DIETER E. ZIMMER
Redens Arten ÜBER TRENDS UND TOLLHEITEN IM NEUDEUTSCHEN SPRACHGEBRAUCH
HAFFMANNS VERLAG
Dieter E. Z...
114 downloads
726 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
DIETER E. ZIMMER
Redens Arten ÜBER TRENDS UND TOLLHEITEN IM NEUDEUTSCHEN SPRACHGEBRAUCH
HAFFMANNS VERLAG
Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, seit 1959 Redakteur der Wochenzeitung ›Die Zeit‹, lebt in Hamburg; übersetzte Werke von Vladimir Nabokov, James Joyce, Jorge Luis Borges, Nathanael West, Ambrose Bierce, Edward Gorey u. a. Nach vornehmlich literarischen und literaturkritischen Arbeiten zunehmend Publikationen über Themen der Anthropologie, Biologie, Psychologie, Verhaltens- und Sprachforschung. Buchveröffentlichungen: Materialien zu James Joyces ›Dubliner‹ (zusammen mit Klaus Reichert und Fritz Senn, 1969) – Ich möchte lieber nicht, sagte Bartleby (Gedichte, 1979) – Unsere erste Natur (1979) – Der Mythos der Gleichheit (1980) – Die Vernunft der Gefühle (1981) – Herausgeber der Kurzgeschichten aus der ›Zeit‹ (mehrere Folgen, zuletzt 1985). Die beiden Bände Redens Arten (Über Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch, 1986) und So kommt der Mensch zur Sprache (Über Spracherwerb, Sprachentstehung und Sprache & Denken, 1986) beschreiben den aktuellen Wissensstand der Sprachforschung.
FK Frauensteiner Kreis –Unverkäuflich – 11.06.05
DIETER E. ZIMMER
Redens Arten Über Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch
HAFFMANS VERLAG
Umschlagzeichnung von Tatjana Hauptmann 1.–4.Tausend, Frühjahr 1986 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1986 by Haffmans Verlag AG Zürich isbn 3 251 000713
Inhalt
NEUDEUTSCH Trends und Triften 7 WÖRTER EMPOR Über die Verschönerung der Welt durch sprachliche Maßnahmen 61 DAS BRÜDERLICHE DU Über Anredekonventionen 73 DIE, DER, DAS Sprache und Sexismus 91 DER JARGON DER WAHREN EMPFINDUNG Psycho-Deutsch 115 DAS WIRD ÄRGER MACHEN Sprache im Kulturbetrieb 159
WÖRTER UND FAHNEN Politik als Sprachkampf 217 WETTBEWERB DER ÜBERSETZER Die einstweilige Unentbehrlichkeit des Humantranslators 235 DER ARGAN-EFFEKT Die Liebe zur Pseudo-Wissenschaft 285
ANHANG Nachbemerkung 307 Bibliographie 310 Register 319
NEUDEUTSCH Trends und Triften
W
enn ich das Wort Sprachkritik höre, kommt mir immer ein Bild vors Auge. Ein Mann schlummert im Löwenzahn am Bahndamm, ein Zug kommt vorbei und weckt ihn, und er springt erbost auf, schüttelt die Faust, ruft ihm etwas zu, das der Lärm verschluckt, indes der Zug schon immer kleiner wird. Die Sprache schert sich wenig um die noch so tiefempfundenen Einwürfe des Sprachkritikers. Sie verändert sich in einem fort und läßt sich nicht aufhalten von der Entrüstung über ihren unsteten Wandel. Denn eben darauf läuft Sprachkritik meistens hinaus: daß die Sprache leider nicht mehr ist, was sie einmal war. Das Sprachgehör ist konservativ. Es mag nicht, was es nicht gewöhnt ist. Meist schreitet solche Sprachkritik gegen einzelne Wörter und Wendungen ein. Gegenwärtig zum Beispiel gerne gegen die Formel ich gehe davon aus, daß … (»steife Sprachprotzerei«; »außen Gips, innen hohl« und so weiter). Was aber ist es, das gegen sie spricht? Daß sie sehr häufig geworden ist – aber es gibt häufigere. Daß soviel Lauferei leicht ridikül wirkt – aber viele metaphorische Wendungen haben etwas Komisches; wenn man sie wörtlich nimmt, wörtlicher, als es das allgemeine Sprachempfinden tut; voraus»setzen« oder unterstellen« sind, faßt man das ihnen zugrundeliegen9
de, aber verblaßte Bild ins Auge, um nichts edler. So bleibt als einziger Grund: daß man früher anders gesagt hat, ich nehme an, daß … oder ich setze voraus, daß … Tatsächlich verbindet ich gehe davon aus, daß … beider Bedeutung auf eine höchst praktische Weise und kommt seinen Benutzern somit dermaßen zupaß, daß sie sich um alle sprachkritischen Einwände nicht scheren und dabei bleiben werden. Die nächste Generation, groß geworden mit diesem Wort, wird dann nicht mehr begreifen, was man einst an ihm auszusetzen hatte. Nur darum hat die Sprache überhaupt eine Geschichte, weil immer wieder gegen ihre Normen verstoßen wird und weil die Allgemeinheit einige dieser Verstöße schließlich annimmt. Der Sprachverstoß von heute ist die potentielle Sprachnorm von morgen, das, zu dessen Verteidigung die Sprachkritiker von übermorgen ausrücken werden. Man kann sich gut vorstellen, wie um die Jahrhundertwende Eltern ihre Kleinen belehrten: »Das heißt nicht Keks, das heißt Plätzchen. Wenn schon, dann sag das Cake und die Cakes.« Mit der Antwort der Kleinen: »Ja, genau, die Keks, die wollen wir.« Der nämliche Dialog hätte im vierzehnten Jahrhundert so gehen können: »Gib mir die Birn.« – »Das heißt nicht die Birn, das heißt die Bir. Birn ist die Mehrzahl.« – »Gibst du mir jetzt die Birn?« Studenten der Sprachgeschichte lernen die »Lautverschiebungen«, als habe es sich um geologische Ereignisse gehandelt, sprachliche Kontinentalverschiebungen sozusagen. Abgespielt haben sie sich wahrscheinlich so, daß einige Sprecher es interessant fanden, manche Laute 10
nicht mehr so auszusprechen wie ihre Väter. Sicher zu deren Entrüstung beharrten sie im siebenten Jahrhundert darauf, das damalige Pendant des Satzes »dat Skip fahrt up dem Water« zu einem älteren Ohren sicher grausig klingenden »das Schiff fährt auf dem Wasser« zu verfälschen, und irgendwann war dann die ganze Gegend dieser modischen Seuche verfallen. Noch größere Enttäuschungen erwarten den Kritiker, der der quasi magischen Vorstellung verhaftet ist, wenn man die Sprache bessere, bessere man auch die Wirklichkeit. Es ist eine tief sitzende Vorstellung, und in gewisser Hinsicht hängen wir ihr alle an, so wie selbst Rationalisten auf Holz klopfen, um Unglück abzuwenden. Wenn wir Wörter wie Tilgungsstreckungsdarlehen oder Verlustzuweisungsantrag nur widerstrebend herausbringen, so darum, weil sie uns unvertraut sind und weil wir die Amtsstellen nicht leiden können, auf denen vertraut mit ihnen umgegangen wird; und weil uns mißfällt, daß es das, was sie meinen, allen Ernstes geben soll. Und irgendwie machen wir uns dabei die Hoffnung, daß auch die Sachen weniger unleidlich wären, wenn es nur gefälligere Wörter für sie gäbe. Es ist natürlich eine Illusion. Eine Verschönerung der Sprache verschönert nicht die Welt, sondern nur die Sprache. Eine schönende Sprache kann das Widerwärtige sogar nur noch widerwärtiger machen. Darum wirkt so viele Sprachkritik auf sublime Weise lächerlich: weil sie Neues bekämpft, nur weil es nicht das Alte ist; weil sie hofft, die Welt zu verbessern, wenn sie ein Wort austreibt. Was die Sprachkritik bestenfalls erreichen kann, 11
ist sehr viel weniger, und sie muß dafür sehr viel mehr tun. Sie kann sich nicht damit begnügen, im Namen einer vergangenen Norm an irgendwelchen Wörtern und Wendungen herumzunörgeln. Sie muß das Bewußtsein dafür zu schärfen suchen, welchen Gedanken – treffenden oder abwegigen – eine bestimmte Sprache Vorschub leistet und welche sie auf der anderen Seite diffamiert; welche Denkweisen Konjunktur haben, wenn bestimmte Sprechweisen aufkommen; was die Sprache verrät und was sie verbirgt und was sie verdreht und was sie verfälscht; wo sie Illusionen und Vorurteile verfestigt. Das heißt, eine Sprachkritik, die nur Kritik an der Sprache ist, kommt nicht weit. Sie bleibt so stumpf wie die Kritik an einer Säge, die nicht in Betracht zieht, wozu Sägen dienen. Sprache ist nicht an sich gut oder ungut, schön oder häßlich; sie wird es nur, wenn man sie an dem mißt, was sie über die Wirklichkeit explizit zu denken oder zu sagen erlaubt oder verhindert. Die Sprache ist in langsamer, aber unablässiger Bewegung. Daß Zitty ein Szeneblatt im Spontisinn nicht sei, hätte ein Leser vor zwölf Jahren Wort für Wort unverständlich gefunden. Das Inserat Habe tierischen Bock irre Typen kennenzulernen wäre vor fünfzehn Jahren bei niemandem angekommen. Der Satz Das ist so eine Sache da gehe ich davon aus daß einer irgendwie schon selbst herausfinden muß was da so läuft und wie er da klar mit kommt nicht, der einen Grammatiker, welcher alle seine Elemente zu bestimmen hätte, zur Verzweiflung brächte und doch kein einziges neues Wort und 12
auch keine neue syntaktische Regel enthält, wäre vor zwanzig Jahren so weder gesagt noch verstanden worden. Welcher Art sind die Veränderungen, die die deutsche Sprache heute durchmacht? Die auff älligsten und raschesten ereignen sich im Wortschatz. Die Grammatik ist sehr viel schwerer beweglich. Die Lautstruktur scheint nahezu unveränderlich zu sein. Im Wortschatz, im »Lexikon« scheint uns ein rasanter Umschlag stattzufinden. Der Eindruck täuscht. Herbert Sparmann, einer der Mitarbeiter an dem großen, sechsbändigen »Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache« aus der DDR, hat aufgrund dieses vollständigsten Lexikons des heutigen Deutsch ausgerechnet, daß Neuschöpfungen nur 3,8 Prozent unseres Wortschatzes ausmachen. Von diesen wiederum sind die allermeisten, 3,1 Prozent nämlich, nur neue Zusammensetzungen alter Wörter, und 0,5 Prozent sind Umdeutungen, Umfunktionierungen alter Wörter. Tatsächlich sind wirkliche Neologismen – neue Wörter für neue Begriffe – sogar überaus rar: Sie machen gerade 0,2 Prozent aus. Daß Satzbau und Lautung jeder Änderung zäh widerstehen und auch der Wortschatz einen aufs ganze gesehen nur sehr mäßigen Anteil von Neuerungen zuläßt, hat übrigens bewirkt, daß sich die Sprache der Bundesrepublik und der DDR trotz nunmehr vierzigjähriger Teilung nicht nennenswert auseinanderentwickelt haben und dies auch so bald nicht tun werden, allen diesbezüglichen Katastrophenmel13
dungen zum Trotz. Die Syntax des in der DDR gesprochenen und geschriebenen Deutsch ist schlechterdings identisch geblieben mit der des West-Deutschen. Die einzigen Divergenzen haben sich an einigen Stellen des Lexikons eingestellt und sind entsprechend oberflächlich. Natürlich gibt es in der DDR geläufige Namen für Dinge und Institutionen, die der DDR eigen sind: Plansoll, übererfüllen, Aktivist, NVA (Nationale Volksarmee), NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet), ABF (Arbeiter- und Bauern-Fakultät), EOS (Erweiterte Oberstufe), VEB (Volkseigener Betrieb). Einige wenige Dinge heißen anders als im Westdeutschen, zum Beispiel die Datsche (Wochenendhäuschen), Plaste oder Plast (Plastik), Plastbeutel (Plastiktüte), Kombine (eine mehrfunktionelle landwirtschaft liche Maschine), Luftdusche (Haartrockner). Zuweilen macht in der DDR ein eigenes Mode-Slang-Wort Karriere, etwa tiffig (von minderer Qualität) oder oberdoll (das östliche Pendant zum westlichen »tierisch« der achtziger Jahre) oder robotern (von russisch »rabotatj«, arbeiten). DDR-eigen ist die Wendung Fakt ist, daß … (die auf Walter Ulbricht zurückgehen soll und oft dort steht, wo es im WestDeutschen heute ich gehe davon aus, daß … heißt). Und dann gibt es eine Reihe von Wörtern aus der Parteisprache, die absichtlich Partei ergreifen (parteilich selbst hat den Nebensinn »SED-konform« erhalten): Die westdeutsche OderNeiße-Linie etwa heißt Friedensgrenze, der Heimatvertriebene (der sehr parteilich so heißt, damit er die Erinnerung an die Heimat und die Ausweisung wachhalte) Umsiedler oder Neubürger. Alles dies aber addiert sich mitnichten zu 14
einer neuen, eigenen Sprache. Der Abstand zwischen den deutschen Dialekten oder auch nur zwischen den Sondersprachen der sozialen Schichten oder einzelner Berufsgruppen ist ungleich größer als der zwischen dem Deutsch des bürgerlichen und des kommunistischen Deutschland, und die Verklammerung durch das Westfernsehen wird ihn auf absehbare Zeit auch weiter gering halten. Die deutsche Sprache läßt es zu, Substantive nach Bedarf und Belieben zusammenzuleimen. Sie drängt in einem einzigen Wort eine Bedeutung zusammen, die sich sonst über ein Substantiv mit einem Attribut oder sogar mit einem Nebensatz verteilen müßte. Die Zusammenfügung spart nicht nur Platz. Sie kann dem zusammengesetzten Wort auch auf subtile Weise zu einer neuen Bedeutung verhelfen, die in seinen Komponenten, als sie noch nebeneinander stehen mußten, nicht enthalten war. Großraum und Naßzelle sind Verkürzungen von großer Raum und nasse Zelle, aber sie sind auch Wörter für besondere Unterfälle von beiden geworden. Die Leimung von Substantiven führt vor allem in der Behördensprache zu immer längeren Wörtern. Schon fallen viergliedrige kaum noch auf: Eisenbahnfrachtverkehr, Leitungswasserschadenversicherung. Selbst sechsgliedrige verkraftet das Sprachgehör, ohne aufzumucken: Autobahnraststättenwaschraum. Ab und an taucht gar ein siebengliedriges auf: Kraftfahrzeughaftpflichtversicherungspolice. Es ist billig, sich darüber lustig zu machen. Die Sache gibt es jedenfalls, und das Satzungetüm, das zu ihrer Bezeichnung gebildet 15
werden müßte, wäre die Verleimung von Substantiven unmöglich oder verboten, fiele mit Sicherheit nicht weniger abschreckend aus. Eine Klasse für sich sind jene Zusammensetzungen, die aus nichts als aus Wortsplitt bestehen und vor allem in den von der Werbung infizierten Sprachbereichen, bei der Erfindung von Firmen- und Veranstaltungsnamen immer mehr überhand nehmen: aus lateinischen oder griechischen Präpositionen, Präfixen oder Adjektiven wie Neo, Inter, Pro, Anti, Trans, Infra, Ultra, Mikro, Makro. Mini, Maxi, Pseudo, Junior, Senior, Mobil, Super, Semi, Tele und dergleichen sowie Substantiven oder ihren Stümmelformen wie Kosmo, Euro, Petro, Matic, Techno, Psycho, Senso, Mix, Media, Profi, Video, Rent, Dato, Repro, Cargo, Öko, Bio, Porno, Sado, Maso, oder, aus den Funktionärssprachen des Kommunismus kommend, Polit und Agit. Sie treten zu Ketten zusammen, die zumeist in irgendeinem modischen Wort für eine Veranstaltung (Show, Aktion, Parade), ein Gerät (System, Set) oder eine Person (Star, Freak) enden. Dieser Wortschrott läßt sich fast beliebig verschweißen: Maxi-Data-Rent-System, Mini-Repro-Media-Show. Das Hauptprinzip dieser Bildungen scheint zu sein, daß die Bausteine kurz sein müssen und daß um Himmels willen keine deutschen Bestandteile darin vorkommen dürfen, denn die würden den supermodernen, hochaktuellen Charakter dieser Super-Lingo-Happenings verderben. Was imitiert werden soll, ist wohl die englische Art, zusammengesetzte Substantive zu bilden. Jedenfalls werden hier ganze Bedeutungskomplexe an den Strukturre16
geln des Deutschen vorbei sprachlich eingemeindet. Die aus dem Nonstop-Video-Festival »ausgekoppelte« Euro-MaxiSingle hört sich jedenfalls ungemein zeitgenössisch an, so aufgedreht wie ungut. Die meisten Leimwörter sind Ad-hoc-Erfindungen, zum einmaligen Gebrauch bestimmt: Wegwerfwörter (das selbst eines ist), Ex-und-hopp-Begriffe (das auch). »Tatsächlich ist das Deutsch von heute ein reines Wörterbäckerdeutsch«, schrieb Ruprecht Skasa-Weiß. »Jeder modelt sich seine Ausdrücke, wie er sie gerade braucht – vielleicht ist eben das die auff älligste Tendenz der neueren Sprachentwicklung überhaupt.« Auf wenigen ›Spiegel‹-Seiten, in Artikeln und Anzeigen, fanden sich unter anderem: Edelsperrmüll, Potenzgeschrei, Elektronikstricker, Laubsägekulisse, Schicksalskolportage, Fitneßpedale, Künstlerkarawane, Wirbelsäulensprache, Bedienungslotse, Heizkostenteufel. Seltener werden ad hoc Verben improvisiert: absürdeln, behübschen, opern; die Berichterstattung, liest man, lückt. Bei dieser Kombinationswut kann kein Wörterbuch mehr den Ehrgeiz haben, den gesamten Wortschatz zu verzeichnen; kein Ausländer kann hoffen, sämtliche Wörter, die ihm in einer deutschen Zeitung begegnen, in irgendeinem Wörterbuch erwähnt und erklärt zu finden. Das deutsche Lexikon: in Teilen entsteht und zerfällt es stündlich. Die Tendenz (neudeutsch der Trend) zur Verknappung, zur Ökonomie, der in einem fort neue zusammengesetzte Substantive gebiert und in dem der Sprachwissenschaft ler Hugo Moser eine der Grundtendenzen heutiger Sprachent17
wicklung sieht, macht sich noch eine andere und höchst produktive Möglichkeit der deutschen Sprache zunutze: die Möglichkeit, zusammengesetzte Adjektive zu bilden. Neudeutsch ist an neugebildeten Adjektiven fast ebenso reich wie an Substantiven; auch von ihnen sind viele nur zum einmaligen Gebrauch bestimmt und zerfallen sofort wieder. Fast jedes transitive Verb kann durch die Nachsilbe -bar in ein Adjektiv verwandelt werden. Es ist verwandelbar. Das Adjektiv kann wiederum zu einem neuen Substantiv führen: Verwandelbarkeit. Durchschaubar, behebbar, begehbar und unzählige andere sind Allgemeingut. Ein startbarer oder bremsbarer Wagen erstaunte niemanden. Auch nichttransitive Verben geraten zuweilen in den Sog: Auf unverzichtbar kann nicht mehr verzichtet werden, obwohl man es gar nicht verzichten kann; haltbare Milch ist nicht solche, die sich halten läßt. Als ein Allzwecksuffi xoid hat sich -mäßig erwiesen, in dem Sinn »gemäß« wie in dem nicht koscheren Sinn »bezüglich«. Neben richtigen Ableitungen wie vorschriftsmäßig oder gewohnheitsmäßig (»gemäß der Vorschrift oder Gewohnheit«) wimmelt es heute von illegitimen Abkömmlingen: kalorienmäßig ist gegen den Nachtisch nichts einzuwenden, benefizmäßig war das Konzert ein Erfolg, horrormäßig gab der Film nichts her, frauenmäßig lief nichts, aber alkoholmäßig. Am produktivsten ist aber die Möglichkeit, Substantive und Verben mit einem Adjektiv zu einem neuen Begriff zusammenzuleimen. Die Möglichkeit ist alt, wie Wörter wie himmelblau, seetüchtig, leidgeprüft, feuergefährlich bewei18
sen, wurde aber lange nur sparsam herangezogen. Heute erst zeigt sie, was in ihr steckt. Ausschlaggebend für ihren Erfolg ist die Tatsache, daß das Substantiv (oder Verb) in keiner bestimmten Beziehung zu dem angehängten Adjektiv stehen muß; es reicht, daß es in irgendeiner Beziehung zu ihm steht. Ein jugendfreier Film ist frei für die Jugend, eine busenfreie Show ist nicht frei für Buseninhaberinnen und auch nicht frei von Busen, sondern frei an den Busen, das alkoholfreie Getränk ist frei von Alkohol, und ein vogelfreier Mensch in der zweiten Bedeutung des Worts (in der ersten heißt es soviel wie »freigegeben für die Raubvögel«) ist frei wie ein Vogel. Obwohl viele Beziehungen zwischen den beiden Komponenten denkbar wären, entsteht kaum jemals irgendein Zweifel. Welche Beziehung zwischen den beiden Komponenten besteht, muß mit sprachlichen Mitteln nicht ausgedrückt werden, es reicht, daß beide nebeneinander stehen, um den neuen Begriff mit ausreichender Schärfe sofort zu erkennen: drehen, freudig ergibt drehfreudig; fahren, tüchtig fahrtüchtig; heilen, kräftig heilkräftig; Europa, weit europaweit. Vor allem die Sprachen der Wissenschaft, der Bürokratie und der Werbung haben sich aus dieser Quelle reichlich bedient, aber die Alltagssprache folgt ihnen. Während Soziologen wertneutrale Formulierungen für erklärungsbedürftige Zusammenhänge suchen, während erfolgsorientierte Bürokraten bereichsspezifische und planungsrelevante Daten erheben, um bürgerbezogene und möglichst kostenneutrale flächendeckende Maßnahmen für strukturschwache Gebiete einzuleiten, waltet die grippegeschädigte Hausfrau pillen19
müde in lauffestem Schuhwerk, fersenverstärkten Strümpfen und hautenger, atmungsaktiver und auch noch pflegeleichter Kleidung qualitätsbewußt mit ihrem reinigungsaktiven und hoffentlich umweltfreundlichen Waschpulver inmitten der reparaturanfälligen Geräte ihres schadensträchtigen und leider nicht idiotensicheren, noch nicht einmal babyleichten Haushalts und setzt sich zwischendurch, eine Tasse röstfrischen und aromastarken Kaffees zu trinken. Angstfrei ist sie nicht, denn naturbelassen ist noch nicht einmal der Salat, und all die kochtopffertigen Eßwaren, die ihr medienadäquat angepriesen worden waren, könnten auf unerwünschte Weise geschmacksintensiv sein. Und was dann? Eine besondere Karriere hat das Adjektiv -fähig gemacht. Wenn Kontrahenten (die im übrigen eigentlich keine Gegner, sondern Vertragspartner sind) dialogfähig, nämlich fähig zum Dialog sein können: warum dann nicht auch konfliktfähig und zukunftsfähig und friedensfähig? Aber was hat man sich unter einem sozialfähigen Zeitgenossen vorzustellen? Einen gesellschaftsfähigen jedenfalls nicht. Von hier ist es nur noch ein kurzer Schritt zum verhandlungs- oder kompromißfähigen Papier, und es fällt gar nicht mehr auf, daß damit dem Papier eine Eigenschaft zugesprochen wird, die eigentlich seine Urheber haben müßten. Aber die angestammte Rolle des Adjektivs, nämlich Attribut eines Substantivs zu sein, kommt ohnehin immer stärker ins Wanken. Bei der schwulen Kneipe handelt es sich nicht um eine Kneipe mit dem Attribut der Homosexualität, sondern um eine Kneipe für Schwule. Die progressive Buch20
handlung ist nicht selber fortschrittlich, sondern ein Laden für Fortschrittliche. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem biodynamischen Marktstand, der alternativen Reisegruppe, dem kreativen Zweisitzer (der ein spilleriges Sofa ist, das man sich selber bunt beziehen soll). Das Adjektiv wird also in der doppelten Art verwendet, in der etwa auch der lateinische Genitiv verwendet wurde. Amor dei, man erinnert sich: »die Liebe Gottes« und »die Liebe zu Gott«, subiectivus und obiectivus. Fälle wie politischer Frühschoppen oder anthroposophische Schule zeigen, wie es zu dem »objektiven« Gebrauch des Adjektivs kommen konnte: Es ist eine Schule, die sowohl selber anthroposophisch ist (geführt wird) als auch von Anthroposophen besucht wird. Zu den beiden wichtigsten Konsumartikeln des Zeitgenossen gibt es leider kein Adjektiv: Auto und Fernseher. Auf die Dauer wird dieses Manko nicht hingenommen werden. Schon tauchen ab und zu erste televisionäre Überlegungen auf. Und beim Auto trifft es sich gut, daß es vom Automobil abgeleitet ist, dem »Selbstbeweglichen«. Da liegt es nahe, automobil als Adjektiv neu zu erfinden, im Gegensatz zu automobilistisch im Sinne von »das Kraftfahrzeugwesen betreffend«. Wer empfindlich bleibt für ursprüngliche Bedeutungen, wird der Sprache allenfalls so etwas wie automobile Winterreifen zumuten. Wer aber von derlei Skrupeln frei ist, brummt als automobiler Parasit (Beifahrer) mit automobiler Höchstgeschwindigkeit voll ab in die automobile Zukunft. (Daß Fernsehen Fernsehen heißt, bereitet der Sprache auch noch andere Ungelegenheiten. Ein Fernseher ist der Appa21
rat und man selber, der vor ihm sitzt. Was tut man da? Man sieht Fernsehen, man sieht das Sehen. Das wurde verkürzt und rationalisiert zu man sieht fern. Nun aber ist nicht mehr klar, ob fern Akkusativobjekt oder Adverb ist: Man sieht was? oder wie? Bei sehen fällt diese Unklarheit kaum auf; um so mehr aber, wenn man dafür das umgangssprachliche gukken einsetzt. Neben ich gucke fern, wo das fern als Adverb interpretierbar ist, hört man immer öfter ich gucke Fernsehen – und damit ist aus dem intransitiven gucken eigentlich unstatthaft ein transitives Verb geworden.) Schon vor Jahrzehnten eingebürgert haben sich Ableitungen – meist Verkürzungen – wie Auto, Photo, Abo(nnement), Tacho, Trafo (für Transformator) oder Profi, Uni, Krimi, Sozi, Nazi. Im Weltkrieg kamen Ami, Tommy und Russki dazu. Aber während es über lange Zeit hin bei einer Handvoll solcher Bildungen geblieben war, begannen sie Anfang der siebziger Jahre dank dem Bestreben, witzig zu sein, plötzlich ins Kraut zu schießen. Den Weg gebahnt hatten zweifellos deutsche Diminutive wie Schatzi oder Bubi, dazu die analogen englischen Ableitungen, die über die Jugendsprache nach und nach ins Deutsche einsickerten: Teenie, Hippie, Groupie, Roadie, Smilie, Junkie, Softie, Zombie, Oldie (dieser verwandelte sich beim Import aus einem Wort für alte Schlager und Filme in eines auch für alte Autos); und schließlich wohl auch die Präsenz vieler romanischer Wörter auf -i und -o, vom Macho bis zu den Spaghetti. Nun jedenfalls sind sie da, die flotten Verniedlichungen, bald eher höhnisch, bald eher zärtlich, die umständliche lange Wörter klein kriegen, und 22
kein Wörterbuch wäre schnell genug, sie alle festzuhalten, denn in einem fort entstehen neue und verschwinden teils auch wieder: der Brummi (Lkw) und der Bulli (Transporter), der Multi, die Muni (Munition), der Molli (Molotowcocktail) und der Synthi (Synthesizer), der Kombi und der Compi (Computer), die Ini(tiative) und die Konfi (Konferenz) und der Quicki, in der DDR der Trab(b)i (ein Motorfahrzeug der Marke Trabant) und der/die Stasi (Staatssicherheitsdienst); und all die vielen i-Leute: der Heini und die Tussi (von Thusnelda), der Schwuli und der Kanni(-bale), der Dummi und der Bundi (Bundeswehrangehörige), der Flippi (der ausgeflippt ist oder herumflippt) und der Chauvi (der heute ein Mann ist, welcher Frauen für Menschen zweiter Klasse hält, und damit jede Beziehung zu dem Ur-Chauvin verloren hat, dem patriotischen Rekruten der französischen Komödie), der Sponti (anscheinend ein aggressiver Protestjugendlicher) und der Sympi (Sympathisant), der Müsli (ein Bio- oder Öko-Freak), der Spasti (der normalerweise kein Spastiker ist, sondern jemand, der seine Bewegungen nicht ganz unter Kontrolle zu haben scheint, der frühere »Tolpatsch«) und der Hirni, der Pooni und der Baggi (rotgekleidete Guru-Abhängige), der Schlaffi und der Laschi und der Schlappi (und das Chappi für den Hund), der Dissi (Dissident) und der Zoni (DDR-Bewohner), der Grufti (Greis) und der Transi (Transvestit), der Abi (Ausbilder) und der Azubi (Auszubildender) und der Studi (Student), der Zivi (Zivildienstleistender oder Zivilfahnder), der Knasti und der Knacki (der aber nicht nur ein Strafgefangener ist, sondern auch ein knackig wirkender 23
Mensch), der Schleimi und der Schmusi und all das andere Schickimicki. Die Ableitungen auf -o sind weniger zahlreich: Demo(nstration), Info(rmation), Dispo(sition), Deo und Video, Hetero und Homo, Brutalo, Schizo, Sado, Maso, Porno, Disko, Anthro(posoph), Mayo(-naise), Realo (Realpolitiker im Gegensatz zum Fundi, dem Fundamentaloppositionellen). Aber auch hier ist das Prinzip erkannt und akzeptiert und wird weiterhin produktiv sein. Künftige Deutschschüler werden eine neue Klasse von Substantiven zu lernen haben, die auf -i und -o, und sie werden sich ärgern, daß auch denen ihr grammatisches Geschlecht nicht anzusehen ist. Die ergiebigste Quelle für sprachliche Neuerungen ist die Jugendsprache; ihr Hang zum Nonkonformismus hält die Jugend auch zu sprachlicher Absonderung an. Aber die meisten ihrer Schöpfungen verschwinden, wie sie gekommen sind; vieles überlebt die Saison nicht, wird morgen hoffnungslos veraltet wirken und übermorgen völlig vergessen sein. Zu den jugendsprachlichen Wörtern und Wendungen, die die Kurve gekratzt haben, in die Gemeinsprache übernommen wurden und aus ihr einstweilen nicht mehr wegzudenken sind, gehören: der Typ (schwach flektiert), der den älteren Kerl weitgehend abgelöst hat, stehen auf (mit dem Akkusativ: ich stehe auf dich), auf die Straße gehen (früher hätte es »auf die Barrikade steigen« geheißen), jemanden anmachen (in den beiden Bedeutungen von »jemanden belästigen« sowie jemanden anhauen und sein Interesse erregen), 24
Bock haben auf (statt »Lust zu«), null Bock (keine Lust), Zoff (Streit, Putz), sich reinziehen oder reinschieben (willst du dir übers Wochenende etwa drei Videos reinziehen?), (an)törnen, ausflippen, nerven und nervig (früher hätte es »enervieren« geheißen), stressig und gestreßt (statt »mühsam« und »angestrengt«). Unentbehrlich geworden ist auch die Szene, wie die sie nennen, die nicht zu ihr gehören – die anderen sagen Scene (ssihn). Ungefähr ist die Scene das Milieu, aber nicht jedes, sondern ein besonderes, nämlich alternatives: die Spontiscene, die Kneipenscene, die Schwulenscene, allgemein die Stätten der Jugendkultur (Kneipen, Diskos, Programmkinos, Jeansläden, Popkonzerte). Aber vermutlich wird es eines Tages auch eine Busineßszene geben. Das offensichtlichste Merkmal jeder Jugendsprache sind ihre Elative: die Adverbien, die einen hohen Grad ausdrükken. An wirksamen Elativen besteht ein großer Bedarf – schließlich will jeder Sprecher zum Ausdruck bringen, daß etwas nicht bloß so, sondern in einem hohen Maße der Fall ist. Und die Elative verblassen schnell. Was heute noch frisch einen hohen Grad bekundete, wirkt bald schon lasch und müde und muß durch neues Material ersetzt werden. Wer einen jugendsprachlichen Text zu datieren hätte, hielte sich am besten an seine Bezeichnungen für »sehr«, »sehr gut«, »sehr schlecht«. Knorke muß Anfang des Jahrhunderts sein; schau (ein schaues Buch) fünfziger Jahre. Und wer Jugendsprache ohne großen Aufwand faksimilieren will, braucht nur über einen im übrigen völlig normalen Text ein paar aktuelle Elative zu verstreuen: in den achtziger Jahren ein echt, irre, un25
heimlich, geil, affengeil, ätzend, tierisch, super, grell, derb. Der mokante Ton, mit dem sich die nicht mehr so Jugendlichen über derlei Schöpfungen erheben, ist ganz und gar unangebracht. Ihr wahnsinnig (das hat mir wahnsinnig gefallen) ist kein bißchen richtiger und edler als das irre der Jugend; das völlig verblaßte sehr heißt ursprünglich nichts anderes als »schmerzhaft«, »versehrend« und war sozusagen das ätzend des Althochdeutschen. Sollte tierisch erhalten bleiben (die Chancen sind nicht groß), so wird es in ein paar Jahrhunderten etwa tirsch heißen, und außer ein paar Etymologen wird sich niemand an seine Herkunft erinnern. Daß es erhalten bleibt, ist allerdings nicht wahrscheinlich. Verschleiß und Ersetzung dieser Wörter vollziehen sich immer schneller; gebremst werden sie am ehesten noch dadurch, daß der Vorrat an geeigneten Vokabeln nicht unerschöpflich ist. Es ist erst einige Jahre her, da redete man von den ins Deutsche eindringenden Fremdwörtern als von einer »Seuche«. Dahinter stand die (völkische) Vorstellung, gesund sei nur eine Sprache, die ihre Reinheit bewahre; auch die, daß die Sprache den Fremdwortbefall abwehren und eindämmen könne und solle, und daß er ein vorübergehendes Phänomen sei: ein paar vereinte Anstrengungen, und das Deutsche erglänze wieder in alter Reinheit. Solche Reden sind inzwischen mehr oder weniger verstummt. Es ist klar geworden, daß die scharenweise in die deutsche Sprache eingewanderten Fremdwörter, deren Zahl von Tag zu Tag weiter steigt, durch nichts in der Welt wieder ausgebürgert werden können. Es handelte sich nicht um eine 26
temporäre Erkrankung, eine passagere Immunschwäche. Es handelte sich um eine dauerhafte Öffnung der Sprachgrenzen. Mit den Waren und den Lebensgewohnheiten kamen auch die Wörter aus dem Ausland; und besonders reichlich strömten sie aus der Leitkultur der Gegenwart, der angelsächsischen. Gefördert wurde dieser Prozeß durch die Auslöschung ihrer Geschichte, was den Nachkriegsdeutschen am liebsten gewesen wäre, und deren damit einhergehende tiefe Identitätskrise: Alles Deutsche, auch die deutsche Sprache, war plötzlich gar nicht mehr großartig, es war sogar so ziemlich das Hinterletzte, und mit dem englischen Wort konnte man sich als Angehöriger der zivilisierten Welt ausweisen. Wenn der Widerstand dagegen zusammengebrochen ist, dann aber wohl nicht nur wegen der Unaufhaltsamkeit des Ansturms. Fremdwörter werden zum Entsetzen der verbliebenen Puristen nicht mehr als etwas Böses gesehen; sondern oft geradezu als ein Gewinn. So sah auch Goethe sie schon: »Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt« (»Maximen und Reflexionen«). Das Englische selbst ist ein Beispiel dafür, wieviel Fremdes eine Sprache verkraften kann, wie sehr sie von Fremdem sogar profitiert. Das Englische entstand, als das Angelsächsische sich vollsaugte mit der Sprache der normannischen Eroberer. Es ist eine Hybridisierung aus Angelsächsisch und Normannisch, über die ein halbes Jahrtausend später noch einmal eine Welle von Latein hinwegging. Zu Shakespeares Zeit waren die beiden Sprachen längst miteinander 27
verschmolzen. Hätte das Sprachgefühl sie noch getrennt, so hätte sich die purpurnste Stelle der englischen Literatur etwa so angehört: Sein oder Nichtsein, das ist die Question. Ob’s geistig nobler ist, die Schlingen und Pfeile einer outrageusen Fortune zu souffrieren oder die Armes zu ergreifen gegen ein Meer von Troubles und ihnen ein Ende zu machen en les opposant … Das Deutsche macht heute eine ähnliche Invasion aus dem Englischen durch. Es nimmt Schwärme von Gastwörtern auf, verleiht ihnen unbefristete Aufenthaltserlaubnis und wird die meisten von ihnen schließlich einbürgern. Es wird daraus gewandelt, aber auch bereichert hervorgehen. Schon einmal hat es eine solche Invasion nicht nur verkraftet, es hat davon profitiert – vom siebzehnten zum neunzehnten Jahrhundert, als ungezählte Wörter und Wendungen aus dem Französischen eindrangen. Viele sind zwar noch heute als Lehnwörter erkennbar, dabei aber doch so »deutsch« geworden, daß es gar keine deutscheren Alternativen zu ihnen gibt. Hierher gehören die Gallizismen der vornehmeren Kreise, für die Französisch lange die Hauptsprache war, der Leute mit Esprit und dazu Portemonnaie, die zur auf Etikette bedachten Hautevolee gehörten, in Palais residierten, auf dem Trottoir der Allee ums Karree flanierten oder promenierten (für das heute der englische Block eingesprungen ist), in ihren Equipagen über Chausseen zum Ball oder zur Redoute 28
rollten (einer Fete, die besonders etepetete – »etre peut-être« war), die sich das Menü von Domestiken servieren, die Perücke vom Friseur kräuseln, den Koffer vom Portier schleppen ließen, auf den Fauteuils und Chaiselongues ihrer komfortablen Salons mit Balkon und Parkett-Fußboden Liköre nippten, in Hotels abstiegen, mit vorgebundener Serviette im Restaurant dinierten, Roben um ihre Taille schlangen, Kostüme und Blusen und Négligés trugen, Parfüms benutzten, ihren Teint im Park der frischen Luft aussetzten und, wie in ihrem Milieu üblich, sich vom Feuilleton ihrer Journale auseinandersetzen ließen, daß im Theater die Soubrette in der famosen Szene mit dem Leutnant etwas malade gewirkt hätte, sowie andere sensationelle und aktuelle Nuancen, die sie hinterher bei den Amouren mit ihren Mätressen … Die weniger noblen Kreise, unbekümmerter um Bedeutung, Aussprache oder gar Schreibweise, deutschten derweil die von Hugenotten, Revolutionsflüchtlingen und napoleonischen Soldaten übernommenen französischen Brocken dermaßen brachial ein, zum Beispiel in den Berliner Stadtdialekt, daß ihnen heute ihr Ursprung oft gar nicht mehr anzumerken ist: der Deez (»tête«) und der Feez (»fête«), blümerant (»bleumourant«) und ratzekahl (»radical«), totschick (»tout chic«) und mutterseelenallein (»moi tout seul-allein«) und forsch (»avec force«), plärren (»pleurer«), die Kinkerlitzchen (nämlich die »quincailleries«, der Haushalttrödel) und den Muckefuck (»mocca faux«) und das sonderbare alle in der Bedeutung »ausverkauft« »aufgebraucht«, das von »allé« (fort) kommt. Die deutsche Sprache wäre um vieles dürftiger ohne dieses 29
Importgut. Sie wäre es auch ohne die heute einströmenden Anglizismen. Oft wird das englische Wort importiert, weil es keine deutsche Bezeichnung für den betreffenden Sachverhalt gibt und die Übernahme einfacher ist als die Neuerfindung und Durchsetzung eines deutschen Pendants; oder weil die Übersetzung zu umständlich klänge (so hat vielleicht noch die Betriebsleitung, aber kaum noch die Betriebsleitungstechnik eine Chance neben dem Management); oder weil die Wörter zu Bereichen gehören, in denen Englisch die internationale Verkehrssprache ist, etwa beim Luft verkehr, der dem Neudeutschen das Ticket und das Gate, den Piloten und den Jet und das Cockpit, das Einchecken und die Airline beschert hat – oder weil den deutschen Äquivalenten, wo sie vorhanden sind, etwas fehlt, nämlich die Markierung »jung, modern, schwungvoll«, die Importen aus Amerika automatisch anhaftet. Erst die Sprache des Jazz und dann die der ganzen PopMusik bewahrte die Wörter ihres Ursprungs: Band, Sound, Drums, Riff, Beat, Chorus, Swing, Song, Soul, Folk, Drive, Power, Feeling … Die Sprache der Pop-Kultur ließ sich vollaufen mit Anglizismen, ja sie ist ein einziger, mit deutschen Funktionswörtern gesprenkelter Anglizismus: Pop, Top, Flop, Stop, Tip, Trip, Dip, Hit, Gag, Fan, Freak, Star, Crack, Insider, Outsider, Man, Boy, Lady, Girl, People, King. Der Pop-Mensch trägt Jeans und Shirts, klebt Stickers an sein Auto, pinnt Posters an die Wand, steckt Buttons an die Jacke, hat Jingles (gesunge30
ne Reklamesprüche) im Ohr und Jokies in der Seele, ist total easy und cool. Wir haben auf dieser Fuzzitour ein paar Gigs gemacht, um unsere Instrumentals zu featuren … (Spliff ). Die Nase im Trend, setzte sich auf ihren Partys die Schikkeria – der Jetset, die (High) Society, auch die Beautiful People genannt – mit den Drinks in die Lobby oder an den Pool und spielte VIP oder in. Film und Fernsehen zeigten lückenhaft synchronisierte Thriller mit viel Action, in denen Cowboys, Killer oder Trukker dem Showdown entgegenrasten. Der Normalmensch schließlich – ihm bleibt nur, sein Leben zwischen Job, Instant-Nahrung und Sex zu teilen, Stress und Trouble zu meiden, den Body mit Beauty-Lotionen und Aftershave und diversen Sprays oder Fluids zu pflegen und im übrigen des Weekends zu harren, da er sein Hobby herausholen kann. Einige Fachgebiete etablierten sich so rasch, daß die sprachliche Eindeutschung nicht nachkam, zum Beispiel die elektronische Datenverarbeitung. Gerade noch hat die Schnittstelle das Interface verdrängt, der Bildschirm »die« Screen, der Absturz »den« Crash, der Rechner aber nicht mehr »den« Computer (eigentümlich, welches grammatische Geschlecht wir diesen englischen Substantiven zuteilen, die in ihrer Heimat allesamt Neutren sind). Für Hardware, Software, Chip, Cursor, Code, Input, Output, Floppy, Compiler, Assembler, Listing, ROM (Read-Only Memory, »Festspeicher«) und RAM (Random Access Memory, »Direktzugriffspeicher«) und vieles andere mehr gibt es bisher kein kon31
kurrenzfähiges deutsches Wort. Die jähe Ausbreitung des Heimcomputers wird der Sprache viele Novitäten bescheren, unter anderem Wörter für all die Routinen, nämlich all die üblichen Prozeduren am häuslichen System: booten (das Betriebssystem einlesen und mithin »starten«), loaden (das Programm einlesen), scrollen (den Text auf dem Bildschirm auf- und abrollen), formatieren (dem Text ein Format zuteilen), listen (ein Programm ausschreiben), saven (sichern durch Aufnahme in den Speicher), clearen (den Bildschirm freimachen), pippen (auf eine andere Diskette kopieren – von dem Befehl PIP, dem Kürzel für »Peripheral Interchange Program«, einem Programm für den Datenaustausch zwischen einzelnen Geräten der Peripherie, die in dieser Bedeutung ebenfalls neu ist), printen (ausdrucken). Nicht ausgeschlossen, daß Computerfexe einige dieser Ausdrücke bald auch übertragen gebrauchen werden: Pipp mir mal den Parmesan herüber! Und immer voran die Werbebranche, die von Berufs wegen Moden macht und sich kein Attribut der Modernität entgehen lassen kann. So sitzen die PR-Leute, die Art-Directors und die vom Marketing mit ihren Drinks in der Lounge, lauter effiziente Top-Kräfte mit einer Menge Know-how (im Englischen heißt das übrigens weniger ordinär »expertise«), körperlich fit, sogar topfit, die Geheim-Tips ihrer Bosse, und warten auf das Team der Sponsoren, jene um das ProductImage besorgte Crew, der sie die Displays des Layouts mit den Samples des neuen Designs für die recycelbaren Spray-Dosen präsentieren wollen, und erzählen sich die Story vom Ghost32
writer, diesem Playboy, der mitten in der Talkshow wohl von wegen der Midlife-Crisis einen Blackout hatte und dem Model das Dressing über den Dress goß. Eine Zigarettenfirma ließ diese Anzeige aufsetzen: Wildlife-Boat Safari. Elephants und Buffalos am Fluß. Superlodges und Sonnenuntergänge. Karibasee, Victoria-Falls. 5 Tage zum Großwild-Foto-Shooting nach Zimbabwe, Afrika. Auf ins Action-Weekend. Eckhard Henscheid fand es sad, daß die Zielgruppe anscheinend das Wörtchen and noch nicht drauf hatte. Die meisten Wortimporte sind Substantive. Adjektiven ist ihre Bedeutung weniger leicht zu entnehmen; so haben erst relativ wenige ihren Weg ins Deutsche gefunden: smart, clever, cool, happy, light, sweet, fit, soft, neuerdings von der Werbebranche unter dem Einfluß von »saftig« zu softig ausgebaut (der Milkshake, den Sie sich selber softig schlagen). Größer ist die Zahl der Verben: kicken, swingen, rocken, joggen, tarnen, flippen, killen, scratchen, stretchen, pushen, jobben, jetten (die es beide im Englischen nicht gibt). Eine besondere Karriere hat checken (auch abchecken) gemacht: Heißt es im Englischen in der Hauptsache »nachsehen, prüfen«, so hat es im Deutschen zusätzlich die Bedeutung »merken« angenommen (Er hat nicht gecheckt, daß sie ihn voll verarscht). Was die Eingemeindung von Verben erschwert, ist der Umstand, daß sie sich flektieren lassen müssen. Managen, handlen, stylen, designen, relaxen, leasen, powern, layouten – soweit machen sie keine Sperenzien, aber heißt es er hat gemanagt oder gemanaged? gehandled oder dann 33
doch gleich gehandelt? er ist relaxt oder relaxed? sie designt oder designed? sie hat gelayouted oder outgelayed oder layoutet oder wie? Einen gangbaren Weg, solche englische Verben zu akkommodieren, hat die deutsche Sprache noch nicht gefunden. Das Englische beeinflußt das Deutsche aber noch auf eine andere, sehr viel weniger auff ällige Art. Zu den offenen treten immer mehr heimliche Anglizismen: Wörter und Wendungen, die sich auf den ersten Blick so urdeutsch ausnehmen wie aus Grimms Wörterbuch und die dennoch englischer Herkunft sind. Entweder handelt es sich um wörtliche Übersetzungen; oder ein fast vergessen dahinvegetierendes Wort wurde unter dem Einfluß des Englischen wiederentdeckt und reaktiviert; oder ein deutsches Wort erhielt unter dem Einfluß des Englischen zusätzlich eine ganz neue Bedeutung, die ihm bisher fremd war; oder seine althergebrachte Bedeutung wurde von einer aus dem Englischen stammenden Neu-Bedeutung unterwandert und mehr oder weniger außer Kraft gesetzt. Realisieren etwa – früher hieß das nichts anderes als »zu Geld machen« und vor allem »verwirklichen«: Solche Hirngespinste lassen sich nicht realisieren. Noch in um 1960 gedruckten Fremdwörterbüchern taucht es ausschließlich in diesem Sinn auf. Um 1970 aber nahm es dann auch noch die Bedeutung von »to realize« an: »verstehen«, »sich klar machen«: Er realisiert nicht, daß er ein hohes Risiko eingeht. Ähnliches ist kontrollieren widerfahren. Eigentlich hieß es 34
»überprüfen«: An der Grenze wurden wir nur flüchtig kontrolliert. Heute heißt es auch noch »beherrschen«: Die Aufständischen kontrollieren den ganzen Norden. Ein kontrolliertes Experiment ist keineswegs ein »überwachtes«, auch kein »überprüftes« oder »beherrschtes« Experiment, wie man in unbeholfenen Übersetzungen lesen kann; überwacht wird hoffentlich jedes Experiment, sonst hört es schnell auf, eines zu sein. Vielmehr handelt es sich um eines, bei dem alle erdenkliche Sorgfalt darauf verwendet wurde, daß die bei ihm anfallenden Resultate tatsächlich von den in Frage stehenden Faktoren hervorgebracht wurden und nicht von irgendwelchen ganz anderen oder dem puren Zufall. Konfirmieren hieß fast immer nur »einsegnen«; heute heißt es auch »bestätigen«. Involvieren (»in sich beschließen«, aber auch »verwickeln«) war recht ungebräuchlich und wurde erst in Dienst genommen, als die englische Sprache vorgemacht hatte, wie praktisch es ist, ein unumständliches Wort für den gleichen Begriff zu haben. Implementieren (»ins Werk setzen«, »durchführen«) gab es gar nicht; als eines der Lieblingswörter der englischen Wissenschaftssprache hält es heute seinen Einzug ins Deutsche. Ähnliches gilt für in- und dekrementieren (»um einen bestimmten Wert erhöhen oder vermindern«). Die neue Computersprache strotzt nicht nur von offenen, sondern auch von heimlichen Anglizismen. Warum die Übersicht zu Beginn eines Programms im Englischen menu heißt, ist klar. Menu heißt »Speisekarte«. Der Computer reicht einem sozusagen die »Karte« seiner Leistungen. Ein 35
Menü aber war im neueren Deutsch nur noch die Speisenfolge, also das Essen selbst. Nun wurde es zu einer Übersetzung des Computer-menu. Man gewöhnt sich wunderbar schnell an solche Merkwürdigkeiten; nur Novizen fragen sich vergeblich, ob die Hacker, die sich an menügesteuerten Textprogrammen zu schaffen machen, eine besonders verfressene Spezies sind. Was machen diese Hacker? Sie haben das Paßwort (nicht etwa, obwohl es auf das gleiche hinausliefe, das »Kennwort« oder die »Losung«). Damit adressieren sie ihr System – und das heißt nicht etwa, daß sie ihm Adressen aufk lebten, sondern daß sie es »ansprechen« (um 1960 war »beanschriften« noch die einzige Bedeutung von adressieren; nun hat es auch noch die des englischen »to address« übernommen). Wenn sie es dann adressiert haben, beginnen sie mit dem Editieren und eventuell dem Indexieren, beides Importe aus dem Englischen, die verfügbare deutsche … nun ja, die wohleingeführte Fremdwörter (edieren und indizieren) mit dem Rükken an die Wand gedrückt haben. Oder um in die Niederungen der Alltagssprache hinabzusteigen: Feuern hieß einst »rot werden« und später »heizen«; in Anlehnung an »to fire« wurde es zu »hinauswerfen«. Gefeuert wird, wer im Rattenrennen nicht mithält (»rat-race« evoziert Laboratoriumsratten in der Tretmühle). Demnächst werden Kandidaten auch hierzulande rennen müssen (»to run«), wenn sie sich um ein Amt bewerben. Um ein Amt in der Administration. Die war früher nichts als eine »Verwaltungsbehörde«. Heute ist daraus nach 36
Washingtoner Vorbild nicht weniger als der gesamte gewählte »Regierungsapparat« geworden. Der gewählte Politiker entwickelt Aktivität oder, mit unserer Vorliebe für den Plural, Aktivitäten. Das wäre einst fast eine Beleidigung gewesen, denn es hieß soviel wie »Betriebsamkeit«; heute sind alle Arten von Aktivität (nämlich, wie das englische »activity«, »Tätigkeit« schlechthin) durchweg eine Empfehlung. In seinem Amt dann ist Kompetenz gefragt. Noch Ende der 60er Jahre bedeutete das nur »Zuständigkeit«: Das fällt nicht in Ihre Kompetenz! Jetzt bedeutet es auch noch, was das englische »competence« bedeutet: »Befähigung«. Seltsamerweise haben die Linguisten, besonders die, die scharf darauf waren, jede Spur von Provinzialismus abzuschütteln und die Höhenluft internationaler Debatten zu atmen, sich dieser Art wortwörtlicher Eindeutschung besonders hemmungslos hingegeben. Lässig unterscheiden sie Kompetenz und Performanz des nativen Sprechers (also etwa die »Sprachbefähigung und das tatsächliche Sprechen in der eigenen Muttersprache«), und ein noch leichter Satz etwa von Chomsky hört sich auf deutsch dann so an: Das Kind muß eine generative Grammatik seiner Sprache auf der Grundlage eines relativ restringierten Maßes von Evidenz erwerben. Kein Wunder, daß diese Wissenschaft eine Sache für Esoteriker geblieben ist. Nicht nur, daß sie viele tatsächlich neue Begriffe enthält, wie es sich für eine originelle Disziplin gehört; sie befremdet auf Deutsch überflüssigerweise doppelt, weil sie auch das Vertraute (etwa den simplen Begriff »beschränkt«) wörtlich übersetzt und damit fremdartig ausdrückt (»re37
