der einen Wirklichkeit heraus verhindert werden sollen. Andererseits zeigt es aber auch, wie Sprache so eingesetzt werden kann, dass mit ihr eine Situation kreiert wird, deren immersive Wirkungen ebenfalls offenkundig sind. Im Gottesdienst würden: ŘŖŗ Vgl. Lange (1982). ŘŖŘ Vgl. Lange (1982: 28). ŘŖř Vgl. Werner Simpfendörfer, Ernst Lange. Versuch eines Porträts. Berlin 1997, 90.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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„[…] all die gefährlichen Haltungen und Einstellungen eingeübt und gepflegt [...], um deren Überwindung wir doch bemüht sind. Hier [...] ist der fundamentalistische Kult des heiligen Buchs in vollem Schwunge, hier der unverantwortliche, weil interpretationslose Gebrauch der heiligen Formel, hier droht, in der Knappheit der Rede, angesichts der feierlichen Stimmung und der offenkundigen Wehrlosigkeit der Gemeinde, angesichts der Mischung der Generationen und der Frömmigkeitsstile ständig die Flucht in die doppelte Wahrheit, hier greift die unbeholfene und unreflektierte Sprache in ihrer Not zu den ungedeckten Wechseln großer Worte, hier verwandelt sich, weil die Gemeindesituation so ungreifbar scheint, die konkrete Verheißung in Vertröstung, die konkrete Weisung in den Dauerappell, der Bußruf zur Schimpferei. Hier wird der Pfarrer, weil er doch applizieren muss, zu dem über alles urteilenden und für nichts wirklich zuständigen Hans-Dampf-in-allen-Gassen, hier perenniert der Klerikalismus.“ŘŖŚ
Mit dem Votum für „ein Engagement mit dem Hörer“ŘŖś zeigt Lange, dass die Predigerin in die doppelte Wahrheit flieht, wenn sie sich ihm gegenüber positioniert, anstatt neben ihm zu stehen und seine Blickrichtung einzunehmen. Deshalb wird auch nicht für ein Engagement mit dem Hörer, wie sprachlich üblich, sondern über eines für den Hörer gesprochen. Die räumliche Dimension der Kommunikation des Evangeliums wird hierbei ebenfalls eingeholt. Ein Engagement mit dem Hörer zu entwickeln, kann diesen zu eigenen religiösen Artikulationen motivieren, die er nun, wenn er den Gottesdienst verlässt, in anderen Kommunikationsräumen aufnimmt. Zur Kasualpredigt In ekklesiologischen Konzepten wie Kirche von Fall zu FallŘŖŜ oder Kirche bei GelegenheitŘŖŝ wird die Funktion der Predigt für den Gemeindeaufbau deutlich. Außerdem empfiehlt die Kasualtheorie der Homiletik, dass sie von ihr lernen könne: „Der ungebrochene Zuspruch, den Kasualien in kirchlicher Frömmigkeit und in distanzierter Kirchlichkeit immer noch und immer wieder neu finden, ist ein Hinweis auf die biografische Plausibilisierung des Glaubens: Hineingesprochen in die eigene Lebensgeschichte erschließt sich die Botschaft.“ŘŖŞ In Kasualgottesdiensten werden existenzielle Fragen, wie die Geburt eines Kindes, ein Trauerfall, der Beginn einer Ehe etc. zum Thema. Auch wenn Lange (1982: 16). Vgl. Lange (1982: 31). Vgl. Fechtner (2003a). Vgl. Michael Nüchtern, Abschied vom Negativen. Religiöse Herausforderungen der Gegenwart wahrnehmen. In: Deutsches Pfarrerblatt Heft 7/2000, 372–375. ŘŖŞ Erich Garhammer/Klaus Schöttler/Gerhard Ulrich (Hgg.), Zwischen Schwellen angst und Schwellenzauber. Kasualpredigt als Schwellenkunde. Einleitung. München 2002, 7. ŘŖŚ ŘŖś ŘŖŜ ŘŖŝ
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
der Bezug zu Krisensituationen in religiöser Rede nicht unproblematisch ist, verhelfen diese den Pfarrerinnen und Pfarrern zunächst dazu, weitaus konkreter zu formulieren, als dies in einem normalen Sonntagsgottesdienst der Fall ist: „Nicht mehr eine (vorgegebene) gesellschaftliche Lage, sondern die kulturell-lebensweltliche Praxis tätiger Subjekte bildet den situativen Bezugsrahmen von Gottesdienst und Predigt; nicht mehr das gesellschaftliche Leben (in) der Gemeinde, sondern die individuelle Lebensgeschichte ist der Ort, an dem die Botschaft des Evangeliums, gottesdienstlich gefeiert und gepredigt, bedeutsam werden soll und – so Gott will – wirksam wird.“ŘŖş Auch Ulrike Wagner-Rau argumentiert mit ihrer Studie zum Segensraum – Kasualpraxis in der modernen GesellschaftŘŗŖ in eine ähnliche Richtung. Sie schlägt offene Themengottesdienste mit lebensgeschichtlichem Bezug vor.Řŗŗ Aus medientheoretischer Perspektive bedeutet dies, dass die Wirklichkeitskonstruktionen, die im Predigtgeschehen kommuniziert werden, hier offenbar durch den Bezug auf die Lebensgeschichte intensiver mit anderen Kommunikationsbeziehungen der Kasualgemeinde vernetzt werden. Für die Gestaltung des Predigtgeschehens stellt sich nun aber die Frage, wie der Bezug zum Kasus gestaltet sein soll. Die individuelle Ansprache läuft Gefahr, zu persönlich zu werden, wenn sie sich im Wesentlichen auf die Lebensdaten und biografischen Zeugnisse einer Familie oder einer Person bezieht. Wo zu konkretistisch vorgegangen wird, kann die Ansprache auch leicht einen falschen Zungenschlag erhalten, der die Rezipienten aus der Kommunikation herausdrängt, weil sie sich nicht mehr angemessen verstanden fühlen. Daneben liegt eine Herausforderung der Kasualansprache auch darin, dass die Dimension des Glaubens artikuliert wird, ohne eine zweite Wirklichkeitskonstruktion zu entwickeln, die weitgehend unverbunden neben dem biografischen Teil der Predigt steht. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, zeigt ein medientheoretischer Zugang zur Homiletik wiederum seine Stärke darin, dass der Kasus als eine von der Kasualgemeinde zu gestaltende Situation zu sehen ist. Die Predigt fungiert dabei als ein Möglichkeitsraum, in dem Menschen diese kreative Arbeit für ihre Situation leisten können. Sie nehmen darin für sich je persönlich Strukturierungen vor, die ihnen einen freiheitlichen Umgang mit ihrem Leben eröffnen. Ein psychologisch geschulter Ansatz konvergiert in dieser Hinsicht mit einem medientheoretischen Zugang, dem es darum geht, ŘŖş Fechtner (2001: 234). ŘŗŖ Vgl. Wagner-Rau (2000). Řŗŗ Vgl. Wagner-Rau (2000: 216). Aber sie macht sie nicht zur Regel, denn die Kasual-
predigt soll das Profil der Sonntagspredigt nicht vollständig in sich aufnehmen.
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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dass es möglich wird, eine Situation zu kreieren, ihre Vielfältigkeit auszuloten und verschiedene Möglichkeiten, sie zu strukturieren, zu bedenken: „Das Paradigma Kasualansprache zeigt – so gesehen – auf, dass die Predigt erst dann für die Lebenswirklichkeit ihrer Hörerinnen und Hörer offen ist, wenn es gelingt, eine Projektionsfläche auszuweisen und einen Identifikationsspielraum einzurichten, der die Predigthörer in ganz unterschiedlicher Weise zur Deutung der je eigenen Wirklichkeitserfahrung herausfordert.“ŘŗŘ Der Kommunikationsraum Predigt muss vielfältige Vernetzungsmöglichkeiten bieten, damit unterschiedlich an dem erzählten Leben teilgenommen werden kann. Denn es gilt, nicht allein die Lebensgeschichten von Einzelnen mit ihren Konkretionen zu thematisieren, sondern es wird ihre mehrdimensionale Inszenierung erforderlich. Dies heißt, sowohl die nahen als auch die weiter entfernten Beziehungen zur Tauffamilie oder zu den Hinterbliebenen eines Verstorbenen wahrzunehmen und deren unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse aufzunehmen. Es geht so z. B. in einer Traueransprache nicht nur um die Würdigung des Lebens eines Verstorbenen, sondern auch um die Würdigung der Lebensmöglichkeiten, die in dieser konkreten Lebensgeschichte artikuliert werden. Die Trauer über verpasste und die Freude über wahrgenommene Lebensmöglichkeiten zu kommunizieren, eröffnet der Trauergemeinde im Predigtgeschehen z. B. das Durchspielen der eigenen Lebensgeschichte. Im Kern der hierbei vorgenommenen Reflexion einer Lebensgeschichte geht es nicht nur darum, eine sozusagen richtige Rekonstruktion vorzunehmen, sondern vielmehr eine Konstruktion der Lebensgeschichte wahrnehmbar zu machen, mit der sich Menschen vernetzen können. Eine solche Vernetzung wird insbesondere über Atmosphären möglich, also über gestimmte Räume, in denen Leben gelebt wird oder gelebt worden ist.Řŗř So regt eine Kasualpredigt dazu an, die Lebensräume von Menschen nicht nur zu schildern, sondern ihrer Atmosphäre nachzuspüren, z. B. wie etwas ist oder wie es war oder wie es sein könnte, hier und jetzt, da und dort gewesen zu sein oder noch zu sein. Mit einer solchen beschreibenden Kommunikation zu einem Kasus werden die Sinne für die jeweils eigene, sinnlich eruierbare Situation sensibilisiert. Bereits in dieser Wahrnehmung wird eine eigene Konstruktion der Situation vorgenommen. Weil diese Konstruktion Spuren in der Selbstwahrnehmung von Menschen hinterlässt, werden sie dann als Situationen erinnert. Die Wirkung, die eine Atmosphäre hinterlässt, ob sie z. B. niederdrückt oder beflügelt, steht dabei in Zusammenhang damit, ŘŗŘ Ursula Roth, Die Kasualansprache als rezeptionslogisches Paradigma der Predigt. In:
Pohl-Patalong/Muchlinsky (2001: 74). Řŗř Vgl. Teil 1, 4.2.2.1.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
ob Menschen in der Atmosphäre des Gottesdienstes dazu angeregt werden, neue Lebensmöglichkeiten wahrzunehmen bzw. ob sie schmerzlich erfahren, dass ihnen Lebensmöglichkeiten verschlossen bleiben. Auf der Ebene der Predigtpraxis ist z. B. vorgeschlagen worden, sich bewusst mit dem Format des journalistischen Porträts auseinanderzusetzen.ŘŗŚ Damit ist für die predigende Person selbst auch deutlich, dass sie eine Konstruktion der Lebensgeschichte vornimmt. Den konstruktiven und damit medialen Aspekt der Predigt auch zu kommunizieren, verhilft weiterhin dazu, die Predigerin bzw. den Prediger mit der Gemeinde und ihren Kommunikationsräumen zu vernetzen. Wenn kürzlich Trauerreden bei Beerdigungsfeiern vom Bundessozialgericht als Kunst anerkannt worden sind, dann zeigt das, dass auch auf ein öffentliches Bewusstsein für die konstruktive Gestaltung des Predigtprozesses zurückgegriffen werden kann.Řŗś Wie bereits bezüglich des Kasualgottesdienstes soll auch für die kasuelle Homiletik noch einmal betont werden, dass in der Konstruktion von Lebensgeschichten dem zeitlichen Faktor nicht länger eine höhere Bedeutung zugemessen werden sollte als dem räumlichen. Jede Kommunikationserfahrung wird von dem Raum bzw. den Räumen, in denen sich Menschen bewegen, mitstrukturiert. Ein Raum ist der Kirchenraum, der mit seinem Betreten als Kommunikationsstruktur entsteht. Ein anderer ist aber z. B. auch der Kirchenraum, in dem man als Kind und Jugendlicher war und dessen Atmosphäre nachhaltig auf die Erinnerung wirkt. Zudem wecken architektonische Details oder Kunstgegenstände ebenfalls Erinnerungen, die die Wahrnehmung strukturieren. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es keinen Raum gibt, der nicht gestimmt wäre. Es ist von hoher emotionaler Bedeutung, dass eine Raumerfahrung nicht vorrangig die Erfahrung des Raums als solchen, sondern den Raum als Bezugspunkt des eigenen Leibkörpers thematisiert. Menschen finden sich in Kirchenbänken ein und sind z. B. von der Raumgestaltung irritiert; deshalb haben sie Mühe, dem Gottesdienst zu folgen.ŘŗŜ Die Vertrautheit, die andere Menschen zu diesem Raum zu zeigen scheinen, wird dann auch nicht zur Brücke, die dabei helfen würde, sich zu orientieren. Sie kann eher als Differenzerfahrung den Rückzug in die Innerlichkeit und in das eigene Verstummen forcieren. Mit der Fremdheit der ŘŗŚ Vgl. Haberer (2004: 116–125). Řŗś Vgl. „Trauerredner sind laut Gericht Künstler.“ Frankfurter Rundschau vom 24. März
2006, 8 (AZ: B 3 KR 9/05). ŘŗŜ Vgl. Christoph D. Müller, Eine Radiopredigt als Herausforderung zu einer pluralen
Hermeneutik. In: Preul/Schmidt-Rost (2000: 146, Anm. 30).
5.3 Die Bedeutung des virtuellen Leibkörpers für die Homiletik
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Umgebung, der Liturgie und der Menschen kann dann auch Gott als sehr fern wahrgenommen werden. Das Kreuz auf dem Altar inszeniert in diesem Falle Ferne ebenso wie das Wandgemälde, das irgendeine für den Rezipienten unbekannte biblische Geschichte dargestellt. Die schönsten Gegenstände können die Welt dieses Raums als eine Raumwelt erscheinen lassen, die keine Verbindung zur eigenen Wirklichkeit aufweist. So lassen Kommunikationsräume, die durch Gegenstände oder auch durch umbauten Raum entstehen, durch Kommunikationsmittel wie z. B. das Handy in der Hosentasche die eigenen Lebensmöglichkeiten wahrnehmen. Wenn das Predigtgeschehen in der kommunikativen Atmosphäre, die eine Kasualgemeinde aufbaut, eine neue Situation zu kreieren helfen soll, sind die oben geschilderten Störungen zunächst vorrangig zu behandeln. Eine offene Atmosphäre ist dann eine solche zu nennen, in der Vernetzungsmöglichkeiten zu den oben genannten verschiedenen Kommunikationsräumen, in denen Menschen sich bewegen, thematisiert werden. Ist eine Kasualgemeinde z. B. nicht in der Lage zu singen, ist diese Bedingung hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wahrnehmung des virtuellen Leibkörpers zu reflektieren. Soll der fehlende Gesang auch als verpasste Lebensmöglichkeit im Gottesdienst präsent werden, indem ein schwacher Gesang ausgehalten werden muss, oder sollte deshalb auf Gesang verzichtet werden? Wird die Kommunikation in einer Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung aufgebaut, kann Kirche einer Kasualgemeinde die Möglichkeiten, sich im Gesang auszudrücken und in diesem je individuell an den eigenen virtuellen Leibkörper anknüpfen zu können, auch exemplarisch eröffnen. Ohne diese Vernetzung zum eigenen virtuellen Leibkörper kann es den versammelten Menschen kaum gelingen, für sich eine Situation zu kreieren, die dazu verhilft, ihr Leben neu zu strukturieren. In dieser Weise ist nun auch die sprachliche Kommunikation im Predigtgeschehen zu reflektieren. Der vielräumigen Kommunikationssituation muss auch ein vieldeutiges Predigtgeschehen entsprechen. Dies heißt nun gerade nicht von einem beliebigen „Sowohl als auch“ in jeder Lebensperspektive auszugehen, sondern ein vieldeutiges Predigtgeschehen lebt von der Bewegung durch verschiedene Kommunikationsräume. Die Predigt wird dann zu einem virtuellen Raum, der in jedem Fall mit anderen Kommunikationsräumen vernetzt ist und in dieser Vernetzung die eigenen Lebensmöglichkeiten mit der Gegenwart Gottes auslotet. Für die sprachliche Gestaltung eines solchen Predigtprozesses heißt dies allerdings, sich nicht auf eine Wahrnehmung der Gegenwart Gottes festzulegen. Der virtuelle Leibkörper der Mitkommunizierenden ist im Predigtgeschehen auf eine Gelegenheit angewiesen, sich sowohl auf eine Beziehung der Gottferne als auch auf eine der
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
Gottesnähe einzustellen und in diesem Zoom mit dem eigenen Standort zu spielen, bis die eigene Situation kreiert ist. Dabei hat die Predigerin bzw. der Prediger eine hoch anspruchsvolle Arbeit zu leisten, die aus rhetorischer Perspektive zwischen „autoritativer Beschwörung oder Behauptung der Anwesenheit Gottes auf der einen und einem Sichabfinden mit der Abwesenheit Gottes auf der anderen Seite [liegt, I. N.]. Dabei vermögen nur diejenigen diese Balance auszuhalten und zu bewähren, die das Wagnis eingehen, sich allein der Zerbrechlichkeit kommunikativer Sprachformen anzuvertrauen. Insofern ist die Predigt Dienst am Wort Gottes, als sie die Hoffnung nicht aufgibt, dass in diesem Widerspiel der unterschiedlichen Redeweisen Gott sich zur Sprache bringt.“Řŗŝ Wie zerbrechlich der virtuelle Raum ist, in dem im Predigtgeschehen die Möglichkeit zur Erfahrung der Wirklichkeit Gottes liegt, zeigt insbesondere der Kontext von Kasualpredigten. Wo sozusagen die virtuellen Leibkörper der Anwesenden mit eindeutigen und konkretistischen Aussagen oder Antworten auf Lebensfragen verletzt werden, kann die Arbeit an den eigenen Situationen nur noch schwer erfolgen. Dann aber schwinden auch die Möglichkeiten, dass die Gegenwart Gottes als wirklich erfahren wird.
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten Das Predigtgeschehen ist eine Gelegenheit, die eigene Lebenssituation neu zu strukturieren. Dieser Prozess der Neustrukturierung wird von den im Gottesdienst anwesenden Menschen einzeln exemplarisch durchgespielt. Ein gelingendes Predigtgeschehen hat somit „wesentlichen Anteil daran, dass der Mensch als neue Kreatur unter den Bedingungen der gegenwärtigen, raumzeitlich erfahrbaren Wirklichkeit aus Glauben zu leben und zu handeln vermag“ŘŗŞ. Die Aufgabe der Predigerin und des Predigers ist es, eine Möglichkeit für diesen Prozess zu schaffen, mit anderen Worten, einen virtuellen Kommunikationsraum hierfür aufzubauen. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Ob die Redeform oder eine andere Gestaltungsform gewählt wird, hängt von den weiteren Kommunikationsbedingungen ab. Prinzipiell ist für die Gestaltung von Predigtgeschehen neben der traditionellen Form der Rede die virtuelle Realität sowohl als Simulation für eine ErŘŗŝ Albrecht Grözinger, Die Predigt soll nicht Antworten geben, sondern Antworten
finden helfen. Zum Verständnis der Predigt bei Henning Luther. In: Theologia Practica, 27. Jg., 1992, Heft 3, 212. ŘŗŞ Engemann (2003: 75).
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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innerungskultur als auch als Experimentierwelt, als Spielwelt, als Begegnungsraum für ein Gespräch in der Gruppe, als filmische Inszenierung und anderes mehr in Betracht zu ziehen. In Bezug auf gegenwärtige homiletische Reflexionsperspektiven wird diese Frage ausführlicher erläutert werden. Entscheidend wirkt auf das Gelingen des Predigtprozesses aber auch die Haltung der Predigerin oder des Predigers, ob er bzw. sie selbst für sich noch Aufschluss und Entwicklung im Predigtgeschehen erwarten, ob der aufzubauende Möglichkeitsraum für sie selbst noch zum Raum einer neuen Erfahrung der Wirklichkeit von Gottes Gegenwart werden kann. Nur so wird im Predigtgeschehen die Offenheit liegen, mit der er zu einem gemeinsamen Prozess der Kommunikation des Evangeliums gestaltet werden kann. Die Frage nach der Struktur der Predigt ist mit der nach ihrer Wirkung eng verbunden. Dies zeigt sich in der praktisch-theologischen Erkundung des Phänomens virtueller Realitäten z. B. an der Auseinandersetzung mit Raumkonzepten, die vom umbauten bis zum elektronischen Raum bzw. ihren Mixturen geführt haben. Dies zeigt sich zudem bezüglich der Atmosphären, die Räume wirken lassen. So wie es keinen atmosphärenfreien Raum gibt, so gibt es auch keine Struktur ohne die Dimension ihrer Wirkung. Wird nun das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten betrachtet, wird damit insbesondere die Frage nach der Wirkung der Predigt reflektiert. 5.4.1 Medientheoretische Aspekte Es werden nun das Wirklichkeitsverständnis im Predigtgeschehen sowie das Verständnis der Bibel als Medium und die Bedeutung des Bibeltextes für die Predigt reflektiert. 5.4.1.1 Zum Wirklichkeitsverständnis Für die Kommunikation des Evangeliums wird mit der Predigt ein Möglichkeitsraum geschaffen. Erst wenn dieser auch von den am Predigtgeschehen beteiligten Menschen betreten und in Gebrauch genommen wird, werden eigene Erfahrungen in ihm gemacht, und in diesem Sinne wird das Predigtgeschehen für sie wirklich. Erst in dieser Partizipation kann das Mögliche sich als Wirkliches zeigen. Doch dies geschieht nicht als ein Prozess, in dem sozusagen wesenhaft in der Möglichkeit alles Wirkliche bereits beschlossen läge. Dann hätte die Predigerin oder der Prediger bereits vorab kontrollieren können, welche Glaubenserfahrungen verwirklicht werden. Der Prozess der Kommunikation des Evangeliums im Kontext virtueller Realitäten ist viel-
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
mehr im Rahmen seiner Struktur offen. Dies entspricht durchaus der Art und Weise, wie bereits mit dem Modell des offenen Kunstwerks Predigt beschrieben worden ist. So schreibt z. B. Albrecht Grözinger, dass für die Predigt als offenes Kunstwerk nur um Zustimmung gebeten werden, dass mit ihr nur eine Atmosphäre eröffnet und eine Gemütsverfassung herbeigeführt werden könne. Dennoch werde darin auch eine bestimmte Deutung nahegelegt, aber die Vollendung des Kunstwerks, die Vollendung des Predigtgeschehens läge nicht in der Hand der Predigenden. Umberto Ecos Sichtweise wird bezüglich der erbittenden Wirkung eines Kunstwerks zitiert, die Eco so beschreibt: „Das Kunstwerk in Bewegung [...] bietet die Möglichkeit für eine Vielzahl persönlicher Eingriffe, ist aber keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung zu einem am Werk selbst orientierten Eingreifen, die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl immer noch die vom Künstler gewollte ist. Der Künstler, so könnte man sagen, bietet dem Interpretierenden ein zu vollendendes Werk an: er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt werden kann, aber er weiß, dass das zu Ende geführte Werk immer noch sein Werk, nicht ein anderes sein wird [...].“Řŗş Deshalb wird nun auch bewusst vom Predigtgeschehen gesprochen. Kommunikation des Evangeliums geschieht, wo sie für die an ihr Beteiligten wirklich wird. Vom Geschehen zu sprechen, bedeutet dabei keinesfalls die Subjektivität des Menschen, der predigt, zu leugnen, sondern es weist darauf hin, dass im sogenannten Dialog II, also dem Predigtgeschehen, wie es im Gottesdienst kommuniziert wird, der Prediger hinter seinem Konzept zurücktritt und dasselbe wirken lässt. In dieser Zurückhaltung schafft er Offenheit für die Partizipation an der Kommunikation des Evangeliums, sodass sich Verkündigung ereignen kann. Dies heißt konkret, dass die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes von und für Menschen konstruiert wird. In diesem Konstruktionsprozess werden Menschen schöpferisch tätig; in ihm zeigt sich der schöpfungstheologische Charakter des Predigtgeschehens, das durch das lebendige Wort Gottes motiviert wird. In der medientheoretischen Reflexion zum Verständnis von Handeln und Wahrnehmen ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das Wahrnehmen und das Gestalten zwei unabdingbar miteinander verbundene Lebensäußerungen sind, dass das Wahrnehmen als eine Weise zu handeln verstanden werden kann und vice versa.ŘŘŖ Hiermit soll keinesfalls das Paradigma der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft vor Ergänzungen oder Řŗş Eco (1977: 55). ŘŘŖ Vgl. Teil 1, 2.1.
