Aenne Bodmann
Reise ohne Wiederkehr Irrlicht Band 284
Sanfte Mozartmusik erklang, aber sie hatte nichts Freundliches...
13 downloads
552 Views
367KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aenne Bodmann
Reise ohne Wiederkehr Irrlicht Band 284
Sanfte Mozartmusik erklang, aber sie hatte nichts Freundliches für Olivias Ohren. Sie wollte fliehen, davonstürzen, doch es war, als liefe sie gegen ein Hindernis an. Irgend jemand stellte sich ihr in den Weg und versperrte ihr die Tür. Doch dieser Jemand war nicht zu sehen. Olivia konnte ihn nur fühlen, er war kalt und grausig. Kalte Hände legten sich um ihren Hals. Sie wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Und dann kam die Stimme, diese Stimme wie aus der Tiefe eines Gewölbes. »Gib dir keine Mühe, mein Kind. Du entkommst mir nicht. Ich werde bei dir sein, so oft ich es will. Ich werde keine Ruhe geben, ehe wir nicht gemeinsam auf die große Reise gehen…«
Professor Dr. Clemens Thorberg saß in seinem behaglich eingerichteten Arbeitszimmer am Schreibtisch. Vor ihm lagen viele engbeschriebene Schreibmaschinenseiten. Es war der Text seines neuesten Buches über Parapsychologie, das demnächst erscheinen sollte. Merkwürdig, die Arbeit ging heute nicht recht voran. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache, er war abgelenkt und unkonzentriert. Das war ungewöhnlich für Professor Thorberg. Normalerweise arbeitete er um so leichter, je mehr eine Abhandlung sich dem Ende neigte. Schon wollte er das Manuskript zur Seite legen, um spät am Abend noch einmal daran zu gehen, als er die bekannte Melodie hörte. Sie verfolgte ihn bis in seine Träume, sie weckte in ihm jedesmal von neuem tiefes Erschrecken. »Nein, nicht schon wieder!« stöhnte er entsetzt. Dabei waren es eigentlich freundliche Töne aus einer Mozartsonate, die keinerlei Furchterregendes an sich hatten. Aber Clemens Thorberg kannte sie. Dieser Melodie folgte fast immer eine Geistererscheinung, die ihn mehr und mehr beunruhigte. Schon stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn, seine Hände zitterten und sein Puls raste. Die elektrische Schreibtischlampe flackerte, um dann ganz zu erlöschen. Von den Straßenlaternen drang nur wenig Licht durch die dichten Fenstervorhänge, so daß der Raum in ein gespenstisches Halbdunkel getaucht war. Und dann sah er SIE. Sie schwebte in einer hellen Wolke, die sich langsam zu seinem Schreibtisch herabsenkte. Sie war ihm nah und bekannt, aber doch auf eine seltsame Art entrückt. Wie gebannt starrte er auf die Erscheinung. Er war unfähig, sich zu bewegen oder die Frau aus dem Jenseits von sich aus anzusprechen. Sie mußte das Wort ergreifen, mußte ihm Fragen stellen, erst dann fand er seine Sprache wieder. Er kannte es bereits von vielen Begegnungen ähnlicher Art, aber
es war immer wieder neu und bedrückend. Er hätte daran gewöhnt sein können, so oft hatte er es schon erlebt. Aber das Gegenteil war der Fall. Es wurde von Mal zu Mal schlimmer für ihn. »Habe ich dir einen Schrecken eingejagt, Clemens?« fragte die Stimme, die er unter Tausenden wiedererkannt hätte. Es war die Stimme seiner verstorbenen Frau, aber sie war auf schaurige Art verändert. Sie klang, als käme sie aus einem dumpfen Gewölbe. Ein Widerhall, der jedes Wort begleitete, verstärkte diesen Eindruck auch noch. »Wie oft willst du dieses Spiel noch wiederholen, Esther?« fragte er mutlos. Sie lachte schrill. »Sooft es mir gefällt. Gib mir Olivia, dann hast du deine Ruhe.« »Nein!« sagte Clemens Thorberg entschieden. »Olivia soll leben, sie soll glücklich werden.« »Bei mir wäre sie aber viel glücklicher als irgendwo auf deiner Erde. Ihr Menschenwürmer wißt ja gar nicht, wie unser Leben aussieht.« »Olivia ist noch so jung.« Clemens Thorberg spürte selbst, wie matt seine Worte klangen. Die Erscheinung aus einer anderen Welt konnte er damit nicht überzeugen. »Ich war nicht viel älter, als ich die Reise ohne Wiederkehr antreten mußte. Durch deine Schuld übrigens. Ich werde es dir nie verzeihen. Und darum komme ich wieder und wieder. Du sollst niemals Ruhe finden. Auch du mußt für deine Schuld bezahlen.« »Schuld, Schuld«, murmelte der Professor. »Es war ein Unglück, das weißt du so gut wie ich. Das Gericht hat mich freigesprochen.« Wieder erklang dieses höhnische Lachen.
»Die Juristen kannst du wohl täuschen, nicht aber mich. Du hättest mich retten können, aber du hast dich nur um Olivia gekümmert. Sie war mitschuldig an meinem frühen Ende. Und darum gehört sie mir.« »Sie ist alles, was ich habe!« klagte der Professor. »Sie ist der Inhalt meines Lebens, mein ganzes Glück. Wenn du die Rache willst, gut, dann nimm mich. Aber verschone das Kind. Sie ist wirklich unschuldig an dem Verhängnis.« »Das Kind?« höhnte die Erscheinung. »Sie war erwachsen und groß genug, die Vergangenheit zu verstehen. Sie ist dein ganzes Glück? Umgekehrt gilt das nicht. Sie liebt einen jungen Mann, nicht ihren Vater. In Wahrheit wartet sie auf den Tag, an dem sie dich verlassen kann. Das ist ihr Dank dafür, daß du sie gerettet hast.« »Ich erwarte keinen Dank!« entrüstete sich Clemens Thorberg. »Es ist die natürlichste Sache der Welt, daß eine junge Frau die Liebe zu einem jungen Mann entdeckt.« »Mag sein. Sie wird diesen Mann jedoch niemals heiraten. Ihn nicht und auch keinen anderen. Weil ich sie mit mir nehme auf eine Reise ohne Wiederkehr. Ihre Tage sind gezählt.« »Ich flehe dich an, Esther, verschone Olivia. Es ist doch auch dein Kind.« »Ja, und darum möchte ich sie bei mir haben in einem Land, das keine Schatten kennt und keine Leiden. Ich weiß, jetzt wirst du wieder einmal deine Koffer packen und umziehen. Gib dir keine Mühe, Clemens. Ich werde dich überall finden.« »Wenn schon einer bezahlen muß für das Unheil, Esther, dann laß es mich tun. Aber laß Olivia in Ruhe. Ich hänge nicht an diesem Leben.« »Das könnte dir so passen«, lachte sie auf. »Ich werde dich quälen, bis ich sie endlich habe. Olivia soll ihr Glück bei mir finden, auf unserer Reise ohne Wiederkehr. Aber vermutlich wirst du auch dann noch keine Ruhe finden, denn dein
Gewissen wird dir permanent zusetzen. Ich werde dich zerstören, so wie du mich zerstört hast.« »Du widersprichst deinen eigenen Worten, Esther«, sagte er so ruhig wie möglich, doch in seinem Innern herrschte Aufruhr. Er fuhr fort: »Sagtest du nicht, daß du mich in Ruhe ließest, sobald du Olivia hättest? Deine letzten Worte haben es mir verraten: Du willst mich zerstören und du willst mich mein Leben lang verfolgen.« In diesem Augenblick wurde an der Wohnungstür geschlossen. Eine helle Stimme rief verwundert: »Was ist mit dem Licht, Vati? Die ganze Wohnung ist dunkel. Schläfst du etwa schon?« Die helle Wolke über dem Schreibtisch wurde matter und dunkler. Die Frauengestalt schwebte von dannen. Dabei flog sie ohne Mühe durch Wände und Zimmerdecke. Es gab überhaupt keine Hindernisse für sie. Es war ein Bild, das den Professor von neuem daran erinnerte, daß er dem Geist seiner Frau rettungslos ausgeliefert war. Es gab kein Entrinnen für ihn, sooft er auch eine Flucht versucht hatte. Als Olivia das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat, leuchtete die Schreibtischlampe wieder auf. Mit Wohlwollen betrachtete der Vater seine junge, schöne Tochter. Olivia war 22 Jahre alt, sie war zierlich und schlank. Ihr dunkles Lockenhaar fiel ihr bis auf die Schultern, grün funkelten ihre lebhaften Augen. Sie glich so sehr ihrer Mutter, daß der Professor Mühe hatte, die beiden zu unterscheiden. War die unheimliche Fremde die Geistererscheinung seiner Frau… oder aber war sie Olivia, seine Tochter? »Ist dir nicht gut, Vati?« fragte Olivia besorgt. »Du siehst so blaß aus. Ich glaube, du arbeitest zu viel.« »Unsinn!« wehrte er ab. »Die Arbeit hält mich frisch. Ich wollte noch die Nacht durcharbeiten, damit ich morgen die Korrekturbogen der Druckerei übergeben kann.«
»Erstmal koche ich uns einen starken Kaffee, der wird dir guttun. Und dann überlasse ich dich deinem Buch. Ich muß auch noch arbeiten. Morgen schreiben wir eine Klausur.« Als der Kaffee vor ihm stand, fühlte sich Clemens Thorberg schon besser. Aber wahrscheinlich lag das weniger an dem belebenden Getränk als vielmehr an Olivias Anwesenheit. Sie war wirklich die Freude seines Lebens. Er war entschlossen, ihr Enttäuschungen und Leiden zu ersparen. »Fehlt dir nicht manchmal der Betrieb an der Uni, Vati?« fragte Olivia mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse. Sie hatte es nie richtig verstanden, warum der Vater sich so früh zur Ruhe gesetzt hatte. »Gelegentlich schon, Olivia«, antwortete ihr Vater. »Aber im Grunde meines Herzens liebe ich die Forschung. Zur Lehre fühle ich mich eigentlich nicht berufen. Ich bin ein Mensch, der am Schreibtisch sitzt und seine Theorien ausarbeitet. Ich habe nicht die Fähigkeit, den wissenschaftlichen Nachwuchs angemessen zu fördern.« »Von Kommilitonen, die dich aus München kennen, hörte ich es anders«, widersprach Olivia. »Sie hätten selten so gute Vorlesungen erlebt. Ehemalige Doktoranden lobten dich als hervorragenden Doktorvater.« »Studenten können die Fähigkeiten eines Professors nicht immer richtig einschätzen«, antwortete der Vater. »Ich muß ja selbst wissen, was mir leicht fällt und was ich nur mit großem Fleiß schaffe. Seit ich mich auf die Forschung konzentriere, habe ich das Gefühl, wirklich gute Arbeit zu leisten.« »Bist du deshalb so früh in den Ruhestand gegangen?« »Ja. Aber laß uns das Thema wechseln!« bat Professor Thorberg seine Tochter. Doch sie war in diesem Punkt hartnäckig.
»Es ist ja nur, weil ich immer wieder danach gefragt werde. Mit fünfundfünfzig setzt man sich noch nicht zur Ruhe, zumal du in deinem Alter nicht einmal eine Pension bekommst.« »Das macht dir also Sorgen?« schmunzelte der Vater. »Ich denke, du hast in der Vergangenheit nie Not gelitten. Du wirst auch in Zukunft nichts entbehren müssen, glaube mir. Ich verdiene mit den Büchern ganz gut. Außerdem gehört mir Gut Wernershöh, das seit dreihundert Jahren im Besitz meiner Familie ist. Da ich zum Landwirt nicht taugte, habe ich lieber Psychologie studiert und für das Gut einen Verwalter eingestellt. Genügt dir diese Auskunft, Olivia?« »Nun, ja…«, sagte sie zögernd. »Ich weiß so wenig über unsere Familie. Von dem Gut habe ich bisher nie etwas gehört. Warum haben wir dort nie Ferien gemacht? Und die Familie meiner Mutter ist mir auch total unbekannt. Wieso eigentlich?« »Die Vergangenheit ist leider sehr schmerzlich für mich, mein Kind. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen. Eines Tages werde ich dir bestimmt alles erzählen, das verspreche ich dir. Aber jetzt muß ich mich wieder an die Arbeit setzen.« Damit mußte sich Olivia zufriedengeben. Sie räumte die Kaffeetassen zusammen, wünschte ihrem Vater eine angenehme Nachtruhe und zog sich in ihr Jungmädchenzimmer zurück Sie spürte, daß es ein Geheimnis gab, das sorgsam vor ihr verborgen wurde. Aber worum konnte es sich dabei handeln?
*
Am anderen Morgen ging Olivia schon früh aus dem Haus. Die Klausur der Jurastudenten war schon um acht Uhr angesetzt.
Die Aufgaben waren schwer, Olivia mußte konzentriert arbeiten, um sie in der angegebenen Zeit zu lösen Sie merkte dabei nicht einmal, daß ihr Freund Markus Härtel zum Aufsichtspersonal gehörte. Er war zwei Jahre älter als sie und daher schon weiter im Studium. Gelegentlich wurden die fortgeschrittenen Studenten als Hilfs- und Aufsichtskräfte eingesetzt. Es war eine Aufgabe, die sie gern übernahmen, brachte sie doch einen kleinen Zusatzverdienst. Als Olivia ihre Arbeit abgegeben hatte, traf sie Markus in der Vorhalle des Audimax, wo er auf sie gewartet hatte. »Na, wie liefs bei dir?« fragte er sie. »Nicht ganz so gut, wie gehofft, aber auch nicht so daneben, wie gefürchtet.« »Eine salomonische Antwort«, sagte er und grinste. »Wie ist’s, leisten wir uns ein Festmenü in der Mensa zu Ehren der überstandenen Klausur?« »Es geht nicht, Markus«, sagte Olivia bedauernd. »Unsere Haushälterin, Frau Beier, plant irgendeine Überraschung für mich zum Mittagessen. Auch mein Vater hat mir eingeschärft, ausnahmsweise einmal pünktlich zu kommen. Ich habe beiden versprochen, diesmal rechtzeitig zu Haus zu sein. Sei mir nicht böse, Markus. Wir können uns ja morgen abend im Schwedenkrug treffen und feiern. Ein paar Freundinnen von mir kommen auch.« Der Schwedenkrug war eine beliebte Studentenkneipe in der Nähe der Uni. Markus winkte ab. »Ich wollte mit dir heute allein sein«, murrte er. »Das habe ich mir redlich verdient. Schließlich war ich tagelang als dein Repetitor tätig und habe mit dir die Paragraphen des Erbrechts gepaukt. Ich finde überhaupt, du solltest endlich zu Hause ausziehen. Keine Studentin lebt noch bei ihren Eltern.« »Mein Vater wohnt an meinem Studienort. Die anderen Studentinnen kommen aus anderen Städten und können nicht
zu Haus wohnen. Mein Vater hat hier in der Stadt eine große Altbauwohnung. Da ist es doch nur vernünftig, wenn ich dort ein Zimmer bewohne, zumal er nicht gerade reich ist. Er arbeitet als Privatgelehrter. Da gibt es kein Gehalt und keine Pension.« »Daß ich nicht lache!« höhnte Markus. »In der Universitätsbücherei stehen reihenweise Bücher deines Vaters. Damit muß er ganz schön Geld verdienen, jedenfalls genug, um dir ein Studium in Freiheit zu ermöglichen.« »Kommst du nun morgen abend oder nicht?« fragte Olivia und wollte damit die ihr unliebsame Debatte beenden. Aber Markus hatte sich noch nicht den ganzen Zorn von der Seele geredet. »Das muß wirklich ein komischer Vogel sein, dein Herr Vater. In letzter Zeit schreibt er vor allem über Parapsychologie. Glaubt er wirklich an Geister, Hexen und ähnliche obskure Leute?« »Den >komischen Vogel< habe ich überhört«, erklärte Olivia verärgert. »Er untersucht den Geisterglauben, der hier und da noch lebendig ist. Auch Träume gehören dazu, Vorahnungen, Erscheinungen. Man braucht nicht selbst daran zu glauben, wenn man Berichte über solche Dinge sammelt und auswertet.« »Zieht er deswegen alle paar Jahre um?« fragte Markus. »Vertreiben ihn die ortsansässigen Geister, wenn er einige Zeit in derselben Stadt lebt?« Olivia kaute auf ihrer Unterlippe. Sie konnte solche Kritik an ihrem Vater nicht leiden. »Weißt du was?« fragte sie darum schnippisch. »Komm doch zu uns und frag ihn selbst. Dann bekommst du die richtige Antwort auf alle deine Fragen. Ciao!« Damit ließ sie Markus stehen, der ihr wütend nachschaute. Eigentlich hatte er ihr vorschlagen wollen, in ein Zimmer
seiner Wohngemeinschaft einzuziehen, das überraschend freigeworden war. Aber dazu war er gar nicht gekommen. Er ärgerte sich ganz allgemein über alle Studentinnen, die noch bei ihren Eltern lebten. Ganz besonders schlimm schienen ihm solche zu sein, die als einzelne Töchter bei ihrem alleinerziehenden Vater wohnten, vor allem dann, wenn diese Väter erfolgreich wissenschaftliche Bücher schrieben. Markus war voller Zorn auf Olivia, ihren Vater und sogar auf sich selbst. Er nahm sich vor, nirgendwo hinzugehen, wo er Olivia treffen könnte. Einer Feier zum Semesterschluß würde er jedenfalls aus dem Wege gehen. Und natürlich würde er sich nicht länger um Olivias Freundschaft bemühen. Da müßte sie schon kommen und ihm die Hand zur Versöhnung reichen. Olivia hatte die kleine Auseinandersetzung mit Markus schon wieder vergessen, als sie ihre Wohnungstür aufschloß. Sie hörte aus dem Eßzimmer die Stimme ihres Vaters, der sich mit Frau Beier lautstark unterhielt. Olivia brauchte nicht einmal zu lauschen, um jedes Wort des Gesprächs zu verstehen. »Mir kommt es so vor, als planten Sie einen neuen Umzug, Herr Professor«, sagte Frau Beier. »Wie kommen Sie darauf?« fragte ihr Vater. »Sie bekommen Briefe von Speditionsfirmen. Wohnungsmakler schreiben Ihnen aus Würzburg und Erlangen. Die letzte Wohnung hatten wir in Münster, jetzt sind wir in Göttingen.« »Wollen Sie mir vielleicht vorschreiben, wo ich zu wohnen habe?« fragte Professor Thorberg in scharfem Ton. »Nein. Sie können wohnen, wo Sie wollen. Aber ich mache das nicht mehr mit. Gerade habe ich mich eingelebt, da heißt es wieder umziehen. Und das ist schon der vierte Umzug, den ich bei Ihnen erlebe.« »Ich habe meine Gründe«, sagte der Vater eisig.
