Der Roman REISE IN EINE STRAHLENDE ZUKUNFT
ist ein »Science-Thriller«.
Die Handlung ist also fiktiv.
Jede Ähnlich...
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Der Roman REISE IN EINE STRAHLENDE ZUKUNFT
ist ein »Science-Thriller«.
Die Handlung ist also fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorfällen
oder geplanten Aktionen,
mit existierenden Personen, Firmen oder Gesellschaften
ist rein zufällig und unbeabsichtigt.
Rainer Erler hat diesen Roman unter dem Titel
»NEWS – Bericht über eine Reise in eine strahlende Zukunft«
in New York, Marseille, Cherbourg, London, Singapore und
Australien mit Birgit Doll, Albert Forteil, Mark Lee und Kitty Myers
in den Hauptrollen verfilmt.
s & c by Doc Gonzo
Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt
Sonderausgabe des Tigris Verlages
© 1986 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach
Schutzumschlag: Rincon Partners, Köln
Gesamtherstellung: Mainpresse Richterdruck Würzburg
Printed in West Germany
Alle Rechte vorbehalten
1
Der erste Anruf kam zwei Stunden nach Mitternacht. Der schrille Ton bohrte sich in ihren Schlaf, drängte sich in ihre Träume, weckte dort bizarre Bilder, verwoben in ein Geflecht aus Angst und Bedrohung. Langsam sickerte er in ihr halbwaches Bewußtsein. Schaltete dort ihren Körper auf Panik. Der Adrenalinspiegel in ihrem Blut stieg schlagartig an, stimulierte den Herzschlag, ihr Puls begann zu rasen, pochte bis in die Schläfen, und sie rang nach Luft. Mattschwarze Nacht umgab sie wie Samt. Durch den Vorhang drang das bläuliche, grünliche, rosaflackernde Licht des Shopping-Centers gegenüber. Das Telefon! Sie richtete sich auf. Der Ton schmerzte sie, dieser nicht endende, entner vende Doppeltakt. Eine Ahnung überfiel sie. Und eine Hoffnung. Sie kroch über das leere Bett an ihrer Seite. Sein Bett! Hektisch, voller Unruhe und Erwartung tastete sie nach dem Hörer: »Ja …?!« Aber da war nichts. Kein Laut. Keine Stimme. Nur ein undefinierbares elektrisches Rauschen. Wie von weit, sehr weit her. Susan hörte auf zu atmen. »Hallo …« Keine Antwort. Nicht einmal ein verräterisches Knacken. Nur einfach nichts. »Hallo! Wer ist dort?!!« 2
Niemand war dort. Da verflüchtigte sich diese Ahnung, diese Hoffnung. Ein Augenblick tiefer Enttäuschung, betrogener Erwartung. Sie legte den Hörer zurück, fand den richtigen Platz nicht, der Hörer entglitt ihren schweißnassen Händen, fiel neben dem Bett zu Boden. Sie suchte ihn, tastete über den Tep pichbelag, spürte die Weichheit dieser Wollfasern, ganz überraschend, eine Unwichtigkeit, die plötzlich Bedeutung erhielt, zog den Hörer an seinem spiraligen Kabel nach oben, legte sich schließlich wieder zurück, quer über dieses Doppelbett und hörte auf ihren Atem. Und auf ihren Herzschlag. Und fühlte die Schweißtropfen, wie sie heiß aus ihrer Achsel liefen, sich zwischen ihren Brüsten sam melten, langsam, ganz langsam kalt wurden und sie frö steln ließen, während sie unfähig war, sich zu bewegen. Der Herzschlag beruhigte sich, ihr Atem wurde lang samer. Und sie versuchte der Frage auszuweichen, die sich, alles beherrschend, in ihr Gehirn eingegraben hatte: Ob er es war, der angerufen hatte. Der endlich versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie aus ihrer quälenden Unge wißheit zu befreien. Ein Mann war verschwunden. Ihr Mann. Seit Wochen keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Alles, was ihr denk bar erschien, hatte sie durchdacht. Jede Befürchtung. Jeden Zweifel. Alles, was möglich war, hatte sie getan. Nach forschungen. Recherchen. Eine Suche auf eigene Faust, eine, die geheim bleiben sollte. Kein Aufsehen. Keine Öf fentlichkeit. Keine Vermißtenmeldung. Keine Polizei. Was hätte sie erzählen können? Mutmaßungen? Gab es 3
einen vernünftigen Grund? Irgendeine Erklärung? Schließ lich liebten sie sich. Sie liebten sich sogar sehr. Seit Jahren lebten sie zusammen. Ohne Probleme. Sie waren beide achtundzwanzig und hatten ein Kind. Und keine Geheim nisse voreinander. Sie hatte Sehnsucht nach ihm. Nach seiner Stimme. Nach seiner Zärtlichkeit. Seinen Umarmungen. Nach sei nem jungenhaften Lächeln und seinem Charme. Und nach seiner Zuverlässigkeit. Trotzdem war er einfach gegangen. Gleich nach dem Frühstück morgens um halb acht. War kurz bei seiner Zeitung aufgetaucht. Hatte in der Redaktion Ärger gehabt mit dem Thema, das er seit Wochen recherchierte, das ihn, je länger er daran arbeitete, je mehr er erfuhr, zornig machte. Auf seinem Schreibtisch zu Hause stapelten sich die einschlägigen Meldungen und Notizen. Aber sein Nachrichtenchef stand einer Veröffentlichung des Mate rials in dieser konzentrierten Form skeptisch gegenüber. Schließlich war Dave abgefahren. Ohne Angabe eines Ziels. Und dann ein überraschender Anruf aus Liverpool. Liverpool? Wieso Liverpool? Er sagte, er hätte die Story nun verkauft. Aber das, was er bisher recherchiert hätte, sei harmlos, sei nur Kinderkram gegen das, was er gerade entdeckt hätte. Was da gerade lief, scheinbar ganz legal und unter den Augen einer offenbar uninteressierten, unbekümmerten, arglosen Öffentlichkeit. Aber am Telefon könne er nicht reden. Er bliebe eine Nacht. Vielleicht auch zwei. Möglicherweise länger. Sie solle sich keine Sorgen machen. 4
Und jetzt wartete sie schon seit über sechs Wochen. Sie hatte Angst um ihn. Denn es gab durchaus einen denkbaren Anlaß für sein Verschwinden: seine Verbissenheit, seinen Ehrgeiz. David McGhee war Journalist. Aus den Notizen des David McGhee: »Der Störfall in dem englischen Kernkraftwerk Traws fyndd, bei dem fünfzehn Tonnen radioaktives Kohlendio xid durch ein Sicherheitsventil freigesetzt wurden, ereig nete sich, wie ich heute einer Reuter-Meldung entnehme, nur wenige Tage, nachdem die atomare Wiederaufberei tungsanlage Sellafield in der nordenglischen Grafschaft Cumbria drei schwere Zwischenfälle erlebt hatte. Bei ei nem mußte das gesamte Werk evakuiert werden, da eine hochgiftige radioaktive Gaswolke freigesetzt worden war.«
2 Und wieder, ganz überraschend und erschreckend, war der kleine Raum erfüllt von diesem nervösen Schrillen des Telefons. Aber diesmal war Susan hellwach, innerhalb von Sekunden. Wieder raste ihr Puls und pochte ihr bis zum Hals, und in atemloser Hast griff sie nach dem Hörer: »Ja …?« Da war seine Stimme, klar und deutlich und doch so unendlich weit entfernt: »Hallo, Susan …« 5
»Dave! Dave!« Es war wie ein Aufschrei. Das Echo ihrer Stimme kam zurück, als sei es mehrmals rund um diesen Planeten gerast, und verwirrte sie. »David! Wo bist du?« Freude! Erleichterung! Sie wartete seine Antwort nicht ab, ließ ihn nicht zu Wort kommen, was ein Fehler war, denn er hatte ihr gehetzt bereits zwei, drei Sätze hinge worfen, bis sie schließlich zuhörte, ihn wieder verstehen konnte. »Was sagst du? David? Kannst du mich hören!« Er konnte sie hören, ja, natürlich! »Das warst eben du, ja? Die Verbindung war weg. Vor ein paar Minuten. Ich hab’ es gewußt, daß du es warst. Und …« Sie unterbrach sich, stockte, hatte ein paar Worte von ihm aufgeschnappt, zufällig, aus dem Zusammenhang gerissen: »Beweise« … »Verbrechen« … »Was für Beweise, David? Was für ein Verbrechen?« Er versuchte, es ihr zu erklären, nochmals, aber es schien, als sei er getrieben von geradezu panischer Hast, als hätte er dafür keine Zeit mehr, bedroht und gejagt … »Dave! Ich habe seit sechs Wochen nichts von dir ge hört! Kein Brief! Kein Anruf! Nichts! Wo bist du, Dave? Was ist los?« Er schien erregt, senkte seine Stimme zu einem intensi ven Flüstern, raunte Susan etwas zu von einem »Schiff«, und ein Name fiel: »Polaris«. »Was für ein Schiff?« Sie schrie, als könnte sie die Entfernung überbrücken, die so unermeßlich zwischen ihnen lag. »Was für ein Schiff? Dave! Hörst du mich? Von einem Schiff aus kann man doch telegrafieren …!« 6
Nein. Das konnte er nicht. Er rief nur: »Hilf mir! Hilf mir, Susan!« Wie sollte sie ihm helfen? Und warum sprach er nicht lauter? Er hatte eine »Ge fahr« erwähnt. Oder hatte er »Todesgefahr« gesagt? Sie sollte etwas aufschreiben. »Ja! Ich mache Licht! Es ist mitten in der Nacht!« Sie tastete nach dem Schalter, schaute sich um nach Papier, nach einem Bleistift, die Lampe blendete sie, und sie sah nur sein Lächeln, spöt tisch, belustigt: sein Bild, sein Porträt, in einem kleinen silbernen Rahmen neben ihrem Bett. »Zehn Uhr morgens? Bei dir? Wieso?« Hatte sie ihn richtig verstanden. »Wo bist du, Dave? Wo?« Er schwieg. Sie hörte sein Atmen. War es noch sein At men? War er überhaupt noch am Telefon? »Dave! David!« Ein Stimmengewirr beherrschte den Hintergrund. Gut turale Laute. Rufe. Gedehnte Vokale einer unverständ lichen Sprache. »David! Bist du noch da?« Fetzen einer Musik. Eine fremdartige Melodie. Singsang aus einem Radio? Aus einem Lautsprecher? Und dann plötzlich: ein Schuß! Ein Schuß? »David!!!« Ja, er war noch da. In panischer Erregung flüsterte er mit gepreßter Stimme in die Muschel irgendeines Telefons irgendwo in einer fremden, unbekannten Welt: »…Sie kommen …!! Sie holen mich zurück an Bord …!! Es ist 7
alles aus …!! Fahr zur Zeitung … Zur Redaktion … Sag William Scott Bescheid … Sag ihm: Ich habe die Be weise …!!« Wieder fallen Schüsse. Glas splittert oder Metall. Ein Querschläger jault durch die Luft und David McGhee brüllt, es ist der Aufschrei seiner Kapitulation: »Seid ihr wahnsinnig?! Hört auf!« Wieder ein Schuß. Als Antwort. Und nach einigen Sekunden, als keine weiteren Schüsse mehr fallen: »… Okay … okay …!« Er hatte aufgegeben. »David! Dave …!« Stille. Atemlose Stille. Und in diese Stille hinein, erst sehr fern, fast unhörbar leise, dann langsam näherkommend: der Warnton einer Sirene. Das jaulende Auf und Ab näherte sich dem Telefon, brachte es zum Vibrieren. Ein eigenartiges, von Susan noch nie gehörtes Signal bohrte sich geradezu schmerzhaft über weiß Gott wie viele Meilen, über Kabel und Satelliten, durch das Telefon wie ein Messer in das Gehirn von Susan und grub sich ein in ihr Gedächtnis für den Rest ihres Lebens. »Dave …!!!« Es war ein allerletzter und vergeblicher Versuch. Dann ein Knacken in der Leitung. Und wieder diese lähmende, atemlose Stille, dieses elektrische Summen. Wie beim er sten Anruf: dieses hörbare, absolute Nichts. Susan biß sich auf die Lippen. Die Verzweiflung stieg in 8
ihr hoch wie ein Krampf. Übelkeit bis zum Erbrechen. Hilflosigkeit, die sie lähmte. Sie starrte auf die Uhr neben Davids Bild. Der lächelte noch immer spöttisch und belustigt. Aber dieses »Hilf mir, Susan!« saß ihr im Ohr. Dieser Schrei. Die Schüsse. Und die Sirene. David lächelte auch auf den zwei, drei Dutzend Fotos auf der Pinnwand hinter der Lampe, in einem maleri schen, bunten, verspielten Nebeneinander, Übereinander angeheftet. Eine verwegene Mähne, blond, mit blauen Au gen, der strahlende, optimistische, erfolgreiche und durch nichts zu erschütternde Held. Ein junger Mann, ständig darum bemüht, seine Sensibilität und Verletzlichkeit zu überspielen und zu tarnen. Sie kannte ihn. Wenn er um Hilfe rief, war er wirklich in Not. Und da lächelte er ihr nun entgegen, in Farbe, in Schwarzweiß, allein, zusammen mit ihr, mit Julia, ihrem Kind, im Park, vor dem Haus, am Strand. Die Bilder fingen an zu verschwimmen, lösten sich auf, Schlieren zogen sich darüber. Bis Susan sich das Kissen auf die Augen preßte und einfach losheulte. Als sie es irgendwann in die Ecke des Zimmers schleu derte, weil sie sich schämte, und die Tränen aus den Augen wischte, sah sie wieder auf die Uhr. Es war zwölf Minuten nach zwei. Zwei Uhr nachts. Da war ein Geräusch. Und sie blickte sich um. »Julia!?« Aus den Notizen des David McGhee:
»An der englischen Nordwestküste, nur wenige Meilen
9
von der Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe Sellafield entfernt, wurden viermal innerhalb von drei Wochen größere Mengen radioaktiv verseuchter Algen, Tang und Seegras angeschwemmt. Die Strahlung lag mit dem Faktor 100 bis 1000 über dem Normalpegel. Im März 1986 hat eine britische Parlamentskommission fest gestellt, daß die Irische See wegen der Einleitung ver seuchter Abwässer aus dem staatseigenen Wiederaufar beitungswerk Sellafield das radioaktivste Gewässer der Welt ist. Fische aus dieser Region sind nur noch ›bedingt genieß bar‹.«
3 Das Kind stand in der offenen Tür zu seinem Zimmer, Susan wußte nicht, wie lange schon, und es schaute sie mit großen, vorwurfsvollen Augen an und schwieg. Es klammerte sich an sein Schlaftier, einen zerliebten, rosaroten Plüsch-Elefanten, den es »Sarah« nannte und den es nie allein ließ, und rührte sich nicht von der Stelle. Die langen blonden Haare fielen über ein verwaschenes, geblümtes Nachthemd, das inzwischen zu kurz geworden war. Junge, ehrgeizige Journalisten wurden auch in England mit ihrem Job nicht gerade reich. Das Nachthemd war schon gut zwei Jahre alt, und Julia wurde demnächst fünf. »Julie? Du bist wach?« Susan griff nach ihrer kleinen runden Brille, die neben 10
dem Telefon lag. Eine unnötige Geste. Sie sah sehr gut, was hier zu sehen war. Aber vielleicht war die Brille auch ein Schutz. Um die Tränen zu verbergen. Vor dem Kind. Denn Mütter müssen ja stark sein und Vertrauen vermit teln in diese schöne, heile Welt. »War das Daddy?« Julia fragte mit einer leisen und verschlafenen Stimme. Susan nickte nur, fast unmerklich. Und dann fragte sie eine dieser sinnlosen, dummen Fragen, die Mütter manch mal an ihre Kinder richten: »Warum schläfst du nicht?« Julia schwieg. Vielleicht hatte sie das Telefongespräch mit angehört, das ganze Drama. War wach geworden schon beim allerersten Klingeln. »Wann kommt er heim?« Ja, wann kommt er heim? Susan schwieg. Sie wußte keine Antwort für das Kind. Aber Julia wiederholte ihre Frage: »Wann kommt Daddy heim? Hat er es nicht gesagt?« Susan schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat es nicht ge sagt.« Und erst nach einer langen und quälenden Pause, in der das Kind sie enttäuscht und zweifelnd ansah, begann sie mit einer dieser verlogenen Geschichten, die Kinder nur allzu leicht durchschauen und die sie eher beunruhigen als trösten: »Es geht ihm gut, und er läßt dich grüßen. Aber er muß noch eine ganze Weile arbeiten. Für seine Zeitung. Ir gendwo. Weit weg … Und jetzt geh wieder in dein Bett!« 11
Sie hörte bei jedem Wort, wie unglaubhaft sie wirkte. »Julie! Hörst du nicht? Ich habe gesagt: Geh zurück ins Bett! Geh in dein Zimmer! Bitte!!« Sie war laut geworden, und es klang autoritär. Sie fand das selbst unverzeihlich, aber die Situation, der Anruf Daves, der Hilferuf und ihre Hilflosigkeit ließen sie un beherrscht und hysterisch reagieren. Da ging Julia schließlich hinaus, stumm und verletzt. Susan stand auf, lief hinterher. Sie erreichte das Kind noch in der offenen Tür, kniete sich hin, umarmte es, spürte den sanften Widerstand und schließlich die Tränen, die Julia über die Backen liefen. Und dann hörte sie das Flüstern dicht an ihrem Ohr: »Er kommt nicht mehr! Er kommt bestimmt nicht mehr …! Nie mehr …!« »Unsinn! Julie! Liebling!« Sie klammerte sich an dieses Kind, dem sie eigentlich doch nur ihre eigene Verzweiflung übermitteln konnte. Und dann klang es, als mache sie sich selbst Mut: »Er kommt zurück! Natürlich kommt er zu uns zurück! Er kommt bestimmt!« Vorsichtig, um die Mutter nicht zu enttäuschen, machte Julia sich aus der Umarmung frei, wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit des Kinderzimmers. »Julie … Julie …!« Susan bemerkte, daß sie keine Stimme mehr hatte. Und keine Kraft. Und kein Vertrauen mehr, das sie weitergeben konnte. Und sie spürte, daß auch sie jetzt Liebe gebraucht hätte. Genau wie Julia. Und daß sie sich beide, gegenseitig, 12
jetzt und in dieser Situation nicht helfen konnten. Julia blieb stumm und verschwunden. Irgendwo tappten Füße, raschelte das Bett. Und Susan kniete neben der Tür, die in eine nachtschwarze Höhle zu führen schien, die verwunschen war und die sie nicht betreten durfte. Weil sie ihren Kummer mit hineingetragen hätte. Sie lehnte sich gegen die kalte Klinkermauer, preßte ihre Stirn dagegen und fühlte sich in diesem Augenblick einsam und allein. Aus den Notizen des David McGhee: »Plutonium ist ein hochradioaktives metallisches Element aus der Gruppe der Transurane. Es ist extrem giftig: Be reits geringste Mengen, Bruchteile eines Milligramms, er zeugen Krebs und Leukämie. Seine Strahlung ist absolut tödlich! Plutonium entsteht zwangsläufig beim ›Abbrand‹ der Brennelemente in Kernkraftwerken. Zur Zeit fallen jährlich etwa 45000 Kilogramm an. Nur ein Bruchteil dieser Menge findet wieder Verwendung in Reaktoren. Der Rest ist vorläufig Abfall und muß unter mehr oder weniger perfekten Sicherheitsvorkehrungen gelagert wer den. Denn es gibt nur eine Methode, dieses Plutonium zu beseitigen: Man muß warten, bis es von selbst zerfällt. Das tut es, allerdings unvorstellbar langsam. In 24000 Jahren ist immer noch die Hälfte der diesjährigen Pro duktion vorhanden. Nach Jahrmillionen immer noch ein Rest. Und wir produzieren natürlich weiter. Denn Strom aus Kernenergie ist aus unserem Leben nicht mehr weg zudenken. Es gibt allerdings noch eine weitere Methode, 13
Plutonium zu beseitigen, wenn auch nur in kleinen Men gen: Für den Bau einer Atombombe benötigt man knapp zehn Kilogramm.«
4 Irgendwann wurde es hell nach dieser für Susan so uner träglich langen, schlaflosen halben Nacht. Sie weckte Julia sanft aus ihren Morgenträumen und machte sich auf den Weg in die City von London. Rush-hour: verstopfte Straßen, blockierte Kreuzungen, unübersehbare Schlangen an den Einmündungen des Motorway South. Zweistöckige rote Busse hatten sich in langer Reihe auf der Themsebrücke verkeilt, und der Eingang zur Fleet Street war durch eine Hundertschaft Bobbies vorübergehend gesperrt. Vor Old Bailey, dem altehrwürdigen Gerichtsgebäude, demonstrierte eine Gruppe indischer Sikhs. Die bunten Turbantücher leuchteten durch den grauen Regentag, und Susan brauchte eine weitere halbe Stunde, um auf Umwegen schließlich den Daily Telegraph zu er reichen. Im Hof wurden gerade die Lieferwagen mit der zweiten Morgenausgabe beladen, und quer vor der Durchfahrt zur Redaktions-Garage stand ein Tieflader mit Ro tationspapier. Aber die gewaltigen Rollen wurden nicht entladen. Heute nicht und vielleicht auch nicht morgen. Denn zwei bullige Catcher-Typen blockierten mit ihrem Gabelstapler den Zugang. Sie hatten große Pappschilder 14
umgehängt mit dem kurzgefaßten, kommentarlosen Hin weis, sie seien »on strike«. Susan mit ihrem kleinen gelben, rostigen Mini-Cooper ließen sie jedoch passieren. Als sie auf der Suche nach einer Lücke die Parkbuchten abfuhr, stoppte sie der alte Willies, der im grauen Arbeits mantel und mit Dienstmütze aus seinem Glaskasten geeilt war: »He, Miss! Sie können hier nicht parken!« Susan blieb stehen, kurbelte das Fenster herunter und lächelte ihn an: »Hallo, Willies! Kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin’s doch: Susan Galloway!« Willies lächelte freundlich zurück und blieb offiziell: »Natürlich kenne ich Sie, Miss Galloway! Aber trotzdem ist kein Platz für Sie im Hof!« »Ich habe immer hier geparkt!« Susans Lächeln wurde bezwingender. Willies nickte zustimmend, und es schien ihm tatsächlich peinlich zu sein, als er klarstellen mußte: »Schon möglich, Miss. Aber das ist lange her!« Es war lange her. Keine Frage. Aber trotzdem wußte sie noch Bescheid. Sie zeigte auf einen der bereits besetzten Parkplätze an der Ecke: »Dort vorn, das ist der Parkplatz von meinem Mann, von David McGhee. Den hätten Sie freihalten müssen, Willies!« Da wurde Willies vertraulich: »Ihr Freund, Miss, ich denke, der ist auf und davon! Schon seit ein paar Wochen, sagt man. Oder irre ich mich?« 15
Susans Lächeln war plötzlich wie erloschen: »Er ist auf Dienstreise. Er recherchiert für die Nachrichtenredaktion. Und ich bin jetzt verabredet mit Mister William Scott!« »Wie schön für Sie, Miss!« Sein Blick wanderte von Susan zum hinteren Seitenfenster. Dort preßte Julia Nase und Lippen gegen das Glas, verdrehte die Augen und machte Grimassen. Das war ein neues und vor allem ein leises Spiel. Nach der pausenlosen, enervierenden Quenge lei auf der Herfahrt empfand Susan das nun als echte Erleichterung. »Das hier ist also das Töchterchen!« stellte Willies fest. Er wußte offensichtlich Bescheid. »Ein hübsches Kind!« Es war unklar, ob er das Kompliment ehrlich meinte. Be sonders als er feststellte: »Sieht Ihrem Freund allerdings verdammt ähnlicher als Ihnen, Miss.« Susan schaute sich um und lachte. Julia war blond, sie selbst dunkel. Das war so ziemlich der einzige Unterschied. Beide trugen sie kreisrunde Nickelbrillen, denn beide waren kurzsichtig. Die Gläser von Julia waren nur kleiner und weniger stark geschliffen. Ja, und Susan war etwas höflicher! Als Willies jetzt abschließend feststellte: »Sie müssen aber trotzdem aus dem Hof, Miss, tut mir leid!«, streckte sie nicht die Zunge heraus, wie Julia es tat. Sie nickte nur und murmelte dem sich abwendenden Willies ein kaum gesellschaftsfähiges Wort hinterher, wendete hektisch den kleinen Wagen und brauste an den beiden Streikposten vorbei hinaus in die immer noch gesperrte und daher überraschend verkehrslose Fleet Street. Genau vor dem Portal der Zeitung blieb sie stehen, 16
zerrte Julia samt ihrem Plüsch-Elefanten aus dem Wagen und verschwand in dem Art-Deco-Gebäude, ohne auf die uniformierte Lady zu achten, die diensteifrig, mit einem Formularblock in der Hand, die leere Straße überquerte und sich auf dieses winzige, verbeulte, gelbe Auto stürzte, das als einziges Opfer in der halben Meile Halteverbot zu finden war. Aus den Notizen des David McGhee: »In den Abklingbecken europäischer Kernkraftwerke, in den Zwischenlagern und in den beiden Wiederaufarbei tungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (Eng land) hat sich inzwischen radioaktives Material in Form von abgebrannten Brennstäben angehäuft, das einer Strahlungsquelle von mehr als zwölf Milliarden Curie entspricht. Die Einheit von einem Curie (1 Ci) entspricht der Strahlung von einem Gramm Radium. Die Physikerin Madame Curie, die als erste das Element Radium rein darstellte und nach der diese Maßeinheit benannt ist, hat es ein Leben lang vermieden, mit mehr als einem Gramm Radium in einem Raum zu sein – und starb trotzdem als Strahlenopfer.«
5 Nein, Susan Galloway hatte keine Verabredung mit William Scott, dem Nachrichtenchef des Daily Telegraph. Scott ließ sie daraufhin eine halbe Stunde warten. Im Vorzimmer, inmitten einer Schar ältlicher Sekretärinnen, 17
die Susan alle noch von früher her kannte und die auf unerklärliche Weise sehr förmlich und sehr einsilbig reagierten, als sie unerwartet erschien. Vielleicht waren sie auch von der Anwesenheit eines Kindes in diesen heiligen Hallen nicht sehr erbaut. Julia hatte sich unter einen der unbesetzten Schreib tische gehockt und baute dort aus Papierkörben, die sie heimlich entleerte, Häuser für Sarah, den Elefanten. »Hallo, Susan, wie geht’s?« Scott erschien plötzlich und überraschend in der Tür zu seinem Büro und verbreitete Hektik. Ein massiger Mensch, angefüllt mit einer Über dosis Energie bis zum Rand, ohne Jackett, dafür mit offener Glencheckweste und weinroten Hosenträgern. Er hielt ostentativ ein Bündel Manuskriptseiten in der Hand. Ohne jede Verbindlichkeit, ohne jedes Lächeln drängte er sich an Susan vorbei nach draußen. Dabei kannten sich die beiden bereits über acht Jahre. »Hallo, William, danke es geht gut! Hören Sie. David lebt! Er hat mich angerufen! Heute nacht um zwei. Aber er ist in Gefahr! Und er hat offensichtlich große Pro bleme …!« Scott winkte ab. »Ich habe im Augenblick keine Zeit für Sie, Susan! Leider! Auch nicht für Ihren Dave und seine Probleme. Ich muß nach unten!« Er war schon draußen auf dem Korridor, als Susan ihn stoppte: »William! Bitte! Haben Sie nicht verstanden?! Es geht um Dave. David McGhee! Sie und ich, wir suchen ihn seit Wochen. Und jetzt hat er sich endlich gemeldet. Interes siert Sie das nicht?« 18
Scott unterbrach sie auf seine bullige, taktlose Art: »Nein, interessiert mich nicht. Nicht mehr seit letzter Woche. Schön, daß er lebt! Ich habe nie daran gezweifelt. Und ich freu’ mich für Sie, Susan, daß er wieder auf getaucht ist! Nur: David hat nichts mehr mit uns hier zu tun! Das mag neu für Sie sein. Aber so liegen die Dinge nun mal. Tut mir leid!« Er wandte sich ab und marschierte los, ohne sich um zusehen. Susan griff nach Julia, zog sie unter dem Tisch hervor und nahm sie auf den Arm. So schnell sie konnte, folgte sie Scott in den »Editing Room«, wo die diensthabenden Journalisten vor den Bildschirmen ihrer Composer saßen und ihre Nachrichten und Kommentare in die elektroni schen Schreibmaschinen schrieben. »William, bitte! Bitte, warten Sie! Wir müssen miteinan der reden …!« »Aber nicht hier!« Er deutete kurz in die Runde, ohne stehenzubleiben. Konzentrierte Arbeit, wohin man sah. Und absolute Ruhe! »William …!« Susan dämpfte ihre Stimme, aber ihre Erregung war unüberhörbar, und dieser Auftritt zog die Aufmerksamkeit und die Blicke auf sich. »William, bitte! Dave gehört zu Ihren Leuten, zu Ihrem Stab!« Scott schüttelte den Kopf. »Nein! Nicht mehr! Wir haben ihn gefeuert. Ende letzter Woche! Ein einstimmiger Beschluß, abgesegnet vom Redaktionskollegium, von der Gewerkschaft und vom Betriebsrat. Der Brief ist bereits an 19
euch unterwegs! Morgen, spätestens übermorgen haben Sie ihn in den Händen. Mit hinreichender Begründung. Ich habe wirklich keine Lust, jetzt und hier den Fall mit Ihnen zu diskutieren!« Er warf einem der Journalisten die Manuskriptseiten auf den Tisch. Der nahm sie wortlos entgegen und breitete sie vor sich aus. Scott hatte seinen Weg fortgesetzt, sah sich nicht weiter nach Susan um, nahm wohl an, daß die junge Mutter mit dem fast fünfjährigen Kind unter dem Arm ihm auf seinem Marsch schon irgendwie folgen würde. »Ich habe David durch Jimmy McMillan ersetzt.« Er zeigte auf einen der besetzten Schreibtische. Es war Davids Schreibtisch. Susan kannte ihn. Wußte auch, wo immer das Foto von ihr stand und das von Julia. Aber beide Fotos waren verschwunden. Und ein junger, unbekannter Mann sah von seinem Bildschirm auf, der früher einmal Davids Bildschirm gewesen war, und blickte Scott etwas verwirrt und irritiert entgegen. Aber der ging nur rasch an ihm vorbei, klopfte ihm beiläufig auf die Schulter und raunte ihm zu: »Hallo, Jimmy! Laß dich nicht stören!« Jimmy ließ sich stören, nahm das Schulterklopfen als Auszeichnung, lächelte eine Spur zu überlegen und schaute höchst interessiert auf Susan. Offenbar waren ihm die Zusammenhänge nicht ganz klar. Scott steuerte auf das Treppenhaus zu. Das kalte Licht der Neonröhren spiegelte sich in den alten Kacheln. »Also! Du siehst: keinen Schreibtisch mehr und keinen Job!« 20
»Ja. Und keinen Parkplatz mehr!« ergänzte Susan bitter. »Richtig. Auch keinen Parkplatz mehr!« Scott lief, so schnell er konnte, die enge Treppe nach unten, ohne Rücksicht, ohne Mitgefühl: »Und wenn trotzdem vorläufig jeden Monat Geld auf eurem Konto landen wird, dann nicht, weil wir Angst haben vor dem Arbeitsgericht, sondern aus Fairneß. Und aus Pietät!« Er lachte kurz auf und sah sich um, ohne stehenzubleiben. »Sie waren drei volle Jahre bei unserem Blatt. Als angehende Journalistin ein vielversprechendes Talent! Doch, ja! Ohne Schmei chelei!« Er hob die Hand, um einen Einwand abzuwehren, der jedoch nicht kam. »Susan Galloway. Sie hatten eine Zukunft hier! Und ich hätte den Kerl, der Sie geschwängert hat, erschlagen kön nen!« Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf Julia, die ihn durch ihre kleinen Brillengläser mit großen Augen feindselig anblickte. »Wenn er Sie wenigstens geheiratet hätte!« Scott meinte das anscheinend im Ernst, und Susan versuchte, auf diesen Einwand hin, in ein demonstratives Gelächter auszubre chen. »William, bitte! David ist mein Mann! Auch ohne amtlichen Stempel! Er hatte einfach nie Zeit für so eine Formalität! Schließlich ist er einer Ihrer besten Reporter!« Scott war am Fuß der Treppe angekommen und winkte müde ab: »Lange her!« Er versuchte diesen Vorwurf durch ein Lächeln zu entschärfen, was ihm nicht sonderlich gelang. Also rettete er sich in eine Art grundsätzlichen Kommen tar: »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Menschheit zu retten 21
– sondern sie zu informieren! Retten muß sie sich schon allein! Wir brauchen Chronisten, Berichterstatter, die ein Bild von dieser Welt zeichnen – ›Scheiß-Welt‹, ja, meinet wegen! Aber keine Moralapostel und Prediger! Wir verkaufen Nachrichten – keine Heilsbotschaft! Und wir unterstützen vor allem keine protestierenden Rand gruppen, die unsere Wirtschaft attackieren und in Frage stellen.« Julia war stumm leidend von der Hüfte ihrer Mutter gerutscht und versuchte vergeblich, Schritt zu halten, bis Susan sich William Scott schließlich in den Weg stellte: »William! Bitte nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Dave ist in Lebensgefahr! Und er hat die Beweise!« »Beweise, wofür?« Scott schob sie einfach zur Seite. Susan war zutiefst irritiert. Hatte Scott tatsächlich keine Ahnung, was David da seit Wochen recherchierte, oder wollte er mit dem skandalösen Verhalten der britischen Regierung als Betreiberin dieser Nuklear-Anlage an der Nordwestküste nichts zu tun haben? »Für ein ›internationales Verbrechen‹, wie er sagt! Das die ganze westliche Welt aufrütteln wird!« Aber Scott lachte nur, und es klang zynisch, als er Susan zitierte: »›Die ganze westliche Welt‹ … Wie er sagt …!« Und nach einer Pause: »Und wann bitte hat er das gesagt?« »Letzte Nacht! Am Telefon!« Sie hatten die »Composing Area« schon zur Hälfte durchquert, die Setzerei, die gerade von den altertüm lichen Monstern der Bleisatzmaschinen auf elektronische Computersetzmaschinen umgerüstet wurde und sich in 22
eine Baustelle verwandelt hatte. Da gab Scott plötzlich seine polternde Art auf, wurde leiser und kam zur Sache: »Susan, wir handeln hier nicht mit irgendwelchen Skan dalen auf Grund von Vermutungen und dubiosen Bewei sen. Ich mag keine Alleingänge, und David weiß das! Er hat seinen Vertrag bei uns bewußt aufs Spiel gesetzt, wollte uns erpressen, wollte uns in Zugzwang bringen, wollte, daß wir voll und ganz auf eine Sache einsteigen, von der wir nichts hielten.« Er war kurz stehengeblieben, um seinen Worten Nach druck zu verleihen. Dann stürmte er wieder los und nahm in Kauf, Susan unter Umständen samt ihrem Kind einfach abzuhängen. Und es klang sehr aggressiv, sehr verletzt sogar, als er einen ungeheuerlichen Vorwurf landete: »Sie glauben mir immer noch nicht? Nein? Hören Sie zu: Ihr geliebter Freund Dave paktiert jetzt mit irgend so einer Schnulzenagentur, die er wohl zu Recht für geeigneter hält.« »Das würde David nie tun! Das wäre Vertragsbruch!« »So ist es, Susan. Genauso ist es!« Und als Susan ihn darauf skeptisch ansah, was er mit einem kurzen Seitenblick zur Kenntnis nahm, fuhr er fort, ebenso aggressiv und anklagend, wie er begonnen hatte: »Wollen Sie die Fotokopie der Vereinbarung sehen? Ja? Liegt oben auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie mir besorgt! Oder vielmehr: nein! Man hat sie mir netterweise zugespielt. Er wollte offenbar doppelt verdienen – bei uns und bei Pat Cooper und seiner NEWS-Agentur. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß der Daily Telegraph so 23
etwas akzeptiert!« Sie hatten den Maschinensaal erreicht, und Susan mußte gegen das Dröhnen der Rotationsmaschinen anbrüllen: »Das letzte, was ich von David weiß: Er wollte irgendwann nach Windscale, zu dieser Atomfabrik, um einen neuen Störfall zu recherchieren!« »Nicht für uns!« schrie Scott zurück. »Er hat sich noch einmal aus Liverpool gemeldet. Tele fonisch. Machte Andeutungen, daß dort eine ungeheuerli che Sache lief, über die er nicht reden wollte. Am Telefon nicht reden konnte.« »Störungen auf dem Sektor Energieerzeugung behandelt bei uns die Wirtschaftsredaktion. Wir haben es auch nicht nötig, Geschäfte mit der Angst zu machen.« »Aber seit diesem Anruf ist er verschwunden! Sechs Wochen lang wußte niemand, wo er steckt, ich nicht und niemand hier beim Telegraph. Ihr habt doch auch nach ihm gesucht und recherchiert …« »Ja, richtig!« brüllte Scott ihr zu. »Aber seit letzter Woche weiß ich nun, was ich davon zu halten habe: Fragen Sie diesen Pat Cooper! Und das Rätsel ist gelöst!« Er ließ sie einfach stehen und ging davon, an der Ab sperrung vorbei, hinter der die Maschinen rotierten und in rasender Geschwindigkeit schier endlose Papierbahnen bedruckten, falzten, schnitten und die Mittagsausgabe des Telegraph stapelten. Es kostete Susan einige Anstrengung, den Lärm zu über tönen und William Scott noch zu erreichen, der sich die ersten druckfrischen Exemplare vom Stapel holte. 24
»Wo find’ ich ihn?« brüllte sie. »Diesen Pat Cooper? Und seine NEWS?« William Scott sah nicht auf, als er antwortete und zu rückbrüllte: »Such im Telefonbuch!« Aus den Notizen des David McGhee:
»Die Energie, die jeder US-Amerikaner pro Jahr ver
braucht, entspricht etwa 3000 kg Steinkohle – oder aber:
nur 30 Gramm Uran!
Die umweltschädlichen Verbrennungsrückstände (Schwefeldioxid/Kohlenmonoxid/Stickoxide) der ver strömten Steinkohle gehen in die hundertmillionen Ton nen. Die nicht mehr weiter verwertbare Asche der Kern kraftwerke pro Kopf der Bevölkerung und pro Jahr hat dagegen gerade die Masse einer Aspirintablette! (1,6 Gramm). Das lese ich in einer Werbebroschüre der USAtom-Energiebehörde aus dem Jahr 1978. Ich frage mich allerdings: Wohin mit 250 Millionen radioaktiven Tabletten aus giftigem Spaltmaterial? Allein in den USA und in jedem Jahr?«
6 Die Demonstration der Sikhs vor Old Bailey schien erfolg reich, freiwillig oder auch unter Zwang beendet worden zu sein, denn durch die Fleet Street pulste wieder der übliche Verkehr, behindert nur durch einen falsch geparkten gel ben Mini, den der Abschleppdienst allerdings bereits am Haken hatte. 25
Die Männer mit den öligen Händen und gelben Regen jacken konnten dem heulenden kleinen Mädchen mit den blonden Locken und der Nickelbrille nicht lange widerste hen, auch nicht der attraktiven Mutter in ihrer Ver zweiflung. Es blieb schließlich bei einem Strafzettel über vier Pfund, gewissermaßen als amtlicher Beweis, daß die schwarzuniformierte Lady, der »traffic-ward«, ordnungs gemäß und unbestechlich ihres Amtes gewaltet hatte. Der Mini kam vom Haken also wieder herunter, und Susan fuhr hinein in das Chaos der City, auf der Suche nach einer Prominentenvilla irgendwo im Westend: Pat Coopers Verlagsgebäude der NEWS-Agentur. Es war gegen halb elf, als dort ein elfenbeinfarbener Jaguar XJS langsam am Portal vorfuhr und dicht neben Susans Mini anhielt. Ein soignierter älterer Herr mit grauem Schnurrbart kurbelte das Fenster herunter und musterte Susan, die in ihrem Wagen im Nieselregen war tete, mit vorwurfsvollem Blick. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie – wie alle anderen auch – Ihren Wagen auf der Straßenseite gegen über parken würden. Auf dem Parkplatz für Besucher und Angestellte. Ich habe dort ein Schild anbringen lassen.« Das klang überaus humorlos und belehrend. Dieser Mann lächelte nicht. Auch nicht angesichts einer jungen Frau mit einem entzückenden Kind auf dem Rücksitz. Susan war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Die Aufforderung, den Platz zu räumen, ignorierte sie einfach. »Sie sind Mister Cooper, ja?! Ich komme wegen David 26
McGhee. Er arbeitet für Sie. Oder nicht?« Cooper reagierte nicht. Er widersprach auch nicht dieser Behauptung. Er blieb stumm und sah Susan abwartend an. »David ist in Lebensgefahr! Man hat auf ihn geschossen! Ich habe alles mit angehört. Durchs Telefon …!« Cooper blieb gelassen, schien nachzudenken, und erst nach einer langen, fast peinlichen Pause fragte er: »Wo?« Und als Susan nicht sofort antwortete, wiederholte er seine Frage: »Wo hat man auf ihn geschossen?« »Ich weiß es nicht!« Susan fürchtete plötzlich, ihre Beherrschung zu verlieren. Sie preßte die Lippen aufeinan der, um nicht loszuheulen. Irgendwie fühlte sie sich am Ende ihrer Kraft. Dann versuchte sie zu erklären: »David ist … mein Mann! Es war sein erster Anruf, sein erstes Lebenszeichen nach sechs Wochen. Der kam … von irgendwoher. Ich habe nicht herausgefunden, wo er steckt. Und wo das passiert ist – mit den Schüssen. Ich hoffe nur … daß er noch lebt!« Es war ihr schwergefallen, sich zu beherrschen. Cooper nickte und signalisierte damit ein gewisses Maß an Ver ständnis. Dann beendete er diese ungewöhnliche Konver sation von Wagenfenster zu Wagenfenster: »Bitte, kom men Sie herein!« Er versuchte auszusteigen, was schwierig war. Der Mini behinderte seine breite Wagentür. So quälte sich Cooper also, ohne eine Miene zu verziehen, aus seinem Jaguar. »Ihren Wagen können Sie hier stehenlassen!« 27
Damit ging er auf das breite Sandsteinportal zu, das dieses gewaltige Gebäude aus vorviktorianischer Zeit überproportional beherrschte. Dort oben wartete er, scheinbar in aller Ruhe, bis Susan das Kind, das nach dem Aussteigen herumzurennen begann, wieder eingefangen hatte. »Bitte!« Cooper öffnete weit die eisenbeschlagene Tür. Auf dem Sandsteinpfeiler stand in diskreten, kleinen, blankpolierten Messingbuchstaben NEWS. Und sonst kein weiterer Hinweis. Aus den Notizen des David McGhee: »In Atomreaktoren läuft die Kettenreaktion, der Zerfall von schweren, instabilen Kernen des Uran-235 unter Neutronenbeschuß, gebremst und kontrolliert ab. Die dabei entstehende Energie überführt Wasser in Wasserdampf, der dann eine Turbine antreibt und dadurch, wie in konventionellen Kohlekraftwerken auch, Strom erzeugt, wobei zwei Drittel der entstandenen Energie als Abwärme in Gewässer geleitet oder über Kühltürme in die Luft geblasen wird. Der Brennstoff, angereichert mit Uran-235, befindet sich in Tablettenform in langen dünnen Hülsen aus Zircaloy, den Brennstäben, die zu Brennelementen gebündelt werden und nach einem Abbrand von 4 bis 6 Jahren ausgetauscht werden müssen. Bei einem Leichtwasserreaktor durchschnittlicher Lei stung, der mit ca. 100 Tonnen Brennmaterial geladen ist, werden pro Jahr etwa ein Drittel der Brennelemente, also 28
rund dreißig Tonnen, ausgetauscht. Bei den fünfzehn Kernkraftwerken der Bundesrepublik Deutschland fallen demnach jährlich 450 Tonnen Entsorgungsgut in Form abgebrannter Brennelemente an.«
7 Altbritische Pracht und Herrlichkeit in Marmor, Stuck und Eichentäfelung. Eine Eingangshalle wie zu einem Palast. Aber hinter den Glastüren zu den verschiedenen Salons herrschte die Geschäftigkeit von Großraumbüros: Schreibautomaten, Computer, Stellwände mit Pflanzen trögen, hinter denen emsige Arbeitsbienen Manuskripte tippten. Ein Hinweisschild »Fotolabor im Keller«. XeroxMaschinen druckten und sortierten in der einstigen Bibliothek Neuigkeiten, Nachrichten, Unterhaltung – für alsbaldigen Versand und Verbrauch. Nach der modernen Kommunikationstechnik im Par terre regierten ein Stockwerk höher nun wieder Tradition und Stil: Der Lärm der Maschinen wurde verschluckt von teuren Gobelins. Gedämpftes Licht fiel durch farbige, blei verglaste Fenster. Ausblicke in eine großzügige englische Parklandschaft. Eine Ausstellung im Vestibül: Stellwände mit Zei tungsausschnitten, der wöchentliche Ausstoß an NEWSProdukten, bunt und trivial, reißerisch und leicht ver käuflich: Stories und Serien nach Art der Regenbogen presse. Drei Tafeln zeigten ausschließlich Titelseiten von illustrierten Magazinen: gekrönte Häupter Europas, Lady 29
Di, die Queen, Caroline von Monaco, Sylvia von Schweden. Alles sehr sauber, sehr ordentlich, ohne Tadel. Cooper durchschritt sein Imperium wie ein Fürst und ohne sich nach seinen beiden Gästen umzusehen. »Good morning, Sir!« Ein junger Sekretär übernahm Hut und Mantel. Er funktionierte wie ein hochherr schaftlicher Butler. »Newspaper, Sir!« Ein junges Mädchen übergab die Morgenzeitungen, darunter den Telegraph. Cooper nickte nur, ging weiter, griff sich von einem Regal ein Bilderbuch: die britische Königsfamilie zum Auf- und Umklappen mit beweglichen Papphänden. Prinz Charles winkte einer jubelnden Menge zu. »Für dich!« Julia strahlte, und Cooper hatte bei einer der beiden Damen bereits gesiegt. »Die Post, Sir!« Eine Chefsekretärin legte die Leder mappe auf den sonst weitgehend leeren MahagoniSchreibtisch. Cooper schob sie beiseite. Ein diskreter Wink und die Sekretärin verschwand im Nebenraum. Cooper wartete, bis die Tür geschlossen war: »Ich kenne ihn nicht, Ihren David McGhee!« Er deutete auf einen schmalen, hohen, antiken Besucherstuhl, aber Susan war von seiner Feststellung zu betroffen, um sich zu setzen. Da schränkte Cooper bereits ein. »Nicht persönlich, zumindest.« Damit ließ er sich in seinen Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch fallen und begann, mit seinem Brieföffner zu spielen, einem afrikanischen Silberdolch mit Achatgriff. Susan versuchte die Initiative zu ergreifen: »William 30
Scott, der Nachrichtenchef vom Daily Telegraph, behaup tet, David hätte die Story, die er seit Wochen recherchiert, inzwischen an Sie verkauft, Mister Cooper!« Als Cooper nicht sofort reagierte, setzte sie sich und wirkte sehr klein und sehr schmächtig vor dieser riesigen Lehne aus geschnitzter Eiche. »Wann hat Scott das behauptet?« fragte Cooper schließlich, und es klang mit einem Mal sehr interessiert. »Gerade eben. Vor einer Stunde.« Cooper lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüt telte den Kopf: »Nein! Es gibt keinerlei Vereinbarung. Lediglich eine Zahlungsanweisung über – ich glaube -280 Pfund. Ein kleiner, unbedeutender Nebenverdienst. Für ein paar Begleittexte zu einer Fotostory von Cindy West. Einer Reportage, die für den Stil unseres Hauses leider etwas zu … nun ja … negativ geraten war.« Cooper versuchte, den Fall als Belanglosigkeit herun terzuspielen, und ging auch auf den erwähnten »Stil des Hauses« nicht näher ein. Offenbar setzte er ihn als bekannt voraus. »Wenn Sie als Ehefrau bevollmächtigt sind, was ich annehme, kann ich Ihnen einen Scheck mitgeben.« »David und ich sind nicht verheiratet, Mister Cooper. Ich hoffe, daß das Ihre Buchhaltung nicht weiter stört.« Als sie das klargestellt hatte, fuhr Susan fort, ohne noch auf eine Reaktion, auf einen möglichen Einwand von Cooper zu warten: »Die Reportage, von der Sie sprachen, war das die Ge schichte über Windscale? Diese umstrittene Wiederauf 31
arbeitungsanlage für die abgebrannten Brennstoffe der Kernkraftwerke?« Cooper zögerte einige Sekunden zu lang, und Susan nahm das bereits als Zustimmung. Gleichzeitig auch als Kommentar. Daher ergänzte sie: »David fand, daß es nun an der Zeit sei, diese lange Reihe stets heruntergespielter Störfälle, die Verseuchung der Irischen See, die Verstrahlung der Menschen in dieser Region an die Öffentlichkeit zu bringen. Allen Wider ständen zum Trotz! Aus Liverpool rief er mich noch ein mal an. Und seither …« Sie brach ab, mitten im Satz, und schaute hinaus in den Park. Dann schwiegen sie beide. Eine ganze Weile. Cooper ging auf das Problem nicht weiter ein und wechselte schließlich – scheinbar – das Thema: »Sie kennen Cindy West?« Susan schüttelte nur den Kopf. Sie beobachtete einen Stallburschen draußen im Park, vor dem Fenster. Er trug eine graue, glänzende Regenpelerine und führte ein schwarzes und offenbar sehr edles Pferd unter den riesi gen, jahrhundertealten Bäumen in seltsamen Kreisen her um. »Cindy West, die bekannte Fotografin? Nein? Die sieht den Sinn des Lebens hauptsächlich darin, auf qualmenden Pulverfässern zu stehen, um brandheiße Themen tod schick ins Bild zu setzen. Die habe ich diesem jungen Mann mitgegeben, der nicht abzuschütteln war. David McGhee. So kam ich zu einer Story, die viel Ärger von den verschiedensten Seiten und nur wenig Geld einbrachte.« 32
Susan sah Cooper überrascht und irritiert an: »Und diese Fotografin ist mit Dave unterwegs?« Cooper witterte Eifersucht und stellte klar: »Nein. Sie ist längst wieder hier!« »Wo hier? In London?« Susan ging es um Davids Verschwinden. Um Aufklärung und um Zeugen. Um sonst nichts. »Nein, nicht in London! An der Küste. In Hastings. Ich habe ihr einen anderen Job vermittelt. Zur Abwechslung – und zur Erholung.« Offenbar drängten sich Pat Cooper in diesem Augen blick irgendwelche Ideen auf, ein Einfall, der – unter ge wissen Umständen – verwertbar erschien, der allerdings etwas wegführte vom eigentlichen Thema, vom Anlaß dieses überraschenden Besuchs. Er betrachtete Susan sehr eingehend, abschätzend. Dann stand er auf, kam um den Schreibtisch herum auf sie zu, ganz langsam, jeden Satz, jeden Schritt überlegend. »Ich könnte mir denken, daß es Cindy West schwerfal len würde … einer jungen Frau wie Ihnen … einen Wunsch abzuschlagen …« »Was für einen Wunsch?« Susan war irritiert durch Coopers vage Andeutungen, seine plötzlich zur Schau gestellte lächelnde Freundlichkeit. »Den Wunsch, Ihnen behilflich zu sein. Auf der Suche nach Ihrem Dave. Denn ich … ich weiß leider absolut nichts über ihn … und sein Verschwinden …« Er hatte lange, maliziöse Pausen gemacht zwischen jedem einzel nen seiner Sätze. Und es schien, als entwickle er gerade ein 33
Konzept, eine besondere Art von Plan. Susan wandte sich wieder ab von ihm, um ihre Hilf losigkeit, ihre Verzweiflung nicht zu zeigen, und preßte die Lippen aufeinander. Da kam Cooper näher, setzte sich dicht neben sie auf die Kante seiner massigen Schreib tischplatte und beugte sich vertraulich zu ihr herunter. »Wie heißen sie eigentlich?« Susan blickte auf. Erst jetzt kam ihr zu Bewußtsein, daß sie vergessen hatte, sich vorzustellen. »Susan Galloway. Verzeihen Sie, Mister Cooper, aber …« Der winkte ab. »Schon gut! Erledigt. Und dieser David McGhee ist also … sozusagen … Ihr Mann. Ja?« Susan nickte nur stumm. »Und der Vater Ihres Kindes?« Wieder die Andeutung eines Nickens. Beide schauten fast gleichzeitig auf Julia, die in ihrem Aufklapp-Bilder buch gerade Charles und Lady Di in einer prachtvollen Kutsche durch Londons Straßen fahren ließ. »Tja. Eine tragische Story!« Cooper wirkte auf einmal sehr zufrieden, stand auf und ging langsam zurück zu sei nem Sessel. Er mußte zwischen sich und sein Opfer Dis tanz bringen. »Sehr gut das alles!« stellte er abschließend fest. »Viel leicht kommen wir beide doch noch ins Geschäft.« Eine Floskel. Geschäftsmäßig. Routiniert. Weiter nichts. Weiter nichts? »Geschäft? Wieso?« Susan konnte sich keinen Reim auf Coopers Andeutung machen. »Auch ich möchte Ihnen helfen, Susan.« Wieder dieses 34
Lächeln. Diese glatte Verbindlichkeit, die Cooper nur einsetzte, wenn er sich etwas davon versprach. »Einer jungen … hübschen … einsamen Frau …« Geschickt plazierte er seine nachdenklichen Pausen: »Einem entzückenden … hilflosen … Kind!« Geste und Blick gingen wieder in die Richtung Julias, die aufmerksam wurde und zurücklächelte. »Ich sehe da … gewisse Möglichkeiten!« Susan war irritiert. Diese Rätsel, diese plötzliche, so absichtsvoll wirkende Vertraulichkeit. Das alles gefiel ihr nicht, und sie blieb ernst und abwartend. »Natürlich liegt das alles bei Ihnen …!« »Was, bitte, liegt bei mir, Mister Cooper?« Sie sah ihn herausfordernd an. Aber Cooper fand, daß die Audienz, so erfreulich sie auch für ihn gewesen sein mochte, zu Ende sei. Er stand auf, und Susan verstand das Signal. »Nehmen Sie Kontakt auf mit Cindy West. Die war ja wohl als letzte mit diesem McGhee zusammen, wenn ich das richtig verstanden habe, ja?« Susan schwieg. Sah ihn nur an und nickte schließlich. »Gut.« Cooper verließ seinen Platz hinter dem Schreib tisch. »Ich melde Sie an. Dann sehen wir weiter.« Er nahm Julia an die Hand, ging mit ihr voraus, und so begleitete er die beiden Damen hinaus in das Vestibül des oberen Stockwerks und zur Freitreppe. Von den Stellwänden, von den Titelseiten der Magazine strahlten junge Mütter – zusammen mit ihren mehr oder weniger glücklichen Kindern. 35
Aus den Notizen des David McGhee:
»In ihrem Bericht vom 23. 7.1984 führt eine von der
britischen Regierung eingesetzte Ärztekommission aus,
daß die im Umkreis der Wiederaufarbeitungsanlage
Sellafield (Windscale) aufgetretene signifikante Häufung
von Blutkrebs, insbesondere bei Kindern, auch andere,
noch nicht nachweisbare Ursachen haben könne, und
nicht unbedingt nur von der dort meßbar freigesetzten,
hohen Radioaktivität stammen müsse.«
8 Susan fuhr nach Süden, quälte sich aus dieser Stadt, die kein Ende zu nehmen schien. Rund um die funkelnde City in ihrer imperialen Größe dehnte sich der Gürtel grauer Vorstädte. Wohnquartiere aus den Jahren der industriellen Revolution, heute Viertel der Inder, Pakistani, Ceylonesen, Afrikaner, Malayen. He runtergekommen, aber voller Leben! Dann wieder ganze Straßenzüge verlassen, mit zerschlagenen Scheiben, verna gelten Fenstern, ausgebrannten Ruinen. Die Überreste einer Metropole, Kadaver eines Kolonialreichs, das verlo renging. Aufgebaut auf billigen Rohstoffquellen und auf Sklavenlöhnen. Jetzt siechte das einstige Mutterland vor sich hin. Verarmt, aber immer noch stolz. Die Arroganz vergangener Größe und ausverkauften Reichtums noch in jeder verfallenen Fassade. Dann öffnete sich das Land, die »countryside«. Unzer 36
stört. Fast unberührt. Julia, die auf dem Rücksitz schlief, den Kopf auf ihrem rosa Elefanten, wurde durchgerüttelt und wild geschaukelt, denn die Landstraße nach Hastings war in den letzten fünfzig Jahren weder begradigt noch frisch geteert worden. Hier auf dem Land war seit über einem halben Jahr hundert alles so geblieben, wie es damals war. Die feudalen Villen in ihren Parks, die kleinen Dörfer, Herrensitze und strohgedeckten Katen. Nur die Reklameschilder vor den Pubs und Inns, für Zigaretten und Ice Cream, hatte man hin und wieder ausgewechselt. Wenn die Marke sich geändert hatte. Kein Grund für »Conservationists« und »Grüne«, war nend ihre Stimme zu erheben. Keine Fabriken, kein zu betoniertes Land. Hier war Merry Old England noch so, wie man erwartet, es anzutreffen. Nach drei Stunden schließlich: Hastings. Die Hügel öffneten sich. Weiße, schmale Reihenhäuser säumten die Straße, die hinunterführte zum Meer und dort in einer feudalen Uferpromenade mit dem berühmten Pier endete: ein bizarres Bauwerk auf Stelzen, das weit hinausragte in die herbstliche See und das in jüngster Zeit mit Spielauto maten und Bingo-Hallen angefüllt worden war. Am Ein gang flatterte ein buntes Transparent im Wind, hoch über den Köpfen der wenigen Touristen, die ausgeharrt hatten bis in diese windige, kühle Nachsaison: »HASTINGS – EIN GASTLICHER ORT SEIT 1066«. Damals waren William der Eroberer und die Normannen hier gelandet und hatten das alte Britannien unterjocht. Die Reste der Befestigungen 37
waren auf den Klippen, hoch über der Stadt, noch zu besichtigen. Susan stellte den gelben Mini am alten Fischereihafen ab. In irgendeinem Halteverbot, wie üblich. Dann machte sie sich auf die Suche. Unter den Klippen ragten schwarzgeteerte, schmale, hohe Hütten in den fahlblauen Himmel. Dort hingen die Netze der Fischer zum Trocknen. Und die bunten Boote lagen weit verstreut auf dem groben, braunen Kies. Dahin ter glitzerte das Meer und ein Scheinwerferpark. Ein Dutzend Menschen hatte sich um ein Zelt versammelt. Die Crew einer »Fashion Show«: Sechs superschlanke Mannequins präsentierten vor Cindy Wests Kamera die Bademode der nächsten Saison. Palmwedel, an Latten genagelt, sollten tropisches Am biente suggerieren. Zwei Garderobieren nähten, klam merten, kürzten und machten die ohnehin schon super knappen Bikinis und Tangas noch knapper. Im Wind schatten des Zeltes veredelten eine Friseuse, eine Visagi stin und zwei Maskenbildnerinnen die ohnehin schon makellosen Gesichter der Models. Zwei junge Männer, Cindy Wests Assistenten, legten Filme ein, wechselten Magazine und Kameras, Objektive und Filter. Beleuchter zogen Kabel, brachten Lampen in Position und verstellten die Silberfolien, die das spärliche Sonnenlicht reflektierten. Aus einem Lautsprecher schallte Beatmusik über den Strand und lockte Neugierige an. Die hockten auf den Fischerbooten und hatten Mitleid mit den blaugefrorenen Mädchen, die zum Rhythmus der Musik im frischen 38
Seewind posierten. Cindy West fotografierte mit »power«. Sie ließ ihre Puppen tanzen, arrangierte, brüllte ihre Befehle gegen den Wind, jagte die Filme durch die Kameras und die Mädchen vor und zurück, hin und her, in einer simplen, banalen Choreographie. Sie war eine sehr virile, sehr autoritäre Person. Ihre kurzgeschnittenen Haare waren grau, das Make-up ihrer Augen nachlässig aufgetragen und verwischt. Sie trug verwaschene Jeans, zwei Nummern zu groß, und ein altes, geflicktes T-Shirt über ihrem etwas zu mütterlichen Busen. Als Susan sich dem Schauplatz näherte, wurde Cindy West aufmerksam. Sie unterbrach ihre Arbeit und ließ die Kamera mit dem schweren Teleobjektiv auf ein Stativ montieren. »Du bist Susan, ja?« Cindy West betrachtete sie mit einem gewissen Wohlwollen. Dann lachte sie, winkte ab und widmete sich wieder ihrer Kamera. »Sorry! Danke nein! Du gefällst mir zwar ausgesprochen gut. Aber trotzdem: kein Interesse!« »Interesse woran?« Susan war irritiert. »Es geht um Dave. David McGhee!« »Ich weiß. Hab’ schon gehört. Keine Ahnung, wo er steckt. Tut mir leid!« Aber dann zögerte sie, musterte Susan nochmals mit einem nachdenklichen Blick, trat sehr dicht und sehr ver traulich an sie heran und provozierte damit die Aufmerk samkeit der gesamten Crew. »Hör zu, das geht nicht gegen dich! Aber mit Pat Coo 39
pers neuer Schnulzen-Story will ich nichts zu tun haben. Es interessiert mich einfach nicht! Ich hab’ ihm das am Telefon schon gesagt. Sei mir nicht bös’, okay?!« »Welche Story?« Susan begriff nicht, was hier gespielt wurde. Noch immer nicht. Aber Cindy West gab keine weiteren Erklärungen mehr ab, sondern wandte sich wie der ihrer Kamera und den Modellen zu und schoß eine Salve ihrer superschnellen, superlauten Regieanweisungen ab: »Los, weiter! Das war für euch kein Grund zu ent spannen: Los, Karen! Steh nicht herum wie ein Pferd! Dreh dein Becken und schieb es vor. Los, mach mich an! Fällt dir doch sonst auch nicht so schwer, oder? Und Mona: Arme hoch, noch höher! Faules Aas, beweg dich! Na ja, also. Gut so …« Die angesprochenen Mädchen posierten weisungsge mäß, bewegten sich routiniert wie automatische Puppen und produzierten dazu den üblichen, gut verkäuflichen Gesichtsausdruck. »Lächeln, Mädchen!! Lächeln!!! Das gilt für euch alle! Sommer! Wärme! Ferienglück! Ihr verfrorenen Ziegen! Mir ist auch kalt!« Die Mädchen zeigten also ihre Zähne und spielten krampfhaft bemüht die verlangte Rolle. Fünf Schritte vor – Pose – fünf Schritte zurück. Entspannen. Fünf Schritte vor – Pose – fünf Schritte zurück. Entspannen. Einfallslos, aber offenbar wirkungsvoll im eingefrorenen Zustand der Fotografie. Hüfte vor, Beine gestreckt, Arme schwingen, Kopf zu 40
rück und lächeln. Die Automatik von Cindy Wests Kamera schnarrte ohne Pause. Aus den Notizen des David McGhee: »Großbritanniens einzige Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe, Sellafield (vormals Windscale), hatte allein im Februar 1986 nach Angaben der Betreiberin British Nuclear Fuel (BNFL) zwei Störfälle. Am 5. Fe bruar trat radioaktiver Dampf aus einer geborstenen Lei tung und kontaminierte elf Arbeiter. Zwei Wochen später trat radioaktives Kühlwasser aus einem gebrochenen Ab flußrohr. Achthundert Arbeiter traten daraufhin in einen Proteststreik. BNFL bezeichnete die Störfälle als unerheb lich. Greenpeace und Friends of the Earth verlangten die endgültige Schließung der Anlage an der englischen Nordwestküste wegen fortgesetzter, unakzeptabler Risiken und der Verseuchung der Bevölkerung in den umliegen den Gegenden. Auch die irische Regierung hat gegen die Einleitung radioaktiver Abfälle in die Irische See Protest eingelegt.«
9 Dicht neben Susan klickte eine weitere Kamera. Einmal. Zweimal. Als sie sich umwandte, senkte einer von Cindy Wests Assistenten schuldbewußt seinen Apparat, mit dem er sie anvisiert hatte. Er lächelte. Bat um Vergebung. Sehr nett, sehr jungenhaft, sehr charmant. Und Susan lächelte zurück. Obwohl sie nicht wußte, was dieses Spiel bedeuten 41
sollte. Da mißbrauchte einer die Situation und ihre großzügige Nachsicht und fotografierte sie. Einfach so. Aus kürzester Distanz und ohne jede Scheu. Er war um die dreißig, und der rotblonde Stoppelbart gehörte wohl ebenso zu seinem persönlichen Stil wie der braune, verknautschte Hut, der ihn noch ein ganzes Stück größer erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Und wie die abgewetzte, braune Lederjacke mit den unzähligen kleinen Taschen. Wer weiß, zu wie vielen Aufnahmen ihn Susans Lächeln schon inspiriert hatte. Und er hätte vermutlich weiterge macht mit dieser für ihn offenbar so reizvollen Nebentätig keit, wenn Cindy West ihn nicht zurückgepfiffen hätte. Natürlich hatte sie die kleine Episode am Rand des Ge schehens bemerkt. Sie hatte ihre Augen überall: »Steve! Laß das! Nimm Lesley den blauen Fummel ab und gib ihr den gelben. Und stell das linke Gegenlicht weiter nach hin ten! Maureen, posier mal dort, wo Lesley stand! He, was ist los? Hörst du nicht? Spielst du den schlappen Sack? Los, Brust raus, auch wenn’s nicht viel bringt! Steve! Pack Maureen eine Handvoll Kleenex in den BH. Na los, mach schon! Oh, mein Gott, was für ein Job!« Cindy griff sich an den Kopf und blickte mit gespielter Verzweiflung auf Susan. Das ganze Theater hier schien ihr peinlich zu sein. Ein Broterwerb, weiter nichts, und offenbar unter ihrem Niveau. Befriedigt stellte sie fest, daß mit ihren Anweisungen die Crew und besonders dieser Steve für die nächsten zwei 42
Minuten hinreichend beschäftigt waren. Sie nahm Susan vertraulich am Arm und zog sie einige Schritte beiseite. »Ich habe in Vietnam fotografiert, in Kambodscha, in Mittelamerika und im Libanon. Ich habe mein Leben ris kiert inmitten von Toten! Wofür, bitte? Den Krieg habe ich nicht abgeschafft, nur einen leichten Kitzel produziert, im Magen der Zeitungsleser, morgens beim Frühstück.« Sie blickte mißgestimmt in die Runde, hinüber zu den überschlanken, halbnackten, frierenden Mannequins, die sich dicht aneinander drängten wie frisch geschorene Schafe. »Verhungernde Kinder in Äthiopien und in der SahelZone erzeugen schon längst kein Mitleid mehr. Und ster bende Wälder und verseuchte Flüsse reißen auch keinen mehr vom Stuhl. Und was immer dein verschwundener Dave vorhat – letzten Endes interessiert das die Öffent lichkeit nur einen einzigen Tag.« Das Magazin der Kamera war gewechselt, die Lampen umgestellt und das Volumen von Maureens Brüsten mit Hilfe von Kleenex fotogen vergrößert worden. Es gab keinen Grund mehr für Cindy West, weiterhin Konversa tion zu machen und mit schlechtem Gewissen ihre Exi stenz zu bejammern. Sie ließ Susan einfach stehen und begann wieder Hektik zu verbreiten und Energie in ihre schlaffen Puppen zu pumpen: »Was ist los! Spielt keiner mehr mit?! Oder wollt ihr den ganzen Tag hier in der Scheiße stehen?« Sie koppelte den Apparat vom Stativ und rückte den 43
Mädchen näher und auf die schönen, sommerlich bronce geschminkten Leiber. Aber der Teint aus der Tube konnte die zarte Gänsehaut nicht verbergen. »Na, Los! Bewegt euch! Dabei wird euch wärmer! Vor und zurück! Ja! Vor und zurück! Los – und weiter – und weiter …« Fünf Schritte vor – und Pose – und fünf Schritte zurück und wieder vor – und Pose. Immer im Takt der Musik. In der Tat: Was für ein Job?! Steve, dieser Aufreißertyp mit den frechen Augen, war wieder dicht neben Susan aufgetaucht, grinste sie an, zuckte die Schultern, hob die Hände, als müsse auch er sich für seinen Assistenten-Job entschuldigen. Dann machte er eine undefinierbare, chevalereske Geste, mit der er offenbar Susans Einverständnis einholen wollte. Aber bevor die noch verstand, noch während sie ihn fragend ansah, was er denn meinte, hob er wieder ganz ungeniert seine Kamera und fotografierte sie. Drei-, vier-, fünfmal. Bis sie sich schließlich abwandte. Weil es ihr peinlich wurde. Auch vor den anderen. Weil sie das nervte. Und weil sie nicht wußte, wofür das gut sein sollte. Da kniete Steve sich vor Julia hin und fotografierte das Kind, ohne jede Hemmung, ohne jede Spur von Heimlichkeit. Er schnitt Grimassen und lachte, und Julia lachte zurück. Die Kamera klickte und klickte, bis auch Julia dieses Spiel unheimlich wurde und sie Schutz suchte und ihr Gesicht an Susans Schoß verbarg. Von See her zogen Wolken auf. Ganz plötzlich, ganz überraschend. Sie kamen wie aus dem Nichts und ver 44