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Korrekturen aus dem Forschungsbereich der Ästhetik immunisiert werden, aber doch ihre dualistische Entgegensetzung abgelehnt werden. Denn die Stilisierung eines unverbundenen Gegensatzes zwischen Handlungswissenschaft und Ästhetik lenkt davon ab, die vieldimensionale Verflechtung beider in Kommunikationsprozessen darzustellen. Sie zeigt sich z. B. in der Phänomenbeschreibung virtueller Realitäten. Die dialogische Struktur im Gottesdienst, so wie sie mit der Predigt als Rede und wahrnehmendem Hören geschildert wird, ist so z. B. in eine pluriloge Beschreibung des Kommunikationsprozesses Predigtgeschehen geöffnet worden.ŘŘŗ Zur schöpfungstheologischen Grundlegung der Homiletik kann bereits auf dem Konzept der Predigt als Schöpfungsakt aufgebaut werden. Dazu bezieht sich Wilfried Engemann auf die Schöpfungsgeschichte (Gen. 1). Gott nehme hier seine Handlungsmacht wahr, indem er ein Machtwort spreche. „Von einer Predigt mit Schöpfungscharakter wäre ebenfalls zu erwarten, dass sie ein Wirklichkeit stiftendes Machtwort ist.“ŘŘŘ Dieses Machtwort ziele auf die Lebensfähigkeit des Menschen in Freiheit und Gemeinschaft. Es vermittele Lebensmacht, was durchaus ein gewagter Satz sei. „Aber was sonst sollte eine Predigt, die das Machtwort Gottes in der Gegenwart ausspricht, vermitteln, wenn nicht die Möglichkeit, aus der schuldhaft verursachten Selbstbegrenzung des eigenen Lebensraumes herauszutreten und – durch die wiedergewonnene Beziehung zu Gott – in Freiheit zu leben?“ŘŘř Diese Freiheit, die aus Gottes Machtwort hervorgeht, sei die Antwort des Menschen auf das Wort des Schöpfers und äußere sich in der Fähigkeit zu leben. Lebensmacht werde vor allem in der Freiheit, zu handeln und etwas zu bewirken, umgesetzt. So könne von der Freiheit als spezifisch menschlicher Form weltlich vermittelter Lebensmacht gesprochen werden. In der Weise, wie hier Freiheit handlungstheoretisch fokussiert als die Fähigkeit zu einer souveränen Lebensführung geschildert wird, korrespondiert dies durchaus mit der oben auf phänomenologischer Basis ausgeführten Freiheit, die sich durch die Entfaltung des virtuellen Leibkörpers ergibt. Der virtuelle Leibkörper bietet eine anthropologische Brücke zur Deutung der Predigt als schöpferischer Predigt, die Spielräume eröffnen will, um Zukunft zu antizipieren und darin Gegenwart zu gestalten.ŘŘŚ Die Ausbildung des virtuellen Leibkörpers kann dabei selbst als eine Wirkung schöpferischen Predigtgeschehens gesehen werden, insofern er auch als ein Reifeprozess im ŘŘŗ ŘŘŘ ŘŘř ŘŘŚ
Vgl. Teil 2, 4.1.3. Engemann (2003: 63–90, hier 77). Ebenda. Vgl. Engemann (2003: 81–90).
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Glauben verstanden wird. Dies gilt sowohl individuell wie sozial oder besser gesagt: über die Individualität einzelner Menschen hinaus atmosphärisch für eine ganze versammelte Gemeinde, ja sogar für die gesamte Schöpfung.ŘŘś So wird für das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten ein Wirklichkeitsverständnis vorausgesetzt, in dem Wirklichkeit nicht das ist, was vorgeblich in der Realität vorzufinden ist, sondern Wirklichkeit wird als ein konstruiertes Weltbild bestimmt, das sich im Falle christlicher Weltperspektiven aus dem Glauben heraus erschließt. In der älteren Diskussion hatte Manfred Josuttis darauf hingewiesen, dass von Verkündigung als kommunikativem und kreatorischem Geschehen zu sprechen sei.ŘŘŜ Dabei kann man seine Ausführungen auch als eine Aufforderung zur Bestimmung eines praktisch-theologischen Wirklichkeitsverständnisses lesen: „Ziel meiner Überlegungen ist nicht, die empirische Arbeit im Bereich der Homiletik zu blockieren oder zur relativieren, sondern ihre Notwendigkeit und ihren Sinn im Rahmen einer Praktischen Theologie zu begründen.“ŘŘŝ Eine Praktische Theologie, die mehr sein wolle als Kunstlehre oder Anwendungswissenschaft, werde sich mit der Rezeption empirischer Methoden nicht begnügen und die Verkündigung nicht nur als kommunikatives Geschehen ansehen dürfen.ŘŘŞ Im Zusammenhang der Kommunikation des Evangeliums müsse vor allem mit dem Glauben argumentiert werden; er verdanke sich nicht selbst, sei vielmehr eine transempirische Tatsache. „Der Glaube ist deshalb für die Reformatoren eine kritische Instanz von letzter Radikalität. Weil er nämlich jene kritische Unterscheidung vornimmt, die die selbstverständliche Identifizierung von Welt und Gott, Gesellschaft und Gott, Kirche und Gott ständig in Frage stellt.“ŘŘş In diesem Sinne verankert Josuttis den kreatorischen Aspekt der Verkündigung im Glauben: „Kreatorischer und kommunikativer Aspekt der Verkündigung verhalten sich zueinander wie Glaube und Werk.“ŘřŖ Auch in seinem gegenwärtig vertretenen Modell von der energetischen Predigt stellt er sich die Frage nach der Wirkung der Predigt. Er unterscheidet ein kognitives Predigtmodell, das theologische Einsichten festhalten wolle, von einem kommunikativen Modell, das die Verständigung zwischen den beteiligten Menschen offen zu halten beabsichtige. Zur Vermittlung beider Pole solle die
ŘŘś Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie. Die Gegenwart des göttlichen Geistes. ŘŘŜ ŘŘŝ ŘŘŞ ŘŘş ŘřŖ
Berlin/New York, Bd. 3, 268–270. Vgl. Josuttis (1985: 29–47). Josuttis (1985: 31). Vgl. Josuttis (1985: 36). Josuttis (1985: 40). Josuttis (1985: 45).
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Präparation der Predigt im energetischen Sinn dafür sorgen, dass Prediger und Predigerin im homiletischen Akt für den Einfluss des göttlichen Geistes offen bleiben. Deshalb könne, wie oben bereits ausgeführt, die Predigtvorbereitung sich nicht in der Gestaltung von schriftlichen Entwürfen erschöpfen, sondern müsse für die sprachlichen Impulse öffnen, die sich im Kraftfeld zwischen dem Text, der Gottheit und der Gemeinde im Gottesdienst einstellten.Řřŗ Insofern geht es auch hier um ein Predigtgeschehen, das als kreativ im Sinne der Konstruktion der Glaubenswirklichkeit zu bezeichnen ist. Allerdings tendiert das Modell doch insgesamt auch zu einer Konstruktion, in der eine empirisch orientierte Realitätsvorstellung mit einer glaubensförmigen Wirklichkeit konfrontiert wird und deren Gemeinsamkeit, nämlich dass sie beide aus Konstruktionen menschlicher Zeichenprozesse hervorgegangen sind, nicht thematisiert wird. Bezüglich des Kommunikationsverständnisses kommt es deshalb auch zu einer impliziten Abwertung menschlicher Kommunikationsmöglichkeiten. Es erscheint nicht zureichend, für Predigt und Verkündigung von der Kommunikation des Evangeliums zu sprechen. Die Religiosität der Menschen, die im Gottesdienst versammelt sind, wird als defizitär wahrgenommen, sodass sie sich erst in das göttliche Kraftfeld hineinziehen und sich von diesem überwältigen lassen müssen, um selbst an der Kommunikation des Evangeliums kreativ teilhaben zu können. In der Homiletik wird aus kommunikationspsychologischen Gründen bereits seit Längerem dafür plädiert, der Gemeinde auf partnerschaftlicher und reziproker Beziehungsebene zu begegnen. Für eine solche Orientierung an den Kommunikationsfähigkeiten von Menschen in der Gemeinde spricht auch die Forschung zur psychotherapeutischen Weisheit der BibelŘřŘ. Im Kontext virtueller Realitäten hat sich überdies gezeigt, dass Kommunikation höchst selbstbestimmt wählbar geworden ist und Verletzungen des virtuellen Leibkörpers, wie sie entstehen, wenn z. B. das Freiheits- und Entscheidungsbedürfnis von Menschen nicht wahrgenommen wird, mit dem Abbruch von Kommunikation begegnet wird. Kreativitätstechniken können Predigerinnen und Predigern helfen, um zumindest im inneren Dialog die Wahrnehmungsfähigkeit für die interaktiven Fähigkeiten der Gemeinde zu erhöhen.Řřř Der Perspektivwechsel würde auch wahrnehmungsfähiger dafür machen, wie sehr jedes Predigtgeschehen in seinem Gelingen vom Wohlwollen der Gemeinde abhängt, die Řřŗ Vgl. Josuttis (2001: 177). ŘřŘ Vgl. Wolfram Kurz, Die psychotherapeutische Weisheit der Bibel. In: Witte (2001:
121–136). Řřř Vgl. hierzu Waldemar Meyer, Schöpferisch predigen. In: Pohl-Patalong/Muchlinsky
(2001: 269–279).
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eine Atmosphäre zuvorkommender Kommunikationsbereitschaft aufbaut und darin auch die Kreativität der Predigerin bzw. des Predigers fördert. 5.4.1.2 Zur Bibel als Medium Der Protestantismus hat ein historisch eingeübtes Verhältnis zu dem Medium Buch: „Protestanten sind [Leserinnen und; I. N.] Leser.“ŘřŚ Doch diese Beziehung zum Buch ist homiletisch keineswegs unproblematisch. So ist das Wort Gottes nicht das Wort, das in der Bibel zu lesen steht, sondern es erschließt sich doch erst durch die Selbstvergegenwärtigung des Geistes im Hören der viva vox evangelii. Die viva vox evangelii vermittelt die frohe Botschaft; dies vermag die biblische Schrift allein nicht, so ist gegen eine protestantische Tendenz einzuwenden, deren Verständnis des sola scriptura zu einer Schriftgläubigkeit und auch zu einem Bibelglauben führt, der in ethischen Auseinandersetzungen brisante Wirkungen zeigt. Gerade auf dieser Basis erstaunt es aber, dass die Bibel – obwohl sie auch als gebundenes Buch für die Kanzelrede relevant ist, sich in jeder Kirche, auf dem Altar und auch am Redepult findet – als (Print-)Medium homiletisch kaum reflektiert wird.Řřś Das typografische Medium ist aber gerade das öffentlich zugängliche Medium. Der Zugang kann literaturwissenschaftlich, künstlerisch oder religiös sein. Als Buch fordert die Bibel die mediale Selbstbefähigung des Lesers und der Leserin heraus. Diese Kommunikationsmöglichkeiten mit der Bibel als Buch reichen in die Kommunikation des Evangeliums im Gottesdienst hinein, bzw. der Gebrauch des Mediums Bibel eröffnet den Rezipienten im Predigtgeschehen einen Kommunikationsraum, der ihnen nach protestantischer Tradition auch zuhause und anderenorts zu der Zeit, die sie wählen, zur Verfügung steht. Dieser Kommunikationsraum wird zudem mit dem Predigtgeschehen vernetzt, wenn die Bibel als Buch so
ŘřŚ Klaas Huizing, Der inszenierte Mensch. Stuttgart 2002, 24. In der Rede vom Lesen
inklusive Sprache zu verwenden, ist mehr als angebracht, denn Frauen lesen nicht nur ebenso wie Männer, sondern alle Lesestudien weisen durchgängig aus, dass in Deutschland mehr Frauen und Mädchen lesen als Männer und Jungen. Vgl. Jutta Mägdefrau/Ralf Vollbrecht, Lesen in der Freizeit von Hauptschülern. In: Media Perspektiven 4/2003, 187–193, hier: 187. Vgl. zum Thema Buchdruck, Bibel und zum Lesen auch Hermann Timm, Sage und Schreibe. Inszenierungen religiöser Lesekultur. Kampen 1995. Řřś Vgl. z. B. Gräb (2002: 157–164 und 291–300), der auch im Kontext der Mediengesellschaft die Bibel texthermeneutisch und religionshermeneutisch thematisiert, hierbei aber die religionshermeneutische Bedeutung der Bibel in der Gestalt als Printmedium für die Homiletik nicht auswertet.
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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genutzt wird, mit anderen Worten so gelesen wird, wie dies eben auch in anderen Kommunikationsräumen geschieht. Aber genau gegen einen solchen angepassten Gebrauch des Buchs der Bibel gibt es theologische Einwände. Hierzu gehört z. B. die bereits ältere Befürchtung, dass die evangelische Kirche sich durch die irreversible Faktizität der Neuen Medien ebenso theologisch unreflektiert überrollen lasse, wie sie es in den vergangenen Jahrhunderten durch die kirchliche und theologische Dominanz des Buches tat: „Es liegt nicht zuletzt an der Praktischen Theologie, den theologisch so mühsam korrigierten Irrweg mit dem Buch nicht widerstandslos in einen potentiell noch viel verheerenderen Irrweg mit dem Bildschirm münden zu lassen.“ŘřŜ Die Befürchtung der Reizüberflutung und der Verstärkung einer Konstruktion von Wirklichkeit, die das geschriebene Wort als Wort Gottes missversteht, ist zwar verständlich, doch eine solche Entwicklung kann nicht ursächlich mit dem Medium Computer und dem Bildschirm verbunden werden. Medienkritische Positionen zeigen insofern nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass alle Kommunikation ambivalente Wirkungen hat. Als kulturelle Produktion partizipiert jede Form der Kommunikation des Evangeliums an den Ambivalenzen, die das Leben im erst angebrochenen Reich Gottes mit sich bringt. Den Umgang mit diesen ambivalenten Wirkungen zu reflektieren und, wo möglich, ihre Folgen positiv zu beeinflussen, ist ein Teil der Aufgabe der Medienethik. In dieser Weise kann auch Luthers Position verstanden werden, wenn er die Bibel und das individuelle Bibellesen als das letzte und zugleich größte Geschenk Gottes bezeichnete.Řřŝ Mit seinem Engagement für Bibelübersetzungen beabsichtigte er, dass nicht mehr nur das kirchliche Personal, sondern jedermann die Möglichkeit habe, sich aus der Bibel zuhause Informationen herauszuziehen, die er für seine Praxis des Glaubens brauche. Wenn zunächst doch wohl nur Expertinnen und Experten an diesen Drucken teilhatten, gelangten sie später, zwar nur vereinzelt, aber doch eben auch in die Hände von Laienpublikum. „In diesen Händen gewinnt die Bibel sofort eine völlig andere Funktion: sie substituiert den Prediger in seiner Rolle als Übersetzer und als Verkündiger der göttlichen Botschaft. Beides sind wohlgemerkt nicht die einzigen Aufgaben des Priesters und deshalb ist seine Rolle durch diese Technisierung als Ganzes noch nicht gefährdet – wohl aber erhält er in gewissen Teilbereichen Konkurrenz.“ŘřŞ Je einfacher der Zugang zur Bibel als Buch ŘřŜ Dalferth (1985: 184). Řřŝ Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998,
159–167. ŘřŞ Giesecke (1998: 249)
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strukturiert ist, desto mehr wird sie frequentiert werden. Die sogenannte Vollbibel, die den heutigen Bestand der biblischen Schriften in deutscher Sprache enthält, ist so auch elektronisch zugänglich; in dieser medialen Aufbereitung kann nach eigenem Belieben zu Themen und Stichworten recherchiert werden. Hier tritt zwar das Medium Buch zurück, an seine Stelle aber wird die CD-ROM als Speicherformat gesetzt, dazu kommen Bibelausgaben und Konkordanzen, die online verfügbar sind. Auch über eine Lesehermeneutik kann die rezeptionsästhetische Perspektive in der Homiletik gestärkt werden. Denn in ihrem Rahmen wird ebenfalls deutlich, wie an der Neustrukturierung der Lebenssituation im Prozess des Lesens gearbeitet wird. Zu lesen bedeutet, sich auf eine virtuelle Realität einzulassen, deren Besuch Spuren in der Lebensführung hinterlassen wird: „Die Stärke biblischer Texte besteht in der Impressivität einer konkreten Gestalt, die mich berührt und betrifft.“Řřş Am Anfang, so Huizing, stehe die affektive Betroffenheit durch die faszinierende Erscheinung des Christus, der in den biblischen Erzählungen vor Augen gestellt werde. Die Kommunikation mit Christus, wie er mir im Text begegnet und sich mir durch die Lektüre, vor allem der Bilderwelt der Bibel einprägt, kann die Leserin oder den Leser durchaus zu einer Wiedergeburtserfahrung im Glauben führen.ŘŚŖ Die Lektüre, die den Christus vor Augen führt, ist denn auch z. B. für Meister EckhartŘŚŗ und Martin LutherŘŚŘ zur Grundlage ihres Bildungsverständnisses geworden. So ist das Verständnis dessen, was Bildung bedeuten soll, ursprünglich sogar mit diesem vor Augen geführten Christus und damit auch mit einem mystisch-spekulativen Bedeutungsfeld verbunden. Das Wort Bildung wird als eine Wortschöpfung des mittelalterlichen Theologen Eckhart bezeichnet. Dieser bezieht sich für sein Verständnis unter anderem auf das biblische Wort aus 2. Kor 3,18, wo es in lateinischer Übersetzung heißt: „in eandem imaginem transformamur“. Nach Luther kann dies in dem Sinne übersetzt werden, dass Menschen in das Bild des Christus hinein verklärt werden. Eckhart paraphrasiert es auch als ein Überbildetwerden und als ein Řřş Huizing (2000: 23). ŘŚŖ Vgl. Teil 1, 4.2.2.3. ŘŚŗ Auch Peter Biehl setzt hier an. Vgl. ders., Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen
und das Problem der Bildung. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer Perspektive. In: ders., Erfahrung, Glaube, Bildung. Gütersloh 1991, 124. Biehl verweist außerdem auf Ernst Lichtenstein, Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel. Heidelberg 1996, 5 f. ŘŚŘ Vgl. zu Martin Luther auch Michael Meyer-Blanck, Kleine Geschichte der evangelischen Religionspädagogik. Dargestellt anhand ihrer Klassiker. Gütersloh 2003, 13–36.
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wieder Eingebildetwerden in die Gottheit. Es geht darum, selbst zum Bilde Christi zu werden. Dies geschieht vor allem durch die Geburt des Sohnes in der Seele.ŘŚř Das Überbildetwerden ist ein Transformationsprozess, in dem Menschen das fremde und zum Teil abgewehrte Bild Christi in sich aufnehmen. Die Ein-Bildung, das Überbildetwerden bringt mit dem Transformationsprozess eines Menschen auch eine Veränderung seiner Identität; sich bilden heißt, sich zu verändern. In der mystischen Vorstellung Eckharts sind Menschen Christinnen und Christen und damit Teil Gottes, wenn sie Teil der Präsenz Gottes in der Welt werden, und dies hat ganz weltliche Auswirkungen. Denn die Imitatio Christi verwirklicht sich nach christlich-mystischer Vorstellung als eigenständiges Handeln im göttlichen Geist, den der Mensch nach der Himmelfahrt Jesu erhalten hat. So predigte Eckhart z. B., dass erst die erwachsene Maria, nicht, die, die zu Jesu Füßen Jesu gesessen habe und die in der Schule noch von ihm für das Leben lernte, sondern die, die nach der Himmelfahrt Jesu den Geist empfangen habe, imstande gewesen sei, über das Meer zu fahren, zu predigen und sinnvoll tätig zu sein.ŘŚŚ Die christliche Tradition arbeitet an dieser zentralen Stelle, die den Einbildungsprozess Christi erläutert, mit Vorstellungswelten, die maximal immersiv angelegt werden. Auch Eckhart und Luther machen das Medium in ihrer Beschreibung der Christuserfahrung unsichtbar. Sie erreichen damit, Immersionseffekte im Einbildungsprozess möglichst ungebrochen wirken zu lassen. Der Einbildungsprozess, den Eckhart und Luther schildern, führt dabei in das Geheimnis ein, die virtuelle Realität des Glaubens als eine Wirklichkeit zu begreifen und somit den Sprung in den Spielraum der Freiheit zu wagen, der sich z. B. durch die Lektüre bzw. Einbildung biblischer Worte erschließt. So sprechen die biblischen Texte zu unserer Einbildung, „indem sie ihr Bilder unserer Befreiung vorsetzen“ŘŚś. Luther greift insbesondere die Probleme auf, die sich daraus ergeben, wenn dieser Sprung nicht gewagt wird, Menschen ihren virtuellen Leibkörper verloren haben und deshalb nicht offen sind, sich Fremdem oder Neuem zuzuwenden. Die gerade gültige Wahrnehmung und Konstruktion der LebensŘŚř Vgl. Ernst Lichtenstein, Bildung. In: Joachim Ritter u. a. (Hgg.), HWPh Bd. 1.