»Wenn ich Sie wenigstens verstehen könnte, dann fiele es mir möglicherweise leichter.« »Bei meiner Arbeit bin ich auf Bücher angewiesen. Ich vertrete ein Spezialgebiet, in dem die Literatur naturgemäß noch nicht sehr umfangreich ist. In der einen Bibliothek gibt es die Bücher bestimmter Autoren, in der nächsten sind wieder andere Schriftsteller vertreten. Ich muß sie aber alle auswerten, ich brauche viel mehr Bücher, als eine einzelne Bibliothek zu bieten hat.« »So, und deshalb müssen Sie alle zwei oder drei Jahre mit Sack und Pack umziehen?« fragte Frau Beier. Olivia stand auf dem Flur und ballte die Hände vor Zorn. Mit dieser Begründung mochte ihr Vater Frau Beier besänftigen. Aber sie selbst wußte es besser. Es gab doch die Fernleihe, die einem Leser jedes Buch aus einer anderen Bücherei besorgte. Man brauchte also gar nicht umzuziehen, wenn man ein bestimmtes, seltenes Buch lesen wollte. Sie selbst hatte sich schon oft daraus bedient. Und davon sollte ein anerkannter Wissenschaftler noch nie etwas gehört haben? Es war doch lächerlich. Es mußte also einen anderen Grund für Vaters Verhalten geben. Aber welchen? Und warum sprach der Vater ihn nicht aus? Da war es wieder, das Geheimnisvolle, Unerklärliche, das zwischen Vater und ihr stand. Sie beschloß, die Unterredung der beiden zu beenden. Dazu schlich sie sich wieder aus der Wohnungstür hinaus und läutete Sturm an der Türglocke. Als Frau Beier mit hochrotem Kopf kam und ihr öffnete, sagte sie in gutgespielter Verlegenheit: »Nicht böse sein, Frau Beier! Ich muß meinen Schlüssel heute morgen vergessen haben.« »Das macht doch nichts, Fräulein Olivia«, antwortete die Haushälterin. »Ich bin sehr froh, daß Sie da sind. Das Essen ist fertig. Es gibt Ihre Leibspeisen.«
Ach, es war Olivia überhaupt nicht nach Essen zumute. Nicht einmal die versprochenen Lieblingsgerichte vermochten es, sie erwartungsvoll zu stimmen. Zu vieles war heute auf sie eingestürmt: Die schwere Klausur, die Auseinandersetzung mit Markus, das Gespräch zwischen Vater und Frau Beier. Das Essen schmeckte dennoch köstlich. Es gab eine Bouillabaisse, die Frau Beier nur zu besonderen Gelegenheiten servierte, und anschließend ein Schweinsfilet mit frischen Pfifferlingen. Vater schenkte dazu guten fränkischen Wein aus einem Bocksbeutel ein. Gehorsam nippte Olivia an ihrem Glas. Den Abschluß bildete ein großer Eisbecher mit frischen Himbeeren. »Schmeckt es Ihnen nicht, Fräulein Olivia?« fragte Frau Beier enttäuscht. Man hörte ihrer Stimme an, daß sie gleich in Tränen ausbrechen würde. »Es schmeckt wunderbar, wirklich! Sie haben sich wieder einmal selbst übertroffen, Frau Beier«, beruhigte Olivia die gute Haushälterin. »Aber nach Prüfungen kann ich einfach nicht so viel essen, wie ich möchte. Die Aufregung wirkt noch nach. Heben Sie mir doch bitte meine Portion zum Abendessen auf. Dann ist mein Appetit bestimmt wieder da.« Als Frau Beier das Geschirr zusammenräumte, sagte der Professor zu ihr: »Bringen Sie doch bitte den Mokka für mich und meine Tochter in mein Arbeitszimmer. Mir hat das Essen sehr gut geschmeckt, Frau Beier. Ich möchte Sie nicht gern verlieren.« Als Vater und Tochter in den gemütlichen Ledersesseln im Arbeitszimmer saßen, fragte Olivia: »Will Frau Beier etwa gehen, Vati?« »Ich glaube nicht, daß sie es wirklich tut«, meinte der Professor. »Sie hat mir oft genug versichert, wie gern sie bei uns arbeitet. Wie kommst du eigentlich darauf?«
»Weil du gesagt hast, du möchtest sie nicht verlieren. So etwas sagt man doch nicht ohne Grund.« »Sie will nicht wieder umziehen, Olivia. Das ist ja das Problem, denn ich müßte eine Zeitlang in Erlangen oder Würzburg arbeiten. Dort leben einige bedeutende Fachkollegen, mit denen ich eine gemeinsame Forschungsarbeit plane. Häufige Kontakte und ein reger Gedankenaustausch wären sehr, sehr vorteilhaft für meine Aufgabe.« »Soll ich etwa auch umziehen, Vati? Das kannst du nicht von mir erwarten. Ich habe mich hier eingearbeitet, kenne die Professoren und die Kommilitonen. Meine Freundin Angela und mein Freund Markus sind hier. Ich müßte ganz von vorn anfangen und neu Fuß fassen. Ich teile Frau Beiers Ansicht, was den Umzug angeht, Vati.« »Du bist jung und wirst dich leicht an die neue Umgebung gewöhnen. In einem halben Jahr wirst du gar nicht mehr verstehen, warum du dich so gegen den Wohnungswechsel gesträubt hast.« »Ich könnte ja auch hierbleiben, Vati. Die meisten Studentinnen kommen von auswärts. Sie haben ein Zimmer in einem Studentenwohnheim oder in einer Wohngemeinschaft. Wenn du wegziehen willst, gut, das ist deine Sache. Aber ich bleibe dann eben hier.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« erregte sich der Professor. »Ich hätte keine ruhige Minute, wenn du allein in einer anderen Stadt wohntest. Du brauchst einen besonderen Schutz…« »Wieso das denn? Du liest zu viele Geistergeschichten«, sagte Olivia ironisch. Professor Thorberg fühlte sich jäh ertappt. Tatsächlich hatte er an die unbegreiflichen Erscheinungen seiner verstorbenen Frau und ihre Drohungen gedacht, als er den besonderen
Schutz erwähnte, den er für seine Tochter wünschte. Aber er konnte es ihr nicht erklären, ohne sich lächerlich zu machen. So wich er aus. »Du bist ohne Mutter aufgewachsen, Olivia. Ich mußte dir Vater und Mutter zugleich sein, eine Aufgabe, die mich oft überfordert hat. Als deine Mutter in deinem Alter war, ist sie tödlich verunglückt. Du warst damals erst drei Monate alt. Du bist in allem das Abbild deiner Mutter, du bist so schön, so lebendig und so gescheit wie sie. Ich will dir das Schicksal ersparen, das sie erlitten hat.« »Ich bin inzwischen erwachsen, Vati. Auch vor dem Gesetz bin ich längst mündig. Ich kann selbst auf mich achten. Oder soll ich bis an das Ende meiner Tage einen väterlichen Beschützer haben?« »Wahrscheinlich wäre es sogar das beste…« erwiderte der Professor sorgenvoll. Er dachte an den Geist seiner Frau, der ihm am Vorabend erschienen war und der deutliche Drohungen ausgestoßen hatte. Aber wie sollte er Olivia das glaubhaft erklären? Sie würde nur den Kopf schütteln. »Vati, wir haben uns immer gut verstanden«, wagte Olivia jetzt einen Vorstoß. »Ich bin mittlerweile alt genug, auch schwierige Dinge zu verstehen. Meinst du nicht auch, daß es an der Zeit wäre, mir einiges zu erklären?« »Was möchtest du denn wissen?« »Alles über meine Mutter. Wie ist sie gestorben? Was war das für ein Unfall? Und warum kenne ich keine Verwandten? Hatte meine Mutter keine Eltern und Geschwister? Ich möchte einmal an ihrem Grab stehen und ihr Blumen bringen. Aber wo ist ihr Grab? Und warum leben wir nicht auf diesem Gut, wie hieß es doch gleich?« »Wernershöh«, murmelte der Professor. »Gut, also Wernershöh. Warum wohnen wir also nicht dort? Du könntest auch in diesem Gutshaus deine Bücher schreiben,
und ich käme in den Semesterferien immer nach Haus. Warum hast du eigentlich nie wieder geheiratet? Ich hätte dann zwar nicht meine leibliche Mutter gehabt, aber doch vielleicht eine mütterliche Freundin, jedenfalls eine richtige Familie.« »Das sind eine Menge Fragen auf einmal«, sagte Olivias Vater nachdenklich. »Fangen wir mit der letzten an. Warum ich nicht wieder geheiratet habe? Es gab ein paar Möglichkeiten, mit zwei Frauen war ich sogar verlobt. Aber letztlich stand deine Mutter immer dazwischen. Ich war nicht fähig, eine andere Frau so zu lieben, wie ich Esther geliebt habe. Beide erlitten kurz vor der Hochzeit einen schweren Unfall. Da habe ich mir gesagt, daß ich den Frauen kein Glück bringe, und ich habe seither ganz bewußt auf eine zweite Ehe verzichtet.« Es war durchaus die Wahrheit, die Professor Thorberg seiner Tochter verriet, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Er verschwieg ihr, daß er damals allabendlich vom Geist seiner Frau heimgesucht worden war, die ihm aufs schwerste beschimpfte und bedrohte. Auch die Unfälle seiner beiden Verlobten hatte sie ihm in aller Deutlichkeit vorausgesagt. Sie wollte ihm kein neues Glück erlauben. »Das ist doch Unsinn, Vati«, widersprach Olivia. »Du hast den Frauen bestimmt kein Unglück gebracht. Es war eine Kette unglücklicher Zufälle.« »Ich hatte jedenfalls den Mut verloren, es ein weiteres Mal zu versuchen. Nun zu den anderen Fragen: Deine Mutter ist auf dem Dorffriedhof von Wernershöh beigesetzt. Dort ist das Erbbegräbnis unserer Familie. Die Frau des Verwalters pflegt das Grab, sie ist sehr gewissenhaft. Es gab also keinen Grund für mich, selbst in Wernershöh zu wohnen, zumal mir dort alle Möglichkeiten einer Universitätsstadt fehlen. Es gibt dort keine wissenschaftliche Bücherei in der Nähe und auch nicht den Gedankenaustausch mit Fachkollegen. Der Besuch einer
höheren Schule wäre für dich nicht möglich gewesen, ich hätte dich in ein Internat geben müssen.« Den wahren Grund verschwieg Professor Thorberg vorsichtshalber. Nach dem Tod seiner Frau hatte er einige Wochen mit seiner kleinen Tochter auf Wernershöh verbracht. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ganz auf das Familiengut überzusiedeln. Waren die ländliche Umgebung, der Wald und die saubere Luft nicht die beste Gewähr dafür, daß Olivia gesund aufwachsen würde? Doch dann war ihm der Geist seiner verstorbenen Frau zum ersten Mal erschienen. Fast täglich kam sie und quälte ihn. Und immer wieder drohte sie, ihm Olivia zu nehmen. Sein Weggang von Wernershöh war wie eine Flucht gewesen. Es war eine Flucht, die sich danach häufig genug wiederholen sollte. Er wechselte öfter die Wohnorte, weil er glaubte, dann endlich Ruhe zu finden. Er war ein Gehetzter, er mied die Menschen und zog sich in seine Gelehrtenstube zurück. Sein Interesse verlagerte sich von der reinen Psychologie auf die Parapsychologie, er wollte die Ursachen der Geistererscheinungen ergründen. Er war inzwischen eine anerkannte Kapazität auf diesem Gebiet geworden, aber er wußte selbst gut genug, wie wenig er wirklich aufgeklärt hatte. Er hatte nun mit seiner Tochter ein wenig über die Vergangenheit gesprochen. Doch scheute er sich noch immer, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Wie konnte er Olivia verständlich machen, was er selber nicht begriff? Er sah auf die Uhr. »Für heute müssen wir unser Gespräch beenden, Olivia«, sagte er. »Ich bin mit einem Kollegen aus Münster verabredet, der auf der Durchreise in Göttingen ist.« Olivia hatte nicht viel von ihrem Vater erfahren. Aber sie war entschlossen, recht bald das Grab ihrer Mutter in Wernershöh aufzusuchen.
*
Am nächsten Abend ging Olivia nicht in den Schwedenkrug, wie sie es Markus gesagt hatte. Es hatte sich etwas anderes ergeben, und da der Freund sowieso nicht kommen wollte, hatte sie sich nicht verpflichtet gefühlt, ihm die Änderung mitzuteilen. Ihre Freundin Angela hatte ihre Vorprüfung bestanden und hatte eine Party angesagt. Sie hatte ein möbliertes Zimmer in der Wohnung ihrer verheirateten Schwester. Diese Angehörigen waren verreist und hatten Angela erlaubt, die ganze Wohnung für eine Party zu benutzen. Das war natürlich eine einmalige Gelegenheit, und jeder Gast durfte Partner oder Partnerin mitbringen. »Ein paar nette Singles sind auch dabei, falls jemand zufällig allein kommen sollte«, hatte Angela großzügig verkündet. Olivia war genau in der Stimmung, allein zu kommen. Die neuen Umzugspläne ihres Vaters bedrückten sie. Es war ihr nur recht, wenn Markus nicht zur Party kam. Wie hätte sie ihm die Trennung plausibel machen können, wenn sie sie selbst nicht verstand? Dann hätte er ihr nur wieder zugesetzt, endlich die väterliche Wohnung zu verlassen. Sie gab ihm ja recht, im Grunde teilte sie seine Meinung. Aber wenn sie der Bevormundung und Fürsorge des Vaters entkommen war, dann mochte sie nicht gleich unter neuer Aufsicht stehen. Dann wollte sie eine gewisse Zeit ganz allein über sich selbst bestimmen, so lange jedenfalls, bis Vater und Markus eingesehen hatten, daß sie eine selbständige Person mit eigenen Ansichten war. Olivia war schon sehr früh zu Angela gekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Da waren belegte Brote
herzurichten, die Erdbeerbowle mußte angesetzt werden, und eine gewaltige Menge Nudelsalat sollte angemengt werden. Als die Gäste kamen, war alles fertig. Der lisch war nett gedeckt, und die gebotenen Speisen sahen einladend aus. Bei der sommerlichen Hitze tranken alle reichlich von der eisgekühlten Bowle mit dem Erfolg, daß die Stimmung bald schon ziemlich übermütig wurde. Ein verspäteter Gast stellte sich ein. Er wurde von Angela mit einer flüchtigen Umarmung begrüßt. »Das ist Thomas!« stellte sie ihn der Gesellschaft vor. Da man sich allgemein duzte und mit dem Vornamen ansprach, fiel das nicht weiter auf. Nach seinem Nachnamen fragte niemand. Olivia fühlte sich zu dem neuen Gast auf eine seltsame Weise hingezogen. Er war älter als die anderen und wirkte ernster. Olivia, die ständig mit ihrem Vater zusammen war, mochte reifere Männer, zumal solche, die sich gleichzeitig eine jugendliche Erscheinung bewahrt hatten. Bald war sie mit ihm in ein anregendes Gespräch vertieft. Irgend jemand legte Schallplatten auf. Thomas forderte Olivia auf und tanze mit ihr im äußersten Flurwinkel der Wohnung. Er tanzte gut. Olivia fühlte sich in seinen Armen wie verzaubert. War es der Wein, war es der Abend, war es Thomas? In einem unbemerkten Augenblick brachen Thomas und Olivia noch vor den anderen auf. »Ich weiß ein hübsches Tanzlokal«, hatte Thomas ihr zugeflüstert. »Ich glaube, das wäre jetzt das richtige für uns.« Es war einfach zauberhaft. Olivia hatte das Lokal noch nicht gekannt, ihre studentischen Freunde pflegten dort nicht zu verkehren. Thomas besprach lange und eingehend mit dem Ober, welcher Wein denn passend sei. Leicht und fruchtig
müßte er sein, aber nicht süß. Der Kellner empfahl die Hausmarke, einen guten Saarwein. »Nach der süßen Erdbeerbowle bei Angela wird er uns schmecken«, meinte Thomas. »Was hast du gegen Erdbeerbowle?« fragte Olivia verwundert. »Nichts«, antwortete Thomas. »Für eine Jugendparty an einem Sommerabend ist sie genau passend. Aber doch nicht, wenn man mit einer schönen Frau zu zweit allein ist.« »Jetzt machst du aber Komplimente.« »Nein, ich sage nur die Wahrheit. Weißt du denn nicht, daß du sehr, sehr schön bist, Olivia? Du erinnerst mich an wen, aber es fällt mir nicht ein, wer das war.« »Wahrscheinlich eine frühere Freundin«, sagte Olivia und wunderte sich, daß sie auf diese ferne Unbekannte eifersüchtig war. »Nein, nein. Es war keine Freundin. Es war eine Verwandte, die früh verstorben ist. Aber lassen wir das. Ich freue mich jedenfalls, daß wir uns gefunden haben.« »Eigentlich habe ich schon einen Freund«, sagte Olivia nachdenklich, ganz gegen ihre Absicht. Es ging Thomas doch gar nichts an, daß es schon einen Markus gab und umgekehrt. Und außerdem: Gegen diesen Thomas war Markus bestenfalls ein grüner Junge. Thomas gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Er machte ihr Komplimente und gab ihr zu verstehen, daß ein Abend mit ihr ganz unvergleichlich sei. Und natürlich konnte er auch wunderbar tanzen. Mit Markus konnte man nur in der Disco herumhopsen. Der leichte Saarwein war wohl doch gehaltvoller, als Olivia geglaubt hatte. Es kam der Augenblick, da sie nur noch nach Hause wollte. Auch da zeigte sich Thomas als ein weltgewandter Begleiter.
Wenn er enttäuscht war über das plötzliche Ende eines so hoffnungsvoll begonnenen Abends, so ließ er sich das nicht anmerken. Er brachte Olivia nach Haus und verabschiedete sich vor der Tür von ihr mit einem formvollendeten Handkuß. »Ich hoffe, daß wir uns noch öfter sehen werden«, sagte er warm. »Es war ein wunderschöner Abend. Ich bin noch vierzehn Tage in Göttingen. Ich wohne in der Fremdenpension Walding. Hier ist meine Karte. Ruf mich doch an, wenn du Zeit für einen Abend zu zweit hast. Hat es dir auch ein wenig gefallen?« »Es war… es war ein toller Abend!« sagte sie und legte spontan ihre Arme auf seine Schultern. Dann küßte sie Thomas auf die Wange und sagte: »Danke, Thomas!« Noch ehe er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, war sie bereits im Haus verschwunden.
*
Oben wurde sie von ihrem Vater erwartet. »Weißt du, wie spät es ist, Olivia?« fragte er strafend. »Nein, keine Ahnung«, kicherte sie. »Aber Olivia! Hast du etwa getrunken?« »Klar doch, Vati. Erst die süße Erdbeerbowle bei Angela. Dann leichten Saarwein in einem Tanzlokal. Sonst nichts.« »Es ist vier Uhr nachts. Um zwei Uhr habe ich bei Angela angerufen, ich wollte dich dort abholen. Du solltest nicht allein durch die dunklen Straßen gehen. Aber da war die Party schon seit einer Stunde vorbei. Wo hast du in der Zwischenzeit gesteckt?« »In einem Tanzlokal mit Wein. Saarwein, Vati. Es war ganz toll. Und Thomas ist ein hinreißender Mann, wirklich. Nicht
solch ein junger Bursche wie Markus. Er macht mir sehr liebe Komplimente. Vielleicht treffe ich ihn ja sogar wieder. Ich brauche ihn nur anzurufen.« »Geh jetzt ins Bett und schlaf dich aus, Olivia«, sagte Clemens Thorberg. »Morgen sprechen wir über Thomas und über die Party bei Angela.« Olivia war es recht. Sie war sowieso entsetzlich müde und hatte im Moment nur einen Wunsch: Schlafen, schlafen, schlafen… Sie hängte ihre Jacke an die Flurgarderobe und huschte in ihr Zimmer. Dort warf sie sich, so wie sie war, auf ihr Bett und war sofort eingeschlafen. Der Professor schaute seiner Tochter sorgenvoll nach. Wenn er nur wüßte, wer der Mann war, mit dem sie den Abend verbracht hatte! Er sollte es sogleich erfahren. Ein Zettel war aus Olivias Jackentasche auf den Boden gefallen. Clemens Thorberg bückte sich danach und hielt eine Visitenkarte in der Hand. Er las: Thomas Brandner Pharmareferent – Wuppertal Handschriftlich war darunter geschrieben: z. Zt. Göttingen, Fremdenpension Walding. Bitte, abends ab 18 Uhr anrufen unter der Nummer… Die Telefonnummer las der Professor schon gar nicht mehr. Anfangs tröstete er sich noch mit dem Gedanken, daß es vielleicht ein anderer Thomas Brandner sein könnte. Thomas war kein seltener Vorname, und auch der Name Brandner kam häufiger vor. Vielleicht sah er ja Gespenster, wo es keine gab. Aber je länger er darüber nachdachte, um so sicherer wurde seine Vermutung, daß es sich um Thomas handelte, den jüngeren Bruder seiner verstorbenen Frau. Er zermarterte sich den Kopf, was er tun könnte. Auf gar keinen Fall durfte er untätig zuschauen, wie sich Olivia in ihren eigenen Onkel
verliebte. Eine Liebesbeziehung zwischen Onkel und Nichte, das war das letzte, was er seiner Tochter wünschte. Er wollte ja nicht einmal, daß sie sich kennenlernten und vielleicht über die Vergangenheit sprachen. Aber wie sollte er das verhindern? Er kannte schließlich den Eigensinn seiner Tochter. Auf direkte Verbote würde sie mit Trotz reagieren. Es war inzwischen fast fünf Uhr morgens. Schon wurde es hell am östlichen Horizont, der neue Tag kündigte sich an. Und in diesem Augenblick hörte Professor Thorberg wieder die Melodie aus der Sonate des jungen Mozart. Noch nie war seine Frau ihm im Morgengrauen erschienen. Sie pflegte bisher am späten Abend und in der Zeit vor Mitternacht zu kommen. »Bist du erstaunt, weil ich meine Gewohnheiten geändert habe?« fragte sie höhnisch. »Bei dir bin ich immer auf alles gefaßt«, sagte er erschöpft. »Gut, daß du es einsiehst. Vielleicht kommst du ja auch in anderen Dingen zu einer späten Einsicht. Olivia kam heute früh um vier Uhr nach Haus. Das ist das Ergebnis deiner Erziehung. Sie freundet sich mit ihrem Onkel an, der damals das Unfallauto gesteu…« »Hör auf!« rief Clemens Thorberg und hielt sich die Ohren zu. »Ich werde niemals aufhören. Meine Tochter ist in der Hand meiner Mörder. Sie ist im Begriff, sich in den einen zu verlieben, und von dem anderen ist sie abhängig. Ich werde erst Ruhe geben, bis sie mit mir zusammen die Reise ohne Wiederkehr angetreten hat.« Professor Thorberg bebte vor Zorn. Er hatte stundenlang voller Angst auf seine Tochter gewartet, was seinen Nerven nicht gut getan hatte. Dann mußte er erfahren, daß der Bruder seiner Frau in Göttingen aufgetaucht war. Er hatte gehofft, ihn nie, nie wiederzusehen. Er hatte das Gefühl, daß die Vergangenheit ihn einholte, und zugleich ahnte er, daß er einer
dunklen Zukunft nicht gewachsen war. Die schreckliche Erscheinung, die unheimliche Mozartmusik nahmen ihm den Rest seiner Beherrschung. Er ergriff einen Leuchter und warf ihn mit voller Wucht dorthin, wo seine Frau auf einer Wolke schwebte. Aber er traf nicht sie, sondern nur die Bücherregale an der gegenüberliegenden Wand. Die Geistererscheinung war mit höhnischem Gelächter verschwunden. »Ich komme wieder!« tönte es drohend wie aus einem hohlen Gewölbe. Ermattet sank er in einen der tiefen Ledersessel. Er verbarg sein Gesicht in beiden Händen. So fand Olivia ihren Vater, als sie nach ihm schauen wollte. Das heftige Gepolter hatte sie aus tiefem Schlaf gerissen. »Was ist hier los, Vati?« fragte sie verständnislos. »Wieso liegt der Messingleuchter auf dem Boden? War hier jemand?« »Nein, nein. Geh nur wieder schlafen, Olivia. Ich muß wohl im Sessel eingeschlafen sein und hatte einen Alptraum. Wahrscheinlich habe ich ein Geräusch und einen Schatten für ein Tier gehalten und dann im Halbschlaf danach geworfen. Es tut mir leid, wenn ich deine Ruhe gestört habe. Aber du siehst ja selbst, hier ist nichts Verdächtiges.« Kopfschüttelnd zog sich Olivia wieder in ihr Zimmer zurück. Am anderen Morgen trafen sich Vater und Tochter recht mürrisch und einsilbig am Frühstückstisch. Sie waren beide nicht ausgeschlafen. Auch hingen sie ihren Gedanken nach. Olivia überlegte, wie sie es anstellen könnte, Thomas zu treffen, ohne daß ihr Vater es merkte. Professor Thorberg wiederum dachte angestrengt darüber nach, wie er eben dieses verhindern könnte. Schließlich kam ihm eine Idee. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Olivia«, sagte er. »Ach ja?« fragte sie, nicht sonderlich interessiert.