stringiert«). Was wäre das Gegenteil von »beschränkt«? Für den Linguisten natürlich elaboriert. Der Bedeutungsgewinn gegenüber »einfach« und »kompliziert« ist nahe Null. Für Evidenz aber möchte ich wärmstens plädieren. Im Deutschen war immer evident, was »auf Anhieb einsichtig« war. Für das englische »evidence« gibt es keine wirklich brauchbare deutsche Übersetzung. Es ist weniger als ein »Beweis«, aber mehr als ein bloßes »Indiz« – irgend etwas dazwischen. Gerade dafür aber hätte auch das Deutsche ein respektables Wort dringend nötig, vor Gericht wie in den Wissenschaften. In striktem Sinn zu »beweisen« – nämlich so, wie sich ein mathematisches Gesetz beweisen läßt – ist in den Verhaltenswissenschaften gar nichts. Trotzdem haben manche Hypothesen ein empirisches Material auf ihrer Seite, das über den Status bloßer »Indizien« weit hinausgeht. Zu seiner Bezeichnung könnte man gut das Wort Evidenz heranziehen. Es meinte dann (und auch dieses meinen ist ein heimlicher Anglizismus): etwas endgültig schwer Beweisbares, für das gleichwohl gute Gründe sprechen. Und manchem Mißverständnis wäre vorgebeugt. Wir sind an vielen Plätzen der Erde vertreten, wirbt eine Firma für sich. Sie meint: »an vielen Orten« und hat einfach »many places« wörtlich übersetzt – einer der absolut überflüssigen heimlichen Anglizismen. Nicht überflüssig scheint dagegen das Netzwerk zu sein. Wie sollte man etwa ein network der Selbsthilfegruppen anders und treffender nennen? Schon in der ersten Zeit deutscher Amerikanophilie war es ja ärgerlich, daß sich das »Amerikanische-Kräfte-Netzwerk«, 38
der vielgeliebte AFN, partout gegen seine Eindeutschung sperrte; »Amerikanischer Wehrmachtssender« wäre semantisch in Ordnung gewesen, emotional aber völlig daneben. Ein Medium war einst ein »Vermittler« und dann auch noch eine Art »Spukagent«. Um 1970 hatte die Werbewirtschaft es in seiner englischen Bedeutung »Werbeträger« eingeführt. Als Allerweltswort für eine »Informationsvermittlungsmethode oder -anstalt« sollte es seitdem Karriere machen. Das Album (wörtlich »das Weiße«) war nichts als ein Sammelbuch. Unter dem Einfluß des Englischen ist daraus die »Sammellangspielplatte« geworden. Die Promotion war einzig die »Erlangung der Doktorwürde«; heute werden auch Waren … nein, nicht promoviert, sondern promotet. Das deutsche Rudiment, das die Bedeutung »Restbestand«, »Überbleibsel« hat, ist keineswegs die Entsprechung zum englischen »rudiment« (»Anfangsform«, »Ansatz«), wird aber immer öfter so gebraucht. Ohne die Wörter Effizienz, effizient ließen sich manche deutschen Sätze nur noch halb so effizient formulieren. Manche dieser Verschiebungen sind außerordentlich subtil. Ich glaube mich zu erinnern, daß noch vor zwanzig Jahren niemand gesagt hätte: Der hätte mich glatt getötet. Damals noch hätte es »umbringen« oder »ermorden« heißen müssen; das durchaus vorhandene töten hätte einen viel zu klinischen Klang gehabt – getötet wurden vielleicht Versuchstiere. Dann aber wurde es zu einer kommoden direkten Übersetzung von »to kill«. Ähnlich haben lieben und hassen unter dem Einfluß von »to love« und »to hate« viel 39
von ihrer einstigen emotionalen Schärfe verloren; ich liebe Quizsendungen oder ich hasse Ketchup wären früher kaum vorstellbare Sätze gewesen. Das deutet schon an, woher viele dieser heimlichen Anglizismen kommen: aus flüchtigen Synchronisationen von Filmen und Fernsehspielen. Sie sind oft das Werk von AbcSchützen der Übersetzergilde, die gar nicht auf die Idee kommen, daß es für manche Begriffe völlig ausreichende deutsche Entsprechungen gibt; daß die erste Frage des Übersetzers sein müßte: Wie sagt man das auf Deutsch? Sie holen den Dialog Wort für Wort heim. Regelmäßig zum Beispiel greifen solche Sendungen und Filme um drei Nullen zu hoch: Da werden etwa Schadensersatzforderungen in Billionenhöhe geltend gemacht, obwohl eine »billion« nur eine Milliarde ist, und das Element Natrium kommt als Sodium daher. (Auch anderssprachige Filme werden oft nur aufs oberflächlichste eingedeutscht. In einem französischer Herkunft ist die Rede davon, daß die Heldin in ihr Land zurückgehen will. Der Synchronisateur hat nicht bemerkt, daß man diesen Sachverhalt eigentlich mit »in die Heimat zurückkehren« wiederzugeben pflegt.) Daher kommen denn wohl die meisten jener supermodernen Redensarten, die nichts anderes sind als heimliche Anglizismen. Ja, ich sehe Ihren Punkt (»I see your point«). Vergiß es (»forget it«). Das ist eine trickige Geschichte (»atrikky story«). Man wird Ihnen noch die Schau stehlen (»to steal the show«). Das andere Team liegt in Front (»is in front«). Es wirkt dreimal stärker (statt »dreimal so stark«). In 1985 40
wird es passieren. Habt eine gute Zeit (»have a good time«), Leute (»folks«)! Das macht keinen Sinn (natürlich müßte es »hat« oder »ergibt« heißen, aber beides paßt nicht immer – also wird »macht« sich auf jeden Fall endgültig einbürgern). Sie haben einen doppelten Standard – »eigentlich« wäre der »double Standard« die »doppelte Moral« oder »zweierlei Maß«. Das macht mich sauer ist wohl unter dem Einfluß von englisch »sore« gleich »wund« und »ärgerlich« zustande gekommen. Denn früher konnte man nur, wie Lakmuspapier, »sauer reagieren«, oder etwas »stieß einem sauer auf«; selber sauer wurde man noch nicht. Zu dem modernen Grußwort hallo wurde nicht etwa der alte germanische Fährmannsruf (»hol über!«), der sich in die Ära des Telephons hinübergerettet hatte, sondern der amerikanische Anruf »hello«. Und als gängigster und gleichzeitig entbehrlichster aller heimlichen Anglizismen ist natürlich einmal mehr (»once more«) zu nennen. Daß das auf Deutsch schlicht »noch einmal« heißt, gerät bei dem einen oder anderen auf erleseneren Ausdruck bedachten Schreiber nachgerade in Vergessenheit. Schon hört man gelegentlich: Ein Bier mehr! (Immerhin nicht ein mehr Bier!) Gewiß will der Sprecher im Grunde am liebsten ein anderes Bier! sagen, nur bliebe sein Glas dann wahrscheinlich leer, und so weit geht die Anglomanie dann doch nicht. Manche dieser Sprachimporte sind in der Tat nur modische Protzereien. Andere sind hochwillkommene Bereicherungen. Bleiben werden die einen wie die anderen. 41
Ebenso oft verlästert wie die fremden Wörter werden oft die Abstrakta. Gewiß, abstrakte Begriffe sind eben dies – abstrakt, unanschaulich, man sieht hinter ihnen kein Bild, und ein stark mit ihnen durchsetzter Stil wirkt dünn und fade. Gewiß auch, häufig werden sie aus bloßer Renommiersucht verwendet, denn sie haben jenen gewissen Touch von »Wichtigkeit«. Aber meist entsprechen sie einem wirklichen Bedarf: dem nach dem allgemeineren Begriff. Wenn Anfang der siebziger Jahre von Medien die Rede war, verstanden die meisten »Mädchen« und hielten das neue Wort für eine wichtigtuerische und ganz und gar überflüssige Torheit. Reichte es nicht, wie bis dahin Radio, Fernsehen und Zeitung zu sagen oder, schon abstrakt genug, Funk und Presse? Aber wenn nun auch noch Zeitschriften mitgemeint sein sollten? Und Platten? Und Tonkassetten? Und die noch begriffslos sich ankündigenden Neuen Dingens? Es wurde ein Begriff nötig, der das Gemeinsame an dem vielgestaltigen Besonderen zusammenfaßte, und ein Wort für diesen Begriff. Medium (»Vermittler«) ist gar keine üble Wahl gewesen, und diese abstrakte und anfangs nur lächerlich wirkende Vokabel hat sich in wenigen Jahren unentbehrlich gemacht. Unzweifelhaft gibt es zwischen den Menschen viele verschiedene Arten wechselseitigen Handelns, wechselseitiger Einflußnahme, Küsse, Predigten, Ohrfeigen. Wo sie alle gemeint sind, wird ein Wort wie Interaktion benötigt. Unzweifelhaft lassen sich Menschen und Tiere untereinander auf sehr verschiedene Weisen Signale, Botschaften, also Informationen (auch eines dieser Abstrakta) zukommen. Ein 42
Wort wie Kommunikation umfaßt den gesamten Informationsaustausch. Sozialisation, Rezeption, Transparenz, Struktur, System, Kulturtechnik, Enkulturation – vor allem die Gesellschaftswissenschaften, die das Gemeinsame an sozialen Vorgängen beschreiben müssen, haben viele dieser neuen Abstrakta hervorgebracht und an die Alltagssprache abgegeben. Diese wehrt sich zunächst, weil sie alles Neue unschön findet. Bis zur allgemeinen Akzeptanz eines Wortes wie Akzeptanz braucht es Jahre. Aber wo immer es sich um eine sinnvolle Prägung handelt, ist sie unaufhaltsam. Auch der Hang zur Pedanterie macht die Alltagssprache abstrakter. Der Hauswirt bemerkt eine Durchfeuchtung im Bereich des Treppenhauskopfes, wo der Mieter einfach beanstandet hätte, daß es oben im Treppenhaus durchregnet. Die Verkehrsnachrichten fordern auf, schienengebundene Fahrzeuge zu benutzen, wo der normale Autofahrer die Bahn nehmen gesagt hätte. Die Bank versichert einem, personenbezogene Daten nicht weiterzugeben, wo der normale Kontoinhaber nur darum gebeten hätte, daß sie persönliche Angaben für sich behält. Der Wetterbericht prophezeit, daß sich das Niederschlagsgebiet ostwärts verlagert, wo der normale Regenschirmträger nur gefunden hätte, daß der Regen nach Osten abzieht. Meistens ist eine Kostenunterdeckung nichts anderes als ein Verlust; aber da es Möglichkeiten gibt, Verluste aufzufangen und eventuell sogar in Gewinne zu verwandeln, etwa durch Subventionen und Steuerpräferenzen, ist Kostenunterdeckung ein durchaus sinnvolles Wort und keine bloße Haarspalterei. So schwankt das Neudeutsche zwischen 43
einer ganz eklatanten Unschärfe (… also irgendwie läuft das ganze hier unheimlich wie soll ich sagen …) und einer überscharfen Präzision, als müßten auch beiläufigste Formulierungen vor Gericht Bestand haben. Teils aus Renommiersucht, teils aus Begriffsverlegenheit werden die Namen einzelner Wissenschaften verwendet, wo höchstens von den möglichen Gegenständen der zuständigen Wissenschaften die Rede ist. Die Pathologie ist die Lehre von den Krankheiten; aber ein pathologischer Geiz soll nicht etwa der Geiz der Pathologen sein, noch nicht einmal der Geiz als Gegenstand der Pathologie, sondern schlicht ein krankhafter Geiz. Wirtschaft ist Psychologie soll nicht heißen, Wirtschaft sei Seelenkunde; es bezieht sich auf Phänomene wie Verstimmung am Markt oder nervöse Börsenkurse und hieße eigentlich »Wirtschaft ist Psyche«. Die Allianz ist psychologisch wehrlos bedeutet schlicht, daß sie »psychisch wehrlos« ist – die Psychologie ist dabei in keiner Weise im Spiel. Die Technologie ist eigentlich eine Theorie der Techniken, es sind nicht die Techniken selbst. Unter dem Einfluß des Englischen hat das Wort allgemeiner auch die Bedeutung »Technik auf wissenschaft licher Grundlage« übernommen. Von zukunftsweisenden Technologien zu sprechen, ist dennoch oft bloße Hochstapelei; die Technologie des Dampfbügeleisens ist bestimmt eine; die Maharischi-Technologie des vereinigten Feldes ist vollends Nonsens. Gleichwohl ist die imponierende Technologie nicht mehr aufzuhalten. Eine Resolution von Sexualpolitikern, die eine bestimmte Erklärung der Homosexualität in Mißkredit 44
bringen sollte, behauptete: Homosexualität ist eine anthropologische Kondition. Aber die Anthropologie wurde völlig grundlos ins Spiel gebracht. Der Satz bedeutete nur: »Homosexualität ist ein menschlicher Zustand, kommt unter Menschen vor«. In dieser Form freilich hätte es nicht nach einer imposanten Erklärung geklungen, sondern nur die Frage provoziert: Na klar, eben – aber warum? Die Philosophie taucht immer öfter, unter dem Einfluß des angloamerikanischen »philosophy«, in einer äußersten Schrumpffassung als so etwas wie ein »Leitgedanke« auf: Firmen haben Geschäftsphilosophien (ein Uhrenhersteller zum Beispiel eine Philosophie von unverwechselbarer Eleganz und ästhetischer Raffinesse), Parteien warnen vor der Philosophie des Minuswachstums (was vermutlich heißen soll, daß sie Schrumpfungsprozesse nicht zum erklärten Ziel erhoben sehen möchten). In diesem Sinne wäre der Satz Meine Philosophie lautet: nicht denken, tun! völlig in Ordnung. Ökologie – das ist nichts anderes als ein Spezialgebiet der Biologie, jenes, das Individuen und Arten nicht isoliert untersucht, sondern in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten voneinander und von ihrem Lebensraum, dem Biotop: wer wen oder was frißt, wer wen als Wirt benutzt, wer sich hinter wem versteckt, welche Kreisläufe einzelne Stoffe in der Natur durchmachen. Denn keine Art existiert für sich, jede ist einbezogen in einen größeren Zusammenhang, ihr Ökosystem. Wird an einer Stelle in ein Ökosystem eingegriffen, so ändert sich der ganze Zusammenhang. Sofern eine ökologische Politik ausdrücklich eine Berücksichtigung, der in 45
der Natur bestehenden Vernetzungen verlangt, führt sie das Wort ganz zu Recht. Aber über diese seine gesunde Basis hat sich das Wort Ökologie inzwischen längst erhoben. Es ist ein bloßes Wortemblem geworden, das eine Gesinnung signalisiert, eine nebulöse Heilslehre. Ökologie ist die Lehre vom Wohnen im Kosmos, auf Erden und in uns selbst, also sprach zum Beispiel der Schweizer Psychologe August E. Hohler: Sie fragt danach, auf welche Weise wir im Kosmos daheim seien … sie ist die Religion der Ehrfurcht vor dem Leben. Nach dem einen fragt sie nicht, das andere ist sie nicht. Und wenn sie partout zu einer Pseudoreligion umgefälscht werden soll, wird sie bald gar nichts mehr sein, nur noch eins jener banalen und leeren Schlagwörter, die niemand mehr hören will. Die Verwechslung der Wissenschaften mit ihren Gegenständen hat wohl darum um sich gegriffen, weil sich diese oft gar nicht anders bezeichnen lassen. Die Soziologie ist natürlich nicht die Gesellschaft, sondern die Lehre von ihr; »gesellschaftlich« müßte folglich sozial und nicht soziologisch heißen. Doch sozial hat die zweite Bedeutung »fürsorglich«; wo sie ausgeschlossen werden soll, wird dann gern eben auf soziologisch zurückgegriffen. So mag die soziologische Relevanz der Gesetzesnovelle eine sein, von der die Soziologie keinerlei Kenntnis nimmt. Noch schlechter ergeht es der Physiologie und der Biologie. Den Stoff wechsel kann man nicht anders als einen physiologischen Vorgang nennen, obwohl er kein Vorgang der Physiologie ist und auch wenn er im Zusammenhang der Rede als Gegenstand der Physiologie nicht weiter interessiert; das Adjektiv physisch ist mit einer ande46
ren Bedeutung (»körperlich«) besetzt. Und die Biologie untersucht biotische Phänomene, aber es brauchte Mut, dieses Adjektiv anstelle des oft unsinnigen biologisch zu verwenden und etwa von dem biotischen und nicht dem biologischen Schlafbedürfnis zu sprechen, das keine Konsequenz der Biologie ist und diese vermutlich auch nicht weiter beschäftigt. So gibt es auch für diesen Sprachgebrauch oft mildernde Umstände. Die gründlichste und tiefstgreifende Sprachrevision hat in unserer sogenannten Privatsphäre stattgefunden. Wie wir von ihr reden, wäre noch vor einer Generation nahezu unverständlich gewesen. »Liebe«, »Liebeskummer«, »Verhältnis«, »Geliebte« wurden fast völlig ausgemerzt. Wir sprechen, abstrakter und zu nichts verpflichtet, von unsern Beziehungen und Partnern. Wir tigern, dackeln, gurken, düsen in der Gegend umher. Uns fehlt der Durchblick. Gestreßt von Leistungsdruck, Anpassungszwängen, Konsumterror und der ganzen stressigen oder nervigen Hektik sitzen (hocken) wir auf unseren Jobs (ein Beruf ist etwas anderes, eine Berufung erst recht) und in unseren WGs (Wohngemeinschaften). Wir hängen herum. Der Frust hat uns. Emotional will nichts laufen (was früher »ging« oder »los war«, läuft heute). Unser Dauerpartner hat wieder Terror gemacht, weil er nicht richtig tickt. Er ist nämlich ein ganz schön beknackter Typ. Die Beziehungs- oder Zweierkiste läuft eben nicht mehr richtig. Es fehlen uns Streicheleinheiten. Es fehlen uns Erfolgserlebnisse. Wir werden gelinkt und sind dann geschockt (früher hieß es 47
»schockiert«). Wir suchen Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Wir gehen auf den Ego-Trip und ziehen unsere eigene Sache durch. Wir warten darauf, daß jemand kommt und uns antörnt, uns motiviert und wieder Action angesagt ist. Dann werden wir irre kreativ und spontan. Dann geht die Post voll ab. Soviel haben wir immerhin geschnallt, und Sie werden es auch noch raffen, logo. Es ist ein Mischmasch aus Wilhelm Reich, dem Stil sozialpädagogischer Seminare, dem Deutsch der Ratgeberkolumnen in Illustrierten und etlichen Keßheiten des aktuellen Jugendjargons. Unsern Großeltern müßten wir ihn übersetzen wie eine fremde Sprache. Verglichen mit dem recht forschen Wandel im Wortschatz, gehen die Veränderungen in der Syntax nur zögernd (heute heißt es, um es etwas interessanter zu machen, zögerlich) vor sich. Während im Lexikon die Neuerungen kommen und gehen, bewegt sich in der Grammatik kaum etwas. Seit einem Jahrtausend entwickelt sich das Deutsche von einer noch relativ synthetischen Sprache, die syntaktische Bezüge durch Wortbeugungen ausdrückte, zu einer analytischen, in der diese Bezüge in separaten, möglichst unflektierten Wörtern aufgehoben sind. Aber diese Wandlung ist sehr langsam. Schon vor Generationen klagten Sprachkritiker über den Verlust des Genitivs und des Dativ -e. Verschwunden aber sind sie noch immer nicht. »Die Leiden des jungen Werthers« wurden zu den »Leiden des jungen Werther«; heute hießen sie vielleicht die »Leiden von Jung48
Werther« oder »Das Wertherboy-Problem«; aber die »Leiden des jungen Werther« klingt noch völlig modern. Auch das Absterben des Konjunktivs wird seit Generationen betrauert. In der Umgangssprache hat ihn der Einheitskonjunktiv »würde« weitgehend abgelöst. Auch einige wenig gebräuchliche Konjunktive, die mit Umlaut gebildet werden müßten, sind mehr oder weniger verschollen: »brauchte«, »schwömme«, »büke«. Aus der indirekten Rede verschwindet der Konjunktiv ganz, ein wirklicher Verlust, denn mit ihm schwindet eine Möglichkeit der Nuancierung und Präzisierung. Der Kanzler betonte, daß der Haushalt gesichert ist erzeugt den Anschein einer Faktizität, die der Sprecher gar nicht behaupten will und die von der konjunktivischen Form gesichert sei auch nicht suggeriert würde. Aber wenn der Konjunktiv auch im Rückzug begriffen ist, so ist er doch noch lange nicht ausgestorben. In der Schriftsprache ist er quicklebendig. Was sich verwischt, ist der Unterschied zwischen Konjunktiv und Irrealis: also zwischen er gebe mir recht (sagte er) und er gäbe mir recht (aber es tut es nicht). Zu Grabe getragen worden ist der Konjunktiv aber offenbar viel zu früh. Ein weiterer grammatischer Trend weicht den Gebrauch der Präpositionen auf, nicht eben verwunderlicherweise, denn oft war er willkürlich genug. Wenn es Bezug zu heißt, warum muß es dann unbedingt in bezug auf heißen? So findet man zuweilen ein Interesse für (statt an), Vorstellungen über (statt von), eine Verbundenheit zu (statt mit), einen Protest für (nicht gegen), eine Gelegenheit auf (statt zu). Man hilft 49
auf der Suche (statt bei), und zwar mit Kräften (statt nach). Die Fernsehansagerin kündigt ein Bild über die chinesische Gläubigkeit an. Der Nachrichtensprecher bezeichnet eine Befürchtung für unbegründet. Der Pressereferent bedauert, daß kein Bewußtsein über die Preisproblematik bestehe. Präpositionen werden überall aus früheren Normen entlassen. In den Augen von Generationen von Sprachpflegern die größte Pest, breitet sich der Nominalstil unaufhaltsam weiter aus. Unser Sprachgefühl – Ludwig Reiners hat das schon der vorigen Generation überzeugend klargemacht – hält einen Satz für geglückt, wenn er im Gleichgewicht ist: hier sein Subjekt (ein Nomen), dort sein Prädikat (ein Verb). Denn in seiner Grundform ist der Satz nichts anderes als eine Aussage über ein Wesen oder Ding: X tut A, Y ist B. Der Nominalstil verstößt gegen dieses Gleichgewicht. Seine Verben sind oft nur noch da, um ihn pro forma zu Ende zu bringen. Eine eigene Bedeutung tragen sie kaum mehr. Oft sind sie von der blassesten Art: sein, haben, werden, führen, durchführen, vornehmen, erfordern, bereitstellen, beinhalten (das an gehaltene Beine denken läßt), Funktionswörter nur noch, die die Syntax verlangt, keine Inhaltswörter mehr. In dieser Feststellung liegt die Antwort Webers auf die Frage nach dem Grund für die Tatsache der Entstehung des modernen Kapitalismus ausgerechnet in Europa (Adolf Holl): neun Nomina und nur ein Verb (liegt), und was für ein schwächliches. Zu dieser Informationsflut führt vor allem die geradezu manische Fixiertheit auf Produktion, auf Material- und Informationsausstoß, wobei der Informationsausstoß 50
eine Rechtfertigung der Existenz von zahlreichen Behörden, Institutionen und Einzelpersonen ist (Helmut Swoboda): elf Nomina, zwei Verben (führt, ist). Die Gründung der Deutschndemkratschn Reblik, des ersten Staates der Arbeiter und Bauern vor nunmehr 35 Jahren, war ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes und Europas (Erich Honekker): zehn Nomina, ein Hilfsverb (war), und nur zitiert, um zu zeigen, daß auch der Sozialismus die Ausbeutung des Verbums durch das Nomen nicht abgeschafft hat. Ein Stil, der das Gleichgewicht wahrt, erscheint uns weniger abweisend, bürokratisch, er erscheint uns lockerer, umgänglicher, freier, großzügiger, anschaulicher, menschlicher, und wer sich ein wenig Sprachbewußtsein bewahrt hat, wird die endlosen Präpositionalobjektketten mit den eingeklemmten gedrungenen Adjektiven dazwischen tunlichst vermeiden: Der A des B mit C in D – Verb – den E überm F nach dem G. Doch könnte der Nominalstil nicht dermaßen überhandnehmen, hätte er nicht auch Vorteile: Er hilft, Nebensätze zu vermeiden. Und Nebensätze suchen wir nicht nur aus Einsparungsgründen zu vermeiden, sondern vor allem, weil Nebensätze uns die Rahmung aufzwingen, ein Charakteristikum des Deutschen, über welches schon Mark Twain seinen Spott ausgoß. In seinem Feuilleton »Die schreckliche deutsche Sprache« von 1880 steht zu lesen: »›Wenn er aber auf der Straße der in Samt und Seide gehüllten jetzt sehr ungeniert nach der neusten Mode gekleideten Regierungsrätin begegnet‹ usf. usw. Das ist aus dem ›Geheimnis der alten Mamsell‹ von Frau Marlitt. Und dieser Satz ist nach dem ge51
schätztesten Muster gebaut. Sie sehen, wie weit das Verbum von der Operationsbasis des Lesers entfernt ist; nun, in einer deutschen Zeitung kommt es erst auf der nächsten Seite; und ich habe gehört, daß man manchmal, wenn man ein oder zwei Spalten lang aufregende Vorbemerkungen und Einschübe aneinandergereiht hat, in Zeitnot gerät und andrukken muß, ohne bis zum Verb gelangt zu sein. Das läßt den Leser natürlich sehr erschöpft und uninformiert zurück.« Der Rahmungszwang reißt zweiteilige Verbformen auseinander (Mark Twain hat – jenem, jenes, dort, dann und dann, aus diesem oder jenem Grund – geschrieben; Mark Twain schrieb – was, wann, wo, warum? – ab; Hat Mark Twain … geschrieben?) und rückt in abhängigen Nebensätzen das Verb ganz an den Schluß (… dem Mark Twain – was? wo? wann? etc. – schrieb). Der Hörer oder Leser muß das äußerste Ende solcher Sätze abwarten, um ihren Sinn rückwirkend erfassen zu können. Der Sprecher hatte am Nachmittag des Tags, an dem die Konferenz zu Ende gehen sollte, wiederholt eine Einschätzung der Probleme, welche der Realität gerecht würde … hatte was? Vorgetragen? verlangt? verurteilt? Erst jetzt erfährt es der Hörer. War der Satz länger als 25 Wörter, ist sein Kurzzeitgedächtnis erschöpft, und ihm ist bereits entfallen, wie der Satz begann. Diesem Krampf entgeht, wer knapp und trocken den Nominalstil wählt: Der Sprecher hatte am Konferenzschlußnachmittag eine realitätsgerechte Problemeinschätzung verlangt. Auch sonst versuchen wir dem Rahmungszwang auszuweichen. Der Zug trifft heute ein um 16 Uhr auf Gleis 4 kann 52
schon einmal die Klammerform ablösen, bei der das ein erst am Ende des Satzes erschiene. Aber derlei Verstöße gegen die Grammatik fallen uns nicht ganz leicht; sie verletzen unser bei der Syntax besonders konservatives Sprachgefühl. So wird eher die zwar unschöne, aber erlaubte Flucht in den Nominalstil weiter ihre grotesken Ergebnisse zeitigen, als daß sich der Rahmungszwang weiter lockerte. Der Nominalstil ist knapper, sparsamer, gedrängter. Das gibt ihm seine Aura von Wichtigkeit. Die wiederum hat es den Wichtigtuern angetan. Sie benutzen ihn nicht zur Verknappung und Straffung, sondern im Gegenteil zur Auswalzung. Ein simples »lesen« ist ihnen zu dürftig – sie nehmen einen Lektürevorgang vor. Sie »essen« nicht, sie führen die Nahrungsaufnahme durch. Sie »schießen« nicht, sie machen von der Schußwaffe Gebrauch. Sie »zeigen nicht an«, sie bringen zur Anzeige. Das heißt, sie nehmen alle Schrecklichkeit des Nominalstils nicht seines einzigen Vorzugs wegen, sondern ohne jede Notwendigkeit in Kauf. Gerade seine Schrecklichkeit hat es ihnen angetan. Mit seiner Steifheit glauben sie sich den Nimbus dessen zuzulegen, der amtlicherseits Verfügungen treffen und Schrecken erregen darf. Die einzige Änderung in der Wortstellung, die im Neudeutschen zu verzeichnen ist, hat ebenfalls mit der Abneigung gegen den Klammerzwang zu tun. Seit einigen Jahren wird, zumindest in der Umgangssprache, weil und obwohl oft nicht mehr als unterordnende, sondern als nebenordnende Konjunktion behandelt, in Analogie zu denn: … weil ich laß mich nicht linken, … obwohl ich steh da nicht drauf. 53
Entstanden ist das wohl so, daß nach dem weil oder obwohl manchmal eine kurze Pause eintrat, in der der Sprecher sein Argument sammelte, und plötzlich war es da und schoß als Hauptsatz hervor: Ich konnte nicht kommen, weil … weil … ich war gestern gar nicht gut drauf. Es ist eine bescheidene und einstweilen auch noch nicht durchweg akzeptierte grammatische Neuerung. Das Schicksal der Pronominaladverbien ist es, immer öfter demontiert zu werden, in der Umgangssprache dauernd, aber gelegentlich auch schon in der Schriftsprache. Pronominaladverbien sind die Kopplungen aus Adverbien (da, wo, hier) und Präpositionen, also Wörter wie dafür, womit, hiervon; pronominal heißen sie, weil sie im Satz die Stelle eines Nomens vertreten. Statt dagegen bin ich nicht, hört man immer häufiger da bin ich nicht gegen; und da ist nichts dran, da kann ich mich nicht mit identifizieren, ich fühle mich da verantwortlich für, da nicht für! (bedeutend: »dafür brauchst du dich nicht zu bedanken«), wo er nichts von hat, er hat hier keinen Nachteil durch. Vor allem an dieser Demontage liegt es, wenn manche Äußerung im Umgangs-Neudeutsch sich ausnimmt wie ein Trümmerfeld voller Wortsplitter: Keine Ahnung, was es da wohl zu zu sagen geben kann. Betrachtet man einen solchen Satz mit zusammengekniffenen Augen, so wie ein Ausländer ihn sähe, so nimmt es sich geradezu erstaunlich aus, wie lauter Wörterkleinzeug (was es da wohl zu zu), wenn man ihm eine Aufzählung von Verben anhängt (sagen geben kann), überhaupt zur Hergabe eines Sinns veranlaßt werden kann. 54
Mit da bin ich kein Fan von ironisiert die Umgangssprache ihren Hang zu solchen Demontagen. Die einzige syntaktische Novität des Neudeutschen, die nicht nur bestimmte einzelne Wörter betrifft, sondern eine völlig neue Art der Satzbildung erschließt, ist das Mickymausdeutsch: ächz, stöhn, grübel grübel … Es erschien in den frühen fünfziger Jahren, und bezeichnenderweise hat es eine Generation gedauert, bis es in die Umgangssprache aufgenommen wurde: Die Erwachsenen, die ihm zuerst begegneten, fanden es gräßlich und ganz und gar unzulässig, es nistete sich zunächst nur bei den Kindern ein, und erst als diese selber erwachsen waren, wurde es nicht mehr wegzensiert, sondern als eine spaßige neue Ausdrucksmöglichkeit zugelassen. Anders als die allermeisten sprachlichen Neuerungen, ist es nicht anonymen Ursprungs. Es ist eine Erfindung von Erika Fuchs, 1908 geboren, Fabrikantengattin aus Schwarzenbach in Oberfranken, promovierte Philosophin, die seit 1951 mit viel Sprachwitz DisneyComics ins Deutsche übersetzt. Die amerikanischen Comics sind voll von lautmalerischen wortähnlichen Gebilden wie »wooom«, »fwamm«, »zonggg«, »blubb«, »craashh«, die die Krachkulisse der Handlung andeuten. Deutsche Schallworte gibt es wenig, und sie sind schnell aufgebraucht: päng, bumm, rums, platsch, zack, bimbam, dingdong, piff paff. Erika Fuchs kam auf eine produktive Idee, wie diesem Mangel abzuhelfen ist: »Ich habe einfach die Stämme der jeweiligen Verben genommen.« Päng! neben einer losgehenden Flinte heißt: »die Flinte macht päng« oder, allgemeiner, »Flinten machen 55
päng«. So ist die Mickymaussprache zu verstehen: als stünde ein »macht« davor, nicht aber als Imperativ: seufz, schluchz, schnarch, würg, kotz, schluck, lechz, hechel, klirr, knirsch, schepper, drucks, blubber, schudder … Ächz! heißt nicht etwa »du sollst ächzen« und auch nicht »ich ächze«, sondern »da mache ich ächz!« oder »da kann man nur ächz! machen«. Es ist, in den Begriffen der Transformationsgrammatik, die reine Basis, die im Deutschen, das sogar die Infinitive mit einem -en markiert, sonst nirgends in Erscheinung tritt. Sagt einem ein Jugendlicher sterb, so wünscht er einem nicht den Tod an den Hals; vielmehr heißt sterb, wörtlich übersetzt, »da mache ich sterb«, freier übersetzt »da falle ich tot um«, »das haut mich um«. Noch sinniger ist der Effekt, wenn die Stammform um eine Vorsilbe erweitert werden kann: umfall oder fall um (»da fällt man um«), ärger grün (»da könnte ich mich grün ärgern«), lach schlapp (»da lacht man sich ja schlapp oder krank«). Sprache ist durch und durch figürlich. Sie ist durchsetzt von verblassenden und vollends verblaßten Metaphern. »Verblassen« ist eine, »Metapher« selbst auch (das Wort bedeutet etwa »das anderswohin Tragende«). Eigentlich sollte man erwarten, daß die Sprache der Gegenwart bei ihren Neuprägungen die Bilder aus der alltäglichen vertrauten Umwelt bezieht. Aber die große Mehrheit ihrer Bilder stammt aus entlegenen Zeiten. Zwietracht wird gesät, ein Gebiet beakkert, der Beifall geerntet; es werden Klingen gekreuzt und Lanzen eingelegt; man weiß, was die Stunde geschlagen hat, 56
gräbt dem andern eine Grube oder bringt ihn auf Trab. Die Bilderwelt der Gegenwartssprache wirkt, als lebten ihre Sprecher im späten Mittelalter und auf dem Land. Sie sagen: das ist Wasser auf deine Mühle und nicht etwa »Benzin in deinen Motor«, sie sitzen auf hohem Roß und nicht etwa »im niedrigen Sportwagen«, es geht ihnen ein Licht auf und nicht etwa »eine Lampe an«, sie kommen in Harnisch und nicht »in Mikrolaune«, sie stellen an den Pranger und bringen nicht in die ›Bild‹-Zeitung. Die Zahl der Sprachbilder, die aus der heutigen Industriewelt bezogen werden, ist demgegenüber gering. Es sind Wörter und Wendungen wie rotieren, düsen, bremsen, Gas geben, ausrasten, durchdrehen, einen Zahn drauf haben, einen Zacken zulegen, nicht schnell genug schalten, ein Rad ab haben. Sie alle kommen allein in der Umgangssprache vor. In der gehobenen Schriftsprache sind nur Metaphern zugelassen, die keinerlei Gegenwartsbezug zu erkennen geben. Welcher Reichtum hier zu holen wäre, aber auch wieviel Unvoreingenommenheit, Beobachtungsgabe und »laterales«, schöpferisches Denken nötig sind, der eigenen Umwelt gültige neue Metaphern abzugewinnen, zeigt manches Gedicht von Peter Rühmkorf: Freunde, Fließbandleuchten, Stechuhrasse, Überlebenskünstler, Hinz und Kunz, somit leg ich meine Hand nochmal an Masse; keine Angst, ich bin ein Mensch von uns. 57
Hugo Moser faßte die widerstreitenden Grundtendenzen der Gegenwartssprache einmal treffend so zusammen: »Neben der Neigung zur Synthese im Wortschatz steht die zur Analyse im Formenbau … Neben einem starken Normbewußtsein läßt sich eine Schwächung des Normempfindens feststellen. Was wohl allgemein gilt, ist eine Tendenz zu abstrakter Ausdrucksweise, zur Vergeistigung der Sprache, der Verluste an lautlicher Vielfalt und an Formenreichtum entsprechen, das Streben nach sprachlicher Ökonomie und die Absicht, die Efficiency der Sprache nicht nur zu erhalten, sondern vor allem auch zu verstärken … Eindeutig ist der Zug zu einem Ausgleich sozialer Art in der Richtung zur Hochsprache hin.« Ständig muß sich das konservative System der Sprache einer höchst wandelbaren Wirklichkeit anpassen. Es ist wenig sinnvoll, seinen eigenen Sprachgebrauch zum Ideal zu erheben, jede Neuerung an ihm zu messen und zu verwerfen, wenn sie ihm nicht ganz zu entsprechen beliebt (und es nützte sowieso nichts). Besser machte sich die Sprachkritik an dem Gedachten hinter den sprachlichen Neuerungen zu schaffen, an den oft unbemerkten Bewertungen, Vorentscheidungen, Eitelkeiten, Vertuschungen, Lügen, die manchen Sprachwandel in Gang setzen. Sie muß dann auch nicht nur chronisch griesgrämig und verbittert sein, in jeder Veränderung Sprachverderb und Kulturverfall wittern. Zuweilen darf sie durchaus einen Zugewinn an Genauigkeit, Eleganz und Witz konstatieren. So, ich gehe davon aus, daß einiges übergekommen ist und wir jetzt etwas mehr Durchblick haben, um fortan schneller 58
zu checken, was Sache ist und sprachmäßig so läuft. Aber so leicht reißt Sie nichts vom Hocker, oder? Bestimmt vermissen Sie das und jenes, was an Sprüchen heute so angesagt ist. Dann sagen Sie vielleicht: wieder mal alles gelaufen, tote Hose, kannstu vergessen. Kann ich nur hoffen, daß das eine oder andere Sie irgendwie betroffen gemacht hat oder gar echt betroffen, weil sonst rechnet sich Ihr Zeitaufwand schließlich nicht. Denn Sie haben bestimmt viel um die Ohren, diesen ganzen nervigen Scheiß, den man heutzutage durchpowern muß, damit die Knete rüberkommt und unterm Strich die Kohle stimmt – und, und, und. Da muß man schon was von haben von der stressigen Leserei. Also, Leute, alles klar? Ahalles klahar! Alles paletti!
WÖRTER EMPOR Über die Verschönerung der Welt durch sprachliche Maßnahmen
E
iner der zugkräftigsten Motoren allen Sprachwandels ist allezeit der Hang zur Verschönerung gewesen, zum Euphemismus (dem »Gutsagen«). Das Unscheinbare – es soll wenigstens sprachlich aufgewertet, das Unangenehme – es soll wenigstens sprachlich weniger anstößig gemacht werden. Das Ergebnis sind im ersteren Fall die Renommier,im letzteren die Verbrämungs-Euphemismen. Jene protzen, diese kaschieren. Schiere Renommiersucht erhebt die Wohnung zur Residenz und noch die letzte Klitsche zur Zentrale, zum Zentrum, zum Center oder zum Studio. Es gibt daneben aber auch ein Renommieren durch ironische sprachliche Herabsetzung, das etwa besagt: Seht, wir können es uns leisten, achtlos mit den begehrten Gütern dieser Welt umzugehen! Die Dame der Schickeria trägt kein Kleid, sondern einen Fummel, einen mit Klunkern. In ihren Kreisen nächtigt man in keinem Luxushotel, sondern in einer schlichten Herberge (oder, im ›Spiegel‹-Deutsch, einer Nobelherberge). Man nimmt nicht das Flugzeug, sondern den Flieger. Man fährt nicht mit dem Auto, sondern allenfalls mit dem Wagen, besser und unscheinbar-auff älliger aber noch mit der Fahrmaschine oder Karosse, vielleicht aber auch schlicht und ergreifend mit dem Turbo, in dem natürlich kein ordinärer Motor steckt, son63
dern ein Triebwerk und dazu eine gewaltige Soundmaschine (die nicht der Auspuff ist, sondern das Autoradio im Cockpit). Kein Laden mag sich heute noch Laden nennen. Selbst der kleine Lebensmittelladen an der Straßenecke, bei dem der Kunde seine Milchtüte selber aus der Kühltruhe nehmen darf, ist nichts Geringeres als ein Supermarkt – der unvorstellbar großen Märkte einer. Im Französischen wurden die ursprünglichen Supermärkte durch den inflationären Gebrauch des Wortes dermaßen abgewertet, daß sie sich inzwischen gern Hypermarkt nennen – größer wird es dann aber nicht gehen. Laden nennt sich heute nur, was über jeden Verdacht erhaben ist, ein ordinärer Laden zu sein: der Kinderladen, der Kontaktladen, der Frauenladen, der Kirchenladen, der Kulturladen. Allerdings auch der Bioladen, aber nur um anzuzeigen, daß ein Stück – »naturnahe« – Vergangenheit hier ihre Kuratoren gefunden hat. Die Klempnerei firmiert als Abflußzentrale (und gibt damit möglicherweise auch gleich noch zu verstehen, daß ihre Leute zu den höheren Künsten des Klempnerhandwerks, dem Dichten eines lecken Wasserhahns beispielsweise, außerstande sind, so wie die Raubritter vom ambulanten Schlüsselservice mit wahren Schlosserarbeiten zumeist heillos überfordert wären). Die Tankstelle ist ein Servicenter, der Massagesalon ein Gesundheitsstudio, die Motorradwerkstatt ein Mot-in, das Nudelgeschäft ein Teig-in, die Zoohandlung ein Cat-Shop, die Schuhmacherei zweifelhafter Qualifikation eine Absatzbar (in der dann wohl ein Hackenbarkeeper seine Gerätschaften 64
schwingt), die Imbißbude ein Grill-Shop, der Blumenladen ein Floristiktreff, ein Blütenatelier oder eine Plant-Farm, die Sportschule ein Body-Top-Studio, vielleicht mit dem Namen Euro-Power, die Werbeagentur ein Kreativ-Service mit Namen art-power (klein geschrieben), der Trödelladen eine Second-Hand-Boutique oder ein Euro-Antik-Market, und niemanden mehr würde es überraschen, nennte sich der Zeitungs-,Zigaretten- und Lottoladen nebenan ab morgen Informationszentrale Smoke-in. Die Umbenennung des Puffs in Eros-Center erforderte anfangs wohl eine ziemliche Dreistigkeit; indessen, auch sie gelang und machte das Orgasmusstudio, pardon, das Bordell zu einer so durchaus bürgerlichen Angelegenheit, wie der Münzwaschsalon eine ist. Die Nutte bietet sich als Hostess oder Model feil. Daß die Fachhandlung für Pornographie Sex-Boutique heißt, ist dann nur konsequent. Besonders veredelungsbedürftig sind Friseure. Sie nennen sich heute: Coiffeur, Hairstylist, Frisurenstudio, Hair-Station, Haar-Kunst-Atelier, Hair-Inn, Hair-Dresser, Beauty Shop, Barber Shop – oder, gleichsam in Anführungszeichen, nun gerade Frisör. Das nämlich klingt dann »nostalgisch« und bringt den empfehlenden Hauch von Anno dazumal. Sprachliche Beförderung wurde auch anderen Berufen zuteil. Natürlich waren es die weniger angesehenen Berufe, die übrigen hatten keine Beschönigung nötig, und es war und ist das schlechte Gewissen der Sprachgemeinschaft, die dieser Vokabelkosmetik Vorschub leistete. Die Raumpflegerin als Bezeichnung für die Putzfrau war zunächst scherz65
haft gemeint, so wie in den zwanziger Jahren schon die Besenartistin und nach dem Krieg dann die Parkettmasseuse oder Fußbodenkosmetikerin oder Staubsaugerpilotin, aber da ihre Dienstleistung sehr begehrt war und die Herrschaften ihre herrschaft lichen Allüren gerne herunterspielten, wurde aus dem Witz Ernst, und als eine Art Gratisprämie erhielt sie die Namensaufbesserung. Müllmänner wurden zu Müllwerkern, Straßenfeger zu Betriebshelfern (der Straßenreinigung) oder allenfalls zu Straßenreinigern (der Besengardist des neunzehnten Jahrhunderts hörte sich denn wohl doch zu ironisch an). Sobald für einen Beruf strengere Qualifikationsnachweise gefordert wurden, wurde er auch sprachlich emporgehoben. So wurde schon vor langem aus dem Lehrer der Studienrat, aus dem Pferdeknecht der Pferdewirt, aus dem Waldarbeiter der Forstwirt, aus dem Bauern der Landwirt (der heute wiederum zum Agrarunternehmer wird). Der Vertreter erhob sich zum Repräsentanten, der Reisevertreter zum Repräsentanten im Außendienst, der Medikamentenvertreter zum Pharmareferenten. Der Verkäufer, der etwas Besseres sein soll, ist Verkaufsberater. Die wissenschaft lich ausgebildete Hauswirtschafterin nennt sich umständlichst Oecotrophologin (zu deutsch: die des Haushalts und der Ernährung Kundige), die Hebamme fungiert als Entbindungspflegerin, der Schneider versucht es als Anzugspezialist, und der Kellner soll zum Restaurantfachmann befördert werden. Der Azubi aber hat es gegen den Lehrling schwer; es handicapt ihn wohl seine amtliche Künstlichkeit. 66
Schopenhauer hat das Nötige dazu angemerkt: »… wenn eine an sich unverfängliche Benennung diskretitabel wird; so liegt das nicht an der Benennung, sondern am Benannten, und da wird die neue bald das Schicksal der alten haben. Es ist mit ganzen Klassen wie mit dem einzelnen: wenn einer seinen Namen ändert, so kommt es daher, daß er den früheren nicht mehr mit Ehren tragen kann; aber er bleibt derselbe und wird dem neuen Namen nicht mehr Ehre machen als dem alten.« In der Sprache unseres Jahrhunderts: All diesen kostbaren Erhöhungen steht die Abwertung bevor, bis sie wieder ebenso gewöhnlich sind wie die Wörter, die sie einst ersetzt haben. Die künstliche Wurstpelle bleibt auch als Natursaitling Kunstpelle. Die Luft verpestung wird nicht harmloser, kommt sie als Schadstoffemission daher. Daß sich hinter der Dünnsäureverklappung die Vergiftung des Meeres durch Salzsäure versteckt, hat sich herumgesprochen. Wenn sich die Atommüllbeseitigung Entsorgung nennt, verheißt sie sozusagen ein Ende aller Sorgen. Wo findet sie statt? Im Entsorgungspark, der scheint’s eine Art Garten Eden ist, in dem der Mensch aller Sorgen ledig wird. Die Gegenkultur der Autonomen – denn ihre Euphemismen hat auch die Protestszene – ruft zu undurchsichtigen Aktionen oder zu Spaziergängen auf, wo an Randale gedacht ist. Schwer nachzuvollziehen, daß sich noch vor wenigen Jahren zwei Welten daran schieden, ob man jene terroristische Formation Baader-Meinhof-Bande oder Baader-Meinhof-Gruppe nannte – alle Progressiven bestanden auf Grup67
pe. Durchgesetzt aber hat sich der anspruchsvolle Name, den sie sich in leichter Verkennung der Tatsachen selber gegeben hatte: RAF, »Rote Armee Fraktion«. In der weniger kämpferisch eingestellten Alternativszene werben nicht nur liebe WGs um liebe Mibewohner; ein alternativer Tour-Service (im Klartext ein »billiges Reisebüro«) wirbt auch für Fahrten in seinem lieben Bus, der ein alter ist. Die Polizei wiederum bringt den Kompressionsgriff zur Anwendung (in dem sich das immerhin Unangenehme des »Würgegriffs« zu einer bloßen technischen Manipulation verflüchtigen soll). Haftanstalten für politische Gegner heißen (anderswo) Psychiatrie. Die Organisationen zur Bekämpfung staatsfeindlicher Umtriebe nennen sich Staatssicherheitsdienst und Verfassungsschutz. Der Abbau von Schutzrechten der Arbeitnehmer heißt Aufbrechen struktureller Verkrustungen. Einen Krieg in Mitteleuropa gibt es nicht mehr; hier kommt es allenfalls zum Verteidigungsfall. Der »Kriegsminister« ist heute ein Verteidigungsminister. Arbeiter wurden zu Arbeitnehmern (immer nimmt der Pöbel etwas), die bei Rezessionen (früher »Wirtschaftskrisen«) nicht »entlassen«, sondern freigesetzt werden. Wer eine politisch fleckige Weste hat, gesteht, wenn es denn gar nicht anders geht, höchstens ein, er sei in Ereignisse verstrickt gewesen (und zwar in gewisse, bedauerliche oder tragische). Einen besonders unverfrorenen Verbrämungs-Euphemismus hat sich die Polizei einfallen lassen, als sie den gezielten Todesschuß in finalen Rettungsschuß umtaufte, so als müsse es geradezu eine Ehre und Freude sein, von dem getroffen zu werden. 68
Niemand will heute mehr alt genannt werden. Der sieht ganz schön alt aus heißt: Er steht ziemlich unvorteilhaft da. Da die Leute aber trotzdem weiter alt werden, mußte wenigstens ein jugendfrisches Wort her. So wurden die Alten zu Senioren (»ein Musterexemplar von neuer Verschleierungs-,ja Verhöhnungssprache«, bemerkt dazu Eckhard Henscheids satirisches Wörterbuch »Dummdeutsch«, und: »Freilich, die Zeiten werden härter jetzt auch für 40– 5ojährige. Die kursieren neuerdings auch schon als Vorsenioren«– aber vielleicht gelingt es ja noch rechtzeitig, sie systemgerecht in Spätjunioren zu verwandeln). Entsprechend werden Altersheime zu Seniorenzentren, Aufenthaltsräume für Greise zu Seniorentreffs. Ausländische Arbeiter wurden als Gastarbeiter wenigstens sprachlich willkommen geheißen, als wären sie liebe Gäste. Dünne wurden zu Zierlichen, Dicke zu Vollschlanken (und darin macht sich vor allem das attraktive schlank breit, nur durch ein schonendes Wort für sein Gegenteil – voll – milde eingeschränkt). Krüppel, Kranke, Blinde, Taube, Lahme verschwanden, nicht aus dem Straßenbild, wohl aber aus der Sprache: Sie wurden teils erst zu Schwerbeschädigten, später alle zu (Geh-, Seh-, Hör-)Behinderten. Irre wurden zu Geisteskranken und dann zu psychisch Gestörten, das Irrenhaus wurde zur psychiatrischen Klinik. Arm soll niemand mehr genannt werden. Aus den Armen wurden die Sozialschwachen, aus dem Armenrecht die Prozeßkostenhilfe, aus der Armenkasse die Sozialfürsorge. Die Hilfsschule avancierte konsequent zur Sonderschule. Klar, daß auch die Dummen abgeschafft wurden; 69
heute gibt es höchstens noch Lernschwache oder Lernbehinderte, und auch die nur ungern. Überall wimmelt es von Partnern. Früher waren das Kompagnons in einer Firma. Es handelte sich da also um eine Beziehung von gleich zu gleich, eingegangen zur Verfolgung geschäft licher Interessen. In den Privatbereich drang das Wort ein, als eine gemeinsame Bezeichnung für »Ehegatte« und »Dauerfreund(in)« benötigt wurde, die vorurteilslos beide Lebensformen gleichermaßen guthieß: Sabine lebt mit ihrem Partner zusammen. Um die Konfrontation von Unternehmern und Untergebenen sprachlich abzumildern, wurden beide pathetisch zu Sozialpartnern ernannt. Der Autohändler, bei dem ich nicht kaufe, bezeichnet sich als mein VAG-Partner. Die Versicherungsgesellschaft, die nicht mit mir ins Geschäft kommt, gibt sich als mein Krisenpartner aus. Und die Firma, mit der ich nichts zu besprechen habe, hat mich – hier zeigt sich die Einseitigkeit und Asymmetrie mancher heutiger Partnerschaften besonders deutlich – zum Ansprechpartner erkoren, was nur heißt, daß sie mir einen Vertreter ins Haus schicken will. Viele dieser Verbrämungen sind überaus rücksichtsvoll, überaus »sozial« gemeint. (Das Wort sozial übrigens suggeriert, daß »gesellschaft lich« und »fürsorglich« ganz und gar eins seien, ist also selbst ein Euphemismus.) Wer schon den Nachteil hat, soll nicht auch noch durch ein deutliches Wort daran erinnert werden. Und das ist ja wohl auch gut so. Manche dieser Euphemismen sind sachlich wie sprachlich ganz in Ordnung und beseitigen nur unnötig grobe oder 70
pejorative Obertöne, um die es nicht schade ist. Andererseits, nun ja … Andererseits breitet die Vielzahl dieser Euphemismen auch einen leichten Hautgout von Verlogenheit über das Leben. Ja nichts Ungünstiges oder Abträgliches soll mehr aus unserm Munde kommen, alles wird schonungsvoll umschrieben. Die sprachliche Exorzierung der Negativität, macht sie nicht das Leben »wohnlicher«? Aber, leider, ändert sich nichts nur darum, weil es mit einem glimpflicheren Namen gerufen wird. Schon werden aus Notärzten Rettungsärzte, als sei es der Sprachgemeinschaft bereits zuviel, zuzugeben, daß ein Verunglückter sich in Not befindet. Morgen werden sich die Krankenhäuser in Gesundheitszentren oder Heilungsresidenzen oder Fitness-Oasen umbenennen. Übermorgen dann werden, nach dem Vorbild von vollschlank, die Kranken als Mattgesunde aufstehen und wandeln. Die selber bereits reichlich euphemistischen Friedhöfe wird man zu Ruheparks umstilisieren. Schon immer wurde das Sterben gern schonend umschrieben – »entschlafen«, »das Zeitliche segnen«, »die Augen für immer schließen« … Wie könnte das moderne Wort für den Tod lauten? Steiflebendigkeit? Oder Vitalschwäche?