dunkelten die Sonne. Die Farben verblaßten. Über die spätherbstliche Küstenlandschaft mit der anmutigen Stadt unter den Klippen legte sich ein grauer, kalter Schleier. Möwen stürzten sich krächzend auf ein zurückgekehrtes Fischerboot, das mit einer Seilwinde auf den Strand gezogen wurde. Die Neugierigen wandten sich ab von dieser ermüdenden Modenschau, zogen sich in den Windschatten der schwarzen Hütten zurück, interessierten sich für den Fang der Fischer, liefen zurück in die Stadt, in den nächsten Pub, hatten für heute genug gesehen. Cindy West blickte zum Himmel. Kein Grund für sie, zu resignieren und das Unternehmen abzubrechen. Aber sie legte eine Pause ein und gab Steve die Kamera. »Meine letzte Reportage, die gab mir den Rest.« Sie war wieder zu Susan getreten, zu der sie, aus welchen Gründen auch immer, ein gewisses Vertrauen gefaßt zu haben schien. »Windscale. Die Atomfabrik. Du hast von Dave sicher davon gehört, ja?« »Ja. Natürlich. Er sammelte über Wochen hindurch Ma terial. Aber ich weiß nicht, was schließlich damit gesche hen ist. Wir haben uns seither ja nicht mehr gesehen!« »Dann hast du auch unsere gemeinsame Dokumenta tion nicht in die Hand bekommen. Meine Fotos. Darunter Daves Texte. Irgendwo abgedruckt?« Susan schüttelte den Kopf. »Das hätte mich auch gewundert. Sonst wüßte nämlich die gesamte Öffentlichkeit, daß die ihre radioaktiven Abwässer in die Irische See einleiten. Direkt und durch eine Pipeline. Und das seit Jahren schon!« Sie bohrte mit 45
den Spitzen ihrer abgewetzten Turnschuhe tiefe Löcher zwischen die braunen, runden Kiesel des Strandes. Aggressiv und unruhig. »Die Küste ist verseucht, die Fische sind vergiftet. Der Gezeitenstrom verteilt die Rückstände nicht über die ganze Nordsee, wie vielleicht geplant, sondern schwappt sie immer nur hin und her. Da baden nichtsahnende Tou risten, spielen Kinder im Sand. Und bei Ebbe trocknet der Seewind den strahlenden Müll und trägt ihn fein verteilt wieder zurück ans Land.« Sie wurde aufmerksam. Ein Sonnenstrahl huschte über sie hin, ließ das Meer aufglänzen, die nassen, bemoosten Quader der alten Mole, die Kiesel am Flutsaum. Aber schon nach wenigen Sekunden schob sich die nächste graue Wolkenbank über die Küste, jagten tiefhängende Fetzen wie Schleier über das Wasser und über das Land. »Steve! Häng den Mädels Handtücher und Bademäntel über. Die sterben mir sonst weg wie die Fliegen! Oder sperr sie ins Zelt!« Steve hatte sich wieder einmal an Susan und Cindy herangepirscht. Aus purer Neugierde, vielleicht. Aber nun lief er weisungsgemäß los und bemutterte die fröstelnden, zitternden Mädchen, die sich im Windschatten hinter einem Boot eng zusammendrängten. »Damals traf ich David«, fuhr Cindy fort. »Deinen Dave. Der holte mich ab, vor Pat Coopers Agentur, mit seiner alten Karre, dann fuhren wir hoch nach Liverpool und dann an die Küste. Er tippte die Texte, und ich habe inzwischen alles fotografiert, was durch den meterhohen, 46
hochspannungsgesicherten Zaun mit seinen Fernsehka meras und Stacheldrahtrollen alles zu sehen war. Und Dave hat das ganz sachlich geschildert. Wie Spuren von Plutonium in den Häusern gefunden wurden, auf dem Küchengeschirr, im Staubsaugersack, von einer ›ExpertenKommission‹ der Universität Manchester, der sie hinterher das Maul verboten haben. Wie die Geigerzähler ausschlu gen, auch am Strand, in Sandlöchern, die wir bohrten, oft noch in einem Meter Tiefe und Meilen entfernt von der Pipeline, nach Norden, nach Süden. Den netten Werks direktor haben wir interviewt, der eigentlich gar nicht aussieht wie ein gefährlicher Krimineller. Und der sich auf seine Arbeitsplätze beruft, die offenbar wichtiger sind als Menschenleben. Und vor allem: Er hat ja die Geneh migung der Regierung, in deren Auftrag er handelt! Und dann habe ich die Kinder fotografiert. Zu Hause. In der Schule. Die an Leukämie erkrankt waren. Und die, die daran gerade starben …« Cindy West schwieg. Sie beobachtete den Himmel. Das Wolkenband riß auf, und ein milchig blauer Himmel öffnete sich wieder über Meer und Küste. »Los, Mädels, Steve! Es geht weiter. Auf die Plätze, los, kommt raus!« Wieder wirbelte Cindy West über diesen spätherbstlichen Schauplatz der Sommermode vom näch sten Jahr. Susan war ihr gefolgt, stand nun neben Cindy West, als diese ihre Kamera wieder eigenhändig auf das Stativ montierte. »Ja, eine fabelhafte Reportage war das! Und was glaubst 47
du, ist damit passiert? Erst hat Pat Cooper sie in seinem Giftschrank versteckt und vorsichtig überall angefragt, ob vielleicht jemand Einwände haben könnte. Schließlich hat es kaum einer gedruckt.« Steve hatte die Herde der schönen Mädchen wieder auf ihre Plätze gejagt, und Cindy West setzte ihre Arbeit fort, hinter der Susan plötzlich so wenig Sinn erkennen konnte. Immer die gleichen Posen, die gleichen Gesichter, das gleiche stereotype, eingefrorene Lächeln, die »Fummel« wechselten zwar hin und wieder und die Accessoires und das Ganze wurde mal weiter und mal näher abgelichtet, aber wozu denn gleich auf Hunderten von Fotos …? Aber Cindy West hatte außer ihren grundsätzlichen Skrupeln offenbar keine weiteren Probleme mit diesem Job und wußte, was die Auftraggeber von ihr erwarteten: »Ja, los, so ist es recht, Mädchen. Das Ganze immer wieder von vorn. Bewegt euch und seid glücklich. Zeigt eure Jacketkronen, seid fröhlich, heiter. Ja! Es ist eine Lust zu leben …!« Innerhalb weniger Sekunden war ein Magazin leerge schossen, und Steve und sein Kollege waren mit dem routinierten Einlegen neuer Filme immer gut beschäftigt. In einer Atempause kam Cindy West wieder auf das Thema zurück, das ihr offenbar auf der Seele lag: »Natür lich hat sich der Skandal herumgesprochen, als ein neuer Störfall publik wurde. Viele kleine Meldungen nagten am Image dieser Art von Industrie. Darauf hat man Windscale in Sellafield umgetauft, nach dem kleinen Ort, der die bedauernswerten Arbeitskräfte stellt. Man hatte gehofft, 48
daß der Skandal mit dem neuen Namen auch ein wenig seinen Glanz verliert. Ein Etikettenschwindel. Aber offen bar wirkungsvoll. Denn hast du irgendwann von einer Revolution gehört? Von landesweiten Protestmärschen? Von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen das Werk? Der Forderung von Greenpeace, diese umstrittene Fabrik endlich zuzumachen, haben sich bisher Politiker nicht angeschlossen. Siehst du, und deshalb steige ich aus, mein Kind! Weil ich nichts bewirke außer ›entertainment‹, ein wenig Unterhaltung für brave Bürger, die Spaß daran haben, sich zu fürchten. Und jetzt spielen wir hier ein bißchen Sommer, kurz bevor der Winter endgültig über uns hereinbrechen wird, für den Frühjahrskatalog einer prominenten Firma, die sich die Reise auf die Bahamas nicht leisten will, weil sie glaubt, ich könnte zaubern. Mit hübschen Bienen, festen Brüsten, knackigen Ärschen und viel braun geschminkter Haut. Damit der Kunde seine reizenden, winzigen Feigenblätter auch losschlagen kann, wenn es schließlich wieder wärmer wird und die Saison beginnt. Ist das nicht eine hübsche, irre Welt?« Sie rannte mit ihrer Kamera wieder mitten hinein in die Gruppe der Mädchen, scheuchte sie auseinander wie ver schreckte Hühner. »Los, weiter, Girls, weiter, weiter! Zeigt, wie der Sommer euch geil macht! Ihr müßt platzen vor Lust! Ich liebe euch alle!« Als sie zurückkam, um das Magazin zu wechseln, trat Susan ihr in den Weg: »Sag mir, wo Dave ist. Bitte! Und ich geh’!« 49
»Ich weiß es nicht, mein Kind, und das ist die Wahr heit!« Sie reichte Steve die Kamera. »Vielleicht recherchiert er weiter an dieser schmutzigen strahlenden Story. Denn er ist dort geblieben. Vielleicht ging’s ihm auch wie mir und er hat alles hingeschmissen und ist ausgestiegen! Du siehst, meine Liebe, viel kann ich nicht für dich tun.« Sie legte Susan die Hände auf die Schultern, eine sehr freun dschaftlich-intime Geste. »Wir könnten zusammen zu Abend essen. Nur wir zwei. Zum Beispiel. Zuerst mal. Oder mußt du unbedingt zurück nach London?« Sie schaute Susan auffordernd, aufmunternd tief in die Augen und strich ihr mit den Fingerspitzen vorsichtig über den Nacken. Aber Susan reagierte nicht auf dieses Angebot, lächelte nur freundlich und unnahbar: »Ich muß wissen, wo Dave ist. Nur deshalb bin ich hier.« Cindy West nickte, hatte verstanden, nahm ein wenig wehmütig und resigniert die Hände von Susans Schultern, übernahm die Kamera von Steve und machte sich wieder auf den Weg zu ihren Mannequins. Nach wenigen Schritten drehte sie sich noch einmal kurz zu Susan um. »Es wär’ so schön gewesen …! Jetzt bleiben mir wieder nur diese gerupften Hühner.« Sie lachte übermütig, und dann trieb sie ihre »Hühnerschar« über den Strand und hinein ins Meer. »Letzte Runde! Rein ins Wasser. Keine Angst, nur bis zu den Waden. Faßt euch an den Händen! Und los! Und umdrehen! Und zurück zu mir auf Zuruf … und jeeeetzt!« Als sie zurückkam und Steve ihr die Kamera wechselte, rief sie Susan noch zu: »Dein Dave hat mir Filme geschickt. 50
Von irgendwoher. Die liegen noch unentwickelt oben in meinem Labor. Ich hatte einfach keinen Nerv mehr für diese Sache, kannst du das verstehen?« »Filme? Von Dave?« Susan sah plötzlich wieder eine Möglichkeit, einen neuen Ansatz für ihre Suche, das Ende eines Knotens, einen Hoffnungsschimmer. »Los, Steve! Gib Susan die Filme!« Steve nickte und grinste Susan an, sehr direkt und fast ein wenig unverschämt. »Okay, gehen wir!« Er deutete in Richtung der Stadt. »Steve kann auch die Story mit dir machen. Für Pat Cooper!« rief Cindy West noch hinterher. »Ich habe ab solut keine Lust dazu.« Susan wandte sich ab, ohne ein Zeichen des Einver ständnisses, nahm Julia an der Hand und ging auf die verstreut daliegenden Boote, auf die schwarzen Hütten der Fischer zu. Steve packte Cindys Kameras in die verschiedenen Aluminiumkoffer, dann rannte er los. Vorn an der Straße holte er Susan schließlich ein. »Warum warten Sie nicht? Wo wollten Sie hin? Ich komme doch mit?« »Werden Sie nicht mehr gebraucht?« Er lachte nur. »Die Schau ist für heute gelaufen! Das sah eben verdammt nach Finale aus. Ist das Ihr Wagen?« Die Windschutzscheibe des Mini zierte ein Strafzettel der Polizei. Susan griff danach. »Davon habe ich schon eine ganze Sammlung!« »Lassen Sie ihn stecken! Teurer wird’s nicht.« Er zeigte nach oben. »Wir fahren dort hinauf. Mit der Zahnrad 51
bahn.« Die schmiegte sich an die felsige Klippe wie ein Kinder spielzeug, hoch umschwirrt von schreienden Möwen. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »16. August. In einem aufgelassenen und hermetisch ab gesperrten und gesicherten Teil des Liverpooler Hafens stehen sie in Reih und Glied. Vierundsechzig riesige, sil berglänzende Stahl-Container, fünf Meter hoch. Durch messer fast zwei Meter, wie die Säulen einer Tempelanla ge aus dem klassischen Altertum, und warten auf ihre Verschiffung. Über den Inhalt gibt es für mich keinen Zweifel. Manhat also irgendwo auf der Welt eine Müll kippe gefunden für unseren strahlenden Schrott.«
10 Langsam und mit sanftem Poltern schob sich die Kabine der Zahnradbahn aus dem Gewirr der Dächer die steile Klippe hinauf. Julia preßte ihre Hände gegen das Fenster und schaute hinaus. Die hohen schwarzen Hütten für die Fischernetze wurden kleiner und kleiner, die bunten Boote, das FotoTeam am Strand. Und der Blick ging weit über die Stadt und den Hafen und über das Meer. »Mami, schau nur, wir fliegen!« Julia hüpfte auf einem Bein quer durch die Kabine und erntete ermahnende Blicke von drei älteren Damen, bis Susan sie schließlich einfing, ihr etwas ins Ohr flüsterte und sie neben sich auf 52
die Bank setzte. Steve lehnte an der Wand gegenüber mit schußbereiter Kamera. »He, kleines Fräulein, bist du überhaupt schon mal geflogen?« »Ja! Um die ganze Welt herum!« Julia machte es ihm mit einer großen Geste deutlich. »Jetzt schwindelst du aber!« Steve hatte die Kamera gehoben und abgedrückt. »Nein! Es ist wirklich wahr! Wir haben meine Oma besucht. In Auckland. In Neuseeland!« Sie war sehr stolz darauf und blickte Steve herausfordernd an, als erwarte sie Beifall. »Es war im letzten Sommer«, bestätigte Susan und zog Julia die Strickjacke aus. »Der Telegraph zahlte Davids Reise. Er bekam den Auftrag, über das Greenpeace-Schiff zu schreiben, die ›Rainbow Warrior‹, das der französische Geheimdienst im Hafen von Auckland versenkt hatte. Ein Fotograf wurde dabei getötet. Erinnern Sie sich?« Steve nickte nur. Und Susan lächelte ein wenig weh mütig: So traurig und dramatisch der Anlaß war, damals war die Welt für sie drei noch in Ordnung, und die kleine Familie machte ihre erste große gemeinsame Reise. »Und du fliegst gern?« Steve hoffte, Julia würde sich ihm zuwenden. Aber die kniete sich auf die Bank und schaute den Möwen zu, die sich im steilen Flug von den Klippen stürzten und im Aufwind weit hinaus über den Strand und über die Stadt segelten. »Ja! Im Flugzeug gibt’s Kino und Eiscreme und ein Malbuch mit vielen Stiften!« 53
»Du warst also eine VIP! Eine ›very-important-person‹ mit Extraservice, ja? » Da drehte sich Julia um, schaute ihn fragend an, und Steve drückte wieder ab, einmal, zweimal … »Sie arbeiten schon länger mit Cindy West?« Susan fragte ihn nur, um ihn von Julia und diesem ständigen und peinlichen Fotografieren abzubringen. »Mit Cindy? Oh, schon eine ganze Weile …« Er spannte den Verschluß und lauerte erneut auf eine günstige Gele genheit. Aber Julia hatte sich wieder von ihm abgewandt. »Warum nimmt sich Cindy West keine Frauen als Assi stenten?« Vielleicht wollte sie ihn provozieren. Aber Steve zuckte nur die Schultern: »Sie können sich ja bewerben. Ich schätze, Ihre Chancen stehen nicht schlecht.« »Und Sie waren immer und überall mit dabei?« Steve dachte kurz nach, dann räumte er ein: »Nicht in Vietnam. Nicht in Kambodscha. Nicht im Libanon. Ich hab’ Spaß an ganz anderen Abenteuern!« Er grinste Susan herausfordernd an, aber sie ging nicht weiter darauf ein, sah einfach an ihm vorbei und stellte weiter sachliche Fragen: »Aber in Windscale, da waren Sie mit, ja?« Sie hätte merken müssen, wie er sich aus der Affäre zog, als er sagte: »Hatte ich mit zu tun! Natürlich! Ließ sich nicht ganz vermeiden.« »Dann haben Sie Dave getroffen. David McGhee, meinen Mann!« »Aber ja, sicher! Wir sind alte Freunde!« Das klang ganz 54
einleuchtend und logisch, war so leicht hingesagt, wie selbstverständlich, und trotzdem: Irgend etwas in Susan reagierte skeptisch. Warnte sie. Und mahnte sie zur Vorsicht. Sie warf einen kurzen, nachdenklichen Blick auf diesen Mann mit seinem unverschämten Charme, dem er so selbstsicher und blind zu vertrauen schien, dann fuhr sie nach einer Pause fort, die Gedanken zu formulieren, die ihr schon die ganze Zeit, seit Cindy West ihr gegenüber ausgepackt hatte, durch den Kopf gegangen waren. »Warum greifen Politiker da nicht ein: radioaktiver Ab fall in die Irische See. Mit Genehmigung der Regierung. Leukämie bei Kindern. Plutonium auf dem Küchen geschirr. Das sind doch keine Gerüchte. Oder dumme, tendenziöse Propaganda von irgendwelchen Protest gruppen. Da müssen doch Tatsachen dahinterstecken. Sonst hätte man Cindy Wests Reportage nicht nur verhin dert, sondern verboten.« Steve gab sich gelassen, fast uninteressiert. Um so zynischer klang dann sein trockener Kommentar: »Unsere armen Politiker sind überfordert: Statt zu ›regieren‹ – ›reagieren‹ sie nur noch. Auf Sachzwänge. Auf den Druck irgendeiner Lobby. Irgendeiner Interessengruppe. Und dann ›agieren‹ sie vor den Fernsehkameras, vor der Öffent lichkeit. Das bringt mehr Stimmen für die Wiederwahl und weniger Ärger. Politik ist Showbusiness.« Er lachte, dann fuhr er mit der Hand über die Scheibe, als wische er seine Behauptung wieder aus. Die Kabine der Zahnradbahn war in die gußeiserne Konstruktion des Bahnhofs eingefahren. Die drei älteren 55
Damen, die neugierig und schweigend der Unterhaltung gefolgt waren, standen auf und gingen hinaus. Steve war tete, bis sie außer Hörweite waren: »Wir können leicht kritisieren; aber da sind sechstausend Arbeitsplätze in einer unterentwickelten, armen Küstenregion. Wo jeder froh ist, überhaupt einen Job zu finden. Auch wenn er langfristig dran krepiert. Und wo keiner protestiert, letzten Endes, schon weil die Einsicht fehlt und neutrale Informationen nicht zur Verfügung stehen …« Er hob Julia hoch und über die Treppe hinweg. »Und außerdem: Wo soll das Material herkommen für unsere Kernwaffen? Die Freiheit hat eben ihren Preis! Einige zahlen mehr dafür. Einige weniger!« Damit ging er hinaus, an dem freundlichen, weißhaarigen Kondukteur vorbei, der die Tickets einsam melte, und kletterte die steilen, ausgetretenen Ziegelstufen nach oben. Susan folgte ihm mit Julia an der Hand und dachte nach, welchen Preis David gerade zahlen mußte. Und sie selbst. Oder war das eine andere Geschichte? Hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun? War es ein Zufall, daß David ausgerechnet nach dieser Reportage, während der Recherchen zu diesem heißen Thema verschwunden war und in tödliche Gefahr geriet? Hatte er tatsächlich einen »internationalen Skandal«, ein »Verbrechen«, wie er es nannte, aufgespürt, das ihm, wenn er es veröffentlichte, wirklich das Leben kosten konnte? Aus dem Tagebuch des David McGhee:
»17. August. Der japanische Riesenpott, der vor zwei
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Stunden hier eingelaufen ist und der die Container über nehmen soll, war bereits zur Hälfte beladen mit Fracht aus den USA. Nun soll die ganze Ladung zur Wiederauf arbeitung des Containerinhalts wieder in die USA, wie es offiziell heißt. Warum das Hin und Her? Es werden hier in Liverpool doch ›deckhands‹ also Decksleute gesucht. Hunderte von Arbeitslosen haben sich gemeldet. Aber Spezialisten werden bevorzugt. Speziali sten wofür? Ich sehe plötzlich eine Möglichkeit, die Wi dersprüche aufzuklären.«
11 Oben auf der Klippe dehnte sich eine Schafweide in einem so leuchtend frischen Grün, wie man es nur auf dieser britischen Insel mit ihren verläßlichen, sanften Regen schauern finden konnte. Steve steuerte auf einem Trampelpfad ein weißgekalktes, altertümliches Gemäuer an, das wie ein Spielzeugschloß den Hügelrücken beherrschte. Susan hing ihren Gedanken nach, folgte mit Julia in einigen Schritten Abstand und nahm von dieser Umge bung, diesem weiten Blick über Stadt und Küste, kaum Notiz. »Steve …!« Er drehte sich um und sah sie erwartungsvoll an. »Haben Sie eine Idee, wo Dave hingereist sein könnte? Er hat doch eine bestimmte Spur verfolgt, Beweise gesucht, irgendeinen Skandal recherchiert! Hat er denn nichts erwähnt? Ihnen gegenüber? Nie von seinen Plänen gespro 57
chen? Nein? Sie sind doch sein Freund?« Steve hatte nur die Schultern gezuckt. Er versuchte Zeit zu gewinnen, zögerte. »Wenn er Ihnen gegenüber nichts erwähnt hat … Sie sind doch seine Frau …!« »Es muß irgendein spontaner Entschluß gewesen sein, der ihm keine Zeit mehr ließ, mir Nachricht zu geben. Oder ist es möglich, daß er entführt wurde? Er hat viel leicht etwas … Schreckliches … entdeckt … oder sogar fotografiert!« Steve unterbrach sie: »Ganz einfach! Wir entwickeln seine Filme. In einer halben Stunde wissen wir es!« Er ging weiter. Da zupfte Julia ihn am Ärmel: »Heißt du wirklich Steve?« Er nahm sie bei der Hand. »Ich heiße wirklich Steve, ja. Ganz korrekt und vollständig: ›Stephenson Arthur Lancelot Wladimir Lenski‹, mein Großvater war nämlich ein polnischer Graf. Oder ein Ziegelei-Arbeiter, wer weiß. Und der hat seine Heimat verlassen und ist nach London ausgewandert, warum, das hat er keinem erzählt. Und meine Mutter, die stammte aus Cornwall, aus Wales. Die unterhielt sich mit ihren Schwestern in einer Sprache, die keines von uns Kindern verstand. Und die stammte von König Arthur ab. Oder von Lancelot. Genau weiß man das nicht. Oder auch von einem Fischer aus der Gegend um Land’s End. Du siehst, wir sind eine ganz schön komplizierte Familie. Und vom König Arthur oder von diesem Lancelot, oder von diesem Fischer, wer weiß, habe 58
ich meine roten Haare!« Er nahm seinen Hut ab und zeigte sie voller Stolz. Er war auch stolz auf seine Familiengeschichte, und Susan lachte zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren. Nur Julia war offenbar nicht besonders beeindruckt. »Kannst du zaubern?« wollte sie wissen. »So wie Merlin, König Arthurs Hexenmeister? Nein, aber ich kann fotografieren! Das ist genauso schwierig wie zaubern, nur viel schöner. Und irgendwie moderner. Und was man damit alles machen kann, das zeig’ ich dir nachher im Labor!« »Gibst du mir deinen Hut?« »Nur, wenn ich dich damit fotografieren darf!« Er durfte. Sie waren ein gutes Stück über diese große Wiese gegangen, alle drei Hand in Hand, wie eine kleine, glückliche Familie. Aber nun machte Steve sich frei, stülpte Julia den viel zu großen Hut auf den Kopf, der ihr bis auf die Ohren rutschte, und begann sie und Susan zu fotografieren. Und Susan zerbrach sich den Kopf, warum zum Teufel er das machte. Obwohl er doch merken mußte, daß sie das störte. So kamen sie schließlich zu dem seltsamen weißen Haus, das in der Abendsonne unheimlich und gespenstisch aufleuchtete, vor den nachtschwarzen Wolken einer auf ziehenden Regenfront. »Hier?« fragte Susan und schaute auf die verfallende Pracht, die nur noch von der frischen Kalkfarbe zusam mengehalten wurde. 59
»Hat König Edward von England für seine Geliebte gebaut. Eine Schauspielerin. Den Namen dieser Mätresse habe ich vergessen. Hundert Jahre her. Aber im Foyer hängt ein Porträt von der Dame.« »Und jetzt wohnt Cindy West in diesem Haus?« »Ja. Aber nicht allein. Es hat über dreißig Zimmer. Cindy findet es ihrem schlechten Ruf angemessen, hier zu hausen, und die anderen fünfzehn oder zwanzig Leute unter diesem Dach empfinden das wohl ähnlich.« Er ging voraus, die breite Treppe hinauf und holte einen Schlüssel aus seiner Tasche. »Das Labor ist im Keller.« Julia blieb stehen, zog an der Hand ihrer Mutter. »Was wollen wir hier?« »Wir sehen uns die Bilder an, die Daddy gemacht hat. Wir müssen herausfinden, wo er steckt. Komm!« Aber Julia hatte offenbar einen guten Instinkt, was diesen verruchten Ort betraf: »Ich möchte draußen spie len!« »Nein. Das geht nicht! Du kommst mit herein!« Sie nahm Julia, wie so oft, wenn diese Widerspruch zeigte, kurzerhand unter den Arm und schleppte sie die Treppe hinauf, in dieses Sündenbabel der Urgroßeltern-Genera tion. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »19. August. Das Schiff ist beladen. Die Container sind vom Quai verschwunden. Alles läuft reibungslos, ist per fekt geplant und organisiert. Wir sind zwölf Mann Decks besatzung und leben komfortabel in geräumigen Kabinen. 60
Vierundzwanzig Stunden vor dem Auslaufen erhielten wir schicke weiße Overalls mit dem Emblem der Firma, Schutzhelme, Handschuhe, Gasmasken und offizielle See fahrtsbücher ohne jede Überprüfung unserer Personalien und ohne ärztliche Untersuchung. Aber die Bestätigung, daß ich gesundheitlich okay bin, und zwar in jeder Bezie hung, ist ordnungsgemäß abgestempelt.«
12 Steve konnte zaubern. Kein Zweifel. Auf dem weißen Papier, das er langsam in dieser übelriechenden Flüssig keit, die dicht vor Julias Nase schwappte, hin und her be wegte, wurden ganz überraschend zarte, graue Schatten sichtbar, erste Konturen. Schemenhaft erschienen vier Gestalten, offenbar seltsam gekleidete Priester zwischen riesigen antiken Säulen. Aber dann, als das Bild deutlicher wurde, waren das gar keine Säulen mehr, sondern gewaltige Stahlcontainer mit Kühlrippen. Und die vier Männer, die sich zwischen die sen monströsen Behältern zu einem Gruppenbild einge funden hatten, waren Arbeiter und lächelten fröhlich in die Kamera. »Daddy! Da ist Daddy!« Julia jubelte auf. Sie hatte ihn, trotz der tiefroten Finsternis, die sie in dem Kellerlabor umgab, und obwohl das Bild erst im Entstehen war, sofort erkannt. Susan beugte sich über das Foto. »Das ist David!« Diese Überraschung traf sie unvorbereitet. Da stand er, offen 61
sichtlich gut gelaunt und keineswegs unglücklich, inmitten dieser Männergruppe. Er trug, wie die anderen auch, Gummistiefel, und seine Gummihandschuhe reichten bis zu den Ellenbogen. Alle hatten ein Symbol auf der Brusttasche ihrer hellen Overalls, neben irgendwelchen Meßinstrumenten und Indikatoren: ein großes, von ovalen Linien eingesponne nes, eingekreistes »N«. Auch ihre Schutzhelme trugen die ses Symbol. David hielt den seinen als einziger in der Hand. »Wo ist das? Und was macht er da? Mit diesen Leuten? Und woran arbeiten die?« Schon das erste Bild, das sie aus Davids Filmen vergrößert hatten, gab Susan Rätsel auf. Sie improvisierte eine Erklärung: »Er täuscht vor, einer von diesen Arbeitern zu sein. Gibt sich den Anschein, als gehöre er dazu …« Dann dachte sie den Fall weiter: Er sammelt Informationen, Beweise für kriminelle Vorgänge. Wenn nun die, die er ausspioniert, plötzlich bemerken, daß er sie hintergeht. Wenn er, wie das bei Spionen und Agenten heißt, »enttarnt« würde … Der nächtliche Anruf! Der Hilfeschrei! Die Schüsse! Die Sirene! Seine Todesangst! Die Kapitulation! Das war die Konsequenz gewesen! Sein Lächeln auf dem Foto war also nur Tarnung. Und die freundlichen Kollegen waren nur ein Alibi. »Windscale! Er ist im Werk. In dieser Fabrik! Um Gottes willen, was tut er dort?« »Er hat offenbar einen guten Job gefunden! Wem gelingt das schon heutzutage?« Steve betrachtete das Bild, das 62
immer deutlicher, immer dunkler wurde, von allen Seiten. »Job gefunden«, dachte Susan. »Was weiß dieser Steve überhaupt von David?« Und sie beschloß, eine Probe aufs Exempel zu machen, schaute Steve prüfend an und fragte ihn leise: »Haben Sie ihn denn erkannt?« Steve hatte ihre Frage genau verstanden. Aber um Zeit zu gewinnen, um sicherzugehen, welches Spiel hier mit ihm gespielt werden sollte, fragte er zurück: »Wen, bitte?« »Dave! David McGhee! Ihren ›alten Freund‹. Welcher von den vieren ist es denn?« Steve lachte kurz auf. »Was soll das?« Aber Susan lächelte ihn mit entwaffnender Naivität an: »Vielleicht ein Test?« Da vergaß er, den Mund zu schließen, und sein eben noch so überlegenes Grinsen begann einzufrieren. »Test? Mit mir? Das ist doch lächerlich …« Aber dann beugte er sich schließlich ebenfalls dicht über das Bild und drehte es mit der Zange zu sich her: »Ziemlich undeutlich. Ich habe auch die Schärfe schlecht erwischt.« »Julia hat ihren Vater sofort erkannt!« Sie ließ diesen Steve immer noch nicht aus den Augen: »Also? Welcher von den vier Männern ist David McGhee?« Da half Julia Steve aus der Patsche: »Das hier ist Daddy!« Sie zeigte mit dem Finger auf den Mann links von der Mitte. »Natürlich!« Steve lachte laut, als sei da gar kein Zweifel möglich gewesen: »Richtig. Ja, das hier ist Dave!« 63
»Weil Julia es Ihnen gesagt hat! Und sehr groß war die Auswahl ja nicht. Einer von denen ist zweifellos Chinese, der andere vermutlich Araber. Bleiben nur noch zwei.« Steve blickte Susan scheu von der Seite her an. Und er merkte, wie kalt und routiniert ihr Lächeln sein konnte, das er vom ersten Augenblick an so bezaubernd gefunden hatte. »Mein Gott! Susan! Sind Sie mißtrauisch!« Er versuchte sie zu beschwichtigen. Denn Susans Stimme hatte plötzlich eine gefährliche Schärfe angenommen: »Sie kennen ihn überhaupt nicht! Geben Sie’s doch zu!« Und als er kein einziges Wort zu seiner Verteidigung vor brachte, keinen einzigen Ton der Rechtfertigung, nicht die kleinste Geste der Entschuldigung, stellte sie ganz sachlich fest: »Sie haben David McGhee nie gesehen! Von wegen: ›Alte Freunde!‹ Alles nur Bluff! Warum?« Steve versuchte abzulenken. Mit der Plastikzange zog er das Bild aus der Entwicklungsschale: »Jetzt ist es zu dunkel geworden! Ganz schwarz. Das Ganze also noch mal von vorn!« Da beschloß Susan, den Streit zunächst zu begraben, das Verhör abzubrechen und die Widersprüche auf sich beruhen zu lassen: »Ich schlage vor, wir machen erst mal weiter. Das nächste Bild …!« Steve nickte nur. Er war schweigsam geworden. Und nachdenklich. Daß ihm sein schlechtes Gewissen so deutlich anzusehen war, versöhnte Susan wieder mit ihm. Er warf das mißlungene Bild in einen Abfalleimer und ging zum Vergrößerungsapparat. Dort war Davids Negativ 64
eingespannt. Steve schaltete die Lampe an und zog den Filmstreifen langsam weiter. Die vier Männer zwischen den Containern machten einem anderen Bild Platz: ein gewaltiges Schiff in einem Trockendock. Dahinter erhoben sich verkarstete, weiß kalkige Berge. Doch bevor die beiden darangingen, das Bild zu ent rätseln, bekannte Steve leichthin, als mache ihm das Ge ständnis nicht das mindeste aus: »Okay! Ich kenne ihn nicht, diesen David McGhee! Habe ihn nie gesehen!« »Warum behaupten Sie es dann?« »Warum …? Warum …?« Er zuckte die Schultern und sah zur Decke hoch. »Es ist mir so herausgerutscht! Ich dachte mir, es macht Ihnen Freude, wenn ich ihn kenne, Ihren Dave! Okay, war falsch! Tut mir leid.« Er kurbelte den Apparat weiter nach oben, das Schiff wuchs, vergrößerte sich, und Steve justierte die Schärfe nach. »Was ist das?« fragte Susan. Steve beugte sich dicht über das Negativ: »Ein Frachter. Von hinten! Ziemlich großer Pott. Containerschiff oder etwas Ähnliches.« Er bemühte sich die Aufschrift auf dem Heck zu ent ziffern: »Stella Polaris – Marseille«. »Davor steht ein Mann!« Susan versuchte den schwarzen Schatten zu identifizieren. »Vielleicht ist es Ihr Dave«, mutmaßte Steve. »Vielleicht auch ein anderer. Ich kenn’ ihn ja nicht!« Er hatte seinen entwaffnenden Charme wiedergefunden, und Susan hatte 65
Mühe, ihn das nicht merken zu lassen. Obwohl sie davon ausgehen konnte, daß dieser Steve seine Mittel kannte. Langsam zog er den Filmstreifen durch das Vergröße rungsgerät, vorwärts, dann wieder zurück: ein Depot der riesigen Container. Sie standen dicht in Reih und Glied. Ein gewaltiges überdachtes Wasserbecken, gefüllt mit irgendwelchen Behältern und überspannt von eisernen Stegen und Kränen. Männer in Schutzanzügen und Gas masken bedienten Kettenzüge und Greifarme. »Irgendwo in einer Nuklearfabrik. Vermutlich doch Windscale …?« Und Susan begann zu überlegen, beun ruhigt, auch beängstigt: Wie hatte David sich dort einge schlichen? Hatte er sich offiziell Eintritt verschafft oder die Leute dort getäuscht? Vorgegeben, auf der Suche nach Arbeit zu sein? Welche Art von Arbeit? Mein Gott: Wie riskant war eine Tätigkeit dort? Welchen Gefahren hatte er sich bereits ausgesetzt und welcher Strahlenbelastung? Was war in den Behältern, die dicht aneinandergepackt unter der Wasseroberfläche standen? Abgebrannte Brennele mente der Kernkraftwerke? Vor dem Recycling? Worin bestanden die »Beweise«? Worin der Skandal, das »Verbre chen«, dem Dave auf der Spur zu sein schien? Denn diese Fotos waren offensichtlich heimlich entstanden. Cindy West hatte das Werk nur von außerhalb der Umzäunung fotografiert. Zahlreiche Bilder dieser Art, durch Gitter und Stacheldraht hindurch aufgenommen, hatte Susan bei Durchsicht der Negative bereits am Anfang entdeckt. Nun folgten, nach einem Dutzend Innenansichten des 66
Werkes, Bilder des Verladevorgangs der riesigen Contai ner. Die hingen an Ketten und Stahltrossen und schwebten an Bord eines Schiffes. »Wieder diese ›Stella Polaris‹!« Steve stellte scharf, legte Fotopapier ein und belichtete: das Bild des Schiffes, vertäut an einem Pier. »Und hier ein Friedhof.« Susan fragte sich, ob die im Negativ so nachtschwarzen Kreuze in Wirklichkeit aus strahlend weißem Marmor oder Kalkstein gemeißelt wa ren. Hinter dem Friedhof mit seiner rohen Natursteinmauer und der schlichten ländlichen Kirche dehnte sich ein gewaltiger Industrie-Komplex! »Wie ein prähistorischer Tempel!« Susan versuchte die Baukräne zu zählen, die das Hauptgebäude überragten. »Eher wie ein Bunker«, schränkte Steve ein. »Oder eine Kathedrale unserer Zukunft!« »So also sieht Windscale aus …!« Aber Steve war skeptisch: »Nein, nicht Windscale … Das ist woanders …!« Er studierte das Bild und kam zu einem überraschenden Schluß: »Das ist überhaupt nicht hier in England.« Er deutete auf die Kreuze und Grab steine, vergrößerte sie, bis die Inschriften deutlich lesbar waren: »Pierre … Loussien … Louis … Helene …« »Frankreich?« Susan kamen mit dieser Erkenntnis neue Zweifel. »Woher hat Dave denn die Filme geschickt?« »Das weiß nur Cindy West. Wenn sie es weiß!« Er holte die leeren Packungen aus dem Abfalleimer, das zerfetzte Kuvert. Da fand er, klein zusammengefaltet, den 67
Zettel. Susan erkannte sofort Davids Schrift. Nachricht des David McGhee an die Fotografin Cindy
West:
»Liverpool, 19. August.
Hallo, Cindy,
hier ein Film mit ein paar privaten Erinnerungsfotos.
Vielleicht kommt noch ein zweiter dazu. Wen ich beste
chen werde, um ihn an Dich abzuschicken, weiß ich noch
nicht. Denn um mich herum ist alles dicht: dreifacher
Stacheldraht, sechs Meter hoch und keine Passierscheine
nach draußen für uns von der Schiffscrew. Eingefangen!
Sie haben mich sofort angenommen. Zwei Semester Maschinenbau sind offensichtlich nicht sinnlos gewesen. Aber inzwischen glaube ich, die nehmen jeden! Jetzt bin ich Mitglied einer buntgemischten Crew: Chinesen, Ma layen, Inder, Araber. Wir haben viel Spaß beim Verladen der großen, schweren Container. Die Reise geht morgen los und kann etwas dauern. Zwei Häfen auf dem Konti nent sollen noch angelaufen werden. Dann USA. Mehr wissen wir nicht. Eigentlich haben wir absolutes Schreib verbot. Aber so ein kleiner Zettel … Und du siehst, ich halte mich an die Abmachung und verrate absolut nichts! Grüße, David«
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Eine Spur. Die Bestätigung einer Ahnung. Einer Ver mutung. David hatte sich eingefädelt in das Netz, in das Gewebe des »Verbrechens«, von dem er gesprochen hatte. Und war gefangen! Susan grübelte, kombinierte, suchte in den vorhandenen Bildern nach weiteren Indizien, nach weiteren Hinweisen, wo sie mit ihrer Suche ansetzen könnte. Julia quälten inzwischen andere Zweifel. Vor zwei Stunden war sie noch fest entschlossen, Mannequin zu werden und mit märchenhaftem Make-up und Engels locken Bademoden vorzuführen. Natürlich erst später, wenn das Oberteil eines Bikinis sinnvoll zu werden be gann. Eine halbe Stunde später erschien ihr jedoch der Job einer Fotografin, die den Mannequins sagt, was sie zu tun und zu lassen haben, wesentlich erstrebenswerter. Auf dem Weg zu Cindys Haus gewann dann wieder der Wunsch, fotografiert und bewundert zu werden, die Oberhand. Was allerdings nicht allzulange vorhielt, denn die eigentliche Attraktion des Tages waren Steves magische Kunststücke im Fotolabor beim Vergrößern der Bilder. Nur dieses ewig lange Betrachten und Studieren von Negativen, bei denen schwarze Schiffe weiß und helle Gesichter schwarz und unkenntlich erschienen, langweilte sie auf die Dauer. Sie wühlte inzwischen in den herum liegenden Kontaktbögen mit Modeaufnahmen und war fasziniert von diesen Routineposen, dieser Mixtur aus angelernter Anmut, marktgerechter Schönheit und natur 69
belassener Eitelkeit, mit der Damenoberbekleidung ver kauft werden sollte. Aber auch dieses Entzücken erlahmte irgendwann. Und als Julia die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mutter schließlich allzulange vermißte, wandte sie sich mit einer höchst vertraulichen, stets erfolgreichen Mitteilung an Susan: »Mami …!!!« »Mami« kam, nahm die sensationelle Meldung, ins Ohr geflüstert, entgegen und gab sie in Form einer höchst indiskreten Frage an Steve weiter: »Wo ist hier das Klo?« »Im Vorraum. Gleich nebenan. Die schmale Tür.« Steve blickte von seiner Arbeit nicht weiter auf: Er hatte damit begonnen, die einzelnen Negative zu vergrößern. Susan schob Julia durch die Schleuse hinaus, und das grelle Licht, das durch die Kellerfenster fiel, blendete sie. »Wann kommt Cindy West nach Hause?« rief sie durch den dicken, zerschlissenen schwarzen Vorhang in das Labor hinein. Und Steve rief zurück: »Später oder gar nicht. Erst säuft sie sich Mut an, dann zerrt sie eine dieser mageren Schönheiten ins Bett. Oder auch alle sechs auf einmal. Was weiß ich!« Er arbeitete sehr routiniert, sehr schnell, vergrößerte jedes der Negative auf ein relativ großes Format, als Susans Stimme ihn erneut unterbrach: »Steve! Kennen Sie Pat Cooper und seine NEWSAgentur?« »Natürlich kenne ich Pat Cooper!« 70
»Auch so ein ›alter Freund‹?« Steve grinste, und obwohl Susan es nicht sehen konnte, hob er die Hand zum Schwur: »Pat Cooper kenne ich nun wirklich! Und das ist ein heiliger Eid! Ich habe zwei volle Jahre für ihn gearbeitet!« Susan war trotz dieser eidesstattlichen Aussage leider nicht ganz zu überzeugen: »Als Chefreporter?« »Nein! In der Dunkelkammer. Als Laborant. Für 145 Pfund in der Woche!« Susan schien diese Auskunft zu akzeptieren: »Na schön! Diesmal klingt das schon etwas bescheidener – und ehr licher!« Steve nickte zufrieden. Endlich schien er den richtigen Ton für diese Dame getroffen zu haben. »Glückwunsch!«, sagte er sich. Dann arbeitete er weiter und wartete: Daß Susan zu rückkommen würde, um ihm zur Hand zu gehen. Seine Arbeit zu würdigen. Sich für Daves Bilder zu interessieren. Verdammt noch mal: Schließlich machte er diesen Job nur für sie. Dabei ertappte er sich, daß ein Gefühl der Ungeduld in ihm hochstieg. Sie fehlte ihm bereits. Das konnte ja reizend werden. Er haßte Probleme, die Frauen in sein Leben brachten. Was bisher nie zu vermeiden gewesen war! Er hörte, wie Julia die altmodische Klospülung rauschen ließ, immer wieder, weil es ihr offenbar Spaß machte und ein neues Spiel war, an dem buntbemalten Porzellangriff 71
zu ziehen, der an einer rostigen Kette hing. Er glaubte auch, das Klappern der Tür gehört zu haben und das Flüstern der beiden. Aber Susan kam nicht zurück. Sie hockte muttersee lenallein auf einem altersschwachen Korbstuhl in dem ehemaligen, umgebauten und zweckentfremdeten Gesin debad, wartete auf Julia, die schließlich auf ihren Schoß kletterte und sich an ihre Schulter schmiegte. Beide waren sie unendlich müde. Und Susan hatte plötzlich Angst vor diesen Fotos, vor dieser Konfrontation mit der Realität. Nach der Sorge um Dave in den letzten Wochen, die fast irreal geworden war, demonstrierten diese Fotos nun plötzlich eine greifbare Gefahr. Und erst nach einer sehr langen, bedrückend langen Pause meldete sich Susan wieder bei Steve: »Steve, hören Sie?!« »Ich höre, ja!« »Wenn Dave etwas passiert ist, wenn er in irgendeine üble Sache hineingeraten ist, aus der er nicht mehr her auskommt, dann hat dieser Cooper ihn auf dem Gewissen! Der weiß genau, was Dave vorhatte und woran er recher chierte.« »Unwahrscheinlich! Glaub’ ich nicht!« rief Steve aus dem Labor. »Cooper handelt nicht mit heißen Storys! Der verkauft buntlackierte Schnulzen!« Dann erschien er persönlich, schlüpfte durch die schwarzen Vorhänge der Schleuse und hielt zwei Vergrö ßerungen in der Hand, von denen noch das Wasser tropfte. 72
»Aber vielleicht weiß Cooper, wo in dem großen Frankreich diese hübsche kleine Fabrik hier zu finden ist, für die sich David so brennend interessiert hat.« Das Foto zeigte eine gewaltige Anhäufung von qua derförmigen, fensterlosen Gebäuden, die sich hinter einem dreifachen Stacheldrahtzaun aufeinandertürmten, die aneinander klebten wie Wucherungen, überragt von einem metallverkleideten, silberglänzenden Schornstein, der im Abendlicht der tiefstehenden Sonne gespenstisch und gefährlich aufleuchtete. Aus den Notizen des David McGhee: »Am 25. August 1984 kenterte das Containerschiff ›Mont Louis‹ im Ärmelkanal nach einer Kollision mit einer Ka nalfähre. Die Ladung bestand aus 225 Tonnen Uran-He xafluorid aus der Wiederaufarbeitungsfabrik COGEMA in La Hague. Das Schiff war auf dem Weg zu einer sowjeti schen Anreicherungsanlage für Brennelemente. In einer dramatischen Rettungsaktion konnten Taucher innerhalb von acht Tagen bei schwerer See die Ladung bergen, bevor es zu einer Katastrophe kam.«
14 Ein friedliches Land. Alte Städte: Calais, Boulogne, Rouen, Caen. Dazwischen Bauernhöfe und kleine verschlafene Ortschaften entlang der Straße. Und etwas abseits vom Weg, zwischen Eichenwäldern, Viehkoppeln und Dünen: Soldatenfriedhöfe. Amerikaner, Briten, Kanadier und 73
Deutsche, ganze Armeen liegen hier begraben. Seit mehr als vierzig Jahren. Denn hier an der Küste der Normandie fand er statt, der Tag »X«, der »längste Tag« des letzten Krieges, die alliierte Invasion im Juni 1944. Nur die Wegzeichen zu den Schlachtfeldern, die für interessierte Touristen zur Besichtigung freigegeben waren, klangen etwas profaner und weniger historisch als die Namen, die den Irrwitz einer Großvätergeneration auf der Landkarte Frankreichs markierten. Statt »Verdun« oder »Sedan« las man nun die Kürzel einer moderneren Strategie: »OmahaBeach«, »Utah-Beach«, »Sword«. Susans gelber Mini fuhr durch dieses nun wieder fried liche Land. Von Calais zum Cap La Hague. Ein weiter Weg auf schmalen Straßen. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, die fotogene Industrieanlage zu identifizieren. Cindy West wußte Be scheid. Sie war überraschend früh gekommen und war stocknüchtern. Ihre wunderschönen »gerupften Hühner« hatte sie nach London heimgeschickt, und sie machte Su san auch keine Avancen mehr. Sie besorgte ein Zimmer in einem uralten Strandhotel, das bereits der stillen Win tersaison entgegendämmerte. Und am nächsten Morgen überquerten Susan, Steve, Julia und der gelbe Mini an Bord eines HOVER SPEED in knapp vierzig Minuten den englischen Kanal. Nach diesem sanften Ritt über die Wellen schob sich das Luftkissenboot mit dem dumpfen Dröhnen seiner vier Propeller, in eine Gischtwolke gehüllt, auf den Strand des »Kontinents«, schwebte über eine betonierte Landefläche mit der riesigen Aufschrift CALAIS 74
und senkte sich schließlich mit einem lauten Seufzer, als sei es von der Überfahrt erschöpft, auf seine gigantischen, zusammensackenden Gummiwülste. Nun fuhren sie also vorbei an historischen Plätzen, übersahen die Zeugnisse einer grausamen Vergangenheit, sangen lustige Lieder, Kinderlieder für Julia, täuschten Fröhlichkeit vor und Ferienstimmung, auf einer Tour, die keinerlei fröhlichen Anlaß hatte. Sie frühstückten in einem altehrwürdigen Bistro, wo es nach Calvados roch und nach Cidre, und tauchten frische Croissants in riesige Tassen mit Milchkaffee. Schließlich durchfuhren sie Cherbourg. Gesichtslose Gebäude rund um den Hafen ersetzten seit dem Krieg die niedergebrannte Altstadt. Auf dem Weg nach Norden, zum Kap, prangten an einem Brückenpfeiler spärlich Parolen gegen die Atomindustrie. Sie näherten sich also dem Ziel. Schwarzweiße Rinder grasten auf satten Weiden, be grenzt durch hochaufgetürmte Mauern aus Feldsteinen. Sanfte grüne Hügel dehnten sich, soweit das Auge reichte. Eine Hochspannungsleitung folgte der Straße. Hin und wieder öffnete sich ein weiter Blick über die Steilküste. Tief unten ein smaragdgrünes Meer. Der Glanz einer herbstlich gelben Nachmittagssonne auf der Dünung bis zum Horizont weit im Westen. Julia zählte die Tiere auf, die »Old MacDonald’s Farm« bevölkerten, erfand immer wieder neue, sang im Chor mit Susan und Steve den ewig gleichen Refrain, mit Gebell und Geblök, und war irritiert und enttäuscht, als der fröhliche 75
Chorgesang jäh erstarb, als erst Susan, dann Steve scheinbar ohne jeden Anlaß verstummten, wo doch eben alles noch so lustig war: »Mami! Was ist denn?« Aber die Mami schwieg und verlangsamte das Tempo des Wagens. Denn aus der friedlichen Landschaft erhob sich unvermittelt und brutal ein Monster. Das hatte gren zenlos, gnadenlos die idyllische Gegend überwuchert. Zugewuchert. Zugedeckt mit Beton. Erstickt unter fen sterlosen, quaderförmigen Kuben. Unbarmherzig. Scho nungslos. Darüber erhob sich ein Wald gelber Kräne. Baustelle, wohin man auch blickte, kroch grausam über die grünen Hügel hinweg. Fraß das Land in sich hinein. Die Weiden. Die Mauern. Die Wegkreuze. Die Höfe. Neben der Straße stapelten sich Wohncontainer in un endlicher Reihe. Behausungen importierter Arbeiter. Eine Armada von Raupenfahrzeugen durchpflügte den Untergrund, schob Berge zur Seite, türmte neue auf. Das Ganze umzäunt von einem Schutzwall. Errichtet gegen die vermeintlichen Attacken von Ungläubigen. Zwischen meterhohen Gitterzäunen, bewehrt mit Hoch spannungsdrähten, gesichert durch Fernsehkameras: drei Rollen Stacheldraht übereinander. Eine uneinnehmbare Festung. »Mami! Was ist denn?« Aber die Mami sagte noch immer nichts. Sie nahm ein Foto aus dem gelben Kuvert, identifizierte den silber glänzenden Schornstein, der die abweisenden Bunker pyramiden überragte, diese Kathedrale des Fortschritts, den bereits prähistorischen Tempel des Atomzeitalters. 76
»Cindy hatte recht. Es ist hier …!« Sie bogen auf die breite Küstenstraße ein, die am Westrand des Werksgeländes zum Kap führte. Baufahr zeuge kamen ihnen entgegen, lange Kolonnen. Steve hob die Kamera und belichtete in rascher Folge eine Reihe von Bildern durch sein Teleobjektiv. »Steve, bitte laß das!« Susan drückte ihm den Foto apparat nach unten. Eine gewisse Vertrautheit hatte sich bei ihnen eingeschlichen, beiläufig, unabsichtlich. Eine Art Kumpanei. Trotz aller Distanz. Susan zeigte auf den hohen Maschenzaun, der sich schier endlos neben der Straße hinzog. In regelmäßigen Abständen hingen dort runde Blechschilder. Auf weißem Grund, im roten Rand: eine rotdurchkreuzte Kamera. »Ist hier unser Daddy?« Susan war von Julias Frage bestürzt. Sie warf einen kurzen Blick hinter sich. Julia kniete aufrecht auf der Sitzbank, preßte die Hände gegen die Scheibe und starrte hinaus auf die Anhäufung von Beton und Sicherheit. »Ist unser Daddy hier?« Julia wiederholte ihre Frage. Sie spürte, daß dieser Ort andere Regeln verlangte, und war geduldig. »Vielleicht, Julia. Vielleicht ist er hier! Ich weiß es nicht.« Sie näherten sich dem Tor. Ein massives Gitter ver sperrte die Einfahrt. Es lief, bei Bedarf, auf Rollen zur Seite. Die Ampel zeigte Rot. Hinter dem Tor lagen Stachel drahtrollen bereit. Auch sie konnten, bei Bedarf, innerhalb von Sekunden auf Schienen quer über die Straße gefahren 77
werden. Im Ernstfall machten sie den Zugang unein nehmbar. Wachmannschaften in dunklen Uniformen beobachte ten den vorbeifließenden Verkehr. Die Linsen von Fern sehkameras glänzten kurz auf und reflektierten die Sonne. »Einfach hineinfahren? Und fragen?« Susan verminderte weiter die Geschwindigkeit. »Du bist ja verrückt!« Steve hatte seine Kamera unter den Sitz geschoben. »Fahr weiter! Fahr einfach geradeaus weiter …! Und schneller! Nicht stehenbleiben …!« Er wirkte nervös. Dabei hatten sie nichts Subversives im Sinn. Außer, daß sie einen subversiven Tatbestand recher chieren wollten: Daves Eindringen in die geheiligte Sicher heitszone. Die Wachtposten nahmen den gelben Mini nicht weiter zur Kenntnis. Trotzdem blickte Steve sich um, als sie einige hundert Meter weiter waren, scheu, irritiert und mit schlechtem Gewissen. Er hatte das Gefühl, daß ihnen ein Wagen folgte. Es folgten viele. Zu viele. Sein Verdacht war unbegründet. So fuhren sie langsam weiter. Das Werksgelände dehnte sich vor ihnen noch gut einen Kilometer. Oder waren es zwei? Es war kein Ende zu sehen. Immer neue Quader türmten sich hinter dem Schutzzaun. »Old MacDonald had a farm, ia-ia-oh …!« Julia stimmte das fröhliche Lied wieder an, in der Hoffnung, die anderen würden einfallen und das hübsche Spiel würde fortgesetzt. Aber das hübsche Spiel war längst zu Ende: »Julia, bitte! 78
Hör auf!« Sie hörte auf, sofort und ohne Widerspruch. Und sie sah ihre Mutter durch die kleinen runden Brillengläser vor wurfsvoll und verständnislos an. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »21. August. Landgang: In einem kleinen grauen Bus mit zugestrichenen Fenstern wurden wir von Cherbourg aus, wo unser Schiff auf Außenreede liegt, zu einem Industrie areal gebracht, das ich nur vom Namen her kannte und das Windscale von der Ausdehnung her in den Schatten stellt. Außerdem wirkt alles nagelneu und hochmodern und unendlich sicher. Dort sollen wir heute nacht auf Tiefladern zweiundvierzig weitere Container überneh men. Neben einer Kirche hielt der Fahrer an und kaufte sich Zigaretten. Wir hinterher, trotz Protest, auf der Su che nach Bier. Am Friedhof stand eine Telefonzelle. Gro ße Versuchung. Aber erstens habe ich keine französischen Münzen, und zweitens halte ich Susan aus der Geschichte besser heraus. Hinter den Kreuzen beleuchtet eine unter gehende gelbe Sonne die unermeßlich große Fabrik. Welch ein schönes Bild!«
15 Irgendwann war dieses uneinnehmbare Bollwerk eines »Atomstaats« zu Ende. Im rechten Winkel verließ der Schutzzaun die Straße und verschwand hinter dem Kamm eines Hügels. 79
Brachland dehnte sich bis La Hague, einem kleinen Ort. Wacholdergestrüpp, Steinmauern, von Brombeeren über wuchert, Schafweiden. Die Häuser dahinter: schwarz grauer Granit. Klein, behäbig. Hundert Jahre alt. Oder auch tausend. Die massige Kirche aus Feldsteinen kannten sie schon. Auch die Aufschriften auf den Kreuzen und Grabsteinen: »Pierre« … »Loussien » … »Louis« … »Helene« … Am Horizont glänzte der silberne Schornstein im Licht der tiefstehenden Sonne. Susan hatte alles vorgefunden wie erwartet. Nun stand sie zwischen diesen Gräbern, hielt Davids Fotos in der Hand und schaute über die Mauer hinweg zu der giganti schen Fabrik. Und sie stellte Spekulationen an, erging sich in Mutmaßungen: Dort hatte er sich also eingeschlichen, hatte sich getarnt, hatte gearbeitet, hatte fotografiert und irgend etwas herausgefunden. Etwas Sensationelles? Kriminelles? Verbotenes? Einen internationalen Skandal? Hier – oder wo? Susan hörte nicht, was um sie herum vorging. Sah nicht, wie Julia ausgelassen zwischen Grabhügeln hüpfte und rannte. Sah Steve nicht, der die morsche Steinmauer er klommen hatte, um von dort oben herab Fotos zu ma chen. »He, Julie!« Er drückte ab. Die Automatik schnarrte und klickte. Julia war kurz stehengeblieben. Sie posierte in kindlicher Art, dann rannte sie weiter, umrundete die Kirche, kam zurück. 80
»Julie! Komm her! Schau hier herauf zu mir! In die Kamera! Gut! Und nun lauf zu deiner Mami! Nimm sie am Arm und schau hinüber zu dem hohen Schornstein! Na, mach schon! Lauf!« »Warum?« »Dort drüben, in dieser Fabrik – da ist dein Daddy …!« Auf dieses Stichwort hin wurde Susan aufmerksam. »Was ist los? Was macht ihr da?« Steve hatte Susan bereits im Visier und die Automatik ratterte los. »Ja, gut so. Dreh dich um zu mir, Susan! Und jetzt einen Blick zu Julia! Sehr schön!« Er wirkte besessen von einer Idee. Von seinem Job. Von dieser Situation. Aber Susan war nicht in der Stimmung dieses Spiel mitzuspielen oder auch nur zu akzeptieren. »Bitte, Steve, laß Julie in Frieden! Und verschon mich mit deiner Fotografiererei!« Als er ihren Protest nicht weiter zur Kenntnis nahm, die Automatik weiterhin ratterte und klickte, packte sie Julia an der Hand und verließ mit ihr den Friedhof. Steve blieb allein. Er wirkte verdutzt. Dann peilte er durch sein Teleobjektiv die ferne Fabrik an, das Werk, das den Horizont beherrschte. Er ging in die Knie, des Blick winkels wegen, nahm die Grabkreuze in den Vordergrund, manipulierte mit Schärfe und Ausschnitt, und wieder schnurrte die Automatik los, bis sie schließlich blockierte. Dann erst suchte er Susan und Julia. Die standen auf dem kleinen Dorfplatz, auf dieser Kreuzung zweier winziger Landstraßen. Ein Bistro links, 81
ein Bistro rechts. Sonst nur die grauen Bauernhäuser. An den Mauern wuchsen hochstielige bunte Malven. »Entspannt euch! Film ist sowieso zu Ende!« Steve kam den beiden grinsend entgegen und spulte den Film zurück. Susan reagierte nicht. Sie hielt Julia fest an einer Hand. Die Kleine studierte das Eiscreme-Angebot vor einem der Bistros. Am Ende des Kaps stand ein Leuchtturm. Graue Häuser duckten sich hinter Klippen und Felsen. Irgendwo sang eine Lerche. Ein ferner Traktor tuckerte über eine abgeerntete Wiese. Sonst herrschte Ruhe hier an diesem Ende der Welt, absolute Stille. Ein friedliches Land! Ein Mann in einer schwarzen Lederjacke, der seinen Wagen am Friedhof geparkt, aber nicht verlassen hatte, beobachtete durch das fast geschlossene Fenster interes siert jene drei Personen, die als einzige den so ausgestor ben wirkenden Ort belebten. Aus den Notizen des David McGhee: »Ein Feuer in der Anlage von La Hague im Januar 1981 setzte auch das radioaktive Isotop Cs-137 (Caesium) in die Umgebung frei. Jeder dritte Arbeiter – und 300 Fahr zeuge – wurden kontaminiert. Dennoch ließ man sie am Tage des Unfalls ,wie gewöhnlich, ohne Information, oh ne Kontrolle nach Hause gehen. Erst am nächsten Tag entdeckte eine Kontrolle der Gewerkschaft die Verseu chung. Es bedurfte des Ausstands der gewerkschaftlich organisierten 1200 Arbeiter, um das Management auf die Notwendigkeit von Dekontaminations- und Schutzmaß 82
nahmen für die Beschäftigten, die Bevölkerung und die Umgebung aufmerksam zu machen. Diesen Bericht habe ich einem Gewerkschaftspapier entnommen, das nach dem Unfall veröffentlicht worden war. Wie groß die Widersprüche und Gegensätze sind, er kennt man aus dem Kommunique der COGEMA und aus den Nachrichten der französischen Presse, wonach sämtli che Störfalle in La Hague nur ›kleine Zwischenfälle ohne gefährliche Konsequenzen‹ gewesen seien.«
16 Susan und Steve waren mutiger geworden. Sie fuhren die Küstenstraße langsam zurück. Wozu die Panik? Nichts war geschehen! Keine Gefahr. Keine Bedrohung. Eine Fabrik, zwar nicht wie jede andere – aber letztlich doch nur irgendeine Art von Industrie, mitten in einem friedlichen Land, auf einer Halbinsel, einem Kap, das weit hineinreichte in die tiefblaue See. Alle Vorkehrungen für jede Art von Sicherheit waren getroffen. Jegliches Risiko unter Kontrolle. Kein Grund zur Beunruhigung also. Alles war nur eine Frage der Gewöhnung. Auch der Anblick von aufgetürmten Betonkuben, von Schutzzäunen und bewaff netem Wachpersonal. Tief unten brandete die Dünung gegen die Felsen, und hier oben vergoldete die Abendsonne die fensterlosen Fassaden, ließ Metallstrukturen aufleuchten und legte 83
einen warmen Schimmer über die von Baumaschinen aufgerissene Erde. Die Kräne standen still. Die Bulldozer parkten in Reih und Glied. Außer dem Wachpersonal war kein Mensch in dem hochabgesicherten Areal zu sehen. Bei Feierabend hatte eine lange Fahrzeugschlange das Werk verlassen. Die, die dort lebten, hatten sich in ihre Wohnwagen ver krochen. Kein Rauch drang aus dem Schornstein. Kein Lärm mehr durch die Umzäunung. Ein friedvolles Werk. Susan hielt mit ihrem Mini am Straßenrand, gegenüber dem Werktor. Das Sperrgitter war wieder geschlossen. Das Einfahrtslicht zeigte Rot. »Leiten sie auch ihre Abfälle ins Meer?« Steve sah sich um. »Dort unten, zwischen den Felsen: ein Damm und ein Staubecken. Das sieht nach Klärteich aus. Und ein Rohr führt ins Meer.« Er klappte die Rück wand seiner Kamera auf und legte einen neuen Film ein. »David wird es wissen. Jedes Land hat seine eigenen Ge setze. Vielleicht haben sie in diesem Punkt auch alle die gleichen. Weil sie alle die gleichen Probleme haben.« Er hob vorsichtig die Kamera in Richtung Werktor, ließ sie aber sofort wieder sinken. In einem der Wagen, die auf der anderen Straßenseite parkten, saß ein Mann in dunkler Lederjacke und las in einer Zeitung. Das Tor rollte einen halben Meter zur Seite und gab den Durchgang für Fußgänger frei. Ein zweiter Mann erschien. Grauer Anzug. Schwarze Krawatte. Er stieg in den wartenden Wagen ein. Der Fahrer begrüßte ihn nur mit einem Nicken, unter brach seine Lektüre nicht, fuhr auch nicht los. 84
»Umzäunt wie eine Festung.« Susans Blick wanderte den Schutzzaun entlang. Etliche Kilometer, entlang der Küstenstraße. Soweit der Blick reichte. Nach beiden Seiten. In Deutschland, an dieser Grenze, die Ost und West trennte, wo der Eiserne Vorhang, der die Welt in zwei Teile zerschnitt, schauerlich sichtbar wurde, hatte sie ähnliches gesehen. Noch brutaler zwar, großzügiger und spektakulärer. Aber nicht wesentlich wirkungsvoller. »Wovor haben die Angst?« »Vor Terroranschlägen und Diebstahl von Spaltmate rial. Wer sich Plutonium beschafft, kann die Welt erpres sen. Auch ohne die Bombe zu bauen.« Steve hob wieder die Kamera und machte ganz unauffällig einige Bilder des Werktors. Er fühlte sich unbeobachtet und sicher. Die beiden Männer im Wagen gegenüber unterhielten sich. Einer warf lachend den Rest seiner Zigarette auf die Straße und gab dem anderen von seiner Zeitung ab. »Bitte, Steve, laß das! Das gibt doch nur Ärger!« Susan sah keinen Sinn darin, Tor und Zaun zu fotografieren. Und Betonfassaden im Abendlicht. Eine dumme, gefähr liche Spielerei. Weiter nichts. »Wie sieht Windscale aus?« fragte sie. »Genauso?« »Kleiner. Älter. Schmutziger. Und was den Schutzzaun angeht: kein großer Unterschied.« Nach einer Pause fügte Steve noch hinzu: »Ich war nicht dort. Kenn’s nur von Cindys Fotos.« Damit packte er seine Kamera unter den Sitz. »Wir sollten hier verschwinden! Haben ja alles gesehen, was zu sehen ist. Mehr ist im Augenblick nicht herauszufinden. Schön, wir sind hier gewesen. La Hague. 85
Und wir sind beeindruckt: Naja, auch Frankreich ist stolz auf seine eigenen nuklearen Bomben, auf seine vierzig Prozent Atomenergie …! Was ist? Wo willst du hin?« Er blickte auf. Susan hatte das gelbe Kuvert mit den Fotos ergriffen und die Tür geöffnet. »Ich geh’ ins Werk und frage! Per sonalabteilung. Den Sicherheitsdienst. Irgendeiner wird David auf den Fotos identifizieren und mir weiterhelfen.« Damit war sie ausgestiegen und warf die Tür hinter sich zu. »Halt! Bleib hier!« Steve war auf ihre Seite gerückt und lehnte sich durch das offene Fenster. »Wenn er heimlich hier gearbeitet hat, getarnt, unter falschem Namen, dann gefährdest du ihn nur! Und so erreichst du doch nichts.« Susan blieb stehen. »Wie dann?« Sie kam wieder ein paar Schritte zurück: »Von hier aus droht ihm doch keine Gefahr! Alles legal und kontrolliert. Er hat heimlich fotografiert, na und! Deshalb bringen die keinen hier um! Aber dort, wo man auf ihn geschossen hat …« Sie hielt inne, war für einige Sekunden unentschlossen, dann wandte sie sich wieder zum Gehen: »Irgendwo muß ich doch anfangen …!« Sie hatte die Straße noch nicht zur Hälfte überquert, als Julia anfing zu schreien: »Mami! Mami, nein! Warte! Ich will mit!« Es klang sehr jämmerlich und sehr bestimmt. Wieder blieb Susan stehen, zögerte, kam zurück. Julia streckte beide Arme aus dem offenen Wagenfenster und war den Tränen nahe. »Julie, nein! Das geht nicht!« Susan kauerte sich neben 86
den Wagen nieder und griff nach Julias Händen. »Du bleibst hier bei Steve. Ich bin gleich wieder zurück. Ich frage die Leute dort drüben nur, wo ich Daddy finden kann. Das dauert nur ein paar Minuten. Ja? Bitte Julie!« Trotz Julias geschickt inszenierter Tränenflut stand Susan auf, wandte sich endgültig ab und ging, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, mit entschlossenen Schritten auf das Werktor zu. Es war wie eine Ahnung, als Steve nach seiner Kamera griff. Instinkt eines Reporters. Irgend etwas alarmierte ihn, warnte ihn. Aber es war nichts zu sehen. Nur, daß die zwei Männer, harmlos wie Passanten, die Reste ihrer Zeitung auf den Rücksitz warfen und ihren Wagen verließen. Und daß ein dritter Mann auftauchte, wie aus dem Nichts, und Susan wie zufällig folgte. Ein kleiner dunkelgrauer Minibus, dessen Scheiben undurchsichtig weiß gestrichen waren, hatte sich in Bewe gung gesetzt, überquerte die Straße, deckte Susan und die drei Männer für nur wenige Sekunden ab, hielt kurz an, mit quietschenden Reifen, fuhr wieder los. Der Motor heulte auf. Eine Tür schlug blechern zu. Und als Steve die Kamera schließlich im Anschlag hatte, als der Bus den Blick auf den Ort des Geschehens wieder freigab, waren Susan und die drei Männer verschwunden. Der Bus beschleunigte, fuhr die Küstenstraße hinunter, wurde rasch kleiner und verschwand hinter einem Hügel. Und Julia brüllte aus vollem Hals, dicht an Steves Ohr, und ohne Unterlaß: »Mami! Meine Mami!« 87
Aus den Notizen des David McGhee:
»Bei der COGEMA in La Hague traten mehrfach Lecks an
plutoniumführenden Rohren auf.