»Ich hatte gestern den Eindruck, daß du sehr gern Gut Wernershöh, das Gut unserer Familie, kennenlernen würdest. Die Semesterferien fangen in zwei Tagen an. Wie wär’s, wenn du ein paar Wochen dort verbrächtest?« »Ich allein? Kommst du denn nicht mit?« »Nicht sofort. Ich muß nach Würzburg und nach Erlangen fahren, um mich dort umzusehen.« »Willst du wirklich umziehen, Vati?« »Wir werden umziehen. Natürlich kommst du mit mir, wenn ich umsiedeln werde.« »Erlangen oder Würzburg also«, sagte Olivia und gähnte. Sie war noch viel zu müde, um zu widersprechen. »Wovon hängt es ab, welche Stadt es diesmal wird?« »Einmal von den Buchbeständen in der jeweiligen Universitätsbücherei und dann auch von der Lage auf dem Wohnungsmarkt. Du kannst dich inzwischen unbeeinflußt von väterlichen Erklärungen auf Gut Wernershöh umsehen. Ich komme schnellstens nach und beantworte alle Fragen, die dir vielleicht gekommen sind. Einverstanden?« »Klingt nicht schlecht«, räumte Olivia ein. »Du könntest dir auch eine Freundin mitnehmen. Platz ist genug in dem sogenannten Herrenhaus.« »Das ist super. Ich frage mal Angela, ob sie Zeit und Lust hat. Danke, Vati!« Der Vater atmete auf. Offenbar lag Olivia doch nicht so viel an der neuen Bekanntschaft, sonst wäre sie gewiß nicht so schnell mit der Reise nach Wernershöh einverstanden gewesen. Und ganz nebenbei hatte er sie mit seinen neuen Umzugsplänen bekannt gemacht. Sie hatte nicht mehr protestiert. Aber ob er mit seinen Plänen sein Hauptziel erreicht hatte, das war völlig ungewiß. Der Geist seiner Frau hatte noch immer nach wenigen Wochen seine neue Adresse ausfindig
gemacht. Zeit und Raum bedeuteten ihr gar nichts. Sie konnte ungehindert damit umgehen. Auch waren ihre Möglichkeiten unbegrenzt, alles über ihren früheren Mann zu erfahren. Jeder neue Umzug gab ihm nur sehr kurze Zeit zum Atemholen. Danach war er wieder ein Gehetzter und würde es bis zu seinem Lebensende bleiben. Beim Mittagessen besprachen Vater und Tochter alle Einzelheiten der nächsten Tage. »Du fährst am besten mit deinem Wagen nach Wernershöh, Olivia«, schlug der Vater vor. »Dann kannst du dort Ausflüge machen und dich in der näheren und weiteren Umgebung umsehen. Ich habe schon mit dem Verwalter Schröder gesprochen. Seine Frau wird eines der Gästezimmer für dich herrichten. Du kannst bei Schröders essen, wenn du willst. Es gibt auch einen Dorfkrug mit einfachen Gerichten, wenn dir das lieber ist.« »Du denkst aber auch an alles, Vati«, meinte Olivia. »Und wie ist es mit dir?« »Ich werde mit der Bahn fahren. In Würzburg habe ich mich in einem Hotel angemeldet. In Erlangen suche ich mir erst dann ein Hotel, wenn ich weiß, wie lange ich in Würzburg bleibe. Frau Beier habe ich für zwei Wochen beurlaubt. Ich hoffe, daß sie danach doch bereit ist, noch einmal mit uns umzuziehen. Weißt du, daß ich mich richtig freue, dir meine Heimat zu zeigen? Ich verstehe gar nicht, daß wir nicht früher auf diese Idee gekommen sind!« »Ich hatte immer das Gefühl, daß dir Gespräche über deine Heimat unwillkommen sind, Vati«, versuchte Olivia eine Erklärung zu finden. »Das stimmt so nicht. Mir fiel es nur schwer, über die Vergangenheit zu sprechen. Den Verlust meiner Frau habe ich lange Jahre nicht verwinden können.« »Und jetzt? Kannst du jetzt darüber sprechen?« fragte Olivia.
»Die Zeit heilt alle Wunden, so sagt man wohl«, erwiderte der Professor und seufzte. »Ich weiß nicht, ob das auch auf mich zutrifft. Deine Mutter ist seit zweiundzwanzig Jahren tot, das ist eine lange Zeit. Wir waren sehr glücklich zusammen. Aber ob ich darüber sprechen kann, das wird sich erst in Wernershöh zeigen.« »Ich freue mich, daß du endlich diese Reise planst, Vati. Ich bin ganz zuversichtlich. Und natürlich bin ich sehr froh, daß ich die Heimat meiner Vorfahren nun endlich kennenlerne.« Professor Thorberg fiel ein Stein vom Herzen. Seine Tochter Olivia akzeptierte seine Ferienpläne. Die unerwartete Bekanntschaft mit ihrem Onkel Thomas war ihr wohl doch nicht so wichtig. Hätte sie sonst wohl so leichten Herzens seinen Plänen zugestimmt? Wie gut, daß der Vater nicht wußte, wohin seine Tochter an diesem Vormittag ging. Zuerst suchte Olivia ihre Freundin Angela auf. Sie wollte ihr beim Aufräumen helfen. Natürlich hoffte sie auch, dabei möglichst viel über Thomas zu erfahren. »Grüß dich, Olivia!« sagte Angela erfreut, als sie die Freundin erblickte. »Du warst ja gestern abend so schnell verschwunden.« »Es gibt manchmal Situationen, wo man lieber zu zweit allein ist und nicht in der Clique«, räumte Olivia ein. »Der Thomas ist schon ein toller Typ. Nicht so… so unfertig, wie viele Studenten. Er ist so ritterlich, ganz wie ein Kavalier der alten Schule.« »Das macht sein Alter«, lachte Angela. »Ich glaube, er ist ungefähr 40 Jahre alt.« »Und wo hast du ihn eigentlich aufgegabelt?« fragte Olivia. »Er ist ein Freund meines Schwagers. Thomas wollte ihn auf der Durchreise in Göttingen besuchen und traf meinen Schwager und meine Schwester nicht an. Er war sehr
enttäuscht, daß er vergebens gekommen war. Um ihn ein wenig dafür zu entschädigen, habe ich ihn zu meiner Party eingeladen. Er kam sehr gern; die einsamen Abende in seiner Fremdenpension waren wohl reichlich trostlos. Trotzdem habe ich mich gewundert, daß er sofort anfing, mit dir zu flirten.« »Was spricht dagegen?« fragte Olivia spitz. »Es war wohl die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Aber das ist ein großes Wort. Ich fand ihn faszinierend, und er hat mich auch gemocht, das ist alles.« »Und wohin hat er dich entführt, dein charmanter Thomas?« »Wir waren noch in einer Tanzdiele und haben eine Flasche Wein getrunken. Ich kam erst um vier Uhr nach Haus.« »O je. Und was hat der Herr Professor Thorberg dazu gesagt?« »Er war sauer. Das kannst du dir ja denken. Dabei hat Thomas mich nur bis zur Haustür gebracht und hat sich dort ganz brav von mir verabschiedet. Aber laß uns jetzt mit der Arbeit anfangen. Viel Zeit habe ich leider nicht.« In der Küche herrschte tatsächlich ein unbeschreibliches Chaos. Olivia schreckte unwillkürlich zurück. Zu Haus regierte Frau Beier und sorgte immer für Sauberkeit und Ordnung. »Kennst du so etwas nicht?« fragte Angela spöttisch. Ihr war die Reaktion der Freundin nicht entgangen. »Doch, natürlich. Ich war doch schon öfter bei dir.« »Du bist boshaft«, maulte Angela. »Laß uns anfangen«, drängte Olivia. »Streitgespräche können wir auf später vertagen.« Eine Zeitlang arbeiteten die beiden Studentinnen sehr eifrig. Beim Klappern der Bestecke und der Gläser verstummten ihre Gespräche. Olivia übernahm den Abwasch. Angela trocknete das Geschirr ab und räumte es in die Schränke. Überraschend schnell war das Durcheinander beseitigt.
»Es sind noch Reste vom Nudelsalat da«, erklärte Angela. »Im Kühlschrank müßte auch noch etwas Erdbeerbowle sein. Darf ich dich zu den Resten einladen?« »Nein, danke. Ich will ausnahmsweise einmal pünktlich am häuslichen Mittagstisch sein«, antwortete Olivia. »Sag mir nur eins: Was weißt du von Thomas?« »Nicht sehr viel. Er ist Pharma-Referent und besucht im Auftrag seines Konzerns Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken hier in der Gegend. Spätestens in vierzehn Tagen muß er Weiterreisen.« »Ich möchte etwas über sein Privatleben erfahren. Sein Beruf interessiert mich nicht.« »Privat eilt ihm der Ruf eines galanten Herzensbrecher voraus. Meine Schwester hat mich vor ihm gewarnt. Aber das will nicht viel heißen. Große Schwestern behüten ihre jüngeren Schwestern oft genau so ängstlich wie Väter ihre Töchter.« »Ist er verheiratet?« »Nein. Hast du etwa ernste Absichten?« Gegen ihren Willen wurde Olivia rot. »Quatsch!« sagte sie unfreundlich. »Übrigens, ich fahre jetzt gleich zu Anfang der Semesterferien nach Wernershöh. Das ist das Gut, das meinem Vater gehört. Hast du Lust mitzukommen? Mein Vater hat mir erlaubt, eine Freundin einzuladen.« Angela zog ihre Nase kraus. »Es geht leider nicht. Ich muß hier die Wohnung hüten, bis Schwester und Schwager wieder zurückkommen. Das ist erst in drei Wochen der Fall.« »Schade«, meinte Olivia. »Dann bin ich wahrscheinlich schon wieder in Göttingen und helfe meinem Vater bei den Umzugsvorbereitungen.« »Zieht ihr schon wieder um?« fragte Angela entgeistert.
»Ja. Mein Vater ist ein unruhiger Geist. Ich mußte schon oft den Wohnsitz wechseln. Kaum bin ich irgendwo heimisch geworden, dann heißt es wieder Koffer packen.« »Dann laß ihn doch umziehen und bleib hier. In irgendeiner Wohngemeinschaft wird sich wohl ein Zimmer für dich finden.« »Das habe ich Vater auch schon vorgeschlagen, aber das akzeptiert er nicht. Ehe ich abreise, komme ich nochmal vorbei, um mich von dir zu verabschieden. Ciao, Angela!« Leichtfüßig sprang sie die Treppe hinunter. Sie faßte in die Jackentasche und fühlte die kleine weiße Karte, die ihr Thomas in der letzten Nacht zugesteckt hatte. Auch er hatte an ein Wiedersehen gedacht… Die Pension Walding erwies sich als ein behagliches, familiär geführtes Haus in einer guten Wohngegend. An der Rezeption empfing sie eine ältere Dame mit wohlfrisiertem weißen Haar. »Sie wünschen?« fragte sie. »Unterbringen kann ich Sie hier allerdings nicht. Wir sind nämlich bereits ausgebucht. Wir müssen die Zimmer freihalten für die Vorbestellungen. Die Gäste können ja immer noch bis zum Abend eintreffen.« »Ich suche kein Zimmer«, erklärte Olivia. »Ich möchte Herrn Thomas Brandner sprechen.« »Er ist nicht im Haus«, sagte die alte Dame. »Er ist gleich nach dem Frühstück in seinem Wagen fortgefahren. Er wird erst gegen Abend zurückerwartet. Soll ich etwas ausrichten?« »Danke, nein«, antwortete Olivia. »Ich werde ihn anrufen. Auf Wiedersehen.« Dann stand sie ziemlich unschlüssig auf der Straße. Noch eine Stunde bis zum Mittagessen. Schade, daß sie Thomas nicht angetroffen hatte, sie hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut. Seine warme Stimme hatte sie hören wollen, mit der er ihr schmeichelte und zärtliche Komplimente sagte. Sie stellte sich seine Blicke vor, in denen so viel
Bewunderung gestanden hatte. Seine warmen Hände hatten zärtlich ihre Hand gehalten. Freilich, sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Er hatte ihr ja schon in der Nacht gesagt, daß er tagsüber arbeiten müßte. Erst für den Abend hatten sie ein Telefongespräch vereinbart. Aber der Wunsch, ihn wiederzusehen, war einfach so stark gewesen, daß sie gegen alle Vernunft versucht hatte, ihn schon jetzt zu treffen. Sie mußte also noch lange warten. Ungeduldig schaute sie auf ihre Uhr. Erst in sechs Stunden konnte sie ihn anrufen. Sechs lange Stunden noch! Wie sollte sie die nur überstehen? Ihr Heimweg führte sie am Juristischen Institut vorbei. Markus arbeitete dort als Hilfsassistent. Sollte sie sich nicht wenigstens von ihm verabschieden, ehe sie nach Wernershöh fuhr? Kurzentschlossen suchte sie den Raum auf, in dem er mit ein paar Kommilitonen arbeitete. Er schaute kaum auf, als sie die Tür schloß. »Hi, Markus!« rief sie. »Ich fahre morgen in die Ferien und möchte dir auf Wiedersehen sagen.« »Nett von dir!« erklärte Markus. »Wohin soll denn die Reise gehen? Vor drei Tagen wußtest du noch gar nichts davon. Ich tippe mal auf die Toskana. Oder ist es diesmal Irland mit seinen Geistererscheinungen?« »Ganz falsch. Ich fahre nach Wernershöh, das ist ein Gut im Weserbergland. Es gehört unserer Familie.« »Fährst du denn mit deinem Vater?« »Nicht direkt. Ich fahre voraus, er wird nachkommen. Ich bin schon riesig gespannt auf die Reise in die Vergangenheit.« »Na, dann wünsche ich dir eine schöne Urlaubszeit. Ich bleibe in Göttingen, weil ich arbeiten muß. Du kennst ja meine Adresse. Vielleicht schickst du mir mal eine Ansichtskarte?« »Versprochen«, sagte sie und verabschiedete sich schnell. Ihre Lippen zuckten, als sie den Raum verließ. Sollte eine gute
Freundschaft auf diese Weise zu Ende gehen? Markus war so kühl gewesen, so distanziert, als hätte er nur eine lästige Besucherin in ihr gesehen. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie draußen auf der Straße stand. Was hatte sie falsch gemacht? Was warf Markus ihr vor? Olivia ahnte es. Markus hatte mit dem sicheren Gefühl eines Freundes gespürt, daß es in ihrem Leben jetzt einen anderen Mann gab. Vielleicht war es auch mehr als eine Ahnung, die ihn quälte. Möglicherweise hatte der Klatsch in ihrer Clique ihm schon verraten, daß sie gestern abend die Party bei Angela vorzeitig verlassen hatte… zusammen mit einem Mann, den er nicht kannte. Natürlich hatte er sie nicht danach fragen können, als sie ihn im Institut besuchte. Es waren ja weitere Mitarbeiter in dem Raum gewesen. Als Olivia soweit gekommen war in ihren Gedanken, erwachte ihr Trotz. Sie war Markus schließlich keine Rechenschaft schuldig. Und wenn sie ehrlich war: Ja, sie hatte einen neuen Freund. Thomas war ein Mann, der sie verzaubert hatte. Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen, sie wollte ihn näher kennenlernen und darum die Beziehung fortsetzen. Den Besuch bei Markus hatte sie hingegen mehr aus Pflichtgefühl gemacht und weil sie zufällig noch etwas Zeit dafür übrig gehabt hatte. Wie konnte sie also einen herzlichen Empfang erwarten, wenn ihr eigenes Herz ganz unbeteiligt gewesen war bei diesem Treffen? Auf dem Heimweg machte sie noch ein paar Besorgungen. Sie mußte für den Landurlaub einkaufen. Wußte sie, was es in Wernershöh zu kaufen gab? Sie erstand darum noch einen neuen Badeanzug, kaufte mehrere Filme für ihre Kamera und auch einen Reiseführer für das Weserbergland.
*
Beim Mittagessen gab sich Professor Thorberg aufgeräumt. Sein Manuskript war fertig, das war für ihn immer ein glücklicher Tag. Aber noch wichtiger erschien ihm die Reise nach Wernershöh. Er hatte mit dem Verwalter Schröder telefoniert und diesem die Ankunft seiner Tochter angekündigt. »Ich habe gute Nachrichten für dich, Olivia!« begrüßte er sie. »Das Ehepaar Schröder erwartet dich morgen auf Gut Wernershöh. Frau Schröder richtet das Turmzimmer für dich her. Es ist der schönste Raum im Gutshaus. Deine Mutter hielt sich gern dort auf. Nicht weit entfernt davon liegt mein Arbeitszimmer und daneben eine winzige Kammer zum Schlafen. Du bist also nicht allein in dem großen Haus. Aber ich werde vermutlich erst eine Woche später kommen.« Wenn der Vater eine begeisterte Zustimmung erwartet hatte, so wurde er jetzt bitter enttäuscht. Olivia starrte ihn völlig entgeistert an. »Freust du dich denn nicht?« fragte er. »Ich weiß nicht recht«, stammelte sie. Ratlos betrachtete der Professor seine Tochter. Ihr Verhalten war merkwürdig. Ihre Augen waren schreckensweit geöffnet, Schweiß stand auf ihrer bleichen Stirn. Ihre Hände zitterten. »Ist dir nicht gut, Olivia?« fragte er besorgt. »Bist du krank?« Das junge Mädchen hörte nicht einmal die Stimme ihres Vaters. Ein kalter Luftzug war hereingeweht, obwohl Fenster und Türen geschlossen waren. Sie hörte Musik, irgendetwas Klassisches und dazwischen eine Stimme, die aus einem tiefen Gewölbe zu kommen schien. »Endlich kommst du zu mir, mein Kind. Wir werden auf die Reise gehen, auf eine Reise ohne Wiederkehr… und wir werden sehr, sehr glücklich miteinander sein.«
»Nein!« schrie Olivia entsetzt auf. »Nein, nein, nein…« Sie spürte, wie ihr Vater sich über sie beugte, und schlug verwirrt die Augen auf. »Vati«, stammelte sie. »Vati. Es war so… unheimlich.« »Ich bin doch bei dir, Olivia. Schau dich nur um, es ist gar nichts geschehen. Niemand ist hier, nur wir beide. In der Küche ist Frau Beier. Sie wird gleich die Suppe servieren.« »Jemand hat mich mit kalten Händen angefaßt, und eine Frau hat mit mir gesprochen. Sie will mich mitnehmen auf eine Reise, hat sie gesagt, eine Reise ohne Wiederkehr. Vati, was meint sie denn damit?« »Es ist ein Spuk, nichts weiter. Fürchte dich nicht, Olivia. Hast du auch Musik gehört?« »Ja, damit fing es an. Es war irgend etwas Altmodisches, ein Menuett oder so. Vati, hängt das etwa mir deinen Geisterforschungen zusammen?« »Du meinst, ob diese Erscheinungen kommen, weil ich darüber wissenschaftlich forsche? Nein, so ist es nicht. Es verhält sich eher umgekehrt. Weil es solche übersinnlichen Erfahrungen gibt, habe ich mich beruflich damit befaßt.« »Du bist diesem Geist also auch schon begegnet?« »Ja. Es kam gelegentlich vor.« »Dann tu doch etwas dagegen, Vati. Oder ist man ihm hilflos ausgeliefert?« »Nein, das ist man nicht. Es ist allerdings nicht ganz einfach, die richtigen Maßnahmen zu treffen. Oft erscheinen die Geister in einem bestimmten Haus oder bei ganz bestimmten Gelegenheiten. Manchmal sind sie auf einzelne Menschen beschränkt. Auch kommt es vor, daß sie nur in der Phantasie der betroffenen Menschen existieren. Es gibt vielerlei Möglichkeiten, und ebenso vielfältig sind die Abwehrmaßnahmen. Es kann also sein, daß man lange probieren muß, ehe man das Richtige tut.«
»Ich bin froh, daß ich nach Wernershöh fahren kann. Diese Wohnung hier in Göttingen ist mir richtig unheimlich geworden.« »Das kann ich gut verstehen. Wenn du nicht hierher zurückkommen willst, Olivia, dann läßt sich das einrichten. Du kannst direkt von Wernershöh nach Würzburg oder Erlangen fahren. Bis dahin bleibst du einfach in unserem Gutshaus. Da sowieso Semesterferien sind, versäumst du nicht einmal im Studium etwas.« Olivia schloß die Augen. Ihr Gesicht war noch immer kreideweiß. »Vati«, sagte sie leise, »ziehst du deswegen so oft um? Bist du auf der Flucht vor diesem Geist?« Professor Thorberg fühlte sich bei diesen Worten ertappt. Ausweichend antwortete er: »Ich ziehe um, weil meine Arbeit es erfordert, aus keinem anderen Grund. Ich glaube auch nicht, daß die Flucht etwas helfen würde. Geister kennen keine Grenzen, sie folgen dir überall hin, wenn sie dich verfolgen wollen.« »Und du meinst, in Wernershöh wäre es besser?« fragte Olivia ängstlich. Clemens Thorberg nickte und hoffte, seine Tochter zu überzeugen. Im Grunde glaubte er selbst nicht daran. In Wernershöh befand sich das Grab seiner Frau. Waren nicht solche Grabstätten die bevorzugten Orte für die Geister der Toten? Frau Beier kam mit der Suppenterrine herein. Sie aß meistens mit dem Professor und seiner Tochter am Tisch, so auch heute. »Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein Olivia?« fragte sie besorgt. »Sie sehen ja ganz elend aus.« »Ein kleiner Schwächeanfall«, erklärte der Professor. »Es wird ihr gleich wieder bessergehen. Ich bin froh, daß meine Tochter auf dem Lande Urlaub machen wird. Dann kann sie
sich vom Streß im Studium erholen, kann ausschlafen, reiten, faulenzen, und, und, und.« »Ich weiß nicht recht, Vati, ob ich dir und Frau Beier wirklich die ganze Arbeit beim Umzug überlassen sollte«, wandte Olivia ein. »Deine ganzen Bücher müssen sorgfältig eingepackt werden, ebenso die Mappen mit deinen Forschungsergebnissen. Da gibt es viel zu tun.« »Noch habe ich keine Wohnung in Würzburg oder Erlangen. Das kann sich gut und gern noch etwas verzögern. Aber mir fällt auf, daß du nur von meinen Büchern sprichst. Du hast schließlich auch allerlei Zeug, das verpackt werden muß.« »Ich glaube nicht, daß ich mit dir zusammen Göttingen verlassen will, Vati. Zieh du fort, wenn du es für richtig hältst, aber laß mich bitte hier.« »Hast du denn schon vergessen, was du vor fünf Minuten erlebt hast? War dir unsere Wohnung hier nicht selbst unheimlich geworden?« Die Suppe war inzwischen kalt geworden. Kopfschüttelnd räumte Frau Beier die Teller ab und brachte sie in die Küche. Während sie dort den Kartoffelauflauf aus dem Ofen nahm, antwortete Olivia ihrem Vater: »Ich glaube, daß dieser Geist dich meint und nicht mich, Vati. Bisher hat er doch immer nur dich verfolgt, und darum sollten wir uns trennen. Dann trifft er jeweils nur einen von uns. Gut, ich fahre erst einmal nach Wernershöh. Ich hoffe, daß du bald nachkommen kannst. Danach kehre ich nach Göttingen zurück. Ich bleibe in dieser Wohnung, bis deine Kündigung wirksam geworden ist. Anschließend findet sich gewiß eine Wohngemeinschaft, die mich aufnimmt.« Jedes ihrer Worte schmerzte den Professor. Er hörte nur eines heraus: Daß sich Olivia von ihm trennen wollte. Auch glaubte er nicht daran, daß der Geist ungefährlicher sei, wenn sie nicht mehr zusammen lebten. Das Gegenteil schien ihm eher richtig
zu sein. Solange Vater und Tochter zusammenlebten, würde sich der Zorn seiner Frau zunächst auf ihn richten und die Tochter verschonen. Aber es war unmöglich, sich mit Olivia darüber noch länger zu unterhalten, denn gerade betrat Frau Beier mit einem wundervoll duftenden Kartoffelgratin das Speisezimmer. So sagte er nur: »Fahr erst einmal nach Wernershöh, Olivia. Alles weitere wird sich im Verlauf der Ferien schon finden. Und über die Packerei beim Umzug mach dir nur keine Sorgen. Das schaffen wir auch allein. Nicht wahr, Frau Beier?« »Natürlich, Herr Professor. Es ist schließlich nicht der erste Umzug, den wir gemeinsam bewältigt haben.«
*
Thomas Brandner war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Er hatte zahlreiche Krankenhäuser und Fachärzte in den Städten am Westrand des Harzes besucht. Als er gegen Abend nach Göttingen zurückkehren wollte, hatte ihn eine völlig unnötige Panne aufgehalten. Er war wütend, hatte er sich doch den ganzen Tag lang auf ein Wiedersehen mit Olivia gefreut. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihn anrufen würde. Und nun wurde er für zwei Stunden aufgehalten. In Duderstadt suchte er ein Restaurant auf und aß eine Kleinigkeit als Vespermahlzeit, während ein Notdienst sich um sein Auto kümmerte. Vom Wirt ließ er sich das Telefonbuch von Göttingen bringen. Aber dann fiel ihm ein, daß er ja nicht einmal Olivias Familiennamen kannte. Auf Angelas Party wurden alle Gäste mit Vornamen angesprochen und hatten sich selbstverständlich auch geduzt. Doch für eine Suche im Telefonbuch reichte das natürlich nicht. In seiner Verzweiflung
rief er bei Angela an, die ihm sicher Auskunft geben konnte. Aber dort meldete sich niemand. Ein Anruf in der Pension Walding half ihm auch nicht weiter. »Nein«, bedauerte die Dame an der Rezeption. »Es hat niemand für Sie angerufen, Herr Brandner.« Daß eine junge Dame am Vormittag nach ihm gefragt hatte, wußte sie nicht, denn die Empfangsdamen wechselten sich regelmäßig am frühen Nachmittag ab. Thomas Brandner mußte sich damit zufriedengeben. Er war noch neun Tage in Göttingen und hatte also Zeit genug, die Verbindung zu einem zauberhaften jungen Mädchen wieder aufzunehmen. Er gestand sich ein, daß er sich sehr zu ihr hingezogen fühlte. Auch Olivia war inzwischen nicht untätig geblieben. Sie hatte am Nachmittag ein paar Karten an Freundinnen und Freunde geschrieben, um ihnen ihre Ferienanschrift mitzuteilen. »Besuch willkommen!« hatte sie allen geschrieben. Diese Karten dienten ihr jetzt als Vorwand, die Wohnung zu verlassen. »Gehst du noch mal fort, Olivia?« rief ihr der Vater denn auch nach. Sie hatte es erwartet. »Ich habe noch ein paar Karten geschrieben. Die will ich zur Post bringen, Vati.« Damit huschte sie zur Wohnungstür hinaus. Am Postamt stürzte sie sich sogleich auf die erste freie Telefonzelle und wählte die Nummer der Pension Walding. »Verbinden Sie mich doch bitte mit Herrn Brandner«, sagte sie atemlos. »Herr Brandner ist nicht im Haus«, erfolgte die kühle Antwort. »Aber es ist wichtig!« rief sie verzweifelt. »Tut mir leid. Auch wenn es wichtig ist, er ist nicht im Haus. Er hat vor etwa 10 Minuten aus Duderstadt angerufen und hat
gefragt, ob ein Anruf für ihn vorläge. Er hatte eine Autopanne, darum konnte er nicht rechtzeitig wieder in Göttingen sein. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, dann kann er zurückrufen, sobald er hier eintrifft.« Ihre Telefonnummer? Nur das nicht. Dann würde ihr Vater als erster das Gespräch annehmen und sie ausfragen, wer denn so spät noch mit ihr telefonieren wollte. Oh, wie sie das alles haßte: Nur mit einem kleinen Schwindel konnte sie das Haus verlassen, um ungestört zu telefonieren. Jetzt aber konnte sie nicht einmal ihre Telefonnummer zurücklassen. Da hatte sie einen aufregenden Mann kennengelernt und mußte die Verbindung abreißen lassen… Aber nicht lange mehr, das schwor sie sich. Als sie die Telefonzelle verlassen wollte, hatte sie das gleiche unheimliche Erlebnis wie am Mittagstisch. Die sanfte Mozartmusik erklang, aber sie hatte nichts Freundliches für Olivias Ohren. Sie wollte fliehen, davonstürzen, doch es war, als liefe sie gegen ein Hindernis an. Irgend jemand stellte sich ihr in den Weg und versperrte ihr die Tür. Doch dieser Jemand war nicht zu sehen. Olivia konnte ihn nur fühlen, er war kalt und grausig. Kalte Hände legten sich um ihren Hals. Sie wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Und dann kam die Stimme, diese Stimme wie aus der Tiefe eines Gewölbes: »Gib dir keine Mühe, mein Kind. Du entkommst mir nicht. Ich werde bei dir sein, sooft ich es will. Ich werde keine Ruhe geben, ehe wir nicht gemeinsam auf die große Reise gehen.« Für einen Augenblick lockerte sich der Würgegriff. »Was habe ich dir denn getan?« keuchte Olivia. Ein schauerliches Lachen ertönte. »Ich mag den Mann nicht, hinter dem du so beharrlich herläufst. Ich werde dafür sorgen, daß du Thomas nicht
bekommst. Er ist ein Mörder. Hörst du? Mein Mörder. Aber keine Angst! Mit mir wirst du glücklicher sein als mit ihm.« In diesem Augenblick klopfte ein ungeduldiger Postkunde an die Tür der Telefonzelle. »Sie sprechen ja gar nicht mehr«, rief er ärgerlich. »Dann geben sie doch endlich die Zelle frei. Ich muß den Notarzt rufen.« Ein heftiger Windstoß ging durch die enge Kabine. Die Tür sprang auf, und Olivia taumelte heraus. Wie sie nach Haus kam an diesem Abend, hätte sie später nicht mehr zu sagen gewußt. Sie wußte nur eines, daß sie Göttingen so schnell wie möglich verlassen wollte.