DAS BRÜDERLICHE DU Über Anredekonventionen
N
ehmen wir an, Sie seien irgendwo zwischen 25 und 55, trügen statusneutrale Kleidung (Jeans, Parka, Naturleder-Boots), und um Sie sei jene Aura angepaßter Unangepaßtheit, die es schwer macht, Sie gesellschaft lich einzuordnen. Auch Sie selber kämen in Verlegenheit, müßten Sie sich einer bestimmten Rubrik zuweisen. In der Schlange der Mensa fühlen Sie sich noch ebenso zu Hause wie zu anderen Gelegenheiten in der Menschentraube vor dem Kalten Büffet der Handelskammer. Nehmen wir weiter an, Sie gingen in einen »jugendlichen« Plattenladen, etwa um nach dem Allerneuesten von Michael Jackson zu fragen. Während Sie vor dem schnauzbärtigen Verkäufer stehen, der aussieht wie der Camel-Mann nach einer dreiwöchigen Kneipentour, gehen Sie blitzschnell die Möglichkeiten durch: »Haben Sie …?« »Hast du …?« »Habt ihr …?« Das Sie, finden Sie, ist in dieser Umgebung fehl am Platz, wirkt ein wenig steif und lächerlich, hier sind alle per Du; außerdem weist es Sie als jemanden aus, der aus der Welt kommt, die hier nicht besonders geschätzt wird, eben der Welt, wo man Sie zueinander sagt. Das Du und das Ihr andererseits kommen Ihnen ein wenig unnatürlich vor, und in der Drogerie nebenan hätten Sie sie niemals gebraucht. Schließlich haben Sie gelernt, daß man Fremde siezt. Klänge das Du jetzt nicht auch viel zu anbie75
derisch? Oder käme sich der mit Du titulierte Verkäufer gar als Kind behandelt vor? So entziehen Sie sich dem Dilemma lieber und drücken sich unpersönlich aus: »Gibt es …?« Oder Sie entschließen sich doch zum Du und könnten sich dann gleich die Zunge abbeißen, denn zurück kommt ein Sie und macht Ihnen klar, daß man Sie hier keineswegs als seinesgleichen zu akzeptieren gedenkt. Oder Sie nehmen das Sie und bringen dann kaum das »Michael Jackson« über die Lippen, denn der Verkäufer könnte ja nun denken, Sie seien so ein Alter, der es auf die Verführung von Minderjährigen abgesehen hat. Wahrscheinlich wird dieser kleine Du/Sie-Konflikt, der gleichwohl jedesmal die Frage der eigenen gesellschaftlichen Identität und Gruppenzugehörigkeit aufwirft, täglich millionenfach erlebt. Auch die Sprachwissenschaft hat sich seiner angenommen. In der Zeitschrift ›Deutsche Sprache‹ veröffentlichte Klaus Bayer, wissenschaft licher Rat in Hannover, seinen Aufsatz »Die Anredepronomina Du und Sie – Thesen zu einem semantischen Konflikt im Hochschulbereich«. Etliches von dem, was hier folgen soll, beruht auf seinen Thesen. Insbesondere ist ihnen die Einsicht zu verdanken, daß der Übergang vom Siezen zum Duzen, der sich vor allem in der protestierenden Studentenschaft und der sogenannten Subkultur der späten sechziger Jahre vollzog, nicht nur das alte Du mit neuer Bedeutung auflud, sondern auch das scheinbar gar nicht betroffene Sie grundlegend mitveränderte. Es wurde nämlich nicht einfach ein Pronomen durch das andere ersetzt, sondern eine Anredekonvention durch eine andere. 76
Doch zunächst soll beschrieben werden, wie es zu der alten Anredekonvention kam – immerhin ist es bizarr genug, daß eine Sprache den Gesprächspartner in der dritten Person Plural anredet, als handele es sich um mehrere Abwesende. Am Anfang des Deutschen war das allgemeine Du. Bis zum Beginn des Mittelalters gab es keine andere Anrede. Seit dem 9. Jahrhundert gesellte sich zum Du die Anrede Ihr; sie war hochgestellten Personen vorbehalten. Entstanden war sie sicherlich in Anlehnung an den Plural majestatis, in dem die römischen Kaiser von sich sprachen; aber sicher spielte auch eine Rolle, daß Ihr einfach nach mehr klang als Du – der so Angeredete durfte sich vorkommen, als wäre er mehrere Personen auf einmal, der Sprechende verringerte die eigene Person. »Duzen« und »Ihrzen«: durch das Mittelalter hindurch bis ins 17. Jahrhundert waren es die einzigen Anredemöglichkeiten. Das Ihr sickerte in dieser Zeit aus dem Adel ins Bürgertum hinab, und es verlor dabei viel von seinem ehrerbietigen Charakter. Aus dem Bedürfnis, eine frische Höflichkeitsform an die Stelle des einigermaßen ausgeleierten Ihr zu stellen, verfiel man im 17. Jahrhundert auf die distanzierende, betont unvertrauliche dritte Person Singular, Er und Sie: »Gewähre er mir die Gnade …« Dieses Er/Sie verlor noch während des 17. Jahrhunderts ganz seinen Höflichkeitseffekt. Aus einer Anrede gegenüber Ranghöheren wurde es zu einer Anrede an Knechte: »Putz er mir die Stiefel …« Parallel zu dem Abstieg von Er/Sie etablierte sich das mo77
derne Sie. Es entstand als pronominaler Bezug auf den Plural »Euer Gnaden«, »Euer Liebden«, »Euer Hochwürden«. »So Euer Gnaden ich hiermit kommunizieren wollen, damit Sie hierauf verfügen lassen …« Hat die Höflichkeitsmanie eine Gesellschaft einmal gepackt, findet sie schwer ein Ende. Im Zweifelsfall muß die höflichere Form gewählt werden: So breiten sich neue Formen schnell aus und sinken ab. Und »oben« muß eine Höflichkeit die andere überbieten. In jenen standesbewußten Zeiten kamen auch noch die Anreden »Dieselben« auf (»Wünsche Denselben gute Reise und verbleibe dero Diener …«) sowie der Titel mit dem Plural: »Herr Konsistorialrat speisen gerade …«, »Der Herr sind sehr gütig …« Diese Formen setzten sich nicht durch. Ihr und Er/Sie starben im 19. Jahrhundert endgültig aus. Übrig blieben das Du und das Sie, dieser »Fleck im Gewande der deutschen Sprache« (Jakob Grimm) – die moderne Konvention (die hier Konvention A heißen soll). Diese Konvention A besagt etwa: Das Du ist die Anrede der Intimität; es duzen sich Verwandte (bis ins 18. Jahrhundert siezten Kinder noch ihre Eltern) und nahe Vertraute, die es sich gegenseitig ausdrücklich erlauben. Wo das Du nicht angebracht ist, gebietet der Respekt, Sie zu sagen. Diese Regel brachte fast notwendig ein Du in einer zweiten, anderen Bedeutung hervor: ein Du nicht der Vertrautheit und Intimität, sondern der Geringachtung, der ostentativ demütigende Ersatz für ein vorenthaltenes Sie. Es ist das Du, das ein Chef früher gegenüber Untergebenen gebrauchte, das Du, mit dem 78
heute noch Kinder, Gefangene, Gastarbeiter, Geisteskranke traktiert werden. Es setzt das Gegenüber herab und kann regelrecht feindselig klingen. Im Interesse der Übersichtlichkeit möchte ich, ähnlich wie Bayer, die verschiedenen Dus und Sies durch Zeichen voneinander unterscheiden. Das Sie der Konvention A soll SieA heißen; das intime Du DuA1, das geringschätzige DuA2. Die Konvention A teilte alle persönlichen Beziehungen in zwei Sorten: in Du-Beziehungen (charakterisiert durch Vertrautheit oder Verachtung) und Sie-Beziehungen (charakterisiert durch Un-vertrautheit und einen wenigstens minimalen Respekt). Denen, die in der Konvention A groß geworden sind, kommt sie nur natürlich vor. Aber ihre Natürlichkeit ist nichts anderes als ihre Gewohntheit. An sich hat sie gar nichts Natürliches. Denn persönliche Beziehungen gibt es nicht in zwei ganz verschiedenen Zustandsformen, »Vertrautheit« und »Fremdheit«. Sie bewegen sich auf einer gleitenden Skala zwischen den Polen »Vertrautheit« und »Fremdheit«. Zwischen beiden gibt es keine scharfe, bestimmte Grenze. Nur die Sprachkonvention A zwingt dazu, eine solche Grenze künstlich zu ziehen. Entsprechend groß ist die Verlegenheit, die mit dem Übergang vom Sie zum Du oft verbunden ist: Wird sie mir das Du anbieten? Hätte er sich das Du nicht noch eine Weile aufheben können? Ist unser Sie nicht längst überholt? »Sollen wir nicht endlich Brüderschaft trinken?« Nicht für die ganze Gesellschaft war Konvention A verbindlich. Der gezierte Höflichkeitswettbewerb der besseren 79
Kreise hatte Teile des Proletariats nie erreicht, die untereinander weiter nur Du sagten; besonders auf dem Land. Dieses proletarisch-solidarische Du wurde von der sozialistischen Bewegung aufgenommen. (Robespierre hatte den Franzosen der Revolution auch das allgemeine Du verordnet; aber die Sowjetrevolution entschied sich zwischen Du und Ihr umgekehrt gerade für das respektvolle Ihr, das sie zur Standardanrede erhob.) Und aus der sozialistischen Bewegung geriet es in die Protestbewegung der sechziger Jahre. Innerhalb der Gesellschaft, vor allem an den Universitäten, bildete sich eine Enklave, die ganz bewußt Konvention A ablehnte und Konvention B an ihre Stelle setzte. In Konvention B ist Du die Standardanrede. Sie drückt Solidarität aus, den Wunsch nach einem Umgang ohne Klassen- und Standesbarrieren, die Zugehörigkeit zu einer irgendwie fortschrittlichen Gemeinschaft von Gleichgesinnten, das »richtige Bewußtsein«. Sie sagt: Auch wenn wir uns nicht kennen, sind wir uns nah, denn wir wollen das gleiche. Es suggeriert die All-Einheit der Gesinnungsgenossen, das, was Eckhard Henscheid einmal »eine alltägliche unio mystica aller irgendwie Gutwilligen« nannte. Hier soll dieses Du DuB heißen. Das Du der Intimität (DuA1 ) ist von ihm nicht mehr sauber zu trennen. Beide Dus verfließen. Mit Hilfe der Pronominalanrede kann der Mensch der Konvention B die Freundin von der Genossin nicht mehr unterscheiden. In der Seligkeit der neuen Konvention, die das Du zur Standardanrede erhoben hatte, gelangte dieses Personalpro80
nomen auch an Stellen, wo vorher gar kein Wort gewesen war: Mach’s gut du; du laß mich mal sehen; du ich mag dich du; du laß mich jetzt in Ruhe. Syntaktisch hat es da nichts zu suchen. Der Bedeutung der Sätze fügt es nichts hinzu. Es ist wohl eher wie ein körpersprachliches Element zu verstehen, das sich die Gestalt eines signalhaften Wortes gegeben hat – wie ein Zeigen auf den Gesprächspartner (du – jetzt wende ich mich an dich), ein Streicheln, ein Drohen mit dem Finger, ein Stoß in die Rippen, ein Griff, der den Gesprächspartner festhalten und zur Aufmerksamkeit verpflichten will. So fungiert es als Regulativ für Gespräche; und weil eine so vielseitige Funktion einem so einfachen Signal aufgetragen ist und dieses immer nur so tun kann, als sei es ein Bestandteil des Satzes, ist diese ständige Du-Sagerei in der Nähe der Lächerlichkeit. Wo sich alles solidarisch duzt, gewinnt das Sie eine neue Qualität. Es drückt nicht mehr Respekt aus, sondern vor allem Distanz, bis hin zur Feindseligkeit. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um das besetzte Soziologische Seminar der Frankfurter Universität rief Frank Wolff zu Jürgen Habermas hinüber: »Herr Professor Habermas, können Sie mal formulieren, was für Sie heute abend so wichtig ist, daß Sie hier jetzt nicht über das Institut reden können?« Und das Sie zusammen mit der vollen Anrede (»Herr« plus »Professor«) drückte größte Distanz und tiefstes Mißtrauen aus. Was nach Konvention A nur die übliche Standardanrede gewesen wäre, SieA, wurde nach Konvention B als SieB beinahe zur Beleidigung, wie in Konvention A das DuA2. 81
Das SieA ist die Anrede eines einzelnen an einen einzelnen: zwei würdige Rollenträger unter sich. Das DuB dagegen verweist immer auf ein Wir: Wir, nämlich die Gruppe, die für sich die Konvention A außer Kraft gesetzt hat, wir sind »auf dem alternativen Trip«, wir gehören zusammen, wir marschieren zusammen, venceremos, und einer unserer Ausweise ist unser brüderliches Du. Wem es vorenthalten wird, der ist ausgeschlossen. Ähnlich hatte das Du A2 die mit ihm Angeredeten aus der Gemeinschaft der achtenswerten Menschen ausgeschlossen. Nun existieren beide Gesellschaften, die der Konvention A und die der Konvention B, nicht nebeneinander, sondern ineinander. Damit ist der heutige Konflikt besonders an den Randstellen vorprogrammiert. Ein Randbezirk ist der der Dozenten. Nach der Konvention A siezten die Studenten selbstverständlich die Dozenten, wie sie sich sogar untereinander siezten: Einen Konflikt gab es da nicht. Nun plötzlich duzte sich die Mehrheit der Studenten, und es war dies ein überaus programmatisches Du, hinter dem eine politische Überzeugung stand und mehr noch, ein Lebensstil. Gebrauchen die Studenten heute den Dozenten gegenüber Sie, so ist es SieB und schließt die Dozenten aus ihrer Gemeinschaft aus: Im Grunde heißt SieB soviel wie »du Scheißer«. Nicht immer ist eine so radikale Distanzierung beabsichtigt, wie sie im SieB zum Ausdruck kommt. Greift ein Student aber darum auf SieA zurück, so kann er nie sicher sein, daß der andere nicht doch SieB versteht und sich herabgesetzt fühlt. 82
Um zu zeigen, wie nahe sie sich den Studenten fühlten, gingen auch viele »Profs« an den Universitäten zum brüderlichen Duzen über und ließen sich selber duzen: schockierend für viele, die in Konvention A aufgewachsen waren, auch wenn sie im Prinzip den darin sich ausdrückenden »Autoritätsverfall« begrüßten. Andere jedoch hielten an A fest; das trug ihnen den Ruf ein, »studentenfeindlich«, »autoritär«, »reaktionär« zu sein. »Die Absurdität solcher Einstufungen ist offensichtlich« (Bayer). Andere gebrauchten sowohl Du als auch Sie; entweder sie zeichneten einige Studenten nach undurchsichtigen Gesichtspunkten mit dem Du aus und erregten damit den Neid der anderen, die nicht Teil dieser privilegierten Solidargemeinschaft waren; oder sie ließen bequemerweise abstimmen. Die Folge ist eine allgemeine Verunsicherung. Wird ein Sie achtungsvoll oder feindselig verstanden? Ein Du verächtlich oder vertraulich oder brüderlich? »Immer wieder«, resümiert Bayer die Situation, »bleibt offen, ob mit einer gegebenen Anrede Solidarität oder Intimität, bürgerliche Höflichkeit oder soziale Distanzierung ausgedrückt werden soll.« Und immerfort verlassen Studenten und Dozenten den Geltungsbereich von Konvention B, die Hochschule, und treten in den von Konvention A ein, der wiederum verschiedene B-Löcher hat: Studentenkneipen, Teestuben, WGs, »progressive« Buchhandlungen, Programmkinos, Pop-Konzerte, Diskos. Der alte Geltungsbereich von B besteht ebenfalls weiter: Teile der Arbeiterschaft, der Landbevölkerung, der Gewerkschaften. Hier allerdings können die neuen B-Leute 83
keineswegs unbeschränkt die Wonnen des universalen Du genießen: Der Student, der den Arbeiter oder den modernen Bauern in Gestalt des Agrarunternehmers ohne Umstände solidarisch duzte, würde zumindest Befremden erregen: Sein Du nämlich klingt ja wie das despektierliche DuA2. Wie wird dieser Konflikt ausgehen? Wer wird siegen, die Standardanrede Sie oder Du, die Konvention A oder B? Dafür, daß eine Anredekonvention tatsächlich in einer nach sprachgeschichtlichen Maßstäben kurzen Zeit über den Haufen geworfen werden kann, hat Spanien gerade ein Beispiel gegeben. Gegen Ende der Franco-Epoche sagte man noch Usted (Sie) und tu (du) ganz ähnlich wie im Deutschen. Mit der Liquidierung des Franquismus dann aber siegte die tu-Konvention der demokratischen, sozialistischen, kommunistischen Opposition. Seitdem ist Usted im Schwinden begriffen. Heute ist es nur noch sehr viel Älteren und sehr viel Ranghöheren vorbehalten, sofern sie einen nicht davon dispensieren (was sie bei näherer Bekanntschaft sehr wahrscheinlich tun werden) – und dazu Leuten, die man nicht leiden kann. In diesem Sinn signalisiert es: Du bist keiner von uns (Demokraten). Dieser Wandel von einer Respektsbezeugung zu einem Fast-Schimpfwort wird dem Usted wahrscheinlich ganz den Garaus machen. Wer es gebraucht, muß ja damit rechnen, daß es geradezu als Beleidigung aufgefaßt wird. Bayer empfiehlt den Deutschen an der Nahtstelle zwischen den beiden Konventionen, also vor allem an den Hochschulen, die den Konflikt heute am stärksten zu spüren bekom84
men, die Problematik ausdrücklich zu »thematisieren«. Auf die Dauer aber dürfte ein beständiges Erörtern des Problems ebenso nerven wie alle Geschäftsordnungsdebatten. Der Sprachgebrauch wird eine einfachere Lösung suchen, die den Konflikt minimiert. Es sieht noch immer so aus, als sei Konvention A die stärkere; sie ist von dem Sprachgebrauch der Studenten nie ernstlich in Frage gestellt gewesen, und sie wird, soweit sich derlei absehen läßt, wohl einstweilen fortbestehen. Andererseits aber hat sich das Du in der Studentenschaft inzwischen fest etabliert und wird sich kaum wieder verdrängen lassen. Für die neuen Studenten ist es bare Selbstverständlichkeit; sie haben meist nur noch die blasseste Ahnung, wie es zu dieser Konkurrenz der Konventionen gekommen ist. Wahrscheinlich wird der Konflikt an den Randstellen bereinigt werden, also vor allem im Verkehr zwischen Studenten und Dozenten. Trotz vieler Versuche junger progressiver Lehrer, sich von ihren Schülern auf der Oberstufe mit Du anreden zu lassen, scheint dort das Sie zu siegen; und das gleiche geschieht anscheinend auch im Umgang von Studenten und Profs. So wird Konvention A wieder einheitliche Gültigkeit erlangen; nur daß, wie vordem die Schüler, sich nunmehr auch die Studenten untereinander mit einem Du belegen, das nicht mehr von dem vertraulichen DuA1 zu unterscheiden sein wird. Der völlige Sturz des Du wird einer neuerlichen revolutionären Welle bedürfen. Denn die Geschichte, so lehrte Hegel, soll sich im Walzerschritt vollziehen: These, Antithese, Synthese. 85
Achja, hätten wir es doch so einfach wie Engländer und Amerikaner: ein einziges Anredepronomen, you, für Fremde wie Freunde, Männer und Frauen, Höher- und Niedrigergestellte, einen oder viele! So hört man es in Deutschland bisweilen seufzen. Aber wer irgendwann näheren Umgang mit Engländern und Amerikanern hatte, weiß, daß es trotz des einheitlichen you nicht leicht ist, die richtige Anrede zu treffen. Deutschen, die immer versucht sind, ihre eigenen Anredekonventionen ins Englische zu übernehmen, erscheinen die scheinbar so zwanglosen angloamerikanischen Formen oft als eine unbezwingbare Geheimwissenschaft. Was ein Amerikaner der Mittel- und Oberschicht bei der Wahl der Anrede alles zu bedenken hat, hat die Sprachwissenschaft lerin Susan Ervin-Tripp in Form einer Art Flußdiagramms zusammengetragen, bei dem eine ganze Serie von Entscheidungen zu treffen ist. Die erste Frage lautet: Ist der Gesprächspartner ein Kind, das heißt: unter achtzehn, und geht er noch zur Schule? Ist die Antwort ja, wird der Vorname gebraucht. Ist der nicht bekannt, so kann er gar nicht angeredet werden. Ist der Gesprächspartner erwachsen, ist die zweite Frage: Befinden wir uns in einer förmlichen Situation, in der persönliche Freundschaften nicht zählen, vor Gericht etwa? Ist die Antwort ja, so ist die förmliche Anrede verlangt: Mr., Mrs. oder Miss und Nachname beziehungsweise Titel und Nachname (Doctor, Judge, Professor); bei Ärzten, Richtern und Priestern reicht auch der Titel allein. Ist der Gesprächspartner erwachsen und die Situation 86
zwanglos-gesellig, so ist die dritte Frage: Ist der Gesprächspartner mit mir verwandt? Ist er es, und gehört er der gleichen oder einer jüngeren Generation an, so wird er mit dem Vornamen angeredet; gehört er einer älteren Generation an, so wird vor dem Vornamen die Verwandtschaftsbezeichnung verlangt (aunt, Tante zum Beispiel). Bei Eltern und Großeltern wird in der Regel nur die Verwandtschaftsbezeichnung, meist in einer kindlich abgekürzten Form gebraucht (Mom, Dad, Grandma, Grandpa). So weit, so leicht. Wie aber redet man nun einen nichtverwandten Erwachsenen in zwanglosgeselliger Situation an? Da heißt denn die vierte Frage: Freund oder Kollege? Ist die Antwort nein, so wird die förmliche Anrede (Titel oder Mr., Mrs., Miss mit Nachnamen) fällig. Ist die Antwort ja, so ist die fünfte Frage: Bekleidet er einen höheren Rang? Und tut er das, muß sofort die sechste Frage beantwortet werden: Hat er mich von der förmlichen Anrede dispensiert? Hat er es nicht, muß sie benutzt werden. Ist er nicht ranghöher, so lautet die sechste Frage: Ist er über fünfzehn? Wenn nicht, wird der Vorname genommen. Wenn ja, folgt als siebente Frage: Hat er mich dispensiert? Bei nichtverwandten Erwachsenen in zwanglos geselligen Situationen also ist es immer die Frage: Vorname oder förmliche Anrede? Und bei ihrer Beantwortung spielt eine Rolle, ob es sich um einen Freund oder Kollegen handelt, ob der ranghöher ist und ob er einem die förmliche Anrede erlassen hat. 87
Und hier fällt es auch Amerikanern untereinander zuweilen schwer, die richtige Anrede zu finden. Ein neuer Professor erscheint zum ersten Mal in einer Fakultätssitzung. Als Freund oder Kollege würde er normalerweise mit dem Vornamen angeredet werden und selber seine Kollegen mit dem Vornamen anreden. Aber was, wenn er ranghöher ist, zum Beispiel der neue Abteilungsleiter? Dann muß er seine Kollegen ausdrücklich dispensieren; wer die Dispensation nicht hört (weil er vielleicht gerade nicht da war), bleibt im Zweifel. Oder wenn er die nach den Umständen fälligen Vornamen der neuen Kollegen nicht weiß, weil sie ihm bei der Vorstellung nicht genannt wurden oder er sie vergessen hat? Dann kann er sie gar nicht anreden. So lautet eine Grundregel im sozialen Umgang: Wenn neue Bekannte oder Kollegen vorgestellt werden, müssen die Vornamen benutzt werden, damit man sich sofort beim Vornamen nennen kann (ErvinTripp). Das andere Zweifelsfeld ist die Dispensierung. Wenn einen ein Vorgesetzter mit dem Vornamen anredet: Bedeutet das schon, was es bedeuten kann, daß auch er mit dem Vornamen angeredet werden will? Oder erwartet er die förmliche Anrede? In England wird die Dispensierung nicht so rasch erteilt. Die Regeln sind dort noch komplizierter, weil in dem von den Public Schools geprägten Milieu Jungen und Mädchen einander nicht mit dem Vornamen, sondern mit dem Nachnamen anreden. Dabei bleibt es in diesen Kreisen unter Männern das Leben lang; für Frauen aber wird Mrs. oder Miss mit dem Nachnamen, aber nicht mit dem Titel 88
gebraucht; und Frauen reden Männer nie mit dem bloßen Nachnamen an. Konflikte also bleiben den Angloamerikanern keineswegs erspart. Sie müssen sich nicht zwischen Du und Sie, sondern zwischen dem Vornamen und der förmlichen Anrede entscheiden. Normalerweise geschieht es (die Unterscheidung zwischen Bekanntem und Fremdem, die Einschätzung des Ranges des Gesprächspartners, die Erteilung oder Verweigerung der Dispensierung) mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, die dem staunenden Mitteleuropäer geradezu schlafwandlerisch vorkommt. Aber immer wieder kommen auch Situationen vor, in denen sich die richtige Anrede nicht »von allein« ergibt und die so lockeren Amerikaner nicht weniger unsicher sind als ein Deutscher, der nicht weiß, ob Du oder Sie angezeigt ist. Wie unsicher, zeigt ein Handzettel, den ein Professor der Soziolinguistik zu Beginn seines Seminars an die Studenten verteilte: »Ich hoffe, Sie werden beginnen sich frei zu fühlen, mich mit Ralph anzureden. Ich werde beginnen, Sie mit dem Vornamen anzureden, aber es wird der Vorname der Solidarität, nicht der Vorname der Macht sein.«
DIE, DER, DAS Sprache und Sexismus
G
ewalt? In einem fort werde Frauen »verbal Gewalt« angetan, schreibt die Konstanzer Linguistin Senta Trömel-Plötz, die in Vorträgen, Diskussionen, Aufsätzen seit Jahren wider die Frauenfeindlichkeit der Sprache streitet. Ihr zweiter Sammelband zu eben diesem Thema führt die Gewalt gleich doppelt im Titel: »Gewalt durch Sprache – Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen«. Gewalt – ein großes Wort. Und da ich es für eine willkommene Eigenschaft der Sprache halte, Unterschiede anzuerkennen und das Bewußtsein für sie zu erhalten, mag ich inflationären Wortgebrauch nicht, der etwa den Terror, den Todesschwadronen ausüben, sprachlich mit jenem »Terror« gleichsetzt, der angeblich von einer Anzeige für irgendeinen Konsumartikel ausgeht; oder der den Mord an einem Volk und das Witzchen über eine Volksgruppe mit der gleichen Vokabel »Genozid« belegt. Wo die Unbill, die einer Frau durch die Anrede »Fräulein« widerfahren mag und die sie selber vielleicht gar nicht bemerkt, ja auf die sie vielleicht sogar Wert legt, sprachlich mit der brutalsten Vergewaltigung oder Mißhandlung gleichgesetzt wird, wird das Gespür für Maßstäbe verlorengegeben. Auch herrscht in manchen dieser Polemiken gegen die Frauenfeindlichkeit der Sprache ein sonderbar naives Miß93
verständnis: Despektierliche Äußerungen, bei denen die Sprache ein durchaus unparteiliches Vehikel ist, werden immer wieder mit Diskriminierungen verwechselt, die in der Sprache selber begründet sind. Dieses Mißverständnis kennzeichnet auch die »Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs«, die Trömel-Plötz und einige Mitarbeiterinnen 1981 erließen. Die »Richtlinien« beruhten auf dieser Diagnose: »Sprache ist sexistisch, wenn sie Frauen und ihre Leistung ignoriert, wenn sie Frauen nur in Abhängigkeit von und Unterordnung zu Männern beschreibt, wenn sie Frauen nur in stereotypen Rollen zeigt und ihnen so über das Stereotyp hinausgehende Interessen und Fähigkeiten abspricht, und wenn sie Frauen durch herablassende Sprache demütigt und lächerlich macht.« Bereits hierin lag eine gewisse Konfusion, denn im Grunde waren es gar keine Vorwürfe an die Sprache als solche, sondern an die Einstellungen sexistischer Sprecher. Eine Verwechslung, die prompt zu etlichen leider nur lachhaften Vorschlägen führte. Da wurde der Schulbuchsatz Schwester Christa arbeitet in der chirurgischen Abteilung als »sexistischer Sprachgebrauch« entlarvt; als annehmbare »Alternative« stand ihm der Satz Dr. Christa Seefeld leitet die Intensivstation gegenüber. Das aber ist nun wahrhaftig nicht dasselbe, nur anders, weniger sexistisch ausgedrückt. Der Sexismus besteht in den Verhältnissen, die die Christas häufiger als die Christians zu Krankenschwestern und seltener zu Leiterinnen von Intensivstationen werden lassen; und allenfalls in den Köpfen von Schulbuchautoren, die ihre Beispielsätze zu eng an diesen Verhältnissen orientieren. 94
Aber die Sprache an sich ist schuldlos. Willfährig und selber neutral drückt sie in solchen Sätzen nur aus, was der Fall ist. Wer hier reformieren wollte, müßte am Ende aus jeder Herrensocke wegen unfairer Bevorzugung der Männer und böswilliger Unsichtbarmachung der Frauen einen Damenstrumpf machen. Wörter wie Schreckschraube oder Klatschbase, als »degradierend« gerügt und darum in den gleichen »Richtlinien« zur Abschaffung empfohlen, sind nicht gerade freundlich, wohl wahr. Aber wir können und wollen und werden uns nicht daran hindern, Unfreundliches über einander zu denken. Der Menschentyp, auf den das Wort Klatschbase unzart hinweist, verschwindet nicht durch irgendwelche sprachlichen Flurbereinigungen – weder durch Umbenennung etwa in »Kommunikationsfachfrau« noch durch seine »ersatzlose Streichung«. Daß es – neben vielen anderen – auch sprachliche Injurien gibt, ist kein Beweis für den Sexismus der Sprache. Abschätzige Gedanken und Gefühle sind kein Gegenstand der Linguistik. Selbst noch im Zustand der totalsten Emanzipation werden sich weder Frauen noch Männer die Freiheit nehmen lassen, ungünstig über einzelne Vertreter des eigenen wie des anderen Geschlechts zu denken und dieses auszudrücken. Wörter wie Schreckschraube – dies der Irrtum – richten sich ja keineswegs gegen das weibliche Geschlecht als solches; sie richten sich gegen einzelne Menschen oder, noch enger, gegen einzelne menschliche Charakterzüge. Diese deutlich zu benennen, mag unter Umständen rücksichtslos und gemein sein, aber sexistisch ist es nicht, ge95
nausowenig wie Wörter wie Hornochse, Schweinehund oder Lackaffe männerfeindlich sind (allenfalls sind sie tierfeindlich). Die feministische Forderung, sie ersatzlos zu streichen, kommt der Beteuerung gleich, daß eine Frau, da sie Frau ist, schlechterdings nie einen negativen Zug haben kann, oder daß es ungehörig ist, ihn zu bemerken und zu erwähnen. Ein so irrealistisches Weltbild wird selbst die von ihm Begünstigten, die Frauen, niemals für sich gewinnen. Aber davon abgesehen, daß »Gewalt« arg übertrieben ist und daß man die Sprache nicht haftbar machen kann, wenn einem die Wirklichkeit mißfällt, haben Trömel-Plötz und ihre feministischen Mitstreiterinnen schon recht: »Unsere Sprache ist sexistisch, und unser Sprachgebrauch ist sexistisch.« Sie haben recht jedenfalls insofern, als die meisten Sprachen, auch die deutsche, Frauen und Männer nicht gleich behandeln. Teils sind diese Asymmetrien Relikte aus Zeiten, als Frauen tatsächlich Menschen zweiter Ordnung waren. Teils spiegeln sie frühere Versuche, zu den Frauen ganz besonders nett zu sein. Diskriminieren heißt wörtlich »unterscheiden«. Ob aus Mißachtung oder Hochachtung: Wir sprechen wohl oder übel eine Sprache, welche Unterschiede macht. Eine sehr offensichtliche, sehr äußerliche Diskriminierung besteht darin, daß fast immer, wenn Frauen und Männer zu festen Sprachformeln geronnen sind, die Männer zuerst kommen. Frauen und Männer – das sagt man meist eben nicht. Man sagt Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Vater und Mutter. Einladungen werden an Herrn X und Frau gerichtet. Die berühmten Liebespaare führt der 96
Mann an: Adam und Eva, Tristan und Isolde, Romeo und Julia. Das Märchen hält sich an die gleiche Regel: Brüderlein und Schwesterlein, Hänsel und Gretel. Auf Vordrucken steht Herr/Frau/Fräulein. Die Grammatik reiht der, die, das und er, sie, es. Einzige Ausnahme ist die Anrede meine Damen und Herren. Sie verdeutlicht die Regel nur: Wo wir ausgesucht höflich sein wollen, rücken wir die Frau an die erste Stelle, so wie wir ihr an der Tür den Vortritt lassen; ohne diese besondere Bemühung um Courtoisie hat den Vortritt der Mann. Nicht symmetrisch verfährt die Sprache auch bei den Bezeichnungen für Frauen und Männer selbst. Männern gebührt die scheinbar vornehmere Anrede Herr (Herr X). Frauen wird keine solche Veredlung zuteil – sie sind einfach Frau (Frau Y). Nur in erlesenen Kreisen und dort meist nur, wo von ihnen im Kollektiv die Rede ist, werden sie zu etwas vermeintlich Besserem, zu Damen. Der Redner wendet sich an seine Damen und Herren; zuweilen erhalten sie Damenwahl; wo eine plebejische öffentliche Toilette für Männer bestimmt ist, ist die für Frauen nicht fern – im feineren Milieu aber steht an den Türen H und D. Die Bad Harzburger Bibliothekarin Gerda Rechenberg kämpft seit Jahren einen vergeblichen Kampf, selber auch amtlicherseits als Dame Rechenberg angeredet und angeschrieben zu werden und die scheinbar unfeinere Frau allgemein durch die Dame zu ersetzen. Die meisten Feministinnen sind nicht auf ihrer Seite. Ihnen ist das Schicke, Gezierte, Untüchtige, das dem Wort Dame zweifellos an97
haftet, gar nicht geheuer. Für sie ist Frau die einzige in Frage kommende Bezeichnung der Frau, so wie auch Amerikas Neger (wörtlich: »Schwarze«) dankend auf die vorgebliche Ehrenbezeugung des Begriffs Negro mit seinem großen N verzichteten und sich selber rundweg als blacks bezeichnen. Die ärgste Beleidigung einer Frauengruppe (oder gar eines Weiberrats) besteht darin, sie Damenkränzchen zu nennen. Hier stoßen in den Worten Welten zusammen. Das scheinbar unsymmetrische Paar Herr/Frau verdankt seine Entstehung jedoch nicht irgendeiner Lust an der Herabsetzung des weiblichen Geschlechts. Die alten Geschlechtsnamen waren Mann und Weib. Weib war ursprünglich eine Umschreibung, und zwar wohl eine ehrerbietige; es bedeutete wahrscheinlich soviel wie »das Verhüllte« oder »das Geschäftige«. Mann war gleichzeitig Gattungsname, bedeutete also nicht nur Mann, sondern Mensch schlechthin. Tatsächlich ist auch das Wort Mensch nichts anderes als ein von Mann abgeleitetes Adjektiv, wörtlich also der Männische, und wenn die Feministinnen die Sprache auch in diesem Punkt von allem Sexismus purgieren wollten, müßten sie darauf bestehen, dem Menschen eine Weibsche an die Seite zu stellen. Daß Mann und Mensch vor der Sprache eins sind, hat einen klar sexistischen Grund, den schon Grimms Wörterbuch auf den Punkt brachte: »Nach der altgermanischen rechtlichen anschauung (ist) nur der mann im Vollbesitze des menschlichen wesens.« Nicht nur nach altgermanischer; Latein beispielsweise (homo) und die ihm folgenden romanischen Sprachen (homme, hombre) hielten die gleiche Anschauung hoch. 98
Als Anrede für vornehmere Menschen waren Mann und Weib unseren Vormüttern und -vätern nicht gut genug. Sie wurden mit den Äquivalenten für »Gebieter/in« angesprochen: mit Herr (wörtich: »Hehrer«, »Hoher«) und Frau, der weiblichen Form von fro (»Herr«), der selber in Vergessenheit geriet und nur in Wörtern wie Fron (»Herrendienst«) oder Fronleichnam (»Körper des Herrn«) überlebte. Ursprünglich waren also Herr und Frau vollkommen gleichrangig, und das sind sie selbst für das heutige Sprachgefühl weitgehend immer noch. Die Verwischung dieser Symmetrie (Mann/Weib als Geschlechtsnamen, Herr/Frau als Anrede) geht auf den Wunsch zurück, noch netter zu den Frauen zu sein. Darum wurde die vornehme Anrede Frau auch zum Geschlechtsnamen und verdrängte das Weib, das nun eine leicht pejorative Bedeutung anzunehmen begann. Die Minnesänger des Mittelalters zerbrachen sich ausgiebig den Kopfüber die der Frau geziemende Anrede. Walther von der Vogelweide war die beginnende Degradierung des Weibes gar nicht recht. »Weib«, dichtete er, »soll unbedingt die feinste Bezeichnung für die Weiber bleiben und ehrenvoller als Frau, würde ich sagen.« (»Wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name, / und tiuret baz dan frouwe, als ichz erkenne … / wîp dêst ein name ders alle krœnet.«) Die Sprache ging auch über seinen Rat hinweg, blieb bei dem feineren Wort Frau und inthronisierte es auch als Geschlechtsbezeichnung. Und dann überbot sie diese Nettigkeit noch einmal. Um 1600 gelangte die französische Dame 99
nach Deutschland, die ihrerseits auf die lateinische domina zurückging und also wörtlich ebenfalls »Herrin« bedeutete. Kaum da, fiel sie tief. Kaspar Stieler übersetzte sie 1691 rundheraus mit »Matreße«. Aber der Adel in seiner Frankomanie hielt an ihr fest, und im 19. Jahrhundert begann ihn das Bürgertum auch darin nachzuahmen. Obwohl Grimms Wörterbuch 1862 noch barsch dekretierte: »die allgemeine anrede lautet: herr und frau! herren und frauen!« – wurde die Dame seitdem als eine Art Luxusausgabe der Frau eingebürgert. Die Feministinnen könnten sich mit diesem Stand durchaus zufrieden geben. Der Herr ist zwar ein besserer Mann, aber die Frau ist keine schlechtere Dame. Das Weib wurde befördert, der Mann nicht. Zu Recht stoßen sie sich hingegen am Fräulein. Auch dies war zwar einmal das Feinste vom Feinen – die »niedliche Gebieterin«. Aber bereits im Mittelhochdeutschen hatte es den Nebensinn »Nutte«. Ambrose Bierce bemerkte schon vor hundert Jahren in seinem »Wörterbuch des Teufels« treffend: »Fräulein: Titel, mit dem wir unverheiratete Frauen brandmarken, um anzuzeigen, daß sie noch im Handel sind.« Frollein!, heute in einem Lokal gerufen, ist ein derber männlicher Schlag aufs Hinterteil. Kein Mann muß sich mit Männchen oder Herrlein anreden lassen. Im Spanischen gibt es ein männliches Pendant zur señorita, den señorito – es ist ein verwöhnter junger Schnösel. Als Jungfernschaft noch ein erlauchter gesellschaft licher Wert war, hatte es Sinn, ihren Besitz durch ein besonderes – stets abstiegsgefährdetes – Wort zu affichieren. Heute ist die Offenbarung des Zivilstan100
des, die die Wahl zwischen der Anrede Frau oder Fräulein den Frauen aufnötigt, anachronistisch. Gäbe es nicht noch viele, die großen Wert drauflegten, als Fräulein tituliert zu werden und damit anzuzeigen, daß sie sich niemals schnöde mit einem Mann eingelassen haben, man sollte es baldigst verabschieden. Auch weibliche und männliche Kinder sind vor der Sprache nicht gleich. Das männliche heißt neutral und farblos Junge; in altertümelnder Schriftsprache hat der Knabe überlebt, der einmal soviel wie »Stift«, »Knecht« hieß, in Süddeutschland der Bube (der im Hochdeutschen die Nebenbedeutung »Schurke« tragen muß), im Baierischen der Bursche – in den Ohren der übrigen Deutschsprechenden klingt in ihm der derbe Wandergesell mit an. (Bursche hat übrigens eine interessante Geschichte. »Eigentlich« bedeutet er soviel wie »Portemonnaie«. Denn er geht auf dieselbe lateinische Wurzel – bursa – zurück wie die »Börse«. Eine burse war die gemeinsame Kasse, dann die Wohngemeinschaft gemeinsam wirtschaftender Studenten; ihr Mitglied hieß burssgesell. Dieser wurde zu dem Plural die bursse verkürzt, und aus denen wurde der nunmehr männliche Singular der burss. Ein weiteres Beispiel dafür, wie unberechenbar die Wege der Sprachgeschichte sind; wie etablierte Formen »verquatscht« werden und die »Verquatschung« dann wieder zur Norm gerinnt.) Aber das weibliche Kind? So leicht das möglich wäre, heißt es nicht die Junge. Ihm ist die Verniedlichung auferlegt. Diese macht es, nach der Regel aller Diminutive, zu einem Neutrum. Und dieses wiederum bringt das Sprachge101
fühl in einen Konflikt. Was ist stärker: das natürliche oder das grammatische Geschlecht? Heißt es: das Mädchen, das … oder das Mädchen, die …? Der »Duden« zieht »das« vor, schwankt aber bei längeren Sätzen, und wie sollte er auch anders. Dame Rechenberg möchte diese Vorenthaltung des natürlichen Geschlechts korrigiert und das Mädchen in die Mädchen umgewandelt sehen: dann müßte der Junge fortan eine hübsche Mädchen anmachen. Solchen Begehren steht entgegen, daß alle Welt das höchstens für einen schlappen Witz hielte – und daß die Sprache überhaupt völlig taub ist für derartige Verbesserungsvorschläge. Selbst eine wenigstens das grammatische Gehör nicht verletzende Rückkehr zu der Form, von der das Mädchen – erst im 17. Jahrhundert – abgeleitet wurde, zur Magd oder Maid, wird sie sich nicht gefallen lassen. Alle diese Asymmetrien sind entweder harmlos und werden schon bei der flüchtigsten historischen Betrachtung zumutbar. Oder sie sind behebbar: Reihenfolgen lassen sich umkehren, keiner unwilligen Frau kann auf die Dauer das Fräulein aufgezwungen werden. Eine auf der Stelle abschaffbare Diskriminierung ist auch das die vor dem Familiennamen: die Knef, die Renger, denen auf der gleichen Stilebene nicht der Griem, der Wehner gegenübersteht. In einigen Dialekten hat es keinerlei pejorativen Unterton; im Schweizerdeutsch dirigiert sogar regelmäßig der Konstantin Iwanow die Sinfonie vom Peter Tschaikowskij. Im Hochdeutschen aber klingt in diesem die nach, wie Lebemänner einst von Kokotten und Schauspielerinnen 102
redeten. Außerdem jener vulgäre Ton: »Die Müller hat der Meiern gehörig die Meinung geblasen.« Das müßte nicht sein. Wie im Englischen inzwischen üblich, wäre TrömelPlötz schreibt … fair und ohne weiteres möglich – nicht Senta Trömel-Plötz, auch nicht die Trömel-Plötz. Nicht so harmlos und letztlich nicht behebbar ist eine andere Hinterlassenschaft sexistischer Zeiten, die dem ganzen Sprachgefüge einen Hang hin zum Männlichen gibt und in aller Selbstverständlichkeit von der Superiorität des Mannes kündet. Generische Begriffe sind fast immer Maskulina. Die Arbeitnehmer verhandeln mit den Arbeitgebern. Der Vorstand des Schriftstellerverbands sucht Anhänger. Die Moral der Steuerzahler. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Die Rechte der Mieter. Das Handwerkerhaus. Die Klasse für Anfänger. Der Absender. Die Zuschauer-Post. Immer sind Männer und Frauen gemeint; die Sprache scheint aber nur Männer zu kennen. Die wenigen Feminina, die in Frage kämen, werden auf Männer nicht angewendet: Ein Mann kann nicht Krankenschwester sein, sogar ein von ihr abgeleiteter Krankenbruder bleibt ihm erspart – wenn, dann ist er Krankenpfleger. Frauen werden auf diese Weise »ausgeschlossen und unsichtbar gemacht«, klagt Trömel-Plötz immer wieder. Darum verhießen die »Richtlinien«: »Dagegen wollen wir Frauen sichtbar machen – indem wir sie explizit nennen und anreden, indem wir sie an erster Stelle nennen, bis Frauen und Männer gleichrangig vorkommen …« Die deutsche Sprache bevorzugt Männer sogar in einer 103
tieferen, noch schwerer korrigierbaren Schicht als der der generischen Namen. Die Pronomen man, jemand und niemand sind von Mann abgeleitet. Bei man haben es die Feministinnen gemerkt, und die ganz eifrigen unter ihnen schreiben seitdem frau. Trotzdem dürfte es noch lange dauern, bis ein literarischer Text dies auftrumpfende frau erträgt. Es ist einfach ein zu grelles Signal an zu unscheinbarer Stelle, jede feinere Nuance übertönend, so als schmetterte ein Schriftsteller zwischendurch immer wieder heraus, daß er Vegetarier oder Antialkoholiker sei. Jefrau aber hat wohl noch niefrau vorgeschlagen, wohl aber Efrauzipation oder verschwestern – nicht etwa vertöchtern – statt »versöhnen«, obwohl beide etymologisch mit dem Mann nicht das geringste zu tun haben (»versöhnen« kommt von »Sühne«, nicht von »Sohn«; »emanzipieren« von ex + manus + capere, »aus der Hand entlassen«, nämlich »aus der väterlichen oder ehelichen Gewalt freilassen«). Diesen Feministinnen ist schon der bloße Anklang an die Wörter Mann, Herr, Sohn zuviel. Klar, daß ihnen dann auch dämlich (das sich von »dumm«, aber nicht von der »Dame« herleitet) unliebsam auff ällt. Armin Ayren hat bemerkt, daß wer die Frageform von er ist. Wer garantiert unsexistisch nach einer Frau fragen wollte, müßte so etwas wie wihr erfinden. Sprache aus dem kommenden Frauenreich: Wihr ist die fraulichere Weibsche? Die Frau, der frau gerne zudamt, wenn sie bedamscht in der Frausarde sitzt, Fraudoline zupft und frauche dämliche Fraudarine ißt. (Pardonna für die Kalauerinnen.) Diese Art lin104
guistischer Verbannung des Männlichen aus der Welt der Frau wird also wohl auf sich warten lassen. Ein Fall für sich sind Titel und Berufsbezeichnungen. Sehr oft lassen sie sich ohne Verrenkungen »movieren«, nämlich in eine feminine Form versetzen, und es besteht kein Grund, weder ein sprachlicher noch ein sachlicher, den Frauen diese Formen vorzuenthalten. Weitgehend sind sie ja längst in Gebrauch. Es wirkt fast schon lächerlich, nicht Anwältin, Inspektorin, Mechanikerin zu sagen, wenn von einer Frau die Rede ist. Bis alle Ausbildungs- und Prüfungsordnungen die femininen Formen neben den maskulinen auch offiziell anerkennen, wird es jedoch leider noch lange dauern. Einige schwierigere Fälle dürften übrigbleiben. Was wäre die weibliche Form von Amtmann? Amtmännin? Amtfrau? Frau X ist Professorin: Wäre die förmliche Anrede dann Frau Professorin? Wird man, wenn neben dem Doktor-Titel eines Tages auch der Doktorinnen-Titel verliehen werden sollte, wirklich Frau Doktorin sagen wollen? Und werden die weiblichen Sekretäre sich zu Sekretärinnen movieren lassen? Der Beruf des Staatssekretärs genießt ein hohes Prestige, der der Staatssekretärin ein viel geringeres – vermutlich, weil die meisten eine Staatssekretärin für eine beamtete Stenotypistin halten. Weibliche Titel und Berufsbezeichnungen, wo nur Frauen gemeint sind oder die Beteiligung von Frauen ausdrücklich betont werden soll – das ist nur recht und billig und wird trotz etlicher Problemfälle keine unüberwindlichen Schwierigkeiten machen. Anders ist es, wenn die Wörter für Frauen 105
und Männer gleichzeitig stehen und die Geschlechtszugehörigkcit in dem betreffenden Zusammenhang nicht interessiert. Trömel-Plötz und andere feministische Autorinnen schreiben jedes Mal treu und brav aus: Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben aufgezeigt … Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ermittelt … Das läßt sich natürlich machen. Es braucht nur viel Platz, ohne viel Information hinzuzufügen. Es ließe sich auch nicht durchhalten. Was herauskäme, wenn dieses Prinzip lückenlos befolgt würde, wäre zu pedantisch, zu umständlich, zu uferlos, übrigens auch zu sexistisch, und meist mehreres zugleich. Kurz, es wirkte lächerlich. Zu pedantisch: Machbar wäre es schon, daß frau Finderinnenlohn bekommt, die Modeseiten mit Kennerinnenblick mustert und ob der Zumutungen der Männer eine Dulderinnenmiene aufsetzt. Aber wer wollte es so genau wissen? Zu umständlich: Wir müßten den Bürgerinnen- und Bürgersteig benutzen. Die Schilder müßten Nichtraucherinnen und Nichtraucher lauten. Das Bauherrenmodell müßte in ein Baufrauen- (oder Baudamen-) und -herrenmodell umgewandelt werden. Aus dem Arbeiter- und Bauern-Staat müßte ein Arbeiterinnen-Bäuerinnen-Arbeiter-und Bauern-Staat werden. Dem Volk der Dichter und Denker stünde eine ähnliche Erweiterung bevor. Zu uferlos: Aus der Brüderlichkeit müßte was werden? Die »Richtlinien« schlagen allen Ernstes Menschlichkeit vor; nur ist die schon etwas ganz anderes. (Wie wäre Geschwisterlichkeit?) Das Vaterland würde zum Mutterland, das es 106
aber in anderem Sinn bereits gibt – oder neutral zum Elternland. (Aus Paritätsgründen müßten die Männer dann aus der Muttersprache so etwas wie Bezugspersonensprache machen.) Und warum sollte jene ausdrückliche »Sichtbarmachung« des Weiblichen auf die Menschen beschränkt bleiben? Bei einigen Haustieren gibt es glücklicherweise neutrale Gattungsnamen (Pferd, Rind, Schwein, Schaf, Huhn). Aber sonst stellen bald Weibchen, bald Männchen die Gattungsnamen. Daß auch Kater Katzen sind, mag Feministinnen nicht stören; aber daß auch Hündinnen von der deutschen Sprache verurteilt werden, Hunde zu sein? Am Ende flatterten Zitronenfalterinnen- und -falter über die Wiese, und auf dem Büffet warteten Rollmöpsinnen und -möpse, von den Gästinnen verspeist zu werden. Zu sexistisch: Die generischen Bezeichnungen, obwohl Maskulina, meinen Frauen tatsächlich immer mit. Wie übergebührlich das weibliche Element hervorgehoben würde, wenn die weiblichen Formen dazugesetzt werden, wird klar, wenn man es für einige der weniger schmeichelhaften Gattungsbezeichnungen durchexerziert: Das Atelier ist kein Platz für Stümperinnen und Stümper. Kühe und Bullen schnitten der Demo den Weg ab. Faschistinnen und Faschisten haben Bücher verbrannt. Drückebergerinnen und Drükkeberger sind nicht erwünscht. In der Bar hocken Säuferinnen und Säufer und trinken Jägerinnen- und Jägermeisterin und -meister … Erst das wäre wirklich sexistisch. Aus dieser besonderen Sprachreform wird also nichts werden. Das ist kein männliches Dekret und noch nicht einmal 107
ein Wunsch, sondern eine Prognose. Die Frauen werden sich darein schicken müssen, bei den generischen Substantiven in vielen Fällen vom männlichen grammatischen Geschlecht mitvertreten zu werden. Übrigens haben jene Ausnahmefälle, in denen es umgekehrt ist, nie einen Mann gestört. Selbst der größte Macho hat nichts dagegen, eine Person zu sein, und wenn er als Geisel genommen oder als Null bezeichnet wird, so ärgert ihn daran nicht deren Weiblichkeit. Noch in Zeiten, die an der Überlegenheit des Mannes keinen Zweifel aufkommen ließen, hat die lateinische Sprache einigen Berufsbezeichnungen, dem Bauern (agricola) und dem Dichter (poeta), das feminine grammatische Geschlecht gegeben. Im heutigen Italienisch sind guida (Führer), guardia (Wärter), spia (Spion) weiblichen Geschlechts, und es ist nicht bekannt, daß sich irgendein Mann dadurch »vergewaltigt« gefühlt hätte. Sprache ist konventionell, für Frauen wie für Männer. Es gab einmal eine Denktradition, die glaubte, auf dem Weg über die Etymologie der Wörter irgendwie zu dem Wesen der Dinge kommen zu können. In der Theologie ist sie immer noch heimisch (wohl weil hier Gedankensurrogate besonders gefragt sind): Ver-antwort-ung – das ist die Antwort, die du Gott schuldest. Mit bedeutungsvollem Pathos pflegte sie Bindestriche in die Wörter einzubauen. Be-greifen: da sehe man doch, wie das Verstehen ein Zupacken sei. Ver-zweifeln: daran erkenne man doch, daß die Verzweiflung »im Grunde« ein Überhandnehmen von Zweifeln sei. Der Zwei-fel selber: was wäre er anderes als die Unfähigkeit, 108
sich zwischen den zwei Alternativen zu entscheiden, die er etymologisch in sich trägt? Es ist natürlich nur ein wichtigtuerischer Aberglaube. Wohl werden viele neue Ausdrücke figürlich gebildet, das heißt durch einen Vergleich. Als im siebzehnten Jahrhundert ein Wort für den Begriff »vom Leid gezeichnet« gesucht wurde, kam jemand auf sorgfältig, nämlich »vor Sorge voller Falten«. Aber es war eben nur ein Vergleich, wie viele andere möglich gewesen wären, er hatte keine besonders innige Beziehung zu dem Wesen der Leidgeprägtheit, verriet über diese also auch nichts besonders Wahres, das späteren Exegeten erlaubte, über das Wort zum Kern der Sache zu gelangen. Und im Laufe der Zeit verblaßte der figürliche Sinn in der Regel; bei Sorgfalt verblaßte er nicht nur, er verschwand so vollständig, daß sich die Bedeutung von »leidgezeichnet« ganz woandershin, zu »genau, gewissenhaft« verschieben konnte. Das Wesen der Sorgfalt wird in keiner Weise erhellt, wenn man das Wort etymologisch auf die Sorgenfalte zurückführt. Wer es unternimmt, verkennt völlig die Konventionalität von Sprache. Dem gleichen Irrtum sitzen manche der feministischen Sprachreformvorschläge auf: Sie stoßen sich an ausgegrabenen »wahren« Bedeutungen, die kein Mensch mehr wahrnimmt. Dies soll nicht heißen, daß sämtliche Bestrebungen, sexistischen Sprachgebrauch zu ändern, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Je äußerlicher eine Änderung der Sprache ist, desto leichter wird sie durchzusetzen sein; Eingriffe ins Innere der Sprache jedoch sind so gut wie aussichtslos. Die äußerlichste Änderung ist der Austausch von 109
einzelnen Wörtern. Der Wandel von Putzfrau zu Raumpflegerin hängt nur davon ab, ob ausreichend viele Menschen die Gründe für eine solche Umbenennung einsehen und selber das neue Wort gebrauchen. Oder die Damenmannschaft: sie ist noch erkennbar sexistisch und wegen des manifesten Widersinns geradezu lächerlich; Frauschaft wäre kurios; aber das Neudeutsche eröffnet eine neutrale Möglichkeit: Frauenteam. Ein Wandel von das Mädchen zu die Mädchen aber verstößt gegen die allgemeinere Regel, daß Diminutive Neutra sind, und wird sich darum nicht durchsetzen lassen. Daß dort, wo ausdrücklich von Frauen im Lehrberuf die Rede ist, auch Lehrerin gesagt wird, verstößt gegen keinerlei allgemeinere Sprachregel; es läßt sich durchsetzen, ja setzt sich von allein durch. Aber Bekanntmachungen an die Fahrgästinnen und Fahrgäste wird man nicht zu lesen bekommen, erstens weil das Wort Gästin bisher nicht existiert und neu erfunden werden müßte, zweitens weil die Aufzählung der weiblichen und der männlichen Form dort, wo das Geschlecht nicht interessiert (weil sich die Bekanntmachung etwa an alle die Verkehrsmittel benutzenden Menschen richtet, egal ob groß oder klein, jung oder alt, krank oder gesund, weiblich oder männlich), gegen den unentrinnbaren Hang der Sprache zum kürzeren, ökonomischeren Ausdruck verstößt, der aus der Arbeitslosenunterstützung die Stütze macht und dem selbst ein Wort wie Professor auf die Dauer zu lang ist, so daß Prof daraus wird. Darum wird die Sprache jene Erweiterungen auch dort, wo durchaus Wörter zur Verfügung 110
stünden, nicht mitmachen. Chancen also haben am ehesten jene Änderungen, mit denen jeder, dem ihr Sinn einleuchtet, heute noch beginnen könnte, ohne sich lächerlich zu machen, ohne Gefahr zu laufen, als unhöflich zu gelten, und ohne als langatmiger Pedant dazustehen. In der englischen Schriftsprache breitet sich seit Anfang der siebziger Jahre eine »emanzipierte« Alternative zu Mrs (der herkömmlichen Abkürzung von Mistress, Frau) und Miss (Fräulein) aus. Es ist die Abkürzung Ms. Ms steht für beides, Mrs und Miss, und enthebt seine Benutzer der Markierung des Zivilstands. Gesprochen werden soll es mit weichem s, »mis«, im Unterschied zur harten Miss (»miss«) – und da stößt auch diese Neuerung an ihre Grenze. Schrift lich ist Ms nur eine zweideutige Abkürzung und als solche ebenso akzeptabel wie das doppeldeutige u. a., das ja für »unter anderem« und »und andere« stehen kann. Muß es aber ausgesprochen werden, so wäre ein neues Wort zu prägen, eben die »mis«, die auch noch den Nachteil hat, sich nur wie eine falsch ausgesprochene Miss anzuhören. Der Sprecher also erregte Befremden, und dieses wird die Durchsetzung dieser Neuerung schwer behindern. In den Vereinigten Staaten gaben sich in den letzten Jahren viele Zeitschriften, besonders in den Sozialwissenschaften, Richtlinien für die Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs. Sie hatten durchaus Wirkungen. Seitdem ist es für keinen Autor mehr verständlich, child oder person oder Student oder human being automatisch als Maskulina zu behandeln. 111
Der englische Artikel verrät kein Geschlecht. Aber sehr oft muß der Sprecher oder Schreiber im Fortgang des Satzes Farbe bekennen und sich entscheiden, ob er eine Frau oder einen Mann im Sinn hat: the engineer … he oder she came; the teacher … she oder he said. Die Linguistin Wendy Martina fand heraus, daß bei jenen neutralen Personenbezeichnungen, die sowohl als Frauen wie als Männer aufgefaßt werden können, meistens die männliche Fortsetzung gewählt wird – von Frauen zu 56 Prozent und von Männern gar zu 74. Frauen wählen zu 8 Prozent Frauen, Männer nur zu 2 Prozent. Der Rest hilft sich auf irgendeine andere Weise aus der Bredouille. Martina stellte auch fest, warum man den geschlechtsneutralen Personenbegriff einmal als Frau, einmal als Mann versteht: Es hängt meist davon ab, ob man beim Anhören oder Lesen des Satzes eine Frau oder einen Mann vor Augen gehabt hat. Und das Bild eines Mannes stellt sich wesentlich häufiger ein. Wenn Frauen allerdings fortfahren, als handele es sich um einen Mann, so häufig auch, ohne das Bild eines männlichen Wesens vor Augen gehabt zu haben, einfach aus Gewohnheit, wie sie sagen. Wenn schon die geschlechtsneutralen englischen Personenbezeichnungen die Leute also vorwiegend an Männer denken lassen, wie viel mehr noch werden es dann die durch den Artikel und oft auch die Endung als grammatisch maskulin ausgewiesenen deutschen Personenbezeichnungen! Es ist darum zwar richtig, daß die generischen Maskulina im Deutschen Frauen wie Männer meinen. Es ist aber wohl leider ebenso richtig, daß sie meist doch überwiegend an Männer denken 112
lassen. Den Frauen zu raten, sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden und sich vom männlichen grammatischen Geschlecht mitvertreten zu lassen, fordert ihnen also wirklich einen Verzicht ab – jenen Verzicht, den die feministischen Linguistinnen um keinen Preis bringen mögen, den Verzicht auf Sichtbarkeit. Im Englischen ist die Abhilfe einfacher. Es müssen keine Substantive moviert werden, es müssen nur ganz nach Wunsch weibliche oder männliche Pronomina für die Fortsetzung des Satzes gewählt werden. Immer häufiger trifft man darum seit einigen Jahren auf Sätze wie When the child utters her first speech oder The reader opened her book. Das ist eine mögliche Reform. Kein neues Wort muß geprägt, kein grammatisches Geschlecht umgewandelt, kein Hang zum knappen Ausdruck verletzt werden. Darum konnte diese Richtlinie Erfolg haben. Nur das zu wollen, was eine Chance hat – solche Gelassenheit allerdings setzt eine Bereitschaft voraus, die mit der Fortschrittlichkeit des Bewußtseins stark verkümmert ist: die Bereitschaft, die eigene Geschichte anzunehmen und auch weit abgelegenen Zeiten und Gegenden, in denen ganz andere Werte galten, ein Minimum an Respekt nicht vorzuenthalten. Die Sprachgeschichte konserviert vieles, was uns mißfiele, nähmen wir es wörtlich. Selbst erklärte Friedensfreunde kämpfen gegen die Rüstung, greifen die Militaristen an, nehmen sie unter Beschuß. Auch Atheisten finden es ein Kreuz, weiß der Himmel, wenn ihnen Pharisäer die Leviten lesen. 113
Selbst eingeschworene Republikaner trinken edlen (nämlich adeligen) Wein, erweisen sich als ritterliche Verkehrsteilnehmer und thronen gern als Könige über der Menge. Selbst Feinde allen Aberglaubens drücken die Daumen oder werden zu Geisterfahrern. Und sogar wer die Todesstrafe verabscheut, köpft gelegentlich eine Flasche oder dreht seinem Gegner einen Strick. Die Sprache schleppt alles dies mit, und niemand stößt sich daran, zu Recht, denn der Wortsinn ist bis zur Unkenntlichkeit verblaßt, und wenn die Sprache – sie wird es nicht – tatsächlich von allen diesen Mißliebigkeiten gereinigt werden könnte, bliebe nur ein Gerippe, gerechter vielleicht, aber grotesk umständlich und ganz und gar ausdruckslos. Auch die tief in die Sprache eingewirkten sexistischen Elemente gehören zu dieser Geschichte, deren Kinder wir sind und gegen die wir uns auf die Dauer nicht nur empören können und von deren Zukunft wir sicher nur wissen, daß sie die heutigen Wünsche und Werte einmal ebenso abwegig finden wird.