Darmstadt 1971, 922. ŘŚŚ Vgl. Ursula Reinhardt, Religion und Moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft.
Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Spiegel christlicher Mystik. Marburg 2003. ŘŚś Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Zur Einführung. Hermeneutik und Ästhetik. Zur Bedeutung einer theologischen Ästhetik für die Lehre vom Wort Gottes. In: Ders. (Hg.), Die Theologie des Wortes im multimedialen Zeitalter. Neukirchen-Vlyn 2001, 12.
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situation verhindert dann einen Bildungsprozess; permanentes Nachsinnen über die eigene Lebensgeschichte, verpasste Chancen und eigenes Versagen halten gefangen. Hier z. B. solle der Prozess der Einbildung des biblischen Bildes Christi eine heilsame Entmächtigung oder Desensibilisierung hervorrufen. So schreibt Luther: „Sondern musst abkehren deine Gedanken und die Sünde nicht, denn in der Gnade Bild ansehen, und dasselbe Bild mit aller Kraft in dich bilden und vor Augen haben. Der Gnade Bild ist nichts anderes, denn Christus am Kreuz.“ŘŚŜ Je stärker Angst und Verzweiflung sind, desto mehr sind Menschen auf starke Bilder, starke Wertungen angewiesen, um zerstörerische Mächte abwehren zu können und für Bildungsprozesse offen zu bleiben. Zerstörerische innere Bilder sollen durch heilsame innere Bilder oder Objekte ersetzt werden, so könnte dieser von Luther beschriebene Vorgang aus psychoanalytischer Sicht begriffen werden.ŘŚŝ Luther selbst forderte dazu auf, biblische Worte zu meditieren und sich durch diese hindurch einen Kommunikationsraum zur Begegnung mit Jesus Christus zu erschließen, die heilsam wirkt und in diesem Sinne zum Wohlbefinden beiträgt. Selbst wenn die Zahl derer, die in der Bibel lesen, immer geringer wird, verringert dies nicht die Bedeutung, die die Bibel für die Kommunikation des Evangeliums hat. Denn auch z. B. die Bibelworte, die Menschen an für sie wichtigen Schwellensituationen in ihrem Leben empfangen haben oder die sie zu solchen Anlässen selbst ausgewählt haben, können in der Wahrnehmung der Bibel in anderen Situationen wieder gegenwärtig werden. Taufe, Beerdigung, Konfirmation, Schulunterricht oder auch eine Inszenierung der Weihnachtsgeschichte rufen diese Verbindungen zur Bibel auf. Im Medium Buch liegt allein oder mit anderen zusammen die Möglichkeit, unabhängig von anderen Glaubenden und der Organisation Kirche einen Kommunikationsraum für religiöse Erfahrungen aufzubauen. Menschen entdecken über die Bibel ihre mediale Selbstbefähigung, sich in Religion und Glaube informieren und ausdrücken zu können. Zusätzlich kann erfahren werden, wie sich im Prozess des Lesens auch der virtuelle Leibkörper erweitert. Die Lektüre erschließt virtuelle Realitäten, die die biblischen Schriften anbieten und die im Lesen zugleich begangen werden. Der Gebrauch der Bibel vernetzt also das Predigtgeschehen mit einer anderen Form der Kommunikation des EvanŘŚŜ Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, 1519 [zum elften]. In:
Ders., Martin Luther. Ausgewählte Werke, Erster Band, München 1938, 352. ŘŚŝ Vgl. beispielsweise Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt.
Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. Frankfurt a. M. 2003 (engl. Original 1965), auf ihn verweist auch Gutmann (2004).
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geliums, der Bibellektüre, insoweit sie zu einem Einbildungsprozess Christi dient. Die Bedeutung der Bibel für das Predigtgeschehen erhöht sich darüber hinaus auch durch die Vernetzungsmöglichkeiten mit kulturellen Produktionen, die an biblische Welten anknüpfen. Bücher, Kinofilme, Radiosendungen, Videoclips und Comics liefern öffentlich zugängliche Inszenierungen des biblischen Stoffes. Sie können ebenfalls als Fortschreibungen der christlichen Überlieferung angesehen werden; außerdem vermitteln sie die religiöse Produktivität von Menschen, die häufig außerhalb der Organisation Kirche stehen. 5.4.1.3 Zur Bedeutung des Bibeltextes Aus medientheoretischer Perspektive liegt die Bedeutung des Bibeltextes für das Predigtgeschehen in seinen Möglichkeiten, die Kommunikation des Evangeliums mit vielen anderen verschiedenen Texträumen oder virtuellen Realitäten des Textes zu vernetzen, die in ihm selbst bereits eröffnet werden, aber zugleich auch stets mit anderen Texten in Verbindung stehen. Eine unendlich große Fülle von Texträumen eröffnet sich dann und dies macht das Verstehen des Textes auf der Seite der Leserin zu einem nicht auszuschöpfenden Unternehmen. Dass aus den Literaturwissenschaften die Texthermeneutik in die Auslegung biblischer Texte aufgenommen worden ist, bedeutet für diese, dass sie unter denselben Verstehensregeln wie alle Texte betrachtet und in das Predigtgeschehen eingebracht werden.ŘŚŞ Damit wird dazu beigetragen, die in den Texten enthaltenen möglichen Kommunikationsräume auch literaturwissenschaftlich analysieren zu können. Signifikant für diese Betrachtungsweise biblischer Texte ist generell, dass der historische Autor des Textes hinter seinem Text verschwindet, ja verschwinden muss. Wird der Tod des Autors (Roland Barthes) nicht zugelassen, kommt der Text nicht als interpretativer Raum zur Geltung. Dies bedeutet aber auch, dass die Vernetzung des Predigtgeschehens mit einem Bibeltext bewirkt, dass in ihm eine apersonale Struktur aufgebaut wird. So wird der Vorgang der mindestens teilweisen Anonymisierung des Autors bzw. der Autorin zur Bedingung dafür, dass ein Spielraum für die Interpretation der Leserin bzw. des Lesers oder der am Predigtgeschehen beteiligten Menschen überhaupt aufgebaut werden kann.
ŘŚŞ Vgl. Oda Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Tübingen/Basel 2004,
175–184.
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Dennoch bleibt der Autor noch im Text präsent, doch dies nur in der Weise, dass ihm die Anlage miteinander verschachtelter Kommunikationsräume sozusagen zugeschrieben werden kann. Literaturwissenschaftlich orientierte Texthermeneutik weist ihn textintern dann über das Kriterium der Kohärenz verschiedener Textwelten aus, die im Rahmen dieser Untersuchung sich zugleich als Kommunikationsräume und hierbei auch als virtuelle Realitäten begreifen lassen. So findet sich in einem Kommunikationsraum des Bibeltextes die in diesem dargestellte Realität mit ihrer soziokulturellen Prägung. Sie ist nun wiederum vernetzt mit einem weiteren Kommunikationsraum, in dem sich die erzählte Realität befindet. Ein dritter Kommunikationsraum offeriert eine zitierte Realität. Sie führt zusätzlich zur dargestellten und erzählten in eine außerhalb dieser liegenden Realität durch Zitate ein. Jeder dieser drei Realitäten könnte nun eine Autorin bzw. eine Autorengruppe und eine implizite Leserin bzw. ein impliziter Leser zugeordnet werden.ŘŚş So sensibilisiert die Texthermeneutik für die mediale Konstruktion von im Text liegenden Kommunikationsräumen, medientheoretisch präzisiert: für ihre virtuellen Realitäten sowie deren Rezeptionsmöglichkeiten. Die texthermeneutisch orientierte neutestamentliche Forschung nutzt neben dem Kriterium der textinternen Kohäsion weitere Kriterien, wie das der Intentionalität, Akzeptabilität und Informativität sowie die Situationalität und schließlich die Intertextualität.ŘśŖ Insbesondere das Kriterium der Intertextualität bietet für eine medientheoretische Betrachtung des Bibeltextes noch einmal einen zusätzlichen Ertrag. Mit ihm wird darauf aufmerksam gemacht, dass ein Text nicht isoliert zu betrachten ist, sondern sich in einem Verweisungszusammenhang von anderen, weiteren Texten befindet. In die Vorbereitung eines Predigtgeschehens wird also ein biblischer Text als ein intern und nun auch extern vielräumiges Gewebe eingespielt, weil er selbst bereits in seinem Text auf andere Texte antwortet, sie kommentiert, hinterfragt, konterkariert etc. Es wird davon ausgegangen, dass es so etwas wie eine vernetzte Textwelt gibt, in der alle Texte auseinander hervorgehen und aufeinander bezogen seien.Řśŗ Biblische Texte aus einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik heraus zu interpretieren, ist allerdings nicht selbstverständlich, denn sie gelten
ŘŚş Vgl. Engemann (2002: 264). ŘśŖ Vgl. zum Überblick Wischmeyer (2004: 178–181). Řśŗ Vgl. einführend Johanna Bossinade, Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stutt-
gart/Weimar 2000, insb. 94–103, und Wischmeyer (2004: 187).
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zugleich als Heilige Schrift.ŘśŘ In der biblischen Exegese wird deshalb z. B. zwischen texthermeneutischen Ansätzen, die unter anderem philologisch, historisch, textlinguistisch und literaturwissenschaftlich informiert sind, und theologisch-systematischen Ansätzen zum Verständnis des Bibeltextes unterschieden.Řśř Beide Zugänge zum Umgang mit biblischen Texten müssen sich aber nicht widersprechen, wenn ihr funktionaler Ort geklärt werden kann. Aus medienästhetischer Perspektive kann die Qualifizierung biblischer Texte als Heiliger Schrift als eine atmosphärische Wirkung gesehen werden. Biblische Texte umgibt die Aura des Anfangs; jedenfalls aus heutiger Sicht gehören die biblischen Schriften zu den Anfängen der christlichen Glaubenstradition. Mit ihnen sind hohe Erwartungen und große Hoffnungen verbunden, in ihnen liegt eine besondere Aura der Lebendigkeit, der Wandlungsfähigkeit von Situationen. Sie bewirken Immersionserfahrungen. Am Anfang eines Geschehens ist noch vieles offen, es gibt noch Spielräume, die ausgefüllt werden können: in Anfängen ist die menschliche Fähigkeit zur Virtualisierung der Realität gut sichtbar. Auch deshalb strahlen Anfänge eine heilige Aura aus. So liegt z. B. in der bibliodramatischen Inszenierung biblischer Geschichten die Möglichkeit, Jesus selbst zu begegnen und eine unvergessliche Glaubenserfahrung zu machen. „Anfänge sind auch immer dort zu finden, wo dieser Gott sich den Menschen zuwendet. Gottesbegegnung begründet in einem ganz elementaren Sinne menschliches Anfangen. Aus dem brennenden Dornbusch spricht Gott dem Mose den Anfang der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens zu. Und von dem, der – in den Worten des Kolosserbrie fes –‚ der Anfang ist und der Erstgeborene von den toten‚ (Kolosser 1, 18), geht jener österliche Anfang aus, der die beiden Jünger in Emmaus aus ihrer tiefen Melancholie reißt und ihnen die Augen für diesen Anfang öffnet.“ŘśŚ In der Inszenierung eines Kommunikationsraums aus den Anfängen der jüdisch-christlichen Geschichte tritt wiederum – wie bereits oben für das VorAugen-führen des Christus gesagt - die Medialität der Schrift zurück. Dies geschieht z. B. auch in der öffentlichen Lesung des Bibeltextes im Gottesdienst. Auch hier kann ein Kommunikationsraum aufgebaut werden, in dem Menschen in den Text involviert werden, sodass sie beginnen, selbst auf ihn zu reagieren. In diesen Fällen wird mit medialen Mitteln des Bibliodramas, der ŘśŘ Vgl. zum Verständnis der Bibel im Gottesdienst die Bedeutung der 1. Theologischen
These von Barmen, dass „Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, das eine Wort Gottes (ist), das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“ (zitiert nach Klaus Wegenast, Bibel V. praktischtheologisch. In: TRE, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 99. Řśř Vgl. Wischmeyer (2004, 1–20). ŘśŚ Vgl. hierzu Grözinger (2004: 59–86, hier 74).
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Lesung etc. eine virtuelle Realität der Gegenwart Gottes konstruiert, in die Menschen eintreten können und eindrücklich erfahren, dass sie an (den Anfängen) der christlichen Religion Anteil erhalten. Auch das Predigtgeschehen kann prinzipiell in diesem Kontext gesehen werden: „Das Wort des Lebens steht in der Heiligen Schrift. Jede Lesung aus diesem Buch verändert, erneuert die Welt. Und nur der kann anhand eines Textes wahrhaftig predigen, der diesen Text angemessen vorzulesen vermag. Weil es auch in der christlichen Gemeinde, wie in der Religion überhaupt, um die lebenserneuernde Kraft der heiligen Überlieferung geht, hört sie die Lesungen, nicht die Predigt, im Stehen. Sie signalisiert damit, dass sie gekommen ist, etwas zu empfangen, und dass dieses Empfangen nur in respektvoller Haltung erfolgen kann.“Řśś Auch wenn dem zuzustimmen ist, dass innerhalb einer Lesung ebenso wie im Predigtgeschehen die Gegenwart Gottes erfahren werden kann, bleibt in dieser Perspektive problematisch, dass Lesung und Predigt funktional vereinheitlicht werden könnten. Sodass die Frage offen bleibt, worin ihre jeweilige Eigenart besteht. Medienwissenschaftlich gesehen werden hier unterschiedliche Kommunikationsräume in unterschiedlichen Kontexten aufgebaut und auch mit unterschiedlichen medialen Fähigkeiten rezipiert. Zu diesem Problem gesellt sich ein weiteres, das die besondere Autorität betrifft, die der Bibel zugewiesen wird. Die Bibel wird als Urdokument des Glaubens zur Heiligen Schrift. Die Autorität, die ihr aufgrund dieser Bedeutung zukommt, bringt allerdings eigene Kommunikationsprobleme mit sich. Denn schon die Vorstellung von dem, was ein heiliger Text sagt oder sagen darf, was eigentlich von ihm gemeint werden könnte, steuert die Rezeption des Textes. „Herausgelesen wird abgründig Tiefes, zeitlos Gültiges, irgendwie überaus Bedeutsames. Der Sinn und Geschmack für das Marginale fällt aus.“ŘśŜ Unterhaltsame Korrespondenzen können ebenso wenig aufgebaut werden, wie kritische Auseinandersetzungen mit den Ambivalenzen in biblischen Texten thematisiert werden können. Das Verlesen biblischer Texte und das Hören von biblischen Texten im Gottesdienst werden zu einer Immersionserfahrung, in der eine Atmosphäre heiliger Macht konstruiert wird. Werden diese Immersionserfahrungen gezielt zu Zwecken der religiösen Sozialisation eingesetzt, können sie z. B. die emotionale Reifung religiöser Bildung befördern und dazu Immersionserfahrungen nutzen: „Durch lautes Sprechen eines heiligen Textes wird ein Gefühlsraum geschaffen, der das Umfeld erfüllt, aber auch in den Sprechenden eindringt. [...] Textbezogene Meditation in den verschiedenen Verfahren rechnet damit, dass im konŘśś Josuttis (1991: 244 f.). ŘśŜ Andreas Horn, Der Text und sein Prediger. In: Engemann/Lütze (2006: 143).
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zentrierten Sprechen des Wortes die energetische Kraft des Geistes zur Wirkung kommt.“Řśŝ Wo zusätzlich Gesten wie das Niederknien oder Aufstehen eingesetzt werden, wird der Eindruck heiliger Macht auch in Bezug zum virtuellen Leibkörper noch nachhaltiger einzuprägen versucht. Meditation kann die emotionale Bindung an biblische Worte, Geschichten, ja an die Bibel insgesamt stärken. Insofern verhilft der phänomenologische Zugang zur Heiligen Schrift, eine im Protestantismus nicht immer sehr geförderte spirituelle Bindung an biblische Texte zu initiieren. Immersionseffekte erleichtern die Wahrnehmung der eigenen Religiosität; darin vermitteln sie auch emotionale Sicherheit im Umgang mit Religion. Doch es gibt eine religiöse Sehnsucht, vollständig, um nicht zu sagen, total in die Welt Gottes einzutauchen. Sie spiegelt die Grenzen des Ernstes in der Verkündigung wider. Wo sie überschritten werden, wird Religion fundamentalistisch gelebt; Ambivalenzen und Fragwürdigkeiten in der menschlichen Rede von Gott zu thematisieren, wird dann für obsolet gehalten. Doch nur durch Rückfragen, durch das Offenlegen von empfundenen Ambivalenzen hindurch wird in der Kommunikation des Evangeliums tatsächlich auch um ein Textverständnis gerungen und damit dem biblischen Text als Glaubenszeugnis je und je eine eigene, frei entwickelte Bedeutungsmöglichkeit zugestanden. Nur wo im Umgang mit biblischen Texten ein Spielraum der Freiheit auch von diesen selbst spürbar wird, wird mit den biblischen Texten als virtuellen Realitäten angemessen umgegangen, weil sie nicht bereits umstandslos als die Wirklichkeit des Glaubens präsentiert werden. Umgekehrt gilt dann aber auch, dass erst, wenn der biblische Text nicht mehr als Fundament der Predigt dargestellt wird, mit Hilfe dessen die Predigt selbst wiederum als wahr, verbindlich und verlässlich ausgewiesen werden sollŘśŞ, der biblische Text nicht mehr für Geltungszwecke der Predigt vereinnahmt wird. Die Bedeutung des Bibeltextes für das Predigtgeschehen zu erheben, heißt deshalb zunächst, dass man sich auf texthermeneutische Fragen einlässt. Insofern das in der Bibel bezeugte Wort Gottes als Heilige Schrift wahrgenommen wird, ist es zunächst Text, mit dem als einem spezifischen Medium sehr unterschiedlich umgegangen werden kann. Schon die Beobachtung, dass die Texte der Bibel aus sehr unterschiedlichen Textsorten bestehen, führt dazu, sie deutlicher in ihren Funktionen für ihre ersten Leserinnen und Leser wahrzunehmen und sie in diesem Sinne auf die Absichten ihrer Wirkung hin zu befragen. Literaturwissenschaftliche und Řśŝ Vgl. Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. III. Heilige Schrift. Gütersloh
1996, 66. ŘśŞ Vgl. Engemann (2002: 245–252).
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medientheoretische Perspektiven vertreten hier gemeinsam rezeptionsäthetische Interessen, um biblische Texte in ihrer spezifischen Form, und das heißt zugleich: in ihrer Adressatenbezogenheit in den Fokus zu bekommen.Řśş Für die Frage nach der Bedeutung des Bibeltextes für den Predigttext heißt dies, dass er gerade, wenn er in seiner Textförmigkeit wahrgenommen wird, dazu verhelfen kann, dass sich innerhalb des Predigtgeschehens viele verschiedene Kommunikationsräume vorsehen lassen. Diese im Text liegenden virtuellen Realitäten eröffnen unter den Bedingungen eines konkreten Textes Kommunikationsräume, die individuell begangen werden können und in denen Möglichkeiten zur eigenen Fortschreibung des Textes liegen. In dieser Hinsicht eröffnet also der biblische Text im Predigtgeschehen Möglichkeitsräume, zur eigenen wirklichen Gegenwart zu finden.ŘŜŖ Ein literaturwissenschaftlich informiertes und medientheoretisch reflektiertes Umgehen mit dem Bibeltext sichert damit auch für die Homiletik ab, dass der biblische Text nicht mehr allein im Sinne einer Religionshermeneutik in Gebrauch genommen wird, sondern seine texthermeneutische und damit mediale Struktur Bedeutung erhält. Auf diese Weise bleibt auch das Unausschöpfliche des Bibeltextes erhalten, denn die intertextuelle Vernetzung kann in keinem Kommunikationsgeschehen identisch so verlaufen, wie es in einem anderen Abschnitt mit anderen Menschen und in anderen Situationen des intertextuellen Gewebes geschieht. Aus medientheoretischer Perspektive liegt die nicht einholbare Bedeutung des biblischen Textes für das Predigtgeschehen in seiner Loslösung von dem einen konkreten Autor und damit von der sozialen Beziehung zu ihm. Erst dann kann der Text offen werden für die, die ihn lesen. Auf dieser Basis ergibt sich dann auch eine Analogie zwischen dem Bibeltext und dem Predigttext, für die es in Abwandlung eines Satzes von Clifford Geertz heißen kann: Biblische Texte bergen wie Predigten ihre eigene
Řśş Vgl. für einen Überblick zur literaturwissenschaftlich informierten Hermeneutik des
Neuen Testaments z. B. Ute E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, Göttingen 2006, 16–22 sowie Wischmeyer (2004, 91–112 und 149–159). ŘŜŖ Auch wenn dies hier nicht ausführlicher entfaltet werden kann, soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Texte durchaus Bilder enthalten. Sicherlich ist damit die Bildlichkeit von Kommunikation noch nicht ausreichend erfasst, aber zumindest als erheblicher Anteil benannt. Vgl. hierzu z. B. für die Medientheorie Manfred Faßler, Bildlichkeit. Wien/Köln/Weimar 2002 und für die Rezeption in den biblischen Wissenschaften Annette Weissenrieder/Friederike Wendt/Petra von Gemünden (Hgg.), Picturing the New Testament. Tübingen 2005, vgl. auch Teil 1, 3.1.
