VARINIA OBERTO
RECHTECK DER BEGIERDE Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE...
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VARINIA OBERTO
RECHTECK DER BEGIERDE Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/7875 Titel der französischen Originalausgabe UN RECTANGLE DE PLAISIR Deutsche Übersetzung von Antoinette Gittinger Copyright © 1988 Presses de la Renaissance Copyright © der deutschen Ausgabe 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1989 Umschlagfoto: ZEFA/Yloo, Düsseldorf Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Werksatz Wolfersdorf GmbH Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-03314-0
Inhalt: Vom Fenster seiner Pariser Wohnung aus beobachtet ein Musiker Tag für Tag fasziniert die flüchtige Erscheinung eines wohlgeformten, üppigen Frauenkörpers im gegenüberliegenden Gartenhaus. Die geheimnisvolle Nachbarin empfängt regelmäßig Liebhaber. Der Mann am Fenster verfällt von Woche zu Woche mehr der erotischen Ausstrahlung der schönen Unbekannten. Die Geschichte einer fatalen Obsession beginnt…
Ich betrat mein Schlafzimmer, stieg auf den Hocker, blickte durch die Ritze der Jalousie und entdeckte, wie ihr Arm durch die Gitterstäbe des Geländers hing und wie von diesem Arm Blut heruntertropfte. Die Blumenkästen und die Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt war, versperrten mir den Blick, um weitere Einzelheiten wahrzunehmen. Wolken verdrängten die Sonne. Der Verbindungsgang trat kurz aus dem Schatten, um sogleich wieder darin unterzutauchen. Als ich sie einen Moment im vollen Tageslicht liegen sah, fand ich das, was geschehen war, noch unbegreiflicher. Ich betastete meinen Hals, wo die blutunterlaufenen Stellen nur noch schwach auf Druck reagierten und wickelte den Schal, der heruntergeglitten war, wieder fester. Meine Gedanken arbeiteten langsam, als ich wie gebannt auf ein Laken starrte, an dem der Wind wütend zerrte und das immer röter wurde. Ich fragte mich, ob der Körper wohl ganz ausbluten oder ob sich die Wunde schließen würde. Mit jedem Windstoß färbte sich das weiße Laken dunkler. Ich stand noch auf meinem Beobachtungsposten und starrte durch die Ritze der Jalousie, als Bowie, der über den Verbindungsgang gekommen war, wie erstarrt vor der Leiche verharrte. Schließlich wandte er sich ab, und ich wußte – auch wenn er sich nichts anmerken ließ –, daß er mich hinter der Jalousie vermutete. Er wirkte so verstört, daß er mir ganz fremd vorkam. Bevor er hinter der Treppe verschwand, jagte er mit seiner Krücke eine Katze von der Blutlache weg. Rund herum rührte sich nichts. Ich litt unter einer schrecklichen Migräne, stieg deshalb von meinem Hocker und wühlte in den Küchenschubladen nach Tabletten. Mit einem Glas Bier schluckte ich sie hinunter, ging ins Schlafzimmer, legte mich aufs Bett und schlief ein. Sie hatte ein hübsches, dreieckiges Gesicht mit einem auffallend roten runden Mund und weit auseinanderstehenden Augen. Ihre
Hände und Füße waren klein und zierlich. Wahrscheinlich ging L. nur deswegen nie aus dem Haus, weil sie befürchten mußte, sich einen Fuß zu brechen. Wenn sie aufrecht dastand, schien sie unter Gleichgewichtsstörungen zu leiden. Sie bewegte sich stets wellenartig hin und her und erinnerte mich so, vor allem wenn sie ein blaues Kleid trug, ans Meer. Da sie so unglaublich dick war, konnte man keine Konturen erkennen. Ich konnte sie mir deshalb auch nicht nackt vorstellen, ohne die wallenden Gewänder, die sie einhüllten. Zwischen den Schlitzen ihrer Djellabas entdeckte ich manchmal eine sehr weiße, glatte Haut und Haare unter den Armen. Ungeduldig wartete ich auf den Augenblick, diesen dunklen, gekräuselten Flaum auch an anderer Stelle zu sehen, was mich in solche Erregung versetzte, daß ich unwillkürlich meinen Penis umfaßte und einen Orgasmus bekam. Die Vorhänge waren oft geschlossen, oder die Fensterläden. Doch eines Tages verfingen sich die roten Vorhänge ihres Schlafzimmers am Fensterriegel – und ich konnte einen Blick ins Zimmer werfen. Der Mann ließ sie schwer aufs Bett fallen, mit dem Gesicht nach unten. Dann legte er ihr ein Kissen unter und schob ihr Kleid langsam bis zur Hüfte hoch. Er betrachtete sie in aller Ruhe, bis ihr Verlangen zu explodieren drohte. Dann liebkoste er sie mit der Zunge, und ich fing an zu schreien. Eine Stunde nach meinem Einzug am Boulevard de la Bastille erfuhr ich von der Existenz der L. Ich schob die Möbel, die man soeben hochgeschleppt hatte, in den Abstellraum, da ich feststellte, daß sie nicht in diese Wohnung paßten, die ich lieber unmöbliert lassen wollte. Erschöpft rückte ich eine Kiste vor ein offenes Fenster, von dem aus ich den Eiffelturm betrachten konnte, der sich in der Ferne gegen den Himmel abzeichnete. Hinter mir spielte jemand Klavier. Ich wandte mich dem Jungen, den ich nicht kannte, zu. Er gab sich betont lässig, was mir gefiel, so daß ich darauf verzichtete, ihn zu verjagen.
Er ließ eine schwarze, ausgehungerte Katze herein und ärgerte sie mit seiner Krücke. Als er merkte, daß mir dieses Spiel nicht gefiel, ließ er es bleiben, und die Katze rollte sich auf dem Teppichboden zusammen. Schließlich zog er mich zu meinem Schlafzimmer. Er ging zum Fenster und deutete mit dem Finger auf das Fenster der L. das sich fünf bis sechs Meter rechts von mir befand und mit dichten roten Vorhängen verschlossen war, obwohl der Mond nur schwach schien. Er erzählte mir, dort wohne eine schöne Frau mit sensationellen Rundungen. Ich hörte kaum zu, interessierte mich viel mehr für die Schiene aus Leder und Eisen, die sein Bein umschloß, und zögerte trotz meiner Neugier, ihn nach seinem Leiden zu fragen. Erst ein paar Wochen später sah ich die L. Damals arbeitete ich wie besessen und verbrachte ganze Tage im Studio. Wenn ich endlich nach Hause kam, hielt ich mich am liebsten in dem großen Wohnzimmer auf. Anschließend ging ich in mein Schlafzimmer, um mich aufs Bett zu legen. Auch wenn ich im allgemeinen die Jalousien geschlossen hatte, drang Mondlicht ins Zimmer und tauchte die zerwühlten Laken, die benutzten Gläser und die verstreut herumliegenden Zeitungen in ein sanftes Licht. Das erste Mal sah ich die L. nur flüchtig, gewann nur einen verschwommenen Eindruck von ihr. Da war ein Stück Haut, das der Form nach ihre Schulter sein mußte, und eine zartgliedrige Hand. Ich wühlte in einem der beiden Koffer, der mir als Kommode diente, als mich ein plötzliches Geräusch auf dem Verbindungsgang aufhorchen und mich die Jalousie hochziehen ließ. Ein Mann klopfte sich den Schnee und den Schmutz von den Schuhen. Er war elegant gekleidet. Seine Schultern und seine Haltung waren die eines jungen Mannes, doch seine Haare unter dem Hut waren grau. Die L. öffnete die Tür, und ich sah ihre Hand, die den Mann hereinzog. Als ich diese kleine, zarte Hand erblickte, sagte ich mir, daß sich Bowie eine ungewöhnliche Nachbarin ausgesucht hatte.
Dann dachte ich nicht mehr an die L. bis ich eines Tages nach einem Papier suchte. Um besseres Licht zu haben, öffnete ich mein Fenster weit. Sie stand gerade an ihrem Fenster und öffnete die Vorhänge. Ihr Mund war geschminkt. Voller Erstaunen betrachtete ich ihre fülligen Schultern, ihre üppigen Brüste, die unter hellem Seidenstoff verborgen waren. Als sie sich vom Fenster abwandte, erkannte ich, daß ihr Körper ihr wohl aufgrund seines ungewöhnlichen Umfangs Beschränkungen auferlegte. Die gleiche Feststellung machte ich, als ich sie das zweite Mal sah. Dem Kalender nach ging der Winter zu Ende, ein Winter, der nicht enden wollte, ein Jahrhundertwinter. Seit Monaten herrschten Regen und Kälte. Der Himmel war immer bedeckt, und kein Windhauch vertrieb die Wolken. Dieses Wetter mußte einem ja auf die Nerven gehen. Ich wachte schlechtgelaunt auf, stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. In diesem Augenblick entdeckte ich, wie bei der L. eine Farbige das Haus verließ. Sie trug eine weite Bluse, die die Form ihrer Brüste verhüllte. Zwei Katzen, die miteinander balgten, erschreckten sie, und ein Laken fiel auf den Hof. Sie stieß schrille Schreie aus und verjagte die Katzen. Die L. beobachtete sie durch die Vorhänge. Zu der Zeit hatte ich ein Verhältnis, das sich hinzog, da ich es nicht fertig brachte, es zu beenden. Doch ich fing an, meine Geliebte zu vernachlässigen. Eines Tages rief sie mich an, um mir meine Gleichgültigkeit und meine Liebesunfähigkeit vorzuwerfen. Ich war erstaunt, daß ich bei dem endgültigen Bruch weder Schmerz noch Bedauern empfand, vermutlich deshalb, weil sie immer eine Fremde für mich gewesen war. In den darauf folgenden Tagen konnte mich keine Frau reizen. Abends bummelte ich durch die Straßen der Stadt und wählte mir in aller Ruhe eine Prostituierte aus. Doch trotz der sorgfältigen Auswahl spürte ich keine Erregung.
Schließlich entdeckte ich zwei Gelegenheitslesben, die mir gefielen und bereit waren, sich vor mir zu lieben. Dabei behielt ich meine Kleider an. Ich besuchte sie in der Folge oft und griff auch zur Peitsche, wenn sie es wollten. Meine Apathie konnte ich mir aber nicht erklären. Obwohl ich beim Anblick der L. unerklärliche Neugier empfand, erkannte ich damals noch nicht, daß sie einen unauslöschlichen Eindruck bei mir hinterlassen würde. Doch eines hätte mich stutzig machen müssen: Während ich mich sonst im allgemeinen gerne mit meinen Frauengeschichten brüstete, erwähnte ich Louis gegenüber die L. mit keinem Wort und hinderte Bowie sogar daran, ihm ihr Fenster zu zeigen. Louis und ich pflegten in der Küche seines Ateliers Go zu spielen. Doch dieses Mal kam er zu mir, wollte unbedingt das große Wohnzimmer sehen, von dessen Geräumigkeit und Helligkeit ich ihm vorgeschwärmt hatte. Während er einen Stein setzte, gestand er mir: »Heute nacht bin ich von ihrem Duft aufgewacht. Wenn du wüßtest, wie weich ihre Haut ist!« Da Lotus ihn bereits vor einem Jahr verlassen hatte, fand ich, daß er übertrieb und riet ihm, diese Schlampe, die sich nicht einmal verabschiedet hatte, so schnell wie möglich zu vergessen. Louis bedachte mich mit einem seltsamen Lächeln und ich fragte mich, ob er mich verdächtigte, ein Faible für diese schöne Eurasierin gehabt zu haben, womit er nicht Unrecht hatte. Er seufzte und spielte weiter. Bowie leistete uns Gesellschaft und bekam auch das Ende des Spiels mit, das ich verlor. Ich hatte mir eingebildet, Louis sei so zerstreut, daß ich leichtes Spiel mit ihm hätte, doch ich hatte mich geirrt. Bowie beschrieb ihm die L. und wollte ihn in mein Schlafzimmer führen. Ich hielt ihn mit der Ausrede, daß dort das Chaos herrsche, zurück. Mein schroffes Verhalten überraschte mich aber selbst, und ich schrieb es dem unerwarteten Spielausgang zu, der mich wohl in schlechte Laune versetzt hatte. Louis schien davon nichts bemerkt zu haben. Er erzählte mir von einem Model, dem er in einer Bar der Halles begegnet war und das aufgrund seiner ungewöhnlich üppigen Formen Erfolg hatte.
Doch die Frau konnte ihn nicht reizen. Lotus war sein Ideal gewesen. Und von neuem schwärmte er von ihr, erzählte, er habe ihr Hinterteil in Marmor verewigt und die Skulptur in den Schrank getan, wo noch ihre Kleider hingen. An jenem Abend zog ich meine Jalousie hoch. Der Hof war dunkel, nur die Fensterfassade war beleuchtet. Die Vorhänge vor ihrem Schlafzimmer und Wohnzimmer waren geschlossen. Die beiden Katzen saßen vor ihrer Tür. Ein Mann, der aus dem Haus trat, ließ sie herein. Die Fenster des Wohnzimmers lagen zur Seine und zum Jachthafen hin, den man wegen der am Kai festgezurrten Jachten so nannte. Auf der anderen Seite befand sich eine Reihe stattlicher Häuser mit vier Baumreihen. Notre-Dame und die letzten Stufen des Eiffelturms überragten die Dächer. Wenn ich mich nach rechts hinauslehnte, blickte ich auf die Place de la Bastille. Das Wohnzimmer bestand im Grunde genommen aus zwei Zimmern, die ineinander übergingen. Das eine war rechteckig, das andere achteckig. Zwei Stufen markierten die Trennung. Die hohe Decke ließ den Raum ungewöhnlich groß erscheinen, die Akustik war gut. Ich hatte hier mein Klavier aufgestellt. Von dem hohen, breiten Küchenfenster, das fast bis zum Boden reichte, hatte man ebenfalls Ausblick auf den Boulevard. Der lange Gang war düster, genauso der Abstellraum. Das Badezimmerfenster war aus Milchglas. Wenn es Nacht wurde, spielten die Lichter darin. Von meinem Schlafzimmerfenster blickte man auf den Hof. Gegenüber lagen Schneiderateliers, die seit Jahren nicht mehr in Betrieb waren: hinter den schmutzigen Fenstern standen wohl die verlassenen Maschinen und Kleiderbügelständer. Links befanden sich zwei schmale Häuser, die unbewohnt waren und abgerissen werden sollten. Rechts sah man auf einen Flügel unseres Gebäudes, den man den Anbau nannte. Um dorthin zu gelangen, war auf jeder Zwischenetage des Hauses ein Verbindungsgang angebracht, eine Art
langer enger Balkon. Jeder dieser Balkone war mit einer Wohnung verbunden. Etwas tiefer als mein Fenster lagen rechts davon die der L. Hinter dem einen Fenster befand sich ihr Schlafzimmer und hinter dem anderen ein Wohnzimmer, das mit Möbeln vollgestellt war und in dem man auch eine Fülle von leeren oder mit Blumen gefüllten Vasen sah. Im Laufe der Monate sollte sich hier nichts verändern, würde sich dort nie jemand aufhalten. Doch die Blumen hatten keine Zeit zu verwelken, da sie ständig durch frische Blumensträuße ersetzt wurden, die die Freunde des Hauses mitbrachten. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich Bowie bereits am Tag nach meinem Einzug wiedergesehen habe – auf jeden Fall stand er bald darauf erneut auf der Matte. Ich erinnere mich an den endlosen Regen und an Bowie, der meine trüben Gedanken vertrieb. Unter dem einen Arm hatte er die schwarze Katze und unter dem anderen seine Krücke. Nachdem er eingetreten war, ging er in der leeren Wohnung hin und her, wie die Katze, die dieses neue Terrain erkundete. Dann kletterten die beiden über die Möbel im Abstellraum und schlossen sich dort ein. Zwei Tage später blieb er zum Fernsehen, als ich zum Essen ausging. Ich wußte, daß sein Fernseher vor kurzem den Geist aufgegeben hatte, lud ihn deshalb zu mir ein und bat ihn, beim Weggehen den Schlüssel unter die Fußmatte zu legen. So bin ich in die Falle getappt. Und als mir bewußt wurde, daß er sich immer bei mir aufhielt, ob ich nun zu Hause war oder nicht, war seine Anwesenheit bereits zur Gewohnheit geworden. Er schlief sogar bei mir. Als ich eines Abends nach Hause kam, fand ich ihn im Wohnzimmer auf dem Boden ausgestreckt. Es kam auch vor, daß er ein paar Tage wegblieb, ohne irgendwelche Erklärungen. Als ich mich wunderte, daß er so viel Freiheit hatte, gestand er mir widerstrebend, daß dies von den Stimmungen seines Vaters abhinge, der Koks schnupfte.
An jenem besagten Tag hatte ich Klavier gespielt. Bowie war seit einer halben Stunde verschwunden. Ein heftiger Wind trieb dunkle Wolken am Himmel. Alles vollzog sich sehr schnell. Die Sonne stahl sich durch die Wolken, und die Bäume und Autos schillerten in bunten Farben. Über dem Eiffelturm spannte sich ein Regenbogen. Ich erhob mich vom Klavier und rief nach Bowie, den ich im Abstellraum wähnte. Als sich nichts rührte, suchte ich ihn. Er stand vor meinem Schlafzimmerfenster und hatte die Jalousie hochgezogen. Ich stellte mich neben ihn. Die Sonne beleuchtete den Teil des Zimmers, in dem die L. saß. Hinter ihr stand ein Mann und kämmte ihr Haar, das elektrisch zu leuchten schien. Ich beobachtete gebannt das Lächeln, das auf seinen Lippen festgefroren war, während er sich bewegte, seine Hände im Haar der Frau spielen ließ. Dann betrachtete ich die L. und war bald so in ihren Anblick versunken, daß ich alles um mich herum vergaß. Bowie brachte mich in die Wirklichkeit zurück, indem er mich am Arm zog und mich ins Wohnzimmer dirigierte. Ich überlegte, weshalb mich diese Frau so neugierig machte, und so etwas wie ein wohliger Schauder erfaßte mich bei der Vorstellung, was sich unter ihrem wallenden weißen Gewand wohl verbergen mochte. Dann rief mich die A. aus B. an. Sie mußte im kommenden Monat an der Met in New York die Desdemona singen und wollte, daß ich mit ihr übe. Ich zögerte nicht, denn ich hatte ein paar Tage Zeit und freute mich auf das Zusammensein mit ihr. Zudem war ich froh über einen Tapetenwechsel. Wir blieben ungefähr eine Woche in der Normandie und übten die ganzen Nächte hindurch. Morgens machte ich einsame Strandspaziergänge. Es war Ende März. Das Wetter war windig, doch recht mild. Ich sammelte Muscheln und stopfte meine Taschen damit voll. Doch schließlich landeten sie im Müll. Am letzten Tag zog es uns wieder heim: die A. verging vor Sehnsucht nach ihrem Liebhaber. Ein Sturm war aufgekommen,
als wir den Strand entlanggingen. Als der Wind das Meer aufwühlte, erzählte ich ihr von der L. und dem Reiz, den ihr ungewöhnlicher Körper auf mich ausübte. Das Geständnis warum so erstaunlicher, da ich es herausbrüllen mußte, um vernommen zu werden. Auf dem Rückweg beeilten wir uns, dem tosenden Meer zu entkommen, das uns vom Strand zu spülen drohte. Bevor wir losfuhren, hatte ich so viel Hasch zu mir genommen, daß ich zu Hause keinen Schlaf fand. Ohne Licht anzumachen, ging ich ans Fenster und zog die Jalousie hoch. Der Vollmond hüllte alles in Dämmerlicht. Ich nahm eine warme Dusche, schnappte mir eine Flasche Whisky und machte es mir vor dem Schlafzimmerfenster gemütlich. In jener Nacht sah ich durch einen Vorhangspalt des Schlafzimmers der L. wie sie ihr Hinterteil einem Mann darbot. Dieses Bild verfolgte mich bis zum Morgen. Als ich mich auf meinem Bett ausstreckte, sah ich erneut den Mann vor mir, wie er die L. auf das Bett drängte und ihre Djellaba bis zu den Hüften hochschob. Unwillkürlich faßte ich nach meinem Penis, umschloß ihn fest und gab mich meiner Lust hin, indem ich mir erneut die Szene vor Augen führte. Erschöpft schlief ich dann ein. Gegen Mittag stand ich auf und machte mich, nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, auf den Weg in Richtung der Halles, wo ich die Bar suchen wollte, in der Louis das üppige Model getroffen hatte. Als ich die Bar ausfindig gemacht hatte haschte ich im Auto und ein paar Minuten später auf der Toilette. Kaum war ich in die Bar zurückgekehrt, da tauchte Camille auf, und ich war enttäuscht, als ich sie sah. Auch wenn sie einladende Formen hatte, besaß sie keinerlei Ähnlichkeit mit der L. Ihr Anblick brachte nichts in mir zum Schwingen. Die junge Frau glaubte, ich sei Maler. Als ich ihr erklärte, ich wolle sie lediglich nackt sehen, war sie erstaunt und etwas beunruhigt. Während der Fahrt schwiegen wir. Ich spürte ihre Erregung und genoß es. Als wir bei mir angelangt waren, entkleidete sich Camille. Ihre Haut war weiß, nicht mehr taufrisch, und ich kränkte sie, als ich sie bat; sich wieder anzuziehen. Als sie in ihren Rock schlüpfte,
ließ ich die Jalousie herunter. Da es draußen dunkel war, wirkte das große Zimmer düster. Ich bot ihr Kokain an, was sie gerne annahm; wie ich vermutet hatte, fühlte sie sich danach etwas wohler. Ich bat sie erneut, sich auszuziehen, was ihr die Röte in die Wangen trieb. »Ich glaube, ich gehe lieber«, gab sie mir zur Antwort. Und ihre Stimme, die von innen kam, wirkte schwach und schüchtern. Ich bot ihr Geld an, und als sie immer noch zögerte, drängte ich sie. Camille streifte ihren Schlüpfer ab, kniete auf dem Teppichboden nieder, stopfte sich ein paar Kissen unter und streckte sich aus, genauso wie ich es bei der L. gesehen hatte. Ich spürte ihre Erregung, als ich mich ihr näherte, und hob ihren Rock. Dann setzte ich mich wieder in meinen Sessel. Genau hinter sie. Ich hatte den ganzen Tag und die ganze Nacht durch komponiert. Es war eine Arbeit, mit der ich im Rückstand war. Vor meiner Reise in die Normandie war ich des öfteren deswegen schon gemahnt worden. Auch als der Morgen anbrach, war ich noch nicht müde. Ich ging auf die Straße, um einen Spaziergang zu machen. Es war ein ausgesprochen milder Morgen. Ein Mann und eine Frau küßten sich. Der Mann hatte die Hände unter den Mantel der Frau geschoben. Mein Spaziergang dauerte ungefähr ein bis zwei Stunden, dann holte ich mein Auto und fuhr zur A. aus B. die in einem stattlichen Haus am anderen Seineufer wohnte. Nur zögernd nahm sie ihre dunkle Brille ab. Schließlich wandte sie mir ihr ungeschminktes Gesicht zu. Die Augenlider waren kaum geschwollen. Die ovale Form ihres Gesichts war nicht mehr so ausgeprägt wie vor zehn Jahren, doch sie hatte einen schönen Mund. Wie üblich erzählte sie ausführlich von ihrem Liebhaber. Sie zweifelte, daß er in sie verliebt sei, glaubte, er fühle sich nur sexuell zu ihr hingezogen. Weshalb passierte das ihr? Sie sagte: »Seine Zunge treibt mich zum Wahnsinn«, und fuhr sich mit den Fingern durch ihr kupferrotes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Sie hatte Angst vor der Anomalität ihrer Beziehung, fürchtete, daß sie nach all den leidenschaftlichen Stunden
nichts gemeinsam hätten. Der Kaffee, den sie mir servierte, war miserabel, doch ich wagte nicht, es ihr zu sagen und ließ ihn kalt werden. Sie fuhr fort: »Immer öfters verspüre ich den Wunsch, mich aus dem Fenster zu stürzen.« Blitzartig fiel mir ein Foto ein, das mich vor Jahren fasziniert und das ich damals oft betrachtet hatte. Wie eine Wahnvorstellung tauchte es vor mir auf, als Assoziation zur Bemerkung der A.: Eine junge Frau hatte sich aus dem 23. Stock gestürzt. Nachdem sie auf eine Markise gefallen war, rutschte sie weiter auf ein Wagendach, das sie eindrückte. Bei ihrem Sturz hatte sie einen ihrer Pumps verloren. Sie lag auf dem Rücken ausgestreckt, das unbeschuhte Bein leicht angewinkelt. Ihr Rock hatte sich nach oben geschoben und ließ den Blick auf ihren Strumpfhalter frei. Die Frau schien zu schlafen. Sie war blond und ungewöhnlich anziehend. Als ich am Abend einen Blick auf ihr Fenster warf, entdeckte ich, daß die Vorhänge geschlossen waren. Ich glaubte, meine Neugier überwunden zu haben und zog demonstrativ die Jalousie herunter. Eines Tages, als ich die Jalousie hochgezogen hatte und den Himmel studierte, bevor ich in meinen Koffer-Kommoden wühlte, entdeckte ich sie auf dem Verbindungsgang, wo sie die Rosen im Blumenkasten schnitt. Sie trug eine schwarze Djellaba, unter der ihre zarten, nackten Füße sichtbar wurden. Sie blickte hoch. Ihr Blick begegnete meinem, ohne zu verweilen. Sie schenkte mir keine besondere Aufmerksamkeit, musterte mich, wie man etwas mustert, das man in der vertrauten Umgebung noch nie erblickt hat. Sie dagegen hatte vom ersten Augenblick an einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Am unerträglichsten fand ich die Tatsache, daß sie mich gesehen hatte. Zum Glück hatte ich die Jalousie nicht ganz hochgezogen, um sie zu beo-
bachten, und unsere Blicke waren sich nur zufällig begegnet. Trotzdem fühlte ich mich zutiefst unbehaglich. In den Stunden danach wagte ich es nicht, ans Fenster zu treten. Nachdem ich drei Stunden lang die Küchenfliesen gezählt hatte, die kleinen weißen über dem Spülbecken und die großen schwarzen am Boden, rannte ich zu einem Geschäft in der Nähe. Ich tauschte meine Stoffjalousie gegen eine Jalousette und spreizte zwei Ritzen. Das Fenster und der Verbindungsgang erschienen jetzt wie in einem rechteckigen Ausschnitt. Einen Teil der Nacht und den nächsten Tag verbrachte ich mit Warten; ich hoffte, sie zu sehen. Abends grübelte ich über den Wahnsinn nach, der von mir Besitz zu ergreifen drohte. Ich ging aus, um mich von einer Prostituierten ablenken zu lassen. Als ich wieder zu Hause war, schleppte ich meine Matratze ins Wohnzimmer, das damit auch nicht möblierter wirkte. Außer meinem Klavier bestand das Mobiliar aus einem großen Tisch, auf dem Partituren und Zeitungen lagen. In einer Ecke stand ein Fernseher. Drei Tage lang hatte ich mich weder gewaschen und rasiert noch angezogen. Ich hatte nur meine Lieblingskrimis zur Hand genommen, Whisky oder Bier getrunken und Bowie die Regeln des Go beigebracht. Er lernte schnell und ging nur kurz hinaus, um die Katzen über die Gänge zu scheuchen. Zur Zeit war er zu Hause mal wieder unerwünscht. Vermutlich war sein Vater gerade damit beschäftigt, neuen Stoff aufzutreiben. Am dritten Tag rief mich Louis an und lud mich zu einem Spezialgericht der Antillen ein, das uns eine schöne Einheimische, in die er sich verliebt hatte, zubereiten wollte. Bei der Vorstellung auszugehen, fiel mir plötzlich das Atmen leichter, doch bald verlor ich meine gute Laune: Das Atelier von Louis war ungewöhnlich aufgeräumt, und ich fand es gräßlich. Doch ich nahm mich zusammen und schützte dann nur eine böse Migräne vor, um mich zurückziehen zu können. Am anderen Morgen rief mich Louis an und fragte mich, wie ich sie fände. Da ich morgens noch nicht in Form bin, sagte ich ihm ganz spontan die Wahrheit, d. h. daß sie mir nicht gefiele.