DER JARGON DER WAHREN EMPFINDUNG Psycho-Deutsch
H
ast du dich heute schon eingebracht? Nö? Dann hast du also wieder mal abgeblockt? Du willst einfach keine Gefühle zulassen. Du solltest endlich erfahren lernen. Du müßtest die Dinge an dich heranlassen. Du müßtest dich öffnen. Du müßtest Ängste abbauen. Du müßtest Gefühle in dir hochkommen lassen. Ganz spontan. Es darf in dir nicht alles zu sein. Du mußt zu deinen Gefühlen stehen, zu deinen Ängsten, zu deinen Verletzlichkeiten. Du mußt deine Wut zulassen und sie dann auch vertreten. Du darfst auf keinen Fall abgehoben daherlabern; du mußt betroffen sein. Dann versuchst du, deine Ängste und Bedürfnisse ein bißchen auszuphantasieren. Vielleicht lernst du so umgehen mit deiner verlorenen Kindheit, kommen deine Energien ins Fließen, schaffst du es, auf die anderen zuzugehen und deine Probleme in Erfahrungen aufzulösen. Wenn du dabei einmal flippst, macht das nichts; die Gruppe fängt dich auf. Wir nämlich gehen offen miteinander um. Du, da kann ich irgendwie ganz viel mit anfangen, was du da sagst. Das faßt mich an, du. Wo könnte ich denn wohl mein verschüttetes Ich entdecken? Das alles bringt dir – irgendwie – unsre Gruppentherapie. Für siebzig D-Mark in der Stunde wirst du der Neunte in der Runde. Du bringst dich ein, paßt auf dich auf und bist bald unheimlich gut drauf. 117
Aber Spott ist billig. Die Rituale der Gruppen-»Dynamik«, denen sich ein nicht geringer Teil der Zeitgenossen mittlerweile unterzieht, mögen manchmal auf naiven oder faulen Theorien beruhen, sie mögen auch nicht eben häufig halten, was sie versprechen oder was sich ihre Teilnehmer von ihnen versprechen – die Unruhe, die Zweifel, die Hilflosigkeit, das Unglück, die ihnen die Klienten zutreiben, sind zumeist echt oder authentisch, um mit dem Jargon zu reden, und sollten verschont bleiben vom besserwisserischen Hohn derjenigen, die sich wohlfühlen. Auch das Sprachgebaren, das mit ihnen verbunden ist und seit längerem einen der Hauptzuflüsse zur Sprache der Scene bildet (die in Teilen die Hochsprache von morgen ist), ist nicht durchweg lächerlich und stiftet zum überlegenen Grinsen nur darum an, weil alle Sprachneuerungen zunächst Befremden und Spott auslösen. Schließlich sind sich öffnen für jemanden, etwas an sich heranlassen, auf einen andern zugehen, abblocken oder abschotten gänzlich unanstößige, schon auf Anhieb verständliche, unverkrampfte, unprätentiöse Wörter für Vorgänge, die es tatsächlich gibt und die einen Namen brauchen und für die andere oder gar bessere nicht bereitstehen. Wenn sie sich auch im Alltag durchsetzen, dann aus Gründen, und sogar ganz guten. Aber es ist eine Sache, einzelne Wörter und Wendungen als sinnvolle und zweckmäßige Neuerwerbungen willkommen zu heißen. Eine ganz andere Sache ist der Psycho-Jargon als ganzes. Ein Jargon hat eine gewisse Starrheit und Schablonenhaftigkeit. Wer Jargon spricht, muß bestimmte Dinge 118
und Vorgänge mit dem Jargonwort benennen; er begibt sich der Freiheit, den treffendsten Ausdruck aus der Gesamtheit der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel zu wählen oder ihn selber neu zu prägen. Er begnügt sich mit den Vorentscheidungen und Werturteilen, die der Jargon getroffen hat. Der Jargon klischiert das sprachliche Denken. Und besonders unangemessen und peinlich muß ein Jargon wirken, dessen Ziel es gerade ist, das Unklischierbarste überhaupt auszudrücken: die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit intimer Seelenzustände und -Vorgänge. Psycho-Jargon: das erscheint geradezu als ein Widerspruch in sich selbst. Es klingt wie »Ausverkauf des Unveräußerlichen«. Die Rede ist von der Sprache der Neuen Empfindsamkeit, die sich zu einem erheblichen Teil aus jener Sprache speist, die sich in den Psychotherapien herausgebildet hat, um Persönlichstes und Privatestes zu einem Gesprächsgegenstand zu machen. Der Empfindungsmensch, der diese Sprache spricht, ist ein bedingungsloser Anhänger der Meinung, daß sich die Menschheit am besten in psychologischen Kategorien beschreiben lasse. Er psychologisiert alles: Moral, Politik, Verbrechen, Krankheit. Ein Mann hat seine Frau verlassen? Er kommt nicht los von seinen frühkindlichen Bindungsproblemen. Ein Politiker tritt für eine höhere Besteuerung der Wohlhabenden ein? Ihn plagt der pure Neid. Ein Schüler benimmt sich unleidlich flegelhaft? Er sucht in Wahrheit Zuwendung. Eine Hausfrau hat Asthma? Sie fühlt sich in ihrer Ehe frustriert. Ein Mann hat seinen Chef erschossen? 119
Er wollte nur seinem übermächtigen Vater beweisen, daß er ein Mann ist. Nichts gegen psychologische Erklärungen; sie können richtig und wertvoll sein. Es verdient nur festgehalten zu werden, daß sie in anderen Epochen, anderen Kulturen keine Rolle spielten; und daß trotz aller Wertschätzung, die sie heute genießen, ein großer Teil von ihnen auf sehr schwachen Füßen steht. Diese Psychologisierung verhakt sich mit der Überzeugung, daß die Psyche bodenlos sei: So sehr man sich auch anstrenge, man komme ihr nie auf den Grund. Alles leidenschaft liche Psychologisieren scheint nie eine auch nur halbwegs vertrauenswürdige – und verbindliche – Erkenntnis zu zeitigen. Die zweite Säule, auf der das Weltbild des Empfindungsmenschen beruht, ist das Gebot: Sei echt, authentisch, spontan – und laß es niemandem durchgehen, daß er sich versteckt, eine Maske aufsetzt, nur eine Fassade vorweist. Carl Rogers, der Erfinder der »klientenzentrierten« (Gruppen-)Gesprächstherapie, formulierte es so: »Höfliche Worte, intellektuelles Verständnis für den anderen, die abgegriffene Münze des Takts und der Tarnung sind einfach nicht gut genug … Manchmal sacht, manchmal fast wütend fordert die Gruppe vom einzelnen, daß er er selber sei, daß er seine augenblicklichen Gefühle nicht verberge, daß er die Maske des normalen geselligen Umgangs abnehme.« Aber wann bin ich ganz echt, und wann bist du es? Das Echtheitsgebot verhakt sich mit einem quälenden Mißtrauen. Das macht unersättlich. Man braucht Beweise über Beweise und ist doch nie zufrieden. 120
Schließlich geht mit der Psychologisierung auch ein genereller Krankheitsverdacht einher. Wie es dazu kommt, beschreibt der amerikanische Psychologe Bernie Zilbergeld in seinem Buch »The Shrinking of America«, der ätzenden Analyse einer psychotherapiesüchtigen Gesellschaft: »Jürgen Ruesch und Gregory Bateson haben gezeigt, wie Therapeuten zu ihrem Verständnis von Gesundheit kommen. ›Da sich die Aufmerksamkeit des Psychiaters auf abweichendes Verhalten konzentriert und er in seiner Ausbildung nichts über die normale Psyche erfahren hat, neigt er zur Konstruktion einer hypothetischen Norm, indem er Durchschnittswerte des genauen Gegenteils von dem bildet, was er bei seinen Patienten zu sehen bekommt.‹ Gesundheit wird als die Abwesenheit von Konflikten, Reibereien, Frustrationen, Unsicherheitsgefühlen, Angst und Schuld definiert. Da nach diesem Maßstab niemand ganz gesund ist, gelangen Psychotherapeuten zu dem Schluß, daß alle Leute an seelischen Krankheiten leiden und Therapie oder mehr Therapie benötigen.« Alles läßt sich am besten psychologisch erklären und beurteilen, alle sind seelisch irgendwie krank, verkorkst und könnten Therapien zumindest gut gebrauchen, und am gesundesten ist, wer seine spontanen Gefühle für das Wichtigste auf der Welt hält, sie offen zeigt und auch die der anderen möglichst unverfälscht sehen will, dies ist die Grundideologie des Empfindungsmenschen. Völlig konsequent hält derjenige, der den neuen PsychoJargon spricht, seine Seele für pflegebedürftig. Er bezeichnet sich selber wahrscheinlich als kaputt, vielmehr als ganz schön 121
kaputt – was alles heißen kann: daß er an einer schweren Gemütskrankheit leidet, aber auch, daß er momentan leicht verstimmt ist, weil nicht alles ganz so geht wie erhofft. Er ist ein unbedingter Partisan der Gefühle. Sie sind in seinen Augen das Gegenteil dessen, was er nicht so mag: den Verstand, den er für kalt hält. Mit dem Wort Gefühle selbst meint er jedoch meist nur deren eines: Liebe. Wenn Ireen Sheer Ich hab Gefühle schmettert, will sie damit nicht sagen, sie sei im allgemeinen ein gefühlvoller Mensch oder verspüre gerade Hunger oder Wut, sondern einzig: Ich bin verknallt. Gefühle zulassen heißt denn meist auch nur: sich gegen eine neue Verliebtheit nicht wehren. In die Liebschaft selbst werden dann Gefühle investiert – eine besonders widerwärtige Wendung, denn mit ihr schielt der Liebende auf die Rendite. Er sagt nicht: Ich will etwas von dir. Soviel Ehrlichkeit bringt er nicht auf. Er sagt: Ich habe dir das Kostbarste gewidmet, was ich besitze, meine Gefühle, und dafür will ich jetzt die Kohle sehen – lieb du mich gefälligst auch. Die Wendung hängt einem der ältesten Irrtümer der Welt an: Sie hält die Liebe zu einem anderen für ein Geschenk an diesen und nicht für das, was sie zunächst einmal ist, einen Anspruch. Ist eine Frau verliebt, und will der Mann nicht, so lautet dafür heute die Standardformel: Er hat Angst vor seinen Gefühlen; oder: Er hat verlernt, Gefühle zuzulassen. Eine rührende Illusion, die das Ende einer Liebesgeschichte offenbar leichter verschmerzbar macht, denn sie behauptet ja: Er liebt mich, obwohl er geht, er liebt mich sogar so stark, daß er es 122
mit der Angst vor seiner eigenen Leidenschaft bekommen hat. Wer Gefühle zulassen will, denkt dabei jedenfalls selten an negative Gefühle wie Wut, Neid, Eifersucht, Angst. Aus dem Spektrum der Gefühle meint das Wort meist nur einen kleinen Ausschnitt. Diesen Gefühlen stehen die Emotionen gegenüber. Eine Emotion, eigentlich das gleiche wie ein Gefühl, ist in diesem Sprachgebrauch etwa »Ärger plus Unlogik«. Er sieht das alles sehr emotional heißt nichts anderes als: Er ärgert sich und kann vermutlich darum nicht mehr geradeaus denken. Es sagt jedenfalls nicht das geringste über Intensität und Qualität seiner Gefühle. Eine dritte Vokabel heißt eigentlich auch nichts anderes als Gefühl, wird aber meist ebenfalls nur in besonderem Sinn verwendet: das neudeutsche Feeling. Ein Feeling ist mehr eine allgemeine Befindlichkeit mit der Markierung »angenehm, modern«. Beim Zahnarzt hat man kein Feeling; aber der dreifache Looping einer Achterbahn oder die Zehntausendwattanlage einer Disko bringen ein irres Feeling. Die Wörter Gefühl und Emotion und Feeling bedeuten in ihrem alltäglichen Gebrauch also meist gar nicht, was sie zu bedeuten scheinen; sie nehmen eine parteiische Einengung vor. Wer das spürt und vermeiden will, muß auf das Wort Empfindung ausweichen (wie Peter Handke mit dem Titel »Die Stunde der wahren Empfindung«) oder, wenn ein wissenschaft licherer Klang erwünscht ist, auf Affekt (bei dein aber immer der Affekttäter hindurchschimmert). Empfindungen sind im Jargon die lieben Gefühle wie die bösen Emotionen und die tierischen Feelings. 123
Der Empfindungsmensch nennt sein Leben gern ein Überleben. Um anzudeuten, daß er in freudlosestem Mangel und unentwegter Todesnähe dahinvegetiert, so daß es ihm jeden Morgen als ein neues Wunder erscheint, noch einmal wachzuwerden, korrigiert er sanft und bitter den nach Jahren wiedergetroffenen Freund, der sich erkundigt, wie er denn heute lebe (und der bei der Frage im Sinne hatte, ob er noch mit Brigitte zusammen ist und die schöne Altbauwohnung noch sein eigen nennt): Man überlebt. Der Empfindungsmensch ist einer, der will, daß die Sachen nicht übern Kopf, sondern im oder übern Bauch »laufen«. Das heißt nicht etwa, daß er gerne äße. Es weist vielmehr einer uralten und schlichten Dichotomie, Verstand gegen Gefühl, zwei Körperteile zu und ergreift Partei für den angeblichen Körperteil der Gefühle, gegen die Verhirnung. Der Bauch ist das pseudo-proletarische Nachfolgeorgan des Herzens. Wer alles richtig übern Bauch gehen läßt, ist, wie es sich für den Empfindungsmenschen gehört, verletzlich, verwundbar, schutzlos, empfindlich. In der Sphäre der Empfindungsmenschen haben diese Attribute einen ausnehmend guten Klang und werden nicht etwa mit Bedauern, sondern mit Stolz gebraucht. Sie bedeuten ungefähr das, was früher das Wort sensibel ausdrücken mußte. Dieser verwundbare Bauch-Mensch will sinnlich sein. Es hat dieses Wort innerhalb weniger Jahre einen erstaunlichen Bedeutungswandel durchgemacht. Sinnlich, das war soviel wie »geil«, »lüstern«, »unmäßig sexualisiert«, mit durchaus negativer Konnotation. Heute ist seine genaue Bedeutung 124
schwer auszumachen (»anschaulich«? »offen für Wahrnehmungen und Erlebnisse«? »nicht an vorgefaßten Theorien orientiert«?), aber auf jeden Fall ist sie entschieden positiv. Meist kommen Worte, die mit Sexuellem zu tun haben, auf den Hund: Aus der Dirn im Sinne von »Mädchen« wurde die Dirne im Sinne von »Nutte«. Sinnlich hat binnen kürzestem umgekehrt den Aufstieg geschafft. Sinnlich will er sein, und kreativ. Vor zwanzig Jahren war das noch ein Fachwort der angelsächsischen Psychologie, das die Fähigkeit zu originellen, neuartigen intellektuellen Leistungen bezeichnen sollte – das abweichende, das »divergente« Denken. Heute findet sich schon kreativ, wer auch nur einen Pullover strickt oder sich aufrafft, den Null-Bock-Zustand zu überwinden und überhaupt irgend etwas zu tun. Der Empfindungsmensch sagt und singt mit Bettina Wegner »Traurig bin ich sowieso«. Es ist ein recht dreister Vers, nicht nur, weil er seine Autorin als eine unkorrigierbare Schmerzensfrau hinstellt, an deren Tröstung die ganze Welt zuschanden werden muß, sondern auch, weil in ihm geradezu ein Triumph über die behauptete Depression mitschwingt. Er könnte auch mit Konstantin Wecker sagen und singen: »Ich bleibe weiterhin verwundbar.« Das heißt nur: Ich war mächtig sensibel und bin es immer noch, aber wie anders hört es sich an – tief peinlich, wenn man’s genau nimmt. Denn da drückt einer gravitätisch die schiere Selbstverständlichkeit aus (niemand hätte je angenommen, Wekker sei ein moderner Siegfried und unverwundbar), prahlt einer wichtigtuerisch mit einer bloß passiven Eigenschaft 125
(der Verwundbarkeit), hängt jemand eine private Konfession an die Litfaßsäule. Das Schlüsselwort des Empfindungsmenschen heißt Betroffenheit. Niemand hätte diesem eher unscheinbaren Wort angesehen, welche Karriere es machen würde. Früher bedeutete es nur »unangenehm überrascht«; zudem schwang in ihm die Kanzleibedeutung »betreffen« mit (betroffen von dieser Maßnahme sind …) und die unfreiwillige Nähe zu »triefen« (betroffen gleich bedripst). Heute ist es eine Art Paßwort, das jeder gebrauchen muß, der für einen anständigen Menschen gehalten werden will, und das mittlerweile schon Parlamentsdebatten zu Wettbewerben der Betroffenheit gemacht hat. Ich bin betroffen, das Wort Rentenbetrug gerade ans Ihrem Mund zu hören. Auch ich bin betroffen, daß der Atomkrieg das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Meine Betroffenheit angesichts dieser Vorfälle ist nicht geringer als Ihre, Herr Kollege. Dann kommt jeweils das große Aber. Das Gegenteil von Betroffenheit ist die Abgehobenheit oder das aufgesetzte Interesse. Beider Sinn ist zwar recht dunkel. Aber wer als fühlender Mensch anerkannt sein möchte, muß den Eindruck vermeiden, er blocke ab oder zeige ein nur aufgesetztes Interesse, und er tut es am billigsten, indem er bei jeder Gelegenheit seine Betroffenheit beteuert. Bei informelleren Gelegenheiten kann er natürlich statt dessen auch sagen: das haut mich echt um oder das faßt mich ganz stark an. Die Formel, die das Nonplusultra wäre, ist bisher noch nicht vertont worden: Echt betroffen bin ich sowieso auch 126
weiterhin. »Das Syndrom von Weinerlichkeit und simultaner Aufgescheuchtheit, das sich seit etwa 1980 am zähesten in ex-linken neodeutschen Ramschvokabeln wie Wut und Trauer, verwundbar und eben betroffen bekundet – dieser besinnungslos permanente Nachweis von höherer & edlerer Art: All dies denunziert das Engagement selber, welchem sich die derart Hochsensiblen verschrieben haben« (Eckhard Henscheid). Der Empfindungsmensch ist aus auf Selbstverwirklichung. Eine suspekte Vokabel ist auch dies. Schlimmstenfalls versteckt sich hinter ihr die Ideologie, daß jeder erst dann ein wahrer Mensch wäre, wenn er irgendwann einmal all das gewesen ist, was er je sein könnte – Nordpolforscher, Kettenraucher, Casanova, Trappistenmönch, Steuerbetrüger; also die Ideologie: Sei alles! Auf sie wartet eine nachhaltige Enttäuschung – nämlich die Entdeckung, daß man in all den ausgefallenen Situationen, in die man sich kunstvoll manövriert, dann doch immer mehr oder weniger derselbe bleibt. Aber auch wo diese Selbstverwirklichungsillusion nicht besteht, hat der Begriff doch oft immer noch etwas Irreführendes: Er gibt seine Relativität nicht zu erkennen. Denn Selbstverwirklichung an sich gibt es nicht, wie es auch Freiheit an sich nicht gibt, sondern nur bestimmte Freiheiten von etwas: Hunger oder Verfolgung oder sexuellen Verboten oder elterlichen Bevormundungen. Wer auszieht, die Freiheit an sich zu suchen, kommt nie ans Ziel. Die Aufwiegelung zur Freiheit, die nicht sagt, welche Freiheit gemeint ist, ist ein leichtfertiges und tief aussichtsloses Unternehmen. Verwirklichen 127
läßt sich nur ein Selbst, das bereits erkennbar vorhanden ist. Wer polygame Wünsche hat und sich aus seinem monogamen Leben verabschiedet, betreibt tatsächlich Selbstverwirklichung; der Nachtmensch, der die Umstände abschafft, die ihn nötigten, früh morgens ganz wach zu sein, desgleichen. Selbstverwirklichung setzt voraus, daß da etwas vorliegt, was bisher nicht zum Zuge kam. Mit Vorliebe aber führen gerade jene Empfindungsmenschen das Wort Selbstverwirklichung im Munde, die nichts Bestimmtes wollen, die gar nicht wissen, daß man etwas wollen kann. Dann ist Selbstverwirklichung nur ein großmäuliges und schönendes Wort für ein zielloses Herumexperimentieren oder die Rechtfertigung stinknormaler Selbstsucht. Die Überzeugung, daß es darauf ankäme, alle schlummernden Möglichkeiten zu wecken, kommt vor allem aus der Gestalt-Therapie: Frage nicht, fühle und tu! Blocke nicht, sei bewußt! Werde alles, was du sein könntest! Verwirkliche dich! Es ist Therapie als Ideologie. Ein Dokument, aus dem einem der Psycho-Jargon, und nicht nur der, in Reinform entgegenquillt, ist Svende Merians »Roman« »Der Tod des Märchenprinzen«. Er handelt von einer Studentin namens Svende Merian, die mächtig verknallt ist in einen jungen Mann (Ton auf »jung«), der aber nicht so recht will, woraus sich die üblichen Seelenqualen ergeben, nur daß siehier unter dem Gesichtswinkel der Frauenbewegung gesichtet und meist kunstvoll hart an der Wahrheit vorbei verstanden werden. Die Autorin, bei der Niederschrift jedenfalls noch keine Freundin der Literatur, ist in einer Hinsicht virtuos: Mit absoluter Sicherheit fängt 128
sie auf, was an Ideen, Wörtern und Wendungen in progressiven Kreisen um 1980 im Schwang war, und besinnungslos gibt sie es wieder. Wer je wissen will, was »man« – die fortschrittliche Intelligenz – in dieser Zeit gedacht hat und wie man es gedacht hat, hat in diesem Buch ein erstklassiges Quellenwerk. Es demonstriert auch, daß die Psycho-Sprache keineswegs feinfühlig, »sensibel« sein muß, sondern sehr grob sein kann. Alles findet sich da, und nur selten einmal wird es von einem eigenen Satz unterbrochen: »Spüre, daß er sich einfach nicht mehr traut, mich zu berühren … Er, der harte Mann. Der selbstsichere Arne, hinter dem sich ein anderer Arne versteckt. Ein empfindlicher und verletzlicher Mensch. Verwundbar und schutzlos, wenn die Fassade nicht wäre … Arne braucht eigentlich eine Therapie … Mir ist klar, daß ein Partner kein Therapeut sein kann. Ich kann keinen Menschen therapieren, von dem ich eigentlich geliebt werden möchte. Ich würde viel zu stark dazu tendieren, das aus ihm heraus-zuinterpretieren, was ich gerne hören möchte, als das, was wirklich da ist … Aber es kann doch sein, daß der Dussel einfach nur noch nicht begreift, wieviel Gutes ich ihm tun will. Wenn er das endlich begreifen würde, wäre ich trotz aller Einseitigkeit dazu bereit, mich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Rein gefühlsmäßig wäre ich dazu bereit. Würde ihm Wärme und Geborgenheit geben wollen … Würde mich emotional ausbeuten lassen: die Jahrtausende alte Rolle der Frau.« Zu der Art, wie sich der moderne Empfindungsmensch 129
über seine Seele verständigt, hat natürlich auch die Psychoanalyse einen Beitrag geleistet. Die markanteste Vokabel, die sie dem Jargon und sogar der Gemeinsprache übereignet hat, ist Komplex. Zu definieren, was ein Komplex ist, fiele selbst einem Priester des Ordens der Psychoanalytiker schwer. Laplanche und Pontalis definieren ihn in ihrem Wörterbuch der Psychoanalyse so: »Organisierte Gesamtheit von teilweise oder ganz unbewußten, stark an affektbesetzten Vorstellungen und Erinnerungen.« Sie betonen auch, daß das Wort mehr von Jung als von Freud popularisiert wurde, ja, daß Freud sich früh von ihm distanzierte, da es »so viel mißbräuchliche Verwendung zum Schaden schärferer Begriffsbildungen gefunden« habe. Tatsächlich ist sein erklärender Wert gleich Null und selbst sein beschreibender Wert außerordentlich gering: Es bezeichnet vage irgendwelche irgendwie zusammenhängenden »Gefühle« oder »Vorstellungen«, die indessen »unbewußt« sind, so daß ihre Inhaber nicht von ihnen wissen. Es ist eines jener Wörter, die psychologisch klingen, bedeutet aber nicht viel mehr als »Knoten in der Seele« und ist so schlau wie das Wort vom »Kloß in der Kehle«. Bleibende Verheerungen im abendländischen Denken hat der psychoanalytische Gebrauch des Wortes unbewußt angerichtet. Die Psychoanalyse hat zwar nicht entdeckt, daß es unbewußte psychische Vorgänge gibt – das war lange vor ihr bekannt; als erster hat Leibniz es festgestellt. Aber sie hat diese Tatsache popularisiert wie keine andere Denkschule, leider aber in einer außerordentlich einseitigen, irreführen130
den und vermutlich zum Teil rundheraus falschen Interpretation. Was als unbewußt gelten soll, hängt natürlich ganz davon ab, wie man das Bewußtsein definiert – und es gibt unter allen Begriffen kaum einen härteren Brocken. In Ermangelung einer allgemein verbindlichen Definition darf jeder darunter verstehen, was er will. Klar muß nur soviel sein: Wer Bewußtsein sehr weit definiert, als die »Gesamtheit aller psychischen oder geistigen oder zentralnervösen Vorgänge«, begibt sich jeder Möglichkeit, bewußte von unbewußten Vorgängen zu unterscheiden – alle gehören sie für ihn zum Bewußtsein. Wer es andererseits sehr eng definiert, nämlich als »sprachliches Denken« oder als »Eigenbewußtsein« (wissen, daß man selber weiß; denken, daß man denkt; wahrnehmen, daß man wahrnimmt) – Sir John Eccles’ »sich seiner selbst bewußte Geist« spricht nicht nur allen Tieren (die keine Sprache und auch kein Bewußtsein von sich selber als wissendes Wesen haben), sondern auch einem Großteil der Menschheit das Bewußtsein ab – Kindern, Debilen, Aphasikern und jener Mehrheit, die nie denkt, daß sie denkt. Darum empfiehlt sich ein mittlerer Weg, der eher im Einklang ist mit unserer Intuition. Dann ist das Bewußtsein jene – im übrigen höchst geheimnisvolle – Eigenschaft des Zentralnervensystems, einige wenige seiner Prozesse sozusagen zusammengefaßt zu spiegeln und dieses Spiegelbild subjektiv zu erleben. Ich sehe aus dem Fenster; das Bild – zwei vierstöckige Mietshäuser, Bäume, in der Ferne ein Wasserlauf – ist mir 131
in diesem Augenblick bewußt und ebenso, wenn ich die Augen schließe und es mir vorstelle. Künft ig werde ich es ohne weiteres wiedererkennen; es in allen seinen Einzelheiten aus meinem Gedächtnis zu rekonstruieren, wird mir sehr viel schwerer fallen, denn im Unterschied zum Wiedererkennungsgedächtnis setzte das Reproduktionsgedächtnis eine sehr viel intensivere Bearbeitung des Eindrucks voraus. Aber wenn mir auch der Anblick vollständig bewußt ist, so kann ich ihm doch einen noch höheren Grad von Bewußtheit verleihen, indem ich nämlich meine Aufmerksamkeit wie einen Suchscheinwerfer auf verschiedene Partien des bewußten Bildes richte: auf diese Fassade, dieses Grau, diese Stuckornamente, diese Flecken abgefallenen Putzes … Dieses durch unsere spezielle Aufmerksamkeit sozusagen anerkannte, »bemerkte« Bewußte ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: Wir sind dieses oder jenes Faktums gewahr oder bewußt. Eine dritte Stufe der Bewußtheit ist erreicht, wo wir das bemerkte Bewußte aktiv umsetzen in eine mitteilbare Form – in Worte, in ein Bild, in Musik. (Nur das bemerkte Bewußte leiht sich zu solchen Übersetzungen.) Und noch weiter schließlich läßt sich das bemerkte Bewußte vertiefen, indem wir uns Wissen darüber verschaffen – wer das Haus gebaut hat, wer darin wohnt, daß die Bäume Akazien sind, was Akazien kennzeichnet – , indem wir also unsere Aufmerksamkeit auf weitere Einzelheiten und Hintergründe richten. Daraus folgt zweierlei, und die psychologisierende Menschheit hört beides nicht so gern, die meint, alles Gute habe sich 132
spontan, also von allein einzustellen. Erstens: Bewußtes kann durch Anstrengung – durch die Aneignung von Kenntnissen und durch Umsetzungen – bewußter gemacht werden. Zweitens: Sätze wie der, daß Ödipus seinen Vater Laios unbewußt getötet habe, sind unsinnig. Den streitsüchtigen Fremden auf der Straße nach Theben hat er in völliger Bewußtheit erschlagen. Er wußte nur nicht, daß es sein Vater war. Was man nicht weiß, kann man nicht gut unbewußt nennen. Unbewußt kann vernünftigerweise nur das heißen, was zwar im Geist präsent, aber nicht verfügbar ist. Tiefenpsychologen könnten höchstens argumentieren, Ödipus habe irgendwie geahnt, daß der Fremde sein Vater ist, und ihn eben darum umgebracht – unbewußte Mordwünsche hätten ihn geleitet. Davon freilich steht in der Geschichte nichts, und es wäre auch sehr unwahrscheinlich - aber Tiefenpsychologen exzellieren in der Kunst, den Menschen Motive unterzuschieben, von denen diese nicht das mindeste wissen und deren Existenz über Beweise und Widerlegungen so erhaben ist wie die des Ungeheuers von Loch Ness, das ebenfalls ein sensationelles, aber eben leider unsichtbares Leben im Unterwäßrigen führt. In den Sozialwissenschaften und der politischen Rhetorik bedeutet Bewußtsein etwas ganz anderes – nämlich so etwas wie die »Gesamtheit der expliziten und impliziten Überzeugungen eines Menschen«, wenn nicht gar »positive Einstellung zur federführenden Ideologie«. Klassenbewußtsein besitzen heißt nicht etwa, seines Arbeiter- oder Unternehmerstatus gewahr zu sein; es heißt, ihn in Übereinstimmung mit der marxistischen Theorie zu interpretieren. Wer behaup133
tet, sich bewußt zu ernähren, will damit keineswegs sagen, er dächte beim Essen immer ans Essen, andere aber nicht; er will nur andeuten, daß ihm bestimmte Meinungen über richtige Ernährung zu eigen sind. Von diesem Bewußtsein ist hier nicht die Rede. Hier geht es um das Bewußtsein, das eines Tages wieder ein Gegenstand der Psychologie werden muß, das, was man verlieren kann und zu dem man nach einer Bewußtlosigkeit wieder erwacht. Dies Bewußtsein – es ist eine Art Monitor des Zentralnervensystems, ein Bildschirm, auf dem dieses sich einige seiner Tätigkeiten selber vorführt, sicher um sie besser integrieren, bewerten, kontrollieren und steuern zu können. Seine Kapazität ist nur gering, verglichen mit der Menge dessen, was das Gehirn ständig zu verarbeiten hat: ein schmaler Kanal. Der größte Teil unserer Wahrnehmungs- , Kombinationsund Erinnerungsarbeit ist dazu verurteilt, außerhalb des Bewußtseins stattzufinden, für dieses so unerreichbar wie die Arbeit der Nieren. Diese ganze Vorarbeit, die das Gehirn seinem Monitor namens Bewußtsein leistet, bleibt unbewußt. Nur was im Monitor Bewußtsein erscheint, ist in Sprache umsetzbar, und in der Ermöglichung solcher globalen Begutachtungs- und Umsetzungsaufgaben könnte sein Sinn und Zweck vor allem bestehen. Unbewußt ist der gesamte gewaltige Inhalt des Gedächtnisspeichers bis auf jene wenigen Erinnerungspassagen, die im Augenblick gerade ins Bewußtsein eingespielt oder automatisch herangezogen werden, um irgendeinen Eindruck zu klassifizieren. 134
Unbewußt bleibt der Fluß der Sinneseindrücke von den Organen, die sie auffangen, durch die Nervenbahnen ins Gehirn und ihre dortige Filterung, Sortierung, Bearbeitung und Aufbereitung – das fertige Bild, das wir vor unserem geistigen Auge sehen, gelangt ja nicht schon fertig in uns hinein wie das Bild in eine Kamera, sondern wird erst vom Gehirn aus dem Strom elektrochemischer Signale zusammengesetzt, so wie der Fernsehapparat aus elektromagnetischen Signalen konstruiert, was ganz am Ende der Bearbeitung als Bild auf dem Sichtschirm erscheint. Unbewußt werden alle Tätigkeiten erledigt, die durch Lernen automatisiert wurden; das Lernen besteht ja überhaupt im wesentlichen darin, Handlungsfolgen so »einzuschleifen«, daß sie fortan den schmalen Bewußtseinskanal nicht mehr belasten. Wer Fahrradfahren, Klavierspielen oder Maschineschreiben lernt, übt sich vor allem in der Unbewußtmachung dieser Tätigkeiten. Selbst die fixesten Schreibmaschinenschreiber, ja gerade sie sind meist völlig außerstande, die Tastatur etwa aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen -wenn sie ungefähr angeben können, wo sich welcher Buchstabe befindet, dann weil sie merken, wo ihnen welcher Muskel zuckt. Wer sich bewußt macht, wie er diese automatisierten Tätigkeiten verrichtet, dem ergeht es wie dem Tausendfüßler, der gefragt wird, in welcher Reihenfolge er seine Beine bewegt, und der daraufhin nicht mehr von der Stelle kommt. Unbewußt bleibt, wie Gefühle und Vorstellungen und auch Bedürfnisse entstehen – dem Bewußtsein werden immer nur die Ergebnisse übermittelt, und es denkt sich dann 135
sein Teil, zutreffend oder auch nicht. Wir sind uns etwa bewußt, daß wir jemanden unsympathisch finden, aber warum wir ihn unsympathisch finden, wissen wir in der Regel nicht und können wir nur raten. Sprechen und sprachliches Denken gehören zu den bewußtesten Geistestätigkeiten überhaupt: Aber wir merken nichts davon, wie wir semantische Repräsentationen – also Bedeutungsvorstellungen – nach hochkomplizierten Regeln zu Sätzen zerlegen und diese zum Sprechen oder Schreiben in Muskelprogramme verwandeln, es erfolgt automatisch, unbewußt. Selbst was als die Glanzleistung des Bewußtseins gilt, das gesteuerte rationale Nachdenken, verläuft zu großen Teilen unbewußt. Jeder weiß es, und bedeutende Wissenschaft ler wie Kekulé oder Poincaré haben es bezeugt, daß einem langgesuchte Lösungen oft im Traum oder während ganz anderer Beschäftigungen einfallen -das Gehirn hat also weitergedacht, unbewußt weitergedacht, während das Bewußtsein anderweitig beschäftigt war. Denken, so könnte man nur wenig überspitzt sagen, ist: seinem Gehirn Probleme in Auftrag geben, auf die Einfälle achten, die ihm dazu kommen, und sie auf ihre Stichhaltigkeit prüfen. Und der Geist ist kein übernatürliches Etwas, das im Gehirn wohnt – Geist ist das, was das Gehirn tut. Daß die meisten Gehirnvorgänge unbewußt ablaufen, daß nur ein kleiner Teil des Geistes bewußt wird: es kann nicht genug unterstrichen werden. Aber es ist eines, zu sagen, daß ein großer Teil der geisti136
gen Vorgänge unbewußt verläuft, und etwas ganz anderes, diese unbewußten Vorgänge zu dem Unbewußten zu ernennen (von Freud anfangs auch das Unterbewußtsein genannt und von der Allgemeinheit auch heute noch, obwohl er selber diesen Ausdruck früh schon fallenließ). Die sogenannte Tiefenpsychologie hat die unbewußten Vorgänge verdinglicht, sie zu einem zusammenhängenden Etwas gemacht, eigentlich zu einem zweiten Bewußtsein, komplett mit seinen eigenen Wünschen, Überlegungen, Vorstellungen, Erinnerungen, das sich von dem ersten und eigentlichen Bewußtsein nur dadurch unterscheidet, daß es eben nicht bewußt ist. Um den Unterschied ganz klar zu machen: Das Innere eines Radios ist normalerweise unsichtbar, und es ist völlig in Ordnung, wenn auch nicht besonders erhellend, von den vielen verschiedenen »unsichtbaren« Vorgängen zu sprechen, die sich in ihm abspielen. Es wäre jedoch Unfug, davon zu sprechen, daß die Stimmen im Lautsprecher aus »dem Unsichtbaren« kämen, daß im Radio »ein Unsichtbares« sein Wesen treibe, daß das unerwünschte Knacken und Pfeifen Fehlleistungen »des Unsichtbaren« seien. Die Tiefenpsychologie hat die unbewußten Vorgänge nicht nur ungerechtfertigt verdinglicht, sie interpretiert dieses von ihr geschaffene Ding auch auf eine höchst eigenartige Weise. Für sie ist es eine Art Giftschrank der Psyche: eine Ansammlung all dessen, was das Licht des Tages – des Bewußtseins – zu scheuen hat und unter Verschluß bleiben muß. Zum größeren Teil handelt es sich dabei angeblich um anstößige sexuelle Wünsche, die meisten noch aus der 137
Kindheit stammend. Sie werden vom Bewußtsein nicht zugelassen und müssen im Untergrund rumoren. Höchstens mittelbar verraten sie manchmal ihr Vorhandensein, in Träumen oder Witzen oder Freudschen Fehlleistungen (wie zum Beispiel Versprechern) oder indem sie bestimmte Körperorgane krank machen. Ihr Eigentümer weiß nichts von ihnen, kann auf keine Weise etwas von ihnen wissen. Gerade daß er keine Ahnung hat, was da angeblich in ihm spukt, bestätigt dem Psychoanalytiker, daß es da wirklich spukt – daß das Bewußtsein seine Abwehr eingeschaltet und etwas verdrängt hat. Verdrängung heißt der vermeintliche Akt, mit dem (infantil sexuelle, jedenfalls unkeusche) Wünsche aus dem Bewußtsein entfernt oder ihm ferngehalten und in den Giftschrank des Unbewußten abgeschoben werden. Verdrängen, noch ein Begriff aus dem Zentrum von Freuds Lehre, der seinen Weg in den Wortschatz der Allgemeinheit gemacht hat, wird heute meist in dem Sinn »an etwas Unangenehmes nicht gern denken« gebraucht, und dagegen ist nichts zu sagen. Nur: im Zusammenhang von Freuds Theorie hatte das Wort eine ganz andere, viel speziellere Bedeutung, und die klingt nun immer weiter mit an. Die Theorie nahm ja an, daß »Wünsche« (dazuzudenken ist in der Regel: sexueller Art) irgendwo im Körper, im Soma entstehen, von dort ihren Weg in den psychischen Apparat finden, wo sie auf Abfuhr in Form einer passenden Handlung drängen – bis zu dieser Abfuhr bleiben sie als psychische Energiequanten bestehen. Wird das Energiequantum eines solchen Wunsches vom Bewußtsein zurückgewiesen, weil dieses ihn genierlich 138
findet, so wird es in den Untergrund (das Unbewußte) verdrängt, allwo es weiterhin lebendig bleibt, Neurosen oder anderes Unheil bewirkt, bis ihm trotz allem entweder die Abfuhr oder eine »Veredelung« (die berühmte Sublimation) gelingt. Das Unbewußte wimmelt von solchen verdrängten Wünschen; es besteht fast aus nichts anderem. Eine gewiß irrige Theorie; was immer »Wünsche« sein mögen, unlöschbare Energiequanten sind sie nicht; der Geist, die Seele, das Gehirn besitzt keine Deponie für Energiequanten. Wer aber leider verdrängt hat, daß er einem Kollegen noch hundert Mark schuldet, hat mit dieser Theorie auch nichts Erkennbares mehr zu tun; gleichwohl spielt er ungewollt auf ihr herum. Bertrand Russell hat die Lehre vom dynamischen Unbewußten schon 1921 als das erkannt, was sie ist: eine Mythologie. »Freud und seine Anhänger haben zweifelsfrei demonstriert, welch ungeheure Bedeutung ›unbewußte‹ Wünsche für unsere Aktionen und Glaubensüberzeugungen besitzen, aber an der Aufgabe, uns zu sagen, was ein ›unbewußter‹ Wunsch denn nun wirklich sei, haben sie sich nicht einmal versucht, und damit haben sie ihrer Lehre einen Nimbus von Mysterium und Mythologie verliehen, der wesentlich zu ihrer Volkstümlichkeit beigetragen hat. Sie tun so, als sei es normal für einen Wunsch, bewußt zu sein, und als müßte für seine eventuelle Unbewußtheit jeweils eine positive Ursache aufgespürt werden. So wird ›das Unbewußte‹ zu einer Art untergründigem Gefangenen, der drunten im Kerker haust und nur ab und an unter düsterem Gestöhn und Ver139
wünschungen und mit sonderbaren atavistischen Gelüsten ans Tageslicht der Respektabilität gelangt. Fast unvermeidlich denkt der normale Leser sich dieses Kellerwesen als ein zweites Bewußtsein, das von dem ›Zensor‹, wie Freud ihn nennt, daran gehindert wird, seine Stimme in Gesellschaft vernehmlich zu machen, abgesehen von den raren und fürchterlichen Gelegenheiten, wenn er dermaßen laut brüllt, daß alle ihn hören und es einen Skandal gibt. Den meisten von uns gefällt die Vorstellung, daß wir verzweiflungsvoll böse sein könnten, wenn wir uns nur gehen ließen. Aus diesem Grunde ist das Freudsche ›Unbewußte‹ vielen stillen und braven Menschen ein Trost gewesen.« Die Botschaft lautet: Es steckt in uns noch jemand anders, eine Art Homunculus, den nie irgendjemand zu Gesicht bekommt, am wenigsten wir selber, der uns aber beständig zu allen möglichen Schandtaten animieren möchte. Mit Psychologie als Wissenschaft hat diese Lehre sehr viel weniger zu tun als mit mittelalterlichen Vorstellungen von Geistern, die in den Menschen fahren und die vom Exorzisten, dem Psychoanalytiker früherer Jahrhunderte, ausgetrieben werden müssen. Die psychoanalytische Theorie genießt den großen Vorteil, Aussagen über etwas zu machen,was prinzipiell keines Menschen Auge je erblicken und nachprüfen kann, das sogenannte Unbewußte. Für den modernen Menschen aber steht seit Freud fest, daß in ihm ein Unterbewußtsein haust, das ihm, der doch eigentlich ein Vernunftwesen ist, welches sich ganz im Griff hat, in einem fort Streiche spielt. Es ist diese Vorstellung 140
vom (verdinglichten) Unbewußten eine der ganz großen Mythologien unseres Jahrhunderts: eine Dämonologie geradezu. Ein Werk des Unbewußten nennt der moderne Mensch Wünsche und Vorstellungen, die er nicht so gerne zugibt. Unbewußt möchte der mit jeder gutaussehenden Frau ins Bett gehen, sagt er von jemandem, der sich häufig – im übrigen völlig bewußten – erotischen Phantasien hingibt. Unbewußt nennt er Handlungen, die sich schwer begründen lassen. Er hat unbewußt dem Kellner die Hand gegeben, hieße in normalem Deutsch, er habe dem Kellner vor lauter Zerstreutheit die Hand gegeben. Das Wort unbewußt signalisiert, der Sprecher sei psychologisch gebildet, und erklärt den geistesabwesenden Händedruck zu einem Werk jenes mythischen Gefangenen in uns (der sich – nunmehr kann die psychoanalytische Phantasie in Aktion treten – vielleicht mit dem Kellner verbrüdern wollte). Unbewußt nennen wir unsere Handlungen, wenn wir sie weder beabsichtigt noch bemerkt haben: Er hat ihn unbewußt tief verletzt. Es kann ihm sehr wohl völlig bewußt gewesen sein, was er im einzelnen getan hat, nur daß er eben nicht merkte, wie er den anderen damit unabsichtlich kränkte – der aus der Psychoanayse stammende Gebrauch von unbewußt deutet sein Tun um zu dem absichtsvollen Werk seines mythischen Unbewußten, das vielleicht, wer kann es wissen, geheime Mordgelüste hegt. Der Gipfel dieser unbewußten Taten ist es, etwas unbewußt nicht zu tun. Man tut es nicht, man wollte es nicht tun, 141
man weiß auch nicht, daß man es hätte tun können: ein Abgrund an Nichtexistenz. Das fertige Bild langweilt, weil ihm die Sprache des Unbewußten fehlt, das sich jeder Kontrolle und Zensur entzieht (Alice Miller): alle solchen Aussagen über das Unbewußte – und dieser An sind die allermeisten – sind zutiefst zweifelhaft. Sie nehmen eben jenes un-beobachtbare Phantom für bare Münze, den unbändigen Dämon in uns, der bei allem ein (wertvolles) Wörtchen mitzureden hat. Selten oder nie dagegen verwenden wir die Vokabel unbewußt auf jene Vorgänge, auf die sie zweifellos zutrifft: auf die automatisch ablaufenden kognitiven Prozesse. »Er hat dem Abendlicht unbewußt die Farbe Blau hinzugefügt« (eine der Standardverrichtungen unseres Gesichtssinns, über den Tag hin Farbkonstanz bewirkend) sagt niemand, weil niemand es weiter spannend fände, denn es kündet ganz und gar nicht von einem Dämon in uns, der uns zu bösen und unbegreiflichen Taten aufstachelt, sondern ist eine bloße prosaische Tatsache, und um sie wunderbar zu finden, müßte man sich erst die Mühe machen, zu verstehen, wie dieser Effekt zustande kommt. Solche Mühe mutet uns der Glaube an einen geheimen lüsternen Dämon in uns nicht zu, und dazu vermittelt er uns noch den befriedigenden Eindruck, wir hätten den schonungslosen Durchblick. Die Psychoanalyse aber hat nicht nur einige Lieblings-Begriffe des modernen Psycho-Jargons samt den dazugehörigen Vorstellungen gestiftet, sie hat auch einen bestimmten Argumentationsstil begründet. Es ist dies die psychoanaly142
tische Dialektik. Sie hängt damit zusammen, daß die typische psychoanalytische Erklärung immer eine Erklärung im nachhinein ist. Die Evidenz der Psychoanalyse besteht ja in lauter einzelnen Fallgeschichten. Der Patient erzählt dem Analytiker aus seinem Leben, und der versucht nun zu erraten, was den Patienten zu dem gemacht hat, der er ist. Die naturwissenschaft lich operierende Psychologie müßte in dem Augenblick, in dem sie einen bestimmten regelhaften Zusammenhang vermutet, daraus eine explizite Vorhersage machen und diese in so vielen Fällen wie möglich unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen der Naturwissenschaften testen. Zum Beispiel beobachtet der Analytiker an seinem Klienten, was der Laie »Hörigkeit« nennt. Er hört des weiteren von dem Klienten unter anderem, daß dessen Mutter ihn früher übermäßig behütet hat. Er rät, daß die jetzige Abhängigkeit von einer Frau zurückgeht auf die einstige Abhängigkeit von der Mutter. Er macht daraus die Theorie: Überprotektion in der Kindheit führt zu einem abhängigen Charakter. Ein naturwissenschaft lich forschender Psychologe könnte zu dem gleichen Verdacht kommen, aber sofort fragte er: Tut sie das wirklich? Und er entwürfe eine Untersuchung, die klärt, ob denn alle oder wenigstens viele Menschen mit einem abhängigen Charakter einmal eine überprotegierende Mutter oder Bezugsperson hatten. Noch besser fände er es, könnte er an einer Gruppe von Kindern mit überprotegierender Mutter über die Jahre hin studieren, ob das mütterliche Verhalten bei ihnen einen abhängigen Charakter erzeugt. 143
Auf diese Art von Test ihrer Theorien aber hat die Psychoanalyse immer weitgehend verzichtet, er gilt ihr als zu »szientistisch« und damit weit unter ihrer Würde, und so konnten ihre nachträglichen Spekulationen relativ unkontrolliert ins Kraut schießen. Freud selber ersetzte die Überprüfung häufig durch das Wort zweifelsfrei. Er erriet irgendeinen Zusammenhang, baute ihn in seine Theorie ein und versicherte, der Zusammenhang habe sich in unseren Forschungen ganz zweifelsfrei erwiesen. Wo immer das Wort bei ihm auftaucht, ist Vorsicht geboten: Meist heißt es »ganz besonders ungesichert und spekulativ«. Auch noch in weiter Ferne von der Psychoanalyse begegnen wir heute Erklärungen dieser Art: einem nachträglichen Herumraten an Einzelfällen, und zwar unter der ebenfalls aus der Psychoanalyse bezogenen Prämisse, jedwedes psychische Phänomen müsse sich auf irgendeine Kindheitserfahrung zurückführen lassen. Er wurde asozial, weil sein Vater immer auf See und nie für ihn da war … Er wurde asozial, weil sein Vater lange arbeitslos und zu Hause war und ihn einengte … Eine gewisse Plausibilität besitzt jede dieser post-hoc-Erklärungen, denn es stehen schließlich jeweils der Anfang und das Ende fest, die jetzige Asozialität und die frühere An- oder Abwesenheit des Vaters, und wenn man prinzipiell davon ausgeht, daß Stufe A zu Stufe B führt, ist die jeweilige »Erklärung« gar nicht mehr von der Hand zu weisen. Aber ob dies tatsächlich der Gang der Dinge war, ob B von A verursacht wurde oder vielleicht von irgendeinem X ganz außerhalb des Gesichtskreises der Theorie, eben das 144
wäre erst nachzuweisen, und solange es nicht nachgewiesen ist, könnte es sehr gut sein, daß die jetzige Asozialität Ursachen hat, die mit der einstigen An- oder Abwesenheit des Vaters nicht das geringste zu tun haben. Diese Beliebigkeit tiefenpsychologischer post-hoc-Erklärungen bleibt durchaus fühlbar, und sie erzeugt ein Rechtfertigungsdilemma. Dieses wird oft eben mit der psychoanalytischen Dialektik gelöst. Sie verbürgt die Richtigkeit der Erklärung, indem sie diese möglichst verblüffend gestaltet. Und möglichst verblüffend ist eine Erklärung, wenn sie behauptet, irgend etwas sei »im Grunde« etwas völlig anderes, worauf kein Mensch ohne die Nachhilfe des Erklärers je gekommen wäre, oder sogar sein direktes Gegenteil. Der Vergewaltiger jemand, der »im Grunde« Zärtlichkeit sucht; die Frau, die ihn fürchtet, jemand, der sich »im Grunde« nach Vergewaltigung sehnt. Wir finden eine psychologische Erklärung erst dann so richtig befriedigend, wenn sie ein Phänomen so lange uminterpretiert, bis es als sein Gegenteil dasteht. Paul Watzlawick hat diese Manier, das Erklärungsprinzip »Dunkel war’s, denn der Mond schien helle« treffend beschrieben: »Die einschlägige Fachliteratur … wird (einem) die Augen schon öffnen. Da findet (man) heraus, daß der brave Feuerwehrmann in Wirklichkeit ein verhinderter Pyromane ist; der heldenhafte Soldat lebt seine tief unbewußten selbstmörderischen Triebe beziehungsweise seine mörderischen Instinkte aus; der Polizist gibt sich mit den Verbrechen anderer Menschen ab, um nicht selbst zum Verbrecher zu werden; der berühmte Detektiv hat eine 145
nur mühsam überdeckte paranoide Grundeinstellung; jeder Chirurg ist ein verkappter Sadist; der Gynäkologe ein Voyeur; der Psychiater will Gott spielen. Voilà – so einfach ist’s, die Fäulnis der Welt zu entlarven.« Alle diese Pseudo-Erklärungen leben, wie man sieht, vom Mythos des »unbewußten« bösen Zwergs in unserm Kopf. Es wird leider noch lange dauern, bis das Publikum bereit ist, auf derlei vulgäre und naive Verwirrungen zu verzichten. In der Sprache des Kulturbetriebs, der ja gerne psychologisiert, hört sich das dann zum Beispiel so an: (Richard Burton) war ein Mannskerl, … ein Polterer und Alkoholiker, der mit seinem lautstarken Gebaren etwas überspielen mußte, das nur Angst gewesen sein kann. Die Angst, vor sich selbst und den andern nicht bestehen zu können (Originalton ›Frankfurter Allgemeine‹). Ob der Verstorbene in irgendeinem überdurchschnittlichen Maß unter Ängsten gelitten hat, und wenn ja, ob dann sie die Ursache waren für sein »lautstarkes Gebaren« -der Schreiber des Nekrologs weiß das natürlich nicht, kann es nicht wissen, schließlich war er nicht Burtons Seelenarzt. Erklärt ist also mit einem solchen Satz nichts. Warum wird seinesgleichen dennoch geschrieben? Einmal, weil ihr Autor mit ihnen zu verstehen gibt, daß er den Röntgenblick besitzt, der selbst fremdesten Leuten mitten ins Herz dringt. Zum anderen mögen sie die Funktion haben, etwas Außergewöhnliches zu assimilieren. Sicher ist der Schreiber ebenso wenig ein »Mannskerl« wie die meisten seiner Leser, und ihnen allen flüstert solch ein Satz hinter vorgehaltener Hand zu: Grämt euch nicht, auch Mannsker146
le haben ihre schwachen Stellen, ja eigentlich sind sie nichts anderes als ein Bündel schlotternder Angst. Möglich (denn der »Entlarvungs«-Effekt wäre der gleiche), aber nicht wahrscheinlich, daß die Durchschauung einmal die umgekehrte Richtung nähme und jemand etwa Woody Allen nachsagte, er überspiele mit seinem schüchternen Gebaren nur, daß er »in Wahrheit« ein polternder Mannskerl sei. Psychoanalytische Dialektik gestattet eine ebenfalls im psychologisierenden Kulturbetrieb übliche Art von Verdächtigung, gegen die der Verdächtigte keinerlei Berufung einlegen kann. »Du sagst, du seist nicht homosexuell? Verdächtig. Daß du es abstreitest, heißt doch nur, daß du es bist. Du streitest es sogar entschieden ab? Noch verdächtiger!« Eine solche Argumentation ist möglich, weil die Theorie annimmt, so etwas wie Homosexualität könne auch unbewußt vorhanden sein; und weil sie weiter annimmt, es sei darum unbewußt, weil das Bewußtsein es nicht zugelassen hat, es wegzensiert hat, ihm Widerstand geleistet hat. Daß einer etwas abstreitet, und sogar subjektiv zu Recht abstreitet, denn er weiß ja nichts davon, interpretiert sie rückwärts als untrügliches Anzeichen für jenen Widerstand, und wo ein Widerstand ist, muß auch das vorhanden sein, wogegen er sich verwahrt. Der logische Fehler liegt auf der Hand: Die Nichtexistenz von etwas kann schließlich noch kein ausreichender Beweis für seine Existenz sein. Die gleiche Denkfigur wird immer wieder bemüht, wenn sich einer kritisch über die Psychoanalyse selbst äußert. Ein Autor kritisiert die Psychoanalyse? Verdächtig. Er kritisiert sie scharf? Das läßt 147
um so tiefer blicken … Und das will sagen: Welche Gründe er haben mag, und ob sie gut oder schlecht sind, interessiert überhaupt nicht. Wie sie auch lauten, sie sind nur vorgeschützt. »In Wahrheit« kritisiert er nämlich, weil die Psychoanalyse ihm etwas über sich zu enthüllen droht, was er um keinen Preis zugeben möchte. Der Widerstand gegen die bösen lüsternen Regungen seines eigenen Unbewußten ist es, was ihn die Lehre verdammen läßt, die sie enthüllen will. (Was sie denn da nun Fürchterliches enthüllen könnte, darüber schweigt sich die Verdächtigung indessen aus; es ist ja auch immer dasselbe, dieses letzte tiefste abgründigste Seelengeheimnis, und längst pfeifen es die Spatzen von den Dächern: die Mutter als Kind zu heiß begehrt, den Vater zu kalt gehaßt – glaube es, wer will.) So ist die Psychoanalyse die einzige Theorie, die sich um so mehr bestätigt wähnt, je heftiger sie angezweifelt wird. Der Klient der Psycho-Branche glaubt an die lebenslang bestimmende Gewalt kindlicher Erfahrungen, und auf seinen Gängen zurück in die Kindheit erklärt er immer eins aus dem anderen. Warum kann ich das Rauchen nicht lassen? (Der Gedanke, daß das Rauchen eine physiologisch bedingte Sucht sein könnte, zu der es sogar eine genetische Prädisposition gibt, käme ihm nicht erwägenswert und geradezu unanständig vor, denn er ist von vornherein entschlossen, sich nur mit »psychologischen« Erklärungen zufriedenzugeben.) Ich kann das Rauchen nicht lassen, weil ich immer an etwas saugen muß. Warum muß ich an etwas saugen? Weil ich fixiert bin an meine Säuglingsvergangenheit. (Die Zigarette 148
als mütterliche Brustwarze: verblüffend! durchschaut! garantiert richtig!) Warum habe ich als Säugling gesaugt? Um meinen sexuellen Gelüsten (durch Stimulierung der Mundschleimhaut) zu frönen. (Der Säugling von seiner Sexualität getrieben: unerhört! fabelhaft!) Warum gerade mit dem Mund? Weil ich das kannibalische Bedürfnis hatte, meine Mutter aufzufressen. (Applaus.) In solchen Ketten wird etwas Erklärungsbedürftiges auf etwas anderes zurückgeführt, das eigentlich ebenso erklärungsbedürftig wäre, so daß das Problem nicht gelöst, sondern noch komplizierter geworden ist. Aber dem Publikum geht unterwegs irgendwann die Geduld aus, es fühlt sich ausreichend mit Erklärungen versorgt und stellt keine weiteren Fragen. (Ende des Exkurses über »das Unbewußte in dir und mir«.) Der Empfindungsmensch weiß nicht nur, daß alles ein gänzlich unvermutetes böses Geheimnis birgt. Von seinen gruppendynamischen Sitzungen her weiß er auch, daß es oft falsch und fast immer unklug ist, apodiktische Urteile über seine Mitmenschen zu fällen. Er hat immer wieder erlebt, wie ihm selber etwas so oder so vorkam, die andern es aber ganz anders fanden. Seither gehört er zu jenen angenehmen Menschen, die sich der Relativität und Vorläufigkeit der eigenen Urteile bewußt sind und dies deutlich zu erkennen geben. Er sagt zu seinem Nachbarn nicht mehr: Du bist unaufrichtig. Er sagt: Du wirkst unaufrichtig auf mich. Wahrscheinlich zuckt der so Beurteilte zusammen; zwar war er nicht gerade besonders unaufrichtig gewesen, aber irgendein Element der Unaufrichtigkeit ist beim Verkehr mit den Mitmenschen 149
meistens im Spiel, und so fühlt er sich durchschaut. Fühlt er sich aber ganz und gar verkannt und verleumdet, und protestiert er, so hört er etwas dies: Ich sag ja nur. Vielleicht bist du’s gar nicht. Aber du kommst mir nun einmal so vor. Dagegen gibt es keine Berufung. Geschützt durch den Vor- oder Nachsatz aber auf mich wirkst du eben so, kann man dem Mitmenschen die unverschämtesten Gemeinheiten unterstellen (ich hab den Eindruck, daß du mich ständig anlügst; du kommst mir vor, als ob du alle Menschen tief verachtest) und braucht sich nicht mehr auf die Frage einzulassen, ob eine solche Behauptung denn auch zutrifft. Wenn als Kriterium für eine Feststellung nur noch zählt, ob etwas so wirkt, wie es wirkt, aber nicht mehr, ob es so ist, wie es wirkt, läßt sich wunderbar alles behaupten. Der Eindruck, auch der fahrlässigste, falscheste, wird zum Maß aller Dinge. Ob einer tatsächlich menschenverachtend ist, darauf kommt es gar nicht mehr an; schlimm genug, daß er auf irgend jemanden so gewirkt hat. Der Psycho-Jargon stellt Wörter bereit für das Eigenste und Intimste. Er tut es nicht unparteiisch. Seine Benennungen führen Beurteilungen mit sich, oft kaum bemerkt. Erstens sieht man ihm vorläufig seine Herkunft noch sehr deutlich an – unverwechselbar riecht er immer noch nach dem Schweiß jener Seelengymnastik, bei der er entstand, den Zeremonien jener Psychoaerobic, deren Bewegungen er festhält. Und da diese sich zu ihren Rändern hin in dubioseste Kulte und Mysterien ausfranst, muß jeder für sich schon Grenzen ziehen, sonst geschieht es ihm unweigerlich, daß 150
er sich unabsichtlich mit Ideologien identifiziert, denen er kein Wort glaubt. Nichts dagegen, daß jemand seine Trägheit überwindet; aber wenn er von seinen Aktivitäten spricht als von Energien, die sich stauen, frei werden, fließen, ist er dem pursten Okkultismus schon nahe. Dann setzt er sich vielleicht bald mit anderen zusammen, um durch gemeinsame Gesänge das Energiefeld zu verstärken. Dann spürt er die energy in Form von vibes (vibrations) von seinem Guru aufgehen. Dann will er mir sagen, der sei sehr munter und ihm sehr sympathisch, sagt aber: Der hat echt gute Energy drauf. Dann folgt er auch bald der Verheißung, er werde eingestimmt auf die Berührung von Gedanken, die als Energiepartikel an den Dingen haften, und landet geradewegs in einer spiritistischen Séance. Zweitens propagiert der Jargon bestimmte Verhaltensmuster. Sich einbringen und sich öffnen ist gut (super), abblokken und abgehoben reden ist schlecht (ätzend). Widerstände müssen überwunden, Verkrustungen und Panzerungen aufgebrochen werden. Die Sprache hat sich bereits vorweg für die Öffnung entschieden und für die Offenlegung aller Regungen. Wer stolz seine Verletzlichkeit(en) vor sich her trägt, will nicht etwa sagen, daß er dauernd beleidigt, sondern daß er höchst sensibel sei, macht aber nebenbei auch das Beleidigtsein zu einer durchaus kostbaren Eigenschaft. Dahinter steht der neue kategorische Imperativ: Sei gefälligst spontan! Nun fehlt es leider in der Tat oft an Spontaneität, und es ist verständlich, daß es viele Menschen gibt, die sie trainieren möchten – obschon es ein heikles Unterfan151
gen ist, denn die herbeigezwungene Spontaneität ist, wie bei Watzlawick so schön nachzulesen, sofort keine mehr: »Auf Befehl etwas spontan zu tun, ist ebenso unmöglich, wie etwas vorsätzlich zu vergessen oder absichtlich tiefer zu schlafen.« Aber Spontaneität ist wohl auch gar nicht der absolute Wert, für den sie sich ausgibt. Es gibt Situationen, in denen ich mich besser nicht einbringe, Menschen, auf die ich besser nicht zugehe, Gefühle, denen ich besser nicht nachgebe, jedenfalls sofern man nicht gerade das Verhalten des Kleinkinds zur Erwachsenennorm machen möchte. Der Empfindungsmensch hat Mühe, irgendein Problem objektiv, von seiner eigenen Person losgelöst wahrzunehmen und zu erörtern. Darin gleicht seine Geistesverfassung dem »wilden Denken«, das der sowjetische Psychologe Alexander Luria bei den zivilisationsfernsten Völkern Sibiriens entdeckte und das es diesen schwer bis unmöglich machte, einen Syllogismus unabhängig von ihrer eigenen Lebenserfahrung zu lösen. Zwischen sich und das Problem schiebt er immer erst die Frage »Was fühle ich?«. Und nur, wenn er etwas zu fühlen meint, ist er bereit, die Frage zuzulassen. Kommt der Empfindungsmensch in ein Seminar, in dem über Vergewaltigung beraten werden soll, Häufigkeit, Tätertypen und so weiter, so fährt er bald mit bitter zugekniffener Stimme dazwischen: Ich versteh nicht, wie ihr hier über sowas so cool und abgehoben reden könnt. Und beginnt, seine eigenen Erfahrungen einzubringen und die anderen anzustiften, es ihm nachzutun. Schämen soll sich dann, wer nicht persönliche Betroffenheit bekunden, sondern zur Sache kommen will. Zu152
weilen gelingt es den versammelten Empfindungsmenschen, rationale Sachlichkeit überhaupt als Fühllosigkeit und damit als einen Charakterfehler mit moralisch verwerflichen Konsequenzen anzuschwärzen. Das Gebot unbedingter Spontaneität ist somit imstande, jeden noch so vernünftigen Gedanken abzuwürgen. Zum Kriterium der Richtigkeit macht es einzig die persönliche Betroffenheit. Relevant ist nur, was mich in meinem Fühlen anmacht. Wenn meine Gefühle sich nicht melden wollen, brauche ich auch nicht darüber nachzudenken. Vor dem »Terror der Authentizität«, oder Spontaneität, schrieb Karl Markus Michel einmal, gehe jede rationale Argumentation in die Knie. Er führt geradewegs zum Stammtisch, diesmal einem alternativen. Auch am Stammtisch herrscht Spontaneität. Da tut man seinen Gefühlen keinen Zwang an, wenn man verkündet, die Türken gehörten raus und Entführern die Rübe ab, das kommt irre spontan, das ist unheimlich authentisch. Die futuristische Ideologie der unbedingten Spontaneität führt schneller, als man denken sollte, zur allerzopfigsten Spießigkeit, der geradezu zum Programm erhobenen Willfährigkeit gegenüber jedweder, auch der bescheuertsten momentanen Aufwallung und einer vorsätzlichen Einengung des eigenen Gesichtskreises, die sich auch noch musterhaft und klug vorkommt: ach nee, turnt mich nicht, ätzt, null Bock, läßt mich kalt, zieh ich mir nicht rein. Da dem Empfindungsmenschen die spontane Innenwelt über alles lieb ist, hält er deren Verrichtungen gerne für anstrengendste Arbeit. Freud ging ihm mit der Traumarbeit 153
voran, Mitscherlich mit der Trauerarbeit, schon gibt es auch die Stolzarbeit, und bald wird es die Lustarbeit geben, zum Zeichen, daß auch der Spaß kein reines Vergnügen ist. Drittens neigt dieser Jargon zur Bläßlichkeit. Er will Persönlichstes ausdrücken und ist doch nur so persönlich wie Jeans. Zuweilen ist er überhaupt das Abstrakteste vom Abstrakten. Natürlich brauchen wir abstrakte Begriffe, um das Allgemeine zu bezeichnen. Aber geht es hier nicht gerade um das Besondere und Konkrete? Das leerste dieser Leerwörter ist Beziehung (neuerdings auch verkürzt zu Bezug). Mein Verhältnis zu jemand anderem kann sehr vieles sein: eins der Freundschaft, der Liebe, der Abhängigkeit, der Ehe, des Neids, der Rivalität, des Hasses, des Mitleids, des Interesses. Immer ist es eine Beziehung. Das Wort ist nie falsch, um den Preis, daß es auch nie etwas verrät. Es ist das Wort mit dem perfekten Pokergesicht. Es kompromittiert seinen Benutzer nie. Jemand kann meinen, und eigentlich gern sagen wollen, daß er außer sich war vor Begierde, mit seiner Reisegefährtin zu schlafen – als geübter Sprecher des Psycho-Jargons wird er von der Beziehung zu meiner Partnerin reden und nichts preisgegeben haben. Meist handelt es sich bei der Beziehung um eine Zweierkiste. Sie wird aufgenommen und beendet, dazwischen funktioniert sie entweder, oder sie ist gestört; in diesem Fall ist das gefürchtete Beziehungsgespräch fällig, in dem sie ausdiskutiert wird. Es ist, als spräche jemand von der Zubereitung einer Gemüsesuppe so: Man nehme etwas Grünes und tue es in etwas 154
Flüssiges und lasse irgendwie Wärme darin hochkommen. Immerzu möchte man rückfragen: Ja bitte? wer? wann? wen? was? wo? wie? Du bist auf der Suche nach Erfahrungen, lernst Erfahrungen machen, aber welche? Du löst Probleme in Erfahrungen auf- aber welches Problem in welcher Erfahrung? Du gewinnst ein neues Verhältnis zur Realität – worin besteht es, und was ist diese in diesem Fall? Du hast dich selbst gefunden – wie sieht dein Selbst nunmehr aus? Du hast deine Anteile an diesen psychischen Problemen »gerafft« – was also war es, das du da beigetragen hattest? Du gehst um: mit deinen Problemen, Erfahrungen, deiner Kindheit, deiner Zukunft, deinen Zweifeln, mit allem, womit man irgendwie beschäftigt ist, geht man um, und dann geht man davon aus, aber was soll es besagen, da es doch so penetrant verschweigt, wie du damit umgehst?. Die Gruppe hat dich weitergebracht – aber wohin? Könnte es sein, daß du umgekehrt keine Ahnung hast, inwiefern dir die lange Therapie genützt haben soll, aber das möchtest du nicht zugeben, und du bist jedenfalls entschlossen, die Sache nicht so negativ und so eng zu sehen? Oder du berichtest, erstmals hättest du es geschafft, dich mit deinem Partner auseinanderzusetzen. Ehe wir dich zu diesem Fortschritt beglückwünschen, wüßten wir gern nur noch eine Kleinigkeit: Hast du dich mit deiner Freundin gezankt? Bist du einmal ausführlicher auf ihre Interessen eingegangen? Oder hast du beim Ravioli-Essen einfach mal länger nett mit ihr geklönt? Die scheinbare Offenheit des Jargons verbirgt auch. Wie ich mit einer Angst umgehen lerne : Oft leistet der Jargon einem dissoziativen Denken Vorschub. Hier bin ich, 155
dort geschieht etwas in mir, ich kann es nur verwundert beobachten und distanziere mich im übrigen. Meine Verdrängungsmechanismen haben mal wieder gut funktioniert drückt den Sachverhalt »ich habe etwas vergessen« so aus, als liefe in einem eine Vergeßlichkeitsmaschine, mit der man selber nichts zu tun hat. Das sind meine unbewußten Selbstzerstörungstendenzen sagt der Empfindungsmensch, der das Rauchen nicht aufgeben will, und es heißt etwa: »Ich habe nicht die geringste Absicht, mich selbst zu zerstören, aber da ich etwas tue, was mir angeblich schadet, muß in mir ein unsichtbarer Homunculus wohnen, der mich drängt und der mir übel will.« Ich weiß nicht, wie ich mit mir umgehen soll (Svende Merian): Ich bin nicht etwa ein Ich, das etwas denkt und fühlt und tut und unterläßt, sondern nur der Zuschauer meines Ichs und muß mich ihm gegenüber verhalten wie der Dompteur gegenüber einem unberechenbaren Tier. Die Bläßlichkeit des Jargons wird durchaus empfunden, und sie wird kompensiert: mit maßlosen Übertreibungen, die aber nur mehr Emphase und nicht mehr Konkretheit bringen. Alles ist immer gleich irre, wahnsinnig, unheimlich, ungeheuer. Will man im Jargon sagen, man sei ziemlich sauer gewesen, weil der Mitbewohner der lieben WG einem den ganzen Frascati weggetrunken hat, so kamen ungeheure Aggressionen in einem hoch. Zweifelt man einen Augenblick, ob es in einem finsteren Parkhaus sicher ist, so durchsteht man wahnsinnige Ängste. Eine immerfort dermaßen aufgedrehte Sprache läßt einen notwendigerweise schmählich im Stich, wenn sie zur Abwechslung einmal ein wirklich intensives 156
Gefühl benennen soll. Alle Steigerungen sind dann schon drangewesen, und es bleibt einem nur ein Stammeln. So wie jedes Dorf mit ein paar Häusern am Bach ein »Venedig«, jede Gegend mit Bodenerhebungen eine »Schweiz« ist, so ist jeder, der mit Vätern Streit hat, ein Ödipus, jeder, der vorm Spiegel einen Pickel im Gesicht ausdrückt, ein Narziß, jedes eigene Verhalten, das einen ein bißchen wundert, gleich neurotisch, jede Verwirrung eine Psychose. Meine Neurosen, intoniert, als handle es sich um eine Reihe von Verdienstmedaillen, ist so, als spräche man sich gleich einen ganzen Strauß von »Verstopfungen« zu. Die Gefühle, die Aggressionen – der Jargon ist auf den Plural abonniert. Einige, so seine Logik, sind eindrucksvoller als einer, also hat man kein Gefühl, sondern Gefühle – und Hemmungen, Unsicherheiten, Probleme, Krisen, Energien, Beklemmungen, Behinderungen. Eine Obsession wäre eigentlich etwas, das alles andere verdrängt; ein Singular par excellence; in diesem Jargon aber kommt auch sie immer gleich bündelweise: meine Obsessionen. Eine wirkliche Sehnsucht ist ein sehr starkes Gefühl; meine Sehnsüchte aber sind nur allerlei kleinere Wünsche, und meine verdrängten Sehnsüchte sind irgendein Wunsch, der mir gerade jetzt erst eingefallen ist, von dem ich aber nunmehr finde, ich hätte schon längst drauf kommen können. Als genügte eine einzige Depression (Depri) nicht, hat man gleich Depressionen, mehrere (nimmt man seine Depris), die sich dabei jedoch zu einer leichten Unzufriedenheit verflüchtigen. Die Gefühle, um deren Zulassung sich alles dreht, scheinen alle gleich und 157
gleich wertvoll zu sein: Liebe, Ekel, Freundschaft, Verachtung … Vor allem aber hat man Angst immer nur im Plural: Es gilt, seine Ängste zu erleben und einzugestehen. Aber man höre nur hin. Sagt einem jemand: Ich habe Angst, sogleich merkt man auf, nimmt teil. Sagt er aber: ich habe da so Ängste, weiß man sofort, es wird schon nicht so schlimm sein, und das Gerede im Psycho-Jargon kann weitergehen. So ist der Jargon keineswegs eine Sprache, die sagt, was zu sagen ihr aufgetragen ist; vielmehr verbirgt sie es oft erst so richtig oder verschüttet es mit Vorurteilen. Darum können sich auch Genies und Spinner, Authentis und Pseudis ununterscheidbar aus ihr bedienen. Erkenne und nutze die vollen Möglichkeiten deiner Persönlichkeit, lerne dich in deiner Beziehung zur Realität erfahren, nimm deine psychischen Probleme differenziert wahr und löse sie durch kreative Kommunikation – spricht da die »Dianetik«, das Sozialamt, ein Bhagwan oder ein nach aufopferungsvoller Lehranalyse endlich ordinierter Psychoanalytiker? Keiner könnte es je erraten.