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Interpretation in sich. Es geht darum, den eigenen Zugang zu ihnen zu gewinnen.ŘŜŗ 5.4.2 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven „Der anglikanische Pastor von Whalley (Grafschaft Lancashire) hat mit einer Dauerpredigt von 28 Stunden und 45 Minuten einen neuen Weltrekord aufgestellt. Er verbesserte am Samstag die Zeit der bisher längsten Predigt der Welt um eine Stunde und 15 Minuten und hat damit einen Platz im GuinessBuch der Rekorde sicher.“ŘŜŘ
Was wollte der Pastor von Whalley mit seiner Predigt bewirken? Ohne weitere inhaltliche Rückfragen stellen zu können, fällt auf, dass dieser PredigtMarathon eine Präsenz in den Medien bewirkt hat, die vielen Predigten versagt bleibt. Sicherlich kann eingewendet werden, dass es kaum nachahmenswert erscheint, dieses Ziel – also länger predigen zu wollen als der bisherige Weltrekordhalter – erreichen zu wollen. Doch bestehen bleibt, dass hier ein Pfarrer mit seiner Predigt eine bestimmte Wirkung erzielen wollte. Betrachtete man diese Predigt nun auch hinsichtlich ihrer symbolischen Bedeutung, könnte man meinen, er wollte ein Zeichen für eine immer währende Verkündigung setzen, oder mit Bezug auf seine Person ausgedrückt: Er versteht sein ganzes Leben als Verkündigung. So gesehen fielen in der Dauerpredigt sogar Form und Inhalt des Predigens zusammen. Denn in diesem Predigtgeschehen wäre zumindest symbolisch auch das geschehen, wovon sie handelte. Die Frage nach der Wirkung eines Predigtgeschehens zu stellen, ist für die Homiletik ein ambivalentes Unterfangen. Sie führt direkt in das Spannungsverhältnis zwischen dem, was nach menschlichem Ermessen für das Predigtgeschehen vorbereitet und dann auch getan werden kann, und der Angewiesenheit auf den göttlichen Segen für diesen Kommunikationsprozess. Sie führt in eine Situation, in der über die Wirkungen des eigenen Handelns nachgedacht werden muss und in der nun auch über die Wirkungen des göttlichen Geistes nachgedacht werden kann. Sich auf die Imagination göttlicher Wirkungen einzulassen, erscheint aber in der Beziehung zu Gott kaum angemessen zu sein. Könnte eine solche Imagination Gott nicht in bestimmŘŜŗ Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Deep Play: Bemerkungen zum baline-
sischen Hahnenkampf. Frankfurt am Main 1983, 260. Dort heißt es: „Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muß nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen.“ ŘŜŘ Dauerpredigt, Frankfurter Rundschau, 2. Juli 2001, 22.
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ten Handlungslogiken bändigen wollen? Und wer wollte sich anmaßen, die Wirkungen von Gottes Tun vorherzusehen? Andererseits aber beginnt hier eine äußerst spannende experimentelle kommunikative Aufgabe: Stellt man sich vor, in der Vorbereitung eines Predigtgeschehens sich in die Kommunikation mit Gott zu begeben, um zu imaginieren, welche Wirkungen Gottes Gegenwart im Predigtgeschehen haben könnte, ist man schon mitten drin in dem Möglichkeitsraum des Glaubens. Eine solche Kommunikation zu imaginieren, dies öffnet die Predigerin oder den Prediger auf sehr situationsbezogene Weise für die Wirklichkeit des Glaubens. So versucht die Predigerin oder der Prediger hierbei nicht nur, für die anderen am Gottesdienst beteiligten Menschen die Möglichkeit herzustellen, dass sie ihre Situationen neu konstruieren können, sondern sie oder er begibt sich selbst mit in diesen Möglichkeitsraum. In der neueren praktisch-theologischen Diskussion ist es vor allem Manfred Josuttis, der sich der Auseinandersetzung mit Wirkungen religiöser Erfahrungen gewidmet hat.ŘŜř Er bezieht sich dabei auf den mit der Rechtfertigungslehre verbundenen Topos der Heiligung, der in der protestantischen Theologie zu gering geschätzt werde. Allerdings sei dies mit gutem Grund auch so gewesen, wenn z. B. die Aufforderung, ein Christ habe heilig zu leben, ambivalente, destruktive Wirkungen gezeitigt hat: „Eine Heiligung, die aus der Forderung des Gesetzes und nicht aus der göttlichen Dynamik des Evangeliums wächst, kann in der Frömmigkeitspraxis keine aufbauenden, sondern nur niederdrückende Prozesse auslösen.“ŘŜŚ In Konsequenz dieser Ambivalenzen sei nun aber die Erörterung der Heiligung des Lebens auf die sprachlichen und reflexiven Ebenen beschränkt worden. Demgegenüber sei festzuhalten, dass die biblische Tradition Leiblichkeit als Basis irdischen Daseins ansieht und dass Heiligung, sofern sie aus der Energie des göttlichen Evangeliums fließt, immer eine inkarnatorische Dimension aufweise.ŘŜś Josuttis fordert eine spirituelle Vorbereitung der Predigt, die sich im Grunde auf dessen Lesung und Meditation bezieht. „Exegetische und dogmatische, psychologische und soziologische Einsichten liefern Wirklichkeitsmuster, die die Wirkung des Textes kanalisieren und in diesem Sinne auch relativieren.“ŘŜŜ Eine Reinigung von allen präjudizierenden Meinungsbildungen, die Wirklichkeit konstituieren, wird hier von Josuttis empfohlen. Die Predigerin oder der
ŘŜř ŘŜŚ ŘŜś ŘŜŜ
Vgl. Josuttis (2004). Josuttis (2004: 15). Vgl. Josuttis (2004: 16). Josuttis (2004: 109).
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Prediger soll alle vorgefertigten Wirklichkeitssichten aufgeben und sich der Wirkung des Textes unterstellen, damit dieser selbst sprechen könne. Es ist bereits bezüglich der Wahrnehmung der Bibel als Medium und der Bedeutung des Bibeltextes für die Homiletik deutlich gemacht wordenŘŜŝ, dass ein Text ein gestaltetes Kulturprodukt ist, hinsichtlich dessen es problematisch ist, wenn man seine Bedeutung nur in unmittelbaren Leseprozessen erschließen möchte. Ebenfalls wurde erläutert, dass es dem Medium Text gegenüber unangemessen ist, ihn aus der Fülle seiner kommunikativen Vernetzungen herauszureißen. Das Problem der Applikation soziologischer oder anderer wissenschaftlicher Zeitdiagnosen auf die Frage nach dem Situationsbezug der Predigt ist innerhalb der Homiletik reflektiert worden, hier gehört auch speziell das Predigtklischee hinzu.ŘŜŞ So muss gegen Josuttis eingewendet werden, dass auch mithilfe der quasi unmittelbaren Begegnung mit dem Text dessen Fremdheit nivelliert werden kann und genau das, was vermieden werden soll, dass also redaktionelle Eingriffe den Bibeltext zu einem vertrauten Medium werden lassen, eintreten kann. Darüber hinaus ist auch auf die Ambivalenzen hinsichtlich einer Bibellektüre, die sich allein der Lesung bedient, aufmerksam zu machen. Erst aus der Kombination von diskursiven und meditativen Kommunikationen wird eine selbstständig verantwortete Beziehung zum biblischen Buch hervorgehen können. Die phänomenologische und verhaltenswissenschaftliche Hermeneutik, mit der Josuttis seine Deutung der Heiligung vornimmt, wird in seiner Darstellung nicht reflektiert; dass auch in der Predigtlesung der göttliche Geist sich durch das Medium des Predigers nicht unmittelbar an die Gemeinde wenden kann, sondern dies nur zeichenvermittelt geschehen kann, bleibt ebenfalls unbesprochen. Problematisch ist an Josuttis’ Entfaltung von Wirkungslogiken schließlich auch, dass er den Einfluss der Hörerinnen und Hörer im Predigtgeschehen hinter die des Textes zurückdrängen möchteŘŜş, anstatt eine auch emotional offene Kommunikationssituation zwischen Prediger, Hörer und Text zuzulassen. Kommunikation im Kontext virtueller Realitäten wahrzunehmen, schärft die Notwendigkeit dieser Offenheit ein. Sie wird speziell mit rezeptionsästhetischen Ansätzen gefördert und intensiviert.
ŘŜŝ Vgl. Teil 2, 5.4.1.2 – 5.4.1.3. ŘŜŞ Vgl. z. B. Engemann (2002 : 72 ff.). ŘŜş Vgl. Josuttis (2004: 110).
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5.4.2.1 Von der anmutigen bis zur unterhaltsamen Predigt Von der anmutigen Predigt ... Die Auseinandersetzung mit vor allem soziologischen Theorien zur Postmoderne und die sozialphilosophische Diskussion um hochmoderne Lebensführungen, zu der auch die phänomenologische Erkundung des Fremden gehört, führen Albrecht Grözinger zu einer Homiletik des Plurals und der Anmutung. Ihr entspricht eine Predigt der Gnade.ŘŝŖ Er sieht die homiletische Diskussion durch die Texthermeneutik und eine Hermeneutik der Differenz sowie durch die Rezeptionsästhetik angeregt. In diesem Horizont hat Grözinger die Erfindung des HörersŘŝŗ für die Homiletik betont. Mit Gerd Theißen ist er der Ansicht, dass die Suche nach der una sancta interpretatio vorbei sei. Eine Predigt der Gnade, so Grözinger, müsse sich in die Erzählung vom Leben einschreiben, die jeder einzelne Mensch individuell für sich entwickeln muss. Dies bedeutet, dass auch Grözinger die Notwendigkeit der individuellen Konstruktion der Wirklichkeit sieht. Die Predigt der Gnade treffe dabei als eine zunächst fremde Erzählung mit einer je individuellen Erzählung vom Leben zusammen. In der Frage nach der Struktur der Predigt wird hier also für eine narratologische Perspektive plädiert. Innerhalb dieser betont Grözinger die Fremdheit der Gottesgeschichte, die sich predigend in der fremden Menschlichkeit Gottes zeige.ŘŝŘ Obwohl Grözinger selbst keine medientheoretischen Überlegungen anstellt, kann an diesen Ansatz angeknüpft werden, zunächst weil einerseits die individuelle Glaubenserfahrung, die im Predigtgeschehen vermittelt werden soll, hoch geschätzt und andererseits das Kriterium der Irritation in der Erfahrung der Gegenwart Gottes ästhetisch gedeutet wird.Řŝř Im besonderen Fokus liegt aber das Konzept der Anmutung, in dem die ästhetische Gestalt der Predigtsprache genauer bestimmt wird. Die Predigt bedürfe einer besonderen Sprache, weil sie eben der Predigt der Gnade die Sprache der Anmutung gebe. „Anmutung heißt also: etwas kommt in seiner Anmut auf mich zu und bewegt, berührt oder streift mich in meiner Gefühls- und Wahrnehmungswelt.“ŘŝŚ Übersetzt man die Sprache der Anmutung nun in den Kontext ŘŝŖ Vgl. Albrecht Grözinger, Die Predigt der Gnade und die Conditio Postmoderna. In:
Engemann (2001a: 212). Řŝŗ Vgl. Grözinger (1995, insb. Kapitel 6: „Du sollst Dir (k)ein Bildnis machen oder
Wahrnehmung und Phantasie“, 81–98, hier: 97 f.). ŘŝŘ Vgl. Grözinger (2001: 218 ff.). Řŝř Vgl. Teil 1, 2.2. ŘŝŚ Grözinger (2001: 222).
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der Beschreibung virtueller Realitäten hinsichtlich ihrer Stimmungsqualitäten, findet sie sich in kommunikativ konstruierten Räumen als Atmosphäre wieder. Atmosphären muten jeweils in charakteristischer Weise an und modifizieren die Befindlichkeit bzw. die Stimmungen von Menschen. Sprache fungiert hier als Medium zum Aufbau einer Atmosphäre. Ginge es bei der Wahrnehmung von Anmutungen nicht um eine Rede, nicht um Sprache, sondern um die Person, die spricht, würde man wohl eher von Charismen und einer charismatischen Ausstrahlung sprechen. Auch die Charismen tragen zu bestimmten Atmosphären bei. Wenn Grözinger beschreibt, wie eine anmutende Predigt wirkt, verwendet er zu ihrer Erläuterung die Immersionserfahrung des Lichts, das im Dunkeln leuchtet, und er beschreibt zugleich auf der existenziellen Ebenen, was es heißt, die Weitung des virtuellen Leibkörpers in einem Predigtgeschehen wahrnehmen zu können: „Als solch anmutende Predigt kann sie die Dramatik unserer lebensgeschichtlichen Ambivalenzen aufbrechen und sei`s auch nur für einen kurzen Augenblick in ein neues Licht rücken. Nämlich das Licht, das von der Gnade Gottes auf unsere oft so gnadenlose Welt fällt. Und die Welt bricht sich im Licht der Gnade Gottes auf vielfältige Weise. Deshalb ist die Sprache der Anmutung eine Sprache im Plural. Sie stellt lebensweltliche Übergänge her, wo sonst Blockaden herrschen. Sie schlägt dort Schneisen, wo uns der lebensweltliche Dschungel zu ersticken droht [...] Predigt der Gnade bringt demgegenüber eine erträgliche Leichtigkeit des Seins ins Spiel.“Řŝś Die Sprache der Gnade ermöglicht auch die Vernetzung verschiedener Lebensräume, sodass sich wieder leichter und freier bewegt werden kann, genau dies trägt aber zur Veränderung von Stimmungsqualitäten bei. Schließlich findet Grözinger, und dies baut eine Brücke in die visuelle Welt virtueller Realitäten, die Sprache der Gnade insbesondere in Sprachbildern. Gegen sie könne man im Grunde keine Gegenbeweise anführen, man müsse allenfalls ein anderes, alternatives Sprachgemälde zeichnen. „Darin besteht die Anmutung dieses Sprachbildes. Es mutet uns ein Bild zu und lädt uns damit ein, uns auf dieses Bild einzulassen.“ŘŝŜ Anhand einer narrativen Predigt vermittelt Grözinger, dass die Hörerinnen und Hörer des Sprachbildes mit ihren eigenen Erfahrungen, mit ihren eigenen Lebensgeschichten in dieses eintreten könnten. Insofern folgt er hier in der Predigtgestaltung dem Modell der narrativen Predigt, die auch eng an der biblischen Vorlage entlang erarbeitet worden sein kann. Dabei hafte dem Bild selbst durchaus etwas Objektives an; es sei damit alles andere als zufällig, sondern vielmehr ein Bild, Řŝś Ebenda. ŘŝŜ Grözinger (2004: 215–244, 242).
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das vom Prediger so und nicht anders gezeichnet worden sei und insofern in dessen theologischer und homiletischer Verantwortung stehe.Řŝŝ Grözingers Homiletik ist am Modell der Predigt als Rede orientiert und betont hierbei auch die Bedeutung einer ästhetisch gebildeten Rhetorik. Die medientheoretische Reflexion eröffnet in diesem Zusammenhang insbesondere den Blick auf die räumliche Ausdehnung von Sprache. Wo sie aufgenommen wird, kann eine Atmosphärentheorie in Bezug auf die Wirkung der anmutenden Sprache entfaltet werden. Wenn es dann z. B. bei Grözinger heißt, dass Menschen in die Wirklichkeit Gottes hinein imaginiert werden müssten oder dass es die Aufgabe der Predigt sei, den Menschen im Möglichkeitshorizont Gottes zu imaginierenŘŝŞ, zeigt sich eine große Nähe zum kommunikativen Kontext virtueller Realitäten. Auch in der Beschreibung der Wirklichkeit Gottes wird deutlich, dass die Wirklichkeit des Glaubens nicht mit der empirisch vorfindlichen Wirklichkeit für deckungsgleich gehalten wird; in ihrer Charakterisierung liegt zwar meines Erachtens eine leichte Tendenz zu einer Aufteilung zwischen der Wirklichkeit, die keine letzte Geltung hat, und der Wirklichkeit, die im Glauben als wahr und letztgültig erfahren wird: „Die Wirklichkeit Gottes ist aber nur dem Glauben erkennbar. Sie ist gerade nicht identisch mit der empirisch vorfindlichen Wirklichkeit, sondern sie spricht dieser Wirklichkeit ein Mehr an Sein zu. Und deshalb müssen die Menschen in diese Wirklichkeit hinein erfunden, das heißt in sie hinein imaginiert werden. Diese Imagination des Menschen in die Wirklichkeit Gottes hinein kann sich nicht allein auf empirische Daten verlassen, so wichtig diese auch sind. Wenn wir die Menschen in der Predigt nur auf ihre empirische Vorfindlichkeit hin ansprechen, dann betrügen wir sie um ihre wahre Wirklichkeit.“Řŝş Insbesondere aus diesem letzten Satz kann eine Tendenz zur Zweiteilung der Wirklichkeit herausgelesen werden. So würde es sich aus dem Kontext der Beschäftigung mit virtuellen Realitäten vielmehr nahe legen, dass auch die empirisch vorfindliche Wirklichkeit auf ihre Konditionen der Wahrnehmung hin befragt wird. Hier ergäbe sich dann die Möglichkeit, die Glaubenswirklichkeit nicht mehr im Modus der Überbietung vorzustellen, sondern als eine Konstruktion von Wirklichkeit, die die gesamte Wirklichkeit umfasst und sich so auch mit Konstruktionen aus den empirischen und anderen Forschungsperspektiven auseinandersetzt. Wo in diesem Sinne die Wirklichkeit Gottes als die Konstruktion einer Weltsicht aus Glauben offensiv beschrieben würde, könnte ebenfalls die Wirkung der PreŘŝŝ Vgl. Grözinger (2004: 243). ŘŝŞ Vgl. Grözinger (1995: 98). Řŝş Ebenda.
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digt, heillose Lebensknäuel zu entwirren, als ein schöpferischer Akt verstanden werden, der Gott selbst zu verdanken ist: „Nicht dort ist eine Predigt konkret, wo sie lediglich soziologisches Material verarbeitet oder gemachte Erfahrungen benennt (dies wird eine Predigt immer auch tun!), sondern dort, wo die Lebensfäden, die sich oft so heillos verknäuelt haben, entwirrt werden und sie verknüpfungsfähig werden in jene Zukunft hinein, die von Gott allein herkommt.“ŘŞŖ Insofern die anmutende Predigt einer schöpfungstheologischen Orientierung im Glauben entspricht, zeigt sich, dass die anmutende Predigt die Predigt der Gnade ist. Ihr geht es um Gottes Wohltaten an den Menschen und darum, wie diese sie wahrzunehmen vermögen. Der im Folgenden zu besprechende Beitrag des homiletischen Entwurfs zur Predigt als Unterhaltung bietet hieran Anknüpfungspunkte. Auch in ihm geht es darum, wie innerhalb eines Predigtgeschehens Stimmungen reguliert werden können und Menschen ihren persönlichen Spielraum des Lebens gestalten können. ... bis zur unterhaltsamen Predigt „Nur wer unterhaltsam predigt, nimmt die Freiheit ernst, die sich die Menschen in der Moderne und Postmoderne erstritten haben.“ŘŞŗ Ohne dass Harald Schroeter-Wittke auf Facetten medialer Unterhaltung eingeht, zeigt sich in der Beschreibung der Kommunikationsbeziehung, die in der Predigt aufgenommen wird, dass hier von einer freiwilligen Begegnung relativ selbstständiger Personen ausgegangen wird. Damit ist ein erstes Kriterium medialer Kommunikation aufgenommen, auch gerade in ihrem rituellen Charakter. Neben den in den Medien selbst inszenierten Fällen von Mediensucht, hinter dem oft Beschreibungen stehen, die das Ritual des Computerspiels in seinem Zwangscharakter zeigen, steht ein Mediennutzungsverhalten, in dessen Ritualisierungen sich genau die Freiwilligkeit von Handlungen und das Wissen, stets verschiedene Optionen zu haben, Raum verschafft. Auch in diesem Entwurf gibt es Korrespondenzen zu einer homiletischen Reflexion des virtuellen Leibkörpers, der Menschen ermöglicht, sich über Witz und Humor möglichst selbstständig im Predigtgeschehen zu bewegen.ŘŞŘ Die Homiletik reserviert mit diesem Ansatz einen festen Platz für den unter-
ŘŞŖ Ebenda. ŘŞŗ Harald Schroeter-Wittke, Predigt als Unterhaltung. In: Pohl-Patalong/Muchlinsky
(2001: 94–102, hier 95). Vgl. auch Ders., Unterhaltung. Praktisch-theologische Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jahrhundert anhand der Figur von Elia. Frankfurt a. M. 2000. ŘŞŘ Vgl. Teil 1, 3.4.