21. Mai 1980: Mehrere Kilo Plutonium wurden auf dem Boden einer Extraktionszelle verschüttet. Nach An gaben der Wartungsmannschaft waren im Jahr 1983 die Dekontaminationsmaßnahmen noch nicht abgeschlossen. 4. Juli 1981: Es entwichen 1000 bis 1500 Liter plutoni um-haltige Lösung. 26. Februar 1982: Aus einem Leck tropfte flüssiges Plutoniumnitrat auf den Boden, der mit Preßlufthäm mern schließlich abgetragen werden mußte. COGEMA teilte mit, daß diese Zwischenfälle keinerlei Konsequenzen, weder für das Personal noch für die Umgebung, hätten. Der bedenklichste Unfall ereignete sich am 15. April 1980 durch Stromausfall im gesamten Netz der Region, also auch in den Kühlbehältern und im Kühlkreislauf der COGEMA. Nach Wiederherstellung der öffentlichen Strom versorgung kollidierte der Strom aus dem Netz mit der Notstromversorgung der COGEMA und führte dort zu ei nem Kurzschluß und zu einem Brand der Notstromerzeu ger. Alarm- und Ventilations-Systeme fielen ebenso aus wie Rührwerke, Kühlung und Pumpen. Das entspricht dem Katastrophen-Szenarium eines ›GAU‹ – des ›größten anzunehmenden Unfalls‹. Diese Liste hier umfaßt nur die Jahre 1980 bis 1983. Spätere Fälle werde ich noch recherchieren.«
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Steve war verwirrt. Er stieg aus, die Kamera in der Hand, sah sich um. Susan war verschwunden. Er sah keine Möglichkeit, gegen diese Entführung zu protestieren. Wo und bei wem? Er wußte auch nicht, wie und wo er Susan suchen sollte. Sie war einfach weg. Das machte ihn hilflos. Er fühlte sich ohnmächtig gegenüber einer anonymen Macht. Und das Kind, das hinter ihm aus dem Wagenfenster schrie, nervte ihn. Er machte also das Beste aus der Situation und richtete seine Kamera auf Julia. Das sah für die Wachmannschaft, die unsichtbar irgendwo hinter dem Gitter lauerte, ihn vermutlich mit Fernsehkameras überwachte oder durch die verspiegelten Scheiben des Pförtnerhauses beobachtete, zumindest unverdächtig aus. Außerdem lagen Kinder bilder, so unendlich angefüllt mit tiefem Schmerz und echter Trauer, genau auf der Linie von Pat Coopers Plänen. »Ja, Julie! Fabelhaft!« rief er. »Heul weiter! Schrei! Sei verzweifelt!« Und die Automatik der Kamera belichtete in rasender Folge Bild um Bild. Der Effekt war verblüffend. Julia reagierte wie über rumpelt von der neuen Erfahrung, wie leicht es doch war, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tränen versiegten. Ihr Gekreische brach augenblicklich ab. Da trat eine dunkelgekleidete, großgewachsene, schlanke Frau an den Wagen. Ihre schwarzen Haare waren engan liegend zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden. Sie nahm ihre Hornbrille ab; die dicken Gläser hatten ihre 89
Augen unnatürlich vergrößert. Sie beugte sich herunter zu Julia und sprach sehr freundlich, sehr leise und mit einem leichten, fremdartigen Akzent auf sie ein: »Du hast aber einen schönen kuscheligen Elefanten!« Julia blickte mißtrauisch durch ihre kleine Brille hinter ihrem Elefanten hervor, den sie wie ein Schutzschild vor ihr Gesicht hielt. »Du bist eine kleine Engländerin, ja? Eine echte ›Miss‹?« Die fremde Frau lächelte, aber Julia reagierte nicht. »Ich bin Tante Ruth. Und wie heißt du?« Julia schluchzte auf und war zu keiner Antwort fähig. Da trat Steve hinter diese Frau. »Was wollen Sie von dem Kind?« Das klang barsch und herausfordernd. Aber die Frau blieb überaus liebenswürdig und bemühte sich, jeden Verdacht, sie könnte außer ihrem Tröstungsversuch noch irgend etwas anderes im Sinn haben, zu zerstreuen. Sie richtete sich auf und strich mit beiden Händen ihr schwarzes Seidenkostüm glatt. Dann setzte sie ihre Brille wieder auf und betrachtete Steve: »Ich versuche das Kind zu trösten. Das wäre eigentlich Ihre Aufgabe gewesen, als Vater!« Steve grinste, wie üblich in verwickelten Situationen: »Ich bin nicht der Vater. Nur ein Freund. Ein Freund der Mutter. Weiter nichts!« Die Frau nickte, als würde sie die Zusammenhänge be greifen: »Und die Mutter von der Kleinen wurde gerade verhaftet, ja? Weshalb eigentlich?« »Ein Mißverständnis vermutlich.« Steve zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht!« 90
»Sie sollten Ihre Kamera weglegen. Sonst geht es Ihnen vielleicht ähnlich!« Das klang nicht nur wie ein guter Rat, das war schon fast eine ultimative Aufforderung. Steve legte also seinen Apparat auf den Vordersitz des Wagens, während ihm die dunkelhaarige Frau, diese ›Tante Ruth‹, noch einen Kommentar lieferte: »Sie müssen das verstehen: Demonstrationen und Ter rorakte haben die Leute hier sensibilisiert. In Frankreich gibt es einige Organisationen, die großes Interesse daran haben, hier in das Werk einzudringen und ein ›Fanal zu entzünden‹, wie sie sagen. Und es gibt auch kleine reiche Länder, die, um Plutonium zu erbeuten, vor keinem Ge waltakt zurückschrecken. Verrückte gibt es genügend, die die Welt verändern oder unterwerfen wollen.« Steve nickte nur. Er war in diesem Punkt leicht zu überzeugen. Da fügte die Frau noch hinzu: »Ich kam zu fällig vorbei …« Sie brach ab, mitten im Satz, als sei keine weitere Erklärung mehr nötig. Außerdem fand sie es an der Zeit, sich wieder um das Kind zu kümmern: »Na, kleine Miss, hast du dich beruhigt?« Sie beugte sich zu Julia, hockte sich, als sie keine Antwort erhielt, neben das offene Fenster des Wagens. »Deine Mama wird sicher gleich zurück sein.« Dann blickte sie hoch zu Steve, der unentschlossen ne ben ihr stand. »Was wollte denn die Mutter des Kindes? Ich meine hier, im Werk?« Sie ging zum Tor … Steve sah keinen Grund, dieser Frau nicht bereitwillig Auskunft zu geben: »Ihr Mann, also der Vater von dem Kind, hat anschei 91
nend hier gearbeitet. Und jetzt ist er spurlos verschwun den. Ich bin ihr bei der Suche behilflich. Das ist alles!« Tante Ruth lachte leise: »Oh! Eine Familientragödie! Wie entsetzlich! Ja, Ehemänner sind manchmal nicht ganz zurechnungsfähig!« Es schien, als habe sie von Anfang an einen privaten Konflikt vermutet. Der Fall erschien ihr also nicht besonders erschütternd. Steve sah keinen Grund, das Mißverständnis aufzuklä ren, und hatte auch keine Lust, den kriminellen, politi schen Aspekt des Falles mit dieser fremden Frau zu dis kutieren. Tante Ruth hatte sich inzwischen wieder Julia zuge wandt, strich ihr vorsichtig, um keine spontane Abwehr reaktion zu provozieren, über das Haar. Streichelte, der Gerechtigkeit wegen, auch Sarah, den rosa Elefanten, und dann flüsterte sie: »Verrätst du jetzt der Tante Ruth, wie du heißt?« Julia war nicht bereit, dieses Geheimnis zu lüften. Sie schüttelte den Kopf. Akzeptierte aber andererseits die Freundlichkeiten dieser Frau ohne Widerspruch. Und dann hatte sie die Idee für ein neues Spiel. »Läßt du mich durch deine dicke Brille sehen?« Tante Ruth wirkte amüsiert, als sie diesen Vorschlag hörte, der sie beide einander etwas näherbringen konnte: »Natürlich darfst du das. Wenn du aussteigst und mit mir kommst und aufhörst zu weinen!« Julia nickte. Sie war einverstanden. Tante Ruth öffnete die Wagentür, und Julia, den Elefanten unterm Arm, kroch heraus. 92
Steve hatte in diesem Augenblick keinerlei Verdacht. Nichts an dieser Situation hätte sein Mißtrauen erregen können. Aber woher kam dann diese Spur eines unheim lichen Gefühls, das sich ihm aufdrängte? War es die dunkle Erscheinung dieser Frau? Ihr plötzliches und unver mitteltes Auftreten? Der fremdartige Akzent? Er ging ein paar Schritte neben den beiden her, bis zu einer zerfallenen Mauer aus Feldsteinen. Dort blieb er stehen, weil er seine Vorbehalte lächerlich fand. »Komm!« sagte Tante Ruth und nahm Julia an der Hand, die sich nicht weiter zierte. »Jetzt schauen wir beide hinaus auf das Meer. Durch die dicke Brille …!« Die beiden kletterten über die Steine der zerbrochenen Mauer, gingen in dem hohen, verdorrten Gras zwischen den grauen Felsen auf die Steilküste zu. Wo die Klippen hundert oder noch mehr Meter senkrecht zu einem schmalen, kiesigen Strand abfielen. Dort hockten sich die beiden auf den Boden und tauschten ihre Brillen. Und Julia betrachtete durch die dicken Gläser das Meer, die schreienden Möwen über sich, die Brandung tief unten, die schwarzen Felsen und die gelben Grashalme, die sich im Seewind bogen. Und schließlich Tante Ruths fröhliches Gesicht. Die hatte Julias winzige Brille auf ihrer Nase. Und beide waren sie nun blind. Steve war versucht, seine Kamera aus dem Wagen zu nehmen und die Situation im Bild festzuhalten. Aber nach einem Blick zu den Wachtposten hinter dem Gittertor verwarf er den Gedanken wieder. 93
Aus den Notizen des David McGhee: »Nachdem die Anlage der COGEMA in La Hague in Be trieb genommen war, plante die Betreibergesellschaft im Jahr 1977, 400 Tonnen pro Jahr im Laufe der ersten drei Jahre und 800 Tonnen pro Jahr in der Folgezeit wieder aufzuarbeiten. Die Gesamtmenge für die ersten sechs Jah re war mit 3600 Tonnen angegeben. Nach ernsten Pro blemen und Störfällen – allein von Januar 1980 bis Juni 1982 ereignete sich im Durchschnitt alle vier Monate ein schwerer Unfall – wurde das Plansoll auf 200 bis 250 Tonnen pro Jahr herabgesetzt. Tatsächlich wurden in den ersten sechs Jahren insge samt nur 356 Tonnen wiederaufgearbeitet, was nur knapp 10 Prozent der geplanten und veröffentlichten Soll kapazität entspricht.«
18 Susan war in den ersten Augenblicken nicht fähig, die überfallartige Festnahme zu begreifen. Sie war auf das Gittertor zugegangen und hatte sich einen französischen Text zurechtgelegt, um den Wachtposten ihr Problem zu schildern. Als sie die Straße überquerte, hörte sie einen Wagen anfahren und näherkommen. Sie war schneller gelaufen, nahm unbewußt irgendwelche Gestalten wahr, die sich ihr von verschiedenen Seiten näherten, und spürte plötzlich sechs Fäuste, die sie festhielten. Sie war viel zu überrascht, um zu schreien. Viel zu geschockt, um sich zur Wehr zu 94
setzen. Einer dieser Männer zischte ihr mit gepreßter Stimme etwas zu, was sie nicht verstand. Vermutlich eine Warnung vor jeglichem Widerstand. Als ob sie dazu fähig gewesen wäre. Dicht hinter ihr stoppte der Wagen mit kreischenden Bremsen. Ein winziger Bus mit blinden Scheiben. Eine Tür klappte auf, noch ehe er stand. Zwei weitere Fäuste packten sie an der Schulter, am Hals, rissen ihre Arme nach oben. Und ohne eine Spur des Protests, halb gezogen, halb hochgehoben, landete sie im Innern des Fahrzeugs. Sie fiel auf eine Sitzbank. Berührte mit den Händen den schmierigen, kalten Plastiküberzug. Kippte nach hinten, als der Wagen losfuhr. Konnte während der ganzen Fahrt die Fäuste dieser Männer nicht abschütteln. Vermißte plötzlich ihre Handtasche und das gelbe Kuvert mit den Fotos. Erinnerte sich nicht mehr daran, wann man ihr beides entrissen hatte. Sah einen der Beamten in ihrer Handtasche wühlen. Ihr Paß wanderte von Hand zu Hand. Einer öffnete das gelbe Kuvert. Die Fotos von David rutschten heraus, fielen auf den Boden und wurden hastig wieder aufgesammelt. Blindgestrichene Scheiben rings herum. Ein zerschlissener Vorhang zur Fahrerkabine. Kein Blick nach draußen war möglich. Keine Idee, wohin die Fahrt gehen sollte. Durch den Schock, mit einer ungeheuren Wut im Bauch, war sie unfähig zu protestieren, hatte kein Wort Französisch mehr parat, um diese Leute zu fragen, warum und weshalb. Nun saß sie schon eine knappe halbe Stunde in dem 95
kleinen Bus, der irgendwo abgestellt worden war, und wartete auf irgendeine Art Verhör. Die Tür war nur einen Spaltbreit geöffnet und von Gendarmerie in Uniform bewacht. Die Farbe auf einer der Fensterscheiben war zerkratzt. Susan lehnte sich an das Glas, sah dort draußen ein Stück von einem gepflasterten Hof, eine graue Wand aus behauenem Granit, ein vergittertes Fenster. Die Männer redeten laut neben dem Bus, unverständ liches Durcheinander der Stimmen, belanglose Konver sation offenbar, Lachen, einer hustete tief und intensiv und spuckte umständlich aus. Sie verstand kein Wort. Es ging auch offenbar nicht um sie. Sie war ein Routinefall, und der war fürs erste, für diese Häscher zumindest, erledigt. Aber dann verstummte die Unterhaltung, dieses offen bar heitere, belanglose Männergeschwätz, die Tür öffnete sich plötzlich und etwas überraschend. Ein smarter Herr in mittleren Jahren stieg in den Bus. Er lächelte verbindlich und strich sich mit der linken Hand über den fast kahlen Schädel. In der rechten hielt er Susans britischen Paß, ihre Handtasche und das gelbe Kuvert mit den Fotos. Es war eingerissen und immer noch geöffnet. »Es tut mir unendlich leid, Mademoiselle!« Er gab sich überaus höflich und sehr zerknirscht: »Hier ist Ihre Passeporte … Ihre Handtasche … Ihr Kuvert mit Fotos!« Er übergab die Dinge einzeln, als erwarte er Dankbarkeit anstelle einer Unterschrift unter einer amtlichen Quittung. Sein französischer Akzent war mittelstark. Und bis auf gelegentliche Schwierigkeiten mit dem »h« klang sein Englisch sehr routiniert und sehr flüssig: 96
»Bitte verzei’en Sie das Malheur! Man hat Sie ge’alten für eine Terroriste! Wir alle ’ier sind sehr nervös! Sie ver ste’n?« Susan verstand. Sie nickte. Und sie schwieg. Sie hatte den Paß wieder in die Handtasche gesteckt und die kleine Drahtklammer des Fotokuverts geschlossen. »Kann ich jetzt gehen?« fragte sie schließlich. Aber der freundliche Herr mit der Halbglatze und der verbindlichen Art wehrte ab: »Oh, bitte, nein! Ich bringe Sie zurück. Selbstverständlich! Persönlich!« Er blickte auf. Einer der Zivilbeamten, die Susan festgenommen hatten, war in den Bus gestiegen und hatte sich in die vorderste Reihe neben die Tür gesetzt. Befürchtete man immer noch einen Fluchtversuch? Wie frei war sie tatsächlich? Waren die höflichen Beteuerungen nur Floskeln? Mit seiner modischen Krawatte, seinem dunkelblauen Anzug und der kleinen blau-weiß-roten Ordensspange am Revers, diskret, aber nicht zu übersehen, wirkte er keinesfalls wie ein Sicherheitsbeamter. »Mein Name ist Robert.« Er verbeugte sich leicht, sehr formell. »Ich arbeite in der Abteilung Information des Werkes.« »Sehr gut!« dachte Susan. »Vielleicht ist das der richtige Mann für meine Recherchen.« Aber der Zeitpunkt schien ihr noch nicht günstig zu sein. »Also, wenn Sie irgendwelche Fragen haben … über das Werk, über unsere Produktion, über den Zweck und den wissenschaftlichen Background unserer Arbeit …« Er machte eine einladende, abwartende Pause. Als Susan 97
nicht näher darauf einging, fuhr er fort: »Wir ’aben an hand Ihrer Papiere festgestellt, Sie sind Journaliste. Ja? Sie ’aben auch einen Presseausweis in Ihre Tasche. Daily Telegraph, London. Sehr schön! Also, fragen Sie!« Nun hätte sie fragen können. Unverbindlich zuerst. Dann gezielt. Aber sie schwieg, schon seit ihrer Festnahme. Eine beklemmende Sprachlosigkeit hatte sich ihrer be mächtigt. Sie klammerte sich an das gelbe Kuvert und beobachtete den Fahrer, der eingestiegen war, den zer schlissenen Vorhang zur Seite schob und nun den Wagen startete. Robert durchbrach das Schweigen, als der Bus den Hof verließ. Er deutete auf das Kuvert: »Sie ‚aben viele schöne Bilder von unsere Werk. Sie ‚aben selbst gemacht?« Susan schluckte den Kloß, der ihre Kehle zugeschnürt hatte, einfach hinunter: »Nein! Nicht selbst. Ein Freund …!« Wen würde sie jetzt damit denunzieren? David? War das bereits die Überleitung zu der Frage nach ihm? Nach David, der offensichtlich subversiv das Werk ausspioniert und möglicherweise geheime Details fotografiert hatte? Aber da kam ihr Robert mit einer weiteren Frage zuvor: »Sie sind gemacht worden von dem Mann, der sie ’at fotografiert, als man Sie ’at ver’aftet? Ja?« »Nein!« sagte Susan. Aber in dieser Sekunde wußte sie bereits, daß sie widerrufen mußte. Um David zu schonen. Was ging dieser Steve sie an … »Das heißt – ja!« »Ja? Die Fotos sind von ihm?« 98
Sie nickte zustimmend, und Robert schien zufrieden. Fürs erste. Aber dann fragte er weiter: »Wes’alb er ’at Sie fotografiert? Und das Werk? Von außen. Und auch von innen. Und wann von innen? Wann ’at er uns besucht?« Er hielt den Kopf schräg und sah Susan abwartend an. Aber Susan zuckte nur die Schultern, suchte verzweifelt nach einer Antwort, die als Aussage akzeptabel war. Aber es gab keine. Höchstens eine, die ihr Aufschub gewährte: »Er ist Pressefotograf. Sie können ihn selbst fragen. Er wartet am Tor auf mich. Mit meinem Kind …« Aus den Notizen des David McGhee: »Die Kraftwerksbetreiber der Bundesrepublik Deutsch land haben für die Entsorgung ihrer Reaktoren, das heißt für Lagerung und/oder Wiederaufarbeitung ihrer abge brannten Brennelemente an die französische Firma COGEMA in La Hague bis zum Jahresende 1985 insgesamt sieben Milliarden DM bezahlt. Dieser Betrag wurde über den Strompreis finanziert. Die Verträge zwischen dem französischen Wiederaufar beitungswerk der COGEMA in La Hague und den Kunden, die dort laufend ihre abgebrannten Brennelemente ablie fern (darunter die Bundesrepublik Deutschland), um sie dort aufarbeiten zu lassen oder – wegen Kapazitätseng pässen – zumindest einzulagern, sehen vor, daß ab Mitte der neunziger Jahre dieses Entsorgungsgut samt Abfällen in die Ausgangsländer zurückgeliefert werden kann.«
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Das war fahrlässig, dumm und unvorsichtig. Wenn er sie beim Wort nahm, und warum sollte er nicht, dann würde er Steve alle diese Fragen stellen. Und der würde den Kopf schütteln, und David wäre entlarvt. Susan versuchte, durch das in die Farbe gekratzte Loch nach draußen zu sehen. Aber mehr, als daß die Fahrt auf der Küstenstraße wieder zurückging, immer an diesem Sicherheitszaun entlang, war nicht zu erkennen. Robert bemühte sich, die Situation zu entschärfen und begann von neuem mit seiner Konversation: »Wenn Sie sich rechtzeitig angemeldet ’ätten …« Er machte eine Geste des Bedauerns. »Einige Formalitäten, natürlich. Aber ich ’ätte Ihnen alles gezeigt. Die ganze Fabrik. Wir ’aben keine Geheimnisse! Vermutlich wissen Sie ja, was wir tun?!« »Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen.« Susan hörte sich diese Erklärung hersagen wie eine eingelernte Formel. »Abgebrannte Brennelemente aus Atomkraftwerken, richtig!« Robert nickte. »Recycling!« Das Wort hatte einen guten Klang, und Robert ruhte sich sichtlich darauf aus. Dann rückte er näher zu Susan, denn der Bus war laut. Robert schien die Erklärungen im Detail für überaus wichtig zu halten und gestaltete sie daher vertraulich: »Bis zu siebenundneunzig Prozent von Uran und Plu tonium wir können wiederverwenden! Für neue Brenn stäbe. Und nur drei Prozent sind Abfall. Den machen wir 100
unschädlich. Das ist alles!« Er lehnte sich befriedigt zurück. Susan dachte an die Pipeline und an Cindy Wests Schil derung. Aber dann sagte sie nur: »Das klingt alles sehr einfach!« Robert lächelte überzeugend: »Das ist einfach! Und sehr wirtschaftlich! Die abge brannten Brennelemente, die verbraucht sind und nicht mehr genügend Energie liefern, werden im Reaktor gegen neue ausgewechselt. Nach einer Abkühlzeit von einem Jahr schneiden wir diese Stäbe in ’eißen Zellen in winzige Stücke, wegen der Strahlung hinter dicken Panzerglas scheiben und mit Fernbedienung oder auch vollauto matisch. Der Inhalt wird aufgelöst in konzentrierter ’eißer Salpetersäure. Und daraus destillieren wir wieder Uran hexafluorid und Plutoniumdioxid für neue Brennstäbe.« Seine Handbewegung sollte andeuten, wie ungefährlich und problemlos dieser Routinevorgang sei. »Wir ’aben nur ein Problem.« Robert hob einschrän kend die Hand. »Unsere Kapazität ist begrenzt! Man liefert uns Material zur ›Entsorgung‹ aus der ganzen Welt. Und wir können verarbeiten nur einen ganz geringen Teil davon. Wenigstens im Augenblick.« »Was machen Sie mit dem restlichen Material?« Susan sah Robert fragend an. Der deutete auf das Loch, das in die Fensterfarbe gekratzt war: Hinter dem Sicherheitszaun erstreckte sich die gewaltige Baustelle mit den unzähligen Kränen. »Wir vergrößern gerade unsere Kapazität. Und wir bauen außerdem Zwischenlager für unsere Kunden. Gi 101
gantische Wasserbecken. Dort stapeln wir die abgebrann ten Brennelemente für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte. Denn es werden immer mehr!« Susan lehnte ihren Kopf an die Scheibe und sah die bunkerähnlichen Hallen vorüberziehen. »Überall auf der Welt wir ’aben das gleiche Problem«, fuhr Robert in seinen Erläuterungen fort, denn er hatte, sicher nicht zu Unrecht, das Gefühl, in Susan eine sehr in teressierte Zuhörerin gefunden zu haben. »Ein Kernkraft werk darf und kann man nur betreiben, wenn die Entsor gung gesichert ist, wenn man weiß, wohin mit der ›Asche‹, den abgebrannten Stäben, den Brennelementen.« »Und dieses Stapeln von Brennelementen, diese Lage rung, ist das sicher?« Susan wagte, um das Gespräch in Gang zu halten, einen skeptischen Einwand, dem Robert jedoch mit großem Optimismus begegnete: »Sehr sicher! O ja, natürlich! Jetzt noch in Wasserbek ken. Ab nächstes Jahr auch – zum Teil – ›trocken‹. In großen Hallen. In Spezialcontainern. Jeder siebzig Tonnen schwer und unzerstörbar. Fest und gasdicht verschraubt: ein Deckel außen als Schutz, drei Deckel innen. Es dringt kaum Strahlung nach außen. Und nur wenig von der Hitze.« »Das alles ist sehr teuer, ja?« Sie hatte immer noch die riesige Baustelle im Blick, die gigantischen Erdbewegun gen, die turmhohen Kuben aus Beton. Robert entschuldigte sich für die hohen Kosten nur mit einem Schulterzucken: »Unsere Kunden zahlen, was es kostet!« Er lachte. Sie 102
’aben gar keine andere Wahl!« Da öffnete Susan das gelbe Kuvert und suchte ein be stimmtes Bild heraus, das sie Robert entgegenhielt. »Sind das die Container, von denen Sie sprachen?« Robert nahm die schmale Lesebrille aus der Brusttasche seines Jacketts und betrachtete eingehend das Bild der vier Männer vor den riesigen, runden, säulenartigen Contai nern. »O ja! ›Castor!‹ Für Transport und Trockenlagerung. Es ist die neueste Entwicklung auf diesem Gebiet.« »Und hier!« Sie zeigte Robert ein weiteres Foto. »Ken nen Sie dieses Schiff?« David in der Werft. Dahinter der massige Rumpf der ›Stella Polaris‹ im Trockendock. »Ein Bulk-Schiff, offenbar. Umgebaut für Nuklear transport. Dafür gibt es einige.« Er war gerade im Begriff, das Foto zurückzugeben, als er stutzte und mit der zusammengeklappten Brille auf David deutete, der freundlich lächelnd im Vordergrund des Bil des stand. »Und wer, bitte, ist das ’ier?« »Mein Mann!« sagte Susan und wartete auf eine Reak tion von Robert. Der lachte nur, klappte die Brille wieder auf und warf erneut einen prüfenden Blick auf Daves Gesicht. »Da lassen Sie mich erzählen und erzählen. Und wissen doch vermutlich alles bestens von Ihrem Mann!« »Nein, ich weiß nichts von ihm.« Susan nahm das Foto wieder an sich. »Er ist seit einigen Wochen verschwun den!« 103
»Verschwunden? Wohin?« Robert sah sie erschrocken und mitfühlend an. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde es erfahren. Er war hier im Werk, er hat hier gearbeitet.« Robert griff wieder nach dem zweiten Foto. Auch nach dem ersten mit der Männergruppe vor den Containern. »Es arbeiten ’ier über sechstausend Menschen zur Zeit. Und das Foto? Diese vier Leute? Woher kommt es?« »Er hat es mir geschickt!« »Aber nicht aufgenommen ’ier. Niemand fotografiert ’ier im Werk. Das ist unmöglich! Unsere Sicherheitsbe stimmungen, Sie verstehen … Und der Overall mit diesem ›N‹: das ist nicht unsere Montur, unser Dreß im Werk. Das tragen unsere Leute nicht. Das ist eine ganz andere Kom panie.« »Welche Kompanie?« »Ich weiß es nicht!« »Mit dem ›N‹. Das kennen Sie doch sicher.« »Ich kenne es nicht. Tut mir leid.« »Sie arbeiten doch schon länger in dieser Branche. Das ›N‹ haben Sie doch schon irgendwo gesehen!« »Ich ’abe es nicht gesehen. Noch nie! Tut mir leid!« »Und das Schiff hier, die ›Stella Polaris‹ … – meinen Sie, die hat etwas mit diesem ›N‹ zu tun?« »Oh, das ist möglich. Sehr gut möglich!« Robert wirkte überzeugend. Und der Einfall leuchtete ihm ein: »Das ›N‹, das Symbol einer Transportfirma, ja, vielleicht.« »Wo ist das Schiff jetzt? Diese ›Stella Polaris‹?« Susans Fragen klangen fast wie ein Verhör. 104
Aber Robert schüttelte bedauernd den Kopf: »Ich ’abe nicht die geringste Idee! Wir ’aben nichts zu tun mit Transport.« Er betrachtete wieder das Bild durch seine Brille: »Wie man ’ier liest, die Registrierung ist Marseille. Die Reederei, vielleicht auch die Transportfirma mit dem ›N‹. Auch die Werft hier. Sehen Sie – das Dock hier und die weißen Berge im Hintergrund.« Er zeigte mit dem Bügel seiner Brille auf diese Details. Dann sah er Susan prüfend an: »Warum fragen Sie? Geht es dabei um Ihren Mann?« »Ja!« Susan steckte die Bilder wieder in das gelbe Kuvert. Aus den Notizen des David McGhee: »Die Technik der Wiederaufarbeitung von Kernbrenn stoffen wurde ursprünglich im Rahmen des Militärpro gramms zur Produktion von Plutonium für Kernwaffen entwickelt. Noch heute sind die Grenzen zwischen militä rischer und ziviler Nutzung nicht eindeutig getrennt – außer bei der Wiederaufarbeitungsanlage der Japaner.« »Bei der Auflösung der Brennstoffabschnitte in heißer, konzentrierter Salpetersäure werden Gase frei. Bis auf radioaktives Kohlendioxid und Krypton, die beide ent weichen, werden sie durch entsprechende Filter zurück gehalten. Diese Filter müssen als hochradioaktiver Abfall sicher verwahrt werden. Zusammen mit Resten der Zir konium-Hüllen, verbrauchten Lösungen und Werkzeu gen, Sedimenten/Ablagerungen in Rohren und Tanks. Außerdem fallen ›schwachaktive‹ Abfälle an, also konta minierte Kleidung, Papier, Verpackungsmaterial, mehr 105
als 400 cubicfeet, das sind 11,33 Kubikmeter pro Tonne wiederaufgearbeiteten Brennstoffs.«
20 Den kleinen dunkelgrauen Minibus mit den blindgemalten Scheiben hatte Steve schon aus großer Entfernung wiedererkannt. Der kam die leere Küstenstraße herunter und hielt vor dem Werkstor. Susan stieg aus und lief über die Straße, während sich hinter ihr das Gittertor langsam öffnete, das Signal der Ampel auf Grün wechselte und der Bus die Schranke und die Wachtposten passierte. »Glück gehabt!« rief Steve ihr entgegen. »Wegen guter Führung vorzeitig entlassen, wie?« Susan ging auf diese Art Humor nicht weiter ein. Als sie den Wagen erreicht hatte und sah, daß er leer war, warf sie einen entsetzten Blick auf Steve. »Wo ist das Kind? Wo ist Julia?« Steve zeigte über die zerfallene Mauer hinweg zur Steilküste: Dort saßen Julia und diese Tante Ruth ein trächtig auf einem Stein, redeten miteinander und be trachteten den malerischen Sonnenuntergang zwischen den schwarzen, zerfasernden Wolkenbänken. »Wer ist diese Frau?« Susan sah Steve erstaunt und be fremdet an. »Tante Ruth. Wer sonst?!« Er lachte, nahm offenbar die berechtigte Sorge einer Mutter nicht ganz ernst. »Mein Babysitter! Ich habe nämlich auf diesem Gebiet kein sehr großes Talent.« 106
Susan schwieg, wirkte irritiert und machte sich auf den Weg. Sie stieg über die Reste der Mauer, lief durch das dürre, kniehohe Gras, über das felsige, steinige Buschland. »Mami! Dort kommt Mami!« Julia hatte sich umgesehen und Susan erkannt. Sie rannte los, und Susan fing sie auf, wirbelte sie herum – ein altes Spiel und oft geübt. Julia kreischte vor Vergnügen und bemerkte nicht, daß Susan für dieses Ritual diesmal nicht in der richtigen Stimmung war. Die Frau mit den dunklen Haaren, der dicken Brille und in diesem, zumindest in dieser Umgebung, etwas depla ziert wirkenden schwarzen Seidenkleid hatte sich erhoben und kam näher. »Schau mal, Mami, das ist Tante Ruth!« »Ja, ich weiß schon!« Susan stellte Julia auf einem der Felsen ab und begrüßte die Frau. »Danke, daß Sie sich um Julia so nett gekümmert ha ben!« Tante Ruth winkte lächelnd ab: »Julia hat mich wun derbar unterhalten. Wir hatten viel Spaß. Nicht wahr, Julia?« Sie strich dem Kind vertraulich über das Haar. »Ich habe gehört, Sie hatten Schwierigkeiten?« »Es war alles nur ein Irrtum. Und der hat sich sehr rasch aufgeklärt.« Susan nahm Julia an der Hand und führte sie zurück zum Auto. Die Frau in Schwarz ging neben ihr her, und es klang sehr mitfühlend, sehr herzlich, als sie sagte: »Ich höre, Sie suchen Ihren Mann? Ja?« Susan blieb erstaunt stehen: »Ach … hat Julia 107
Ihnen …?« Aber Tante Ruth unterbrach sie mit einem vertraulich klingenden Rat: »Laufen Sie nicht hinter ihm her! Das meine ich im Ernst!« Und als Susan sie fragend ansah, fügte sie hinzu: »Natürlich können Sie den Fall der Polizei melden. Vermißtenanzeige. Aber nicht hier in Frankreich. Wenn, dann in London! Doch vergessen Sie nicht: Männer kommen in der Regel freiwillig zurück. Irgendwann. Als Frau muß man hin und wieder etwas Geduld haben!« Susan schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es nicht. Der Fall liegt etwas anders …!« Ruth ging überraschenderweise sofort und ohne weitere Fragen darauf ein: »Gut. Nehmen wir an, er sei in gefährliche Dinge verwickelt. Dann gerade sollten Sie Ihre Finger davon lassen. Eine junge Frau kommt bei riskanten Männerspielen sehr schnell unter die Räder!« Susan wußte nicht, wieweit sie diese fremde Frau, die auf sie zwar überaus sympathisch, aber andererseits doch höchst eigenartig und unnahbar wirkte, ins Vertrauen zie hen durfte. Sie deutete schließlich zumindest ihre Sorge an: »Ich fürchte … er ist in Lebensgefahr …!« »Woher wissen Sie das? Und wie wollen Sie ihm helfen? Hier? In der entlegensten Ecke Europas?« Sie sah sich um. Die Dämmerung fiel über das Land, über die steil abfal lende Küste, über diese unzugängliche Industrieanlage. »Fahren Sie nach Hause! Warten Sie, bis er sich meldet! 108
Denn dort wird er versuchen, Sie zu erreichen, wenn er sie braucht! Nicht hier oder irgendwo.« Das klang alles sehr ehrlich, teilnahmsvoll und gut ge meint. Susan sah hinaus aufs Meer, auf die nun bleiern und schwärzlich anrollende Dünung. Da fügte die Frau noch hinzu: »Und wenn Sie recht haben sollten mit Ihren Befürch tungen, wenn er tatsächlich in irgendwelche riskanten Abenteuer geraten ist, dann ist das Spiel für sie doppelt riskant. Dann haben Sie hier in Frankreich keine Chance, ihm zu helfen.« Sie machte eine Pause und beobachtete sehr interessiert Susans Reaktion auf ihre Worte. Aber Susan reagierte nicht, schwieg nur und blickte sie nicht an. Da legte ihr die Frau ganz kurz, ganz beiläufig die Hand auf die Schulter. Eine Abschiedsgeste. »Ja, ich muß weiter. Ich wünsche Ihnen viel Glück und leben Sie wohl!« Sie wandte sich ab und ging. Und Julia rannte neben ihr her: »Bye, bye, Tante Ruth!« Am gelben Mini stand Steve und nickte der fremden Frau zum Abschied freundlich zu. Die strich Julia im Vorbeigehen noch einmal über das Haar: »Bye, bye, Julia …!« Julia blieb stehen, hob die Hand und winkte. Aber Tante Ruth drehte sich nicht mehr zu ihr um. Sie überquerte die Straße. Dort parkte ihr Wagen, ein anthrazitgrauer Citroen Pallas mit getönten Scheiben und einer überlangen Antenne. Susan schob Julia auf den Rücksitz, reichte ihr Sarah 109
und setzte sich ans Steuer. Als Steve neben ihr Platz nahm, teilte sie ihm ihre Ent scheidung mit: »Wir müssen nach Marseille!« »Marseille? Das sind über tausend Kilometer!« »Die ›Stella Polaris‹ liegt vielleicht noch im Hafen! Mit Dave an Bord!« Sie startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los. »Wir fahren einfach durch, heute nacht. Morgen früh sind wir dort!« Das Werk verschwand hinter ihnen in der einbrechenden Dämmerung. Tausend Lichter waren aufgeflammt. Schein werfer tauchten die Baustelle, den Schutz-Zaun, das Werk tor und die Zufahrt in gleißendes Licht. Der anthrazitgraue Citroen Pallas fuhr langsam auf das Gittertor zu. Das rollte zur Seite, und die Ampel schaltete auf Grün. Zwei Wachtposten traten an den Wagen, um die Aus weise zu kontrollieren. Der chinesische Fahrer legte seine Dienstmütze auf den Beifahrersitz, nahm eine grüne und eine rote Plastikkarte mit eingeschweißten Fotos aus der Brusttasche seiner Uniform und reichte sie nach draußen. Einer der Wacht posten leuchtete ihm ins Gesicht, dann in den Fond des Wagens. Dort saß eine Frau in einem schwarzen Seiden kleid. Die dunklen Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Und die dicken 110
Brillengläser reflektierten den Schein der Taschenlampe … Aus dem Tagebuch des David McGhee: »24. August/Biskaya. Sie haben uns in der Mannschafts messe einen Videofilm vorgeführt: Abwurf eines dieser Spezialcontainer aus fünfzig Meter Höhe. Zu Testzwek ken. Dann aus etwa hundert. Aufprall auf ein Felspla teau. Das Ding schlug ein wie eine Bombe. Dann Detail aufnahmen: Die Verformungen waren gering. Die Deckel blieben dicht. Nur die Stoßdämpfer wurden zerfetzt und flogen davon. Man hat die Container 24 Stunden in 1000 Grad geröstet und in einem anderen Versuch mit flüssigem Helium auf minus 200 Grad abgekühlt und den massiven Edelstahl spröde gemacht. Dann fand der nächste CrashVersuch statt. Die Wunderkonstruktion blieb stabil. Auch der Innenraum für die Brennelemente. Gasdicht für garantierte 70 Jahre. Ich denke, die Container müssen lediglich heil über den Atlantik: Zehn Tage. Wozu dann der gigantische Aufwand? Oder haben die was anderes vor mit den Containern und mit uns?«
21 Sie fuhren die ganze Nacht. Durchquerten das Land. Von Nord nach Süd. Lösten sich ab zu jeder vollen Stunde. Julia schlief auf dem Rücksitz. Zusammen mit Sarah, dem Elefanten. Die Schilder an den Ausfahrten der Autobahn kündeten 111
von einem Frankreich, das sie beide nicht kannten. Rouen, Paris, Versailles, Lyon. Vielleicht ein anderes Mal. Viel leicht auf der Rückreise und unter glücklicheren Um ständen. In unregelmäßigen Abständen, immer dann, wenn einer von ihnen auf dem Beifahrersitz gerade eingeschlafen war, wurde ihre Fahrt jäh unterbrochen: »Peage« – Zahlstelle. Mal nahmen ihnen die verschlafenen Kassierer fünf Francs ab, mal zehn, auch mal zwanzig. Es summierte sich. Als es zu dämmern begann, fuhren sie durch das Tal der Rhone – Weinberge, Kalkfelsen, Schlösser und Atomkraft werke im Morgengrauen. Die Türme und Paläste von Avignon überragten die Giebel der Stadt und glühten auf im ersten, roten Licht der Sonne. Schließlich Marseille. Die Straßen bereits verstopft vom Berufsverkehr – Tausende von Fahrzeugen in einem schier unentwirrbaren Knäuel. Eine Glocke aus Lärm und Staub über der Stadt. Überragt nur von dem goldenen Wahr zeichen »Notre Dame de la Garde« auf ihrem Felsen. Susan suchte sich mühsam ihren Weg. Aber welchen Weg? Und wohin? Unterhalb der Stadtautobahnen lagen die Hafenbecken von La Joliette, die Docks und die Schuppen. Susan und Steve hielten Ausschau nach der »Stella Polaris«. In diesem Gewirr von Schiffen ein sinnloses Unterfangen. Julia war schon seit Stunden wach und quengelte. Am Quai du Port, am Alten Hafen, hielt Susan schließlich vor einem der zahlreichen Cafes – »Barracuda«. Die Korb 112
stühle unter der Markise, gleich neben der zugeparkten Straße, waren zu dieser frühen Stunde noch aufeinander gestapelt. Die Touristen schliefen um diese Zeit, und die Fischer waren längst unterwegs. Die ersten kamen sogar schon zurück, entluden ihre Boote, schleppten den Fang in Körben an Land und er richteten ihre kleinen Verkaufsstände am Quai. Auf den blankgescheuerten Holzbrettern schillerten Fische in allen Größen und in allen Farben. Steve war ausgestiegen, streckte seine steifen und für einen Mini viel zu langen Beine, reckte seine Arme, gähnte und zog schließlich Julia aus dem Wagen. Dann die Tasche mit seinen Kameras. Susan machte sich allein auf die Suche. »Mami fährt weg!« brüllte Julia, als sich der Mini in Be wegung setzte und Susan sich geschickt einfädelte in den hektischen Verkehr. Heulend rannte Julia hinterher, ris kierte dabei ihr Leben und verursachte ein Verkehrschaos. Steve fing sie wieder ein. »Hör auf zu plärren!« schnauzte Steve das Mädchen an. »Susan hat es dir doch eben erklärt! Sie sucht das Schiff mit deinem Daddy an Bord!« Er packte Julia kurzent schlossen an der Hand und zog sie, trotz heftigster Gegen wehr, quer über die Straße und in den Schatten der Markise. Dort nahm er, ohne Julia loszulassen, zwei Stühle vom Stapel und stellte sie an einen der Tische. »Laß mich los!« schrie Julia, »du sollst mich loslassen!« Der Wirt wurde aufmerksam und erschien in der Tür 113
des Cafes. »Ich lass’ dich los, wenn du versprichst, anständig und ruhig sitzen zu bleiben, hier auf diesem Stuhl. Und daß du nicht auf die Straße rennst!« »Ich versprech’ dir gar nichts! Wenn die Mami kommt, sag’ ich ihr, daß du mich festgehalten hast, die ganze Zeit! Und wenn du nicht losläßt, schrei’ ich um Hilfe!« »Okay! Ja! Ist ja gut!« Steve ließ Julia los. »Jetzt wird gefrühstückt! Du bekommst Cornflakes und Kakao!« »Nein!« schrie Julia. »Ich esse ein Eis!« Sie hatte die bunte Tafel über der Tiefkühlbox neben dem Eingang zum Cafe rechtzeitig bemerkt und ihre Wahl bereits getroffen. »Eiscreme, okay!« Steve gab scheinbar bereitwillig nach, da ein Kompromiß nicht ausgeschlossen schien. »Aber vorher gibt es natürlich Rührei mit Schinken oder ein Omelett!« Julia protestierte: »Nein! Nur ein Eis! Ein Eis! Ein Eis!« »Ein Eis ist kein Frühstück! Vorher gibt’s Kuchen oder Croissants mit Schokolade und meinetwegen Milchkaffee.« »Eiscreme! Ich will Eiscreme! Hast du nicht verstan den?« Der Machtkampf war bereits so gut wie entschieden, Steves Niederlage unausweichlich. Julia war auf das Schild und die Tiefkühlbox zugerannt und zu allem entschlossen. Steve resignierte und ließ sich erschöpft in seinen Sessel fallen. »Ja, ja, ja … ist ja gut!« Er hatte schon vor diesem Zwischenfall beschlossen gehabt, sein Leben eines Tages kinderlos zu beenden. 114
Der Wirt kam nun näher und wischte den Tisch mit seinem Tuch flüchtig ab. Er war ein älterer, wohlbeleibter Herr und noch nicht ganz wach. Er sah Steve fragend an, verstand kein Wort Englisch. Aber es kam ohnehin noch zu keiner Bestellung, da Julia empört neben Steve aufge taucht war und ihm zuflüsterte: »Ich muß aufs Klo, ganz schnell! Ich hab’s doch im Auto schon hundertmal gesagt!« Steve vertröstete den Wirt mit einer vagen Geste, sprang auf, um Schlimmstes zu verhüten, nahm Julia an der Hand und verschwand mit ihr im Inneren des Cafes. »Richtig! Ja, entschuldige! Deswegen sind wir ja hier!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »27. August. Marseille. Unser Schiff liegt im Trocken dock. Große Versuchung, von einer der Werkstätten aus Susan anzurufen. Scheint aber zu riskant. Wir stehen pausenlos unter Beobachtung oder direkter Bewachung. Habe statt dessen versucht, ein paar unverdächtige Zeilen auf einem zusammengeklebten Blatt Papier aus dem Sperrgebiet schmuggeln zu lassen. Ein Lebenszeichen für Susan. Ein Vormann ist bereit und verlangt zehn USDollar dafür. Er scheint unzuverlässig, aber alle anderen winken ab. Was soll schon passieren ? Wenn ich denen Ärger mache, schmeißen sie mich eben raus. Oder weiß ich schon zuviel?«
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»La Joliette«, der »Neue Hafen« Marseilles, zog sich mit seinen zahllosen Quais, Molen und Hafenbecken rund um die ganze Bucht. Der Zugang zu den Anlegeplätzen der Schiffe war meist blockiert, durch hohe Zäune, die das Zollgebiet umschlossen, durch Schuppen und Lagerhallen. Die Beamten in der Hafenkommandantur waren Susan gegenüber von ausgesuchter Höflichkeit. Eine »Stella Pola ris«, so ermittelten sie aus ihren Büchern, lag in keinem der Hafenbecken und war in den letzten sechs Wochen auch nirgendwo aufgetaucht, be- oder entladen worden. In Port-de-Bouc vielleicht oder in Port-de-Fos, den Nachbar häfen Marseilles für Öl und Stahl und Chemie. Beide Orte lagen eine Dreiviertelstunde entfernt. Aber auch in den Unterlagen der dortigen Hafenverwaltungen war keine »Stella Polaris« vermerkt. Zur Sicherheit wälzten die Beamten Lloyds Register of Shipping. Darin waren alle Schiffe verzeichnet, die auf den Sieben Meeren anzutreffen sind. Es gab drei Schiffe mit dem Namen »Stella Polaris«. Ein mal einen kleinen Produktentanker unter liberianischer Flagge, der Sonnenblumenöl, Fischtran und Rizinus trans portierte. Dann einen Küstenfrachter, registriert in Dur ban, Südafrika, und eingesetzt nur im lokalen Verkehr. Schließlich ein Kühlschiff der United Fruit Company für Bananentransport, mit Registrierung in Panama. Keines dieser Schiffe paßte in Beschreibung und Ton nage auf das abgebildete Schiff im Trockendock. Allerdings 116
waren die Register bereits 24 Monate alt und Nachträge lagen nicht auf. Auch im Schiffsregister Marseille, das klärte ein kurzer Telefonanruf, war zur Zeit keine »Stella Polaris« einge tragen. Das Trockendock war anhand der Fotos eindeutig zu identifizieren. Im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes der Werft, eine halbe Stunde nordwestlich von Marseille auf dem Weg nach Nimes, waren jedoch keinerlei Unter lagen über eine »Stella Polaris« zu finden. Für die Fotos, die einwandfrei die Existenz dieses Schiffes und seine Anwesenheit in diesem Dock nachwiesen, hatten die An gestellten dort nur ein hilfloses Schulterzucken. Das Schiff sei unbekannt, hieß es. Nie gesehen. Darin war man sich einig – vier seriöse Herren und eine ältere Dame. Vor einigen Jahren aufgenommen, vielleicht, durchaus mög lich. Damals war noch keiner der Anwesenden hier beschäftigt. Aber in letzter Zeit? In den letzten Wochen? Unmöglich! Man würde sich erinnern, hätte Papiere über den Vorgang, Auftragsformulare, Rechnungskopien. Ein Irrtum, vermutlich. Gefälschte Fotos, vielleicht. Ein Scherz. Eine Montage. Und wer ist dieser freundlich lächelnde Mann hier im Vordergrund? Aha: Ihr Mann! Einer der Angestellten, offenbar der jüngste in diesem Kreis, griff nochmals nach dem Foto, betrachtete es lang und sehr nachdenklich, dann schweifte sein Blick auf Susan. Schließlich gab er das Bild mit einem bedauernden Lächeln zurück. Es täte ihm leid. Er würde gerne helfen. Aber wie die Dinge nun mal lägen … 117
Die ältere Dame beendete Susans Besuch auf eine etwas unhöfliche Art: Mit solchen Geschichten wolle man hier nichts zu tun haben. Merci! Adieu! Susan ging und wurde den Verdacht nicht los, daß die eisige Unhöflichkeit dieser Leute, diese abweisende Zu rückhaltung, die aggressive Verleugnung der Beweiskraft von Fotos, diese kollektive Ignoranz und Abwehr auch ein Zeichen von Unsicherheit sein konnte. Und daß sich viel mehr hinter diesem Verhalten verbarg als nur der Unmut über eine offenbar sinnlose Störung. Einer der Herren war ihr gefolgt und sprach sie auf der Treppe noch einmal an: »Lassen Sie uns die Fotos hier«, schlug er vor. »Wir werden uns bemühen, etwas über dieses Schiff in Erfahrung zu bringen.« Als Susan ihm versprach, Kopien zu schicken, denn sie wäre im Besitz der Negative, da war ihr Gesprächspartner an hilfreichen Recherchen nicht mehr interessiert. Susan saß bereits in ihrem gelben Mini, den sie vor dem Verwaltungsgebäude der Werft abgestellt hatte, als sich ihr eine Idee aufdrängte. Ein spontaner Einfall, weiter nichts. Sie stieg aus, ließ den Wagen stehen und wanderte an dem gigantischen Trockendock entlang, einem dreißig Meter tiefen und einen halben Kilometer langen Betonbecken. Sie versuchte, die Stellen zu finden, von denen aus die Fotos aufgenommen worden waren. Im Dock lag ein alter, verrosteter Supertanker und sah seiner Verjüngung entgegen. Er hatte die Länge, die Breite, die Höhe von drei zehnstöckigen Wohnblocks. Stege führten vom Rand des Docks hinüber an Bord, über den 118
schwindelnden Abgrund des leeren Beckens. Unten blitzten die blauen Flammen von Schweißgeräten auf. Begleitet von dem Warngeheul ihrer Sirenen schoben sich Kräne über breite Schienen. Stahlplatten schwebten an Trossen heran und senkten sich nach unten. An der Bordwand klebten Stahlgerüste. Dort kletterten und krochen leuchtendgelbe Punkte umher: die Werft arbeiter unter ihren Schutzhelmen. Schichtwechsel. Das Gewimmel der gelben Helme for mierte sich neu. Susan trat zu einer Gruppe, die gerade über einen der Stege nach oben kam. Sie lächelte, fragte und zeigte das Foto. Es waren überwiegend Nordafrikaner, und die Verständigung gestaltete sich etwas mühsam. Aber schließlich trat ein Vormann in die Runde, ein Südfran zose mit hartem Akzent. Der warf nur einen kurzen Blick auf die Bilder und wußte sofort Bescheid: Ja, vier Wochen war es her oder auch fünf. Vielleicht auch etwas länger. Da lag dieses Schiff, das nun »Stella Polaris« heißt, hier im Dock. Genau an diesem gleichen Platz. Und für nur knappe 48 Stunden. Es war vollbeladen bis zum Eichstrich. Mit großen, runden, silberglänzenden Containern. Die lagen dichtgepackt unter Deck, im ehemaligen Schüttraum dieses Bulk-Carriers. Und dieser Schüttraum war geflutet. Und um das Wasser, das sich ständig erwärmte, zu erneuern, dafür waren neue, größere Pumpen nötig. Die lagen schon Tage vorher bereit. Die Reparaturen am Unterwasserschiff wurden Tag und Nacht fortgesetzt. Wassertanks wurden auf das Achterdeck geschweißt und ein zusätzlicher Kran installiert. Auch der 119
hatte schon Tage vorher hier gelegen. Ja, und der neue Name des Schiffes wurde bei dieser Ge legenheit über den alten gepinselt. Der war vorher japa nisch gewesen. Oder chinesisch: so Schriftzeichen eben. Und Zulagen gab es für diese Arbeit rund um die Uhr – um die Gewerkschaftsmitglieder bei Laune zu halten. Ja, das war es auch schon. Mehr wüßte er nicht. Susan meinte, das sei schon eine ganze Menge und be dankte sich. Er hätte ihr bei der Suche nach ihrem Mann ein großes Stück weitergeholfen … »Was machen Sie hier am Dock?« Einer der Angestellten vom ersten Stock kam mit zwei uniformierten Werk schutzleuten auf Susan zu. »Das Schild dort vorn ist doch groß genug: Das Werftgelände ist aus Sicherheitsgründen für Unbefugte gesperrt.« Susan entschuldigte sich: die Sorge um ihren Mann. »Wir haben Ihnen bereits gesagt, was wir wissen: Das Schiff, das Sie suchen, hat hier nie gelegen!« Der Vormann hob die Brauen und ging mit seinen Leuten zu einem wartenden Bus, sehr rasch, ohne sich noch einmal umzusehen. Und die Werkschutzleute begleiteten Susan zurück zu ihrem Wagen. Als sie einstieg, kam der jüngste der Angestellten von vorhin noch einmal bei ihr vorbei, der Mann, der das Bild mit Dave so interessiert betrachtet hatte. Er gab den Uniformierten ein Zeichen, der Fall sei erledigt. Dann zeigte er mit der Hand in eine bestimmte Richtung: »Sie wissen ja, die Ausfahrt ist dort drüben!« 120
Susan nickte. Aber er ging noch nicht, zögerte, sah sich um. Und schließlich, fast schon im Abwenden, sagte er, und es klang ganz beiläufig: »Vielleicht fahren Sie anschlie ßend am Quai de la Tourette vorbei, bei der ›Agence Mari time Broglie‹.« Und dann wiederholte er es. »›Agence Maritime Broglie‹, Quai de la Tourette. Die wissen viel leicht mehr als wir.« Er ging grußlos davon und verschwand im Gebäude. Und Susan fuhr nachdenklich, müde und hungrig zurück in die Stadt. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »28. August. Das Werftgelände um das Trockendock ist hermetisch abgeriegelt. Auch für uns, für die Mannschaft der ›Stella Polaris‹, wie unser ehemals japanisches BulkCarrier-Schiff das früher Eisenerz transportierte, seit zwei Stunden heißt; die Schriftenmaler an Bug und Heck sind noch an der Arbeit. Heimathafen ist nun Marseille. Was allerdings nicht viel bedeutet. Habe Fotos gemacht. An Bord und vor dem Schiff. Zwischen den Containern, die nachts hier angeliefert wurden und noch mit an Bord müssen. Zweiunddreißig Stück. Privataufnahmen, die keiner übel nehmen kann: mit Woo aus Hongkong, Musti aus Beirut, Craig aus Glasgow - ja, und mit Dave McGhee! Erinnerung an eine fröhliche Reise. Für zwanzig Dollar gehen zwei Filme durch einen farbigen Werftarbeiter zur Post und nach London. Hoffentlich kassiert der nicht nur und wirft 121
dann die Filme in den Müll. Nach nur 48 Stunden Umbau- und Wartungszeit soll heute nacht die Reise weitergehen: Nordatlantik. Kurs West: USA.«
23 Die edle Fassadenfront der alten Patrizierhäuser am Quai de la Tourette mit ihrem reichen Stuck und den winzigen Zierbalkonen war geschwärzt von Ruß und sauren Abga sen. Denn auf halber Höhe verlief auf rostigen Stahlstützen die Trasse der Stadtautobahn, bevor sie sich absenkte und im Tunnel verschwand, der unter dem alten Hafen hindurch die Altstadt mit der Neustadt verband. Die zählte allerdings auch schon ihre fünfhundert Jahre. Susan war kreuz und quer durch die engen Gassen und breiten Avenuen der Innenstadt gefahren, durch die ele gante Canebiere, die repräsentative Rue de la Republique, und hatte Passanten und Polizisten befragt. Jedermann gab ihr bereitwillig Auskunft und zeigte ihr die Richtung. Doch der direkte Weg war durch Einbahnstraßen, Verkehrs staus, Baustellen und Zubringertrassen verstellt. Eingekeilt im dichten Hafenverkehr, eingesperrt zwi schen uralten Lagerhäusern und dem hohen schmiedeei sernen Zaun des Freihafens, fand Susan schließlich die gesuchte Straße und hielt nun Ausschau nach dieser Schiffsagentur. Sie hatte den Namen nur noch vage in Er innerung: »Agence Maritime Broglie.« Für die Einwohner von Marseille beging Susan ohne 122
Zweifel ein kriminelles Delikt: Sie fuhr bei ihrer Suche nicht schnell genug! Wenn eine Straße nicht gerade blok kiert war, wenn der Verkehr nicht gerade total zusam menbrach, dann hatte jedermann die verdammte Pflicht, sich als Rallye-Fahrer zu profilieren. Besonders gegenüber einer Frau aus einem Land mit Linksverkehr! Susan provozierte waghalsige Überholmanöver tempe ramentvoller Südfranzosen. Die eindeutigen Handzeichen, die man ihr gab, das Hupkonzert, das sie auslöste, das waren keineswegs nur freundliche Versuche, mit einer hübschen, jungen Frau Kontakt aufzunehmen. Susans Fahrt durch die Quai de la Tourette wurde im mer unheimlicher und riskanter. Die Straße war von bei den Seiten dicht zugeparkt. Die Stützen der Autobahn, die die ganze Gegend mit ihrem dumpfen Dröhnen erfüllte, standen im Weg und mußten umfahren werden. Langsam senkte sich die stählerne Konstruktion dem Tunnel entgegen und ließ die darunterliegende Straße eng und düster erscheinen wie eine Falle. »Agence Maritime Broglie«! Susan sah die Aufschrift. Gleich ein dutzendmal. Polierte Messingschilder glänzten in senkrechter Reihe zu beiden Seiten eines breiten Portals. In immer neuen Firmenkombinationen und -Varianten erschien der Name »Broglie«. Susan war endlich am Ziel und hatte kaum gestoppt, als es schon wieder hinter ihr hupte. Drei-, vier-, fünfmal. Dann ein Dauerton. Enervierend und mit einer geradezu unverschämten Penetranz. Susan blickte sich um: Ein anthrazitgrauer Citroen 123
Pallas mit langer Antenne blinkte sie an. Die Scheinwerfer strahlten gelb. Und es schien ihr, trotz der dunkelgetönten Scheiben, als säße hinter dem Steuer ein Fahrer mit asia tischem Gesicht. Auf das Zeichen, sie doch einfach zu überholen, rea gierte er nicht. Der Fahrer blinkte nur und hupte und nahm schließlich seine Mütze ab. Hinter dem Citroen staute sich der Verkehr. Ein Polizist an der nächsten Ecke wurde aufmerksam, trillerte auf seiner Pfeife und dirigierte Susan weiter. In ihren Schläfen hämmerte es. Sie hätte irgendwo an halten und etwas trinken müssen. Und etwas essen. Es ging bereits auf eins, und trotz eines spätherbstlich verhan genen Himmels war die schwüle Hitze unerträglich. Aber Susan hatte eine neue Hoffnung. Das wog alle Strapazen auf. Nur diese aussichtslose Suche nach einem Parkplatz machte sie nervös. Sie fuhr in eine der Nebenstraßen hinein. Aber auch dort standen die Fahrzeuge bereits auf beiden Seiten in doppelter Reihe, trotz des Halteverbots. Susan versuchte erst zu wenden und probierte dann, diesem Chaos rückwärtsfahrend zu entkommen. Aber schon nach kürzester Zeit wurde ihr von allen Seiten unmißverständlich klargemacht, daß es vernünftiger sei, solche Versuche sofort abzubrechen. Sie fuhr in einen breiten Innenhof, aus purer Panik. Zwischen sechs Etagen spannten sich kreuz und quer voll gehängte Wäscheleinen über dicht an dicht abgestellten Fahrzeugen. Eine Gruppe Vietnamesen, die einen Liefer 124
wagen entluden, scheuchte sie zurück auf die Straße. Nachdem sie den Häuserblock dreimal umrundet hatte, war sie am Ende ihrer Kraft. Ein alter Mann mit einer kalten Zigarette im Mundwinkel und einer Baskenmütze auf dem kahlen Kopf stapelte Gemüsekisten vor seinem Laden. Er kannte sie nun bereits und hatte Mitleid mit ihr. Er wischte sich die Hände an seiner grünen Schürze ab und wies auf die Einfahrt gleich nebenan. »GARAGE« stand da, auf einem verwaschenen, rostigen Schild quer über dem Tor. Susan fuhr hinein und einen langen, dunklen Gang entlang. Sie schaltete die Scheinwerfer ein. In einer Nische waren alte Fahrräder abgestellt und ausgediente Kühl schränke gestapelt. Die beiden Flügel einer hohen Tür aus ölverschmierten, dicken, drahtverstärkten Plastikfolien standen weit offen. Dahinter lag im Dämmerlicht, das durch verschmutzte Glasziegel fiel, ein großer, kahler, fast quadratischer Raum. Er wirkte leer. Nur an einer Seitenwand waren ein paar Wagen abgestellt. Eine Preisliste verkündete einen astrono mischen Stundenpreis und Discount für Dauerparker. Wie ein Schatten war ein Mann in einem grauen Overall aufgetaucht, lief vor Susan her und winkte sie weiter. Dann wies er mit matter Geste dem kleinen Mini eine freie Ecke zu. »Alors … alors … go on! … go on! …« Der Parkwächter klopfte auf das Dach ihres Wagens und lotste sie weiter. Er hatte ihr englisches Nummernschild identifiziert und gab sich international. 125
Langsam, Zentimeter um Zentimeter, ließ sie den Wa gen weiterrollen, bis die Stoßstange die Mauer fast be rührte. Die Scheinwerfer malten bizarre Schatten und Lichtreflexe auf den abblätternden gelben Putz, auf die freiliegenden roten Ziegel. Susan löschte die Lichter, stellte den Motor ab und war im Begriff, den Schlüssel aus dem Zündschloß zu ziehen, da berührte eine dunkelbehaarte Männerhand ihre Schul ter und ließ sie zusammenzucken: Der kopflose Schatten, eine Gestalt im grauen Overall, stand dicht neben dem offenen Wagenfenster, zeigte auf den Schlüssel und das Schloß und winkte ab. Also ließ sie ihn stecken und nahm das angebotene Ticket entgegen, den numerierten Park schein. Der zweite Abschnitt landete unter dem Scheiben wischer. In ihrer Tasche suchte Susan nach Geld, aber wieder winkte die Hand des Schattens ab. »Plus tard«, sagte eine Stimme über ihr. Später also. Susan nahm ihre Tasche, griff nach dem gelben Kuvert mit den Fotos und stieg aus. Und war überrascht. Der Schatten, diese Gestalt im grauen Overall, das war ein junger sympatischer Mann. Ein Grieche? Nordafri kaner? Er sah viel zu gut aus für diesen einsamen Gara genjob. Die männlichen Mannequins von Yves SaintLaurent hätten es schwer gehabt, mit ihm zu konkurrieren. Aber er trug nicht Haute Couture, sondern nur diesen grauen, etwas zerschlissenen Overall und Gummisandalen. Und er lächelte. Bezaubernder kann ein Mann eine Frau nicht anlächeln. 126
Und auch Susan lächelte. Es war einfach erfreulich in dieser düsteren, makabren Umgebung und nach dem Streß der letzten Stunden so zauberhaft angelächelt zu werden. Sie nickte zum Abschied. Er nickte höflich zurück. Das Ende einer kurzen Begegnung. Und Susan ging den langen, dunklen Gang entlang zurück zum Tor in diese alles überstrahlende Helligkeit. Unterwegs kamen ihr zwei gelbe Scheinwerfer entgegen, beleuchteten hilfreich ihren Weg über aufgebrochenen Beton und Schutt. Die Durchfahrt war eng. Susan drängte sich in die Ni sche mit den alten Fahrrädern und den aufgestapelten Kühlschränken und machte Platz für diesen Wagen, der langsam, sehr langsam, an ihr vorüberfuhr. Es war ein anthrazitgrauer Citroen mit überlanger Antenne. Sie glaubte, den asiatischen Fahrer wiederzuerkennen. Der nahm sie allerdings nicht weiter zur Kenntnis. Die Welt war gerecht: Nicht nur kleine gelbe Minis, nein, auch die teuren, exklusiven Limousinen hochkarätiger Manager hatten in dieser Stadt so ihre Probleme. Dem Obsthändler neben der Einfahrt winkte Susan noch einen freundlichen, dankbaren Gruß zu. Der Mann griff nach seiner Mütze, warf die kalte Zigarette weg und blickte ihr verwundert nach. Ohne ihren kleinen gelben Mini hatte er sie nicht wiedererkannt. Aus den Notizen des David McGhee:
»Eine Wiederaufarbeitungsanlage, die jährlich 350 Ton
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nen Uran aufarbeitet, stellt ebensoviel Energierohstoff durch Recycling bereit, wie es der jährlichen Förderung von rund 10 Millionen Tonnen Steinkohle entspricht. Diese Menge an Steinkohle müßte in Kohlekraftwerken verfeuert werden, um genausoviel Strom zu erzeugen, wie mit den wiederaufgearbeiteten Kernbrennstoffen in Kern kraftwerken heutiger Bauart. Wobei diese 350 Tonnen Uran-Brennstoff für ein Zehntel des Betrages zu haben sind, wenn sie aus dem reichlich vorhandenen Natur-Uran gewonnen werden.«
24 »Sie haben mich nicht verstanden? Nein?« Susan blickte etwas verzweifelt auf die junge Sekretärin an der Rezeption der Agentur. Die blickte ebenso verzweifelt zurück. »Sorry …!« Unwahrscheinlich, aber denkbar, daß die Sekretärin einer französischen Schiffsagentur, die international tätig war, kein Englisch verstand. Aber Susan hatte doch soeben in ihrem allerbesten Französisch mit ihr gesprochen und sich nach dem Verbleib eines bestimmten Schiffes erkun digt. »Un moment, s’il vous plait! » Die Sekretärin versuchte ein hilfloses Lächeln, stand auf und huschte davon. Das Foto der »Stella Polaris« nahm sie mit. An einem dieser Glasverschläge – offenbar die exklusiven Büros der oberen Chargen – klopfte sie und holte sich dort Unterstützung. Ein gutes Dutzend Angestellte in dem großen Kontor 128
raum, überwiegend Frauen, blickten neugierig von ihren Computer-Terminals auf. Oben, auf der Galerie, stand ein Mann mit offener Weste, gelockerter Krawatte und hoch gekrempelten Ärmeln. Er hielt einen Aktenstapel in der Hand und betrachtete Susan, die am Schalter entlang wanderte, mit interessierten Blicken. Als sie hochsah zu ihm, ging er weiter. Susan holte Davids Fotos aus dem gelben Kuvert und sortierte sie. Die Bilder der »Stella Polaris« breitete sie vor sich auf der Theke aus, die die Besucher von den An gestellten trennte. Rechts und links von ihr standen Schiffsmodelle in Glaskästen, wie in Aquarien, eingerahmt von kleinen, zierlichen Metallständern mit Flaggen der unter diesem Dach vereinten Reedereien. Inzwischen hatten sich weitere Glasverschläge geöffnet, und das Bild der »Stella Polaris« ging von Hand zu Hand. Drei Angestellte standen zusammen und diskutierten. Hin und wieder warf einer von ihnen einen kurzen Blick auf Susan. Merkwürdigerweise hatten sie alle ihre Jacketts über die Lehne ihrer Stühle gehängt und trugen aufgeknöpfte Westen, gelockerte Krawatten und leicht hochgeschlagene Manschetten. Und alle hielten sich an brennenden Zigaretten fest. Susan blieb geduldig und gelassen. Es schien ihr, als hätte sie plötzlich viel Zeit, sehr viel Zeit. Eine erschöpfte Ruhe erfüllte sie. Und eine noch nie erlebte Müdigkeit. Sie hielt Ausschau nach einem Stuhl. Aber es gab keinen Stuhl, keine Bank in diesem Foyer für Kunden. Die Agentur wirkte wie eine kleine, intime Privatbank. Durch 129
eine Glaskuppel fiel Licht über drei Stockwerke und spiegelte sich in dem blankpolierten Marmorboden, auf den Säulen, auf glänzenden Messinggeländern. Die Com puter waren der einzige Stilbruch, paßten nicht zu der konservativ-traditionellen Atmosphäre des Raums. Und vielleicht auch die Rohrpostanlage nicht, die mit leisem Gepolter die Kapseln mit Nachrichten und Dokumenten durch die Stockwerke transportierte. Die Beratung schien beendet. Einer der Angestellten kam schließlich auf Susan zu, das Foto in der Hand. »Was wollen Sie wissen, Madame?« Sein Akzent war unwesentlich, seine Höflichkeit routiniert und kühl. »Gehört das Schiff hier Ihrer Gesellschaft?« Susan deutete auf die vor ihr ausgebreiteten Fotos. Der Ange stellte schüttelte, ohne zu zögern und ohne einen Blick auf die Bilder geworfen zu haben, den Kopf. »Nein. Gehören tut es uns nicht! Wir besitzen keine Schiffe! Wir sind hier nur eine Agentur. Ein Ship-Broker. Wir vermitteln Ladung und Transportraum, verstehen Sie?« Susan verstand. Gab sich zumindest den Anschein, diese feinen Unterschiede in der Konstruktion des Welthandels zu begreifen. Sie wollte auch keine langwierigen Belehrun gen, sondern eine knappe Auskunft. »Trotzdem wissen Sie Bescheid über die ›Stella Polaris‹, nicht wahr? Also: Wo ist das Schiff? Und wem gehört es?« Der Angestellte wurde nachdenklich und schob, wäh rend er die Fotos nun doch studierte, mit dem Zeigefinger der rechten Hand seine Brille weiter nach oben: 130
»Die ›Stella Polaris‹ wurde vor kurzer Zeit erst verkauft. An eine griechische Reederei. Sie ist auch nicht mehr hier in Marseille registriert. Das Schiff wurde …« – er zögerte, suchte nach dem richtigen Wort – »Wie sagen Sie? ›Ausge flaggt‹, ja?« Susan konnte ihm da nicht recht weiterhelfen. Techni sche Spezialausdrücke aus dem Bereich der Seeschiffahrt waren ihr fremd. »Jetzt ist das Schiff neu registriert. In Panama.« Und nach einer abwartenden Pause fügte er noch hinzu: »Warum fragen Sie?« Susan war nicht gekommen, um Fragen zu beantworten, sondern um Fragen zu stellen: »In welchem Hafen liegt das Schiff jetzt? Oder wohin fährt es?« Der Angestellte schob wieder seine Brille nach oben und fragte seinerseits: »Warum wollen Sie das wissen?« »Mein Mann ist an Bord.« Das war eine einfache und leicht zu begreifende Erklärung. Der Vollständigkeit halber ergänzte sie noch: »Und ich suche ihn!« Der Angestellte nickte und stellte wieder eine Gegen frage: »Offizier oder Mannschaft?« »Journalist …!« Natürlich hätte sie das nicht sagen dürfen. Es war eine »Routineantwort« auf eine Routinefrage. An der Reaktion ihres Gesprächspartners erkannte sie sofort, wie unklug es gewesen war, eine Information wie diese preiszugeben. Der Mann reagierte nämlich nicht darauf. Absolut nicht. Er 131
hätte doch logischerweise weiter fragen müssen. Zum Beispiel: Was hat Ihr Mann als Journalist an Bord der »Stella Polaris« zu tun? Reist er als Passagier? Schreibt er im Auftrag der Reederei? Aber er fragte das alles eben nicht. Er zögerte nur einige Sekunden zu lang. Wirkte eine Nuance ernster. Ließ den Blick nicht von diesem Foto mit David McGhee und dem ausgeflaggten Schiff. Nickte leicht. Hatte also durchaus verstanden. Schob seine Brille wieder nach oben und sagte schließlich sehr höflich: »Ei nen Augenblick, bitte!« Wandte sich ab und ging einfach weg. Das Foto mit Dave nahm er mit. Susan sah ihm irritiert nach. Auch der Cleverste, dachte sie, macht hin und wieder einen Fehler. Sie hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Immer noch richteten sich die Blicke der Angestellten an ihren Computer-Terminals in erster Linie auf sie. Oder war das nur Einbildung? Hysterie? Verfolgungswahn? Die meisten hatten doch gar nicht mitbekommen, worum es ging! Ein zweiter Angestellter der Agentur war aus seinem Glasverschlag getreten, offenbar ein Vorgesetzter, und nahm ihrem Gesprächspartner, der in seiner Begleitung zurückkam, das Foto aus der Hand. »Wie heißt Ihr Mann?« »Warum?« »Wir müssen das wissen! Wie sollen wir ihn finden?« »David McGhee.« Der zweite Mann schien über diesen Fall nicht sehr beglückt zu sein. Bevor er sich abwandte, um wieder in seinem Glasverschlag zu verschwinden, stellte er noch eine 132
Forderung, die sein Kollege weitergab. Der legte Susan einen Notizblock hin und einen Ku gelschreiber dazu: »Hier, bitte! Sie sollen den Namen Ihres Mannes auf schreiben. Deutlich bitte! Auf das Papier. Auch Ihren Namen, Madame.« Sie schrieb Davids Namen und auch den ihren auf. Was blieb ihr anderes übrig? Und sie hoffte, daß ihr Auftauchen in dieser Agentur, die Weitergabe von Davids Namen und Beruf, keine allzu fahrlässige Entscheidung war, die sie und David irgendwann zu bereuen hätten. Der Zettel mit den beiden Namen machte wieder die Runde und verschwand schließlich, wie auch das Foto, im Glasverschlag des Vorgesetzten. »Mein Kollege fragt an in New York. Per Telex. Die haben dort zwar Vierundzwanzig-Stunden-Service, aber das dauert trotzdem seine Zeit. Bitte, warten Sie!« »Was, bitte, fragt er an? Und wieso New York?” »Ob Ihr Mann noch an Bord dieses Schiffes ist. Das wollten Sie doch wissen. Oder?« Sie nickte nur. Ja, das wollte sie wissen. »Und wenn er an Bord ist? Wo erreiche ich ihn? In New York?« Der Angestellte schüttelte den Kopf und trat wieder zu Susan an den Schalter. »Nein. Wo das Schiff sich befindet, das wissen wir nicht. Wir haben die ›Stella Polaris‹ im Auftrag der Reederei weiterverchartert. An eine Transportfirma in New York … ›Intranspeed Incorporated‹. Wir haben nichts mehr damit zu tun! Was wir hier tun, ist nur eine Gefälligkeit für Sie!« 133
Seltsam. Keiner hatte etwas mit diesem Schiff zu tun. Monsieur Robert in La Hague nicht. Die Werft nicht. Und diese Agentur schließlich auch nicht. »Können Sie mir noch einen Gefallen tun?« Susan schob dem Angestellten das gelbe Kuvert und den Kugelschreiber hin. »Schreiben Sie mir den Namen und die Adresse von dieser Firma auf, der das Schiff jetzt gehört! Hier auf das Kuvert, bitte!« Der Angestellte sah Susan an, als hätte er nicht recht verstanden. Wieder zögerte er einige Augenblicke zu lang. Dann nahm er den Kugelschreiber zur Hand. »Wenn Ihnen Postfach, Telefon und Telex genügen?« Er schaute Susan fragend an. »Mehr haben wir nicht!« Sie wußte noch nicht, ob ihr das genügen würde. Aber es war zumindest wieder einmal ein neuer Anfang. Sie nickte. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »29. August. Wir liegen tief im Wasser. Bis zum Strich. Schwerer beladen kann ein Schiff nicht sein als unsere ›Stella Polaris‹. Ich habe nachgerechnet: 242 Container zu je 80 Tonnen: Das sind 19360 Tonnen. Die Tragfähig keit des Schiffes ist mit 20400 Tonnen angegeben. Die noch offenen tausend Tonnen bringen wir mit auf die Waage. Und unser Proviant. Jeden Abend gibt es Freibier – einmalig auf einem Handelsschiff! Gewerkschaftliche Regelungen und Sicherheitsnormen scheinen hier an Bord ohnehin nicht zu gelten.«
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David lebt! Sie hatte die Gewißheit. Sie hatte das Telex selbst gesehen, die Liste der Besatzung der »Stella Polaris«. Über Schiffsort und Kurs war dagegen nichts in Erfahrung zu bringen. Mit dem Gefühl des Erfolgs kehrte Susan zurück in die Garage. Sie bemerkte es sofort: Der kleine gelbe Mini parkte nicht mehr an seinem alten Platz. Er war umgestellt wor den, in die gegenüberliegende Ecke. Dafür gab es sicher gute Gründe, auch wenn Susan sie sich nicht erklären konnte. Denn die Garage war nach wie vor weitgehend leer. Nicht verwunderlich, bei diesen Preisen. Vermutlich hatte der schöne Parkwächter den Mini rangiert. Wer sonst? Susan suchte ihn, konnte ihn jedoch nirgends ent decken. Schon auf dem Weg durch die Dunkelheit des langen Ganges konnte sie ein Lächeln über sich selbst nicht un terdrücken, wenn sie an die zu erwartende, durchaus erfreuliche Begegnung dachte – an seine etwas schüch terne, bezaubernde Art, mit der er vermutlich den Park schein entgegennehmen, die Ankunftszeit ablesen und zwanzig Francs für die erste Stunde kassieren würde. Susan amüsierte sich über diesen Rückfall in ihre Teenagerzeit. Vielleicht überfiel sie diese unerwartete Heiterkeit, weil sie sich erleichtert fühlte. Davids Name auf einer offiziellen Crew-Liste! Das erste greifbare Zeichen von ihm seit seinem Anruf. Der erste schriftliche Beweis seiner Existenz 135
seit sechs Wochen. Der charmante, der schönste aller Parkwächter aber blieb trotz Susans Rufen verschwunden. Wenn sie jetzt losfuhr, hatte sie zwanzig Francs gespart. Für alle Fälle inspizierte sie ihren kleinen gelben Wagen sehr genau, stellte außer den zahllosen alten und rostigen keine einzige neue Schramme fest und keine zusätzliche Beule. Der Mini war sehr professionell und platzsparend geparkt. Vorn berührte die Stoßstange bereits die Ziegel wand. Dichter konnte man ein Fahrzeug nicht in eine Ecke stellen! Im Gegensatz dazu war der chinesische Fahrer des an thrazitgrauen Citroen Pallas mit Platz sehr großzügig um gegangen. Der Wagen stand verlassen fast in der Mitte des Raums. Sie würde Mühe haben, an ihm vorbeizukommen. Da fiel plötzlich Scheinwerferlicht durch den langen, eben noch dunklen und verlassenen Gang, spiegelte sich in den dicken Plastikfolien des Tores. Das schwere Dröhnen des Motors näherte sich. Offenbar war ein Lastwagen auf dem Weg in die Garage. Gut, daß ich dem nicht in dem engen Gang begegnet bin, dachte Susan, dort wäre ein Ausweichen unmöglich gewesen. Susan zog ihre Jacke aus, legte sie vorsichtig auf den Beifahrersitz, daneben ihre Tasche und das gelbe Kuvert und setzte sich hinter das Steuer. David lebt, dachte sie, er lebt! Der Zündschlüssel steckte noch im Schloß. Sie versuchte zu starten, aber der Motor sprang nicht an. Es dauerte ziemlich lange, bis Susan das begriff. Aber der 136
Lärm des schweren Wagens, der gerade das Plastiktor passierte, fing sich zwischen den kahlen Mauern und dem hohen Dach und füllte mit seinem Dröhnen den Raum. Für Susan war das Anlassergeräusch ihres eigenen Wagens kaum hörbar. Immer wieder drehte sie den Schlüssel. Aber sie spürte keine Vibration, hörte nichts außer dem Gedröhn dieses Wagens, der immer näher kam. Ihr Rückspiegel reflektierte das Licht der starken Schein werfer und blendete sie. Susan blickte sich um. Der große Wagen fuhr direkt auf sie zu. Es war ein Lieferwagen mit einem breiten graugrünen Kastenaufbau, häßlich, alt, schmutzig und ohne jede Beschriftung. Langsam schob sich diese graugrüne Seitenwand an ihr vorbei. Erschrek kend nah. Der Abstand zu Susans Wagen betrug nicht einmal die Spanne einer Hand. Susan fand diese Form des platzsparenden Einparkens etwas übertrieben. »He!!« Sie klopfte an ihr Fenster, was sinnlos war bei diesem Lärm. Sie kurbelte es herunter, schlug mit der Faust gegen das Blech des Lieferwagens, der wie eine Wand neben ihr aufragte und in diesem Moment zum Stehen kam. Das Dröhnen der schweren Maschine, die nicht abgestellt wurde, übertönte ihre Schläge. Also schlug sie noch kräftiger zu und brüllte: »He!! He!!! Hallo!!!!«. Das Motorengeräusch verschluckte ihre Stimme. »Idiot!!!« Sie fühlte sich beengt und eingesperrt und warf sich in einem plötzlichen Anfall von Wut und Panik gegen ihre Tür, die gegen das Blech des Lieferwagens 137
knallte. Aber weiter als zwei Zentimeter ließ sie sich nicht öffnen. »He! Laßt mich hier raus!« Susan versuchte zu hupen. Aber das Horn blieb stumm. Und auch die Scheinwerfer blieben dunkel, mit denen sie ein Lichtsignal geben wollte, waren tot wie der Anlasser. Vermutlich lag es an der Bat terie. Aber was auch immer der Grund sein mochte: Ihr Wagen saß fest, eingeklemmt. Eine unverschämte Fahrlässigkeit von dem Fahrer des Lieferwagens! Und der Motorenlärm dieses Wagens ebbte nicht ab. Sonst hätte man sie brüllen hören! Dröhnend lief diese Maschine auf vollen Touren. Hatte der Kerl nicht bemerkt, daß sie bereits im Wagen saß? »Idiot!« schrie sie noch einmal gegen den infernalischen Lärm. »Verdammter Idiot!« Wenn ihr sonst so zuverlässiger kleiner Mini nur ange sprungen wäre! Sie hätte ihn vorsichtig rückwärts aus ihrer schmalen Parklücke gesteuert. Vielleicht sogar ohne Schramme! Hinter ihr war schließlich Platz genug! Sie sah sich um, da blendete sie gelbes Licht. Der an thrazitgraue Citroen war angelassen worden, und Susan glaubte, trotz der dunklen Scheiben den chinesischen Fahrer mit seiner Dienstmütze am Steuer zu erkennen. Das war die Lösung des Problems. Und die Rettung. Der Mann konnte sie herausschieben oder herausziehen. Sie mußte sich nur bei ihm bemerkbar machen. Sie winkte ihm zu. Im Scheinwerferlicht seiner gelben Lampen mußte sie für ihn durch das Rückfenster ihres Wagens deutlich zu erkennen sein. 138
Aber offenbar nahm er sie nicht zur Kenntnis. Sie rief, schrie, polterte gegen die Tür, gegen das Dach. Aber anscheinend verschluckte das Dröhnen des Liefer wagens neben ihr alle Signale, alle Rufe. Und dann bemerkte sie etwas, was sie nicht begreifen konnte: Der Citroen fuhr auf ihr Auto zu, kam langsam näher, Meter um Meter. Die Reflexe des gelben Lichts wanderten in ihrem kleinen Wagen plötzlich nach oben, die Schatten wanderten mit. Der gelbe Schein wurde im mer intensiver, blendete sie. Sie gestikulierte. Es gab keinen Zweifel: Der Fahrer mußte sie sehen. Er fuhr direkt auf sie zu! Und er stoppte nicht. Irgendwann, nach wenigen Sekunden, die sich für Susan dehnten wie eine Ewigkeit, gab es einen dumpfen Schlag. Blech auf Blech. Sie spürte den Stoß der Kollision, hörte wie sich ihre vordere Stoßstange knirschend in den mor schen Putz der Mauer bohrte, sah die gelben Scheinwerfer erlöschen. Nahm eine Gestalt wahr, die aus dem anderen Wagen huschte und in der Dunkelheit des Ganges ver schwand, hörte eine Blechtür schlagen. Ahnte, daß es die Tür des Lieferwagens war. Sah eine weitere Gestalt fliehen. Das hohe, große Tor klappte zu. Auf den dicken Plastikfo lien fing sich ein Schimmer Tageslicht – die Ausfahrt zur Straße am Ende des Ganges. Dazwischen Schattenspiele hin und her huschender Gestalten. Das Tageslicht wurde schwächer, verschwand. Irgendwo rasselte eine eiserne Jalousie nach unten. Dann war Stille. Stille? Neben ihr dröhnte immer noch die Maschine des 139
Lieferwagens. Hinter ihr lief der Motor des Citroen. Da erkannte Susan, daß alles kein Zufall war, keine Fahrlässig keit, kein Mißverständnis, sondern ein teuflischer Plan. Und sie suchte nach einer Erklärung. Gab es denn etwa keine? Keine Zusammenhänge? David hatte geschrien damals am Telefon, er sei in Lebensgefahr. Nun war sie in eine Falle gegangen. Und die Falle war gerade zugeschnappt. War das nun als Warnung gedacht? Um sie einzu schüchtern? Ihre Gegner konnten ja nicht ahnen, daß sie hier parken würde. Die hatten einfach nur die günstige Gelegenheit ergriffen. Irgendwann würde der freundliche Parkwächter kommen und sie aus dieser beängstigenden Lage befreien. Oder andere Leute, irgendwelche Fahrer, die ihren Wagen hier abstellen oder abholen würden. Welche Leute? Welche Fahrer? Und wann? Wenn das Eisentor, die Jalousie vorn an der Straße geschlossen war, kam keiner hinaus und keiner herein. Susan unternahm einen neuen Ausbruchsversuch. Sie warf sich gegen die Türen ihres kleinen Wagens, erst gegen die linke, dann die rechte, bis die Schultern sie schmerzten und sie einsehen mußte, wie vergeblich das war. Sie brüllte gegen den Motorenlärm an, schrie um Hilfe. Aber wer konnte es hören und ihr helfen? Sie versuchte sich durch die offenen Fenster nach oben zu ziehen, auf das Dach des Wagens. Sie krallte sich in die Zwischenräume der Ziegelsteine. Der brüchige Putz 140
rieselte auf sie herab. Aber der Abstand war zu schmal, um durchzukriechen. Sie lehnte sich zurück und versuchte, einen klaren Ge danken zu fassen: Das Ganze hier mußte doch wohl ein Witz sein, ein Scherz, um sie in Panik zu versetzen, um ihr Angst einzujagen, um sie zu schockieren? Wie schätzten diese Leute, die diesen Wahnwitz hier in Szene gesetzt hatten, sie ein? Susan Galloway? So einfach in die Flucht zu schlagen? Als sie ganz plötzlich begriff, daß dies Spiel hier kein dummer Scherz war, kein Witz, sondern bitterer, tödlicher Ernst, war sie wie gelähmt von der jähen Erkenntnis, und ihr Atem stockte. Langsam und stetig füllte sich der Raum, so groß er auch war, mit den Abgasen der laufenden Maschinen. Sie lagen als wabernde Schicht auf dem verölten Betonboden, wirbelten auf, vernebelten bereits die Sicht auf die geschlossene Plastiktür, auf die hellen Glasziegel im Dach, auf die Wand gegenüber. Erreichten in ersten, dünnen Schwaden ihr offenes Fenster. Drangen ein durch die nur einen schmalen Spalt weit geöffnete Tür. Susan begann zu husten. In rasender Hast schloß sie die Tür, verriegelte sie sogar, sinnloserweise, kurbelte das Fenster hoch, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Aber der Mini war bereits voller Abgasschwaden. Und er würde sich weiter füllen, immer weiter, bis zum Ende. Denn unentwegt drang der graue Qualm der dröh nenden Maschinen aus den Auspuffrohren der beiden Wagen. 141