Ich fügte hinzu, sie könne Lotus nicht das Wasser reichen. Er wurde wütend und beschimpfte mich. Eine Zeitlang gingen wir uns aus dem Weg. Ich bedauerte meine Freimütigkeit, doch ich entschuldigte mich nicht dafür. An Bowies Anwesenheit hatte ich mich gewöhnt, auch wenn mir sein ständiges Betteln um Zuneigung etwas auf die Nerven ging. Immerhin vertrieb er mir in den Tagen, da ich mich zu Hause aufhielt, fern von meinem Schlafzimmerfenster, angenehm die Zeit. Er erzählte von sich, erwähnte aber mit keinem Wort sein Hinken. Dieses Thema war zwischen uns tabu. Ich wußte nicht, wie er zu der Schiene an seinem Bein gekommen war und ob er je wieder würde normal gehen können. Da er so selbständig wirkte, vergaß ich oft seine Krücke und die Schiene. Die ganze Zeit über verspürte ich das Verlangen, die L. zu sehen, doch es war abgeschwächt, gehörte eher dem Bereich des Wachtraums an. Bowie erzählte mir, er sei bei der L. ein- und ausgegangen, doch er wollte mir nicht verraten, weshalb er seine Besuche wieder eingestellt hatte. Als seine Familie ein halbes Jahr vor mir eingezogen war, hatte er zwei Katzen mitgebracht und war auf die L. gestoßen, als er einer der beiden nachjagte, die auf den Verbindunsgang ausgerissen war. Der Anblick ihrer Körperfülle irritierte ihn. Aus Mangel an Zärtlichkeit hatte er sich an diese Frau wohl genauso verzweifelt geklammert wie jetzt an mich. Seinen Worten nach hatte er das, was er suchte, bei ihr bekommen. Als ich ihn drängte, mir zu erzählen, welche Besuche die L. empfinge, weigerte er sich. Des weiteren wollte er mir nicht die Gründe für das Scheitern ihrer Freundschaft nennen. Bevor er sie kennengelernt hatte, war er sich wohl seiner Sexualität nicht richtig bewußt gewesen, hatte sie erst entdeckt, als er sie und ihre Freunde zwischen den halb geschlossenen Vorhängen beobachtete. Hatte sie eine Veränderung in seiner Stimme wahrgenommen, oder hatte er sich selbst verraten? Seinen Worten
nach war der Bruch nicht von ihr ausgegangen; er war verschwunden und hatte ihr die Katzen überlassen. Doch das war wohl alles nur ein Produkt seiner Fantasie, und ich vermutete, daß Bowie wohl einfach eine Szene miterlebt hatte wie die, als die L. ihr ausladendes Hinterteil einem Mann darbot und er so schockiert gewesen war, daß er sie nicht mehr sehen wollte. Vielleicht hatte mich Bowie auch schlichtweg angelogen; da er ahnte, wie fasziniert ich von ihr war, wollte er sich einfach vor mir wichtig machen. Auch diese Möglichkeit war nicht auszuschließen. Die wenigen Einzelheiten, die er mir aus dem Leben der L. berichtete, konnte er ja auch vom Fenster seines Vaters aus beobachtet haben, das unter meinem lag. Aber weshalb war er so verschlossen? Wollte er mich zappeln lassen, damit ich bettelte, oder wußte er nicht mehr, wie er sich aus der Lüge herauswinden sollte? Ich glaubte, von der L. geheilt zu sein, und widmete mich wieder meiner Arbeit. Jeden Tag ging ich zu Simon, der in einem großen Haus im Barockstil am Rande des Meudon-Waldes wohnte. Oft war ich abends zu müde, um nach Hause zu fahren und übernachtete bei ihm. Wenn wir auf dem Inspirations-Trip waren, blieb ich auch ein paar Tage hintereinander bei ihm. Wir komponierten wie besessen und waren bei Tagesanbruch wie ausgelaugt. Simon besaß eine wundervolle Stimme, und die Leichtigkeit, mit der er damit umging, erweckte Neidgefühle in mir, doch unsere Zusammenarbeit befriedigte mich. Ich war erstaunt, daß wir Dinge zustande brachten, die meines Erachtens von Talent zeugten. Ich verspürte nicht mehr das Verlangen, die L. durch meine halb geöffnete Jalousie hindurch hinter ihren halb geschlossenen Vorhängen zu beobachten; ich löste mich von der Vorstellung,
die ich mir von ihr machte und die allmählich zur Manie geworden war. Früher hatte man den Jugendlichen empfohlen, ihren Körper zu ertüchtigen, um sie vom Masturbieren abzuhalten. Ich masturbierte, wenn ich ins Bett ging und morgens erwachte, masturbierte, ohne mir etwas dabei zu denken, masturbierte ausgiebig, ohne Genuß zu empfinden. Damals ließen mich die Frauen sexuell kalt, ich verspürte kein Verlangen, die Straßen zu durchstreifen, um eine aufzugabeln. Doch eines Abends, als wir ungewöhnlich früh mit unserer Arbeit fertig waren, da Simon seine Stimmbänder überstrapaziert hatte, verspürte ich den Wunsch, die beiden Gelegenheitslesben aufzusuchen, um ihnen bei der Liebe zuzusehen. Leider erklärte mir eine ihrer Freundinnen, sie seien an die Côte d’Azur gefahren. Und die Freundin, die sehr hübsch war, reizte mich nicht im geringsten. Simon hatte einen Angestellten, einen stummen Chinesen, der sich um die Küche und den Garten kümmerte. Seine Kochkunst war exquisit. Das Haus selber befand sich in einem ziemlich verwahrlosten Zustand, doch das Reich des Chinesen war tadellos gepflegt. Wir speisten an einem blumengeschmückten Tisch, und er bediente ganz in Weiß. Vielleicht hielt mich die Anwesenheit des Chinesen, der uns im übrigen keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, davon ab, Simon von der L. zu erzählen. Die A. aus B. versuchte mich inzwischen zu erreichen und hinterließ auf meinem Anrufbeantworter mehrere Nachrichten, die Verärgerung verrieten. Jedesmal wenn ich die Anrufe abhörte, nahm ich mir vor, sie anzurufen, doch ich fand immer eine andere Ausrede, einmal war es zu spät, ein anderes Mal war ich zu müde. Ich begnügte mich mit diesen verlogenen Entschuldigungen, fürchtete jedoch, die A. könnte mich durchschauen. Es gab andere Gründe, weshalb ich nicht auf Camilles Anrufe reagierte. Das erste Mal sagte sie nach einer Pause: »Ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht«, dann legte sie auf. Es war ein seltsames Gefühl, ihre zarte Stimme zu hören. Dann setzte ich mich ans Klavier und übte Tonleitern. Diese mechanische Fingerübung beruhigte mich im allgemeinen. Etwas später öffnete
ich die Fenster des Wohnzimmers und setzte mich auf den Boden. Draußen hörte ich auf der nassen Fahrbahn Reifen quietschen. Ich vertraute mich Simon an, verriet ihm meine Unfähigkeit, mich zu entspannen, und merkte, daß ich ihm mit meinem Gefasel auf die Nerven ging. Meine Offenbarungen schienen ihn anzuöden. Er glättete das Tischtuch, spielte mit den Brotkrümeln, häufte sie auf. Er sagte: »Wir sind überarbeitet.« Ich glaube, er verstand nicht, was ich ihm sagen wollte. Als ich ihm erklärte, daß es nicht darum gehe, sondern um das Glück oder dergleichen, das ich erhaschen wolle, schien er mich begriffen zu haben. »Seit wann? Weshalb?« fragte er mit einer Betonung, die recht aggressiv wirkte. Ich hatte keine Lust, ihm mehr zu erzählen, wollte nicht an die L. denken. Wir schwiegen. Simon formte Brotkrümel. Er fragte: »Was fehlt dir?« Ich überlegte. Nichts. Ich war nicht glücklich, das war alles. Simon war beunruhigt, befürchtete, ich sei mit seiner Arbeit unzufrieden. Ich beruhigte ihn und schlug ihm vor, auszugehen. Die Bar war weiträumig und leer. Wir nahmen Platz, nahmen einen Schluck zu uns und gingen wieder. Vor der Bar verabschiedete ich mich von ihm und ging nach Hause. Seit fast einem Jahr arbeiteten wir an einer Platte. Die restlichen Kompositionen gingen uns leicht von der Hand, da wir endlich die Gelegenheit hatten, an der Arbeit zu bleiben. Unser Schallplattenverleger war mit dem Entwurf zufrieden, doch wir mußten die Aufzeichnung verschieben, da Simon über längere Zeit Engagements in der Provinz hatte. Wenn er Zeit erübrigte, war das Studio nicht frei, oder ich mußte Termine wahrnehmen, die ich erfunden hatte, um den Eindruck zu erwecken, sehr beschäftigt zu sein. Simon war, nachdem man sein Talent entdeckt hatte, ein vielbeschäftigter Künstler. Im übrigen fand ich ihn weitaus be-
gabter als mich. Trotz unserer Freundschaft ärgerte ich mich jedesmal, wenn wir zusammen waren, über ihn. In dem Augenblick, als drüben die roten Vorhänge aufgezogen wurden, lugte ich durch die Ritzen meiner Jalousette und sah ein Bett vor mir. Die Farbige strich die Tagesdecke glatt, schüttelte die Kissen und arrangierte sie. Ein Sonnenstrahl glitt übers Bett. Langsam wandte ich den Blick nach links. Die Eingangstür war zu. Später betrat die Frau den Verbindungsgang und hing Wäsche auf. Das strahlende Weiß dieser Wäsche schien makellos. Im Hof rührte sich nichts, brannte kein Licht. Nur die Fenster an der Fassade des Anbaus würden bei Einbruch der Nacht erleuchtet sein, bis das Licht durch die Vorhänge, ausgeschlossen wurde, die die L. meist zuzog. Erst gegen Mitternacht würde bei ihr das Licht ausgehen. Der junge Mann, der ihr Haar gebürstet hatte, kam am nächsten Tag am Spätnachmittag. Er war blond und attraktiv, brachte ihr Blumen, und ich hörte sein Lachen, als er das Zimmer betrat. Kurz danach verließen sie die Wohnung. Es war so lau wie im Juni. Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen, doch ihr schönes dreieckiges Gesicht verriet keine Regung. Und dann fing ihr Körper wieder zu wogen an, und ihre Djellaba erinnerte an die Oberfläche des Meeres. Zwei Katzen waren ihnen gefolgt. Sie waren mager und rieben sich an ihrem blauen, wallenden Kleid. In den folgenden Tagen wartete ich, ohne mich hinter meiner Jalousette zu rühren, und mußte feststellen, daß mein Verlangen, sie zu sehen, nicht nachgelassen hatte. Damals fing ich an, all ihre Besucher zu registrieren, um meine heftige Ungeduld zu bezähmen. Sehr viel später fand ich die Zettel wieder, auf die ich alles notiert hatte. Sie enthielten im Grunde genommen nur Zahlen und Daten. Die einzigen weiteren Angaben waren die Namen,
die ich ihren Besuchern gegeben hatte, den drei Männern und der Farbigen, die ihre Wohnung in Ordnung hielt. Der Mann mit dem Hut kam dreimal wöchentlich am frühen Nachmittag und blieb selten bis zum Abend. Der junge blonde Mann kam unregelmäßiger, doch häufig. Er verbrachte einen Teil der Nacht bei ihr, ging oft erst gegen Morgen. Der einzige, der keine festen Gewohnheiten hatte, war der dritte Mann, der es immer eilig zu haben schien, sie zu sehen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten alle drei einen zufriedenen Gesichtsausdruck, wenn sie die Treppe zur L. hochgingen, und diese gemeinsame Eigenschaft beeindruckte mich sehr. Als ich erst kurze Zeit in der neuen Wohnung war, begegnete ich dem dritten Mann einmal auf der Treppe. Er grüßte mich und teilte mir mit, ein Sturm komme auf, am Himmel zeigten sich rote Streifen. Verblüfft blickte ich ihm nach, als er die Treppe hochging. Er war von athletischer Figur und hielt eine Zigarettenspitze in der Hand, was mich schockierte, genauso wie sein Lächeln, das ich durch die Jalousie beobachtet hatte. Sie stand am Fenster ihres Schlafzimmers und räkelte sich; unter ihren Achseln entdecke ich dunkles Kraushaar. Dieser Anblick erregte mich in dem Maße, wie meine Ungeduld zugenommen hatte, nachdem der Mann mit dem Hut sie aufs Bett gedrängt und sie mit seiner Zunge liebkost hatte. Ich wartete Stunden, um noch einmal einen Blick auf ihre Achseln zu erhaschen, blieb wie gebannt am Fenster stehen und gab mich meinen Fantasie hin, sah sie vor mir und masturbierte. Mit der Zeit fiel es mir schwer, die Fantasien weiter zu spinnen, in denen ich sie auf den Bauch gerollt und ihre Djellaba hochgeschoben hatte. Als die L. an jenem Tag den Verbindungsgang betrat, sah ich lediglich ihr hübsches, dreieckiges Gesicht. Danach eilte ich hinaus, um mir eine Prostituierte zu suchen. Ich wählte eine mit schwarzem Kraushaar, stellte mir dabei das Dreieck der L. vor
und hatte das dringende Verlangen, dieses Haar zu berühren. Als sie später im Hotel auf meinen Wunsch hin den Arm hob, erinnerte sie an ein gerupftes Huhn, und ich jagte sie davon. Um keine weitere Enttäuschung zu erleben, bat ich die Frauen, die mir gefielen, mir ihre Achseln zu zeigen, die meistens rasiert waren. Doch eine hatte ihre Haare unter den Achseln nicht rasiert. Als wir auf ihrem Zimmer waren, vergrub ich mein Gesicht in dem Haarbüschel. Sie hatte keinerlei Parfüm benutzt, und ich atmete den Duft ihrer Haut ein, der sich mit dem Geruch der Erregung vermischte. Schnell kam ich zum Orgasmus. In den nächsten drei Tagen suchte ich sie mehrere Male auf und jedesmal vergrub ich mein Gesicht in ihrem Achselhaar. Als ich frühmorgens heimkam, lag ein Brief der A. aus B. in meinem Briefkasten. Es war ein kurzer, stenogrammartiger Brief. Sie erwähnte mit keinem Wort ihren Erfolg, von dem alle Zeitungen voll waren, schrieb überhaupt nichts über sich. Dagegen beschrieb sie die Straßen von New York und den Wind, der um die Wolkenkratzer fegte. Am Schluß erwähnte sie, daß sich ihr Zimmer im 23. Stock befinde; sie spielte damit auf meine blonde Selbstmörderin an. Wenn ich damals eine Vorahnung hatte, unterdrückte ich sie. Als ich diese wirren Zeilen las, empfand ich Verärgerung, und erst jetzt weiß ich, daß ich Angst vor einem Unglück hatte. Obwohl es erst Ende Mai war, hatte man das Gefühl, es sei bereits Sommer. Abends spazierten die Leute die Seine entlang, um etwas Luft zu schnappen. Ihre Stimmen drangen bis zu meinem Wohnzimmer hoch. Die Fenster der L. waren Tag und Nacht geöffnet, doch die Vorhänge waren meistens geschlossen, und ich sah sie nicht mehr. Die Tage waren vom Warten geprägt, und meine Stimmung wechselte zwischen Ärger und Ungeduld. Damals wußte ich noch nichts über Wachträume, die ich erst später kennenlernte, doch konnte ich mir nach Belieben die L. vorstellen. Ich stellte fest, daß sie wenig Interesse für die Nachbarn zeigte. Sie war nicht neugierig auf die anderen, was man eigentlich bei einem Menschen, der seit Jahren so isoliert lebte, hätte vermuten können. Als in einem der verlassenen
Schneiderateliers Feuer ausbrach und sich die Gesichter an den Fenstern des Anbaus drängten, um die Flammen zu beobachten, die die restlichen Stoffe und Modellpuppen verbrannten, warf sie nur einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Es folgte eine Zeit, an die ich mich kaum erinnern kann. Sie begann mit der großen Hitzeperiode und endete mit dem Unglück, das mich noch mehr aus der Bahn warf. Als ich mich wieder gefangen hatte, warf ich einen Blick auf den Kalender und versuchte, mich zu orientieren, denn ich wußte nicht, wie lange mein Gedächtnis ausgesetzt hatte. Ich führte kein gesellschaftliches Leben mehr, hatte praktisch aufgehört zu arbeiten. Mein Terminkalender enthielt keine Verabredung, weder geschäftlicher noch privater Art. Wenn ich unbedingt gewollt hätte, wäre es mir wohl gelungen, den genauen Augenblick zu eruieren, in dem mein Hirn wieder zu funktionieren anfing. Ich brauchte nur die Zeitungen nachzublättern. Alle berichteten von der A. aus B. Ich fragte mich, wie es zu meiner Amnesie gekommen war. Kam es daher, daß ich zu lange vergeblich das Fenster der L. beobachtet hatte? In der Hoffnung, der Wind zerre ihre Vorhänge auseinander, damit ich einen Blick auf sie werfen, sie beobachten konnte, wie sie ihren Kopf mit den fülligen Haaren hob und ihre Achseln mit dem dunklen Kraushaar entblößte, oder wie ein Mann sie aufs Bett warf und ich dadurch ihr Hinterteil zu sehen bekam. Ich glaube, in dieser Zeit sah ich die L. kein einziges Mal auf dem Verbindungsgang und entdeckte sie auch nicht am Fenster, doch ich weiß es nicht mehr genau. Ich kann mich jedenfalls nicht mehr an die Farbige und die Männer, die die L. regelmäßig besuchten, erinnern. Es war, als ob sie aus meinem Leben verschwunden wäre, niemals existiert hätte. Später, als ich mein Erinnerungsvermögen wieder besaß und mich der Kummer mehr denn je dazu trieb, ihre Fenster zu
beobachten, sah ich, daß sie Tag und Nacht geöffnet waren, ebenso wie die Vorhänge. Wenn nicht, waren sie wenigstens immer so weit offen, daß ich sie sehen und meinen unstillbaren Durst nach ihr befriedigen konnte. Es war Hochsommer, ein erdrückender Sommer. Paris lag wie ausgestorben. Die Mieterin über mir, eine alte, kranke Frau, und Bowie und sein Vater unter mir waren verreist, um sich am Meer etwas Kühle zu verschaffen. Ihre Fenster und meine waren die einzigen, die sich gegenüber denen der L. befanden: die beiden anderen gegenüber dem Anbau waren zu der Zeit, als ich mit Simon komponiert hatte, im Zuge einer Wohnungsrestaurierung aus der Mauer gerissen worden, und Arbeiter waren damit beschäftigt, in aller Seelenruhe den Schutt wegzuschaffen. Als ich eine neue Jalousette in meinem Schlafzimmer angebracht hatte, beobachtete ich die L. auch von dort aus durch zwei Ritzen. Da ich in diesem Zimmer nie Licht machte, konnte sie nicht wissen, daß ich sie betrachtete. Kurze Zeit vor meiner Amnesie sah ich die A. aus B. wieder. Es war schwül. Obwohl es donnerte, wollte sich das Unwetter nicht entladen. Ich stellte mich unter die kalte Dusche. Ohne mich abzutrocknen, schleppte ich den hohen Küchenhocker in mein Schlafzimmer. Da er verstellbar war, konnte ich mich um mich selbst drehen, was meine dauernden Schwindelgefühle noch verstärkte. Ich arbeitete nicht mehr, schleppte nur noch meine Untätigkeit und mein Unbehagen mit mir herum und hatte immer eine Flasche Bier in der Hand. Da ich nichts aß, war ich meist leicht angesäuselt, mein Atem roch nach Bier, ja, das ganze Schlafzimmer, das voller leerer Flaschen war, die ich mit dem Fuß beiseite stieß, stank danach. Eines Nachmittags ging ich mit Bowie durch die Wohnung, sammelte die leeren Flaschen ein und leerte die vollen Aschenbecher in eine Mülltüte. An der Tür läutete es mehrmals, und ich erkannte die Stimme der A. aus B. Da ich nicht mehr ausging
und niemanden mehr traf, war ich gerührt. Sie sagte, ich sehe schrecklich aus. Dann erzählte sie mir von ihrer Reise nach New York, von ihrem Erfolg an der Met. Um ihr einen Gefallen zu tun, setzte ich mich ans Klavier, das ich schon lange nicht mehr angerührt hatte, und sie nahm neben mir Platz. Als sie ihr Lied anstimmte, zitterte ihre Stimme. Sie hielt inne und ließ mich weiterspielen. Dann erzählte sie, daß ihr Liebhaber sie heiraten würde, sie aber zur Zeit meide, da er keinen weiteren Korb riskieren wolle. Sie sagte: »Ich möchte mit ihm schlafen.« Ich überlegte, welche Stimme die A. wohl hatte, wenn sie sexuell erregt war. Ich glaube, ich hätte sie begehren können. Sie fuhr fort: »Ich glaube, ich sterbe, wenn er mich verläßt.« Sie legte die Hand auf den Mund unter der dunklen Brille, die die obere Hälfte ihres Gesichts verdeckte. Ich hätte ihr raten sollen, ihn zu heiraten – oder mich. Ich war vergammelt, nicht gerade verführerisch und wiederholte mir: Du verpaßt deine Chancen, du Dummkopf. Du wirst nie eine finden, die so ist wie sie. Als Bowie auf eine Bierbüchse trat, schreckte ich von dem Geräusch hoch. Wenn ich an den Tag zurückdenke, seh ich ihre rotblonden Haare vor mir, die sie jetzt etwas kürzer trug, und ihren Mund, der viel dunkler als sonst geschminkt war. Ihr Körper in dem grünen Seidenkleid erinnerte mich an ein grünschillerndes Reptil. Als sie mit mir über die L. redete, verriet ich ihr nicht, daß diese für mich zur fixen Idee geworden war. Dann schickte ich Bowie zum Einkaufen und breitete auf dem Teppichboden vor dem offenen Fenster ein Tischtuch aus, auf dem ich unser Essen arrangierte. Die A. aus B. erzählte mir von ihrer Kindheit. Sie war zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her gerissen worden, bewegte sich zwischen zwei Welten, zu denen sie sich nicht zugehörig fühlte. Sie sagte, ihre Eltern hätten sie erst dann geliebt, als sie Erfolg gehabt hätte. Eine einzige Person war ihrer Stimme und ihrer Karriere gegenüber gleichgültig – ihr Geliebter. Dann brach das Unwetter los, und wir blickten auf den Boulevard de la Bastille und die Seine, die von einem ungewöhnlich