DAS WIRD ÄRGER MACHEN Sprache im Kulturbetrieb
Nie mehr sprechen. Keine Wörter mehr. Dieses akustische Ungeziefer. Den Mund spülen. Pfefferminz, bitte, Ingwer. Oder gleich Pfeffer, Paprika, Jod, Lysol, ja Lysol und dann Blei in den Schlund, basta, ein für allemal … Zum Glück half ihm eine Art kaufmännischen Anstands über diese Anfechtung hinweg. Er brauchte Geld. Martin Walser
D
en folgenden Beobachtungen an der Sprache im deutschen Kulturbetrieb liegt kein Überlegenheitsgefühl zugrunde. Sie selber sind nicht in einer irgendwie erhabenen Metasprache abgefaßt, sondern in eben der Sprache des Kulturbetriebs, die ihren Gegenstand bildet. Überhaupt liegt mir fern, was in Deutschland unter der Bezeichnung »Sprachkritik« oder »Sprachpflege« geläufig ist und in Ehren gehalten wird. Jene gärtnerische Sprachbetrachtung, die hier eine edle und altehrwürdige Konjunktivform sorgsam begießt, dort ein böses Wort, womöglich ein Fremdwort oder einen Neologismus, wie ein Unkraut auszurotten trachtet, ist nicht meine Sache. Mitte der sechziger Jahre gab es eine heftige Debatte darüber, ob die deutsche Sprache am Faschismus mit schuld sei. Die einprägsame These, sie sei es, hatte George Steiner in seinem Aufsatz »Das hohle Wunder« vertreten: »An den Schrecken des Nazismus war die deutsche Sprache nicht ohne Schuld … Der Nazismus fand in der deutschen Sprache genau das, was er benötigte, um seiner Roheit Stimme zu verleihen. Hitler entdeckte im Innern seiner Muttersprache versteckte Hysterie, Verwirrung und die Eigenschaft hypno161
tischer Trance … eine krächzende Intonation, einen fast nebelhaften Jargon, auch ein gutes Teil Obszönität.« Deutsch, die Muttersprache der Hölle: »Die Sprache wurde dazu verwendet, eine Hölle zu beschreiben; die Gewohnheiten der Hölle übertrugen sich auf ihre Syntax … Macht man aus Wörtern … Überbringer von Terror und Falschheit, dann geschieht etwas mit den Wörtern. Etwas von den Lügen und dem Sadismus wird sich im Kern der Sprache festfressen … damit beginnt die tiefliegende Zersetzung.« Es ist eine längst historische Debatte. Hitler hat Hysterie, Verwirrung und Trancebereitschaft nicht in der deutschen Sprache entdeckt, sondern bei seinen deutschen Volksgenossen. Der Nazismus konnte die Syntax, konnte den »Kern der Sprache« (so eine Sprache einen Kern haben kann) nicht beeinflussen, verändern, korrumpieren. Krächzlaute, Ungenauigkeit und Obszönität sind in jeder Sprache zu finden. Was der Nazismus mit der deutschen Sprache gemacht hat: Er hat eine Reihe von Wörtern für alle Zeiten unmöglich gemacht. Meist waren es die schamlos harmlos tuenden Bezeichnungen der unerhörtesten Verbrechen, Wörter wie Sonderbehandlung, Endlösung, Vergasung. Nichts wird sie je wieder rehabilitieren können. Aber als Wörter sind sie nicht schlechter als Special treatment, solution finale oder carburación. Nicht die Möglichkeit und dann die Existenz des Wortes Sonderbehandlung unterschied Deutschland von anderen Ländern. Den Unterschied machte, was es bezeichnete. »Der Akkusativ ist weder human noch inhuman, sondern eine grammatische Form, die von human und von inhuman 162
Gesinnten gebraucht werden kann«, schrieb der Germanist Walter Kolb in der ausführlichen Kontroverse zwischen Sprachwissenschaft lern und den Sprachkritikern des »Wörterbuchs des Unmenschen«, um zu begründen, warum die Konstruktion jemanden beliefern ihm grammatisch nicht »inhumaner« vorkomme als jemandem etwas liefern. Im Sinne der Sprachpflege die Sprache zu rühmen oder zu rügen, fiele mir bereits darum schwer, weil ich die stillschweigende Prämisse einer solchen Sprachkritik nicht teile: die Annahme nämlich, es gäbe eine gute, unschuldige, die quasi adamitische Sprechweise, im Verhältnis zu der alles aktuale Sprechen eine (rühmliche) Annäherung oder einen (rügenswerten) Verrat darstelle. Zur Beschreibung der Sprache im heutigen Kulturbetrieb (Betrieb, wohlgemerkt: also in dem wuchernden sekundären Bereich) möchte ich vier Strömungen unterscheiden, die sich teilweise ergänzen, teilweise verdrängen und deren jede ein selten rein vorzufindendes Extrem vorstellt: den Schmock; das, was Adorno den Jargon der Eigentlichkeit nannte und was hier nicht umgetauft werden soll; das neue kritische Idiom; und die Sprache der Reklame. Es ist eine nur provisorische Klassifizierung: Ihre vier Sparten können nicht vorgeben, alle Phänomene und Facetten zu fassen, die die Sprache im Kulturbetrieb charakterisieren; und es handelt sich um vier ungleichartige Kategorien (so ist eine Feststellung denkbar, die auf der Basis des kritischen Idioms, mit Schmock-Zierat aufgeputzt, Reklamezwecke verfolgt). Immerhin bezeichnet die Rubrizierung 163
vier Hauptintentionen, die Sprache im Kulturbetrieb haben kann: zu brillieren; zu ergreifen; zu verstehen (in einem bestimmten Sinne); und zu verkaufen. Das Faktotum Schmock (ohne Vorname), eine episodische Figur in Gustav Freytags noch episodischerem Lustspiel »Die Journalisten« von 1858, das sich die Vergessenheit, in der es sich heute befindet, ehrlich verdient hat, empfiehlt sich damit, daß er nach Wunsch rechts wie links schreiben kann; und er beklagt sich über seinen Redakteur mit diesen Worten (deren antisemitische Komponente hier ignoriert sei): »Achten Sie vor allem auf Ihren Stil, sagt er, guter Stil ist die Hauptsache. Schreiben Sie gewichtig, Schmock, sagt er, schreiben Sie tief, man verlangt das heutzutage von einer Zeitung, daß sie tief ist. Gut, ich schreibe tief, ich mache meinen Stil logisch. Wenn ich ihm aber die Arbeit bringe, so wirft er sie von sich und schreit: Was ist das? Das ist schwerfällig, das ist pedantisch, sagt er. Sie müssen schreiben genial, brillant müssen Sie sein, Schmock, es ist jetzt Mode, daß alles angenehm sein soll für die Leser. – Was soll ich tun? Ich schreibe wieder genial, ich setze viel Brillantes hinein in den Artikel; und wenn ich ihn bringe, nimmt er den Rotstift und streicht alles Gewöhnliche und läßt nur die Brillanten stehen. Wie kann ich bestehen bei solcher Behandlung? Wie kann ich ihm schreiben lauter Brillantes die Zeile für fünf Pfennige?« Der nach diesem Mann benannte Stil ist also derjenige, der sich durch die häufige Verwendung sprachlicher Bril164
lanten, fünf Pfennig das Stück, auszeichnet. Es gibt ein Bedürfnis der Schreibenden, Einfaches so zu sagen, daß es sich nicht mehr so einfach anhört, schlichte Aussagen, die zwar nicht schimpflich sind, aber als zu dürftig empfunden werden, so aufzumöbeln, daß sie doch noch nach etwas klingen, nach Lichtenbergs »großer Regel«: »Wenn dein Bißchen an sich nichts Sonderbares ist, so sage es wenigstens ein bißchen sonderbar« – und das nicht notwendigerweise, um sich selber interessant zu machen, sondern vielleicht aus nackter Angst vor der Banalität, die im Kulturbetrieb eine der allerstärksten Triebkräfte überhaupt ist und viele seiner Manöver erklärt. Schmock lebt immer etwas über seine gedanklichen Verhältnisse; er läßt sich also auch immer herunterübersetzen, und zwar mit dem Ergebnis, daß dem Leser oder Hörer nach einer solchen Sprachdeflation wenig verbleibt. »Klopstock sagt: ›Du, der du weniger bist und dennoch mir gleich, nahe dich mir und befreie mich, dich beugend zum Grunde unserer Allmutter Erde, von der Last des staubbedeckten Kalbfells.‹ Ich sage dafür nur: ›Johann, zieh mir die Stiefel aus.‹« Soweit dazu Matthias Claudius. Schon Ferdinand Kürnberger fiel vor nahezu hundert Jahren der »ritterliche Stil« auf, das Kreuzen der Klingen, das Einlegen der Lanze, der Kampf mit offenem Visier, und er stellte ihm als quasi niedere Variante den »pöbelhaften Stil« gegenüber: Da liegt man sich in den Haaren, tritt sich in den Staub, geißelt und begeifert sich, überschüttet mit ätzender Lauge, brandmarkt, stellt an den Pranger und zieht einander in den Dreck (damals sagte man noch Kot). 165
Im sportlichen Stil haben Festwochen eben einen langsamen Start, Regisseure treten in den Ring oder in die Arena, Bücher sind Spitzenreiter, Schauspieler taumeln erschöpft durchs Ziel. Der gastronomische Stil spricht von den pikant gewürzten Passagen eines Buches, verspricht im Konzert hohen Genuß, serviert Kostproben, schwärmt von den Leckerbissen einer Oper, reibt sich den Bauch: köstlich, delikat! Oft gehen die Bildbereiche bunt durcheinander. Der Kunstschriftsteller Wieland Schmied hätte Mühe, die folgende Passage bildnerisch festzuhalten: »Hinter jener Phalanx (der Akklamateure) steht – schlimmstenfalls – ein Feuerwerk blendender Einfälle, das rasch verpufft, ohne Spuren zu hinterlassen; hinter dieser (der Seite der Reaktion) aber der Scheiterhaufen für die entartete Kunst.« Das spurlos verpuffende Feuerwerk (wie auch sonst) hinter der Phalanx, die Pyrotechniker also hinter den Legionären aus der Vor-Pulver-Zeit, und drüben der Schein eines Scheiterhaufens … In der Stilistik heißt derartiges Katachrese. Aus einem Manuskript, das so nicht gedruckt wurde: »Held des Dramas ist der vergoldete Zahn der Zeit, der leider auf tönernen Füßen steht.« Katachresen können eine Quelle unversiegbarer Heiterkeit sein, und Herbert L. Gremlizas pressekritische Marginalien zeigen, daß sich ganze Reputationen auf ihre Entlarvung bauen lassen. Nichts natürlich gegen das Sprechen in Bildern. Es ist ganz unvermeidlich, alle Sprache strotzt von Bildlichkeit, und es könnte sogar originell sein. Es ist nur sonderbar, daß 166
die Sprache des Kulturbetriebs, die sich doch soviel darauf zugute hält, besonders sensible Beziehungen zur Welt des Ausdrucks zu pflegen, im Gegensatz etwa zur Welt der Politik mit ihrer verkommenen Sprache (verkommen ist ein beliebtes Kulturbetriebswort), auch die schiefesten und abgedroschensten Bilder nicht scheut. Ein gutes neues Bild will gefunden sein, es läßt sich nicht herbeischwindeln. Die Sprache des Kulturbetriebs jedoch ist aufgeputzt mit falschen Gemmen, deren einziger Zweck es ist, für einen flüchtigen Augenblick zu glitzern, nicht aber, irgend etwas auszudrücken. Moderner Schmock spricht natürlich nicht von der Verbeugung zur Allmutter Erde, wenn sich jemand bückt. Die heutige Kunst, etwas Einfaches auf kostbarere Weise zu sagen, geht ganz andere Wege. Sie hat einen Hang zu wichtigtuerischen Vokabeln, besonders zu solchen aus den abstrahierenden Sprachen der Wissenschaften. Sie dienen hier meist nur einem vagen AlsOb. Da wird nicht etwas über einen Träumer mitgeteilt, sondern ein Traumsubjekt konstituiert. Da gerät ein Buch voller Sprachspiele zu einer fröhlich durchtriebenen Anthropologie. Da wird jeder dahergelaufene Bestseller zu einem authentischen Experiment veredelt. Da wird eine Glühbirne zur Emanation des Meditativen erklärt. Während in solchen Fällen das Gemeinte noch von fern durchschimmert, löst es sich manchmal zu einer Sinnwolke auf, die überhaupt nur noch ihren eigenen Anspruch auf Interessantheit bedeutet und sonst nichts: wenn ein Buch Laren 167
vor die Tür setzt und ausgebrannte Herzen durchgeistert, sich angeblich durch eine Assoziationsakrobatik kryptotypischer Vorgänge auszeichnet oder zu einer Kosmographie euphorischen Reflektierens steigert. Ein Satz wie Das Menschliche ist in eminentem Sinn der Raum der Freiheit erhebt sich über seinen relativ platten Sinn (irgendwie sollten Menschen frei sein) durch die Selbstbescheinigung, er sei immerhin in eminentem Sinn gedacht. In einer beliebten Formel wird jede belletristische Bemühung scheinbar zu einer langen, systematischen, quasi wissenschaft lichen Erkenntnisanstrengung gemacht: Analyse einer Verwundung, Biographie eines Schmerzes, Autobiographie eines Bewußtseins, Sondierung einer Versehrung, Anatomie eines Wunsches. Natürlich können solche Analogien zutreffen – eher aber handelt es sich um pure Hochstapeleien. Auch scheinen sie durch die Strenge des Wortes für die erbrachte Leistung (Analyse, Anatomie) jeden Gedanken an seine bloße lockere Bildhaftigkeit verscheuchen zu sollen. Ein anderer Brillant ist die verblüffende oder paradoxe Sentenz, die im Kulturbetrieb der Notwendigkeit enthoben ist, sich durch irgend etwas zu rechtfertigen: Der Bauch ist der wahre Ursprung der Kultur – das ist mit Sicherheit bloßer Stuß, aber klingt es nicht allerliebst? Dringlichste Aufgabe bleibt der Entwurf einer Grammatik der Zeit – kein Mensch hat je eine Grammatik der Zeit vermißt oder könnte sich auch nur das geringste darunter vorstellen, und gewiß ist Grammatik hier nichts als ein interessant tuendes Wort für ein paar lockere Aperçus, aber streng und seriös wirkt 168
es schon. Der Mensch ist ein unentdecktes Pferd – das müßte von Karin Struck sein. Dem Autor gelingt die Aufschlüsselung schloßloser Türen – man sieht ihn geradezu vor sich, wie er beschickert (denn schon verwechselt er nicht nur die Türen, sondern auch aufschließen und aufschlüsseln) mit seinem Schlüssel an einer offenen Tür herumfummelt. Der strenge Schwindel der Selbstreflexion ist dieses Autors Sache nicht – daß der sich über die eigene Person angeblich keine Gedanken macht, muß nicht unbedingt gegen ihn sprechen, aber muß darum die haltlose Unterstellung in die Welt gesetzt werden, jede Selbst-reflexion sei Schwindel? Eine ganze Literaturgattung wird diffamiert, einzig damit ein Schreiber für ein paar Sekunden brillieren kann. Wir brauchen viel mehr Idioten – kein ironischer Stoßseufzer, sondern ein ernst gemeinter Tribut an den Glauben, Wahnsinn sei schön und dem Nichtwahnsinn überlegen. Die Liebe zwischen Mann und Frau ist nichts als ein ökologischer Mythos – eine jener Sentenzen, wie sie einem zwischen Wachen und Schlafen einfallen und in solchem Moment erleuchtet und erleuchtend vorkommen mögen, die aber bei Tageslicht zu nichts zerrinnen; die hier führt nur das Kunststück vor, zwei beliebte, weit auseinanderliegende Renommiervokabeln (ökologisch, Mythos) zu verkuppeln. Nackt, das heißt auf unser menschliches Schicksal und seine elementaren Bedingungen reduziert, sind wir nicht nur alle gleich, sondern auch in unserm Bewußtsein identisch – ein Satz, gegen den nicht nur sein unbeabsichtigter Nebensinn spricht (»Alle Nackten denken dasselbe«), sondern mehr noch, daß sein Autor offenbar der Meinung 169
ist, man dürfe eine Aussage wie die beabsichtigte (»In Extremsituationen gleicht sich das Bewußtsein aller an«) ohne jeden Halt in die Welt setzen; er kommt gar nicht auf die Idee, daß es sich um eine überprüfbare Faktenfeststellung handelt, daß er sich also auf ein Gebiet begibt, auf dem die Wahrheit durch bloßes Raten nicht zu ermitteln ist. Offenbar sind Kritiker Menschen, die über eine geradezu atembeklemmende Expertise verfügen, wie sie indirekt immer wieder zu verstehen geben. Was ihnen gefällt, nennen sie nämlich erstens gerne wichtig (eine wichtige Choreographie), Steigerungsform gewichtig, und bedeutend (was das Bedeutende bedeutet, wüßte meistens freilich niemand zu sagen) – zum andern aber genau. Genau soll soviel heißen wie realistisch: Genau so sei es im Leben, gehe es draußen in der Wirklichkeit zu. Um ein Werk genau nennen zu können, muß man es, so sollte man meinen, mit jener Realität verglichen haben, die es im Sinne der realistischen Kunsttheorie widerspiegelt. Ob die französische Aristokratie der Jahrhundertwende, das russische Bauerntum, die Prager Bürokratie, der Guerrillakampf in Lateinamerika oder auch nur das Arbeitsklima in einem deutschen Amt – dem Kritiker ist das anscheinend alles bestens bekannt, denn die entsprechenden literarischen oder filmischen Schilderungen nennt er immer wieder genau, treffend, schonungslos. Oder sollten die Kritiker jene Werke gar nicht mit der Wirklichkeit vergleichen, sondern nur mit ihren Vorurteilen über sie? Dann bedeuteten genau und all die analogen Verdikte nur: Ja, hier geht es genau so zu, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Balzac, 170
der Erzrealist, beschreibt unter anderem, wie korrupt es im Pariser Journalismus des vorigen Jahrhunderts zuging. Ich weiß es nicht, glaube ihm aber gern, daß der damalige Journalismus durch und durch korrupt war. Aber so grotesk korrupt, wie er ihn beschreibt, erscheint er mir keine drei Wochen lang existenzfähig, und so will mir seine Widerspiegelung eher wie eine Karikatur vorkommen, und zwar eine recht grobe. Aber so autoritativ, wie alle seine Exegeten Balzac einen Realisten nennen, müssen sie wohl wissen, woran sie seine Romane messen – oder vielleicht doch nur an dem Bild, das sie sich gemacht hatten? Tatsächlich ist es wohl so, daß jedes fiktive Werk in einem fort auf seine Glaubwürdigkeit hin beurteilt wird, aber nicht durch einen Vergleich zwischen Kunst- und Lebenswirklichkeit, sondern aufgrund ganz anderer, ihm immanenter Indizien: Wie wahrscheinlich ist irgend ein Vorgang, eine Aktion, eine Reaktion? Wie gut passen die Einzelheiten zusammen – besteht da eine gewisse Konsistenz? Kann man so etwas erfinden? Hätte sich die Wirklichkeit eine solche Schilderung gefallen lassen, wenn nicht etwas Richtiges an ihr gewesen wäre? Das heißt, wir messen jedes Werk an unserer eigenen Lebenerfahrung, diese gestattet uns eine große Fülle von Wahrscheinlichkeitsprognosen, und diese wiederum sind keineswegs nur subjektiv und willkürlich, sondern hängen eng mit der objektiven Beschaffenheit der Wirklichkeit zusammen. Wir urteilen also meist gerade nicht aufgrund besonderer Milieukenntnisse; für die besonderen historischen und sozialen Umstände, die in einem Werk vorgestellt 171
werden, fehlt uns in der Regel jeglicher Maßstab; wir urteilen aufgrund unserer allgemeinen, wenn auch selten explizit werdenden Kenntnis des Lebens. Will sich ein Rezensent das Urteil darüber vorbehalten, ob ein Werk eher richtig oder eher falsch ist, so nimmt er gern bei einer besonders wichtig klingenden, aber auch besonders nichtssagenden Formel Zuflucht: Das Buch enthält Welt, auch viel Welt (ohne Artikel), es ist welthaltig; oder: es transportiert Wirklichkeit. Das hat einen großen Vorteil: Es kann nie ganz falsch sein. Irgend etwas »enthält« es ja sicher, und das ist sicher auch nichts Außerweltliches. Hier kommt Welt zur Sprache – das hat immerhin einen sonoren, bedeutungsvollen Klang, auch wenn es nichts anderes besagt als »hier ist von irgend etwas die Rede«. Die Zudringlichkeit näherer Fragen wimmelt es gebieterisch ab: Nichts Geringeres als die Welt, nein als artikellos Welt (die eine Art teurer Stoff zu sein scheint) wird ja abgehandelt. Wo Formeln dieser Art überhandnehmen, bekommt der Kulturbetrieb einen ausgemacht halbweltartigen Anstrich. Es klingt alles irgendwie schick, bedeutet nichts Bestimmtes, ist völlig beliebig und will auf keinen Fall ernst genommen werden. – Besonders weit darin hat es die Kunstkritik gebracht. Ein harmloses Sätzchen noch ist die Feststellung, irgendein Maler sei ein Experte für mimische Gestik. Hinter seiner lapidaren, mit zwei Quasi-Fremdwörtern prahlerisch drapierten Aussageform versteckt sich indessen das blanke Nichts. Er tut nur so. Allenfalls dient er seinen Lesern eine verschwommene Analogie an: Was der Maler male, sei un172
gefähr so ausdrucksvoll wie die Ausdrucksbewegungen von Hand oder Gesicht (so deutlich aber dürfte der Autor es nie sagen; er wird sich doch nicht blamieren wollen). Aber selbst die löscht er wieder, da er sich nicht zwischen Mimik und Gestik entscheiden kann und so die mimische Gestik gebiert. Derartiges geht überhaupt nur in der Sprache des Kulturbetriebs durch; wer im normalen Leben etwa von einem Rangierer als einer Autorität für statische Kinetik spräche, weckte Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. So kann das endlos gehen. Aus seiner Kritik der Materie hat er einen glaubhaften Raum entwickelt. Man empfindet diesen seinen Bildraum weder als ein Loch noch als einen Vorhang noch als eine pseudotachistische Morphologie. Dieser Raum ist eine Verdünnung des gleichen Stoffes, der seine Formen bildet, ob es eine hauchartige Haut, eine wolkige Fläche oder eine mikroskopische Arabeske ist. Die Erotik wird als ein kritisches Element benutzt, das die Wirklichkeit herausfordert und alles ins Wanken bringt. Solchen Sätzen läßt sich nicht im mindesten entnehmen, was auf den beschriebenen Bildern zu sehen ist. Sie sind auch nicht dazu da, über sie nachzudenken. Beim ersten Nachdenken entlarvten sich pompöse Wendungen wie Kritik der Materie als schiere Hochstapeleien. Sie erheben einfach einen Territorialanspruch – das ist ihre einzige Funktion. Sie sind, was bei den Gibbons der Morgengesang ist. Nebenbei bringen sie die Künste in den Ruf unbezwingbarer Schwierigkeit: nämlich dadurch, daß sie selber nicht etwa schwer verständlich, sondern vorsätzlich absolut unverstehbar sind. 173
Ein Brillant eigener Art ist das Protzen mit dem Unglück. Ein Erzähler empfiehlt sich oder seinen Helden (ja, frühere Zeiten dachten sich eine Hauptfigur als ein automatisch heroisches Wesen) mit der Feststellung, er sei völlig ausgebrannt oder ein wandernder Friedhof, ein anderer wirbt mit verlarvter Unversöhnlichkeit oder verschneckter Zerstörtheit. Ganze Verlagsprogramme lesen sich wie Einsendungen auf die Preisfrage: Wem geht’s am dreckigsten im ganzen Land? Käme jemand auf die Idee, ein paar gesunde und heitere Menschen auftreten zu lassen, sofort wüßte alle Welt: Mit dem Autor ist etwas nicht in Ordnung. Da der Skandal zu einem besonderen und ausgepichten Spaß geworden ist, auf den der Rezipient für sein Eintrittsgeld geradezu ein Anrecht hat, taugt die Aggression zur Einschmeichelung. Das wird Ärger machen: die Ankündigung eines Vergnügens. Dieses Buch ist brutal und verletzend – kein Lesevergnügen im herkömmlichen Sinn: das verspricht verschärfte Leselust. Konsequent erringt ein Buch, gerade weil es angeblich eine schonungslose Anklage und Warnung ist, einen führenden Platz auf der Bestsellerliste. Unbequem, ungemütlich sind Worte hohen Lobs. In ihnen schwingt der Sinn mit: Für Sie und Sie und ganz besonders für Sie natürlich nicht, Sie werden sogar entzückt sein; aber all die anderen, diese bekanntlich Blöden und Verblendeten und Denkfaulen, für die wäre es, läsen sie es je, mächtig unbequem! Würde einem Werk nachgesagt, es sei bequem, so wüßte jeder, daß es der letzte Dreck sein muß. In diesem Sinn nimmt sich der Kulturbetrieb heute aus wie eine Geisterbahn – je 174
mehr man sich gruselt, desto besser. Aber es ist alles nur Rummel. Es ist alles nicht so ernst gemeint. Es sind nur die schwarzen Brillanten der Rhetorik. In einer Orgie kollektiver Echolalie, einer Ansammlung von unzähligen Denk- und Sprachklischees, die absichtslos tiefe Einblicke gewährt in die Bewußtseinslage dieser Gesellschaft, in Frank Sickers »Großem Buch festlicher Reden und Ansprachen« (1964), das auf mehr als vierhundert Seiten Muster für »profilierte« Ansprachen in allen Lebenslagen ausbreitet, finden sich auch Reden auf Künstler. In einer »Ansprache des Verleihers anläßlich der Verleihung eines Musikpreises« heißt es: »Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus. Diese Stunde ist einem Manne gewidmet, der laut Urteil der Fachwelt das bedeutendste musikalische Werk des vergangenen Jahres geschrieben hat. Sie alle werden, als Sie es zum ersten Male gehört haben, wenn auch nicht gewußt, so doch gefühlt haben, daß hier ein Mensch den Versuch unternommen hat, das auszudrücken, was ihn in seinem tiefsten Innern bewegt … Die Musik ist eine Angelegenheit des Herzens, sie ist ein Spiegel der Seele, der des Menschen und der unserer Welt. Wer wollte angesichts dieses Werkes unseres hochverehrten Herrn … (Preisträger) den Versuch unternehmen, mit dem Verstand hinter sein Geheimnis zu kommen? … Auch unsere Vernunft vermag Ihre Musik, verehrter Herr … (Preisträger), nicht zu verstehen. Wohl aber vermag sie zu begreifen, daß wir einen begnadeten Künstler in unserer Mitte haben 175
und daß wir den diesjährigen Musikpreis einem Manne zusprechen, dessen Werk unser Innerstes anspricht. Damit aber ist bewiesen, daß es eine über den Augenblick hinausgehende Bedeutung besitzt … Möge es Ihnen gelingen, die Welt der Musik noch um manches Werk zu bereichern.« Solche Reden seien vielleicht im 19. Jahrhundert gehalten worden, aber heute? »Es braucht nicht mehr auf die unerhörte Spannweite des Schaffens dieses Meisters der Musik, der heute der ganzen Welt gehört, hingewiesen zu werden, der im Alter auf ein Werk zurückschaut, das vom kindlichen Ruf unschuldiger Empfindung bis zum Aufschrei der Tragödie über das dem Menschen verhängte Schicksal reicht. Allgemeinverständlich – aber nicht primitiv oder sentimental, wie oft Besserwisser meinen – ist Orffs Sprachmusik und Musik-Sprache; sie ist voll Lebenskraft, vital, ohne seicht zu sein; sie ist aber auch hintergründig, ja dämonisch.« So sprach Kölns Bürgermeister Lemmens, als er anno 1968 die »Orff-Woche« eröffnen mußte. Beide Beispiele reden in jener festlich erhöhten Sprache, die Adorno den »Jargon der Eigentlichkeit« nannte, »die Wurlitzer-Orgel des Geistes«. »In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteter Erwähltheit, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von De176
putierten aus Wirtschaft und Verwaltung. Während er überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standardisiert wie die Welt, die er offiziell verneint; teils infolge seines Massenerfolgs, teils auch weil er seine Botschaft durch seine pure Beschaffenheit automatisch setzt und sie dadurch absperrt von der Erfahrung, die ihn beseelen soll. Er verfügt über eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter. Eigentlichkeit selbst ist dabei nicht das vordringlichste; eher beleuchtet es den Äther, in dem der Jargon gedeiht, und die Gesinnung, die latent ihn speist. Als Modell reichen fürs erste existentiell, ›in der Entscheidung‹, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Anliegen, Bindung aus.« Und im weiteren: »Jeder Inhalt (ist) ausgeklammert, während doch auf den Schein von Inhalt nicht verzichtet werden darf, damit die Angesprochenen … spuren. Die Absicht, die Intention zieht sich in eine unterweltlich intentionslose Sprache zusammen, treu der objektiven Bestimmung des Jargons selbst, der keinen Inhalt hat als die Verpackung.« Damit ist aufs genaueste ein Bündel von Charakteristika dieser Redeweise bezeichnet: ihr Äther der Feierlichkeit; ihr Anspruch auf exklusive Weihen bei gleichzeitiger Standardisierung; ihre In-haltlosigkeit (die Verpackung macht die Botschaft aus). Es handelt sich um ein wolkiges, getragenes Pathos, das Gedanken (in jenem ersten Beispiel sogar ausdrücklich und programmatisch) durch Gefühligkeit ersetzt, dieser aber den Anstrich unauslotbarer Gedankentiefe gibt. Er sagt 177
wenig oder nichts, aber das immer mit einem Tremolo der Ergriffenheit, welches dem Zuhörer von vornherein klarmachen soll, er habe hier nicht zu prüfen und zu wägen, sondern ebenso ergriffen seinen Verstand auszuschalten. Aussagen über die wenigstens subjektive Aufrichtigkeit seiner Sprecher läßt er nicht zu, denn es handelt sich um ein entleertes Ritual, dem sich alle Teilnehmer in dem Bewußtsein unterwerfen, daß es sich um eben dieses handelt. Man spielt sich, von zweckentfremdeten Streichquartettsätzen und ausgeliehenen Lorbeerbäumen umrahmt, ein festgelegtes Spiel vor, das darauf angewiesen ist, von allen durchschaut und akzeptiert, auf keinen Fall aber wörtlich genommen zu werden. Man weiß, es ist ein Spiel, die beschworene Ergriffenheit bleibt durchaus aus, und insgeheim halten es alle für eine so lästige wie langweilige Plage, denn es hat alle Verbindungen zu den tatsächlichen Erfahrungen vorsätzlich abgebrochen. Was dieses Spiel den Teilnehmern vorgaukelt, ist die Fortdauer einer paradiesisch intakten Welt, wie es sie vermutlich nie gegeben hat, einer Welt, die in Ordnung ist, wenn man es mit den standardisierten Leerformeln nur steif und fest genug behauptet. Es handelt sich um Zaubersprüche (… lid zi geliden …), um kraft lose Zaubersprüche. Dieser Zauberspruchcharakter (… sose gelimida sin!) ist am deutlichsten in den Reden, die bei Grundsteinlegungen gehalten werden: »Möge das neue Düsseldorfer Schauspielhaus seinen Traditionen gemäß eine Stätte sein der lebendigsten Dichtkunst, der phantasievollsten und aufrichtigsten Schauspielkunst, eine Stätte des heiteren oder ernsten 178
geistigen Festes für alle Bürger dieser Stadt« (Intendant Stroux 1965). »Alle, die in diesem Hause geben und empfangen, mögen dienen der Liebe zu allem Guten und Schönen, dem Frieden nach innen und außen, der wahren Freiheit, die gebunden ist durch Sitte und Gesetz, mögen dienen der Einheit und der Heimat unseres Volkes. Möge Gott dieses Haus bewahren vor allem Unheil und seinen Segen geben allen denen, die diesen Bau errichten und die hier weilen und wirken werden.« (Bundespräsident Lübke 1961 in Recklinghausen) Dieser Jargon raunt von allem Guten und Schönen, als bestünde nach wie vor allgemeine Übereinkunft, daß in Schauspielhäusern stattzufinden habe, was einmal alles Gute und Schöne hieß. Er spricht, wenn schon, erschauernd vom Aufschrei der Tragödie über das dem Menschen verhängte Schicksal, ohne irgend zu spezifizieren, worin dieses Schicksal bestünde, und den Abnehmer dieses Jargons von vornherein zur Passivität ermunternd – keine solche Zitierung eines Aufschreis könnte auch nur eine Feier trüben. Er zeigt in einen Leerraum und nennt ihn das innerste Wesen der Welt, eine Geste, die natürlich nichts anderes bewirken kann als Bewegtheit: nirgends, nämlich im tiefsten Innern. Wären Rückfragen erlaubt, wie denn dieses innerste Wesen, das da angeblich offenbart wird, des näheren beschaffen sei, so könnte man einen Redner stottern hören. Der Jargon beweist dennoch etwas, denn der Redner hat sich trotz allem als überlegen denkendes Wesen vorzustellen: nämlich, daß das zur Rede stehende Werk bedeutend sei 179
(einfach so: bedeutend), weil es nämlich das tiefste Innere anspreche, von dem glücklicherweise nur bekannt ist, daß es sich um etwas ungemein Kostbares handeln muß. Eine Unschärfe erklärt sich so immer aus der anderen. Solche Prosa stimmt einen nachdenklich: Nicht daß man über irgend etwas nachdächte, heißt das; man gerät nur in eine Stimmung, als sollte man eigentlich denken. Der Jargon operiert im Namen von höchsten Werten, ohne sie je näher zu begründen oder auch nur kenntlich zu machen, sie jeder Befragung von Anfang an entrückend. Das Gute, das Schöne, die Kunst, die Kultur, das Wort, der Geist – der Jargon tut, als seien das ewige Kategorien, zu denen die Menschen nur ehrfürchtig emporsehen können; er fingiert einen ideologiefreien Raum, in dem Kunst und Kultur nicht mehr komplex vermittelte Hervorbringungen des Menschen sind, sondern kraft ihrer Vollendung oder Begnadung der menschlichen Welt und ihren Maßstäben entzogen. Das Phänomen ist offenbar nicht auf Deutschland beschränkt; Roland Barthes beschrieb einmal das gleiche: »Man stellt zum Beispiel die Kultur den Ideologien gegenüber: Die Kultur ist ein ewiges, universales Gut, das außerhalb der vorgefaßten gesellschaftlichen Meinung steht … Die Ideologien dagegen sind parteiische Erfindungen … Man wägt sie unter dem strengen Blick der Kultur gegeneinander ab (ohne zu bedenken, daß auch die Kultur letzten Endes eine Ideologie ist). Alles geschieht so, als ob es auf der einen Seite die schweren, die belasteten Wörter gäbe (Ideologie, Katechismus, militant), … auf der anderen leichte, reine, imma180
terielle Wörter, die edel sind kraft eines göttlichen Rechts, erhaben sind in einem Maße, daß sie dem niedrigen Gesetz der Zahl entgehen (Abenteuer, Leidenschaft, Größe, Tugend, Ehre) – Wörter, die über der tristen Berechnung der Lügen stehen. Diese letzteren Wörter seien beauftragt, die ersteren Moral zu lehren. Auf der einen Seite die schuldigen Wörter, auf der anderen die richtenden.« Der verblasen-blumig-feierliche Stil ist keineswegs an die sogenannte »bürgerliche« Gesellschaft der Bundesrepublik gebunden; im Gegenteil, in der DDR wird er fast noch intensiver gepflegt – woraus man zum Beispiel schließen mag, daß auch die der DDR eine verkappt bürgerliche Gesellschaft ist; oder daß die Bürgerlichkeit einer Gesellschaft etwas ist, was doch gar nicht unmittelbar von den Produktionsverhältnissen abhängt, oder daß der Begriff der Bürgerlichkeit unscharf und untauglich ist. Die Sprache, in der sie beschrieben wird, dementiert da bereits, daß eine Kulturrevolution stattgefunden habe. Das ›Neue Deutschland‹ verabschiedete sich von dem Schriftsteller Kuba folgendermaßen: »Eine leuchtstarke Flamme, ein Kämpfer, ungebärdig-unruhig und im Sturm unserer Tage immer vorn, verzehrend sich allzu früh in den Kämpfen seiner Klasse – das Leben und Dichten Kubas … Den Sehnsüchten und Nöten, Bitternissen und Triumphen der Arbeiterklasse galt sein Wort – Dichter von mitreißendbezwingender Ursprünglichkeit. Kommunist aus tiefinnerlicher Überzeugung … eingeschreint in jeden Sieg unserer Tage.« Der Kommunist aus tiefinnerlicher Überzeugung – 181
das ist in der Tat verräterisch, das ist nahezu ein Oxymoron, denn was die - beiden Substantive dem Kopf zuweisen wollen, verweist das Adjektiv wieder in den fühlenden menschlichen Busen (ein allerdings unfreiwillig realistischer Denkakt, solange wir so wenig wie heute wissen über das Zustandekommen von Überzeugungen). »Erst in unserer sozialistischen Gemeinschaft wird das Ideal vom Wahren, Guten und Schönen Wirklichkeit … hier blüht auch die Schönheit, innerlich wie äußerlich, nicht nur im Gesang, sondern überall dort, wo wir sie hegen und pflegen« (Leitglosse des ›Neuen Deutschland‹). Das kommt aus tief bürgerlicher Vergangenheit. Der Jargon der Eigentlichkeit hat, scheint es, seine große Zeit hinter sich. Wo er heute auftritt, tut er es in zunehmendem Maße verschämt und verdünnt, im undeutlichen Bewußtsein seiner Überlebtheit. Dennoch beherrscht er nach wie vor manche der offizielleren Ereignisse des Kulturbetriebs: Grundsteinlegungen, Museumseröffnungen, Gedächtnisfeiern, Preisverleihungen … Während Sprache im Kulturbetrieb auf der einen Seite noch die Geheimnisse begnadeten Schöpfertums »würdigt« (also: mit Würde versieht), hat sich im strikten Gegensatz dazu während der letzten Jahre eine andere Sprache herausgebildet, die nun nicht mehr auf Höheres pocht und unnahbar verschwommen sein will, sondern: sachlich, kühl, hart, wissenschaft lich – das neue kritische Idiom, das seine Begriffe vorwiegend aus der Soziologie, der Psychologie, der Philo182
sophie, der Politologie, der Informationstheorie nimmt, und sei es zum Schein. Die Tendenz zu diesem Idiom ist an den Verlautbarungen des Kulturbetriebs seit Jahren ablesbar; wirklich ausgebreitet aber hat es sich erst, seit die Bewegung der Neuen Linken die Leute in den Lektoraten und Redaktionen mit kritischer Theorie konfrontierte und plötzlich allenthalben eine neue Terminologie erlernt wurde, spöttisch und widerstrebend zunächst, aber das gab sich schnell. Seit Jahren sind die Wörter Dichter und Dichtung verpönt: Ihre Bedeutung wurde zunehmend eingeengt, immer stärker wurde darin die Bedeutungskomponente »überlebt«. Heute heißt es Autor und Text. Texte drücken nichts aus, sie übermitteln schon gar keine Botschaft: Sie transportieren Inhalte – das Wort transportieren hat innerhalb kurzer Zeit derart um sich gegriffen, daß sich das ganze Kulturwesen von hier aus heute wie eine verzweigte Speditionsfirma ausnimmt. Die bevorzugten Texte sind Dokumente; da alles Geschriebene etwas dokumentiert, ist auch alles Dokument für irgend etwas, und eine leere Seite ist eben ein Dokument des Schweigens. Die Wörter Geist und Gesinnung sind gleichfalls geschwunden; dafür steht heute Bewußtsein mit seinen zahllosen Ableitungen. Wo vordem Denken gesagt wurde, heißt es nunmehr Reflexion. An die Stelle des verpönt kulinarischen Genusses ist der Konsum gerückt; aus den Kunstbegeisterten wurden Kulturkonsumenten. Wo es früher Wirkung hieß, wird heute von Effizienz oder Effektivität gesprochen. Die Leser, das ergriffene Publikum 183
von einst, wurden zu Rezipienten oder Konsumenten ausgenüchtert. Der begriffliche Gewinn bei derlei Substitutionen kann durchaus gleich Null sein; wichtig ist in erster Linie der progressive »Äther« dieser Sprache. Wer sie spricht, erhebt damit den Anspruch, zu den Bewußten im Lande gezählt zu werden; das Wort bewußt erfüllt heute die gleiche Funktion, die erweckt für die Pietisten, illuminiert oder erleuchtet für die Illuminaten hatte: Es bezeichnet die vollzogene Initiation in die Axiome fortschrittlichen Denkens. Ein bewußter Mensch in diesem Sinne ist einer, der die Überzeugung gewonnen hat, daß die lohnabhängigen Massen in den auf das Konkurrenz-Prinzip begründeten spät-kapitalistischen Gesellschaften durch Konsumzwang und ein Bündel teilweise interiorisierter Repressionen ausgebeutet werden, und daß die wichtigste Aufgabe der weltweite Emanzipationskampf dieser Unterdrückten sei; gegenteiliges Bewußtsein ist reaktionär, andere – nicht kontradiktorische, aber eben andere – Bewußtseinsinhalte sind für den bewußten Menschen irrelevant und damit falsch. Die zumindest scheinbare Versachlichung der Sprache zeigt sich bereits in etwas so Äußerlichem wie Buchtiteln. Früher leisteten sich Bücher so stimmungsvolle Titel wie »Und sagte kein einziges Wort« (Böll) oder »Denn sie sollen getröstet werden« (Paton); oder so bläßlich-sinnige Kalauer wie »Ergriffenes Dasein« (Holthusen); nennte sich ein Buch heute noch »Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft« oder »Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung«, so 184
disqualifizierte es sich von vornherein selbst. Ein Titel wie »Dichten und Trachten« – es war der des Suhrkamp-Almanachs – wird heute weithin als unpassend empfunden, und das nicht nur, weil er sich zu einem bestimmten folkloristischen Wortwitz leiht. Heute sind statt dessen trocken-sachliche Titel im Schwang, vor allem Einworttitel, und dieses eine Wort ist mit Vorliebe ein Abstraktum im Plural. Allein der Suhrkamp-Verlag hat in den letzten Jahren mindestens die folgenden fünfzehn in die Welt gesetzt: »Aufenthalte« (Janker), »Aufk lärungen« (Franzen), »Bewegungen« (Sarduy), »Eingriffe« (Adorno), »Einzelheiten« (Enzensberger), »Illuminationen« (Benjamin), »Impromptus« (Adorno), »Konfrontationen« (Wellek), »Normalfälle« (Körner), »Notate« (Wekwerth), »Rapporte« (Weiss), »Schlagzeilen« (Pataki), »Verfremdungen« (Bloch), »Vorzeichen« (Enzensberger), »Zugänge« (Penzoldt). Dazu kommen dann von überallher: »Aussichten« (Hamm), »Ansichten« (Mayer), »Aspekte« (Zeitschrift), »Akzente« (Zeitschrift), »Konstellationen« (Anthologie), »Konkretionen« (Buchreihe), »Kontexte« (Buchreihe), »Kontraste« (Jahrbuch), »Profile« (Jahrbuch), »Sichtvermerke« (Höfer), »Provokationen« (Kampf), »Perspektiven« (Zeitschrift) … und Prosekutionen und Prostrationen und Protuberanzen und Expektorationen (zumindest wird es auch diese bald geben, denn der Vorrat ist bereits erheblich angegriffen). Die Sachlichkeit, die solche Titel suggerieren, ist allerdings eine grobe Täuschung, denn vager als »Perspektiven« oder »Tendenzen« oder »Konfigurationen« oder »Vibratio185
nen« oder »Kristallisationen« ist auch »Dichten und Trachten« nicht. Solche Titel sind beliebig vertauschbar. Heute, da sich das kritische Idiom über alle Kulturbereiche hinweg ausgebreitet und dann verdünnt eingebürgert hat, stellt sich die Frage: Was leistet es? Und: Ist es nicht dabei, ebenfalls zum Jargon zu degenerieren (Jargon hier ohne Aufhebens verstanden als eine für minderwertig zu erachtende Sondersprache)? Als der einstige Frankfurter Berufsprovokateur Imhoff einen Diskussionsabend mit Peter Handke durcheinanderbrachte, stand anderntags in einem von Manfred Müller verfaßten Bericht der ›Frankfurter Rundschau‹: »Was die Aktionen Imhoffs wiederum reaktionär und sinnlos macht, sind einmal seine Anhänger, denen das antiautoritäre Vokabular so flüssig von den Lippen geht, obwohl das Verhalten autoritätsfixiert und die genaue Widerspiegelung gesteuerten Konsumverhaltens ist; sie haben nichts von dem gelernt und verstanden, was sie dem ›manipulierten Publikum‹ beibringen wollen. Zum anderen tragen die Aktionen Imhoffs die Merkmale eines ritualisierten Wahns, insofern sie als geschlossenes Provokations- und Destruktionssystem emotionelle Reaktionen bewirken, aber unfähig sind, damit auch einen Lernprozeß – die rationale Analyse des zutage getretenen falschen Verhaltens – in Gang zu setzen.« – Das Beispiel ist brauchbar aus mehreren Gründen: Es ist ganz und gar kein Unfug und keine Parodie; es ist nicht überzogen; es zeigt das kritische Idiom nicht als Werkzeug eines originalen Denkens, sondern aus zweiter und dritter Hand bezogen, im Alltagseinsatz. 186
Was an ihm zunächst auff ällt, ist dies: daß über den Gegenstand überhaupt so lange geredet wird. Die Kultur-Berichterstattung älteren Stils hätte Imhoff einfach als Verrückten bezeichnet; sie hätte gar keine Begriffe gehabt, um sich näher über ihn auszulassen und Nutzen oder Schaden seiner Auftritte abzuschätzen. Daß die Grenzen der »Verrücktheit« heute völlig verwischt sind, ist ein nicht bedeutungsloses Charakteristikum unseres Kulturbetriebs. Ferner fällt an dem Beispiel auf, daß einige der Kennzeichen, die Adorno dem Jargon der Eigentlichkeit zugesprochen hatte, durchaus auch für es gelten. Es verfügt über »eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter« (hier sind es: Aktion, antiautoritär, gesteuertes Konsumverhalten, manipuliert, ritualisierter Wahn, Provokationssystem, Lernprozeß, rationale Analyse, falsches Verhalten). Mit ihnen wird in erster Linie nicht ein Sinn, sondern ein Äther erzeugt – in diesem Fall nicht der Äther stummer Ergriffenheit, sondern der der Progressivität. Auch andere Kennzeichen der feierlichen Redeweise treffen auf dieses Beispiel zu. So ist es gleich inhaltsarm. Aus Berichten, die ausschließlich in diesem Idiom abgefaßt wären (der ganze betreffende Artikel ist es übrigens nicht), wäre über das konkrete Geschehen und seine Hintergründe so gut wie nichts zu erfahren, denn das Idiom kann deuten, es kann nicht beschreiben. Auch verrät es ähnlich wenig über den Standort des Autors. Daß er selber das kritische Idiom spricht, deutet darauf hin, daß er irgendwo links steht – wo dort, ist jedoch nicht ersichtlich. Einerseits überholt er einen 187
links stehenden Mann links; andererseits hat er eine der vielen Baukastenvokabeln, nämlich das manipulierte Publikum, in Anführungsstriche gesetzt, teilt also eine wesentliche Annahme der Linken, daß nämlich das Publikum manipuliert sei, offenbar nicht so ganz; außerdem distanziert er, dem das antiautoritäre Vokabular doch selber so flüssig von den Lippen geht, sich von denen, auf die das gleiche zutrifft. Tatsächlich ist es möglich, mit ein wenig stilistischer Mimikry der Linken ihre offensiven Eigenschaftswörter (autoritär, affirmativ, elitär und so weiter) von nahezu jedem Standpunkt aus zurückzugeben, oder auch von keinem Standpunkt aus. Der Autor darf sonderbar gesichtslos bleiben. Indessen ist das Beispiel nicht einfach in die »normale« Sprache zu übersetzen und damit als aufgeblasener Humbug zu entlarven. Die Sprechweise ist also nicht die reine Manier; sie ist dem zur Sprache gebrachten Phänomen wesentlich. Die Frage würde also weiter lauten: Wie groß ist die Relevanz der Aussagen, zu der dieses kritische Idiom (hier immer das im Alltagseinsatz) gelangen kann? Das Vokabular des kritischen Idioms ist ein ausgemacht dualistisches. Zwei Wertfronten stehen sich verfeindet gegenüber. Die eine Seite ist die gute, die andere die schlechte. Der moralische Beiklang jeder Vokabel ist stark. Einen moralisch indifferenten oder gemischten Raum duldet das Idiom so gut wie gar nicht. Dadurch wird es so ungemein aggressiv, und kämpferisch will es ja auch sein: Wer sich nicht auf die Seite der guten Vokabeln schlägt, muß bei den schlechten zugrunde gehen. Die schlechten, das wären etwa: 188
Anpassung, Konsum, Reproduktion, Entfremdung, Reaktion, Ausbeutung, Manipulation, autoritär, privat(istisch), Affirmation, Repression, Integration, irrational. Zu den guten Wörtern auf der anderen Seite gehören: Veränderung, antiautoritär, Emanzipation, Revolution, Negation, Provokation, Destruktion, bewußt, rational. Es handelt sich also um eine Alternativ-Terminologie; ein Bewußtsein, das mit ihren binären Gut-Schlecht-Entscheidungen nichts anfangen könnte, für das etwa rational und irrational nicht zwei antagonistisch getrennte semantische Blöcke wären, weil es das Irrationale an rationalen Prozessen und das Rationale an irrationalen wahrnimmt, könnte sich mit ihrer Hilfe kaum ausdrücken. Die schlechten Vokabeln bezeichnen zum Teil Zustände und Verhältnisse; die guten nicht etwa deren positives Gegenteil, sondern fast ausschließlich Vorgänge der contestation und Veränderung: Der schlechten Welt stellt das Idiom nicht eine bessere gegenüber, sondern nur ihre Abschaff ung. Wie das Wort Bewußtsein, so steht auch gesellschaftlich zweideutig zwischen den Fronten, Fluch und Verheißung zugleich. »Gesellschaft ist die Zentral-Vokabel des linken Jargons, die neue Eigentlichkeit. Das Wort Gesellschaft wird, wie andere Numinosa, ambivalent gebraucht: Gesellschaft ist sowohl der Sündenpfuhl des Bestehenden wie der Ort der Umkehr und Befreiung …« (Reimar Lenz). Ein weiteres Kennzeichen der Hauptvokabeln des kritischen Idioms ist ihr hoher Abstraktionsgrad. Daraus erklärt sich die Allgemeinheit seiner Aussagen: Man muß … von ei189
nem revolutionären Musiker verlangen, daß seine Produktion den Kategorien der idealistisch-reaktionären Ästhetik, den kapitalistischen Manipulations- und Konsumtionszusammenhängen des Konzert- und Opernhetriebes, der affirmativen Musikkritik und den Machenschaften mächtiger Verlage und noch mächtigerer Rundfunkanstalten nicht sich einfügt … (aus einem Leserbrief des Musikkritikers Hartmut Lück an den ›Spiegel‹). Unmöglich, daraus zu schließen, wie die in Rede stehende Musik klingen soll, wenn ihr nur Eigenschaften wie die nachgesagt werden, sich den kapitalistischen Manipulationszusammenhängen zu entziehen. Hoher Abstraktionsgrad: das heißt, daß es sich um semantisch überaus weiträumige Begriffe handelt. Der semantische Komplex Herrschaft/Autorität/Repression etwa meint Sachverhalte, die von der physischen Vernichtung ganzer Bevölkerungen durch totalitäre Exekutivapparate bis zur Gewohnheit des Zähneputzens reichen (die dem Konsumenten anerzogen wurde als einer von vielen für die Herrschenden profitablen Zwängen, die keinem echten Bedürfnis entsprechen, aber den Herrschenden Profitmaximierung mittels Zahnpastaverkaufs ermöglichen und die Beherrschten im quälenden Gefühl der Unsauberkeit, ihnen selber unbewußt, abhängig halten). Das Wort Integration bezeichnet sowohl den, der sich für ein Schmiergeld seine vordem oppositionellen Meinungen abkaufen läßt und nun Festreden auf die Bosse hält, wie den, der eine Krawatte umbindet und sich damit als angepaßt ausweist. Autoritär ist der blutrünstige Diktator, der Lehrer, der seine Schüler sy190
stematisch und sadistisch zusammenstaucht, der Lehrer, der sich einmal zu einem Wutanfall hinreißen läßt, und auch das Mitglied der Bürgerinitiative, das vermeintlich zu lange und zu laut redet. Das schlechte Bestehende kann so sehr alles sein, von der CSU über den BDI zu Telefonbüchern, daß es gar nichts mehr ist. Und die Aversion, deren der extremste von solchen Großraumbegriffen erfaßte Sachverhalt sicher sein kann, kriminalisiert auch noch den jeweils harmlosesten. Der Vorteil solcher Abstraktionen ist, daß sie ähnliche Merkmale in heterogenen Bereichen aufweisen und miteinander in Beziehung setzen, möglicherweise also die Wurzel der großen Übel im scheinbar Harmlosen entdecken. Dem gegenüber steht der Nachteil, daß sie Minimales und Maximales verwischen und die Unterscheidungskraft schwinden lassen. Der hemmungslos prügelnde Vater und der, der seine Kinder schonungsvoll daran hindert, seine Bücher zu zerfetzen, können somit für das Idiom verschmelzen. Es nennt sie beide autoritär und erklärt sie damit zu Gegnern gleicher Klasse. Das kritische Idiom dient vornehmlich dialektischem Denken; und das bringt eine spezifische innere Gefährdung mit sich. Dialektisches Denken ist das Gegenteil von faktenorientiertem (»positivistischem«) Denken. Es begreift nichts Einzelnes aus sich heraus, sondern im Hinblick auf eine gedachte Totalität. Es bezieht die Bedingtheiten des Denkenden selber in sich ein. Es nimmt den Phänomenen nicht ab, was sie zu sein scheinen oder als was sie sich ausgeben. Es fragt, 191
ob sie nicht, in einem höheren Zusammenhang, etwas anderes bedeuten – womöglich das Gegenteil von dem, was sie zu bedeuten scheinen. Es versucht, die »immanenten« Erörterungen, die sich soviel auf ihre »Sachlichkeit« zugute halten, der bewußten oder unbewußten Parteilichkeit zu überführen, sie zu überwinden. Darin eben besteht die ungeheure Faszination, die von dialektischem Denken ausgeht. Es klebt nicht empirisch an den Tatsachen; es läßt das Teildenken hinter sich; es setzt den Menschen in den Stand, über das, was ist, hinauszudenken. Nicht zufällig sind darum Verschleierung und Entlarvung zwei miteinander korrespondierende Zentralbegriffe des kritischen Idioms. Dialektisches Denken ist im Laufe seiner Geschichte mancherlei gewesen; heute ist es, im kritischen Idiom des Kulturbetriebs, vor allem der Denkakt des Durchschauens, der Entlarvung. Das dialektische Phänomen, schreibt Robert Heiss in seinem Buch »Wesen und Formen der Dialektik«, werde dort besonders deutlich, wo »eine Tatsache sich ins Gegenteil wandelt, ein Sachverhalt aus sich entläßt, was ihm eigentümlich gegensätzlich ist«. Dialektik beweist der Biederkeit ihr Gegenteil. Recht demaskiert sie als Unrecht. Den Nonkonformisten als Konformisten. Den sich autonom dünkenden Einzelnen als ferngesteuert. Den Bürgerschreck als verkappten Spießer. Den Folterknecht begreift sie, im höheren Zusammenhang, seinerseits als Opfer. Dem Voyeur versucht sie seinen Lustgewinn auszureden, da er nur ein Glückssurrogat sei, das ihn abhalte von der Bemühung um sein wirkliches Glück: Lustgewinn als Lustverlust. Die 192
Negation versteht sie als Affirmation. Das Nein wird zum Ja. Das Ja zum Nein. Als George Orwell seinen Zukunftsstaat des Jahres 1984 mit den Parteiparolen »Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke« ausstattete, war das ein satirischer Scherz, der die Dreistigkeit totalitärer Sinnverdrehungen vorführen sollte. Das war 1948, und Orwell war Engländer und damit Angehöriger eines Kulturbereichs, in dem dialektisches Denken niemals in Mode war. Herbert Marcuses »Toleranz ist Repression«, nach genau demselben Muster gebaut, war keineswegs satirisch gemeint, sondern bitterster Ernst. Nach diesem Gewaltstreich der Entlarvung wurde die anklägerische Entdeckung der Antithese in der These fast zum Muß im Kulturbetrieb. Kaum eine Fernsehkurzkritik mag darauf verzichten, das Volksstück als volksfeindlich, die Provokation als lahme Angepaßtheit, das esoterischste Exerzitium als wahrhaft politische Tat vorzuführen. Eigentlich ist logisch gleich, was auf den beiden Seiten eines Gleichheitszeichens steht. Wenn A gleich B ist, so ist B gleich A. Aber die Logik gilt nicht für dialektische Gleichsetzungen. Daß Toleranz gleich Repression ist, heißt keineswegs, daß Repression gleich Toleranz wäre (obwohl sich auch dafür Argumente finden ließen, wenn man nur angestrengt genug suchte). Dialektische Gleichsetzungen sind unumkehrbar. Sie dürfen nur in einer Richtung gedacht werden. Darin enthüllt sich ihr parteilicher Zweck. Für das parteiliche Denken ist es ja gar keine Frage mehr, was beim Denken herauskommen mag; Denken heißt Argumente für 193
ein bereits fertiges Urteil entwerfen. Toleranz ist Repression, aber Repression ist nicht Toleranz; Repression ist auch Repression, im Blick auf »die Totalität« ist alles Repression, sogar ihr Gegenteil, Toleranz. Eine einfache Verdrehung ist das nicht. Manches Phänomen mag, wenn man es kritisch genug durchleuchtet, durchaus Elemente seines Gegenteils in sich beschließen. Hier geschieht etwas Raffinierteres. Die große, die »positive« Wahrheit, daß etwas zunächst einmal und vor allem es selber ist, Toleranz gleich Toleranz, Konformismus gleich Konformismus und so weiter, wird aufgegeben und unkenntlich gemacht zugunsten einer sekundären Teilwahrheit – daß, wenn man dies und jenes berücksichtigt, Toleranz auch gewisse indirekte Folgen haben mag, die der Intoleranz den Rücken stärken. Eine Teilwahrheit also wird verabsolutiert, so wie es kulturkritisches Denken überhaupt liebt. »Das Sein bestimmt das Bewußtsein«, »Das Medium ist die Botschaft« – Erkenntnisse, deren offenkundiger Nonsens sie erstaunlicherweise keineswegs disqualifiziert, sondern geradezu die Vorbedingung ihrer Verbreitung ist. »Irgend etwas ist ja dran«; ein platter positiver Kopf, wer keinen Blick dafür hat – und schon gilt nur noch die in ihnen enthaltene Teilwahrheit als gesellschaftsfähig. Alles wird diesem Denken vieldeutig. Wird ein Buch indiziert, ein Film verstümmelt, eine Theateraufführung verboten, so ist das klar repressiv und damit schlecht. Lassen die Gesellschaft und ihre Institutionen Buch, Film, Auff ührung dagegen zu, so ist das nicht etwa gut, sondern verschleiert nur den schlechten Charakter des Systems und ist damit 194
ebenso schlecht. Nichts käme gegen das Verdikt der Verrottetheit an. Unterdrückt die Gesellschaft den Sex, so ist ihre oppressive Natur evident; unterdrückt sie ihn nicht, so muß nachgewiesen werden, daß sie gerade dadurch um so heimtückischer oppressiv ist. Was du auch tust, es ist mit Sicherheit das Falsche. Der Jargon entmutigt. Darum wohl auch der Überdruß an ihm: Daß immerfort ein Progressiver den anderen als Reaktionär entlarvt, ist nicht nur psychohygienisch etwas störend (wenn es so ist, mag sicher mancher Teilnehmer dieses Gesinnungswettlaufs sagen, kann ich ja eh gleich Reaktionär werden). Es ist auch nicht eben sehr erkenntnisfördernd. Nehmen wir an, es sei jemand ein Filmemacher und er sehe progressive Ansprüche an sich gestellt. Nehmen wir weiter an, sein Ziel sei nichts jenseits des Horizonts, die »befriedete Gesellschaft« oder der »neue Mensch«, so daß keine mögliche Betätigung seinerseits irgendeinen nachweisbaren Schritt auf dieses Ziel zu darstellen könnte, sondern es handele sich um ein konkretes, erreichbares und schließlich auch erreichtes Ziel: die Beendigung des Krieges in Vietnam. Mit einem lächerlich kleinen Fundus von Baukastenvokabeln des kritischen Idioms ist dennoch jeder Film, den er machen könnte und der diesem Ziel dient, als schlecht und Schlimmeres zu entlarven. Ein Film, der in konventioneller Dramaturgie vorführt, wie Amerika sich in Vietnam heldenhaft gegen die kommunistische Seuche verteidigt, ist natürlich offenkundig reaktionär, denn er reproduziert und verklärt nur das Selbstverständnis derer, die den Krieg führen. 195
Ein Film, der von Vietnam nichts sagt, aber die herrschende Schicht des Landes bei irgendwelchen sonstigen Verrichtungen zeigt, ist doppelt reaktionär, einmal durch sein Einverständnis mit den Herrschenden, zum zweiten durch sein Verschweigen von Vietnam. Ein Film, der nur private Phantasien seines Autors vorführt, auch solche, die seine Friedfertigkeit bezeugen, ist dann reaktionär, wenn sich der Autor im übrigen als Gegner des Krieges erklärt hat: Denn indem er den Krieg verschweigt, läßt er ihn zu und macht sich zu seinem Komplizen. »Jeder meter film, der einen heilen arsch aus den metropolen zeigt, verschweigt einen verbrannten körper in viet-nam« (Flugblatt bei den Filmtagen in Knokke). Ein Film, der nach konventioneller Dramaturgie gegen den Krieg agitiert, ist reaktionär, weil er seinen erklärten Zielen zum Trotz durch seine Dramaturgie die Bewußtseinshaltungen unterstützt, die den Krieg ermöglicht haben. »Einen prügelnden Polizisten zu zeigen, bedeutet nichts; es kommt darauf an, die Sehgewohnheit zu brüskieren, der ein prügelnder Polizist im Kino nichts bedeutet« (Uwe Nettelbeck in ›konkret‹). Ein Film dagegen, der zur Verwirklichung des gleichen Ziels neue Mittel verwendet, ist gleich aus vielerlei Gründen reaktionär: Er verschließt sich durch seine formale Neuheit dem großen Publikum, das er besonders anginge, von vornherein elitär; er verhöhnt die Opfer des Krieges, indem er sie zu ästhetizistischen Experimenten benutzt und sie dadurch ein zweites Mal sterben läßt; ferner bereichert auch er die 196
Distributionssysteme der Herrschenden; und er bereichert sie nicht nur, sondern verschafft ihnen und seinen Zuschauern darüber hinaus ein beruhigendes Alibi – sie könnten das Gefühl haben, etwas gegen den Krieg getan zu haben. Das Alibi-Argument ist besonders leicht anzuwenden, besonders schwer zu entkräften und darum auch besonders beliebt, ein wahres Passepartout, das immer willig zur Verfügung steht, wenn jemandem gar kein anderer Einwand mehr einfällt. Ein Verlag (schlecht) macht eine ökologische Buchreihe? Eine Kulturbehörde (schlecht) finanziert eine alternative Spielstätte? Also, da könnte man ja fast … – aber nicht doch: Alibi! Alibi! Auch wenn der betreffende Verlag, die betreffende Behörde subjektiv nicht das geringste Bedürfnis hat, sich gegenüber den Alibi-Rufern ein Alibi zu verschaffen. Verweigert sich der vorige Film aber dem etablierten Distributionssystem, so kapselt er sich dadurch wieder elitär ab und bleibt also gleich reaktionär. Ein Film, der das Distributionssystem, die herkömmliche Dramaturgie, die Leute, deren Bewußtsein er für den Krieg verantwortlich macht, beschimpft und bespuckt und beleidigt, bleibt ebenfalls reaktionär: weil auch er sich elitär abkapselt, und dann aber auch, weil er eben ein Film ist, weil sein Realisator mit ihm Selbstbefriedigung getrieben hat, weil er sich dem Irrtum hingegeben hat, ein Film könne überhaupt ein taugliches Mittel zur Beendigung eines Krieges sein, er also nur eine Ersatzhandlung vollzog, über der er die eigentlich effektive Aktion versäumte. Unrichtig ist das alles nicht. Unter irgendeinem Gesichts197
punkt erscheint alles und jedes auch immer als etwas ganz anderes. Alles läßt sich in den Strudel der dialektischen Umdeutung reißen. Nur bleibt dem Dialektiker am Ende dann auch selber nichts mehr in der Hand, und was ihm zu bleiben scheint, dialektisiert ihm der Genosse weg. Darum ist die Kritik, die akrobatisch nach Gesichtspunkten sucht, unter denen sich etwas abwerten läßt – denn darauf läuft die dialektische Kritik meist hinaus – , auf die Dauer sehr unbefriedigend. Wer aber in jener Logik bis zu Ende geht, wer nicht irgendwo unterwegs abgesprungen ist und sich dabei an der Behauptung festhält, es sei etwas doch, was es scheine oder nach seinem eigenen Verständnis sein wolle, der wird Filme machen höchstens noch, um die Unmöglichkeit und das Verbrecherische des Filmemachens nachzuweisen, er wird Theorien darüber entwickeln, daß der nötige Film jedenfalls kein Film mehr sein könne, er wird seine Apparate zerschlagen. Am Ende: die Selbstzerfleischung, die große Liquidierung der elitären, der uneffektiven, der ästhetizistischen Kunst, das Autodafé: »Schluck es, schluck es, schluck es, Hund.« Das Schlimmste ist, wie bekannt, die Autorität. Autoritär aber ist jeder Autor (wie übrigens schon das Wort Autor nahelegt): Er verfügt anmaßend über sein Material, er tritt seinem Publikum schon dadurch autoritär gegenüber, daß er ihm seine Weise der Herrschaft über ein Material vorführt, ohne daß es auch nur widersprechen könnte. Die Kulturrevolution hätte also den Autor als autoritäre Charaktermaske abzuschaffen; die demokratische Kunst danach hätte eine 198
do-it-yourself-Kunst zu sein, die gleichzeitig die aus der arbeitsteiligen Gesellschaft (hier Produzent, dort Konsument) erwachsende Entfremdung beseitigt und die Bildungs- und Besitzprivilegien liquidiert – nicht, wie jemand naiv meinen könnte, indem die Privilegien allgemein werden und damit verschwinden, sondern andersherum, durch die Liquidation von Bildung und Besitz. Solche Gedankenwege gebe es nicht, sie seien das ironische Räsonnement eines ausgelaugten Bürgers? »Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem General, einem Generaldirektor, einem Pfarrer, einem Bürokraten und einem Dichter, wie ich einer war, deshalb gehören sie meines Erachtens alle abgeschafft. Ich glaube, die Menschen müssen lernen, sich selbst zu verwalten, sich selbst zu regieren und ihre eigene Dichtung zu machen« (Peter O. Chotjewitz, Dichter, in einem NDR-Interview). Eins werden dieses Denken und diese Sprechweise jedoch selten: banal. »Ich glaube, daß die eingeborene Eigenschaft der, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, ›Anti-Banalität‹ dialektisch-paradoxen Sprechens uns den Schlüssel an die Hand gibt zum Verständnis wenn nicht der Dialektik, so doch ihres Jargons«, schrieb Jean Améry in seiner umsichtigen wie reservierten Studie über den »Jargon der Dialektik«, der ich viele Anregungen verdanke. Ein Jargon also? Die Vokabeln des kritischen Idioms werden leicht zu Wortfetischen, denen man sich nur noch gläubig nähern darf. Sie stellen häufig bloße Signale einer irgendwie gearteten progressiven Gesinnung dar, denen konkrete Inhalte nur noch schwer zuzuordnen sind. Aus 199
einem in diesem Idiom verfaßten Text ist häufig nur noch herauszulesen, was an Überzeugung hineingesteckt wurde, nichts aber mehr über die in Rede stehenden Sachen. Das Idiom liefert vorzugsweise riskant spekulative und allgemeine Analysen, durchschaut, ohne erst lange hinzuschauen. Und weil es gern jede Positivität verschmäht, erzeugt es oft eine eigentümliche Haltlosigkeit, in der alles zu wanken beginnt, am Ende nichts mehr auf den Füßen steht und auch niemand mehr anzugeben wüßte, was unten und was oben ist. Außerdem ist es ein sehr hochmütiges Idiom. Der Ausstellungsbesucher, der sich etwa über das »Menschenbild der Pop-Art« orientieren möchte, dürfte nur mit einem Ächz! Würg! reagieren, wenn er im Katalog auf Sätze wie diese (von Rolf-Gunter Dienst) stößt: »Eine soziologische Bewußtheit, die nicht nur von der Erkenntnis einer langsam effektiv werdenden Reflexionsübertragung bedrängt wird, sondern auch ihre gesellschaftlichen Möglichkeiten in ihrem eigenen Bereich erkennt, wird zum Bestandteil einer Kunst, die sich nicht nach dem kommerziellen Gesichtspunkt ihrer demokratisch regulierbaren Brauchbarkeit richten muß.« Und es ist leicht vorstellbar, welche Reaktionen ein Buchhändler auslöste, der etwa einer Krankenschwester in seinem Laden dieses sagte: »Ihr Kaufwunsch an sich und im besonderen verrät falsches, weil regressives Bewußtsein, da er nur in diesem System interiorisierter Repressionen verständlich wird, das es im überschreitenden Reflektieren gerade zu entschleiern und zu zerschlagen gilt.« 200
Prognosen über seine Zukunft sind heute schwer abzugeben. Vermutlich wird es sich, um zu überleben, differenzieren und mit einiger Positivität aufladen müssen; es wird auch etwas von seiner Banalitätsfurcht ablegen und entgegenkommender werden müssen. Auf jeden Fall hat es fürs erste den verblasenen Jargon der Eigentlichkeit weitgehend verscheucht, Kulturelles auf die Tatsächlichkeiten unserer Industriegesellschaft bezogen, die Ideologie der Ideologiefreiheit unmöglich gemacht und für einen merklichen Realitäts- und Rationalitätszuwachs gesorgt. Mit dem Inhalt hat es auch das Klima vieler Kulturdebatten drastisch geändert, so sehr, daß heute auch bare Schimpfwörter (Schwein, Arschloch, Hosenscheißer) dazugehören, zum Zeichen, daß nun nichts mehr geschont werden soll – ja, daß die Respektierung »abstrakter Regeln des Anstands und der Fairness« nur ein raffiniertes Instrument der Herrschaft akzeptierte und bestätigte und somit von vornherein verwerflich wäre: die Beleidigung und Beschimpfung als revolutionärer und damit potenziert humaner Akt. Überhaupt erprobt die neue Sprache teilweise von neuem die Gewalt. Zarte Belletristen demaskieren und liquidieren – wen? Lakaien, Marionetten, Charaktermasken. »Der Schrecken im Gewand des Feuilletons klingt immer irgendwie unglaubwürdig. Vielleicht zu Unrecht. Vielleicht merkt selbst der Verfasser erst post festum, daß es einmal wieder genau so gemeint war, wie es geschrieben ist« (Heinrich Popitz).