*
Schon am nächsten Morgen brach sie auf. In aller Eile hatte sie zwei Reisetaschen gepackt, wobei sie planlos alles hineinstopfte, was ihr unter die Hände fiel. Sie umarmte ihren Vater und Frau Beier zum Abschied und war spürbar erleichtert, als sie in Vaters Auto die Weender Landstraße entlangrollte. Sie traf schon vor dem Mittagessen in Wernershöhe ein. Das Gut lag abseits des gleichnamigen Dorfes in einer reizvollen Landschaft. Auf einer Anhöhe stoppte Olivia den Wagen, um den Anblick zu genießen. Das Gutshaus war ein langgestreckter Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert. An einer Ecke stand ein runder Turm, der so gar nicht zu dem Hauptgebäude zu passen schien. Offenbar stammte er aus früheren Jahrhunderten. Gutshaus und Turm waren aus grauen Feldsteinen errichtet. Eine Freitreppe führte zum Eingangsportal. Rings um das Gelände stand eine lange Mauer,
für die man die gleichen grauen Feldsteine verwendet hatte. Wahrscheinlich existierte hier irgendwo in der Nähe ein Steinbruch, aus dem sich die Herren von Wernershöh für ihre Bauten bedienten. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten mit schönen alten Bäumen. Entlang der Mauer gab es ein paar Wirtschaftsgebäude, einige Wohnhäuser und eine kleine Kapelle mit einem winzigen Glockenturm. Olivia schauderte es. Wahrscheinlich gab es rings um die Kapelle einen Friedhof, auf dem die Familienangehörigen der Gutsherren beigesetzt waren. Auch ihre Mutter? Sollte sie heute noch dorthin gehen? Lieber nicht. Sie würde noch mehrere Wochen hier sein, da mußte sie den schwersten Gang nicht gleich in den ersten Stunden antreten. Im Gutshaus wurde sie freundlich von Frau Schröder empfangen, die ihr lange die Hand schüttelte. »Herzlich willkommen im Haus Ihrer Vorfahren, Fräulein Thorberg!« sagte sie. »Ich freue mich, daß Sie endlich einmal den Weg zu uns gefunden haben. Wir werden alles tun, damit Sie sich hier wohlfühlen werden.« »Danke, Frau Schröder. Aber sagen Sie bitte nur Olivia zu mir. So redet mich Vaters Haushälterin in Göttingen auch an.« »Gut. Also Olivia. Ich kenne Sie noch als kleines Baby. Sie haben ja Ihr erstes Lebensalter hier im Gutshaus verbracht – gleich nach dem Unfall Ihrer Mutter.« Ein Schatten fiel über das freundliche Gesicht der Verwaltersfrau, sie sprach nicht weiter. »Mein Vater sagte, Sie würden das Turmzimmer für mich herrichten, Frau Schröder. Können Sie es mir zeigen? Dann kann ich gleich meine Reisetaschen auspacken.« »Ja, gern. Folgen Sie mir, ich gehe voraus. Der Weg ist ein bißchen verwinkelt.« Seltsam. Olivia hätte beim Anblick des Hauses geschworen, daß es hier nur lange gerade Flure und ebensolche Treppen
gäbe. Aber das erwies sich als ein Irrtum. Es gab Ecken und Winkel und unübersichtliche Treppen. In den Turm führte sogar eine Wendeltreppe. Olivia kam sich vor wie in einem Schneckenhaus. Nach einigen Treppenwindungen waren sie oben angelangt. »Hier ist Ihr Zimmer!« erklärte Frau Schröder und öffnete eine Tür, die vernehmlich knarrte. »Oh!« rief Olivia erstaunt aus. »Das ist ja phantastisch!« »Nicht wahr?« sagte Frau Schröder geschmeichelt, so als wäre sie für die herrliche Aussicht und das ungewöhnliche Zimmer verantwortlich. »Ist oben noch ein weiterer Raum?« fragte Olivia und deutete mit dem Finger in die Höhe. Frau Schröder schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Die Treppe endet hier. Wenn man weiter aufsteigen will, muß man eine Leiter anlegen. Oben befindet sich nur noch der schräge Raum unter dem Turmdach.« »Ich glaube, ich werde einmal aufsteigen«, sagte Olivia. »Ich möchte alles kennenlernen.« »Vielleicht sollten Sie einen Begleiter mit nach oben nehmen, Olivia, und einen kräftigen Stock. Man sagt, daß es dort nicht ganz geheuer ist. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Auf jeden Fall gibt es viele Fledermäuse im Gebälk.« Das Turmzimmer entzückte Olivia immer mehr, je länger sie es betrachtete. Es füllte ein Stockwerk des runden Turms nahezu aus, war also fast rund. Den Rest nahmen der Treppenaufgang und ein kleines Badezimmer ein. »Ein rundes Zimmer habe ich noch nie gehabt«, freute sich Olivia. »So etwas ist ja wirklich einmalig.« Es gab ringsum Fenster, die in Nischen tief in die dicke Außenwand eingelassen waren. An den kurzen Wänden zwischen den Fenstern standen passende, rustikale Möbel. Hier ein kleiner Schreibtisch, dort eine Kommode und etwas weiter
ein Sessel. Jedes Fenster bot einen anderen Ausblick auf sanfte Hügel, die von grünem Wald bedeckt waren, und auf goldgelbe Kornfelder. Es waren friedliche Bilder, die Olivia entzückten und beruhigten. Das Bett mit der bunten Decke stand an der einzigen geraden Wand des Raumes, an der sich die Türen zum Treppenhaus und zum Bad befanden. »Mein Vater wird auch bald hierherkommen«, meinte Olivia. »Er sprach davon, daß er ganz in meiner Nähe schlafen würde. Aber ich sehe weit und breit kein weiteres Zimmer.« »Die beiden Zimmer für Herrn Professor liegen eine Etage tiefer, sie sind aber nicht im Turm, sondern im Hauptgebäude. Man erreicht sie durch eine verborgene Tür von der Wendeltreppe aus. Ich zeige sie Ihnen gleich, wenn wir wieder Hintergehen. Im Augenblick schlafen wir dort, mein Mann und ich. Normalerweise wohnen wir im Verwalterhaus, drüben an der Gartenmauer. Dann ist das Gutshaus unbewohnt. Aber wir dachten… wir meinten…« »Was dachten Sie?« fragte Olivia etwas irritiert. »Nun, wir fanden es ein wenig unheimlich hier für ein junges Mädchen allein in dem großen Haus. Da wollten wir in Ihrer Nähe bleiben, solange Sie hier sind. Wenn Ihr Herr Vater kommt, dann gehen wir natürlich wieder rüber in das Verwalterhaus.« Olivia fühlte sich sehr erleichtert über Frau Schröders Vorschlag. Ihr war der Gedanke, hier allein schlafen zu müssen, wirklich sehr unbehaglich gewesen. »Ich mache Ihnen so viele Umstände«, sagte sie. »Aber natürlich bin ich Ihnen sehr dankbar für diese Lösung.« »Wie wünschen Sie das Essen?« fuhr Frau Schröder fort. »Der Herr Professor bat mich, Ihnen volle Verpflegung zu geben. Möchten Sie mit uns essen oder lieber allein im Speisesaal? Aber wir essen unten in der Küche.«
»Wenn ich Ihnen nicht lästig bin, möchte ich gern mit Ihnen in der Küche essen«, meinte Olivia. »Um Himmels willen, nur kein Speisesaal für mich allein. Ich glaube, da bleibt mir jeder Bissen im Halse stecken.« »Gut, dann wäre ja fürs erste alles klar. Wenn Sie Fragen haben… wir stehen immer zu Ihrer Verfügung. Heute nachmittag wird mein Mann Sie durch das Haus und die Wirtschaftsgebäude führen. Morgen können dann die Ländereien und der Forst besichtigt werden. Es ist ein schöner Besitz, und es ist schade, daß die Familie so wenig Interesse daran hat.« »Ich glaube, mein Vater hat hier sehr viel Schweres erlebt«, sagte Olivia vorsichtig. »Auch muß er in einer Universitätsstadt leben wegen seiner Forschungen.« »Als Ihre Mutter noch lebte, war das anders. Sie liebte das Landleben, und sie liebte die Pferde. Sie war eine wunderschöne junge Frau. Wissen Sie, daß Sie ihr sehr ähnlich sehen, Olivia?« »Mein Vater sagt das auch. Aber ich glaube, daß ich ihn gerade dadurch immer wieder schmerzlich an seinen Verlust erinnere. Sie müssen mir viel von ihr erzählen, Frau Schröder. Mein Vater spricht so wenig von ihr. Er vergräbt sich ganz in seine Arbeit.« »Es war alles so traurig. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich an das Unglück denke. Wir werden viel zu erzählen haben. Aber jetzt sollten wir an das Nächstliegende denken. Wir essen in einer halben Stunde, unten in der Küche.« Frau Schröder ging und ließ Olivia allein. Jetzt konnte sie sich ihr Turmzimmer etwas genauer anschauen. An den Wänden hingen viele Fotos, offenbar von ihren Eltern. Wie jung ihr Vater doch aussah! So vergnügt und lebensfroh! Ihre Mutter war ihr unglaublich ähnlich. Nur ihre Kleidung und die ungewohnte Frisur verrieten Olivia, daß die Person auf den
Fotos wirklich ihre Mutter war. Ein Bild gefiel ihr ganz besonders. Es zeigte Esther Thorberg mit glückstrahlendem Gesicht, wie sie gerade ihr neugeborenes Baby in die Höhe hielt. Mit Rührung betrachtete Olivia das Bild. Nur wenige Wochen später war ihre Mutter gestorben. Das Glück hatte getrogen, die Familie war zerstört. Neugierig öffnete sie eine Schublade der schmalen Kommode. Offensichtlich war hier nichts verändert worden. Ein Bündel Briefe lag darin, die Adressen zeigten ihr eine bekannte Handschrift. Die Briefe stammten von ihrem Vater. Ungelesen legte sie sie beiseite. Sie würde sie ihm geben, sobald er nach Wernershöh kam. Dann mochte er selbst entscheiden, ob er sie aufbewahren oder vernichten wollte. Ein weiterer Brief interessierte sie mehr. Als Absender war Thomas Brandner angegeben. War das eine zufällige Namensgleichheit? Oder gab es eine Verbindung von Thomas zu ihrer Mutter? Aber Esther Thorberg war seit zweiundzwanzig Jahren tot. Wie alt war Thomas damals gewesen? Sie erinnerte sich an die Worte, die sie gestern abend in einer Telefonzelle gehört hatte: »Er ist ein Mörder, MEIN Mörder.« Der Briefumschlag war geöffnet. Mit zitternden Händen entnahm ihm Olivia das Schreiben. Es enthielt nur wenige Zeilen, die ihr nichts über Thomas und ihre Mutter verrieten: Liebste Esther! Meine Wege führen mich einmal wieder ins Weserbergland. Ich darf Dich doch besuchen? Am Donnerstag der nächsten Woche treffe ich auf Wernershöh ein. Ich freue mich schon auf den guten Erdbeerkuchen von Frau Schröder. Seit kurzem habe ich einen Führerschein. Bis dann! Dein Thomas. Olivia schaute auf das Datum. Der Brief war eine Woche vor dem Tod ihrer Mutter geschrieben worden. Ihr war, als griffe
wieder die kalte Hand nach ihr. In diesem Augenblick ertönte von neuem die Mozartmelodie. Entsetzt schleuderte Olivia den Brief zu Boden. Sie hielt sich die Ohren zu und stürzte aus dem Zimmer. Wie gehetzt lief sie die Wendeltreppe hinab und hielt erst inne, als sie das Erdgeschoß erreichte. Ein höhnisches Lachen verfolgte sie. »Wie kann man nur so kopflos handeln«, sagte die Stimme, die sie seit gestern so sehr fürchtete. »Nicht wahr, jetzt weißt du nicht mehr weiter. Die Küche ist im Souterrain. Ich kenne mich hier aus und werde dir alles zeigen. Bald wirst du hier heimisch sein, wie es sich für die Tochter des Hauses gehört.« »Wolltest du nicht mit mir auf eine weite Reise gehen?« fragte Olivia erstaunt. »Und jetzt willst du statt dessen alles tun, damit ich hier heimisch werde?« »Du verstehst es so, wie die Erdenwürmer es verstehen«, kam es verächtlich zurück. »Wir werden reisen, wir lassen alles zurück, aber wir bleiben dennoch hier, unerkannt und ungesehen. Du wirst so glücklich sein, wie nie zuvor.« »Das lockt mich nicht«, widersprach Olivia. »Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich mag nicht, wenn du uns dauernd verfolgst.« Eine kalte Hand umfaßte Olivias Hals. Sie wollte sich wehren, aber sie griff ins Leere. Hohngelächter erklang. »Und ich mag es nicht, wenn du in meinen Briefen herumschnüffelst«, betonte die Stimme. Schritte waren zu hören. Auf dem Steinboden hallten sie durchs Haus. Augenblicklich war die Geisterstimme verstummt. Ein Mann in Reitstiefeln war erschienen. »Ich nehme an, Sie sind Fräulein Thorberg«, sagte er erfreut. »Ich bin der Verwalter, Emil Schröder.« »Ja, ich bin Olivia Thorberg. Sie haben mich soeben gerettet, Herr Schröder. Ich wollte die Küche aufsuchen und habe mich verlaufen. Bitte, helfen Sie mir doch weiter.«
Lächelnd ging er voran. Über eine winklige Treppe erreichten sie die Küche. Dort war es hell und warm, es duftete angenehm nach einer guten Suppe. Frau Schröder hatte den Tisch bereits in einer behaglichen Eßecke gedeckt. Olivia fühlte sich plötzlich sicher und geborgen. »Das ist die kleine Olivia«, sagte Frau Schröder zu ihrem Mann und wandte sich dann an Olivia: »Ich habe Sie damals ein Jahr lang aufgezogen. Sie waren mir sehr ans Herz gewachsen. Es fiel mir recht schwer, als der Professor damals mitsamt seiner Tochter fortzog.« »Inzwischen ist sie ja groß geworden«, schmunzelte der Verwalter. »Ich glaube, du solltest sie in diesen Ferienwochen gut verpflegen, Gertrud. Sie ist viel zu mager und zu blaß.« »Ich will mir Mühe geben«, versprach seine Frau. »Wenn das Essen immer so gut ist, werde ich in einigen Wochen kugelrund sein«, lachte Olivia. »Diese Suppe schmeckt wirklich ausgezeichnet.« »Wie gefällt Ihnen Wernershöh?« fragte Emil Schröder das junge Mädchen. »Was ich bislang gesehen habe, war wunderschön. Ich bin schon ganz gespannt, wie es weitergeht. Sie werden mich doch führen, Herr Schröder, nicht wahr?« »Womit sollen wir denn anfangen?« fragte er. »Vielleicht mit dem Haus und der unmittelbaren Umgebung«, schlug Olivia vor. »Danach können wir die Kreise weiter ziehen. Natürlich will ich dabei auf Ihre Zeit Rücksicht nehmen. Im Sommer ist Erntezeit. Ich kann mir vorstellen, daß Sie jetzt Wichtigeres zu tun haben, als den Fremdenführer zu spielen. Ich gehe auch gern allein, wenn ich erst ein wenig Bescheid weiß. Und schließlich kommt irgendwann auch mein Vater, der mir alles zeigen will.«
»Keine Sorge«, schmunzelte Herr Schröder. »Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Ihnen Ihr Vaterhaus und seine Umgebung zu besichtigen.«
*
Am frühen Nachmittag gab es Kaffee und Erdbeerkuchen, der köstlich war. Aber dennoch schmeckte er Olivia nicht. Sie dachte an den Brief, den sie im Turmzimmer gelesen hatte. Ob es wohl möglich war, daß man einen solchen Kuchen hier schon vor langen Jahren zu backen pflegte und ihn Thomas Brandner serviert hatte? Und wieso kannte Thomas ihre Mutter? »Schmeckt es Ihnen nicht, Olivia?« fragte Frau Schröder enttäuscht. »Doch, doch«, entgegnete das junge Mädchen mit schlechtem Gewissen. »Der Kuchen ist ganz ausgezeichnet. Aber ich bin noch nicht wieder hungrig. Das Mittagessen war so reichlich.« Anschließend ging sie mit Herrn Schröder durch das Haus. Er kannte sich hier gut aus. Zu allen Ahnenbildern wußte er eine kleine Geschichte, auch die Herkunft von einzelnen Möbeln, von Bildern und Teppichen kannte er. Die Räume wirkten nicht sehr wohnlich, denn die Vorhänge an den Fenstern ließen wenig Sonnenlicht herein. Auf den Polstermöbeln lagen weiße Leinenbezüge, und die Teppiche waren mit Läufern geschützt. »Wahrscheinlich gefällt Ihnen das nicht«, meinte Herr Schröder. »Aber solange das Haus nicht bewohnt wird, müssen wir die wertvolle Einrichtung schützen. Suchen Sie sich ein paar Zimmer aus, die wir Ihnen dann zum Gebrauch herrichten.«
»Das wird nicht nötig sein«, meinte Olivia. »Ich überlasse lieber meinem Vater die Auswahl. Mir genügen mein Turmzimmer und die Wohnküche.« Sie kamen in das Musikzimmer, in dem ein herrlicher Flügel stand. Olivia öffnete ihn und schlug ein paar Akkorde an. Das Instrument war schrecklich verstimmt. Doch seltsam, ohne daß sie es wollte, formten sich die Töne zu einer Melodie. Es war eine bekannte Melodie, die sie schon mehrmals in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Ach«, sagte Herr Schröder. »Sie spielen auch?« »Als Kind hatte ich Klavierstunden. Später habe ich es dann aufgegeben.« »Aber das war doch die Melodie, die die gnädige Frau, ich meine, Frau Thorberg…« »Meinen Sie meine Mutter?« »Ja. Sie hat viel am Flügel gesessen. Diese Melodie habe ich oft hier gehört. Aber das können Sie ja gar nicht wissen. Als Ihre Muter starb, waren Sie erst drei Monate alt.« »Ich habe die Melodie in den letzten Tagen irgendwo gehört und mich eben daran erinnert«, erklärte Olivia dem Verwalter. »Daß es eine Lieblingsmelodie meiner Mutter war, muß ganz einfach ein Zufall sein.« Sie wußte, daß es kein Zufall war. Irgendeine Macht hatte ihre Finger bewegt, so daß sie plötzlich eine Melodie spielen konnten, zu der ihre musikalischen Fähigkeiten niemals ausgereicht hätten. Zum Glück gab sich Herr Schröder mit ihrer Erklärung zufrieden. Oder etwa doch nicht? Hatte er eine Ahnung von ihrem Erlebnis? Er sagte nämlich: »Hier im Musikzimmer soll es nicht ganz geheuer sein. Die Putzfrauen weigern sich, den Raum zu betreten. Manchmal sollen die Tasten des Flügels zu spielen anfangen, ohne daß ein Mensch sie berührt. Sie sagen, daß es der Geist der armen Frau Thorberg ist.«
»Und Sie, Herr Schröder, glauben Sie auch an diesen Geist?« Verlegen kratzte der Mann sich hinter den Ohren. »Ich erzähle Ihnen nur, was die Leute sagen. Ich glaube natürlich nicht an Spuk. Ich habe auch noch nie erlebt, daß das Klavier von allein spielt. Nur eben hörte ich die bekannte Melodie. Aber da waren Sie ja die Spielerin und kein Geist.« »Ich möchte in den Garten gehen, Herr Schröder«, bat Olivia ihren Begleiter nun. »Die Luft hier im Haus ist doch ziemlich drückend.« Draußen im Garten war der Verwalter ganz in seinem Element. Er erklärte seinem Gast die verschiedenen Nutzpflanzen und ihre Anbaumethoden. »Wir bauen das Gemüse ja nur für den eigenen Bedarf an«, sagte er bedauernd. »Wenn Sie sich entschließen würden, wieder nach Wernershöh zu ziehen, dann müßten wir die Anbaufläche allerdings verdoppeln. Bei einer Erweiterung der Flächen könnten wir sogar die Märkte in den umliegenden Städten mit Frischgemüse beliefern. Biologisch angebautes Gemüse, wenige Stunden vor dem Verkauf geerntet, das wäre doch ein Schlager!« »Sie haben neue Ideen, das finde ich gut«, lobte Olivia den Verwalter. »Sprechen sie doch mit meinem Vater darüber. Aber jetzt würde ich gern noch die kleine Kapelle sehen.« Es war genau so, wie sie es vermutet hatte. Der Friedhof mit dem Erbbegräbnis der Thorbergs lag unmittelbar neben der Kapelle. Es war ein friedliches Plätzchen mit schattigen Bäumen und blühenden Büschen. »Wissen Sie, wo sich das Grab meiner Mutter befindet?« fragte Olivia beklommen. »Aber natürlich weiß ich das. Es ist das letzte in der Reihe. Meine Frau hat es mit rosa Rosen bepflanzt. Der Herr Professor wollte es so.«
Schweigend trat Olivia an eine lange Reihe von Gräbern heran. Sie alle hatten den gleichen schwarzen Grabstein aus geschliffenem Granit. Nur die Vornamen und Daten unterschieden sich voneinander. Bedeckt waren alle Gräber mit dunklem Efeu. Doch das letzte war anders. In verschwenderischer Fülle blühten hier zartrosa Rosen, sie rankten am Grabstein empor und verdeckten ihn fast. Olivia trat heran und schob einen Zweig beiseite. Ein einziges Wort prangte hier in goldenen Lettern: ESTHER. Weinend wandte sie sich ab. »Wir haben sie alle sehr geliebt«, murmelte Herr Schröder. »Wenn ich sie ansehe, meine ich, Frau Thorberg vor mir zu haben. Sie sehen ihr unglaublich ähnlich. Wir haben sehr um sie getrauert. Sie ist viel zu früh gestorben.« »Ich wüßte gern mehr von ihr«, sagte Olivia leise. »Mein Vater spricht so selten von ihr. Er hat den Verlust noch immer nicht verwunden. Sie war damals in meinem Alter, als sie starb.« »Ja, sie war jung und schön!« sagte Herr Schröder fast andächtig. »Und sie hatte einen Mann, der sie anbetete und eine süße kleine Tochter. Und dann dieses Ende! So etwas ist schwer zu verstehen.« »Hatte meine Mutter denn keine Eltern mehr? Sie können doch damals noch gar nicht alt gewesen sein.« »Wenn sie welche hatte, dann waren sie jedenfalls niemals hier in Wernershöh. Am besten fragen Sie Ihren Vater danach. Ich habe mich nie um die Familie meiner Arbeitgeber gekümmert.« Olivia spürte, daß sie von Herrn Schröder nicht mehr erfahren würde. Vielleicht konnte er sich ja wirklich an nichts weiter erinnern. Aber das war eigentlich wenig wahrscheinlich. Vermutlich wußte er zwar eine ganze Menge, hielt es aber für besser, den Unwissenden zu spielen.