heftigen Sturm hochgepeitscht wurde, in der Hoffnung, einem Schiffbrüchigen zu Hilfe eilen zu können. Um ein Haar hätte sich unser Wunsch erfüllt, denn ein schlecht festgezurrtes Segelboot stieß ein kleineres mit dem Bug gegen den Kai. »Welchen Entschluß hast du gefaßt?« fragte ich sie, als sie sich zum Gehen anschickte. »Ich werde ihn nicht heiraten, wenn es das ist, was du wissen möchtest. Wenn er mit mir schläft, wünsche ich mir nichts anderes, verliere sogar die Lust am Gesang. Was soll aus mir werden?« antwortete sie. Ich umarmte sie und war davon überzeugt, daß sie drei Tage später wieder in seinen Armen liegen würde, doch irgendwie hatte ich eine Vorahnung und bat sie, mich jederzeit anzurufen, wenn ihr danach wäre. Vom Fenster aus rief ich ihr nach, sie solle am nächsten Tag wieder vorbeikommen. Dann legte ich mich zusammen mit Bowie zum Schlafen auf den Boden. Als ich die Augen öffnete, fragte ich mich, was das für ein Geräusch sein mochte, das mich aufgeweckt hatte. Einen Augenblick lang glaubte ich, es käme aus mir selbst, doch dann erkannte ich, daß die Stadt erwacht war. Zwei Müllmänner schleppten Mülltonnen auf das Trottoir, während ein Mann das Boot, das am Tag zuvor gerammt worden war, reparierte. Ein junger Mann hievte einen rotschwarz karierten Koffer aus einem Taxi. Es war kaum kühler als am Tag zuvor, und im Laufe des Vormittags sah ich, wie auf den Dächern der Autos die Hitze flimmerte. Die A. aus B. trug auch am nächsten Tag ihr grünes Seidenkleid, das jetzt recht zerknittert aussah. Ich vermutete, daß sie im Hotel übernachtet hatte. Abends bot ich ihr mein Schlafzimmer für die Nacht an. Als Grund führte ich die späte Stunde und das Gewitter an, das draußen wütete. Doch in dieser Nacht fand ich auf meinem Teppichboden keinen Schlaf. Ich verspürte die Versuchung, die L. zu belauern, hatte mir aber selbst den Zutritt zu meinem Schlafzimmer verwehrt, da die A. dort schlief. Also ging
ich auf die hitzeflimmernden Straßen hinaus. Schließlich stieß ich auf eine kleine Brünette mit Silikonbrüsten, doch leider nahm mir ihre Stimme jegliche Lust. Ich begab mich erneut auf die Suche und rückte den Prostituierten so nah auf die Pelle, daß ich unter ihrem Parfüm die Gerüche ihrer Freier erriet. Ich wollte gerade nach Hause gehen, als ich an einer Straßenekke mit einer Frau zusammenstieß. Mit ihren hohen Absätzen war sie so groß wie ich. Dieses Gesicht, das ich fast berührte, war schwarz mit blauen Reflexen. Es war schön, das stand außer Zweifel, doch ihre Hautfarbe und ihre Hautbeschaffenheit waren mir völlig fremd. Das Zimmer, in das sie mich führte, starrte vor Dreck. Die Frau hatte aber einen Mund, der mich die Umgebung vergessen ließ und mir höchste Lust verschaffte. Nachdem ich die Nutte verlassen hatte, spielte mir mein Gedächtnis einen Streich. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr daran, daß die A. aus B. zu Besuch bei mir gewesen war. Aus dieser Zeit blieben mir nur banale Erinnerungen. Dazwischen hatte ich kurze Lichtblicke, Empfindungen, denen ich nicht Einhalt gebieten konnte. Es war, als ob die L. nie existiert hätte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, sie je beobachtet zu haben, ich wußte nicht einmal mehr, daß ich an sie gedacht hatte. Als ich Bowie bat, mir von diesen Tagen zu berichten, antwortete er mir, daß nichts geschehen sei, das der Rede wert wäre. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß ich anders als sonst war, daß mein Gedächtnis sich weigerte, das zu registrieren, was geschah. Ich drang nicht weiter in ihn, aus Angst, er könne mir eine düstere Geschichte über die L. enthüllen. Gegenüber der A. aus B. hatte ich Schuldgefühle. Wäre ich nicht so mit meiner Manie beschäftigt gewesen, hätte ich ihr helfen, vielleicht sogar ihren Selbstmord verhindern können. Der Alte war ein Wichtigtuer. Er war sorgfältig rasiert und tadellos gekleidet. »Ich habe sie gesehen«, sagte er und wiederholte im Laufe des Gesprächs: »Ich habe sie gesehen.« Und er fuhr
fort: »Fünfunddreißig Meter, das ist hoch. Sie ging über die Brücke und kletterte dann, ohne zu zögern, über das Geländer. Ihr Sturz dauerte lange«, bemerkte der Alte. Er glaubte nicht, daß sie geschrien hatte. Er hatte sie noch nie singen gehört und wußte nicht, wer sie war. Ich empfand nichts. Weder Überraschung noch Schmerz, lediglich eine starke Antipathie gegenüber dem Alten, den ich anbrüllte, daß er endlich den Mund halten solle. Die Wettervorhersage vertrieb ihn. Eine Ansagerin sagte für die Jahreszeit kühles Wetter voraus, und ich fand, daß das Wetter dieses Jahr wirklich zum Kotzen sei, genau wie das der Jahre zuvor. Dann sah ich mir eine Komödie an und amüsierte mich, doch als der Film zu Ende war, fing ich an zu heulen. Am nächsten Tag war ich so niedergeschlagen, daß ich losmarschierte. Den ganzen Tag und einen Teil der Nacht war ich unterwegs. Als meine Füße schmerzten, nahm ich ein Taxi, um nach Hause zu fahren. Obwohl ich todmüde war, fand ich keinen Schlaf, aber zumindest Entspannung. Bei der Beerdigung der A. in B. lernte ich ihre Mutter kennen. Sie hatte genau das Gesicht, das die A. aus B. zwanzig oder dreißig Jahre später gehabt hätte. Sie umarmte mich und ihre Tränen benetzten meinen Hals. Einen Augenblick lang verspürte ich den Impuls, mich dem Geliebten vorzustellen, den sie mir mit einer Kopfbewegung gezeigt hatte. Sie gab ihm die Schuld, die A. aus B. getötet zu haben, weil er sie nicht genug geliebt hatte. Der Mann hielt sich unauffällig im Hintergrund. Als ich mich mit der alten Frau unterhielt, war mir unbehaglich zumute, da ich mich an A.s Worte über die Kälte ihrer Mutter erinnerte. Außerdem spürte ich plötzlich rasende Eifersucht, weil sich die A. aus B. wegen dieses Mannes umgebracht hatte, und es half nichts, daß ich mir vorsagte, daß sie ihn wohl nicht genug geliebt habe. Ich wußte genau, daß ich mir etwas vormachte, daß ihre Liebe, genau wie meine für die L. zu einmalig war, um damit fertig werden zu können. Es war das erste Mal, daß ich das Wort Liebe in Zusammenhang mit der L. gebrauchte, und das verwirr-
te mich. Ich erkannte, daß mir meine Liebe bei der Nachricht vom Selbstmord der A. aus B. bewußt geworden war. Diese beiden schrecklichen Erkenntnisse erschienen mir unerträglich. Ich marschierte bis zum Umfallen, weil ich den Tod der A. nicht akzeptieren wollte und mir nicht vorzustellen wagte, daß meine Leidenschaft für die L. Liebe sein könnte. Dieser Verdacht kam mir tatsächlich an dem Tag, als man die A. aus B. bestattete. Obwohl sich die Familie eine intime Feier gewünscht hatte, gelang es einem Fotografen, einen Schnappschuß von dem Geliebten zu machen. Am nächsten Tag erschien sein Bild in allen Zeitungen. Er wirkte recht jämmerlich, was wohl durch seinen Versuch unterstrichen wurde, den Kragen seiner Jacke hochzuschlagen, um sich gegen den Regen zu schützen. Ich schnitt das Foto aus und stellte es auf mein Klavier, neben das der A. aus B. das ich einem Magazin entnommen hatte. Es war ein Farbfoto, das die A. als Norma darstellte. Ihr Kostüm, ihre Pose und ihre Frisur ließen sie mir fremd erscheinen. Doch ihr schöner Mund war unverkennbar. Am Abend nach der Beerdigung stellte ich mir die L. in ihrer Nacktheit vor. Ich sah ihr Gesicht vor mir, ihre kleinen Hände und Füße, ihre Achselhöhlen, ihr Hinterteil, alle Einzelelemente, die ich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen konnte, und begriff, daß ich nicht daran interessiert war, diese Teile wieder zusammenzusetzen. Mich faszinierten ihre Körperteile, wenn ich sie heimlich beobachten konnte. Am nächsten Morgen war ich unfähig, mich ans Klavier zu setzen, machte mich deshalb wieder auf den Weg und versuchte, durch die mechanischen Bewegungen des Marschierens Vergessen und Ruhe zu finden, was mir im allgemeinen nur gelang, wenn ich die Tonleitern übte. Ich eilte durch die Straßen und wirkte wohl, als ob ich einem Ziel zustrebe. Als ich eines Abends nach Hause zurückkehrte, begegnete ich einem der Verehrer der L. der gerade das Haus verließ. Es war
der Mann mit dem Hut, der sie jeden zweiten Nachmittag besuchte. Ohne zu überlegen, ging ich hinter ihm her. Er hatte einen regelmäßigen, erstaunlich federnden Gang für einen Mann seines Alters. Sein Ziel war ein Park, den ich hinter ihm betrat. Ich nahm auf einer Bank in seiner Nähe Platz und bedauerte, daß ich keine Zeitung dabei hatte, hinter der ich mich hätte verschanzen können. Ich beobachtete ihn hinter halb geschlossenen Lidern. Er streckte die Beine aus, legte den Kopf zurück und genoß die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Er hatte graues, fast weißes Haar, eine gerade Nase mit einem breiten Rücken und breite Backenknochen; eigentlich sah er aus wie ein Indianer. Er bemerkte mich nicht, als ich auf seine Bank zuging und neben ihm Platz nahm. Ich sah, daß seine Unterlippe leicht zitterte. Sein Gesicht war von einem Netz zarter Falten durchzogen, seine blauen Augen waren so blaß, daß sie durchsichtig wirkten. Ich sagte zu ihm, daß es schon spät sei. Er blickte hoch, stand auf, setzte sich den Filzhut auf, den er sommers und winters trug, und entfernte sich. Ich folgte ihm in einiger Entfernung. Er machte weite Schritte und überquerte einige Straßen, bis er vor einem Haus stehenblieb, das zwischen zwei Hochbauten eingeklemmt war und gerade verputzt wurde. Er winkte einer Frau zu, die sich im dritten Stock über das Geländer beugte, stieß einen der Türflügel auf und verschwand im Haus. Im Haus war alles ruhig und düster, die Loge der Concierge war unbesetzt. Ich studierte die Namen der Mieter, doch kein Name schien zu dem Mann mit dem Hut zu passen. Im Dunkeln wartete ich auf irgendein Ereignis oder einen Gedankenblitz, um dem Mann mit dem Hut auf die Spur zu kommen. In dem Augenblick, als ich durch meine Jalousette lugte, öffnete die L. ihre Vorhänge und Fenster, und dieses Zusammentreffen deutete ich als ein gutes Omen für die Zukunft. Ich bin nicht
abergläubisch, doch mein Verlangen nach dieser Frau war so stark, daß ich mir sagte, nachdem ich sie so lange nicht mehr gesehen hatte, daß ich von nun an jede Gelegenheit wahrnehmen wolle, sie nach Herzenslust zu betrachten. Eine der Katzen war aufs Fensterbrett geklettert. Mit einem Satz sprang sie in ihre Arme, kuschelte sich an sie und entblößte dabei ihre Schulter. Die L. streichelte das Tier und sah nachdenklich aus. Ich überlegte, ob sie wohl an die Männer dachte, die sie besuchten. Dann versuchte ich zum zweitenmal, ihren unter dem wallenden Gewand verborgenen Körper zu zeichnen. Die Djellaba kaschierte ihre Formen, die sich wohl erst ohne jede Kleidung voll entfalten konnten. Es war mir unmöglich, ihrem Körper feste Grenzen zu setzen, was mich sehr deprimierte. Als sie sich umdrehte, stellte ich mir plötzlich ihr Hinterteil vor, die weiße, glatte wohlgeformte Fleischmasse. Ich beugte mich in Gedanken über sie, und meine Lust war so überwältigend, daß ich zu Boden fiel. War es mein Schrei, der sie erschreckt hatte? Als ich wieder aufstand, war sie verschwunden, und die Katze rieb sich an einer Eisenstange auf der Fensterbank. Als Simon vom Tod der A. aus B. erfuhr, versuchte er mich von Venedig aus, wo er an einem Festival für Barockmusik teilnahm, zu erreichen. Auch aus Meudon rief er an und faselte etwas von einem blödsinnigen Unfall. Wütend sagte ich: »Sie beging Selbstmord. Red also nicht von Unfall, ich bitte dich. Sie kletterte über die Brüstung und sprang, und das ist für mich Selbstmord.« Das Schweigen am anderen Ende der Leitung ließ mich Simons Verwirrung erraten. Er fragte mich, ob ich vierzehn Tage Zeit übrig hätte für unsere Plattenaufnahme, und ich sagte ihm, ich sei in nächster Zeit voll ausgebucht. An jenem Abend kam er bei mir vorbei und erkundigte sich, was für Engagements ich habe und warum ich keine Zeit für ihn hätte. Ich bat ihn, mir keine weiteren Fragen zu stellen, wenn er nicht angelogen werden wolle. Da er vermutete, seine Ungeschicklichkeit habe mich dazu bewogen, abzulehnen, blieb er beharrlich. Ich erklärte ihm, wenn ich mich
für Plattenaufnahmen bereit erklärte, täte ich ihm keinen Gefallen, da ich zur Zeit zu nichts taugte, nicht einmal mehr zum Klavierspielen – ich hätte meine Seele verloren. Dann lud ich Simon in eine Bar ein, wo eine junge Farbige gefühlvolle Chansons aus den vierziger Jahren vortrug. Ich hätte mich ihm gerne anvertraut, hatte ich doch irgendwie das Gefühl, ihn auszunutzen, doch ich erkannte, daß es mir nicht gelingen würde, ihm meine seltsame Leidenschaft zu erklären und noch weniger meine gespannte Erwartung, ob sich ihre Vorhänge öffneten. Ich stellte mir vor, wie ich auf meinem Hocker saß und durch die Jalousette spähte. Das erregte mich so sehr, daß ich spürte, wie mein Penis reagierte. Ich stand überstürzt auf und erklärte Simon, ich müsse gehen. Da es mir peinlich war, daß ich ihn im Stich ließ und weil ich nicht in der Lage war, mit ihm zu arbeiten, lud ich ihn zum Essen ein und verließ dann fluchtartig das Lokal. Als ich an mein Schlafzimmerfenster eilte, sah ich hinter ihren roten Vorhängen gedämpftes Licht. Da ich gerannt war, verspürte ich Seitenstechen. Ich streckte mich auf meinem Bett aus und schlief auf der Stelle ein. Am anderen Tag traf ich am frühen Nachmittag den jungen Mann auf der Treppe und hatte den Eindruck, daß er sich nach mir umdrehte und mich musterte. Er ging zur L. und ich konnte an nichts anderes denken als an die L. und an ihn. Bei Einbruch der Nacht ging er wieder. Ich sah, wie er seine blonden Haare glättete, die er ziemlich lang trug. Die gleiche Geste hatte er gemacht, als er auf dem Weg zur L. gewesen war. Ich hatte abgewartet, bis er im ersten Stock anlangte. Dann ging ich ebenfalls auf die Straße. Schon glaubte ich, ihn aus den Augen verloren zu haben, als ein Auto startete. Am Steuer saß der junge Mann. Ich zog Simon, der soeben gekommen war, zu meinem Wagen, den ich ungefähr zwanzig Meter weiter geparkt hatte, und rief ihm zu, er solle ihn nicht aus den Augen lassen. Ich hätte geschworen, daß er die Richtung zur Place de la Bastille einschlagen würde. Auf gut Glück fuhr ich los, doch er war schon verschwunden.
Simon fragte mich: »Was ist denn los? Was hat er denn getan?« Wir kehrten um, und er fragte mich über den Mann aus, dem wir hatten folgen wollen. Da ich immer noch Hemmungen hatte, mich ihm anzuvertrauen, versuchte ich ihm einzureden, der Mann habe mich so seltsam angesehen. Als mich Simon fragte, weshalb der Mann wohl so großes Interesse an mir gehabt habe, erwiderte ich, ich wisse es nicht. Dann fügte ich hinzu: »Und wenn er gar kein Interesse hatte?« Worauf er wissen wollte: »Was meinst du damit?« Doch ich antwortete nicht. Am nächsten Tag reiste Simon zu seiner kranken Mutter an die Côte d’ Azur, und ich sah ihn längere Zeit nicht. Als er zurückkam, erkundigte er sich nach dem blonden jungen Mann. L. verharrte einen endlosen Augenblick im Türrahmen. Sie war in Weiß gekleidet, und die Mittagssonne hüllte sie in helles Licht. Ihr Körper verschmolz mit ihrem weißen Sessel. Bevor die Farbige aufbrach, lachte sie mit der L. Ihr ausdrucksvolles, schönes Gesicht mit den geschminkten Augen und den bemalten Lippen war faszinierend. Die L. war in ein Buch versenkt, als der blonde junge Mann kam. Er half ihr, aufzustehen, und ihr Körper wurde wieder von dieser wogenden Bewegung erfaßt, wie immer, wenn sie aufrecht dastand, was diesmal noch durch die Freude, ihn zu sehen, verstärkt wurde. Ich war eingeschlafen und hatte nicht gesehen, wann der Blonde die L. verlassen hatte. Am nächsten Tag kam er spätabends. Die flüchtig vorgezogenen Vorhänge gestatteten mir einen verschwommenen Einblick. Er stand nackt im Lichtschein. Die L. führte den blonden jungen Mann ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett, einen Berg bunter Kissen unter sich, die Brüste hoch aufgerichtet. Der Mann setzte sich in einen Sessel. Ich konnte nur seine Beine, eine Schulter und einen Arm sehen. Dann stand er auf, ging im Zimmer auf und ab und redete.
Die Sonne hüllte das Bett in warmes Licht, doch das Zimmer lag im Schatten. Die L. hob ihr Kleid hoch, und die Sonne beschien ihr dunkles, gekräuseltes Schamhaar. Der Mann taumelte kurz, nahm dann seine Wanderung wieder auf, trat vom Halbschatten ins Licht, während die L. auf ihren Kissen ruhte, mit ausgestreckten Armen und entblößter Vagina. Sie wandte den Kopf und folgte mit den Augen dem Auf und Ab des Mannes. Dann fing sie an, sich zu streicheln, langsam, fast zögernd. Er ging unaufhörlich weiter, blieb manchmal kurz stehen, rang nach Worten. Schließlich verharrte er regungslos. Ich sah nur noch ihre stimulierende Hand. Schließlich durchlief ein Beben ihren Körper. Unter ihrem losen Gewand und ihrer Haut mußte sich etwas Aufwühlendes abspielen. Ihr Kopf fiel zur Seite. Der Mann streckte sich angekleidet neben ihr aus, und gemeinsam schliefen sie ein. Ich konnte meinen Blick erst dann vom Geschlecht der Frau abwenden, als die Sonne verschwand. Eines Nachmittags kam der Mann mit dem Hut entgegen seiner Gewohnheit nicht. Auch nicht an den folgenden Tagen, und die L. die ängstlich den Verbindungsgang beobachtete, trat weniger oft ans Fenster. Hatte er sie angerufen, oder befürchtete sie, er würde nicht mehr kommen? Meine Neugier war erwacht, und ich schlich um das Haus herum, in dem er damals verschwunden war. Am zweiten Tag meiner Beobachtung trat die Frau, die er gegrüßt hatte, aus dem Haus. Aus der Nähe betrachtet, hatte sie die gleichen hohen Backenknochen, die gleichen seltsamen Augen und seinen elastischen Gang. Ich folgte ihr zu einer Metrostation. Nach kurzem Zögern kehrte ich dann zu dem Haus zurück – es war genauso ausgestorben und düster wie damals, als ich dem Mann gefolgt war. Glasscheiben auf jedem Zwischengeschoß verbreiteten bläuliches Licht. Im dritten Stock herrschte Stille, nur vom Stock darüber ertönte Radiomusik. Ich läutete an jeder der beiden Türen und rannte schnell einen Treppenabsatz hoch, aber niemand öffnete.