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haltsamen Gestus des Predigtgeschehens, denn genau er stärkt die Wahrnehmung des eigenen Orientierungsvermögens und fordert zu Respons auf.ŘŞř Schroeter-Wittkes Beitrag zur Bedeutung der Unterhaltung für die Homiletik liegt zum Teil eine Vorarbeit von Albrecht Grözinger zugrunde, der in seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1987 dieses Thema ausgeführt hat.ŘŞŚ Grözinger arbeitet für sein Verständnis von Unterhaltung auch mit der Ritualtheorie Victor Turners. Es kommt ihm darauf an, dass gute Unterhaltung einen Zwischenraum konstruiert, der in Turners dreigliedrigem Ritualverständnis genau dem der Schwellensituation entspricht. Diesen Zwischenraum sieht Turner als von Freiheit durchflutet; Unterhaltung beinhalte zutiefst die Macht des Spiels. Wenn in diesem Zwischenraum dann gespielt und sich unterhalten werde, diene das Ritual keineswegs zur Erhaltung von Ordnungen, sondern Dinge könnten gerade in Unordnung geraten. Menschen erhielten damit Möglichkeiten, die Ambivalenzen, in denen sie lebten, wahrzunehmen. Dieser Prozess wirke erleichternd und bringe in Bewegung. – Nun ist aus medientheoretischer Perspektive allerdings auf Schwierigkeiten bezüglich des Begriffs Zwischenraum aufmerksam zu machen. Welchen kategorialen Status hat der Zwischenraum im Vergleich zum Hauptraum? Seine Geltung, Wahrheit zu bergen, scheint hoch zu sein, aber in welchem Verhältnis steht die Wahrheit der Raumerfahrung im Hauptraum zu der des Zwischenraums? Über die Modellierung eines Zwischenraums könnte sich innerhalb der Homiletik wieder ein Wirklichkeitsverständnis Bedeutung verschaffen, das mit zwei Wirklichkeitsebenen arbeitet. Dies würde bereits dann gelten, wenn bezüglich des Zwischenraums gesagt wird, dass in ihm besondere Chancen lägen, Ambivalenzen innerhalb der eigenen Situation wahrzunehmen. Insofern kann das medientheoretisch reflektierte Raumverständnis, das insbesondere die kommunikative Bedeutung des sozial konstruierten Raums hervorhebt, dazu verhelfen, einer solchen Verdoppelung der Wirklichkeit entgegenzusteuern. Grözinger schlägt ein identitätstheoretisches Kriterium für gute Unterhaltung vor. Es richtet auf eine fragmentarische, offene Identität aus, weil sie einen Freiraum zur Verfügung stelle, der ein bewegendes und zur Umkehr führendes Potenzial entfalte. Dies könnte als ein religiös bedeutsamer Kommunikationsraum in Kommunikation insgesamt eingespielt werden, ohne dass ihm eine quasimetaphysische Position im Zwischenraum zugewiesen wird. In diesem Verständnis zeigen sich auch weitere Übereinstimmungen zwischen der theologischen und der medientheoretischen Diskussion um christliche Identitätsfragen. Beide beschäftigen sich zentral mit Fragen nach Lebensmöglichkeiten, die eröffnet oder als verschlossen wahrgenommen werden. Ebenfalls wird dann deutlich, dass nicht nur die Kommunikation des Evangeliums, sondern viele Kommunikationsmöglichkeiten
ŘŞř Vgl. auch Michael Thiele, Durchgänge. Bausteine religiöse Rhetorik. Norderstedt
2004. ŘŞŚ Vgl. Albrecht Grözinger, Predigt als Unterhaltung. Bemerkungen zu einer verachteten
homiletischen Kategorie. In: PTh 76 (1987: 425–445). Dass unterhaltsam von Gott geredet werden kann, hat auch Manfred Josuttis im Blick auf die Rundfunkhomiletik durchdacht. Vgl. ders., Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit – Homiletische Studien 2. Gütersloh 1995, 82–93.
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identitätsbildend wirken und dass die hochmoderne Identität über eine Vielzahl von Teilidentitäten verfügt.ŘŞś Nicola Döring versteht Identität als komplexe Struktur, die aus einer Vielzahl einzelner Elemente besteht (Multiplizität), von denen in konkreten Situationen jeweils Teilmengen aktiviert würden (Flexibilität). „Eine Person hat aus dieser Perspektive also nicht nur eine wahre Identität, sondern verfügt über eine Vielzahl von gruppen-, rollen-, raum-, körper- oder tätigkeitsbezogenen Teil-Identitäten (z. B. Berufs-Identität, Familien-Identität, Geschlechts-Identität, sexuelle Identität, nationale Identität, religiöse Identität).“ŘŞŜ Diese Teilidentitäten bildeten zusammen kein stabiles und homogenes Ganzes, sondern eher ein – in lebenslanger Entwicklung befindliches – Patchwork oder Pastiche. Bei der Veränderung bestehender ebenso wie bei der Entwicklung neuer Teilidentitäten im Internet seien intra- und interpersonal sowohl destruktive als auch konstruktive Konsequenzen möglich, wobei allgemein nicht von allzu dramatischen Effekten auszugehen sei.ŘŞŝ
Die Predigt soll in dieser Perspektive nicht in einen heiligen Raum führen, sondern sie soll vielmehr einen unterhaltsamen Weg in einen Kommunikationsraum gehen helfen, in dem die Ambivalenzen des Lebens angesichts eines Gottes, dem nichts Menschliches fremd ist, artikuliert werden können.ŘŞŞ Ein solches Predigtgeschehen zu initiieren, legt allerdings einen sehr hohen ästhetischen Anspruch an die Gestaltung der Atmosphäre an, denn gerade im Gottesdienst geraten humoristische Versuche leicht zu einem Fauxpas. Der Fauxpas aber kann auf einen Gottesdienstbesucher so wirken, dass er sich geradezu aus dem Gottesdienst herausgeworfen fühlt, denn dieser hat als performativer Akt einen unmittelbaren Effekt auf die zwischenmenschliche Atmosphäre. Gute Unterhaltung hingegen bewirkt eine Atmosphäre des Wohlbefindens, die immersiv und dabei inklusiv wirkt. Man könnte sagen, dass sie den virtuellen Leibkörper geradezu darin fördert, sich zu entfalten. Dies geschieht über eine nutritive oder ernährende Dimension, zweitens über eine kommunikative oder Teilhabe ermöglichende und drittens über eine delektarische Dimension. Letztere steht für die Genussdimension, die im Predigtgeschehen empfunden wird.ŘŞş Unterhaltung, so heißt es, ist nutritiv, wenn sie Halt bietet. Systematischtheologisch gesprochen geht es um die Dimension der creatio continua; sie im Predigtgeschehen zu vergegenwärtigen, bedeutet emotional, dass ein Halt angeboten und dies auch als ein solches Angebot gespürt wird. Es ist die ErŘŞś ŘŞŜ ŘŞŝ ŘŞŞ ŘŞş
Vgl. Teil 1, 2.2. Vgl. Nicola Döring, Sozialpsychologie des Internet. Göttingen 2003, 325 f. Vgl. Döring (2003 : 401). Vgl. Schroeter-Wittke (2001: 102). Vgl. hier und für die beiden weiteren Charakteristika Schroeter-Wittke (2001: 95 ff.).
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fahrung, geliebt zu werden, die sich mit der christlichen Tradition verbindet und eine Vorstellung von Gott und der Trinität anregt, in deren Mitte die göttliche Liebe zur Welt steht. Diese göttliche Liebe, Agape, enthält Qualitäten, die als vorsprachlich und vorbewusst zu schildern sind, denn Gott liebt uns, bevor wir dies selbst sprachlich erfassen können. In biblischen Schriften wird Agape in dieser zuvorkommenden Weise auf vielfältige Art entfaltet: in der des schützenden und behütenden Vogels, der seine Flügel über das Junge breitet (Ps 36) ebenso wie in der Liebe des Vaters zum Sohn (Luk 15). Auch die Geste der blutflüssigen Frau (Mk 10), die auf Jesus trifft und von ihm Heilung erwartet und ihm mitteilt, dass er eine Atmosphäre göttlicher Heilkraft ausstrahlt, ohne dass er etwas tun muss, ist hier zu nennen. In diesen systematisch-theologischen und biblischen Zeugnissen eröffnen sich, ästhetisch wahrgenommen, Räume, die eine Atmosphäre des Gehaltenseins leibkörperlich erfahrbar machen können. Dabei geht es um Atmosphären mit immersiver Qualität; sie umhüllen und lassen in einen veränderten Kommunikationsraum eintreten. Dieser Kommunikationsraum entsteht darin, dass die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher mit Liebe und Zuwendung im Bild des Vogels gefüttert werden, dass für sie emotional gesorgt wird. Die Atmosphärentheorie von Schmitz qualifiziert diese immersive Atmosphäre als ein Gefühl, das sich wie eine fast stoffliche Atmosphäre ergieße und die Anwesenden untereinander verbinde. Die Zuwendung wird persönlich spürbar, aber bleibt nicht allein individuell, sondern sie öffnet die Einzelnen in einen Raum gemeinsamen Erlebens. Es wird durch eine nutritiv wirkende Atmosphäre möglich, Anteil aneinander zu nehmen. Auch hier ist die atmosphärische Arbeit ein Balanceakt zwischen Szenerien, die regressive Anteile haben oder auch peinliche Gefühle aufkommen lassen. Eine angemessene Weise der Inszenierung nährender Atmosphären findet sich dort, wo eine leibkörperliche Öffnung in den gemeinsamen Raum hinein stattfinden kann, sodass sich ein Gefühl, geborgen und gehalten zu sein, einstellt; eigene Ängste treten dann zurück und es wird möglich, im Gottesdienst die Haltung eines kontrollierten Für-sich-seins aufzugeben. In Grimms Wörterbuch wird dem Verb nähren sowohl eine transitive wie eine intransitive Bedeutung zugeschrieben. In den Bereich des Transitiven fällt die Bedeutung des „genesen machen“, „am Leben erhalten“, „gesund machen“, „heilen“ sowie „retten“. Diese Bedeutungen seien heute nicht mehr gebräuchlich, heißt es, aber sie verweisen auf die Tiefe der religiösen Bedeutung des Nährens.ŘşŖ In den Bereich des Intransitiven gehören „durch Speis ŘşŖ Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1889, Bd. 13,
bearbeitete Neuauflage, München 1999, 303.
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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und Trank am Leben erhalten und körperlich gedeihen machen“, „ernähren“, „Unterhalt gewähren“, „unterhalten“. Mit Martin Luthers Worten könnte dies ebenfalls heißen: „Gottes Wort nährt, trägt und formt uns wie ein Mutterleib: Uterus dei est verbum divinum.“Řşŗ Dies klingt wie eine Variation auf „die paulinische Rede des Austragens und der Gebärschmerzen (Gal 4,19; 1.Kor 4,15)“ŘşŘ. Es geht Luther um einen Reifeprozess, den er, sieht man seine Art und Weise sich auszudrücken mit medienwissenschaftlichen Augen an, maximal immersiv anlegt.Řşř Luther intendiert ein völliges Eintauchen in die Wirklichkeit Gottes, wenn er davon schreibt, erst im Uterus Dei seien Reifungsprozesse möglich. Wer befürchtet, in dieser Atmosphäre zu sehr Veränderungen ausgesetzt zu sein, wird den Reifeprozess nicht aufnehmen können. Zudem ist auch von vornherein klar, dass niemand für immer im Uterus Dei bleiben soll. Der Mensch bleibt für eine bestimmte Reifezeit in ihm. Verheißen ist dabei, dass es dann möglich ist, selbstständig zu leben – der Raum dieser Selbstständigkeit wird als ewiges Leben bezeichnet, das keinesfalls mit einem jenseitigen Raum verwechselt werden sollte, sondern dessen Raum bereits gegenwärtig in soziale, umbaute und virtuelle Räume hineinragt. Luther nutzt das Bild von der Schwangerschaft, um das Verhältnis von Gott und Mensch zu klären. Es wird kein unmittelbares Verhältnis des Menschen zu Gott anvisiert, sondern im Bild wird deutlich, dass das göttliche Wort, das es zu lesen und auszulegen gibt, in seiner Medialität wirkt. Es wird außerdem deutlich, dass er ein besonderes Nähe-Distanz-Verhältnis mit dieser Theologie weitergibt. Die biblischen Schriften, die in ihrer kulturellen Herkunft und auch ihrer Ausdrucksweise häufig fremd klingen und ferne Welten aufrufen, liegen nicht mehr unendlich fern. Er nimmt eine kommunikative Beziehung zu ihnen auf, die man sich näher kaum vorstellen kann und: er macht seine Reifung von ihnen abhängig, so wie ein Kind, das durch die Nabelschnur mit dem Organismus der Mutter verbunden ist. Im Bereich der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fernsehmythen ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass ein Erlebnis, das Sinnlichkeit, Emotionalität und Selbstbewusstheit betont, nach christlichem Verständnis einen sekundären Stellenwert hat, weil es nicht als Garant oder Unterpfand für das Heil anerkannt werden könne: „[...] d. h. nicht die Intensität des Erlebnisses garantiert das Heil, sondern dessen Grund liegt außerŘşŗ Huizing (2000: 156). ŘşŘ Ebenda. Vgl. zum christlichen Verständnis der Wiedergeburt auch Huizing (2000:
149–163). Řşř Vgl. auch Teil 1, 4.2.2.3.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
halb des Menschen und ist demnach unabhängig vom subjektiven Erleben des Einzelnen in der Gemeinschaft.“ŘşŚ Diese Argumentation verdeutlicht, wie ein theologisches Wirklichkeitsverständnis konstruiert wird, in dem das Erlebnis eines Heilungsprozesses nicht als Zufall oder singulärer Glücksfall etc. interpretiert wird, sondern man den Heilungsprozess selbst in Verbindung mit der Quelle allen Heils stellt. Diese Konstruktion muss das Erlebnis als solches keineswegs abwerten, etwa weil es nicht selbst originär, sondern nur von abgeleiteter Wirkung wäre. Demgegenüber wird nun im Heilungserlebnis das eigene Heilwerden mit einem Heil wahrgenommen, das allen Menschen, sogar der gesamten Schöpfung gilt. Der nutritive Aspekt wird insbesondere dort bedeutsam, wo Menschen ihre eigene Religiosität mehr fremd als vertraut ist und sie ein die Sinne aufschließendes Erlebnis brauchen, um sich jeweils neu mit einem wenig begangenen Kommunikationsraum zu vernetzen. Unterhaltung ist zweitens kommunikativ. Mit Schroeter-Wittke liegt in dieser Beschreibung das Hauptaugenmerk auf der Begegnung von selbstständigen Subjekten und einer partnerschaftlichen, gleichberechtigten Gesprächskultur. Bereits vor 20 Jahren schrieb Henning Luther: „Der Prediger kann sich nicht darauf beschränken, sich zu vergewissern, dass seine Aussagen für ihn als Wahrheit gelten. Er ist daran interessiert, dass andere ihm beipflichten und ihm zustimmen können. Es geht also nicht um eine Einwirkung auf den Hörer, sondern um eine Verständigung mit dem Hörer. Mit diesem verständigungsorientierten Wirkungskonzept wird die Freiheit des Gegenübers als Subjekt ernst und in Anspruch genommen.“Řşś Albrecht Grözinger hat in seiner Würdigung von Luthers Werk Anfang der Neunzigerjahre genau auf diese kommunikative Einstellung aufmerksam gemacht. Für sie ist bedeutsam, dass Predigerinnen und Prediger nicht die Splitter in fremden, sondern in den eigenen Augen zu beseitigen versuchen. Sie liegen insbesondere dort, wo die Charismen der Menschen, die sich zum Gottesdienst versammeln, nicht gesehen und nicht gewürdigt werden, sondern vor allem unter dem Deckmantel prophetischer Kritik Leid geteilt wird. Henning Luther machte darauf aufmerksam, dass, wer predigt, den anderen nichts voraushabe.ŘşŜ Eine Predigt, die auf den Gestus abschließender Rede verzichte, begebe sich vielmehr in die Solidarität mit den Fragenden. In dieser Solidarität gewinne die Predigt wieder den gesellig-kommunikativen Charakter, auf den der Wortsinn der homilia verweise. ŘşŚ Manfred M. Pirner, Fernsehmythen und religiöse Bildung. Grundlegung einer
medienerfahrenen Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung. Frankfurt a. M. 2001, 279. Řşś Grözinger (1992: 215). ŘşŜ Henning Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Stuttgart 1991.
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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Eine unterhaltsame Predigt schaffe eine Atmosphäre der Partnerschaft unter Gleichberechtigten.Řşŝ Dies gelte für alle drei Bezugsgrößen der Predigt, für die Beziehungen zu den Hörerinnen und Hörern, für die Beziehungen zu den biblischen und liturgischen Texten sowie für die zur eigenen Person des Predigers bzw. der Predigerin. Aus medientheoretischer Perspektive könnte hier vertiefend ergänzt werden, dass ein kommunikatives Predigtgeschehen über drei Kommunikationsräume konstruiert wird und dass diese selbst dann in ihrer Konstruktion sichtbar sowie miteinander vernetzt werden. Bezogen auf das Predigtgeschehen bedeutet dies, dass es nicht nur der Predigerin oder dem Prediger vorbehalten ist, predigend sich auszudrücken und so die eigene Situation – sozusagen stellvertretend für die einzelnen Gemeindemitglieder – zu strukturieren, sondern dass diese ebenfalls die Gelegenheit erhalten, dies für sich zu tun. Eine solche Möglichkeit zu schaffen heißt, dass man die am Predigtgeschehen beteiligten Menschen in ihrer Freiheit, zu agieren, wahrnimmt und sie auch dazu anregt, ihren Freiheitsraum auszuschöpfen. Um dies zu ermöglichen, gilt es aber kommunikationswissenschaftliche Einsichten zu berücksichtigenŘşŞ: Eine „Kommunikationskultur auf Augenhöhe“ zu etablieren heißt nicht, dass innerhalb des Predigtgeschehens allein dialogisch agiert werden sollte. Ebenso wenig ist daran zu denken, dass stets eine Zustimmung der beteiligten Kommunikanten anvisiert werden sollte. Kommunikativ wird ein Predigtgeschehen dadurch, dass Dissense und diversifizierte Ebenen der Kommunikation möglich sind. Unterschiedliche Ebenen werden im Predigtgeschehen darin begehbar, dass sowohl reziproke als auch nicht reziproke Beziehungsverhältnisse zugelassen werden. Die Diversifizierung der Bedeutung des Kommunikativen entspricht insgesamt einem gemeinsamen Anliegen: Die Partizipationsmöglichkeiten an der virtuellen Realität des Reiches Gottes zu vergrößern, sodass Menschen sich in der Konstruktion ihrer Lebenssituation mit diesem vernetzen können und das Reich Gottes so unter ihnen wirklich wird. Zusatz Michael Meyer-Blancks Ansatz, die Predigt als transversale Rede zu verstehen, bietet für eine medientheoretische Reflexion der Predigt als Unterhaltung Anknüpfungspunkte, obwohl er selbst seinen Ansatz nicht explizit mit diesem verŘşŝ In dieser Hinsicht kann die Homiletik auch von der Poimenik, in der die gleich-
berechtigte Dimension der Kommunikation sehr klar herausgearbeitet wurde, lernen, vgl. z. B. (Engemann 2003: 337): „Auch im Seelsorgeprozeß steht der Aufbau einer Vertrauensrelation partnerschaftlichen Charakters zwischen Seelsorger und Ratsuchendem am Anfang. In der Tradition Carl Rogers’ wird in diesem Zusammenhang vor allem von Akzeptierung und Wertschätzung gesprochen.“ ŘşŞ Vgl. Teil 1, 4.1.3.4.
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
bindet. Die Anknüpfungspunkte liegen vor allem in der Würdigung der Predigtrezipienten sowie in der Metaphernbildung des Übergangs in eine andere Welt. Als Aufgabe der Predigt wird formuliert, dass sie kompetent für Übergänge zu machen habe, das Predigtgeschehen (Dialog II) wird im Vorgebirge situiert und damit wird zugleich eine räumliche Metapher gefunden, die in phänomenologischen Hermeneutiken verankert ist. Plurale Bezugssysteme, so Meyer-Blanck, verlangten in postmodernen Lebenszusammenhängen Menschen eine Kompetenz ab, zwischen Welten hin- und herwechseln zu können. Hier könnte man im Sinne der Verdeutlichung von Kommunikationsstrukturen anstatt von Welten auch von Kommunikationsräumen sprechen. Weiter heißt es: „Predigt als die Rede von der Transzendenz ermöglicht – auch abgesehen von Glauben oder Nicht-Glauben – Übergangskompetenz: Predigt kann wegen ihres Inhalts als transversale Rede bezeichnet werden. Wenn sie ihren religiösen Inhalt ernst nimmt, erfüllt sie so gerade auch eine in der Kultur der Moderne wichtige Funktion.“Řşş In der Betonung der Transversalität kann an das Verständnis der Predigt als Möglichkeitsraum angeknüpft werden, in dem sich eine Neustrukturierung der Lebenssituation abspielen kann. Mit dem Plädoyer für eine transversale Rede nimmt Michael Meyer-Blanck einen Topos aus der philosophischen Postmoderne-Diskussion auf. Er lässt sich von Wolfgang Welschs Vorschlag leiten, für eine transversale Vernunft zu plädieren. Ständige Übergänge in Funktionssystemen, Rollen, theoretischen Bezugssystemen und Empfindungen brächten den Menschen in die Nähe der multiplen Persönlichkeit. „Übergangsfähigkeit ist die wichtigste Anforderung an die Menschen der Gegenwart und der Zukunft.“řŖŖ In der Annahme einer multiplen Persönlichkeit entspricht Meyer-Blanck auch einer medientheoretisch gestützten Identitätsvorstellung, die die Multiplizität von Identität anerkennen kann.řŖŗ Dass Meyer-Blanck die Aufgabe der Predigt und die Anforderung transversaler Kompetenzen in der Postmoderne analog sieht, zeigt, dass er eine offene Kommunikationssituation konstruiert, in der der Prediger bzw. die Predigerin den Zuhörerinnen und Zuhörern keine exklusiven Kenntnisse und Fertigkeiten voraushat. Weiterhin zeigt der Ansatz, dass auch hier mit der Anwesenheit von vielen verschiedenen Kommunikationsräumen während des Predigtgeschehens gerechnet wird. Schließlich ist hervorzuheben, dass vom Übergang anstatt von der Umkehr als Movens der Kommunikation des Evangeliums gesprochen wird. Bei Jesus heiße Transversalität metanoia, so wie in Mk 1,15 verkündet werde: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Jesu Predigt verheißt den Übergang.“řŖŘ Meyer-Blanck hält es selbst für ungewöhnlich, anstatt von der metanoia als Umkehr von dem Übergang zu sprechen. Aber die Umkehr sei im Über-
Řşş Michael Meyer-Blanck, Übergang und Wiederkehr. Predigt als transversale Rede. In:
Engemann (2001a: 271–286; hier: 271). řŖŖ Vgl. Meyer-Blanck (2001: 272). řŖŗ Vgl. Teil 1, 1.4 und 2.2. řŖŘ Zitiert nach Meyer-Blanck (2001: 272).