Aus den Notizen des David McGhee: »Im Jahre 1958 hat nach Aussagen des sowjetischen Dissi denten Schores Medwedjew und nach Ermittlungen west licher Geheimdienste bei Kyschtym im Ural in einer De ponie für nuklearen Müll eine Explosion stattgefunden, die ein relativ großes Gebiet radioaktiv verseuchte. Zwan zig Jahre nach dem Unfall ist ein Gebiet von 50 x 100 km völlig abgesperrt, Städte wurden evakuiert und umge siedelt und Straßen umgeleitet. In neueren Landkarten sind diese Orte nicht mehr verzeichnet. Kyschtym im Ural liegt in einer – im Vergleich zu Europa – höchst dünn besiedelten Gegend.«
26 Nein, es gab kein Entkommen für Susan. Sie hatte keine Chance. Man beseitigte sie auf eine ganz unspektakuläre, leise, unverdächtige Weise. Weil sie schon zuviel wußte, zuviel erfahren hatte. Und drauf und dran war, noch mehr zu erfahren. Weil sie nicht bereit war aufzugeben. Sie war Leuten im Weg, die etwas Ungeheuerliches zu planen schienen oder gerade dabei waren, es auszuführen. Diese Leute hatten David auf ihrem Gewissen und in Kürze auch sie. Zwei Menschenleben zu opfern, das war bei diesem Geschäft offenbar einkalkuliert. Susan dachte an Julie. Und an Steve. Beide würden sie vermissen. Aber suchen – wo? Hier? In dieser verschlosse nen Garage? Von der sie nichts ahnten! Doch wohl kaum … 142
Irgendwann, heute nacht, würde Steve einen Posten der Gendarmerie aufsuchen, mit einem plärrenden Kind an der Hand. Und dann würde er den Versuch unternehmen, mit seinem miserablen Französisch eine Fahndung zu organisieren. Nach einer jungen Frau in einem gelben Morris Mini mit britischem Kennzeichen, das er bestimmt nicht einmal auswendig wußte. Und das in Marseille! In einer Hafenstadt mit diesem Ruf. Zu diesem Zeitpunkt hätte man sie und den Mini längst beseitigt. Für so etwas gab es hier Spezialisten, wie man sah. Die brachten so einen Auftrag still und unblutig über die Runden. Im Zweifelsfall ließ sich der Mord auch als bedauerns werter Unfall deklarieren. Alles das ging Susan in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf. Während sie gleichzeitig an Rettung dachte. Und wußte, daß es keine gab. Nur ein Wunder konnte ihr noch helfen. Der schöne, freundliche Parkwächter konnte ein solches Wunder sein. Wenn er mit diesen Gangstern nicht unter einer Decke steckte und an diesem Attentat beteiligt war. War er bestochen worden? Oder ebenfalls aus dem Weg geräumt? Die Abgase waberten an den Scheiben entlang. Susans Panik steigerte sich. Wie würde ein Todeskampf aussehen? Ersticken im Kohlenmonoxid oder was immer es war? Sie trommelte gegen das Blech, brüllte los mit ganzer Kraft. Mit letzter Kraft. Ein schmerzender Hustenanfall, der sie 143
schüttelte, war der einzige Erfolg dieser sinnlosen Anstren gung. Sie versuchte, mit der bloßen Faust das Heckfenster einzuschlagen. Bis jeder ihrer Knöchel rot und geschwollen war und sie die schmerzende Hand nicht mehr bewegen konnte. Aber sie fand nichts in diesem Wagen, womit sich das Sicherheitsglas zerschmettern ließe. Kein Werkzeug. Keinen harten Gegenstand. Susan resignierte. Schloß die Augen für lange Minuten oder auch nur für kurze Sekunden. Sie versuchte in Ruhe nachzudenken, sich zu konzentrieren, dem Hustenreiz nicht nachzugeben. Nicht mehr atmen! Das Schicksal an nehmen. Den Brechreiz ignorieren … Und was wird aus Julie?! Und was wird aus Dave?! Da packte Susan eine so grenzenlose Wut und Empö rung, daß sie aufheulte und ihre ganze Kraft zusammen nahm. Sie stemmte ihren Rücken gegen die Lehne ihres Sitzes und ihre Stiefel gegen die Windschutzscheibe. Und sie trat zu mit aller nur verfügbaren Gewalt. Es war ihr, als müsse sie bersten vor Verzweiflung. Und vor Hoffnung zugleich. Der Schlag, der das Zerspringen der Scheibe begleitete, ließ ihren Körper erzittern. Eben noch gespannt wie eine Feder, schossen ihre Beine nun durch einen Regen glitzernder Glasperlen nach draußen, fanden keinen Halt mehr in der Scherbenwolke. Schreck und Entsetzen über die geradezu explosionsartige Ent spannung lähmten sie für Bruchteile eines Augenblicks. Dann handelte sie wie in Trance, reagierte automatisch. Sie 144
tat die richtigen Handgriffe, ohne nachzudenken. Alles, was sie in diesen Sekunden tat, war nur noch von elemen tarem Überlebenswillen bestimmt. Sie zog die Beine vorsichtig zurück, wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke die Glasreste aus dem Rahmen. Ergriff Handtasche, Jacke, Schlüssel und gelbes Kuvert und kroch hinaus. Ihre Schuhe glitten über knirschende Scherben. Sie kletterte über das Dach, rutschte über das Heck nach un ten, lief über die flache Motorhaube des Citroen, sprang schließlich in den verwehenden Nebel hinein, prallte auf den Betonboden, hörte sich husten, würgte, rannte los, warf sich gegen die dicken, öligen Plastikfolien der Tür, glitt hinaus in die Dunkelheit, stolperte, stürzte, fiel über Schutt, hastete weiter in die nachtschwarze Finsternis hinein, in die Richtung, in der sie das offene Tor wußte. Aber das helle, gleißende Viereck des Tors war ver schwunden! Sie prallte gegen eine Stahljalousie. Taumelte zu Boden. War ohne Orientierung. Sie fand einen Lichtspalt, schob ihre Finger durch, zog und stemmte und schaffte es, die Jalousie Stück für Stück, zwanzig, dreißig Zentimeter, nach oben zu drücken. Dann rollte sie sich nach draußen. Durch Dreck und Öl. Und war frei. Sie lief, so schnell sie konnte. Der Fluchtinstinkt jagte sie. Sie stieß gegen Passanten. Überquerte dichtbefahrene Straßen und Kreuzungen, hörte nicht auf Rufe, nicht auf warnendes Hupen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie 145
hatte das Leben wiedergewonnen! Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ihr Schädel schien ihr zu zerspringen. Ihr Atem keuchte, aber mit jedem tiefen, hastigen Atemzug pumpte sie Sauerstoff in ihre Lungen, preßte das Gift hinaus. Als sie die Promenade des Alten Hafens erreicht hatte, flimmerte es ihr vor den Augen. Sie biß die Zähne zusam men und wußte, daß sie durchhalten würde. Auf der anderen Straßenseite reihte sich ein Cafe an das andere. Da saßen die Müßiggänger in der fahlen Nach mittagssonne. Irgendwo hier hatte sie Julia abgeladen. Und diesen Steve. Aber sie wußte nicht mehr genau, wo. Da rannte sie irgendwann auf gut Glück über die Straße, weil sie spürte, daß sie am Ende war mit ihrer Kraft. Eine blaue Markise. »Barracuda«. Blaue, verblichene Polster auf Korbstühlen. Es war nur eine vage Erinnerung. Auf einem der Polster schlief Julia. Daneben saß Steve, gähnte und spielte mit seiner Kamera. Aus den Notizen des David McGhee: »Im Jahre 1982 kam es in Tokai Mura, der modernsten Wiederaufarbeitungsanlage der Welt und der einzigen Ja pans, nach einem Leck in einem Behälter nur deshalb nicht zu einer unkontrollierten Kettenreaktion mit Hitze entwicklung und intensiver Neutronenbestrahlung, weil die Anlage wegen anderer Defekte ohnehin nur mit ver minderter Leistung gefahren wurde.«
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»Endlich!!« Steve atmete erleichtert auf, als Susan kraftlos in einen der Korbsessel sank. »Gschscht!« Er zeigte auf Julia. Die hatte sich auf einem anderen Korbstuhl zusammengerollt, klammerte sich im Schlaf an Sarah, die Elefantenkuh, und Steves Hut war ihr über beide Ohren tief ins Gesicht gerutscht. »Du ahnst nicht, was ich mitgemacht habe!« Das war mein härtester Job, seit ich denken kann!« Er flüsterte immer noch, um Julia unter keinen Umständen aufzuwecken und nahm Susans totale Verstörtheit, ihre Atemlosigkeit gar nicht erst zur Kenntnis. »Du mußt zugeben: Ich bin fabelhaft! Das war ein Dressurakt!« Rings um Julias Mund war Schokoladeneis verschmiert und eingetrocknet. Ein Rest war geschmolzen und schwamm in einem Teller. Daneben lagen drei verschie dene angebissene Kuchenstücke und waren gegen jeden Zugriff einer feindlichen Umwelt durch einen hohen, un einnehmbaren Wall aus malerisch aufgebauten Filmpak kungen geschützt. Susan betrachtete Julia lang und gedankenverloren, dann strich sie ihr zärtlich über den Arm, der über die Lehne hing. Sie biß die Zähne zusammen und kämpfte tapfer gegen ihre Tränen. Mit einer Papierserviette tupfte sie sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete ihre Hände; sie waren verschmutzt von Staub und von Öl, und über den Rücken einer Hand lief eine Schramme mit verkrustetem Blut. 147
Steve fragte immer noch nichts, war unsensibel oder blind. Besser so, dachte Susan. Denn wenn sie angefangen hätte, ihm diese Geschichte zu erzählen, dieses Abenteuer auf Leben und Tod, sie hätte losgeheult und wäre womöglich jetzt, wo alles überstanden war, an Ort und Stelle zusammengebrochen. »Kaffee?« Der Wirt wischte mit seinem weißen Tuch über das schmale Stück Tisch, das freigeblieben war. Susan nickte nur und bemerkte, daß er sie mit einem eigenartigen, fast sorgenvollen Blick betrachtete. Männer waren also unterschiedlich feinfühlig, wenn es um die Verstörtheit eines Menschen in ihrer allernächsten Um gebung ging. »Au lait?« fragte er noch. Aber Susan schüttelte nur den Kopf. Der Wirt war bereits im Gehen, da wandte er sich noch einmal um zu ihr. »Cognac, Mademoiselle? Un Brandy?« Er nahm, sicher nicht zu Unrecht, an, daß ein kräftiger Schluck dieser atemlosen und verwirrten jungen Frau helfen könnte. Susan nickte. Sie versuchte sogar ein dankbares Lächeln. Ihr erstes Lächeln nach all diesem Grauen. »Und? Was war?« fragte nun Steve, als der Wirt ge gangen war. »Erfolgreich?« Die verschwitzte Bluse, die verschmutzte Jacke in ihrer Hand irritierten ihn zwar, aber er zog den falschen Schluß, wartete Susans Nicken nicht erst ab, sondern fragte gleich weiter: »Zu Fuß? Ja?« Er grinste. »Verstehe! In welchem Hal teverbot stand dein kleines Auto diesmal? Haben sie’s 148
abgeschleppt?« Absurd, dachte Susan. Alles ist so unglaublich absurd! Sie kramte in ihrer Tasche, fand tatsächlich den Wagen schlüssel, schob ihn Steve über den Tisch zu und biß sich auf die Lippen, als er sie fragend ansah. »Garage …«, sagte sie schließlich, als sie sicher war, daß ihre Lippen nicht mehr zittern würden. »Steht in einer Garage …! Du mußt es … herausholen …!« Aber dann fügte sie noch die wichtigste Mitteilung hinzu: »David lebt!« Weiter kam sie nicht. Die Anspannung. Die Angst. Die Erschöpfung. Der Zweifel, daß die Information, David betreffend, auch nur eine Karte in einem bösen, teuf lischen Spiel sein mochte. Susan heulte los, wandte sich ab, hielt die Hände vors Gesicht und flüsterte, schluchzte: »Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr …« Steve gab sich optimistisch, um nicht zu zeigen, wie sehr ihn heulende Frauen verunsicherten. »He! Was ist los? David lebt, denke ich! Ist doch fabelhaft! Sei doch glücklich!« Susan nickte und schwieg. Nein, nicht jetzt und nicht hier würde sie ihm alles erzählen. Sie war noch einmal davongekommen. Und vielleicht war wirklich alles nur ein Zufall, ein böser Traum. Der Kaffee kam und ein doppelstöckiger Martell in einem bauchigen Glas. Der Wirt nickte Susan aufmun ternd zu, dann stellte er die ganze Flasche daneben. Und Susan nickte zurück. Der Wirt schätzte ihre Erschöpfung offensichtlich richtig ein. 149
Susan trank. Erst den Cognac, in einem langen, qual vollen Schluck, mit geschlossenen Augen. Dann den Kaffee. Der war brühend heiß und brannte in der Kehle. Sie schenkte sich Cognac nach, ohne zu trinken, und atmete tief ein. Das Leben ging also weiter. Sie hatte überlebt – und war einen Schritt weiter gekommen. Sie schob Steve das gelbe Kuvert hin und zeigte auf die Adresse, die dieser Bursche von der Agentur säuberlich in Blockbuchstaben auf die Rückseite geschrieben hatte. »Was ist das?« fragte Steve, nahm das Kuvert und las: »Intranspeed New York?« »Die haben die ›Stella Polaris‹ gechartert.« »Und David ist also an Bord?« »Als Decksmann. Ich habe die Liste der Besatzung selbst gesehen. Zwölf Mann. Ein Telex aus New York.« Steve schien kein Verständnis für Susans Verzweiflung zu haben. »Du hast ihn also gefunden! Du hast es geschafft! Wo ist das Problem?« »Das Schiff ist nirgends zu erreichen! Verschollen! Irgendwo zwischen New York, Panama und dem Pazifik. Keine Positionsmeldung seit drei Wochen.« »Wer sagt das?« »Die Schiffahrtsagentur!« Steve schüttelte den Kopf. »Die lügen doch! Die lassen doch ein Schiff dieser Größe nicht einfach verschwinden?« »Warum nicht?« Wenn sie Menschen töten, dachte Su san, weil die ihre Pläne stören könnten, weil es besser in 150
das Geschäft paßt, dann können sie auch ein ganzes Schiff versenken. Mit Ladung und Besatzung, mit Mann und Maus … »So ein Schiff ist doch teuer!« wandte Steve ein. »Das zahlt die Versicherung!« Als ehemalige Journalistin hatte sie schon von ganz anderen Fällen von Versiche rungsbetrug erfahren. »Und die Fracht? Was hatte die ›Stella Polaris‹ denn geladen?« Wußte er es tatsächlich immer noch nicht? »Müll!« sagte sie nur. Und erst nach einer langen Pause ergänzte sie: »Radioaktiven Müll!« Julia war wach geworden und streckte sich. »Mami …!« flüsterte sie. Sie hatte den viel zu großen Hut immer noch vor dem Gesicht und nur Susans Stimme gehört. Jetzt war die Welt für sie wieder in Ordnung. »Julia! Liebes!« flüsterte Susan zurück und zog sie zu sich auf den Schoß. So saß sie eine Weile, nahm die Kleine fest in den Arm, fühlte, wie diese wieder einschlief, und faßte schließlich einen Entschluß. »Wir fahren zurück nach London! Das hat hier alles keinen Sinn! Es wird auch zu gefährlich! Ich habe erfahren, was ich erfahren wollte. Weiter erreiche ich nichts. Ich bin verantwortlich für Julie. Laß uns gehen! Laß uns fahren … mit dem Mini … mit dem Zug … Ich weiß nicht wie! Aber, bitte, versuch nicht, mich umzustimmen.« Steve versuchte es nicht. Noch nicht. Er hob die Hand, rief den Wirt: »Garcon …!« Der Wirt kam und wischte über den Tisch. »L’addi 151
tion?« fragte er. »Wie? Ach so. Nein! Non! Das heißt: ja! Nur: Ich muß telefonieren! Telephoner … Nach London! Londres. Geht das hier bei Ihnen? Chez vous?« Der Wirt hatte auf einem winzigen Zettel alles zusam mengezählt. Jetzt zeigte er über die Straße. Dort drüben, auf der Promenade des Alten Hafens, am Quai, vor dem Hintergrund der tausend Masten und der Kirche »Notre Dame de la Garde«, die stolz auf der Bergspitze thronte, stand eine gläserne Telefonzelle, sehr isoliert und nicht zu übersehen. Steve stand auf, suchte in seinen Taschen alle verfüg baren Münzen zusammen und wechselte beim Wirt, wäh rend er bezahlte, noch zusätzlich einen Schein. »Ich rufe Pat Cooper an!« sagte er. »Der weiß garantiert weiter.« Damit rannte er über die Straße, mitten durch das dichteste Verkehrsgewühl. Der Wirt sah ihm nach und griff sich an den Kopf: »Olala …!« Dann goß er, bevor er ging, Susan noch einen Cognac ein und genoß wieder ihr dankbares Lächeln. Susan trank aus, diesmal in hastigen, kleinen Schlucken. Dann versuchte sie mit ihrem Kind im Arm aufzustehen, griff nach dem gelben Kuvert, nach Tasche und Jacke und folgte Steve auf die andere Seite. In London wäre jetzt der Verkehr zusammengebrochen. Selbst rote, doppelstöckige Busse hätten angehalten: Mutter mit Kind auf dem Arm kreuzt die Fahrbahn. In Marseille hatte es dagegen den Anschein, als machten die Fahrer aller Klassen Jagd auf unschuldige Passanten. Und 152
Mütter mit Kindern schienen bei diesem Spiel eine besonders hohe Punktzahl zu bringen. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »30. August. Seit wir Sizilien umrundet haben, laufen wir ostwärts mit 110° parallel zur libyschen Küste. Wieso? Und wohin? In den Ladepapieren, die offen auf dem Schreibtisch des Zweiten Offiziers herumlagen, steht als Bestimmungshafen: Charleston, South Carolina, USA. Der Empfänger: Savannah-River-Nuclear-Plant. Der ›Carrier‹ ist: Intranspeed, New York. Aber wir fahren nicht nach Westen, nicht in die USA, nicht nach Charle ston. Wir fahren nach Osten. Und über das wahre Ziel klärt uns keiner auf.«
28 Steve streckte stolz seinen Daumen nach oben – eine Geste des Erfolgs! Er hatte offenbar gute Neuigkeiten. Mit dem Fuß hielt er die Tür der Telefonzelle offen, um in der Hitze nicht zu ersticken, und warf in regelmäßigen Abständen Münzen ein. Auf das optimistische Zeichen hin nickte Susan nur, müde und desinteressiert. Sie hörte ohnehin nicht, was gesprochen wurde. Der chaotische Straßenverkehr hinter ihr verschluckte jedes Wort. Sie setzte sich, mit der noch immer schlafenden Julia im Arm, auf eine der Bänke der Hafenpromenade und wartete. Es war ihr gleichgültig, was dieser Cooper zu sa 153
gen oder vorzuschlagen hatte. Ihr Entschluß, nach London zurückzureisen, stand fest. Diese Ruth in der Normandie hatte sicher recht: Wenn David an Bord der »Stella Polaris« war – und trotz des Vorfalls in dieser Garage wollte sie daran nicht zweifeln –, dann war es sinnlos für sie, hier in Marseille herumzuhocken. Sinnlos und gefähr lich. Denn wo sollte Dave sie suchen, mit ihr Verbindung aufnehmen, wenn es ihm ein zweites Mal gelingen sollte, von Bord zu fliehen? Sie wollte nach Hause. Und sie registrierte die freudige Miene Steves, der hin und wieder zu ihr herüberlächelte, mit Unbehagen. Als sie sich zurücklehnte, saß hinter ihr, auf der anderen Seite der Doppelbank, eine Frau. Susan irritierte das nicht weiter. Aber dann hörte sie eine leise Stimme dicht an ihrem Ohr, eine Stimme, die sie kannte, und Susan hielt für Sekunden den Atem an. »Sie sind unvorsichtig, Susan Galloway!« Susan wandte sich um. Die Frau, die hinter ihr saß, nur durch die hohe Lehne der Bank von ihr getrennt, trug ihre schwarzen Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Die dicken Gläser ihrer dunklen Hornbrille vergrößerten ihre Pupillen auf unnatürliche Weise. Und sie sprach mit einem seltsamen, fremdlän dischen Akzent. »Ich hatte Ihnen doch geraten, nach Hause zu fahren! Bleiben Sie in London, warten Sie dort und beten Sie für die glückliche Heimkehr Ihres neugierigen Gefährten …!« Die Frau schien die Überraschung in Susans Gesicht zu 154
genießen. Aber es war nicht nur Überraschung, es waren auch Entsetzen und Furcht. Susan ahnte plötzlich Zusam menhänge, sah deutlich eine gefährliche Verknüpfung, die im Augenblick noch nicht zu beweisen und zu begreifen war. Sie schaute hinüber zu Steve, aber der hatte sich abgewandt, stand mit dem Rücken zu ihr, immer noch den Hörer des Telefons am Ohr. Da fuhr die Frau fort, leise auf Susan einzureden, in ihrer freundlichen, fast mütterlichen Art, und ihre Worte ließen Susan frösteln. »Ein Journalist also an Bord der ›Stella Polaris‹. Wir haben es natürlich schon lange geahnt und entsprechend gehandelt! Aber wir sind Ihnen trotzdem zu Dank ver pflichtet für diese wichtige und nunmehr auch authenti sche Information. Andererseits: Sie haben heute erlebt, was alles passieren kann, wenn man sich unnötig in Gefahr begibt! Wenn man sich in Dinge einmischt, die einen besser nicht interessieren sollten!« Susan war immer noch wie gelähmt, war starr vor Entsetzen und stumm. Das Gesicht der Frau war nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt, war aufge taucht aus dem Nichts. Und als Susan sich endlich eini germaßen gefaßt hatte, um ihrerseits Fragen zu stellen, die Frage etwa nach den Zusammenhängen, die Frage nach Dave, nach dem Schiff, nach dem Attentat auf sie in dieser Garage, da war es bereits zu spät. Die Frau war aufge standen. Und bevor sie sich abwandte, sagte sie noch leichthin, denn es sollte keinesfalls wie eine Drohung klingen: 155
»Susan Galloway, denken Sie bei allem, was Sie tun, vor allem an Ihr Kind!« Sie ging grußlos, ohne Susan noch einen Blick zu gön nen. Ohne sich noch weiter an ihrem Schock zu weiden. Sie trat zu einem bereitstehenden Wagen, einem anthra zitgrauen Citroen Pallas mit einer überlangen Antenne. Der parkte in der zweiten Reihe mit laufendem Motor. Die Scheiben waren getönt, aber die Tür zum Fond stand offen. Susan erkannte am Steuer einen chinesischen Fah rer, der dieser Frau, als sie einstieg, devot entgegenblickte. Und sie sah auch noch ihre eigenen Fußspuren auf der Motorhaube. Der Fahrer hatte sich nicht die Mühe gemacht, nicht die Zeit genommen, sie zu entfernen. Erst jetzt wurde ihr klar, daß dieser Wagen sie schon seit dem frühen Morgen verfolgt hatte. Und sie war naiv gewesen. Und harmlos. Und unendlich dumm! Der Citroen setzte sich rasch in Bewegung und ver schwand im dichten Verkehr. Da war Julia wieder einmal aufgewacht. Sie blinzelte unter Steves Hut heraus in die Sonne und fragte: »War das die Tante Ruth?« Susan blickte immer noch dem Wagen hinterher und reagierte nicht. »Warum ist sie weggelaufen?« wollte Julia wissen. »Sie hatte … glaube ich … keine Zeit!« Susan sagte das wie im Traum. »Warum hast du mich nicht gleich aufgeweckt?« In Julias Stimme lag ein Vorwurf. »Du warst so müde. Hast kaum geschlafen letzte Nacht 156
während dieser langen Fahrt. Hast immer wieder geredet und gesungen und gespielt.« »Was hat sie gesagt, die Tante Ruth?« »Daß es Daddy gut geht … Und daß wir nach Hause fahren sollen!« Sie war froh, daß Steve in diesem Augenblick sein Ge spräch mit London beendet hatte und aus der Zelle trat. Sie hätte Julia nur schwer erklären können, wieso Tante Ruth etwas über ihren Daddy wußte. Steve war aufgekratzt und bester Laune. »Cooper hilft uns!« rief er schon von weitem. »Es ist alles okay: Er bezahlt unsere Flüge nach New York! Sein Partner erwartet uns dort! Und NEWS übernimmt alle Spesen. Aber dafür will Cooper auch etwas haben …« Er ließ sich neben Susan auf die Bank fallen. Aber die unterbrach seinen begeisterten Redefluß, noch bevor er ihr Coopers Forderungen mitteilen konnte. »Die Frau aus der Normandie war hier! Gerade eben!« Steve blickte Susan verdutzt an: »Welche Frau? Tante Ruth?!« Susan nickte, noch immer verstört durch diese für sie so unheimliche und erschreckende Begegnung. »Sie hat mich gewarnt! Ein zweites Mal! Ich soll nach London fahren. Und dort auf David warten!« Steve reagierte zuerst völlig verständnislos. »Was hat diese Ruth mit der Sache zu tun? Und mit Dave?« »Eine ganze Menge …«, sagte Susan leise. Und dann wiederholte sie es: »Eine ganze Menge … wie es 157
scheint …!« »Merkwürdig …!« Steve war nachdenklich geworden. Aber dann wischte er alle Bedenken und Überlegungen beiseite: »Na, schön! Hat sie eben damit zu tun! Aber, Susan, hast du überhaupt zugehört?« Er machte eine kurze Pause, schaute sie triumphierend an: »Cooper zahlt uns die Reise nach New York! Oder auch woandershin! Wo auch immer du deinen geliebten Dave suchen willst …« Susan war nicht bereit, Steves Begeisterung zu teilen: »Nein!« Sie schüttelte den Kopf, und es klang endgültig, als sie nun sagte: »Ich fahre heim! Hierzubleiben – oder nach New York zu fliegen oder wohin auch immer – das hat alles keinen Sinn!« Steve rückte näher, begann nun intensiv auf Susan einzureden, versuchte sie umzustimmen und zu überzeu gen: »Susan! Wenn’s keinen Sinn hätte, New York und so, wenn’s keine Chance mehr gäbe für dich und Dave, dann hätte diese Ruth dich nicht gewarnt! Oder? Die hat versucht, dich einzuschüchtern! Abzuschütteln! Weil du auf der richtigen Spur bist! Weil du denen gefährlich wirst! Oder zumindest lästig! Deshalb!« Er war von der Logik seiner Überlegungen und der Schlußfolgerung sehr angetan. »Also: Cooper zahlt! Aber er will die Story! Exklusiv für NEWS!« »Welche Story?« fragte Susan und schaute Steve pro vozierend an. Sie wußte längst, was da lief. Aber nun wollte sie es aus seinem Munde erfahren, präzis formuliert. 158
Und Steve tat ihr diesen Gefallen. »Junge, einsame Mutter auf der Suche nach ihrem ver schwundenen Mann, dem Vater ihres Kindes … Oder so ähnlich!« Er zitierte offenbar. Aber dann lachte er, nahm das Ganze also nicht allzu humorlos. Doch Susan blieb ernst: »Sehr peinlich und sehr dumm!« »Aber griffig!« Steve kannte Coopers Geschmack, seinen Erfolg – und vor allem seine Honorare. »Dazu kommt dann noch ein bißchen ›message‹ die Botschaft für die Intellektuellen: Kampf gegen eine un sichtbare Mafia. Das Atomkartell kommt ins Spiel! Ra dioaktiver Müll! Und das ›Wohin damit?‹. Aber in erster Linie geht es Cooper um die beteiligten Menschen! Es geht ihm um Schicksale, wie er sagte. Und den Titel hat er auch bereits: ›Reise in eine strahlende Zukunft‹!« Susan blickte Steve immer noch ungerührt, stumm und abwartend an. Also redete er einfach weiter: »Cooper sagt, wir schlie ßen eine Vereinbarung, einen regelrechten Vertrag! Zwi schen dir, mir und NEWS. Du unterschreibst, und Cooper bekommt alle Rechte. Ich liefere Fotos und Rohtext. Und wir beide machen halbe-halbe! Ist das nichts?« Susan lächelte müde und zuckte die Schultern. Und dann fragte sie: »Wieviel?« »Was ›wieviel‹?« »Wieviel Geld!« Sie reagierte plötzlich sehr sachlich, sehr geschäftsmäßig: »Was zahlt Cooper für diese ›Story‹?« Und erst nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Ich will wissen, 159
was ich verliere, wenn ich jetzt nein sage!« Steve war fassungslos: »Susan! Du bist verrückt! Da finanziert dir einer eine Reise, egal wohin, die Suche nach deinem Dave. Und dann zahlt er dir noch eine … was weiß ich … eine fünfstellige Summe …« Er brach ab und hatte das Gefühl, mit diesen Andeutungen das Coopersche Angebot interessant genug verkauft zu haben. Aber Susan sah Steve nicht an, wandte sich ab, schaute hinüber zum Hafen, zu diesem Wald aus tausend Masten und den alten Häusern auf der anderen Seite des Wassers. Zu der bizarren Kirche hoch auf dem Berg mit der goldenen Madonna und den massigen Wehrtürmen der Festung. »Ich bin müde!« bekannte sie schließlich. »Unendlich müde …!« Und viel später fügte sie noch leise hinzu: »Und ich habe Angst!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »31. August. Gegen Mitternacht fuhren wir eine gute Stunde mit halber Kraft. Da tauchte schließlich ein Pa trouillenboot mit arabischer Aufschrift neben uns auf, ging längsseits, und drei Männer kamen über die Lotsen leiter an Bord: zwei Schwarzuniformierte und ein Bürokratentyp in Zivil. Blauer Anzug, schwarze Krawatte und Aktenkoffer. Der Kapitän und der Eins-O begrüßten die späten Gäste persönlich an Deck, wo die hohen Herrn sonst nie zu finden sind, auf arabisch. Sehr überraschend, weil sie bisher ausschließlich Englisch sprachen. 160
Das Patrouillenboot legte ab und die Herren blieben und bezogen die Lotsenkammer. Werde versuchen, die drei irgendwann ins Bild zu bekommen.«
29 Sie hätte nicht in dieser Stadt bleiben dürfen! Ein einziger Tag wie dieser war genug! Und nun noch eine ganze Nacht. Eine schlaflose Nacht. Trotz dieser abgrundtiefen Erschöpfung. Trotz dieser Angst. Oder vielleicht auch gerade deshalb. Susan hatte die Tür zu diesem kleinen Hotelzimmer mit Möbelstücken verbarrikadiert. Dann hatte sie am Fenster gesessen und hinausgesehen. Stunde um Stunde, auf den kleinen, romantischen, nächtlichen Alten Hafen, den breiten Quai und auf die Menschen dort unten, die ihn belebten: Touristen, Drop-outs, Matrosen, Fischer und Taschendiebe. Sie hatte das Licht im Zimmer gelöscht und die beiden Läden nur einen Spaltbreit geöffnet. Sie wollte unsichtbar bleiben und alles sehen! Julia lag hinter ihr, quer über dem breiten Bett mit der durchgelegenen Matratze, Sarah im Arm, schlief und schlief bis weit in den Morgen hinein. Der kam ganz überraschend, ganz unerwartet für Susan. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die Straßen hatten sich zu keiner Minute in dieser Nacht geleert, immer waren Menschen unterwegs gewesen, hatten herumgesessen, geschwätzt, gesungen und gelacht, die Kette der Fahrzeuge war nicht abgerissen, der heraufbrandende Straßenlärm, überlagert 161
von den Sirenen der Ambulanzen, der Feuerwehren und der Streifenwagen der Polizei, die die ganze Nacht über diese unruhige Stadt durchquerten, nicht geringer gewor den. Und plötzlich war da ein heller Schimmer, ein Himmel, grau und mit schweren Wolken, die sich violett färbten, blutrot, gelb, und sich dann im Morgenwind verflüch tigten. Aus dem Dunst tauchte eine unwirkliche, matte Sonne, ein bleicher Ballon auf, der zu schwach war, um Schatten zu werfen, aber doch stark genug, um Susan zu blenden. Es war endgültig Tag geworden. Nun konnte Susan von ihrem Fenster aus die ganze Straße, den ganzen langen Quai du Port überblicken, bis hinunter zu dem kleinen Cafe mit der blauen Markise: »Barracuda«, keine dreihundert Schritte entfernt. Nach diesen dreihundert Schritten hatte Susan das alte, male risch vergammelte Hotel gefunden: »Hotel Belvue«, am Ende des Hafens. Gestern nachmittag. Und sie hatte ent schieden, dort zu bleiben. »Une chambre du jour?« hatte der alte Portier Steve gefragt, ein »Tageszimmer«, während er einen Schlüssel vom Haken nahm, und er hatte wissend dabei gelächelt. Denn es war ja noch zu früh für eine Nacht. »Nein«, rief Susan aus dem winzigen Vestibül und kam vor zur Rezeption: »Wir bleiben bis morgen. Mein Kind und ich sind müde!« Und die plötzliche Anwesenheit von Julia an Susans Hand hatte den alten Portier mit seiner Menschenkenntnis etwas verwirrt. »Und wir brauchen zwei Zimmer, nicht nur eines!« 162
korrigierte Susan, als der Portier Steve den Schlüssel über reichte. »Eines für mich und meine Tochter. Und eines für den Monsieur.« Der alte Portier nickte nur noch und nahm einen zwei ten Schlüssel vom Brett. »Die Zimmer haben eine Verbin dungstür«, verriet er. Normalerweise stieg mit Informati onen dieser Art das Trinkgeld. »Ich fürchte, das wird nicht nötig sein«, resignierte Steve und begann den Aufstieg. »Vierter Stock!« rief der Portier ihm noch nach. Und als Susan noch zögerte, fügte er hinzu: »Wir haben leider keinen Lift!« Für Julia und für sich hatte Susan eine Pizza kommen lassen und sich dann eingeschlossen, für den Rest des Nachmittags, für den Abend und die Nacht. Und Steve war ihrer Beschreibung gefolgt und hatte ihr kleines, gelbes Auto gesucht und, wie er ihr später berichtete, auch gefunden. Ohne Angst und Schrecken. Und ohne Bedro hung. In einer fast leeren Garage, mit zerborstener Scheibe und leerer Batterie. Ein Kurzschluß. Morgen früh würde der behoben sein, hieß es in der Werkstatt gegenüber. Und eine neue Frontscheibe sei schon auf dem Weg. Was also stimmte an Susans Horrorgeschichte? Wo lag die Wahrheit? Bei dem uralten Parkwächter, der nun schon fünfunddreißig Francs verlangte und sich das Mal heur mit der Scheibe nicht erklären konnte? Spannungen im Glas? Ein unsichtbarer Sprung? Ein Stein und spielende Kinder? Wie auf dem Parkschein deutlich vermerkt, lehnte der Eigentümer der Garage jegliche Haftung ab. 163
Das war alles! Wo also lag, bitte, das Problem? Glaubte Steve ihr nicht? War sie verrückt? Paranoid? Litt sie bereits unter Halluzinationen? Susan nickte nur nach Steves sachlichem, emotions losem Bericht und sah ihm nach, wie er die steile Treppe des Hotels wieder nach unten stieg. Er wolle noch etwas Spazierengehen, sagte er, noch etwas trinken, vielleicht sich amüsieren nach diesem für ihn so anstrengenden Tag. Aber Steve war nicht untätig geblieben. Zusätzlich zu dem eingeplanten Amüsement hatte er über die Telefon auskunft die Anschrift der »Intranspeed Inc.« in New York ermitteln lassen: »Suite 4701 bis 4704, World Trade Center, 47. Stock.« Keine schlechte Adresse also. Obskure Firmen mit schlechten Adressen hätten auch wenig Aussicht auf Erfolg, besonders in New York, sagte sich Steve. Und die Vertretung von Pat Coopers »NEWS« Agentur lag an der Fifth Avenue, im Rockefeller Center. Die beste Lage Manhattans. Galt für NEWS, was die Adresse betraf, das gleiche? Und nun war also die Nacht vorbei. Kein Grund mehr, sich vor Alpträumen zu fürchten. Alles war aufgeklärt worden. Der Horror hatte sich verflüchtigt. Aber trotzdem steckte in Susan die Angst, weniger die Angst um sich selbst – sie hatte bewiesen, daß sie überleben konnte – als vielmehr die Angst um Dave und um Julie. Das Frühstück kam, und Julia schlief immer noch. Steve war bereits unterwegs zum Hauptpostamt, um das Geld abzuholen, das Cooper telegrafisch überwiesen hatte. Anschließend hatte er vor, die Tickets nach New York zu 164
besorgen. Ab Nizza ging täglich ein Flug der PAN AM. Und Susan blieb im Hotel, stand weiterhin am Fenster, beobachtete aus dem sicheren Schutz der durchbrochenen Läden, die etwas schief in den Angeln hingen, die Straße, den Platz, den Quai – und nahm zu Dutzenden, zu Hun derten verdächtige Gestalten wahr. Schließlich kam es ihr lächerlich vor. »Wartest du auf das Schiff mit Daddy?« Julia saß auf recht auf dem Bett, vielleicht schon seit einiger Zeit. Und sie beobachtete Susan – eine Silhouette vor dem gleißen den Licht, das durch die Schlitze der Fensterläden fiel. »Julie? Bist du wach?« Susan trat ans Bett, setzte sich auf die Kante. »Das Schiff mit Daddy, das kommt nicht hierher, nach Marseille. Das liegt jetzt – vielleicht – in Amerika. In New York. Das ist weit, weit weg! Ich muß dorthin, um ihm zu helfen … das heißt, um ihn zu finden. Und ihn zu holen!« Julia hörte interessiert zu, aber sie reagierte nicht. Sie wischte sich nur mit Sarahs Rüssel, der sein Plüschfell schon zum großen Teil verloren hatte, langsam über die Lippen, immer hin und her. »Ich hab’s dir gestern nicht gesagt«, fuhr Susan fort. »Aber … Du kannst da nicht mit …« »Ich weiß!« Julia verzog keine Miene. Und als Susan sie erstaunt und überrascht ansah, er klärte sie einfach: »Steve hat gesagt, wie er vorhin in der Tür stand, er kauft jetzt also die beiden Tickets. Zwei Tik kets! Nicht drei! Und ihr habt furchtbar lange darüber geredet, warum!« 165
»Ja. Steve hat das gesagt. Weil ich es so wollte. Und ich habe gedacht, du wärst längst eingeschlafen.« »Hab’ auch geschlafen! Aber ich habe alles gehört! Und ich will mit nach Amerika! Ich will mit zu Daddy!« Susan strich Julia langsam und zärtlich über das Haar und sagte dann ganz ruhig und ganz bestimmt: »Nein, Julie. Du bleibst da. Bei lieben Leuten, die gut auf dich aufpassen …« »Ich will aber mit!« »Du bleibst da! Denn wenn du vorhin alles gehört hast, was wir geredet haben, dann hast du auch verstanden, wie wir uns beide einig waren, Steve und ich. Es ist zu gefährlich für dich!« »Wenn es gefährlich für mich ist, dann ist es auch ge fährlich für dich! Dann bleibst du auch hier! Dann fliegst du auch nicht mit! Dann fliegt Steve allein!« »Ich muß dorthin, Julia … Ich muß!« Sie versuchte Julia liebevoll in den Arm zu nehmen. Aber die Kleine sperrte sich dagegen. »Und was mach’ ich … Und was macht Daddy … Wenn du totgehst dabei? Und wenn es mir bei diesen Leuten nicht gefällt? Und wie heißen die überhaupt?« »Ich weiß nicht, Julia!« bekannte Susan. »Wir müssen die Leute erst finden!« Aus den Notizen des David McGhee: »Als Antwort auf die trotz internationaler Proteste fort dauernden Atombombentests der Franzosen auf dem Mu ruroa Atoll im Südpazifik hat die australische Regierung 166
einen Exportstop von Uran nach Frankreich verfugt. Au straliens Außenminister Bill Hayden schlug vor, wenn die Versuche so harmlos seien, wie Frankreich immer be hauptet, dann könnten sie ›das verdammte Ding doch in Frankreich zünden‹.«
30 Ein Blick weit über die Stadt, über den Hafen und das Meer: die Bucht mit ihrer Kette weißer, karstiger Berge, Felseninseln mit Türmen und Festungsanlagen mit me terdicken Mauern, kleine Schiffe voller Ausflügler, Fischerund Segelboote, riesige Fähren, die nach Korsika und den großen Häfen des Mittelmeeres ausliefen und sich mit lautem Tuten freie Bahn schufen … Der Ausflug mit der schönen Aussicht war ein Geschenk für Julia von Steve, und sie war beglückt. Sie spuckte von der Brüstung einer hohen Mauer, die den weiten Vorplatz der Kirche umschloß, Pflaumenkerne hinunter auf die Dächer und wurde dabei fotografiert. Steve war unermüd lich. Er jagte Film um Film durch die Kamera. Wechselte die Schauplätze, den Hintergrund, wünschte sich mal diesen Ausdruck, mal jenen, Ernsthaftigkeit, dann wieder Lachen, Trauer, Grimassen. Und Julia spielte mit, mal braves Kind, mal Clown. Susan hatte sich längst abgewandt, hatte sich nach zwanzig oder dreißig Bildern unter Protest aus dem Schußfeld der Kamera begeben und stand seither hinter Steve. Sie fand die ganze Unternehmung lästig, peinlich 167
und überflüssig. Sie hatte, als sie die kurze vertragliche Vereinbarung unterschrieb, die Steve nach Coopers Wünschen aufgesetzt hatte, nicht geahnt, welche grotesken Formen diese »Reportage« annehmen würde. Sie waren hier herauf zum höchsten Punkt Marseilles gefahren, zur Basilika »Notre Dame de la Garde«, diesem pseudobyzantinischen Wahrzeichen der Stadt, erbaut im letzten Jahrhundert. Der kleine gelbe Mini lief auch berg auf wieder wie in seiner besten Zeit, nur war statt der Windschutzscheibe nur eine Plastikfolie aufgeklebt. Die bestellte Ersatzscheibe sollte endgültig am Abend eintref fen. Oder am nächsten Morgen. Oder irgendwann. Ver mutlich nicht mehr vor dem Abflug. Die in Susans Augen so höchst überflüssigen Fotospiele mit Julia waren nicht der einzige Grund, diese von Pilgern überlaufene Wallfahrtsstätte aufzusuchen. Susan hatte in der Sakristei um ein Gespräch mit einem Priester nachge sucht. Sie war nicht katholisch, hatte keinerlei Bindungen mehr zu irgendeiner Konfession, aber sie hatte Vertrauen zu einer Organisation, der es gelungen war, die letzten zweitausend Jahre mehr oder weniger unbeschadet zu überleben. Es war Mittag geworden, und plötzlich lag über Grotte, Krypta, Beichtstühlen und Souvenirshop nach der eben noch herrschenden Hektik eine beklemmende Ruhe. Für eine volle Stunde. Ein junger Pater erschien, blickte sich suchend um und kam dann auf Julia und Susan zu. Und während die drei sich in ein Gespräch vertieften, umschlich Steve sie von 168
allen Seiten mit seiner Kamera. Zwei weitere Patres tauchten auf, traten zu der kleinen Gruppe, begrüßten Susan mit distanziertem, höflichem Kopfnicken und Julia durch Auflegen einer jeweils gütigen Hand aufs blonde Haar. Sie verstand nicht, was diese eigenartig gekleideten Männer mit Susan auf französisch besprachen. Aber sie wußte, daß es um sie ging, um einen Abschied irgendwann, um ein Abgeschobenwerden und um Amerika. Da überfiel sie blankes Entsetzen, sie schluchzte auf, riß sich los und rannte davon. Julia war rasch zwischen den herumwandernden Men schen verschwunden. Vor ihr öffnete sich ein großes, ho hes Tor, hinter dem Musik erklang. Sie schlüpfte hinein, lief an Pilgern vorbei, die brennende Kerzen trugen, Glasperlenketten durch die Finger gleiten ließen und Ge bete murmelten. Eine laute Männerstimme erklang, ins Unheimliche übersteigert durch Lautsprecher in allen Ecken des riesigen Raumes. Die Menge antwortete diesem lieben Gott oder wer immer es war, mit einem monotonen Singsang, Rauch stieg auf aus Gefäßen, die von Knaben in roten Röcken hin und her geschwenkt wurden. Und der Priester, der ihnen folgte und mit hocherhobenen Händen durch die Menge ging, hielt ein goldenes Gefäß in die Höhe. Daraufhin sanken alle die vielen Menschen rings um Julia auf den Boden und ihre Knie und verneigten sich tief. Nur Julia blieb stehen. Fasziniert und verwirrt. Die Gruppe mit dem Priester kam näher, immer näher. Da floh Julia wieder hinaus ins Freie, in die Sonne, und lief 169
Susan direkt in die Arme. Und beide waren sich einig, hier, bei diesen freundlichen Menschen, würde sie bestimmt nicht bleiben, auch wenn sie hier gut aufgehoben wäre. Und Steve fotografierte das glückliche Wiedersehen und dokumentierte den weisen Entschluß. Dann ging die Fahrt übers Land. Auf engen, kurven reichen Straßen durch die Provence. Zypressen und Wein, Steinmauern und Ginster. Und auf den Bergkuppen klebten wie Nester kleine graue Dörfer. In einem Steineichenwald hoch über einem Tal lag das Kloster: Mauern aus Feldsteinen, grünbemooste Ziegel und ein halbverfallener Glockenturm. Von irgendwoher hörte sie den Gesang von Kindern. Ein Abzählreim in endloser Monotonie. Steve machte sich auf die Suche nach irgendeinem An sprechpartner. Und Susan wartete mit Julia in einem ho hen, kahlen, leeren Kirchenraum. Die Sonne fiel schräg durch schmale Fenster auf einen rohbehauenen Steinaltar. Ein Kruzifix stand dort und eine einsame Blume in einer Vase. An der Wand entlang waren verstaubte Holzstühle gestapelt. Und die darüberhän genden Bilder waren in den letzten dreihundert Jahren schwarz geworden vom Ruß der Fackeln und Kerzen und die dargestellten Heiligen nur noch Schemen in der Nacht. Julia hatte soeben begonnen, auf den Platten ein neues Hüpfspiel zu erfinden, als Steve mit einer Ordensschwester eintrat. Er machte sofort wieder seine Kamera schußbereit, und Susan zog Julia zu sich her, trotz allem Widerstand. 170
»Guten Tag! Ich bin Schwester Martine«, sagte die Schwester auf englisch. Es klang sehr bemüht. »Guten Tag! Ich bin Susan Galloway.« Susan wußte nicht so recht, wie man eine Ordensschwester begrüßt, die einem mit weißer Schutenhaube und gestärktem Schulter kragen gegenübertritt: Mit Handschlag oder nur mit freundlich lächelndem Kopfnicken? Die Schwester löste dieses Dilemma – sie schob ihre Hände in die weiten Ärmel der Kutte. »Monsignore Battiste hat Sie angerufen? Ja?« fragte Susan. Eine hochoffizielle Anmeldung, so hoffte sie, würde das Vorhaben begünstigen. Die Schwester nickte eifrig, und der Schutenhut wippte mit: »Ja! Vor einer Stunde erst. Und er hat mir alles erzählt. Sie kommen aus England, ja?« Ihr Englisch war nicht ganz leicht zu verstehen. »Und das hier ist also die kleine Tochter!« Wieder lan dete eine gütige Hand auf Julias blondem Scheitel. »Sie heißt Julia. Julia, begrüß die Schwester!« Julia blieb ernst, rührte sich nicht, aber schließlich hauchte sie ein verschüchtertes »Hallo!« »Hallo!« sagte auch die Schwester. Engländern gegen über hatte das wohl so seine Richtigkeit. »Kommen Sie mit!« Sie ging voraus und die anderen folgten. Julia klammerte sich immer noch an die Hand von Susan und war fest entschlossen, sie nie wieder loszulassen. Der Gesang der Kinder war schon längere Zeit ver stummt. Sie standen jetzt alle unter der Aufsicht von zwei jüngeren Schwestern neugierig und etwas verschüchtert im 171
Hof und betrachteten mit großen Augen den angekün digten Neuzugang. Aus einem anderen Land. Mit einer anderen Sprache. Blond. In einem bunten Sommerkleid. Die Kinder, die dieses ehrwürdige, halbverfallene Ge mäuer bevölkerten, hatte man in dunkelblaue Kittelchen gesteckt. Das war praktisch und billig und hierzulande üb lich. Und Susan überlegte sich schockiert, wie Julia in we nigen Stunden im Kreis dieser Kinder aussehen würde: eingekleidet, aber unangepaßt, umsorgt und trotzdem un glücklich, umgeben von einem Dutzend Kindern und trotzdem einsam und vermutlich stumm. Aber was hätte sie sonst tun können? In ihrer Situation? In diesem Land? Sie wischte sich diskret über die Augen und übergab der Schwester die Tasche mit ein paar Kleidern. Und den Kinderpaß. Und Geld, für alle Fälle. »Wie lange bleiben Sie in Amerika?« »Nur zwei oder drei Tage«, antwortete Susan, und sie wußte, daß das kaum der Wahrheit entsprach. »Wenn es länger dauern sollte, rufe ich Sie an.« »Es wird bestimmt etwas länger dauern!« stellte Steve sehr realistisch fest, ohne seine Arbeit als Fotoreporter zu unterbrechen. Und Susan wunderte sich, wieso die Schwester keinerlei Einwendungen gegen die zahllosen Bilder machte, die Steve mit ihr schoß. Kannte sie das nicht? War es ihr gleichgültig? Ignorierte sie es einfach? »Mami sucht meinen Daddy!« mischte Julia sich nun auch noch ins Gespräch. »Was sagst du, ma petite? » Die Schwester beugte sich zu ihr herunter und wieder landete eine gütige Hand auf 172
Julias Kopf. »Mami sucht meinen Daddy!! In Amerika!!« Sie sprach nun laut und langsam und hoffte, so verstanden zu werden. Sie wurde nicht ganz verstanden. Denn die Schwester warf einen irritierten Blick auf Steve. »Dann sind Sie also nicht der Vater von dem kleinen Mädchen, nein?« »Nein!« sagte Steve grinsend und fotografierte weiter. Er war ja nun schon gewohnt, in die Rolle eines Vaters und Gatten gedrängt zu werden. »Ich bin nur der Reporter von der Zeitung!« Er schob Julia durch ein großes, offen stehendes Tor hinaus in den sonnenüberfluteten Kloster garten. Dort standen die Rosen in schönster Blüte, die Kieswege waren ordentlich geharkt und die kleinen Hecken in Form barocker Ornamente frisch geschnitten. Eine kleine, zerstampfte Ecke hatte man den Kindern zugewiesen. Dort liefen sie in ihren dunkelblauen Kittel chen im Kreis herum wie dressierte Ponys. Eine junge Schwester stand in der Mitte und klatschte mit den Hän den begeistert den Takt dazu. In dieser Umgebung fotografierte Steve nun den herz zerreißenden Abschied von Julia und Susan, von Mutter und Tochter – wie von Pat Cooper bestellt: Umarmungen und Tränen, ausgestreckte Kinderärmchen, zwei liebevolle Ordensschwestern, die die tragische Situation zu mildern suchten. Schließlich das Abschiedsbild: Julia mit den Schwestern im Tor. Sie winkt mit der einen Hand, während sie hinter 173
der anderen ihre Augen verbirgt. Irgendwann sollten diese Bilder samt der dazugehörigen Story von der NEWS-Agentur in der höchstmöglichen Auflage vertrieben, den Lesern und Betrachtern sehr zu Herzen gehen. Aus den Notizen des David McGhee:
»Zur Zeit existieren weltweit folgende Wiederaufarbei
tungsanlagen:
Savannah River, South Carolina (USA) Idaho Falls, Idaho (USA) Windscale II, Sellafield (Großbritannien) COGEMA, La Hague (Frankreich) Tokai Mura (Japan) ferner: Barnwell (USA) – Betrieb wurde nicht aufgenommen Hanford, Washington (USA) – außer Betrieb West Valley, New York (USA) – stillgelegt Zu Testzwecken wurden errichtet: Dounreay (Schottland) – Versuchsanlage Mol (Belgien) – Versuchsanlage Saluggia (Italien) – Versuchsanlage Karlsruhe (BRD) – Versuchsanlage Trombay (Indien) – Versuchsanlage Aus der Sowjetunion liegen keine Erkenntnisse über Wiederaufarbeitungsanlagen vor. Eine Anlage für 350 Tonnen Jahresdurchschnitt ist in der Bundesrepublik Deutschland in Planung und/oder im Bau (Wackersdorf). 174
Außerdem gibt es in den USA 2 spezielle Anlagen zur Herstellung von Bomben-Plutonium.«
31 »Sind Sie das erste Mal in New York?« Die clevere, blonde Person mit der frechen Stupsnase lehnte sich durch das Fenster der Fahrerkabine in dem alten Checker-Taxi; die Scheibe war zur Seite geschoben. Sie saß neben dem Fahrer, hieß Sally, wie sie gleich bei der ersten Begegnung im Flughafen mitgeteilt hatte, und war Bill Hopkins’ Sekretärin. Bill Hopkins leitete das New Yorker Büro von Coopers NEWS-Agentur, und das Taxi klomm gerade von Brooklyn herkommend die steile Anfahrt zur QueensboroBridge hinauf. »Das erste Mal in New York?« Susan, die angesprochen war, schüttelte den Kopf. »Ich habe ein halbes Jahr hier gelebt und gearbeitet. Im Auftrag des Daily Telegraph. Mein erster Job im Ausland.« Und dann bekam Susan einen Augenblick lang einen fast wehmütigen Ausdruck und fügte nach einer Pause noch hinzu: »Und damals habe ich David hier getroffen! Da liefen wir uns eines Tages beide zufällig über den Weg.« »Ach, so was Dummes!« sprudelte es aus Sally heraus, mit einem eindeutig New Yorker Jargon. Dabei meinte sie gar nicht Susans sentimentale Erinnerungen. »Und ich hab’ gedacht, ich muß euch beiden was Besonderes bieten und lass’ extra über die Brücke fahren. Riesenumweg. Statt durch den Tunnel.« 175
Susan genoß trotzdem den Blick durch die vorüber huschende Stahlkonstruktion der Brücke auf die näher kommende Skyline, auf diese gigantische, bizarre Bauka stenwelt. Sie fand New York und besonders Manhattan wieder aufregend wie beim ersten Mal damals vor sechs Jahren und hing ihren Gedanken nach. Über Manhattan lag eine schwarze Gewitterwolke, aber der Strahl einer späten Abendsonne leuchtete von New Jersey her zwischen den Türmen von Midtown hindurch und ließ die Glitzerfassaden aufflammen. Und diesmal hatte Susan sogar Verständnis für Steve, der schweigend neben ihr im Fond des Checkers saß, wo die Stahlfedern sich schon durch die plastikbezogene Sitzbank bohrten. In rasender Eile packte er sein Foto-Equipment aus und montierte ein Teleobjektiv, um dieses Schauspiel einzufan gen. »Ich hab’ euch beide im ›Wellington‹ untergebracht, Familienhotel in der Seventh Avenue, gleich hinter dem Times Square. Sollte ja nicht allzu teuer sein, hieß es. Dort seid ihr beiden auch ’n bißchen aus der Schußlinie! Ihr macht doch so ’ne Mafia-Story, oder?« »Mafia-Story?« Susan sah diese quasselnde Sally perplex an, dann schaute sie auf Steve. Aber der winkte ab, bremste Susans möglichen Einwand und fragte nun seinerseits: »Hat denn Bill Hopkins schon recherchiert?« Sally plauderte daraufhin ohne Argwohn weiter: »Ja! Und jetzt hat er schon Muffensausen! Echt die Hosen voll! Das kann ihm Cooper gar nicht bezahlen, hat er gemeint. Da bahnt sich ein Riesentrouble an. Und wenn 176
er in den reingerät …« Sie unterbrach, weil der Fahrer abbremste, und wandte sich nach vorn. Auf drei Spuren stand der Verkehr. Vor ihnen stauten sich lange Schlangen bis weit über die Brücke. Ein Ende des Staus war nicht abzusehen. »Oh, nein!« rief Sally! »Was für ein Shit! Jetzt ist wieder alles zu! Rush-hour! Wären wir bloß durch den Tunnel gefahren! Jetzt kann’s dauern!« Sie sackte in sich zusam men und verfluchte ihre gutgemeinte Sightseeing-Tour. Mit Sally waren Susan und Steve gleich nach ihrer Landung zusammengeprallt. In der stets überfüllten An kunftshalle des PAN AM-Worldport auf JFK, dem JohnF.-Kennedy-Flughafen. Nach Paßkontrolle und Zoll drängten die beiden sich durch die Menge. Und bei dem Versuch, Abstand zu ge winnen, um Susans Ankunft in New York auch entspre chend ins Bild zu bekommen, war Steve auf jene zierliche junge Dame getreten, die ohne Warnung und drei Köpfe kleiner, plötzlich hinter ihm stand. »Oh, sorry!« murmelte er. »Oh, boy, das macht doch nichts!« sagte diese und schlug ihm, nun wirklich aus Versehen, während sie ihren beim Zusammenprall verlorenen Schuh suchte, ein großes Schild auf den Kopf. »Oh, nein! Wie schrecklich!« Sie war entsetzt über ihre Ungeschicklichkeit. Steve lachte nur und setzte seinen eingebeulten Hut wieder auf. Und die junge Dame bückte sich nun auch nach ihrem verlorenen Schild. »NEWS« stand darauf, in der Susan schon bekannten, charakteristi 177
schen Antiqua-Schrift. »News?« fragte sie. »Sie kommen von dieser Agentur?« »Richtig! Ja!« Sally war überglücklich und verlor sofort wieder das Schild und den Schuh. »Dann seid ihr die beiden Engländer aus Marseille, ja?« Susan nickte und stellte sich vor. Steve gab außer seinem Namen auch noch die aktuelle Berufsbezeichnung an: »Persönlicher Fotograf!« »Fein, daß ich euch beide sofort erwischt habe! Ich bin Sally! Und warte schon ’ne halbe Stunde.« Sie war quirlig und aufgedreht, faßte beide am Arm, einen rechts und einen links, und führte sie hinaus zum Taxistand. »Und wenn ihr beide nicht zu müde seid, dann fahren wir gleich zu Bill Hopkins ins Büro.« Ja. Und nun steckten sie seit einer halben Stunde im Verkehr. Auf der Queensboro-Bridge. Und Sally hatte eine halbe Stunde lang nichts mehr zu sagen. Aus den Notizen des David McGhee: »Zur ›Entsorgung‹ von Kernkraftwerken bieten sich grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten an: Die Wiederauf arbeitung in entsprechenden hochtechnischen Anlagen, die jeweils vier bis sechs Milliarden US-Dollar kosten und die, wie die Erfahrung zeigt, mit gewissen Umweltrisiken behaftet sind. Und die direkte Endlagerung der abge brannten Brennelemente – ohne Recycling -, wobei der absolut sichere Standort für die nächsten 100000 bis 178
500000 Jahre noch gefunden werden muß. Allerdings müssen auch die hochradioaktiven und mittelaktiven Abfallstoffe des Recycling sicher gelagert werden (Verglasung/Salzstöcke etc).«
32 NEWS – stand auf dem Messingschild, groß, unüber sehbar, prominent, in der nun schon bekannten Schrift und in der Mitte der braunlackierten Tür zur Suite 1501 im fünfzehnten Stock des Rockefeller Center an der Fifth Avenue. »Hallo! Schon hier? Kommt rein!« Bill Hopkins stand in der offenen Tür und strahlte vor Lebensfreude, Sympathie und Gastfreundschaft. Das winzige Büro hinter ihm war vollgepackt mit Zeitschriften und Büchern bis hinauf zur Decke. Selbst auf den Besucherstühlen vor seinem Schreibtisch, der unter einer Tonnenlast Papier zu brechen drohte, stapelte sich Gedrucktes. »Sorry! Sally macht hier gerade etwas Ordnung. Schon seit Ostern. Und Weihnachten habe ich dann wieder den perfekten Überblick und sogar Platz auf den Stühlen für meine lieben Gäste.« Sally zog ein Gesicht und verteidigte sich mit einer ein deutigen Geste gegen jede Art von Verleumdung. Und Bill Hopkins hatte spontan eine fabelhafte Idee: »Wißt ihr was? Wir gehen raus in den Garten. Kein Telefon. Keiner hört uns. Und Sally bringt uns was zu trinken. Dabei stellt sich allerdings eine Gewissensfrage: 179
Scotch oder Kaffee?« Er wandte sich als erstes an Susan, die ihre Schüchtern heit mit Erfolg überwand: »Beides, bitte, wenn’s nichts ausmacht …!« Hopkins lachte schallend: »Das gefällt mir! Ihr Europäe rinnen werdet tatsächlich menschlicher, von Jahr zu Jahr! Und Sie?« Er blickte auf Steve, aber der winkte ab. »Nichts, danke. Höchstens einen Schluck Kaffee. Mit Scotch und ähnlichen hübschen Dingen hatte ich einige wunderliche Erfahrun gen, die ich besser vergessen möchte! Also keinen Alkohol für mich!« Hopkins nickte ihm zu: »Das finde ich tapfer. Und vernünftig! Also gehen wir!« Er hatte während des Gesprächs auf seinem Schreibtisch gewühlt und einen gelben Notizblock mit der gedruckten Aufschrift »NEWS« entdeckt und eingesteckt. In die Brust tasche seines Seidenhemdes. Das Jackett ließ er hängen, wo immer es auch hängen mochte, und ging voraus, aus dem Büro hinaus und den Korridor hinunter zu einer Glastür, die ins Freie führte. »Hier geht’s lang! Kommt mit!« Auf vier Seiten beherrscht von den schwindelerregenden Fassaden Midtowns lag vor ihnen eine gepflegte Dachter rasse, bepflanzt mit einer Art Miniaturausgabe des Parks von Versailles, putzig und adrett, und garniert mit klassi schen Gipsfiguren auf echten Marmorsockeln und mit weißlackierten gußeisernen Parkbänken. Die schwarze Wolke hing immer noch über der Stadt, 180
und Sturmböen pfiffen durch die Häuserschluchten. Aber Bill Hopkins irritierte das nicht weiter. Er ging voraus durch den kleinen Park bis an die Brüstung. Fünfzehn Stockwerke tiefer, in der Fifth Avenue, flammten bereits die ersten Lichter auf. Bill Hopkins wandte sich nach einem kurzen Blick auf das drohende Wettergeschehen, das ihn seltsam heiter zu stimmen schien, wieder seinen Gästen zu. »Also, machen wir’s kurz: Ich bin Bill, Bill Hopkins. Sie sind Susan, nehme ich an, Susan Galloway? Und Sie sind …??« Er blickte abwartend auf Steve, der sich nun seinerseits vorstellte. »Steve Lensky. Wir trafen uns im Haus von Pat Cooper in London. Vor drei Jahren. Ich habe dort gearbeitet!« Bill Hopkins versuchte sich zu erinnern, zuckte dann jedoch, da das Nachdenken anscheinend erfolglos blieb, entschuldigend die Schultern. »Keine Ahnung mehr! Tut mir leid!« Er lachte, setzte sich auf eine der Parkbänke, zeigte wortlos auf die gegenüberstehende, in der Hoffnung, daß seine Gäste endlich Platz nehmen würden. Susan begann nach einer Pause: »Mister Hopkins …!« Aber der korrigierte sie sofort: »Bill! Ich heiße Bill! Wir haben nicht viel Zeit! Sie beide werden müde sein. In Europa ist es schon Mitternacht. Machen wir’s, wie ich schon sagte, kurz: Ich bin Bill, sie sind Susan! Okay?« »Okay, Bill! also: Sally, Ihre Sekretärin, meinte, wir ließen uns hier auf eine Art Mafia-Story ein! Sie wissen ja, Cooper hat es Ihnen sicher gesagt, es geht um David, 181
meinen Mann. Und jetzt höre ich: Sie selbst haben bereits kalte Füße … oder so ähnlich …!« »Sagt Sally?« fragte Hopkins. »Ja? Okay: Sally ist eine liebenswerte dumme Kuh, das weiß sie selbst, aber sie ist auch extrem tüchtig. Lassen wir sie also besser aus dem Spiel!« Sally tauchte gerade zwischen den Gipsfiguren auf, jonglierte ein Tablett mit einer Thermoskanne voll Kaffee, einer Flasche mit Scotch, Eis, Soda, Gläsern und Tassen, und stellte das alles zwischen den beiden Bänken auf den Boden ins kunstvoll gepflegte Gras. »Sally, Schatz! Fabelhaft! Danke! Gieß der jungen engli schen Lady einen ordentlichen Scotch ins Glas und Kaffee für uns alle und dann geh nach Hause.« Sally war zutiefst enttäuscht. »Kann ich nichts mehr für dich tun, Bill? Ich bleib’ wirklich gern.« »Nichts mehr, Sally-Mädchen! Es ist spät, und es wird gleich ein Unwetter geben, und dann bekommst du in ganz Manhattan kein Taxi mehr! Morgen wieder! Ich er zähl’ dir auch alles haargenau, alles, was hier los war. Du versäumst nichts! Also dann: Bye, bye …!« Sie hatte eingegossen, die Tassen verteilt und Susan das Glas mit dem Scotch in die Hand gedrückt. Immer noch stand sie unschlüssig herum. »Bye, bye, Sally! Bis morgen!« wiederholte Hopkins, und diesmal war es keine sanfte Aufforderung, es war ein Hinauswurf. »Also dann, ihr Lieben: Bye, bye! Und noch viel Spaß!« Sally hatte also verstanden, winkte noch einmal kokett in 182
die Runde und verschwand dann zwischen den gestutzten Ligusterhecken und dem klassischen Gips. Hopkins wartete noch, bis sie gegangen war, dann zog er den gelben Notizblock aus seiner Tasche, blätterte ihn auf und begann seinen Vortrag mit viel Energie und Tempo. Er war gewohnt, daß Zeit in dieser Stadt zuerst einmal Geld bedeutet, und daß man die Geduld seiner Zuhörer niemals strapazieren darf. »Also, wie gesagt: machen wir’s kurz!: ›Stella Polaris‹, ein ehemals japanisches Bulk-Schiff für Schüttladungen, Ei senerz, Kohle et cetera, ist umgerüstet worden für Spezial transporte. Erst in Liverpool, dann in Marseille. Aber da war es eigentlich schon auf seiner großen Reise und vollbe laden. Nun erhielt es also noch Kran und große Wasser becken auf dem Achterschiff, wurde verkauft, neu regi striert, gechartert von einem Broker in Marseille, weiter verchartert, läuft seither in Zeitcharter für INTRANSPEED NEW YORK und wurde schließlich noch einmal unterver chartert an SAN CLEMENTE S. A. in Panama. INTRANSPEED wie auch SAN CLEMENTE sind beides SpezialtransportUnternehmen für gefährliche Güter, wie das heute offiziell und etwas harmlos heißt. Jede dieser genannten Firmen handelt nur ›im Auftrag‹. Aber in wessen Auftrag? Da gibt es Makler für Ladung und Schiff, Befrachter und Unterbe frachter, Spediteure, Broker und Akquisiteure, und alle halten die Hand auf, aber keiner ist zuständig, keiner ist verantwortlich, keiner weiß letzten Endes etwas, wenn man ihn fragt, wer eigentlich dahintersteckt, wem die La dung gehört, wer sie später übernimmt, wo das Schiff end 183
gültig vor Anker gehen wird, nachdem es offenbar in Liverpool und Cherbourg und Gott weiß wo seine heiße Ladung eingesammelt hat. Das Ganze ist geschickt und clever aufgebaut als ein undurchschaubares Geflecht der Verwirrung! Und da kommt eine schöne junge Frau wie Sie, Susan, und fragt mich allen Ernstes: Wo, bitte, ist mein geliebter Mann abgeblieben?!« Er klappte seinen Notiz block wieder zu und steckte ihn ein. »Ja, das war’s auch schon! Sehr viel mehr kann man in zwei Tagen nicht recherchieren, wenn es um den Trans port von gefährlichen Gütern geht!« Hopkins lehnte sich zurück, trank seinen Kaffee und beobachtete mit wach sendem Mißtrauen Steves Aktivitäten. Der hatte sein Kamera-Equipment aus seiner olivgrünen Fototasche genommen, das Blitzgerät montiert, und schickte sich nun an, Hopkins und Susan gemeinsam ins Bild zu bekommen. Aber da winkte Hopkins ärgerlich und sehr entschieden ab: »Steve! Hör zu! Ich bin euch und Cooper gern behilflich. Aber wenn das ohne Ärger geht, ist mir das wesentlich lieber!« Da beugte Susan sich vor und schaute Hopkins fragend an: »Ist David … Ist mein Mann noch am Leben? Ist er tatsächlich noch an Bord? David McGhee …?« »Ich weiß nichts! Wie ich schon sagte: Nicht, wo das Schiff sich befindet. Nicht, wem die Ladung jetzt wirklich gehört und wohin sie befördert werden soll.« Er nahm seine Tasse wieder zur Hand und rührte nachdenklich mit 184
einem Plastiklöffel in seinem schwarzen Kaffee. »Ich weiß nur, was für Ladungen dieser Art bezahlt wird. Oder besser: kassiert wird! Dafür, daß man sie weg schafft! Pro Kilo eintausendfünfhundert Dollar! Pro Kilo! Und das ist noch ein absoluter Discountpreis. Die beiden Finnen in Frankreich und England, die sich ebenfalls in dieser Art Geschäft betätigen, nehmen zweitausendfünf hundert.« Wieder rührte er langsam um, dann trank er aus. Und dann warf er wieder einen Blick in seine Notizen: »So weit, so schön. Abschließend noch eine kleine Mel dung: An Bord der ›Stella Polaris‹ befinden sich, so viel ist sicher, etwa siebenhundertfünfzig Tonnen von diesem heißen Stoff. Das bringt – hochgerechnet – einen Betrag knapp über eine Milliarde. Eine Milliarde Dollar! Eintau send Millionen! Noch irgendwelche Fragen?« Aus den Notizen des David McGhee: »Jede Wiederaufarbeitungsanlage, ohne Ausnahme, die hochabgebrannten Brennstoff aus Kernkraftwerken verar beitet, hatte bisher Probleme mit dem Ablauf des chemi schen Prozesses. Diese Probleme konzentrieren sich auf die Auflöser, in denen die zerschnittenen, abgebrannten Brennelemente in heißer konzentrierter Salpetersäure zer setzt werden. Es kam unter anderem immer wieder zu unerklärlichen Reaktionen, zu Ablagerungen und Korro sion und dadurch zu Leckagen, Betriebsstörungen und zur Kontaminierung der Betriebsräume, Abflußleitungen, Lüftungssysteme und vor allem der Beschäftigten selbst.« 185
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Hopkins wartete etwaige Fragen seiner Gäste nicht erst ab, sondern entkorkte die Flasche mit dem Scotch und goß sich einen großen Schluck in seine leere Tasse. Schwarze Wolkenwalzen begannen die oberen Stock werke der Gebäude einzuhüllen. Die prachtvollen Giebel aus der Gründerzeit verschwanden im Nichts, und Man hattan wirkte plötzlich wie ein Wald aus amputierten Stümpfen. Susan begann zögernd zu berichten: »Dave sagte bei seinem nächtlichen Anruf, er habe den Beweis für einen internationalen Skandal, und er schrie, er sei in Lebens gefahr!« Hopkins nickte. »Hat mir Pat Cooper schon am Telefon berichtet. Was das mit der Lebensgefahr zu bedeuten hat, kann ich nicht beurteilen. Aber was den ›Skandal‹ betrifft: Das Geschäft ist ganz legal. Und es ist vielen Leuten, auch europäischen Regierungen, hochwillkommen! Also erst mal: kein Grund zur Panik!« »Keine Panik!« Steve lachte, nahm die Scotch-Flasche zur Hand, betrachtete sie liebevoll, aber dann stellte er sie zur Seite und goß sich einen neuen Kaffee ein. Hopkins hatte seinen gelben Notizblock wieder zur Hand genommen und weitergeblättert: »Keine Neuigkeiten! Nur kleine Informationen aus meiner Sammlung, die wie ein Puzzle ein buntes Bild er geben könnten: Kernkraftwerke produzieren ja nicht nur Energie, sondern auch Asche: abgebrannte Brennelemente. 186
Und alles wäre so himmlisch perfekt, wenn man wüßte, wohin damit!« »Recycling!« wandte Susan ein. »Man bereitet das Material aus den Elementen wieder auf. Ich war in La Hague …!« »Sie kam bis ans Tor«, verriet Steve und grinste, »und wurde geschnappt!« »Es gibt auch in England eine Fabrik dieser Art«, refe rierte Hopkins von seinen Notizen. »Windscale-Sellafield. Eine weitere in Japan: Tokai-Mura – allerdings meist außer Betrieb. Und dann noch zwei in den USA: Savannah-River und Idaho-Falls. Schluß, aus! Keiner will das Risiko der Wiederaufarbeitung vor der eigenen Haustür! Ach ja, bevor ich es vergesse: Die Deutschen sind zur Zeit der Meinung, sie brauchten ebenfalls dringend so eine Fabrik in ihrem kleinen, übervölkerten Land. Nun ja, wenn es sie glücklich macht! Offenbar liegen dort gerade einige Milliarden Dollar frei herum und suchen interessierte Abnehmer.« »Die Erklärungen von Monsieur Robert, einem Mann der Informationsabteilung in La Hague, klangen sehr plausibel«, berichtete Susan. »Alles ist sehr einfach, sehr sicher und sehr sauber …!« »… sagt Monsieur Robert!« Hopkins lächelte, als wolle er sich schon vorab für die nun folgenden Belehrungen entschuldigen: »Nein, Wiederaufarbeitung ist gar nicht sehr einfach und letzten Endes höchst riskant! Dafür gibt es Beweise und im Fall Windscale eine lange Liste brisanter Störfälle 187
mit evakuierter Bevölkerung und kontaminierten Arbei tern! Diese Form von Recycling ist nämlich nicht nur teuer, sondern auch ›schmutzig‹, weil am Schluß immer noch drei bis fünf Prozent hochradioaktiver Abfälle übrig bleiben, die irgendwie beseitigt werden müssen. Und die bei Störfällen auch mal in die Umgebung entweichen.« Susan blickte irritiert nach oben, wo sich mit einem dumpfen Donner ein Blitz entladen hatte, irgendwo zwi schen den von den Wolken verschluckten Wolkenkratzern. Und das Echo rollte weiter über diese Stadt, brach sich zwischen den Gebäudezeilen und rollte wieder zurück. Aber noch sah Hopkins keinen Anlaß, mit seinen Gästen die Flucht zu ergreifen. »Jetzt sind sich die Spezialisten nicht einig«, fuhr Hop kins fort, »ob man diesen gefährlich strahlenden Restmüll für die nächsten dreihunderttausend Jahre im Meeres boden versenken oder, zum Beispiel in Glas eingegossen, in aufgelassenen Salzbergwerken deponieren soll, gewisser maßen als hübsches und gar nicht sehr kleines Geschenk an die Urururenkel unserer Kindeskinder?« Dämmerung fiel auf Manhattan, ganz plötzlich und unvermittelt, und die Windböen, die durch die Straßen schluchten jagten, die Staub und Papierfetzen bis hier herauf zum fünfzehnten Stock hochwirbelten, nahmen zu. »Und verdammt teuer, um nicht zu sagen unwirt schaftlich, ist diese Wiederaufbereitung auch!« Hopkins blickte wieder in seine Notizen: »Neue Brennelemente aus Natur-Uran sind acht- bis zwölfmal billiger als diese Recycling-Elemente. Zumindest im Augenblick noch, wo 188
das Kilo Natur-Uran nur vierzig bis einhundertzwanzig Dollar kostet und für die nächsten einhundertfünfzig Jahre genügend Vorrat leicht abbaubar vorhanden ist. Aber was heißt hier schon ›unwirtschaftlich‹, wenn an dieser Methode sehr viele Leute sehr viel Geld verdienen, das andere ungefragt bezahlen müssen, nämlich die Strom kunden?! Und damit sind wir also wieder beim Profit.« Er blätterte erneut in seinen Notizen. »Viertausend Tonnen abgebrannter Brennstäbe – das nennt sich ›Entsorgungsgut‹ – liegen allein in Europa auf Halde. Wenn sich kein Abnehmer anbietet, wenn sich keine vernünftige Lösung findet, diese Menge abzubauen oder sicher und sinnvoll zu lagern, dann droht den Kern kraftwerken in Schweden, in der Schweiz, in den Nieder landen, in der Bundesrepublik Deutschland und so weiter die Stillegung. Sie werden abgeschaltet! Denn laut Gesetz muß die Entsorgung gesichert sein! Also: wer diesen Schrott abnimmt und dafür bürgt, ihn aufzuarbeiten oder sicher zu lagern, der erhält pro Kilo die erwähnten eintausendfünfhundert Dollar. Wenn der Handel mit den 4000 Tonnen komplett abgewickelt ist, dann haben sechs Milliarden Dollar ihren Besitzer gewechselt! Und jedes Jahr kommen noch einmal mindestens tausend Tonnen neu hinzu! Bringt wiederum einskommafünf Milliarden. Und wer naiv genug ist, bei diesen Summen ›Skandal‹ zu schreien und dabei zu Schaden kommt, dem ist nicht zu helfen!« Hopkins riß die engbeschriebenen gelben Notizzettel von seinem Block, zerfetzte sie in kleinste Schnitzel und 189
ließ sie mit dem Wind davonflattern. Hinunter in Man hattans feine Fifth Avenue. Aus den Notizen des David McGhee: »Die inzwischen stillgelegten Wiederaufarbeitungsanla gen waren im Durchschnitt nur sechs Jahre im Betrieb. Ihr Abbruch wirft bisher ungelöste Probleme auf. Eine sichere ›Endlagerung‹ des radioaktiv verseuchten Bauma terials – in dieser Größenordnung und Menge – ist bisher in keiner Studie auch nur im Ansatz diskutiert worden. Wiederaufarbeitung schafft also mehr Probleme, als sie zu lösen erhofft.«
34 Für Bruchteile einer Sekunde tauchte ein Wetterleuchten Manhattan und die drei Menschen auf ihrer Dachterrasse in gleißendes, kaltes Licht. Der nachfolgende Donner ließ den Boden erzittern, und die Stein- und Glastürme warfen ein vielfältiges Echo zurück. Dann folgte ein Augenblick bedrückender Stille. Unten in der Fifth Avenue spiegelten sich die Scheinwerfer und Rücklichter der Wagenkolonnen in dem abgefahrenen, glatt-geschliffenen Asphalt. Dann wehte das Brodeln wieder herauf, bis zu diesem fünfzehnten Stock, das Tosen des Verkehrs, das Heulen und Jaulen der Streifenwagen und der Feuerwehren. Über ihnen, in den zehntausend Fenstern, brannten nun die Lichter. Eine Sternenlose Nacht war über die Stadt gefallen und erstickte sie mit einem plötzlich einsetzenden 190
Sprühregen. »Ja, es wird ungemütlich! Wir sollten hineingehen und das Ganze vergessen!« Hopkins griff nach dem Scotch und den Gläsern. Steve schützte seine Fototasche, und Susan folgte den beiden flüchtenden Männern mit dem Tablett. Über Rasen und Kieswege, zwischen Parknippes und der Andeutung französischer Gartenarchitektur Ludwigs des Vierzehnten, erreichten sie schließlich, mittlerweile schon leicht angeregt, die Glastür zum Inneren des Gebäudes. Hopkins schloß sein Büro auf und machte Licht. Und da die Stühle noch immer alle belegt waren, blieben er und seine Gäste eben zwischen Bücherregalen und Zei tungsstapeln stehen. Denn Hopkins nahm zu Recht an, daß die Exkursion in einen höchst umstrittenen Seiten zweig der Welt-Energiewirtschaft vor ihm abschließend und ausführlich behandelt worden sei. Da nahm Susan ein gelbes Kuvert aus ihrer Umhänge tasche, öffnete es und zeigte Hopkins Fotos von Dave. Sie legte sie ihm einfach auf den vollgepackten Schreibtisch, auf Zeitungsausschnitte und Manuskripte. Vier Männer vor Containern. Ein Mann vor einem Schiff im Dock. »Das hier ist Dave …« Sie zeigte auf ihn und ließ Bill Hopkins Zeit. Der nahm seine Brille, die irgendwo ver graben war, und sah sich den Gesuchten an. »Er ist in Lebensgefahr!« fügte sie noch hinzu. »Und das hier ist Julie, seine kleine Tochter.« Sie legte kleine, bunte Kinderbilder dazu, die sie aus ihrer Brieftasche nahm. »Ich muß ihn finden! Bitte, helfen Sie mir!« Sie senkte den Blick, presste die Lippen zusammen und 191
wandte sich ab. Sie ging zum Fenster. Aber sie blickte nicht hinaus in diese Gewitternacht, sie hielt die Hand vor ihre Augen. Hopkins betrachtete sie nachdenklich. Auch die Bilder. Dann nahm er seine Brille ab und vergrub sie wieder unter dem Papier dort, wo er sie gefunden hatte. »Tut mir leid, daß ich keine bessere Nachricht für Sie habe, Susan! Das, was ich Ihnen heute abend erzählt habe, das war’s auch schon. Mehr weiß ich nicht. Und zu mehr bin ich auch nicht bereit!« Er setzte sich. Sein eigener Stuhl war von aufgestapel tem, bedrucktem Papier verschont geblieben. »Ich habe zwar keine Familie«, fuhr Hopkins mit freundlichem Lächeln fort, »aber viele Freunde. Die mich gern haben. Und die ich wiedersehen möchte! Nicht, daß ich Schlimmstes befürchte! Nur – der Handel, von dem ich sprach, ist so legal wie der Verkauf von Waffen in Krisengebiete. Die Öffentlichkeit sagt ›pfui‹ -und dann redet keiner mehr darüber. Aber es gibt eben darüber hinaus auch Geschäfte, bei denen darf nichts! – absolut nichts!! – an die Öffentlichkeit dringen. Darüber sind sich die Beteiligten absolut einig! Sonst …« Er zog die Schultern hoch und brach ab. Steve fragte nach: »Was ,sonst’?« »Na ja …!« Hopkins hob die Hand zu einer indiffe renten Geste der Gefahr und schwieg. Er war plötzlich sehr ernst geworden. Und nachdenklich. Und er hatte ans cheinend das Gefühl, nun hätte er genug geredet. Er stand auf und trat ans Fenster. Der sanfte Gewitterregen hatte 192
sich zu einem Wolkenbruch entwickelt. Der Sturm jagte die Tropfen gegen die Scheibe, und die Blitze zuckten pausenlos, wie hinter einer Nebelwand. »Ja, also wir gehen jetzt.« Susan hatte ihre Fotos einge sammelt. »Nein. Bleibt noch. Keine Chance für ein Taxi!« sagte Hopkins, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Laßt euch Zeit! Und laßt die Finger von dieser Geschichte! Das ist keine Story für euch beide! Wenn die Lichter so schön brennen, fragt doch keiner mehr, warum und wieso! Ich hoffe nur, daß dieser David McGhee vernünftig ist und vernünftig bleibt. Und keine Dummheiten macht, aus falsch verstandenem Ehrgeiz. Oder schon gemacht hat!« Da trat Susan zu Hopkins ans Fenster. Sie konnte sein Gesicht in den Scheiben wie in einem Spiegel sehen. Im mer wieder angestrahlt durch das Wetterleuchten. »Wenn ich ihn finde … dann garantiere ich dafür … daß er vernünftig bleibt … keine Dummheiten macht … und nicht ›Skandal‹ schreit!« Sie hatte langsam gespro chen. Mit vielen Pausen. Dann schwieg sie und schaute ebenfalls hinaus in dieses Unwetter, in diese Stadt, in diese Nacht. Und Hopkins begann, ebenso leise, ebenso zögernd: »Ich hätte – unter Umständen – einen Informanten. Kommt morgen abend um die gleiche Zeit hierher in mein Büro. Vielleicht weiß ich dann mehr!« Aus dem Tagebuch des David McGhee:
»3. September. Haben gestern den Suezkanal durchfah
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ren, den großen und den kleinen Bittersee. Bei brütender Hitze! Rechts, im sandigen Dunst, die Küste Ägyptens, links, schemenhaft, Saudi-Arabien. Seit wir vor sechs Ta gen Marseille verlassen haben, arbeiten wir verbissen und hektisch daran, die beiden Wasserbecken an die geliefer ten Pumpen anzuschließen. Dafür war im Dock keine Zeit. Das alles geschieht inzwischen, ohne daß einer von uns Fragen stellt. Denn Antworten gibt es nicht.«
35 Der Regen hatte aufgehört, so rasch wie er begonnen hatte. Und das Gewitter war weitergezogen. Jetzt wetterleuchtete es nur noch ganz fern am Horizont. Susan hatte sich einen Stuhl an ihr Fenster gezogen und schaute aus der Dunkelheit ihres Hotelzimmers hinunter auf das beginnende Nachtleben New Yorks. Nachtleben? Außer endlosen Fahrzeugkolonnen war nicht viel zu sehen. Die Leuchtfassaden spiegelten sich auf den nassen Straßen. Eine Palette aller Farben, aller erdenklichen Formen, flackernd, rotierend, aufblühend. Kaskaden von Licht. Menschen waren allerdings von hier oben so gut wie nicht zu entdecken. Susan dachte an die Nacht in Marseille. Das war noch keine achtundvierzig Stunden her. Da hatte sie auch so an einem Hotelfenster gehockt. Offenbar war das ihre ganz 194
persönliche Form der Meditation. Das heimliche Beob achten von fremden Leben, das einen nichts anging, das ohne jeden Zugriff war und ohne Verpflichtung, das keinerlei Beziehung aufbaute zu einem selbst, keine Pro bleme schaffte, aber auch kein Glück vermittelte, nur »Display« war, Schaukasten, Ausstellung. Welch ein Unterschied: der nächtliche Schaukasten »Marseille«, das Gewimmel am Alten Hafen – und nun hier New York. Warum wurde sie nicht müde? In Europa war es nun schon morgens gegen zwei. Hier fuhren die Taxis vor den Broadway-Theatern vor, die fast alle in den Nebenstraßen lagen. Und die Besucher huschten in die Foyers. Im Vorraum eines dieser Theater hatte sie damals David kennengelernt. »The Chorus Line«. Das Musical stand bereits seit sechs Jahren auf dem Programm und war trotzdem auf Tage voraus ausverkauft. Sie hatte sich auf gut Glück an der Abendkasse angestellt. Vergeblich. Da stand plötzlich ein junger Mann neben ihr. Der lächelte sie an, auf eine ganz bezaubernde, schüchterne Weise, und hatte eine Karte übrig. Zufällig. Er hieß David und er verlangte vierzehn Dollar, was eine Menge Geld für sie war. Anschließend lud er sie zum Essen ein. Thailändisch. In die »Bangkok Cuisine« in der Eight Avenue. Er stammte aus Neuseeland, aus Auckland, war also ein echter »Kiwi«, und nie hatte Susan erfahren, in all diesen langen, gemeinsamen und ereignisreichen sechs Jahren, wer David an jenem Abend versetzt hatte. Er behauptete noch heute, er hätte die zweite Karte nur für sie gekauft. Für Susan. 195