Die Tage vergingen, und der Mann mit dem Hut blieb weiterhin aus. Ich nahm erneut vor dem Haus Aufstellung, wagte aber nicht, einzutreten. Eines Nachts überlegte ich, ob die L. wohl eigenes Vermögen besaß oder eine Rente bezog, oder ob die Männer, die sie besuchten, sie zum Teil oder ganz unterstützten und ob sie, wenn der Mann mit dem Hut beschlossen hatte, ihre Beziehung zu beenden oder tot war, in Schwierigkeiten geraten würde. Dabei machte ich mir Gedanken über meine eigene finanzielle Lage, die immer katastrophaler wurde. Als ich aufwachte, verspürte ich Durst. Ich öffnete eine Flasche Mineralwasser und trank sie wie gewöhnlich hinter meiner Jalousette. Nach ungefähr drei Minuten verließ ein Mann das Haus. Ich erkannte ihn nicht auf Anhieb, da er im Gegenlicht stand und weil es nicht seine Zeit war. Doch als er sich umwandte, wußte ich, wer er war. Einen kurzen Augenblick machte ich in meinem Zimmer Licht, da ich nichts zum Anziehen fand. Ich schlüpfte in die nächstbeste Hose, zog mir ein Hemd über und machte mich an die Verfolgung des Mannes. Zwei Häuser weiter hatte ich ihn eingeholt. Sein Gang war schleppend, und als er stehenblieb, um Luft zu schöpfen, bemerkte ich, daß sich seine Figur verändert hatte. Ich begriff jetzt, weshalb ich ihn nicht auf Anhieb erkannt hatte. Am nächsten Tag beobachtete ich ihn durch ein Fernglas, das ich mir morgens extra für diesen Zweck gekauft hatte, denn ich fürchtete, er könne mich erkennen, wenn ich ihn aus nächster Nähe musterte. Ich war über sein Aussehen überrascht; er war stark gealtert. Seine Muskeln waren nicht mehr straff, und seine Gesichtshaut war schlaff, seine Backenknochen zeichneten sich jetzt noch schärfer als vorher ab. Die Nase wirkte wie gemeißelt. Der Mann mit dem Hut setzte seine Besuche unregelmäßig, aber häufiger fort. Nach einiger Zeit schien er sich erholt zu haben, ging auch wieder mit federnden Schritten, doch sein Gesicht war wie zerklüftet. Tiefe Falten hatten sich darin einge-
graben. Seine Augen wirkten noch seltsamer in ihrer Transparenz. Schon bei Tagesanbruch fühlte ich, daß es ein schwerer Tag werden würde, doch ich konnte nicht ahnen, daß die Hitze im Laufe des Vormittags solch hohe Luftfeuchtigkeit mit sich bringen sollte. Gegen Mittag ging ich aus. Als ich die Haustür öffnete, schlug mir stickige Luft entgegen. Ich kaufte Bier und Zigaretten und kehrte so schnell wie möglich nach Hause zurück. Im Briefkasten lag eine Karte von Bowie, die ich, als ich ein Glas ausspülen wollte, in die Spüle fallen ließ. Die Karte zeigte eine Brücke. Bowie hatte eine kleine, schlecht lesbare Schrift. Da durch das Wasser mehr als die Hälfte der Worte verwischt worden war, konnte ich sie nur schwer entziffern. Unter der Unterschrift stand, daß er bald zurückkehren würde. Ich legte die Karte aufs Klavier, neben die Fotos der A. aus B. und ihres Geliebten. Dann spielte ich ein Prelude und betrachtete Bowies Postkarte, die Metallbrücke vor königsblauem Hintergrund. Mein Klavierspiel war nicht berauschend, und ich sagte mir, daß meine Finger steif werden würden, wenn ich nicht intensiver übte, doch im Grunde war das unwichtig, da ich ja doch kein Genie war. Wenn ich nämlich auch nur einen Funken Genialität besessen hätte, dann hätte ich nicht meine Zeit damit verbracht, eine Frau von meinem Schlafzimmerfenster aus zu belauern. Und wenn, dann hätte mich das zu einem Meisterwerk inspiriert. Die Herausforderung wollte ich annehmen und ich versuchte, mich von der L. inspirieren zu lassen, doch vergeblich. Also schenkte ich mir einen Whisky ein und improvisierte. Mein Mißerfolg und der Whisky auf leeren Magen waren bei der Hitze fatal – ich mußte mich erbrechen. Es war noch schwüler geworden. Im Radio war das Thema Nummer eins die verspätete Hitzewelle. Die Farbige goß die Blumenkästen, während auf dem Verbindungsgang darunter
Wäsche aufgehängt wurde. Als die L. ihr Schlafzimmerfenster öffnete, sah ich nur ihre Füße, die im Zimmer auf und ab gingen. Am nächsten Tag kümmerte sich die Farbige fast den ganzen Vormittag um die L. die wohl aufgrund ihrer Korpulenz unter dem Wetter litt. Die Hitze hatte angehalten, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Die L. bekam einen Ventilator geliefert, der an der Zimmerdecke ihres Schlafzimmers befestigt wurde. Als der Handwerker kam, verbarg sich die L. in dem Zimmer nebenan, in dem das gleiche Chaos wie von Anfang an herrschte. Alles war so geblieben, wie es war, nur die Blumen wurden stets durch frische ersetzt. Die L. nahm in einem Sessel Platz, nahm die Puppe in die Hand und spielte mit ihrem Wollhaar. Als der Ventilator funktionierte, wurden das leichte Kleid der Farbigen und die Djellaba der L. die sich, nachdem der Mann gegangen war, wieder in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, vom Luftstrom aufgebauscht. Die Farbige brachte ihr einen Krug mit einer farbigen Flüssigkeit und einen Früchtebecher – ich habe auch nie erlebt, daß die L. je etwas anderes gegessen hätte. Dann bürstete die Frau ihr Haar. Ihr dunkles, krauses Haar stand nach allen Seiten, und ich fand, daß sie es mehr zerzauste als in Ordnung brachte. Sie kühlte ihr Gesicht mit einem Handtuch, das sie in eine Porzellanschüssel tauchte. Dann schob sie ihre Djellaba hoch und wusch ihre Arme und Schenkel. Die L. hatte eine sehr weiße Haut, die einen weichen Glanz hatte. Sie schien ganz glatt und war bestimmt auch sehr weich, samtweich. Ich beneidete die Farbige um das Vorrecht, sie berühren zu dürfen. Ich überlegte, ob sich die Frauen wohl siezten, und in welcher Beziehung die L. zu der Farbigen stehen mochte. Die L. stand meist auf der Türschwelle oder am Fenster oder saß im Sessel ihres Schlafzimmers. Manchmal verschwand sie in den Teilen ihrer Wohnung, die mir unbekannt waren. Doch wenn ich an sie denke, habe ich eigentlich immer ihr Bett vor Augen, auf dem ich sie so oft gesehen habe: hier verlor ihr Körper seine Schwere, hier fand sie ihn wohl selbst am erträglichsten. Auf dem einen Nachttisch standen ständig eine Karaffe und
Obst, auf dem anderen, dessen Füße verkürzt worden waren, befand sich ein großer Korb, der alle möglichen Dinge enthielt. Oft griff sie in diesen Korb. Die alte Dame, die in der Wohnung unter mir wohnte, war noch nicht zurückgekehrt – die Concierge sagte, sie sei so wenig krank wie Bowie und sein Vater. Selten schloß die L. ihre Läden, und ich lauerte ständig hinter meiner Jalousette. Ich wollte sie ja gar nicht bei intimen Szenen mit ihren Freunden belauern, ich konnte mich damit begnügen, sie einfach zu beobachten. Um meine Leidenschaft zu entfachen, genügte es, daß ich ein Stück ihrer Haut oder ihre dunklen, krausen Achselhaare sah. Die Hitze war vorüber. Plötzlich war es Herbst. Die Bäume vor meinem Fenster zeigten noch ihre üppigen Sommerblätter und Sommerfarben, doch es herrschte Herbstwetter. Simon hatte mich von der Côte aus angerufen, wo er sich länger aufhielt als vorgesehen. Er sagte: »Meiner Mutter geht es sehr schlecht.« Beim nächsten Anruf teilte er mir mit: »Meine Mutter liegt im Sterben, und es läßt mich kalt.« Eines Abends tauchte Simon unerwartet bei mir auf. Er sagte: »Seit sie fort ist, quäle ich mich, weiß aber nicht, ob wegen ihres Todes oder wegen meines schlechten Gewissens, weil ich nichts empfinde und vielleicht doch das Ungeheuer bin, das sie immer in mir gesehen hat. Ich überlege immer wieder, ob irgend etwas plötzlich den Schleier lüften könnte.« Er schwieg, genierte sich, weil er sich hatte gehen lassen und schenkte mir eine Kassette von einer Aufzeichnung an der Met. Ich war gerührt, als ich die Stimme der A. aus B. durch ein fernes Rauschen hörte. Wir saßen beide schweigend da. Ich gab mich der Melancholie hin, und er bedauerte seine Unbeherrschtheit. Wir saßen auf den Stufen des Wohnzimmers und tranken Wein. Es war inzwischen Abend geworden. »Hast du wieder diesen seltsamen jungen Mann gesehen?« fragte Simon. In seiner Abwesenheit war ich dem blonden jungen
Mann ein zweites Mal begegnet. Er starrte mich an, was mich wunderte; dabei tat ich vermutlich das gleiche. Da ich Simon nichts Besonderes zu erzählen hatte, zögerte ich, doch dann gab ich ihm zu verstehen, daß ich nicht mehr über ihn reden wolle. Ich glaube, meine Stimme klang ziemlich barsch. Als Simon an dem Abend ging, verließ der junge Mann gerade das Haus der L. Ich befand mich im Wohnzimmer und sah vom Fenster aus Simon und dem jungen Mann nach. Simon fuhr hinter dem jungen Mann her, doch ich dachte bei mir, daß er wohl kaum die Absicht hatte, ihm zu folgen. Eine Stunde später rief ich in Meudon an und ließ es lange läuten, doch niemand meldete sich. Schließlich schlief ich ein und wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich lag noch im Bett und dachte über die Ereignisse des Vorabends nach, als es an meiner Tür klopfte. Ich erkannte das Klopfzeichen und rannte zur Tür, um Bowie zu öffnen. Plötzlich wußte ich, wie sehr er mir gefehlt hatte. Wir blieben das ganze Wochenende zusammen. Doch in der Zeit danach vernachlässigte ich ihn, da mich außer meiner Geschichte mit der L. nichts interessierte. Bowie tat sein Bestes, mich aus meiner Apathie herauszureißen, gab es dann aber auf und zog sich mit den Katzen in meinen Abstellraum zurück. Im übrigen kam er nicht mehr so oft zu mir, da sein Vater sich nach seiner Entziehungskur mehr um ihn kümmerte und darauf achtete, daß er zur Schule ging. Da ihm jetzt die Freiheit fehlte, die er zu der Zeit genossen hatte, als sein Vater noch Rauschgift nahm, war er recht launenhaft. Doch im Augenblick überwog die Freude über unser Wiedersehen. Ein paar Tage nach Bowies Rückkehr sah ich Camille wieder. Eines Morgens war ich voller Erregung erwacht. Ich hatte geträumt, eine Frau zu lieben, die ständig ein anderes Gesicht hatte,
was mir ganz natürlich erschien – bis ich plötzlich im Traum Camilles Gesicht vor mir sah. Ich stand vor dem Orgasmus, und das brachte mich zum Erwachen. Seit unserem letzten Treffen hatte ich nicht mehr an Camille gedacht, nur gelegentlich, wenn ich ihre Stimme auf meinem Anrufbeantworter hörte. Ich stellte mir vor, welchen Genuß es mir bereitet hatte, mit der schillernden Frau meines Traums zu schlafen, doch brachte mir dies keine Erlösung. Mein Penis schmerzte. Ich fantasierte und verlieh Camille die Reize der L. Dabei spazierte ich nackt durch die Wohnung und umklammerte meinen Penis. Die Läden der L. waren geschlossen. Im Laufe des Nachmittags hatte meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht, genauso die Schmerzen in meinem Glied. Ich rief Camille an und hinterließ bei dem Mann, der sich meldete, eine Nachricht für sie. Natürlich wußte ich nicht, ob sie die überhaupt übermittelt bekommen und ob sie mich besuchen würde. Als es läutete, öffnete ich, ohne mich anzukleiden. Es war Camille. Sie trug einen roten Rock mit weißen Tupfen, der bis zu den Knöcheln reichte und eine lange, dicke Jacke. Sie schien dünner geworden zu sein. »Zieh dich aus«, bat ich sie. Sie gehorchte mir mit dieser Mischung aus Scheu und Verruchtheit, die mir am ersten Tag an ihr gefallen hatte. Ich bat sie, sich mir gegenüber zu setzen, betrachtete die Stelle zwischen ihren Schenkeln und sagte, sie solle sie langsam öffnen. Sie gehorchte und stöhnte, als sie sie nicht mehr weiter öffnen konnte. Ich versetzte ihr eine Ohrfeige und sagte, ich sei unzufrieden, weil sie abgenommen habe. Dann legte ich ihren langen Rock über sie und ließ nur ihre dunkle, krause Vagina unbedeckt. Als ich sie so sah, hatte ich einen Orgasmus und schrie vor Lust. Camille kam nun täglich vorbei, zu allen Zeiten, sogar mitten in der Nacht. Sie kam, weil ich sie darum gebeten hatte, und reagierte so brav auf meine Wünsche, daß ich ganz vergaß, daß sie vielleicht selber Bedürfnisse hatte. Dieser Körper, den sie mir mit
allen Freuden, die er geben konnte, bot, erregte mich, denn ich stellte mir vor, wie es mit der L. wäre. Wenn meine Potenz versagte, war ich grob zu ihr, doch sie blieb so willig, daß ich sie plötzlich satt hatte und ihr barsch befahl, sich anzuziehen. Dann wollte ich nur noch schlafen, trat vorher ans Fenster, betrachtete die Türme von Notre-Dame und bat Camille, mich allein zu lassen. Ich blieb am Fenster und blickte hinaus. Als die Stadt erwachte, ging ich zu meinem Schlafzimmerfenster, von wo aus ich mit dem Fernglas die Farbige beobachtete. Zum erstenmal schenkte ich ihrem Gesicht Aufmerksamkeit: es wirkte sehr fremdartig mit seinen asymmetrischen Gesichtszügen. Wenn sie sich der L. näherte, strahlte sie. Im Vordergrund befindet sich ein Stuhl, über den eine Jacke gebreitet ist, von der man nur einen Ärmel und eine Schulter sieht, auf der anscheinend Tressen angebracht sind. Doch das ist wohl ein Fantasieprodukt, denn das Foto ist sehr verschwommen. Da ist also die Jacke und die Tür, wohl eine Eisentür, denn sie scheint glatt zu sein im Vergleich zu der Mauer, von der die Farbe blättert, ja der ganze Putz. Es gibt die Jacke, die Tür und nichts anderes, das man außer der Frau betrachten könnte. Sie lehnt an der Mauer und ist nackt. Sie ist an einen Vorsprung in der Mauer gefesselt. Die Schnur reicht vom Hals bis zu den Knöcheln, ist unzählige Male um den Körper geschlungen, verläuft oberhalb einer Brust und unterhalb der anderen. Ihre Brüste sind klein und fest, ihr Körper schwer. Wenn man sie näher betrachtet, stellt man etwas Seltsames fest: die Beine sind nur an den Knöcheln zusammengebunden, und um jedes Bein ist dreimal eine Schnur geschlungen. Etwas im Gesichtsausdruck der Frau läßt Angst erkennen. Sie hat das Gesicht nach rechts gewandt, und es ist zu Dreiviertel sichtbar. Die Augen sind halb geschlossen, die dunklen Haare ungekämmt, entweder naß oder ungewaschen, es kann auch sein, daß sie nur so aussehen und daß
es Schweiß oder Blut ist, von dem sie so glänzen. Auf der rechten Wange und auf der Stirn glaubt man blutunterlaufene Stellen zu erkennen, doch man ist sich nicht ganz sicher. Das Foto hat man in der Brieftasche eines toten Offiziers gefunden. Wenn man sich die Vergangenheit dieses Mannes vergegenwärtigt, kann man sich sogar ohne viel Fantasie vorstellen, daß dieses Foto auf ihn die gleiche erotische Anziehungskraft hatte, wie für die anderen Soldaten die Bilder von Stars, die sie sich in den Spind hängen. Ich vermute, die Jacke über dem Stuhl gehörte ihm. Und deshalb glaube ich, daß vermutlich er es war, der diese Frau gefesselt hatte. Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: meine einseitige Lust hatte eine Leere in mir hinterlassen, die Geschichte mit Camille hatte mich deprimiert. Ich ging weniger oft zu meiner Jalousette, und wenn, dann mit Unbehagen! Ich hatte den Eindruck, daß ich die L. allein durch mein Beobachten kompromittierte und warf deshalb nur ab und zu einen kurzen Blick zu ihrem Fenster hinüber, als ob ich mich vergewissern wollte, daß sie noch da war. Meist entdeckte ich sie gar nicht, denn seit Bowies Rückkehr schloß sie öfters die Vorhänge. Ich spielte wieder Klavier. Mein Spiel artete nicht gerade in Arbeit aus, doch es brachte mir so etwas wie die Genesung meiner Seele. Irgendwann morgens wollte ich zu meinem Dealer und Stoff kaufen, doch mußte ich dafür bei einer alten Freundin Geld leihen. Nachdem sie mir erklärt hatte, daß ich ihr bereits Geld schuldete, ließ sie sich lange betteln. Schließlich mußte ich meinen Stolz vergessen und mit ihr ins Bett gehen. Meine Finanzen waren in einem katastrophalen Zustand, mein Bankkonto war leer, und mein Vermieter hatte mir bereits das zweite Mahnschreiben wegen der fälligen Miete geschickt. Mehr als zwei Tage schnupfte ich ununterbrochen und versuchte, wieder klar zu sehen. Damals war ich nicht bereit, die Wahrheit zu akzeptieren, allein der Gedanke an meine zwiespältigen Gefühle beunruhigte mich. Doch wollte ich das zur Zeit dringlichste Problem angehen: Geld zu verdienen.
Ich hatte Glück: Am nächsten Tag bekam ich ein Engagement in einer Bar. Dabei kehrten meine Fingerfertigkeit und meine Freude am Klavierspiel zurück. Zudem wurde ich gut bezahlt und konnte endlich meine Schulden begleichen. Von Simon hatte ich seit jenem Abend nichts mehr gehört. Ich versuchte mehrere Male, ihn telefonisch zu erreichen und wunderte mich über sein Schweigen. Endlich rief er mich an. Er war gerade von der Côte zurückgekommen, wo er den Nachlaß seiner Mutter abgewickelt hatte. Als ich ihn nach dem jungen Mann fragte, gab er mir vage Antworten, was meine Neugier weckte. Ich lud mich selbst bei ihm zum Essen ein. Der chinesische Diener öffnete mir die Tür, begrüßte mich mit einem Kopfnikken und zeigte mir das Zimmer im ersten Stock. Simon erzählte mir, daß er damals dem jungen Mann hinterhergefahren sei, da sie zufällig die gleiche Richtung zu haben schienen. Da ich durch meine Berichte seine Neugier erregt hatte, beschloß er plötzlich, ihm zu folgen. Der junge Mann machte einen Umweg, der Simon hätte warnen müssen. Schließlich parkte Simon direkt hinter ihm. Als er ausstieg, ging der junge Mann auf ihn zu, und es entstand ein Handgemenge, das aber schnell wieder beendet war. Simon, der es mit der Angst bekommen hatte, holte als erster zum Schlag aus. Und plötzlich bemerkte er den Eigengeruch des jungen Mannes, der sich mit einem zarten Frauenduft vermischte. Der junge Mann nutzte Simons Verblüffung und machte sich aus dem Staub. Ich aß mit Simon zu Mittag. Er sprach über Musik und die A. aus B. Ich überlegte: Weshalb hatte der junge Mann bemerkt, daß man ihm folgte, denn um das zu bemerken, mußte er sich dessen vergewissert, also folglich eine Verfolgung befürchtet haben. Von wem glaubte er verfolgt zu werden? Wohl nicht von einem Bullen, denn dann hätte er sich ja kaum auf eine Schlägerei eingelassen. Vermutlich infolge der vielen Krimis, die ich vor der Begegnung mit der L. gelesen hatte, kam mir der Verdacht, daß der junge Mann Simon für einen Detektiv gehalten hatte. Aber weshalb die Schlägerei? Weshalb hatte er nichts gesagt, ihn nicht
gefragt? War er bereits vor Simon von jemand anderem verfolgt worden? Und wer hatte diesen Jemand engagiert? Konnte es sein, daß die L. die Beschattung veranlaßt hatte? Als ich nach Paris zurückfuhr und an die L. dachte, hatte ich das Gefühl, sie verloren zu haben. Seit dem Tod der A. aus B. war ich nur dann glücklich gewesen, wenn ich sie von meinem Zimmer aus hatte beobachten können. Zwei Tage lang hatte ich sie jetzt schon nicht zwischen ihren Vorhängen entdecken können. Das Vergnügen, das ich stets bei ihrem Anblick empfand, fehlte mir. Als ich zu Hause war, lugte ich durch die Ritzen meiner Jalousette und war erleichtert. Die L. war auf dem Verbindungsgang damit beschäftigt, ein Huhn zu zerteilen. Die Katzen miauten, sprangen herum und rieben sich am Saum ihrer Djellaba. Sie warf die Hühnerteile in zwei Näpfe und stellte sie den Katzen hin. Dann setzte sie sich in einen Sessel, den sie vor das Fenster ihres Schlafzimmers geschoben hatte, schloß die Augen und genoß die letzten Strahlen der Herbstsonne. Sie döste vor sich hin, als plötzlich der Mann mit dem Hut zum Fenster hereinkletterte. Offensichtlich hatte er sich gut erholt. Er wirkte nicht mehr wie ein alter Mann, nahm den Hut ab, schleuderte ihn durchs Zimmer und verschwand aus meinem Blickfeld. Sie schlossen die Fenster und zogen die Vorhänge zu. Als das Licht anging, miaute eine der Katzen. Es war inzwischen dunkel geworden. Seit Stunden saß ich auf meinem Hocker und wartete darauf, daß der Mann mit dem Hut wieder gehen würde. Als im Schlafzimmer der L. das Licht aufleuchtete, ging ich zu Bett und schlief seelenruhig ein. Auch wenn meine Arbeit in der Bar nicht gerade aufregend war, fand ich sie doch erträglich. Die Bar hatte einen bürgerlichen Touch, und manchmal hatte ich den Einruck, daß mein Klavier-
spiel eher als Belästigung empfunden wurde. Die Barkeeper und der Besitzer brachten mir nur mäßige Sympathie entgegen, zumal mich der Besitzer nur deshalb engagiert hatte, weil ihn sein Pianist im Stich gelassen hatte. Um ehrlich zu sein: Ich mußte mir hier kein Bein ausreißen, verdiente mein Geld leicht und hatte viel Zeit, vor mich hinzuträumen. Das einzig Unangenehme an dem Job war die Tatsache, daß ich stundenlang von der L. entfernt war, d. h. von meinem Platz am Fenster. Aber durch das Klavierspiel gewann ich den Eindruck, meine Leidenschaft etwas besser bewältigen zu können, glaubte sogar, mein Leben wieder im Griff zu haben. Doch ich hatte mich geirrt. Ein Kellner brachte mir ein Briefchen, und ich vermutete, daß es von einer Frau stammte, die an einem der hinteren Tische saß. Wenn sie sich vorbeugte, war ihr Gesicht im Licht zu erkennen. Am auffallendsten war ihr sinnlicher Mund. Doch das Briefchen stammte von Louis, ihrem Begleiter. Als die Bar geschlossen wurde, begleitete Louis die junge Frau zu einem Taxi, und wir feierten unser Wiedersehen, indem wir uns gemeinsam vollaufen ließen. Mit keinem Wort erwähnten wir unseren alten Streit. Irgendwann fing er an, von Lotus zu reden, die er wiedersehen wollte. Das Briefchen brachte mich auf die Idee, der L. zu schreiben. Das Problem war, ihr klarzumachen, daß ein Mann sie liebte, ohne preiszugeben, daß dieser Mann ich war, ihr Nachbar. Ich wollte vermeiden, daß sie, wenn ihr mein Brief mißfiel, Verdacht schöpfte und die Vorhänge für immer schloß. Das Problem löste sich durch Louis Besuch, der am nächsten Tag bei mir hereingeplatzt kam, um Go mit mir zu spielen. Nachdem wir uns über unseren Streit von damals ausgesprochen hatten, wirkte er gelöst, denn er hatte sich zum Teil die Schuld daran gegeben, da er damals nicht in der Lage gewesen war, die schöne Antillen-Tochter richtig zu beurteilen. Als er wieder klar blickte, war die Liebe schnell vorbei. Er sagte, er
beneide mich darum, daß ich allein leben könne und mit meinem Leben zurecht käme. Ich ging ins Schlafzimmer, um mir aus einer meiner KofferKommoden ein Hemd herauszunehmen. Er folgte mir und pfiff durch die Zähne, als er die Jalousette hob. In dem hellen Rechteck des Fensters zeichnete sich seine Silhouette dunkel gegen die helle der L. ab. Mir stockte der Atem – es war wie eine Vorahnung. Er bat mich um Papier und entwarf ein paar Skizzen, die wahre Meisterwerke waren. Man hätte meinen können, sie sei ihm Modell gestanden, dabei hatte er sie nur kurz gesehen. Das beeindruckte mich. Louis steckte eine der Skizzen in seine Tasche und zerknüllte die anderen. Beim Go war ich anschließend ein so miserabler Partner, daß wir die Partie vorzeitig beendeten. Ich befürchtete, Louis würde noch länger bei mir bleiben, doch er hatte erkannt, daß ich in einer desolaten Verfassung war und verabschiedete sich. Kaum war er zur Tür hinaus, stürzte ich mich auf die zerknüllten Skizzen, strich sie glatt und rannte in die Küche, um sie mit dem Bügeleisen noch besser zu glätten. Dann suchte ich einen Umschlag und steckte eine hinein. Ich war zufrieden: die Zeichnung stellte eine schöne Liebeserklärung dar, auch wenn sie nicht von mir stammte. Ich überlegte, ob ich ihr den Umschlag durch die Tür schieben oder in ihren Briefkasten stecken sollte. Schließlich warf ich ihn in einem anderen Stadtviertel in den Briefkasten. Lange bevor die Farbige kam, ging ich in meinem Schlafzimmer auf und ab, weil ich viel zu nervös war, um im Bett zu bleiben. Ich hatte meine Lauerstellung auf dem Hocker bereits eine Stunde vor dem Eintreffen der Farbigen eingenommen. Sie tauchte auf dem Verbindungsgang auf und trug ein großes Kuvert unter dem Arm, das ich erkannte. Auch wenn es lächerlich erscheinen mag, ich war gerührt, daß ich auf diese Weise Zutritt zu der L. bekam. Dann kam mir die wahnwitzige Idee, sie könnte ihre Vorhänge öffnen und zu mir herübersehen. Ich lugte vorsichtig durch eine Ritze meiner Jalousette und sah von den Katzen, als sie auf das Fensterbrett sprangen, nur verstümmelte Körper ohne
Ohren und Pfoten. Nichts rührte sich. Die Stunden vergingen, und ich wagte nicht, aufzustehen, aus Angst, die L. könne sich in meiner Abwesenheit zeigen. Schließlich ging die Tür auf, die Farbige ließ die Katzen herein und machte das Bett. Gegen Mittag verschwand sie wieder, wie gewöhnlich. Dann erschien der Mann, den ich den dritten Mann nannte. Als die L. ihn empfing, sah ich ihr rotes Kleid. Nachdem ich lange gegen meine Müdigkeit angekämpft hatte, ging ich endlich gegen Morgen zu Bett. Bei ihr brannte immer noch Licht. Aus einem traumlosen Schlaf erwachte ich wie gerädert. Wie am Tag zuvor beobachtete ich die Farbige, wie sie die Tür und die Fenster öffnete, und wartete. Doch die L. zeigte sich nicht. Gegen Abend sah ich den blonden jungen Mann von hinten, konnte aber nicht sehen, ob er bei dem Kampf mit Simon Spuren davongetragen hatte. Dann stand ich von meinem Hocker auf, um in die Bar zu gehen. Der Barbesitzer, der über mein Fehlen am gestrigen Tag wütend war, drohte mir mit Kündigung, wenn ich mir so etwas noch einmal erlaubte, und ich glaube, er behielt mich nur deshalb, weil mein Klavierspiel seiner Frau gefiel, und vor allem deshalb, weil er keinen Ersatz für mich hatte. Als er laut wurde, wäre ich am liebsten gegangen, doch der letzte Funke von Vernunft in meinem Kopf hielt mich zurück. Ich kann mich nur verschwommen an diesen Abend erinnern. Ich glaube, ich war müde, weil mir der Schlaf fehlte, und hatte zudem Fieber. Die Gleichgültigkeit der L. gegenüber meinem Umschlag verwirrte mich. Als ich nachts nach Hause kam, fand ich eine Einladung von Simon vor, die er unter meine Tür geschoben hatte. Er schrieb, es handle sich um ein vielbeachtetes Stück. Ich machte eine Papierkugel daraus und schleuderte sie durch eines der Wohnzimmerfenster. Louis Skizzen hatte ich an die Wand gehängt. Ich studierte sie aufmerksam und entschied mich dann für die kleinste. Das Gesicht der L. war ganz ausgeführt, doch ihr Körper war nur durch ein paar Linien angedeutet, doch diese genügten, sie
lebendig zu machen. Vorsichtshalber warf ich den Umschlag in einen Briefkasten am anderen Ende von Paris. Der nächste Tag spielte sich genau wie der Vortag ab. Ich wartete auf das Zeichen, das nicht kam. Jeden Abend, wenn ich mit meiner Arbeit in der Bar fertig war, eilte ich nach Hause, wählte eine Skizze aus und warf sie in irgendeinen Briefkasten. Fünf Abende lang. Fünf Tage verbrachte ich damit, ihre Fenster zu beobachten, hinter denen sich absolut nichts abspielte. Oft waren die Vorhänge zu – doch das waren sie ja meist seit der Rückkehr von Bowie und seinem Vater –, und wenn sie geöffnet waren, interessierte sich die L. keinen Deut für mein Fenster. Doch die Farbige warf vom Verbindungsgang oder vom Fenster der L. aus manchmal einen Blick zu mir hoch. Da ich aber zuvor nie darauf geachtet hatte, wußte ich nicht, war das Absicht oder Zufall. Zudem wußte ich nicht, ob sie mich hinter meiner Jalousette vermutete, die ich nur ganz leicht gespreizt hatte. Vielleicht hatte sie ihren Blick auf das Apartment unter mir oder das von Bowie gerichtet. Ich beobachtete jeden, der den Verbindungsgang betrat und überlegte, weshalb sich der dritte Mann umgewandt hatte, als er vor der Tür der L. gestanden und die Hausfront betrachtet hatte. Ich fragte mich, als der blonde junge Mann frühmorgens die L. verließ, ob er durch seine dunkle Brille die Spuren des Kampfes mit Simon kaschieren oder mich ertappen wollte. Ein Geräusch im Abstellraum schreckte mich hoch. Ich befürchtete, Bowie sei über ein Möbelstück gestürzt, es waren aber nur die Katzen, die einen Stuhl umgekippt hatten, als sie versuchten, ihm zu entwischen. Ich verjagte alle drei und arrangierte die Möbel etwas übersichtlicher. Bei dieser Gelegenheit stellte ich fest, daß das Guckfenster beweglich war. Ich hob es hoch, doch das Milchglas war so staubig, daß ich mir die Finger schmutzig machte. Dieses Fenster bot einen ähnlichen Ausblick wie den, den ich von meinem Schlafzimmerfenster aus hatte. Ein Test ergab, daß die Gegenstände drüben durch dieses Fenster sogar noch besser
zu erkennen waren. Zwei Tage lang verharrte ich hier mit dem prickelnden Gefühl des Neuen, ging dann zwischen meinen beiden Beobachtungsposten hin und her und nahm schließlich wieder den Platz auf meinem Hocker im Schlafzimmer ein, an den ich gewöhnt war. Da die L. keinerlei Reaktionen auf die Übersendung der Skizzen zeigte, stellte ich Überlegungen an. Vermutete sie, daß sie ihr von einer Person, die sie von früher her kannte, zugesandt worden waren, oder von einem ihrer Verehrer, die sie besuchten? Immerhin waren in der Zeit, in der ich ihr Fenster beobachtete, einige bei ihr ein- und ausgegangen. Es mußten ungefähr zehn gewesen sein. Den Unbekannten mit dem Koffer, den die Farbige an der Tür abgewiesen hatte, rechnete ich nicht dazu. Er hatte einen Blick durch die halbgeöffneten Vorhänge geworfen, bis sie ihn keifend verjagte. Ich vermutete, daß der Mann ein Vertreter war – vielleicht aber auch einer ihrer Liebhaber. Nachdem ich diese Hypothesen aufgestellt hatte, verschwand meine Angst, beim Beobachten überrascht zu werden. Außerdem war ich immer äußerst vorsichtig, wenn ich durch die Jalousette blickte, und hatte mich im Laufe der letzten Monate nur selten gezeigt. Ich erinnerte mich an den Blick, den mir die L. zugeworfen hatte und an das Licht in meinem Schlafzimmer, das ich angemacht hatte, während ich mich anzog, um dem Mann mit dem Hut zu folgen, der sich auf dem Verbindungsgang von ihr verabschiedete. Und dann hatte Louis die Jalousie halb hochgezogen, während die L. vor ihrer Tür gestanden hatte. Ich hielt mich im Schatten, im Hintergrund des Wohnzimmers auf, und es war nicht anzunehmen, daß sie mich gesehen hatte, selbst wenn sie in unsere Richtung geblickt hätte. Aber hatte sie Louis gesehen? Auf keiner der Skizzen, die er von ihr angefertigt hatte, schien sie zu meinem Fenster hochzublicken, zumindest nicht auf der, die ich jetzt noch besaß.