201
Kulturprodukte treten auch als Waren auf einem Markt auf. Ob sie das bis ins letzte bestimmt; ob irgend Verhältnisse denkbar sind, die sie von ihrem Warencharakter befreiten; ob die ganze Kunst abschaffen muß, wer ihren Warencharakter nicht in Kauf nehmen will – das gehört in einen anderen Zusammenhang. Jedenfalls wollen Kulturprodukte für sich werben, sie wollen verkauft werden, sie wollen sich gegen andere durchsetzen. Industrien sind mit ihrer Verbreitung beschäftigt. Sprache im Kulturbetrieb verfolgt dann und wann rundheraus merkantile Zwecke. Selbstanzeigen, Kinoreklamen, Werbebroschüren, Klappentexte sind aus ihr nicht wegzudenken. Vielleicht ist sogar die Sprache des Klappentextes das beste vorhandene Barometer für den Stand der Sprache des Kulturbetriebs. Der Klappentext, da er verkaufen will, horcht die jeweils aktuellen Tendenzen am hellhörigsten und am nachgiebigsten ab. Eine Analyse der Sprache des Klappentextes müßte zutage fördern, wie sich das Selbstverständnis der in dieser Branche Tätigen gewandelt hat, welches ihre jeweils tonangebenden Präokkupationen waren. »Der heute wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge heißt Reklame. Sie reißt den freien Spielraum der Betrachtung nieder und rückt die Dinge so gefährlich nah uns vor die Stirn, wie aus dem Kinorahmen ein Auto, riesig anwachsend, auf uns zu zittert. Und wie das Kino Möbel und Fassaden nicht in vollendeten Figuren einer kritischen Betrachtung vorführt, sondern allein ihre sture, sprunghafte Nähe sensationell ist, so kurbelt echte Reklame die Dinge 202
heran und hat ein Tempo, das dem guten Film entspricht«, schrieb Walter Benjamin 1928. Diese sture, sprunghafte Nähe, die keinen freien Spielraum der Betrachtung zuläßt, erzeugt die Sprache im Kulturbetrieb immer wieder. Auch die Kritik, die sich gerne als eine Art Marktpolizei versteht, operiert ungeniert mit Vokabeln, die keinen Betrachtungsspielraum lassen, sondern ihrem Leser die Dinge fordernd nahe rücken: einmalig, gekonnt, stupend, faszinierend, überzeugend, konkurrenzlos, fesselnd, packend, virtuos, originell, groß (oder die entsprechenden Verneinungen) – Aussagen, die ihrerseits unmittelbar verwertbar werden für die Klappentextschreiber, welche sich begierig auf sie stürzen, wenn es für das nächste Produkt des nämlichen Urhebers Reklame zu machen gilt. Unehrlich oder schmählich ist solche kritische Praxis übrigens nicht, wo die Kritik, wie heute, kaum auf umfassende Theorien gegründet sein kann, die ihre Urteile begründen könnten, und sich also notwendig im Raum persönlicher Anmutungen bewegt. Daß ein Kritiker einem Buch eine spannende Mischung aus männlicher Herbheit und weiblicher Spröde nachsagt, verrät nichts über die komplizierten Vermittlungen, über die ein Urteil wie spannend zustande kommt; aber es verrät etwas über den Assoziationshaushalt des Kritikers, über seinen mutmaßlichen Zustand während der Lektüre, und insofern seine Anmutungen, seine Erlebnisweise Anteil haben an den Anmutungen seines Publikums, verrät es außerhalb jeder Theorie sogar Informatives über das fragliche Buch. Auf weite Strecken ist die Sprache 203
des Kulturbetriebs heute die Sprache solcher Anmutungen. Die ihr zugrunde liegende Denkfigur ist: »Es kam mir irgendwie vor wie …« »Wir alle wissen«, schrieb Leo Spitzer, »daß die angepriesenen Güter durchaus erstklassig sein mögen, daß aber die bessere Welt, die in der Werbung evoziert wird, ein Land des Niemals ist.« Werbung in der Sprache des Kulturbetriebs evoziert diese bessere Welt in der Regel indirekt. Direkt pflegt sie zu sagen, daß die Welt in aller ihrer Schlechtigkeit im vorliegenden Werk zum ersten Mal ganz durchschaut wurde – keine sunkist groves of California laden da ein. Aber indem das Werk diese Entlarvung auf künstlerisch vollkommene Weise geleistet haben soll, wird der Schlechtigkeit der Welt die Gegenwelt künstlerischer Vollkommenheit gegenübergestellt. Ergebnis des Manövers: Eine schlechte Welt, die eine solche Be-meisterung zuläßt, ist nur noch halb so schlimm – also kauft, und ihr dividiert euer eigenes, reales Unglück. Und unter Umständen hat diese Werbung sogar recht; vielleicht hat sie so sehr recht wie die Werbung für einen tatsächlich guten Markenartikel. Um das eine anzupreisen und das andere zu verwerfen, braucht die Sprache nur die emotionale Aura auszunutzen, die vielen Wörtern eigen ist. In diesem Gefühlshof um die Wörter (ihrer, nach Hayakawa, »intensionalen« Bedeutung) versteckt sich in der Regel das Urteil, teilweise unbemerkt, so daß sich weder Schreiber noch Leser darüber klarwerden. Man braucht nur eine simple und affek-tiv relativ unbelastete Aussage zu nehmen und zu sehen, was sich mit ihr an204
stellen läßt, wenn man ihren extensionalen Inhalt beibehält, aber durch Variierung der Gefühlsaura die intensionale Bedeutung zum Spielen bringt. Diese so häufige demagogische Manipulation verläßt sich darauf, daß der Bedeutungskern ja nicht angetastet wurde, die Aussage also »nicht gerade falsch« wird; daß hingegen der Gefühlsnimbus zu ungreifbar ist, als daß sein Autor dafür haftbar gemacht werden könnte. (Nicht auf die – weder mögliche noch wünschenswerte – Beseitigung solcher affektiven Konnotationen käme es an, sondern auf die Schärfung des Sinnes dafür.) Der neutrale Satz: »Der junge Autor hat einen Roman geschrieben, der neuere Stilmittel verwendet.« Und nun: »Der Dichter hat ein Kunstwerk geschaffen, das wahrhaft modern genannt zu werden verdient.« »Der Autor hat unter effizienter Ausnutzung progressiver Techniken einen provozierend modernen Text hergestellt.« »Der Nachwuchsschreiber hat einen sogenannten Roman von penetrant modischem Gehabe verfertigt.« Und so fort, in beliebigen Mischungen. Es gibt Wörter, die Sachlichkeit und Polemik in sich vereinen und in feuilletonistischen Kontroversen darum unentbehrlich sind. Ein solches ist hochloben. Es kommt zum Einsatz, wenn man nicht unterschlagen kann, daß derjenige, den man gerade verächtlich machen will, sonst nicht gerade auf Ablehnung gestoßen ist. Er wurde gelobt, ja – ist es nicht fair, dies sogar ausdrücklich zu konstatieren? Aber hochge205
lobt: das insinuiert ein Nichts, das nur durch die unsauberen Machenschaften der Lober nach oben gespült wurde. Ein anderes ist selbsternannt: Er ist das selbsternannte Gewissen der Nation, hält man dem entgegen, der moralische Bedenken erhebt -eine kuriose Beanstandung, die so tut, als wüßte sie nicht, daß kein Mensch je zum moralischen Lehrmeister des Volkes ernannt wird, und als ließe sie sich etwaige Belehrungen nur zu gern gefallen, läge nur eine amtliche Erinnerungsurkunde vor. Aber »richtig« ist der in ihr zum Ausdruck kommende Einwand schon: Es hat ihn tatsächlich niemand ernannt. Beliebt ist auch der simple Dreh, Adjektive, die solches zulassen, durch die Anfügung des Suffi xes -istisch in Beleidigungen zu verwandeln. Jemand ist liberal, und das mißfällt? Dann nenne man ihn einfach liberalistisch. So läßt sich aus legal ein legalistisch, aus modern ein modernistisch, aus biologisch ein biologistisch machen, und die Form ist gewahrt, die Aversion aber deutlich zum Ausdruck gebracht. Wären die regelmäßig so abgekanzelten Verhaltensbiologen in Pressefehden geübt, sie hätten sich längst mit soziologistisch oder philosophistisch revanchiert. Das Wort Kultfilm wurde einmal gebildet, um Phänomene wie »The Rocky Horror Picture Show« oder »Harold und Maude« zu bezeichnen: Filme, die ein kleines, aber unentwegtes Publikum gefunden hatten, welches sie sich immer und immer wieder ansah. Dann wanderte das Wort in die Werbesprache. Heute werden manche Filme offenbar gleich als Kultfilme gedreht, manche Bücher als Kultbücher ge206
schrieben. Es heißt nur: Ihre Produzenten hätten es gern, wenn sie eine zahlende Gemeinde fänden. Was ist verkäuflich? Wie ist es zu verkaufen? Verbindliche kulturelle Werte scheint es ja nicht zu geben, abgesehen von den Stichworten der jeweils vorherrschenden »Bewegung«. Also kann auch die Abschaff ung der Kultur als ganz supremer Wert angeboten werden. Die verschiedensten Werte konkurrieren miteinander, treten sich gegenseitig auf die Füße und merken es in dem immer eiligeren Geschiebe oft nicht einmal. Immer hastiger werden vergangene Stile herbeizitiert: Vorgestern war der Jugendstil wieder »in«, gestern die Arbeiterbewegung, heute sind es die fünfziger Jahre, heute abend werden vielleicht schon die Oldies und Evergreens der vorletzten Hitparade nostalgisch rekapituliert. Der einzige Wert, der mit einiger Verbindlichkeit auftritt, ist die Veränderung an sich, egal wozu, egal wie. Und dann hat jeder Moment seine Vokabeln, die Ehrfurcht gebieten und jeden Text zieren. Vor einigen Jahren gehörten Kritik und Revolution dazu -was für Revolutionen wurden nicht alles ausgerufen, von der Revolution in der Bühnentechnik über die des Herzens bis zu der im Kochtopf. Derzeit sind es neben der adelnden Allzwecksilbe öko- unter anderem Mythos, Utopie, Traum, und sie werden schnell heruntergewirtschaftet sein: der Mythos zu einer Geschichte, die einem irgendwie nicht ganz geheuer ist, die Utopie zu einem piefigen Wunsch (meine Utopie ist: ein Gläschen Weißherbst und das heitere Beruferaten), der Traum zu einer beliebigen Spinnerei. 207
Das ist also in der Tat eine Art Warenhaus der Kultur. Alle Abteilungen sind wohlsortiert, Novitäten und Sonderangebote locken, in schöner Regelmäßigkeit veranstaltet jemand eine Aktion (heute »Afrikanische Literatur«, morgen »Strafgefangenenlyrik«), alles bietet sich an, und zwar immer mehr, da neben der steigenden zeitgenössischen Produktion die Erzeugnisse aus immer ferneren Fernen zeitlicher und räumlicher Art angeliefert werden, alles wird in jener ungerührten Anspruchshaltung entgegengenommen, die den Herstellern rügend entgegenhält: Nicht immer das gleiche, Mensch, das habe ich satt; leide mal kräftig, dann gelingt dir vielleicht wieder ein Verschen, das mich ergötzt! Erlaubt ist alles. Daß irgendwo wieder einmal ein angebliches Tabu gebrochen wird, schafft sogar einen zusätzlichen Anreiz, ist mittlerweile aber ein etwas schal gewordener Werbespruch, denn soviele Tabus, wie sich einträglich brechen ließen, gibt es gar nicht. Der Skandal ist das reine Vergnügen. Das wird Ärger machen ist ein besonderes Lob, um so besserer Laune vorgetragen, als die, die solcherart loben, sich selber gewiß nicht ärgern. Die Formel kündigt meist gar keine Unannehmlichkeiten an. Sie ist nichts als eine Ermächtigung zur Schadenfreude. Diejenigen, die sich bestimmt nicht ärgern werden, dürfen sich über die hypothetischen anderen freuen, denen das betreffende Werk eigentlich schlecht bekommen müßte; nur daß die, sofern es sie überhaupt gibt, gar nicht daran denken, Geld und Zeit für das ihnen zugedachte Ärgernis aufzubringen. »Prinzipiell fällt nichts Oppositionelles mehr aus dem Produktionsprozeß der Kulturindustrie her208
aus. Weil aber alles möglich und interessant ist, wird es auch beliebig. Beim Adressaten wird eine Haltung indifferenter Neugier eingeübt, die ich nicht vorurteilslos nennen möchte, weil nichts bis zur Schicht der Vorurteile durchdringt« (Dieter Wellershoff ).
Half of what I say is meaningless. John Lennon Leben ohne zu sprechen wäre doch angenehm. Nana S.
Die Sprache im Kulturbetrieb hat mit einem besonderen Handicap fertig zu werden, das die Sprachen anderer Betriebe nicht kennen, nicht die des Sports, nicht die der Politik, nicht die der Wirtschaft. Es handelt sich um ein kompliziertes Syndrom, das ich als Aphasie-Angst bezeichnen möchte: Angst vor dem Sprachverlust. Alexander Kluge brachte den Sachverhalt in einem der Sprüche der Leni Peickert auf die kürzeste Formel: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« Die Aphasie-Angst, wo sie vorhanden ist, ist verschieden begründet und verschieden beschaffen. Gemeinsam ist allen ihren Symptomen, daß das naive Vertrauen in die selbstverständliche Angemessenheit der Sprache eingebüßt wurde. Wo andere allenfalls fragen, ob es in einem Satz sei oder wäre heißen müsse, können die Leute des Kulturbetriebs, schon 209
von der Beschäftigung mit ihren Gegenständen her, nicht umhin, Zweifel ganz anderer Art mit sich herumzutragen. Zum einen ist da das Mißtrauen gegen abstrakte Begriffe. Das war der Fall des Lord Chandos, wie Hofmannsthal ihn beschrieb: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen … Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben; zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze … Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.« Realität, Wirklichkeit, Gesellschaft, Kultur, Kunst, Bewußtsein, Struktur, Form, Inhalt, Witz, Spannung, Kitsch, Quatsch … und was ist das alles? Wir hantieren ganz flott mit diesen Begriffen, sie sind uns willig zu Diensten, ohne sie könnten wir ja gleich einpacken, und so ungefähr denken wir uns eine Bedeutung dazu. Aber keiner dieser Begriffe verträgt, daß man ihn näher ansieht, oder er starrt so bösartig zurück, daß es einem kalt den Rücken herunterläuft, denn sein Blick bedeutet: Sie, mein Herr, meine Dame, haben ja keine Ahnung. Neben dem Begriffszerfall ist es vor allem der Automatismus des Sprechens. Die Sprache als ein abgeklappertes Instrument, das notwendig banale und immer verbrauchtere Töne erzeugt: »Als äußerte sich die Fülle der Seele nicht zuweilen durch die leersten Metaphern, da niemand jemals das genaue Ausmaß seiner Bedürfnisse, seiner Vor210
stellungen, seiner Schmerzen mitzuteilen vermag und da die menschliche Sprache wie ein rissiger Kessel ist, auf dem wir Melodien hämmern, als sollten Bären nach ihnen tanzen, während man doch die Sterne rühren möchte« (Gustave Flaubert in »Madame Bovary«). Eugène Ionesco zu seinem ersten Bühnenstück, der »Kahlen Sängerin«: »Der Text der ›Kahlen Sängerin‹ oder des Lehrbuchs, das Englisch (oder Russisch oder Portugiesisch) beibringen soll, zeigte mir mit seinen fixfertigen Formulierungen und den ausgewalzten Klischees, aus denen er zusammengesetzt ist, die Automatismen der Sprache und des menschlichen Verhaltens. Er führte mir das ›Reden, ohne etwas zu sagen‹ vor Augen, das Reden, weil es nichts Persönlicheres zu sagen gibt, das Fehlen eines Innenlebens, den Mechanismus des Alltäglichen und den in seinem sozialen Milieu befangenen und aufgehenden Menschen. Die Smithens und Martins können nicht mehr sprechen, weil sie nicht mehr denken können. Sie können nicht mehr denken, weil sie nichts mehr bewegt.« Während sich Ionesco immerhin noch den Gegensatz dazu vorstellen kann, das authentischer gedachte und gefühlte Sprechen, äußerte der junge Peter Handke einen radikaleren Verdacht: Wir könnten ganz aus präfabrizierten Sprachelementen montiert sein. »Ich habe die Regeln der Sprache nicht beachtet. Ich habe Sprachverstöße begangen. Ich habe die Worte ohne Gedanken gebraucht. Ich habe den Gegenständen der Welt blindlings Eigenschaften gegeben. Ich habe den Worten für die Gegenstände blindlings Worte für die Eigenschaften der Gegenstände gegeben. Ich habe mit 211
den Worten für die Eigenschaften der Gegenstände blindlings die Welt angeschaut. Ich habe die Gegenstände tot genannt. Ich habe die Mannigfaltigkeit bunt genannt. Ich habe die Traurigkeit dunkel genannt. Ich habe den Wahnsinn hell genannt. Ich habe die Leidenschaft heiß genannt. Ich habe den Zorn rot genannt. Ich habe die letzten Dinge unsagbar genannt …« Hier unsere Empfindungen, Gefühle, Intuitionen, das, was wir wissen, ohne daß es uns jemals verbalisiert einfällt – dort unsere Sprachproduktionen: Gerade wer sich von Berufs wegen bemüht, beides halbwegs zur Deckung zu bringen, bleibt sich des Grabens dazwischen bewußt. Borges zitiert eine Bemerkung von G. K. Chesterton als »das Klügste, was man über die Sprache sagen kann«: »Der Mensch weiß, daß es in der Seele Schattierungen gibt, die beunruhigender, zahlloser und namenloser sind als die Farben eines Herbstwaldes … Dennoch glaubt er ernsthaft, daß diese Schattierungen in all ihren Mischungen und Übergängen durch einen willkürlichen Mechanismus von Grunz- und Krächzlauten wiedergegeben werden können.« Radikalerer Argwohn noch sieht den Menschen als einen Automaten, der sich nicht der Sprache bedient, um sich auszudrücken: Vielmehr drückt sich die Sprache durch den Menschen aus. Nicht sie wäre sein Werkzeug, sondern er das ihre. Diesen Zweifel hat der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson ausgesprochen, unter Hinweis auf Noam Chomsky, der die Grammatik als eine Art imaginärer Maschine vorstellte, welche aus dem Chaos aller möglichen 212
Artikulationen grammatikalische Sprache erzeugt: »Wem dieser Gedanke vertraut geworden ist, der kann sich schwer von der Vorstellung freimachen, daß unseren Worten und unserem Sprechen etwas Mechanisches und gleichsam Unpersönliches anhaftet, als wären nicht wir es, die unsere Gedanken hervorbrächten, sondern als dächte die Sprache in uns, und als liehen wir bloß einer größeren, unübersehbaren sprachlichen Struktur unsere Stimme … oder … als wäre die Sprache ein enormer, unsichtbarer mechanischer Prozeß. Es gibt wohl keinen Menschen, der nie erfahren hätte, mit welch paradoxaler Selbständigkeit die Wörter in uns leben und denken, und der es nicht am eigenen Leib erlebt hätte, wie diese Objektivität der Sprache uns mit fremden, entfernten oder halbvergessenen Gedanken, mit verschwundenen historischen Erscheinungen und mit Haltungen behaftet, die uns völlig fremd sind.« Von solchen Einsichten bedrängt, produzieren die Sprecher des Kulturbetriebs selber Sprache. Sie haben meist ihr Chandos- oder Artaud-Erlebnis hinter sich; und nun sitzen sie in den Redaktionen und Lektoraten und müssen so tun, als hätten sie sich ein ungebrochenes Verhältnis zum eigenen Sprechen gerettet. Man könnte ihren ganzen scheuen, ironischen, komplizenhaften Habitus aus diesem Dilemma ableiten wie aus dem anderen: daß sie zu einem großen Teil Sprache immer nur über Sprachliches hervorbringen und nur mit Spiegelbildern der Wirklichkeit Umgang haben. Wo der Kulturbetrieb nicht Sprachliches zum Gegenstand hat, ist er noch viel direkter von der Sprachlosigkeit bedroht. 213
Da einfach nicht verbalisierbar ist, was beim Anhören einer Musik oder beim Betrachten eines Bildes im Bewußtsein geschieht, gibt es auch wenig Möglichkeiten, darüber zu sprechen. Mir fehlen einfach die Vokabeln: die übliche Klage eines ehrlichen Kunst- oder Musikkritikers. Zur Beschreibung seiner Gegenstände muß er vage generalisieren (prägnante Strukturen, frappante Verwischungen, mokante Rubati) oder vage vergleichen (Erinnerungen an submarine Szenerien). Diese Schwierigkeiten erklären auch, warum die Sprache des Kulturbetriebs insgesamt weniger standardisiert ist als die Sprache anderer Bereiche und sich immer wieder Extravaganzen leistet, über die die Kollegen aus den anderen Sparten nur mitleidig oder indigniert die Achseln zucken. Sie fürchtet nichts wie das Klischee, das automatische Sprechen, und dieser Horror ist selber zum Klischee geworden. Es erklärt weiter die vielerlei Ironien, Distanzierungen und Brechungen, mit denen sich diese Sprache des schlechten Gewissens von sich selber zu distanzieren wünscht – als würde vieles nur sozusagen gesagt, in Anführungszeichen nur und weil die Zeit drängt und das Geld verdient sein will und etwas sich ja immerhin auch provisorisch sagen lasse. Das Fazit? Kein Fazit. In der Sprache des Kulturbetriebs würde es zum Beispiel heißen: »Einige solcher Beispiele sagen mehr als manches dicke wissenschaft liche Werk.« Oder: »Das ist unbequem.« Oder: »Das läßt aufhorchen« – als wäre der Normalzustand im Kulturleben der Schlaf. Oder: »Das stimmt einen nachdenklich« -als wäre Nachdenken eine dumpfe, brütende Stimmung, ausgelöst durch einen Denk214
anstoß, der eine Art geistiger Tritt in den Hintern zu sein scheint. Wir wissen oder ahnen, daß wir uns in Gefahr begeben. Aber wir reden. Lysol, ja Lysol.
WÖRTER UND FAHNEN Politik als Sprachkampf
D
ie politische Auseinandersetzung ist, unter anderem, auch ein Sprachstreit. Nicht ein Streit mit Hilfe von Worten, sondern ein Streit um Worte. Jenem Machthaber gehöre die Zukunft, der neue Sprachregelungen durchsetzen könne, schrieb Nietzsche einmal. Und Friedrich Heer: »Jeder weltgeschichtliche Kampf ist Kampf um Machtübernahme in der Sprache.« Denn Wörter, und vor allem die großen Wörter, die gefühlssatten Kolossalbegriffe wie Freiheit, Frieden, Demokratie, Volk, Sozialismus, bezeichnen nicht nur, worum gestritten wird. Sie sind nicht nur Mittel. Sie gehören selber zum Besitz, sind Teil der Sache, um die die Auseinandersetzung geht. Der Streit um Worte ist nicht ein Streit nur um Worte und als solcher überflüssig, er ist ein Streit um ein Stück Eigentum der streitenden politischen Faktionen: um ihr verbales Eigentum. Dieses verbale Eigentum ist der Gruppe so wichtig, weil es Gemeinsamkeit schafft, ganz wie anderes immaterielles Eigentum, Fahnen, Lieder, Gesten, Embleme, Kleidung. Sehr genau hat dies der Philosoph Hermann Lübbe einmal gesehen und beschrieben: »Es handelt sich … keineswegs um schlechterdings sinnleere sprachliche Elemente; sie alle haben Deutlichkeit genug, um Freund-Feind-Gruppierungen 219
sichtbar zu machen oder zu stiften. Man ist in Solidaritäten eingewiesen. Es sind politische Kategorien, die zu sagen erlauben, was man solle und wer man sei, und sie treffen wichtige Unterscheidungen. Dabei ist die geringe Präzision dieser Begriffe kein Mangel, sondern Bedingung ihrer politischen Wirksamkeit. Ihre hohe Allgemeinheit erlaubt es nämlich, sie durch geeignete Interpretationen an Unvorhergesehenes anzupassen … Der Kampf gegen den politischen Gegner wird nicht zuletzt geführt als Kampf gegen seinen politischen Sprachgebrauch.« In den Wahlkampf 1976 zog die CDU/CSU mit dem Slogan Freiheit statt Sozialismus. Sehr sinnvoll war seine Aussage nicht. Zum einen, weil es Begriffe sehr unterschiedlicher Dimension waren, so daß ihre Gegenüberstellung klang wie Sommerurlaub statt Scheuersand. Zum andern, weil er unterstellte, der politische Gegner strebe sozialistische Sklaverei an – eine Verdächtigung, die selbst der schwärzeste Unionswähler für eine gelinde Verkennung der Realität gehalten haben muß. Dennoch war der Slogan vermutlich wirkungsvoll. Er war nämlich gar keine Aussage, sondern eine Schaustellung. Eine Gruppe marschierte auf und führte vor, daß sie im Besitz der Wortfahne Freiheit war; dem Gegner heftete sie den Wortwimpel Sozialismus an den Rücken. Der Politologe Wolfgang Bergsdorf notiert dazu, daß in demoskopischen Umfragen des gleichen Jahres Freiheit als der mit Abstand sympathischste politische Begriff dastand – 93 Prozent der Deutschen zogen ihn jedem andern vor. Dagegen hatte Sozialismus den Deutschen seit 1961 immer negativer 220
in den Ohren geklungen. Die Parole konfrontierte nicht zwei politische Programme. Mit ihr reklamierte eine Partei einen in diesem Zusammenhang nahezu sinnleeren, aber jedenfalls hochsympathischen Großbegriff, der bis dahin allen gehört hatte, für sich allein. Die SPD antwortete mit Freiheit und Sozialismus und gab damit kund, daß sie sich das Logo Freiheit nicht wegnehmen lasse. Hätte sie sich rabiater wehren wollen, so hätte sie ihrerseits dem Gegner die Besitzrechte an dem Wort Freiheit streitig machen müssen, mit einer Parole wie Freiheit statt Unternehmerfilz. Wörter als Dinge: Das sind nicht nur derlei fahnenhafte Gruppensymbole. Wörter können auch Schleier sein. Auftrag, Dienst, Arbeit, Pflicht, Verantwortung lassen sich wie Schleier über schlechthin alles breiten, was der Politiker im einzelnen tut. Wir haben einen Auftrag bekommen und tun jetzt unsere Pflicht: Das teilt nur mit, daß irgend etwas gemacht werden soll, daß dieses Irgendetwas aber von vornherein den höchsten Respekt beansprucht, welchen solche weihevollen Wörter heischen. Ich übernehme die Verantwortung sagt der Politiker gern, wenn er sie sowieso hat und nichts daraus folgt. Wörter oder ganze Netzwerke von Wörtern werden angeschwärzt, um ihnen die Zustimmung zu entziehen und diese auf die eigenen Wörter herüberzuziehen. Wörter rempeln Wörter an, um sie als unterlegen und eklig erscheinen zu lassen. Erfolgreiche Wörter, die eine zu stabile positive Bedeutung besitzen, um sie mit Aussicht auf Erfolg schlecht zu machen und zu verdrängen, werden dem Gegner entwun221
den, umgedeutet und dem eigenen Vokabular einverleibt. Da es sich in der Regel um sehr weite und verschwommene Begriffe handelt, denen man viele Bedeutungen entnehmen oder unterschieben kann, ohne sie allzu offensichtlich zu verdrehen, ist diese Operation nicht besonders schwierig und recht aussichtsreich. Selbst ein Polizeistaat gewährt seinen Bürgern irgendwelche Freiheiten und kann mit einiger Sophistik erklären, Garant der wahren Freiheit zu sein; auch Hitler sprach vom Freiheitskampf des deutschen Volkes (gegen den Schandfrieden von Versailles). Jede politische Bewegung hat ihre Wörter, und je ausschließlicher ihre Macht wird, desto ausschließlicher herrscht auch ihre Sprache. Am Ende sprachlicher Entdemokratisierung steht unweigerlich der »Zwang, sich zu bestimmten Vorgängen in einem bestimmten Vokabular zu äußern« (Heinrich Böll). Dem Gegner wird mit der Verfemung oder Enteignung seiner Sprache eines seiner Gemeinsamkeit schaffenden Gruppensymbole genommen und seine spezielle Beziehung zur Wirklichkeit zerstört. »Die nazistische Sprache«, stellte ihr geheimer Archivar Victor Klemperer fest, »ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.« Wer die Macht hat, hat 222
in einiger Hinsicht auch die Macht über die Sprache; und wer die Macht über die Sprache hat, befestigt seine politische Macht. Die Sprachregelungen, die zu erlassen jeder gutorganisierte Polizeistaat für notwendig hält, reglementieren nicht notwendigerweise das Denken; aber sie legen fest, welche Gedanken öffentlich werden können – und wenn in der Öffentlichkeit nur noch bestimmte Gedanken in bestimmten Wörtern und Wendungen vorkommen, kann niemand sich deren Allgegenwart entziehen und wird sie auch selber benutzen. Wer aber den Sprachgebrauch des Gegners übernimmt, läßt ihn ein in seinen Kopf. »Neusprech«, so heißt es in Orwells »1984«, »sollte nicht nur ein Ausdrucksmittel für die … gemäße Weltanschauung und Geisteshaltung bereitstellen, sondern auch alle anderen Denkweisen unmöglich machen. Es war geplant, daß … ein ketzerischer Gedanke … buchstäblich undenkbar sein sollte, insoweit wenigstens, als Denken an Worte gebunden ist.« Nach dem Militärputsch von 1973, so berichtet Isabel Allende, wurden in Chile Wörter wie Freiheit oder Genosse verboten. Der letzte große Sprachkampf in Deutschland wütete, als die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre mit ihrer scharfen, schneidenden Sprache zum Sturm auf die recht laxe und trottelige Sprache jener Kreise ansetzte, die seitdem das Establishment heißen. Plötzlich wurde verklärt, was vorher ein bescheidenes Schattendasein geführt hatte: Kritik. Es war die Zeit, als das Wort kritisch noch nicht 223
gleichbedeutend war mit »besonders unkritisch irgendwelche modischen fortschrittlichen Parolen nachbetend«, sondern einige eigene und originelle Gedankenarbeit versprach. Plötzlich wurde die Gesellschaft in Kategorien von Herrschaft, Autorität, Repression, Ausbeutung und deren Abschaffung (Emanzipation) beschrieben. Die Tatbestände, die damit benannt werden sollten, waren alles andere als neu; erst recht wurden sie nicht von dieser Sprache geschaffen. Sie holte sie nur aus dem Dunkel des bis dato nur diffus und matt Bezeichneten und lenkte so die Aufmerksamkeit darauf. Despotische Lehrer waren schon lange ein persönliches und seit einiger Zeit auch öffentliches Ärgernis gewesen. Indem ihre Manier jetzt aber plötzlich als Unterdrückung oder Repression bezeichnet und damit der politischen Tyrannei gleichgestellt wurde, wurde eine Empörung mobilisiert, die es vordem nicht gegeben hatte. Indem aber das Kleine groß benannt? wurde (jeder Huster gleich eine politische Tat), leierten die Begriffe aus; es blieben keine übrig, die wirklich »großen« Tatbestände zu bezeichnen. So schaufelte sich dieser Sprachgebrauch schnell sein eigenes Grab. Die Oppositionsbewegung jenen Stils zerfiel, ihre Reizworte verloren an Reiz. Eine zunächst triumphale neue Sprache, die einen unerhört neuen und machtvollen Zugriff zur Wirklichkeit versprochen hatte – jede Vokabel ein emphatischer Aufruf zum Handeln (»du mußt dein Leben ändern!« – denn da ist kein Wort, das dich nicht prüft) – , geriet in Bedrängnis – oder auch ganz unbedrängt, in sich erschlaffend, in Vergessenheit. 224
An zwei Beispielen aus dem Jahre 1977 läßt sich die Technik des politischen Sprachkampfs genauer studieren. Das eine ist ein von ›Le Monde‹ auf der ersten Seite veröffentlichter Artikel, in dem der Dichter Jean Genet dem Terrorismus das Wort zu reden versuchte. Das andere eine Rede, die Franz Josef Strauß etwa zur gleichen Zeit auf einem Parteitag der CSU hielt. Beide werden hier nicht darum nebeneinandergestellt, um Genet und Strauß gleichzumachen, sondern weil sie beide einen Vorgang besonders deutlich vorführen, der sich in seiner mikroskopischen Winzigkeit und in seiner Verkapptheit normalerweise dem Blick entzieht. Jean Genet ist es wie jedem politischen Redner darum zu tun, Zustimmung zu erzeugen. Geradewegs zu sagen, daß er Mord, Überfall und Erpressung für etwas Gutes hält, verschaffte ihm zweifellos wenig Zustimmung. Will er es sagen, muß er es also anders sagen. Die Aktionen der Terroristen erscheinen bei ihm nur unter ihrem allerallgemeinsten Begriff: Gewalt, Die blasse Abstraktion verhindert, daß die Phantasie eine Genet nicht erwünschte Richtung nimmt und ihn in ihrer Genauigkeit dementiert. Nun ist aber im allgemeinen Sprachgebrauch auch noch Gewalt recht negativ besetzt. Genet muß also den Begriff Gewalt erstens positiv umdeuten, ihn in dieser positiven Umdeutung einzig den Terroristen zuweisen und die Gewalt, die die Gegner der Terroristen anwenden, gleichzeitig davon semantisch abheben und abwerten. Also zerrt er den Gewaltbegriff von seiner gewohnten, politisch neutralen Bedeutung von »(unrechtmäßige) Anwendung von physischem Zwang« weg, um ihn in 225
einer sehr persönlichen Weise anzufüllen mit der Bedeutung »konstruktive Heftigkeit«, welche die Kernbedeutung zwar strapaziert, aber eine noch gerade mögliche Randbedeutung ist, und schon steht die Gewalt da als das positive Urprinzip allen Lebens: »Gewalt und Leben sind fast Synonyme.« Nachdem der Begriff der Gewalt von seinen negativen Konnotationen gereinigt ist, ergibt sich prompt eine für Genets Argumentationsziel fatale Gefahr: daß die Gewalt, die aufgeboten wird, die terroristische Gewalt zu unterdrücken, an dieser Aufwertung teilhat. Was der Staat unternehme, sagt er darum, verdiene nicht den (nunmehr edlen) Begriff Gewalt – es handele sich dabei um Brutalität. Die Brutalität aber sei so hassenswert, wie die Gewalt verehrungswürdig ist; Gewalt sei die einzig gerechte und würdige Antwort auf Brutalität. So hat Genet zwei fast synonyme Begriffe, Gewalt und Brutalität (denn Brutalität ist im normalen Sprachgebrauch nichts anderes als »rohe Gewaltanwendung«), mit gegensätzlichen Vorzeichen versehen und den Gegnern zugeteilt: den positiven den Terroristen, den negativen dem Staat. Da diese Zuteilung aber vermutlich als einigermaßen willkürlich aufgefaßt würde, muß der Begriff Brutalität umfassender und dazu verabscheuenswerter als der der Gewalt gedeutet werden. Was genau ist es, das den verächtlichen Begriff Brutalität verdient und den Menschen zur Gewalt herausfordert? In den Sack Brutalität stopft Genet die verschiedensten und, wie er selber zugibt, die unerwartetsten Dinge: »Die Architektur des sozialen Wohnungsbaus, die Bürokratie, die Ersetzung des Worts durch die Zahl, die Vorrechte, 226
die im Straßenverkehr die Autos gegenüber den Fußgängern haben, die Vorherrschaft der Maschine über den sie bedienenden Menschen, die Kodifizierung des Rechts auf Kosten des Brauchtums, die zahlenmäßige Zunahme der Strafen, die Benutzung des Geheimnisses zum Ausschluß der Öffentlichkeit, unnütze Ohrfeigen auf Polizeiwachen, das Duzen von Personen dunkler Hautfarbe durch Polizisten, der diensteifrige Bückling vor dem Trinkgeld und die Ironie oder die Grobheit, wenn das Trinkgeld ausbleibt, der Gänsemarsch, die Bombardierung Haiphongs, der Rolls-Royce zu 200 000 Mark …« Es interessiert hier nicht die Frage, ob Genet ernstlich annimmt, der Terrorismus würde oder wollte auch nur all dem ein Ende machen. Es geht hier einzig um die Sprache. Genets Brutalität ist so gut wie deckungsgleich mit dem, was in Deutschland strukturelle Gewalt heißt. Nun ist die Zusammenfassung disparatester Gegenstände unter einem bestimmten Gesichtspunkt eine der grundlegenden Leistungen des menschlichen Geistes, gemeinhin als Abstraktionsvermögen bekannt; es erkennt das Gemeinsame im Verschiedenen, im Tretroller, Autobus und Güterzug das »Fahrzeug«. Alle Fälle, in denen Wille oder Würde oder Wohlleben durch die Gesellschaft und die Institutionen irgendwie beeinträchtigt werden, unter einem Begriff wie Brutalität oder strukturelle Gewalt zu versammeln, ist darum zunächst weder unsinnig noch unerlaubt, sondern durchaus eine Erkenntnisleistung. Nur darum übrigens konnte der Begriff 227
so wirksam werden: weil er bei vielen einen Erkenntnisschock auslöste. Die opake Wirklichkeit hatte, so schien es, eine ihrer Eigenschaften preisgegeben. Gefährlich wird eine solche Abstrahierung nur, wenn die Erkenntnis bei ihr auch schon wieder stehenbleibt und das Bewußtsein der Unterschiede verwischt oder auslöscht, wenn also der neue Begriff geradezu verhindert, daß die zusammengeworfenen Einzelphänomene weiter sortiert werden, zum Beispiel nach dem Grad ihrer Schädlichkeit oder Vermeidbarkeit oder Legitimation. Dann kann es dazu kommen, daß bloß individuell als ärgerlich Empfundenes oder relativ harmlose oder unschöne, aber leider unabänderliche oder von der Allgemeinheit geradezu gewünschte Tatbestände sprachlich in den gleichen Rang mit nach Veränderung schreienden und der Veränderung zugänglichen Abscheulichkeiten gehoben werden und ihre Bezeichnung als Gewalt den Schluß nahelegt, daß diese ganz besondere Gewalt nur mit sozusagen normaler Gewalt bezwungen werden könne. So unterlaufen verwegene Schlüsse wie der von Genet, der im Kern ja so geht: Mich stört vieles, zum Beispiel wie der Kellner mich ansieht, weil ich ihm kein Trinkgeld gegeben habe; daß er so schief guckt, ist ein Attentat auf (seine, unsere) Menschenwürde; Attentate auf die Menschenwürde haben etwas Brutales; Brutalität muß auf jeden Fall ausgemerzt werden; kein anderer Wert geht über den der Ausmerzung von Brutalität; Brutalität kann nur mit Gewalt ausgemerzt werden; mordende Terroristen üben Gewalt aus; bitte seht 228
also ein, daß in einer Welt, in der ein Kellner schief blickt, gemordet werden muß. Wer den ganzen Aufsatz von Genet liest, mag aus seinen Sympathiebekundungen für die Sowjetunion, deren Politik angeblich nie falsch sein könne (die Millionen Opfer des Sowjetregimes werden beiläufig als »Anekdoten von KremlAstrologen« abgetan), schließen, er sei orthodoxer Kommunist; aus seiner Verklärung der heroischen blutigen Gewalttat, er sei Faschist; aus der Kombination seiner vermengten Sympathien für Kommunismus, Faschismus und Terrorismus, er sei völlig unpolitisch – der Kern seines Arguments ist eine rein sprachliche Manipulation: Zwei fast synonyme Begriffe werden auseinanderinterpretiert, mit Emotion geladen und an Freund und Feind vergeben, damit sie sich bekriegen. Die Welt hat sich dadurch nicht verändert; aber sie ist neu interpretiert, nämlich sprachlich neu geordnet und bewertet. Und das ist eine Einladung zur realen Veränderung. Franz Josef Strauß, in seiner Münchner Parteitagsrede, will die geistigen Wurzeln des Terrorismus bloßlegen. Daß der auch komplexere soziale Ursachen haben könnte, wird ebensowenig in Betracht gezogen wie die Tatsache, daß die »geistige« Verursachung ebenso in Provokation von Widerspruch wie in der von Zustimmung besteht – das heißt, daß der Terrorismus sich »geistig« ebenso aus der Wut über rechte Realitätsverzerrungen und -beschönigungen speist wie aus der Übereinstimmung mit Elementen linker Theorien. Daß es sich um einen Sprachkampf handele, erklärt Strauß selber: »Am Anfang der Kette stehen die Verfälscher 229
der Wertordnung, stehen die Vergifter der Sprache, stehen die Verführer der Begriffe …« Zieht man die polemische Aufladung (Verfälschung, Vergiftung, Verführung) ab, so bleibt eine Wahrheit übrig – und nur die Evidenz dieser Wahrheit gestattet es dem Redner, sie polemisch in die gewünschte Richtung zu wenden. Nämlich: Die geltende Wertordnung wurde in Frage gestellt, die Sprache wurde verändert, einladende Begriffe wurden eingeführt. So formuliert, büßt der Vorgang allerdings seine Eignung als Objekt der Entrüstung ein. Daß diese Infragestellung »am Anfang der Kette« zum Terrorismus stand, ist ebenfalls im großen und ganzen richtig. Falsch ist nur die Insinuation, daß die Kette notwendig und ausschließlich zum Terror führe; gerade auf sie aber kommt es Strauß an. Offenkundig wurde die ganz große Mehrheit jener linken Wert- und Sprachveränderer durchaus keine Terroristen und litten sogar noch in einem besonderen Sinn unter ihm: weil er ihren Gegnern Gelegenheit gab, sie zu seinen Komplizen (Sympathisanten) zu stempeln und damit auch ihre Ideen wieder aus der öffentlichen Diskussion zu verdrängen. Es ist Augenwischerei, die linken Wurzeln des Terrors zu leugnen; es ist eine Zwecklüge, zu behaupten, daß aus linken Wurzeln zwangsläufig Terror erwachse. Einer der Schlüsselvorgänge jener Wert- und Sprachveränderung, die Strauß im Sinn hat, war die Aufwertung des Wortes Kritik. Nicht Zustimmung und Gehorsam (Affirmation) wurden mehr als höchste Tugenden aufgefaßt, sondern Infragestellung (eben Kritik), bis hin zum leeren Automatis230
mus, dem es nicht mehr darauf ankam, was da bejaht und was verneint wurde, sondern nur noch auf die Gestikulation der Verneinung. Es wäre falsch, der Linken vorzuwerfen, sie habe den Begriff Kritik usurpiert. Der Wortschatz ist ein Schatz, der keinem einzelnen, auch keiner Gruppe oder Institution gehört. Jeder kann sich daraus bedienen. Die einzige Kontrolle ist der Erfolg: daß andere in genügender Zahl einen neuen Sprachgebrauch als tauglich zur Bezeichnung ihrer Erfahrungen akzeptieren. Außerdem wurde das Schlagwort Kritik niemandem entwendet: Es lag, sogar einigermaßen verachtet, unbenutzt herum und konnte überhaupt nur im Zuge einer Bewegung, die alles Hohe herab- und alles Niedere heraufsetzte, zu einem Leitbegriff werden. Inzwischen hatte sich Kritik als Wert so fest etabliert, daß ein Sprecher, der das Wort seinen Zuhörern verleiden wollte, sich dem Verdacht der Blödheit ausgesetzt hätte – es wäre, als schwüre er dem Denken selber ab. Kein Wunder also, daß Strauß sich nicht darauf einließ, mit dem Wort Kritik so zu verfahren wie etwa mit dem ebenfalls linke Gemeinschaft stiftenden Wort Konflikt, das ähnlich unscharf ist und dem konfliktfreudigen Strauß auch nicht von vornherein mißfallen müßte. Wo einem gegnerischen Begriff die Respektierung nicht zu nehmen ist, hilft nur eins: den Gegner als unrechtmäßigen Besitzer hinzustellen und den Begriff selber in Anspruch zu nehmen. Genau das unternimmt er in dem folgenden Passus seiner Rede: »Ich bin wahrlich ein kritischer Geist, und wir alle sind 231
kritische Geister. Sind denn kritische Geister nur solche, die die bestehende Gesellschaftsordnung unterminieren, zersetzen, verneinen, die nur von der Konflikttheorie reden, die das Leben schon der heranwachsenden Generation mit Haß und Verneinung erfüllen wollen gegen das Elternhaus, gegen alle natürlichen Autoritäten, gegen die Kirche, gegen die Schule, gegen andere gesellschaft liche Institutionen, sind das die kritischen Geister? Nein, meine Damen und Herren, das sind keine kritischen Geister, das sind destruktive Geister, das sind Zeitzünder, das sind geistige Bombenleger, aber nicht kritische Geister! Da wollen wir den Unterschied aber sehr genau ziehen zwischen kritischen Geistern und destruktiven Geistern.« Deutlich ist die Geste der sprachlichen Entsetzung: Die Gegner nennen sich kritische Geister, wir sind – in einem semantisch zulässigen anderen Verständnis – auch welche (da es nun einmal begehrenswert ist, ein kritischer Geist zu sein), die Gegner sind gar keine echten kritischen Geister, sie sind etwas anderes, das wir mit einem widerwärtigen Namen benennen wollen, und als kritische Geister bleiben allein wir zurück. Es ist unwahrscheinlich, daß sich unter dem Eindruck einer solchen Sprachneuregelung jemand, der inhaltlich Strauß sekundieren wollte, es mit den nunmehr »falschen« Wörtern täte: »Wir müssen ständig den Konflikt mit den kritischen Intellektuellen suchen!« Es handelt sich, wie man sieht, bei Genet und Strauß um sehr ähnliche Operationen an der Sprache: Dem Gegner wird eine Wortfahne (dort die negative Gewalt, hier die 232
positive Kritik) entrissen, sie wird gründlich ausgeschüttelt und stolz mit leicht geänderter Bedeutung am eigenen Fahnenmast hochgezogen, während dem Gegner als Ersatz ein mutwillig zerfranster, verächtlicher Wortlappen (Brutalität, Destruktivität) hinübergeworfen wird. Genets und Strauß’ sprachliche Neuerungen haben keine Schule gemacht. Sie waren zu subjektiv, ihr Nutzen für die Beurteilung der Realität war zu gering. Die Allgemeinheit dachte gar nicht daran, sich davon überzeugen zu lassen, daß die Kritik der Linken gar keine sei und ein Mord, sofern ihn Terroristen begehen, etwas Schönes. Wörter werben um Sympathie, Wörter ächten, Wörter lehren uns unterschwellig, wie die Dinge gesehen werden sollen, Wörter können buchstäblich töten (Tote auferwecken aber höchstens in frommen Märchen). Es wäre naiv, eine Beendigung dieses Sprachkampfs zu verlangen. Die chemisch reine, präzise, von Sous-entendus freie, nur rationale Kommunikation wird es im politischen Bereich niemals geben. Man kann nur versuchen, selber in diesem Sprachkampf nicht ganz hilflos hin und her geworfen zu werden. Man muß dazu sein Gespür dafür schärfen, daß Begriffe nur fehlbare Versuche sind, der Realität eine Ordnung abzugewinnen. Man muß sich bewußt machen, daß Vokabeln im politischen Streit nicht nur Bezeichnungen für das sind, worum es eigentlich zu gehen hätte, sondern durchaus ein Teil jener Sache sein können. Man darf auf eine unannehmbare Sache nicht darum hereinfallen, weil sie einem in einem harmlosen oder sogar stattlichen Sprachkostüm angeboten 233
wird. Man darf sich von dem emotionalen Nimbus, in dem manche Wörter plötzlich erstrahlen, nicht mitreißen lassen. Man muß sich darüber im klaren bleiben, daß viele Wörter, die scheinbar nur unschuldig benennen, bereits eine Beurteilung der benannten Sachverhalte enthalten und damit zu Handlungen herausfordern und mittelbar möglicherweise doch Fakten setzen.