Olivia mußte sich also gedulden, bis ihr Vater eingetroffen war. Oder gab es noch andere Quellen? »Das Gutshaus und das Gut liegen ein wenig außerhalb des Dorfes, nicht wahr? Gibt es Geschäfte im Dorf? Wie weit ist es entfernt?« fragte sie den Verwalter. »Zu Fuß gehen Sie ungefähr eine halbe Stunde. Es gibt einen hübschen Wiesenweg am Bach entlang. Mit dem Auto sind es natürlich nur ein paar Minuten. Manchmal fahre ich auch mit dem Kutschwagen ins Dorf und könnte Sie mitnehmen, wenn Ihnen das Freude macht.« »Ist das nicht sehr mühsam, das An- und Abspannen der Pferde? Da ist es ja fast mit dem Fahrrad bequemer.« »Da haben Sie schon recht. Aber die Pferde müssen bewegt werden. Sie haben sowieso viel zu viel Freiheit auf der Weide. Den ganzen Sommer über leben sie völlig zwanglos draußen. Hin und wieder brauchen sie ihre Aufgaben. Da fällt mir etwas ein: Reiten Sie, Olivia? Ich hätte ein gutes Damenpferd, eine sanfte Stute.« »Als Kind habe ich mal einen Versuch unternommen«, gab Olivia zu. »Aber es kam nicht viel dabei heraus. Da habe ich es bald aufgegeben.« »Aber ein Versuch könnte doch nicht schaden. Morgen früh um zehn Uhr hätte ich Zeit für eine Stunde Reitunterricht. Was meinen Sie dazu?« »Ich habe keinen Reitdreß«, wandte sie etwas lustlos ein. »Fürs erste genügen Jeans und Turnschuhe. Sie werden die Freuden auf dem Rücken der Pferde schnell entdecken!« Olivia war nicht ganz davon überzeugt. Aber da es Herrn Schröder offenbar Spaß machte, ein Ferienprogramm für sie zu entwerfen, widersprach sie ihm nicht. Beim Abendessen hatte auch Frau Schröder einige Vorschläge, wie Olivia am besten die nächsten Tage verbringen solle. Da war das Freibad in einem Nachbardorf,
das ihr empfohlen wurde. Außerdem stand die Beerenernte im Garten bevor. Sie würde diesmal besonders üppig ausfallen. Lag es da nicht nahe, daß Olivia sich am Pflücken beteiligte und hernach beim Marmeladekochen und Einmachen half? Dann würde sie am Ende der Ferien mit einem stattlichen Vorrat in die Stadt zurückkehren können. Sogar einen guten Obstwein konnte man keltern. Olivia sah sich schon im Kreise ihrer Kommilitonen bei einer Obstweinparty mit Marmeladenbrötchen, alles selbstgeerntet und selbst hergestellt. »Ich glaube, das wäre toll, Frau Schröder. Aber erst einmal brauche ich ein paar Tage der Entspannung und Ruhe. Ich mußte in letzter Zeit viel für die Uni arbeiten. Später werde ich auf Ihre Vorschläge zurückkommen!« Als sie abends in ihrem Bett lag und auf die Balkendecke des Turmzimmers starrte, überdachte sie die Ereignisse des heutigen Tages noch mal. Ihr Vater hatte nicht zuviel versprochen. Im Turm gab es das schönste Zimmer des ganzen Hauses. Nirgendwo sonst wurde die Vergangenheit wieder so lebendig wie hier. Aber… es war auch unheimlich im Turm. Olivia hatte das Gefühl, daß sich die Tür in jedem Augenblick wieder öffnen könnte und ihre Mutter hereintreten würde. Niemand konnte sie davon abhalten. Schloß und Riegel hinderten sie nicht zu tun, was sie tun wollte. War es möglich, daß Schröders niemals den Geist Esther Thorbergs erlebt hatten? Etwas seltsam hatte sich das Verwalterehepaar am heutigen Tage benommen. Gewiß, sie waren freundlich und hilfsbereit gewesen und hatten den Gast herzlich aufgenommen. Aber wozu dieses Bemühen, Olivia pausenlos zu beschäftigen? Hatten sie Angst davor, daß sie auf eigene Faust etwas unternahm? Fürchteten sie, daß Olivia etwas entdeckte, was ihr verborgen bleiben sollte?
*
Olivia fragte am nächsten Morgen die Hausfrau nach den Einkaufsmöglichkeiten im Dorf. »Wissen Sie, Frau Schröder, ich bin so schnell in Göttingen aufgebrochen und habe daher die Hälfte vergessen.« »Nun, da ist ein Supermarkt, aber es gibt auch ein kleines Geschäft. Im Supermarkt werden Sie alles finden. Sie brauchen natürlich nicht selbst ins Dorf zu gehen. Mein Mann fährt am Nachmittag mit der Kutsche dorthin. Soll er Ihnen etwas mitbringen?« »Nein, vielen Dank! Ich kaufe gern ein. Außerdem will ich das Warenangebot sehen und dann selbst entscheiden, was ich brauche und mitnehmen will.« »Wollen Sie nicht wenigstens die Hinfahrt mit meinem Mann machen? Eine Kutschfahrt ist doch ein besonderes Erlebnis für einen Stadtmenschen.« »Ein anderes Mal gern, Frau Schröder. Heute würde ich ihn nur aufhalten. Ich möchte etwas herumbummeln, und er hat einen festen Zeitplan.« Herr Schröder steckte seinen Kopf in die Küchentür herein. »Heute wird es leider nichts mit der Reitstunde, Olivia. Ich muß zum Tierarzt. Eine unserer besten Kühe bekommt ihr Kalb. Wollen Sie mitkommen? Der Tierarzt wohnt in der nächsten Kleinstadt. Dort können Sie besser einkaufen als im Dorf.« »Nein, ich habe andere Pläne. Ich schaue mir das Kälbchen an, wenn es da ist«, lehnte Olivia ab. »Und das Reiten verschieben wir eben auf die nächsten Tage.«
Hatten sich die Schröders bei diesen Worten einen Blick der Verständigung zugeworfen? Im nächsten Augenblick war ihnen nichts mehr anzumerken, aber Olivia fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl in ihrer Gegenwart. Welche Heimlichkeiten gab es eigentlich in diesem Hause? Als sie nach draußen ging, schalt sie sich selbst töricht. Es gab keinen Grund, dem Ehepaar zu mißtrauen. Sah sie denn schon überall Gespenster? Plötzlich änderte sie ihre Pläne und wußte selbst nicht warum. Sie ging nicht sofort in die alte Scheune, in der sie ihr Auto untergebracht hatte, sondern suchte die kleine Kapelle und den Friedhof auf. Doch vorher vergewisserte sie sich, daß niemand sie beobachtete und daß niemand ihr folgte. Heute morgen erschien ihr das Grab ihrer Mutter noch schöner als am Abend zuvor. Die Morgensonne überstrahlte die Rosen, sie glitzerte in den vielen Tautropfen, die noch im Gebüsch hingen. Olivia setzte sich auf eine kleine Bank, die an der Gartenmauer aufgestellt war, und hing ihren Gedanken nach. Nach einer Weile ertönte eine zarte Melodie, sie wurde lauter und lauter, bis es Olivia davon schwindelte. Die Mozartsonate… Mutters Melodie. Sie hatte heute nichts Beängstigendes für das junge Mädchen. Die heiteren Klänge fügten sich ein in das sommerliche Bild und gaben ihr das Gefühl einer nie erlebten Harmonie und Glückseligkeit. Sie glaubte zu schweben, die Erdenschwere hinter sich zu lassen und allen Fragen entrückt zu sein, als sie ein strahlend helles Licht in dem dunklen Gebüsch hinter den Grabsteinen sah. Sie schaute näher hin und erblickte eine Frau in weißen Gewändern, die ihr winkte und sie mit Gesten aufforderte, mit ihr zu kommen. »Mein Vater würde traurig sein, wenn ich ihn verlasse«, hörte sie sich sagen. Aber es war ihr, als gehorchte ihr die eigene Stimme nicht. War sie es überhaupt, die da sprach?
»Er wird die Trauer überwinden, wie er auch die Trauer um mich besiegt hat. Aber wir beide werden endlich zusammen glücklich sein. Ich habe nur drei kurze Monate das Glück gehabt, dich auf meinen Armen zu wiegen. Und du hattest nur drei Monate eine liebende Mutter an deiner Seite. Komm mit mir, mein Kind. Wir reisen gemeinsam in das Land der unendlichen Seligkeit. Die Reise ist weit, und eine Rückkehr wird es nicht geben.« »Nein!« sagte Olivia und hielt sich die Augen zu. »Ich will dich nicht sehen und auch nicht hören. Laß mich in Ruhe und störe meinen Vater nicht länger. Warum mußt du uns so quälen?« Diese wenigen Worte kosteten sie viel Kraft. Wieviel leichter wäre es doch gewesen, den Lockungen einfach nachzugeben! Wie gehetzt lief Olivia aus dem Garten. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als sie schon im Auto saß und auf der Landstraße nach dem Dorf Wernershöh fuhr. Ihre Ankunft auf dem Gut hatte sich dort wohl schon herumgesprochen. Überall auf der Straße bildeten sich kleine Gruppen, die sie beobachteten und die offenbar über sie sprachen. Es war das reinste Spießrutenlaufen. Zunächst suchte Olivia den Supermarkt auf, merkte aber bald, daß sie hier keine Auskünfte bekommen konnte. Die Verkäuferinnen und Kassiererinnen waren allesamt kaum älter als sie selbst, sie würden sicher nichts über die Ereignisse von damals wissen. Sie kaufte ein paar Kleinigkeiten und ging dann in einen alten Laden, der von einer weißhaarigen Frau geführt wurde. Die Alte erschrak heftig, als sie Olivia erblickte. Mit zittrigen Händen zündete sie eine Kerze an. Dabei murmelte sie irgendetwas Unverständliches. »Was tun Sie denn da?« fragte Olivia erstaunt. »Wozu brauchen Sie das Kerzenlicht? Es ist doch hellichter Tag?«
»Wer sind Sie? Was tun Sie hier in unserem Dorf? Was wollen Sie von mir?« »Ich bin Olivia Thorberg. Meinem Vater gehört das Gut Wernershöh, und ich bin Studentin. Ich mache zur Zeit etwas Urlaub auf dem Gut meines Vaters. Hier bin ich, weil ich etwas kaufen möchte und weil ich Sie auch etwas fragen will.« »Und ich dachte schon… ich glaubte…« »Was dachten Sie?« »Sie sahen ganz so aus wie die junge Frau des Gutsherrn. Man sagt… man spricht von ihr…« »Was spricht man? Sie meinen vermutlich meine Mutter, die tödlich verunglückte, als sie etwa so alt war wie ich jetzt.« »Die Leute sagen, daß es nicht geheuer ist oben auf dem Gut, seit sie tot ist. Sie erscheint manchmal als Geist.« »Und was erzählt man noch?« »Nichts«, sagte die Händlerin und schaute sich ängstlich um. »Mir ist sie noch nicht erschienen, ich schwöre es. Es ist natürlich alles dummes Gerede. Die Leute reden dies und das, man darf nicht alles glauben.« »Und doch haben Sie eine Kerze angesteckt, als ich den Laden betrat. Sie glauben also doch an den Spuk.« »Nein, ich glaube nicht daran. Aber es kann nichts schaden, eine Kerze anzuzünden. Vielleicht spukt es ja doch und dann hilft die Kerze.« Olivia kaufte ein paar Dinge ein und ging. Auch auf dem Postamt und in der Gastwirtschaft erfuhr sie nicht mehr. Sogar der alte Lehrer, der zur Zeit ihrer Geburt noch aktiv gewesen war und der jetzt im Ruhestand lebte, konnte oder wollte sich nicht an die Vorgänge von damals erinnern. Enttäuscht gab Olivia die Nachforschungen auf. Sie nahm sich vor, ihren Vater eingehend zu befragen, wenn er erst hier sein würde. Bis es soweit war, mußte sie sich mit Reitstunden,
mit Beerenpflücken und mit Marmeladekochen die Zeit vertreiben. Ihr Wagen stand vor der Gastwirtschaft. Als sie ihn aufschließen wollte, stoppte ein Auto direkt hinter ihr. Ein wohlbekanntes Gesicht lachte sie an, zwei Hände winkten ihr zu. »Thomas!« rief sie überrascht. »Wie kommst du denn hierher?« »Mit diesem Auto natürlich. Es ist Mittagszeit, ich habe mich im Gasthof angemeldet. Ich habe meine Zelte in Göttingen vorzeitig abgebrochen. Schließlich kann ich meine Apothekenbesuche auch von Wernershöh aus starten. Wollen wir hier gemeinsam essen?« »Eigentlich geht es nicht. Meine Gastgeber erwarten mich.« »Dann sag ihnen einfach ab. Sag ihnen, daß du einen guten Bekannten aus Göttingen getroffen hast.« Olivia tat es nur zu gern. Vor wenigen Tagen erst hatte sie Thomas in Göttingen verfehlt. Sie war sehr enttäuscht darüber gewesen und hatte schon geglaubt, die kurze Freundschaft sei schon wieder beendet, kaum daß sie begonnen hatte. Um so erfreuter war sie jetzt, daß ein Zufall sie wieder zusammengeführt hatte. Sie führte ein kurzes Telefongespräch mit dem Gut. Die Gutssekretärin war am Apparat. »Hier spricht Olivia Thorberg. Bitte, sagen Sie doch Frau Schröder, daß ich heute nicht zum Essen komme. Ich habe einen Bekannten aus Göttingen getroffen.« Eine Antwort wartete sie erst gar nicht ab. Freudestrahlend kehrte sie an den Tisch zurück, an dem Thomas bereits auf sie wartete. Sie saßen im Garten unter einem schattigen Kastanienbaum. »Wie hast du mich gefunden?« fragte sie ihn. »Oder hast du mich gar nicht gesucht?«
»Natürlich habe ich dich gesucht. Ich habe schließlich Angela befragt und sie nicht in Ruhe gelassen, bis sie mir endlich deinen Aufenthaltsort verraten hat.« »Das hatte ich ihr nicht erlaubt.« »Aber wenn doch mein Lebensglück davon abhängt? Ich hätte es ihr nie verziehen, wenn ich dich nicht wiedergefunden hätte. Ich habe mich übrigens gewundert, daß du in Wernershöh gelandet bist.« »Wieso? Was ist denn so ungewöhnlich an Wernershöh? Die Landschaft ist wunderschön, und außerdem stammt mein Vater aus diesem Dorf. Ihm gehört das Gut Wernershöh.« Thomas antwortete nicht. Er drehte sein Weinglas, so daß die Sonne helle Lichter darauf warf. Man merkte ihm an, daß ihre Antwort ihn verwirrte. Schließlich sagte er: »Ich war früher oft in Wernershöh. Meine Schwester war hier verheiratet.« »Ist sie weggezogen?« fragte Olivia. Ihr Herz pochte heftig. Sie hatte das Gefühl eines unmittelbar bevorstehenden Unheils. »Nein«, erklärte Thomas. »Sie ist… gestorben. Sie hieß Esther Thorberg.« Olivia wurde kreidebleich. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Sie war meine Mutter«, sagte sie leise. »Ich heiße Olivia Thorberg.« »Daher also die verblüffende Ähnlichkeit«, sagte Thomas nachdenklich. »Und darum auch das Gefühl, als wärst du mir oft begegnet. Esther war meine Schwester.« »Dann sind wir also verwandt, sogar sehr nah verwandt?« fragte Olivia ungläubig. Nie hätte sie an eine solche Möglichkeit gedacht. Auch Thomas schien betroffen zu sein. »Ich bin Esthers Bruder, Thomas Brandner. Ich bin also dein Onkel, Olivia, und du bist meine Nichte. Ich wünschte, wir wären nicht verwandt, dann…«
»Was wäre dann?« »Dann wäre alles einfacher. Ich hätte mich in dich verlieben dürfen. Vom ersten Augenblick, als ich dich sah, fühlte ich mich zu dir hingezogen. Ich weiß jetzt, warum du mir gleich so bekannt und vertraut warst. Du ähnelst deiner Mutter sehr.« »Hast du deswegen keinen Verdacht geschöpft?« fragte Olivia. »Nein, eigentlich nicht. Bei Angela haben wir es versäumt, uns mit dem Familiennamen vorzustellen. Unter Studenten redet man sich mit dem Vornamen an. Ich wußte zwar, daß ich eine Nichte Olivia habe, aber ich kannte sie nur als winziges Baby. Ich habe nicht bedacht, daß inzwischen viele Jahre vergangen sind und daß aus dem Säugling inzwischen eine schöne junge Frau geworden ist. Als ich dir meine Visitenkarte gab, hätte dir eigentlich auffallen müssen, daß ich Brandner heiße.« »Ich kannte nicht einmal den Mädchennamen meiner Mutter. Mein Vater hat mit mir nie über die Familie seiner Frau gesprochen. Er hat den Verlust nie verwunden. Darum ahnte ich auch nichts von der Existenz eines Onkels.« »Wenn es irgend möglich war, bin ich jedes Jahr einmal nach Wernershöh gekommen, um das Grab meiner Schwester zu besuchen, und das seit zweiundzwanzig Jahren«, berichtete Thomas. »Aber das tat ich nur, wenn ich ganz sicher war, meinem Schwager hier nicht zu begegnen.« »Solche Feindschaft gab es zwischen euch?« »Jeder hat dem anderen die Schuld an dem Unfall zugeschoben. Ich war damals ein junger Bursche von achtzehn Jahren. Ich hatte gerade den Führerschein gemacht und bedrängte meinen Schwager, mich einmal seinen Wagen fahren zu lassen. Esther hatte Angst, sie wollte es nicht zulassen. Aber Clemens redete ihr gut zu. So durfte ich schließlich doch ein paar Kilometer fahren. Ich saß am Steuer
und Clemens auf dem Beifahrersitz. Esther saß hinter mir, eine Babytragetasche daneben. Du lagst in dem Körbchen, gerade drei Monate alt. In einer scharfen Kurve blendete mich ein entgegenkommendes Auto. Hinter diesem Auto tauchte plötzlich ein Lastwagen auf, den ich nicht gesehen hatte. In der engen Kehre schwenkte der Wagen weit aus in unsere Fahrbahn. Es gab einen schlimmen Zusammenstoß. Unter unserer Kühlerhaube entstand ein Feuer, das auf das ganze Auto überzugreifen drohte. Clemens und ich waren sofort draußen. Er rettete das Körbchen mit dem Baby von der vorderen Seitentür aus. Dann versuchte er, Esther herauszuholen, die verzweifelt an das Fenster klopfte. Es gelang ihm jedoch nicht. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Vielleicht waren die Schlösser von der Hitze verklemmt. Er selbst hatte schwere Brandwunden an den Händen davongetragen. Ich saß weinend im Straßengraben und stand unter Schock. Es war mir unmöglich, irgend etwas zu tun. Als die Feuerwehr und der Unfallwagen kamen, war Esther schon tot. Sie ist im Rauch qualvoll erstickt und nicht verbrannt. Nun kennst du meine Geschichte.« Olivia hatte ihm mit wachsendem Entsetzen zugehört. »Das ist ja ganz schrecklich«, sagte sie leise. »Wie kann man denn nur mit solchen Erinnerungen leben?« »Ich glaube, wir haben alle sehr darunter gelitten. Jahrelang wurde ich von Alpträumen geplagt. Dazu kam ein Gerichtsverfahren. Wir wurden angeklagt wegen unterlassener Hilfe. Man sagte, daß deine Mutter zu retten gewesen wäre, wenn wir das rückwärtige Fenster eingeschlagen hätten, um frische Luft in den Wagen zu lassen. Dann hätte sie bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaften überlebt. Statt dessen hat dein Vater lange vergeblich versucht, das verklemmte Schloß zu öffnen. Dadurch ging wertvolle Zeit verloren. Mir warf man mangelnde Fahrpraxis vor. Ich wäre in der Situation zu schnell