Das war offensichtlich die am wenigsten gelungene Skizze, und Louis hatte sie nicht zu Ende geführt, trotzdem berührte sie mich seltsam, regte mich zum Fantasieren an. Der Körper der L. war ungeheuer gegenwärtig, auch wenn seine Konturen verschwommen waren. Seit der Rückkehr von Bowie und seinem Vater waren ihre Vorhänge und Fenster oft geschlossen. Ich beobachtete die L. jetzt nicht mehr so häufig, da ich einen Teil der Nacht in der Bar verbrachte. Ich sehnte mich nach dem Sommer zurück, nach der langen Zeit, in der sich die L. viel öfter gezeigt hatte. Wenn sich die roten Vorhänge nicht öffnen wollten, betrachtete ich die Skizze und masturbierte solange, bis die L. in meiner Fantasie Gestalt annahm und mich zum Orgasmus führte. In einem Augenblick der Impotenz dachte ich an die A. aus B. die mir erzählt hatte, daß es ihr schwerfalle, zum Orgasmus zu gelangen, wenn sie an ihren Liebhaber dachte. Wenn sie sich keinen bestimmten Mann vorstellte, fiel es ihr leichter, den Höhepunkt zu erreichen. Plötzlich fiel mir ihr Tod ein, ich sah ihren zerschmetterten Körper vor mir auf der Erde. Obwohl es damals nicht geregnet hatte, schien er naß zu sein. Am gleichen Abend ging ich zu Fuß in das Viertel um die Rue Saint-Denis, um die schwarze Nutte aufzusuchen. Ich stellte mir ihre sinnlichen Lippen vor, doch ich konnte sie nirgendwo entdecken. Meine sexuelle Spannung wurde unerträglich. Da ich keine andere Frau fand, die einen aufreizenden Mund hatte, ging ich in das nächstbeste Haus und masturbierte. Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein, daß ich die Achselhöhlen der L. und ihren Körper, der im allgemeinen unter einer Djellaba verborgen war, gesehen hatte. Ich war ganz verzweifelt und wußte nicht, ob ich es aushalten würde, solange zu warten, bis ich die L. wieder häufiger sehen konnte, wie es im Sommer ja der Fall gewesen war. Dazu war erforderlich, daß Bowie und sein Vater und die Dame unter mir verreisten.
Gerade als ich diese Überlegungen anstellte, bot sich mir die Gelegenheit, sie zu sehen. Er schritt über den Verbindungsgang, die Zigarettenspitze im Mundwinkel, und zog seine Jacke aus. Darunter trug er einen feinmaschigen engen Pullover, und ich muß zugeben, daß er eine hervorragende Figur hatte, was mir immer wieder von neuem auffiel. Ich rechnete damit, die L. erst am nächsten Tag zu sehen. Es wurde Nacht, und ihre Vorhänge waren nur einmal kurz von der Farbigen geöffnet worden. Während ich mich ankleidete um in die Bar zu gehen, warf ich immer wieder einen Blick auf ihr Fenster und erwartete etwas Unvorhergesehenes. Ich hatte eine gute Vorahnung, denn es geschah tatsächlich etwas Besonderes. Der Mann trat ans Fenster und blickte zum Himmel auf, vielleicht wollte er wissen, ob es zum Regnen kommen würde, doch es war schon zu dunkel, um das feststellen zu können. Als er sich wieder abwandte, entdeckte ich, daß der Vorhang am Fensterriegel hängengeblieben war. Ich klammerte mich an meine Jalousette und hielt den Atem an: Dann sah ich das Hinterteil der L. nichts anderes. Sie kniete auf dem Boden, hatte sich nach vorn gebeugt, genau wie das erste Mal, doch dieses Mal blieb der Mann unsichtbar. Erst später dachte ich an ihn, als ich in meiner Bar saß, auf dem Klavier klimperte und versuchte, mir erneut diese Szene vor Augen zu führen, von der ich nur ein Bruchstück mitbekommen hatte. Doch das spielte keine Rolle. Mich beherrschte einzig und allein der Gedanke an dieses Hinterteil im rötlichen Lampenlicht. Ich nahm die Spur des dritten Mannes auf, als er die L. verließ. An der Place de la Bastille stieg er in ein Taxi, das ihn zu einem Hotel in einer ruhigen, bürgerlichen Straße fuhr. Ich ging auf dieses Gebäude zu, das halb durch eine Mauer, hinter der sich ein Garten mit großen Bäumen befand, verdeckt wurde. Da die Tür verschlossen war, warf ich einen Blick durch die Fenster. Das
Haus hatte zwei Flügel und war in drei Wohnungen aufgeteilt. An den Fenstern rührte sich nichts. Nachdem der blonde junge Mann gerade im Haus der L. verschwunden war, platzte Simon bei mir herein. Ich bat ihn, sich in Zukunft telefonisch anzukündigen. Er wurde sogleich aggressiv. Zum Glück war es Zeit, daß ich aus dem Haus ging, um meine Arbeit in der Bar aufzunehmen, und das diente mir als Vorwand, mich ins Bad zurückzuziehen, nachdem ich ihm etwas zu trinken angeboten hatte. Ich rauchte, trank ein Bier auf dem Badewannenrand und hoffte, er würde sich beruhigen. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war er wieder guter Laune. Wir tranken einen Schluck, und Simon begleitete mich zur Bar. Er setzte sich an einen Tisch in meiner Nähe und ließ mich nicht aus den Augen. Da er auch während des Wegs recht schweigsam gewesen war, wußte ich, daß ihm etwas durch den Kopf ging und daß er mich bestimmt auf unsere Plattenaufnahme ansprechen würde, was er seit damals, als ich mich geweigert hatte, weiterzuarbeiten, zwei- bis dreimal getan hatte. Als ich mich zu ihm an den Tisch setzte, um eine Pause einzulegen, sagte er auch wirklich, er verstehe nicht, was mich daran hindere, unsere Arbeit fortzusetzen. Am nächsten Tag tauchte er gegen Mitternacht in der Bar auf, wo mich bereits Louis in Ermangelung einer Frau aufgesucht hatte. Da sich die beiden nicht kannten, stellte ich sie einander vor, doch Simon bemühte sich nicht, höflich zu sein und ging bald wieder. Louis machte eine Bemerkung über ihn, die ich für einen Scherz hielt, und erst dann, als ich mich an Simons starkes Interesse für den jungen Besucher der L. erinnerte, ging mir auf, daß er sich für Männer interessieren könnte. Als ich wieder zu Hause war, fand ich es unerträglich, daß der Hof so dunkel und ausgestorben war. Ich rief die beiden Gelegenheitslesben an und bat sie zu kommen. Als die eine vor der Tür stand ersuchte ich sie, sich nicht auszuziehen, nur ihren Schlüpfer abzustreifen. Sie stützte sich auf die Tischkante im Wohnzimmer und hob den Rock. Sie trug einen Strumpfhalter.
Dann spreizte sie ihre Beine, und ich hockte mich vor sie hin und beobachtete, wie sie ihre Schenkel öffnete. Dann kam die zweite, und ich überließ die beiden Frauen ihren Zärtlichkeiten. Sie hatten fast die gleiche schlanke Figur, kleine Brüste, den Körper junger Mädchen. Ihre Gesichter waren Frauengesichter, auf denen sich die ersten Spuren der Müdigkeit zeigten. Louis und ich hatten unser Go-Spiel wieder aufgenommen. Dadurch wurde ich etwas von der L. abgelenkt, was mir sonst nicht gelang, auch dann nicht, wenn ich abends in der Bar für eine bestimmte Frau auf dem Klavier improvisierte, was selten genug vorkam. Ich traf mich mit Louis öfters als früher, weil es mir gefiel, daß er von der extravaganten Schönheit des Körpers der L. so fasziniert gewesen war, daß er Skizzen davon angefertigt hatte. Wir spielten bei mir und saßen auf den Stufen zum Wohnzimmer. Wir spielten auch ab und zu in seiner Küche. Die Bilder in seinem Atelier lagen unter dem Bett, die ganz großen hingen an der Wand und waren mit weißen Tüchern abgedeckt, wie zu der Zeit, als Louis auf Inspiration gewartet hatte. Er sagte: »Ich denke an etwas, aber das ist noch vage.« Eines Nachmittags, als er sich noch die Strategie überlegte, die er anwenden wollte, suchte ich überall in seinem Atelier nach Zigaretten. Viele Blätter lagen herum und auf jedem waren Körper gezeichnet, die an den der L. erinnerten. Ich konzentrierte mich wieder aufs Spiel, und nach dem Spiel fragte ich ihn beiläufig, ob er endlich inspiriert worden sei. Er zeigte mir seine Skizzen, und ich platzte fast vor Neid. Louis liebte zierliche Frauen, die ihn anregten, doch die ungewöhnliche Korpulenz der L. hatte ihn fasziniert und ihr Anblick hatte ihn bewogen, eine Welt voller molliger Frauen zu zeichnen. Doch zum Glück hatte er ein Problem: Die Frauen auf dem Papier hatten nicht die Ausstrahlung, die er sich wünschte. Ich
unterließ es, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß die Skizzen, die ich der L. geschickt und die ich bei mir aufgehängt hatte, genau diese überwältigende Nähe und Ausstrahlung besaßen, die er sich wünschte. Als ich wieder zu Hause war, betrachtete ich die Skizze an der Wand und fand, daß sie viele Qualitäten besaß, doch nichts mehr in mir anrührte. Das beunruhigte mich. Weder vor meinem Weggehen noch nach meiner Rückkehr hatte sich jemand auf dem Verbindungsgang gezeigt. An jenem Abend nahm ich eine Schlaftablette, da mich die Vorstellung, dunkle Fenster zu beobachten, deprimierte. Ich zog die Decke bis zum Hals hoch und beruhigte mich: meine Unfähigkeit, Lust zu empfinden, war darauf zurückzuführen, daß alle Frauen, die L. hätten verdrängen können, eben nicht jenes gewisse Etwas hatten. Am nächsten Tag war ich immer noch deprimiert. Ich nahm die Skizze von der Wand und zerriß sie. Die übliche Ungeduld, die L. endlich zu sehen, blieb an diesem Morgen aus. In meinem Zimmer war es eiskalt. Ich trank einen Brandy, und nachdem ich mich in eine Decke gehüllt hatte, nahm ich unlustig meinen Beobachtungsposten auf dem Hocker ein. Die Farbige trug einen Dreiviertelmantel und einen weiten, hellen Rock, der ihre Knie enthüllte. Sie öffnete die Fensterflügel im Schlafzimmer und Wohnzimmer, und ich wartete, daß sich die Vorhänge ebenfalls öffneten. Über dem Sessel im Schlafzimmer war eine Djellaba ausgebreitet. Das Bett wirkte wie ein weißer Berg. Überrascht stellte ich plötzlich fest, daß darunter die L. schlief. Zwischen dem weißen Bettzeug erkannte ich ihr Gesicht, ihre Hände. Am meisten rührte mich ihr krauses, unfrisiertes Haar. Auf ihrer Haut schienen noch die Ausdünstungen der Nacht zu schimmern. Ich verspürte Lust, meine Zunge darüber gleiten zu lassen. Sie stieß die Decke etwas zurück und enthüllte ihre Schultern. Der Anblick ihrer nackten Haut erregte mich.
Die Erinnerung an diese Bettszene versetzte mich in einen Zustand des Wohlbehagens, der zwei Tage lang anhielt, obwohl ich sie nicht wiedersah. Den Vormittag des dritten Tages vertrödelte ich, fühlte mich aber ungewöhnlich zufrieden. Ich ließ die Stunden verstreichen, ohne einen Fuß aus dem Bett zu setzen. Es war immer noch erbärmlich kalt, da die Heizung endgültig ihren Geist aufgegeben hatte. Simon hatte auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, doch ich reagierte nicht sofort darauf. Ich durchwühlte meine Taschen nach Geld, kleidete mich hastig an und ging zu einem Vietnamesen, bei dem ich mir immer meinen Stoff besorgte. Dann kehrte ich nach Hause zurück. Kurz danach kreuzte Louis auf, dann kamen Bowie und Simon. Wir hielten uns in der Küche auf und wärmten uns am Gasherd, dessen Tür wir offen ließen. Louis erzählte uns, daß die L. krank sei und deshalb bettlägerig. Er habe dies von einem jungen Mann erfahren, der es der Concierge berichtet habe. Simon fragte uns nach der L. Louis beschrieb sie ihm amüsiert, woraufhin Simon einen Blick auf ihr Fenster werfen wollte. Simon erkundigte sich nach dem gutaussehenden blonden jungen Mann und bat Louis, ihn näher zu beschreiben. Ich fing an zu brüllen und gebot dieser widerlichen Aufgeilerei Einhalt. Alle beruhigten sich, und Louis und Simon unterhielten sich und tranken Tee. Ich spitzte die Ohren und paßte auf, ob sie über die L. redeten. Der Himmel verdunkelte sich; in der Stadt gingen die Lichter an. Ich drückte die Nase an die Scheibe und starrte hinaus. Auf dem Boulevard knatterten Motorräder. Ich senkte den Blick, fiel ins Leere, fand keinen Halt an der Glaswand. Schwindel packte mich, ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Ich fiel in mich zusammen, ohne wirklich das Bewußtsein zu verlieren, taumelte, fiel, wurde am Boden zerschmettert und von neuem von Schwindel erfaßt. Ich fiel erneut und lag zerschmettert am Boden. Dieser Vorgang wiederholte sich unzählige Male, wurde von Mal zu Mal entsetzlicher. Der schreckliche Augenblick, wenn
meine Füße den Halt verloren und ich stürzte, ging über in den Schmerz, zerschmettert am Boden zu liegen. Sie erklärten sich meinen Zustand durch die sibirische Kälte, die in der Wohnung herrschte, riefen in der Bar an und entschuldigten mich. Ich hatte mich inzwischen in mein Bett verkrochen, mich aber zuvor einiger kläglicher Listen bedient, damit sie bei mir blieben. Bowie saß auf meinem Bett und blätterte in einem Comic-Heftchen. Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Sie schläft.« Nach kurzem Zögern erzählte er, daß sie nicht allein sei, sondern der Mann an ihrem Bett sitze, von dem vorhin die Rede gewesen sei. Der junge Mann las, und das ließ Bowie vermuten, daß sie schlief, denn er hatte nicht viel von ihr gesehen. Ihr Bettzeug habe sich im Luftzug eines Heizofens bewegt. Am Boden habe ein Buch gelegen. Der junge Mann habe ihm den Rücken zugekehrt und eine Zeitung gelesen. Ein Fuß habe unter der Decke vorgelugt, ein Fuß mit lackierten Zehennägeln. Als Bowie redete, hielt ich die Augen geschlossen. Ich befürchtete, daß er aufhören würde zu reden, wenn ich die Augen öffnete. Zudem konnte ich so besser meinen Fantasien nachhängen. Dann führte ich mir noch einmal alle Details, von denen er berichtet hatte, vor Augen, und die waren so genau, daß ich glaubte, selbst die Szene von dem Verbindungsgang aus zu sehen, in einem Ausschnitt zwischen dem Vorhang und den Fensterpfosten. Von der L. sah ich nur einen Fuß, einen kleinen Fuß mit rotlackierten Nägeln. Später stand ich am Fenster. Ich mußte vorher wohl eingeschlafen gewesen sein, denn meine Uhr zeigte Mitternacht. Ein Geräusch auf dem Verbindungsgang hatte mich aufgeweckt: der blonde junge Mann hob einen Blumenkasten auf, den er heruntergestoßen hatte. Nachdem er die Erde von seiner Hose geklopft hatte, entfernte er sich. Ich beobachtete das Zimmer, in dem Licht brannte. Es fiel Nieselregen, und die Blumenerde auf dem Verbindungsgang schimmerte im Lichtschein. Schließlich ging ich wieder ins Bett, denn ich schlotterte am Fenster. Als eine meiner Decken zu Boden fiel, trieb mich die Kälte aus dem Bett.
Ich ging zur Toilette. Als ich wieder im Schlafzimmer war, blickte ich durch die Ritzen der Jalousette. Der Morgen dämmerte. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als ich auf der Blumenerde Spuren entdeckte, die zuvor nicht vorhanden gewesen waren. Doch aus den Spuren war nicht erkennbar, ob sich jemand der Tür oder einem der Fenster genähert hatte. War es Bowie gewesen, der die L. von neuem beobachtet hatte? War der blonde junge Mann zurückgekehrt? Wenn es tatsächlich seine Spuren waren, mußte er einen sehr triftigen Grund gehabt haben, um zurückzukehren, überlegte ich. Vielleicht waren es aber auch die Spuren eines Unbekannten. Doch was hatte jemand zu so ungewöhnlicher Zeit hier verloren? Waren das die Spuren des dritten Mannes, des Mannes mit dem Hut? Ich erinnerte mich, ihn bereits im Morgengrauen auf dem Verbindungsgang gesehen zu haben. Die Spuren waren nicht eindeutig zu identifizieren: Sie konnten sowohl von einem Mann, einem Kind oder einer Frau stammen, auf jeden Fall von jemandem, der zwischen drei Uhr – zu der Zeit, als ich wohl das erste Mal eingeschlafen gewesen war – und sechs Uhr, als ich die Spuren entdeckte, sich auf dem Verbindungsgang aufgehalten haben mußte. Es bestand auch noch die Möglichkeit, daß die L. selbst auf dem Verbindungsgang gewesen war. Doch was hätte sie da tun sollen, da sie doch krank war und das Wetter schlecht? Wenn die Spuren einem Besucher der L. gehörten, dann mußte dieser wohl noch bei ihr sein. Ich hüllte mich in meine Decken und beobachtete. Seit den frühen Morgenstunden funktionierte die Heizung wieder. Ich ließ mich von der wohligen Wärme einhüllen und versuchte, die Augen offenzuhalten. Als ich die Farbige sah, wußte ich, daß ich mich umsonst bemüht hatte: noch nie war ein Mann bis zu ihrem Eintreffen geblieben. Die folgenden Nächte verbrachte ich auf meinem Hocker. Nach meiner Rückkehr aus der Bar bezog ich hier Stellung und wich nicht vor dem Erscheinen der Farbigen. Dann verfiel ich meist in einen leichten Schlaf.
Während des Besuchs des dritten Mannes entdeckte ich im Lichtschein eine nackte Wand, die Kante eines Nachttisches und Kleider auf dem Boden. Und ich sah auch L. befand mich jedoch in diesem Augenblick in einem schläfrigen Wachzustand. Sie trat ans Fenster. In ihrem Zimmer war es dunkel, und die Lampe über ihrer Haustür, die den Verbindungsgang beleuchtete, warf ein verschwommenes Licht auf ihr Gesicht am Fenster. Ich entdeckte sie erst, als sie sich brüsk umwandte. Der Gedanke, daß Louis die L. malte, quälte mich: Oft stellte ich mir während meiner Wachen vor, wie sich ihr Körper auf der Leinwand vervielfältigte und wie ich sie dadurch immer mehr verlor. Es war, als ob sie durch die Vervielfältigung ihre Substanz verliere, die sie so einmalig für mich machte. Louis hatte sich schon mehrmals darüber beklagt, daß es ihm nicht gelinge, ihre Präsenz mit dem Stift einzufangen. Ich beschloß, ihn zu überraschen, doch er war unfähig gewesen zu arbeiten, und ich empfand Erleichterung darüber. Am nächsten Morgen bat er mich, in seiner Küche auf ihn zu warten, er wolle nur noch kurz in sein Atelier gehen. Ich hörte, wie er sein Modell aufforderte, in der Stellung zu verharren. Als er das Mädchen fortgeschickt hatte, spielten wir Go. Dann ging ich wieder, damit er weiterarbeiten konnte. Es beruhigte mich, daß Louis die L. mit keinem Wort erwähnte. Somit war ich nicht auf den Schock gefaßt, den ich erlebte, als ich ihn eines Nachmittags aufsuchte. Ich kam früher als ausgemacht, damit ich genügend Zeit hatte, Go mit ihm zu spielen. Camille saß ihm Modell. Fast hätte ich sie nicht erkannt, da sie mir den Rücken zukehrte und die Haare jetzt kurz trug. Doch ich hätte sie an dem plötzlichen Herzklopfen, das ich bei ihrem Anblick bekam, erkennen müssen. Über einen Stuhl war ein langer, weiter Rock gebreitet, den ich kannte.
Ich floh in die Küche. Louis folgte mir und sagte, ich solle zu ihnen ins Atelier kommen; sie seien bald fertig. Doch ich schützte eine plötzliche Migräne vor und ging wieder. In dieser Nacht und am nächsten Morgen sah ich die L. nicht. Nachmittags ging ich wieder zu Louis. Er fiel mir auf die Nerven, da er ständig zwischen der Küche und dem Atelier hin und herpendelte. Camille fungierte jetzt als Aktmodell. Ich versuchte, bei ihrem Anblick Erregung zu spüren, doch vergeblich. Ihr Körper reizte mich genauso wenig wie damals, als sie zu mir gekommen war und sich ausgezogen hatte. Am nächsten Tag fand ich ihre Stellung aufreizend, obwohl diese Wirkung von Louis nicht beabsichtigt war, der sie unter einem anderen Gesichtspunkt malte. Durch die großen Glasfenster des Ateliers drang Licht, das ihren hocherhobenen Kopf und ihre Arme in Schatten tauchte. Ihr Körper rührte mich, da er niemandem zu gehören schien. Als Louis mich entdeckte, bat er mich ins Atelier. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie veränderte jetzt ihre Position. Zuvor hatte sie den Kopf mir zugewandt und konnte mich beobachten, ohne daß ich es bemerkte. Das war mir nachträglich äußerst unangenehm. Am nächsten Tag ging ich wieder ins Atelier und setzte mich in einen Sessel, den Lotus immer bevorzugt hatte. Ich rückte ihn so weit wie möglich von Louis und Camille weg, an eine Stelle, die durch einen riesigen chinesischen Wandschirm abgeteilt war. Mein Freund erklärte mir, er habe nur wenig Zeit. Er glaubte wohl, die Spielleidenschaft habe mich hergetrieben. Als er merkte, daß ich nicht die Absicht hatte, ihn zu stören, sagte er zu mir, daß ich mich ganz zu Hause fühlen solle. Ich behielt meinen Platz in dem Sessel bei und rührte mich erst, um Tee zu machen. Das riesige Atelier war nicht warm zu bekommen. Wenn man unbeweglich verharrte, konnte man sich noch den Tod holen, vor allem die nackte Camille. Sie schlüpfte in ihre Wolljacke und trank den heißen Tee, den ich ihr servierte.