WETTBEWERB DER ÜBERSETZER Die einstweilige Unentbehrlichkeit des Humantranslators
A
nfang 1965 veranstaltete die Freie Akademie der Künste in Hamburg einen internationalen Übersetzerkongreß und in Verbindung damit, zusammen mit der Wochenzeitung ›Die Zeit‹, einen Übersetzerwettbewerb. Zu übersetzen war eine in deutscher Sprache noch nicht vorliegende kurze Prosaskizze von Graham Greene, »The Revenge«. Die Beteiligung war rege: 620 Übersetzungen wurden eingesandt, alle anonym. Als Feuilletonredakteur der ›Zeit‹ geriet ich in die Jury, wohl weil ich selber einige Erfahrungen als literarischer Übersetzer hatte machen können. Eine Übersetzungstheorie hatte ich nicht und sollte ich auch später nicht entwickeln (bei der Praxis des Übersetzens hilft sie genauso wenig wie die Thermodynamik bei der Zubereitung eines Rostbratens). Aber ich hatte einen Autor übersetzt, der sich selber ein Leben lang zwischen zwei Sprachen bewegt hatte und Ansprüche stellte – Vladimir Nabokov. »Wenn ein Übersetzer daran geht, den ›Geist‹ und nicht den bloßen Sinn eines Textes wiederzugeben, dann schon beginnt er seinen Autor zu verraten«, hatte Nabokov geschrieben; und im übrigen eine unzureichende (schwedische) Übersetzung seiner »Lolita« rundheraus vernichten lassen. Sicher wollte er nicht abstreiten, daß ein Werk auch so etwas wie einen »Geist« haben kann; er wollte sich nur gegen Übersetzer verwahren, 237
die sich im Namen eines vagen und sicher nie dingfest zu machenden »Geistes« grob am Wortsinn vergingen. Kurz, eine gewisse Genauigkeit schien mir sehr wünschenswert; aber mit dem Wunsch nach Genauigkeit kam auch die Einsicht, daß eine Übersetzung auf vielen verschiedenen Ebenen genau sein kann und daß die Genauigkeit der einen die Ungenauigkeit der anderen Ebene sein kann. Sie kann zum Beispiel versuchen, den Lautcharakter des Originals nachzuahmen, seine Anklänge, Alliterationen – und dabei die Satzbedeutungen verzerren und verbiegen. Oder sie kann die Satzkonstruktionen möglichst äquivalent wiedergeben und gerade dadurch einen Grad der Flüssigkeit oder Schwierigkeit erzielen, der dem Original nicht eigen ist, und insofern ungenau sein. Die gute Übersetzung, so schien mir, kann nur eine Kompromißlösung sein, die die Ungenauigkeiten der verschiedenen Ebenen wenigstens zu minimieren sucht. Kommt hinzu, daß selbst gleichbedeutende Wörter zweier Sprachen meist nicht wirklich ganz äquivalent sind; und daß sich selbst die allereinfachsten Sätze meist auf mehrere Weisen übersetzen lassen, so wie die dahinterstehenden Propositionen sich auch schon in der Originalsprache auf mehrere Weisen hätten ausdrücken lassen. Alles dies hatte mich davon überzeugt, daß jede Übersetzung nur approximativ sein kann, leider – und daß ihr Kritiker darum eine gewisse Milde walten lassen muß: Das, was er selber für »die richtige« Übersetzung zu halten beliebt, kann keineswegs das Maß aller Dinge sein. Diese Läßlichkeit war der Lektüre von 620 Übersetzungen 238
desselben Textes dann allerdings nicht gewachsen. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, wie es ist, einen Text dreimal zu lesen; selbst dreißigmal ist noch im Bereich des Vorstellbaren. Aber 620 mal, jenseits aller Verwunderung, aller Verzweiflung – das ist mehr, als irgend jemand sich zumuten sollte. So kam es, daß ich zum Abschluß dieses Wettbewerbs in der ›Zeit‹ einen gar nicht läßlichen, sondern mißmutigen und geradezu höhnischen Artikel schrieb, der vor allem ein unsystematischer Katalog jener Übersetzersünden war, die mir beim Lesen jener 620 Versionen derselben Geschichte aufgefallen waren und für die mir alle Geduld verflogen war. Für einen Text wie jenen, um den es hier ging – moderne Prosa aus einem nahen Kulturkreis, der vor allem um des Erzählens willen gelesen werden will und soll und nicht aus linguistischen oder anderen Sonderinteressen – , für einen solchen Text also, und er stellt schließlich den Regelfall dar, erwarte ich vom Übersetzer, daß er erstens so getreu wie möglich den Wortsinn wiedergibt; und daß er zweitens soviel wie möglich von dem erhält, was ich die Aura eines Textes nennen möchte: Tonfall, Tempo, Stilebene, die Assoziationen, die er auslöst, die historische Fracht seiner Sprache. Das, meine ich, ist die Aufgabe. Besonders schwierig war die Skizze von Graham Greene nicht. Der Nachteil: Wirklich guten Übersetzern bot sie kaum Gelegenheit, ihr ganzes Können unter Beweis zu stellen. Der Vorteil: daß keine extremen Bedingungen bestanden, sondern die des übersetzerischen Alltags. Trotzdem, ihre Haken hatte, wie man sehen wird, auch 239
»Die Rache«. Es ist gar nicht leicht, die Trockenheit, das scheinbar mühelose, gelöste, aber nicht unnuancierte Parlando der Greeneschen Diktion im Deutschen nachzuahmen; auf dem Weg in unsere Sprache wird das unversehens alles schwer wie ein Schwamm, der sich vollsaugt. Außerdem gab es da Fallen. Die, in die die meisten stolperten, bestand aus ganzen sechs Wörtern, einer Dialogstelle: He went into Cables and died. Cables, großgeschrieben: in Wörterbüchern steht das nicht. Gemeint war: Er ging zu Cable & Wireless (der heute der britischen Post unterstehenden Gesellschaft für den überseeischen Telephon- und Telegraphenverkehr) und ist gestorben. Zugegeben, das muß niemand wissen. Nur gehört es zur alltäglichen Aufgabe des Übersetzers, auch mit Sachen fertigzuwerden, die man eigentlich nicht wissen muß und kann. Entweder man versteht, sich die fehlende Kenntnis zu beschaffen; oder man zieht sich wenigstens einigermaßen elegant aus der Aff äre. Wer also übersetzt: Er ging ins Kabelgeschäft und starb, der hat zwar nicht ganz recht, aber wenigstens hat er gemerkt, daß es sich bei Cables um eine Art Firma handeln muß, und seine Lösung fügt sich bruchlos in den Zusammenhang. Nun aber die Verrenkungen dessen, der sich gar nicht zu helfen weiß: Er geriet zwischen Schiffstrossen; er geriet in ein Kabelgewirr und starb daran; er kam zu den Strippenziehern; er fuhr nach Cables (einer noch zu gründenden Ortschaft, anderswo schlechten Gewissens auch einfach C. genannt); er fiel beim Einmarsch in Cables. Andere lassen ihn einen 240
Tropenkoller bekommen oder in ein Minenfeld geraten. Geheimnisvoll klingt: Er ist ins Cables gegangen (ein Kino oder Freudenhaus?). So geht das fort bis zu den wahrhaft pittoresken Gewaltlösungen: Er hatte Pech und kratzte ab; er ging hops: Starkstrom!; er kämpfte gegen die Kabylen; er ging nach Kabul; er ging in die Kabale, einen besonders in Malaya verbreiteten Geheimbund; er beschäftigte sich mit Kurzgeschichten à la Cable; er sagte »puh« und verblich. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Nun, man sieht wohl schon, worauf das hinauslaufen will: Dieser Wettbewerb zeigt ein einigermaßen trostloses Bild von den Übersetzerfähigkeiten, die in diesem unserem Lande schlummern. Woran liegt das? Daran, daß jedermann teilnehmen konnte und Dilettanten und erwachsene AbcSchützen in großer Zahl dabeiwaren? Vielleicht. Nur machte das das Ergebnis, fürchte ich, kaum weniger trostlos: Erstens nämlich darf man wohl annehmen, daß eine so kurze, leichte, zu einem Wettbewerb eingereichte Geschichte sorgfältiger bearbeitet wird als ein im Akkord übersetztes dickes Buch, daß also sonst die (oft unvermeidliche) Schluderei besorgt, was hier die Stümperei anrichtete; und zweitens gibt es ja Verlage, die auch noch den größten Pfuschern zum Druck verhelfen. Kurz, unter allen diesen sechshundertzwanzig Manuskripten war keins, das ich ganz ohne die Kontrolle eines hoffentlich verständigen Lektors gedruckt sehen möchte; und unzählige beyond repair, was ihre Urheber sicherlich mit hinter dem Schlupfwinkel übersetzen würden. Die Jury 241
war sich darüber im klaren, daß sich für jeden einzelnen Satz der Preisträger irgendwo in den übrigen Manuskripten eine bessere Lösung fand – nur eben dort dann in zweifelhafterer Umgebung. Ebenso wäre es möglich, für fast jeden Satz der p. 189 abgedruckten Kümmerfassung einen noch kümmerlicheren zu finden; aber eine allzu entwickelte Abstrusität besitzt eine Originalität eigener Art und läßt sich in keinen Zusammenhang mehr fügen. Der Übersetzer kann Schlimmeres machen als Fehler. Eine fehlerlose Übersetzung gibt es nicht, und wer sich seiner Sache zu sicher ist, der ist von vornherein verloren. Der gute Übersetzer ist ein Mensch, der es fertigbringt, auch die gebräuchlichsten Wörter noch einmal im Wörterbuch nachzuschlagen, und der sein Verständnis wie seine Einfalle ständig in Zweifel zieht. Hier sollen deshalb nicht – was zweifellos sehr unterhaltend wäre – die abenteuerlichsten Fehler zusammengestellt werden, die mir bei der Durchsicht der Wettbewerbsmanuskripte begegnet sind. Vielmehr waren an ihnen typische Untugenden der Übersetzer in so großer Zahl zu studieren, daß hier ein »klein Register von Schulschnitzern« (Lessing) stehen soll, jedermann zur Warnung. Auf schwierigere Fragen (wie: darf, soll, muß eine Übersetzung sich wie ein Original lesen oder vielmehr das Original durchscheinen lassen?) soll dabei ebensowenig eingegangen werden wie auf die primitivste Voraussetzung jedes Übersetzers: die ausreichende Kenntnis der fremden und der eigenen Sprache. Wer to spend für spendieren hält, einen demagogue für 242
einen Gewaltherrscher, Aufrührer, Scharlatan, Streber oder Gernegroß, wer die Unterschiede zwischen einem Folterer und einem Quälgeist nicht begreift und wer Sätze zu Papier bringt wie sein Gedächtnis hatte einen völlig unterschiedlichen Eindruck als meines behalten, dem ist sowieso nicht zu helfen. 1. Besserwisserei Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Sie versucht wiederzugeben, was der Übersetzer von einem Text verstanden hat, und das kann mehr, das kann weniger, das kann ganz etwas anderes sein, als der Autor ausdrücken wollte. Überdies ist kaum ein Satz so primitiv, als daß er sich nicht auf vielerlei Weise sagen ließe. Der Übersetzer ist dem Instrumentalisten vergleichbar: Wie dieser hat er einem von jemand anderem erdachten, für ihn sozusagen nur virtuell vorhandenen Gebilde eine neue Gestalt zu geben. Es ist gedankenlos, die »interpretierende Übersetzung« zu verurteilen, wie es dauernd geschieht. Die Übersetzung kann gar nicht umhin, Interpretation zu sein. Die Frage ist nur, ob der Übersetzer richtig interpretiert hat – oder doch wenigstens im Rahmen der Plausibilität geblieben ist. Etwas ganz anderes aber ist die besserwisserische Übersetzung. Der Translateur, der alles immer genauer weiß als der Autor, bei jedem Satz krampfhaft bemüht, sich interessant zu machen, dem es nicht genügt, The Revenge schlicht mit Die Rache zu übersetzen, der dafür Eines Mannes Rache oder Versteinerte Rache hinsetzen muß – er richtet fast noch 243
schlimmere Verheerungen an als der simple Ignorant (ein Ignorant aber ist er meist noch obendrein). Greene vergleicht das Rachebedürfnis in seiner Erzählung an entscheidender Stelle mit einem Wesen, einem Tier unter einem Stein: a creature under a stone, Tier, Wesen – den Besserwissern reicht das nicht. Ihre vereinten Anstrengungen bringen einen halben Zoo hervor. Ihr Stein deckt Würmer, Gewürm, Kröten, Käfer, Schlangen, Nattern, Blindschleichen, Echsen, Eidechsen, Reptilien, Maden, tierische Wesen, Geziefer, Ungeziefer, Untiere, Biester, Dämonen und Monstren; es gibt darin blinzelnde Käfer, den Kopf zum Licht reckende Asseln, rachebrütende Kerbtiere, selbst ein Goldhamster, den man in eine dunkle Blechschachtel gesperrt hat und mit Kieselsteinen füttert, fehlt nicht. Die dreisteren der Besserwisser scheuen sich nicht, ganze Sätze eigener Fabrikation einzuflechten. Der aufmerksame Leser merkt es meist an deren Dummheit. 2. Zensur Eine Abart der Besserwisserei ist die Gepflogenheit, den übersetzten Autor moralisch zu zensieren. Greenes Geschichte bot wenig Anlaß dazu; anstößige Stellen oder Wörter, die zu Streichungen oder Abschwächungen eingeladen hätten, gab es nicht. Trotzdem, wer einen Satz wie mich interessierte der Höhepunkt der Geschichte weniger hinüberspielt in die Bedeutung für sittliche Werte brachte ich damals noch wenig Verständnis auf, hat sich bereits als moralischer Zensor betätigt. Der Übersetzer muß seine eigenen Ansichten verleugnen können. 244
3. Flüchtigkeit Übersetzungen, sagt man, werden immer länger. Das ist wohl wahr – andererseits aber kommt auch immer einiges abhanden. Wörter, Satzteile, Sätze, Absätze verschwinden spurlos: Sie werden bei einem der Abschreibvorgänge vergessen. Flüchtigkeit macht aus dem Pazifik den Atlantik, aus einer sehr moralischen Geschichte eine sehr unmoralische. Sie zeitigt besonders groteske Ergebnisse, wenn sie über unverstandene Wendungen hinweghuscht. Sitting successfully for the viva stand da, und wie mit Hilfe eines Wörterbuchs mühelos herauszufinden wäre, kann das nichts anderes heißen als die mündliche Prüfung bestehen. Der Flüchtige liest indessen vivat oder visa statt viva, und das führt dann zu Übersetzungen wie: erfolgreich die Huldigungen der Menge entgegennehmen (die Rede ist, wohlgemerkt, von einem Mann, der Konsul werden will); erfolgreich für das Visa sitzen (das demnach eine Art Porträt des Paßinhabers sein muß); Visen richtig ausstellen können. 4. Ignorierung des Zusammenhangs Das eifrigste Wörterbuchwälzen enthebt den Übersetzer nicht der Notwendigkeit des Mitdenkens. Er muß merken, daß in Greenes Geschichte der Junge den Roman »Foe-Farrell« so oft gelesen hat, weil er sich damals mit Rachegedanken trug, und nicht umgekehrt. Im übrigen sagt Fritz Güttinger in seinem anregenden Buch über die Praxis des literarischen Übersetzens, »Zielsprache«, etliches zu diesem Punkt. 245
Zum Beispiel weist er daraufhin, daß dinner oft falsch übersetzt wird. Es heißt »Hauptmahlzeit«. Die wurde bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts mittags eingenommen oder am frühen Nachmittag. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschob sich in vornehmeren Kreisen die Essenszeit immer weiter in den Abend. Kommt in einem modernen englischen Text ein Dinner vor, so wird es in der Regel das Abendessen sein, auch wenn in Deutschland das Mittagessen die Hauptmahlzeit ist. Und in älteren Texten wird nur der es richtig übersetzen können, der alle Indizien der Tageszeit beachtet, welche der Zusammenhang hergibt. »Der Zusammenhang ist ein ebenso wesentlicher Bestandteil der Bedeutung wie die lautliche Form des Wortes … Die Vernachlässigung des Zusammenhangs oder anders ausgedrückt, der arglose Glaube, die Bedeutung sei in der Wortgestalt enthalten wie der Tee in der Tasse; dinner heiße ›Mittagessen‹, einerlei in welchem Zusammenhang das Wort gebraucht wird«, sei eine der häufigsten Fehlerquellen. 5. Satzhack Es wird nicht immer möglich sein, die Satzeinheiten der Originalsprache genau zu erhalten. Daß im Deutschen das Verb oft ans Ende muß und bequeme Partizipialsätze kaum möglich sind, macht den deutschen Satz leicht unübersichtlich. Lieber eine entschlossene Zäsur in solchem Fall als ein unentwirrbares Sprachknäuel, das ja auch im Original nicht vorhanden ist. Zu fürchten aber sind Übersetzer, die jede lange Periode zerhacken, aus jedem Legato ein hechelndes Stakkato machen. 246
6. Faule Emphase Es gibt Übersetzer, die es nicht fertigbringen, to read a book mit ein Buch lesen zu übersetzen. Bei ihnen wird ein Schmöker durchgeschwartet. Aus jedem sehr machen sie allemal ein übermäßig, Rache kommt bei ihnen nicht vor, wenn sie nicht gleich eiskalt, gnadenlos, unbarmherzig sein kann, und großzügig verteilen sie Ausrufezeichen über den Text. Manchmal zwei oder drei hintereinander, denn man könnte ja taub geworden sein von ihrem Gebrüll. 7. Teutonisierung Wie man weiß, hat die deutsche Sprache einen Hang zu klotzigen, bedeutungsschweren Substantivbildungen (Kentaurenwörter nannte sie Martin Walser), und manche von ihnen haben einen vernehmlichen völkischen Unterton. Man sollte sie dem ausländischen Autor ersparen. Wenn Greene loyalty sagt, so meint er nicht Gefolgschaftstreue oder schuldige Pflichttreue, und der conflict of loyalties ist kein Gesinnungskampf Jene Urtiefe, in der etwas wie scheue Bewunderung bestehen soll, ist ein Greene völlig fremdes Geraune. Von der tiefdummen Instinktlosigkeit, climax mit Endlösung zu übersetzen, ganz zu schweigen. 8. Sprachklischees Wer sein Deutsch vornehmlich aus Groschenromanen bezieht, sollte sich lieber nicht ans Übersetzen machen. Wenn solch einer das Wort Rache hört, fällt ihm sofort die Glut dazu ein, und diese wiederum schwelt Wo ich fühlte ein Ra247
chebedürfnis stand, schreibt er in mir schwelte die Glut der Rache (mit dem Ergebnis, daß in der Folge aus dem Tier unter dem Stein die heiße Asche werden muß, in der ab und zu herumgestochert wird). 9. Mangelnde Sprachphantasie Der Übersetzer muß Wörterbücher zu schätzen wissen und sich dennoch über sie hinwegsetzen können. Wer sich zu krampfhaft an sie klammert, bringt ein Volapük, aber kein Deutsch zu Papier. Und was will er erst machen, wenn das Wörterbuch ihn ganz im Stich läßt, und das tut es ja immer wieder? Da kommt gegen Ende der Geschichte das Wort anti-climax vor; als ein anti-climax, enttäuschend anders als der erwartete Höhepunkt, erweist sich die letzte Begegnung der beiden alten Schulkameraden, und das Wort spielt gleichzeitig sowohl auf den Wunsch, dramatisch Rache zu nehmen, wie auf den Höhepunkt (climax) der Jugendlektüre an. Der Übersetzer hätte also nicht nur eine deutsche Entsprechung zu anti-climax zu liefern, er hätte auch diese Bezüge deutlich zu machen. Das Wort Antiklimax erfüllt keinen dieser Zwecke, und als der Antiklimax ist es obendrein ein falscher Max. Da hilft also nur die Umschreibung, und die braucht die Fähigkeit des freieren Umgangs mit der Sprache. Leicht geschieht es, daß der Übersetzer sich unnötig große Freiheiten nimmt: ich fühlte mich wie ein Luftballon, aus dem das Gas entwichen ist. Oder er ist zu ängstlich und rettet sich zu Wortmißgeburten wie Anti-Zuspitzung oder Nicht-Höhe248
punkt. Sprachphantasie: das heißt, Möglichkeiten erproben können, Nuancierungen gegeneinander abzuwägen wissen, Abweichungen riskieren, aber mit Augenmaß und keinen Schritt zu weit. 10. Direkte Rede Den genauen Ton eines Gesprächs zu treffen, ist nicht einfach. Auf der einen Seite droht Gestelztheit (ei, du halfest uns doch stets bei der Lateinpräparation), auf der anderen eine Karikatur der Umgangssprache (Mensch, wir ham in der Penne doch immer Latte gepaukt!). Auch gute Übersetzer scheitern oft an der direkten Rede. Vor einer wieviel schwierigeren Aufgabe steht der Übersetzer erst, wenn er es mit Dialekten, Slangs, Argots und dergleichen zu tun hat! 11. Schiefe Bilder Unfreiwillige Komik produziert jener Übersetzer am ehesten, dem das Gespür für ungemäße Bilder und Vergleiche fehlt, der nicht merkt, daß die figürliche Seite eines Vergleichs diejenige ist, die die Formulierung des übrigen bestimmen muß. Hämische Spitznamen, heißt es in der Geschichte, wurden ihm wie Splitter unter die Nägel getrieben. Hier geht weder Spitznamen trafen wie Splitter (die schließlich keine Wurfgeschosse sind), noch wurden eingestreut, eingepflanzt, eingeschaltet, eingeflochten oder hingeschmissen. Heraus kommt dabei immer nur eine Katachrese.
249
12. Importbarrieren Immer tauchen in fremdsprachigen Texten Dinge auf, die gibt es in Deutschland nicht. Was tun? Zunächst wollen sie erkannt sein. The head of the house ist der Hausälteste, der Hauspräfekt einer englischen Internatsschule (Klassensprecher wäre bereits zu deutsch). Wer das nicht merkt, gerät auf absonderliche Abwege. Für ihn wird dieser ältere Bruder zum Familienoberhaupt, Haushaltsvorstand, leitenden Geist meines Zuhause, Eigentümer des Hauses, Hausmeister. Auf ungewöhnliche Familienverhältnisse läßt die Variante schließen: Mein Vater war Oberhaupt, mein älterer Bruder Haupt meiner Familie. Aber auch wer das Richtige ungefähr erkennt, muß es noch lange nicht ausdrücken können. Der Häuptling ist hier genauso unangebracht wie der Ordnungshüter, der Leiter der Schuldivision, der Chef des Schulhauses oder gar der Gruppenleiter und der Gruppenführer. 13. Oktroyierung von Sprachmarotten Dem fremden Autor sollten höflicherweise nicht die eigenen Sprachmarotten aufgezwungen werden. Wenn für einen selber auch alles einen Clou hat oder ein Gag ist oder nicht nur einfach so geschieht, sondern recht eigentlich geschieht, so verdient doch der übersetzte Autor Schonung. 14. Kenntnismängel Jede Übersetzung macht Erkundigungen und Nachforschungen notwendig. Bei schwierigeren Texten ist es dieser Teil der Arbeit, der die meiste Zeit kostet. Greenes Geschich250
te verlangte in dieser Beziehung eher wenig; ein typisches Beispiel liefert sie trotzdem. Malaya, Malacca und Kuala Lumpur kommen vor – da studiert ein argwöhnischer Übersetzer doch lieber erst einmal den Atlas. Er stellte dabei zunächst fest, daß man Malaya auf deutsch gewöhnlich nicht Malaja oder Malaia schreibt und Malakka mit -kk- und nicht -cc- (wie überhaupt die Kenntnis einiger Grundregeln deutscher Orthographie und Interpunktion jemandem, der übersetzen will, keinen Schaden täte); aber das wäre längst nicht alles. Malakka, sähe er, kann dreierlei sein: die Halbinsel, der auf ihr liegende malaiische Staat Malakka (eins der ehemaligen britischen Straits Settlements) oder dessen Hauptstadt. Der Erzähler äußert in der malaiischen Stadt Kuala Lumpur, er sei gerade auf dem Sprung nach Malakka; da Kuala Lumpur aber auch auf der Halbinsel Malakka liegt, kann er die nicht meinen, denn da ist er ja bereits. Er muß also den Staat oder die Stadt im Sinne haben und später nicht von Malakka zurück kommen, sondern nur aus. Erst recht kann er nicht Malaysia gründlich satt haben, denn die Geschichte spielt 1951, und Malaysia, zu dem heute auch der Malaiische Bund gehört, gibt es erst seit 1963. Die kleine falsche Präposition verrät den Ahnungslosen, das kleine falsche s den ahnungslosen Besserwisser. Das seien nur Bagatellen und Malaya weit? Gerade Übersetzer dürfen so nicht sprechen: Ihre Arbeit setzt sich aus lauter Bagatellen zusammen, und weit dürfte nichts sein für Leute, deren Berufes ist, die Völker einander näher zu bringen. Der japanische Übersetzer etwa, der seine Deutschen 251
auf dem Heidelberg Beeren suchen ließe oder in die Celle sperrte, wäre uns zu Recht nicht willkommen. Das alles also sollte der Übersetzer bedenken und noch viel mehr: Die eigentliche Kunst fängt ja erst später an. Für das Entgelt, das er in der Regel dafür bekommt, nähme – macht er sich die gebotene Mühe – keine Putzfrau den Besen in die Hand. Auf andere Anerkennung darf er nicht rechnen; bemerkt ein Kritiker seine Arbeit überhaupt, so meist nur, um ihm ohne große Unkosten eine schnelle Rüge zu erteilen, nach dem Motto: Übersetzungen zu kritisieren ist immer richtig, man muß dazu keinen Blick ins Original werfen. Die einen tun es, als wäre es dennoch ein richtiger Beruf, Übersetzer zu sein. Den Mitmenschen zuliebe dürften es die wenigsten tun. Die meisten wahrscheinlich können es darum nicht lassen, weil für sie jeder fremdsprachige Text herausfordernd ist wie ein ungelöstes Rätsel; weil sie quälend empfinden, daß einem erst gehört, was allen Widerständen zum Trotz auch in der eigenen Sprache gesagt werden kann; weil sie die Freuden solcher Inbesitznahme nicht missen möchten. Sie sind dem alten Entdeckungsreisenden zu vergleichen, den die weißen Flecken der Landkarte magisch anzogen; nur daß des Übersetzers Expedition selten ein Ziel erreicht, wo er sich befriedigt ausruhen kann. Beim Wiederlesen nach fast zwanzig Jahren fällt mir auf, daß ich die beiden gefährlichsten Fehlerquellen damals übersehen habe. Die eine möchte ich Tiefenvermutung nennen. Wir haben uns dermaßen daran gewöhnt, daß Literatur ein Recht 252
daraufhat, unverständlich zu sein und selbst den größten Scharfsinn zuschanden werden zu lassen, daß wir oft unsere Verständnisbemühungen schon bei den ersten Hindernissen abbrechen und den unverstandenen Rest als je nachdem zu »tief« oder zu »hoch« auf sich beruhen lassen. Der Übersetzer, der von dieser Einstellung befallen ist, verzichtet von vornherein darauf, sich jeden Satz bis in seinen letzten Winkel klarzumachen. Er sagt sich: Ich verstehe ihn nicht, er ist wohl auch gar nicht dazu bestimmt, verstanden zu werden, aber bestimmt hat er einen tieferen Sinn, und wenn ich nur die Wörter richtig hinschreibe, wird der schon irgendwie erhalten bleiben. So, wie die Wörter dann zu stehen kommen, verraten sie meist jedoch nur, daß die Verständnisbemühungen viel zu früh aufgegeben worden waren. So stößt der Leser denn, in einem in der Tat nicht »leichten« Roman von Gabriel García Márquez, zum Beispiel auf Sätze wie diese: »… er fragte sich entsetzt, wo könntest du wohnen in diesem Knotenknäuel aus teuflisch gereckten Stachelblicken blutrünstiger Hauer einer Zeterspur flüchtigen Gebells mit eingezogenem Schwanz des Gemetzels von Hunden, die sich in den Schlammpfützen zähnefletschend zerfleischen …« – und nimmt nur zu leicht an, seine Unverständlichkeit sei ein Ingredienz seiner Tiefe, seiner Poesie. Aber gute Schriftsteller sind meist genau, sehr genau sogar. Wer die Stelle im Original nachschlägt, stößt auf einen trotz der fehlenden Satzzeichen völlig verständlichen Satz: »… wo wohnst du wohl inmitten dieser wilden Hatz aus Knäueln 253
gesträubter Wirbelsäulen aus teuflischen Blicken aus blutgierigen Reißzähnen aus der Spur fliehenden schwanzeingekniffenen Gekläffs aus dem Gemetzel von Hunden, die sich in den Schlammpfützen zerfleischen …« Die Poesie eines solchen Satzes beruht jedenfalls nicht auf seiner Wirrnis und Undurchdringlichkeit. Die Pseudo-Poesie des Undurchdringlichen war erst die Zugabe seines Übersetzers. Wann immer man in einer solchen Übersetzung auf eine merkwürdige, jedem Verständnis trotzende Stelle stößt, empfiehlt sich ein Blick ins Original. Meist löst sich das Rätsel auf der Stelle. Die andere Fehlerquelle mit dem großen Ausstoß ist eine ordinäre Verwandte der Tiefenvermutung: die Originalitätsvermutung. Sie beruht auf mangelhafter Kenntnis der Herkunftssprache. Durchaus konventionelle Formeln hält sie, weil sie dem Übersetzer nicht geläufig sind, für originale sprachliche Prägungen. Darum werden sie nicht in andere ebenso konventionelle Formeln übersetzt, sondern in gesuchte Originalitäten. Auch diese Vermutung führt Bizarrerien in den Text ein, den sein Original nicht hatte. Da findet man in aus dem Englischen übersetzten Texten manchmal eine sonderbare Ellenbogenmanie – alles mögliche, Feuerzeuge, Zeitungen, Freundinnen des Helden finden sich immer wieder neben seinem Ellbogen, in Verkennung der Tatsache, daß »at his elbow« nur »neben« oder »an der Hand« oder »in seiner Reichweite« heißt. Oder in Texten, die aus dem Französischen apportiert wurden, verwundert ab und zu ein oberhalb des Marktplatzes – wo »par-dessus le mar254
ché« stand und ein schlichtes »obendrein« angebracht gewesen wäre. Der bedeutende amerikanische Übersetzer Ralph Manheim (er übertrug Celine, Grass und Handke ins Englische) sagte von sich einmal: »Mein Hauptstolz ist der, daß ich einfach sein kann. Wenn unerfahrene Leute in einem ausländischen Werk auf einen Alltagsausdruck stoßen, der ihnen seltsam vorkommt, so machen sie etwas ebenso Seltsames daraus. Doch wenn man eine Sprache gut kann, so kann man das Natürliche in etwas Natürliches übertragen.« Alle diese Fehler, Unarten, Sünden lassen sich auch unter einem einzigen Stichwort zusammenfassen: Sie verstoßen gegen das Prinzip der Wirkungsadäquatheit. Dieses und nicht die Schimäre der Richtigkeit ist es, welches heute Übersetzer leitet. Was eine Übersetzung leisten soll, ist leicht gesagt. Nicht Wörter übertragen und Sätze nachbauen, auch wenn es manchmal den Anschein hat, als täte sie nichts anderes. Sie muß die Aussagen, die Propositionen ausschöpfen und vermitteln, die der Originaltext enthält; und sie muß dabei möglichst jene »Register« anwenden, jene – zum Beispiel historischen oder sozialen – Kolorierungen des Sprechens, die sich wiedergeben lassen. (Ein Register wie »Sprache eines siebenjährigen Kindes« wird sich ohne weiteres erhalten lassen, gleich aus welcher in welche Sprache übersetzt wird. Ein Register wie »irisch getöntes Englisch« wird sich auf keine Weise in irgendeiner anderen Sprache reproduzieren lassen, denn es gibt keine Tönung des Deutschen oder des Dänischen, die einen irgend »irischen« Eindruck machen könnte.) Damit jedoch ist nur das Selbstverständliche gesagt. Zu 255
dem Ziel führen viele Wege, und es kann verschiedene Gestalt haben. Dem Übersetzer ist mit solchen Auskünften wenig gedient. Auch die Wissenschaft hat ihm wenig zu sagen. In einem großen linguistischen Lexikon kann er lesen, was von ihm verlangt ist: nämlich »die über das Lesen und Schreiben hinausgehende Fähigkeit zur interlingualen Umsetzung, dem sogenannten Kode-Umschaltverfahren«. Und was er mit dieser Fähigkeit (die, ohne weiteres einleuchtend, noch etwas anderes sein muß als bloßes Lesen- und Schreibenkönnen, auch wenn er keinen Kode-Umschaltknopf an seinem Kopf finden kann) anzufangen hätte: nämlich »wirkungsäquivalente Zielsprachentexte – den jeweiligen ko- und kontextuel-len Bedingungen entsprechend – über einzelne theoriegesteuerte, zumindest aber bewußte Übersetzungsschritte zu produzieren« (Bausch 1980). (Zur Verdolmetschung: Der »Kontext« ist die sprachliche – syntaktische und semantische – Umgebung einer Äußerung; ihr »Kotext« ist die Situation, in der sie fällt.) So richtig sie sein mögen, den Übersetzer füllen solche Sätze über sein Tun leicht mit höhnischer Bitterkeit. Einerseits enthalten sie wenig mehr als die Tautologie, daß Übersetzen Übersetzen sei und gutes Übersetzen gutes Übersetzen, und sie verkünden dies in einer Sprache, die er sich selber verbietet und deren sonstige Präzision er in diesem Fall auch gar nicht schätzen lernen kann, denn hier wird nur ein Fast-Nichts präzisiert. Andererseits kommen sie drohend daher: Hast du denn eine Theorie, fragen sie, arbeitest du 256
wenigstens bewußt genug, und wie bitte ordnet dein ärmliches Theoriesurrogat, dein Bewußtsein, seine Schritte an? Liest er in dem Lexikon aber ein paar Sätze weiter, so ist er auch schon absolviert. Diese »komplizierten mentalen Umsetzungsverfahren« des Übersetzens, steht da sehr richtig, sind »quasi unerforscht«. Wie aber sollte eine Theorie über das quasi Unerforschte aussehen? Da es sie (noch) nicht gibt, gar nicht geben kann, muß er sich auch nicht von ihr durch die Unbilden des Ko- und Kontexts steuern lassen. Er kann wochenlang grübeln, wie ein einfacher kleiner Satz (zum Beispiel Here is what sometimes happened to me: …) zu übersetzen wäre, ohne sich ein Gewissen daraus machen zu müssen, daß keine Theorie ihm dabei heimleuchtet. Ein Wort in jenem Lexikonartikel allerdings könnte ihm doch einen Ratschlag geben: »wirkungsäquivalent«. Dahinter steckt eine moderne Übereinkunft (keine Theorie), die einen jahrhundertealten Streit um das Wesen der Übersetzung einstweilen beigelegt hat. Die beiden widerstreitenden Positionen wurden am klarsten in Friedrich Schleiermachers Schrift »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens« (1813) formuliert: »Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.« Entweder er deutscht den fremden Text ein; oder er verfremdet das Deutsche, um die Begriffssysteme und die Syntax des fremden Textes möglichst zu bewahren. Die eine Methode will vergessen machen, daß der Leser einen ursprünglich nicht deutschen 257
Text vor sich hat; die andere will ihn darauf gerade stoßen. Schleiermacher nimmt entschieden Partei für die letztere Methode, die die eigene Sprache »zu einer fremden Ähnlichkeit hinüber(biegt)«. Viele vor und nach ihm wählten sie, und das ist viel verständlicher, als es uns heute auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn sie übersetzten in Zeiten, als sie die deutsche Sprache im Vergleich zu den bewunderten klassischen Sprachen, mit denen vor allem sie es zu tun hatten, für minderwertig hielten. Das grobe Instrument, das für sie die deutsche Sprache war, konnte es gut vertragen, etwas geschliffen und gebogen zu werden. Noch unentrinnbarer war die Methode der Verfremdung für den Bibel-Übersetzer, der des Glaubens war, er habe einen Text göttlichen Ursprungs vor sich. Er konnte doch Gott nicht korrigieren. Wenn Gott durch seine irdischen Schreiber das Konzept damals durch die griechische Redewendung es begab sich aber zu der Zeit, daß … auszudrücken beliebt hatte, wie konnte sich dann sein Knecht erdreisten, daraus ein simples »damals« zu machen? Luthers Bibelübersetzung und die meisten in ihrem Gefolge strotzen denn auch von Gräzismen und Hebraismen – und sind ein bleibender Beweis dafür, daß die Methode der Verfremdung gar nicht immer so absurde Folgen haben muß, wie es uns zunächst erscheinen mag. Daß sie die deutsche Sprache strapazieren, bereichert diese auch; die Lutherbibel hat einen ganz eigenen deutschen Stil geschaffen, der zwar vom normalen Deutsch weit entfernt ist, aber eine der ganz markanten, kostbaren historischen Alternativen dazu darstellt. 258
Aber die Minderwertigkeit des Deutschen würde heute so leicht niemand mehr behaupten, und die Bibel ist eine Ausnahme, von der man besser keine Regeln ableitet. Sie ist eine Ausnahme einmal, weil ihr Fortleben völlig unabhängig von dem Wortlaut irgendeiner Übersetzung gesichert war, und sie ist eine Ausnahme zum andern, weil ihr »verbogenes« Deutsch ihr zwar einen Stich ins Irreale und Unbegreifbare gibt, dieser ihr aber nicht nur nicht schadet, sondern sogar nützt, kommt es doch bei aller Religion entscheidend darauf an, nichts genau zu nehmen und in vagen Bedeutungswolken zu denken. Wie klingt das alles seltsam und geheimnisvoll: »Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger … Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Dagegen hat die moderne Übersetzung der Deutschen Bibelgesellschaft den Vorzug großer Klarheit. Sie erzeugt keine zusätzlichen Dunkelheiten »interlingualer« Art: »Zu jener Zeit ordnete Kaiser Augustus an, daß alle Bewohner des rö259
mischen Reiches in Steuerlisten erfaßt werden sollten. Es war das erste Mal, daß so etwas geschah. Damals war Quininius Statthalter der Provinz Syrien. So zog jeder in die Heimat seiner Vorfahren, um sich dort eintragen zu lassen. Auch Josef machte sich auf den Weg. Von Nazaret in Galiläa ging er nach Betlehem, das in Judäa liegt. Das ist der Ort, aus dem König David stammte. Er mußte dorthin, weil er ein Nachkomme Davids war. Maria, seine Verlobte, ging mit ihm. Sie erwartete ein Kind … Plötzlich stand neben dem Engel eine große Schar anderer Engel, die priesen Gott und riefen: ›Alle Ehre gehört Gott im Himmel! Sein Friede kommt auf die Erde zu den Menschen, weil er sie liebt!‹« Das Geschehen bleibt wunderbar, wunderlich genug – aber wie glasklar ist es plötzlich ausgedrückt! So glasklar, wie es das für den Sprecher des Griechischen vor nun fast zweitausend Jahren war, also »wirkungsäquivalent«. Glasklar – aber wer möchte sich schon die schöne Weihnachtsstimmung davon verderben lassen? Der normale Übersetzer indessen hat es nicht mit der Bibel zu tun, hinter ihm steht keine Kirche, die sein Werk durchsetzte, er überträgt auch nicht aus einer superioren in eine inferiore Sprache; also unterläßt er es auch besser, die Zielsprache zur Herkunftssprache hin zu verbiegen. Er hält sich besser an das, was vor allem der englische Linguist Eugene A. Nida – gar nicht praxisfern wie mancher deutsche Übersetzungstheoretiker – wie es scheint mit ziemlicher Endgültigkeit formuliert hat: »Der Übersetzer muß sich um Gleichwertigkeit und nicht um Gleichheit bemü260
hen. (Er soll) nicht die Aussageform erhalten, sondern den Inhalt der Botschaft wiedergeben … Der guten Übersetzung merkt man es nicht an, daß sie eine Übersetzung ist … Obwohl der Stil gegenüber dem Inhalt zweitrangig ist, ist er dennoch wichtig. Poesie sollte nicht wie Prosa übersetzt werden, noch eine Abhandlung, als sei sie Erzählgut … Bei dem Versuch, den Originalstil wiederzugeben, muß man sich jedoch davor hüten, etwas zu schaffen, das nicht wirkungsgleich ist. Markus verwendet ein typisch semitisches Griechisch, wenn er immer wieder die Konjunktion kai ›und‹ gebraucht, um viele Sätze einzuleiten. Das ist völlig angemessen semitisiertes Koinē-Griechisch, weil es die entsprechende Verwendung der hebräischen Konjunktion waw genau wiederspiegelt. In Luthers Übersetzung werden die meisten dieser Konjunktionen wörtlich wiedergegeben, mit dem Ergebnis, daß mehr als 30 Sätze in Markus 1 mit ›und‹ anfangen. Dadurch entsteht … der Eindruck von ›Kindersprache‹ … Wenn ein hoher Prozentsatz von Lesern die Wiedergabe eines Textes in der eigenen Sprache nicht versteht, kann nicht von einer legitimen Übersetzung gesprochen werden … Die Elberfelder Bibel sagt zum Beispiel: ›Denn auch das Verherrlichte ist nicht in dieser Beziehung verherrlicht worden, wegen der überschwenglichen Herrlichkeit‹ (2. Korinther 3,10). Riethmüller baut diese Stelle ganz richtig um, daß sie lautet: ›Mehr noch: Jene Herrlichkeit verblaßt sogar völlig vor diesem alles überstrahlenden Glanz.‹ … Ein guter Übersetzer wird keiner Sprache die formale Struktur einer anderen aufzwingen, sondern bereit 261
sein, jede notwendige Änderung der Form vorzunehmen, um die Botschaft in den natürlichen Strukturformen der Empfangersprache wiederzugeben.« Was Nida hier an praktischen Beispielen der Bibelübersetzung erläutert, ist erstens das Prinzip der Funktionalität. Es gibt nicht die an sich gute Übersetzung; mehr oder weniger gut kann eine Übersetzung nur im Hinblick auf die Funktion sein, die ihr zugedacht ist. Die Interlinearversion für den Lateinschüler wird anders aussehen müssen als die wortgenaue Übersetzung für den Fachmann der Altertumswissenschaften, und diese wieder anders als eine Fassung, die das nichtfachkundige Publikum verständlich finden soll. Das zweite Prinzip ist eben das der Wirkungsäquivalenz: Die Übersetzung soll bei ihrem Publikum möglichst die gleichen Gedanken und Assoziationen und Gefühle auslösen wie das Original bei dem seinen, sie soll auch ebenso zugänglich sein, ebenso verständlich. Dem Übersetzer bürdet das Prinzip der Wirkungsäquivalenz neben der Wiedergabe von Propositionen und Registern noch eine dritte Aufgabe auf: Er muß jederzeit abschätzen können, ob sein Autor eine in seiner Sprache konventionelle Sprachfigur gebraucht, die er äquivalent mit einer gleichfalls konventionellen Figur der Zielsprache ausdrücken muß, oder ob der Autor sich von der Konventionalität entfernt. So long and soon see, sagt eine Figur in Nabokovs Roman »Durchsichtige Dinge«, und das darf eben nicht tschüß und bis bald heißen. Eine Übersetzung nach dem Prinzip der Wirkungsäqui262
valenz wird einige Regeln einhalten, die Regeln der praktischen Vernunft sind und keine Theorie: 1. Inhalt geht vor Form, Sinn vor Klang. Wortspiele, Reime, Rhythmus, Assonanzen, Alliterationen, also Effekte, die an den Lautcharakter der Originalsprache gebunden sind, werden sich nur in Fällen zufälliger glücklicher Übereinstimmungen zwischen beiden Sprachen wiedergeben lassen. Wo diese Effekte konstitutiv sind, etwa bei einem Buch wie Carrolls »Alice im Wunderland«, müssen größere Sinnabweichungen hingenommen werden. 2. Gleiche Wörter sind nicht immer gleich zu übersetzen. In jeder Sprache wird die Wirklichkeit durch die Begriffe etwas anders aufgeteilt, und selbst gleichbedeutende Begriffe, vor allem Abstrakta und Gefühlsbegriffe, haben einen unterschiedlichen Nimbus von Konnotationen, mit dem zu rechnen ist. Wer aus dem Deutschenins Spanische übersetzt, kann einen so klaren Begriff wie Ecke nicht immer gleich übersetzen. Er muß von Fall zu Fall zwischen rincón (Zimmerecke), esquina (Straßenecke), ángulo (Winkel), porción (Käseecke) und so weiter hin- und herwechseln. 3. Der Übersetzer soll keine Kultur-,sondern eine Sprachübersetzung leisten. Eine Kulturübersetzung würde eine Wendung wie Fish’n Chips nicht nur sprachlich übersetzen (so daß so etwas wie »Fisch un’ Fritz« herauskäme), sie würde fragen, was denn ein eiligerdeutscher Städter an einer Imbißbude äße, und wartete mit einer Lösung wie »Currywurst« auf. Das führt schnell zu grotesken Ergebnissen. Die Kulturübersetzung ließe die Wüstensöhne auf Pferdenstatt 263
auf Kamelen ins Dorf statt in die Oase mit ihren Kirchtürmenstatt Minaretts reiten, und aus dem Colablätter kauenden, Pulquetrinkenden Indio machte sie einen biertrinkenden Kaugummikauer. All das ist völlig unannehmbar. 4. Um den Inhalt zu wahren und dem Sprachfluß seinen jeweiligen Grad an »Natürlichkeit« zu erhalten, müssen grammatische undsemantische Formen zuweilen geändert werden, um so mehr, je größer der kulturelle, zeitliche und sprachliche Abstand zwischen den beiden Sprachen ist. »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit« ist wörtlich richtig, aber nahezu unverständlich und höchst unnatürlich. Handelte es sich nicht um die Bibel, so müßte die Übersetzung lauten: »Das Wort wurde ein Mensch und lebte eine Weile bei uns. Wir sahen seine Herrlichkeit. Sie zeigte sich in dem, was er, der einzige Sohn, von seinem Vater erhielt: das Geschenk der göttlichen Wahrheit.« 5. Oft kommt es vor, daß die Kulturtatsache, die ja nicht eingedeutscht werden sollte, gerade in einer bestimmten Sprachtatsache besteht – in einer für die fremde Kultur typischen Redefigur, einer Begrüßungsformel etwa, einer Anrede, einem Anruf, einer Beschimpfung, einer illustrativen Metapher. Dann sollte, durch eine relativ wörtliche Übersetzung, konsequent die Kulturtatsache in ihrer Fremdartigkeit erhalten bleiben. Zwar könnte der Übersetzer den mit Schalom grüßenden Israeli durchaus »Guten Tag« oder »Servus« sagen lassen; aber wahrscheinlich wird er die Kultur264
tatsache, daß die Grußformel in Israel »Friede« lautet, für so mitteilens-wert halten, daß er die deutsche Sprache vorsichtig zur Quellsprache hinbiegt – oder das Schalom unübersetzt stehen läßt. Der Amerikaner flucht son of a bitch, wo der Deutsche ein Schimpfwort wie »Mistkerl« oder »Arschloch« gebraucht. So wird der Übersetzer wahrscheinlich die Kulturtatsache der sexuellen Beschimpfung erhalten wollen und einen eigentlich undeutschen Huren- oder Hundesohn oder gar den ganz wörtlichen Sohn einer Hündin wählen. Er wird vielleicht auch die Kulturtatsache erhalten wollen, daß die Quellsprache mit sehr viel mehr Diminutiven arbeitet als die deutsche, und so etwa das russische Väterchen und Mütterchen stehenlassen. Auch metaphorische Wendungen mag er zuweilen mit gutem Grund in ihrer kulturellen Fremdartigkeit bewahren wollen, etwa das semitisch-biblische »er sammelte feurige Kohlen aufsein Haupt«, das sonst einfach »er machte ihm schwere Vorwürfe« lauten müßte. Die Erhaltung von sprachlichen Kulturtatsachen läuft darauf hinaus, daß am Ende denn doch meist auch die Originalsprache durchscheint; sie ist eine Hintertür, durch die die Zielsprache schließlich doch ein wenig zur Herkunftssprache hinübergebogen wird. Auf diese Weise läßt sich sogar eine leichte Verfremdung der deutschen Grammatik rechtfertigen, denn auch grammatische Eigenheiten lassen sich schließlich als Kulturtatsachen interpretieren. Bei nah verwandten Sprachen stellt sie auch kaum ein Problem dar. Bei Sprachen mit einer sehr unähnlichen Syntax dagegen wird eine solche Verbiegung nicht möglich sein, und soweit sie möglich 265
wäre, erzeugte sie so lächerliche oder unverständliche Ergebnisse, daß selbst Schleiermacher nicht auf ihr bestanden hätte. Agglutinierender Satzbau etwa (also die Herstellung syntaktischer Bezüge durch Silben, die den Stammformen angehängt werden) läßt sich in indogermanischen Sprachen kaum nachahmen; täte man es, so käme zum Beispiel die türkische Entsprechung zu »meine Häuser« (evlerim) als »Hausmein-mehrere« heraus. Wie ein Nutka-Indianer auf der Vancouver-Insel spräche, etwa den Satz, dessen Lautgestalt mit tl’ imsh-üa-’is-ita-’ itl-ma nur höchst unvollkommen angedeutet ist, läßt sich unmöglich in seiner vollen kulturellen, syntaktischen und lexikalischen Fremdheit wiedergeben. Heraus käme bestenfalls so etwas wie »Gekochtes-Essendeaufsuchen-tut-er«. Andererseits wäre auch die vollständige Überführung in die äquivalente deutsche Formel »Er lädt Gäste zum Fest ein« nicht eben zufriedenstellend, weniger weil ihr die Nutka-Syntax, sondern vielmehr weil ihr die Kulturtatsache abhanden gekommen wäre, daß das Fest für den Indianer im Genuß gekochten Fleisches besteht und er die Gäste selber herbeiholt. Also wird der Übersetzer Kompromisse suchen müssen. Vielleicht stünde in seiner Fassung dann so etwas wie »Er holt Gäste zum festlichen Fleischessen«. An solchen Beispielen wird die Zuversicht, daß es adäquate Übersetzungen zwischen sehr verschiedenen Kulturen und Sprachen geben könne, leider zuschanden. Sie lassen das Übersetzen weniger als eine triumphale Kunst und mehr als einen letzten Notbehelf erscheinen. Das Prinzip der Wirkungsäquivalenz enthebt den Über266
setzer nicht der Notwendigkeit, sich laufend zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden (und erst recht nicht der anderen, sich die Möglichkeiten zunächst einmal einfallen zu lassen). Er erlebt ständig, wie die Erhaltung des einen – des Sinns, des Satzbaus, des Klanges, der aus dem Text verweisenden Allusionen, der Natürlichkeit – eine Einbuße an dem anderen mit sich bringt, und muß versuchen, den Schaden zu minimieren, Kompromisse zu schließen, ein Gleichgewicht zu finden – und das alles im Rahmen dessen, was Stil heißt und ebenso schwer definierbar wie greifbare Realität ist. Am Anfang der Computerzeit dachten einige, eines Tages würde ein Maschinenübersetzer den »Humantranslator« ablösen können. Es besteht kein Grund, dies schadenfroh ein für allemal auszuschließen, in dem üblichen Ton: Na also, da braucht man uns Menschen doch noch. Computer haben in wenigen Jahrzehnten menschliche Intelligenzleistungen simuliert und weit übertroffen, die man noch vor einem Menschenalter für völlig unnachahmlich gehalten hätte. Aber der Computer, der mehr täte, als sehr reduzierte und völlig normierte Fachsprachen ineinander zu übersetzen, ist tatsächlich nicht in Sicht und bei den Versuchen, zu erfassen, was der Humantranslator denn nun eigentlich genau tut, nur in immer weitere Ferne gerückt. In der Euphorie des Anfangs hat man den Computer über- , weit mehr aber noch den menschlichen Geist unterschätzt. Das beginnt bei den Eingabeschwierigkeiten. Der Geist hat eine ganz erstaunliche Fähigkeit, Wörter und Sätze in 267
den verschiedensten Aussprachen zu erkennen und auch dann, wenn einzelne Bestandteile gröblich entstellt oder völlig ausgelöscht sind. Ein geschriebenes Wort erkennt er in den verschiedensten Schriften. Der Computer ist vor verstümmelten oder zu stark von der Norm abweichenden Lautoder Schriftzeichen hilflos und »versteht gar nichts mehr«. Der Geist versteht so effizient, weil er ständig Erwartungen errechnet: Er hat Hypothesen über den Zusammenhang und braucht einzelne Zeichen (Laute oder Striche) nur so weit zu analysieren, daß er bestimmte Hypothesen ausscheiden und andere bestätigen kann. Er muß nicht das Ende einer Äußerung abwarten, um sie bearbeiten zu können. Er erzeugt seine Hypothesen schon laufend, während er sie hört oder liest. Das läßt sich leicht demonstrieren. Diese Striche wird niemand entziffern können:
Aber im Zusammenhang werden sie sofort klar:
Wir füllen ständig aus dem Zusammenhang auf, was uns im einzelnen unentzifferbar bleibt. Auch fast unleserliche Schrift, auch fast unverständliche Sprache verstehen wir, wenn wir nur ein wenig über den Zusammenhang wissen, in dem ein Wort oder eine Äußerung steht. Darum werden wir auch mühelos mit großen Normabweichungen fertig. Der 268
Computer hat diese Fähigkeit (noch) nicht. Jeder falsche Abstrich an einem Buchstaben, jedes Räuspern macht ihn ratlos. Es wäre schwierig genug, ihm ein ausreichend differenziertes Lexikon einzugeben. (Die kleinen Dolmetsch-Computer in der Größe eines Taschenrechners haben ein Lexikon von 4000, ihren fremdsprachigen Pendants 1:1 gegenüberstehenden Wörtern; es ließe sich auf drei Dutzend Taschenwörterbuchseiten unterbringen und ist also nur wenig mehr als Null.) Sein Lexikon müßte berücksichtigen, daß sich Wörter sehr häufig eben nicht 1:1, nicht linear übersetzen lassen – er müßte also etwa entscheiden können, wann das deutsche Eis im Italienischen mit ghiaccio (Natureis) und wann mit gelato (Speiseeis) wiederzugeben ist. Auch ephemere Gelegenheitswörter (den Rentensumpf, das Umweltimage) müßte er analysieren und selber erzeugen können. Satzfehlern und Wortspielen müßte er gewachsen sein (und also entscheiden können, ob der Einsatz von Mikroprofessoren ein Versehen oder ein Kalauer ist – und falls letzteres der Fall wäre, wie das zu verstehen ist). Spontan gebildete übertragene Begriffe müßte er als solche erkennen können (Eis im Blick), und dazu müßte er das Tertium comparationis aufspüren. Noch viel schwieriger wäre es, die Grammatik zweier Sprachen so explizit und unzweideutig und vollständig zu analysieren, daß der Computer eine Form in eine gleichwertige andere Form verwandeln kann – vorläufig ist an nichts Derartiges auch nur zu denken. Und selbst wenn er das alles könnte, hätte er immer noch keinen Stil – nämlich kein Kriterium, nach dem er unter konkurrierenden Wörtern und 269
Satzformen wählen kann. Aber eben noch vorstellbar ist, daß ihm auch der eines Tages beigebracht wird. Die Hauptschwierigkeit bliebe aber selbst dann ungelöst. Die Sprache ist kein sozusagen digitales System, in dem jeder Begriff eine genau bestimmte und scharf begrenzte Bedeutung besäße. Die Grenzen der Begriffe .verfließen, Begriffe gehen ineinander über, decken sich teilweise, haben neben ihrer Bedeutung bestimmte, sich verändernde Wertigkeiten, die Spuren ihrer Geschichte und ihr gegenwärtiges emotionales Standing. Und die Sprache ist auch kein abgeschlossenes System, keins, in dem keine anderen als sprachliche Operationen stattfinden. Die Sprache ist aufs engste mit unserem gesamten »Weltwissen« verbunden. Die meisten Wörter und Sätze sind mehrdeutig. Wenn wir sie meist dennoch ohne weiteres verstehen, so weil wir sie im Lichte unseres gesamten Weltwissens interpretieren. Die Plakatbotschaft Jugendarbeit heute in der Sackgasse verstehen wir auf Anhieb und ohne Hilfe aus dem Kontext richtig. Damit aber der Computer ihr nicht den Sinn »An diesem Montag arbeiten Jugendliche in einer Straße mit nur einem Zugang« gibt, müßte er eine Menge über Sackgassen, Jugendliche und Arbeit wissen. Ein Satz wie Die Fliege frißt die Spinne enthält keinen linguistischen Hinweis darauf, wer hier wen frißt; wenn wir ihn richtig verstehen, so nur, weil wir einiges über die Freßgewohnheiten von Fliegen und Spinnen wissen. All ihr linguistisches Wissen hülfe der Maschine angesichts solcher Sätze überhaupt nichts. Ein Satz wie Die Spitze des Werks weicht dem Druck der 270
Presse enthält fünf Inhaltswörter. Nur die groben gezählt, enthalten sie vier plus vier plus zwei plus drei plus zwei Bedeutungen. Das ergibt 192 verschiedene Kombinationen. Sie alle müßte der Computer nachprüfen. Der menschliche Geist eliminiert die allermeisten auf der Stelle; zum Beispiel macht ihm das »dem« nach »weicht« klar, daß hier kein Aufweichen gemeint ist, und schon sind es nur noch 96 Bedeutungen. Dieser Satz ist so beschaffen, daß am Ende zwei Sinnmöglichkeiten übrig bleiben; er selber bietet keine Handhabe, das Dilemma zu lösen, und ist darin wie ein Necker-Würfel, jene Umrißzeichnung eines Würfels, die man wahlweise entweder als einen Würfel von schräg oben oder einen von schräg unten sehen kann. Hat die Leitung eines Unternehmens einer Zeitungspolemik nachgegeben? Oder wird ein Kunstwerk unter einer Presse zertrümmert? Um solche Ambiguität zu lösen, ziehen wir schlechterdings jedes Mittel heran: wer den Satz sagt, in welcher Situation er ihn sagt, in welchem Ton er ihn ausspricht. Tatsächlich ist er nur zweideutig, solange er, wie hier, aus jedem Konund Kotext säuberlich herausgelöst ist. Das mindeste zusätzliche Licht auch aus der unvorhersehbarsten Richtung löst die Ambiguität sofort. Sätze, die ihren Hörer/Leser auf eine falsche Fährte locken und erst von , ihrem Ende her richtig verstanden werden können, gibt es fast nicht, und wo sie vorkommen, wirken sie humoristisch: »Drohend pflanzte sich der Boxer vor ihm auf und verfolgte jede seiner Bewegungen, bereit zum Angriff- doch dann bellte er nur.« Gerade wegen der Unschärfe ihrer Operationen, die dann 271
in ihrer Summe aber doch wieder ein nicht unbeträchtliches mittleres Schärfenniveau erzeugen, ist Sprache für den »maschinellen Übersetzer« so schwer zu handhaben. Darum wird es in absehbarer Zukunft keinen Ersatz für den Humantranslator geben.
272
Das englische Original: THE REVENGE BY GRAHAM GREENE
When I was a boy I must have read Q’s novel Foe-Farrell three or even four times. It was a dramatic story of a mans revenge and I very much wanted an opportunity for dramatic revenge. As I remember the tale apolitical demagogue ruined the experiments of a great surgeon by inciting a mob to wreck his laboratory where it was believed that he was practising vivisection. From that moment Foe (or was it Farrell?) pursued Farrell (or was it Foe?) across the world and through the years with the one object of revenge—I think he even found himself alone in an open boat on the Pacific with his enemy, improbable though this may seem. Then under the long drawn torture of the pursuit the characters changed: the pursued took on nobility, the pursuer the old vulgarity of his enemy. It was a very moral story, but I dont think it was the climax that interested me—simple revenge was what I wanted. For there was a boy at my school called Carter who perfected during my thirteenth and fourteenth years a system of mental torture based on two aspects of my rather difficult situation— my father was headmaster and my elder brother head of my house. Carter had an adult imagination—he could conceive the conflict of loyalties, loyalties to my age group, loyalty to my father and brother. The sneering nicknames were inserted like splinters under the nails. 273
I think that in time I might have coped with Carter—there was an element of reluctant admiration, I think, on both sides. I admired his ruthlessness and in an odd way he admired what he wounded in me. Between the torturer and the tortured arises a kind of relationship—so long as the torture continues the torturer has failed, and he recognises an equality in his victim. I never seriously in later years desired revenge on Carter. But Watson was another matter. At that period of my life I had very few friends. I was isolated like a black-leg—“Old So-and-So’s son”. Watson was one of these friends and he deserted me for Carter. He had none of Carter’s finesse—Carter continually tempted me with offers of friendship snatched away like a sweet, but leaving the impression that somewhere sometime the torture would end, while Watson imitated him only at a blundering unimaginative level.
274
Als abschreckendes Beispiel: EINES MANNES VERSTEINERTE RACHE VON N. N.
Als ich noch ein kleiner Junge war, da mußte ich wohl mal die Novelle Foe/Forrel von Sir Arthur Quiller-Couch (1863– 1944) dreimal, wenn nicht sogar viermal gelesen haben. Es war der hochdramatische Bericht von einer eiskalten Racheaktion, die ein Mann ausübte, und sie flößte mir allmählich den inbrünstigen Wunsch nach einer günstigen Gelegenheit ein, genauso gnadenlos Rache zu nehmen. Wie ich die Mär im Gedächtnis habe, ruinierte ein politischer Gewaltherrscher die experimentelle Versuchsreihe eines berühmten Wundarztes. Er verführte ein paar zwielichtige Gesellen und stachelte diese lärmenden Rebellen dazu an, seine wissenschaftlichen Arbeitsräume zusammenzuschlagen. Der Wundarzt, es ist sicher, sezierte dort nämlich lebendige Menschen!!! Von diesem Moment an jagte Foe Forrel (oder hießen sie umgekehrt) bis an alle Enden der Erde und durch die Jahre hindurch als das einzige Objekt seiner: RACHE. Ich vermute, daß er inmitten eines offenen Schiffes, mit seinem Widersacher, zeitweise auf dem Atlantik schwamm – unwahrscheinlich, aber möglich. Unter der langgezogenen Tortur der Verfolgung änderten sich plötzlich die Charaktere: Das Wild nahm eine erhabene Gesinnung an, den Jäger überkam die gewohnte Niedrigkeit seines Feindes. Es war eine Story 275
mit einer tiefen Ethik, aber für diese höheren Aspekte hatte ich damals noch kein Verständnis – ich lechzte nach Rache an sich. Da war ein Knabe in meiner Schule, Carter geheißen. Der übte an mir, in meinem vierzehnten und fünfzehnten Schuljahr war es, ein System intellektueller Quälerei aus, das auf zwei wunden Punkten meiner Situation fußte. Er dachte sich zum Beispiel einen Loyalitätskonflikt aus, indem er meine schuldige Ergebenheit gegenüber meinem Vater und die Gefolgschaftstreue gegenüber meinem Jahrgang auf die Probe stellte. Die hohnlächelnden Übernamen, die er jenen gab, wurden mir hingeschmissen, wie Splinter unter die Nägel.
276
Alone he would have had no power to hurt. None the less it was on Watson that I swore revenge, for with his defection my isolation became almost complete. For many years when I thought back on that period, I found the desire for revenge alive like a creature under a stone. The only change was that I looked under the stone less and less often. I began to write, and the past lost some of its power—I wrote it out of me. But still every few years a scent, a Stretch of wall, a book in a shelf, a name in a newspaper, would remind me to lift the stone and see the creature move its head towards the light. In December 1951 I was in the shop of the Cold Storage Company in Kuala Lumpur buying whisky for Christmas which I was going to spend in Malacca. I had just got back from a three day jungle patrol with the 2/7th Gurkha Rifles in Pahang, and I was feeling very tired of Malaya. A voice said, “You are Greene, aren’t you?” A foxy-faced man with a small moustache stood at my elbow. I said, “Yes, I’m afraid … “ “My name is Watson.” “Watson?” It must have been a very long time since I had lifted the stone, for the name at first meant nothing to me, nor the flushed colonial face. “We were at school together, dont you remember. We used to go around with a chap called Carter. The three of us. Why, you used to help me and Carter with our Latin prep.” At one time, in the days when I still day-dreamed, I would imagine meeting Watson at a Cocktailparty and smacking his 277
face in public. Nothing could have been more public than the Cold Storage Company of Kuala Lumpur during the Christmas rush, but all I could find to say was, “I didn’t think I was any good at Latin.” “Better than we were anyway.” I said, “What are you doing now?” “Customs and excise. Do you play polo?” “No.” “Come along and see me play one evening.” “I’am just off to Malacca.” “When you get back. Talk over old times. What inseparables we were—you and me and old Carter.” It was obvious that his memory held quite a different impression to mine.