»Ich wußte, daß es dich gibt. Irgendwo in New York. Und ich wußte, du würdest kommen!« Er schrieb damals in New York für Rupert Murdochs Sun. Und als das halbe Jahr vorüber war, flog er mit Susan nach London zurück und landete, noch ein Zufall, auch beim Telegraph. Dieser »Zufall« hatte Susan allerdings viel Mühe und viel Überredungskunst bei William Scott, ihrem Chef, gekostet. Das war eigentlich schon die ganze Geschichte dieser beiden. Seit jenem Abend in »Chorus Line«, das im Schubert-Theater immer noch lief, auch an diesem Abend, nun schon im zwölften Jahr, waren sie beide unzer trennlich gewesen. Sie trafen sich jeden Morgen vor der Arbeit, jeden Abend zum Essen, und, wie das eben so läuft, sehr bald auch jede Nacht. Zwei Apartments sind leider doppelt so teuer wie eines. Es wäre also einfach unwirt schaftlich gewesen, sich nicht zu verlieben. Dieser böse Kommentar stammte allerdings von William Scott, nicht von ihnen. Ja, und dann kam irgendwann Julie. Und die Jahre gingen dahin. Dave hatte seinen Job und seine Reisen. Susan hatte Mutterpflichten. Und beide waren sie fest entschlossen, demnächst, möglichst bald, wieder nach New York zu fliegen. Nur mal so. Im Urlaub. Zehn, zwölf Tage. Theater. Musical. China-Town. »Bangkok-Cuisine« – sofern sie noch existierte. Und nachsehen, wer jetzt in ihrem kleinen Apartment in der Tudor-City lebte. Nun war sie hier. In dieser Stadt. Allein. Ohne ihn. Und auf der Suche … 196
Ein plötzlicher Schock durchfuhr sie. Ihr Blutdruck stieg. Ihr Puls begann zu rasen: Es war wie neulich erst, vor wenigen Tagen, als das Telefon klingelte, nachts um zwei. Es klingelte tatsächlich. War sie eingeschlafen? Oder nur abwesend? Eingesponnen in Wachträume? Es klingelte wieder … und wieder … Schließlich stand sie auf, stolperte über einen Stuhl, fand den Apparat, an dem ein Licht rot aufleuchtete, und nahm den Hörer ab. »Ja … Hallo …!« Es war Steve. Sie war enttäuscht und erleichtert. Ja, sagte sie, sie hätte schon geschlafen. Was vielleicht nur eine halbe Lüge war. Und dann lehnte sie ab, sehr freundlich, sehr liebenswürdig, aber auch sehr bestimmt: »Nein, Steve. Danke. Keine Lust auf einen Drink. Weder auf deinem Zimmer noch hier in meinem noch unten in der Bar!« Steve fühlte sich also einsam. Und er fand, so könnte es mit ihnen beiden doch nicht weitergehen. Im Flugzeug hatte er Sekt bestellt. Zur Feier des Tages. Atlantiküber querung und so. Und weil sie sich beide nun schon etwas besser kannten. Und weil es die Stimmung hebt, wie man weiß. Da war sie nach dem ersten Glas prompt einge schlafen, zusammengerollt in ihrem Sitz, war erst kurz vor der Landung in New York wieder aufgewacht, trotz Lunch und Dinner und Film und Kopfhörer mit Musik. Und nun lag Steve auf seinem Bett, umgeben von drei oder vier Dutzend großen Fotos, schwarz-weiß, die er in Marseille noch hatte vergrößern lassen. Und das einzige 197
Motiv auf allen diesen Bildern war sie: Susan! Susan lachend. Susan weinend. Susan wütend. Susan mit ihrem bezwingenden Lächeln, das er so liebte und das sie so geschickt einzusetzen wußte: »Mit deinem bezaubernden Lächeln hast du mich ge quält so sehr! Und hast mich zugrunde gerichtet! Mein Liebchen, was willst du mehr …!« Er hielt den Atem an, um nichts von Susans Verblüffung zu versäumen, als er das zitiert hatte. Aber sie erkundigte sich nur, von wem das stammt: »Nicht von mir. Richtig! Stammt von Heinrich Heine. Einem Deutschen. Entdeckte ich mal in einem Buch, vielleicht war’s sogar ein Schulbuch. Ich fand das schön! Damals wußte ich noch nicht, daß es dich gibt und daß wir uns begegnen würden. Und daß es auf dich paßt!« Aber Susan hatte in dieser Nacht nicht vor, von ihrer neuesten Eroberung zweifelhafte Komplimente entgegen zunehmen. Sie hatte mit Steve überhaupt nichts im Sinn. Und sie war müde. Einfach todmüde. Und geschafft. Und traurig. Und deprimiert. Und sie dachte nach, über das Schicksal und über die Dinge, und wie sie so liefen. »Oh, Mann!« rief Steve ins Telefon. »Wie kannst du schlafen, unschuldig wie ein Engel, nach solch einem Tag! Und mit so einer Geschichte am Hals!« Sie versuchte, es ihm zu erklären. Aber er verstand sie nicht. Steve hatte mit Frauen eigentlich nie ernsthaft Pro bleme. Das heißt im Klartext: Er hatte letzten Endes immer erreicht, immer bekommen, was er wollte. Daß er bei 198
Susan nicht so recht wußte, was er eigentlich wollte, oder anders herum: ob er überhaupt irgend etwas wollen sollte, das war diesmal sein ganz persönliches Problem. Und das verwirrte ihn. Vielleicht sagte ihm sein Instinkt auch, daß in dieser streng kameradschaftlichen Beziehung, wenn er sie zu seinen Gunsten hätte verändern wollen, sein Mißerfolg schon einprogrammiert war. Aber abgesehen von diesen sehr privaten Überlegungen, den Erfolg oder Mißerfolg eines professionellen Aufreißers betreffend: Als Reporter war er von einem anderen Schlag als zum Beispiel Cindy West. Er liebte das Leben! Sein eigenes ganz besonders. Man konnte seinen Job auch anständig und erfolgreich tun, ohne gleich Kopf und Kragen zu riskieren. Er fühlte sich nicht zum Märtyrer des Medienzeitalters berufen. Er war Fotograf, weil es ihm Spaß machte. Und weil es Geld brachte. Er hatte durchaus eine eigene Meinung, die Welt betreffend im allgemeinen und die Menschheit im besonderen, aber keine »message« im Sinn! Und damit lag er natürlich im Trend! Möglich, daß dieser David McGhee mit seinen Ent hüllungen »in die Geschichte einging«. Pulitzer-Preis und so! Möglich auch, daß er dabei seinen Kopf einbüßte. Oder schon eingebüßt hatte. Er, Steve Lensky, würde jedenfalls immer schön in Deckung bleiben. Denn was dieser Bill Hopkins zu berichten wußte, das hatte nun auch ihm kalte Füße beschert. »Susan! Laß uns abreisen! Morgen früh! Mir ist nicht mehr wohl bei dieser Sache!« 199
Abreisen? Jetzt? Wo morgen abend um sechs Bill Hopkins neue Informationen liefern wollte, David und das Schiff betreffend! Vielleicht lag es in irgendeinem New Yorker Hafen. Drüben in Hoboken. Oder in New Jersey. Niemals würde sie vorher abreisen, ohne Gewißheit zu haben! Unter keinen Umständen. Steve sah das ein. »Aber Susan …«, er zögerte etwas: »Laß uns ein wenig nett sein zueinander! Die Welt ist schlecht und das Leben kurz! Und es gibt zu wenig Liebe unter den Menschen!« Susan war da anderer Meinung. Sie war dafür der Ge genbeweis: »Ich bin bereit, mein Leben zu riskieren! Weil ich Dave liebe! Und wenn du plötzlich Angst hast, dann flieg zurück. Allein. Ich bleibe hier! Okay, Steve?!« Da fand er es plötzlich unfair, sie angerufen zu haben. Nach dieser Reise. Um diese Zeit. Nur weil ihm langweilig war. Und weil er sich einsam fühlte. Er sagte ihr das. »Ist schon in Ordnung, Steve.« Sie hatte Verständnis für ihn und viel Sympathie. Und als er ihr jetzt ganz spontan ein sehr liebenswürdiges Geständnis machte, gab sie ihm ein nettes Kompliment zurück: »Ich finde es schön, daß du mich magst, Steve. Ich mag dich auch. Aber trotzdem: gute Nacht!« Er hatte verstanden, und sie legte auf. Er hielt noch eine Weile den Hörer unentschlossen in der Hand. Bis das Schnarren des Freizeichens unerträglich wurde. Dann legte er ihn auf die Gabel und betrachtete weiter Susans Bilder. »Mit deinem bezaubernden Lä cheln …« 200
Inmitten ihrer Bilder, in Lederjacke und Jeans, die Schuhe an den Füßen und bei brennendem Deckenlicht, schlief er irgendwann ein. »Zugrunde gerichtet« hatte sie ihn noch nicht! Aus dem Tagebuch des David McGhee: »5. September. Der Kran funktioniert. Mit zwei Seme stern Maschinenbau im Kopf habe ich das Monster in Gang gesetzt und einen der Container probeweise aus seinem Wasserbad unter Deck an die frische Luft gehievt. Beifall von der Schiffsleitung, die wir normalerweise nicht zu sehen bekommen, und von meinen Crewkameraden. Die haben alle ihren Job hier auf dem Pott unter Vorspie gelung falscher – oder besser: nicht vorhandener – Fähig keiten ergaunert. Keiner hat hier irgendeine Ahnung von irgend etwas. Fabelhafte Burschen, verläßliche Kumpels, die alle mal kurz viel Geld machen wollen. Und die ich jetzt anzulernen habe. Was die Container mit ihren sat ten achtzig Tonnen allerdings an Deck sollen, wo sie un ten schon genügend Ärger machen und das Kühlwasser anheizen, in dem sie liegen, und das ständig erneuert werden muß, ist mir schleierhaft.«
36 Es war sechs Uhr früh, als Susan und Steve das Hotel verließen. Neuankömmlinge aus Europa sind früh auf in New York – und sie sind hungrig, denn ihre innere Uhr zeigt morgens schon Mittag. 201
Aber nun waren es noch zwölf volle Stunden, ein ganzer, langer Tag, bis Bill Hopkins sie erwartete. Ein Tag voller Hoffnungen. Zwölf Stunden voller Befürchtungen. Stun den, die Susan nutzlos erschienen und die sie irgendwie hinter sich bringen mußte. Und die sie anders als erwartet hinter sich bringen würde. Steve stürzte sie beide in arbeitsame Hektik. Er hatte sich ein Konzept für diese Reportage erarbeitet: »Reise in eine strahlende Zukunft«, hatte sich Notizen gemacht. Nun suchte er mit Susan Schauplätze für die Station New York und schleppte sie durch die Stadt. »Hier!« rief er. »Ruf von hier aus an!« Er war an einer dieser offenen Telefonzellen stehengeblieben, die an der Ecke Zweiundvierzigste Straße und Times Square standen. Der Straßenlärm war unerträglich. Wie hätte Susan hier telefonieren können? Mit Julia. In Frankreich. Sie schüttel te nur den Kopf und ging kommentarlos weiter. »Oder hier!« Ein Park hinter der Staatsbibliothek. Der Verkehrslärm war nur noch ein fernes Brausen. In den Bäumen und neben den Telefonzellen saßen Squirrels, graue Eichhörnchen, und bettelten um Futter. Steve drückte Susan eine Hand voll abgezählter Münzen in die Hand. »Sechs Dollar vierzig. Für drei Minuten. Drück ›0‹ für Operator und verlang die Nummer in Südfrankreich.« Er hielt ihr sein aufgeschlagenes Notiz buch hin. Aber Susan nahm es nicht und gab ihm das Geld zurück. »Sie wird weinen, wenn sie meine Stimme hört. Sie war 202
noch nie allein. Und die Entfernung ist für sie nicht vorstellbar. Wenn ich heute abend erfahre, daß es länger dauern wird, rufe ich die Schwester in dem Konvent an.« »Dann tu wenigstens so, für ein paar Fotos. Spiel ein fach, du hättest dein Kind an der Leitung. Die Fotos mit Julia am Telefon mache ich dann später einmal, irgendwann, irgendwo.« Spielen? Nur so tun als ob? Für ein Foto oder zwei? Mutter telefoniert mit verlassenem, abgeschobenem Kind. Über den ganzen Atlantik hinweg. Weil das Schicksal sie getrennt hat. Und die Angst, dem Kind könnte in New York etwas zustoßen. Ein Erpressungsversuch dieser Ma fia? In dieser Vierzehn-Millionen-Stadt? Susan fühlte sich hier sehr sicher und sehr anonym. Niemand vermutete sie hier. Niemand würde sie entdecken. Im Gegensatz zu Mar seille erschien ihr New York für ihre Recherchen als ein sicherer Ort. Sie waren weitergegangen, den Broadway hinunter. Der kreuzte die Sixth Avenue und die Vierunddreißigste Straße. Und in diesem Schnittpunkt war eine schmale, dreieckige Insel übriggeblieben. Eine Oase, mit schütteren Bäumen und gurrenden Tauben, mit Parkbänken, einem Denkmal, mit Telefon und Glockenspiel. Steve ging immer noch abwartend vor Susan her, mit schußbereiter Kamera, und hielt die Münzen in seiner Faust. Da gab Susan nach. »Okay! Ich rufe an!« Sie hielt die Hand auf, erhielt Nummer und Münzen, warf sie ein und drückte »0«. Sie instruierte den Operator, ein offenbar cleveres Mädchen. Die Signale und Zeichen, als der Anruf 203
das französische Netz erreichte, waren seltsam und fremd. Dann meldete sich eine Frauenstimme, und Susan ver langte Soeur Martine. Es dauerte eine Weile, und sie sah bereits die drei Minuten mit Warten verrinnen. Sie hörte das Klicken von Steves Kamera, der sie von allen Seiten fotografierte, der in die Knie ging, auf eine Parkbank stieg. Da meldete sich endlich die gesuchte Ordensschwester. »Ja, hallo, wie geht es Ihnen?« Der Austausch der üb lichen Höflichkeiten war offenbar zwingend vorgeschrie ben, aber Susan gestaltete ihn kurz. Für Schwester Martine war es das erste Überseegespräch ihres Lebens, und sie fürchtete, es würde schrecklich teuer. Denn mitzuteilen hätte sie nun weiter nichts mehr. Das Töchterchen Julia sei ja nicht mehr da. Es sei doch abgeholt worden. Von einer Verwandten. Und Julia sei sehr glücklich darüber gewe sen … Was war los? Was war geschehen? Susan war für Se kunden wie gelähmt und begriff nicht sofort. »Abgeholt? Von wem? Wann war das?« Heute morgen. Sehr früh. Nun sei ja schon Nachmittag! … Schwester Martine fand, daß doch eigentlich alles in bester Ordnung sei. Bei Verwandten, die Englisch sprä chen, sei das Kind doch besser aufgehoben als bei ihnen. Schon wegen der Verständigung. Und sie konnte sich Su sans Erregung nicht erklären. Steve war aufmerksam geworden und ließ die Kamera sinken. Susans Haltung verriet eine Katastrophe. Er hatte aus einer gewissen Entfernung gearbeitet, mit einem Tele 204
objektiv. Und Susans Stimme wurde verschluckt durch den Lärm anfahrender Busse. Er trat näher an die Zelle heran. »Das ist doch nicht wahr!« schrie Susan. »Bitte, Schwes ter Martine, wir haben keine Verwandten in Frankreich.« Noch während die Schwester den Sachverhalt aufzu klären versuchte, warf Susan einen verzweifelten, hilfesu chenden Blick in Steves Richtung. Dann wiederholte sie, fast tonlos, und es klang wie eine längst bekannte Be schwörungsformel: »… Tante Ruth …!?!« Sie versuchte, einen endgültigen Beweis zu erhalten: »Dunkle Haare, ja …? Eine Brille mit sehr dicken Gläsern …?« Schwester Martine, siebentausend Kilometer entfernt, genügte diese Beschreibung bereits, um Susans Vermutung zu bestätigen. »Ich komme zurück! Ich komme mit der nächsten Ma schine. Ich bin noch immer in New York …!« Und nach einer angespannten Pause rief sie noch: »Nein! Nicht die Polizei! Ich komme selbst …! Hallo …!!! Hallo …!!! Hallo, Operator …!!!« Aber die drei Minuten waren um. Und da war fürs erste auch nichts mehr zu bereden. Die Verbindung war unterbrochen, und Susan legte den Hörer auf die Gabel. Sie war bleich und konnte das Unfaßbare noch nicht klar formulieren. Weil sie es nicht begreifen wollte. Sie suchte nach Worten, bewegte die Lippen, und bevor sie einfach davonrannte, in ihrer Panik, quer über diesen kleinen Platz, der eingeklemmt war zwischen den sich kreuzenden 205
Straßen und den hochaufragenden Gebäuden, sagte sie tonlos zu Steve: »Sie haben Julia entführt!« Aus den Notizen des David McGhee: »Radioaktive Abfälle werden in Tanks und Tonnen aus rostfreiem Stahl bester Qualität verwahrt. Diese Behälter garantieren höchste Zuverlässigkeit für fünfzig bis hundert Jahre. Die Zeit, in der diese brisanten Stoffe nicht mit ihrer Umgebung in Berührung kommen dürfen, liegt wegen der Langlebigkeit des strahlenden Mülls jedoch bei 300000 bis 500000 Jahren. Nach Ansicht der US-Atomic-Energy-Commission ist es Aufgabe des Staates, über solche Zeiträume hinweg die Garantie für die Lagerstätten zu übernehmen. Der Staat New York hat im Fall der stillgelegten Wiederaufarbei tungsanlage West Valley diese Garantie unterschrieben. In West Valley muß aus einem Graben monatlich einmal radioaktives Wasser abgepumpt und in Tonnen verwahrt werden. Dreihunderttausend Jahre lang?«
37 Auf einer verwitterten Parkbank, vor einem rostigen Stake tenzaun, hinter dem New Yorks Morgenverkehr auf vier Spuren tobte, und unter einem von Taubenmist überzoge nen Denkmal, fiel Susan in sich zusammen, hilflos und geschockt. Sie saß da zwischen schwarzen Pennbrüdern, die sie aufmerksam betrachteten, zwischen überquellenden 206
Müllcontainern voller prallgefüllter, grauer Plastiksäcke, die eine heruntergekommene Greisin mit spitzen Fingern durchwühlte, und schaute an Steve vorbei, der fassungslos auf sie zugegangen war. Sie wischte sich mit zitternden Händen über die Augen. Dann verlor sie die Nerven und schrie los, laut und unbeherrscht: »Du hast gesagt: Nimm sie mit nach Frankreich! Nur einen Tag oder zwei. Und dann nach Marseille. Und dann New York! Es war alles deine Idee! Du denkst nur an deine Story! An nichts sonst! Du und dein Pat Cooper! Egal, ob wir alle draufgehen! Und das Kind hat dich immer nur gestört! Oh, mein Gott, Julie …« Sie verstummte ganz plötzlich, sah ein, wie unfair es war, Steve anzugreifen, ihm die Schuld zuzuschieben. Ungerecht, aber auch verständ lich. »Verzeih mir …!« flüsterte sie in seine Richtung. »Sie tun alles … alles … damit ich nicht …!« Weiter kam sie nicht. Sie legte ihren Kopf auf die Knie, verbarg ihr Gesicht, begann hemmungslos zu schluchzen, und ihre Schultern bebten. Steve kam näher. Er war völlig verwirrt und zu keiner Hilfe fähig, kniete sich neben sie hin und streckte vor sichtig die Hand aus, um mit einer zärtlichen, tröstenden Geste ihre Schultern zu berühren. Aber dann wurde er unsicher, zog die Hand wieder zurück. Und er wußte auch nichts zu sagen. Dann nahm er seinen Hut vom Kopf. Diesen verbeulten, braunen, speckigen Hut, den er trug wie einen Talisman, und setzte ihn Susan auf den Kopf. Sehr vorsichtig. Fast 207
liebevoll. Es war eine nur scheinbar sinnlose Geste, rührend und naiv, aber es war auch ein Zeichen. Er behütete sie. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und Susan ließ es geschehen. So saßen sie eine Weile. Die schwarzen Pennbrüder schauten immer noch interessiert und verständnislos her über. Einer war aufgewacht, hatte sich aufgerichtet und legte nun die Zeitungen zusammen, mit denen er zuge deckt war, ohne den Blick von der Szenerie zu wenden. Da brach in Steve wieder die Reportermentalität durch, wider bessere Einsicht, gegen jedes Gefühl der Anteil nahme … Er erhob sich, ging leise einige Schritte zurück, um Ab stand zu gewinnen. Dann spannte er den Verschluß der Kamera, hob sie in Anschlag, schaltete auf Automatik und fotografierte los: Dieses Häufchen Schmerz und Unglück unter diesem häßlichen, braunen Hut. Zusammengesunken auf der verwitterten Bank. Umgeben von aufflatternden Tauben. Umtost vom Verkehrsgewühl dieser Stadt. Nur noch ein Objekt. Ausgebeutet. Susan nahm das Klicken wahr und das Schnarren der Kamera, richtete sich auf und starrte in die Linse. »Laß das! Hör auf! Laß mich in Frieden!!« Sie schrie, brüllte voller Zorn und Empörung, so laut sie nur konnte, und sie riß sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn Steve vor die Füße. Der ließ die Kamera sinken, schuldbewußt, peinlich berührt, wie ein ertappter Schüler. Bückte sich nach dem 208
Hut. Staubte ihn ab, schlug ihn gegen seine Hosenbeine. Dann kam er zögernd näher, blieb dicht vor Susan ste hen, die durch ihn hindurchsah, als sei er nicht mehr vor handen. »Entschuldige, Susan!« Er sprach eine Spur zu leise, aber sie verstand ihn trotzdem: »Tut mir leid! Ich mach’ immer so einen Scheiß! Mach’ immer alles kaputt!« Er setzte sich neben sie. Aber nicht allzu nah. Und dann sprach er auf sie ein, immer noch sehr leise und sehr bescheiden: »Julie hat mich nie gestört! Wirklich! Im Gegenteil! Wir hatten viel Spaß miteinander. Und Julie mochte mich auch. Aber denk mal nach, bevor du mir jetzt die Schuld gibst: Fotos mit dir und dem Kind lassen sich doch besser verkaufen! Ist doch klar! Oder? Wenn sie jetzt hier wäre, in New York … Cooper wollte das ja ursprünglich und hätte, ganz logisch, den Flug bezahlt … Aber du warst ja in Panik …« Er brach ab und lächelte, weil er nicht weiter wußte. »Wir fliegen sofort zurück!« sagte sie nur. Und er stimmte zu: »Ja, natürlich!« Aber nach einer längeren Pause sprach er dann weiter: »Gestern abend, da wollte ich selbst aussteigen. Es wird zu riskant, dachte ich mir. Bill Hopkins hat vielleicht recht: Diese Geschichte ist ein paar Nummern zu groß für uns. Auch für Dave, wie man sieht. Hier – ich habe schon die Rüge notiert.« Er zeigte ihr den Zettel. Es war die Rückseite einer aufgerissenen Filmpackung. Er fischte sie aus einer der zahllosen Taschen seiner Lederjacke. »Nur jetzt denke ich mir …« – und damit steckte er 209
seine Notizen wieder ein –, »wenn es so gar keine Chance für dich gäbe … Für dich und Dave … Dann hätten sie Julia doch nicht entführt. Oder? Sie wollen dich ablenken! Mit allen Mitteln! Du bist nämlich auf der richtigen Spur!« Susan hatte ihm zugehört. Wortlos stand sie auf und sah sich um. Sie war unruhig. Wollte weg. Mußte etwas tun. Fliehen oder angreifen. Steve blieb noch sitzen: »Du mußt alles noch einmal in Ruhe überdenken. Susan! Ich habe das Gefühl, wir sind kurz vor dem Ziel! Kurz vor einer Lösung! Kurz vor einer Entscheidung!« Susan schüttelte den Kopf: »Nein! Buch uns den nächsten Flug zurück nach Marseille! Wir fahren ins Office zu Bill Hopkins! Er soll sich nicht weiter bemühen!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »6. September. Ich habe einen Freund, einen echten Freund, und ich schäme mich, daß ich unehrlich bin. Daß ich ihn nicht ins Vertrauen ziehen kann. Daß ich ihn belüge. Aber ich habe ja keine andere Wahl, wenn ich nicht ihn und mich gefährden will. Er heißt Woo, Woo Teh-Shui. Er stammt aus Hong kong. Und wenn er bei diesem Job hier genügend Geld verdient hat, will er mit seiner Schwester zusammen in London eine Schneiderwerkstatt eröffnen. Jetzt versucht er bei der Decksarbeit, seine sensiblen Hände zu schonen. Was schwierig, fast unmöglich ist. Auch meine ›Schreiberhände‹ sind schrundig und voller Öl. Es wird schon eine Woche dauern, sie wieder ›land 210
fein‹ zu machen.«
38 »Hallo, ihr beiden! Wie geht’s euch denn? Hattet ihr viel Spaß?« Sally war in der halboffenen Eingangstür zur NEWSAgentur aufgetaucht, als Susan und Steve schon nicht mehr mit ihr gerechnet hatten. Nun sprudelte sie wieder über vor guter Laune. »Tut mir leid, daß ich euch warten ließ, aber ich war am Telefon!« »Ist Bill nicht da?« fragte Steve. »Bill ist nicht da. Nein. Bill ist selten da. Er hockt den Vormittag über meist zu Hause, schreibt, recherchiert. Ich schmeiß’ dann das Office!« Sally gab sich sehr selbständig und sehr selbstbewußt! Da trat Susan, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, zu Sally an die Tür. »Kann ich ihn anrufen? Jetzt gleich? Von hier?« »Aber ja, natürlich, kommt herein!« Sie war über diese Störung anscheinend überglücklich. »Was macht eure Mafiastory?« fragte sie so nebenbei und mit lachender Naivität, als die beiden das chaotische Büro betraten. Ohne auf Antwort zu warten, tippte sie eine siebenstellige Nummer in den Apparat. »Manchmal klappt’s, dann kommt man durch. Meistens nicht, dann ist belegt. Da telefoniert er selbst oder legt den Hörer auf den Tisch. Weil er nicht gestört werden will … Oh, shit!« 211
Es schien, als hätte sie es geahnt. »Da! So geht das oft Tage. Vielleicht pennt er auch noch oder hat gerade ’ne schnuckelige Biene im Bett!« Sie lachte hinterhältig und kokett und versuchte ein weiteres Mal, die Verbindung herzustellen. Wieder vergeblich, und Sally gab auf. »Wir werden hinfahren zu ihm!« Susan war entschlos sen, New York schnellstens zu verlassen. Aber nicht ohne Bill Hopkins nochmals getroffen zu haben. »Wo wohnt er?« »Bill?« Sally reagierte peinlich berührt. »Aber das mag er nun gar nicht! Zu Hause belästigt werden. Oh, entschul digt! Ich meine … Ich war auch noch nie dort!« »Aber Sie wissen natürlich, wo er wohnt!« stellte Steve ganz sachlich fest. »Aber ja! Sicher!« »Und?« Er sah Sally abwartend an, griff nach einem der herumliegenden Kugelschreiber und nach einem der gel ben Notizblocks mit der großen Aufschrift »NEWS«. Sally zögerte noch. Aber dann rückte sie mit der Adresse heraus: »Eins-zwei-fünf Riverside Drive. Fünfter Stock. Aber von mir habt ihr es nicht!« »Keine Sorge! Von Ihnen haben wir’s natürlich nicht!« Steves verschwörerisches Grinsen entschädigte Sally für ihr schlechtes Gewissen. Er hatte sich alles notiert und riß den Notizzettel vom Block. Fünfzehn Minuten später hielt ein Taxi vor dem Ge bäude »125 Riverside Drive«. Steve hängte sich seine Ka 212
meratasche über die Schulter und kontrollierte anhand des gelben Zettels noch einmal die Adresse. Susan schaute nach oben: fünfter Stock. Hopkins hatte vermutlich einen schönen Blick über den Hudson River hinweg nach New Jersey. Aber davon einmal abgesehen, war die Nummer 125 am Riverside Drive ein eher unheimliches Gemäuer. Jahrzehnte hatten diese Jugendstilfassade freier Erfindung geschwärzt. Zwischen turmartigen Erkern sprang der Haupttrakt zehn, zwölf Meter weit zurück. Der Vorplatz dazwischen wirkte eng und düster. Die Fenster waren klein und durch rostige Eisensprossen nochmals unterteilt. Wie auch die gläserne Eingangstür zum Foyer, das Susan und Steve nur zögernd betraten. Es war mit einem rotbraunen Mosaik ausgelegt, in das weiße und schwarze Ornamente eingelassen waren. Das Haus schien einmal, in seinen besten Tagen, eine allererste Adresse gewesen zu sein. Jetzt machten die mehrfach überstrichenen, schwarzlackierten Türen mit den kleinen Gucklöchern über den Namensschildern, die von der Decke und der Wand abblätternde rotbraune Farbe und die matte, schummrige Beleuchtung einen eher un gastlichen Eindruck. Die Gittertür zum Lift stand einladend offen. Aber ein Schild verkündete: »Out of Order« – »Außer Betrieb.« »Gehen wir eben zu Fuß!« schlug Steve vor, als hätte es noch eine Alternative gegeben. »Was ist das schon: fünf Stockwerke? Das Empire-State-Building hat über einhun dert!« Er begann den Aufstieg durch das enge Treppenhaus, 213
und Susan folgte ihm. Hätten sich die beiden noch einmal umgesehen, wäre ihnen nicht entgangen, wie drei Herren in unauffälligen Trenchcoats aus einem ebenso unauffälligen Wagen stie gen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Sie über querten sehr zielstrebig den Vorplatz und gingen schwei gend auf die gläserne Eingangstür zu, durchschritten das Foyer ohne Aufenthalt und bestiegen den Lift. Das Schild »Außer Betrieb« stellten sie zur Seite, schlossen das Gitter und fuhren nach oben. Die Liftkabine hatte den fünften Stock längst erreicht, als Susan und Steve ziemlich außer Atem auf dieser Etage eintrafen. Sie sahen sich um, lasen die kleinen Namens schilder an den einzelnen Türen, folgten den verwinkelten, etwas düsteren Gängen, stellten fest, daß die Mehrzahl der Wandlampen nicht brannten, die Glühbirnen entwendet waren oder ausgebrannt, gingen an dem geschlossenen Gitter der Lifttür vorbei, ohne die drei Männer dahinter zu bemerken, und stiegen über den Putzeimer einer alten Negerin, die auf dem Boden kniete und das Mosaik schrubbte. »Good Morning!« sagte Susan, aber die Alte antwortete nicht, blickte nur erschrocken und scheu von ihrer Arbeit auf. Die halbverglaste Tür zu einem schmalen Hinterhof stand offen. Das rostrot gestrichene Zickzack einer Feuer treppe endete in einem mit Abfall übersäten Betonquadrat. Das letzte Apartment neben diesem Notausgang trug das Namensschild von Bill Hopkins. »Hier! Wir sind richtig.« Steve läutete, aber es blieb alles 214
still. Auch auf ein zweites Läuten antwortete niemand. »Er ist weggegangen«, sagte Susan. »Nicht zu Hause. Komm!« Sie wandte sich zum Gehen. Aber da bemerkte Steve etwas, was ihn stutzig machte: Die Tür war nicht abgeschlossen, sondern nur angelehnt. Steve schob sie auf und rief in den dunklen Gang hinein: »Bill! Bill Hopkins!« Keine Antwort. Keine Reaktion. Das ganze Haus war merkwürdig ruhig. Die beängstigende Stille wurde nur hin und wieder gestört durch das schmatzende, schleifende Geräusch der Bürste, mit der die alte Negerin den Mosaikboden schrubbte. Steve schob die Tür langsam weiter auf: »Bill Hopkins!« Dann ging er voraus und betrat das Apartment, obwohl ihn Susan instinktiv davon abhalten wollte. Sie folgte ihm schließlich trotzdem. Allerdings zögernd und etwas ängstlich. Das Chaos, das sie gestern abend im Büro von Hopkins vorgefunden hatten, wiederholte sich in diesem Apart ment. Im Gang stapelten sich Zeitungen wie in einer Alt papier-Sammelstelle. Auf allen Fußböden, selbst im offen stehenden Schlafzimmer mit dem zerwühlten Bett, war Papier verstreut, lagen Briefe und ausgeschnittene Zei tungsartikel, Manuskripte und Notizen herum. Im einzi gen Wohnraum, der Hopkins offensichtlich als Arbeits raum diente, war die Jalousie zur Hälfte heruntergelassen. Der Raum lag im Dämmerlicht, und nur auf dem Schreib tisch brannte eine Lampe. »Hallo, Bill! Bill! Wo steckst du?« rief Steve erneut in die Gegend, ohne Antwort zu erhalten. »Er muß hier doch 215
irgendwo stecken!« Da sah Susan, daß alle Türen dieses kleinen Apartments, auch die zum Bad und zur Toilette offenstanden. Steve ging in den Arbeitsraum hinein. Auf dem Schreib tisch, inmitten der Papierflut, stand eine elektrische Kof fer-Schreibmaschine. Eine halbbeschriebene Manuskript seite eingespannt, und der Text endete mitten in einem Wort. »Weit kann er nicht sein!« Steve blickte sich um. Da hörte er schließlich das Geräusch: einen leisen, enervie renden Dauerton. Ein elektronisches Sirren. Es kam aus dem Telefon. Verborgen hinter dem Schreibtisch hing der Hörer an seinem spiraligen Kabel dicht über dem Boden. Steve ging um den Schreibtisch herum, stieg über auf geschlagene Bücher und Magazine. Aber bevor er den Hörer ergreifen konnte, stoppte ihn eine metallisch klin gende Stimme: »Fassen Sie lieber nichts an. In Ihrem eigenen Interesse!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »7. September. Wir haben das Bab el Mandeb, die Meer enge am Ausgang vom Roten Meer, seit zwölf Stunden hinter uns und machen zielstrebig 18 Knoten Fahrt nach Ostsüdost, 125°, wie der Rudergänger uns verrät. Wir verlassen jetzt den Golf von Aden. Arabien ist außer Sicht, und nun stellt sich erneut die Frage: Wohin geht die Reise? Wo, zum Teufel, liegt in diesem Teil der Welt noch ein sinnvolles Ziel? Die drei arabischen Herren, nunmehr alle in Zivil, sind noch immer an Bord und 216
kontrollieren uns von oben herab, von der Brücke des Schiffes, wo sie sich eingenistet haben. Die lassen doch 750 Tonnen Spaltstoffe, davon 7,5 Tonnen Plutonium, nicht aus Vergnügen durch die Gegend schippern.«
39 Die drei unauffällig gekleideten Herren standen wie Schatten in dem schmalen, dunklen Gang zwischen Ein gangstür und Arbeitsraum und betrachteten Susan und Steve mit unverhohlenem Mißtrauen. Der plötzliche Schreck, der Susan bei deren Auftauchen durchzuckte, und eine lähmende, aufsteigende Angst raubten ihr den letzten Funken Kraft. Sie klammerte sich an die Lehne des Schreibtischstuhls, der zufällig neben ihr stand. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Wieder diese schnei dende Stimme. Der älteste der drei Männer hatte gefragt. »Oh, ja: Bill Hopkins!« Steve hatte sich, im Gegensatz zu Susan, relativ rasch von seinem Schreck erholt. »Kennen Sie ihn gut?« Ein Frage-und-Antwort-Spiel hatte begonnen. Aber nur einer der drei Männer beteiligte sich daran. Die anderen beiden standen stumm im Hinter grund, die Hände in ihren Manteltaschen vergraben, und beobachteten aufmerksam den weiteren Ablauf des Ge schehens. »Wir haben ihn gestern abend zum ersten Mal getrof fen.« Steve gab sich möglichst entspannt. »Und wir haben eine gute halbe Stunde lang geredet mit ihm. In seinem 217
Büro. Und da er dort heute morgen nicht anzutreffen war, kamen wir hierher. Denn das ist ja wohl, ganz offen sichtlich, seine Wohnung!« »Woher wissen Sie das so genau?« Das war kein Frageund-Antwort-Spiel mehr, das klang bereits wie ein Verhör. »Wieso sind Sie so sicher, daß der Mann, den Sie suchen, hier wohnt? In diesem Apartment?« Susan war bisher stumm geblieben, fühlte sich noch kraftlos und wie betäubt. Aber nach einem tiefen Atemzug schaltete sie sich in die Vernehmung ein: »Sicher sind wir nicht! Natürlich nicht! Wir sind das erste Mal hier! Aber seine Sekretärin gab uns die Adresse. Und das Schild an der Tür trägt seinen Namen …« »Und da gehen Sie einfach so hinein, in eine fremde Wohnung?« »Die Tür stand offen«, verteidigte sich Steve. »Ja, richtig, die Tür stand offen!« Der Wortführer der Gruppe, mit der schneidenden, metallischen Stimme, der Mann, der das Verhör führte, sah Steve und Susan forschend und vorwurfsvoll an. Er erwartete offenbar irgendeine Art der Entschuldigung. Irgendeine Erklärung. Aber statt dessen fragte nun Susan, die plötzlich eine Ahnung überfiel: »Wo ist Bill Hopkins?« Und als keiner der drei Männer ihr darauf eine Antwort gab, stellte sie fest: »Ich bin sicher, Sie wisssen, wo er ist. Sie sind doch Freunde von ihm. Oder wer sind Sie?« Die Pause, die folgte, war lang. Zu lang. Und das Schweigen erhärtete Susans Verdacht, daß sich hier etwas 218
Beängstigendes zugetragen hatte. Der älteste der drei Männer betrachtete Susan sehr nachdenklich, bevor er schließlich sagte: »Kommen Sie mit! Ich bringe Sie zu ihm!« Er ging voraus. Die beiden anderen Männer gaben Su san und Steve den Weg frei, ließen sie aber nicht aus den Augen. Auf dem Weg zur Tür nahmen sie die beiden sogar zwischen sich. Draußen kniete die alte Negerin noch immer auf dem Boden und scheuerte das abgetretene, rotbraune Mosaik. Diesmal schaute sie nicht mehr auf, als die Gruppe, einer nach dem anderen, über ihren Wassereimer stieg. »Wer sind Sie nun eigentlich?« Susan war stehenge blieben, hatte sich an die beiden stummen Begleiter ge wandt, die neben ihr gingen. Sie versuchte, endlich Klar heit über diese Situation zu bekommen, die etwas Ein schüchterndes hatte. Und Klarheit über diese Leute. »Wer sind Sie, und was wollen Sie von uns? Und wo bringen Sie uns hin?« Der älteste der Männer, der bisher die gesamte Kon versation allein bestritten hatte, brachte eine Dienstmarke zum Vorschein, die er in der Tasche seines dunkelblauen Trenchcoats trug. »Lieutenant Forster. Vom 42. Precinct der Manhattan Polizei. Ich stelle hiermit fest: Sie begleiten uns aus freien Stücken und ohne jede Anwendung von Zwang oder Gewalt unsererseits.« Eine Leerformel offenbar. Und er spulte sie herunter, schnell und ausdruckslos. Susan blickte kurz auf die 219
glänzende, abgegriffene Marke in der Hand des Beamten, dann in sein versteinertes Gesicht. »Was ist mit Bill passiert? Mit Mister Hopkins?« Die Ahnung, daß ihm etwas zugestoßen war, etwas Unerwar tetes, Mysteriöses, daß sie ihn mit ihrem Drängen nach Information, nach Aufklärung, mit der Bitte um Hilfe bei der Suche nach Dave in eine gefährliche Situation gebracht haben konnten, verstärkte sich. Besonders, als der Lieute nant sich abwandte, als hätte er ihre Frage nicht gehört. Auf dem Weg zum Lift, der überraschenderweise nun plötzlich wieder in Funktion zu sein schien, drehte Susan sich noch einmal um. Die alte Negerin hatte ihre Arbeit unterbrochen und blickte ihnen feindselig nach. »Was macht diese Frau dort vorn?« Diesmal erhielt Susan eine Antwort. Von diesem Lieute nant. Der warf einen kurzen Blick hinter sich. Dann sagte er – und es klang bewußt sehr nebensächlich: »Sie putzt die Blutspuren weg!« Susan fröstelte, als sie nach unten fuhren. Sie stellte keine weiteren Fragen mehr. Ihre Hände waren eisig, wie abgestorben. Und ihr ganzer Körper war verkrampft. Schweigend verließen sie alle das Haus, setzten sich ebenso schweigend in ihren unauffälligen, grauen Wagen. Susan und Steve wurden auf den Rücksitz plaziert, auf Anweisung des Lieutenants, der sich neben sie setzte. Die stummen Begleiter saßen vorn. So fuhren sie durch die Stadt. »Können Sie sich ausweisen?« fragte der Beamte, als der Wagen an einer Ampel hielt. »Haben Sie beide irgendein 220
Papier bei sich? Einen Führerschein? Social Security Card?« »Genügt ein Reisepaß?« Susan suchte in ihrer Tasche, und Steve hatte seinen griffbereit in der Innentasche seiner Lederjacke. »Beide Engländer? United Kingdom?« Susan nickte nur, und Steve reagierte nicht weiter. »Und gestern erst eingereist?« Der Beamte hatte die ein geheftete weiße Karte der Einwanderungsbehörde studiert und die entsprechenden Stempel über dem Korresponden ten-Visum. »Wie lange beabsichtigen Sie in den USA zu bleiben?« fragte er noch. Und als Steve wieder nicht rea gierte, antwortete Susan: »Nur noch ein paar Stunden!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »8. September. Ich fotografiere, was mir vor die Linse kommt! Jetzt gehen die Filme langsam zu Ende, und die Möglichkeit, im nächsten Hafen Material zu kaufen, ist sicher gering. In welchem Hafen? Wir schließen inzwischen Wetten ab, wohin die Reise geht. Bombay? Calcutta? Also doch ein Land der Dritten Welt. Dabei haben die bedauerns werten Inder, selbst stolze Besitzer einer eigenen Super bombe, doch schon genügend Ärger mit ihrem inzwischen stillgelegten Werk und den verstrahlten Arbeitern gehabt. Oder Karatschi? Pakistan ist mächtig scharf auf eigene nukleare Waffen, um sich gegenüber dem Nachbarn In dien aufzuwerten.«
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Vor einem massigen Backsteingebäude hielten sie an. Susan wußte nicht, in welchem Stadtteil sie sich befanden und wie lange sie gefahren waren. Sie hatte jede Orien tierung und jedes Zeitgefühl verloren. Das graue Eisentor öffnete sich automatisch, rollte langsam zur Seite. Im Hof parkten Streifenwagen und Ambulanzen. Susan und Steve folgten dem Lieutenant in den Keller des Gebäudes. Es ging durch einen weißgeka cheltenKorridor, der sich zu einer Rezeption mit Warte raum öffnete. Die Leuchtstoffröhren tauchten die Räume in kaltes, grünliches Licht und ließen Susan blaß und übernächtigt erscheinen. Ihre Ankunft löste an der Rezeption einige Aktivitäten aus. Unterschriften in aufliegende Listen wurden erbeten. Die beiden britischen Pässe wurden fotokopiert. Ein kleiner, älterer Mann im weißen Mantel griff sich ein Schreibbrett mit eingespannten Formularen, nahm einen der zahlreichen Schlüssel vom Haken und ging voraus, weiter den Gang hinunter, durch Pendeltüren mit Milch glasscheiben und unter den Lüftungsgittern einer Klima anlage hindurch, aus der ihnen eisige Luft entgegenblies. Susan stellte auch hier keine Fragen mehr. Eine dicke Stahltür öffnete sich. Eine Verriegelung wie zu einem Kühlraum. Licht flammte auf. Klinische Kälte umfing sie. Ein penetrantes elektrisches Summen lag in der Luft, die süßlich nach Desinfektionsmittel und – über raschenderweise – nach Tannenduft roch. Eine Wand 222
glänzte in poliertem Edelstahl. Darin eingelassen: zwei Reihen riesiger Schubladen übereinander. Jede einzelne etwa achtzig mal achtzig. Und jede einzelne unübersehbar deutlich numeriert. Dazwischen jeweils kleine Thermome ter. Der Mann im weißen Mantel blätterte in seinen For mularen, verglich Papiere, Nummern und Namen und wühlte anschließend in einem Karteikasten, der in der Ecke auf einem Metalltisch stand. Schließlich schritt er die Reihe der Schubladen ab. Vor der Nummer 47 blieb er stehen, beobachtete Susan und Steve und erwartete ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber sie wurde ihm ohnehin zuteil. Dann zog er die Schublade aus der Edelstahlwand. Das Summen der Kühlaggregate wurde lauter. Und Susan spürte, wie ihr Speichel plötzlich sauer ge rann, wie unter einem Stromstoß, und wie sich ihr Mund verkrampfte. Ihr ganzes Gesicht. Und zu einer Fratze wurde. Und es machte ihr Mühe, diese desinfizierte, par fümierte Luft weiter einzuatmen. Der Lieutenant machte eine Geste näherzutreten und ging voraus. Daraufhin griff der Mann im weißen Mantel in die Schublade und schlug ein Tuch zurück. Susan war in die sem Augenblick der Wahrheit nicht mehr überrascht. Auch nicht schockiert. Nicht einmal bestürzt. Was hätte denn an Befremdlichem noch geschehen können, nach diesem Vorspiel, das ablief wie ein Ritual? Nach diesen Routine-Trauermienen der anwesenden Beamten. 223
Da lag Bill Hopkins. Friedlich und starr. Gestern noch ein strahlender Gastgeber, gescheit, witzig, strotzend von Aktivität und Lebensfreude. Und von Hilfsbereitschaft, die offenbar tödlich für ihn gewesen war. Er hatte die Augen geschlossen, in einem bleichen, entspannten Gesicht. Und Susan hoffte insgeheim, sie wartete förmlich darauf, daß er sie öffnen würde, jetzt, in diesem Augenblick. Und daß mit einem Lachen über den gelungenen Scherz die makabre Vorstellung zu Ende war. Er war nicht der erste Tote, den Susan in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Aber der erste, dessen Tod ihr so er schreckend naheging, ihr unglaublich, unbegreiflich end gültig erschien. Und so sinnlos. Und so absolut tragisch. Und da kam ihr bestürzend zu Bewußtsein, daß sie diesen Toten auf ihrem Gewissen hatte: »Bill, helfen Sie mir! Das hier ist Dave! Dave ist mein Mann! Und das hier ist seine kleine Tochter Julia! Und wir lieben uns!« Und es war der erste Tote in ihrem Leben, den sie be weinte. Sie spürte, wie ihre Augen heiß wurden und feucht und wie schließlich die Tränen ihr über die Wange liefen. Und sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich abzu wenden. »Ist das hier Bill Hopkins? Der Mann, den Sie gesucht haben?« Sie hörte die Stimme des Lieutenants, sie regi strierte, daß sie auf diese Frage hin automatisch nickte. Sie hörte Steve, wie er die Identität von Bill bestätigte. Leise und gefaßt. Sie spürte, daß er sie beobachtete, daß er herüberblickte zu ihr. Vermutlich, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß sie schuldig war. Und dann hörte sie 224
Steve noch fragen: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Fotos mache?« »Ohne uns Beamte, bitte!« Der Lieutenant zog sich mit seinen Kollegen ein paar Schritte zurück. Das Blitzlicht flammte auf und blendete sie. Nicht ein mal. Nein. Immer wieder. Ohne Unterbrechung. Sie wußte nicht, ob der Tote nun das Objekt für Steves Reporta gefotos war. Oder sie. Oder sie beide zusammen. Susan sah überhaupt nichts mehr. Nur noch das Auf glänzen der Edelstahlwand, die Reflexe in den weißen Flie sen. Die blauen Kreise, die der Blitz in ihrer Netzhaut hin terließ. Aber sie war ja schmerzunempfindlich geworden. Auch die Tränen versiegten ihr. Denn man braucht auch Kraft, um zu beweinen. Und Kraft hatte sie nun keine mehr. Denn sie spürte mit einemmal, wie der Horror sie um zingelt hatte. Wie es kein Entkommen mehr gab für sie. Keine Möglichkeit mehr zu einer Flucht. Erst Dave. Dann Julia. Jetzt Hopkins. Irgendwann sie selbst. »Was wissen Sie über diesen Mann? Seinen Beruf?« Susan schaute auf den Lieutenant, aber der hatte seine Frage an Steve gerichtet. Und der gab bereitwillig Aus kunft. Zwischen zwei, drei, vier, fünf Blitzlichtaufnahmen: »Er arbeitete für die Presse …! Internationaler NewsAgent …! Ein Nachrichtenhändler …! Heiße Meldun gen …!« Die Kamera surrte und klickte. Und Blitz folgte auf Blitz. Was gibt es an diesem Toten so viel zu fotografieren, dachte Susan. Bis sie merkte: Die Aufnahmen galten ihr. 225
Ihrer Verstörtheit. Ihren versiegenden Tränen. Ihrem Schmerz. Ihrer Schuld. Da hielt sie sich die Hände vor das Gesicht. »Woran starb der Mann?« fragte Steve. Es sollte beiläufig klingen, routinemäßig. Fotoreporter sind eben harte Burschen und müssen sich und anderen das manchmal auch beweisen. Aber Steve hustete mitten in dieser kurzen Frage, räusperte sich hinterher und wirkte verunsichert. Da ließ Susan ihre Hände sinken und beobachtete ihn. Und sie sah mit einemmal, daß Steves Aktivitäten in diesem Leichenhaus nur Vorwand waren, überwiegend zumindest, um die eigene Angst zu überspielen. Die Furcht. Und die Erkenntnis, daß man ihm in diesem Drama eine Rolle zugewiesen hatte. Die er angenommen hatte. Und die ebenfalls tödlich enden konnte. »Drei Einschüsse, sechskommafünf, beantwortete der Lieutenant die Frage und trat wieder näher an den Toten heran, da die Foto-Safari offenbar abgeblasen worden war. Steve legte einen neuen Film ein. »Wer mit heißen Meldungen sein Brot verdient, wie sie mir sagen«, kommentierte er weiter, »der ist sicher auch bestimmten Leuten im Weg.« Dann suchte er etwas in der Innentasche seines Trench coats. Es war ein flacher Plastikumschlag mit Spezial verschluß, eine Klarsichtfolie, deutlich mit Code-Num mern beschriftet. So etwas benutzt die Spurensicherung, um Beweisstücke aufzubewahren, die sie am Tatort findet. In dieser Klarsichtfolie steckte ein zerknitterter, an ei nigen Stellen eingerissener, jetzt wieder glattgestrichener 226
gelber Zettel. Mit der großen, deutlichen Aufschrift »NEWS«. Der Zettel, von jenem Block aus Bills Büro, den sie beide kannten, trug eine handschriftliche Notiz. Deutlich lesbar. Und der Lieutenant hielt Steve nun diesen Notizzettel, dieses Beweisstück, hin: »Sagt Ihnen diese Adresse etwas?« Steve griff danach und las. Er las es immer wieder. Um Klarheit zu erhalten, was da gemeint sein könnte. Und um sich das Gelesene einzuprägen für alle Zeiten. »Den Zettel hatte der Tote in seiner Faust, als wir ihn fanden.« Nicht erst dieser Kommentar des Lieutenant machte Susan aufmerksam. »Total zusammengeknüllt«, fuhr er fort. »Der Mörder hat ihn nicht entdeckt.« Susan schaute auf den Lieutenant, auf Steve, auf den Zettel unter der Plastikfolie in seiner Hand. »Was steht darauf?« fragte sie Steve. Sie flüsterte. Und sie wunderte sich, daß sie ihre Stimme nicht verloren hatte. Und als Steve nicht reagierte, sprach sie ihn noch einmal an, fragte lauter, drängender: »Steve! Was steht da?« Steve blickte sie nur kurz an. »Nichts, was uns betrifft«, sagte er. Dann las er vor, laut und sehr langsam und jedes Wort betonend. »Stella Polaris … Serotex Limited … S-L-Wong … Stamford-House … Singapore …« Susan hatte genau hingehört. Es war mehr als eine 227
Vermutung gewesen, mehr als eine Ahnung, daß hier eine verschlüsselte Meldung für sie war. Die geheime Botschaft! Aber auch der eindeutige Beweis für ihre Schuld. Da gab ihr Steve die Folie mit dem Zettel, reichte das Beweisstück einfach weiter an Susan, ohne den Lieutenant zu fragen, der schon die Hand danach ausgestreckt hatte. Und Susan studierte die Mitteilung, diese knappen Zeilen, die Schrift, die wenigen Worte. Und auch sie prägte sich die Information in ihr Gedächtnis ein, unauslöschlich: »Singapore« … »S-L-Wong« … »Serotex Limited« … »Stamford-House« …! »Nein«, sagte sie leise und gab dem Lieutenant den Plastikbeutel mit dem Zettel zurück. »Das betrifft uns nicht!« Steve hatte das Blitzgerät abmontiert und die Kamera eingepackt. »Also dann …« Er wandte sich in Richtung Ausgang. »Können wir jetzt gehen?« Der Beamte nickte dem Mann mit dem weißen Mantel zu, der die ganze Zeit über das Tuch, das den Toten be deckte, in die Höhe gehalten hatte. Der schob nun das Fach Nummer 47 wieder in die Edelstahlwand und ver riegelte es. Alles ging hier seinen geregelten Gang, bevor sie gehen durften: Unterschriften. Formulare. Karteikarten. Ein Protokoll. Polizei-Alltag. Routine in einer Stadt wie New York. Bill Hopkins kam damit seiner verdienten ewigen Ruhe um einen amtlich sanktionierten Schritt näher. 228
»Sie haben es eilig?« Der Lieutenant begleitete Susan und Steve zum Ausgang. Ein Taxi war bereits bestellt. »Ja«, sagte Susan. »In zwei Stunden geht unser Flug!« Wohin er gehen sollte, dieser Flug, sagte sie nicht! Der Lieutenant hatte sie auch nicht danach gefragt. Aus dem Tagebuch des David McGhee: »9. September. Ich werde den Verdacht nicht los, daß meine Kammer, während ich an Deck arbeite, regelmäßig gefilzt wird. Mein Versteck für Kamera, Filme und Tage buch ist ideal. Ein aufgeschnittener Petroleumkanister. Die Ölflecken geben diesen Seiten hier etwas abenteuer lich Authentisches. Den Kanister hat natürlich keiner aufgemacht. Vielleicht hat mich einer verpfiffen, daß ich eine Kamera habe. Oder zumindest hatte. In Cherbourg und Marseille haben das ja einige von der Crew mitbe kommen. Aber keiner fragt mich danach.«
41 Stamford-House, Singapore: Wieso existierte es eigentlich noch? Weshalb hatte man es noch nicht abgerissen? Niedergewalzt? Ersetzt durch Glas und Beton und Chrom und Glanz-und-GlitzerArchitektur? So wie man hier ganze Stadtviertel abgerissen und nie dergewalzt hatte, um Platz zu schaffen für die neue Welt der »High-Rise-Buildings«, der repräsentativen, sauberen, hygienischen, handlichen Wolkenkratzer, wie sie zur Zeit 229
überall in dieser prosperierenden Inselrepublik aus dem Boden schossen. Ein großer Teil der alten China-Town war schon ver schwunden, die Märkte auf den Straßen, der malerische Bugis-Street-Komplex. Denn diese exotischen Anzie hungspunkte für Touristen waren Schandflecke in den Augen der progressiven Stadtplaner und Zukunftsarchi tekten. Singapore wird schöner mit jedem Tag! Stamford-House stand also noch am alten Platz, in alter Pracht. Ein ganzer Straßenblock in viktorianischem Kolonialstil: viel Stuck und Giebelwerk und eine groß zügige Fensterfront über vier Etagen. Aber trotz neuer Farbe auf dem alten Verputz – ein edles, royalistisches Gelb, unterbrochen von goldenen Ornamenten – sprossen hin und wieder sattgrüne Pflanzen aus aufgebrochenen Ecken der Fensterleibungen und aus übertünchtem, morschem Mauerwerk. Kleine, bizarre Büsche, Gras und Blüten. So etwas belebt und verfremdet, ein kleiner, un vermeidbarer Akzent im tropischen Klima dieser Stadt, in dieser feuchten Hitze der senkrecht stehenden Äqua torsonne und den verläßlichen, täglichen Regenfluten. Das Wasser fiel dann auch wie eine Wand aus den schwarzgrauen Wolken, die der Monsun-Wind von einem aufgeheizten Meer her über die Stadt und die Insel trieb. Es sammelte sich in den knietiefen Rinnen, die vorsorglich die Straßen begrenzten. Füllte die Kanäle, in denen die Sampans ankerten und die Dschunken. Es floß in Strömen von den Dächern, lief an Fassaden entlang, die davon grau und fleckig wurden. 230
Der Scheibenwischer des alten Taxis hatte Mühe, die Wasserflut zu bewältigen, die über die Windschutzscheibe floß. Von der exotischen Atmosphäre der Stadt war durch diesen Regenvorhang nicht viel zu erkennen. Chinesische Schriftzeichen auf Reklameschildern, die weit in die Straße ragten. Ein Konvoi bunter Fahrrad-Rikschas, die gerade einen Platz überquerten. Die Insassen – gutgelaunte, ältere und zweifelsfrei amerikanische Touristen – schützten sich notdürftig mit Plastikfolien gegen die Nässe. Und die alten Männer unter ihren tropfenden Strohhüten stemmten sich mit letzter Kraft in die Pedale. Aber aus dem Autoradio kam der richtige Klang und erzeugte das authentische Gefühl für diese Metropole Süd ostasiens: Werbespots auf chinesisch, malayisch, englisch. Einträchtig vereint in ihrer Kampagne für japanische, amerikanische, europäische Produkte. Und dann hielt das Taxi. Der Fahrer zeigte hinaus ins Wolkenbruch-Inferno. Auf der anderen Straßenseite, vor den Konturen eines prachtvollen Gebäudes, huschten Gestalten aller Rassen durch den Regen. »Stamford-House«, sagte er und grinste überglücklich, weil es ihm gelungen war, aus dieser relativ kurzen Strecke vom Hotel hierher drei volle Kilometer Umweg heraus zumelken. »Six Dollar, fifty Cents.« Wenn ihm die Fahrgäste auf die Schliche gekommen wären, hätte er Kopf und Kragen riskiert. Denn die Gesetze zum Schutze von Touristen waren streng und die Strafen drakonisch. Wie alle Gesetze und Strafen in dieser straff verwalteten Stadt. 231
Doch seine Fahrgäste hatten offenbar andere Probleme und zahlten anstandslos. Er half beim Öffnen der Tür und schaute den beiden mitleidsvoll nach, wie sie im dichtesten Regen die Straße überquerten und unter den Arkaden zum Stamford-House verschwanden. Susan schüttelte sich die Nässe aus den Haaren, von ihren Schultern, und sah sich suchend um. Ein Wachmann trat auf sie zu, in schwarzer Uniform mit Schirmmütze, Gummiknüppel und Colt. Er salutierte lässig mit zwei Fingern und wollte behilflich sein. Steve hielt ihm einen vorbereiteten Zettel hin. »S-L-Wong«, las der Mann, nickte und zeigte nach oben: »S L Wong, Advocates and Solicitors, yes. Third Floor!« Steve dankte, schleuderte die Wassertropfen, die sich auf seinem Hut angesammelt hatten, auf den Marmorboden und begann den Aufstieg. Susan ging neben ihm und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Im Zwischenstock hing eine Tafel. Die Mieter des Ge bäudes waren mit weißen Steckbuchstaben aufgelistet. Die Advokaten und Notare waren in der Überzahl. »Hier!« Susan zeigte auf »S L Wong«. Kein Punkt hinter dem »S« und keiner hinter dem »L«. Sie fand das merkwürdig. »Warte hier auf mich!« Sie drückte Steve ihre Umhän getasche in die Hand, hatte nur das gelbe Kuvert mit den Fotos entnommen. Steve steckte das Tuch ein, mit dem er seine Kamera getrocknet hatte, und sah Susan fragend an. »Wieso? Ich komm’ doch mit!« 232
»Nein, Bleib hier! Bitte! Zur Sicherheit! Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, kommst du nach! Ja?« Er nickte. »Sei vorsichtig!« »Sicher.« Sie lächelte. Machte sich selbst Mut: »Vielleicht rührt diesen Mister Wong meine Geschichte zu Tränen. Und er hilft mir. Gegen jede Mafia der Welt …« Sie ging. Und Steve blickte auf seine Uhr, dann hinter Susan her, die eilig die Stufen der breiten Treppe nach oben stieg, welche in einer lichtdurchfluteten Halle endete. Er lehnte sich an die Wand und beobachtete den Wachmann, der in dem winzigen Foyer seine Runden drehte. Fünf Schritte zur Tür, drei quer, fünf Schritte zu rück zur Treppe. Susan durchquerte die weiträumige Halle und blickte nach oben. Breite Galerien zogen sich an allen vier Seiten über alle vier Etagen. Darüber spannte sich ein Glasdach mit schwarzen Flecken. Ein dicker Chinese in Shorts und Unterhemd schob eine Parkett-Poliermaschine vor sich her. Von irgendwoher sickerte chinesische Musik. Der ein schmeichelnde Gesang einer Frauenstimme. Zwei Inder in hellen Leinenanzügen und mit leuchtenden Krawatten kamen in angeregter Unterhaltung die Treppe herunter. Beide trugen jeweils ein Aktenköffer chen aus Schlangenleder in der Hand, und sie machten Susan höflich Platz. In der dritten Etage wanderte Susan die Galerie entlang. Auf Mahagonitüren mit geschwungenen Klinken waren 233
große, glänzende Messingtafeln aufgeschraubt. Unter den Namen der jeweiligen Kanzleien, der Rechtsanwälte, Notare und Advokaten, in lateinischer Schrift, stand das gleiche noch mal in leuchtendroten chinesischen Schrift zeichen. Neben den Türen hingen gerahmt und unter Glas lange Listen der jeweils hier registrierten Firmen. Es waren die unterschiedlichsten Unternehmen der verschiedensten Branchen. Oft hatten mehr als drei Dutzend ihr »Registered Office« hinter einer Tür. Eine dieser Firmen war die »SEROTEX LTD«. Vertreten durch die Kanzlei »S L Wong«. Susan klopfte, trat ein, als sie keine Antwort erhielt. Hinter einer Rezeption, umgeben von drei Telefonen, saß eine junge Chinesin in dunkelblauem Seidenkostüm und blickte ihr erwartungsvoll entgegen: »Sie wünschen, bitte?« »Ich komme gerade aus New York. Kann ich bitte Mi ster Wong sprechen?« »Mister S L Wong ist seit fünf Jahren tot!« Sie sagte das sehr sachlich. Ohne jede Emotion. Eine Information, weiter nichts. »Ach …« Susan wußte im Augenblick nicht so recht weiter. »In welcher Angelegenheit kommen Sie?« Auch das klang wiederum sehr geschäftlich und kühl. »Sie vertreten hier, wie ich sehe, die Firma ›SEROTEX LIMITED‹.« »Ja, kann sein.« Die junge Chinesin stand auf, ohne lange zu überlegen, verließ ihre Rezeption und öffnete die 234
Glastür zu einem vollbesetzten Büro. Mehrere Sekre tärinnen arbeiteten dort an Schreibmaschinen und waren zu beschäftigt, um aufzublicken. Susan wollte der jungen Chinesin folgen, aber die winkte ab: »Bitte, warten Sie hier.« Sie verschwand, schloß die Tür und ließ Susan in dem Vorzimmer allein. Warum telefoniert sie nicht, fragte sich Susan. Warum läuft sie, um sich zu erkundigen, in ein Nebenzimmer? Hat sie keine Liste über die hier vertrete nen Firmen vor sich liegen? War »SEROTEX« das Codewort für eine besondere Anmeldung, für das Einholen von Instruktionen? Hatte sie, Susan, durch die Nennung dieses Namens bereits Dinge in Gang gesetzt, die ihr gefährlich werden konnten? Sollte sie besser gehen? Jetzt, sofort? Sich unauffällig und still zurückziehen? Steve zu Hilfe holen? Nur wenige Minuten später kam die junge Chinesin zurück und begab sich wieder hinter die Rezeption. Und Susan stand immer noch wie angewurzelt an der gleichen Stelle. Unfähig, sich zwischen Flucht und Angriff zu ent scheiden. »Es dauert noch«, sagte die junge Chinesin, ohne aufzublicken. Und widmete sich intensiv dem Sortieren irgendwelcher Schriftstücke. Susan wandte sich um, betrachtete den Stadtplan Sin gapores, der an der Wand hing, einen Kalender mit krau sen Schriftzeichen, Reklame einer Bank in Shanghai. Aber letzten Endes nahm sie das alles nicht wahr. Da ertönte hinter ihr das Schnarren der Wechsel 235
sprechanlage. Aber es meldete sich keine Stimme. Es war anscheinend nur ein Signal. Die junge Chinesin erhob sich wieder, kam um die Re zeption herum und öffnete die eine Hälfte einer breiten, hohen Tür. »Bitte, kommen Sie!« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »10. September. Der erste Versuch, die drei Araber zu porträtieren, ist fehlgeschlagen. Sie standen sorglos auf dem Backbord-Brückennock, und ich hatte mich mit Teleobjektiv auf der Back verschanzt. Da packte mich etwas überraschend der Bootsmann, ein Algerier aus Oran, und nahm mir die Kamera ab. Ich wußte nicht, daß er bewaffnet war. Völlig unnötig, mir mit dem Colt zu drohen. Jetzt hocke ich eingelocht in meiner Kammer und warte darauf, daß sie kommen und mich über Bord werfen. Aber seit Stunden ist alles still. Nur die Maschine dröhnt gleichmäßig und läßt die Flaschen im Regal zittern.«
42 Niemand erwartete sie. Der Raum war leer. Er wirkte weit, hell und licht, trotz des dunklen, schwarzlackierten Fußbodens mit den breiten Dielen. Ein Fenster in der langen Reihe stand offen. Das Brausen des Verkehrs drang herauf in diese Stille. Der Wind wir 236
belte Regentropfen in den Raum. »Bitte, nehmen Sie Platz!« Die junge Chinesin deutete auf einen der beiden Stühle in der Mitte des Raumes. Die standen sich dort gegenüber, mit hohen Lehnen, steif und förmlich. Getrennt durch einen winzigen, zierlichen Schreibtisch. In der halbgeöffneten Tür wartete die junge Chinesin, bis Susan sich in Bewegung gesetzt hatte. Dann verließ sie den Raum. Susan war allein. Zögernd ging sie weiter, auf die beiden Stühle zu. Dem einen waren Telefon und Schreibzeug zugewandt. Mehr lag nicht auf dem Tisch. Keine Briefe. Keine Akten. Den anderen Stuhl drehte Susan, nicht viel, nur ein kleines Stück, um die Tür im Blickfeld zu behalten, bevor sie sich setzte. Zwei große Ventilatoren rotierten langsam an der Decke. Der kühlende Luftstrom bewegte die Zeitungen auf einem Abstelltisch. Es waren europäische und ameri kanische Zeitungen. Aber auch chinesische, druckfrisch und sorgsam gefaltet. Auf dem Fußboden stand eine Orchidee in einem buntlackierten Topf mit einem Drachenmotiv. Darüber hing ein Porträt in einem breiten, mattschwar zen Rahmen: ein chinesischer Geschäftsmann in den be sten Jahren. Er lächelte zurückhaltend auf den Besucher herab. Mister S L Wong war also tot. Und sein Nachfolger ließ sie warten. Ein Chinese? Ein Europäer? Susan studierte das Porträt, diese freundlichen und 237
trotzdem unergründlichen Augen. Diesen strengen, ehr geizigen Mund. Diese intellektuelle Arroganz. Advokat und Notar. Repräsentant von drei Dutzend Firmen. Und seit fünf Jahren tot … Da riß Susan eine Frauenstimme aus ihrer Betrachtung, und es dauerte einige Augenblicke, bis sie den fremd ländischen Akzent, diesen freundlichen, leisen, ruhigen Ton, den sie kannte, richtig einordnen konnte. »Wo ist Ihr Freund? Der Fotograf? Wartet er unten?« Susan hatte diese Frau, diese Ruth nicht erwartet. Nicht hier. Nicht in Singapore. Nicht an diesem anderen Ende der Welt. Obwohl ihr Auftauchen hier doch letzten Endes von einer bezwingenden Folgerichtigkeit war. Irgendwo auf diesem Planeten mußten die Fäden doch zusammen laufen. Bei irgendwem. Und daß es hier sein würde, bei dieser Frau, das hätte sie mit etwas Instinkt und Scharfsinn eigentlich erahnen müssen. Susan war erstarrt und fasziniert zugleich. Und diese Frau, diese Ruth in ihrem sehr formellen, schwarzen Kleid lehnte an der Fensterwand. Die Helligkeit, trotz des grau en, tropischen Regentags, ließ ihre schlanke, dunkle Ge stalt wie eine Silhouette erscheinen, eine harte, überstrahl te Kontur im Gegenlicht. Die Brille mit den dicken Gläsern brach das Licht, das auf die weißen Wände fiel, und verbarg dadurch die Augen der Frau, ließ sie wie blind erscheinen. Das Haar trug sie wie immer glatt: glatt zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden. Und da Susan stumm blieb, fuhr sie fort: 238
»Ich habe Ihre Hartnäckigkeit unterschätzt, Susan Galloway. Ich dachte immer, eine junge Mutter kümmert sich in erster Linie um ihr Kind!« Das war wie ein Stichwort, ein Reizwort, das Susan aus ihrer Lähmung aufschreckte. Sie reagierte eine Spur zu heftig, zu unbeherrscht und zu laut. »Was haben Sie mit Julie gemacht? Wo ist sie?« Ruth blieb stehen, wo sie stand. Sie schloß lediglich das offenstehende Fenster, und der große Raum wurde darauf hin noch stiller, noch intimer. »Es geht ihr gut!« sagte sie nur. »Und David McGhee? Haben Sie den auch gekidnappt?« Susan bemühte sich, ruhig und beherrscht zu bleiben. Aber es fiel ihr schwer. »David McGhee ist an Bord der ›Stella Polaris‹. Das Schiff war hier. Vor wenigen Tagen noch. Es ist ausge laufen und hat sein Ziel bereits erreicht. Der Mann wird also in wenigen Tagen wieder bei Ihnen sein.« »Und wo ist er jetzt?« Als Susan auf diese Frage keine Antwort erhielt, stellte sie sie anders: »Wo liegt das Ziel der ›Stella Polaris‹?« Ruth kam einige Schritte näher und versuchte zu erklä ren, sehr ruhig, sehr sachlich, aber auch sehr freund schaftlich: »Wir repräsentieren Firmen, die uns Vertrauen entge genbringen und handeln in deren Namen. Dafür garan tieren wir absolute Diskretion! In diesem Fall haben wir die Anweisung erhalten, jegliche Information der Öffent 239
lichkeit von vornherein zu verhindern. Mit allen Mitteln! Und daran werden wir uns halten.« Ein melodisches, elektronisches Zirpen erfüllte plötzlich den Raum, verstummte, erklang von neuem, in gleich bleibendem Takt. Ruth kam auf den Schreibtisch zu und nahm den Tele fonhörer ab. »Ja? Hallo?« Sie wartete, hörte zu. Dann gab sie die Anweisung: »Gut! Geben Sie mir das Kind!« Susan war wie auf dem Sprung. Nach einer Pause von nur wenigen Sekunden, die sich für Susan unerträglich dehnten, sprach Ruth mit mütter licher Herzlichkeit in das Telefon: »Hallo, Julia! Hier ist Tante Ruth! Wie geht es dir, mein Kleines?« Wie elektrisiert war Susan aufgesprungen, aber Ruth hob abwehrend die Hand und hörte sich in Ruhe an, was Julia ihr alles Wichtiges zu berichten wußte. »Schön, mein Kleines!« unterbrach sie schließlich den Redefluß des Kindes. »Erzähl das jetzt alles deiner Mama! Die steht hier neben mir! Ja?!« Mit der höchst überflüssigen Ankündigung »Ihre Tochter!« reichte sie Susan den Hörer. Susans Hände zitterten, als sie danach griff. Sie wandte sich ab von dieser Frau, wandte ihr den Rücken zu. »Julia! Julie, mein Liebes! Wo bist du? … Julie …?« Ruth hatte sich hinter ihren Schreibtisch gesetzt und antwortete für das Kind: »Sie weiß es nicht! Und die 240
Verbindung ist nicht besonders gut.« Susan reagierte nicht auf diesen Einwand. »Julie …! Du …! Ich habe mir schon solche Sorgen um dich gemacht …« Aber dann stutzte sie, hörte dieser gar nicht so unglücklich klingenden Kinderstimme zu und unterbrach schließlich den detaillierten Bericht über erstaunliche, unglaubliche, fabelhafte Abenteuer: »Was? Wer ist Johnny?« Julia erklärte es ihr in aller Ausführlichkeit. »Ein kleiner Hund? Von Tante Ruth? Und du darfst ihn behalten?« Ja, sie durfte ihn behalten. Für immer. Und er schlief bei ihr neben dem Bett. Es war überhaupt wunderschön, dort, wo sie war. Viel schöner als bei diesen Nonnen und den Kindern, die sie nicht verstand. Es war ein Haus mit echten Dienern. Und sie hatte ein eigenes Kindermädchen, das Elizabeth hieß. Und Julia hatte beschlossen, vorläufig dort zu bleiben. »Julie …« Susan merkte, wie ihre eigenen Emotionen und Wünsche an den Gefühlen und Interessen ihres Kin des vorbeiliefen. »Ich vermisse dich so sehr, Julie …!« Aber Julie vermißte die Mama – im Augenblick zu mindest – keineswegs. Sie war offenbar – irgendwo auf dieser weiten Erde – in eine Zauberwelt geraten, in der man Mutterliebe und Zuwendung für eine gewisse Zeit durchaus entbehren kann. »Julie! Ich will, daß du bald wieder zu mir kommst, ja!?« Susan wischte sich über die Augen, verstohlen, schämte 241
sich, weil sie spürte, daß diese Frau hinter ihr sie beob achtete. Aber dann, mitten in Julias Plauderton, wurde sie aufmerksam, weil die Geschichte eine wichtige Informa tion zu enthalten schien: »Was denn? Du bist geflogen? Mit dem Flugzeug? Zu sammen mit Tante Ruth? Eine ganze Nacht?« Da unterbrach Ruth das Gespräch. Legte den Finger auf die Gabel des Telefons. Ohne Vorwarnung. »Das genügt! Sie wissen, was Sie wissen wollten. Das Kind lebt! Und es ist glücklich!« Den Hörer immer noch in der Hand, setzte Susan sich auf die Kante des Stuhls. Sie versuchte zu kombinieren, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber Ruth, hinter ihrem Schreibtisch, hatte bereits über sie entschieden: »Sie fliegen heute nacht nach London zurück. Zusam men mit Ihrem Fotografen-Freund. Wenn wir unser Pro jekt endgültig abgewickelt haben und auch in Zukunft nichts über die ›Stella Polaris‹ und ihre Ladung an die Öffentlichkeit dringt, steht einer Familienzusammenfüh rung nichts mehr im Weg! Dann werden Sie Ihren Mann – und eines Tages auch Ihre Tochter – zurückbekommen! Aber auch nur dann!« Susan legte den Hörer auf die Gabel. Dann blickte sie die Frau herausfordernd an: »Wenn Steve Lensky, der Fotograf, wenn der sich wei gert zurückzufliegen und zu schweigen?!?« Aber Ruth blieb höflich und kühl und überlegen: »Es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu überzeugen! Das ist jetzt Ihr Problem, Miss Galloway!« 242
»Er ist Journalist! Er arbeitet an einer Reportage. Und er hat einen Vertrag mit einer Agentur!« Da erhob sich Ruth. Das Gespräch war ihrer Meinung nach zu Ende. Und mit unendlicher Liebenswürdigkeit geleitete sie Susan, die sich ebenfalls erhoben hatte, zur Tür. Und dabei teilte sie ihr, vertraulich, mit: »Pat Cooper, sein Chef, war sehr kooperativ! Er hat schnell begriffen, daß die Story einer jungen, hübschen Frau, die ihrem geliebten Mann rund um die Erde folgt, auch ohne die ›Stella Polaris‹ und ihre Ladung zu erwäh nen, den Lesern sehr zu Herzen gehen wird!« Sie öffnete die Tür, um Susan in den Vorraum zu ent lassen. Und leise, wie unter alten Freundinnen, fügte sie noch hinzu: »Manchmal bringt eine Nachricht, die nicht erscheint mehr ein. Und macht weniger Ärger.« Aus dem Tagebuch des David McGhee: »11. September. Habe mich in meiner Kammer verbarri kadiert und werde nicht kampflos aufgeben. Aber sie kommen nicht. Niemand scheint sich für mich zu interes sieren. Wozu auch? Von einem Schiff auf hoher See ist noch keiner geflüchtet. Seit Stunden höre ich sie arbeiten. Der Kran ist in Be trieb, und die Container poltern an Deck. Wozu? Ich weiß, es ist Wahnsinn, aber ich werde den Ausbruch wa gen. Ich muß wissen, was auf diesem Schiff geschieht.«
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»Wo?« »Dort drüben!« Steve ging voraus, und Susan folgte ihm, niedergeschlagen und lustlos. »Wir müssen weitermachen, es hilft nichts! Wir haben einen Vertrag unterschrieben. Außerdem mache ich keine halben Sachen!« Er war stehengeblieben, wechselte die Objektive. »Du machst gerade eine halbe Sache! Wir haben uns einschüchtern lassen!« Susan wartete, bis seine Kameras schußbereit waren. Er hatte plötzlich drei. Die neuesten Modelle. Und Zusatzobjektive. In Singapore, sagte er, sei das alles wesentlich billiger. Möglich. Aber nun war er blank. Hatte er sein letztes Geld ausgegeben? Ihr gemein sames Geld? Oder auch das Geld von Pat Cooper? Wenn auf Steves Telegramm hin kein neues Geld aus London eintraf, dann war in der Tat die Reise hier und heute nacht zu Ende. Endgültig. Dann gab es nur noch die Maschine zurück nach London. Dann war das Rück flugticket das einzige, was sie noch hatten. Ganz nach den Wünschen dieser Dame Ruth. Aber bis dahin, meinte Steve, gäbe es Pflichten. Und deshalb waren sie beide hierher gefahren. Zu dieser weiten Bucht: Singapore Harbour. »Stell dich dort drüben hin. Dicht ans Wasser. Und denk daran: Hier lag vor wenigen Tagen noch das Schiff. Und dein geliebter Dave war an Bord.« Sie stellte sich also dort hin. Dicht ans Wasser. An die 244
sem Quai. Und sie dachte daran. Das Hafenbecken wimmelte von Sampans und Bar kassen, von Ausflugsdschunken und Ruderbooten. Ein same, alte Männer mit spitzen, runden Strohhüten hielten ihre Angeln in das trübe, ölige Wasser, und der »Mer lion«, Singapores Wappentier, halb Löwe, halb Fisch, überblickte als riesige Marmorstatue das Getümmel. Draußen lagen einige Dutzend Frachter und Tanker auf Reede, warteten darauf, daß ihnen ein Platz im Freihafen zugewiesen würde. In ganz Asien, so sagte man hier, gäbe es keinen größeren Hafen als Singapore. »Wie heißt das Schiff jetzt«, fragte Susan. »In deiner zensierten Geschichte?« Steve fotografierte, umkreiste Susan auf der Suche nach dem optimalen Standpunkt. »Ich werde einen hübschen Namen erfinden. ›Andro meda‹, vielleicht ›Cassiopeia‹, ›Orion‹. Oder ›Stella Infer nalis‹.« Er lachte und fand sich witzig. Aber Susan verzog keine Miene. »Na, los!« rief er ihr zu. »Zeig ein bißchen mehr Ent täuschung! Sei verzweifelt! Rauf dir die Haare und brich in Tränen aus! Das Schiff ist weg, Dave ist fort! Du bist um einige Tage zu spät gekommen!« Susan reagierte nicht auf diese Regie-Anweisungen. Sie stand starr und unbeweglich auf dem Quai und schaute hinaus aufs Meer, zu dieser Flotte, die dort vor Anker lag. »Warum nimmst du dir nicht irgendein Fotomodell für deine Story?« fragte sie Steve. Sie warf ihm einen kurzen, ärgerlichen Blick über die Schulter hinweg zu. 245
»Cooper sagte, es soll ein authentischer Fall sein!« »Ja. Und das Wesentliche wird jetzt verschwiegen!« »Auch die halbe Wahrheit ist eine Wahrheit: Du bist du und Dave ist Dave. Auch ohne diese verdammte ›Stella Polaris‹ und ihre heiße Ladung.« Da stand sie nun in der stechendheißen, senkrecht ste henden Sonne. Der Boden dampfte noch vom letzten Re genguß. Am Horizont drohte schon die nächste schwarze Wolkenbank. Der Schweiß lief ihr über das Gesicht. Die Bluse klebte auf der Haut. Und Steve war sauer. Er begann zu resignieren, lichtete Susan ab, wie sie eben war. Was wollte er eigentlich noch? Irgendeine Form von künstli chem Ausdruck? Theater? Sie war enttäuscht. Sie war ver zweifelt. Sie wußte eigentlich nicht, welches schauspieleri sche Talent sie noch hätte bemühen müssen, um authen tisch zu sein. Sie kam sich vor wie eine Puppe. Aber sie sah keinen Sinn mehr darin, hier weiter mitzuspielen oder die Reise fortzusetzen. Ihre Suche nach Dave war systematisch ver eitelt worden. Mit kriminellen Methoden. Seit Julias Ent führung war sie erpreßbar. Was diese Farce nun sollte, dieses Fotografieren, dieses »Dokumentieren« ihrer Ge schichte, die nicht mehr ihre Geschichte sein durfte, diese Bemühung um eine »Reportage«, die nur noch pure Erfindung sein konnte, wußte sie nicht. Und trotzdem wagte sie keinen Widerspruch, als die Kamera unentwegt surrte und klickte. Wieder einmal hatte sie eine grenzenlose Lethargie, eine abgrundtiefe Müdigkeit überfallen. Sie versuchte, alle 246
Gedanken abzuschalten, um nicht aufzuwachen, um sich nicht ihrer Situation bewußt zu werden und dann loszu schreien. Und so ließ sie alles mit sich geschehen. Bis sie das Geräusch hörte. Das sickerte ganz langsam in ihr abgestorbenes Be wußtsein. Mobilisierte dort Fragmente einer Erinnerung … »Seid ihr wahnsinnig?« Schüsse! Geschrei! Und darüber, und in die dann folgende, atemlose Stille hinein: der Warnton einer Sirene. Erst fern, dann näher kommend. Ein schmerzhaftes Auf- und Abschwellen. Ein alarmierendes, nervöses Signal. »Die Sirene!« Susan blickte sich suchend um. »He, was ist denn?« Steve ließ die Kamera sinken, weil sein Modell sich aus dem Bild bewegte. »Hörst du nicht? Die Sirene!« Natürlich hörte er sie. Dieses Warnsignal. Es war un überhörbar. Mit weiß gischtender Bugwelle kam ein Pa trouillenboot der Hafenpolizei durch das Gewimmel der kleinen Boote geschossen und steuerte den Steg der Fähr schiffe an. Susan folgte dem Boot mit dem Blick. Fasziniert. Be unruhigt. Und dabei sah sie das Telefon! Es hing an einem Lichtmast. Eine graublaue Muschel aus Fiberglas. Gleich neben dem überdachten hölzernen Anlegesteg. Dort führten Treppen und Leitern hinunter zu 247
den Booten und Fähren Und soweit Susan auch blickte: Es war das einzige Telefon weit und breit. Sie rannte los. Quer über den Quai, der vollgestellt war mit Frachtgut, Kisten, Tonnen. Unter hängenden Lasten hindurch, Schiffsladungen die in Brokernetzen an Land schwebten. An Gabelstaplern vorbei, die handliche Container in die Lagerhallen transportierten. Durch ein Gewimmel von halbnackten Trägern, die unter ihren Lasten fast zusammenbrachen. Steve hob seine Fototasche auf und folgte ihr. Irritiert, ahnungslos und ohne jedes Verständnis. Erst an dem Telefon holte er sie wieder ein. Die Muschel war oval und offen und wie ein schützendes Dach. Zerfledderte Seiten eines Telefonbuchs lagen darin an der Kette. Einwurf für Münzen in verschiedene Schlitze, je nach Wert und Größe. Aufgeklebte Instruktionen für den Gebrauch in fünf Sprachen. Die Muschel wies drei Einschüsse auf. Kreisrunde Löcher. Das Fiberglas war an dieser Stelle ausgefranst und zer splittert. Sprünge zogen sich von den Einschußlöchern aus über die Muschel wie Spinnennetze. »Es war hier!« 248
Susan berührte das Telefon mit der Hand und sah sich erschüttert um. Das Patrouillenboot verließ gerade wieder die Hafen bucht mit jaulender Sirene. »Das Geräusch! Das Signal! Am Telefon!« Sie sah dem Boot lange nach. Dann betrachtete sie die Einschußlöcher. »Die Schüsse. Das Splittern, wie von Glas. Er schrie ›Seid ihr wahnsinnig?‹. Hier muß es heller Tag gewesen ein. Zehn Uhr früh …« Sie fragte Steve, ohne ihn anzusehen: »Wie spät ist es jetzt?« Er blickte auf seine Uhr: »Zehn nach zehn!« »Und in London?” Er rechnete kurz nach: »Zwei Uhr nachts …« »Es war wirklich hier!« Sie hatte keinerlei Zweifel, war überzeugt, sah wieder einen Weg, eine Chance, denn sie hatte den Ort identifiziert: »Hier in Singapore. Hier im Hafen. An diesem Telefon! Von hier aus hat er mich an gerufen. Hier hat er um Hilfe geschrien. Und dort drüben lag sein Schiff!« Es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren: »Mein Gott, hier haben sie auf ihn geschossen!« Sie sah hilfesuchend auf Steve, erwartete eine Antwort, irgendeinen beruhigenden, tröstlichen Kommentar. Aber Steve blieb stumm und betrachtete etwas verwirrt diese Kette von Indizien. Da lehnte Susan ihre Stirn gegen das zersplitterte, durchlöcherte Fiberglas der Muschel. »Wenn sie ihn getroffen haben … Wenn er verletzt 249
ist …« Sie blickte dem Patrouillenboot nach, das gerade zwi schen den ankernden Frachtern verschwand. »Dann ist er noch hier … in der Stadt!« Aus dem Tagebuch des David McGhee:
»Irgendwann zwischen Nacht und Tag. Irgendwo auf See.