Da Louis nichts weiter sagte, vermutete ich, daß er vergessen hatte, daß ich ihm früher einmal von meiner Bekanntschaft mit Camille erzählt hatte. Am Tag zuvor hatte er uns einander vorgestellt. Sie hatte sich mir zugewandt, und wir hatten uns mit einem Kopfnicken begrüßt, ohne ihm zu sagen, daß wir uns ja bereits kannten. Im Atelier war es ruhig. Von draußen drang kein Geräusch herein. Wenn Louis eine Pause machte, beklagte Camille sich über die Kälte. Beide boten mir dann an, mich in die Bar zu begleiten, doch ich wehrte mich heftig dagegen. Was mich zu Camille trieb, war einzig und allein mein pervertiertes Verlangen. Ich hatte nicht die Absicht, eine andere Beziehung mit ihr einzugehen. Eines Abends hatte ich sie nämlich dabei ertappt, wie sie mir einen verliebten Blick zuwarf. Das durfte nicht sein… In den nächsten Tagen ging ich täglich zu Louis. Wenn ich nicht bei ihm im Sessel des Ateliers saß oder auf dem Barhocker, dann nahm ich meinen Platz auf dem Hocker meines Schlafzimmers ein und beobachtete die L. Ich befand mich in einem Dauerwachtraum. Manchmal schlief ich sogar ein, wenn ich Camille und Louis beobachtete, der ihren nackten Körper malte. Stundenlang verharrte sie in der von Louis gewünschten Stellung. Er war mit Camille zufrieden, aber nicht mit seiner Arbeit, ärgerte sich, daß es ihm nicht gelang, seine Vorstellung auf die Leinwand zu bannen. Wenn er darüber deprimiert war, ermutigte ich ihn, aber, um ehrlich zu sein, es war mir egal, denn nur zwei Dinge waren mir wichtig: Erstens, daß er nicht die L. malte, die er im übrigen nie mehr erwähnte, und zweitens, daß mir der Anblick von Camilles Hinterteil eine gewisse Erleichterung erschaffte, da ich die L. so selten sah. Camille, die sich von mir beobachtet fühlte, gefiel es zu posieren. Ich erkannte das am Zittern, das ihren Körper durchlief und das Louis auf die Kälte zurückführte. Louis fand sie geduldig und stoisch. Als die Außentemperatur immer kälter wurde und das Atelier entsprechend unterkühlt war, fürchtete Louis um Camilles
Gesundheit und befahl ihr, sich anzuziehen; er malte sie jetzt nicht mehr nackt. An jenem Abend trennten wir uns wegen der Kälte früher als sonst. Als ich am Boulevard de la Bastille parkte, stieß ich auf den blonden jungen Mann, der vor dem Hauseingang stand. Ich kam ihm zuvor und nahm immer zwei Stufen auf einmal, als ich die Treppe hinauf eilte. Als ich vor meiner Jalousette stand, sah ich ihn im Haus der L. verschwinden. Kurz danach trat er ans Fenster ihres Schlafzimmers, verharrte einen kurzen Augenblick und zog dann die Vorhänge zu. Am nächsten Tag ließ mich Louis mitten in einer Sitzung mit Camille allein, um seine Farbtuben zu suchen, die ich vor zwei Tagen hatte verschwinden lassen. Camille war in einen schwarzen Umhang gehüllt und blickte zum Fenster hinaus. Ich bat sie, mir den Rücken zuzukehren, die Beine leicht zu öffnen und sich nach vorn zu beugen. Ich sagte, sie müsse sich beeilen. Sie gehorchte mir mit anmutigen Bewegungen. Dann zog sie ihren Umhang hoch, und ich sah nun ihre Beine und ihr Hinterteil, das von dem einfallenden Licht eingehüllt wurde. Der Anblick von Camilles Hinterteil versetzte mich in immer unerträglichere Spannung, denn es war mir nicht möglich, die L. an Camilles Stelle zu setzen. Ich verspürte Lust, sie zu schlagen, und hielt mich am Sessel fest, um nicht in Versuchung zu geraten, den Arm gegen sie zu erheben, denn ich war voller Aggressivität. Camille zog sich wieder an, und der Umhang enthüllte lediglich ihre Fesseln, die durch die Kälte und Unbeweglichkeit blau angelaufen waren. Als Louis zurückkehrte, tat ich so, als ob ich schliefe. Der dritte Mann brachte einen Store mit, den er am Schlafzimmerfenster anbrachte. Er zog ihn zu und ließ die Vorhänge offen. Als die L. abends das Licht anmachte, erschien sie mir wie durch einen Filter – was mir gefiel. Simon hatte an einem Festival für klassische Musik teilgenommen. Da ihm die Leute dort durch ihre Geschwätzigkeit auf die
Nerven gegangen waren, war er für sich geblieben und hatte genügend Zeit zum Nachdenken gehabt. Dabei hatte er darüber nachgedacht, was mich wohl bewogen haben mochte, unsere gemeinsame Arbeit nicht fortzusetzen. Als wir uns wiedersahen, kam er sofort auf dieses Thema zu sprechen. Da ich mich verschloß, berichtete er von der Brandung, die gegen die Felsen schlug. Dann fragte er nach dem blonden jungen Mann und wollte wissen, in welchem Stock die L. wohnte. Ich sagte ihm, ich hätte keine Lust, mich über den jungen Mann zu unterhalten und wunderte mich über seine Neugier. Er erwiderte: »Erinnere dich an die Haut des jungen Mannes, die nach Frau roch.« Nachdem er gegangen war, wartete ich auf den Einbruch der Nacht. Zuerst wurde die Lampe neben dem Bett angemacht, dann die Stehlampe, die ein grün-orangenes Licht verbreitete. Der Mann hatte seinen Hut abgenommen. Er war im Hemd und legte sich neben die L. Sie hatte die Haare nach hinten gekämmt, und ihr Gesicht wirkte dadurch noch kleiner und blasser zwischen den Kissen. Später schloß der Mann die Vorhänge aus schwerem roten Stoff. Nachdem der Store angebracht war, bekam ich noch mehr Lust am Beobachten. Ich wartete auf die Nacht, damit ich sie im Schein der Lampen in ihrem Schlafzimmer deutlicher erkennen konnte als tagsüber, wenn sie am Fenster stand: ich bildete mir dann ein, sie werde allein mir zuliebe von dem Licht eingehüllt. Die Obstschale war voller Früchte, und eine Teekanne hatte den Krug vom Sommer ersetzt. Manchmal blätterte die L. in einem großen Buch, das einen Einband aus fluoreszierendem Blau hatte. Ich vermutete, daß es sich dabei um ein Fotoalbum handelte und stellte mir vor, daß sie die Fotos aus der Zeit, als ihr Körper noch nicht so aufgebläht und sie noch nicht gezwungen gewesen war, sich immer öfters hinzulegen, studierte. Oder vielleicht betrachtete sie auch das Bild eines Mannes, der in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatte. Vielleicht des Mannes mit dem Koffer, den die Farbige abgewiesen hatte, oder des Unbekannten, der seine Spuren in der Blumenkastenerde hinterlassen hatte?
Es sah nach Schnee aus. Die L. hatte den ganzen Tag Licht, genau von dem Augenblick an, als die Farbige ihr die Teekanne gebracht hatte. Die Vorhänge waren auf eine Seite gezogen und durch den Store sah ich, wie die Farbige ihre Herrin kämmte. Die streichelte inzwischen die Katzen, neckte sie und zog sie unter ihre Bettdekke, wenn sie versuchten, Reißaus zu nehmen. Obwohl ich Simon außerhalb von Paris wähnte, da er mir gesagt hatte, daß er einen Käufer für das Haus seiner Mutter gefunden habe, bildete ich mir ein, ihn gesehen zu haben, als er das Haus der L. verließ. Doch ich war mir nicht ganz sicher, zumal das Auto, in das er einstieg, nicht das seine war. Zwei Tage später traf ich ihn auf der Treppe. Ich rannte hinunter, weil ich zu spät dran war, und stieß auf dem ersten Treppenabsatz mit ihm zusammen. Er begleitete mich zur Bar. Als er plötzlich verschwunden war, ohne sich von mir zu verabschieden oder sein Glas auszutrinken, hatte ich das ungute Gefühl, daß er sich über mich lustig machte und daß es sehr wohl er gewesen war, der die L. besucht hatte, in dem Glauben, ich sei schon weg. Dieser Verdacht raubte mir zwei Nächte lang den Schlaf. Ich vernahm Geräusche auf dem Verbindungsgang, doch ich blieb im Bett. Ich hörte die Schritte der Farbigen, hörte, wie sie die Läden öffnete. Gegen Mittag entfernte sie sich wieder. Dann hörte ich einen Mann husten, vermutlich handelte es sich um den Mann mit dem Hut, denn es war sein Tag. Ich blieb im Bett, und wenn ich nicht hätte zur Arbeit gehen müssen, wäre ich dort geblieben. Als ich Feierabend hatte, deprimierte mich der Gedanke an meinen Hocker vor der Jalousette und gegen meine Gewohnheit hing ich herum, während der Besitzer die Abrechnung machte. Dann ging ich in eine Bar in meinem Viertel und spendierte zwei Prostituierten Drinks. Die eine der beiden, die eine angenehme Stimme hatte, machte mir eindeutige Anträge, doch auch wenn
ich gerne mit ihr geschlafen hätte, wäre ich zu betrunken gewesen, um ihr zu folgen. Gegen Morgen nahm ich mir ein Taxi und hielt mich am Geländer fest, als ich die vier Stockwerke zu meiner Wohnung hochtorkelte. Ich wachte rechtzeitig auf, um zur Bar zu gehen. Und wieder fühlte ich Beklemmung, als es Zeit wurde, meine Wohnung aufzusuchen. Ich fuhr mit dem Auto kreuz und quer durch Paris und läutete schließlich bei Louis, der nicht gerade heiter wirkte. Obwohl er die Leinwand voller nackter, fülliger Frauen hatte, war er mit seiner Arbeit nicht vorangekommen, da Camille ihn versetzt hatte. Sie sagte, sie sei krank, woran er zweifelte, doch begriff er nicht, weshalb sie ihn im Stich gelassen hatte. Während er uns in der Küche einen Drink bereitete, verspürte ich den Impuls, Camille anzurufen, doch ich sagte Louis nichts davon. Als sie eine halbe Stunde später läutete, betrachtete er ihr Erscheinen als Wunder und flüsterte mir zu, ich bringe ihm Glück. Louis hatte keine Lust zu malen und gab vor, das Licht sei zu schlecht. Doch ich drängte ihn, während Camille sich entkleidete. Ich sagte, er vergebe sich nichts, wenn er einen Versuch wage, und arrangierte das Licht so, daß Camilles Körper in weißes, blaues und grünliches Licht getaucht war, was ihm ein leicht tragisches Aussehen verlieh. Dann zog ich mich wieder in meinen Sessel im Atelier zurück, schlief ein und träumte von einer Frau. Sie war mit einem Seil an einen Baum gefesselt. Ein Mann, von dem ich nur die Hände sehen konnte, umfaßte einen ihrer Knöchel und fesselte ihn an einen kleineren Baum zu ihrer Rechten. Er zögerte und fesselte dann den anderen Knöchel an einen Baum zu ihrer Linken. Ihre Schenkel waren jetzt geöffnet. Die Frau war nackt. Sie hatte das Dreiecksgesicht der L. und deren Körper, den ich sonst eigentlich nicht als Ganzes sehen wollte. Er bestand aus den Teilen, die ich bei der L. gesehen hatte, und denen, die ich mir vorstellte. Sie waren mit dem gleichen feinen roten Seil, mit dem die Frau an die Bäume gefesselt war, zusammengefügt.
Nachdem ich erwachte, vergaß ich diesen Körper innerhalb von wenigen Minuten. Camille bot mir Tee an und lächelte, da sie meinen verzückten Gesichtsausdruck sich zuschrieb, was mich aufbrachte. Ich wandte mich von ihr ab und sagte, ich habe geträumt. Sie war überrascht. Louis, der nichts ahnte, fing eine Diskussion über die Lichtverhältnisse an, unter denen er gerne gemalt hätte. Camille wartete, daß ich mich dazu äußere. Ich hatte Angst, sie würde nicht mehr zu Louis kommen, wollte aber auch nicht, daß sie sich über meine Gefühle täuschte. Und als Louis mich bat, sie zu überreden, trotz ihrer Müdigkeit nachts für ihn Modell zu stehen, gab ich zu verstehen, daß ich bereit wäre, mich dann jeweils um das Licht zu kümmern. All die Tage und Nächte versuchte ich, Herr über meine Ängste zu werden, die immer dann von mir Besitz ergriffen, wenn ich eine bestimmte Klarsicht gewann und mir meiner Unvernunft bewußt wurde. Wenigstens teilte ich mir meine Zeit so ein, daß kaum Zeit für meine Schwächen blieb. Meist saß ich aber trotzdem von früh an auf meinem Beobachtungsposten hinter dem Fenster und wartete auf den Einbruch der Nacht, der bald kam – es war immerhin Winteranfang – und wartete darauf, daß die L. das Licht anmache. Ich verharrte so lange auf meinem Hocker, bis ich zur Bar mußte. Wenn ich bei Louis und Camille war, versuchte ich in ihrer Gegenwart meinen Traum wiederzufinden, schlief ein und wurde am anderen Morgen entweder von Louis geweckt, der die ganze Zeit gemalt hatte und ausgiebig gähnte, oder von Camille, die mir eine Tasse Tee brachte. Ich vermutete, daß sie glaubte, ich tue nur so, als ob ich schlafe und daß ich sie aus halbgeschlossenen Lidern beobachtete. Die L. saß auf dem Boden und war mit einem dünnen roten Seil an einen Baum gefesselt. Das war das Ausgangsbild, das ich sofort wieder vor mir hatte, wenn ich mich in den Sessel im Atelier setzte. Sie war nackt, obwohl ich in Wirklichkeit nur ihre
Vagina sah und ihr Dreiecksgesicht mit dem starren, blicklosen Ausdruck. Ich ergriff einen ihrer Knöchel und band ihn an einen kleinen Baum zu ihrer Rechten. Dann nahm ich den anderen, und von da an sah ich nur noch ein verschwommenes Bild. Also fing ich wieder von vorne an, immer wieder. Ich versetzte die kleinen Bäume, setzte sie auf die gleiche Linie wie den großen. Es gelang mir nie, ihren Körper ganz zusammenzusetzen, so wie er mir im Traum erschienen war. Ich versuchte auch ihn zusammenzufügen, wenn ich wieder in meinem Schlafzimmer saß, nachdem ich vorher in Louis Atelier gewesen war, um ihm beim Malen zuzusehen, damit meine Fantasie wieder Nahrung erhielt. Da es mir nicht gelang, meinen Vorstellungen Leben zu verleihen, verkroch ich mich unter meiner Decke oder setzte mich auf meinen Hocker, um mich meinen Träumereien hinzugeben. Seit Monaten waren es die gleichen: Erinnerungen an meine visuellen Erfahrungen, vor allem an das Hinterteil der L. und an ihre dunklen, krausen Achselhaare. Im allgemeinen fiel mir das Träumen leicht. Wenn ich nicht zu lange wach gewesen war und nicht zu aktiv, konnte ich ein Bild festhalten. Seit Monaten gab ich mich Wachträumen hin. Doch jedes Geräusch ließ mich hochschrecken: Simon mußte wohl gekommen sein. Im Grunde meines Herzens wünschte ich mir, daß mich seine Anwesenheit in dem Haus gleichgültig lasse, da ich ihn ja doch nicht daran hindern konnte. Ich wunderte mich, daß ich nichts von ihm hörte und fragte Bowie, ob er ihn gesehen habe oder ob er ihn in der Nacht, als ich nicht zu Hause war, oder sonst irgendwann entdeckt habe, auf der Treppe, auf dem Verbindungsgang. Ich ertappte mich selbst dabei, daß ich alle roten Wagen, die draußen geparkt hatten, untersuchte. Seit drei Tagen war Simon wieder im Lande, doch ich hätte weder auf seinen Anruf auf meinem Anrufbeantworter reagiert, noch auf seine Einladung zu einem Konzert. Das war ungewöhn-
lich, denn unter normalen Umständen wäre das nicht vorgekommen. Als er bei mir läutete, öffnete ich ihm nicht. Er blieb kurz am Treppenabsatz stehen und blickte zu meinem Fenster hoch. Als er die Treppe hinunterging, läutete er bei Bowie. Zuvor war er in der Bar gewesen, hatte mich aber nicht angetroffen, denn ich war heute abend zu Hause geblieben. Eine Art unruhige Erschöpfung hatte mich erfaßt, seitdem ich ihn verdächtigte, sich im Haus herumzutreiben, vielleicht um den jungen Mann abzupassen – oder um die L. zu besuchen. Dieses Unbehagen, das mich quälte, ließ mich tagelang nicht mehr los. Es ging mir nur besser, wenn ich im Atelier war oder wenn sich die roten Vorhänge öffneten. Am nächsten Tag entdeckte ich Bowie und die Katzen auf dem Treppenabsatz zwischen dem dritten und vierten Stock. Da Bowie mit keinem Wort Simons Besuch erwähnte, vermutete ich, daß er etwas vor mir verbarg, vielleicht einfach die Tatsache, daß er selbst auf dem Verbindungsgang herumlungerte. Als ich etwas später in die Bar ging, erfuhr ich, daß ich gefeuert war. Eine junge Frau hatte meinen Platz am Klavier eingenommen. Ich ging in ein Bistro nebenan und kippte ein paar Gläser in mich hinein. Dann verzog ich mich nach Hause und betrank mich mit einer Flasche Whisky. Ich sagte mir, daß es Simon – und vielleicht auch Bowie – nicht wagen würden, sich dem Verbindungsgang zu nähern, wenn sie mein Fenster mit hochgezogener Jalousette sahen. Also ließ ich die Jalousette herunter, machte aber kein Licht und holte den Schlüssel, den ich für Bowie unter die Matte gelegt hatte, verbarrikadierte mich im Abstellraum und rührte mich nicht von der Stelle, auch dann nicht, als es mehrere Male an der Tür klopfte. Vermutlich waren die Läden wegen der niedrigen Außentemperatur geschlossen, nicht nur die im Schlafzimmer, sondern auch die im Wohnzimmer. Im Hof rührte sich nichts. Der Mann mit dem Hut verließ die L. erst sehr spät. Ich schlief auf dem Teppichboden im Wohnzimmer. Als ich aufwachte, zog ich mich wieder in den Abstellraum zurück und nahm einen Kasten Bier
mit. Ich war zutiefst unglücklich, weil ich das unbestimmte Gefühl hatte, daß mich alle verrieten. Nicht nur Simon und Bowie, nein, alle, auch der Barbesitzer, obwohl ich bei der Vorstellung, daß ich wieder mehr Zeit zum Beobachten zur Verfügung haben würde, fast so etwas wie Erleichterung empfand. Doch war ich voller negativer Gefühle. Weshalb verspürte Louis beim Anblick der L. den Wunsch, füllige nackte Frauen zu malen? Und weshalb warf mir Camille verliebte Blicke zu, obwohl ich sie nur darum gebeten hatte, mir ihr Hinterteil zu zeigen, damit ich mir das der L. wieder besser vorstellen konnte? Als sie ans Fenster trat, wurde es Nacht. Die Lampe, die den Verbindungsgang erhellte, brannte nicht, doch ihre Nachttischlampe war an. So hatte ich die L. im Gegenlicht vor mir und konnte ihr Gesicht nur verschwommen sehen. Ihre Figur wirkte, wahrscheinlich wegen des Lichts, erschreckend, da sie so anders aussah als sonst. Die L. hatte den Store beiseite gezogen und die Lampe angemacht, die grünes und orangenes Licht verbreitete. Die Farbige nahm die Wäsche, die sie am Vortag auf der Leine aufgehängt hatte, ab und blickte zu meinem Fenster hoch. Große Schneeflocken fielen auf ihr Kraushaar, doch sie achtete nicht darauf. Als sie die L. gegen Mittag verließ, blickte sie zum düsteren grauen Himmel hoch, der Schnee bedeckte den Sand, die Zementsäcke und das Gerüst um das Wohngebäude, das langsam und in Intervallen errichtet worden war und dessen Bau man vor einigen Tagen eingestellt hatte. Kurz danach stieß der dritte Mann die Fensterflügel auf. Auch er bemerkte mein nacktes Fenster, ließ den Blick über die Fassade schweifen und auf meinem Fenster verweilen. Dann zog er die Vorhänge zu. An der Seite drang etwas Licht heraus, doch man konnte im Zimmer nichts erkennen. Seit dem Sommer war es mir zur Gewohnheit geworden, zu beobachten, wie die L. die roten Vorhänge zuzog.