278
M. E. konnte ich damals sogar mit dem Carter kämpfen. Da war recht eigentlich in der Urtiefe ein Körnchen von Bewunderung auf beiden Seiten. Ich bewunderte seine Kaltschnäuzigkeit, und er stellte mit einer gewissen Bewunderung fest, was er alles in mir verwundete. Zwischen dem Quälgeist und dem Gequälten entsteht ja gemeinhin so etwas wie ein inniges Freundschaftsverhältnis. Wenn der Quälgeist quält, ist er schuldig und hat damit versagt, und der Gequälte tut es ihm gleich. In späteren Jahren habe ich nie mehr ernsthaft den Wunsch nach Rache gegen Carter gespürt. Der Watson war eine andere Sache. In jener Lebensperiode habe ich sehr wenig Freunde gehabt. Ich war isoliert wie ein Schwarzfußindianer – der da, der ist »des alten Eckenstehers Sprößling«. Watson war einer von diesen Freunden, aber er stand weiter hinter Carter zurück. Wir haben niemand gehabt, der Carters Verschmitztheit gehabt hat. Carter verleitete mich dauernd mit Freundschaftsangeboten, die ich ihm wie eine süße Labe wegriß, wobei er den Eindruck hinterließ, daß die Marter eines Tages an irgendeinem Ort zu Ende gehen wird, während Watson ihn nur imitierte. Ich habe Watson trotzdem Vergeltung geschworen, denn durch seinen Treuebruch war ich völlig isoliert. Wenn ich mich viele Jahre später an diese Periode zurückerinnerte, dann fand ich in mir Rachegier. Sie gleichte einem Käfer, den man unter einem Felsblock gefangen hält! Die einzige Wandlung war, daß ich unter dem Felsblock immer weniger oft nachguckte. Ich begann zu Schriftstellern, und 279
die Vergangenheit verlor ein bißchen an Gewalt. Ich schrieb es mir von der Seele ab. Aber alle paar Jahre pflegten mich ein Parfüm, der Anblick eines Schulgebäudes, ein Buch auf einem Bord, ein Name in einer Zeitung zu erinnern, den Stein wegzurollen. Ob das Biest noch lebte, den Kopf aufbäumte und ins Licht blinzelte? Dezember 1951. Ich war in der Handelsniederlassung der Gekühltwaren-Kompanie in Kuala Lumpur, um eine Flasche Whisky zu kaufen, die ich auf Malacca zu Weihnachten einigen Bekannten spendieren wollte. Ich war soeben von einer dreitägigen Jungelpatrouille mit 2/7. Gurkhagewehren in Pahang zurückgekehrt, und ich hatte von Malaja die Nase sehr voll. Eine Stimme rief: »Ist das nicht der alte Green, was?« Ein listig aussehender Mann stand an meinem Ellbogen. »Ja, leider!« Darauf der andere: »Ich heiße Watson!« »Watson?« Es muß eine sehr lange Zeit gewesen sein, seitdem ich den Stein gelüpft hatte, denn zuerst sagte mir der Name gar nichts. Auch nicht das Gesicht, das so aufgedunsen war, wie es für Kolonialisten typisch ist. »Mensch, wir sind doch zusammen auf die Penne gegangen. Wir pflegten doch immer mit einem Burschen zu verkehren, der Carter hieß. Wir alle drei. Ei, du halfest doch mir und dem Carter immer bei der Lateinpräparation!« Einmal, als ich noch bei Tageslicht an uns zurückdachte, stellte ich mir vor, daß ich Watson auf einer Cocktail-Partie traf und ihm öffentlich eine schallende Ohrfeige runterhaute. Nirgends gab es mehr Menschen als in der Handelsniederlassung der Gekühltwaren-Kompanie von Kuala 280
“What’s happened to Carter?” “He went into Cables and died.” I said, “When I get back from Malacca …” and went thoughtfully out. What an anti-climax the meeting had been. I wondered all the way back to my hotel whether I would ever have written a book if it had not been for Watson and the dead Carter, if those years of humiliation had not given me an exzessive desire to prove that I was good at something, however long the effort might prove. Was that a reason to be grateful to Watson or the reverse? I remembered another ambition—to be a Consul in the Levant—I had got as far as sitting successfully for the viva. If it had not been for Watson … So speculating, I felt Watson sliding out of my mind, and when I came back from Malacca I had forgotten him. Indeed it was only last week I remembered that I had never rung him up, hadn’t watched him play polo, nor exchanged memories of the three inseparables. Perhaps, unconsciously, that was my revenge—to have forgotten him so easily. Now that I have raised the stone again, I know nothing lives beneath it. Copyright Paul Zsolnay Verlag, Wien
281
Lumpur während des Weihnachtsrummels. Aber ich konnte nur sagen: »Ich dachte gar nicht, soviel in Latein getaugt zu haben!« »Du warst jedenfalls besser, als wir es waren.« Ich sagte: »Was hast du jetzt vor?« »Steuerfinanzen und etwas Sport.« »Spielst du Polo?« »Nein.« »Komme mit und schau mir eines abends zu beim Spiel.« »Ich gehe gerade auf Malacca.« »Wenn du zurückkommst. Mal über alte Zeiten klöhnen. Was für Unzertrennliche wir waren – du und ich und der olle Carter.« Sein Gedächtnis hatte offensichtlich einen völlig unterschiedlichen Eindruck als meines behalten. »Was ist mit Carter passiert?« »Starkstrom! Ist abgekratzt!« Ich sagte: »Wenn ich von Malacca zurückkomme«, und ging versonnen aus der Tür. Was war dieses Treffen doch für eine Antizuspitzung gewesen! Auf dem Weg zum Hotel fragte ich mich, ob ich jemals ein Buch geschrieben haben würde, das nicht für Watson und den toten Carter bestimmt gewesen war, und wenn diese Jahre der Erniedrigung und Demütigung in mir nicht den innigen Wunsch ausgelöst hätten zu beweisen – mochte es noch solange – , daß ich zu etwas wenigstens gut war. Sollte ich Watson dafür danken, oder dem Umschwung? Mir kamen andere Gedanken. Konsul in Levant sein … Dasitzen 282
und erfolgreich die Vivats der Menge über sich ergehen lassen … Wie ich noch philosophierte, spürte ich, wie Watsons Bild in meiner Erinnerung verbleichte, und als ich von Malacca zurück war, hatte ich ihn vergessen. Wahrhaftig, es fiel mir erst vorige Woche ein, daß ich nie mit ihm telephoniert habe, daß ich ihm nicht beim Polospiel zugeschaut habe (das er, der Zivilist, mir dem Offizier gegenüber ja nur als Angabe erwähnt hatte) und daß ich mit ihm nie Erinnerungen über die drei Unzertrennlichen ausgetauscht habe. Vielleicht ist es unbewußt meine Vergeltung gewesen – ihn so schnell aus dem Gedächtnis zu verlieren. Als ich den Stein zum letztenmal wegwälzte, kam mir die Erkenntnis: Es war kein Käfer darunter versteckt!!
DER ARGAN-EFFEKT Die Liebe zur Pseudo-Wissenschaft
I
m Nachspiel zu Molières »Hypochonder« findet eine Promotion statt. Der so sehr von der Medizin besessene Argan wird selber unter die Doktoren aufgenommen. Dazu muß er seine wissenschaft liche Qualifikation unter Beweis stellen. Er tut es in schauderhaftem Küchenlatein: empfiehlt für jegliches Gebrechen Einläufe, Abführmittel und Blutegel oder erklärt die einschläfernde Wirkung von Opium mit dessen »virtus dormitiva«, nämlich seiner einschläfernden Wirkung. Die übrigen Doctores sind hellauf begeistert. Unter Vivat-Rufen (»vivat … Novus Doctor qui tam bene parlat«) heißen sie den neuen Kollegen willkommen. Argan wußte, worauf es ankommt. Nicht auf Wissenschaft, wohl aber auf den Anschein von Wissenschaft lichkeit: auf das »bene parlat«, auf das eindrucksvolle, wiewohl leere Parlieren. Es geht ihm nicht um irgendein Verstehen, es geht ihm um Effekthascherei. Das Als-ob genügt völlig; oder vielmehr: gerade das Als-ob stößt auf begierigere Abnehmer, als eine ernsthaftere Bemühung um irgendeine Wahrheit je zu finden hoffen könnte. Dies möchte ich den Argan-Effekt nennen: die dümmliche Verballhornung von Wissenschaft; und den Umstand, daß sie nicht trotzdem, sondern gerade deswegen Anklang findet. 287
Auf den Argan-Effekt ist auch heute, dreihundert Jahre später, noch Verlaß. Sonst könnte keine Werbeagentur männliche Models mit wichtigen und reifen Gesichtszügen in propere weiße Kittel stecken, ihnen zwei oder drei Fremdwörter in den Mund legen (»… Toxine in der Mauer aus Plaque … klinisch getestet«) und hoffen, damit eine Zahnpasta zu verkaufen. Meine These ist die: Auch bei der Eindeutschung wissenschaft licher Literatur ist der Argan-Effekt im Spiel. Nicht nur, nicht immer; rühmliche Gegenbeispiele gibt es manche. Insgesamt ist es dennoch ein schleichender Skandal. Der Argan-Effekt wütet vor allem bei der Betitelung, der Übersetzung und vor allem bei der Auswahl dessen, was überhaupt ins Deutsche übersetzt wird. Er zeigt sich hauptsächlich darin, daß wissenschaft liche oder wissenschaftsbezogene Literatur bei Verlagen, Buchhandel und Publikum immer dann einen Bonus zu genießen scheint und eine größere Chance hat, wenn sie jenes zusätzliche Etwas aufweist: das Pseudohafte, den bewußten Hautgout, den Anflug von Chichi, die faule Stelle, den Touch von Unseriosität. Das alles gibt es in den angelsächsischen Ländern ebenso, sonst wäre diese Ware dort ja nicht zu holen. Aber daneben ist dort eine wissenschaftliche Publizistik heimisch, die ihre Leser für erwachsene und verständige Menschen hält, zwar ohne die Spezialkenntnisse, die der Autor in seinem Buch oder Artikel zusammengetragen hat, aber neugierig auf sie, und das um ihrer selbst willen. Ihnen muß nichts untergejubelt werden. Diese Publizistik setzt voraus, daß es sich lohnt, 288
schwierige Zusammenhänge in unaufgeregter, klarer Sprache und ohne sensationsgeile Aufmöbelung auch den NichtFachleuten auseinanderzusetzen (und tatsächlich schreitet ja die Spezialisierung in den Wissenschaften so schnell voran, daß selbst der Fakultätskollege drei Türen weiter auf dem eigenen Gebiet ein Nicht-Fachmann ist). Daß ein Gegenstand nicht erst dann Interessenten findet, wenn er, bis zur Unkenntlichkeit verdünnt, dem Buchkäufer eine plötzliche und endgültige Erleuchtung, eine mirakulöse Lebenshilfe anbietet. Daß es Buchkäufer gibt, denen bei den marktschreierisch angebotenen Patentmedizinen nicht das Wasser im Mund zusammenläuft, sondern das Würgen kommt. Für solche Bücher und Artikel gibt es im Englischen das nette Wort semipopular, halb volkstümlich. Semi, auf halbem Weg: Der Forscher erkennt in ihnen seine Wissenschaft wieder, findet sogar hin und wieder eine brauchbare Idee in ihnen und genierte sich äußerstenfalls nicht allzu sehr, sie gar zu zitieren; der Laie braucht nicht mehr mitzubringen als Offenheit und die Bereitschaft, sich einen neuen Gegenstand zu überlegen, und er kann sich darauf verlassen, daß ihm keine faulen Eier untergeschoben werden. Diese semipopuläre Tradition fehlt hierzulande weitgehend. Jene Literatur, die sich zwischen technischster Tiefe und seichtester Untiefe auf einem normalen Intelligenzniveau bewegt, ist die Ausnahme. Den Fachleuten erscheint sie zu oberflächlich, und schon gar nicht möchten sie selber sich mit ihrer Abfassung kompromittieren – viel eher üben sie sich in der entgegengesetzten Kunst, auch »Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken« 289
(Sir Karl Popper) – für manche besteht eben darin die ganze Wissenschaft. Und die Laien, sie sind es gewöhnt, daß Wissenschaft eben nichts für sie ist, bis ein Buch oder Artikel sie anmacht wie auf dem Jahrmarkt: He, Sie da, schon mal den sensationellen Ismus und die fabelhafte Logie probiert? Die Beispiele kommen schon noch. Zunächst aber muß eine Frage zumindest aufgeworfen werden: Ist es denn überhaupt nötig, diese Art von Literatur zu übersetzen? Die neue lingua franca, die internationale Sprache der Wissenschaft ist Englisch. Der Wissenschaft ler, der sich an seine zweihundert über die ganze Welt verstreuten Fachkollegen wendet, tut es heute überall auf englisch. Forschungsberichte und selbst Forschungsübersichten werden auf der ganzen Welt und nicht nur in den Naturwissenschaften auf englisch abgefaßt. Es ist kein Geheimnis: Je wichtiger ein Forschungsergebnis, um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß es gleich auf englisch festgehalten wird und die deutsche Sprache nie passiert. Hier, im Erdgeschoß der Wissenschaft, wurde Deutsch sang- und klanglos verabschiedet; hier wird nichts übersetzt und muß nichts übersetzt werden. Die Frage, ob etwas in die deutsche Sprache importiert werden soll, stellt sich erst in den Obergeschossen mit dem breiteren Publikumsverkehr. Dort aber ist die Sache die: Je mehr die wissenschaft lich Tätigen sich auf ihren jeweils eigenen Gebieten des Englischen bedienen, um so eher werden sie auch auf den ihnen ferner liegenden Gebieten mit den englischen Originalen auskommen. Bis eine Übersetzung erscheint, vergehen Jahre; sie wird notwendigerweise immer 290
teurer sein als das Original und ihm selten ganz ebenbürtig. Wozu also der ganze Aufwand der Eindeutschung, wenn die meisten der in Frage kommenden Interessenten mit dem Original selber viel besser bedient sind? So logisch das klingt, es wäre vorerst dennoch schade, wenn sich alle daran hielten. Dann gäbe es eine Eindeutschung wissenschaft licher Literatur nur noch im Dachgeschoß, dort wo die Fete stattfindet, in deren Trubel nur Deutsch gelallt wird. Eine Folge wäre zum Beispiel, daß dem Deutschen die Terminologie immer mehr abhanden käme. Die Wissenschaft handelt ja meist von Phänomenen, die dem bloßen Auge und dem gemeinen Verstand nicht ohne weiteres erkennbar sind und für die die Gemeinsprache darum auch keine Wörter bereithält. Werden diese ständig entstehenden neuen Begriffe nicht sehr bald ordentlich verdeutscht, so werden alle, die sich dennoch ernsthaft über diese Dinge unterhalten wollen, einfach die englischen Termini übernehmen. So kommt es, daß selbst die deutschen Texte immer englischer werden, nämlich immer stärker durchsetzt mit ausgeliehenem Fachvokabular. Für höchst reale Phänomene wie arousal, REM-Schlaf oder split brain gibt es keine brauchbaren deutschen Begriffe. Jeder Text, der sich mit ihnen befaßt, auch der deutscheste, muß sie verwenden – und irgendwann werden dann nur noch die Konjunktionen und Hilfsverben deutsch sein. Dieser Prozeß ist möglicherweise nicht aufzuhalten. An seinem Ende haben wir alle dann zwei Sprachen, eine für den Alltag und eine fürs Denken, und Übersetzungen werden 291
nicht mehr benötigt. Ganz so weit sind wir aber noch nicht. Noch lohnt es sich, in jedem einzelnen Fall abzuschätzen, ob die Eindeutschung nicht doch ein Publikum fände, welches das Original nie erreicht. Es macht sich sogar manchmal bezahlt. Jacques Monods »Zufall und Notwendigkeit« oder Poppers/Eccles’ »Das Ich und sein Gehirn« waren anspruchsvolle Bücher ohne jeden Hauch von Chichi; zur allgemeinen Verblüffung wurden sie sogar Bestseller. Es kann also nicht sein, daß es im deutschen Sprachgebiet – welches allerdings durch seine relative Kleinheit erheblich gehandicapt ist – einfach kein Publikum gibt, das die unhochstaplerische Spielart der »öffentlichen Wissenschaft« von ihren Pseudo-Formen zu unterscheiden weiß. Solange die Frage der Eindeutschung nicht von vornherein negativ entschieden ist, wären Findigkeit und Kompetenz in den Lektoraten, Agenturen und bei den Übersetzungen subventionierenden Stiftungen und Verbänden nach wie vor gefragt. Statt dessen aber scheinen diese Stellen oft, viel zu oft Unfallorte an der Kreuzung von Ahnungslosigkeit und erbarmungsloser Hit-Mentalität zu sein. Das heißt nicht, daß die Verlage alle Schuld an der Malaise trügen. Sie sind in der Tat eingebunden in einen weiteren Zusammenhang, der »Markt« heißt. Darin spielen die Bibliotheken eine Rolle, die, weil nur unzureichend mit Anschaffungsmitteln ausgestattet, nicht genug Bücher abnehmen. Daran wirkt die Presse mit, die jeden Lyrik-Debütanten für wichtiger hält als eine wissenschaft liche Arbeit und, wenn sie einer solchen einmal das Augenmerk schenkt, in 292
Ermangelung von Maßstäben leicht auf jene hereinfällt, die nichts weiter als den Reiz des Aparten, des Nur-Interessanten für sich hat – die Frage, ob irgendein Gebilde, das sich da als neue Theorie präsentiert, denn auch tatsächlich zutreffe, ist man in den deutschen Feuilletons schlechterdings nicht gewöhnt. Als Theorie wird dort jenes Herbe und Trockene goutiert, das irgendwie geistreich wirkt; ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit braucht es nicht zu haben, ja die Feststellung, daß es das durchaus haben könnte und daß es dafür Kriterien gibt, würde wohl meist nur auf ungläubige Verwunderung stoßen. Jetzt wird es bunt. Selbstverständlich kann ich nicht über und für »die Wissenschaft« sprechen; ich übersehe nur einige der Strecken ein wenig, auf denen sich verschiedene Disziplinen – Psychologie, Physiologie, Biologie, Anthropologie, Kybernetik – auf das Geheimnis aller Geheimnisse zutasten, den menschlichen Geist. Das nebensächlichste Gebiet ist es immerhin nicht. Aber wer sich seinetwegen auf den deutschen Bücherbasar wagt, erlebt sein Wunder. Thema Sexualität. Es ist notorisch dafür, daß hier selbst der allerletzte Schrott übersetzt wird. Das Seriösere, sollte man denken, müßte dann doch wenigstens aus Versehen mit unterlaufen. Aber es ist, als würde es gezielt weggefiltert. Das durchaus auch für Nichtfachleute geschriebene Buch von Symons oder Moneys »Love & Love Sickness« sucht man im Deutschen vergebens; sogar Mellens semipopuläre »Evolution of Love«. Keinem der Vermittler scheint es in den Sinn zu kommen, daß irgend jemand ein ernsthaftes Interesse an 293
dieser Seite unseres Lebens haben könnte. Statt dessen drükken sie auf jeden erreichbaren G-Punkt. Thema Intelligenzforschung: Wenige wissenschaft liche Artikel der letzten Jahrzehnte dürften so viele Diskussionen ausgelöst haben wie der IQ-Artikel des amerikanischen Erziehungspsychologen Arthur Jensen aus dem Jahre 1969, der Argumente dafür zusammentrug, daß schulische Interventionsprogramme die Intelligenz nicht drastisch anheben – nebst möglichen Erklärungen, warum es sich so verhält. Jeder anständige Mensch hierzulande hält sich für berechtigt, den »Faschisten« Jensen zu verabscheuen. Gelesen dürften ihn die wenigsten haben. Selbst jenen umstrittenen Aufsatz gab es auf Deutsch nur einmal und in Ausschnitten in einem Sammelband zu lesen. Seine anderen Bücher, die hochkomplizierten (»Bias in Mental Testing«) wie die eingängigen (»Straight Talk About Mental Tests«): Fehlanzeige. Auch die seriösesten anderen, die von Loehlin/Lindzey/Spuhler und von Vernon, sucht man auf dem deutschen Büchermarkt vergeblich. Dabei bin ich sicher: Erschiene morgen auf Haiti ein Buch, das den Leuten einreden möchte, eine im Energiefeld von Mars und Saturn gewachsene Kartoffelknolle, von menstruierenden Jungfrauen zu Mus gestampft, mache jeden zu einer Intelligenzbestie, es wäre schon in der nächsten Saison übersetzt, man würde kaufen und mampfen. Die Übersetzung müßte relativ schnell da sein – nicht, weil jede wissenschaft liche Erkenntnis nach ein paar Jahren sowieso durch eine neue abgelöst wird und infolgedessen auch ohne weiteres übergangen werden könnte. Eben das ist 294
eins der aus dem Argan-Effekt rührenden Mißverständnisse. Wissenschaft ist keine Fabrikationsanlage für endgültige Wahrheiten, sie ist ein offener Prozeß der Wahrheitsfindung unter verschärften Ansprüchen. Dieser Prozeß beschleunigt sich – heute forschen mehr Wissenschaft ler gleichzeitig als in der ganzen Menschheitsgeschichte zuvor. Eine solide wissenschaft liche Erkenntnis wird nicht nach einiger Zeit als falsch ausrangiert; sie geht in einem weiteren Zusammenhang auf, so wie die Newtonsche Mechanik zu einem bedeutenden Sonderfall der Relativitätstheorie wurde. Wissenschaft liche Bücher sind verderblich, aber nicht weil sie soviel Unsinn enthielten, der nach einigen Saisons vom nächsten Unsinn ersetzt würde, sondern weil das ganze Feld in ständiger Bewegung ist, weil dauernd verschiedene neue Erkenntnisse zusammenschießen und die Fragestellungen verschieben. Bei der Eindeutschung müßte man sich also schon beeilen. Wenn ein Pionierbuch der Kybernetik wie der Sammelband zur »Theorie der Automaten« von Shannon/McCarthy (1956) erst, wie geschehen, mit 18 Jahren Verspätung auf deutsch erscheint, so ist es nicht schlecht und nicht falsch, aber ein Museumsstück geworden. Wenn die deutsche Linguistik L. S. Wygotskis »Denken und Sprechen« (1934) erst 35 Jahre später zur Kenntnis nimmt (und das Original, da russisch, dürfte so gut wie niemand gekannt haben), schwant einem Schlimmes. In deutscher Sprache gibt es zum Beispiel nicht: MacLeans so einflußreiche und weittragende Theorie vom »dreieinigen Gehirn«, Pribrams holographische Theorie des Bewußt295
seins, Gregorys verschiedene Bücher über die Mechanismen des Sehens, Premacks Bücher über Intelligenz und Sprache der Menschenaffen, Jerisons maßgebliches »Evolution of the Brain and Intelligence«. Selbst so brillante Schreiber wie Peter Medawar oder Stephen Jay Gould wurden (fast) verschmäht. Die eigentlich wissenschaft lichen Werke des Biologen Edward O. Wilson (vor allem seine epochale »Sociobiology«, 1975) liegen in deutscher Sprache nicht vor; und sein Buchessay »Über die menschliche Natur« (1978) erhielt den deutschen Titel »Biologie als Schicksal« – er ist etwa so sinnvoll, wie es der Titel »Astronomie als Fluch« über einem Essay über Schwarze Löcher wäre. Die so luziden wie ansprechenden psycholinguistischen Standardwerke von Herbert und Eve Clark sowie Donald Foss und David Hakes, Musterbeispiele dafür, daß sich sogar moderne linguistische Fragestellungen in einer Weise abhandeln lassen, daß nicht jeder, der zufällig in ein solches Buch gerät, auf der Stelle entsetzt kehrtmacht: Fehlanzeige. Dafür gibt’s Alexander Lowens gesamte »Bioenergetik«, wird jeder »Urschrei«, jedes Urräuspern aufmerksamst registriert. In Windeseile übersetzt wurde 1983 Derek Freemans Buch über »Margaret Mead and Samoa« (so der englische Titel). Auf deutsch heißt es nun »Liebe ohne Aggression«, und dieser Titel wiederholt eben jene Rattenfänger Strophe von der leichten und problemlosen Promiskuität, den das Buch im Innern als eine abwegige Illusion enthüllt. Der Untertitel macht die Sache nicht besser: »Margaret Meads Legende von der Friedfertigkeit der Naturvölker« behandelt Freemans 296
Buch schon darum nicht, weil Mead eine solche Legende niemals vertreten hat. Nein, es geht darin um nichts anderes als um die Zuverlässigkeit ihrer so immens einflußreichen Recherchen über das Liebesleben junger Samoaner, und ich fürchte, daß jemand, den dieses Thema nicht interessiert, dafür auch mit keinem auf ein modisches Softietum zielenden, irreführenden Titel gewonnen werden kann. Als Turnbulls dramatische Studie über den sozialen Niedergang des Volks des Ik (»The Mountain People«) unter dem deutschen Titel »Volk ohne Liebe« verkauft werden sollte, wohl in der Hoffnung auf zahlende Kunden aus dem Kreis der Pornokinogänger, fiel der Verlag damit auf den Bauch. Aber der Trick wird immer wieder versucht. Es war geradezu eine Sternstunde deutscher Verlegerei, als Jane Lawick-Goodalls großartige Untersuchung über einen Schimpansentrupp in Tansania, die schon einen guten englischen Titel hatte (»In the Shadow of Man«), auf deutsch noch sachlicher und bescheidener und nicht zum Schaden des Verlags einfach »Wilde Schimpansen« genannt wurde. Unerfindlich wird mir bleiben, wie ein Verleger meinen kann, eine Untersuchung über die Machtverhältnisse in einem Schimpansentrupp würde eher Leser finden, wenn sie nicht, wie im Original schon schmissig genug, »Schimpansenpolitik« heißt, sondern »Unsere haarigen Vettern« (der Autor ist Frans de Waal) – ein Buch über »Unsere nackichten Onkel« würde der für solche Studien einzig in Frage kommende Lesertyp doch auch von vornherein nicht kaufen. Der weiß, Wissenschaft ist kein Karneval, und wird hinter der Büttenrede auch keine Wissenschaft suchen. 297
Das Thema Split-Brain, oder die funktionalen Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte, war eines der meistbearbeiteten und aufregendsten neurowissenschaft lichen Gebiete der letzten beiden Jahrzehnte: Wer als Büchermacher dem deutschen Leser Einblick in diese Forschungen geben wollte und auch nur über eine Spur von Sachverstand verfügte (oder sich diesen heranholte), würde einen Sammelband mit Aufsätzen des Nobelpreisträgers Roger Sperry und seiner ehemaligen Mitarbeiter Levy, Nebes, Gazzaniga zusammenstellen, mit dem einen oder anderen Essay von Bogen zur spekulativen Abrundung. Er könnte aber auch auf eine der in den letzten Jahren erschienenen Zusammenfassungen zurückgreifen, die gute von Segalowitz, die höchst lesbare von Springer/Deutsch, die kritische von Bryden oder gar die sehr anspruchsvolle und detaillierte von Bradshaw/Nettleton. Aber mit geradezu unheimlicher Sicherheit wurde gerade das Buch von Blakeslee zur Übersetzung ausersehen, das das mit Abstand ungenaueste und suspekteste zu diesem Thema sein dürfte. Ein mäßiges Buch mehr, was soll’s, kann man vergessen? Jedoch habe ich den Eindruck, daß es nicht trotz, sondern gerade wegen seiner faulen Stellen übersetzt wurde. Einer Vorbemerkung des Verlags nämlich ist zu entnehmen, daß die Übersetzung von einer »Anthropologischen Förderungsgesellschaft m. b. H.« in Auftrag gegeben wurde, die sich von dem »Gedankengut« dieses Buches nicht weniger verspricht als dies: »… die eigentlichen Gründe einer seelenlosen Welt … Antwort darauf, warum in der heutigen Zeit Intuition und Kreativität 298
immer mehr schwinden, warum durch die einseitige Ausbildung des linken Gehirns und die Vernachlässigung der rechten Hirnhälfte automatisch die seelische Dekadenz des Menschen in Form von Lethargie, Aggressivität, Brutalität und Kriminalität zunehmen muß.« Das heißt, das Buch setzt auf eben jene spekulative Links-Rechts-Folklore, die von der Forschung eben nicht gestützt wird. Dann gibt es auch noch ein Buch von Gazzaniga/LeDoux, und warum nicht, es formuliert zwar einen Außenseiterstandpunkt, ohne daß das deutschsprachige Publikum seine Außenseiterhaftigkeit durchschauen könnte, aber ist anregend und schlüssig. Das Original wendet sich an ein breiteres Publikum und heißt darum auch einladend »The Integrated Mind« (1978). Der deutsche Verlag scheint das – eine Art spiegelverkehrter Argan-Effekt – für zu unwissenschaftlich gehalten zu haben und hat daraus »Neuropsychologische Integration kognitiver Prozesse« gemacht, wohl um ja jeden vorwitzigen Leser abzuschrecken, und bei näherer Ansicht tat er recht daran. Aus der Übersetzung werden nämlich selbst die ausgebufftesten Fachleute kaum einen Tropfen Sinn wringen. Eine Kostprobe (es geht um die sogenannte »kognitive Gefühlstheorie« von Schachter/Singer, derzufolge sich alle Gefühle gleich anfühlen, als eine unspezifische Erregung, die nur den Umständen gemäß mit jeweils anderen kognitiven Etiketten versehen wird – eine in der Psychologie hochberühmte, wenn auch nicht gerade glaubhafte Theorie): »Solche Beobachtungen führen uns zu der Vermutung, daß das Gehirn wirklich eine wichtige Rolle bei der Determina299
tion von der Beschaffenheit erlebter Emotionen spielt, während Erkenntnisvorgänge gewiß emotionale Reaktionen in Gang setzen können und die viszerale (sympathische) Erregung bei der Emotion unspezifisch ist. Obwohl diese Anmerkung allzu offenkundig ist, sind die sich daraus ergebenden Folgerungen wegen der Auffassung über die emotionalen Mechanismen im Sinne der ›black box‹ getrübt worden. Diese Auffassung ist das Resultat einer einfachen Billigung der kognitiven Theorie.« Gegen solches außerirdisches Gebrabbel hilft nur der Griff zum Original. Da stand etwa: »Solche Beobachtungen legen die Vermutung nahe, daß zwar Kognitionen emotionale Reaktionen einleiten und daß das Arousal des vegetativen Nervensystems unspezifisch ist, daß die Natur des erlebten Gefühls jedoch durchaus vom Gehirn bestimmt wird. Das ist zwar nur zu offensichtlich; aber die Implikationen wurden davon verdeckt, daß die Gefühlsmechanismen im Gefolge der kognitiven Gefühlstheorie bloß als eine ›black box‹ angesehen wurden.« Für jene Malträtierungen nicht nur der Sprache, sondern des Intellekts sollte der Leser nicht bezahlen, sondern ein Schmerzensgeld verlangen. Und damit bin ich schon beim pursten Chichi. Gute Bücher über Themen aus der Physik sind nicht häufig. (Immerhin gibt es Weinbergs »Die ersten drei Minuten« des Weltalls.) Dafür finden sich in der deutschen Sprache aber Zukavs »Die tanzenden Wu Li Meister«, avisiert als der »Östliche Pfad zum Verständnis der modernen Physik« (der westliche ist wohl zu spießig und schwierig), und es 300
gibt alles von dem – immerhin anregenden – Großmeister des Chichi, dem Physiker Fritjof Capra, dessen Hauptentdeckung in einer mehr als diffusen Analogie besteht, die er als neue Heilslehre predigt: Moderne Physik und östliche Weisheit besagten genau das gleiche. Im kalifornischen Esalen ertrommelt man sich denn inzwischen auch das physikalische Wissen. Capra zur Seite steht eine andere Kalifornierin, die »Hirnreporterin« Marilyn Ferguson, deren Gesamtwerk ebenfalls einer prompten Übersetzung für wert gehalten wurde. Ferguson schafft es, alles, was es überhaupt irgendwo an Schrägem gibt, von Drogen über Schamanismus, Wunderheilen, »ganzheitliche« Medizin zu Rebirthing, Kundalini und außersinnlicher Wahrnehmung, zu einem einheitlichen Labskaus zu verarbeiten, sicher auch manche relativ gesunde Erkenntnis mit in den Fleischwolf reißend. Dieses Mus wird garniert mit ein paar Gürkchen in Form einiger ursprünglich ganz echter, aber von Ferguson zuvor gründlich in paranormaler Lake marinierter wissenschaft licher Theorien. Das Ganze, im Original »Verschwörung im Zeichen des Wassermanns«, auf deutsch »Die sanfte Verschwörung« betitelt, ist ein Plädoyer für jeden Spuk, den die Autorin irgendwie als »Bewußtseinserweiterung« einstufen kann (»Spinner aller Richtungen, vereinigt euch!«), und hat mit Wissenschaft eigentlich nicht das geringste zu tun. Aber es gibt sich als letzter Schrei der Wissenschaft aus und wird von einer nicht kleinen Lesergemeinde wohl auch dafür gehalten. Wie nett und überzeugend klingt doch ein Aufruf zur allgemeinen 301
Gehirnerweichung, wenn er sich – in bester Argan-Manier – als »aquarische Transformation« oder Ähnliches drapiert. Die Übersetzung dieses »Quellenwerks«, dem der Stuß tatsächlich aus jedem Spatium quillt, ist so unbeholfen, sie legt einen so flirrenden Schimmer von Irrsinn über den Traktat, daß es in diesem Fall schon wieder passend wirkt. Besonders gelungen fand ich zwei Fußnoten von rarer Begriffsstutzigkeit. Die eine Stelle lautet: »Das Gehirn ist hoffnungslos komplex. Der Biologe Lyall Watson sprach von dem sogenannten Catch 22-Phänomen der Gehirnforschung: ›Wenn das Gehirn so einfach wäre, daß wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach strukturiert, daß wir es nicht verstehen könnten.‹« Fußnote: »Catch 22 : amerikanischer Anti-Kriegsfilm; steht symbolisch für Sinnlosigkeit und Widersprüchlichkeit.« Zur Erinnerung: »Catch 22« war zunächst einmal ein Roman, von Joseph Heller nämlich, und der Titel spielt an auf eine fiktive militärische Dienstanweisung Nummer 22, die regelt, wann der Frontsoldat in die Irrenstation gesteckt wird: Will er selber in den Kampf geschickt werden, so ist er irre und wird interniert; will er aber selber als verrückt interniert werden, so muß er gesund sein, und deswegen wird er in den Kampf geschickt. Schön ist auch dies: »In einem in der Zeitschrift New Yorker erschienenen Cartoon verkündet ein König, daß er auf diese und jene Art und Weise Humpty Dumpty helfen könnte, aber er benötige dazu mehr Pferde und mehr Männer.« Fußnote: »Humpty Dumpty: Wörtlich: kleine dicke Person; 302
Figur aus einem Märchen von Lewis Carroll. In den USA feststehendes Idiom – Bedeutung hier: das Problem läßt sich nicht auf der Ebene des Problems lösen.« Zur Erinnerung: Humpty Dumpty ist das von der Mauer fallende Ei-Männchen aus dem berühmten alten englischen Kinderreim, das »alle Pferde und alle Mannen des Königs nicht wieder zusammensetzen konnten«, als es von der Mauer fiel. Bedeutung: Unmögliches ist auch dann nicht zu schaffen, wenn mehr als alle sich daran versuchen. (Dieser Humpty-Dumpty des Kinderlieds tritt auch in Lewis Carrolls »Alice im Spiegelreich« auf; ein »Märchen« ist das nicht eben, und auf diesen höchst »unbefriedigenden Herrn« spielt die aquarische Revolutionärin jedenfalls nicht an.) Sollte man die Kindsköpfe beim Spielen mit solchen verborgenen Perlen, die sie vermutlich gar nicht bemerken, nicht sich selber überlassen? Vielleicht. Die bedauerliche Wahrheit ist nur die, daß sich jedem, der sich auf einem Fachgebiet nicht auskennt, sehr leicht ein X für ein U vormachen läßt – es braucht schon einiges an Erfahrung, um auch bei fernerliegenden Themen das Echte vom Unechten, das Solide vom Chichi unterscheiden zu können. Wo sich Okkultismus mit Wissenschaft drapiert, ja wie hier geradezu als unausweichliches Ergebnis alleraktuellster Wissenschaft ausgibt, wo also durchaus eine gewisse Faktenbasis ins Feld geführt wird, fallen solche Unterscheidungen besonders schwer. Darum erreichen solche Bücher nicht nur jene, die sowieso für nichts Besseres empfänglich sind. Sie nehmen Geld und Zeit auch derer in Anspruch, die Besseres vertrügen und denen damit 303
ein groteskes – und übrigens eminent enttäuschbares – Bild der Wissenschaft beigebracht wird. Sie verkleistern die Köpfe und den Markt. Der Argan-Effekt, entstanden aus Maßstablosigkeit, trägt das Seine zur Perpetuierung der Verblödung bei.
ANHANG
NACHBEMERKUNG
Die neun Kapitel dieses Buches gehen zurück auf Aufsätze, die zu anderer Zeit, an anderem Ort und zu anderem Zweck geschrieben wurden. Dennoch handelt es sich nicht um eine pietätvolle Versammlung alter Artikel. Einige (»Neudeutsch« und »Der Jargon der wahren Empfindung«) haben mit den ursprünglichen Fassungen nicht viel mehr als das Thema und eine Reihe von Beispielen gemein. Einige wurden zu größeren Teilen neu geschrieben (»Das wird Ärger machen«, »Wörter und Fahnen«, »Wettbewerb der Übersetzer«). Und alle wurden erweitert und gründlich renoviert: Es wurde reichlich gekürzt, ergänzt, geändert, ausgetauscht. Daß die meisten Beispiele in dem Kapitel über die Sprache des Kulturbetriebs unverkennbar aus den späten 60er Jahren stammen, viele aus den frühen 80ern und nur ganz wenige aus den 70ern, ist schon der »historischste« Zug dieses Buches. Daß mir dies geradezu lieb wäre, kann ich nicht behaupten; andererseits wird auf diese Weise deutlicher, aus welchen Zuflüssen sich die heutige Sprache des Kulturbetriebs gebildet hat. Auch Meinungen habe ich geändert, wo immer die alten mir nicht mehr haltbar schienen (es war seltener nötig als erwartet, am stärksten in dem Kapitel »Wörter und Fahnen«). Denn es sollte hier nicht für die Nachwelt festgehalten werden, was ich irgendwann einmal zu dem oder jenem Thema zu sagen hatte. In diesem Buch steht nur, was ich heute dazu sagen möchte. 307
Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, wann und wo die ursprünglichen Fassungen erschienen sind. »Von Schlaffis, Schmusis und Schleimis – Trends und Triften in der deutschen Gegenwartssprache (I)«, ›DieZeit‹, 17/1981, S. 59f. – »Die Zweierkiste läuft eben nicht mehr – Trends und Triften in der deutschen Gegenwartssprache (II)«, ›Die Zeit«, 18/1981, S. 58f. – »Schön verlogen«, ›Die Zeit‹, 8/1985, S. 63. – »Das brüderliche Du«, ›Die Zeit‹, 20/1980, S. 51 f. – »Echt ätzend, wie du abblockst – Die Sprache der Psychoszene«, ›Die Zeit‹, 40/1983, S. 65f. – »Die der das -Sprache und Sexismus«, ›Die Zeit‹, 17/1984, S. 62. – »Sprache im Kulturbetrieb«, ›Der Monat‹, 247/1969 und 248/1969. – »Wörter und Waffen«, ›Die Zeit‹, 44/1977, S. 47f. – »Der Wettbewerb der Übersetzer«, ›Die Zeit‹, 15/1965, S. 18ff. – »Der Argan-Effekt«, ›Die Zeit‹, 10/1984, S. 41 f. – Die Kurzgeschichte »The Revenge« von Graham Greene wurde mit freundlicher Genehmigung des Paul Zsolnay Verlags in Wien aufgenommen. Einige jener Artikel – vor allem der über Sprache und Sexismus, der über den Psycho-Jargon und der über die Euphemismen – stießen bei manchen Lesern seinerzeit auf empörte Ablehnung. Daß ich bei der erneuten Bearbeitung der gleichen Themen ihren Vorstellungen näher gekommen bin, kann ich nicht versprechen; im Gegenteil, in den meisten Fällen werden sie mich ganz und gar renitent finden. Dieses Buch steht in untergründigem Zusammenhang mit einem zweiten, das gleichzeitig erscheint. Es trägt den Titel »So kommt der Mensch zur Sprache«, ist stärker wissenschaft lich orientiert und stellt – in hoffentlich allgemein 308
zugänglicher Weise – die nach meiner Meinung wichtigsten und deutlichsten jener überaus reichen Erkenntnisse dar, die Psycholinguistik, Neurolinguistik, Paläontologie, Ethnolinguistik und kognitive Psychologie zu einigen der »letzten Fragen« auf diesem Feld gewonnen haben: Wie der Einzelne seine Sprache erwirbt, wann und warum die Gattung Mensch die Sprache entwickelt hat, ob es auch tierische Vorformen von Sprache gibt und ob das Denken in der Sprache gefangen ist. Im Unterschied zu den meisten Sprachkritikern, denen Sprachwissenschaft ein Greuel ist, hätte ich mich ohne diesen sprachwissenschaft lichen Hintergrund zu der Kritik an einigem heutigem Sprachgebrauch, die das vorliegende Buch betreibt, nicht für befugt gehalten. Hamburg, im Juni 1985
Dieter E. Zimmer
BIBLIOGRAPHIE NEUDEUTSCH TRENDS UND TRIFTEN Anonym: Doktor Erika Duck. In: TIP Berlin, 17. 06. 1983 Harndt, Ewald: Französisches im Berliner Jargon. Stapp, Berlin 1977 Henscheid, Eckhard: Großwild-Shooting auf Elephants. In: Eckhard Henscheid: Frau Killermann greift ein. Haff mans, Zürich 1985 Klappenbach, Ruth/Wolfgang Steinitz (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Band 1–6. Akademie-Verlag, Berlin (Ost) 1964-1977 Leonhardt, Rudolf Walter: Auf gut deutsch gesagt. Severin und Siedler, Berlin 1983 Moser, Hugo: Wohin steuert das heutige Deutsch? – Triebkräfte im Sprachgeschehen der Gegenwart. In: Hugo Moser/Hans Eggers/Johannes Erben/ Hans Neumann (Hrsg.): Sprache der Gegenwart, Band 1: Satz und Wort im heutigen Deutsch. Schwann, Düsseldorf 1967, S. 15–35 Reiners, Ludwig: Stilkunst. Beck, München 1943, 1961 Schöps, Hans Joachim: Eine unsäglich scheußliche Sprache – Die westdeutsche Industriekultur verliert ihre Schriftkultur. In: Der Spiegel, 38(28)/09. 07. 1984, S. 126–136 Skasa-Weiß, Ruprecht: Tendenzen der Gegenwartssprache I–VII. In: Stuttgarter Zeitung, 13./20./27. 12. 1980, 03./10./17./24. 01. 1981 Sparmann, Herbert: Neues im deutschen Wortschatz unserer Gegenwart. In: Sprachpflege, 28 (5)/1979, S. 103–105 Twain, Mark (Samuel L. Clemens): The Horrors of the German Language (1897). In: Mark Twain’s Speeches. Harper, New York NY 1910, S. 43 bis 52 Wiesendanger, Harald: Die philosophische Krankheit. In: Die Zeit 52/1982, S. 30
310
WÖRTER EMPOR ÜBER DIE VERSCHÖNERUNG DER WELT DURCH SPRACHLICHE MASSNAHMEN Henscheid, Eckhard/Carl Lierow/Elsemarie Maletzke/Chlodwig Poth: Dummdeutsch – Ein satirisch-polemisches Wörterbuch. Fischer TB, Frankfurt 1985 Schopenhauer, Arthur: Über Schriftstellern und Stil. In: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, Kp. 23. A. W. Hayn, Berlin 1851
DAS BRÜDERLICHE DU ÜBER ANREDEKONVENTIONEN Ammon, Ulrich: Zur sozialen Funktion der pronominalen Anrede im Deutschen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 7/1972, S. 73– 88 Bayer, Klaus: Die Anredepronomina Du und Sie. In: Deutsche Sprache, 3/1979, S. 212–219 Ervin-Tripp, Susan M.: Sociolinguistic Rules of Address. In: J. B. Pride/ Janet Holmes (Hrsg.): Sociolinguistics. Penguin, Harmondsworth 1972, S. 225 bis 240 Henscheid, Eckhard: Er Hundsfott, halt er’s Maul! In: Eckhard Henscheid: Frau Killermann greift ein. Haff mans, Zürich 1985 DIE, DER, DAS SPRACHE UND SEXISMUS Ayren, Armin: Nieder mit der Sprache der Männer! In: Stuttgarter Zeitung, 11. 09. 1981 Martina, Wendy: The Psychology ofthe Generic Masculine. In: Sally McConnell-Ginet/Ruth Borker/Nelly Furman (Hrsg.): Women and Language in Literature and Society. Praeger, New York NY 1980, S. 69–78
311
Moulton, Janice/George M. Robinson/Cherin Elias: Sex Bias in Language Use. In: American Psychologist, November 1978, S. 1032–1036 Trömel-Plötz, Senta/Ingrid Guentherodt/Marlis Hellinger/Luise F. Pusch: Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs. In: Linguistische Berichte, 71/1981, S. 1–7 Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.): Frauensprache – Sprache der Veränderung. Fischer TB, Frankfurt 1982 Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.): Gewalt durch Sprache – Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen. Fischer TB, Frankfurt 1984 Zimmer, Dieter E.: Die Frau will Dame sein. In: Die Zeit, 7/1980, S. 57. Und: Unsere liebe Dame. In: Die Zeit, 13/1980, S. 73
DER JARGON DER WAHREN EMPFINDUNG PSYCHO-DEUTSCH Falk, Dieter: Hamburger Psycho-Führer. Falk, Hamburg 1980 Henscheid, Eckhard: Betroffene und Behämmerte. In: Eckhard Henscheid: Frau Killermann greift ein. Haff mans, Zürich 1985 Laplanche, Jean/J.-B. Pontalis: Vocabulaire de la Psychoanalyse. Presses Universitaires de France, Paris 1967. (Deutsch: Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt 1972) Merian, Svende: Der Tod des Märchenprinzen. Buntbuch, Hamburg 1980 Rogers, Carl R.: On Encounter Groups. Harper & Row, New York NY 1970. (Deutsch: Encounter Gruppen. Kindler, München 1976) Russell, Bertrand: The Analysis of Mind. Allen & Unwin, London 1921 Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, München 1983 Zilbergeld, Bernie: The Shrinking of America – Myths of Psychological Change. Little, Brown & Co. , Boston 1983
312
DAS WIRD ÄRGER MACHEN SPRACHE IM KULTURBETRIEB Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt 1964 Améry, Jean: Jargon der Dialektik. In: Merkur, 236/November 1967, S. 1041 bis 1059 Barthes, Roland: Mythologies. Seuil, Paris 1957. (Deutsch: Roland Barthes: Mythen des Alltags. Suhrkamp, Frankfurt 1964) Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Suhrkamp, Frankfurt 1955 Borges, Jorge Luis: El idioma analítico de John Wilkins. In: Otras inquisiciones (1952). (Deutsch: Jorge Luis Borges: Gesammelte Werke 5/II – Essays 1952–1979. Hanser, München o. J. , S. 109–113) Enzensberger, Hans Magnus: Bewußtseins-Industrie. In: Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten. Suhrkamp, Frankfurt 1962, S. 7–15 Gustafsson, Lars: En resa till jordens medelpunkt. Norstedt, Stockholm 1966. (Deutsch: Lars Gustafsson: Die Maschinen. Hanser, München 1967) Handke, Peter: Selbstbezichtigung. In: Peter Handke: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Suhrkamp, Frankfurt 1967 Hayakawa, S. I.: Language in Thought and Action. Harcourt, Brace & World, New York NY 1939. (Deutsch: S. I. Hayakawa: Semantik. Darmstädter Blätter, Darmstadt 1967) Heiss, Robert: Wesen und Formen der Dialektik. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1959 Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke, Band 2. S. Fischer, Frankfurt 1957 Ionesco, Eugène: Notes et contre-notes. Gallimard, Paris 1962. (Deutsch: Eugène Ionesco: Argumente und Argumente. Luchterhand, Neuwied 1964) Kluge, Alexander: Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. Piper, München 1968 Kürnberger, Ferdinand: Die Blumen des Zeitungsstils (1872/76). In: Ferdinand Kürnberger: Feuilletons. Insel, Frankfurt 1967
313
Lenz, Reimar: Der neue Glaube. WDR III, Köln 1968 Reiners, Ludwig: Stilkunst. Beck, München 1943, 1961 Sicker, Frank: Großes Buch festlicher Reden und Ansprachen. Falken, Wiesbaden o. J. Spitzer, Leo: A Method of Interpreting Literature. Smith College, Northampton MA 1949. (Deutsch: Eine Methode Literatur zu interpretieren. Hanser, München 1966) Steiner, George: The Hollow Miracle. In: The Reporter, Februar 1960. (Deutsch [Auszüge] in: Friedrich Handt (Hrsg.): Deutsch – Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Literarisches Colloquium, Berlin 1964 Sternberger, Dolf/Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Claassen, Hamburg 31968 Walser, Martin: Einheimische Kentauren. In: Martin Walser: Erfahrungen und Leseerfahrungen. Suhrkamp, Frankfurt 1965, S. 33–50 Wellershoff, Dieter: Puritaner, Konsumenten und die Kritik. In: Die Zeit 1/1969, S. 9
WÖRTER UND FAHNEN POLITIK ALS SPRACHKAMPF Bergsdorf, Wolfgang: Politik und Sprache. Olzog, München 1978 Genet, Jean: Violence et brutalité. In: Le Monde, 02. 09. 1977, S. 1, 3 Klemperer, Victor: Die unbewältigte Sprache -LTI- Aus dem Notizbuch eines Philologen. Melzer, Darmstadt 1946 Lübbe, Hermann: Der Streit um Worte – Sprache und Politik. In: Hermann Lübbe: Bewußtsein in Geschichten. Rombach, Freiburg 1972, S. 132–167 Orwell, George: Nineteen Eighty-Four (1949). (Deutsch: 1984. Ullstein, Berlin 1984)
314
WETTBEWERB DER ÜBERSETZER DIE EINSTWEILIGE UNENTBEHRLICHKEIT DES HUMANTRANSLATORS Bausch, Karl-Richard: Sprachmittlung – Übersetzen und Dolmetschen. In: Hans Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. Niemeyer, Tübingen 21980, S. 797 bis 802 Güttinger, Fritz: Zielsprache – Theorie und Technik des Übersetzens. Manesse, Zürich 1963 Koller, Werner: Grundprobleme der Übersetzungstheorie. Francke, Bern 1972 Nida, Eugene A./Charles A. Taber: The Theory and Practice of Translation. American Bible Society, New York 1968. (Deutsch: Eugene A. Nida/Charles R. Taber: Theorie und Praxis des Übersetzens. Weltbund der Bibelgesellschaften, o. O. 1969) Schleiermacher, Friedrich: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813). In: Störig (Hrsg.) 1963, S. 38–70 Störig, Hans Joachim (Hrsg.): Das Problem des Übersetzens. Wissenschaft liche Buchgesellschaft, Darmstadt 1963 Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. Piper, München 1979 Wilss, Wolfram: Menschliche Übersetzung und maschinelle Übersetzung. Manuskript, Saarbrücken 1984
DER ARGAN-EFFEKT DIE LIEBE ZUR PSEUDO-WISSENSCHAFT Blakeslee, Thomas R.: The Right Brain. Anchor Press, Garden City NY 1980. (Deutsch: Das rechte Gehirn. Aurum, Freiburg 1982) Bogen, Joseph E.: Some educational implications of hemisphere specialization. In: Merlin C. Wittrock (Hrsg.): The Human Brain. PrenticeHall, Englewood Cliffs NJ 1977, S. 133–152
315
Bradshaw, John L. /Norman C. Nettleton: Human Cerebral Asymmetry. Prentice-Hall, Englewood Cliffs NJ 1983 Bryden, M. Philip: Laterality – Functional Asymmetry in the Intact Brain. Academic Press, New York NY 1982 de Waal, Frans: Chimpanzee Politics. Cape, London 1982. (Deutsch: Frans de Waal: Unsere haarigen Vettern. Harnack, München 1983) Ferguson, Marilyn: The Acquarian Conspiracy. Tarcher, Los Angeles CA 1980. (Deutsch: Die sanfte Verschwörung. Sphinx, Basel 1983) Freeman, Derek: Margaret Mead and Samoa. Harvard University Press, Cambridge MA 1983. (Deutsch: Derek Freeman: Liebe ohne Aggression. Kindler, München 1983) Gazzaniga, Michael S. /Joseph E. LeDoux: The Integrated Mind. Plenum Press, New York NY 1978. (Deutsch: Michael S. Gazzaniga/Joseph E. LeDoux: Neuropsychologische Integration kognitiver Prozesse. Enke, Stuttgart 1983) Gregory, Richard Langton: The Intelligent Eye. Weidenfeld & Nicholson, London 1971 Gregory, Richard Langton: Eye and Brain. Weidenfeld & Nicholson, London 1977 Jensen, Arthur R.: How Much Can We Boost IQ and Scholastic Achievement? In: Arthur R. Jensen: Genetics & Education. Methuen, London 1972, S. 69–203. (Deutsch [Auszüge] in: Helmut Skowronnek (Hrsg.): Umwelt und Begabung. Klett, Stuttgart 1973, S. 63–155) Jensen, Arthur R.: Bias in Mental Testing. Free Press, New York NY 1980 Jensen, Arthur R.: Straight Talk About Mental Tests. Free Press, New York NY 1981 Jerison, Harry J.: Evolution of the Brain and Intelligence. Academic Press, New York NY 1973 Lawick-Goodall, Jane van: In the Shadow of Man. Collins, London 1971. (Deutsch: Jane van Lawick-Goodall: Wilde Schimpansen. Rowohlt, Reinbek 1971) Levy, Jerre: Cerebral Asymmetry and the Psychology of Man. In: Merlin C. Wittrock (Hrsg.): Brain and Psychology. Academic Press, New York NY 1980, S. 245–321
316
Loehlin, John C. /Gardncr Lindzey/J. N. Spuhler: Race Differences in Intelligence. Freeman, San Francisco CA 1975 MacLean, Paul D.: A Tribüne Concept of the Brain and Behavior. University of Toronto Press, Toronto 1973, S. 1–66 MacLean, Paul D.: On the Evolution of the Three Mentalities. In: Silvano Arieti/G. Chrzanowski (Hrsg.): New Dimensions in Psychiatry, Band 2. Wiley, New York NY 1977, S. 306–328 Medawar, Peter B. /Jean S. Medawar: The Life Sciences. Harper & Row, New York NY 1977 Mellen, Sydney L. W.: The Evolution of Love. Freeman, Oxford 1981 Money, John: Love & Love Sickness. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 1980 Monod, Jacques: Le hasardet lanecessite. Seuil, Paris 1970. (Deutsch: Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Piper, München 1971) Popper, KarlR. /John C. Eccles: The Self and Its Brain. Springer International, Berlin 1977. (Deutsch: Karl R. Popper/John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. Piper, München 1979) Popper, Karl R.: Gegen die großen Worte. In: Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Piper, München 1984, S. 99–113) Premack, David: Intelligence in Ape and Man. Erlbaum, Hillsdale NJ 1976 Premack, David/Ann James Premack: The Mind of an Ape. Norton, New York NY 1983 Pribram, Karl H.: What the Fuss Is All About. In: Ken Wilber (Hrsg.): The Holographie Paradigm. Shambhala, Boulder CO 1982 Segalowitz, Sid J.: Two Sides of the Brain. Prentice-Hall, Englewood Cliffs NJ 1983 Sperry, Roger W.: The Great Cerebral Commissure. In: Scientific American, Januar 1964, S. 42–52 Sperry, Roger: Some effects of disconnecting the cerebral hemispheres. In: Science, 217/September 1982, S. 1223–1226
317
Springer, Sally P. /Georg Deutsch: Left Braint Right Brain. Freeman, San Francisco CA 1981 Symons, Donald: The Evolution of Human Sexuality. Oxford University Press, Oxford 1979 Turnbull, Colin: The Mountain People. Simon & Schuster, New York NY 1972. (Deutsch: Colin Turnbull: Das Volk ohne Liebe. Rowohlt, Reinbek 1973) Vernon, Philip E.: Intelligence – Heredity and Environment. Freeman, San Francisco CA 1979 Wilson, Edward O: Sociobiology. Harvard University Press, Cambridge MA 1975 Wilson, Edward O.: On Human Nature. Harvard University Press, Cambridge MA 1978. (Deutsch: Edward O. Wilson: Biologie als Schicksal. Ullstein, Berlin 1978) Weinberg, Steven: The First Three Minutes of the Universe. Fontana, London 1978. (Deutsch: Steven Weinberg: Die ersten drei Minuten. Piper, München 1980) Zukav, Gary: The Dancing Wu Li Masters. Rider, London 1979. (Deutsch: Gary Zukav: Die tanzenden Wu Li Meister. Rowohlt, Reinbek 1981)
REGISTER* Abstrakta 31–32, 132–133
Bierce, Ambrose 69–70
Adjektive, zusammengesetzte 15–16
Böll, Heinrich 153
Adorno, Theodor W. 114, 123 bis 124
Bürokratie 10, 13, 16, 38
Borges, Jorge Luis 147 Burton, Richard 102
Agglutination 184 Allende, Isabel 154
Capra, Fritjof 206
Ambiguität 185–187
Carroll, Lewis 182, 207
Amerika und England, Anreden in 60–62
Chauvin 18
Améry, Jean 138
Chesterton, G. K. 147 Chomsky, Noam 28, 147
Anglizismen 23–30
Chotjewitz, Peter O. 138
Anreden 53–62
Claudius, Matthias 116
Aphasie-Angst 145–147
Computer-Sprache 24, 26–27
Argan-Effekt 197–208
Computer-Übersetzung 184–187
Ayren, Armin 72 DDR-Deutsch 12–13, 126–127 Balzac, Honoré de 119
Dialektik 101–103, 133–138
Barthes, Roland 126
Dienst, Rolf-Gunter 139
Bausch, Karl-Richard 177–178
Duzen und Siezen 53–62
Bayer, Klaus 54, 58 Benjamin, Walter 140
Elative 20
Bergsdorf, Wolfgang 152
Englisch als Wissenschaftssprache 199–200
Berufsbezeichnungen 46–47, 72–73
Ervin-Tripp, Susan 60–62
Bewußtsein 91–104, 128, 206
Etymologie 75
Bibel 179–181, 183
Euphemismen 45–50
* Seitenangaben gelten für das Original und nicht diese E-Ausgabe
319
Faschismus und Sprache 113–114, 153 Feminismus und Sprache 65–79
Hohler, August E. 33 Holl, Adolf 36 Honecker, Erich 37
Ferguson, Marilyn 206–207 Fernsehen 13, 17, 29 Flaubert, Gustave 146
Ionesco Eugene 146 Indianer 184 Irrealis 36
Fremdwörter 20–25, 199–200 Freud, Sigmund 91, 96–98, 107 Freytag, Gustav 115 Fuchs, Erika 40 Gallizismen 22–23 García Márquez, Gabriel 175 Gattungsnamen 71–75 Genet, Jean 155–158 Gewalt 65–67, 140, 155–157 Goethe, Johann Wolfgang v. 21 Greene, Graham 165–175, 188–194 Gremliza, Herbert L. 116 Grimms Wörterbuch 68–69 Gustafsson, Lars 147 Güttinger, Fritz 170–171 Handke, Peter 146–147 Hayakawa, S. I. 142 Heer, Friedrich 151 Heiss, Robert 133–134 Heller, Joseph 207 Henscheid, Eckhard 25, 49, 56, 89 Hofmannsthal, Hugo v. 145
Jargon der dialektischen Kritik 127–140 Jargon der Eigentlichkeit 114, 123 bis 131 Jugendsprache 19–20 Klemperer, Victor 153 Kluge, Alexander 145 Kolb, Walter, 114 Konjunktiv 35–36 kritisches Idiom 127–140 Kulturbetrieb, Sprache im 102 bis 103, 111–148 Kultur(tatsachen)übersetzung 182 bis 184 Kunstkritik 116, 120–121, 139, 148 Kürnberger, Ferdinand 116 Lautverschiebung 10 Lenz, Reimar 132 Lichtenberg, Georg Christoph 115 Liebe 34–35, 86, 107, 201 Lübbe, Hermann 151 Lück, Hartmut 132 Luria, Alexander 106
320
Luther, Martin 179–181 Manheim, Ralph 176 Marcuse, Herbert 134 Martina, Wendy 77 Merian, Svende 90–91 Michel, Karl Markus 106 Mickymausdeutsch 39–40 Moliere 197 Moser, Hugo 15, 41–42 Movieren von Substantiven 72–73, 78 Müller, Manfred 129–130 Nabokov, Vladimir 165, 181 Neologismen 11–12 Nettelbeck, Uwe 136 Nida, Eugene A. 180–181 Nominalstil 36–38 Ödipus 93, 109 Orwell, George 134, 153–154 Politik und Sprache 48, 113–114, 151–161 Popitz, Heinrich 140 Popper, Sir Karl 198, 200 Präpositionen 36 Privatsphäre 34–35 Pronominaladverbien 39 Psychoanalyse 91–104 Psycho-Sprache 81–110
Rahmungszwang 37–38 Rechenberg, Gerda 68 Reiners, Ludwig 36 Rezensionen 116–122, 135–145, 166, 200–201 Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs 65–66 Rogers, Carl 85 Rühmkorf, Peter 41 Russell, Bertrand 97 Schleiermacher, Friedrich 178, 184 Schmied, Wieland 116 Schmock 114–115 Schopenhauer, Arthur 47 semipopuläre Literatur 198–199 Sexismus und Sprache 65–79 Shakespeare, William 21 Sheer, Ireen 86 Sicker, Frank 122–123 Siezen und Duzen 53–62 Skasa-Weiß, Ruprecht 14 Sowjetunion, Anreden in der 56 Spanien, Anreden in 59 Sparmann, Herbert 11 Spitzer, Leo 141 Sprachbilder 40–41, 78, 116, 173 Sprachgeschichte 9–10, 54–56, 68–71, 78, 179–181 Sprachkritik 9–11, 42, 114, 160–161
321
Steiner, George 113 Stieler, Kaspar 69 Strauß, Franz Josef 158–160 Swoboda, Helmut 37 Substantive auf -i und -o 18–19 Substantive, zusammengesetzte 13 bis 14 Syntax 11–12, 35–40, 184, Trömel-Plötz, Senta 65–67, 72–73 Twain, Mark 37
Walser, Martin 113, 171 Walther von der Vogelweide 69 Watzlawick, Paul 101, 105 Wecker, Konstantin 88 Wegner, Bettina 88 Wellershoff, Dieter 145 Werbung, Sprache in der 13, 16, 17, 24–25, 29, 140–145 Wissenschaftsnamen als Sachnamen 32–34 Wygotski, Lew S. 202
Übersetzen 165–194, 205–208 Unbewußtes 91–104
Zilbergeld, Bernie 85 Zusammensetzungen 13–16
Verkürzung, Tendenz zur 42, 73 bis 74, 76