Das Tagebuch habe ich gerettet. In der Tasche meines Overalls. Und einen Stift. Sonst nichts. Als ich an Deck auftauchte und die Container sah, die sie mit dem Kran in die Wasserbecken hievten, fingen sie mich ein, der Bootsmann und seine Helfer, und sperrten mich in den Farbenbunker unter der Back. Absolute Dunkelheit. Nur zweimal am Tag blendet mich schmerzhaft das Licht. Da bringt Woo, mein treuer chinesischer Freund, Wasser und einen Schlag Essen. Auch seine eigene Portion. Er kann nichts essen, wirkt müde, apathisch und fühlt sich elend. Er war noch nie auf See. Und jetzt läßt die Bewegung des Schiffs ihn taumeln. Ich habe ihm gezeigt, wo ich dieses Tagebuch verstecke, und er wird es retten! Ich schreibe bei absoluter Finsternis. Und das Dröhnen des Krans, das Poltern der Container auf das Deck, Stahl gegen Stahl, erfüllt diesen kleinen, stickigen, brütend heißen Raum. Aber Woo spricht nicht über das, was da draußen ge schieht. Er hat Angst. Und er wirkt krank.«
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44 »Kommen Sie mit!« Die junge Schwester im »General Hospital« von Singa pore, eine schöne Malaiin mit Rangabzeichen am Häub chen und silbernen Schulterklappen auf ihrer weißen Uni form, holte Susan und Steve im Warteraum ab. Sie folgten ihr durch arkadenartige Gänge, vorbei an kleinen Innenhöfen, die mit Dschungelvegetation, mit Pal men und Bambus bepflanzt waren. Patienten wurden mitsamt Infusionsflaschen auf Liegen in Krankenzimmer geschoben. Angehörige von Unfall opfern standen ratlos herum. Pflegepersonal huschte an ihnen vorbei. In einem Seitentrakt erreichten sie schließ lich die Notaufnahme. »Warten Sie hier, bitte!« Die Schwester informierte den Oberarzt. Der versorgte im Operations-Saal einen Verletzten. Aber sein chinesi scher Assistent erschien, und Steve zeigte ihm das Bild der vier Männer zwischen den Containern. »Wir suchen diesen Mann hier!« Er zeigte auf Dave. »Unfallopfer?« fragte der Assistenzarzt, und Steve nickte. Eine OP-Schwester streifte die blutverschmierten Gum mihandschuhe ab und warf sie in einen Eimer. Der Arzt griff nach dem Foto und betrachtete es mit Interesse. Susan gab dazu ihren Kommentar: »Es muß am 29. September passiert sein. Vor genau elf Tagen. Vormittags gegen zehn. Schußverletzungen.« »Ob einer von uns am 29. Dienst hatte? Vormittags? Da 251
müßte ich erst nachsehen in unserem Buch. Wir haben täglich dreißig bis fünfzig Verletzte hier in der Not aufnahme. Aber ›Schußverletzungen‹? Nein. Daran würde ich mich erinnern. Da kommt dann die Polizei. Schieße reien gibt es bei uns hier in Singapore eigentlich nicht. Oder was meinst du?« Der Oberarzt war erschienen, ein Inder. Er streifte ebenfalls seine Handschuhe ab, dann zog er sich den Mundschutz vom Gesicht. »Was meine ich wozu?« »Schußverletzungen. Vor elf Tagen. Zeigen Sie ihm das Foto! Kannst du dich an einen von denen erinnern?« Der Oberarzt zuckte die Schultern, schüttelte seinen Kopf, wandte sich ab, bevor er das Bild noch richtig be trachtet hatte. Aber dann stutzte er, kam zurück und nahm es Susan aus der Hand. »Halt! Ja, doch! Den einen kenne ich. Aber das war nicht hier in der Notaufnahme. Das war drüben in der Radio logie! Schwerste Strahlenschäden! Der Mann lag drei Tage hier. Dann war er tot!« Susan setzte sich auf einen herumstehenden Hocker. Sie schaute auf die Reihe weißer Milchglasscheiben, die anfin gen, langsam vor ihren Augen zu verschwimmen, sich auf lösten in einen hellen, lichten Nebel. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Sie wollte auch keine Gewißheit mehr. Es schien ihr, als ginge sie das alles nichts mehr an. Steve schaltete sich ein und versuchte, der Aussage auf den Grund zu gehen. 252
»Einen Moment, ja! Von welchem Mann sprechen Sie? Welcher ist tot? Welcher von diesen vieren?« Er hielt dem Oberarzt das Bild noch einmal hin. Der beugte sich darüber, betrachtete es sehr genau und tippte dann mit seinem Finger auf den bärtigen Europäer, der mit einem Schutzhelm auf dem Kopf und mit irgendwelchem technischen Gerät in der Hand ganz links in der Gruppe stand. »Der hier!« »Unsinn! Nein!« rief Steve und sah kurz zu Susan, die ihn teilnahmslos anblickte. »Ich meine … Sie sagen, dieser Mann hier ist tot! Das ist schlimm! Das ist tragisch! Natürlich! Aber uns geht es nur um diesen hier! Aus schließlich! Das hier ist derjenige, den wir suchen! Die in der Verwaltung wissen nichts. Haben seinen Namen nicht in der Kartei. Und daher fragen wir Sie. Und alles, was wir wissen wollen, ist: Ob dieser Mann hier verletzt war und hier eingeliefert und behandelt wurde. Egal unter welchem Namen.« Er hatte mehrmals und eindeutig auf Dave getippt. Aber der Oberarzt verneinte: »An den, den Sie suchen, erinnere ich mich nicht. Viel leicht habe ich sein Gesicht schon mal gesehen, vielleicht nicht. Nur eines steht fest: Der Tote war der Mann hier links außen, der mit dem Bart und dem Helm.« Susan war aufgestanden, kam wieder näher. Sie schaute nun an Steves Schulter vorbei auf das Bild, auf diesen Mann mit dem Helm. »Der Chef, fuhr der Oberarzt fort, »hatte uns alle zu 253
sammengeholt. Er wollte uns schwere Strahlenschäden vorführen, wie sie durch Radioaktivität ausgelöst werden. Das bekommt man ja normalerweise nie zu sehen.« Schwestern und Pfleger hatten sich um die Gruppe versammelt, und das Bild ging nun von Hand zu Hand, während sich der Oberarzt weiter erinnerte: »Der Mann muß einer ungeheuer hohen Strahlungsdosis ausgesetzt worden sein. So um die zehntausend rem. Nach Schätzung unserer Radiologen.« Er warf noch einmal einen gründ lichen Blick auf das Foto, und dann hoben sich seine buschigen Augenbrauen: »Warten Sie mal! Ja! Die beiden anderen hier, jetzt erkenne ich die erst, die waren auch mit dabei!« Er zeigte auf den Araber und den Chinesen, die auf dem Bild rechts und links von David standen. »Die hatten aber bedeutend weniger abbekommen: dreihundert bis vierhundert rem. Schätzungsweise: Das ist zwar auch eine tödliche Dosis, und die ersten schweren Symptome zeigen sich schon nach zwölf Stunden. Aber die leben wohl noch und sind in ambulanter Behandlung.« Steve stellte zur Sicherheit nochmals die entscheidende Frage: »Der dritte von links – der hier -, der war also nicht dabei! Da sind Sie absolut sicher?! Ja?« Der Oberarzt war gewissenhaft und ließ sich Zeit. Er betrachtete ein letztes Mal und wiederum sehr einge hend das Bild, während er in einen neuen Operationskittel schlüpfte, den ihm die Schwester am Rücken zuschnürte. »Da war nur ein Europäer darunter. Und den hat es 254
leider erwischt. Die anderen beiden laufen noch frei herum. Kommen jeden Tag mal vorbei. Viel kann man da nicht mehr machen. Verbandwechsel. Aufbrechende und nässende Wunden versorgen. Schmerzen lindern. Es gibt keine grundlegende Hilfe mehr. Und keine Chance.« Er ließ sich die frischen Handschuhe überstülpen, während er weitersprach: »Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft, wie und wo das passiert sein könnte. Aber die beiden halten den Mund! Vielleicht sind sie in den Fallout von Atombombentests geraten. Die Franzosen zünden im Pazifik, auf Muroroa, ja immer noch am laufenden Band ihre Bomben. Trotz internationaler Proteste!« Da schaltete sich der Assistenzarzt noch einmal ein: »Vielleicht sind es Greenpeace-Leute, die diese Tests stören oder verhindern wollten?« Susan nahm das Bild wieder an sich, schob es in das gelbe Kuvert, dessen Kanten bereits eingerissen waren: »Wo finden wir die beiden?« »Jeden Morgen um sieben in der Ambulanz!« verriet der Assistent. »Wir müssen die beiden heute noch sprechen! Unbe dingt!« Susan war sicher, daß diese beiden Crewmitglieder von der ›Stella Polaris‹ über das Schicksal von David Bescheid wissen mußten. Sie hatte jetzt die Chance, Au genzeugen zu treffen und zu befragen. Sie dachte an den Wettlauf mit der Zeit, an den gebuchten Flug zurück nach London. Noch heute abend. An das vermutlich vergebliche Warten auf den telegrafischen Scheck von Cooper. So wie 255
sie ihn einschätzte und nach dem Gespräch mit dieser Ruth würde er sich wohl in Schweigen hüllen. Steve dagegen glaubte nicht mehr an eine Aufklärung des Falles David McGhee in der allerletzten Minute. Trotz dem unternahm er einen Versuch: »Wo erhält man die Privatadresse von den beiden Männern? Die wohnen doch sicher irgendwo hier in der Stadt!« Er mußte zur Seite treten, denn ein Verletzter wurde durch die Tür und in den OP geschoben. Die Gruppe der Ärzte und Schwestern löste sich schlagartig auf. Der Oberarzt ging ohne Gruß. Und der Assistenzarzt sagte noch, bevor die Schwester die breite Glastür zum plötzlich hell erleuchteten OP-Raum verschloß: »Ich glaube nicht, daß unsere Verwaltung Namen und Adressen von Patienten weitergibt!« Aus den Notizen des David McGhee: »Um die Behauptung zu widerlegen, Spaltmaterial aus zivilen Leichtwasser-Reaktoren, die ausschließlich der Stromversorgung dienen, sei nicht ›waffenfähig‹, ließ der frühere US-Präsident Carter, selbst Nuklearingenieur, eine Plutoniumbombe aus diesem Material bauen und erfolgreich testen. Die verheerende Wirkung dieses Sprengsatzes unterschied sich von Bomben aus speziell erbrütetem Waffen-Plutonium nur durch seine ›signifi kante Verschmutzung‹, also durch starken radioaktiven Fallout.«
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Am Ende der Arab Street prallten Alt und Neu, Ost und West, Nord und Süd friedlich aufeinander. Die alten, niederen Häuser der Kolonialzeit mit ihren malerischen Arkaden, mit Läden, Restaurants und Handwerksbetrieben weichen langsam vor den imposanten Glasfassaden der Shopping-Centers und den übervölkerten Wohnblocks mit ihrer phantasielosen Baukasten-Architektur zurück. Und wenn man vom Rochor-Kanal aus über die Dächer blickt, dann sieht man die goldenen Kuppeln von drei islamischen Moscheen, die überladenen Fassaden zweier Hindu-Tempel, die geschwungenen Giebel eines ShintoSchreins, zahllose buddhistische Tempel und die spirrigen, neugotischen Türmchen einer anglikanischen Missions kirche aus dem letzten Jahrhundert einträchtig in der Runde stehen. Hier lebt das bunteste Völkergemisch der Stadt, viel leicht ganz Asiens. Die bleichgesichtigen Europäer sind allerdings in der Minderzahl. Vom frühesten Morgen bis tief in die Nacht braten, grillen, schmoren, sieden, dünsten auf den offenen Feuer stellen von über tausend Garküchen die Spezialitäten sämtlicher ethnischer Gruppen. Susan stocherte mit ihren Stäbchen lustlos in einer Schale mit Reis, kämpfte gegen Übelkeit und Hitze, gegen Hoffnungslosigkeit und Jet-lag, jener Streß-Erkrankung, der ausschließlich Fernreisende zum Opfer fallen, da in den ersten Tagen der Ankunft ihre innere Uhr von der des 257
Gastlandes allzusehr abweicht. Die Zeitdifferenz zwischen Singapore und New York beträgt ganze 13, die Reisezeit 28 Stunden. Für sensible Naturen war jetzt der falsche Augen blick für ein exotisches Mittagsmenü. Steve dagegen hatte nicht die geringsten Probleme. Seine Streßresistenz war überraschend hoch. Er aß sich quer durch die Speisekarte des wohlbeleibten chinesischen Kochs. Der brachte, verglichen mit der puritanischen Küche Englands, dreitausend Jahre mehr Erfahrung und mehr Freude am Genuß mit ein. Und Steve erinnerte sich seiner polnischen Ahnen und würdigte die hier zelebrierte hohe Kunst über die Maßen. »Du mußt die Ente in Pflaumensoße probieren«, riet er Susan, »oder das Honig-Huhn!« Sie nickte nur und stocherte weiter. Der mit Köstlichkeiten überladene winzige Tisch, an dem sie saßen, stand im hintersten Winkel eines kleinen, nach zwei Seiten hin offenen Restaurants. Die Fassade war hundert Jahre alt und immer noch leuchtend blau, und sie war geschmückt mit zahllosen Gips-Ornamenten und Majolika-Kacheln. Das Haus lag an einer der belebtesten Ecken der Arab Street, direkt am Rochor-Kanal, und die beiden Stockwerke über dem Restaurant waren eine beliebte Herberge für Seeleute aller Nationen. Es hatte also gewichtige Gründe, daß Steve und Susan hier aßen. Der Wirt kam vorbei, in langen, britischen Shorts, und sein verschwitztes Unterhemd war gesprenkelt von Soßen flecken. Er wedelte sich mit einem fettigen Handtuch Kühlung zu. 258
»Alles in Ordnung?« fragte er. Und er mußte die Frage dreimal wiederholen, bis Steve diese chinesisch-gutturale Form der englischen Sprache verstand. »Oh, ja! Danke! Sehr gut! Ausgezeichnet! Super!« Seine Begeisterung war ehrlich. Er hatte noch nie so gut und so billig gegessen. »Und die Lady? Keinen Appetit?« Der Wirt wirkte be trübt. In seiner Ehre gekränkt. Susan versuchte ihn zu versöhnen. Mit der Andeutung eines Lächelns. »Vielleicht etwas anderes?« Er machte viele Vorschläge. Darunter auch: »Salziges Yoghurt? Ist gut bei der Hitze. Oder Mango mit frischem Ingwer?« Aber Susan schüttelte nur leicht den Kopf und stocherte weiter in ihrem Reis. »Schade!« sagte der Wirt. »Sehr schade …!« Europäische Frauen zu verstehen, besonders in diesem Punkt, fiel ihm schwer. Aber dann wandte er sich vertraulich an Steve: »Der Mann dort drüben, mit dem deutschen Wagen …« Er ließ das Handtuch, das er zu einer Rolle gedreht hatte, um sich die Hände daran zu trocknen, in eine bestimmte Richtung pendeln: »Er wohnt hier oben im Haus. Sie haben mich nach ihm gefragt …!« Er ging kommentarlos weiter, ohne auf eine Reaktion zu warten, ohne auch nur einen Blick auf die Straße, auf diesen bewußten Mann geworfen zu haben. Er steuerte seine offene Küche an, nahm den Wok, die gußeiserne, tiefe Pfanne vom Holzkohlenfeuer, und dann erst schaute er sich neugierig um. Steve hatte eine seiner Kameras mit Teleobjektiv aus der 259
Tasche genommen und visierte nun aus der Arkade heraus ein metallic-farbenes Mercedes-Coupe an, das auf der anderen Straßenseite parkte. Der Fahrer hatte gerade die Tür geöffnet und schickte sich an, auszusteigen. In diesem Teil der Stadt, in dieser Straße, war ein Wagen dieser Klasse eine Seltenheit. Er war, was den Kontrast noch erhöhte, zwischen einer Reihe alter Fahrrad-Rikschas abgestellt, die am Geländer zum Kanal angekettet waren. Dort nahm der Eigentümer die bewundernden Blicke seiner Umgebung entgegen. Schon nach wenigen Aufnahmen ließ Steve die Kamera sinken und blickte irritiert auf Susan. Sie hatte das gelbe Kuvert geöffnet und das Foto mit der Gruppe um Dave entnommen. Und nun versuchten beide – offenbar vergeblich –, den Chinesen, der sich dort draußen an sei nem brandneuen Wagen zu schaffen machte, auf diesem Bild zu identifizieren. War das der junge, sportliche Seemann, der fröhlich und optimistisch in die Kamera blickte? Im Gegensatz dazu wirkte der Mann dort draußen vergreist. Sein Gesicht war aufgedunsen, die Haut blasig, rotgeädert und mit auf gebrochenen, nässenden Schrunden bedeckt. Sein Haar war schütter und verklebt. Aus den kurzen Ärmeln seines Seidenhemds ragten bandagierte Hände und Arme. Mit einem Poliertuch hatte er begonnen, die Spuren von Regentropfen und Staub vom Lack seines teuren Wagens zu entfernen. Seine Bewegungen wirkten jedoch müde und matt. »Komm! Und bring die Fotos mit!« Steve versteckte die 260
Kamera in seiner Umhängetasche und ging an den wenigen Tischen des Restaurants vorbei nach draußen. Susan folgte ihm, das gelbe Kuvert in der Hand. »Schöner Wagen!« Steve stellte sich neben den Merce des, betrachtete ihn demonstrativ von allen Seiten und grinste den Chinesen freundlich an. Der unterbrach seine Beschäftigung, blickte auf und lächelte höflich zurück. »Wirklich wunderschön!« Steve nickte anerkennend. »Ein 380 SE, ja? Und er gehört Ihnen?« Der Chinese nickte nur. Er versteckte seinen berechtig ten Besitzerstolz hinter einer fast schüchternen Beschei denheit. Steve inspizierte nun den Wagen mit sachkundigen Blicken. »Ich komme aus Europa. Und ich weiß: ziemlich teuer so ein Coupe!« Dann beugte er sich vertraulich vor: »Was kostet das Modell hier in Singapore?« Der Chinese hob seine bandagierte linke Hand und winkte mit einer kleinen Geste höflich ab. »Na gut!« räumte Steve ein. »Ich verstehe: also ein Vermögen. Und die Lieferzeit?« Mit dieser Frage gelang es ihm endlich, den Chinesen aus seiner Reserve zu locken: »Einige Monate! Aber wenn man Beziehungen hat … und auch noch etwas Geld dazulegt … drei Tage!« Er lächelte wieder. Er freute sich über die Anerkennung dieser freundlichen Europäer. Nur die junge Frau, die irgendwann dazugetreten war, irritierte ihn. Die musterte ihn schon die ganze Zeit, sehr nachdenklich, sehr ernst, und 261
blickte dabei auf irgendwelche Papiere, irgendwelche Bilder, die sie verborgen hielt. Steve beugte sich zum Armaturenbrett und gab sich höchst überrascht, »Wie denn, erst dreihundert Kilometer! Phantastisch! Sie sind ein glücklicher Mensch! Sie haben sich einen Traum erfüllt! Sie sind sehr reich? Ja?« »Der Wagen ist alles, was ich besitze!« Die Antwort des Chinesen klang eine Spur zu schlicht. Resignation schwang mit. Und Trauer. Er lächelte auch nicht mehr. Aber dann, als würde er die trüben Gedanken von sich abschütteln, fing er plötzlich an, sehr emsig den Lack zu polieren. »Trotzdem – Sie sind zu beneiden!« Steve stellte das, gewissermaßen abschließend, fest. Und dann, erst jetzt, schien er etwas zu bemerken, was ihn erstaunen ließ. »Oh, Sie sind verletzt?« Er deutete auf die verbundenen Hände des Chinesen, auf die bis zum Ellenbogen bandagierten Arme. Der Mann stutzte, folgte Steves Blick. Dann verbarg er die Hände schamlos hinter seinem Rücken. »Nicht wichtig!« sagte er nur und wandte sich ab und öffnete die Tür des Wagens, um einzusteigen. Aber Steve kam ihm zuvor und stoppte ihn rechtzeitig: »Warten Sie! Ich brauche Ihre Hilfe!« Er nahm Susan das Gruppenfoto aus der Hand und zeigte es dem Chinesen: »Ein Foto von Ihnen. Und von Ihren Freunden! Erin nerung an vergangene Zeiten. Der hier, das sind doch Sie! Mister Woo Teh-Shui!« Er hoffte, daß er den Namen, den er im Krankenhaus erfahren hatte, auch richtig aussprach: 262
»Woo Teh-Shui … So heißen Sie doch?! Oder?« Aus den Notizen des David McGhee: »Unter der Schirmherrschaft der Kernenergiebehörde NEA (einer Unterabteilung der OECD) wurde 1975 die ›SWG‹ (Seabed Working Group) gegründet, deren Aufga be es ist, zur Endlagerung von hochradioaktivem Atom müll Lagerstätten unter dem Meeresboden auszuwählen und zu erforschen. Im März 1983 standen bereits vier Gebiete im Atlantik zur Diskussion. Die langfristige Nutzung des Meeres als Quelle mensch licher Nahrung wird durch dieses Vorhaben nachhaltig bedroht, da bisher kein Behältertyp entwickelt werden konnte, dessen Lebensdauer und dessen Widerstandsfä higkeit gegen Lecks und Bruchgefahr den Anforderungen auch nur im entferntesten genügen würden.«
46 Dieser Mister Woo Teh-Shui hätte leugnen können. Ohne weiteres. Das war nicht er! Auf diesem Bild: ein junger Mann. Und jetzt: ein Wrack. Zeitlos vergreist. Unkenntlich durch die Schwären und Wunden. Die wilde schwarze Mähne von einst war verschwunden. Sekret aus aufge brochener Kopfhaut lief ihm über die Stirn, glitzernd wie Schweiß. Nur die Augen waren, wenn er lächelte, noch die gleichen. Nur ohne Glanz. Aber er lächelte ja nicht mehr. Er hatte nur einen kurzen Blick auf das Foto geworfen. Es konnte ja kaum älter als sechs Wochen sein. Dann 263
schaute er sich um, scheu, ängstlich, als erwarte er Verfolger. Susan nahm Steve das Foto aus der Hand und hielt es Woo Teh-Shui noch einmal und sehr eindringlich vor die Augen: »Es geht nicht um Sie! Es geht um diesen hier!« Sie deutete auf Dave. »David McGhee! Ich suche diesen David McGhee! Er war mit Ihnen auf diesem Schiff! Auf der ›Stella Polaris‹. Und Sie müssen mir dabei helfen, ihn zu finden! David McGhee ist mein Mann!« Woo Teh-Shui betrachtete abwechselnd Susan und das Bild. Dann griff er schließlich selbst mit seinen banda gierten Händen nach dem Foto. Seine Finger, die aus dem Verband herausragten, waren blaurot und blutunterlaufen. Er blieb stumm. Stumm, nachdenklich, unsicher. Sein Blick auf Susan, als er das Foto schließlich sinken ließ, wirkte verstört. »Wo ist David McGhee jetzt?« fragte sie ihn. »Was ist mit ihm geschehen?« Woo Teh-Shui warf wieder einen Blick auf das Bild, dann sah er zu Boden, als könne er sich der Beantwortung dieser Frage entziehen. Mit dem bandagierten Handrücken wischte er schließlich über das Foto, als müsse er mit dem Staub auch den Geist eines Verstorbenen wegwischen: den Mann mit dem Bart und dem Helm. Schließlich murmelte er leise, fast unverständlich, und er bewegte dabei kaum den Mund: »Nicht hier …! Nicht mehr in Singapore …! Aber ich kann jetzt nicht!« 264
Er hatte hochgeblickt. In eine bestimmte Richtung. Nur ganz kurz. Als Susan diesem Blick folgte, sah sie vor dem kleinen Restaurant den Wirt und einige Gäste interessiert und neugierig herüberschauen. Aber dann erkannte sie, was Woo Teh-Shui zaudern und stocken ließ: Ein weiterer Mann mit bandagierten Händen kam auf sie zu. Der hatte gerade seinen neuen, silbergrauen Cadillac verlassen und die Wagentür abgeschlossen. Und nun überquerte er die Straße. Woo Teh-Shui gab Susan unauffällig das Foto zurück, schob es über die Motorhaube seines Wagens. Sie nahm es an sich, schob es unter das Kuvert. »Sie wissen jetzt, wie sehr ich Sie brauche!« flüsterte sie noch. »Wir wohnen im Raffles Hotel. Wir erwarten Sie dort im Palmengarten. Um sechs!« Steve mischte sich ein. Er flüsterte nicht, sondern sagte laut und deutlich, was er zu sagen hatte: »Sie erzählen uns, wo dieser David McGhee jetzt steckt. Und das hübsche Foto hier gehört Ihnen – und nicht der Polizei. Die hätte doch dann viele Fragen an Sie. Die will doch wissen, wie ›das da‹ passiert ist. Und wo!« Er hatte auf die bandagierten Hände gedeutet. Auch auf die des zweiten Mannes, der in diesem Augenblick neben ihn getreten war. Und der nun in einem drohenden Tonfall zwei sehr kurze Fragen stellte: »Was gibt’s hier? Was ist los?« Er war ein arabischer Typ mit dunklem Teint und tiefen Pockennarben im Gesicht. Aber durch die Spuren der Strahlung war es weit mehr entstellt: Nässende Krusten 265
überzogen Mundwinkel und Stirn, Schläfen und Augen höhlen. Und aus einem der Nasenlöcher sickerte blasses Blut. »Oh, wir haben nur gerade herzliche Grüße bestellt!« antwortete Steve. »Von einem Ihrer Crew-Kameraden! Von der ›Stella Polaris‹! Sie sind doch Mister Moustakas aus Beirut, ja?!« Moustakas reagierte nicht. Er blickte nur weiterhin forsch und herausfordernd Steve ins Gesicht. Da hielt der ihm schließlich das Gruppenfoto entgegen. »Hier! Gut getroffen, nicht wahr?« Feindselig schaute Moustakas an dem Foto vorbei auf Steve. Der ließ sich nicht einschüchtern: »Ist das Ihr neuer Wagen? Dort drüben?« Steve fragte mit gespielter Naivität und zeigte auf den silbergrauen Cadillac. Da Moustakas offenbar nicht bereit war zu reden, be kannte Woo Teh-Shui mit einem höflichen Lächeln: »Moustys neuer Wagen. Ja. Ein Cadillac. Er liebt die Amerikaner, ich liebe die Deutschen. Ja, so einfach ist das!« »Na, fein!« Steve nickte den beiden sehr nachdenklich zu. »So hat jeder bekommen, was er sich wünscht. Die Firma war also nicht gerade kleinlich, um sich das Schweigen zu erkaufen. Von Leute, die ihr Leben riskiert – und dabei verloren haben!« Er nahm Susan am Arm und ging mit ihr weg. Wieder hinüber in das kleine Restaurant unter den Arkaden. Die 266
Neugierigen zerstreuten sich, und der Wirt verschwand hinter seinem Herd. Auf der anderen Straßenseite standen immer noch die beiden Männer mit ihren bandagierten Händen, schwei gend, und blickten den beiden mit höchst unterschied lichen Gefühlen nach. Aus den Notizen des David McGhee: »Eine Untersuchungskommission des US-Repräsentan tenhauses stieß bei der Aufklärung des schweren Unfalls der Sequoyah-Fuels Co. auf eine Kette vermeidbarer Feh ler. Durch Überladung eines Tankwagens mit UranHexafluorid wurde tödliches, radioaktives Fluorwasser stoffgas frei, tötete einen Arbeiter und verursachte bei den übrigen Beteiligten schwere Nierenschäden. Sauerstoff masken waren nicht vorhanden, die Highway Patrol wurde erst fünfzehn Minuten nach dem Unfall alarmiert, die Anwohner erst nach 45 Minuten evakuiert. Die Ge gend um Gore, Oklahoma, wurde schließlich großflächig geräumt.«
47 »Donau so blau … so blau … so blau …« Eine japanische Geigerin im Frack, ein malaiischer Pianist und ein indischer Bassist unterhielten auf diese nostalgische Weise die wenigen Gäste im »Palm Court« des Raffles Hotel mit Wiener Weisen und Walzerklängen. Es war »Heure Bleue«, die Zeit zwischen »Tea-Time« und 267
»Dinner«. Langsam fiel die Dämmerung ein in diesem Park, im Schatten des klassischen, ehrwürdigen Gebäudes in seinem majestätischen Weiß. Die ersten Lampen brannten bereits in den Arkaden. Und die Hitze des Tages wich langsam, sehr langsam in einen grau-blauen samtigen Abendhimmel. Das »Raffles« in Singapore ist längst schon Legende. Einhundert Jahre beherbergte es die Prominenz der Welt, die sich in diesen Teil Asiens verirrte: die Mitglieder des britischen Königshauses, Filmstars und Präsidenten, zahllose Dichter und Schriftsteller wie Hermann Hesse, Rudyard Kipling, W. Somerset Maugham, Joseph Conrad, Noel Coward, die alle auf ihre Weise diesem Ort ein Denkmal gesetzt haben. Die hohen und höchsten Offiziere der japanischen Besatzungsarmee des letzten Krieges residierten hier und anschließend der Befreier und Sieger, General McArthur. Ihnen allen – mit Ausnahme der Besatzer – waren auf schmalen, verwitterten Schildern die Suiten um den »Palm Court« gewidmet, den park ähnlichen Innenhof, ein tropisches Paradies. In allen Ecken und Winkeln des alten Gebäudes, in den Ballsälen und Bars, in den Banketträumen des Restaurants, nistete noch der Zauber einer längst versunkenen Epoche. Viele Hundert Orchideen in vollster Blüte, in allen nur erdenklichen Farben und Formen, säumten die Brüstung der Arkaden vor den Suiten. Und die Palmen wurden nur noch überragt von der neuerbauten »Raffles-City«, einem Hotelkomplex des Jahres 2000 mit dreitausend Betten, gleich nebenan, dessen Chromtürme in diesem Augenblick 268
die letzten Sonnenstrahlen reflektierten. Susan saß allein in einer stillen Ecke dieses Parks neben einer breit ausladenden Fächerpalme und wartete. Sie wartete voller Ungeduld. Aber nun hatte sie etwas entdeckt, zufällig, und sie war zutiefst irritiert: Auf der oberen Galerie, halb verborgen hinter Orchideen und Säulen, lief eine Frau in einem dunklen Kostüm. Sie strebte eilig und sehr geschäftig einer der Außentreppen zu. Sie trug die scharzen Haare streng zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden. Als sie die Treppe erreichte und aus der Dunkelheit trat, spiegelten ihre dicken Brillengläser für einen kurzen Augenblick den Wider schein der Sonne. In Singapore, in dieser Stadt, auf dieser Insel lebten mehrere Millionen Menschen. Trotzdem gab es keinen Grund, das Auftauchen von Ruth Wong in einem inter nationalen Hotel als besonders überraschend oder sensa tionell zu empfinden. Eine Rechtsanwältin mit weltweiten Verbindungen war hier noch am ehesten anzutreffen. Doch was Susan verunsicherte, das war ein ganz be stimmter Verdacht. Und dieser Verdacht wurde erhärtet, wurde ihr fast zur Gewißheit: Denn kaum eine halbe Mi nute später erschien ein Mann an der gleichen Stelle und ging den gleichen Weg wie Ruth. Mit federndem Schritt. Rasch, zielstrebig. Halb verborgen hinter Orchideen und Säulen. Es war Steve. Er kam aus seinem Zimmer. Und er war auf dem Weg hinunter in den Park. Er sah sich nicht um, schien unbeschwert und heiter, 269
und er hatte – zum ersten Mal seit Tagen – keine seiner Kameras dabei. Er benutzte, im Gegensatz zu dieser Ruth Wong, eine der Innentreppen und kam, als er den Park erreichte, ge radewegs auf Susan zu. »Hallo!« Er setzte sich neben sie auf einen der weiß lackierten, gußeisernen Stühle, die mit ihrem durchbro chenen Spitzenmuster zwar malerisch-antik wirken, aber leider unbequem waren. Seinen Zimmerschlüssel legte er demonstrativ auf den gußeisernen Tisch, auf Susans gelbes Kuvert und dicht neben ihren Schlüssel. Dann lehnte er sich entspannt zurück. Er vermied es, Susan anzusehen, und er schloß sogar die Augen. Sie beobachtete ihn von der Seite, in aller Ruhe und sehr nachdenklich. »Und?« fragte sie schließlich. »Hast du Pat Cooper er reicht?« Er richtete sich auf und sah sie überrascht an, als hätte er diese Frage absolut nicht erwartet. »Natürlich! Deshalb war ich doch oben! Und du hattest wie immer recht!« Er grinste sie an, war also verunsichert, und bemühte seinen jungenhaften Charme: »Ende der Story! Cooper ist an der Reportage – unter den gegebenen Umständen – nicht mehr interessiert. Daher kein Scheck. Er erwartet uns morgen abend in London.« »Du warst lange weg!« Sie nippte an ihrem Glas. Sin gapore-Sling. Eine rotleuchtende Spezialität des Hauses. Vermutlich war das Rezept auch schon einhundert Jahre alt. Fruchtsäfte, ein Stück Ananas und Gin und noch so 270
allerlei. Es schmeckte angenehm, erfrischend, fruchtig und süß. Nur die Wirkung des Gins wurde meist unterschätzt. »Die Verbindung nach London … Die lieben kleinen Chinesinnen in der Telefonvermittlung … Und Cooper hat geredet wie ein Buch! Es war ein R-Gespräch! Keine Angst! Außerdem: Ich habe unseren Rückflug bestätigen lassen!« »Das hattest du schon heute mittag getan. Nach meinem Besuch bei Ruth Wong.« Er antwortete nicht. Schaute nur unruhig und nervös in die Gegend und verteidigte nicht einmal diesen Wider spruch. Die Musiker unter dem Baldachin hatten eine kurze Pause eingelegt. Plötzlich war der Park erfüllt vom Abend konzert der exotischen Vögel, die in den Blütenbüschen hockten, und vom Sirren der Zikaden. Aber lange dauerte der Frieden nicht. Nach einigen Klavier-Akkorden erklan gen die »Geschichten aus dem Wienerwald«. »Hast du sonst irgendjemand getroffen?« fragte Susan und beendete dieses belastende Schweigen. »Mit irgend jemand gesprochen?« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen harmlosen Tonfall zu geben. »Nein!« sagte er nur. Und erst nach einer langen, nachdenklichen Pause fragte er dagegen: »Wen denn auch!« Es klang mürrisch und schroff, und er schaute auf seine Uhr. »Ja, gehen wir!« Er stand auf. »Wohin?« Sie blieb demonstrativ sitzen und griff wieder nach ihrem Glas. Es war immer noch fast voll. »Der Mann von der ›Stella Polaris‹ wollte kommen. Dieser Woo Teh 271
Shui. Hast du’s vergessen? Es ist gleich sechs!« »Er wird nicht kommen!« stellte Steve lakonisch fest. »Er weiß genau, was er riskiert!« »Wir wissen auch, was wir riskieren!« »Ja! Und deshalb fliegen wir heim! Und deshalb lassen wir uns hier draußen, und in dieser Stadt, besser nicht mehr blicken! Du gefährdest Dave! Sie haben immer noch Julia! Laß uns nach oben gehen und die Koffer packen. Unsere Maschine nach London geht um dreiundzwanzig Uhr zehn!« »Wir haben noch über fünf Stunden Zeit!« »Einchecken ist einundzwanzig Uhr dreißig. Und wir fahren eine dreiviertel Stunde!« »Zwanzig Minuten!« Sie fand es schon wieder amüsant, wie schlecht er sich verstellen konnte, wie durchschaubar dieses Theater war, das er spielte. Er war auf eine geradezu bubenhafte Art unehrlich. Leider gab es für Susan keinerlei Möglichkeiten, ihn zu entlarven und ihn dieser Unehr lichkeit zu überführen. »Ich bin sicher, er wird kommen!« Sie beabsichtigte, die Diskussion damit zu beenden. »Und ich werde warten! Er will das Foto.« »Er weiß genau, daß wir’s der Polizei nicht weitergeben werden!« Ein Kellner kam auf die beiden zu. Er brachte auf sei nem Tablett zwei frische Drinks. Die rote Farbe leuchtete in den Gläsern, als seien sie von innen beleuchtet. »Zwei Singapore-Sling, bitte«, murmelte der Kellner und stellte die Gläser auf den Tisch. 272
»Ich habe nichts bestellt!« Susan griff nach ihrem halbvollen Glas. »Du, Steve?« Der schüttelte den Kopf und roch an einem der Gläser. »Da ist Gin drin! Nichts für mich! Danke!« »Doch! Sie haben bestellt, Madame!« Der Kellner schob den kleinen Silberteller mit der Rechnung, die wie üblich mit der Schrift nach unten lag, sehr auffällig, sehr absicht lich, zu Susan hin, und nicht etwa zu Steve. Und er beob achtete sie dabei sehr intensiv. Susan schien diese deutliche Geste nicht zu begreifen. Sie blickte wieder zu Steve. Aber der hatte nur noch im Sinn, möglichst rasch und ohne jede Verzögerung, und vor allem ohne Probleme, von hier wegzukommen. Und so schickte er sich an, die nichtbestellten Drinks zu bezahlen. Ohne Diskussion. Er griff in seine Hosentasche und brachte, auf der Suche nach Singapore-Dollars – ein dickes Geldbündel zum Vor schein. Susan erkannte es sofort und mit einem Blick: Es waren grüne Scheine, United-States-Dollars, und jeder Schein, ganz eindeutig, ganz offensichtlich zu 100 Dollar säuberlich übereinandergerollt und mit einem Gummi band zusammengehalten. Steve registrierte diesen Blick von Susan und steckte das Bündel sofort in die andere Tasche. Dann fand er noch einige restliche Singapore-Dollars in der Tasche und legte, sichtlich irritiert, aber auch ohne groß nachzudenken, einen der Scheine auf den Teller des Kellners. Und dann erst griff er nach der Rechnung. Aber der Kellner zog überraschenderweise den Teller 273
zurück und hielt ihn, fast aufdringlich, Susan entgegen: »Ihre Rechnung, Madame!« Wieder ein demonstrativer Blick. Auf sie. Auf das Tablett … Da hatte sie endlich verstanden: Denn unter der Rech nung für die beiden Drinks lag ein Stück Papier. Der ab gerissene Rand einer Zeitung. Und darauf stand, mit un gelenker, großer Schrift, eine Adresse. Als sie den Zettel aufhob – sah sie das Notizbuch. Klein, abgegriffen und mit öligen Flecken. Zögernd öffnete sie eine der Seiten, und sie erkannte die Schrift. Daves Schrift. David McGhees Tagebuch. Der Kellner war bereits einige Schritte gegangen, zurück zur Bar am anderen Ende des Parks, als Susan aufsprang und versuchte, ihn einzuholen. »Warten Sie!« Aber er blieb nicht stehen. »Wo ist er?« Sie packte den Kellner am Arm. Aber der schaute sie nur indigniert und verständnislos an: »Wer, bitte, Madame?« »Der Mann, der Ihnen den Zettel gegeben hat und das Notizbuch! Wo ist er?« Sie schaute sich um. Aber außer friedlich plaudernden oder gelangweilten Hotelgästen war in dem kleinen Park niemand zu sehen. Auch der Kellner hatte sich umgesehen. Irritiert und scheu. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Madame …« Aber sein Blick hatte ihn bereits verraten. Denn genau in dieser Richtung, neben dem Eingang zur Küche erkannte Susan, zwischen Palmenblättern und Orchideen, eine Gestalt. 274
Aus den Notizen des David McGhee: »Radioaktives Jod 129, das eine Halbwertzeit von 17 Mil lionen Jahren hat, eines Zeitraums von der Dimension eines Erdzeitalters, und das, besonders bei Kindern, Schilddrüsenkrebs hervorrufen kann, wurde in Milch aus der Gegend um das Wiederaufbereitungswerk West Valley (New York – inzwischen stillgelegt) und Windscale (Großbritannien) nachgewiesen. ›Halbwertzeit‹ bedeutet, daß in diesem Zeitraum die Hälfte des jeweiligen Materials durch Strahlung zerfallen ist.«
48 »Warten Sie! Bitte! Laufen Sie nicht weg!« Atemlos erreichte sie die Balustrade. Hinter einer Säule verbarg sich die Gestalt. Er hätte fliehen können. Durch den Wirtschaftstrakt zum Parkplatz. Zu seinem Traumwagen. 380 SE. Sie hätten ihm nicht folgen können. Die Balustrade war zu hoch. Die Töpfe mit den Orchideen standen zu dicht. Und zwischen ihr und der Mauer war ein tiefer Abflußgraben aus Beton. Der den ganzen Park, den »Palm Court«, umgab. Aber er wollte nicht fliehen. Jetzt nicht mehr. Wo diese Frau ihm gegenüberstand. Halb unter ihm. Einen ganzen Meter tiefer. Und er ihre Augen sah. Und ihre Stimme hörte. Er ließ sich nicht blicken. Blieb für sie immer noch 275
hinter der Säule und der Balustrade verborgen. Aber sie hörte nun sein Flüstern. Trotz Zikaden und Vogelgezwit scher, trotz Geschirrklappern aus der nahen Küche und »Geschichten aus dem Wienerwald«, mit Geige, Baß und Klavier! »Ich habe alles aufgeschrieben, was ich weiß!« Susan warf einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand, auf diesen Fetzen Papier, und sie nickte. »Ja. Ich sehe es. Danke! Und das hier ist sein Tagebuch! Wo haben Sie es her?« »Er war mein Freund! Ich sollte es verstecken. Sie haben es nicht gesucht bei mir. Ich glaube, es ist für Sie …!« »Ja. Für mich. Danke. Danke!« Sie warf einen kurzen Blick darauf und hoffte, Antwort auf viele Fragen zu er halten. Aber eine Frage blieb, und die Antwort darauf würde sie nicht in diesem Notizbuch finden: »Was ist mit Dave? Wo ist er? Ist er wirklich noch an Bord? Wie geht es ihm? Ist er verletzt?« Der Chinese kam näher. Und das erste, was sie von ihm sah, waren die Hände. Weiß bandagiert, mit Mullbinden, durch die rötlich-blasses Sekret gesickert war. Und dann die blutigen Fingerkuppen. »Nicht verletzt!« flüsterte Woo Teh-Shui. Und Susan mußte sich weit nach vorn beugen, um ihn zu verstehen. »Auch nicht krank!« fuhr er fort. »Wie wir anderen vom Schiff, die man ausgewechselt hat hier in Singapore. Weil wir nicht mehr arbeiten konnten.« Sie sah jetzt sein Gesicht durch die Orchideen. Durch weiße und lila Blüten. Und rote Knospen. Die Haut seines 276
Gesichts war straff und lederartig gespannt und weiß und rot und lila und blutig verkrustet. »Er hat Glück gehabt!« flüsterte er. Sein Mund war verschorft. »Er war nicht dabei beim Umladen! Sie haben ihn die ganze Zeit unter Deck eingesperrt. Weil er foto grafiert hat. Und er ist geflohen. Hier im Hafen. An Land geschwommen. Aber sie haben ihn gefangen. Trotz der Polizei. Und zurückgebracht auf das Schiff. Es ist aus gelaufen vor zehn Tagen. Wohin – das steht auf diesem Zettel. Und die Adresse der Firma, die diese Container in Australien übernehmen soll!« »Danke!« flüsterte Susan zurück. Und als sie sah, daß er sich abwenden wollte, um zu gehen, noch einmal: »Danke. Daß Sie mir geholfen haben!« Da blieb er stehen. Kam sogar zurück. Die zwei, drei Schritte. Und stützte die Hände auf, vorsichtig, auf die Balustrade, zwischen den Blumen. »Ich habe nichts mehr zu verlieren! Wissen Sie!« Er beugte sich vor. Sein Gesicht kam näher, und Susan konn te in seine matten, glanzlosen Augen blicken, die nun um rahmt waren von dieser geradezu perversen Blütenpracht. »Ich bin krank! Sehr krank! Kann nichts mehr essen! Alles ist voller Blut! Die Haare fallen mir aus. Die Haut bricht auf. Überall. Die Schmerzen sind unerträglich. Aber bald ist ja Schluß. Noch ein paar Tage …« Er hatte ganz langsam gesprochen. Mit großen Pausen. Und war plötzlich verschwunden. Hatte sich abgewandt. War gegangen. Schleppend, schwach. Und unsäglich zerstört. 277
Da war Susan zurückgekehrt zu ihrem Tisch. Zu Steve. Sie war sehr still. Sehr nachdenklich. Und Steve war stumm! Er wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht und lockerte sein Hemd. »Er war es also, ja? Und du hast ihn gesprochen!« »Ja …!« Sie nickte und setzte sich. Sie hielt immer noch das abgegriffene Notizbuch in der Hand. Und den Zettel. Diesen Fetzen Papier mit der unge lenken Schrift. Aber sie gab beides nicht weiter, sondern las noch einmal diese Adresse, dann legte sie den Zettel vorsichtig zusammen und steckte ihn zusammen mit dem Tagebuch in das gelbe Kuvert. Zu den Fotos von Dave. »Es ist unerträglich heiß hier!« Steve stand auf. »Heiß und schwül!« Er griff nach einem der vollen Gläser mit dem Singapore-Sling. Aber dann zog er die Hand wieder zurück. Und dann sah er auf Susan. Es schien, als nehme er sie erst jetzt, in diesem Augenblick, richtig wahr: diesen abwartenden, prüfenden, forschenden Blick, mit dem sie ihn anschaute. Ernst und stumm. »Was ist los? Was hast du?« Er fühlte sich ertappt und wurde aggressiv. »Willst du nicht wissen, was er mir gesagt hat? Oder weißt du es schon?« Er antwortete nicht. »Er hat gesagt: Dave ist noch an Bord. Er lebt und ist gesund!« »Wie schön für dich! Und für ihn!« Er stand unruhig neben ihr, neben dem kleinen Tisch mit den drei Gläsern. Es begann dunkel zu werden. Aber der Drink leuchtete 278
immer noch in diesem intensiven Rot. Er sah, wie Susan an ihrem Glas nippte und es dann zur Seite stellte. Wie sie das gelbe Kuvert in ihre Handtasche packte und nach ihrem Zimmerschlüssel griff. »Steve …« Wieder schaute sie ihn an, mit dieser kriti schen Überlegenheit, die ihn so wütend machte. Und dann frage sie ihn: »Wo ist eigentlich dein Rolls-Royce? Oder ist es ein Jaguar? Oder ein Porsche?« »Ich versteh’ dich nicht?« »Du hast plötzlich sehr viel Geld in deiner Tasche!« Instinktiv griff er an die Seite seiner Jeans, wo sich das Geldbündel prall abzeichnete. »Vorschuß von Cooper«, murmelte er. »Es ist sein Geld!« Aber Susan schüttelte den Kopf und ließ ihn nicht mehr aus den Augen: »Heute mittag warst du knapp bei Kasse! Und Cooper, hast du gesagt, ist ja inzwischen aus der Geschichte aus gestiegen. Kein Scheck mehr. Oder nicht? Soll ich ihn jetzt anrufen?« »Was willst du eigentlich?« Er setzte sich wieder. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er jetzt einen Kompromiß schließen mußte. Oder die Wahrheit sagen. Eins von beiden. »Also, was willst du?« »Ein Ticket!« Es klang wie eine Herausforderung, als sie das sagte. Oder auch wie eine Erpressung! »Ein Ticket nach Australien. Nach Perth. Das liegt an der Westküste! Nur eines! Nur für mich! Unsere Wege trennen sich nämlich jetzt. Und vermutlich für immer!« 279
Er grinste wieder einmal, lachte, versuchte, verständ nislos zu wirken. Aber er spürte auch sofort, daß dieses Theater bei ihr nicht verfangen würde. Jetzt nicht mehr. »Du fliegst zurück nach London!« erklärte sie ihm, und sie sagte es sehr deutlich und sehr langsam. »Ich fliege nach Perth! Und du zahlst das Ticket. Und gibst mir noch einen ausreichenden Betrag in bar mit, für diese Reise. Von ›Pat Coopers Geld‹ – da, in deiner Tasche! Wir teilen! Okay!« Er reagierte nicht. Wirkte hilflos. Ein Bub, der beim Falschspielen ertappt worden war. Es fiel ihm auch keine Antwort ein. Sie hatte keinen Spaß mehr an diesem Spiel. Sie fand es unwürdig und ermüdend. Sie wollte nach oben, in ihr Zimmer, wollte in Ruhe Daves Tagebuch lesen, das ihr wie ein Schatz, wie ein Vermächtnis so überraschend in die Hände gefallen war. Sie stand auf. »Gut! Du hast ver standen! Ich zieh’ mich um und pack’ ein. Das dauert etwa dreißig Minuten. Du zahlst inzwischen die Rechnung hier im Hotel und besorgst mir das Ticket! Ja? Und erkundigst dich nach dem nächsten Flug nach Perth! Danke!« Sie ging. Stieg langsam und erschöpft die Außentreppe hoch zu den oberen Arkaden. Aber ihre Erschöpfung kam nicht nur von der schwülen, tropischen Hitze, die immer noch, trotz der Abendbrise, über der Stadt lastete. Steve blickte ihr nach. Unentschlossen. Unendlich sauer. Und unendlich aggressiv! Er griff nach seinem Zimmer schlüssel und trommelte damit gegen den eisernen Tisch, gegen diese rotschimmernden Gläser. 280
Dann nahm er eines von ihnen in die Hand. Und trank es aus. In großen, gierigen Schlucken. Ich habe eben Durst, sagte er sich. Durst, Durst! Was soll es! Es ist heiß hier! Und er trank das zweite. Er konnte nicht ahnen, daß Susan oben zwischen den Orchideen stand, dort, wo vorher diese Ruth Wong und später er gegangen waren. Und daß sie herunterschaute zu ihm. Und ihn beobachtet. Aus dem Tagebuch des David McGhee: (ohne Datum und
weitgehend unleserlich)
»Susan, ich liebe Dich! ( …)
Wenn ich heil aus dieser Geschichte herauskomme (…) werde ich alle Versuche unterlassen, die Menschheit zu retten (…), den David zu spielen der den Goliath reizt (…). Zum Töten des Monsters bin ich, sind wir alle, zu dumm und zu arm und zu schwach! (…) Dave!«
49 Einer war bereits tot. Zwei weitere würden sterben. Der vierte in dieser fröhlichen Runde junger Männer war Dave! Susan hatte das Bild aus dem Kuvert geholt und es lange betrachtet. Dann legte sie den Zettel darauf mit der Adresse in Australien, diesen Fetzen Papier, den abgeris senen Zeitungsrand mit der so bemüht deutlichen Schrift: »Intra-Nuclear Company Pty. Ltd.« 281
Und darunter, kleiner, unleserlicher: »Perth, Western Australia. 85 St. George’s Terrace. Allendale Building.« Vermutlich auch nur wieder ein Büro mit einem Rechts anwalt. Ein Zwischenhändler. Ein Spurenverwi-scher. Ohne Verantwortung. Eine Briefkastenadresse. Was sollten diese Leute in einem Büro, mit dieser Adres se, mit einer Schiffsladung strahlender Container? Aber es war wenigstens ein gut gemeinter Hinweis. Eine neue Spur. Ein Schritt weiter. Australien war auch das logische Ziel dieser Fracht. Nach allem, was sie in diesem Tagebuch las. Sich zusammenreimte. Kombinierte. Notizen wie Mo saiksteine. Hastig hingeworfene Vermutungen, Befürch tungen, aber auch Tatsachen und Erkenntnisse. Das Ste nogramm, das Protokoll einer lebensgefährlichen Fahrt, »undercover«. Als Geheimagent. Eingepackt hatte sie in eineinhalb Minuten. Pullover und Reisetasche aus Hastings, Wäsche aus Calais, Blusen aus Marseille und aus New York. Ein paar Habseligkeiten. Das Notwendigste. Zusammengestellt um die halbe Welt. Immer nur für den nächsten Tag. Und nun nahm diese Reise kein Ende. Sie legte das Kuvert, das Foto, das Tagebuch, den Zettel mit der Adresse auf die gepackte Reisetasche. Vor dem Ventilator blieb sie stehen, tupfte sich mit einem Handtuch über das Gesicht, öffnete die feuchte Bluse, sah sich im Spiegel, schweißüberglänzt und abge spannt. So stand sie eine Weile in dem kühlenden Luft strom. Dann ging sie ins Bad. Das Wasser aus der Dusche war 282
lauwarm und lief spärlich. Aber es erfrischte. Und es schien sie wieder zu beleben. Sie hatte die Augen geschlossen, lehnte sich gegen die kühlen Kacheln. Der Wasserstrahl traf ihr Gesicht, lief über ihre langen Haare, über ihre Haut. Und Susan spürte ihre Mattigkeit in jedem Muskel, in jedem Gelenk, und sie hatte kein Bedürfnis, keine Absicht, diesen Platz jemals wieder zu verlassen. »He … Susan!!!” Susan erstarrte. Das war Steves Stimme! In ihrem Zim mer. Dicht neben ihr. Im Bad. Sie horchte. Dann schob sie den Plastikvorhang, der vor der Badewanne hing, einen Spalt zur Seite. Da blitzte es. Einmal. Zweimal. Das Schnarren des Film ransports und das Klicken der Kamera übertönten sogar das Rauschen der Dusche. Und Steve lachte. Wie ein Schuljunge, dem ein guter Streich gelungen war. Er stand in der offenen Tür zum Bad und hob bereits wieder die Kamera mit dem Blitzgerät. »Steve …!« schrie Susan und verbarg sich wieder hinter dem Vorhang. »Steve, was soll das! Verschwinde!« Aber Steve hatte nicht die Absicht, diese strategisch gute Position wieder aufzugeben. Und die Situation ungenutzt zu lassen. Die unverschlossene Tür. Die letzten gemein samen Stunden hier in Singapore. Er lehnte sich an den Türstock, breitbeinig, kampfbereit, und er fühlte sich mutig und unwiderstehlich. »Na, komm schon, Mädchen!« rief er, und Susan hörte an seiner Stimme, daß er nicht mehr nüchtern war. »Nicht 283
so schüchtern! Das soll doch ’ne runde Story werden, die sich auch verkauft! Mach den Vorhang auf und dusch weiter! Ganz ungeniert!« Er hob die Kamera und hielt sie schußbereit im Anschlag. Susan rührte sich nicht! Sie stützte sich gegen die Ka cheln und beobachtete Steves Schatten durch den milchi gen Vorhang. Da blitzte es wieder. Und wieder! Nein, er konnte sie nicht sehen. Sie war sicher. Keine Kontur, nichts. Das waren nur dumme Tricks! Er wollte sie provozieren. Herauslocken aus ihrem Versteck. Aber sie fiel darauf nicht herein: »Steve … Bitte, geh!« Wieder blitzte es! Das Wasser der Dusche lief ihr in die Augen, und die aufgelösten Reste ihres Make-ups brannten. Sie wischte das Wasser aus ihrem Gesicht und trat einen Schritt zur Seite. »Weg mit dem Vorhang, Mädchen! Du bist doch in Ordnung ! Was gibt’s da zu verstecken! Ist doch alles so, wie es sein soll! Also los: Vorhang auf für Susan Gallo way!« Wieder blitzte es. Sinnlos und dumm. »Steve, hörst du mich …?« Er antwortete nicht. »Steve, du bist betrunken. Und du weißt es. Wenn wir Freunde bleiben wollen, bitte, dann geh!« Er ging nicht. Er kam näher! Sie hörte seine Schritte, sie sah seinen Schatten. 284
Dann stand er dicht vor ihr. Getrennt von ihr nur durch die dünne Plastikfolie. »Freunde …?!« Wieder lachte er. »Ja …! Keusch wie Brüderchen und Schwesterchen! Kapiert! Dave steht zwischen uns! Dave … Dave … Dave …! Akzeptiert! Aber ein paar nette kleine Fotos werden ja wohl noch drin sein, bevor ich endgültig abhaue. Oder bist du prüde?« Er griff nach dem Vorhang, um ihn wegzureißen. Ein Handgemenge begann. Ihre beiden Gesichter waren sich plötzlich gegenüber. Sehr nah. Und Susan fühlte sich schutzlos und in die Enge getrieben. Da wich sie zurück, lehnte sich wieder gegen die Ka cheln, stemmte einen Fuß gegen den Rand der Wanne – und mit dem anderen trat sie zu. Mit aller Kraft. Steve stöhnte auf, taumelte rückwärts, krallte sich dabei an dem Vorhang fest, riß ihn aus den Ringen, die an der Stange rund um die altmodische Wanne hingen. Susan versuchte noch, die Plastikfolie vor ihren nackten Körper zu halten, verlor das Gleichgewicht, rutschte aus auf dem nassen Email der Wanne, taumelte und stürzte schließlich nach draußen, auf Steve, der bereits am Boden lag. Den Vorhang hatte sie mitgerissen. Der lag nun ausge breitet zwischen ihr und ihm. Und über seinem Kopf. Und nun preßte sie diese Folie auf sein Gesicht, spannte sie wie eine Haut, wie eine Maske, über seinen Mund, seine Nase, seine Augen. Er rang nach Luft. Und sie wußte, er würde ersticken. Wenn sie nur lange genug durchhielt. Aber sie ließ trotz 285
dem nicht los. Wich seinen zuckenden Bewegungen aus, seinem Aufbäumen. Aber dann spürte sie, wie ihre Kraft nachließ. Und wie er die Oberhand gewann. Er machte sich mit einer einzigen, abrupten Drehung seines Körpers frei, begrub sie unter sich, rollte mit ihr in die Ecke des Raumes, dort, wo die Kamera und das Blitzgerät lagen. Er spreizte ihre Beine, ihre Arme, preßte ihre Hände mit eisernem Griff gegen den Boden, machte ihren Körper bewegungsunfähig durch sein Gewicht. »Nicht mit mir, du!« keuchte er. »Nicht mit mir!« Sie lag immer noch unter dieser milchigen Folie, die transparent geworden war durch die Nässe. Er sah ihre Haut hindurchschimmern, ihre Brüste. Er spürte, wie ihr heißer Körper vibrierte und wie sie sich wand unter ihm. »Laß mich, Steve! Laß mich …!« »Nein!« zischte er ihr zu. »Nein, du Aas! Nein! Ich lass’ dich nicht! Ich lass’ dich nicht mehr!!!« Er hatte Spaß an dieser Situation. An ihrer erfolglosen Gegenwehr. Es war ein rüdes Spiel, das ihm gefiel. Lang sam bewegte er seinen Körper hin und her und ließ sie seine Erregung spüren. »Du läufst mir nicht mehr weg! Ich habe das Geld für dein Ticket! Ohne mich ist deine Reise hier zu Ende! Deine Suche nach deinem geliebten Dave! Was wärst du ohne mich, Baby? Na, was? Und ich bin scharf auf dich. Schon die ganze Zeit. Seit ich dich sah! Freut dich das? Macht dich das nicht stolz? Und geil? Und du hast das die ganze Zeit nicht kapiert, wie?« 286
Das sollte alles sehr souverän klingen, sehr männlich. Aber für Susan klang es nur gemein. Sie spürte, wie er keuchte. Und sie roch seinen scharfen Atem. Gin und Säuernis. Da preßte er seinen Mund auf ihre Lippen. Ganz überraschend. Und sie wandte sich nicht ab, wich ihm nicht aus. Sie hielt die Augen weit geöffnet, sah auf das gebliche Deckenlicht. Eine Kugel aus Glas. Und darin eingefangen wie Schatten die leblosen Körper von Insek ten. Sie spürte nicht, wie er sich festsaugte an ihr, spürte nicht den Druck seiner Zähne auf ihren Lippen. Sie ließ das alles mit sich geschehen, als sei sie abwesend. Nur als er abließ von ihr, rang sie nach Atem. Sie wehrte sich nicht mehr. Blieb starr liegen, auf diesem harten, kalten Boden aus Stein. Und sie begann zu frösteln. Aber er lockerte nicht seinen Griff. Und seine Erregung klang nicht ab. »Um zehn nach zehn geht dein Flieger nach Australien!« verriet er ihr. Dann sah er sie abwartend an, aber sie rea gierte nicht. »Alles hat seinen Preis!« fuhr er fort. »Vorher schläfst du mit mir! Sonst geht dein Flieger ohne dich! Ist das klar!« Sie blickte ihn starr und mit großen Augen an. Dann nickte sie nur leicht. Und dann flüsterte sie: »Okay!« Und als er sie skeptisch ansah, wiederholte sie es: »Okay! Ja! … Jajajaja!« »Okay, ja – was?« fragte er. Als traue er ihr nicht und wolle ganz sichergehen. »Okay! Ja!« Sie war wild entschlossen, diese Situation 287
trotz allem und mit Würde durchzustehen. »Ich schlaf mit dir! Jetzt sofort!« Er glaubte ihr sogar. Wälzte sich zur Seite. Gab sie frei. Sie kroch rückwärts, lehnte sich an die Wand, zog die Reste der Plastikfolie, die zerfetzt war, wieder über ihre Scham, über ihre Brüste, hielt sie über ihren Körper wie einen allerletzten Schutz vor seinen Blicken. »Gut! Los!« Sie richtete sich halb auf, erschöpft, aber keineswegs kraftlos, hielt dann aber plötzlich inne und schaute Steve intensiv an: »Aber vorher gibst du mir das Geld für Australien! Von Pat Coopers Geld! Oder von Ruth Wongs Geld! Also, los! Komm! Laß es uns tun! Und dann verschwinde! Ich will dich dann … nie mehr wiedersehen!« Damit stand sie auf! Stand fast über ihm. Nackt und sehr selbstbewußt. Nur mit dieser zerfetzten Plastikfolie in der Hand. »Was ist los?« fragte sie ihn. »Kein Mut mehr?« Sie wartete auf irgendeine Reaktion von ihm. »Na komm schon! Ich mein’ das im Ernst! Ich dachte, du wolltest kassieren! Los, komm! Ich möchte das hinter mich brin gen! Wenn das der Preis für alles ist!« Er war wie versteinert. Lag immer noch auf diesem nassen Boden und schaute fassungslos an ihr hoch. Sie ließ den Plastikfetzen sinken, den sie an sich gepreßt hatte, warf ihn schließlich weg und ging. Ging einfach hinaus aus dem Badezimmer. Und ließ Steve mit sich und einer Entscheidung allein. Er schaute ihr nach, tastete nach seiner Kamera, dann 288
stand er auf, fertig, erledigt. Aber er folgte ihr nicht. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, schleuderte die zerfetzte Folie weg, die sich um seinen Fuß verfangen hatte. Dann lehnte er sich zurück. Die Dusche lief immer noch, sprühte auf sein Gesicht, auf sein Hemd. So blieb er sitzen, sehr lang, mit geschlossenen Augen. Als er sich wieder aufrichtete, tropfte das Wasser aus seinen Haaren. Und er wußte nicht, ob sie es hören würde, als er flüstete: »Susan … bitte, verzeih!« Aus den Notizen des David McGhee: »Nach einer Studie der damit befaßten Industrie müßten Endlagerstätten für den Restmüll aus Wiederaufarbei tungsanlagen, die das anfallende ›Entsorgungsgut‹ durch Recycling mengenmäßig verringert und den Müll gleich sam entschärft haben, lediglich 1000 Jahre lang bewacht werden – anstatt der 500000 Jahre bei direkter Endlage rung. Wobei ein simples Rechenexempel zeigt, daß auch 1000 Jahre Bewachung und Sicherung von Atommüll über den Strompreis niemals zu finanzieren sind. Wobei dieser Zeitfaktor ›1000‹ umstritten und vermutlich um den Faktor 100 zu niedrig angesetzt ist.«
50 Sie war allein gekommen! Ihr Taxi hielt vor der riesigen Glasfassade. Und Susan tauchte unter in der Menge. 289
Sie checkte ein bei QUANTAS, der australischen Fluglinie. Die Buchung war o. k. Nichtraucher. Fensterplatz. Boar ding einundzwanzig Uhr zehn Flugsteig D-75. Die Reiseta sche war Handgepäck. Keine weiteren Koffer. Zwölf Dollar Flughafen-Taxe, bar zu bezahlen. Ihr Visum für Australien vom letzten Jahr, von ihrer Durchreise nach Neuseeland, war noch gültig. Das wurde überprüft. Paßkontrolle und Security Check. Alles in Ordnung. Keine weiteren Formalitäten. Sie hatte also viel Zeit. Noch eineinhalb Stunden bis zum Abflug. Noch eineinhalb Stunden Angst, daß ihre Reise verhindert werden könnte. Daß diese Mafia sie aufgriff. In letzter Minute. Sie war auf alles gefaßt. Vorsichtig und scheu wanderte sie durch die riesige Transithalle. Glas und Marmor, großzügigst dimensioniert für das nächste Jahrtausend. Der Weg zu den Flugsteigen führte zwangsläufig durch eine Ladenstraße. Schon Konfu zius sah den Sinn des Lebens im Erwerb von Gütern. Du ty-Free-Shop, zollfrei, also billigst: Alkohol, Tabak und Parfüm. Susan hatte keinerlei Bedarf. Foto und Video. Uhren und Schmuck. Bücher und Zeitschriften. Süßigkei ten und Orchideen. Wem hätte sie Blumen mitbringen können? Außerdem: »Einfuhr nach Australien verboten!« Denn dieser Kontinent ist eine Insel und schützt sich vor noch nicht eingeschleppten Schädlingen und Seuchen. Also keine Pflanzen. Auch keine Nahrungsmittel, keine Tiere oder Tierprodukte. Man hatte sie darauf hingewiesen und ihr den Handzettel zusammen mit der Bordkarte aus gehändigt. 290
Noch eine Stunde. Susan zog sich in eine dunkle Ecke zurück, mit Überblick nach allen Seiten. Endlich die Ansage über Lautsprecher. Ihr Flug nach Perth. Erster Aufruf für »Boarding«. Es gab keine wirkliche Sicherheit. Trotz der Hundert schaft schwarzuniformierter Polizeibeamter, die über sämtliche Räume des Flughafens malerisch verteilt war. Susan drängte es aus der Menge. Niemandem mehr begegnen. Allein sein. Und trotzdem untertauchen. Mit diesem Widerspruch machte sie sich auf den Weg. Sie schwebte auf dem rollenden Band, dem »Travella tor«, die Reisetasche umgehängt, die Bordkarte in der Hand, einen dieser unendlich langen Seitentrakte entlang, auf der Suche nach dem Flugsteig D-75. Vor und hinter ihr drängten sich ihre Mitreisenden: japanische Touristen, muslimische Pilger, sonnengegerbte Australier in Shorts, T-Shirt und Plastikschlappen, tur banbewehrte indische Sikhs, sogar eine Gruppe Ge schäftsreisender mit Aktenkoffer und Krawatte. »Mami! Wart auf mich!« Eine Kinderstimme. Wie alle Kinderstimmen auf dieser Welt durchdrang sie jeden Lärm. Unüberhörbar für jede Mutter. In jeder Sprache. Susan dachte an Julia. Vielleicht war es richtig, was diese Ruth Wong ihr gesagt hatte: Eine Mutter kümmert sich in erster Linie um ihr Kind. Und sie, Susan Galloway, flog statt dessen nach Austra lien! Verfolgte ein Phantomschiff. Einen Fliegenden Hol länder des Atomzeitalters. Dessen Besatzung nurmehr aus lebenden Toten bestand. 291
»Mami, Mami! Wart doch auf mich!« Wieder diese Kin derstimme. Und wieder Assoziationen und Erinnerungen, die ihr das Herz schwer machten. »Mami, Mami!!!« Susan drehte sich um. Ein kleines Mädchen lief außerhalb des rollenden Bandes und versuchte, jemanden einzuholen. Es war Julia! Sie schleppte ihre Reisetasche, Sarah, den rosa Elefanten – und einen sperrigen, durchlöcherten Karton. Und sie war bereits völlig außer Atem: »Maaamiiii!« »Julia!« Es war unfaßbar. Unglaublich! Aber sie war es wirklich. Ohne jeden Zweifel! Und Susan versuchte, ihrem Kind entgegenzulaufen. Gegen die Laufrichtung des Bandes. Gegen die vielen Menschen, die dichtgedrängt hinter ihr standen. Auf die sie prallte. Die sie zur Seite schieben mußte. »Julia! Meine Julie! Ich komme!« Sie versuchte, über die Seitenwand zu klettern, glitt ab an dieser Edelstahlfläche, wurde weitergeschoben, ver suchte es ein weiteres Mal und schaffte es schließlich doch hinüberzukommen, hinüber zu Julia, in den breiten Seitengang. Dort kniete sie sich auf den Boden und umarmte ihr Kind. Die anderen Passagiere glitten lautlos an ihr vorüber, belächelten die Szene, blickten sich gegenseitig an, drehten sich nach den beiden um. Und Susan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Und ließ Julia nicht mehr aus 292