Heute erschien mir das unerträglich. Meine innere Spannung war so groß, daß ich es nicht mehr aushielt, auf meinem Hocker zu thronen und zu warten, daß der Mann sich zurückzog und zu sehen, wie er der L. von unten zuwinkte. Ich kletterte so ungeduldig herunter, daß ich stürzte und aufs Steißbein fiel. Dann wanderte ich durch die Wohnung, blieb kurz am Fenster stehen, um die Umrisse des Eiffelturms zu betrachten, der sich in der Abenddämmerung gegen den Himmel abzeichnete. Jedesmal, wenn ich mich meinem Schlafzimmer näherte, verspürte ich das Verlangen, hineinzugehen, doch etwas zwang mich, umzukehren. Doch schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ich stürzte hinein, preßte mein Gesicht an die Scheibe, hatte dabei aber ein eigenartiges Gefühl. In dem Zwischenraum zwischen Vorhang und Fensterrahmen entdeckte ich zwei Paar nackte Beine. Die L. lag wohl ausgestreckt auf dem Bett und ließ die Beine seitlich herunterbaumeln. Der Mann stand aufrecht; ich sah nur seine Beine, der Oberkörper war durch den Vorhang verborgen. Ich klebte mit dem Gesicht immer noch an der eiskalten Scheibe und rieb meinen schmerzenden Unterleib an der Mauer. Der nächste Tag war der Tag des jungen Mannes. Die Vorhänge blieben zugezogen, auch als die Farbige kam und später dann er. Ich verließ meinen Beobachtungsposten und ging hinunter, um Simon zu erwischen, sofern er sich hier herumtrieb. Dann nahm ich meinen Wagen und fuhr zu Louis, der an den Bildern arbeitete, für die Camille Modell gestanden hatte. Camille kam nur noch ab und zu bei ihm vorbei. Oft wartete Louis die halbe Nacht auf sie, obwohl sie versprochen hatte, zu kommen. Wenn sie wirklich kam, zeigte sie weniger Geduld und Begeisterung als sonst. Die Nerven meines Freundes waren genauso zerrüttet wie meine, und ich verließ ihn bald wieder. Als ich auf der Türschwelle stand, fragte er mich: »Weshalb machst du dich so rar?« Ich faselte etwas von einer Terminarbeit. Als ich die Treppe hinuntereilte,
rief er mir nach: »Vielleicht ist sie deinetwegen gekommen? Was meinst du?« Ich suchte eine bekannte Bar auf, doch die Frauen, die ich gewöhnlich hier antraf, waren heute nicht anwesend. Ich trank im Stehen und rief die beiden Gelegenheitslesben an, die mich fröhlich empfingen. Sie boten mir eine Pfeife an. Der Rauch den ich einsog, und der Anblick ihrer Zärtlichkeiten beruhigten mich. Doch das hielt nicht lange an, und so begab ich mich auf die Suche nach einer Frau. Ich zog in der Stadt umher, verweilte in den entsprechenden Bezirken, sah mich in Bars um, die ich gleich wieder verließ: Doch was mir im allgemeinen an den Prostituierten gefiel, blockierte heute abend mein Verlangen. Als ich gegen zwei Uhr morgens zwei Mädchen hinterherblickte, die ein Taxi riefen, wäre ich fast auf einen anderen Wagen aufgefahren. Eine Frau stieg aus. Sie war betrunken und ihr flackernder Blick rührte mich. Ich drängte sie zu meinem Wagen, faßte unter ihren Pelzmantel und schob ihren Rock hoch. Sie ließ mich gewähren, stammelte Worte ohne Sinn. Als ich sie losließ und mir an meiner Hose zu schaffen machte, schwankte sie. Ich konnte sie gerade noch mit dem Knie auffangen. Ihre Schenkel waren weich, ihr Schamhaar seidig. Als ich es berührte, schrie ich vor Lust. Kaum hatte ich meine Wohnung betreten, da läutete das Telefon. Camille stellte mir die gleiche Frage: »Weshalb kommst du nicht mehr ins Atelier?« Sie redete mit der leisen, schüchternen Stimme, die ich in Louis Anwesenheit noch nie bei ihr bemerkt hatte. Ich stellte mir vor, was wohl die L. für eine Stimme hatte; vermutlich eine tiefe, volle. Ich sagte ihr nicht, weshalb ich nicht mehr bei Louis aufgetaucht war, und empfand Schuldgefühle, als ich ihren schweren Atem am anderen Ende der Leitung vernahm. Dann überlegte ich, daß sie mir noch nützlich sein konnte und versprach ihr, was ich sofort wieder bedauerte, daß ich am nächsten Tag ins Atelier kommen würde. Wie üblich hatte ich den Schlüssel beim Weggehen unter die Matte gelegt. Als ich das Telefongespräch beendet hatte, entdeck-
te ich im anderen Zimmer Bowie, der auf dem Boden eingeschlafen war. Ich holte zwei Decken und machte es mir neben ihm bequem. Frühmorgens schreckte ich durch einen Alptraum hoch. Draußen wütete ein Gewitter. Zwischen den Türmen von NotreDame und dem Kai, wo der Wind an den Booten rüttelte, erhellten Blitze den düsteren Morgenhimmel. Ich dachte an die A. aus B. und an ihr grünes Seidenkleid, das sie wie ein Reptil erscheinen ließ. Mir kamen die Tränen, doch als sich Bowie im Schlaf bewegte, unterdrückte ich meine Rührung, damit er mich, wenn er die Augen aufschlug, gefaßt sah. Die L. trug eine Djellaba aus schillerndem Stoff. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Der Himmel und der Hof dämmerten Grau in Grau. Als sie die Arme hob, sah ich ihre dunklen Achselhöhlen. Meine Ungeduld, die L. zu sehen, wurde durch das Versprechen, das ich Camille gegeben hatte und das ich nicht halten wollte, beeinträchtigt. Als das Licht in ihrem Schlafzimmer anging, vergaß ich alles. Gegen Mitternacht wechselte meine Stimmung, da klopfte es an die Tür. Ich hatte meinen Schlüssel nicht unter die Matte gelegt, damit mich Bowie nicht in dem Abstellraum entdeckte, wo ich mich eingeschlossen hatte. Ich vermutete, es könne nur er sein, doch draußen stand Camille in ihrer weißen Jacke. Sie stotterte etwas von wegen sie habe eine schreckliche Migräne, und ob ich ihr eine Tablette geben könne. Ich tat so, als ob ich ihre Bitte vernünftig fände, ging in mein Zimmer und brachte ihr ein Glas Wasser und zwei Aspirin. Sie leerte das Glas und schluckte die Tabletten. Dann verabschiedete sie sich von mir, ohne mir ihre Liebe zu gestehen. Allein der Gedanke, daß sie mir hätte ein Geständnis machen können, erschreckte mich. Den ganzen Tag blieb das Wetter kalt und trüb, und der Wind rüttelte an den Fenstern. Als die Farbige kam, machte sie als erstes das Licht an. Die beiden Frauen verbrachten den Vormittag mit Schönheitspflege. Nachmittags platzte Louis bei mir herein, unter dem Vorwand, Go mit mir spielen zu wol-
len. Camille war mitten in einer Sitzung bei ihm aufgesprungen und gegangen, ohne zu erklären weshalb. Seit drei Tagen hatte man sie in dem Cafe, wo sie sich immer aufhielt, nicht mehr gesehen. Auf ihrem Anrufbeantworter teilte sie mit, daß sie für unbestimmte Zeit verreist sei. Er fragte: »Glaubst du, daß sie sich von mir malen lassen würde?« Ich begriff nicht sofort und fragte ihn, wen er meine. Daraufhin wurde er deutlicher: »Diese Frau dort drüben.« Ich war zutiefst schockiert und fing an zu zittern. Als ich mich wieder beruhigt hatte, erklärte ich Louis, ich habe mich mit einem Virus infiziert, der schon die halbe Stadt heimgesucht habe. Ich versicherte ihm, die L. würde nie und nimmer bereit sein, für ihn Modell zu stehen oder zustimmen, daß er sie skizzierte. Doch Louis war entschlossen, den Versuch zu wagen – solche Modelle fand man nicht jeden Tag, und im übrigen, was hatte er zu verlieren? Als er nach diesen Worten aufstand, wurde mir so elend, daß ich mich an seinem Arm festhalten mußte. »Seltsam«, sagte er, »du hast ja nicht einmal Fieber.« Ich erklärte ihm, daß ich vor Kälte schlottere, und das war nicht gelogen. Ich war so erschöpft, daß ich glaubte, ich könnte sterben. Louis drängte mich ins Schlafzimmer, zu meinem Bett. Bevor ich mich dorthinein verkroch, sah ich die L. die auf ihrem Bett saß, inmitten von farbenprächtigen Stoffen. Ich kroch unter die Decke, unterdrückte ein Seufzen und beobachtete Louis, wie er im Nu Formen auf leere Blätter zauberte. Er malte, ohne das, was er aufs Papier bannte, zu betrachten, hielt den Blick starr auf das Fenster der L. gerichtet. Ich sah von meiner Position aus nur ihr Fenster und den Lichtschein, der sich durch den Store stahl. Also stand ich auf und machte es mir auf den Möbeln im Abstellraum bequem. Die L. nähte Seidenstoffe zusammen. Einer davon hatte die gleiche Farbe wie eine ihrer Djellabas. Um sie herum waren auf dem ganzen Bett und auf ihrem Schoß Stoffe ausgebreitet. Wenn sie sich bewegte, wogten lebhafte Farben, die sich aufblähten und wieder in sich zusammenfielen. Auf ihrem Bett entstand eine Art Landschaft, manchmal sah man ein Stück ihrer Haut,
ihres Knies, die helle, glatte Haut ihrer Schenkel oder einen Fuß mit lackierten Zehennägeln. Sie hob den Kopf, als im Hof ein Licht aufleuchtete, das aus meinem Zimmer kam. Ich rechnete damit, daß sie ans Fenster treten würde, um die roten Vorhänge zuzuziehen, doch sie blieb sitzen und blickte nur hinaus. Was Louis wohl machte, ob er sich versteckt hatte oder ob er sie malte? Diese quälenden Überlegungen schienen nie zu enden. Ich erinnerte mich an den Tag, als ihr Blick mich getroffen hatte, aber so kurz, daß es nicht der Rede wert war. Im übrigen hatte sie nie wieder zu meinem Fenster hochgeblickt. Und jetzt fixierte sie es geradezu. Doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Ich stürzte auf den Flur hinaus und blieb an der Tür meines Schlafzimmers stehen. Die L. hatte sich wieder ihrer Näharbeit zugewandt, und zwischen ihr und mir stand Louis, der sie malte. An jenem Abend wandte die L. nachdem der Mann mit dem Hut gegangen war, den Kopf meinem dunklen Fenster zu, als sie die Läden schloß. Die Geste war so unmerklich, daß ich sie nicht registriert hätte, wenn ich nicht darauf gefaßt gewesen wäre. Am nächsten Tag warf sie erneut einen Blick auf mein Fenster, bevor sie den Blick auf den Hof senkte, der mit feinem Eisregen bedeckt war. Die Vorhänge der L. waren nur halb geschlossen, und ich sah, wie sich der dritte Mann von der L. stimulieren ließ. Ich masturbierte und paßte mich ihrem Rhythmus an. Als der Mann den Orgasmus erreichte, war ich auch so weit. Während ich mich erholte, kam mir plötzlich der Gedanke, daß bei jedem seiner Besuche die Vorhänge halb offen waren – seit dem Tag, als ich der L. die Skizzen geschickt hatte. Nach Bowies Rückkehr hatte sie jedesmal die Vorhänge zugezogen, wenn sie ihre Besucher empfing. Doch der dritte Mann ließ sie immer einen Spalt offen. Wenn er bei der L. war, konnte ich einen Teil des Zimmers sehen. Manchmal war dieser Spalt so schmal, daß
ich nur ihre Kleider, die auf dem Boden lagen, erkennen konnte, oder den Mann, der sich nackt durchs Zimmer bewegte. Aus dieser Perspektive bestanden ihre beiden Körper aus Einzelteilen, ich sah ihre Beine, die Schultern der L. an der Bettkante, ihren Kopf, ihre Haare, die den Boden berührten, eine Hand, einen Teil des Körpers des Mannes, der durch ihre Djellaba oder die Bettdecke verhüllt wurde. Die Vorstellung, daß der dritte Mann erraten hatte, daß ich sie beobachtete und mir die L. auf diese Weise anbot, verwirrte mich zutiefst. Ich versuchte, mir ihr Hinterteil vorzustellen, das mich im allgemeinen ungemein reizte, doch es fiel mir schwer zu fantasieren, zumal die Vorhänge jetzt ganz geschlossen waren. Kurz nachdem der dritte Mann gegangen war hatte ich gehascht, um meine Spannung abzubauen. Ich ging auf die Straße, doch ich traf keine Frau, die mir gefiel. Als ich keine Lust mehr hatte, weiterzusuchen, nächtigte ich in einem Hotel. Von meinem Fenster aus sah ich direkt auf eine Metro-Station. Ich zog einen Stuhl zum Fenster, betrachtete die vorbeirauschenden Wagen, und konzentrierte mich ganz darauf, um nichts anderes zu denken. Irgendwann holte ich mir eine Decke aus dem Schrank und hüllte mich darin ein. Dann kroch ich ins Bett und fröstelte unter der Bettdecke. Ich ließ das Fenster offen und wurde durch die erste Metro geweckt. Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, rannte die Treppe hinauf. Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, blieb ich stehen, um Atem zu schöpfen. Zu dieser frühen Morgenstunde waren die Vorhänge der L. noch zu. Ich ließ meine Jalousette herunter und setzte mich auf den Hocker. Ich wußte, ihre Vorhänge würden sich erst öffnen, wenn die Farbige kam. Um keine Beklemmung aufkommen zu lassen, beobachtete ich die Baustelle auf dem Hof. Ein Baukran war aufgebaut worden, um den sich ungefähr zehn Arbeiter zu schaffen machten. Andere turnten auf dem Gerüst des Wohngebäudes herum, das gebaut wurde. Noch nie hatte hier so viel Aktivität geherrscht, und ich schätzte, daß die L. in zwei Monaten ein Vis-à-Vis haben würde. Was passierte
dann wohl? Dann würde der dritte Mann die Vorhänge vielleicht so zuziehen, daß kein Spalt mehr offenblieb. Die L. würde noch vorsichtiger sein und die Vorhänge schließen, bevor sie das Licht anmachte. Es sei denn, der Bau käme zum Stocken. Als die Farbige kam, schenkte ich ihr meine Aufmerksamkeit. Sie befand sich in Begleitung eines Mannes, der Pflanzen schleppte, die sie anstelle der verdorrten Rosensträucher in den Blumenkasten setzte, den der dritte Mann neulich heruntergestoßen hatte. Ich befürchtete, daß mir die Sträucher die Sicht versperren könnten, was tatsächlich der Fall war; auch wenn sich der Blumenkasten vor dem Fenster des Zimmers befand, das sie am seltensten benutzte, brachte er mich aus dem Konzept. Zwei Tage später ließ die L. die Blumenkästen von dem jungen Mann an einen anderen Ort bringen. Als sie sich in der Tür neben ihn stellte, sah ich sie von Kopf bis Fuß, ohne daß ein Körperteil von ihr verborgen geblieben wäre. Das war eine Sensation. Der junge Mann küßte sie auf den Mund. Der Kuß nahm kein Ende. So standen sie da, eng aneinandergeschmiegt, ohne daß sich ihre Hände berührten. Der Körper der Frau bewegte sich wellenförmig, und der Mann ließ sich von dieser wogenden Bewegung mitreißen. Die Katzen kamen heraus und strichen ihr um die Beine. Dann hatte ich einige Tage Ruhe. Weder hörte ich etwas von Louis, noch von Camille oder Simon. Auch Bowie platzte nicht mehr herein, seitdem ich keinen Schlüssel mehr für ihn hinterlegte. Ich verdächtigte ihn nämlich, daß er auf dem Verbindungsgang herumlungerte. Es sah ganz so aus, als ob sie sich alle verabredet hätten, mich in Ruhe zu lassen. Hinzu kam noch, daß es schneite, was bedeutete, daß die L. in einem Sessel vor dem Fenster saß, um die Schneeflocken zu betrachten, die der Wind an die Scheibe trieb. Erst abends zog sie die Vorhänge zu.
Der dritte Mann schloß sofort nach Betreten des Schlafzimmers die Vorhänge. Dieses Mal war ich nicht frustriert wie sonst, wenn sie meinen Blicken entzogen wurde. Ich sagte mir, daß der Mann wohl ungeschickt und zerstreut war, ging in mein Wohnzimmer, setzte mich ans Klavier, betrachtete den Eiffelturm und geriet ins Träumen. Ich fühlte mich ruhig wie noch nie, ja fast glücklich. Doch am nächsten Tag wechselte meine Stimmung, kehrte meine Unruhe zurück. Da ich ja den Schlüssel nicht mehr unter die Matte legte, hämmerte Bowie an meine Tür und warf Steine aus den Blumenkästen an meine Fenster. Des öfteren tauchte er auch auf dem Verbindungsgang auf, wenn auch nicht so häufig wie vorher, um mich hinter meinem Store zu sehen. Es ärgerte mich, daß er auch die Fenster der L. beobachtete, obwohl dies nur recht sporadisch geschah. Zweimal wäre ich um ein Haar Bowie auf der Treppe begegnet, und eines Nachmittags streifte er mich mit seiner Krücke, als ich mich vor ihm hinter einem Zeitungsstand verbarg. Ich befürchtete, daß er mich bemerkt hatte, und wartete bis Mitternacht, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Die Wartezeit verbrachte ich in dem Hotel, in dem ich schon einmal abgestiegen war. Man gab mir sogar das gleiche Zimmer, wo ich bis zur letzten Metro blieb. Es waren Kavalleristen. Einer von ihnen überlebte, die anderen kamen um. Auf dem Foto sind es vier. Der fünfte hatte den Fotoapparat über die Schulter gehängt, der ausgelöst wurde, als die Granate explodierte. Die Männer auf dem Foto wirken wie erstarrt in ihren Bewegungen. Die Pferde scheinen das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Reiter schwebt über dem Sattel frei in der Luft und zerrt an den Zügeln, wodurch sein Pferd einen überdimensional langen Hals bekommt. Der andere Reiter folgt seiner Spur im Halbkreis, der dritte stürzt vom Pferd, dessen Vorderhufe in die Luft ragen. Vom letzten Pferd sieht man nur den Kopf auf der rechten Seite des Fotos, der übrige Körper ist abgeschnit-
ten. Sein Reiter steht vor ihm, den Mund halb offen, die Zügel um den Hals gewunden, die Uniform undeutlich erkennbar. Beeindruckend sind die Klarheit des Gesichts und die verschwommene Uniform, was einen frappierenden Kontrast bildet. Man kann nicht erkennen, ob die Männer tot sind oder am Sterben. Es ist auch nicht möglich, den Überlebenden auszumachen. Vielleicht ist es der Mann mit dem Fotoapparat. Wenn ich mich irre, wenn nur drei der Männer vom Schicksal ereilt wurden, dann ist wohl anzunehmen, daß sie auf jeden Fall keine Ahnung hatten, daß sie sterben mußten. Wie auch immer, ich wünsche mir, daß der Mann mit den Zügeln um den Hals davongekommen ist. Aber das ist bloß ein Wunsch. Als ich aufstand, war es draußen rabenschwarz, eine Nacht ohne Mond und Sterne. Die L. stand mit nackten Füßen auf dem Verbindungsgang, eingehüllt in eine Decke. Im fahlen Lichtschein, den die Lampe über ihrer Tür ausstrahlte, wirkte ihre Haut wie Plastik. Ich überlegte, daß sie wohl einen der Männer begleitet hatte, doch dann entdeckte ich zwischen den Vorhängen ihres Fensters die Silhouette eines Mannes. Ich hoffte, endlich den geheimnisvollen Mann, der seine Spuren in der Blumenerde auf dem Verbindungsgang hinterlassen hatte, beobachten zu können und wartete drei Stunden. Erst als der dritte Mann die L. im Morgengrauen verließ, ging ich zu Bett. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, was ihr ein maskenhaftes Aussehen gab. Die Haut war hell, transparent. Unter der Decke waren ihre Schultern zu sehen, ihre kleinen Füße und ihre Knöchel. Ich konnte nicht erkennen, ob ihr Körper wogte, doch ich glaube schon. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Körper an ihren preßte, wie ich dieser erschreckenden Sinnlichkeit ausgeliefert war, von ihr verschlungen wurde. Ich überlegte, wie lange sie sich aufrechthalten konnte, ohne einzuknicken. Sie verjagte die Katzen, die sich zu ihren Füßen balgten und dann zur Treppe flüchteten. Die Decke hatte sie gegen ihre blaue Djellaba, die mir so gefiel, eingetauscht. Immer wenn sie die trug, dachte ich an das blaue Meer. Sie hob die Arme, um ihre zerzau-
sten Haare zu glätten, und ich konnte ihre üppig behaarten Achselhöhlen sehen. In diesem Augenblick kam die Farbige, und sie unterhielten sich miteinander. Dann kehrte die L. in ihr Schlafzimmer zurück. Morgens hatte man versucht, mich telefonisch zu erreichen. Dann hörte ich es an die Tür klopfen. Ich hatte mich in meinem Schlafzimmer verbarrikadiert; und allein die Vorstellung, daß man mich sehen wollte, erschien mir unerträglich. Als ich hoffte, der Störenfried sei wieder gegangen, entdeckte ich Louis auf dem Verbindungsgang. Er warf einen verstohlenen Blick zu dem Fenster hoch, dessen Vorhänge zugezogen waren. Ich wollte ihn aufhalten, doch es war zu spät. Er läutete bei der L. die ihm jedoch nicht öffnete, da sie erst vor wenigen Augenblicken den Mann mit dem Hut empfangen hatte. Der Gedanke, daß die L. Louis hereinbitten könnte, ließ mich nicht mehr los. Ich rief ihn an und er beschwor mich, ein Rendezvous für ihn zu organisieren, denn die Zeichnungen, die er von ihr gemacht hatte, reichten ihm nicht. Anscheinend war Camille immer noch unterwegs. Im übrigen befürchtete er, daß sie nicht mehr gewillt sein würde, für ihn Modell zu stehen. Sie war verrückt oder verliebt, vielleicht sogar in mich. Um ihn zu beruhigen und ihn daran zu hindern, seinen Versuch, bei der L. vorzusprechen, zu wiederholen, versprach ich ihm, bei der L. für ihn zu vermitteln. Ich hoffte, damit ein paar Tage Aufschub zu erhalten, doch bereits am nächsten Tag bedrängte er mich von neuem. Ich sage ihm, sie wolle ihn nicht empfangen, doch sie habe nichts dagegen, daß er sie von meiner Wohnung aus skizziere. Diesen Kompromiß hatte ich mir ausgedacht, weil ich merkte, daß er sich mit einer Absage nicht zufriedengeben würde, auch war ich davon überzeugt, daß er in ein bis zwei Tagen genügend Material zusammen hätte. Er fragte: »Meinst du, heute wäre günstig?« Ich wußte es nicht. Sie habe sich kokett gezeigt, nichts weiter vereinbart. Wir verzogen uns in mein Schlafzimmer, und
es war uns ziemlich mulmig zumute, wenn auch nicht aus dem gleichen Grund. Ich zog die Jalousette hoch und wünschte mir zum erstenmal, sie möge unsichtbar bleiben. Dann zog ich mich in meinen Abstellraum zurück. Die L. zeigte sich am Fenster, zog den Store beiseite und dann gleich wieder zu. Mir war ganz elend vor Warten, vor Angst und der Hitze im Raum. Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und brachte Louis ebenfalls eines. Er sagte, sie mache sich über ihn lustig, sie habe keinen Funken Interesse gezeigt und getan, als wenn er Luft wäre. Er fragte mich, was ich tue. Ich erwiderte, ich würde arbeiten, worauf er meinte, er habe keine Pianoklänge gehört. Die L. zeigte sich erst wieder am nächsten Tag. Sie tauchte auf dem Verbindungsgang auf, als Louis es sich an meinem Fenster gemütlich gemacht hatte. Ihre Gestalt wurde wieder von diesen wogenden Bewegungen erfaßt, die Louis sofort auf seinen Zeichenblock bannte. Abends blieb er zum Essen. Zu meinem Erstaunen erwähnte er die L. mit keinem Wort sondern redete über Lotus, deren Spur er gefunden hatte. Als er seinen Monolog hielt, ging mir ein Gedanke durch den Kopf. Es bestand die Gefahr, daß Louis bei mir war, wenn die L. die Vorhänge halb zugezogen hatte und einer ihrer Besucher anwesend war. Dieser Gedanke verfolgte mich die ganze Nacht. Als Louis zwei Tage später kurz vor Mittag zu mir kam, lauerte ich deshalb, während er arbeitete, auf das Kommen der Verehrer der L. Ich hatte meinen Beobachtungsposten am Wohnzimmerfenster eingenommen, da hier weniger die Gefahr bestand, daß Bowie mich entdeckte. Sobald ich ein Geräusch von der Treppe hörte, beugte ich mich über die Balustrade, um ja den Mann nicht zu verpassen. Als der Mann mit dem Hut in Sichtweite kam, ließ ich die Jalousette herunter und scheuchte Louis davon. Er war mir deswegen böse, da die L. am Fenster erschienen war und er jetzt seine Zeichnung ohne Modell beenden mußte.