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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gang noch als eine seiner Schattierungen erkennbar. Auch in dieser Neuformulierung des Predigtauftrags zeigt sich ein Interesse, der moralischen Auslegung des Evangeliums einen breiteren ästhetischen Deutungshorizont hinzuzugesellen. Anschlussfähig zeigt sich auch Meyer-Blancks Verständnis von Wirklichkeit, das ihre mediale Konstruktion in Christus doch zumindest anklingen lässt. In Verweis auf 2. Kor 5,17 sieht er z. B., wie bereits Paulus die multiple Persönlichkeit von Christinnen und Christen beschreibe: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.řŖř Paulus habe sicher eine reale Neuschöpfung vor Augen gehabt, wer sich allerdings den Alltag im Hafen von Korinth vorstelle, dem werde klar, „der Übergang zur neuen Kreatur [wird, I. N.] mindestens durch den alltäglichen Bezug auf die alte Kreatur gefährdet und ein Leben in zwei Welten gefordert gewesen sein“řŖŚ. Seit dem Neuen Testament solle die Predigt den Übergang in eine andere Welt ermöglichen, oder wenn man die Zwei-Welten-Metapher ablehne: Die Predigt solle diese Welt als eine andere zeigen. Auch wenn die Beschreibung den Kommunikationsraum Predigt und die Wirklichkeit, in die sie einführen soll, nicht klar differenziert und als je und je konstruierte Räume freilegt, kommt in dieser Perspektive die Predigt doch als Möglichkeitsraum in den Blick. Meyer-Blanck spricht von einer Fiktion als Erfindung von Realität. Mit Bezug auf das Kunstverständnis von Bernhard Waldenfels formuliert er für die Predigt: „Die Predigt lässt unsere Sinnwelt als eine andere erscheinen und sie eröffnet den Übergang in eine andere Sinnwelt.“řŖś Der erfundenen Realität scheint insofern auch Wirklichkeit zu eignen. Zusätzlich zeigen sich ästhetische Elemente homiletischer Reflexion, die sich auf eine delektarische WirkungřŖŜ von Predigt beziehen lassen: Es wirkt entspannend, dass kein dramatischer großer Übergang, der eine endgültige Passage in das Reich Gottes stilisiert, in der Predigt inszeniert werden soll. Es wird in ihr, wie gesagt, kein besonderer Gipfel erklommen. Die Predigt soll kein Geleit über den Abgrund geben, wo das Rettende in höchster Gefahr spürbar wird. Deshalb ist die Predigt als spielerischer Gang im Vorgebirge beschrieben: „Der Ausflug in das Vorgebirge umschreitet vorsichtig die Gipfel des Heils und lässt sich en passant, experimentell, auf Probe Reich-Gottes-Perspektiven gefallen.“řŖŝ Die Gipfel blieben eben unbegangen. Damit löst Meyer-Blanck die Forderung nach anonymen Kommunikationsstrukturen im Predigtgeschehen paradigmatisch orientiert an der Gottesfrage ein. Hierfür knüpft er auch an das Bilderverbot an (Ex 19,23). So kann Gott selbst im Predigtgeschehen – ebenso wie die Berggipfel beim Wandern – entzogen bleiben, ohne dass das ganze Unternehmen nutzlos erscheinen müsste. So wird die Predigt auch nicht zu dem Übergang in das Reich Gottes, sie ermöglicht vielmehr zunächst einmal kleine Übergänge in die virtuelle Realität
řŖř řŖŚ řŖś řŖŜ řŖŝ
Vgl. ebenda. Ebenda. Meyer-Blanck (2001: 273). Hervorhebungen vom Autor. Zur delektarischen Wirkung vgl. in diesem Kapitel weiter unten. Meyer-Blanck (2001: 273).
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5 Medientheoretische Aspekte zur Homiletik
des Reiches Gottes. In dieser Auslegung kann in Meyer-Blancks Zugang zur Predigt auch eine Weise gesehen werden, wie im Predigtraum der virtuelle Leibkörper gestärkt werden kann: In diesen kleinen Rundgängen liegt die Möglichkeit, dass Menschen auf unterhaltsame Weise das eigene Leben im Lichte des Reiches Gottes durchspielen. Dies kommt der Sehnsucht entgegen, die sich in einer Lebensführung einstellt, in der es wahrscheinlich mehr als für vorangegangene Generationen darauf ankommt, den eigenen Weg zu finden und dabei zu lernen, zu ihm zu stehen. Zudem fördert es das Wohlbefinden der am Predigtgeschehen beteiligten Menschen, wenn sie ohne große emotionale Turbulenzen, ohne Szenarien von Lebenskrisen, von Tod und Teufel, die Nähe Gottes zu genießen eingeladen werden. Ein Rundgang um den heiligen Berg kann schließlich mit wunderbaren Ausblicken auf das Reich Gottes erfüllen. In einer Kultur, in der in und mit virtuellen Realitäten alltäglich kommuniziert wird, bieten diese Ausblicke als Möglichkeitsräume für eine Erfahrung der Wirklichkeit Gottes Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Kommunikationsräumen. Sie veranlassen es, dass Menschen sich von selbst dem Predigtgeschehen annähern können. Vor allem, wenn sie großzügig Anteil an der virtuellen Realität des Reiches Gottes erhalten.
Mit dem Ansatz, Predigt als Unterhaltung zu verstehen und darin die eigene Bewegungsfreiheit der Rezipienten und Rezipientinnen zu stärken, wird auf ästhetische Weise auch eingeholt, was in der Homiletik mithilfe der Sprechakttheorie bereits begonnen worden ist zu reflektieren. „Eine wesentliche Pointe der Sprechakttheorie liegt nun in der Überzeugung, dass Sprache nicht nur dort agiert, wo eine Partikel wie hier oder ein bestimmtes Verb [...] expressis verbis die Handlung anzeigt; sondern Sprechhandlungen liegen immer vor, wenn Menschen über das Medium der Sprache zueinander in Beziehung treten.“řŖŞ Für die Entfaltung der Kommunikativität eines Predigtgeschehens heißt dies aber, dass – anschließend an den perlokutionären Akt im Sprechen – eine Aussage nicht nur Inhalte weitergibt, sondern diese in einer bestimmten Weise weitergegeben werden, genauer: dass man wahrnehmen kann, wie sie wirken und so durch Äußerungen die Stimmungslage der Kommunikationspartner modifiziert werden.řŖş Zu kommunizieren heißt in diesem Sinne, beim Predigen sprechend zu handeln. In dieser Perspektive wird deutlich, wie sehr der Prediger auf die zwischenmenschliche Atmosphäre als einen Resonanzraum für das eigene Empfinden angewiesen ist. Unsichere Gefühle melden sich, der Wunsch nach Rückmeldungen, schließlich kommt noch die Frage auf, ob es etwas gebracht hat, die in der Regel nur durch Blicke, řŖŞ Vgl. Engemann (2002: 330–345; hier 331); vgl. auch Albrecht Grözinger, Die Sprache
des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen. München 1991. řŖş Vgl. Gernot Böhme, Kommunikative Atmosphären. In: Martin Basfeld/Thomas Kracht (Hgg.), Subjekt und Wahrnehmung. Beiträge zu einer Anthropologie der Sinneserfahrung. Basel 2002, 103–115, hier 105.
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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Gesten, Seufzer und Hüsteln beantwortet wird. Das emotionale Gemisch, das die Stimmung der Predigerin auf dem Nachhauseweg aus dem Gottesdienst noch bewegt, erhält mit dem ästhetischen Blick auf Atmosphären einen festen homiletischen Reflexionsort. Zum anderen wird die Wahrnehmung dafür, dass die eigene Stimmung die zwischenmenschliche Atmosphäre modifiziert, gesteigert. Schließlich wird bewusst, wie sehr zwischenmenschliche Atmosphären auch Quellen des eigenen Empfindens sind. Um dies wahrzunehmen, brauchen Predigende allerdings „[...] eine Haltung, überhaupt diesem Zwischenmenschlichen als solchem Aufmerksamkeit zuzuwenden, und ein Kommunikationsverhalten, das selbst verhalten ist, nämlich indem man sich zurücknimmt in seinen expressiven wie auch aktiven Intentionen und sich darauf beschränkt, Beiträge zu leisten für etwas, das sich entwickeln muß.“řŗŖ Drittens ist Unterhaltung delektarisch. Im Delektarischen steckt das Amüsement der Unterhaltung, nämlich, dass sie Menschen zu berühren versteht und dabei doch nicht beschwert, sondern erleichtert, und dies auf spezifische Weise: „Die Erleichterung als Erlösung von der Erlösung steht bei ihr im Vordergrund. Sie erleichtert, manchmal beschwingt sie sogar oder rührt zu Tränen.“řŗŗ Delectare sei, so Schroeter-Wittke, neben docere und movere ein Grundelement von antiken Redeformen. Auch im Neuen Testament begegne einem diese Dimension; aber in den beiden Worten dialegomai und homileo, die vor allem im lukanischen Doppelwerk anzutreffen sind, finde sich das Element der Erleichterung auch. Diese dritte Dimension in der unterhaltsamen Predigt ästhetisch und dabei atmosphärisch auszulegen, soll das Verständnis von Unterhaltung mit der Kultivierung sinnlicher Genüsse zusammenbringen. Reinhard Knodts Atmosphären-Konzept bietet hierzu Anschlussmöglichkeiten. In seinem Korrespondenzdenken arbeitet er eine schöpferische Haltung dem Leben gegenüber heraus, die zum Glücken desselben beitragen soll.řŗŘ Damit greift er für die Atmosphärisierung im Sinne der Kultivierung sinnlicher Genüsse Kunst und Religion auf. Knodt bezieht sich auf das Fest und eine Festkultur, die mit der Erfahrung göttlicher Präsenz verbunden ist. Freude, die über die Ausübung von Festbräuchen ausgelöst wird, führt so z. B. zur Erleichterung von allen Beschwernissen des Alltags, weil sie die Sinne sich neu zu entfalten anregt. Denn auf dem Fest werden erlesene Speisen, Gerüche, Blumen, Duftsalben, Räucherwerk, berauschende Getränke, Musik und sogar erotische Reize angeboten. Eine atmosphärische Überflutung sei regelrecht angelegt, damit das Gefühl für Raum und Zeit sich in der Gegenwart řŗŖ Böhme (2002: 114). řŗŗ Schroeter-Wittke (2001: 96). řŗŘ Vgl. Teil 1, 3.5.2.
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aufheben könne und hier ein Raum des Festes entstehe, in dem nichts anderes gewollt werde, als zu feiern. Diese Orientierung zeigt eine Nähe zur Erlebniskulturřŗř, deren Immersionsgrade immer weiter gesteigert werden, damit das Eintauchen in eine andere Atmosphäre auch gelingt. Doch eine solche Überflutung der Sinne kann auch dazu führen, dass die Kommunikation abgelehnt wird, weil die persönliche Freiheit, sich innerhalb dieser Atmosphärisierung noch in Differenz zu dieser selbstständig wahrzunehmen, eingeschränkt wird. 5.4.2.2 Vom offenen Kunstwerk bis zum Spielraum der Predigt Für die deutschsprachige Homiletik haben Henning Luther und Gerhard Marcel Martin Pionierarbeit in Bezug auf die Predigt in ihrer homiletischen Reflexion als offenes Kunstwerk geleistet.řŗŚ Luther hat sich dabei allerdings nicht explizit auf das von Eco stammende Modell der Kommunikation bezogen, aber sein Oeuvre umfasst semiotische und spieltheoretische Perspektiven.řŗś „Weder der Autor der Predigt noch der Hörer sind je mit dem Text allein. Beide konfrontieren sich einander im konkreten Rahmen einer gegenwärtigen Situation.“řŗŜ Das Predigtgeschehen wird so innerhalb einer dreistelligen Kommunikationsbeziehung aufgespannt, die zugleich die Voraussetzung für ihre ästhetische Gestaltung ist. „Predigt ist Kunst, insofern sie kommunikativer Wirkungsprozess ist und nicht eine Belehrung über objektive Wahrheiten.“řŗŝ Luther nennt die Predigt auch ein monologisches Drama. Wie das immer wieder neu zu inszenierende Drama, so kommt auch die Predigt erst durch und in der Interpretation der am Predigtgeschehen beteiligten Menschen zu ihrem Ziel. Der Bibeltext wird neu inszeniert, und dennoch oder gerade in dieser Neuinszenierung behält er eine hohe Bedeutung. Allerdings wird das Kriteřŗř Vgl. hierzu auch die Forschungen zu Erlebnisgottesdiensten im Rahmen der theo-
řŗŚ
řŗś řŗŜ řŗŝ
logischen Rezeption von Gerhard Schulzes Erlebnisgesellschaft, z. B. bei Hartmut Becks, Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft. Zur Bedeutung der kultursoziologischen Untersuchung Gerhard Schulzes für Theorie und Praxis des Gottesdienstes. Bonn 1996; in anthropologischer Hinsicht und sehr kritisch Wilfried Engemann, Die Herausforderung der Erlebnisgesellschaft und die Merkmale des modernen Menschen heute. In: Ders. (2003: 352–358). So auch Ursula Roth, Die Kasualansprache als rezeptionslogisches Paradigma. In: Pohl-Patalong/Muchlinsky (2001: 68–80). Roth gibt einen kurzen, informativen Überblick. Vgl. Klie (2003: 294–299). Luther (1983: 94). Luther (1983: 91).
5.4 Das Predigtgeschehen im Kontext virtueller Realitäten
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rium der Schriftgemäßheit einer Predigt nicht an der Struktur des biblischen Textes bemessen. „Aus diesem hermeneutischen Zirkel heraus auf objektivierende Maßstäbe hinauszuwollen, hieße den intentionalen, wirkende Fortbildung eröffnenden Charakter (biblischer) Texte verkennen.“řŗŞ Die inszenatorische Interpretation eines biblischen Textes soll eine den verändernden geschichtlichen Umständen entsprechende neue Konkretion schaffen. Aus dem Kontext virtueller Realitäten heraus betrachtet, wird in Luthers inszenatorischem Predigtansatz bereits möglich, dass die Inszenierungen des Textes dessen Realität, genauer die dargestellte, erzählte und auch die zitierte Welt in ihm, entweder übersteigen oder auch verlassen können, um eine neue Konkretion einzugehen.řŗş Im Kontext virtueller Realitäten kann man hier von einem Predigtgeschehen als Echtzeit-Erlebnis mit eigener Realität sprechen. Das offene Kunstwerk als homiletisches Modell einzuführen, geht auf einen Vorschlag Gerhard Marcel MartinsřŘŖ zurück, der für die rezeptionsästhetische Weiterentwicklung der Homiletik einen innovativen Anstoß lieferte. Der Vergleich der Predigt mit einem Kunstwerk charakterisiert diese darin als prinzipiell offen, nicht eindeutig, sondern mehrdeutig ausgerichtet. Die Predigt als offenes Kunstwerk soll bei den Hörerinnen und Hörern eine Vielfalt unterschiedlicher Rezeptionen provozieren.řŘŗ Für die Homiletik hat die Orientierung an diesem Modell die Frage nach der Wirkung der Predigt und ihrer Medien weiter forciert. So zeigt sich auch in Martins späteren Beiträgen eine große Offenheit bezüglich der Gestaltung des Predigtgeschehens, die von der Rede über die bibliodramatische Inszenierung bis hin zur Predigt mit Kunstwerken und Filmen reicht. Martin bleibt allerdings im Ganzen eng am Bibeltext, wenn er seine Rezeptionsästhetik gegenüber einer Produktionsästhetik und einer Werkästhetik abgrenzt: „Voraussetzung dieser Weichenstellung ist die Einsicht, dass das Werk nicht von seiner Wirkung zu trennen und nur dadurch lebendig ist, dass und wie Menschen mit ihm umgehen und es dabei verändern.“řŘŘ In dieser Einsicht korrespondiert Martins Hermeneutik für die Homiletik mit dem hier vorgetragenen sozialen Verständnis
Luther (1983: 97). Vgl. Teil 2, 5.4.1.3. Vgl. Garhammer/Schöttler (1998). Zur Frage, inwiefern das Kunstwerk offen und vieldeutig bleiben kann und soll und die Rezipienten dennoch nicht in eine beliebige und damit unstrukturierte Predigtkommunikation geführt werden, vgl. Martin (2004: 180) und Engemann (1998: 197 f.). řŘŘ Martin (2004: 181). řŗŞ řŗş řŘŖ řŘŗ
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von Wirklichkeit sowie mit dem Charakteristikum der Interaktivität für Kommunikation.řŘř Grundlegend lässt er sich allerdings von dem aus der Theaterwissenschaft stammenden Stichwort Inszenierung leiten. Ihm weist er auch zentrale theologische Bedeutung zu, wenn er z. B. mit Eilert Herms formuliert, dass das Medium der Offenbarung in der szenischen Erinnerung liege.řŘŚ Damit wird für Offenbarungserfahrungen zugleich festgelegt, dass auch sie der Zeichen bedürfen und so ein Medium erfordern. Martins Homiletik zeigt eine hohe Sensibilität für die mediale Konstruktion von Wirklichkeit. Mit Wolfgang Welsch entdeckt er das Ästhetische in Welten mit je eigener Raum- und Zeitlogik nicht nur in der Kunst, sondern auch in den künstlichen Wirklichkeitssetzungen der Medien insgesamt, in Design und Werbung. Damit erweitert er den Horizont der Wahrnehmung von Kommunikation in den Bereich elektronisch gestützter Kommunikation. Obwohl viele medialen Inszenierungen nur eine oberflächliche Ästhetisierung zeigten, fänden sich in wissenschaftlichen, insbesondere in naturwissenschaftlichen Forschungen und in neuen Technologien Anregungen, die für die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Fragen aufmerksam machen, die nicht abgewiesen werden könnten. Er nennt Video-Animationen und Simulationen sowie die Medienwelten von Nachricht und Unterhaltung. In ihnen gebe es sehr verschiedene Wege ins Virtuelle, in die Fiktionalität, in den Plural von Wirklichkeiten. Martin nimmt in der Kommunikation mit bzw. in medialen Inszenierungen einen Wandel der Wahrnehmung der Wirklichkeit wahr. Das Virtuelle ist in der Reihung mit den Begriffen Fiktionalität und Plural von Wirklichkeiten in den Zusammenhang von möglichen Welten eingerückt, die keinesfalls als Scheinwelten abgewertet werden. Sie seien vielmehr von erkenntnistheoretischer, ethischer und ästhetischer Bedeutung. „Was wirkt? Was ist wirklich? Wer zeigt was? Was lässt sich sehen? Was wirkt, ohne dass es direkt und sinnlich wahrnehmbar ist und damit in den Bereich des AnÄsthetischen gehört – wie etwa Atomstrahlung?“řŘś Wirklichkeit nehme eine Verfassung an, die bisher nur von der Kunst her bekannt gewesen sei, eine Verfassung des Produziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens etc. Auch wenn in diesen Formulierungen noch ein Widerstand gegen diese Veränderung in der Wirklichkeitswahrnehmung spürbar wird, zeigen sie doch, wie Martin einerseits ihre Ähnlichkeit mit CharakřŘř Problematisch allerdings erscheint, dass Martin kaum mehr zwischen Liturgie und
Homiletik unterscheidet. řŘŚ Vgl. Gerhard Marcel Martin, Predigt und Liturgie ästhetisch. Stuttgart 2004, 193. řŘś Martin (2004: 178).
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teristika der Kunst wahrnimmt und andererseits ein Verständnis von Wirklichkeit entfaltet, dass in der Realität auch deren Konstruktion bzw. deren Konstruktionsbedingungen auszumachen versteht. Mit der These, dass die Theologie die Ästhetik brauche, ermöglicht Martin es, dass das eigene Themenfeld nicht auf bestimmte zulässige Medien der Gotteserfahrung festgelegt wird: „Gott begegnet ja auf sehr verschiedenen Kanälen, in heterogenen Ausdrucks- und Eindruckswelten, in religiös rituellen und ethisch praktischen Handlungen, in Kontemplation und (gegenstandsfreier) Meditation und schließlich auch im Denken. Die Wirklichkeit, auf die mit dem Ausdruck Gott Bezug genommen wird, ist kein metaphysisch dingfest zu machendes Gegenüber, kein Objekt und auch nicht einseitig mit irgendeinem Medium – sei es der Mythos, seien es der Ritus und irgendwelche Substanzen und Energien, sei es das Wort – zu erfassen. Gott ist vielmehr bisweilen ein absolutes, bisweilen ein absolut konkretes Subjekt [...] Er offenbart sich und entzieht sich aller Erfahrbarkeit, ist präsent, unerreichbar und abwesend – und all dies in merkwürdigen Konstellationen.“řŘŜ Irritation und Fremdheit bleiben in den Erfahrungen der Gegenwart Gottes möglich, Nähe und Ferne zu Gott sind verschieden einstellbar, auch selbst der Ausdruck Gott bleibt Symbol. Mit dieser bis zu den Prolegomena einer Theologie reichenden theologischen Ästhetik wird der Homiletik eine Brücke gebaut, damit sie die virtuelle Realität des Glaubens auch medial veranschaulichen und für die Erfahrungen der Gegenwart Gottes alle möglichen Welten eröffnen kann. Dennoch wird der Zugang zu allen möglichen Welten nicht dazu führen, dass das Evangelium in beliebigen Kontexten kommuniziert wird. Aber die Ästhetik kann dazu beitragen, dass der Horizont für die Wahrnehmung von Glaube erweitert wird: „In diesem Sinn sollte Ästhetik – keineswegs unpolitisch, nicht in irgendwelchen wirkungslosen Rückzugsnischen – erstarrte Verhältnisse auch in Kirche und Theologie zum Tanzen bringen. Zu dieser Aufbruchszeit gehörte die Wiederentdeckung von Größen wie Spiel, Fest, Feier, Phantasie und Glück, Poesie und Doxologie.“řŘŝ Allerdings bleibt kritisch festzuhalten, dass sich in Martins homiletischem Beitrag nun nicht mehr der Eigensinn der Predigt im Gottesdienst erkennen lässt. Wo es sich z. B. um eine interaktive, bibliodramatisch gestaltete Inszenierung des biblischen Textes handelt, wäre ein solches Predigtgeschehen näher an der Lesung im Gottesdienst zu verorten. Die Predigt kann als ein für sie charakteristisches Merkmal eine Möglichkeit eröffnen, dass die am Predigtgeschehen beteiligten Menschen einzeln und auch gemeinsam die KomřŘŜ Martin (2004: 180). Hervorhebungen vom Autor. řŘŝ Martin (2004: 181).