ihren Armen! »Ich muß dir zuerst Johnny zeigen!« flüsterte sie und versuchte, sich aus der liebevollen Umarmung zu befreien. Aber Susan hörte nicht auf das Kind. »Julie! Mein Liebes! Wo kommst du her?« »Tante Ruth hat mich hergebracht und Steve!« Susan starrte Julia ungläubig an. »Und wo sind die beiden, Tante Ruth und Steve?« Sie schaute sich mit kur zen, ängstlichen Blicken um, erwartete eine Falle, eine Konfrontation. Aber da war niemand. Nur anonymes Gedränge. Auch Julia hatte sich suchend umgesehen: »Jetzt sind sie weg! Eben waren sie noch da!« Ankommende und abfliegende Passagiere liefen in Gruppen hin und her und versperrten Susan und dem Kind den Blick in die Transithalle. Susan versuchte, Julia von ihrer eigenen, offenbar un begründeten Panik abzuschirmen: »Und wo hast du die ganze Zeit gesteckt, Julie?« Sie hielt immer noch das Kind umklammert. Niemand sollte es ihr mehr entreißen. »Bei Tante Ruth. In ihrem großen Haus!« Das große Abenteuer begann wieder aufzuleben: »Da gibt es Papagei en und echte, lebendige Affen!« Damit befreite sich Julia endgültig von dem mütterlichen Zugriff: »Hier drinnen ist Johnny! Willst du ihn sehen?« Sie begann den Karton mit den Luftlöchern zu öffnen. »Johnny?« »Johnny ist doch mein kleiner Hund!« Ein Hundebaby mit Schlappohren und Stupsnase 293
schaute Susan aus großen, dunklen Augen an. Aber ihre Begeisterung war eher gequält. »Sehr lieb! Und wirklich süß! Aber wir können Johnny nicht mitnehmen. Nicht ins Flugzeug und nicht nach Australien!« »Tante Ruth hat gesagt, wir fliegen nach Hause. Nach London! Du hast es ihr versprochen. Und hier sind die Karten für das Flugzeug und die Tickets und mein Paß und ein Paß für Johnny! Von einem Tierarzt. Extra für England!« Sehr geschickt, dachte Susan. Geschickt und infam! Und clever. »Hör zu, Julie!« Sie beugte sich vor, schaute Julia sehr ernst, sehr intensiv in die Augen. Sie hatte keine Wahl: Sie mußte in diesem Augenblick Johnny und damit zugleich diese Ruth samt Ihren Affen und Papageien besiegen. »Wir beide, du und ich, wir fliegen jetzt zu Daddy. Nach Australien. Nach Perth. Dort lassen sie keine Hunde rein! Absolut nicht und ohne jede Ausnahme! Du mußt ihn hierlassen! Bitte!« Da erwiderte Julia ihren Blick, genauso ernst, genauso intensiv und zu allem entschlossen. »Dann bleib’ ich eben auch hier!« »Daddy wartet auf uns!« Julia zögerte, dachte nach, versuchte abzuwägen. Dann nickte sie schließlich. Sie war einverstanden und nahm ihr bitteres Schicksal an. Vorsichtig schob sie die kleine schwarze Hundeschnauze nach unten, klappte den Deckel wieder zu, nahm den Karton unter den Arm und richtete 294
sich auf. »Dann muß eben Tante Ruth solange auf ihn aufpassen! Bis wir wieder hier sind!« Sie rannte los, spontan und überraschend, den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. Susan stand auf, sah ihr nach und war einen Augenblick völlig verwirrt. Sie warf kurze, scheue Blicke in die Runde. Dann sammelte sie die Reisetaschen ein, hob den Elefanten auf und lief hinter Julia her, die in der Menge der Passagiere fast schon verschwunden war. Und genau in die Richtung, in der Susan Gefahr witterte. »Julia! Julie! Warte …!« Sie drängte sich hastig durch entgegenkommende Menschengruppen, lief bestürzt und kopflos durch dieses Gewühl, kämpfte sich durch einen Pulk ankommender Passagiere. Sie mußte das Kind erreichen, bevor man es ihr wieder entreißen konnte. »Julie …!« Sie fand Julie schließlich am Rand der Rolltreppe, die hinunterführte zur Eingangshalle, zu den Schaltern der »Immigration«. Dort stand das Kind mit seinem großen Karton und sah sich suchend um. »Ich find’ sie nicht mehr! Sie sind wirklich weg!« In diesem Moment ertönten Pfiffe von Trillerpfeifen, nervöse, alarmierende Signale. Menschen wurden auf merksam, blieben stehen. Von irgendwoher sickerte der jaulende Ton einer Sirene, übertönte den Lärm der Ansa gen und der tausend Stimmen. Polizisten mit quäkenden Funksprechgeräten und 295
Sicherheitsbeamte des Flughafens verschafften sich Platz, drängten sich rücksichtslos zwischen Susan und ihrem Kind durch, liefen zu Dutzenden und von allen Seiten auf die Rolltreppe zu, die gestoppt worden war, und stürmten nach unten in die Eingangshalle. Susan ergriff Julia am Arm, zog sie zu sich her. »Laß mich, Mami!« Sie widersetzte sich dem Zugriff, wollte zu der Rolltreppe, dorthin, wo die Neugierigen zu sammenströmten. Aber da war nichts zu sehen. Susan ging weiter, nur einige Schritte, um die hohe Brüstung herum. »Mami, heb mich hoch!« bettelte sie. »Mami, was ist denn? Was ist denn passiert?« Susan antwortete nicht. Denn sie brauchte selbst einige Zeit, bis sie begriff, was dort unten vorgefallen war. Es sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Unfall. Nur die Polizisten und die Sicherheitsbeamten, die das Publikum und die Menge der Neugierigen zurückdräng ten, die die große Halle abriegelten und die Zugänge sperrten, sorgten für einen dramatischen Akzent. Einige Schritte neben der Treppe lag eine Frau leblos auf dem Boden. Das Gesicht nach unten gedreht. Eine Hand weit ausgestreckt. Der Körper reglos und unnatürlich verkrümmt. Sie lag dort ganz allein, ganz einsam. Die Polizei hatte sie isoliert und viel Platz um sie herum geschaffen. Und das ausgebreitete, weite, schwarze Kleid bildete einen merkwürdigen Kontrast zu dem weißen Marmor. Auch die langen, dunklen Haare. Denn der Knoten, der sie sonst 296
straff zusammenhielt, hatte sich gelöst. Neben dem Gesicht lag eine Brille. Eines der dicken Gläser war zerbrochen. Aus den Notizen des David McGhee: »Bei den britischen Atombombentests im Gebiet des süd australischen Maralinga im Oktober 1953 wurde die Evakuierung der dort lebenden Eingeborenen unterlassen. Erst im Jahre 1984 wurde die Häufigkeit von Krebser krankungen und Todesfällen in dieser Region mit den Tests in Verbindung gebracht, bei denen auch britische, australische und neuseeländische Soldaten bis auf 1,6 Kilometer an den ›Punkt Zero‹, den Detonationsort, her angeführt worden waren, um ihr Verhalten auf nukleare Explosionen zu studieren. Inzwischen werden immer mehr Schadensersatzforderungen von an Krebs erkrank ten Überlebenden an die Regierung gestellt.«
51 Ein Flug durch eine Tropennacht. Draußen, über Sumatra und Java, tobten bis in zwölf tausend Meter Höhe die Wärmegewitter, die der Kapitän, ohne die ihm zugewiesene Luftstraße zu verlassen, mit sanften Kurven umflog. Blitze ließen die aufgetürmten Wolkenberge aufleuchten wie illuminierte Eistorten. Aber die über 400 Passagiere des QUANTAS-Fluges QF 8 zur Westküste Australiens nahmen davon kaum Notiz. 297
Denn vorn, am Ende des Compartments, auf der klei nen Leinwand, lief ein Science-Fiction-Film. Den Ton dazu lieferten die Kopfhörer auf Kanal eins und zwei. Doch Julia hatte keine Kopfhörer. Susan las ihr aus einem Kinderbuch vor. Altbekannte Verse, schon viele dutzend Male gehört. Aber heute zum ersten Mal zu den Bildern aus einer fremden, aufregenden Welt mit Raumfähren und Astronauten, bizarren, roten Monden und »Star-War« Spielen. »Du hörst mir ja gar nicht zu!« Susan unterbrach ihre Lesung und folgte Julias Blick zur Leinwand. »Doch! Ich hab’ alles genau gehört …« Und sie zitierte aus dem Gedächtnis die letzten fünf Zeilen. »Bist du nicht müde? Es ist mitten in der Nacht!« Julia schüttelte den Kopf. »Soll ich weiterlesen?« Julia nickte. Da huschte ein Schatten vorbei, und Susan zuckte zu sammen, blickte ängstlich hoch. Aber es war nur eine der Stewardessen, die nach vorn eilte, durch den langen Jumbo-Jet, und in der Finsternis verschwand. »Ob sie ihn schlachten und fressen?« Julia wechselte das Thema. »Wen?« »Johnny! Tante Ruth hat gesagt, ich soll gut aufpassen auf ihn. Und ihn nicht weggeben: Chinesen essen Hunde!!!« »Tiere, die sie liebhaben, essen sie nicht! Und der Mann vom Flughafen, dem du Johnny geschenkt hast, der hat 298
Kinder. Die spielen mit deinem Johnny! Dem geht es dort wunderbar!« Julia schien fürs erste beruhigt, wenn auch nicht ganz überzeugt. Aber in diesem Zusammenhang fiel ihr etwas anderes ein: »Ich glaube nicht, daß ich noch weiß, wie mein Daddy aussieht, wenn er uns abholt, wenn wir landen.« Susan dachte lange nach. »Er holt uns nicht ab.« Langsam, nur mit ihren Finger spitzen, fuhr sie über Julias Haar. »Willst du sein Bild sehen?« Sie öffnete das gelbe Kuvert und zeigte Julia das Foto: David McGhee zwischen drei seiner Kollegen. »Welcher ist es?« Spontan deutete Julia auf David. »Na also! Du kennst ihn ja noch!« Sie wollte das Bild gerade wegstecken, als Julia mit ihrer kleinen Hand vor sichtig über die Gesichter der anderen Männer fuhr. »Und die da? Sind das seine Freunde?« »Ja.« Susan nickte. Sie warf einen langen Blick auf das Bild. »Ja. Das waren seine Freunde!« Damit steckte sie das Bild endgültig in das inzwischen längst zerfledderte Kuvert zurück. Vom Meer her kommend erreichten sie das Land, den fünften Kontinent. Eine strahlende, gelbe Morgendäm merung erschien über den Hügeln, die diesen Ort be grenzten: Perth, die einsamste, isolierteste Großstadt der Welt. Drei Flugstunden bis Adelaide, vier bis Melbourne 299
und Sydney. Und dazwischen: Nichts. Fast nichts: nur Weizen und Wüste, Salzseen, Berge und Eisenerz. Und Maralinga. Das Atombomben-Testgelände der Briten aus den fünfziger Jahren. Junge Männer kamen nach der Landung an Bord, ganz offiziell und in Uniform, das heißt in Shorts und Knie strümpfen, und sie venebelten Passagiere und Maschine mit Insektengift. Keine Chance für Singapore-Moskitos! Aus den Lautsprechern tönte »Waltzing Matilda«, der alte Bushman-Song, die zweite, inoffizielle Nationalhymne. Und eine Stimme hieß sie in Australien willkommen. Da war Julia endlich eingeschlafen. Bei Eiscreme und Kuchen in einem Coffee-Shop ge genüber dem »Allendale-Building«, dem Ziel ihrer Reise, wachte sie langsam wieder auf. Es war kurz nach neun, als Susan mit ihr die Straße überquerte, die St. George’s Terrace, die Hauptstraße von Perth. Vor einhundertfünfzig Jahren wurde hier am Ufer des Swan River, der sich vor seiner Mündung in den Indi schen Ozean zu einem breiten, malerischen Binnensee aufstaut, ein Baum gefällt – und damit war die Stadt ge gründet. Heute gehört sie zu den sieben schönsten Metro polen dieser Erde. Aber Susan hatte in diesem Augenblick keinen Nerv für die Attraktivität dieses Ortes. Vor ihr lag ein asymmetrisches Gebäude mit einer Fassade aus silber nem Aluminium und grünem Glas. Und irgendwo dort oben, in einem der achtunddreißig Stockwerke, mußten, wenn der geheimen Nachricht von Woo Teh-Shui zu glauben war, die Fäden dieser Mafia-Organisation zusam 300
menlaufen. Dort befand sich möglicherweise der Schlüssel zu dem raffiniert angelegten Puzzle. Waren die Drahtzie her für diesen Nukleartransport zu finden, die Eigentümer dieser Fracht, die Bescheid wissen mußten über den Verbleib der Container, der »Stella Polaris« – und über den Verbleib von Dave. »Intra-Nuclear Company?« Der Portier, ein alter Au stralier in einer Lodge aus Glas, schüttelte seinen Kopf. »Da werden Sie jetzt niemanden finden!« meinte er. »Trotzdem. Wo ist es?« »Siebzehnter Stock! Aber wie gesagt: Da ist keiner oben!« Sie glaubte ihm nicht. Sie glaubte niemandem mehr irgend etwas. Auf der Tafel neben der Rezeption war der Name dieser Firma erwähnt, unter dreißig oder vierzig anderen. Weshalb sollte hier niemand anzutreffen sein – morgens, zehn nach neun? »Darf ich die beiden Reisetaschen hier bei Ihnen ste henlassen?« Der alte Mann zögerte, betrachtete die Taschen, dann Susan, schließlich das Kind. »Und das kleine Mädchen womöglich auch?« fragte er. »Nein. Nur das Gepäck.« Er war immer noch unentschlossen, schaute nachdenk lich auf sein Telefon, sah sich abwartend um, zuckte schließlich die Schulter. »Bitte. Wenn es unbedingt sein muß. Wenn Sie darauf bestehen …« Er entriegelte die kleine Klapptür und zeigte in die Ecke 301
der Rezeption. Dort war Platz für die beiden Taschen. »Siebzehnter Stock!« rief er Susan noch einmal hinter her. Zur Sicherheit. Aber sie hatte es sich bereits beim er sten Mal gemerkt. Sie winkte ihm zu, bedankte sich und ging zum Lift. Vielleicht aber war dieser Ruf gar nicht für Susan ge dacht gewesen. Zwei Möbelpacker, die im hintersten Winkel der riesigen, edlen Eingangshalle Metallkisten und Kartons stapelten, wurden aufmerksam. Einer ließ seine Arbeit im Stich und kam auf den Portier zu. Aber zu diesem Zeitpunkt betrat Susan bereits den Lift. Sie dachte an das Rechtsanwaltsbüro der Ruth Wong. Repräsentantin von zwei Dutzend Firmen. »Intra-Nu clear«. Wieder so eine Briefkastenfirma, dachte sie, als sie den Knopf mit der »17« drückte. Aber da sah sie das »N« inmitten der elliptischen Kreise auf einem Leuchtfeld neben dem Knopf. Keinen Namen, wie auf den anderen Feldern, keine weiteren Bezeichnungen, kein Kommentar. Nur dieses »N«. Und sie erinnerte sich, daß sie dieses Symbol schon kannte. Von den Fotos mit Dave, von diesen silbernen Containern. Und sie war nun sicher, daß sie unmittelbar vor der Lösung des Rätsels stand und in wenigen Minuten Antwort auf alle Fragen erhalten würde. Aus den Notizen des David McGhee: »Verhandlungen über die Möglichkeit, abgebrannte Kernbrennstoffe aus deutschen und schweizerischen Kernkraftwerken in der Volksrepublik China wiederauf zuarbeiten oder zu lagern, finden zur Zeit zwischen der 302
Alfred Hempel GmbH & Co., Düsseldorf, der Nukem GmbH und der Transnuklear GmbH, beide Hanau, sowie der China Nuclear Energy Industries Corp. statt. In einer Absichtserklärung (Letter of intent) hat sich die Volksrepublik China verpflichtet, etwa 4000 Tonnen »Entsorgungsgut« aus deutschen Kernkraftwerken gegen eine Entschädigung von 1500 Dollar pro Kilo in der Wüste Gobi zu lagern. China erwartet somit sechs Milliarden Dollar Deviseneinnahmen.«
52 Siebzehnter Stock. Die Leuchtanzeige erlosch. Der Lift hielt an. Langsam und geräuschlos teilte sich die Tür. Und vor Susan lagen eintausendzweihundert Quadrat meter Großraumbüro. Ausgelegt mit edelstem, bernstein farbenem Velours. Dreißig mal vierzig Meter. Drei Seiten Fensterfront. Ausblick über Hochhäuser, grüne Parks, Palmenalleen, bewaldete Hügel. Ein Binnensee, sonnen überglänzt. Befahren von Hunderten weißer Segel. Und fern am Horizont: das Meer. Der Indische Ozean. Breite Säulen unterteilten den riesigen Raum, verliehen dieser überschaubaren Einsamkeit wenigstens gewisse Akzente. Denn der Raum war leer! Absolut leer, unbewohnt, ungenutzt. Kein Schreibtisch, kein Schrank. Nichts. Nur einige Kartons standen noch herum. Verstreute Reste Verpackungsmaterial. Ein Dut zend Telefone, zusammengestellt an einer der Säulen. Ein Fernschreiber. Eine Kopiermaschine. Ein Telefax-Gerät. 303
Überbleibsel vergangener Aktivitäten. Und dazwischen einige schwarze Säcke mit Abfall. Diese großzügige Räumlichkeit war zu haben. Stand leer für Interessenten. »For lease«. Zu vermieten. Große Schil der mit dieser Ankündigung klebten an allen Fenstern. Mit leisem Knacken schloß sich hinter Susan wieder die Tür des Lifts. Jetzt war sie zusammen mit ihrem Kind erst einmal eingesperrt in leerstehendem, unnützen Luxus. Julia hatte keine Zeit, Susans Verwunderung zu teilen. Inspiriert von dieser für sie so unendlichen Weite eines Raumes, breitete sie die Arme aus, segelte davon wie ein Flieger, umkurvte die Säulen, schwebte an der langen Fensterfront entlang mit wippenden Flügeln und übte einen Landeanflug zwischen den Telefonen. Inzwischen wanderte Susan langsam durch den Raum. Sie hatte auf dem Weg hier herauf gewisse Befürchtungen gehabt, bestimmte Erwartungen. Sie hatte sich Fragen zurechtgelegt, Erklärungen, Bitten. Sie war auf Kon frontation gefaßt, hoffte Menschen anzutreffen, mit denen man reden konnte. Hatte dabei jedes Risiko einkalkuliert. Auf diese Überraschung hier, auf dieses Fiasko war sie nicht vorbereitet. Hatte David eigentlich je geahnt, auf welche Art von Gegner er sich eingelassen hatte? In welcher Größenord nung dieser Skandal lief, den er aufdecken wollte? Welche Dimensionen die Verflechtungen hatten? Und in welches Risiko er sich – und nun auch seine Familie – stürzte? In einem der offenen Kartons lag Altpapier: Druck schriften, Broschüren, Prospekte. Zu Hunderten. Hoch 304
glanzkaschiert. Auf englisch, französisch, deutsch, japa nisch. Abbildungen der bekannten Container. Schnitte und Pläne. Diagramme über Abnahme von Wärme und Strahlung mit dem Faktor Zeit und räumliche Distanz. Die Kopien der gesamten Telex-Korrespondenz aus den letzten Wochen oder Monaten, endlose Papierschlangen, waren zusammengeknüllt und in schwarze Plastiksäcke gesteckt. Geheimnisse gab es hier offenbar keine. Vom Fenster aus betrachtete Susan die friedliche Welt, die dort draußen tief unter ihr lag. Die Segler und Surfer im Morgenwind. Die Angler am Ufer. Radfahrer in den Parks. Weißgekleidete Kricketteams auf grünem Rasen. Die Villen um den weitausladenden Binnensee. Die Häuser über den Hügeln, Palmen und Blütenbäume. Sie sah sich nach Julia um. Die hockte auf dem weichen Teppichboden und hatte drei Telefonhörer gleichzeitig an ihrem Ohr. »Hallo Daddy! Ich komme! Ich bin schon da! Und ich seh’ dich bald! Rufst du mich an, wo ich dich finde?« Da blickte Julia beunruhigt auf und wandte sich um. Ein Geräusch hinter ihr hatte sie aufgeschreckt. Eine Ge stalt war zur Seite gehuscht wie ein Schatten. Und die Tür zur Liftkabine stand offen. Julia sprang auf, rannte zu Susan, rettete sich mit ihrer Angst in die Arme der Mutter. »Was ist denn, Julia?« Aber Julia wußte es nicht. Susan drehte sich um. Der Raum war immer noch leer. Da war nichts zu sehen. Nichts zu hören. Nichts 305
Verdächtiges. Nichts, was einem Angst einjagen könne. Oder doch?! Mit einem leisen Knacken schlossen sich die Türen zum Lift. Sie waren also nicht mehr allein. »Hallo …!« Keine Antwort. Und noch einmal: »Hallo …!« Da trat, nur wenige Schritte von Susan entfernt, ein stämmiger junger Mann vor eine der Säulen, hinter der er sich verborgen hatte. »Meinen Sie mich?« Er grinste Susan, die tödlich er schrocken zusammenzuckte, unverschämt und herausfor dernd an. Susan reagierte nicht auf seine Frage. Sie war viel zu überrascht. Da schob der Mann sehr lässig und sehr eitel die Ärmel seines verwaschenen Sweatshirts höher. Bunte Tätowie rungen wurden sichtbar, blaurote Zeichen und Bilder. Kaum ein Fleck war ausgespart auf den braungebrannten, muskulösen Oberarmen. Susan versuchte zu lächeln, glaubte, dadurch diese überraschende Situation entschärfen zu können. Sie überlegte, was sie ihm Freundliches sagen könne, als ein zweiter Mann erschien. Der strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht, wischte sich die Hände an den engen Jeans ab und kam langsam, sehr langsam, näher. »Darf ich Sie fragen, Miss, was Sie hier zu suchen ha ben?« Er blieb abwartend stehen, aber nur einige Augen blicke lang. Dann setzte er seinen Weg fort, kam näher, 306
immer näher, ebenso langsam, ebenso provozierend wie zuvor: »Oder woll’n Sie die Räume hier mieten?« fragte er. »Dann sollt’n Sie erst mal mit dem Makler red’n, bevor Sie hier rumschnüffeln.« Susan glaubte an ein Mißverständnis. Und daß man es aufklären könnte – mit Charme und mit gutem Willen. »Ich fuhr einfach hier herauf.« Sie entschuldigte sich mit einer Geste. »Ich suchte jemanden von dieser Firma. ›Intra-Nuclear-Company‹ …« »Sind alle weg!« Der erste der beiden Männer, der mit den tätowierten Oberarmen, grinste sie immer noch an. »Ist Ihnen das nicht sofort aufgefallen? Wie Sie aus dem Lift raus sind, Miss?« Auch er kam nun näher. Da schrie Julia auf: »Mamiii!« Die Bedrohung war zu groß für sie geworden. Sie faßte nach Susans Hand, rannte los und zog ihre Mutter hinter sich her. Weg von diesen Männern! Weit weg! In einen entfernten, abgelegenen Winkel dieses großen Raums. So landeten die beiden in einer verglasten Ecke der Fensterfront, die in einen spitzen Winkel auslief und abenteuerlich weit aus der Fassade herausragte. »Vorsicht Miss! Wir sind im siebzehnten Stock!« Die beiden Männer waren ihr gefolgt, immer noch langsam, bedrohlich, Schritt um Schritt. Und Susan war mit ihrem Kind in einer Falle. »Was wollen Sie von mir?« Es sollte keinesfalls ängstlich klingen. Oder unsicher. Aber die beiden lachten nur. Und 307
der Tätowierte schob wieder die Ärmel hoch und verfiel in sein dümmliches, herausforderndes Grinsen: »Was werden wir beide schon wollen, Miss? Zwei Jungs, die gebaut sind wie wir. Von ’ner jungen Frau. Die in ei’m leeren Stockwerk herumläuft. Wo’s niemand hört, wenn sie schreit …!« Sie waren nur noch wenige Schritte von Susan und ih rem Kind entfernt. Da schrie Julia wieder auf, wiederum gellend, wie in Todesangst. Sie wandte sich ab und preßte ihr Gesicht an Susan, versteckte sich am Schoß ihrer Mutter und zitterte am ganzen Körper. In diesem Augenblick blitzte es zum ersten Mal. Aus den Notizen des David McGhee: »Zum Thema Recycling: Nach einem Bericht der OECD (Organisation fiir wirt schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der westli chen Industrieländer) reichen die bereits bekannten Uranvorkommen in der Kostenklasse bis 130 US-Dollar je Kilogramm bei einer jährlichen Förderung von 40000 Tonnen pro Jahr noch über 300 Jahre. Sollte der Uranverbrauch um 50% steigen, was unwahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen ist, reichen die nachgewiesenen Reserven billigen Urans noch gut 200 Jahre. Die Kosten des Natur-Urans tragen zur Zeit mit nur 4 Cent pro Kilowattstunde zur Stromerzeugung bei. Die Entsorgung der Kernkraftwerke schlägt dagegen mit dem Sechzehnfachen dieses Betrages zu Buch.« 308
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Die kahlen Wände des leeren Großraumbüros warfen das schnarrende Geräusch der Kamera-Automatik zurück. Auch das metallische Klicken des Verschlusses. Blitz folgte auf Blitz. Die beiden Männer drehten sich um. Einer hielt sich die Hände vors Gesicht. Da stand Steve, gelehnt an eine der Säulen, die Leder jacke offen, den verbeulten, braunen Hut auf dem Kopf. Und er schoß Bild um Bild. Hinter ihm schloß sich gerade die Tür zum Lift. Und Steve rief, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen: »Immer im richtigen Augenblick auftauchen! Das gehört zum Job eines guten Reporters!« Die beiden Typen ließen von Susan ab und von ihrem Kind. Sie wandten sich gleichzeitig und ohne groß nach zudenken dem neuen Opfer zu. »Das war genau der falsche Augenblick, mein Freund!« Der Tätowierte spurtete quer durch den Raum und stürzte sich auf Steve. Sein Kumpan folgte ihm. Sie kreisten ihn ein. Und Steve hatte keine Möglichkeit mehr zur Flucht. Die beiden versuchten als erstes, ihm die Kamera aus der Hand zu schlagen, traktierten ihn mit gezielten Fuß tritten, Fausthieben und Handkantenschlägen. Steves Gegenwehr hatte bei zwei Typen dieser Sorte wenig Erfolg. »Du hättest fragen sollen, ob wir einverstanden sind mit einem Porträt!« Mit diesem Satz entriß einer der beiden Steve die Kamera. Er öffnete geschickt die Rückwand und 309
riß den belichteten Film heraus. Da erkannte Susan ihre Chance. Sie packte Julia an der Hand: »Lauf, Julie! Lauf!!!« Und die beiden rannten durch das riesige, leere Büro, an den drei kämpfenden Männern vorbei zum Lift. Susan trommelte mit der Faust gegen den Rufknopf. Und sie hatte Glück: Der Lift war noch nicht abgerufen worden, hing noch immer im siebzehnten Stockwerk in Bereitschaft. Die Tür teilte sich wieder, die beiden spie gelnden Flächen schoben sich geräuschlos zur Seite, und Susan drängte sich mit Julia in die Kabine. »L« stand auf dem Knopf. Für »Lobby«, Eingangshalle. Susan tippte darauf, mehrmals hintereinander, immer wie der, in einem hektischen, nervösen Stakkato. Aber die Automatik des Lifts reagierte nicht. Zumindest nicht so schnell. Sie drückte wieder. Und wieder. Da schlossen sich die Türen endlich, nach vielen bangen Sekunden. Susan lehnte sich erleichtert an die glänzende, kalte Edelstahlwand zurück. Da zwängte sich in der allerletzten Sekunde eine Hand durch den noch offenen Spalt, ein Arm mit einer Lederjacke. Die Lifttür stoppte und reagierte sensibel. Eine zweite Hand mit Kamera und Hut erschien, preßte die beiden Türhälften auseinander. Eine Schulter schob sich dazwischen. Steve lächelte trium phierend und ließ sich atemlos und polternd gegen die gegenüberliegende Wand fallen. »Hallo, Susan!« Die Lifttür hatte sich nun endgültig geschlossen, und die Kabine schwebte nach unten. 310
»Du siehst, ich bin nicht abzuschütteln!« Er wischte sich das Blut von der aufgesprungenen Lippe und betrachtete seine zerschrammte Hand. »Ich hab’ geahnt, daß du mich noch mal brauchst!« Wieder blickte er sie triumphierend an, und sie wußte nicht, wen sie nun mehr fürchten sollte: diese beiden Ty pen dort oben, die sie in der allerletzten Minute und of fenbar mit Erfolg abgeschüttelt hatte. Oder diesen Steve. »Das ist doch alles abgekartet«, keuchte sie. »Du steckst mit diesen Kerlen doch unter einer Decke! Diese Mafia hat dich hinterhergeschickt, um mich zu überwachen. Um zu verhindern, daß ich David finde, der alle ihre Pläne kennt!« »Okay!« Steve klappte die Rückwand seiner Kamera wieder zu. »Also keine Chance mehr, daß du mir ver traust?« »Nein!« Sie war unversöhnlich und zu keinem Kom promiß mehr bereit. »Keine Chance mehr!« Und dann erklärte sie ihm auch, wieso. »Wer hat denn diese Ruth Wong umgelegt? Die war doch tot, oder etwa nicht? Und du warst in ihrer Nähe! Und warum dieser Mord? Weil sie Julia freiließ? Weil sie menschlich reagiert hat? Trotz ihres Auftrags? Und warum haben die beiden dort oben dich nicht weiter verfolgt? Haben dich laufenlassen! Ein paar Schrammen, ein bißchen Blut und Theater …« Aber Steve hörte ihr schon nicht mehr zu. Er betrachtete irritiert die Leuchtanzeige des Lifts, die langsam die Zahlenkette entlangfuhr, irgendwo zwischen »17« und »L«. 311
»Wo fahren wir hin?« Er blickte sie erschrocken an. »Nach unten!« Er drückte auf sämtliche Knöpfe. Ein Dutzend Felder mit Firmennamen flammten auf. »Was tust du?« Susan ahnte bereits wieder eine teuf lische Schurkerei. »Ein Lift ist immer eine Falle! Nicht nur bei Feuer!« In diesem Augenblick erlosch das Licht, und die Kabine des Lifts stoppte abrupt. Nur ein Notlicht brannte noch an der Decke. »Mami! Was ist los?« schrie Julia und schmiegte sich noch enger an Susan, deren Panik sich jedoch bereits auf das Kind übertrug. »Zu spät!« Steve schlug mit der Faust gegen die Tür. »Sie haben uns ausgetrickst!« »Ich will hier raus!« brüllte Julia. »Ich will hier raus!« »Wir auch, Julie! Wir auch!« Steve versuchte, das Kind zu beruhigen, suchte den Alarmknopf an der Steuer konsole des Lifts und drückte ihn. Irgendwo, sehr fern, begann eine Alarmglocke zu schrillen. »Ich will hier raus!« Julia begann wieder zu schreien. Da kauerte sich Susan zu ihr auf den Boden und nahm sie in die Arme: »Bitte, Julie! Bleib ruhig! Bleib ruhig! Die holen uns gleich!« Susan versuchte, ihre eigene Angst zu überspielen. Sie wurde den üblen Verdacht nicht los, daß Steve in diese Inszenierung verwickelt war, auch wenn er jetzt noch so sehr überrascht und wütend wirkte. Er begann, die Schiebetür zu untersuchen, fand eine 312
kleine Öffnung, die für einen Schraubenzieher oder Vier kantschlüssel gedacht war. Dann zog er den Fuß des Blitzgerätes aus der Halterung und begann, damit an dem Schloß zu hantieren und die Vierkantöffnung zu drehen. Ganz überraschend ließen sich die beiden Türhälften auseinanderschieben. Licht fiel in die Kabine. Sie war dicht unterhalb eines Stockwerks zum Stehen gekommen. Auf Augenhöhe war über einem Teppichboden ein Spalt frei, etwa einen halben Meter hoch. »Los, Julie! Du machst den Anfang. Kriech da raus!« Steve faßte Julia unter die Arme, hob sie hoch zu dieser Öffnung. »Nein! Laß mich!« brüllte Julia. »Ich bleib’ bei meiner Mami!« Sie strampelte, schlug um sich. Aber Steve ließ sich auf keine Diskussion mehr ein. »Du tust jetzt, was ich dir sage! Ja!« Es klang energisch, und Julia wagte daraufhin keine Widerspruch mehr. »Du kriechst da hinaus. So schnell du kannst. Und deine Mami kommt hinterher!« Er schob Julia über die Kante, stellte sjch dann mit dem Rücken an die kahle, ölverschmierte Betonwand des Schachts und faltete die Hände als Stufe. »Los, Susan! Und jetzt du!« »Damit ich wieder Vertrauen zu dir fasse? Ja? Zu dem großmütigen Retter!?« »Red nicht! Mach schnell!« Draußen heulte Julia und kniete auf dem Teppichboden. »Mami! Meine Mami!« »Ich komm’ ja schon, Julie. Ich komm’ ja schon!« Da 313
begann Susan den Aufstieg und kroch hinaus. Steve schob, half, so gut er konnte, warf seine Kamera hinterher, das Blitzgerät, aber nun gab es niemanden mehr, der ihn selbst hätte stützen können. »Los, hilf mir! Zieh!« Er streckte seine Hand aus. Aber Susan wich vor ihm zurück. Da kam Julia angekrochen, aus der Ecke, in die sie sich geflüchtet hatte, vorsichtig, aber zu allem entschlossen. Sie nahm Steves Hand und zog daran. Dann griff Susan endlich ein, setzte sich neben Steve auf dem Boden, packte seinen Arm, stemmte die Füße gegen die Wand und zog. Sie zogen mit aller Kraft. Und sie schafften es schließlich. Steve robbte mit seinem Oberkörper aus dieser Öffnung, drehte sich schließlich, zog ein Knie, dann einen Fuß nach und stand auf. »Glück gehabt!« sagte er lachend. »Wenn der Lift wieder angefahren wär’, während wir gerade durchkrochen, hätte uns die Kabine glatt halbiert!« Aus den Notizen des David McGhee: »Windscale I, der ursprüngliche, ältere Teil der britischen BNFL-Anlage Sellafield, war wegen eines Unfalls im Auf löser stillgelegt worden: eine exothermische Reaktion ver ursachte eine Verpuffung, wodurch das Radionuklid Ru thenium-106 Beta-Strahlung freisetzte. Die Fabrik wurde durch diesen Unfall dermaßen kontaminiert, daß sie sofort geschlossen werden mußte. Ein Abbruch oder eine anderweitige Verwendung von Anlagenbestandteilen ist wegen der radioaktiven Verseuchung nicht möglich.« 314
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Die ältere Dame, die in einem silbergrauen Kostüm hinter einem silbergrauen Schreibtisch saß, der auf teurem, silbergrauen Velour vor einer silbergrauen Grastapete stand, und die, ohne einzugreifen, alles beobachtet hatte, blickte den dreien interessiert entgegen. »Ist etwas passiert?« fragte sie. »Wir steigen immer so aus!« entschuldigte sich Steve. Als er merkte, daß sein Scherz in diesem eleganten Vor zimmer nicht so recht ankam, versuchte er zu erklären: »Der Strom ist ausgefallen!« »Vielleicht wieder so ein Streik«, mutmaßte sie. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« Er hob seine Kamera auf und steckte das Blitzgerät wieder auf den Bügel. »Ja. Verraten Sie mir, wo die Feu ertreppe ist?« Nach einer kurzen, nachdenklichen Pause hob sie die Hand und zeigte auf eine silbergrau gestrichene Stahltür in der Ecke. Steve nickte, packte Julia und Susan am Arm, zog beide hinter sich her und schob sie schließlich durch die Tür. Dann hasteten sie nach unten. Susan, das Kind auf dem Arm, voraus. Steve hinterher. Die Treppe war schmal und führte, von kurzen Absätzen unterbrochen, in engen Kreisen nach unten. Das trübe Licht der Notbeleuchtung verlieh ihnen kranke, grünliche Gesichter. Und die Stimmen hallten unnatürlich und metallisch zwischen den kahlen Betonwänden wider. 315
»Immer noch kein Vertrauen?« rief Steve hinter Susan her. »Nein!« schrie Susan zurück, ohne stehenzubleiben. »Okay, ja, ich gebe zu: Ich habe mich dir gegenüber benommen wie ein Schwein!« Er versuchte vergeblich, auf gleicher Höhe mit ihr zu bleiben oder sie sogar zu überholen. »Du hat Geld genommen! Von diesen Kidnappern!« warf sie ihm vor. »Ja! Und du hast davon profitiert! Das Ticket hierher nach Australien. Und …« »Sie haben dich gekauft«, unterbrach sie ihn. »Sie haben es versucht! Ohne Erfolg! Aber sie haben mich überzeugt!« Er stoppte Susan und packte sie am Arm. Und sie war zu überrascht, um sich zu wehren. »Du hast noch immer nicht kapiert, was hier wirklich läuft!« Er stand dicht vor ihr und ließ ihren Arm nicht mehr los. »Steve! Laß mich …!” »Du hörst mir jetzt zu! Es war vereinbart, daß wir alle nach London fliegen! Jetzt sind wir hier in Australien. Und diese Leute haben das mit ihrem eigenen Geld finanziert! Ein guter Witz, was?!« »Ja sehr komisch!« konterte Susan sarkastisch. »Wenn sie uns erwischen, legen sie uns dafür um! Die haben nicht die geringsten Skrupel!« »Stimmt! Die haben nämlich eine Idee. Und ein Ziel! Und das können sie nur bei absoluter Geheimhaltung rea lisieren. Irgendwo in der Wüste entsteht ein gigantisches 316
Werk, das die hier unter Ausschluß der Öffentlichkeit bau en. Produktion von neuen Brennelementen aus RecyclingMaterial und aus Natur-Uran, das dort in unmittelbarer Nähe gefördert wird. Ein Jahrhundertprojekt, wie diese Ruth Wong sagt, abgeschirmt gegen alle Proteste und kleinkarierte Widerstände. Eine neue Technologie, ge schützt gegen jede Form der Sabotage. Und mit weltweiten Konsequenzen für Energieversorgung, Arbeitsplätze und Konjunktur. Außerdem die Lösung aller Entsor gungsprobleme.« »Wie diese Ruth Wong dir sagte!« »Ja! Und diese Frau haben sie neben mir erschossen! Weil sie unzuverlässig wurde! Und irgendwann sind wir dran! Weil wir bereits zuviel wissen! Weil wir offenbar nicht abzuschütteln sind! Ist dir jetzt endlich klar, was ich für dich riskiert habe – für dich und deinen Dave?« Er ließ sie los, und Susan hetzte weiter nach unten. Aber schon nach wenigen Stufen blieb sie abrupt stehen. Er prallte fast auf sie auf. »Steve! Wer hat dir eigentlich gesagt, daß ich hier zu finden bin? In dieser Stadt? In diesem Gebäude? In diesem leeren Office dieser Firma? Die tote Ruth Wong? Oder wer?« Sie sah ihn prüfend an. Aber die Art, wie er ihr ant wortete klang ehrlich, harmlos. Oder war das auch wieder nur perfekt gespielt? »Es stand auf einem Zettel. Auf einem abgerissenen Zeitungsrand. Und der lag in deinem Zimmer. In Singa pore, im Hotel. Auf dem Gruppenbild mit Dave. Auf 317
einem verschmutzten, abgegriffenen Notizbuch. Auf dei ner Reisetasche.« Es klang plausibel. Aber eine plausible Erklärung mußte für Susan nicht unbedingt überzeugend sein. Es fiel ihr schwer, ihr Mißtrauen niederzukämpfen: »Du bist clever, Steve. Sehr clever! Du wirst jetzt her ausfinden, wo die ›Stella Polaris‹ angelegt hat. Wo ihre Ladung gelöscht wurde. Vielleicht hier im Hafen, in Fre mantle. Vielleicht irgendwo hier an der Küste. Und dann wirst du mir sagen, wo dieses ›gigantische‹ Werk entstehen soll. Dieses ›Jahrhundertprojekt‹. Okay, ja?« Sie wandte sich brüsk von ihm ab, ließ ihn stehen, lief mit ihrem Kind weiter nach unten. Er hastete hinter ihr her. Mit einigen Schritten Abstand. Von Stockwerk zu Stockwerk. Von Absatz zu Absatz. Nach jeweils sieben Stufen ging es rundherum im Kreis. Susan preßte Julia an sich, die sich an ihrem Nacken klammerte und über Susans Schulter hinweg Steve be obachtete. Als sie die Lobby erreichten und durch eine verdeckte Tür, die neben einem Gobelin in die Marmorwand einge lassen war, die Eingangshalle wieder betraten, schrillte immer noch die Alarmklingel. »Was ist los?« fragte Steve den verdutzen alten Mann an der Rezeption. »Was soll diese Klingelei?« »Lift ist ausgefallen«, erklärte der Alte nach einer Schrecksekunde. »Da sind irgendwo Leute eingesperrt, in einer der Kabinen. Aber unsere beiden Monteure sind schon auf dem Weg.« 318
Susan hatte die Glastür zur Rezeption geöffnet. Ihr Gepäck stand noch am gleichen Platz. Und sie fragte den Portier, der sie ansah, als würde ihn ihre Existenz total verwirren: »Diese ›Intra-Nuclear-Company‹ im siebzehn ten Stock … Wann sind die ausgezogen?« Der alte Portier blickte von ihr zu Steve und dann wie der zurück. »Ich weiß es nicht. Wir sind vier Kollegen. Wir lösen uns hier regelmäßig ab. Fragen Sie besser die anderen. Ich weiß überhaupt nichts!« Er sah sich ängstlich um und stellte dann an einem Schaltkasten an der Wand die Alarmglocke ab. »Mein Mann arbeitet bei dieser Firma«, erklärte ihm Susan, während sie nach ihren beiden deponierten Ta schen griff. »Ich bin heute morgen erst aus Europa ge kommen!« Aber der Portier wirkte nur konfus und hilflos. »Sie haben doch gesehen: die sind weg. Alles eingepackt. Und fort. Sind jetzt woanders. Irgendwo. Schon seit Tagen!« Da fielen zwei grüne Scheine dicht vor dem alten Herrn auf das Pult. Geldscheine. Jeweils einhundert US-Dollar. Sie fielen aus Steves Hand. Scheinbar ein Versehen. Ohne Absicht. Niemand bemerkte etwas. Die Scheine erregten höchstens die Aufmerksamkeit des Portiers. Und erst nach einer gewissen Reaktionsfrist, die er ihm eingeräumt hatte, wandte sich Steve nun sehr vertraulich an diesen Mann: »Wo sind die hin? Diese Leute?« Er flüsterte. 319
Und der alte Mann flüsterte zurück. »Ich sag’ doch, ich weiß es nicht! Keine Ahnung! Das Büro wurde einfach ausgeräumt, alles aufgeladen. Vielleicht weiß der Manager des Hauses …« Steve ließ noch einen Schein fallen. Sehr geschickt. Wiederum wie zufällig. Und ganz beiläufig fragte er: »Und die Post? Die wird doch irgendwohin nachge schickt … Wohin?« Da reagierte der Portier sehr sachlich, öffnete mit sei nem Schlüsselbund eine Schublade, klappte eine Liste auf, die dort bereitlag, und dann las er ab: »Ein Postfach. In Carnarvon!« »Carnarvon? Wo zum Teufel lieg Carnarvon?« Der alte Mann schien sehr erstaunt zu sein, daß der Ort unbekannt war. Er zögerte mit einer Antwort. Aber dann kam ihm die Erkenntnis: »Richtig, ja! Sie kommen aus Europa!« Dabei ließ er die drei immer noch herumliegenden grünen Scheine in seine offene Schublade fallen, auf die Postliste. Die klappte er zu. Und dann schob er die Schublade zurück und schloß sie ab. Er überlegte wie er es am besten erklären könnte. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, bereits viel zuviel verraten zu haben. »Carnarvon …! Sehr viele Orte gibt es ja nicht hier im Westen. Ich würde sagen, immer die Küste entlang nach Norden. So achthundert bis tausend Meilen. Ungefähr …!« Aus den Notizen des David McGhee: »Nach den nunmehr veröffentlichten Geheimdokumenten und jetzt vorliegenden Aussagen der damals tätigen Me 320
teorologen waren die für die Atomtestreihe von 1954 auf dem Bikini-Atoll verantwortlichen Wissenschaftler und Offiziere sehr wohl darüber informiert, daß der herr schende Passatwind den radioaktiven Fallout über die Inseln Rongelap und Rongerik tragen würde. Anwälte klagen die Regierung der früheren ›Schutz macht‹ USA an, die dort lebende Bevölkerung bewußt und absichtlich den schweren Strahlenschäden ausgesetzt zu haben, um die dadurch entstehenden Erkrankungen und Spätschäden studieren zu können. Noch heute wer den Überlebende und die nachfolgende Generation miß gebildeter Kinder von einem Ärzteteam im Auftrag der US-Regierung untersucht. Der Schadensersatz-Prozeß hat wenig Aussicht auf Erfolg, da Präsident Reagan die Inseln inzwischen in die ›Unabhängigkeit‹ entließ.«
55 Es gab keinen Hafen in Carnarvon! Die drei Männer an der Tankstelle lachten nur, als sie danach gefragt wurden. Susan, Steve und Julia waren knapp tausend Kilometer gefahren – und offenbar vergeblich, wie es schien. Der nächste Hafen war in Dampier. Das waren weitere 700 Kilometer. Und dann Port Hedland, noch einmal 250. Carnarvon hatte nur einen »Jetty«. Eine alte Lan dungsbrücke aus Holz. Die ragte eine ganze Meile weit hinein in das flache Küstenwasser des Indischen Ozeans. Das waren sechzehnhundert Meter. Der »One-Mile-Jetty« 321
war bereits legendär. Er hatte mehr als fünfzig Jahren lang den Cyclones, den tropischen Wirbelstürmen getrotzt, die hin und wieder den Nordwesten Australiens heimsuchen. Wie damals auf der Fahrt durch Frankreich hatten Susan und Steve sich am Steuer eines gemieteten Land rovers regelmäßig abgelöst bei ihrer Gewalttour nach Norden bis fast hinauf zum Wendekreis. Der Highway lief breit und schnurgerade die Hügel hinauf und wieder hinunter, durch das trockene, heiße, rotbraune Buschland. Blackboys standen am Weg, bizarre Grasbäume, spärliche Büsche, Banksias mit goldgelben Blütenkolben und vereinzelte, knorrige Eukalyptusbäume – »Gum-Trees«, wie die Australier sie nannten. Hier im »Outback« überlebten nur die härtesten und wider standsfähigsten der über 600 Arten. Das graue Asphaltband zog sich vor ihnen hin in Ein tönigkeit und flirrender Hitze. Tote Känguruhs säumten den Straßenrand, oft schon mumifiziert und ausgedörrt, überrollt und auf die Seite geschleudert von den nachts vorbeidonnernden »Roadtrains«, den Riesenlastern mit ihren drei, manchmal vier Anhängern, die den Norden des Landes versorgten – ja, und außerdem etwa zweihun derttausend leere Bierdosen, im Durchschnitt 200 auf jeden einzelnen dieser eintausend Kilometer. Truckfahrer sind durstige Leute. Susan, Julia und Steve hatten noch am gleichen Nach mittag Perth verlassen und nach 500 Kilometern Gerald ton passiert, die nächste Stadt und den einzigen Ort von Bedeutung auf der ganzen Strecke. Von dort bis Carnar 322
von gab es nur noch zwei Tankstellen, »Billabong-Road house« und »Overlander-Roadhouse«. Und hin und wie der Wegschilder zu den abseits liegenden »Stations«, den Schaf-Farmen. Die erreichte man dann auf ungeteerten roten Sandpisten mal nach zwanzig, mal nach achtzig oder mehr Kilometern, querab vom Highway. Im »Billabong-Roadhouse« hatten sie schließlich über nachtet. Sie waren alle drei zu erschöpft, um noch weiter zufahren, die restliche Nacht hindurch. Die Sonne war über dem roten Buschland untergegangen, da überzog sich der Himmel über dem westlichen Horizont mit einem intensiv strahlenden Orange. Zunächst waren sie nur ausgestiegen, um zu tanken. Es herrschte immer noch 42 Grad Hitze. Ein trockener Wind wehte aus den Wüsten, wirbelte ihnen den rotbraunen Sand ins Gesicht. Es wurde rasch dunkel, und sie beschlossen zu bleiben. Und über dem Dach des niederen Holzgebäudes erschien auf dem sternenübersäten Firmament klar und deutlich das Kreuz des Südens. Die Klimaanlage rauschte die ganze Nacht. Und in der Nähe jaulten und hechelten die Dingos. Hin und wieder wehten seltsame Töne von weither aus dem Busch. Es klang wie Gesang. Stimmen von Männern. Eintönig. Monoton. Begleitet von tiefen, schnarrenden Tönen fremdartiger Musikinstrumente. »Abos« sagte der Wirt, als Susan ihn am nächsten Morgen befragte. »Aborigines, die schwarzen Ureinwohner dieses Kontinents. Die feierten irgendwo draußen im Outback ein rituelles Fest!« Am Morgen kamen zwei von ihnen zur Tankstelle, Vater 323
und Sohn. Der Sohn war vielleicht acht oder zehn. Stämmige Gestalten mit blauschwarzer Haut und nak kenlangen, zotteligen Haarsträhnen. Sie hatten sich fein gemacht und trugen nagelneue Jeans. Die mitgebrachten offenen Marmeladeeimer füllten sie mit Dieselöl bis zum Rand. Der Vater zahlte schweigend. Dann hob jeder seinen Eimer auf die nackte Schulter, und barfuß gingen sie zurück in den Busch. Über Dornen und scharfe Steine, ohne irgendeinen Weg. Nur einfach so geradeaus. Und irgendwann verschwanden sie am Horizont. Nach einem Frühstück – mit Eiscreme für Julia – fuhren die drei weiter. Schweigend. Durch flirrende Hitze. Der Landrover war rot vom Staub, und das Blech schien zu glühen. Fünf Stunden später ragten die Masten gewaltiger Antennen und die weiße Schale einer Satellitenstation am Horizont auf. Sie überquerten einen ausgetrockneten Fluß, den Gascoyne-River, ein breites Bett aus angeschwem mtem rotem Sand, und schienen ihr Ziel damit erreicht zu haben. Aber, wie gesagt, in Carnarvon gab es keinen Hafen. Wo lag also die »Stella Polaris«? Wo war ihre heiße Ladung geblieben? Sie fuhren durch den kleinen Ort mit seinen vier Straßenzügen, durch diese Oase, vorbei an Bananen- und Mangoplantagen, bis zur Küste. Die Pfo sten des hölzernen Jetty ragten aus dem Schlick. Es war Ebbe. Pelikane ruderten in den Prielen, kamen neugierig näher. Susan, Julia und Steve machten sich auf den Weg, zu Fuß, mit steifen Gelenken nach dieser langen Fahrt, an den alten, rostigen Eisenbahnschienen entlang, die auf die 324
rohen Bohlen und Balken montiert waren und fast die ganze Breite des Jetty einnahmen, fast die ganze, lange Meile. Weit draußen auf dem Steg stand ein Angler. »Wir fragen ihn … Wenn ein Schiff hier war … Viel leicht weiß er Bescheid …« Nun waren sie vierzehn oder sechzehn Stunden lang ge fahren. Jetzt waren sie endlich hier, wo es eine PostfachAdresse geben sollte. Auch wenn es absurd war, hier an dieser Küste noch nach weiteren Spuren der »Stella Pola ris« zu suchen, einfach idiotisch und unnütz, wie Steve es formulierte, was hätten sie Sinnvolleres unternehmen können? Umkehren, wie Steve es vorschlug? Oder weiter fahren zu den großen Erzhäfen im Norden? Julia hüpfte an Susans Hand von Bohle zu Bohle, immer in der Mitte der Schienen, griff schließlich auch nach Steves Hand, um dann mit großen Sprüngen »fliegen« zu dürfen. So stiftete sie zwischen den beiden so etwas wie Harmonie, was von Susans Seite aus nicht geplant war. Hinter dem Angler blieben sie stehen. Der Mann war nicht mehr ganz jung, aber eigentlich auch nicht alt genug, um einen gewöhnlichen Werktag mit der Angel in der Hand zu verbringen. Er reagierte nicht auf die drei, nahm sie einfach nicht zur Kenntnis. Auch nicht Steve, der sich neben ihn gegen das Geländer lehnte. »Heißer Tag heute …«, begann Steve die Konversation. Der Angler nickte nur. Und erst als sein Schweigen pein lich zu werden begann, stimmte er auch verbal zu. »Wird irgendwann kühler.« 325
»Und?« erkundigte sich Steve. »Was gefangen?« Wieder nickte der Angler, und nach einer längeren Pause klappte er mit dem Fuß den Deckel eines alten, verrotteten »Eskys« auf, einer viereckigen Kühlbox aus Schaumstoff und Blech. Drei große, rotsilberne Brassen lagen dort drin, mit offenen Mäulern und starren Augen – auf einem Plastik sack, gefüllt mit Eis. »Fantastisch!« Steve hielt den Deckel hoch, und Susan trat mit Julia näher. »Schau mal, Julia, was für schöne, große Fische.« Susan hatte sich neben die Kühlbox gehockt. Aber Julia kam nur zögernd und widerstrebend näher. »Ich fürcht’ mich!« »Sie sind doch tot!« Sie nahm Julia an der Hand. Aber die blieb bei ihrem Einwand. »Trotzdem! Und sie tun mir leid!« Steve versuchte, das Gespräch mit dem schweigsamen Mann fortzusetzen: »Sie angeln hier oft?« »Jeden Tag!« Steve erhielt einen kurzen, prüfenden Blick, bevor der Mann Vertrauen faßte. »Keinen Job. Geh’ ich eben angeln. Nur wenn der Tanker kommt und die Stores auffüllt, dann nicht. Dann ist der Jetty gesperrt.« Er hatte hinübergezeigt an Land, wo zwischen den Dü nen die silbernen Kessel eines Tanklagers die Sonne reflek tierten. »Und es kommen nur Tanker hierher? Keine anderen Schiffe?« »Hin und wieder Langustenfänger. Früher haben sie hier 326
Erz verschifft, Schafe und Wolle. Läuft jetzt alles billiger auf der Straße. Viel ist hier nicht mehr los!« Er hatte seinen Blinker aus dem Wasser gezogen und mit großem Schwung in weitem Bogen neu ausgeworfen. Und Steve schwieg und schaute hinunter ins trübe, brak kige Wasser, das die alten, mit Muscheln bewachsenen Pfähle umspülte. »Warum fängt der Mann keinen Fisch mehr?« Juli war enttäuscht. »Er muß warten, bis einer anbeißt!« erklärte ihr Susan. »Vorn an der Angel hängt ein Haken mit Futter. Und wenn ein Fisch Hunger hat und zubeißt, dann hat er den Haken im Maul und wird herausgezogen!« Julia schaute Susan ungläubig an: »Das find’ ich aber gemein!« Der Mann lachte, ohne sich umzudrehen. Und Steve knüpfte die nächste Gesprächsrunde an: »Hat in der letzten Woche ein Schiff hier angelegt, das ›Stella Polaris‹ heißt?« Der Mann zuckte mit der Schulter: »Ich schau’ nie nach den Namen. Ich weiß auch nicht, wie der Tanker heißt.« »Nein! Kein Tanker. Ein großes Schiff. Es hatte lange, runde Container geladen. Die wurden irgendwo hier an der Küste ausgeladen.« »Warum fragen Sie?« Der Angler blickte nicht auf. »Freund von mir fährt auf dem Schiff.« »Aha!« Mehr sagte er nicht. Wenigstens nicht sofort. Aber nach einer langen Pause sprach er weiter. »Da hatten sie auch abgesperrt. Drei Tage lang. ›Ge 327
fährliche Ladung‹, hieß es. Na ja, heißt es auch, wenn Benzin gelöscht wird.« Er zog den Blinker näher zum Steg, dann holte er ihn ein und schleuderte ihn wieder hinaus ins tiefere Wasser. »Die brachten die Ladung hier an Land«, fuhr er un vermittelt fort. »Über zweihundert Riesenröhren Kühl rippen. Vom Schiff mit dem Kran auf die Waggon der Schmalspurbahn hier. Dann auf den Schienen vor zum Land. Dort wieder mit ’nem anderen Kran auf die Tieflader. Stück für Stück. Und ab ging die Post!« Steve und Susan sahen sich an. Die Lösung des Rätsels. So einfach, so nebenbei. Die Antwort auf alle Fragen. Wirklich auf alle? »Diese ›Stella Polaris‹? Wo ist das Schiff jetzt?« Susan schaltete sich in das Fragespiel ein und erntete einen kur zen, mißbilligenden Blick. »Woher soll ich das wissen?!« Der Angler wirkte irritiert, besonders nach Susans nächster Frage: »Und die Container? Wo wurden die hingebracht?« Diesmal erhielt sie keine Antwort. Da erklärte Steve: »Sie sucht ihren Mann. Der ist ab gehauen. Mein ›Freund‹ vom Schiff!« Der Angler hatte kapiert. Und er lächelte sogar in die Richtung von Susan. »Verstehe!« Trotzdem ließ er sich wieder viel Zeit, bis er weiter sprach. »Wo diese silbernen Dinger abgeblieben sind, das weiß ich nicht. Interessiert mich auch besser nicht. So, wie die 328
hier alles abgesperrt haben …« Er riß die Angel hoch, aber die Beute hatte sich bereits losgerissen, nichts hing mehr dran, nicht mal der Blinker. »Oh, Bullshit!« fluchte der Angler und begeisterte damit Julia. Dann hockte er sich hin, knotete einen neuen Haken an die Schnur und holte einen Köderfisch aus einem ab gedeckten Eimer. Und während er den zappelnden Fisch an den Haken hängte, was Julia fasziniert und mit Schaudern beobachtete, sprach er ganz beiläufig weiter. »Fragen Sie mal besser Michael O’Connor. Der fuhr auf diesem Schiff. Als Decksmann. Der ist anschließend gleich hier an Land geblieben und hat sich von seiner Heuer, die sie ihm bar ausbezahlt haben, so zack über Nacht ’n schniekes Haus gekauft. Und ein schnelles Boot.« Der Angler stand wieder auf und schleuderte den Köderfisch weit hinaus ins Wasser. »Der Job war wohl Spitze«, fuhr er fort. »Aber bestimmt nicht sehr gesund! Michaels Hände und Arme sind ganz übel verbrannt. Und sein Gesicht ist aufgedunsen, blasig und rot …!« Susan und Steve reagierten auf diese Nachricht wie elektrisiert. »Wo ist der Mann?« fragte Susan. Der Angler sah sie nur kurz an, so über die Schulter, und antwortete nicht. Sie war ihm eine Spur zu aufgeregt und nervös. Steve ging das Problem etwas ruhiger an: »Wo find’ ich ihn, diesen Michael O’Connor?« »Im Pub natürlich! Wo denn sonst?« Konversation mit 329
Männern fiel diesem Angler bedeutend leichter, besonders wenn es um so heikle Themen ging. Für Susan fügte er noch hinzu: »Da gehen Sie als Lady aber besser nicht rein!« Aus den Notizen des David McGhee: »Die ideale Beseitigung für hochradioaktive Abfälle ge schieht inzwischen durch ›Verglasen‹, das heißt Vermi schen mit Glasschmelze. Die strahlenden Glasblöcke wer den sicher gelagert. Unerforscht wird bleiben, wie sich Glas unter dem Einfluß von Strahlung und Wärme in den nächsten 500000 Jahren verhält, ob es porös wird, Risse bekommt, durch die Grundwasser eindringen und verseucht wieder aussickern kann, oder ob es anderweitig durch geologische Kräfte, die in diesen Zeiträumen zu erwarten sind, zu Schaden kommt. Wenn man natürlich davon ausgeht, daß die heute bestehende Menschheit die nächsten zweioder dreihundert Jahre ohnehin nicht überleben wird, sind solche Überlegungen oder Befürchtungen ohne Belang.«
56 Die Männergespräche an der Theke erstarben: Steve hatte den Pub betreten. Nach und nach richtete sich ein Dutzend Augenpaare mehr oder weniger unauffällig auf ihn. Steve bestellte ein Bier, und die Barmaid mit dem ein tätowierten Schmetterling auf ihrem fleischigen Oberarm 330
fragte ihn mit sanfter Stimme: »Glas oder Middy?« »Middy«, entschied Steve und blickte sich um. Es war düster im Pub. Das weit überstehende Wellblechdach, die klassische Kolonialarchitektur mit der rundumlaufenden Veranda, ließ nur wenig Licht in den hohen Raum, hielt ihn aber auch kühl. Andererseits: zum Trinken braucht man in der Regel nicht viel Licht. Die Flügel des Ventilators an der Decke drehten sich langsam, und das Bier war eiskalt. Kälter kann Bier nicht sein als in einem australischen Pub. Und keiner der anwe senden »Mates«, dieser gestandenen Männer, die ein wenig uniformiert in Unterhemd und Shorts und in Farmerstie feln an der Theke lehnten, würde ein Glas länger als unbe dingt nötig in der warmen Hand halten. Steves Augen gewöhnten sich an diese Art von Däm merung. Er studierte die alten, gerahmten Fotos an der Wand, die bunten Schilder und die Wimpel der ortsan sässigen Sportclubs sowie die vergilbten behördlichen Verordnungen, die die Öffnungszeiten und den Alkohol ausschank betrafen. Da stand ihm plötzlich ein schwarzer Mann gegenüber, einen Wurfpfeil bedrohlich in der Hand. »Sorry, Mister!« sagte der Schwarze mit leiser, devoter Stimme und winkte Steve zur Seite, der ihm im Weg stand. Die Scheibe für das Dart-Spiel hing genau hinter Steve an der Wand. Steve nickte, trat zur Seite, und die Pfeile flogen wieder durch den Raum. Am Pool-Billard stand ein breitschultriger Mann und drehte Steve den Rücken zu. Er spielte gegen sich selbst 331
und hantierte sehr vorsichtig, sehr bedächtig, mit dem Queue, denn beide Hände waren bandagiert. Die schmutzigen, blutverkrusteten Fetzen der Mullbin den hingen bis auf den Rand des Tisches. Blaurot geäderte Fingerkuppen und blutunterlaufene Nägel ragten aus dem nachlässig angelegten Verband. Steve trat dicht hinter diesen Mann und wartete auf eine Gelegenheit, ihn anzusprechen. Aber als sich ihm ganz überraschend das blasig-schrundige Gesicht zuwandte, ließ er den günstigen Augenblick ungenutzt. Es war ein Schock. Heute, hier, dieser vom Tod gezeich nete Mann. Vor wenigen Tagen die Begegnung in Singapo re. Steve hatte völlig vergessen, wie er das Gespräch begin nen wollte. »Ein Bier?« fragte er schließlich. Aber dieser Michael O’Connor deutete auf sein halbvolles Glas, das neben ihm auf einem der kleinen Tische stand. »Hab’ noch. Danke.« Er wandte sich ab, ging um den Billardtisch herum und spielte weiter. Susan, Julia auf dem Arm, war überraschend eingetreten und neben der Tür stehengeblieben. Wieder erstarb das Thekengespräch, das gerade erst wieder zaghaft begonnen hatte. Die Männer hatten ein neues Ziel, das die Auf merksamkeit auf sich zog: Frauen waren in Pubs dieser Art ungewöhnliche, um nicht zu sagen unerwünschte Gäste. Der Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren war außerdem laut »CommonwealthLaw« strikt untersagt. Aber nichts Dramatisches passierte. Die Barmaid griff 332
nicht ein, reagierte desinteressiert. Und Steve benutzte die Ablenkung, stellte sich wieder dicht hinter O’Connor und raunte ihm zu: »Kennst du David McGhee? Der war mit dir auf dem Schiff! Dort drüben, an der Tür, das ist seine Frau Susan. Und das Kind ist seine Tochter und heißt Julia. Kannst du den beiden helfen?« O’Connor reagierte nicht. Er zielte mit dem Queue lange und konzentriert auf eine der Kugeln. Dann stieß er zu, beobachtete das Spiel, trank, sichtlich befriedigt über das Ergebnis, sein Glas aus und trat an den Tresen. »Ich krieg noch ’n Middy!« Steve war ihm gefolgt. »Geht auf meine Rechnung!« rief er der Barmaid zu. Aber O’Connor zischte ihm zu: »Laß das!« Er kramte in seiner Hosentasche, brachte eine Handvoll zerknitterter Geldscheine zum Vorschein und warf einen davon auf den Tresen. Dann nahm er sein Bier in Empfang und ging zurück zu seinem Spiel. Wieder folgte ihm Steve. »Okay, du willst nicht mit mir reden?« »Nicht hier!« O’Connor beobachtete den Lauf der Kugeln, dachte nach, sah zu Boden, dann zur Tür, wo immer noch Susan und Julia standen. Schließlich stellte er das Queue in den Ständer zurück, trank sein Bier in einem einzigen Zug aus und murmelte, während er das leere Glas auf den Fenster sims stellte, ohne Steve anzusehen: »Kannst ja irgendwann nachkommen: raus und links. 333
Und dritte Straße rechts bis ans Ende. Steht ’n Speedboot vorm Haus. Aufm Trailer. Leicht zu finden!« Damit ging er. Und er würdigte Steve und auch Susan, an der er vorbei mußte, keines Blicks. Noch immer stand Steve mit seinem Bier in der Hand unentschlossen herum. Da tauchte der Aboriginal neben ihm auf. Der schwarze Mann mit den Wurfpfeilen mußte von dem kurzen Gespräch mit O’Connor einiges mitbe kommen haben. Jetzt raunte er Steve vertraulich zu: »Warum fragen Sie nicht mich, Sir? Ich erzähl’ Ihnen alles, was Sie wissen wollen! Aber nicht für’n Bier! Auch nicht für zwei!« Er lächelte bescheiden, brach allerdings sein Gespräch mit Steve irritiert ab, als Susan näherge kommen war und ihn fragte: »Waren Sie etwa mit auf diesem Schiff?« Sie hatte auch nur geflüstert. Aber der Aboriginal sagte, bevor er sich abwandte und den düsteren Raum verließ, als hätte er nicht richtig verstanden: »Auf was für’m Schiff, Missi?« Es war wieder still geworden im Pub. Steve spürte, daß die Männer, die dort in Ruhe ihr Bier zu trinken pflegten, alle genau wußten, worum es ging. Aber sich raushielten aus der Geschichte. Sie betrachteten die Fremden nach wie vor mit unverhohlenem Mißtrauen. »Hat er etwas gesagt?« fragte Susan. »Noch nicht. Wir sollen ihm folgen, er wird reden!« Er stellte sein noch volles Bierglas neben das leere von O’Connor. Da drangen von der Straße her Geräusche in den Raum, 334
die alle Anwesenden aufhorchen ließen. Ein Wagen schleuderte mit quietschenden Reifen über den Sand. Dann ein Aufprall, ein harter Schlag gegen Blech. Das Splittern von Glas. Kurz darauf erklangen Rufe, ein Wortwechsel begann. Der Aboriginal tauchte in der Tür auf, atemlos und er regt. Und er rief in die aufmerksam gewordene, eben noch so schweigsame Runde: »Den Michael O’Connor hat einer umgefahren! Vorn an der Ecke!« Sie sprangen alle auf, stellten ihr Bier ab, drängten sich an Susan und Steve vorbei nach draußen. Susan nahm Julia auf den Arm, folgte den Männern bis vor die Tür. Dort lehnte bereits Steve und blickte die Straße hinunter. An der nächsten Kreuzung stand ein Landrover quer, mit offenen Türen. Und eine Gruppe von Neugierigen verdeckte das Opfer. Die Männer aus dem Pub rannten auf die Unfallstelle zu, nur der Aboriginal blieb hinter Steve stehen. »O’Connor war krank. Und besoffen wie immer«, sagte er zu Steve. »Wem will man da die Schuld geben?« Und als Steve nicht antwortete, da er üble Zusammenhänge ahnte, fuhr er fort: »Ich war nur fünf Schritte hinter ihm, als es passierte. Aber mich hat er nicht erwischt.« »Wer war der Fahrer von dem Wagen?« fragte Steve. »Weiß nicht! Ist abgehauen!« Der Aboriginal zuckte hilflos die Schulter. Die Menge teilte sich. Vier Männer schleppten O’Con 335
nor von der Straße weg und legten ihn zwischen hohes, dürres Gras in den Sand. »Ist er schwer verletzt?« fragte Susan. »O’Connor?« Der Aboriginal sah sie auf diese Frage hin verblüfft an. »O’Connor ist tot!« Damit lief er los. Die Straße hinunter, zu der Kreuzung, wo Neugierige und Helfer gemeinsam den Landrover auf die Seite schoben. Auch Steve ging nun einige Schritte in diese Richtung, und Susan folgte mit Julia. Aber an der Ecke des Pub blieb er stehen. Noch vor zehn, fünfzehn Minuten, als sie ihren Wagen geparkt und auf diesen einsamen Pub mit seiner Säulen veranda zugegangen waren, schien die kleine Stadt aus gestorben und leer. Und nun hatten sich in kürzester Zeit zwei, drei Dutzend Männer am Unfallort eingefunden. »War das ein Zufall?« fragte Susan. Und Steve ant wortete mit einem gewissen Sarkasmus: »Frag lieber, wer der nächste ist. Ich? Du? Dieser Schwarze dort vorn, der etwas von der Sache weiß? Wie viele Zeugen gibt es hier im Ort? Wie viele haben mitgeholfen, die Container zu entladen? Sollten wir hier noch weiterforschen? Oder uns besser sofort in Sicherheit bringen?! Reden wird jetzt von denen keiner mehr.« Susan schaute Steve nachdenklich an: »Wenn du’s mit der Angst bekommst, Steve! Wenn du lieber abhauen willst, bevor es zu spät ist …« »Es ist längst zu spät! Ich häng’ da mit drin! Keine Chance mehr, mich abzuseilen! Du weißt, warum du das 336