Die nächsten Tage verbrachte ich wie üblich damit, auf die L. zu warten und den Himmel anzuflehen, daß Louis nicht kommen möge, was mir aber nicht vergönnt war. Also setzte ich meine Beobachtungen vom Wohnzimmerfenster aus fort, und Louis widmete sich seinen Skizzen. Wenn ich einen der drei Männer entdeckte, setzte ich Louis vor die Tür, kehrte in mein Schlafzimmer zurück, nahm meinen Platz auf dem Hocker ein und wurde innerlich wieder ruhig. Als Louis immer häufiger nicht bereit war, meiner plötzlichen Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, Folge zu leisten, vor allem, wenn er zeichnete, gab ich ihm zu verstehen, daß es eine Frau in meinem Leben gebe. Natürlich lauerte ich auch an diesem Morgen hinter meiner Jalousette auf die L. und hoffte, sie zu sehen, bevor Louis hereinplatzte. Einen Moment lang wurde meine Aufmerksamkeit durch die Arbeiter im Hof gefesselt. Als ich erneut meinen Blick dem Fenster der L. zuwandte, war sie damit beschäftigt, die Pflanzen in ihrem Blumenkasten zurechtzuschneiden. Dann steckte sie mit einer entschlossenen Bewegung die Gartenschere in den Blumenkasten. Dabei gönnte sie mir keinen Blick. Hatte sie Louis an meinem Fenster wahrgenommen? Als er wenig später kam, sagte er kein Wort, sondern war begierig, seinen Zeichenblock zu zücken; er hatte Angst, er könne ihr Erscheinen am Fenster verpassen. Als ich ihn bat zu gehen, beeilte er sich, da er ja glaubte, ich erwarte die Dame meines Herzens. Auf den zehn Skizzen, die er daließ, hatte die L. kein Gesicht. Ich hielt es durchaus für möglich, daß sie ihn gesehen hatte, denn wenn er am späten Nachmittag da war, machte er in meinem Schlafzimmer oft Licht. Im übrigen kam er mit seiner Arbeit gut voran, denn sie versteckte sich nicht hinter ihren Vorhängen, obwohl sie wußte, daß er sie beobachtete, ja als Modell benutzte. Plötzlich kam mir die Erkenntnis: Sie wußte ganz bestimmt, daß er Skizzen von ihr anfertigte, sie billigte es sogar. Vermutlich dachte sie, die Skizzen habe ihr Louis geschickt. Was für ein
Trottel ich doch war! Weshalb hatte ich nicht früher daran gedacht! Ich forderte Louis auf zu gehen. Er bat mich, später, morgen oder an einem der nächsten Tage, wieder kommen zu dürfen, da er mit seiner Arbeit noch nicht fertig sei. Als ich nicht einverstanden war, zeigte er sich erstaunt, blieb jedoch am Fenster stehen. Die L. hatte die roten Vorhänge zur Seite gezogen und blickte Louis an. Dann wandte sie sich wieder ab. Ich sagte zu Louis: »Ich bin müde, laß mich allein.« Er glaubte, ich sei wegen meiner Liebesgeschichte deprimiert und vertraute mir in dem Bemühen, mich moralisch wieder aufzubauen, an, er wisse jetzt, wo Lotus zu finden sei. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Auch die Tatsache, daß Louis nicht in die L. verliebt war, änderte nichts an meiner Mißstimmung. Ich setzte mich auf meinen Hocker und wartete mit Bangen auf das Erscheinen der L. Die ganze Nacht lauerte ich voller Ungeduld, um einen kurzen Blick auf sie zu werfen. Als sie sich hinter ihre roten Vorhänge zurückgezogen hatte, überfiel mich Todessehnsucht. Ich dachte an die blonde Selbstmörderin und an die A. aus B. und wollte mich aus dem Fenster stürzen. Doch war es sinnvoll, aus dem vierten Stock zu fallen? Es bestand die Gefahr, daß ich im Rollstuhl endete. Die Vorstellung, meinen Hocker gegen den Rollstuhl einzutauschen, amüsierte mich. Es blieben Schlaftabletten oder die Rasierklinge, Mittel, die zu unsicher waren. Einen Augenblick lang dachte ich an das Blut, das aus meiner durchschnittenen Kehle fließen würde. Es interessierte mich, ob ich mein Leben langsam aushauchen würde, oder ob alles so schnell ginge, daß ich es kaum merkte. Es blieb noch der Strick, oder als Ersatz zwei Bademantelgürtel. Ich machte einen Knoten und prüfte ihn. Dann suchte ich in der Wohnung einen Haken, wo ich meine Schlinge befestigen konnte. Da ich nichts Passendes fand, holte ich aus meinem Abstellraum die Bohrmaschine, bohrte ein Loch in die Decke meines Schlafzimmers, trieb einen Dübel mit einem Haken hinein und
befestigte den Gürtel daran. Alles war bereit. Ich dachte wieder an die A. aus B. die auch keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Kurz überlegte ich, ob ich mir die Füße waschen sollte, da ich seit Tagen barfuß gegangen war, ließ es aber bleiben. Ich stieg auf den Hocker, der heftig schwankte, legte mir den Gürtel um den Hals, dachte an die L. und sprang. Die L. hatte ihr weißes Gewand ausgezogen. Darunter trug sie ein anderes, indigoblaues. Sie zog sich weiter aus, eine Djellaba nach der anderen. Jede hatte eine andere Farbe. Plötzlich sah ich ihre weiße, glatte Haut und ihre Achselhöhlen. Ich hoffte, sie ganz nackt zu sehen, und ihre Bewegungen wurden hastiger, bis es mir den Atem nahm und ich ohnmächtig wurde. Ich erstickte, mußte versuchen, mich zu wehren, bevor ich wieder in diesen Brunnen fiel. Dann hörte ich meinen rasselnden Atem, der mich heftig schmerzte. Erneut verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken, der Hocker umgefallen neben mir. Ich hielt eine Hand an den Hals gepreßt. Der Haken, an dem ich meine Schlinge befestigt hatte, lag auf dem Boden. Ich löste den Knoten um meinen Hals, zog die Schlinge über den Kopf und warf sie weit von mir. Da meine Kraft schon wieder erschöpft war, blieb ich liegen und wartete, bis die Schmerzen in meinem Hals nachließen. Ich fröstelte, obwohl es im Zimmer nicht kalt war. Schließlich stand ich auf und wickelte mir ein paar Schals um den Hals. Dabei hatte ich das Bild der Djellabas vor mir. Im Badezimmerspiegel betrachtete ich meinen übel zugerichteten Hals, dann ging ich in die Küche und holte mir eine Flasche Whisky. Damit verzog ich mich in mein Schlafzimmer, setzte mich aufs Bett und trank aus der Flasche, damit meine Lebensgeister wieder erwachten. Ich wagte nicht, durch die Jalousette zu blicken. Erst als der Whisky seine Wirkung tat, traute ich mich. Die Vorhänge der L. waren geschlossen, der Verbindungsgang ausgestorben. Ich spürte Erleichterung, kroch in mein Bett und versuchte, mich zu
entspannen und dieses schreckliche Gefühl, ersticken zu müssen, zu verdrängen. Als ich aufwachte, packte mich von neuem die Angst; ich hatte wirklich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Das ging tagelang so. Immer wieder erfaßte mich Todesangst, geriet ich in Panik, meinte ersticken zu müssen und zitterte vor Kälte. Erst allmählich beruhigte ich mich wieder. Ich versteckte meinen Hals mit den vielen Blutergüssen unter einem Schal, den die A. aus B. bei mir vergessen hatte. Gerne hätte ich ihr Parfüm eingeatmet, doch der Schal war voller Tabakgeruch, der die ganze Wohnung einhüllte. Niemand rief mich an, niemand läutete an der Tür. Die L. erschien nur kurz auf dem Verbindungsgang. Ich überlegte, daß mein Tod niemanden berührt hätte. Am nächsten Tag erhielt ich einen Telefonanruf. Voll freudiger Erwartung griff ich nach dem Hörer, war jedoch ernüchtert, als ich Camilles Stimme vernahm. »Ich traue mich nicht«, murmelte sie. »Wenn du wüßtest, welche Scheu ich habe, doch ich muß es jetzt sagen…« Ich geriet in Panik, weil ich befürchtete, sie würde mir ihre Liebe gestehen. Um dem aus dem Weg zu gehen, riß ich die Telefonschnur aus der Wand. Der dritte Mann hatte wie üblich die Vorhänge schlecht zugezogen. Die L. saß auf dem Bett. Ihr Gesicht lag im Schatten. Der Mann schob ihre Djellaba hoch und trat zurück. In dem Lichtschein sah ich nur die L. ihre nackten Schenkel und das Dreieck ihrer Scham. Die Tage vergingen ohne sensationelle Ereignisse. Ich lauerte nach wie vor hinter meiner Jalousette. Mein Wunsch, sie zu sehen, war so überwältigend wie immer, doch es bereitete mir jetzt weniger Vergnügen, sie zu beobachten, allein oder in Gesellschaft ihrer Männer, und es gelang mir auch nicht mehr, sie mir
in Gedanken vorzustellen, wenn ich sie nicht sah. Ich masturbierte ohne Lust. Eines Nachts, als ich auf dem Hocker kauerte, schreckte ich hoch und dachte an den Unbekannten, der die L. manchmal bei Nacht besuchte – zumindest bildete ich mir das ein, denn in flagranti hatte ich ihn noch nie ertappt. In Wirklichkeit hatten mich die Schritte der Farbigen auf dem Verbindungsgang aufgescheucht. Ihr Besuch zu dieser späten Stunde – es war Mitternacht vorbei – war so ungewöhnlich, daß ich automatisch alarmiert war. Dann tauchte eine Frau mit einem Verbandskasten auf. Die ganze Nacht brannte im Schlafzimmer der L. Licht. Von Zeit zu Zeit konnte ich erkennen, wie die Farbige durch das angrenzende Zimmer huschte, das nur spärlich beleuchtet war. Sie trug eine Schüssel mit Wasser, Handtücher, die Teekanne und Tassen ins andere Zimmer. Kurz vor Tagesanbruch holten zwei Männer, ein großer und ein kleiner, den Mann mit dem Hut ab. Der größere hielt ihn an den Armen, der kleinere an den Füßen; die Frau ging ihnen voraus. Ich ging lautlos hinterher und beobachtete sie vom Torweg aus. Sie setzten den Mann auf den Rücksitz eines Taxis, das auf dem Trottoir geparkt hatte. Der kleine Mann setzte sich neben ihn und hob seinen Kopf, der nach hinten gefallen war. Er hatte den Mund geöffnet und sah aus, als schliefe er. Die Frau nahm auf dem Beifahrersitz Platz, hatte sich den Hut auf den Schoß gelegt. Der Große setzte sich ans Steuer und wandte sich nach den beiden Männern auf dem Rücksitz um. Einen kurzen Augenblick konnte ich sein Gesicht erkennen: hohe Backenknochen, eine gerade Nase mit breitem Nasenrücken und die gleichen transparenten Augen, wie sie der Mann mit dem Hut hatte. Als ich hinunterging, öffnete Bowie die Tür. Ich fragte mich, ob er den seltsamen Zug gesehen hatte. Es mußte wohl so sein, denn er war kurz nach Tagesanbruch auf dem Verbindungsgang gewesen. Es war ein trostloser Wintertag. Bei der L. war alles verschlossen, sie empfing heute wohl keinen Besucher. Nur die Farbige und Bowie hatten Zutritt zu ihr. Bowie ging ganz einfach
hin und läutete so selbstverständlich, als wenn er erwartet würde. Vermutlich hatte ihm der Tod des Mannes mit dem Hut als Vorwand gedient. Einen Tag nach dem Tod des Mannes mit dem Hut kam Louis bei mir vorbei. Er hoffte, ich würde ihm mein Schlafzimmer überlassen und machte mich darauf aufmerksam, daß mein Telefon nicht funktionierte. Da ich befürchtete, er könne entdekken, daß ich die Schnur herausgerissen hatte, nahm ich seinen Arm, führte ihn ins Wohnzimmer und fragte ihn nach seiner Lotus. »Woher weißt du es?« fragte er zurück. Als er mir den Kopf zuwandte, entdeckte er die blutunterlaufenen Stellen an meinem Hals, die sich inzwischen violett verfärbt hatten. Als ich den Schal wieder zurechtrückte, rief er: »Hat man versucht, dich zu erwürgen? Diese Frau?« Ich erwiderte: »Welche Frau?« Und er fuhr fort: »Du bist so verschwiegen, wie soll ich wissen, wer sie ist?« Als ich nicht reagierte, begriff er, daß es am besten war, wenn er nicht mehr von der Frau anfing oder auf meine Spuren am Hals anspielte. Es fiel ihm nicht schwer, da es ihm im Grunde genommen gleichgültig war. Nur das eine interessierte ihn: daß ich ihm erlaubte, die L. zu malen. Ich sagte ihm, sie sei tot, sie habe sich aus Liebeskummer erhängt. Als ich Louis zur Tür geleitete, fand ich einen Brief, den Simon unter meine Tür geschoben hatte. Ich warf ihn ungeöffnet auf den Wohnzimmertisch. Die L. legte schließlich ihren Schlüssel für Bowie unter den Blumenkasten. Obwohl ich ihm meine Tür verschlossen hatte, empfand ich Eifersucht, weil er jetzt bei der L. die gleichen Rechte genoß, wie einst bei mir. Vermutlich nahm er lediglich eine Beziehung wieder auf, die bei meinem Einzug am Boulevard de la Bastille unterbrochen worden war, doch damals wollte ich es nicht so sehen. Bowie schien sich nicht mehr für mich zu interessieren. Nun zeigte er mir gegenüber dieselbe Gleichgültigkeit, wie einst der L. gegenüber. Mein Fenster bedachte er mit
keinem Blick. Ich überlegte – war es möglich, daß er an die Stelle des Mannes mit dem Hut getreten war? Doch schnell erkannte ich, daß die Vorhänge immer offen blieben, wenn er die L. besuchte. Ich vermutete: wenn es einen Nachfolger für den Mann mit dem Hut gab, dann wurde dieser der L. wohl durch die Farbige zugeführt, die nach dem Tod des Mannes eine noch wichtigere Rolle zu spielen schien. Er kam allein. Eines Nachmittags, als ein Schneesturm herrschte und der Hof unter den Schneelawinen, die von den Dächern gerissen wurden, vergraben war, tauchte er zum erstenmal auf. Er trug keine Kopfbedeckung und war größer als der Mann mit dem Hut, trotzdem war die Ähnlichkeit verblüffend. In der Hand trug er ein sperriges Paket, das in gewöhnliches Packpapier eingehüllt war. Irgendwie dachte ich, daß es sich um etwas handeln könne, das dem Mann mit dem Hut gehört hatte und das dieser seinem Doppelgänger hinterlassen hatte. Er blieb nur eine halbe Stunde bei der L. Zwei Tage später kam er wieder und brachte ihr einen Blumenstrauß. Auch dieses Mal blieb er nur kurz. Ich hatte immer geglaubt, Louis sei zu beschäftigt mit seiner Malerei, um meine Leidenschaft zu erraten. Doch ich sollte mich täuschen. Er verwechselte lediglich den Gegenstand meiner Liebe. Wie hätte er vermuten können, dachte ich, daß ich in die L. verliebt war, während er amüsiert mein Geplänkel mit Camille beobachtete, dessen Perversität er nicht einmal erahnte? Nun, er wußte, daß Camille verliebt war, und da ich meine Nachmittage und oft auch Nächte bei ihm im Atelier verbracht hatte, war er der Meinung, mir gehe es genauso. Alles paßte zusammen. Die Verabredungen, die sie nicht eingehalten hatte, ihre Flucht aus Paris, die genau in dem Augenblick erfolgte, als ich nicht mehr in sein Atelier kam, wegen dieser Frau, über die ich nicht reden wollte und wegen der er immer gehen mußte. Und als Camille wieder bei ihm auftauchte, weil sie Geld brauchte und vermutlich wissen wollte, wie es mir gehe, spielte er vor ihr auf meine Würgemale an. Ich weiß nicht genau, was sie zu ihm gesagt hat, doch
sie stritt nicht ab, eine Liaison mit mir zu haben. Beide wollten mich überraschen. Louis hatte die Absicht, Camille und mich zu versöhnen, und sie war voller Eifersucht und sah keine andere Möglichkeit, mich zu sehen. Ich öffnete, da mir die Einsamkeit allmählich auf der Seele lastete. Als Louis und Camille eintraten, schwiegen sie. Die Sonne tauchte das Wohnzimmer in rosiges Licht, und ich machte sie darauf aufmerksam. Ich sagte zu Louis, daß er seine Malutensilien bei mir vergessen hatte, brachte ihm die Sachen und drängte Camille, sich auszuziehen, da sich der Tag allmählich neigte. Sie zog sich ungeschickt aus und stand ungraziös mitten im Zimmer. Der Himmel hatte sich rot gefärbt. Camille setzte sich auf den Hocker, und das Licht verlieh ihrer Haut einen matt schimmernden Glanz. Doch ich spürte keine Erregung, denn ihr Anblick erinnerte mich nicht an die L. Ich wußte, daß mir Camille, seit sie mir ihre Liebe gestanden hatte, nichts mehr nutzte und hatte sie nur gebeten, sich auszuziehn, damit ich in der Zeit, in der sie Louis Modell stand, meine Ruhe hatte. Louis glaubte, seine Lotus bald wiederzufinden und war davon überzeugt, daß sie ihn noch liebte. Ich hörte ihm nur zerstreut zu, wenn er über sie redete, empfand jedoch plötzlich das Verlangen, die L. zu beobachten und zog mich zurück, ohne daß Camille und er es merkten. Ich hatte meinen Platz am Fenster in dem Augenblick eingenommen, als die L. an ihrem Fenster erschien und war gerührt, als ich ihr Gesicht sah, das ich inzwischen so gut kannte. Sie verschwand hinter ihren Vorhängen, doch ich verharrte, da ich mit einem so kurzen Auftritt nicht zufrieden war. Auf der Baustelle rührte sich nichts. Die Sonne schien nicht mehr, bald würde es dunkel werden. Bowie trat aus dem Haus der L. Ich weiß nicht, ob er ahnte, daß ich ihn beobachtete und wünschte mir, daß er einen Blick auf mein Fenster werfen und mich besuchen möge. Er gab den Katzen, die ihm folgten, zu fressen und schlug mit seiner Krücke, auf die er breite, rotblaue Streifen gemalt hatte, einer der Katzen grundlos aufs Maul. Sie machte
erschrocken einen Satz zur Seite und jagte dann der anderen hinterher. Die L. war inzwischen aus dem Haus getreten und studierte den Himmel, der erstaunlich hell war. Ich hörte sie nicht kommen. Ich hatte die Ritze der Jalousette so weit wie möglich geöffnet, um ihr Profil betrachten zu können. Und plötzlich standen sie neben mir. Louis fragte sich insgeheim wohl, weshalb ich ihm vorgelogen hatte, sie sei tot. Später erkundigte er sich danach. Camille begriff mit dem Instinkt der eifersüchtigen Frau, daß ich die L. liebte. Ich sagte: »Es wird dunkel« und ließ die Jalousette herunter. Dann täuschte ich plötzlich Müdigkeit vor, die mich ins Bett triebe. Als sie gegangen waren, dachte ich an Louis, der Lotus jahrelang in allen Positionen fotografiert und in Stein gehauen hatte. Und ich fühlte mich stark erregt, denn ich stellte mir das bei der L. vor. Ich masturbierte und träumte. Im unpassendsten Augenblick dachte ich an Camille, die sehr blaß war und ihre obligatorische weiße Jacke trug. Schließlich öffnete die L. ihre Schenkel, und ich drang tief in sie ein. Bis zum nächsten Morgen schlief ich durch, dann suchte ich nach einem Film, den ich irgendwo gesehen hatte. Schließlich fand ich ihn im Küchenschrank zwischen Konserven und Medikamenten, holte meinen Fotoapparat aus der Koffer-Kommode und legte den Film ein. Im Vorbeigehen schnappte ich mir Simons Brief, den ich vergessen hatte. Ich setzte mich und öffnete ihn, kann mich aber nur noch vage an den Inhalt erinnern. Ich glaube, Simon erklärte mir, er sei immer für mich da, womit er mich wohl anstacheln wollte, mich nicht so gehenzulassen. Als die L. den Vorhang hob, hatte ich den Brief verdrängt. Der Ärmel ihrer blauen Djellaba, meiner Lieblingsdjellaba, rutschte hoch, und ich sah ihre dunkle Achselhöhle. Ich versuchte, durch
die Jalousette eine Aufnahme von ihr zu machen, doch der Versuch erstickte im Keim, da mir die L. verfremdet erschien. Das war auch der Grund, weshalb ich ungern ein Fernglas benutzte. Doch in den nächsten Tagen machte ich dann doch noch eine Aufnahme von ihr. Der dritte Mann schloß das Fenster und zog die Vorhänge zu, ließ dabei aber einen kleinen Spalt offen. Ich glaube nicht, daß er das absichtlich tat, denn allzuoft hatte er sich so nachlässig gezeigt. Trotzdem fühlte ich mich unbehaglich und hatte ein eigenartiges Gefühl, als ich meinen Fotoapparat zückte. Ich schloß die Augen und machte auf gut Glück fünf Fotos von der L. und dem dritten Mann. Einige Tage vergingen, vielleicht auch eine Woche. Nichts ließ das Ereignis ahnen, das mich von der L. trennen sollte. Ich beobachtete und träumte. Da mein Kühlschrank leer war, mußte ich einkaufen gehen. Es regnete in Strömen, und ich vermutete, daß bei einem solchen Wetter kein Verehrer der L. auftauchen würde. Doch bei meiner Rückkehr stieß ich auf den Mann, der an die Stelle des Mannes mit dem Hut getreten war. Er hielt mir die Haustür auf, als ich schwerbeladen ankam, und ich sah, daß er die gleichen hellen Augen wie sein Vorgänger hatte. Ich sagte es ihm. Als er nichts erwiderte, fuhr ich fort, daß ich diesen des öfteren getroffen hätte. Bevor er die Treppe hochging, lächelte er mich an, entgegnete aber kein Wort. Ich sollte ihn nicht mehr sehen, denn kurz danach verlor ich die L. und damit die Männer, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten. War der Alkohol daran schuld? Ich glaube kaum. Ich dachte nur noch an die L. hatte Simon, Louis und Camille vergessen. Auch Bowie, obwohl ich mir wünschte, daß er wieder zu mir kommen möge. Und dieser Wunsch bewog mich auch, Simon zu öffnen, weil ich vermutete, es sei Bowie. Er fing sofort mit seinem Brief an, was mich ärgerte, doch ich beschloß, ruhig zu bleiben. Um ihn von seinem allzu großen Interesse an mir abzu-
lenken, fragte ich ihn nach seiner Arbeit, und er erzählte von einer Konzertreise ins Ausland. Dann setzte ich mich ans Klavier und sagte, ich sei bereit, unsere Plattenaufnahme zu Ende zu führen. Er näherte sich dem Klavier, stützte sich auf und fragte mich: »Hast du meinen Brief richtig gelesen?« »Was willst du? Was suchst du?« Ich schrie, und sofort verrauchte mein Zorn. Langsam stand ich auf und trat ans Fenster. Am Himmel jagte der Wind die Wolken. Ich fühlte mich erschöpft, stützte mich am Fensterrahmen und hörte hinter mir Simon auf und ab gehen. Ich sagte, daß ich Besuch erwarte und geleitete ihn zur Tür. Als ich sie öffnete, ging der blonde junge Mann die Treppe hinunter, ohne uns zu bemerken. Simon ging hinter ihm her. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus und sah den beiden Männern nach. Als ich wieder hochsah, war der Verbindungsgang in Sonnenlicht getaucht. Vor Monaten hatte ich mich an der gleichen Stelle aufgehalten. Das war in jener Nacht gewesen, als ich von der schwarzen Nutte gekommen war und auf dem Verbindungsgang gestanden hatte, der in Mondlicht getaucht war. Als ich die Treppe hochging, legte ich zwischen dem dritten und vierten Stock eine Pause ein, wartete und masturbierte. Um ein Haar hätte ich damals meine Chance verpaßt: Die L. war nämlich herausgetreten und mußte meine Umrisse entdeckt haben. Sie war nähergekommen, hatte versucht, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen, während sie nach dem Schalter tastete; ich drückte mich an die Wand. Als ich mich plötzlich daran erinnerte, durchlief mich ein Zittern. Ich atmete den Duft ihrer Haut ein, der durch kein Parfüm verfälscht wurde.
Die ganze Woche über war es windig und regnerisch. In jener Nacht war der Wind so stark, daß ich kein Auge zutat. Vielleicht ahnte ich kommendes Unheil. Ich weiß nicht, weshalb ich am nächsten Morgen zögerte, meinen Platz am Fenster einzunehmen. Wäre ich früher ans Fenster gegangen, hätte ich die Katastrophe vielleicht verhindern können. Doch hätte ich das auch getan? Oder wäre ich weiterhin ein Zuschauer geblieben, wie bisher? Hat mich ein Geräusch bewogen, durch die Ritzen der Jalousette zu blicken? Ich weiß nicht, ob ich wirklich einen Schrei gehört habe. War es ihre Stimme, die nach mir gerufen hatte? Doch woran erkannte ich, daß sie geschrien hatte? Tatsache ist, daß ich, noch bevor ich den Verbindungsgang beobachtete und die Jalousette berührte, davor zurückschreckte, durchzublicken, da ich mich instinktiv vor dem, was ich sehen würde, fürchtete. Der Wind, der über den Hof fegte, zerrte an der Wäsche und gab von Zeit zu Zeit den Blick auf den Verbindungsgang frei. Ich sah den Arm, auf den die Sonne fiel, starrte auf die Stelle, wo sie liegen mußte, ein weißer, wogender Berg. Die L. lag auf dem Rücken, in ihrem Hals steckte eine Gartenschere. Als sie hingefallen war, hatte sie einen Blumenkasten mitgerissen, und ihr Blut vermischte sich mit der Blumenerde. Ihr Arm, der durch das Gitter hing, war blutbefleckt, ebenso ein Laken, das zum Trocknen aufgehängt war. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, nach links. Ein Wogen ging durch ihren Körper, das bei weitem heftiger war als sonst. Ich näherte mich ihr, angezogen durch das Leben, das zu entschwinden drohte. Erst als die Katze anfing, das Blut neben ihrer Schulter aufzulecken, zog ich mich zurück. Ich war müde, setzte mich auf meinen Hocker, sah ihren Arm, der das Laken befleckte und ihr weißes Gewand vor mir. In einer
Ecke meines Schlafzimmers lag der Haken, an dem ich mich hatte aufhängen wollen. Bowie näherte sich der L. und blieb wie erstarrt stehen. Als er sich wieder gefangen hatte, verjagte er mit seiner Krücke die Katze, die an einer Blutlache leckte. Dann blickte er zu mir hoch. Sein Gesicht war völlig verändert. Als er verschwunden war, legte ich mich aufs Bett und schlief ein. Beim Anblick ihres toten Körpers hatte mein Denken aufgehört. Dieser Zustand hielt an, bis ich eingeschlafen war. Vor diesem traumlosen Schlaf gab es Bewegungen und Farben, von Rot bis Weiß, und dann das Grün ihrer Augen und der Duft ihres Körpers und der des Blutes. Wer tötete die L.? Die Polizei hatte keinen Verdacht. Die Mordwaffe, die Gartenschere, deutete darauf hin, daß es sich nicht um eine vorsätzliche Tat gehandelt hatte, sondern daß der Mörder wohl aus Zorn oder Eifersucht zu der Gartenschere gegriffen hatte. Weshalb sonst war er geflohen, während die L. noch lebte? Weshalb hatte er ihr nur einen einzigen Stich versetzt, der trotz der Schwere der Wunde nicht unbedingt hätte zum Tod führen müssen? Vermutlich hatte ihn ein Geräusch in Panik versetzt, wohl das, das mich aufgeschreckt hatte, und er hatte sich dieser Waffe bedient, die er jedesmal, wenn er den Verbindungsgang betrat, im Blumenkasten gesehen hatte. Wer von ihren Besuchern oder wer aus meiner Umgebung wollte sie töten? Ich hielt sie alle für schuldig, umso mehr, da ich mich selbst für schuldig hielt. Was tat ich fern von meinem Schlafzimmerfenster, als die L. getötet wurde? War der Schrei, den ich gehört hatte, der Schrei, den sie ausstieß, als ich sie getötet hatte? Wie konnte ich wissen, ob mir mein Gedächtnis nicht einen Streich spielte, denn der Alkohol und mein Versuch, mich zu erhängen, hatten meine Fähigkeit logisch zu denken, nicht gerade gefördert.
Doch welchen Grund hätte ich gehabt, sie, die mein ganzes Glück war, zu töten? Und weshalb an jenem Tag? Weshalb war ich mir selbst verdächtig? Vielleicht war der Tod der L. das Werk eines Unbekannten, vielleicht des Mannes mit dem Koffer, den die Farbige weggejagt hatte, oder das jenes Unbekannten, der in einer Regennacht seine Spuren in der nassen Blumenerde hinterlassen hatte. Obwohl Monate seit dem Drama vergangen sind, ist meine Liebe nicht erloschen. Oft wache ich auf und eile an mein Schlafzimmerfenster. Eines Nachts verzweifelte ich, weil es mir nicht gelang, mir die L. genau vorzustellen. Da fiel mir der Film ein, und ich beschloß, ihn zum Entwickeln zu bringen. Die Fotos waren recht verschwommen, zeigten Licht und Schatten. Ich schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als ich zu sehen glaubte, was ich zu sehen wünschte. Die L. hatte die Position eingenommen, die mich immer aufs höchste erregte, und wurde vom Mann mit dem Hut stimuliert. Der dritte Mann hielt sich auf der rechten Seite auf. Er hatte das Hinterteil der L. zum Teil entblößt. Am Rand der Fotos gibt es dunkle Schatten, die am einfachsten zu identifizieren sind: der Vorhang, ein Fensterladen, die Mauer unter dem Fenster, welche die äußeren Grenzen des Lichtdreiecks bilden, in dem sich die L. und der dritte Mann wie in einem Liebesballett bewegen. Man sieht den Mann im Vordergrund. Er steht aufrecht da, auf allen Fotos. Hinter ihm erkennt man zur Linken ein halbmondförmiges helles Stück, einen Teil des Körpers der L. Ich glaube, einen Schenkel zu identifizieren. Der Schatten am Rand des fünften Fotos, der fast mit dem Laden verschmilzt, ist ebenfalls der Mann, dessen Arm man hier deutlicher sieht. Den Mittelpunkt des Fotos bildet das Hinterteil
der L. und darunter eine dunkle Stelle, ihr schattiges, krauses Schamhaar.