gefahren und hätte nicht sachgerecht auf die Verkehrssituation reagiert.« »Und?« fragte Olivia. »Hat man euch verurteilt?« »Nein. Wir wurden nach einer nervenaufreibenden Verhandlung schließlich freigesprochen. Vor dem Staatsanwalt waren wir frei von Schuld. Aber wer befreit uns von den Gewissensbissen und den Selbstvorwürfen?« »Und wer gibt mir meine Kindheit und Jugend wieder?« fragte Olivia bitter. »Ich bin ohne Mutter aufgewachsen, ich habe nie das Glück einer richtigen Familie kennengelernt. Ich lebe mit einem Vater zusammen, der ständig auf der Flucht ist. Wie oft haben wir die Wohnung gewechselt! Dadurch wurde ich nirgendwo richtig heimisch. Meine Kinder- und Jugendfreundschaften waren nie von Dauer. Ich mußte mich immer von den Freundinnen trennen, die ich gerade gewonnen hatte.« »Daß ein Augenblick der Unachtsamkeit oder der mangelnden Erfahrung eines Jugendlichen solche furchtbaren Folgen haben mußte!« sagte Thomas traurig. »Wie oft habe ich gewünscht, ich könnte alles ungeschehen machen. Aber das ist leider unmöglich. Und was wird nun aus uns?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Olivia. »Wir sind Onkel und Nichte, die sich vermutlich niemals wiedersehen können, weil eine schreckliche Vergangenheit zwischen ihnen steht.« »Muß denn solch eine Feindschaft immer und ewig dauern?« fragte Thomas. »Ich empfinde keinen Haß«, widersprach Olivia. »Ich mochte dich von Anfang an, als ich dich kennenlernte. Da wußte ich aber noch nicht, daß es nur verwandtschaftliche Sympathien waren. Wie mein Vater über eine Versöhnung denkt, das weiß ich nicht. Meine Mutter allerdings…« »Was ist mit Esther?«
»Es klingt wahrscheinlich ganz unmöglich. Vielleicht hältst du mich sogar für verrückt. Sie ist mir in letzter Zeit mehrfach erschienen. Eigentlich glaube ich nicht an solchen Spuk, ich habe früher immer über Berichte dieser Art gelacht. Aber sie war wirklich da und hat mit mir gesprochen. Sie behauptete, daß du ihr Mörder wärest. Ich soll jede Beziehung zu dir vermeiden. Statt dessen will sie mich mitnehmen auf eine Reise ohne Wiederkehr, so sagte sie jedenfalls.« »Ein Mörder tötet mit voller Absicht. Ich hingegen war ein junger Bursche mit einem neuen Führerschein. Ich hatte keine Fahrpraxis und war weit entfernt davon, meine Angehörigen in Gefahr bringen zu wollen. Ich habe mich lange Jahre mit Selbstvorwürfen gequält. Wie hätte ich das Unglück nur vermeiden können? Sag, Olivia, hörst du auch Klaviermusik, eine Mozartsonate?« Olivia schaute Thomas entgeistert an. »Du auch, Thomas?« fragte sie. Er nickte nur. »Sie verfolgt uns!« klagte Olivia. »Ihr Unfalltod war schon schlimm genug. Er hat unsere Familie zerstört. Aber jetzt will sie uns auch noch die kleine Zufriedenheit nehmen, in die wir uns seitdem zurückgezogen haben. Wir sollen keine Ruhe finden, an keinem Ort und zu keiner Zeit. Und alles das, weil du…« »Hast du etwa auch in mir den Schuldigen gesehen?« »Nein. Wie auch? Ich wußte ja nicht einmal etwas von dem schrecklichen Unfall. Ich glaubte, daß meine Mutter gestorben sei, so hat es mein Vater mir immer erzählt. Die näheren Umstände habe ich jetzt erst erfahren. Und von einem Onkel hatte mein Vater auch nie gesprochen.« »Fühlst du dich wohl im Gutshaus?« fragte Thomas. Olivia schwieg. Sie wußte keine Antwort auf diese Frage. Sie war sehr freundlich aufgenommen worden, sie hatte ein
schönes Zimmer und wurde von Frau Schröder gut verpflegt. Aber sie hatte trotzdem das Gefühl, daß man ihre Anwesenheit dort nicht gern sah. Auch wurde sie vom Geist ihrer Mutter verfolgt, die sie auf unerklärliche Weise bedrohte. »Dein Schweigen sagt mir alles«, stellte Thomas fest. »Es ist dir unheimlich im Gutshaus Wernershöh, nicht wahr?« Olivia zögerte. Sollte sie Thomas von ihren Erlebnissen erzählen? Vielleicht lachte er sie aus, vielleicht hielt er sie für überspannt und nicht ganz zurechnungsfähig. Thomas Brandner beobachtete sie genau. Auf ihrem offenen Gesicht spiegelte sich ihr innerer Kampf. »Wenn ich hier bin, gehe ich niemals ins Gutshaus«, sagte er. »Ich möchte weder deinem Vater noch dem Verwalterehepaar begegnen. Ich komme nur, um das Grab meiner Schwester, deiner Mutter, zu besuchen. Ich habe dort seltsame Erlebnisse gehabt. Ein Wesen aus einer anderen Welt hat mir schwere Vorwürfe gemacht und hat mir mit seiner Rache gedroht.« »Und du glaubst, daß das der Geist deiner Schwester war?« fragte Olivia. »Wer sollte es sonst gewesen sein?« meinte Thomas achselzuckend. »Sie wußte Dinge aus unserer Familie, die nur Esther wissen kann. Sie kannte die Eigenarten unseres Vaters und die Lieblingssprüche unserer Großmutter. Dazu kommt ihre Vorliebe für eine Mozartsonate. Während ihrer Schwangerschaft hat sie jeden Tag stundenlang geübt. Sie sagte einmal, daß man sie bei ihrer Beerdigung spielen solle.« »Und?« fragte Olivia. »Hat man es getan?« »Nein. Esther hatte wohl vergessen, diesen Wunsch auch ihrem Mann mitzuteilen. Nein, so ist es nicht«, verbesserte sich Thomas. »Eigentlich müßte ich sagen, daß sie es versäumt hatte, mit Schröders darüber zu sprechen. Dein Vater war nämlich gar nicht fähig, sich um die Beerdigung zu kümmern. Er war noch wie erschlagen vom Tod seiner Frau und hat es
den Schröders überlassen, alles Nötige zu tun. Ich war übrigens nicht bei der Beisetzung meiner einzigen Schwester dabei. Man hat mich nicht vom Termin benachrichtigt, ich war dort unerwünscht. Seitdem fahre ich in jedem Sommer einmal nach Wernershöh, um Esthers Grab zu besuchen. Wenigstens daran hat man mich nicht gehindert. Gegen diese Besuche ist höchsten einer… Esthers Geist.« »Was hast du gegen Schröders?« fragte Olivia. »Wie kommst du darauf, daß ich etwas gegen sie hätte?« fragte er zurück. »Immer, wenn du von ihnen sprichst, wird dein Ton aggressiv«, erläuterte Olivia. »Sei ehrlich, du magst sie ja auch nicht. Sagtest du nicht, daß du es unheimlich im Gutshaus findest?« »Ja. Aber unheimlich ist es überall, wo Vater und ich uns aufhalten. Das muß nicht unbedingt an Schröders liegen. Sie haben mich sehr gut aufgenommen, ich habe das beste Zimmer im Haus, und Frau Schröder kocht noch besser als unsere Haushälterin in Göttingen. Herr Schröder zeigt mir alles, was ich in Wernershöh sehen will.« »Aber?« »Wenn ich das so genau wüßte. Es ist eben ein unbehagliches Gefühl. Mir gefällt es nicht, daß sie mir jeden meiner Schritte vorschreiben wollen. Ich habe das Auto meines Vaters hier und kann selbst überall hinfahren. Aber Frau Schröder will mich ständig zu einer Kutschfahrt mit ihrem Mann überreden. Der wiederum meint, ich sollte unbedingt bei ihm Reitstunden nehmen. Vor seinem ersten Unterricht hat mich heute eine Kuh bewahrt, die einen Tierarzt brauchte. Der Tierarzt wohnt in der nächsten Kleinstadt. Auch dorthin sollte ich mitfahren.« »Tu es nicht, Olivia. Setz dich in kein Auto, das Herr Schröder steuert, und auch nicht in seine Kutsche. Sei
wachsam und wenn du dein eigenes Auto benutzen willst, dann untersuche es gründlich, ehe du startest.« »Was willst du damit sagen, Thomas?« »Nur, daß du vorsichtig sein solltest. Ich traue den Schröders nicht über den Weg. Ehe wir damals die Unglücksfahrt unternommen haben, hat sich Emil Schröder mit dem Auto deines Vaters beschäftigt. Angeblich hat Bremsflüssigkeit gefehlt, die er auffüllen mußte. Die genaue Untersuchung des Wagens ergab dann, daß die Bremsschläuche aufgeschlitzt waren. Wahrscheinlich habe ich im entscheidenden Augenblick instinktiv gebremst, aber das half uns nichts, denn die Bremsen funktionierten nicht.« »Warum sollte Herr Schröder so etwas tun? Schließlich hat er hier doch eine gute Stellung, die er durch solch ein Verbrechen nur gefährden würde.« »Ach, Olivia. Die Menschen verhalten sich nicht immer klug. Weil sie immer noch mehr und noch mehr haben wollen, setzen sie ihre sichere Existenz aufs Spiel. Während das Strafverfahren gegen mich lief, habe ich mich in meiner Verzweiflung ein wenig um die Geschichte der Thorbergs gekümmert. Dein Vater war der einzige Erbe des Gutes. Sein einziger Verwandter war ein Vetter, der als schwarzes Schaf der Familie galt. Dieser hatte als Jugendlicher eine Liebschaft mit einer Hausangestellten. Aus dieser Beziehung stammte eine uneheliche Tochter.« »Was sollen diese alten Geschichten, Thomas. Ich kenne diese Leute nicht«, sagte Olivia kopfschüttelnd. »Du wirst es gleich erfahren. Die Hausangestellte mit dem ledigen Kind ist die Schwester von Herrn Schröder. Dieser hat mehrfach versucht, deinen Vater mit seiner Nichte bekanntzumachen. Clemens Thorberg sollte das junge Mädchen heiraten, um damit altes Unrecht wiedergutzumachen. Emil und Gertrud Schröder hatten keine
Kinder. Wenn ihre Nichte hier als Gutsherrin eingezogen wäre, dann war ihre Stellung lebenslang gesichert. Diese Pläne scheiterten allerdings, als dein Vater überraschend deine Mutter heiratete.« »Aber mit dieser Heirat haben sie sich doch wohl abgefunden. Weshalb sollten sie mich denn heute noch in Lebensgefahr bringen?« fragte Olivia verständnislos. »Sie sind äußerst hartnäckig bei der Verfolgung ihres Planes«, sagte Thomas. »Dein Vater ist heute Herr auf Wernershöh. Du bist seine Erbin. Wenn du ausfällst und auch dein Vater stirbt, fällt der Besitz an die einzigen Verwandten, das heißt, an den Vetter deines Vaters und dessen Tochter. Noch lieber wäre es ihnen, wenn dein Vater die Nichte der Schröders heiratet. Aber auch dann bleibst du die Erbin, zumindest mit dem Pflichtanteil. Auf jeden Fall stehst du ihren Plänen entgegen.« »Wenn sie mich aus dem Weg räumen wollten, dann hätten sie es doch damals schon gekonnt. Ich wurde als Säugling schließlich ein Jahr lang von Frau Schröder versorgt.« »In diesem Zeitraum warst du dreimal in der Klinik wegen einer Vergiftung. Beim dritten Mal hat dein Vater dich selbst aus dem Krankenhaus geholt und mit zu sich genommen. Unter seiner Aufsicht hat dich dann eine gelernte Kinderschwester betreut.« »Hat denn niemand Verdacht gegen die Schröders geschöpft?« fragte Olivia erstaunt. »Nein. Sie besaßen das volle Vertrauen deines Vaters. Auch konnte ihnen niemand etwas nachweisen. Die Vergiftungen beruhten nicht auf Lebensmitteln, sondern auf giftige Pflanzen, die es im Gutsgarten gibt. Rhododendron zum Beispiel, Maiglöckchen, Goldregen. Eine vielbeschäftigte Haushälterin kann nicht pausenlos auf ein Krabbelkind aufpassen. Einmal hat Frau Schröder dir zerkaute Rhododendronblätter aus dem
Mund geholt und dich gleich zum nächsten Arzt gebracht. Das sprach natürlich für sie. Trotzdem wäre mir wohler, wenn du Gut Wernershöh so bald wie möglich wieder verlassen würdest.« »Mir auch. Aber wie soll ich das anstellen?« »Ich könnte morgen weiterfahren, denn ich habe alles getan, was ich in Wernershöh erledigen wollte. Ich habe das Grab meiner Schwester besucht, und ich habe dich wiedergefunden, obwohl ich mir dieses Wiedersehen anders vorgestellt habe.« »Wie denn?« fragte Olivia neugierig. »Ich fühlte mich hingezogen zu dir. Ich glaubte fast, daß es mehr werden könnte als nur eine kleine Liebelei. Die Entdeckung, daß wir Onkel und Nichte sind, war eine gewisse Enttäuschung für mich. Unser Verhältnis darf künftig nur in einer rein verwandtschaftlichen Sympathie bestehen. Nun ja. Meine nächste berufliche Station ist Kassel. Ich könnte dich dorthin mitnehmen.« »Und wie stellst du dir das vor?« fragte Olivia besorgt. »Ich werde von Schröders sehr aufmerksam beobachtet.« »Mach morgens einen Spaziergang«, schlug Thomas vor, »und laß deinen Wagen in der Scheune stehen, dann fällt dein Fortgehen nicht weiter auf. Niemand wird dann glauben, daß du in Wahrheit wieder abgereist bist. Ich bringe dich in meinem Wagen nach Göttingen, das ist kein großer Umweg für mich. Schreib den Schröders eine hübsche Ansichtskarte aus Göttingen und teile ihnen mit, daß du zufällig Bekannte aus deiner Heimatstadt getroffen hättest, die dich mitgenommen hätten und daß du bald zusammen mit deinem Vater wiederkämest.« »Es fällt doch auf, wenn ich mit meinem Gepäck einen Bummel durchs Dorf machen will«, wandte Olivia ein. »Denn sieht doch jeder, daß ich abreisen will.«
»Laß alles zurück. Das wirkt weitaus glaubwürdiger. Du kommst ja bald mit deinem Vater wieder hierher und findest dann deine Siebensachen, so wie du sie zurückgelassen hast. Wir treffen uns morgen gegen zehn Uhr am Grab deiner Mutter. Paß gut auf dich auf, Olivia!« Mit bangem Herzen nahm Olivia Abschied von ihrem Onkel Thomas. Sie wünschte, daß der morgige Tag schon vorüber wäre.
*
Die Nacht wurde schlimm. Noch nie in ihrem Leben hatte Olivia sich so sehr gefürchtet. Die Mozartklänge ertönten, aber sie waren jetzt nicht mehr sanft und freundlich, sondern furchterregend und laut. Es war, als würden die dicken Mauern des Turmes zerspringen, so sehr dröhnte es. Olivias Bett schwankte, irgendwo schrie ein Käuzchen. Sie versuchte, das Licht anzuknipsen, aber es gelang ihr nicht. Die Nachttischlampe leuchtete kurz auf, flackerte, um dann endgültig zu verlöschen. Statt dessen ertönte schrilles Hohngelächter. »Gib dir keine Mühe«, erklärte die Stimme, die das junge Mädchen erschauern ließ. »Deine Zeit ist gekommen. Schon morgen werden wir gemeinsam die Reise antreten, die uns in das Reich der Seligen bringt. Endlich darf ich meinem Kind nah sein, bei ihm bleiben für immer.« »Ich bin kein Kind mehr«, murmelte Olivia mit erstickter Stimme. »Für mich wirst du immer mein Kind bleiben. Man hat mir viele Jahre gestohlen und dir auch. Aber wir werden reich entschädigt werden. Nur noch wenige Stunden.«
»Ich will nicht«, schrie Olivia angstvoll. »Auf deinen Willen kommt es nicht an.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Gleich darauf steckte Frau Schröder ihr Gesicht herein. In der Hand trug sie einen altmodischen Leuchter mit einer flackernden Kerze. »Ist Ihnen nicht gut, Olivia?« fragte die Verwaltersfrau. »Mir war, als hörte ich Poltern und Stimmen. Und weil der Strom ausgefallen ist, wollte ich doch mal nach Ihnen sehen.« »Danke, Frau Schröder. Mir geht es ganz gut, wirklich. Ich hatte einen Alptraum, ja, so muß es gewesen sein. Aber das kommt ja mal vor bei dieser Gewitterluft.« »Wir hatten kein Gewitter«, beteuerte Frau Schröder. »Wahrscheinlich haben Sie das auch nur geträumt. Wenn hier alles in Ordnung ist, kann ich ja wieder gehen.« »Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe«, sagte Olivia. »Hoffentlich können Sie wieder einschlafen.« Als Frau Schröder fort war, kroch Olivia unter ihre Decke, als könnte sie dort Schutz und Hilfe finden. Für den Rest der Nacht hatte sie zwar Ruhe, konnte aber nicht einschlafen. Immer wieder dachte sie an Thomas. War es wirklich nötig, Wernershöh zu verlassen? Auch in Göttingen war ihr der Geist ihrer Mutter erschienen und hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Aber hier gab es zusätzlich noch das Ehepaar Schröder, dessen Absichten völlig undurchsichtig waren. Sie wünschte sich ihren Vater herbei, um seinen Rat zu erfragen. Aber Vater war weit, und das Telefon konnte sie nicht unbemerkt benutzen. Vielleicht war es ihr möglich, den öffentlichen Fernsprecher im Dorf noch vor ihrer Abreise zu erreichen, um Vaters Meinung zu hören. An Schlaf war jetzt gar nicht zu denken. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte Olivia zusammen. Sie fürchtete, daß die Geistererscheinung zurückkommen könnte. Ob Schröders auch von diesem Spuk heimgesucht wurden?