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munikation mit Gott innerhalb ihrer gegenwärtigen Lebenswelten aufnehmen, sodass sich eine Gelegenheit eröffnete, den eigenen Glauben in dieser gegenwartsbezogenen Weise weiter zu entfalten. Während also in dem Entwurf von Martin die Kommunikation des Evangeliums von dem biblischen Text zu allen möglichen kulturellen Medien seiner Inszenierung führen kann, so legt Gerd Theißen als Neutestamentler mit seiner semiotischen Hermeneutik den Weg gerade andersherum an: Er plädiert dafür, Texte – wie das offene Kunstwerk – als offene Texte aufzunehmen. „Der Hörer und die Leserin [...] sind als Ko-Autor und Ko-Autorin des Textes aktiv an der Herstellung des Sinnes beteiligt. Verschiedene exegetische Neuansätze haben dies zum methodischen Ansatz gewählt, insbesondere der „Reader Response Criticism“. Aber auch sonst wird es (nicht zuletzt aufgrund unserer Einsicht in die Wirkungsgeschichte, die ein vorgegebenes Sinnpotenzial immer wieder in neuer Weise aktiviert) allmählich zum Konsens, dass Texte offene Texte sind, die von der Leserin und vom Hörer beim Verstehen aktiv zu Ende formuliert werden müssen. Es gibt [...] innerhalb der Vorgaben des Textes und durch die Vorgaben begrenzt, eine Fülle gleichberechtigter und gleich möglicher Auslegungen – was letztlich in der offenen Beziehung von Signifikant [Zeichenträger; I. N.] und Signifikat [Inhalt; I. N.] begründet ist.“řŘŞ Im Unterschied zu Henning Luther und Gerhard Marcel Martin bleibt der Kommunikationsraum der Predigt, der als Rede konzipiert ist, die Bibel. Innerhalb des biblischen Textes stehen der Predigerin bzw. dem Prediger allerdings im intertextuellen Ansatz höchst ausdifferenzierte Kommunikationsräume zur Verfügung. „Der Text erschließt sich also nach Theißen in der Predigt nicht durch lebensweltliche Aktualisierungen, sondern er eröffnet sich dem gegenwärtigen Verstehen gerade durch das tentative Vertrautwerden mit der fremden Textwelt.“řŘş Wiederum bleiben Irritation und Fremdheit der biblischen Texte für die heutige Wahrnehmung erhalten. Wiederum wird der Leserin und dem Hörer die Aufgabe gegeben, die Predigt mit eigenen Worten zu Ende zu formulieren. Neu hinzu tritt aber, dass Theißen bezüglich der Predigt von einem Spiel spricht, innerhalb dessen man sich in Interaktion mit Gott begebe.řřŖ So wird der Text zum Medium einer virtuellen Realitäten, der als interaktiv verfasster Möglichkeitsraum Gelegenheit gibt, den Glauben zu erproben und Gottes Gegenwart zu erfahren. Sowohl die Simulationen wie auch die Spielwelten und die Experimentierwelten lassen konkret virtuelle Realitäten im Predigtgeschehen vorstellbar werden. řŘŞ Gerd Theißen, Exegese und Homiletik. In: Pohl-Patalong/Muchlinsky (2001: 61). řŘş Klie (2004: 313). řřŖ Vgl. Gerd Theißen, Im Schatten des Galiläers. München 1986, 90.
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Kritisch ist im Vergleich zu Martin auch zu sehen, dass Theißen einen höheren Anspruch an den virtuellen Leibkörper und die Virtualisierungsfähigkeit der am Predigtgeschehen beteiligten Menschen stellt. Die fremde Textwelt als einen Möglichkeitsraum für eigene Glaubenserfahrungen zu erfassen, setzt voraus, dass Menschen in relativ kurzer Predigtzeit so mit der Welt des Textes vertraut werden, dass sie darin ihren Platz finden. Eine Inszenierung innerhalb der modernen Lebenswelt muss diese Schwelle nicht überwinden. Wenn Theißen als Aufgabe des Predigers formuliert, seinen Hörern die Grundmotive biblischer Glaubensaussagen ins Bewusstsein zu hebenřřŗ, erscheint es zudem so, dass ihm als Prediger eine mäeutische Aufgabe zukommt und die eigene Partizipation am Erschließungsprozess vor allem im Präparationsprozess der Predigtrede, also im Dialog mit dem Text, weniger im Dialog mit den anderen am Predigtgeschehen beteiligten Menschen liegt. Wilfried Engemanns Homiletik ist aus semiotischer PerspektiveřřŘ entworfen, die zeichentheoretische Grundlage findet sich vor allem in Umberto Ecos Oeuvre.řřř Dabei legt Engemann einen Schwerpunkt auf die Reflexion der Wirkungen einer Predigt. Sie zu reflektieren, führt ihn auch zur Entfaltung des Spielraums der Predigt. Er bietet den Rezipientinnen und Rezipienten des Predigtgeschehens eine Möglichkeit, ihre Lebenssituation neu zu strukturieren. Engemann spricht von kreatorischer Predigt. Sie diene dazu, dass Menschen schöpferisch tätig werden. Dabei verändere sich auch das Selbstverständnis der Rezipienten, sie sollten dazu kommen, sich selbst als ein Teil von Gottes Schöpfungshandeln wahrzunehmen. Damit ist eine bedeutende Analogie zwischen der Funktion virtueller Realitäten und dem Predigtgeschehen aufgewiesen. Eine Predigt, die analog zum Schöpfungsgeschehen Wirklichkeit setzen wolle, müsse, so Engemann, zum Ausgangspunkt neuer Geschichten werden, anderenfalls sei sie nicht pragmatisch zu nennen. „Eine Predigt, die – in Entsprechung zu Genesis 1, 28 – dem Einzelnen Lebens- und Handlungsspielräume eröffnen will, ist nicht am Ziel, wenn ihr einfach nur zugestimmt werden kann, weil sie Richtiges sagt.“řřŚ Ans Ziel kommt sie vielmehr, so ist aus dem Kontext virtueller Realitäten hinzuzufügen, wenn sie dazu anregt, Lebens- und Handlungsspielraum zu eröffnen und darin den virtuellen Leibkörper zu stärken. Denn nur wo dieser ausgebildet und entfaltet wird, řřŗ Vgl. Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute.
Gütersloh 1994, 45. řřŘ Vgl. Engemann, Wilfried, Predigen und Zeichen setzen. In: Pohl-Patalong/
Muchlinsky (2001b: 7). řřř Vgl. Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konse-
quenzen. Tübingen/Basel 1993; vgl. zum Überblick Klie (2004: 300–311). řřŚ Engemann (2003: 81).
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nehmen sich Menschen ihren Bewegungsraum, kommen sie zu einer freiheitlichen Lebensgestaltung.řřś Engemann thematisiert innerhalb seiner homiletischen Schriften nicht explizit computergestützte Kommunikation. Er hat sich allerdings unter dem Leitwort von der Kommunikation der Teilhabe mit Maschinisierungsprozessen auseinandergesetzt.řřŜ Hier macht er vor allem auf die Gefahren der Automatisierung von Kommunikation aufmerksam. Sie liegen z. B. in der Datenfülle, die mit der elektronischen Kommunikation zugänglich geworden ist. „Menschen verfügen über eine Fülle von Informationen, ohne im Einzelnen sagen zu können, worin ihre Funktion und Relevanz bestünde.“řřŝ Theologie und Religionswissenschaft hätten in dieser Lage eine besondere Verantwortung, Formen der Gesprächseröffnung bzw. eine offene Gesprächskultur zu stärken, um so in gewisser Weise den Automatisierungsprozessen von Kommunikation gegenzusteuern. Wiederum kann auch aus dem Kontext virtueller Realitäten in diese Argumentation mit eingestimmt werden. Die zu Anfang gegebenen spezifischen Beispiele virtueller Realitäten haben gezeigt, wo diese in der Lage sind, Menschen zu selbstbestimmter, individuell ausdifferenzierter und interaktiver Kommunikation anzuregen. So versteht Engemann Kommunikation unter den Bedingungen der Mediengesellschaft „als nicht nur zugelassene oder vielleicht auch noch erwünschte Möglichkeit der Verständigung, sondern als inszenierte Gelegenheit der Aus- und Weiterbildung von Menschen durch Kommunikationsprozesse, in denen sie als Akteure vorgesehen sind“řřŞ. Für solche Prozesse müssten im Rahmen der bewussten Gestaltung von Kommunikationsräumen und -situationen neue Verstehenshorizonte eröffnet werden. Engemann zieht hierfür z. B. auch in Betracht, die religiöse Kommunikation an anderen als den institutionell dafür vorgesehenen Orten zu bedenken. Er zeigt hiermit zugleich, dass Kommunikation durch Räume strukturiert wird und der Wechsel in ungewöhnliche Räume z. B. dazu beitragen kann, die Automatisierung von Kommunikation zu durchbrechen.řřş Dass die Perspektive auf die Raumstruktur von Kommunikation für Engemanns Homiletik nicht randständig ist, zeigt sich deutlich innerhalb seiner Homiletik, in der er die Raumstruktur biblischer Texte reflektiert.
řřś řřŜ řřŝ řřŞ řřş
Vgl. auch Teil 1, 3.4.1. Vgl. Engemann (2003: 255–269). Engemann (2003: 267). Ebenda. Vgl. Engemann (2003: 268).
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Dabei ist der Kommunikationsraum eines Textes durch Zeichen konstruiert. Diese Konstruktionsbedingung bleibt den Texten aber nicht formal, im Sinne von äußerlich, sondern die Zeichenstruktur wirkt zugleich auch inhaltlich auf die Rezeption. Die Gleichnisse Jesu z. B. zeigen in hervorragender Weise, wie sich Texte semantisch nicht erschöpfen.řŚŖ „Schließlich gehört es zum Wesen biblischer Texte – in abgestufter Weise gilt das für Literatur überhaupt –, dass sie permanent darauf zu drängen scheinen, herrschende Lesarten über Gott und die Welt umzucodieren und ihren Lesern interpretatorische Entscheidungen zuzumuten, die je eine überraschend andere Sicht der Dinge implizieren.“řŚŗ Diese Position regt dazu an, die Raumstruktur von Texten so angelegt zu sehen, dass, Texte zu lesen, Kommunikation entautomatisieren kann. Zweitens ist mit der Wahrnehmung der Raumstruktur angelegt, dass Texte als Möglichkeitsräume zur interaktiven Kommunikation gesehen werden, und zwar so wie dies für medial anders konstruierte Kommunikationsräume ebenfalls gilt, z. B. computergestützte virtuelle Realitäten. Drittens kann im Kontext virtueller Realitäten die semiotisch geführte Argumentation unterstützt werden, dass religiöse Kommunikation weniger in Richtung auf eine Auslegung biblischer Texte gemäß einer Autorenintention zu verstehen ist, sondern dass ihre ganze Realität davon abhängt, dass jemand z. B. die Bibel zur Hand nimmt, sich also in diesen Kommunikationsraum einloggt. Dies kann durchaus mit und ohne einen konkreten biblischen Text geschehen, der eben auch auf einer konkreten Website aufgerufen werden kann und dann beginnt, mit den ihm hier dargebotenen Zeichen zu kommunizieren. Engemann führt darüber hinaus in semiotischem Zugang aus, dass die Raumstruktur von Texten diese begehbar und bewohnbar macht, dass sie in andere Welten zu entführen vermag. Wiederum betont er aber die Bedeutung der Handlungsstruktur für eine Kommunikation: „Solche Strukturen entstehen aber nicht von selbst. Sie wollen bedacht sein – im Sinne von Vorkehrungen, die man trifft, um die Leser bzw. Hörer dabei zu unterstützen, bestimmte Rollen einzuüben, die sie spielen müssen, um in den Text vorzudringen, d. h. um ihn zu verstehen und zu tun.“řŚŘ Beispielhaft werde dies in řŚŖ Vgl. auch Frank Hiddemann, Geheimnis und Rätsel. Studie zum Gebrauch zweier
Begriffe in Theologie und Ästhetik. In: Engemann, Wilfried/Volp, Rainer (Hgg.), Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle, Berlin/New York 1992, 73–91. řŚŗ Ebenda. řŚŘ Engemann (2003: 82). Kursivsetzung vom Autor. Hier wird zugleich deutlich, dass Engemann die Predigt vor allem als Rede charakterisiert. In kleineren Gottesdienstgruppen kann es allerdings ratsam sein, von der Rede abzuweichen, in das Ge-
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der Verkündigung Jesu in der Emmaus-Erzählung gezeigt. Hier werde beschrieben, wie zwei Menschen dazu kommen, ihre eigene Geschichte, und was sie von der Christusgeschichte bislang wissen zu können glauben, so umzuerzählen, dass sie zu deren Zeugen geworden sind. Von Lukas bekomme man die Emmausgeschichte so erzählt, dass man gleichsam mit unterwegs sei. So werde in neutestamentlichen Texten versucht, die Bedeutung Jesu auf eine Weise zu erfassen, die ihre Rezipienten in die Christusgeschichte involvieren. Hier liegt nun ein Vergleich mit der zum Eingang der Untersuchung beschriebenen virtuellen Experimentierwelt nahe. Der Text stellt Rollen zur Verfügung, die man ausprobieren kann, um eigene Reaktionen im Kontext der erzählten Welt und seiner virtuellen Realität kennenzulernen. In semiotischer Homiletik wird dieser Vorgang so entfaltet: „Im Text sind Vorkehrungen getroffen, die mir ein verstehendes Vordringen in ihm auch dann ermöglichen, wenn ich den Wissens- und Glaubensstand des Autors nicht erreiche: Mir werden Leser-Rollen abgefordert, ich werde vom Text dazu qualifiziert, die Lesergestalten zu verkörpern, die der Text braucht, um erfüllt zu werden. So gerate ich in eine mir möglich werdende Welt, die mich als Akteur, nicht nur als Wissenscontainer beansprucht. Der biblische Text setzt mich instand, über die in ihm dargestellte Welt hinauszugehen, mich in eine Geschichte verwickeln zu lassen, die mir Stellungnahmen, Identifikationen, Empörungen, Distanzierungen usw. abverlangt.“řŚř Im interdisziplinären Austausch von semiotischer und medientheoretischer Perspektive wird besonders deutlich, dass der Text für den Prediger bzw. die Predigerin bewohnbar wird, wenn er bzw. sie sich eine seiner Raumstrukturen erarbeitet hat. Wenn es möglich geworden ist, die Enklaven eines Textes aufzusuchen und selbst zu bewohnen: „So an einen fremden Text heranzugehen heißt bereits in ihn einzutreten und – wie man in der Literaturwissenschaft sagt – seine Enklaven provisorisch zu bewohnen, seine Zwischenräume mit Elementen der eigenen Lebenswelt zu besetzen.“řŚŚ Nach Wolfgang Iser erweisen sich, so Engemann weiter, solche Leerstellen als zentrale Umschaltelemente der Interaktion von Text und Leser; sie regulierten die Vorstellungstätigkeit des Lesers, die nun aber zu Bedingungen des Textes in Anspruch genommen werden. So ist in der Texthermeneutik bereits eine interaktive Rezeption angelegt, wenn hier von Leerstellen, von Enklaven, von Zwischenräumen im Text gesprochen wird. Auch wenn die interaktiven Mögspräch oder auch etwa in die Begehung von verschiedenen Kommunikationsräumen wie es z. B. in inszenierten Predigtstationen der Fall sein kann. řŚř Engemann (2003: 149). řŚŚ Engemann (2003: 150).
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lichkeiten in elektronisch gestützten virtuellen Realitäten andere Interaktionen zulassen, als sie beim Lesen eines Textes bestehen, wird sichtbar, dass auch die Interaktivität kein Charakteristikum allein von virtuellen Realitäten ist, sondern sich z. B. in biblischen Texten eine Dimension ihres historischen Gewordenseins nachvollziehen lässt. Die Beschäftigung mit dem, was als wirklich gilt, bzw. mit dem, wie Wirklichkeit im Kontext virtueller Realitäten als Konstruktion erkennbar wird, lässt allerdings das Verständnis der Enklaven bzw. ihrer Synonymisierung als Zwischenräume problematisch erscheinen. Enklaven sind, etymologisch gesehen, völlig umschlossene Grundstücke, sie beschreiben also eigene Räume. So scheint die Übersetzung als Zwischenräume oder, wie manchmal in Bezug auf D. W. Winnicott psychologisch formuliert wird, als intermediärer RaumřŚś eine nicht angemessene Verschiebung in der Wahrnehmung auszulösen. Denn wenn man den Begriff des Zwischenraums auf die Wirklichkeitssicht, die mit ihm induziert wird, hinterfragt, führt diese auf ein ausgesprochen religionsaffines Gebiet. Der Zwischenraum wird häufig als ein Gebiet verstanden, auf dem ein Übergang zum Heiligen möglich wird. Auch innerhalb der Kulturanthropologie wird diese Argumentationsfigur mit Bezug zu virtuellen Realitäten in Gebrauch genommen. Natascha Adamowsky beschreibt so den intermediären Raum des Spiels: „Allein, es gibt einen dritten Bereich, in dem wir ausruhen dürfen, weil in ihm die Erfahrung der Illusion ihren Anfang hat und die magische Kontrolle des Innen mit dem äußeren Handeln zusammenfließt [...].“řŚŜ Dieser intermediäre Bereich entwickele sich an der theoretischen Grenze zwischen subjektiv und objektiv Wahrgenommenem. Sich in diesem Zwischen zu bewegen, heiße ein Leben lang die Chance zu haben, die Trennungen von Ich und Welt in einem kurzen, aber immer wiederholbaren Moment als Ganzes überwinden zu können. „In der aufregenden Verflechtung von Subjektivität und objektiver Beobachtung entsteht eine Atmosphäre sonderbarer eigenwilliger Autonomie, eine Art Schwebezustand [...] zwischen Nähe und Zurückgezogenheit [...] Man fühlt eine ganz eigene Gewißheit, in dieser Stimmung des Vertieftseins auf besondere Art beschützt zu sein, und gewinnt ein Vertrauen, in dessen Licht sich das Phänomen des Spiels als schöpferische Erfahrung im Kontinuum von Raum und Zeit entfaltet [...].“řŚŝ So werden im intermediären Raum Horror- und Gewaltszenarien geborgen, aber ebenso auch Liebesszenen und Spielkulturen mit Konkurrenzen in Wissen und Reaktion betrieben. řŚś Vgl. Heimbrock (1998: 93, 120). řŚŜ Natascha Adamowsky, Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt a. M. 2000, 28. řŚŝ Ebenda.
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Aber die Bezeichnung als Zwischenraum bewirkt, dass virtuelle Realitäten bezüglich ihres Beitrags zur Konstruktion von Wirklichkeit nicht angemessen bestimmt werden. Mit medienwissenschaftlichen Untersuchungen wie etwa von Manfred Faßler sind virtuelle Realitäten zum einen als prinzipiell unbegrenzte territoriale, zeitliche und wissende Räume zu verstehen, die es rechtlich, sozial und kulturell zu gestalten gilt.řŚŞ Zum Zweiten legt die Rede vom Zwischenraum nahe, dass es viele einzelne Kommunikationsräume gibt, die selbst aber nicht miteinander vernetzt wären, sondern diese Vernetzung erst über den Zwischenraum erhielten. Wenn hierbei dann der Zwischenraum religiös konnotiert verstanden wird, dient er dazu, eine doppelte Wirklichkeit zu konstruieren und sich auf diesem Wege von dem, was in den eigentlichen Räumen geschieht, distanzieren zu können. Die semiotische Perspektive, die für Kommunikation das Modell des offenen Kunstwerks entwirft, zeigt vielmehr, wie auf eine solche Hilfskonstruktion über Zwischenräume verzichtet werden kann und Kommunikationsräume selbst vernetzt und auch in dieser Vernetzung miteinander (neu) konstruiert werden. Dabei ist es ein Missverständnis, das Modell des offenen Kunstwerks so zu verstehen, dass Beliebiges vom Text in seiner Deutung zur Wahl gestellt wird. Vielmehr schafft ein Text einen einzigartigen Kommunikationsraum, in dem, wie Engemann sagt, alles seinen Platz hat, in dem alles, was geschieht, bestimmten Bedingungen unterliegt, in dem eigene Gesetze gelten. Gerade darin zeige sich sein schöpferischer Charakter, in dem der Einzelne als Subjekt vorgesehen sei und in Freiheit handeln könne. Diese Texthermeneutik zeigt sich in Engemanns Homiletik nicht nur in der Vorbereitung der Predigt (Dialog I), sondern auch in der Predigt bzw. dem Dialog II. Dass die Predigt eine Veränderung im alltäglichen Leben bewirken soll, ist mit Rücksicht auf die Entlastung der Predigenden, und um eine zu deutliche Ethisierung der Predigt zu vermeiden, homiletisch kaum mehr en vogue. Engemann bringt die Absicht, Predigten wieder wirkungsvoller zu gestalten über ein ästhetisches Paradigma in die Homiletik ein. Die Homiletik in semiotischer Perspektive ist ästhetisch und, wie bereits oben bei Martin, auch ein ethisch normiertes Projekt. Wo sie die kreatorische Predigt fordert, zielt sie darauf ab, Menschen im Predigtgeschehen einen Spielraum zu eröffnen, aus dem heraus sie für sich ein neues Maß an Bewegungsfreiheit herausspielen können. Sie soll z. B. darin Wirkungen zeigen, dass an den Bedingungen von Unfreiheit gerüttelt wird.řŚş Der Spielraum bezeichne im Allgemeinen einen Bewegungs- und Entscheidungsrahmen, der selbstständiřŚŞ Vgl. Nethöfel (1999: 197). řŚş Vgl. Engemann (2003: 83 f.).