alles auf dich nimmst. Aber warum ich mitgemacht habe …?!« Er schaute sie skeptisch an. »Nicht wegen mir!« sagte sie nur. Steve war anderer Meinung: »Unter all den Frauen, die ich kenn’, da war bis heute keine darunter, für die ich was riskiert hätte. Oder die sich für mich irgendwie, irgendwo eingesetzt hätte. So, wie du jetzt alles riskierst für deinen Dave! Eine Heilige! Es ist wahnsinnig! Es ist verrückt …! Und ausgerechnet so einer lauf ich über den Weg!« Er lehnte sich an eine der Säulen, schaute hinüber zu der Stelle, wo immer noch die Männer aus dem Pub den toten O’Connor umstanden. Der Landrover stand nun schräg am Straßenrand, die Türen immer noch weit geöffnet. Der Aboriginal bückte sich und untersuchte die Aufprallstelle und den zer scherbten Scheinwerfer. Ein anderer Schwarzer räumte die Glassplitter von der Straße. Da sagte Julia, und es klang etwas absurd, aus dem Zusammenhang gerissen: »Ich will Sarah wiederhaben! Meinen Elefanten! Der ist doch da drin!« Susan schaute erst Julia an, dann den Wagen. Und da bemerkte sie etwas und packte Steve erschrocken am Arm. »Steve! Es ist unser Wagen! Der Leihwagen! Unser Gepäck liegt auf dem Sitz! Jemand muß ihn gestohlen haben! Und …« Sie brach ab. Mitten im Satz. Und Steve, der sie eben noch ungläubig angesehen hatte, reagierte nun wie in Pa nik. Er blickte sich um, suchte einen Fluchtweg, drängte sich rückwärts aus der Gruppe der Neugierigen heraus, die 337
in seiner Nähe standen, und zischte Susan zu: »Komm! Laß alles stehen! Laß dir nichts anmerken! Nimm das Kind mit und komm!« Aber Julia widersetzte sich auf diesem Rückzug. »Ich will Sarah wiederhaben«, heulte sie. »Ich will meinen Elefanten!« Aus den Notizen des David McGhee: »Zwei Wochen nachdem die ›Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen‹ als Standort für die geplante 350-Jahrestonnen-Anlage den bayeri schen Ort Wackersdorf benannt hatte, verschwanden Tei le einer Chemiefabrik in diesem Gebiet über Nacht in einem riesigen Krater. Die Ursache des Erdrutsches, der Schäden im geschätzten Wert von 10 Millionen Dollar zur Folge hatte, ist nicht geklärt. Nach Aussagen des zuständigen Umweltministers Dick sind Störfälle bei der geplanten deutschen Wiederaufar beitungsanlage in Wackersdorf mit an Sicherheit gren zender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.«
57 Einige der kahlen roten Erdhügel waren mit ausge bleichten Plastikblumen geschmückt. Einige trugen Kreuze aus Holz, farblos, verwittert, umgestürzt. Der Friedhof lag mitten im Busch, zwei Meilen vom Ort entfernt, überragt von den gigantischen Sendemasten der Seefunkstelle. Die heiße Luft war erfüllt vom Sirren der Zikaden und 338
den Klagelauten der Magpies – großer, schwarzweißer Vögel, die in den kahlen Bäumen hockten. Die Sonne stand fast senkrecht über der Grube, als der Sarg hinabgesenkt wurde. Es standen nur wenige Trau ernde um das offene Grab. O’Connor hatte keine Familie. Nur ein paar neuerworbene Freunde. Er war in Irland geboren und sein Leben lang immer auf See gewesen. »Tut mir leid, daß Sie zu spät kommen!« Der junge Polizist mit dem Rangerhut half Susan und Julia aus dem Streifenwagen. Steve lud die Reisetaschen aus und stellte sie neben das Fahrzeug in den Sand. Dann hängte er sich die schußbereiten Kameras um. »So etwas dauert immer. Auch wenn’s nicht viel bringt.« Der Polizist meinte das Verhör. Gestern abend. Und heute morgen nochmal. Sie hatten ja ein Alibi mit einem Dut zend Zeugen, waren im Pub, als draußen der Unfall statt fand. Aber nun war der Wagen konfisziert. Ein Spezialist würde irgendwann eintreffen, um die Fingerabdrücke zu untersuchen. Der Papierkrieg, die Protokolle, Formulare, Telefonate, Unterschriften – das hatte sich über Stunden hingezogen. Susan blickte über den rostigen Zaun hinweg in diesen kleinen Friedhof hinein. Und die Trauergemeinde am offenen Grab blickte heraus zu ihnen. »Gehen Sie los«, riet der Polizist. »Sonst ist die Feier vorbei.« Er stieg wieder ein und startete den Wagen. »Ich würde ja gerne warten und Sie hinterher zum Flughafen bringen. In drei Stunden geht ein Flug zurück nach Perth. Aber wir sind hier nur zu dritt auf zweihundert Meilen. 339
Schick’ Ihnen ein Taxi!« Steve bedankte sich mit einer Geste für die gutgemeinte Absicht. »Wir werden auch ohne Polizeischutz überleben, hoff ich.« Er ging in Richtung Friedhof und begann zu fotografieren: dunkle Gestalten vor roten Grabhügeln unter einem steilen Licht. Da rief ihm der Polizist noch nach: »Ziehen Sie nächstes Mal den Zündschlüssel ab, wenn Sie aussteigen, Sir! Das ist Gesetz in unserem Land!« Steve nickte nur und fotografierte weiter. Susan nahm Julia an die Hand und ging los. Der Polizist beugte sich aus seinem Wagenfenster, als sie an ihm vor beiging. »Was wollen Sie eigentlich hier, bei der Beerdigung? Haben Sie den Mann gekannt?« »Es war ein Crewkamerad meines Mannes. Fuhr mit ihm zur See!« Sie war stehengeblieben und wartete auf weitere Fragen. Aber der Polizist war mit der Antwort zufrieden, tippte mit dem Zeigefinger an die breite Krempe seines Hutes, wendete den Wagen mit durchdrehenden Reifen und fuhr rasch davon. Eine rote Staubwolke zog über den Parkplatz und legte sich über die wenigen Wagen, die dort standen. An einer Seitenpforte blieben sie stehen, Steve, Susan und Julia. Sie waren tatsächlich zu spät gekommen. Die kleine Trauergemeinde begann sich aufzulösen. Zwei Männer schaufelten rote Erde in das Grab. Barfuß, aber in einem schwarzen Anzug und mit schwarzer Krawatte, kam der Aboriginal, den sie vom Pub 340
her kannten, zwischen den Grabhügeln hindurch auf sie zu. Er pirschte sich an. Wie zufällig. Und am Tor blieb er stehen: »Ich hab’ Sie herbestellt!« Steve nickte nur. Er hatte es geahnt, als man ihm im Motel die Mitteilung übergab. »Fürs Maulhalten gab es sehr viel Geld!« beschwerte sich der Aboriginal. Es klang so, als sei er dabei leer ausge gangen. »Wieviel gibt’s fürs Reden?« Steve schwieg. Auch Susan sagte kein Wort. Sie wech selten beide nur einen kurzen Blick und warteten ab. Da sprach der Aboriginal weiter, leise, unauffällig: »Sie wollen doch wissen, wo diese silbernen Container geblieben sind. Haben doch danach gefragt. Draußen am Jetty. Ich kenn’ den Platz und den Weg! Bin siebenmal hin und her gefahren. In zwei Tagen und drei Nächten. Mit einem Sattelschlepper.« Und nach einer abwartenden Pause fragte er noch einmal: »Was ist es Ihnen wert?« Wieder wechselten Steve und Susan einen Blick. Dann nahm Steve das Bündel mit den grünen Hundertdollar noten aus seiner Hosentasche, entfernte das Gummiband und gab dem Aboriginal einen Schein. Einen zweiten. Einen dritten. Er zögerte jedesmal und fixierte dabei die Miene seines Gegenübers. Der nahm das Geld entgegen. Schein für Schein. Abwartend. Lauernd. »Schön, daß Sie darauf vorbereitet sind, Mister!« sagte er. Aber nach dem dritten Schein hob er abwehrend die 341
Hand. »Danke. Es reicht. Ich will Sie nicht ausnehmen.« Er steckte das Geld ein, dann hob er die rechte Hand, peilte die Sonne an, schützte mit der Linken seine Augen und zeigte in eine ganz bestimmte Richtung. »Mit einem Sattelschlepper brauchen Sie vier Stunden. Genau nach dort. Eine Lehmpfanne. Davor liegt ein Salz see. Werden Sie das finden, Mister?« Er schaute Steve abwartend an. Aber dem war diese Beschreibung offenbar etwas zu vage. Der Aboriginal nickte, sah das ein, überlegte, wie er die Lage eines Ortes in der Wüste einem Europäer, einem Städter noch dazu, begreiflich machen konnte. Einem Mann also, der nicht über seine Kenntnisse im Spurenle sen, nicht über seinen angeborenen Orientierungssinn verfügte und über diese zigtausend Jahre alten Instinkte des Überlebens im Outback. »Gut. Wenn Sie also nach dort fahren, auf dem Highway …« – er zeigte nach Süden – »noch einmal so weit, wie Sie jetzt sehen können, da läuft ein Creek, ein trockenes Bachbett, unter der Straße durch. Dort beginnt die Piste. Die haben wir ausgefahren. Ganz frische, tiefe Spuren. Sie kommen dann direkt hin! Nach vier Stunden!« Wieder eine Geste, eine Richtung. Steve versuchte, sich die Erklärung und die Richtung einzuprägen. In der Zwischenzeit hatte Susan das gelbe Kuvert ge öffnet und das Bild von David herausgenommen. Sie hielt es dem Aboriginal hin. 342
»Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen? War er dahei, beim Abladen? Auf dem Schiff? Beim Transport? Oder dort in der Wüste? Ich suche ihn …« Der Aboriginal warf einen Blick auf das Bild, dann auf sie. Und schwieg. Julia hatte interessiert das alles mit angehört. Jetzt mischte sie sich mit einer Erklärung in das Gespräch. »Es ist unser Daddy!« Der Aboriginal schaute verblüfft auf das Kind. Dann nochmals und sehr intensiv auf das Bild. Er wollte schon danach greifen, als er stutzte. Aber dann nahm er es doch, sehr zögernd, und betrachtete es lange. Sein Ausdruck hatte sich plötzlich verändert. Er wirkte auf seltsame Weise verstört. Und er sah Susan sehr ein dringlich, fast beschwörend aus seinen schwarzen Augen an, als er das Bild zurückgab. So, als wisse er bereits zuviel. Als habe er nicht nur eine bestimmte Ahnung, sondern eine Gewißheit. Und es klang wie eine Warnung und nicht nur wie ein gutgemeinter Rat, was er nun sagte, bevor er sich abwandte, rasch davonging, als sei er auf der Flucht, in einen wartenden Wagen stieg und aus dieser Geschichte verschwand: »Sie sollten losfahren, Missi! Jetzt gleich! Sofort! Und ganz schnell!« Aus den Notizen des David McGhee: »›Entsorgung ist die sachgerechte und sichere Verbringung der während der gesamten Betriebszeit der Anlage anfallenden bestrahlten Brennelemente in ein für 343
diesen Zweck geeignetes Lager mit dem Ziel ihrer Verwertung durch Wiederaufarbeitung oder ihrer Behandlung zur Endlagerung ohne Wiederaufarbeitung und die Behandlung und Beseitigung der hierbei erhaltenen radioaktiven Abfälle.‹ Soweit die amtliche Definition einer westeuropäischen Regierung. Der Begriff ›Entsorgung‹ sagt deutlich, daß es nicht angezeigt ist, sich unnötig Sorgen zu machen.«
58 Langsam zog das rostbraune, rotsandige, ausgedörrte Land an ihnen vorbei. Flach wie ein Brett. Durchädert von wasserlosen Rinnen, von »Creeks«, die sich in irgendeiner Regenzeit einmal eingegraben hatten in diesen gerösteten, hartgebackenen Boden. Und dann ausgewaschen worden waren, freigespült. Zu Bächen und Flüssen wurden, die jetzt nur noch aus Geröll und zusammengeschobenen Kiesbänken bestanden. Die Vegetation war spärlich. Karge, graugrüne Büsche, »Saltbush«, Spinnifex-Gras und hin und wieder ein ausgebleichter, kahler, toter Stamm. Dies war das »Outback«, wie die Australier es nennen, das »Never-Never«, letzte, unwirtliche Heimstatt für zähe, hartnäckige Settler, Lebensgrundlage für fünf bis zehn Schafe pro Hektar. Prosperierende »Stations« züchteten Tausende – auf Flächen, groß wie europäische Staaten oder Regierungsbezirke. Aber das Land, das sie gerade überflogen, ernährte auch keine Schafe mehr. Känguruhs 344
vielleicht, doch zu Julias Leidwesen entdeckten sie nicht ein einziges. Sie hatten eine kleine Maschine gechartert, am Flug hafen in Carnarvon. Eine Cessna der »Tropic-Air«. Nun folgte der Pilot dem Track, der ausgefahrenen, geheimen Spur der Sattelschlepper, die der schwarze Mann am Friedhof ihnen verraten hatte. Sofern es überhaupt die richtige Spur war, die sie entdeckt, die sie an der vorbe zeichneten Stelle des Highways gefunden hatten und die sich nun Kilometer um Kilometer schnurgerade durch die Halbwüste zog. Sie überflogen einen riesigen Salzsee. Der Schatten des Flugzeugs wanderte über die weißkrustige Fläche wie über Eis. Die Spur der Sattelschlepper, die das Salz durchschnit ten hatte bis auf den braunen, morastigen Untergrund, durchpflügte nun Lehmpfannen, »clay-pans«, dunkelrote, glänzende ausgetrocknete Seen, die hier zu Dutzenden die Landschaft sprenkelten. Sie überblickten dieses Land bis zum Horizont. Men schenleer. Unbewohnt. Kein Zeichen einer Zivilisation. Außer dieser einen tiefen ausgefahrenen Spur. »Ein großes, gewaltiges Werk im Aufbau …« rief Steve dem Piloten zu. »Das ist doch nicht zu übersehen!« Aber der schüttelte nur den Kopf: »Eine Großbaustelle? Im Outback? Das wüßt’ ich!« Er schob seinen Hut in den Nacken und ging tiefer. Und folgte weiter dem Track. Susan war die erste, die den Lichtreflex entdeckte. Noch weit entfernt. Ein Glitzern. Weiter nichts. 345
Das Glitzern kam näher und näher, lag plötzlich vor ihnen, unter ihnen, und es stockte ihnen der Atem, als sie ihr Ziel überflogen. Die Spuren teilten sich, überschnitten und kreuzten sich, wurden zu Schleifen, zu Kreisen, weil hier der Weg ins Nirgendwo endete und die Sattelschlepper wieder umgekehrt waren, den langen, weiten Weg zurück, zur Übernahme der nächsten Ladung. Und das Glitzern zwischen diesen Spuren und Kreisen, neben diesem aufgewühlten Boden, das, was da gleißte und glänzte und das Sonnenlicht reflektierte und von oben aussah wie Spielzeug, das waren zweihundert oder mehr massive metallene Säulen. Sie standen aufrecht, aufgereiht in unregelmäßigen Abständen, säumten diese Fahrzeug spuren im roten, blanken, ausgetrockneten Lehm. Zwei oder drei der Container waren umgestürzt, nach lässig abgeladen worden, lagen da wie Sperrmüll. Und am Ende dieser Piste, inmitten dieser Umkehr schleifen, hing ein offensichtlich beschädigter Sattel schlepper schräg im Sand. Und das war es auch schon. Denn außer dieser Deponie war nichts zu sehen, so weit das Auge reichte. Keine Baustelle. Keine Behausung. Kein weiterer Track. Nichts. Bis zum Horizont. Der Pilot setzte zur Landung an. Er war überrascht, fast belustigt, als er entdeckte, was sich hier in der Wüste, in einer Lehmpfanne des Outbacks, an absurdem Schrott angesammlt hatte. Die Maschine rollte aus und schleppte eine Wolke roten Staubs hinter sich her, die langsam über die silbernen 346
Container wehte. Susan und Steve öffneten die Luke, kletterten aus der Maschine. Und es verschlug ihnen ein weiteres Mal die Sprache. Nicht nur, weil die trockene Hitze auf sie nie derfiel wie ein Schwert. Da standen sie mitten in einem Wald von gigantischen Säulen. Jede von ihnen fünf, sechs Meter hoch und fast zwei Meter dick. Kühlrippen zwischen einem massiven Sockel und einem massiven Kopf. Unten leuchtete auf gelbem Grund das schwarze Kreuz und warnte vor radi oaktiver Strahlung. Oben prangte das von Ellipsen um sponnene »N«. Die Rotorblätter des Propellers liefen aus, standen still. Und über dem Gelände lag plötzlich eine geradezu schmerzende Stille. Die Abwesenheit von jeglichem Ge räusch – kein Schrei eines Vogels, kein Zirpen von Grillen, nicht einmal das Rauschen von Wind – war ebenso erschreckend und pervers wie die optische Szenerie, die sie hier vorfanden. Der Platz schien verlassen zu sein und unbewacht. Da stand der Beweis für ein Milliardengeschäft. Und für die Skrupellosigkeit eines internationalen Syndikats. Steve war fassungslos. Kommentarlos lief er auf die erste Säulenreihe zu und verschwand hinter den Containern. Julia war aus der Flugzeugkabine heraus Susan in die Arme gesprungen. Sie genoß das Abenteuer: erst dieser Flug, jetzt diese Entdeckung. Susan stellte sie vorsichtig auf den harten, sandigen Boden. »Wo ist Daddy?« fragte Julia. 347
Susan nahm sie an der Hand und ging mit ihr los. »Niemand ist hier«, sagte sie. »Aber vielleicht hat er hier gearbeitet.« »Du hast gesagt, wir gehen Daddy suchen!« »Ja«, sagte Susan, »und wir werden ihn finden!« Sie folgten Steve. Der wanderte nachdenklich durch diese Container-Allee, an diesen gewaltigen Säulen ent lang, wie durch die Ruinen eines antiken Tempels. Er schien die Zusammenhänge langsam zu begreifen. Die Absicht. Den »Plot« des Betrugs. Und den Skandal. Susan stand nur ein paar Meter entfernt von ihm im Schatten einer der Säulen und beobachtete Steve lange, bevor sie ihn zitierte: »Ein Jahrhundert-Projekt …!« Steve schwieg und reagierte nicht weiter. Und Susan zitierte weiter. »Die ›Lösung aller Entsorgungsprobleme‹!« Er drehte sich um und ging einfach davon. Er hielt seine Kamera schußbereit in der Hand, fotografierte aber nicht. »Ein gigantisches Werk!« Susan war hinter ihm herge laufen, auf der gegenüberliegenden Seite der Piste, und begann ihn zu überholen. »Neue Maßstäbe«, rief sie hin über zu ihm, »für die Energieversorgung … Arbeitsplätze … Konjunktur …« Da sah er sie an und grinste und rettete sich in Sarkas mus: »Zumindest sehr preiswert: Endlagerung zum Nulltarif!« »Nulltarif?« Susan lachte. »Die Auftraggeber haben Milliarden bezahlt. Geld, das ihnen nicht gehört, einge 348
trieben bei den Stromverbrauchern. Einer zahlt am Ende immer die Zeche!« Steve hielt die Kamera im Anschlag und nahm Susan und Julia ins Visier, Mutter und Kind zwischen den Nu klear-Containern. Aber wieder ließ er die Kamera sinken, ohne abzudrücken. Als sie die halbe »Allee« bereits abgeschritten hatten, jeder auf seiner Seite, blieben sie, mit Abstand zueinander, stehen. »Wenn die Öffentlichkeit das erfährt …«, begann Susan. Aber Steve unterbrach sie abrupt. »Von dir wird sie nichts erfahren! Keine ›heiße Story‹! Keine skandalösen News. Ich bin an meinem Überleben sehr interessiert. Wir haben Geld genommen!« »Das war Erpressung!« stellte Susan lakonisch fest. »Ich hab’ mein Kind zurück!« »Aber David haben sie noch in ihrer Gewalt!« gab Steve zu bedenken. »Vielleicht …«, sagte Susan, sah zu Boden und wurde sehr still: »Wo soll ich ihn suchen? Auf diesem Schiff? Auf dem Meeresgrund? Irgendwo hier, verscharrt im Sand?« Sie war langsam weitergewandert, dann stehengeblieben, hatte sich umgesehen. Jetzt ging sie den Weg wieder zurück. Steve folgte ihr. Aber dann erregte etwas seine Auf merksamkeit. »Susan … Wart mal!« Er ging ein paar Schritte weiter die ausgefahrenen Spuren entlang, in Richtung des beschädigten Sattel 349
schleppers, der schräg am Rand der Piste hing. Es schien Susan, als hätte er etwas entdeckt. Er rannte plötzlich los, als er das Fahrzeug erreichte. An den sieben Achsen vorbei. An der zehn Meter langen Ladefläche mit ihren Halterungen, Ketten und Trossen. Bis vor zum Fahrerhaus. »Susan!!!« schrie er auf. »Da liegt einer! Ein Mensch!!!« Er hatte nur die nackten Füße gesehen, und die wirkten merkwürdig verkrümmt und verdreht. Der Körper steckte in einem weißen Overall, und der war nun rot vom Sand und eingeweht vom Staub der Wüste. Susan war sofort losgelaufen. Mit Julia auf dem Arm. Dann erblickte sie den Körper dieses Mannes. Sie kniete sich auf den Boden und schaute unter den Wagen: Der Mann lag auf dem Bauch und hatte sein Gesicht zwischen seinen Armen verborgen, als müsse er sich vor den Sandstürmen schützen. Als Steve zu ihm unter den Wagen kroch und ihn auf den Rücken drehte, bewegte sich der Mann und begann zu röcheln. »Er lebt noch!« Steve wälzte sich wieder unter dem Wagen hervor und begann langsam und vorsichtig an den nackten Füßen zu ziehen. Susan preßte das Gesicht ihres Kindes an ihre Schulter. Julie sollte das Grauenvolle nicht mit ansehen müssen. Aber Julia machte sich aus diesem Zugriff frei und beobachtete das alles sehr genau und mit gespanntem Entsetzen. Das Gesicht des Mannes erschien. Sandverkrustet. Ein 350
blonder Bart. Geschlossene Augen. Die aufgeplatzten Lippen öffneten sich. Der Mann versuchte zu sprechen, tonlos und ohne Kraft. Da schrie Susan unvermittelt auf und preßte die Faust auf ihren offenen Mund: »Nein! Dave! Es ist Dave!« Sie ließ Julia los, kroch auf den Knien die drei, vier Schritte hin zu diesem Mann. Versuchte zusammen mit Steve, seinen Oberkörper aufzurichten, ihn zu stützen, drückte seine Schulter zurück und lehnte ihn an den wuchtigen Reifen der Zugmaschine. »Dave …« flüsterte sie, während sie vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, fast zärtlich, den Sand von seinem Gesicht zu wischen begann, von seinen Lippen, seinen geschlossenen Augen … »Dave …!« Und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie spürte es. Aber sie hatte ja keine Hand frei, sie wegzuwischen. Dave reagierte nicht auf sie. Er bewegte immer noch die Lippen, versuchte, ein Wort zu formen, aber es gelang ihm nicht. Steve hatte sich zurückgezogen, hatte sich neben Julia auf den Boden gekauert und die Kamera wieder schuß bereit gemacht. »Wer ist der Mann?« fragte Julia. »Ist das Daddy?« »Ja«, sagte Steve, »das ist dein Daddy?« Er sagte es ohne jede Emotion. Ganz sachlich. Als sei es das Selbstver ständlichste auf der Welt, diesen David McGhee hier und in diesem Zustand aufzufinden. Und dann drückte er ab. Schoß ein Bild nach dem anderen: Susan. Dave. Das Kind. 351
Die Begegnung in der Wüste. Vor einem defekten Riesen laster. Vor Riesencontainern mit strahlendem, ausge branntem »Entsorgungsgut«. »Dave …« flüsterte Susan immer wieder, als könnte sie ihn beschwören. »Dave …!« Da begann David tief zu atmen. Seine verklebten Au genlider öffneten sich einen Spalt. Und er hauchte nun das Wort, das er die ganze Zeit über schon formulieren wollte: »Wasser …« Und dann noch einmal: »Wasser …!« Susan blickte sich um. Zu Steve. Und erst jetzt nahm sie die Kamera wahr, die klickende, schnarrende Automatik und das auf sie und auf David gerichtete Objektiv: »Hör auf!« schrie sie. »Tu was! Hilf doch! Hol Wasser!« Sie war unendlich zornig und empört. Aber Steve reagierte nicht auf sie. Er fotografierte weiter. Er schob Julia, die sich sträubte, weil sie die Situation immer noch nicht recht begriff, ins Bild. Und dann schoß er die nächste Serie. Der Pilot, der das Ganze von fern beobachtet hatte, kam von seiner Maschine her angerannt, in der Hand einen Wassersack. Susan sah ihn kommen. Aber dann wandte sie sich wieder um zu Dave. Der hatte ihre Stimme gehört. Und erkannt. Der Ver such eines Lächelns huschte über sein Gesicht, als ihm klar wurde, daß er nicht träumte. Und er flüsterte, was seine ganze Kraft zu kosten schien: »He, Susan … Da bist du ja … endlich!« 352
Aus den Notizen des David McGhee:
»Die französische Regierung hat der ›Europäischen Ver
sorgungsagentur‹ auf Anfrage hin mitgeteilt, daß sie das
Plutonium aus dem 250-Megawatt-Brüter ›Superphenix‹
für militärische Zwecke benötigt.
Die Aufarbeitung geschieht zum Teil bei der COGEMA in La Hague. Das größte westdeutsche Energie-Unternehmen ›RWE‹ beteiligte sich mit zwei Milliarden Mark am Bau des Brutreaktors. Die deutschen Kunden dieses Elektrizitäts werks finanzieren also über den von ihnen bezahlten Strompreis französische Atombomben.«
59 »Eine glückliche Familie!« Pat Cooper, der »News«-Händler, der Boss der Agentur, schleuderte diesen Satz in die Menge der anwesenden Journalisten und Reporter wie eine seiner berühmt trivialen Schlagzeilen, klatschte in die Hände und startete damit einen begeisterten und herzlichen Applaus. Gleichzeitig erklang die Hymne »Pomp & Circum stance« von Sir Edward Elgar, bei Briten fast so beliebt wie »God save the Queen« – für profane Anlässe allerdings auch geeigneter. David McGhee erschien, der Held des Abends. Gefolgt von Susan und Julia. Er schüttelte Hände, die sich ihm spontan entgegenstreckten, nahm Glückwünsche entgegen und strahlte mit seinen blauen Augen und seiner blonden 353
Mähne einen umwerfend vitalen, jugendlichen Charme aus. Eine ältere Schwester in der Uniform eines Prominen ten-Hospitals mit Ehrenzeichen und Häubchen schob ihn in seinem Rollstuhl durch die Menge, die sich im großen Foyer im Haus der NEWS-Agentur versammelt hatte. An der Stirnseite des Raumes, als Hintergrund einer kleinen improvisierten Bühne, waren die Großfotos der »Story« ausgestellt, die heute an die »Multiplikatoren« von Presse, Buchhandel und vor allem an Verleger verkauft werden sollte: Susan und Julia in Hastings, in Marseille und Cherbourg, in New York, Singapore und Australien. Mutter und Kind in Glück und Schmerz vereint. Doch zentrales Thema war natürlich das Wunder: David McGhees abenteuerliche und glückliche Errettung in der Wüste, im Kreis seiner Lieben. Und jeder konnte sich an Hand der Fotos überzeugen: Dieser Bursche hatte sich in den letzten zwei Wochen prächtig erholt! Kameras und Fotoapparate waren nun auf diese »glückliche Familie« gerichtet. Und als vier starke Männer den Rollstuhl mit Dave auf die Bühne gehoben hatten, begann Pat Cooper mit seiner Show und stellte die Mitglieder der »glücklichen Familie« einzeln vor: »Susan Galloway, David McGhee und ihre kleine Tochter Julia. Alle wieder glücklich vereint!« Wieder löste Cooper ein Blitzlichtgewitter aus und spontanen Applaus. »Und hier der mutige Retter!« Cooper wies mit einer theatralischen Geste auf einen großgewachsenen, be 354
scheiden lächelnden jungen Mann am Rand der Bühne: »Unser Reporter Steve Lensky!« Wieder Applaus und wieder Blitzlicht. Steves Lächeln gefror wie zu einer Maske. Man hatte ihn fein herausge putzt, die roten Haare kurz geschnitten, ihn in einen dun kelbraunen Tweed-Anzug mit roter Weste gesteckt und ihm eine Krawatte umgebunden. Dies hier war nicht der Ort für unverwüstliche Lederjacken und vergammelte Hüte. Steve wirkte »durchgestylt« und empfand sich, nicht ganz zu Unrecht, als eine der Puppen, die in dieser Inszenierung aufzutreten hatten. Cooper ergriff nun wieder das Mikrofon, um sich und die Protagonisten seiner Story, besonders aber die Story selbst, bestens zu verkaufen. Er sprach frei. Und die Klischees, von denen seine Firma lebte, gingen ihm flüssig von den Lippen: »Ein Happy-End also, von dem wir aber vorläufig noch nicht verraten wollen, wie es zustande kam!« Er legte einen Finger auf seinen Mund und senkte die Stimme. Den Anwesenden wollte er das angenehme Ge fühl vermitteln, Zeugen zu sein bei der Verkündigung ei nes Geheimnisses, was natürlich auch die Spannung er höhte. »Denn Woche für Woche soll nun ein ganzes Land am Schicksal dieser drei Menschen teilhaben. Woche für Woche sollen sich die Millionen Leser unserer Serie fragen: Wird die kleine Julia ihren Daddy jemals wiedersehen? Wird Susan Galloway ihren geliebten Mann jemals wieder in die Arme schließen dürfen, um mit ihm – endlich! – vor 355
den Traualtar treten zu dürfen?« Ich spiele hier nicht länger mit, dachte Susan, und sie spürte, wie ihr langsam übel wurde. Mit einer Hand hielt sie Julia fest, die sich an sie klammerte, seit diese Vorstel lung begonnen hatte und so viele Menschen sie anstarrten. Die andere Hand hatte sie auf Davids Schulter gelegt, der vor ihr im Rollstuhl saß – eine Geste des Vertrauens und der gegenseitigen Verbundenheit. Aber jetzt, nach den Worten von Cooper, spürte sie, daß auch diese Geste ihren Wert verloren hatte, weil sie so nahtlos in die verlogene Inszenierung paßte. »Diese mutige junge Frau«, fuhr Cooper fort und zeigte dabei auf Susan, »ist um die halbe Welt gereist, hat sich gewaltigen Strapazen und unbekannten Gefahren ausge setzt, um ihren geliebten Dave wiederzufinden und ihm – wie wir in der letzten Folge erfahren werden – in letzter Sekunde das Leben zu retten!« Cooper stimmte in den Applaus mit ein, der offen sichtlich Susan galt. Aber sie reagierte nicht weiter darauf. Sie stand da, wo sie eben stand, wo man sie hingestellt hatte, weil das so vereinbart war und weil sie inzwischen das Geld, das Cooper ihnen geboten hatte, dringend brauchten. Denn David McGhee war ohne Job. Und, im Augenblick zumindest noch, ein nur scheinbar frohgestimmter und optimistischer Krüppel. Er war halb gelähmt. Und wie die Zukunft aussehen würde, das wußten sie beide nicht. »Ein junger, hoffnungsvoller Mann hat sein Leben ris kiert und seine Gesundheit …« Cooper wies mit dem 356
Finger auf Dave, zeigte auf ihn wie auf ein Objekt, das die Betrachtung lohnt, »… um für unsere Zivilisation, für unseren Wohlstand, in einem fremden, feindlichen Kontinent neue Ressourcen zu erschließen. So sehen sie aus, die wahren Helden unseres Jahrhunderts. Der Mut dieser jungen Generation garantiert das Wohl aller!« Er trank einen Schluck Wasser aus einem bereitstehen den Glas und senkte die Stimme: »Noch sind die Folgen seines Unfalls in der Wüste nicht verheilt. Aber dank der liebevollen Pflege durch Susan, seine Gefährtin, und der herzlichen Zuwendung, die ihm von allen Seiten zuteil wird, geht es ihm von Tag zu Tag besser.« Sie hätte in diesem Augenblick gern Davids Gesicht gesehen. Aber an der Art, wie er den Nacken spannte, wie er den Kopf ein wenig senkte, erkannte sie, wie peinlich ihm diese ganze Vorstellung war. Und wie komisch er sie gleichzeitig schon wieder fand. »Doch nun zu Ihnen, Susan!« Cooper winkte sie zu sich ans Mikrofon. Das war so verabredet. Und auch der nächste Satz war abgesprochen: »Bringen Sie doch Ihre entzückende kleine Tochter mit. Komm her, Julia!« Sie kamen beide. Es gab ja kein Entkommen. Einfach mitspielen, dachte sie, und lächeln. Irgendwann ist es vorüber. Als sie neben Cooper am Mikrofon stand, legte er vä terlich seinen Arm um ihre Schulter. Sie zuckte zusam men. Die Berührung war ihr unangenehm und in dieser Form keineswegs verabredet. 357
»Susan«, fragte er sie und schaute ihr voller Vertrauen tief in die Augen: »Susan, sind Sie glücklich?« Sie nickte und räusperte sich. Ihre Stimme durfte nicht versagen. Jetzt bitte nicht! Und dann bekannte sie, wie abgesprochen und geprobt, nur diesmal eine Spur zu laut und zu ernsthaft: »O ja, danke, Pat. Sehr glücklich!« Besonders überzeugend, das spürte sie, klang es diesmal nicht. Sie wußte, sie war keine gute Schauspielerin. Sie war sich einfach zu schade, und es war ihr zutiefst zuwider, in dieser Farce mitzuspielen. Aber der Schein war gewahrt, die Inszenierung gerettet. Doch davon abgesehen: Sie war glücklich! Daß Dave noch lebte. Daß sie drei wieder zusammen waren. Daß sie alle den Horror überlebt hatten. Nur hatte das nichts mit Coopers Schau zu tun. »Und du, Julie?« Richtig, die Schau ging ja weiter: Cooper nahm das Mikrofon aus der Halterung und ging neben Julia in die Knie. »Freust du dich, daß du deinen Daddy wiederhast?« Diese Stelle hatten sie intensiv geprobt an diesem Vor mittag. Bevor die Vorstellung begann. Und Julia hatte ei nen herzallerliebsten Text bekommen, auswendig gelernt und ihn immer fehlerfrei abgeliefert. Aber nun, nachdem der Ernstfall eingetreten war, ant wortete sie auf diese Frage nur einfach und etwas ver schüchtert: »Ja.« Cooper versuchte, ihr auf die Sprünge zu helfen: »Erzähl uns ein bißchen mehr, Julie. Wie du deinen Daddy gefunden hast, in der Wüste.« 358
Julia holte tief Luft. »Er war fast tot, und er hat Durst gehabt.« Nein, der geprobte Text war das nicht. Aber Cooper griff das Stichwort dankbar auf und stellte sich, während sich die beiden Damen auf einen Wink hin zurückzogen, wieder neben das Mikrofon. »Ja! Halb verdurstet! In der Wüste! Unter seinem umgestürzten Transportfahrzeug! Zweihundert Kilometer von der nächsten Wasserstelle entfernt! Das alles lesen Sie in den zwölf Folgen unserer Serie!« Ein Sekretär hatte ihm die Manuskripte gereicht, hübsch eingebunden, farbig voneinander abgesetzt, und Cooper hielt sie hoch, mit der linken Hand, wie Reliquien. »Und das Buch mit der kompletten Story: ›Reise in eine strahlende Zukunft‹ mit den authentischen Bildern von Steve Lensky erscheint rechtzeitig zum Weihnachts geschäft!« Auch das dicke Buchmanuskript präsentierte er nun, hielt es mit der anderen Hand hoch. So stand er im Blitzlichtfeuer wie ein Preisboxer nach dem Sieg. Und wie ein Geschenk, wie ein Dankopfer, legte er diese Ma nuskripte anschließend David in den Schoß. Er hätte das nicht tun sollen. Denn auch diese Geste war weder abgesprochen noch geprobt. Und sie inspirierte David McGhee dazu, aus seiner Rolle auszubrechen. Und zwar sofort. Für früher oder später hatte er das ohnehin geplant: »He, Pat! Ich will auch was sagen!« Cooper winkte lächelnd ab. »Später, David. Später! Schonen Sie sich!« 359
»Ich will auch sagen dürfen, wie glücklich ich bin!« Cooper erlaubte keinerlei Improvisation in seinem Stück. Nicht von anderen zumindest. »Sie kommen schon noch dran, mein Junge!« Da konterte Dave mit einer Kraft, die ihm in dieser Si tuation keiner zugetraut hätte, und mit eisiger, schneidender Stimme: »Ich bin nicht Ihr Junge, Mister Cooper!« Bitte, nicht! signalisierte ihm Susan mit den Fingerspit zen an seinem Nacken. Laß es, bitte! Denk an uns! An Julie und an mich! Und spiel mit! Sie schien Einfluß zu haben und Erfolg, denn David beruhigte sich wieder. Sehr freundschaftlich und harmlos lächelnd fuhr er fort: »Aber gut, ja! Ich brauch’ kein Mikrofon! Ich bin fit, und ich schreie laut genug! Könnt Ihr mich alle hören?« Allgemeine Zustimmung, Lachen, Blitzlichter. Mit die ser Wendung erhielt Pat Coopers Schau etwas Menschli ches, etwas Überraschendes, und das garantierte bei dieser Art von Publikum immer einen gewissen Erfolg. Trotz Coopers Gegenwehr nahm Susan das Mikrofon aus der Halterung und reichte es Dave. »Dank dir, Susan. So geht’s natürlich leichter und macht viel mehr her.« Er lachte jungenhaft und begann nun ein Statement, das er voller Witz und Vitalität, mit Lächeln und viel geheimer Wut bestens verkaufte: »Also Leute! Fabelhaft, daß Ihr alle gekommen seid! Mir geht’s prächtig, wie Ihr seht. Bis auf die Beine, die wollen noch nicht so recht. Ich hatte zwar in der Wüste einen 360
wunderschönen, schattigen Platz direkt unter dem Motor. Und siebenundzwanzig Liter Kühlwasser sind eine ganze Menge! Aber leider war das Zeug mit Chemikalien ver setzt, gegen Korrosion. Das spülen die mir jetzt aus den Nieren, und Pat Cooper bezahlt die Behandlung!« So weit, so gut! Er wandte sich nun um zu Pat Cooper, der ein paar Schritte abseits wie auf Kohlen stand, und fragte ihn ganz harmlos, ganz naiv: »Pat Cooper, ist das so richtig? Ist das, was ich hier er zähle, so in Ihrem Sinn?« Cooper lächelte gequält, hatte offenbar keine Einwände, zeigte seine Jacketkronen und blieb ansonsten stumm. »Na, fein!« sagte Dave, »machen wir weiter!« Und er benutzte Coopers Reaktion, um nun voll auf eine neue Rolle umzusteigen. »Pat Cooper hat mich nämlich mit dieser hochherzigen Tat erpreßt! Damit ich hier die Schnauze halte und ihm ja nicht das Geschäft vermassle. Meines zwar auch, aber das spielt jetzt schon keine Rolle mehr. Denn ich lasse mich nicht erpressen! Ich habe schon ganz andere Sachen riskiert, wenn es um die Wahrheit geht. Nämlich: mein Leben.« Susans Hand auf Davids Schulter signalisierte ihm: Fabelhaft, Dave. Aber nun reicht es. Hör auf, lenk ein, gib nach. Mit einem Skandal erreichst du nichts! Aber diesmal war David zu keiner Konzession bereit, denn Coopers Verhalten reizte ihn bis zur Weißglut. Der NEWS-Chef war zum Rollstuhl getreten und ver suchte nun, David das Mikrofon zu entreißen: »Es ist ja 361
gut, David! Es ist gut!« Aber der wehrte jeden Zugriff mutig ab: »Nein! Es ist gar nicht ›gut‹, was ich da lese: Es ist eine hirnrissige, beschissene Schnulze!« Er hob die Manuskripte hoch und ließ sie voller Absicht Cooper vor die Füße fallen. Lose Seiten und Fotos flatterten über die Bühne. »Die Bilder mögen zwar authentisch sein«, fuhr er fort, während Julia die Fotos und Seiten wieder einsammelte, »aber sonst ist alles erstunken und erlogen. Zusammen geschrieben und frei erfunden von drittklassigen Ghost writern, von den Lohnschreibern dieses Hauses, schlecht bezahlt nach Zeilen.« Wieder signalisierte ihm Susans Hand, daß es jetzt endgültig genug sei. Da änderte David seine Taktik. Statt Zorn verkaufte er jetzt »facts«, also Tatsachen. »Ich bin auch kein Ingenieur einer Minengesellschaft, der in Afrika, in der Kalahari-Wüste nach Uran schürft! Ich bin Journalist!« Da fuhr Cooper mit voller Lautstärke dazwischen: »David! Ich mußte ihre Persönlichkeitsrechte wahren. Das war so abgesprochen!« Die Journalisten und Reporter witterten einen Skandal und drängten sich noch näher an die Rampe der kleinen Bühne. Wieder flammten Blitzlichter auf. Kameras be gannen zu surren. Und David lieferte ihnen nun die Fort setzung seiner wahren Story: »Es war auch kein Unfall in der Wüste, sondern eine Hinrichtung! Damit das Verbrechen, über das ich berich 362
ten wollte, nicht an die Öffentlichkeit kommt! Erst hat man mich drei Wochen lang in eine eiserne Kammer ge sperrt. Unter Deck. Auf einem Schiff, das hochradioaktives Material beförderte. Und dann wurde ich in der Wüste ausgesetzt. Ohne Wasser. Bei weit über vierzig Grad im Schatten. Sie hätten mich zwar lieber über Bord geworfen, rechtzeitig und bei Nacht und Nebel. Aber die Deck besatzung war bereits erledigt. Verstrahlt und kaputt. Und ich war der einzige, der den Schiffskran noch bedienen konnte. Lohnt sich immer, wenn man außer Schreiben was Richtiges gelernt hat!« Die Journalisten lachten, und Cooper lachte mit, auf gesetzt und schallend, wenn auch aus völlig anderen Gründen. »Da will uns jemand noch eine zweite Horror-Story verkaufen!« rief er in die Menge. »Ein denkwürdiger Tag!« »Ich werde die Horror-Story auch verkaufen, Pat Coo per, keine Sorge!« schrie David. »Auch wenn Schnulzen bessere Preise bringen als schlechte Nachrichten!« Er schob seinen Rollstuhl vor bis an den Rand des Po diums und rief den Journalisten zu: »Fliegt doch alle mit mir an den Tatort! Dorthin, wo man jetzt die strahlende Asche, das ›Entsorgungsgut‹ der Kernkraftwerke stapelt. Weil man nicht mehr weiß, wohin damit! So eine Story ist doch eine Reise wert!« »Sind Sie endlich fertig?« schrie Cooper und entriß Dave das Mikrofon. Da stellte Susan sich ihm in den Weg und nahm es ihm geschickt wieder ab. 363
»Es gibt Beweise, und es gibt einen Zeugen: Steve Lensky, Los, Steve …!« Sie hielt ihm das Mikrofon hin. Steve, der die ganze Zeit über scheinbar unbeteiligt am äußersten Rand des Podiums stand und mit dieser ganzen Affäre nichts zu tun haben wollte, hob jetzt abwehrend die Hand. »Laßt mich aus dem Spiel! Das haben wir abgemacht!« David griff nach dem Mikrofon und rief Pat Cooper quer über diese Bühne hinweg zu: »Was hat Ihnen diese Mafia bezahlt, Pat Cooper? Damit die Wahrheit nicht publik wird? Die haben Sie doch auch gekauft!« Da bückte sich Pat Cooper nach dem Mikrofonkabel und zerriß es. Die Journalisten waren auf ihre Kosten gekommen. Sie spürten, daß diese Auseinandersetzung einem Finale ent gegenstrebte, drängten sich dicht an das Podest, begierig, möglichst jede Phase im Bild festzuhalten. Mit den zerfetzten Enden des Kabels stellte sich Pat Cooper noch ein letztes Mal in Positur: »Das Gift im Kühlwasser hat ihm nicht nur die Beine gelähmt, es hat ihm auch das Gehirn angefressen! Ein tra gischer Fall von Idiotie!« Damit hatte er, wie er glaubte, die Situation wieder voll in der Hand. Doch da richtete David sich in seinem Rollstuhl auf, biß die Zähne zusammen, stieß die Hände von Susan, die ihn halten wollte, beiseite, stemmte sich ab, taumelte, stolperte schließlich auf halbgelähmten Beinen auf Pat Cooper zu. 364
Er warf sich auf ihn, umklammerte seinen Hals und war, obwohl ihm die Beine versagten, nicht mehr abzuschüt teln. Vor einem ganzen Saal professioneller Augenzeugen, vor Kameras und Fotoapparaten, abgelichtet in jeder Phase und keineswegs in »Notwehr« handelnd, wenn auch in »verständlicher Erregung«, streckte David diesen Pat Cooper mit einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden, bevor er über ihn stürzte und sein Opfer unter sich begrub. Aus den Notizen des David McGhee: »Die für Entsorgung und Lagerung von Nuklearabfällen zuständige amerikanische Energiebehörde hat eine Studie in Auftrag gegeben, in der geklärt werden soll, wie ein Warnsystem beschaffen sein müßte, das auch im Jahre 12000 noch verstanden wird. Die Behörde geht davon aus, daß die in sechs US-Staaten geplanten Endlagerstät ten für radioaktive Abfälle noch für 300 Generationen von Menschen gefährlich sind. Ob bis dahin die heutige Sprache noch verstanden wird, ist fraglich. Die mit dem Problem betrauten Experten haben deswegen vorgeschla gen, mit riesigen Steinmonumenten eine Art modernes Stonehenge um die Deponien zu errichten und riesige Zeichentafeln aufzustellen. Als bester Vorschlag gilt die Schaffung einer Legende. Die US-Regierung soll dazu eine ›nukleare Priesterschaft‹ ins Leben rufen, die ihr besonde res Wissen um die strahlende Gefahr von Generation zu Generation weiterträgt.«
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Wie bösartige Insekten näherten sich fünf Hubschrauber dem Depot in der Wüste. Sie hatten das kahle, aus gebrannte Land überflogen, die Salzseen, die Lehmpfan nen, den »Busch«, das »Outback« und die Wüsten. Vier einhalb Stunden waren sie von Perth her unterwegs, und die Sonne stand fast im Zenit. Zwei Wochen zuvor hatte der Pilot der Sportmaschine die Regierung Westaustraliens über das Atomdepot infor miert. Zehn Tage danach wurde das Gelände von Militär einheiten mit aufeinandergetürmten Stacheldrahtrollen großräumig und hermetisch abgeriegelt. Die einzige Zu fahrt wurde durch Wachtposten gesichert, die zwischen ihren Lastwagen ein Armeecamp errichteten. Langsam und mit knatternden Rotorblättern überflogen die fünf Hubschrauber nun Zeltlager und Umzäunung und setzten innerhalb des Geländes zur Landung an. Roter Staub wirbelte hoch, den der heiße Wüstenwind zu Spiralen drehte und durch den stählernen Wald der Container wehte. Das Militär war per Funk über eine Invasion dieser Art bereits informiert worden. Ein Offizier setzte sich mit seinem Jeep zum Landeplatz hin in Bewegung und beob achtete aus sicherem Abstand die aussteigenden Passagiere, die gebückt unter den rotierenden Flügeln durch den künstlichen Sandsturm liefen und sich unweit der ersten Container sammelten. Es waren Kameraleute und Foto grafen, Journalisten von Radio- und Fernsehstationen aus 366
Australien und Übersee sowie freie Reporter internati onaler Presseagenturen. Aus einem der Hubschrauber kletterte David McGhee, mühsam und offenbar unter großen Schmerzen. Susan reichte ihm aus der Kabine seine Krücken herunter und kletterte hinterher. Sie stützte ihn, als er versuchte, mög lichst rasch aus dem Bereich der immer langsamer krei senden Rotorblätter zu humpeln. Ihm folgte Monsieur Robert, Pressemanager eines Wie deraufarbeitungswerkes, angereist aus La Hague. Susan hatte ihn als Sachverständigen benannt. Eine Mappe mit Unterlagen über das hier so offen sichtlich unrühmlich gestrandete »Intra-Nuclear-Projekt« unter dem Arm, setzte er sich an die Spitze dieser Gruppe von Berichterstattern und ging zielstrebig auf die Con tainer zu. Er schritt die Säulenreihen ab und inspizierte fachkundig aus nächster Nähe die Container. Schließlich wandte er sich an den filmenden und foto grafierenden Trupp der Reporter. »Ich bin überrascht und sehr erschüttert …!« Das klang ehrlich und überzeugend. Robert war in der Tat höchst bestürzt. »Ich kann Ihnen offiziell bestätigen, es handelt sich hier um Behälter der allemeuesten Version für Transport und Trockenlagerung von Entsorgungsgut der Kernkraftwerke, die allen internationalen Sicherheitsbestimmungen voll entsprechen. Ich bin jedoch erstaunt, um nicht zu sagen entsetzt, sie hier in der Wüste zu finden. Und ich kann Ihnen gar nicht widersprechen, wenn Sie das als einen 367
geradezu kriminellen Skandal bezeichnen.« »Haben Sie eine Erklärung, wie so etwas geschehen kann?« Eine junge Reporterin wandte sich in aggressivem Tonfall an Robert: »Trotz der internationalen Sicher heitsbestimmungen, die Sie immerzu erwähnen?« »Verstehen Sie mich recht«, schränkte Robert den Vorwurf ein, der in dieser kritischen Frage verborgen war, »ich habe persönlich nichts, aber auch absolut gar nichts mit dieser Sache hier zu tun. Auch das Werk, das ich vertrete, ist an dieser Angelegenheit nicht beteiligt. Ich bin ausschließlich als Gutachter und als Sachverständiger angereist.« Er wandte sich ab und betrachtete nochmals sehr eingehend die silbernen Container mit dem nicht zu übersehenden Firmensymbol, dem eingekreisten »N«, an der Stirnseite. Die hohen Sockel der Behälter waren zum Teil schon vom roten Sand zugeweht. »Hat sich denn keiner der Beteiligten von der Existenz dieses ›Endlagers‹ überzeugt?« fragte ein Journalist. Aber Robert lachte nur etwas verschämt und zuckte die Schul tern: »Da hat sich offenbar einer auf den anderen verlassen!« »Man schließt doch nicht Geschäfte über einige Milli arden Dollar ab«, gab die Reporterin zu bedenken, »ohne irgendwelche Sicherheiten!« »Wenn man in Bedrängnis ist«, räumte Robert ein, »wenn nicht der geringste Zweifel besteht, wenn alle Pa piere in Ordnung sind und der Ort am anderen Ende der Welt liegt …« David war in der Zwischenzeit zu dem Sattelschlepper 368
gehumpelt, der immer noch am gleichen Platz halb um gestürzt am Rand der Piste stand. Er betrachtete den Ort, der ihm fast zum Verhängnis geworden war, mit höchst eigenartigen Gefühlen. Susan war ihm gefolgt, trat zu ihm und hakte sich bei ihm ein. Da standen sie nun, die beiden, hingen ihren Gedanken nach und hörten von fern die Erklärungen und Ausflüchte Roberts. Da klickte eine Kamera ganz in ihrer Nähe. Eine Au tomatik surrte. Steve, zusammen mit der Reporterclique eingeflogen, war hinter einem der Container aufgetaucht, wie in alten Zeiten den zerknautschten Hut auf dem Kopf, und visierte die beiden durch sein Teleobjektiv an. »Mann! Laß das!« rief David ihm zu. »Deine Story ist gelaufen!« Steve grinste nur, wie üblich, wenn ihm eine Situation nicht so recht behagte. »Ich dachte, fürs Familienalbum …!« Er sprach nicht weiter und ließ die Kamera sinken, als er Davids Miene sah und Susans abweisenden Blick. »Zisch ab!« rief David ihm lediglich zu, bevor er sich abwandte und mit Susan die Containerreihe hinunterging, die Piste entlang, auf der Robert ihnen mit seinem Gefolge entgegenkam. »Wer trägt hier eigentlich die Verantwortung?« fragte einer der Reporter Monsieur Robert. »Wer ist haftbar für diesen Wahnwitz hier, den Sie selbst ›kriminell‹ nennen?« »Was fragen Sie mich?« wehrte Robert entrüstet ab. »Fragen Sie die Kraftwerkbetreiber, die ihre Entsorgungs probleme von dieser Firma lösen ließen. Sie wissen ja, die 369
›Intra-Nuclear‹ existiert nicht mehr, und die Initiatoren, die die Fachwelt mit Hochglanzprospekten und stichfesten Versprechungen beeindruckt hatten, sind spurlos ver schwunden.« »Er redet und redet …« Susan sah sich nach einem schattigen Platz um. Aber es gab keinen Schatten um diese Tageszeit. Und David schaute auf seine Uhr, dann zu der bewachten Einfahrt, der Lücke im Stacheldraht, als erwarte er jemand. »Laß ihn reden!« antwortete er. »Das hilft uns, Zeit zu gewinnen! Sie müssen bald da sein.« Inzwischen bemühte sich Robert, dem Fiasko eine po sitive Seite abzugewinnen. »Wenn man ein Gelände wie dieses hier entsprechend ausbaut und sichert, ist eine Enddeponie in der Wüste grundsätzlich denkbar und auch sinnvoll, und sie wurde – wie im Fall Volksrepublik China – schon ernsthaft in Erwägung gezogen. Wobei ein Trockenlager in Australien aus politischen Gründen manchen Leuten geeigneter erscheint. Wie auch immer: statt ›Wiederaufarbeiten‹ kon trolliertes ›Aufbewahren‹! Das hat zum Beispiel den Vorteil: Die Brennelemente bleiben intakt, also der Teufel in der Flasche, denn die hochaktiven Spaltstoffe werden nicht freigesetzt. Und man überläßt einer der nächsten Generationen das Recycling, die dieses bei inzwischen gestiegenem Bedarf mit einer möglicherweise effizienteren Technologie vornehmen wird.« Das klang sehr unorthodox und nach persönlicher Meinung, was Robert da zu berichten wußte. Und ähnlich 370
vertraulich fuhr er fort: »Der Inhalt dieser Stahlbehälter, die verbrauchten Brennelemente, stellen als Rohstoffquelle einen ungeheu ren Wert dar. Denn über 95% des ursprünglich einge setzten Materials ist noch verwendbar.« »Auch zur Herstellung vom Bomben?« wollte die Re porterin wissen. »Nicht ohne weiteres. Aber grundsätzlich: Das Material darf unter keinen Umständen in die falschen Hände kommen!« Abgesehen von dieser Warnung war Robert im Augenblick nicht bereit, darüber zu diskutieren. Er drängte zum Aufbruch: »Ja, das war es wohl! Wir brauchen mehr als vier Stun den zurück nach Perth. Ich glaube auch, wir haben genug gesehen, genug erfahren …« Er drehte sich um und ging die Container-Allee zurück, in die Richtung der wartenden Hubschrauber. Da hielt David ihn und die anderen auf: »Bleiben Sie noch, bitte! Dort vorn kommen unsere Freunde. Wir sollten auf sie warten.« Alle folgten seinem Blick. Der Einfahrt zum Sperrgebiet, der Lücke in der Umzäunung, näherte sich ein kleiner Konvoi: ein Lastwagen mit einem aufmontierten Kran und ein Jeep. Beide Fahrzeuge waren ursprünglich weiß lackiert, jetzt aber von ihrem Wüstentrip hierher zum Depot rotbraun überstäubt. Und sie trugen auf Motor haube und Türen das Symbol der Organisation »Green peace«. Die Soldaten räumten die Sperre zur Seite, die die Zu fahrt blockierte, und langsam fuhren die beiden Fahrzeuge 371
auf die ersten Container zu. »Was haben diese Leute hier zu suchen?« fragte Robert und wirkte zum ersten Mal verunsichert. »Es sind Wissenschaftler und Kerntechniker, also Fach leute. Und sie haben die Genehmigung der Regierung erhalten, den Inhalt der Container zu untersuchen.« »Was gibt es da zu untersuchen?« Robert war äußerst befremdet. »Und wie wollen sie das tun? Die Container sind versiegelt und ohne geeignete Hilfsmittel …« Er un terbrach seinen Satz. Denn die Fachleute und Wissen schaftler und die Hilfskräfte von Greenpeace verfügten, wie er bemerken konnte, sehr wohl über die geeigneten Hilfsmittel und Werkzeuge. Mit Geigerzählern maßen sie die Strahlung, die die Container nach außen hin abgaben und stellten dabei offensichtlich fest, daß der gemessene Wert weit unter dem erwarteten Strahlungspegel zu liegen schien. Jetzt wurden die Ösen dicker Stahltrossen um die Transportnaben des ersten Containers gehängt und der schwere, weitgehend massive Behälter vom Kran langsam umgelegt. Mit dumpfem Poltern landete er im aufstäubenden Sand. Zwei Techniker in weißen Schutzanzügen, mit Gasmasken und Helmen bewehrt, begannen mit einem Preßluft-Drill die Bolzen aus dem äußeren Deckel zu schrauben. »Halt!« schrie Robert ihnen zu. »Lassen Sie den Deckel zu! Die Behälter sind gasdicht verschraubt. Und die Strahlung der Brennelemente ist tödlich!« »Das würde den kritischen Zustand meiner Crew kameraden von der ›Stella Polaris‹ erklären.« David blieb 372
gelassen und verfolgte in Ruhe und aus unmittelbarer Nähe die Arbeit dieser Leute. Die ließen sich von Roberts Einwendungen nicht weiter irritieren. Als sie im Begriff waren, den letzten Bolzen herauszuschrauben, brachte sich Robert in Sicherheit und rief ihnen aus respektvollem Abstand zu: »Ich warne Sie nochmals! Es ist lebensgefährlich, die Behälter zu öffnen! Lassen Sie die inneren Deckel zu!« »Es gibt davon drei«, erklärte er den umstehenden Re portern, die ihm bei seiner Flucht gefolgt waren. »Drei innere Deckel. Und mit metallischen Dichtungen aus Edel stahl-Legierungen, die über viele Jahrzehnte hinweg abso lute Zuverlässigkeit garantieren …« »Nein!« unterbrach ihn David. »Nicht mehr! Nicht mehr gasdicht. Nicht mehr zuverlässig verschraubt. Auch nicht für Jahrzehnte. Es gibt keine inneren Deckel mehr!« Und als ihn Robert und die Journalisten fragend ansahen, fügte er noch hinzu: »Trotzdem haben wir nichts zu befürchten.« Der letzte Bolzen flog zur Seite, und der Blick in das Innere des Containers war frei. Da waren in der Tat keine »inneren Deckel« mehr zu se hen. Nur noch die leeren Bolzen. Die Löcher der Ver schraubungen. Und in der Mitte: vier dunkle quadratische Kammern. Einer der Techniker leuchtete mit seiner Lampe in diese Kammern hinein. Dann hob er die Hand und gab den abseits wartenden Wissenschaftlern ein Zeichen. »Wie vermutet«, sagte David und wandte sich damit an 373
Robert und die ihn umstehenden Journalisten. »Der Container ist leer!« Robert war über das Ergebnis dieser Untersuchung total verwirrt und ratlos. »Ich verstehe nichts …!« Er schwieg und schaute fra gend und sprachlos auf David. Der versuchte eine Erklärung: »Wahrscheinlich sind die meisten leer. Vielleicht sogar alle. Das werden die Leute dort in den nächsten Stunden herausgefunden haben.« Der zweite Container senkte sich langsam zu Boden. Und David fuhr fort: »Ich hatte den Verdacht schon einige Zeit. Seit ich mein Gefängnis unter Deck verlassen und die schweren Ver strahlungen der Schiffsbesatzung bemerkt hatte. Wer die Behälter aufschraubt und entleert, ohne die dafür notwen digen Schutzvorkehrungen, der bezahlt dafür mit seinem Leben! So wie die Crew der ›Stella Polaris‹.« Der Deckel des zweiten Containers öffnete sich. Die Reporter, die das Schauspiel mit unverhohlener Neugier verfolgten, filmten und fotografierten, blieben allerdings alle in sicherem Abstand. Das Ergebnis der Untersuchung war das gleiche: Auch der zweite Container war leer. »Und wo, glauben Sie, sind die verschwundenen Brennelemente jetzt?« Robert war immer noch fassungslos. »Versenkt im Meer!« mutmaßte eine der Reporterinnen. David schüttelte den Kopf. »Die Deckel vielleicht, ja. Aber nicht der Inhalt. Dafür ist der Stoff zu wertvoll!« »Welche Vermutungen haben Sie dann?« fragte einer der Fernsehreporter und richtete seine Videokamera auf 374
David. »Ganz offensichtlich wurden auf hoher See die Elemente umgeladen. In die Wasserbecken auf dem Achterdeck. Die Leute der regulären Mannschaft wußten ja nicht, was sie da auf Anweisung hin taten.« »Und weshalb? Wozu das Ganze?« fragte die Stimme hinter der Kamera. »Weil damit ein zweites Mal Profit gemacht wurde«, antwortete David. »Die Firma hat doppelt kassiert. Einmal für die nachweisbare – scheinbare – Beseitigung. Und dann noch einmal – für das Material selbst. Jetzt ist die ›Stella Polaris‹ damit unterwegs.« »Und wohin?« »Zu einem Endabnehmer. Wer das ist, das werden wir herausfinden! Es gibt da einige höchst interessierte Ab nehmer für illegales Uran. Und besonders für BombenPlutonium.« Damit beendete David das Frage- und Antwortspiel und nickte einen Abschiedsgruß in die Runde. »Ja, das war’s! Ich wünsche Ihnen allen einen guten Heimflug und danke, daß Sie gekommen sind!« Er humpelte davon auf seinen Krücken, gestützt von Susan, dorthin, wo die Hubschrauber warteten. Robert und die Reporter sahen ihm etwas ratlos nach, als dicht vor ihnen der dritte Container in den aufstie benden Sand polterte und aufgeschraubt wurde. Die Rotorblätter begannen bereits zu kreisen, als David sich anschnallte und Susan ihm die Krücken in die Kabine reichte. 375
Da bemerkten sie beide Steve. Der kam von den Con tainern her angerannt. In der einen Hand seine Kameras, in der anderen seinen Hut. »He, wartet!« rief er. Aber Susan reagierte nicht, klet terte in die Kabine und schnallte sich ebenfalls an. »Habt ihr noch Platz für mich?« fragte er atemlos, als er an der offenen Luke stand. »Nein!« brüllte Dave in das aufheulende Donnern des Rotors. »Bleib du mal, wo du hingehörst!« Aber Steve lächelte, versuchte es wieder einmal mit Charme und brüllte zurück: »Ich dachte, Ihr könntet in Zukunft einen Partner brauchen, der außer der Kamera auch hin und wieder seinen Kopf hinhält – wenn’s verlangt wird!« David zögerte und blickte kurz zu Susan. Dann reichte er Steve die Hand. Allerdings nur, um ihm das Einsteigen zu erleichtern. »Okay! Du Stinktier! Du Ratte! Du Schnulzenfotograf! Mal sehen, ob wir drei die ›Stella Polaris‹ irgendwo finden!« Da reagierte Susan, als ob sie nicht richtig verstanden hätte. Und sie wagte einen Einwand, und wegen des Mo torenlärms klang er vielleicht etwas zu laut und entschie den: »Ich denke, wir heiraten endlich? Der ›Daily Telegraph‹ ist schließlich ein ausgesprochen konservatives Blatt. Dein Schreibtisch ist wieder frei! Und dein Parkplatz!« David lachte. Und bevor noch eine endgültige Ent scheidung fiel, hob sich der Hubschrauber aus einer Wolke 376
roten Staubs, gewann rasch an Höhe und flog über die Gruppe der Journalisten hinweg, über die uniformierten Wachen neben ihrem Stacheldraht und über die Container, die wie die Säulen einer antiken Opferstätte in den tropischen Himmel ragten. Wenige Tage, nachdem die Öffentlichkeit in Schlagzeilen von der geheimen und verlassenen »Enddeponie« in der Wüste erfuhr – ein Drittel der Nuklear-Container war noch gefüllt – erwarb ein Firmenkonsortium unter der Federführung der Aktiengesellschaft »SINROCK« fünfzehn Quadratkilometer Crownland von der Regierung Südau straliens im Gebiet des ehemaligen britischen Atomtestge ländes um Maralinga. Eine bereits seit längerer Zeit fertig ausgearbeitete Stu die zur Errichtung eines »Trockenlagers fiir nukleares Entsorgungsgut« wurde der australischen Zentralregie rung in Canberra zur Genehmigung vorgelegt. Unabhängig davon gehen die Verhandlungen zwischen Firmen der Bundesrepublik Deutschland und der Volks republik China über eine geplante Endlagerung radioak tiver Spalt-Stoffe in der Wüste Gobi weiter, was ein ris kantes und unwirtschaftliches Recycling in Europa über flüssig machen würde. Der Bundesminister für Wissenschaft und Technologie der Bundesrepublik Deutschland betonte, daß Verhand lungen mit der Volksrepublik China über den Plan einer Endlagerung dort am Konzept und an der planmäßigen Fertigstellung der Wiederaufarbeitungsanlage für abge 377
brannte Brennelemente im bayerischen Wackersdorf nichts ändern würden. Im April 1986 verbreiteten Presseagenturen folgende Nachricht: »Moskau/Stockholm (dpa). – In einem Atom kraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl nördlich von Kiew hat sich ein Unglück ereignet, von dem auch Menschen betroffen worden sind. Die amtliche Nachrich tenagentur TASS berichtete in einer kurzen Meldung, daß einer der Atomreaktoren der Anlage beschädigt worden sei. Weitere Einzelheiten teilte die Agentur nicht mit. In der Meldung hieß es aber, daß eine Regierungskommissi on eingesetzt worden sei. Beobachter in Moskau werteten diesen Hinweis als Zeichen dafür, daß das Unglück mög licherweise schwere Folgen gehabt hat. An sechs Orten Schwedens und Finnlands war am Montag stark erhöhte Radioaktivität gemessen worden. Nach Angaben des finnischen Strahlenschutzzentrums in Helsinki war schon am Sonntag eine fünf- bis sechsfache Erhöhung der üblichen Strahlungsmenge in Tampere (Zentralfinnland) gemessen worden. Die Stadt Tschernobyl hat rund 1,5 Millionen Einwoh ner. Ob auch sie von dem Unglück betroffen wurden, ist noch nicht bekannt. Ein westlicher Korrespondent berichtet, in Kiew sei am Morgen nach dem Unfall der Nahverkehr eingestellt wor den, was darauf schließen lasse, daß die Omnibusse für die Evakuierung der Bevölkerung in dem betroffenen Ge biet benutzt worden seien. Beobachter vermuten bei dem Vorfall einen GAU (= größter anzunehmender Unfall) 378
und ziehen Vergleiche zu dem Vorfall von Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania. Dort wurde im März 1979 im Kernreaktor ›Three Miles Island‹ eine radioaktive Wolke freigesetzt. Erhöhte radioaktive Strahlung wurde noch in einer Entfernung von 36 Kilometern gemessen. Acht Arbeiter kamen mit radioaktiven Dämpfen in Be rührung. Nachdem zwei Pumpen im Kühlsystem des Re aktors ausgefallen waren, brach ein Ventil. Daraus ent wich radioaktiv verseuchtes Wasser in das Innere des Ge bäudes, und Dämpfe entwichen in die Atmosphäre. Rund 200000 Menschen flohen aus dem Gebiet. Der Reaktor wurde im Oktober 1985 unter Protesten von Kernkraft gegnern wieder in Betrieb genommen.« Zu Beginn dieses Monats wurde ein Schiff unter libe rianischer Flagge mit Kurs Tripolis von Einheiten der im Mittelmeer operierenden 6. US-Flotte gesichtet und bis zur Erreichung libyscher Hoheitsgewässer verfolgt. Schiffsrumpf und Aufbauten waren mit der gesuchten »Stella Polaris« identisch. Der Schiffsname, in arabischen Lettern, lautete »AL BUKRA« – »Der frühe Morgen«. Für den diesjährigen Pulitzerpreis wurde – unter ande ren - der britische Journalist David McGhee nominiert. Die Auszeichnung soll im Herbst vergeben werden.
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