Während Olivia mit Sehnsucht auf die Morgendämmerung wartete, erhielt auch Thomas ungebetenen Besuch. Seine Schwester erschien ihm als Lichtgestalt in einer weißen Wolke. Es war ein friedlicher Anblick. So mochten Boten vom Himmel herabschweben. Aber ihre Worte straften das verheißungsvolle Erscheinungsbild Lügen. Mit schriller Stimme kündigte sie ihm Rache und Vergeltung an. »Du wirst auf Heller und Pfennig bezahlen müssen, was du verschuldet hast. Glaub’ nicht, daß du mit meinem Kind so einfach verschwinden kannst. Ich kenne deine Pläne und werde sie durchkreuzen.« »Soll das mein Leben lang so weitergehen?« fragte Thomas ärgerlich. »Nicht mehr lange, mein Lieber. Schon morgen abend wirst du befreit sein von meiner Verfolgung.« »Da bin ich aber froh«, knurrte Thomas und rollte sich in seinem harten Gasthausbett auf die andere Seite. »Nicht so spöttisch, kleiner Bruder. Du solltest mich ernst nehmen. Das Lachen wird dir noch vergehen.« »Ich lache nicht«, stöhnte Thomas. »Ich werde mich mal bei meinem Schwager erkundigen, ob er kein Mittel gegen Spuk und Geister hat.« Die Erscheinung lachte schrill. »Dein Schwager? Mein Ehemann? Seit meinem Tod hat er kein Wort mehr mit dir gewechselt, kleiner Bruder. Von ihm kannst du bestimmt keine Hilfe erwarten. Er weiß ja selbst nicht, wie er sich von mir befreien soll.« »Was versprichst du dir eigentlich von diesen nächtlichen Besuchen?« fragte Thomas und gähnte. »Morgen abend wirst du es wissen.« Mit Poltern und Stöhnen verschwand die Erscheinung und ließ einen ratlosen Thomas Brandner zurück.
*
Professor Clemens Thorberg hatte sich zum Umzug nach Würzburg entschlossen. Er hatte vor vielen Jahren dort ein paar Semester als Student verbracht und liebte diese schöne Stadt am Main sehr. Sein Entschluß stand fest, als er bei seinem Erkundungsaufenthalt einen früheren Kommilitonen wieder traf und mit ihm einen langen Abend bei einer Flasche Frankenwein verplauderte. So bald wie möglich wollte er von Göttingen nach Würzburg übersiedeln. Auch bei der Wohnungssuche konnte ihm der Freund helfen. Er nannte ihm mehrere Makler, die für ihre Erfolge bekannt waren. Schon bei der ersten Adresse wurde Professor Thorberg fündig. Die Wohnung war wunderschön, sie lag in einer alten Jugendstilvilla auf halber Höhe über dem Maintal. Ringsum gab es schon Weinberge. Der Preis war allerdings ziemlich hoch, doch Clemens Thorberg wollte ihn zahlen. Vielleicht würde ihm der Ortswechsel für einige Zeit Ruhe verschaffen. Auch war es gut, wenn Olivia ihren Freundeskreis wechselte. Zumindest sollte sie für einige Zeit auch für ihren Onkel Thomas unauffindbar sein. Er kehrte also zufrieden nach Göttingen zurück, um dort zusammen mit Frau Beier den Umzug vorzubereiten. Professor Thorberg besaß wenig Talent für solche Arbeiten. Er hatte sich das Einpacken seiner Bücher vorbehalten. Dabei wollte er viele alte und überholte Bücher aussortieren, das hatte er sich fest vorgenommen. Aber bei der Durchsicht gefiel ihm doch der eine oder andere Artikel. Manches hatte er völlig vergessen, was einer genaueren Betrachtung wert war. Kurzum, das Aussortieren gelang ihm nicht recht, doch auch mit dem Einpacken kam er nur schlecht voran. Immer wieder
vertiefte er sich in ein Buch, an das er eigentlich schon nicht mehr gedacht hatte. Während er sinnend über dem frühen Werk eines Kollegen nachdachte, ertönte die bekannte Mozartmusik. Er hielt sich verzweifelt die Ohren zu. »Nein, nicht schon wieder!« sagte er entsetzt. Ein höhnisches Lachen erklang. »Ich komme, wann ich will. Ich frage nicht, ob es dir paßt«, sagte die bekannte Stimme. »Soll denn das immer so weitergehen?« »Nein. Ich werde bald am Ziel sein. Dann nehme ich Olivia mit auf meine Reise ohne Wiederkehr. Sie gehört mir. Du kannst sie neben meinem Grab in Wernershöh beisetzen lassen. Du hattest sie nun zweiundzwanzig Jahre lang. Jetzt endlich werde ich sie in meine Arme schließen. Dir bleiben dann Trauer und Tränen, so wie du es verdienst. Du wirst dann Frau und Tochter beweinen und dir ein Leben lang Selbstvorwürfe machen.« »Nein!« rief Clemens Thorberg aus. »Nimm mich und verschone Olivia! Sie ist doch noch so jung und hat noch ein langes Leben vor sich.« »Dich?« Ein höhnisches Lachen erklang. »Nein. Ich will Olivia. Und ich will deine Strafe. Welche Strafe könnte härter für dich sein, als deine Tochter zu verlieren?« Der kalte Schweiß stand auf der Stirn des Professors. Die Hände zitterten ihm. Ein kleines Holzkästchen fiel ihm zu Boden, das er kurz zuvor im Bücherschrank entdeckt hatte. Es war bisher unbemerkt hinter den Büchern versteckt gewesen. Er hatte es öffnen wollen, aber es war gut verschlossen, und ein Schlüssel war nicht zu entdecken. Durch den Aufprall sprang das Kästchen auf. Heraus kullerte ein goldenes Medaillon, so wie die Damen es vor langer Zeit
zu tragen pflegten. Dunkel erinnerte er sich daran, daß Esther diesen Schmuck getragen hatte. Er bückte sich, um es aufzuheben. Er hatte es kaum berührt, als der Geist, der ihn heute mit schlimmen Voraussagungen gequält hatte, mit lautem Getöse und vielen Verwünschungen das Zimmer verließ. Aufatmend ließ sich Thorberg in einem der Ledersessel nieder. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sich an dieses Schmuckstück zu erinnern. Langsam kamen ihm in Bruchstücken kleine Episoden ins Gedächtnis zurück. Esther hatte das Medaillon mitsamt einer goldenen Kette als Hochzeitsgeschenk von ihrer Großmutter bekommen und es sogleich angelegt. »Es soll dir Glück bringen, mein Kind«, hatte die alte Dame betont. »Viele Frauen unserer Familie haben es getragen. Sie waren immer glücklich damit.« Nun, für Esther traf diese Voraussage gewiß nicht zu. Nach nur kurzer Ehe hatte sie einen tragischen Tod gefunden. Sie hatte ihr Kind zurücklassen müssen und auch ihn, den trauernden Ehemann. Clemens Thorberg öffnete das Medaillon. Drinnen waren zwei Fotos. Das eine zeigte Esthers Eltern und das andere die junge Familie, Esther mit dem Baby Olivia und ihrem Ehemann Clemens. Endlich kehrte mit den Bildern seine Erinnerung an den schrecklichsten Tag seines Lebens zurück. Er wollte mit Frau und Kind eine Autofahrt von Wernershöh aus in die naheliegende Kreisstadt machen. Das Baby sollte dem Kinderarzt vorgestellt werden. Mit dabei war Esthers Bruder Thomas, damals ein junger Bursche, der gerade seinen Führerschein bekommen hatte.
Die Abfahrt verzögerte sich noch, weil Esther ihren Schmuck nicht finden konnte. Clemens drängte zur Abfahrt, sie hatten einen festen Termin vereinbart und mußten ihn einhalten. »Mußt du denn unbedingt das Medaillon anlegen?« hatte er kopfschüttelnd gesagt. »Wenn wir wieder zurück sind, wirst du es bestimmt finden.« »Es ist mein Glücksbringer, Clemens!« hatte Esther geklagt. »Wenn ich es nicht trage, dann bringt es Unglück.« Das Schmuckstück blieb unauffindbar. Schließlich hatte sie nachgegeben und war ohne Medaillon mitgekommen. Aber sie blieb während der Fahrt äußerst nervös und ängstlich, so als hätte sie das Ende vorausgeahnt. Wie oft hatte Clemens Thorberg später über diesen Unfall nachgedacht! Was hatte er nur falsch gemacht? Wie hätte er das Unglück verhindern können? Später, als Esthers Geist begann, ihn zu verfolgen, hatte er niemals mehr an das Medaillon gedacht. Heute war es ihm zufällig in die Hände gefallen mit einem überraschenden Erfolg. Hatte er damit die Erscheinung vertrieben? War dies das Mittel, den Spuk zu beenden und wieder ein ganz normales Leben zu führen? Er war so sehr in Gedanken versunken, daß er das Klingeln an der Tür überhaupt nicht wahrnahm. Er schreckte auf, als Frau Beier ihm den Besuch eines Studenten meldete. »Es ist ein Herr Märkel, Herr Professor«, sagte sie. »Soll ich ihn wegschicken, weil Sie mitten im Umzug stecken? Oder wollen Sie ihn sprechen? Ich glaube, das ist ein guter Bekannter Ihrer Tochter. Er schien in Sorge zu sein.« Natürlich empfing Clemens Thorberg den Studenten. Vielleicht konnte er von ihm Neues über Olivia erfahren. »Nehmen Sie Platz, Herr Märkel. Das heißt, wenn Sie irgendwo Platz finden. Ich ziehe nämlich um, und es herrscht hier ein ziemliches Chaos.«
»Entschuldigen Sie, Herr Professor«, sagte Markus verlegen. »Ich komme offenbar unpassend.« »Unsinn. Nehmen Sie den Bücherkarton vom Sessel und setzen Sie sich. Ich mache es ebenso. Und Sie verraten mir dann, was Sie zu mir führt.« »Ich bin in großer Sorge um Olivia. Seit Tagen hörte ich nichts von ihr. Ich weiß nicht einmal, was sie in den Ferien vorhat«, sagte Markus. »Sie war so plötzlich aus Göttingen verschwunden, so ganz ohne Abschied und ohne Erklärung. Das ist so gar nicht ihre Art.« »Stimmt«, räumte der Vater ein. »Es ist meine Schuld. Wir wollten gemeinsam nach Wernershöh fahren, das ist meine Heimat. Sie reiste voraus, während ich mich in Würzburg nach einer Wohnung umsah. Dann wollte ich nachkommen, um ihr mein Elternhaus und seine Umgebung zu zeigen. Aber nun habe ich unerwartet früh eine Wohnung in Würzburg gefunden, so daß ich jetzt gar keine Zeit mehr habe, um nach Wernershöh zu reisen.« »Wo liegt denn dieses Wernershöh, damit ich Olivia wenigstens einmal schreiben kann?« erinnerte Markus den Professor an den eigentlichen Grund seines Kommens. Clemens Thorberg kramte einen Zettel hervor und schrieb die genaue Anschrift mitsamt der Postleitzahl auf. »Vielleicht darf ich Ihnen beim Packen helfen?« schlug Markus jetzt vor. »Vier Hände schaffen schließlich mehr als zwei.« »Sehr liebenswürdig von Ihnen. Aber meine Bücher muß ich schon selbst einpacken. Sonst finde ich nachher nichts wieder. Auch möchte ich gleichzeitig manches aussortieren, was nicht mehr aktuell ist.« Die beiden Herren erhoben sich von ihren Sitzen, um sich zu verabschieden. Da fiel der Blick des Professors auf das Medaillon. Die Drohung seiner Frau hatte er nicht vergessen.
Wie, wenn Olivia sich in Lebensgefahr befand? Wenn Esthers Geist gerade heute seine Ankündigung wahrmachte? »Sind Sie motorisiert, Herr Märkel?« fragte er. »Ich fahre ein Motorrad«, erklärte dieser. »Haben Sie heute Zeit?« »Ich nehme sie mir, wenn es wichtig ist«, meinte Markus. »Ich fürchte, daß die Angelegenheit wirklich dringend ist. Möglicherweise ist Olivia ernstlich in Gefahr. Ich würde ja selbst fahren, aber ich habe meiner Tochter mein Auto gegeben. Mit der Bahn ist die Fahrt ein wenig kompliziert, man muß mehrmals umsteigen, ich könnte zu spät kommen.« »Natürlich fahre ich, Herr Professor. Soll ich Olivia vielleicht etwas ausrichten?« »Geben Sie ihr dieses Kästchen, und tragen Sie ihr auf, sofort die Kette mitsamt Medaillon anzulegen. Hören Sie: Sofort! Ich komme schnellstens nach. Und nun fahren Sie, junger Freund! Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt!« Markus war einigermaßen verdutzt über diesen Auftrag. Ein wenig zweifelte er am Verstand des Herrn Thorberg. Wahrscheinlich hatte dessen Beschäftigung mit übersinnlichen Ereignissen ein wenig abgefärbt. Aber da er durch die Fahrt nach Wernershöh Olivia wiedersehen konnte, sollten ihm die Eigenheiten ihres Vaters nur recht sein. Er versprach dem Herrn Professor, sofort zu starten und alle Anweisungen genauestens zu befolgen. Am Abend spätestens würde er ihn anrufen, um ihm Bericht zu erstatten. Clemens Thorberg atmete auf, als der Besucher wieder gegangen war. Aber noch war die Gefahr für Olivia nicht gebannt. Am anderen Morgen hatte Olivia große Mühe, pünktlich am Grab ihrer Mutter zu sein, wie sie es Thomas Brandner versprochen hatte. Frau Schröder war aus irgendwelchen Gründen gereizt und schlecht gelaunt. Sie schickte das junge
Mädchen mit immer neuen Aufträgen in den Garten, so daß Olivia gar nicht zur Ruhe kam. Erst sollte sie einen Eimer voll Himbeeren pflücken. Frau Schröder wollte davon Marmelade kochen. Dann sollte sie Erbsen für das Mittagessen ernten, und schließlich waren die Eier aus dem Hühnerstall zu holen. Es gelang Olivia gerade noch, Thomas auf dem Friedhof zu erreichen und ihm zuzuflüstern, daß sie eine Stunde später kommen würde. »So lange kann ich auf dem Friedhof nicht bleiben«, widersprach Thomas. »Ich würde nur auffallen.« »Dann treffen wir uns im Dorf bei der Post«, schlug Olivia vor. »Jetzt muß ich in den Hühnerstall, nach den Eiern sehen. Ich glaube, Frau Schröder plant Rührei zum Mittagessen.« »Soll sie doch selbst im Stall nachsehen«, meinte Thomas ärgerlich. »Ich habe ihr selbst meine Hilfe angeboten, als ich hierher kam. Jetzt würde ich mich verdächtig machen, wenn ich es mir plötzlich anders überlege. Also bis gleich, Thomas!« Doch als Olivia anschließend noch einen Topfkuchenteig anrühren sollte, streikte sie. »Tut mir leid, Frau Schröder«, erklärte sie. »Ich muß jetzt ein paar Briefe schreiben, die ich anschließend noch zur Post bringen will. Der Briefkasten wird schon um elf Uhr geleert, und zwar nur einmal täglich. Dabei müssen die Briefe morgen in Göttingen sein. Ich kann den Kuchenteig ja nach dem Mittagessen anrühren.« »Immer wenn die Arbeit sich häuft, steht man allein am Herd«, knurrte Frau Schröder. »Ich erwarte Kaffeegäste. Der Topfkuchen läßt sich nicht aus der Form stürzen, wenn er erst kurz zuvor fertig ist.« »Tut mir leid«, sagte Olivia leichthin. »Aber Sie werden das schon schaffen.« Damit verschwand sie in ihr Zimmer, wo sie
sich noch schnell umschaute, ob sie auch alle Spuren beseitigt hatte, die auf ihre Fluchtabsichten hindeuten könnten. Mit zwei leeren Briefumschlägen in der Hand verließ sie das Haus. Das Herz schlug ihr bis in den Hals vor lauter Furcht, sie könnte noch im letzten Augenblick am Fortgehen gehindert werden. Aber nichts geschah. Langsam wurde sie ruhiger. Als sie schließlich Thomas in seinem Auto sitzen sah, da hätte sie ihn vor lauter Erleichterung am liebsten umarmt. »Keine feierliche Begrüßung bitte!« sagte er kurz. »Steig ein, damit ich starten kann.« Der Motor heulte auf, als sie die Tür zuschlug. Thomas brauste davon, als gelte es, ein Rennen zu bestreiten. Erst als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, wurde er etwas gesprächiger. »Wir fahren nicht in die richtige Richtung«, erklärte er ihr. »Ich bin sicher, daß man unsere Abfahrt im Dorf bereits bemerkt hat. So wird man dich in der falschen Gegend suchen. Bis sie das merken, bist du längst bei deinem Vater in Göttingen.« »Und wie kommen wir dahin, wenn du absichtlich eine andere Route fährst?« »Schon im nächsten Dorf werde ich unsere Richtung korrigieren. Da kreuzen sich nämlich die Straßen. Ich hatte bis zum letzten Augenblick Angst, daß man dich festhalten würde.« »Ich auch«, gab Olivia zu. »Gerade heute hatte Frau Schröder eine Menge Aufträge für mich. Das machte mich ziemlich nervös. Aber jetzt bin ich erleichtert.« Sie kamen an einem Landgasthaus vorbei, das recht einladend aussah. »Essen wir hier zu Mittag?« fragte Thomas. »Oder willst du lieber weiterfahren?«
»Weiterfahren«, bestimmte Olivia. »Wernershöh ist noch viel zu nah. Wenn man uns sucht, dann verrät uns schon dein Auto, wenn es vor dem Gasthaus parkt.« »Gut«, meinte Thomas. »Fahren wir also weiter.« Sie fuhren durch eine reizvolle Landschaft. Bewaldete Höhenzüge wechselten mit romantischen Dörfern und lieblichen Tälern. Die Heimat ihrer Familie – die eigene Heimat. Normalerweise wäre Olivia aus dem Entzücken gar nicht herausgekommen. So aber hatte sie nur einen Wunsch: Möglichst schnell die Gegend zu verlassen, um endlich wieder bei ihrem Vater in Göttingen zu sein. Nach einer langen Gesprächspause sagte Thomas: »Ich fahre nur ungern hier.« »Aber es ist doch alles so schön, eine richtige Bilderbuchlandschaft.« »In mir weckt sie nur traurige Erinnerungen«, widersprach Thomas. Olivia verstand sofort, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. »War… war es hier, Thomas? Ist meine Mutter hier…«, die Stimme versagte ihr, sie konnte nicht weitersprechen. »Ja«, sagte er. »Ja, sie hat hier ihren Tod gefunden. In einer Straßenkehre im nächsten Höhenzug ist es passiert. Ich habe immer vermieden, diesen Weg zu nehmen. Heute ging es nicht anders.« »Fürchtest du, daß wieder ein Unfall geschieht?« fragte Olivia. »Nein. Ich fürchte mehr, daß alle Erinnerungen wieder wach werden, zumal du neben mir sitzt.« »Ich war damals noch ein Baby. Wie kann ich dich da an den Unfall erinnern?« widersprach Olivia. »Für mich bist du nicht das Baby von damals. Ich sehe in dir vielmehr das genaue Ebenbild meiner Schwester, deiner Mutter. Es ist mir, als säße Esther neben mir im Wagen.«
»Möchtest du umkehren und lieber einen anderen Weg nehmen?« »Nein. Einmal muß ich mich diesen Erinnerungen stellen, um sie endgültig zu überwinden. Ich kann nicht immer nur ausweichen. In einer halben Stunde ist alles vorbei. Dann werde ich künftig diese Strecke ohne Furcht fahren können.« Sie hatten den Höhenzug erreicht. Die Straße stieg ständig bergan. Bald hatten sie den höchsten Punkt überquert und rollten nun dem Tale zu. Olivia fragte nicht mehr. Sie sah, wie die Hände ihres Begleiters am Steuerrad zitterten und wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Sie wußte sofort: Genau hier hatte Esther Thorberg den Tod gefunden, hier war sie selbst Halbwaise geworden, und hier hatte auch der einsame Leidensweg ihres Vaters begonnen. Die Straße war schmal. In spitzen Kehren führte sie den Hang hinunter. Und dann war wieder alles wie damals. Thomas Brandner stockte der Atem, als ihnen plötzlich ein Lastwagen entgegenkam. Die Kurve war viel zu eng, als daß er hätte ausweichen können. Der Lastwagenfahrer bremste nicht, er drosselte nicht einmal das Tempo. Thomas verlor die Gewalt über den Wagen, der sich überschlug und die Böschung hinabstürzte. Als sie schon stürzten, gelang es Olivia, den Schlüssel aus dem Zündschloß zu ziehen. Danach verlor sie das Bewußtsein. Irgendein vorüberkommender Autofahrer mußte die Polizei verständigt haben. Aber das nahm Olivia schon nicht mehr wahr, auch nicht das Tatütata von Unfall- und Krankenwagen weckten sie aus tiefem Schlaf. Sie erfuhr nicht einmal, daß für Thomas jede Hilfe zu spät gekommen war, während sich Sanitäter und Notarzt noch um sie bemühten. Ihr war, als müßte sie sich erheben und vom Unfallort entfernen. Stillschweigend machte sie sich auf den Weg.
Sicher setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie schaute sich nicht um und fragte auch nicht, ob diese Straße die richtige sei… Sie fühlte sich wunderbar leicht, so, als wäre alle Erdenschwere auf einmal von ihr abgefallen. Es war, als trüge sie Flügel. Niemand hielt sie auf, niemand schien sie zu bemerken. Wie von Geisterhand werden ihre Schritte gelenkt. Wie weit sie gegangen war? Sie wußte es nicht. Wohin sie ging? Auch das war ihr unbekannt. Auf ihrem Weg wurde sie plötzlich von einer fremden Frau aufgefangen und umarmt. »Wir lassen alles hinter uns, meine kleine Olivia«, flüsterte die Erscheinung. »Thomas hat seine Strafe gefunden und Clemens ebenfalls. Clemens hat seine Tochter verloren und damit den Sinn seines Lebens. Das ist für ihn der schwerste Verlust. Er wird künftig jede Sekunde darunter leiden und nie mehr froh sein können. Aber du wirst mit mir glücklich sein.« »Bin ich denn tot?« fragte Olivia beklommen. »Was ist schon der Tod?« fragte die Frau aus dem Jenseits. »Die Menschen nennen es so. Aber laß dir von ihnen keine Furcht einreden. Unser Leben hier ist anders, aber wir leben auch. Unser Dasein ist leichter, wir tragen keine Gewichte an den Füßen und keine Fesseln an den Händen. Uns quälen keine Sorgen mehr, keine Krankheiten und keine Not.« »Ich will aber nicht!« schluchzte Olivia. »Ich will leben. Ich bin doch noch so jung.« »Ich war auch nicht älter, als ich sterben mußte. Vergiß das nicht. Für mich war der Abschied noch viel bitterer, weil ich ein Kind zurücklassen mußte. Aber der Tod war leicht. Du wirst es bald selbst erfahren.« »Wann?« fragte Olivia mit zuckenden Lippen. »Du wirst die Abendsonne nicht mehr erleben. Dafür kommst du in ein Land, in dem die Sonne niemals untergeht. Ich bleibe bei dir, bis es soweit ist.«
»Wolltest du, daß ich sterbe?« fragte Olivia. »Ja. Ich wollte, daß du so glücklich bist wie ich.« »Hast du uns deshalb verfolgt und gequält?« »Du verwendest so häßliche Worte dafür. Ich sehe das anders. Ich habe alles getan, damit wir gemeinsam glücklich werden.« »Wenn diese Reise ohne Wiederkehr so schön ist, wie du sagst, warum bestrafst du dann meinen Vater immerfort und deinen Bruder auch? Selbst wenn sie wirklich an deinem Tod schuld hätten, dann müßtest du ihnen doch dankbar sein dafür.« »Sie haben mich von dir getrennt. Das ist es, was ich ihnen vorwerfe. Eine Mutter kann ihr Kind nicht vergessen. Aber die schmerzliche Trennung wird noch heute vorbei sein.« Das Gespräch zwischen Olivia Thorberg und dem Geist ihrer Mutter wurde abrupt beendet. Feste Hände ergriffen das junge Mädchen, so daß sie vor Schmerzen laut aufschrie. Dann wurde sie auf eine Bahre gelegt und in ein Fahrzeug geschoben. Die Fahrt über holprige Straßen schien schier endlos zu sein. Sie landete in einem Krankenhaus, aber sie nahm es nur bruchstückhaft wahr. Als man sie in einem Bett über die langen Krankenhausflure schob, spürte sie wieder einen Lufthauch, der über ihr Lager hinwegstrich. Eine Musik ertönte… die Mozartsonate. »Bist du schon wieder da?« murmelte Olivia. »Ja. Es war nicht leicht, den Fahrzeugen zu folgen. Aber ich habe es geschafft, weil es keine Hindernisse für mich gibt. Ich bleibe bei dir, Olivia. Ich werde dich auf meinen Armen tragen, wenn es vorbei ist. Noch zwei Stunden…« Olivia wollte sich wehren, sich aufbäumen gegen ein Schicksal, das unabänderlich zu sein schien. Aber sie hatte keine Kraft mehr. Müde und ergeben erwartete sie, was geschehen mußte.