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ges Agieren vorsehe. Wenn es also um den Spielraum der Predigt geht, dann seien Eigenbeteiligung und Eingriffe erwünscht. Dieses homiletische Verständnis von Spielraum teilt die Theologie mit der Philosophie: „Die Spielraum-Metapher kehrt in den philosophischen Entwürfen der Gegenwart überall dort wieder, wo es um die Möglichkeit des Menschen geht, in seiner wirklichen Gegenwart in Freiheit und Liebe tätig zu sein. [...] Vergleichbares wird dem Menschen auch in der Schöpfung eingeräumt. Sie schafft ihm Raum, den er sich nimmer selbst einräumen kann, einen Raum, in dem das Chaos gebändigt wird, den er als wie für sich vorbereitet entdeckt – ein Raum, der seine Lebens- und Zukunftsbasis darstellt.“řśŖ So zeigt sich, dass die Predigt als offenes Kunstwerk vor allem eine Struktur schafft, in der individuell agiert werden kann. Jede Struktur setzt selbstverständlich bereits inhaltliche Optionen mit voraus. Aber diese können dennoch vieldeutig sein, sodass individuelle Wahlfreiheit besteht und es möglich ist, different wahrzunehmen und Differenzen zu leben. Trotz der hermeneutischen Einstellung auf Semiotik und Wahrnehmungslehre kann in dieser Homiletik dennoch die Handlungsorientierung eine fundamentale Bedeutung erhalten. Andersherum gilt darüber hinaus sogar, dass nur eine Predigt, die als offenes Kunstwerk verstanden wird, eine Option für das Handeln entfalten kann, die nicht zu einer Ethisierung der Predigt führt, die vielmehr zu einer Normierung des christlichen Lebensstils führt. Die Herausforderung für eine Homiletik, die sich am offenen Kunstwerk ausrichtet, liegt darin, die Balance zwischen der ethischen und der ästhetischen Dimension der Predigt zu reflektieren bzw. das Sensorium für einen gelingenden Balanceakt im Dialog II zu schaffen, damit das Ziel, dass Menschen im Gottesdienst ihren Raum finden, in dem sie ihren persönlichen Glauben weiterentwickeln können, auch erreicht werden kann. Dass Engemann in der Gestaltung der Predigtrede dafür plädiert, man solle sich in ihr auch vom biblischen Text lösen, ist gerade für eine Homiletik, die die Virtualisierungsfähigkeit von Menschen stärken will, folgerichtig, denn: „Der Rezeptions- und Konstruktionsraum der Predigt ist keine hermeneutische Wendeschleife, in die ich hineingeholt werde, um mit meinem Leben die Wahrheit der Texte zu beglaubigen. Sondern die Perspektive ist genau umgekehrt: Verkündigung des Reiches Gottes zielt darauf ab, dass ich mein Leben unter den Bedingungen des Reiches Gottes verstehe und Zeuge der Inszenierung dieses Reiches unter den Bedingungen meines Lebens werde: in meinem Gegenüber zu Gott, zu meinem Nächsten und zu mir selbst.“řśŗ Nur řśŖ Engemann (2003: 82). řśŗ Engemann (2003: 161).
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auf dieser Basis kann innerhalb eines Predigtgeschehens auch für die Rezipierenden von Grund auf deutlich werden, dass es sich innerhalb der Predigtrede um eine Konstruktion von Wirklichkeit handelt. Schließlich ist zu beobachten, dass Engemanns Homiletik auf die semiotische Einsicht, dass jede Textquelle ambivalente Wirkungen hat, aufbaut. Doch es fehlt, soweit ich sehe, eine Auseinandersetzung damit, dass Texte grundsätzlich auch freiheitsbeschneidende Wirkungen haben können. Sie können aufgrund ihrer Struktur auch im Modell des offenen Kunstwerks dazu beitragen, dass sich Spielräume verkleinern. Ob sie freiheitlich oder bedrückend wirken, bleibt von der menschlichen Fähigkeit zur Virtualisierung im Leseprozess abhängig. Diese Fähigkeit bestimmt die Auseinandersetzung mit dem Text auf spezifische Weise. Im Kontext virtueller Realitäten betrachtet zeigt sich aber auch in dieser Mehrdeutigkeit und in der Gefahr der religiösen Verengung des Spielraums wiederum ein vergleichbarer Bauplan von Predigtgeschehen und der Kommunikation in virtuellen Realitäten. Innerhalb der gegenwärtigen homiletischen Diskussion ist schließlich zu bemerken, dass das Predigtgeschehen in Engemanns Entwurf als eigenständiges Ereignis im Gottesdienst zur Geltung gebracht wird, ohne zugleich die intertextuellen und kommunikativen Vernetzungen mit der Liturgie aufzugeben.řśŘ An dieser Eigenständigkeit ist auch aus dem Argumentationsfeld virtueller Realitäten heraus festzuhalten. Das Predigtgeschehen konstruiert im Gottesdienst einen Kommunikationsraum, in dem gegenwärtige Konstruktionen von Wirklichkeit mit anderen Kommunikationsräumen verbunden und vernetzt werden. Erst in dieser Vernetzung mit anderen historischen Konstruktionen kann eine gegenwärtige Konstruktion der Wirklichkeit im christlichen Glauben gestützt und weiterentfaltet werden. Erst in dieser Vernetzung kann und muss sich ihre Aktualität zeigen.
řśŘ Vgl. für einen Überblick Engemann (2002: 414–421).
Schlussbemerkung Die Frage nach der Bedeutung virtueller Realitäten für die Homiletik hat es sinnvoll werden lassen, zwei zunächst eher weniger miteinander vernetzte homiletische Diskussionsräume in ein Spektrum der Betrachtung zu bringen. Es erscheint jedenfalls so, dass die Zugänge, die sich der Anmut und der Unterhaltung widmen, vor allem die affektive Dimension der menschlichen Fähigkeit zur Virtualisierung ausgebaut haben. Die Zugänge, die sich auch innerhalb der Homiletik semiotisch auf das Modell vom offenen Kunstwerk beziehen und z. B. den Spielraum der Predigt in den Mittelpunkt stellen, bearbeiten intensiver hermeneutische Fragen, insbesondere die hier zur Diskussion stehende Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit. In der Zusammenschau zeigt sich meines Erachtens, dass diese verschiedenen Zugänge sich im Sinne einer umfassenden leibkörperlichen Wahrnehmung der Rezipientinnen und Rezipienten ergänzen. So kann man in der Anmut eine leibkörperliche Gestalt der Atmosphäre des Raums sehen und in der unterhaltsamen Predigt vor allem die emotionalen Wirkungen des Predigtgeschehens auf ihre Zuhörerinnen und Zuhörer ausmachen. Im Modell des offenen Kunstwerks kann man den Schwerpunkt auf der strukturellen Erschließung von Texträumen und in ihrer Konsequenz auch auf der Erschließung von Möglichkeiten sehen, im Predigtgeschehen vielfältige Kommunikationsräume zu eröffnen. Es ist deutlich geworden, wie die genannten Konzepte bereits mit Rezipientinnen und Rezipienten zu rechnen scheinen, die um ihres Glaubens willen ihr Vermögen zur Virtualisierung der Realität stärken.
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Namenregister Adamowsky, Natascha 29, 113, 146, 329 Adorno, Theodor W.
27, 122
Albrecht, Horst 161 f., 274 von Aquin, Thomas 87, 166 Arcand, Denys 155 Aristoteles 68, 72, 88 f., 92 Assmann, Aleida 15, 233, 246 Assmann, Jan 84, 124 Ayas, Ruth 262 f.
Beierwaltes, Werner 12 Belting, Hans 82 Benn, Martin 222, 225 Bentele, Günter 151 Berg, Eberhard 54, 62, 64 ff. Berger, Peter L.
50
Bergholz, Thomas 202, 209, 210 Bergman, Ingmar 155 Berndt, Heide 219
Bader, Roland 27, 32
Bernhardt, Reinhold 12, 135, 178, 351
Bahr, Hans-Eckehard 236, 274
Biehl, Peter 15, 294
Bahr, Petra 111, 185, 217
Bieler, Andrea 51
Barth, Karl 55, 57, 202, 210, 274
Bieritz, Karl-Heinrich 228 f., 241, 245, 267 f.
Barthes, Roland 74, 297 Bastian, Hans-Dieter 168 f. Baudrillard, Jean 17 Baumann, Zygmunt 53 Baumgarten, Alexander Gottlieb 122, 185
Bieritz, Karl-Heinz 118 Birkoben, Sandra 210 Bloch, Ernst 185 Block, Johannes 244 Blumenberg, Hans 183
Bäumler, Christof 166 ff., 171
Bobert, Sabine 58, 265 f.
Bayer, Oswald 65
Böhm, Thomas H. 143, 154, 162 f., 261
de Beauvoir, Simone 53, 55 Beck, Hartmut 320
Böhm, Uwe 39
Becker, Sybille 51
Böhme, Gernot 72 f., 121 f., 186 f., 119 f., 217, 219–222, 224
Beeske, Sigrid 3
Böhme, Hartmut 26, 41, 128
359
Namenregister
Bollnow, F. O.
Eco, Umberto 74, 76, 82, 169, 278, 288, 320, 325
184
Bolz, Norbert 17
Eisen, Ute E.
Böntert, Stefan 250 Bossinade, Johanna 288 von Braun, Christina 97 f.
302
Ekert, Annette 26 f. Emrich, Hinderk M.
190
Brüggemann, Heinz 131
Engemann, Wilfried 7, 31, 46 f., 50, 99 f., 111, 117 f., 169 ff., 176, 224, 235, 249 f., 260, 267 f., 275, 277, 279, 286, 289, 298, 300 f., 305 f., 315 f., 318, 320 f., 325– 328, 330 ff.
Bukdahl, Jörgen 103
Erikson, E. H.
Bultmann, Rudolf 12
Esposito, Elena 15
Busche, Andreas 36, 41
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 48, 150, 207, 223, 265
Bresson, Robert 155 Brinkmann, Frank Thomas 154 Brinkop, Barbara 38
Buschmann, Gerd 39, 158 Castells, Manuel 32 ff., 127, 131–134, 160
104
Everschor, Franz 38
Climacus, Johannes 97
Failing, Wolf-Eckart 12, 45, 50 f., 62, 82, 100, 104, 133, 163, 172, 232, 235, 272
Cornehl, Peter 162, 231, 236
Farley, Edward 45
Dahm, Karl-Wilhelm 236, 277
Faßler, Manfred 6, 13, 28 f., 42 f., 74, 81, 84 f., 105–107, 145, 152, 160, 177, 330
Damasio, Antonio 194 Dalferth, Ingolf U.
89 f., 269, 293
Danz, Christian 178
Fechtner, Kristian 47 f., 143, 153 f., 230, 235 f., 281 f.
Dehm, Ursula 3
Fermor, Gotthard 48, 143, 154
Deuser, Hermann 46, 91, 94 f., 195
Feuerbach, Ludwig 185
Develey, Florence 154
Fink-Eitel, Hinrich 184 f., 187
Dilthey, Wilhelm 185
Finkelstein, Israel 21
Dinkel, Christoph 104
Flusser, Vilém 14, 78 f.
Dinter, Astrid 26, 45
Freeser-Lichterfeld, Ulrich 51
Dörger, Hans Joachim 169
Freud, Sigmund 191
Döring, Nicola 29 f., 32, 101 f., 114, 311
Friedrich, Johannes 48, 237
Eckmann, Bernhard 27, 32
Friedrichs, Lutz 208, 212 Fröhlich, Gerhard 61
360
Namenregister
Fuchs, Martin 54, 62, 64 ff. Fürst, Walter 51 Garhammer, Erich 117, 258, 278, 281, 321 Geertz, Clifford 44, 47, 59–62, 64–67, 182 f., 190, 302 f.
Gutmann, Hans-Martin 45, 57, 71, 122, 135, 154, 157 f., 164, 195 f., 232, 296 Haberer, Johanna 260 f., 284 Habermas, Jürgen 54, 169 Habermeyer, Wolfgang 67
van der Geest, Hans 277
Härle, Wilfried 45
Gehring, Hans-Ulrich 23, 39, 158
Haese, Bernd-Michael 27 f., 143 f., 223
Geier, Manfred 79 Gelb, Adhémar 115 von Gemünden, Petra 302 Gennep, Arnold van 232 Gerhards, Maria 2, 8 Gibson, Mel 155, 157
Halbach, Wulf 152 Hamann, Johann Georg 65, 122 Haspel, Michael 48 Hauschild, Eberhard 50 f., 58, 265 Hauschild, Thomas 105
Giddens, Anthony 43, 227
Heidegger, Martin 102 f., 122, 126, 184 f.
Giesecke, Michael 293
Heim, Michael 42
Goldstein, Kurt 115
Heimbrock, Hans-Günter 45, 50 f., 62, 82, 100, 104, 146, 163, 172, 231, 235, 272, 278, 329
Göttert, Karl-Heinz 247 Gräb, Wilhelm 38, 108, 138–142, 154, 158, 170, 217, 230, 261, 292
von Hentig, Hartmut 14
Grellert, Marc 14 f.
Herms, Eilert 45, 252, 322
Grethlein, Christian 23, 151 f., 158, 169 f., 174 ff., 215
Herrmann, Jörg 20, 38, 154–157
Grimm, Jakob 312
Herrmann-Stojanov, Irmgard 204 ff., 210
Grimm, Jürgen 25, 31
Hickethier, Knut 261
Grimm, Wilhelm 312
Hiddemann, Frank 327
Grötker, Ralf 87, 100
Hild, Helmut 236
Grözinger, Albrecht 31, 45, 47–50, 66 ff., 82, 110, 153 f., 230, 248, 250 f., 257, 286, 288, 299, 306 ff., 310, 314, 318
Hoffacker, Gabriele 33
Guilia, Milena 33
Hörisch, Jochen 24, 105, 141 f., 158 ff., 165
Hoffmann, E. T. A.
21
Hoffmann, Klaus 279
Horn, Andreas 300
361
Namenregister
Horn, Klaus 219
Körtner, Ulrich H.
von Horvath, Ödön 201
Kosellek, Reinhart 126, 136
Huber, Wolfgang 48, 236
Kraemer, Hendrik 168
Huizing, Klaas 23, 93, 97, 107, 153, 292, 294, 313
Krämer, Sybille 15, 17, 58, 86 ff., 111, 115
Hume, David 185
von Kriegstein, Matthias 277
Hutcheson, Francis 185
Kühn, Heike 40
Jäger, Ludwig 83
Kurz, Wolfram 193, 291
Jäger, Williges 233
Lämmlin, Georg 45, 57, 108
Janke, Wolfgang 30, 91 f., 113, 116
Lange, Ernst 65, 99, 104, 168, 248, 278–281
Janowski, Hans Norbert 161 Jauß, Hans-Robert 68 Jonas, Hans 182 f. Josuttis, Manfred 6, 18 f., 45, 50 f., 57, 120 ff., 169, 233, 245, 244, 271, 274 ff., 290, 300 f., 304 f., 310, 358 Jung, Carl Gustav 191 Kaiser, Klaus-Dieter 111, 217 Kaltenborn, Olaf 22 Kant, Immanuel 88 ff., 91 f., 184 f. Keller, Adalbert 135 f.
295
Lévinas, Emmanuel 53–56, 192 Liessmann, Konrad Paul 93, 95 f., 102 Lindenberg, Udo 73 Löw, Martina 119, 121, 127 f., 131 Lohmann, Georg 184 f., 187 Lorenzer, Alfred 220 Lotz, Thomas 45, 172 Luckmann, Thomas 50, 155, 262 f. Ludwig, Jan 239, 242 f., 245 f. Lueger, Manfred 63
Kierkegaard, Sören 92–98, 103, 185, 196
Luhmann, Niklas 169, 176 f.
Kirsner, Inge 39
Luther, Henning 54 f., 57 f., 252, 286, 320 f., 324
Klein, Sascha 78 Klie, Thomas 7, 143, 145 f., 320, 324 f.
Luther, Martin 30, 71, 148, 155, 196–198, 254 f., 270 f., 273 f., 293–296, 313
Klingler, Walter 2, 8
Macho, Thomas 106 f.
Kluth, Christian 71
Mädler, Inken 48, 122, 164 f.
Knebel, Sven K.
Mägdefrau, Jutta 292
87
Knodt, Reinhard 122–125, 319 Konau, Elisabeth 127
Martin, Gerhard Marcel 31, 45, 47, 50, 52 f., 117, 250, 252, 278, 320– 325, 330
362
Namenregister
Matthiae, Gisela 118
Nord, Ilona 47, 54, 68, 77, 117, 177
Mazumdar, Pravu 7
Nüchtern, Michael 281
McLuhan, Marshall 165
Nussbaum, Martha 60
Mead, George Herbert 191
Otto, Gert 47, 273 f.
Mehl, Heinrich 204, 207
Parrella, Frederick J.
Mehlhorn, Annette 25, 69
Pascal, Blaise 185
Merleau-Ponty, Maurice 22, 114 f.
Pasolini, Pier Paolo 155
Mertin, Andreas 69
Pauer-Studer, Herlinde 56
Mette, Norbert 51
Peirce, Charles Sanders 92
Metz, Johann Baptist 166
Petkewitz, Wolfgang 137
Metzger, Manfred 99 f., 260
Peukert, Helmut 169
Meyer, Waldemar 291
Pfleiderer, Georg 48, 153 f.
Meyer-Blanck, Michael 50, 246, 250, 253 ff., 294, 315–318
Piaf, Edith 191 f., 195
Meyer-Wilmes, Hedwig 55 f. Mihm, Kai 20
274
Picht, Georg 191 Pirner, Manfred L.
314
Platon 81, 185, 193
Minsky, Marvin 41 de Montaigne, Michel 185
Plieth, Martina 51, 75
Möller, Christian 35
Pohl-Patalong, Uta 48, 143, 154, 275, 283, 291, 309, 320, 324 f.
Mörth, Ingo 61
Pörksen, Bernhard 22
Moxter, Michael 158, 169, 176, 180– 183, 191, 270
Preul, Reiner 7, 45, 152, 170, 172 ff., 176, 178, 260, 284
Müller, Christoph D.
Quarch, Christoph 233
14, 284
Müller-Funk, Wolfgang 106
Rammert, Werner 85
Musil, Robert 115, 295
Raschzok, Klaus 216
Nethöfel, Wolfgang 135, 137, 330
Reck, Hans Ulrich 106
Neuhaus, Lisa 216
Reinhardt, Ursula 295
Nicol, Martin 252
Rheingold, Howard 29, 31 f.
Niebergall, Friedrich 278
Rice, Charles L.
Nietzsche, Friedrich 88, 90, 92, 98, 122, 185, 190
Riemer, Christoph 117
Nitz, Wiebke 38
252
Rinderspacher, Jürgen P.
206
363
Namenregister
Ritter, Adolf M.
Schreiber, Stefan
12
135
Ritter, Joachim 295
Schröer, Henning
Rödszus-Hecker, Martina 271
Schroeter-Wittke, Harald 309 ff., 314, 319
Roessler, Roman 100
Schulz, Otmar
Rösing, Ina 1
48, 59
Schulze, Gerhard
Rosselini, Roberto 155
320, 335
Schwarzwäller, Klaus
Roth, Peter 135, 143 Roth, Ursula 208, 210, 283, 320 Rousseau, Jean-Jacques 185
Seel, Martin
48, 154,
150
Schulz, Rüdiger
Roos, Theo 107
45, 49 f.
211
111, 133, 188 ff.
Senft-Werner, Ingo
15
Sandherr, Susanne 56 f.
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 85
Schaack, Thomas 204, 207
Siemons, Stefan
Schachtner, Christina 32
Silberman, Neil A.
Scharfenberg, Joachim 117
Simmel, Georg
1, 54, 61
Scherz, Florian 214 f.
Sloterdijk, Peter
73, 191
Schieder, Rolf 260
Sölle, Dorothee
31, 86
Schiller, Friedrich 114, 185
von Soosten, Joachim
Schilson, Arno 161 Schindler, Wolfgang 27, 32
Spiegel, Yorick 198, 231
Schleiermacher, F. D. E.
Spielberg, Steven
82, 108
135, 143 21
77, 97, 108, 117, 20 ff., 37
Schloz, Rüdiger 104, 168, 279
Steck, Wolfgang
Schmidt, Jochen 21
Steffensky, Fulbert 240 f., 243
Schmidt, Wolf-Rüdiger 161 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph 244 Schmidt-Rost, Reinhard 284 Schmitz, Hermann Scholpp, Stefan
7, 152, 260,
120 ff., 187, 312
45, 57, 108
Scholtz, Christopher P.
21
Schöttler, Heinz-Günther 117, 208, 210, 258, 278, 281, 321
51
Steiner, George 211 Storl, Dieter
216 f., 225,
47, 189–192, 195 f.,
3
Streckenbach, Ulrike
216
Sturzenecker, Benedikt Sundermeier, Theo Taussig, Michael Tetens, Holm
154
87
117
232 f. 54
364
Namenregister
Theißen, Gerd 2 f., 13, 179 ff., 183 f., 190, 253, 306, 324 f. Thomas, Günter
161
Thomé, Hans Erich 219, 261
Wegenast, Klaus Weibel, Peter
299
15, 84
Weissenrieder, Annette
12, 79, 137,
Weizenbaum, Joseph
302 22
Welker, Michael
110
Tillich, Paul 52, 57, 66, 68, 110 f., 126 f., 129 f., 132, 134, 145, 194 ff., 226, 274, 290
Wellman, Barry
33
Welsch, Wolfgang 322
52 f., 87–90, 316,
Timm, Hermann
Wendt, Friederike
302
Thoreau, David Henry
97, 271, 292
Trautwein, Dieter
277
Trowitzsch, Michael Turkle, Sherry
67
148
Turner, Victor
210
232, 241, 310
Ulrich, Gerhard Updike, John
208, 210, 281
Vattimo, Gianni
60
274
Vollbrecht, Ralf
292
Vollmer, Ulrike
38
Wick, Peter
248 88
Wiesing, Lambert
50, 133
77, 117, 177 37,
77, 213, 230,
Waldenfels, Bernhard 42, 57 f., 112, 114 ff., 130 f., 167, 172, 237, 272 f., 278, 317 146 f. 109
Zahrnt, Heinz
100
Zerfaß, Rolf
277
Žižek, Slavoj
78
146, 198,
297 ff., 302 51
Wolf-Withöft, Susanne
Wagner-Rau, Ulrike 234, 282
Wegner, Helwig
109 f.
Wittrahm, Andreas
Wachowski, Andy und Larry 157
Weder, Hans
Westermann, Claus
Wischmeyer, Oda
47, 50, 82, 202, 218,
Volz, Fritz-Rüdiger
5, 41 f., 128,
Winnicott, Donald W. 296, 329
146
Voigt, Friedemann
39
Wertheim, Margaret 224
Wiehl, R.
157
van der Ven, Johannes A.
108
Wermke, Michael
22, 29
Turkowski, Guntram
Volp, Rainer 327
Wenzel, Harald
7, 31, 116 f.