*
Markus Härtel brauste auf seinem Motorrad auf der Landstraße in Richtung Weserbergland. Die Maschine war nicht besonders stark. Für seine heutige Fahrt hätte er eigentlich eine schnellere Maschine gebraucht. Olivias Vater war auf eine so seltsame Art besorgt gewesen, daß er Markus mit seiner Furcht angesteckt hatte. Aber was sollte Olivia eigentlich dort auf dem Lande passieren? Noch dazu in der Obhut von so zuverlässigen Leuten? Bestimmt war sie dort wohlbehütet. Weder Hunger noch die unbekannte Strecke konnten ihn zu einer Pause veranlassen. Unbeirrt strebte er seinem Ziel entgegen. Vorerst machte er sich noch keine Gedanken darüber, wie und wo er sie finden würde und wie sie auf sein Kommen reagieren könnte. Als er sich anschickte, einen Höhenzug zu überqueren, sah er eine Menschengruppe, die sich um ein verunglücktes Fahrzeug zu kümmern schien. Ein Sanitätswagen und ein Unfallwagen der Polizei waren an Ort und Stelle. Als er näher kam, sah er, was passiert war. Ein Personenwagen war einige Meter die Böschung hinuntergefallen und hatte sich dabei überschlagen. Ein Lastwagen blockierte noch immer die Fahrbahn, während der dazugehörige Fahrer immerfort seine Unschuld beteuerte. Einen Toten hatte man bereits abtransportiert. Seine Beifahrerin wurde auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben. Nur für einen winzigen Augenblick konnte Markus ihr Gesicht erkennen. Er erstarrte. Das war doch… Olivia. Ja, sie war’s, wie er gleich darauf mit Sicherheit feststellen konnte. Aber einer der Polizisten forderte ihn zum Weiterfahren auf.
»Aber ich weiß doch, wer die Verletzte ist«, rief er dem Beamten verzweifelt zu. »Fahren Sie weiter, Sie behindern nur den Verkehr.« »Es handelt sich um meine Verlobte. Olivia Thorberg aus Göttingen«, behauptete Markus atemlos und fand endlich Gehör bei den Beamten. »Sie kennen die Dame?« »Ja. Wir sind verlobt. Wir studieren gemeinsam in Göttingen Jura. Ihr Vater ist Professor Clemens Thorberg, ebenfalls in Göttingen wohnhaft.« »Wenn sie aus Göttingen ist, wieso sitzt sie dann in einem Auto aus Wuppertal?« fragte einer der Polizisten mißtrauisch. »Das weiß ich nicht«, bekannte Markus. »Sie machte Urlaub auf dem Gut ihrer Familie, in Wernershöh. Vielleicht hat sie mit einem Verwandten oder Bekannten eine Autofahrt unternommen. Ich sollte sie im Auftrag ihres Vaters besuchen und ihr etwas bringen. Was ist ihr geschehen, und wohin bringen Sie sie?« »Solange wir nicht wissen, ob Ihre Angaben stimmen, dürfen wir Ihnen keine Auskünfte darüber geben.« »Dann erkundigen Sie sich bitte bei dem Vater der Verunglückten, Professor Thorberg. Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben. Er muß sofort von dem Unfall seiner Tochter informiert werden. Er will vermutlich auch an das Krankenbett seiner Tochter kommen.« »Gut. Wir nennen Ihnen den Namen der Klinik. Wenn Sie sofort hinfahren, werden sie fast gleichzeitig mit uns dort eintreffen. Dann können Sie alle Ihre Angaben bei der Aufnahme machen. Die kümmern sich auch um die Benachrichtigung des Vaters.« Das Krankenhaus war nicht weit entfernt. Müde und erschöpft machte sich Markus auf den Weg und traf nur wenig später als der Krankenwagen ein. In der Aufnahme wartete
man schon händeringend auf die Personalien für den eingelieferten Notfall und war glücklich, daß Markus Auskünfte liefern konnte. »Was soll ich dem Vater sagen?« fragte er besorgt. »Das übernehmen wir selbst«, wurde ihm mitgeteilt. »Kann ich meine Verlobte sehen? Wenigstens für einen kurzen Augenblick? Ich gehe sofort wieder, wenn ich störe«, versprach Markus. »Gehen Sie zur Station A 2. Dann melden Sie sich bei der Stationsschwester, die Ihnen bessere Auskünfte geben kann als wir hier.« Auf der Station hatte man mehr Verständnis für Markus. Ja, er dürfte die Verunglückte für wenige Minuten sehen, wurde ihm gesagt. Dann stünden mehrere Untersuchungen an, die für die weitere Behandlung notwendig seien. »Ist die Verletzung lebensgefährlich?« fragte Markus. »Das können wir jetzt noch nicht sagen. Darüber müßten Sie auch mit dem Arzt sprechen. Aber gehen Sie nur schnell zu Frau Thorberg. Sobald die Ärzte kommen, werden Sie keine Gelegenheit mehr haben, sich mit ihr zu unterhalten.« Beklommenen Herzens ging Markus in das Krankenzimmer, in dem Olivia auf ihre Ärzte wartete. Sie war geisterhaft blaß und wirkte völlig abwesend. Als sie Markus erkannte, zog ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. »Markus? Du?« kam es tonlos über ihre Lippen. »Ja. Dein Vater hat mich geschickt. Er und ich, wir hatten große Sorge um dich. Als hätten wir’s geahnt, daß du in Gefahr bist. Ich kam gerade an der Unfallstelle vorbei, als ich dich erkannte. Sonst hätte niemand von den Sanitätern gewußt, wer die Verunglückte war.« »Danke, Markus«, hauchte sie. »Gut, daß du gekommen bist. In zwei Stunden wäre es zu spät gewesen. SIE kommt bald und holt mich zu sich. Hörst du die Musik? Eine Mozartsonate…«
Markus konnte den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. War es nicht so, daß Sterbende Worte sagten, die ihre Umgebung nicht einzuordnen vermochte? Ihn schauderte es. Er wollte nicht begreifen, daß dies das Ende war. Aber als er dann aufmerkte, hörte er wirklich leise Töne, die unwirklich und schwebend den Raum erfüllten. War es das, was Olivia meinte? Siedend heiß fiel ihm sein Auftrag ein. »Dein Vater schickt dir das hier, Olivia«, sagte er und schob das Kästchen auf die Bettdecke. Fragend schaute sie ihn an. Da öffnete er es und legte ihr die Kette mit dem Medaillon auf die Hände. Die Wirkung war überraschend. Mit einem lauten Donnerschlag endete die sanfte Musik. Das Fenster öffnete sich, ein heftiger Windstoß zerrte an den Gardinen. Heraus fuhr etwas, das Markus an die Walpurgisnacht auf dem Brocken erinnerte. Am erstaunlichsten war die Veränderung, die mit Olivia eingetreten war. Ihre glanzlosen Augen belebten sich, ihre fahle Gesichtsfarbe war einer gesunden Röte gewichen, und ihr Mienenspiel wurde lebendig. »Mir geht es besser. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber ich fühle mich plötzlich wie befreit.« »Sollte ich das tatsächlich bewirkt haben?« fragte Markus fast verwundert. »Ich kann es kaum glauben. Als ich hereinkam, ging es dir noch sehr schlecht. Und daran änderte sich erst etwas, als ich dir die Kette auf die Hände legte.« Die Kette mit dem Medaillon! Olivia drückte sie mit beiden Händen und zog es dann an ihre Lippen, um es andächtig zu küssen. Ihr war, als fließe ihr neue Kraft zu, als würden alle Mächte aus der Finsternis verdrängt. Ja, selbst ihre Mutter schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben und allein auf ihre Reise ohne Wiederkehr gegangen zu sein.
Die Ärzte kamen, um die Notfallpatientin zu untersuchen. Markus wurde nach draußen geschickt. Ungeduldig wartete er auf das erste Urteil der Fachleute. Ein Assistenzarzt wurde nach draußen geschickt, um den aufgeregten Verlobten zu informieren. »Die Patientin hat großes Glück gehabt«, meinte er lächelnd. »Als sie zu uns kam, waren wir sehr besorgt. Ihr Blutverlust war ganz erheblich, ihr Blutdruck entsprechend niedrig. Offenbar stand sie auch unter Schock, denn sie war nicht ansprechbar und wirkte apathisch. Sie hat in dieser Phase viel wirres Zeug geredet. Ihre plötzliche Besserung war nicht zu erwarten und ist… ganz ungewöhnlich.« »Kann sie bald entlassen werden?« fragte Markus hoffnungsvoll. »So schnell geht es nicht, Herr Härtel. Jetzt fehlen noch die genauen Untersuchungen, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Das Blut muß erst im Labor untersucht werden. Wir brauchen auch Röntgenaufnahmen, um vielleicht innere Verletzungen aufzuspüren. Es könnten auch Brüche vorhanden sein. Aber wir sind insgesamt sehr zuversichtlich. Die junge Dame hat sich erstaunlich schnell erholt. Aber auch, wenn alles gut geht: Mit ein paar Tagen Klinikaufenthalt müssen Sie schon rechnen.« Später konnte Markus noch mit dem Oberarzt sprechen, der im wesentlichen die Aussage seines Assistenten bestätigte. Er fügte noch hinzu: »Wahrscheinlich haben Sie das Wunder bei dieser Patientin bewirkt, Herr Härtel. Es war doch sehr auffallend, wie schnell sich ihr Zustand nach Ihrem Besuch besserte. Wir sprechen uns morgen noch, wenn mir erst alle Befunde vorliegen.« »Vielen Dank!« sagte Markus. »Ich bin so froh.« An die schnelle Heilung als Folge seines Besuches glaubte er allerdings nicht. Er wußte genau, daß die Wendung in Olivias
Befinden erst in dem Augenblick eingetreten war, als er ihr Medaillon und Kette auf die Hände gelegt hatte. War in diesem Moment nicht auch die geheimnisvolle Musik verstummt? Hatte nicht eine seltsame Windböe das Zimmer durchweht? Professor Thorberg hatte ihm den Schmuck sehr ans Herz gelegt. Er hatte wohl gewußt, wie dessen Wirkung ausfallen würde. Aber dieser Herr war ja auch ein Experte auf dem Gebiet der Geistererscheinungen. Noch am Abend telefonierte Markus vom Krankenhaus aus mit Olivias Vater. Dieser zeigte sich sehr erleichtert über den glimpflichen Ausgang des schweren Unfalls. Zum Schluß sagte er dem Freund seiner Tochter: »Ich danke Ihnen, Markus. Sie haben Olivia das Leben gerettet, auch wenn Sie das jetzt noch nicht verstehen können. Esther wollte ihre Tochter töten und sie mit sich nehmen in das Land ohne Wiederkehr. Ihre Macht wurde gebrochen, als das Medaillon auftauchte.« Mit dieser seltsamen Erklärung mußte sich Markus zufrieden geben. Er suchte sich für diese Nacht ein bescheidenes Zimmer in einem kleinen Landgasthaus. Am nächsten Tag würde der Professor kommen, um seine Tochter zu besuchen. So lange wollte Markus hier bleiben.
*
Clemens Thorberg kam noch am Vormittag des nächsten Tages mit einem Mietwagen ins Weserbergland. Er suchte sofort die Klinik auf, in der seine Tochter Olivia lag. Er fand sie in einer erstaunlich guten Verfassung vor, wenngleich sie noch etwas matt und schläfrig wirkte. Erleichtert stellte er fest,
daß sie ein goldenes Kettchen trug mit dem bewußten Medaillon daran. »Wie schön, daß du gekommen bist, Vati«, sagte sie glücklich. »Ich mußte mich doch selbst davon überzeugen, daß es dir überraschend gut geht, mein Kind«, sagte er gerührt. »SIE gab mir gestern nur noch zwei Stunden, Vati. Dann wollte SIE mich mitnehmen in das Reich ohne Wiederkehr… Ich sah schon keine Hoffnung mehr. Aber dann kam Markus und gab mir die Kette mit dem Medaillon. In diesem Augenblick wurde alles anders. Die Erscheinung verschwand, und die Musik verstummte. Ich fühlte mich plötzlich wieder gut. Ich wußte auf einmal, daß SIE keine Macht mehr über mich hatte. Vati, hat Markus mich gerettet?« »So ungefähr. Er kam zu mir, weil er sich um dich sorgte. Ich hatte beim Einpacken meiner Bücher das Medaillon deiner Mutter gefunden. Gerade war mir einmal wieder ihr Geist erschienen. Als ich den Schmuck in den Händen hielt, verschwand er mit Schimpf und Donnergepolter. Ich wußte, daß ich endlich das Mittel gefunden hatte, ihn zu bezähmen.« »Dann verdanke ich dir also die Heilung?« »Du verdankst sie dem Schmuck und Markus, der ihn dir sofort brachte. Ich hätte gar nicht mehr rechtzeitig kommen können. Ich hatte furchtbare Angst um dich, mein Kind. All die schweren Erlebnisse der Vergangenheit wurden wieder lebendig in mir. Auf dem Weg hierher sah ich die Unfallstelle und sah auch das Auto. Es war ein schrecklicher Anblick. Man kann kaum glauben, daß ein Mensch dies überlebt hat. Es war genau die gleiche Stelle, an der damals deine Mutter den Tod fand.« »Was ist mit Thomas Brandner?« fragte Olivia angstvoll. Das Gesicht ihres Vaters wurde abwesend. »Wieso bist du mit ihm im Auto gefahren?« fragte er.
»Ich wollte nicht länger auf Wernershöh bleiben. Es war mir dort unheimlich geworden. Die Schröders haben jeden meiner Schritte beobachtet. Zufällig traf ich dann Thomas, der ja eigentlich mein Onkel ist. Er besucht jedes Jahr einmal das Grab seiner Schwester. Wußtest du das? Er riet mir, Wernershöh heimlich zu verlassen, denn er traute den Schröders nicht. Ich habe darum dein Auto dort gelassen, Vati, und mein gesamtes Gepäck. Es sollte wie ein normaler Spaziergang aussehen. Thomas wollte mich zu dir nach Göttingen bringen. Aber unterwegs ist dann das Unglück passiert. Niemand sagt mir, wie es ihm geht…« »Er war sofort tot«, sagte Clemens Thorberg leise. »Mich hat er gerettet«, meinte Olivia nachdenklich. »Er hat mich vor den Schröders gewarnt. Sie seien zwar tüchtig, verfolgten aber eigennützige Ziele. Jedenfalls habe ich mich in ihrer Gegenwart nie richtig wohl gefühlt.« »Vielleicht wird jetzt alles besser in Wernershöh«, sinnierte Professor Thorberg. »Esthers Geist war dort überall spürbar. Jetzt, wo wir ihr Medaillon haben, können wir ihrem Treiben ein Ende bereiten. Sie wird jetzt endlich ihre Ruhe finden.« »Erzähl mir mehr von dem Medaillon, Vati«, bat Olivia. »Esther hatte es von ihrer Großmutter zur Hochzeit geschenkt bekommen. Sie sollte es immer tragen, wurde ihr gesagt, denn es brächte ihr Glück. An dem Tag ihres Unfalls war es nicht zu finden, sie hat lange vergeblich danach gesucht. Sie war schon ganz verzweifelt, weil sie ohne dieses Schmuckstück bestimmt vom Unglück verfolgt würde. Ich drängte sie, nun endlich mit uns zu kommen. Wir wollten mit dir zum Kinderarzt in die Kreisstadt fahren und hatten einen Termin, den wir einhalten mußten. So fing alles an. Ob sie das Unheil geahnt hat?« »Was machen wir nun mit dem Medaillon, Vati?«
»Das überlasse ich dir, Olivia. Vielleicht solltest du es tragen, wie deine Mutter es getan hat. Vielleicht können wir es auch der Toten zurückgeben…« »Wie denn?« »Man könnte es in einer kleinen Kassette in ihrem Grab eingraben. Dann ist es immer in ihrer Nähe. Aber man könnte es auch anders machen. Auf meinem Schreibtisch steht Esthers Bild. Es ist ein schönes Foto aus unserer Verlobungszeit. Vielleicht sollte ich die Kette mitsamt dem Medaillon darüberhängen. Oder aber du, als ihr einziges Kind, wirst es von jetzt an tragen.« »Was würde dir am besten gefallen, Vati?« fragte Olivia. »Die letzte Möglichkeit. Der Schmuck wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Warum sollten wir daran etwas ändern?« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Olivia leise. Es klopfte wieder an der Tür ihres Krankenzimmers. Markus kam, um sich von ihrer auffallend schnellen Besserung zu überzeugen. Er strahlte sie glücklich an, als sei ihre Rettung allein sein Werk gewesen. Der Professor räusperte sich vernehmlich. »Ich fahre schnell mal nach Wernershöh«, erklärte er. »Ich komme am Nachmittag wieder zu dir. Olivia. Aber ich glaube, daß dir die Zeit nicht lang werden wird.« Markus und Olivia waren allein. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, meinte er verlegen. »Dann versuch es doch wenigstens mal«, riet Olivia ihm und warf ihm einen spitzbübischen Blick zu. »Olivia… ich… ich liebe dich. Ich mochte dich schon immer, aber so richtig weiß ich es erst, seit ich Angst um dich hatte.« »Ich liebe dich auch, Markus.«
»Da bin ich aber froh. Und ich dachte schon, daß du und dieser Thomas… daß ihr… Also, ich dachte, daß du dich in ihn verliebt hättest.« »Markus, er war mein Onkel. Er war der jüngere Bruder meiner Mutter. Das Schicksal wollte es, daß er an derselben Stelle den Tod gefunden hat, an der auch meine Mutter vor zweiundzwanzig Jahren starb. Bist du jetzt immer noch eifersüchtig?« Markus bekam einen roten Kopf. »Ich war wohl ziemlich dumm, nicht wahr? Aber ich weiß jetzt eine Möglichkeit, wie ich künftig bestimmt nicht mehr eifersüchtig sein muß.« »Da bin ich aber gespannt«, lachte Olivia. »Willst du es in der Zukunft mit etwas mehr Vertrauen versuchen?« »Das auch. Aber ich hatte eigentlich an etwas anderes gedacht. Laß uns heiraten, Olivia. Wir lieben uns doch.« »Ach, Markus. Du bist noch nicht fertig, und ich bin es noch weniger. Wovon sollen wir denn leben?« »Wir legen einfach zusammen. Ein gemeinsames Leben ist günstiger als zwei Einzelhaushalte. Vor allem aber brauchen wir dann keine Angst mehr um den anderen zu haben. Laß deinen Vater nach Würzburg ziehen. Wir bleiben als junges Ehepaar in Göttingen. In Liebe vereint sind wir stark, und kein Spuk kann uns ernstlich schaden.« »Das klingt ja alles ganz schön«, meinte Olivia. »Aber ich vermisse etwas. Etwas ganz, ganz Wichtiges.« »Du sollst alles haben, was dir wichtig ist«, versprach Markus. »Auch einen Verlobungskuß?« fragte sie. Da beugte er sich zu ihr herab und küßte sie lange und zärtlich mitten auf den Mund. »Die Krankenhausatmosphäre hat mich eingeschüchtert«, erklärte er ihr in einer Atempause sein Versäumnis. »Und bei
deinen vielen Verbänden wüßte ich gar nicht, wo ich den Kuß plazieren sollte.« »Du hast das sehr gut geschafft«, machte Olivia ihm Mut. »Aber einmal ist keinmal.« Als er sie wieder und wieder küßte, betrat Olivias Vater das Krankenzimmer. Sein Gesicht war sehr ernst. »Vati! Wir werden heiraten!« jubelte Olivia. »Markus und ich, wir lieben uns. Alle Schrecken sind vorüber. Ich sollte eine Reise ohne Wiederkehr antreten, nun wird es eine Reise in ein lebenslanges Glück.« »Wie schön!« sagte der Vater. »Ich wünsche euch alles Gute! Werdet glücklich miteinander!« Clemens Thorberg meinte diese Worte ehrlich, aber sein Gesicht blieb ernst, wie unbeteiligt. Olivia stutzte. »Was ist los, Vati? Du hast doch etwas?« »Ich habe die Schröders nicht mehr in Wernershöh angetroffen. Sie sind mit unbekanntem Ziel geflüchtet. Aber vorher haben sie noch ein Feuer in der Scheune gelegt. Mein Auto stand dort, sie dachten wohl, es würde explodieren und das Gutshaus in Brand setzen. Aber der aufmerksame Gärtner hat das Auto in letzter Sekunde herausgeschoben und die Katastrophe verhindert. So ist nur die Scheune verbrannt.« »Bist du sehr traurig deswegen, Vati?« fragte Olivia. »Nein, nicht traurig. Vielleicht ein wenig betroffen. Die Scheune wird sich ersetzen lassen. Ich hoffe, daß damit die Kette von Spuk und Unglücksfällen zu Ende geht. Jetzt beginnt eine bessere Zukunft für euch und auch für mich.« Glücklich schauten Olivia und Markus einander an. Sie glaubten an ihre Liebe, die sie heute und immer begleiten sollte.